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Herausgeber:
Niklas Holzberg
Bernhard Zimmermann
Wissenschaftlicher Beirat:
Kai Brodersen
Günter Figal
Peter Kuhlmann
Irmgard Männlein-Robert
Rainer Nickel
Christiane Reitz
Antonios Rengakos
Markus Schauer
Christian Zgoll
WALTER VON CHÂTILLON
ALEXANDREIS
Lateinisch-deutsch
DE GRUY TER
ISBN 978-3-11-079572-1
e-ISBN (PDF) 978-3-11-100694-9
Satz im Verlag
Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH
www.degruyter.com
Für Lavinia
Vorwort
Der mit Walter von Châtillon befreundete Johannes von Salisbury,
als Bischof von Chartres (1176–1180) einer der bedeutendsten Theo-
logen seiner Zeit, zitiert in seinem Metalogicon den frühscholasti-
schen Gelehrten Bernhard von Chartres folgendermaßen:
Dicebat Bernardus Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes,
ut possimus plura eis et remotiora videre, non utique proprii visus acumine, aut
eminentia corporis, sed quia in altum subvehimur et extollimur magnitudine gi-
gantea (Johannes von Salisbury, Metalogicon 3, 4, 47–50).
Bernhard von Chartres sagte, wir seien wie Zwerge, die auf den Schultern von
Riesen sitzen: So können wir mehr als diese und auch entferntere Dinge sehen,
freilich nicht aufgrund der eigenen Sehkraft oder der eigenen Körpergröße, son-
dern weil wir durch die Größe der Riesen weit emporgehoben werden.
Das Gleichnis von den Zwergen auf den Schultern von Riesen soll
zum einen deutlich machen, dass ohne die herausragenden Leistun-
gen vergangener Zeiten die Weiterentwicklung des Wissens nicht
möglich wäre, da wir nur auf Grundlage der vorhandenen Forschun-
gen überhaupt die Möglichkeit besitzen, Erkenntnisfortschritte zu
erzielen, zum anderen aber auch der Hoffnung Ausdruck verleihen,
dass die eigene Tätigkeit tatsächlich einen Beitrag zum Erkenntnis-
fortschritt zu leisten imstande ist und das Wissen der Alten an der
einen oder anderen Stelle zu übertreffen vermag. In diesem Sinne
sind an dieser Stelle insbesondere die herausragenden Forschungs-
arbeiten von Claudia Wiener, Jakob Maximilian Gartner und Hart-
mut Wulfram hervorzuheben, die dem Autor zu tieferen Einsichten
verholfen haben und ohne die eine umfassende Kommentierung der
Alexandreis des Walter von Châtillon in dieser Form nicht möglich
gewesen wäre.
8 Vorwort
EINLEITUNG
1. Die Renaissance des 12. Jahrhunderts 11
2. Autor und Werk 14
3. Walters Quellen 17
4. Sprache und Stil 20
5. Der Götterapparat 22
6. Walters poetologisches Selbstverständnis 26
7. Die Alexandreis und der vierfache Schriftsinn 29
7.1. Die historische Dimension der Alexandreis 30
7.2. Die heilsgeschichtliche Dimension der Alexandreis 30
7.3. Die eschatologische Dimension der Alexandreis 35
7.4. Die moralische Dimension der Alexandreis 38
8. Zeitgenössische Bezüge 47
9. Handschriftliche Überlieferung und Textgestalt 49
GLIEDERUNGSÜBERSICHT 53
Buch IX 458/459
Buch X 502/503
KOMMENTAR
Prolog Einführung 543 Kommentar 547
Buch I Einführung 556 Kommentar 568
Buch II Einführung 637 Kommentar 641
Buch III Einführung 699 Kommentar 704
Buch IV Einführung 743 Kommentar 747
Buch V Einführung 791 Kommentar 796
Buch VI Einführung 832 Kommentar 836
Buch VII Einführung 865 Kommentar 869
Buch VIII Einführung 898 Kommentar 903
Buch IX Einführung 933 Kommentar 939
Buch X Einführung 966 Kommentar 971
LITERATURVERZEICHNIS 1003
vom Aufblühen der Städte, die als schnell wachsende Zentren des
Handels und der Kommunikation – auch bedingt durch eine ver-
besserte Verkehrsinfrastruktur – nicht nur die Grundlage für die
ersten aus den Kathedralschulen herauswachsenden Universitäten
darstellten, sondern in denen sich auch ein neu entstehendes Bür-
gertum zunehmend gegen die alten Machtstrukturen durchzusetzen
begann. Zugleich erlebten die volkssprachlichen Literaturen ihre
erste Blüte. Mit dem Chanson de Roland – einem altfranzösischen
Versepos über die Kriegszüge Karls des Großen gegen die Sarazenen
in Spanien – setzte an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert die
große französische Dichtung ein. Chrétien de Troyes schrieb seine
großen Epen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, in der sich
unter französischem Einfluss auch in Deutschland die weltliche
Dichtung entfalten konnte, die mit dem Nibelungenlied, der Ly-
rik eines Walther von der Vogelweide, der Epik eines Wolfram von
Eschenbach sowie den Versromanen eines Gottfried von Straßburg
und Hartmann von der Aue an der Wende zum 13. Jahrhundert
ihren Gipfel erreichte (vgl. Classen 1983, 328). Auch die von Bo-
logna ausgehende Wiederbelebung des Römischen Rechts, dessen
systematische Ordnung schon in Justinians Zeit stattgefunden und
in nur einer einzigen Handschrift im Süden Italiens die Zeiten über-
dauert hatte, kann als Teil dieser Entwicklung betrachtet werden
(vgl. Classen 1983, 338). Vor dem Hintergrund dieser bedeutenden
gesellschaftlichen Veränderungen entstand in der zweiten Hälfte des
12. Jahrhunderts mit der Alexandreis des französischen Gelehrten
Walter von Châtillon ein christliches Epos über den heidnischen
König und Feldherrn Alexander den Großen, das die genannten
Entwicklungen aufnimmt und in geradezu paradigmatischer Art
und Weise widerspiegelt.
14 Einleitung
Doch sind solche Spuren [gemeint sind diejenigen Stellen in der Alexandreis, an
denen Wilhelm als Widmungsnehmer erwähnt wird] mühelos nachträglich ein-
zufügen und ebenso leicht wieder zu tilgen. Bei nüchterner Betrachtung muss
man feststellen, dass der Name und die historische Größe der Hauptfigur, die im
Gedicht geäußerte Konzeption eines neuen Kreuzzuges und die Idee der christli-
chen Weltherrschaft sehr viel besser zu einem Papst als einem – wenn auch noch
so bedeutenden – Erzbischof gepasst hätten.
1180er Jahre in Umlauf brachte (vgl. Alex. prol. 13–17; zu der in der
Forschung umstrittenen Frage der Abfassungszeit vgl. Christen-
sen 1905, 1–13). Nur wenige Jahre danach erkrankte der Dichter an
der Lepra und starb um das Jahr 1185. Walters möglicherweise noch
selbst verfasste Grabinschrift ist dabei an das berühmte Epitaph des
augusteischen Dichters Vergil – zentrales Vorbild und wichtigster
Orientierungspunkt seines epischen Schaffens – angelehnt (vgl.
Lehmann 2018, 13; der Text auf Vergils Grabmal lautet: Mantua
me genuit, Calabri rapuere, tenet nunc | Parthenope; cecini pascua,
rura, duces):
Insula me genuit, rapuit Castellio nomen.
Perstrepuit modulis Gallia tota meis.
3. Walters Quellen
Sieht man von den zum unverzichtbaren Inventar auch und gerade
eines mittelalterlichen Epos zählenden Schlachtschilderungen ab,
deren Gestaltung sich vornehmlich an antiken Epikern orientiert,
stellen die Hauptquelle für Walters Alexanderepos die ursprünglich
in zehn Büchern überlieferten Historiae Alexandri Magni Macedo-
nis des römischen Historikers Curtius Rufus dar, der mit seinem in
der Antike wenig gelesenen und erst in Spätantike und Mittelalter
verstärkt rezipierten Werk über Alexander den Großen den wesent-
lichen Bezugspunkt hinsichtlich der in der Alexandreis wieder-
gegebenen historischen Begebenheiten bildet (vgl. Wiener 2001,
19–32). Auch wenn Walter aus Curtius’ Alexandergeschichte zahl-
reiche historische Episoden in einer nahezu wortgetreuen Umset-
zung von Prosa in Dichtung übernimmt, ist doch die Auswahl der
Episoden insofern aufschlussreich, als er nach dem Perserkrieg als
dem aus heilgeschichtlicher Perspektive entscheidenden Ereignis der
18 Einleitung
5. Der Götterapparat
2004, 651–652; vgl. Luc., Phars. III, 18–19: Vix operi cunctae dextra
properante sorores | sufficiunt, lassant rumpentis stamina Parcas).
Aber auch der von Walter vielfach rezipierte spätantike Dichter
Claudian bedient sich in seinem mythologischen Epos De raptu
Proserpinae dieses Motivs, so dass Walter auch von dieser Seite her
inspiriert gewesen sein kann (vgl. Claud., De raptu Pros. I, 51–53).
Da sich das Parzenmotiv ungeachtet seines heidnischen Ursprungs
abgesehen von Walters Alexandreis aber auch in anderen Werken
des Mittelalters – wie die Verwendung bei Isidor von Sevilla oder bei
Baldricus Burgulianus († 1130) für die Schlacht bei Hastings zeigt –
nachweisen lässt, ist auch ein diesbezüglicher Einfluss denkbar (vgl.
Isid. v. Sev., Etym., VII, cap. XI, 92–95; vgl. auch Burg., carm. 134,
455–458; vgl. auch Zwierlein 2004, 652).
Ein unmittelbarer Versuch göttlicher Mächte, sich in den Hand-
lungsablauf des Epos einzuschalten und diesen in ihrem Sinne zu
beeinflussen, stellt die Episode um den Kriegsgott Mars und dessen
Schwester Bellona dar, die dem makedonischen König die Botschaft
mit auf den Weg geben, von der Verfolgung des Darius abzulassen,
da es dem persischen König bestimmt sei, durch die Hand der eige-
nen Männer sein Ende zu finden (vgl. Komm. V, 205–255).
Ein höchst wirkungsvolles Eingreifen der Götter schildert Wal-
ter zudem im Kontext der Schlacht bei Gaugamela (vgl. Komm. IV,
433–453). Als Alexander nämlich in der Nacht vor der Schlacht kei-
nen Schlaf finden und seinem Gedankengefängnis im Hinblick auf
die bevorstehende Auseinandersetzung mit den Persern aus eigener
Kraft nicht entkommen kann, beauftragt die Siegesgöttin Victo-
ria in dieser überaus schwierigen und bedrohlichen Situation den
Schlafgott Somnus, dem makedonischen König in den Schlaf zu
helfen. Diese Episode baut Walter zu einem epischen Meisterstück
aus, indem er aus dem historischen Bericht des Curtius durch die
Bezugnahme auf die Thebais des Statius und die Aeneis Vergils einen
Alexander Epicus inszeniert (vgl. Harich 1987). Dabei erinnert die
Episode hinsichtlich des verwendeten Motivs, dem epischen Helden
24 Einleitung
H
K
SCHLACHTEN
Alexander Y
Alexander
I in Troja nach dem
GRANIKUS R
Begräbnis
L
des Darius
K
I Jerusalem Darius
Welt- - ISSUS - Welt-
eroberungs- A
Episode Grabmal eroberungs-
K pläne pläne
GAUGAMELA N
I
I
E Vorverweis Vorverweis
E
N
N
Denn hier ist nun endlich der Punkt gekommen, an dem Walter den Bogen in
seine eigene Zeit schlägt: Der Autorkommentar mündet schließlich in ein Ge-
bet, in dem Walter endlich seine typologische Konstruktion von Alexander aus
bis in die Zeit sub gratia und die Gegenwart fortführt: Mit Karl dem Großen,
dem Ahnherrn der Kapetinger, und seinem Abwehrkampf gegen die Sarazenen
ist der Geschichtsverlauf in seiner Richtung gekennzeichnet und weist damit auf
Aufgabe und Bestimmung des französischen Königs voraus, der als ein zweiter
Karl und als ein neuer Alexander den Kampf für das Christentum führen und
die Ausbreitung des wahren Glaubens als gottgewollten Auftrag erkennen und
demnach erfolgreich vollenden wird. Hier kann man kaum anders, als darin die
Hoffnung, die in den jungen König Philipp II. Augustus gesetzt wurde, und die
Aufbruchstimmung, die dem dritten Kreuzzug vorausging, zu spüren.
lib. I lib. X
Ende lib. V
lib. IX
lib. II
alexanderhaften christlichen
Aristoteles-Rede
Spiegelachse Alexander-Rede
Feldherrntugenden Feldherrntugenden
In enger Verbindung mit dem sensus allegoricus und dem sensus ana-
gogicus steht innerhalb der Geschichtsdeutung Walters der sensus
tropologicus und die damit einhergehende moralische Beurteilung
Alexanders in der Alexandreis. Denn notwendigerweise musste der
Autor der Alexandreis entsprechend der grundsätzlichen und mit
der Suche nach einem alexanderhaften christlichen Anführer im
Kampf gegen die Muslime einhergehenden Ausrichtung des Epos
den makedonischen König innerhalb der erzählten Zeit des heilsge-
schichtlich legitimierten Perserkriegs auch aus christlicher Sicht –
aus antik-paganer Perspektive erfährt Alexander innerhalb des Per-
serkriegs ohnehin eine ausnahmslos positive moralische Bewertung
– als einen tugendhaften und seiner gewaltigen Aufgabe gewachse-
nen Feldherrn und König inszenieren, um ihn der gebildeten Leser-
schaft des 12. Jahrhunderts als moralisches Vorbild für einen zeit-
genössischen französischen König anempfehlen zu können. Dieses
Bestreben lässt sich insbesondere an zahlreichen, an den Vorgaben
der Aristoteles-Rede orientierten Inszenierungen der Tugendhaftig-
keit Alexanders – bisweilen durch gezielt eingesetzte intertextuelle
Kontrastimitationen noch verstärkt – erkennen, welche dessen mo-
ralische Überlegenheit dokumentieren sollen.
EiNleitung 39
Wenn es auf einen hohen Gipfel nur einen einzigen, sehr gefährlichen Weg gibt,
so muß und darf man allen, die den Gipfel erreichen wollen, diesen Weg weisen.
Nicht alle, die den Weg gehen, werden ankommen, aber jeder, der ankommt,
wird auf diesem Weg gekommen sein. Das Wagnis der menschlichen Existenz
kann nicht durch eine metaphysische Erfolgsgarantie aufgefangen werden.
Wenn der Weg der Rechtschaffenheit auch gelegentlich ins Unglück führt: jeder
andere Weg führt eher in den Abgrund. Der rechtschaffene Mensch wird auch
unter widrigen Umständen noch eher ein menschenwürdiges Glück erreichen
können als ein sittlich Schwacher unter günstigen Bedingungen, so wie, nach
dem Gleichnis des Aristoteles, ein tüchtiger Kommandeur mit dezimierten und
im Kampf mitgenommenen Truppen doch mehr leisten wird als ein unfähiger
General, dem frische Streitkräfte zur Verfügung stehen.
40 Einleitung
8. Zeitgenössische Bezüge
Putzo 2011, 27). Für die Erstellung des Textes hat Colker dabei die
jeweils besten Lesarten aus den sechs frühesten Handschriften (um
1200) ausgewählt und zudem zwei frühe, zur selben Zeit entstande-
ne Florilegien herangezogen (vgl. Colker 1987, XXIII–XXVIII).
Dazu zählen namentlich: E (Codex Erfurtensis Amplon. 8° 90), G
(Codex Genevensis lat. 98), H (Codex Hafniensis Gl. Kgl. S. 2146),
M (Codex Princetonianus Garret 118), O (Codex Oxoniensis Bodl.
Auct. F.2.16) und S (Codex Audomarensis 78). Die beiden von
Colker benutzten Florilegien sind: B (Bern 710) und P (Paris BN
lat. 15155). Colker macht deutlich, dass Beziehungen zwischen den
von ihm benutzten Textzeugen (EGHMOS) untereinander schon
innerhalb der frühen Überlieferung nur schwach zu erkennen sind
und die durch den Erfolg des Epos als mittelalterlichem Schultext
bedingte intensive Glossierung der Alexandreis zu keiner einheitli-
chen Textgestalt geführt hat. Infolgedessen scheint die Konstrukti-
on eines Stemmas wenig sinnvoll zu sein (vgl. Colker 1987, XXIV–
XXV). Auch wenn sich inzwischen einige weitere, bei Colker nicht
aufgeführte Handschriften nachweisen lassen, bieten die Neufunde
keinen wesentlichen kritischen Gewinn, so dass man zum heutigen
Zeitpunkt davon ausgehen kann, dass mit der von Colker erstellten
Textgestalt eine hinreichend zuverlässige Textbasis gegeben ist. Die
im vorliegenden Band aus inhaltlichen Gründen vorgenommenen
bzw. auf alternativen Handschriften beruhenden Änderungen zum
Text Colkers einschließlich einiger Abweichungen in der Inter-
punktion lauten wie folgt:
Buch I
87 precipit precepit
115 oranti frange oranti, frange
Buch II
318 fontis, fontis.
50 Einleitung
318a–f qualiter Alpinis spumoso vertice saxis —
descendit Rodanus, ubi Maximianus eoos
extinxit cuneos cum sanguinis unda meatum
fluminis adiuvit fusa legione Thebea
permixtusque cruor erupit in ethera spreto
aggere terrarum totumque rigavit Agaunum.
Buch III
C 4–5 Tyroque, | funditus Tyroque | funditus
223 legendo ligando
255 credit excedit
508 illa ille
540 Macedo ne Macedo. Ne
541 impetus. extimplo impetus, extimplo
Buch IV
431 aptant optant
438 quietis Quietis
Buch V
390 Sic sic victorem Et sic victorem
Buch VIII
85 triduo biduo
158 reliquit relinquit
Buch X
249 quia quod
250 operiens exspectans
362 amorigerae amoriferae
Buch I
1–10 Themenübersicht
1–26 Prooemium
Buch II
1–10 Themenübersicht
1–63 Der Perserkönig Darius
1–17 Die Charakterzeichnung des Darius
18–44 Die Korrespondenz zwischen Darius und Alexander
45–63 Die Heerschau des Darius
64–68 Die Schlacht am Granikus
68–90 Alexander in Phrygien
68–70 Alexanders Ankunft in Phrygien
71–74 Die geographische Lage von Gordium
75–90 Der gordische Knoten
91–102 Von Phrygien nach Kilikien
103–139 Der Truppenaufmarsch der Perser
56 Gliederungsübersicht
Buch III
1–10 Themenübersicht
1–214 Die Schlacht bei Issus
1–3 Das Aufeinandertreffen der feindlichen Heere
4–10 Alexanders Schnelligkeit und Entschlossenheit
11–27 Alexander gegen Arethas
28–47 Ptolemäus gegen Dodontes; Clitus gegen Androphilus
48–49 Iollas gegen Mazaeus
50–52 Philotas gegen Ochus
53–58 Parmenions Bedeutung für Alexander
Gliederungsübersicht 57
Buch IV
1–10 Themenübersicht
1–23 Tod der Stateira
58 Gliederungsübersicht
Buch V
1–10 Themenübersicht
1–430 Die Schlacht bei Gaugamela
1–10 Der Zeitpunkt der Schlacht bei Gaugamela
11–25 Alexander gegen Aristomenes
26–31 Weitere Kämpfe Alexanders
32–37 Philotas rächt Hesifilus und Laomedon
38–75 Alexander gegen den Riesen Geon
76–122 Clitus gegen Sanga und dessen Vater Mecha
123–182 Nicanor gegen Rhemnon
123–144 Das zähe Ringen der Truppen
145–165 Nicanor tötet Rhemnon
166–182 Nicanors Tod
183–204 Hephaestio gegen Phidias
205–255 Eine Götterbotschaft für Alexander
255–282 Alexander und die Griechen bedrängen Darius
283–306 Darius zwischen Kampf und Flucht
307–318 Alexander verfolgt Darius
319–349 Die Flucht des Darius und der Perser
350–375 Ein letztes Gefecht
376–421 Darius’ Ansprache an seine Soldaten
422–430 Die Reaktion der persischen Soldaten
431–455 Von Gaugamela nach Babylon
456–490 Alexanders Einzug in Babylon
491–520 Die Suche nach einem alexanderhaften christlichen Anführer
Buch VI
1–11 Themenübersicht
1–32 Alexander in Babylon
1–15 Apostrophe an die Stadt Babylon
16–32 Babylons verderblicher Einfluss auf die Griechen und Alexan-
ders Aufbruch aus Babylon
62 Gliederungsübersicht
Buch VII
1–10 Themenübersicht
1–90 Die Verschwörung gegen Darius
1–16 Kosmische Zeichen künden von Darius’ Ende
17–58 Darius im Selbstgespräch
59–90 Darius wird in Ketten gelegt und verschleppt
Gliederungsübersicht 63
91–378 Alexander verfolgt Darius
91–105 Die Schnelligkeit und die Handlungsschnelligkeit Alexanders
106–127 Alexanders Ansprache an die griechischen Soldaten
128–174 Alexander erreicht das Lager der Verschwörer
175–209 Die Flucht der Verschwörer und Darius’ Ermordung
210–239 Die Schlacht gegen die verbliebenen Perser
240–305 Darius’ letzte Botschaft an Alexander
306–343 Moralexkurs
344–347 Apostrophe an Darius
348–378 Alexanders Totenklage
379–430 Das Grabmal des Darius
431–538 Alexander zwischen Perserreich und Welteroberung
431–435 Alexanders angemessene Gebefreudigkeit
435–466 Alexanders Welteroberungspläne
467–538 Alexanders Ansprache an die griechischen Soldaten
Buch VIII
1–10 Themenübersicht
1–5 Die Eroberung von Hyrkanien
6–48 Die Amazonenkönigin Thalestris
49–74 Die Vernichtung der Kriegsbeute
75–322 Die Verschwörung des Philotas
75–91 Die Entdeckung der Verschwörung
92–157 Alexanders Anklagerede gegen Philotas
158–184 Alexander als ungerechter Richter
185–301 Philotas’ Verteidigungsrede
301–322 Philotas’ Tod
323–334 Autorexkurs: Die Bedeutungslosigkeit eitlen Ruhms
335–357 Die Hinrichtung des Bessus
358–495 Die Unterwerfung der Skythen
358–367 Das Volk der Skythen
368–476 Die Skythen-Rede
64 Gliederungsübersicht
Buch IX
1–10 Themenübersicht
1–325 Alexanders Indienfeldzug
1–8 Alexander als Feind seiner Freunde
9–34 Die Geographie Indiens
35–70 Der Inderkönig Porus
71–147 Nicanor und Symmachus
148–178 Alexanders List
179–325 Die Schlacht am Hydaspes
179–258 Die feindlichen Heere treffen aufeinander
258–290 Alexanders verfolgt Porus
291–325 Alexanders und Porus im Gespräch
326–340 Alexander als Welteroberer
341–500 Alexanders Kampf gegen die Sudraker
501–544 Craterus mahnt Alexander
545–580 Alexanders Antwort an Craterus
Buch X
1–10 Themenübersicht
1–5 Alexanders Aufbruch zu den Antipoden
Gliederungsübersicht 65
Weil ich genau dies fürchtete, hegte ich lange die Absicht, dich,
meine Alexandreis, [15] zurückzuhalten und das nach fünf Jahren
vollendete Werk entweder vollständig zu vernichten oder zumindest
zu meinen Lebzeiten verborgen zu halten. Schließlich hat sich bei
mir jedoch der Entschluss durchgesetzt, dich veröffentlichen zu
müssen, damit du deinen Platz in der einschlägigen Literatur ein-
nehmen kannst. Nicht bin ich allerdings der Meinung, [20] ein
besserer Dichter zu sein als der aus Mantua stammende Vergil,
dessen menschliches Genie übersteigenden Werke böswillig schmä-
hende Dichter zerrissen und den sie nach seinem Tod dreist herab-
gesetzt haben – einen Dichter, dem zu Lebzeiten niemand auch nur
ansatzweise gleichkam.
70 ALEXANDREIS
Aber auch unser Hieronymus, ein ebenso beredter [25] wie from-
mer Mann, der in jeder seiner Vorreden seinen Neidern entgegenzu-
treten pflegte, gibt deutlich zu verstehen, dass es unter Schriftstel-
lern keinen sicheren Platz mehr gibt, wenn der Stachel der Neider
in der Lage war, sogar einen Mann von einem derartigem Ansehen
wie Vergil zu kränken.
[30] Doch darum möchte ich die Leser dieses bescheidenen Werks –
falls es jemand von Zuneigung ergriffen lesen sollte – doch bitten,
dass sie, falls sie in dieser Dichtung etwas Tadelnswertes oder Spott-
würdiges finden sollten, die Kürze der Zeit bedenken mögen, in der
ich diese verfasst habe, und die Erhabenheit des Themas, [35] das
nach dem Zeugnis des Servius keiner der antiken Dichter in Angriff
zu nehmen gewagt hat.
Doch genug davon. [40] Nun aber will ich das Vorhaben beginnen;
und damit jemand leichter finden kann, was er sucht, will ich das
ganze Werk mit Hilfe einer dem jeweiligen Buch vorangehenden
Übersicht zusammenfassen.
Liber I
Capitula primi libri
Primus liber
Das erste Buch beschreibt Alexander, wie er in die heilige Lehre des
Aristoteles eingeweiht wird, und schmückt ihn mit Szepter und
Waffen. Alexander versöhnt zum zweiten Mal einem makedonischen
König die Stadt Athen. Theben jedoch zerstört er. Mit zahlreichen
Schiffen sticht er in See, [5] legt in Kleinasien an und wirft noch
vom Schiff aus einen Speer auf das vor ihm liegende Land. In der
Meinung, die dortigen Feinde schonen zu müssen, triumphiert er
ohne Krieg. In berechtigtem Stolz auf diese Leistung glaubt er, das
ganze Perserreich gehöre ihm schon. Vom Gipfel eines Bergs aus
betrachtet er Kleinasien und teilt den Bürgern die Städte ihrer Väter
zu. [10] Er bewundert Troja und berichtet seinen Soldaten von
einer einst noch in Pella erhaltenen Vision.
Prooemium (1–26)
Muse, berichte mir von den auf dem ganzen Erdkreis vollbrachten
Taten des makedonischen Königs, wie großzügig er Reichtümer
verteilte, wie er mit vergleichsweise kleiner Streitmacht über Porus
und Darius siegte und wie Griechenland unter einem solchen An-
führer siegreich triumphierte und daraufhin die Tribute von den
Persern nach Korinth zurückflossen. [5]
74 ALEXANDREIS
Denn als großes Feuer würde er durch den Glanz seiner Verdienste
all die kleineren Feuer gänzlich überstrahlen, [10] beim Aufgang
seiner Sonne nämlich würde der Morgenstern völlig verblassen und
auch der Wagen des trägen Bootes wäre im Morgenlicht nicht mehr
zu sehen.
Gleich nach deiner Geburt nahm dich als Zögling [20] die Philoso-
phie in ihre Obhut und öffnete der philosophischen Unterweisung
die heilige Halle deines Herzens, indem sie dir sämtliche Künste des
Helikon einflößte, und ließ dich, der du schon lange Zeit vom For-
schungseifer ergriffen warst, den über den Dingen liegenden Schlei-
er heben und versteckte Zusammenhänge entdecken:
Noch nicht war dem jungen Alexander der von Natur aus mit zar-
ten Haaren sprießende Flaum deutlich erkennbar hervorgetreten,
noch nicht auch hatte er bisher der Mutter unähnliche Wangen
hervorgebracht, als der mit ganzem Herzen [30] nach Kriegstaten
dürstende Junge hörte, Darius habe den pelasgischen Stämmen eine
Verfassung gegeben und sogar das Land des Vaters mit dem Joch
seiner Herrschaft bedrängt. Voller Entrüstung brachte er seinen
Zorn mit folgenden Worten zum Ausdruck: »Ach, wie lange ist
man als Junge doch zur Tatenlosigkeit verdammt! Wird es mir denn
niemals erlaubt sein, mit blitzendem Schwert in todbringenden
Schlachten [35] das Joch der Perser zu vergelten, das träge Pferd des
fliehenden Tyrannen in schnellem Lauf zu überholen und die kopf-
los agierenden Generäle des Feindes auseinanderzutreiben? Wird es
78 ALEXANDREIS
einem Jungen wie mir, geschmückt mit dem Banner des Löwen
und helmbewehrt das Haupt, denn niemals erlaubt sein, im Krieg
einen echten Mann wenigstens nachzuahmen?
Ist es nicht wahr, dass der Alkide als Kind einst in der Wiege [40] zwei
Schlangen bezwang, indem er ihnen die Kehlen zudrückte?
Soll ich etwa für alle Zeiten als Spross des Nektanabus angesehen
werden? Niemand soll mich als entartet beschimpfen!« So sprach
er und wägte wiederholt die eigenen Worte bei sich im Herzen.
Wie wenn von ungefähr ein noch junger Löwe sieht, wie auf hyrka-
nischen Fluren [50] Hirsche mit stolz emporgerecktem Geweih
zum Futterplatz ziehen – noch steckt in ihm nicht die unbändige
80 ALEXANDREIS
Mit deinem Heer rücke vor, schließe deine Reihen, gehe zum An-
griff über. Wenn du den echten Willen zu etwas Großem hast, wirst
du dein Ziel auch erreichen können.
Überzeugungskraft (118–127)
Vorbildfunktion (128–132)
Verfolge als erster vor allen anderen den fliehenden Feind. Wenn aber
möglicherweise dein Heer das schützende Lager erreichen möchte
[130] und den Rückzug vor dem feindlichen Heer antritt, bleibe ste-
hen und weiche als letzter zurück. Sie sollen dich ausharren sehen
und entehrt durch ihren eigenen Rückzug sich schämen, ohne den
König zurückgekehrt zu sein.
Handlungsschnelligkeit (136–143)
Wenn du sehen solltest, dass der Feind dich nur zaghaft verfolgt,
stürme als erster auf die Reihen der Verfolger zu, wende als erster
dein Pferd gegen den Feind und mache kehrt mit straff angezoge-
nen Zügeln. Hier trete hervor deine Kraft und zeige sich dein gutes
Verhältnis zu deinen Soldaten [140] ebenso wie dein feuriger Mut
und deine Erfahrung in einem grausamen Schlachtgetümmel. Hier
sollen sich die Pferde in direktem Kampf gegenüberstehen, hier soll
90 ALEXANDREIS
Schwert auf Schwert treffen und Schild auf Schild, hier soll das
Schlachtfeld von Helmen übersät sein. Kaum dürften die Besiegten
dem Sieger einen Triumphzug antragen.
[155] Binde sie mit Versprechungen an dich und löse diese rechtzei-
tig ein.
92 ALEXANDREIS
Welchen Rat kann ich dir sonst noch geben? Nicht doch soll dich
[165] verschwenderische Genusssucht erweichen, auch nicht zerbre-
chen soll dein tapferes Herz das Bedürfnis nach einer Liebschaft –
eine Krankheit der Seele –, die vornehmlich den Rückzug im Zwie-
gespräch und in der Zweisamkeit sucht. Wenn du dich Bacchus und
Venus hingibst, hast du dich selbst unterjocht, auch wenn du auf
alles andere verzichtest: Zugrunde gegangen ist dann die ungenutz-
te Freiheit eines müßigen Geistes. Wenn das Feuer der Venus lodert,
[170] wird das klare Denken stumpf. Die Trunksucht, verachtens-
wertes Grab der Vernunft, gibt dir energisch den Rat, Streitereien
und Kriege vom Zaun zu brechen. Diese beiden Laster bringen auch
starke Charaktere zu Fall. Jene, die als Herrschende Menschen Ge-
setze geben, dürfen sich nur selten den Lüsten hingeben. [175] Der
bei deinen Vorfahren hochgeachtete Gerechtigkeitssinn soll deine
Taten lenken, durch dich soll Astraea wieder vom Himmel herabge-
rufen werden, die einst als letzte Gottheit die Erde verließ. Nicht
94 ALEXANDREIS
Mit solchen Worten unterwies der Lehrer der Tugend seinen Schü-
ler, [185] benetzte das mit fruchtbarem Regen bewässerte Ohr und
versenkte im innersten Herzen die angesehenen Sitten. Bereitwillig
nahm jener mit dürstenden Ohren die heiligen Worte auf und
verwahrte jeden einzelnen Ratschlag in tiefster Seele. Sein Herz also
brannte voller Selbstvertrauen durch den Ansporn zu Ruhmestaten.
[190] Kampfeslust wurde in ihm wach und das Verlangen nach
Herrschaft. Schon war jegliche Befürchtung wie weggeblasen, schon
griff er voller Hoffnung im Geiste den Ereignissen voraus, schon
ging in der Vorstellung sein Wunsch in Erfüllung, schon streckte er
im Geiste die Feinde nieder, schon herrschte er und schon waren
ihm untertan die vier Ecken der Erde. Sobald also das Alter erreicht
war, das die Jungen der Rute entfremdet, [195] legte der Makedone
nicht für sich selbst, sondern für das Vaterland öffentlich die Waf-
fen an, es lebte der Bürger im Fürsten, noch ein Rekrut zwar, im
Herzen aber ein Gigant und erfahrener Kriegsveteran. Man hätte sich
zur Zeit Alexanders rückblickend vor Augen führen können, dass
der unüberwindliche Neoptolemus damals im trojanischen Krieg
so große Taten vollbringen wollte, die kaum sein Vater Achilles voll-
96 ALEXANDREIS
bracht hat: [200] Nicht nur gegen die Perser nämlich, gegen die er
berechtigte Gründe zur Klage hatte, traf er Vorkehrungen loszu-
schlagen, sondern gegen die ganze Welt hatte er sich verschworen,
wenn es das Schicksal zulassen sollte.
Nach ihrem Gründer war einst die Stadt Korinth benannt worden,
die ihre geographische Lage, ihr überreiches Angebot an Gütern
aller Art, [205] ihr großer Wohlstand, ihre hohe Bevölkerungszahl
sowie der feste Wille der Könige Griechenlands dazu bestimmt
hatten, Hauptstadt und Zentrum des Reichs zu sein.
Paulus hat diese Stadt später in Weiden des ewigen Frühlings ver-
wandelt, indem er mit dem Evangelium die Heiden vertrieb.
Hier also setzte sich der Makedone, um [210] nach dem Tod seines
Vaters keinerlei Rechte der Stadt zu schmälern, das heilige Diadem
auf das ehrwürdige Haupt und erstrahlte durch das elfenbeinerne
Szepter.
98 ALEXANDREIS
In der Mitte des Adels stehend, umgab ihn zu beiden Seiten hin die
geistige Reife und die Milde des Greisenalters der Väter, deren
Recht es war, im ganzen Reich für Ordnung zu sorgen, und durch
die aufgrund des hemmenden Walls ihrer Beschlüsse [215] heimtü-
ckischen Plänen Einhalt geboten wurde. Eher vermochten sie mit
der Kraft ihrer Worte als mit der kämpfenden Hand die Geschäfte
des Kriegs zu führen, eher die Sorgen des Kriegs auf sich zu nehmen
als selbst in den Krieg zu ziehen. Aus der Ferne und ungezügelter
Leidenschaft schon ein wenig entrückt, halfen jene, in deren Brust
die geistige Stärke das Temperament im Zaum hielt, [220] und wahr-
lich ließ dementsprechend Nestor einem Achilles den Vortritt. Im
Blickfeld des Anführers, umgeben von der waffenlosen Schar der
Weisen, saß auch Aristoteles, bekleidet mit einem behaglichen Ge-
wand, aus dem Dienst schon entlassen und vom unaufhaltsamen Al-
ter gebeugt, [225] seine ungekämmten Haare bändigte der Lorbeer.
Schon war der Monat Juni gekommen, der sich vom Namen der
Jünglinge ableiten lässt, [240] von dem der Weinstock seine Blüten
bekommt und die Traube den Wein, den der Herbst trinkt und der
Winter vorrätig hält und in welchem der hochragende Weizen ern-
tereif wird. Und schon schickte sich Phoebus mit seinen Strahlen
an, den zurückweichenden Krebs zu bescheinen, als der Makedone
mit Zustimmung des Volkes und der adligen Anführer einstimmig
[245] zum König erhoben wurde und daraufhin die zum Krieg aus-
gewählten Landsleute in Reiterschwadronen mit insgesamt fünf-
tausend berittenen Kämpfern einteilte. Alle waren vom selben
Kampfeseifer beseelt, doch unterschied sie ihr ungleiches Alter.
Denn nicht nur junge Männer wählte Alexander aus, sondern auch
solche, deren ergrautes Haar [250] den Kriegsdienst und die bereits
unter dem Kommando des Vaters nachgewiesene Tüchtigkeit be-
zeugte. In seinem Gefolge gab es nicht einen einzigen Anführer oder
Ratgeber, der jünger als sechzig Jahre gewesen wäre, so dass man
allenthalben glauben musste, wenn jemand das Quartier der Ge-
neräle oder besser der waffenlosen Quiriten aus der Nähe gemustert
hätte, nicht [255] Reiterpräfekte zu erblicken, sondern vielmehr
einen Senat. Außerdem stellte er für den Krieg zweiunddreißigtau-
send Fußsoldaten bereit, denen er als Waffen spitze Pfähle und die
dakische Doppelaxt gab, zudem die kraftvolle Schleuder, die in tod-
bringender Krümmung Bleikugeln fliegen lässt, das Schwert und
den das Leben nicht achtenden Bogen, [260] sichelförmge Schilde
und die dem Tod vorauseilenden Pfeile. Sie schleuderten Speere
und drohten mit spitzen Lanzen. Mit einem Harnisch schützten sie
ihre Brust und mit einer ledernen Kappe den Nacken. Mag er diese
102 ALEXANDREIS
mit Geschossen bewaffnet haben, besser als jede Waffe war ihre
Tugendhaftigkeit. Beides erstaunt mich in gleichem Maße, nämlich
dass Alexander nicht nur den Willen besaß, [265] mit so wenigen
Tausend Soldaten die Welt zu erobern, sondern dazu tatsächlich
auch in der Lage war. Und doch stellt es einen seltsamen Verlauf des
Schicksals dar, dass nur wenige Soldaten einem einzigen Mann so
viele Reiche unterworfen haben.
Mitten in diesem gewaltigen Aufruhr und Getöse der Welt, als der
ganze Erdkreis von verschiedenen Gerüchten erzitterte, wagten es
die Athener auf Anraten des Demosthenes als erste, Alexander in
dessen Abwesenheit [270] ihre Unterstützung zu entziehen, einen
ungewissen Krieg vom Zaun zu brechen und die gewaltsame Aus-
einandersetzung zu suchen. Der Makedone war außer sich, als ihm
dies zu Ohren kam. Also befahl er den eigenen Männern, früher als
geplant das Lager abzubrechen. So erschien er für den Feind
[275] unvermutet vor Ort und umschloss die Mauern Athens mit
seinen Reiterschwadronen. Unterdessen äußerte sich Aeschines,
nachdem er die Alten in der Burg der Pallas versammelt hatte,
beschuldigte Demosthenes des begonnenen Streits und zeigte auf,
dass nichts sicherer sei als der Friede. Während die Gesandtschaften
beider Seiten ihre ihnen aufgetragenen Aufgaben [280] erfüllten,
erneuerte der König, ergriffen von der Zuneigung zur bittenden
Heimat, den Bund und stellte den Frieden für die Stadt wieder her.
Mit heiterer Miene gestattete er den Athenern, sich den heimischen
Künsten und Wissenschaften zu widmen, und verzichtete auf den
eigentlich schon geplanten Krieg.
104 ALEXANDREIS
Als er daher von neuem den Bund mit dem zunächst abtrünnigen
Athen geschlossen hatte, [285] marschierte er rastlos mit eilendem
Heer zum uralten Theben. Dicht gedrängt auf den Mauern for-
mierte sich bewaffnet die zahlreich angetretene Jugend der Theba-
ner und verwehrte dem eintrittswilligen Alexander mit verschlosse-
nen Toren den Zugang zur Stadt. Wenn sie den makedonischen
König als Herrscher anerkannt hätten, wenn sie ihm mit Bitten und
nicht mit Waffen begegnet wären, wenn sie den begonnenen Betrug
und das Verbrechen, [290] wie es angemessen gewesen wäre, bereut
hätten, wären sie vielleicht in der Lage gewesen, die Flut seines
Zorns aufzuhalten, ihr zu diesem Zeitpunkt noch unversehrtes Le-
ben zu retten und dessen Gnade zu verdienen. Weil sie aber die
Frechheit besaßen, die Zeichen der Zeit und den König zugleich zu
missachten, bekamen sie zu Recht die Faust des Königs zu spüren.
[295] Während der Makedone noch darüber nachdachte, die Stadt
überhaupt zu vernichten, unterstützten bereits aus Nachbarstädten
zusammengezogene Satrapen die von mannigfachem Unglück heim-
gesuchten Thebaner, auch wenn sie deren ganzes Geschlecht an-
klagten und sich von neuem daran erinnerten, dass dieses Volk vom
ersten Ursprung an auf Freveltaten bedacht war und vom Blut der
Griechen troff: [300] Einem Drachen entstammten die Ahnen und
auch die Nachfahren würden noch immer das in die Herzen ge-
strömte Gift ihrer Vorfahren in sich tragen. »Wer kennt nicht Nio-
bes Stolz, wer nicht die vom Blut ihres eigenen Sohnes besudelte
Agaue, die in bacchantischer Raserei aufheulte? Wer weiß nicht vom
Feuertod der Semele und von jenem geblendeten König, [305] der
auf schändliche Weise zum eigenen Ursprung zurückgekehrt ist,
wer kennt außerdem nicht das von scheußlichem Samen gezeugte
Brüderpaar, das zum Schaden ganz Europas gegeneinander kämpf-
te?« Der ohnehin schon entfachte Zorn Alexanders flammte aus
diesen Gründen noch heftiger auf und er gab seinen Leuten den
106 ALEXANDREIS
det. Brachte dieses Land nicht auch Götter hervor und zog es als
Ahnherrn deines Volkes nicht auch den Alkiden auf, dessen Ruhm
– auf dem so oft bezwungenen Erdkreis verbreitet – alle überragt?
[340] Siehe da, die Mauern und den von Amphions Liedern errich-
teten Burgberg. Lerne, Besiegten mit Milde zu begegnen und mit
Härte jenen entgegenzutreten, die noch Widerstand leisten. Ohne
festen Stand ist ein Reich, das nicht von der Milde befestigt wird.
Aber wenn du Thebens Bürger unbedingt quälen willst, schone
zumindest den Boden und lass Nachsicht walten gegenüber den
heimischen Göttern.« [345] Cleades’ Rede änderte jedoch nichts an
der Meinung des Königs. Beharrlich hielt er am ursprünglichen
Vorsatz fest, ließ seinem Zorn freien Lauf und gab den Befehl,
zuerst die Türme und Mauern dem Erdboden gleichzumachen,
dann steckte er den übrigen Teil der Stadt in Brand.
Vorbereitungen (349–358)
Als die Flotte schon mit gelösten Tauen ins segelbesetzte Meer stach,
[360] eine rasche Fahrt anstrebte und kein Anker mehr den Meeres-
boden zerwühlte, als die Mannschaft sich vom heimatlichen Hafen
entfernte, zerriss plötzlich eine den Menschen Unheil verkündende
Stimme die von seltsamen Klängen schrillende Luft, das Schmet-
tern von Trompeten mischte sich schallend darunter und das ganze
Meer hallte wider von diesen Klängen. [365] Ach, angeborene Liebe
zur Heimat, so ziehst du alle in deinen Bann. Ach, welch eine
gewaltige Anziehungskraft du besitzt. Als die rastlose Flotte die
Söhne der Heimat eilends über das Meer entführte – auch wenn sie
aus freien Stücken eifrig den Plan umsetzten, in das Gebiet der Per-
ser einzufallen und ihr Anführer sie nicht gegen ihren Willen für
den Lohn der Kriegsbeute wegführte –, [370] rief sie doch allein der
Liebreiz der Heimat ungeachtet ihres eigentlichen Vorhabens zu-
rück und gestattete es ihnen nicht, sich innerlich von den väterli-
chen Gefilden zu lösen, sondern wendete die Augen und die Ge-
danken solange zurück zum lieblichen Griechenland, bis beim Blick
in die Ferne die immer kleiner werdende Landspitze Europas und
auch der Hafen ganz ihrem Blickfeld entschwunden waren. [375] So
groß war der Wille in ihrem unerschütterlichen Herzen, diesen Krieg
auch tatsächlich zu führen, so schwer war es aber auch, Eltern und
Geschwister vergessen zu müssen. Allein der entfesselte Makedone
wandte seine Augen vom Land des Inachus ab. Als dieser zuerst die
Hügellandschaft Kilikiens und Kleinasien auftauchen sah, [380] emp-
fand er große Freude, kaum war die enge Behausung seines Herzens
in der Lage, so gewaltige Glücksgefühle aufzunehmen. Da seine
Freude keinen weiteren Aufschub duldete, gab er den Seeleuten
den Befehl, sich in die Ruder zu legen und sich nicht länger aus-
schließlich auf die vom Wind gespannten Segel zu verlassen. Auf
den Befehl ihres Anführers hin richteten sich jene in Windeseile
112 ALEXANDREIS
sogleich auf den Ruderbänken auf [385] und peitschten die Meeres-
flut mit schnell aufeinanderfolgenden Schlägen.
Die Flotte war nur noch einen Steinwurf weit vom Ankerplatz im
Hafen entfernt, als Alexander den feindlichen Boden mit einem
vom Schiff aus geworfenen Speer verletzte. [390] Die ganze Truppe
pries dies als günstiges Vorzeichen und ließ ihren fröhlichen Beifall
zu den Sternen emporsteigen. Unverzüglich wurde in Ufernähe An-
ker geworfen. Zuerst wurden die Schiffe entladen, dann sprangen
sie umgehend an Land und errichteten an der baumreichen Küste
das Lager. Dann hatten sie Zeit für das Essen, und während sie
festliche Becher leerten, [395] dehnten sie das Gelage bis spät in die
Nacht hinein aus.
Asienexkurs (396–426)
Der dritte Teil des Erdkreises soll der Sage nach von eben jener
Königin beherrscht worden sein, die für Asien auch namensgebend
gewesen ist. Asien ist derjenige Teil der Welt, den auf der Seite des
Sonnenaufgangs der Ozean mit seiner unermesslichen Flut be-
grenzt und der sich von Süden her bis weit in den Norden hin aus-
dehnt. [400] Von Norden her begrenzen der Don und das Asow-
sche Meer den asiatischen Kontinent, von Europa trennt Asien das
Mittelmeer. Diesem Erdteil allein ist es vorbehalten, die Welt in
zwei gleiche Hälften zu teilen; obgleich er nur ein Erdteil von dreien
ist, berichten die Geographen, dass dieser allein die Welt halbiert:
[405] Folglich teilt der Erdkreis den beiden anderen Erdteilen, die
jeweils mit weniger Raum zufrieden sind, wohlwollend die andere
114 ALEXANDREIS
Hälfte zu. Das ist die Lage Asiens. Auch jenen Erdteil umschattet
das Laub von Wäldern, auch jenen durchfließen zahlreiche Flüsse.
Auch jener sonnt sich im Glanze berühmter Provinzen. Hier lässt
das von Edelsteinen reiche Indien das Trompeten von Elefanten
ertönen. [410] Zweimal im Jahr wird dort gesät und geerntet. Von
Norden her droht der Kaukasus, vom regenreichen Osten her weht
der Atem des Paradieses. Asien umfasst das Reich der Assyrer, Me-
der und Perser. Letztere heißen nun Parther. Mesopotamien bildet
zu diesen die Grenze. Dieser Kontinent beherbergt die Reichtümer
Babylons und das Reich der Chaldäer, [415] ebenso das Land der
von sabäischem Weihrauch duftenden Araber, wo die mühselige
Beschäftigung mit der Logik ebenso ihren Ursprung hat wie der
sich immer wieder erneuernde Phönix und woher gemeinsam Myr-
rhe und Zimt stammen. Auf dieser Seite begrenzt der Euphrat
Syrien, dort auf der anderen Seite grenzt Armenien an diesen Fluss.
In Erinnerung an die Sintflut droht der Euphrat den Göttern und
auch dem Himmel. [420] Dort überstrahlt Judäa allein als Ort des
einzigen wahren Gottes ganz Palästina. Jerusalem liegt genau in der
Mitte der Erde, genau dort nämlich, wo das durch die Jungfrau
Maria geborene Leben sein Ende fand und der neugeborene Erd-
kreis beim Tode Christi nicht stillstehen konnte, sondern erschro-
cken erbebte. [425] Beinahe zahllos sind Asiens Länder. Wenn mein
Griffel diese alle beschreiben würde, hielte er den weiteren Fortgang
der Dichtung nur unnötig auf und riefe großen Verdruss hervor.
sah ich oft werden, was erst so hart sich gezeigt hat. Damit euch die
Unkenntnis der wahren Gründe, [500] warum ich so ausnehmend
zuversichtlich bin, nicht weiter umtreibt, will ich euch dieses eine
Geheimnis enthüllen:
[525] zierte seine Stirn in der Mitte. Da mir jedoch diese fremdartige
Sprache unbekannt war, muss ich gestehen, dass ich diese Schrift-
zeichen nicht lesen konnte. Vollends bedeckte die Tiara das Haupt
des Bischofs, die schamhaften Füße verbargen sich unter dem lan-
gen Talar. [530] Wenn dieser mich nicht zuerst angesprochen hätte,
hätte ich Grund genug gehabt, in aller Kürze etwas über seine Per-
son, seinen Auftritt vor mir und seine diesbezüglichen Gründe in
Erfahrung zu bringen. Er aber sagte zu mir: ›Verlass, tapferster Ma-
kedone, die väterlichen Gefilde! Dann will ich dir das ganze Per-
serreich erobern. Aber wenn du mich einmal in solcher Gestalt dir
leibhaftig entgegentreten siehst, [535] dann schone mein Volk!‹
Sprach’s und entschwand in den Himmel und erfüllte im Gehen
das Haus mit einem herrlichen Duft. Unter der Führung dieses
Bischofs, standhafte Schar, auf Befehl dieses Gottes erregt ihr den
Krieg.« So sprach Alexander und ging schnellen Schrittes zurück in
das Lager.
Secundus liber
Das zweite Buch schildert die Vorbereitungen des Darius und der
Perser zum Kampf. Darius schreibt Alexander einen Brief und
nimmt das persische Heer in Augenschein. Indes zerschlägt der
Makedone mit dem Schwert den schicksalhaften gordischen Kno-
ten und erholt sich unter Philipps ärztlicher Anleitung ein wenig
abseits von seinen Männern von seiner Krankheit. [5] Auf beiden
Seiten des Gebirgspasses stehen die Heere, beengt von Kilikiens
gebirgigen Schluchten. Ein ungerechtes Schicksal ereilt Sisines. Ein
eigentlich hilfreicher Plan des klugen Tymodes stößt bei den
persischen Offizieren auf Ablehnung: Sie ziehen es vor, das ganze
persische Heer zugleich dem Untergang preiszugeben. [10] Beide
Könige rufen bei Issus ihre Männer wild entschlossen zum Kampf.
Die Luft hallt wider vom Beifall der Truppen.
Boten, [35] die ihm die Weisungen des medischen Königs über-
bracht hatten, schlagfertig die passende Antwort: »Besser und
treffender deute ich die niedlichen Geschenke eures Königs: Die
runde Gestalt des Balls bezeichnet auf vortreffliche Weise die ku-
gelförmige Gestalt des gerundeten Erdkreises, den ich mir zu
unterwerfen gedenke. [40] Die angesprochenen Peitschen werde
ich für meine Zwecke gegen die niedergeworfenen Perser einsetzen,
[42] wenn ich dann als Sieger Darius’ alte Schatzkammern ge-
sprengt habe.« Nach diesen Worten überreichte Alexander den
Boten verschiedene Geschenke, versehen mit dem königlichen
Siegelbild aus Wachs.
Aber das erste Zusammentreffen und die erste heftige [65] Schlacht
zwischen Alexander und Darius – auf persischer Seite hatte noch der
berühmte griechische Feldherr Memnon die Befehlsgewalt inne –
hat sechshunderttausend vortreffliche Krieger gebunden. Diese
schlug Alexander, an Truppenstärke zwar unterlegen, stärker jedoch
im Gefecht.
Einige Zeit später verschaffte er sich mit der Waffengewalt seiner Sol-
daten Zutritt in die Residenzstadt des steinreichen Midas: [70] Frü-
here Generationen nannten sie Gordium, die heutigen Bewohner
nennen sie Sardes.
[75] Hier erglänzte im Tempel des Jupiter der erhabene Wagen des
Gordius und das uralte Schicksalsjoch Asiens. Niemand jedoch
konnte wegen der mit verborgener Kunst ineinander geschlunge-
nen und zusammengefügten Stricke für ein lange Zeit das Ende des
Seils finden oder die Knoten lösen. [80] In dieser Stadt herrschte
der unverrückbare Glaube, dass die feste Ordnung des Schicksals es
so eingerichtet habe, dass jener, der die Fesseln zu lösen vermöchte,
sich der Herrschaft über ganz Asien bemächtigen dürfe. Es bewegte
Alexander der innere Wunsch, des Schicksals Spruch zu erfüllen, er
richtete das Joch auf und versuchte die Knoten zu lösen. [85] Als er
nach kurzer Mühe sah, dass seine Anstrengungen vergeblich waren,
gab er folgende Worte von sich, um sein Geleit nicht durch ein
böses Vorzeichen zu verunsichern: »Was geht es uns an, Gefährten,
durch welche Kunst und auf welche Weise sich die Rätsel des
schweigsamen Schicksals lösen lassen?« Sprach’s und zerschlug mit
gezücktem Schwert den Knoten, [90] wodurch er entweder das
Schicksal verspottete oder auch nur zufällig enthüllte.
Von hier aus kam Alexander nach Ankyra, nachdem er bereits Sol-
daten vorausgeschickt hatte, um Kappadokiens Stämme zu unter-
werfen. Nachdem diese in ihre Grenzen gewiesen waren, eilte der
Makedone am Morgen weiter und überwand im Laufe eines einzi-
gen Tages in hastigem Lauf fünfzig Meilen, [95] um eilenden Schrit-
tes dem zaudernden Darius zuvorzukommen. Da er den schwieri-
gen Zugang nach Asien und die enge Schlucht an der Kilikischen
Pforte fürchtete, traf er Vorbereitungen, gegen Darius vorzustoßen,
der zuvor sein Lager am Euphrat beim zeitigeren Tagesanbruch im
Osten, als die Sonne dort bereits mit ihren Strahlen den Tau von
138 ALEXANDREIS
den Blättern tropfen ließ, [100] als erster verlassen hatte und jetzt
schon Kilikiens Ebenen besetzt hielt. Die von Höhlungen durchzo-
genen Felsen hallten von den Signalhörnern der Griechen wider,
auch die Täler erwiderten den Klang, die von Lärm durchdrungene
Luft vervielfachte das Getöse und Donnerschläge erschütterten die
Wolken.
gleiteten. Und damit die Griechen nicht mühelos bis zum Streitwa-
gen [125] des persischen Königs vordringen konnten, bildeten
dreißigtausend von ausgezeichneten Waffen geschützte Fußsoldaten
den Abschluss des Heereszugs. Danach folgte der Wagen mit der
Mutter des Mederkönigs, auch die Ehefrau und die Kinder waren
mitsamt dem ganzen königlichen Hausrat dabei. [130] Fast fünfzig
Wagen, die ebenso viele Nebenfrauen beförderten, ächzten unter
einem derart großen Gewicht. Sitte war es damals bei den persi-
schen Königen, auch den ganzen Haushalt mit in den Krieg zu
schleppen, wenn das Zeichen zum Abmarsch gegeben wurde. Das
herbeigeschaffte Geld folgte auf sechshundert Eseln und beschwerte
zudem die Höcker von dreihundert Kamelen. [135] Zahlreiche Speer-
schützen und Werfer, die Schleudern am lockeren Riemen trugen,
umschwärmten das aus mehreren hunderttausend Kriegern be-
stehende Heer. Zuletzt schritten schier unzählbar die Scharen
leichtbewaffneter Kämpfer einher, von den Füßen und Rädern zer-
mahlen, wälzte sich ein Wirbel aus Staub zu den goldenen Sternen
hinauf.
[145] Hier zeichnete sich gemäß dem Bericht der Heiligen Schrift
jener durch glänzende Geburt aus, durch den – vom eigenen Irr-
glauben befreit – für die verblendeten Völker das strahlende Licht
des Glaubens in besonderem Maße emporstieg. Klar und schlamm-
los strömt mitten durch die Stadt der Kydnus, der seine kalten
Wogen aus verschiedenen Quellen schöpft. [150] Er ist ohne wei-
teren Zufluss und nimmt anderswoher kein Wasser eines reißenden
Bachs auf, in dessen sanfter Strömung treibt ein Steinchen sein
Spiel und der Sand bewegt sich mit den auch rückwärts laufenden
Wellen.
[170] der bewusstlose und leblos wirkende König wurde von den
Händen der Seinen aus dem Fluss gezogen.
Diese Vorwürfe hörte die blinde Fortuna, als sie ermüdet vom Wäl-
zen des Schicksalsrades gerade am Boden saß. Wieder zu Kräften
gekommen, erhob sie sich und verlachte mit heiterer Miene die
Griechen, schalt in einem fort deren Furcht und flüsterte sich selbst
mit wenigen Worten zu: [190] »Von welchem Schicksalsdunkel
umfangen liegt der unwissende Geist der Menschen am Boden, der
146 ALEXANDREIS
Nach diesen Worten durchdrang schon freier der Atem die noch
gebrechlichen Glieder des Königs und gewann nach und nach die
gewohnten Bahnen zurück, doch eine überaus schwere Krankheit
dörrte seine Eingeweide anhaltend aus. Dennoch hob er sein Ant-
litz und sagte mit nach oben gerichtetem Blick: [205] »Wird also
der grausame Sieger mich – den im Kampfe unbesiegten Alexander –
hier im eigenen Lager ergreifen? Der in unmittelbarer Nähe stehen-
de Feind gestattet mir nicht, auf zaudernde Ärzte oder einen günsti-
gen Heilungsverlauf der Krankheit zu warten. Die feindlichen
Barbaren werden ob der erbeuteten Rüstungen johlen, euer König
aber wird als ruhmloser Exilant ohne Verdienst [210] nackt im
feindlichen Staube liegen. Falls es jedoch in der Macht der Ärzte
liegen sollte, meine Gesundheit mit ärztlicher Kunst wiederherzu-
stellen, soll mir eine Arznei willkommen sein. Doch sollen die Ärzte
wissen, [213] dass ich nicht ein langes Leben erstrebe, sondern
lediglich die Zeitspanne für den bevorstehenden Krieg benötige.
[215] Denn wenn ich ungeachtet meines noch immer angeschlage-
nen Gesundheitszustands zumindest an der Spitze meines Heeres
148 ALEXANDREIS
stehen kann, werden die Perser in wildem Lauf den Rückzug antre-
ten und die Griechen werden jubelnd die Verfolgung aufnehmen.«
Sisines aber, war man der Meinung, [270] sei von Darius insgeheim
mit Gold bestochen worden, weil er eine Sache im Stillen für sich
behalten hatte. Diesen ereilte nicht ohne Wissen des makedoni-
schen Königs ein ungerechter Tod.
Von dort aus richtete Darius [320] freundlich den Blick zu den am
Fuße des Hügels stehenden Scharen der einfachen Soldaten und
auch der Vornehmen. Nachdem alle Anführer herbeigerufen wor-
den waren, teilte er gruppenweise diejenigen ein, die zuerst in die
Schlacht ziehen sollen. Zuletzt gab Darius mit gütiger Stimme
wohlerwogene Bitten von sich und der Anblick seines reifen Äu-
ßeren allein hätte dabei Zuneigung verdient gehabt: [325] »Perser,
ihr Erben der Götter, du im Krieg einzigartiges Volk, das vom
altehrwürdigen Belus abstammt, der es als erster verdient hat, auf
einem heiligen Bild verehrt zu werden und unter den Himmlischen
auf einem mit Sternen besetzten Thron seinen Platz zu finden, lasst
alle Furcht fahren. Verblendung ist es und nicht gehört es sich, von
Kampf zu sprechen, [330] wenn Sklaven gegen ihren Herrn mit
Waffen Missbrauch treiben. Rache ist es und nicht Krieg, wenn
Herrscher rebellische Sklaven ergreifen, als Gefangene zu ihren Un-
tertanen machen und so das Vaterland beschützen. In der Meinung,
alles werde ihm weichen, lässt sich jener knabenhafte Bastard nach
der Machtübernahme in seinem Reich von der Leidenschaft der
Jugend [335] leiten und stürzt sich unvorsichtig in alle Gefahren.
