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SAMMLUNG TUSCULUM

Herausgeber:
Niklas Holzberg
Bernhard Zimmermann

Wissenschaftlicher Beirat:
Kai Brodersen
Günter Figal
Peter Kuhlmann
Irmgard Männlein-Robert
Rainer Nickel
Christiane Reitz
Antonios Rengakos
Markus Schauer
Christian Zgoll
WALTER VON CHÂTILLON

ALEXANDREIS

Lateinisch-deutsch

Herausgegeben und übersetzt


von Martin Lehmann

DE GRUY TER
ISBN 978-3-11-079572-1
e-ISBN (PDF) 978-3-11-100694-9

Library of Congress Control Number: 2023934960

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(www.e-codices.unifr.ch)

Satz im Verlag
Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH

♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier


Printed in Germany

www.degruyter.com
Für Lavinia
Vorwort
Der mit Walter von Châtillon befreundete Johannes von Salisbury,
als Bischof von Chartres (1176–1180) einer der bedeutendsten Theo-
logen seiner Zeit, zitiert in seinem Metalogicon den frühscholasti-
schen Gelehrten Bernhard von Chartres folgendermaßen:

Dicebat Bernardus Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes,
ut possimus plura eis et remotiora videre, non utique proprii visus acumine, aut
eminentia corporis, sed quia in altum subvehimur et extollimur magnitudine gi-
gantea (Johannes von Salisbury, Metalogicon 3, 4, 47–50).

Bernhard von Chartres sagte, wir seien wie Zwerge, die auf den Schultern von
Riesen sitzen: So können wir mehr als diese und auch entferntere Dinge sehen,
freilich nicht aufgrund der eigenen Sehkraft oder der eigenen Körpergröße, son-
dern weil wir durch die Größe der Riesen weit emporgehoben werden.

Das Gleichnis von den Zwergen auf den Schultern von Riesen soll
zum einen deutlich machen, dass ohne die herausragenden Leistun-
gen vergangener Zeiten die Weiterentwicklung des Wissens nicht
möglich wäre, da wir nur auf Grundlage der vorhandenen Forschun-
gen überhaupt die Möglichkeit besitzen, Erkenntnisfortschritte zu
erzielen, zum anderen aber auch der Hoffnung Ausdruck verleihen,
dass die eigene Tätigkeit tatsächlich einen Beitrag zum Erkenntnis-
fortschritt zu leisten imstande ist und das Wissen der Alten an der
einen oder anderen Stelle zu übertreffen vermag. In diesem Sinne
sind an dieser Stelle insbesondere die herausragenden Forschungs-
arbeiten von Claudia Wiener, Jakob Maximilian Gartner und Hart-
mut Wulfram hervorzuheben, die dem Autor zu tieferen Einsichten
verholfen haben und ohne die eine umfassende Kommentierung der
Alexandreis des Walter von Châtillon in dieser Form nicht möglich
gewesen wäre.
8 Vorwort

Ein herzlicher Dank gebührt außerdem dem promovierten Germa-


nisten Klaus Thonack für seine unermüdliche Bereitschaft, dem
Autor jederzeit mit Rat und Tat zur Seite gestanden zu haben. Eben-
so ist der Autor dem klassischen Philologen Dr. Stefan Faller (Se-
minar für Griechische und Lateinische Philologie Freiburg) sowie
dem Theologen Bernhard Löbbert, die mit ihrer Expertise ebenfalls
zum Gelingen des vorliegenden Bandes beigetragen haben, zu Dank
verpflichtet.
Inhalt
VORWORT  7

EINLEITUNG
1. Die Renaissance des 12. Jahrhunderts 11
2. Autor und Werk 14
3. Walters Quellen 17
4. Sprache und Stil 20
5. Der Götterapparat 22
6. Walters poetologisches Selbstverständnis 26
7. Die Alexandreis und der vierfache Schriftsinn 29
7.1. Die historische Dimension der Alexandreis 30
7.2. Die heilsgeschichtliche Dimension der Alexandreis 30
7.3. Die eschatologische Dimension der Alexandreis 35
7.4. Die moralische Dimension der Alexandreis 38
8. Zeitgenössische Bezüge 47
9. Handschriftliche Überlieferung und Textgestalt 49

GLIEDERUNGSÜBERSICHT  53

TEXT UND ÜBERSETZUNG


Prolog 68/69
Buch I 72/73
Buch II 128/129
Buch III 176/177
Buch IV 224/225
Buch V 286/287
Buch VI 328/329
Buch VII 374/375
Buch VIII 416/417
10 Inhalt

Buch IX 458/459
Buch X 502/503

KOMMENTAR
Prolog Einführung 543 Kommentar 547
Buch I Einführung 556 Kommentar 568
Buch II Einführung 637 Kommentar 641
Buch III Einführung 699 Kommentar 704
Buch IV Einführung 743 Kommentar 747
Buch V Einführung 791 Kommentar 796
Buch VI Einführung 832 Kommentar 836
Buch VII Einführung 865 Kommentar 869
Buch VIII Einführung 898 Kommentar 903
Buch IX Einführung 933 Kommentar 939
Buch X Einführung 966 Kommentar 971

LITERATURVERZEICHNIS  1003

INDEX NOMINUM ALEXANDREIDOS CUM


ANNOTATIONIBUS  1011
Einleitung
1. Die Renaissance des 12. Jahrhunderts

Der von Hastings Rashdall im Jahre 1895 in der Überschrift zu sei-


nem Einleitungskapitel seines Buchs über die europäischen Univer-
sitäten des Mittelalters in die Fachliteratur eingeführte und im Jahre
1927 von Charles Homer Haskins einem breiteren Publikum vor-
gestellte Begriff der Renaissance des 12. Jahrhunderts wurde lange
Zeit insbesondere vonseiten der Forschung zur italienischen Renais-
sance des 14. und 15. Jahrhunderts kritisiert und in Frage gestellt (vgl.
Lehmann 2018, 11, Anm. 1). Haskins konnte jedoch aufzeigen, dass
bereits unter den Gelehrten des 12. Jahrhunderts die Ausrichtung
auf die klassische Antike ein bestimmendes Merkmal ihres Den-
kens und Handelns war, das sich mit der leidenschaftlichen Hin-
wendung zu lateinischen Texten antiker Autoren insbesondere in
den Fachbereichen der Philosophie, Theologie und Jurisprudenz
kennzeichnen lässt. Seitdem sich die Geschichtswissenschaft den
Denkformen und Handlungsmustern dieser Zeit stärker zuwandte
und sich die Erkenntnis durchsetzen konnte, dass sich der Wandel in
der Gesellschaft des 12. Jahrhunderts in nahezu allen Bereichen des
menschlichen Lebens vollzog und seinerseits einen nicht unerheb-
lichen Einfluss auf spätere Jahrhunderte – im Übrigen gerade auch
auf die italienische Renaissance – ausüben konnte, besteht in der
heutigen Forschung inzwischen weitgehend Einigkeit darüber, dass
nach dem oft als Aufbruchsperiode bezeichneten 11. Jahrhundert in
den beiden darauf folgenden Jahrhunderten neue Ordnungen und
neue Vorstellungen über das Zusammenleben der Menschen in der
mittelalterlichen Gesellschaft erkennbar Gestalt annahmen und der
dieses Jahrhundert beschreibende Begriff der »Renaissance des 12.
Jahrhunderts« innerhalb der mittelalterlichen Epocheneinteilung
12 Einleitung

aus diesen Gründen seine Berechtigung nachgewiesen hat (vgl.


Vollrath 2001, 74). Wesentliche Merkmale dieser hochmittelal-
terlichen Renaissance stellen im Bereich der Literatur dabei die Wie-
derbelebung lateinischer Klassiker und die Wiederbeschäftigung
mit der griechischen Philosophie dar, insbesondere mit Aristoteles
und dem Timaios Platons. In diesem Kontext spielten die Kreuz-
züge – im Mittelalter über viele Jahrhunderte in vielfacher Hinsicht
eine politische Wirklichkeit – eine wesentliche Rolle, da die dauer-
hafte Auseinandersetzung zwischen Christen und Muslimen einen
Austausch von Waren, Ideen und Wissen zwischen Ost und West
mit sich brachte, infolge dessen die nach dem Untergang des Rö-
mischen Reichs verloren geglaubten Schriften zahlreicher antiker
Autoren unmittelbar aus dem Griechischen oder auf dem Umweg
über das Arabische wieder den Weg in den Westen zurückfanden.
Zugleich begann auch die Übersetzungsarbeit an Schriften beinahe
aller Fachbereiche, die als Grundpfeiler für die Wissenschaft fast al-
ler Fakultäten für die kommenden Generationen angesehen werden
muss (vgl. Classen 1983, 332–333). In der Wissenschaft insgesamt
und insbesondere in der Theologie, die sich zuvor noch primär an
der wörtlichen Auslegung der Bibel orientierte, konnte sich ein
Denken durchsetzen, das sich jenseits kirchlicher Dogmen in erster
Linie der menschlichen Vernunft verpflichtet sah. Wie Vollrath
(2001) 74–77 am Beispiel von Petrus Abaelard deutlich macht – der
berühmte französische Theologe und Philosoph wandte sich mit
seiner unter dem Titel Historia Calamitatum veröffentlichten Au-
tobiographie als erster Gelehrter des Mittelalters der eigenen Person
zu –, lässt sich beginnend mit dem 12. Jahrhundert ein dem intellek-
tuellen Klima der Zeit geschuldetes ausgeprägtes Selbstbewusstsein
der mittelalterlichen Gelehrten ausmachen, die im Zuge einer zu-
nehmenden Individualisierung nicht nur ihre eigene Persönlichkeit
und ihre ganz eigene Beziehung zu Gott, sondern generell auch das
menschliche Subjekt als Thema der Moral und der wissenschaftli-
chen Erforschung entdeckten. Begleitet wurde diese Entwicklung
EiNleitung 13

vom Aufblühen der Städte, die als schnell wachsende Zentren des
Handels und der Kommunikation – auch bedingt durch eine ver-
besserte Verkehrsinfrastruktur – nicht nur die Grundlage für die
ersten aus den Kathedralschulen herauswachsenden Universitäten
darstellten, sondern in denen sich auch ein neu entstehendes Bür-
gertum zunehmend gegen die alten Machtstrukturen durchzusetzen
begann. Zugleich erlebten die volkssprachlichen Literaturen ihre
erste Blüte. Mit dem Chanson de Roland – einem altfranzösischen
Versepos über die Kriegszüge Karls des Großen gegen die Sarazenen
in Spanien – setzte an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert die
große französische Dichtung ein. Chrétien de Troyes schrieb seine
großen Epen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, in der sich
unter französischem Einfluss auch in Deutschland die weltliche
Dichtung entfalten konnte, die mit dem Nibelungenlied, der Ly-
rik eines Walther von der Vogelweide, der Epik eines Wolfram von
Eschenbach sowie den Versromanen eines Gottfried von Straßburg
und Hartmann von der Aue an der Wende zum 13. Jahrhundert
ihren Gipfel erreichte (vgl. Classen 1983, 328). Auch die von Bo-
logna ausgehende Wiederbelebung des Römischen Rechts, dessen
systematische Ordnung schon in Justinians Zeit stattgefunden und
in nur einer einzigen Handschrift im Süden Italiens die Zeiten über-
dauert hatte, kann als Teil dieser Entwicklung betrachtet werden
(vgl. Classen 1983, 338). Vor dem Hintergrund dieser bedeutenden
gesellschaftlichen Veränderungen entstand in der zweiten Hälfte des
12. Jahrhunderts mit der Alexandreis des französischen Gelehrten
Walter von Châtillon ein christliches Epos über den heidnischen
König und Feldherrn Alexander den Großen, das die genannten
Entwicklungen aufnimmt und in geradezu paradigmatischer Art
und Weise widerspiegelt.
14 Einleitung

2. Autor und Werk

Walter Berschin bezeichnet Walter von Châtillon nicht zu Unrecht


als den vielseitigsten, formal gewandtesten, klassischsten und zu-
gleich emphatischsten Dichter seiner Zeit (vgl. Streckenbach
1990, 9). Gleichwohl ist über das Leben des mittelalterlichen Autors
ungeachtet einiger aus dem 13. Jahrhundert stammender Kurzviten
(abgedruckt bei Colker 1978, XII–XVIII) wenig bekannt, so dass
den meisten biographischen Angaben über einen der wohl promi-
nentesten Dichter des Mittelalters in der Forschungsliteratur bis
zum heutigen Tag eine gewisse Unsicherheit anhaftet. In den 1130er
Jahren nach eigenen, aus seinem Tractatus contra Iudaeos stammen-
den Angaben in Lille geboren, soll er nach einem Studium in Paris
und Reims die Schule von Laon geleitet haben, bevor er Kanoniker
in Reims wurde. Ob Walter tatsächlich – wie Haye (2009) 171 an-
nimmt – in Diensten Heinrichs II. von England stand und England
erst wegen des Streits um Thomas Becket wieder verließ, ist in der
Forschung umstritten, da es sich bei der Erwähnung eines magister
Galterius de Insula in der Briefsammlung des Johannes von Salisbury
auch um eine einfache Namensverwechslung handeln könnte, zumal
die Viten keinen Hinweis auf eine derartige Anstellung Walters ge-
ben (vgl. Streckenbach 1990, 10). Nach einigen Jahren als Lehrer
in Châtillon begann Walter ein Studium des kanonischen Rechts in
Bologna und wurde nach einem Aufenthalt in Rom schließlich be-
pfründeter Notar des Reimser Erzbischofs Wilhelm von Blois (vgl.
Haye 2009, 171; zu Wilhelm von Blois vgl. auch Komm. I, 12–26).
Als überaus produktiver und vielgelesener Autor verfasste Walter in
lateinischer Sprache moralisch-satirische Gedichte im Stil der Goli-
arden, die ihren Weg in die Sammlung der Carmina Burana fanden,
sowie den oben bereits erwähnten Tractatus contra Iudaeos, einen an-
tisemitischen Prosadialog über Streitfragen zwischen Christen und
Juden. Neben drei Heiligendichtungen in Vagantenstrophen ist Wal-
ter vermutlich auch der Autor einer anonym überlieferten Lebens-
EiNleitung 15

beschreibung des Heiligen Brendan, die er dem in den Jahren 1163/64


in Frankreich weilenden Papst Alexander III. dedizierte (vgl. Haye
2009, 171; zu den Mor.-sat. Gedichten Walters vgl. Strecker 1929).
Besonderen Ruhm konnte sich Walter jedoch mit der aus zehn
Büchern bestehenden Alexandreis erwerben, die vom Leben und
von den Taten des antiken Feldherrn und makedonischen Königs
Alexanders des Großen berichtet. Auch wenn der ebenso wie Walter
aus Lille stammende Alanus ab Insulis in seinem wohl unmittelbar
nach der Alexandreis erschienenen Anticlaudianus den Versuch un-
ternahm, das Alexanderepos seines Intimfeinds mit bissigem Spott
herabzuwürdigen, konnte dessen Invektive die Wertschätzung des
Mittelalters für die in der Literaturgeschichte erste epische Dich-
tung in lateinischer Sprache über den legendären makedonischen
Eroberer nicht schmälern (vgl. Streckenbach 1990, 12, Anm. 15).
Dies bezeugen weit mehr als 200 überlieferte Handschriften – die
meisten stammen aus dem 13. und 14. Jahrhundert – sowie die Tatsa-
che, dass die Alexandreis bereits im Jahrhundert nach ihrer Entste-
hung als Schullektüre aus dem mittelalterlichen Lehrbetrieb kaum
mehr wegzudenken war und teilweise bis in das 17. Jahrhundert
hinein elementarer Bestandteil des Lektürekanons blieb. Zeitweise
konnte das in reichem Maße an antiken Vorbildern orientierte Epos
sogar antike Klassiker wie die Aeneis Vergils aus dem mittelalterli-
chen Schulunterricht verdrängen. Als erster in einer langen Reihe
von Glossatoren legte noch vor dem Jahr 1200 Gaufridus von Vitry
einen Kommentar zur Alexandreis vor (vgl. Streckenbach 1990,
12; zu den Nachahmern Walters vgl. Christensen 1905, 165–194).
Die Popularität der Alexandreis ist dabei weniger mit der Wahl des
Stoffes zu erklären, da dem Mittelalter mit den Historiae Alexandri
Magni Macedonis des antiken Historikers Curtius Rufus bereits
nicht nur eine lateinische Alexandergeschichtsschreibung, sondern
auch ein um die Mitte des 10. Jh.s ins Lateinische übersetzter grie-
chischer Alexanderroman zur Verfügung standen. Vielmehr dürften
hierfür die ausgewiesene literarische Qualität – auch bedingt durch
16 Einleitung

die intertextuelle Mehrdeutigkeit der Alexandreis – sowie die über-


aus gelungene Einbindung des Epos in den zeitgenössischen Hori-
zont die ausschlaggebenden Gründe gewesen sein (vgl. Lehmann
2018, 11–12; vgl. auch Streckenbach 1990, 9–23; vgl. auch die Ein-
führung zum Prolog).
Gewidmet ist das Werk Wilhelm von Blois, dem Erzbischof von
Reims, den Walter nicht nur mit einem aus den Anfangsbuchstaben
der einzelnen Bücher bestehenden Akrostichon (GUILLERMUS)
ehrt, sondern auch an der für die gesamte Alexandreis zentralen
Stelle am Ende von Buch V als denjenigen preist, der eigentlich die
ganze Welt taufen müsste (vgl. Alex. V, 510–520; vgl. auch Komm.
V, 491–520). Auch Walters auffällig an das Ende der Alexandreis
gesetzte selbstbewusste Versprechen, mit seinem Epos sich selbst
und seinem Gönner ewigen Ruhm zu verschaffen, spiegelt die enge
Verbindung der beiden gelehrten Männer wider (vgl. Alex. X, 466–
469). Haye stellt die Vermutung an, dass Walter während seines Auf-
enthalts in Rom in seinem Bemühen um eine gut dotierte Pfründe
oder auch ein bedeutendes Amt sein Alexanderepos ursprünglich
möglicherweise Papst Alexander III. (1159–1181) widmen wollte und
er davon erst wieder Abstand nahm, als sich seine diesbezüglichen
Hoffnungen zerschlagen hatten und er daraufhin in die französi-
sche Heimat zurückgekehrt war. Haye (2009) 176 begründet seine
These dabei nachvollziehbar wie folgt:

Doch sind solche Spuren [gemeint sind diejenigen Stellen in der Alexandreis, an
denen Wilhelm als Widmungsnehmer erwähnt wird] mühelos nachträglich ein-
zufügen und ebenso leicht wieder zu tilgen. Bei nüchterner Betrachtung muss
man feststellen, dass der Name und die historische Größe der Hauptfigur, die im
Gedicht geäußerte Konzeption eines neuen Kreuzzuges und die Idee der christli-
chen Weltherrschaft sehr viel besser zu einem Papst als einem – wenn auch noch
so bedeutenden – Erzbischof gepasst hätten.

Fünf Jahre arbeitete Walter nach eigenen Angaben an seiner Ale-


xandreis, bis er sie nach einigem Zögern schließlich zu Beginn der
EiNleitung 17

1180er Jahre in Umlauf brachte (vgl. Alex. prol. 13–17; zu der in der
Forschung umstrittenen Frage der Abfassungszeit vgl. Christen-
sen 1905, 1–13). Nur wenige Jahre danach erkrankte der Dichter an
der Lepra und starb um das Jahr 1185. Walters möglicherweise noch
selbst verfasste Grabinschrift ist dabei an das berühmte Epitaph des
augusteischen Dichters Vergil – zentrales Vorbild und wichtigster
Orientierungspunkt seines epischen Schaffens – angelehnt (vgl.
Lehmann 2018, 13; der Text auf Vergils Grabmal lautet: Mantua
me genuit, Calabri rapuere, tenet nunc | Parthenope; cecini pascua,
rura, duces):
Insula me genuit, rapuit Castellio nomen.
 Perstrepuit modulis Gallia tota meis.

Lille hat mich geboren, Châtillon den berühmten Namen geraubt.


 Das ganze Frankenreich ertönte durch meine Dichtung.

3. Walters Quellen

Sieht man von den zum unverzichtbaren Inventar auch und gerade
eines mittelalterlichen Epos zählenden Schlachtschilderungen ab,
deren Gestaltung sich vornehmlich an antiken Epikern orientiert,
stellen die Hauptquelle für Walters Alexanderepos die ursprünglich
in zehn Büchern überlieferten Historiae Alexandri Magni Macedo-
nis des römischen Historikers Curtius Rufus dar, der mit seinem in
der Antike wenig gelesenen und erst in Spätantike und Mittelalter
verstärkt rezipierten Werk über Alexander den Großen den wesent-
lichen Bezugspunkt hinsichtlich der in der Alexandreis wieder-
gegebenen historischen Begebenheiten bildet (vgl. Wiener 2001,
19–32). Auch wenn Walter aus Curtius’ Alexandergeschichte zahl-
reiche historische Episoden in einer nahezu wortgetreuen Umset-
zung von Prosa in Dichtung übernimmt, ist doch die Auswahl der
Episoden insofern aufschlussreich, als er nach dem Perserkrieg als
dem aus heilgeschichtlicher Perspektive entscheidenden Ereignis der
18 Einleitung

Alexandergeschichte nur noch diejenigen Feldzüge des makedoni-


schen Königs für seine eigene Darstellung verarbeitet, die entweder
aufgrund ihrer allgemeinen Bekanntheit nicht ohne weiteres aus-
gespart werden konnten – zu nennen wäre dabei etwa Alexanders
Kampf gegen den Inderkönig Porus – oder sich wie die Eroberung
des Skythenreichs in besonderer Weise zur Inszenierung der aus
christlicher Sicht nach dem Perserkrieg einsetzenden moralischen
Depravation seines wichtigsten Protagonisten eigneten. Ebenso
sieht Walter – wie im Kapitel über die moralische Dimension der
Alexandreis noch näher ausgeführt – im Wesentlichen über die bei
Curtius bereits in der ersten Werkhälfte oft sogar kontrastierend zu
Darius dargestellten Schwächen Alexanders hinweg, um diesen im
Unterschied zu seiner antiken Vorlage innerhalb der erzählten Zeit
des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs vor einer unmittel-
baren moralischen Kritik zu schützen.
Da die von Curtius überlieferte Alexandergeschichte aufgrund
der beiden fehlenden ersten Bücher erst mit der Ankunft seines
wichtigsten Protagonisten in Phrygien einsetzt, war Walter ins-
besondere im Hinblick auf Alexanders Jugend über die Erhebung
zum Hegemon des Korinthischen Bundes und zum makedonischen
König bis hin zur ersten Schlacht am Granikus auf andere Quellen
angewiesen. Bezogen auf diesen Zeitraum greift er für seine Darstel-
lung zumeist auf die im Mittelalter vielgelesene Epitome des Pom-
peius Trogus des spätantiken Historikers Justin zurück, wofür der
Briefwechsel zwischen Darius und Alexander als Beleg dienen kann
(vgl. Komm. II, 18–44).
Doch auch in späteren Episoden, für die ihm Curtius als Vorlage
hätte dienen können, bedient sich Walter bisweilen bevorzugt jener
Autoren, die ihm aufgrund der entsprechenden Schwerpunktset-
zung für eine bestimmte Darstellungsabsicht des epischen Gesche-
hens in der Alexandreis geeigneter erschienen. Ein eindrückliches
Beispiel für dieses Vorgehen stellt in dieser Beziehung Walters in den
Mittelpunkt gerückte außerordentliche Schnelligkeit Alexanders
EiNleitung 19

bei dessen Vorrücken zur Kilikischen Pforte dar, die – motivisch in


den Historiae adversus paganos des spätantiken Historikers Orosius
im Unterschied zur Darstellung bei Curtius bereits angelegt – auf
ideale Weise den bestehenden Erfordernissen einer epischen Insze-
nierung entsprach (vgl. Komm. II, 91–102).
Im heilgeschichtlichen Kontext konnte Walter auf die Historia
scholastica des französischen Theologen Petrus Comestor zurück-
greifen, der ihm etwa als Vorlage bei der Ekphrasis des Darius-Schil-
des hinsichtlich der praeteritio um Evilmerodachs Frevel diente (vgl.
Komm. II, 484–529; vgl. auch Wiener 2001, 19).
Einfache geographische Angaben oder auch ganze geographi-
sche Exkurse gehen wie die Beschreibung Asiens in der Alexandreis
in der Regel auf die Etymologiae des Isidor von Sevilla zurück, der
mit seiner im frühen 6. Jahrhundert entstandenen Enzyklopädie
maßgeblich zum Weltwissen des Mittelalters beigetragen hat (vgl.
Komm. I, 396–426).
Mit der Aristoteles-Rede führt Walter in die Alexandreis einen
in der Art mittelalterlicher Fürstenspiegel gestalteten Tugendkata-
log ein, durch den der zu Beginn des Epos noch jugendliche Alex-
ander aus dem Munde seines berühmten Lehrers in den für einen
erfolgreichen König und Feldherrn notwendigen Tugenden unter-
wiesen wird (vgl. Alex. I, 82–183; zur Aristoteles-Rede vgl. auch die
Einführung zu Buch I). Wie Gartner (2018) 40–42 nachweisen
kann, orientiert sich Walter dabei insbesondere im Hinblick auf die
für den makedonischen König bedeutsamen Feldherrntugenden
an der Ethica Vetus des Burgundio von Pisa, die als überhaupt erste
lateinische Übersetzung des zweiten und dritten Buchs von Aristo-
teles’ Nikomachischer Ethik auch aufgrund ihrer großen Nähe zum
griechischen Original dem Autor der Alexandreis einen guten Über-
blick über die Tugendlehre des antiken Philosophen bieten konnte.
Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass Walter über
seine freundschaftliche Verbindung zu Johannes von Salisbury, der
als Bischof von Chartres enge Beziehungen zu Robert von Torigni,
20 Einleitung

dem Abt der bei Avranches gelegenen Benediktinerabtei von Mont


St. Michel, und zu Richard, dem Bischof von Avranches, pflegte,
Zugang zu einer frühen Handschrift der aristotelischen Tugendleh-
re erhielt. Dabei ist es im Kontext dieser vielfältigen Beziehungen
der Gelehrten untereinander von nicht unwesentlicher Bedeutung,
dass gerade im Norden Frankreichs die erste mittelalterliche Aris-
toteles-Rezeption stattfand und es den dort tätigen Gelehrten ein
besonderes Anliegen war, aristotelische Schriften zu interpretieren
und zu verbreiten (vgl. Gartner 2018, 42–43, Anm. 13).
Literarisches Vorbild für einen derartigen Fürstenspiegel stellt
indes Claudians Panegyricus für Kaiser Honorius zum vierten Kon-
sulat dar, in welchem Theodosius seinem zehnjährigen Sohn und
späteren Kaiser die Richtlinien politischen Handelns vermittelt und
ihm zudem die für einen Herrscher wichtigsten Tugenden ans Herz
legt. Auch in manchen Teilen der Aristoteles-Rede, in denen Walter
nicht wie bei den Feldherrntugenden auf die Ethica Vetus zurück-
greifen konnte, ist eine auch inhaltliche Bezugnahme auf den spät-
antiken Dichter unübersehbar (vgl. Zwierlein 2004, 619–621).

4. Sprache und Stil

Wie Zwierlein (2004) 663–674 ausführt, sind Sprache und Stil


der Alexandreis im Wesentlichen durch das antike Epos geprägt,
da der mittelalterliche Epiker vielfach nur das aufgreift, was bereits
in der antiken Dichtung vorlag und sich auch vermeintliche Neu-
schöpfungen Walters bei genauer Betrachtung lediglich als eine Wei-
terentwicklung antiker Vorbilder erweisen.
Über das von Christensen (1905) 54–56 angeführte rheto-
rische Stilmittel der Alliteration mit einem damit zugleich nicht
selten einhergehenden Polyptoton hinaus ist zudem eine Vorliebe
Walters für das Stilmittel des Hysteron-Proteron festzustellen, das in
der Forschung hinsichtlich seiner Tragweite und seiner Bedeutung
EiNleitung 21

für das Verständnis wichtiger Textstellen der Alexandreis bisher


weitgehend unerkannt geblieben ist. Walter bedient sich dieses Stil-
mittels insbesondere an jenen Stellen, an denen bestimmte Personen
oder bestimmte Eigenschaften dieser Personen in den Mittelpunkt
der Betrachtung gerückt werden sollen. So gelingt es dem Autor der
Alexandreis im Prooemium durch den Einsatz eines Hysteron-Pro-
teron nicht nur, die zentrale Bedeutung der Tugend der Tapfer-
keit auffällig in Szene zu setzen, sondern auch das Augenmerk auf
Alexanders aus heilsgeschichtlicher Perspektive wichtigsten Gegner
Darius zu richten (vgl. Komm. I, 1–5). Ebenso schildert Walter die
Zerstörung von Theben und die Verschonung Athens historisch
betrachtet in umgekehrter Reihenfolge, um das Einlenken des geis-
tigen Zentrums Griechenlands als das Ergebnis von Alexanders
Tugendhaftigkeit zu inszenieren (vgl. Komm. I, 268–348). In der-
selben Weise verfährt Walter bei der Wiedergabe der Legitimierung
von Alexanders Herrschaft in Griechenland, indem er historisch un-
korrekt zuerst die Erhebung seines wichtigsten Protagonisten zum
Hegemon des Korinthischen Bundes darstellt und erst dann dessen
Krönung zum makedonischen König beschreibt. Damit versetzt er
sich in die Lage, einen zeitgenössischen Bezug zum jungen franzö-
sischen König Philipp II. herzustellen, auf dem als wiedererstan-
denem Alexander im späten 12. Jahrhundert die Hoffnungen der
Christenheit im Kampf gegen die Muslime ruhten (vgl. Komm. I,
226–238). Auch im Hinblick auf die Darstellung der Landungsstelle
des makedonischen Königs im Süden der kleinasiatischen Halbinsel
und dem von Alexander daraufhin eingeschlagenen Weg von Kiliki-
en über Phrygien nach Troja bedient sich der Autor der Alexandreis
des oben genannten Stilmittels, um das zentrale Thema des Epos,
den heilsgeschichtlich legitimierten Perserkrieg, innerhalb der Ge-
samtstruktur der Alexandreis zu etablieren (vgl. Komm. I, 359–385).
Ein wichtiger produktionsästhetischer Ansatz im Werk Walters
stellt zudem das Streben nach intertextueller Mehrdeutigkeit dar,
innerhalb derer nicht selten zugleich eine auf Kontrastierung ange-
22 Einleitung

legte Bedeutungsumkehr zum Prätext impliziert ist (vgl. die Einfüh-


rung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol. 1–13).
Im Bereich der Metrik schließt sich Walter im Wesentlichen den
seit den antiken Epen allgemein üblichen Regeln des Hexameters
an, wobei der Bau seiner Verse in ihrem rhythmischen Gang und
ihrer Gliederung durchaus auch höheren Anforderungen entspricht
(vgl. Christensen 1905, 56–75).

5. Der Götterapparat

Seit Homer und Vergil ist es ein Kennzeichen epischer Dichtung,


dass das menschliche Handeln vom Eingreifen der Götter begleitet
oder bisweilen sogar bestimmt wird. Auch Walter fühlt sich dieser
antiken Tradition verpflichtet und installiert für die Alexandreis un-
geachtet ihrer christlichen Prägung einen Götterapparat, der neben
der als mittelalterliche Schöpfung geltenden Göttin Natura auch
antike Gottheiten auftreten lässt, die ihren Beitrag zum Fortgang
des epischen Geschehens leisten.
Bereits im Prooemium macht Walter mit der Erwähnung der
Parzen deutlich, dass auch Alexander als sein wichtigster Protago-
nist göttlichen Mächten unterworfen ist. Darüber hinaus finden die
Parzen in der Alexandreis im Kontext der Schlacht bei Gaugamela
und bei Alexanders Kampf mit dem Inderkönig Porus Erwähnung
(vgl. Alex. V, 140–144; vgl. auch Alex. IX, 194–195). Möglicherweise
geht die Verwendung dieses Motivs bei Walter auf Lucan zurück,
der in seiner Pharsalia dem römischen Feldherrn Pompeius auf der
Überfahrt von Italien nach Griechenland dessen frühere Gattin
Julia im Traum erscheinen und diese darin bedeutungsschwanger
verkünden lässt, dass sich die drei Schwestern aufgrund des hohen
Blutzolls – angesprochen ist dabei die in Kürze anstehende Ent-
scheidungsschlacht zwischen Caesar und Pompeius in Pharsalus –
kaum in der Lage sehen, ihre Arbeit zu bewältigen (vgl. Zwierlein
EiNleitung 23

2004, 651–652; vgl. Luc., Phars. III, 18–19: Vix operi cunctae dextra
properante sorores | sufficiunt, lassant rumpentis stamina Parcas).
Aber auch der von Walter vielfach rezipierte spätantike Dichter
Claudian bedient sich in seinem mythologischen Epos De raptu
Proserpinae dieses Motivs, so dass Walter auch von dieser Seite her
inspiriert gewesen sein kann (vgl. Claud., De raptu Pros. I, 51–53).
Da sich das Parzenmotiv ungeachtet seines heidnischen Ursprungs
abgesehen von Walters Alexandreis aber auch in anderen Werken
des Mittelalters – wie die Verwendung bei Isidor von Sevilla oder bei
Baldricus Burgulianus († 1130) für die Schlacht bei Hastings zeigt –
nachweisen lässt, ist auch ein diesbezüglicher Einfluss denkbar (vgl.
Isid. v. Sev., Etym., VII, cap. XI, 92–95; vgl. auch Burg., carm. 134,
455–458; vgl. auch Zwierlein 2004, 652).
Ein unmittelbarer Versuch göttlicher Mächte, sich in den Hand-
lungsablauf des Epos einzuschalten und diesen in ihrem Sinne zu
beeinflussen, stellt die Episode um den Kriegsgott Mars und dessen
Schwester Bellona dar, die dem makedonischen König die Botschaft
mit auf den Weg geben, von der Verfolgung des Darius abzulassen,
da es dem persischen König bestimmt sei, durch die Hand der eige-
nen Männer sein Ende zu finden (vgl. Komm. V, 205–255).
Ein höchst wirkungsvolles Eingreifen der Götter schildert Wal-
ter zudem im Kontext der Schlacht bei Gaugamela (vgl. Komm. IV,
433–453). Als Alexander nämlich in der Nacht vor der Schlacht kei-
nen Schlaf finden und seinem Gedankengefängnis im Hinblick auf
die bevorstehende Auseinandersetzung mit den Persern aus eigener
Kraft nicht entkommen kann, beauftragt die Siegesgöttin Victo-
ria in dieser überaus schwierigen und bedrohlichen Situation den
Schlafgott Somnus, dem makedonischen König in den Schlaf zu
helfen. Diese Episode baut Walter zu einem epischen Meisterstück
aus, indem er aus dem historischen Bericht des Curtius durch die
Bezugnahme auf die Thebais des Statius und die Aeneis Vergils einen
Alexander Epicus inszeniert (vgl. Harich 1987). Dabei erinnert die
Episode hinsichtlich des verwendeten Motivs, dem epischen Helden
24 Einleitung

in einem Moment der Schwäche oder der inneren Unruhe göttliche


Hilfe zukommen zu lassen, an die Jerusalem-Episode, in der dem
makedonischen König in einer vergleichbaren Situation über die
Person des Hohepriesters Jaddus die Unterstützung des jüdisch-
christlichen Gottes zugesagt worden war (vgl. Komm. I, 502–538).
Die Schicksalsgöttin Fortuna wird in der Alexandreis als inte-
graler Bestandteil des Fatums dargestellt, die den makedonischen
König trotz ihres grundsätzlich wankelmütigen Charakters so lange
unterstützt, wie es ihrer Aufgabe als ausführender Gewalt inner-
halb des göttlichen Heilsplans entspricht. Aus diesem Grund greift
Fortuna am Kydnus nach anfänglichem Zögern letztlich doch im
Sinne Alexanders ein, da er sich mit der Eroberung des Perserreichs
zu diesem Zeitpunkt noch immer auf dem Weg zur Erfüllung sei-
nes heilsgeschichtlich legitimierten Auftrags befindet (vgl. Komm.
II, 200–217). Erst als es Alexander jenseits des Perserreichs in seiner
Maßlosigkeit dazu drängt, auch die Gefilde der Antipoden erkun-
den zu wollen, kann ihn auch Fortuna gerade wegen ihres zielge-
richteten Wirkens innerhalb des göttlichen Heilsplans nicht mehr
weiter unterstützen und demzufolge auch nicht vor dem epischen
Tod retten (vgl. Komm. X, 1–5).
Zu Beginn von Buch X lässt Walter mit der Göttin Natura eine für
das 12. Jahrhundert charakteristische Gestalt auftreten (vgl. Komm.
X, 6–107). Auch wenn bereits in der antiken Literatur eine oszillie-
rende Doppelexistenz in der Darstellung der Natura zwischen na-
turphilosophischer Abstraktion und göttlichem Wesen festgestellt
werden kann – der römische Dichter Lukrez ist dafür ein gutes Bei-
spiel –, so lässt sich doch beobachten, wie Natura im 12. und 13. Jahr-
hundert weit über ihre ursprüngliche Rolle als abstrakte Vorstellung
hinauswächst und aus spätantiken Umrissen einer beginnenden
Vergöttlichung – man denke dabei insbesondere an Claudian – in
das volle Licht einer Gottheit tritt (vgl. Modersohn 1995, 14). Die
Vorstellung von Natura als Göttin entstammt dabei der Naturphi-
losophie der Schule von Chartres, die aus dem Schöpfungsmythos
EiNleitung 25

des biblischen Buchs Genesis und der in Platons Timaios entworfe-


nen Kosmogonie – überliefert in der Kommentierung des Calcidius
(Ende 3. Jh. n. Chr.) – ein neues Weltbild geformt hat (vgl. Stre-
ckenbach 1990, 16–17). Im Umfeld dieser Schule entstanden mit
der Cosmographia des Bernardus Silvestris, mit De planctu Naturae
und dem Anticlaudianus des Alanus ab Insulis sowie dem Architre-
nius des Johannes de Hauvilla bis 1184 vier große Dichtungen, in de-
nen die personifizierte Göttin Natura in verschiedenen Funktionen
auftritt, so dass Walter für sein Epos diesbezügliche Anregungen aus
dem unmittelbaren zeitgenössischen Umfeld gewinnen konnte. Im
Hinblick auf die von Walter verarbeitete Vorstellung einer Natura
plangens etwa lässt Pfister (1911) 520–524 ungeachtet der Tatsache,
dass das besagte Motiv innerhalb der antiken Literatur bereits von
Lukrez vorgeprägt und auch schon von Claudian in seinem mytho-
logischen Epos De raptu Proserpinae verarbeitet worden war, keinen
Zweifel darüber aufkommen, dass sowohl Bernardus Silvestris mit
seiner Cosmographia als auch Alanus ab Insulis mit seiner Schrift
De planctu naturae diesbezüglich einen bestimmenden Einfluss auf
Walter ausgeübt haben (vgl. Komm. X, 82–107; vgl. Bern. Silv.,
Cosm. I, 1–4; vgl. Lucr., De rer. nat. III, 931–939; vgl. auch Claud.,
De raptu Pros. III, 33–45; vgl. auch Roling 2003, 183, Anm. 81).
Auch Walters Hinweis auf die Funktion der Natura als Göttin, die
den Schöpfungsprozess in Gang halten muss und sich für die crea-
tio continua verantwortlich zeigt, stellt zweifellos eine unmittelbare
Anleihe aus Alanus’ De planctu naturae dar (vgl. Komm. X, 6–30).
Zusammenfassend lässt sich hinsichtlich des in der Alexandreis
verwendeten Götterapparats festhalten, dass Walter angesichts der
mannigfaltigen und engen Verknüpfung des irdischen Geschehens
mit der göttlichen Ebene der antiken Tradition epischer Schriftstel-
ler treu bleibt und es ihm dabei auf beeindruckende Art und Weise
gelingt, antike und mittelalterliche Vorstellungen über das Walten
der Götter und ihren Einfluss auf das Leben der Menschen harmo-
nisch miteinander zu verbinden.
26 Einleitung

6. Walters poetologisches Selbstverständnis

Wie Wulfram (2000) 222–245 in seinem Beitrag zur expliziten


Selbstkonstituierung in der Alexandreis überzeugend darlegt, zeich-
net sich Walters Selbstverständnis als Dichter durch eine poetologi-
sche Doppeldoktrin aus, die – bezugnehmend auf Alexanders Rede
an Achills Grab in Troja, an dem sich der makedonische König einen
Dichter wie Homer für seine eigenen Taten wünscht – in ihrem ers-
ten Teil von der Vorstellung geprägt ist, dass der Ruhm selbst des
größten Herrschers an einen fähigen Dichter gebunden ist, der in der
Lage sein muss, dessen Taten in angemessener Weise zu verherrlichen
(vgl. Komm. I, 468–492). Indem Walter Alexanders Rede dabei ab-
sichtsvoll mit einer Episode aus Lucans Pharsalia – als historiogra-
phisches Epos insbesondere in inhaltlich-konzeptioneller Hinsicht
der für den Autor der Alexandreis bestimmende Maßstab –, in Be-
ziehung setzt – im antiken Epos stellt sich der römische Dichter in
einer an Caesar gerichteten Apostrophe auf eine Stufe mit Homer,
indem er dem verhassten römischen Feldherrn sarkastisch denselben
Nachruhm verspricht, wie ihn die trojanischen Helden durch die
Ilias genießen würden – macht er nicht nur den von Lucan indirekt
Caesar zugewiesenen Rang neben Homer streitig, sondern bean-
sprucht auch für sich selbst den Platz neben dem ersten Dichter des
Abendlandes (vgl. Wulfram 2000, 235–236). Als konkreten Aus-
gangspunkt für diesen ersten Teil von Walters poetologischer Dop-
peldoktrin macht Wulfram den Anfang der Vita Sancti Hilarionis
des Hieronymus aus, wo der in Walters Prolog neben Vergil ebenso
prominent hervorgehobene Kirchenvater die Ansicht vertritt, dass
der Ruhm historischer Gestalten von der Begabung derjenigen ab-
hängt, die sie zu ihrem literarischen Gegenstand erheben (vgl. Hier.,
Vita S. Hilarionis I, 1–2: Scripturus vitam beati Hilarionis habita-
torem eius invoco Spiritum sanctum, ut qui illi virtutes largitus est,
mihi ad narrandas eas sermones tribuat, ut facta dictis exaequentur.
Eorum enim qui fecere virtus, ut ait Crispus, tanta habetur, quantum
EiNleitung 27

eam verbis potuere extollere praeclara ingenia). Hieronymus berichtet


im Anschluss daran zudem von Alexander, der an Achills Grab ste-
hend den griechischen Helden beglückwünscht, mit Homer einen
so gewaltigen Herold seiner Taten gefunden zu haben (vgl. Hier.,
Vita S. Hiliaronis I, 3: Alexander Magnus Macedo, quem vel aes vel
pardum vel hircum caprarum Daniel vocat, cum ad Achillis tumulum
pervenisset, ›Felicem te‹, ait, ›iuvenis qui magno frueris praecone me-
ritorum!‹, Homerum videlicet significans; vgl. auch Wulfram 2000,
238–239). Eine zusätzliche Referenz für diesen Wunsch Alexanders,
einen Dichter wie Homer für die Lobpreisung der eigenen Taten zu
haben, könnte auch Valerius gewesen sein (vgl. Val., Res gestae Ale-
xandri Macedonis I, 47: «O te beatum Achillem,» fertur saepe dixisse,
«qui Homero praedicatore celebraris!»). Der zweite Teil von Walters
poetologischer Doppeldoktrin ist von dem Gedanken getragen, dass
der Erfolg eines historiographischen Epos entscheidend von der welt-
geschichtlichen Bedeutung seines Helden abhängt. Dies wird insbe-
sondere an der für die gesamte Alexandreis zentralen Stelle am Ende
von Buch V deutlich, wo Alexanders herausragende Taten zu den in
den Augen des mittelalterlichen Autors weniger bedeutenden Taten
eines Caesar oder Honorius in Beziehung gesetzt werden. Damit wird
zugleich auch Walters Überbietungsanspruch gegenüber den explizit
genannten Dichtern Lucan und Claudian Ausdruck verliehen (vgl.
Komm. V, 491–520). Wulfram leitet diesen zweiten Teil von Walters
Doppeldoktrin ebenfalls aus der Vita Sancti Hilarionis des Hierony-
mus ab, in welcher der Kirchenvater seinen Überbietungsanspruch
gegenüber Homer mit der vorbildlichen Lebensführung des christ-
lichen Einsiedlers Hilarion begründet, während Walter diesen gegen-
über Lucan in einem – wie Wulfram (2000) 240 überaus treffend
formuliert – Vorgang der Resäkularisierung ausschließlich mit der
überlegenen politisch-militärischen Stärke seines Helden Alexander
in Verbindung bringt (vgl. Hier., Vita S. Hilarionis I, 4: Porro mihi
tanti ac talis viri conversatio vitaque dicenda est, ut Homerus quoque
si adesset, vel invideret materiae vel succumberet).
28 Einleitung

Durch eine ausgesprochene Ambivalenz ist das Verhältnis Wal-


ters zu seinem im Prolog als unerreichbar apostrophierten Vorbild
Vergil geprägt (vgl. Alex. prol. 19–23). Indem er mit verschiedenen
Motiven aus der literarischen Tradition des antiken Dichters spielt,
stellt sich der Autor der Alexandreis einerseits demonstrativ in die
Nachfolge des Mantuaners, der im Mittelalter wie kein anderer an-
tiker Dichter auch wegen seiner Rolle als vates Christianus eine au-
ßerordentlich hohe Wertschätzung genoss (vgl. Komm. prol. 13–23).
Andererseits wird in zahlreichen Episoden der Alexandreis auch
Walters aemulativer Anspruch gerade gegenüber Vergil und dessen
Helden Aeneas sichtbar. Beispielhaft steht dafür der Zweikampf des
Griechen Nicanor gegen den Perser Rhemnon, in welchem Walter
über eine intertextuelle Kontrastimitation mit der Aeneis Vergils
und der Thebais des Statius in einer aus drei Teilen bestehenden Kli-
max Aeneas als den am wenigsten heldenhaft agierenden Protago-
nisten inszeniert, der im Hinblick auf die Entschlossenheit und die
Zielstrebigkeit im Kampf nicht nur von Tydeus übertroffen wird,
sondern gemessen am Erfolg seines kriegerischen Handelns auch
hinter dem siegreichen Nicanor zurückzustehen hat (vgl. Komm. V,
145–165; vgl. auch Komm. V, 166–182; vgl. auch Komm. V, 205–255).
Eine noch tiefgreifendere Distanzierung Walters gegenüber Vergil
lässt sich anhand der Porus-Episode aufzeigen, in welcher der Autor
der Alexandreis im Kontext der Tugend der angemessenen Zürn-
kraft den Nachweis führt, dass das in der Aeneis mit den Worten
parcere subiectis et debellare superbos formulierte Römerprogramm
eine gegenüber dem aus dem Dreischritt parce humili, facilis oran-
ti, frange superbum bestehenden aristotelisch begründeten Alexan-
derprogramm der Alexandreis eine zu starre Verhaltensregel und
vollkommen unzureichende moralische Richtschnur darstellt (vgl.
Verg., Aen. VI, 853; vgl. auch Komm. IX, 291–325).
Insgesamt lässt sich festhalten, dass dem ersten Teil der von Wul-
fram geäußerten These, nach der Walter den Anspruch erhebt, die
antik-lateinischen Klassiker eines im engeren Sinne historiographi-
EiNleitung 29

schen Epos zu überbieten – angesprochen sind dabei Claudian und


vor allem Lucan – uneingeschränkt zuzustimmen ist, der zweite Teil
seiner These, nach welcher der Autor der Alexandreis für sich einen
gleichberechtigen Rang neben Vergil und Homer fordert, jedoch
dahingehend erweitert werden sollte, als Walter auch gegenüber
dem augusteischen Dichter immer wieder eine Vorrangstellung be-
ansprucht (vgl. Wulfram 2000, 245; vgl. auch Komm. prol. 30–39).

7. Die Alexandreis und der vierfache Schriftsinn

Einen wegweisenden Beitrag zur Gesamtinterpretation der Ale-


xandreis hat Claudia Wiener geleistet, die aufzeigen konnte, dass
der mehrdimensionale Charakter von Walters Epos ursächlich mit
dessen Einbettung in die Lehre vom vierfachen Schriftsinn in Zu-
sammenhang steht (vgl. Wiener 2001, 16). Dieser auf der mittel-
alterlichen Bibelauslegung beruhende und dem zeitgenössischen
Leser vertraute interpretatorische Ansatz zeichnet sich durch das
Vorhandensein verschiedener Bedeutungsebenen aus, die sich in
einen grundlegenden historischen bzw. am Buchstaben oder am
Wort orientierten Sinn (sensus historicus bzw. litteralis) und einen
dreifachen geistigen Sinn (sensus spiritualis) unterscheiden lassen,
der neben einer heilsgeschichtlichen (sensus allegoricus) und einer
moralischen (sensus tropologicus) auch eine eschatologische Dimen-
sion (sensus anagogicus) besitzt.

7.1. Die historische Dimension der Alexandreis

Mit Hilfe der oben beschriebenen Auswahl der Quellen gelingt es


Walter auf der Ebene des sensus historicus, den geschichtlichen Ab-
lauf – angefangen von Alexanders Inthronisierung in Griechenland
über das zentrale Ereignis des Perserkriegs sowie die Eroberung In-
30 Einleitung

diens bis hin zu Alexanders Tod – in den wichtigsten Stationen ins-


besondere auf Grundlage seiner historischen Hauptquelle Curtius
nachzuzeichnen (vgl. Wiener 2001, 31–32).

7.2. Die heilsgeschichtliche Dimension der Alexandreis

Beinahe allgegenwärtig sind über diesen historischen Sinn des Tex-


tes hinaus zahlreiche Hinweise auf die heilsgeschichtliche Relevanz
von Alexanders Eroberungsfeldzug, die sich im Epos insbesondere
daran aufzeigen lässt, dass Walter die durch den makedonischen Kö-
nig ins Werk gesetzte Eroberung des Perserreichs in die auf den Pro-
pheten Daniel zurückgehende biblische Lehre von den vier Weltrei-
chen einbettet. Diese Lehre bezeichnet die insbesondere durch den
Danielkommentar des spätantiken Kirchenvaters Hieronymus qua-
si kanonisch gewordene Abfolge von vier Weltreichen, die mit dem
babylonischen Weltreich ihren Anfang nimmt, mit dem medisch-
persischen sowie dem Weltreich Alexanders weitergeführt wird und
mit dem Weltreich der Römer endet. Dabei muss jedoch betont
werden, dass der im Kontext dieser biblischen Lehre verwendete
Begriff Weltreich nicht mit der in Walters Epos auch thematisierten
Herrschaft über die ganze Welt gleichgesetzt werden darf, da mit
Letzterem die Erweiterung der Herrschaft auf alle drei zum dama-
ligen Zeitpunkt bekannte Kontinente Europa, Afrika und Asien zu
verstehen ist. Bezogen auf die bei Walter geschilderte historische Si-
tuation ist damit entsprechend der von Hieronymus festgeschriebe-
nen Reihenfolge der Übergang der Macht vom medisch-persischen
Reich auf das Reich Alexanders angesprochen (vgl. Hier., Comm.
in Dan. lib., VII, col. 530).
Auch die von Walter in Anlehnung an die Visionen des bibli-
schen Propheten Daniel für den makedonischen und den persi-
schen König verwendeten bildhaften Begriffe – Alexander wird
dabei als Panther (pardus) oder Ziegenbock (hircus) und sein Ge-
EiNleitung 31

genspieler Darius als Bär (ursus) oder Widder (aries) apostrophiert


– eignen sich, die angesprochene Einbettung der Alexandreis in den
Heilsplan Gottes deutlich zu machen. In dieselbe Richtung weisen
auch die auf Alexander bezogenen Epitheta – Walter bezeichnet den
makedonischen König als diluvium mundi Macedo, mundi fatale
flagellum, fatalis malleus orbis oder auch als ultio caelestis –, die
dessen Eroberungen als eine sich über den Osten ergießende und
in den prophetischen Büchern des Propheten Daniel angekündigte
Sintflut beschreiben. Auch das im Kontext der Jerusalem-Episode
Alexander vonseiten des jüdischen Hohepriesters Jaddus gegebene
Versprechen, diesem die Herrschaft über das Perserreich unter der
Bedingung der späteren Verschonung Jerusalems zu verschaffen,
macht die vom Autor der Alexandreis dem Perserfeldzug des make-
donischen Königs zugeschriebene heilsgeschichtliche Relevanz auf
beeindruckende Weise greifbar (vgl. Komm. I, 493–554; vgl. auch
die Einführung zu Buch I).
Anhand dieser wenigen Beispiele dürfte deutlich geworden sein,
dass man – will man der Vielschichtigkeit von Walters Epos gerecht
werden – nicht umhin kommt, die Alexandreis insbesondere auch
vor dem Hintergrund einer Allgegenwart der Danieloffenbarung zu
lesen, die als Alexanders wichtigste Aufgabe die heilgeschichtlich le-
gitimierte Ablösung des medisch-persischen Reichs vorsieht.
Dieser Befund lässt sich auch dadurch erhärten, dass der Autor
der Alexandreis den aus heilsgeschichtlicher Perspektive bedeutsamen
Perserkrieg als eine innerhalb der Gesamtstruktur des Epos eigene und
in sich konsistente Einheit ausweist. Dabei gestaltet Walter ausgehend
von den drei wichtigsten und bewusst ins Zentrum der Darstellung
gerückten Schlachten zwischen Persern und Griechen am Granikus,
bei Issus und bei Gaugamela drei spiegelbildlich angeordnete kompo-
sitorische Klammern, die dem Perserkrieg als dem auf der Erzählebene
des Epos aus christlicher Sicht entscheidenden Ereignis aufgrund der
motivischen Übereinstimmung der einzelnen Episoden eine insge-
samt symmetrische Struktur verleihen (vgl. Abb. 1).
32 Einleitung

Der heilsgeschichtlich legimitierte PERSERKRIEG Alexanders des Großen

H
K
SCHLACHTEN
Alexander Y
Alexander
I in Troja nach dem
GRANIKUS R
Begräbnis
L
des Darius
K
I Jerusalem Darius
Welt- - ISSUS - Welt-
eroberungs- A
Episode Grabmal eroberungs-
K pläne pläne
GAUGAMELA N
I
I
E Vorverweis Vorverweis
E
N
N

Abb. 1: Die Struktur des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs in der


Alexandreis (vgl. Lehmann 2018, 23)

Dabei bildet innerhalb dieser Struktur des Perserkriegs die in


Buch I wiedergegebene Jerusalem-Episode zusammen mit der Ek-
phrasis des Darius-Grabmals in Buch VII eine innere und unmittel-
bar um die zentralen Ereignisse der drei großen Schlachten herum
aufgespannte kompositorische Klammer (vgl. Komm. I, 493–554;
vgl. auch Komm. VII, 379–430; vgl. auch die Einführung zu Buch
I). Die motivische Übereinstimmung wird in diesem Fall über die
heilsgeschichtliche Relevanz der beiden Ereignisse hergestellt, die
sich zum einen darin zeigt, dass der jüdische Hohepriester Jaddus
Alexander unter der Bedingung der Verschonung Jerusalems die
Unterstützung des jüdisch-christlichen Gottes bei der Eroberung
des Perserreichs verspricht, und die zum anderen dadurch zum Aus-
druck gebracht wird, dass Apelles als jüdischer Künstler auf dem von
ihm geschaffenen Darius-Grabmal explizit auf die heilsgeschichtlich
bedeutsame Danielprophetie verweist.
EiNleitung 33

Darüber hinaus stellt Walter mit dem im Kontext der Troja-Epi-


sode im Sinne eines Vorverweises auf die Zeit nach dem Perserkrieg
an Alexander gerichteten Hybris-Vorwurf – der makedonische Kö-
nig sinniert an Achills Grab über seine weit über das Perserreich hin-
ausreichenden Welteroberungspläne – die Verbindung zu den nach
Darius’ Bestattung geschilderten Ereignissen um den von Alexander
gerade noch verhinderten Aufbruch seiner Soldaten in die griechi-
sche Heimat her – auch dort äußert sich Walters wichtigster Prota-
gonist über seine weit über das Perserreich hinausgehenden Welter-
oberungspläne und beklagt sich darüber, von seinen Soldaten, die in
die Heimat zurückkehren wollen, von einer zukünftigen Herrschaft
über die ganze Welt ausgeschlossen zu werden – und gestaltet damit
eine in struktureller Hinsicht mittlere kompositorische Klammer
(vgl. Komm. I, 468–492; vgl. auch Komm. VII, 435–466; vgl. auch
die Einführung zu Buch I).
Zudem lässt Walter eine äußere kompositorische Klammer
im Hinblick auf das Motiv einer mühelosen Eroberung durch die
Verbindung des als überaus klug beschriebenen Vorgehens Alexan-
ders in Kilikien, das er ohne Waffengang unterwirft, mit der wenig
aufwendigen Eroberung von Hyrkanien entstehen (vgl. Komm. I,
447–451; vgl. auch Komm. VIII, 1–5; vgl. auch Komm. I, C 6–9; vgl.
auch Komm. I, 359–385; vgl. auch Komm. I, 447–451).
Mit der Einbettung von Alexanders Perserfeldzug in die christ-
liche Heilsgeschichte wird zugleich auch das von Walter für die Ale-
xandreis zugrunde gelegte Geschichtsverständnis deutlich, das aus-
gehend von der Auslegungstradition der Bibel von der Einteilung
in eine Zeit ante legem (vor Moses), in eine Zeit sub lege (von Moses
bis Christi Geburt) und in eine Zeit sub gratia (von Christi Geburt
bis an das Ende der Welt) charakterisiert ist. Wesentliches Merkmal
sind dabei typologische Inbezugsetzungen einer Person oder eines
Geschehens aus dem Alten Testament (seltener auch aus der anti-
ken Mythologie) – als Typus bezeichnet – mit einer als Antitypus
bezeichneten Person oder einem Geschehen aus dem Neuen Testa-
34 Einleitung

ment. Dabei geht es in erster Linie um die im Neuen Testament ein-


tretende Erfüllung bzw. um die Vollendung dessen, was im Alten
Testament angekündigt bzw. verheißen worden war. Wie Wiener
(2001) 61 bezogen auf die Alexandreis und den darin zugrunde ge-
legten sensus allegoricus deutlich macht, setzt Walter im Unterschied
zur typologischen Bibelexegese jedoch bereits verschiedene Typen in
der Zeit sub lege miteinander in eine typologische Beziehung, um
über deren jeweilige Rolle innerhalb des geschichtsmächtigen Wir-
kens Gottes dem Leser den von der christlichen Heilsgeschichte be-
stimmten Ablauf der Geschichte näherzubringen. So etwa stellt der
von Walter in der Alexandreis immer wieder mit Alexander in typo-
logische Verbindung gebrachte Herkules in seiner Eigenschaft als
Retter der olympischen Götter im Kampf gegen die Giganten eine
Präfiguration des makedonischen Königs dar, der die typologisch
mit den Giganten in Verbindung stehenden Perser mit einer aus der
Heilsgeschichte gewonnenen Sicherheit ebenso besiegt, wie Herku-
les das Geschlecht der Giganten besiegt hat (vgl. Komm. II, 319–371;
vgl. auch Komm. II, 494–529). Nicht anders verhält es sich mit der
typologischen Inbezugsetzung des bei Walter im Unterschied zu
Lucan positiv konnotierten römischen Feldherrn Caesar mit Alex-
ander (vgl. Komm. II, 91–102). Man könnte an dieser Stelle einwen-
den, dass die typologische Bezugnahme auf einen zwar tapferen und
im Felde unbesiegten, aber doch heidnischen Feldherrn wie Alex-
ander, der aus christlicher Sicht natürlich nicht in allen Belangen
den moralischen Anforderungen an einen christlichen Herrscher
genügen kann, unbefriedigend ist. Wie Wiener (2001) 65 jedoch
überzeugend darlegt, geht es bei derartigen Typologien weit weniger
um die moralische Haltung des historischen Leitbilds, sondern sehr
viel mehr um die konkreten facta der historischen Figur, die im Falle
Alexanders historisch betrachtet zweifellos außergewöhnlich sind.
EiNleitung 35

7.3. Die eschatologische Dimension der Alexandreis

Indem Walter über die heilsgeschichtliche Dimension hinaus seine


typologischen Bezugnahmen auf die Zeit sub gratia ausdehnt, wen-
det sich der Autor der Alexandreis dem sensus anagogicus und da-
mit einer weiteren Ebene seiner spezifischen Geschichtsdeutung zu.
Diese ist von der Überzeugung geprägt, dass Alexander als Typus sub
lege lediglich die Präfiguration zu einem Antitypus sub gratia dar-
stellt, der in Walters Zeit erst noch als Anführer der Christenheit in
Erscheinung treten und sich erst noch bewähren muss. Diese escha-
tologische Dimension im Werk Walters wird dabei insbesondere an
der für das Verständnis der Alexandreis zentralen Stelle am Ende
von Buch V deutlich, an der die Suche nach einem alexanderhaften
christlichen Anführer im Kampf gegen die Muslime als vordring-
liche Aufgabe der zeitgenössischen Eliten explizit zum Ausdruck ge-
bracht wird (vgl. Komm. V, 491–520; vgl. auch Komm. II, 306–318).
Wiener (2001) 64 fasst die von Walter an dieser Stelle vorgenom-
mene Einbettung in den sensus anagogicus treffend wie folgt zusam-
men:

Denn hier ist nun endlich der Punkt gekommen, an dem Walter den Bogen in
seine eigene Zeit schlägt: Der Autorkommentar mündet schließlich in ein Ge-
bet, in dem Walter endlich seine typologische Konstruktion von Alexander aus
bis in die Zeit sub gratia und die Gegenwart fortführt: Mit Karl dem Großen,
dem Ahnherrn der Kapetinger, und seinem Abwehrkampf gegen die Sarazenen
ist der Geschichtsverlauf in seiner Richtung gekennzeichnet und weist damit auf
Aufgabe und Bestimmung des französischen Königs voraus, der als ein zweiter
Karl und als ein neuer Alexander den Kampf für das Christentum führen und
die Ausbreitung des wahren Glaubens als gottgewollten Auftrag erkennen und
demnach erfolgreich vollenden wird. Hier kann man kaum anders, als darin die
Hoffnung, die in den jungen König Philipp II. Augustus gesetzt wurde, und die
Aufbruchstimmung, die dem dritten Kreuzzug vorausging, zu spüren.

Die für Walters carmen heroicum grundlegende Bedeutung dieses


Textabschnitts – der als Aufruf zum Kreuzzug zu verstehende Ap-
36 Einleitung

pell an die Gelehrtenwelt Europas stellt inhaltlich betrachtet den


Ausgangspunkt und zugleich auch das Zentrum des ganzen Werks
dar – lässt sich dabei auch an dessen auffälliger Positionierung in der
Mitte des Epos aufzeigen, die Walters aus zeitgenössischer Sicht aus-
schlaggebenden und für das Verständnis der Alexandreis als Ganzes
maßgeblichen Worte als Spiegelachse zu der aus vier Teilen beste-
henden und über das ganze Werk aufgespannten Rahmenstruktur
ausweist und dem gesamten Epos damit eine auf motivischen Paral-
lelen beruhende symmetrische Struktur verleiht (vgl. Abb. 2).
Dabei stellen die Ekphraseis der beiden Grabmäler der persi-
schen Königin Stateira in Buch IV und des persischen Königs Da-
rius in Buch VII, die mit ihrer chiastischen Anordnung der Motive
von Trauer und Krieg Alexanders wichtigsten Gegner und dessen
in griechischer Gefangenschaft verstorbene Ehefrau in den Mittel-
punkt der Betrachtung rücken, einen inneren und unmittelbar um
Walters Kernaussage herum gestalteten kompositorischen Rahmen
dar (vgl. Komm. IV, 176–274; vgl. auch Komm. VII, 379–430).
Darüber hinaus bildet der Moralexkurs von Buch III zusammen
mit den in Buch VIII in Szene gesetzten Episoden um die Philotas-
Verschwörung und Alexanders Eroberungsfeldzug gegen das Reiter-
volk der Skythen mit dem auf Alexander bezogenen Motiv der Maß-
losigkeit einen mittleren kompositorischen Rahmen (vgl. Komm.
III, 242–257; vgl. auch Komm. III, 75–322 bzw. 358–495).
In Verbindung mit dem Autorexkurs von Buch II, in welchem
der Niedergang des einst bedeutenden persischen Königs Cyrus als
Sinnbild der Zerbrechlichkeit menschlicher Macht inszeniert und
über das konkrete Beispiel des einstigen Perserkönigs hinaus das
Motiv der grundsätzlichen Unterworfenheit aller Menschen unter
den christlichen Gott zur Sprache gebracht wird, gestaltet Walter zu-
sammen mit Alexanders in Buch IX wiedergegebenen Gespräch mit
dem Inderkönig Porus, in welchem dieser über den Hinweis, dass
es immer einen Stärkeren gebe, ebenso die Abhängigkeit aller Men-
schen vom allmächtigen Gott als konkret an den makedonischen
EiNleitung 37

lib. I lib. X
Ende lib. V
lib. IX
lib. II

lib. III lib. VIII

lib. IV lib. VII

Suche nach einem

alexanderhaften christlichen

Anführer für den Kampf

gegen die Muslime

Trauer und Krieg Krieg und Trauer

Alexanders zukünftige Alexanders gegenwärtige


Maßlosigkeit Maßlosigkeit

grundsätzliche Abhängigkeit des fehlende Unterordnung Alexanders


Menschen vom christlichen Gott unter den christlichen Gott

Aristoteles-Rede
Spiegelachse Alexander-Rede
Feldherrntugenden Feldherrntugenden

Abb. 2: Die Gesamtstruktur der Alexandreis (vgl. Gartner 2018, 78)

König gerichtete Mahnung zum Ausdruck bringt, einen weiteren


mittleren kompositorischen Rahmen (vgl. Komm. II, 530–544; vgl.
auch Komm. IX, 291–325).
Zuletzt bildet die in Buch I angelegte Aristoteles-Rede zusam-
men mit der in Buch X geschilderten Ansprache Alexanders, mit
welcher der makedonische König retrospektiv die wichtigsten, von
ihm selbst an den Tag gelegten Feldherrntugenden noch einmal
aufgreift, um seine Männer von der Sinnhaftigkeit seines weiteren
Vorgehens zu überzeugen, einen unter dem Motiv der für einen
38 Einleitung

erfolgreichen Feldherrn notwendigen Tugendhaftigkeit stehenden


äußeren kompositorischen Rahmen (vgl. Komm. I, 82–183; vgl.
auch Komm. X, 282–329).
Insgesamt dient diese ausgefeilte, aus mehreren kompositori-
schen Rahmen bestehende Struktur der Alexandreis dem aus zeitge-
nössischer Perspektive grundlegenden Zweck, das thematische Zen-
trum des Epos – die Suche nach einem alexanderhaften christlichen
Anführer für einen bevorstehenden Kreuzzug gegen die Muslime
– auch formal in den Mittelpunkt zu rücken.

7.4. Die moralische Dimension der Alexandreis

In enger Verbindung mit dem sensus allegoricus und dem sensus ana-
gogicus steht innerhalb der Geschichtsdeutung Walters der sensus
tropologicus und die damit einhergehende moralische Beurteilung
Alexanders in der Alexandreis. Denn notwendigerweise musste der
Autor der Alexandreis entsprechend der grundsätzlichen und mit
der Suche nach einem alexanderhaften christlichen Anführer im
Kampf gegen die Muslime einhergehenden Ausrichtung des Epos
den makedonischen König innerhalb der erzählten Zeit des heilsge-
schichtlich legitimierten Perserkriegs auch aus christlicher Sicht –
aus antik-paganer Perspektive erfährt Alexander innerhalb des Per-
serkriegs ohnehin eine ausnahmslos positive moralische Bewertung
– als einen tugendhaften und seiner gewaltigen Aufgabe gewachse-
nen Feldherrn und König inszenieren, um ihn der gebildeten Leser-
schaft des 12. Jahrhunderts als moralisches Vorbild für einen zeit-
genössischen französischen König anempfehlen zu können. Dieses
Bestreben lässt sich insbesondere an zahlreichen, an den Vorgaben
der Aristoteles-Rede orientierten Inszenierungen der Tugendhaftig-
keit Alexanders – bisweilen durch gezielt eingesetzte intertextuelle
Kontrastimitationen noch verstärkt – erkennen, welche dessen mo-
ralische Überlegenheit dokumentieren sollen.
EiNleitung 39

Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass die Aristoteles-Rede für


alle innerhalb der Erzählung agierenden Personen unbedingten Pro-
grammcharakter besitzt, da die Handlungen der Eposfiguren immer
dann von Erfolg gekrönt sind, wenn sich diese im Sinne des darin
aufgeführten Tugendkatalogs verhalten, umgekehrt jedoch auch
die negativen Konsequenzen zu gewärtigen haben, wenn sie die den
Handlungsanweisungen zugrundeliegenden Tugenden nicht an
den Tag legen (vgl. Alex. I, 82–183; vgl. Gartner 2018, 69). Indem
Walter damit einen unmittelbaren und unauflösbaren Zusammen-
hang zwischen dem moralischen Verhalten der handelnden Perso-
nen und dem daraus resultierenden Ergebnis herstellt, bedient er
sich paradoxerweise einer Sichtweise, die gar nicht der originären
Tugendlehre des Aristoteles entspricht, sondern auf die diesbezüg-
lichen Vorstellungen Platons zurückgeht. Denn für den Stagiriten
stellt ein tugendhaftes Verhalten lediglich eine notwendige und
keineswegs eine hinreichende Bedingung für den Erfolg eines Pro-
tagonisten dar, so dass diesem Verständnis zufolge ein tugendhaft
handelnder Mensch zwar die Wahrscheinlichkeit für den eigenen
Erfolg erhöht, unter für ihn ungünstigen Umständen jedoch durch-
aus auch scheitern kann. Patzig (1994) 49 bringt diesen Sachver-
halt auf eindrückliche Weise wie folgt auf den Punkt:

Wenn es auf einen hohen Gipfel nur einen einzigen, sehr gefährlichen Weg gibt,
so muß und darf man allen, die den Gipfel erreichen wollen, diesen Weg weisen.
Nicht alle, die den Weg gehen, werden ankommen, aber jeder, der ankommt,
wird auf diesem Weg gekommen sein. Das Wagnis der menschlichen Existenz
kann nicht durch eine metaphysische Erfolgsgarantie aufgefangen werden.
Wenn der Weg der Rechtschaffenheit auch gelegentlich ins Unglück führt: jeder
andere Weg führt eher in den Abgrund. Der rechtschaffene Mensch wird auch
unter widrigen Umständen noch eher ein menschenwürdiges Glück erreichen
können als ein sittlich Schwacher unter günstigen Bedingungen, so wie, nach
dem Gleichnis des Aristoteles, ein tüchtiger Kommandeur mit dezimierten und
im Kampf mitgenommenen Truppen doch mehr leisten wird als ein unfähiger
General, dem frische Streitkräfte zur Verfügung stehen.
40 Einleitung

Auch an jenen Episoden des Perserkriegs, in denen Walter in seiner


Darstellung in auffälliger Art und Weise von seiner wichtigsten his-
torischen Vorlage Curtius abweicht, um eine beim antiken Autor
vorgebrachte moralische Kritik an Alexander so weit wie möglich
auszublenden, ist die grundsätzliche Intention des Autors der Ale-
xandreis abzulesen, die moralische Integrität seines wichtigsten
Protagonisten herauszustellen. Dabei bedient sich Walter einer
Vorgehensweise, die darauf abzielt, all jene Begebenheiten, die in-
nerhalb der erzählten Zeit des Perserkriegs ein schlechtes Licht auf
den makedonischen König werfen könnten, abzuschwächen, aus-
zublenden oder die Episode als solche erst gar nicht in die eigene
Darstellung aufzunehmen. Beispiele dieser auf einem selektiven
Ansatz beruhenden literarischen Strategie sind dabei die Abschwä-
chung von Alexanders Rolle bei der Hinrichtung des Sisines, die im
Kontext der Eroberung von Gaza vorgenommene Ausblendung der
Schleifung des Betis um die Mauern der besiegten Stadt sowie die
völlige Auslassung der für Alexander wenig schmeichelhaften sogdi-
schen Revolte (zur Sisines-Episode vgl. Komm. II, 269–271; zur Er-
oberung von Gaza vgl. die Einführung zu Buch III; zur sogdischen
Revolte vgl. die Einführung zu Buch VIII).
Im Kontext der moralischen Beurteilung Alexanders innerhalb
der erzählten Zeit des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs
muss betont werden, dass sich die von Walter in der Alexandreis in-
tegrierten Ekphraseis – angesprochen sind dabei die Beschreibungen
der Grabmäler der persischen Königin Stateira und des Perserkönigs
Darius ebenso wie die Beschreibung des Darius-Schildes – nicht als
moralische Kritik Walters an den Eposfiguren – und damit auch
nicht an Alexander – missverstanden werden dürfen (vgl. Komm.
II, 494–529; vgl. auch Komm. IV, 176–274; vgl. auch Komm. VII,
379–430). Als Adressaten dieser aus der Handlungs- und Bewusst-
seinsebene der Eposfiguren herausgehobenen Ekphraseis sind zum
einen nämlich nicht – und darauf weist Wiener (2001) 78–90 in
Distanzierung zu Forschungsansätzen wie denjenigen von Mau-
EiNleitung 41

ra K. Lafferty oder David Townsend hin, die den Protagonisten


des Epos ihre vermeintliche Blindheit zum Vorwurf machen und
die Ansicht äußern, dass diese nicht bereit seien, die intendierten
Lehren und Warnungen aus der Geschichte zu erkennen – die han-
delnden Personen der Alexandreis angesprochen, sondern die Leser
des Epos. Zum anderen haben diese Ausblicke in ihrer erzähltechni-
schen Funktion auch dem Leser gegenüber nicht die Aufgabe, eine
moralische Kritik des Autors der Alexandreis an Alexander zum
Ausdruck zu bringen, da sie dem eigentlichen Zweck dienen, das
Gesamtgeschehen des Epos in den heils- und weltgeschichtlichen
Zusammenhang einzuordnen.
Dennoch war für Walter als christlichem Autor mit einem heid-
nischen Feldherrn wie Alexander als wichtigstem Protagonisten
des Epos natürlich die Schwierigkeit verbunden, dass ein antiker
Held nicht ausnahmslos positiv gezeichnet werden konnte, sondern
selbstredend insbesondere auch an christlichen und demzufolge
sehr viel strengeren Maßstäben gemessen werden musste. Zu die-
sem Zweck bedient sich Walter noch innerhalb der Darstellung des
Perserkriegs verschiedener Vorverweise und Ausblicke auf die Zeit
nach dem Perserkrieg, um verständlich zu machen, dass der make-
donische König unter moralischen Gesichtspunkten dann einer
zunehmenden moralischen Depravation unterliegt und damit völ-
lig zu Recht insbesondere den christlich motivierten Vorwurf der
Hybris auf sich zieht. Am deutlichsten tritt dies im Moralexkurs
von Buch III zu Tage, in welchem der Autor der Alexandreis dem
makedonischem König für die ganze Zeit des heilsgeschichtlich le-
gitimierten Perserkriegs auf der Ebene der epischen Erzählung in
moralischer Hinsicht eine über das bezeichnenderweise gleichzeitige
Partizip candentem vermittelte weiße Weste bescheinigt, dem Leser
über das Verb denigrare bezogen auf die Zeit nach dem Perserkrieg
kontrastierend jedoch auch die zunehmend dunklen Schatten auf
dieser ursprünglich weißen Weste überaus bildhaft vor Augen führt
(vgl. Alex. III, 243–244). In diesem Sprachbild ist zugleich die für
42 Einleitung

das Verständnis der moralischen Dimension des Alexanderbildes in


der Alexandreis insgesamt bedeutsame Aussage enthalten, dass Ale-
xander sich ungeachtet seiner nach dem Perserkrieg aus christlicher
Sicht zunehmenden moralischen Depravation nach antik-paganen
Maßstäben abgesehen von seinem Verhalten gegenüber einzelnen
Generälen oder einzelnen Personen in seinem näheren Umfeld
dennoch weiterhin weitgehend auch als tugendhafter Feldherr und
König erweist. Allerdings reicht Alexanders antik-pagane Tugend-
haftigkeit nach dem Sieg über das Perserreich am Ende des Epos
nicht mehr aus, um der christlich motivierten Bestrafung zu entge-
hen. Denn Alexander verletzt mit seinem unstillbaren und mit dem
Streben nach Gottgleichheit einhergehenden Eroberungsdrang
doch an einem einzigen Punkt die Vorgaben der Aristoteles-Rede,
die ihm mit den Worten divinos rimare apices unmissverständlich
aufgetragen hatte, die göttlichen Schriften – gleichbedeutend mit
der Warnung, mit seinen Eroberungen nicht über den durch die Da-
nielprophetie vorgegebenen göttlichen Heilsauftrag hinauszugehen
– zu durchforschen (vgl. Alex. I, 179; vgl. auch Komm. I, 164–182).
So stellt die Missachtung der Grenzen des biblischen Heilsauftrags
den eigentlichen Grund für den Tod des makedonischen Königs im
Epos dar (vgl. Gartner 2018, 69–73).
Nach der Eroberung von Hyrkanien und dem damit einherge-
henden Ende des Perserkriegs beleuchtet Walter mit der Philotas-
Verschwörung bezogen auf die erzählte Zeit des Epos erstmals in der
Alexandreis auch die Schattenseiten seines wichtigsten Protagonis-
ten. Auch wenn der Prozess gegen einen seiner wichtigsten Generäle
als solcher keinen Anlass zur moralischen Kritik am makedonischen
König bietet, so überschreitet Alexander mit seinem fragwürdigen
Verhalten gegenüber Philotas an einem bestimmten Punkt inner-
halb der Verhandlung – der makedonische König sieht sich dem
von Philotas vorgebrachten Vorwurf ausgesetzt, als ungerechter
Richter die Verhandlung in seinem Sinne zu beeinflussen – auch aus
antik-paganer Sicht erstmals die moralisch vertretbaren Grenzen im
EiNleitung 43

Auftreten gegenüber einem seiner Generäle (vgl. die Einführung zu


Buch VIII; vgl. auch Komm. VIII, 158–184). Ein weiteres und letztes
Mal klingt die nach dem Perserkrieg auch aus antik-paganer Sicht
vorgebrachte moralische Kritik an Alexander im Kontext der Er-
mordung des Clitus und der Hinrichtung des Hermolaus sowie des
Kallisthenes an, ohne dass diese für Alexander wenig schmeichel-
haften Begebenheiten vom Autor der Alexandreis weiter ausgebaut
oder für die moralische Beurteilung des makedonischen Königs ins-
gesamt eine besondere Bedeutung gewinnen würden (vgl. Komm.
IX, 1–8).
Sehr viel deutlicher und auch nachhaltiger bringt Walter die
moralische Kritik an Alexander hingegen aus christlicher Sicht
zum Ausdruck. Im Kontext der ausführlich in Szene gesetzten
Skythen-Episode etwa – die Darstellung von der Eroberung des
nomadischen Reitervolkes bildet den Auftakt für eine ganze Rei-
he von an Alexander gerichteten christlich motivierten moralischen
Vorwürfen – brandmarkt Walter die grenzenlose Eroberungswut
des makedonischen Königs und dessen frevelhaftes Streben nach
Gottgleichheit (vgl. die Einführung zu Buch VIII; vgl. auch Komm.
VIII, 358–495). Auch Alexanders Unterredung mit dem von ihm be-
siegten Inderkönig Porus dient ein weiteres Mal dem Zweck, dem
Makedonenkönig mit mahnenden Worten Mäßigung und Zurück-
haltung im Hinblick auf dessen unstillbaren Eroberungsdrang na-
hezulegen (vgl. die Einführung zu Buch IX; vgl. auch Komm. IX,
291–325). Zudem dringt auch aus den eigenen Reihen Kritik an die
Ohren Alexanders, als dessen General Craterus seinem König die
vorwurfsvolle Frage stellt, wann er seinen Eroberungen eigentlich
ein Ende setzen wolle (Alex. IX, 515). Das auf Alexander bezogene
und über den Kampf mit den Skythen und der Unterwerfung des
Porus sukzessive aufgebaute Motiv der Hybris erfährt seinen Hö-
hepunkt schließlich mit der in Buch X wiedergegebenen Episode
der von Walter ohne jegliches literarisches Vorbild verfassten Anti-
podenfahrt des makedonischen Königs (vgl. Komm. X, 1–5; vgl.
44 Einleitung

auch Komm. X, 249–282; vgl. auch die Einführung zu Buch X).


Auch wenn die moderne Forschung bisweilen zu der Ansicht ge-
langt ist, Alexanders Fahrt zu den Gegenfüßlern sei bezogen auf die
Handlung im Epos ohne Effekt geblieben und wäre eigentlich nicht
mehr nötig gewesen, um die superbia des makedonischen Königs
zu dokumentieren und der Göttin Natura ein Argument zu geben,
gegen ihn vorzugehen, stellt sich aus konzeptioneller Sicht die Frage,
wie Walter die Göttin Natura an dieser Stelle in die Handlung hätte
integrieren können, wenn nicht über Alexanders unablässigen und
immer weiter ausufernden Expansionsdrang (vgl. Kern 2009, 323).
Immerhin ist das Auftreten der Natura in Buch X kompositorisch
in die Antipodenfahrt eingebettet, so dass diese für eine glaubwür-
dige Bestrafung Alexanders ihre nachvollziehbare Berechtigung hat
und dem Leser ungeachtet ihres Scheiterns noch einmal den auch zu
diesem Zeitpunkt nach wie vor unbändigen und maßlosen Expan-
sionsdrang Alexanders in ganz besonderer Weise vor Augen führt.
Auch wenn mittelalterliche Enzyklopädien wie der Liber Floridus
des Lambert von Saint Omer über das mögliche Vorhandensein von
Antipoden jenseits der bekannten Ökumene spekuliert haben, war
es auch in der Zeit Walters noch keinem Reisenden gelungen, den
empirischen Nachweis für deren Existenz zu erbringen (zur Diskus-
sion der Antipodenfrage unter den Gelehrten von der Antike bis
in das europäische Entdeckungszeitalter vgl. Lehmann 2016, 167–
191). Insofern stellt Alexanders Versuch, zu den zum damaligen Zeit-
punkt noch unbekannten Gegenfüßlern vorzudringen, bzw. Wal-
ters diesbezügliche Inszenierung qualitativ betrachtet noch einmal
eine Steigerung zur Eroberung der Skythen oder der Unterwerfung
des Inderkönigs Porus dar. Bedenkt man zudem, dass Alexanders
Antipodenfahrt von der Göttin Natura gegenüber Leviathan in ei-
nem Atemzug mit der Entdeckung der Nilquellen und der Gefähr-
dung des irdischen Paradieses genannt und sogar eine existenzielle
Bedrohung der Unterwelt in den Raum gestellt wird, bleibt diese
besondere Art der Grenzüberschreitung in ihrer Ungeheuerlichkeit
EiNleitung 45

literarisch betrachtet eben nicht ohne Effekt, da erst dadurch der


Tod Alexanders im Epos aus christlicher Sicht moralisch nicht nur
gerechtfertigt, sondern damit sogar unausweichlich erscheint.
Im Kontext der moralischen Beurteilung des makedonischen
Königs spielt auch die für die Alexandreis gültige Unterscheidung
von wahrem und eitlem Ruhm eine nicht unwesentliche Rolle für
das Verständnis des Epos und der darin handelnden Personen. Bis-
weilen wurde in der modernen Forschung Alexanders unzweifelhaft
vorhandenes Streben nach Ruhm ausschließlich negativ beurteilt
(vgl. Lafferty 1998, 100: „Aristotle also reinforces his desire for
epic glory above all other goods. […] He places the acquisition of
personal glory before any responsibility towards his patria, exempli-
fied in his soldiers, and he fails to provide justice.“; vgl. auch Ratko-
witsch 1996, 130). Diesem Forschungsansatz gegenüber ist jedoch
festzuhalten, dass in Walters Epos Alexanders Streben nach Ruhm
aus antik-paganer Sicht – die Aristoteles-Rede hatte im Kontext der
Tugend des angemessenen Stolzes ausdrücklich darauf hingewiesen,
dass unter der Bedingung eines tugendhaften Lebens, sprachlich
treffend von Walter mit einem potentialen Bedingungssatz zum
Ausdruck gebracht, ewiger Ruhm zu erwarten sei – grundsätzlich
positiv konnotiert ist (vgl. Alex. I, 182–183: Si sic vixeris, eternum ex-
tendes in secula nomen; vgl. auch Komm. I, 182–183). Als Beispiele
können dabei etwa das moralisch einwandfreie Verhalten des make-
donischen Königs gegenüber der Darius-Gattin Stateira oder auch
dessen Reaktionen auf verschiedene Vorschläge Parmenions zum
weiteren Vorgehen im Krieg gegen die Perser und der daraus resul-
tierende Ruhm angeführt werden (vgl. Komm. IV, 1–23; vgl. auch
Komm. IV, 131–141; vgl. auch Komm. IV, 350–373).
Eine differenziertere Beurteilung von Alexanders Streben nach
Ruhm findet in der Alexandreis indes aus christlicher Perspektive
statt. Solange sich der makedonische König im heilsgeschichtlich le-
gitimierten Perserkrieg befindet, erfährt dessen Streben nach Ruhm
durch das übergeordnete Ziel – der Erfüllung seines christlichen
46 Einleitung

Heilsauftrags – auch aus christlicher Sicht eine durchweg positi-


ve Bewertung. Erst als nach der Eroberung des Perserreichs dieses
übergeordnete Ziel nicht mehr vorhanden ist, wird aus christlicher
Sicht nicht nur Alexanders immer weiter nach Osten reichender Er-
oberungsfeldzug moralisch diskreditiert, sondern auch der damit
einhergehende Ruhm als eitel bezeichnet und demzufolge in ein
schlechtes Licht gerückt (vgl. Alex. X, 436–438: Animae discrimi-
ne magno | dum queruntur opes, dum fallax gloria rerum mortales
oculos vanis circumvolat alis; vgl. auch Komm. X, 433–454). Etwa
ein Jahrhundert später hat Thomas von Aquin in der Rezeption der
aristotelischen Tugendlehre das menschliche Streben nach wahrem
Ruhm geadelt und vom eitlen Ruhm abgegrenzt. Dabei nimmt
er mit seiner Bemerkung, dass Ruhm dann als eitel zu bezeichnen
sei, wenn das Begehren des eigenen Ruhms sich nicht auf ein ge-
bührendes Ziel – etwa die Ehre Gottes oder das geistliche Wohl des
Nächsten – bezieht, dieselbe Differenzierung von wahrem und eit-
lem Ruhm vor wie Walter in der Alexandreis (vgl. Th. v. Aquin, S.
Th. IIª–IIae, q. 132 a. 1 co: Et ideo appetitus gloriae de se non nominat
aliquid vitiosum. Sed appetitus inanis vel vanae gloriae vitium im-
portat, nam quidlibet vanum appetere vitiosum est, secundum illud
Psalmi, ut quid diligitis vanitatem, et quaeritis mendacium? Potest
autem gloria dici vana […]. Tertio modo, ex parte ipsius qui gloriam
appetit, qui videlicet appetitum gloriae suae non refert in debitum fi-
nem, puta ad honorem Dei vel proximi salutem).

8. Zeitgenössische Bezüge

Wie bereits dargelegt, besteht das zentrale politische Anliegen der


Alexandreis darin, den Handlungsträgern in Staat und Kirche die
unbedingte Notwendigkeit vor Augen zu führen, nach dem kata­
strophalen Verlauf des letzten Kreuzzugs (1147–1149) und der ver-
heerenden Niederlage des byzantinischen Kaisers Manuel gegen die
EiNleitung 47

Seldschuken (1176) den Kampf gegen die muslimischen Feinde in ei-


nem erneuten Kreuzzug wiederaufzunehmen und zu diesem Zweck
einen alexanderhaften christlichen Anführer zu finden, der dieser
gewaltigen Aufgabe gewachsen ist (vgl. Einleitung 7.3; vgl. auch
Komm. V, 491–520). Um dieses Ziel zu erreichen, bedient sich Wal-
ter einer bemerkenswerten Doppelstrategie, die zum einen darin be-
steht, über zeitgenössische Bezüge eine Verbindungslinie zwischen
Alexander und dem jungen französischen König Philipp II. herzu-
stellen und diesen in Anlehnung an den makedonischen Feldherrn
als ebenso tugendhaften König und Hoffnungsträger der Christen-
heit in Stellung zu bringen. Schon im Prooemium wird Walters Be-
streben erkennbar, über die Formulierung Qui si senio non fractus
inermi | pollice fatorum nostros vixisset in annos eine typologische
Verbindungslinie zwischen Alexander und Philipp II. von Frank-
reich herzustellen, der ebenso wie der tugendhafte antike Feldherr in
möglichst kurzer Zeit die Feinde der Christenheit in die Schranken
weisen soll (vgl. Komm. I, 5–8). Auch Walters Darstellung der Krö-
nung Alexanders zum Hegemon des Korinthischen Bundes und
zum makedonischen König erfüllt über die Erzählebene der Ale-
xandreis hinaus mehrfach den Zweck, beim zeitgenössischen Leser
Assoziationen zur Krönung Philipps II. zu wecken, um damit den
jungen französischen König als geeigneten Anführer für den bevor-
stehenden Kreuzzug anzuempfehlen (vgl. Komm. I, 203–267).
Zum anderen ist es Walter innerhalb seiner Doppelstrategie
darum zu tun, kontrastierend zu dem als tugendhaft inszenierten
jungen französischen König den herrschenden Eliten einen Spiegel
vorzuhalten, indem er die verheerenden moralischen Zustände der
mittelalterlichen Kirche und die schwelenden Konflikte zwischen
Kirche und Staat vehement kritisiert, da sie in seinen Augen der
eigentlichen Aufgabe der Christenheit – der Befreiung Jerusalems
von den Muslimen – in untragbarer Weise im Wege stehen. Ins-
besondere beanstandet Walter dabei den unter dem Begriff der
Simonie bekannten Ämterkauf und die damit einhergehende Be-
48 Einleitung

stechlichkeit kirchlicher Würdenträger, die auch weniger befähigte


Charaktere in wichtige Ämter bringt. Auch das päpstliche Schisma,
das die Einheit der christlichen Kirche gefährdet und die Beziehun-
gen zwischen der weltlichen und geistlichen Macht auf eine harte
Probe stellt – mit der Unterstützung von Kaiser Friedrich Barba-
rossa waren Victor IV. und nach dessen Tod im Jahre 1164 Pascha-
lis III. als Gegenpäpste zu Alexander III. eingesetzt worden –, wird
von Walter einer heftigen Kritik unterzogen. Ebenso verurteilt der
Autor der Alexandreis die Ermordung der Erzbischöfe Robert von
Cambrai und Thomas Becket. Letzterer hatte sich wegen der Frage
über die Machtverteilung zwischen Kirche und Monarchie mit Kö-
nig Heinrich II. von England überworfen, obwohl er anfangs gute
Beziehungen zum englischen Monarchen gepflegt hatte und sogar
für die Erziehung von dessen Kindern zuständig gewesen war. Als
Becket nach einem selbstgewählten Exil nach England zurückge-
kehrt und der alte Streit wieder aufgeflammt war, ließ ihn der König
am 29. Dezember 1170 von seinen Rittern am Altar der Kathedrale
von Canterbury ermorden (vgl. Komm. VII, 306–343). Walter hat-
te den englischen Monarchen wegen dieses Verbrechens bereits in
seinen moralisch-satirischen Gedichten mit harschen Worten atta-
ckiert und ihn als einen König bezeichnet, der noch mehr ein Nero
sei als Nero selbst (vgl. Walter v. Châtillon, Mor.-sat. Ged. 16,
str. 17: rex, qui perdit presulem in proditione | re vera neronior est ipso
Nerone).

9. Handschriftliche Überlieferung und Textgestalt

Grundlage für den Text der Alexandreis stellt in der vorliegenden


Publikation die kritische Edition von Marvin L. Colker dar, in der
im Wesentlichen 209 erhaltene Handschriften aufgeführt werden,
von denen mit 175 Handschriften der größte Teil den Text ganz oder
fast vollständig wiedergibt (vgl. Killermann 2000, 300; vgl. auch
EiNleitung 49

Putzo 2011, 27). Für die Erstellung des Textes hat Colker dabei die
jeweils besten Lesarten aus den sechs frühesten Handschriften (um
1200) ausgewählt und zudem zwei frühe, zur selben Zeit entstande-
ne Florilegien herangezogen (vgl. Colker 1987, XXIII–XXVIII).
Dazu zählen namentlich: E (Codex Erfurtensis Amplon. 8° 90), G
(Codex Genevensis lat. 98), H (Codex Hafniensis Gl. Kgl. S. 2146),
M (Codex Princetonianus Garret 118), O (Codex Oxoniensis Bodl.
Auct. F.2.16) und S (Codex Audomarensis 78). Die beiden von
Colker benutzten Florilegien sind: B (Bern 710) und P (Paris BN
lat. 15155). Colker macht deutlich, dass Beziehungen zwischen den
von ihm benutzten Textzeugen (EGHMOS) untereinander schon
innerhalb der frühen Überlieferung nur schwach zu erkennen sind
und die durch den Erfolg des Epos als mittelalterlichem Schultext
bedingte intensive Glossierung der Alexandreis zu keiner einheitli-
chen Textgestalt geführt hat. Infolgedessen scheint die Konstrukti-
on eines Stemmas wenig sinnvoll zu sein (vgl. Colker 1987, XXIV–
XXV). Auch wenn sich inzwischen einige weitere, bei Colker nicht
aufgeführte Handschriften nachweisen lassen, bieten die Neufunde
keinen wesentlichen kritischen Gewinn, so dass man zum heutigen
Zeitpunkt davon ausgehen kann, dass mit der von Colker erstellten
Textgestalt eine hinreichend zuverlässige Textbasis gegeben ist. Die
im vorliegenden Band aus inhaltlichen Gründen vorgenommenen
bzw. auf alternativen Handschriften beruhenden Änderungen zum
Text Colkers einschließlich einiger Abweichungen in der Inter-
punktion lauten wie folgt:

Colker Diese Ausgabe

Buch I
87 precipit precepit
115 oranti frange oranti, frange

Buch II
318 fontis, fontis.
50 Einleitung
318a–f qualiter Alpinis spumoso vertice saxis  —
descendit Rodanus, ubi Maximianus eoos
extinxit cuneos cum sanguinis unda meatum
fluminis adiuvit fusa legione Thebea
permixtusque cruor erupit in ethera spreto
aggere terrarum totumque rigavit Agaunum.