Lieber will er auf dem Schlachtfeld sterben, als besiegt von dort
158 ALEXANDREIS
Schon war das persische Heer, eilig sich Issus nähernd, von griechi-
schen Posten entdeckt worden. Durch den Glanz des Goldes und
der Edelsteine [390] blitzten die Reihen der persischen Waffenträ-
ger, sie schritten in wildem Getümmel voran und verdunkelten mit
dem von ihnen aufgewirbelten Staub die Sonne. Von luftiger An-
höhe eilend, meldete ein aufmerksamer griechischer Späher, dass
sich der persische König mit seinem gesamten Heer im Anmarsch
befinde. Kaum konnte Alexander dies glauben, [395] den allein der
Aufschub des Kriegs mit Sorge erfüllte. Dem Heer als erster voran-
reitend, rief er: »Zu den Waffen, zu den Waffen, ihr Griechen.« In
vorderster Front stürzte er sich nach Verlassen der Stadt wie ein
Blitz auf die Perser, ihm folgte die behelmte Jugend. So stürzt sich
mit hungrigem Maul auf seine Beute der Wolf, dessen Hilfe der
wimmernde und an trockenen Zitzen hängende [400] Nachwuchs
erbettelt und den schließlich der in leerer Höhle entstandene Hun-
ger, der Gefährte der Mordlust, zur Weide hin jagt. Das Vieh, das
nicht zu fliehen wagt, bleibt wie angewurzelt stehen, und wenn es
dem Wolf entkommen sollte, wird es anderen wilden Tieren des
Waldes zum Opfer fallen. Von der Leine gelassen sind die Hunde,
die der Hirte mit lauter Stimme [405] und einem Stock und wild
gestikulierend von einem Hügel aus antreibt. Nicht anders stürzte
sich der König der Makedonen auf jenes Barbarenheer, das zuvor
noch überall erzählt hatte, dieser fliehe gerade ängstlich.
Als das persische Heer mit Verwunderung sah, wie die Griechen in
getrennten Abteilungen mit großer Geschwindigkeit vorrückten,
stürzte es – ob der getrogenen Hoffnung [410] schaudernd – fas-
sungslos zwar in die Schlacht, der Lärm und die Wucht der in den
164 ALEXANDREIS
[450] »Söhne des Mars, der ganze Erdkreis sehnt sich danach, eurer
Herrschaft und eurer Gerichtsbarkeit zu unterstehen. Seht, hier ist
der langersehnte Tag, an dem sich die vorsorgende Fortuna an-
schickt, uns den oft versprochenen Sieg zu gewähren. Einer ihrer
diesbezüglichen Kostproben wurde ich unlängst in Europa ansich-
tig, [455] als ihr die Thebaner besiegt und die ganze Stadt dem
Erdboden gleichgemacht sowie Athen allein durch die Androhung
von Gewalt gefügig gemacht habt. Ihr seht die feigen Scharen der
Perser von Gold glänzen, ihr seht, dass deren verweichlichtes Heer
von Edelsteinen schimmert: Es trägt eher die Beute zur Schau als
168 ALEXANDREIS
den Willen zur Entscheidung. Gold muss [460] durch Eisen besiegt
werden. Die weichlichen Schwächlinge haben nur gelernt, Drohge-
bärden von sich zu geben, vor dem Schwert und vor Wunden schre-
cken sie indes ängstlich zurück. Wenn das todbringende Schwert
erst einmal deren Eingeweide durchwühlt und das Schlachtfeld mit
persischem Blut getränkt hat, werden sie über waldige Gebirge und
Felsen abseitige Pfade zur Flucht suchen. [465] Wie groß eure Hin-
gabe mir gegenüber ist, wird sich erweisen, wenn ich stumpfe, zer-
brochene Schwerter und von Hieben zerborstene Schilde erblicke.
Die rechte Faust eines kämpfenden Mannes allein wird dessen Lo-
yalität mir gegenüber zum Ausdruck bringen können. Alexander
liegt euch im selben Maße am Herzen, wie euer Schwert dies zu-
lassen wird. [470] Besiegt die bereits Besiegten. Wer das Schwert im
Kampf mit dem Feind schont, ist sich selbst Feind. Wer dem Feind
das Leben verlängert, der verkürzt sich sein eigenes Leben. Es ist
kein Zeichen von Milde, im Krieg den Feinden gegenüber Gnade
walten zu lassen. Eine Last für sich selbst und würdig abgeschlagen
zu werden, ist eine Hand, die zurückhaltend tötet. [475] Die Schwa-
chen wagen es nur, dem Tod ängstlich entgegenzugehen, dem Tod
mutig zu trotzen, wagen sie aber nicht. An wie viel Unrecht, an wie
viele Schlachten und an wie viele Bluttaten, allesamt von persischen
Anführern begangen, können sich Griechen erinnern! Reicht es
eurer Meinung nach aus, dass die Enkel für die Taten der Väter
bezahlen? Dieses riesige Volk ist nicht groß genug für die zu er-
leidende Strafe. [480] Die von den Persern verschuldete Verwüs-
tung Europas werde ich mit dem Untergang des Perserreichs
sühnen. Medien und Darius werden für Xerxes’ Taten ihre gerechte
Strafe erhalten. Führt unter meiner Führung, ihr Anführer, die
Feldzeichen voran; reißt unter meiner Führung die Verschanzungen
nieder, durchstoßt mit gezücktem Schwert die zur Schlacht auf-
gestellten feindlichen Reihen. Teilt mit mir die Schlacht, nicht aber
die Beute. [485] Die Beute soll meinen Soldaten als Lohn zuteil wer-
170 ALEXANDREIS
den, mir genügt der Ruhm allein. Reichtum für euch und Ruhm
für mich wünsche ich mir.«
Siege über das Geschlecht der Hebräer. Mit gesenktem Blick folgte
das in Gefangenschaft geratene Volk der Hebräer dem Wagen des
Siegers. Nachdem der Tempel und die Mauern der Stadt dem Erd-
boden gleichgemacht worden waren, wurde der König von Juda,
[510] des Throns und seines Augenlichts beraubt, in die Mauern der
feindlichen persischen Stadt getrieben. Damit jedoch die Schandta-
ten mancher die Lobpreisung der alten Könige nicht verdunkeln,
hat die Hand des Künstlers in langer Reihe jene Episoden still-
schweigend übergangen, die auszulassen ihm zweckmäßig erschie-
nen. Schmachvoll wäre es gewesen, unter so vielen denkwürdigen
Siegen von Anführern und Königen einen [515] mit ländlicher Kost
und Wasser aus einem Fluss versorgten König darzustellen, der in
verwandelter Gestalt wie ein Ochse brüllt. Auch nicht abgebildet
hat der Künstler, dass jener Vater, wieder in die ursprüngliche Men-
schengestalt verwandelt, noch am Leben war, jener Vater nämlich,
den sein wahnsinniger Sohn [520] auf Anraten Joachims – welch
eine Schmach – von einem schrecklichen Vogel nach und nach in
Stücke zerfetzt, auf abgelegenen Wegen ausgestreut haben soll, um
künftig allein in seiner Heimatstadt herrschen zu können. Der
letzte Teil des Schildes versuchte das ruhmvolle Reich der Perser
darzustellen. Man konnte Belsazar erkennen, wie er aus einem hei-
ligen Goldbecher trank, und die Hand des Schreibers, der dessen
umschlagendes Schicksal notierte [525] und dessen dunkles Ge-
heimnis der Mann der göttlichen Liebe deutend entwirrte. Aber
das ganze Rund und den äußeren Rand des Schildes umgab die
ruhmreiche Geschichte des Cyrus. Von einem solchen König be-
siegt zu werden, freute sich Lydien und auch der von einem doppel-
deutigen Spruch Apollons getäuschte Croesus.
174 ALEXANDREIS
Tercius liber
Das dritte Buch kündet von Kämpfen und Völkern, die ihrem
Schicksal entgegeneilen. Die Perser verlassen als Verlierer das Schlacht-
feld. Die wertvolle Ausrüstung des Darius wird geplündert; die
Schwester, die Mutter, die Ehefrau und der siebenjährige Sohn wer-
den gefangen genommen. Nach der Einnahme von Sidon [5] und
der vollständigen Zerstörung von Tyrus wird auch Gaza nach hef-
tigem Kampf besiegt. Mit kleinem Gefolge besucht Alexander das
ägyptische Hammon-Orakel. Darius stürzt sich nach der inzwi-
schen erfolgten Erneuerung seiner Streitkräfte stärker noch als
zuvor ein weiteres Mal in den Kampf. Eine Mondfinsternis ver-
ursacht im Lager der Makedonen einen Aufruhr, da [10] beraten
die hinzugezogenen Seher über die missliche Lage.
Schon übertönte das Klirren der Waffen und die wimmelnde Masse
der Krieger das Signal der Hörner, ein Pfeilhagel versperrte den
Blick auf die Sonne und eine Vielzahl von Geschossen verfinsterte
den Himmel.
Als erster lenkte Alexander, [5] schneller als ein von einer Wurfma-
schine geschleuderter Stein, mit seinem auf die gegnerischen Perser
gerichteten Speer sein Pferd dorthin, wo die zusammengezogenen
178 ALEXANDREIS
Auf dem linken Flügel hatte der redebegabte und schöne Mazaeus
gerade den Griechen Iollas bezwungen.
182 ALEXANDREIS
[50] Als Rächer war mit gezücktem Schwert der schnelle Philotas
zugegen. Weil Mazaeus jedoch weitergeritten war, griff er stattdes-
sen Ochus im Zweikampf an, dem er die Seite mit dem Schwert
durchtrennte.
Phylax starb durch des Antigonus Schwert, Mida durch des Coenus
Speer. [60] Craterus griff Amphilochus an, den er mit abgerissenem
Helm leblos vom Wagen warf; dem Stürzenden ließ er dessen
Wagenlenker folgen, der seine zerrissenen Eingeweide hinter sich
herschleifte.
Auf der anderen Seite wütete Eumenides und bekämpfte die Perser
bald mit dem Schwert, bald mit Wurfgeschossen. Mit dem Schwert
[75] streckte er Diaspes nieder, in der Lunge des Eudochius machte
er seine Lanze blutig, zertrümmerte Männern die Knochen und
stampfte zahlreiche Anführer nieder.
Von Blut triefend war das Gras kaum noch zu erkennen, Leichen
überdeckten den ganzen Boden, [120] die Gefilde waren von Eiter
überströmt, von Blut überschwemmt waren die Täler. Beide Seiten
beklagten herbe Verluste, aber die Perser entrichteten einen höhe-
ren Blutzoll. Obgleich in schier unendlicher Zahl angetreten, lich-
teten sich die persischen Reihen, es schwand ihre Zuversicht und
die kleine Schar von Makedonen, deren [125] glühender Mut die
zahlenmäßige Unterlegenheit ausglich, ließ nicht darin nach, diese
zu zerschlagen. Den Persern also, die bereits ihr Heil in der Flucht
suchten, setzte Alexander gleich einem Blitz nach und versuchte
sich, ringsum beschützt von den eigenen Fußsoldaten, durch eine
schier undurchdringliche Ansammlung von Speeren, Schwertern
und Haufen von Reitern seinen Weg zu Darius zu bahnen. Doch
[130] Oxathres, der Darius hinsichtlich seiner Abstammung so nahe
stand wie sonst keiner, zog die Schlachtreihe wieder zusammen.
Schmerzen und Wehklagen beherrschten die Szenerie. Zugrunde
ging die hitzige Jugend auf beiden Seiten und der Tod führender
Männer stürzte das Gefolge in ein heilloses Durcheinander. Indem
Bellona ihre grausamen Hände schüttelte, brachte sie jegliche To-
desart über die Perser: Einer jammerte mit durchtrennter [135] Keh-
le, ein anderer lag da mit einem durch die Eingeweide getriebenen
190 ALEXANDREIS
[140] Auf der anderen Seite stand der aus Memphis stammende
Zoroas, prächtig in schneeweißer Rüstung: Keiner war kundiger,
anhand der Sterne die Wechselfälle des irdischen Lebens im Voraus
zu erkennen, als dieser: Ihm war bekannt, unter welchem Sternbild
eine Missernte droht, welches Jahr fruchtbar ist, wodurch der
Winter den Schnee erzeugt, welche [145] Wärme zu Beginn des
Frühlings den Boden durchdringt, warum der Sommer heiß ist, was
es dem Herbst ermöglicht, sich mit reifen Trauben zu umkränzen,
ob die Quadratur des Kreises möglich ist, ob die Musik die Harmo-
nie der Sphären nachahmt oder welches Verhältnis zwischen den
vier Elementen besteht. Auch wusste er, welcher [150] Schwung die
sieben Planeten im Unterschied zur Erde schräg mit sich reißt, um
wie viel Grad diese voneinander entfernt liegen, welcher Stern den
schädlichen Greis [Saturn] daran hindert zu wüten, durch welchen
dagegen wirkenden Einfluss der Sterne dieser wohlwollend wird,
welches Himmelsfeuer den Mars in die Schranken weist, welches
Haus sich ein jeder Planet sucht und welche Sternbilder [155] die
bekannte Hemisphäre regieren. Er erforschte der Planeten Bewe-
gungen, berechnete die Stunden für ihren Umlauf um die Sonne
und las in den Sternen der Menschen Schicksal. Um es kurz zu ma-
chen, er umschloss den ganzen Himmel in seiner Brust. Dieser nun
hatte aus den Sternen seinen vom Schicksal bestimmten unmittel-
bar bevorstehenden Tod herausgelesen. Weil er aber den Lauf des
192 ALEXANDREIS
[215] Satt schon kehrte das Schwert in die Scheide zurück und der
siegreiche Alexander selbst bestärkte seine siegreichen Griechen, das
Blutvergießen zu beenden, und hieß sie zu den Schätzen zu eilen
und zum Raub des Beutegeschenks, das versteckt im Dunkel des
Waldes lag. Alexander eilte hinzu und verteilte als Sieger die erober-
ten Schätze zu gleichen Teilen.
[220] Die Pferde wurden beladen, die Achse des Wagens ächzte voll
Habgier. Schon prall gefüllt war der Sack bis zum obersten Rand,
deshalb verlor er Goldstücke und ließ sich nicht mehr zuknoten
oder verschnüren. Die Hände, vom Einsammeln der Goldmünzen
eigentlich müde, stopften die Beute dennoch unablässig in Säcke, ja
sogar Stiefel und weite Gewänder lernten zu schwellen. [225] Man
ging los auf den wehrlosen Haufen der persischen Frauen. Kaum
hatten die Griechen die Ketten vom glänzend weißen Hals der
persischen Frauen gezerrt, wurden ihnen die Ringe vom Finger
gezogen und die Ohrringe aus den Ohren gerissen.
198 ALEXANDREIS
Zum siebten Mal hatte der Tag die Sterne mit dem Aufgang der
Sonne [275] verdrängt, als der makedonische König nach der dem
Brauch gemäßen Erfüllung der Leichenbestattung zum uralten
Sidon und zum Volk der Phönizier eilte. Nachdem er diese in ihre
Schranken gewiesen hatte, zog er sogleich gegen die Tyrer. Alexan-
der, der aus unmittelbarer Nähe zur Stadt hinaufblickte, [280] freu-
te sich, auf Männer zu treffen, die zu jeglicher kriegerischen Prü-
fung bereit waren und schon ihre hochragenden Mauern beschütz-
ten. So viele Türme – aus der Tiefe emporragende gemauerte Boll-
werke – standen in einer langen Reihe verteilt, die ohne Weiteres
imstande waren, steinerne Geschosse abprallen zu lassen. Wo auch
immer aber die felsenbewehrte Masse einen Zugang bot, [285] stan-
den Schutzmannschaften da mit einem zur Abwehr formierten
Flechtwerk aus Schilden. Hier feuerten zahllose tyrische Schützen
mit Schleuder und Bogen ihre Geschosse ab, zahlreiche Schleuder-
maschinen bedrohten die am Fuße der Mauern stehenden Angrei-
fer mit dem Tod.
Als aber der lange Tag die Stadt mal mit Gefechten zur See, mal mit
Kämpfen zu Lande – die tyrischen Bürger zermürbend – [290] in
die Knie gezwungen und die Ramme – zuvor war es den griechi-
schen Schiffen gelungen, zu beiden Seiten an die Mauer heranzurü-
cken – gegen das feindliche Bollwerk geschlagen hatte, starben ohne
204 ALEXANDREIS
Unterschied alle, Jung oder Alt, Männer und Frauen, und keinen
mehr schonte das Schwert, das einem gerechten Richter vergleich-
bar den Frevel der Tyrer ahndete. Als die Mauern nämlich noch
nicht von einem Belagerungsring [295] umgeben waren, hatte Ale-
xander Gesandte mit dem Befehl an die Bürger von Tyrus geschickt,
auf der Stelle für Frieden zu sorgen. Doch diese hatten die griechi-
schen Gesandten unter Missachtung von Frieden und dem Recht
der Völker getötet und dadurch des Königs Zorn geweckt. Diejeni-
gen nämlich haben keinen Anspruch auf Gnade verdient, [300] bei
denen eine Gesandtschaft der Gnade und des Friedens überhaupt
keine Gnade fand. Sogleich gab der makedonische König den
Befehl, alle mit Ausnahme derer, die in Tempeln Schutz suchten,
niederzumetzeln. Es erhob sich ein Schreien und Wehklagen, ver-
mehrt war ein beklagenswertes Weinen vernehmbar, das Geschrei
der Frauen drang bis zu den goldenen Sternen empor. [305] Als die
Tyrer in ihrem letzten Abwehrkampf zu wanken begannen, legten
die Griechen am Fuße der Stadt an jener Stelle Feuer, wo der Atem
der Winde die Stadt am meisten durchwehte. Es eilte der entflamm-
te Hunger des Feuers nach oben und je mehr Nahrung die Balken
boten, umso mehr verlangte das Feuer nach Nahrung. [310] Die
Stadtväter starben zusammen mit dem gemeinen Volk. Alle fanden
den Tod, die Art des Todes war jedoch nicht für alle gleich. Dieser
da rannte in das Schwert, weil er das Feuer fürchtete, jener aber
rannte mitten ins Feuer, um dem Tod durch das Schwert zu
entgehen. Manche, die sich beim Versuch, einen solchen Tod durch
einen anderen Tod zu vermeiden, freiwillig [315] von den Mauern
der schon halb zerstörten Stadt gestürzt hatten, verschlang der
mächtige Schlund des Meeres. Andere wiederum suchten geheime
Verstecke und leerstehende Häuser und schickten sich an, die
Schlinge um den eigenen Hals zu legen, und brachten sich so selbst
zu Tode, um nicht [320] von der Hand der Griechen zu fallen. Aus
Scham, das Schlachtfeld zu verlassen, zogen es wieder andere vor,
für das Recht und die Gesetze der Stadt im Angesicht der Heimat
206 ALEXANDREIS
weiter herausfordert. [345] Gaza jedoch hat es – Darius und der al-
ten Verbindung folgend – gewagt, dem gottgleichen Alexander mit
ihren Mauern den Zutritt zur Stadt zu verwehren, und unternahm
den Versuch, ob Treue das Schicksal zu ändern vermag. Und wäh-
rend Mars sein Werk verrichtete, während er in blutiger Schlacht
zum Schaden beider Parteien auf beiden Seiten wütete, trat [350] ein
Barbar, das Schwert mit dem Schild verdeckend, wie ein Flüchtling
an den König heran und bedrohte Alexanders Haupt mit dem
Schwert. Aber weil der Lauf des Schicksals feststeht und die unab-
änderliche Abfolge der Ereignisse die Erfolgsaussichten der Men-
schen schmälert, verfehlte die unsichere Hand ihr Ziel. [355] Nicht
ließ Lachesis denjenigen durch einen Schwerthieb sterben, für den
die Göttin schon lange ein vom Schicksal bestimmtes, aus töd-
lichem Sud gebrautes Gift in gläsernem Behälter verwahrt hatte,
um es nach zehn Jahren unter tätiger Mithilfe der Seinen dem
König als Trank zu reichen. Hierauf befahl der König, die rechte
Hand des Arabers, da sie ihr Ziel nicht gefunden hatte, [360] mit
demselben gerade vergeblich geschwungenen Schwert abzuschla-
gen. Seine Kampfeswut, die zuvor schon zur Ruhe gekommen war,
wurde durch den neuerlichen Betrug wieder geweckt, im glühen-
den Herzen flammte der Zorn erneut auf, und während er den
Feind ungestüm angriff, streifte ein Wurfspieß, den Frevel wagend,
seine linke Schulter [365] und ein gewaltiger Felsbrocken zerschmet-
terte ihm das Schienbein. Aber auch mit zweifach erlittener Wunde
ließ der makedonische König nicht von seinem leidenschaftlichen
Vorhaben ab, sondern durchbrach ohne Rücksicht auf sein eigenes
Leben die persischen Reihen, tötete eigenhändig den feindlichen
König und betrat die von den Besiegten geöffnete Stadt.
210 ALEXANDREIS
die Mäuler vom Zaumzeug befreit und den Pferden Ambrosia vor-
setzt, erwärmt sich nach dem allmählichen Weichen der Froststarre
Jupiters Quelle wieder. Und heißer als Phoebus kocht diese auf,
wenn der Mitternachtsschlaf die Erde mit feuchten Schwingen
benetzt. [400] Je weiter Phoebus in gewohnter Weise wieder zum
Sonnenaufgang hin eilt, umso mehr erinnert sich die Quelle an die
gewohnte Wärme am Morgen, und ihre nächtliche Hitze nötigt das
Wasser, wieder weniger heiß zu sein, bis es bei Sonnenaufgang von
neuem nur noch lauwarm entströmt. Sobald der makedonische
König nach der Befragung des Orakels voller Freude Opfer darge-
bracht hatte, [405] kehrte er nach Memphis zurück, auch wenn er
gerne Äthiopiens sonnenverbrannte Völker, die ungastlichen Gefil-
de Memnons, Auroras Wohnsitz und Phoebus’ weglose Einöden
aufgesucht hätte.
Inzwischen hatte sich Darius’ ganzes Volk mit frischer Kraft und zum
Kampfe verschworen versammelt; die Scham über das, [415] was
214 ALEXANDREIS
geschehen war, und die anregende Hoffnung auf das, was kommen
würde, riefen die Perser erneut zu den Waffen. Gemeinsam ins
Lager zogen die Vornehmen ebenso wie die Bauern. Der wurzelrei-
che Acker und das von Dornsträuchern übersäte Land beklagten
die fehlende Bearbeitung. Ochsen keuchten an ihren Wagen,
[420] Barbarenvölker belasteten den Rücken von Kamelen; Kriegs-
gerät beschwerte Elefanten, die in turmhohem Zug einherschritten;
sogar Büffel nahmen am Kriegszug teil. Selbst Xerxes hatte bei
seinem von mit so vielen Tausend Männern unternommenen An-
griff auf Argos niemals Flüsse trockengelegt und auch [425] der
Rächer des Ehebruchs nicht so viele Völker in Aulis versammelt, als
das Meer die Flotte im Stich gelassen, das Blut der Jungfrau auf
Anraten des ungehaltenen Kalchas die Freveltat reingewaschen und
er mit Blut die Winde wieder zum Wehen gebracht hatte. Der
makedonische König war erstaunt darüber, dass nach der Vernich-
tung von so vielen Tausend Persern noch mehr Völker – scheinbar
vom Tode auferstanden – erneut in den Kampf gerufen und
[430] in den Tod getrieben wurden. Nicht anders staunte Herkules
darüber, dass Antaeus sich nach seinem Sturz im libyschen Sand
noch größer erhob, bis er dem Riesen den Boden entzog und sagte:
»Von eitler Hoffnung wirst du geleitet, hier wirst du sterben«, oder
als er die Hydra bändigte, [435] der nach dem Verlust so vieler
Köpfe stets neue nachwuchsen.
Und schon hatte der Bezwinger der Welt sein raubgieriges Heer
über den Euphrat geführt, ohne dabei an die Gefahren zu denken
und die Übermacht des Feindes überhaupt zu berücksichtigen. Er
fand diejenigen Städte, die er angreifen wollte, von Feuer zerstört
vor, zudem in Rauch gehüllte Äcker, [440] die Darius unter Mazae-
us’ Führung niederzubrennen befohlen hatte, um zu einem so
216 ALEXANDREIS
stellt. Der festen und bedeutsamen Meinung der Alten und der
Väter von Memphis folgend, kann ich keinen Zweifel darüber ha-
ben, dass die Sonne die Griechen und der Mond die Perser reprä-
sentiert: Eine Sonnenfinsternis weist auf den Untergang [525] der
Griechen hin, eine Finsternis des Mondes bedeutet den Untergang
der Perser.« So sprach er und bediente sich zum Beweis einiger
Beispiele und erinnerte an Taten persischer Führer, nach denen die
Unheil verkündende Cynthia mit finsterem Horn bleich geworden
war, als die Geißel des Schicksals über diese hereingebrochen war.
Fest stand also, was graues Greisenalter [530] bewiesen hatte, und
die Meinung des Sehers hatte Vertrauen verdient und seine allen
verkündete prophetische Botschaft stimmte die furchtsamen Her-
zen des einfachen Volkes um. Durch nichts kann eine Menge besser
umgestimmt werden als durch die Autorität eines Sehers: Sie hält
die Worte und Taten in Schach. Wenn die wilde, mächtige und
[535] wankelmütige Menge vom Ansturm eines unsteten Sinns
wogt, wenn sie vielleicht durch einen falschen Glauben getrieben
wird, gehorcht sie in Missachtung der Befehle der Anführer den
Sehern und lehnt die Zügel der Könige ab. Als daraufhin die
Hoffnung und das Zutrauen in das Schicksal die mutlosen Männer
wieder aufgerichtet hatten, meinte der makedonische König, die
Waffen [540] nutzen zu müssen, solange die Herzen entflammt wa-
ren. Um ihre heiße Angriffslust nicht erkalten zu lassen, befahl er
um Mitternacht herum, auf der Stelle die Zelte abzubauen. Dann
gab er den Marschbefehl und schritt, hochzufrieden mit seinem
vortrefflichen Heer, den jubelnden Scharen voraus.
Liber IV
Capitula quarti libri
Quartus liber
Aus der Mitte der Griechen geflohen, eilte [25] der Eunuch Tiriotes
zu Darius. Als der persische König diesen mit zerrissenen Kleidern,
blutigen Nägeln, ungeordneten, über das Gesicht fallenden Haaren
und dessen tränenüberströmtes Gesicht erblickte, sagte er: »Zögere
nicht, das zu zerstören, was an glücklicher Zuversicht mir noch
bleibt. Verwandle mir meine Furcht [30] in Trauer. Ich habe ge-
lernt, mit schmerzvollen Erfahrungen umzugehen und von Schick-
salsschlägen heimgesucht zu werden. Für einen unglücklichen
Mann ist das Wissen um das eigene Los der einzige Trost und das
einzige Heilmittel gegen die Drangsal. Bestimmt bringst du mir
Nachricht von der grausamen Schändung meiner Familie, die für
sie selbst entehrender ist als jeder einzelne Peitschenhieb, über den
allein zu sprechen mich schon erschaudern lässt.«
228 ALEXANDREIS
Darauf entgegnete jener: [35] »Im selben Maße, wie Ehre und
Hochachtung Königinnen von ihren Untertanen zuteil werden
können, wurden diese vom griechischen Sieger den Deinen entge-
gengebracht. Deine edle Schwester und Gattin jedoch – ich wage es
kaum zu gestehen – ist gestorben und ließ ihren entseelten Körper
zurück.«
[40] Darauf aber hätte man das Lager in Seufzen und Klagen ver-
wandelt erleben können: Der Greis lag leblos am Boden, der un-
glückliche König besudelte im Staub sein ehrwürdiges graues Haar,
von falschen Vorstellungen ausgehend, bestärkte er sich selbst in
der Meinung, sein Weib sei nur deshalb umgekommen, weil sie in
ihrer Keuschheit die Entehrung nicht hatte erdulden wollen. Mit
Ausnahme des Eunuchen [45] hieß er alle anderen zu gehen. Dieser
schwor seinem König, die Gattin habe keinerlei Schande ertragen
müssen, der Räuber habe die geraubte Ehefrau niemals belästigt,
vielmehr habe er unter Tränen die Pflicht des Gatten erfüllt und
eine ihrer bedeutenden Abstammung würdige Totenfeier abgehal-
ten. Aufgrund dieser Worte [50] bemächtigten sich des Liebenden
Seele Argwohn und Sorge. Während Darius im Stillen vermutete,
dass die Zuneigung zwischen dem Räuber und der Geraubten
ausgehend von der Gewöhnung an den unehelichen Beischlaf ihren
Anfang genommen hatte, quälte er sich angstvoll in Liebe. Er sagte:
»Die eine war eine durch ihre Schönheit und Abkunft hervorste-
chende Gefangene, der andere war ihr jugendlicher Herr. Es ist da-
von auszugehen, dass er – [55] was ihm an Möglichkeiten offen-
stand – auch gewollt hat.« Von derartigen Sorgen gequält, wusste
Darius’ verzagter Geist solange nicht, was er glauben sollte, bis er
230 ALEXANDREIS
von den Worten des Eunuchen – der Sklave beteuerte bei den
Penaten und den himmlischen Göttern, dass die Gattin im Lager
der Griechen keusch ihr Leben zugebracht hatte –, überzeugt wer-
den konnte.
Die Hände zum Himmel erhoben und triefend nass das Gesicht
vom hervorquellenden Strom der Tränen, sprach er: [60] »Vater
der Götter, einzige Macht über die Welt, Götter der Heimat, durch
deren Willen das persische Reich besteht, bewahrt mir und den
Meinen – darum bitte ich euch – zuvörderst die Herrschaft. Wenn
ihr aber bereits den Beschluss gefasst habt, mir diese zu nehmen,
und der mächtige Wille des Schicksals den Befehl erteilt, dass ich in
der Herrschaft abgelöst werde, soll dieser so rücksichtsvolle Feind
und so gütige Sieger nach mir [65] die Herrschaft über Asien er-
halten.« So sprach er und flehte die Götter unter Tränen an, dass
sich das Schicksal von seinen Worten leiten ließ.
Töchter auch seine Mutter zurück, der Preis für alle zusammen
betrage dreißigtausend Talente aus veredeltem Gold.
[100] Wenn die Götter dich aber nicht durch einen wacheren
Verstand an der Macht gehalten und deinen menschlichen Körper
nicht mit einem göttlichen Geist beschenkt hätten, wäre nun die
Zeit, in der du nicht nur Frieden gewähren könntest, sondern auch
nach ihm fragen und ein Bündnis eingehen müsstest. Siehst du
denn nicht, mit wie viel Streitkräften Darius sich in den Kampf
stürzt, wie viele Völker er aus entlegenen Gegenden der Welt [105] in
Bewegung gesetzt hat, mit wie vielen Schiffen er das Meer bedeckt?
Weder reicht das Meer aus für seine Schiffe noch die Erde, um all
seine Lager aufzuschlagen. Die in Stellung gebrachten Schiffe blo-
ckieren die Ausfahrt ins Meer. Um es kurz zu machen: Dieser allein
hat Streitkräfte, welche die ganze Gegend hier nicht in sich aufneh-
men kann.«
deiner Mitgift bereits hinter sich gelassen. Vertreibt doch von dort
erst den makedonischen König, damit er weiß, dass dies euer Besitz
ist, den ihr ihm schenken wollt. Darius erweist mir große Ehre,
wenn er mich als Schwiegersohn dem Mazaeus vorziehen will!
[170] Geht und bringt eurem König meine folgende Antwort: Was
auch immer Darius besitzt, was auch immer er verloren hat, und
auch er selbst ist meiner Macht unterworfen und für die Griechen
eine Belohnung für den Kampf.« So sprach er und schickte die
eiligen Perser in ihr Lager zurück. Mazaeus wurde von Darius ge-
schickt, die Hügel und Zugangswege, [175] die der griechische Feind
gerade im Begriff war einzunehmen, zu besetzen.
Inzwischen hatte Alexander den Körper von Darius’ Frau mit einer
Mischung aus Myrrhe und Aloe einsalben lassen. Dann gab er den
Befehl, am höchsten Punkt einer Felswand aus dem Gestein ein in
herrlicher Form angelegtes Grabmal herauszuschlagen, das der
durch die Kunstfertigkeit seiner Hände berühmte Hebräer Apelles
errichtete.
Unstet und flüchtig entkam Kain nicht dem Bogen des Bigamisten
Lamech.
habe die Erschaffung des Menschen bereut. [200] Der Erbauer der
Arche mühte sich ab. Darin eingeschlossen wurden paarweise
jegliche Arten von Lebewesen.
Nach der Sintflut bevölkerten acht Menschen die Erde von neuem,
Weinstöcke wurden gepflanzt und der Wein machte ihren Vater
Noah betrunken.
Dort stellte überaus fein gearbeitetes Gold die Reihe der Patriarchen
dar. Man hätte die alt gewordenen Eltern lächeln sehen können.
Der Jäger Esau; Jakobs Rückkehr; Jakobs Kampf mit dem Engel
(205–206)
[205] Ebenso hätte man den auf der Jagd befindlichen Esau erken-
nen können und Jakob, der mit zwei Heeren zurückkehrte und den
Engel niederrang.
Die zehn Plagen Gottes; Auszug der Kinder Israels aus Ägypten;
Untergang des Pharaos (208–210)
blenden, selbst nun [220] stärker, nachdem sie diesem im Schlaf das
Haar geschoren hatte.
Ruth (221–222)
Ankündigung der Könige Israels; Tod des Eli; Geburt des Samuel;
Unruhe in Silo (223–225)
Ein anderer Teil des Bildwerks folgte: Er zeigte die Könige Israels
und Elis Tod, gefolgt von der Geburt Samuels. [225] Das Volk
murrte in Silo.
Saul erster König Israels; David zweiter König Israels; Sieg Davids
über Goliath; Tod des Saul und seiner Söhne; Klagelied Davids
(225–230)
Aus Benjamins Stamm ging Saul hervor, der über die Hebräer
herrschen sollte. Da aber seinem positiven Anfang nicht das böse
Ende entsprach, wurde dem Volk mit David ein Fürst aus dem
Geschlecht des Jesse an die Spitze gestellt, der Goliaths Waffen
zerbrach. Als im Kampf gegen die Philister der König Saul zusam-
men mit seinen Söhnen fiel, schmähte [230] ein königlicher Fluch
die einsamen Berge.
250 ALEXANDREIS
Hier fielen Asael und Abner, Urija wurde dargestellt, wie ihn der
Tod ereilte. Der Ast eines Baums hinderte Absalom am Vatermord,
den der Speer eines Mannes durchbohrte. Man hätte meinen
können, das Abbild Davids zeige lebensecht dessen Trauer.
Nachdem König David gestorben war, [235] baute man den Tem-
pel, unter Salomos friedenstiftender Herrschaft behielten die Ge-
bote des bestatteten Vaters ihre Gültigkeit, nicht schützte den Joab
der geweihte Altar, das verzehrende Schwert ließ Simei sterben.
Rat der Ältesten; Rat der Jünglinge; Spaltung des Reichs; Abfall
von zehn Stämmen (238–239)
Auf den Rat der Jünglinge hin trennte eine dauerhafte Spaltung das
Volk und die königliche Herrschaft. Die Pracht des Königreichs
weckte Streit.
[240] Was auch immer in den Reichen Juda und Israel Großartiges
vollbracht worden war, brachte Apelles’ kundige Hand samt der
Geschehnisse und Namen in eben diesem Marmor zum Ausdruck.
Um jedoch sein Volk und Geschlecht nicht zu kränken, ließ seine
252 ALEXANDREIS
Mit dem Schwert jedoch schlug Elija die abscheuliche Sippe des
Baal und der Schüler litt unter der Abwesenheit seines Meisters.
Schau, die Reihe darüber zeigte die Bildnisse der Propheten und
gab an, unter welchem König und zu welcher Zeit ein jeder von
ihnen geschrieben hatte.
Der letzte Teil der Darstellungen umfasste die Herrschaft des Cyrus
und die unter Zorobabels Führung erfolgte Rückkehr des jüdischen
Volkes. Hier wurde der Wiederaufbau des Tempels [270] abgebil-
det.
Hier überging man nicht Esthers Geschichte, nicht den Grund für
Hamans Tod und den Stolz der törichten Perserkönigin Vasti.
[280] Nachdem Mazaeus diesen aus der Ferne erblickt hatte, zog er
hastig seine Schwadronen zusammen und begab sich zurück ins
persische Lager. Darius aber stellte in seinem leidenschaftlichem
Bestreben, die Entscheidung in offener Feldschlacht zu suchen, sein
Heer in Schlachtordnung auf, die Reihen durchschreitend ermahn-
te er seine Soldaten energisch und bereitete sie auf den Waffengang
vor.
260 ALEXANDREIS
[285] Schon hatte Alexander einen Platz für das Lager ausgewählt,
von wo man die goldenen Zelte der Perser sehen konnte. Schon
waren die Feldzeichen beider Feldherrn nicht mehr weit voneinan-
der entfernt, schon standen die Heere in Schlachtordnung da.
Hüben wie drüben hätte man sehen können, wie die von einem
leichten Windstoß bewegten Drachenfahnen durch die Luft
flatterten, [290] als plötzlich sich die Kampfeswut der Griechen
entlud und die Lüfte mit hemmungslosem Getöse gegen die Perser
und rauem Gebrüll erschütterte. Ebenso trachteten die feindlichen
Perser danach, das Himmelsgewölbe mit entsetzlichem Lärm zu
zerschmettern. Bei diesem Krachen erzitterten Erde und Himmel,
kaum war Atlas noch in der Lage, mit zitternden Knien die für ihn
[295] ewige Last zu tragen. Im Glauben, ein neuer Krieg der Gigan-
ten habe noch einmal begonnen, erwiderte Echo das wiederholte
Dröhnen, die weiten Täler antworteten mit dumpf tönendem
Raunen. Kaum noch konnte Alexander den bewaffneten Scharen
und seiner Männer Kriegswut Einhalt gebieten, dass sie sich gereizt
in mächtigem Sturmschritt, grimmig und ohne die Ordnung zu
halten, [300] wild auf die Feinde stürzten.
Als die Sonne den Erdkreis durchmessen hatte und, bereits er-
schöpft und ihr Antlitz allmählich verfinsternd, sich eifrig bemüh-
te, mit ihrem abgekämpften Wagen im Meer zu versinken, um nicht
ein so großes Sterben miterleben zu müssen, gab Alexander den
Griechen die Anweisung, einen Wall aufzuschütten und an eben
dieser Stelle [305] das Lager zu errichten. Man gehorchte dem Be-
fehl. Nachdem der Schutzwall errichtet war, trieb es ihn auf den
Hügel, wo er aus unmittelbarer Nähe das ganze feindliche Heer
262 ALEXANDREIS
Also rief er seine Berater zusammen, entweder aus Zweifel über das
weitere Vorgehen oder in Wahrheit doch eher in der Absicht, jene
prüfend zu fragen, was nun getan werden müsse. [330] Der kluge
Parmenion äußerte schließlich die längst erwartete Ansicht, dass sie
264 ALEXANDREIS
die Hilfe der Nacht benötigten und es besser sei, mit List vorzuge-
hen, als die offene Feldschlacht zu suchen: Mit Leichtigkeit könn-
ten die Feinde, bestürzt durch den plötzlichen Angriff, überfordert
durch das Dunkel der Nacht, wehrlos durch die Trägheit eines
friedlichen Schlafs und gänzlich verschieden [335] in ihren Lebens-
gewohnheiten und ihren Sprachen, fortgejagt, mit dem Schwert
getötet oder besiegt zur Flucht bewegt werden. Wenn man nämlich
bei Tageslicht die Entscheidung suche, würden die furchterregen-
den Körper der Skythen und die noch von keinem Griechen mit
eigenen Augen erblickten Inder mit ihren ungeschorenen Haaren
und jene, die Baktra hervorbringt, Riesen von gigantengleicher Ge-
stalt, [340] den Griechen von Angesicht zu Angesicht gegenüberste-
hen; derartige Schreckensgestalten könnten Gemüter, die allein
schon durch grundlose Angst erschüttert würden, völlig aus der
Fassung bringen. Er fügte noch hinzu, dass von so wenigen eigenen
Kriegern wohl kaum so viele tausend Perser umzingelt oder vom
Schlachtfeld vertrieben werden könnten. Außerdem gab er zu be-
denken, dass Darius für die Schlacht [345] ein ebenes und weites
Gelände ausgewählt habe und die Entscheidung nicht mehr wie
früher in den engen Schluchten Kilikiens suche. Beinahe die ganze
makedonische Schar lobte diesen Vorschlag und stimmte einmütig
zu. Unter ihnen empfahl auch Polipercon, die Dunkelheit der
Nacht zu nutzen: Der Sieg der Griechen beruhe auf einer nächtli-
chen Schlacht.
Auf der anderen Seite rüstete Darius die Perser ebenso schwungvoll
für den Kampf [375] und verstärkte seine Truppen im Vorfeld der
Schlacht. Er vermutete, der griechische Feind werde, falls sich Par-
menions Rat durchsetzen sollte, noch in der Nacht angreifen. Die
Pferde kauten am Zaumzeug – Nahrung für ihre Wut – und ihre
schmuckverzierten Rücken leuchteten im Dunkel der Nacht. Ent-
268 ALEXANDREIS
Und weil sich der Feind schon im Anmarsch befand, war für die
Griechen schleunigster Abmarsch geboten. Schließlich trat Parme-
nion an Alexanders Bettstatt heran. Da er diesen, obgleich er ihn
mehrfach gerufen hatte, nicht aufzuwecken vermochte, [475] be-
276 ALEXANDREIS
rührte er ihn sanft mit der Hand und sprach: »Der Tag ist schon
angebrochen. Nun muss ich dich ermahnen, dem behaglichen
Schlaf zu entsagen. Welch tiefer Schlummer hat dich ergriffen?
Schon rücken die persischen Truppen näher. Schon bewegt der
Feind seine Schlachtreihen immer näher an unser Lager heran,
schon wütet Bellona, aber noch immer warten deine noch nicht
gewappneten Männer [480] auf deinen Marschbefehl. Deine
unbeugsame Kraft und deine Entschlossenheit, die niemals zuvor
entkräftet am Boden lagen, wo sind sie jetzt? Fürwahr, du hast doch
sonst immer die vom Schlaf übermannten Wachen geweckt.« Der
Kriegsheld antwortete Folgendes: »Glaube mir, ich fand nicht in
den Schlaf, bevor ich [485] erleichtert die drängenden Sorgen able-
gen konnte.« Als Parmenion sein grenzenloses Erstaunen darüber
zeigte, dass der König meinte, er sei nun frei von Sorgen, er es
jedoch nicht wagte, nach den Gründen zu fragen, sprach Alexan-
der: »Als der Feind fliehend die Dörfer in Brand steckte, die Äcker
verwüstete und die Städte zerstörte, [490] nicht mehr willens, dem
Schicksal noch länger Vertrauen zu schenken, da war ich aus trif-
tigen Gründen in Furcht und von Sorgen belastet und konnte nicht
zur gewohnten Zeit einschlafen. Jetzt aber, da mir Darius und sein
ganzes Heer in Waffen unmittelbar gegenüberstehen [495] und nicht
mehr in der Lage sind, durch Flucht der Schlacht zu entgehen, gibt
es nichts mehr, was ich fürchte. Aber was halte ich mich hier auf?
Bereitet euch wie gewohnt vor. Ein anderes Mal werde ich über die
Sache ausführlicher berichten.«
Er selbst trennte das Heer also in seine Abteilungen auf, legte die
Schlachtordnung den Notwendigkeiten entsprechend fest und be-
fahl die persischen Sichelwagen, Darius’ einzige Hoffnung auf den
Sieg, mit geöffneten Linien aufzunehmen und ihnen dann in ge-
löster Ordnung [530] auszuweichen, und zudem die Wagenlenker
mit ihrem Gespann nicht ungestraft herumfahren zu lassen, son-
dern diese mit einem Geschosshagel zu belegen. Während er die Sei-
nen ermahnte und vorbereitete, während er ihnen Mut zusprach,
erschien ein vor den Seinen geflohener, treuloser Meder vor Alexan-
der, der ihm berichtete, Darius habe mit heimlicher Kriegslist
eiserne [535] Vorrichtungen in der Erde vergraben lassen, auch
Fußangeln genannt, und hoffe, sollte er den Feind nicht mit seinen
Streitkräften besiegen können, sie mit zähen Haken aufzuhalten und
die Griechen mit Hinterlist zu vernichten. Nachdem er diese Nach-
richt vernommen hatte, gab er den Befehl, den Meder zu bewachen,
damit dieser nicht irgendwelche Gerüchte streute [540] und die
griechischen Soldaten mit seinem Gerede einnähme. Ungeachtet
dessen ließ sich Alexander den genauen Ort bezeichnen und den
Seinen zeigen, wo Darius im Vertrauen auf den Listenreichtum des
Odysseus die Fußangeln hatte vergraben lassen. Damit ihre hoch-
ragende Tugendhaftigkeit nicht von einer List überwunden unter-
liege, befahl er, [545] die tückische Stelle allen zu zeigen und sich
davor in Acht zu nehmen.
Umso wertvoller wird der Sieg für uns sein, je deutlicher zu Tage
tritt, dass er von wenigen über viele errungen wurde. [565] Bahnt
euch, von eurem Schwert gelenkt, den Weg durch die schwächli-
chen Scharen. Ihr könnt erkennen, wie die Schilde die mit Juwelen
und Gold im Zaum gehaltene Sonne verdunkeln und die stolzen
Edelsteine die Helmspitzen einnehmen, wie Purpur die Felder be-
deckt. Wer würde bei einem solchen Gegner nicht siegen wollen?
[570] Wer würde, abgesehen von einem Tölpel, das angebotene
Gold verschmähen? Ein Leichtes ist es, die zusammengetragenen
Schätze des Orients und die kunstvollen Arbeiten der Araber zu
rauben. Wenn das Schwert sich von eurem Mut leiten lässt, wenn
ihr mit Herzenslust Schwerthiebe austeilt, wenn euer Herz sich so
284 ALEXANDREIS
gierig nach Totschlag und Blutvergießen sehnt [575] wie nach Gold,
soll euch gehören, was auch immer ihr seht, nichts will ich für mich
haben. Für mich tragt allein den Sieg davon, die Beute teilt
untereinander auf. Du da, der du darauf bedacht bist, zusammen
mit mir zu triumphieren, hast mich, der am Ruhm seinen Anteil
hat, zu berücksichtigen, das Übrige kannst du für dich behalten.
Nimm dir mich zum Vorbild für Tapferkeit [580] und die Art zu
kämpfen: Sollte als König ich nicht als erster in vorderster Front
erscheinen, sollte ich fliehend dem Feind den Rücken zuwenden,
musst du nicht weiter dein Leben riskieren und Nachsicht wird
jener verdienen, der flieht und unmotiviert kämpft. Wenn ich aber
nichts nachlässig angehe, wenn ich einem tapferen Mann niemals
befehle [585] ›Geh voran, geh‹, sondern vor aller Augen voran-
schreitend ›Auf in den Kampf‹ rufe, dann erst habe ich es verdient,
dass meine Soldaten mir folgen. Wer auch immer herrscht, soll die
Tapferen mit dem eigenen Beispiel mitreißen und einen Beweis
seiner eigenen Stärke liefern.«
Quintus liber
Das fünfte Buch schildert das mannigfache Gemetzel und das von
den Angehörigen beider Seiten beweinte Sterben. Im Herzen die
schwierige Lage bedenkend, fragt Darius seine bei Arbela besiegten
Perser um Rat, ob es für ihn vielleicht besser sei, mit frischen Kräf-
ten in den Weiten [5] des Mederreichs von neuem sein Glück zu
versuchen. Seine Offiziere sind jedoch ratlos. Alexander ruft seine
Scharen zur Verteilung der Beute zusammen und heilt ihre Wun-
den mit Geschenken. Da geleitet Mazaeus, ein in der gerade beende-
ten Schlacht herausragender und ausgezeichneter Mann, vom
persischen Jungvolk begleitet, [10] den makedonischen König nach
Babylon hinein.
Folgt man dem einst von König Numa erlassenen Gesetz über die
Monate, befand man sich, ausgehend vom doppelgesichtigen Janus,
gerade im fünften Monat, der die Jahreszeit mit rosig blühenden
Gefilden kenntlich macht. In gemeinsamem Beifall freuten sich die
ledäischen Brüder über Phoebus’ Anwesenheit, [5] als beide Könige
am Morgen die Schlacht eröffneten. Nach Erfüllung des entspre-
chenden Zeitraums war der Tag nun gekommen, den Daniel – wie
man annimmt – für den Untergang der Meder und Perser vorausge-
sehen und mit prophetischen Worten der Bibel anvertraut hatte.
Vom trockenen Norden kommend hat sich der Geißbock nun ein-
gefunden, [10] der göttliche Rächer, Philipps Sohn, Alexander der
Große.
288 ALEXANDREIS
auch du einen Sohn als Erben oder eine Schwester oder eine Mutter
hast, dann sollen sie durch der Parzen rächenden Faden genau das
erleiden, was ich erleide, und dieselbe Trauer verspüren, die ich kla-
gend verspüre.« [115] So sprach er und zielte – mit der schwachen
Rechten die Lanze schleudernd – auf Clitus’ Gesicht. Kaum war
die Lanze in Clitus’ Schild stecken geblieben, riss der griechische
Kämpfer diese schleunigst heraus und durchstieß da, wo das ehr-
würdig weiße Haupt – dicht bedeckt von nach oben gekämmten
Haaren – in die Schultern überging, die struppige Kehle mit dem
todbringenden Schwert. [120] Jener fiel stürzend – ein schrecklicher
Anblick – zwischen seinen halbtoten Söhnen zu Boden und beide
Kinder umarmend, eilte er von seinen Söhnen begleitet zum Wohn-
sitz der Toten.
[145] Auf beiden Seiten fielen die Fürsten inmitten einfacher Sol-
daten, unter so vielen tausenden Vornehmen jedoch strahlte der
durch vielfaches Gemetzel weithin bekannte Nicanor durch beson-
deren Ruhm glänzend hervor. Vorbei an so vielen persischen Geg-
nern verfolgte er Rhemnon, in der Meinung, nichts sei erreicht –
auch nicht nach so vielen tausend persischen Opfern –, [150] wenn
er sehen sollte, dass deren Fürst und Kompanieführer selbst noch
am Leben sei. Ohne Verzug prallten die beiden im Zweikampf
aufeinander, weithin sichtbar wegen der zurückweichenden Menge
ihrer Gefolgsleute. Ein schreckliches Gebrüll stieg auf zu den Ster-
nen. Das Kriegsgeschrei der Soldaten erschütterte die Fluren. Der
von der Bewegung der Pferde aufgewühlte faulige Boden wurde
von ihren eisenbeschlagenen Hufen zertrampelt. [155] Nachdem sie
sich im Galopp aufeinander zubewegt hatten, standen sie sich un-
mittelbar gegenüber. Die Lanzen in Stellung gebracht, erkannten
beide Fürsten bei ihrem Wurf die ihnen gewogenen Götter, und
mag auch ein Reiter vom Ahornspieß blutig getroffen worden sein,
300 ALEXANDREIS
so konnte er sich doch im Sattel halten. Jetzt griff die vom Wurf-
spieß befreite Hand zu dem am Körper liegenden Schwert. Nach-
dem der eherne Helm des Gegners zerschlagen war, [160] benetzte
das strömende Blut die Gefilde, und nicht mehr war der Schild in
der Lage, die wütenden Schläge des Schwerts zu ertragen. Mit zer-
schlagenen Knien stürzten Ross und Reiter zugleich. Mit gezückter
Klinge erhob sich Nicanor als erster und bedrängte die Brust des
Rhemnon mit beiden Knien, bis er die Schwertklinge bis zum Griff
in den Höhlungen [165] des Bauches, den lebenswichtigen Stellen
am Körper des Parthers, versenkte.
Veranlasst durch das bittere Jammern der Seinen, eilte indes – grim-
miger als eine ihrer Jungen beraubte Bärin – [185] der Weltenverder-
ber Alexander heran. Die entgegenkommende Menge scheute die
unmittelbare Begegnung mit dem Anführer der Griechen, über-
stürzt flohen die Perser durch wegloses Gelände und zogen damit in
weiser Voraussicht das Leben dem Sieg vor. Während alle anderen
flohen, stellte sich allein Memnons Sohn Phidias Alexander in den
Weg, dessen jugendliche Wangen ein Gesicht – mit der strahlend
weißen Farbe des Schnees wetteifernd – [190] mit dem ersten Flaum
schmückten. Seine edle Abstammung führte er über die Blutlinie
des Vaters auf Cyrus zurück. Darius’ Schwester wollte ihn heiraten,
wenn ihm Kriegsruhm zuteil werden würde. Das war auch der
Grund für seinen Übermut. Er schickte sich an, Alexander zu stel-
len. Doch weder der Väter Verehrung [195] noch die Gunst der Ju-
gend oder äußerer Reichtum konnten den Tod vertreiben. Von glei-
cher Gestalt, doch ungleichem Schicksal galoppierte dem jungen
Mann Hephaestion entgegen, spaltete den Schild an jener Stelle, wo
mit flammenspeiendem Maul ein bronzener Tiger erstrahlte, das
locker zusammengefügte schimmernde Eisengewand [200] gewähr-
te einem Pfeil durch eine große Lücke den Zugang zum Körper.
Das tödliche Geschoss drang ein in das verborgene Dunkel des Her-
zens, der schneeweiße Nacken sank auf die Schultern, hinweggerafft
wurde Phidias, vom Dunkel der ewigen Nacht bedeckt, und die
Augen wurden geschlossen in ewigem Schlaf.
Nach diesen Worten legte er seine Waffen an. Den Schild mit dem
Oberarm haltend, stellte er das wappentragende Rund gleich einem
Wall oder einer Schutzwehr der Mauer seiner Brust schützend ent-
gegen und stürzte sich, die Lanze zum Himmel richtend, mit
erhobenem Haupt als Feind auf die Feinde. Aufstiebender Sand,
[260] der qualmende Brocken hochschleuderte, bekundete Alexan-
ders Anwesenheit. Fortgeschleift durch die rückwärts gebogene
Deichsel wurde Afer, Sohn des Ariston, von Pferdehufen zertreten
kam Lysias um. Von den lybischen Syrten war Afer gekommen, aus
308 ALEXANDREIS
der Kälte Skythiens der Tetrarch Lysias. [265] Den Afer streckte
Craterus nieder, den Lysias Amyntas. Durch das Schwert lag Lysias
gefallen am Boden, vom Speer getroffen stürzte Afer zu Boden. All
diesen schloss sich Amulon an, der mit durchbohrter Kehle seine
blutrote Lebenskraft aushauchte. Antigonus fügte den Gefallenen
Baradas hinzu, Ptolemäus trieb die persische Reiterschar zurück,
[270] kein geringeres Blutbad vollführte Eumenides, nicht weniger
Ruhm als du, Meleager, erntete Coenus. Noch grimmiger als ge-
wohnt drang Perdikkas vor, den alle schon unmittelbar vor den Rei-
hen des Darius beobachten konnten. Polipercon, der zuvor noch ge-
meint hatte, das Dunkel der Nacht nutzen zu müssen, [275] nahm
seinen nächtlichen Rat am hellichten Tage unverhohlen zurück. Es
wütete die inachische Jugend mit gleicher Gesinnung und gleichen
Wünschen. Alle zeigten denselben Eifer und dieselbe Kampfeslust,
sie waren ihrem König dermaßen ähnlich, dass Alexander, wenn er
so viele Kampfgefährten in seiner unmittelbaren Nähe hätte wüten
sehen, sich darüber gefreut hätte, so viele Männer [280] von seinem
Schlag zu haben. Schon drang an Darius’ Ohren das Getöse des
Siegers und schon stürzte sich der Wirbel eines stürmischen und
todbringenden Angriffs auf dessen Leibwächter.
im Kampf, [290] die für das Vaterland einstanden. Scham und die
Ehrfurcht vor seinem Namen hinderten ihn an der Flucht, anderer-
seits bedrängte ihn quälende Angst. Während er in Lethargie verfiel
und unsicheren Herzens schwankte, während er im Zweifel war, ob
er fliehen oder im Hass auf sein Dasein die eigene Gefangennahme
zulassen solle, [295] ergriffen die Perser gleichsam geschlossen die
Flucht und durcheilten ohne ihren König die Steppe. Jetzt erst
schwang sich Darius unwillig auf sein Pferd und floh in vollem Ga-
lopp, vor den Fluren zurückweichend, die vom Blut seiner Kämpfer
getränkt waren. Wohin, todgeweihter König, eilst du auf deiner
feigen Flucht? Weißt du nicht, ach du Verlorener, weißt du nicht,
[300] vor wem du da fliehst? Während du vor dem makedonischen
Feind fliehst, läufst du anderen Feinden in die Arme. Indem du
Charybdis zu meiden suchst, fällst du Scylla zum Opfer. Bessus und
Narbazanes, ehemals bedeutende Stützen deiner Macht, die du aus
niederem Stand in den Adel erhoben hast, scheuen nicht davor
zurück, das Treueverhältnis mit Füßen zu treten [305] und dein
ergrautes und ehrwürdiges Haupt zu vernichten. Unter Missach-
tung elementarer Rechtsgebote verschworen sich die Gefolgsleute,
welch eine Schande, zum Mord an ihrem eigenen König.
Als Alexander erfuhr, dass Darius nur knapp von der Schwelle des
Todes fortgerissen worden war, stürmte er blutrünstig über die
Knochen von Fürsten hinweg und verfolgte in gewaltigem Sprung
über Leichen, nahezu unbegleitet von Griechen und rücksichtslos
gegen sich selbst, [310] den flüchtenden König. So reißt ein Meteor
in stürmischem Lauf sein eigenes Feuer mit sich und erhellt die
Wolken mit spärlichem Licht. So auch bricht die Rhone mit schäu-
mendem Strudel aus den Felsen der Alpen hervor, wo Maximian
[315] die aus dem Osten kommenden Truppen auslöschte, als nach
312 ALEXANDREIS
der Vernichtung der thebaischen Legion Wogen von Blut die Strö-
mung des Flusses verstärkten, das mit Wasser gemischte Blut steil in
die Höhe über die Deiche schoss und ganz Agaunum über-
schwemmte.
nen Soldaten den Persern jenes Bollwerk der eigenen Brust entge-
gen, vom Feind so oft mit Hieben bedacht, [370] wobei die in
schwierigen Situationen ihm beständig zur Seite stehende Fortuna
ihn auch jetzt nicht im Stich ließ. Alexander fing den persischen
Anführer der Kohorte, der mit großer Inbrunst den Kampf suchte,
ab und zerfetzte ihm mit dem Schwert die Eingeweide. Sofort
griffen Lysimachus und der Stolz der achäischen Jugend die Araber
von allen Seiten aus an und beide Parteien [375] verschonte nicht
jene grimmige Kriegswut, bei der niemand ungerächt fiel.
Als aber den Persern die Flucht sicherer schien als der Kampf –
Atlas’ Gestirn wagte es schon, seine Lichter den Strahlen des Phoe-
bus entgegenzustellen –, waren sie, ohne die Ordnung zu wahren,
nur noch darauf bedacht zu fliehen. In vollem Galopp [380] über-
querten sie ungefähr um Mitternacht den Fluss und gelangten nach
Arbela. Kopflos und verzweifelt zog der babylonische König dort
jene zu Rate, mit denen er gemeinsam geflohen war, und besprach
mit ihnen zugleich auch die schwierige Lage. Nachdem er die
Seufzer seines klagenden Herzens unterdrückt hatte, [385] blickte er
weinend auf jenen Rest von Männern, welche die Griechen am
Leben gelassen hatten, und sagte: »Es gehört zum menschlichen
Schicksal, dass ein dem Zufall unterliegendes Schlachtgeschehen so
oft Veränderungen mit sich bringt. Bald muss man einen Fehlschlag
ertragen, bald darf man sich über einen glücklichen Ausgang freu-
en, bald ist es nötig, das Haupt den Unglücksfällen zu beugen, bald
jedoch ist es auch möglich, dieses wieder in die Höhe zu heben. So
sah Lydien Croesus am Boden. [390] Und so besiegte eine Frau im
Gegenzug einen Sieger. So auch haben die Thermopylen den Xerxes
am Boden liegend gesehen und kaum konnte jener, der eben noch
das ganze Meer mit Schiffen bedeckt hatte, als Besiegter mit einem
318 ALEXANDREIS
Darius hatte seine Rede beendet. Seine Stimme machte bei den Sei-
nen einen überaus ängstlichen und hoffnungslosen Eindruck. Da
Alexander voraussichtlich schon am nächsten Morgen das durch so
viele Reichtümer prächtige Babylon [425] und die übrigen ohne
Verteidigung zurückgelassenen Städte einnehmen würde, schien die
Aussicht gering, das Schicksal wieder in die richtigen Bahnen len-
ken zu können. Auch bot sich keine günstige Gelegenheit, den von
den Griechen noch nicht eroberten Teil des Reichs zu halten.
[430] Einmütig eilten sie weiter, die medischen Lande aufzusuchen,
entweder weil die Soldaten doch wieder Mut gefasst hatten oder
weil sie eher dem Befehl als dem Rat ihres Anführers Folge leisteten.
lich mit einer langen und großen Anstrengung gerechnet hatte, die
mit so vielen Völkern und so vielen Türmen bewehrte Stadt, erst
nach einer Belagerung einnehmen zu können, außer wenn die Ram-
me mit göttlicher Hilfe die Ziegelsteinmauern mit häufigen Stoßen
zerrütten würde. [450] Und so konnte dieser entschlossene und in
der eben vergangenen Schlacht nicht gerade ruhmlose und im
Kriegshandwerk vielfach erprobte Mann andere mit seinem Beispiel
zum Abschluss eines Friedensvertrags bewegen. Dann aber betrat
Alexander, nachdem er sein Heer kunstvoll geordnet hatte und den
Persern der Befehl erteilt worden war, seinen Truppen hinten zu
folgen, [455] in Schlachtordnung die staunende Stadt.
scher vor Augen führt und sich bemüht, sie mit angemessenem Lob
und entsprechenden Ehrungen hervorzuheben, [500] dann aber
noch einmal unvoreingenommen überdenkt, mit welch kleiner
Streitmacht der Makedone in noch jugendlichem Alter gegen die
damaligen Herren der Welt Großartiges gewagt und nach welch
kurzer Zeit sich der ganze Erdkreis Alexander zu Füßen geworfen
hat, dann wird die ganze Reihe von Heerführern, mag auch Spa-
niens Dichtung [505] sie feierlich besingen oder Claudian sie mit
erhabenen Versen verherrlichen, gemessen an einem Anführer wie
diesem zweifelsohne hintanstehen müssen. Demzufolge dürfte es
Lucan angesichts solch hehren Glanzes bereuen, Caesar und den
Untergang Roms in einem Epos besungen zu haben, und auch Ho-
norius im Vergleich zu den ruhmreichen Taten der Griechen den
Kürzeren ziehen. [510] Falls aber die Gnade Gottes, bewegt durch
das Seufzen der Frommen und durch die Gebete der Gläubigen,
den Franken einen solchen König wie Alexander zuwiese, so würde
auf dem ganzen Erdkreis unverzüglich der wahre Glaube erstrahlen.
Gebändigt durch unsere Waffen würde das Partherreich aus eige-
nem Antrieb fordern, durch die Taufe erneuert in die Gemeinschaft
der Christen aufgenommen zu werden. [515] Das stolze Karthago,
das lange mit geschleiften Mauern darniederlag, würde im Namen
Christi neu wieder erstehen. Die Banner des Kreuzes würden die
Bußstrafe eintreiben, die Spanien schon zur Zeit Karls des Großen
hätte entrichten müssen. Jedes Volk würde in seiner eigenen Spra-
che ein Loblied auf Jesus anstimmen und geradezu begeistert
[520] vom heiligen Bischof der Remer die Taufe empfangen.
Liber VI
Capitula sexti libri
Sextus liber
Das sechste Buch zeigt, wie Alexander durch den Prunk und das
Gold Babylons verführt wird. Der makedonische König verteilt die
Aufgaben im Lager nach festen Gruppen. Mit seinem kampfberei-
ten Heer betritt er das Land der Uxier. Auf Sisigambis’ Bitten hin
gibt er die Stadt frei [5] und verschont Medates. Bis auf die Grund-
mauern zerstört, steigt aus dem berühmten Persepolis Rauch auf.
Die Begegnung mit den Elenden rührt den König zuinnerst auf.
Darius schickt sich an, erneut die Entscheidung in der Schlacht zu
suchen. Hierauf trennt ein Aufstand die Verräter von Darius. Aber
angeborene Verlogenheit [10] verschafft ihnen wieder Darius’
Gunst und versöhnt arglose Herzen. Nicht aber können Patrons
Ratschläge das Schicksal ändern.
Weil nichts verdorbener war als die Sitten jener Stadt, schwächten
ihm jedoch Babylons Reichtum und der Luxus eines dem müßigen
Nichtstun [20] verfallenen Volkes jene Zierde des Geistes, die ihm
schulische Bildung von zarter Kindheit an eingeprägt hatte: die
innere Haltung für ein zivilisiertes Leben, die angeborene Tugend-
haftigkeit und die gewohnte Unbeugsamkeit. Wenn die Sinne vom
vielen Wein erhitzt waren, war nichts förderlicher für das Übel
käuflicher Liebe als jene sittliche Verwahrlosung. Wurde nur ein
Preis für eine scheußliche Schandtat ausgelobt, zwangen nicht nur
Gatten die Gattin, [25] sondern auch Eltern ihre Kinder, sich
Gästen für Geld anzubieten. Nachts sahen sich Tischgesellschaften
feierliche Spiele an, die Könige nach väterlicher Sitte zu veranstalten
pflegten. Vierunddreißig Tage lang hielten Babylons Luxus und
Müßiggang den makedonischen König gefangen, wodurch [30] je-
nes Heer – eigentlich dazu bestimmt, die Länder zu bezwingen – zu
diesem Zeitpunkt zu schwach gewesen wäre, wenn es sich nach
einem Gastmahl an müßiger Tafel in seiner Trägheit auf einen ent-
fesselten Feind hätte stürzen müssen.
332 ALEXANDREIS
Die Eroberung von Susa und der Krieg gegen die Uxier (63–144)
Schwierig jedoch war der Zugang zur Stadt, da der steinharte und
nicht zu durchdringende Boden mit scharfen Steinen und Felsen
drohte. Und nicht allein mit dem ausdauernden Feind kämpfte Ale-
xander, sondern es war auch der Ort, der bekämpft werden musste,
ein natürlicher Felsen, [85] geschützt durch seine naturgegebene
Lage; doch rückten an den schroffen und steilen Hängen schon die
leichtbewaffneten Kohorten unter Führung des in vorderster Front
reitenden Tauron heran. Als Alexander, vom ausgebreiteten Flecht-
werk zwar einigermaßen geschützt, von oben herab von einem
Pfeilhagel eingedeckt wurde, konnten ihn seine Soldaten weder mit
Gewalt noch mit Bitten von der Mauer der Feinde wegreißen,
[90] da er mit dem Helm auf dem Kopf als erster unter den ersten
gegen die Mauern wütete: Bald wälzte er gewaltige Felsbrocken
heran, bald drang er mit dem Schanzpfahl unter die Mauer, bald
zerbrach er mit dem Sturmbock die Tore, bald ließ er die für die
Menschheit leidvolle Wurfmaschine Geschosse schleudern und
trieb dabei seine Kampfgefährten folgendermaßen an: »Welch eine
Schande, schämt ihr euch nicht, [95] ihr Bezwinger Asiens, meine
Kameraden, vor denen in der Vergangenheit schon so viele Städte
kapituliert haben, jetzt vor den Mauern eines kleinen Kastells hier
nur halbherzig zu kämpfen? Welcher Ort, welches Schanzwerk soll-
te in der Lage sein, uns Widerstand zu leisten? Welcher Schutzwall
sollte nicht zusammenbrechen, wenn die makedonische Streit-
macht naht? Welche Mauern oder welche Burgen sollten uns stand-
halten? Welche Grundmauern – auf feste Pfeiler [100] gestützt –
sollten Bestand haben, wenn die ragende Mauer schmerzlich emp-
findet, dass Alexander dort steht? Sie wird einstürzen, mag sie auch
dem Olymp vergleichbar aufragen, die Türme werden lernen, mir
vor die Füße zu fallen.«
338 ALEXANDREIS
[145] Nachdem Alexander das Heer zwischen sich selbst und Parme-
nion aufgeteilt hatte, gab er diesem unverzüglich den Befehl, Darius
vorsichtig zu verfolgen und dabei durch das Flachland zu ziehen. Er
selbst suchte mit einer ausgewählten Schar von Reitern einen stei-
len Bergrücken zu erreichen, dessen stetig verlaufender Grat nach
Persien hin abfiel. [150] Alexander, der kein anderes Mal schlimmere
Gefahren ertragen musste, hat hier durch eigene Erfahrung gelernt,
dass das Schicksal wankelmütig und launenhaft sein kann und kei-
nem immerwährend beistehen muss. Während Alexander nämlich
durch so viele Engstellen und nahezu unzugängliche Schluchten,
durch so viele verschlungene Pfade, die dem Menschen normaler-
weise nirgendwo [155] Zutritt gestatten, schritt, wurde er von oben
herab vom Feind bestürmt. Nachdem er nicht ohne Verluste zum
342 ALEXANDREIS
Als kaum sich der Himmel vom Dunkel der Nacht befreit hatte,
überquerte Alexander auf einer eigens errichteten Brücke den
Araxes, griff eilends Persepolis an und legte die durch so viele
altehrwürdige Könige berühmte Stadt in Schutt und Asche.
[165] Wenn er auch schon zuvor so viele von Reichtümern strotzen-
de Städte erobert hatte, übertraf doch die barbarische Pracht von
Persepolis andere Schätze bei weitem. Den Reichtum ganz Persiens
hatten die Könige einst hierher bringen lassen. Man raubte das für
die Tempel bestimmte Gold und die rohe Masse uralten Silbers.
[170] Aus dem Allerheiligsten der Tempel schleppte man einen Berg
voller Schätze weg, die nicht so sehr zum Gebrauch erworben wor-
den waren – für diesen Zweck hatten die Alten diese in ihrer Hab-
gier nämlich nicht zusammengerafft – als dazu, dass deren Anblick
bewundernde Blicke hervorrufen sollte. Schnell stürzte man sich
auf die Beute, man kämpfte wie unter Räubern, der Freund,
[175] der sich eine wertvollere Beute unter den Nagel gerissen hatte,
wurde anstelle des Feindes getötet: Grund und Preis für den gewalt-
samen Tod war die wertvolle Habe. Und was ein jeder raubte,
konnte der Plünderer schon nicht mehr tragen. So geschah es, dass
er jene Dinge, die er noch nicht in seinen Besitz gebracht hatte,
zuvor erst nach ihrem Wert begutachtete. Purpurdecken wurden
zerrissen, zerfetzt wurden [180] mühsam von Künstlerhand gefertig-
344 ALEXANDREIS
setzt, weiß nicht, wie schnell der Strom der Tränen in der Lage ist
zu versiegen. Mit Leichtigkeit brechen die im Schmeicheln erfahre-
nen Tränen hervor, leicht jedoch versiegen sie auch. Die einzigen
Tränen, die für Elende vergossen werden, [235] stammen von den
eigenen Angehörigen. Sind jene Tränen vertrocknet, versiegen mit
ihnen auch Liebe und Erbarmen der Deinigen. Das Schicksal eines
Elenden ist beklagenswert, hochmütig jedoch ist die Haltung eines
glücklichen Menschen und ein aufgeblasener Geist kennt kein
Mitgefühl. Nicht liebt man aufrichtig denjenigen, den man gering-
schätzt. [240] Wahre Liebe besteht darin, einen Freund in einer
unglücklichen Lebenslage nicht geringzuschätzen. Während man
das Schicksal des anderen betrachtet, setzt es ein jeder in Beziehung
zum eigenen Schicksal und sucht, sein eigenes Los überdenkend, in
seinem sozialen Umfeld nur solche Freunde, zu denen man inwen-
dig am besten passt. Ein glückliches Los bei dem einen sucht nor-
malerweise ein entsprechendes Schicksal beim anderen. [245] Wir
hätten – der eine den anderen – verachten und uns gegenseitig als
Schandfleck dienen können, wenn das Los nicht allen dreitausend
Männern das gleiche Schicksal zugewiesen hätte. Wie werden unse-
re liebevollen Ehefrauen, die wir in der Leidenschaft unserer Jugend
geheiratet und durch unseren Waffengang schmählich zurückgelas-
sen haben, mit einem wertlosen Rumpf, ohne das Feuer der Lust,
[250] mit gewohnter Begeisterung den ehelichen Beischlaf vollzie-
hen und mit uns die Freuden des Ehebetts teilen wollen? Kennen
wir die Frauen so schlecht? Der Frühlingswind ist beständiger und
weicher der Stahl als das Herz einer Frau [255]. Wird sie das Elend
ihres Ehegatten ertragen können, wenn sie normalerweise schon
einem glücklichen Mann hart zusetzt? Ihr längst schon dem Leben
entrückten Jünglinge, ich bitte euch inständig, sucht Wohnsitze für
eure halb zernagten Kadaver. Lasst uns einmütig einen Ort suchen,
[260] der sich für Trauernde und Verlorene eignet. Lasst uns an
unbekannten Gestaden unter jenen verborgen uns halten, bei de-
nen wir schon als Beklagenswerte anerkannt wurden, ja sogar der
350 ALEXANDREIS
Als der Kriegsheld mit Bedacht für diese Elenden gesorgt hatte, zog
er nach Ergänzung der Truppen in das Gebiet der Meder. Er ver-
folgte Darius’ Spur in eiligem Lauf, [300] damit die Flucht der
Perser nicht ausgerechnet jenen entführte, der als entscheidender
Teil eines vollständigen Sieges noch übrig blieb, und drohte heftiger
als ein Panther. Aber Belus’ Enkel war bereits nach Ebaktana, in die
Hauptstadt Mediens, gekommen. Er hatte beschlossen, von dort
aus in das Gebiet der Baktrer zu ziehen. Als er jedoch [305] gerüch-
teweise erfuhr, dass Alexander, gegen dessen raumgreifendes Heer
offenbar keine Entfernung weit genug zu sein schien, ganz in der
Nähe sei, änderte er gewandelten Sinns seinen Plan. Er traf alle
Vorbereitungen für den Kampf und ordnete an, dass es ehrenvoller
sei, in der Schlacht zu sterben, als ein Leben zu verlängern, [310] das
schon so oft vom Schicksal bezwungen worden war.
354 ALEXANDREIS
Volk so oft Steuern und Tribut gezahlt haben, beschwöre ich euch,
Soldaten, eine eurer trefflichen Abstammung entsprechende Hal-
tung einzunehmen, damit es euch gelingt – die Götter mögen dafür
als Zeugen dienen –, in einer herausragenden Schlacht entweder
besiegt zu werden oder zu siegen.«
keit unversucht ließe: Alles bewegt sie und alles versucht sie.
[420] Dann erst erstrebt sie den Tod, wenn es ihres Erachtens
keinen Ausweg mehr gibt. Erst nach allen möglichen Unglücksfäl-
len ist der letzte Ausweg der Tod. Also wohlan, mein König, über-
trage Bessus, den uns die Gunst des Augenblicks anbietet, jetzt die
Lenkung deines Reichs, damit er dir zu gegebener Zeit das Szepter
zurückgibt.«
[425] Nach diesen Worten konnte sich jener gütige und geduldige
Herrscher kaum noch beherrschen und rief: »Grausamer Sklave,
ich erkenne sehr wohl, dass du die passende Stunde für meinen Tod
gefunden hast, in der du als Sklave eine Freveltat gegen deinen Herrn
zu begehen beabsichtigst und mir den Lebensfaden durchtrennen
willst.« [430] So sprach er und hätte mit gezücktem Schwert bei-
nahe den Bessus getötet, wenn dieser nicht scheinbar empört und
von einer großen Menge seiner Anhänger umgeben mit einer Geste
der Demut den König besänftigt hätte. Ohne Zögern hätte Bessus
den persischen König in Fesseln legen lassen, wenn dieser das blanke
Schwert nicht auf der Stelle eingesteckt hätte.
[435] Dann aber gaben Narbazanes und Bessus ihren Leuten den Be-
fehl, abseits von allen anderen ein Lager aufzuschlagen, Artabazus
gab dem König gleichwohl den Rat, seinen Zorn zu beherrschen
und unter diesen Umständen die Lage zu überdenken. Folgender-
maßen sprach er ihn an: »Ertrage mit ruhigem Herzen das Ver-
gehen und die Dummheit deiner Männer. Wuchtig und waffen-
starrend [440] naht Alexander bedrohlich. Mit gewinnender Liebe
364 ALEXANDREIS
Des Arsames Sohn folgte dem Rat des Artabazus. Den Göttern und
dem Schicksal folgend bezog er sein Lager. Wehmut und Verzweif-
lung, [445] den Besiegten unzertrennliche Begleiter, belasteten den
persischen König. Folglich schwankte die Stimmung im Lager, das
keinen richtigen Anführer mehr hatte. Der unheilvolle Tag stand
dem König unmittelbar bevor. Während er sich einsam im königli-
chen Zelt aufhielt, verteilte er nicht wie früher die Last des Re-
gierens auf viele Schultern, [450] sondern wägte die wachen Sorgen
in seiner Brust.
Als aber die beiden Verräter die aus Machtgier geplante Schandtat
schon im Geiste bewegten, sorgten sie sich darum, dass der König
nur mit großer Mühe gefangen genommen werden könne. Eine
durchaus beachtliche Scheu nämlich und eine Ehrfurcht vor ihren
Königen [455] herrschten im persischen Volk und die Erhabenheit
des Königs hatte gewöhnlich eine große Bedeutung. Auch ein
Barbarenvolk erschauderte vor dem Namen des Königs und einen
Herrscher, den Barbaren in glücklichen Zeiten fürchteten, verehr-
ten sie auch, wenn dieser vom Schicksal bedrängt wurde. In un-
glücklichen Zeiten lebte noch die Verehrung aus der glücklichen
Anfangszeit seiner Herrschaft. [460] Wem sie einmal Achtung
entgegengebracht haben, dem erwiesen sie immer die Ehre. Und da
im Volk eine so große Treue zum König und eine so große Gunst
366 ALEXANDREIS
Die Morgensonne hatte die in das Dunkel der Nacht gesenkte Welt
wieder ins Licht getaucht und schon hatte [470] Darius das Zei-
chen zum Aufbruch gegeben. Eingefunden hatten sich mit einer
großen Zahl an Soldaten auch die beiden Verschwörer, durchtrie-
ben genug, aus Vorsicht die gewohnte Pflicht im Feld vorzuschüt-
zen und den Anschein zu erwecken, den Befehlen des Königs zu
folgen. Doch tief im Herzen lebten im Stillen weiterhin die verbor-
gene Tat und der Frevel eines so schlimmen Verbrechens. [475] Noch
immer trug Darius das schimmernde Szepter und die anderen
Zeichen der Herrschaft und erstrahlte von der Höhe des Wagens.
Mit gesenktem Kopf lag die meuternde Schar flehend und um
Gnade bittend am Boden, auch zu diesem Zeitpunkt noch heuchel-
te der Vatermörder gegenüber seinem Anführer, den später ein
Sklave [480] in Fesseln legen würde, seine Ergebenheit. Er nötigte
den persischen König, seinen hervorströmenden Tränen Glauben
zu schenken und das alte Antlitz mit einem Tränenfluss zu be-
netzen. Aber auch jetzt nicht reute die Betrüger ihr schlimmes
Verbrechen, obwohl beide unzweifelhaft erkannten, was für einen
gütigen Menschen, König und Helden sie [485] täuschten. Jener
freilich strebte, arglos den drohenden Zeitpunkt missachtend, den
das Geschick und die beiden sklavenhaften Charaktere für ihn vor-
bereitet hatten, ausschließlich danach, Alexander und den makedo-
368 ALEXANDREIS
[525] Durch den Beschluss des Königs bestürzt und der Verzweif-
lung nahe, kehrte Patron verstört zur griechischen Abteilung zu-
rück, entschlossen, alles für den wahrhaft unbeugsamen Sinn und
die Treue des rechtmäßigen Königs zu ertragen. Doch der Mörder
Bessus – zwar der griechischen Sprache nicht mächtig, doch selbst
[530] Zeuge von Patrons leidenschaftlichem Ausbruch – gelangte
durch einen Dolmetscher an die geheime Botschaft. Und schon
hätte er Darius getötet, wenn er nicht der Meinung gewesen wäre,
dass es sicherer sei, Alexander den feindlichen König lebend zu
übergeben. Auf diese vermeintlich bessere Art hegten die blutrüns-
372 ALEXANDREIS
tigen Verschwörer die Hoffnung, sich die Gunst des Siegers erwer-
ben zu können. [535] Also verschob er die Freveltat auf die günsti-
gen Stunden der Nacht, in der Schandtaten begangen zu werden
pflegen, in der ungestraft Gefallen findet, was tagsüber nur Schande
bereitet, wenn furchtsame Zurückhaltung sich erkühnt und das
Gesicht nicht errötet. Daraufhin war es Bessus [540] mit tücki-
schem Herzen darum zu tun, Darius Dank und Ehrfurcht entge-
genzubringen, da dieser mit einer beeindruckenden und großarti-
gen Rede den unredlichen Worten eines listenreichen Griechen
nicht nachgegeben habe. Auf die Reichtümer Persiens schielend,
schicke sich Patron schon an, den König der Makedonen mit Da-
rius’ Kopf zu besänftigen, er sei schon im Begriff, ihm die blutige
Gabe zu reichen. Kein Wunder. Bekanntlich halte ein bestechlicher
Grieche, vom Sold geleitet, [545] alles für käuflich. Ein Mann ohne
nahe Verwandte, Heim und Gattin, arm und heimatlos werde von
der Belohnung der Auftraggeber wie ein Schilfrohr hin- und her-
geworfen.
Septimus liber
Das siebte Buch zeigt Sklaven, die sich gegen ihren Herrn Darius
zum Kampf rüsten, bekundet dessen gerechten Sinn, und wie er
zuletzt in Fesseln geworfen wird. Inzwischen besiegt Alexander auf
der Suche nach Darius in einer verworrenen Schlacht die vertriebe-
nen Handlanger des Verbrechens. [5] Zuletzt vertraut Darius, von
Speeren durchbohrt, in seiner Todesstunde dem Griechen Polystra-
tus – dieser sucht für sich gerade nach frischem Quellwasser – seine
letzten Worte und seine letzten Gedanken an. Alexander benetzt
den Körper des Toten mit zahlreichen Tränen und bestattet ihn
dann. Erneut hemmt er den Aufruhr [10] der eigenen Krieger und
Fürsten und rast dann in schnellem Lauf gegen den Feind.
Und doch dachte er bei sich: »In welch ein Ungemach, pflichtver-
gessener Vater der Götter, zerrst du mich da hinein? Für welch ein
Vergehen schickt sich des Schicksals Würfel an, mich zu vernichten?
Ihr Götter, für welch ein Verbrechen [20] habe ich eine so schwere
Strafe verdient? Kein Platz mehr bleibt mir unter Freunden oder
Gefährten, und nicht bin ich bei jenen sicher, denen ich mich als
Herr normalerweise hätte gefahrlos anvertrauen dürfen. Wilder doch
als der klar erkennbare auswärtige Feind trachtet der Feind in den
eigenen Reihen mir nach dem Leben und legt das Messer an meine
alte Kehle. [25] Wenn ich es vielleicht nicht wert war, mit einem so
großartigen Diadem umwunden zu sein und mich der Herrschaft
über ganz Asien zu bemächtigen, wenn ich die unterworfenen
Völker schlecht regiert habe, wenn ich auf tyrannische Weise ver-
sucht habe, die heimischen Rechte und auch die Gesetze der Väter
zu brechen, wenn ich die Bürger mit Waffengewalt und das Volk
mit meiner Tyrannei unterdrückt habe, [30] wenn ich tatsächlich
als ungerechter Richter im Gerichtssaal saß und der Sache eines
Armen die tauben Ohren verschlossen habe, wenn ich, von einem
Geschenk bestochen, die unrechte Seite begünstigt habe, wenn
mich die verderbliche Pecunia dazu gebracht hat, ein gerechtes
Urteil aufzuheben, wenn ein enterbter Sohn voller Gram beweint,
dass ihm der angestammte Boden [35] und die vom Vater ererbten
Weinreben von mir entrissen wurden, wenn ich mit verdorbenem
378 ALEXANDREIS
Geist voll Hass gegen Recht und Gesetz so mein irdisches Dasein
durchlaufen habe: Dann habe ich den Tod wirklich verdient und
erbitte keinen Aufschub für mein Ende. Dann reicht die Zeit wirk-
lich aus, die ich aufgrund eurer Gnade, ihr Götter, gelebt habe.
[40] Dann soll Bessus noch schlimmer ergrimmen, dann soll Narba-
zanes gegen mich wüten und triefend von meinem kalten ver-
brauchten Blut mein ganzes Geschlecht den gerechten Zorn der
Gottheit besänftigen. Aber wenn ich die Gerechtigkeit hochgehal-
ten habe, wenn ich dem Recht folgend – [45] soweit die menschli-
che Natur und der anstößige Zustand des schädlichen Fleisches dies
zulassen – nur das getan habe, was die Vernunft uns Menschen aus-
drücklich vorschreibt, dann entfernt die Schwerter der Handlanger
von der Kehle ihres Herrn: Möge es mir jetzt von Nutzen sein, mein
ganzes Leben ohne Schuld zugebracht zu haben. Der Tod soll sich
denen zuwenden, die es zu sterben verdient haben. Mir möge es
erlaubt sein, weiterzuleben. [50] Redlichkeit nütze dem Gerechten,
eine aufgeladene Schuld schade dem Schuldigen. Wenn aber der
mächtige Wille der Götter unverrückbar feststeht, wenn mir die un-
erschütterliche Abfolge des Schicksals den Lebensatem zu rauben
gedenkt und Atropos, mein Leben verkürzend, eilig den bereits
eingerissenen Faden zerschneiden möchte, [55] warum soll es dann
einem anderen mehr als mir selbst gestattet sein, mein eigenes
Schicksal zu bestimmen? Warum werde ich – den Griechen ent-
zogen – für Narbazanes am Leben gehalten? Fehlt mir etwa die
Kraft, fehlt mir etwa die Rechte, fehlt mir etwa das Schwert, dass
ich zögere, mein Leben mit dem Tod zu vollenden?«
So sprach er. Und mit dem kaltem Schwert hätte er seine Eingewei-
de durchbohrt, [60] doch der Eunuch, der als einziger bei Darius
war, schreckte die Zelte und das Lager mit lautem Gezeter auf.
380 ALEXANDREIS
Mit Schrecken nahm Alexander die Botschaft zur Kenntnis, rief die
Anführer zusammen und sagte Folgendes: »Nur noch kurz, meine
Freunde, ist die Mühsal, groß jedoch ist der Gewinn. Nicht weit
von hier wurde Darius von den Seinen verraten und in Fesseln
384 ALEXANDREIS
Als schon die ersten Sterne am Himmel zu sehen waren, war man in
jenes Dorf gekommen, in welchem Bessus wütenden Herzens des
Arsames Sohn in Fesseln gelegt hatte. [130] Dort liefen ihnen zwei
Männer entgegen, die voll Hass auf Bessus’ ungeheuerliche Schand-
tat der Meinung waren, dass es sicherer sei, sich dem makedoni-
schen Lager anzuschließen, als sich unter Mördern aufzuhalten.
Mit deren Hilfe war der makedonische König bei einbrechender
Dunkelheit in der Lage, eine Abkürzung zu nehmen. In geschlosse-
ner Ordnung marschierend, [135] passte er die Marschgeschwindig-
386 ALEXANDREIS
keit so an, dass die letzte Schlachtreihe mit den vorderen Reihen
mithalten konnte. Inmitten der Nacht meldete der persische Über-
läufer Brocubelus, dass Darius noch am Leben und nur zweihun-
dert Stadien entfernt sei. [140] »Hütet euch jedoch davor«, so riet
er den Griechen, »unter solchen Umständen das Heer ungeordnet
schreiten zu lassen oder schlecht gewappnet auf die bewaffneten
feindlichen Linien zu treffen. Noch heftiger rüstet die Schandtat
Mörder zum Kampf, sobald die Verzweiflung in ihrem Herzen
beklagt, es bleibe ihnen kein Ort mehr der Gnade.« [145] Von
diesen Worten ließen sich die griechischen Anführer noch weiter
anstacheln, noch heißer spürte auch Alexander das Verlangen, das
Lager der Sklaven zu erreichen. Also spornte man mit lockeren
Zügeln die müden Pferde und ließ sie härter als sonst den Stachel
verspüren. Gleichsam auf Flügeln schienen sie durch die Lüfte zu
fliegen. [150] Schon konnten die Griechen den Lärm und das Dröh-
nen und auch das Rattern der Räder hören. Die feindlichen Ab-
teilungen hätten sich gegenseitig sehen können, wenn nicht eine
gewaltige Staubwolke die Sicht behindert hätte. Alexander erteilte
seinen Leuten den Befehl, für kurze Zeit innezuhalten, bis die
aufgewirbelte Staubwolke sich gelegt hätte [155] und sie die feindli-
chen Scharen erkennen könnten. Als Bessus den Blick zur Seite hin
wendete – die Staubwolke hatte sich inzwischen verzogen – und
von einer luftigen Anhöhe aus sehen konnte, wie schnaubende
Männer anrückten, die Generäle im Glanz ihrer Waffen erstrahlten
und die Fußsoldaten durch ihre Schwerter bleifarben glänzten,
[160] fuhr ihm bei diesem Anblick der Schreck in die Glieder und es
bebte – der furchtbaren Schuld sich bewusst – sein von nacktem
Entsetzen ergriffenes Herz. Im Unterschied dazu beschleunigten die
wild entschlossenen Griechen ihren Schritt und brannten darauf –
das steile Gelände in rasendem Lauf erklimmend –, sich trotz un-
gleicher Kräfte auf die Feinde zu stürzen. [165] Wenn Bessus näm-
lich so viel Mut und so viel Kraft für den Krieg und den Kriegs-
dienst aufgebracht hätte wie zum Verbrechen, wenn er in der
388 ALEXANDREIS
Schlacht so viel hätte bewirken können wie als Übeltäter und Ver-
räter, dann wäre er auch in der Lage gewesen, Alexanders griechi-
sche Streitmacht zurückzuschlagen [170] und Asien zu rächen.
Denn die Barbaren, die dem Lager des Bessus folgten, waren den
Griechen sowohl an Kampfkraft als auch an Zahl weit überlegen.
Durch Speise und Schlaf erholt, wären sie eigentlich in der Lage
gewesen, ihren müden griechischen Feinden eine empfindliche mili-
tärische Lektion zu erteilen, dass abwechselnde Ruhezeiten unter
den Soldaten für die Schlagkraft der Truppe sehr förderlich sind.
[175] Aber die Angst vor den Griechen und der überall auf dem
Erdkreis Schrecken hervorrufende Name des makedonischen Kö-
nigs – in kriegerischen Auseinandersetzungen ein oft ausschlagge-
bender Faktor – brachte die ängstlichen Perser zum Weichen und
nötigte sie, die Hoffnung aufzugeben, die Feinde besiegen zu
können. Die Bande der Verschwörer machte sich mit widerstreben-
den Waffen davon, die verkommenen Gestalten drehten den Grie-
chen den Rücken zu [180] und ergriffen die Flucht. Doch jetzt
drängten die Helfershelfer der gottlosen Tat – fest entschlossen zur
schlimmsten aller möglichen Schandtaten – Darius dazu, vom Wa-
gen zu steigen, und forderten ihn mit harschen Kommandos auf,
sich schnell auf sein Pferd zu schwingen, alle Kräfte zu mobilisieren
und sein Leben durch Flucht zu retten. [185] Jener wies die arglisti-
gen Worte und heuchlerischen Ermahnungen zurück, rief die
Götter zu Zeugen, dass die griechischen Rächer schon nahe seien,
erflehte unter Tränen den Beistand des energischen Makedonen
und lehnte es ab, die Mörderbande weiterhin zu begleiten. »Weder
Furcht vor dem Tode«, so sprach er, »noch Tücke des Schicksals
[190] werden mich nötigen können, dem Lager der Verräter mich
anzuschließen. Fortunas Schwert vermag meinem Unheil kein wei-
390 ALEXANDREIS
teres Leid hinzuzufügen. Der Tod, mit dem mich die Verschwörer
bedrohen, wird ein Gegenmittel sein für den Kummer, das Gift des
Todes werde ich als Heilmittel und Balsam für die erlittenen Qua-
len betrachten.« [195] Ob dieser Worte vor den Kopf gestoßen,
fühlten die Verräter tief in ihrer Brust schlimmen Verdruss, durch-
bohrten ihren König und Vater mit blutigen Spießen und schleu-
derten gleich einem Hagelschlag Speere auf diesen. Schließlich lie-
ßen sie ihn – an der Brust von zahlreichen Wunden lebensgefähr-
lich verletzt – blutbefleckt liegen. [200] Und damit das Pferdege-
spann, längst gewohnt, am Wagen das prächtige Kummet zu tragen,
dem fliehenden Haufen nicht länger folgen konnte, verletzten sie
auch dieses mit Speeren und Schwertern. Zugleich bestimmten sie
zwei Gefolgsleute des Königs, im Leben ihm treu ergeben, im Tod
ihm zu folgen, und stürzten sie in dasselbe Verderben. Danach flo-
hen sie auf getrennten Wegen, [205] um die Spuren dieser gewalti-
gen Schandtat zu verwischen. Auf schnellstem Wege nach Baktra
entkommen wollte Bessus, in die Wälder Hyrkaniens eilte Narbaza-
nes. Alle anderen flohen versprengt, von der Furcht getrieben oder
auch von der Hoffnung, in schwierigen Lebenslagen immer der
beste Rückhalt.
[210] Nur fünfhundert Krieger, die es vorzogen, für Recht und Ehre
des am Boden liegenden Vaterlandes zu sterben und dem griechi-
schen Heer Widerstand zu leisten, scharten sich zusammen, entwe-
der weil sie die Hoffnung hatten, mit einem siegreich geführten
Kampf ihr Leben zu verlängern, oder weil sie es als Schande emp-
fanden, ihren zu Tode gebrachten König zu überleben. [215] Wäh-
rend die Schar der Perser im Gespräch noch mit sich zurate ging, ob
es besser sei, vor dem nahenden Feind zu fliehen oder sich den
Griechen im Kampf zu stellen, da erschien überraschend das grie-
392 ALEXANDREIS
[240] Nicht weit von dort floss mit munterem Plätschern ein sanft
sprudelnder Bach dahin und ließ die Frühlingsgewächse erblühen.
Der Bach besaß seinen Ursprung in einer Quelle, die nach ihrem
engen Weg durch das felsige Innere aus einer Steinwand hervor-
brach, um im weiteren Lauf ungetrübt dahinzufließen und den tro-
394 ALEXANDREIS
Moralexkurs (306–343)
Dich jedoch, Darius, wird Franzien, [345] sollte man meiner Dich-
tung dereinst Vertrauen und Ansehen schenken, mit Recht nicht
weniger rühmen als den römischen Feldherrn Pompeius. Der
Ruhm des Verstorbenen wird zusammen mit dem Dichter weiterle-
ben und niemals im Laufe der Zeiten vergehen.
Sitzend verharrte er eine Weile und schlug als Zeichen der Trauer
die Hände über dem Kopf zusammen. Ohne die für ihn sonst
übliche königliche Strenge an den Tag zu legen, beklagte und be-
trauerte er den niedergestreckt vor ihm liegenden Gegner, den er zu
dessen Lebzeiten so oft noch geschlagen hatte, um ihn zu Fall zu
bringen. Sobald er seine Tränen mit dem purpurnen Mantel ge-
trocknet [355] und seine Wangen gereinigt hatte, sagte er: »Der
wirklich einzige Trost, den wir als beklagenswerte Sterbliche für uns
geltend machen können, besteht darin, dass der physische Tod für
den Nachruhm eines Menschen überhaupt keine Rolle spielt.
Wenn der Ruhm bei der Nachwelt den Verdiensten im Leben ent-
spricht, dann wird auch der Zeiten Lauf deine Taten nicht aus-
löschen können, [360] und nicht werden die kommenden Genera-
tionen die Erinnerung an dich tilgen, König von Persien, ruhmrei-
cher Darius, oder wird der Zahn der Zeit an deinem Ruhm nagen.
Deine ruhmreichen Taten werden erstrahlen und überall auf dem
Erdkreis wird man dich preisen, da du es gewagt hast, Alexander
und der Bestimmung der Griechen Widerstand zu leisten. Wenn
mir unter günstigen Vorzeichen das Schicksal dich lebend erhalten
hätte, [365] würdest du nichts leichter anerkennen können als der
Griechen Joch. Einem einzigen König nur unterworfen würdest du
nach mir als Zweiter über alle anderen gebieten, eingesetzt als
Statthalter in einem Teil meines Reichs. Da aber die sklavenhafte
Bande, die dem alten und verbrauchten Vater mit dem Schwert das
Leben nahm, mir nicht die Möglichkeit eingeräumt hat, [370] als
milder Sieger über den besiegten Feind gepriesen zu werden, bleibt
dir nur noch, verstorbener König, mich, den du zuvor noch zum
Feind hattest, als Rächer für die ruchlosen Feinde zurückzulassen.
So möge es mir nach der Unterwerfung des Ostens gelingen, auch
in die westlichen Buchten tief einzudringen und die drohende
Flotte hinein [375] in die westlichen Meere zu führen und auf dem
Rückweg von dort die Gallier der Herrschaft der Griechen zu
unterwerfen. So mögen mir die Götter nach der Überquerung der
404 ALEXANDREIS
Alpen zudem erlauben, zugleich mit dem Volk der Ligurer auch die
Truppen der Römer zu vernichten.«
Während die Soldaten sich also dem Wein hingaben und in müßi-
ger Entspannung Zeit für heitere Gespräche hatten, da machte sich
im ganzen Heer – ein gewohnter Fehler unbeschäftigter Truppen –
rasend schnell ein plötzlich auftretendes Gerücht breit. Alexander
wolle nach dem glücklichem Ausgang des Kriegs, [440] nach dem
Sieg über die Feinde und der Eroberung Persiens voller Stolz in die
Heimat und die lieblichen Reiche zurückkehren. Also rannten die
leidenschaftlich auf Rückkehr erpichten Soldaten, obgleich das
Gerücht nicht verbürgt war, nach der Art von Besessenen durch alle
Teile des Lagers. Sie luden die Zelte auf Wagen [445] und räumten
ihre Habseligkeiten und die Gerätschaften des Lagers zusammen,
als ob der Abmarsch bereits für den nächsten Morgen geplant wäre.
Im ganzen Lager erhob sich überall Freudengeschrei, gemeinsamen
Beifall trugen sie zu den Sternen empor. Als dem unüberwindlichen
Herrscher das Gerücht – dieser war deswegen wie vom Donner
gerührt – zu Ohren drang, packte ihn ein tiefes Entsetzen [450] und
ein gewaltiger Wutausbruch verhinderte im ersten Moment einen
vernünftigen Umgang mit dieser Situation. Als ihm aber gleich da-
rauf nach Bezähmung der Wut wieder das vernünftige Denken zu-
rückkehrte, ließ er die Anführer herbeirufen und führte tränenüber-
410 ALEXANDREIS
strömt Klage darüber, dass ihm von den eigenen Männern auf hal-
ber Wegstrecke der Erdkreis entzogen und er ausgerechnet [455] an
der Schwelle zu echtem Heldentum von der nun eigentlich leicht
erreichbaren Herrschaft über die ganze Welt ausgeschlossen werde;
nichts als Schande werde er in das Vaterland zurückbringen, das
Schicksal eines Besiegten und nicht das eines Siegers nach Argos
heimtragen; einem derartig kühnen Vorhaben stehe der Neid der
Götter im Weg, [460] die immer tapfere Herzen betörten und mit
der Liebe zur Heimat verlockten; unehrenhaft und ohne jeglichen
Ruhm wollten die Männer in das Land ihrer Väter zurückkehren,
wohingegen sie hochgepriesen heimkehren würden, wenn sie noch
einen kleinen zeitlichen Aufschub gewähren sollten. Die versam-
melten Generäle spendeten ihrem König Beifall, versprachen, in
allen Gefahren ihre ganze Kraft aufzubieten; [465] der Adel und das
leicht beeinflussbare Volk würden seinen Befehlen folgen, wenn er
nur ihre Zweifel mit schmeichelnden Worten zerstreue.
Octavus liber
Das achte Buch zeigt, wie Alexander die Hyrkaner bezwingt und
wie die köchertragende Amazone durchaus angemessene Wünsche
an den König heranträgt. Alexander lässt die Schätze der Griechen
verbrennen, fürwahr eine bewundernswerte Tat. Entdeckt wird das
Verbrechen des Dimus, es folgen [5] im Lager ein unsägliches Ge-
schrei sowie Philotas’ Rede und Tod. Den ruchlosen Bessus, das
unerbittliche Scheusal, schleppt man herbei, am Kreuze hängend
versöhnt der Vatermörder Darius’ Manen. Mit den Skythen be-
ginnt Alexander den Krieg. Da die skythische Gesandtschaft nichts
erreicht und ihre Warnungen Alexanders Eroberungsdrang nicht
besänftigen können, [10] unterliegt der zuvor unbesiegte Stamm
dem Sieger über das Perserreich.
[75] Und schon war der Marschweg festgelegt, schon wollte die nun
leichter bepackte Truppe nach Baktra aufbrechen, als der unbesieg-
te und vor dem auswärtigen Feind geschützte König beinahe von
einigen seiner eigenen Anführer getötet worden wäre. Dennoch
konnte er die Verschwörung unter den eigenen Leuten und den hei-
mischen Frevel abwenden, da ihn die Parzen noch immer verschon-
ten. [80] Unter den Freunden des Königs war der vortreffliche
Philotas, bedeutender als ein ganzer Truppenverband, Parmenions
Sohn, ohne den Alexander nichts vollbracht hätte, was eines Hel-
dengedichts würdig gewesen wäre. Aus guten Gründen verschwieg
dieser den schnöden Verrat, der ihm von Cebalinus angezeigt wor-
den war, [85] zwei Tage lang, bis sich Dimus – Metron hatte in-
zwischen von dem grausamen Verbrechen erfahren – ins eigene
Schwert stürzte, nachdem seine Komplizen in Fesseln gelegt worden
424 ALEXANDREIS
Auf Geheiß des Königs war das Heer in voller Bewaffnung angetre-
ten, der Platz vor dem königlichen Zelt schimmerte fahl vom
schrecklichen Eisen. Murmelnd wartete die ganze Truppe und in
Unkenntnis über den Grund für den gewaltigen Aufruhr spitzte
jeder die Ohren, um in Erfahrung zu bringen, [95] warum er herbei-
gerufen wurde, bis Alexander das Schweigen wortgewaltig durch-
brach und das Verbrechen enthüllte. Nachdem die Leiche des Di-
mus gebracht worden war, schwieg er zuerst, dann hob er folgen-
dermaßen an: »Beinahe, meine Landsleute, wäre ich euch entrissen
worden, nur durch die Gunst des Schicksals bin ich am Leben
geblieben.« [100] Auf die Worte des Königs hin erdröhnte der Ort
der Versammlung vom lauten Getöse der Menge. Als alle den König
aufforderten, den Drahtzieher dieses Verbrechens namentlich zu
benennen, sprach er: »Was soll ich sagen? Mein guter Freund Par-
menion, schon der besondere Freund meines Vaters, mit so großer
Zuneigung allen anderen gegenüber bevorzugt, [105] war der eigent-
liche Drahtzieher dieses niederträchtigen Verbrechens. Und Philo-
tas – da ist er –, der zusammen mit seinem Vater ein der Erde und
dem Himmel derart verabscheuungswürdiges Verbrechen ausheck-
te, suchte sich als Komplizen Lecolaus, Demetrius und Dimus,
dessen bedauernswerte Leiche ihr hier vor euch liegen seht, und stif-
tete als Anführer diese Männer heimlich dazu an, [110] mich zu er-
morden.« Wieder gab die unbarmherzige Versammlung ein schreck-
liches Lärmen von sich. Als Zeugen machten Metron, Cebalinus
426 ALEXANDREIS
und Nicomachus, der das Komplott als erster hatte auffliegen las-
sen, öffentlich vor versammelter Menge ihre Aussage über den
Ursprung des Verbrechens. Der Kriegsheld verstärkte deren Aus-
sage folgendermaßen: »Mit welcher Hingabe hat Philotas seinen
König denn wirklich geachtet, mit welcher Zuneigung [115] hat er
seinen Vater denn wirklich geliebt, wenn er geschwiegen hat, ob-
wohl ihm das schlimmste aller Verbrechen schon lange bekannt
war? Dass dieses Verbrechen jedoch nicht hätte verschwiegen wer-
den dürfen, zeigt der Selbstmord des Dimus. Einmal in Kenntnis
des verwerflichen Mordplans, ließ Cebalinus nicht eine Stunde ver-
streichen. Allein Philotas hat keine Furcht verspürt, allein Philotas
hat jenem Mordplan keinen Glauben geschenkt; [120] stolz schwillt
ihm fürwahr die Brust aufgrund der Macht seines Vaters. Weil ich
diesem Medien unterstellt habe, hofft er in seinem Hochmut auf
größeren Einfluss und strebt nach der höchsten Stellung. Vielleicht
hat ihn auch der Umstand dazu bewogen, mich ermorden zu
wollen, dass ich keine Verwandtschaft besitze und keinen freigebo-
renen Sohn [125] und auch mein Vater nicht mehr am Leben ist.
Aber du befindest dich im Irrtum, verruchter Philotas! Bezeichne
Alexander den Großen angesichts so vieler noch lebender griechi-
scher Anführer, deren Truppen, wie du sehen kannst, mich stehend
umgeben, nicht als verwaist. Schau dort, auf die ich gerade blicke,
das sind meine Brüder und Eltern! Der Umstand, dass Dimus ihn
nicht namentlich nennt und nicht [130] als Mitwisser und Kompli-
ze der Freveltat anzeigt, mindert nicht seine Schuld. Eher ist dies ein
Zeichen dafür, dass Philotas als Anführer auf diejenigen Druck
ausübt, die ihn verraten könnten. Obwohl sie gestehen, selbst schul-
dig zu sein, wagen sie es aus Angst nicht, ihren Anführer bloßzustel-
len. Oft säte Philotas großes Misstrauen gegen mich [135] und
schenkte jenen bereitwillig Gehör, die dies ebenfalls häufig taten. Er
sagt, dass er sich für mich freue, über den Jupiter selbst sagte, dass
er mein Vater sei: doch bedauern müsse man die Armen, die unter
einem so hochmütigen König leben müssten, der das Maß und die
428 ALEXANDREIS
sein mag, werde ich dennoch, soweit dies möglich sein wird, [215] in
der Stunde meines Todes mein Recht vertreten und nicht zum Ver-
räter meiner selbst werden. Indessen verstehe ich nicht, welches
Verbrechen mir das Gericht eigentlich vorwirft. Nicht einer be-
hauptet, ich sei einer der Verschwörer oder Mitwisser des geplanten
Verbrechens gewesen. Nicomachus hat meinen Namen nicht ge-
nannt. Und Cebalinus, [220] der erst von Nicomachus von diesem
Verbrechen erfahren hatte, konnte nicht mehr als sein Bruder wis-
sen. Dennoch beschuldigt mich der König, Drahtzieher dieses
Verbrechens zu sein. Weshalb jedoch hat Dimus nach allem, was
man weiß, den Rädelsführer des Mordes und den Anstifter des
Verbrechens, dem er in einer so gefährlichen Situation angeblich
bereitwillig folgte, verschwiegen? [225] Es ist nicht sehr wahrschein-
lich, dass jemand einen anderen schont, der sich selbst nicht zu
schonen versteht. Ganz im Gegenteil ist es glaubwürdiger, dass Di-
mus von den Komplizen als ersten Philotas genannt hätte, um sich
selbst mit dem größeren Namen zu schützen. So auch berichten die
Schriften, Odysseus habe sich angemessen damit entschuldigt,
[230] als Ajax ihm den Diebstahl und nächtlichen Raub des Palladi-
ums vorwarf, dass er diese Tat gemeinsam mit des Tydeus Sohn
begangen habe, und er somit seine Schuld mit dem Namen des
Diomedes bemäntelte. Als er dem Odysseus überdies den Vorwurf
machte, er habe vorgetäuscht, wahnsinnig geworden zu sein, und
habe sich aus Angst vor dem trojanischen Krieg versteckt, antworte-
te dieser: [235] ›Auch wenn es für mich beschämend sein mag, mich
versteckt zu haben, verschmähe ich nicht die Schmach, die ich mit
einem Helden wie Achilles teile, da ihm auf dieselbe Weise als
Schmach angerechnet wird, dass er sich ängstlich bei Frauen ver-
steckt hat.‹ Sobald man eine Schuld, die Zweien gemeinsam ist, aus
diesem Blickwinkel betrachtet, [240] entschuldigt bisweilen der
Angesehenere den weniger Angesehenen. Sagt, ihr Rechtsgelehrten
und gesetzeskundigen Männer, aufgrund welcher Beweisführung
darf ein Mann sterben, aufgrund welchen Rechts verdient ein Mann
436 ALEXANDREIS
den Tod, den niemand beschuldigt, gegen den noch nicht einmal
gerüchteweise etwas vorliegt und der auch selbst kein Geständnis
ablegt? [245] Wenn Cebalinus mich nicht als ersten aufgesucht
hätte, um mir von dem geplanten Anschlag zu berichten, würde ich
heute nicht vor Gericht gezerrt werden und keiner könnte mich
beschuldigen. Aber man macht mir den Vorwurf, ich hätte die mir
überbrachte Nachricht über den geplanten Anschlag nicht weiterge-
leitet und meine Ohren diesen Gerüchten gegenüber verschlossen.
Warum nicht? Muss man dem Geschwätz eines Knaben [250] Glau-
ben schenken? Weniger wichtig und von geringerer Bedeutung sind
auch schwerwiegende Worte, die von einem nicht ernstzunehmen-
den Ohrenzeugen stammen, und ein wenig vertrauenswürdiger
Ohrenzeuge macht Gerüchte ohnehin unglaubwürdig. Wenn ich
Dimus’ Komplize und sein Mitwisser wäre, würde ich freilich nicht
zulassen, dass ich oder die Mitwisser wegen dieses geplanten Atten-
tats entdeckt würden, [255] da es doch innerhalb von zwei Tagen
hätte ausgeführt werden können. Heimlich oder vor aller Augen
hätte ich Cebalinus beseitigen können, damit er das geplante Ver-
brechen dem König nicht zuträgt. Nachdem mir ein Beweis für
dieses verbrecherische Bemühen überbracht worden war und ich
den Betrug, [260] durch den nun mein Ende herannaht, aufgedeckt
hatte, betrat ich die abgelegene Wohnstatt und den Schlafraum des
Königs ganz allein mit dem Schwert. Ich sehe keinen Grund,
warum ich das Verbrechen in diesem Moment hätte aufschieben
sollen. Oder hätte ich das Verbrechen ohne Dimus allein nicht
gewagt? Jener war der Drahtzieher und Anführer des grausamen
Plans. [265] Man glaubt, ich hätte mich hinter diesem versteckt und
würde versuchen, nach dem Tode des Königs die Herrschaft an
mich zu reißen. Wen von euch, meine Landsleute, habe ich jedoch
mit Geschenken zu bestechen versucht? Wen von so vielen von
euch habe ich als einzigen allzu aufwendig mit Ehrungen bedacht?
Aber der König macht mir den Vorwurf, ihm geschrieben zu ha-
ben, dass ich mich mit ihm, den Jupiter als seinen Sohn anerkannt
438 ALEXANDREIS
hat, über die Ehrenbezeugung freue, [270] man die Armen jedoch
bedauern müsse, welche der höchste der Götter dazu bestimmt hat,
unter einem so hochmütigen König leben zu müssen. Wahre Treue
und Liebe, Vertrauen und die Freiheit eines aufrichtigen Ratschlags
– manchen schon haben sie geschadet – und auch heilsame Kritik,
mit der ich dem König meine Ehrerbietung gezeigt habe, [275] ihr
alle habt mich getäuscht! Ganz offen bekenne ich, jenes geschrieben
zu haben, doch schrieb ich es an den König und nicht über den
König. Ich war der Meinung, dass es würdevoller gewesen wäre, sich
im stillen Gebet zu Jupiter und seiner göttlichen Abstammung zu
bekennen, als sich damit zu brüsten und so den Neid gegen sich zu
schüren und Verdruss unter seinen Anführern hervorzurufen.
[280] Was hat es mir, o König, geholfen, so oft für dich im Schlacht-
getümmel meinen Schweiß vergossen und mit dir und für dich
meine Jugend geopfert zu haben, was hat mir die ständige Mühsal
des Kriegs gebracht, was hat es mir genützt, im Kampf meine bei-
den Brüder verloren zu haben? Weder kann ich meinen Vater vor-
treten lassen und ihn im Unglück leibhaftig hinzuziehen noch wage
ich es, überhaupt seinen Namen [285] flehend zu nennen, da man
der Meinung ist, auch er sei dieses Verbrechens schuldig: Denn nicht
ist es genug, dass der Vater bereits zwei seiner Söhne beraubt wurde,
wenn er nicht auch des letzten noch lebenden Sohnes beraubt und
unschuldig auf den Scheiterhaufen des Sohnes geschleppt wird.
Deshalb, mein teurer Vater, wirst du wegen mir [290] und zusam-
men mit mir sterben, verholfen hast du mir zum Leben, zum Tode
werde ich dir nun verhelfen. Den Lebensfaden zerschneide ich dir
und der Sohn lässt dein Greisenalter erlöschen. Warum hast du
diesen für dich Verderben bringenden Körper gezeugt? Hättest du
ihn nach der Geburt nicht umbringen sollen? Oder lag es vielleicht
in deiner Absicht, von mir elendem Sproß [295] derartige Früchte
zu erhalten? Unklar ist es tatsächlich, ob das Greisenalter des Vaters
bedauernswerter oder die Jugend des Sohnes bemitleidenswerter ist.
Ich für meinen Teil werde im Frühling meines Daseins und unge-
440 ALEXANDREIS
[335] Als nach dem traurigen Tod des zu Tode gebrachten Philotas
schon sechs Tage vergangen waren, rückte Alexander mit seinem
Heer in schnellem Lauf erneut gegen Bessus vor. Und nicht ließ
jener Schicksalshammer der Welt, die Strapazen beharrlich ertra-
gend, von seinem Vorhaben ab, bis man das unversöhnliche Scheu-
sal in Fesseln aus östlichen Gefilden [340] anschleppte und Bessus,
sämtlicher Kleider beraubt, völlig entblößt und an Hals und Füßen
angekettet, dem grollenden Alexander auslieferte. Der makedoni-
sche König blickte diesen mit strengem Blick an und sprach folgen-
de Worte: »Das Ungestüm welches Tieres oder welche Erinye hat
dir zu einem [345] so scheußlichen Verbrechen geraten, dass du es
gewagt hast, einen so bedeutenden König wie Darius in Fesseln zu
444 ALEXANDREIS
Alexander aber, der schon lange mit dürstendem Herzen die Herr-
schaft über das Reich der Skythen erstrebte, führte sein Herr
schneller als ein Panther [360] zum Tanais, der mit seinen gewalti-
gen Fluten Baktra vom Reich der Skythen schied und zugleich mit
seinem Flusslauf die Grenze zwischen Europa und Asien bildet.
Dieser Volksstamm bewohnte auch einen Teil von Sarmatien. Wenn
man der alten Kunde Glauben schenken darf, hielten sie sich in den
Bergen auf und bedienten sich ungastlicher Höhlen von wilden
Tieren [365] als Behausung und Wohnstatt. Handel und Gewerbe
verachtend, waren sie mit der Nahrung zufrieden, die ihnen die
Natur bot, und nicht wollten sie ihr glückliches Leben durch
unheilvollen Ehrgeiz zerstören.
446 ALEXANDREIS
Und noch während Alexander diesseits des Tanais das Lager ab-
stecken ließ und den Bau von Booten in Angriff nahm, auf denen
[370] der Kriegsheld am nächsten Tag auf die skythische Seite des
Stroms hinübersetzen wollte, da betraten zwanzig Mann, nach
fremder Sitte ohne Sattel auf dem Rücken ihrer Pferde sitzend, das
Lager der Griechen und überbrachten dem König eine Botschaft.
Und der älteste unter ihnen [375] blickte den König an und ließ
folgende Worte verlauten: »Wenn du einen Körper hättest, der
deinem habsüchtigen Charakter und deinem das Unermessliche
fordernden Herzen entspräche, oder wenn dein Körper so groß wä-
re wie deine Gier, würde dir für deinen Eroberungsdrang auch der
riesige Erdkreis nicht genügen, sondern würde deine immense
Größe die Grenzen der Welt sprengen: [380] Deine Rechte würde
den Westen und deine Linke den Osten umgreifen. Und damit
noch immer nicht zufrieden würdest du mit unbedingtem Verlan-
gen begierig erforschen wollen, wo die wunderbare Quelle des
Lichts sich verbirgt, und du würdest es wagen, den Sonnenwagen
zu besteigen und nach Phoebus’ Vertreibung das schweifende Licht
des Tages lenken. [385] Auch so erstrebst du vieles, ohne es jemals
erreichen zu können. Nach der Eroberung des Erdkreises und der
Unterwerfung des ganzen Menschengeschlechts wirst du blutig
besudelt gegen Bäume, wilde Tiere und Felsen Kriege vom Zaun
brechen, wirst du den Schnee in den Bergen und in felsigen Schrün-
den verborgen lebende scheußliche Wesen nicht unversehrt lassen,
sondern sogar die eigentlich empfindungslosen Urstoffe [390] zwin-
gen, dein rasendes Wüten zu verspüren. Weißt du denn nicht, dass
auch ein kraftvoller und auf sein Wurzelwerk stolzer Baum, der mit
seiner ausladenden Krone die himmlischen Götter herausfordert,
nach langem Wachstum eines Tages entwurzelt zu Fall kommt?
448 ALEXANDREIS
Töricht ist es, nur nach den Früchten des Baumes zu schauen,
[395] nicht aber dessen Höhe zu bemessen. Sieh dich vor, bei deinem
Versuch, die oberste Spitze zu erklimmen, zusammen mit dem
Geäst nach Erreichen des Wipfels nicht wieder abwärts zu stürzen.
Kleiner Vögel Futter ward irgendeinmal der Löwe, zuvor noch
König der Tiere. Und das alles bezwingende Schwert, härter als
jedes Erz, [400] verschlingt der gefräßige Rost. Denn nichts unter
Phoebus’ Himmel ist so stark, dass es nicht seinen durch einen
Schwächeren herbeigeführten Sturz fürchten müsste. Wer muss
nicht, wenn er den Erdkreis durchmisst, die Begegnung mit dem
Tod und dessen Ansturm befürchten?