Buch III
C 4–5 Tyroque, | funditus Tyroque | funditus
223 legendo ligando
255 credit excedit
508 illa ille
540 Macedo ne Macedo. Ne
541 impetus. extimplo impetus, extimplo

Buch IV
431 aptant optant
438 quietis Quietis

Buch V
390 Sic sic victorem Et sic victorem

Buch VIII
85 triduo biduo
158 reliquit relinquit

Buch X
249 quia quod
250 operiens exspectans
362 amorigerae amoriferae

Um der besseren Lesbarkeit willen wird im lateinischen Text die


Kleinschreibung an Satzanfängen durch Großschreibung ersetzt
und die Versanfänge nur in Großschreibung wiedergegeben, wenn
es sich dabei um einen Satzanfang oder einen Namen handelt. Die
lateinischen Eigennamen personifizierter Gottheiten werden in der
deutschen Übersetzung beibehalten und im Index näher erläutert.
EiNleitung 51

Die Tugenden werden im Deutschen grundsätzlich kursiv gesetzt,


um zum einen deutlich zu machen, dass die deutsche Übersetzung
bisweilen von der in der modernen Forschung gängigen Praxis ab-
weicht, zum anderen aber auch um klarzustellen, dass dabei immer
nur aristotelische Tugenden in ihrer spezifischen, durch die Me-
sotes-Lehre des antiken Philosophen vorgegebenen Ausprägung
angesprochen sind. Die Verwendung eines Doppelpfeils [⇔] im
Kommentar soll den Text inhaltlich gliedern oder auch innerhalb
eines Kommentarpunkts den beschreibenden vom erklärenden Teil
trennen.
Gliederungsübersicht
Prolog

1–13 Die Problematik der Neider


13–23 Das Vorbild Vergil
24–29 Das Vorbild Hieronymus
30–36 Walters aemulativer Überbietungsanspruch
36–39 Walters Rezeptionsanweisung
39–42 Hinweis auf die Themenübersichten

Buch I

1–10 Themenübersicht
1–26 Prooemium

Prooemium Teil 1 (1–11)


1–5 Antiker Musenanruf
5–8 Alexanders Ruhm
9–11 Die Strahlkraft der Taten Alexanders

Prooemium Teil 2 (12–26)


12–18 Die Karriere des Wilhelm von Blois
19–23 Die Bildung des Wilhelm von Blois
24–26 Christlicher Musenanruf und Widmung an Wilhelm von
Blois
27–58 Beginn der Erzählung
27–39 Klage und Zornesausbruch Alexanders
39–41 Alexander und Herkules
41–46 Alexander und Aristoteles
46–48 Alexander und Nektanabus
49–58 Alexanders Ungeduld
54 Gliederungsübersicht

59–81 Hinführung zur Aristoteles-Rede


59–71 Aristoteles als Gelehrter
72–81 Alexanders erneute Klage
82–183 Die Aristoteles-Rede
82–104 Definition des aristotelischen Tugendbegriffs
82–84 Entfaltung des Tugendpotenzials durch prakti-
sche Übung
85–91 Sklaven von Natur aus
92–104 Charakterstarke Personen
105–183 Die Einzeltugenden
105–114 Die Tugend der Gerechtigkeit
115 Die Tugend der angemessenen Zürnkraft
116–143 Die Tugend der Tapferkeit
116–117 Schnelligkeit und Entschlossenheit
118–127 Überzeugungskraft
128–132 Vorbildfunktion
133–136 Strategisches Vermögen
136–143 Handlungsschnelligkeit
144–151 Die Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit:
Teil 1
152–154 Die Tugend der angemessenen Zuwendung
155 Die Tugend der Wahrhaftigkeit
156–163 Die Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit:
Teil 2
164–182 Die Tugend der Besonnenheit
182–183 Die Tugend des angemessenen Stolzes
184–202 Ausleitung der Aristoteles-Rede
203–267 Die Legitimierung von Alexanders Herrschaft in Griechenland
203–238 Alexanders Erhebung zum Hegemon
203–206 Beschreibung von Korinth als Ort der Zeremonie
207–208 Paulus in Korinth
209–211 Die Zeremonie der Erhebung Alexanders zum
Hegemon
212–225 Weise Berater und leidenschaftliche Krieger
226–238 Alexander als Herrscher im Wartestand
239–267 Alexanders Krönung zum makedonischen König
Gliederungsübersicht 55

268–348 Die Sicherung der Macht Alexanders in Griechenland


268–283 Alexander verschont Athen
284–348 Alexander bestraft Theben
349–395 Der Transfer von Europa nach Asien
349–358 Vorbereitungen
359–385 Alexanders Überfahrt nach Kleinasien
386–395 Alexanders Ankunft in Kleinasien – Der Perserkrieg beginnt
396–426 Asienexkurs
427–446 Alexander und die Schätze Kleinasiens
447–492 Alexanders Zug durch Kleinasien
447–451 Alexander in Kilikien
452–467 Alexander auf dem Weg von Kilikien nach Troja
468–492 Alexander in Troja
493–554 Die Jerusalem-Episode
493–501 Alexanders Siegesgewissheit
502–538 Alexanders Vision
539–554 Alexanders Einzug in Jerusalem

Buch II

1–10 Themenübersicht
1–63 Der Perserkönig Darius
1–17 Die Charakterzeichnung des Darius
18–44 Die Korrespondenz zwischen Darius und Alexander
45–63 Die Heerschau des Darius
64–68 Die Schlacht am Granikus
68–90 Alexander in Phrygien
68–70 Alexanders Ankunft in Phrygien
71–74 Die geographische Lage von Gordium
75–90 Der gordische Knoten
91–102 Von Phrygien nach Kilikien
103–139 Der Truppenaufmarsch der Perser
56 Gliederungsübersicht

140–271 Alexander in Kilikien


140–144 Vom Lager des Cyrus nach Tarsus
145–152 Die Stadt Tarsus
153–171 Alexanders unheilvolles Bad im Kydnus
171–185 Die Reaktion der griechischen Soldaten
186–200 Die Reaktion der Fortuna
200–217 Die Reaktion Alexanders
218–256 Alexander – Philipp – Parmenion
257–268 Alexanders Ankunft in Issus
269–271 Alexander und Sisines
272–421 Darius vor der Schlacht bei Issus
272–305 Darius und Tymodes
306–318 Hinführung zur Feldherrnrede des Darius
319–371 Die Feldherrnrede des Darius
372–387 Der verhängnisvolle Irrtum der Perser
388–407 Perser und Griechen bringen sich in Stellung
408–421 Darius und das persische Heer
422–493 Alexander vor der Schlacht bei Issus
422–449 Hinführung zur Feldherrnrede Alexanders
450–486 Die Feldherrnrede Alexanders
486–493 Die Schlacht beginnt
494–529 Der Schild des Darius
530–544 Autorexkurs zur Vergänglichkeit irdischer Macht

Buch III

1–10 Themenübersicht
1–214 Die Schlacht bei Issus
1–3 Das Aufeinandertreffen der feindlichen Heere
4–10 Alexanders Schnelligkeit und Entschlossenheit
11–27 Alexander gegen Arethas
28–47 Ptolemäus gegen Dodontes; Clitus gegen Androphilus
48–49 Iollas gegen Mazaeus
50–52 Philotas gegen Ochus
53–58 Parmenions Bedeutung für Alexander
Gliederungsübersicht 57

59–62 Die Zweikämpfe des Antigonus, Coenus und Craterus


63–72 Parmenions Bedeutung für die Schlacht bei Issus
73–76 Eumenides gegen Diaspes und Eudochius
77–89 Nicanor gegen Echinus
90–118 Philotas gegen Negusar
119–139 Der Mut des makedonischen Heeres
140–188 Der Astrologe Zoroas
189–202 Die Reaktion des Darius
203–214 Die Folgen der Flucht des Darius
215–242 Alexanders Sieg bei Issus und seine Folgen
215–220 Die Verteilung der Beute
220–227 Die Gier der Soldaten nach Gold
228–233 Die Hemmungslosigkeit der Soldaten
234–242 Alexander und die Familie des Darius
242–257 Moralexkurs: Die Überschreitung menschlicher Macht
258–273 Parmenion nimmt Damaskus ein
274–287 Alexander auf dem Weg nach Phönizien
288–329 Alexander erobert Tyrus
330–341 Die historische Bedeutung von Tyrus
342–369 Alexander erobert Gaza
370–407 Alexander nimmt Ägypten ein; Alexanders Besuch in der Oase Siwa
408–462 Vorbereitungen für die Schlacht bei Gaugamela
408–412 Die Schicksalhaftigkeit der Auseinandersetzung
413–435 Die gewaltige Streitmacht der Perser
436–462 Alexander setzt Darius nach
463–543 Die Mondfinsternis

Buch IV

1–10 Themenübersicht
1–23 Tod der Stateira
58 Gliederungsübersicht

24–67 Tiriotes und Darius


24–34 Darius befürchtet die Schändung seiner Familie
34–39 Die Todesnachricht
40–58 Trauer und Argwohn des Darius
58–67 Darius preist Alexander
68–108 Die Gesandten des Darius
68–92 Das tugendhafte Verhalten Alexanders
92–99 Darius’ Friedensangebot
100–108 Darius’ Drohung
109–130 Der Standpunkt des Parmenion
131–141 Alexanders Antwort auf Parmenion
142–175 Alexanders Antwort an die persischen Gesandten
176–274 Das Grabmal der Stateira
176–179 Der Künstler Apelles
180–188 Schöpfung von Himmel und Erde; Die vier Elemente; Licht-
werdung (1. Mos.)
189–193 Erschaffung des Menschen (1. Mos. 2, 7); Sündenfall (1. Mos.
3, 6); Vertreibung aus dem Paradies (1. Mos. 3, 22–24)
194 Lamech tötet Kain (1. Mos. 4, 12; 4, 19, Apokryphen)
195–200 Versündigung der Menschen (1. Mos. 6, 1–7); Sintflut (1. Mos.
7); Kainsmal (1. Mos. 4, 15); Arche Noah (1. Mos. 6, 13–17)
201–202 Nach der Sintflut (1. Mos. 9, 18–19); Noah vom Wein betrun-
ken (1. Mos. 9, 20–21)
203–204 Abraham, Isaak und Jakob; Geburt des Isaak (1. Mos. 21, 5–6)
205–206 Der Jäger Esau (1. Mos. 25, 27); Jakobs Rückkehr (1. Mos. 32,
7–9); Jakobs Kampf mit dem Engel (1. Mos. 32, 25–29)
206–207 Verkauf Josephs (1. Mos. 37, 28); Potiphars Weib; Einkerke-
rung Josephs (1. Mos. 39); Fortgang der Kinder Israels nach
Ägypten (1. Mos. 46)
208–210 Die zehn Plagen Gottes (2. Mos. 7–12, 30); Auszug der Kin-
der Israels aus Ägypten (2. Mos. 12, 37–51); Untergang des
Pharaos (2. Mos. 14)
211–212 Zug durch die Wüste; Versorgung mit Manna (2. Mos. 16);
Übergabe der Gesetze, Eröffnung der Quelle (2. Mos. 17)
213–217 Moses’ Tod (5. Mos. 34, 5–8); Zerstörung von Jericho (Jos.
6, 24); Josua hemmt den Jordan (Jos. 3, 15–17); Verfluchung
Gliederungsübersicht 59

der Ebene von Achor (Jos. 7); Landverteilung durch Josua;


Josuas Tod (Jos. 13–24)
218–220 Herrschaft der Richter (Ri. 1–21); Blendung Samsons, Raub
seiner Haare durch Dalila (Ri. 16)
221–222 Ruth (Rut. 4, 13)
223–225 Ankündigung der Könige Israels; Tod des Eli (1. Sam. 4, 18);
Geburt des Samuel (1. Sam. 1, 20); Unruhe in Silo (1. Sam. 4,
12–17)
225–230 Saul erster König Israels (1. Sam. 9–11); David zweiter König
Israels (1 Sam. 16, 1; 2. Sam. 5, 1–5); Sieg Davids über Goliath
(1. Sam. 17, 49–50), Tod des Saul und seiner Söhne (Sam. 1, 31,
4–6); Klagelied Davids (2. Sam. 1, 17–21)
231–234 Aufstand gegen David (2. Sam. 2, 23; 2. Sam. 3, 27; 2. Sam. 11,
15–17; 2. Sam. 18, 14; 2. Sam. 19, 1
234–237 Tod Davids (1. Kön. 2, 10); Salomo dritter König Israels (1.
Kön. 2, 12); Tempelbau (1. Kön. 8) ; Tod des Joab (1. Kön. 2,
31–34); Tod des Simei (1. Kön. 2, 44–45)
238–239 Rat der Ältesten (1. Kön. 12, 7); Rat der Jünglinge (1. Kön.
12, 8–10), Spaltung des Reichs (1. Kön. 12, 19–20); Abfall von
zehn Stämmen (1. Kön. 12, 21)
240–246 Praeteritio: Götzendienst der Könige (1. Kön. 11, 9–11); Ver-
derbtheit von Samaria (1. Kön. 16, 32); Tod der Isebel (2.
Kön. 9, 30–37); Tod des Ahab (1. Kön. 22, 34); Justizmord an
Nabot (1. Kön. 21, 1–16); Vernichtung der Fünfzig (2. Kön. 1,
10–14)
247–248 Tötung der Baalspriester durch Elija (1. Kön. 18, 40); Trauer
des Elisa (2. Kön. 2, 12–14)
249–255 Ezechia und Josia von Juda (2. Kön. 22,1); Beseitigung der
Götzenbilder (2. Kön. 18, 1–4); Wiedereinführung des Passah-
Festes (2. Kön. 23, 21); Rücklauf der Sonne an der Treppe (2.
Kön. 20, 1–11)
256–257 Die vier großen Propheten Jesaja, Jeremia, Hesekiel und
Daniel
258–259 Verkündigung von Marias Empfängnis durch Jesaja an Ahas
(Jes. 7, 10–14)
259–261 Jeremia (Jer. 1, 1–10), Zerstörung Jerusalems unter Zedekia
(Jer. 39, 8); babylonische Gefangenschaft und das Ende Judas
(Jer. 39, 9), Verkündigung der jungfräulichen Geburt Jesu
(Jer. 31, 22)
60 Gliederungsübersicht

262–264 Hesekiel (Hes. 2–3); das geschlossene Tempeltor als Sinnbild


der Jungfräulichkeit Marias (Hes. 44, 1–3)
265–266 Daniel und die siebzig Jahrwochen (Dan. 9, 24)
266–267 Die zwölf kleinen Propheten
268–270 Rückkehr der Juden nach Jerusalem und Wiederaufbau des
Tempels unter Cyrus (Esr. 1, 1–7); Zorobabel (Esr. 5, 2)
270–271 Esther wird Königin (Est. 2, 15–18); Hinrichtung des Haman
(Est. 7, 7–10); Verstoßung der Vasti (Est. 1, 1–22)
272 Der unerschütterliche Glaube des Tobias (Tob. 2. 9–10)
273 Judith tötet Holofernes (Jud. 13)
274 Esra und der Wiederaufbau des Tempels (Esr. 6, 13–22)
275–279 Alexanders Schnelligkeit und kluge Planung
280–284 Szenenwechsel: Vorbereitungen im Lager des Darius
285–300 Griechen und Perser lagern in Sichtweite zueinander
301–327 Alexanders Entsetzen
327–349 Versammlung der Generäle
350–373 Alexanders Verständnis wahren Ruhms
374–390 Szenenwechsel: Letzte Vorbereitungen im Lager des Darius
391–453 Das Eingreifen der Göttin Victoria
391–400 Alexanders Gedankengefängnis
401–432 Der Palast der Göttin Victoria
433–453 Victoria und Somnus
454–497 Unsicherheit im griechischen Lager
454–471 Alexander verschläft
472–497 Parmenion weckt Alexander
498–525 Alexanders Rüstung
526–546 Letzte Vorbereitungen Alexanders
546–588 Alexanders Feldherrnrede vor der Schlacht bei Gaugamela
546–562 Alexander und das Schicksal
563–578 Alexanders Ruhm
579–588 Alexanders Tapferkeit
588–593 Die Schlacht beginnt
Gliederungsübersicht 61

Buch V

1–10 Themenübersicht
1–430 Die Schlacht bei Gaugamela
1–10 Der Zeitpunkt der Schlacht bei Gaugamela
11–25 Alexander gegen Aristomenes
26–31 Weitere Kämpfe Alexanders
32–37 Philotas rächt Hesifilus und Laomedon
38–75 Alexander gegen den Riesen Geon
76–122 Clitus gegen Sanga und dessen Vater Mecha
123–182 Nicanor gegen Rhemnon
123–144 Das zähe Ringen der Truppen
145–165 Nicanor tötet Rhemnon
166–182 Nicanors Tod
183–204 Hephaestio gegen Phidias
205–255 Eine Götterbotschaft für Alexander
255–282 Alexander und die Griechen bedrängen Darius
283–306 Darius zwischen Kampf und Flucht
307–318 Alexander verfolgt Darius
319–349 Die Flucht des Darius und der Perser
350–375 Ein letztes Gefecht
376–421 Darius’ Ansprache an seine Soldaten
422–430 Die Reaktion der persischen Soldaten
431–455 Von Gaugamela nach Babylon
456–490 Alexanders Einzug in Babylon
491–520 Die Suche nach einem alexanderhaften christlichen Anführer

Buch VI

1–11 Themenübersicht
1–32 Alexander in Babylon
1–15 Apostrophe an die Stadt Babylon
16–32 Babylons verderblicher Einfluss auf die Griechen und Alexan-
ders Aufbruch aus Babylon
62 Gliederungsübersicht

33–62 Alexanders Neuorganisation des griechischen Heeres


63–144 Die Eroberung von Susa und der Krieg gegen die Uxier
63–80 Die Einnahme von Susa und die Schlachtvorbereitungen
gegen die Uxier
81–102 Die Schlacht gegen die Uxier
103–144 Alexanders Sieg über die Uxier
145–160 Schwere Kämpfe gegen den Statthalter der Provinz Persis
161–296 Alexander in Persepolis
161–195 Alexander macht Persepolis dem Erdboden gleich
196–212 Alexander begegnet verstümmelten Kriegsgefangenen
213–296 Das Rededuell zwischen Euctemon und Theteus
297–552 Darius zwischen Alexander und den Verschwörern Bessus und Narbazanes
297–310 Alexander nimmt die Verfolgung des Darius wieder auf
311–369 Darius’ Rede an seine Soldaten
370–383 Die Reaktion der persischen Soldaten
384–424 Die Intrige des Bessus und des Narbazanes
425–434 Darius’ Reaktion auf die Intrige
435–442 Der Rat des Artabazus an Darius
443–450 Darius’ verzweifelte Lage
451–467 Der listige Plan der Verschwörer
468–489 Die Durchführung der List
490–510 Das wohlmeinende Angebot des Griechen Patron
511–524 Darius lehnt das Angebot des Griechen Patron ab
525–547 Der Verschwörer Bessus verunglimpft Patron
548–552 Darius’ Schicksalsergebenheit

Buch VII

1–10 Themenübersicht
1–90 Die Verschwörung gegen Darius
1–16 Kosmische Zeichen künden von Darius’ Ende
17–58 Darius im Selbstgespräch
59–90 Darius wird in Ketten gelegt und verschleppt
Gliederungsübersicht 63
91–378 Alexander verfolgt Darius
91–105 Die Schnelligkeit und die Handlungsschnelligkeit Alexanders
106–127 Alexanders Ansprache an die griechischen Soldaten
128–174 Alexander erreicht das Lager der Verschwörer
175–209 Die Flucht der Verschwörer und Darius’ Ermordung
210–239 Die Schlacht gegen die verbliebenen Perser
240–305 Darius’ letzte Botschaft an Alexander
306–343 Moralexkurs
344–347 Apostrophe an Darius
348–378 Alexanders Totenklage
379–430 Das Grabmal des Darius
431–538 Alexander zwischen Perserreich und Welteroberung
431–435 Alexanders angemessene Gebefreudigkeit
435–466 Alexanders Welteroberungspläne
467–538 Alexanders Ansprache an die griechischen Soldaten

Buch VIII

1–10 Themenübersicht
1–5 Die Eroberung von Hyrkanien
6–48 Die Amazonenkönigin Thalestris
49–74 Die Vernichtung der Kriegsbeute
75–322 Die Verschwörung des Philotas
75–91 Die Entdeckung der Verschwörung
92–157 Alexanders Anklagerede gegen Philotas
158–184 Alexander als ungerechter Richter
185–301 Philotas’ Verteidigungsrede
301–322 Philotas’ Tod
323–334 Autorexkurs: Die Bedeutungslosigkeit eitlen Ruhms
335–357 Die Hinrichtung des Bessus
358–495 Die Unterwerfung der Skythen
358–367 Das Volk der Skythen
368–476 Die Skythen-Rede
64 Gliederungsübersicht

368–403 Alexanders Maßlosigkeit: Das Streben nach Gott-


gleichheit
404–459 Alexanders Maßlosigkeit: Die grenzenlose Erobe-
rungswut
460–476 Alexanders Maßlosigkeit: Das Streben nach Gott-
gleichheit
477–495 Alexanders Sieg über die Skythen
496–513 Die Reaktion der östlichen Völker

Buch IX

1–10 Themenübersicht
1–325 Alexanders Indienfeldzug
1–8 Alexander als Feind seiner Freunde
9–34 Die Geographie Indiens
35–70 Der Inderkönig Porus
71–147 Nicanor und Symmachus
148–178 Alexanders List
179–325 Die Schlacht am Hydaspes
179–258 Die feindlichen Heere treffen aufeinander
258–290 Alexanders verfolgt Porus
291–325 Alexanders und Porus im Gespräch
326–340 Alexander als Welteroberer
341–500 Alexanders Kampf gegen die Sudraker
501–544 Craterus mahnt Alexander
545–580 Alexanders Antwort an Craterus

Buch X

1–10 Themenübersicht
1–5 Alexanders Aufbruch zu den Antipoden
Gliederungsübersicht 65

6–167 Das Strafgericht in der Unterwelt


6–107 Descensus as inferos – Die Göttin Natura in der Unterwelt
6–30 Die Charakterisierung der Göttin Natura
31–57 Die Laster am Eingang zur Unterwelt
58–81 Erster Ort der Bestrafung – Leviathan und das
Fegefeuer
82–107 Die Klagerede der Natura am ersten Ort der Be-
strafung
108–167 Die Unterweltsversammlung
108–125 Zweiter Ort der Bestrafung – Leviathan und die
Hölle
126–142 Die Rede des Leviathan am zweiten Ort der Be-
strafung
143–167 Die Rede der Proditio am zweiten Ort der Bestra-
fung
168–190 Alexanders weitere Pläne
191–215 Autorexkurs: Klage über Alexanders Ende
216–325 Die Versammlung der Völker in Babylon
216–248 Der Aufmarsch der Völker in Babylon
249–282 Alexanders Rückkehr nach Babylon
282–329 Alexanders Ansprache
330–355 Unheilvolle Vorzeichen
356–432 Alexanders letzter Tag
356–377 Das unaufhaltsame Fatum
378–432 Alexanders Tod
433–454 Moralexkurs
455–460 Walters Abwendung von der antikisierenden Dichtung
461–469 Walters Widmung an seinen Gönner Wilhelm von Blois
Text und übersetzung
Prologus
Moris est usitati, cum in auribus multitudinis
aliquid novi recitatur, solere turbam in diversa
scindi studia et hunc quidem applaudere
et quod audit laude dignum predicare, illum vero,
seu ignorantia ductum seu livoris aculeo vel odii 5
fomite perversum, etiam bene dictis detrahere et
versus bene tornatos incudi reddendos esse censere.
Et mirum est humanum genus a prima sui
natura, secundum quam cuncta, que fecit Deus,
valde bona creata sunt, ita esse depravatum, ut 10
pronius sit ad condempnandum quam ad indulgendum
et facilius sit ei ambigua depravare quam
in partem interpretari meliorem.
Hoc ego reveritus
diu te, o mea Alexandrei, in mente habui semper
supprimere et opus quinquennio laboratum aut 15
penitus delere aut certe quoad viverem in occulto
sepelire. Tandem apud me deliberatum est
te in lucem esse proferendam, ut demum auderes
in publica venire monimenta. Non enim arbitror me esse
meliorem Mantuano vate, cuius opera mortali 20
ingenio altiora carpsere obtrectantium linguae
poetarum et mortuo derogare presumpserunt,
quem, dum viveret, nemo potuit equiparare mortalium.
Prolog
Die Problematik der Neider (1–13)

Wenn einem Publikum eine neue Dichtung zu Ohren gebracht wird,


ist es gewöhnliche Praxis, dass die Zuhörerschaft zwei unterschiedli-
chen Lagern zugeteilt werden kann: Die einen spenden Beifall und
rühmen den Vortrag, die anderen aber [5] verweigern – aus fehlen-
dem Verständnis, Neid oder Hass heraus – auch einer gelungenen
Darstellung die Anerkennung und sind der Meinung, dass auch gut
geschmiedete Verse noch einmal neu bearbeitet werden müssten.
Und es ist sonderbar, dass das Menschengeschlecht seiner ursprüng-
lich vortrefflichen Natur – denn alles, was Gott erschaffen hat,
[10] wurde als etwas Vortreffliches geschaffen – so entfremdet ist,
dass es eher dazu neigt, zu verurteilen, als anzuerkennen, und es ihm
im Zweifel leichter von der Hand geht, Mehrdeutigkeit zu verdam-
men, als eine Bewertung zum Guten hin abzugeben.

Das Vorbild Vergil (13–23)

Weil ich genau dies fürchtete, hegte ich lange die Absicht, dich,
meine Alexandreis, [15] zurückzuhalten und das nach fünf Jahren
vollendete Werk entweder vollständig zu vernichten oder zumindest
zu meinen Lebzeiten verborgen zu halten. Schließlich hat sich bei
mir jedoch der Entschluss durchgesetzt, dich veröffentlichen zu
müssen, damit du deinen Platz in der einschlägigen Literatur ein-
nehmen kannst. Nicht bin ich allerdings der Meinung, [20] ein
besserer Dichter zu sein als der aus Mantua stammende Vergil,
dessen menschliches Genie übersteigenden Werke böswillig schmä-
hende Dichter zerrissen und den sie nach seinem Tod dreist herab-
gesetzt haben – einen Dichter, dem zu Lebzeiten niemand auch nur
ansatzweise gleichkam.
70 ALEXANDREIS

Sed et Ieronimus noster, vir tam disertissimus


quam christianissimus, qui in singulis 25
prefationibus suis emulis respondere consuevit,
manifeste dat intelligi nullum apud auctores
superesse securitatis locum, cum virum tam
nominatae auctoritatis pupugerit stimulus emulorum.

In hoc tamen lectores huius opusculi, siquis tamen hoc 30


captus amore leget, exoratos esse volo, ut,
siquid in volumine reprehensibile seu satyra
dignum invenerint, considerent arti temporis
brevitatem, qua scripsimus et altitudinem materiae,
quam nullus veterum poetarum teste Servio 35
ausus fuit aggredi perscribendam;
et ad hoc
habito respectu discant saltim ex dispensacione
debere tolerari que, siquis de scripto iure
ageret, poterant de rigore condempnari.
Sed hec
hactenus. Nunc autem, quod instat, agamus, et ut 40
facilius, que quesierit, quis possit invenire,
totum opus per capitula distinguamus.
PROLOG 71

Das Vorbild Hieronymus (24–29)

Aber auch unser Hieronymus, ein ebenso beredter [25] wie from-
mer Mann, der in jeder seiner Vorreden seinen Neidern entgegenzu-
treten pflegte, gibt deutlich zu verstehen, dass es unter Schriftstel-
lern keinen sicheren Platz mehr gibt, wenn der Stachel der Neider
in der Lage war, sogar einen Mann von einem derartigem Ansehen
wie Vergil zu kränken.

Walters aemulativer Überbietungsanspruch (30–36)

[30] Doch darum möchte ich die Leser dieses bescheidenen Werks –
falls es jemand von Zuneigung ergriffen lesen sollte – doch bitten,
dass sie, falls sie in dieser Dichtung etwas Tadelnswertes oder Spott-
würdiges finden sollten, die Kürze der Zeit bedenken mögen, in der
ich diese verfasst habe, und die Erhabenheit des Themas, [35] das
nach dem Zeugnis des Servius keiner der antiken Dichter in Angriff
zu nehmen gewagt hat.

Walters Rezeptionsanweisung (36–39)

Berücksichtigt man diese Umstände, mögen sie – den geistigen Sinn


des Werks in Erwägung ziehend – begreifen lernen, dass dieses Werk
zumindest anerkannt werden sollte, das – würde jemand lediglich
nach dem Wortsinn sein Urteil fällen – durchaus auch unnachgie-
big verurteilt werden könnte.

Hinweis auf die Themenübersichten (39–42)

Doch genug davon. [40] Nun aber will ich das Vorhaben beginnen;
und damit jemand leichter finden kann, was er sucht, will ich das
ganze Werk mit Hilfe einer dem jeweiligen Buch vorangehenden
Übersicht zusammenfassen.
Liber I
Capitula primi libri

Primus Aristotilis imbutum nectare sacro


scribit Alexandrum sceptroque insignit et armis.
Cicropidas regi rursus confoederat. Arces
diruit Aonias. Numerosa classe profundum
intrat et appellens Asyam de nave sagittat, 5
parcendumque ratus hostem sine Marte tryumphat,
elatusque animo sub sole iacentia regna
iam sibi parta putat. Asiam de vertice montis
inspicit et patrias partitur civibus urbes.
Pergama miratur et sompnia visa retractat. 10

Primus liber

Gesta ducis Macedum totum digesta per orbem,


quam large dispersit opes, quo milite Porum
vicerit et Darium, quo principe Grecia victrix
risit et a Persis rediere tributa Chorintum,
Musa refer. 5
Buch I
Themenübersicht (1–10)

Das erste Buch beschreibt Alexander, wie er in die heilige Lehre des
Aristoteles eingeweiht wird, und schmückt ihn mit Szepter und
Waffen. Alexander versöhnt zum zweiten Mal einem makedonischen
König die Stadt Athen. Theben jedoch zerstört er. Mit zahlreichen
Schiffen sticht er in See, [5] legt in Kleinasien an und wirft noch
vom Schiff aus einen Speer auf das vor ihm liegende Land. In der
Meinung, die dortigen Feinde schonen zu müssen, triumphiert er
ohne Krieg. In berechtigtem Stolz auf diese Leistung glaubt er, das
ganze Perserreich gehöre ihm schon. Vom Gipfel eines Bergs aus
betrachtet er Kleinasien und teilt den Bürgern die Städte ihrer Väter
zu. [10] Er bewundert Troja und berichtet seinen Soldaten von
einer einst noch in Pella erhaltenen Vision.

Prooemium (1–26)

Prooemium Teil 1 (1–11)

Antiker Musenanruf (1–5)

Muse, berichte mir von den auf dem ganzen Erdkreis vollbrachten
Taten des makedonischen Königs, wie großzügig er Reichtümer
verteilte, wie er mit vergleichsweise kleiner Streitmacht über Porus
und Darius siegte und wie Griechenland unter einem solchen An-
führer siegreich triumphierte und daraufhin die Tribute von den
Persern nach Korinth zurückflossen. [5]
74 ALEXANDREIS

Qui si senio non fractus inermi


pollice fatorum nostros vixisset in annos,
Cesareos numquam loqueretur fama tryumphos,
totaque Romuleae squaleret gloria gentis:

Preradiaret enim meriti fulgore caminus


igniculos, solisque sui palleret in ortu 10
Lucifer, et tardi languerent Plaustra Boete.

At tu, cui maior genuisse Britannia reges


gaudet avos, Senonum quo presule non minor urbi
nupsit honos quam cum Romam Senonensibus armis
fregit adepturus Tarpeiam Brennius arcem 15
si non exciret vigiles argenteus anser,
quo tandem regimen kathedrae Remensis adepto
duriciae nomen amisit bellica tellus,
BUCH I 75

Alexanders Ruhm (5–8)

Wenn dieser – nicht durch wehrlose Entkräftung dahingerafft –


nach dem Willen der Parzen ein für unsere Zeit normales Alter er-
reicht hätte, würde die geschichtliche Überlieferung niemals die
Triumphe der römischen Kaiser verkünden und der ganze Ruhm
des von Romulus abstammenden Volkes würde im Staube liegen:

Die Strahlkraft der Taten Alexanders (9–11)

Denn als großes Feuer würde er durch den Glanz seiner Verdienste
all die kleineren Feuer gänzlich überstrahlen, [10] beim Aufgang
seiner Sonne nämlich würde der Morgenstern völlig verblassen und
auch der Wagen des trägen Bootes wäre im Morgenlicht nicht mehr
zu sehen.

Prooemium Teil 2 (12–26)

Die Karriere des Wilhelm von Blois (12–18)

Du aber, dem das größere Britannien zur eigenen Freude einst


königliche Vorfahren geschenkt hat, hast in führender Stellung der
Stadt der Senonen keinen geringeren Ruhm zuteil werden lassen als
zu jener Zeit, als Brennus die Stadt Rom mit senonischer Streit-
macht [15] bezwang und schon im Begriff war, die tarpeische Burg
zu erobern, wenn nicht die silberfarbenen Gänse die römischen
Wachen gewarnt hätten. Nachdem du schließlich die Führung im
Bistum von Reims übernommen hattest, verlor dieses kriegerische
Land den Ruf seiner Härte.
76 ALEXANDREIS

quem partu effusum gremio suscepit alendum


phylosophia suo totumque Elycona propinans 20
doctrinae sacram patefecit pectoris aulam,
excoctumque diu studii fornace, fugata
rerum nube, dedit causas penetrare latentes:

Huc ades et mecum pelago decurre patenti,


funde sacros fontes et crinibus imprime laurum 25
ascribique tibi nostram paciare camenam.

Nondum prodierat naturae plana tenellis


infruticans lanugo pilis, matrique parabat
dissimiles proferre genas, cum pectore toto
arma puer sitiens Darium dare iura Pelasgis 30
gentibus imperiique iugo patris arva prementem
audit et indignans his vocibus exprimit iram:
“Heu, quam longa quies pueris! Numquamne licebit
inter funereas acies mucrone chorusco
Persarum dampnare iugum, profugique tyranni 35
cornipedem lentum celeri prevertere cursu,
confusos turbare duces, puerumque leonis
BUCH I 77

Die Bildung des Wilhelm von Blois (19–23)

Gleich nach deiner Geburt nahm dich als Zögling [20] die Philoso-
phie in ihre Obhut und öffnete der philosophischen Unterweisung
die heilige Halle deines Herzens, indem sie dir sämtliche Künste des
Helikon einflößte, und ließ dich, der du schon lange Zeit vom For-
schungseifer ergriffen warst, den über den Dingen liegenden Schlei-
er heben und versteckte Zusammenhänge entdecken:

Christlicher Musenanruf und Widmung an Wilhelm von Blois (24–26)

Steh du meinem Werk bei und unterstütze mein gewaltiges Vorha-


ben, [25] lass strömen die heiligen Quellen, bekränze mit Lorbeer
mein Haar und gestatte es mir, mein Gedicht dir zu widmen.

Beginn der Erzählung (27–58)

Klage und Zornesausbruch Alexanders (27–39)

Noch nicht war dem jungen Alexander der von Natur aus mit zar-
ten Haaren sprießende Flaum deutlich erkennbar hervorgetreten,
noch nicht auch hatte er bisher der Mutter unähnliche Wangen
hervorgebracht, als der mit ganzem Herzen [30] nach Kriegstaten
dürstende Junge hörte, Darius habe den pelasgischen Stämmen eine
Verfassung gegeben und sogar das Land des Vaters mit dem Joch
seiner Herrschaft bedrängt. Voller Entrüstung brachte er seinen
Zorn mit folgenden Worten zum Ausdruck: »Ach, wie lange ist
man als Junge doch zur Tatenlosigkeit verdammt! Wird es mir denn
niemals erlaubt sein, mit blitzendem Schwert in todbringenden
Schlachten [35] das Joch der Perser zu vergelten, das träge Pferd des
fliehenden Tyrannen in schnellem Lauf zu überholen und die kopf-
los agierenden Generäle des Feindes auseinanderzutreiben? Wird es
78 ALEXANDREIS

vexillo insignem galeato vertice saltim


in bello simulare virum?
Verumne dracones
Alcydem puerum compressis faucibus olim 40
in cunis domuisse duos?
Ergo nisi magni
nomen Aristotilis pueriles terreat annos,
haut dubitem similes ordiri fortiter actus.
Adde quod etati duodenni corpore parvo
maior inesse solet virtus viridisque iuventae 45
ardua vis supplere moras.
Semperne putabor
Nectanabi proles? Ut degener arguar, absit!”
Hec ait, hec secum dictanti corde perorat.

Qualiter Hyrcanis si forte leunculus arvis


cornibus elatos videt ire ad pabula cervos, 50
cui nondum totos descendit robur in armos,
BUCH I 79

einem Jungen wie mir, geschmückt mit dem Banner des Löwen
und helmbewehrt das Haupt, denn niemals erlaubt sein, im Krieg
einen echten Mann wenigstens nachzuahmen?

Alexander und Herkules (39–41)

Ist es nicht wahr, dass der Alkide als Kind einst in der Wiege [40] zwei
Schlangen bezwang, indem er ihnen die Kehlen zudrückte?

Alexander und Aristoteles (41–46)

Wäre mein jungenhaftes Alter nicht durch des großen Aristoteles


Namen eingeschüchtert, würde ich ohne zu zögern ähnliche Taten
tapfer vollbringen. Bedenke außerdem, dass einem Zwölfjährigen
im kleinen Körper gewöhnlich [45] ein vergleichsweise großer Mut
innewohnt und die edle Kraft der frischen Jugend die noch vorhan-
denen Defizite zu kompensieren vermag.

Alexander und Nektanabus (46–48)

Soll ich etwa für alle Zeiten als Spross des Nektanabus angesehen
werden? Niemand soll mich als entartet beschimpfen!« So sprach
er und wägte wiederholt die eigenen Worte bei sich im Herzen.

Alexanders Ungeduld (49–58)

Wie wenn von ungefähr ein noch junger Löwe sieht, wie auf hyrka-
nischen Fluren [50] Hirsche mit stolz emporgerecktem Geweih
zum Futterplatz ziehen – noch steckt in ihm nicht die unbändige
80 ALEXANDREIS

nec pede firmus adhuc nec dentibus asper aduncis


palpitat, et vacuum ferit inproba lingua palatum,
effunditque prius animo quam dente cruorem,
pigriciamque pedum redimit matura voluntas: 55
Sic puer effrenus totus bachatur in arma,
invalidusque manu gerit alto corde leonem,
et preceps teneros audacia prevenit annos.

Forte macer pallens incompto crine magister


(nec facies studio male respondebat) apertis 60
exierat thalamis, ubi nuper corpore toto
perfecto logyces pugiles armarat elencos.
O quam difficile est studium non prodere vultu!
Livida nocturnam sapiebant ora lucernam,
seque maritabat tenui discrimine pellis 66
ossibus in vultu, partesque effusa per omnes 67
articulos manuum macies ieiuna premebat. 68
Nulla repellebat a pelle parentesis ossa. 65
Nam vehemens studii macie labor afficit artus 69
et molem carnis, et quod cibus educat extra 70
interior sibi sumit homo fomenta laboris.
BUCH I 81

Sprungkraft des ausgewachsenen Löwen, noch sind die Beine


schwach und die Fangzähne ungefährlich –, und das hungrige Maul
in unersättlicher Gier brüllt und er in Gedanken schon das Blut
seiner Opfer vergießt, noch bevor es die Zähne tatsächlich vermö-
gen, [55] und der unbedingte Wille die noch vorhandene Ungelenk-
heit der Beine ausgleicht: So drängte der Junge mit Leib und Seele
unbändig zu den Waffen, mit noch schwachen Händen ließ er, über-
zeugt von den eigenen Kräften, bereits den ausgewachsenen Löwen
lebendig werden und unbesonnener Übermut eilte den noch kind-
lichen Jahren voraus.

Hinführung zur Aristoteles-Rede (59–81)

Aristoteles als Gelehrter (59–71)

Abgehärmt, bleich und mit ungekämmten Haaren verließ der Leh-


rer gerade die Kammer [60] – sein Erscheinungsbild entsprach der
auf sich genommenen Mühsal –, wo er neulich nach Abschluss der
Arbeiten zur Logik zuletzt noch die Widerlegungen der sophistischen
Trugschlüsse hieb- und stichfest gemacht hatte. Ach, wie schwierig
es ist, sich die Mühen des Studiums nicht anmerken zu lassen! Das
blasse Antlitz nämlich verriet die Arbeit unter nächtlicher Lampe,
[66] im eingefallenen Gesicht traten die [67] Wangenknochen deut-
lich erkennbar hervor, [68] eine über den ganzen Körper zu Tage
tretende, kraftlos wirkende Magerkeit setzte den Fingern ungemein
zu. [65] Der ganze Mann bestand nur noch aus Haut und Knochen.
[69] Denn die beschwerliche wissenschaftliche Arbeit verursacht an
Körper und Gliedern Magerkeit, [70] und was die Speise von außen
an Energie zuführt, verbraucht der Mensch im Inneren durch seine
Konzentration auf die geistige Arbeit.
82 ALEXANDREIS

Ergo ubi flammato vidit Philippida vultu,


accusabat enim occultam rubor igneus iram,
flagitat unde animus incanduit, unde doloris
materiam traxit, que tanta efferbuit ira. 75
Ille sui reverens faciem monitoris ocellos
supplice deiecit vultu, pronusque sedentis
affusus genibus senium lugere parentis
oppressum imperio Darii patriamque iacentem
conqueritur lacrimans lacrimisque exaggerat iras, 80
atque hec dicentem vigili bibit aure magistrum:

“Indue mente virum, Macedo puer, arma capesce.


Materiam virtutis habes, rem profer in actum;
quoque modo id possis, aurem huc adverte, docebo:

Consultor procerum servos contempne bilingues 85


et nequam, nec quos humiles natura iacere
BUCH I 83

Alexanders erneute Klage (72–81)

Als Aristoteles also Philipps aufgebrachten Sohn erblickte, verlang-


te er zu wissen – dessen feuerrotes Gesicht nämlich verriet den ver-
borgenen Zorn –, aus welchem Grund er derart aufgewühlt sei, was
seinen Unmut [75] hervorrufe und warum sein Zorn so heftig
aufwalle. Alexander richtete gesenkten Hauptes – den Blickkontakt
mit seinem Lehrer scheuend – in Demut die Augen zu Boden, und
vornüber gebeugt und zu Füßen des sitzenden Aristoteles kauernd,
begann er weinend zu klagen: Bedauernswert sei, bedrängt durch
des Darius Reich, das Greisenalter des Vaters und das am Boden lie-
gende Vaterland. [80] Mit Tränen steigerte er seinen Zorn, gleich-
wohl saugte er mit hellwachen Ohren die folgenden Worte seines
Lehrers erwartungsfroh auf:

Die Aristoteles-Rede (82–183)

Definition des aristotelischen Tugendbegriffs (82–104)

Entfaltung des Tugendpotenzials durch praktische Übung (82–84)

»Verinnerliche zuerst das Wesen eines Mannes, makedonischer


Junge, und greife dann zu den Waffen. Du besitzt schon jetzt die
Anlage zur Tugendhaftigkeit, schreite zu entsprechender Zeit zur
Tat. Auf welche Weise du dies vermagst, höre mir gut zu, ich will es
dich im Folgenden lehren:

Sklaven von Natur aus (85–91)

[85] Wenn du der Fürsten Rat suchst, dann verachte heuchlerische


Knechte und Taugenichtse, erhöhe nicht diejenigen, denen die Na-
tur vorab bereits einen niedrigen Rang verordnet hat. Denn wer
84 ALEXANDREIS

precepit, exalta, nam qui pluvialibus undis


intumuit torrens, fluit acrior amne perhenni.
Sic partis opibus et honoris culmine servus
in dominum surgens, truculentior aspide surda 90
obturat precibus aures, mansuescere nescit.

Non tamen id prohibet rationis calculus, ut non


exaltare velis, siquos insignit honestas,
quos morum sublimat apex licet ampla facultas
et patriae desit et gloria sanguinis alti. 95
Nam si vera loquar, auferre pecunia mores
non afferre solet; etenim inter cetera noctis
monstriparae monstro nichil est corruptius isto.
Quem vero morum non rerum copia ditat,
quem virtus extollit, habet quod preferat auro, 100
quod patriae vicium redimat, quod conferat illi
et genus et formam. Virtus non queritur extra.
Non eget exterius, qui moribus intus habundat.
Nobilitas sola est animum que moribus ornat.

Si lis inciderit te iudice, dirige libram 105


iudicii. Nec flectat amor nec munera palpent
BUCH I 85

durch heftigen Regen zu einem reißenden Bach angeschwollen ist,


bricht sich wilder Bahn als ein beständig fließender Strom. So ver-
schließt ein emporstrebender sklavenhafter Charakter nach Errei-
chen einer einflussreichen Stellung [90] allen Bitten grimmiger die
Ohren als eine taube Natter und versteht es nicht, Milde walten zu
lassen.

Charakterstarke Personen (92–104)

Vernunftgründe sollen dich jedoch nicht daran hindern, diejenigen


erhöhen zu wollen, die sich durch Tugendhaftigkeit und einen
tadellosen Charakter hervortun, mag es ihnen auch an finanziellen
Mitteln, [95] an Vaterlandsruhm und Glanz der eigenen erhabenen
Abstammung fehlen. Denn um die Wahrheit zu sagen, Geld ver-
dirbt gewöhnlich den Charakter und pflegt nichts zu dessen Ausbil-
dung beizutragen. Denn keines dieser schrecklichen Wesen, welche
die Nacht hervorbringt, ist scheußlicher als der Reichtum. Jener
aber, den Charakterstärke, nicht Reichtum bereichert, [100] den
Tugendhaftigkeit auszeichnet, besitzt etwas, das er dem Gold vor-
zieht, das die unvollkommene Abstammung ausgleicht, das jenem
echten Adel und innere Schönheit verleiht. Tugendhaftigkeit er-
wirbt man sich nicht durch Äußerlichkeiten. Nicht bedarf derjeni-
ge äußerer Güter, den im Inneren eine ausgeprägte Charakterfestig-
keit auszeichnet. Eine edle Gesinnung allein ist dem Lebenswandel
eines Mannes förderlich.

Die Einzeltugenden (105–183)

Die Tugend der Gerechtigkeit (105–114)

[105] Wenn du in einem Streitfall als Richter fungierst, urteile ge-


recht. Nicht sollen dich Sympathie erweichen oder Geschenke dir
86 ALEXANDREIS

nec moveat stabilem personae acceptio mentem.


Muneris arguitur accepti censor iniquus.
Munus enim a norma recti distorquet acumen
iudicis et tetra involvit caligine mentem. 110
Cum semel obtinuit viciorum mater in aula
pestis avaritiae, que sola incarcerat omnes
virtutum species, spreto moderamine iuris
curritur in facinus, nec leges curia curat.

Parce humili, facilis oranti, frange superbum. 115

Castra move, turmas instaura, transfer in hostem.


Grande aliquid si velle tenes, et posse tenebis.

Si conferre manum, dum luditur alea Martis,


debilis et nondum matura refugerit etas,
te tamen armatum videant hilaremque catervae 120
pugnantem, precibus monituque minisque tonantem.
Profuit interdum dominis pugnare iubendo.
Nam dum castra metus calcat, dum languida terror
BUCH I 87

schmeicheln noch soll das gesellschaftliche Ansehen einer Person


deine standhafte Haltung beeinflussen können. Einem ungerechten
Richter wird grundsätzlich Bestechlichkeit vorgeworfen. Ein Ge-
schenk nämlich korrumpiert die Unvoreingenommenheit [110] ei-
nes Richters und schadet dessen Urteilsvermögen. Wenn nur ein
einziges Mal die Seuche der Habgier – die Mutter aller Laster –, die
allein alle Tugenden zu korrumpieren vermag, sich im Gerichtssaal
behauptet, schlägt man – hat die Herrschaft des Rechts erst einmal
an Bedeutung verloren –, den Weg des Verbrechens ein und das Ge-
richt selbst hält sich nicht mehr an die eigenen Gesetze.

Die Tugend der angemessenen Zürnkraft (115)

[115] Den Demütigen schone mit angemessener Zürnkraft, mit ange-


messener Zürnkraft zerschmettere den Hochmütigen.

Die Tugend der Tapferkeit (116–143)

Schnelligkeit und Entschlossenheit (116–117)

Mit deinem Heer rücke vor, schließe deine Reihen, gehe zum An-
griff über. Wenn du den echten Willen zu etwas Großem hast, wirst
du dein Ziel auch erreichen können.

Überzeugungskraft (118–127)

Sollte sich nach Kriegsbeginn dein schwaches und noch unreifes


Alter scheuen, den Kampf zu beginnen, [120] sollen deine Truppen
dich dennoch als einen Feldherrn erblicken, der heiter im Waffenge-
wand in den Kampf zieht, der seine Soldaten zu überzeugen sucht,
indem er mit Bitten, Mahnungen und Drohungen seine Stimme
ertönen lässt. Bisweilen hat es Anführern schon geholfen, einfach
nur den Befehl zum Kampf zu geben. Denn wenn Furcht das
88 ALEXANDREIS

agmina prosternit, dum corda manusque vacillant,


si gravis hortatu preceptor inebriat aures, 125
se timor absentat, et sic formidine mersa
irruit in ferrum monitis effrena iuventus.

Hostibus ante alios primus fugientibus insta.


Quodsi forte tuus repetat tentoria miles,
agmina retrogrado fugiens hostilia gressu, 130
ultimus instando fugias, videantque morantem,
indecoresque fuga pudeat sine rege reverti.

Interea metire oculis, quot milibus instent,


quot peditum turmae, quot fusi e vallibus assint,
quot solem galeis equites clipeisque retundant, 135
nec te terruerit numerus.
Si molliter illos
videris instantes, rue primus in arma sequentum,
primus equum verte, pressoque relabere freno.
Hic vigor emineat tuus affectusque tuorum
et fervens animus durique peritia Martis. 140
BUCH I 89

Heerlager lähmt, mangelndes Selbstbewusstsein die Reihen nieder-


drückt, Herzen und Hände zittern, [125] so stürzt sich umgekehrt
nach abgelegter Furcht die durch gezielte Ermunterungen entfessel-
te Jugend in den Kampf, sofern der durch sein Motivationstalent
angesehene Anführer die Ohren seiner von Angst befreiten Sol-
daten berauscht.

Vorbildfunktion (128–132)

Verfolge als erster vor allen anderen den fliehenden Feind. Wenn aber
möglicherweise dein Heer das schützende Lager erreichen möchte
[130] und den Rückzug vor dem feindlichen Heer antritt, bleibe ste-
hen und weiche als letzter zurück. Sie sollen dich ausharren sehen
und entehrt durch ihren eigenen Rückzug sich schämen, ohne den
König zurückgekehrt zu sein.

Strategisches Vermögen (133–136)

Beobachte genau, wie viele Tausende drohen, wie viele Abteilungen


an Fußsoldaten, wie viele in den Tälern verteilt sind, wie viele Reiter
mit ihren blitzenden Helmen [135] und Schilden die Augen blen-
den. Nicht soll dich deren Anzahl in Angst und Schrecken ver-
setzen.

Handlungsschnelligkeit (136–143)

Wenn du sehen solltest, dass der Feind dich nur zaghaft verfolgt,
stürme als erster auf die Reihen der Verfolger zu, wende als erster
dein Pferd gegen den Feind und mache kehrt mit straff angezoge-
nen Zügeln. Hier trete hervor deine Kraft und zeige sich dein gutes
Verhältnis zu deinen Soldaten [140] ebenso wie dein feuriger Mut
und deine Erfahrung in einem grausamen Schlachtgetümmel. Hier
sollen sich die Pferde in direktem Kampf gegenüberstehen, hier soll
90 ALEXANDREIS

Hic equus opponatur equis, hic ensibus ensis,


hic clipeus clipeis, hic obruta casside cassis.
Vix liceat victis victori offerre tryumphum.

Cumque vel intraris victis tradentibus urbem,


vel, si restiterint, portas perfregeris urbis, 145
thesauros aperi, plue donativa maniplis,
vulneribus crudis et corde tumentibus egro
muneris infundas oleum, gazisque reclusis
unge animos donis, aurique appone liquorem.
Hec egrae menti poterit medicina mederi. 150
Sic inopi dives largusque medetur avaro.

At si forte animo res non respondeat alto,


copia si desit vel si minuatur acervus,
non minuatur amor, non desit copia mentis.

Allice pollicitis promissaque tempore solve. 155


BUCH I 91

Schwert auf Schwert treffen und Schild auf Schild, hier soll das
Schlachtfeld von Helmen übersät sein. Kaum dürften die Besiegten
dem Sieger einen Triumphzug antragen.

Die Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit: Teil 1 (144–151)

Und wenn du eine Stadt betreten solltest, nachdem die Besiegten


sie übergeben haben, [145] oder du bei auftretendem Widerstand die
Tore der Stadt gewaltsam durchbrechen solltest, öffne die Schatz-
kammern, überhäufe deine Soldaten mit Geschenken, gieße das Öl
des Geschenks in die blutenden und durch das leidende Herz ge-
schwollenen Wunden, salbe die Gemüter nach Öffnung der Schatz-
kammer mit Geschenken und füge den heilenden Saft des Goldes
hinzu. [150] Diese Arznei ist in der Lage, ein angegriffenes Gemüt
zu heilen. So bringt auch der Reiche dem Armen Heilung und der
Gebefreudige dem Gierigen.

Die Tugend der angemessenen Zuwendung (152–154)

Wenn aber das Geldvermögen dieser hohen Gesinnung vielleicht


nicht entsprechen sollte, wenn es an Reichtum mangeln oder wenn
der Haufen an Gold schwinden sollte, soll es nicht am guten Ver-
hältnis zu deinen Soldaten, nicht an der angemessenen Zuwendung
deiner Person mangeln.

Die Tugend der Wahrhaftigkeit (155)

[155] Binde sie mit Versprechungen an dich und löse diese rechtzei-
tig ein.
92 ALEXANDREIS

Munus enim mores confert, irretit avaros,


occultat vicium, genus auget, subicit hostem.
Non opus est vallo quos dextera dapsilis ambit.
Nam seu pax vigeat seu rupto federe pacis
regnet et in toto discordia seviat orbe, 160
principibus dubiis subitumque timentibus hostem,
est dare pro muro et solidi muniminis instar.
Non murus, non arma ducem tutantur avarum.

Cetera quid moneam? Sed non te emolliat intus


prodiga luxuries, nec fortia pectora frangat 165
mentis morbus amor, latebris et murmure gaudens.
Si Bacho Venerique vacas, qui cetera subdis,
sub iuga venisti: Periit delira vacantis
libertas animi. Veneris flagrante camino
mens hebet interius. Rixas et bella moveri 170
imperat et suadet rationis vile sepulchrum
ebrietas. Rigidos enervant hec duo mores.
Parca voluptates sit eis explere voluntas,
qui leges hominum et mundi moderantur habenas.
Dirigat ergo tuos studio celebrata priorum 175
actus Iusticia, et per te revocetur ab alto
ultima, que superum terras Astrea reliquit.
BUCH I 93

Die Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit: Teil 2 (156–163)

Ein Geschenk nämlich unterstützt den Gehorsam, fängt die Hab-


gierigen ein, lässt deren fehlerhaften Charakterzüge nicht wirksam
werden, vergrößert die Schar deiner Anhänger und unterwirft dir
somit den Feind. Nicht haben jene Feldherrn eine Schutzwehr
nötig, die eine gebefreudige Hand haben. Denn ob der Frieden er-
blüht oder nach Bruch des Friedensvertrags [160] die Zwietracht
auf dem ganzen Erdkreis herrscht und wütet, ist es die Aufgabe der
Fürsten, die sich in einer misslichen Lage befinden und einen plötz-
lichen Angriff des Feindes befürchten, anstelle einer Mauer und
trotzdem gleich einer festen Bastion die Tugend der angemessenen
Gebefreudigkeit zu beweisen. Nicht nämlich können eine Mauer
noch Waffen einen geizigen Anführer beschützen.

Die Tugend der Besonnenheit (164–182)

Welchen Rat kann ich dir sonst noch geben? Nicht doch soll dich
[165] verschwenderische Genusssucht erweichen, auch nicht zerbre-
chen soll dein tapferes Herz das Bedürfnis nach einer Liebschaft –
eine Krankheit der Seele –, die vornehmlich den Rückzug im Zwie-
gespräch und in der Zweisamkeit sucht. Wenn du dich Bacchus und
Venus hingibst, hast du dich selbst unterjocht, auch wenn du auf
alles andere verzichtest: Zugrunde gegangen ist dann die ungenutz-
te Freiheit eines müßigen Geistes. Wenn das Feuer der Venus lodert,
[170] wird das klare Denken stumpf. Die Trunksucht, verachtens-
wertes Grab der Vernunft, gibt dir energisch den Rat, Streitereien
und Kriege vom Zaun zu brechen. Diese beiden Laster bringen auch
starke Charaktere zu Fall. Jene, die als Herrschende Menschen Ge-
setze geben, dürfen sich nur selten den Lüsten hingeben. [175] Der
bei deinen Vorfahren hochgeachtete Gerechtigkeitssinn soll deine
Taten lenken, durch dich soll Astraea wieder vom Himmel herabge-
rufen werden, die einst als letzte Gottheit die Erde verließ. Nicht
94 ALEXANDREIS

Nec desit pietas pudor et reverentia recti.


Divinos rimare apices, mansuesce rogatus,
legibus insuda, civiliter argue sontes, 180
vindictam differ, donec pertranseat ira,
nec meminisse velis odii post verbera.
Si sic
vixeris, eternum extendes in secula nomen.”

Talibus informans monitor virtutis alumpnum


imbuit irriguam fecundis imbribus aurem 185
et thalamo cordis mores impingit honestos.
Ille libens sacris bibulas accommodat aures
vocibus, extremae commendans singula cellae.
Mens igitur laudum stimulis sibi credula fervet.
Germinat intus amor belli regnique libido. 190
Iam timor omnis abest, iam spes preiudicat annis,
iam fruitur voto, iam mente protervit in hostem,
iam regnat, iam servit ei quadrangulus orbis.
Ergo ubi que ferulae pueros emancipat etas
advenit, Macedo civiliter induit arma 195
non sibi sed patriae, vivitque in principe civis,
tyro quidem, sed corde gygas, sed pectore miles
emeritus. Tunc indomitum tunc tanta videres
velle Neoptolemum que vix expleret Achilles:
BUCH I 95

fehle dir Rechtschaffenheit, Anstand und die Achtung vor dem


Rechten. Durchforsche die göttlichen Schriften, zeige Milde, wenn
man dich darum bittet, [180] halte dich an die Gesetze, bezichtige
die Schuldigen behutsam, schiebe die Bestrafung auf, bis sich dein
Zorn verzogen hat, nicht sollst du nach dem Vollzug der Strafe
noch an den alten Hass denken.

Die Tugend des angemessenen Stolzes (182–183)

Wenn du so leben solltest, wirst du ewigen Ruhm ernten.«

Ausleitung der Aristoteles-Rede (184–202)

Mit solchen Worten unterwies der Lehrer der Tugend seinen Schü-
ler, [185] benetzte das mit fruchtbarem Regen bewässerte Ohr und
versenkte im innersten Herzen die angesehenen Sitten. Bereitwillig
nahm jener mit dürstenden Ohren die heiligen Worte auf und
verwahrte jeden einzelnen Ratschlag in tiefster Seele. Sein Herz also
brannte voller Selbstvertrauen durch den Ansporn zu Ruhmestaten.
[190] Kampfeslust wurde in ihm wach und das Verlangen nach
Herrschaft. Schon war jegliche Befürchtung wie weggeblasen, schon
griff er voller Hoffnung im Geiste den Ereignissen voraus, schon
ging in der Vorstellung sein Wunsch in Erfüllung, schon streckte er
im Geiste die Feinde nieder, schon herrschte er und schon waren
ihm untertan die vier Ecken der Erde. Sobald also das Alter erreicht
war, das die Jungen der Rute entfremdet, [195] legte der Makedone
nicht für sich selbst, sondern für das Vaterland öffentlich die Waf-
fen an, es lebte der Bürger im Fürsten, noch ein Rekrut zwar, im
Herzen aber ein Gigant und erfahrener Kriegsveteran. Man hätte sich
zur Zeit Alexanders rückblickend vor Augen führen können, dass
der unüberwindliche Neoptolemus damals im trojanischen Krieg
so große Taten vollbringen wollte, die kaum sein Vater Achilles voll-
96 ALEXANDREIS

Non solum in Persas, quos contra iusta querelae 200


causa sibi fuerat, parat insanire, sed ipsum
et totum, si fata sinant, coniurat in orbem.

Urbs erat auctoris nomen sortita Chorintus,


quam situs ipse loci, quam rerum copia maior,
quam rerum et populi, quam regum firma voluntas 205
sanxerat, ut regni caput et metropolis esset.

Hanc, Ewangelico propulsans ydola verbo,


Paulus ad aeterni convertit pascua veris.

Hic igitur Macedo, ne iura retunderet urbis


post patris occasum, sacrum diadema verendo 210
suscipiens capiti sceptro radiavit eburno.
BUCH I 97

bracht hat: [200] Nicht nur gegen die Perser nämlich, gegen die er
berechtigte Gründe zur Klage hatte, traf er Vorkehrungen loszu-
schlagen, sondern gegen die ganze Welt hatte er sich verschworen,
wenn es das Schicksal zulassen sollte.

Die Legitimierung von Alexanders Herrschaft


in Griechenland (203–267)

Alexanders Erhebung zum Hegemon (203–238)

Beschreibung von Korinth als Ort der Zeremonie (203–206)

Nach ihrem Gründer war einst die Stadt Korinth benannt worden,
die ihre geographische Lage, ihr überreiches Angebot an Gütern
aller Art, [205] ihr großer Wohlstand, ihre hohe Bevölkerungszahl
sowie der feste Wille der Könige Griechenlands dazu bestimmt
hatten, Hauptstadt und Zentrum des Reichs zu sein.

Paulus in Korinth (207–208)

Paulus hat diese Stadt später in Weiden des ewigen Frühlings ver-
wandelt, indem er mit dem Evangelium die Heiden vertrieb.

Die Zeremonie der Erhebung Alexanders zum Hegemon (209–211)

Hier also setzte sich der Makedone, um [210] nach dem Tod seines
Vaters keinerlei Rechte der Stadt zu schmälern, das heilige Diadem
auf das ehrwürdige Haupt und erstrahlte durch das elfenbeinerne
Szepter.
98 ALEXANDREIS

Stat procerum medius, stipat latus eius utrumque


canities veneranda patrum mitisque senectus,
quorum iuris erat toti disponere regno,
per quos insidiis obsistitur obice vallo 215
consilii, pociusque valent interprete lingua
quam pugnante manu tractare negocia belli
et gerere armorum curas quam cingier armis.
Eminus assistunt pauloque remotius illi
effrenae mentis, quorum sub pectore robur 220
imperat ingenio, et Nestor succumbit Achilli.
Principis a facie, vatum grege cinctus inermi,
sedit Aristotiles molli velatus amictu,
iam rude donatus fatisque prementibus annos
curvus, et inpexos castigat laurea crines. 225

Contemplans igitur Macedo per singula vires


pascitur intuitu procerum, et que maxima dudum
crescere non poterat vehemens audacia, crevit
regis ad aspectus, et quem conceperat ante
ampliat affectum, cordisque reverberat aures 230
applausus populi, maioraque viribus audet.
Accedit facies animo, mentique profundae
respondent oculi, totoque accenditur ore.
Sic fuit ex facili regem cognoscere promptum:
Ornamenta licet regi regalia desint, 235
lucidus obrizo crinalis circulus auro
BUCH I 99

Weise Berater und leidenschaftliche Krieger (212–225)

In der Mitte des Adels stehend, umgab ihn zu beiden Seiten hin die
geistige Reife und die Milde des Greisenalters der Väter, deren
Recht es war, im ganzen Reich für Ordnung zu sorgen, und durch
die aufgrund des hemmenden Walls ihrer Beschlüsse [215] heimtü-
ckischen Plänen Einhalt geboten wurde. Eher vermochten sie mit
der Kraft ihrer Worte als mit der kämpfenden Hand die Geschäfte
des Kriegs zu führen, eher die Sorgen des Kriegs auf sich zu nehmen
als selbst in den Krieg zu ziehen. Aus der Ferne und ungezügelter
Leidenschaft schon ein wenig entrückt, halfen jene, in deren Brust
die geistige Stärke das Temperament im Zaum hielt, [220] und wahr-
lich ließ dementsprechend Nestor einem Achilles den Vortritt. Im
Blickfeld des Anführers, umgeben von der waffenlosen Schar der
Weisen, saß auch Aristoteles, bekleidet mit einem behaglichen Ge-
wand, aus dem Dienst schon entlassen und vom unaufhaltsamen Al-
ter gebeugt, [225] seine ungekämmten Haare bändigte der Lorbeer.

Alexander als Herrscher im Wartestand (226–238)

Als der Makedone nun seine Streitmacht im Einzelnen betrachtete,


lachte ihm beim Anblick des Adels das Herz. Umgekehrt wuchs
beim Anblick des Königs die schon längst gewaltige Kühnheit des
Adels, die eigentlich nicht weiter zu wachsen imstande war. Alexan-
ders Anblick vermehrte noch den Zuspruch, den er zuvor schon
empfangen hatte, [230] der Jubel des Volkes klang im Inneren seines
Herzens nach und er wollte etwas wagen, was eigentlich alle Kraft
überschritt. Diese innere Haltung zeigte sich in seinem Gesichtsaus-
druck, die Augen spiegelten sein heftiges Verlangen wider und ent-
flammt war das ganze Antlitz. Daran konnte man leicht des Königs
Entschlossenheit ablesen: [235] Auch wenn dem König die entspre-
chenden Herrschaftsinsignien fehlten – ein aus reinem Gold beste-
hender glänzender Haarreif etwa und ein Purpurgewand, das durch
100 ALEXANDREIS

et que flammigeris ignescit purpura gemmis,


sola tamen loquitur vultus reverentia regem.

Mensis erat cuius iuvenum de nomine nomen,


a quo vitis habet quod floreat, uva propinet, 240
quod bibat autumpnus, et quod sibi bruma reservet,
cum tumet in fructum seges ardua; iamque parabat
retrogradum Phebus radiis incendere Cancrum,
cum Macedo assensu pariter vulgique ducumque
in regem erigitur, lectosque ad bella quirites 245
dividit in turmas, quorum bis milia bina
quingentique equitum numerus fuit. Omnibus idem
impetus armorum, sed eos discriminat etas.
Nec solum iuvenes, sed quorum cana vetustas
testis miliciae et probitas sub patre probata, 250
legit Alexander. Ductor princepsque cohortis
nullus erat qui non sexagenarius esset,
usque adeo positis ut si quis cominus armis
principia inspiceret castrorum sive quiritum,
prefectos equites non crederet, immo senatum. 255
Preterea peditum quater octo milia bello
instaurat, quibus arma sudes et dacha bipennis,
et que letifero contorta volumine glandes
funda iacit, gladiusque et vitae prodigus arcus,
lunatique orbes et previa mortis harundo; 260
incuciunt hastas verubusque minantur acutis.
Pectora thorace et cervix secura galero.
BUCH I 101

die darauf befestigten leuchtenden Edelsteine erglüht –, verkündete


die Ehrwürdigkeit der Miene allein den wahrhaften König.

Alexanders Krönung zum makedonischen König (239–267)

Schon war der Monat Juni gekommen, der sich vom Namen der
Jünglinge ableiten lässt, [240] von dem der Weinstock seine Blüten
bekommt und die Traube den Wein, den der Herbst trinkt und der
Winter vorrätig hält und in welchem der hochragende Weizen ern-
tereif wird. Und schon schickte sich Phoebus mit seinen Strahlen
an, den zurückweichenden Krebs zu bescheinen, als der Makedone
mit Zustimmung des Volkes und der adligen Anführer einstimmig
[245] zum König erhoben wurde und daraufhin die zum Krieg aus-
gewählten Landsleute in Reiterschwadronen mit insgesamt fünf-
tausend berittenen Kämpfern einteilte. Alle waren vom selben
Kampfeseifer beseelt, doch unterschied sie ihr ungleiches Alter.
Denn nicht nur junge Männer wählte Alexander aus, sondern auch
solche, deren ergrautes Haar [250] den Kriegsdienst und die bereits
unter dem Kommando des Vaters nachgewiesene Tüchtigkeit be-
zeugte. In seinem Gefolge gab es nicht einen einzigen Anführer oder
Ratgeber, der jünger als sechzig Jahre gewesen wäre, so dass man
allenthalben glauben musste, wenn jemand das Quartier der Ge-
neräle oder besser der waffenlosen Quiriten aus der Nähe gemustert
hätte, nicht [255] Reiterpräfekte zu erblicken, sondern vielmehr
einen Senat. Außerdem stellte er für den Krieg zweiunddreißigtau-
send Fußsoldaten bereit, denen er als Waffen spitze Pfähle und die
dakische Doppelaxt gab, zudem die kraftvolle Schleuder, die in tod-
bringender Krümmung Bleikugeln fliegen lässt, das Schwert und
den das Leben nicht achtenden Bogen, [260] sichelförmge Schilde
und die dem Tod vorauseilenden Pfeile. Sie schleuderten Speere
und drohten mit spitzen Lanzen. Mit einem Harnisch schützten sie
ihre Brust und mit einer ledernen Kappe den Nacken. Mag er diese
102 ALEXANDREIS

Quos licet armarit telo prestantior omni


virtus, tam voluisse tamen supponere mundum
quam potuisse sibi tam paucis milibus, eque 265
miror Alexandrum, monstroque simillima fati
hec series, tot regna uni submittere paucos.

In tanto rerum strepitu mundique fragore,


cum tremeret totus variis rumoribus orbis,
subtrahere auxilium, dubiumque lacescere Martem, 270
detrahere absenti suadente Demostene primi
Cicropidae et vires opponere viribus ausi.
Estuat auditis Macedo. Maturius ergo
castra movere iubet Danais. Sic cominus hosti
inprovisus adest et muris applicat alas. 275
Interea senibus in Palladis arce receptis
Eschinus eloquitur ceptaeque Demostena litis
arguit et pace ostendit nil tucius esse.
Dum sibi mandatas legatio mutua partes
exsequitur, patriae tactus suplicantis amore 280
rex fedus renovat pacemque redintegrat urbi.
Artibus ingenuis studiisque vacare sereno
annuit his vultu Martemque remittit agendum.
BUCH I 103

mit Geschossen bewaffnet haben, besser als jede Waffe war ihre
Tugendhaftigkeit. Beides erstaunt mich in gleichem Maße, nämlich
dass Alexander nicht nur den Willen besaß, [265] mit so wenigen
Tausend Soldaten die Welt zu erobern, sondern dazu tatsächlich
auch in der Lage war. Und doch stellt es einen seltsamen Verlauf des
Schicksals dar, dass nur wenige Soldaten einem einzigen Mann so
viele Reiche unterworfen haben.

Die Sicherung der Macht Alexanders in Griechenland (268–348)

Alexander verschont Athen (268–283)

Mitten in diesem gewaltigen Aufruhr und Getöse der Welt, als der
ganze Erdkreis von verschiedenen Gerüchten erzitterte, wagten es
die Athener auf Anraten des Demosthenes als erste, Alexander in
dessen Abwesenheit [270] ihre Unterstützung zu entziehen, einen
ungewissen Krieg vom Zaun zu brechen und die gewaltsame Aus-
einandersetzung zu suchen. Der Makedone war außer sich, als ihm
dies zu Ohren kam. Also befahl er den eigenen Männern, früher als
geplant das Lager abzubrechen. So erschien er für den Feind
[275] unvermutet vor Ort und umschloss die Mauern Athens mit
seinen Reiterschwadronen. Unterdessen äußerte sich Aeschines,
nachdem er die Alten in der Burg der Pallas versammelt hatte,
beschuldigte Demosthenes des begonnenen Streits und zeigte auf,
dass nichts sicherer sei als der Friede. Während die Gesandtschaften
beider Seiten ihre ihnen aufgetragenen Aufgaben [280] erfüllten,
erneuerte der König, ergriffen von der Zuneigung zur bittenden
Heimat, den Bund und stellte den Frieden für die Stadt wieder her.
Mit heiterer Miene gestattete er den Athenern, sich den heimischen
Künsten und Wissenschaften zu widmen, und verzichtete auf den
eigentlich schon geplanten Krieg.
104 ALEXANDREIS

Inde ubi discordes iterum sibi iunxit Athenas,


impiger ad veteres rapto volat agmine Thebas. 285
Aonidae muros iuvenum stipante corona
armati assistunt portasque intrare volenti
obiciunt. Quem si dominum patienter habere,
si prece non armis vellent occurrere, si sic
ut decuit ceptae fraudis scelerisque pigeret, 290
fortassis poterant torrentem inhibere furoris
incolomemque statum vitae veniamque mereri.
Sed quoniam etatem simul et contempnere regem
presumpsere sibi, merito sensere tyrannum.
Dum super excidio Macedo deliberat urbis, 295
iam populo variis afflicto cladibus assunt
collecti satrapae e vicinis urbibus, omne
qui genus accusent recolantque ab origine gentem
intentam sceleri et Grecorum cede madentem:
Progenitos serpente patres semperque minores 300
cordibus infusum patrium servasse venenum.
“Quis fastus Niobes, quis sparsam sanguine nati
femineum nescit ululasse per agmen Agauen?
Quis flammas Semeles, quis regem lumine cassum
nesciat in proprios revolutum turpiter ortus, 305
preterea partos infando semine dampno
tocius Europe sibi concurrisse gemellos?”
His accensa super flagrescit principis ira,
BUCH I 105

Alexander bestraft Theben (284–348)

Als er daher von neuem den Bund mit dem zunächst abtrünnigen
Athen geschlossen hatte, [285] marschierte er rastlos mit eilendem
Heer zum uralten Theben. Dicht gedrängt auf den Mauern for-
mierte sich bewaffnet die zahlreich angetretene Jugend der Theba-
ner und verwehrte dem eintrittswilligen Alexander mit verschlosse-
nen Toren den Zugang zur Stadt. Wenn sie den makedonischen
König als Herrscher anerkannt hätten, wenn sie ihm mit Bitten und
nicht mit Waffen begegnet wären, wenn sie den begonnenen Betrug
und das Verbrechen, [290] wie es angemessen gewesen wäre, bereut
hätten, wären sie vielleicht in der Lage gewesen, die Flut seines
Zorns aufzuhalten, ihr zu diesem Zeitpunkt noch unversehrtes Le-
ben zu retten und dessen Gnade zu verdienen. Weil sie aber die
Frechheit besaßen, die Zeichen der Zeit und den König zugleich zu
missachten, bekamen sie zu Recht die Faust des Königs zu spüren.
[295] Während der Makedone noch darüber nachdachte, die Stadt
überhaupt zu vernichten, unterstützten bereits aus Nachbarstädten
zusammengezogene Satrapen die von mannigfachem Unglück heim-
gesuchten Thebaner, auch wenn sie deren ganzes Geschlecht an-
klagten und sich von neuem daran erinnerten, dass dieses Volk vom
ersten Ursprung an auf Freveltaten bedacht war und vom Blut der
Griechen troff: [300] Einem Drachen entstammten die Ahnen und
auch die Nachfahren würden noch immer das in die Herzen ge-
strömte Gift ihrer Vorfahren in sich tragen. »Wer kennt nicht Nio-
bes Stolz, wer nicht die vom Blut ihres eigenen Sohnes besudelte
Agaue, die in bacchantischer Raserei aufheulte? Wer weiß nicht vom
Feuertod der Semele und von jenem geblendeten König, [305] der
auf schändliche Weise zum eigenen Ursprung zurückgekehrt ist,
wer kennt außerdem nicht das von scheußlichem Samen gezeugte
Brüderpaar, das zum Schaden ganz Europas gegeneinander kämpf-
te?« Der ohnehin schon entfachte Zorn Alexanders flammte aus
diesen Gründen noch heftiger auf und er gab seinen Leuten den
106 ALEXANDREIS

accingique suos pugnae iubet. Inde parato


mille equitum cuneo tumidam circumsonat urbem. 310
Menibus arcere hos cives nituntur, eosque
plurimus involvit telorum cominus imber.
Nec minus interea pedites succidere muros
vectibus incussis validisque ligonibus ardent.
Hos ne missilibus deterreat hostis ab alto, 315
ut tuti lateant, alii testudinis instar
ictibus arcendis iunctis umbonibus instant.
Iam pede subducto, iam mole minante ruinam,
precipiti saltu qui vivi forte supersunt
Aonidae fugiunt seque in secreta receptant. 320
At Danai saxis cedentibus hoste remoto
per murum fecere viam. Ruit omnis in urbem
turba. Perit nullo discrimine sexus et etas
omnis. Adest etiam ductor Pelleus, et ipse
invehitur Thebas armis stipatus, eoque 325
accesit Cleades, fide conspicuus, cecinitque
regi dulce melos lyricisque subintulit ista:
“Clara deum proles Macedo, fortissime regum,
cui favet astrorum series, cui quatuor orbis
climata despondent filo properante sorores, 330
cuius, ut invictus victis et parcere scires
supplicibus victor et debellare rebelles,
divinis tociens monitis armavit anhelum
pectus Aristotiles, tune hanc, rex, funditus urbem
exicio delere paras? His sedibus ortus 335
Liber, thuricremis sua quem colit India templis.
BUCH I 107

Befehl, sich für den Kampf bereitzumachen. Darauf stellte er die


Fußsoldaten in einer keilförmigen Schlachtordnung auf, [310] ein-
tausend Reiter preschten lärmend um die hochmütige Stadt. Die
Bürger der Stadt bemühten sich eifrig, die makedonischen Feinde
von ihrer Stadtmauer fernzuhalten, ein dichter Geschosshagel pras-
selte aus unmittelbarer Nähe auf die Makedonen nieder. Nicht we-
niger brannten unterdessen die Fußsoldaten darauf, die Mauern
mit Schlägen von Brechstangen und kräftigen Hacken an deren un-
terem Ende zu durchbrechen. [315] Damit der Feind sie nicht von
oben mit Geschossen von dieser Arbeit abhielt, und um vor diesen
geschützt zu sein, umringten andere Makedonen ihre Kameraden
zur Abwehr des Geschosshagels gleich einer Schildkröte ganz dicht
mit geschlossenen Schilden. Als die Mauer an ihrem Fuß bereits
unterhöhlt war und schon einzustürzen drohte, [320] ergriffen
diejenigen von ihnen, die zufällig am Leben geblieben waren, kopf-
über die Flucht und zogen sich in geheime Schlupfwinkel zurück.
Nachdem aber das Mauerwerk endgültig nachgegeben hatte und
der Feind zurückgeschlagen war, bahnten sich die Griechen den
Weg durch die Trümmer. Die ganze griechische Heerschar drängte
in die Stadt. Männer und Frauen, Jung oder Alt, ohne Unterschied
fielen sie alle. Auch der makedonische Anführer selbst war unmit-
telbar vor Ort, [325] von seinem Heer umringt betrat er die Stadt
der Thebaner. An diesen trat Cleades heran, an der Lyra erkennbar,
und sang dem König eine liebliche Weise und fügte seiner Ode
folgende Worte hinzu: »Makedone, berühmter Götterspross, tap-
ferster aller Könige, dem die Sterne gewogen sind, dem die Parzen
mit eiligem Faden die vier Enden der Welt [330] versprechen, dessen
stürmisches Herz Aristoteles so oft mit göttlichen Mahnungen
wappnete, auf dass du es als unbesiegter König verstehst, um Gnade
flehende Besiegte zu schonen und als Sieger Aufständische nieder-
zuschlagen, willst du, o König, diese Stadt wirklich [335] dem Erd-
boden gleichmachen? Von hier stammt immerhin Bacchus, den
sein Indien mit Tempeln verehrt, in denen man Weihrauch entzün-
108 ALEXANDREIS

Heccine terra deos tulit auctoremque tuorum


nutriit Alcidem, cuius supereminet omnes
edomitum tociens laus derivata per orbem?
En muri et structae modulis Amphionis arces! 340
Disce pius victis, vincendis esse cruentus.
Instabile est regnum quod non clementia firmat.
At si tanta tibi cives torquere voluntas,
soli parce solo divisque ignosce locorum.”
Finierat Cleades, sed stat sententia regis, 345
propositique tenax irae permittit habenas,
equarique solo turres ac menia primo
imperat et reliquam Vulcano fulminat urbem.

Postquam digna satis compescuit ultio Dircen


iamque novo didicit servire Boetia regi, 350
dispositis Macedo pariter patriaque domoque
in Darium sevire parat. Minus ergo peritos
armorum, minus audaces famaeque minoris
segregat et patriis tutelam deputat Argis.
Inde rates variis rerum speciebus honustat, 355
nec tanto libuit paucas adhibere labori.
Namque quater ductus, nisi ter senarius obstet,
navigii numerum quinquagenarius equat.
BUCH I 109

det. Brachte dieses Land nicht auch Götter hervor und zog es als
Ahnherrn deines Volkes nicht auch den Alkiden auf, dessen Ruhm
– auf dem so oft bezwungenen Erdkreis verbreitet – alle überragt?
[340] Siehe da, die Mauern und den von Amphions Liedern errich-
teten Burgberg. Lerne, Besiegten mit Milde zu begegnen und mit
Härte jenen entgegenzutreten, die noch Widerstand leisten. Ohne
festen Stand ist ein Reich, das nicht von der Milde befestigt wird.
Aber wenn du Thebens Bürger unbedingt quälen willst, schone
zumindest den Boden und lass Nachsicht walten gegenüber den
heimischen Göttern.« [345] Cleades’ Rede änderte jedoch nichts an
der Meinung des Königs. Beharrlich hielt er am ursprünglichen
Vorsatz fest, ließ seinem Zorn freien Lauf und gab den Befehl,
zuerst die Türme und Mauern dem Erdboden gleichzumachen,
dann steckte er den übrigen Teil der Stadt in Brand.

Der Transfer von Europa nach Asien (349–395)

Vorbereitungen (349–358)

Nachdem die angemessene Strafe das Volk der Thebaner gebändigt


[350] und Böotien von nun an verstanden hatte, dem neuen König
zu dienen, schickte sich der Makedone nach der Ordnung von Haus
und Heimat an, gegen Darius loszuschlagen. Infolgedessen sortierte
er diejenigen Männer aus, die an Waffen weniger geübt, weniger
kühn und von geringerem Ansehen im Kriegshandwerk waren, und
übertrug ihnen die Aufgabe, das heimische Griechenland zu be-
schützen. [355] Darauf ließ er die Schiffe mit verschiedenen Vor-
räten beladen. Nicht wäre es ratsam gewesen, zu wenige Schiffe für
eine so gewaltige Aufgabe hinzuzuziehen: Die Streitmacht zur See
bestand wahrhaftig aus nicht weniger als einhundertzweiundacht-
zig Schiffen.
110 ALEXANDREIS

Iamque ubi velivolum tenuit mare libera classis


intenditque fugam nec iam ulla momordit harenam 360
anchora, cum patrio discederet incola portu,
stridula discussit concentibus aera miris
vox hominum presaga mali, mixtusque tubarum
infremuit clangor, totumque remugiit equor.
O patriae natalis amor, sic allicis omnes. 365
O quantum dulcoris habes! Fugitiva per altum
classis dum raptim patrie furatur alumpnos,
sponte licet properent Persarum invadere fines
nec trahat invitos ad predae premia ductor,
sola tamen revocat patriae dulcedo volentes 370
nec sinit a patria divelli mentis acumen
sed dulces oculos animumque retorquet ad Argos,
donec ab intuitu longe decrescere visus
Europae defecit apex portusque recessit.
Tanta sub invicto bellandi corde voluntas, 375
tanta parentis erat oblivio, tanta sororum.
Solus ab Inachiis declinat lumina terris
effrenus Macedo. Qui cum Cilicum prius arva
collibus eductis Asiamque emergere vidit,
gaudet, et angustum vix gaudia tanta receptat 380
pectoris hospicium. Remis incumbere nautas,
nec solum tensis ultra se credere velis,
leticia dampnante moram iubet. Ocius illi
haut segnes per transtra parant assurgere dicto
BUCH I 111

Alexanders Überfahrt nach Kleinasien (359–385)

Als die Flotte schon mit gelösten Tauen ins segelbesetzte Meer stach,
[360] eine rasche Fahrt anstrebte und kein Anker mehr den Meeres-
boden zerwühlte, als die Mannschaft sich vom heimatlichen Hafen
entfernte, zerriss plötzlich eine den Menschen Unheil verkündende
Stimme die von seltsamen Klängen schrillende Luft, das Schmet-
tern von Trompeten mischte sich schallend darunter und das ganze
Meer hallte wider von diesen Klängen. [365] Ach, angeborene Liebe
zur Heimat, so ziehst du alle in deinen Bann. Ach, welch eine
gewaltige Anziehungskraft du besitzt. Als die rastlose Flotte die
Söhne der Heimat eilends über das Meer entführte – auch wenn sie
aus freien Stücken eifrig den Plan umsetzten, in das Gebiet der Per-
ser einzufallen und ihr Anführer sie nicht gegen ihren Willen für
den Lohn der Kriegsbeute wegführte –, [370] rief sie doch allein der
Liebreiz der Heimat ungeachtet ihres eigentlichen Vorhabens zu-
rück und gestattete es ihnen nicht, sich innerlich von den väterli-
chen Gefilden zu lösen, sondern wendete die Augen und die Ge-
danken solange zurück zum lieblichen Griechenland, bis beim Blick
in die Ferne die immer kleiner werdende Landspitze Europas und
auch der Hafen ganz ihrem Blickfeld entschwunden waren. [375] So
groß war der Wille in ihrem unerschütterlichen Herzen, diesen Krieg
auch tatsächlich zu führen, so schwer war es aber auch, Eltern und
Geschwister vergessen zu müssen. Allein der entfesselte Makedone
wandte seine Augen vom Land des Inachus ab. Als dieser zuerst die
Hügellandschaft Kilikiens und Kleinasien auftauchen sah, [380] emp-
fand er große Freude, kaum war die enge Behausung seines Herzens
in der Lage, so gewaltige Glücksgefühle aufzunehmen. Da seine
Freude keinen weiteren Aufschub duldete, gab er den Seeleuten
den Befehl, sich in die Ruder zu legen und sich nicht länger aus-
schließlich auf die vom Wind gespannten Segel zu verlassen. Auf
den Befehl ihres Anführers hin richteten sich jene in Windeseile
112 ALEXANDREIS

principis et multo castigant verbere pontum. 385

Tantum aberat classis portus statione, lapillum


quantum funda potest celeri transmittere iactu.
Eminus emissa Peleus harundine terram
vulnerat hostilem, faustumque hoc predicat omen
tota cohors, letoque ferunt ad sydera plausu. 390
Nec mora litoreis inmergitur uncus harenis.
Exonerant primo naves celerique volatu
exiliunt viridique locant in litore castra.
Deinde vacant epulis, ac dum sollempnia tractant
pocula, continuant serae convivia nocti. 395

Tercia pars orbis, cuius ditione teneri


olim dicta fuit, eius quoque nomen adepta est.
Hec Asia est, vasto quam gurgite solis ab ortu
terminat Oceanus et ab Austro extendit in Arton.
A Borea Tanais simul et Meotidos unda 400
claudit, ab Europa nostrum disterminat equor.
Huic soli ex equo cessit partitio mundi,
cumque sit una trium, solam hanc discindere mundum
topographi perhibent: igitur breviore duabus
contentis spacio medium non invidet orbis. 405
Hic situs est Asiae. Sed et illam mitis inumbrat
BUCH I 113

sogleich auf den Ruderbänken auf [385] und peitschten die Meeres-
flut mit schnell aufeinanderfolgenden Schlägen.

Alexanders Ankunft in Kleinasien – der Perserkrieg beginnt


(386–395)

Die Flotte war nur noch einen Steinwurf weit vom Ankerplatz im
Hafen entfernt, als Alexander den feindlichen Boden mit einem
vom Schiff aus geworfenen Speer verletzte. [390] Die ganze Truppe
pries dies als günstiges Vorzeichen und ließ ihren fröhlichen Beifall
zu den Sternen emporsteigen. Unverzüglich wurde in Ufernähe An-
ker geworfen. Zuerst wurden die Schiffe entladen, dann sprangen
sie umgehend an Land und errichteten an der baumreichen Küste
das Lager. Dann hatten sie Zeit für das Essen, und während sie
festliche Becher leerten, [395] dehnten sie das Gelage bis spät in die
Nacht hinein aus.

Asienexkurs (396–426)

Der dritte Teil des Erdkreises soll der Sage nach von eben jener
Königin beherrscht worden sein, die für Asien auch namensgebend
gewesen ist. Asien ist derjenige Teil der Welt, den auf der Seite des
Sonnenaufgangs der Ozean mit seiner unermesslichen Flut be-
grenzt und der sich von Süden her bis weit in den Norden hin aus-
dehnt. [400] Von Norden her begrenzen der Don und das Asow-
sche Meer den asiatischen Kontinent, von Europa trennt Asien das
Mittelmeer. Diesem Erdteil allein ist es vorbehalten, die Welt in
zwei gleiche Hälften zu teilen; obgleich er nur ein Erdteil von dreien
ist, berichten die Geographen, dass dieser allein die Welt halbiert:
[405] Folglich teilt der Erdkreis den beiden anderen Erdteilen, die
jeweils mit weniger Raum zufrieden sind, wohlwollend die andere
114 ALEXANDREIS

cesaries nemorum, fluviorum cursus inundat.


Nobilium multa regionum laude superbit.
Hic dives gemmis elephantibus India barrit.
Bis serit et fruges tociens legit. Instat ab Arcto 410
Caucasus, irriguo Paradysus spirat ab ortu.
Hec habet Assirios Medos et Persida, quarum
Partia nunc nomen. Quam Mesopotamia finit.
Hec Babilonis opes Chaldeaque regna receptat,
hec Arabum terras redolentes thure Sabeo, 415
in quibus ille labor logicorum nascitur una
semper avis phenix vicinaque cinnama myrrae.
Hinc Siriam Eufrates, illinc Armenia tangit,
diluviique memor superis caeloque minatur.
Inde Palestinae cunctis supereminet una 420
unius Iudea Dei. Iherosolima terrae
in centro posita est, ubi virginis edita partu
vita obiit, nec stare Deo moriente renatus
sustinuit sed contremuit perterritus orbis.
Totque Asiae partes, quas si meus exaret omnes 425
aut seriem scindet stilus aut fastidia gignet.

Iamque sub auroram volucrum garrire parabat


et lucem tenui precedere lingua susurro,
Lucifer emeritae confinia noctis agebat,
astrorumque fugam solis precursor anhelo 430
BUCH I 115

Hälfte zu. Das ist die Lage Asiens. Auch jenen Erdteil umschattet
das Laub von Wäldern, auch jenen durchfließen zahlreiche Flüsse.
Auch jener sonnt sich im Glanze berühmter Provinzen. Hier lässt
das von Edelsteinen reiche Indien das Trompeten von Elefanten
ertönen. [410] Zweimal im Jahr wird dort gesät und geerntet. Von
Norden her droht der Kaukasus, vom regenreichen Osten her weht
der Atem des Paradieses. Asien umfasst das Reich der Assyrer, Me-
der und Perser. Letztere heißen nun Parther. Mesopotamien bildet
zu diesen die Grenze. Dieser Kontinent beherbergt die Reichtümer
Babylons und das Reich der Chaldäer, [415] ebenso das Land der
von sabäischem Weihrauch duftenden Araber, wo die mühselige
Beschäftigung mit der Logik ebenso ihren Ursprung hat wie der
sich immer wieder erneuernde Phönix und woher gemeinsam Myr-
rhe und Zimt stammen. Auf dieser Seite begrenzt der Euphrat
Syrien, dort auf der anderen Seite grenzt Armenien an diesen Fluss.
In Erinnerung an die Sintflut droht der Euphrat den Göttern und
auch dem Himmel. [420] Dort überstrahlt Judäa allein als Ort des
einzigen wahren Gottes ganz Palästina. Jerusalem liegt genau in der
Mitte der Erde, genau dort nämlich, wo das durch die Jungfrau
Maria geborene Leben sein Ende fand und der neugeborene Erd-
kreis beim Tode Christi nicht stillstehen konnte, sondern erschro-
cken erbebte. [425] Beinahe zahllos sind Asiens Länder. Wenn mein
Griffel diese alle beschreiben würde, hielte er den weiteren Fortgang
der Dichtung nur unnötig auf und riefe großen Verdruss hervor.

Alexander und die Schätze Kleinasiens (427–446)

Schon stimmten im Morgengrauen die Vögel ihr Lied an und kün-


digten mit ihrem zarten Gesang den aufziehenden Tag an, schon
markierte der Morgenstern die Grenze zur vergangenen Nacht und
beschleunigte, der Sonne mit schnaubendem Pferd vorauseilend,
[430] das Verschwinden der Sterne, als Alexander aus leichtem
116 ALEXANDREIS

maturabat equo, facili cum membra sopore


solvit Alexander. Igitur cum sole retusum
prospexit primo pelagus radiosque natantes,
emicat extimplo castris et in ardua montis
erumpens Asiae metitur lumine fines. 435
Hinc ubi vernantes Cereali gramine campos,
tot nemorum saltus, tot prata virentibus herbis
lascivire videt tot cinctas menibus urbes,
tot Bachi frutices, tot nuptas vitibus ulmos,
“Iam satis est,” inquit “socii, michi sufficit una 440
hec regio. Europam vobis patriamque relinquo.”
Sic ait et patrium ducibus subdividit orbem.
Nam timor ille ducum, tanta est fiducia fati,
regnorum quecumque iacent sub cardine quadro,
iam sibi parta putat. Sic a populantibus agros 445
liberat et pecorum raptus avertit ab hoste.

Iamque iter arripiens Cylicum sibi vendicat arces,


conciliatque pii clementia principis urbes.
Pluris Alexandro fuit hec sollertia quam si
sanguinis inpensa Martem tractaret, agitque 450
pace vices belli cum parcit et obruit hostem.
BUCH I 117

Schlaf erwachte. Als er nun frühmorgens das konturlose Meer und


die sich im Wasser spiegelnden Strahlen der Sonne betrachtete, eilte
er sogleich aus dem Lager hinaus und versuchte, die steilen Hänge
der Berge [435] erklimmend, das vor ihm liegende Gebiet Kleinasi-
ens mit eigenen Augen zu ermessen. Als er von hier aus die in der
Sonne glänzenden Getreidefelder, so viele bewaldete Gebirge und
so viele Wiesen vor kräftigen Gräsern strotzen sah, so viele von
Mauern umgebene Städte, so viele Weinstöcke und so viele mit
Weinlaub umschlungene Ulmen, sagte er: [440] »Das reicht mir
schon aus, Gefährten, ich gebe mich mit dieser Weltgegend zufrie-
den, euch überlasse ich das heimatliche Europa.« So sprach er und
verteilte an die Anführer das Land der Väter. Zu sehr vertraue Ale-
xander auf das Schicksal, so fürchteten jene Anführer, [445] schon
glaubte er in seiner Gewalt, was an Königreichen ihm in allen vier
Himmelsrichtungen vor Augen lag. So befreite er die Äcker von
Plünderern und verhinderte sogar den Diebstahl des feindlichen
Viehs.

Alexanders Zug durch Kleinasien (447–492)

Alexander in Kilikien (447–451)

Und seinen Feldzug beginnend, ging er gegen die Burgen Kilikiens


vor, doch versöhnte die Milde des gütigen Fürsten die dortigen
Städte. Dieses von Einsicht geprägte Vorgehen konnte Alexander
mehr einbringen, als wenn er [450] in einem Kampf einen hohen
Blutzoll verlangt hätte. Anstatt einen Krieg anzuzetteln, strebte er
nach Frieden und unterwarf den Feind, indem er ihn schonte.
118 ALEXANDREIS

Inde rapit cursum Frigiaeque per oppida tendit


Ilion et structos violato federe muros,
Ydaliosque legit saltus, quibus ore venusto
insignem puerum pedibus Iovis aliger uncis 455
arripuit gratumque tulit super ethera munus.
Dumque vetustatis saltim vestigia querit
sedulus, obicitur fluviali consita rivo
populus Oenones, ubi mechi falce notata
scripta latent Paridis tenerique leguntur amores. 460
Densa subest vallis ubi litis causa iocosae
tractata est, cum iudicium temeravit adulter,
unde mali labes et prima effluxit origo
Yliaci casus et Pergama diluit ignis.
Nunc reputanda quidem parvi, sed quanta fuerunt, 465
conicitur: testatur enim vetus illa ruina
quam fuit inmensa Troie mensura ruentis.

Tot bellatorum Macedo dum busta pererrat


Argolicos inter cineres manesque sepultos,
quos tamen accusant titulis epygrammata certis, 470
ecce minora loco quam fama vidit Achillis
forte sepulchra sui tali distincta sigillo:
“Hectoris Eacides domitor clam incautus inermis
occubui, Paridis traiectus arundine plantas.”
Hec brevitas regem ducis ad spectacula tanti 475
BUCH I 119

Alexander auf dem Weg von Kilikien nach Troja (452–467)

Darauf eilte er weiter, durch Phrygiens Städte hindurch strebte er


nach Troja und zu den durch Wortbruch erbauten Mauern, durch-
streifte das Idagebirge, in welchem [455] Jupiters Adler mit geboge-
nen Krallen den schöngesichtigen Knaben geraubt und das will-
kommene Geschenk in den Himmel getragen hatte. Und während
er eifrig zumindest nach Spuren des Altertums suchte, fiel sein
Blick auf die am Flussufer stehende Pappel der Oenone, wo sich die
mit dem Messer des Ehebrechers eingeritzten [460] Worte des Paris
im Stamm des Baumes verbargen und man bei genauem Hinsehen
zärtliche Liebesschwüre lesend erkennen konnte. Ein dicht bewal-
detes Tal lag in unmittelbarer Nähe, wo die Angelegenheit jenes
lächerlichen Streits verhandelt wurde, als Paris sein Urteil unüber-
legt fällte. Dies war der Anlass für den schlimmen Sturz und der
eigentliche Grund für den Untergang Ilions und den Brand, der
Troja zerstörte. [465] Nun freilich besitzt es nur noch geringe
Bedeutung, doch wie mächtig es einmal war, lässt sich erahnen:
Jene alte Ruine nämlich bezeugt, wie gewaltig das Ansehen Trojas
bei seinem Fall noch gewesen ist.

Alexander in Troja (468–492)

Während der Makedone zwischen den Grabmälern so vieler Kämp-


fer, zwischen den Gräbern der Griechen und ihren bestatteten
Überresten umherging, [470] über die sich gleichwohl die Inschrif-
ten mit deutlichen Worten beschwerten, da sah er zufällig das –
gemessen am Ruhm des Peliden – nur kleine Grabmal seines Vor-
bilds Achilles, das sich durch folgenden Wortlaut eindeutig zuord-
nen ließ: »Ohne Vorwarnung und unvermutet sank ich, Achilles,
Hektors Bezwinger, waffenlos nieder, an der Ferse durchbohrt von
des Paris Pfeil.« [475] Diese doch sehr knappen Worte bewogen den
120 ALEXANDREIS

compulit, et sterilem mulso saciavit harenam,


et suffire locum sumpta properavit acerra.
“O fortuna viri superexcellentior,” inquit
“cuius Meonium redolent preconia vatem,
qui licet exanimem distraxerit Hectora, robur 480
et patrem patriae, summum tamen illud honoris
arbitror augmentum, quod tantum tantus habere
post obitum meruit preconem laudis Homerum.
O utinam nostros resoluto corpore tantis
laudibus attollat non invida fama tryumphos! 485
Nam cum lata meas susceperit area leges,
cum domitus Ganges et cum pessundatus Athlas,
cum vires Macedum Boreas, cum senserit Hamon,
et contentus erit sic solo principe mundus
ut solo sole, hoc unum michi deesse timebo, 490
post mortem cineri ne desit fama sepulto,
Elisiisque velim solam hanc preponere campis.

“Neu vos excutiat cepto, gens provida, bello,


Argolici, Fortuna licet quandoque minetur
aspera, que numquam vultu persistit eodem. 495
Blandiciis indignus erit mollique potiri
fortuna qui dura pati vel amara recusat.
Nam que dura prius fuerant mollescere vidi.
BUCH I 121

König, einen so bedeutenden Anführer entsprechend zu würdigen:


Er tränkte den fruchtlosen Sand mit Honigwein und entsühnte
sogleich den Ort mit Weihrauch aus dem entsprechenden Kästchen.
»Ach«, so rief er, »ein alles überragender Glücksfall wurde Achilles
zuteil, dessen Verherrlichung auf den mäonischen Sänger zurück-
geht. [480] Mag Achilles auch den leblosen Hektor, den lange Zeit
starken Bewahrer seines Vaterlandes, um die Mauern Trojas ge-
schleift haben, so bin ich doch der Meinung, dass er diesen außerge-
wöhnlichen Ruhm erst dadurch erreicht hat, dass es ihm als einem
zu Lebzeiten herausragenden Mann nach seinem Tode verdienter-
maßen gelungen ist, in Homer einen ebenso herausragenden Ver-
künder seiner Ruhmestaten zu finden. Möge nach unserem Tod die
Nachwelt [485] neidlos auch unsere Siege so großartig rühmen.
Denn wenn dereinst die ganze Welt meinen Gesetzen gehorchen
wird, wenn der Ganges bezwungen und der Atlas erobert sein wird,
wenn der Boreas und Ammon die makedonische Waffengewalt zu
spüren bekommen haben und die Welt mit einem König zufrieden
sein wird [490] wie mit der einen Sonne, dann werde ich dennoch
noch immer fürchten, dass mir das Wichtigste fehlen könnte, näm-
lich dass nach meinem Tod dann der bestatteten Asche der Ruhm
fehlt, um den allein ich auf das Elysium verzichten würde.