Was willst du von uns? Nicht haben wir jemals deine Heimat mit
Waffen bedroht [405] oder mit der Absicht betreten, Schlachten zu
schlagen. Möge es den Skythen, die vor Krieg und Menschengetöse
flüchten und in Höhlen der Wälder hausen, erlaubt sein, in
Unkenntnis darüber zu bleiben, wer du überhaupt bist, von wem
du deine Abkunft herleitest und woher und zu welchem Zweck du
geschickt wurdest. Nichts weiter erstrebt der freie Volksstamm der
Skythen als das, was ihm [410] die Natur als erste Mutter geschenkt
hat. Demzufolge können wir weder jemandem dienstbar sein noch
hegen wir den Wunsch, über jemanden zu herrschen. Sein eigener
Herr zu sein, seinen Besitz und sich selbst zu beschützen, zufrieden
zu sein mit dem eigenen Besitz, fremdes Eigentum nicht zu be-
gehren – allein das macht glücklich. Wenn du also etwas darüber
hinaus begehren solltest, [415] überschreiten deine Wünsche das
rechte Maß und die Grenze menschlichen Glücks. Damit dir jedoch
der Volksstamm der Skythen und deren Gebräuche nicht unbe-
kannt bleiben: Viehherden haben wir, verwenden aber auch den
Pflug, wir gebrauchen Trinkkelche und bedienen uns Lanzen und
Pfeilen. Diese Dinge nutzen wir unter Freunden und gegen unsere
450 ALEXANDREIS
Feinde. Den Göttern zum Opfer spenden wir Wein aus dem Kelch.
[420] Freunde beschenken wir reichlich mit Getreide, durch der
Ochsen Arbeit dem Boden abgerungen. Mit dem Pfeil töten wir
unsere Feinde aus großer Entfernung, mit der Lanze im Nahkampf.
Welches Land kann dich in sich aufnehmen? Was wird dir genügen?
Lydien, Kappadokien und Syrien hast du bezwungen, ebenso Per-
sien, Medien und Baktra. Nun willst du dir Indien siegreich noch
unterwerfen. [425] O Schande, nach unseren Herden streckst du
deine gierigen und rastlosen Hände aus. Und wenn dir auch alle be-
siegten Königreiche Reichtümer verschaffen, wirst du dir selbst nur
arm und mittellos vorkommen. Was benötigst du Reichtum, der in
einem gierigen Herzen immer größeren Hunger weckt? Je mehr du
dir verschafft hast, [430] umso mehr willst du haben und ent-
brennst noch heißer vor Gier. Und so fördert die Übersättigung nur
noch die Habsucht und Überfluss nährt das Verlangen. Kommt dir
nicht in den Sinn, wie lange dich Baktra kämpfend schon festhält?
Während du das eine Volk unterwirfst, erhebt sich ein anderes. Aus
dem Krieg erwächst dir ein Sieg. Aus dem Sieg jedoch [435] erwach-
sen dir neue Kriege. Den Tanais wirst du überqueren, um neue
Feinde zu finden und dir das bisher stets freie Skythien zu unterwer-
fen. Aber unsere Armut ist schneller als deine Reiter. Dein Heer
trägt die Reichtümer und die Beute der ganzen Welt mit sich. Wir
dagegen führen nur weniges mit uns, [440] wodurch wir unsere
Feinde – stets schneller als diese – mit der gleichen Leichtigkeit in
die Flucht schlagen, wie wir vor ihnen fliehen. Solltest du glauben,
die Skythen seien weit von dir entfernt, wirst du sie plötzlich mitten
in deinem Lager entdecken, und solltest du glauben, die Feinde
leicht ergreifen oder sogar festsetzen zu können, werden sie dir
schneller als der stürmische Ostwind fliehend entrinnen. [445] Kein
Reichtum und keine Habgier vermögen trotz ihrer Armut die Sky-
then zu locken. Dieser Menschenschlag macht sich nichts aus
großen und kleinen Städten, wohnt in abgeschiedenen Einöden
und will nichts von der menschlichen Zivilisation wissen. Denke
452 ALEXANDREIS
[460] Zuletzt, wenn du ein Gott bist, ist es deine Pflicht, den
Sterblichen mit Wohlwollen zu begegnen und ihnen das zu geben,
was dir gehört, und ihnen nicht das zu nehmen, was ihnen gehört.
Wenn du jedoch ein Mensch bist wie wir, musst du dir immer
wieder ins Gedächtnis rufen, dass du an dein menschliches Dasein
gebunden bist. Töricht ist es, immer an das zu denken, wodurch du
dich in deiner Existenz als Mensch aufgibst. Du wirst diejenigen als
Freunde gewinnen, [465] die du nicht mit Krieg überziehst. Das
stärkste Band der Zuneigung besteht zwischen jenen Menschen, die
sich als Gleiche unter Gleichen auf Augenhöhe begegnen. Gleich
oder einander ebenbürtig jedoch sind sie nur dann, wenn nicht
einer dem anderen nachsteht oder einer den anderen übertrifft: das
sind diejenigen, die sich gegenseitig niemals gewaltsam den Gefah-
ren eines blutigen Kriegs ausgesetzt haben. [470] Hüte dich aber
davor, in einem besiegten Feind einen Freund zu sehen. Eher wird
die Erde die Sterne entführen, eher wird der Ozean das Sternbild
454 ALEXANDREIS
des Großen Wagens wegspülen und eher werden die Fische das
trockene Land bevölkern, als dass zwischen Besiegten und dem Sie-
ger echte Zuneigung besteht. Zwischen ihnen kann niemals Ein-
tracht herrschen. Denn mag man auch nach außen hin [475] Frie-
den vortäuschen, im Inneren findet ein hasserfüllter Kampf statt.
Frieden heuchelt die Miene, das Herz aber sinnt nur auf Krieg.«
Nonus liber
[35] Als nun die indischen Fürsten mit Erstaunen vernahmen, dass
der aus Pella stammende Spross Jupiters nach seinen mit griechi-
scher Tapferkeit errungenen Siegen über alle Reiche der Welt nun
an ihren Grenzen angekommen war, kamen sie angsterfüllt zusam-
men, um diesen Gott mit Geschenken zu besänftigen, und überga-
ben ihm ihre [40] mit Reichtümern angefüllten Städte. Aber Porus,
der mächtigste Fürst in diesen Gefilden, traf mit großer Anstren-
gung als einziger Vorkehrungen, Alexander kriegerisch entgegenzu-
treten. Beide Heere prallten in heftiger Bewegung in einer Weise
aufeinander, wie dann ein Krachen entsteht, wenn ein an steiler An-
höhe ragender Felsen, nachdem sich ein Teil einer alpinen Felswand
gelöst hat, mit seinem abwärts gerichteten wirbelnden Sprung im
Weg liegende Steine zerbricht, [45] ihm jedoch, stygische Schluch-
ten erreichend, am Fuße des Bergs der massige Fels gleich einem
gewaltigen Massiv entgegentritt. Als Alexander erfuhr, dass Porus
Indiens Grenzen und den äußersten Teil seines Reichs mit kampf-
bereiten Truppen zu schützen beabsichtigte [50] und er dement-
sprechend die glänzenden Waffen mit großem Aufwand in Stellung
brachte, freute er sich, dass sich ihm durch Porus’ Einsatz die
Gelegenheit für einen großen Sieg bot. In rasendem Lauf führte
Alexander sein Heer mit sich und eilte unverzüglich zum reißenden
Hydaspes. Porus stand mit gebündelten Kräften [55] unmittelbar
am anderen Ufer und ordnete dort seine Schlachtreihen. Größer
und schrecklicher als die übrigen Elefanten trug diesen ein riesiges
und furchterregendes Tier von gewaltiger Masse, mit Gold und Sil-
ber geschmückte Waffen schützten den König, der an Körpergröße
das normale menschliche Maß übertraf. [60] Dem Körper ent-
sprach auch sein Geist, und im selben Maße, wie er alle an Körper-
größe überragte, so war er auch klüger als seine indischen Landsleu-
te. Nicht nur der schreckliche Gegner hatte die Griechen in Schre-
cken versetzt, sondern auch die heftigen Strudel des Stromes, der
464 ALEXANDREIS
Mitten im Fluss gab es eine große Insel, an ihrem Grund mit dem
Festland verwachsen, wohin von beiden Parteien junge Männer in
Waffen schwammen, um ihre Kräfte in leichten Kämpfen zu mes-
sen. [75] Denn in einer weniger bedeutenden Auseinandersetzung
übten sie in einem Vorspiel für die letzte entscheidende Schlacht,
die drohend bevorstand. Im Lager der Griechen – nicht ist es
unwürdig, davon Bericht zu erstatten – befanden sich Nicanor und
Symmachus, gleichermaßen kräftig und tapfer und angeblich am
selben Tage [80] geboren. Beide verband der gleiche Kriegsdienst
und die gleiche diesbezügliche Begeisterung. In gleicher Weise such-
ten sie die Entscheidung im Kampf und unterschieden sich nicht
hinsichtlich Sieg oder Niederlage. Wann immer man ihnen auftrug,
mit der Wurfmaschine Felsen zu schleudern, den Feind mit Mauern
zu umschließen oder die Mauern der Feinde zu durchbrechen,
immer kämpften sie Schild an Schild. [85] Wenn man sie losschick-
te, Proviant zu holen, die belagerten Feinde mit Gräben zu um-
geben, den Feind in der Nacht zu täuschen, sich bei der Wache
Mühe zu geben oder in Tälern versteckte Hinterhalte auszukund-
schaften, welche Gefahren auch immer der Krieg für sie bereithielt,
[90] stets ertrugen sie gemeinsam mit gleichen Körperkräften und
gleichem Mut die Lasten des wankelmütigen Schicksals. Und
466 ALEXANDREIS
während also die Jugend ihren wachen Mut befeuerte, sprachen sie
irgendwelche bisher im Inneren ihres Herzens verborgene Gedan-
ken dann doch aus und als erster sagte voll Eifer Symmachus:
»Siehst du denn nicht, Nicanor, wie der Ruhm unseres unbesieg-
ten Königs durch das Hindernis dieses Flüsschens [95] in Gefahr
gerät? Wagen müssen wir etwas, was uns, sollten wir die Feinde
durch unsere kühne Tat erst einmal vom Uferbereich vertrieben ha-
ben, mit dem Siegerlorbeer bekränzt, oder uns, wenn das Schicksal
unserem Plan die Unterstützung versagen sollte, ewigen Ruhm
verschafft.« [100] Kaum hatte Symmachus gesprochen, als Nicanor
ihn unterbrach: »Auch ich habe dies, ihr Götter seid meine Zeu-
gen, bereits lange im Stillen erwogen. Jetzt aber wollen wir uns ohne
Verzug und mit nur leichten Waffen auf den Feind stürzen.« Ohne
weitere Worte zu wechseln, sprangen sie, nur mit dem Schwert
bewaffnet, in die reißenden Fluten. [105] Den Speer zogen sie hinter
dem Körper her. Dem Beispiel der beiden Freunde folgend, sprang
eine beachtliche Schar von Männern auch in den Fluss. Als sie die
nicht weit entfernt liegende Insel erreichten, hallte der Äther von
bestürzten Schreien wider, denn der zahlreich angetretene Feind
hatte den zuvor erwähnten Ort bereits besetzt. Der Widerstand der
Inder war heftig. Einem Hagelschauer vergleichbar [110] flogen die
Speere und brachten auf ihrem Weg durch die Lüfte vielfachen
Tod. Aber Symmachus, der schwimmend als erster das andere Ufer
erreicht hatte, griff den Feind mit gezücktem Schwert an, auch sein
Gefährte Nicanor war eifrig bestrebt, den Boden mit zahlreichen
Leichen zu bedecken. Und schon genügte den Schwertern das
Werk, schon waren [115] die Kriegswaffen durch Ströme von Blut
rötlich gefärbt und zeigte der Fluss rötliche Flecken, schon hätten
die jungen Männer mit verdientem Ruhm zurückkehren können,
doch leichtsinniger Mut ist mit nichts zufrieden. Während sie noch
die besiegten Feinde verspotteten, da ersetzten die Inder heimlich in
großer Zahl ihre gefallenen Kameraden. [120] Jetzt gab es für Grie-
chen und Makedonen nur noch Schmerz, Wehklagen und Verder-
468 ALEXANDREIS
Der vor aller Augen errungene Sieg der Seinen ermutigte den bisher
unbezwungenen Porus, nicht jedoch konnte er Alexander, [150] den
Vernichter der Könige und Verächter jeglicher Gefahr, dazu zwin-
gen, die Hoffnung auf den eigenen Sieg aufzugeben. Ganz im
Gegenteil überlegte dieser in aller Ruhe, wie er mit einer List den
Übergang zu Porus bewerkstelligen könnte. Unter seinen vielen
tausend Männern hatte Attalus als einziger ähnliche Gesichtszüge
wie der makedonische König und glich ihm auch im Wuchs seines
Körpers. [155] Alexander erteilte den Befehl, jenen in königliche
Gewänder zu hüllen, das Ufer zu halten und bei Porus damit den
Anschein zu erwecken, er verweile an Ort und Stelle und denke
nicht weiter beunruhigt darüber nach, wo er mit List einen Über-
gang suche. Nachdem Alexander jedoch die Stellung der Seinen
verlassen hatte, entfernte er sich mit nur wenigen Helfern ein ganzes
Stück weit stromaufwärts, [160] um den Feind zu täuschen. Göttli-
che Mächte standen dem kühnen Plan des großen Feldherrn bei,
denn ein über diese Gegend sich legender Nebel hüllte alles in ein
undurchdringliches Dunkel, eine so große Finsternis verbarg die
Soldaten, [165] dass der eine kaum mehr das Gesicht seines neben
ihm stehenden Gefährten erkennen konnte, wenn dieser ihn an-
sprach. Einem anderen wäre dieser Nebel ein Anlass zur Furcht ge-
wesen, da die Boote durch ein unbekanntes Gewässer geführt wer-
den mussten. Obwohl der finstere Nebel andere doch erschrecken
würde, befahl Alexander im Vertrauen darauf, dass sein Hand-
streich gleichsam das Dunkel [170] hervorrief, das erste der Boote,
auf dem er selbst fuhr, mit ruhenden Rudern den Wellen zu über-
lassen. Wetteifernd ließen die Krieger die Boote zu Wasser und folg-
ten ihrem Anführer unverzüglich. Nachdem sie das von Feinden
verwaiste Ufer erreicht hatten, griffen sie zu den Waffen und stürz-
ten sich so gerüstet auf den Feind. [175] An der ursprünglichen
Stelle beobachtete Porus noch immer das andere Ufer, wo noch
472 ALEXANDREIS
Als er jedoch von allen Seiten angegriffen wurde, von hier und von
dort bekämpft und von neun [260] Wunden zerfetzt, langsam
ermüdete, da peinigte der Treiber, der sah, dass die Kräfte seines
Königs nachzulassen begannen, den Elefanten des Porus mit dem
Stachel an und wandte sich zur Flucht. Gleich einem Blitz setzte
Alexander, der Zorn Gottes, dem fliehenden König der Inder nach.
Doch während er diesen verfolgte, starb Alexanders Pferd, vom blu-
tigen Hagel der Pfeile getroffen: Nachdem es mit sinkenden Knien
[265] den König eher abgesetzt als abgeworfen hatte, sank der edle
Bukephalus zu Boden, der allein sich eines so großen Königs wür-
dig erwiesen hatte und den der Pelläer nur kurze Zeit später mit der
Gründung der Stadt Bukephala ehrte. Also verfolgte der makedoni-
sche König mit einem neuen Pferd Porus und die indischen Kämp-
fer [270] etwas weniger ungestüm. Aber Taxiles’ Bruder, der auch
Inder anführte, selbst König zwar, jedoch jenem ergeben, den
Fortuna zum König über die Welt bestimmt hatte, ermahnte Porus
besorgt, sich dem Schicksal endlich zu beugen und einem so be-
rühmten und so gütigen Feind sich zu fügen. Obgleich durch den
Blutverlust am ganzen Körper entkräftet, [275] erwiderte Porus,
dem Tode zwar nah, beim Klang der bekannten Stimme doch hef-
tig erregt: »Bist du nicht des Taxiles Bruder, der – was für eine
Schande – als Überläufer mich und mein Reich verraten hat?« So
sprach er und schleuderte die einzige Lanze, [280] die er noch nicht
geworfen hatte, auf den Feind. Diese durchdrang die Brust des
jungen Mannes, durchschlug auch den Rücken und schloss ihm die
Augen mit ewigem Schlaf. Wieder ergriff Porus die Flucht. Doch
von vielen Geschossen verwundet, brach das riesige Tier schließlich
zusammen [285] und setzte den nun am Boden liegenden Porus den
Feinden und dem nachsetzenden Alexander aus. In der Meinung,
dieser sei tot, gab der makedonische König den Befehl, dem treff-
lichen Leichnam die Rüstung abzunehmen. Doch mit scharfen
480 ALEXANDREIS
Nachdem der heldenhafte Porus, ohne zuvor schon einmal die Er-
fahrung einer Niederlage gemacht zu haben, den siegreichen Waffen
der Griechen hatte nachgeben müssen, eilte Alexander, dem die
Schicksalsgöttin in ihrer Großzügigkeit mit kaum nachlassender
Unterstützung einen so herrlichen Sieg geschenkt hatte [330] und
durch deren Beistand seines Erachtens nun auch den Weg in den
Orient offenstand, voll Stolz in vollem Galopp geschwind dahin,
um die Kämpfe zu den Stämmen am äußersten Ende des Erdkreises
zu tragen und die Völker am östlichen Ozean seiner Herrschaft zu
unterwerfen. Schneller als der stürmische Südwind unterwarf Ale-
xander die Inder [335] und die äußersten Gegenden der Welt, traf
auf zahlreiche Völker und Könige und erfüllte dabei die Herzen der
Menschen mit nicht weniger Grausen oder auch Schrecken als das
zuckende Feuer eines nächtlichen Blitzes, dem ein Krachen und
Aufprall berstender Wolken und ein weithin hallender Donner fol-
484 ALEXANDREIS
gen, der den zitternden Erdkreis erschüttert [340] und die Men-
schen erschreckt, die einstiger Schuld sich erinnern.
Obwohl Alexanders Wunde kaum richtig verheilt war und die noch
nicht mit Haut überzogene Narbe eine überaus gefährliche Krank-
heit hätte hervorrufen können, traf jener nach wenigen Tagen, jeder
weiteren Verzögerung müde, dennoch Vorbereitungen, entlegene
[505] Völker am Rande des Ozeans zu unterwerfen und die schnel-
len Lanzen gegen diese zu richten und nach dem Sieg über diese
östlichen Reiche die den Menschen noch unbekannten Nilquellen
zu suchen. Die Inderkönige Porus und Abisares beauftragte er des-
halb, mit Taxiles’ Unterstützung für die Bereitstellung von Schiffen
zu sorgen. [510] Diese Nachricht drang auch an die Ohren des er-
staunten Heeres, und weil die Anführer sich Sorgen um die Ge-
496 ALEXANDREIS
Decimus liber
Sanfte Fluten und eine für Schiffe günstige Strömung hatte Zephyr
gewährt, nach Lichten des Ankers hatte der Seemann mühelos
schon länger die Flotte vorangetrieben, ohne zu wissen, wohin die
Reise ihn trug oder welche Ausdehnung [5] der den Völkern un-
bekannte Ozean besaß.
504 ALEXANDREIS
Am Fuße der stygischen Burg hausten vor Erebus’ Toren die neidi-
schen Geschwister, die Scheusale der Erde. Unter ihnen verbarg
Avaritia, Herrin der anderen, in schattigen Höhlen Geldschatullen
[35] und verschlang – in ihren trockenen Schlund gegossen – in
tausend Öfen geschmolzenes Gold. Und doch konnte auch damit
nicht die Glut ihrer unstillbaren Gier gelöscht werden. Durch spöt-
tische Gebärden die anderen mit funkelndem Blick verhöhnend,
verachtete Superbia als einzige der Geschwister die anderen und
verschmähte eine gleichberechtigte Stellung. Überdeckt von glim-
mendem Unrat lag Libido da, wälzte sich hin und her und brannte
vor Begierde, [40] in ihrem Inneren hinunter bis zur Scham voll-
kommen ausgezehrt. Ebrietas erbrach sich, Gula schlemmte voller
Gier und biss bettelarm sich die eigenen Gliedmaßen ab. Rück-
sichtslos zu sich selbst war Ira, und wohin sie ihr Ungestüm trieb,
dorthin raste sie berauscht und schlug sich selbst und auch ihre
Geschwister. [45] Proditio, Gefährtin des Dolus, und Detractio,
Tochter des hageren Livor, versuchten auf jegliche Art und Weise
großartige Taten, die man nicht leugnen konnte, zumindest zu
schmälern, verminderten den Ruhm, den zu verschweigen verbre-
cherisch gewesen wäre. Dieselben Räume bewohnten neidisch mit
bleichem Gesicht Hypocrisis sowie Pestis adulandi, [50] auch heut-
zutage am Hofe in höchstem Maße erfolgreich, wenn sie eifrig den
geneigten Ohren der Mächtigen das für die Seele tödliche Gift ein-
flößt. Diesem Laster wird am Hofe eine so große Macht einge-
räumt, dass sie den Mächtigen dieser Welt das klare Urteilsvermö-
gen raubt. [55] Und noch während die erste Mutter der Schöpfung
diese im Vorbeigehen mit seitlichen Blicken musterte, betrat sie die
Mauern der Stadt, wo sie Seelen erblickte, die im ewigen Feuer
brannten.
508 ALEXANDREIS
Es gab einen Ort, der steil in den tiefsten Bereich der Hölle hinab-
führte, wo das Feuer der rächenden Hölle – im ewigen Ofen ge-
schürt – Verbrechen [60] und schuldige Seelen bestrafte. Und mag
diese Seelen auch ein und dasselbe Feuer versengen, peinigte der
Brand doch nicht alle mit der gleichen Vergeltung. Die einen wur-
den weniger heftig gequält, andere hingegen schlimmer. Dergestalt
bemaß die Hölle die Schuld eines jeden, [65] dass derjenige, der nur
leichterer Sünden sich schuldig gemacht hatte, auch nur leichtere
Strafen zu gewärtigen hatte, derjenige aber, der schlimmere Sünden
begangen hatte, auch ein schlimmeres Feuer zu spüren bekam.
Auch gab es welche, die – abgesehen vom Leichtsinn unseres Ur-
vaters – in ihrem Leben keine oder eine zumindest verzeihliche
Schuld auf sich geladen hatten. [70] Diese Menschen peinigte das
Höllenfeuer gar nicht oder nur mäßig, vergleichbar der Situation,
wenn im Sommer der schädliche Hundsstern die Äcker ausdörrt,
der Gesunde dabei ausgelassen sein Leben verbringt, der Kranke
unter derselben Glut der Sonne jedoch von der Hitze entsetzlich ge-
quält wird. [75] Als Leviathan, der mitten im Höllenfeuer stehend
die Flammen des ewigen Todes schürte, von ferne die Göttin er-
blickte, verließ er unverzüglich die Feuerstätte und eilte ihr ent-
gegen. Um sie jedoch nicht zu erschrecken, legte er seine Schlangen-
gestalt ab und nahm die erste Gestalt wieder an, die Mutter Natur
einst ihm gegeben hatte, [80] als er heller als das Licht der Sonne
erstrahlte und ihn der Hochmut so sehr mit sich fortriss, dass er
seinen Teil vom Himmel begehrte.
Als die Göttin Leviathan erblickte, rief sie: »Vater und Rächer der
Sünden, den Hochmut aus der himmlischen Burg hinabstürzte, als
du mit deinem Licht das strahlende Antlitz des Morgensterns hast
510 ALEXANDREIS
verblassen lassen, [85] bei dir, den ich wenigstens in diesem Dunkel
der Erde aufgenommen habe, damit du nach dem Verlust deines
himmlischen Wohnsitzes nicht ohne Zuhause bist, suche ich
klagend zuletzt meine Zuflucht. An dich trage ich alle gemeinsamen
Klagen von Menschen und Göttern heran. Denn du weißt, wie
heftig [90] der waffenmächtige Makedone die Elemente bedrängt.
Nachdem er das pamphylische Meer mit seiner Flotte durchmessen
hatte, besiegte er Darius dreimal und auf seinem Eroberungszug
durch Asien hat er auch den zuvor im Kampf niemals besiegten
Porus gezwungen, sich ihm zu unterwerfen. Doch damit noch nicht
zufrieden, spürt er nun östliche Schlupfwinkel auf und richtet sein
wahnsinniges Toben [95] gegen den Ozean selbst. Wenn ihm das
Schicksal mit günstigen Winden die Segel spannen sollte, wird er
die entlegenen Nilquellen aufspüren und das Paradies belagern.
Wenn du nicht aufpasst, wird er die Unterwelt nicht unberührt las-
sen und wünschen, die geheimen Reiche der Antipoden [100] und
die Sonne auf der anderen Hemisphäre zu sehen. Deshalb wohlan,
nimm Rache an der uns gemeinsamen Geißel. Welche Bedeutung
hat noch dein Ansehen, o Schlange, was noch bedeutet dein Ruhm,
den ersten Menschen aus dem Paradies vertrieben zu haben, wenn
ein so ehrwürdiger Garten dem Alexander erliegen sollte?« Ohne
weitere Worte eilte die Göttin Natura von dannen. [105] Leviathan
aber folgte ihr und versprach der Göttin für alle erdenklichen Be-
gebenheiten seine Unterstützung. Und nicht eher werde er davon
ablassen, bis der Feind aller Menschen im Dunkel der Hölle ver-
senkt sei.
512 ALEXANDREIS
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als sich Proditio mit schmei-
chelnder Miene erhob und heimtückisch sagte: »Dies ist mir ein
Leichtes, [145] bin ich doch im Besitz eines todbringenden und
über alle Maßen giftigen Suds, den außer dem Huf eines Pferdes
weder ein tönerner Krug noch ein Topf aus Metall noch ein Behäl-
ter aus Glas noch irgendein anderes Gefäß aufnehmen kann. Diesen
Sud wird man vermischt mit Falernerwein Alexander reichen. Die
Gelegenheit dazu ist günstig. [150] Denn der mir gewogene Antipa-
ter, ein makedonischer Kommandant, seit frühester Kindheit darin
geübt, mit Worten Gefolgschaft zu heucheln, Hassgefühle jedoch
tief im Herzen zu verbergen, ist auf dem Weg zu Alexander, von
ihm selbst nach Babylon gerufen, um bei ihm sein betagtes Alter zu
verbringen [155] und eigentlich schon Veteran von neuem die har-
ten Mühen des Feldlagerdaseins zu ertragen. Wenn ich unter den
Töchtern der Nacht als mächtigste Göttin gelte, wenn ich als euer
Zögling trefflich bekannt bin, will ich zur Oberwelt eilen, um mit
516 ALEXANDREIS
erteilte er den Statthaltern Syriens den Befehl, Holz für den Schiffs-
bau zu beschaffen. Der Libanon war betrübt, dass hochragende
Zedern und grüne Erlen – für die Fluten bestimmt – krachend zu
Boden stürzten. Jeglicher Hain fiel für die Flotte, die ihres Laub-
werks und des beständigen Schattens beraubte Erde bestaunte den
Himmel, [190] die nackten Gipfel wunderten sich über die unge-
wohnte Intensität der Sonne.
Wohin, Alexander, dehnt deine Gier sich noch aus? Welche Gren-
zen noch kennt deine Herrschsucht? Welches Maß haben deine
Eroberungen noch? Welches Ende denn hast du deinen Mühen
gesetzt? Gar nichts bewirkst du, Verblendeter. Magst du auch alle
Reiche unter einem Befehl halten und den ganzen Erdkreis dir
unterwerfen, [195] immer wirst du bedürftig sein. Nicht Reichtum
macht den Menschen bedürfnislos, sondern Genügsamkeit. Ob-
gleich du nur wenig besitzt, wirst du nichts entbehren, wenn es zum
Leben ausreicht. Wie mühelos wird jener getäuscht! Noch während
er Vorbereitungen für den Krieg traf, wurde für dessen Tod das Gift
vorbereitet, das den Krieg verhindern sollte. [200] Heißes Verlan-
gen nach Macht wuchs in dem jungen Mann, doch wird der eine
Trank selbst einen derart großen Durst löschen. Denn schon war
Antipater, unterrichtet von den ruchlosen Weisungen und von
missgünstigen Winden geleitet, nach Babylon gekommen, wo jener
Verräter mit verbündeten Mördern die grässliche Tat vorbereitete.
[205] Welch ein Wahnsinn, ihr Götter! Was willst du jetzt unterneh-
men, Fortuna? Wirst du jetzt zulassen, dass dein von dir so oft
beschützter Zögling niedergestreckt wird? Wenn du den Willen des
Fatums, Alexander zu vernichten, nicht abwenden kannst, enthülle
wenigstens die geheimen Pläne der Henker. Vielleicht kannst du
jene umstimmen, die den Mord planen oder zumindest [210] die
520 ALEXANDREIS
Todesart ändern. Vertausche das Gift mit dem Schwert. Besser und
ruhmvoller wird jener durch Waffen sterben, der mit diesen die
meiste Schuld auf sich geladen hat. Doch vielleicht hätten die
Götter einen solchen Mann offen mit Waffen gar nicht besiegen
können, den heimlich nur ein schreckliches Gift zu besiegen ver-
mochte. Demzufolge passte es dann doch besser zu Alexander,
[215] den Tod durch ein tückisches Verbrechen zu erleiden als durch
das Schwert zugrunde zu gehen.
Aber damit noch der König der Könige, bevor ihm das Schicksal
den letzten Tag bereitete, alle ihm untergebenen Reiche zu Gesicht
bekam, machten ihn der Klang seines Namens und seine Stellung
zum Monarchen. Eine so große Furcht nämlich und ein so großes
Entsetzen ergriff die übrigen Völkerschaften, [220] dass nach der
Unterwerfung des ganzen Ostens alle Menschen, bis ins Mark
erschüttert, erzitterten und jede auch noch so weit entfernt liegende
Insel, die von den wogenden Fluten des Meeres umgeben war,
angstvoll erbebte. Um also mit der Überreichung [225] von Ge-
schenken den König vom eigenen Land fernzuhalten, ließen fremde
Gesandte vom ganzen Erdkreis Schiffe mit vollen Segeln zu Wasser
und fuhren nach Babylon. Nicht verschmähte es Karthagos Burg,
sich der Macht Alexanders zu beugen, aber auch ganz Afrika melde-
te, dem weit entfernten König bereitwillig dienstbar zu sein.
[230] Auch Spanien verkündete, allein durch den Schrecken gebän-
digt, schriftlich Gefolgschaft, obgleich seine Lage es schützte und es
in vielen Kriegen seine Wehrhaftigkeit unter Beweis gestellt hatte.
Und auch Gallien verehrte den furchterregenden König und
schickte – was ich kaum glauben kann – eine Krone. Selbst die Ger-
522 ALEXANDREIS
kampflos und ohne Blutzoll und ohne die Erfahrung einer unmit-
telbaren kriegerischen Konfrontation mit uns Makedonen meinem
Machtanspruch gebeugt habt. Wenn Darius auf die Krone verzich-
tet und sich mir demütig anvertraut hätte, wäre jenem – [290] ein-
gesetzt in einem Teil seines ursprünglichen Reichs – deutlich
geworden, dass nichts milder als meine Herrschaft ist. Porus dient
als Beispiel, mit welcher Milde ich als Sieger noch mehr als die
eigenen Eltern Besiegte umsorge. Und jene mir hörigen Völker, die
nicht gewaltsam gezwungen wurden, sich meiner Herrschaft zu
fügen, [295] sollen nach meinem Willen wohlbehalten so in Freiheit
leben, dass mir zu dienen nicht Knechtschaft bedeutet, sondern
ganz im Gegenteil Freiheit bezeugt. Unter Völkern, die sich nicht
gegen mich auflehnen, wird es keine unterschiedliche Bemessung
von Freiheit geben.« Sobald er dies den Gesandtschaften in aller
Kürze mitgeteilt hatte, wandte er sich jenen zu, [300] durch deren
herausragende Tapferkeit er den Erdkreis unterworfen hatte: »Auch
euch, ihr siegreichen Männer, deren unermüdlicher Einsatz im
Krieg dazu geführt hat, dass die Welt bei unserem Anblick schwei-
gend erstarrte, erwartet ein würdiger Lohn. Beim Herkules, überaus
würdig sind meine Soldaten meiner Person als König, und auch der
König ist seiner Soldaten würdig, [305] Soldaten, die weder der
Winter in eisigen Gefilden brechen noch die gleißende Hitze im
Inneren Libyens aufzuhalten vermochte. Makedonische Scharen sa-
hen die Einöden Indiens in Trauer, nachdem mit euren Händen die
dortigen Scheusale bezwungen waren. Was soll ich den dreifachen
Sieg – noch war Darius damals am Leben – über die Perser erwäh-
nen, [310] Memnons Sturz oder die Schlachten gegen Porus und
Taxiles? Was soll ich darüber sprechen, dass euch das abscheuliche
Geschlecht der Riesen nachgeben musste? Da in dieser Welt nun
nichts mehr zu tun bleibt, so lasst uns doch, damit nicht der Waf-
fenübung Gewohnheit erlahmt, die auf der anderen Hemisphäre
wohnenden Völker [315] der Antipoden aufsuchen, auf dass unsere
ruhmreiche Tapferkeit nichts unversucht lässt, wodurch sie weiter
528 ALEXANDREIS
[330] Schon hatte der feurige Wagen die Sonne in die wellenrau-
schenden Wogen des Meeres getaucht und die schnell eintretende
Nacht hatte alles in einem wenig ansehnlichen Klumpen unkennt-
lich gemacht. Der nächtliche Nebel hielt trüber als sonst den
Aufzug der Sterne auf. Dunkle Wolken verdeckten den Mond und
[335] die Sterne, eigentlich dazu bestimmt, der Nacht zu gebieten.
In jener Nacht lag der Seemann auf der Suche nach den Sternbil-
dern des Kleinen und Großen Bären und des Wagens, der niemals
ins Meer tauchen darf, mit seinem mitten im Meer treibenden
Schiff untätig da, weil er das Wagnis nicht eingehen konnte, den
Kurs ohne das Licht der Sterne in irgendeine Richtung zu ändern.
[340] Den unmittelbar bevorstehenden Untergang ahnend, betrau-
erte alles den Tod Alexanders. Der Olymp beweinte den Todgeweih-
ten, dessen Ende die Götter schon bei seiner Geburt mit mancherlei
530 ALEXANDREIS
gab er den Befehl, [395] das Sofa in der Mitte des Palasts aufzustel-
len. Nachdem das Heer – der Generäle berühmte Schar mitsamt
den gemeinen Soldaten – bestürzt am Sterbebett ihres Königs zu-
sammengekommen war, blickte er seine Gefährten an, die ihr
tränenüberströmtes Gesicht mit Fingernägeln zerfurchten, und
sagte zu ihnen: »Wer wird nach meinem Tod jemanden finden, der
solchen Männern würdig sein kann? Lange genug [400] habe ich
über den Erdkreis geherrscht. Oft genug hatte ich in dieser Him-
melsgegend das Kriegsglück auf meiner Seite. Schon kann ich es
kaum mehr ertragen, dass meine Seele von diesen sterblichen Glie-
dern eingeengt wird. Mit menschlichen Dingen beschäftigt, habe
ich nun die Zeit und mein Leben aufgebraucht, lange genug habe
ich mich mit irdischen Problemen aufgehalten. [405] Doch hiervon
genug. Zu Höherem berufen, werde ich bald ganz oben im Olymp
herrschen, mich ruft der hochragende Äther, damit ich nach der
Übernahme des himmlischen Throns gemeinsam mit Jupiter über
die Geheimnisse der Welt bestimme, mich um das vergängliche
Schicksal der Menschen kümmere und die Belange der Götter ver-
walte. [410] Von neuem werden vielleicht die Ätnäischen Brüder in
ihrer Anmaßung gegen die himmlischen Burgen und die Gemein-
schaft der Götter die Waffen erheben und Pelorus hat vielleicht
schon dem Typhoeus die schwerfälligen Glieder gelöst. Denn sie
glauben, da Jupiter vom Alter geschwächt ist, die Götter besiegen
und den Himmel mit Leichtigkeit einnehmen zu können, und ver-
suchen ein weiteres Mal, diese herauszufordern. [415] Und da Mars
ohne mich vor der Entscheidung zum Krieg zurückschreckt, werde
ich auf Anraten Jupiters und der anderen Götter – mag ich selbst
mich auch sträuben – gegen meinen Willen zur Herrschaft be-
stimmt.« Nach diesen Worten bedrängten ihn indes jene wehkla-
gend und tränenüberströmt mit der Frage, wen er als Erben und
König über die Welt eigentlich einzusetzen gedenke. [420] Alexan-
der entgegnete: »Der beste Mann und derjenige, welcher der Herr-
schaft am würdigsten ist, soll euer König sein.« Als ihm aber die
536 ALEXANDREIS
Moralexkurs (433–454)
kreis nicht ausgereicht hat, muss jetzt eine mit Marmor verzierte
Behausung [450] von fünf Fuß im ausgeworfenen Boden genügen.
Dort ruhte der edle Leib in spärlicher Erde, bis Ptolemäus, dem –
wie man liest – die Herrschaft über Ägypten zugefallen war, das
auf der ganzen Welt verehrte Unterpfand des erhabenen Schicksals
in die nach Alexander benannte Stadt am Nil brachte.
Du aber, dessen innerer und äußerer Reichtum mir Hilfe aus vol-
lem Füllhorn gespendet hat, empfange, damit ich gehässiger Schmäh-
sucht wirksam entgegentreten kann, erhabener Erzbischof, das ge-
lehrte Werk Walters, sträube dich nicht, [465] mit dem Efeu des
Dichters um deine Schläfen herum die heilige Mitra zu schmücken.
Denn mag auch meine Dichtung eines so bedeutenden Erzbischofs
nicht würdig sein, werden wir beide zugleich, wenn die Seele unsere
sterblichen Glieder einmal verlassen hat, am Leben bleiben, mit dem
Dichter wird der Ruhm Wilhelms überdauern und in ewiger Zeit
niemals vergehen.
KOmmentar
EINFÜHRUNG ZUM PROLOG
Beherrschendes Thema des Prologs ist die Problematik missgünsti-
ger Neider, die aus unterschiedlichen Motiven heraus meinen, ein
Werk herabwürdigen zu müssen. Um sich schon vorab gegen eine
derartige Kritik zu wappnen, führt Walter mit Vergil und Hierony-
mus im Sinne einer captatio benevolentiae zwei weithin anerkannte
Autoritäten an, die ungeachtet ihrer herausragenden literarischen
Qualitäten eben diese Erfahrung gemacht haben.
Doch ist der Schutz vor missgünstigen Neidern durch das argu
mentum ad verecundiam nicht der einzige und vermutlich auch nicht
der wichtigste Grund für die explizite Bezugnahme auf den augustei-
schen Dichter und den lateinischen Kirchenvater. Vor dem Hinter-
grund nämlich, dass die Alexandreis in ihrer grundsätzlichen Anlage
– allein schon durch die Auswahl eines heidnischen Feldherrn wie
Alexander als wichtigstem Protagonisten des Epos bedingt – die an-
tik-pagane Ebene mit christlichen Vorstellungen zu verbinden sucht
– als Beispiele lassen sich etwa der doppelte Musenanruf im Prooe-
mium oder auch das Nebeneinander von aristotelischer Tugendleh-
re und christlichen Moralvorstellungen anführen –, repräsentieren
Vergil und Hieronymus auf paradigmatische Weise die beiden im
Epos Walters zugrunde gelegten Darstellungsperspektiven. Doch bei
Walters Auswahl scheint noch ein weiterer, darüber hinausgehender
Aspekt eine Rolle zu spielen. Bei beiden prominenten Vertretern ih-
rer jeweiligen Zeit lassen sich nämlich ebenso wie in der Alexandreis
insgesamt eine antik-pagane und eine christliche Seite ausmachen.
Ohne Zweifel ist Vergil in erster Linie der antike lateinische Epiker
par excellence. Doch hat die Wertschätzung für den augusteischen
Dichter im Mittelalter ihren Ursprung bekanntlich in der christli-
chen Auslegung der vierten Ekloge in der Oratio ad Sanctos Kaiser
Konstantins genommen, womit durch die historisch erstmalige Deu-
544 KOmmentar
antiken Dichters nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist (vgl. Alex.,
prol. 14–19: o mea Alexandrei … ut demum auderes in publica venire
monimenta; vgl. auch Ov., Pont. I, 1, 5: Publica non audent [libelli]
intra monumenta venire; vgl. Janka/Stellmann 2020, 63). Damit
dokumentiert Walter zum einen den eigenen Wunsch und auch den
eigenen Anspruch, dass sein Epos gelesen werden soll – der mittel-
alterliche Autor bezeichnet sein Publikum dementsprechend auch
mit den Begriffen multitudo und turba –, auch wenn das Werk und
sein Autor dadurch unweigerlich der öffentlichen Kritik ausgesetzt
werden. Zum anderen ist es Walter unter poetologischen Aspekten
mit einer derartigen, auf Mehrdeutigkeit angelegten Kontrastierung
jedoch auch darum zu tun, seinen aemulativen Anspruch gegen-
über den wichtigsten Werken der Antike zum Ausdruck zu bringen
(vgl. Komm. prol. 30–36; vgl. auch Einleitung 6).
P 13–23 Hoc ego reveritus diu te, o mea Alexandrei, in mente habui
semper supprimere … ut demum auderes in publica venire monimen
ta: Im Anschluss an die Schilderung der verdorbenen, zu Neid und
Missgunst neigenden und inzwischen entgegen ihrer wahren Na-
tur sich im moralischen Verfall befindlichen Menschheit berichtet
Walter davon, dass er aus Furcht vor missgünstigen Kritikern daran
gedacht habe, sein Werk vollständig zu vernichten oder zumindest
zu Lebzeiten nicht zu veröffentlichen. ⇔ Mit dieser Bemerkung
stellt sich Walter demonstrativ in die Nachfolge des augusteischen
Dichters Vergil – die Donatvita berichtet, dieser habe testamenta-
risch verfügt, die unvollendet gebliebene Aeneis zu vernichten –,
der im Mittelalter als der lateinische Epiker par excellence galt und,
wie im weiteren Verlauf der Alexandreis noch zu sehen sein wird,
insbesondere mit der Aeneis in vielfacher Hinsicht als Orientierung
und wichtiger Bezugspunkt für Walter fungiert. Auch mit der ex-
KOMMENTAR ZUM PROLOG 551
GERECHTIGKEIT 105–114
ANGEMESSENE
ZÜRNKRAFT 115
116–143
BESONNENHEIT 164–182
Abb. 3: Die Struktur der Aristoteles-Rede in der Alexandreis (vgl. Gartner 2018, 38)
Themenübersicht (1–10)
C 3–4 Arces | diruit Aonias: Mit den arces Aonias bezeichnet Walter
die Stadt Theben und das alte Böotien, eine Landschaft im südöstli-
chen Mittelgriechenland. ⇔ Im Unterschied zu der oben beschrie-
benen Verschonung Athens statuiert Alexander an den abtrünnigen
Thebanern ein Exempel und macht die Stadt mit Ausnahme der
Tempel und des Wohnhauses des griechischen Dichters Pindar dem
Erdboden gleich (vgl. Komm. I, 284–348; vgl. auch Demandt 2013,
99).
Prooemium (1–26)
1–5 Gesta ducis Macedum totum digesta per orbem | quam large di
spersit opes, quo milite Porum | vicerit et Darium, quo principe Grecia
victrix | risit et a Persis rediere tributa Chorintum, | Musa refer: Wal-
ter thematisiert gleich mit dem ersten Vers des nach antikem Vorbild
gestalteten Musenanrufs insbesondere auch durch die Anfangsstel-
lung von gesta bedingt die weltgeschichtliche Bedeutung der auf
574 KOmmentar
dem ganzen Erdkreis – gemeint sind dabei die zum damaligen Zeit-
punkt bekannten Kontinente Europa, Afrika und Asien – voll-
brachten und zugleich auch dort verbreiteten Taten des makedoni-
schen Königs (vgl. die Handschrift Ms. C 100, die für digesta das
Verständnis divulgata per famam glossiert, verfügbar unter dem
Permalink: https://www.e-codices.unifr.ch/de/zbz/C0100/4v/0/).
⇔ Der mit dem Auftakt gesta absichtsvoll hervorgerufene Anklang
an die arma Vergils und die bella Lucans gibt dabei in Verbindung
mit dem raumgreifend an das Versende gesetzten totum digesta per
orbem einen deutlichen Hinweis auf jene antiken Autoren, mit de-
nen sich Walter in seinem Epos auf poetologischer Ebene imitativ
und aemulativ vorrangig auseinanderzusetzen gedenkt. Erstrecken
sich Aeneas’ Taten nämlich lediglich von der Küste Trojas bis nach
Latium bzw. Italien oder führt Caesar seinen Bürgerkrieg lediglich
in Thessalien, so ist Alexanders Wirkungskreis mit der Eroberung
des Perserreichs und seinen damit auf allen drei Kontinenten voll-
brachten Taten – mit dem Gleichklang von gesta und digesta sprach-
lich brillant in Szene gesetzt – erheblich größer und besitzt in Wal-
ters Augen demzufolge auch eine weltgeschichtlich sehr viel größere
Bedeutung (vgl. Verg., Aen. I, 1–3: Troiae qui primus ab oris | Ita
liam, fato profugus, Laviniaque venit | litora; vgl. auch Luc., Phars.
I, 1: Bella per Emathios plus quam civilia campos). Überdies implizie-
ren die gesta bei Walter im Unterschied zu den arma bei Vergil und
den bella bei Lucan auch Großtaten jenseits militärischer Aktivitä-
ten, die weit über die zentrale Feldherrntugend – die Tugend der
Tapferkeit – hinausreichen. Damit begibt sich Walter aemulativ in
den dichterischen Wettstreit mit Lucan und auch mit seinem im
Prolog explizit noch als nahezu unerreichbar apostrophierten Vor-
bild Vergil, der für seine Aeneis aus Sicht des mittelalterlichen Au-
tors nicht nur einen weniger bedeutenden Helden ausgewählt hat,
sondern mit dieser Auswahl zugleich auch in seiner Bedeutung als
Dichter hinter dem Autor der Alexandreis zurückstehen muss (vgl.
Kern 2009, 323; zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl.
Kommentar zu Buch I 575
Perserreich und auch die von den Griechen im Kontext der Perser-
kriege zuvor gegenüber dem persischen König Xerxes I. geleisteten
Tributzahlungen finden ihren Weg zurück in die griechische Hei-
mat (vgl. Alex. I, 4: a Persis rediere tributa Corinthum). ⇔ Auffal-
lend ist in diesem Abschnitt die von Walter in den ersten beiden
Teilsätzen als Hysteron-Proteron gestaltete Anordnung der beiden
Feldherrntugenden der Tapferkeit und der angemessenen Gebefreu
digkeit sowie der Namen seiner wichtigsten Widersacher Darius
und Porus (zum Hysteron-Proteron in der Alexandreis vgl. Einlei-
tung 4). Denn ebenso wie die Tapferkeit eine unabdingbare Voraus-
setzung für die angemessene Gebefreudigkeit darstellt – nur ein sieg-
reicher Feldherr ist freilich in der Lage, seinen Soldaten die
Schatzkammern des Feindes zu öffnen –, so ist auch Alexander der
Chronologie der Ereignisse folgend natürlich nur dann imstande,
den Inderkönig Porus zu besiegen, nachdem er zuvor auch das Reich
des Perserkönigs Darius erobert hat. Mit diesem stilistischen Kunst-
griff gelingt es Walter, die mit dem bewusst singularisch gehaltenen
quo milite zum Ausdruck gebrachte Tapferkeit als wichtigste Feld-
herrntugend innerhalb dieser aus drei indirekten Fragesätzen beste-
henden Einheit in eine betonte Mittelstellung zu bringen (zur Mit-
telstellung der Tugend der Tapferkeit innerhalb der Aristoteles-Rede
vgl. Komm. I, 156–163; vgl. auch die Einführung zu Buch I). Zu-
gleich ist Walter mit der betonten Endstellung von Darius innerhalb
dieser zentralen Einheit über die Tugend der Tapferkeit in der Lage,
auf Alexanders wichtigsten Gegner zu verweisen, durch dessen auf-
fällige Positionierung darüber hinaus auch das als Anfangswort des
Prooemiums dienende gesta wiederaufgenommen wird und mit
diesem eine kompositorische und inhaltliche Verbindung eingeht:
Im Ergebnis finden somit Alexanders von der Tugend der Tapfer
keit geprägten Taten im Sieg über den Perserkönig Darius ihren aus
christlicher Sicht unbestreitbaren Höhepunkt und stellen für den
Autor der Alexandreis das aus heilsgeschichtlicher Perspektive zent-
rale Ereignis innerhalb der Alexandergeschichte dar. ⇔ Einen weite-
Kommentar zu Buch I 577
ren Kontrast zu seinen antiken Vorbildern, die wie Lucan nur die
negativen Seiten eines vernichtenden Bürgerkriegs bedauern oder
wie Vergil einen beinahe tragischen Helden beschreiben, der seine
Ziele nur unter großen Mühen und nach vielen auch selbst als leid-
voll empfundenen Erfahrungen zu erreichen vermag, gestaltet Wal-
ter an dieser Stelle mit der Inszenierung von Alexanders Feldherrn-
tugenden und der überaus positiven Darstellung der Umstände
seines wie selbstverständlich und beinahe mühelos erscheinenden
Wirkens (vgl. Verg., Aen. I, 2–5: Italiam fato profugus Laviniaque
venit | litora, multum ille et terris iactatus et alto | vi superum, saevae
memorem Iunonis ob iram, | multa quoque et bello passus, dum con
deret urbem; vgl. auch Luc., Phars., I, 2–7: iusque datum sceleri ca
nimus, populumque potentem | in sua victrici conversum viscera dex
tra | cognatasque acies, et rupto foedere regni | certatum totis concussi
viribus orbis | in commune nefas, infestisque obvia signis | signa, pares
aquilas et pila minantia pilis; zu Walters ambivalentem Verhältnis
zu Vergil vgl. Einleitung 6). ⇔ Mit dem an antiken Vorbildern ori-
entierten, als Vokativ bzw. Imperativ gestalteten Worten bringt Wal-
ter seinen stilistisch und inhaltlich anspruchsvoll gestalteten antiken
Musenanruf zum Abschluss (vgl. Verg., Aen. I, 8: Musa, mihi cau
sas memora; vgl. Stat., Achill. I, 3: diva, refer).
5–8: Qui si senio non fractus inermi | pollice fatorum nostros vixisset
in annos, | Cesareos numquam loqueretur fama tryumphos, | totaque
Romuleae squaleret gloria gentis: Mit der Textpassage sind in der
Forschung zahlreiche Schwierigkeiten verbunden, die insbesondere
mit dem Verständnis des irrealen Bedingungssatzes qui … si nostros
vixisset in annos in Zusammenhang stehen und das Zusammenspiel
dieser Passage mit den Worten senio non fractus inermi betreffen.
Adkin (1991) 207–210 versteht Walters qui si nostros vixisset in annos
578 KOmmentar
in Verbindung mit senio non fractus inermi im Sinne von wenn die
ser – gemeint ist Alexander – nicht durch ein wehrloses Greisenalter
gebrochen – bis in unsere Zeit gelebt hätte. Er sieht dabei die logische
Verbindung zwischen senio non fractus inermi und nostros vixisset in
annos darin, dass ein in der Vorstellung dann 1500 Jahre alter make-
donischer König freilich nicht von den negativen Begleiterschei-
nungen des Greisenalters betroffen sein darf, um auch in Walters
Zeit als vorbildhafter und nachahmenswerter Feldherr dienen zu
können. Zudem begreift Adkin diese Formulierung als ein von Wal-
ter an einer für das gesamte Epos bedeutenden Stelle – dem Prooe-
mium – bewusst eingesetztes rhetorisches Stilmittel der Hyperbole,
um damit einen zeitgenössischen Bezug zu dem noch jugendlichen
und – eben noch nicht durch ein wehrloses Greisenalter gebroche-
nen – König Philipp II. von Frankreich herzustellen. Dieser sollte
seit seiner im Alter von vierzehn Jahren erfolgten Krönung zum
Mitregenten am 1. November 1179 und insbesondere nach dem Tod
seines am 19. September 1180 verstorbenen und zuvor einem schwe-
ren Siechtum anheimgefallenen Vaters Ludwig VII. als alleiniger
König von Frankreich die Geschicke seines Landes lenken und nach
dem wenig erfolgreichen zweiten Kreuzzug (1147–1149) und nach
der desaströsen Niederlage des byzantinischen Kaisers Manuel ge-
gen die Seldschuken im Jahre 1176 als Hoffnungsträger des christli-
chen Abendlandes das Vorhaben eines neuerlichen Waffengangs ge-
gen die Muslime in die Tat umsetzen (zur anagogischen Ebene der
Alexandreis bzw. zum eschatolgischen Sinn des Epos vgl. Einleitung
7.3). Adkin (1991) 210 formuliert seine in diesem Punkt einleuch-
tende These wie folgt: »The concept of an Alexander who had lived
›to our day‹ is meant to suggest that France’s own royal prince is
himself a contemporary analogue of the great Macedonian.« Adkin
arbeitet zudem überzeugend heraus, dass mit dem Begriff senio zu-
gleich auch ein direkter Bezug zu Ludwig VII. hergestellt wird, der
– durch einen Schlaganfall einseitig gelähmt – in der zeitgenössi-
schen Literatur häufig mit Formulierungen wie iam decrepito senio
Kommentar zu Buch I 579
kann. Somit lässt sich senio hier ebenso auch mit dem auf Alexander
bezogenen Prozess des Sterbens abzielenden Begriff der Entkräftung
in Verbindung bringen und kann dann mit der Übersetzung wenn
dieser – nicht durch wehrlose Entkräftung dahingerafft – ein für un
sere Zeit normales Alter erreicht hätte durchaus mit den Worten nos
tros vixisset in annos logisch verknüpft werden. Auch mit diesem auf
einer alternativen Übersetzung beruhenden Verständnis dieser Pas-
sage kann ausgehend von der ebenso primär auf Alexander bezoge-
nen Aussage darüber hinaus dann ein zeitgenössischer Bezug zu
Walters Zeit hergestellt werden. Im selben Maße nämlich wie in Ad-
kins Verständnis die Formulierung qui … si nostros vixisset in annos
– wenn dieser bis in unsere Zeit gelebt hätte auf das 12. Jahrhundert
verweist, schlägt auch die Übersetzung dieser Stelle mit wenn dieser
ein für unsere Zeit normales Alter erreicht hätte den Bogen zu Wal-
ters Zeit. Auch lässt sich dann der Passus senio non fractus inermi –
nicht durch wehrlose Entkräftung dahingerafft in seiner Ganzheit
mit dem ebenso jungen wie vitalen König Philipp II. in Verbindung
bringen, zugleich jedoch wird dem Leser der Alexandreis mit dem
Begriff senio in der Bedeutung von Siechtum als isoliertem Begriff
auch – Adkin hatte bereits im Zusammenhang mit dem Verständnis
von senio im Sinne von Greisenalter auf diesen Sachverhalt hinge-
wiesen – die schwere und über mehrere Monate andauernde Krank-
heit Ludwigs VII. in Erinnerung gerufen. ⇔ Insofern stellt sich an
diesem Punkt der Erörterung die Frage, welcher der beiden Über-
setzungsvarianten der Vorzug zu geben ist. Berücksichtigt man, dass
Walter mit seiner Grundaussage, nach der Alexander den Ruhm der
Römer hätte verblassen lassen, wenn er länger gelebt hätte, dessen
überragende weltgeschichtliche Bedeutung in den Mittelpunkt der
Betrachtung rücken möchte, ist es naheliegend, dass es sehr viel be-
merkenswerter und damit auch sehr viel ruhmreicher bzw. über-
haupt nur ruhmreich für Alexander gewesen wäre, wenn ihm dies in
einer kurzen Zeitspanne von vielleicht nur zwanzig Jahren gelungen
wäre und nicht erst nach langen 1500 Jahren (zum Verständnis wah-
Kommentar zu Buch I 581
ger gelebt hätte, wird an dieser Stelle mit einem Bild aus dem Bereich
der unterschiedlich hell strahlenden Himmelskörper verglichen, mit
dem Walter die ungeheuere Strahlkraft der Triumphe seines wich-
tigsten Protagonisten hervorhebt, die dann – anders als dies durch
Alexanders allzu frühen Tod der Fall war – die römischen Siege hät-
ten völlig verblassen lassen.
12–18 At tu, cui maior genuisse Britannia reges | gaudet avos, Seno
num quo presule non minor urbi | nupsit honos quam cum Romam
Senonensibus armis | fregit adepturus Tarpeiam Brennius arcem, | si
non exciret vigiles argenteus anser. | Quo tandem regimen kathedrae
Remensis adepto, | duriciae nomen amisit bellica tellus: Der zweite
Teil des Prooemiums, der von Walter mit der persönlichen Anrede
at tu bewusst auch formal vom ersten Teil abgesetzt wird, enthält
die Widmung des Heldengedichts an seinen Gönner Wilhelm von
Blois, der ebenso wie dessen älterer Bruder Pierre von Blois der ge-
bildeten obersten Herrschaftsschicht Frankreichs angehörte. Walter
spricht mit den reges … avos gleich zu Beginn seiner dedicatio Wil-
helms königliche Abstammung an, der als Urenkel von Wilhelm I.
– seines Zeichens König von England – schon durch seine Herkunft
bedingt von einer besonderen Aura umgeben war. Im Anschluss
an die Angaben über Wilhelms Herkunft rückt Walter dessen Ver-
dienste als Erzbischof von Sens (1169–1176) ins rechte Licht, indem
er sie mit den Taten des zum Stamm der Senonen gehörenden Gal-
liers Brennus in Beziehung setzt, der im Jahre 387 v. Chr. mit seinen
Kriegern die römischen Legionen besiegen konnte, Rom in Brand
gesteckt und beinahe auch, wären nicht die kapitolinischen Gänse
mit ihrem lauten Geschnatter dazwischengekommen, das römi-
584 KOmmentar
tigte Inspirationsquellen für sein Epos aus. ⇔ In der Tat bietet der
Text der Alexandreis nicht nur eine häufig an antiken Vorbildern
orientierte Episierung des Alexanderstoffes, sondern verschafft im-
mer wieder auch zeitgenössischen und damit dem christlichen Welt-
bild gehorchenden Moralvorstellungen Gehör (vgl. Glock 2000,
273). Besonders eindrücklich ist dieser Sachverhalt innerhalb des
gesamten Epos an der Charakterisierung Alexanders auszumachen,
die als maßgebliche Grundlage für dessen moralische Bewertung
neben antik-paganen Vorstellungen insbesondere nach dem heils-
geschichtlich legitimierten Perserfeldzug immer wieder auch christ-
liche Maßstäbe heranzieht. ⇔ Mit der Zueignung seines epischen
Gedichts an seinen Gönner Wilhelm – verbunden mit der Bitte um
Dichterlohn – endet das Prooemium der Alexandreis.
die Macht kam. In der erzählten Zeit des Epos hatte eigentlich noch
Artaxerxes III. (358–338 v. Chr.) den persischen Thron inne. ⇔ Im
direkten Anschluss an den inneren Monolog folgt eine Rede Alex-
anders, in der er seinem Zorn freien Lauf lässt und Klage darüber
führt, dass er als Zwölfjähriger noch nicht aktiv in den Kampf gegen
die Perser eingreifen darf. ⇔ Die Perser waren, wie die Bemerkung
Persarum dampnare iugum nahelegt, seit den Perserkriegen im 5.
Jahrhundert v. Chr. eine ständige Bedrohung für die griechischen
Stadtstaaten und insbesondere auch für ihre Verbündeten an der
Westküste Kleinasiens, auch wenn man dabei nicht übersehen darf,
dass beim allmählichen Aufstieg Makedoniens zur Hegemonial-
macht in Griechenland einzelne Stadtstaaten immer wieder auch
mit den Persern Bündnisse schlossen, um sich damit vom stetig zu-
nehmenden makedonischen Druck zu befreien. ⇔ Mit den Wor-
ten profugi tyranni | cornipedem lentum celeri prevertere cursu fügt
Walter einen Vorverweis auf die Schlacht bei Issus ein, in der Darius
ängstlich die Flucht ergreift, da er sich von dem mitten in die Reihen
der Perser vorwärts drängenden Alexander persönlich bedroht fühlt
(vgl. Komm. III, 189–202). ⇔ Die mit puerumque leonis | vexillo
einhergehende Bezugnahme auf einen Löwen ist von Walter an die-
ser Stelle nicht zufällig gewählt, da sie einerseits einen willkomme-
nen charakterlichen Gegensatz zwischen dem ängstlich agierenden
Darius und dem forsch voranstürmenden Alexander auszudrücken
vermag, andererseits beim gebildeten Leser die in der Literatur häu-
fig anzutreffende Identifikation Alexanders mit einem Löwen in Er-
innerung ruft. Beispielsweise berichtet Plutarch, dass Olympias und
Philipp durch Träume beunruhigt den Seher Aristander aufgesucht
haben, der diese dahingehend ausgelegt hat, dass ihnen die Geburt
eines mutigen und löwengleichen Kindes bevorstehe (vgl. Plut.,
Αλέξανδρος II, 3: Ἀρίστανδρος ὁ Τελμησσεὺς κύειν ἔφη τὴν ἄνθρωπον·
οὐθὲν γὰρ ἀποσφραγίζεσθαι τῶν κενῶν· καὶ κύειν παῖδα θυμοειδῆ καὶ
λεοντώδη τὴν φύσιν). Auch Alexanders Frisur wird in der antiken
Literatur nicht selten als löwenhaft beschrieben. Darüber hinaus
Kommentar zu Buch I 589
leitet das Bild des Löwen meisterhaft über zu dem in den folgenden
Versen erwähnten Herkules, der bekanntermaßen zumeist mit dem
Fell des von ihm selbst erlegten Nemeischen Löwen dargestellt wird.
langen Rede das richtige Verhalten eines guten Königs und erfolg-
reichen Feldherrn vermitteln wird.
licher, wenn man den Panegyricus für Kaiser Honorius auf das vierte
Konsulat hinzuzieht, wo Theodosius den jungen und kriegsberei-
ten Honorius vertröstet und ihn sogar mit Alexander vergleicht,
der schon befürchtet hatte, dass ihm die Eroberungen seines Vaters
Philipp keinen Raum mehr für eigene Heldentaten übriglasse (vgl.
Claud., Paneg. de quarto cons. Hon. Aug., 8, 369–377: Delibat dul
cia nati | oscula miratusque refert: »Laudanda petisti; | sed festinus
amor. Veniet robustior aetas; | ne propera. Necdum decimas emensus
aristas | adgrederis metuenda viris: vestigia magnae | indolis agnosco.
Fertur Pellaeus, Eoum | qui domuit Porum, cum prospera saepe Phi
lippi | audiret, laetos inter flevisse sodales | nil sibi vincendum patris
virtute relinqui; vgl. auch Zwierlein 2004, 619–621).
59–71 Forte macer pallens incompto crine magister … ubi nuper cor
pore toto | perfecto logyces pugiles armarat elencos ... interior sibi sumit
homo fomenta laboris: Walters Hinweis auf das von Erschöpfung
und Magerkeit geprägte und ungepflegte äußere Erscheinungsbild
des Aristoteles in Verbindung mit dem gerade erfolgten Abschluss
der Arbeiten zu den in lateinischer Sprache erst wieder Mitte des 12.
Jahrhunderts verfügbaren logischen Schriften des antiken Philoso-
phen – corpore toto | perfecto logyces – wirkt auf den ersten Blick auf
seltsame Weise isoliert und scheint dabei ohne einen inneren Zusam-
menhang mit der im weiteren Textverlauf wiedergegebenen Rede
des Stagiriten zu stehen. Stellt man jedoch in Rechnung, dass Walter
in seinen moralisch-satirischen Gedichten immer wieder auch Klage
über die von Mühsal und fehlender Anerkennung geprägte Existenz
des mittelalterlichen Gelehrten und Intellektuellen führt, scheint es
nicht abwegig, dass es sich dabei um eine geschickt inszenierte und
Kommentar zu Buch I 593
72–81 Ergo ubi flammato vidit Philippida vultu … Ille sui reverens
faciem monitoris ocellos | supplice deiecit vultu … atque … vigili bibit
aure magistrum: Nach der Charakterisierung des Aristoteles kehrt
Walter in seiner Darstellung zu Alexander zurück und findet damit
wieder den Anschluss an den oben beschriebenen Löwenvergleich.
Aristoteles fordert seinen Schüler auf, ihm die Gründe für dessen
aufgewühlten Gemütszustand mitzuteilen. Voller Respekt und mit
großer Ehrfurcht wagt es Alexander, seinem mit monitor bezeichne-
ten Lehrer von der Bedrohung der Heimat durch Darius und der al-
tersbedingten Schwäche seines Vaters Philipp zu berichten. ⇔ Diese
Hinführung zur Aristoteles-Rede endet damit, dass Alexander, von
Walter mit der Formulierung vigili bibit aure anschaulich zum Aus-
druck gebracht, sich aufmerksam seinem Lehrer zuwendet, der ihm
nun in einer langen Rede nützliche Ratschläge über das richtige Ver-
halten eines Feldherrn und Königs vermittelt.
594 KOmmentar
queritur extra. | Non eget exterius, qui moribus intus habundat. | No
bilitas sola est, animum que moribus ornat: In einem zweiten Schritt
stellt Aristoteles den charakterlich weniger befähigten und minder
vernunftbegabten sklavischen Naturen kontrastierend diejenigen
Personen gegenüber, die sich auch ohne finanzielle Mittel oder ohne
eine angesehene Herkunft durch inneren Reichtum und charakter-
liche Größe auszeichnen. In diesem Kontext hebt der Text insbeson-
dere den schädlichen Einfluss von Reichtümern auf den Charakter
des Menschen hervor. Denn allein die von allen äußeren Gütern un-
abhängige edle Gesinnung verleiht dem Menschen Charakterstär-
ke und befähigt diesen zur Übernahme von Führungspositionen.
⇔ Auch an dieser Stelle scheint die Invektive gegen Eutropius Pate
gestanden zu haben, in welchem Claudian jenen Personen die Be-
fähigung zur Herrschaft abspricht, die in ihrem Leben nicht auch
die Schattenseiten des Daseins erfahren und diese als Beweis ihrer
Tugendhaftigkeit ohne zu klagen ertragen haben (vgl. Claud., In
Eutrop. I, 142–144: qui servi non est admissus in usum, | suscipitur
regnis, et quem privata ministrum | dedignata domus, moderantem
sustinet aula; vgl. auch Claud., Paneg. de quarto cons. Hon. Aug.,
220: virtute decet, non sanguine niti; zur Quellenfrage der Aristote-
les-Rede vgl. auch Einleitung 3).
Überzeugungskraft (118–127)
118–127 Si conferre manum … pugnantem precibus monituque minis
que tonantem … dum languida terror | agmina prosternit … si gravis
hortatu preceptor inebriat aures, | se timor absentat, et sic formidine
mersa | irruit in ferrum monitis effrena iuventus: Ein weiterer As-
pekt innerhalb der Tugend der Tapferkeit stellt die Überzeugungs
kraft eines Feldherrn dar. Ungeachtet der eigenen Gefühlslage muss
ein Feldherr mit seinem Verhalten in der Lage sein, die Soldaten mit
Bitten zum Kampf zu ermuntern oder diese nötigenfalls auch mit
Mahnungen dazu antreiben. Unbedingte Voraussetzung dafür ist
das Motivationstalent eines Feldherrn, dem es durch die emotionale
Nähe zu seinen Soldaten gelingen muss, das bei diesen möglicher-
weise nicht in ausreichendem Maße vorhandene Selbstbewusstsein
zu stärken und die von Ängsten geplagte Jugend für den Einsatz im
Krieg zu gewinnen.
Vorbildfunktion (128–132)
128–132 Hostibus ante alios primus fugientibus insta … ultimus in
stando fugias, videantque morantem, | indecoresque fuga pudeat sine
rege reverti: Auch die Vorbildfunktion eines Feldherrn trägt in ent-
scheidendem Maße zum Erfolg in der Schlacht bei. Von großer Be-
deutung ist es in diesem Kontext, als erster den Feind zu verfolgen
und als letzter das Schlachtfeld zu verlassen, auch wenn der Feind
möglicherweise die eigenen Reihen zum Rückzug zwingen sollte.
Die eigenen Soldaten sollen es durch das leuchtende Vorbild ihres
Anführers beeindruckt bereuen, vor diesem den Rückzug angetre-
ten zu haben.
aussetzungen für den militärischen Erfolg schafft und sich mit einer
überlegenen taktischen Ausrichtung auch einem zahlenmäßig über-
legenen feindlichen Heer mit Zuversicht stellen kann. Natürlich
nimmt Walter damit Bezug auf Alexanders beinahe aussichtsloses
Unterfangen, einen übermächtigen Feind wie die Perser besiegen zu
wollen.
Handlungsschnelligkeit (136–143)
136–143 Si molliter illos | videris instantes, rue primus in arma se
quentum, | primus equum verte, pressoque relabere freno … Vix liceat
victis victori offerre tryumphum: Nach den strategischen Fähigkeiten
im Vorfeld eines Kampfes thematisiert Walter im Folgenden die si-
tuationsbedingte Flexibilität bzw. die Handlungsschnelligkeit eines
Feldherrn, der sich im Verlauf einer Schlacht auf schnell ändernde
Umstände einzustellen weiß. Die als Hysteron-Proteron gestaltete,
aus drei Teilen bestehende Aufforderung rückt nicht nur denjenigen
Teil sprachlich eng an die zaghaft agierenden Feinde heran, der mit
der konkreten Feindberührung in unmittelbarem Zusammenhang
steht, sondern unterstreicht mit der asyndetischen Reihung zudem
die insgesamt herausragende Handlungsschnelligkeit eines Feldherrn
(zum Hysteron-Proteron in der Alexandreis vgl. Einleitung 4). Da-
mit führt Walter den Leser geschickt mitten in das Schlachtgetüm-
mel hinein, in welchem ein Feldherr auf seine Kampfkraft, seine
Erfahrung, seinen Mut und seine gute Beziehung zu den eigenen
Soldaten vertrauen soll. ⇔ Mit den stilistisch durch eine dreifache
Alliteration und einem Polyptoton gestalteten Worten vix liceat
victis victori offerre tryumphum bringt Walter abschließend zum
Ausdruck, dass in einem derartig grausamen Kampfgetümmel der
eigenen Partei der Sieg nicht geschenkt wird, sondern immer nur
das Ergebnis einer harten, von zahlreichen Opfern geprägten kriege-
rischen Auseinandersetzung sein kann.
Kommentar zu Buch I 603
152–154 At si forte animo res non respondeat alto, | copia si desit vel
si minuatur acervus, | non minuatur amor, non desit copia mentis:
Auch für die an der vorliegenden Stelle in vier Versen behandelte
Tugend der angemessenen Zuwendung übernimmt Walter die in
der Ethica Vetus wiedergegebenen aristotelischen Vorstellungen
und beschreibt die als erstrebenswerte Mitte im Gegenstandbe-
reich des menschlichen Miteinanders verstandene amicicia – in der
Nikomachischen Ethik mit dem griechischen Begriff φιλíα wieder-
gegeben – als die Eigenschaft eines Mannes, der von der Vernunft
geleitet weder durch eine übersteigerte Sucht nach Beliebtheit zu
heuchlerischer Schmeichelei neigt noch sich aus einem Mangel an
Kompromissbereitschaft achtlos und hartherzig zeigt (zur deut-
schen Übersetzung des griechischen Begriffs φιλíα bzw. des lateini-
schen Begriffs amicicia mit angemessener Zuwendung vgl. die Ein-
führung zu Buch I). Die beiden gegensätzlichen Verhaltensweisen,
Kommentar zu Buch I 605
auf der einen Seite die sich in einem übersteigerten Bedürfnis nach
Anerkennung artikulierende Geneigtheit, auf der anderen Seite die
sich in übertriebener Streitlust manifestierende Unverträglichkeit,
werden entsprechend der Mesotes-Lehre des Aristoteles in Walters
Epos grundsätzlich als zu vermeidende Laster angesehen und stellen
demzufolge keine Handlungsoption für einen tugendhaften und
moralisch handelnden Mann dar (vgl. Gartner 2018, 63–64; zur
Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 3). Die Tugend
der angemessenen Zuwendung spielt Walters Ausführungen zufolge
insbesondere in Situationen eine Rolle, in denen es einem Feldherrn
aus Mangel an äußeren Gütern wie Geld oder Schätzen – copia si
desit – nicht möglich ist, seine Soldaten großzügig zu beschenken.
Dann müssen das mit dem Begriff amor zum Ausdruck gebrachte
gute Verhältnis zu seinen Männern und die mit copia mentis – die
Wiederaufnahme des Begriffs copia ist von Walter freilich beabsich-
tigt – wiedergegebene innere, auf Zuwendung und Warmherzigkeit
beruhende Zuwendung eines Feldherrn dieses Defizit ausgleichen,
um eine möglicherweise aufkommende Unzufriedenheit unter den
eigenen Leuten zu verhindern und bereits im Keim zu ersticken.
155 Allice pollicitis promissaque tempore solve: Auf die Tugend der
angemessenen Zuwendung lässt Walter die mit nur einem Vers be-
handelte Tugend der Wahrhaftigkeit folgen. Auch für diese Tu-
gend übernimmt Walter die in der Ethica Vetus wiedergegebenen
aristotelischen Vorstellungen und beschreibt die als erstrebenswer-
te Mitte im Gegenstandsbereich der Wahrheit verstandene veritas
– in der Nikomachischen Ethik mit dem griechischen Begriff ἀλή-
θεια wiedergegeben – als die Eigenschaft eines Mannes, der von der
Vernunft geleitet hinsichtlich seiner Person weder eine von falschen
Hemmungen geprägte Zurückhaltung an den Tag legt noch zu an-
geberischer Übertreibung neigt. Die beiden gegensätzlichen Ver-
606 KOmmentar
Walter wendet sich mit dem nächsten größeren Abschnitt dem An-
tritt der Regentschaft Alexanders zu, die den historischen Quellen
zufolge aus einer zweifachen Legitimierung seiner Herrschaft be-
stand. Zuerst wurde Alexander gleich nach der Ermordung seines
Vaters Philipp im Jahre 336 v. Chr. in Pella zum makedonischen
König gekrönt, um sich daraufhin noch im selben Jahr mit der Er-
hebung zum Hegemon des Korinthischen Bundes in Korinth auch
die Macht und die Verfügungsgewalt über nahezu alle griechischen
612 KOmmentar
Poleis für den Kampf gegen die Perser zu sichern. Walter inszeniert
diese beiden Ereignisse in auffälliger Art und Weise als Hysteron-
Proteron, um dem Leser die herausragende Bedeutung dieser Vor-
gänge vor Augen zu führen und zugleich – wie insbesondere im
Abschnitt über Alexander als Herrscher im Wartestand deutlich
wird – eine geschickt inszenierte zeitgenössische Bezugnahme zu
Philipp II. von Frankreich herzustellen, der mit dem Vorhaben eines
Kreuzzugs in einem ähnlichen Alter wie Alexander vor einer dem
Perserkrieg vergleichbaren Aufgabe stand (vgl. Alex. I, 226–238; zur
anagogischen Ebene der Alexandreis bzw. zum eschatolgischen Sinn
des Epos vgl. Einleitung 7.3; zum Hysteron-Proteron in der Alexan
dreis vgl. Einleitung 4).
in der Historiographie über Korinth als ein weit über die Grenzen
Griechenlands hinaus bekanntes wirtschaftliches und kulturelles
Zentrum berichtet wird. Nach dem griechischen Geographen und
Geschichtsschreiber Strabon etwa lässt sich der Aufstieg Korinths
zum zentralen Handelsplatz dieser Gegend insbesondere dadurch
erklären, dass die Stadt aufgrund ihrer Lage auf dem schmalen
Isthmus zur Peloponnes nicht nur über zwei gut geschützte Häfen
verfügte, sondern auch die mit Korinth konkurrierende Handels-
route um das Kap Malea herum wegen der widrigen Winde an der
Südostspitze der Peloponnes von Kaufleuten eher gemieden wurde.
Zudem konnte Korinth auch mit Abgaben rechnen, die aus dem
Handel über den schmalen Landweg zwischen der Peloponnes und
dem restlichen Griechenland resultierten (vgl. Strab., Geogr. VIII,
6, 20). ⇔ Allerdings fällt auf, dass Walter mit der Bezeichnung ca
put regni Korinth als die Hauptstadt eines Reichs bezeichnet, das
durch den festen Willen der Könige – regum firma voluntas – für
diese Führungsrolle bestimmt wurde. Interessanterweise herrschten
jedoch weder in den am Korinthischen Bund beteiligten Poleis Kö-
nige noch lässt sich der Korinthische Bund selbst als Königreich be-
zeichnen. Wiener (2001) 103 vermutet wohl zu Recht, dass Walter
mit dieser historisch eigentlich unzutreffenden Wortwahl die Ab-
sicht verfolgt, beim zeitgenössischen und insbesondere beim franzö-
sischen Leser das Bild der französischen Königskrönung zu evozie-
ren, um damit erneut auf die bereits im Rahmen des Prooemiums
zum Ausdruck gebrachte Parallele zwischen Alexander und dem
jungen Philipp Augustus verweisen zu können (zur anagogischen
Ebene der Alexandreis bzw. zum eschatolgischen Sinn des Epos vgl.
Einleitung 7.3). Nimmt man hinzu, dass der unter politischen Ge-
sichtspunkten für Korinth auch schon zu Alexanders Zeit durchaus
passende Begriff metropolis – in der Antike wurde damit die Haupt-
stadt einer Provinz bezeichnet – in der kirchlichen Terminologie des
Mittelalters die Stadt eines Erzbischofs kennzeichnete, wird deut-
lich, dass Walter bereits in der auf den ersten Blick unverdächtig
614 KOmmentar
der Athener in die Allianz des Korinthischen Bundes und die Zer-
störung Thebens in umgekehrter Reihenfolge darstellt (zum Hys-
teron-Proteron in der Alexandreis vgl. Einleitung 4). Mit diesem
stilistischen Kunstgriff gelingt es Walter, die Verschonung Athens
– historisch betrachtet wie beschrieben eine unmittelbare Folge der
Zerstörung Thebens – als das Ergebnis des tugendhaften Verhaltens
Alexanders zu inszenieren. Denn ganz im Sinne der aristotelischen
Tugendlehre gestaltet Walter diese Episode zum einen als ein ein-
drückliches Beispiel für die von Alexander verinnerlichte Tugend
der angemessenen Zürnkraft, da der makedonische König unge-
achtet des anfänglichen Widerstands Athens den Affekt des Zorns
aus Vernunftgründen zügelt und die letztlich noch rechtzeitig zur
Einsicht fähige Stadt auch und gerade wegen ihrer herausragenden
geistigen Bedeutung für Griechenland – artibus ingenuis studiisque
vacare sereno | annuit vultu – verschont (vgl. Gartner 2018, 48).
Zum anderen legt Alexander in seinem Verhalten gegenüber Athen
entsprechend der in der Aristoteles-Rede formulierten Vorgaben die
Tugend der angemessenen Zuwendung an den Tag, da er von der
Zuneigung zu seinen flehenden Landsleuten in einem vernünftigen
Maß ergriffen – patriae tactus suplicantis amore | rex fedus renovat
pacemque redintegrat urbi – auf eine Bestrafung der Stadt verzichtet
(vgl. Gartner 2018, 66). ⇔ Diese hier beschriebene Inszenierung
der Tugendhaftigkeit Alexanders bildet den Auftakt für zahlreiche
Episoden, in denen Walter das moralisch einwandfreie Verhalten sei-
nes wichtigsten Protagonisten in den Mittelpunkt der Betrachtung
rückt (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum mora-
lischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4; zu dem für die gesamte
Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl.
auch Einleitung 7.4).
622 KOmmentar
im Fall von Athen jedoch die Zerstörung der Stadt impliziert. Mit
der Erwähnung des Gegenstandsbereichs des Zorns zu Beginn der
Schlacht – flagrescit principis ira – und noch einmal vor der end-
gültigen Zerstörung von Theben – propositique tenax irae permittit
habenas – macht Walter deutlich, dass Alexander von der Vernunft
geleitet den anhaltenden Widerstand der Thebaner in einem Akt der
angemessenen Zürnkraft brechen musste, um nicht phlegmatisch zu
agieren und damit dem Laster der Zornlosigkeit zu verfallen (vgl.
Alex. I, 308; vgl. auch Alex. I, 346; vgl. auch die Einführung zu Buch
I). Der falsch verstandene Hinweis des Cleades auf die Tugendlehre
des Aristoteles kommt dabei insofern zu spät, als die Grundlage für
eine Verschonung der Stadt nach ihrer durch den ungebrochenen
Widerstand der Thebaner ausgelösten Eroberung schlichtweg nicht
mehr gegeben war (vgl. Gartner 2018, 48–49). Damit führt Walter
die im Kontext der Verschonung Athens begonnene Inszenierung
seines wichtigsten Protagonisten im Hinblick auf dessen moralisch
angemessenes Verhalten als Feldherr und König fort (zur tropologi-
schen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos
vgl. Einleitung 7.4; zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen
Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. auch Einleitung 7.4).
Vorbereitungen (349–358)
Asienexkurs (396–426)
396–426 Tercia pars orbis, cuius ditione teneri | olim dicta fuit, eius
quoque nomen adepta est. | Hec Asia est … Totque Asiae partes, quas
si meus exaret omnes | aut seriem scindet stilus aut fastidia gignet:
Der zwischen dem nächtlichen Gelage und Alexanders erstem Er-
Kommentar zu Buch I 627
selbst, dass ihm der Erdkreis nach all seinen Eroberungen zu eng ge-
worden sei und ihm die Weite der Länder nicht mehr genüge (vgl.
Alex. IX, 562–565: Tracas Asiamque subegi. | Proximus est mundi
michi finis, et absque deorum | ut loquar invidia, nimis est angustus
et orbis, | et terrae tractus domino non sufficit uni). Und zuletzt be-
müht Walter selbst am Ende des Epos in einer Rückschau auf das
Leben des makedonischen Königs das Bild eines Herrschers, dem
der ganze Erdkreis nicht ausgereicht hat und dem jetzt ein nur fünf
Fuß großes Grab genügen muss (Alex. X, 448–450: Cui non suffe
cerat orbis, | sufficit exciso defossa marmore terra | quinque pedum
fabricata domus). Diese Beispiele zeigen, dass Walters Wortwahl zu
Beginn des Perserkriegs nicht zufälligen Überlegungen entspringt,
sondern mit Bedacht kontrastierend in Beziehung zu der nach dem
Perserkrieg geschilderten Situation gesetzt werden soll, in welcher
der Autor der Alexandreis zum Ausdruck bringen möchte, dass sein
wichtigster Protagonist inzwischen den heilsgeschichtlichen Rah-
men verlassen hat und sich deshalb von nun an der massiven Kritik
des christlichen Autors und dem deutlich artikulierten Vorwurf der
Hybris ausgesetzt sieht. Doch dies ist zum momentanen Zeitpunkt
seines Eroberungszugs nach der Landung in Kleinasien noch nicht
der Fall. ⇔ Im festen Vertrauen auf das Schicksal, dass die in allen
vier Himmelsrichtungen – sub cardine quadro – ihm vor Augen lie-
genden Länder des Perserreichs schon bald seiner Herrschaft unter-
stehen werden, verteilt er entsprechend seiner obigen Ankündigung
das heimatliche Europa an seine Freunde, obgleich Alexanders Ge-
neräle ob dieser aus ihrer Sicht voreiligen Einschätzung nicht gerade
begeistert sind. Als äußeres Zeichen dieser inneren Haltung schützt
Alexander noch vor dem eigentlichen Eroberungszug das tatsäch-
lich noch gar nicht in seinem Besitz befindliche feindliche Vieh vor
Räubern (vgl. eine ähnliche Darstellung bei Iust., Epit. Hist. XI, 6,
1–3: Inde hostem petens milites a populatione Asiae prohibuit, parcen
dum suis rebus praefatus, nec perdenda ea, quae possessuri venerint).
Kommentar zu Buch I 631
493–501 «Neu vos excutiat cepto, gens provida, bello … occultum hoc
vestris inpertiar auribus unum: Mit der am Ende von Buch I wie-
dergegebenen Jerusalem-Episode findet ein geschickt inszenierter
Szenenwechsel statt. War Alexanders Rede an Achills Grab eigent-
lich eher an sich selbst gerichtet – einige seiner gerade anwesenden
Feldherren oder engeren Freunde dürften dabei die einzigen Zeugen
gewesen sein –, so wendet sich Alexander nun explizit an seine Sol-
daten, um ihnen für die in Kürze stattfindende erste ernsthafte Aus-
einandersetzung mit dem persischen Erbfeind am Granikus Mut
zuzusprechen. Dabei versucht er ihnen die Angst vor der wankel-
mütigen Schicksalsgöttin Fortuna zu nehmen, indem er ihnen vor
Augen führt, dass es in derartigen Situationen immer in erster Linie
auf die innere Haltung ankommt, die es dem einzelnen Krieger wie
der gesamten Truppe ermöglicht, auch gefährliche und schwierige
Situationen erfolgreich zu meistern. Darüber hinaus möchte Alex-
ander seinen Soldaten die Hintergründe für seine auf den Perser-
krieg bezogene Siegesgewissheit erläutern, die mit einer Vision in
Zusammenhang steht, die er bereits zwei Jahre zuvor am heimatli-
chen Hof in Pella empfangen hatte.
der zu einem Zeitpunkt, an dem sich dieser mit der Eroberung des
Perserreichs noch innerhalb seines heilsgeschichtlich legitimierten
Auftrags bewegt, einer auf die konkrete Situation der Erzählung be-
zogenen moralischen Kritik zu unterziehen, durch die dieser seiner
für die zeitgenössische Leserschaft aufbereiteten Vorbildfunktion
beraubt werden würde (zu Walters bewussten Abweichungen von
Curtius vgl. auch Einleitung 3).
Im Kontext von Darius’ Feldherrnrede entfaltet Walter mit dem
sensus anagogicus eine weitere Ebene seiner spezifischen Geschichts-
deutung. Dabei lässt sich über die Inszenierung eines locus amoenus
und dem Hinweis auf einen bedeutsamen Lorbeerbaum eine typo-
logische Verbindungslinie zwischen Alexander und Karl dem Gro-
ßen auf der einen Seite und zwischen Darius und dem Sarazenen-
führer Baligant auf der anderen Seite ziehen, die als Hinweis auf den
jungen französischen König Philipp II. und dessen zukünftige Auf-
gabe als Anführer im Kampf gegen die Muslime gedeutet werden
kann (vgl. Komm. II, 306–318; zur anagogischen Ebene der Alexan
dreis bzw. zum eschatolgischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.3;
vgl. auch Wiener 2001, 91–92).
In der Feldherrnrede des Darius selbst weist Walter ebenso wie
mit der unmittelbar daran folgenden Ekphrasis des Darius-Schildes
mit der Erwähnung der genealogischen Verbindung der Perser mit
dem Geschlecht der Giganten und der damit einhergehenden typo-
logischen Verbindung Alexanders mit Herkules bzw. der Perser mit
den Giganten ein weiteres Mal prospektiv darauf hin, dass der Sieg
der Griechen in der Schlacht bei Issus und damit letztlich auch de-
ren Sieg im gesamten Perserkrieg aus heilsgeschichtlicher Perspekti-
ve nicht aufzuhalten ist (vgl. Komm. II, 319–371; vgl. auch Komm.
II, 450–486; zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum
heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2).
Den Abschluss von Buch II bildet ein Autorexkurs über die Ver-
gänglichkeit irdischer Macht, mit dem Walter über die Bezugnahme
auf Cyrus nicht nur auf Darius’ bevorstehendes Ende hinweist, son-
640 KOmmentar
dern darüber hinaus auch Alexander in den Blick nimmt, der nach
der heilsgeschichtlich legitimierten Eroberung des Perserreichs das
menschliche Maß überschreitet und zu einem späteren Zeitpunkt
aus christlicher Sicht demzufolge verdientermaßen den Tod im
Epos erleidet (vgl. Komm. II, 530–544).
Kommentar zu Buch II
Themenübersicht (1–10)
vgl. Komm. I, 115). ⇔ Man kann an dieser Stelle die Frage aufwer-
fen, warum Walter diese schriftliche Auseinandersetzung zwischen
den beiden Königen in dieser Ausführlichkeit in seine Darstellung
aufnimmt, obwohl seine historische Hauptquelle Curtius darüber
nur wenige Worte verliert. Es spricht wohl vieles dafür, dass der Au-
tor der Alexandreis diesen Briefwechsel nutzen möchte, um noch
vor der ersten Schlacht am Granikus die Charaktere seiner beiden
wichtigsten Protagonisten noch einmal zu kontrastieren und so
ungeachtet der zahlenmäßigen persischen Übermacht schon vorab
die eigentlichen und tatsächlich von anderen Faktoren abhängigen
Kräfteverhältnisse in dieser kriegerischen Auseinandersetzung deut-
lich zu machen. Denn auf der einen Seite befindet sich der persische
König, der seinen Brief – so Walter – nur schreibt, um nicht untätig
zu erscheinen, dabei in Anbetracht der späteren Niederlage und der
feigen Flucht eine vollkommen grundlose Überheblichkeit an den
Tag legt und offenbar seinen Gegner auf sträfliche Art und Weise
unterschätzt. Mit diesem großspurigen Verhalten verletzt Darius je-
doch die Vorgaben der Aristoteles-Rede hinsichtlich der Tugend des
angemessenen Stolzes, indem er sich des Lasters der Eitelkeit schuldig
macht (vgl. Komm. I, 182–183; vgl. auch Komm. VII, 17–58; zur
deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs μεγαλοψυχία bzw.
des lateinischen Begriffs magnanimitas mit angemessener Stolz vgl.
die Einführung zu Buch I). Zudem assoziiert der mittelalterliche Le-
ser mit dem von Darius für die eigene Person benutzten Titel rex
regum keinen Geringeren als Christus selbst, womit die Überheb-
lichkeit des persischen Königs zusätzlich auch noch eine christliche
Dimension erhält (vgl. Timotheus 6, 15: usque in adventum Domini
nostri Iesu Christi quem suis temporibus ostendet beatus et solus po
tens rex regum et Dominus dominantium). Auf der anderen Seite
steht mit Alexander ein Feldherr und König bereit, der sich weder
von gehässigen Diffamierungen noch von böswilligen Drohungen
einschüchtern lässt, sondern überaus gedankenschnell – ein Vor-
geschmack auf die in der Aristoteles-Rede angemahnte und in den
Kommentar zu Buch II 649
keit mit sich, dass bei Curtius erwähnt wird, Darius habe von der
Todesnachricht des Memnon schwer erschüttert den Beschluss ge-
fasst, nun selbst in den Kampf einzugreifen (vgl. Curt. Hist. Alex.
III, 2, 1: At Dareus nuntiata Memnonis morte haud secus, quam
par erat, motus omissa omni alia spe statuit ipse decernere). Mem-
non starb jedoch tatsächlich erst bei der Belagerung von Mytilene
im Sommer des Jahres 333 v. Chr., als sich Alexander ungefähr zum
selben Zeitpunkt von Gordium aus auf dem Weg zur Kilikischen
Pforte und nach Tarsus an der Südküste Kleinasiens befand. Walter
versucht diese Schwierigkeit zu lösen, indem er Curtius’ Darstellung
dahingehend abändert, dass er die Nachricht von Memnons Tod le-
diglich als ein im Lager umlaufendes Gerücht behandelt, das sich im
Nachhinein durch dessen Beteiligung an der Schlacht am Granikus
dann eben als unwahr herausstellt (vgl. Alex. II, 45–46: At Darius,
quamvis fama mediante recepto | Mennonis excessu labefacto pectore
nutet). Im Übrigen war Memnons Tod im Sommer des Jahres 333. v.
Chr. für Alexander ein nicht zu unterschätzender strategischer Vor-
teil, da damit zumindest mittelfristig die Bedrohung im Rücken des
griechischen Heeres beseitigt war und ein gefährlicher Zweifronten-
krieg vermieden werden konnte. Dieser Sachverhalt wird besonders
vor dem Hintergrund bedeutsam, dass Alexander noch in Gordi-
um trotz der in seinen Augen damals noch bestehenden Bedrohung
durch Memnon beschlossen hatte, alles zu riskieren und mit seinem
Heer weiter in Richtung Osten zu marschieren (vgl. Barceló 2007,
209). Der begabte Feldherr Memnon ist nur ein Beispiel griechischer
Söldner in Diensten der persischen Könige unter vielen. Der Grund
für diese Unterstützung der Perser durch griechische Söldner lag
insbesondere darin, dass vonseiten zahlreicher griechischer Stadt-
staaten eine schon von Alexanders Vater Philipp angestrebte Hege-
monie Makedoniens in Griechenland verhindert bzw. rückgängig
gemacht werden sollte (vgl. Komm. I, 27–39). ⇔ Die Beschreibung
des persischen Heeres, das sich am nächsten Morgen über den Wall
des Lagers hinweg in Bewegung setzt, verbindet Walter mit einem
Kommentar zu Buch II 651
Gleichnis aus der Welt der Hirten. ⇔ Die Verwendung von Gleich-
nissen gehört schon zum Repertoire antiker Epiker und wird auch
von einem mittelalterlichen Autor wie Walter für sein Epos immer
wieder eingesetzt, um einen bestimmten Sachverhalt oder eine be-
stimmte Situation zu veranschaulichen (vgl. Christensen 1905,
77–82). ⇔ Im vorliegenden Fall wird die Situation der sich nach
der Heerschau zum Euphrat hin in Bewegung setzenden persischen
Soldaten mit den am frühen Morgen auf die Frühlingsweiden zie-
henden Schafe verglichen, die vom Hirten einer genauen Zählung
unterzogen werden, um keines der Tiere an einen Wolf zu verlie-
ren (vgl. Alex. II, 59). Walter arbeitet dabei insbesondere auf der
motivischen Ebene Gemeinsamkeiten zu literarischen Vorbildern
heraus und verbindet dabei geschickt Anklänge an antike Autoren
mit christlichem Gedankengut. Die Stelle erinnert zum einen an
die Georgica Vergils, der einen Hirten beschreibt, wie er die von der
Weide in den Stall heimkehrenden Kälber und Lämmer zählt, um si-
cherzugehen, dass keines der Tiere ein Opfer von Wölfen geworden
ist (vgl. Verg., Georg. IV, 433–436: Ipse, velut stabuli custos in monti
bus olim, | Vesper ubi e pastu vitulos ad tecta reducit/auditisque lupos
acuunt balatibus agni, | consedit scopulo medius, numerumque recen
set). Ferner legt die Erwähnung der sedula Baucis bei Walter eine in
diesem Fall zudem wortgetreue und auch hinsichtlich der Stellung
am Versende identische Bezugnahme auf Ovid nahe, der in seinen
Metamorphosen die Geschichte des alten Ehepaars Philemon und
Baucis erzählt (vgl. Ov., Met. VII, 640). Zum anderen werden mit
dem Bild des gewissenhaften Hirten – zumal bei einem mittelalter-
lichen Leser – aber auch Assoziationen zum Johnannes-Evangelium
geweckt, wo Jesus sich selbst als guten Hirten beschreibt, der seine
Schafe kennt und für diese auch sein Leben lässt. Im Unterschied
dazu lässt ein schlechter Hirte, dem die Schafe nicht gehören, diese
sofort im Stich, wenn er den Wolf kommen sieht (vgl. Joh. 10, 12).
652 KOmmentar
Curtius aus, dass zwischen diesen Meeren – und nur darauf bezieht
sich der antike Historiker – die schmalste Stelle Kleinasiens liege, da
das Land – er nennt es ein wie eine Insel wirkendes kontinentales
Anhängsel – von beiden Seiten durch diese Meere zu einem schma-
len Isthmus zusammengepresst werde. Allein diese dünne Scheide-
linie verhindere die Vereinigung der Meere (vgl. Curt., Hist. Alex.
III, 1, 13–14: Inter haec maria angustissimum Asiae spatium esse com
perimus utroque in artas fauces compellente terram. Quae quia conti
nenti adhaeret, sed magna ex parte cingitur fluctibus, speciem insulae
praebet, ac, nisi tenue discrimen obiceret, quae nunc dividit maria,
committeret). Auch wenn Clayton (1793) 296 in Curtius denjeni-
gen ausgemacht zu haben glaubt, der sich historisch betrachtet des
Irrtums schuldig gemacht hat, einen Isthmus auf der geographi-
schen Länge von Gordium zu verorten, referiert Curtius an dieser
Stelle lediglich den in der römischen Antike insbesondere unter
Geographen allgemein bekannten Sachverhalt, dass in Kleinasien
zwischen beiden Meeren ein Isthmus existiert, ohne damit allerdings
– und dies ist bei der Klärung der vorliegenden Frage von entschei-
dender Bedeutung – explizit auf Gordium zu verweisen. Vielmehr
nimmt die Aussage inter haec maria, die durch den unmittelbar an-
schließenden Satz über den kontinentalen Charakter der gesamten
Halbinsel zusätzlich an Deutlichkeit gewinnt, über Gordium hin-
ausgehend ganz Kleinasien in den Blick. Auch die Feststellung, dass
die theoretisch denkbare Vereinigung beider Meere – was Kleinasien
insgesamt zu einer Insel werden ließe – nur durch den als tenue dis
crimen bezeichneten Isthmus verhindert werde, bestätigt diesen Be-
fund. Auch Curtius verortet wie Strabon oder Plinius nämlich die-
sen Isthmus gedanklich ganz im Osten von Kleinasien, da
selbstredend nur dort die nach Westen verlaufende Halbinsel ihren
Anfang nimmt und auch nur dort so abgetrennt werden könnte,
dass aus ganz Kleinasien eine Insel entstünde. Somit lässt sich fest-
halten, dass Curtius im obigen Text beginnend mit inter haec maria
keine weiteren Informationen zu Gordium liefert, sondern seine
Kommentar zu Buch II 657
75–90 Hic Iovis in templo Midae patris alta choruscant | plaustra iu
gumque vetus Asiae fatale … Dixit et arrepto nodos mucrone resolvit, |
unde vel elusit sortem vel forte reclusit: Ein Orakel hatte der Bevölke-
rung von Gordium prophezeit, dass ihr künftiger König auf einem
einfachen Ochsenwagen nach Gordium kommen werde. Als Midas
658 KOmmentar
Kilikischen Pforte – der bis auf 1000 Meter hoch gelegenen Via
Tauri – von Süden her den einzigen durch das Taurusgebirge füh-
renden und von großer Enge geprägten Zugang nach Tarsus an der
kilikischen Küste verwehrt. ⇔ Die Verwendung zentraler Textbe-
standteile aus den Historiarum adversum paganos des Orosius, der
ebenso wie Walter Alexanders Schnelligkeit und kluge Planung in
dieser strategisch bedeutsamen Situation betont, ist unübersehbar
(vgl. Oros., Hist. adv. pag. III, 16. 5: Inde nuntiato sibi Darii cum
magnis copiis adventu, timens angustias quibus inerat locorum, Tau
rum montem mira celeritate transcendit et quingentis stadiis sub una
die cursu transmissis, Tarsum venit). Ohne die von Alexander an nur
einem Tag zurückgelegte Strecke explizit zu nennen, erwähnt Justin
doch auch die große Schnelligkeit des makedonischen Königs bei der
Überquerung des Taurusgebirges (vgl. Iust., Epit. Hist. XI, 8, 1–3:
Haec illi agenti nuntiatur Darium cum ingenti exercitu adventare.
Itaque timens angustias magna celeritate Taurum transcendit). Es
fällt auf, dass Walter im Unterschied zu den genannten Vorlagen die
Kilikische Pforte in seinem Epos bereits zu einem Zeitpunkt thema-
tisiert, als Alexander sich gerade erst auf dem Weg dorthin befindet.
Damit gelingt es ihm noch besser als den spätantiken Historikern,
das schnelle Vorrücken Alexanders in Szene zu setzen. Auch deshalb
dürfte er sich gegen die Darstellung bei Curtius entschieden haben,
der weder einen Hinweis auf Alexanders schnelles Vorrücken liefert
noch dessen Vorgehen als strategisches Manöver im Hinblick auf die
Truppenbewegungen des Darius versteht. Curtius berichtet ledig-
lich davon, dass Alexander mehr als sonst über sein Glück staun-
te, als er den Pass von den Persern verlassen vorfand (vgl. Curt.,
Hist. Alex. III, 4, 11–12). ⇔ Dennoch handelt es sich hier keineswegs
um eine bloße Versifizierung der Darstellung des spätantiken His-
torikers Orosius. Vielmehr stellen die entsprechenden Verse in der
Alexandreis ein geradezu paradigmatisches Beispiel dar für das auf
die Inszenierung bestimmter Ereignisse zielende Vorgehen Walters
bei der epischen Umsetzung seiner historischen Vorlagen. Während
660 KOmmentar
schrift Ms. C 100, fol. 14r der Züricher Zentralbibliothek wird der
Umstand, dass Darius bedingt durch die geographische Lage frü-
her als Alexander aufbrechen konnte, durch eine Interlinearglosse
mit den Worten Darius in principio diei orientali erläutert, verfüg-
bar unter: https://www.e–codices.unifr.ch/de/doubleview/zbz/
C0100/14r/). ⇔ Am Ende des Abschnitts wird von Walter die für
Alexander bestehende Dringlichkeit, die Kilikische Pforte vor der
Ankunft des Darius zu durchschreiten, zusätzlich noch gesteigert,
indem er mit dem Klang der griechischen Signalhörner, der von den
hohen Felsen in großer Lautstärke zurückgeworfen wird, die gefahr-
volle Enge der Schlucht auch mit akustischen Mitteln hervorhebt
(zur Unterstreichung der Vorgänge durch akustische Beschreibun-
gen vgl. Alex. II, 487–93; vgl. auch Alex. III, 1–2).
103–139 Hic fragor in castris, sed et hic erat agminis ordo … pedibus
que attritus et axe | aurea pulvereus involvit sydera turbo: Im Folgen-
den richtet Walter den Blick auf den Truppenaufmarsch der Perser,
der unter Auslassung einiger Details im Wesentlichen auf Curtius
zurückgeht und von Walter entsprechend seiner historischen Vorla-
ge in der dort wiedergegebenen Reihenfolge beschrieben wird (vgl.
Curt., Hist. Alex. III, 3, 8–25). ⇔ Ein aus religiöser Sicht wichtiger
Bestandteil des persischen Heereszugs ist etwa das von Darius auf ei-
nem silbernen Altar mitgeführte heilige und ewige Feuer der Perser
– ignem … sacrum aeternumque –, das von Magiern gehütet wurde.
In der Historia ecclesiastica des Bischofs von Kyrrhos und Kirchen-
historikers Theodoret († 460) wird dieses Feuer, von den Persern
als Symbol der Gottheit und der vollkommenen Reinheit verehrt,
beispielsweise im Rahmen der Kirchenverfolgung durch den Perser-
könig Isdigerdes beschrieben, der einen christlichen Bischof namens
Abdas hinrichten ließ, nachdem dieser einen persischen Feuertem-
Kommentar zu Buch II 663
pel – auch Pyreum genannt – zerstört hatte (vgl. Theod., Hist. eccl.
V, 39). Auch das auf einem Wagen mitgeführte Standbild des höchs-
ten persischen Gottes Ahura Mazda, von Walter in einer interpreta
tio Latina mit Iovis angesprochen, wird als wichtiger Bezugspunkt
der persischen Religion auf dem Heereszug mitgeführt. Bei dem von
Walter erwähnten, nach der irrigen Meinung des Volkes für unsterb-
lich gehaltenen Regiment von gut ausgebildeten Soldaten, handelt
es sich um eine mit Speeren bewaffnete Eliteeinheit aus zehntausend
Angehörigen des persischen Adels, die in Friedenszeiten die Leibwa-
che des persischen Königs bildet und im Krieg als schwere Infanterie
eingesetzt wird. Herodot erklärt die Namensgebung für diese Eli-
tetruppe damit, dass nach Verlusten im Krieg oder durch Verwun-
dung oder Krankheit die Zahl der Soldaten immer wieder auf zehn-
tausend Mann aufgestockt wurde und somit die Truppe als Ganzes
niemals kleiner wurde (vgl. Herod., Hist. VII, 83). In prominenter
Position fährt in der Mitte des Heereszugs der persische König Da-
rius auf seinem prunkvollen Streitwagen einher. Anders als Curti-
us, der in seiner ausführlichen Beschreibung des persischen Königs
beinahe bewundernd wirkt, hebt Walter als christlicher Autor in
pejorativem Sinn den übermäßigen Prunk und den überflüssigen
Aufwand hervor, durch den Darius im Getümmel des Truppenauf-
marschs als persischer König auszumachen ist (vgl. Alex. II, 116–117:
quem predicat ardor | gemmarum et luxus opulentia barbara regem).
Mit den zehntausend Speerträgern – hastata decem precedunt milia
–, die bei Walter im Unterschied zu Curtius nicht dem Wagen des
Königs folgen, sondern diesem vorausgehen, dürften die oben be-
reits angesprochenen zehntausend Unsterblichen gemeint sein. Die
dreißigtausend hervorragend bewaffneten persischen Fußsoldaten,
die von Walter als diejenigen Einheiten hervorgehoben werden, die
verhindern sollen, dass die Griechen bis zum Streitwagen des Darius
vordringen können, bilden den Abschluss des Heereszugs. ⇔ Diese
Ergänzung bei Walter ist insbesondere vor dem Hintergrund inter-
essant, dass in der Schlacht von Issus genau dies den Griechen durch
664 KOmmentar
145–152 Hic, ut scripta ferunt, illustri claruit ortu … sed gurgite ludit |
calculus et refugo lapsu lascivit harena: Walter bleibt gedanklich in
Tarsus und geht mit zwei weiteren Punkten näher auf die kilikische
Hafenstadt ein. Zum einen berichtet er von dem dort geborenen
Apostel Paulus, welcher der christlichen Mission, wie Walter nicht
zu erwähnen versäumt, erst nach seiner Bekehrung große Dienste
erwiesen hat (zu Paulus vgl. Komm. I, 207–208). Zum anderen geht
er auf den durch Tarsus fließenden Kydnus ein, der aus dem Taurus-
gebirge kommend mit seinem kalten und klaren Wasser in sanftem
Lauf die kilikische Ebene durchströmt.
auf die Zeit nach dem Perserfeldzug einen Bogen zu dem in Buch
X geschilderten Tod des makedonischen Königs, der im Epos Wal-
ters als Folge von dessen Streben nach Gottgleichheit und dessen
Maßlosigkeit – die außerhalb des Perserreichs liegenden Eroberun-
gen sind heilsgeschichtlich nicht mehr legitimiert – im Sinne einer
moralischen Kritik des christlichen Autors an Alexander inszeniert
wird. Derartige Vorverweise des christlichen Autors auf die Zeit nach
dem Perserkrieg sind in der Alexandreis nicht selten und gehören
zum epischem Repertoire Walters (vgl. Alex. II, 540–544; zur Funk-
tion der Vorverweise in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.4). ⇔
Die beiden in den wichtigsten Handschriften zur Alexandreis nicht
vorhandenen und von Colker aus gutem Grund auch nicht in den
Text übernommenen Verse Impulit hic regem vis praesumptiva super
bum, | quae potius laudis potuit iactantia dici müssen ausgehend von
dieser nachvollziehbaren Textkritik insbesondere auch deshalb von
fremder und mit der grundsätzlichen Ausrichtung der Alexandreis
nicht vertrauten Hand stammen, da mit ihnen der Vorwurf der Hy-
bris – anders als in den eingangs besprochenen Versen – nicht im
Sinne eines Vorverweises auf die Zeit nach dem Perserkrieg bezogen
erhoben wird, sondern mit der konkreten Situation am Kydnus in
Verbindung steht (vgl. Alex. II, 155–156; vgl. auch Colker 1978, 44;
vgl. auch Komm. I, 427–446). ⇔ Erst nach diesem Autorkommen-
tar schildert Walter den folgenreichen Badeunfall des makedonischen
Königs im Kydnus. Demnach sucht Alexander verschmutzt und
schweißbedeckt an einem heißen Tag im Juli mit erhitztem Körper
zur Mittagszeit eine Abkühlung im eiskalten Wasser des kilikischen
Flusses (Curtius nennt als Grund für Alexanders Bad abgesehen von
der auch bei Walter wiedergegebenen Absicht, sich zu erfrischen zu-
dem das Ansinnen, den Seinen zu demonstrieren, dass auch ihm als
König einfache Mittel zur Körperpflege ausreichen, vgl. Curt., Hist.
Alex. III, 5, 2–3). Augenblicklich überfällt den makedonischen König
am ganzen Körper eine durch die Kälte des Wassers bedingte Frost-
starre, die mit akuter Atemnot und anschließender Bewusstlosigkeit
Kommentar zu Buch II 667
einhergeht. (vgl. Alex II, 166–171). Wenn ihn seine Gefolgsleute nicht
sofort aus dem Wasser gezogen hätten, wäre Alexander wohl in we-
nigen Minuten ertrunken. ⇔ Macherei (2014) 67 geht aufgrund
der Quellenlage bei Curtius davon aus, dass die dort geschilderten
Symptome auf einen im kalten Wasser erlittenen Schock hinweisen.
171–185 Oritur per castra tumultus … Sed quis dignus erit tanto suc
cedere regi?»: Im Lager der Griechen entsteht ob des unheilvollen
Bades ihres Königs im Kydnus eine große Unruhe. Während Cur-
tius lediglich von der Reaktion der Soldaten berichtet, kleidet sie
Walter in eine lebendig gestaltete und als Anklage an Fortuna ge-
richtete Rede, in der die Soldaten ihren Missmut und ihre Ängste
zum Ausdruck bringen (vgl. Curt., Hist. Alex. III, 5, 4–9). ⇔
Möglicherweise setzt Walter das sprachliche Mittel der Rede nicht
nur aus Gründen der sprachlichen Lebendigkeit ein, sondern auch
um eine Verbindung zu der kurz darauf folgenden Rede der Fortuna
herzustellen. ⇔ Zum einen führen sie Klage darüber, dass Alexan-
der völlig unbewaffnet – also nicht im Krieg – und ohne jegliche
Feindberührung einem für alle unerwarteten und ruhmlosen Tod
anheimzufallen droht. Der zentrale Vorwurf an die Schicksalsgöt-
tin betrifft dabei deren als ungerecht und grausam gebrandmarkten
Wankelmut, der das überraschende Ereignis überhaupt erst möglich
gemacht habe (vgl. Alex. II, 175–177: Improba mobilior folio Fortuna
caduco, | tygribus asperior, diris immitior ydris, | Thesiphone horridi
or, monstroque cruentior omni; zum Götterapparat und der Rolle des
Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Zum anderen sind
die Soldaten in Sorge um ihre eigene Zukunft, da sie fern der Hei-
mat nicht ohne weiteres nach Griechenland zurückkehren könnten
und möglicherweise ohne ihren charismatischen Anführer in den
Krieg gegen Darius geschickt werden sollen. Überdies wird von den
668 KOmmentar
200–217 Hec ubi dicta, | liberior regis iam morbida membra revisit |
spiritus et solitos paulisper habere meatus | cepit, sed nimius urebat
viscera morbus … cursu fugitiva rapaci | terga dabunt Persae, Dana
ique sequentur ovantes.»: Entsprechend der durch das Fatum beste-
henden Vorgaben kommt Fortuna ihrem Auftrag nach, indem sie
die lebensbedrohliche Atemnot des makedonischen Königs lindert
und ihn zudem das Bewusstsein wiedererlangen lässt. ⇔ Interes-
santerweise scheinen in Walters Darstellung die durch das eiskalte
Wasser des Kydnus hervorgerufene Starre und die Bewusstlosigkeit
Alexanders sowie die sich daran anschließende Krankheit zwei zwar
mutmaßlich in kausalem Zusammenhang stehende, aber letztlich
doch voneinander getrennte Ereignisse zu sein (Curtius schildert
die direkten Folgen des Bades und die Krankheit als ein einziges Er-
eignis, vgl. Curt., Hist. Alex. III, 5, 9–10). Der erste Teil des Satzes
nämlich bringt mit den Worten liberior regis iam morbida membra
revisit | spiritus et solitos paulisper habere meatus | cepit und dem
dabei gleich zweimal verwendeten resultativen Perfekt eine bereits
erfolgte Erholung von den unmittelbaren Folgen des Badeunfalls
zum Ausdruck, während die im zweiten Teil des Satzes durch sed
nimius urebat viscera morbus adversativ eingefügte und mit dem ite-
rativen bzw. durativen Imperfekt verbundene Krankheit, die über
den eigentlichen Badeunfall hinaus eine gewisse Zeit lang oder auch
durch wiederkehrende Koliken der vollständigen Genesung Alexan-
ders im Wege steht, erst neu hinzugetreten zu sein scheint. Die Tren-
nung dieser beiden Ereignisse dürfte Walters Bestreben geschuldet
sein, Alexanders erste Erholung nach dem Badeunfall erkennbar
auf das Einwirken der Fortuna zurückzuführen, um im Anschluss
daran den Umgang des makedonischen Königs mit seiner eigentli-
chen, in Walters Schilderung letztlich nur drei Tage andauernden
Krankheit, zur Heroisierung Alexanders zu nutzen. ⇔ Unabhän-
gig von Walters Darstellung und den dahinter stehenden Motiven
670 KOmmentar
ihm selbst und dem König zu schaden. ⇔ Parmenion hat bei Walter
wegen seiner Fehleinschätzung Philipp betreffend offenbar keinerlei
Konsequenzen zu gewärtigen, wodurch die Episode mit dem Brief
und den darin formulierten Anklagen ein wenig zusammenhangslos
wirkt. Offenbar wollte Walter im weiteren Verlauf seines Epos Cur-
tius folgen, bei dem Parmenion als wichtigster General der Griechen
weiterhin Alexanders Vertrauen genießt. In der romanhaften Über-
lieferungstradition wird Parmenion auf Verlangen Philipps abge-
setzt oder sogar getötet (vgl. Demandt 2013, 136). ⇔ Über den kon-
kreten Vorfall hinaus drückt Philipp mit den Worten sic iniuste
quandoque ligatur | iustus, et iniustos absolvit curia mendax sein all-
gemeines Unbehagen darüber aus, dass bisweilen der Gerechte auf
ungerechte Weise eines Verbrechens beschuldigt wird und ein ver-
logenes Gericht einen Schuldigen freispricht (vgl. Alex. II, 242–243).
Damit nimmt Walter erneut Bezug auf die Aristoteles-Rede, in der
innerhalb der Tugend der Gerechtigkeit mit dem Satz curritur in fa
cinus, nec leges curia curat ebenso auf ein Gericht angespielt wird,
das sich, den Weg des Verbrechens einschlagend, nicht um die eige-
nen Gesetze kümmert (vgl. Komm. I, 105–114). Somit wird ein wei-
teres Mal auf die von Korruption, Neid und Missgunst geprägten
zeitgenössischen Zustände innerhalb der römischen Kurie ange-
spielt (vgl. Komm. I, 105–114; zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl.
auch Einleitung 8). ⇔ Mit der Entscheidung, seinem Arzt zu ver-
trauen, wird Alexander als ein König inszeniert, der sich nicht nur
hinsichtlich der allgemeinen Tugendhaftigkeit und der zentralen
Feldherrntugend der Tapferkeit vorbildlich verhält, sondern sich
auch der Tugend der Gerechtigkeit in höchstem Maße verpflichtet
fühlt. Insgesamt werden auf diese Weise kurz vor der Schlacht bei
Issus noch einmal die Führungsqualitäten des makedonischen Kö-
nigs in Szene gesetzt, die auch im weiteren Verlauf des Perserkriegs
die notwendige Voraussetzung für den Erfolg des gesamten Unter-
nehmens darstellen (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw.
zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4).
Kommentar zu Buch II 677
donischen König von diesem Brief zu berichten, wird jedoch von sei-
ner eigenen Zurückhaltung und seiner zu großen Rücksichtnahme
auf den mit den Vorbereitungen für die Schlacht bei Issus beschäf-
tigten Alexander immer wieder davon abgehalten. Tragischerweise
war derselbe Brief zuvor – allerdings mit dem ursprünglichen Siegel
des Nabarzanes – Alexander zugespielt worden, der diesen nun sei-
nerseits mit vertauschtem Siegel über den genannten kretischen Sol-
daten dem Sisines zustecken lässt, um dessen Loyalität auf den Prüf-
stand zu stellen. Durch sein tagelanges Zögern macht sich Sisines des
Verrats verdächtig und wird auf Befehl des makedonischen Königs
– iussu regis occisus – getötet (Curtius scheint die Episode um Sisines
bewusst als Gegenstück zu der kurz davor behandelten Episode um
den Parmenion-Brief inszeniert zu haben, vgl. Neger 2018, 141). Die
Darstellung der Sisines-Episode hat bei Curtius in Verbindung mit
der im folgenden Abschnitt hervorgehobenen Milde des Darius da-
bei die literarische Funktion, Alexander mit dem persischen König
kontrastierend in Beziehung zu setzen. In besagter Szene schenkt Da-
rius den unter Tymodes’ Führung stehenden griechischen Söldnern
die Freiheit, obwohl sie der Situation des Sisines vergleichbar wegen
eines unter den ranghöchsten Persern mit Argwohn aufgenomme-
nen Vorschlags zur taktischen Ausrichtung in der kommenden
Schlacht bei Issus in den Verdacht geraten waren, Darius verraten zu
wollen. Mit dieser vergleichenden Charakterisierung verfolgt Curti-
us das Ziel, die negativen Charakterseiten Alexanders schon zu einem
frühen Zeitpunkt des Alexanderfeldzugs anzudeuten und zugleich
den persischen König moralisch aufzuwerten (vgl. Neger 2018, 143).
⇔ Im Unterschied zu Curtius versucht Walter bei der Wiedergabe
der Sisines-Episode mit allen Mitteln zu vermeiden, ein negatives
Licht auf Alexander zu werfen. Mit der Formulierung quia rem taci
te suppresserat lässt er demzufolge die mit dem Brief des Nabarzanes
einhergehenden Umstände der in Curtius’ Darstellung von Alexan-
der selbst initiierten Überprüfung von Sisines’ Loyalität in einem
einzigen, zudem wenig aussagekräftigen Wort rem verschwinden und
Kommentar zu Buch II 679
nimmt mit dem passiven creditur Alexander aus dem Fokus einer bei
Curtius intendierten moralischen Kritik am makedonischen König.
Zudem hat Alexander bei Walter lediglich Kenntnis – non ignorante
tyranno – von der immerhin auch als ungerecht bezeichneten Hin-
richtung des Sisines, eine persönliche Beteiligung des makedoni-
schen Königs an diesem Geschehen ist dabei aber kaum zu erkennen
(zu Walters bewussten Abweichungen von Curtius vgl. Komm. III,
342–369; vgl. auch Komm. III, 370–407; vgl. auch Einleitung 3). Die
von Walter für Alexander gewählte Bezeichnung tyrannus hat dabei
nicht zwangsläufig eine pejorative Bedeutung und findet in der Ale
xandreis oft auch eine synonyme Verwendung mit rex. Noch im Satz
davor spricht Parmenion davon, dass an jenem Ort in dem engen Tal
die Heere beider Könige – acies utriusque tyranni – gleich stark sein
werden. Es ist kaum anzunehmen, dass Parmenion seinen eigenen
König in dieser Situation als Tyrannen bezeichnet (vgl. Alex. II, 267).
⇔ Damit versucht Walter in auffälliger Weise den noch immer inner-
halb seines heilsgeschichtlichen Auftrags agierenden makedonischen
König so weit wie möglich vor einer moralischen Kritik zu schützen,
die erst nach der Eroberung des Perserreichs deutlich vernehmbar
einsetzt und zuvor – wie der in Buch I geschilderte Besuch Alexan-
ders in Troja gezeigt hat – vom Autor der Alexandreis lediglich in
Vorverweisen auf die Zeit nach dem Perserkrieg zum Ausdruck ge-
bracht wird (zum Troja-Besuch Alexanders vgl. Komm. I, 468–492;
zur Funktion der Vorverweise in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4).