Die Jerusalem-Episode (493–554)

Alexanders Siegesgewissheit (493–501)

Und nicht soll euch, mein sorgenvolles Argivervolk, Fortuna von


dem gerade begonnenen Krieg abbringen, mag auch die stets wan-
kelmütige Göttin, [495] die niemals in derselben Miene verharrt,
dann und wann mit grimmiger Miene drohen. Annehmlichkeiten
und ein angenehmes Schicksal verdient nicht zu finden, wer nicht
bereit ist, Widrigkeiten und Strapazen zu ertragen. Denn weichlich
122 ALEXANDREIS

Neu vos sollicitos agat ignorantia veri


unde hec tanta meae surgat fiducia menti, 500
occultum hoc vestris inpertiar auribus unum:

Cum patris interitu nutaret Grecia merens


Pausaniasque scelus et cedem cede piasset,
nocte fere media, sompnum suadentibus astris,
pulvinar regale premens penetralibus altis 505
solus eram. Socios laxabat inertia sompni,
at mea pervigiles urebant pectora curae.
Cumque super regni ratio novitate labaret
(incertus sequererne hostes patriamne tuerer,
in neutro stabilis, facturus utrumque videbar), 510
ecce locum subita radiantem lampade vidi,
et caeleste iubar noctis caligine pressa
irrupisse fores tenebrasque diescere vidi.
Cum timor incuteret mentem testemque pavoris
sentirem trepidos sudorem errare per artus, 515
affuit ethereis hominem, si dicere fas est,
ingenua gravitate plagis, quem barbara texit
multiplici vestis mixtim distincta colore,
cuius, ut ire solet filo radiante sacerdos,
gemmea flammantes lambebat fimbria plantas. 520
Aurea rorifluos crispabat lamina crines.
Pectoris in medio bis seni scemate miro
ardebant lapides gemmarum luce superbi.
Nescio quod nomen pretendere visa figuris
BUCH I 123

sah ich oft werden, was erst so hart sich gezeigt hat. Damit euch die
Unkenntnis der wahren Gründe, [500] warum ich so ausnehmend
zuversichtlich bin, nicht weiter umtreibt, will ich euch dieses eine
Geheimnis enthüllen:

Alexanders Vision (502–538)

Als wegen der Ermordung meines Vaters Griechenland tief betrübt


wankte – Pausanias’ Verbrechen war mit dessen Hinrichtung ge-
sühnt worden –, war ich etwa um Mitternacht, als die Sterne zum
Schlaf rieten, [505] auf dem königlichen Lager liegend im Inneren
des Palasts allein. Meine Gefährten fanden Erholung im Schlaf,
mich jedoch plagten nimmer ruhende Sorgen. Und während ich
zweifelnd über die neue Lage im Reich nachdachte, unschlüssig
darüber, ob ich die Verfolgung der persischen Feinde in Angriff
nehmen oder die Heimat durch mein Bleiben vor ihnen beschützen
solle, [510] schien ich, in beidem ratlos, schon beides zu wollen. Da
sah ich, wie der Raum sich von einem plötzlichen Lichtschein
erhellte, ein göttlicher Glanz, das Dunkel der Nacht verdrängend,
den Eingang durchbrach und der eben noch dunkle Raum taghell
erstrahlte. Als heftige Angst von mir Besitz ergriff und ich als er-
kennbares Zeichen meiner Furcht [515] den Angstschweiß die zit-
ternden Glieder hinabrinnen fühlte, erschien aus himmlischen
Höhen eine menschliche Gestalt (falls man das so sagen kann) von
natürlicher Erhabenheit, die in ein fremdes und mit vielfach wech-
selnden Farben gewebtes Gewand gekleidet war, [520] und deren
flammenden Füße – wie ein Priester in strahlender Gestalt norma-
lerweise einherschreitet – perlenbesetzte Fransen umgaben. Ein gol-
dener Reif hielt die wellenförmig herabwallenden Haare zusammen.
Prachtvoll leuchteten mitten auf seiner Brust im Glanze von Perlen
wunderbar geformt zweimal sechs Edelsteine. Ein Tetragramm, das
mit seinen vier Schriftzeichen irgendeinen Namen anzugeben schien,
124 ALEXANDREIS

signabat mediam tetragrammata linea frontem, 525


sed quoniam michi barbaries incognita linguae
huius erat, legere hanc me non valuisse fatebor.
Presulis occultum caput amplexante tyara,
pesque verecundus thalari veste latebat.
Qui nisi me verbis prior aggrederetur, habebam, 530
quod breviter possem scitari: quis? quid? et unde?
‘Egredere, o Macedo fortissime, finibus’ inquit
‘a patriis, omnemque tibi pessundabo gentem.
At si me tibi forte vides occurrere talem,
parce meis.’ Dixit superasque recessit in auras 535
discedensque domum miro perfudit odore.
Hoc duce, dura manus, hoc principe bella movetis.”
Sic fatur celeresque gradus ad castra retorquet.

Vera tamen docuit: etenim cum victor adire


post Thyron eversam multa legione pararet 540
Iherusalem templumque Dei violare domosque
velle putaretur, invicti principis iram
preveniens, urbis sacro comitante senatu,
exierat tali summus cum veste sacerdos,
qualem in sydereo rex presule viderat ante. 545
Quem tamquam cognoscat equo descendit eumque
pronus adoravit, cunctis mirantibus illum
impendisse homini decus unum quod sibi pridem
iusserat inpendi. Tunc rex legione sequentum
exclusa paucis intrat comitantibus urbem, 550
BUCH I 125

[525] zierte seine Stirn in der Mitte. Da mir jedoch diese fremdartige
Sprache unbekannt war, muss ich gestehen, dass ich diese Schrift-
zeichen nicht lesen konnte. Vollends bedeckte die Tiara das Haupt
des Bischofs, die schamhaften Füße verbargen sich unter dem lan-
gen Talar. [530] Wenn dieser mich nicht zuerst angesprochen hätte,
hätte ich Grund genug gehabt, in aller Kürze etwas über seine Per-
son, seinen Auftritt vor mir und seine diesbezüglichen Gründe in
Erfahrung zu bringen. Er aber sagte zu mir: ›Verlass, tapferster Ma-
kedone, die väterlichen Gefilde! Dann will ich dir das ganze Per-
serreich erobern. Aber wenn du mich einmal in solcher Gestalt dir
leibhaftig entgegentreten siehst, [535] dann schone mein Volk!‹
Sprach’s und entschwand in den Himmel und erfüllte im Gehen
das Haus mit einem herrlichen Duft. Unter der Führung dieses
Bischofs, standhafte Schar, auf Befehl dieses Gottes erregt ihr den
Krieg.« So sprach Alexander und ging schnellen Schrittes zurück in
das Lager.

Alexanders Einzug in Jerusalem (539–554)

Wahres hat jener Bischof gleichwohl verkündet: Denn als Alexander


[540] nach der Zerstörung von Tyrus als Sieger Jerusalem mit zahl-
reichen Truppen angreifen wollte und man der Ansicht sein konn-
te, er wolle den Tempel Gottes und die Häuser der Stadt schänden,
trat ihm, dem Zorn des unbesiegten Anführers zuvorzukommend,
der vom ehrwürdigen Rat der Stadt begleitete Hohepriester in
einem solchen Gewand entgegen, [545] wie es der König zuvor am
göttlich strahlenden Bischof gesehen hatte. Als ob Alexander ihn
kennen würde, stieg er vom Pferd und betete ihn demütig an,
während sich alle wunderten, dass er einem Manne die Ehre erwies,
die er sonst allein für sich selbst beansprucht hatte. Darauf betrat
der König ohne sein Heeresgefolge, [550] von nur wenigen seiner
Männer begleitet, die Stadt, brachte ihr, wie einst vom jüdischen
126 ALEXANDREIS

et quod ab Hebreis monitus fuit, obtulit illic


pacifica et multo ditavit munere templum.
Iamque valefaciens indulto Marte beatae
urbis perpetuo donavit munere cives.
BUCH I 127

Hohepriester angemahnt, Frieden und bereicherte den Tempel des


Herrn mit zahlreichen Geschenken. Indem er auf jegliche Kampf-
handlungen verzichtete, bescherte Alexander somit bei seinem Ab-
schied den Bürgern der glücklichen Stadt ein bleibendes Geschenk.
Liber II
Capitula secundi libri

Preparat ad pugnam Darium Persasque secundus.


Scribit Alexandro Darius populumque recenset.
At Macedo fatale iugum mucrone resolvit
seque sibi recipit, morbum curante Philippo.
Stant hinc inde acies Cylicum conclusa iugosis 5
faucibus. Iniusti Sysenem premit alea fati.
Spernitur a Persis ducibus licet utile docti
consilium Tymodis: placuit committere fatis
omne simul robur. Socios hortatur ad arma
acer uterque ducum. Plaudentibus assonat aer. 10

Secundus liber

Ultorem patriae Magnum iam fata minantem


nuncia Persarum discurrens fama per urbes
desidiae torpore gravis luxuque soluti
terrifico strepitu Darii concusserat aures.
Qui licet imperio maior, munitior armis, 5
obsequiis regum, precioso ditior ere,
viribus excedens, evo maturior esset
bellatore novo, tamen experientia Martis
qua dissuetus erat et pax diuturna labantes
impulerat regis animos ut in omnibus esset 10
Buch II
Themenübersicht (1–10)

Das zweite Buch schildert die Vorbereitungen des Darius und der
Perser zum Kampf. Darius schreibt Alexander einen Brief und
nimmt das persische Heer in Augenschein. Indes zerschlägt der
Makedone mit dem Schwert den schicksalhaften gordischen Kno-
ten und erholt sich unter Philipps ärztlicher Anleitung ein wenig
abseits von seinen Männern von seiner Krankheit. [5] Auf beiden
Seiten des Gebirgspasses stehen die Heere, beengt von Kilikiens
gebirgigen Schluchten. Ein ungerechtes Schicksal ereilt Sisines. Ein
eigentlich hilfreicher Plan des klugen Tymodes stößt bei den
persischen Offizieren auf Ablehnung: Sie ziehen es vor, das ganze
persische Heer zugleich dem Untergang preiszugeben. [10] Beide
Könige rufen bei Issus ihre Männer wild entschlossen zum Kampf.
Die Luft hallt wider vom Beifall der Truppen.

Der Perserkönig Darius (1–63)

Die Charakterzeichnung des Darius (1–17)

Die Städte der Perser durcheilend, hatte Fama Alexander vorab


schon als Rächer der griechischen Heimat und als Bedrohung für
das persische Reich angekündigt und mit schrecklichem Getöse den
in schlimmer Untätigkeit erstarrten und von Ausschweifung ge-
schwächten Darius in große Unruhe versetzt. [5] Mag dieser auch
mächtiger, besser durch Waffen und verbündete Fürsten geschützt,
zudem reicher an wertvollem Erz, stärker an Truppen und reifer an
Jahren gewesen sein als der kampferprobte makedonische Neuling,
so hatte doch die Entwöhnung vom Krieg und der lang anhaltende
Frieden die ohnehin schon schwindende [10] Tatkraft des persi-
130 ALEXANDREIS

inferior duce quo poterat prestantior esse


si mens tanta foret pugnandi quanta facultas.
Ne depressa tamen terrore minusque rigoris
regia maiestas videatur habere, superbo
intonat ore minas Darius gentesque subactas 15
colligit in castris, cuius per regna volante
ocius edicto ruit omnis in arma iuventus.

Interea a Dario, ne nil fecisse videri


possit, Alexandro legatur epistola talis:
“Rex regum Darius consanguineusque deorum 20
scribit Alexandro famulo: licet indole clarus,
parce puer teneris et adhuc crescentibus annis.
Non est apta legi que non maturuit arbor.
Quos tibi sumpsisti temerarius exue cultus
armorum et gremio castae te redde parentis. 25
Queque tuae pocius etati congrua misi
lora tibi teretemque pilam forulosque capaces
in sumptus, comitum fomenta viaeque levamen.
At si tanta tuum vexat vesania pectus
ut paci lites et amico preferat hostem, 30
non equites, verum furiata mente clientes
emittam qui te correptum verbere duris
afficiant penis tenebrisque perhennibus addant.”
Frendit Alexander modice turbatus, eisque
BUCH II 131

schen Königs vollends geschwächt, so dass dieser in jeglicher Hin-


sicht dem makedonischen Anführer unterlegen war, dem er gleich-
wohl hätte überlegen sein können, wenn sein Wille zu kämpfen so
groß gewesen wäre, wie seine militärischen Möglichkeiten es waren.
Um jedoch sein königliches Ansehen nicht durch die Schreckensnach-
richt geschwächt und angeschlagen erscheinen zu lassen, [15] gab
Darius mit hochfahrenden Worten Drohungen von sich und sam-
melte die einst bezwungenen Völker im Lager. Auf Darius’ durch
das ganze Perserreich eilenden Befehl hin griff die Jugend in Scha-
ren zu den Waffen.

Die Korrespondenz zwischen Darius und Alexander (18–44)

Um nicht untätig zu erscheinen, ließ Darius unterdessen durch


Boten Alexander einen Brief folgenden Inhalts überbringen:
[20] »Darius, König der Könige und Blutsverwandter der Götter,
schreibt seinem Diener Alexander: Magst du dich auch durch eine
dir angeborene Tüchtigkeit auszeichnen, so berücksichtige doch,
mein Junge, deine schwachen und an Zahl erst noch wachsenden
Jahre. Nicht erntet man die Früchte eines Baumes, der sich noch im
Wachstum befindet. Ziehe den Waffenschmuck aus, den du dir
übermütig angelegt hast, [25] und kehre zurück in den Schoß
deiner untadeligen Mutter. Deinem Alter viel mehr entsprechend
habe ich dir eine Peitsche und einen runden Ball zukommen lassen
sowie für deinen Aufwand geräumige Kisten voll Gold als Entloh-
nung für deine Gefährten und als Unterstützung für deine lange
Reise. Aber wenn dich ein so großer Wahn erfüllt, [30] dass du den
Krieg dem Frieden und dem Freund den Feind vorziehst, will ich
nicht meine Reiter, sondern wutentbrannte Vasallen entsenden,
um dich, bist du erst einmal ergriffen, mit harten Peitschenschlägen
zu bestrafen und dich in ewige Finsternis zu stürzen.« Im rechten
Maße erzürnt knirschte Alexander mit den Zähnen und gab den
132 ALEXANDREIS

qui sibi detulerant Medi mandata tyranni 35


procincte subicit “melius” que “interpretor” inquit
“et magis egregie vestri munuscula regis:
Forma rotunda pilae speram speciemque rotundi,
quem michi subiciam, pulchre determinat orbis.
Hiis in subiectos michi Persas utar habenis 40
cum victor Darii veteres effregero gazas.” 42
Sic ait, et formae regalis ymagine ceris
impressa, vario legatos munere donat.

At Darius, quamvis fama mediante recepto 45


Mennonis excessu labefacto pectore nutet,
aspera fortunae tamen in contraria torquens,
conclusus procerum serie peditumque catervis
tendit ad Eufraten, ubi tot radiantibus auro
gentibus explicitis, diffusis equore vasto 50
tot populis, vires dedit in commune videndas
elatusque animo vallum circumdedit. Unde
primo sole locum feriente recensuit omnes
Xerxis ad exemplum donec nascentibus astris
montivage Phebes precederet Hesperus ortum. 55
Egreditur vallo virides effusa per agros
infinita phalanx numerumque recensita vincit.
Spargitur et speciem maioris copia prebet.
Sic ubi balantes ad pascua veris iturae,
ut totidem reddat pastor quot fundit ovile, 60
BUCH II 133

Boten, [35] die ihm die Weisungen des medischen Königs über-
bracht hatten, schlagfertig die passende Antwort: »Besser und
treffender deute ich die niedlichen Geschenke eures Königs: Die
runde Gestalt des Balls bezeichnet auf vortreffliche Weise die ku-
gelförmige Gestalt des gerundeten Erdkreises, den ich mir zu
unterwerfen gedenke. [40] Die angesprochenen Peitschen werde
ich für meine Zwecke gegen die niedergeworfenen Perser einsetzen,
[42] wenn ich dann als Sieger Darius’ alte Schatzkammern ge-
sprengt habe.« Nach diesen Worten überreichte Alexander den
Boten verschiedene Geschenke, versehen mit dem königlichen
Siegelbild aus Wachs.

Die Heerschau des Darius (45–63)

[45] Obgleich Darius, erschüttert durch ein umlaufendes Gerücht


von Memnons Tod, fraglos verunsichert war, eilte er – gleichwohl
in der Absicht, die Unbilden des Schicksals ins Gegenteil zu verkeh-
ren – umringt von der Schar der Vornehmsten und der Masse des
Fußvolks zum Euphrat, wo er mit so vielen in der Ebene ausgebrei-
teten, von Gold glänzenden [50] Scharen und mit so vielen auf
weitem Feld verteilten Völkern für alle sichtbar seine Streitkräfte
präsentierte und stolz ringsum einen Wall errichten ließ. Von dort
aus nahm er beim ersten Sonnenstrahl, der den Ort erhellte, – dem
Xerxes vergleichbar – alle in Augenschein, bis der Abend mit den
aufziehenden Sternen dem Aufgang des Mondes voranging, [55] der
noch schweifend die Berge durchwanderte. Der endlose Haufen,
weit über die grasreichen Felder verteilt, verließ den Wall und schien
beim Versuch, ihn zu zählen, noch endloser zu sein. Die riesige
Menge teilte sich auf und erweckte gerade dadurch den Eindruck,
noch größer zu sein. So werden früh morgens die blökenden Schafe
gezählt, wenn sie auf die Frühlingsweiden drängen, [60] damit der
Hirte am Abend ebenso viele Tiere zurückbringt, wie den Stall
134 ALEXANDREIS

mane novo numerantur oves, quas anxia sortis,


ne minuat numerum lupus opilione sinistro,
capripedi Fauno commendat sedula Baucis.

At prior in Magnum Darii congressus et acris


pugna sub illustri adversae duce Mennone partis 65
milia nobilium tenuit sexcenta virorum.
Quos licet inferior numero sed fortior armis
fudit Alexander
expugnatamque suorum
viribus intravit Midae predivitis aulam:
Gordian veteres, Sardis dixere moderni. 70

Hic Asiam refluis undarum incursibus artant


faucibus angustis gemini confinia ponti.
Hic ab utroque mari distans Sangarius eque
litoribus tamen alterius communicat undas.
BUCH II 135

zuvor auch verlassen haben; um deren Leben besorgt vertraut die


fleißige Baucis diese im Gebet dem bocksfüßigen Faunus an, damit
nicht durch die Schuld eines unaufmerksamen Hirten ein Wolf den
Tierbestand schmälert.

Die Schlacht am Granikus (64–68)

Aber das erste Zusammentreffen und die erste heftige [65] Schlacht
zwischen Alexander und Darius – auf persischer Seite hatte noch der
berühmte griechische Feldherr Memnon die Befehlsgewalt inne –
hat sechshunderttausend vortreffliche Krieger gebunden. Diese
schlug Alexander, an Truppenstärke zwar unterlegen, stärker jedoch
im Gefecht.

Alexander in Phrygien (68–90)

Alexanders Ankunft in Phrygien (68–70)

Einige Zeit später verschaffte er sich mit der Waffengewalt seiner Sol-
daten Zutritt in die Residenzstadt des steinreichen Midas: [70] Frü-
here Generationen nannten sie Gordium, die heutigen Bewohner
nennen sie Sardes.

Die geographische Lage von Gordium (71–74)

Hier verengen die Küsten zweier Meere durch ihre immerwährende


Brandung Kleinasien zu einem Isthmus. Hier fließt der Sagaris, von
beiden Meeren zwar gleich weit entfernt, doch nur in das Schwarze
Meer.
136 ALEXANDREIS

Hic Iovis in templo Midae patris alta choruscant 75


plaustra iugumque vetus Asiae fatale, sed eius
funibus inter se coeuntibus arte latenti
complosisque iterum spacioso tempore, nemo
vel reperire caput poterat vel solvere nodos.
Certa fides urbis ita disposuisse tenacem 80
fatorum seriem qui vincula solveret illum
regno totius Asiae debere potiri.
Movit Alexandrum supplendi fata cupido,
extollensque iugum nexus dissolvere temptat,
luctatusque brevi, cum se contendere frustra 85
conspicit, astantes ne triste reverberet omen,
“Quid refert,” inquit “proceres, qua scilicet arte
quoque modo tacitae pateant enigmata sortis?”
Dixit et arrepto nodos mucrone resolvit,
unde vel elusit sortem vel forte reclusit. 90

Hinc venit Anchiram, missis qui Marte retundant


Capadocum gentes. Quibus in sua iura redactis,
mane iter accelerat Macedo spacioque diei
unius stadia trepidis quingenta peregit
gressibus, accelerans pavidum prevertere regem. 95
Quippe graves aditus Asiae faucesque locorum
angustas metuens, Cylicum iam plana tenenti
obvius ire parat Dario, qui primus Eoo,
cum sol roriflua stillaret lampade, castra
BUCH II 137

Der gordische Knoten (75–90)

[75] Hier erglänzte im Tempel des Jupiter der erhabene Wagen des
Gordius und das uralte Schicksalsjoch Asiens. Niemand jedoch
konnte wegen der mit verborgener Kunst ineinander geschlunge-
nen und zusammengefügten Stricke für ein lange Zeit das Ende des
Seils finden oder die Knoten lösen. [80] In dieser Stadt herrschte
der unverrückbare Glaube, dass die feste Ordnung des Schicksals es
so eingerichtet habe, dass jener, der die Fesseln zu lösen vermöchte,
sich der Herrschaft über ganz Asien bemächtigen dürfe. Es bewegte
Alexander der innere Wunsch, des Schicksals Spruch zu erfüllen, er
richtete das Joch auf und versuchte die Knoten zu lösen. [85] Als er
nach kurzer Mühe sah, dass seine Anstrengungen vergeblich waren,
gab er folgende Worte von sich, um sein Geleit nicht durch ein
böses Vorzeichen zu verunsichern: »Was geht es uns an, Gefährten,
durch welche Kunst und auf welche Weise sich die Rätsel des
schweigsamen Schicksals lösen lassen?« Sprach’s und zerschlug mit
gezücktem Schwert den Knoten, [90] wodurch er entweder das
Schicksal verspottete oder auch nur zufällig enthüllte.

Von Phrygien nach Kilikien (91–102)

Von hier aus kam Alexander nach Ankyra, nachdem er bereits Sol-
daten vorausgeschickt hatte, um Kappadokiens Stämme zu unter-
werfen. Nachdem diese in ihre Grenzen gewiesen waren, eilte der
Makedone am Morgen weiter und überwand im Laufe eines einzi-
gen Tages in hastigem Lauf fünfzig Meilen, [95] um eilenden Schrit-
tes dem zaudernden Darius zuvorzukommen. Da er den schwieri-
gen Zugang nach Asien und die enge Schlucht an der Kilikischen
Pforte fürchtete, traf er Vorbereitungen, gegen Darius vorzustoßen,
der zuvor sein Lager am Euphrat beim zeitigeren Tagesanbruch im
Osten, als die Sonne dort bereits mit ihren Strahlen den Tau von
138 ALEXANDREIS

movit ab Eufrate. Lituis cava saxa resultant, 100


respondent valles, ictusque fragoribus aer
ingeminat strepitus, agitantque tonitrua nubes.

Hic fragor in castris, sed et hic erat agminis ordo.


Ignem quem Persae sacrum aeternumque vocabant
axibus auratis argentea pretulit ara. 105
Alba Iovis currus series ducebat equorum,
celatasque decem gemmis auroque quadrigas
tam cultu variae quam lingua et moribus uno
agmine bissenae comitantur in ordine gentes.
Quosque immortales mentitur opinio vulgi 110
mille fere decies plaustris auroque feruntur.
At consanguinei regis muliebriter omnes
milia pretextis ter quinque feruntur amicti.
Mole gravi medius radiis stellantibus auro
invehitur Darius curru, quem stipat utrimque 115
effigies numerosa deum, quem predicat ardor
gemmarum et luxus opulentia barbara regem.
Desuper ardentis fervorem temperat estus
fictilis aurata pendens Iovis armiger ala.
Hunc hastata decem precedunt milia, quorum 120
aurum cuspis habet, argentea candet harundo.
Preterea Darius preclaros sanguine regis
contiguos lateri preceperat ire ducentos.
BUCH II 139

den Blättern tropfen ließ, [100] als erster verlassen hatte und jetzt
schon Kilikiens Ebenen besetzt hielt. Die von Höhlungen durchzo-
genen Felsen hallten von den Signalhörnern der Griechen wider,
auch die Täler erwiderten den Klang, die von Lärm durchdrungene
Luft vervielfachte das Getöse und Donnerschläge erschütterten die
Wolken.

Der Truppenaufmarsch der Perser (103–139)

Ein ebensolches Lärmen herrschte in Darius’ Lager. Und die Rei-


henfolge des persischen Aufmarschs war folgende: [105] An der
Spitze des Heereszugs trug ein goldener Wagen einen silbernen
Altar mit einem darauf brennenden Feuer voran, das die Perser seit
jeher heilig und ewig nennen. Dahinter zog eine Reihe von Schim-
meln Jupiters Wagen, ferner begleiteten zwölf in Kultur, Sprache
und Sitten verschiedenartige Stämme wohlgeordnet in einem einzi-
gen Trupp zehn kunstvoll mit Edelsteinen und Gold geschmückte
Viergespanne. Und hinter diesen setzten sich jene zehntausend
Mann auf goldbesetzten Wagen in Bewegung, [110] die das einfache
Volk irrigerweise für unsterblich hielt. Und nach ihnen drängten
alle Vertrauten des Königs vorwärts, fünfzehn Tausend an der Zahl
und wie Frauen in purpurverbrämte Gewänder gehüllt. In der Mit-
te fuhr auf einem wuchtigem Streitwagen mit golden schimmern-
den Speichen, den auf beiden Seiten zahlreiche Götterbilder zierten,
[115] Darius, den der Glanz der Edelsteine und die barbarische
Pracht eines überflüssigen Aufwands als König auswiesen. Ein aus
Ton geformter Adler milderte scheinbar mit goldenen Flügeln
schwebend von oben her die siedende Hitze der glühenden Sonne.
[120] Diesem gingen zehntausend Speerträger voraus, deren Speer-
spitzen mit Gold besetzt waren und deren Speerschäfte silbern
glänzten. Außerdem hatte Darius befohlen, dass ihn zweihundert
Mann königlichen Geblüts in unmittelbarer Nähe flankierend be-
140 ALEXANDREIS

Neve sit in promptu Danais penetrare tribunal


regis, munitis peditum prestantibus armis 125
clauditur extremum ter denis milibus agmen.
Subsequitur Medi plenus genitrice tyranni
currus, et uxor adest natique et tota suppellex
regia. Pelicibus totidem sub pondere tanto
quinquaginta fere suspirant plaustra vehendis. 130
Moris erat Persis ducibus tunc temporis omnem
ducere in arma domum cum tolli signa iuberent.
Sexcentis sequitur invecta pecunia mulis,
ter centumque onerat dorso surgente camelos.
Plurimus hoc agmen centenis milibus ambit 135
funditor et levibus fundae iaculator habenis.
Ultima procedit levis armatura virorum
excedens numerum, pedibusque attritus et axe
aurea pulvereus involvit sydera turbo.

Interea Macedo, profugis vastantibus arva 140


Cyliciae deserta videns, rapit agmina ductor
ad loca que Cyri dixerunt castra minores.
Premissis igitur duce Parmenione catervis,
Tharsum seminecem Persarum servat ab igne.
BUCH II 141

gleiteten. Und damit die Griechen nicht mühelos bis zum Streitwa-
gen [125] des persischen Königs vordringen konnten, bildeten
dreißigtausend von ausgezeichneten Waffen geschützte Fußsoldaten
den Abschluss des Heereszugs. Danach folgte der Wagen mit der
Mutter des Mederkönigs, auch die Ehefrau und die Kinder waren
mitsamt dem ganzen königlichen Hausrat dabei. [130] Fast fünfzig
Wagen, die ebenso viele Nebenfrauen beförderten, ächzten unter
einem derart großen Gewicht. Sitte war es damals bei den persi-
schen Königen, auch den ganzen Haushalt mit in den Krieg zu
schleppen, wenn das Zeichen zum Abmarsch gegeben wurde. Das
herbeigeschaffte Geld folgte auf sechshundert Eseln und beschwerte
zudem die Höcker von dreihundert Kamelen. [135] Zahlreiche Speer-
schützen und Werfer, die Schleudern am lockeren Riemen trugen,
umschwärmten das aus mehreren hunderttausend Kriegern be-
stehende Heer. Zuletzt schritten schier unzählbar die Scharen
leichtbewaffneter Kämpfer einher, von den Füßen und Rädern zer-
mahlen, wälzte sich ein Wirbel aus Staub zu den goldenen Sternen
hinauf.

Alexander in Kilikien (140–271)

Vom Lager des Cyrus nach Tarsus (140–144)

[140] Da Alexander die von den fliehenden Persern verwüsteten


Gefilde Kilikiens verlassen sah, führte er sein Heer unterdessen zu
jenem Ort, den frühere Generationen das Lager des Cyrus nannten.
Mit einem unter Parmenions Führung stehenden Vorauskomman-
do rettete er das bereits halb zerstörte Tarsus vor der Brandstiftung
der Perser.
142 ALEXANDREIS

Hic, ut scripta ferunt, illustri claruit ortu, 145


per quem precipue caecis errore subacto
gentibus emersit radius fideique lucerna.
Purus et illimis mediam perlabitur urbem
Cignus, qui gelidos haurit de fontibus amnes;
contentus sese est nullasque aliunde ruentis 150
admittit torrentis aquas, sed gurgite ludit
calculus et refugo lapsu lascivit harena.

Hic primum didicit Magnus durare salutem


nulli continuam, sed mixta adversa secundis. 154
Ergo cum casu luctari fata videres, 157
queque aspirabat ceptis sors prospera paulo
substitit et Macedum spem desperare coegit.
Estus erat medius cum sole tenente Leonem 160
Iulius arderet, medioque sub axe diei
arida Cyliciae findit vapor igneus arva.
Perfusus Macedo sudore et pulvere membra,
temperie fluvii captus specieque liquoris
corpore adhuc calido subiectis insilit undis. 165
Horruit extimplo gelido perfusa liquore
tota viri moles, ubi non invenit apertas
spiritus arterias corpusque reliquit inane.
Frigore vitalis calor interclusus aquarum
BUCH II 143

Die Stadt Tarsus (145–152)

[145] Hier zeichnete sich gemäß dem Bericht der Heiligen Schrift
jener durch glänzende Geburt aus, durch den – vom eigenen Irr-
glauben befreit – für die verblendeten Völker das strahlende Licht
des Glaubens in besonderem Maße emporstieg. Klar und schlamm-
los strömt mitten durch die Stadt der Kydnus, der seine kalten
Wogen aus verschiedenen Quellen schöpft. [150] Er ist ohne wei-
teren Zufluss und nimmt anderswoher kein Wasser eines reißenden
Bachs auf, in dessen sanfter Strömung treibt ein Steinchen sein
Spiel und der Sand bewegt sich mit den auch rückwärts laufenden
Wellen.

Alexanders unheilvolles Bad im Kydnus (153–171)

Hier hat Alexander erstmals erfahren, dass eine unversehrte Ge-


sundheit [154] niemandem dauerhaft beschieden ist, sondern Glück
und Unglück sich abwechseln können. [157] Als man folglich das
Schicksal mit diesem Unglücksfall ringen sah, ließ das günstige Ge-
schick, das Alexanders Plänen sonst immer gewogen war, ein wenig
auf sich warten und nötigte die Makedonen schon, die Hoffnung
auf Rettung fahren zu lassen. [160] Als im Hochsommer der Monat
Juli mit der Sonne im Sternzeichen Löwen das Land versengte und
Kilikiens feurige Glut am Mittag den trockenen Boden aufbrechen
ließ, sprang der Makedone nämlich, am ganzen Körper mit Schweiß
und Staub bedeckt, begeistert von der Kühle des Flusses und dem
Anblick des Wassers [165] mit noch erhitztem Körper hinab in die
Wogen. Auf der Stelle erstarrte der ganze ins eisige Wasser getauchte
Körper des Helden, mit erst noch stockendem Atem konnte er
schließlich gar keine Luft mehr holen. Unterbrochen von der Kälte
des Wassers schwand schon langsam die lebensspendende Wärme,
144 ALEXANDREIS

fluctuat, afflictus rex exanimisque suorum 170


extrahitur manibus.
Oritur per castra tumultus
flebilis, et Graium ruit in lamenta iuventus:
“Flos iuvenum, Macedo, quis te impetus inter amicos
nudum, quis casus inopina morte subegit?
Improba mobilior folio Fortuna caduco, 175
tygribus asperior, diris immitior ydris,
Thesiphone horridior, monstroque cruentior omni,
cur metis ante diem florentes principis annos?
Hactenus exstiteras mater, quis te impulit illi
velle novercari quem promissum sibi regem 180
mundus adoptabat? Sed quis manet exitus illos,
optime rex, quibus a patria tua castra secutis
non licet in patriam loca per deserta reverti?
Numquid nos sine te medios mittemur in hostes?
Sed quis dignus erit tanto succedere regi?” 185

Audiit hec, ut forte rotam volvendo fatiscens


ceca sedebat humi Fortuna animamque resumens
surgit et Argolicos subridens ore sereno
increpat usque metus ac secum pauca susurrat:
“Inscia mens hominum quanta caligine fati 190
pressa iacet, que me tociens iniusta lacescit.
BUCH II 145

[170] der bewusstlose und leblos wirkende König wurde von den
Händen der Seinen aus dem Fluss gezogen.

Die Reaktion der griechischen Soldaten (171–185)

Im Lager entstand ein Jammern und Weinen und die griechischen


Soldaten begannen zu klagen: »Ach, Makedone, Zierde unserer
jungen Truppe, was für ein schlimmer Anfall, was für ein Unglück
hat dich unbewaffnet im Beisein von Freunden in einen unerwarte-
ten Tod gezwungen? [175] Ruchloses Schicksal, wankelmütiger als
ein vom Baum fallendes Blatt, wilder als Tiger, erbarmungsloser als
unheilvolle Schlangen, schauderhafter als Tisiphone und grausamer
als jedes Scheusal, warum begrenzt du die blühenden Jahre unseres
Königs weit vor der Zeit? Wer hat dich, die du bisher doch stets als
schützende Mutter hervorgetreten bist, dazu veranlasst, jenem
[180] gleich einer Stiefmutter übelzuwollen, den die Welt sich als
verheißenen König erwählt hat? Welches Ende indessen erwartet
diejenigen, vortrefflichster König, die dir aus der Heimat in deinen
Krieg gefolgt sind und jetzt nicht durch Wüsten in die Heimat
zurückkehren können? Werden wir nun etwa ohne dich in den
Krieg gegen die Feinde geschickt? [185] Wer wird sich dann aber als
würdig erweisen, einem so großen König nachzufolgen?«

Die Reaktion der Fortuna (186–200)

Diese Vorwürfe hörte die blinde Fortuna, als sie ermüdet vom Wäl-
zen des Schicksalsrades gerade am Boden saß. Wieder zu Kräften
gekommen, erhob sie sich und verlachte mit heiterer Miene die
Griechen, schalt in einem fort deren Furcht und flüsterte sich selbst
mit wenigen Worten zu: [190] »Von welchem Schicksalsdunkel
umfangen liegt der unwissende Geist der Menschen am Boden, der
146 ALEXANDREIS

Ius reliquis proprium licet exercere deabus,


me solam excipiunt, que dum bona confero, magnis
laudibus attollor, si quando retraxero rebus
imperiosa manum, rea criminis arguor ac si 195
naturae stabilis sub conditione teneri
possem. Si semper apud omnes una manerem
aut eadem, iam non merito Fortuna vocarer.
Lex michi naturae posita est sine lege moveri,
solaque mobilitas stabilem facit.” 200
Hec ubi dicta,
liberior regis iam morbida membra revisit
spiritus et solitos paulisper habere meatus
cepit, sed nimius urebat viscera morbus.
Qui tamen attollens erecto lumine vultum
“Ergo” ait “in castris victum sine Marte cruentus 205
victor Alexandrum rapiet? Nam proximus hostis
non medicos segnes, non cretica tempora morbi
expectare sinit. Spoliis ululabit ademptis
hostica barbaries, at rex inglorius exul
nudus in hostili sine laude iacebit harena. 210
Si tamen in medicis est ut reparare salutem
arte queant medica, faveat medicina sciantque
me non tam vitae spacium quam querere belli. 213
Nam licet eger adhuc, si saltim stare meorum 215
BUCH II 147

mich so oft ungerecht angreift. Anderen Göttinnen ist es erlaubt,


ihr eigenes Recht auszuüben, mich allein nimmt man aus. Solange
ich Gutes erweise, werde ich mit Lob überschüttet, wenn ich jedoch
[195] gebieterisch den Angelegenheiten einer Person meine Unter-
stützung entziehe, werde ich eines Verbrechens angeklagt, als ob
mein Wesen mit einer beständigen Natur einherginge. Wenn ich
immer bei allen beständig ein und dieselbe bliebe, würde ich zu
Recht nicht mehr Fortuna genannt werden. Naturgesetz ist es für
mich, ohne Gesetz meine Meinung zu ändern, [200] und nur in
eben diesem Wandel bin ich unwandelbar.«

Die Reaktion Alexanders (200–217)

Nach diesen Worten durchdrang schon freier der Atem die noch
gebrechlichen Glieder des Königs und gewann nach und nach die
gewohnten Bahnen zurück, doch eine überaus schwere Krankheit
dörrte seine Eingeweide anhaltend aus. Dennoch hob er sein Ant-
litz und sagte mit nach oben gerichtetem Blick: [205] »Wird also
der grausame Sieger mich – den im Kampfe unbesiegten Alexander –
hier im eigenen Lager ergreifen? Der in unmittelbarer Nähe stehen-
de Feind gestattet mir nicht, auf zaudernde Ärzte oder einen günsti-
gen Heilungsverlauf der Krankheit zu warten. Die feindlichen
Barbaren werden ob der erbeuteten Rüstungen johlen, euer König
aber wird als ruhmloser Exilant ohne Verdienst [210] nackt im
feindlichen Staube liegen. Falls es jedoch in der Macht der Ärzte
liegen sollte, meine Gesundheit mit ärztlicher Kunst wiederherzu-
stellen, soll mir eine Arznei willkommen sein. Doch sollen die Ärzte
wissen, [213] dass ich nicht ein langes Leben erstrebe, sondern
lediglich die Zeitspanne für den bevorstehenden Krieg benötige.
[215] Denn wenn ich ungeachtet meines noch immer angeschlage-
nen Gesundheitszustands zumindest an der Spitze meines Heeres
148 ALEXANDREIS

ante aciem potero, cursu fugitiva rapaci


terga dabunt Persae, Danaique sequentur ovantes.”

Impetus hic regis precepsque libido choortes


moverat ancipites ne festinatio curae
augeret morbum. Sed enim spondente Philippo, 220
qui comes est a patre datus custosque salutis,
indulto tridui spacio tamen anxius egre
expectat morbique fugam reditumque salutis.
Hic premissa ducis deturbat epistola regem
que medicum dampnat auro tedaque sororis 225
corruptum a Dario. Iam tercia sparserat ignes
explicitum tenebris rutilos Aurora per orbem.
Cogitur insontis hausturus pocula ductor
de medici dubitare fide. Sed potio postquam
exhausta est, cartam dextra nutante legendam 230
porrigit Archigeni, quam dum legit, ille legentis
nulla notare potest in vultu signa pudoris,
atque ita subridens: “Bone rex, exclude timorem,
laxa animum curis, sine vim medicaminis huius
in venas recipi. Qui me tibi detulit, audi, 235
aut ne sic pereas reliquis ardentius optat
sedulus aut nostra marcescit lividus arte,
verius ut fatear, aut in tua dampna protervit
qui notat innocuum sceleris. Qui proditionis
arguit insontem, merito non creditur insons. 240
BUCH II 149

stehen kann, werden die Perser in wildem Lauf den Rückzug antre-
ten und die Griechen werden jubelnd die Verfolgung aufnehmen.«

Alexander – Philipp – Parmenion (218–256)

Diese Leidenschaft und das gefährliche Verlangen des Königs hatte


in der zweifelnden Truppe die Befürchtung ausgelöst, die allzu
große Eile beim Heilungsprozess könnte [220] die Krankheit ver-
schlimmern. Obwohl ihm Philipp – vom Vater als Gefährten und
Wächter der königlichen Gesundheit überlassen – Rettung nach
drei Tagen versprach, konnte er voll Sorge dennoch kaum den
schnellen Rückzug der Krankheit und die rasche Genesung erwar-
ten. Da verstörte den König ein von einem seiner Generäle noch vor
dessen Ankunft eingetroffener Brief, [225] in welchem gegen den
Arzt der Vorwurf erhoben wurde, dieser sei von Darius mit Gold
und der Aussicht, die Schwester des Perserkönigs zu ehelichen,
bestochen worden. Zum dritten Mal schon hatte Aurora ihr
goldenes Licht über den vom Dunkel befreiten Erdkreis ausgebrei-
tet, als Alexander sich – im Begriff, den Becher zu leeren – genötigt
sah, an der Treue des unschuldigen Arztes zu zweifeln. Aber nach-
dem [230] er den Trank zu sich genommen hatte, reichte er mit
winkender Rechte dem Archigenes den Brief zum Lesen. Während
Philipp das Schreiben las, konnte Alexander keine Anzeichen von
Scham in dessen Gesicht erkennen. Und so sagte der Arzt lächelnd:
»Gütiger König, entsage der Furcht, mache dir keine Sorgen und
lasse zu, dass die Wirkkraft dieser Arznei [235] in deinen Adern
Aufnahme findet. Höre zu: Wer mich bei dir derartig anschwärzt,
wünscht vielleicht leidenschaftlicher als alle anderen, dir einen
solchen Tod zu ersparen, oder ist allzu eifrig neidisch auf unsere
Kunst, oder derjenige, der mich grundlos anklagt, will dir – um der
Wahrheit die Ehre zu geben – schamlos schaden. [240] Wer einen
Unschuldigen des Verrats bezichtigt, wird zu Recht nicht für un-
150 ALEXANDREIS

Nam reus unde reum se noverit illud acerbe


obiciet. Sic iniuste quandoque ligatur
iustus, et iniustos absolvit curia mendax.”
Hec ubi dicta, metum iubet evanescere regis.
Inde ubi transmissum medicamen ad intima venas 245
imbuit, emeriti perierunt semina morbi.
Exhilarat vultum color et pallore perempto
emergit facies niveo liquefacta rubore.
Mens redit, et virtus rediviva renascitur intus.
Concurrunt proceres avidi spectare Philippum. 250
Illius iniciunt iocundi brachia collo,
huncque patrem patriae servatoremque salutant.
Rex, cum sol rutilo radiaret crastinus axe,
insigni prevectus equo per castra videndum
se dedit et pavidis excussit mentibus omnem 255
segniciem vultuque suos ac voce refecit.

Inde ubi finitimas exercitus obruit urbes


et sacra pro dubia que voverat ante salute
persolvit superis, ferratos menibus Yson
applicuit cuneos, ubi Parmenio venienti 260
occurrens urbi desertae a civibus infert.
Queritur hic inter proceres an debeat ultra
extendi bellis acies pociusne sit hostis
operiendus ibi. Placuit sentencia tandem
hec pocior ducibus, inter montana iugosis 265
BUCH II 151

schuldig gehalten. Denn der Schuldige wird einem anderen rück-


sichtslos das zum Vorwurf machen, wovon er weiß, dass er sich
selbst eben dies hat zu Schulden kommen lassen. So wird ungerech-
terweise mitunter der Gerechte ins Gefängnis geworfen und ein
verlogenes Gericht spricht die Übeltäter frei.« Nach diesen Worten
befahl er der Furcht des Königs zu weichen. [245] Als die verab-
reichte Arznei darauf die Adern im Innersten durchfloss, starben
die Keime der schon ermatteten Krankheit ab. Das Gesicht gewann
wieder an Farbe zurück, und nachdem die Blässe vollends ver-
schwunden war, kam wieder ein Gesicht in durchgehend rosiger
Farbe zum Vorschein. Der Geist erwachte von neuem, die wieder-
erstarkte Tatkraft regte sich im Inneren. [250] Die Fürsten liefen
von allen Seiten herbei im gemeinsamen Wunsch, Philipp zu sehen.
Sie fielen dem Arzt voll Freude um den Hals und begrüßten diesen
als Vater und Retter des Vaterlandes. Als die Sonne am Morgen
vom goldenen Himmel strahlte, [255] zeigte sich der König für alle
sichtbar auf seinem prachtvollen Ross durch das Lager reitend,
nahm seinen ängstlichen Männern jegliche Trägheit und gab ihnen
mit seinem Anblick und seiner Stimme die Hoffnung zurück.

Alexanders Ankunft in Issus (257–268)

Sobald sein Heer die benachbarten Städte vernichtet und er den


Göttern die zuvor gelobten Opfer für die kaum erhoffte schnelle
Genesung dargebracht hatte, [260] lenkte er darauf die eherne
Phalanx nach Issus; da eilte ihm Parmenion entgegen und führte
ihn in die von den persischen Bürgern verlassene Stadt hinein.
Unter den Generälen wurde an Ort und Stelle darüber beraten, ob
das Heer für einzelne Gefechte weiter auseinandergezogen werden
müsse oder ob es besser sei, den Feind geschlossen vor Ort zu er-
warten. Die größte Zustimmung [265] unter den Anführern fand
der Plan, im schluchtreichen Gebirge die Schlagkraft beider Par-
152 ALEXANDREIS

faucibus hic fatis committere robur utrimque.


Quippe pares illic acies utriusque tyranni
Parmenio censet angusta valle futuras.

At Sysenes, quia rem tacite suppresserat, auro


creditur a Dario furtim corruptus, eumque 270
mors iniusta ferit, non ignorante tyranno.

Iamque superveniens Grecis equitatus ab horis,


exilio comitante fugam, duce Tymode castris
infertur Darii, regique salubre propinans
consilium suadet ut, dum licet, axe citato 275
obliquum retro vertat iter cursuque volucri
pulvereo repetat spaciosos aequore campos,
at si degenerem pudeat retrocedere regem,
converso ne forte gradu vertatur in omen
triste suis, saltim gazas et pondera belli 280
dividat in partes, ut si fortuna, quod absit,
faverit Argolicis in primo Marte, supersit
copia queque recens ruat in discrimina pubes:
Non mediocris enim furor est exponere bellis
uno velle semel fortunae cuncta sub ictu. 285
BUCH II 153

teien an diesem Ort dem Schicksal anzuvertrauen. Parmenion


äußerte die Ansicht, dass nur an jenem Ort in dem engen Tal die
Heere beider Könige einander ebenbürtig sein würden.

Alexander und Sisenes (269–271)

Sisines aber, war man der Meinung, [270] sei von Darius insgeheim
mit Gold bestochen worden, weil er eine Sache im Stillen für sich
behalten hatte. Diesen ereilte nicht ohne Wissen des makedoni-
schen Königs ein ungerechter Tod.

Darius vor der Schlacht bei Issus (272–421)

Darius und Tymodes (272–305)

Soeben erschienen überraschend Reiter von griechischer Abkunft –


die Flucht bringt ein Leben im Exil mit sich – und gelangten unter
Tymodes’ Führung in das Lager des Darius. Sie gaben dem per-
sischen König einen vernünftigen [275] Ratschlag und empfahlen
ihm, solange dafür noch Zeit sei, schleunigst den Rückzug anzutre-
ten und in schnellem Lauf die weite, staubstrotzende Ebene wieder-
zugewinnen. Wenn sich der König aber schämen sollte, den seiner
Abkunft unwürdigen Rückzug anzutreten, um zu vermeiden, dass
dieses Vorgehen von den Seinen womöglich [280] als schlechtes
Vorzeichen missverstanden werde, möge er doch wenigstens Schät-
ze und Streitmacht auf mehrere Heeresgruppen verteilen, damit
noch Verstärkung vorhanden sei und noch Männer zur Verfügung
stünden, die sich frisch in die Schlacht stürzen könnten, wenn das
Geschick – die Götter mögen dies verhüten – die Griechen zu Be-
ginn der Schlacht begünstigen sollte: Denn nachgerade Wahnsinn
sei es, in einem Krieg [285] alles auf einmal nur einem einzigen Hieb
154 ALEXANDREIS

Utile consilium dederat, sed inutile visum


principibus Persis, quorum pervertere regem
mens erat ut merita deleret morte quirites
conductos. Etenim gazas dispergere Grecos
velle putant ut sic spoliis et rebus honusti 290
ad regem Macedum redeant pacemque reforment.
Rex, ut mitis erat satis ac tractabilis, aures
obstruit hiis monitis et pectore saucius “absit,
o proceres,” ait, “ut nostro dominetur in evo
dedecus hoc. Perdamne viros mea castra secutos 295
castra fidemque meam? Numquam tam seva severos
iamque senescentes infamia polluat annos.”
Sic ait et grates referens absolvit Achivos.
Sed regredi regem, profugus ne forte putetur,
dedecori ascribit. Iamiam committere bellum 300
ardet et angustos inter decernere montes.
De gaza primo diffinit, eoque iubente
maxima cum cuneis pars est transvecta Damascum.
More tamen veterum servato regia coniux
et soror et proles in castris fata secuntur. 305

Certus abhinc Darius, cum posterus exeret orbem


luciferum Tytan, regum concurrere vires,
ascendit tumulum modico qui colle tumebat
castrorum medius, patulis ubi frondea ramis
laurus odoriferas celabat crinibus herbas. 310
Sepe sub hac memorant carmen silvestre canentes
BUCH II 155

des Schicksals aussetzen zu wollen. Sie hatten einen nützlichen Rat


erteilt, untauglich schien dieser jedoch den persischen Offizieren,
deren Absicht es war, ihren König dahingehend zu beeinflussen, die
griechischen Söldner mit einem aus ihrer Sicht verdienten Tod zu
bestrafen. Denn sie glaubten, dass die Griechen die Schätze deshalb
aufteilen [290] wollten, um so mit Beute und Reichtümern beladen
zum makedonischen König zurückzukehren und mit diesem den
Frieden wiederherzustellen. Darius hörte entsprechend seiner mil-
den und gütigen Art nicht auf die mahnenden Worte und sagte im
Herzen betrübt: »Ihr Vornehmsten, möge ein derartig [295] schänd-
liches Verhalten zu meinen Lebzeiten niemals sich durchsetzen. Soll
ich Männer vernichten, die meinem Lager gefolgt sind, ja, meinem
Lager und auch meinem Treueversprechen? Niemals soll ein so
schlimmer Schandfleck mein gesetztes und schon schwindendes
Alter besudeln.« So sprach er und entließ die Griechen nicht ohne
Dank. Aber seinen eigenen Rückzug hielt er, vielleicht um nicht als
Feigling zu gelten, [300] für unehrenhaft. Schon begehrte er den
Krieg zu beginnen und die Entscheidung in den engen Berg-
schluchten zu suchen. Zuerst traf er eine Entscheidung hinsichtlich
des Schatzes, auf Geheiß des Königs wurde der größte Teil davon
mit einer Wachmannschaft nach Damaskus gebracht. Nach Sitte
der Alten jedoch harrten die königliche Gattin, [305] die Schwester
und die Kinder ihres Schicksals im Lager.

Hinführung zur Feldherrnrede des Darius (306–318)

Als Titan am nächsten Morgen das strahlende Rund der Sonne


erstrahlen ließ, bestieg Darius, für den von nun an die Gewissheit
bestand, dass an diesem Tage die Heere beider Könige aufeinander-
treffen würden, einen sich inmitten des Lagers erhebenden Hügel,
wo ein belaubter [310] Lorbeerbaum mit weit ausgebreiteten Ästen
wohlriechende Kräuter in seinem Blattwerk verbarg. Oft hatte man
156 ALEXANDREIS

nympharum vidisse choros Satyrosque procaces.


Fons cadit a leva, quem cespite gramen obumbrat
purpureo, verisque latens sub veste iocatur
rivulus et lento rigat interiora meatu 315
garrulus et strepitu facit obsurdescere montes.
Hic mater Cybele, Zephirum tibi, Flora, maritans
pullulat, et vallem fecundat gratia fontis.

Hinc ad suppositas vulgi procerumque choortes


pacifici Darius obliquans luminis orbem, 320
accitis ducibus, prius in discrimen ituros
segregat in partes, demum sic orsus adultas
ore pio spirante preces, soloque mereri
debuit aspectu facies matura favorem:
“Heredes superum Persae, gens unica bello, 325
cui genus a prisci descendit origine Beli,
qui primus meruit sacra venerandus ydea
inter caelicolas solio stellante locari,
solvite corda metu. Furor est pugnamque vocari
dedecet, in dominum cum servus abutitur armis. 330
Ultio, non bellum, est, servos ubi sceptra rebelles
corripiunt captosque domant patriamque tuentur.
Spurius ille puer, regni moderamen adeptus,
cuncta sibi cessura ratus, fervore iuventae
ducitur et casus ruit inprovisus in omnes, 335
pugnandoque mori mavult quam cedere victus,
BUCH II 157

unter diesem Baum – so sagte man – Reigen von Nymphen und


freche Satyrn ein ländliches Lied anstimmen sehen. Eine Quelle
sprudelte zur Linken, der ein Rasen mit sattgrünem Gras Schatten
spendete, verborgen in diesem Frühlingskleid plauderte scherzend
ein [315] Bächlein, in langsamem Lauf benetzte es geschwätzig die
tiefer liegenden Bereiche und ließ die Berge durch sein Rauschen
keine weiteren Geräusche vernehmen. Hier ließ Mutter Cybele alles
hervorsprießen, indem sie dich, Flora, mit dem Zephyr vermählte,
und die Gunst der Quelle verlieh dem Tal seine Fruchtbarkeit.

Die Feldherrnrede des Darius (319–371)

Von dort aus richtete Darius [320] freundlich den Blick zu den am
Fuße des Hügels stehenden Scharen der einfachen Soldaten und
auch der Vornehmen. Nachdem alle Anführer herbeigerufen wor-
den waren, teilte er gruppenweise diejenigen ein, die zuerst in die
Schlacht ziehen sollen. Zuletzt gab Darius mit gütiger Stimme
wohlerwogene Bitten von sich und der Anblick seines reifen Äu-
ßeren allein hätte dabei Zuneigung verdient gehabt: [325] »Perser,
ihr Erben der Götter, du im Krieg einzigartiges Volk, das vom
altehrwürdigen Belus abstammt, der es als erster verdient hat, auf
einem heiligen Bild verehrt zu werden und unter den Himmlischen
auf einem mit Sternen besetzten Thron seinen Platz zu finden, lasst
alle Furcht fahren. Verblendung ist es und nicht gehört es sich, von
Kampf zu sprechen, [330] wenn Sklaven gegen ihren Herrn mit
Waffen Missbrauch treiben. Rache ist es und nicht Krieg, wenn
Herrscher rebellische Sklaven ergreifen, als Gefangene zu ihren Un-
tertanen machen und so das Vaterland beschützen. In der Meinung,
alles werde ihm weichen, lässt sich jener knabenhafte Bastard nach
der Machtübernahme in seinem Reich von der Leidenschaft der
Jugend [335] leiten und stürzt sich unvorsichtig in alle Gefahren.
Lieber will er auf dem Schlachtfeld sterben, als besiegt von dort
158 ALEXANDREIS

et iam spe vacuus animo lentescit inani,


dampnorumque memor que Granicus intulit amnis,
incipit afflictis partim diffidere rebus.
Pro pudor! In rerum dominos, quibus omne metallum 340
servit, servi inopes pauci sine viribus audent.
Scire velim, Macedo, quibus inspirante Megera
artibus illius Ciri te posse potiri
imperio iactas cui Lidia Cresus et omnes
curvavere genu quocumque sub axe tyranni, 345
qui licet extinctus me successore superstes
regnat, et in vivo vivit fortuna sepulti.
Si veterum monimenta manent, si mente recordor
scripta patrum memori, quis nos a stirpe Gygantum
ignoret duxisse genus? Quis bella deorum, 350
quis coctum laterem structamque bitumine turrim
nesciat a proavis, magnaeque quis immemor urbis
cui dedit aeternum labii confusio nomen?
Ergo agite, o proceres! Patrium revocate vigorem.
Pro patria stare et patriae titulis et honori 355
invigilare decet ne pauper et advena victor
conculcet pedibus terram et monimenta parentum.
At si quem vestrum, quod abhominor, improbus hostis
excutiat campo profugumque per arva fatiget,
si michi si patriae si civibus arma negatis, 360
uxores saltim ac nati, quos hostica clades
obteret in castris, moneant in bella reverti.
Non tamen id vereor, quia iam victoria Persis
applaudit ducibus. Etenim ludente favilla
BUCH II 159

weichen. Bar jeglicher Hoffnung lässt er den Mut bereits sinken,


eingedenk der Verluste, die er am Granikus hinnehmen musste,
beginnt er teilweise schon an seiner misslichen Lage zu verzweifeln.
[340] Welch eine Schande! Ein paar armselige und kraftlose Sklaven
wagen es, gegen die Herren der Welt, denen alle Metalle dienstbar
sind, aufzubegehren. Gerne möchte ich wissen, Makedone, auf-
grund welcher Fähigkeiten du dich, von Megaera befeuert, prahle-
risch dem irrigen Glauben hingibst, dich des Reichs jenes Cyrus
bemächtigen zu können, dem Lydien, Krösus und alle Herrscher
rings auf Erden [345] das Knie gebeugt haben. Cyrus ist zwar nicht
mehr am Leben, doch herrscht er – durch meine Nachfolge zum
Leben erweckt – noch immer und des Bestatteten Schicksal lebt im
heute lebenden König weiter. Wenn die Denkmäler der Alten Be-
stand haben, wenn ich mir die Schriften der Vorfahren mit wachem
Geist in Erinnerung rufe, wer [350] wüsste dann nicht, dass wir
unser Geschlecht von den Giganten herleiten? Wer kennte nicht
ihren Kampf mit den Göttern, wer nicht die Ziegelsteinmauern
und den von unseren Vorfahren mit Erdpech errichteten Turm?
Und wer könnte die große Stadt vergessen, der die Verwirrung der
Sprachen den Namen verlieh? Also wohlan, ihr Edlen! Erneuert in
euch die Tatkraft der Väter. [355] Jetzt müssen wir für das Vaterland
unerschütterlich unseren Mann stehen und auf den Ruhm und die
Ehre der Heimat bedacht sein, damit der armselige Fremdling als
Sieger nicht das Land und die Denkmäler unserer Vorfahren mit
Füßen tritt. Wenn aber der ruchlose Feind einen von euch – was die
Götter verhüten mögen – vom Schlachtfeld vertreiben und auf der
Flucht über die Felder bis zur Erschöpfung verfolgen sollte,
[360] wenn ihr mir, wenn ihr dem Vaterland, wenn ihr den Bürgern
den Kriegsdienst verweigert, sollen euch zumindest die Ehefrauen
und Kinder, die dann im Lager des Feindes ihr grausames Schicksal
ereilen wird, ermahnen, in den Kampf zurückzukehren. Aber nicht
befürchte ich dies, weil Victoria schon den persischen Anführern
ihre Gunst gewährt: Im Traum nämlich erblickte ich, wie die Zelte
160 ALEXANDREIS

ardere in sompnis Macedum tentoria vidi 365


vesanumque ducem ritu Babilonis amictum
purpureo luxu subeuntem menibus urbis,
ad me perlatum, dehinc evanescere raptum.
Quid moror? Aeternum testor iubar, aurea solis
lumina, cui dedimus nostris in finibus ortum, 370
hostis erit quicumque fugae laxabit habenas.”

Plura locuturo celeri pede nuncius affert


deseruisse locum Grecos pavidasque choortes
consuluisse fuge, iam per compendia saltus
ad pelagus rapuisse gradum perque ardua rupis 375
precipitasse viam. Mollem sic principis aurem
pascit adulator; fluitat percussus inani
leticia dampnatque moras. Exercitus ergo
flumine transmisso per saxa per invia raptim
querit iter profugumque parat prevertere regem. 380
Quo ruitis, peritura manus? Iuvenemne putatis
invictum fugere hunc, qui quovis crimine credit
turpius esse fugam, qui ne fugiatis inertes
hoc solum metuit? Etenim si forte daretur
optio talis ei, fugiens an vincere mallet 385
quam vinci a profugis hostique resistere victus,
forsitan ambigeret utrum minus esset honori.
BUCH II 161

der Makedonen funkensprühend [365] brannten und ihr wahnsin-


niger Anführer, nach babylonischem Brauch in ein Gewand von
purpurner Pracht gehüllt, sich der Mauer der Stadt näherte, mir
übergeben wurde und – obgleich schon ergriffen – plötzlich für
immer entschwand. Was halte ich mich mit Worten auf? Als Zeu-
gen rufe ich das ewige Licht, das goldene [370] Auge der Sonne an,
dem wir in unserem Land den Aufgang gewährt haben: Unser
Feind wird sein, wer in vollem Galopp die Flucht ergreift.«

Der verhängnisvolle Irrtum der Perser (372–387)

Als Darius fortfahren wollte, brachte ihm ein Bote in schnellem


Lauf die Nachricht, dass die Griechen ihre Stellung verlassen hätten
und die Truppen ängstlich geflohen, sie schon auf Abkürzungen
durch den Wald [375] zum Meer hinuntergeeilt und auf dem Weg
durch die steile Felslandschaft hinabgeprescht seien. So erfreute der
Schmeichler das empfängliche Ohr des persischen Königs. Auch
wenn er von nichtiger Freude ergriffen noch schwankte, so duldete
er doch keinen weiteren Aufschub. Also suchte das persische Heer
nach Überquerung des Flusses über Felsen hinweg durch unwegsa-
mes Gelände hastig [380] seinen Weg und schickte sich an, den
fliehenden Alexander zu stellen. Wohin eilt ihr so überstürzt, tod-
geweihte Schar? Glaubt ihr etwa, dass ausgerechnet dieser bisher
unbesiegte junge Mann die Flucht ergreift, der Flucht für schändli-
cher hält als jedwedes Verbrechen, den allein die Furcht umtreibt,
dass ihr feige flieht? Denn wenn er möglicherweise [385] die Wahl
hätte, lieber fliehend zu siegen, als vom fliehenden Gegner besiegt
zu werden und dem Feind geschlagen noch Widerstand zu leisten,
dann wäre er wohl unschlüssig, welche der beiden Möglichkeiten
unehrenhafter wäre.
162 ALEXANDREIS

Iam Chaldea cohors Ysson festina propinquans


proditur excubiis. Auri lapidumque nitore
fulgurat armorum series graditurque rapaci 390
turbine pulvereo furata volumine solem.
Providus aeria currens speculator ab arce
nunciat Argolicis Babilonis adesse tyrannum
et genus omne hominum. Vix credere sustinet ille,
quem belli mora sola movet. Prior ergo maniplis 395
intonat “Arma arma, o Danai.” Prior urbe relicta
fulminat in Persas, sequitur galeata iuventus.
Sic ruit in predam ieiuna fauce Lycaon,
cuius opem sicco mendicat ab ubere pendens
vagitus prolis, tandemque inpegit in agros 400
cedis amica fames vacuis concepta sub antris.
Stat pecus attonitum, quod nec fugere audet, et ipsum
si fugiat, nemoris alios incurret hyatus.
Copula diripitur canibus, quos ore canoro
et baculo et palmis irritat ab aggere pastor. 405
Haut aliter Macedum rex debachatur in illam
barbariem que nunc profugum pavitare ferebat.

Hos ubi discretis acies adversa catervis


aspicit in bellum subito prodire volatu,
spem sibi mentitam metuens, in prelia mente 410
BUCH II 163

Perser und Griechen bringen sich in Stellung (388–407)

Schon war das persische Heer, eilig sich Issus nähernd, von griechi-
schen Posten entdeckt worden. Durch den Glanz des Goldes und
der Edelsteine [390] blitzten die Reihen der persischen Waffenträ-
ger, sie schritten in wildem Getümmel voran und verdunkelten mit
dem von ihnen aufgewirbelten Staub die Sonne. Von luftiger An-
höhe eilend, meldete ein aufmerksamer griechischer Späher, dass
sich der persische König mit seinem gesamten Heer im Anmarsch
befinde. Kaum konnte Alexander dies glauben, [395] den allein der
Aufschub des Kriegs mit Sorge erfüllte. Dem Heer als erster voran-
reitend, rief er: »Zu den Waffen, zu den Waffen, ihr Griechen.« In
vorderster Front stürzte er sich nach Verlassen der Stadt wie ein
Blitz auf die Perser, ihm folgte die behelmte Jugend. So stürzt sich
mit hungrigem Maul auf seine Beute der Wolf, dessen Hilfe der
wimmernde und an trockenen Zitzen hängende [400] Nachwuchs
erbettelt und den schließlich der in leerer Höhle entstandene Hun-
ger, der Gefährte der Mordlust, zur Weide hin jagt. Das Vieh, das
nicht zu fliehen wagt, bleibt wie angewurzelt stehen, und wenn es
dem Wolf entkommen sollte, wird es anderen wilden Tieren des
Waldes zum Opfer fallen. Von der Leine gelassen sind die Hunde,
die der Hirte mit lauter Stimme [405] und einem Stock und wild
gestikulierend von einem Hügel aus antreibt. Nicht anders stürzte
sich der König der Makedonen auf jenes Barbarenheer, das zuvor
noch überall erzählt hatte, dieser fliehe gerade ängstlich.

Darius und das persische Heer (408–421)

Als das persische Heer mit Verwunderung sah, wie die Griechen in
getrennten Abteilungen mit großer Geschwindigkeit vorrückten,
stürzte es – ob der getrogenen Hoffnung [410] schaudernd – fas-
sungslos zwar in die Schlacht, der Lärm und die Wucht der in den
164 ALEXANDREIS

consternata ruit, sed vox et in arma ruentum


impetus et discors exercitus agmina turbat.
Quippe viae pocius quam bello hostique terendo
aptus erat miles. Darius tamen, agmine rursus
disposito, caute secum deliberat hostem 415
a fronte a tergo vi circumcingere multa.
Utile propositum, regique suisque salubre,
quod ratus est, verum ratione potentior omni
discussit Fortuna procax, que sola tuetur
tuta, gravata levat, cassat rata, federa rumpit, 420
infirmat firmum, fixum movet, ardua frangit.

Iam Macedum series certo stabilita tenore


inque acies distincta suas montana tenebat.
Rex stabilem peditum tamquam insuperabile vallum
opposuit Persis in prima fronte phalangem. 425
In dextro cornu prefecti iura Nicanor
Parmenionis habet, illi Tholomeus Amyntas
Perdicas Cenos Clytus et Meleager adherent,
unusquisque sui dux agminis. At tibi levum
commissum est cornu qui nulli Marte secundus, 430
Parmenio. Sequitur alacer Craterus, eisque
iungitur Antigonus et turbidus ense Phylotas.
Hostibus expositus ante omnia signa suorum,
cornipedem vexans in dextro Marte choruscat
casside flammanti gladioque tremendus et hasta 435
BUCH II 165

Kampf stürzenden Griechen sowie die Uneinigkeit in den eigenen


Reihen jedoch ließen die persischen Truppen in Unordnung ge-
raten, da sie besser marschieren konnten, als dem Feind in der
Schlacht gegenüberzutreten. Nachdem Darius sein Heer wieder ge-
ordnet hatte, [415] zog er nicht unklug in Erwägung, den griechi-
schen Feind von allen Seiten mit starken Einheiten zu umzingeln.
Diesen für den König und die Seinen als vorteilhaft erachteten Plan
vereitelte jedoch, mächtiger als jegliche Planung, die dreiste For-
tuna. Sie allein schützt ohnehin schon Beschütztes, [420] lindert
Beschwernis, macht Festgesetztes zunichte, bricht Verträge,
schwächt auch den Starken, bringt einmal gefällte Entscheidungen
ins Wanken und lässt hochragende Pläne scheitern.

Alexander vor der Schlacht bei Issus (422–493)

Hinführung zur Feldherrnrede Alexanders (422–449)

Gefestigt durch eine geschlossene Front und in ihre Heeresabteilun-


gen gegliedert, hielt das makedonische Heer schon das Bergland be-
setzt. Wie einen unüberwindlichen Wall stellte Alexander [425] den
Persern in vorderster Front die standhafte Phalanx der Fußsoldaten
entgegen. Auf dem rechten Heeresflügel führte mit Nicanor der
Sohn Parmenions das Kommando, jenem wichen als Anführer ei-
nes jeweils eigenen Trupps Ptolemaeus, Amyntas, Perdicas, Coenus,
Clitus und Meleager nicht von der Seite. Dir aber, Parmenion, dem
im Krieg niemand das Wasser reichen kann, [430] war der linke
Heeresflügel anvertraut worden. Ihm folgte der muntere Craterus,
beiden stellte man Antigonus und den leidenschaftlich mit dem
Schwert kämpfenden Philotas zur Seite. Vor allen Bannern der Sei-
nen in gefährlicher Nähe zum Feind glitzerte auf der rechten Seite
des Schlachtfelds [435] im flammenden Helm, mit Schwert und
Lanze Schrecken verbreitend und sein Pferd hin und her wendend,
166 ALEXANDREIS

armipotens Macedo. Lateri iunctissimus heret


conscius archanis, studio par regis et evo,
sed longe rosea prestans Effestio forma.
Precedens igitur hilaris vexilla quiritum,
prefectos prece sollicitat, blanditur amice, 440
consolidat dubios, animos audentibus auget,
errantes reprimit sparsasque recolligit alas.
Spe libertatis servos, tenues et avaros
invitat precio, lente gradientibus hasta
innuit ut properent, nunc hos nunc circuit illos, 445
nunc arcus lentare monet, nunc fundere glandes
si procul insistant acies, nunc hoste propinquo
rem gladio gerere, nunc querere fata bipenni;
dumque gradus inhibent, hec illis pauca profatur:

“Martia progenies, quorum ditione teneri, 450


legibus astringi totus desiderat orbis,
ecce dies optata, parat qua provida nobis
solvere promissum tociens Fortuna tryumphum,
cuius in Europa dudum preludia sensi
cum genus Aonidum totamque a sedibus urbem 455
delestis soloque metu domuistis Athenas.
Cernitis inbelles auro fulgere catervas,
cernitis ut gemmis agmen muliebre choruscet:
Pretendit predae plus quam discriminis. Aurum
BUCH II 167

der waffengewaltige Alexander. Ganz eng an seiner Seite kämpfte


Hephaestio, Mitwisser heimlicher Taten, an Eifer und Alter dem
König gleich, doch weit überlegen an zarter Schönheit. Während
Alexander also den Feldzeichen der Soldaten heiter vorausritt,
[440] stachelte er mit Bitten die Kommandanten der einzelnen
Truppenabteilungen an, schmeichelte ihnen freundlich, ermutigte
die Zweifelnden, stärkte den ohnehin Kühnen den Mut, brachte
Schwankende wieder auf Linie und ordnete die versprengten Flügel
des Heeres. Mit der Hoffnung auf Freiheit verlockte er die Sklaven,
entflammte die Leute niederen Standes und die Gierigen mit der
Aussicht auf Beute und zeigte den träge Voranschreitenden mit der
Lanze an, [445] sich zu beeilen. Bald machte er die Runde bei
diesen, bald bei jenen, bald erinnerte er sie noch einmal daran, die
Bogen hart zu spannen und die Kugeln weit zu schleudern, wenn
die feindlichen Schlachtreihen sich noch in einiger Entfernung
befänden, bald im Nahkampf mit dem Feind das Schwert einzuset-
zen und die Entscheidung mit der Doppelaxt zu suchen. Als sie
zum Stehen kamen, sprach er sie in der gebotenen Kürze folgender-
maßen an:

Die Feldherrnrede Alexanders (450–486)

[450] »Söhne des Mars, der ganze Erdkreis sehnt sich danach, eurer
Herrschaft und eurer Gerichtsbarkeit zu unterstehen. Seht, hier ist
der langersehnte Tag, an dem sich die vorsorgende Fortuna an-
schickt, uns den oft versprochenen Sieg zu gewähren. Einer ihrer
diesbezüglichen Kostproben wurde ich unlängst in Europa ansich-
tig, [455] als ihr die Thebaner besiegt und die ganze Stadt dem
Erdboden gleichgemacht sowie Athen allein durch die Androhung
von Gewalt gefügig gemacht habt. Ihr seht die feigen Scharen der
Perser von Gold glänzen, ihr seht, dass deren verweichlichtes Heer
von Edelsteinen schimmert: Es trägt eher die Beute zur Schau als
168 ALEXANDREIS

vincendum est ferro. Tantum didicere minari 460


deliciae molles, gladios et vulnus abhorrent.
Letifer illorum scrutatus viscera mucro
cum semel hostili resperserit arva cruore,
per saltus per saxa fugae divortia querent.
Quanta mei vobis sit cura, probare licebit 465
cum gladios hebetes fractos, cum videro quassos
ictibus umbones. Ferientis dextera mentis
exprimet affectum. Tantum sub pectore vobis
carus Alexander, quantum permiserit ensis.
Vincite iam victos. Gladio qui parcit in hostem, 470
ipse sibi est hostis. Vitam qui prorogat hosti,
derogat ille suae. Non est clementia bello
hostibus esse pium. Gravis est sibi dignaque cedi
cedis parca manus. Segnes incurrere mortem,
dum pavitant, audent sed non occurrere morti. 475
A Persis ducibus quociens illata Pelasgis
mentibus occurrunt iniuria prelia cedes!
Creditis esse satis patrum luere acta nepotes?
Plurimus in penas populus non sufficit iste.
Europae strages Asiae pensabo ruinis. 480
Media cum Dario Xersis commissa piabit.
Me duce signa, duces, producite; me duce vallum
sternite, consertos incedite cede per hostes.
Prelia non spolium mecum discernite. Cedant
premia preda meis, michi gloria sufficit una. 485
BUCH II 169

den Willen zur Entscheidung. Gold muss [460] durch Eisen besiegt
werden. Die weichlichen Schwächlinge haben nur gelernt, Drohge-
bärden von sich zu geben, vor dem Schwert und vor Wunden schre-
cken sie indes ängstlich zurück. Wenn das todbringende Schwert
erst einmal deren Eingeweide durchwühlt und das Schlachtfeld mit
persischem Blut getränkt hat, werden sie über waldige Gebirge und
Felsen abseitige Pfade zur Flucht suchen. [465] Wie groß eure Hin-
gabe mir gegenüber ist, wird sich erweisen, wenn ich stumpfe, zer-
brochene Schwerter und von Hieben zerborstene Schilde erblicke.
Die rechte Faust eines kämpfenden Mannes allein wird dessen Lo-
yalität mir gegenüber zum Ausdruck bringen können. Alexander
liegt euch im selben Maße am Herzen, wie euer Schwert dies zu-
lassen wird. [470] Besiegt die bereits Besiegten. Wer das Schwert im
Kampf mit dem Feind schont, ist sich selbst Feind. Wer dem Feind
das Leben verlängert, der verkürzt sich sein eigenes Leben. Es ist
kein Zeichen von Milde, im Krieg den Feinden gegenüber Gnade
walten zu lassen. Eine Last für sich selbst und würdig abgeschlagen
zu werden, ist eine Hand, die zurückhaltend tötet. [475] Die Schwa-
chen wagen es nur, dem Tod ängstlich entgegenzugehen, dem Tod
mutig zu trotzen, wagen sie aber nicht. An wie viel Unrecht, an wie
viele Schlachten und an wie viele Bluttaten, allesamt von persischen
Anführern begangen, können sich Griechen erinnern! Reicht es
eurer Meinung nach aus, dass die Enkel für die Taten der Väter
bezahlen? Dieses riesige Volk ist nicht groß genug für die zu er-
leidende Strafe. [480] Die von den Persern verschuldete Verwüs-
tung Europas werde ich mit dem Untergang des Perserreichs
sühnen. Medien und Darius werden für Xerxes’ Taten ihre gerechte
Strafe erhalten. Führt unter meiner Führung, ihr Anführer, die
Feldzeichen voran; reißt unter meiner Führung die Verschanzungen
nieder, durchstoßt mit gezücktem Schwert die zur Schlacht auf-
gestellten feindlichen Reihen. Teilt mit mir die Schlacht, nicht aber
die Beute. [485] Die Beute soll meinen Soldaten als Lohn zuteil wer-
170 ALEXANDREIS

Rem vobis, michi nomen amo.”


Sic fatur, et ecce
concurrunt acies. Persae clamore soluto
horrisonis vexant tenues ululatibus auras.
Classica terrifico distingunt arva boatu.
Fit sonus utrimque, lituis illiditur aer, 490
et referunt raucos montana cacumina cantus,
queque sonos iterat purum sine corpore nomen
responsura fuit numquam tot vocibus Echo.

Arma tamen Darii multo sudore fabrili


parta micant referuntque virum monimenta priorum. 495
Emulus ad litem iubar insuperabile solis
invitat clipeus septeno fusilis orbe.
Fulget origo patrum Darii gentisque prophanus
ordo Gyganteae, quorum sub principe Nemphrot
Sennachar in campo videas considere fratres 500
terrigenas, ubi, diluvii dum fata retractant,
coctile surgit opus. Sermo prior omnibus unus
scinditur in varias, dictu mirabile, linguas.
Parte micans alia sacram molitur ad urbem
rex Chaldeus iter. Fulgent insignia patrum 505
prelia et Hebrea celebres de gente tryumphi.
BUCH II 171

den, mir genügt der Ruhm allein. Reichtum für euch und Ruhm
für mich wünsche ich mir.«

Die Schlacht beginnt (486–493)

So sprach er. Da begannen die Heere zu kämpfen. Die Perser ließen


ihren Kampfruf erschallen und erschütterten mit schaurig tönen-
dem Geschrei die zarten Lüfte. Trompetenstöße durchdrangen das
Schlachtfeld mit schreckenerregendem Schmettern. [490] Auf
beiden Seiten herrschte lärmendes Treiben, die Luft erdröhnte von
Signalhörnern, die hohen Berge gaben den dumpf tönenden Klang
wieder und nicht einmal die widerhallende Echo – nur mehr ein
bloßer Name ohne Körper – hätte jemals so vielen Lauten antwor-
ten können.

Der Schild des Darius (494–529)

Weithin aber funkelte Darius’ Schild, von Künstlerhand in schweiß-


treibender Arbeit [495] gefertigt, und zeigte die denkwürdigen Ta-
ten früherer Helden. Rivalisierend forderte der in sieben Kreisen
gegossene Rundschild das unbezwingliche strahlende Licht der
Sonne zum Wettstreit heraus. Er ließ Darius’ Ahnen und der Gigan-
ten gottlose Riege erstrahlen, deren erdgeborenen Brüder man erken-
nen konnte, wie sie unter der Herrschaft des Nimrod [500] von
Schinar sich in der gleichnamigen Ebene niederließen, wo sich in
Erinnerung an das Schicksal der Sintflut der aus Backsteinen ge-
schaffene Turm zu Babel erhob. Dort wurde – erstaunlich zu sagen –
die einst gemeinsame Sprache in vielerlei Zungen getrennt. Auf ei-
nem anderen Teil des Schildes zog [505] der chaldäische König in
prunkvollem Glanz in feindlicher Absicht zur Heiligen Stadt. Es
erstrahlten die gewaltigen Kämpfe der Väter und die rühmlichen
172 ALEXANDREIS

Victoris sequitur deiecto lumine currum


captivata tribus. Muris temploque redactis
in planum, hostilis infertur menibus urbis
privatus solio gemina cum luce tyrannus. 510
Ne tamen obscurent veterum preconia regum
quorundam maculae, sculptoris dextera magnam
preteriit seriem quam pretermittere visum est.
Inter tot memoranda ducum regumque tryumphos,
agresti victu pastum et fluvialibus undis 515
turpe fuit regem versa mugire figura.
Rursus in effigiem sensu redeunte priorem
preteriit vixisse patrem, quem filius amens,
ne numquam patria regnaret solus in urbe,
consilio Ioachim, proch dedecus, alite diro 520
membratim lacerum sparsisse per avia fertur.
Ultima pars clipei Persarum nobile regnum
inchoat. In sacro libantem Balthasar auro
scribentisque manum conversaque fata notantis
aspicias, cuius occultum enigma resolvit 525
vir desiderii. Sed totum circuit orbem
atque horas ambit clipei celeberrima Cyri
hystoria. A tanto superari principe gaudet
Lidia et ambiguo deceptus Apolline Cresus.
BUCH II 173

Siege über das Geschlecht der Hebräer. Mit gesenktem Blick folgte
das in Gefangenschaft geratene Volk der Hebräer dem Wagen des
Siegers. Nachdem der Tempel und die Mauern der Stadt dem Erd-
boden gleichgemacht worden waren, wurde der König von Juda,
[510] des Throns und seines Augenlichts beraubt, in die Mauern der
feindlichen persischen Stadt getrieben. Damit jedoch die Schandta-
ten mancher die Lobpreisung der alten Könige nicht verdunkeln,
hat die Hand des Künstlers in langer Reihe jene Episoden still-
schweigend übergangen, die auszulassen ihm zweckmäßig erschie-
nen. Schmachvoll wäre es gewesen, unter so vielen denkwürdigen
Siegen von Anführern und Königen einen [515] mit ländlicher Kost
und Wasser aus einem Fluss versorgten König darzustellen, der in
verwandelter Gestalt wie ein Ochse brüllt. Auch nicht abgebildet
hat der Künstler, dass jener Vater, wieder in die ursprüngliche Men-
schengestalt verwandelt, noch am Leben war, jener Vater nämlich,
den sein wahnsinniger Sohn [520] auf Anraten Joachims – welch
eine Schmach – von einem schrecklichen Vogel nach und nach in
Stücke zerfetzt, auf abgelegenen Wegen ausgestreut haben soll, um
künftig allein in seiner Heimatstadt herrschen zu können. Der
letzte Teil des Schildes versuchte das ruhmvolle Reich der Perser
darzustellen. Man konnte Belsazar erkennen, wie er aus einem hei-
ligen Goldbecher trank, und die Hand des Schreibers, der dessen
umschlagendes Schicksal notierte [525] und dessen dunkles Ge-
heimnis der Mann der göttlichen Liebe deutend entwirrte. Aber
das ganze Rund und den äußeren Rand des Schildes umgab die
ruhmreiche Geschichte des Cyrus. Von einem solchen König be-
siegt zu werden, freute sich Lydien und auch der von einem doppel-
deutigen Spruch Apollons getäuschte Croesus.
174 ALEXANDREIS

Ausa tamen Tamiris belli temptare tumultus 530


viribus opponit vires belloque retundit
infractum bellis et iniquo sydere mergit
tot titulis illustre caput. Proch gloria fallax
imperii, proch quanta patent ludibria sortis
humanae! Cyrum terrae pelagique potentem, 535
delicias orbis, quem summo culmine rerum
extulerat virtus, quem fama locabat in astris,
qui rector composque sui, qui totus et unus
malleus orbis erat, inbellis femina fregit.
Parcite, mortales, animos extollere fastu 540
collatis opibus aspernarique minores.
Parcite, victores, ingrati vivere summo
victori. Vires sceptrum diadema tryumphos
divicias dare qui potuit, auferre valebit.
BUCH II 175

Autorexkurs zur Vergänglichkeit irdischer Macht (530–544)

[530] Tamyris jedoch stürzte sich wagemutig in das Schlachtgetüm-


mel und setzte Gewalt der Gewalt entgegen, schlug mit Krieg den
zuvor im Krieg unbesiegten Cyrus und brachte ein durch so viele
Ehren ausgezeichnetes Haupt in einer für diesen König feindlichen
Gegend zu Fall. Wie trügerisch ist doch der Ruhm der Macht, wie
sehr treibt das Schicksal sein Spiel [535] mit den Menschen! Selbst
der zu Land und zu Wasser mächtige Cyrus, der Liebling des Erd-
kreises, den seine Mannhaftigkeit auf den höchsten Gipfel der
Macht geführt hatte, den der Ruhm unter die Sterne versetzt hat,
Herrscher und Fürst über sich selbst, unübertroffener Hammer der
Welt, unterlag einer dem Krieg abgeneigten Frau. [540] Hütet euch
davor, ihr Sterblichen, im Reichtum übermütig zu werden und die
Armen und Schwachen zu verachten. Hütet euch davor, ihr Sieger,
dem größten und höchsten Sieger gegenüber in Undank zu leben.
Denn Gott, der das Szepter, die königliche Macht, Triumphe und
Reichtümer geben konnte, wird auch die Macht haben, sie euch
wieder zu nehmen.
Liber III
Capitula tercii libri

Tercius arma canit populosque in fata ruentes.


Vincuntur Persae. Darii preciosa supellex
diripitur, soror et mater capiuntur et uxor
septennisque puer. Capta Sydone Tyroque
funditus eversa magno discrimine Gaza 5
vincitur, et Lybicus a paucis visitur Hamon.
Interea Darius reparato robore rursus
maior in arma ruit. Fit seditionis origo
in castris Macedum lunae defectus, et ecce
consulti vates duro de tempore tractant. 10

Tercius liber

Iam fragor armorum, iam strages bellica vincit


clangorem lituum, subtexunt astra sagittae,
missiliumque frequens obnubilat aera nimbus.

Primus in oppositos pretenta cuspide Persas,


ocius emisso tormenti turbine saxo, 5
torquet equum Macedo qua consertissima regum
Buch III
Themenübersicht (1–10)

Das dritte Buch kündet von Kämpfen und Völkern, die ihrem
Schicksal entgegeneilen. Die Perser verlassen als Verlierer das Schlacht-
feld. Die wertvolle Ausrüstung des Darius wird geplündert; die
Schwester, die Mutter, die Ehefrau und der siebenjährige Sohn wer-
den gefangen genommen. Nach der Einnahme von Sidon [5] und
der vollständigen Zerstörung von Tyrus wird auch Gaza nach hef-
tigem Kampf besiegt. Mit kleinem Gefolge besucht Alexander das
ägyptische Hammon-Orakel. Darius stürzt sich nach der inzwi-
schen erfolgten Erneuerung seiner Streitkräfte stärker noch als
zuvor ein weiteres Mal in den Kampf. Eine Mondfinsternis ver-
ursacht im Lager der Makedonen einen Aufruhr, da [10] beraten
die hinzugezogenen Seher über die missliche Lage.

Die Schlacht bei Issus (1–214)

Das Aufeinandertreffen der feindlichen Heere (1–3)

Schon übertönte das Klirren der Waffen und die wimmelnde Masse
der Krieger das Signal der Hörner, ein Pfeilhagel versperrte den
Blick auf die Sonne und eine Vielzahl von Geschossen verfinsterte
den Himmel.

Alexanders Schnelligkeit und Entschlossenheit (4–10)

Als erster lenkte Alexander, [5] schneller als ein von einer Wurfma-
schine geschleuderter Stein, mit seinem auf die gegnerischen Perser
gerichteten Speer sein Pferd dorthin, wo die zusammengezogenen
178 ALEXANDREIS

auro scuta micant, ubi plurima gemma superbis


scintillat galeis, qua formidabile visu
aurivomis patulas absorbens faucibus auras
igniti Dario prefertur forma draconis. 10

Querentique ducem quem primo vulnere dignum


obruat obicitur Syriae prefectus Arethas,
cuius ab aurata volitans ac pendulus hasta
vendicat astra leo, galeam carbunculus urit.
Primus Alexandri tremebundo traicit ictu 15
Chaldeus clipeum, sed fraxinus asseris artum
formidans aditum fracto crepat arida ligno.
Gnaviter occurrens ferro Pelleus Arethae
dissipat umbonem qua barbara bulla diescit
principis in clipeo, nec eo contenta trilicis 20
loricae dissartit opus, cordisque vagatur
per latebras animamque bibit letalis harundo.
Occidit occisus, largoque foramine manans
purpurat arva cruor. Regem clamore fatetur
altisono vicisse suum primumque tulisse 25
primicias belli, faustum sibi predicat omen
Greca phalanx letoque ferunt ad sydera plausu.
BUCH III 179

Schilde der persischen Fürsten golden erstrahlten, wo eine Unzahl


von Edelsteinen an stolzen Helmen funkelte, wo man dem persi-
schen König – welch ein schrecklicher Anblick – [10] das Abbild
eines feurigen Drachen vorantrug, der mit von Gold gleißendem
Rachen die weiten Lüfte verschlang.

Alexander gegen Arethas (11–27)

Dem Makedonenkönig, der nach einem persischen Fürsten Aus-


schau hielt, den er – würdig der ersten Wunde – vernichten könnte,
stellte sich mit Arethas der Satrap von Syrien in den Weg. Von
dessen goldener Lanze hing flatternd das Bild eines Löwen herab,
das mit seinem Glanz die Sonne herausforderte, und dessen Helm
schien ein Edelstein zu entflammen. [15] Zuerst beschädigte der
Chaldäer mit einem gewaltigen Speerwurf den Schild Alexanders,
doch der trockene Schaft des Speers zersplitterte krachend, da er
nicht ganz durch die schmale Öffnung im schützenden Rund hin-
durchbrechen konnte. Alexander, der Arethas sogleich energisch
entgegeneilte, durchstieß mit der Lanze die Schutzwaffe seines Geg-
ners an eben jener Stelle, wo der Edelstein nach Perserart am Schild-
buckel [20] des Fürsten erstrahlte. Doch damit noch nicht zufrie-
den, durchdrang ein todbringender Pfeil den dreifach geflochtenen
Panzer des Persers, blieb in der Tiefe des Herzens stecken und nahm
ihm auf diese Weise das Leben. So fiel Arethas geschlagen zu Boden
und das aus klaffender Wunde strömende Blut rötete den Boden.
Das griechische Heer bekundete [25] mit lautem Geschrei, dass ihr
König gesiegt und als erster die Früchte des Kriegs davongetragen
habe, es pries diesen Sieg als ein für die eigene Sache günstiges
Vorzeichen und mit fröhlichem Beifall trugen die Soldaten ihren
Jubel hinauf zu den Sternen.
180 ALEXANDREIS

Densantur cunei. Clytus et Tholomeus in armis


conspicui tanta levitate feruntur in hostes,
in thauros quantum geminos rapit ira leones 30
quos stimulat ieiuna fames, causamque furoris
adiuvat excussae gravis obliquatio caudae.
Hic Tholomeus equo Parthum Dodonta supinat
timpora transfixum cerebroque fluente gementem.
At conto Clytus Arthofilon evertere temptat, 35
inque vicem sese feriunt, clipeisque retusa
utraque dissiluit obtuso lancea ferro.
Quadrupedi quadrupes armoque opponitur armus,
pectora pectoribus, orbisque retunditur orbe,
torax torace, gemit obruta casside cassis. 40
Nec mora poblitibus ambo cecidere remissis
vectores vectique simul, similesque peremptis
exanimes iacuere diu. Sed corpora postquam
convaluere, prior reparato robore rectum
inque pedes sese recipit Clytus Arthofiloque 45
surgere conanti solo furialiter ictu
demetit ense caput et terrae mandat humandum.

Preditus eloquio bello specieque sinistro


fuderat in cornu Grecum Mazeus Yollam.
BUCH III 181

Ptolemäus gegen Dodontes; Clitus gegen Androphilus (28–47)

Einander näher gerückt waren inzwischen die Schlachtreihen. Pto-


lemaeus und Clitus stürzten sich prächtig gewappnet so schnell auf
die Feinde, [30] wie die Kampfeswut zwei von elendem Hunger
geplagte Löwen zur Stierherde hintreibt, wobei das heftige Schlagen
des schräg gestellten Schwanzes ihre Leidenschaft nur noch vergrö-
ßert. Hier warf Ptolemaeus den Parther Dodontes rücklings vom
Pferd, von dem – an den Schläfen durchbohrt und mit aufgeplatz-
tem Schädel – nur noch ein Stöhnen zu vernehmen war. [35] Clitus
aber versuchte Androphilus mit seinem Wurfspieß zu töten, sie
trafen sich gegenseitig, doch von den Schilden aufgehalten, zersplit-
terten beide Lanzen wegen ihrer inzwischen stumpf gewordenen
eisernen Spitze. Pferd wurde geführt gegen Pferd, Arm gegen Arm,
zurückgestoßen wurden Brust von Brust und Schild von Schild,
[40] es krachte Harnisch an Harnisch und der vom Helm getroffe-
ne Helm. Zugleich sanken samt ihrer Pferde die beiden Reiter mit
wankenden Knien zu Boden, lange Zeit lagen sie dort wie zwei Tote
ohnmächtig da. Nachdem sie aber wieder Herr ihrer Sinne waren,
kam Clitus mit frischen Kräften als erster wieder [45] auf die Beine
und schlug Androphilus, der gerade noch aufzustehen versuchte,
mit dem Schwert in einem einzigen Hieb wütend den Kopf ab und
übergab ihn so der Erde zur Bestattung.

Iollas gegen Mazaeus (48–49)

Auf dem linken Flügel hatte der redebegabte und schöne Mazaeus
gerade den Griechen Iollas bezwungen.
182 ALEXANDREIS

Ultor adest agilis stricto mucrone Phylotas, 50


et quia Mazeum sonipes submoverat, Ochum
cominus aggreditur, cuius latus ense bipertit.

Interea multa sudantem cede Phylotam


Hyrcani cingunt equites, quorum agmina rumpunt
impiger Antigonus Cenos Cratherus et ipse 55
Parmenio, sine quo nichil umquam carmine dignum
gessit Alexander, sed que provenerit illi
talio pro meritis magis arbitror esse silendum.

Antigoni iacet ense Phylax, Mida cuspide Ceni.


Amphilocum Craterus adit, quem casside rapta 60
abstrahit exanimem curru iungitque ruenti
Authomedonta suum, iam viscera rupta trahentem.

More suo ruit in Persas dampnatus iniquo


sydere Parmenio, cui regibus ortus Ysannes
et Dinus incutiunt hastas lateri. Manet ille 65
BUCH III 183

Philotas gegen Ochus (50–52)

[50] Als Rächer war mit gezücktem Schwert der schnelle Philotas
zugegen. Weil Mazaeus jedoch weitergeritten war, griff er stattdes-
sen Ochus im Zweikampf an, dem er die Seite mit dem Schwert
durchtrennte.

Parmenions Bedeutung für Alexander (53–58)

Inzwischen umringten Philotas, der vom vergossenen Blut nur so


troff, hyrkanische Reiter, deren Reihen [55] der rastlose Antigonus,
Cenos und Craterus durchbrachen und auch Parmenion selbst,
ohne den Alexander niemals irgendetwas eines Heldengedichts Wür-
diges vollbracht hätte (was jenem als Lohn gemessen an solchen
Verdiensten später zuteil wurde, darüber schweige ich lieber).

Die Zweikämpfe des Antigonus, Coenus und Craterus (59–62)

Phylax starb durch des Antigonus Schwert, Mida durch des Coenus
Speer. [60] Craterus griff Amphilochus an, den er mit abgerissenem
Helm leblos vom Wagen warf; dem Stürzenden ließ er dessen
Wagenlenker folgen, der seine zerrissenen Eingeweide hinter sich
herschleifte.

Parmenions Bedeutung für die Schlacht bei Issus (63–72)

In seiner üblichen Art drängte der unter keinem glücklichen Stern


stehende Parmenion gegen die Perser vor. Mit ihren Lanzen trafen
der königliche Hysannes [65] und Dimus diesen seitlich am Körper.
Jener aber blieb unbeeindruckt stehen und sicherte die Flucht des
184 ALEXANDREIS

immotus stabilitque fugam pavitantis Horestis,


qui pedes exesae tendebat in ardua rupis.
Hunc simul intuitus perfossum pectus Ysannem
sternit equo profugumque equitem restaurat in arma,
instantemque Dinum rapto mucrone lacerto 70
cornipedis planta terit invalidumque relinquit.
Hiis Agilon, hiis addit Elan Arabemque Cherippum.

Parte alia furit Eumenidus Persasque lacescit


nunc gladio nunc missilibus. Mucrone Dyaspen
deicit, Eudochii telum in pulmone cruentat, 75
dissicit ossa virum, procerum conculcat acervos.

Nec minus in dextro dum pugnat Marte Nicanor,


sanguine spargit agros, humectat cedibus equor.
Cui iuvenis facie dives sed ditior ortu,
quippe genus claro referens a sanguine Cyri, 80
obviat Eclimus clipeumque Nicanoris ictu
provocat, ut laterem tecti vaga veris in ortu
grando ferire solet sed respuit aeris iram
tuta domus. Verum durato corde Nicanor
irruit in facinus miserandae cedis, eumque, 85
qua candens oculis aperit lorica fenestram,
BUCH III 185

ängstlichen Orestes, der einen ausgesetzten Felshang hinaufeilte.


Während er seinen Kameraden im Auge behielt, durchbohrte er zu-
gleich dem Hysannes die Brust, stürzte diesen vom Pferd und ermög-
lichte damit dem fliehenden Reiter die Rückkehr in den Kampf.
[70] Nachdem er dem angreifenden Dimus mit dem Schwert einen
Arm abgeschlagen hatte, zermalmte er diesen mit den Hufen seines
Pferdes und ließ ihn wehrlos zurück. Den beiden fügte er den
Agilus, den Hylas und den Araber Cherippus hinzu.

Eumenides gegen Diaspes und Eudochius (73–76)

Auf der anderen Seite wütete Eumenides und bekämpfte die Perser
bald mit dem Schwert, bald mit Wurfgeschossen. Mit dem Schwert
[75] streckte er Diaspes nieder, in der Lunge des Eudochius machte
er seine Lanze blutig, zertrümmerte Männern die Knochen und
stampfte zahlreiche Anführer nieder.

Nicanor gegen Echinus (77–89)

Ebenso kämpfte Nicanor auf der rechten Seite des Schlachtfelds,


wo er die Fluren mit Blut tränkte und das Schlachtfeld mit dem
Lebenssaft der Gefallenen benetzte. Diesem stellte sich Echinus in
den Weg, ein junger Mann von erhabener Erscheinung, erhabener
indes von Geburt, [80] da er von Cyrus’ berühmter Sippe abstamm-
te; er reizte mit Schlägen den Schild des Nicanor derart, wie ein zu
Beginn des Frühlings plötzlich auftretender Hagelschauer oft auf
Dachziegel einprasselt, das sichere Haus dem Ansturm des Unwet-
ters jedoch mit Leichtigkeit standhält. Nicanor jedoch [85] stürzte
sich mit standhaftem Herzen in das beklagenswerte Gemetzel, traf
ihn mit dem Speer an derjenigen Stelle, wo der glänzende Harnisch
den Augen den Blick nach außen gestattete, und beraubte ihn so
186 ALEXANDREIS

cuspide percellit et lumine privat utroque,


dumque per unius aditum scelus ausa cucurrit
fraxinus, alterius extinxit luminis usum.

Stabat in adverso discriminis agmine duri 90


clara propago Nini princeps Ninivita Negusar,
doctus in obiectos dubia sevire securi,
doctus et a tergo iaculis incessere fata.
Nunc iaculo nunc ense furit, nunc vero bipenni
excruciat cerebrum: iaculo perfoderat Elim 95
Actoridem, Dorilon gladio viduaverat armo,
fuderat Hermogenem cesa cervice securi.
Hunc ubi multimoda vastantem cede Pelasgos
intuitus, stricto celer advolat ense Phylotas,
quaque super conum lucem vomit igne pyropus, 100
pertundit galeam, sed lubrica discutit ictum.
Non inpune tamen descendit mucro. Sinistram,
quam sibi forte manum frontem pretenderat ante,
amputat. Ecce parat ulcisci dextra sororem
cedibus exposita et cedis secura securim 105
librat et astanti casum casura minatur,
ereptamque sibi gemeret fortasse Phylotas
ante dies animam, sed equo prelatus Amintas
opposuit clipeum, quem miro traicit ictu
machina terribilis medioque umbone retenta est. 110
Retrahere ardenti, qua iungitur ulna lacerto,
ense viri instantis a pectore cesa recessit.
BUCH III 187

beider Augen; während nämlich der Schaft des Speers mordlustig


in das eine Auge eindrang, nahm er ihm damit zugleich auch die
Sehkraft des anderen Auges.

Philotas gegen Negusar (90–118)

[90] Auf der gegenüberliegenden Seite des unerbittlich geführten


Entscheidungskampfes stand mit Negusar des Ninus berüchtigter
Spross, Herrscher von Ninive, geschult, mit der gefährlichen Dop-
pelaxt im Zweikampf Mann gegen Mann zu wüten, und in der
Lage, weit auch von hinten mit dem Speer seiner Feinde Schicksal
zu besiegeln. Bald wütete er mit dem Speer, bald mit dem Schwert,
bald [95] quälte er das Hirn seines Gegners mit der Doppelaxt: Mit
dem Speer hatte er bereits Hilas, Aktors Sohn, durchbohrt, mit dem
Schwert den Dorilus an der Schulter verstümmelt und den Hermo-
genes, vom Beil getroffen, niedergestreckt. Als Philotas sah, wie die-
ser die Griechen mit vielfachem Tode vernichtete, eilte er ge-
schwind mit gezücktem Schwert herbei, durchstieß ihm den Helm
eben an jener Stelle, [100] wo oben an der kegelförmigen Helmspit-
ze die Bronze erglühte; die Glätte des Helms machte den Hieb
jedoch unwirksam. Philotas’ Schwert fand jedoch seinen Weg weiter
unten am Körper und schlug dem Negusar die Linke ab, die zuvor
noch den vorderen Teil des Körpers geschützt hatte. Doch siehe
da, die nun schutzlos den Schlägen ausgesetzte Rechte wollte die
Schwester rächen, [105] schwang todesmutig das Beil und bedrohte,
dem Tode selbst bereits nahe, den Gegner mit dem Tode. Philotas
hätte vielleicht sein vorzeitiges Ende beklagt, doch Amyntas fing im
vollen Galopp den Hieb mit dem Schild ab, in den [110] die
schreckliche Waffe mit einem erstaunlichen Schlag eindrang und
mitten am Schildbuckel stecken blieb. Negusar büßte beim Ver-
such, seine Waffe herauszuziehen, seine Elle ein, durch das Schwert
des Angreifers vom Körper genau an derjenigen Stelle abgetrennt,
188 ALEXANDREIS

Excitat interdum vires dolor. Ille, recisis


in bello manibus se corpus inutile cernens,
quod potuit fecit et equo se obiecit Yollae, 115
tresque ruere simul. Periit perfossus Yollas
et sonipes iaculis. Sed nec tibi, dure Negusar,
missilium nimbus nec tanta ruina pepercit.

Iam latet herba madens, terramque cadavera celant,


arva natant sanie, complentur sanguine valles. 120
Largus utrimque cruor, sed maior inebriat agros
Persarum strages. Rarescit barbarus hostis
tabescitque animo licet infinitus, eumque
pauca manus Macedum non cessat cedere, quorum
defectum numeri fervens audacia supplet. 125
Hiis igitur iam terga fugae spondentibus instat
fulmineus Macedo, perque invia tela per enses
perque globos equitum, peditum stipante corona,
ad Darium molitur iter. Sed contrahit agmen
Oxathreus, Dario quo nemo propinquior ortu. 130
Hic dolor, hic gemitus. Perit acris utrimque iuventus,
involvitque ducum mors uno turbine turbam.
Seminat in Persas leti genus omne cruentas
excutiens Bellona manus: gemit ille recluso
gutture, transiecto iacet ille per ilia ferro. 135
BUCH III 189

wo sie mit dem übrigen Arm in Verbindung steht. Schmerzen


steigern bisweilen die Kraft: Nach dem Verlust beider Hände und
im Bewusstsein, mit seinem nutzlosen Körper nichts mehr ausrich-
ten zu können, [115] machte er immerhin das, was er noch konnte,
und warf sich dem Pferd des Iollas entgegen, alle drei stürzten
zugleich. Von Lanzen durchbohrt starben Reiter und Ross; aber
auch dich, unerbittlicher Negusar, hat der Geschosshagel, hat der
gewaltige Untergang nicht verschont.

Der Mut des makedonischen Heeres (119–139)

Von Blut triefend war das Gras kaum noch zu erkennen, Leichen
überdeckten den ganzen Boden, [120] die Gefilde waren von Eiter
überströmt, von Blut überschwemmt waren die Täler. Beide Seiten
beklagten herbe Verluste, aber die Perser entrichteten einen höhe-
ren Blutzoll. Obgleich in schier unendlicher Zahl angetreten, lich-
teten sich die persischen Reihen, es schwand ihre Zuversicht und
die kleine Schar von Makedonen, deren [125] glühender Mut die
zahlenmäßige Unterlegenheit ausglich, ließ nicht darin nach, diese
zu zerschlagen. Den Persern also, die bereits ihr Heil in der Flucht
suchten, setzte Alexander gleich einem Blitz nach und versuchte
sich, ringsum beschützt von den eigenen Fußsoldaten, durch eine
schier undurchdringliche Ansammlung von Speeren, Schwertern
und Haufen von Reitern seinen Weg zu Darius zu bahnen. Doch
[130] Oxathres, der Darius hinsichtlich seiner Abstammung so nahe
stand wie sonst keiner, zog die Schlachtreihe wieder zusammen.
Schmerzen und Wehklagen beherrschten die Szenerie. Zugrunde
ging die hitzige Jugend auf beiden Seiten und der Tod führender
Männer stürzte das Gefolge in ein heilloses Durcheinander. Indem
Bellona ihre grausamen Hände schüttelte, brachte sie jegliche To-
desart über die Perser: Einer jammerte mit durchtrennter [135] Keh-
le, ein anderer lag da mit einem durch die Eingeweide getriebenen
190 ALEXANDREIS

Hunc sudis excerebrat, hunc fundit funda vel arcus.


Ille vomit saniem fractis cervicibus. Illi
intestina cadunt, alium sibi vendicat ensis.
Hic obit, ille obiit. Hic palpitat, ille quiescit.

Stabat ab opposito niveis pretiosus in armis 140


Memphites Zoroas, quo nemo peritior astris
mundanas prenosse vices: quo sydere frugis
defectum patiatur ager, quis frugifer annus,
unde nives producat hyemps, que veris in ortu
temperies inpregnet humum, cur ardeat estas, 145
quid dedit autumpno maturis cingier uvis,
circulus an possit quadrari, an musica formet
caelestes modulos, vel quanta proportio rerum
quatuor inter se novit quis sydera septem
impetus oblique rapiat contraria mundo, 150
quot distent a se gradibus, que stella nocivum
inpediat sevire senem, quo sydere fiat
obice propitius, Martem quis temperet ignis,
quam sibi quisque domum querat, quod sydus in isto
regnet hemisperio. Motus rimatur et horas 155
colligit, eventus hominum perpendit in astris.
Parva loquor, totum claudit sub pectore caelum.
Hic ergo in stellis mortem sibi fata minari
contemplatus erat, sed enim quia vertere fati
BUCH III 191

Speer, einen weiteren beraubte ein Spieß des Gehirns, einen


anderen wiederum ließ die Schleuder oder der Bogen sterben. Jener
spie mit zerfetztem Nacken eitriges Blut, jenem quollen die Ein-
geweide hervor, wieder einen anderen bestrafte das Schwert. Der
eine starb gerade, ein anderer war schon gestorben. Der eine zuckte
noch, ein anderer gab keinen Laut mehr von sich.

Der Astrologe Zoroas (140–188)

[140] Auf der anderen Seite stand der aus Memphis stammende
Zoroas, prächtig in schneeweißer Rüstung: Keiner war kundiger,
anhand der Sterne die Wechselfälle des irdischen Lebens im Voraus
zu erkennen, als dieser: Ihm war bekannt, unter welchem Sternbild
eine Missernte droht, welches Jahr fruchtbar ist, wodurch der
Winter den Schnee erzeugt, welche [145] Wärme zu Beginn des
Frühlings den Boden durchdringt, warum der Sommer heiß ist, was
es dem Herbst ermöglicht, sich mit reifen Trauben zu umkränzen,
ob die Quadratur des Kreises möglich ist, ob die Musik die Harmo-
nie der Sphären nachahmt oder welches Verhältnis zwischen den
vier Elementen besteht. Auch wusste er, welcher [150] Schwung die
sieben Planeten im Unterschied zur Erde schräg mit sich reißt, um
wie viel Grad diese voneinander entfernt liegen, welcher Stern den
schädlichen Greis [Saturn] daran hindert zu wüten, durch welchen
dagegen wirkenden Einfluss der Sterne dieser wohlwollend wird,
welches Himmelsfeuer den Mars in die Schranken weist, welches
Haus sich ein jeder Planet sucht und welche Sternbilder [155] die
bekannte Hemisphäre regieren. Er erforschte der Planeten Bewe-
gungen, berechnete die Stunden für ihren Umlauf um die Sonne
und las in den Sternen der Menschen Schicksal. Um es kurz zu ma-
chen, er umschloss den ganzen Himmel in seiner Brust. Dieser nun
hatte aus den Sternen seinen vom Schicksal bestimmten unmittel-
bar bevorstehenden Tod herausgelesen. Weil er aber den Lauf des
192 ALEXANDREIS

non poterat seriem, penetrare audebat ad ipsum 160


rectorem Macedum, toto conamine poscens
a tanto cecidisse viro, vitamque perosus,
mortem parturiens in prima fronte furoris
occurrebat ei, curruque premebat ab alto
grandine missilium pertusum principis orbem. 165
Nec solum iaculis sed voce probrisque lacescit,
atque ita: “Nectanabi non infitianda propago,
dedecus eternum matris, cur vulnera perdis
ignavos agitans? In me converte furorem
si quid adhuc virtutis habes. Me contere, cuius 170
miliciam claudit septemplicis arca sophiae
et caput astriferum sibi vendicat utraque laurus.”
Motus Alexander miseretur obire volentis
ac placide subicit “proch monstrum, quisquis es,” inquit
“Vive precor, moriensque suum ne destrue tantis 175
artibus hospicium. Numquam mea dextera sudet
vel rubeat gladius cerebro tam multa scienti.
Utilis es mundo. Quis te impulit error ad amnes
tendere velle Stigos, ubi nulla scientia floret?”
Dixit. At ille pedes terrae se mandat, eique, 180
qua se dissocians ocream lorica relinquit,
sauciat ense femur et dedicat arva cruore.
Infremuit Macedo, Zoroaeque ut parcere posset,
admissum procul egit equum. Sic ergo remotus
continuit bilem, verum Meleager eodem 185
irruit, et Zoroae, qua cruri tibia nubit,
cedit utrumque genu. Tum cetera turba iacentem
comminuunt in frusta virum stellisque reponunt.
BUCH III 193

Schicksals [160] nicht abwenden konnte, drang er wagemutig zum


Anführer der Makedonen vor. Vom Wunsch beseelt, durch die
Hand eines so großen Mannes zu fallen, und des Lebens überdrüs-
sig, griff er diesen todesmutig in der vordersten Reihe des Schlacht-
geschehens an, vom hohen Wagen aus bedrängte er Alexanders
Schild, indem er diesen [165] mit einem Geschosshagel eindeckte.
Doch nicht nur mit Wurfgeschossen, sondern auch mit Schmäh-
worten reizte er den makedonischen König und begann folgender-
maßen: »Unbestreitbarer Spross des Nektanabus, ewige Schande
deiner Mutter, warum vergeudest du Wunden, während du Feiglin-
ge antreibst? Auf mich richte deinen Zorn, [170] wenn noch ir-
gendein Rest von Mut in dir steckt. Mich richte zugrunde, dessen
Kriegsdienst der Schrein der Sieben Künste miteinschließt und
dessen sternkundiges Haupt den zweifachen Lorbeer für sich
beansprucht.« In seinem Inneren bewegt, bedauerte Alexander den
Todesbereiten, und sanft erwiderte er diesem: »Ach du seltsames
Wesen, wer auch immer du bist, [175] lebe nur weiter, zerstöre
durch deinen Tod nicht die Behausung so großartiger Fähigkeiten.
Niemals soll meine Rechte von deinem Blut triefen oder mein
Schwert sich von einem derart kenntnisreichen Hirn röten. Du bist
der Welt nützlich. Welcher Wahnwitz treibt dich dazu, zu den Flu-
ten des Styx gehen zu wollen, wo keinerlei Wissen gedeiht?«
[180] Nach diesen Worten stieg Zoroas vom Wagen und verwundete
Alexander mit dem Schwert zwischen Harnisch und Beinschutz am
Oberschenkel und weihte die Erde mit dem Blut des makedoni-
schen Königs. Dieser stöhnte zwar heftig auf, riss jedoch sein Pferd
im Galopp von Zoroas weg, um diesen schonen zu können. Auf-
grund dieser Distanz [185] beherrschte er seinen Zorn, Meleager
jedoch stürmte ebendorthin und zerschlug dem Zoroas dort, wo
Oberschenkel und Schienbein aufeinandertreffen, beide Knie. Da-
rauf zerstückelte die übrige Schar den am Boden liegenden Mann
und versetzte ihn unter die Sterne.
194 ALEXANDREIS

Tunc vero in Darium pondus discriminis omne


conversum est. Quid agat? Videt arva cruore suorum 190
pinguia, se circa videt exanimata iacere
corpora tot procerum, fugiuntque quibus super ante
fidebat pocius, quin viscera fusa trahentes
inter equos auriga iacet cervice recisa.
Dum dubitat fugiatne pedes sesene laboret 195
perdere, Perdicas iaculum iaculatur. At illud
se capiti affigit, cerebrum tamen ossa tuentur.
Excutitur curru Darius nec sustinet ultra
ferre aciem turbamque. Pedes declinat et inter
degeneres profugosque legit compendia saltus 200
donec ei sonipes oblatus ab Ausone magnum
transtulit Eufraten ac se Babilona recepit.

Hunc ubi furtiva belli mortisque ruinam


evasisse fuga sensit Mazeus et illi
quorum victoris animi excellentia nondum 205
evelli campo Martisque furore sinebat,
extimplo turbata malis audacia, tantos
destituens motus, didicit servire timori,
inque metum conversa fides. Fugit agmine facto
turba ducum, partesque labant ubi summa movetur, 210
cumque caput nutat, turbari membra necesse est.
Ceditur a tergo populus. Furit altera cedes.
BUCH III 195

Die Reaktion des Darius (189–202)

Nun aber lastete auf Darius’ Schultern der Entscheidung ganzes


Gewicht. [190] Was hätte er noch unternehmen können? Er sah die
Felder vom Blut der Seinen getränkt, sah um sich herum die Lei-
chen so vieler Vornehmer liegen (es flohen auch jene, auf die er am
meisten vertraut hatte), ja sogar solche, die ihre Darmfetzen hinter
sich her schleiften, zudem lag sein Wagenlenker mit durchtrenntem
Genick bei den Pferden. [195] Während er zögernd noch überlegte,
ob er zu Fuß fliehen oder sich gar selbst töten solle, schleuderte
Perdikkas seinen Speer auf den persischen König. Auch wenn er
von jenem am Kopf getroffen wurde, schützten die Schädelkno-
chen doch das Gehirn. Vom Wagen geschleudert konnte er das
Schlachtgetümmel nicht länger ertragen. Sogleich drehte er dem
Geschehen den Rücken zu und durchstreifte zwischen [200] feige
fliehenden Kriegern auf kürzestem Wege die Wälder, bis ihn ein von
Auso gebrachtes Pferd durch den mächtigen Euphrat trug und er
sich nach Babylon zurückziehen konnte.

Die Folgen der Flucht des Darius (203–214)

Als Mazaeus und all diejenigen, deren vortrefflicher Wille zu siegen


es noch nicht zugelassen hatte, das Schlachtfeld aufzugeben und
den Kampfgeist fahren zu lassen, mitbekamen, [205] dass Darius
durch heimliche Flucht der Schlacht und dem Tod entronnen war,
gab der durch das schlechte Beispiel sofort untergrabene Mut so
hehre Beweggründe preis und lernte der Furcht zu gehorchen. Die
Loyalität wich der Angst. Es floh [210] die Schar der persischen
Anführer in geschlossenem Zug. Die einzelnen Abteilungen eines
Heeres stürzen immer dann, wenn die Führung wankt. Ein schwan-
kendes Haupt lässt notwendigerweise die Glieder erzittern. Zahlrei-
che von hinten gefällte Perser verloren ihr Leben. Ein weiteres Ge-
196 ALEXANDREIS

Pro domino patriaque mori dum posset honeste,


dedecoris mortisque luem fugiendo meretur.

Iam satur ad loculum redit ensis, et ipse Pelasgos 215


victores victor a cede recedere cogens
ad gazas properare iubet rapiendaque predae
munera, que saltus iacet interclusa latebris.
It celer et partas partitur partibus equis
victor opes. 220
Onerantur equi, gemit axis avarus.
Iam satur est aurumque vomit summo tenus ore
sacculus et nexus refugit spernitque ligari.
Fessa legendo manus non est saciata ligando,
quin caligae patulique sinus turgere docentur.
Itur in inbelles agmen muliebre catervas. 225
Quarum ubi marmoreo rapuere monilia collo,
extorti torques, et inaures perdidit auris.
BUCH III 197

metzel wütete. Während es ehrenvoll wäre, für König und Vaterland


zu sterben, erntete man durch die eigene Flucht nur Schande und
Tod.

Alexanders Sieg bei Issus und seine Folgen (215–242)

Die Verteilung der Beute (215–220)

[215] Satt schon kehrte das Schwert in die Scheide zurück und der
siegreiche Alexander selbst bestärkte seine siegreichen Griechen, das
Blutvergießen zu beenden, und hieß sie zu den Schätzen zu eilen
und zum Raub des Beutegeschenks, das versteckt im Dunkel des
Waldes lag. Alexander eilte hinzu und verteilte als Sieger die erober-
ten Schätze zu gleichen Teilen.

Die Gier der Soldaten nach Gold (220–227)

[220] Die Pferde wurden beladen, die Achse des Wagens ächzte voll
Habgier. Schon prall gefüllt war der Sack bis zum obersten Rand,
deshalb verlor er Goldstücke und ließ sich nicht mehr zuknoten
oder verschnüren. Die Hände, vom Einsammeln der Goldmünzen
eigentlich müde, stopften die Beute dennoch unablässig in Säcke, ja
sogar Stiefel und weite Gewänder lernten zu schwellen. [225] Man
ging los auf den wehrlosen Haufen der persischen Frauen. Kaum
hatten die Griechen die Ketten vom glänzend weißen Hals der
persischen Frauen gezerrt, wurden ihnen die Ringe vom Finger
gezogen und die Ohrringe aus den Ohren gerissen.
198 ALEXANDREIS

Itur in amplexus nuptarum, virginitasque


vim patitur. Coit in patulo tractatque pudenda
sanguinolenta manus. Coitus pars altera labem 230
contrahit incestus, verum pars altera luget
et venit ad veniam, pacientis namque reatum
vis illata levat, minuitque coactio culpam.

Maiestate tamen salva salvoque pudore


tota domus Darii, genitrix et regia coniunx 235
et soror et natus, tanta est clementia regis,
curribus auratis in Dorica castra vehuntur.
In matrem Darii sic temperat ut sibi matrem
eligat, uxori det nomen habere sororis,
septennem puerum in natum sibi mitis adoptet. 240
Tantus enim virtutis amor tunc temporis illi
pectore regnabat.
Si perdurasset in illo
ille tenor, non est quo denigrare valeret
crimine candentem tytulis infamia famam.
Verum ubi regales Persarum rebus adeptis 245
deliciae posuere modum suasitque licere
BUCH III 199

Die Hemmungslosigkeit der Soldaten (228–233)

Man verging sich an verheirateten Frauen und auch noch unbe-


rührten Frauen wurde Gewalt angetan. Ganz offen vergewaltigte
[230] die blutrünstige Schar und verübte dabei schändliche Verbre-
chen. Während der eine Teil den Schandfleck des frevelhaften Bei-
schlafs beging, war ein anderer Teil darüber betrübt und bat um
Vergebung, denn die Anwendung von Gewalt schwächte den Vor-
wurf an jene ab, die ohne einzugreifen nur betroffen zuschauten,
der ausgeübte Zwang verringerte ihre Schuld.

Alexander und die Familie des Darius (234–242)

Mit ungeschmälerter Erhabenheit jedoch und ungebrochener Keusch-


heit fuhr mit der Mutter, der königlichen Gattin, der Schwester
und dem Sohn [235] Darius’ ganze Familie – so groß war die Milde
des Königs – auf goldenem Wagen in das Lager der Griechen ein.
Gegenüber Darius’ Mutter mäßigte er sich derart, dass er diese für
sich zur Mutter erwählte, der Ehefrau gewährte er den Rang einer
Schwester und [240] den siebenjährigen Jungen erkannte er gütig
als eigenen Sohn an. So sehr nämlich herrschte damals die Liebe zur
Tugend im Herzen des makedonischen Königs.

Autorexkurs: Die Überschreitung menschlicher Macht (242–257)

Wenn Alexander sich jene Gesinnung auf Dauer bewahrt hätte,


könnte heute keine mit berechtigten Vorwürfen einhergehende
Schmähung den ruhmvoll glänzenden Namen verdunkeln. [245] So-
bald ihn aber nach der endgültigen Machtübernahme in Darius’
Reich der königliche Prunk der Perser das rechte Maß hatte verges-
sen lassen und ihm die durch gewaltige Mittel zugefallene Macht-
200 ALEXANDREIS

illicitum et licitum genitrix opulentia luxus,


corrupit fortuna physim, cursuque retorto
substitit unda prior, viciorum cautibus herens.
Qui pius ergo prius erat hostibus, hostis amicis 250
inpius in cedes et bella domestica demum
conversus, ratus illicitum nichil esse tyranno.
Preterea quis pretereat summum sibi patrem
usurpasse Iovem? Nam se genitum Iove credi
imperat et excedit hominem transgressa potestas, 255
seque hominem fastidit homo, minimumque videtur
esse sibi cum sit inter mortalia summus.

Mittitur interea cum Parmenione Damascum


miles ut a victis extorqueat urbe repostas
relliquias gazae. Sed iam censebat habendas 260
victori prefectus opes, dominoque priori
proditor infidus caute quos traderet hosti
traxerat urbe suos, fortunae namque meatu
mutato mutatus erat. Sic unius uno
crimine Persarum cesis tot milibus, ipse 265
cum reliquis cecidit. Dario solamen id unum
dampnorum luctusque fuit cum nuncius ipsum
artificem sceleris afferret in agmine primo
arte perisse sua, nec iniquam sustinet ultra
dicere Fortunam, que iusta lance rependit 270
BUCH III 201

fülle – die Mutter der Ausschweifung – dazu geraten hatte, sich


Unerlaubtes und Erlaubtes zu erlauben, verdarb das Schicksal des-
sen Natur, nach der Abkehr vom rechten Weg stockte die einstige
Woge und säumte die Klippen des Lasters. [250] Derjenige, der zu-
vor seinen Feinden gegenüber gütig gewesen war, wandte sich
schließlich als pflichtvergessener Feind seiner Freunde zu Mord und
häuslichem Zank hin und war der Meinung, einem König müsse
alles erlaubt sein. Wer auch könnte außerdem unerwähnt lassen,
dass er dreist dann auch für sich den höchsten der Götter als Vater
beanspruchte? Denn [255] er bestimmte schließlich, dass er als
Spross Jupiters zu gelten habe. Göttliche Macht jedoch überschrei-
tet die Möglichkeiten des Menschen, als Mensch verschmähte er
sein Menschsein und am wenigsten schien ihm zu gelten, der
Größte unter den Sterblichen zu sein.

Parmenion nimmt Damaskus ein (258–273)

Inzwischen wurden Truppenteile unter Parmenions Führung nach


Damaskus geschickt, um den besiegten Persern [260] den restlichen
in der Stadt verbliebenen Schatz zu entreißen. Aber der persische
Befehlshaber war ohnehin schon der Meinung gewesen, dass die
Schätze dem Sieger übergeben werden müssten. Denn treulos dem
früheren Herrn gegenüber hatte der Verräter, durch den Um-
schwung des Schicksals in seiner Haltung verwandelt, listig die
Seinen aus der Stadt geführt, um sie dem Feind auszuliefern. Nach-
dem so durch [265] das eine Verbrechen eines einzigen Mannes
Tausende Perser gestorben waren, starb er selbst zusammen mit den
von ihm Verratenen. Darius’ einziger Trost für diesen Verlust und
dieses Leid war die Nachricht, dass der Anstifter des Verbrechens
selbst in vorderster Front an seinem eigenen Kunstgriff zugrunde
gegangen war. Nicht länger konnte Darius [270] das Schicksal als
ungerecht schelten, das Übeltätern bisweilen gerecht mit der Waag-
202 ALEXANDREIS

sontibus interdum prout fraus ignava meretur.


Hec Dario medicina mali. Sic pene malorum
omnia cum quodam veniunt incommoda fructu.

Septimus accenso Phebea lampade mundo


presserat astra dies cum rex ex more peracto 275
funeris obsequio tendit Sydona vetustam,
Phenicum gentem. Quibus in sua iura redactis,
ad Tyrios convertit iter, quos omne paratos
Martis ad examen murique abrupta tuentes
gaudet Alexander, suspecta cominus urbe, 280
invenisse viros. Tot propugnacula muris
edita dispositae longo stant ordine turres,
que lapidum valeant refugos eludere iactus.
At quacumque aditum molitur saxea moles,
assunt obiecta clipeorum crate clientes. 285
Plurimus hic fundit fundam iaculator et arcum,
plurima suppositis mortem ballista minatur.

Verum ubi longa dies afflictis civibus urbem


navali modo congressu modo Marte pedestri
fregit et appositis utrimque ad menia Graium 290
navibus hostiles impegit machina muros,
BUCH III 203

schale so heimzahlt, wie es heimtückischer Betrug verdient. Dies


war dem Darius Balsam im Leid. So kommen beinahe alle unerfreu-
lichen Übel mit einem gewissen Nutzen daher.

Alexander auf dem Weg nach Phönizien (274–287)

Zum siebten Mal hatte der Tag die Sterne mit dem Aufgang der
Sonne [275] verdrängt, als der makedonische König nach der dem
Brauch gemäßen Erfüllung der Leichenbestattung zum uralten
Sidon und zum Volk der Phönizier eilte. Nachdem er diese in ihre
Schranken gewiesen hatte, zog er sogleich gegen die Tyrer. Alexan-
der, der aus unmittelbarer Nähe zur Stadt hinaufblickte, [280] freu-
te sich, auf Männer zu treffen, die zu jeglicher kriegerischen Prü-
fung bereit waren und schon ihre hochragenden Mauern beschütz-
ten. So viele Türme – aus der Tiefe emporragende gemauerte Boll-
werke – standen in einer langen Reihe verteilt, die ohne Weiteres
imstande waren, steinerne Geschosse abprallen zu lassen. Wo auch
immer aber die felsenbewehrte Masse einen Zugang bot, [285] stan-
den Schutzmannschaften da mit einem zur Abwehr formierten
Flechtwerk aus Schilden. Hier feuerten zahllose tyrische Schützen
mit Schleuder und Bogen ihre Geschosse ab, zahlreiche Schleuder-
maschinen bedrohten die am Fuße der Mauern stehenden Angrei-
fer mit dem Tod.

Alexander erobert Tyrus (288–329)

Als aber der lange Tag die Stadt mal mit Gefechten zur See, mal mit
Kämpfen zu Lande – die tyrischen Bürger zermürbend – [290] in
die Knie gezwungen und die Ramme – zuvor war es den griechi-
schen Schiffen gelungen, zu beiden Seiten an die Mauer heranzurü-
cken – gegen das feindliche Bollwerk geschlagen hatte, starben ohne
204 ALEXANDREIS

absque aliquo periit discrimine sexus et etas


omnis, et a nullo scelus equo iudice pensans
abstinuit gladius. Etenim cum menia nondum
cingeret obsidio, missos a rege quirites, 295
paci ut consulerent angusto in tempore cives,
et pace et medii violato federe iuris
implicuere neci legatos. Unde tyranno
infensi, nec enim veniam meruere mereri,
in quibus et veniae et pacis legatio nullam 300
invenit veniam. Macedo iubet ocius omnes
cladibus involvi preter quos templa tuentur.
Fit fragor et planctus, crebrescit flebile murmur,
aurea femineus perstringit sydera clamor,
dumque in precipiti rerum discrimine nutant, 305
qua magis incumbit ventorum spiritus urbi,
subiciunt ignem. Volat ad fastigia flammae
inflammata fames, et eo magis esurit ignis,
quo plures tabulata cibos alimentaque prebent.
Mixta plebe patres pereunt. Genus omnibus unum 310
mortis, sed species moriendi non fuit una:
Iste piram reverens gladios incurrit, at ille,
ut gladios fugiat, medios se mittit in ignes.
Nonnullos, alia mortem dum morte caverent,
urbis semirutae lapsos de menibus ultro, 315
equorei vehemens absorbuit amnis hiatus.
Occultas alii latebras vacuosque penates
querentes laqueos iugulis aptare parabant
et mortem fecere sibi ne morte perirent
inflicta a Grais. Alios divortia Martis 320
querere dum puduit, pro iure et legibus urbis
in faciem patriae libertatemque tuendo
BUCH III 205

Unterschied alle, Jung oder Alt, Männer und Frauen, und keinen
mehr schonte das Schwert, das einem gerechten Richter vergleich-
bar den Frevel der Tyrer ahndete. Als die Mauern nämlich noch
nicht von einem Belagerungsring [295] umgeben waren, hatte Ale-
xander Gesandte mit dem Befehl an die Bürger von Tyrus geschickt,
auf der Stelle für Frieden zu sorgen. Doch diese hatten die griechi-
schen Gesandten unter Missachtung von Frieden und dem Recht
der Völker getötet und dadurch des Königs Zorn geweckt. Diejeni-
gen nämlich haben keinen Anspruch auf Gnade verdient, [300] bei
denen eine Gesandtschaft der Gnade und des Friedens überhaupt
keine Gnade fand. Sogleich gab der makedonische König den
Befehl, alle mit Ausnahme derer, die in Tempeln Schutz suchten,
niederzumetzeln. Es erhob sich ein Schreien und Wehklagen, ver-
mehrt war ein beklagenswertes Weinen vernehmbar, das Geschrei
der Frauen drang bis zu den goldenen Sternen empor. [305] Als die
Tyrer in ihrem letzten Abwehrkampf zu wanken begannen, legten
die Griechen am Fuße der Stadt an jener Stelle Feuer, wo der Atem
der Winde die Stadt am meisten durchwehte. Es eilte der entflamm-
te Hunger des Feuers nach oben und je mehr Nahrung die Balken
boten, umso mehr verlangte das Feuer nach Nahrung. [310] Die
Stadtväter starben zusammen mit dem gemeinen Volk. Alle fanden
den Tod, die Art des Todes war jedoch nicht für alle gleich. Dieser
da rannte in das Schwert, weil er das Feuer fürchtete, jener aber
rannte mitten ins Feuer, um dem Tod durch das Schwert zu
entgehen. Manche, die sich beim Versuch, einen solchen Tod durch
einen anderen Tod zu vermeiden, freiwillig [315] von den Mauern
der schon halb zerstörten Stadt gestürzt hatten, verschlang der
mächtige Schlund des Meeres. Andere wiederum suchten geheime
Verstecke und leerstehende Häuser und schickten sich an, die
Schlinge um den eigenen Hals zu legen, und brachten sich so selbst
zu Tode, um nicht [320] von der Hand der Griechen zu fallen. Aus
Scham, das Schlachtfeld zu verlassen, zogen es wieder andere vor,
für das Recht und die Gesetze der Stadt im Angesicht der Heimat
206 ALEXANDREIS

elegere mori: mortis genus illud honestum


et labi sine labe fuit non cedere cedi
cedereque et cedi dum non cedantur inulti. 325
Concurrunt, et materiam ferientibus affert
gens devota neci. Feriunt, feriuntur et ipsi,
dumque necem patiuntur, agunt ad utrumque parati.
Nec minus excidium coniunx Cithereius infert.

Solvitur in cineres ab Agenore condita primo 330


nobilis illa Tyrus, que, si preclara merentur
vatum dicta fidem, famae si credere dignum est,
vocum sola notas et rerum sola figuras
aut didicit prior aut docuit. Sic ergo tot annis
indomitam indomitus domuit Macedum furor urbem. 335
Verum vera fides et pax divina sub ipso
Christorum Christo reparatis menibus urbem
restituere, ubi nunc plebs orthodoxa flagransque
thuribulo mentis crucifixi nomen adorat.
Cuius sunt aliae septeni clymatis urbes 340
quas patria ditione tenet longumque tenebit.

Premonuisse alias poterat Tyrus obruta gentes


ne qua sub arctoo regio presumeret orbe
Pellei vires Macedumque lacescere nomen.
BUCH III 207

und für die Verteidigung der Freiheit umzukommen: So zu sterben


und ohne Schande sein Leben zu beenden, dem Kampfe nicht aus-
zuweichen, [325] zu töten und getötet zu werden, wenn sie nur
nicht ungerächt getötet würden, das galt als ehrenhaft. Voranstür-
mend boten sich die todgeweihten Bewohner der Stadt den
Schlächtern zum Morden an. Sie mordeten und wurden selbst auch
ermordet, und indem sie den eigenen Tod in Kauf nahmen, waren
sie zu beidem bereit. Nicht weniger Zerstörung verursacht gewöhn-
lich Aphrodites Gemahl Vulcanus.

Die historische Bedeutung von Tyrus (330–341)

[330] Eingeäschert wurde jenes ursprünglich von Agenor gegründe-


te vornehme Tyrus, das allein, wenn man den berühmten Worten
der Dichter Glauben schenken möchte oder wenn die geschichtli-
che Überlieferung glaubwürdig ist, die Buchstaben und die Schrift
entweder zuerst gelernt oder sogar gelehrt hat. So also hat die un-
bezähmbare Kriegswut der Griechen die so viele Jahre lang [335] un-
bezwungene Stadt niedergeworfen. Wahrer Glaube jedoch und
göttlicher Beistand haben zu Lebzeiten Christi die Stadt mit er-
neuerten Mauern von neuem erbaut, wo nun das rechtgläubige
Volk glühenden Herzens mit Weihrauch den Gekreuzigten anbetet.
[340] Es gibt heutzutage noch andere Städte in der uns bekannten
Welt, die unter der väterlichen Herrschaft von Tyrus stehen und
noch lange stehen werden.

Alexander erobert Gaza (342–369)

Die Vernichtung von Tyrus hätte anderen Völkern eine Warnung


sein können, dass kein einziger Landstrich auf der nördlichen Halb-
kugel die Streitkräfte Alexanders und das Volk der Griechen noch
208 ALEXANDREIS

Gaza tamen Darium causamque secuta priorem 345


ausa parem superum muris excludere temptat,
fortunam si forte fides evertere possit.
Dumque suum Mars explet opus, dum cede cruenta
et dampno partis utriusque protervit utrimque,
barbarus ad regem veniens ut transfuga, ferrum 350
occultans clipeo, Magni caput appetit ense.
Sed quia fatorum stat inevitabilis ordo
eventusque hominum series immobilis artat,
erravit temulenta manus, ferroque perire
non patitur Lachesis, cui iam fatale venenum 355
confectumque diu Lethea fece vitrina
pixide condierat, mediante favore suorum
porrectura duci dea post duo lustra bibendum.
Hic Arabis dextram, quia sic erravit, eodem
quem male vibrarat rex imperat ense recidi, 360
quique prius sopitus erat iam fraude recenti
Martius evigilat furor, et sub corde calenti
ira recrudescit, dumque instat turbidus hosti,
ausa nefas levum perstrinxit fraxinus armum,
et medium cruris elisit saxea moles. 365
Sed licet accepto bis vulnere, non tamen acri
destitit incepto Macedo, sed prodigus aurae
vitalis scindit cuneos, ipsumque tyrannum
obterit, et victis urbem tradentibus intrat.
BUCH III 209

weiter herausfordert. [345] Gaza jedoch hat es – Darius und der al-
ten Verbindung folgend – gewagt, dem gottgleichen Alexander mit
ihren Mauern den Zutritt zur Stadt zu verwehren, und unternahm
den Versuch, ob Treue das Schicksal zu ändern vermag. Und wäh-
rend Mars sein Werk verrichtete, während er in blutiger Schlacht
zum Schaden beider Parteien auf beiden Seiten wütete, trat [350] ein
Barbar, das Schwert mit dem Schild verdeckend, wie ein Flüchtling
an den König heran und bedrohte Alexanders Haupt mit dem
Schwert. Aber weil der Lauf des Schicksals feststeht und die unab-
änderliche Abfolge der Ereignisse die Erfolgsaussichten der Men-
schen schmälert, verfehlte die unsichere Hand ihr Ziel. [355] Nicht
ließ Lachesis denjenigen durch einen Schwerthieb sterben, für den
die Göttin schon lange ein vom Schicksal bestimmtes, aus töd-
lichem Sud gebrautes Gift in gläsernem Behälter verwahrt hatte,
um es nach zehn Jahren unter tätiger Mithilfe der Seinen dem
König als Trank zu reichen. Hierauf befahl der König, die rechte
Hand des Arabers, da sie ihr Ziel nicht gefunden hatte, [360] mit
demselben gerade vergeblich geschwungenen Schwert abzuschla-
gen. Seine Kampfeswut, die zuvor schon zur Ruhe gekommen war,
wurde durch den neuerlichen Betrug wieder geweckt, im glühen-
den Herzen flammte der Zorn erneut auf, und während er den
Feind ungestüm angriff, streifte ein Wurfspieß, den Frevel wagend,
seine linke Schulter [365] und ein gewaltiger Felsbrocken zerschmet-
terte ihm das Schienbein. Aber auch mit zweifach erlittener Wunde
ließ der makedonische König nicht von seinem leidenschaftlichen
Vorhaben ab, sondern durchbrach ohne Rücksicht auf sein eigenes
Leben die persischen Reihen, tötete eigenhändig den feindlichen
König und betrat die von den Besiegten geöffnete Stadt.
210 ALEXANDREIS

Hinc ubi disposuit procerum discretio regno, 370


tendit in Egyptum. Qua sub ditione redacta,
ardet rex Lybici sedes Hamonis adire.
Difficiles aditus, iter intolerabile quamvis
fortibus et paucis. Rorem sitit arida tellus,
et caelum mendicat aquas, estuque perhenni 375
macrescit regio, et steriles moriuntur harenae,
cumque tenax sabulum solem concepit et auram
inpulsuque pedum concrevit turbo, procellas
hic Syrtes habuere suas. Hic altera sicco
Scilla mari latrat, hic pulverulenta Caribdis. 380
Pulvereos vomit ille globos, iacet ille sepultus
in sabulo. Fortassis eos leviore procella
punisset mare Neptuni quam pulveris equor.
Nusquam culta virent, hominis vestigia nusquam;
nusquam terra oculis, nusquam sese obicit arbor. 385
Iam quater irriguos libraverat aere currus
Mennonis impendens lacrimas Aurora sepulchro
cum Macedum rector et cetera turba superstes
Hamonis subiere nemus fontemque biberunt,
quem satis indignum est inter memoranda silere: 390
Cum sol frenat equos, tepidos habet unda meatus.
Frigidior glacie est quando ferventior arva
exurit Tytan mediae fervore diei.
Axe sub Hesperio, cum iam presepia mundans
solis equos stabulare mari parat hospita Thetis 395
BUCH III 211

Alexander nimmt Ägypten ein; Alexanders Besuch


in der Oase Siwa (370–407)

[370] Sobald die Umsicht seiner Unterfeldherren in Gaza alles


geordnet hatte, eilte Alexander nach Ägypten. Nach dessen Unter-
werfung brannte der makedonische König darauf, zur Stätte des
libyschen Hammon zu ziehen. Der Weg dorthin war äußerst be-
schwerlich, der Marsch war auch für die kleine Gruppe von tap-
feren Männer kaum zu ertragen. Nach Wasser dürstet dort der
trockene Boden, [375] der Himmel sehnt sich nach Regen und das
Land breitet sich träge aus, verdorrt von immerwährender Glut
und unfruchtbar erstirbt diese Sandwüste. Wenn der haftende Sand
die Sonne verfinstert und schon überall in der Luft sich befindet
und der Wirbel sich durch das Stampfen der Füße verdichtet, toben
hier in den Syrten schlimme Sandstürme. Hier tobt dann eine
zweite [380] Scylla im Meer aus Sand, hier tobt dann eine in Staub
gehüllte zweite Charybdis. Der eine spie Unmengen Sand, ein
anderer lag begraben im Wüstensand. Mit einem leichterem Sturm
hätte wohl Neptuns Meer die Griechen bestraft als dieses Meer aus
Sand. Nirgendwo ergrünten bestellte Felder, nirgendwo waren
Spuren von Menschen zu sehen; [385] nirgendwo zeigte sich dem
menschlichen Auge bewachsenes Land, nirgendwo war ein Baum
zu erblicken. Viermal schon hatte Aurora – Tränen über Memnons
Grabmal vergießend – ihren von morgendlichem Tau benetzten
Wagen durch die Lüfte geführt, als der Anführer der Makedonen
und die übrige am Leben gebliebene Schar den Hain Hammons
betraten und von der Quelle tranken, [390] über die es bei der Auf-
zählung erwähnenswerter Dinge schändlich wäre zu schweigen:
Immer wenn Phoebus die Pferde am Morgen aufzäumt, entströmt
der Quelle lauwarmes Wasser. Kälter als Eis ist das Wasser, wenn
Titan mit der Hitze des Mittags die Gegend glühend versengt.
Wenn sich Thetis am Abend, die Stallungen säubernd, gastfreund-
lich anschickt, [395] Helius’ Pferde im Meer in den Stall zu bringen,
212 ALEXANDREIS

ambrosiamque locat et liberat ora lupatis,


frigoris excluso paulum torpore tepescit
fons Iovis. Ac Phebo torrentior estuat idem
cum mundum madidis medius sopor irrigat alis,
quoque magis Phebus solitum festinat ad ortum, 400
tanto plus soliti reminiscitur unda teporis,
et nocturnus eam cogit decrescere fervor
donec Phebeo rursus languescat in ortu.
Rex ubi consulto letus Iove munera solvit,
regreditur Memphim, licet affectaret adustas 405
Ethiopum gentes et inhospita Mennonis arva,
Aurorae sedes atque invia solis, adire.

Sed durum Martis et inexpugnabile tempus,


et prefixa dies, mundi visura tumultus
et strages pugnae, quam maturaverat hostis, 410
vicina instabat, positamque regentis in arto
artabant rigidam maiora negocia mentem.

Interea Darii reparato robore totus


coniuratus adest in prelia mundus, eumque
preteriti pudor et spes incentiva futuri 415
BUCH III 213

die Mäuler vom Zaumzeug befreit und den Pferden Ambrosia vor-
setzt, erwärmt sich nach dem allmählichen Weichen der Froststarre
Jupiters Quelle wieder. Und heißer als Phoebus kocht diese auf,
wenn der Mitternachtsschlaf die Erde mit feuchten Schwingen
benetzt. [400] Je weiter Phoebus in gewohnter Weise wieder zum
Sonnenaufgang hin eilt, umso mehr erinnert sich die Quelle an die
gewohnte Wärme am Morgen, und ihre nächtliche Hitze nötigt das
Wasser, wieder weniger heiß zu sein, bis es bei Sonnenaufgang von
neuem nur noch lauwarm entströmt. Sobald der makedonische
König nach der Befragung des Orakels voller Freude Opfer darge-
bracht hatte, [405] kehrte er nach Memphis zurück, auch wenn er
gerne Äthiopiens sonnenverbrannte Völker, die ungastlichen Gefil-
de Memnons, Auroras Wohnsitz und Phoebus’ weglose Einöden
aufgesucht hätte.

Vorbereitungen für die Schlacht bei Gaugamela (408–462)

Die Schicksalhaftigkeit der Auseinandersetzung (408–412)

Aber hart und unabwendbar drohte die Stunde des entscheidenden


Kampfes, der vom Schicksal bestimmte Tag stand unmittelbar
bevor, der den Aufruhr der Welt und [410] das Gemetzel der
Schlacht – vom persischen Feind beschleunigt – sehen würde.
Schwierige Schlachtvorbereitungen setzten den in eine bedrohliche
Lage gebrachten, doch unbeugsamen makedonischen König unter
Druck.

Die gewaltige Streitmacht der Perser (413–435)

Inzwischen hatte sich Darius’ ganzes Volk mit frischer Kraft und zum
Kampfe verschworen versammelt; die Scham über das, [415] was
214 ALEXANDREIS

rursus in arma vocant. Coeunt in castra quirites


permixti agricolis. Queritur cessare ligones
radicosus ager et sentibus obsita tellus.
Suspirant ad plaustra boves, dorsumque cameli
barbaries gentis, elephantes bellica pressit 420
machina turrito gradientes agmine, nec se
bubalus absentat. Numquam tot milibus Argos
aggrediens hominum siccavit flumina Xerses,
sed neque tam multas collegit in Aulide gentes
ultor adulterii cum classi defuit equor 425
virgineusque cruor monitu Calcantis iniqui
detersit facinus et ventos sanguine solvit.
Miratur Macedo, tot milibus ante redactis
in nichilum, plures rediviva morte renasci
ad mortem populos rursusque ad bella vocari. 430
Non secus Antheum Lybicis Iove natus harenis
post lapsum stupuit maiorem surgere donec
sublatum rapiens “vana spe duceris,” inquit
“Huc, Anthee, cades” vel cum tot cede suorum
fecundam capitum domuit Tyrintius Ydram. 435

Iamque per Eufraten discriminis immemor, omnis


contemptor numeri, rapidum transegerat agmen
terrarum domitor, exustasque ignibus urbes
quas aditurus erat fumantesque invenit agros,
quos duce Mazeo Darius preceperat uri 440
BUCH III 215

geschehen war, und die anregende Hoffnung auf das, was kommen
würde, riefen die Perser erneut zu den Waffen. Gemeinsam ins
Lager zogen die Vornehmen ebenso wie die Bauern. Der wurzelrei-
che Acker und das von Dornsträuchern übersäte Land beklagten
die fehlende Bearbeitung. Ochsen keuchten an ihren Wagen,
[420] Barbarenvölker belasteten den Rücken von Kamelen; Kriegs-
gerät beschwerte Elefanten, die in turmhohem Zug einherschritten;
sogar Büffel nahmen am Kriegszug teil. Selbst Xerxes hatte bei
seinem von mit so vielen Tausend Männern unternommenen An-
griff auf Argos niemals Flüsse trockengelegt und auch [425] der
Rächer des Ehebruchs nicht so viele Völker in Aulis versammelt, als
das Meer die Flotte im Stich gelassen, das Blut der Jungfrau auf
Anraten des ungehaltenen Kalchas die Freveltat reingewaschen und
er mit Blut die Winde wieder zum Wehen gebracht hatte. Der
makedonische König war erstaunt darüber, dass nach der Vernich-
tung von so vielen Tausend Persern noch mehr Völker – scheinbar
vom Tode auferstanden – erneut in den Kampf gerufen und
[430] in den Tod getrieben wurden. Nicht anders staunte Herkules
darüber, dass Antaeus sich nach seinem Sturz im libyschen Sand
noch größer erhob, bis er dem Riesen den Boden entzog und sagte:
»Von eitler Hoffnung wirst du geleitet, hier wirst du sterben«, oder
als er die Hydra bändigte, [435] der nach dem Verlust so vieler
Köpfe stets neue nachwuchsen.

Alexander setzt Darius nach (436–462)

Und schon hatte der Bezwinger der Welt sein raubgieriges Heer
über den Euphrat geführt, ohne dabei an die Gefahren zu denken
und die Übermacht des Feindes überhaupt zu berücksichtigen. Er
fand diejenigen Städte, die er angreifen wollte, von Feuer zerstört
vor, zudem in Rauch gehüllte Äcker, [440] die Darius unter Mazae-
us’ Führung niederzubrennen befohlen hatte, um zu einem so
216 ALEXANDREIS

ut tali articulo fortunae flectere cursum


posset et affectos fame defectuque ciborum
cogeret audaci Graios desistere cepto,
desperare aditum per saxa rigentia flammis
molirique fugam cum cuncta exusta viderent 445
et loca feta igni et viduatos gramine campos,
ocia cum sulci gemerent victumque negaret
in cinerem resoluta Ceres. Sed sorte secunda
usus Alexander, ad summum semper honoris
aspirans apicem, Tigri velocior ipso, 450
Tigri, qui celeri sortitur ab impete nomen.
Tigris aquas superat, qui gurgite saxa volutans
grandia marmoreas exit truculentus in undas.
Nec mora, ne Dario regni penetrare liceret
interiora sui, canis ut venaticus altis 455
occultum silvis Acteona nare sagaci
vestigat vel qui venator Gallicus aprum
irato sequitur stringens venabula ferro,
haut aliter Darium venatur et Arbela preter
castra locat. Quem cede sua, quem fraude suorum 460
infamem facturus erat, periturus eodem
fixerat infausto iam tunc tentoria vico.

Tempus erat dubiam cogens pallescere lucem,


cui neque lux neque nox imponit nomen, utrumque
et neutrum tenui discrimine. Verius ergo 465
BUCH III 217

entscheidenden Zeitpunkt des Schicksals Lauf wenden zu können


und die von Hunger und fehlender Nahrung geschwächten Grie-
chen zu zwingen, von ihrem kühnen Vorhaben abzulassen, den
Marsch durch flammenstarrende Felsen aufzugeben [445] und zur
Flucht sich zu wenden, wenn sie alles verbrannt, das Land von
Feuer verwüstet, die Felder ohne jegliches Gras sähen, wenn die
Saatfurchen Untätigkeit beklagten und das in Asche verwandelte
Getreide die Nahrung verweigerte. Alexander jedoch, der sein
glückliches Schicksal zu nutzen verstand und immer nach dem
höchsten [450] Gipfel des Ruhms strebte, überquerte schneller, als
der Tigris selbst zu fließen imstande ist – dieser hat seinen Namen
von seiner gewaltigen Strömung –, die Fluten des nämlichen Flus-
ses, der mit seiner Strömung gewaltige Felsen vorwärts treibt und
wild in das glänzende Meer hinausfließt. Um Darius nicht [455] in
das Innere seines Reichs entkommen zu lassen, spürte Alexander
diesem nach, wie ein Jagdhund mit feiner Nase den in tiefen Wäl-
dern verborgenen Aktaeon aufspürt, oder verfolgt diesen, wie ein
gallischer Jäger mit einem mit eiserner Spitze verstärkten Jagdspieß
dem Eber nachsetzt; nicht anders war er hinter dem persischen
König her und schlug [460] sein Lager nicht weit von Arbela auf,
wo der todgeweihte Darius schon Zelte in eben diesem unheilvollen
Dorf hatte errichten lassen, das er durch seine Niederlage und
durch den Betrug der eigenen Männer im Begriff war, mit Schande
zu erfüllen.

Die Mondfinsternis (463–543)

Es war die Jahreszeit angebrochen, welche die Tage zwingt zu ver-


blassen, für die weder die Helligkeit des Tages noch die Dunkelheit
der Nacht namensgebend sind, beide Zustände sind kaum vonein-
ander zu trennen [465] und keiner von beiden ist eindeutig be-
stimmbar. Durchaus vernünftig haben die Griechen diese Unein-
218 ALEXANDREIS

ambiguum cum sit, dixere crepuscula Greci.


Hesperus irriguum iam maturaverat ortum,
iamque minante oculis caligine sydera solis
supplere officium luna mediante parabant
cum Phebe, mundo fratris manifesta recessu, 470
exhilarans hominum nascenti clymata giro,
palluit, et primo defectum passa nitoris,
demum sanguineo penitus suffusa rubore
fedavit lumen Macedumque exterruit ipsos
cum vulgo proceres, cum terra frenderet hostis 475
cumque instaret eis invito numine belli
prefinita dies, parti feralis utrique,
celoque aspicerent minitantia sydera tantum
exhorrere nefas atque id portendere signum.
Non mirum nutare animos armisque refertas 480
dormitare manus. Trepidant concussa recenti
corda metu, et rauco crudescunt murmure castra.
In causa Macedo est, culpamque refundit in ipsum
seditiosa cohors. Iam tedet in ultima mundi
invitos a rege trahi. Montana queruntur 485
invia, desertas Vulcano vindice terras,
urbesque et fluvios admittere nolle nocentes;
velle hominum dominos diis indignantibus esse;
astra infensa sibi solitumque negantia lumen;
prescriptos homini regem transcendere fines, 490
affectare polum, patriae contempnere sedes;
unius ad laudem tot inire pericula, tantas
BUCH III 219

deutigkeit Zwielicht genannt. Schon hatte der Abendstern seinen


vom Tau befeuchteten Aufgang beschleunigt, schon hatten die
Sterne daran gearbeitet, im für die Augen undurchdringlichen
Dunkel mit der Unterstützung des Mondes die Aufgabe der Sonne
zu erfüllen, [470] als Phoebe, die nach dem Rückzug ihres Bruders
normalerweise von den Bewohnern der Erde gut zu sehen ist und
mit ihrem Aufgang die Weltgegenden erhellt, plötzlich immer
bleicher wurde. Zuerst verlor sie ihren gewohnten Glanz, dann
verdunkelte sie zudem ihr Licht – mit blutigem Rot übergossen –
und versetzte die griechischen Anführer [475] samt ihrem Heer in
Angst und Schrecken; all dies geschah zu einem Zeitpunkt, als der
bereits im Land stehende Feind mit den Zähnen knirschte und
ihnen der vorherbestimmte Tag der Schlacht unter ungünstigen
Vorzeichen drohte, unheilvoll für beide Parteien; zu einem Zeit-
punkt, als sie sahen, dass die am Himmel drohenden Sterne vor
einem so großen Frevel zurückschreckten und dieses Zeichen den
Frevel ankündigte. [480] Kein Wunder, dass der Mut ins Wanken
geriet und die bis an die Zähne bewaffnete Truppe sich gehen ließ.
Von der noch frischen Furcht erschüttert, zitterten die Herzen und
die Unruhe im Lager nahm zu. Klage führte man gegen den
makedonischen König, bei diesem suchte die zum Aufstand bereite
Truppe die Schuld. Schon bereute sie es, von ihrem König [485] ge-
gen ihren Willen in den äußersten Winkel der Welt getrieben wor-
den zu sein. Die Soldaten beklagten sich über unwegsame Gebirgs-
landschaften und Gegenden, die wegen des Vulcanus Rache auf-
gegeben worden waren, und auch darüber, dass Städte und Flüsse
den Eroberern keinen Zugang gewähren wollten, dass sie Herren
über diese Menschen sein wollten, obwohl doch die Götter sich
darüber entrüsten würden, dass ihnen die Sterne feindlich gesinnt
seien und das gewohnte Leuchten verweigerten, [490] dass ihr Kö-
nig die dem Menschen gesetzten Grenzen überschreite, dass er den
Himmel erstrebe und die heimatlichen Wohnsitze verachte, dass sie
für die Lobpreisung nur eines einzigen Mannes so viele Gefahren
220 ALEXANDREIS

fortunae variare vices. Iam vulgus in istos


exierat questus, iam seditione moveri
ceperat, eventu cum rex interritus omni 495
concilium vocat, et vates, quibus arte magistra
astrorum dederat divina peritia nomen,
consulit, et lunae que causa infecerit orbem,
quid superi super hoc caveant, quid enigmata fati
significare velint, iubet in commune referri. 500
Inter sortilegos vatum stellasque sequentes
stabat Aristander, sterili iam marcidus evo.
“Parcite” ait “vanis incessere fata querelis.
Fata regunt stellas, et quos ab origine cursus,
que loca, quos motus, vel quid portendere magnus 505
ille sator rerum dedit, hoc certo ordine servant,
nec quicquam mutare queunt de mente profunda.
Quicquid ab eterno providerit ille futurum,
seu terrae incumbens extendat litora Thetis
gurgitis augmento seu tellus subruat urbes 510
concursu laterum seu morbidus influat aer
seu tenebris fuscare diem seu cornua lunae
caligare velit seu tardius ire Galerum,
omnia descendunt a summo consule rerum,
quo nisi consulto nichil est quod sydera possint. 515
Inde est quod lunae pallescit luridus orbis
cum terram subitura suos abscondere vultus
fertur et humano parat evanescere visu
vel cum fraterno premitur splendore Diana,
qualiter accensae iubar igniculumque lucernae 520
invida maioris obscurat flamma camini.
BUCH III 221

auf sich nähmen und so große Wechselfälle des Schicksals aushiel-


ten. Schon hatten sich die einfachen Soldaten in diese Klagen
ergeben, schon hatten sie sich zum Aufstand [495] bewegen lassen,
als ihr König, den nie ein Ereignis schrecken konnte, eine Versamm-
lung einberief und auch die Seher zu Rate zog, denen nach dem
Studium der Astronomie die göttliche Kenntnis der Sterne zu
Ruhm verholfen hatte. [500] Und er befahl diesen, allen mitzutei-
len, aus welchem Grund der Mond sich gerötet habe, was die Göt-
ter darüber hinaus bestimmten und was dieses rätselhafte Ereignis
des Schicksals verkünden möchte. Mitten unter den Weissagern
und Sterndeutern stand, schon vom saftlosen Alter entkräftet,
Aristander und sagte: »Hört auf, das Schicksal mit eitlen Klagen zu
tadeln. Das Schicksal lenkt zwar die Sterne, doch auf welchen
Bahnen diese von Anbeginn der Zeit ziehen, [505] welche Orte sie
einnehmen, welche Bewegungen sie ausführen oder was sie ankün-
digen, hat jener große Schöpfer der Welt bestimmt, diesen Plan
bewahren die Sterne in fester Ordnung und nichts können sie an
diesem wohldurchdachten Plan ändern. Was auch immer jener seit
Anbeginn der Zeit als zukünftiges Geschehen im Voraus bedacht
hat, ob Thetis [510] mit wachsender Flut über das Festland herein-
bricht und damit die Küstenlinien ins Landesinnere hinein
verschiebt, ob die Erde die Städte mit ihrem Beben zerstört, ob
Krankheit bringende Luftmassen in die Städte hineinströmen, ob
er den Tag mit nächtlichem Dunkel verfinstern oder die Sicheln des
Mondes in Dunkel hüllen will oder er sich dazu entschließt, dass
Merkur seine Bahn am Himmel langsamer zieht, alles geht aus vom
höchsten Lenker der Dinge, [515] ohne dessen Beschluss die Sterne
rein gar nichts tun können. Daher geschieht es, dass der gelb
leuchtende Vollmond erblasst, wenn er – wie man sagt – hinter die
Erde tritt und auf dem Weg ist, sich dem menschlichen Blick zu
entziehen, oder er, wenn Diana vom gleißenden Licht ihres Bruders
bedrängt wird, [520] wie die neidische Flamme eines größeren
Ofens das kleinere Licht einer brennenden Lampe in den Schatten
222 ALEXANDREIS

Dogma tamen veterum non vile patrumque secutus


Memphios, haut dubitem Grecorum dicere solem,
Persarum lunam: cum deficit ille, ruinam
Graium, Persarum cum deficit illa, notari.” 525
Dixit et exemplis utens pro teste revolvit
Persidis acta ducum quibus incumbente flagello
fortunae obscuro lugubris Cinthia cornu
palluerat. Stetit ergo ratum quod cana senectus
arguerat, meruitque fidem sententia vatis, 530
editaque in medium flexit pavitantia vulgi
corda superstitio, qua nil adstrictius ad se
inclinat turbam: vulgi ora manusque refrenat.
Que cum seva potens mutabilis estuat estu
multivagae mentis, vana si forte movetur 535
relligione, ducum spreto moderamine, vatum
imperium subit et regum contempnit habenas.
Ergo ubi torpentes spes et fiducia fati
erexit mentes, armis, dum corda calerent,
utendum ratus est Macedo. Ne frigeat ardens 540
impetus, extimplo velli tentoria circa
noctis iter medium iubet et precedit ovantes
in primis raro contentus milite turmas.
BUCH III 223

stellt. Der festen und bedeutsamen Meinung der Alten und der
Väter von Memphis folgend, kann ich keinen Zweifel darüber ha-
ben, dass die Sonne die Griechen und der Mond die Perser reprä-
sentiert: Eine Sonnenfinsternis weist auf den Untergang [525] der
Griechen hin, eine Finsternis des Mondes bedeutet den Untergang
der Perser.« So sprach er und bediente sich zum Beweis einiger
Beispiele und erinnerte an Taten persischer Führer, nach denen die
Unheil verkündende Cynthia mit finsterem Horn bleich geworden
war, als die Geißel des Schicksals über diese hereingebrochen war.
Fest stand also, was graues Greisenalter [530] bewiesen hatte, und
die Meinung des Sehers hatte Vertrauen verdient und seine allen
verkündete prophetische Botschaft stimmte die furchtsamen Her-
zen des einfachen Volkes um. Durch nichts kann eine Menge besser
umgestimmt werden als durch die Autorität eines Sehers: Sie hält
die Worte und Taten in Schach. Wenn die wilde, mächtige und
[535] wankelmütige Menge vom Ansturm eines unsteten Sinns
wogt, wenn sie vielleicht durch einen falschen Glauben getrieben
wird, gehorcht sie in Missachtung der Befehle der Anführer den
Sehern und lehnt die Zügel der Könige ab. Als daraufhin die
Hoffnung und das Zutrauen in das Schicksal die mutlosen Männer
wieder aufgerichtet hatten, meinte der makedonische König, die
Waffen [540] nutzen zu müssen, solange die Herzen entflammt wa-
ren. Um ihre heiße Angriffslust nicht erkalten zu lassen, befahl er
um Mitternacht herum, auf der Stelle die Zelte abzubauen. Dann
gab er den Marschbefehl und schritt, hochzufrieden mit seinem
vortrefflichen Heer, den jubelnden Scharen voraus.
Liber IV
Capitula quarti libri

Quartus ad uxoris Darii lacrimabile funus


convertit Magnum. Darium lamenta fatigant
falsaque suspicio. Legati certa reportant
ad Darium responsa. Astant hinc inde parati
ad bellum cunei. Terretur ymagine belli 5
conciliumque vocat Macedo. Responsa suorum
reicit et sompnum differt in tempora lucis.
Excitus a sompno perniciter induit arma
premunitque suos verbis et rebus. Et ecce
concurrunt acies, penetratque in sydera clamor. 10

Quartus liber

Luridus et piceo suffusus lumina fumo


quartus anhelanti ferales ante tumultus
Lucifer ibat equo, viridesque effusa per agros
inter harenosi subiectum gurgitis amnem
et silvas summo parientes vertice nubes, 5
desertum rapiebat iter spe ducta Pelasgum
imperiosa phalanx cum regia decidit uxor,
captivarum inter molles collapsa catervas,
quam dolor absentisque viri patriaeque iacentis
continuusque viae labor expirare coegit. 10
Non secus indoluit regum fortissimus ille
et pius eversor quam si cecidisse peremptas
Buch IV
Themenübersicht (1–10)

Im vierten Buch wendet Alexander der Große seine Aufmerksam-


keit dem beweinenswerten Leichenbegängnis der Gattin des Darius
zu. Wehklagen und ein falscher Verdacht lassen Darius nicht zur
Ruhe kommen. Gesandte bringen Alexanders eindeutige Antwort
zu Darius. Auf beiden Seiten stehen die Schlachtreihen [5] kampf-
bereit da. Durch ein Schreckbild über den Krieg wird Alexander in
Angst versetzt, er ruft den Kriegsrat zusammen. Die Vorschläge der
Generäle weist er zurück. Er schläft bis weit in den Morgen hinein.
Aus dem Schlaf gerissen, ergreift er schleunigst die Waffen und
stärkt mit Worten und Taten die Seinen. [10] Da stoßen kämpfend
die Heere zusammen, bis zu den Sternen dringt das Getöse der
Schlacht.

Tod der Stateira (1–23)

Von pechschwarzem Dunst überdeckt, war der sonst hell leuchten-


de Luzifer schon das vierte Mal vor der todbringenden Schlacht
bleich auf schnaubendem Ross heraufgezogen. Verteilt zwischen
grünen Feldern, dem nahe gelegenen Strom mit seiner sandigen
Flut unten im Tal [5] und den Wäldern, die hoch auf den Gipfeln
Wolken auftürmten, schritt auf verlassenem Weg das mächtige
griechische Heer voller Hoffnung voran. Da starb Darius’ Gattin,
nachdem sie inmitten der sanftmütigen Schar der gefangenen Frau-
en zusammengebrochen war; der Schmerz über die Abwesenheit
ihres Gatten, über die am Boden liegende Heimat und die [10] un-
unterbrochene Mühsal des Marsches hatten sie in den Tod gezwun-
gen. Dieses tragische Ereignis schmerzte jenen tapfersten aller
Könige und tugendhaften Eroberer nicht anders, als wenn er die
226 ALEXANDREIS

nuncius afferret una cum matre sorores.


Et lacrimis quales Darius fudisset obortis
exiit in planctum iuvenis. Iam cana senectus 15
funeris assedit loculo, et que rara tirannis
semper inest fregit pietas generosa rigorem
principis indomiti lacrimasque extorsit ab hoste.
Post raptum semel hanc inspexerat, et preciosa
reginae species non incentiva furoris 20
causa sibi fuerat. Custodem se esse pudoris
maluit et formae, neutrumque sibi temerare
gloria maior erat quam si violaret utrumque.

Nuncius ad Darium mediis elapsus Achivis


it spado Tiriotes. Quem scissa veste cruentis 25
unguibus et lacero super ora iacente capillo
et vultum multo lacrimarum flumine mersum
ut vidit, “ne differ” ait “turbare salutis
si quid adhuc superest in me. Michi solve timorem
in luctum. Didici miser esse malisque retundi. 30
Hoc solamen et hec misero medicina malorum
sortem nosse suam. Ludibria cruda meorum
affers atque ipsis omni graviora flagello,
quod tamen ipse loqui timeo.”
BUCH IV 227

Botschaft erhalten hätte, seine Schwestern seien zusammen mit


seiner Mutter dahingerafft worden. Mit den ersten aufkommenden
Tränen, die unter anderen Umständen Darius vergossen hätte,
[15] ließ der junge König seiner Trauer freien Lauf. Schon saß die
greise Königsmutter Sisigambis am Sarg ihrer Tochter Stateira. Ihr
edelmütiges Pflichtgefühl, das Menschen königlichen Geblüts
normalerweise selten nur innewohnt, konnte den strengen Sinn des
niemals besiegten Herrschers erweichen und brachte den Feind
zum Weinen. Nach Stateiras Gefangennahme hatte er diese nur ein
einziges Mal genauer betrachtet und die ausgesuchte [20] Schönheit
der Königin hatte ihm keinen Vorwand für eine Entehrung gelie-
fert. Er hatte es vorgezogen, Hüter ihrer Schamhaftigkeit und
Schönheit zu sein, und größeren Ruhm hatte es ihm bedeutet,
keines von beidem zu schänden, als beides zu entehren.

Tiriotes und Darius (24–67)

Darius befürchtet die Schändung seiner Familie (24–34)

Aus der Mitte der Griechen geflohen, eilte [25] der Eunuch Tiriotes
zu Darius. Als der persische König diesen mit zerrissenen Kleidern,
blutigen Nägeln, ungeordneten, über das Gesicht fallenden Haaren
und dessen tränenüberströmtes Gesicht erblickte, sagte er: »Zögere
nicht, das zu zerstören, was an glücklicher Zuversicht mir noch
bleibt. Verwandle mir meine Furcht [30] in Trauer. Ich habe ge-
lernt, mit schmerzvollen Erfahrungen umzugehen und von Schick-
salsschlägen heimgesucht zu werden. Für einen unglücklichen
Mann ist das Wissen um das eigene Los der einzige Trost und das
einzige Heilmittel gegen die Drangsal. Bestimmt bringst du mir
Nachricht von der grausamen Schändung meiner Familie, die für
sie selbst entehrender ist als jeder einzelne Peitschenhieb, über den
allein zu sprechen mich schon erschaudern lässt.«
228 ALEXANDREIS

Tunc excipit ille:


“Quantuscumque potest reginis” inquit “ab illis 35
cedere qui parent honor et reverentia, tantus
a victore tuis. Verum tua nobilis illa
et soror et coniunx, quod vix presumo fateri,
exiit a medio corpusque reliquit inane.”

Tunc vero in gemitum et planctum conversa videres 40


castra. Senex iacet exanimis fedatque verendam
pulvere caniciem infelix, ideoque peremptam
uxorem, quia casta pati probra nollet, apud se
nescius affirmat, unoque spadone retento
excludit reliquos. Iurat spado nulla tulisse 45
dampna pudoris eam, nichil importasse molesti
raptorem raptae verum gessisse mariti
officium lacrimis et dignas indole tanta
solvisse exequias. Hinc sollicitudine mixta
suspicio graviter animum traiecit amantis. 50
Estuat eger amans, a consuetudine stupri
ortum coniectans raptae et raptoris amorem.
“Hec captiva” inquit “et forma et sanguine clarens,
hic dominus fuit et iuvenis. Voluisse probatur
quod potuisse patet.” His estuat anxia curis 55
languida mens Darii donec, testante penates
BUCH IV 229

Die Todesnachricht (34–39)

Darauf entgegnete jener: [35] »Im selben Maße, wie Ehre und
Hochachtung Königinnen von ihren Untertanen zuteil werden
können, wurden diese vom griechischen Sieger den Deinen entge-
gengebracht. Deine edle Schwester und Gattin jedoch – ich wage es
kaum zu gestehen – ist gestorben und ließ ihren entseelten Körper
zurück.«

Trauer und Argwohn des Darius (40–58)

[40] Darauf aber hätte man das Lager in Seufzen und Klagen ver-
wandelt erleben können: Der Greis lag leblos am Boden, der un-
glückliche König besudelte im Staub sein ehrwürdiges graues Haar,
von falschen Vorstellungen ausgehend, bestärkte er sich selbst in
der Meinung, sein Weib sei nur deshalb umgekommen, weil sie in
ihrer Keuschheit die Entehrung nicht hatte erdulden wollen. Mit
Ausnahme des Eunuchen [45] hieß er alle anderen zu gehen. Dieser
schwor seinem König, die Gattin habe keinerlei Schande ertragen
müssen, der Räuber habe die geraubte Ehefrau niemals belästigt,
vielmehr habe er unter Tränen die Pflicht des Gatten erfüllt und
eine ihrer bedeutenden Abstammung würdige Totenfeier abgehal-
ten. Aufgrund dieser Worte [50] bemächtigten sich des Liebenden
Seele Argwohn und Sorge. Während Darius im Stillen vermutete,
dass die Zuneigung zwischen dem Räuber und der Geraubten
ausgehend von der Gewöhnung an den unehelichen Beischlaf ihren
Anfang genommen hatte, quälte er sich angstvoll in Liebe. Er sagte:
»Die eine war eine durch ihre Schönheit und Abkunft hervorste-
chende Gefangene, der andere war ihr jugendlicher Herr. Es ist da-
von auszugehen, dass er – [55] was ihm an Möglichkeiten offen-
stand – auch gewollt hat.« Von derartigen Sorgen gequält, wusste
Darius’ verzagter Geist solange nicht, was er glauben sollte, bis er
230 ALEXANDREIS

et superos servo castam vixisse maritam,


facta fides Dario,
tollensque ad sydera palmas
et faciem irriguo lacrimarum fonte madentem,
“Summe deum pater” inquit “et una potentia rerum, 60
dii patrii et quorum nutu stat Persicus orbis,
primum, queso, michi regnum stabilite meisque.
Quod michi si tolli iam prefinistis et a me
transferri fati iubet imperiosa voluntas,
regnum Asiae me post hic tam pius hostis habeto 65
tam clemens victor.” Dixit superosque profusis
invitat lacrimis ut vocem fata sequantur.

Et quamquam, frustra iam pace bis ante petita,


consilia in bellum converterat, hostis amore
victus et exemplo, cum Palladis arbore tutos 70
prefectos equitum quibus allegatio pacis
commissa est iubet ire decem, quorum unus Achillas,
qui quantum eloquio reliquis tam prestitit evo,
BUCH IV 231

von den Worten des Eunuchen – der Sklave beteuerte bei den
Penaten und den himmlischen Göttern, dass die Gattin im Lager
der Griechen keusch ihr Leben zugebracht hatte –, überzeugt wer-
den konnte.

Darius preist Alexander (58–67)

Die Hände zum Himmel erhoben und triefend nass das Gesicht
vom hervorquellenden Strom der Tränen, sprach er: [60] »Vater
der Götter, einzige Macht über die Welt, Götter der Heimat, durch
deren Willen das persische Reich besteht, bewahrt mir und den
Meinen – darum bitte ich euch – zuvörderst die Herrschaft. Wenn
ihr aber bereits den Beschluss gefasst habt, mir diese zu nehmen,
und der mächtige Wille des Schicksals den Befehl erteilt, dass ich in
der Herrschaft abgelöst werde, soll dieser so rücksichtsvolle Feind
und so gütige Sieger nach mir [65] die Herrschaft über Asien er-
halten.« So sprach er und flehte die Götter unter Tränen an, dass
sich das Schicksal von seinen Worten leiten ließ.

Die Gesandten des Darius (68–108)

Das tugendhafte Verhalten Alexanders (68–92)

Obwohl Darius seine Planungen nach zwei schon vergeblichen Ver-


suchen, mit dem makedonischen König Frieden zu schließen, auf
die kommende Schlacht ausgerichtet hatte, so schickte er nun doch,
von der Güte und dem Vorbild des Feindes [70] überwältigt, zehn
Reiterpräfekte im Schutze von Pallas’ Zweig zu erneuten Friedens-
verhandlungen. Einer von diesen, Achillas, seinen Begleitern in der
Redekunst überlegen und auch vom Alter her diesen um einiges
voraus, begann folgendermaßen zu sprechen: »Kein Zwang, gnä-
232 ALEXANDREIS

sic cepit: “Darium, rex clementissime, pacem


ut tociens a te peteret, vis nulla subegit, 75
sed tua, qua satis es in nostris usus, ab illo
expressit pietas. Matrem pia pignora natos
absentes tantum captos non sensimus. Harum
que superant custos pius et tutela pudoris
haut secus ac genitor curam geris. Omine fausto 80
reginas dicis hostilisque inmemor irae
fortunae speciem pateris retinere prioris.
Luridus in vultu color et liventia fletu
lumina coniciunt quanto clementior hoste
hostis es, et facies aufert velamina menti. 85
Talis erat Darii cum legaremur ab illo
qualis Alexandri patet. Uxorem tamen ille,
tu luges hostem. Clipeum iam leva teneret,
iam stares acie, iam te vibraret in hostes
fulmineus Bucifal, iam te sentiret in armis 90
horrificum Darius nisi coniugis eius humandae
cura moraretur.
Rata sit concordia. Natam
non sine dote offert Darius tibi. Quicquid ubique
terrarum est inter Frixei litoris horam
Euphratenque, tibi nata mediante, precatur, 95
in dotem capito. Teneatur filius obses
et fidei et pacis. Redeat comitata duabus
BUCH IV 233

digster aller Könige, nötigte Darius, [75] dich so oft um Frieden zu


bitten, sondern deine Güte, die du reichlich den Unseren gegen-
über an den Tag legtest, hat ihn dazu veranlasst. Wir haben sehr
wohl vernommen, dass die Mutter und auch die Kinder als Unter-
pfand der ehelichen Liebe nur abwesend, nicht jedoch Gefangene
waren. Du sorgst dich als tugendhafter Hüter der Überlebenden
und als Beschützer ihrer Keuschheit [80] nicht anders um sie als ein
Vater. Du nennst sie – ein großes Glück – noch immer Königin-
nen, den feindlichen Zorn vergessend, gestattest du ihnen, den An-
schein ihrer früheren glücklichen Stellung zu wahren. Die fahle
Blässe in deinem Gesicht und deine tränenunterlaufenen Augen be-
zeugen, um wie viel mehr als ein erbarmungsloser Feind du in
Wahrheit ein wohlmeinender [85] Gegner bist. Das Antlitz spiegelt
die Seele wider. Ebenso wie dein Antlitz deine Milde erkennen lässt,
so offenbarte Darius’ Antlitz dieselbe Milde, als wir von jenem als
Gesandte geschickt wurden. Jener jedoch betrauert die Gattin, du
betrauerst den Feind. Schon würdest du deinen Schild in der
Linken tragen, schon würdest du in der Schlacht kämpfen, schon
würde dich [90] Bukephalus blitzschnell in die Reihen der Feinde
tragen, schon würde Darius dich schrecklich in Waffen sehen, wenn
dich nicht die Sorge um die Bestattung seiner Gattin aufhalten
würde.

Darius’ Friedensangebot (92–99)

Eintracht möge zwischen euch herrschen. Darius bietet dir seine


Tochter nicht ohne Mitgift an. Was auch immer zwischen Phrixus’
Gestaden und [95] dem Euphrat an Landbesitz liegt, bittet er dich:
Nimm es als Mitgift für dich in Besitz zusammen mit seiner Toch-
ter! Als Bürge für Treue und Frieden bleibe sein Sohn in griechi-
scher Gefangenschaft. Es kehre jedoch in Begleitung seiner beiden
234 ALEXANDREIS

virginibus mater, quarum ter dena talentum


milia sunt precium fulvo decocta metallo.

Quod nisi te superi maiori pectore fultum 100


humanosque artus divina mente beassent,
tempus erat quo non solum pacem dare verum
poscere deberes et fedus inire. Videsne
quantus in arma ruat Darius, quot ab orbe remoto
excierit gentes, quot classibus equor obumbret? 105
Nec mare navigio nec castris terra locandis
sufficit. Obiectae claudunt maris ostia puppes.
Quid moror? Unus habet quas non habet area vires.”

Magnus ut accepit Darii responsa, citatis


in cetum ducibus, quidnam super hiis sit agendum 110
consulit. Ambiguum videas mussare senatum,
et siluisse diu perhibetur curia donec
Parmenio, cuius non tam facundia sollers
quam constans animus, nec ei tam dicere promptum
fortia quam facere est, “Dudum redimentibus” inquit 115
“reddendos fore censueram cum maxima posset
ex ipsis qui vel ob iter periere vel artis
BUCH IV 235

Töchter auch seine Mutter zurück, der Preis für alle zusammen
betrage dreißigtausend Talente aus veredeltem Gold.

Darius’ Drohung (100–108)

[100] Wenn die Götter dich aber nicht durch einen wacheren
Verstand an der Macht gehalten und deinen menschlichen Körper
nicht mit einem göttlichen Geist beschenkt hätten, wäre nun die
Zeit, in der du nicht nur Frieden gewähren könntest, sondern auch
nach ihm fragen und ein Bündnis eingehen müsstest. Siehst du
denn nicht, mit wie viel Streitkräften Darius sich in den Kampf
stürzt, wie viele Völker er aus entlegenen Gegenden der Welt [105] in
Bewegung gesetzt hat, mit wie vielen Schiffen er das Meer bedeckt?
Weder reicht das Meer aus für seine Schiffe noch die Erde, um all
seine Lager aufzuschlagen. Die in Stellung gebrachten Schiffe blo-
ckieren die Ausfahrt ins Meer. Um es kurz zu machen: Dieser allein
hat Streitkräfte, welche die ganze Gegend hier nicht in sich aufneh-
men kann.«

Der Standpunkt des Parmenion (109–130)

Als Alexander Darius’ Vorschlag vernommen hatte, fragte er seine


[110] zum Kriegsrat einberufenen Generäle, wie man ihres Erachtens
auf dieses Angebot reagieren solle. Da hätte man die Generäle un-
schlüssig erleben können, der Kriegsrat soll lange geschwiegen
haben, bis Parmenion, dessen Beredsamkeit weniger ausgeprägt war
als dessen feste Haltung und dem es leichter fiel, [115] tapfere Taten
zu vollbringen, als über diese zu reden, sagte: »Schon längst war ich
der Meinung gewesen, dass die persischen Gefangenen gegen Geld
hätten zurückgegeben werden müssen, da mit dem Verkauf derjeni-
gen, die inzwischen – entweder der Reisestrapazen wegen umge-
236 ALEXANDREIS

conpedibus lapsi fugere pecunia reddi.


Id quoque nunc censemus ut auri pondere tanto
inbellis populus genitrix cum prole gemella 120
permutetur anus, que Grecorum agmen iterque
inpediunt pocius. Tam latum et nobile regnum
condicione potes nanciscier absque tuorum
sanguinis inpensa. Sed nec reor hactenus Hystrum
inter et Eufraten tot possedisse iacentes 125
quenquam alium terras. Tamen et graviora supersunt.
Inspice quanta petas quantumque reliqueris orbis
post tergum domiti. Patriam, non Bactra vel Indos,
pectore habe memori. Post fortia gesta reverti
tucius in patriam quam vivere semper in armis.” 130

Consulis arbitrium tulit egre Magnus, et “a me,


si essem Parmenius, oblata pecunia palmae
preferretur” ait “mallemque inglorius esse
quam sine diviciis palmam cum laude mereri.
At nunc securus sub paupertatis amictu 135
regnat Alexander. Regem me glorior esse
non mercatorem. Fortunae venditor absit.
Nil venale michi est. Si reddendos fore constat,
gratius hos gratis reddi donoque remitti
censeo quam censu. Precium si dona sequatur, 140
BUCH IV 237

kommen oder engen Fesseln entronnen – geflohen sind, ein enorm


hoher Preis hätte erzielt werden können. Darüber hinaus meinen
wir auch, dass die für den Krieg [120] untauglichen Frauen – Da-
rius’ hochbetagte Mutter und dessen beiden Zwillingstöchter –, die
für das griechische Heer auf seinem Vormarsch eher hinderlich
sind, für eine so große Menge Gold ausgetauscht werden sollten.
Ein sich weithin erstreckendes und vortreffliches Reich kannst du
dir durch diese Übereinkunft erwerben, ohne das Blut der Deinen
zu vergießen. Ich glaube auch nicht, dass bisher irgendein anderer
so viele [125] zwischen Donau und Euphrat liegende Länder beses-
sen hat. Es gibt aber noch schwerwiegendere Gründe, auf Darius’
Vorschlag einzugehen: Denke darüber nach, wie viel du noch er-
strebst und wie viel vom eroberten Erdkreis du schon hinter dir
gelassen hast. Deine Heimat, nicht Baktra oder die Inder, trage im
Herzen. [130] Sicherer ist es, nach tapferen Taten in die Heimat
zurückzukehren, als immer nur Krieg zu führen.«

Alexanders Antwort auf Parmenion (131–141)

Die Ansichten seines Feldherrn Parmenion verärgerten Alexander.


Diesem entgegnete er: »Wenn ich Parmenion wäre, würde ich auch
das angebotene Gold der Siegespalme vorziehen und lieber bliebe ich
ruhmlos zurück, als ohne Reichtümer mir die Siegespalme durch
Ruhmestaten zu verdienen. [135] Momentan aber hat, furchtlos
unter dem Mantel der Armut geborgen, Alexander die Herrschaft
inne. König zu sein und nicht Kaufmann, dessen rühme ich mich.
Hinweg mit denen, welche die Möglichkeiten, die ihnen das Schick-
sal bietet, meinen verschachern zu müssen! Ich habe nichts zu
verkaufen. Falls wir uns darüber einig sind, die Gefangenen zurück-
zugeben, [140] bin ich der Meinung, dass es dankenswerter wäre,
dies ohne finanzielle Gegenleistung zu tun und sie ihnen lieber zu
schenken, als Geld für sie zu verlangen. Wenn Geschenken ein
238 ALEXANDREIS

gratia non sequitur, nec habent commercia grates.”

Hec ubi dicta, super responso consulis intro


legatos iubet admitti Darioque referre.
“Quod clementer” ait “feci quodque indole dignum,
naturae tribuisse meae non eius honori 145
me scierit. Me femineum non sentiet hostem
agmen. Alexandrum tuto contempnere possunt
soli contempti. Non infero talibus arma
qui nequeant armis uti, quibus arma negavit
naturae pigra mollicies. Armatus oportet 150
sit quemcumque odiis aut ira fecero dignum.
Quod si forte bonae fidei invigilaret ut a me
expeteret pacem totoque recederet orbe,
ambigerem fortassis an id concedere vellem,
cumque meos modo pollicitis ad proditionem 155
sollicitet Darius, modo munere palpet amicos
ut mea fatali maturent fata veneno,
persequar ad mortem. Nec enim michi iustus ut hostis
prelia molitur verum ut sicarius, immo
ut verum fatear, ut latro veneficus instat. 160
Condicio pacis quam vos pretenditis, illi,
si tulero acceptum, palmam conferre videtur.
Que trans Eufraten consistunt omnia, nobis
in dotem offertis, unde et vos arbitror esse
oblitos ubi colloquimur. Mea transiit ala 165
Eufraten. Metam dotis mea castra relinquunt.
BUCH IV 239

Kaufpreis folgt, dann folgt dementsprechend auch keine Dankbar-


keit; bei Geschäften hat Dankbarkeit nämlich keinen Platz.«

Alexanders Antwort an die persischen Gesandten (142–175)

Als er sich in dieser Weise über Parmenions Antwort geäußert hatte,


erteilte er den Befehl, die Gesandten hereinzulassen, und trug ihnen
auf, dem Darius Folgendes zu berichten: »Er soll wissen, dass ich
das, was ich gütig und meinem Charakter entsprechend getan habe,
[145] meiner Wesensart zuschreibe und ihm damit keine Ehre
erweisen will. Ein aus Frauen bestehendes Heer wird mich nicht als
Feind erleben. Nur diejenigen, die unbedeutend sind, können
Alexander gefahrlos die Stirn bieten. Nicht führe ich Waffen gegen
solche, die Waffen nicht zu benutzen verstehen und denen [150] die
schwächliche Trägheit ihrer Natur den Waffengang verwehrt. Wen
auch immer ich meines erbitterten Zorns für würdig erachte, muss
bewaffnet sein. Wenn Darius aber ehrlichen Herzens allen Ernstes
darauf bedacht wäre, Frieden von mir zu erbitten und mir sein
ganzes Reich zu überlassen, wäre ich unschlüssig, ob ich vielleicht
seinen Vorschlag annehmen würde. [155] Da Darius aber die Mei-
nen mal mit Versprechungen zum Verrat anstachelt, mal meinen
Freunden mit Geschenken um den Bart geht, um meinen Tod mit
tödlichem Gift zu beschleunigen, will ich ihn zu Tode hetzen. Denn
nicht führt er Krieg gegen mich wie ein anständiger Feind, sondern
wie ein Meuchelmörder, ja, er bedrängt mich sogar, [160] um der
Wahrheit die Ehre zu geben, wie ein Räuber und Giftmischer. Das
Friedensangebot, das ihr heuchlerisch feilhaltet, scheint, sollte ich es
annehmen, nur eurem König die Siegespalme zu verleihen. Ihr
bietet uns als Mitgift alles, was jenseits des Euphrats liegt? Dabei
beschleicht mich der Eindruck, dass ihr [165] vergessen habt, an
welchem Ort wir miteinander verhandeln. Meine Truppen haben
den Euphrat bereits überschritten. Mein Lager hat die Grenze
240 ALEXANDREIS

Pellite abhinc regem Macedum ut vestrum sciat esse


quod sibi donatis. Multum michi prestat honoris
si me Mazeo generum preponere querit!
Ite reportantes vestro hec mea dicta tyranno: 170
Quicquid habet Darius, quecumque amisit, et ipsum
esse mei iuris et pugnae premia Grais.”
Sic ait et Persas celeres in castra remittit.
Mittitur a Dario Mazeus ut occupet hostis
quos aditurus erat colles et plana viarum. 175

Interea Macedo condivit aromate corpus


uxoris Darii tumulumque in vertice rupis
imperat excidi, quem structum scemate miro
erexit celeber digitis Hebreus Apelles.

Nec solum reges et nomina gentis Achee 180


sed Genesis notat historias, ab origine mundi
incipiens. Aderat confusis partibus yle
et globus informis, vario distincta colore
BUCH IV 241

deiner Mitgift bereits hinter sich gelassen. Vertreibt doch von dort
erst den makedonischen König, damit er weiß, dass dies euer Besitz
ist, den ihr ihm schenken wollt. Darius erweist mir große Ehre,
wenn er mich als Schwiegersohn dem Mazaeus vorziehen will!
[170] Geht und bringt eurem König meine folgende Antwort: Was
auch immer Darius besitzt, was auch immer er verloren hat, und
auch er selbst ist meiner Macht unterworfen und für die Griechen
eine Belohnung für den Kampf.« So sprach er und schickte die
eiligen Perser in ihr Lager zurück. Mazaeus wurde von Darius ge-
schickt, die Hügel und Zugangswege, [175] die der griechische Feind
gerade im Begriff war einzunehmen, zu besetzen.

Das Grabmal der Stateira (176–274)

Der Künstler Apelles (176–179)

Inzwischen hatte Alexander den Körper von Darius’ Frau mit einer
Mischung aus Myrrhe und Aloe einsalben lassen. Dann gab er den
Befehl, am höchsten Punkt einer Felswand aus dem Gestein ein in
herrlicher Form angelegtes Grabmal herauszuschlagen, das der
durch die Kunstfertigkeit seiner Hände berühmte Hebräer Apelles
errichtete.

Schöpfung von Himmel und Erde; die vier Elemente;


Lichtwerdung (180–188)

[180] Nicht nur Herrscher und Namen des griechischen Volkes,


sondern auch die Erzählungen aus dem Buch Genesis bildete er ab,
beginnend mit der Schöpfung der Welt. Zu sehen war die aus
kleinen ungeordneten Teilchen bestehende Urmaterie, eine in sich
selbst ungeordnete kugelförmige Masse, welche die vier Elemente,
242 ALEXANDREIS

quatuor inpressis pariens elementa sigillis.


Hic operum series que sex operata diebus 185
est deitas, inter que, auro spirante nitorem
Luciferum et rutilis lambentibus aera gemmis,
de tenebris primam videas emergere lucem.

Dignior hic inter animas ratione carentes


de limo formatur homo, quem costa fefellit 190
propria, letifero colubri seducta veneno.
Exclusis patribus primaque a matre receptis,
ignea custodit virgulti romphea limen.

Inde Cain profugus bigami non effugit arcum.

Pullulat humanum genus et polluta propago. 195


Decedit virtus, vicium succedit, adherent
coniugio illicito, pietas rectumque recedunt.
Factorem, si triste notes in ymagine signum,
BUCH IV 243

auf eingearbeiteten Reliefs verschieden gefärbt, sichtbar hervor-


brachte. [185] Hier war die Reihe der Werke dargestellt, an denen
Gott sechs Tage lang gearbeitet hatte; dazwischen trat Lucifer mit
goldstrahlendem Glanz hervor, und weil goldgelbe Edelsteine mit
ihrem Licht die Lüfte erhellten, konnte man aus der Dunkelheit das
erste Licht hervorbrechen sehen.

Erschaffung des Menschen; Sündenfall; Vertreibung aus dem


Paradies (189–193)

Hier wurde aus Schlamm, inmitten der nicht vernunftbegabten


Lebewesen, würdiger als diese, [190] der Mensch geformt. Verführt
vom tödlichen Gift der Schlange täuschte diesen später die eigene
Rippe. Nachdem Adam und Eva und die von der ersten Mutter
empfangenen Kinder aus dem Paradies vertrieben waren, bewachte
ein flammendes Schwert den Eingang zum Garten Eden.

Lamech tötet Kain (194)

Unstet und flüchtig entkam Kain nicht dem Bogen des Bigamisten
Lamech.

Versündigung der Menschen; Sintflut; Kainsmal; Arche Noah


(195–200)

[195] Das Menschengeschlecht nahm an Zahl zu, zunehmend von


Sünde befleckt war dessen Nachkommenschaft. Die Tugendhaftig-
keit nahm ab, das Laster trat an ihre Stelle. Unzucht trieben sie
frevelnd, Pflichtgefühl und das Gute verschwanden. Wenn man auf
dem Bild das Schreckensmal sah, hätte man meinen können, Gott
244 ALEXANDREIS

penituisse putes hominem fecisse. Laborat


archifaber. Genus omne animae clauduntur in arca. 200

Post refugos fluctus replet octonarius orbem,


vinea plantatur, et inebriat uva parentem.

Hic patriarcharum seriem specialius aurum


exprimit. Emeritos videas ridere parentes,

venantemque Esau, turmisque redire duabus 205


luctarique Iacob.
Sequitur distractio Ioseph
et dolus et carcer et transmigratio prima.
BUCH IV 245

habe die Erschaffung des Menschen bereut. [200] Der Erbauer der
Arche mühte sich ab. Darin eingeschlossen wurden paarweise
jegliche Arten von Lebewesen.

Nach der Sintflut; Noah vom Wein betrunken (201–202)

Nach der Sintflut bevölkerten acht Menschen die Erde von neuem,
Weinstöcke wurden gepflanzt und der Wein machte ihren Vater
Noah betrunken.

Abraham, Isaak und Jakob; Geburt des Isaak (203–204)

Dort stellte überaus fein gearbeitetes Gold die Reihe der Patriarchen
dar. Man hätte die alt gewordenen Eltern lächeln sehen können.

Der Jäger Esau; Jakobs Rückkehr; Jakobs Kampf mit dem Engel
(205–206)

[205] Ebenso hätte man den auf der Jagd befindlichen Esau erken-
nen können und Jakob, der mit zwei Heeren zurückkehrte und den
Engel niederrang.

Verkauf Josephs; Potiphars Weib; Einkerkerung Josephs; Fortgang


der Kinder Israels nach Ägypten (206–207)

Es folgten der Verkauf Josephs, die Machenschaften von Potiphars


Weib, die Einkerkerung Josephs und der erste Auszug der Kinder
Israels nach Ägypten.
246 ALEXANDREIS

Hic dolet Egyptus denis percussa flagellis.


Transvehit Hebreos, equitatus regis et arma
subruit, et puro livescit pontus in auro. 210

Hic populum manna desertis pascit in arvis.


Lex datur, et potum sicienti petra propinat.

Succedit Bennun Moysi post bella sepulto.


Natio subicitur, Iordanis contrahit amnes.
Post cineres Ihericho reus est anathematis Achor. 215
Persolvit Iosue naturae debita postquam
funiculo patrium divisit fratribus orbem.

Iudicibus tandem populum supponit Apelles,


inter quos Samson fortissimus, et tamen illum
BUCH IV 247

Die zehn Plagen Gottes; Auszug der Kinder Israels aus Ägypten;
Untergang des Pharaos (208–210)

Hier litt Ägypten, geschlagen von zehnfacher Plage. Moses führte


die Hebräer durch das Meer hindurch, [210] vernichtete die Reite-
rei und die Waffen des Pharaos und das Meer schimmerte in lau-
terem Gold.

Zug durch die Wüste; Versorgung mit Manna; Übergabe der


Gesetze; Eröffnung der Quelle (211–212)

Dort ernährte Manna in verlassener Wüste das Volk. Das Gesetz


wurde überreicht, der Felsen spendete dem Dürstenden Trank.

Moses’ Tod; Zerstörung von Jericho; Josua hemmt den Jordan;


Verfluchung der Ebene von Achor; Landverteilung durch Josua;
Josuas Tod (213–217)

Nach Kriegen wurde Moses bestattet, dem Josua nachfolgte. Ihm


unterwarf sich das Volk, er hemmte die Wasser des Jordan.
[215] Nachdem Jericho in Schutt und Asche gelegt worden war,
wurde die Ebene Achor mit einem Fluch belegt. Nachdem Josua
mit einer Messschnur das Land seiner Väter verteilt hatte, starb er
hochbetagt.