Walter einen Szenenwechsel hin zum Lager des Darius vor. Tymodes
rät dem persischen König zum Rückzug ins mesopotamische Hin-
terland, um eine Schlacht in den engen Tälern des Taurusgebirges
zu vermeiden. Zudem solle er den Schatz aufteilen und das Heer in
mehrere Truppenverbände untergliedern, um bei einem möglicher-
weise ungünstigen Verlauf der Schlacht noch eine Verstärkung in der
Hinterhand zu haben. Die ranghöchsten Perser, bei denen Tymodes’
Vorschlag auf deutliche Ablehnung stößt, bezichtigen die griechi-
schen Söldner des Verrats und machen Darius den Vorschlag, diese
zu töten. Der persische König zeigt sich jedoch äußerst wohlwollend
und entlässt die Söldner, nicht ohne den eigenen Leuten klarzuma-
chen, dass es schändlich wäre, verdiente Helfer wie Tymodes mit
dem Tod zu bestrafen. Darius entscheidet sich ungeachtet der Ver-
schonung der griechischen Söldner am Ende dennoch gegen deren
Rat und gibt den Befehl, die Schlacht in den Bergen zu führen. Den
größten Teil des Staatsschatzes lässt er nach Damaskus bringen, seine
Ehefrau, seine Kinder und seine Mutter bleiben jedoch im Lager. ⇔
Mit dieser Darstellung übernimmt Walter von Curtius zwar dessen
positive moralische Beurteilung des persischen Königs, setzt sie je-
doch nicht wie dieser in Beziehung zur Sisines-Episode. Damit ergibt
sich an der vorliegenden Stelle – ausgehend von der grundlegenden
Vorstellung Walters, dass die Tugenden des Darius nur überschattet
und nicht ausgelöscht sind – für den Autor der Alexandreis die güns-
tige Gelegenheit, dem persischen König jenseits einer vergleichenden
Charakterisierung mit Alexander die ihm angeborene Tugendhaftig-
keit zuzusprechen (vgl. Komm. II, 1–17).
372–387 Plura locuturo celeri pede nuncius affert … Quo ruitis, peri
tura manus? … forsitan ambigeret utrum minus esset honori: Darius
wird von einem Boten die Nachricht überbracht, dass das griechi-
sche Herr seine Stellungen in den Bergen überstürzt verlassen habe
und auf der Flucht durch unwegsames Gelände zum Meer hinab-
geprescht sei. Ohne den Wahrheitsgehalt dieser Nachricht zu prü-
fen, sieht Darius darin den Moment gekommen, das vermeintlich
in Auflösung begriffene Heer des makedonischen Königs zu stellen.
⇔ In einem Autorexkurs spricht Walter die Perser an und führt ih-
nen ihre Fehleinschätzung der Situation vor Augen, zu glauben, dass
ausgerechnet der bisher unbesiegte Alexander mit seinem kampfer-
probten Heer kopflos die Flucht ergreift. Walter verstärkt seine Aus-
sage noch, indem er mit einem Gedankenspiel deutlich macht, dass
für Alexander nicht nur eine Niederlage schmachvoll wäre, sondern
er auch einem unverdienten Sieg grundsätzlich nichts abgewinnen
könne. ⇔ Die von Walter mit Quo ruitis, peritura manus eingelei-
tete Passage wird ebenso wie das Motiv des strategischen Irrtums
nur wenige Jahre später in der Philippis Wilhelms des Bretonen
690 KOmmentar
des achten Buchs der Aeneis, indem er dieses durch die Einbettung
in den biblisch-heilsgeschichtlichen Kontext in den Dienst der in
terpretatio Christiana stellt. Ratkowitsch betrachtet Walters Be-
schreibung des Darius-Schildes und die darin verarbeitete christli-
che Deutungsperspektive im Sinne einer spezifisch mittelalterlichen
ekphrastic response auf das weltliche Imperium Romanum deshalb
auch nicht zu Unrecht geradezu als ein christliches Gegenstück zum
Aeneas-Schild Vergils (vgl. Ratkowitsch 1991, 145). ⇔ Auch in-
nerhalb der Schildbeschreibung weist Walter wie bereits im Kontext
von Darius’ Feldherrnrede auf die genealogische bzw. typologische
Verbindung der Perser mit dem Geschlecht der Giganten den Leser
mit aller Deutlichkeit auf den aus heilsgeschichtlicher Perspektive
vorab bereits feststehenden und für die Griechen günstigen Aus-
gang der Schlacht bei Issus hin (vgl. Alex. II, 498–499: Fulget origo
patrum Darii gentisque prophanus | ordo Gyganteae; zur allegori-
schen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn
des Epos vgl. Einleitung 7.2). ⇔ Um die aus christlicher Perspektive
bereits zum Ausdruck gebrachte Minderwertigkeit der Perser noch
weiter zu betonen, bedient sich Walter an dieser Stelle zudem einer
geschickt inszenierten praeteritio, indem er im Anschluss an den ers-
ten Teil seiner Schildbeschreibung die aus persischer Sicht durchaus
ruhmreichen Taten mit der Verwandlung Nebukadnezars in einen
Ochsen und dessen Ermordung durch den eigenen Sohn auch die
Schandflecke der persischen Geschichte erwähnt, die auf dem Schild
selbstredend nicht abgebildet sind (die Geschichte um Nebukadne-
zar II. und dessen Sohn und Nachfolger Evilmerodach entstammt
in ihrer Ausführlichkeit allerdings nicht der Bibel, sondern findet
sich insbesondere in der Historia scholastica des Petrus Comestor,
vgl. Christensen 1905, 159, Anm. 1; vgl. auch Einleitung 3). ⇔
Im zweiten Teil seiner Schildbeschreibung kommt Walter mit der
Geschichte des letzten babylonischen Königs Belsazar, der im Jah-
re 539 v. Chr. von Cyrus am Euphrat vernichtend geschlagen und
nach dem Einzug der Perser in Babylon von einem seiner Statthal-
696 KOmmentar
ter getötet worden war, auf den Übergang vom babylonischen zum
persischen Reich zu sprechen (vgl. Streckenbach 1990, 211; über
die von Hieronymus in seinem Kommentar zum Buch Daniel fest-
gelegte Reihenfolge der Weltreiche vgl. Einleitung 7.2; zum Begriff
Weltreich vgl. auch Einleitung 7.2). ⇔ Mit der Bezeichnung vir de
siderii, der das umschlagende Schicksal des Belsazar in seinen Schrif-
ten niedergelegt hatte, ist dann auch der biblische Prophet Daniel
angesprochen, durch den die Abfolge der verschiedenen Weltreiche
angekündigt worden war (vgl. Daniel 9, 23, wo der Engel Gabriel
auf Daniel bezogen die Bezeichnung vir desideriorum verwendet
hat; vgl. Christensen 1905, 158, Anm. 2; zum Begriff Weltreich
vgl. Einleitung 7.2). ⇔ Zuletzt und sozusagen als Höhepunkt der
Schildbeschreibung geht Walter auf die auf dem äußeren Rand des
Schildes – aufgrund der nach außen zunehmenden Größe der Run-
dung stand dem Künstler dort auch der meiste Platz zur Verfügung
– dargestellte glanzvolle Herrschaft des persischen Königs Cyrus
ein, der mit seinem Sieg über Belsazar nicht nur die Herrschaft der
babylonischen Könige beendet hatte, sondern desweiteren auch den
lydischen König Croesus besiegen konnte. Croesus hatte zuvor das
Orakel von Delphi befragt, ob er das Perserreich angreifen solle und
hatte die Antwort erhalten, dass er mit einem derartigen Angriff ein
großes Reich zerstören werde. Croesus begann den Krieg gegen die
Perser im falschen Glauben, dass damit das persische Reich gemeint
sei, zerstörte so jedoch sein eigenes großes Reich. Der mit Cyrus in
Verbindung stehende Höhepunkt persischer Herrschaft in der Ver-
gangenheit und der daraus resultierende Stolz der Perser über die
Ablösung der babylonischen Herrschaft ist auch in der Feldherrnre-
de des Darius zu spüren, in der sich Alexanders Widersacher explizit
als zweiter Cyrus inszeniert (vgl. Komm. II, 325–371).
Kommentar zu Buch II 697
von Alexanders Besuch in der Oase Siwa zu erkennen, in der die bei
Curtius zum Ausdruck gebrachte Kritik an Alexanders Streben, als
Sohn Jupiters anerkannt werden zu wollen, an der entsprechenden
Stelle der Erzählung im Epos unerwähnt bleibt (vgl. Curt., Hist.
Alex. IV, 7, 8–9; vgl. auch Komm. III, 370–407). Insbesondere vor
dem Hintergrund, dass dieser Vorwurf der Maßlosigkeit nach dem
Perserkrieg auf der Erzählebene – angesprochen ist hierbei die Episo-
de um die in Buch VIII wiedergegebene Verschwörung des Philotas
– auch in der Alexandreis explizit zur Sprache gebracht und als wich-
tiger Grund für Alexanders Tod im Epos in Szene gesetzt wird, ist
diese Auslassung ein deutlicher Beleg für den Umstand, dass Walter
innerhalb des Perserkriegs alles vermeidet, was den makedonischen
König bezogen auf eine konkrete Situation der Erzählung moralisch
diskreditieren könnte (zur Philotas-Verschwörung vgl. Komm. VIII,
75–322; zu Walters bewussten Abweichungen von Curtius vgl. auch
Einleitung 3).
Anders verhält es sich bei dem als Vorverweis auf die Zeit nach
dem Perserkrieg gestalteten Moralexkurs, in welchem Walter den
auf der Erzählebene in Buch III noch ausgeblendeten Vorwurf an
Alexander, als Spross Jupiters gelten zu wollen, deutlich zur Spra-
che bringt und mit der Kritik an dessen fehlender Unterordnung
unter den christlichen Gott verbindet (vgl. Komm. III, 242–257; zur
Funktion der Vorverweise in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4; zur
Stellung des Moralexkurses innerhalb der Gesamtstruktur der Ale
xandreis vgl. Einleitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79).
Den Abschluss von Buch III bilden die Vorbereitungen zur letz-
ten großen Schlacht bei Gaugamela, die sich auf Seiten der Griechen
durch eine Mondfinsternis schwierig gestalten, da die griechischen
Soldaten durch das kosmische Ereignis in große Unruhe versetzt
werden. Erst durch den Einsatz der Seher gelingt es Alexander, seine
Soldaten zu beruhigen und sie für die kommende Schlacht zu moti-
vieren (vgl. Alex. III, 463–543).
Kommentar zu Buch III
Themenübersicht (1–10)
1–3 Iam fragor armorum, iam strages bellica vincit | clangorem li
tuum, subtexunt astra sagittae, | missiliumque frequens obnubilat
aera nimbus: Die gewaltigen Dimensionen des kriegerischen Auf-
einandertreffens werden von Walter wie schon bei der Ankunft des
griechischen Heeres in Kilikien und am Ende von Alexanders Feld-
herrnrede durch akustische Eindrücke verstärkt, die den Leser damit
sozusagen unmittelbar an der Schlacht teilhaben lassen (vgl. Alex. II,
100–102; vgl. auch Alex. II, 487–493). Zum selben Zweck bedient
sich Walter an dieser Stelle zudem eines optischen Eindrucks, indem
er davon berichtet, wie die auf beiden Seiten abgefeuerten Geschos-
se den Himmel verdunkeln.
Vorbereitungen zur Schlacht bei Issus betont Walter auch hier die
herausragende Schnelligkeit und die leidenschaftliche Entschlossen
heit Alexanders, der sich wie in der Aristoteles-Rede angemahnt
in vorderster Front und schneller als ein von einer Wurfmaschine
geworfener Stein – ocius emisso tormenti turbine saxo – auf den
persischen Feind stürzt (zu Alexanders Schnelligkeit vgl. Komm. I,
116–117; vgl. auch Komm. II, 91–102; vgl. auch Komm. II, 388–407;
vgl. auch Komm. III, 436–462; zur Vorbildfunktion des Feldherrn
in der Schlacht vgl. Komm. I, 128–132). Umgekehrt wird die Ge-
fährlichkeit der Perser von Walter kontrastierend relativiert, indem
er die persischen Fürsten mit ihren von Edelsteinen besetzten und
von Gold funkelnden Helmen wie bereits beim ersten Aufeinan-
dertreffen vor der Schlacht bei Issus als dem Luxus unterworfene
und eigentlich für den Kampf untaugliche Anführer stigmatisiert
(vgl. Alex. II, 389–391). Auch Darius verbreitet nur durch einen ihm
vorangetragenen Drachen, der mit seinem von Gold gleißenden Ra-
chen die Lüfte zu verschlingen scheint, Angst und Schrecken, sein
abwartendes und zögerliches Verhalten stellt im Widerspruch dazu
jedoch keine echte Bedrohung für die Griechen dar. Damit stempelt
Walter den persischen König wie schon bei dessen Charakterisie-
rung zu Beginn von Buch II auch an dieser Stelle schon vorab als
Verlierer in der gerade begonnenen Schlacht bei Issus ab (vgl. Alex.
II, 1–17; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum mora-
lischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Das Wort aurivomus
stellt einen Neologismus Walters dar, den er offenbar nach einer Ver-
gilstelle aus den Worten vomere und aureus geformt hat (vgl. Verg.,
Aen. X, 271: funditur et vastos umbo vomit aureus ignis; vgl. auch
Zwierlein 2004, 668; vgl. auch Glock 2000, 276–277).
beginnende Schlacht gegen die Perser (vgl. Alex. III, 26; vgl. auch
Zwierlein 2004, 613).
Darstellung Iollas nur kurze Zeit überdies ein weiteres Mal töten
(vgl. Alex. III, 116; vgl. auch Christensen 1905, 105). Dies wirft die
Frage auf, aus welchem Grund Walter diesen gleich zweimal sterben
lässt. Handelt es sich dabei lediglich um ein unbedeutendes Verse-
hen des Autors oder möglicherweise um eine unbewusste Phantasie
Walters, durch die Iollas als verabscheuungswürdiger Königsmörder
sinnbildlich gemäß der Offenbarung des Johannes im Voraus den
ihm zustehenden zweiten bzw. ewigen Tod findet, der eigentlich
im Endgericht von Gott als endzeitlichem Richter verhängt wird?
Wie auch immer dies zu bewerten ist, versetzt sich Walter darüber
hinaus mit dieser Inszenierung in die Lage, entsprechend der Vorga-
ben der Aristoteles-Rede hinsichtlich der Tugend der angemessenen
Zürnkraft den Perser Mazaeus in Anerkennung von dessen großer
Tapferkeit später zum Satrapen von Babylon zu ernennen (vgl. Alex.
VI, 345–347; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs
πρᾳότης bzw. des lateinischen Begriffs humilitas mit angemessener
Zürnkraft vgl. die Einführung zu Buch I). Dasselbe Verhalten legt
Alexander später gegenüber dem besiegten Inderkönig Porus an den
Tag, den er nicht nur verschont, sondern sogar in seinen Freundes-
kreis aufnimmt und zum Statthalter über ein vergrößertes Reich
macht (vgl. Komm. IX, 291–329; vgl. auch Gartner 2018, 51–53).
Somit ist dieser Zweikampf zwischen Iollas und Mazaeus in zwei-
facher Weise als Inszenierung Walters zu verstehen, die sowohl der
christlichen Intention des Autors als auch der antik-paganen Linie
der Aristoteles-Rede Rechnung trägt.
59–62 Antigoni iacet ense Phylax, Mida cuspide Ceni … iam viscera
rupta trahentem: Die Handlung setzt nicht unmittelbar wieder mit
Parmenion ein, sondern wird zuerst einmal mit den Zweikämpfen
der griechischen Kämpfer Antigonus, Coenus und Craterus fort-
gesetzt, die ihre persischen Widersacher Phylax, Mida und Amphi-
lochus ohne größere Probleme töten. ⇔ Wie Zwierlein (2004)
664–667 bemerkt, bedient sich Walter bei seiner Darstellung die-
ser Zweikämpfe der Figur der Regressio, indem er zunächst, wie im
Abschnitt zuvor zu sehen war, in gedrängter Form die Namen der
Kämpfer nennt, um dann, wie im vorliegenden Abschnitt erkenn-
Kommentar zu Buch III 713
schildert wird, der nach dem Verlust beider Hände dennoch seinen
heldenhaften Kampf fortsetzt, indem er mit seinem Körper die Ge-
schosse des Feindes abfängt und damit anderen Männern, darunter
seinem Zwillingsbruder, das Leben zu retten vermag (vgl. Luc.,
Phars. III, 609–626).
System der Septem artes liberales und insbesondere mit den das Qua-
drivium bildenden mathematischen Fächern – der Astronomie, der
Geometrie, der Musik und der Arithmetik – vertraut ist. Auch wenn
Walter an dieser Stelle die im Trivium angesiedelten sprachlichen
Künste – die Grammatik, die Rhetorik und die Dialektik – nicht
explizit nennt, müssen diese, wie Zoroas’ spätere Bemerkung über
die septemplicis arca sophiae zeigt, mitgedacht werden (vgl. Alex. III,
171). Den größten Teil dieser Beschreibung nimmt die Astronomie
ein, deren Kenntnis den Gelehrten in die Lage versetzt, Missernten
und fruchtbare Jahre ebenso wie den Lauf der Jahreszeiten anhand
der planetaren Konstellationen vorauszusehen. Mit der Quadratur
des Kreises, einem über Jahrhunderte ungeklärten Problem der Ma-
thematik, thematisiert Walter die Geometrie, mit der Frage, ob die
Musik die Harmonie der Sphären nachahmt, die Musik, und mit der
Berechnung der Stunden für den Umlauf der Planeten um die Son-
ne, die Arithmetik. ⇔ Da Zoroas in den Sternen seinen unmittelbar
bevorstehenden Tod herausgelesen hatte, fasst dieser im Vertrauen
auf die Unabänderlichkeit seines Schicksals den Entschluss, in der
gerade tobenden Schlacht von keinem Geringeren als von Alexander
selbst – a tanto cecidisse viro – getötet zu werden (vgl. Alex. III, 162).
⇔ Interessanterweise gibt Walter an dieser Stelle ohne jegliche kri-
tische Distanz ein Verständnis der Astrologie wieder, das von nicht
wenigen christlichen Autoritäten als fatalistische Horoskopie ab-
gelehnt und bekämpft wurde. Beispielsweise kritisiert Augustinus
diese Form der Astrologie heftig, da sie die menschliche Willensfrei-
heit negiere und dem Individuum die Verantwortung für sein eige-
nes Handeln abnehme. Ebenso differenziert Isidor zwischen einer
natürlichen, im Bereich der Naturwissenschaft anzusiedelnden und
einer ganz in Augustinus’ Sinne als Aberglauben zu charakterisie-
renden Astrologie. Auch Thomas v. Aquin sieht bei einer derartigen
divinatio superstitiosa den Teufel am Werk und meint sogar, diese
Form der Astrologie verbieten zu müssen (vgl. Lehmann 2016, 109).
⇔ Zoroas greift Alexander mit seinem Streitwagen an, durchbohrt
718 KOmmentar
bieten. Darius flieht ebenso wie seine von Walter als feige gebrand-
markten Krieger – pedes declinat et inter | degeneres profugosque legit
compendia saltus –, verletzt also zudem die in der Aristoteles-Rede
gemachten Vorgaben hinsichtlich der für einen Feldherrn zentralen
Tugend der Tapferkeit, nach welcher der Anführer stets als letzter
das Schlachtfeld verlassen soll, um diejenigen zu beschämen, die
bereits zuvor dem Kriegsschauplatz den Rücken zugewandt haben
(vgl. Komm. I, 84–91; vgl. auch Komm. III, 4–20). In derselben
Weise wird zu einem späteren Zeitpunkt Darius’ Entscheidung, den
von Walter mehrfach explizit als sklavisch bezeichneten Bessus in
ein hohes Amt zu berufen, als Grund für den Niedergang des per-
sischen Königs aufgezeigt (vgl. Alex. VII, 80–90). ⇔ Demnach ist
die Niederlage der Perser gegen die Griechen in ihrem Kern nicht
irgendeinem Zufall, dem Eingreifen der Götter oder dem fehlenden
Schlachtenglück geschuldet, sondern wird vom Autor der Alexan
dreis ganz bewusst als das Ergebnis der moralischen Unterlegenheit
der Perser und ihres Königs Darius in Szene gesetzt (zur tropologi-
schen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos
vgl. Einleitung 7.4).
242–257 Si perdurasset in illo | ille tenor, non est quo denigrare va
leret | crimine candentem tytulis infamia famam … minimumque
videtur | esse sibi cum sit inter mortalia summus: Nach der Schlacht
bei Issus und den unmittelbaren Folgen des griechischen Sieges
meldet sich Walter in einem als Vorverweis gestalteten Moralexkurs
zu Wort, mit dem er insbesondere aus christlicher Perspektive das
mit den Worten Persarum rebus adeptis explizit auf die Zeit nach
dem Perserkrieg bezogene Fehlverhalten Alexanders kritisch in den
Blick nimmt (vgl. Alex. III, 245; zur Funktion der Vorverweise in
der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). Kontrastierend zu dessen oben
Kommentar zu Buch III 727
sche Ebene (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der
Alexandreis vgl. Einleitung 5). Damit stellt Walter zum wiederhol-
ten Mal die Verbindung zu den moralischen Vorgaben der Aristote-
les-Rede her, die gemäß ihrem für die Alexandreis insgesamt gelten-
den Programmcharakter im weiteren Handlungsverlauf des Epos
insofern wirksam wird, als die Taten der Protagonisten ausnahmslos
immer nur dann von Erfolg gekrönt sind, wenn diese sich im Sin-
ne der aristotelischen Tugendlehre verhalten, sie umgekehrt jedoch
bei einem Verstoß gegen diese maßgebliche Tugendlehre auch die
negativen Konsequenzen ihrer Taten in Kauf nehmen müssen (zu
dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der
Aristoteles-Rede vgl. auch Einleitung 7.4).
Curt., Hist. Alex. IV, 4, 1–2: Hic rex fatigatus statuerat soluta ob
sidione Aegyptum petere. Quippe cum Asiam ingenti velocitate per
cucurrisset, circa muros unius urbis haerebat tot maximarum rerum
opportunitate dimissa). Insofern lässt sich die an der vorliegenden
Stelle von seiner historischen Vorlage abweichende Darstellung
Walters als noch häufiger zu beobachtender Versuch werten, die
Schattenseiten seines wichtigsten Protagonisten innerhalb des heils-
geschichtlich legitimierten Perserkriegs auszublenden und lediglich
Alexanders Tugendhaftigkeit auffällig in Szene zu setzen (zu Walters
bewussten Abweichungen von Curtius vgl. Einleitung 3).
288–329 Verum ubi longa dies afflictis civibus urbem … Nec mi
nus excidium coniunx Cithereius infert: Noch vor dem Beginn der
Kampfhandlungen schickt Alexander Gesandte in die Stadt, um
eine kampflose Übergabe zu erwirken. Die Tyrer ermorden die Ge-
sandten jedoch, was Walter mit deutlichen Worten als Verletzung
des Friedens und des Rechts der Völker brandmarkt. Mit diesem
frevelhaften Verhalten beschwören die Tyrer den Zorn des makedo-
nischen Königs herauf, der daraufhin den Befehl zur Zerstörung der
Stadt gibt (vgl. Alex. III, 294–302). ⇔ Auch wenn die Ermordung
der Gesandten und die völkerrechtliche Einordnung dieser schänd-
lichen Tat von Curtius vorgeprägt sind, versucht Walter Alexanders
Entscheidung zur Zerstörung der Stadt durch eine stilistisch auffäl-
lig gestaltete Rechtfertigung, nach der diejenigen keinen Anspruch
auf Gnade verdient haben, bei denen eine Gesandtschaft der Gnade
und des Friedens überhaupt keine Gnade fand, zusätzlich zu legiti-
mieren (vgl. Alex. III, 299–301: nec enim veniam meruere mereri, | in
quibus et veniae et pacis legatio nullam | invenit veniam). Wie schon
im Kontext der Einnahme von Damaskus durch Parmenion bedient
sich Walter auch an der vorliegenden Stelle eines Polyptotons, um
Kommentar zu Buch III 731
für die Erfindung der Schrift, die seinen Ausführungen folgend aus-
gehend von Phönizien großen Einfluss auf die griechische und latei-
nische Schrift ausgeübt hat. Darüber hinaus führt er den eigentlich
römischen Wiederaufbau der Stadt etwas eigenwillig auf das Vor-
handensein einer christlichen Gemeinde in apostolischer Zeit und
den rechten Glauben der dortigen Bewohner zurück. Auch die von
Walter ins Spiel gebrachte vermeintlich große Machtstellung von
Tyrus in späterer Zeit ist wohl eher dem zeitgenössischen Eindruck
geschuldet, nach dem die Stadt im Jahre 1124 durch den christlichen
König Balduin II. von den Arabern befreit und im Nachgang dieser
Ereignisse zum Sitz eines Erzbischofs mit dreizehn Bistümern wur-
de. ⇔ Streckenbach (1990) 215–216 stellt zudem die Bedeutung
von Tyrus als Festungsstadt im Zeitalter der Kreuzzüge und ihre
wichtige Funktion als Handelsstadt heraus (vgl. auch Wulfram
2000, 263, der Walters Abschweifung als deutliches Zeichen dafür
interpretiert, dass er sich an dieser Stelle als Christ und kreuzzugsbe-
geisterter Mensch des 12. Jahrhunderts zu erkennen geben möchte;
zu zeitgenössischen Bezügen innerhalb der Alexandreis vgl. Einlei-
tung 8).
Abweichungen von Curtius vgl. auch Einleitung 3). Mit der Auslas-
sung dieser Szene wird damit zum wiederholten Mal das grundsätz-
liche Bestreben des mittelalterlichen Autors erkennbar, seinen wich-
tigsten Protagonisten innerhalb des heilsgeschichtlich legitimierten
Perserkriegs von einer moralischen Kritik zu verschonen.
Der Abschnitt gibt auf der Erzählebene die auf beiden Seiten unter-
nommenen Vorbereitungen für die Schlacht bei Gaugamela und
die damit in Zusammenhang stehenden taktischen Manöver wie-
der. Walter streicht dabei insbesondere die ungeheueren Anstren-
gungen der Perser heraus, trotz der beiden bisherigen Niederlagen
am Granikus und bei Issus erneut ein gewaltiges Heer aufzubieten.
Narratologisch betrachtet setzt Walter in seiner Darstellung der Ge-
schehnisse unterschiedliche Schwerpunkte: Nach einer auktorialen
Bemerkung über das unabwendbare Gemetzel bei Gaugamela zu
Beginn lenkt er den Blick auf die durch historische und mytholo-
gische Vergleiche in Szene gesetzten gewaltigen Dimensionen des
persischen Heeres. Während Darius anfangs das Heft des Handelns
in die Hand zu nehmen scheint, bleibt Alexander in seinem Erstau-
738 KOmmentar
nen über die Größe des persischen Heeres zunächst nur die Rolle
des interessierten Beobachters. Erst im letzten Teil der Textpassage
ergreift Alexander ungeachtet der persischen Übermacht mit großer
Entschlusskraft und der ihm eigenen Schnelligkeit die Initiative und
treibt den persischen König bis in die Ebene von Gaugamela vor sich
her, um diesen nicht in die Weiten Asiens entkommen zu lassen.
Königs durch Darius selbst, der sich – sollte das Schicksal tatsäch-
lich das Ende der persischen Machtstellung bestimmt haben – kei-
nen besseren Nachfolger für die eigene Herrschaft vorstellen könne
(vgl. Komm. IV, 58–67). Auch die sich unmittelbar daran anschlie-
ßende, von den persischen Gesandten mit den Worten rex clemen
tissime eingeleitete Ansprache an Alexander, in der diese als Grund
für Darius’ Friedensangebot das von großer Güte und außerordent-
licher Milde geprägte Verhalten des makedonischen Königs anfüh-
ren, weist in dieselbe Richtung (vgl. Komm. IV, 68–92). Ebenso
nutzt Walter Alexanders schnellen und ausgezeichnet organisierten
Aufbruch aus dem Lager nach der Totenfeier für Stateira oder auch
dessen unmittelbar vor der Schlacht bei Gaugamela gehaltene Feld-
herrnrede – darin wird insbesondere auf die Vorbildfunktion eines
Anführers für die eigenen Soldaten hingewiesen – noch einmal zur
Inszenierung der Tapferkeit seines wichtigsten Protagonisten (vgl.
Komm. IV, 275–279; vgl. auch Komm. IV, 579–588; zur Vorbild
funktion eines Feldherrn als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit
vgl. auch Komm. I, 128–132; zur tropologischen Ebene der Alexan
dreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4).
In besonderem Maße berührt Walters Darstellung des makedo-
nischen Königs in Buch IV das für die gesamte Alexandreis gülti-
ge Verständnis wahren Ruhms (zur Unterscheidung von wahrem
und eitlem Ruhm in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.4).
Da sich der makedonische König mit der Schlacht bei Gaugamela
noch immer innerhalb des heilsgeschichtlich legitimierten Perser-
kriegs bewegt und dessen Streben nach Ruhm somit einem höhe-
ren Ziel dient, werden an dieser Stelle Alexanders diesbezügliche
Bemühungen nicht nur aus antik-paganer Sicht positiv konnotiert,
sondern finden auch aus christlicher Perspektive eine ausschließ-
lich positive Bewertung. So etwa stößt Parmenions Vorschlag, das
Friedensangebot des persischen Königs anzunehmen – Darius ist
nach der Niederlage bei Issus bereit, die Gebiete zwischen Helles-
pont und Euphrat an die Griechen abzutreten, Lösegeld für die
Einführung zu Buch IV 745
1–23 Luridus et piceo suffusus lumina fumo … cum regia decidit uxor
… regum fortissimus ille | et pius eversor … Custodem se esse … gloria
maior erat quam si violaret utrumque: Auf dem Weg nach Gauga-
mela verstirbt Darius’ Gattin Stateira. ⇔ Mit der aus drei Teilen
bestehenden Bemerkung, dass die persische Königin entweder aus
Sehnsucht nach ihrem Ehemann, dem Kummer über das am Boden
liegende persische Reich oder aus Erschöpfung gestorben sei, macht
Kommentar zu Buch IV 749
92–99 Natam | non sine dote offert Darius tibi … inter Frixei litoris
horam | Euphratenque … ter dena talentum | milia sunt precium ful
vo decocta metallo: Der persische Unterhändler macht Alexander das
Angebot, die Landschaften zwischen dem Hellespont und den Ge-
bieten westlich des Euphrat als Herrschaftsgebiet zu übernehmen
und damit den Krieg zu beenden. Zudem bietet er dem makedoni-
schen König Darius’ Tochter als Mitgift an. Ergänzend dazu sollen
Darius’ Mutter und beide Schwestern für ein Lösegeld von dreißig-
tausend Talenten Gold zu den Persern zurückkehren. Darius’ Sohn
könne als Bürge für den Frieden in griechischer Gefangenschaft
bleiben.
142–175 Hec ubi dicta, super responso consulis intro | legatos iubet ad
mitti Darioque referre | «Quod clementer» ait «feci quodque indole
dignum, | naturae tribuisse meae non eius honori … quos aditurus
erat colles et plana viarum: Alexander betont, dass seine gegenüber
Darius’ Familie an den Tag gelegte clementia nicht zweckorientiert –
etwa als Hinweis auf eine möglicherweise vorhandene Bereitschaft,
Frieden zu schließen – zu verstehen sei, sondern lediglich seinem
von Menschlichkeit und Anstand geprägten Wesen entspreche. ⇔
Damit unterstreicht Walter, wie schon in Alexanders Antwort an
Parmenion zuvor, die in diesem Kontext auf den Tugenden der cle
mentia und der pietas beruhende moralische Integrität des makedo-
nischen Königs. Genau das unterscheidet Alexander von Darius, der
Kommentar zu Buch IV 755
180–188 Nec solum reges et nomina gentis Achee | sed Genesis notat
historias, ab origine mundi | incipiens. Aderat confusis partibus yle |
et globus informis … quatuor … elementa … de tenebris primam videas
emergere lucem: Walter übergeht die auf dem Grabmal dargestellten
Szenen der griechischen Welt und beginnt sogleich mit der bibli-
schen Schöpfungsgeschichte. Mit dem aus dem Griechischen stam-
menden Begriff ὕλη oder genauer ὕλη πρώτη (materia prima) weist
Walter auf das innerhalb der aristotelischen Physik und Metaphysik
noch nicht bestimmbare erste Zugrundeliegende – hier mit dem Be-
griff Urmaterie wiedergegeben – hin, das erst im weiteren Verlauf
der Schöpfung durch die Scheidung der Elemente eine bestimmte
Form (μορφή) annimmt. Zu diesen beiden dann untrennbar mitei-
nander verbundenen Prinzipien von materia und forma tritt ergän-
zend die substantia (οὐσία) hinzu, welche diejenigen Eigenschaften
beschreibt, die bestimmte Dinge wesenhaft als unwandelbaren Kern
ihrer Existenz notwendig besitzen müssen. ⇔ Die Übersetzung von
globus informis muss deutlich machen, dass sich die mit informis
zum Ausdruck gebrachte Formlosigkeit nicht auf die äußere Form
der Kugel bezieht, sondern auf die innerhalb der kugelförmigen
Masse befindlichen ungeordneten, noch nicht geschiedenen und
demzufolge auch noch nicht unterscheidbaren Teilchen (vgl. Au-
gustinus’ Beschreibung der mit dem Begriff globosa moles bezeich-
neten kugelförmigen Masse zu Beginn der Schöpfung, Aug., De
Genesi ad litteram 1, 25, col. 255). ⇔ Mit den quatuor elementa be-
zeichnet Walter die aus der unförmigen Masse geschiedenen, unvoll-
kommenen und vergänglichen sublunaren Elemente Erde, Wasser,
Luft und Feuer. Im Unterschied dazu ist der auch als Äther bezeich-
nete masselose Bereich der sieben Planeten sowie die als achte Sphä-
re geltende Fixsternsphäre – die quinta essentia – vollkommen und
unvergänglich. ⇔ Am Ende des Abschnitts greift Walter zudem
Kommentar zu Buch IV 759
194 Inde Cain profugus bigami non effugit arcum: Mit bigamus ist
Lamech, der Vater Noahs und einer der vor der Sintflut lebenden
760 KOmmentar
Die zehn Plagen Gottes; Auszug der Kinder Israels aus Ägypten;
Untergang des Pharaos (208–210)
208–210 Hic dolet Egyptus … et puro livescit pontus in auro: Gott be-
legte Ägypten mit zehn Plagen, die zum Auszug der Kinder Israels
unter Moses führten. Vom Grund des Meeres aus schimmerten die
goldenen Wagen der Ägypter, die bei der Verfolgung der Israeliten
von den wieder zusammenschlagenden Wassermassen verschlungen
worden waren.
Ruth (221–222)
225–230 De Beniamin exit | qui regat Hebreos, sed enim quia disso
nat eius | principio finis … inque acie belli cum prole cadente tyran
no, | regia desertos dampnat maledictio montes: Aus dem Stamm
Benjamins ging Saul als erster König Israels hervor. Ihm gelang es,
Kommentar zu Buch IV 765
258–259 Hic signum dat Achaz. «Ecce» inquit filius Amos | «virgo
concipiet.»: Der Prophet Jesaja, des Amos Sohn, verkündete Ahas,
dem König von Juda, Marias jungfräuliche Empfängnis.
770 KOmmentar
272 Hic sedet in tenebris privatus luce Tobias: Obwohl König Sanhe-
rib von Assyrien dem alten Tobias die Bestattung von Hingerichte-
ten verboten hatte, widersetzte er sich dieser Anordnung, weil er der
Meinung war, Gott mehr fürchten zu müssen als den König. Tobias
wird in der Bibel damit als Beispiel unerschütterlichen Gottvertrau-
ens beschrieben, der auch dann, als er durch den Kot einer Schwalbe
erblindete, nicht an Gott zu zweifeln begann.
274 totaque picturae series finitur in Esdra: Das Buch Esra bildet
zusammen mit dem Buch Nehemia eine Einheit, sowohl in der he-
bräischen Überlieferung als auch in der griechischen Septuaginta.
Die heute übliche Trennung beider Bücher geht auf die lateinische
Vulgata zurück. Walter nennt keine konkrete Szene, dürfte sich aber
774 KOmmentar
301–327 Sed quia iam fessus emenso Cinthius orbe | obtenebrans fa
ciem ne funera tanta videret, | emerito mergi certabat in equore curru
… Que cuncta viro, si credere fas est, | incussere metum … Non alio Ti
phis curarum fluctuat estu … Non secus, ut vidit tot milibus arva pre
mentes | barbaricos instare globos, iam credere fas est | magnanimum
timuisse ducem: Um die Schlacht bei Gaugamela semantisch aufzu-
laden, inszeniert Walter zu Beginn dieses Abschnitts in einer antiken
Vorbildern nachempfundenen Szene den Sonnengott Phoebus als
mitempfindende Gottheit, die vom irdischen Geschehen unmittel-
bar berührt wird (vgl. Zwierlein 2004, 660). Der Sonnengott, der
seine tägliche Bahn bereits durchmessen hat, übereilt sich, mit sei-
nem Sonnenwagen im Meer zu versinken, um ein so großes Sterben
nicht miterleben zu müssen (vgl. Alex. IV, 302: obtenebrans faciem
ne funera tanta videret). ⇔ Der von Walter inszenierte beschleu-
nigte Untergang der Sonne am Abend findet seine Entsprechung
bei Lucan, wo die Sonne am Morgen der Schlacht bei Pharsalus
ihren Aufgang zu verzögern versucht und ihr Antlitz hinter Wol-
ken verbirgt, um das Geschehen nicht – wie Walter benutzt auch
Lucan in seiner Darstellung einen verneinten Finalsatz – sozusagen
mit eigenen Augen miterleben zu müssen (vgl. Luc. Phars. VII, 6:
Kommentar zu Buch IV 777
327–349 Vocat ergo quirites, | seu dubiae mentis quid agat seu verius ut
sic | experiatur eos que sint tractanda requirens … Hos inter Polipercon
nocte fruendum | asserit et positum Grais in nocte tryumphum: Alexan-
der beruft eine Versammlung mit seinen Generälen ein, um über das
weitere Vorgehen zu beraten. Indem sich Alexander mit seinen engsten
Vertrauten bespricht, steht das Streben nach einer von der Vernunft
geleiteten Entscheidung – ganz im Sinne der aristotelische Tugend-
lehre – im Vordergrund. Walter geht sogar so weit, dass er es für wahr-
scheinlicher hält, dass Alexander – von Walter bezeichnenderweise
als magnanimus dux angesprochen – schon unmittelbar nach seiner
angsterfüllten Vision für sich bereits eine vernünftige Entscheidung
getroffen hat und er seine Generäle eher einer Prüfung unterziehen
möchte, als dass er tatsächlich ihrer Hilfe bedarf. ⇔ Mit einer Vielzahl
teilweise durchaus nachvollziehbarer Argumente versucht Parmenion
seinen König davon zu überzeugen, dass ein nächtlicher Angriff zu
bevorzugen sei. Damit baut Walter den alten General ein weiteres Mal
zum Gegenspieler Alexanders auf, der ein derartiges Vorgehen – wie
im Folgenden noch zu sehen sein wird – aus spezifischen Gründen
ablehnt (vgl. Komm. IV, 109–130). Polypercon, ein weiterer General
Alexanders, vertritt wie Parmenion die Meinung, dass ein nächtlicher
Angriff vorzuziehen sei. Polypercon dient damit sozusagen als Puffer
zwischen Parmenion und Alexander, der seinen wichtigsten General
mit seiner nun folgenden Antwort nicht schon wieder vor aller Augen
demütigen will (vgl. Komm. IV, 131–141).
401–432 Insula multifidi quam Tibridis alveus ambit | est ipso re
verenda loco, que vendicat orbis | imperiique caput, quadris ubi freta
columpnis | stat sita sub clivo lunaris in aere motus | regia reginae
cuius Victoria nomen … et musica | circum instrumenta sonant nume
ros aptante camena: Die ungewöhnliche Lokalisierung des Tempels
der Victoria auf der Tiberinsel in Rom – einen Tempel der Sieges-
göttin gab es in Rom seit 294 n. Chr. eigentlich am Clivus Victoriae
auf dem Palatin – steht möglicherweise damit in Zusammenhang,
dass Walter die Absicht verfolgt, eine Szene aus der Aeneis Vergils zu
imitieren, in der Aeneas in der Nacht vor der Schlacht gegen die Ru-
tuler ebenso wie Alexander von Sorgen gequält im Halbschlaf An-
weisungen des römischen Flussgottes Tiberinus erhält, die ihn von
seinen Grübeleien befreien und ihn in einen tiefen Schlaf sinken las-
Kommentar zu Buch IV 781
sen (vgl. Verg., Aen. VIII, 18–65; vgl. auch Zwierlein 2004, 658–
659). ⇔ Zugleich lässt sich hinter dieser geschickt inszenierten Imi
tatio Walters aber auch ein aemulativer Ansatz vermuten, der darin
besteht, die Schlacht bei Gaugamela in eschatologischer Hinsicht als
das gegenüber dem Krieg gegen die Rutuler weltgeschichtlich sehr
viel bedeutendere Ereignis herauszustellen (vgl. Komm. I, 502–538;
zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6). ⇔
Möglicherweise steht darüber hinaus auch die Intention Walters im
Raum, die Tiberinsel zusammen mit dem Tempel der Victoria und
den darin auch negativ beschriebenen Gestalten wie der rastlosen
Ambitio oder der barbarischen Pecunia stellvertretend für Rom als
religiösen Mittelpunkt der mittelalterlichen Welt zu kennzeichnen
und im Sinne eines zeitgenössischen Bezugs eine satirische Kritik an
der römischen Kurie zu üben (vgl. Ratkowitsch 1996, 97–131, v.a.
124–131; zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. auch Einleitung 8).
⇔ Ein klassisches Vorbild für die Beschreibung des Tempels selbst
und der sich darin aufhaltenden Gestalten stellt etwa Vergils Un-
terweltsbeschreibung dar, in der verschiedene Personifikationen von
Lastern zu finden sind (vgl. Verg., Aen. VI, 274–281). Beispielswei-
se haben in der Aeneis am Eingang zur Unterwelt die Gram (Luctus)
und die rächenden Sorgen (Ultrices Curae) ihr Lager aufgeschlagen,
während bei Walter die allzu geschäftige Mutter der Sorgen, die
rastlose Ambitio, den Eingang zum Tempel bewacht (vgl. Alex. IV,
408–410). Aber auch Ovids Schilderung des Hauses der Fama, die
Invektive gegen Rufinus bei Claudian oder die Thebais des Statius
dürften mit ihren Schilderungen der personifizierten Laster für Wal-
ters Darstellung des Tempels der Göttin Victoria Pate gestanden ha-
ben (vgl. Zwierlein 2004, 657; vgl. Ov., Met. 12, 59–61; vgl. auch
Claud., In Ruf. I, 27–40; vgl. auch Stat., Theb. 10, 84–92). ⇔ Die
Personifikationen der letzten drei Gestalten bei Walter – Applausus,
Favor und Risus – sind männlich und passen damit eigentlich nicht
so recht zu den insgesamt als sorores bezeichneten Begleiterinnen
der Göttin Victoria (vgl. Alex. IV, 427–430). Wie Streckenbach
782 KOmmentar
(1990) 227 bemerkt, hat der Autor der Glosse im Codex Vindo-
bonensis dies offenbar als so störend empfunden, dass er die ver-
schiedenen Gestalten in Schwestern und Brüder eingeteilt hat (vgl.
Colker 1978, 425). Man kann diese Problematik im Deutschen
aber auch – wie im vorliegenden Band geschehen – damit umgehen,
indem man einfach von Geschwistern spricht. ⇔ Ungewöhnlich ist
zugegebenermaßen auch, dass eben diese Schmeichler der eigent-
lich unsterblichen Göttin Victoria ein langes Leben wünschen (vgl.
Alex. IV, 430–431). Ratkowitsch (1996) 129 wertet dies nach-
vollziehbar als Beleg dafür, dass die Göttin Victoria in ihrem Palast
im Sinne eines zeitgenössischen Bezugs den Papst in seinem Prunk
symbolisiert und Walter damit ein weiteres Mal die päpstliche Kurie
in Rom kritisieren möchte (zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl.
Einleitung 8).
Statius ebenfalls auf Bitten von Juno die thebanischen Wachen ein,
damit die Argiver das thebanische Heer leichter besiegen können
(vgl. Ov., Met. XI, 583–588; vgl. auch Stat., Theb. X, 84–92). Die
von Walter verwendete Formulierung desidis atria Somni ist dabei
eine wörtliche Übernahme aus Statius (vgl. Stat., Theb. X, 87: it
vacuum in montem, qua desidis atria Somni). Das eindrucksvolle
und von Walter benutzte Bild, nach dem sich der Schlafgott erst von
sich selbst abschütteln muss, stammt ursprünglich von Ovid (vgl.
Ov., Met. XI, 618–621). Die Auswirkungen des Schlafgottes auf die
Sterne, die bei Walter bei der Berührung mit Somnus einschlafen
und nicht mehr ihre gewohnten Bahnen ziehen, zeigen motivisch
eine gewisse Ähnlichkeit mit der Schilderung bei Statius (vgl. Stat.,
Theb. X, 141–145: ceciderunt sidera caelo; vgl. auch Zwierlein 2004,
656–659).
498–525 Dixit et armari lituo precone Pelasgos | imperat. Ipse suis ap
tat munimina membris. | Erea crure tenus serpens descendit ad imos |
squama pedes … spes sana resuscitat egrum | agmen, et in vultu victo
ria visa sedere: Die Schilderung über das Anlegen der Rüstung Alex-
anders ist von Curtius vorgeprägt, der den entsprechenden Vorgang
mit nur wenigen Worten abhandelt. Zudem informiert er den Leser,
dass Alexander diese nur selten anlege und dies vor der Schlacht bei
Gaugamela auch eher auf Anraten seiner Freunde mache als aus
Furcht, sich schutzlos der Gefahr auszusetzen (vgl. Curt., Hist. IV,
13, 25: munimento corporis sumpto). ⇔ Ganz anders Walters Darstel-
lung, der diese Szene zu einer detailreichen Rüstungsbeschreibung
ausweitet, die in ihrer Funktion die oben angesprochene, von Aris-
toteles eingeforderte Motivationskunst des makedonischen Königs
aufnimmt und unterstreicht (vgl. Komm. IV, 472–497). Die durch
die beeindruckende Rüstung hervorgerufene Ausstrahlung Alexan-
ders, der sich zudem beherzt auf sein Pferd Bukephalus schwingt
sowie dessen außerordentliche Entschlossenheit werden von Walter
ebenso explizit angeführt, wie die beim Anblick ihres beeindru-
786 KOmmentar
Verständnis wahren Ruhms vgl. Komm. IV, 350–373; vgl. auch die
Einführung zu Buch IV; vgl. auch Einleitung 7.4). Auch mit diesem
Verhalten erfüllt Alexander eine zentrale Vorgabe der aristotelischen
Tugendlehre (vgl. Komm. III, 215–220).
C 8–10 Ecce vir illustris et non inglorius illa | precedente acie, stipatus
prole virili, | Mazeus regem Babilonis menibus infert: Walter hebt
wie schon im Kontext der Schlacht bei Issus die herausragende Tap
ferkeit des Persers Mazaeus hervor, der zur Freude Alexanders in-
zwischen eingesehen hat, dass weiterer Widerstand zwecklos ist und
dem makedonischen König die Tore Babylons öffnet (vgl. Komm.
V, 456–490).
als er mit dem Hinweis auf die überbordende Prunksucht der Perser
die Feinde Alexanders auch dort schon vor der eigentlichen Schlacht
im Voraus als Verlierer abgestempelt hatte (vgl. Komm. III, 4–10).
Überdies werden die an dieser Stelle im antik-paganen Kontext auf
den Monat bezogenen Angaben zum Zeitpunkt der letzten großen
Schlacht im zweiten Teil des Abschnitts durch die biblischen Aus-
sagen zum Jahr dieser Auseinandersetzung ergänzt. Denn insbe-
sondere mit dem auf Alexander bezogenen hyrcus verweist Walter
im Rahmen der Lehre von den vier Weltreichen auf die von Daniel
prophezeite Ablösung des Perserreichs durch Alexander (zum Be-
griff Weltreich vgl. Einleitung 7.2). Auch durch die Epithetisierung
Alexanders mit den aus dem biblischen Kontext stammenden Be-
griffen wie ultio divina und luem Medis Persisque verdeutlicht
Walter dem mittelalterlichen Leser, dass Alexanders Sieg über das
Perserreich dem von Daniel prophezeiten göttlichen Heilsplan ent-
spricht und demzufolge der Ausgang der letzten großen Schlacht
bereits feststeht (zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum
heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2; zur Bedeu-
tung der biblisch konnotierten Epithetisierung Alexanders in der
Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.2).
26–31 Ille per insertos invictus et inpiger enses … hic eques, ille pe
des, Egyptius hic, Syrus ille: Mit der Darstellung eines unbesiegten
und rastlosen makedonischen Königs, der als eiserner Hammer die
feindlichen Linien zerschmettert, zeigt Walter wie schon zuvor den
gerade im Kontext der letzten entscheidenden Schlacht in besonde-
rer Weise in Szene gesetzten Zusammenhang zwischen Alexanders
Wirken und der christlichen Heilsgeschichte auf (vgl. Alex. V, 28:
ferreus armatos contundens malleus artus; zur allegorischen Ebene
der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl.
Einleitung 7.2). Dabei erinnert Walters Darstellung, die von zahlrei-
chen christlich konnotierten Epitheta geprägt ist, an Hieronymus’
Worte im Kommentar zum Buch Daniel, wonach für Alexanders
Erfolge weniger dessen Tapferkeit als vielmehr der Wille Gottes aus-
schlaggebend gewesen sei (vgl. Hier., Comm. in Dan. lib., VII, col.
530: Et potestas data est ei, non Alexandri fortitudinis, sed Domini
voluntatis fuisse; zur Bedeutung der biblisch konnotierten Epitheti-
sierung Alexanders in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.2). ⇔ Unter
stilistischen Gesichtspunkten bedient sich Walter an der vorliegen-
den Stelle wie schon im Kontext der Schlacht bei Issus ein weiteres
Mal der von Vergil und Statius her bekannten Figur der Regressio,
indem er mit Eliphaz und Pharos nicht nur die Namen der von
Alexander getöteten persischen Kämpfer nennt, sondern auch de-
ren Abstammung, die von Alexander jeweils benutzte Waffe, deren
Abteilung innerhalb des persischen Heeres und deren Herkunft er-
wähnt (vgl. Komm. III, 59–62).
32–37 Sicca prius sterilisque diu iam flumine fusi … Enos quia fude
rat ense | Hesifilum, Caynan quia Laomedonta securi: Die Schlacht
802 KOmmentar
tobt und auf beiden Seiten sind Verluste zu beklagen. Walter unter-
streicht den hohen Blutzoll in dieser Schlacht mit einem Bild, nach
dem der völlig vertrocknete und unfruchtbare Boden des Schlacht-
felds nun durch das Blut der Gefallenen durchfeuchtet wird. ⇔
Philotas rächt sich für die Ermordung des Hesifilus und des Laome-
don an den Persern Enos und Caynan.
ters episch in Szene zu setzen. Von Lucan übernimmt er dabei die an-
fängliche Erstarrung des Vaters, der im Kontext der Belagerung von
Massilia in einer Seeschlacht beim Anblick seines sterbenden Sohnes
Argos ebenso wie Mecha in Walters Schilderung – von unsäglichem
Schmerz übermannt – noch nicht einmal in der Lage ist, Tränen
der Trauer zu vergießen (vgl. Luc., Phars. III, 733–735: Pervenit ad
puppim spirantesque invenit artus. | Non lacrimae cecidere genis, non
pectora tundit, | disentis toto riguit sed corpore palmis). Auch wenn
im Unterschied zu Walters Darstellung der Schmerz in Lucans Ver-
sen an dieser Stelle noch keine explizite Erwähnung findet, wird er
nur wenig später nachgereicht, indem der antike Dichter davon be-
richtet, dass sich der grausame Schmerz des Vaters noch steigert, als
er aus seiner anfänglichen Erstarrung erwacht (vgl. Luc., Phars. III,
741–742: viresque cruentus | coepit habere dolor). Indem Walter für
seine eigene Darstellung zudem die Verse Lucans mit entsprechen-
den Szenen aus der Aeneis und der Thebais miteinander verknüpft,
ist der Autor der Alexandreis über die bloße Imitation hinaus in der
Lage, seine Intention noch deutlicher herauszuarbeiten. Denn mit
dem nach wie vor im Kontext unterdrückter Trauer verwendeten
Verb sorbere lenkt Walter die Aufmerksamkeit des Lesers auf eine
vergleichbare Stelle bei Statius – dieser benutzt beinahe wortgleich
das Verb resorbere –, in der Lykurg ebenso wie Mecha nicht in der
Lage ist, Tränen über den Verlust des eigenen Sohnes zu vergießen
(vgl. Stat., Theb. V, 654–655: lacrimasque insana resorbet | ira pa
tris). In einer bemerkenswerten Kontrastimitation nennt Walter als
Grund für die Unterdrückung der Tränen jedoch nicht wie seine
antike Vorlage den Zorn, sondern ersetzt diesen in auffallender Wei-
se durch das Gefühl des Schmerzes (vgl. Alex. V, 96–97: dolor intus
obortas | sorbuerat lacrimas; zum produktionsästhetischen Ansatz
der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die
Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Doch Wal-
ter geht noch einen Schritt weiter. Als Mecha schließlich aus seiner
ersten Erstarrung herausfindet, verflucht er den Clitus und wünscht
Kommentar zu Buch V 807
105: «Tune duos,» inquit «tortor sevissime, fratres, | tune duos ante
ora patris mucrone vorasti). ⇔ Es ist davon auszugehen, dass Walter
mit der an dieser Stelle eingesetzten Kontrastimitation auch einen
aemulativen Ansatz gegenüber seinen antiken Vorbildern verfolgt,
die in den Augen des mittelalterlichen Autors mit dem Zorn ein we-
niger bedeutendes Gefühl zur Grundlage ihrer Darstellung gemacht
haben und demzufolge als weniger bedeutende Dichter hinter dem
Autor der Alexandreis zurückzustehen haben (zu Walters poetolo-
gischem Selbstverständnis vgl. auch Einleitung 6). ⇔ Ebenso wie
Priamus in der Aeneis wirft Mecha nach seiner Rede seinen Speer
kraftlos und ohne Wirkung zu erzielen, auf den Mörder seiner Söh-
ne. Beide Väter werden anschließend von ihrem jeweiligen Kontra-
henten getötet.
zum Ausdruck gebrachte geistige Klarheit und die von der Vernunft
getragene moralische Überlegenheit Nicanors stehen dabei in auffäl-
ligem Kontrast zu Statius’ Darstellung, der mit dem Attribut amens
Tydeus’ Verhalten eben gerade jenseits aller Vernunft als wahnsinnig
beschreibt. Damit lässt sich folgerichtig auch Walters Bezugnahme
auf Statius in die oben angesprochene Klimax einreihen, in der Ty-
deus mit seinem heldenhaften Kampf und seinem von ihm selbst
in Kauf genommenen Tod zwar Turnus und Scaeva an Tapferkeit
übertrifft, dem geistig gesunden und moralisch vorbildlichen Nica-
nor jedoch nachzustehen hat, da die näheren Umstände seines To-
des ein schlechtes Licht auf seine moralische Integrität werfen (zur
tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn
des Epos vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Auch hier begibt sich Walter auf
poetologischer Ebene wie im Abschnitt zuvor in aemulativer Ab-
sicht in den dichterischen Wettstreit mit den von ihm kontrastiv
verwendeten antiken Epikern, die er über eine subtile Inszenierung
der jeweiligen Protagonisten zu übertreffen sucht (zu Walters poeto-
logischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6).
255–282 Sic fatus in armis | se locat … Iam victoris fragor aures | pul
sabat Darii, iamque irrumpebat in ipsos | consortes lateris funestae
turbo procellae: Alexander nimmt den Kampf ungeachtet der Rat-
schläge Bellonas wieder auf und versucht seiner ursprünglichen Ab-
sicht folgend zu Darius vorzudringen. ⇔ In weiteren Zweikämpfen
bedient sich Walter erneut der Figur der Regressio, indem er mit
Kommentar zu Buch V 819
Afer und Lysias zuerst die Namen der persischen Kämpfer nennt,
im Anschluss daran deren Herkunft thematisiert, dann mit Cra-
terus und Amintas die griechischen Gegner hinzunimmt, um ab-
schließend auf die Waffen einzugehen, mit denen die Perser zu Tode
gekommen sind (vgl. Komm. III, 59–62). ⇔ Weitere aus Sicht der
Griechen erfolgreich geführte Zweikämpfe – auch Polipercon, der
doch eigentlich lieber nachts gekämpft hätte, wird lobend erwähnt
– münden in der Feststellung Walters, dass der makedonische Kö-
nig, könnte er das außerordentliche Engagement seiner Männer se-
hen, Freude darüber empfände, so viele Kämpfer vom Schlag eines
Alexander zu haben. Joseph von Exeter wandelt in seinem auf der
Basis spätantiker Prosatexte von Dares Phrygius und Dictys Creten-
sis entstandenen und nur kurz nach der Alexandreis erschienenen
Epos De bello Troiano Walters Formulierung dahingehend ab, dass
er von so vielen Kämpfern vom Schlage Hectors berichtet, was als
weiterer Beleg für die außerordentliche Wirkungsmacht der Ale
xandreis schon kurz nach ihrem Erscheinen angeführt werden kann
(vgl. Jos. v. Ex., De bello Troiano IV, 33–34: Ut quot Priamidas, tot
iurent Hectoras esse | quot Troes, tot Marte pares tibi, Troile, dicant).
⇔ Die Szene endet mit der Feststellung Walters, dass die Griechen
bereits zu Darius’ Leibwachen vorgedrungen sind und der unmittel-
bare Kontakt zum persischen König nur noch eine Frage der Zeit ist.
319–349 Sed iam precipiti per saxa per invia saltu | transierat Licum
… Labuntur passim, lapsosque involvit hyatus | fluminis, et virides
stupuere cadavera Nymphae: Darius überquert auf seiner Flucht
vor Alexander den Lycus und überlegt, ob er die Brücke über den
Fluss abbrechen soll, um Alexander daran zu hindern, ihm weiter
zu folgen. Er entscheidet sich dazu, die Brücke nicht zu zerstören,
um seinen fliehenden Soldaten den Rückzug nicht zu versperren
(vgl. Alex. V, 321–329). ⇔ Walter rückt den persischen König an
dieser Stelle in ein äußerst positives Licht, indem er erwähnt, dass
für Darius mit Rücksicht auf seine Ehre die Rettung der eigenen
Leute wichtiger sei als für das eigene Schicksal Sorge zu tragen. Wal-
ters Darstellung ist ein weiterer Beleg für den schon mehrfach fest-
gestellten Sachverhalt, dass er dem persischen König jenseits einer
vergleichenden Charakterisierung mit Alexander bestimmte Tu-
Kommentar zu Buch V 823
tion aus dessen Feldherrnrede vor der Schlacht bei Issus, indem er
die Auffassung vertritt, dass ein Krieg nicht mit Gold, sondern mit
Eisen gewonnen werde (vgl. Alex. II, 457–460: Cernitis inbelles auro
fulgere catervas, | cernitis ut gemmis agmen muliebre choruscet: | Pre
tendit predae plus quam discriminis. Aurum | vincendum est ferro).
Auch die Erkenntnis, dass Königreiche nicht durch Schätze, son-
dern durch die Tapferkeit und die Tatkraft der Soldaten geschützt
werden, gibt eigentlich eher das in der Alexandreis vielfach wieder-
gegebene Tugendverständnis Alexanders wieder. Darius’ Einsicht
kommt – wie der weitere Verlauf der Ereignisse zeigen wird – zu
spät, zumal Alexander, sollte es die Situation erfordern, durchaus in
der Lage ist, aus taktischen Gründen auf die erbeuteten Schätze zu
verzichten und diese zu verbrennen (vgl. Komm. VIII, 49–74). ⇔
Ungeachtet dessen demonstriert Walter mit seiner Beschreibung des
persischen Königs aber auch, dass er diesem die Kriegstauglichkeit
nicht grundsätzlich abspricht, sondern jenseits einer Kontrastierung
mit Alexander immer wieder auch Darius’ tugendhaften Seiten in
den Blick zu rücken versteht (vgl. Komm. IV, 280–284; vgl. auch
Komm. V, 319–345). ⇔ Abschließend versucht Darius noch einmal
mit Beispielen aus der persischen Geschichte zu verdeutlichen, dass
der Krieg noch nicht verloren sei und das Schlachtenglück auch wie-
der die persische Seite begünstigen könne (vgl. Alex. V, 417–421).
geistert die heilige Taufe vom Bischof von Reims, Walters Gönner
Wilhelm von Blois, empfangen. Ebenso wäre dann auch der Makel
der Niederlage Karls des Großen in Spanien getilgt, der in der Nähe
von Roncevalles – so zumindest gemäß der Überlieferung durch das
altfranzösische Rolandslied – gegen die muslimischen Sarazenen
eine schwere Niederlage erlitten hatte (vgl. Komm. II, 306–318; zur
Stellung der zentralen Textstelle innerhalb der Gesamtstruktur der
Alexandreis vgl. Einleitung 7.3).