Herrschaft der Richter; Blendung Samsons; Raub seiner Haare


durch Dalila (218–220)

Schließlich unterstellte Apelles das Volk der Herrschaft der Richter,


unter denen Samson der kräftigste war. Und doch ließ Dalila jenen
248 ALEXANDREIS

fortior excecat preciso Dalila crine. 220

Ruthque Moabitis viduata priore marito


in genus Hebreum felici federe transit.

Altera picturae sequitur distinctio, reges


aggrediens et funus Heli Samuelis ab ortu.
Murmurat in Silo populus. 225
De Beniamin exit
qui regat Hebreos, sed enim quia dissonat eius
principio finis, Ysai de semine princeps
preficitur populo, qui contudit arma Goliae,
inque acie belli cum prole cadente tyranno,
regia desertos dampnat maledictio montes. 230
BUCH IV 249

blenden, selbst nun [220] stärker, nachdem sie diesem im Schlaf das
Haar geschoren hatte.

Ruth (221–222)

Ihres ersten Gatten verlustig, siedelte die Moabiterin Ruth in


glücklichem Ehebund zum Geschlecht der Hebräer über.

Ankündigung der Könige Israels; Tod des Eli; Geburt des Samuel;
Unruhe in Silo (223–225)

Ein anderer Teil des Bildwerks folgte: Er zeigte die Könige Israels
und Elis Tod, gefolgt von der Geburt Samuels. [225] Das Volk
murrte in Silo.

Saul erster König Israels; David zweiter König Israels; Sieg Davids
über Goliath; Tod des Saul und seiner Söhne; Klagelied Davids
(225–230)

Aus Benjamins Stamm ging Saul hervor, der über die Hebräer
herrschen sollte. Da aber seinem positiven Anfang nicht das böse
Ende entsprach, wurde dem Volk mit David ein Fürst aus dem
Geschlecht des Jesse an die Spitze gestellt, der Goliaths Waffen
zerbrach. Als im Kampf gegen die Philister der König Saul zusam-
men mit seinen Söhnen fiel, schmähte [230] ein königlicher Fluch
die einsamen Berge.
250 ALEXANDREIS

Hic Asael Abnerque cadunt, incurrit Urias


quam tulerat mortem. Patricidam detinet arbor
quem fodit hasta viri. Patriam lugere putares
effigiem.
Sed postquam humanitus accidit illi,
construitur templum, vivunt mandata sepulti 235
pacifico regnante patris, nec sacra tuetur
ara Ioab, Semeique vorax intercipit ensis.

Consilio iuvenum phariseat scisma perhenne


cum regno populum. Lis est de divite regno.

Quodcumque alterutrum preclare gessit, eodem 240


marmore docta manus et res et nomina pingit.
Ne tamen infamet gentem et genus, ydola regum,
BUCH IV 251

Aufstand gegen David (231–234)

Hier fielen Asael und Abner, Urija wurde dargestellt, wie ihn der
Tod ereilte. Der Ast eines Baums hinderte Absalom am Vatermord,
den der Speer eines Mannes durchbohrte. Man hätte meinen
können, das Abbild Davids zeige lebensecht dessen Trauer.

Tod Davids; Salomo dritter König Israels; Tempelbau; Tod des


Joab; Tod des Simei (234–237)

Nachdem König David gestorben war, [235] baute man den Tem-
pel, unter Salomos friedenstiftender Herrschaft behielten die Ge-
bote des bestatteten Vaters ihre Gültigkeit, nicht schützte den Joab
der geweihte Altar, das verzehrende Schwert ließ Simei sterben.

Rat der Ältesten; Rat der Jünglinge; Spaltung des Reichs; Abfall
von zehn Stämmen (238–239)

Auf den Rat der Jünglinge hin trennte eine dauerhafte Spaltung das
Volk und die königliche Herrschaft. Die Pracht des Königreichs
weckte Streit.

Praeteritio: Götzendienst der Könige; Verderbtheit von Samaria;


Tod der Isebel; Tod des Ahab; Justizmord an Nabot; Vernichtung
der Fünfzig (240–246)

[240] Was auch immer in den Reichen Juda und Israel Großartiges
vollbracht worden war, brachte Apelles’ kundige Hand samt der
Geschehnisse und Namen in eben diesem Marmor zum Ausdruck.
Um jedoch sein Volk und Geschlecht nicht zu kränken, ließ seine
252 ALEXANDREIS

sordes Samariae, fraterni numina regni


preterit, et funus Iezabel de turre cadentis
morsque tacetur Achab et vinea sanguine parta. 245
Non ibi cum socio quinquagenarius ardet,

sed gens sacra Baal gladio feriuntur Helie,


discipulusque dolet non comparere magistrum.

Quos tamen illustres declarat pagina reges


altior ordo tenet. Ezechias ydola purgat 250
et revocat longo sopitas tempore leges.
Hic egrotantem videas solisque recursum
et clarum titulis celebrantem Pascha Iosiam,
preter quos nullus regnavit in omnibus expers
labis apostaticae nullusque a crimine mundus. 255
BUCH IV 253

Hand die Götzenbilder der Könige, Samarias Verderbtheit und des


Bruderreichs Baalsdienst unerwähnt, ebenso verschwieg sie das
Leichenbegängnis der vom Turm gestürzten Isebel, [245] den Tod
Ahabs und den mit Nabots Blut gewaltsam erworbenen Weinberg.
Nicht ging dort der Anführer der fünfzig Mann mit seinen Waffen-
brüdern in Flammen auf.

Tötung der Baalspriester durch Elija; Trauer des Elisa (247–248)

Mit dem Schwert jedoch schlug Elija die abscheuliche Sippe des
Baal und der Schüler litt unter der Abwesenheit seines Meisters.

Ezechia und Josia von Juda; Beseitigung der Götzenbilder;


Wiedereinführung des Passah-Festes; Rücklauf der Sonne an der
Treppe (249–255)

Die obere Reihe des Bildes jedoch umfasste diejenigen glänzenden


Herrscher [250], von denen die Bibel berichtet. Ezechia beseitigte
die Götzenbilder und verschaffte den lange Zeit unbeachteten Ge-
setzen erneut Geltung. Dort hätte man den todkranken Ezechia,
den Rücklauf der Sonne und Josia sehen können, der durch ruhm-
volle Taten berühmt das Passah-Fest feierte. Abgesehen von diesen
beiden regierte keiner unter den Herrschern von Juda ohne
[255] schändlichen Abfall vom Glauben und war keiner ohne Ver-
brechen.
254 ALEXANDREIS

Ecce prophetarum, quo rege et tempore quisque


scripserit, effigies habet altior ordo locatas.

Hic signum dat Achaz. “Ecce” inquit filius Amos


“virgo concipiet.”
Hic sub Ioachim Iheremias
occasum dolet et dominum nova monstra creasse 260
in terra, “mulier”que “virum circundabit” inquit.

Stansque Ezechiel post captam a gentibus urbem


se vidisse refert clausam per secula portam,
scilicet intactae designans virginis alvum.
BUCH IV 255

Die vier großen Propheten Jesaja, Jeremia, Hesekiel und Daniel


(256–257)

Schau, die Reihe darüber zeigte die Bildnisse der Propheten und
gab an, unter welchem König und zu welcher Zeit ein jeder von
ihnen geschrieben hatte.

Verkündigung von Marias Empfängnis durch Jesaja an Ahas


(258–259)

Hier verkündete Jesaja dem Achaz: »Eine Jungfrau wird dereinst


ein Kind empfangen.«

Jeremia, Zerstörung Jerusalems unter Zedekia; babylonische


Gefangenschaft und Ende Judas; Verkündigung der jungfräulichen
Geburt Jesu (259–261)

Dort klagte Jeremia über den unter der Herrschaft Jojachins


[260] eingetretenen Fall Jerusalems und auch darüber, dass Gott
neue Scheusale auf Erden geschaffen hat, und er verkündete: »Die
Frau wird den Mann umgeben.«

Hesekiel; das geschlossene Tempeltor als Sinnbild der


Jungfräulichkeit Marias (262–264)

Nach der Eroberung Jerusalems durch die Heiden stand Hesekiel


da und verkündete, er habe das für Jahrhunderte geschlossene Tor
des Tempels vor seinem inneren Auge gesehen, womit er freilich
auf den Leib der unberührten Jungfrau anspielte.
256 ALEXANDREIS

“Occidetur” ait Daniel “post septuaginta 265


ebdomadas Christus.”
Vatum bissena secuntur
nomina cum titulis et in unum consona dicta.

Ultima pars regnum Cyri populique regressum


sub duce Zorobabel habet. Hic reparatio templi
pingitur. 270
Hystoria hic non pretermittitur Hester
causaque mortis Aman stolidaeque superbia Vasti.

Hic sedet in tenebris privatus luce Tobias,


BUCH IV 257

Daniel und die siebzig Jahrwochen (265–266)

[265] Daniel sprach: »Gekreuzigt wird Christus nach siebzig Jahr-


wochen.«

Die zwölf kleinen Propheten (266–267)

Es folgten auf Inschriften die Namen der zwölf Propheten mit


ihren übereinstimmenden Prophezeiungen.

Rückkehr der Juden nach Jerusalem und Wiederaufbau des


Tempels unter Cyrus; Zorobabel (268–270)

Der letzte Teil der Darstellungen umfasste die Herrschaft des Cyrus
und die unter Zorobabels Führung erfolgte Rückkehr des jüdischen
Volkes. Hier wurde der Wiederaufbau des Tempels [270] abgebil-
det.

Esther wird Königin; Hinrichtung des Haman; Verstoßung der


Vasti (270–271)

Hier überging man nicht Esthers Geschichte, nicht den Grund für
Hamans Tod und den Stolz der törichten Perserkönigin Vasti.

Der unerschütterliche Glaube des Tobias (272)

Hier saß der seines Augenlichts beraubte Tobias im Dunkeln.


258 ALEXANDREIS

in castrisque necat Holofernem mascula Iudith,

totaque picturae series finitur in Esdra.

Magnus ut exequiis tumulo de more peractis 275


inferias solvit, festinus castra moveri
imperat et rapido cursu bachatur in hostem,
et Menidan raro contentum milite campos
explorare iubet ubi rex Persaeque laterent.

Quo procul inspecto Mazeus prepete cursu 280


contraxit turmas et sese in castra recepit.
At Darius, patulis avidus decernere campis,
instaurat bellis acies, cuneosque pererrans
pectora tam monitis honerat quam prestruit armis.
BUCH IV 259

Judith tötet Holofernes (273)

Im Lager erschlug die mannhafte Judith den Holofernes.

Esra und der Wiederaufbau des Tempels (274)

Die ganze Reihe der Bilder endete mit Esra.

Alexanders Schnelligkeit und kluge Planung (275–279)

[275] Nachdem Alexander dem Brauch gemäß die Totenfeiern be-


gangen und die Totenopfer vollzogen hatte, befahl er eilig den Auf-
bruch und stürzte sich in raschem Lauf auf den Feind. Er be-
auftragte Menidas, der mit kleinem Geleit sich begnügte, die
Gegend zu erkunden, wo Darius und die Perser sich versteckt halten
könnten.

Szenenwechsel: Vorbereitungen im Lager des Darius (280–284)

[280] Nachdem Mazaeus diesen aus der Ferne erblickt hatte, zog er
hastig seine Schwadronen zusammen und begab sich zurück ins
persische Lager. Darius aber stellte in seinem leidenschaftlichem
Bestreben, die Entscheidung in offener Feldschlacht zu suchen, sein
Heer in Schlachtordnung auf, die Reihen durchschreitend ermahn-
te er seine Soldaten energisch und bereitete sie auf den Waffengang
vor.
260 ALEXANDREIS

Iam loca Pelleus castris elegerat unde 285


aurea Persarum poterant tentoria cerni.
Iam vexilla ducum spacio distantia parvo,
iam stabant acies. Hinc inde volare videres
ventorum facili inpulsu per inane dracones
cum Macedum furor infremuit, strepituque soluto 290
in Persas raucis stridoribus inpulit auras.
Nec minus adversi certant elidere Persae
horrifico clangore polum. Tremit orbis et axis
ad sonitum, tremuloque genu vix sustinet Athlas
perpetuum pondus. Rursus nova bella Gygantum 295
orta putans, replicat iteratos Echo boatus,
et patulae rauco respondent gutture valles.
Armatas inhibere manus populique furorem
vix potuit Macedo quin excitus ordine rupto
frenderet incussoque gradu raperetur in hostem. 300

Sed quia iam fessus emenso Cinthius orbe,


obtenebrans faciem ne funera tanta videret,
emerito mergi certabat in equore curru,
ipse iaci vallum et Grais edicit eodem
castra locare loco. Paretur, et aggere facto 305
se rapit ad tumulum quo totum cominus hostem
BUCH IV 261

Griechen und Perser lagern in Sichtweite zueinander (285–300)

[285] Schon hatte Alexander einen Platz für das Lager ausgewählt,
von wo man die goldenen Zelte der Perser sehen konnte. Schon
waren die Feldzeichen beider Feldherrn nicht mehr weit voneinan-
der entfernt, schon standen die Heere in Schlachtordnung da.
Hüben wie drüben hätte man sehen können, wie die von einem
leichten Windstoß bewegten Drachenfahnen durch die Luft
flatterten, [290] als plötzlich sich die Kampfeswut der Griechen
entlud und die Lüfte mit hemmungslosem Getöse gegen die Perser
und rauem Gebrüll erschütterte. Ebenso trachteten die feindlichen
Perser danach, das Himmelsgewölbe mit entsetzlichem Lärm zu
zerschmettern. Bei diesem Krachen erzitterten Erde und Himmel,
kaum war Atlas noch in der Lage, mit zitternden Knien die für ihn
[295] ewige Last zu tragen. Im Glauben, ein neuer Krieg der Gigan-
ten habe noch einmal begonnen, erwiderte Echo das wiederholte
Dröhnen, die weiten Täler antworteten mit dumpf tönendem
Raunen. Kaum noch konnte Alexander den bewaffneten Scharen
und seiner Männer Kriegswut Einhalt gebieten, dass sie sich gereizt
in mächtigem Sturmschritt, grimmig und ohne die Ordnung zu
halten, [300] wild auf die Feinde stürzten.

Alexanders Entsetzen (301–327)

Als die Sonne den Erdkreis durchmessen hatte und, bereits er-
schöpft und ihr Antlitz allmählich verfinsternd, sich eifrig bemüh-
te, mit ihrem abgekämpften Wagen im Meer zu versinken, um nicht
ein so großes Sterben miterleben zu müssen, gab Alexander den
Griechen die Anweisung, einen Wall aufzuschütten und an eben
dieser Stelle [305] das Lager zu errichten. Man gehorchte dem Be-
fehl. Nachdem der Schutzwall errichtet war, trieb es ihn auf den
Hügel, wo er aus unmittelbarer Nähe das ganze feindliche Heer
262 ALEXANDREIS

et sparsas oculis potuit revocare phalanges,


totaque venturi facies discriminis illi
obicitur. Videt armisonas radiare choortes,
distinctas acies phaleris auroque superbas, 310
barbariem populi confusaque murmura vocum
audit, et horrisonus aures percellit equorum
hinnitus. Que cuncta viro, si credere fas est,
incussere metum, facilemque ad nobile pectus
corque gyganteum reor ascendisse pavorem. 315
Non alio Tiphis curarum fluctuat estu,
cui blandita diu Zephiri moderantia solo
flamine contentam ducit sine remige puppem,
Nereidumque chorus placidis epulatur in undis,
si procul instantes videat fervere procellas 320
et celeres phocas imis a sedibus Auster
premittens madidis iam verberet aera pennis:
Inclamat sociis, laxisque rudentibus ipse
convolat ad clavum laterique aplustre maritat.
Non secus, ut vidit tot milibus arva prementes 325
barbaricos instare globos, iam credere fas est
magnanimum timuisse ducem.
Vocat ergo quirites,
seu dubiae mentis quid agat seu verius ut sic
experiatur eos que sint tractanda requirens.
Expectata diu tandem sententia docti 330
BUCH IV 263

und die Aufstellung der persischen Schlachtreihen in Augenschein


nehmen konnte. Dabei trat ihm das Szenario der nahenden Ent-
scheidungsschlacht in seinem ganzen Ausmaß vor Augen. Schim-
mern sah Alexander waffenklirrende Kohorten, [310] stolze mit
Brustschmuck und Gold geschmückte Schlachtreihen, er konnte
die barbarischen Schreie der Perser und das unverständliche Mur-
meln ihrer Stimmen vernehmen, das schaurig tönende Wiehern der
Pferde erschütterte seine Ohren. Alle diese Eindrücke jagten dem
makedonischen Helden – man mag es kaum glauben – Angst ein,
und mühelos, meine ich, konnte sich die Furcht seines edlen
Gemüts [315] und seiner vortrefflichen Seele bemächtigen. Diesel-
ben drängenden Sorgen nehmen einen Steuermann in Beschlag,
dem Zephyr zuerst das mit leichtem Wind zufriedene Schiff ohne
den Einsatz der Ruder lange angenehm vorwärts bewegt, während
der Reigen der Nereiden sich bei ruhiger See erquickt, [320] wenn
er dann aber in der Ferne tobende Stürme drohend herannahen
sieht und der Südwind, die schnellen Robben aus den tiefsten Ge-
wässern vorab schon vertreibend, mit regendurchnässten Schwin-
gen die Lüfte schon peitscht, er sich rufend an seine Gefährten
wendet, selbst zum Steuerruder eilt und wegen der noch schlaffen
Schiffstaue das Hinterdeck und die Bordwände fest vertäut.
[325] Nicht anders – so darf man wohl annehmen – fürchtete sich
der mutige griechische Anführer, als er die barbarischen Scharen,
welche die Fluren mit so vielen Tausend besetzten, vorwärtsdrängen
sah.

Versammlung der Generäle (327–349)

Also rief er seine Berater zusammen, entweder aus Zweifel über das
weitere Vorgehen oder in Wahrheit doch eher in der Absicht, jene
prüfend zu fragen, was nun getan werden müsse. [330] Der kluge
Parmenion äußerte schließlich die längst erwartete Ansicht, dass sie
264 ALEXANDREIS

Parmenionis habet ope noctis eis opus esse,


et furto pocius quam bello censet agendum:
Attonitos subito casu, caligine noctis
oppressos, placidae torpore quietis inertes,
moribus et linguis discordes posse repelli 335
ex facili aut cedi gladiis aut cedere victos.
Nam si res agitur de luce, horrenda Scitarum
corpora et intonsis invisi crinibus Indi
et quos Bactra creant, inmensa statura Gygantum,
occurrent oculis, et inani quassa pavore 340
pectora terribiles poterunt pervertere formae.
Addit et a paucis hominum tot milia gentis
nec circumfundi nec bello posse moveri.
Preterea Darium probat elegisse iacentes
planicie campos, et non, ut contigit ante, 345
Cyliciae angustas inter decernere fauces.
Tota fere Macedum laudat manus hoc et in unum
consonat. Hos inter Polipercon nocte fruendum
asserit et positum Grais in nocte tryumphum.

Hunc rex intuitus, neque enim iam Parmenionem 350


sustinet arguere et tumidis offendere dictis,
quem modo consultum satyra percusserat acri,
“Hic latronis” ait “mos et sollercia furum
BUCH IV 265

die Hilfe der Nacht benötigten und es besser sei, mit List vorzuge-
hen, als die offene Feldschlacht zu suchen: Mit Leichtigkeit könn-
ten die Feinde, bestürzt durch den plötzlichen Angriff, überfordert
durch das Dunkel der Nacht, wehrlos durch die Trägheit eines
friedlichen Schlafs und gänzlich verschieden [335] in ihren Lebens-
gewohnheiten und ihren Sprachen, fortgejagt, mit dem Schwert
getötet oder besiegt zur Flucht bewegt werden. Wenn man nämlich
bei Tageslicht die Entscheidung suche, würden die furchterregen-
den Körper der Skythen und die noch von keinem Griechen mit
eigenen Augen erblickten Inder mit ihren ungeschorenen Haaren
und jene, die Baktra hervorbringt, Riesen von gigantengleicher Ge-
stalt, [340] den Griechen von Angesicht zu Angesicht gegenüberste-
hen; derartige Schreckensgestalten könnten Gemüter, die allein
schon durch grundlose Angst erschüttert würden, völlig aus der
Fassung bringen. Er fügte noch hinzu, dass von so wenigen eigenen
Kriegern wohl kaum so viele tausend Perser umzingelt oder vom
Schlachtfeld vertrieben werden könnten. Außerdem gab er zu be-
denken, dass Darius für die Schlacht [345] ein ebenes und weites
Gelände ausgewählt habe und die Entscheidung nicht mehr wie
früher in den engen Schluchten Kilikiens suche. Beinahe die ganze
makedonische Schar lobte diesen Vorschlag und stimmte einmütig
zu. Unter ihnen empfahl auch Polipercon, die Dunkelheit der
Nacht zu nutzen: Der Sieg der Griechen beruhe auf einer nächtli-
chen Schlacht.

Alexanders Verständnis wahren Ruhms (350–373)

[350] Alexander blickte diesen scharf an – nicht mehr nämlich er-


trug er es, Parmenion eines Irrtums zu überführen und ihn mit
aufbrausenden Worten zu kränken – und attackierte den Mann,
den er eben noch um Rat gefragt hatte, mit bitterer Ironie: »Euer
Vorschlag entspricht der üblichen Vorgehensweise von Räubern und
266 ALEXANDREIS

quem michi suggeritis, quorum spes unica, voti


summa, nocere dolis et fallere fraude latenti. 355
Gloria nostra dolo non militat. Ut nichil obstet
quod michi candorem famae fuligine labis
obfuscare queat, iam non angustia saltus
et Cilicum fauces Dariive absentia segnis
nec furtiva placent timidae suffragia noctis. 360
Aggrediar de luce viros. Victoria quam nos
molimur gladiis aut nulla sit aut sit honesta.
Malo peniteat fortunae et sortis iniquae
regem quam pudeat parti de nocte tryumphi.
Vincere non tanti est ut me vicisse dolose 365
posteritas legat et minuat versutia palmam.
Quin ne fallantur, ne comperiantur ab hoste,
Persarum vigiles et in armis stare catervas
compertum est. Igitur vestris impendite curam
corporibus sompnoque operi reparate diurno, 370
vicinae memores motus instare diei,
que vobis medium pessundare debeat orbem.”
Hiisque peroratis redit in tentoria miles.

Econtra Darius Persas haut segnius armat


premunitque suos. Facturum conicit hostem 375
quod facturus erat si Parmenionis haberet
consilium vires. Mandunt alimenta furoris
quadrupedes frenos, phalerataque terga relucent.
BUCH IV 267

dem Ränkespiel von Dieben, deren einzige Hoffnung [355] und


höchster Wunsch darin besteht, durch Arglist zu schaden und
durch hinterlistigen Betrug zu täuschen. Unser Ruhm bedarf nicht
der Hinterlist. Nichts soll im Weg stehen, was mir den Glanz
meines guten Namens mit einem dunklen Schandfleck beeinträch-
tigen könnte. Nunmehr missfallen mir die Engstellen der Berge und
die Schluchten Kilikiens oder die Abwesenheit des trägen Darius
[360] und auch der ängstlichen Nacht verstohlene Unterstützung.
Ich will die Perser bei Tage angreifen. Der Sieg, den wir mit unseren
Schwertern erstreben, soll entweder ehrenhaft sein oder gar nicht
erst Wirklichkeit werden. Ich will lieber ein König sein, der im Falle
einer Niederlage mit seinem unglücklichen und ungerechten Schick-
sal unzufrieden ist, als einer, der sich eines nächtlich errungenen
Sieges schämen muss. [365] Ein Sieg ist nichts wert, wenn die Nach-
welt dann berichtet, ich hätte mit List nur gesiegt, und der Vorwurf
der Verschlagenheit meinen Ruhm schmälert. Überdies ist erfah-
rungsgemäß davon auszugehen, dass die Wachen und Truppen der
Perser auch nachts stets kampfbereit sind, um nicht vom Feind
ausgeschaut und überrumpelt zu werden. Sorgt also lieber [370] für
euren Körper und stärkt ihn im Bewusstsein, dass die militärische
Auseinandersetzung unmittelbar bevorsteht, die euch die Hälfte
der Welt verschaffen soll, im Schlaf für den morgigen Kampf.«
Nach diesen Worten kehrte die Truppe zu den Zelten zurück.

Szenenwechsel: Letzte Vorbereitungen im Lager des Darius (374–390)

Auf der anderen Seite rüstete Darius die Perser ebenso schwungvoll
für den Kampf [375] und verstärkte seine Truppen im Vorfeld der
Schlacht. Er vermutete, der griechische Feind werde, falls sich Par-
menions Rat durchsetzen sollte, noch in der Nacht angreifen. Die
Pferde kauten am Zaumzeug – Nahrung für ihre Wut – und ihre
schmuckverzierten Rücken leuchteten im Dunkel der Nacht. Ent-
268 ALEXANDREIS

Ignibus accensis acies ardere videntur.


Syderibus certant galeae, clipeisque retusus 380
invenisse pares flammas stupet arduus ether,
et metuit fieri caelum ne terra laboret.
Nec minimum gaudet nox instar habere diei.
Nam pro sole sibi Darii datur emula Phebi
cassis, et in summo lampas sedet ignea cono, 385
sydera que noctis obscurans solaque solis
solius radiis indignans cedere, quantum
lumine cedit ei, tantum preiudicat illis.
Mille micant lapides in girum. Nullus eorum est
quem iubar ardoris non disputet esse piropum. 390

Invasit subitis concussum motibus ingens


agmen utrumque timor. Iamque ausa fovere secundum
aurea sponda Iovem sed non spondere soporem
inplicitum curis corpus regale tenebat.
Nunc placet in dextrum cuneum de vertice montis 395
mittere Graiugenas, nunc levum frangere cornu,
et nunc oppositis occurrere frontibus hosti
molitur, modo falcatos eludere currus,
insompnemque trahit, agitat dum talia, noctem,
nec capit angustum curarum milia pectus. 400
BUCH IV 269

zündeten Fackeln gleich schienen die persischen Reihen zu glühen.


[380] Wetteifernd mit den Sternen funkelten die Helme, erstaunt
war der hohe Äther, im Widerschein der Schilde dasselbe Leuchten
noch einmal zu finden, er hegte sogar die Befürchtung, die Erde
beabsichtige, selbst Himmel zu werden. Dem Tage zu gleichen,
freute sich die Nacht. Denn man hatte ihr Darius’ Helm, des Phoe-
bus’ Rivalen, gleichsam als Sonne gegeben; [385] ganz oben auf der
kegelförmigen Spitze des Helms erstrahlte ein Licht, das die nächtli-
chen Sterne überstrahlte und allein den Strahlen der Sonne unwillig
wich; im selben Maße, wie es mit seinem Leuchten der Sonne nach-
stand, so überstrahlte es doch die Sterne. Kreisförmig angeordnet
blitzten tausend Edelsteine, die alle ohne Ausnahme [390] ihren
strahlenden Glanz auf das rote Leuchten des Granatsteins zurück-
führen konnten.

Das Eingreifen der Göttin Victoria (391–453)

Alexanders Gedankengefängnis (391–400)

Von jäher Erregung überwältigt, wurden beide Heere von gewalti-


ger Angst erfasst. Und schon umfing den von Sorgen geplagten
König das goldene Bett, das es zwar wagte, den zweiten Jupiter zu
wärmen, nicht aber den Schlaf zu versprechen. [395] Bald schien es
ihm geraten, griechische Kämpfer von der Anhöhe des Bergs auf
den rechten Flügel der Perser zu schicken, bald den linken persi-
schen Flügel zu zerschlagen, bald war er gedanklich damit beschäf-
tigt, den Feind frontal anzugreifen, bald den persischen Sichelwa-
gen auszuweichen. Während er solches erwog, verbrachte er eine
schlaflose Nacht, [400] und nicht war seine belastete Seele in der
Lage, die zahllosen Sorgen zu verarbeiten.
270 ALEXANDREIS

Insula multifidi quam Tibridis alveus ambit


est ipso reverenda loco, que vendicat orbis
imperiique caput, quadris ubi freta columpnis
stat sita sub clivo lunaris in aere motus
regia reginae cuius Victoria nomen. 405
Mille patet foribus tremulisque sonora lapillis
intremit a tactu, totique inmurmurat orbi
cardo semel flexus. Ad limina prima susurrat
introitumque tenet curarum sedula mater
Ambitio pernox. Solio sedet intus eburno 410
diva, triumphales lauro mordente capillos,
munifica munita manu, cinguntque sorores
eius utrunque latus et regia tecta coronant
perpetue comites: lirico modulamine carmen
inmortale canens et in evum Gloria vivax, 415
Maiestasque premens rugoso secula fastu,
conciliansque sibi facilem Reverentia plebem,
et dea que leges armat, que iura tuetur,
Iusticia, in neutram declinans munere partem.
Assidet hiis stabilitque deae Clementia regnum, 420
sola docens miseris misereri et parcere victis.
Has inter locuples sed barbara moribus astat
fomentum vicii genitrixque Pecunia luxus.
Pacifico reliquis prelibans oscula vultu
inmemor est odii finis Concordia belli 425
et Pax agricola et cum pleno Copia cornu.
Applausus a fronte sedent, qui seria ludis
miscentes vario divam oblectamine mulcent,
BUCH IV 271

Der Palast der Göttin Victoria (401–432)

Rings umströmt vom Flussbett des oft sich verzweigenden Tiber


lag eine Insel, ehrwürdig durch ihre Lage allein, die für sich den An-
spruch erhob, Mittelpunkt von Erdkreis und Reich zu sein. Dort
ragte, fest gestützt auf quadratische Säulen, am Fuß einer Anhöhe
[405] im Dunst des wandernden Mondlichts der Palast einer
Königin – Victoria ist ihr Name – empor. Zugänglich war er durch
tausend Tore und bebte, von zitternden Perlen tönend, schon bei
leichter Berührung; und wenn sich ein Tor einmal öffnete, sprach es
murmelnd zum ganzen Erdkreis. An der ersten Schwelle flüsterte,
den Eingang bewachend, die allzu geschäftige Mutter der Sorgen:
[410] die rastlose Ambitio. Auf einem elfenbeinernen Thron saß
drinnen, versehen mit spendender Hand, die Gottheit Victoria
selbst, ein Lorbeerkranz hielt ihre glänzenden Haare zusammen. Zu
beiden Seiten umringten sie ihre Geschwister und umgaben kranz-
artig den königlichen Tempel als beständige Begleiter: zum einen
die unvergängliche Gloria, die zum Klang der Leier ihr [415] un-
sterbliches Lied sang; dann Maiestas, welche die Jahrhunderte mit
unerbittlicher Verachtung knechtete; auch Reverentia, die das wil-
lige Volk sich freundlich geneigt machte; ebenso die Göttin Iustitia,
welche die Gesetze schützte, die Rechte bewahrte und zu keiner
Seite hin durch Bestechung sich neigte. [420] Diesen zur Seite saß
und festigte der Göttin die Herrschaft Clementia, die allein lehrte,
sich der Elenden zu erbarmen und die Besiegten zu schonen. Eben-
falls im Kreise der Geschwister saß, zwar begütert, barbarisch jedoch
in ihrem Charakter, Pecunia, Nahrung des Lasters und Mutter der
üppigen Pracht; zugegen war auch Concordia, [425] den Hass ver-
gessend, gleichbedeutend mit dem Ende des Kriegs, die mit friedfer-
tiger Miene den anderen Geschwistern Küsse zukommen ließ; auch
Pax, die Schutzgöttin des Landbaus, und Copia mit reichem Füll-
horn waren vor Ort; vor Applausus saßen jene, die ernste Dinge mit
scherzhaften Spielen mischten und die Göttin Victoria mit ab-
272 ALEXANDREIS

et Favor ambiguus et bleso subdolus ore


Risus adulator, commentaque ludicra divae 430
singula policronos optant, et musica circum
instrumenta sonant numeros aptante camena.

Hec ubi tot curas volventem pectore Magnum


vidit, perpetuos cui continuare tryumphos
a cunis dederat, metuens ne forte futuri 435
naufragium Martis insompnes mergeret artus,
emicat extimplo, velataque nubis amictu
antra Quietis adit et desidis atria Sompni,
atque ita: “Surge pater, Macedumque illabere regi
dum iacet, et curis animum corpusque relaxa.” 440
Dixerat. Ille gravis, vix se torpore soluto
excutiens, madidas libravit in aere pennas.
Quo se cumque rapit, Letheo tacta liquore
sydera dormitant solitos oblita meatus.
Ergo ubi torpenti Grecorum castra volatu 445
attigit, expulso curarum examine totus
principis incubuit stratis atque inbuit eius
rore papavereo respersa medullitus ossa.
Sic animum regis prius anxietate gravatum
altior oppressit resoluto corpore sompnus 450
posseditque diu donec caligine mersa
noctis Yperborei languerent sydera Plaustri
ethereosque celer stimularet Lucifer ignes.
BUCH IV 273

wechslungsreicher Unterhaltung erfreuten, nämlich der launenhaf-


te Favor und der mit zischender Rede schmeichelnde [430] Risus;
frei erfundene Belustigungen wünschten der Göttin ein langes Le-
ben, während gleichzeitig Instrumente ringsum erklangen und sich
ein Lied passend zum Rhythmus fügte.

Victoria und Somnus (433–453)

Als Victoria bemerkte, dass der makedonische König, dem sie


[435] von Kindesbeinen an beständig Siege gewährt hatte, so viele
Sorgen im Herzen hin und her wälzte, stürmte sie aus Furcht, eine
Niederlage in der kommenden Schlacht könnte den schlaflosen
König vielleicht ins Verderben stürzen, augenblicklich fort und
betrat, gehüllt in den Schleier einer Wolke, die Höhle der Quies
und die Räume des müßigen Somnus: »Vater«, rief sie, »stehe auf!
Dringe ein in den schlaflos [440] daliegenden König der Makedo-
nen und befreie seine Seele und seinen Körper von Sorgen!« So
sprach sie. Kaum in der Lage, sich aus tiefer Betäubung zu lösen,
hob jener schwerfällig die feuchten Schwingen empor in die Lüfte.
Wo auch immer er vorbeikam, vergaßen die Sterne, benetzt vom
Trank der Lethe, ihre gewohnten Bahnen und sanken in tiefen
Schlaf. [445] Als er nun nach trägem Flug im Lager der Griechen
ankam, legte er sich – die zahlreichen Sorgen hatte er schon vertrie-
ben – ganz auf das Lager des Anführers, befeuchtete dessen Kno-
chen und benetzte diese bis ins Mark mit tauigem Mohn. Auf diese
Weise überwältigte ein [450] tiefer Schlaf den zuvor noch von
Ängsten geplagten König und löste ihm behaglich die Glieder.
Lange hielt der Schlaf ihn umfangen, bis die Sterne des Großen
Wagens, getaucht in das Dunkel hyperboräischer Nacht, ermatteten
und der eilig heraufziehende Lucifer den noch am Himmel
leuchtenden Sternen zusetzte.
274 ALEXANDREIS

Et iam pestiferae ducens presagia lucis


prodierat Tytan Nabatheis luridus undis. 455
Conveniunt proceres orta iam luce Pelasgi
ad regem, insolito thalamis de more vacantem
mirantes: alias vigiles excire solebat
et stimulare pigros et maturare morantes.
At nunc cum summi discriminis arceat hora, 460
que premat alterutram fatali turbine turbam,
explicitum curis torpore quietis inertem
mirantur iuvenem. Sunt qui latitare paventem
celantemque metum tenebris nec cedere sompno
credere sustineant. Tutorum corporis eius 465
nemo vel intrare propiusve accedere fidit,
nec munire latus armis sine voce iubentis
ire nec in turmas audet sine principe miles.
Parmenio, ne qua bellum ratione moretur,
utile consilium ratus est. Ut corpora curent 470
utque cibos sumant pronunciat ergo tribunis.

Iamque movente gradus adversa parte necesse


hiis erat exire. Stratum tunc denique regis
dux adiit. Quem sepe vocans cum voce nequiret,
excivit leviore manu. “Lux” inquit “oborta est. 475
BUCH IV 275

Unsicherheit im griechischen Lager (454–497)

Alexander verschläft (454–471)

Und schon war Helius, die Vorzeichen des unheilbringenden Tages


mit sich führend, bleich aus Arabiens Fluten [455] herausgetreten.
Die Anführer der Griechen versammelten sich kurz nach Sonnen-
aufgang bei Alexander und waren erstaunt, ihren König entgegen
aller Gewohnheit noch schlafend im Bett vorzufinden: Sonst immer
hatte es nämlich seiner Gewohnheit entsprochen, die Wachen zu
überprüfen, die Faulpelze anzuspornen und die Langsamen zur Eile
zu mahnen. [460] Ausgerechnet jetzt aber, als ihn die Stunde der
letzten Entscheidung, die beide Kriegsvölker mit der wirbelnden
Spindel der Parzen bedrängte, in die Pflicht nahm, wunderten sie
sich alle darüber, dass ihr junger König, von Sorgen befreit und
bedingt durch die tiefe Entspannung, noch schlief. Auch gab es
einige, die behaupteten, er halte sich lediglich ängstlich verborgen
und verheimliche seine Angst im Dunkel des Zelts, und nicht
[465] glaubten sie, dass er noch schlief. Keiner seiner Leibwächter
erkühnte sich, einzutreten oder sich dem König zu nähern, auch die
Soldaten wagten es nicht, ihre Waffen ohne den Befehl ihres Anfüh-
rers anzulegen und ohne ihn in Schlachtaufstellung zu gehen. Um
die Schlacht in keiner Weise zu verzögern, traf Parmenion eine aus
seiner Sicht [470] sinnvolle Entscheidung: Er befahl den Tribunen,
den Soldaten Ruhe zu gönnen und sie erst einmal essen zu lassen.

Parmenion weckt Alexander (472–497)

Und weil sich der Feind schon im Anmarsch befand, war für die
Griechen schleunigster Abmarsch geboten. Schließlich trat Parme-
nion an Alexanders Bettstatt heran. Da er diesen, obgleich er ihn
mehrfach gerufen hatte, nicht aufzuwecken vermochte, [475] be-
276 ALEXANDREIS

Nunc ego te moneo molles excludere sompnos.


Que te tanta quies tenuit? Iam Meda propinquant
agmina. Iam cuneos admovit cominus hostis,
iam Bellona furit, sed adhuc expectat inermis
imperium tua turba tuum. Rigor ille vigoris 480
et virtus animi, que nunquam fracta resedit,
hec ubi nunc? Sane vigilum pigritantia sompno
corda ciere soles.” “Crede” inquit Marcius heros
“admitti sompnum michi non potuisse priusquam
exonerata graves posuissent pectora curas.” 485
Miranti sine fine duci quod libera curis
pectora dixisset Macedo sed querere causam
non tamen audenti “cum vicos ureret” inquit
“hostis, cum vastaret agros, excinderet urbes,
cum fugeret, sese diffidens credere fatis, 490
iusta michi tunc causa metus honerataque curis
mens erat, alternam non admissura quietem.
At nunc cum Darius coram me totus et eius
copia tota michi sese presentet in armis
nec fugiens possit divortia querere Martis, 495
quod metuam nichil est. Sed quid moror? Ite parari
ut mos est. Alias replicabo licentius ista.”

Dixit et armari lituo precone Pelasgos


imperat. Ipse suis aptat munimina membris.
Erea crure tenus serpens descendit ad imos 500
squama pedes. Natum mordacis acumine dentis
BUCH IV 277

rührte er ihn sanft mit der Hand und sprach: »Der Tag ist schon
angebrochen. Nun muss ich dich ermahnen, dem behaglichen
Schlaf zu entsagen. Welch tiefer Schlummer hat dich ergriffen?
Schon rücken die persischen Truppen näher. Schon bewegt der
Feind seine Schlachtreihen immer näher an unser Lager heran,
schon wütet Bellona, aber noch immer warten deine noch nicht
gewappneten Männer [480] auf deinen Marschbefehl. Deine
unbeugsame Kraft und deine Entschlossenheit, die niemals zuvor
entkräftet am Boden lagen, wo sind sie jetzt? Fürwahr, du hast doch
sonst immer die vom Schlaf übermannten Wachen geweckt.« Der
Kriegsheld antwortete Folgendes: »Glaube mir, ich fand nicht in
den Schlaf, bevor ich [485] erleichtert die drängenden Sorgen able-
gen konnte.« Als Parmenion sein grenzenloses Erstaunen darüber
zeigte, dass der König meinte, er sei nun frei von Sorgen, er es
jedoch nicht wagte, nach den Gründen zu fragen, sprach Alexan-
der: »Als der Feind fliehend die Dörfer in Brand steckte, die Äcker
verwüstete und die Städte zerstörte, [490] nicht mehr willens, dem
Schicksal noch länger Vertrauen zu schenken, da war ich aus trif-
tigen Gründen in Furcht und von Sorgen belastet und konnte nicht
zur gewohnten Zeit einschlafen. Jetzt aber, da mir Darius und sein
ganzes Heer in Waffen unmittelbar gegenüberstehen [495] und nicht
mehr in der Lage sind, durch Flucht der Schlacht zu entgehen, gibt
es nichts mehr, was ich fürchte. Aber was halte ich mich hier auf?
Bereitet euch wie gewohnt vor. Ein anderes Mal werde ich über die
Sache ausführlicher berichten.«

Alexanders Rüstung (498–525)

So sprach er und ließ seinen Männern mit dem Signalhorn den


Befehl erteilen, die Waffen anzulegen. Auch er selbst rüstete seinen
Körper mit einem schützendem Panzer. [500] Die Beine hinab, bis
ganz zu den Füßen hinunter sich schlängelnd, zogen sich die eher-
278 ALEXANDREIS

castigare moras et pennas addere plantis


calcar inest ut cum profugos prevertere cursu
temptabit, si vox non excitet aut tuba lentum
cornipedem, saltim stimulos latus audiat acres. 505
At leves humeros et pectus herile tuetur
vertice dependens triplici toga ferrea nexu
et teretes ulnas maculis circumligat uncis.
Sed parcens oculis hostem dat posse videri.
Tucior ut lateat duplici protecta galero 510
corporis humani pars dignior, enea cassis
inprimitur capiti flammantibus ignea cristis.
Inseritur lateri rivos factura cruoris
dira lues gladius, per quem Iovis atria nigri
manibus expectant vacuos implere penates. 515
Poscitur hinc Bucifal. Cui rex ut prepete saltu
insedit domuitque ferum domitor ferus orbis,
leva manus clipeo felici federe nubit,
sic tamen ut frenis equo iungatur amore.
Fraxinus in dextra, cuius flagrante choruscat 520
vexillo cuspis et verberat astra leone.
Non magis a primo duri discrimine Martis
hunc alacrem videre sui. Veniente suorum
in medium Magno, spes sana resuscitat egrum
agmen, et in vultu victoria visa sedere. 525
BUCH IV 279

nen Schuppen der Panzerung. An dieser haftete ein Sporn, dazu


geschaffen, mit einer messerscharfen Spitze jedes Säumen des
Pferdes zu bestrafen und ihm Flügel zu verleihen, damit es [505] we-
nigstens, wenn der Reiter die Flüchtenden einzuholen versuchte, an
der Seite den stachligen Dorn spürte, wenn es weder ein Rufen
noch das Dröhnen einer Tuba antreiben könnten. Die verletzlichen
Schultern und die Brust Alexanders schützte, oben vom Kopf
herabhängend, ein dreifach gearbeiteter eiserner Harnisch, der auch
die wohlgeformten Arme mit hakigen Maschen umgab. Die Augen
sparte er aus und gewährte einen freien Blick auf den Feind.
[510] Um den wichtigsten Teil des menschlichen Körpers, schon
durch eine zweifache Kappe aus Leder geschützt, noch sicherer zu
bewahren, beschirmte das Haupt zudem ein bronzener Helm, feu-
rig glänzend mit einem glühendem Helmbusch. An der Seite war als
schreckliches und blutverströmendes Ungeheuer das Schwert ange-
bracht, durch das Plutos Hallen [515] die Hoffnung hegten, ihre
leeren Behausungen mit Verstorbenen füllen zu können. Dann ver-
langte er nach Bukephalus. Mit einem beherzten Sprung schwang
sich der König auf den Rücken seines Pferdes und der wilde Be-
zwinger der Welt bändigte sein wildes Gegenstück. Die linke Hand
verband sich in glücklicher Allianz mit dem Schild und hielt
zugleich auch mit Freude die Zügel. [520] In der rechten Hand hielt
er die Lanze, deren Spitze durch eine glänzende Fahne leuchtete
und die Sonne mit einem funkelnden Löwenbildnis herausforderte.
Seit Beginn des mühsamen Kriegs hatten die Seinen ihren König
niemals entschlossener gesehen. Als Alexander sich unter seine
Männer mischte, erweckte frische Zuversicht das zuerst noch ver-
stimmte [525] Heer und im Gesicht eines jeden schien die Siegesge-
wissheit zurückgekehrt zu sein.
280 ALEXANDREIS

Ipse suis igitur distinguens partibus agmen


disponensque aciem quo debuit ordine, currus
falcatos, Dario que spes est sola tryumphi,
excipere ordinibus laxis cetuque soluto
evitare iubet et non inpune vagari 530
aurigas et equos sed eos involvere telis.
Dumque monet munitque suos, dum pectora dictis
roborat, elapsus a Medis transfuga Medus
transmeat ad regem, Darium qui ferrea terrae
instrumenta refert astu mandasse latenti, 535
muricibus nomen quibus, et si viribus hostem
vincere non possit, retinere tenacibus uncis
sperat et occulta Graios sorbere ruina.
Quo semel accepto, Medus ne ficta loquatur,
ne capiat sermone suos, rex imperat illum 540
servari, tamen ipse locum fecitque notari
monstrarique suis ubi rex Babilonius arte
fretus Ulixea terrae mandaverat uncos.
Neve repulsa dolis succumberet ardua virtus,
omnibus ostendi iubet ostensumque caveri 545
suspectum de fraude locum.
Tum vero fluentes
precedens acies, verbo nutuque loquaci
ad lites animans, “vestris labor ultimus” inquit
BUCH IV 281

Letzte Vorbereitungen Alexanders (526–546)

Er selbst trennte das Heer also in seine Abteilungen auf, legte die
Schlachtordnung den Notwendigkeiten entsprechend fest und be-
fahl die persischen Sichelwagen, Darius’ einzige Hoffnung auf den
Sieg, mit geöffneten Linien aufzunehmen und ihnen dann in ge-
löster Ordnung [530] auszuweichen, und zudem die Wagenlenker
mit ihrem Gespann nicht ungestraft herumfahren zu lassen, son-
dern diese mit einem Geschosshagel zu belegen. Während er die Sei-
nen ermahnte und vorbereitete, während er ihnen Mut zusprach,
erschien ein vor den Seinen geflohener, treuloser Meder vor Alexan-
der, der ihm berichtete, Darius habe mit heimlicher Kriegslist
eiserne [535] Vorrichtungen in der Erde vergraben lassen, auch
Fußangeln genannt, und hoffe, sollte er den Feind nicht mit seinen
Streitkräften besiegen können, sie mit zähen Haken aufzuhalten und
die Griechen mit Hinterlist zu vernichten. Nachdem er diese Nach-
richt vernommen hatte, gab er den Befehl, den Meder zu bewachen,
damit dieser nicht irgendwelche Gerüchte streute [540] und die
griechischen Soldaten mit seinem Gerede einnähme. Ungeachtet
dessen ließ sich Alexander den genauen Ort bezeichnen und den
Seinen zeigen, wo Darius im Vertrauen auf den Listenreichtum des
Odysseus die Fußangeln hatte vergraben lassen. Damit ihre hoch-
ragende Tugendhaftigkeit nicht von einer List überwunden unter-
liege, befahl er, [545] die tückische Stelle allen zu zeigen und sich
davor in Acht zu nehmen.

Alexanders Feldherrnrede vor der Schlacht bei Gaugamela (546–588)

Alexander und das Schicksal (546–562)

Dann aber ging er den strömenden Heerscharen voran, ermunterte


alle mit Worten und sprechenden Gesten zum Kampfe und rief:
282 ALEXANDREIS

“pre manibus, socii. Bellum quod Granicus amnis


vidit et angusto Cilicum victoria saltu 550
quid laudis quid honoris habent nisi fine beato
terminet extremum deus et Fortuna tryumphum?
Sed Fortuna deus ea que pro viribus astans
semper Alexandro tam sub me sceptra tenere
quam sub se gaudet alios regnare potentes. 555
Hec, ubi me Macedum moderantem Grecia vidit
frena, meos extunc promovit, eisque nocere
velle licet liceat sed non audere licebit.
Ista nichil preter numerum discriminis affert
tam populosa cohors. Sed ad hoc Fortuna laborat, 560
quam pudet exiguos tociens numerare tryumphos,
ut michi vincendum semel et simul offerat orbem.

Tanto pluris erit nobis victoria, quanto


a paucis partam de pluribus esse liquebit.
Ite per inbelles gladio ductore catervas. 565
Cernitis ut solem gemmis auroque retusum
obscurent clipei lapidumque superbia conos
occupet ardentes, ut purpura vestiat agros.
Vincere quis nolit ubi sic in bella venitur?
Quis nisi mentis inops oblatum respuat aurum? 570
Congestas Orientis opes Arabumque laborem
in promptu rapere est. Menti si pareat ensis,
si cupido cordi gladii respondeat ictus,
BUCH IV 283

»Nur noch eine letzte Anstrengung steht euch bevor, Kameraden.


Die Schlacht, die der Granikus [550] gesehen hat, und der Sieg im
engen Gebirge Kilikiens, wie viel Ruhm, wie viel Ehre bringen sie,
wenn nicht die Götter und die Schicksalsgöttin Fortuna mit glück-
lichem Ausgang auch den letzten Sieg bestimmen? Aber eben diese
göttliche Fortuna, die mir, Alexander, nach Kräften stets beisteht,
freut sich in gleichem Maße darüber, dass andere Machthaber unter
meiner Kontrolle das Szepter führen, [555] wie sie unter ihrer Füh-
rung die Herrschaft innehaben. Seit Griechenland mich die Herr-
schaft über Makedonien ergreifen sah, hat sie die Meinen unter-
stützt, und so mag es den Persern erlaubt sein, uns schaden zu
wollen, nicht wird es ihnen jedoch erlaubt sein, uns tatsächlich zu
schaden. Dieses so volkreiche Heer kann nichts als die reine Anzahl
an Soldaten in die Waagschale werfen. [560] Aber Fortuna arbeitet
darauf hin, darüber beschämt, so oft nur kleine Triumphe zu zäh-
len, mir noch einmal den Sieg zu schenken und mir gleichbedeu-
tend damit das Perserreich anzubieten.

Alexanders Ruhm (563–578)

Umso wertvoller wird der Sieg für uns sein, je deutlicher zu Tage
tritt, dass er von wenigen über viele errungen wurde. [565] Bahnt
euch, von eurem Schwert gelenkt, den Weg durch die schwächli-
chen Scharen. Ihr könnt erkennen, wie die Schilde die mit Juwelen
und Gold im Zaum gehaltene Sonne verdunkeln und die stolzen
Edelsteine die Helmspitzen einnehmen, wie Purpur die Felder be-
deckt. Wer würde bei einem solchen Gegner nicht siegen wollen?
[570] Wer würde, abgesehen von einem Tölpel, das angebotene
Gold verschmähen? Ein Leichtes ist es, die zusammengetragenen
Schätze des Orients und die kunstvollen Arbeiten der Araber zu
rauben. Wenn das Schwert sich von eurem Mut leiten lässt, wenn
ihr mit Herzenslust Schwerthiebe austeilt, wenn euer Herz sich so
284 ALEXANDREIS

si tam cedis amans animus siciensque cruoris


quam siciens auri, vestrum est quodcunque videtis, 575
non ascribo meum. Tantum michi vincite, predam
dividite inter vos. Qui mecum vincere curas,
participem me laudis habes, tibi cetera tolle.

Exemplar virtutis habe formamque gerendi


Martis Alexandrum: nisi primus in agmine primo 580
rex apparuerit, si tergum verterit hosti,
excusatus eris, veniamque merebitur ille
qui fugiet, qui lentus aget. Si vero remisse
nil aggressus ero, si nunquam dixero forti
‘I prior i’ sed ‘in arma veni’ precedere visus, 585
tum demum socios sum dignus habere sequaces.
Exemplo moveat fortes, documenta vigoris
exhibeat quicunque regit.”
Sic fatur, et ecce
concurrunt acies. It tantus ad ethera clamor
et vulgi strepitus, quantum si dissona mundi 590
in Chaos antiquum rediviva lite relabens
machina corrueret, rerum compage soluta
horrisonum concussa darent elementa fragorem.
BUCH IV 285

gierig nach Totschlag und Blutvergießen sehnt [575] wie nach Gold,
soll euch gehören, was auch immer ihr seht, nichts will ich für mich
haben. Für mich tragt allein den Sieg davon, die Beute teilt
untereinander auf. Du da, der du darauf bedacht bist, zusammen
mit mir zu triumphieren, hast mich, der am Ruhm seinen Anteil
hat, zu berücksichtigen, das Übrige kannst du für dich behalten.

Alexanders Tapferkeit (579–588)

Nimm dir mich zum Vorbild für Tapferkeit [580] und die Art zu
kämpfen: Sollte als König ich nicht als erster in vorderster Front
erscheinen, sollte ich fliehend dem Feind den Rücken zuwenden,
musst du nicht weiter dein Leben riskieren und Nachsicht wird
jener verdienen, der flieht und unmotiviert kämpft. Wenn ich aber
nichts nachlässig angehe, wenn ich einem tapferen Mann niemals
befehle [585] ›Geh voran, geh‹, sondern vor aller Augen voran-
schreitend ›Auf in den Kampf‹ rufe, dann erst habe ich es verdient,
dass meine Soldaten mir folgen. Wer auch immer herrscht, soll die
Tapferen mit dem eigenen Beispiel mitreißen und einen Beweis
seiner eigenen Stärke liefern.«

Die Schlacht beginnt (588–593)

So sprach er. Da trafen die Schlachtreihen aufeinander. Zum Him-


mel empor erhob sich ein so großes Geschrei [590] und ein solches
Getöse der kämpfenden Massen, als stürze der in Unordnung gera-
tene Weltenbau, durch einen neuen Zwist wieder in das alte Chaos
versinkend, in sich zusammen, als würden nach Auflösung des Wel-
tengefüges die Urelemente heftig erschüttert ein schaurig tönendes
Krachen von sich geben.
Liber V
Capitula quinti libri

Quintus habet strages varias et funera caris


deplorata suis. Victos apud Arbela Persas
consulit Arsamides, duro de tempore tractans,
an pocius sit ei reparato robore latis
Medorum regnis rursus committere fatis. 5
Sed proceres herent. Ad donativa maniplos
convocat Eacides et donis vulnera curat.
Ecce vir illustris et non inglorius illa
precedente acie, stipatus prole virili,
Mazeus regem Babilonis menibus infert. 10

Quintus liber

Lege Numae regis lata de mensibus olim,


quintus ab ancipiti descendens ordine Iano
mensis erat, roseis distinguens partibus annum,
et gemino plausu gaudebant hospite Phebo
Ledei fratres, prima cum parte diei 5
concurrere duces, emenso tempore cuius
previdisse luem Medis Persisque futuram
creditur et scripto Daniel mandasse latenti:
Affuit a siccis veniens Aquilonibus hyrcus,
ultio divina, proles Philippica, Magnus. 10
Buch V
Themenübersicht (1–10)

Das fünfte Buch schildert das mannigfache Gemetzel und das von
den Angehörigen beider Seiten beweinte Sterben. Im Herzen die
schwierige Lage bedenkend, fragt Darius seine bei Arbela besiegten
Perser um Rat, ob es für ihn vielleicht besser sei, mit frischen Kräf-
ten in den Weiten [5] des Mederreichs von neuem sein Glück zu
versuchen. Seine Offiziere sind jedoch ratlos. Alexander ruft seine
Scharen zur Verteilung der Beute zusammen und heilt ihre Wun-
den mit Geschenken. Da geleitet Mazaeus, ein in der gerade beende-
ten Schlacht herausragender und ausgezeichneter Mann, vom
persischen Jungvolk begleitet, [10] den makedonischen König nach
Babylon hinein.

Die Schlacht bei Gaugamela (1–430)

Der Zeitpunkt der Schlacht bei Gaugamela (1–10)

Folgt man dem einst von König Numa erlassenen Gesetz über die
Monate, befand man sich, ausgehend vom doppelgesichtigen Janus,
gerade im fünften Monat, der die Jahreszeit mit rosig blühenden
Gefilden kenntlich macht. In gemeinsamem Beifall freuten sich die
ledäischen Brüder über Phoebus’ Anwesenheit, [5] als beide Könige
am Morgen die Schlacht eröffneten. Nach Erfüllung des entspre-
chenden Zeitraums war der Tag nun gekommen, den Daniel – wie
man annimmt – für den Untergang der Meder und Perser vorausge-
sehen und mit prophetischen Worten der Bibel anvertraut hatte.
Vom trockenen Norden kommend hat sich der Geißbock nun ein-
gefunden, [10] der göttliche Rächer, Philipps Sohn, Alexander der
Große.
288 ALEXANDREIS

Quem procul ut vidit galea flammante choruscum


Indus Aristomenes, denis elephanta flagellis
prodigus excutiens medicata cuspide ferrum
inmergit clipeo, sed eo lorica retuso
tutatur corpus. At Magnus harundine monstro 15
obviat, et qua se lateri promuscida iungit,
vitales aperit ferro mediante latebras.
Fit fragor ingentem monstro faciente ruinam.
Sed cum precipiti cecidisset belua lapsu,
ultor Aristomenen et parcere nescius ensis 20
acephalum reddit. “Nostra est victoria, nostra est!”
ingeminant Graii. Persae glomerantur in unum,
missiliumque frequens regem circumvolat imber.
Sed nec gesa movent nec sevior ense bipennis
quem duce Fortuna virtus infracta tuetur. 25

Ille per insertos invictus et inpiger enses


telaque prorumpens volat ignoratque moveri,
ferreus armatos contundens malleus artus.
Quo feriente cadunt Eliphaz Pharaone creatus
et Pharos Orcanides: Eliphaz iaculo, Pharos ense, 30
hic eques, ille pedes, Egyptius hic, Syrus ille.
BUCH V 289

Alexander gegen Aristomenes (11–25)

Als der Inder Aristomenes diesen schimmernd im feurigen Helm


von weitem erblickte, trieb er seinen Kampfelefanten mit zehn
Peitschenschlägen rücksichtslos an und bohrte seinen an der Spitze
mit Gift überzogenen Speer in Alexanders Schild. Obwohl dieser
durchschlagen wurde, [15] schützte der Harnisch den Körper des
makedonischen Königs. Alexander bekämpfte indes das riesige Tier
mit dem Speer, mit dem Schwert durchtrennte er den versteckten
Wohnsitz des Lebens am Übergang von Rüssel und Körper. Mit
lautem Dröhnen stürzte das riesige Tier gewaltig zu Boden. Nach-
dem das Ungetüm aber kopfüber zu Boden gestürzt war, [20] ließ
das rächende und keine Schonung kennende Schwert Alexanders
den Aristomenes enthauptet zurück. »Der Sieg ist unser, uns ge-
hört der Sieg«, riefen die Griechen immer wieder. Die Perser gingen
geballt auf den makedonischen König los, dieser sah sich sogleich
einem dichten Geschosshagel ausgesetzt. Aber weder Wurfspieße
noch die Streitaxt, grausamer als jedes Schwert, konnten jenen ver-
treiben, [25] den unter Fortunas Führung seine ungebrochene Tu-
gendhaftigkeit schützte.

Weitere Kämpfe Alexanders (26–31)

Unbesiegt und rastlos eilte jener durch starrende Schwerter, durch-


brach den Geschosshagel und kannte kein Zurückweichen, als eiser-
ner Hammer zermalmte er die gepanzerten Körper der Perser. Wäh-
rend Alexander derartig wütete, fielen Eliphaz, des Pharao Sohn,
[30] und Pharos, Sohn des Orchanus, beide durch ihn. Eliphaz starb
durch den Wurfspieß, Pharos durch das Schwert, der eine zu Pferd,
der andere zu Fuß, der eine Ägypter, der andere Syrer.
290 ALEXANDREIS

Sicca prius sterilisque diu iam flumine fusi


sanguinis humet humus, iamque imbuit unda cruoris
arterias Cybeles. Cadit infinita vicissim
Persarum Macedumque manus. Iacet ense Phylotae 35
Enos et Caynan, Enos quia fuderat ense
Hesifilum, Caynan quia Laomedonta securi.

Ibat Alexandro vulnus letale daturus,


si sineret Fortuna, Geon, maris incola Rubri,
informis facie, quem creditur una Gygantum, 40
quippe Gyganteis ducens a fratribus ortum,
Ethiopi peperisse viro, qui corpore matrem
inmani referens aliumque colore parentem,
quos terrere nequit nigredine, corpore terret.
Fuderat ergo viros clava ter quinque trinodi, 45
agmina dum Graium sinuoso turbine rumpens
ad Magnum molitur iter, ceu dissipat acri
dente canes Nemeus aper, cui sudat apertis
spuma labris, dorso valli riget instar acuti
seta minax, humeroque canes supereminet omnes. 50
Nunc hos a leva, dextra nunc fulminat illos,
nunc caput in renes obliquat, rursus ab illis
in latus oppositum, partemque tuetur utramque,
se non ignarus volucri defendere giro.
Ventum erat ad regem. Miratur Martius heros 55
BUCH V 291

Philotas rächt Hesifilus und Laomedon (32–37)

In früheren Zeiten trockengefallen und zuvor schon lange Zeit un-


fruchtbar, war der Erdboden feucht von den Strömen vergossenen
Blutes, schon benetzte das wogende Blut die Adern der Cybele. Ab-
wechselnd fielen die schier unendlichen Scharen [35] der Perser und
Griechen. Von Philotas’ Schwert getroffen lagen Enos und Caynan
am Boden, da Enos zuvor den Hesifilus mit dem Schwert niederge-
streckt hatte und Caynan den Laomedon mit dem Beil.

Alexander gegen den Riesen Geon (38–75)

Jetzt nahte Geon, um Alexander – wenn es freilich das Schicksal zu-


ließe – den Todesstoß zu versetzen, ein Bewohner aus der Gegend
des Roten Meeres, [40] unförmig an Gestalt, den eine Riesin (ihren
Ursprung leitete sie selbstredend von den Gigantenbrüdern her)
einem Mann aus Äthiopien geboren haben soll. Was seine riesen-
hafte Gestalt anbetraf, kam Geon nach der Mutter, hinsichtlich der
Hautfarbe aber nach dem Vater. Wen er nicht mit seiner schwarzen
Haut erschrecken konnte, den erschreckte er mit seinem Riesen-
wuchs. [45] Fünfzehn Männer also hatte er mit seiner dreiknotigen
Keule schon niedergestreckt, als er die Reihen der Griechen in
einem kreisenden Wirbel durchbrach und zuletzt auf Alexander
losstürmte, ganz so wie der Nemeische Eber Jagdhunde mit spitzen
Hauern auseinandertreibt, dem aus seinem geöffneten Maul der
Schaum trieft und dem auf dem Rücken [50] die drohende Borste
wie ein stachliges Bollwerk emporragt und der mit seinen Schultern
alle Jagdhunde an schierer Größe überragt. Bald schmetterte er auf
der linken Seite diese, bald auf der rechten Seite jene nieder, bald
wandte er den Blick nach hinten, bald wieder nach vorne und
schützte damit beide Seiten seines Körpers, äußerst erfahren darin,
sich mit schnellen Kreisbewegungen zu verteidigen. [55] Jetzt war er
292 ALEXANDREIS

visa mole viri, dumque arduus ille cruentam


erigeret clavam, clamoso gutture regi
intonat: “Heus,” inquit “quis te furor egit in hostem,
Magne, Gyganteum, quem sydereas Iovis arces
affectasse legis, a quo vix fulmine tandem 60
tutus in etherea mansit Saturnius arce?”
Nondum finierat, agili cum torta lacerto
pinus Alexandri medio stetit ore loquentis,
faucibus affigens linguam ne deroget ultra
caelicolis. Sed adhuc stantem telumque cruentum 65
mandentem Macedo tunc demum admissus equini
pectoris inpulsu quatit, explicitumque per artus
reddit humo natum. Plangit percussa iacentem
mater humus prolem, tantumque dat icta fragorem,
quantus ubi annosam sed adhuc radice superbam 70
montibus evellit Boreae violentia quercum.
Concurrunt Argiva phalanx, stratumque Geonta
confodiunt iaculis gladiosque in viscera condunt.
Quem tandem lacerum vultus et mille retusum
pectora vulneribus Acherontis ad antra remittunt. 75

Parte furens alia Parthorum proterit agmen


inclitus ille Clytus, cuius soror ubere Magnum
lactavit proprio. Sed que provenerit illi
gratia pro meritis magis arbitror esse silendum.
Hunc ubi germani respersum sanguine vidit 80
BUCH V 293

bis zum Makedonenkönig vorgedrungen. Beim Anblick dieses rie-


senhaften Mannes staunte Alexander. Während jene riesenhafte Ge-
stalt die blutbefleckte Keule erhob, brüllte er den makedonischen
König aus lärmender Kehle an: »Ach, welcher Wahnsinn, Alexan-
der, hat dich gegen einen Feind getrieben, der von einem Giganten
abstammt, über den du liest, dass er Jupiters himmlische Wohnstatt
[60] heimgesucht hat, und gegen den sich der Sohn des Saturn am
Ende nur durch den Blitz vor diesem geschützt im Olymp behaup-
ten konnte?« Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als sich Ale-
xanders Wurfspieß – mit schnellem Arm abgefeuert – in den geöff-
neten Mund des Sprechenden, Zunge an Rachen heftend, hinein-
bohrte, damit er nicht länger [65] die Götter verunglimpfen konnte.
Als sich Geon, der auf dem blutigen Wurfspieß herumkaute, noch
immer auf den Beinen halten konnte, ritt Alexander dann erst he-
ran, stieß ihn mit der Wucht seines Pferdes um und streckte den erd-
geborenen Sohn, ungebremst durch die Gliedmaßen, auf die Erde
dahin. Mutter Erde beklagte erschüttert ihren am Boden liegenden
Sohn, schwer getroffen gab sie ein Getöse von sich, [70] wie wenn
die Gewalt des Nordwinds eine alte, jedoch zu sehr auf ihre Wur-
zeln vertrauende Eiche vom Berg stürzen lässt. Die griechischen
Soldaten eilten herbei und durchbohrten den am Boden liegenden
Geon mit Spießen und trieben ihre Schwerter in dessen Eingeweide.
Schließlich schickten sie ihn mit blutig zerfetztem Gesicht [75] und
tausendfach durchbohrter Brust zu Acherons Höhlen.

Clitus gegen Sanga und dessen Vater Mecha (76–122)

Auf der anderen Seite vernichtete jener berühmte Clitus, dessen


Schwester einst Alexander als Säugling gestillt hatte, rasend eine
Schar von Parthern. Doch meine ich, über den Dank, der jenem spä-
ter für diese Verdienste zuteil wurde, schweigen zu müssen. [80] Als
der aus Damaskus stammende Sanga diesen – mit dem Blut seines
294 ALEXANDREIS

Sanga Damascenus, fraterno motus amore,


ter gemitum dedit, et repetita medullitus alto
pectore confusam reprimunt suspiria vocem.
Cumque tribus iaculis frendens explere nequiret
pectoris affectum, stricto mucrone micanti 85
emicuit curru, quaque huic flagrante piropo
ardebat cassis, claro caput arguit ictu,
et nisi loricae latuisset tuta galero,
plorasset cerebrum terebrata casside cervix.
Sed licet attonitus mananti sanguine, Sangae 90
non tamen ignavus gladio respondet, idemque
quod modo transierat primi per viscera fratris
balneat alterius inter precordia ferrum.
Diriguit primo spectata cede suorum
Mecha pater, nec quos lacrimarum funderet imbres 95
invenit facies, etenim dolor intus obortas
sorbuerat lacrimas, et compluit intima cordis
arida decrepitae faciei debitus imber,
supplevitque vices oculorum flebile pectus.
Palluit exanimis dextra languente gelato 100
corde senex, et mors in vultu visa sedere.
Mox ubi mens rediit redivivo sanguine tandem,
singultu medias interrumpente querelas,
“Tune duos,” inquit “tortor sevissime, fratres,
tune duos ante ora patris mucrone vorasti, 105
non veritus patris emeriti miseraeque parentis
precipitare dies? Sed ut ulterius tibi nullum
non pateat facinus, ferro, fera tigris, eodem
quo mea me coram rupisti viscera ferro
iunge patrem natis et funera terna remitte 110
coniugis et fratrum viduae plangenda parenti.
Si qua tamen coniunx, si quis tibi filius heres
BUCH V 295

Bruders besudelt – erblickte, stöhnte er, von Liebe zu diesem be-


wegt, dreimal laut auf und die Seufzer, die ihm aus tiefstem Herzen
entströmten, ließen ihm die verstörte Stimme versagen. Da er zäh-
neknirschend mit dreifachem Speerwurf seinen inneren Aufruhr
nicht besänftigen konnte, sprang er [85] mit gezücktem Schwert
von seinem schimmernden Wagen und versetzte dem Helm des
Clitus an eben jener Stelle einen heftigen Hieb, wo an dessen Helm-
spitze lodernd die Goldbronze glühte. Wäre der unter einer Pan-
zerung versteckte Nacken nicht geschützt gewesen, hätte er nach
der Zerstörung des Helms das herabfließende Gehirn bejammert.
[90] Obgleich bestürzt über das doch herabrinnende Blut, antwor-
tete er dem Sanga eilends mit dem Schwert und dieselbe eiserne
Waffe, die eben noch die Eingeweide des ersten Bruders durchbohrt
hatte, badete nun in des anderen blutiger Brust. Im ersten Moment
erstarrte ihr Vater Mecha, als er den grausamen Tod beider Söhne
gewahrte, [95] und nicht konnte er Ströme von Tränen vergießen,
da der Schmerz den emporquellenden Fluss der Tränen im Inneren
aufgehalten hatte, die Tränen, die eigentlich über das gealterte Ant-
litz rinnen müssten, benetzten das im Inneren liegende Herz und
füllten anstelle der Augen die kummervolle Brust. [100] Mit ent-
kräfteter Rechten und erstarrtem Herzen wurde der entseelte Greis
ganz bleich, vom Tod schon schien er gezeichnet. Sobald er sich
dann aber wieder sichtbar erholt hatte, gab er immer wieder von
Schluchzen unterbrochene Klagen von sich: »Hast du mit deinem
Schwert, entsetzlicher Schinder, gleich zwei Brüder, [105] hast du
vor den Augen des Vaters gleich zwei Brüder niedergestreckt und
dich nicht gescheut, die Tage des alten Vaters und der elenden Mut-
ter zu verkürzen? Aber damit dir mit deinem Schwert weiterhin
keine Untat verwehrt bleibt, [110] vereine den Vater mit den Söhnen
durch dasselbe Schwert, wilder Tiger, mit dem du vor meinen Au-
gen meine Kinder abgeschlachtet hast, und verursache der verwit-
weten Mutter damit ein dreifach zu betrauerndes Begräbnis: das des
Gatten und der beiden Brüder. Falls aber auch du eine Gattin, falls
296 ALEXANDREIS

aut soror aut mater, Parcarum vindice filo


quod doleo doleant et idem quod lugeo plangant.”
Dixit et inbelli iaculatus missile dextra 115
torsit in ora Clyti, quod vix umbone moratum
ocius avellit Clytus, et qua sancta recurvis
canicies nemorosa pilis vergebat in armos,
hispida letali perfodit guttura ferro.
Ille ruens cecidit, visu miserabile, natos 120
inter semineces, prolemque amplexus utramque
tendit ad infernam natis comitantibus urbem.

Iamque propinquabat regali prodita luxu


ipsa acies Darii, curruque micabat ab alto
rex, regem innumera lapidum prodente lucerna. 125
Obstupuit tanta percussus luce Nicanor,
utque erat in dextro cornu dux agminis, illuc
applicuit cuneum belli quem sorte regebat
commissum. Primis arrisit subdola gestis
eius et excepit blande Fortuna furentem 130
Parmenione satum. Vix obstitit unda clientum
primo congressu stabilemque Nicanoris alam
sustinuit tepide donec Remnon Arabites
turbidus in medios ruit obsitus imbre quiritum
BUCH V 297

auch du einen Sohn als Erben oder eine Schwester oder eine Mutter
hast, dann sollen sie durch der Parzen rächenden Faden genau das
erleiden, was ich erleide, und dieselbe Trauer verspüren, die ich kla-
gend verspüre.« [115] So sprach er und zielte – mit der schwachen
Rechten die Lanze schleudernd – auf Clitus’ Gesicht. Kaum war
die Lanze in Clitus’ Schild stecken geblieben, riss der griechische
Kämpfer diese schleunigst heraus und durchstieß da, wo das ehr-
würdig weiße Haupt – dicht bedeckt von nach oben gekämmten
Haaren – in die Schultern überging, die struppige Kehle mit dem
todbringenden Schwert. [120] Jener fiel stürzend – ein schrecklicher
Anblick – zwischen seinen halbtoten Söhnen zu Boden und beide
Kinder umarmend, eilte er von seinen Söhnen begleitet zum Wohn-
sitz der Toten.

Nicanor gegen Rhemnon (123–182)

Das zähe Ringen der Truppen (123–144)

Am königlichen Prunk erkennbar näherte sich schon Darius’ Haupt-


heer, vom hohen Wagen herab erstrahlte der persische [125] König
und trat durch den üppigen Glanz der Edelsteine vor aller Augen
unzweifelhaft als König hervor. Von einem derartigen Glanz beein-
druckt, verharrte Nicanor staunend für einen Moment, dann warf
er als Anführer des rechten Heeresflügels die Schlachtformation in
den Kampf, die ihm nach unabwendbarem Beschluss des Kriegsrats
unterstand. Den ersten Taten des Feldherrn lächelte die trügerische
Fortuna zu [130] und unterstützte schmeichlerisch den rasenden
Sohn Parmenions. Kaum konnte die wogende Flut der Perser beim
ersten Aufeinandertreffen standhalten und nur mit Mühe war sie in
der Lage, Nicanors wohlgeordneter Aufstellung Widerstand zu
leisten, bis der aus Arabien stammende Rhemnon, von einem
Geschosshagel griechischer Soldaten eingedeckt, wild die Reihen
298 ALEXANDREIS

et stabilit profugos mentesque redintegrat egras. 135


Statur, et inmotis figunt vestigia plantis.
Eminus occumbunt iaculis et turbine fundae,
cominus et gladio [et] cerebrum siciente securi.
Interdum livore sudum verubusque cruentis
rem peragunt pedites. Sedes implentur avari 140
Ditis et umbriferi domus insatiabilis antri.
Rumpere fila manu non sufficit una sororum,
abiectaque colo Cloto Lachesisque virorum
fata metunt, unamque duae iuvere sorores.

Mixta plebe duces pereunt utrinque, sed inter 145


milia tot procerum speciali laude refulgens
inclitus emicuit numerosa cede Nicanor
perque tot obiectos vestigat Remnona Persas,
nil actum credens fusis tot milibus, ipsum
cum videat superesse ducem dominumque choortis. 150
Nec mora conspicui turba cedente suorum
concurrere duo. Ferit horrifer astra boatus,
et populi quatit arva fragor, ferrata subactas
cornipedum pedibus putres terit ungula glebas.
Cominus admissi sibi vicinantur. Uterque 155
cuspide pretenta superos agnovit in ictu
propitios, crudeque licet pulsatus acerno
BUCH V 299

durchbrach, [135] fliehende Perser zurückhielt und die verzagten


Gemüter seiner Mitstreiter wieder aufrichtete. Alle blieben stand-
haft und wichen nicht von der Stelle. Manche starben durch Spieße
oder Steine der wirbelnden Schleuder – aus weiter Entfernung
geworfen –, andere gingen im Nahkampf durch das Schwert oder
das Beil zugrunde, das nach dem Hirn des Gegners dürstete. Unter-
dessen führten die Fußsoldaten [140] den Kampf mit tückischen
Pfählen und blutigen Spießen. Es füllte sich des gierigen Pluto
Wohnsitz, unersättliche Behausung in schattiger Höhle. Um die
Fäden mit der Hand zu zerschneiden, dafür reichte eine der Schwes-
tern nicht mehr aus, vielmehr legten Clotho und Lachesis ihren
Spinnrocken nieder und bemaßen ebenso die Lebensspanne der
Männer, zwei Schwestern halfen der einen.

Nicanor tötet Rhemnon (145–165)

[145] Auf beiden Seiten fielen die Fürsten inmitten einfacher Sol-
daten, unter so vielen tausenden Vornehmen jedoch strahlte der
durch vielfaches Gemetzel weithin bekannte Nicanor durch beson-
deren Ruhm glänzend hervor. Vorbei an so vielen persischen Geg-
nern verfolgte er Rhemnon, in der Meinung, nichts sei erreicht –
auch nicht nach so vielen tausend persischen Opfern –, [150] wenn
er sehen sollte, dass deren Fürst und Kompanieführer selbst noch
am Leben sei. Ohne Verzug prallten die beiden im Zweikampf
aufeinander, weithin sichtbar wegen der zurückweichenden Menge
ihrer Gefolgsleute. Ein schreckliches Gebrüll stieg auf zu den Ster-
nen. Das Kriegsgeschrei der Soldaten erschütterte die Fluren. Der
von der Bewegung der Pferde aufgewühlte faulige Boden wurde
von ihren eisenbeschlagenen Hufen zertrampelt. [155] Nachdem sie
sich im Galopp aufeinander zubewegt hatten, standen sie sich un-
mittelbar gegenüber. Die Lanzen in Stellung gebracht, erkannten
beide Fürsten bei ihrem Wurf die ihnen gewogenen Götter, und
mag auch ein Reiter vom Ahornspieß blutig getroffen worden sein,
300 ALEXANDREIS

stipite, mansit eques tamen. Hic vacuata propinquum


vertitur ad capulum manus. Erea casside quassa
profluvio rigat arva cruor, nec sustinet iras 160
mucronis clipeus. Genibus cecidere remissis
vectores vectique simul. Prior ense retecto
surgit Parmenides, et pectora Remnonis acer
arcet utroque genu donec vitalia Parthi
et ventris latebras capulo tenus induit ensis. 165

Extimplo turbati Arabes et lite relicta


vertere terga parant. Sed quos Hyrcania gignit
conspicuos in Marte supervenit ala quiritum
excedens numerum, inclusumque Nicanora vallo
armisonae sepis facta statione coronant. 170
Obruitur primo iaculis. Strepit erea cassis
glandibus et saxis, tantamque sibi lacer orbis
obstupet innasci veterano robore silvam.
Iamque pedes ulnaeque labant, mixtoque cruore
membra lavat sudor. Sed mens infractaque virtus 175
et princeps animus capto sub pectore regnant,
totque lacessitus iaculis et cestibus ille
murus Alexandri, sed non sine nomine, tandem
procubuit, multamque sui cum strage ruinam
Persarum trahit unius dampnosa ruina, 180
qualis Romulea cecidit cum turris in urbe,
turbine fulmineo vicinas obruit edes.
BUCH V 301

so konnte er sich doch im Sattel halten. Jetzt griff die vom Wurf-
spieß befreite Hand zu dem am Körper liegenden Schwert. Nach-
dem der eherne Helm des Gegners zerschlagen war, [160] benetzte
das strömende Blut die Gefilde, und nicht mehr war der Schild in
der Lage, die wütenden Schläge des Schwerts zu ertragen. Mit zer-
schlagenen Knien stürzten Ross und Reiter zugleich. Mit gezückter
Klinge erhob sich Nicanor als erster und bedrängte die Brust des
Rhemnon mit beiden Knien, bis er die Schwertklinge bis zum Griff
in den Höhlungen [165] des Bauches, den lebenswichtigen Stellen
am Körper des Parthers, versenkte.

Nicanors Tod (166–182)

Sogleich wandten sich die Araber, den Kampfplatz verlassend, ver-


ängstigt zur Flucht. Aber zu Hilfe eilte ein zahlenmäßig überlegenes
Regiment kampferfahrener hyrkanischer Reiter. Indem diese ihre
Pferde zum Stehen brachten, konnten sie Nicanor umzingeln,
[170] der sich plötzlich vom runden Wall eines waffenklingenden
Zauns umschlossen sah. Zuerst wurde er mit Speeren beschossen.
Von geschleuderten Kugeln und Steinen krachte der eherne Helm,
der zerfetzte Schild wunderte sich darüber, dass ihm ein so großer
Wald auf dem alten Holz emporwuchs. Schon schwankten die
Beine und schon ließ er die Arme sinken, ein Gemisch aus Blut und
Schweiß [175] rann ihm den Körper hinab. Doch ungebrochen
herrschten noch Vernunft und Tapferkeit und ein vornehmer Geist
im besiegten Körper. Von so vielen Speeren und Schlagriemen ge-
troffen, sank Nicanor, Alexanders schützendes Bollwerk, doch selbst
auch nicht ohne Ruhm, schließlich zu Boden. Dieses einen Mannes
verderbliches Ende zog mit dem eigenen Sterben den Tod [180] zahl-
reicher Perser nach sich. So reißt ein Turm, der in Romulus Stadt
eingestürzt ist, in einem blitzenden Wirbel die benachbarten Häu-
ser mit ein.
302 ALEXANDREIS

Interea Macedum planctu pulsatus acerbo


advolat orbata catulis truculentior ursa
diluvium mundi Macedo. Pavet obvia turba 185
principis occursum, fugiuntque per avia cursu
precipiti, dociles vitam preferre tryumpho.
Unus Alexandro reliquis fugientibus instat
Mennonides Fidias, cuius lanugine prima
signabat roseas facies nivis emula malas, 190
nobilis et patrio referens a sanguine Cyrum,
cui nuptura soror Darii. Si cederet illi
gloria Martis, erat unde orta superbia. Magno
obvius ire parat. Sed nec reverentia patrum
nec favor etatis nec rerum copia mortem 195
excutiunt. Parili forma sed dispare fato
occurrit iuveni laxis Effestio frenis,
et qua flammivomo rictu micat erea tigris,
dissicit umbonem, largoque foramine candens
admittit ferrum laxo toga ferrea nexu. 200
Transit in occultas feralis harundo latebras
pectoris, inque humeros nivea cervice reclini,
perpetuae Fidias noctis caligine tectus
fertur, et eterno clauduntur lumina sompno.

At levo in cornu, cui nulli Marte secundus 205


Parmenio preerat, discors Bellona furebat,
sanguineis maculosa iubis sanieque recenti
BUCH V 303

Hephaestio gegen Phidias (183–204)

Veranlasst durch das bittere Jammern der Seinen, eilte indes – grim-
miger als eine ihrer Jungen beraubte Bärin – [185] der Weltenverder-
ber Alexander heran. Die entgegenkommende Menge scheute die
unmittelbare Begegnung mit dem Anführer der Griechen, über-
stürzt flohen die Perser durch wegloses Gelände und zogen damit in
weiser Voraussicht das Leben dem Sieg vor. Während alle anderen
flohen, stellte sich allein Memnons Sohn Phidias Alexander in den
Weg, dessen jugendliche Wangen ein Gesicht – mit der strahlend
weißen Farbe des Schnees wetteifernd – [190] mit dem ersten Flaum
schmückten. Seine edle Abstammung führte er über die Blutlinie
des Vaters auf Cyrus zurück. Darius’ Schwester wollte ihn heiraten,
wenn ihm Kriegsruhm zuteil werden würde. Das war auch der
Grund für seinen Übermut. Er schickte sich an, Alexander zu stel-
len. Doch weder der Väter Verehrung [195] noch die Gunst der Ju-
gend oder äußerer Reichtum konnten den Tod vertreiben. Von glei-
cher Gestalt, doch ungleichem Schicksal galoppierte dem jungen
Mann Hephaestion entgegen, spaltete den Schild an jener Stelle, wo
mit flammenspeiendem Maul ein bronzener Tiger erstrahlte, das
locker zusammengefügte schimmernde Eisengewand [200] gewähr-
te einem Pfeil durch eine große Lücke den Zugang zum Körper.
Das tödliche Geschoss drang ein in das verborgene Dunkel des Her-
zens, der schneeweiße Nacken sank auf die Schultern, hinweggerafft
wurde Phidias, vom Dunkel der ewigen Nacht bedeckt, und die
Augen wurden geschlossen in ewigem Schlaf.

Eine Götterbotschaft für Alexander (205–255)

[205] Indes wütete auf dem linken Flügel – diesen kommandierte


Parmenion, der im Kampf keinem nachstand – die zänkische Bel-
lona, durch ihren blutbespritzten Helmbusch befleckt und die Haa-
304 ALEXANDREIS

delibuta comas. Cui spumeus axe cruento,


lumine flammifico, tonitrus et fulminis instar,
concitus occurrit ferali turbine frater, 210
cui stemit Furor ipse vias, ceduntque ruenti
degeneres animi. Comes indivisa Furoris
precipites rapit Ira gradus et fellea torquens
lumina contempnit humiles rationis habenas,
inpaciensque morae levis et male cuncta ministrans, 215
Impetus obliquos versans in pulvere currus.
Undique successus sed et infortunia mixtim
circumfusa volant, et mille a vertice Martis
cum pallore suo nutant per inania mortes.
Talis in amplexus veniens per colla sororis 220
brachia diffundit deus horrifer. “Ocius” inquit
“labere, cara soror, Macedumque i nuncia regi:
Vana spe raperis, Darium qui perdere per te
inscius affectas. Scelus hoc a principe tanto
amovere dei, nec fas ut dextera mundi 225
sceptra tenens madeat iugulo polluta senili.
Altera debetur Dario fortuna: suorum
proditione cadet. Celer ergo per arma per hostes
assis, et varia populanti cede Pelasgos
impiger occurras Mazeo. Quippe rapinis 230
et Macedum spoliis inhiat laxatque solutos
compedibus Persas, rursum versa vice vinclis
mancipat Argivos. Nec enim tot sufficit ultra
milia Parmenio paucis incessere turmis.”
Dixit, at imbrifero Bellona citatior Austro 235
fertur et ad dextrum pertransit stridula cornu
induiturque genas horrendaque Palladis arma,
Gorgonis anguicomos pretendens egide vultus,
BUCH V 305

re mit frischem Eiter benetzt. Auf seinem blutüberströmten Wagen


eilte ihr schäumend mit flammenden Augen wie Donner und Blitz
[210] ihr Bruder Mars entgegen, angestachelt durch den todbringen-
den Wirbel der Parzen. Furor selbst bahnte ihm den Weg, es wichen
zurück vor dem Rasenden die schwachen Gemüter. Als Furors un-
zertrennliche Begleiterin raste Ira mit stürmischen Schritten daher
und verspottete, ihre Augen verächtlich rollend, die schwachen
Zügel der Vernunft. [215] Und Impetus, unfähig, den kleinsten
Aufschub zu ertragen und irgendetwas richtig zu machen, kippte
seinen eigenen Wagen seitwärts in den Sand. Überall verbreiteten
sich geschwind Nachrichten über Erfolge und Misserfolge und
tausendmal winkte schon vom Kopf des Mars des Todes bleiches
Gesicht durch die Lüfte. [220] Der schreckliche Gott umarmte
seine Schwester innig und sagte: »Flieg schnell los, teure Schwester,
und bring dem König der Makedonen folgende Botschaft: Eitler
Hoffnung wirst du beraubt werden, wenn du in deiner Unwissen-
heit danach strebst, Darius mit eigener Hand zu töten. Dieses Ver-
brechen [225] haben die Götter von einem so großen König abge-
wendet, nicht wollen die Götter, dass deine Rechte, die das Szepter
über die Welt hält, befleckt vom Blut dieser alten Kehle trieft. Ein
anderes Schicksal ist Darius zugedacht: Durch der Seinen Verrat wird
er fallen. Darum stürze dich schnell in den bewaffneten Kampf ge-
gen die persischen Feinde [230] und begegne eifrig im Kampf dem
Mazaeus, der vielfältig mordend griechische Kämpfer dahinrafft. Er
lechzt nämlich nach Raubzügen und griechischer Beute, befreit die
von Fesseln erlösten Perser und legt sie umgekehrt wieder den Grie-
chen an. Nicht nämlich ist Parmenion länger in der Lage, mit so
wenigen Leuten so viele Tausende Perser zu bekämpfen.« [235] So
sprach er. Und schneller als der regenbringende Südwind schwang
Bellona sich in die Lüfte, flog zischend hinüber zum rechten Hee-
resflügel, nahm Athenes Gestalt an, trat in der schrecklichen Waf-
fenrüstung der Göttin auf und trug mit dem Schild das Schlangen-
haupt der Medusa zur Schau. Dann zog sie sich, nachdem sie nur
306 ALEXANDREIS

commemoransque dei breviter mandata recessit


infecitque diem ferali nube recedens. 240
Excutitur saltu Macedo profugamque secutus
voce deam, “Quocunque venis, dea, cardine, vanum
spernimus omen,” ait “non me divellet ab armis
et curru Darii licet impiger ales ab alto
missus Athlantiades verax michi nuncius ipsas 245
afferat a Persis raptas cum matre sorores.
Ex Dario pendet nostri spes unica voti,
quem si perdidero, parvi michi cetera parvi
perdita momenti. Solum si vicero, solus
perdita restituet. Non est michi perdere tanti 250
quod recipi poterit ut non et vincere malim.
Sed neque, si turris Darium septemplice muro
includat, licet ardenti circumfluus unda
sulphureis Acheron defendat menia ripis,
eripiet Fortuna michi.” 255
Sic fatus in armis
se locat, et summo clipeum feriente lacerto,
orbem signiferum ceu vallum et menia muro
pectoris opponit, tendensque in sydera pinum,
vertice sublato medios ruit hostis in hostes,
fumantesque globos torquens testatur adesse 260
pulvis Alexandrum. Fertur temone supino
Afer Aristonides, pedibusque attritus equinis
occumbit Lysias: Lybicis a Sirtibus Afer
BUCH V 307

kurz die Befehle ihres göttlichen Bruders überbracht hatte, zurück


[240] und vergiftete im Weggehen den Tag mit einer todbringenden
Wolke. Alexander sprang vom Pferd und rief der weichenden
Göttin noch hinterher: »Von welcher Weltgegend auch immer du
kommst, Göttin, wir verachten deine windige Andeutung. Nicht
wird sie mich von den Waffen und Darius’ Wagen wegreißen kön-
nen, mag auch der rastlose und geflügelte Enkel des Atlas, [245] vom
Himmel entsandt, mir als wahrheitskündender Bote berichten, dass
meine Schwestern zusammen mit meiner Mutter von den Persern
geraubt wurden. Allein von Darius hängt es ab, unser erhofftes Ziel
zu erreichen. Wenn ich ihn vernichtet habe, hat das Übrige wenig
Bedeutung für mich. Auch die erlittenen Verluste spielen für mich
dann keine Rolle mehr. Nur ein Sieg über ihn [250] wird die Verlus-
te ausgleichen können. Etwas zu verlieren, was wiederbeschafft
werden kann, hat für mich keine so große Bedeutung, dass ich da-
für den Sieg nicht tatsächlich vorzöge. Mag Darius auch ein Turm
mit siebenfacher Mauer umgeben oder der Acheron ihn mit in
Flammen stehenden Wogen umfließen oder ihn Mauern mit schwe-
felbedeckten Ufern schützen, [255] Fortuna wird ihn mir nicht
entreißen.«

Alexander und die Griechen bedrängen Darius (255–282)

Nach diesen Worten legte er seine Waffen an. Den Schild mit dem
Oberarm haltend, stellte er das wappentragende Rund gleich einem
Wall oder einer Schutzwehr der Mauer seiner Brust schützend ent-
gegen und stürzte sich, die Lanze zum Himmel richtend, mit
erhobenem Haupt als Feind auf die Feinde. Aufstiebender Sand,
[260] der qualmende Brocken hochschleuderte, bekundete Alexan-
ders Anwesenheit. Fortgeschleift durch die rückwärts gebogene
Deichsel wurde Afer, Sohn des Ariston, von Pferdehufen zertreten
kam Lysias um. Von den lybischen Syrten war Afer gekommen, aus
308 ALEXANDREIS

venerat, a Sciticis Lysias tetrarcha pruinis.


Afrum Craterus, Lysiam deiecit Amintas. 265
Ense iacet Lysias, hastili corruit Afer.
Iungitur his Amulon, terebrato gutture rubram
exhalans animam, Baradanque iacentibus addit
Antigonus, reprimitque globum Tholomeus equestrem,
nec minor Eumenidi strages nec gloria Ceni 270
inferior, Meleagre, tua. Truculentior instat
Perdicas solito cunctis cernentibus ipsam
ante aciem Darii. Polipercon, nocte fruendum
qui prius asseruit, redimit de luce patenter
consilium de nocte datum. Furit Inacha pubes 275
mente una votoque pari. Furor omnibus idem
parque animus bello dominoque simillimus ipsi
ut quot Alexander comites si Marte furentes
cominus aspiceret, tot se gauderet habere
Magnus Alexandros. Iam victoris fragor aures 280
pulsabat Darii, iamque irrumpebat in ipsos
consortes lateris funestae turbo procellae.

Eger in adversis animus sapientis, et egre


consulit ipse sibi cum duro tempore primis
diffidit rebus et spes languescit inermis. 285
Nam quid agat Darius? Quo se regat ordine demens?
Cui nec tuta fuga est, nec si velit ipse morari,
inveniet socios. Nam de tot milibus ante
quos sibi crediderat, bello vix mille supersunt
BUCH V 309

der Kälte Skythiens der Tetrarch Lysias. [265] Den Afer streckte
Craterus nieder, den Lysias Amyntas. Durch das Schwert lag Lysias
gefallen am Boden, vom Speer getroffen stürzte Afer zu Boden. All
diesen schloss sich Amulon an, der mit durchbohrter Kehle seine
blutrote Lebenskraft aushauchte. Antigonus fügte den Gefallenen
Baradas hinzu, Ptolemäus trieb die persische Reiterschar zurück,
[270] kein geringeres Blutbad vollführte Eumenides, nicht weniger
Ruhm als du, Meleager, erntete Coenus. Noch grimmiger als ge-
wohnt drang Perdikkas vor, den alle schon unmittelbar vor den Rei-
hen des Darius beobachten konnten. Polipercon, der zuvor noch ge-
meint hatte, das Dunkel der Nacht nutzen zu müssen, [275] nahm
seinen nächtlichen Rat am hellichten Tage unverhohlen zurück. Es
wütete die inachische Jugend mit gleicher Gesinnung und gleichen
Wünschen. Alle zeigten denselben Eifer und dieselbe Kampfeslust,
sie waren ihrem König dermaßen ähnlich, dass Alexander, wenn er
so viele Kampfgefährten in seiner unmittelbaren Nähe hätte wüten
sehen, sich darüber gefreut hätte, so viele Männer [280] von seinem
Schlag zu haben. Schon drang an Darius’ Ohren das Getöse des
Siegers und schon stürzte sich der Wirbel eines stürmischen und
todbringenden Angriffs auf dessen Leibwächter.

Darius zwischen Kampf und Flucht (283–306)

Am Unglück leidet ein vernünftiger Mann, gramvoll ist dieser nur


noch auf seine eigene Rettung bedacht, wenn ihm in schwieriger
Lage [285] die einfachsten Dinge misslingen und wehrlos die Hoff-
nung dahinsinkt. Was denn hätte Darius tun sollen? An welchem
Grundsatz hätte er in seiner Verblendung sein Handeln ausrichten
sollen? Für ihn war weder die Flucht sicher noch würde er aus-
reichend Kampfgefährten finden, wenn er an Ort und Stelle verwei-
len wollte. Denn von den vielen tausend Mitstreitern, denen er
zuvor sein Vertrauen geschenkt hatte, waren kaum noch Tausend
310 ALEXANDREIS

qui stent pro patria. Pudor et reverentia famae 290


ne fugiant prohibent, contra timor anxius urget.
Dumque vacillanti stupefactus pectore nutat,
dum dubitat rapiatne fugam vitamne perosus
se sinat ipse capi, Persae velut agmine facto
mandant terga fugae rapiuntque per arva relicto 295
rege gradum. Laxis tunc demum invitus habenis
nactus equum Darius rorantia cede suorum
retrogrado fugit arva gradu. Quo tendis inertem,
rex periture, fugam? Nescis, heu perdite, nescis
quem fugias. Hostes incurris dum fugis hostem. 300
Incidis in Scillam cupiens vitare Caribdim.
Bessus, Narbazanes, rerum pars magna tuarum,
quos inter proceres humili de plebe locasti,
non veriti temerare fidem capitisque verendi
perdere caniciem, spreto moderamine iuris, 305
proch pudor, in domini coniurant fata clientes.

Magnus ut ablatum medio de limine mortis


accepit Darium, regum super ossa cruentus
fertur et ingenti super ipsa cadavera saltu
insequitur profugum, pene incomitatus Achivis, 310
inmemor ipse sui, qualem rapit impetus ignem
syderis et raris distinguit nubila flammis,
quantus ab Alpinis spumoso vertice saxis
erumpit Rodanus, ubi Maximianus eoos
extinxit cuneos cum sanguinis unda meatum 315
BUCH V 311

im Kampf, [290] die für das Vaterland einstanden. Scham und die
Ehrfurcht vor seinem Namen hinderten ihn an der Flucht, anderer-
seits bedrängte ihn quälende Angst. Während er in Lethargie verfiel
und unsicheren Herzens schwankte, während er im Zweifel war, ob
er fliehen oder im Hass auf sein Dasein die eigene Gefangennahme
zulassen solle, [295] ergriffen die Perser gleichsam geschlossen die
Flucht und durcheilten ohne ihren König die Steppe. Jetzt erst
schwang sich Darius unwillig auf sein Pferd und floh in vollem Ga-
lopp, vor den Fluren zurückweichend, die vom Blut seiner Kämpfer
getränkt waren. Wohin, todgeweihter König, eilst du auf deiner
feigen Flucht? Weißt du nicht, ach du Verlorener, weißt du nicht,
[300] vor wem du da fliehst? Während du vor dem makedonischen
Feind fliehst, läufst du anderen Feinden in die Arme. Indem du
Charybdis zu meiden suchst, fällst du Scylla zum Opfer. Bessus und
Narbazanes, ehemals bedeutende Stützen deiner Macht, die du aus
niederem Stand in den Adel erhoben hast, scheuen nicht davor
zurück, das Treueverhältnis mit Füßen zu treten [305] und dein
ergrautes und ehrwürdiges Haupt zu vernichten. Unter Missach-
tung elementarer Rechtsgebote verschworen sich die Gefolgsleute,
welch eine Schande, zum Mord an ihrem eigenen König.

Alexander verfolgt Darius (307–318)

Als Alexander erfuhr, dass Darius nur knapp von der Schwelle des
Todes fortgerissen worden war, stürmte er blutrünstig über die
Knochen von Fürsten hinweg und verfolgte in gewaltigem Sprung
über Leichen, nahezu unbegleitet von Griechen und rücksichtslos
gegen sich selbst, [310] den flüchtenden König. So reißt ein Meteor
in stürmischem Lauf sein eigenes Feuer mit sich und erhellt die
Wolken mit spärlichem Licht. So auch bricht die Rhone mit schäu-
mendem Strudel aus den Felsen der Alpen hervor, wo Maximian
[315] die aus dem Osten kommenden Truppen auslöschte, als nach
312 ALEXANDREIS

fluminis adiuvit fusa legione Thebea


permixtusque cruor erupit in ardua spreto
aggere terrarum totumque rigavit Agaunum.

Sed iam precipiti per saxa per invia saltu


transierat Licum paucis comitantibus amnem 320
Belides, dubiusque stetit stratumne furenti
inmersurus aquae properaret frangere pontem,
Pelleo clausurus iter. Sed ab hoste premendos
dura cede suos timuit si ponte reciso
securus fugiens Persarum excluderet agmen. 325
Utile propositum vicit respectus honesti,
preposuitque suos Darius sibi. Maluit ergo
iustus inire fugam pociusque elegit apertam
victori prebere viam quam claudere victis.
Fit fuga Persarum, turbatoque ordine passim 330
curritur ad pontem. Sed et intolerabilis estus
et cursu duplicata sitis languentia torrent
viscera, et exhaustos sudor sibi vendicat artus,
pulmonisque vagas agitant suspiria cellas.
Unde inopes undae, nemorum per devia docti 335
occulti laticis salientes querere venas,
omnibus incumbunt rivis, haustaque gulose
cenosi torrentis aqua, precordia limo
tensa rigent. Pregnantem uterum simulare coactus,
triste parit funus concepto flumine venter. 340
BUCH V 313

der Vernichtung der thebaischen Legion Wogen von Blut die Strö-
mung des Flusses verstärkten, das mit Wasser gemischte Blut steil in
die Höhe über die Deiche schoss und ganz Agaunum über-
schwemmte.

Die Flucht des Darius und der Perser (319–349)

Aber schon hatte Belus’ Enkel in gefährlichem Sprung über Felsen


und wegloses Gelände [320] in Begleitung weniger Gefährten den
Lycus überquert. Unentschlossen stand er nun da und fragte sich,
ob er schleunigst die Brücke zerstören solle, um den Weg im reißen-
den Strom in der Absicht zu versenken, Alexander damit den Weg
zu versperren. Aber er fürchtete, dass die Seinen notwendigerweise
vom Feind mit einem grausamen Blutbad bedrängt würden, wenn
er nach Abbruch der Brücke [325] auf sicherer Flucht dem persi-
schen Heer den Rückzug abschneiden würde. Die Rücksicht auf
seine Ehre siegte über den nützlichen Plan und Darius hielt die
Rettung der Seinen für wichtiger als das eigene Schicksal. Lieber
wollte er also mit Anstand die Flucht antreten und dem Sieger den
Weg öffnen, als ihn den Besiegten zu verschließen. [330] Die Perser
befanden sich auf der Flucht, in wildem Durcheinander eilten alle
zur Brücke. Unerträgliche Hitze jedoch und ein durch die anstren-
gende Flucht verdoppelter Durst dörrten die erschlafften Körper
aus, Schweiß rann unentwegt die erschöpften Glieder hinab und
das Keuchen plagte die wogenden Kammern der Lunge. [335] Da-
her beugten sich die nach Wasser dürstenden Perser, erfahren darin,
in weglosen Wäldern die sprudelnden Adern verborgenen Wassers
zu suchen, trinkend zu allen Bächen hinunter. Nachdem sie gierig
das Wasser des morastigen Baches getrunken hatten, verhärteten sich
die vom Lehm geschwollenen Gedärme. Genötigt, einen schwange-
ren Unterleib nachzuahmen, [340] bescherte ihnen der Bauch durch
das aufgenommene Wasser ein trauriges Ende. Während einige mit
314 ALEXANDREIS

Nonnullis, avido fluvium dum gutture sorbent,


obstruit occurrens vitales unda meatus
aeraque in cecis inclusum suffocat antris.
Sed neque tot turmas procerum vulgique phalanges,
ad mortem ductore metu sine lege ruentes, 345
explicat unius angustia pontis. Acervos
vix capit unda tumens fluviique vorago cadentum.
Labuntur passim, lapsosque involvit hyatus
fluminis, et virides stupuere cadavera Nymphae.

Languentes gladios et hebentia tela suorum 350


intuitus Macedo cum iam declivus Olimpus
Phebeis legeretur equis fumantibus arvis
Ethiopum et solito pauloque remissius igne
ureret Herculeas solis vicinia Gades,
causatus preceps in noctem tempus, ad illos 355
quos credebat adhuc in cornu stare sinistro
flectit iter. Iamque in levum converterat arma
cum premissus eques a Parmenione triumphum
nunciat et variis afflictos stragibus hostes.
Dumque reducuntur equites in castra, repente 360
vallibus emergens Persarum apparuit agmen,
exurens clipeis galeisque micantibus agros.
Qui primos inhibere gradus et figere gressum;
demum ubi tam paucos Macedum videre, cruentas
in Magnum vertere acies. Rex ante quiritum 365
more suo gradiens vexilla, pericula Martis
dissimulans potius quam spernens, illud ab hoste
BUCH V 315

gieriger Kehle das Wasser schlürften, versperrte die entgegenkom-


mende Welle die lebenswichtigen Bahnen und ließ die in dunklen
Höhlungen eingeschlossene Luft nicht mehr entweichen. Auch
war eine einzige und zudem noch enge Brücke nicht in der Lage, so
viele Fürsten und Krieger zu retten, [345] die angstgetrieben und
ohne Ordnung in den eigenen Tod rannten. Kaum konnten die
schwellenden Wogen und der tiefe Schlund des reißenden Stroms
die Massen der Fallenden aufnehmen. Nach allen Seiten hin stürz-
ten sie von der Brücke, der Schlund des Flusses schluckte die Ge-
stürzten und die grünlichen Nymphen staunten über die Vielzahl
der Leichen.

Ein letztes Gefecht (350–375)

[350] Als Alexander die ermatteten Schwerter und müden Lanzen


der Seinen sah, da schon die Pferde des Phoebus die steil abfallen-
den Flanken des Olymp durchlaufen hatten, die Gefilde Äthiopiens
schon dampften und die nahende Sonne das dem Herkules heilige
Gades mit ihrem Feuer schon ein wenig sanfter als gewohnt verseng-
te, eilte er [355] wegen der schnell hereinbrechenden Nacht zu je-
nen, von denen er glaubte, sie befänden sich noch auf dem linken
Heeresflügel im Einsatz. Und schon hatte er seine Streitmacht zum
linken Heeresflügel hin gewendet, als ein von Parmenion geschick-
ter Reiter vom Sieg der Griechen und von den in verschiedenarti-
gem Gemetzel niedergestreckten Feinden berichtete. [360] Wäh-
rend die Reiter sich ins Lager zurückziehen wollten, tauchte im Tal
ganz plötzlich ein persischer Trupp auf, der mit seinen glänzenden
Schilden und Helmen die Äcker erstrahlen ließ. Zuerst verlangsam-
ten die Perser ihr Tempo und blieben dann stehen. Als sie so wenige
Makedonen erblickten, [365] griffen sie schließlich Alexander
blutdürstig an. Der makedonische König stellte – die Gefahren des
Kampfes eher leugnend als verachtend – wie gewohnt weit vor sei-
316 ALEXANDREIS

concussum tociens sed inexpugnabile castrum


pectoris opposuit Persis, nec defuit illi
perpetua in dubiis rebus fortuna. Choortis 370
prefectum mortis et Martis amore furentem
excipit et celeri rimatur viscera ferro.
Nec mora Lisimacus et gloria gentis Acheae
invasere Arabes passim, neutrisque pepercit
Martius ille furor ubi nemo cadebat inultus. 375

Verum cum, Phebi radiis Athlantide stella


iam vultus audente suos opponere, Persis
Marte videretur fuga tucior, ordine rupto
consuluere fugae, laxisque licenter habenis
nocte fere media transvecti fluminis amnem, 380
Arbela perveniunt, ubi rex Babilonius illos,
quos secum fuga contulerat, lugubris et amens
et pariter duro de tempore tractat.
Cumque repressisset queruli suspiria cordis,
relliquias Macedum lacrimoso lumine spectans, 385
“Fortuitos” inquit “tociens variare tumultus,
nunc adversa pati, nunc exultare secundis,
nunc caput incurvare malis, nunc tollere sortis
humane est. Humilem sic vidit Lydia Cresum.
Et sic victorem versa vice femina vicit. 390
Sic quoque Termopile Xerxen videre iacentem,
et qui navigiis totum modo texerat equor,
BUCH V 317

nen Soldaten den Persern jenes Bollwerk der eigenen Brust entge-
gen, vom Feind so oft mit Hieben bedacht, [370] wobei die in
schwierigen Situationen ihm beständig zur Seite stehende Fortuna
ihn auch jetzt nicht im Stich ließ. Alexander fing den persischen
Anführer der Kohorte, der mit großer Inbrunst den Kampf suchte,
ab und zerfetzte ihm mit dem Schwert die Eingeweide. Sofort
griffen Lysimachus und der Stolz der achäischen Jugend die Araber
von allen Seiten aus an und beide Parteien [375] verschonte nicht
jene grimmige Kriegswut, bei der niemand ungerächt fiel.

Darius’ Ansprache an seine Soldaten (376–421)

Als aber den Persern die Flucht sicherer schien als der Kampf –
Atlas’ Gestirn wagte es schon, seine Lichter den Strahlen des Phoe-
bus entgegenzustellen –, waren sie, ohne die Ordnung zu wahren,
nur noch darauf bedacht zu fliehen. In vollem Galopp [380] über-
querten sie ungefähr um Mitternacht den Fluss und gelangten nach
Arbela. Kopflos und verzweifelt zog der babylonische König dort
jene zu Rate, mit denen er gemeinsam geflohen war, und besprach
mit ihnen zugleich auch die schwierige Lage. Nachdem er die
Seufzer seines klagenden Herzens unterdrückt hatte, [385] blickte er
weinend auf jenen Rest von Männern, welche die Griechen am
Leben gelassen hatten, und sagte: »Es gehört zum menschlichen
Schicksal, dass ein dem Zufall unterliegendes Schlachtgeschehen so
oft Veränderungen mit sich bringt. Bald muss man einen Fehlschlag
ertragen, bald darf man sich über einen glücklichen Ausgang freu-
en, bald ist es nötig, das Haupt den Unglücksfällen zu beugen, bald
jedoch ist es auch möglich, dieses wieder in die Höhe zu heben. So
sah Lydien Croesus am Boden. [390] Und so besiegte eine Frau im
Gegenzug einen Sieger. So auch haben die Thermopylen den Xerxes
am Boden liegend gesehen und kaum konnte jener, der eben noch
das ganze Meer mit Schiffen bedeckt hatte, als Besiegter mit einem
318 ALEXANDREIS

vix licuit victo sola cum nave reverti.


Nulla rei novitas pervertere fortia debet
pectora cum nulla teneatur lege fidelis 395
esse homini Fortuna diu. Spes unica victis
contra victorem rursus sperare tryumphum.
Nec dubito quin victor agros aditurus et urbes
civibus exhaustas sed opimis rebus et auro
confertas, ubi gens avidissima, gutture toto 400
visceribus siccis siciens letale metallum,
temptabit sedare sitim predaque recenti
conceptam saciare famem. Nec inutile nobis
id reor. Interea fines intactaque bellis
regna petiturus Medorumque ultima, vires 405
non egre reparabo meas. Preciosa supellex
castraque castratis et multa pelice plena
quanti sint oneris et quantum bella gerentes
impediant, usu longo didicere potentes.
His partis erit inferior, quibus ante remotis 410
maior erat Macedo. Spoliis vincetur onustus
qui vicit vacuus. Non auro bella geruntur
sed ferro. Non es non oppida regna tuentur
sed virtus viresque virum. Penetremus abactos
Medorum fines. In duris utile rebus 415
non dictu speciosa sequi docet ipsa facultas.
Non secus antiquos primo molimine rerum
novimus afflictos sortis discrimine patres,
indultis aliquot hostique sibique diebus,
fortunam reparasse suam rursusque retusis 420
hostibus adversa de parte tulisse tryumphos.”
BUCH V 319

einzigen Schiff in die Heimat zurückkehren. Schicksalhafte Verän-


derungen dürfen tapfere Herzen nicht erschüttern, [395] da For-
tuna durch kein Gesetz gebunden ist, dem Menschen langfristig die
Treue zu halten. Besiegten bleibt die einzige Hoffnung, in einem
neuen Anlauf auf einen Sieg gegen den Sieger zu hoffen. Ich habe
keine Zweifel daran, dass der siegreiche Makedone die Äcker und
die entvölkerten und mit Reichtümern und Gold gefüllten Städte
übernehmen wird. [400] Dort wird das griechische Volk in seiner
grenzenlosen Gier, mit staubigen Kehlen und ausgedörrten Einge-
weiden nach dem tödlichen Metall dürstend, versuchen, sein Ver-
langen zu befriedigen und seine durch die frische Beute geweckte
Gier zu stillen. Und ich meine, dass uns dies sehr nützlich sein kann.
Inzwischen werde ich mich in die vom Krieg unberührten Gebiete
[405] und das grenznahe Reich der Meder begeben und dort mühe-
los meine Truppen ergänzen. Wie groß die Belastung durch wert-
vollen Hausrat und ein Lager voller Eunuchen und Konkubinen ist
und wie sehr sie bei der Kriegsführung hinderlich sind, wissen
Herrscher aus langer Erfahrung. [410] Im Besitz all dieser Dinge,
durch die Alexander zuvor stärker war, als er sie noch nicht besaß,
wird er zukünftig schwächer sein. Wer frei von diesen Belastungen
siegt, wird beutebeladen besiegt werden. Nicht mit Gold werden
Kriege geführt, sondern mit Eisen. Nicht Schätze noch Städte be-
schützen ein Reich, sondern Tapferkeit und Tatkraft der eigenen
Männer. Lasst uns [415] in das entlegene Medien ziehen. In harten
Zeiten nicht schönklingenden Worten, sondern dem unmittelbaren
Nutzen zu folgen, lehrt die Lage selbst. Wir wissen, dass unsere Vor-
fahren bei ihren ersten Schlachten nicht anders durch die Entschei-
dung des Schicksals geschwächt wurden, dass sie jedoch, nachdem
sie dem Feind und sich selbst einige Tage Ruhe gewährt hatten,
[420] das Schicksal wieder auf ihre Seite ziehen und aus einer
schwierigen Lage heraus nach Vertreibung der Feinde den Sieg da-
vontragen konnten.«
320 ALEXANDREIS

Finierat Darius. Vox plena pavoris et exspes


visa suis. Cum tot opibus Babilona superbam
et reliquas urbes sine defensore relictas
esset Alexander primo fracturus Eoo, 425
nulla videbatur reparande copia sortis,
sed neque quod superest retinendi gratia regni.
Seu confirmato tamen agmine sive sequentes
imperium pocius quam consilium ducis, uno
maturant animo Medorum visere fines. 430

Nec mora distribuens celebres apud Arbela gazas


munificus Macedo, tantis ardenter onusto
rebus et inventa saciato milite preda,
transcurrit Syriam pluvioque citatior Austro
vi vel amicicia superandis civibus ardet 435
obsita coctilibus intrare palacia muris
insignemque olim tot regum laudibus urbem
cui dedit eternum labii confusio nomen.
Cumque Semiramia tantum distaret ab urbe,
quantum Secaniis distat Dyonisius undis, 440
ecce vir illustris, stipatus prole beata,
impiger occurrit Mazeus transfuga regi,
imperio Magni sese Babilonaque dedens.
Quem rex complexus avide vultuque benigno
suscipiens tacitis suffocat gaudia votis, 445
BUCH V 321

Die Reaktion der persischen Soldaten (422–430)

Darius hatte seine Rede beendet. Seine Stimme machte bei den Sei-
nen einen überaus ängstlichen und hoffnungslosen Eindruck. Da
Alexander voraussichtlich schon am nächsten Morgen das durch so
viele Reichtümer prächtige Babylon [425] und die übrigen ohne
Verteidigung zurückgelassenen Städte einnehmen würde, schien die
Aussicht gering, das Schicksal wieder in die richtigen Bahnen len-
ken zu können. Auch bot sich keine günstige Gelegenheit, den von
den Griechen noch nicht eroberten Teil des Reichs zu halten.
[430] Einmütig eilten sie weiter, die medischen Lande aufzusuchen,
entweder weil die Soldaten doch wieder Mut gefasst hatten oder
weil sie eher dem Befehl als dem Rat ihres Anführers Folge leisteten.

Von Gaugamela nach Babylon (431–455)

Unverzüglich verteilte der freigiebige Makedone die berühmten


Schätze noch bei Arbela und eilte dann, nachdem seine Soldaten
mit so vielen wertvollen Dingen voller Gier beladen und durch die
vorgefundene Beute befriedigt worden waren, nach Syrien. Und
schneller als der regenreiche Südwind [435] brannte er darauf, nach-
dem er die Bürger der Stadt mit Gewalt oder Freundschaft bezwun-
gen haben würde, den aus Backsteinmauern bestehenden Palast
und die einst durch so viele Könige berühmte Stadt zu betreten, der
die Sprachverwirrung ewig währende Bekanntheit verschafft hat.
Und als er von Semiramis’ Stadt so weit entfernt war, [440] wie
Saint Denis von der Seine entfernt liegt, da kam ihm der tüchtige
Mazaeus, ein berühmter Mann, von der glücklichen persischen Ju-
gend begleitet, als Überläufer entgegen und unterstellte sich und
Babylon Alexanders Befehl. Während der makedonische König
jenen freudig umarmte und mit wohlwollender Miene empfing,
[445] unterdrückte er seine Freude mit stillen Gebeten, da er eigent-
322 ALEXANDREIS

quippe laboris erat longi magnique paratus


tot populis et tot munitam turribus urbem
obsidione capi nisi machina numine divum
coctile cementum crebro dissolveret ictu.
Virque manu promptus et non inglorius illa 450
precedenti acie, tociens expertus in armis,
exemplo poterat alios ad federa pacis
invitare suo. Tunc vero, cohortibus arte
dispositis iussisque sequi et retrocedere Persis,
agmine quadrato stupefactae illabitur urbi. 455

Splendet in occursu tanti Babilonia regis,


et quas congessit veterum sollertia regum
exponuntur opes. Ardent altaria gemmis,
porticibusque sacris statuae reteguntur avitae.
Per fora per vicos et compita serica ridet 460
vestis, et aurivomis ignescunt fana coronis,
matronasque graves animis civesque severos
tegmina celatis urunt bombicina monstris.
Servus et ancillae, iussi lucescere luxu
barbarico, insolitos nequeunt sufferre paratus, 465
immemoresque sui dum contemplantur amictus,
iam se presumunt servos non esse fateri,
hosque, quibus deerat fallax opulentia, iussit
inter honoratos fulgere precaria vestis.
Iam totum victoris iter lascivia florum 470
texerat et ramis viduata virentibus arbor.
Quocumque ingreditur, certant timiamata thuri
divinique Arabum pascuntur odoribus ignes
BUCH V 323

lich mit einer langen und großen Anstrengung gerechnet hatte, die
mit so vielen Völkern und so vielen Türmen bewehrte Stadt, erst
nach einer Belagerung einnehmen zu können, außer wenn die Ram-
me mit göttlicher Hilfe die Ziegelsteinmauern mit häufigen Stoßen
zerrütten würde. [450] Und so konnte dieser entschlossene und in
der eben vergangenen Schlacht nicht gerade ruhmlose und im
Kriegshandwerk vielfach erprobte Mann andere mit seinem Beispiel
zum Abschluss eines Friedensvertrags bewegen. Dann aber betrat
Alexander, nachdem er sein Heer kunstvoll geordnet hatte und den
Persern der Befehl erteilt worden war, seinen Truppen hinten zu
folgen, [455] in Schlachtordnung die staunende Stadt.

Alexanders Einzug in Babylon (456–490)

Babylon erstrahlte bei der Begegnung mit einem so mächtigen


Herrscher in vollem Glanz, Schätze wurden zur Schau gestellt, die
das kriegerische Geschick früherer Könige erbeutet hatte: Altäre
funkelten von Edelsteinen, Ahnenstandbilder wurden in heiligen
Säulengängen enthüllt. [460] Auf allen Plätzen, Straßen und Kreu-
zungen glänzten die Seidendecken der Serer, Tempel leuchteten hell
von golden strahlenden Kränzen, mit Wundergestalten bestickte
Seidengewänder plagten biedere Matronen und genügsame Bürger.
Sklaven und Sklavinnen konnten, geheißen im Prunk [465] der Bar-
baren zu erstrahlen, die für sie ungewohnte Kleidung nicht ertra-
gen. Ihre Stellung vergessend, nahmen manche beim Anblick ihrer
Gewänder schon an, nicht mehr bekennen zu müssen, Sklaven zu
sein. Jene, denen der trügerische Reichtum fehlte, wurden genötigt,
inmitten der Edelleute in geliehener Kleidung zu erstrahlen. [470] Aus-
giebiger Blumenschmuck und Blüten, gezupft von grünenden
Zweigen und Bäumen, hatten schon den ganzen Weg des Siegers be-
deckt. Wohin er auch schritt, wetteiferte Weihrauch mit Thymian-
dämpfen, heilige Feuer wurden mit Arabiens wohlriechenden Ge-
324 ALEXANDREIS

et matutino saciantur aromate nares.


Effera prefertur claustro indignata teneri 475
tigris et obstrusi ferrato carcere pardi.
Inclusi caveis frendunt inmane leones
et quecumque tenet Hyrcanos bestia saltus.
Et ne prepediant oculos obiecta sequentum
turba frequens, gradibus evecti ad culmina certis 480
quam plures avidique suum cognoscere regem
edita murorum longa statione coronant.
Occurrunt lyricis modulantes cantibus odas
cum cytharis mimi. Concordant cimbala sistris.
Tympana psalterio cedunt, nec defuit aures 485
blandius humanas docilis sopire viella,
et quos Nyliace tradunt mendacia gentis
fatidicos celique notis prenosse peritos
sydereos motus et ineluctabile fatum,
Memphitae vates currum victoris adorant. 490

Numquam tam celebri iactatrix Roma tryumpho


victorem mirata suum tam divite luxu
excepit, seu cum fuso sub Leucade Cesar
Antonio sexti mutavit nomina mensis
lactandasque dedit ydris Cleopatra papillas 495
seu post Emathias acies cum sanguine Magni
iam satur irrupit Tarpeiam Iulius arcem,
et merito: nam si regum miranda recordans
BUCH V 325

würzen entfacht und die Nasen wurden von orientalischen Gerü-


chen erquickt. [475] Wilde Tiger, darüber erbost, in einem Käfig
gehalten zu werden, und in eiserne Zwinger gesperrte Panther führ-
te man vorbei. Eingeschlossen in Käfigen gaben Löwen ihr entsetzli-
ches Gebrüll von sich und ebenso alle möglichen Tiere, die in den
Wäldern Hyrkaniens hausten. Und damit die große Menge an Zu-
schauern sich nicht gegenseitig den Blick nahm, [480] erstiegen so
viele wie möglich mit Leitern die Dächer, darauf erpicht, ihren
neuen König erstmals mit eigenen Augen zu sehen, und sie besetz-
ten dichtgedrängt die hochragenden Mauern. Mit ihrer Zither ka-
men Schauspieler daher und begleiteten Lieder mit lyrischen Melo-
dien. Die Zimbeln klangen im Takt mit den Isisklappern. [485] Die
Tympana wichen der Harfe, nicht fehlte die Geige, dazu geschaffen,
die Ohren der Menschen schmeichelnd zu beruhigen. Und auch die
Seher aus Memphis, von denen die Legenden des ägyptischen Vol-
kes berichten, dass sie weissagend sind, kundig darin, durch die
Zeichen des Himmels die Bewegungen der Sterne und das unab-
wendbare Schicksal im Voraus zu erkennen, [490] bewunderten
den Wagen des Siegers.

Die Suche nach einem alexanderhaften


christlichen Anführer (491–520)

Niemals zuvor hat das prahlerische Rom mit einem so feierlichen


Triumphzug seinen Sieger bewundernd verehrt und mit derart
aufwendigem Pomp empfangen, weder als Augustus nach seinem
Sieg bei Actium über Antonius den Namen des sechsten Monats
abänderte [495] und Cleopatra ihre Brust den Giftschlangen zum
Saugen der Milch darbot noch als Julius Caesar nach der Schlacht
bei Pharsalus, gerade satt vom Blut des Pompeius, die tarpeiische
Burg gewaltsam erstürmte. Und das völlig zu Recht: Denn wenn
man sich die durchaus bewundernswerten Taten all dieser Herr-
326 ALEXANDREIS

laudibus et titulis cures attollere iustis,


si fide recolas quam raro milite contra 500
victores mundi tenero sub flore iuventae
quanta sit aggressus Macedo, quam tempore parvo
totus Alexandri genibus se fuderit orbis,
tota ducum series, vel quos Hyspana poesis
grandiloquo modulata stilo vel Claudius altis 505
versibus insignit, respectu principis huius
plebs erit ut pigeat tanto splendore Lucanum
Cesareum cecinisse melos Romaeque ruinam
et Macedum claris succumbat Honorius armis.
Si gemitu commota pio votisque suorum 510
flebilibus divina daret clementia talem
Francorum regem, toto radiaret in orbe
haut mora vera fides, et nostris fracta sub armis
Parthia baptismo renovari posceret ultro,
queque diu iacuit effusis menibus alta 515
ad nomen Christi Kartago resurgeret, et quas
sub Karolo meruit Hyspania solvere penas
exigerent vexilla crucis, gens omnis et omnis
lingua Ihesum caneret et non invita subiret
sacrum sub sacro Remorum presule fontem. 520
BUCH V 327

scher vor Augen führt und sich bemüht, sie mit angemessenem Lob
und entsprechenden Ehrungen hervorzuheben, [500] dann aber
noch einmal unvoreingenommen überdenkt, mit welch kleiner
Streitmacht der Makedone in noch jugendlichem Alter gegen die
damaligen Herren der Welt Großartiges gewagt und nach welch
kurzer Zeit sich der ganze Erdkreis Alexander zu Füßen geworfen
hat, dann wird die ganze Reihe von Heerführern, mag auch Spa-
niens Dichtung [505] sie feierlich besingen oder Claudian sie mit
erhabenen Versen verherrlichen, gemessen an einem Anführer wie
diesem zweifelsohne hintanstehen müssen. Demzufolge dürfte es
Lucan angesichts solch hehren Glanzes bereuen, Caesar und den
Untergang Roms in einem Epos besungen zu haben, und auch Ho-
norius im Vergleich zu den ruhmreichen Taten der Griechen den
Kürzeren ziehen. [510] Falls aber die Gnade Gottes, bewegt durch
das Seufzen der Frommen und durch die Gebete der Gläubigen,
den Franken einen solchen König wie Alexander zuwiese, so würde
auf dem ganzen Erdkreis unverzüglich der wahre Glaube erstrahlen.
Gebändigt durch unsere Waffen würde das Partherreich aus eige-
nem Antrieb fordern, durch die Taufe erneuert in die Gemeinschaft
der Christen aufgenommen zu werden. [515] Das stolze Karthago,
das lange mit geschleiften Mauern darniederlag, würde im Namen
Christi neu wieder erstehen. Die Banner des Kreuzes würden die
Bußstrafe eintreiben, die Spanien schon zur Zeit Karls des Großen
hätte entrichten müssen. Jedes Volk würde in seiner eigenen Spra-
che ein Loblied auf Jesus anstimmen und geradezu begeistert
[520] vom heiligen Bischof der Remer die Taufe empfangen.
Liber VI
Capitula sexti libri

Sextus Alexandrum luxu Babilonis et auro


corruptum ostendit. Castrensia munera certis
distribuit numeris. Armato milite fines
Uxios intrat. Sysigambis liberat urbem
et Medatem precibus. A menibus eruta fumat 5
inclita Persepolis. Movet occursus miserorum
turbatum regem. Darius discrimina Martis
rursus inire parat. Hic sedicio patricidas
separat a Dario. Sed eos innata simultas
acceptos reddit et credula pectora placat, 10
nec fatum mutare valent decreta Patronis.

Sextus liber

Ecce lues mundi, regum timor unicus, ecce


quem tociens poteras, Babilon, legisse futurum
eversorem Asiae, sacra quem predixerat hyrcum
pagina, quem gemini fracturum cornua regni,
presentem mirare virum, nec despice clausum 5
coctilibus septis qui latum amplectitur orbem,
cuius inhorrescunt audito nomine reges.
Rex erit ille tuus a quo se posceret omnis
rege regi tellus si perduraret in illa
indole virtutum qua ceperat ire potestas. 10
Buch VI
Themenübersicht (1–11)

Das sechste Buch zeigt, wie Alexander durch den Prunk und das
Gold Babylons verführt wird. Der makedonische König verteilt die
Aufgaben im Lager nach festen Gruppen. Mit seinem kampfberei-
ten Heer betritt er das Land der Uxier. Auf Sisigambis’ Bitten hin
gibt er die Stadt frei [5] und verschont Medates. Bis auf die Grund-
mauern zerstört, steigt aus dem berühmten Persepolis Rauch auf.
Die Begegnung mit den Elenden rührt den König zuinnerst auf.
Darius schickt sich an, erneut die Entscheidung in der Schlacht zu
suchen. Hierauf trennt ein Aufstand die Verräter von Darius. Aber
angeborene Verlogenheit [10] verschafft ihnen wieder Darius’
Gunst und versöhnt arglose Herzen. Nicht aber können Patrons
Ratschläge das Schicksal ändern.

Alexander in Babylon (1–32)

Apostrophe an die Stadt Babylon (1–15)

Babylon, sieh den Verderber der Welt, den einzigartigen Schrecken


der Könige, sieh jenen, von dem du so oft hättest lesen können, dass
er der Vernichter Asiens sein wird, den die prophetischen Bücher
der Bibel schon immer als den Geißbock angekündigt haben, der
die Hörner des zweifachen Reichs zerbrechen wird, [5] ihn bestau-
ne nun selbst als leibhaftig anwesenden Mann. Schau nicht verächt-
lich auf jenen herab, der den weiten Erdkreis beherrscht und bei
dessen Namen die Könige erzittern, nur weil er von deinen steiner-
nen Mauern umschlossen wird. Jener wird dein König sein. Jedes
Land würde fordern, von diesem König regiert zu werden, wenn er
weiterhin jene [10] ihm angeborene Tugendhaftigkeit an den Tag
330 ALEXANDREIS

Aspice quam blandis victos moderetur habenis.


Aspice quam clemens inter tot prospera victor.
Aspice quam mitis dictet ius gentibus ut quos
hostes in bellis habuit cognoscat in urbe
cives et bello quos vicit vincat amore. 15

Hos tamen a tenero scola quos inpresserat evo


ornatus animi, poliendae scemata vitae,
innatae virtutis opus solitumque rigorem
fregerunt Babilonis opes luxusque vacantis
desidiae populi quia nil corruptius urbis 20
moribus illius. Nichil est instructius illis
ad Veneris venale malum cum pectora multo
incaluere mero: si tantum detur acerbi
flagicii precium, non uxores modo sponsi
sed prolem hospitibus cogunt prostare parentes. 25
Sollempnes de nocte vident convivia ludos
quos patrio de more solent celebrare tyranni.
Hos inter luxus Babilonis et ocia Magnum
ter deni tenuere dies et quatuor, unde
terrarum domitor exercitus ille futurus 30
debilior fuerat si post convivia mensae
desidis effrenum piger irrupisset in hostem.
BUCH VI 331

gelegt hätte, mit der er seine Herrschaft zu Beginn ausgeübt hatte.


Schau an, wie er Besiegte mit schonenden Zügeln im Zaum hält.
Schau an, wie mild er gemessen an so vielen Erfolgen als Sieger sich
zeigt. Schau an, wie friedsam er den Völkern eine Verfassung gibt,
um jene, die er in Kriegszeiten zum Feind hatte, in der Stadt [15] als
Bürger anzuerkennen, und diejenigen, die er im Krieg besiegt hat,
mit Zuneigung zu gewinnen.

Babylons verderblicher Einfluss auf die Griechen und Alexanders


Aufbruch aus Babylon (16–32)

Weil nichts verdorbener war als die Sitten jener Stadt, schwächten
ihm jedoch Babylons Reichtum und der Luxus eines dem müßigen
Nichtstun [20] verfallenen Volkes jene Zierde des Geistes, die ihm
schulische Bildung von zarter Kindheit an eingeprägt hatte: die
innere Haltung für ein zivilisiertes Leben, die angeborene Tugend-
haftigkeit und die gewohnte Unbeugsamkeit. Wenn die Sinne vom
vielen Wein erhitzt waren, war nichts förderlicher für das Übel
käuflicher Liebe als jene sittliche Verwahrlosung. Wurde nur ein
Preis für eine scheußliche Schandtat ausgelobt, zwangen nicht nur
Gatten die Gattin, [25] sondern auch Eltern ihre Kinder, sich
Gästen für Geld anzubieten. Nachts sahen sich Tischgesellschaften
feierliche Spiele an, die Könige nach väterlicher Sitte zu veranstalten
pflegten. Vierunddreißig Tage lang hielten Babylons Luxus und
Müßiggang den makedonischen König gefangen, wodurch [30] je-
nes Heer – eigentlich dazu bestimmt, die Länder zu bezwingen – zu
diesem Zeitpunkt zu schwach gewesen wäre, wenn es sich nach
einem Gastmahl an müßiger Tafel in seiner Trägheit auf einen ent-
fesselten Feind hätte stürzen müssen.
332 ALEXANDREIS

Ergo Semiramiis postquam Mavortius heros


finibus egressus Satrapenis constitit arvis,
quedam que dederant patres precepta prioris 35
miliciae mutanda ratus castrensia, certos
munera sub numeros arguta mente redegit.
Utque suos habeant cyliarchas, queque quiritum
milia constituit, quibus indubitata probetur
iudicibus virtus equitum dignusque probatis 40
exhibeatur honos ne falso premia poscat
qui tepide gessit, ne sub probitatis amictu
splendeat improbitas, et ne mercede negata
perdiderit titulum qui gessit fortia fortis.
Moris apud veteres Macedum patremque Philippum 45
hactenus exstiterat, cum tolli signa iuberent,
castra ciere tuba, que prepediente tumultu
armorumque sono non pertingebat ad omnes.
Sed super hoc cautum est ut pertica signa movendi
luce sit in signum, fumus de nocte vel ignis. 50
Neve quis alterius munus vel fortia gesta
usurpare suisve ascribere viribus ausit,
unumquemque virum vice qua donatur et actis
contentum iubet esse suis. Monet allicit artat
fortes conductos cives prece munere scripto. 55
Romuleos reges subiecto legimus orbe
in populos legem et causas dictasse forenses
cum deus ultrices Furias arceret Olympo,
Theodosius terris. Sed plus fuit arma tenentes
legibus astringi quam victis condere iura, 60
BUCH VI 333

Alexanders Neuorganisation des griechischen Heeres (33–62)

Nachdem der Kriegsheld also Semiramis’ Land verlassen und im Sa-


trapengebiet ein Lager bezogen hatte, verteilte er – in der Meinung,
dass manche Regeln für die Organisation des Lagers, [35] welche die
Väter in früheren Kriegen aufgestellt hatten, geändert werden
müssten – in durchdachter Weise die verschiedenen Aufgaben auf
feste Gruppen. Alexander stellte Abteilungen von jeweils tausend
Soldaten mit jeweils einem Chiliarchen auf. [40] Deren Urteil sollte
die Tapferkeit der Reiter – wenn sie unzweifelhaft anerkannt war –
und auch die verdiente Ehrung bestätigen, damit nicht jemand, der
nur schwach gekämpft hatte, fälschlicherweise Belohnungen forder-
te, nicht unter dem Deckmantel der Rechtschaffenheit Unredlich-
keit hervorschimmerte und nicht jenem, der tapfer gekämpft hat,
nach Verweigerung des gerechten Lohns der angemessene Ruhm
vorenthalten wurde. [45] Sitte war es bei den Vorfahren der Ma-
kedonen und sogar noch bei seinem Vater Philipp, das Lager nach
dem Befehl zum Abmarsch mit dem Klang der Tuba in Bewegung
zu setzen, der jedoch nicht zu allen durchdrang, da der Lärm im
Lager und das Waffengeklirre diesen erstickten. Aber diesbezüglich
wurde festgesetzt, dass von nun an [50] bei Tage ein langer Stock
und bei Nacht Rauch oder Feuer als Zeichen für den Abmarsch zu
gelten habe. Auch sollte es keiner wagen, sich die Geschenke und
tapferen Taten eines anderen anzumaßen oder seiner eigenen Tat-
kraft zuzuschreiben. Er erteilte den Befehl, dass jeder Mann mit
seinen Taten und der dafür entsprechenden Belohnung zufrieden
sein solle. Er mahnte, lockte und nötigte [55] seine Soldaten, Söld-
ner und Landsleute mit Bitten, Geschenken und schriftlichen Be-
fehlen. Nach der Unterwerfung der Welt – so liest man – diktierten
die römischen Kaiser den Völkern Gesetze und öffentliche Gerichts-
verfahren, als Jupiter die rächenden Furien vom Olymp und Theo-
dosius diese von der Erde abhielt. Doch bedeutender war es,
bewaffnete Soldaten [60] mit Gesetzen zu binden, als für Besiegte
334 ALEXANDREIS

et maius fuit armatos decreta rigoris


suscipere in bello quam ius in pace pacisci.

Hec ubi mature tractata libentibus omnes


accepere animis, Susam tradentibus urbem
civibus et multis hilarato milite gazis, 65
agmen ad Uxias convertit turbidus arces.
Uxiae regionis onus summamque regebat
prefectus Medates, sane vir fortis et ingens
exemplar fidei, pro qua suprema subire
non veritus, verum Dario servabat amicum. 70
Doctus ab indigenis iter esse latens et opertum
civibus ignaris, Graios quod ducat ad urbem,
delectis equitum tantum in discrimen ituris
prefecit Macedo meriti Taurona probati.
Ipse movens circa tenerae primordia lucis 75
angustas superat fauces aditusque locorum,
cesaque materies faciendis cratibus apta
et pluteis curva testudine surgit in arcem,
artificum ut studiis tali munimine tuta
funditus erueret muros armata iuventus. 80
BUCH VI 335

ein Rechtssystem aufzustellen; eine größere Leistung war es, bewaff-


nete Kämpfer strengen Regeln zu unterwerfen, als im Frieden ein
Rechtssystem zu etablieren.

Die Eroberung von Susa und der Krieg gegen die Uxier (63–144)

Die Einnahme von Susa und die Schlachtvorbereitungen


gegen die Uxier (63–80)

Als alle bereitwillig den Vorgaben Alexanders rechtzeitig zuge-


stimmt hatten, lenkte er sein Heer – [65] die Bürger von Susa hatten
sich inzwischen ergeben und die Soldaten waren mit vielen Schät-
zen zufriedengestellt worden – rasch zur Festung der Uxier. Den
Oberbefehl über das Gebiet der Uxier hatte im Rang eines Präfek-
ten der mit Darius in wahrer Freundschaft verbundene Medates
inne, ein fürwahr tapferer Mann und zugleich ein herausragendes
Beispiel von treuer Ergebenheit, für die er in den Tod zu gehen
[70] nicht fürchtete. Von ortskundigen Einwohnern darüber in
Kenntnis gesetzt, dass es einen den Bürgern der uxischen Haupt-
stadt unbekannten Schleichweg gebe, der die Griechen in die Stadt
hineinführen könne, stellte Alexander den verdienstvollen Tauron
an die Spitze einer ausgewählten Reiterschar, die sich einer so gro-
ßen Gefahr auszusetzen bereit war. [75] Er selbst brach im Morgen-
grauen auf und überwand die engen Bergschluchten und Zugänge
zum Land der Uxier; zurechtgeschnittenes Zweigholz, das zum
Flechten einer Schutzwand sich eignete, wuchs bogenförmig zu
einem gewölbten Schutzdach empor, damit die bewaffnete Jugend
– durch eine solche meisterhaft geschaffene Deckung geschützt –
die feindlichen Mauern [80] von unten her zerstören konnte.
336 ALEXANDREIS

Sed gravis accessus cum dura minetur acutis


cotibus et saxis succidi nescia tellus.
Nec solum Macedo cum duro dimicat hoste,
sed locus est cum quo pugnandum vivaque cautes
nativo munita situ; tamen arta subibant 85
et prerupta leves duce precedente cohortes.
Quem tamen obiecta testudine, cum peteretur
eminus ex alto telorum grandine, nec vi
nec prece barbaricis poterant avellere muris,
quippe inter primos galeato vertice primus 90
fulminat in muros, nunc grandia saxa volutans,
nunc sude suffodiens, nunc frangens ariete portas,
nunc tormenta rotat tormentum flebile mundi,
impellensque suos, “Pudeat iam, proch pudor,” inquit
“victores Asiae, o socii, quibus ante tot urbes 95
cessere, exigui dormire ad menia castri.
Que loca, quod subsistat opus? Quis non ruat agger
ante manus Macedum? Que menia stare vel arces
sustineant? Solidis que fundamenta columpnis
inniti valeant cum senserit altus adesse 100
murus Alexandrum? Quamvis equandus Olimpo,
corruet, et discent michi condescendere turres.”
BUCH VI 337

Die Schlacht gegen die Uxier (81–102)

Schwierig jedoch war der Zugang zur Stadt, da der steinharte und
nicht zu durchdringende Boden mit scharfen Steinen und Felsen
drohte. Und nicht allein mit dem ausdauernden Feind kämpfte Ale-
xander, sondern es war auch der Ort, der bekämpft werden musste,
ein natürlicher Felsen, [85] geschützt durch seine naturgegebene
Lage; doch rückten an den schroffen und steilen Hängen schon die
leichtbewaffneten Kohorten unter Führung des in vorderster Front
reitenden Tauron heran. Als Alexander, vom ausgebreiteten Flecht-
werk zwar einigermaßen geschützt, von oben herab von einem
Pfeilhagel eingedeckt wurde, konnten ihn seine Soldaten weder mit
Gewalt noch mit Bitten von der Mauer der Feinde wegreißen,
[90] da er mit dem Helm auf dem Kopf als erster unter den ersten
gegen die Mauern wütete: Bald wälzte er gewaltige Felsbrocken
heran, bald drang er mit dem Schanzpfahl unter die Mauer, bald
zerbrach er mit dem Sturmbock die Tore, bald ließ er die für die
Menschheit leidvolle Wurfmaschine Geschosse schleudern und
trieb dabei seine Kampfgefährten folgendermaßen an: »Welch eine
Schande, schämt ihr euch nicht, [95] ihr Bezwinger Asiens, meine
Kameraden, vor denen in der Vergangenheit schon so viele Städte
kapituliert haben, jetzt vor den Mauern eines kleinen Kastells hier
nur halbherzig zu kämpfen? Welcher Ort, welches Schanzwerk soll-
te in der Lage sein, uns Widerstand zu leisten? Welcher Schutzwall
sollte nicht zusammenbrechen, wenn die makedonische Streit-
macht naht? Welche Mauern oder welche Burgen sollten uns stand-
halten? Welche Grundmauern – auf feste Pfeiler [100] gestützt –
sollten Bestand haben, wenn die ragende Mauer schmerzlich emp-
findet, dass Alexander dort steht? Sie wird einstürzen, mag sie auch
dem Olymp vergleichbar aufragen, die Türme werden lernen, mir
vor die Füße zu fallen.«
338 ALEXANDREIS

Dixit, et in summa Tauron apparuit arce.


Quo semel aspecto Grais audacia crevit,
corripuitque pavor et desperatio cives. 105
Hiis extrema pati patriaeque impendere vitam,
illis corde sedet fuga si modo libera detur.
Maxima nubiferam se turba recepit in arcem.
Nec mora ter denis victorem flectere missis
ut liceat salva victos abscedere vita, 110
triste reportatur responsum a principe nullum
esse locum veniae, parvas superesse doloris
suppliciique moras. Torpent languore pavoris
percussi cives, dociles extrema vereri.
Dirigit ergo preces occulto calle per umbras 115
ad matrem Darii Medates ut mitiget iram
regis et ut victis invictus parcat et urbi.
Non ignarus eam venerari et matris honore
a victore coli, Medates eius sibi neptem
duxerat, ad Darium cognato sanguine spectans. 120
Rennuit illa diu precibus concurrere quamvis
iusta petant, et “fortunae non congruit isti
qua nunc versor” ait “tantos admittere fastus.
Victorem qua fronte rogem captiva? Repulsam
ex merito patitur qui postulat ulterius quam 125
promeruit. Spes, quam meritum non prevenit, a spe
deviat, et verum dat ei presumptio nomen.
Convenit ut pocius quod sim captiva penes me
contempler quam quod fuerim regina recorder.
Tot precibus latis vereor ne fessa residat 130
BUCH VI 339

Alexanders Sieg über die Uxier (103–144)

So sprach er. Hoch oben am Burgberg erschien plötzlich Tauron.


Nachdem die Griechen ihn einmal erblickt hatten, wuchs ihre
Kühnheit, [105] die feindlichen Bürger hingegen wurden von Angst
und Verzweiflung ergriffen. Die einen waren bereit, das Äußerste zu
ertragen und ihr Leben für das Vaterland hinzugeben, andere san-
nen auf Flucht, wenn sich ihnen die Möglichkeit dazu bieten sollte.
Der größte Teil der Bürger jedoch zog sich in die wolkenverhangene
Burg zurück. Nachdem unverzüglich dreißig Boten geschickt wor-
den waren, den Sieger dahingehend zu beeinflussen, [110] den Be-
siegten zu erlauben, unversehrt abzuziehen, wurde die für sie trauri-
ge Nachricht zurückgemeldet, dass vom Anführer der Griechen
keine Gnade zu erwarten sei und sie in Kürze mit Marter und Tod
zu rechnen hätten. Die erschütterten Bürger erstarrten in lähmen-
der Angst und fanden sich damit ab, das Äußerste fürchten zu müs-
sen. [115] Im Wissen, dass Sisigambis vom Sieger verehrt und mit der
Hochachtung, die normalerweise nur einer Mutter zuteil wird,
geschätzt wurde, wendete sich Medates nachts auf heimlichem Pfad
mit der Bitte an Darius’ Mutter, Alexanders Zorn zu besänftigen,
auf dass dieser als unbesiegter König die Besiegten und die Stadt
verschone. Zudem hatte Medates ihre Nichte [120] geheiratet und
war so mit Darius verwandt. Jene verweigerte den Bitten lange die
Zustimmung, obgleich sie nur Rechtes begehrten, und sagte: »Es
passt nicht zu meiner jetzigen Situation, einen so großen Hochmut
an den Tag zu legen. Mit welcher Unverfrorenheit soll ich als Ge-
fangene vom Sieger etwas erbitten? Eine Zurückweisung erleidet
[125] zurecht, wer mehr fordert, als er verdient hat. Eine Hoffnung,
die sich nicht auf einen Verdienst gründet, hört auf, Hoffnung zu
sein, und verdient, Anmaßung genannt zu werden. Eher sollte ich
mir vor Augen führen, dass ich eine Gefangene bin, als an meine
frühere Stellung als Königin zurückzudenken. [130] Ich befürchte,
dass des Königs Gnade, erschöpft durch eine so außerordentliche
340 ALEXANDREIS

neve fatigari queat indulgentia regis.”


Ista Sysigambis, suplicum tamen icta dolore,
scribit Alexandro: victis si parcere nolit,
luce frui Medaten, iam victum iamque fatentem
se peccasse, sinat. Que tunc moderatio Magni, 135
que pietas fuerit vel que constantia regis
arguit hoc unum quod non Medati modo verum
omnibus ignovit et libertate priori
concessa captam captivis reddidit urbem.
Restituit patrios priscis cultoribus agros 140
immunesque coli mandavit et absque tributo.
Si vaga victori Dario Fortuna dedisset
urbem pre manibus, non impetrasset ab illo
plura parens quam que victis dedit hostibus hostis.

Nec mora, divisis cum Parmenione catervis, 145


imperat ut Darium caute vestiget, eumque
campestri iubet ire via, tamen ipse retentis
delectis equitum iuga tendit in ardua, quorum
perpetuum excurrit vergens in Persida dorsum.
Non alias Macedo, graviora pericula passus, 150
experto didicit semper variamque sibique
dissimilem et nulli fortunam stare perhennem.
Perque tot angustas et qua via devia fauces
perque tot anfractus et qui vestigia nusquam
admittunt hominis gradiens, Pelleus ab hoste 155
desuper obruitur et non inpune frequenter
BUCH VI 341

Bitte, nachlässt und ermüdet wird.« Vom Schmerz der um Gnade


flehenden Bürger getroffen, schrieb Sisigambis nun doch Alexan-
der, er möge, wenn er schon die Besiegten nicht schonen wolle, zu-
mindest Medates, schon besiegt [135] und sich schuldig bekennend,
am Leben lassen. Welch eine Mäßigung, welch eine Milde Alexan-
der damals auszeichnete und welch eine Charakterfestigkeit diesem
König innewohnte, bewies der einzigartige Umstand, dass er nicht
nur Medates, sondern auch allen anderen verzieh und den gefange-
nen Bürgern durch die Gewährung der alten Freiheit die eroberte
Stadt zurückgab. [140] Den Bauern gab er die von den Vätern
ererbten Äcker zurück und erteilte den Befehl, diese frei von Ab-
gaben und ohne Tributpflicht zu bebauen. Wenn das unbeständige
Schicksal die Stadt einem siegreichen Darius in die Hände gespielt
hätte, hätte Sisigambis von ihrem eigenen Sohn nicht mehr erhalten
als das, was Alexander als Feind den besiegten Feinden zugestanden
hat.

Schwere Kämpfe gegen den Statthalter der Provinz Persis (145–160)

[145] Nachdem Alexander das Heer zwischen sich selbst und Parme-
nion aufgeteilt hatte, gab er diesem unverzüglich den Befehl, Darius
vorsichtig zu verfolgen und dabei durch das Flachland zu ziehen. Er
selbst suchte mit einer ausgewählten Schar von Reitern einen stei-
len Bergrücken zu erreichen, dessen stetig verlaufender Grat nach
Persien hin abfiel. [150] Alexander, der kein anderes Mal schlimmere
Gefahren ertragen musste, hat hier durch eigene Erfahrung gelernt,
dass das Schicksal wankelmütig und launenhaft sein kann und kei-
nem immerwährend beistehen muss. Während Alexander nämlich
durch so viele Engstellen und nahezu unzugängliche Schluchten,
durch so viele verschlungene Pfade, die dem Menschen normaler-
weise nirgendwo [155] Zutritt gestatten, schritt, wurde er von oben
herab vom Feind bestürmt. Nachdem er nicht ohne Verluste zum
342 ALEXANDREIS

compulsus retroferre gradus, multaque suorum


sanguinis impensa post tot discrimina tandem
hostica confregit collato robore signa,
victaque sederunt victricibus arma sub armis. 160

Vix bene purgato noctis caligine caelo,


traiciens Macedo molimine pontis Araxen
Persepolim festinus adit, captamque redegit
in cineres celebrem tot priscis regibus urbem.
Diviciis tumidas cum ceperit ante tot urbes, 165
huius opes alias opulentia barbara longe
preteriit. Luxum totius Persidis istuc
intulerant reges. Sacrum penetralibus aurum
et rudis eruitur argenti massa vetusti.
Ex aditis rapitur non tantum partus ad usum 170
agger opum, nec ad hoc congessit avara vetustas,
quantum ut mirantes traheret speculatio visus.
Curritur in predam citius, certatur et inter
predones, hostisque loco truncatur amicus,
cui preciosior est rapta aut inventa rapina: 175
causa necis preciumque fuit preciosa supellex.
Et quod quisque rapit, iam non capit improbus, unde
accidit ut quod iam non occupat estimet illud.
Purpura diripitur, laceratur regia vestis
artificum sudata manu, queque aspera signis 180
BUCH VI 343

wiederholten Mal gezwungen worden war, zurückzuweichen, zer-


schlug er schließlich nach so vielen gefahrvollen Situationen mit
vereinten Kräften und mit hohem Blutzoll unter seinen eigenen
Männern die feindlichen Scharen. [160] Am Ende lagen die Waffen
der Besiegten neben denen der Sieger dicht beieinander.

Alexander in Persepolis (161–296)

Alexander macht Persepolis dem Erdboden gleich (161–195)

Als kaum sich der Himmel vom Dunkel der Nacht befreit hatte,
überquerte Alexander auf einer eigens errichteten Brücke den
Araxes, griff eilends Persepolis an und legte die durch so viele
altehrwürdige Könige berühmte Stadt in Schutt und Asche.
[165] Wenn er auch schon zuvor so viele von Reichtümern strotzen-
de Städte erobert hatte, übertraf doch die barbarische Pracht von
Persepolis andere Schätze bei weitem. Den Reichtum ganz Persiens
hatten die Könige einst hierher bringen lassen. Man raubte das für
die Tempel bestimmte Gold und die rohe Masse uralten Silbers.
[170] Aus dem Allerheiligsten der Tempel schleppte man einen Berg
voller Schätze weg, die nicht so sehr zum Gebrauch erworben wor-
den waren – für diesen Zweck hatten die Alten diese in ihrer Hab-
gier nämlich nicht zusammengerafft – als dazu, dass deren Anblick
bewundernde Blicke hervorrufen sollte. Schnell stürzte man sich
auf die Beute, man kämpfte wie unter Räubern, der Freund,
[175] der sich eine wertvollere Beute unter den Nagel gerissen hatte,
wurde anstelle des Feindes getötet: Grund und Preis für den gewalt-
samen Tod war die wertvolle Habe. Und was ein jeder raubte,
konnte der Plünderer schon nicht mehr tragen. So geschah es, dass
er jene Dinge, die er noch nicht in seinen Besitz gebracht hatte,
zuvor erst nach ihrem Wert begutachtete. Purpurdecken wurden
zerrissen, zerfetzt wurden [180] mühsam von Künstlerhand gefertig-
344 ALEXANDREIS

aurea vasa rigent, dolabris in fragmina cedunt.


Nil sinit intactum nullis contenta cupido.
Integra nulla manent. Membris simulacra revulsis
plus terroris habent mutilata minusque decoris.
Exitus hic urbis, que tot regalibus olim 185
floruerat titulis et que tot gentibus una
iura dabat, quondam specialis et unicus ille
Europae terror, decies cum mille carinis
obstrueret totum numerosa classe profundum,
Neptunum fossis inmittere collibus ausa 190
ausaque montanis exponere lintea dorsis.
Persarum reliquas urbes tenuere secuti
post Magnum reges. Huius vestigia nusquam
invenies nisi strata rapax ostendat Araxes
menia marmoreis paulo distantia ripis. 195

Dixeris indignam dignamve his cladibus urbem


ambigitur, nam cum subiturus menia Magnus
pergeret, occurrit agmen miserabile visu.
Captivi Macedum tria milia, corpora cesi,
auribus orbati, pedibus manibusve recisis, 200
vel labra precisi, penitus vel lumine cassi,
aut aliqua a Persis membrorum parte minuti.
Preterea que longa sui ludibria servant,
frontibus impressa est rudibus nota barbara signis.
Hos ubi non homines verum simulachra videri 205
rex ratus in primis tandem cognovit, obortis
BUCH VI 345

te Königsgewänder, mit üppigem Bilderschmuck verzierte goldene


Gefäße wurden mit Hacken in Stücke geschlagen. Die mit nichts
zufriedene Gier ließ nichts unangetastet. Nichts blieb unversehrt.
Mit abgerissenen Gliedmaßen verbreiteten verstümmelte Statuen
mehr Schrecken als Anmut. [185] So endete die Stadt, die einst
durch so viele ehrenvolle Königstitel in höchstem Ansehen gestan-
den und so vielen Völkern allein eine Verfassung gegeben hatte,
einst jener besondere und einzigartige Schrecken Europas, als sie
mit zehntausend Schiffen das ganze Meer mit einer riesigen Flotte
versperrt und das Wagnis in Angriff genommen hatte, das Wasser
des Meeres in durchstoßene Hügel zu leiten, [190] und sich erdreis-
tet hatte, den Bergrücken die Segel vor Augen zu stellen. Die
Könige, die auf Alexander folgten, behielten die Herrschaft über
alle anderen Städte der Perser. Nirgendwo jedoch wirst du noch
Spuren von Persepolis finden, es sei denn, der reißende Araxes sollte
[195] unweit von seinen hell schimmernden Ufern die niedergewor-
fenen Mauern auftauchen lassen.

Alexander begegnet verstümmelten Kriegsgefangenen (196–212)

Man mag unschlüssig darüber sein, ob die Stadt diesen verheeren-


den Untergang verdient hat oder nicht; als Alexander sich nämlich
anschickte, die Stadt zu betreten, kam ihm eine jämmerlich anzu-
schauende Gruppe von Männern entgegen: Dreitausend makedoni-
sche Gefangene mit blutig geschlagenen Körpern, [200] der Ohren
beraubt, mit abgetrennten Füßen und Händen, abgeschnittenen
Lippen, mit gründlich aus den Höhlen entfernten Augen und auch
sonst von den Persern noch anderer Glieder beraubt. Außerdem
wurde ihnen als dauerhaftes Sinnbild ihrer Entehrung auf die Stirn
ein Brandmal aus kunstlosen Buchstaben eingebrannt. [205] Als
Alexander, der auf den ersten Blick der Meinung war, nicht Men-
schen, sondern Gespenster vor sich zu haben, schließlich seine make-
346 ALEXANDREIS

intepuit lacrimis, victorque exercitus ille


flevit, et in subitum versa est victoria luctum.
Rex miseros fortis animi iubet esse, daturum
se quicquid peterent, visuros dulcia rura 210
divitis Europae, uxores dulcesque propinquos
spondet et in patrio capturos cespite sompnum.

Secedit vallo vulgus miserabile donec


que potiora petat libra deliberet equa.
Hiis Asiae placuit consistere finibus, illis 215
dulcior est patrius alieno cespite cespes.
Quorum quem docilis celebrem facundia linguae
fecerat Euctemon ita creditur esse locutus:
“Quem modo de tenebris et clauso carceris antro
ut peteremus opem puduit procedere, trunci 220
corporis exicium patriae qua fronte valebis
ostentare tuae, spectacula leta daturus
cum sane incertum discrimina tanta tulisse
peniteat magis an pudeat? Bene fertur iniqua
condicio cum tecta latet. Bene fertur amara 225
condicio miseram si nosti abscondere vitam,
nullaque tam nota est miseris tam patria dulcis
quam sedes aliena, domus sine teste prioris
fortunae. Miseros faciunt loca sola beatos
quando beatarum subeunt oblivia rerum. 230
Qui totum ponunt in spe vel amore suorum,
BUCH VI 347

donischen Landsleute erkannte, rang er unter Tränen um Fassung.


Auch jenes siegreiche Heer ließ seinen Tränen freien Lauf, der gera-
de errungene Sieg verwandelte sich in plötzliche Trauer. Der König
hieß die traurigen Gestalten, ihre tapfere Gesinnung zu bewahren,
und versprach ihnen zu geben, [210] was sie nur wünschten: das
Wiedersehen mit den lieblichen Gefilden des reichen Europa, mit
ihren Ehefrauen und der trauten Verwandtschaft und die damit ver-
bundene Möglichkeit, wieder auf heimischem Boden zu schlafen.

Das Rededuell zwischen Euctemon und Theteus (213–296)

Die bedauernswerten Männer entfernten sich ein wenig vom Wall,


bis sie in gerechter Abwägung beraten hatten, was sie für die beste
Lösung hielten. [215] Die einen sprachen sich dafür aus, in Asien zu
bleiben, die anderen zogen den heimatlichen Boden der Fremde
vor. Einer von diesen bedauernswerten Männern, Euctemon, be-
rühmt für seine Fähigkeit, mit der Rede zu überzeugen, soll Folgen-
des gesagt haben: »Mit welchem Mut wirst du – dich der Lächer-
lichkeit preisgebend – deinem Vaterland das Grauen deines ver-
stümmelten Körpers zeigen können, der du dich eben noch ge-
schämt hast, aus der Dunkelheit und der verschlossenen Höhle des
Kerkers hervorzutreten, [220] um Hilfe zu erbitten, wenn es über-
aus unsicher ist, ob es eher Missfallen findet oder doch eher Bedau-
ern hervorruft, so schlimme Dinge ertragen zu haben? Leichter
erträgt man sein beschwerliches Dasein, [225] wenn es unsichtbar
im Verborgenen bleibt. Leichter erträgt man seine schreckliche
Lage, wenn man es versteht, sein elendes Leben den Blicken anderer
zu entziehen. Keine Heimstatt ist für uns bedauernswerte Geschöp-
fe so angenehm und vertraut wie ein fremder Wohnsitz, eine Behau-
sung ohne Zeugen des früheren Lebens. Nur einsame Orte machen
Elende glücklich, [230] da sie dort ihr vormals glückliches Leben
vergessen können. Wer alles in die Hoffnung und Liebe der Seinen
348 ALEXANDREIS

quam cito sustineat lacrimarum arescere rivus


ignorant. Leviter veniunt leviusque recedunt
blandiri dociles lacrimae, solasque propinqui
impendunt miseris lacrimas. Arentibus illis 235
cum lacrimis arescit amor pietasque tuorum.
Sors miseri querula est, felicis vero superbus
est status, et tumidae nulla est compassio mentis.
Quem fastidit homo non vere diligit. Ille
verus amor miserum qui non fastidit amicum. 240
Fortunam alterius dum tractat, quisque recurrit
ad propriam et propria consulta sorte requirit
tales exterius qualem se noverit intus.
Fortunata parem solet alea querere casum.
Fastidisse alius alium poteramus et esse 245
obprobrio mixtim nisi mutua fata dedissent
omnibus equales inter tria milia casus.
Uxores tenerae, quas in fervore iuventae
duximus et spretas sumptis dimisimus armis,
quam sollempni in socialia federa vultu 250
admittent viles Veneris sine fomite truncos
partirique volent genialis gaudia lecti!
Usque adeo sexus nobis incognitus ille est?
Pectore femineo vernalis certior aura est,
mollior est adamas. Felici que solet esse 255
dura viro, miserum poteritne videre maritum?
Obsecro vos, olim vita defuncta iuventus,
querite quas habitent semesa cadavera sedes.
Queramus parili voto lugentibus aptum
abiectisque locum. Ignotis lateamus in horis, 260
quos penes agnosci miseri iam cepimus, immo
quos penes invisum iam desiit esse cadaver.”
BUCH VI 349

setzt, weiß nicht, wie schnell der Strom der Tränen in der Lage ist
zu versiegen. Mit Leichtigkeit brechen die im Schmeicheln erfahre-
nen Tränen hervor, leicht jedoch versiegen sie auch. Die einzigen
Tränen, die für Elende vergossen werden, [235] stammen von den
eigenen Angehörigen. Sind jene Tränen vertrocknet, versiegen mit
ihnen auch Liebe und Erbarmen der Deinigen. Das Schicksal eines
Elenden ist beklagenswert, hochmütig jedoch ist die Haltung eines
glücklichen Menschen und ein aufgeblasener Geist kennt kein
Mitgefühl. Nicht liebt man aufrichtig denjenigen, den man gering-
schätzt. [240] Wahre Liebe besteht darin, einen Freund in einer
unglücklichen Lebenslage nicht geringzuschätzen. Während man
das Schicksal des anderen betrachtet, setzt es ein jeder in Beziehung
zum eigenen Schicksal und sucht, sein eigenes Los überdenkend, in
seinem sozialen Umfeld nur solche Freunde, zu denen man inwen-
dig am besten passt. Ein glückliches Los bei dem einen sucht nor-
malerweise ein entsprechendes Schicksal beim anderen. [245] Wir
hätten – der eine den anderen – verachten und uns gegenseitig als
Schandfleck dienen können, wenn das Los nicht allen dreitausend
Männern das gleiche Schicksal zugewiesen hätte. Wie werden unse-
re liebevollen Ehefrauen, die wir in der Leidenschaft unserer Jugend
geheiratet und durch unseren Waffengang schmählich zurückgelas-
sen haben, mit einem wertlosen Rumpf, ohne das Feuer der Lust,
[250] mit gewohnter Begeisterung den ehelichen Beischlaf vollzie-
hen und mit uns die Freuden des Ehebetts teilen wollen? Kennen
wir die Frauen so schlecht? Der Frühlingswind ist beständiger und
weicher der Stahl als das Herz einer Frau [255]. Wird sie das Elend
ihres Ehegatten ertragen können, wenn sie normalerweise schon
einem glücklichen Mann hart zusetzt? Ihr längst schon dem Leben
entrückten Jünglinge, ich bitte euch inständig, sucht Wohnsitze für
eure halb zernagten Kadaver. Lasst uns einmütig einen Ort suchen,
[260] der sich für Trauernde und Verlorene eignet. Lasst uns an
unbekannten Gestaden unter jenen verborgen uns halten, bei de-
nen wir schon als Beklagenswerte anerkannt wurden, ja sogar der
350 ALEXANDREIS

Hactenus Euctemon, cui sic oriundus Athenis


Theteus obiecit: “Nemo estimat” inquit “amicum
corporis ex habitu, durae ludibria sortis 265
nemo pius pensat. Non nos natura creatrix
sed contemptibiles hostis violentia fecit.
Omnibus esse malis me iudice censeo dignum
quem pudet eventus, sua cui fortuna pudori est.
Desperare solent alios in tempore duro 270
esse miserturos aliis hii qui misereri
non vellent si Fata darent contraria fila.
Inclementis homo mentis male conicit ex se
rara quod humanae sedeat clementia menti.
Spe maius votoque deos offerre videtis 275
uxores patriam prolem patriosque penates.
Heu liceat clausis erumpere carcere, lucem
aeraque et linguam patriosque resumere mores.
Cur miser hic et servus eris si patria detur
in votis, in qua tantum miser esse teneris? 280
Exulibus tandem fortuneque ultima passis
est aliquid patrio se reddere posse sepulchro.
Mollius ossa cubant manibus tumulata suorum.
In Persis maneant Medorumque aera spirent
felices alii quos diffidentia patrum 285
uxorumque potest avellere dulcibus arvis.
Me sane regis usurum munere constat
Europam patriamque sequi, modo libera detur
visendi a superis natalia rura facultas.”
BUCH VI 351

Hass auf unsere Kadaver nicht weiter fortlebt. So sprach Eucte-


mon.« Diesem entgegnete der aus Athen stammende Theteus:
»Niemand bewertet einen Freund [265] nach dem Zustand des
Körpers, niemand, der gütig ist, misst den Launen des grausamen
Schicksals allzu große Bedeutung bei. Nicht Mutter Natur hat uns
verachtenswert gemacht, sondern die Gewalttat des Feindes. Alle
Übel hat meines Erachtens derjenige verdient, der ein schlimmes
Ereignis beklagt und sich für sein Schicksal schämt. [270] Nur jene
verzweifeln normalerweise daran, dass andere in schlimmen Zeiten
kein Mitleid mit ihren Nächsten haben, die sich selbst nicht erbar-
men wollen, wenn die Parzen ein Verderben bringendes Schicksal
spinnen. Ein Mensch ohne jegliches Erbarmen zieht aus der Be-
trachtung der eigenen Person den falschen Schluss, dass Güte nur
selten den Herzen der Menschen innewohnt. [275] Ihr könnt sehen,
dass euch die Götter – mehr als ihr zu hoffen und zu wünschen
gewagt habt – die Gattin, die Heimat, eure Kinder und den Hof
eurer Väter anbieten. Ach, möge es den Gefangenen erlaubt sein,
ihrem Kerker zu entrinnen, das Tageslicht und die gewohnte Luft,
die eigene Sprache und die väterlichen Sitten wiederzuerlangen.
Warum willst du hier elend als Sklave dein Leben verbringen, wenn
man dir als Antwort [280] auf deine Gebete die Rückkehr in die
Heimat zugesteht, wo du lediglich für einen Pechvogel gehalten
wirst. Auch ist es für all diejenigen, die zuletzt als Heimatlose
schlimmste Schicksalsschläge erdulden mussten, von nicht geringer
Bedeutung, in der Grabstätte ihrer Väter beerdigt zu werden. Wei-
cher ruhen die Gebeine, wenn sie von den Händen der Angehöri-
gen bestattet werden. Alle anderen, die ihr Misstrauen gegenüber
ihren Ehefrauen und Vätern von den lieblichen Gefilden der Hei-
mat losreißen kann, sollen [285] beglückt bei den Persern bleiben
und die Luft der Meder atmen. Für mich jedenfalls steht es fest, das
Geschenk unseres Königs in Anspruch zu nehmen und Europa und
der Heimat zu folgen, wenn nur die Götter uns die uneingeschränk-
te Möglichkeit gewähren, die heimatlichen Fluren wiederzusehen.«
352 ALEXANDREIS

Finierat Theteus sed paucos repperit huius 290


voti participes. Aliorum pectora vicit
consuetudo potens natura fortior ipsa.
Quorum consilio concurrens Magnus opimos
non solum partitur agros sed prodigus addit
es variosque greges et leti farris acervos 295
ne frumenta solo desint, cultoribus era.

Hiis ubi consulte providit Martius heros,


Medorum ingreditur reparato milite fines,
precipitique legens Darii vestigia cursu
ne fuga surripiat pleni pars magna triumphi 300
qui solus superest, pardis instantior instat.
Sed iam Belides Ebactana venerat urbem,
metropolim Mediae. Decreverat inde subire
Bactrorum fines. Sed cum loqueretur adesse
rumor Alexandrum, cuius satis agmina contra 305
pennatosque gradus distantia nulla locorum
longa videbatur, mutato pectore mutans
consilium, totos orditur in arma paratus,
pugnandoque mori decrevit honestius esse
quam victam tociens fatis extendere vitam. 310
BUCH VI 353

[290] Theteus hatte seine Ansprache beendet, doch fand er nur


wenige, die sein Verlangen teilten. Die Herzen der anderen besiegte
die machtvolle Gewohnheit, die stärker ist als die Natur selbst. Der
Absicht der Mehrheit entsprechend teilte Alexander nicht nur
fruchtbare Äcker zu, sondern fügte in weiser Voraussicht auch
[295] Geldmittel und Herden verschiedener Tiere hinzu, darüber
hinaus auch große Mengen an üppigem Weizen, damit dem Boden
das Getreide nicht fehle und den Bauern das Geld.

Darius zwischen Alexander und den Verschwörern


Bessus und Narbazanes (297–552)

Alexander nimmt die Verfolgung des Darius wieder auf (297–310)

Als der Kriegsheld mit Bedacht für diese Elenden gesorgt hatte, zog
er nach Ergänzung der Truppen in das Gebiet der Meder. Er ver-
folgte Darius’ Spur in eiligem Lauf, [300] damit die Flucht der
Perser nicht ausgerechnet jenen entführte, der als entscheidender
Teil eines vollständigen Sieges noch übrig blieb, und drohte heftiger
als ein Panther. Aber Belus’ Enkel war bereits nach Ebaktana, in die
Hauptstadt Mediens, gekommen. Er hatte beschlossen, von dort
aus in das Gebiet der Baktrer zu ziehen. Als er jedoch [305] gerüch-
teweise erfuhr, dass Alexander, gegen dessen raumgreifendes Heer
offenbar keine Entfernung weit genug zu sein schien, ganz in der
Nähe sei, änderte er gewandelten Sinns seinen Plan. Er traf alle
Vorbereitungen für den Kampf und ordnete an, dass es ehrenvoller
sei, in der Schlacht zu sterben, als ein Leben zu verlängern, [310] das
schon so oft vom Schicksal bezwungen worden war.
354 ALEXANDREIS

Unde viae comites paulo consistere iussos


intuitus, “Si me ignavis sors equa laboris
iungeret et mortem reputantibus” inquit “honestam,
qualiscumque foret, pocius dicenda tacerem
quam verbo vellem consumere tempus inani. 315
Sed maiore fide quam vellem quamque decorum
esset virtutis expertus robora vestrae,
iam didici quam sit venerabile nomen amici,
quam sincera fides sinceros inter amicos.
Tot rebus monitus presumere debeo tantis 320
me dignum sociis. De tot castrensibus ante
unica Persarum superestis gloria, qui me
bis profugum, victi bis principis arma secuti.
Vestra fides stabilemque probans constantia mentem
efficiunt ut non verear me credere regem, 325
ut me Persis adhuc ausit regnare fateri.
Qui pocius castris victi elegistis adesse
victoris quam signa sequi, me iudice digni,
si michi non liceat, pro me quibus etheris ille
dignas rector aget grates quia non erit ulla 330
nescia tam recti, tam non obnoxia iustis
surdaque posteritas que vos non efferat equis
laudibus in caelum, que non memoranda loquatur,
que vos et meriti taceat preconia vestri.
Vivere per famam dabitur post fata sepultis. 335
Sola mori nescit eclypsis nescia virtus.
BUCH VI 355

Darius’ Rede an seine Soldaten (311–369)

Und so richtete er den Blick auf seine Begleiter, denen er aufgetra-


gen hatte, für einen Moment stehenzubleiben, und sagte: »Wenn
mich dasselbe unglückliche Schicksal mit Feiglingen und Männern
verbunden hätte, die den Tod grundsätzlich, wie auch immer er
eintreten sollte, für ehrenhaft halten, würde ich das, was in dieser
Lage gesagt werden muss, lieber verschweigen, [315] als mit nichtigen
Worten eure Zeit zu verschwenden. Indem ich durch eure Treue,
die jenseits meiner Erwartung liegt und das normale Maß weit
überschreitet, die Festigkeit eures Mutes erleben durfte, habe ich
gelernt, wie verehrungswürdig aufrichtige Freundschaft ist und wie
wahrhafte Treue echte Freunde verbindet. [320] Durch solch ein so
häufig gezeigtes Verhalten ermahnt, muss ich mich so großartigen
Mitstreitern schon vorab als würdig erweisen. Von einst so vielen
Soldaten bleibt ihr allein als der Stolz Persiens übrig; ihr seid mir,
dem zweimal geflohenen König, gefolgt und habt euch dem Heer
eines zweimal besiegten Königs angeschlossen. Eure Treue und
Standhaftigkeit, die einen festen Charakter beweisen, [325] geben
mir den Mut, mich weiterhin für euren König zu halten und un-
erschrocken zu gestehen, dass ich noch immer über die Perser herr-
sche. Da ihr euch dafür entschieden habt, lieber dem Lager des Ver-
lierers beizustehen, als den Feldzeichen des Siegers zu folgen, habt
ihr es meines Erachtens verdient, dass euch, wenn es mir nicht mehr
möglich sein sollte, [330] jener Lenker des Himmels anstelle meiner
Person einst angemessenen Dank abstattet. Denn die Nachwelt
wird nicht so unwissend in der Beurteilung richtigen Verhaltens,
nicht so feindlich gesinnt und taub gegenüber gerechten Taten sein,
dass sie euch nicht mit angemessenem Lob in den Himmel höbe,
nicht über Denkwürdiges spräche und die Lobpreisungen eurer
Verdienste unerwähnt ließe. [335] Nur der Ruhm wird den begrabe-
nen Helden nach dem Tod ein Weiterleben ermöglichen. Die Tu-
gendhaftigkeit allein, außerstande unterzugehen, weiß die Zeiten zu
356 ALEXANDREIS

Unde fugae latebras, quam semper abhorreo, quamvis


molirer, virtute animi tantoque meorum
consilio fretus, irem tamen obvius hosti.
Exulat in regno Darius, sed quousque feretis 340
cives quod patrio rex imperet advena regno?
Aut michi defungi vita continget honesta
aut revocare meas afflictis hostibus urbes
et que perdidimus celeri reparare paratu.
Arbitrium victoris an id censetis honestum, 345
victus ut expectem Darioque precaria detur
Mazei exemplo sola in regione potestas?
Qui modo totius Asiae moderabar habenas,
anne reservabor ad tantum dedecus ut sim
gloria victoris, in regni parte receptus? 350
Non erit ut capitis decus hoc aut demere quisquam
debeat aut demptum michi se michi reddere iactet.
Imperium vivus perdam: privabor eodem
imperio vitaque die. Preciosa duobus
mors Darium vita simul et diademate nudet. 355
Si manet hic animus, socii, si mens ea vobis,
nemo supercilium Macedum fastusque nefandos
cogetur post fata pati. Sua dextera cuique
aut modo finis erit aut ultio digna malorum.
Ergo si superi pia bella moventibus absunt, 360
si facinus reputant iustos defendere, saltim
finis honestus erit, fortesque licebit honesto
mortis more mori. Veterum per gesta parentum,
per preciosa precor quondam preconia patrum,
illustresque viros quibus hec subiecta tributum 365
BUCH VI 357

überdauern. Daher möchte ich im Vertrauen auf die Tugendhaftig-


keit und den Rat der Meinen, obgleich ich schon an die Schlupf-
winkel einer jederzeit verwerflichen Flucht gedacht habe, doch
lieber gegen den Feind kämpfen. [340] Verbannt lebe ich in meinem
eigenen Reich. Wie lange noch werdet ihr als meine Landsleute
ertragen, dass ein fremder König über unser Vaterland herrscht?
Entweder wird es mir gelingen, mein Leben ehrenhaft zu Ende zu
bringen, oder meine Städte nach dem Sieg über die Feinde wieder-
zugewinnen und mit schneller Zurüstung zurückzuholen, was wir
verloren haben. [345] Glaubt ihr etwa, dass es ehrenvoll für mich ist,
besiegt auf das Urteil des Siegers zu warten, und dass mir nach
Mazaeus’ Beispiel die Herrschaft über einen nur kleinen Teil des
Reichs gnadenhalber zugestanden wird? Werde ich etwa, der ich
eben noch die Zügel über ganz Persien in Händen hielt, für eine
solche Erniedrigung aufgespart, dass ich zu [350] des Siegers Ruhm
für nur einen Teil des Reichs als Provinzfürst eingesetzt werde? Kei-
ner wird mir die Königskrone wegnehmen dürfen oder sich brüs-
ten, mir diesen Diebstahl zu vergelten. Lebend soll ich mein Reich
verlieren? Am selben Tag werde ich beidem, der Herrschaft und
dem Leben entsagen. Ein kostspieliger [355] Tod wird mich des
Lebens und der Krone zugleich berauben. Wenn ihr euch, Gefähr-
ten, diese Haltung und diese Gesinnung bewahrt, wird niemand
von euch dann im Tode gezwungen sein, den Hochmut und den
gottlosen Stolz der Makedonen zu erdulden. Die eigene Rechte wird
jedem entweder in Kürze sein Ende bereiten oder eine dem erlitte-
nen Unheil angemessene Möglichkeit zur Rache bieten. [360] Wenn
also die Götter jenen, die gerechte Kriege führen, die Unterstützung
verweigern, wenn sie es für eine Untat halten, gerechte Krieger zu
verteidigen, wird wenigstens das Ende ehrenhaft sein, und es wird
tapferen Männern erlaubt sein, einen ehrenvollen Tod zu sterben.
Bei den Taten eurer ehrwürdigen Eltern, bei der einst prächtigen
Verherrlichung eurer Vorväter bitte ich euch, [365] bei den aus-
gezeichneten Männern, denen die Makedonen als unterworfenes
358 ALEXANDREIS

gens Macedum tociens et vectigalia solvit,


obtestor, miles, ut dignos stemmate tanto
concipias animos ut te contingat Olimpo
teste vel egregia vinci vel vincere pugna.”

Hactenus Arsamides, sed non excepit eodem 370


verba cohors animo. Dictis quoque debitus ille
defuit applausus quem persuadentibus audax
reddere turba solet. Prestruxerat omnia verus
ora timor donec Arthabazus, inter amicos
regis precipuus, “Nos” inquit “in arma sequemur 375
unanimes regem, nobisque erit exitus idem
qui tibi, qui patriae.” Leto excepere loquentem
assensu reliqui raucosque dedere tumultus,
qualis in Egeo desperans navita ponto,
in quem fluctivomus, fracta iam puppe, videtur 380
coniurasse Nothus, socios solatur inertes
dissimulansque metum comitum titubantia firmat
pectora et invito parat ire per equora vento.

At Bessus facinus iam premeditatus acerbum


Narbazanesque suus, numeroso milite fulti, 385
iam definierant Darium comprendere vivum
ut si Magnus eos sequeretur, munere tanto
BUCH VI 359

Volk so oft Steuern und Tribut gezahlt haben, beschwöre ich euch,
Soldaten, eine eurer trefflichen Abstammung entsprechende Hal-
tung einzunehmen, damit es euch gelingt – die Götter mögen dafür
als Zeugen dienen –, in einer herausragenden Schlacht entweder
besiegt zu werden oder zu siegen.«

Die Reaktion der persischen Soldaten (370–383)

[370] So weit des Arsames Sohn. Die persischen Soldaten nahmen


die Worte ihres Königs jedoch nicht alle mit Begeisterung auf. Auch
fehlte den Worten jener verdiente Beifall, den eine mutige Schar,
sollten jene überzeugend sein, zu spenden pflegt. Ein wirklicher
Schrecken hatte alle Männer ergriffen, bis Artabazus, [375] einer der
besten Freunde des Königs, sagte: »Wir werden dir einmütig in den
Kampf folgen und dasselbe Ende erleiden wie du und das Vater-
land.« Mit freudiger Zustimmung nahmen alle Artabazus’ Worte
auf und spendeten dröhnenden Beifall. So ermutigt seine verzagten
Gefährten ein im ägäischen Meer verzweifelt kämpfender Seemann,
[380] gegen den sich der wogenspeiende Notus – das Heck ist be-
reits zerstört – verschworen zu haben scheint, nicht lässt er sich
seine Angst anmerken, bestärkt die wankenden Herzen seiner Ge-
fährten und beabsichtigt, das Meer auch gegen den Willen des
Windes zu durchpflügen.

Die Intrige des Bessus und des Narbazanes (384–424)

Bessus jedoch, der zuvor schon an eine ruchlose Freveltat gedacht


hatte, und [385] der mit ihm befreundete Narbazanes hatten, von
zahlreichen Kriegern unterstützt, schon beschlossen, Darius lebend
festzusetzen, um später, wenn Alexander sie verfolgen sollte, mit
einem so großen Geschenk leichter die Gunst des Siegers erwirken
360 ALEXANDREIS

commodius possent victoris inire favorem.


Quod si preceleres evadere principis alas
sors daret, auderent Dario regnare perempto 390
et vires reparare novumque lacessere Martem.
Narbazanes igitur, sceleri iam tempora nactus
oportuna suo, “scio, rex, que dixero” dixit
“displicitura tibi, nec erit sentencia cordi
hec mea grata tuo, sed pregrave vulnus acerbo 395
curatur ferro. Gravis est medicina dolenti.
Asperior sanat graviores potio morbos,
naufragiumque timens iactura sepe redemit
navita quod potuit et dampnis dampna levavit.
Scis quod amara geris adverso numine bella. 400
Sors urgere tuos non desinit aspera Persas.
Omnibus est temptanda modis fortuna, novisque
est opus ominibus. Depone insignia regni
ad tempus, bone rex. Alii concede regendam
imperii summam, nomen qui regis et omen 405
possideat donec Martis cessante procella,
hostibus expulsis Asia, iusto tibi regi
restituat regnum. Brevis expectatio facti
huius erit. Tot Bactra dabunt totque India gentes
ut maior belli moles, maiora supersint 410
robora quam bello que sunt exhausta priori.
Cur in perniciem palantes more bidentum
irruimus? Fortis animi est contempnere mortem,
non odisse tamen vitam sed amare virorum est.
Degeneres et quos constat tedere laboris 415
compelluntur ad hoc ut vitam ducere vile
quid reputent. Quid mirum? Ignavo vivere mors est.
Econtra nichil est quod fortis et ardua virtus
BUCH VI 361

zu können. Wenn es das Schicksal aber gestatten würde, den eilen-


den Scharen des makedonischen Königs zu entrinnen, [390] wür-
den sie es wagen, nach Darius’ Ermordung die Herrschaft zu über-
nehmen, die Streitkräfte zu erneuern und einen neuen Krieg vom
Zaun zu brechen. Narbazanes also, der glaubte, einen günstigen
Zeitpunkt für sein Verbrechen vorgefunden zu haben, sagte: »Ich
weiß, mein König, dass dir meine Worte missfallen werden und
meine Meinung [395] bei dir auf Ablehnung stoßen wird, aber eine
sehr schlimme Wunde wird nur durch ein scharfes Messer geheilt.
Heftig ist eine Medizin für den Leidenden. Nur ein überaus hefti-
ger Trank heilt schlimmere Krankheiten. Ein Seemann, den Schiff-
bruch befürchtend, hat schon immer möglichst viel über Bord
geworfen und dadurch den Verlust durch Verluste gemindert.
[400] Du weißt, dass du einen schmerzlichen Krieg ohne Unterstüt-
zung der Götter führst. Das widrige Schicksal hört nicht auf, deine
Perser zu bedrängen. Auf jede erdenkliche Weise müssen wir unser
Glück suchen. Neuer Vorzeichen bedarf es. Lege die Zeichen der
Herrschaft rechtzeitig ab, gütiger König. Übertrage einem anderen
[405] die Herrschaft über das Reich, der den Titel des Königs und
günstige Vorzeichen besitzt, bis er dir, wenn sich der Sturm des
Kriegs gelegt hat und die Feinde aus Asien vertrieben sind, die Herr-
schaft als dem rechtmäßigen König wieder zurückgibt. Folgende
Ereignisse erwarten wir in Kürze: Baktra und Indien werden so viele
Völkerschaften bereitstellen, [410] dass eine größere Kriegerschar
und eine größere Kampfkraft vorhanden sein werden, als im bis-
herigen Krieg aufgerieben wurden. Warum rennen wir irregeleitet
wie Schafe in unser Verderben? Ein Zeichen von Tapferkeit ist es
zwar, den Tod zu verachten, das Leben jedoch nicht zu hassen, son-
dern zu lieben, kennzeichnet erst einen echten Mann. [415] Ge-
wöhnliche Menschen und solche, die sich nicht plagen wollen,
treibt es dazu, ein langes Leben für etwas Wertloses zu halten. Kein
Wunder. Dem Feigling kommt das Leben vor wie der Tod. Nichts
hingegen gibt es, was eine starke und hochragende Tugendhaftig-
362 ALEXANDREIS

linquat inexpertum: movet omnia et omnia temptat.


Tenditur ad mortem cum nil superesse videtur. 420
Ultimus ad mortem post omnia fata recursus.
Ergo age, rex, Besso, quem gratia temporis offert,
ad presens committe tui moderamina regni
ut tibi restituat accepto tempore sceptrum.”

Hec ubi dicta, animo vix temperat ille benignus 425


et paciens rector. “Iam te invenisse cruentum”
inquit “mancipium funesti temporis horam
comperio, facinus qua patraturus acerbum,
in dominum servus Parcarum stamina rumpas!”
Hec ait et stricto poterat mucrone videri 430
occisurus eum nisi vultu supplice Bessus,
indignantis habens speciem multoque suorum
agmine stipatus, regem exoraret, eumque
haut mora vinciret, nudum nisi conderet ensem.

Tunc vero a reliquis metari castra seorsum 435


precepere suis, at regi Artabazus irae
consulit ut parcat, habeat pro tempore tempus.
“Equa mente feras” ait “erroremve tuorum
stulticiamve. Gravis et prematurus in armis
instat Alexander. Blando retinendus amore est 440
BUCH VI 363

keit unversucht ließe: Alles bewegt sie und alles versucht sie.
[420] Dann erst erstrebt sie den Tod, wenn es ihres Erachtens
keinen Ausweg mehr gibt. Erst nach allen möglichen Unglücksfäl-
len ist der letzte Ausweg der Tod. Also wohlan, mein König, über-
trage Bessus, den uns die Gunst des Augenblicks anbietet, jetzt die
Lenkung deines Reichs, damit er dir zu gegebener Zeit das Szepter
zurückgibt.«

Darius’ Reaktion auf die Intrige (425–434)

[425] Nach diesen Worten konnte sich jener gütige und geduldige
Herrscher kaum noch beherrschen und rief: »Grausamer Sklave,
ich erkenne sehr wohl, dass du die passende Stunde für meinen Tod
gefunden hast, in der du als Sklave eine Freveltat gegen deinen Herrn
zu begehen beabsichtigst und mir den Lebensfaden durchtrennen
willst.« [430] So sprach er und hätte mit gezücktem Schwert bei-
nahe den Bessus getötet, wenn dieser nicht scheinbar empört und
von einer großen Menge seiner Anhänger umgeben mit einer Geste
der Demut den König besänftigt hätte. Ohne Zögern hätte Bessus
den persischen König in Fesseln legen lassen, wenn dieser das blanke
Schwert nicht auf der Stelle eingesteckt hätte.

Der Rat des Artabazus an Darius (435–442)

[435] Dann aber gaben Narbazanes und Bessus ihren Leuten den Be-
fehl, abseits von allen anderen ein Lager aufzuschlagen, Artabazus
gab dem König gleichwohl den Rat, seinen Zorn zu beherrschen
und unter diesen Umständen die Lage zu überdenken. Folgender-
maßen sprach er ihn an: »Ertrage mit ruhigem Herzen das Ver-
gehen und die Dummheit deiner Männer. Wuchtig und waffen-
starrend [440] naht Alexander bedrohlich. Mit gewinnender Liebe
364 ALEXANDREIS

miles ne sanos turbet discordia sensus


neve a rege suos alienent Bactra quirites.”

Paruit Arsamides, superosque et fata secutus


castra locat. Meror et desperatio, victis
indivisa comes, animos illius obumbrat. 445
In castris igitur, que iam rectore carebant,
motus erat varius animorum. Proxima regi
instabat funesta dies, nec, ut antea, regni
dispensabat onus solus tentoria servans
regia, pervigiles librans in pectore curas. 450

At duo, conceptum iam mente cupidine regni


tractantes facinus, agitabant pectore regem
non nisi cum magno comprendi posse labore.
Non mediocris enim timor et reverentia regum
regnat apud Persas. Maiestas regia magni 455
ponderis esse solet. Etiam gens barbara nomen
regis inhorrescit, et quos in sorte secunda
barbaries metuit, veneratur numine pressos:
Vivit in adversis primae veneratio sortis.
Cui semel exhibuit inpendit semper honorem. 460
Et quia tanta fides et gratia regis in illa
BUCH VI 365

musst du jeden einzelnen deiner Soldaten dir gewogen erhalten,


damit die Zwietracht nicht ihre unverdorbene Gesinnung trübt
noch Baktra seine Bürger dem König entfremdet.«

Darius’ verzweifelte Lage (443–450)

Des Arsames Sohn folgte dem Rat des Artabazus. Den Göttern und
dem Schicksal folgend bezog er sein Lager. Wehmut und Verzweif-
lung, [445] den Besiegten unzertrennliche Begleiter, belasteten den
persischen König. Folglich schwankte die Stimmung im Lager, das
keinen richtigen Anführer mehr hatte. Der unheilvolle Tag stand
dem König unmittelbar bevor. Während er sich einsam im königli-
chen Zelt aufhielt, verteilte er nicht wie früher die Last des Re-
gierens auf viele Schultern, [450] sondern wägte die wachen Sorgen
in seiner Brust.

Der listige Plan der Verschwörer (451–467)

Als aber die beiden Verräter die aus Machtgier geplante Schandtat
schon im Geiste bewegten, sorgten sie sich darum, dass der König
nur mit großer Mühe gefangen genommen werden könne. Eine
durchaus beachtliche Scheu nämlich und eine Ehrfurcht vor ihren
Königen [455] herrschten im persischen Volk und die Erhabenheit
des Königs hatte gewöhnlich eine große Bedeutung. Auch ein
Barbarenvolk erschauderte vor dem Namen des Königs und einen
Herrscher, den Barbaren in glücklichen Zeiten fürchteten, verehr-
ten sie auch, wenn dieser vom Schicksal bedrängt wurde. In un-
glücklichen Zeiten lebte noch die Verehrung aus der glücklichen
Anfangszeit seiner Herrschaft. [460] Wem sie einmal Achtung
entgegengebracht haben, dem erwiesen sie immer die Ehre. Und da
im Volk eine so große Treue zum König und eine so große Gunst
366 ALEXANDREIS

gente, palam vel vi sine magna cede suorum


non poterant Darium sceleris vincire ministri.
Ergo dolis operam dare et excusare furorem
decrevere suum, simulanti voce reverti 465
ut decet, et tanti se penituisse reatus
ficturos, extrema pati pro rege paratos.

Crastinus amissum noctis caligine mundum


reddiderat Tytan, et signum castra movendi
iam dederat Darius. Aderant cum milite multo 470
participes sceleris, caute pretendere docti
officium sollempne foris speciemque sequendi
principis imperium. Sed in alta mente latebat
occultum facinus scelerisque protervia tanti.
Sceptrum preradians et adhuc insignia regni 475
gestabat Darius curruque micabat ab alto.
Prona iacebat humi supplex veniamque precata
sediciosa cohors, et sustinuit venerari
tunc patricida ducem, quem post in vincula servus
detrusurus erat, lacrimisque coegit obortis 480
credere Belidem vultumque rigare senilem
fletibus irriguis. Sed nec tunc fraudis amicos
penituit sceleris cum certus uterque videret
quam mitis naturae hominem regemque virumque
falleret. Ille quidem securus et inmemor horae 485
instantis, quam sors et servus uterque parabant,
BUCH VI 367

für diesen herrschten, hätten die Helfershelfer des Verbrechens


Darius nicht vor aller Augen gewaltsam und ohne große Verluste
unter den eigenen Männern in Fesseln legen können. Also beschlos-
sen sie für sich, mit List vorzugehen [465] und ihre Wut zu ent-
schuldigen, heuchlerisch Abbitte zu leisten, wie es sich geziemte,
und vorzugeben, dass sie ihren Fehltritt sehr bereuten und dazu
bereit seien, für den König das Äußerste zu ertragen.

Die Durchführung der List (468–489)

Die Morgensonne hatte die in das Dunkel der Nacht gesenkte Welt
wieder ins Licht getaucht und schon hatte [470] Darius das Zei-
chen zum Aufbruch gegeben. Eingefunden hatten sich mit einer
großen Zahl an Soldaten auch die beiden Verschwörer, durchtrie-
ben genug, aus Vorsicht die gewohnte Pflicht im Feld vorzuschüt-
zen und den Anschein zu erwecken, den Befehlen des Königs zu
folgen. Doch tief im Herzen lebten im Stillen weiterhin die verbor-
gene Tat und der Frevel eines so schlimmen Verbrechens. [475] Noch
immer trug Darius das schimmernde Szepter und die anderen
Zeichen der Herrschaft und erstrahlte von der Höhe des Wagens.
Mit gesenktem Kopf lag die meuternde Schar flehend und um
Gnade bittend am Boden, auch zu diesem Zeitpunkt noch heuchel-
te der Vatermörder gegenüber seinem Anführer, den später ein
Sklave [480] in Fesseln legen würde, seine Ergebenheit. Er nötigte
den persischen König, seinen hervorströmenden Tränen Glauben
zu schenken und das alte Antlitz mit einem Tränenfluss zu be-
netzen. Aber auch jetzt nicht reute die Betrüger ihr schlimmes
Verbrechen, obwohl beide unzweifelhaft erkannten, was für einen
gütigen Menschen, König und Helden sie [485] täuschten. Jener
freilich strebte, arglos den drohenden Zeitpunkt missachtend, den
das Geschick und die beiden sklavenhaften Charaktere für ihn vor-
bereitet hatten, ausschließlich danach, Alexander und den makedo-
368 ALEXANDREIS

Pellei Macedumque manus, que sola timebat


effugere affectans, laxis properabat habenis
maturare fugam finesque subire repostos.

At Patron, Greci dux agminis, integer evo 490


et stabilis fidei, Darii non fictus amicus,
iam patricidarum comperta fraude, suorum
milibus armatis pulchre circumdatus, ibat
contiguus regi, fandique ut copia facta est,
“Narbazanes” inquit “et Bessas, optime regum, 495
insidias in te conceptas ense cruento
effutire parant. Vitae tibi terminus ista
lux erit aut illis. Nos ergo corporis esse
custodes paciare tui. Tua precipe, dum res
expetit, in nostris figi tentoria castris. 500
Liquimus Europam, nec Bactra nec India nobis;
arva laremque et spes in te congessimus omnes.
Esse tui custos externus et advena numquam
expeterem fierique tuae tutela salutis
si tibi quemquam alium posse hoc prestare viderem.” 505
Inclita Patronem servati gloria regis
fecerat insignem. Si quis tamen hec quoque si quis
carmina nostra legat, numquam Patrona tacebit
Gallica posteritas. Vivet cum vate superstes
gloria Patronis nullum moritura per evum. 510
BUCH VI 369

nischen Scharen, vor denen allein er sich fürchtete, zu entkommen.