Einführung zu Buch VI
Nach dem am Ende des fünften Buchs geschilderten Einzug Ale-
xanders in Babylon weist Walter zu Beginn von Buch VI in einer
Apostrophe an die persische Hauptstadt – diese wird vom Autor
der Alexandreis kontrastierend zur Tugendhaftigkeit Alexanders als
Hort der schamlosen Ausschweifung und sittlichen Verwahrlosung
gebrandmarkt – mit der expliziten Erwähnung der prophetischen
Bücher der Bibel auf den Übergang der Herrschaft vom medisch-
persischen Reich (gemini cornua regni) auf das Reich Alexanders
(hyrcus) hin (vgl. Komm. VI, 1–15).
Nachdem Alexander Babylon nach nur vierunddreißig Tagen
wieder verlassen hat – der verderbliche Einfluss der persischen Met-
ropole auf die Griechen und ihren Anführer bleibt dabei nicht un-
erwähnt –, nimmt der siegreiche Feldherr eine durch den Sieg bei
Gaugamela notwendig gewordene Neuorganisation seines Heeres
vor (vgl. Komm. VI, 33–62). Im Kontext dieser Neuordnung hebt
Walter insbesondere Alexanders Tugendhaftigkeit hinsichtlich der
Tugend der Gerechtigkeit hervor, die den makedonischen König be-
fähigt, nach objektiven Maßstäben Belohnungen zu verteilen und
wichtige Positionen im Heer neu zu besetzen (zur Tugend der Ge
rechtigkeit innerhalb der Aristoteles-Rede vgl. Komm. I, 105–114).
Nachdem das griechische Heer durch Nachschub aus der Hei-
mat ergänzt werden konnte, bricht Alexander in das Gebiet der
Uxier auf, um auch den Widerstand des in den Bergen des Zāgros
östlich von Susa beheimateten Volkes zu brechen (vgl. Komm. VI,
63–144). Walter nutzt die Episode der Eroberung von Susa und
der Unterwerfung der Uxier, um dem kriegerischen Ereignis ent-
sprechend zum wiederholten Mal die Feldherrntugenden seines
wichtigsten Protagonisten in den Mittelpunkt der Betrachtung zu
rücken, die es diesem ermöglichen, auch den harten Kampf mit
Einführung zu Buch VI 833
Darius umgekehrt daran, dass er nicht in der Lage ist, die in der Aris-
toteles-Rede zur Sprache gebrachten Tugenden in praxi umzuset-
zen. Dies wird etwa in Darius’ Reaktion auf das vergiftete Angebot
des mit cruentum mancipium (grausamer Sklave) angesprochenen
Narbazanes deutlich, der seinem König den hinterlistigen Vorschlag
unterbreitet, die Lenkung des Reichs an Bessus zu übergeben. Da-
mit macht Walter deutlich, dass der persische König den großen
Fehler begangen hat, wichtige Positionen in seinem Heer mit schwa-
chen und charakterlich zweifelhaften Personen zu besetzen, die bei
der ersten Gelegenheit – die Aristoteles-Rede hatte genau davor ein-
dringlich gewarnt – ihre Loyalität dem eigenen König gegenüber
aufkündigen und rücksichtslos selbst nach der Macht greifen (vgl.
Komm. VI, 425–434; zur Aristoteles-Rede über Sklaven von Natur
aus vgl. Komm. I, 85–91). Mit derselben kritischen Distanz schildert
Walter das Verhalten des persischen Königs gegenüber seinen eige-
nen Soldaten, die er aufgrund seines offenkundigen Phlegmas und
seiner mangelnden Entschlossenheit nicht mehr zu motivieren ver-
mag (zur Überzeugungskraft als Teilbereich der Tugend der Tapfer
keit innerhalb der Aristoteles-Rede vgl. Komm. I, 118–127). Die Dar-
stellung eines überforderten und demoralisierten persischen Königs
gipfelt dabei in der Bemerkung des Autors der Alexandreis, dass die
Perser zu diesem Zeitpunkt eigentlich keinen richtigen Anführer
mehr besitzen (vgl. Komm. VI, 443–450).
Andererseits versäumt Walter es nicht, dem Leser in Kontrastie-
rung mit Narbazanes und Bessus auch Darius’ positiven Charakter-
eigenschaften vor Augen zu führen, wenn er das gütige Wesen des
persischen Königs hervorhebt, der den Verrätern nach ihrem Um-
sturzversuch noch einmal mit großer Nachsicht begegnet (vgl. Alex.
VI, 482–485: Sed nec tunc fraudis amicos | penituit sceleris cum certus
uterque videret | quam mitis naturae hominem regemque virum
que | falleret). Auch mit der Schilderung von Darius’ Weigerung,
gegen die Verräter in den eigenen Reihen entsprechende Maßnah-
men zu ergreifen, da er nicht selbst zum Verräter am eigenen Volk
Einführung zu Buch VI 835
Themenübersicht (1–11)
C 9–11 Sed eos innata simultas | acceptos reddit et credula pectora pla
cat, | nec fatum mutare valent decreta Patronis: Der im persischen
Heer treue Dienste leistende Grieche Patron warnt Darius vor den
Verschwörern Bessus und Narbazanes. Auch wenn Darius seinem
griechischen Söldner Glauben schenkt, kann er sich nicht dazu
durchringen, die beiden Verschwörer bloßzustellen und verhaften
zu lassen. Somit sind nach Walters Worten auch Patrons Hinwei-
se nicht in der Lage, den schicksalhaften Untergang der Perser und
ihres Königs aufzuhalten (vgl. Komm. VI, 490–552).
1–15 Ecce lues mundi, regum timor unicus, ecce | quem tociens pote
ras, Babilon, legisse futurum | eversorem Asiae, sacra quem predixe
rat hyrcum | pagina, quem gemini fracturum cornua regni … Aspice
quam blandis victos moderetur habenis. | Aspice quam clemens inter
tot prospera victor. | Aspice quam mitis dictet ius gentibus ut quos |
hostes in bellis habuit cognoscat in urbe | cives et bello quos vicit vin
cat amore: Walter spricht in einer Apostrophe die Stadt Babylon an
und macht ihr den Vorwurf, die prophetischen Bücher der Bibel
nicht gelesen zu haben, in denen der Sieg des Geißbocks (Alexan-
der) über den zweigehörnten Widder (das medisch-persische Reich)
angekündigt worden war. Neben dieser Einbettung von Alexanders
Sieg in den Kontext der biblischen Lehre von den vier Weltreichen
838 KOmmentar
16–32 Hos tamen a tenero scola quos inpresserat evo | ornatus animi
… ter deni tenuere dies et quatuor … desidis effrenum piger irrupisset
in hostem: Walter brandmarkt den negativen Einfluss der sündigen
Stadt Babylon auf die Moral der griechischen Soldaten und deren
Kommentar zu Buch VI 839
Die Eroberung von Susa und der Krieg gegen die Uxier (63–144)
81–102 Sed gravis accessus cum dura minetur acutis | cotibus et sa
xis succidi nescia tellus … et discent michi condescendere turres: In der
Schilderung der Schlacht gegen die Uxier setzt Walter den makedo-
nischen König zum wiederholten Mal als einen Anführer in Szene,
der als erster unter den ersten – inter primos … primus – gegen die
Mauern der Stadt zieht. Damit nimmt der Autor der Alexandreis
inhaltlich und auch sprachlich Bezug auf die Anweisungen der
Aristoteles-Rede hinsichtlich der Vorbildfunktion eines Feldherrn,
der stets in vorderster Linie dem Feind entgegentreten soll (vgl.
Komm. I, 128–132). ⇔ Neben den in den Abschnitten zuvor her-
ausgestellten Aspekten der Tugend der Tapferkeit verweist Walter
mit der Vorbildfunktion Alexanders auch auf den letzten Aspekt
dieser zentralen Feldherrntugend. Damit inszeniert Walter seinen
wichtigsten Protagonisten als einen hinsichtlich der Tugend der
Tapferkeit in allen Aspekten vorbildlichen und jederzeit handlungs-
844 KOmmentar
161–195 Vix bene purgato noctis caligine caelo … rapax ostendat Ara
xes | menia marmoreis paulo distantia ripis: Nach dem Sieg über
Ariobarzanes überquert Alexander auf einer eigens errichteten Brü-
cke den Araxes und eilt unverzüglich vor die Tore von Persepolis.
Mit dem auf Alexander bezogenen Begriff festinus hebt Walter an
dieser Stelle erneut die Schnelligkeit des makedonischen Königs her-
vor, mit der es diesem zum wiederholten Mal gelingt, seine Feinde zu
überraschen (zu Alexanders Schnelligkeit vgl. Komm. VI, 63–80; zur
Schnelligkeit als Teilaspekt der Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I,
116–117). ⇔ Alexander macht Persepolis dem Erdboden gleich, da es
sich dabei um jene königliche Residenz handelt, von der aus Xerxes
im Jahre 480 v. Chr. seinen gigantischen Feldzug gegen Griechen-
land begonnen hatte. Insbesondere die im Kontext der Perserkriege
von Xerxes bewusst in die Wege geleitete Zerstörung der Akropolis
war als unverzeihliche Freveltat im kollektiven Gedächtnis der Grie-
chen fest verankert, so dass die völlige Zerstörung von Persepolis an
dieser Stelle auch von Walter ganz im Sinne antik-paganer Vorstel-
lungen als gezielter und moralisch vertretbarer Racheakt der Grie-
chen gegenüber den Persern beschrieben wird (zum Charakter des
848 KOmmentar
höchst emotionale Art und Weise die Frage erörtert wird, ob die ver-
stümmelten Griechen in Asien bleiben oder das Angebot ihres An-
führers Alexander, in die Heimat zurückkehren zu dürfen, anneh-
men sollen. Damit unterscheidet sich die Darstellung des römischen
Historikers in ihrer überaus detailreichen und äußerst spannungs-
geladenen Ausgestaltung deutlich von der sonstigen Überlieferung,
die keinerlei Reden wiedergibt und überdies nur von achthundert
Gefangenen berichtet (vgl. Diod. Βιβ. ἱστ. XVII, 69, 2–9; vgl. auch
Iust. Epit. Hist. XI, 14). Abgesehen davon gestaltet Curtius seine
Darstellung leicht erkennbar gemäß der römischen Vorstellungs-
welt, wenn er Theteus sagen lässt, dass er ad penates et in patriam
zurückkehren wolle (vgl. Curt., Hist. Alex. V, 5, 20). Pausch
(2016) 87 stellt als Begründung für diese erweiterte Darstellung bei
Curtius einen interessanten Zusammenhang mit der im Jahre 20
v. Chr. erfolgten und in der römischen Literatur noch lange Zeit
kontrovers diskutierten Rückkehr der römischen Soldaten aus der
Kriegsgefangenschaft der Parther her und stellt diesbezüglich fest:
»Indem Curtius die römische Parallele als zusätzliche Folie aufruft,
erhöht er die emotionale Wirkung der ohnehin schon mit allen Mit-
teln der rhetorischen Kunst gestalteten Episode und eröffnet dem
Leser zugleich die Möglichkeit, bei der Abwägung der Frage, ob die
Entscheidung der befreiten Gefangenen, in Asien zu bleiben, richtig
war oder nicht, das konträre Schicksal der römischen Kriegsgefange-
nen in Betracht zu ziehen.« ⇔ Obgleich Walter hinsichtlich dieser
Episode im Wesentlichen seiner historischen Hauptquelle Curtius
folgt, gilt es für ein tieferes Verständnis der Stelle in der Alexandreis
ein besonderes Augenmerk auf einen wesentlichen Unterschied
in seiner Darstellung zu richten. Walter gibt nämlich das traurige
Schicksal der Griechen im Unterschied zu Curtius, der die Episode
noch vor den Kämpfen um Persepolis eingefügt hat, erst nach der
Eroberung der Stadt wieder. Vor dem Hintergrund der programma-
tischen Bedeutung der Aristoteles-Rede für die Alexandreis als Gan-
zes ist anzunehmen, dass Walter mit diesem Vorgehen dem Eindruck
850 KOmmentar
425–434 Hec ubi dicta, animo vix temperat ille benignus | et paciens
rector … eumque | haut mora vinciret, nudum nisi conderet ensem:
Der von Walter mit benignus et paciens rector überaus positiv dar-
gestellte persische König ist zu Recht aufgebracht und beschimpft
seinen Unterfeldherrn Bessus als grausamen Sklaven, der in einer an-
gespannten Situation wie nach der Niederlage in Gaugamela glaubt,
den geeigneten Moment gefunden zu haben, seinen König zu tö-
ten und sich selbst zum Herrscher über das persische Reich aufzu-
schwingen (vgl. Alex. VI, 425–429). Walter hebt dabei mit Darius’
eigenen Worten dessen schwerwiegenden Fehler hervor, eine sklave-
nhafte Natur wie Bessus mit einer bedeutenden Führungsposition
betraut zu haben, obwohl dieser dafür nicht die charakterlichen
Voraussetzungen mitbringt. Sehen solche depravierten Charakte-
re gemäß Walter nämlich die Möglichkeit, ihre eigenen Interessen
rücksichtslos durchzusetzen, verhalten sie sich – wie Aristoteles in
seiner Rede einst dem noch jugendlichen Alexander ans Herz gelegt
hatte – grimmiger als eine taube Natter (vgl. Alex. I, 90: in domi
num surgens, truculentior aspide surda; vgl. auch Komm. I, 85–91).
⇔ Insofern zeigt sich in dieser Situation erneut der Programmcha-
rakter der Aristoteles-Rede nicht nur für den makedonischen König
selbst, sondern letztlich für alle anderen innerhalb der Alexandreis
handelnden Personen (zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen
Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4).
858 KOmmentar
dem Autor der Alexandreis gelingt es, mit den Worten gloria Patro
nis zugleich auch einen Bezug zu seinem Gönner und Widmungs-
nehmer Wilhelm herzustellen. Indem das Wort Patronis innerhalb
des Hexameters in seiner letzten Silbe nämlich eine Positionslänge
aufweist – die Genitivendung -is- von Patronis im Singular des kon-
sonantisch deklinierten Namens Patron besteht für sich genommen
aus einer Kürze, weist Walter damit überaus sprachgewandt auf den
Dativ Plural des innerhalb der o-Deklination flektierten Substantivs
patronus hin. Demzufolge bezeichnet er mit gloria Patronis eben
nicht nur den ewigen Ruhm des Griechen Patron, sondern über-
trägt mit diesem sprachlichen Kunstgriff den Ruhm auch allgemein
auf alle Patrone und damit zugleich auch auf Wilhelm. ⇔ Die Wen-
dung Vivet cum vate superstes | gloria Patronis nullum moritura per
evum benutzt Walter in leicht abgewandelter Form ansonsten nur
noch zweimal in der Alexandreis (vgl. Alex. VII, 344–346: Te tamen,
o Dari, si que modo scribimus olim | sunt habitura fidem, Pompeio
Francia iuste | laudibus equabit; vgl. auch Alex. X, 468–469: vivet
cum vate superstes | gloria Guillermi nullum moritura per evum).
511–524 Iam reor eterno causarum secula nexu | non temere volvi … Si
salvum iam me esse mei, si vivere nolint, | iam sero pereo, iam mortem
ultroneus opto: Walter macht in Fortsetzung seines oben begonne-
nen Autorkommentars aus christlicher Sicht deutlich, dass das Wir-
ken Gottes die oberste Instanz für alle Geschehnisse auf Erden ist
und setzt diese für einen mittelalterlichen Autor nicht überraschen-
de Einsicht in Beziehung zu Darius, der länger hätte leben können,
wenn er auf Patrons Vorschlag eingegangen wäre. Damit stellt Wal-
ter implizit eine Verbindung zwischen der gerade geschilderten Si-
tuation und der Danielprophetie her, die bekanntlich die Ablösung
des Perserreichs durch Alexander vorsieht (vgl. Komm. VI, 1–15).
Kommentar zu Buch VI 863
nicht in der Lage, die verfahrene Situation zu lösen und ergibt sich
seinem Schicksal, indem er den offenen Konflikt mit den Verschwö-
rern vermeidet (zur Schicksalsergebenheit des Darius vgl. Komm.
VI, 297–310). ⇔ Auch wenn der Untergang des persischen Königs
innerhalb der christlichen Heilsgeschichte unvermeidbar ist, stellt
Walter dessen Scheitern damit zum wiederholten Mal auch in den
Kontext der aristotelischen Tugendlehre, nach der dessen Unfähig-
keit zu zürnen ein zu vermeidendes Laster darstellt und für einen
König in einer derartig schwierigen Situation nicht ohne Folgen
bleiben kann (zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs
πρᾳότης bzw. des lateinischen Begriffs humilitas mit angemessener
Zürnkraft vgl. die Einführung zu Buch I; zur Tugend der angemes
senen Zürnkraft in Bezug auf Darius vgl. Komm. III, 189–202; vgl.
auch Komm. I, 115).
Einführung zu Buch VII
Nachdem Darius am Ende des sechsten Buchs das Angebot des grie-
chischen Söldners Patron abgelehnt hat, ihm gegen die Verräter in
den eigenen Reihen beizustehen, geht Walter mit Beginn von Buch
VII auf den Fortgang der Verschwörung ein, die in der Festnahme
und der Verschleppung des persischen Königs ihren vorläufigen Hö-
hepunkt findet (vgl. Komm. VII, 1–90). Innerhalb dieser längeren
Passage zeigt Walter auf, dass das Scheitern des persischen Königs
zwar durch das Schicksal vorgezeichnet ist, dieser jedoch auch selbst
zum eigenen Unglück beiträgt, da er in Missachtung der aristoteli-
schen Tugend des angemessenen Stolzes einer fatalen Fehleinschät-
zung der eigenen Person unterliegt, wenn er der Ansicht ist, ohne
eigene Schuld zwischen den Feinden in den eigenen Reihen und der
äußeren Bedrohung durch die Griechen zerrieben zu werden und
er aufgrund seiner gerechten Herrschaft doch ein längeres Leben
verdient habe (vgl. Komm. VII, 17–58; zum Götterapparat und der
Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5; zur deut-
schen Übersetzung des griechischen Begriffs μεγαλοψυχία bzw. des
lateinischen Begriffs magnanimitas mit angemessener Stolz vgl. die
Einführung zu Buch I). Auch hier zeigt sich erneut der Programm-
charakter der Aristoteles-Rede für die Protagonisten des Epos, die
nur erfolgreich sein können, wenn sie den in der Aristoteles-Rede
zum Ausdruck gebrachten moralischen Handlungsaufforderungen
nachkommen, sie jedoch auch zum Scheitern verurteilt sind, wenn
sie diese nicht erfüllen können (zu dem für die gesamte Alexandreis
gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. auch Einlei-
tung 7.4; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum mo-
ralischen Sinn des Epos vgl. auch Einleitung 7.4).
Im Unterschied zu Darius wird Alexander auch im vorliegenden
Buch aufgrund seiner Charakterfestigkeit im Hinblick auf eben diese
866 KOmmentar
17–58 Et tamen hec secum: «Quos me, pater impie divum, | distrahis
in casus? … Numquid adhuc sanguis, numquid michi dextera, num
quid | ensis ut hanc dubitem fatis absolvere vitam?: Der persische Kö-
nig beginnt seinen inneren Monolog mit der vorwurfsvollen Frage
an den Göttervater, für welches Vergehen oder Verbrechen ihn das
Schicksal eigentlich zu vernichten gedenke. Von inneren Feinden
umringt werde er von Verrätern mit dem Tod bedroht, ohne dass
er sich irgendeiner Schuld bewusst sei. In der Folge stellt Darius
sein gerechtes Vorgehen gegenüber seinen Untergebenen und den
besiegten Völkern heraus, für das er in seinen Augen ein längeres
Leben verdient habe. Abschließend kommt er voller Resignation
auf das Schicksal zu sprechen, das ihm in seiner Unabänderlichkeit
nur noch die Möglichkeit gebe, den Tod mit eigener Hand herbei-
zuführen. ⇔ Es fällt auf, dass der persische König in seinen Aus-
führungen gleich zwei Missverständnissen aufsitzt. Zum einen hat
– zieht man die Anweisungen der Aristoteles-Rede zu Rate – ein
moralisch einwandfreies Verhalten nicht notwendigerweise Auswir-
kungen auf die Dauer der irdischen Existenz, sondern zieht ledig-
lich ewigen Ruhm nach sich (vgl. Alex. I, 182–183: Si sic | vixeris,
eternum extendes in secula nomen; vgl. auch Komm. I, 182–183).
Zum anderen schätzt er seine eigene moralische Integrität falsch ein,
wenn er zwar zu Recht seine Verdienste im Bereich der Tugend der
Gerechtigkeit hervorhebt, kein einziges Wort jedoch über sein im-
mer wieder wenig tugendhaftes Verhalten hinsichtlich der als zen
trale Feldherrntugend geltenden Tapferkeit verliert (vgl. Komm. III,
189–202; vgl. auch Komm. I, 116–143). Damit missachtet Darius die
aristotelischen Vorgaben hinsichtlich der Tugend des angemessenen
Stolzes, der den Gegenstandsbereich des richtigen Umgangs mit der
Ehre umfasst und die erstrebenswerte Mitte zwischen den Lastern
der Eitelkeit und der Kleinmütigkeit einnimmt (zur deutschen
Übersetzung des griechischen Begriffs μεγαλοψυχία bzw. des lateini-
Kommentar zu Buch VII 873
59–90 Sic ait, et gelido terebrasset viscera ferro … Quis tuto ducere vi
tam | sub servo poterit domini sitiente cruorem?: Darius ist noch nicht
874 KOmmentar
einmal in der Lage, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Ebenso
fehlt seinen Gefolgsleuten der Mut und die Entschlossenheit, sich
gegen die Verschwörer durchzusetzen, da sie in ihrer mangelnden
Tugendhaftigkeit den eigenen Tod mehr fürchten als die Schande,
ihren König im Stich gelassen zu haben. Folglich lassen Bessus und
Narbazanes Darius in Fesseln legen, plündern den Hausrat des Kö-
nigs und verschleppen ihn schließlich. ⇔ Walter nutzt die Gelegen-
heit dieses entscheidenden Umbruchs im Lager der Perser zu einer
Klage über das wankelmütige Schicksal, das dem ehemals gefeierten
persischen König endgültig seine Gunst entzieht und ihm ein we-
nig rühmliches Ende bereitet (zum Götterapparat und der Rolle
des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5; vgl. auch Komm.
II, 186–200; vgl. auch die Einführung zu Buch II). ⇔ Erneut lässt
Walter keinen Zweifel darüber aufkommen, dass der tiefere Grund
für diese Verschwörung im moralisch minderwertigen Charakter
der Rädelsführer liegt, die ohne zu zögern ihrem König die Gefolg-
schaft aufkündigen, sobald sich ihnen eine günstige Gelegenheit
dazu bietet. Mit den Worten truculentior aspide nimmt Walter dabei
nicht zufällig Bezug auf die Aristoteles-Rede, in welcher der Stagirit
seinen Schüler Alexander nahezu wortgleich vor der Beförderung
charakterlich weniger befähigter Personen in höhere Positionen ge-
warnt hatte (vgl. Alex. VII, 82; vgl. auch Alex. I, 90: in dominum
surgens, truculentior aspide surda; vgl. auch Komm. I, 85–91; zu
dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der
Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Insofern gibt Walter dem
persischen König auch eine gewisse Mitschuld an der für ihn aus-
weglosen Situation, da er bei der Besetzung der wichtigsten Posten
im Heer zu wenig auf die moralische Integrität seines Führungs-
personals geachtet hatte. ⇔ Am Ende des Abschnitts führt Walter
den Verschwörern mit mehreren rhetorischen Fragen deutlich vor
Augen, dass ihr frevelhaftes Unterfangen ungeachtet ihres momen-
tanen Erfolgs dennoch zum Scheitern verurteilt ist, da niemand be-
Kommentar zu Buch VII 875
eigenen Männer, die ihm nach dem Leben trachteten (vgl. Alex. VII,
270–272: regalem animum victis vultumque serenum | exhibuit victor
hostique fidelior hostis | quam noti civesque mei). Als letzten Wunsch
richtet Darius an Alexander die Bitte, an seinen Mördern verdiente
Rache zu nehmen und ermahnt ihn zudem, dabei auch im eigenen
Interesse Gerechtigkeit walten zu lassen (vgl. Alex. VII, 278–279: His
precor a iusto reddatur principe talis | talio pro meritis, qualem patrici
da meretur; vgl. auch Alex. VII, 287–289: Quam si distulerit vel forte
remissius equo | egerit, illustris minuetur opinio regis | decolor et fame
multum diversa priori). Darüber hinaus warnt er seinen ehemaligen
Widersacher, auch als gütiger König auf der Hut vor Verrätern in den
eigenen Reihen zu sein – möglicherweise ein dezenter Hinweis Wal-
ters auf die in Buch VIII geschilderte Verschwörung des Philotas (vgl.
Alex. VII, 290–291: Adde quod a simili debet sibi peste cavere | rex pius
et subiti vitare pericula casus). Zuletzt erkennt Darius in der Stunde
seines Todes den Herrschaftsanspruch Alexanders – von Walter ent-
sprechend mit einem raumgreifenden und über den ganzen Vers ge-
spannten Hyperbaton stilistisch glänzend umgesetzt – über die gan-
ze Welt an (vgl. Alex. VII, 296: totus Alexandro famuletur subditus
orbis). Zudem runden zwei weitere, mit dem Herrschaftsbereich und
dem Namen Alexanders spielende Hyperbata in Verbindung mit
zwei etymologischen Figuren das Bild des nach Darius’ Tod konkur-
renzlos herrschenden makedonischen Königs ab (vgl. Alex. VII, 297:
Magnus et in magno dominetur maximus orbe). Mit seinem letzten
Atemzug bittet Darius diesen um eine gebührende Bestattung, bis
er schließlich den Tod findet. ⇔ Auch wenn Walter in den Grund-
zügen der Darstellung seiner historischen Hauptquelle Curtius folgt,
betont er noch stärker als der römische Historiker die über die gesam-
te Zeit des Perserkriegs hin wirksame Tugendhaftigkeit Alexanders.
Gerade weil das Tugendlob aus dem Munde des besiegten und im
Sterben liegenden persischen Königs kommt, entfaltet die Lobprei-
sung ihre besondere Wirkung auf den mittelalterlichen Leser und
verleiht der Darstellung damit zusätzliche Glaubwürdigkeit. Es ist
Kommentar zu Buch VII 883
Moralexkurs (306–343)
308–310: que maneant manes decurso tempore iustos | premia, que re
quies, et quam contraria iustis | impius exspectet; vgl. auch Komm. X,
433–454; vgl. auch Thomas v. Aquin, Summa Theologiae, IIIª q.
86 a. 4 co: Ex parte igitur aversionis ab incommutabili bono, consequi
tur peccatum mortale reatus poenae aeternae, ut qui contra aeternum
bonum peccavit, in aeternum puniatur). ⇔ Neben weit verbreiteten
und stets zu beklagenden Sünden wie denjenigen der Habgier, der
Wollust, der Völlerei und der Trunksucht prangert Walter als Aus-
druck seiner zeitgenössischen Kritik auch die unter moralischen Ge-
sichtspunkten katastrophalen Verhältnisse innerhalb der römischen
Kurie seiner Zeit und die damalige Spaltung der christlichen Kirche
an. Insbesondere der vielerorts praktizierte und mit dem Begriff der
Simonie bezeichnete Ämterkauf, den er bereits in seinen moralisch-
satirischen Gedichten einer herben Kritik unterzogen hatte, muss
dem Autor der Alexandreis ein besonders schmerzhafter Dorn im
Auge gewesen sein (vgl. Alex. VII, 317–318: Non adeo ambirent cat
hedrae venalis honorem | Symonis heredes; non incentiva malorum |
pollueret sacras funesta Pecunia sedes; vgl. auch Mor.-sat. Ged. 9, str.
11: Evangelizantium sordidantur pedes, | set nil credunt sordidum
Simonis heredes; | Alienas vacuant, suas implent edes, | in tribunal
vertitur pastoralis sedes). ⇔ Wenn Walter darüber hinaus den Ge-
stank der Habsucht innerhalb der römischen Kurie und die damit
einhergehende Bestechlichkeit der Richter geißelt, entwirft er das
abstoßende Bild einer innerlich zutiefst zerrütteten Kirche, die
ihren moralischen Kompass verloren hat und einer dringenden Er-
neuerung bedarf (vgl. Alex. VII, 326–327: Non lucri regnaret odor;
pervertere formam | iudicii nollet corruptus munere iudex). Auf ganz
ähnliche Weise hatte Walter auch diese von der Umkehrung des
Rechts gekennzeichneten Zustände und die in ihrer Habsucht per-
vertierten Kleriker schon in seinen moralisch-satirischen Gedichten
schonungslos an den Pranger gestellt (vgl. Walter v. Châtillon,
Mor.-sat. Ged. 5, str. 5 und 9: In primis pontifices et prelatos noto, |
nam iste grex hominum canone remoto | totus est in poculis, totus lucri
Kommentar zu Buch VII 885
voto | estuat et vite disconvenit ordine toto [...] Roma solvit nuptias
contra nutum dei, | pervertit iudicium, fovet partem rei; vgl. auch
Tilliette 2008, 265–278). Mit der Formulierung et vite disconve
nit ordine toto bedient sich Walter dabei einer Stelle aus den Episteln
des Horaz, in der sich die Seele mit sich selbst im Widerstreit be-
findet, nicht mehr ein und aus weiß und entzweit mit der Ordnung
des Lebens ihre innere Einheit nicht mehr herzustellen vermag (vgl.
Hor. epist. 1, 1, 99). Auch in der Alexandreis nimmt Walter gerade
in Fragen der praktischen Lebensführung und der ethisch-morali-
schen Gestaltung der irdischen Existenz des Menschen an zahlrei-
chen Stellen Bezug auf diesen augusteischen Dichter, der unter den
Gelehrten im Frankreich des 12. Jahrhunderts gerade in moralischen
Fragen eine ausnehmend hohe Autorität genoss (zur Etablierung
des antiken Dichters Horaz als moralische Autorität im Kontext
christlicher Tugendvorstellungen in der Alexandreis vgl. Wirtz
2018, 81–99). ⇔ Überdies verurteilt Walter die Ambitionen junger
Kleriker, die ungeachtet ihrer edlen Abstammung noch vor ihrem
zur Charakterbildung geeigneten Studium und nur durch die Ein-
flussnahme ihrer verdienstreichen Eltern das Amt eines Bischofs an-
streben (vgl. Alex. VII, 320–323: Non aspiraret, licet indole clarus,
aviti | sanguinis inpubes ad pontificale cacumen | donec eum mores,
studiorum fructus, et etas | eligerent, merito non suffragante paren
tum). Als historischen Hintergrund für die an dieser Stelle wohl
kaum als allgemeine Bemerkung zu verstehende Einlassung Walters
vermutet Christensen (1905) 7–8, Anm. 2 die unter Tumulten
abgehaltene Wahl des Bischofs von Angers im Jahre 1102, der un-
geachtet seiner Abstammung aus dem berühmten Geschlecht der
Grafen von Martigny aufgrund seiner Jugend und noch fehlender
Weihen von zahlreichen Bischöfen seiner Zeit entschieden bekämpft
worden war. Doch Walter geht mit seinen kritischen Äußerungen
noch deutlich weiter. Auch das von zahlreichen Konflikten gepräg-
te Verhältnis zwischen der weltlichen und geistlichen Macht findet
seine offenkundige Missbilligung, wenn er von Neid getriebene Kar-
886 KOmmentar
in der Geschichte als letzten Vertreter einer Dynastie, die durch Ale-
xander beendet wird.« Dabei ist es im Kontext dieser Darstellung
wichtig zu verstehen, dass der Prozess der Bedeutungszuschreibung
lediglich zwischen dem auktorialen Erzähler und den mittelalterli-
chen Rezipienten stattfindet, da Alexander – obgleich Stifter und
Auftraggeber des Darius-Grabmals – vom Wissen über den Beginn
des von Daniel prophezeiten dritten Weltreichs ausgeschlossen ist
(vgl. Velte 2021, 104; zum Begriff Weltreich vgl. Einleitung 7.2).
tiv lediglich als peinliche Mésalliance dar, die für den antiken Histo-
riker ausschließlich in Alexanders unkontrollierter libido begründet
liegt. Überdies stellt Alexander in Curtius’ Darstellung einen Selbst-
vergleich mit Achilles an, um diese Heirat vor seiner Führungsrie-
ge zu rechtfertigen, der vom antiken Autor in auffälliger Weise zur
ironischen Negativstilisierung Alexanders genutzt wird (vgl. Curt.,
Hist. Alex. VIII, 4, 22–30). Offenbar hat Walter mit der Auslassung
dieser langwierigen und beinahe misslungenen Eroberung von Sog-
dien der maßgeblichen Intention seines Epos folgend – der zeitge-
nössischen Suche nach einem alexanderhaften christlichen Anfüh-
rer im Kampf gegen die muslimischen Feinde – wie an zahlreichen
anderen Stellen der Alexandreis auch kein Interesse daran, den
makedonischen König noch innerhalb des heilsgeschichtlich legiti-
mierten Perserkriegs auf der Erzählebene des Epos einer moralischen
Kritik zu unterziehen (zu Walters bewussten Abweichungen von
Curtius vgl. Einleitung 3; zur tropologischen Ebene der Alexandreis
bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Gerade
vor dem Hintergrund von Forschungsansätzen, die in Alexanders
Darstellung bei Walter bereits innerhalb des heilsgeschichtlich legi-
timierten Perserkriegs eine kritische Distanzierung des Autors der
Alexandreis von seinem wichtigsten Protagonisten wahrnehmen
wollen und dabei die Ansicht vertreten, Walter inszeniere den ma-
kedonischen König bewusst als homerischen Helden, um sich kri-
tisch von diesem als einem verantwortungslosen Herrscher absetzen
zu können, ist es doch äußerst bemerkenswert, dass Walter auch an
dieser Stelle nicht einmal ansatzweise die für diese Interpretation
günstige Gelegenheit nutzt, Alexander in Anlehnung an seine histo-
rische Hauptquelle als in Bezug auf seine militärischen Fähigkeiten
limitierten und moralisch wenig nachahmenswerten Feldherrn und
König zu diskreditieren (zur moralischen Beurteilung Alexanders in
der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4).
Diese Erkenntnis lässt sich auch anhand der von Walter über den
gesamten Perserkrieg aufgespannten Struktur stützen, innerhalb
900 KOmmentar
und die weitere Verfolgung von Darius’ Mörder Bessus. Nach Ale-
xanders Anklagerede versucht Parmenions Sohn, sich in Abwesen-
heit seines Königs zu verteidigen, kann die versammelten Griechen
jedoch nicht von seiner Unschuld überzeugen. Unter der Folter ge-
steht er, als Drahtzieher zusammen mit einigen anderen Männern
Alexanders Ermordung geplant zu haben, wofür er schließlich auch
hingerichtet wird. ⇔ Mit der Philotas-Verschwörung beginnt Wal-
ter erstmals in der Alexandreis punktuell auch die in Alexanders
Maßlosigkeit begründeten Schattenseiten seines wichtigsten Pro
tagonisten innerhalb der eigentlichen epischen Erzählung näher zu
beleuchten, die während des heilsgeschichtlich legitimierten Perser-
kriegs bisher lediglich in Vorverweisen und Ausblicken auf die Zeit
nach dem Perserkrieg – vom epischen Geschehen mehr oder minder
deutlich abgegrenzt – eingebettet waren. Im Philotas-Prozess wird
von Walter dabei aus christlicher Sicht insbesondere Alexanders
verwerfliches Streben nach Gottgleichheit angeprangert, aber auch
aus antik-paganer Perspektive sein gegenüber dem Angeklagten mit-
unter fragwürdiges persönliches Verhalten einer kritischen Betrach-
tung unterzogen (vgl. Komm. VIII, 75–322).
tur orbis: Nach dem Sieg über Hyrkanien als letzter der von Walter
geschilderten persischen Satrapien und der damit einhergehenden
Erfüllung seines christlichen Heilsauftrags greift Alexander mit dem
bis zu diesem Zeitpunkt noch unbesiegten nomadischen Reitervolk
der Skythen erstmals auch ein Volk an, das nicht mehr zum gerade
von Alexander eroberten Herrschaftsbereich der Perser gehört. Mit
der Unterwerfung der Skythen finden die im Kontext der Philotas-
Verschwörung bereits punktuell zur Sprache gebrachten kritischen
Töne hinsichtlich Alexanders Maßlosigkeit ihre deutlich vernehm-
bare und ausführliche Fortsetzung. Zentraler Vorwurf ist dabei
neben der grenzenlosen Eroberungswut des makedonischen Königs
erneut dessen Streben nach Gottgleichheit, der über die Rede eines
skythischen Barbaren an ihn herangetragen wird und ihm die Mah-
nung zukommen lässt, den Bogen nicht zu überspannen und das
rechte Maß nicht zu verlieren. Freilich bleiben die Worte des Bar-
baren ohne Wirkung auf Alexander, so dass auch das vormals unbe-
siegte Skythenreich in dessen Machtbereich eingegliedert wird (vgl.
Komm. VIII, 358–495).
manumissos esse per ignem; vgl. auch Curt. Hist. Alex. VI, 6, 17: lae
tabantur sarcinarum potius quam disciplinae fecisse iacturam). ⇔
Die Episode um die vernunftgeleitete Vernichtung der persischen
Kriegsbeute macht deutlich, dass ungeachtet der Tatsache, dass sich
Alexander nach der Eroberung von Hyrkanien inzwischen außer-
halb des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs bewegt und
sich somit im weiteren Verlauf seines Eroberungszuges auch immer
wieder vornehmlich christlich motivierten moralischen Vorwürfen
vonseiten des Autors der Alexandreis ausgesetzt sehen wird, den-
noch aus antik-paganem Blickwinkel weiterhin immer wieder auch
positive moralische Bewertungen erfährt, da es Walter nicht um eine
generelle Kritik an der charakterlichen Disposition seines wichtigs-
ten Protagonisten geht, sondern lediglich um die aus christlicher
Sicht modifizierte Darstellung Alexanders im weiteren Verlauf sei-
ner Eroberungen (vgl. Gartner 2018, 79–80).
335–357 Sex ubi consumpti post tristia fata Phylotae | preteriere dies,
propero rapit agmina cursu | in Bessum Macedo … Qui dum con
scendere temptat, | labitur; imperium dum querit et imperat, in se |
regreditur, domini ponens insignia servus: Nachdem das Todesurteil
an Philotas vollstreckt worden ist, greift Alexander sein ursprüng-
liches Vorhaben wieder auf und rückt gegen Bessus vor. ⇔ Walter
betont dabei zum wiederholten Mal in der Alexandreis Alexanders
Schnelligkeit und dessen ausgeprägte Fähigkeit, auch unter schwie-
rigen äußeren Bedingungen seine Ziele konsequent zu verfolgen (zu
Alexanders Schnelligkeit als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit
924 KOmmentar
vgl. Komm. I, 116–117; vgl. auch Komm. II, 75–90; vgl. auch Komm.
II, 388–407). ⇔ Mit der Epithetisierung Alexanders als Schicksals-
hammer der Welt – fatalis malleus orbis – führt Walter dem Leser
noch einmal die positiv verstandene Unerbittlichkeit des makedo-
nischen Königs vor Augen, mit der er seine persischen Feinde zu
beeindrucken vermag, die ihm aus Angst vor einem weiteren Vor-
rücken der griechischen Armee den als unversöhnliches Scheusal
bezeichneten Bessus ausliefern, ohne dass es überhaupt zu einer
militärischen Auseinandersetzung kommt (vgl. Alex. VII, 424; zur
Bedeutung der biblisch konnotierten Epithetisierung Alexanders in
der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.2). Alexander richtet in aller
Kürze noch das Wort an Bessus und führt diesem dabei den Wahn-
sinn und die Verwerflichkeit des Verbrechens vor Augen, einen so
bedeutenden König wie Darius aus Herrschsucht in Fesseln gelegt
und ermordet zu haben. Mit Alexanders Worten diskreditiert Walter
den persischen Gefangenen in moralischer Hinsicht und legitimiert
damit die grausame und als legitimen Racheakt in Szene gesetzte
Hinrichtung des Bessus durch Darius’ Bruder, der sich seit einiger
Zeit als Alexanders Leibwächter im griechischen Heer befindet. ⇔
Mit dem auf Alexander bezogenen Begriff terrarum eversor verweist
Walter dabei rückblickend auf die Zeit des Perserkriegs, in welchem
Alexander nicht eine einzige Niederlage hinnehmen musste und da-
mit letztlich auch Darius’ Ende besiegelt hat (vgl. Alex. VIII, 349).
⇔ Am Ende des Abschnitts nimmt Walter den im Kommentar-
punkt zuvor schon beschriebenen Gedanken vom Rad der Fortuna
noch einmal auf und weist in diesem Zusammenhang erneut auf
den in aristotelischem Sinne sklavenhaften Charakter des Bessus hin
(vgl. Alex. I, 90: in dominum surgens, truculentior aspide surda; vgl.
auch Komm. VI, 59–90).
Kommentar zu Buch VIII 925
schnitt der Rede bringt der Anführer der Skythen seine Empörung
zum Ausdruck, dass Alexander sich anschickt, seinen Eroberungs-
zug über den Tanais hinaus ausdehnen zu wollen, obwohl sein Volk
selbst niemals die Absicht hatte, gegen Makedonien in den Krieg zu
ziehen. Zudem äußert er den Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden
und nicht weiter über Alexander nachdenken zu müssen, um wei-
terhin ein in jeglicher Hinsicht genügsames und glückliches Leben
führen zu können. Kontrastierend zu diesem Lebensmodell macht
er deutlich, dass ein Begehren über ein bescheidenes und genügsa-
mes Leben hinaus das rechte Maß und die Grenze menschlichen
Glücks überschreite (vgl. Alex. VIII, 414–415: Igitur si quid quesi
veris ultra, | excedunt tua vota modum finemque beati). Diese Be-
schreibung der auf Ackerbau und Viehzucht ausgerichteten ausge-
sprochen genügsamen Lebensweise der Skythen wird zum einen als
alternatives Lebensmodell kontrastierend zu Alexanders maßlosem
Vorgehen in Szene gesetzt, ist mit der Erwähnung der verschiedenen
Waffen der Skythen zum anderen aber auch als Warnung an Alex-
ander zu verstehen, die kriegerische Auseinandersetzung mit ihnen
überhaupt erst gar nicht zu suchen (vgl. Alex. VIII, 416–421). Da-
rüber hinaus versucht der Anführer der Skythen seinem makedo-
nischen Widersacher ganz grundsätzlich vor Augen zu führen, dass
die menschliche Habgier nicht durch den Erwerb immer weiterer
Besitztümer gestillt, sondern dadurch ganz im Gegenteil nur immer
weiter angeheizt werde (vgl. Alex. VIII, 422–431). Zudem riskiere er
mit seinen weitreichenden Eroberungen immer neue Kriege, da die
eroberten Völker bald nach ihrer Niederlage erneut Widerstand leis-
ten würden. Im Folgenden wird die zu Beginn des Abschnitts bereits
angedeutete Wehrhaftigkeit des skythischen Volks näher ausgeführt.
Neben ihrer Unbestechlichkeit gegenüber allen Verlockungen wie
Reichtum oder Macht betont der Anführer der Skythen insbeson-
dere ihre Schnelligkeit – eigentlich eine noch im Perserkrieg stets
mit Alexander in Verbindung gebrachte Eigenschaft –, mit der sie
im feindlichen Lager auftauchen, ihre Feinde in die Flucht schlagen
930 KOmmentar
9–34 India tota fere nascenti subdita Phebo | Eoum spectat audaci
vertice tractum … Rubentis | purgamenta freti que parvi ponderis in
se | sola sibi fecit hominum preciosa libido: Die geographischen Be-
schreibungen von Indien gehen im Wesentlichen auf die Angaben
bei Curtius zurück (vgl. Christensen 1905, 118, Anm. 1). Erzähl-
technisch bildet der Exkurs über die Geographie Indiens vergleich-
bar dem Asienexkurs in Buch I eine auch als retardierendes Element
zu verstehende Überleitung zwischen der in Buch VIII geschilder-
ten Eroberung Skythiens und der mit dem Sieg über den Inderkönig
Porus einhergehenden Inbesitznahme Indiens (vgl. Komm. I, 396–
426). Wie eine Glosse in dem aus dem 13. Jahrhundert stammenden
Codex Vindobonensis bemerkt, lässt es sich Walter mit dem Hin-
weis auf den ungeheueren Reichtum dieses Erdteils und das in den
dortigen Flüssen gefundene Gold sowie die vom Indischen Ozean
angespülten Perlen auch hier nicht nehmen, im Sinne einer zeitge-
nössischen Kritik die Habgier seiner eigenen Zeit an den Pranger zu
942 KOmmentar
stellen (vgl. Alex. IX, 26–28: aurum | illa fluenta vehunt gemmasque
et cetera que sunt |ulterius solito nostris preciosa diebus; vgl. auch Cod.
Vind. 568: Hic autor reprehendit nimiam avariciam modernorum,
qui nimium appetunt aurum et argentum; vgl. auch Colker 1978,
468; zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Einleitung 8). ⇔ Am
Ende des Abschnitts nimmt Walter diesen Gedanken noch einmal
auf, indem er die menschliche Gier dafür verantwortlich macht,
dass im Grunde genommen wertlose Dinge wie Perlen von den
Menschen für kostbar gehalten werden (vgl. Alex. IX, 32–34: riden
tes gemmas emptura, Rubentis | purgamenta freti que parvi ponderis
in se | sola sibi fecit hominum preciosa libido).
35–70 Ergo ubi Pelleum prolem Iovis omnia mundi | regna flagel
lantem Macedum virtute … qui tela simillima nimbo | in medium
spargens facta statione cupita | de facili poterat naves avertere ripa:
Als Alexander Indien erreicht, ergeben sich die meisten der dortigen
Fürsten dem makedonischen König kampflos und überreichen die-
sem in Anerkennung seiner Macht und als Zeichen ihrer Unterwer-
fung zahlreiche Geschenke. ⇔ Walter zeichnet dabei ein überaus
differenziertes Bild Alexanders, indem er zum einen zwar die Tap
ferkeit der Griechen und ihres Anführers positiv herausstellt, ihn
zum anderen mit der Bezeichnung als Jupiters Sproß und als Gott
jedoch auch einer deutlich zum Ausdruck gebrachten christlich mo-
tivierten moralischen Kritik unterzieht, die den im Philotas-Prozess
und in der Skythen-Rede bereits zur Sprache gebrachten Vorwurf
der Maßlosigkeit wieder aufgreift und erneuert (vgl. Komm. VIII,
158–184 bzw. 185–301; vgl. auch Komm. VIII, 368–476). ⇔ Einzig
der Inderkönig Porus wagt es, sich dem kampfbereiten griechischen
Heer entgegenzustellen. Walter schildert diesen als einen dem ma-
kedonischen König in jeder Hinsicht ebenbürtigen Gegner, der
Kommentar zu Buch IX 943
plaustra referta viris). Ebenso ist er in der Lage, die eigenen Reihen
wieder zu schließen, nachdem es den Griechen beinahe schon gelun-
gen war, die Inder in die Flucht zu schlagen (vgl. Alex. IX, 230–232:
Tamen agmine Porus | disposito rursus dispersa recolligit arma | ter
ribilesque oculis elephantes obicit hosti). Andererseits begeht Porus
aber auch einige taktische Fehler, die von den Griechen ausgenutzt
werden und zur Niederlage des indischen Heeres entscheidend bei-
tragen. Zum einen nämlich kommen die schwer beladenen Wagen
der Inder im vom Monsunregen durchnässten Boden nicht schnell
genug voran, und auch die schweren Bögen lassen sich im schlam-
migen Untergrund nur schlecht aufstellen, zum anderen sind die
Kampfelefanten in der direkten Konfrontation mit der griechischen
Reiterei zu langsam und haben dem schnellen Lauf der griechischen
Pferde nichts entgegenzusetzen. Im Unterschied zum Inderkönig
Porus schildert Walter den makedonischen König als einen Mann,
der gerade in schwierigen Situationen in besonderer Weise in der
Lage ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen und mit seiner Ent-
schlossenheit und seinem Drang, immer als erster voranzustürmen,
die eigenen Soldaten zu motivieren versteht und ihnen damit stets
als Vorbild zu dienen vermag (vgl. Alex. IX, 189–191: Econtra Mace
do solita levitate per Indos | strennuus invehitur. Sequitur levis ala ru
entem | atque exerta manus; zur Vorbildfunktion als Teilbereich der
Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I, 128–132). Auch steht Alexan-
der in Bezug auf die innerhalb dieser wichtigsten Feldherrntugend
angesiedelten Handlungsschnelligkeit seinem indischen Gegner in
nichts nach. Denn als die griechischen Soldaten durch das Vorrü-
cken der riesigen Kampfelefanten für einen Moment ihre Ordnung
verlieren und bereits die Flucht ergreifen wollen, schickt Alexander
sofort agrianische und thrakische Reiter auf die riesigen Tiere los, so
dass den Soldaten unverzüglich der Mut zurückkehrt und sie sich
erneut in den blutigen Kampf stürzen (vgl. Alex. IX, 236–244; zur
Handlungsschnelligkeit als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit
vgl. Komm. I, 136–143). ⇔ Die geistige Überlegenheit seines wich-
952 KOmmentar
258–290 Sed cum peteretur ab omni | parte, lacessitus hinc inde no
vemque fatiscens | vulneribus lacer … donec multis turgentia telis |
interius pepulere foras vitalia vitam: Porus will den inzwischen aus-
sichtslosen Kampf nicht aufgeben und wendet sich erst zur Flucht,
als er von allen Seiten angegriffen und beschossen wird. Alexander
setzt ihm – so Walter – gleich einem Blitz nach und hätte den Inder-
könig auch sofort gestellt, wenn nicht sein Pferd Bukephalus, von
zahlreichen Pfeilen tödlich getroffen, zu Boden gesunken wäre. ⇔
Nicht zum ersten Mal in der Alexandreis verwendet Walter diese ur-
sprünglich bei Lucan im pejorativen Sinn auf Caesar bezogene Me-
tapher, um Alexanders außerordentliche Schnelligkeit und enorme
Dynamik im Sinne einer Umdeutung des lukanischen Caesar posi-
tiv in Szene zu setzen (vgl. Alex. IX, 262–263: Profugo par fulminis
instat | ira Dei Macedo; zur Gleichsetzung Alexanders mit einem
Blitz vgl. Komm. II, 388–407). ⇔ Obgleich mit der Eroberung des
Perserreichs Alexanders heilsgeschichtliche Aufgabe eigentlich ab-
geschlossen ist, bezeichnet Walter den makedonischen König an der
vorliegenden Stelle aus Sicht des christlichen Autors im Sinne eines
Epitheton commemorans noch immer als ira dei (zur Bedeutung
der biblisch konnotierten Epithetisierung Alexanders in der Ale
Kommentar zu Buch IX 953
cum tibi regna ministrent | omnia divicias, tibi pauper inopsque vide
ris. | Quid tibi diviciis opus est, que semper avaro | esuriem pariunt?
Quanto tibi plura parasti, | tanto plura petis et habendis acrius ardes).
Indem Porus mit seinem Ratschlag zudem das Bild der wankelmüti-
gen Fortuna bemüht, die einen Menschen zwar zu höchster Macht
aufsteigen lässt, diesen jedoch auch wieder herabzusetzen vermag,
stellt Walter eine weitere Verbindung zur Skythen-Rede her, in wel-
cher der Gedanke vom Schicksalsrad ebenfalls zum Ausdruck ge-
bracht worden war (vgl. Alex. IX, 309–313: Ne dixeris esse beatum |
qui quo crescat habet nisi quo decrescere possit | non habeat. Satius
est non ascendere quam post | ascensum regredi, melius non crescere
quam post | augmentum minui; vgl. auch Alex. VIII, 448–455: Pro
inde manu pressa digitisque tenere recurvis | fortunam memor esto
tuam, quia lubrica semper | et levis est numquamque potest invita
teneri. | Consilium ergo salubre sequens quod temporis offert | gratia
presentis, dum prospera luditur a te | alea, dum celeris Fortunae mu
nera nondum | accusas, impone modum felicibus armis | ne rota forte
tuos evertat versa labores). ⇔ Neben der Mahnung, das rechte Maß
nicht zu verlieren und sich Selbstbeschränkung aufzuerlegen, wird
in der vorliegenden Szene darüber hinaus jedoch von Porus auch ex-
plizit die Notwendigkeit angesprochen, sich einem noch Stärkeren
unterzuordnen, womit Walter den Bezug zur fehlenden Unterord-
nung Alexanders unter den christlichen Gott herstellt (zur Stellung
der Szene innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Ein-
leitung 7.2; vgl. auch Gartner 2018, 73–79). ⇔ Zum Erstaunen
der griechischen Anführer tötet Alexander den Inderkönig nicht,
sondern kümmert sich gewandelten Sinnes mit gezügeltem Zorn –
refrenata mutati pectoris ira – um diesen, nimmt ihn nach dessen
Genesung in den Kreis seiner Freunde auf und beschenkt ihn mit
der Verwaltung eines noch größeren Reichs (vgl. Alex. IX, 319–325).
Als Begründung führt Walter an, dass Alexander den von den Stür-
men des Schicksals ungebrochenen König bewundere, der sich un-
geachtet seiner Niederlage die Haltung eines Siegers bewahrt habe
956 KOmmentar
dem Bewusstsein dieser Völker über ihre einstige Schuld (vgl. Alex.
IX, 340: mentem preteritae memorem terrentia culpae).
der Schlacht bei Issus oder auch im Kampf gegen die Uxier als leuch-
tendes Vorbild für seine Soldaten, der es wagt, als erster den Feind zu
bestürmen, nichts von seinen Männern verlangt, was er nicht selbst
zu tun bereit ist und keinerlei Rücksicht auf sein eigenes Leben
nimmt (vgl. Komm. II, 388–407; vgl. auch Komm. VI, 81–102; zur
Vorbildfunktion als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit vgl.
Komm. I, 128–132). ⇔ Allerdings führt der Übereifer der griechi-
schen Soldaten dazu, dass die Sturmleitern unter der zu großen Be-
lastung zerbrechen und Alexander sich plötzlich ganz allein dem
feindlichen Beschuss ausgesetzt sieht. Seine Kampfgefährten versu-
chen ihn dazu zu bringen, in ihre Arme zu springen und damit den
vorläufigen Rückzug anzutreten. Doch Alexander springt zum Ent-
setzen seiner eigenen Männer kopfüber in die Stadt der Sudraker.
Walter versäumt dabei nicht zu erwähnen, dass es der makedonische
König gemessen an seiner göttlichen Abstammung für unwürdig
ansieht, dem Feind den Rücken zu kehren und macht darüber hin-
aus deutlich, dass dieser Sprung eine entscheidende Bedeutung für
den weiteren Verlauf und den Ausgang dieser Schlacht haben wird
(vgl. Alex. IX, 366–370: cum rex, ausus mirabile dictu | atque fide
maius, saltu se prepete dira | barbarie plenam preceps inmisit in ur
bem, | indignum reputans divino stemmate, princeps | tot clarus titu
lis si tergum ostenderet hosti). ⇔ Walter selbst wirft in diesem Kon-
text die Frage auf, wie Alexanders Verhalten eigentlich beurteilt
werden müsse und kommt zu dem Schluss, dass er tapfer und toll-
kühn zugleich gehandelt habe (vgl. Alex. IX, 371–373: Queritur an
fortis facto an temerarius isto | rex fuerit, sed si contraria iungere cu
ras, | et fortis fuit et facto temerarius isto). Einerseits steckt in dieser
Aussage eine leise Kritik des Autors der Alexandreis, da ein tollküh-
nes Verhalten nach den Maßstäben der aristotelischen Tugendlehre
eigentlich als Laster zu betrachten ist, andererseits gibt der zuletzt
eintretende militärische Erfolg dem makedonischen König recht
und legitimiert dessen Verhalten damit ex eventu als tapfere und da-
mit unter moralischen Gesichtspunkten richtige Reaktion auf die
960 KOmmentar
vgl. Alex. II, 306–318). Abgesehen von der Unterstützung durch die
Schicksalsgöttin kommt dem makedonischen König auch sein glän-
zender und auf dem ganzen Erdkreis verbreiteter Ruf zu Hilfe, der
dazu führt, dass es zuerst einmal kein Sudraker wagt, den Nahkampf
mit Alexander zu suchen. Nicht von ungefähr setzt Walter ausge-
rechnet an dieser Stelle auch Alexanders Tapferkeit in Szene, indem
er dessen heldenhafte Haltung in diesem verzweifelten Kampf gegen
die Übermacht der Sudraker herausstellt, in welchem der Held auch
vor dem eigenen Tod nicht zurückschreckt (vgl. Alex. IX, 387–390:
Celeberrima fama verendi | nominis, edomitum iam dilatata per or
bem, | pro duce pugnabat et desperatio, magnae | virtutis stimulus, et
honestae occasio mortis). ⇔ Als es einigen Sudrakern doch gelingt,
näher an den inzwischen vermeintlich kampfunfähigen makedoni-
schen König heranzurücken und sie diesen seiner Rüstung berau-
ben wollen, tötet er zwei seiner Feinde mit dem Schwert (vgl. Alex.
IX, 395–398: Quem cum spoliare pararent | qui stabant propius, hos
sic mucrone recepit | Magnus ut ante ipsum vita fugiente iacerent |
exanimes gemini). Erneut sind die Sudraker so von Alexanders Tap
ferkeit beeindruckt, dass sie es ein weiteres Mal nicht wagen, sich
ihm im Nahkampf zu stellen. Erst als ihm ein Pfeil die Seite durch-
bohrt und er stark blutet, lässt Alexander, der Ohnmacht schon nah,
seine Waffen fallen. Als der Pfeilschütze an den totgeglaubten Feind
heranrückt, tötet Alexander in einer letzten Kraftanstrengung auch
diesen. Ungeachtet seiner misslichen Lage – Alexander selbst hat
sich bereits mit dem eigenen Tod abgefunden – hält er bis zuletzt
tapfer die Stellung und reizt sogar noch den Feind mit aufreizenden
Worten. Inzwischen eilen einige Griechen, denen es inzwischen ge-
lungen war, die Mauern zu durchbrechen, ihrem König zu Hilfe
und können zumindest verhindern, dass Alexander getötet wird.
Als sich unter den Griechen dennoch das Gerücht verbreitet, dass
Alexander gefallen sei, intensivieren sie ihre Anstrengungen, bre-
chen schließlich die restlichen Soldaten an zahlreichen Stellen durch
die Mauern der Stadt, richten ein Blutbad unter den Sudrakern an
962 KOmmentar
31–57 Ante fores Herebi Stigiae sub menibus urbis | liventes habitant
terrarum monstra sorores … rerum prima parens, urbis se menibus
infert, | qua videt aeternis animas ardere caminis: Am Eingang zur
Unterwelt positioniert Walter verschiedene personifizierte Laster,
die als liventes … terrarum monstra sorores ungeachtet ihrer christ-
lichen Prägung in ihrer Aufstellung an die klassischen monstra im
Vorhof der vergilischen Unterwelt erinnern (vgl. Verg., Aen. VI,
273–281: vestibulum ante ipsum primisque in faucibus Orci | Luctus et
ultrices posuere cubilia Curae, | pallentesque habitant Morbi tristisque
Senectus, | et Metus et malesuada Fames ac turpis Egestas, | terribiles
visu formae, Letumque Labosque; | tum consanguineus Leti Sopor et
mala mentis | Gaudia, mortiferumque adverso in limine Bellum, |
ferreique Eumenidum thalami et Discordia demens | vipereum cri
nem vittis innexa cruentis). Der von Walter aufgerufene Lasterkata-
log, der sowohl Bestandteile der erst später etablierten sieben Tod-
Kommentar zu Buch X 975
tragt werden soll, der seinerseits wegen eben dieser Todsünde sein
Ende finden wird (vgl. Hiob 41, 25: rex super universos filios super
biae). Offenbar war Walter der Ansicht, dass der Teufel – in diesem
Kontext mit Alexander zu identifizieren – nur mit dem als Beelze-
bub zu verstehenden Leviathan ausgetrieben werden könne.
feuer übernimmt der Ort der Zusammenkunft nicht mehr die Auf-
gabe der Läuterung der weniger sündhaften Seelen, sondern dient
der Bestrafung der für alle Ewigkeit verdammten Seelen. Damit
verlegt Walter den Ort dieser Versammlung in die Hölle selbst, die
durch die Schilderung ihrer klimatischen Extreme vom Autor der
Alexandreis als ein wahrer locus horribilis charakterisiert wird (vgl.