Er versuchte, mit lockeren Zügeln die Flucht zu beschleunigen und
entlegene Gebiete zu erreichen.

Das wohlmeinende Angebot des Griechen Patron (490–510)

[490] Patron aber, Anführer eines griechischen Kontingents im per-


sischen Heer, vom Alter unangetastet und anhaltend treu, Darius
in wahrer Freundschaft verbunden, trat jetzt, vom Betrug der Mör-
der bereits in Kenntnis gesetzt und gänzlich umringt von Tausen-
den seiner bewaffneten Krieger, dicht an den persischen König
heran. Als die Gelegenheit sich ergab, mit Darius zu sprechen,
[495] sagte er: »Narbazanes und Bessus, bester König, treffen Vor-
bereitungen, den mit blutigem Schwert gegen dich geplanten Hin-
terhalt zu besprechen. Das Licht des heutigen Tages wird entweder
für dich oder jene das Ende des Lebens bedeuten. Lass deshalb uns
Griechen deine Leibwächter sein. Gib den Befehl, solange es die
Situation [500] erfordert, dein Zelt in unserem Lager zu errichten.
Wir ließen Europa zurück, weder Baktra noch Indien sind unser
Zuhause. Unsere Hoffnung auf Äcker und Wohnsitze haben wir
alle auf dich gesetzt. Fremd und von weither entstammend, würde
ich niemals wünschen, dein Leibwächter zu sein und Beschützer
deines Lebens zu werden, [505] wenn ich erkennen würde, dass ir-
gendein anderer diese Aufgabe übernehmen könnte.« Die Ruh-
mestat, den Versuch unternommen zu haben, den König zu retten,
hatte Patron berühmt gemacht. Wenn dereinst irgendeiner auch
unser Gedicht lesen sollte, wird Galliens Nachkommenschaft Pa-
tron niemals verschweigen. Zugleich mit dem Dichter wird [510] Pa-
trons Ruhm überleben und für alle Ewigkeit Bestand haben.
370 ALEXANDREIS

Iam reor eterno causarum secula nexu


non temere volvi. Nemo temeraria credat
fortuitoque geri mundana negotia casu.
Omnia lege meant quam rerum conditor ille
sanxit ab eterno. Darius cum vivere posset 515
consilio Graium, fati decreta secutus,
“Quamquam nota satis expertaque sepius” inquit
“sit michi vestra fides, numquam tamen a populari
gente recessurus, nec ab his divortia queram
quos tociens fovi. Satis est levius michi falli 520
quam dampnare meos. Quicquid Fortuna iubebit,
inter eos me malo pati quam transfuga credi.
Si salvum iam me esse mei, si vivere nolint,
iam sero pereo, iam mortem ultroneus opto.”

Attonitus Patron et desperare coactus 525


consilio regis ad Greca revertitur amens
agmina, pro recto iustique rigore fideque
cuncta pati promptus. Bessus patricida, Pelasgae
ignarus linguae, tanti tamen ipse furoris
conscius, occultum capit ex interprete verbum. 530
Iamque peremisset Darium nisi crederet esse
tucius ut vivum Pelleo traderet hostem.
Quo potiore modo sperabat cedis amica
BUCH VI 371

Darius lehnt das Angebot des Griechen Patron ab (511–524)

Ferner meine ich, dass die Jahrhunderte in ihrer ewigen Verbindung


von Ursache und Wirkung nicht ohne Plan ablaufen. Niemand soll
glauben, dass die Ereignisse auf Erden von ungefähr und durch
blinden Zufall geschehen. Alles bewegt sich nach dem Gesetz fort,
das jener Schöpfer der Welt [515] von Beginn an bestimmt hat. Ob-
gleich Darius hätte weiterleben können, wenn er den Ratschlag der
Griechen angenommen hätte, folgte er dem Beschluss des Schick-
sals und sagte: »Obwohl mir eure Zuverlässigkeit bekannt ist und
von euch auch schon oft unter Beweis gestellt wurde, werde ich
mich niemals von meinem eigenen Volk entfernen, und nicht werde
ich die Trennung von denen suchen, [520] die ich so oft unterstützt
habe. Sehr viel einfacher ist es für mich, getäuscht zu werden, als die
eigenen Leute schuldig zu sprechen. Was auch immer das Schicksal
gebietet, lieber will ich unter ihnen leiden, als für einen Überläufer
gehalten zu werden. Wenn die Meinen eben jetzt nicht mehr den
Wunsch haben sollten, dass ich weiterlebe, werde ich jetzt spät
zugrunde gehen, werde ich jetzt freiwillig mir den Tod wünschen.«

Der Verschwörer Bessus verunglimpft Patron (525–547)

[525] Durch den Beschluss des Königs bestürzt und der Verzweif-
lung nahe, kehrte Patron verstört zur griechischen Abteilung zu-
rück, entschlossen, alles für den wahrhaft unbeugsamen Sinn und
die Treue des rechtmäßigen Königs zu ertragen. Doch der Mörder
Bessus – zwar der griechischen Sprache nicht mächtig, doch selbst
[530] Zeuge von Patrons leidenschaftlichem Ausbruch – gelangte
durch einen Dolmetscher an die geheime Botschaft. Und schon
hätte er Darius getötet, wenn er nicht der Meinung gewesen wäre,
dass es sicherer sei, Alexander den feindlichen König lebend zu
übergeben. Auf diese vermeintlich bessere Art hegten die blutrüns-
372 ALEXANDREIS

contio victoris sibi conciliare favorem.


Distulit ergo nefas in ydonea tempora noctis, 535
noctis, quando solent patrari turpia, noctis,
quando inpune placent que sunt de luce pudori,
cum timor est audax et frons ignara ruboris.
Tunc Dario Bessus grates agere et venerari
ficta mente studet quod perfida verba dolosi 540
vitasset lepido et pulchro sermone quiritis.
Qui dum spectat opes, Macedum placare tyrannum
hac regis cervice parat, funesta daturus
munera. Nec mirum. Venalia constat habere
omnia venalem et ductum mercede quiritem; 545
vir sine pignoribus lare coniuge pauper et exul
emptorum preciis ut circumfertur harundo.

Annuit Arsamides, certus tamen omnia vera


deferri a Grais, sed eo iam venerat ut res
eque dura foret et plena pavoris et exspes, 550
non parere suis et eis se credere nolle
quam falli et gladiis caput obiectare suorum.
BUCH VI 373

tigen Verschwörer die Hoffnung, sich die Gunst des Siegers erwer-
ben zu können. [535] Also verschob er die Freveltat auf die günsti-
gen Stunden der Nacht, in der Schandtaten begangen zu werden
pflegen, in der ungestraft Gefallen findet, was tagsüber nur Schande
bereitet, wenn furchtsame Zurückhaltung sich erkühnt und das
Gesicht nicht errötet. Daraufhin war es Bessus [540] mit tücki-
schem Herzen darum zu tun, Darius Dank und Ehrfurcht entge-
genzubringen, da dieser mit einer beeindruckenden und großarti-
gen Rede den unredlichen Worten eines listenreichen Griechen
nicht nachgegeben habe. Auf die Reichtümer Persiens schielend,
schicke sich Patron schon an, den König der Makedonen mit Da-
rius’ Kopf zu besänftigen, er sei schon im Begriff, ihm die blutige
Gabe zu reichen. Kein Wunder. Bekanntlich halte ein bestechlicher
Grieche, vom Sold geleitet, [545] alles für käuflich. Ein Mann ohne
nahe Verwandte, Heim und Gattin, arm und heimatlos werde von
der Belohnung der Auftraggeber wie ein Schilfrohr hin- und her-
geworfen.

Darius’ Schicksalsergebenheit (548–552)

Des Arsames Sohn nickte zwar zustimmend, doch war er sich


sicher, dass die Griechen die Wahrheit gesagt hatten. Doch war die
Sache schon so weit gediehen, dass es [550] ebenso gewagt, erschre-
ckend und hoffnungslos war, den Seinen nicht nachzugeben und
sich ihnen nicht anvertrauen zu wollen, wie von den Seinen ge-
täuscht zu werden und das eigene Haupt ihren Schwertern entge-
genzuhalten.
Liber VII
Capitula septimi libri

Septimus in dominum servos liber armat et eius


iusticiam ostendit tandemque in vincula trudit.
Interea Darium vestigans Magnus abactos
confecit sceleris confuso Marte ministros.
Tunc demum Darius iaculis confossus in ipsa 5
morte Polistrato, vivos dum quereret amnes,
extremas voces et verba novissima mandat.
Inventum Macedo corpus rigat ubere fletu
ac sepelit. Rursus vulgi procerumque tumultus
comprimit et rapido cursu bachatur in hostem. 10

Septimus liber

Restitit Hesperio merensque in littore Phebus


defixis herebat equis, tristisque remissa
luce retardabat venturae noctis habenas,
et tantum visura nephas Latonia terris
virgo morabatur roseos ostendere vultus. 5
Sed lex eterno que colligit omnia nodo
et sacer orbis amor, quo cuncta reguntur, utrumque
corripuit iussitque vices explere statutas.
Iamque vaporantem fumabat Thetios unda
vorticibus clausura diem, requiemque petebat 10
humanus cum sole labor. Sed pena manebat
lugentem Darium, positusque in vespere vitae,
Buch VII
Themenübersicht (1–10)

Das siebte Buch zeigt Sklaven, die sich gegen ihren Herrn Darius
zum Kampf rüsten, bekundet dessen gerechten Sinn, und wie er
zuletzt in Fesseln geworfen wird. Inzwischen besiegt Alexander auf
der Suche nach Darius in einer verworrenen Schlacht die vertriebe-
nen Handlanger des Verbrechens. [5] Zuletzt vertraut Darius, von
Speeren durchbohrt, in seiner Todesstunde dem Griechen Polystra-
tus – dieser sucht für sich gerade nach frischem Quellwasser – seine
letzten Worte und seine letzten Gedanken an. Alexander benetzt
den Körper des Toten mit zahlreichen Tränen und bestattet ihn
dann. Erneut hemmt er den Aufruhr [10] der eigenen Krieger und
Fürsten und rast dann in schnellem Lauf gegen den Feind.

Die Verschwörung gegen Darius (1–90)

Kosmische Zeichen künden von Darius’ Ende (1–16)

Am westlichen Gestade hielt Phoebus betrübt inne und rührte sich,


die Pferde regungslos haltend, nicht weiter vom Fleck. Auch Lato-
nas jungfräuliche Tochter Diana hemmte bei schwindendem Licht
traurig die Zügel für die kommende Nacht und zögerte, als künfti-
ge Zeugin eines so grausigen Verbrechens [5] ihr rosiges Antlitz zu
zeigen. Aber das Gesetz, das alles in einem ewigen Band verknüpft,
und die heilige kosmische Liebe, durch die alles gelenkt wird, ergriff
beide und trug ihnen auf, ihr jeweiliges Amt zu versehen. Schon
dampften die Wogen des Meeres, [10] im Begriff, mit ihren Strudeln
den dunstigen Tag zu beschließen, und der Mensch suchte zugleich
mit der untergehenden Sonne Erholung von seinem Tagwerk. Die
Bestrafung stand dem trauernden Darius jedoch kurz bevor, am
376 ALEXANDREIS

occasum facturus erat cum vespere mundi.


Clauserat infelix tentoria, solus apud se
de se consilians. Sed debile semper et exspes 15
consilium miseri vitamque trahentis in arto.

Et tamen hec secum: “Quos me, pater impie divum,


distrahis in casus? Quo me parat alea fati
perdere delicto? Superi, quo crimine tantas
promerui penas, cui nec locus inter amicos 20
et notos superest neque enim securus apud quos
debueram dominus tutam deponere vitam?
Sed sitit hanc animam manifesto sevior hoste
inque senis iugulum parat arma domesticus hostis.
Si fuit indignum tanto diademate cingi 25
tociusque Asiae Darium ditione potiri,
si male subiectos rexit, si iura tyrannus
publica vel patrias temptavit solvere leges,
si cives armis populumque tyrannide pressit,
si cum in iudicio resideret censor iniquus, 30
avertit surdas a causa pauperis aures,
si partem iniustam corruptus munere fovit,
si michi persuasit funesta Pecunia iustum
vendere iudicium, si fundum tristis avitum
et patrias vites per me sibi flevit ademptas 35
BUCH VII 377

Abend seines Lebens schon stehend, war er dabei, zusammen mit


dem Schwinden des Tages das eigene Ende zu erleiden. Der un-
glückliche König hatte sein Zelt verschlossen, [15] allein bei sich
selbst suchte er Rat über das weitere Vorgehen. Immer jedoch sind
die Pläne eines unglücklichen Mannes, der sein Leben in einer miss-
lichen Lage dahinschleppt, kraftlos und ohne jegliche Hoffnung.

Darius im Selbstgespräch (17–58)

Und doch dachte er bei sich: »In welch ein Ungemach, pflichtver-
gessener Vater der Götter, zerrst du mich da hinein? Für welch ein
Vergehen schickt sich des Schicksals Würfel an, mich zu vernichten?
Ihr Götter, für welch ein Verbrechen [20] habe ich eine so schwere
Strafe verdient? Kein Platz mehr bleibt mir unter Freunden oder
Gefährten, und nicht bin ich bei jenen sicher, denen ich mich als
Herr normalerweise hätte gefahrlos anvertrauen dürfen. Wilder doch
als der klar erkennbare auswärtige Feind trachtet der Feind in den
eigenen Reihen mir nach dem Leben und legt das Messer an meine
alte Kehle. [25] Wenn ich es vielleicht nicht wert war, mit einem so
großartigen Diadem umwunden zu sein und mich der Herrschaft
über ganz Asien zu bemächtigen, wenn ich die unterworfenen
Völker schlecht regiert habe, wenn ich auf tyrannische Weise ver-
sucht habe, die heimischen Rechte und auch die Gesetze der Väter
zu brechen, wenn ich die Bürger mit Waffengewalt und das Volk
mit meiner Tyrannei unterdrückt habe, [30] wenn ich tatsächlich
als ungerechter Richter im Gerichtssaal saß und der Sache eines
Armen die tauben Ohren verschlossen habe, wenn ich, von einem
Geschenk bestochen, die unrechte Seite begünstigt habe, wenn
mich die verderbliche Pecunia dazu gebracht hat, ein gerechtes
Urteil aufzuheben, wenn ein enterbter Sohn voller Gram beweint,
dass ihm der angestammte Boden [35] und die vom Vater ererbten
Weinreben von mir entrissen wurden, wenn ich mit verdorbenem
378 ALEXANDREIS

filius exheres, si iura fidemque perosus


in stadio mundi non munda mente cucurri:
Iam mortem merui, fati non deprecor horam.
Iam satis est, superi, vestro quod munere vixi.
Crudescant Furiae Besso, deseviat in me 40
Narbazanes, gelidoque senis perfusa cruore
tota domus iustas compescat numinis iras.
Sed si iusticiae cultor, si iura secutus
nil egi nisi quod rationis litera dictat
in quantum natura sinit petulansque nocive 45
conditio carnis, gladios removete clientum
a domini iugulo: prosit vixisse per evum
innocue Darium, mors convertatur in illos
qui meruere mori, liceat michi vivere, prosit
simplicitas iusto, noceatque nocentia sonti. 50
Quod si fixa deum manet imperiosa voluntas,
si michi fatorum series immobilis auras
vitales auferre parat, vitamque coartans
Atropos incisum maturat rumpere filum,
cur alii liceat de me plus quam michi? Vel cur 55
Narbazani servatus ero subtractus Achyvis?
Numquid adhuc sanguis, numquid michi dextera, numquid
ensis ut hanc dubitem fatis absolvere vitam?”

Sic ait, et gelido terebrasset viscera ferro,


sed spado qui solus aderat tentoria planctu 60
castraque commovit. Dehinc irrupere citati
BUCH VII 379

Geist voll Hass gegen Recht und Gesetz so mein irdisches Dasein
durchlaufen habe: Dann habe ich den Tod wirklich verdient und
erbitte keinen Aufschub für mein Ende. Dann reicht die Zeit wirk-
lich aus, die ich aufgrund eurer Gnade, ihr Götter, gelebt habe.
[40] Dann soll Bessus noch schlimmer ergrimmen, dann soll Narba-
zanes gegen mich wüten und triefend von meinem kalten ver-
brauchten Blut mein ganzes Geschlecht den gerechten Zorn der
Gottheit besänftigen. Aber wenn ich die Gerechtigkeit hochgehal-
ten habe, wenn ich dem Recht folgend – [45] soweit die menschli-
che Natur und der anstößige Zustand des schädlichen Fleisches dies
zulassen – nur das getan habe, was die Vernunft uns Menschen aus-
drücklich vorschreibt, dann entfernt die Schwerter der Handlanger
von der Kehle ihres Herrn: Möge es mir jetzt von Nutzen sein, mein
ganzes Leben ohne Schuld zugebracht zu haben. Der Tod soll sich
denen zuwenden, die es zu sterben verdient haben. Mir möge es
erlaubt sein, weiterzuleben. [50] Redlichkeit nütze dem Gerechten,
eine aufgeladene Schuld schade dem Schuldigen. Wenn aber der
mächtige Wille der Götter unverrückbar feststeht, wenn mir die un-
erschütterliche Abfolge des Schicksals den Lebensatem zu rauben
gedenkt und Atropos, mein Leben verkürzend, eilig den bereits
eingerissenen Faden zerschneiden möchte, [55] warum soll es dann
einem anderen mehr als mir selbst gestattet sein, mein eigenes
Schicksal zu bestimmen? Warum werde ich – den Griechen ent-
zogen – für Narbazanes am Leben gehalten? Fehlt mir etwa die
Kraft, fehlt mir etwa die Rechte, fehlt mir etwa das Schwert, dass
ich zögere, mein Leben mit dem Tod zu vollenden?«

Darius wird in Ketten gelegt und verschleppt (59–90)

So sprach er. Und mit dem kaltem Schwert hätte er seine Eingewei-
de durchbohrt, [60] doch der Eunuch, der als einziger bei Darius
war, schreckte die Zelte und das Lager mit lautem Gezeter auf.
380 ALEXANDREIS

cum lacrimis alii, regem cecidisse gementes.


Barbarus in castris ululatus, et icta tremendo
rura fragore sonant, tremulusque reliditur aer.
Nec capere arma sui, gladios ne forte clientum 65
incurrant, audent. Sed ne videantur inique
deseruisse ducem, monet arma capescere Persas
cum pietate fides. Sed vicit terror utrumque,
exclusitque potens reverentia mortis honestum.
Ecce per attonitos rapientes agmina Persas, 70
sacrilegi comites strictis mucronibus assunt
irrumpuntque aditus, et circumstantibus ense
dispersis, regem, quem iam exspirasse putabant,
vinciri faciunt. Proch quanta licentia fati,
quam vaga que versat humanos alea casus! 75
Quem prius aurato curru videre sedentem
et tremuere sui, iam non suus, ille suorum
vincitur manibus et in arta sede locatur,
captivumque trahit currus angustia regem.
Attamen ut regi saltim pro nomine nullus 80
non habeatur honos, vinciri precipit aureis
compedibus dominum truculentior aspide servus.
Regia diripitur ceu belli iure supellex,
utque avidos pressit inventa pecunia currus,
per scelus extremum partis iam rebus honusti 85
intendere fugam. Quo tenditis agmine facto
Eoum facinus, scelerum fraudisque ministri?
Que vos terra feret? Ubi tanti tuta latebit
BUCH VII 381

Daraufhin stürzten die anderen hastig und unter Tränen in des


Königs Zelt und beklagten dessen vermeintlichen Tod. Wildes Ge-
schrei erfüllte das Lager, von schrecklichem Getöse erschüttert
erdröhnten die Gefilde, die bebende Luft hallte wider vom Echo.
[65] Darius’ Männer wagten es nicht, zu den Waffen zu greifen, um
nicht in die Schwerter der beiden Verschwörer zu laufen. Um nicht
den Eindruck zu erwecken, ihren König schmählich im Stich gelas-
sen zu haben, mahnten zwar Redlichkeit und Pflichtbewusstsein
die Perser, zu den Waffen zu greifen, doch über beide Tugenden
siegte die Angst, und die mächtige Furcht vor dem eigenen Tod ver-
hinderte ein tugendhaftes Verhalten. [70] Da nahten mit gezückten
Schwertern die gottlosen Verräter und trieben ihre eigenen Männer
durch die furchtsam erstarrten Perser hindurch. Sie stürmten den
Eingang des königlichen Zelts, trieben die anderen, die anwesend
waren, mit Waffengewalt auseinander und ließen den bereits tot
geglaubten König in Fesseln legen. Ach, wie groß ist die Willkür des
Schicksals, [75] wie schwankend der Zufall, der das Los der
Menschen plötzlich in eine andere Richtung lenkt! Derselbe König,
den das persische Volk früher voll Ehrfurcht auf einem goldenen
Wagen einherfahren sah, wurde nun, nicht mehr Herr seiner selbst,
durch die Hände der Seinen in Fesseln gelegt und auf einen schma-
len Schemel gesetzt, dann verschleppte ein eng bemessener Karren
den gefangenen König. [80] Um jedoch ihrem König wenigstens
scheinbar nicht jegliche Anerkennung zu entziehen, befahl der skla-
venhafte Verräter – schlimmer als eine Viper – ihrem Herrn die
Füße mit Fesseln aus Gold zu binden. Der Hausrat des Königs wur-
de gleichsam nach Kriegsrecht geplündert. Als der einmal entdeckte
Schatz die gierigen Wagen beschwerte, wandten sie sich, [85] bela-
den mit der verbrecherisch erworbenen Beute, zur Flucht. Wohin
breitet ihr geschlossenen Zuges euer orientalisches Verbrechen aus,
ihr Diener von Betrug und Verbrechen? Welcher Landstrich wird
euch noch ertragen? Wo wird sich ein so gewaltiger Verrat sicher
382 ALEXANDREIS

inpostura mali? Quis tuto ducere vitam


sub servo poterit domini sitiente cruorem? 90

Interea, summis accincto milite rebus,


vestigans rapido Darii vestigia cursu
terrarum domitor Ebactana cingere facta
obsidione parat profugumque capescere regem
et delere armis eversam funditus urbem 95
extremamque manum longis imponere bellis.
Cum tamen audiret Darium movisse fugaeque
intentum celeri liquisse Ebactana, ceptum
haut mora flectit iter et Persidis arva relinquens
insequitur profugos, animi calcaribus actus. 100
Et quia tendentem famae vulgaverat aura
in Mediam Darium, dehinc Bactra subire volentem,
in Mediam transire parat. Sed certior ipsum
nuncius avertit, retrusum in vincula regem
affirmans seriemque rei pulchro ordine pandens. 105

Horruit auditis Macedo, ducibusque citatis


“Est brevis iste labor et premia magna laboris
qui superest, socii. Darium non hinc procul” inquit
“destituere sui vinctumque suprema reservant
BUCH VII 383

verbergen? Wer wird noch in Sicherheit leben können, [90] wenn


ein Sklave gebietet, der nach dem Blut seines Herrn lechzt?

Alexander verfolgt Darius (91–378)

Die Schnelligkeit und die Handlungsschnelligkeit


Alexanders (91–105)

In raschem Lauf Darius’ Spuren folgend, plante unterdessen der


Bezwinger der Erde – das Heer war für die letzte Entscheidung ge-
rüstet – Ekbatana mit einem Belagerungsring zu umgeben, den
flüchtigen König entschlossen zu ergreifen, [95] die Stadt mit seinen
Truppen dem Erdboden gleichzumachen und den langen Krieg
endgültig zu beenden. Als ihm jedoch zu Ohren kam, dass Darius
weitergezogen war und – auf eine schnelle Flucht bedacht – Ekbata-
na bereits wieder verlassen hatte, änderte er unverzüglich seine schon
eingeschlagene Route, verließ die Region Persis und [100] verfolgte
entschlossen die Flüchtigen. Und da das Gerücht umging, Darius
habe sich nach Medien gewendet und wolle sich von dort aus nach
Baktra absetzen, traf er Vorbereitungen, ebenso nach Medien hin-
überzuwechseln. Doch ein glaubwürdiger Bote, der den Ablauf der
Ereignisse in trefflicher Ordnung schilderte und ihm versicherte,
[105] Darius sei in Fesseln gelegt worden, brachte ihn von diesem
Plan wieder ab.

Alexanders Ansprache an die griechischen Soldaten (106–127)

Mit Schrecken nahm Alexander die Botschaft zur Kenntnis, rief die
Anführer zusammen und sagte Folgendes: »Nur noch kurz, meine
Freunde, ist die Mühsal, groß jedoch ist der Gewinn. Nicht weit
von hier wurde Darius von den Seinen verraten und in Fesseln
384 ALEXANDREIS

ad mala fortunae, finem metamque malorum. 110


Aut iam succubuit fatis aut munere vitae
invitus fruitur. Piger ergo citatius equo
castigandus equus, et precipitandus in hostem
est gradus, afflicto vitam donemus ut hosti.
Non minus est, postquam cepit miserabilis esse, 115
parcere confracto quam frangere posse rebellem.”
Applaudunt proceres responso regis et instant,
seque secuturos per summa pericula spondent.
Ergo inito cursu mundi fatale flagellum
agmen agit Macedo, sompnoque medente diurnum 120
non relevat fessis requies nocturna laborem.
Talis in adversos Iovis irruit ira Gygantes,
fulmine quem dextram fingunt armasse poetae.
Cum iam centimanus caelo nodosa Typheus
brachia porrigeret, Martem flammare videres, 125
Pallada vipereos clipeo pretendere vultus,
telaque fatali spargentem Delion arcu.

Ventum erat in vicum stellis nascentibus in quo


vinxerat Arsamidem furiato pectore Bessus.
Occurrere duo qui, prodigiale perosi 130
flagicium Bessi, patricidarum comitatu
tutius esse putant Macedum se iungere castris.
His ducibus Macedo brevius iam deside Phebo
est aggressus iter. Incedens ergo quadrato
agmine, sic cursum moderatur ut ultima primis 135
BUCH VII 385

[110] für das schlimmste Unheil des Schicksals zurückbehalten, dem


Ende und Ziel aller Leiden. Entweder ist er schon tot oder er ge-
nießt nur noch unwillig das Geschenk des Lebens. Also müssen wir
unsere langsamen Pferde mehr als gebührlich zur Schnelligkeit an-
spornen und uns auf unsere Feinde stürzen, um dem verzweifelten
feindlichen König das Leben zu erhalten. [115] Nicht weniger ist es
wert, einen ob seines Niedergangs beklagenswerten Mann zu ver-
schonen, als einen rebellischen Mann zu zerschmettern.« Die
Anführer spendeten der Rede ihres Königs Beifall, drängten nach
vorne und gelobten, ihm auch unter größten Gefahren zu folgen.
Also trieb Alexander, die Schicksalsgeißel der Welt, [120] sein Heer
leidenschaftlich voran. Nicht linderte nächtliche Ruhe den er-
schöpften Männern die Mühsal des Tages mit heilendem Schlaf. So
bahnte sich einst Jupiters Zorn den Weg mit dem Blitz zu den feind-
lichen Giganten, den er nach Auskunft der Dichter kampfestüchtig
in seiner Rechten hielt, als der hunderthändige Typhoeus seine
knotigen Arme [125] schon gen Himmel streckte und man sehen
konnte, wie Mars in Flammen stand, wie Pallas mit ihrem Schild
das Schlangengesicht im Kampf nach vorne streckte und wie Apol-
lon mit seinem tödlichen Bogen Pfeile abschoss.

Alexander erreicht das Lager der Verschwörer (128–174)

Als schon die ersten Sterne am Himmel zu sehen waren, war man in
jenes Dorf gekommen, in welchem Bessus wütenden Herzens des
Arsames Sohn in Fesseln gelegt hatte. [130] Dort liefen ihnen zwei
Männer entgegen, die voll Hass auf Bessus’ ungeheuerliche Schand-
tat der Meinung waren, dass es sicherer sei, sich dem makedoni-
schen Lager anzuschließen, als sich unter Mördern aufzuhalten.
Mit deren Hilfe war der makedonische König bei einbrechender
Dunkelheit in der Lage, eine Abkürzung zu nehmen. In geschlosse-
ner Ordnung marschierend, [135] passte er die Marschgeschwindig-
386 ALEXANDREIS

coniungi possit acies. Iam Delius equis


disticiis ab utraque domo distabat, et ecce
vivere adhuc Darium Brocubelus, transfuga regi,
et tantum stadiis affirmat abesse ducentis.
“Sed caveatur” ait “ne sic exercitus iste 140
aut incompositus eat aut incurrat inermis
armatas acies. Patricidas acrius armat
in cedem facinus, ubi desperatio nullum
iam veniae superesse locum sub pectore clamat.”
Hiis super accensi proceres, maiorque sequendi 145
crevit Alexandro servilia castra cupido.
Ergo fatigati laxis fodiuntur habenis
et gravius solito stimulos audire iubentur
quadrupedes sumptisque volant per inania pennis.
Iam sonus audiri strepitusque fragorque rotarum 150
ceperat a Grais, et pars adversa videri
posset ab adversis nisi pulveris horrida nubes
intuitum eriperet. Paulo subsistere Grecos
iussit Alexander donec cessante procella
pulveris hostiles possent cognoscere turmas. 155
Bessus ut obliquum sedato pulvere lumen
flexit et aerii de vertice montis anhelos
vidit adesse viros, armorum luce quirites
fulgere, et peditum ferro livere catervas,
horruit aspectu, et gelido labefacta pavore 160
pectora monstriferae tremuerunt conscia culpae.
Econtra Macedum viso gens aspera Besso
accelerat gressum fusoque per ardua cursu
estuat inparibus concurrere viribus hosti.
Nam si tantum animi tantumque vigoris haberet 165
ad bellum Bessas et Martis munera quantum
BUCH VII 387

keit so an, dass die letzte Schlachtreihe mit den vorderen Reihen
mithalten konnte. Inmitten der Nacht meldete der persische Über-
läufer Brocubelus, dass Darius noch am Leben und nur zweihun-
dert Stadien entfernt sei. [140] »Hütet euch jedoch davor«, so riet
er den Griechen, »unter solchen Umständen das Heer ungeordnet
schreiten zu lassen oder schlecht gewappnet auf die bewaffneten
feindlichen Linien zu treffen. Noch heftiger rüstet die Schandtat
Mörder zum Kampf, sobald die Verzweiflung in ihrem Herzen
beklagt, es bleibe ihnen kein Ort mehr der Gnade.« [145] Von
diesen Worten ließen sich die griechischen Anführer noch weiter
anstacheln, noch heißer spürte auch Alexander das Verlangen, das
Lager der Sklaven zu erreichen. Also spornte man mit lockeren
Zügeln die müden Pferde und ließ sie härter als sonst den Stachel
verspüren. Gleichsam auf Flügeln schienen sie durch die Lüfte zu
fliegen. [150] Schon konnten die Griechen den Lärm und das Dröh-
nen und auch das Rattern der Räder hören. Die feindlichen Ab-
teilungen hätten sich gegenseitig sehen können, wenn nicht eine
gewaltige Staubwolke die Sicht behindert hätte. Alexander erteilte
seinen Leuten den Befehl, für kurze Zeit innezuhalten, bis die
aufgewirbelte Staubwolke sich gelegt hätte [155] und sie die feindli-
chen Scharen erkennen könnten. Als Bessus den Blick zur Seite hin
wendete – die Staubwolke hatte sich inzwischen verzogen – und
von einer luftigen Anhöhe aus sehen konnte, wie schnaubende
Männer anrückten, die Generäle im Glanz ihrer Waffen erstrahlten
und die Fußsoldaten durch ihre Schwerter bleifarben glänzten,
[160] fuhr ihm bei diesem Anblick der Schreck in die Glieder und es
bebte – der furchtbaren Schuld sich bewusst – sein von nacktem
Entsetzen ergriffenes Herz. Im Unterschied dazu beschleunigten die
wild entschlossenen Griechen ihren Schritt und brannten darauf –
das steile Gelände in rasendem Lauf erklimmend –, sich trotz un-
gleicher Kräfte auf die Feinde zu stürzen. [165] Wenn Bessus näm-
lich so viel Mut und so viel Kraft für den Krieg und den Kriegs-
dienst aufgebracht hätte wie zum Verbrechen, wenn er in der
388 ALEXANDREIS

ad facinus, tantumque valeret in agmine, quantum


in gestu sceleris et proditione valebat,
Pellei poterat Macedumque retundere vires
ulciscique Asiam. Nam Bessi castra sequentes 170
barbarici tantum prestabant robore quantum
et numero Grais, sompnoque cibisque refecti,
magna fatigatis pugnae documenta daturi,
viribus alternam multum conferre quietem.

Sed Macedum terror et formidabile terris 175


nomen Alexandri, momentum non leve bellis,
avertit pavidos et desperare coegit
vinci posse viros. Fugit indignantibus armis
sediciosa cohors, versisque in pectora dorsis,
degeneres rapuere fugam. Tunc vero nefandi 180
participes operis, accincti pectore toto
ad scelus extremum, Darium descendere curru
utque alacer conscendat equum vitamque laboret
conservare fuga monitis hortantur et instant.
Ille venenosos monitus et dicta repellit, 185
ultoresque deos testatur adesse, fidemque
acris Alexandri lacrimis implorat obortis,
seque negat scelerum comitari velle clientes.
“Nullus” ait “mortis metus aut violentia fati
compellet Darium scelerum se iungere castris. 190
Non habet ulterius quod nostris cladibus addat
BUCH VII 389

Schlacht so viel hätte bewirken können wie als Übeltäter und Ver-
räter, dann wäre er auch in der Lage gewesen, Alexanders griechi-
sche Streitmacht zurückzuschlagen [170] und Asien zu rächen.
Denn die Barbaren, die dem Lager des Bessus folgten, waren den
Griechen sowohl an Kampfkraft als auch an Zahl weit überlegen.
Durch Speise und Schlaf erholt, wären sie eigentlich in der Lage
gewesen, ihren müden griechischen Feinden eine empfindliche mili-
tärische Lektion zu erteilen, dass abwechselnde Ruhezeiten unter
den Soldaten für die Schlagkraft der Truppe sehr förderlich sind.

Die Flucht der Verschwörer und Darius’ Ermordung (175–209)

[175] Aber die Angst vor den Griechen und der überall auf dem
Erdkreis Schrecken hervorrufende Name des makedonischen Kö-
nigs – in kriegerischen Auseinandersetzungen ein oft ausschlagge-
bender Faktor – brachte die ängstlichen Perser zum Weichen und
nötigte sie, die Hoffnung aufzugeben, die Feinde besiegen zu
können. Die Bande der Verschwörer machte sich mit widerstreben-
den Waffen davon, die verkommenen Gestalten drehten den Grie-
chen den Rücken zu [180] und ergriffen die Flucht. Doch jetzt
drängten die Helfershelfer der gottlosen Tat – fest entschlossen zur
schlimmsten aller möglichen Schandtaten – Darius dazu, vom Wa-
gen zu steigen, und forderten ihn mit harschen Kommandos auf,
sich schnell auf sein Pferd zu schwingen, alle Kräfte zu mobilisieren
und sein Leben durch Flucht zu retten. [185] Jener wies die arglisti-
gen Worte und heuchlerischen Ermahnungen zurück, rief die
Götter zu Zeugen, dass die griechischen Rächer schon nahe seien,
erflehte unter Tränen den Beistand des energischen Makedonen
und lehnte es ab, die Mörderbande weiterhin zu begleiten. »Weder
Furcht vor dem Tode«, so sprach er, »noch Tücke des Schicksals
[190] werden mich nötigen können, dem Lager der Verräter mich
anzuschließen. Fortunas Schwert vermag meinem Unheil kein wei-
390 ALEXANDREIS

Fortunae gladius, mors, quam patricida minatur,


antidotum meroris erit, mortisque venenum
pro medicamentis curaque laboris habebo.”
His super accensi patricide corde sub alto 195
concipiunt bilem dominumque patremque cruentis
confodiunt iaculis et in ipsum grandinis instar
spicula coniciunt. Quem tandem vulnere multo
pectora confossum sparsumque cruore relinquunt.
Et fugitiva sequi ne longius agmina possint, 200
curribus assuetos iuga regia ferre iugales
afficiunt telis gladiisque, duosque clientes,
quos habuit comites in vita, mortis eidem
esse iubent socios et eodem funere mergunt.
Quo facto ut tanti lateant vestigia monstri, 205
divisere fugam. Festinat Bactra subire
Bessus, Narbazanes Hyrcanos visere saltus.
Dispersi fugiunt alii vel quos metus urget
vel spes in dubiis semper comes optima rebus.

Quingenti tantum se collegere quirites, 210


qui pro iusticia patriaeque iacentis honore
elegere mori Macedumque resistere turmis,
vel quia sperabant armis extendere vitam
vel quia turpe fuit regi superesse perempto.
Dum tamen ancipiti sermonum barbara motu 215
diffinit legio meliusne sit hoste propinquo
dedere terga fugae Graisve opponere pectus,
BUCH VII 391

teres Leid hinzuzufügen. Der Tod, mit dem mich die Verschwörer
bedrohen, wird ein Gegenmittel sein für den Kummer, das Gift des
Todes werde ich als Heilmittel und Balsam für die erlittenen Qua-
len betrachten.« [195] Ob dieser Worte vor den Kopf gestoßen,
fühlten die Verräter tief in ihrer Brust schlimmen Verdruss, durch-
bohrten ihren König und Vater mit blutigen Spießen und schleu-
derten gleich einem Hagelschlag Speere auf diesen. Schließlich lie-
ßen sie ihn – an der Brust von zahlreichen Wunden lebensgefähr-
lich verletzt – blutbefleckt liegen. [200] Und damit das Pferdege-
spann, längst gewohnt, am Wagen das prächtige Kummet zu tragen,
dem fliehenden Haufen nicht länger folgen konnte, verletzten sie
auch dieses mit Speeren und Schwertern. Zugleich bestimmten sie
zwei Gefolgsleute des Königs, im Leben ihm treu ergeben, im Tod
ihm zu folgen, und stürzten sie in dasselbe Verderben. Danach flo-
hen sie auf getrennten Wegen, [205] um die Spuren dieser gewalti-
gen Schandtat zu verwischen. Auf schnellstem Wege nach Baktra
entkommen wollte Bessus, in die Wälder Hyrkaniens eilte Narbaza-
nes. Alle anderen flohen versprengt, von der Furcht getrieben oder
auch von der Hoffnung, in schwierigen Lebenslagen immer der
beste Rückhalt.

Die Schlacht gegen die verbliebenen Perser (210–239)

[210] Nur fünfhundert Krieger, die es vorzogen, für Recht und Ehre
des am Boden liegenden Vaterlandes zu sterben und dem griechi-
schen Heer Widerstand zu leisten, scharten sich zusammen, entwe-
der weil sie die Hoffnung hatten, mit einem siegreich geführten
Kampf ihr Leben zu verlängern, oder weil sie es als Schande emp-
fanden, ihren zu Tode gebrachten König zu überleben. [215] Wäh-
rend die Schar der Perser im Gespräch noch mit sich zurate ging, ob
es besser sei, vor dem nahenden Feind zu fliehen oder sich den
Griechen im Kampf zu stellen, da erschien überraschend das grie-
392 ALEXANDREIS

ecce triumphantis animi pernicibus alis


vecta supervenit Macedum manus. Omnibus arma,
omnibus et vires, et Marcius omnibus ardor. 220
Iam fragor et belli rursus novus ingruit horror,
nec timido fuga nec prodest audacia forti:
Ceduntur fortes, timidi capiuntur. Et ecce,
res indigna fide, dictu mirabile, plures
captivi quam qui caperent, numerumque ligantum 225
predonumque gravis excessit copia predae.
Non magna sine laude tamen cecidere rebelles,
adversae partis clari ter mille quirites.
Nec cedis rancor nec funeris ira quievit
donec Alexandro gladii revocante furorem 230
cedibus abstinuit cedi devota iuventus.
Tunc vero intactum pecudum de more superstes
agmen agebatur, nec erat vestigia toto
agmine qui Darii Grais ostendere posset.
Singula scrutantur Persarum plaustra nec usquam 235
dedecus inveniunt fati regale cadaver.
Regis enim trito deserto calle iugales,
pectora confossi iaculis, in valle remota
constiterant, mortem Dariique suamque gementes.

Haut procul hinc querulus lascivo murmure rivus 240


labitur et vernis solus dominatur in herbis.
Patrem rivus habet fontem qui rupe profusus
purus et expressis per saxea viscera guttis
BUCH VII 393

chische Heer, getragen von schnellen Flügeln eines siegesgewissen


Geistes. Ohne Ausnahme waren alle Griechen gewappnet, [220] wa-
ren alle entschlossen und war jeder erpicht auf die Schlacht. Schon
wieder brach ein Getöse und ein neues Grauen des Kriegs los, und
nicht half dem Feigling die Flucht noch dem Kühnen Beherztheit.
Die Kühnen wurden niedergestreckt, die Feiglinge gefangen genom-
men. Und da geschah etwas schier Unglaubliches, erstaunlich zu
sagen: [225] Mehr Gefangene gab es als jene, die Gefangene mach-
ten, und die große Zahl wertvoller Beutestücke überstieg die Anzahl
jener, welche die Beutestücke zusammenrafften. Dennoch fielen –
nicht ohne sich strahlenden Ruhm zu erwerben – auf Seiten des
Feindes dreitausend widerspenstige Kämpfer, glänzende persische
Krieger. Nicht ruhte der blutige Groll und das tödliche Rasen,
[230] bis Alexander seinem wütenden Schwert Einhalt gebot und
demzufolge seine dem Mord ergebenen Männer vom Morden ab-
ließen. Darauf trieb man die unverletzt gebliebene Meute der über-
lebenden Perser wie Vieh zusammen, doch gab es unter ihnen kei-
nen, der den Griechen einen Hinweis auf Darius’ Verbleib geben
konnte. [235] Die Wagen der Perser wurden einzeln durchsucht,
doch konnten die Griechen – was für ein übler Streich des Schick-
sals – den königlichen Leichnam nirgendwo finden. Das Gespann
des Königs war nämlich, den üblichen Weg verlassend und die Brust
mit Spießen durchbohrt, in einem entlegenen Tal, des Darius Tod
und das eigene Ende beklagend, zum Stehen gekommen.

Darius’ letzte Botschaft an Alexander (240–305)

[240] Nicht weit von dort floss mit munterem Plätschern ein sanft
sprudelnder Bach dahin und ließ die Frühlingsgewächse erblühen.
Der Bach besaß seinen Ursprung in einer Quelle, die nach ihrem
engen Weg durch das felsige Innere aus einer Steinwand hervor-
brach, um im weiteren Lauf ungetrübt dahinzufließen und den tro-
394 ALEXANDREIS

liquitur et siccas humectat nectare glebas.


Ad quem vir Macedo post Martem fessus anhelo 245
ore Polistratus sitis incumbente procella
ductus, ut arentes refoveret flumine fauces,
curriculum Darii vitam exhalantis opertum
pellibus abiectis iumentaque saucia vidit.
Vidit et accedens confossum vulnere multo 250
invenit Darium turbatum lumina, mortis
inter et extremae positum confinia vitae,
cumque rogaretur Indo sermone quis esset,
gavisus, quantum perpendi ex voce dabatur,
“Fortunae presentis” ait “mortisque propinquae 255
hoc unum Dario et solum solamen habetur
quod tecum michi non opus est interprete lingua,
quod loquor extremum discretis auribus, et quod
non erit extremas incassum promere voces.
O quam grata michi Macedum presentia regis 260
esset ut audiret me tam pius hostis et eius
colloquio fruerer ut mutua verba serendo
sedaret veteres belli brevis hora querelas.
Quem quia fata negant, hec, quisquis es, accipe, et ista
perfer Alexandro: post tot certamina Magni 265
debitor intereo multumque obnoxius illi
quod matrem Darii prolemque modestus et irae
inmemor hostilis clementi pectore fovit,
quod non hostilem qualem decet esse tyranni
sed regalem animum victis vultumque serenum 270
exhibuit victor hostique fidelior hostis
quam noti civesque mei. Donata per illum
vita meis. Vitam michi surripuere propinqui,
regna quibus vitamque dedi. Miserabile dictu,
BUCH VII 395

ckenen Boden mit ihrem köstlichen Nass zu befeuchten. [245] Als


es Polystratus, einen der Griechen, vom Kampf erschöpft und von
heftigem Durst gequält, mit keuchendem Mund zu diesem Bach
hinzog, um die ausgedörrte Kehle mit dem Wasser zu erfrischen,
erblickte er den achtlos mit Fellen bedeckten Wagen des Darius –
der persische König war dem Tod bereits nahe – und das verwunde-
te Pferdegespann. [250] Als Polystratus sich dem Wagen und dem
Pferdegespann näherte, erblickte und fand er den persischen König,
als dieser sich schon, verstört blickend und von zahlreichen Wun-
den durchbohrt, an der Schwelle zum Tod befand. Darius, in
persischer Sprache nach seiner Person befragt, sagte, soweit noch
verständlich, voll Freude Folgendes: [255] »Bleibt mir doch wenigs-
tens als einziger Trost im jetzigen Unglück und im anstehenden
Tod, dass ich dir gegenüber keinen Dolmetscher benötige, ich mei-
ne letzten Worte deinen Ohren allein anvertrauen kann und diese
nicht umsonst von mir geben werde. [260] Ach, wie willkommen
wäre mir gerade in diesem Augenblick die Anwesenheit des make-
donischen Königs, damit mein so gütiger Feind meine letzten Wor-
te vernimmt und ich mich an der Unterredung mit diesem erfreue,
auf dass im Laufe des gemeinsamen Gesprächs die flüchtige Stunde
die alten Kriegsstreitigkeiten beizulegen vermag. Da mir jedoch das
Schicksal die Begegnung mit diesem verwehrt, vernimm, wer auch
immer du bist, folgende Worte [265] und berichte Alexander davon:
Nach so vielen Schlachten sterbe ich nun, stehe dabei in seiner
Schuld und bin ihm zu tiefem Dank verpflichtet, da er meine Mut-
ter und meine Kinder, die feindliche Wut vergessend, mild und
maßvoll unangetastet ließ, da er keinen feindseligen Charakter zeig-
te, wie es sonst Tyrannen ansteht, [270] sondern als Sieger gegen-
über Besiegten eine königliche und friedfertige Haltung an den Tag
legte und als Feind dem Feind gegenüber eine größere Treue bewies
als meine Freunde und eigenen Landsleute. Jener schenkte meiner
Familie das Leben. Mir haben meine Nächsten, denen ich Herr-
schaft und Leben verliehen habe, das Leben entrissen. Traurig zu
396 ALEXANDREIS

quorum presidio tutus vel ab hostibus esse 275


debuerat Darius, ab eis occisus, et inter
hostes incolomis stans, labitur inter amicos.
His precor a iusto reddatur principe talis
talio pro meritis, qualem patricida meretur
quamque repensurus, michi si Fortuna triumphum 280
concessisset, eram. Nec enim hoc discrimine solum
alea versatur mea sed communis eorum
qui presunt turbae et populi moderantur habenas.
In me causa agitur. Decernat pondere iusto
Magnus que tantum maneat vindicta reatum, 285
que nova flagitii scelus expiet ultio tanti.
Quam si distulerit vel forte remissius equo
egerit, illustris minuetur opinio regis
decolor et fame multum diversa priori.
Adde quod a simili debet sibi peste cavere 290
rex pius et subiti vitare pericula casus,
et cum iusticiae status hinc versetur et illinc
utilitas, uno tueatur utrumque rigore.
Hoc unum superos votis morientibus oro
infernumque Chaos, ut euntibus ordine fatis 295
totus Alexandro famuletur subditus orbis,
Magnus et in magno dominetur maximus orbe,
utque michi iusti concesso iure sepulchri
a rege extremi non invideantur honores.”
Sic ait et dextram tamquam speciale ferendam 300
pignus Alexandro Greco porrexit, eique
BUCH VII 397

sagen: Ausgerechnet jene, [275] in deren Schutz ich vor meinen


Feinden hätte sicher sein müssen, sind jetzt meine Mörder gewor-
den, und während ich unter Feinden unversehrt blieb, falle ich
unter Freunden. Möge von ihm als einem gerechten Richter – und
nur dies erbitte ich inständig – an diesen Verrätern derart Vergel-
tung für ihre Verbrechen geübt werden, wie es Mörder verdienen,
eine Vergeltung, [280] die ich selbst üben würde, wenn mir Fortuna
den Sieg geschenkt hätte. Nicht nur nämlich ändert sich durch
dieses Verhängnis mein eigenes Schicksal, sondern zusammen damit
auch das Schicksal jener, die das Heer noch führen und das Volk
noch regieren. Mir gibt man die Schuld. [285] So mag Alexander in
gerechter Abwägung die Entscheidung treffen, welche Strafe eine so
große Schuld notwendigerweise nach sich zieht, was für eine un-
gewöhnliche Rache ein derartig niederträchtiges Verbrechen zu
sühnen imstande ist. Falls er jedoch die Bestrafung aufschieben
oder vielleicht nachlässiger ausführen sollte, als es einem gerechten
Vorgehen entspricht, wird sein ausgezeichneter Ruf als König ver-
blassen und, seines Glanzes beraubt, nicht mehr wie früher erstrah-
len. [290] Sage ihm außerdem, dass auch ein gütiger König sich vor
einem ähnlichen Unheil hüten und die Gefahren eines plötzlichen
Sturzes vermeiden muss. Wenn der Zustand des Rechts in die eine
und der eigene Nutzen in eine andere Richtung streben, soll er bei-
de mit derselben Entschiedenheit auf ausgewogene Art und Weise
schützen. Um dies eine noch bitte ich, während meine Gebete
sterbend sich schon verlieren, [295] die himmlischen Götter und
auch die Gottheiten der Unterwelt: Der ganze unterworfene Erd-
kreis möge künftig im weiteren Gang des Schicksals dem makedoni-
schen König dienstbar sein und Alexander der Große als bedeu-
tendster König über ein bedeutendes Reich die Herrschaft aus-
üben. Nicht auch soll der König mir die letzte Ehre missgönnen
und meinem Leichnam deshalb das Recht auf eine gebührende Be-
stattung gewähren.« [300] So sprach er und streckte die Hand
gleichsam als besonderes Pfand für Alexander dem ihm unbekann-
398 ALEXANDREIS

letifer irrepsit per membra rigentia sompnus,


et sacer erumpens luteo de carcere tandem
spiritus, hospicium miserabile carnis abhorrens,
prodiit et tenues evasit liber in auras. 305

Felices animae, dum vitalis calor artus


erigit infusos, si pregustare daretur
que maneant manes decurso tempore iustos
premia, que requies, et quam contraria iustis
impius exspectet: non nos funestus habendi 310
irretiret amor, nec carnis amica libido
viscera torreret; sed nec predivite mensa
patrum sorberet obscenus iugera venter;
sed neque ferrato detentus carcere Bachus
frenderet horrendum fracturus dolia, nec se 315
inclusum gemeret sine respiramine Liber;
non adeo ambirent cathedrae venalis honorem
Symonis heredes; non incentiva malorum
pollueret sacras funesta Pecunia sedes;
non aspiraret, licet indole clarus, aviti 320
sanguinis inpubes ad pontificale cacumen
donec eum mores, studiorum fructus, et etas
eligerent, merito non suffragante parentum;
non geminos patres ducti livore crearent
preficerentque orbi sortiti a cardine nomen; 325
non lucri regnaret odor; pervertere formam
iudicii nollet corruptus munere iudex;
non caderent hodie nullo discrimine sacri
BUCH VII 399

ten Griechen entgegen. Der todbringende Schlaf kroch ihm lang-


sam in die allmählich erstarrenden Glieder, die ehrwürdige Seele
stürzte in Abscheu vor der schlimmen Behausung des Fleisches
schließlich aus ihrem schmutzigen Kerker heraus, [305] trat aus
diesem hervor und entkam befreit in die zarten Lüfte.

Moralexkurs (306–343)

Wenn es, o glückliche Seelen, dem Menschen schon zu Lebzeiten


gestattet wäre, im Voraus zu kosten, welch ein herrlicher Lohn
gerechte Manen nach Ablauf ihres irdischen Daseins erwartet und
welch eine tiefe Erholung, und wie sehr [310] die Schurken im
Unterschied zu den Gerechten das genaue Gegenteil davon zu
gewärtigen haben, dann würden uns weder verderbliche Habgier
umgarnen noch Fleischeslust unser Innerstes ausdörren. Weder
würde der schamlose Bauch den väterlichen Besitz an einer zu
üppig gedeckten Tafel verprassen noch würde Bacchus, im eisenbe-
schlagenen Kerker gefangen und das Fass schon zu sprengen bereit,
schaudervoll [315] mit den Zähnen knirschen, auch nicht würde
Liber Klage darüber führen, dass er eingeschlossen im Fass ohne
Luftloch verharren müsse. Simons Erben würden sich nicht so sehr
um das käufliche Amt eines Bischofs bewerben, nicht würde die
unheilvolle Pecunia als Reizmittel des Bösen die heiligen Sitze ent-
ehren. [320] Nicht würde ein Knabe, mag er auch von edler Ab-
stammung und sogar glänzend begabt sein, das Amt eines Bischofs
anstreben, bevor ihn Charakterbildung – der Ertrag seines Stu-
diums – und ein angemessenes Alter ohne Begünstigung durch
verdienstreiche Eltern erwählt haben. Nicht würden die Kardinäle,
von Neid getrieben, zwei Päpste wählen [325] und ihnen die Füh-
rung über den Erdkreis übertragen. Nicht würde der Gestank der
Habsucht obwalten, nicht würde der Richter, mit Geschenken be-
stochen, die Richtlinien seiner Rechtsprechung ins Gegenteil ver-
400 ALEXANDREIS

pontifices, quales nuper cecidisse queruntur


vicinae modico distantes equore terrae. 330
Sed quia labilium seducta cupidine rerum, 332
dum sequitur profugi bona momentanea mundi,
allicit illecebris animam caro, non sinit esse
principii memorem vel cuius ymaginis instar 335
facta sit aut quorsum resoluta carne reverti
debeat. Inde boni subit ignorantia veri.
Inde est quod spreta cupimus rationis habena
quod natura negat, facinusque paratus ad omne
non reveretur homo quod fas et iura verentur. 340
Inde est quod regni flammatus amore satelles,
non reverens homines, non curans numina, Bessus
et patris et domini fatalia fila resolvit.

Te tamen, o Dari, si que modo scribimus olim


sunt habitura fidem, Pompeio Francia iuste 345
laudibus equabit. Vivet cum vate superstes
gloria defuncti nullum moritura per evum.

Magnus ut accepit Darium expirasse, citatum


turbidus accelerat gressum, inventumque cadaver
perfudit lacrimis et compluit ubere fletu. 350
BUCH VII 401

kehren. Nicht würden heute ehrwürdige Priester wahllos eines


gewaltsamen Todes sterben, [330] wie die beiden nur durch ein
schmales Meer getrennten Nachbarländer jüngst schmerzlich erfah-
ren mussten. [332] Da aber das Fleisch, verführt von der Gier nach
vergänglichen Dingen und auf der Suche nach zeitlichen Gütern
der flüchtigen Welt, mit seinen Reizen die Seele verlockt, lässt es
nicht zu, [335] dass sie sich ihres Ursprungs erinnert oder darauf
bedacht ist, nach wessen Vorbild sie geschaffen wurde, oder wohin
sie, vom Fleisch befreit, einmal zurückkehren muss. Dadurch
schleicht sich eine Unkenntnis des Guten und Wahren ein. Da-
durch geschieht es auch, dass wir gegen jede Vernunft begehren,
was die Natur uns verwehrt, und der Mensch, bereit zu jedweder
Schandtat, [340] keine Ehrfurcht vor Recht und Gesetz an den Tag
legt. Aus demselben Grund auch hat der sklavenhafte Bessus, von
Herrschsucht getrieben, den Lebensfaden seines Königs und Vaters
durchtrennt, ohne Rücksicht auf Menschen und Götter zu
nehmen.

Apostrophe an Darius (344–347)

Dich jedoch, Darius, wird Franzien, [345] sollte man meiner Dich-
tung dereinst Vertrauen und Ansehen schenken, mit Recht nicht
weniger rühmen als den römischen Feldherrn Pompeius. Der
Ruhm des Verstorbenen wird zusammen mit dem Dichter weiterle-
ben und niemals im Laufe der Zeiten vergehen.

Alexanders Totenklage (348–378)

Als Alexander vom Tod des persischen Königs erfuhr, stürmte er


blitzartig heran. Nachdem er Darius’ Leichnam gefunden hatte,
[350] benetzte er diesen mit einem ergiebigen Strom von Tränen.
402 ALEXANDREIS

Sedit complosis manibus, positoque rigore


principis, effusum doluit gemuitque iacentem,
quem stantem ut caderet tociens incusserat ante.
Ergo ubi purpureo lacrimam siccavit amictu
purgavitque genas, “Miseris mortalibus” inquit 355
“hoc solum relevamen inest, quod gloria mortem
nescit et occasum non sentit fama superstes.
Si vitae meritis respondet gloria famae,
nulla tuos actus poterit delere vetustas,
nec te posteritas, rex Persidis, inclite Dari, 360
oblinet, aut veterum corrodet serra dierum.
Claresces titulis totoque legeris in orbe,
ausus Alexandro Macedumque resistere fatis.
Si michi te vivum servassent omine fausto
fata, iugo Macedum levius nichil esse probares. 365
Uno rege minor tantum Magnoque secundus
iura dares aliis, in regni parte receptus.
Sed quia serviles non permisere catervae,
que patris emeritam ferro rupere senectam,
ut clemens victo laudarer victor in hoste, 370
quod solum licet, ultorem, defuncte, relinquis
hostibus infandis, habuisti quem prius hostem.
Sic michi contingat, bellis Oriente subacto,
Hesperios penetrare sinus classemque minacem
occiduis inferre fretis cursuque reflexo 375
Gallica Grecorum dicioni subdere colla;
BUCH VII 403

Sitzend verharrte er eine Weile und schlug als Zeichen der Trauer
die Hände über dem Kopf zusammen. Ohne die für ihn sonst
übliche königliche Strenge an den Tag zu legen, beklagte und be-
trauerte er den niedergestreckt vor ihm liegenden Gegner, den er zu
dessen Lebzeiten so oft noch geschlagen hatte, um ihn zu Fall zu
bringen. Sobald er seine Tränen mit dem purpurnen Mantel ge-
trocknet [355] und seine Wangen gereinigt hatte, sagte er: »Der
wirklich einzige Trost, den wir als beklagenswerte Sterbliche für uns
geltend machen können, besteht darin, dass der physische Tod für
den Nachruhm eines Menschen überhaupt keine Rolle spielt.
Wenn der Ruhm bei der Nachwelt den Verdiensten im Leben ent-
spricht, dann wird auch der Zeiten Lauf deine Taten nicht aus-
löschen können, [360] und nicht werden die kommenden Genera-
tionen die Erinnerung an dich tilgen, König von Persien, ruhmrei-
cher Darius, oder wird der Zahn der Zeit an deinem Ruhm nagen.
Deine ruhmreichen Taten werden erstrahlen und überall auf dem
Erdkreis wird man dich preisen, da du es gewagt hast, Alexander
und der Bestimmung der Griechen Widerstand zu leisten. Wenn
mir unter günstigen Vorzeichen das Schicksal dich lebend erhalten
hätte, [365] würdest du nichts leichter anerkennen können als der
Griechen Joch. Einem einzigen König nur unterworfen würdest du
nach mir als Zweiter über alle anderen gebieten, eingesetzt als
Statthalter in einem Teil meines Reichs. Da aber die sklavenhafte
Bande, die dem alten und verbrauchten Vater mit dem Schwert das
Leben nahm, mir nicht die Möglichkeit eingeräumt hat, [370] als
milder Sieger über den besiegten Feind gepriesen zu werden, bleibt
dir nur noch, verstorbener König, mich, den du zuvor noch zum
Feind hattest, als Rächer für die ruchlosen Feinde zurückzulassen.
So möge es mir nach der Unterwerfung des Ostens gelingen, auch
in die westlichen Buchten tief einzudringen und die drohende
Flotte hinein [375] in die westlichen Meere zu führen und auf dem
Rückweg von dort die Gallier der Herrschaft der Griechen zu
unterwerfen. So mögen mir die Götter nach der Überquerung der
404 ALEXANDREIS

sic michi dent superi, traiectis Alpibus, una


cum populis Ligurum Romanas frangere vires.”

Dixit, et exequiis solito de more solutis,


regifico sepelit corpus regale paratu 380
membraque condiri iubet et condita recondi
maiorum tumulis, ubi postquam condita, celsa
pyramis erigitur, niveo que marmore structa
ingenio docti superedificatur Apellis.
Coniunctos lapides infusum fusile rimis 385
alterno interius connectit amore metallum.
Exterius, qua queque patet iunctura, figuris
insculptum variis rutilans intermicat aurum.
Quatuor ex equo distantibus arte columpnis
sustentatur onus, quarum iacet erea basis. 390
Argento stilus erigitur, capitella recocto
imperitant auro fornacibus eruta binis.
Has super exstructa est, tante fuit artis Apelles,
lucidior vitro, pacato purior amne,
crystallo similis caelique volubilis instar, 395
concava testudo librati ponderis, in qua
forma tripertiti pulchre describitur orbis.
Hic Asiae sedes late diffunditur, illic
subsidunt geminae spacio breviore sorores.
Hic certis distincta notis loca flumina gentes 400
urbes et silvae regiones oppida montes
et quecumque vago concluditur insula ponto,
indigeat que terra, quibus que rebus habundet.
Frugifera est Lybie, vicinus Syrtibus Hamon
BUCH VII 405

Alpen zudem erlauben, zugleich mit dem Volk der Ligurer auch die
Truppen der Römer zu vernichten.«

Das Grabmal des Darius (379–430)

So sprach er [380] und bestattete nach dem üblichen Leichenbe-


gängnis den Körper des Königs mit fürstlichem Pomp, ließ ihn
einbalsamieren und im Grabe der Ahnen zur letzten Ruhe betten.
Nachdem er dort beigesetzt war, errichtete man eine hochragende
und aus weißem Marmor errichtete Pyramide, die durch das Genie
des gelehrten Apelles über dem Grabmal angelegt wurde. [385] In
seinem Inneren verband sich mit den zusammengefügten Steinen
passgenau flüssiges, in die Ritzen gegossenes Metall. Außen leuchte-
te an jenen Stellen, wo die Fugen nicht akkurat schlossen, rötlich
schimmerndes und mit verschiedenen Bildern verziertes Gold. Die
ganze Last wurde kunstvoll gestützt von vier zueinander in gleichem
Abstand stehenden Säulen, [390] deren Basis aus Bronze bestand.
Silbern ragte der Schaft der Säulen hinauf, vier in zwei Schmelzöfen
entstandene Kapitelle überragten den Bau mit mehrfach geläuter-
tem Gold. Darüber wurde mit wohlverteiltem Gewicht – so groß
war Apelles’ Kunstfertigkeit – ein Kuppeldach errichtet, durchsich-
tiger als Glas, reiner als ein sanft fließender Bach [395] und ähnlich
einem Kristall, dem kreisenden Himmelsgewölbe vergleichbar, auf
dem man den dreifach geteilten Erdkreis wunderbar dargestellt sah.
Hier erstreckten sich oben weithin Asiens Fluren, dort befanden
sich im unteren Teil die Zwillingsschwestern mit ihrer jeweils klei-
neren räumlichen Ausdehnung. [400] Auf diesem Bild ließen sich,
mit unverwechselbaren Symbolen genau bezeichnet, die Ebenen
mit ihren Flüssen erkennen, die verschiedenen Völker mit ihren
Städten, waldbedeckte Gebiete, kleinere Orte, Gebirge und alle
Inseln, die vom launenhaften Meer umspült wurden, auch welcher
Landstrich Mangel litt und welcher im Überfluss lebte. Fruchtbar
406 ALEXANDREIS

mendicat pluvias, Egyptum Nilus opimat. 405


Indos ditat ebur vestitaque litora gemmis.
Affrica pretendit magnae Kartaginis arces,
Grecia divinas famae inmortalis Athenas.
Pallanthea domus Roma crescente superbit,
Gadibus Herculeis Hyspania, thure Sabei, 410
Francia militibus, celebri Campania Bacho,
Arthuro Britones, solito Normannia fastu.
Anglia blanditur, Ligures amor urit habendi,
Teutonicusque suum retinet de more furorem.
Lubricus extremas tantae testudinis oras 415
circuit Oceanus. Asiam tractusque duarum
opposito medius discriminat obice pontus,
pontus, distortis in quem vaga flumina ripis
omnia descendunt, et eo ducente recurvos
flexa per anfractus magnum labuntur in equor. 420
Et quia non latuit sensus Danielis Apellem,
aurea signavit epigrammate marmora tali:
“Hic situs est typicus aries, duo cornua cuius
fregit Alexander, totius malleus orbis.”
Preterea Hebreos et eorum scripta secutus, 425
preteriti serie revoluta temporis, annos
humani generis a condicione notavit
usque triumphantis ad bellica tempora Magni.
In summa annorum bis milia bina leguntur
bisque quadringenti decies sex bisque quaterni. 430
BUCH VII 407

war Libyen, das den Syrten benachbarte Ammon [405] bettelte um


Regen, der Nil brachte Ägypten reiche Ernten. Elfenbein machte
die Inder reich und mit Edelsteinen übersät waren ihre Küsten.
Afrika rühmte sich der Burg des großen Karthago, Griechenland
verherrlichte das vortreffliche und von unsterblichem Ruhm ge-
prägte Athen. Pallas’ Geschlecht war stolz auf das immer mächtiger
werdende Rom, [410] Spanien auf Herkules’ Stadt Cadiz, mit
ihrem Weihrauch brüsteten sich die Einwohner von Saba. Franzien
rühmte sich seiner Ritter, die Champagne ihres berühmten Weins,
die Britannier prahlten mit Arthur, erhobenen Hauptes glänzte in
gewohntem Hochmut die Normandie. England schmeichelte, die
Habgier verzehrte die Ligurer und der Teutone behielt nach
dortiger Gewohnheit sein zorniges Gemüt bei. [415] Der gefahrvolle
Ozean umströmte die riesige Kuppel an ihrem äußersten Rand. Ein
mittleres Meer trennte mit einer begrenzenden Linie Asien von den
beiden kleineren Kontinenten ab – ein Meer, in das mit ihren ge-
wundenen Ufern sämtliche nach allen Seiten hin strömenden Flüs-
se hinabflossen und zuletzt, dem zunehmend geringer werdenden
Gefälle folgend, [420] mit rückwärts gekrümmten Biegungen
mäandrierend in das große Meer sich ergossen. Und da dem Apelles
die Bedeutung der Worte Daniels sehr wohl bekannt war, versah er
den golden schimmernden Marmor mit folgender Inschrift: »Hier
liegt symbolisch der Widder begraben, dessen zwei Hörner Alexan-
der, der Hammer der ganzen Welt, zerbrochen hat.« [425] Indem er
zudem den Juden und ihren Schriften folgte und den Lauf der Ge-
schichte noch einmal aufrollte, schrieb er die Jahre von der Erschaf-
fung des Menschengeschlechts bis zu den kriegerischen Zeiten des
siegreichen Alexander nieder. Zweimal zweitausend Jahre [430] und
zweimal vierhundert sowie achtundsechzig Jahre dazu waren alles in
allem zu lesen.
408 ALEXANDREIS

Interea meritos ad donativa quirites


invitat Macedo, gemitus et vulnera largis
curat muneribus, et ydonea tempora nactus
sollempnes epulas et Bachi gaudia totis
instaurat castris. 435
Ergo dum pocula tractat
deliciisque vacat diffusus in ocia miles,
ecce repentinus, vicium sollempne vacantis
militiae, rumor subito ferit agmina motu.
Fertur Alexandrum, post prospera bella tumentem,
hostibus afflictis et adepta Perside, velle 440
ad patrios fines et dulcia regna reverti.
Ergo avidi reditus, quamvis auctore careret
rumor, discurrunt limphantum more per omnes
castrorum vicos. Aptant tentoria plaustris.
Sarcinulas et vasa legunt castrensia tamquam 445
mane paretur iter. Oritur per castra tumultus
leticiae, mixtosque ferunt ad sydera plausus.
Rumor ut attonitas invicti principis aures
impulit, occultus animum perterruit horror,
contraxitque furor laxas rationis habenas. 450
Mox ubi mens rediit, domito revocata furore,
prefectos iubet acciri lacrimisque profusis
BUCH VII 409

Alexander zwischen Perserreich und Welteroberung (431–538)

Alexanders angemessene Gebefreudigkeit (431–435)

Inzwischen rief Alexander seine Soldaten zusammen, um ihnen ent-


sprechend ihren Verdiensten Geldzahlungen zukommen zu lassen.
Mit großzügigen Geschenken linderte er ihre Schmerzen und pfleg-
te ihre Wunden. [435] Er veranstaltete, die günstige Gelegenheit
nutzend, im ganzen Lager einen Festschmaus und ein Trinkgelage.

Alexanders Welteroberungspläne (435–466)

Während die Soldaten sich also dem Wein hingaben und in müßi-
ger Entspannung Zeit für heitere Gespräche hatten, da machte sich
im ganzen Heer – ein gewohnter Fehler unbeschäftigter Truppen –
rasend schnell ein plötzlich auftretendes Gerücht breit. Alexander
wolle nach dem glücklichem Ausgang des Kriegs, [440] nach dem
Sieg über die Feinde und der Eroberung Persiens voller Stolz in die
Heimat und die lieblichen Reiche zurückkehren. Also rannten die
leidenschaftlich auf Rückkehr erpichten Soldaten, obgleich das
Gerücht nicht verbürgt war, nach der Art von Besessenen durch alle
Teile des Lagers. Sie luden die Zelte auf Wagen [445] und räumten
ihre Habseligkeiten und die Gerätschaften des Lagers zusammen,
als ob der Abmarsch bereits für den nächsten Morgen geplant wäre.
Im ganzen Lager erhob sich überall Freudengeschrei, gemeinsamen
Beifall trugen sie zu den Sternen empor. Als dem unüberwindlichen
Herrscher das Gerücht – dieser war deswegen wie vom Donner
gerührt – zu Ohren drang, packte ihn ein tiefes Entsetzen [450] und
ein gewaltiger Wutausbruch verhinderte im ersten Moment einen
vernünftigen Umgang mit dieser Situation. Als ihm aber gleich da-
rauf nach Bezähmung der Wut wieder das vernünftige Denken zu-
rückkehrte, ließ er die Anführer herbeirufen und führte tränenüber-
410 ALEXANDREIS

limite de medio terrarum a civibus orbem


auferri sibi conqueritur, virtutis in ipso
limine Alexandro mundi tocius apertum 455
precludi imperium; nichil in patriam nisi probra,
fortunam victi se non victoris ad Argos
esse relaturum; tantis obsistere ceptis
invidiam superum qui fortia pectora semper
illiciunt patriaeque trahunt natalis amore; 460
indecoresque viros sine nomine velle reverti
ad patrios ortus, indulto tempore magna
laude recursuros. Applaudit curia regi
promittitque suas in cuncta pericula vires,
iussa secuturos proceres et mobile vulgus 465
si modo blandiciis dubias permulceat aures.

Ergo tribunali posito ducibusque citatis,


in facie procerum plebisque astante caterva,
cepit Alexander: “Recolentibus,” inquit “amici,
gestarum vobis tytulos et nomina rerum, 470
non mirum patrias animis occurrere sedes,
in quibus illustres decantet fama labores
et celebris vestras attollat gloria pugnas.
Libera iam veteri Persarum patria per vos
est exempta iugo. Phenicem Persida Medos 475
Armeniam Syriam vestri domuere lacerti.
Lidia Capadoces Parthi Cylicum iuga vestro
succubuere iugo. Terras michi vestra subegit
plures asperitas aliis quam regibus urbes
BUCH VII 411

strömt Klage darüber, dass ihm von den eigenen Männern auf hal-
ber Wegstrecke der Erdkreis entzogen und er ausgerechnet [455] an
der Schwelle zu echtem Heldentum von der nun eigentlich leicht
erreichbaren Herrschaft über die ganze Welt ausgeschlossen werde;
nichts als Schande werde er in das Vaterland zurückbringen, das
Schicksal eines Besiegten und nicht das eines Siegers nach Argos
heimtragen; einem derartig kühnen Vorhaben stehe der Neid der
Götter im Weg, [460] die immer tapfere Herzen betörten und mit
der Liebe zur Heimat verlockten; unehrenhaft und ohne jeglichen
Ruhm wollten die Männer in das Land ihrer Väter zurückkehren,
wohingegen sie hochgepriesen heimkehren würden, wenn sie noch
einen kleinen zeitlichen Aufschub gewähren sollten. Die versam-
melten Generäle spendeten ihrem König Beifall, versprachen, in
allen Gefahren ihre ganze Kraft aufzubieten; [465] der Adel und das
leicht beeinflussbare Volk würden seinen Befehlen folgen, wenn er
nur ihre Zweifel mit schmeichelnden Worten zerstreue.

Alexanders Ansprache an die griechischen Soldaten (467–538)

Nachdem also eine Tribüne aufgestellt und die Anführer herbeige-


rufen worden waren, ergriff Alexander vor dem Adel und in Anwe-
senheit allen Kriegsvolkes das Wort und sagte: »Nicht wundert es
mich, meine Freunde, dass euch im Geiste, [470] wenn ihr den
Ruhm und den Glanz eurer Taten noch einmal überdenkt, die
heimatlichen Gefilde vor dem inneren Auge erscheinen, in denen
Volkes Stimme eure blendenden Taten feiert und ausgezeichneter
Ruhm eure auf dem Schlachtfeld errungenen Erfolge verherrlicht.
Durch euch ist unsere Heimat nun frei [475] und dem alten Joch
der Perser entrissen. Eure Stärke hat Phönizien, die Perser und Me-
der, Armenien und Syrien in die Knie gezwungen. Lydien und
Kappadokien, das Reich der Parther und die Berge Kilikiens haben
sich eurem Joch gebeugt. Euer rauer Charakter hat mir mehr Län-
412 ALEXANDREIS

lubrica sors dederit. Ergo si certa maneret 480


terrarum quas tam celeri virtute subegi
perpetuo mecum possessio federe fixa,
o cives, etiam vobis retinentibus, ultro
ad patrias urbes dulcemque erumpere terram
optarem, matrem geminasque videre sorores 485
et parta pariter vobiscum laude potiri.
Sed novus est nec adhuc firma radice tenetur
imperii status, et nondum subeuntibus equa
barbaricis cervice iugum victoria nutat.
Ergo brevi nobis opus assuetudine donec 490
barbara mollescant accepto tempore corda
et peregrina suos deponant pectora mores.
Nam mora maturat fruges, et musta statuto
tempore rnitescunt quamvis expertia sensus.
Quod natura nequit, animos rabiemque ferarum 495
mulcet longa dies. Sevum indomitumque leonem
mitigat humani manus et vox blanda magistri.
Vicistis Persas sed non domuistis, et ipsi
armis non morum cohibentur lege, futuri
quos modo presentes metuunt absentibus hostes. 500
Et, licet extincto Persarum principe, inultus
hostis adhuc superest. Bessus patricida retento
Narbazanesque suus coeunt in prelia regno.
Proch pudor, eternum nati servire clientes,
per scelus extremum parta dicione, cruentas 505
extendunt ad sceptra manus. Sed sicut in egris
BUCH VII 413

der unterworfen, [480] als das launische Schicksal andere Könige


hat Städte erobern lassen. Wenn also alle Länder, die ich mit so
großer Schnelligkeit und dem mir eigenen Heldenmut unterworfen
habe, durch ein ewiges Bündnis mit mir schon unzweifelhaft und
fest meinem Machtbereich zugerechnet werden könnten, o meine
Landsleute, [485] wünschte ich, auch wenn ihr mich dann zurück-
halten wolltet, von selbst sofort zu unseren heimatlichen Städten
und ins liebliche Vaterland aufzubrechen, die Mutter und beide
Schwestern wiederzusehen und zusammen mit euch den erworbe-
nen Ruhm zu genießen. Neu jedoch ist der Zustand des Reichs und
noch nicht ausreichend gefestigt. Unser Sieg steht noch auf un-
sicherem Boden, solange die Barbaren ihr Joch noch nicht geduldig
ertragen. [490] Folglich ist eine kurze Zeit der Gewöhnung vonnö-
ten, bis die Barbaren, der veränderten Lage sich fügend, ihren Wider-
stand aufgeben und das fremde Volk sein widerspenstiges Verhalten
aufgibt. Denn Früchte brauchen zum Reifen Zeit, und ohne es
selbst zu bemerken, verliert junger Wein seinen herben Geschmack
zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt des Jahres. [495] Was die Na-
tur nicht vermag, die Dauer der Zeit besänftigt die wilde Gemütsart
der Tiere. Einen wilden und noch ungezähmten Löwen bändigt die
menschliche Hand und des Dompteurs schmeichelnde Stimme.
Besiegt habt ihr die Perser, aber noch nicht endgültig bezwungen,
durch unsere Waffen und nicht durch Gewohnheit werden sie im
Zaum gehalten; dieselben Perser nämlich, die uns jetzt fürchten,
solange wir bewaffnet im Land stehen, [500] werden zu den Waffen
greifen, sollten wir abziehen. Und mag der persische König auch tot
sein, straflos lebt noch immer ein Feind. Der Mörder Bessus und
sein Komplize Narbazanes rüsten im ihnen noch verbliebenen Teil
ihres Reichs zum Kampf. Welch eine Schande, zu ewiger Diener-
schaft geborene Vasallen strecken ihre blutigen Hände aus nach der
Herrschaft über das Reich, nachdem sie zuvor [505] mit Meuchel-
mord die Macht an sich gerissen haben. Doch gleichwie ein Arzt
alles in einem Körper herausschneidet, was diesem schadet, so bin
414 ALEXANDREIS

omnia corporibus medici nocitura recidunt,


sic nichil a tergo quod discedentibus obstet
esse relinquendum, resecandumque arbitror esse
quicquid obesse potest regno post terga relicto. 510
Parva solet magnis causam prestare ruinis,
cum neglecta fuit, modicae scintilla lucernae.
Tutior ut maneas hostis, nichil est quod in hoste
despicias tuto. Iit quem neglexeris ille
fortior hoc ipso multoque valentior hostis. 515
“Vicimus idcirco Darium ut Besso patricidae
cederet imperium? Procul hunc arcete pudorem,
terrarum domini. Brevis est labor et via nobis.
Quatridui superest iter ut divortia mortis
querere nulla queat Bessus patricida. Tot amnes 520
tot iuga transistis, tot proculcastis hyatus
horrendosque lacus, tot saxa tot invia vobis
pervia fecistis. Non nos mare dividit estu
fluctivago, sed plana iacent et prona tryumpho
omnia. Vicina est et in ipso limine palma. 525
Vincendi restant pauci. Memoranda per evum
gloria cum servos vestro mediante labore
audierit domino penas solvisse perempto
credula posteritas. Dignus labor, hercule, nullum,
quem patris occisi condempnet opinio, vestras 530
effugisse manus. Hoc uno, miles, honorem
perpetuare tuum, Persas Asiaeque favorem
conciliare potes.” Sic fatur, et ecce paratas
attollunt cuncti quecumque in prelia dextras,
seque secuturos per summa pericula spondent 535
unanimes letique senes hilarisque iuventus.
Ergo avidis pugnae tentoria vellere Magnus
imperat et rapido cursu bachatur in hostem.
BUCH VII 415

ich der Meinung, dass im Rücken eines abziehenden Heeres keine


Gefahren lauern dürfen und dass zuvor alles vernichtet werden muss,
[510] was auch immer dem zurückgelassenen Reich schaden könnte.
Ein kleiner Funke einer bescheidenen Lampe schon ist gewöhnlich
die Ursache für schwere Zerstörungen, wenn man sie unbeaufsich-
tigt lässt. Nichts gibt es, was man am Feind ohne Risiko unter-
schätzt, um als Feind auf Dauer geschützter zu sein. Ein Feind, den
man unterschätzt, [515] erstarkt im Inneren eben dadurch und ist
dann auch tatsächlich um ein Vielfaches stärker. Haben wir Darius
aus dem Grunde besiegt, damit am Ende die Herrschaft auf den
Mörder Bessus übergeht? Haltet diese Schmach, ihr Herren der Welt,
weit von uns weg. Kurz nur ist unsere Mühe und auch der Weg. Ein
Marsch von nur vier Tagen ist noch zu bewältigen, [520] um den
Mörder Bessus endgültig zu besiegen. So viele Flüsse und so viele
Gebirgszüge habt ihr bewältigt, so viele Schluchten und verheeren-
de Sümpfe überwunden, so viele Gebirgspfade und so viele weglose
Einöden zugänglich gemacht. Nicht trennt uns ein Meer mit seinen
von Wellen getriebenen Wogen, sondern alles liegt flach vor uns und
macht unseren Sieg leicht. [525] In greifbare Nähe gerückt ist die
Siegespalme. Nur wenige noch gilt es zu bezwingen. Euch wird ewi-
ger Ruhm beschieden sein, wenn die arglose Nachwelt vernehmen
wird, dass jene Sklaven durch euren Einsatz den Tod ihres Herrn ge-
büßt haben. Es lohnt sich fürwahr die Mühe, dass keiner, [530] den
der allseits bekannte Vorwurf des Vatermordes trifft, ungeschoren
davonkommt. Nur auf diesem Weg, meine Soldaten, könnt ihr
euch euren Ruhm dauerhaft sichern und euch bei den Persern und
den Völkern Asiens Respekt verschaffen.« So sprach er. Da hoben
alle ihre zu jeglichem Kampf entschlossene Hand empor und einmü-
tig gelobten fröhliche Greise und die muntere Jugend, [535] durch
die schlimmsten Gefahren ihrem König zu folgen. Also gab Alexan-
der seinen kampfbegeisterten Männern sogleich den Befehl, die Zel-
te abzubrechen, und stürzte sich in rasendem Lauf auf die Feinde.
Liber VIII
Capitula octavi libri

Hyrcanos domat octavus nec iniqua ferentem


vota pharetratam presentat Amazona regi.
Uruntur gaze Macedum, mirabile factu.
Detegitur Dymi facinus, sequiturque nefandus
in castris gemitus oratio morsque Phylotae. 5
Impius attrahitur monstrum inplacabile Bessus,
suspensusque piat manes patricida paternos.
Arma Scitis infert Macedo. Legatio postquam
nil agit et monitus non flectunt principis iram,
gens invicta prius victori subditur orbis. 10

Octavus liber

Memnonis eterno deplorans funera luctu,


tercia luciferos terras Aurora per omnes
spargebat radios cum fortis et impiger ille
terrarum domitor, in cuncta pericula preceps,
Hyrcanos subiit armato milite fines. 5

Quos ubi perdomuit vitamque cruentus ab ipso


Narbazanes molli Bagoa supplicante recepit,
haut mora, visendi succensa cupidine regis,
gentis Amazoniae venit regina Talestris
castraque virginibus subiit comitata ducentis. 10
Buch VIII
Themenübersicht (1–10)

Das achte Buch zeigt, wie Alexander die Hyrkaner bezwingt und
wie die köchertragende Amazone durchaus angemessene Wünsche
an den König heranträgt. Alexander lässt die Schätze der Griechen
verbrennen, fürwahr eine bewundernswerte Tat. Entdeckt wird das
Verbrechen des Dimus, es folgen [5] im Lager ein unsägliches Ge-
schrei sowie Philotas’ Rede und Tod. Den ruchlosen Bessus, das
unerbittliche Scheusal, schleppt man herbei, am Kreuze hängend
versöhnt der Vatermörder Darius’ Manen. Mit den Skythen be-
ginnt Alexander den Krieg. Da die skythische Gesandtschaft nichts
erreicht und ihre Warnungen Alexanders Eroberungsdrang nicht
besänftigen können, [10] unterliegt der zuvor unbesiegte Stamm
dem Sieger über das Perserreich.

Die Eroberung von Hyrkanien (1–5)

Memnons Tod in ewiger Trauer beklagend, verbreitete Aurora am


Morgen ihre lichterfüllten Strahlen zum dritten Mal über die Welt,
als der tapfere und rastlose Bezwinger der Länder, wie immer in alle
Gefahren sich stürzend, [5] mit bewaffneter Schar das Land der
Hyrkaner bedrängte.

Die Amazonenkönigin Thalestris (6–48)

Sobald er diese bezwungen und der grausame Narbazanes durch die


Bitten des weichlichen Bagoas sein Leben gerettet hatte, tauchte un-
verzüglich die Amazonenkönigin Thalestris auf, begierig den make-
donischen König zu besuchen, [10] und traf, von zweihundert
418 ALEXANDREIS

Omnibus hec populis, dorso quos Caucasus illinc


circuit, hinc rapidi circumdat Phasidos amnis,
iura dabat mulier. Cui primo ut copia facta est
regis, equo rapide descendit, spicula dextra
bina ferens, levo pharetram suspensa lacerto. 15
Vestis Amazonibus non totum corpus obumbrat.
Pectoris a leva nudatur, cetera vestis
occupat et celat celanda, nichil tamen infra
iuncturam genuum descendit mollis amictus.
Leva papilla manet et conservatur adultis, 20
cuius lacte infans sexus muliebris alatur.
Non intacta manet sed aduritur altera lentos
prompcius ut tendant arcus et spicula vibrent.
Perlustrans igitur attento lumine regem,
mirata est fame non respondere Talestris 25
exiguum corpus, taciturnaque versat apud se
principis indomiti virtus ubi tanta lateret.
Barbara simplicitas a maiestate venusti
corporis atque habitu veneratur et estimat omnes,
magnorumque operum nullos putat esse capaces 30
preter eos, conferre quibus natura decorum
dignata est corpus specieque beare venusta.
Sed modico prestat interdum corpore maior
magnipotens animus, transgressaque corporis artus
regnat in obscuris preclara potentia membris. 35
Ergo rogata semel ad quid regina veniret,
anne aliquid vellet a principe poscere magnum,
se venisse refert ut pleno ventre regressa
communem pariat cum tanto principe prolem,
dignam se reputans de qua rex gignere regni 40
BUCH VIII 419

Jungfrauen begleitet, im griechischen Lager ein. Alle Völker, die der


Kaukasus mit seinen Bergrücken auf der einen Seite und der Strom
des reißenden Phasis auf der anderen Seite umschließt, empfingen
von dieser Frau das Gesetz. Sobald sie Zugang zum König bekom-
men hatte, stieg sie, in der Rechten [15] zwei Speere tragend und
über der linken Schulter den Köcher haltend, sogleich vom Pferd.
Nicht bedeckte die Kleidung den ganzen Körper der Amazonen.
An der linken Brust entblößt, bedeckte und verbarg der Rest der
Kleidung, was verborgen sein musste, nicht tiefer hinab jedoch
reichte der weiche Umhang als bis zur Kniebeuge. [20] Wohlerhal-
ten verblieb ihnen als erwachsenen Frauen die linke Brust, um mit
ihrer Milch den weiblichen Nachwuchs zu nähren. Die rechte Brust
indes blieb nicht unversehrt erhalten, sondern wurde ausgebrannt,
um leichter den geschmeidigen Bogen zu spannen und den Speer
besser schleudern zu können. Als Thalestris also den König mit auf-
merksamen Augen musterte, [25] wunderte sie sich darüber, dass
der kleine Körper dem Ruhm dieses Mannes wenig entsprach, und
überlegte im Stillen bei sich, wo sich die doch so außerordentliche
Tugendhaftigkeit des unbezwungenen Herrschers eigentlich ver-
steckt hielt. Barbarische Einfalt verehrt und beurteilt alle Menschen
nach der Größe und dem Aussehen eines schönen Körpers
[30] und hält nur jene Männer großer Taten für fähig, welche die
Natur eines anmutigen Körpers für würdig erachtet hat und mit
einem schönen Aussehen beglücken wollte. Aber stärker als ein
mittelmäßiger Körper erweist sich bisweilen ein zu großen Taten
fähiger Geist, und wenn dieser dann die Glieder des Körpers durch-
strömt, [35] herrscht in einem unauffälligen Körper eine herausra-
gende Kraft. Als die Königin dann also gefragt wurde, aus welchem
Grund sie gekommen sei, ob sie womöglich irgendetwas Wichtiges
vom König einfordern wolle, gab diese zur Antwort, dass sie sich
eingefunden habe, um – dann schwangeren Leibes in die Heimat
zurückgekehrt – einem so bedeutenden König ein gemeinsames
Kind zu gebären, [40] da sie selbst sich für würdig halte, dem König
420 ALEXANDREIS

debeat heredes. Fuerit si femina partu


prodita, maternis pocietur filia regnis.
Si mas exstiterit, patri reddetur alendus.
Querit Alexander sub eone vacare Talestris
miliciae velit. Illa suum custode carere 45
causatur regnum. Tandem pro munere noctem
ter deciesque tulit, et quod querebat adepta
ad solium regni patriasque revertitur urbes.

Interea Bessus sumpto diademate Bactra


moverat et veteri mutato nomine Scitis 50
accitis toto surgebat in arma paratu.
Estuat auditis Macedo, sed inertia luxu
et bello partis tot rebus onusta moveri
agmina vix poterant. Igitur, mirabile factu,
cuncta cremanda ratus quecumque moventibus arma 55
esse solent oneri, primum sua deinde suorum
in medium proferre iubet. Spaciosa iacebat
campi planicies ubi multo sanguine parte
exponuntur opes, Arabum Serumque labores,
plaustraque diversis rerum speciebus onusta. 60
His ubi congestis rapta face Martius heros
ignem supposuit et miscuit omnia flammis,
BUCH VIII 421

einen Thronerben für sein Reich zu bescheren. Sollte es sich bei


dem Kind um ein Mädchen handeln, werde die Tochter die Länder
der Mutter besitzen, sollte ein Junge geboren werden, werde er zur
Erziehung dem Vater übergeben. Alexander stellte ihr die Frage, ob
sie bereit sei, [45] in seinem Heer Kriegsdienst zu leisten. Jene lehnte
dies mit der Begründung ab, dass ihr Reich dann ungeschützt sei.
Schließlich gewährte sie dem makedonischen König dreizehn Näch-
te lang ihre weibliche Gunst, und nachdem ihr Wunsch in Er-
füllung gegangen war, kehrte sie auf den Thron ihres Reichs und in
die heimatlichen Städte zurück.

Die Vernichtung der Kriegsbeute (49–74)

Inzwischen war Bessus, nachdem er die Herrschaft an sich gerissen


hatte, nach Baktra [50] gekommen. Nachdem er seinen alten
Namen abgelegt und die Skythen zusammengerufen hatte, traf er
mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln Vorbereitungen für
den Kampf. Die Nachricht trieb den makedonischen König heftig
um, aber das griechische Heer, träge vom Luxus und mit so um-
fangreicher Kriegsbeute beladen, war kaum noch in der Lage wei-
terzumarschieren. In der Meinung, dass alles – fürwahr eine be-
wundernswerte Tat – [55] verbrannt werden müsse, was die Truppe
am Vormarsch hindere, befahl Alexander aus diesem Grund, zuerst
seine eigenen Schätze, dann die seiner Männer in der Mitte auf
einen großen Haufen zu werfen. Es gab im Lager eine weite und
ebene Fläche, wo die mit viel Blutvergießen erworbenen Reichtümer
vor aller Augen aufgeschichtet wurden, die Früchte ihrer Kriegsan-
strengungen gegen Araber und Serer, [60] ebenso mit mancherlei
prachtvollen Dingen beladene Wagen. Sobald der Kriegsheld die
aufgehäuften Beutestücke mit einer zur Hand genommenen Fackel
angezündet und alles hatte in Flammen aufgehen lassen, brannte
durch die eigene Hand alles, was sie zuvor immer vor dem Feuer
422 ALEXANDREIS

ardebant dominis urentibus omnia que ne


arderent tociens incensis urbibus igni
restiterant; tociens humero subeunte labori, 65
pertulerant avidas multo discrimine flammas.
Non tamen audebant tanto sibi parta labore,
sanguinis effusi precium, deflere quirites
seu vulgus cum regis opes idem ureret ignis.
Hic ubi sedatus dolor est, dixisse feruntur 70
a curis gravibus et sollicitudine magna
consilio regis ereptas esse cohortes
et quos subdiderat regina Pecunia servos,
principis exemplo manumissos esse per ignem.

Iamque legebat iter, iam Bactra subire parabat 75


exhonerata manus cum rex, invictus et hoste
tutus ab externo, pene interfectus ab ipsis
consulibus Macedum. Tamen intestina suorum
declinavit, adhuc Parcis parcentibus, arma
et civile nefas. Erat inter regis amicos 80
precipuus tota maior legione Phylotas,
Parmenione satus, sine quo nil carmine dignum
gessit Alexander. Qui grande nefas Cebalino
indice perlatum certis rationibus ad se
suppressit biduo donec, Metrone cruentum 85
comperiente scelus, proprio cadit ense ligatis
complicibus Dimus. Vincitur et ipse Phylotas.
BUCH VIII 423

geschützt hatten, um es bei so vielen von ihnen in Brand gesteckten


Städten nicht in Flammen aufgehen zu lassen; so oft hatten sie trotz
der schweren Last auf ihren Schultern die gierigen Flammen unter
großen Gefahren [65] ertragen. Nicht jedoch wagten es die Anfüh-
rer oder die einfachen Soldaten, die mit so großer Mühe beschafften
Beutestücke – Lohn für ihr vergossenes Blut – zu beweinen, da das-
selbe Feuer auch die Beutestücke ihres Königs verbrannte. [70] So-
bald ihr Schmerz über diesen Verlust nachgelassen hatte, sollen sie
gesagt haben, dass die Truppe durch des Königs Entscheidung von
schweren Sorgen und großer Unruhe befreit worden sei und der
König durch sein Beispiel jene, die zuvor Königin Pecunia fest im
Griff gehabt hatte, mithilfe des Feuers vor dem Sklavenleben ge-
rettet habe.

Die Verschwörung des Philotas (75–322)

Die Entdeckung der Verschwörung (75–91)

[75] Und schon war der Marschweg festgelegt, schon wollte die nun
leichter bepackte Truppe nach Baktra aufbrechen, als der unbesieg-
te und vor dem auswärtigen Feind geschützte König beinahe von
einigen seiner eigenen Anführer getötet worden wäre. Dennoch
konnte er die Verschwörung unter den eigenen Leuten und den hei-
mischen Frevel abwenden, da ihn die Parzen noch immer verschon-
ten. [80] Unter den Freunden des Königs war der vortreffliche
Philotas, bedeutender als ein ganzer Truppenverband, Parmenions
Sohn, ohne den Alexander nichts vollbracht hätte, was eines Hel-
dengedichts würdig gewesen wäre. Aus guten Gründen verschwieg
dieser den schnöden Verrat, der ihm von Cebalinus angezeigt wor-
den war, [85] zwei Tage lang, bis sich Dimus – Metron hatte in-
zwischen von dem grausamen Verbrechen erfahren – ins eigene
Schwert stürzte, nachdem seine Komplizen in Fesseln gelegt worden
424 ALEXANDREIS

Creditur hoc uno perimi voluisse tyrannum,


quod toto bidui spacio suppresserat huius
indicium sceleris. Inducitur ergo, revinctis 90
a tergo manibus, faciem velatus, in aulam.

Principis edicto populus convenerat armis


cinctus, et horrendo pallebat regia ferro.
Mussat tota cohors tantique ignara tumultus
cur accita foret, arrectis auribus heret 95
donec Alexander, sermone silentia rumpens,
detexit scelus, illatoque cadavere Dimi
subticuit primo, demum “pene” inquit “ademptus
vobis, o cives, Fortunae munere vivo.”
Regis ad hanc vocem clamoso perstrepit aula 100
turbarum fremitu. Cunctis poscentibus huius
auctores sceleris ut proderet ille, “Quid,” inquit
“ille meus, patris ille mei specialis amicus,
Parmenio, tantoque aliis prelatus amore,
tanti flagitii fuit auctor. Et ecce Phylotas, 105
cum patre concipiens tam detestabile terris
et celo facinus, Lecolaum Demetriumque
et Dimum, cuius coram miserabile corpus
aspicitis, socios delegit et in mea ductor
fata subornavit.” Rursus fera contio vocem 110
intonat horrendam. Metron Cebalinus et index
BUCH VIII 425

waren. Auch Philotas selbst wurde festgenommen. Eben deshalb,


weil er für ganze zwei Tage [90] die Anzeige dieses Verbrechens für
sich behalten hatte, glaubte man, er habe selbst die Ermordung des
Königs gewollt. Mit auf den Rücken gefesselten Händen und
verhülltem Gesicht wurde er also vor das Zelt des Königs geführt.