Korte 2009, 299). Insgesamt weist die an dieser Stelle verwirklichte
mythologische Szenerie – wie im letzten Abschnitt der Darstellung
des Strafgerichts anhand der Rede der Furie Proditio im Einzelnen
noch zu zeigen sein wird – deutlich erkennbare Parallelen zu einer
Passage aus Claudians Invektive gegen Rufinus auf, in der die Furie
Megaera alle furchterregenden Wesen der Unterwelt ebenso zu einer
Versammlung ruft, um gegen die immer weiter um sich greifende
Glückseligkeit der Völker vorzugehen (vgl. Komm. X, 143–167).
191–215 Quo tendit tua, Magne, fames? Quis finis habendi, | queren
di quis erit modus aut que meta laborum? … Fuit ergo dignius illum |
occultum sentire nephas quam cedere ferro: Mit einem Autorexkurs
Kommentar zu Buch X 983
indem der vom ganzen Erdkreis – gemeint sind damit Vertreter der
drei zum damaligen Zeitpunkt bekannten Kontinente Europa, Af-
rika und Asien – nach Babylon strebende Aufmarsch der Völker
gleichsam als Entschädigung für Alexander in Szene gesetzt wird
und dabei auch eine gewisse Genugtuung des Autors der Alexan
dreis über diese letzte Ehrerbietung gegenüber diesem beispiellosen
Feldherrn und Herrscher kaum übersehen werden kann. Der Um-
stand, dass die Menschen – wie von Walter an der vorliegenden Stel-
le geschildert – überall auf dem Erdkreis vor Alexander erzittern,
ist dabei ebenso wenig wie nach seinem Sieg über die Skythen als
moralische Kritik am makedonischen König zu verstehen, sondern
vielmehr als Anerkennung seiner herausragenden militärischen
Leistungen und des daraus resultierenden Respekts aller Völker (vgl.
Komm. VIII, 496–513). Von allen drei Kontinenten strömen die Ge-
sandtschaften in Babylon zusammen, um ihrem König entweder als
Besiegte ihre Ehrerbietung zu bezeugen oder als eigentlich noch frei
lebende Völker prophylaktisch den Herrscher mit Geschenken gnä-
dig zu stimmen, da sie durch die überaus flinke Fama auch in weit
entfernten Gebieten von der Unbesiegbarkeit Alexanders gehört
haben. ⇔ Damit nimmt Walter nicht ohne Grund gerade am Ende
der Eroberungen des makedonischen Königs Bezug auf den ersten
Vers des Prooemiums der Alexandreis, wo er über die Mehrdeutig-
keit des Partizips digesta bereits angezeigt hatte, dass die Taten seines
wichtigsten Protagonisten sich nicht nur auf den ganzen Erdkreis
erstrecken, sondern auch durch die Fama die entsprechende Ver-
breitung finden (vgl. Alex. I, 1: Gesta ducis Macedum totum digesta
per orbem).
tur tocius opes: Mit einem erneuten Szenenwechsel lenkt Walter ein
weiteres Mal den Blick auf Alexander, der sich noch immer auf der
Rückfahrt von der gescheiterten Antipodenfahrt befindet. Da ihm
zu Ohren gekommen ist, dass Gesandtschaften vom ganzen Erdkreis
nach Babylon gekommen waren, um ihm zu huldigen, beschleunigt
er die Fahrt durch den Einsatz der Ruderer. ⇔ Es entbehrt dabei
nicht einer gewissen Ironie, dass Alexander ausgerechnet mit einer
seiner hervorstechendsten und bisher stets als zuverlässiger Garant
für seinen Erfolg dienenden Charaktereigenschaften – seiner Schnel
ligkeit – den eigenen Tod beschleunigt. Auf der inhaltlichen Ebe-
ne der Erzählung treibt Walter demzufolge das epische Geschehen
deutlich erkennbar voran, während er mit Alexanders nicht enden
wollender Seefahrt unter strukturellen Gesichtspunkten gleichzeitig
eine erneute Verzögerung herbeiführt. Diese paradoxe Gegenläufig-
keit von Inhalt und Struktur mündet in einem dramatisierenden
Vergleich Alexanders mit einem Tiger, der sein ersehntes Ziel – eine
Herde von Pferden zu töten – zwar erreicht, durch das Erreichen sei-
nes ersehnten Ziels jedoch selbst von einem gut vorbereiteten Jäger
getötet wird. Damit arbeitet Walter auf ingeniöse Weise die ganze
Tragik der Situation heraus und unternimmt den Versuch, den für
ihn schwer erträglichen Tod seines Helden auch für den Leser emo-
tional erfahrbar zu machen. ⇔ Nachdem Alexander in Babylon an-
gekommen ist, betritt er die Stadt und empfängt in Anwesenheit der
wichtigsten Persönlichkeiten auf einem eigens aufgestellten Thron
die Krone des Herrschers über die ganze Welt. Die Gesandtschaften
werden vorgelassen und überreichen ihre Geschenke. Auch in die-
sem Moment macht Walter mit seiner Wortwahl noch einmal deut-
lich, dass ihn Alexanders vom Fatum bestimmtes Ende mit großem
Schmerz erfüllt (vgl. Alex. X, 260–261: Iam sibi fatales Pelleus, proch
dolor, arces | agmine quadrato stipatus inibat).
Kommentar zu Buch X 987
Walter wohl gekannt haben dürfte (vgl. Iul. Val. Epit. I, 11: At ille
percunctatus respondit, filium ei nasciturum, qui omnem mundum
obiret omnemque suae ditioni subiugaret; hunc quoque, antequam in
patriam, de qua exierat, redeat, occasu celeri periturum). Sehr viel
plausibler erscheint es, dass Walter nicht näher auf die Deutung
dieses Vorzeichens eingeht, da diese dem mittelalterlichen Leser be-
kannt gewesen sein dürfte und keiner näheren Erklärung bedurfte.
Das letzte der von Walter angeführten vier göttlichen Vorzeichen
schildert zwei Adler, die während Alexanders Geburt einen ganzen
Tag lang am Dachfirst des väterlichen Hauses miteinander kämpfen.
An dieser Stelle dürfte die Epitome des Justin Pate gestanden haben,
auch wenn die beiden Vögel beim römischen Geschichtsschreiber
lediglich sitzen und nicht wie bei Walter kämpfen (vgl. Iust., Epit.
Hist. XII, 16, 4: Prodigia magnitudinis eius in ipso ortu nonnulla
apparuere. Nam ea die, qua natus est, duae aquilae tota die perpetes
supra culmen domus patris eius sederunt, omen duplicis imperii, Eu
ropae Asiaeque, praeferentes). Christensen (1905) 152 erklärt den
Unterschied in der Darstellung sicherlich nicht zu Unrecht damit,
dass Walter dieses Vorzeichen stärker mit der kriegerischen und stür-
mischen Natur Alexanders in Verbindung bringen wollte. ⇔ Im
letzten Teil dieses Abschnitts stellt Walter den Göttern die rhetori-
sche Frage, für welches Verbrechen Alexander eigentlich ihre Gunst
in einem so kurzen Leben verwirkt habe, um sich die Frage sogleich
selbst zu beantworten: Ursache für den frühen Tod Alexanders ist
dessen verwerfliches Streben nach Gottgleichheit, gepaart mit der
Unfähigkeit, sich in seinem maßlosen Hochmut mit irdischem
Ruhm zu begnügen. Es reicht an diesem neuralgischen Punkt in
Alexanders Lebens zum Leidwesen Walters nicht mehr aus, sich
– wie in der Ansprache vor den Gesandtschaften geschehen – auf
die Erfüllung antik-paganer Tugenden zu berufen. Es entspricht
zwar sehr wohl der Intention Walters, den makedonischen König
bis zum Ende auch als Idealbild antik-paganer Tugendhaftigkeit in
Szene zu setzen, aber nach dem Versuch, die Gefilde der Antipoden
992 KOmmentar
378–432 Eois redolens fulgebat odoribus aula | Non tantus ciet astra
fragor cum quatuor axem | stelliferum quatiunt agitando tonitrua
fratres: Walter wendet den Blick zurück in den Palast, wo der Tag
mit Gesprächen zugebracht wird. Nachdem Alexander vom gifti-
gen Wein getrunken hat, bricht er zum Entsetzen der Anwesenden
plötzlich zusammen. ⇔ Dabei betont Walter die Ungeheuerlichkeit
der Situation, indem er die große Diskrepanz zwischen dem Vater
und Gebieter, der stets furchtlos gegenüber dem Feind so oft die
feindlichen Linien geschlagen hatte, und dem zu Boden gesunkenen
und nun im Sterben liegenden Mann kontrastierend hervorhebt
(vgl. Alex. X, 383–385: Et qui securus ab hoste | in bello tociens hos
tilia fuderat arma, | et pater et dominus cadit et perit inter amicos).
⇔ Auch wenn Alexanders Freunde entsetzt sind, hegen sie anfangs
noch die Hoffnung, ihr König könnte sich wieder erholen, da sie
in der Vergangenheit – man denke dabei an die Episode am Kyd-
994 KOmmentar
nus oder an den Kampf gegen die Sudraker – bereits mehrfach die
Erfahrung gemacht hatten, dass die Schicksalsgöttin Fortuna ihren
Günstling auch aus scheinbar aussichtslosen Situationen hatte ret-
ten können (vgl. Komm. II, 186–200; vgl. auch Komm. IX, 341–500;
zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis
vgl. Einleitung 5). Als sich jedoch die Anzeichen verdichten, dass der
Tod ihres Anführers nicht mehr aufzuhalten sein würde, spricht
dieser mit letzter Kraft ein letztes Mal zu seinen Männern, um ihnen
in dieser schweren Stunde eine ganz eigene Bewertung für seinen
Tod mit auf den Weg zu geben. Er selbst begreift diesen nicht als
Niederlage oder als bedauernswertes Ereignis, sondern kann darin
den richtigen Moment erkennen, nach langer Herrschaft auf Erden
die irdische Existenz nun aufzugeben, endlich den engen Kerker
des Körpers zu verlassen und in göttliche Sphären vorzudringen.
Er meint in Zukunft mit dem vom Alter geschwächten Jupiter im
Olymp zu herrschen und Mars beim Kampf gegen die von den waf-
fenschmiedenden Zyklopen unterstützten Giganten zu Hilfe kom-
men zu müssen, die möglicherweise erneut den Aufstand gegen die
olympischen Götter proben (vgl. Alex. X, 410–412: Rursus in ether
eas arces superumque cohortem | forsitan Ethneos armat presumptio
fratres | duraque Typhoeo laxavit membra Pelorus). ⇔ Stellt man in
Rechnung, dass sich die olympischen Götter in der ursprünglichen
Gigantomachie nur durch die tatkräftige Hilfe des Herkules durch-
setzen konnten und Walter seinen zum damaligen Zeitpunkt noch
jugendlichen Helden bereits in Buch I mit dem Alkiden in Verbin-
dung gebracht hat, wird deutlich, dass Alexander an dieser Stelle
ein weiteres und letztes Mal als zweiter Herkules inszeniert werden
soll (vgl. Komm. I, 39–41; vgl. auch Zwierlein 2004, 622–623; zur
allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen
Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). Auch der Umstand, dass Walter
Alexanders Kampf gegen die Perser immer wieder mit dem mythi-
schen Kampf der olympischen Götter gegen die Giganten in Verbin-
dung gebracht hat, lässt diese Bezugnahme auf Herkules am Ende
Kommentar zu Buch X 995
Moralexkurs (433–454)
sein, der sich in einer seiner Satiren in Bezug auf den unausweich-
lichen Tod des Menschen in ganz ähnlicher Weise äußert (vgl. Alex.
X, 437–438: dum fallax gloria rerum | mortales oculos vanis circum
volat alis; vgl. auch Hor., Serm. II, 1, 57–58: seu me tranquilla senec
tus | exspectat seu mors atris circumvolat alis; vgl. auch Wirtz 2018,
85–86). ⇔ Walters diesbezügliche Ansichten über die Bedeutungs-
losigkeit irdischen Ruhms – gemeint ist in diesem Zusammenhang
nur die sich auf unbedeutende Güter wie Reichtum oder Ehrenstel-
len gründende gottlose fallax gloria – sollten jedoch nicht darüber
hinwegtäuschen, dass Ruhm an sich innerhalb der Alexandreis auch
aus christlicher Sicht dann als erstrebenswert gilt, wenn er einem
übergeordneten bzw. höheren Ziel dient. Gerade derjenige Ruhm
nämlich, der sich aufgrund eines tugendhaften Lebens unter Einhal-
tung der Gebote Gottes einstellt, ist – wie an zahlreichen Stellen in
der Alexandreis gezeigt werden kann – durchweg positiv konnotiert
(zum Verständnis wahren Ruhms in der Alexandreis vgl. die Einfüh-
rung zu Buch IV; vgl. auch Einleitung 7.4; vgl. auch Gartner 2018,
71, Anm. 56). ⇔ Mit dem schon in der antiken Metaphorik häufig
eingesetzten Motiv eines auf schwankenden Wogen zur See fahren-
den Schiffs vergleicht Walter den Menschen, der sein Leben und
seine Güter in seiner maßlosen Gier und seiner fieberhaften Rast-
losigkeit den unsicheren und gefährlichen Wellen anvertraut, ohne
zu gewärtigen, dass sein Verhalten von verabscheuungswürdigem
Hochmut zeugt. Auch in diesem Kontext ist die Nähe zum antiken
Dichter Horaz spürbar, der das nämliche Motiv in seinen Werken
häufig bemüht (vgl. Hor., Epist. I, 1, 45–48: Impiger extremos curris
mercator ad Indos, | per mare pauperiem fugiens, per saxa, per ignis: |
Ne cures ea quae stulte miraris et optas, | discere et audire et melio
ri credere non vis?; vgl. auch Wirtz 2018, 87). Mit der Bemerkung
über eine von Räuberbanden und widrigen Wetterverhältnissen be-
drohte Reise über die schneebedeckten Alpen in die mit den har-
schen Worten avare menia Rome gebrandmarkte Tibermetropole
gibt Walter eine persönliche Erfahrung wieder, die mit seiner Reise
998 KOmmentar
nach Rom und der dort gemachten Erfahrung von Korruption in-
nerhalb der immer wieder in der Alexandreis kritisierten römischen
Kurie in Zusammenhang steht (zu Walters zeitgenössischer Kritik
vgl. Einleitung 8). Dabei nutzt Walter die eigene Erfahrung einer
derartigen Reise, um dem Leser mit der Möglichkeit eines plötzlich
auftretenden Fiebers, das den Reisenden mitsamt seiner möglicher-
weise dort erworbenen Schätze innerhalb kürzester Zeit hinwegraf-
fen kann, zu konfrontieren und ihm damit die Sinnlosigkeit äußerer
Güter vor Augen zu führen. Auch mit diesem Motiv nimmt Walter
Bezug auf Horaz, der in einem seiner Briefe nicht nur vom Glück
eines Menschen spricht, der mit dem zufrieden ist, was er zum Le-
ben braucht, sondern auch die Nutzlosigkeit von Gold und Silber
beschreibt, die einen kranken Herrn auch nicht von Fieberschauern
und Sorgen befreien können (vgl. Hor., Epist. I, 2, 46–49: Quod
satis est cui contingit, nihil amplius optet. | Non domus et fundus, non
aeris acervus et auri | aegroto domini deduxit corpore febris, | non ani
mo curas; vgl. auch Wirtz 2018, 89). ⇔ Abschließend lässt es sich
Walter indes nicht nehmen, noch einmal auf Alexanders besondere
Rolle im Weltgeschehen hinzuweisen, indem er seinen wichtigsten
Protagonisten versöhnlich noch immer und zuletzt als nobile corpus
und depositum fati toto venerabile mundo bezeichnet, der auf Betrei-
ben des Ptolemäus in die nach dem makedonischen König benannte
Stadt am Nil gebracht wird (vgl. Alex. X, 450–454).
455–460 Sed iam precipiti mersurus lumina nocte … qui semel ex
haustus sitis est medicina secundae: Mit dem Bild des ins Meer
tauchenden Sonnenwagens beendet Walter nicht nur Alexanders
letzten Lebenstag, sondern läutet damit auch kunstvoll das Ende
des Epos ein. Nach dem langen, christlich geprägten Moralexkurs
verabschiedet sich Walter abschließend von den antiken Musen,
Kommentar zu Buch X 999
461–469 At tu, cuius opem pleno michi copia cornu | fudit … vivet
cum vate superstes | gloria Guillermi nullum moritura per evum: Mit
den letzten Versen der Alexandreis widmet Walter das Epos seinem
Gönner Wilhelm von Blois, der als Erzbischof von Reims nicht nur
über die notwendigen finanziellen Mittel verfügt, um den Autor der
Alexandreis in allen Lebenslagen zu unterstützen, sondern auch die
unentbehrlichen Bildungsvoraussetzungen besitzt, um die Groß-
artigkeit des Werks überhaupt erkennen zu können. Damit schlägt
Walter den Bogen zum zweiten Teil des Prooemiums, in welchem
er seinen Gönner bereits für dessen Bildung gepriesen, diesen um
Beistand für sein Epos gebeten und ihm das Werk als Lorbeerkranz
für dessen Haupt schon vorab gewidmet hat (vgl. Alex. I, 24–26:
Huc ades et mecum pelago decurre patenti, | funde sacros fontes et cri
nibus imprime laurum | ascribique tibi nostram paciare camenam;
vgl. auch Zwierlein 2004, 678). ⇔ Auch die im Prolog bereits
ausführlich angesprochene Thematik gehässiger Neider taucht in
Walters Bitte um Beistand am Ende des Epos noch einmal auf (vgl.
Alex. X, 462: ut hostiles possim contempnere linguas). ⇔ Mit der For-
mulierung Vivet cum vate superstes | gloria Patronis nullum moritu
ra per evum verbindet Walter den Ruhm seines Gönners mit seinem
Werk, das – sollte diesem Erfolg beschieden sein – beiden ewigen
Ruhm einbringen werde (vgl. Alex. VI, 509–510: Si quis tamen hec
quoque si quis | carmina nostra legat, numquam Patrona tacebit |
Gallica posteritas. Vivet cum vate superstes | gloria Patronis nullum
Kommentar zu Buch X 1001
moritura per evum; vgl. auch Alex. VII, 344–346: Te tamen, o Dari,
si que modo scribimus olim | sunt habitura fidem, Pompeio Francia
iuste | laudibus equabit). ⇔ Walters Worte zeigen dabei nicht nur
die Zufriedenheit oder sogar den Stolz auf sein antikisierendes Epos,
sondern geben noch einmal beredtes Zeugnis über das Verständ-
nis von wahrem Ruhm in der Alexandreis ab, der aus christlicher
Sicht immer dann positiv konnotiert ist, wenn er das Ergebnis einer
tugendhaften Leistung darstellt und wie die Alexandreis zugleich
einem übergeordneten bzw. höheren gottgefälligen Ziel – der Suche
nach einem alexanderhaften christlichen Anführer im Kampf gegen
die Muslime – zu dienen imstande ist. Ablehnung findet bei Wal-
ter indes nur derjenige Ruhm, der sich lediglich auf äußere Güter
und nichtige Anerkennung gründet – abwertend als fallax gloria
bezeichnet – und ausschließlich um seiner selbst willen erstrebt
wird sowie keinem übergeordneten bzw. höheren gottgefälligen Ziel
dient (zum Verständnis wahren Ruhms in der Alexandreis vgl. die
Einführung zu Buch IV; vgl. auch Einleitung 7.4; vgl. auch Gart-
ner 2018, 71, Anm. 56).
Literaturverzeichnis
Primärquellen
Textausgaben
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1010 Literaturverzeichnis
Übersetzungen
Apelles: Einer der bedeutendsten Maler, Künstler und Bildhauer im antiken Grie-
chenland → IV 179, 218; VII 384, 393, 421.
Apollo → Delios → Delius → Phebus (Phoebus): Sohn → Iupiters (Jupiters) und
der Latona; Bruder der → Diana; Gott des Bogenschießens, der Weissagung, der
Heilkunde, der Wissenschaften und der Künste, insbesondere der Musik und
der Dichtkunst, Führer der Musen → II 529.
Applausus: Personifikation des schmeichlerischen Beifalls → IV 427.
Aquilo → Boreas: Der Sohn des Titanen Astraeus und der Göttin Eous stellte die
Personifikation des winterlichen Nordwinds dar und und wurde in der Antike
zusammen mit seinen Brüdern → Eurus (Ostwind), → Nothus (Südwind) und
dem Westwind → Zephirus (Zephyrus) verehrt → V 9.
Arabes: Die Araber, die Bewohner Arabiens → I 415; III 72, 369; IV 571; V 166, 374,
473; VIII 59.
Arabites: Wie eine Glosse im Codex Vindobonensis (13. Jh.) mit Rennon Arabites id
est de Arabia existens nahelegt, bedeutet der Begriff »aus Arabien stammend«
(vgl. Colker 433) → V 133.
Araxes: Bedeutender Fluss in → Persis (Aras), fließt an der Stadt → Persepolis
vorbei → VI 162, 194.
Arbela: Assyrische Stadt, in deren unmittelbaren Nachbarschaft → Darius in der
Schlacht von → Gaugamela im Perserkrieg endgültig dem makedonischen
König unterlag → III 459; V C. 2, V 381, 431.
Archigenus: Berühmter syrischer Arzt unter Domitian, Nerva und Trajan (Archi-
genes) → II 231.
Arctos → Artos: Großer und Kleiner Bär am nördlichen Sternenhimmel; meton.
für Norden → I 410.
Arethas: Satrap von Syrien → III 12, 18.
Argi: Die Argiver, andere Bezeichnung für die Griechen → I 354.
Argivus: Adj. zu → Argos, griechisch → V 72, 233; IX 214.
Argolici: Andere Bezeichnung für die Griechen → I 469, 494; II 188, 282, 393.
Argos → Argivi: Hauptstadt der Argolis (Landschaft auf der Peloponnes) als pars
pro toto auch für ganz Griechenland → I 372; III 422; VII 457.
Aristander: Der angesehenste Seher → Alexanders → III 502.
Aristomenes → Indus: Indischer Kämpfer → V 12, 20.
Ariston: Ein Offizier (General der Kavallerie) → Alexanders → IX 208, 209.
Aristonides → Afer: Persischer Kämpfer mit dem Namen → Afer, Sohn eines
nicht näher bezeichneten und nicht mit dem makedonischen Reiteroffizier
identischen Ariston → V 262.
Aristonus: Ein Offizier und Leibwächter → Alexanders → IX 433, 439.
Index nominum 1015
Baal: Nach dem biblischen Bericht gerieten die Israeliten bereits auf ihrer Wüsten-
wanderung in Kontakt mit dem Baalskult, der in den Erzählungen zumeist als
Konkurrenz zu Jahwe als dem einzigen Gott auftaucht → IV 247.
Babilon → Babylon: Die am → Eufrates (Euphrat) liegende Hauptstadt des persi-
schen Reichs → I 414; II 366, 393; III 202; V C. 10, V 423, 443; VI C. 1, VI 2, 19, 28.
Babilonia → Babilon (Babylon) → V 456.
Babilonius: Adj. zu → Babilon (Babylon), babylonisch, chaldäisch → IV 542;
V 381.
Babylon → Babilon → X 153, 170, 203, 235.
Bachus → Liber: Sohn → Iupiters (Jupiters) und der Semele, Gott des Weines
(Bacchus) → I 167, 439; VII 314, 411, 434.
Bactra: Hauptstadt der gleichnamigen Landschaft am Oxus → IV 128, 339; VI 304,
409, 442, 501; VII 102, 206; VIII 49, 75, 360, 424, 432.
Bagoas: Liebling des → Darius, Geschenk des → Narbarzanes an → Alexander, der
diesen um dieser Gabe willen verschont hat → VIII 7.
Balthasar: Babylonischer König (Belsazar) → II 523.
Baradas: Persischer Kämpfer → V 268.
Baucis: In der antiken Mythologie die Gattin des → Philemon aus → Frigia (Phry-
gien), die wegen ihrer Gastfreundschaft gegenüber den als normale Wanderer
auftretenden Göttern → Iupiter (Jupiter) und Merkur den Wunsch erfüllt
bekamen, gemeinsam zur selben Stunde sterben zu dürfen → II 63.
Belides → Darius: Enkel des → Belus → V 321; VI 302, 481.
Bellona: Schwester des → Mars, römische Kriegsgöttin → III 134; IV 479; V 206,
235.
Belus: Mythischer Gründer von Babylon und Urahn der persischen Könige
→ II 326.
Beniamin: In der Bibel jüngster der zwölf Söhne (Benjamin) des → Iacob (Jakob)
→ IV 225.
Index nominum 1017
Bennun → Josue: Josue (Josua) führte nach dem Tod des Mose die Israeliten bei
der Landnahme an → IV 213.
Bessas → Bessus → V 495; VII 166.
Bessus → Bessas: Als Satrap der Provinz Baktrien war Bessus maßgeblich an der
Verschwörung gegen → Darius beteiligt und wird in der → Alexandreis als
Mörder des persischen Königs → Darius angegeben → V 302; VI 384, 422, 431,
528, 539; VII 40, 129, 131, 156, 162, 170, 207, 342, 502, 516, 520; VIII C. 6, VIII 49,
337, 341, 344, 350, 354, 355.
Boetes → Bootes: Als Ochsentreiber oder Bärenhüter ein Sternbild am nördlichen
Himmel beim Großen Wagen bzw. beim Großen Bären → I 11.
Boetia: Böotien, Landschaft in Mittelgriechenland mit der Hauptstadt Theben
(Boeotia) → I 350.
Bootes → Boetes → X 356.
Boreas → Aquilo → I 400, 488; V 71; VIII 485, 491; IX 493.
Brennius: Anführer der Gallier, die im Jahre 387 v. Chr. Rom eingenommen haben
und nur durch die heiligen Gänse der Juno daran gehindert wurden, auch das
Kapitol zu erstürmen (Brennus) → I 15.
Britannia maior: Damit ist das aus England, Wales und Schottland bestehende
größere Britannien angesprochen, das sich damit von der südwestlich davon
liegenden Britannia minor – der heutigen Bretagne – abgrenzen lässt → I 12.
Britones: Die Bewohner Britanniens im Sinne der → Britannia maior → VII 412.
Brocubelus: Persischer Überläufer → VII 138.
Bucifal: Das berühmte Pferd → Alexanders (Bucephalus), das ihn über die gesamte
Zeit des Perserkriegs begleitet hatte und erst im Kampf gegen den Inderkönig
→ Porus zu Tode gekommen war → IV 90, 516; IX 266.
Burkardus: Graf Burkard (Burchard) war im Jahre 1127 an der Ermordung des
Grafen von Flandern beteiligt und wurde mit Zustimmung des französischen
Königs Ludwig VI. zur Strafe auf dem Rad zu Tode gefoltert → VIII 168.
Cain: Gemäß biblischer Überlieferung der erste Sohn Adams und Evas (Kain); er
erschlug in einem Streit seinen jüngeren Bruder Abel → IV 194.
Calcas: Griechischer Seher (Calchas) → III 426.
Campania: Kampanien, Landschaft in Mittelitalien mit der Hauptstadt Capua
→ VII 411.
Cancer: Als viertes Zeichen des Zodiaks das Sternbild des Krebses; zur Zeit → Ale
xanders erreichte die Sonne den höchsten Punkt ihrer Bahn (21. Juni) im Stern-
bild des Krebses (aufgrund des astronomischen Phänomens der Präzession
erreicht die Sonne heutzutage ihren Höchststand an der Grenze der Sternbilder
Zwillinge und Stier) → I 243.
1018 Index nominum
Dalila: Nach dem Alten Testament verriet Dalila den als unbezwingbar geltenden
israelitischen Richter → Samson → IV 220.
Damascenus: Adj. zu → Damascus → V 81.
1020 Index nominum
Damascus: Nachdem die bedeutende syrische Stadt unter Nebukadnezar II. (605–
562 v. Chr.) für kurze Zeit unter babylonischer Herrschaft gestanden hatte, fiel
Damaskus nur wenig später an das Perserreich → II 303; III 258.
Danai: Andere Bezeichnung für die Griechen → I 274, 321; II 124, 217, 396.
Daniel: Der biblische Prophet des Alten Testaments, der insbesondere durch die
Vision der vier Weltreiche Berühmtheit erlangt hat → IV 265; V 8; VII 421.
Darius → Belides: Der persische König und wichtigste Widersacher → Alexanders
→ I 3, 30, 79, 352; II C. 1, C. 2, II 4, 15, 18, 20, 42, 45, 64, 98, 115, 122, 226, 270,
274, 306, 320, 414, 481, 494, 498; III C. 2, C. 7, III 10, 129, 130, 189, 198, 2325, 238,
266, 272, 345, 413, 440, 454, 459; IV C. 1, C. 2, C. 4, IV 14, 24, 56, 58, 74, 86, 91,
93, 104, 109, 143, 156, 171, 174, 177, 282, 344, 359, 374, 384, 493, 528, 534; V 124,
192, 223, 227, 244, 247, 252, 273, 281, 286, 297, 308, 327, 422; VI C. 7, C. 9, VI 70,
116, 120, 142, 146, 299, 340, 346, 355, 386, 390, 463, 470, 476, 491, 515, 531, 539;
VII 12, 26, 48, 92, 97, 102, 108, 138, 182, 190, 234, 239, 248, 251, 256, 267, 276, 344,
348, 360, 516; VIII 348; X 91, 289, 309.
Delios → Apollo → Delius → Phebus (Phoebus) → VII 127.
Delius → Apollo → Delios → Phebus (Phoebus) → VII 136.
Demetrius: Ein Offizier und Leibwächter Alexanders, Beteiligter an der Verschwö-
rung des → Phylotas → VIII 107.
Demostenes: Athenischer Staatsmann und Redner (Demosthenes) und wichtigster
Vertreter einer antimakedonischen Politik in Athen (384–322 v. Chr.) → I 271,
277.
Detractio: Personifikation des Gelästers → X 45.
Diana → Cinthia (Cynthia) → III 519.
Dimus → Dinus → Dymus: Persischer Kämpfer → VIII 87, 97, 108, 117, 129, 224,
253, 262.
Dinus → Dimus → Dymus → III, 65, 70.
Diomedes: Sohn des Tydeus und der Deipyle, gehörte im Trojanischen Krieg zu
den wichtigsten Kämpfern auf griechischer Seite → VIII 232.
Dirce: Gattin des thebanischen Königs Lykos, meton. auch für das Volk der Theba-
ner → I 349.
Dis: Pluto, Gott der Unterwelt → V 141.
Dodon: Persischer Kämpfer parthischer Herkunft → III 33.
Dolus: Personifikation der Heimtücke → X 45.
Doricus: Adj. für griechisch → III 237.
Dorilos: Griechischer Kämpfer → III 96.
Dyaspes: Persischer Kämpfer (Diaspes) → III 74.
Dymus → Dimus → Dinus → VIII C. 4, VIII 227.
Dyonisius: Die französische Stadt Saint Denis → V 440.
Index nominum 1021
Eacides → Achilles (Aeacides): Aeacus war in der antiken Mythologie als Sohn des
Jupiter und der Aegina der Stammvater der Aeaciden → I 473.
Eacides → Alexander (Aeacides) → V C. 7; IX 545.
Ebactana: Hauptstadt von Medien und auch Residenz der persischen Großkönige
(Ecbatana) → VI 302; VII 93, 98.
Ebrietas: Personifikation der Trunkenheit → X 41.
Echo: Böotische Waldnymphe, die sich unsterblich in Narziss verliebt hatte und sich
nach der Zurückweisung durch den Jüngling im Tode in einen Felsen verwan-
delte → II 493; IV 296.
Eclimus: Persischer Kämpfer → III 81.
Effestio: Ein Offizier (Hauptgeneral) und guter Freund → Alexanders (Hephaes-
tio) → II 438; V 197.
Egeus: König von Athen, Vater des Theseus (Aegeus) → VI 379.
Egeus: Adj. (Aegeus) zum gleichlautenden Substantiv → IX 493.
Egyptius → Ein Ägypter (Aegyptius) → V 31.
Egyptus: Ägypten (Aegyptus) → III 371; IV 208; VII 405; X 344, 452.
Elas: Persischer Kämpfer (Hylas) → III 72.
Elice: Das Sternbild des Großen Bären (Helice) → X 337.
Eliphaz: Persischer Kämpfer, nach Walter der Abkömmling eines Pharaos → V 29, 30.
Elis: Griechischer Kämpfer (Hilas) → III 95.
Elisius: Adj. zu Elysium (Elysius): Sitz der Seligen im Totenreich → I 492; IX 147.
Elycon: Gebirge in → Boetia (Böotien), bekannt als Sitz der Musen (Helicon)
→ I 20.
Emathius: Adj. zu Emathia, bezeichnet Pharsalus als Ort der letzten Auseinander-
setzung zwischen → Cesar (Caesar) und → Pompeius → V 496.
Emilius: Die Person des römischen Konsuls geht auf die romanhafte Überliefe
rungstradition zurück, nach der Aemilius das Bündnis der Römer mit → Ale
xander aufgekündigt haben soll, obwohl er zuvor als Zeichen der Freundschaft
eine goldene Krone nach → Babilon (Babylon) geschickt hatte. Der Bruch
dieses Bündnisses soll die in der Sage wiedergegebene Unterwerfung Roms
durch → Alexander zur Folge gehabt haben → X 323.
Enacides: Hiulcon, des Enaches Sohn, ein persischer Kämpfer → IX 198.
Enos: Persischer Kämpfer → V 36.
Eous → Aurora: Göttin der Morgenröte, Morgen oder Osten (Eos) → II 98; V 425.
Ermolaus: Königlicher Page → Alexanders, der noch vor dem Indienfeldzug hin-
gerichtet wurde (Hermolaus) → IX 4.
Esau: Sohn des Isaak und der Rebekka, Enkel Abrahams und Zwillingsbruder des
→ Iacob, Stammvater der Edomiter und Amalekiter → IV 205.
Eschinus: Berühmter Redner in Athen (Aeschines) und in der Frage der Beziehun-
1022 Index nominum
Falernus: Ein Wein aus der Gegend zwischen Latium und Kampanien → X 148.
Fatum: Das durch Götterspruch zum Ausdruck gebrachte Schicksal → I 6; VI 272.
Faunus: Gott der Natur und des Waldes, der Beschützer von Bauern und Hirten,
ihres Viehs und ihrer Äcker, dessen Hauptfest die Lupercalien waren, die am
15. Februar eines jeden Jahres stattfanden. In der griechischen Mythologie ent-
spricht dem Faunus der Hirtengott Pan → II 63.
Favor: Personifikation der launenhaften Gunst → IV 429.
Fidias: Persischer Kämpfer (Phidias) → V 189, 203.
Flandria: Die Grafschaft Flandern ist ein historisches Territorium auf dem Gebiet
der heutigen Länder Belgien, Frankreich und den Niederlanden → VIII 168.
Flora: In der römischen Mythologie die Göttin der Blüte, die gewöhnlich als eine
mit Blumen geschmückte junge Frau dargestellt wurde → II 317.
Fortuna: Die Schicksalsgöttin der römischen Mythologie → I 494; II 175, 187, 198,
419, 453; III 270, 528; IV 552, 553, 560; V 25, 39, 130, 255, 396; VI 142, 521; VII 192,
280; VIII 99, 453, 456; IX 272, 329, 375, 380, 561, 577; X 205, 390.
Franci: Das Volk der Franken → V 512.
Francia: Franzien als das Land um die Ile de France und die Champagne im Nord-
osten Frankreichs → VII 345, 411.
Frigia: Landschaft in Kleinasien (Phrygia) → I 452.
Index nominum 1023
Frixeus: Adj. (Phrixeus) zu Phrixus, der in der griechischen Mythologie als Sohn
des Königs Athamas von → Boetia (Böotien) und seiner ersten Frau Nephele
aufgrund einer Intrige von Athamas’ zweiter Frau Ino beinahe als Opfergabe
sein Leben verloren hätte, wenn er nicht zusammen mit seiner Schwester Helle
von einem fliegenden Widder gerettet worden wäre. Nachdem seine Schwester
Helle auf der Flucht abgestürzt war – daher der Name Hellespont als das Meer
der Helle –, kam Phrixus nach Kolchis, wo er dem Zeus den Widder opferte
und dessen Fell – das berühmte Goldene Vlies – in einem dem Kriegsgott Ares
heiligen Hain aufbewahrte → IV 94.
Furiae: Rachegöttinnen (Furien), die mit den Erinnyen gleichgesetzt werden kön-
nen (Allecto, → Megera (Megaera) und → Thesiphone (Tisiphone) → VI 58;
VII 40.
Furor: Personifikation der Raserei → V 211, 212.
Hamon: Ägyptischer Orakelgott, von den Griechen als Zeus Ammon und von den
Römern als → Iupiter (Jupiter) Hammon verehrt (Hammon) → I 488; III C.
6, III 372, 389; VII 404.
Hebrei: Das Volk der Hebräer (Hebraei) → I 551; II 506; IV 179, 209, 222, 226; VII,
425.
Hector: Ältester Sohn des trojanischen Königs Priamus und dessen Frau Hekabe,
wichtigster Heerführer im Trojanischen Krieg, wurde von → Achilles besiegt
und um die Mauern seiner Heimatstadt geschleift (Hektor) → I 473, 480.
Heli: Heli (Eli) diente als Priester der Israeliten in der Stiftshütte in Silo → IV 224.
Helie: Der biblische Prophet Elija → IV 247.
Hercules → Alcides → X 174.
Herculeus: Adj. zu → Hercules (Herkules) → V 354; VII 410.
Herebus: Gott der Finsternis (Erebus), meton. für die Unterwelt → X 31.
Herinis: Allgemein für eine Rachegöttin oder Furie (Erinys) → VIII 344.
Hermogenes: Griechischer Kämpfer → III 97.
Hesifilus: Griechischer Kämpfer → V 37.
Hesperius: Adj. zu → Hesperus → III 394; VII 1, 374.
Hesperus: Der Abendstern, meton. auch für Westen → II 55; III 394, 467.
Hester: Jüdische Waise mit dem hebräischen Namen Hadassa, Adoptivtochter
ihres Cousins Mordechai, lebte im 5. Jh. v. Chr. in der persischen Diaspora und
wurde Frau des persischen Königs → Xerxes I. (Esther) → IV 270.
Hispania: Spanien → V 317; VII 410; X 231, 270.
Hispanus: Adj. zu → Hispania → V 504; X 174.
Holophernes: Im Alten Testament ein assyrischer Feldherr (Holofernes), der von
→ Iudith (Judith) getötet wurde → IV 273.
Homerus → Meonius (Maeonius): Der älteste griechische Dichter (8. Jh. v. Chr.) und
als Autor der Ilias und der Odyssee Vater der epischen Dichtkunst. Möglicher-
weise stammte Homer aus Mäonien (Lydien), was die von Walter an anderer Stelle
verwendete Bezeichnung als vates Maeonius verständlich macht → I 483.
Index nominum 1025
Honorius: Flavius Honorius, zwischen 395 und 423 n. Chr. weströmischer Kaiser
→ V 509.
Horestes: Griechischer Kämpfer (Orestes) → III 66.
Hydra: Die von → Hercules (Herkules) erlegte Hydra ist ein vielköpfiges schlan-
genähnliches Ungeheuer aus der antiken Mythologie, dem – sollte es einen
seiner Köpfe verlieren – auf der Stelle zwei neue nachwuchsen → III 435.
Hyperboreus: Adj. zur Bezeichnung des Nordens → IV 452.
Hyrcani: Das Volk der Hyrkaner → VIII C. 1.
Hyrcania: Landschaft am Südufer des Kaspischen Meeres und Heimat der → Hyr-
cani (Hyrkaner) → V 167.
Hyrcanus: Adj. zu → Hyrcani → I 49; III 54; V 478; VII 207; VIII 5.
Hyster: Die Donau (Hister) → IV 124.
Hyspania → Hispania → V 517.
Hyspanus → Hispanus → V 504.
Iacob: Sohn des Isaak und der Rebekka, Enkel Abrahams und Zwillingsbruder des
→ Esau, Stammvater der Edomiter und Amalekiter → IV 206.
Ianus: Gott des Eingangs und Ausgangs, des Tages- und Jahresbeginns, zumeist mit
zwei in entgegengesetzter Richtung blickenden Gesichtern dargestellt (Janus)
→ V 2.
Iehenna: Frühjüdisch-neutestamentliche Bezeichnung für die Hölle (Gehenna)
→ X C. 2, X 60, 64.
Ieronimus: Der von Walter im Prolog der → Alexandreis angesprochene Ge-
lehrte und Theologe gehört in der katholischen Kirche neben Ambrosius von
Mailand, Augustinus von Hippo und Gregor dem Großen zu den vier großen
Kirchenvätern der Spätantike (Hieronymus) → prol. 24.
Iezabel: Die aus Phönizien stammende Ehefrau von König → Achab (Ahab) von
Israel (Isebel), den sie dazu brachte, sich von Jahwe abzuwenden und ihre phö-
nizischen Götter zu verehren → IV 244.
Iheremias: Einer der großen Schriftpropheten (Jeremia) → IV 259.
Ihericho: Jericho liegt östlich der judäischen Wüste im Jordangraben und war die
erste Stadt, die von den Israeliten nach der Überquerung des Jordans eingenom-
men wurde → IV 215.
Iherosolima → Iherusalem: Die Stadt Jerusalem (Hierosolyma) → I 421.
Iherusalem → Iherosolima (Hierosolyma) → I 541.
Ihesus: Jesus von Nazareth → V 519.
Iliacus: Adj. zu → Ilion, trojanisch → I 464.
Ilion → Troia → Pergama: Die berühmte Stadt im Nordwesten Kleinasiens (Troja)
→ I 453.
1026 Index nominum
Iusticia: Göttin der Gerechtigkeit (Iustitia), meton. auch für den Gerechtigkeits-
sinn eines Menschen → I 176; IV 419.
Karolus: Karl der Große, König des Fränkischen Reichs (768–814 n. Chr.), an
Weihnachten 800 n. Chr. vom Papst als erster westeuropäischer Herrscher seit
der Antike zum Kaiser gekrönt → V 517.
Kartago: Antike Seemacht im Norden Afrikas (Karthago) und bis zu den Puni-
schen Kriegen eine ernsthafte Konkurrenz für das expandierende Römische
Reich → V 516; VII 407; X 227, 268.
Lachesis: Neben → Clotho und → Atropos eine der drei → Parcae (Parzen). La-
chesis hatte die Aufgabe, die Lebensfäden der Menschen abzumessen. Gegen
die Entscheidung der Parzen konnten sogar die Götter keine längere Lebenszeit
für die Menschen erwirken → III 355; V 143.
Laerciades: Odysseus als Sohn des Laërtes (Laertiades) → VIII 233.
Laomedon: Offizier und Gefährte → Alexanders → V 37.
Latonia: Die Göttin → Diana als Tochter der Latona → VII 4.
Lecolaus: Beteiligter an der Verschwörung des → Phylotas → VIII 107.
Ledei fratres: Die von Leda (Gattin des spartanischen Königs Tyndareos) stam-
menden Dioskuren (Laedei fratres) → V 5.
Leo: Das Sternzeichen Löwe → II 160.
Leonnatus: Ein Offizier und Leibwächter Alexanders → IX 433, 438.
Letheus: Adj. zum Unterweltsfluss Lethe (Lethaeus) → III 356; IV 443.
Leucas: Vor der griechischen Westküste im Ionischen Meer liegende Insel und Stadt
→ V 493.
Leviathan: Synonym für den Teufel, der gegen Gott rebellierte und als gefallener
Engel in die Hölle verbannt wurde → X 75.
Liber → Bachus (Bacchus) I 336; VII 316.
Libido: Personifikation der Wollust → X 40.
Licus: Fluss in Asien (Lycus) → V 320.
Lidi: Die Einwohner Lydiens (Lydi) → VIII 422.
Lidia: Lydien, eine Gegend im Westen Kleinasiens an der Mittelmeerküste und der
Südküste des Schwarzen Meeres → II 344, 529; VII 477.
Ligures: Die Ligurer, ein Volk im westlichen Norditalien → VII 378, 413.
Lisimacus: Ein Offizier und Leibwächter → Alexanders, nach dessen Tod Herr-
scher über Thrakien und Pontus (Lysimachus) → V 373.
Livor: Personifikation des Neids → X 46.
Lucanus: Epischer Dichter im 1. Jh. n. Chr., Autor der Pharsalia (Epos über den
Bürgerkrieg zwischen → Pompeius und → Cesar (Caesar) → V 507.
1028 Index nominum
Lucifer: Der auch als Morgenstern bezeichnete Planet Venus → I 11, 429; IV 3, 453;
X 84, 363.
Ludewicus: König Ludwig VI. von Frankreich (Ludovicus) → VIII 171.
Lybanus: Der für seine Zedern bekannte Libanon (Libanus), ein Gebirge im anti-
ken Syrien → X 187.
Lybia → Lybie (Libye): Libyen in Nordafrika (Libya) → VII 404; X 306.
Lybicus: Adj. zu → Lybia (Libya), libysch (Libycus) → III C. 6, III 372, 431; V 263.
Lybie → Lybia (Libya) → IX 11.
Lycaon: Der von Iupiter (Jupiter) in einen Wolf verwandelte König von Arkadien
→ II 398.
Lydia → Lidia → V 389.
Lysias: Persischer Tetrarch → V 263, 262, 265, 266.
Minerva: Römische Göttin der Weisheit, der Künste und der Wissenschaften; ent-
spricht im Griechischen der → Pallas (Athene) → VIII 230.
Moabitis → Ruth: Die Moabiterin Ruth → IV 221.
Musa: Kalliope (Muse der epischen Dichtkunst), eine der neun Töchter des → Iu-
piter (Jupiter) und der Mnemosyne → I 5.
Pacificus: Beiname für König Salomo, Herrscher des vereinigten Königreichs Israel,
Erbauer des ersten jüdischen Tempels in Jerusalem und der dritte König in
Israel nach Saul und seinem Vater David → IV 236.
Palestina: Bezogen auf die Zeit Jesu bestand Palästina (Palaestina) aus drei Gebie-
ten. Im Norden lag Galiläa, in der Mitte Samaria und im Süden Judaea mit der
Hauptstadt Jerusalem → I 420.
Pallantheus: Adj. zu → Pallas (Pallanteus) → VII 409.
1032 Index nominum
Pallas: Die griechische Göttin der Weisheit, der Strategie und des Kampfes, der
Kunst, des Handwerks sowie die Schutzgöttin und Namensgeberin der griechi-
schen Stadt Athen, entspricht im Lateinischen der Minerva (Athene) → I 276;
IV 70; V 237; VII 126; VIII 229.
Pamfilicus: Adj. zu Pamfilia (Pamphylia), einer Landschaft im Süden Kleinasiens.
Das mare Pamphylicum entspricht dem heutigen Golf von Antalya und wird
im übertragenen Sinn auch für das ganze östliche Mittelmeer benutzt.
Paradysus: Nach jüdischer und christlicher Vorstellung derjenige Ort, an dem die
Menschen zu Anfang ihrer Existenz gelebt haben, bis sie wegen ihres Sünden-
falls daraus verstoßen wurden (Paradisus). Nach mittelalterlichen Vorstellungen
befand sich das Paradies auf der Erde und wurde auf mittelalterlichen Radkar-
ten – auch Mappae Mundi genannt – im Osten der bewohnten Welt als ab-
gegrenzter und vom Menschen zu Lebzeiten nicht erreichbarer Ort ausgewiesen
→ I 411.
Parcae: Die drei Schicksalsgöttinnen (Parzen): → Clotho, die auf ihrem Spinnrad
den Lebensfaden herstellt, → Lachesis, die den Lebensfaden zuteilt und → At-
ropos, die den Lebensfaden abschneidet. Gegen die Entscheidung der Parzen
können sogar die Götter keine längere Lebenszeit für die Menschen erwirken
→ V 113; VI 429; VIII 79.
Paris: Priamus’ Sohn, der seine Ehefrau → Oenone wegen Helena verlassen hat, die
ihm von → Venus als Belohnung für seine Wahl der Liebesgöttin zur Schöns-
ten versprochen worden war; im trojanischen Krieg durch einen Giftpfeil des
Philoktetes getötet → I 460, 474.
Parmenides: Neben → Phylotas (Philotas) und → Hector (Hektor) einer der
Söhne des → Parmenio → V 163; VIII 120, 309.
Parmenio → Parmenius: Wichtigster Offizier (Hauptgeneral) → Alexanders, der
schon unter dessen Vater → Philipp eine Führungsposition innerhalb der make-
donischen Führungselite innehatte → II 143, 260, 268, 427, 431; III 56, 64 258;
IV 113, 331, 350, 376, 469; V 131, 206, 234, 358; VI 145; VIII 82, 104, 173, 328.
Parmenius → Parmenio → IV 132.
Parthi: Die Parther waren eine Völkerschaft in Vorder- und Zentralasien, die wegen
ihrer berittenen Bogenschützen berühmt waren → V 76, 164; VII 477.
Parthia → Partia, antike Landschaft im Norden des heutigen Iran und im Süden
des heutigen Turkmenistan → V 514.
Parthus: Sg. zu Parthi → III 33.
Partia → Parthia → I 413.
Patron: Anführer eines griechischen Kontingents im persischen Heer → VI C. 11,
VI 490, 506, 508, 510, 525.
Paulus: Der Apostel Paulus → I 208.
Index nominum 1033
Remensis: Adj. zu der in der Champagne im Nordosten Frankreichs, etwa 130 Kilo-
meter von Paris entfernt liegenden Stadt Reims → I 17.
Remi: Die Einwohner der Stadt Reims → V 520.
Remnon: Ein persischer Kämpfer arabischer Herkunft (Rhemnon) → V 133, 148,
163.
Renus: Der Rhein (Rhenus) → X 180, 234.
Reverentia: Personifikation der Ehrfurcht → IV 417.
Risus: Personifikation des höhnischen Gelächters → IV 430.
Rodanus: Die Rhone (Rhodanus) → II 318b; V 314.
Index nominum 1035
Roma: Die Hauptstadt Italiens und Sitz des Papstes → I 14; V 491, 508; VII 409;
X 183, 323, 327, 443.
Romani: Die Römer → VII 378.
Romuleus: Adj. zu Romulus, dem mythischen Gründer und ersten Königs von
Rom → I 8; V 181; VI 56; X 443.
Rubricus: Persischer Kämpfer → IX 210.
Rubrum mare: Das Rote Meer → V 39; IX 19, 32–33.
Ruth → Moabitis: Die Urgroßmutter König Davids → IV 221.
Sabeus: Adj. zu Saba, einer Gegend der Arabia felix (Südarabien), arabisch → I 115,
VII 410.
Samaria: Antike Hauptstadt des Königreichs Israel → IV 243.
Samson: Eine Gestalt aus dem Alten Testament und Held des israelitischen Stam-
mes Dan im Kampf gegen die Philister. Samson war so lange unbesiegbar, wie
sein Haupthaar ungeschoren blieb. Nachdem er jedoch das Geheimnis seiner
Stärke seiner Frau Delila anvertraut hatte, wurde er durch ihren Verrat gefangen
genommen, geblendet und geschoren → IV 219.
Samuel: Biblischer Prophet → IV 224.
Sanga: Persischer Kämpfer → V 81, 90.
Sangarius: Fluss in Kleinasien (Sagaris) → II 73.
Sardis: Hauptstadt von Lydien → II 70.
Sarmacia: Gebiet zwischen der Ostsee und dem Schwarzem Meer und von der
Wolga bis zum Kaspischen Meer (Sarmatia) → VIII 363.
Satrapenus: Adj. zu Satrapes, persischer Statthalter, Satrap → VI 34.
Saturnius → Iupiter (Jupiter) als Sohn des Saturn → V 61.
Satyri: Satyrn sind mythologische Mischwesen im Gefolge des Bachus (Bacchus)
→ II 312.
Scilla: Felsen in der sizilianischen Meerenge (Scylla) gegenüber dem Meeresstrudel
→ Caribdis (Charybdis); Schrecken der vorbeifahrenden Seefahrer → III 380;
V 301.
Scitae: Das Reitervolk der Skythen (Scythae) → IV 337; VIII C. 8, VIII 50, 407, 416,
417, 441, 445, 478, 495, 500, 504.
Scitia: Das Land der Skythen (Scythia) → VIII 359, 361, 409, 436, 481.
Sciticus: Adj. zu Scitae (Scythae), skythisch → V 264; VIII 370.
Secanius: Adj. zu Secana (Sequana): Die durch Frankreich fließende Seine
→ V 440.
Semei: Ein Benjaminiter aus dem Hause Sauls, der David verflucht hatte und von
Salomo hingerichtet wurde, da er sich nicht an die Abmachung gehalten hatte,
Jerusalem nicht zu verlassen → IV 237.
1036 Index nominum
Semele: In der Mythologie die Tochter der Göttin der Eintracht und des Königs
Kadmus, des Gründers von Theben, Mutter des Weingottes → Bachus (Bac-
chus) → I 304.
Semiramis: Sagenhafte assyrische Königin, Gründerin von → Babilon (Babylon),
deren hängende Gärten als antikes Weltwunder galten → X 244.
Semiramius: Adj. zu → Semiramis → V 439; VI 33; X 252.
Sennachar: Beiname des → Nemphrot (Nimrod) → II 500.
Senonensis: Adj. zu → Senones → I 14.
Senones: Völkerschaft an der oberen Seine um die Stadt Sens herum → I 13.
Septem Triones: Das Siebengestirn, das Sternbild des Großen Bären → VIII 471.
Seres: Die durch die Herstellung von Seide bekannten Chinesen → VIII 59.
Servius: Spätantiker römischer Grammatiker und Vergil-Kommentator → prol. 35.
Sicambrus/Sicambri: Ein germanisches Volk (Sigambri), das ursprünglich zwischen
den Flüssen Ruhr und Sieg gelebt hatte und von Kaiser Tiberius teilweise ins
linksrheinische Gebiet umgesiedelt wurde → X 235.
Siculus: Adj. zu Sicilia, die Insel Sizilien → X 164, 274.
Silo: Eine in der hebräischen Bibel erwähnte Siedlung im Westjordanland, die in
Israels vorstaatlicher Zeit ein Jahwe-Heiligtum besaß, in dem die Bundeslade
aufbewahrt wurde → IV 225.
Siria → Syria → I 418.
Sompnus: Römischer Gott des Schlafes (Somnus), im Griechischen dem Hypnos
entsprechend → IV 438.
Stigius: Adj. (Stygius) zu → Stix (Styx) → VIII 352; IX 45; X 31.
Stix: Fluss in der Unterwelt, meton. für die Unterwelt insgesamt (Styx) → III 179;
X 15, 26, 121.
Sudracae: Das Volk der Malli zwischen den beiden Flüssen Hydraotes (Ravi) und
dem → Achesis (Akesines) → IX 342, 399.
Superbia: Die Personifikation des Hochmuts → X 38.
Susa: Die Hauptstadt der persischen Provinz Susiana, in der sich gemäß der bibli-
schen Überlieferung der Prophet Daniel während des babylonischen Exils aufge-
halten haben soll. Ebenso wurde die persische Stadt durch die von → Alexander
dort im Frühjahr 324 veranstaltete Massenhochzeit bekannt, bei der er selbst und
ein großer Teil seiner Führungsriege Ehen mit vornehmen Perserinnen schlossen,
um den Frieden zwischen Persern und Griechen abzusichern → VI 64.
Sydon: Die älteste Stadt Phöniziens (Sidon) → III C. 4, III 276.
Symachus: Griechischer Kämpfer (Symmachus), Freund des → Nicanor → IX 79,
94, 111.
Symon: In der Apostelgeschichte wird berichtet, dass ein Simon Magus den Aposteln
Petrus und Johannes Geld für die Fähigkeit geboten hat, den Heiligen Geist auf
Index nominum 1037
andere Menschen herabzurufen. Die unter dem Begriff der Simonie bekannte
Käuflichkeit kirchlicher Ämter geht auf diesen Simon Magus zurück → VII 318.
Syria → Siria: Ein Gebiet, das im Süden von Arabien, im Osten von Mesopotami-
en, im Nordosten von Armenien und im Nordwesten von Kleinasien begrenzt
wurde → III 12; V 434; VII 476; VIII 423; X 185.
Syrius: Der im Sommer am Himmel erscheinende Hundsstern (Sirius) → X 72.
Syrtis: Das Gebiet um die im Osten der heutigen libyschen Hauptstadt Tripolis
liegende Große Syrte (Syrtis maior) und die östlich davon liegende Kleine Syrte
(Syrtis minor) → III 379; V 263; VII 404.
Syrus: Aus Syrien stammend → V 31.
Sysenes: Persischer Söldner in Diensten → Alexanders (Sisines) → II C. 6, II 269.
Sysigambis: Die Mutter des Perserkönigs Darius (Sisigambis) → VI C. 4, VI 132.
Tytites: Diomedes ist in der griechischen Mythologie der Sohn des Tydeus und der
Deipyle (Tytides), war König von → Argos und gehörte im Trojanischen Krieg
zu den wichtigsten Kämpfern der Griechen; gemeinsam mit Odysseus drang
Diomedes heimlich in Troja ein und entwendete das Palladium, das die Stadt
vor der Eroberung bewahren sollte → VIII 231.
Vasti: Vasti war nach dem Alten Testament eine Frau des Perserkönigs → Xerxes,
die sich geweigert hatte, bei einem Festmahl des Königs zu erscheinen und dort
vor zumeist angetrunkenen Männern zu tanzen (Waschti). Diesen Akt der Re-
bellion gegen König und Ehemann büßte Vasti mit ihrer Verstoßung → IV 271.
Venus: Göttin der Liebe (griech. Aphrodite), Tochter des → Iupiter (Jupiter) und
der Dione, Gemahlin des → Vulcanus, Mutter des Amor und des trojanischen
Helden Aeneas, Stammmutter des julischen Hauses → I 167, 169; VI 22, 251.
Victoria: Die Göttin des Sieges (griech. Nike) → IV 405.
Vulcanus: Gott des Feuers, der Schmiedekunst und des Handwerks (griech. He-
phaistos), Sohn des → Iupiter (Jupiter) und der Juno, Gemahl der → Venus
→ I 348; III 486.
Ysos → Yssos: Eine am Meer gelegene Stadt in Kilikien (Kleinasien), in deren Nähe
die zweite große Schlacht (333. v. Chr.) zwischen Griechen und Persern stattge-
funden hat (Issus) → II 259.
Yssos → Ysos (Issus) → II 388.
Ytacus: Einwohner der Insel Ithaka, im Besonderen Odysseus (Ithacus) → VIII 229.
Yulcon: Persischer Kämpfer, des Enaches Sohn (Hiulcon) → IX 198.
Zephirus: Der Westwind (Zephyrus), der neben dem → Aquilo (Nordwind), dem
→ Eurus (Ostwind), dem → Nothus (Südwind) einen der vier Hauptwinde
darstellt → II 317; IV 317, VIII 484; X 2.
Zoroas: Persischer Gelehrter und Kämpfer → III 141, 183, 186.
Zorobabel: Enkel des 597 v. Chr. in babylonische Gefangenschaft geratenen Königs
→ Ioachim (Jojachin) von Juda (Serubbabel), Statthalter der Provinz Jehud zur
Zeit des Perserkönigs Darius I. (6. Jh. v. Chr.) → IV 269.