Alexanders Anklagerede gegen Philotas (92–157)

Auf Geheiß des Königs war das Heer in voller Bewaffnung angetre-
ten, der Platz vor dem königlichen Zelt schimmerte fahl vom
schrecklichen Eisen. Murmelnd wartete die ganze Truppe und in
Unkenntnis über den Grund für den gewaltigen Aufruhr spitzte
jeder die Ohren, um in Erfahrung zu bringen, [95] warum er herbei-
gerufen wurde, bis Alexander das Schweigen wortgewaltig durch-
brach und das Verbrechen enthüllte. Nachdem die Leiche des Di-
mus gebracht worden war, schwieg er zuerst, dann hob er folgen-
dermaßen an: »Beinahe, meine Landsleute, wäre ich euch entrissen
worden, nur durch die Gunst des Schicksals bin ich am Leben
geblieben.« [100] Auf die Worte des Königs hin erdröhnte der Ort
der Versammlung vom lauten Getöse der Menge. Als alle den König
aufforderten, den Drahtzieher dieses Verbrechens namentlich zu
benennen, sprach er: »Was soll ich sagen? Mein guter Freund Par-
menion, schon der besondere Freund meines Vaters, mit so großer
Zuneigung allen anderen gegenüber bevorzugt, [105] war der eigent-
liche Drahtzieher dieses niederträchtigen Verbrechens. Und Philo-
tas – da ist er –, der zusammen mit seinem Vater ein der Erde und
dem Himmel derart verabscheuungswürdiges Verbrechen ausheck-
te, suchte sich als Komplizen Lecolaus, Demetrius und Dimus,
dessen bedauernswerte Leiche ihr hier vor euch liegen seht, und stif-
tete als Anführer diese Männer heimlich dazu an, [110] mich zu er-
morden.« Wieder gab die unbarmherzige Versammlung ein schreck-
liches Lärmen von sich. Als Zeugen machten Metron, Cebalinus
426 ALEXANDREIS

Nicomacus, testes producti, criminis ortum


in medium referunt. Subdit Mavortius heros:
“Quo dominum obsequio, quo dilexisse videtur
affectu patrem qui cum hoc scelerum scelus” inquit 115
“presciret, siluit? Quod non tamen esse tegendum
cede liquet Dimi. Facinus Cebalinus acerbum
quod semel accepit, hora non distulit una.
Solus non timuit, solus non credidit istud
Parmenides; sane patria ditione tumescit. 120
Quem quia prefeci Mediae, maiora superbus
sperat et aspirat ad summi culmen honoris.
Forsitan hoc animi dedit in mea fata Phylotae
quod sine cognatis sum nec michi libera proles
nec genitor superest. Erras, funeste Phylota! 125
Tot salvis Macedum ducibus, quorum agmina meme
circumstare vides, Magnum ne dixeris orbum.
Ecce mei fratres, quos intuor, ecce parentes!
Quod celat, quod Dimus eum non nominat inter
participes sociosque doli, minus esse nocentem 130
non facit. Indicium est ducis et terroris in illos
prodere qui possunt. Qui cum de se fateantur,
de duce non audent ducti terrore fateri.
Multaque consuevit de me suspecta Phylotas
et serere et faciles prebere serentibus aures. 135
Se gaudere michi, genitum quem Iupiter a se
affirmabat, ait: miseris tamen esse dolendum,
vivendum quibus est tanti sub principe fastus,
BUCH VIII 427

und Nicomachus, der das Komplott als erster hatte auffliegen las-
sen, öffentlich vor versammelter Menge ihre Aussage über den
Ursprung des Verbrechens. Der Kriegsheld verstärkte deren Aus-
sage folgendermaßen: »Mit welcher Hingabe hat Philotas seinen
König denn wirklich geachtet, mit welcher Zuneigung [115] hat er
seinen Vater denn wirklich geliebt, wenn er geschwiegen hat, ob-
wohl ihm das schlimmste aller Verbrechen schon lange bekannt
war? Dass dieses Verbrechen jedoch nicht hätte verschwiegen wer-
den dürfen, zeigt der Selbstmord des Dimus. Einmal in Kenntnis
des verwerflichen Mordplans, ließ Cebalinus nicht eine Stunde ver-
streichen. Allein Philotas hat keine Furcht verspürt, allein Philotas
hat jenem Mordplan keinen Glauben geschenkt; [120] stolz schwillt
ihm fürwahr die Brust aufgrund der Macht seines Vaters. Weil ich
diesem Medien unterstellt habe, hofft er in seinem Hochmut auf
größeren Einfluss und strebt nach der höchsten Stellung. Vielleicht
hat ihn auch der Umstand dazu bewogen, mich ermorden zu
wollen, dass ich keine Verwandtschaft besitze und keinen freigebo-
renen Sohn [125] und auch mein Vater nicht mehr am Leben ist.
Aber du befindest dich im Irrtum, verruchter Philotas! Bezeichne
Alexander den Großen angesichts so vieler noch lebender griechi-
scher Anführer, deren Truppen, wie du sehen kannst, mich stehend
umgeben, nicht als verwaist. Schau dort, auf die ich gerade blicke,
das sind meine Brüder und Eltern! Der Umstand, dass Dimus ihn
nicht namentlich nennt und nicht [130] als Mitwisser und Kompli-
ze der Freveltat anzeigt, mindert nicht seine Schuld. Eher ist dies ein
Zeichen dafür, dass Philotas als Anführer auf diejenigen Druck
ausübt, die ihn verraten könnten. Obwohl sie gestehen, selbst schul-
dig zu sein, wagen sie es aus Angst nicht, ihren Anführer bloßzustel-
len. Oft säte Philotas großes Misstrauen gegen mich [135] und
schenkte jenen bereitwillig Gehör, die dies ebenfalls häufig taten. Er
sagt, dass er sich für mich freue, über den Jupiter selbst sagte, dass
er mein Vater sei: doch bedauern müsse man die Armen, die unter
einem so hochmütigen König leben müssten, der das Maß und die
428 ALEXANDREIS

excedente modum et stadium mortalis habenae.


Et scivi et silui, neque enim fieri michi viles 140
et contemptibiles aliis volui quibus ante
tot bona contuleram. Sed iam temeraria lingua
vertitur ad gladios, et quod conceperat ore,
parturit ense manus. Quo me conferre licebit?
Cui caput hoc credam? Prefeci pluribus unum, 145
cui vitae et capitis commisi iura, sed unde
presidium petii, venit inprovisa salutis
pernicies. Melius cecidissem Marte, futurus
hostis preda mei pocius quam victima civis.
Nunc Macedo, servatus ab hiis que sola timebat, 150
incidit in lateris socios et in agmina quorum
nec vitare manus nec debuit arma timere.
Ergo, mei cives, vestra ad munimina civis
armaque confugio. Liceat vos esse salutis
auctores. Salvus vobis nolentibus esse 155
nec volo nec possum. Si me salvare velitis,
vindicis officium pretendite vindice pena.”

Hec ubi persuasit ira dictante, relinquit


concilium vinctumque iubet proferre Phylotam
dicturum causam ne iudiciarius ordo 160
dicatur vires tanti victoris in aula
amisisse suas. Manibus stetit ille revinctis
BUCH VIII 429

Möglichkeiten menschlicher Macht überschreite. [140] All das


wusste ich und schwieg trotzdem. Nicht nämlich wollte ich mir
selbst gegenüber wertlos und allen anderen gegenüber, denen ich
zuvor so viele Reichtümer hatte zukommen lassen, verachtenswert
werden. Doch seine unbedachten Äußerungen rufen bereits Ge-
walt hervor, und was er mit dem Mund ausgesprochen hat, möchte
die Hand mit dem Schwert ausführen. Wohin mich zu wenden
wird mir noch möglich sein? [145] Wem noch kann ich mich
anvertrauen? Diesen einen habe ich vielen vorangestellt, ihm habe
ich das Recht über Leben und Tod zugestanden, doch ausgerechnet
von dort, wo ich Schutz suchte, kommt eine unerwartete Bedro-
hung für meine Sicherheit. Lieber wäre ich im Krieg als Beute
meines Feindes gefallen, als danach Opfer eines griechischen Lands-
manns zu werden. [150] Im Krieg gegen die Feinde kaum den
Gefahren entronnen, die ich bisher als einzige ernsthafte Bedro-
hung betrachtet habe, gerät der makedonische König jetzt unter
seinen Vertrauten und mitten unter seinen Soldaten, deren Händen
er nicht ausweichen und deren Waffen er nicht fürchten sollte, in
Lebensgefahr. Deshalb, meine Landsleute, suche ich als Landsmann
bei euch und euren Waffen Zuflucht. Möge es euch vergönnt sein,
mir das Leben zu bewahren. [155] Wenn ihr das aber nicht wollt,
will und kann ich nicht länger am Leben bleiben. Solltet ihr aber
gewillt sein, mein Leben zu retten, dann erfüllt mit rächender Strafe
auch des Rächenden Pflicht.«

Alexander als ungerechter Richter (158–184)

Als er die Versammlung zornerfüllt von seinen Argumenten über-


zeugt hatte, verließ er diese und erteilte den Befehl, Philotas gefes-
selt vorzuführen, [160] um ihm die Gelegenheit zur Rechtfertigung
zu geben, damit man nicht sage, die Rechtsordnung habe am Sitz
des übermächtigen Siegers ihre Gültigkeit verloren. Bleich stand je-
430 ALEXANDREIS

luridus et vili velatus tegmine membra,


lugubri facie, multum mutatus ab illo
qui nuper princeps equitum Magnoque secundus 165
nobilior ducibus et magnificentior ibat,
disponens acies tractansque negocia belli.
Hoc habitu quondam Burkardum Flandria vidit
solventem meritas occiso consule penas,
quem rota penalis tanto pro crimine torsit 170
totaque confregit Ludewico vindice membra.
Nutabat pietate cohors, animosque subibat
Parmenionis amor, tam clari civis amara
condicio, qui cum viduatus prole gemella,
Hectore iam pridem magnoque Nicanore nuper, 175
iura daret Medis: absente parente superstes
tercius et patrium solus solamen iniquo
iudice barbaricis causam dicebat in horis.
Herebant animi procerum, poteratque videri
sevicie cessisse rigor cum pretor Amyntas 180
regius, intuitus mentes pietate remissas,
pluribus obiectis cepit dampnare Phylotam
sopitamque ducum dicendo resuscitat iram
sedatumque facit rursum crudescere vulgus.

Tunc vero attonitus labefacta mente Phylotas 185


avertensque oculos a circumstante caterva
nec caput erexit nec flexit luminis orbem,
seu quia conciderat sceleris mens conscia tanti
BUCH VIII 431

ner mit gefesselten Händen da, am Körper in einen einfachen Um-


hang gehüllt, mit traurigem Gesicht, ganz anders als jener Mann,
[165] der noch vor kurzem als Anführer der Reiterei und als Zweiter
nach Alexander, die Schlachtreihen ordnend und das Kriegshand-
werk betreibend, angesehener und erhabener als die anderen aus der
inneren Führungsriege einherschritt. In diesem Zustand erblickte
Flandern einst den Grafen Burchard, als verdiente Buße ihn traf,
nachdem er den Grafen Karl ermordet hatte. [170] Auf Geheiß
Ludwigs quälte ihn das Folterrad für diese Freveltat und zerbrach
ihm sämtliche Glieder. Mitleidig schwankte die Truppe und die Zu-
neigung zu Parmenion ergriff ihre Herzen ebenso wie das schlimme
Los ihres berühmten Landsmanns, der in diesem Krieg schon zwei
Söhne verloren hatte – [175] Hektor schon vor längerer Zeit und
den großartigen Nicanor erst vor kurzem – und in Medien das
Oberkommando innehatte: In Abwesenheit des Vaters musste sich
nun – so dachten sie – der noch lebende dritte Sohn und einziger
Trost für den Vater im Land der Barbaren von einem ungerechten
Richter den Prozess machen lassen. Die Anführer waren unschlüs-
sig und man hätte den Eindruck gewinnen können, [180] die Stren-
ge des Rechts sei der unvernünftigen Wut gewichen, als des Königs
General Amyntas angesichts der vom Mitleid unsicher gewordenen
Soldaten begann, Philotas mit zahlreichen Vorwürfen anzuklagen,
mit seinen Worten den eingeschlafenen Zorn der Anführer von
neuem weckte und das zurückhaltende Fußvolk wieder zur ur-
sprünglichen Strenge zurückführte.

Philotas’ Verteidigungsrede (185–301)

[185] Da aber wandte Philotas voller Angst erschüttert die Augen


von der umstehenden Menge ab und konnte den Kopf nicht heben,
geschweige denn seinen Blick auf die anwesenden Männer richten,
entweder weil er, sich seiner Schuld für ein derart schlimmes Ver-
432 ALEXANDREIS

seu quia supplicii nutabat pressa timore.


Nec mora, mentis inops super illum corruit a quo 190
ipse tenebatur. At demum mente recepta,
abstergens panno faciem vultumque madentem
fletibus, “Insonti facile est” inquit “reperire
verba; tenere modum misero non est leve, cives.
Cumque sit in portu mens hinc mea, criminis expers 195
huius et in nullo sibi conscia, turbidus illinc
me tumido fluctu fortunae verberet Auster,
inter utrumque situs, utriusque locatus in arto,
non video qua lege queam parere vel huius
temporis articulo vel mundae a crimine menti. 200
Forti fortunae, pereo, si pareo. Mentem
non sinit insontem fortuna potentior esse.
Hec secura manet, in me parat illa securim.
Hinc spes, inde metus. Hinc salvus, naufragus illinc.
Preterea causam ingredior sine iudice, cuius 205
intererat iustae meritum cognoscere causae.
Nec video cur absit, ei dampnare nocentem
cum liceat soli solusque absolvere possit.
Absolvi nequeo nisi causae cognitor ipse
et iudex sedeat quia vix continget ut ipso 210
liberer absente a quo sum presente ligatus.
Sed quamvis infirma hominis defensio vincti
sit qui censorem non instruit, immo videtur
BUCH VIII 433

brechens bewusst, in sich zusammengesunken war oder weil ihn die


Angst vor der Strafe heftig umtrieb. [190] Sogleich sank er ohn-
mächtig zu jenem hinüber, von dem er gestützt wurde. Doch
schließlich wieder bei Bewusstsein, wischte er sich das tränenbe-
netzte Gesicht und die Wangen mit dem Umhang trocken und
sagte: »Für einen Unschuldigen ist es leicht, Worte zu finden,
schwierig jedoch ist es für einen Mann in einer derart bedrängten
Situation, meine Landsleute, in der Rede maßvoll zu argumentie-
ren. [195] Und da ich einerseits ein reines Gewissen habe und mir
ohne Anteil an diesem Verbrechen keiner Schuld bewusst bin, da
mich andererseits aber auch der wilde Sturmwind des Schicksals
mit schwellenden Wogen peitscht, weiß ich nicht, so zwischen beide
Extreme gestellt und von beiden in die Enge getrieben, welchem
Gesetz ich gehorchen soll: entweder der harten Bedrängnis dieses
[200] Moments oder einem vom Verbrechen unbefleckten Gewis-
sen. Wenn ich mich dem machtvollen Schicksal füge, sterbe ich.
Das Schicksal lässt nicht zu, dass ein reines Gewissen mächtiger ist
als dieses. Mein Gewissen bleibt furchtlos, das Schicksal jedoch hat
das Richtbeil für mich schon bereitgestellt. Auf der einen Seite
besteht Hoffnung, auf der anderen Seite regiert die Furcht. Hier
erwartet mich Rettung, dort Verzweiflung. [205] Außerdem kom-
me ich zur Verhandlung in Abwesenheit des Richters, dem immer
etwas daran gelegen war, die Bedeutung eines gerechten Prozesses
anzuerkennen. Ich weiß nicht, warum er nicht anwesend ist, da ihm
allein es doch zusteht, einen Schuldigen zu verurteilen, und er allein
auch einen Unschuldigen freisprechen kann. Einen Freispruch kann
ich nicht erwirken, wenn der Kläger [210] und Richter nicht per-
sönlich anwesend ist, da kaum damit zu rechnen ist, in Abwesen-
heit ausgerechnet desjenigen Mannes, der mich in seinem Beisein in
Fesseln hat legen lassen, freigesprochen zu werden. Aber auch wenn
die Verteidigung eines gefesselten Mannes, der den Richter nicht
aufzuklären vermag und sogar als jemand zu gelten scheint, diesem
den Vorwurf zu machen, ungerecht zu sein, wenig überzeugend
434 ALEXANDREIS

arguere iniusti, tamen hoc, utcumque licebit,


mortis in articulo pro me allegabo meique 215
non ero desertor. Sed quo me crimine dampnet
curia, non video. De conspirantibus unum
vel de complicibus me nemo fuisse fatetur.
De me Nicomachus nichil expressit. Cebalinus
plus quam Nicomachus, a quo scelus audiit istud, 220
noscere non potuit. Me rex tamen arguit huius
criminis auctorem; sed qua ratione videtur
subticuisse caput cedis scelerisque magistrum
quemque sequebatur tanto in discrimine Dimus?
Non verisimile est alieno parcere quemquam 225
qui sibi non parcit. Econtra credere dignum est,
ut se maiori tueatur nomine, Dymum
inter participes prius expressisse Phylotam.
“Scripta ferunt Ytacum, cum furtum Palladis illi
Aiax obiceret raptamque in nocte Minervam, 230
Tytite socio factum excusasse decenter
et velasse suam Dyomedis nomine culpam,
cumque Laerciadae rursus simulasse furorem
obiceret bellique metu quesisse latebras,
"Sit michi" respondit "latebras quesisse pudori, 235
cum ratione pari crimen reputetur Achillem
inter femineas timidum latuisse catervas:
cum tanto commune viro non abnuo crimen.
Sic ubi tractatur communis causa duorum,
interdum maior solet excusare minorem. 240
Dicite, consulti iuris legumque periti,
qua ratione perit, mortem quo iure meretur
BUCH VIII 435

sein mag, werde ich dennoch, soweit dies möglich sein wird, [215] in
der Stunde meines Todes mein Recht vertreten und nicht zum Ver-
räter meiner selbst werden. Indessen verstehe ich nicht, welches
Verbrechen mir das Gericht eigentlich vorwirft. Nicht einer be-
hauptet, ich sei einer der Verschwörer oder Mitwisser des geplanten
Verbrechens gewesen. Nicomachus hat meinen Namen nicht ge-
nannt. Und Cebalinus, [220] der erst von Nicomachus von diesem
Verbrechen erfahren hatte, konnte nicht mehr als sein Bruder wis-
sen. Dennoch beschuldigt mich der König, Drahtzieher dieses
Verbrechens zu sein. Weshalb jedoch hat Dimus nach allem, was
man weiß, den Rädelsführer des Mordes und den Anstifter des
Verbrechens, dem er in einer so gefährlichen Situation angeblich
bereitwillig folgte, verschwiegen? [225] Es ist nicht sehr wahrschein-
lich, dass jemand einen anderen schont, der sich selbst nicht zu
schonen versteht. Ganz im Gegenteil ist es glaubwürdiger, dass Di-
mus von den Komplizen als ersten Philotas genannt hätte, um sich
selbst mit dem größeren Namen zu schützen. So auch berichten die
Schriften, Odysseus habe sich angemessen damit entschuldigt,
[230] als Ajax ihm den Diebstahl und nächtlichen Raub des Palladi-
ums vorwarf, dass er diese Tat gemeinsam mit des Tydeus Sohn
begangen habe, und er somit seine Schuld mit dem Namen des
Diomedes bemäntelte. Als er dem Odysseus überdies den Vorwurf
machte, er habe vorgetäuscht, wahnsinnig geworden zu sein, und
habe sich aus Angst vor dem trojanischen Krieg versteckt, antworte-
te dieser: [235] ›Auch wenn es für mich beschämend sein mag, mich
versteckt zu haben, verschmähe ich nicht die Schmach, die ich mit
einem Helden wie Achilles teile, da ihm auf dieselbe Weise als
Schmach angerechnet wird, dass er sich ängstlich bei Frauen ver-
steckt hat.‹ Sobald man eine Schuld, die Zweien gemeinsam ist, aus
diesem Blickwinkel betrachtet, [240] entschuldigt bisweilen der
Angesehenere den weniger Angesehenen. Sagt, ihr Rechtsgelehrten
und gesetzeskundigen Männer, aufgrund welcher Beweisführung
darf ein Mann sterben, aufgrund welchen Rechts verdient ein Mann
436 ALEXANDREIS

quem nemo accusat, in quem nec fama laborat


nec sua condempnat confessio. Criminis huius
nuncius in primis nisi me Cebalinus adisset, 245
non hodie traherer in causam, nemine nomen
accusante meum. Sed quod suppresseris ad te
delatum facinus quodque his rumoribus aures
clauseris, obicitur. Quidni? Puerine querelis
est adhibenda fides? Minus est preciosus et absque 250
pondere sermo gravis quem non gravis edidit auctor,
rumoresque facit levitas auctoris inanes.
Si Dimo culpae socius vel conscius essem,
non sinerem sane vel me vel criminis huius
participes prodi, biduo cum posset in illo 255
res peragi. Clam sive palam poteram Cebalinum
tollere de medio ne regi nuncius iret
concepti sceleris. Huius moliminis ad me
delato indicio, post detectam michi fraudem
qua periturus eram, ferro comitante penates 260
secretos adii regisque cubilia solus.
Non video cur distulerim scelus. An sine Dimo
ausus non fuerim? Princeps erat ille cruenti
et dux consilii. Sub eo latuisse Phylotam
creditur et Magno regnum affectasse perempto. 265
Quem tamen e vobis corrupi munere, cives?
Quem colui de tot vobis inpensius unum?
Sed scripsisse sibi me rex obiecit, honori
congaudere suo, genitum quem Iupiter a se
BUCH VIII 437

den Tod, den niemand beschuldigt, gegen den noch nicht einmal
gerüchteweise etwas vorliegt und der auch selbst kein Geständnis
ablegt? [245] Wenn Cebalinus mich nicht als ersten aufgesucht
hätte, um mir von dem geplanten Anschlag zu berichten, würde ich
heute nicht vor Gericht gezerrt werden und keiner könnte mich
beschuldigen. Aber man macht mir den Vorwurf, ich hätte die mir
überbrachte Nachricht über den geplanten Anschlag nicht weiterge-
leitet und meine Ohren diesen Gerüchten gegenüber verschlossen.
Warum nicht? Muss man dem Geschwätz eines Knaben [250] Glau-
ben schenken? Weniger wichtig und von geringerer Bedeutung sind
auch schwerwiegende Worte, die von einem nicht ernstzunehmen-
den Ohrenzeugen stammen, und ein wenig vertrauenswürdiger
Ohrenzeuge macht Gerüchte ohnehin unglaubwürdig. Wenn ich
Dimus’ Komplize und sein Mitwisser wäre, würde ich freilich nicht
zulassen, dass ich oder die Mitwisser wegen dieses geplanten Atten-
tats entdeckt würden, [255] da es doch innerhalb von zwei Tagen
hätte ausgeführt werden können. Heimlich oder vor aller Augen
hätte ich Cebalinus beseitigen können, damit er das geplante Ver-
brechen dem König nicht zuträgt. Nachdem mir ein Beweis für
dieses verbrecherische Bemühen überbracht worden war und ich
den Betrug, [260] durch den nun mein Ende herannaht, aufgedeckt
hatte, betrat ich die abgelegene Wohnstatt und den Schlafraum des
Königs ganz allein mit dem Schwert. Ich sehe keinen Grund,
warum ich das Verbrechen in diesem Moment hätte aufschieben
sollen. Oder hätte ich das Verbrechen ohne Dimus allein nicht
gewagt? Jener war der Drahtzieher und Anführer des grausamen
Plans. [265] Man glaubt, ich hätte mich hinter diesem versteckt und
würde versuchen, nach dem Tode des Königs die Herrschaft an
mich zu reißen. Wen von euch, meine Landsleute, habe ich jedoch
mit Geschenken zu bestechen versucht? Wen von so vielen von
euch habe ich als einzigen allzu aufwendig mit Ehrungen bedacht?
Aber der König macht mir den Vorwurf, ihm geschrieben zu ha-
ben, dass ich mich mit ihm, den Jupiter als seinen Sohn anerkannt
438 ALEXANDREIS

voce affirmabat, miseris tamen esse dolendum, 270


vivere quos dederat tanti sub principe fastus.
Vera fides et amor fiducia consiliique
libertas veri sed perniciosa quibusdam,
sanaque qua colui regem correptio, vos me
decepistis! Et hec fateor scripsisse Phylotam: 275
Hec scripsi regi sed non de rege. Sciebam
dignius esse Iovem tacitis agnoscere votis
et superum stirpem quam se iactando movere
contra se invidiam procerumque lacessere bilem.
Quid michi, rex, pro te tociens sudasse, quid armis 280
profuit et tecum et pro te consumpta iuventus
continuusque labor Martis, quid in agmine fratres
amisisse duos? Nec patrem ostendere possum
presentemque malis adhibere nec audeo nomen
implorare patris quia creditur huius et ipse 285
criminis esse reus: neque enim satis esse parentem
orbatum geminis si non orbatur et uno
qui superest natique rogis imponitur insons.
Ergo, care pater, et propter me morieris
et mecum, vitaeque michi tu causa fuisti, 290
qui tibi mortis ero. Rumpo tibi fila, tuumque
filius extinguo senium! Cur ergo creabas
hoc in perniciem corpus tibi? Nonne creatum
perdere debueras? An ut hos ex stirpe maligna
perciperes fructus? Miserabiliorne senectus 295
sit patris natine magis miseranda iuventus,
ambigitur. Vernis et adhuc venientibus annis
BUCH VIII 439

hat, über die Ehrenbezeugung freue, [270] man die Armen jedoch
bedauern müsse, welche der höchste der Götter dazu bestimmt hat,
unter einem so hochmütigen König leben zu müssen. Wahre Treue
und Liebe, Vertrauen und die Freiheit eines aufrichtigen Ratschlags
– manchen schon haben sie geschadet – und auch heilsame Kritik,
mit der ich dem König meine Ehrerbietung gezeigt habe, [275] ihr
alle habt mich getäuscht! Ganz offen bekenne ich, jenes geschrieben
zu haben, doch schrieb ich es an den König und nicht über den
König. Ich war der Meinung, dass es würdevoller gewesen wäre, sich
im stillen Gebet zu Jupiter und seiner göttlichen Abstammung zu
bekennen, als sich damit zu brüsten und so den Neid gegen sich zu
schüren und Verdruss unter seinen Anführern hervorzurufen.
[280] Was hat es mir, o König, geholfen, so oft für dich im Schlacht-
getümmel meinen Schweiß vergossen und mit dir und für dich
meine Jugend geopfert zu haben, was hat mir die ständige Mühsal
des Kriegs gebracht, was hat es mir genützt, im Kampf meine bei-
den Brüder verloren zu haben? Weder kann ich meinen Vater vor-
treten lassen und ihn im Unglück leibhaftig hinzuziehen noch wage
ich es, überhaupt seinen Namen [285] flehend zu nennen, da man
der Meinung ist, auch er sei dieses Verbrechens schuldig: Denn nicht
ist es genug, dass der Vater bereits zwei seiner Söhne beraubt wurde,
wenn er nicht auch des letzten noch lebenden Sohnes beraubt und
unschuldig auf den Scheiterhaufen des Sohnes geschleppt wird.
Deshalb, mein teurer Vater, wirst du wegen mir [290] und zusam-
men mit mir sterben, verholfen hast du mir zum Leben, zum Tode
werde ich dir nun verhelfen. Den Lebensfaden zerschneide ich dir
und der Sohn lässt dein Greisenalter erlöschen. Warum hast du
diesen für dich Verderben bringenden Körper gezeugt? Hättest du
ihn nach der Geburt nicht umbringen sollen? Oder lag es vielleicht
in deiner Absicht, von mir elendem Sproß [295] derartige Früchte
zu erhalten? Unklar ist es tatsächlich, ob das Greisenalter des Vaters
bedauernswerter oder die Jugend des Sohnes bemitleidenswerter ist.
Ich für meinen Teil werde im Frühling meines Daseins und unge-
440 ALEXANDREIS

de medio tollor. Effeto sanguine patri


spiritus eripitur, quem si fortuna morari
vel modicum sineret in obeso corpore, iure 300
poscebat natura suo.”
Sic fatur, et ecce
rex in concilium ferro livente caterva
stipatus rediit. Tunc vero exterritus ille
supplicii mortisque metu rursusque gelato
pectore lapsus humo moribundo languit ore. 305
Ceperat in proceres sententia serpere discors,
ancipitique ducum nutabant murmure partes.
Censebant alii perimendum more vetusto
Parmenidem saxis, alii extorquere volebant
supplicio verum. Quorum rex dicta secutus 310
aptari tormenta iubet. Tortoribus ergo
exertis manibus in conspectuque Phylotae
seviciae misero genus omne parantibus, ille
“Non opus est,” inquit “proceres, graviore flagello.
Confiteor, volui.” Sed cum gravioribus illum 315
afficerent penis, cum iam lacer ossibus ictus
exciperet nudis nec iam superesset in ipso
vulneribus locus, exposuit tandem capitales
insidias seriemque rei facinusque. Sed anceps
coniectura fuit an tanta enormia de se 320
confessus fuerit ut se cruciamine longo
eripiens celeri finiret morte dolores.
BUCH VIII 441

achtet eigentlich noch kommender Jahre mitten aus dem Leben


gerissen. Dem kraftlosen Vater raubt man den Atem, den die Natur
sonst rechtmäßig forderte, wenn ihn das Schicksal noch eine Weile
[300] in seinem abgezehrten Körper verweilen ließe.«

Philotas’ Tod (301–322)

So sprach er, da kehrte der König in die Versammlung zurück, dicht


umringt von seiner Leibgarde, die von bleifarbenen Waffen schim-
merte. Daraufhin dann sank jener nun vollends eingeschüchtert
und aus Angst vor Marter und Tod [305] erneut zu Boden und er-
schlaffte mit bangem Gesicht und erstarrtem Herzen. Unterschied-
liche Ansichten hatten sich unter den Vornehmen breitgemacht,
unschlüssig murmelnd schwankten die verschiedenen Fraktionen
der Anführer. Manche meinten, Philotas müsse nach altem Brauch
gesteinigt werden, andere wollten die Wahrheit [310] durch Folter
erpressen. Letzterem Vorschlag folgend gab der König den Befehl,
die Folterbank herzurichten. Als die Folterknechte nun jede Art von
Grausamkeit für den unglücklichen Philotas vor dessen Augen
vorbereiteten und diesen schon an den Händen anbinden wollten,
sagte jener: »Ihr Vornehmen, nicht braucht es schlimmere Strafen,
[315] ich gestehe, ich habe es gewollt.« Als sie jenen aber mit schlim-
meren Qualen misshandelten, als er zerfetzt bereits mit bloßen
Knochen die Schläge empfing und an ihm kein Platz mehr für neue
Wunden war, gab er schließlich den hinterhältigen Anschlag, den
Ablauf des Verbrechens und den Mordplan preis. Und doch konn-
te man nur Mutmaßungen darüber anstellen, [320] ob er über sich
selbst vielleicht nur deshalb so ungeheuerliche Dinge gestanden hat,
um sich der langen Qual zu entziehen und die Schmerzen durch
einen schnellen Tod zu beenden.
442 ALEXANDREIS

O quam difficili nisu sors provehit actus


lubrica mortales, et quos ascendere fecit,
quam facile evertit! Magno fortuna labore 325
fecerat excelsum media de gente Phylotam.
Princeps militiae factus ductorque cohortis
Parmenione satus, modico post tempore lapsus,
scandere dum querit, fato dampnatus et exul
obruitur saxis. Certat simul omnis in unum 330
volvere saxa manus, cuius manus ante movendi
castra dabat signum. Quam frivola gloria rerum,
quam mundi fugitivus honor, quam nomen inane!
Prelatus qui preesse cupit prodesse recusat.

Sex ubi consumpti post tristia fata Phylotae 335


preteriere dies, propero rapit agmina cursu
in Bessum Macedo. Nec destitit ille laborum
prodigus et patiens fatalis malleus orbis
donec ab eoo monstrum implacabile tractu
attrahitur vinctus presentaturque furenti 340
Bessus Alexandro, penitus velamine dempto,
nudus et inserta collo pedibusque cathena.
Quem rex intuitus flammato lumine, “Cuius,
Besse, fere rabies vel que suggesit Herinis
tam tibi grande nefas ut promeritum bene regem 345
vincire auderes regnique cupidine vitam
BUCH VIII 443

Autorexkurs: Die Bedeutungslosigkeit eitlen Ruhms (323–334)

Ach, wie mühsam lässt das schwankende Schicksal der Menschen


Werke im Aufstieg gedeihen, [325] wie leicht aber richtet es jene
wieder zugrunde, die es zuvor in die Höhe geführt hat! Mit großer
Mühe hatte das Schicksal Philotas aus niederem Volke in große Hö-
hen geführt. Zum Feldherrn und Anführer der Reiter bestellt, wur-
de Parmenions Sohn, während er noch die Erfolgsleiter erklomm,
doch nur kurze Zeit später schon wieder im Fallen begriffen, vom
Schicksal verdammt und heimatlos [330] unter Steinen begraben.
Voller Eifer wälzten alle Hände zugleich Steine über den einen,
dessen Hand kurz zuvor noch das Zeichen für den Aufbruch aus
dem Lager gegeben hatte. Wie bedeutungslos ist der Ruhm, der sich
auf Macht gründet, wie flüchtig ist die Wertschätzung der Welt, wie
nichtig ist ein berühmter Name! Und ein Mann, der zu komman-
dieren begehrt, sträubt sich – ist er einmal erhöht – wieder zu
dienen.

Die Hinrichtung des Bessus (335–357)

[335] Als nach dem traurigen Tod des zu Tode gebrachten Philotas
schon sechs Tage vergangen waren, rückte Alexander mit seinem
Heer in schnellem Lauf erneut gegen Bessus vor. Und nicht ließ
jener Schicksalshammer der Welt, die Strapazen beharrlich ertra-
gend, von seinem Vorhaben ab, bis man das unversöhnliche Scheu-
sal in Fesseln aus östlichen Gefilden [340] anschleppte und Bessus,
sämtlicher Kleider beraubt, völlig entblößt und an Hals und Füßen
angekettet, dem grollenden Alexander auslieferte. Der makedoni-
sche König blickte diesen mit strengem Blick an und sprach folgen-
de Worte: »Das Ungestüm welches Tieres oder welche Erinye hat
dir zu einem [345] so scheußlichen Verbrechen geraten, dass du es
gewagt hast, einen so bedeutenden König wie Darius in Fesseln zu
444 ALEXANDREIS

et patris et domini violento claudere ferro?”


Hec ait, et fratrem Darii, quem corporis inter
custodes pridem terrarum eversor habebat,
accivit vinctumque pedes et brachia Bessum 350
tradidit. Ille, sacram longis cruciatibus illi
eripiens animam, Stigias ad sacra sorores
convocat, et placat fraternos sanguine manes,
affixumque cruci iubet ire ad Tartara Bessum.
Exitus hic Bessi. Qui dum conscendere temptat, 355
labitur; imperium dum querit et imperat, in se
regreditur, domini ponens insignia servus.

At Macedo, dudum sicienti pectore regnum


affectans Scitiae, pardis velocius agmen
ad Tanaim transfert, qui vasto gurgite Bactra 360
a regno Scitiae dirimit, qui terminus idem
Europam mediis Asiamque interfluit undis.
Gens ea Sarmaciae pars est. Si prisca meretur
fama fidem, montes et inhospita lustra ferarum
pro thalamis domibusque colunt, questumque perosi 365
contentique cibis quos dat natura, beatam
ambitione sacra nolunt corrumpere vitam.
BUCH VIII 445

legen und – von Herrschsucht getrieben – das Leben deines Vaters


und Herrn mit dem Schwert zu beenden?« So sprach er und ließ
dann Darius’ Bruder herbeirufen, den der Vernichter der Länder
schon länger zu seinen Leibwächtern zählte, [350] und überließ ihm
den an Händen und Füßen gefesselten Bessus. Indem jener ihm in
langsamer Marter die verbrecherische Seele entriss, rief er die stygi-
schen Schwestern zur Opfergabe, besänftigte die Manen des Bru-
ders mit Blut und gebot dem ans Kreuz geschlagenen Bessus, in den
Tartarus hinabzusteigen. [355] So endete Bessus. Noch im Aufstieg
begriffen, fiel er schon wieder. Während er nach der Herrschaft
strebte und tatsächlich auch herrschte, wurde er auf sich selbst zu-
rückgeworfen und legte als sklavenhafter Charakter die Herrschafts-
insignien wieder ab.

Die Unterwerfung der Skythen (358–495)

Das Volk der Skythen (358–367)

Alexander aber, der schon lange mit dürstendem Herzen die Herr-
schaft über das Reich der Skythen erstrebte, führte sein Herr
schneller als ein Panther [360] zum Tanais, der mit seinen gewalti-
gen Fluten Baktra vom Reich der Skythen schied und zugleich mit
seinem Flusslauf die Grenze zwischen Europa und Asien bildet.
Dieser Volksstamm bewohnte auch einen Teil von Sarmatien. Wenn
man der alten Kunde Glauben schenken darf, hielten sie sich in den
Bergen auf und bedienten sich ungastlicher Höhlen von wilden
Tieren [365] als Behausung und Wohnstatt. Handel und Gewerbe
verachtend, waren sie mit der Nahrung zufrieden, die ihnen die
Natur bot, und nicht wollten sie ihr glückliches Leben durch
unheilvollen Ehrgeiz zerstören.
446 ALEXANDREIS

Dumque super Tanaim metatus castra pararet


navigium Macedo, fluvium quo sole sequenti
transponendus erat Sciticis bellator in horis, 370
ecce peregrino Macedum tentoria cultu
horrida cornipedum bis deni terga prementes
intravere viri, regi mandata ferentes.
Quorum qui reliquis fuerat maturior evo,
intuitus regem, “Cupido si corpus haberes 375
par animo” dixit “mentique inmensa petenti,
vel si quanta cupis, tantum tibi corporis esset,
non tibi sufficeret capiendo maximus orbis,
sed tua mundanas mensura excederet horas:
ortum dextra manus, occasum leva teneret. 380
Nec contentus eo, scrutari et querere votis
omnibus arderes ubi se mirabile lumen
conderet et solis auderes scandere currus
et vaga depulso moderari lumina Phebo.
Sic quoque multa cupis que non capis. Orbe subacto, 385
cum genus humanum superaveris, arma cruentus
arboribus contraque feras et saxa movebis,
montanasque nives scopulisque latentia monstra
non intacta sines, sed et ipsa carentia sensu
cogentur sentire tuos elementa furores. 390
An nescis longo quod provocat ethera ramo
arboreum robur, firma radice superbum,
quodque diu crevit, hora exstirparier una?
BUCH VIII 447

Die Skythen-Rede (368–476)

Alexanders Maßlosigkeit: Das Streben nach Gottgleichheit (368–403)

Und noch während Alexander diesseits des Tanais das Lager ab-
stecken ließ und den Bau von Booten in Angriff nahm, auf denen
[370] der Kriegsheld am nächsten Tag auf die skythische Seite des
Stroms hinübersetzen wollte, da betraten zwanzig Mann, nach
fremder Sitte ohne Sattel auf dem Rücken ihrer Pferde sitzend, das
Lager der Griechen und überbrachten dem König eine Botschaft.
Und der älteste unter ihnen [375] blickte den König an und ließ
folgende Worte verlauten: »Wenn du einen Körper hättest, der
deinem habsüchtigen Charakter und deinem das Unermessliche
fordernden Herzen entspräche, oder wenn dein Körper so groß wä-
re wie deine Gier, würde dir für deinen Eroberungsdrang auch der
riesige Erdkreis nicht genügen, sondern würde deine immense
Größe die Grenzen der Welt sprengen: [380] Deine Rechte würde
den Westen und deine Linke den Osten umgreifen. Und damit
noch immer nicht zufrieden würdest du mit unbedingtem Verlan-
gen begierig erforschen wollen, wo die wunderbare Quelle des
Lichts sich verbirgt, und du würdest es wagen, den Sonnenwagen
zu besteigen und nach Phoebus’ Vertreibung das schweifende Licht
des Tages lenken. [385] Auch so erstrebst du vieles, ohne es jemals
erreichen zu können. Nach der Eroberung des Erdkreises und der
Unterwerfung des ganzen Menschengeschlechts wirst du blutig
besudelt gegen Bäume, wilde Tiere und Felsen Kriege vom Zaun
brechen, wirst du den Schnee in den Bergen und in felsigen Schrün-
den verborgen lebende scheußliche Wesen nicht unversehrt lassen,
sondern sogar die eigentlich empfindungslosen Urstoffe [390] zwin-
gen, dein rasendes Wüten zu verspüren. Weißt du denn nicht, dass
auch ein kraftvoller und auf sein Wurzelwerk stolzer Baum, der mit
seiner ausladenden Krone die himmlischen Götter herausfordert,
nach langem Wachstum eines Tages entwurzelt zu Fall kommt?
448 ALEXANDREIS

Stultus qui fructum cum suspicit arboris, altum


non vult metiri. Videas, sublime cacumen 395
prendere dum tendis, postquam comprenderis illud,
cum ramis ne forte cadas. Avium fuit esca
parvarum quandoque leo, rex ante ferarum.
Ferrum, cuncta domans atque omni durius ere,
consumit rubigo vorax. Sub cardine Phebi 400
tam firmum nichil est cui non metus esse ruinae
possit ab invalido. Quis non, dum navigat orbem,
debeat occursum mortisque timere procellam?

Quid nobis tecum? Non infestavimus armis


attigimusve tuam facturi prelia terram. 405
Quis sis, unde trahas genus, ad quid missus et unde,
ignorare Scitis liceat fugientibus arma
et strepitus hominum nemorumque colentibus antra.
“Libera gens Scitiae nichil appetit ulterius quam
prima parens Natura dedit, de munere cuius 410
nec cuiquam servire potest nec ut imperet optat.
Esse sui iuris hominem, sua seque tueri,
contentum esse suis, alienum nolle, beatum
efficiunt. Igitur si quid quesiveris ultra,
excedunt tua vota modum finemque beati. 415
“Ne tamen ignores mores gentemque Scitarum,
sunt armenta Scitis vomer cifus hasta sagitta.
Utimur hiis rebus et amicos inter et hostes.
BUCH VIII 449

Töricht ist es, nur nach den Früchten des Baumes zu schauen,
[395] nicht aber dessen Höhe zu bemessen. Sieh dich vor, bei deinem
Versuch, die oberste Spitze zu erklimmen, zusammen mit dem
Geäst nach Erreichen des Wipfels nicht wieder abwärts zu stürzen.
Kleiner Vögel Futter ward irgendeinmal der Löwe, zuvor noch
König der Tiere. Und das alles bezwingende Schwert, härter als
jedes Erz, [400] verschlingt der gefräßige Rost. Denn nichts unter
Phoebus’ Himmel ist so stark, dass es nicht seinen durch einen
Schwächeren herbeigeführten Sturz fürchten müsste. Wer muss
nicht, wenn er den Erdkreis durchmisst, die Begegnung mit dem
Tod und dessen Ansturm befürchten?

Alexanders Maßlosigkeit: Die grenzenlose Eroberungswut (404–459)

Was willst du von uns? Nicht haben wir jemals deine Heimat mit
Waffen bedroht [405] oder mit der Absicht betreten, Schlachten zu
schlagen. Möge es den Skythen, die vor Krieg und Menschengetöse
flüchten und in Höhlen der Wälder hausen, erlaubt sein, in
Unkenntnis darüber zu bleiben, wer du überhaupt bist, von wem
du deine Abkunft herleitest und woher und zu welchem Zweck du
geschickt wurdest. Nichts weiter erstrebt der freie Volksstamm der
Skythen als das, was ihm [410] die Natur als erste Mutter geschenkt
hat. Demzufolge können wir weder jemandem dienstbar sein noch
hegen wir den Wunsch, über jemanden zu herrschen. Sein eigener
Herr zu sein, seinen Besitz und sich selbst zu beschützen, zufrieden
zu sein mit dem eigenen Besitz, fremdes Eigentum nicht zu be-
gehren – allein das macht glücklich. Wenn du also etwas darüber
hinaus begehren solltest, [415] überschreiten deine Wünsche das
rechte Maß und die Grenze menschlichen Glücks. Damit dir jedoch
der Volksstamm der Skythen und deren Gebräuche nicht unbe-
kannt bleiben: Viehherden haben wir, verwenden aber auch den
Pflug, wir gebrauchen Trinkkelche und bedienen uns Lanzen und
Pfeilen. Diese Dinge nutzen wir unter Freunden und gegen unsere
450 ALEXANDREIS

Diis vinum in sacris patera libamus. Amicis


parta labore boum largimur farra; sagitta 420
eminus obruimus inimicos, cominus hasta.
Que te terra capit? Quid sufficiet tibi? Lidos
Capadoces Syriam domuisti, Persida Medos
Bactra subegisti; nunc tendis victor ad Indos.
Proch pudor, ad pecudes nostras extendis avaras 425
instabilesque manus. Et cum tibi regna ministrent
omnia divicias, tibi pauper inopsque videris.
Quid tibi diviciis opus est, que semper avaro
esuriem pariunt? Quanto tibi plura parasti,
tanto plura petis et habendis acrius ardes. 430
Sicque famem sacies. Defectum copia nutrit.
Succurritne tibi quam longo tempore Bactra
te teneant? Populum hunc dum subicis, ille rebellat.
Nascitur ex bello victoria. Rursus ab illa
surgunt bella tibi. Tanaim transibis ut hostes 435
invenias Scitiamque tibi, que libera semper,
subicias. Sed nostra tuis velocior alis
paupertas. Totius opes exercitus orbis
et predam vehit iste tuus. Nos pauca trahentes,
unde magis celeres parili levitate fugamus 440
et fugimus. Cum vero Scitas procul esse remotos
a te credideris, inter tua castra videbis,
cumque capi faciles captosve putaveris hostes,
elapsi fugient rapido pernicius Euro.
Nulla Scitas inopes opulentia, nulla cupido 445
allicit. Hoc hominum genus oppida spernit et urbes
et deserta colit, humani nescia cultus.
BUCH VIII 451

Feinde. Den Göttern zum Opfer spenden wir Wein aus dem Kelch.
[420] Freunde beschenken wir reichlich mit Getreide, durch der
Ochsen Arbeit dem Boden abgerungen. Mit dem Pfeil töten wir
unsere Feinde aus großer Entfernung, mit der Lanze im Nahkampf.
Welches Land kann dich in sich aufnehmen? Was wird dir genügen?
Lydien, Kappadokien und Syrien hast du bezwungen, ebenso Per-
sien, Medien und Baktra. Nun willst du dir Indien siegreich noch
unterwerfen. [425] O Schande, nach unseren Herden streckst du
deine gierigen und rastlosen Hände aus. Und wenn dir auch alle be-
siegten Königreiche Reichtümer verschaffen, wirst du dir selbst nur
arm und mittellos vorkommen. Was benötigst du Reichtum, der in
einem gierigen Herzen immer größeren Hunger weckt? Je mehr du
dir verschafft hast, [430] umso mehr willst du haben und ent-
brennst noch heißer vor Gier. Und so fördert die Übersättigung nur
noch die Habsucht und Überfluss nährt das Verlangen. Kommt dir
nicht in den Sinn, wie lange dich Baktra kämpfend schon festhält?
Während du das eine Volk unterwirfst, erhebt sich ein anderes. Aus
dem Krieg erwächst dir ein Sieg. Aus dem Sieg jedoch [435] erwach-
sen dir neue Kriege. Den Tanais wirst du überqueren, um neue
Feinde zu finden und dir das bisher stets freie Skythien zu unterwer-
fen. Aber unsere Armut ist schneller als deine Reiter. Dein Heer
trägt die Reichtümer und die Beute der ganzen Welt mit sich. Wir
dagegen führen nur weniges mit uns, [440] wodurch wir unsere
Feinde – stets schneller als diese – mit der gleichen Leichtigkeit in
die Flucht schlagen, wie wir vor ihnen fliehen. Solltest du glauben,
die Skythen seien weit von dir entfernt, wirst du sie plötzlich mitten
in deinem Lager entdecken, und solltest du glauben, die Feinde
leicht ergreifen oder sogar festsetzen zu können, werden sie dir
schneller als der stürmische Ostwind fliehend entrinnen. [445] Kein
Reichtum und keine Habgier vermögen trotz ihrer Armut die Sky-
then zu locken. Dieser Menschenschlag macht sich nichts aus
großen und kleinen Städten, wohnt in abgeschiedenen Einöden
und will nichts von der menschlichen Zivilisation wissen. Denke
452 ALEXANDREIS

“Proinde manu pressa digitisque tenere recurvis


fortunam memor esto tuam, quia lubrica semper
et levis est numquamque potest invita teneri. 450
Consilium ergo salubre sequens quod temporis offert
gratia presentis, dum prospera luditur a te
alea, dum celeris Fortunae munera nondum
accusas, impone modum felicibus armis
ne rota forte tuos evertat versa labores. 455
Nostri Fortunam pedibus dixere carentem,
pennatamque manus et habentem brachia pingunt.
Ergo manus si forte tibi porrexerit, alas
corripe ne rapidis, quando volet, avolet alis.

Denique, si deus es, mortalibus esse benignus 460


et dare que tua sunt non que sua demere debes.
Si similis nobis homo, te debes reminisci
semper id esse quod es. Stultum est horum meminisse
ex quibus ipse tui es oblitus. Habebis amicos,
bella quibus non intuleris. Firmissimus inter 465
equales interque pares est nodus amoris.
Equales sunt sive pares qui nec sibi cedunt
nec sese excedunt: hii sunt qui nulla cruenti
viribus inter se fecere pericula Martis.
Esse tibi cave ne credas quos vincis amicos. 470
Ante feret stellas tellus Septemque Triones
BUCH VIII 453

daher daran, dein Schicksal mit geschlossener Faust und gekrümm-


ten Fingern mit aller Kraft festzuhalten, da es immer unsicher und
unbeständig ist [450] und im Grunde genommen niemals gegen
seinen Willen festgehalten werden kann. Folge also unserem nütz-
lichen Rat, den dir des Augenblicks Gnade gewährt, solange noch
dir das Schicksal gewogen ist, solange du dich noch nicht über die
Gaben der allzu raschen Fortuna beklagst, erlege deinen bisher
glücklichen Waffentaten ein Maß auf, [455] damit sich das Rad des
Schicksals nicht wendet und all deine Mühen zunichtemacht. In
unserem Volk erzählt man sich, Fortuna fehlten die Füße, und man
stellt sie auf Bildern nicht nur mit Armen und Händen, sondern
auch als geflügeltes Wesen dar. Sollte sie dir also ihre Hände entge-
genstrecken, ergreife ihre Flügel, damit sie nicht eilends davonfliegt,
wenn sie die Lust dazu packt.

Alexanders Maßlosigkeit: Das Streben nach Gottgleichheit (460–476)

[460] Zuletzt, wenn du ein Gott bist, ist es deine Pflicht, den
Sterblichen mit Wohlwollen zu begegnen und ihnen das zu geben,
was dir gehört, und ihnen nicht das zu nehmen, was ihnen gehört.
Wenn du jedoch ein Mensch bist wie wir, musst du dir immer
wieder ins Gedächtnis rufen, dass du an dein menschliches Dasein
gebunden bist. Töricht ist es, immer an das zu denken, wodurch du
dich in deiner Existenz als Mensch aufgibst. Du wirst diejenigen als
Freunde gewinnen, [465] die du nicht mit Krieg überziehst. Das
stärkste Band der Zuneigung besteht zwischen jenen Menschen, die
sich als Gleiche unter Gleichen auf Augenhöhe begegnen. Gleich
oder einander ebenbürtig jedoch sind sie nur dann, wenn nicht
einer dem anderen nachsteht oder einer den anderen übertrifft: das
sind diejenigen, die sich gegenseitig niemals gewaltsam den Gefah-
ren eines blutigen Kriegs ausgesetzt haben. [470] Hüte dich aber
davor, in einem besiegten Feind einen Freund zu sehen. Eher wird
die Erde die Sterne entführen, eher wird der Ozean das Sternbild
454 ALEXANDREIS

abluet Oceanus et siccum piscis amabit


quam servi ad dominum sit veri nexus amoris.
Inter eos nulla est concordia. Nam licet extra
pax pretendatur, odio confligitur intus. 475
Pacem vultus habet, agitant precordia bellum.”

Sic ait, at Macedo nichilominus agmine facto


arma Scitis inferre parat, multoque labore
flumine transmisso, collatis viribus, hostem
deicit et tandem, sed non sine cede suorum, 480
imperio Macedum Scitiam servire coegit,
qualis in Alpinis annoso robore saxis
astra petens abies multosque inflexa per annos
afflatus Euri Zephirum contempsit et Austrum,
quam si forte suo Boree de more fatiget 485
spiritus et toto tundat simul aera nisu,
nil illi rami veteres, nil horrida musco
robora proficiunt sua quominus obruta vento
corruat et prono tellurem vertice pulset:
Sic licet Assirios Medorum et Persidis arma 490
fregissent, tamen ut Boreae glacialibus alis
ocior incubuit et acerbior ille cruentus
fatorum gladius, terrarum publica pestis,
Magnus Alexander, confractis viribus illi
succubuere Scite, superos et fata secuti. 495
BUCH VIII 455

des Großen Wagens wegspülen und eher werden die Fische das
trockene Land bevölkern, als dass zwischen Besiegten und dem Sie-
ger echte Zuneigung besteht. Zwischen ihnen kann niemals Ein-
tracht herrschen. Denn mag man auch nach außen hin [475] Frie-
den vortäuschen, im Inneren findet ein hasserfüllter Kampf statt.
Frieden heuchelt die Miene, das Herz aber sinnt nur auf Krieg.«

Alexanders Sieg über die Skythen (477–495)

So sprach der Skythe. Doch ungeachtet dieser Worte setzte Alexan-


der seine Soldaten in geschlossener Ordnung gegen die Skythen in
Marsch. Nach der mühsamen Überquerung des Tanais schlug er
den Feind in einer gemeinsamen Kraftanstrengung [480] in die
Flucht und konnte die Skythen nicht ohne eigene Verluste schließ-
lich zwingen, sich der Herrschaft der Griechen zu fügen. Wie eine
Tanne, die in den felsigen Alpen mit ihrem uralten Stamm himmel-
wärts strebend über viele Jahre hinweg unbeugsam den Winden des
Eurus, Zephyr und Auster zu trotzen vermochte, [485] deren alte
Zweige und moosbewachsener Stamm ihr jedoch nichts mehr
nützen, wenn sie von ungefähr der Ansturm des Boreas seiner Art
entsprechend ermüdet und zugleich mit voller Wucht trifft, so dass
sie vom Sturmwind niedergedrückt schließlich krachend zu Boden
fällt und mit ihrem sich senkenden Wipfel den Erdboden peitscht:
[490] So sanken die Skythen, auch wenn sie zuvor die Assyrer,
Meder und Perser niedergerungen hatten – den Göttern und dem
Schicksal folgend –, geschlagen zu Boden, als Alexander der Große,
jenes blutige Schicksalsschwert, die allgemeine Geißel der Welt,
[495] schneller und wilder als die eisigen Schwingen des Boreas über
diese hereinbrach.
456 ALEXANDREIS

Hunc ubi vicinas dispersit fama tryumphum


garrula per gentes, extimplo corda pavorem
hauserunt subitum totusque perhorruit orbis,
et matutino que sunt loca subdita Phebo,
quippe Scitas duris infractos antea bellis 500
audierant nuper Macedum dicione subactos,
non animi virtute pares, non viribus equos
credebant aliquos mundo superesse potentes
cum cecidisse Scitas invictos ante viderent,
unde iugum Macedum multi subiere volentes. 505
Non magis arma ducis homines movere suoque
subiecere iugo quam quod clementer agebat
cum victis. Etenim quos Magnus robore vicit,
vinxit amore sibi, nec durus eis nec avarus
exactor captos precibus gratisque remisit, 510
absolvitque reos ut facto ostenderet isto
se non ex irae stimulis cum gente feroci
sed de virtutum motu certamen inisse.
BUCH VIII 457

Die Reaktion der östlichen Völker (496–513)

Als die schwatzhafte Fama Alexanders Sieg bei den benachbarten


Völkern verbreitete, da packte die Herzen augenblicklich eine plötz-
liche Furcht und der ganze Erdkreis entsetzte sich heftig. Auch die
weit gen Osten lebenden Völker – [500] diesen war nämlich zu
Ohren gekommen, die zuvor im Kampf unbesiegten Skythen seien
geschlagen und kürzlich der Herrschaft der Makedonen unterwor-
fen worden – waren nach der gesicherten Erkenntnis, dass die
vormals unbezwungenen Skythen tatsächlich gefallen waren, zu der
festen Überzeugung gelangt, dass nirgendwo auf der Welt ein Volk
existiere, das hinsichtlich seiner Tugendhaftigkeit und militärischen
Schlagkraft den Griechen gleiche. [505] Viele Völker fügten sich aus
diesem Grund freiwillig dem griechischen Machtanspruch. Ebenso
sehr wie Alexanders Waffengewalt die Völker beeindruckte und sie
seiner Herrschaft unterwarf, vermochte dies sein rücksichtsvoller
Umgang mit den Besiegten. Diejenigen nämlich, die Alexander kraft-
voll bezwungen hatte, gewann er durch Herzensgüte für sich, und
als keineswegs hartherziger oder habgieriger [510] Eintreiber von
Tributen entließ er diejenigen Gefangenen, die ihn darum baten,
ohne Lösegeld in die Freiheit, sprach Schuldige frei, um damit zu
zeigen, dass er nicht von Groll getrieben, sondern von der Aussicht
auf tugendhafte Taten geleitet den Kampf mit einem trotzigen Volk
begonnen habe.
Liber IX
Capitula noni libri

In nono Magnus collatis viribus Indos


turbidus aggreditur, sed fata deosque moratur
armipotens Porus. Speciali flenda duorum
mors iuvenum planctu partem turbavit utramque.
Magnus ut hostilem tenuit cum milite ripam, 5
concurrere acies. Sed fracto denique Poro
franguntur reliqui cum toto Oriente tyranni.
Saltus Alexandri mirabilis agmina Graium
seditione movet, mirabiliusque stupendae
propositum mentis nova mittit in arma cohortes. 10

Nonus liber

Ultima terribiles Macedum sensura tumultus


India restabat multo sudore domanda
et gravibus bellis. Quam dum petit ille deorum
emulus in terris, Clytus Ermolaus et eius
doctor, Aristotili preter quem nemo secundus, 5
extremum clausere diem, documenta futuris
certa relinquentes: etenim testatur eorum
finis amicicias regum non esse perhennes.
Buch IX
Themenübersicht (1–10)

Alle Kräfte vereinend, bedrängt im neunten Buch Alexander mit


Wucht die Inder, aber waffenmächtig hält Porus Schicksal und
Götter auf. Der beklagenswerte Tod zweier Krieger veranlasst beide
Parteien zu besonderer Trauer. [5] Als Alexander das Ufer der
Feinde mit seinen Soldaten betritt, ziehen die Schlachtreihen in den
Kampf. Doch nach dem Sieg über Porus beugt sich der ganze Osten
mit allen übrigen Königen. Ein erstaunlicher Sprung Alexanders
von der Mauer der sudrakischen Stadt versetzt das griechische Heer
in helle Aufregung. Ein noch erstaunlicherer [10] Plan dieses be-
wundernswerten Geistes schickt die Truppen in neue Kriege.

Alexanders Indienfeldzug (1–325)

Alexander als Feind seiner Freunde (1–8)

Den schrecklichen Ansturm der Griechen vorab schon verspürend,


verblieb zuletzt Indien mit viel Schweiß und schweren Gefechten
noch zu bezwingen. Während jener Rivale der Götter auf Erden
dorthin eilte, erlitten Clitus, Hermolaus und dessen [5] Lehrer, der
abgesehen von Aristoteles niemandem in irgendetwas nachstand,
den Tod und hinterließen künftigen Zeiten unbestreitbare Lehren:
Ihr Ende bezeugt, dass Freundschaft mit Königen auf Dauer keinen
Bestand hat.
460 ALEXANDREIS

India tota fere nascenti subdita Phebo


Eoum spectat audaci vertice tractum, 10
at qua parte situm Lybies despectat et Austrum,
altius erigitur tellus et in ethera tendit.
Cetera plana iacent ubi magni nominis a se
Caucasus emittit rapidis occursibus amnes.
Sed reliquis, a quo sortita est India nomen, 15
Indus frigidior; australi a parte iugosis
montibus invehitur directo gurgite Ganges,
totius fluviis Orientis maior. Uterque
turbidus extensis Rubrum mare verberat undis;
robora multa, solo radicitus eruta, magna 20
absorbet cum parte soli. Si fortibus undis
molle solum reperit, stagnat, tellusque fluentum
insula facta bibit. Intercipit in mare Ganges
decursurum Achesim. Magnis occurrit uterque
motibus, et rapido inter eos colliditur estu. 25
Preterea, volucri famae si creditur, aurum
illa fluenta vehunt gemmasque et cetera que sunt
ulterius solito nostris preciosa diebus.
Gentibus eois hinc est opulentia, namque
his ubi vulgavit ditatos mercibus Indos 30
fama loquax, toto celeris concurrit ab orbe
natio, ridentes gemmas emptura, Rubentis
purgamenta freti que parvi ponderis in se
sola sibi fecit hominum preciosa libido.
BUCH IX 461

Die Geographie Indiens (9–34)

Indien erstreckt sich in seiner Gesamtheit beinahe bis an den Son-


nenaufgang [10] und breitet sich mit schroffen Gebirgszügen nach
Osten hin aus, dort aber, wo es nach Afrika und in Richtung Süden
blickt, steigt das Land in die Höhe empor und strebt gen Himmel.
Die übrigen Landesteile, in welche der Kaukasus berühmte Ströme
mit reißenden Wogen aus dem Gebirge hervorbrechen lässt, be-
stehen aus Tiefebenen. [15] Der Indus jedoch, der dem Land seinen
Namen verleiht, ist kälter als die übrigen Ströme. Auf der südlichen
Seite strömt in geradem Lauf durch mächtige Berge der Ganges, der
größte Strom im gesamten Osten. Ungestüm peitschen beide Strö-
me mit ihren wasserreichen Fluten den Indischen Ozean; [20] zu-
sammen mit großen Teilen des Erdreichs reißen sie viele entwurzel-
te Bäume mit sich. Wenn sie mit ihren heftigen Wogen auf sandigen
Untergrund treffen, fließen sie ruhiger dahin und der zur Insel ge-
wordene Erdboden nimmt die strömenden Fluten auf. Der Ganges
unterbricht den ungehinderten Lauf des Akesines in das Meer.
Beide Flüsse treffen schäumend zusammen [25] und schlagen ihre
tosenden Wellen gegeneinander. Ferner führen jene Flüsse, schenkt
man der geflügelten Fama Glauben, Gold und Perlen und auch
andere Dinge mit sich, die man in unserer Zeit weit mehr als üblich
für kostbar hält. Von hier stammt der Reichtum der östlichen
Völker. [30] Als nämlich die geschwätzige Fama verbreitete, dass der
Reichtum der Inder auf diese Schätze zurückgeht, strömte die
Menschheit vom ganzen Erdkreis eilends hierher zusammen, um
die glitzernden Perlen zu kaufen – Schwemmgut des Indischen
Ozeans –, das die menschliche Gier, obgleich an sich ohne Wert, zur
Kostbarkeit machte.
462 ALEXANDREIS

Ergo ubi Pelleum prolem Iovis omnia mundi 35


regna flagellantem Macedum virtute suisque
finibus appulsum stupefactis auribus Indi
accepere duces, coeunt formidine mersi
muneribus placare deum traduntque refertas
diviciis urbes. Sed in illis maximus horis 40
solus Alexandro magno conamine Porus
obvius ire parat, veluti cum parte revulsa
Alpini lateris ruit alta per ardua rupes,
obvia confringens sinuoso turbine saxa,
si vero Stigios penetrans radice recessus 45
instar ei montis occurrit saxea moles,
fit fragor, et magnis confligunt motibus ambae.
Audit Alexander armato milite Porum,
Indorum fines regnique extrema tuentem,
armorum speciem toto pretendere nisu, 50
oblatamque sibi Poro mediante tryumphi
affore materiam gaudens rapit agmina cursu
precipiti rapidumque petit festinus Ydaspen.
Cuius disponens acies in margine ripe
ulterioris erat collato robore Porus. 55
Maior et horridior reliquis elephantibus ipsum
belua terribilis inmensa mole vehebat,
humanique modum transgressum corporis auro
arma tegunt regem niveo distincta metallo.
Par animus membris, et quanto corpore cunctos 60
excedit, tanto est reliquis prudentior Indis.
Terruerat Grecos non tantum turbidus hostis
sed vehemens fluvii rate traicienda vorago.
BUCH IX 463

Der Inderkönig Porus (35–70)

[35] Als nun die indischen Fürsten mit Erstaunen vernahmen, dass
der aus Pella stammende Spross Jupiters nach seinen mit griechi-
scher Tapferkeit errungenen Siegen über alle Reiche der Welt nun
an ihren Grenzen angekommen war, kamen sie angsterfüllt zusam-
men, um diesen Gott mit Geschenken zu besänftigen, und überga-
ben ihm ihre [40] mit Reichtümern angefüllten Städte. Aber Porus,
der mächtigste Fürst in diesen Gefilden, traf mit großer Anstren-
gung als einziger Vorkehrungen, Alexander kriegerisch entgegenzu-
treten. Beide Heere prallten in heftiger Bewegung in einer Weise
aufeinander, wie dann ein Krachen entsteht, wenn ein an steiler An-
höhe ragender Felsen, nachdem sich ein Teil einer alpinen Felswand
gelöst hat, mit seinem abwärts gerichteten wirbelnden Sprung im
Weg liegende Steine zerbricht, [45] ihm jedoch, stygische Schluch-
ten erreichend, am Fuße des Bergs der massige Fels gleich einem
gewaltigen Massiv entgegentritt. Als Alexander erfuhr, dass Porus
Indiens Grenzen und den äußersten Teil seines Reichs mit kampf-
bereiten Truppen zu schützen beabsichtigte [50] und er dement-
sprechend die glänzenden Waffen mit großem Aufwand in Stellung
brachte, freute er sich, dass sich ihm durch Porus’ Einsatz die
Gelegenheit für einen großen Sieg bot. In rasendem Lauf führte
Alexander sein Heer mit sich und eilte unverzüglich zum reißenden
Hydaspes. Porus stand mit gebündelten Kräften [55] unmittelbar
am anderen Ufer und ordnete dort seine Schlachtreihen. Größer
und schrecklicher als die übrigen Elefanten trug diesen ein riesiges
und furchterregendes Tier von gewaltiger Masse, mit Gold und Sil-
ber geschmückte Waffen schützten den König, der an Körpergröße
das normale menschliche Maß übertraf. [60] Dem Körper ent-
sprach auch sein Geist, und im selben Maße, wie er alle an Körper-
größe überragte, so war er auch klüger als seine indischen Landsleu-
te. Nicht nur der schreckliche Gegner hatte die Griechen in Schre-
cken versetzt, sondern auch die heftigen Strudel des Stromes, der
464 ALEXANDREIS

Instar erat maris undisoni speciesque profundi


quatuor in latum stadiis diffusus Ydaspes. 65
Alveus altus erat, nusquam vada. Transitus ergo
navigio querendus erat. Sed barbarus hostis
stabat ab opposito, qui tela simillima nimbo
in medium spargens facta statione cupita
de facili poterat naves avertere ripa. 70

Fluminis in medio terrae radicitus herens


insula multa fuit, quo vecta natantibus ulnis
arma ferens ibat ab utraque cohorte iuventus,
expertura suas parvo certamine vires.
Exercebat enim modice discrimine sortis 75
qui gravis instabat summi preludia casus.
In castris Macedum, res non indigna relatu,
corporibus similes animisque fuere Nicanor
et Symachus, quos una dies, ut creditur, una
ediderat terris. Par miliciae labor ambos 80
parque ligabat amor. Belli discrimen inibant
in lucro dampnoque pares. Si saxa rotare
tormento iussi, si claudere menibus hostem,
frangere si muros, iunctis umbonibus ibant;
si frumentatum missi, si cingere fossis 85
obsessos, hostem noctu si fallere, sive
excubiis operam dare, si explorare latentes
vallibus insidias, quecumque pericula bellum
obiecisset eis, dubiae molimina sortis
corporis atque animi socia paritate ferebant. 90
BUCH IX 465

mit dem Schiff überquert werden musste. Vergleichbar dem tiefen


und wellenrauschenden Meer [65] dehnte sich der Hydaspes der
Breite nach vier Stadien weit aus. Tief war sein Flussbett, nirgend-
wo gab es eine Furt. Also musste ein Übergang für die Boote ge-
funden werden. Doch auf der anderen Seite stand der grausame
Feind, [70] der mit Leichtigkeit die Boote vom Ufer fernhalten
konnte, indem er von seinem günstigen Standort aus gleich einem
Sturmwind Geschosse in die Mitte des Stromes schleuderte.

Nicanor und Symmachus (71–147)

Mitten im Fluss gab es eine große Insel, an ihrem Grund mit dem
Festland verwachsen, wohin von beiden Parteien junge Männer in
Waffen schwammen, um ihre Kräfte in leichten Kämpfen zu mes-
sen. [75] Denn in einer weniger bedeutenden Auseinandersetzung
übten sie in einem Vorspiel für die letzte entscheidende Schlacht,
die drohend bevorstand. Im Lager der Griechen – nicht ist es
unwürdig, davon Bericht zu erstatten – befanden sich Nicanor und
Symmachus, gleichermaßen kräftig und tapfer und angeblich am
selben Tage [80] geboren. Beide verband der gleiche Kriegsdienst
und die gleiche diesbezügliche Begeisterung. In gleicher Weise such-
ten sie die Entscheidung im Kampf und unterschieden sich nicht
hinsichtlich Sieg oder Niederlage. Wann immer man ihnen auftrug,
mit der Wurfmaschine Felsen zu schleudern, den Feind mit Mauern
zu umschließen oder die Mauern der Feinde zu durchbrechen,
immer kämpften sie Schild an Schild. [85] Wenn man sie losschick-
te, Proviant zu holen, die belagerten Feinde mit Gräben zu um-
geben, den Feind in der Nacht zu täuschen, sich bei der Wache
Mühe zu geben oder in Tälern versteckte Hinterhalte auszukund-
schaften, welche Gefahren auch immer der Krieg für sie bereithielt,
[90] stets ertrugen sie gemeinsam mit gleichen Körperkräften und
gleichem Mut die Lasten des wankelmütigen Schicksals. Und
466 ALEXANDREIS

Horum igitur virides animos animante iuventa,


nescio quid magno conceptum pectore tandem
effutire parant, primusque “Videsne, Nichanor,”
acer ait Symachus “quam fluminis obice parvi
hereat et nutet invicti gloria regis? 95
Audendum est aliquid quod nos, de margine ripae
hostibus expulsis nostra virtute, coronet
victrici lauro, vel si quid fata minantur,
induat aeterna nudatos corpore fama.”
Vix ea, cum rapto sermone Nicanor “Et ipse 100
hec ego mente diu tacita diis testibus” inquit
“concepi. Sed iam mora nulla feramur in hostes,
contenti levibus armis.” Nec plura locuti,
accincti gladiis rapidos mittuntur in amnes.
Lancea pone natat. Ducibus committitur istis 105
multa manus fluvio. Quos ut vicina recepit
insula, confusis resonat clamoribus ether,
nam predicta frequens loca iam possederat hostis.
Fit gravis occursus Indorum. Grandinis instar
tela volant multasque ferunt per inania mortes. 110
At Symachus, qui forte prior transnaverat, hostes
educto mucrone petit, sociusque Nicanor
multo contendit vestire cadavere terram.
Iamque satis factum gladiis, iam tela rubebant
Marcia, purpureis distincto flumine guttis. 115
Iam poterant iuvenes merita cum laude reverti,
sed nullo contenta modo est temeraria virtus.
Dumque tryumphatis insultant hostibus, ecce
occulte subeunt plures morientibus Indi.
Hic dolor, hic planctus, Graium Macedumque ruinae. 120
BUCH IX 467

während also die Jugend ihren wachen Mut befeuerte, sprachen sie
irgendwelche bisher im Inneren ihres Herzens verborgene Gedan-
ken dann doch aus und als erster sagte voll Eifer Symmachus:
»Siehst du denn nicht, Nicanor, wie der Ruhm unseres unbesieg-
ten Königs durch das Hindernis dieses Flüsschens [95] in Gefahr
gerät? Wagen müssen wir etwas, was uns, sollten wir die Feinde
durch unsere kühne Tat erst einmal vom Uferbereich vertrieben ha-
ben, mit dem Siegerlorbeer bekränzt, oder uns, wenn das Schicksal
unserem Plan die Unterstützung versagen sollte, ewigen Ruhm
verschafft.« [100] Kaum hatte Symmachus gesprochen, als Nicanor
ihn unterbrach: »Auch ich habe dies, ihr Götter seid meine Zeu-
gen, bereits lange im Stillen erwogen. Jetzt aber wollen wir uns ohne
Verzug und mit nur leichten Waffen auf den Feind stürzen.« Ohne
weitere Worte zu wechseln, sprangen sie, nur mit dem Schwert
bewaffnet, in die reißenden Fluten. [105] Den Speer zogen sie hinter
dem Körper her. Dem Beispiel der beiden Freunde folgend, sprang
eine beachtliche Schar von Männern auch in den Fluss. Als sie die
nicht weit entfernt liegende Insel erreichten, hallte der Äther von
bestürzten Schreien wider, denn der zahlreich angetretene Feind
hatte den zuvor erwähnten Ort bereits besetzt. Der Widerstand der
Inder war heftig. Einem Hagelschauer vergleichbar [110] flogen die
Speere und brachten auf ihrem Weg durch die Lüfte vielfachen
Tod. Aber Symmachus, der schwimmend als erster das andere Ufer
erreicht hatte, griff den Feind mit gezücktem Schwert an, auch sein
Gefährte Nicanor war eifrig bestrebt, den Boden mit zahlreichen
Leichen zu bedecken. Und schon genügte den Schwertern das
Werk, schon waren [115] die Kriegswaffen durch Ströme von Blut
rötlich gefärbt und zeigte der Fluss rötliche Flecken, schon hätten
die jungen Männer mit verdientem Ruhm zurückkehren können,
doch leichtsinniger Mut ist mit nichts zufrieden. Während sie noch
die besiegten Feinde verspotteten, da ersetzten die Inder heimlich in
großer Zahl ihre gefallenen Kameraden. [120] Jetzt gab es für Grie-
chen und Makedonen nur noch Schmerz, Wehklagen und Verder-
468 ALEXANDREIS

Sternitur Andromachus, regum generosa propago,


occumbunt clari titulis ter quinque quirites,
quos longo gemuit ereptos Grecia luctu.
Soli restabant animo non sanguine fratres
Graiugenae, vitae socii mortisque futurae. 125
Quos ubi telorum pressit circumfluus ymber,
mentibus attonitis hesere quid esset agendum.
Nam neque tela viris neque lancea, quippe minutim
utraque fracta iacent. Igitur que sola supersunt
arma, movent gladios, raptimque feruntur in hostes. 130
Sed reprimunt gressus teneris herentia membris
spicula, nec Martis opus exercere dabatur
cominus. Ergo viri, quia iam suprema minari
fata vident, orant ut premoriatur uterque
occumbatque prior socioque superstite, cuius 135
cernere funus erat leto crudelius omni.
Obiciunt igitur sibi se certantque vicissim
alterius differre necem. Dum se obicit alter,
dum tamen hic illum dumque istum protegit ille,
ecce gyganteis abies excussa lacertis 140
advolat et mediis conatibus artat utrumque
affigitque solo. Sic indivisa iuventus
cuspide nexa iacet. Sed nec diuturnus in ipsa
morte resedit amor. Amplexus inter et inter
oscula decedit, moriensque sua sociique 145
morte perit duplici. Resoluto corpore tandem
tendit ad Elisios angusto tramite campos.
BUCH IX 469

ben. Andromachus, aus edlem Königsgeschlecht stammend, wurde


niedergestreckt, fünfzehn verdiente Krieger fielen, welche die grie-
chische Heimat mit anhaltender Trauer beklagte. Einzig die beiden
Griechen Symmachus und Nicanor, nicht blutsverwandt zwar,
doch Brüder im Geiste, [125] Gefährten im Leben und im baldigen
Tod, konnten noch standhalten. Als ihnen der Geschosshagel hart
zusetzte, waren sie in ihrer Bestürzung ratlos, welchen Ausweg sie
nehmen könnten. Denn nicht mehr konnten sie ihre Lanzen und
Speere einsetzen, da diese zerbrochen vor ihnen am Boden lagen.
Deshalb [130] griffen sie zu den Schwertern, die ihnen als einzige
Waffen geblieben waren, und bedrängten damit stürmisch die Fein-
de. Aber Pfeile, in den empfindsamen Gliedern steckend, hemmten
ihren Schritt, so dass es ihnen nicht gelang, das Kriegshandwerk
Mann gegen Mann zu betreiben. Also baten die beiden Männer, da
sie ihren Tod schon vor Augen sahen, flehend darum, [135] vor dem
anderen zu sterben und zuerst zu erliegen, solange der Gefährte
noch lebte, dessen Tod mitansehen zu müssen schlimmer als jeder
andere Tod gewesen wäre. Sie warfen sich dem Feind entgegen und
strebten abwechselnd danach, des anderen Tod hinauszuzögern.
Während sich der eine dem Feind entgegenwarf und sie sich bei
alledem gegenseitig Deckung gaben, [140] da flog ein Speer, von
gewaltigen Armen geschleudert, herbei und heftete beide, ihre An-
strengungen beschränkend, fest auf den Boden. So lagen die beiden
unzertrennlichen jungen Männer da, durch einen einzigen Speer
miteinander verbunden. Doch auch in der Stunde ihres Todes blieb
die ein Leben lang währende Freundschaft bestehen. In den Armen
sich liegend und einander [145] küssend starben sie beide und durch
den eigenen Tod und den des Gefährten erlitten beide sterbend
einen zweifachen Tod. Und als ihr Körper schließlich erlöst war,
zogen beide auf schmalem Pfad in das Elysium ein.
470 ALEXANDREIS

Erexit Pori victoria visa suorum


indomitum pectus nec desperare coegit
regum eversorem contemptoremque pericli 150
omnis Alexandrum. Sed qua sibi transitus arte
ad Porum pateat, tacito sub corde volutat.
Attalus unus erat inter tot milia regi
persimilis facie, referens et corpore Magnum.
Vestibus ornari rex imperialibus illum 155
imperat ut ripam teneat speciemque videnti
exhibeat Poro regem cessare nec esse
ultra sollicitum qua transitus arte paretur.
At rex preter aquam, Macedum statione relicta,
longius abscessit, paucis ut falleret hostem 160
contentus sociis. Animosum numina Magni
propositum iuvere ducis, nam fusa per orbem
involvit cecis nubes elementa tenebris,
tantaque subiectas texit caligo cohortes,
alter ut alterius vix nosceret ora loquentis. 165
Hec nubes alii terroris origo fuisset
cum foret ignotum classis ducenda per equor,
sed cum terreret alios obscurior aer,
confisus Macedo, sua tamquam occasio noctem
inducat, primam qua vectabatur in undas 170
imperat expelli subducto remige navim.
Nec mora, certatim fluvio commissa quiritum
turba ducem sequitur, ripaeque appulsa carenti
hostibus arma capit, armataque fertur in hostem.
Porus adhuc aliam, quam ceperat ante tueri, 175
BUCH IX 471

Alexanders List (148–178)

Der vor aller Augen errungene Sieg der Seinen ermutigte den bisher
unbezwungenen Porus, nicht jedoch konnte er Alexander, [150] den
Vernichter der Könige und Verächter jeglicher Gefahr, dazu zwin-
gen, die Hoffnung auf den eigenen Sieg aufzugeben. Ganz im
Gegenteil überlegte dieser in aller Ruhe, wie er mit einer List den
Übergang zu Porus bewerkstelligen könnte. Unter seinen vielen
tausend Männern hatte Attalus als einziger ähnliche Gesichtszüge
wie der makedonische König und glich ihm auch im Wuchs seines
Körpers. [155] Alexander erteilte den Befehl, jenen in königliche
Gewänder zu hüllen, das Ufer zu halten und bei Porus damit den
Anschein zu erwecken, er verweile an Ort und Stelle und denke
nicht weiter beunruhigt darüber nach, wo er mit List einen Über-
gang suche. Nachdem Alexander jedoch die Stellung der Seinen
verlassen hatte, entfernte er sich mit nur wenigen Helfern ein ganzes
Stück weit stromaufwärts, [160] um den Feind zu täuschen. Göttli-
che Mächte standen dem kühnen Plan des großen Feldherrn bei,
denn ein über diese Gegend sich legender Nebel hüllte alles in ein
undurchdringliches Dunkel, eine so große Finsternis verbarg die
Soldaten, [165] dass der eine kaum mehr das Gesicht seines neben
ihm stehenden Gefährten erkennen konnte, wenn dieser ihn an-
sprach. Einem anderen wäre dieser Nebel ein Anlass zur Furcht ge-
wesen, da die Boote durch ein unbekanntes Gewässer geführt wer-
den mussten. Obwohl der finstere Nebel andere doch erschrecken
würde, befahl Alexander im Vertrauen darauf, dass sein Hand-
streich gleichsam das Dunkel [170] hervorrief, das erste der Boote,
auf dem er selbst fuhr, mit ruhenden Rudern den Wellen zu über-
lassen. Wetteifernd ließen die Krieger die Boote zu Wasser und folg-
ten ihrem Anführer unverzüglich. Nachdem sie das von Feinden
verwaiste Ufer erreicht hatten, griffen sie zu den Waffen und stürz-
ten sich so gerüstet auf den Feind. [175] An der ursprünglichen
Stelle beobachtete Porus noch immer das andere Ufer, wo noch
472 ALEXANDREIS

spectabat ripam, qua regis veste choruscans


Attalus astabat cum Poro nuncius affert
rectorem Macedum et rerum discrimen adesse.

Mox ubi lucidior excussit nubila mundus


atque adversa phalanx Phebo percussa refulsit, 180
extimplo visis equitum bis milia bina
hostibus obiecit Porus centumque cruentis
plaustra referta viris, qui tela simillima nimbo
late spargentes gemitus mortemque pluebant.
Sed quia prefusi terram violentia nimbi 185
mollierat nec erat equitabilis area campi,
mole gravi currus molli tellure lutoque
herebant et erat minus utilis usus eorum.
Econtra Macedo solita levitate per Indos
strennuus invehitur. Sequitur levis ala ruentem 190
atque exerta manus. Oritur confusio vocum
et lituum clangor, sed ab illa tympana parte
castigata sonant. Fervent hinc inde ruentes
in mortem cunei: mortalia fila sorores
sufficiunt vix nere duae que tercia rumpit. 195
Primus Alexandro laxis occurrere frenis
ausus, anhelantem stimulis elephanta fatigans,
oppetit Enacides hasta confossus Yulcon.
Perque tot obiectos invictus et impiger hostes
ad Porum molitur iter Mavortius heros. 200
BUCH IX 473

immer Attalus, im königlichen Gewand erstrahlend, dastand, als


Porus die Nachricht erreichte, nah sei der König der Makedonen
und nah sei die Entscheidung im Kampf.

Die Schlacht am Hydaspes (179–325)

Die feindlichen Heere treffen aufeinander (179–258)

Als bald darauf ein aufklarender Himmel die Nebelschwaden ver-


trieb [180] und die vom Sonnenlicht getroffene Schlachtreihe der
Griechen erstrahlte, warf Porus augenblicklich den gerade entdeck-
ten Feinden viertausend Reiter und hundert mit blutdürstigen
Männern besetzte Wagen entgegen. Diese ließen gleich einem Ha-
gelschauer weithin Pfeile regnen und riefen unter den Griechen
Wehklagen und Tod hervor. [185] Aber da der zuvor gefallene Stark-
regen den Boden aufgeweicht hatte und demzufolge das Terrain für
die Pferde wenig geeignet war, blieben die Wagen aufgrund ihres
großen Gewichts im weichen und schlammigen Boden stecken und
waren nur schlecht zu gebrauchen. In der gewohnten Leichtigkeit
hingegen [190] durchbrach Alexander entschlossen die indischen
Reihen. Die leichtbewaffnete Truppe und entschlossene Schar folg-
te ihrem voranstürmenden Anführer. Unter ihnen erhob sich ein
Stimmengewirr, Signalhörner schmetterten, auf der Seite der Inder
ertönten dumpf dröhnende Handpauken. Auf beiden Seiten ent-
brannten die Schlachtreihen und stürzten sich in den Tod: Kaum
waren zwei der Schwestern imstande, [195] die Lebensfäden zu spin-
nen, welche die dritte zerschnitt. Hiulcon, des Enaches Sohn, trieb
unaufhörlich seinen schnaubenden Elefanten mit dem Stachel an
und wagte es dabei als erster, mit großer Geschwindigkeit Alexan-
der anzugreifen, doch vom Speer des makedonischen Königs durch-
bohrt, fand dieser sein Ende. Durch so viele aufgebotene Krieger
bahnte sich der unbesiegte und rastlose Kriegsheld [200] den Weg
474 ALEXANDREIS

Quem velut exstantem subiectis menibus arcem


ut procul inspexit elephantis terga prementem,
“Inveni tandem dignumque stupore meoque
par animo discrimen,” ait “res ecce gerenda est
cum monstris michi cumque viris illustribus una.” 205
Dixit et in levum torquet vestigia cornu,
qua gravior belli Poro pugnante tumultus
aera vexabat. Sequitur bellator Ariston
Polidamasque sui. Ruit ictus Aristonis ense
Rubricus et proprio rubricavit sanguine terram. 210
Polidamanta ratus prolixo evertere conto
Candaceus, volucri preventus harundine Glauci,
oppetit et terrae moriens inmurmurat udae.
Iamque Argiva phalanx medium perruperat agmen
Indorum, et primis labefactis viribus Indae 215
nutabant acies cum Porus in agmen equestre
iussit agi magnis elephantes turribus equos.
Sed tardum hoc animal ac pene immobile gressu
nec volucres cursus equare valebat equorum.
Ergo levis Macedum manus occurrebat et hoste 220
percusso refugis ictus vitabat habenis.
Sed neque barbaricis Martem exercere sagitta
fas erat. Arcus enim gravis atque ingens nisi primo
inprimeretur humo, nisi curvaretur ab imo,
non poterat flecti. Iamque aspernantibus Indis 225
imperium Pori, quod fit titubantibus alis,
cum ducis imperio metus acrior imperat, illi
extenuare aciem, turmas hi iungere rursus,
BUCH IX 475

zu Porus. Als er den Inderkönig in einiger Entfernung erblickte, wie


er auf dem Rücken eines Elefanten gleich einer mit emporwachsen-
den Mauern in die Höhe ragenden Burg saß, sprach er: »Endlich
habe ich einen Entscheidungskampf gefunden, der meine Bewun-
derung verdient und der meinem Mut entspricht. Seht her, Krieg
muss ich führen [205] gegen Bestien und berühmte Männer zu-
gleich.« So sprach er und wandte sich sogleich hinüber zum linken
Flügel, wo ein lauter Kriegslärm die Lüfte schwer erschütterte, da
Porus dort selbst in die Schlacht verwickelt war. Dem makedoni-
schen König folgten kampfbereit Polydamas und auch Ariston.
Vom Schwert des Ariston getroffen, fand [210] Rubricus den Tod
und rötete den Boden mit seinem Blut. Als Candaces den Polyda-
mas mit seiner langen Reiterlanze niederstrecken wollte, starb die-
ser, da ihm der schnelle Pfeil des Glaucus zuvorkam, und murmelte
sterbend seine letzten Worte in die vom eigenen Blut benetzte Erde.
Und schon hatte sich die griechische Phalanx mitten durch das
Heer der Inder gewaltsam ihren Weg gebahnt, [215] schon schwank-
ten die Inder, nachdem ihre ersten Reihen zu Fall gebracht worden
waren, als Porus den Befehl gab, die Elefanten – gewaltigen Tür-
men gleich – in das Reitertreffen zu werfen. Die trägen und lang-
sam voranschreitenden Tiere waren jedoch nicht in der Lage, dem
schnellen Lauf der Pferde etwas entgegenzusetzen. [220] Demzufol-
ge rückte die Schar der Griechen leichtfüßig vor und konnte, war
einer der Feinde erschlagen, in der Rückwärtsbewegung zugleich
auch Treffer am eigenen Körper vermeiden. Auch war es den Bar-
baren verwehrt, die Schlacht mit Pfeil und Bogen zu führen. Der
schwere und riesige Bogen [225] konnte nämlich nicht anders ge-
krümmt werden, als ihn zuvor fest auf den Boden zu stellen und
von unten her zu spannen. Und schon missachteten die Inder die
Anweisungen des Porus, was bei wankenden Truppen normalerwei-
se geschieht, wenn die eigene Angst strenger gebietet als die Befehle
des eigenen Anführers. Die einen gaben Befehl, das Heer auseinan-
derzuziehen, andere, die Schlachtreihen wieder zu schließen, wieder
476 ALEXANDREIS

stare iubent alii, nec erat de milibus unus


in medium qui consuleret. Tamen agmine Porus 230
disposito rursus dispersa recolligit arma
terribilesque oculis elephantes obicit hosti.
Non minimum Grais monstra iniecere pavorem.
Nec solum barritus equos sed et horrifer aures
moverat humanas tremulusque expaverat aer. 235
Et iam terrificus turbaverat agmina laxis
ordinibus stridor et iam mandare parabant
terga fugae modo victores cum Magnus, inertes
corripiens Macedum cuneos, equites Agrianos
et Tracas in monstra iubet convertere gressus. 240
Extimplo redeunt animi, positoque timore
mortis in adverso crevit certamine virtus.
Exhaurit pharetram manus, et fatalis harundo
non sine morte volans homines et monstra cruentat.
Dumque avidi quidam nimis incautique sequuntur, 245
obtriti pedibus elephantum certa relinquunt
defuncti documenta suis ut parcius instent.
Anceps pugna diu Macedum fuit haut sine multa
sanguinis inpensa donec vibrare secures
cepere unanimes solidosque pedes elephantum 250
informesque manus falcato cedere ferro.
Ergo fatigati iaculis tandemque cruentis
pressi vulneribus, uno simul impete vecti
vectoresque ruunt. Tunc vero exercitus amens
terga metu comitante fugit, Porumque serentem 255
missilium nimbos et ab alto culmine monstri
spicula fundentem, medio velut equore solum,
destituere sui.
BUCH IX 477

andere, stehenzubleiben. Nicht gab es unter Tausenden einen,


[230] der für alle gleichzeitig Sorge trug. Dennoch war Porus noch in
der Lage, sein Heer zu ordnen, er sammelte die zersprengten Trup-
penteile von neuem und hetzte die schrecklich anzuschauenden
Elefanten auf den griechischen Feind, dem die riesigen Tiere eine
gewaltige Angst einjagten. Das schreckliche Gebrüll der Elefanten
und das Beben der Lüfte hatten nicht nur die Pferde, sondern auch
die Menschen [235] erschreckt und in Aufruhr versetzt. Und schon
hatte ein Schrecken erregendes Schreien die locker gestaffelten grie-
chischen Reihen in Unordnung gebracht und schon waren sie
dabei, eben noch siegreich, die Flucht zu ergreifen, als Alexander die
verzagten Reihen der Griechen zusammenzog und den agrianischen
und [240] thrakischen Reitern befahl, auf die riesigen Elefanten
loszugehen. Sogleich kehrte ihnen der Mut zurück und im Kampf
selbst wuchs, nachdem sie ihre Furcht vor dem Tod abgelegt hatten,
ihre tapfere Gesinnung. Die Hand leerte den Köcher und der ver-
hängnisvolle Pfeil, der, nicht ohne den Tod zu bringen, herbeiflog,
besudelte Menschen und Elefanten mit Blut. [245] Und während
manche allzu begierig und unvorsichtig nachsetzten, hinterließen
sie, von den Füßen der Elefanten zertreten, mit ihrem Tod den
Gefährten sichere Lehren, mit größerer Vorsicht voranzustürmen.
Unentschieden wütete lange die Schlacht, nicht ohne einen hohen
Blutzoll auch unter den Griechen zu fordern, bis [250] alle gemein-
sam die Streitäxte schwangen und die gedrungenen Füße und un-
schönen Rüssel der Elefanten mit dem sichelförmigen Schwert ab-
trennten. Von Speeren also ermüdet und von blutenden Wunden
schließlich zermürbt, brachen bei einem Angriff Reiter und Tiere
gleichzeitig zusammen. Furchterfüllt ergriff das indische Heer kopf-
los [255] die Flucht und die Seinen ließen ihren Anführer Porus, der
vom hohen Rücken des Untiers hagelgleich Pfeile abschoss und
Speere schleuderte, wie einen allein inmitten des Ozeans treibenden
Schiffbrüchigen im Stich.
478 ALEXANDREIS

Sed cum peteretur ab omni


parte, lacessitus hinc inde novemque fatiscens
vulneribus lacer, inspiciens auriga tyrannum 260
languentem membris stimulis elephanta fatigat
inque fugam vertit. Profugo par fulminis instat
ira Dei Macedo. Sed dum fugat, imbre cruento
telorum confossus obit, genibusque caducis
rege magis posito quam fuso, nobilis ille 265
procubuit Bucifal, qui tanto principe solo
solus erat dignus, cuius de nomine dictam
tempore post parvo Pelleus condidit urbem.
Rex igitur, dum mutat equum, Porumque suosque
tardius insequitur. Sed frater Taxilis, Indis 270
qui preerat, rex ipse quidem sed deditus illi
quem dederat mundo regem Fortuna, monebat
sollicite Porum, fortunae ut cederet utque
tam celebri tam propicio se dederet hosti.
At Porus, quamquam marcescens corpore toto 275
deficeret sanguis, fato tamen auspice notam
excitus ad vocem, “num tu, proch dedecus,” inquit
“Taxilis es frater, qui transfuga meque suumque
prodidit imperium?” dixit, telumque quod unum
nondum corruerat manibus contorsit in hostem. 280
Quod medio iuvenis exceptum pectore tergum
rupit et eterno sopivit lumina sompno.
Seque fuge rursus commisit. Sed fera multis
saucia missilibus penitus defecit eumque
hostibus obiecit peditem Magnoque sequenti. 285
Qui ratus extinctum spoliari nobile corpus
imperat. At morsu spoliantes cepit amaro
BUCH IX 479

Alexander verfolgt Porus (258–290)

Als er jedoch von allen Seiten angegriffen wurde, von hier und von
dort bekämpft und von neun [260] Wunden zerfetzt, langsam
ermüdete, da peinigte der Treiber, der sah, dass die Kräfte seines
Königs nachzulassen begannen, den Elefanten des Porus mit dem
Stachel an und wandte sich zur Flucht. Gleich einem Blitz setzte
Alexander, der Zorn Gottes, dem fliehenden König der Inder nach.
Doch während er diesen verfolgte, starb Alexanders Pferd, vom blu-
tigen Hagel der Pfeile getroffen: Nachdem es mit sinkenden Knien
[265] den König eher abgesetzt als abgeworfen hatte, sank der edle
Bukephalus zu Boden, der allein sich eines so großen Königs wür-
dig erwiesen hatte und den der Pelläer nur kurze Zeit später mit der
Gründung der Stadt Bukephala ehrte. Also verfolgte der makedoni-
sche König mit einem neuen Pferd Porus und die indischen Kämp-
fer [270] etwas weniger ungestüm. Aber Taxiles’ Bruder, der auch
Inder anführte, selbst König zwar, jedoch jenem ergeben, den
Fortuna zum König über die Welt bestimmt hatte, ermahnte Porus
besorgt, sich dem Schicksal endlich zu beugen und einem so be-
rühmten und so gütigen Feind sich zu fügen. Obgleich durch den
Blutverlust am ganzen Körper entkräftet, [275] erwiderte Porus,
dem Tode zwar nah, beim Klang der bekannten Stimme doch hef-
tig erregt: »Bist du nicht des Taxiles Bruder, der – was für eine
Schande – als Überläufer mich und mein Reich verraten hat?« So
sprach er und schleuderte die einzige Lanze, [280] die er noch nicht
geworfen hatte, auf den Feind. Diese durchdrang die Brust des
jungen Mannes, durchschlug auch den Rücken und schloss ihm die
Augen mit ewigem Schlaf. Wieder ergriff Porus die Flucht. Doch
von vielen Geschossen verwundet, brach das riesige Tier schließlich
zusammen [285] und setzte den nun am Boden liegenden Porus den
Feinden und dem nachsetzenden Alexander aus. In der Meinung,
dieser sei tot, gab der makedonische König den Befehl, dem treff-
lichen Leichnam die Rüstung abzunehmen. Doch mit scharfen
480 ALEXANDREIS

attentare elephas rursusque inponere dorso


seminecem donec multis turgentia telis
interius pepulere foras vitalia vitam. 290

At rex ut Porum, quem iam credebat Avernis


inmixtum populis, erecto lumine vidit
attollentem oculos, odium clementia vicit
et “que, Pore, tuos” inquit “dementia sensus
ebria pervertit ut cum tibi nota mearum 295
rerum fama foret, in tanto, perdite, fastu
auderes michi collatis occurrere signis?”
At Porus “Quia queris,” ait “respondeo tanta
libertate tibi, quantam michi, Magne, dedisti
querendo prius. Ante malum certaminis huius 300
nemo erat in terris quem posse resistere quemve
censerem michi Marte parem vel mente, meamque
vim noram et meritum, nondum tua fata tuasque
expertus vires. Sed quam me fortior esses,
eventus belli docuit; tibi vero secundus 305
non minimum felix videor michi. Ne tamen isto
attollas animum casu quia viceris. Ipse
exemplum tibi sum, qui cum fortissimus essem,
fortius inveni. Ne dixeris esse beatum
qui quo crescat habet nisi quo decrescere possit 310
non habeat. Satius est non ascendere quam post
ascensum regredi, melius non crescere quam post
augmentum minui. Gravius torquentur avari
amissi memores quam delectentur habendo.
BUCH IX 481

Zähnen versuchte der Elefant die Männer noch immer anzugreifen


und den halbtoten Porus wieder auf seinen Rücken zu nehmen, bis
seine Organe im Inneren, von zahlreichen Geschossen angeschwol-
len, [290] das Leben nach draußen vertrieben.

Alexander und Porus im Gespräch (291–325)

Doch als Alexander sah, dass Porus, den er schon im Totenreich


wähnte, seinen Blick zu ihm nach oben richtete, besiegte die Milde
den Hass, und er sprach ihn folgendermaßen an: »Welch trunkener
Wahn, o Porus, hat deine Sinne verstört, [295] dass du es, Verblen-
deter, in deinem ach so großen Hochmut gewagt hast, mich in
offener Feldschlacht zum Kampf herauszufordern, obwohl dir der
Ruhm meiner Taten doch bekannt gewesen sein musste?« Doch
Porus erwiderte: »Da du mich fragst, antworte ich dir, Alexander,
mit derselben Unerschrockenheit, [300] mit der du mich zuvor
gefragt hast. Vor der Niederlage in dieser Schlacht gab es nieman-
den auf der Welt, von dem ich annahm, er könne mir ernsthaft
Widerstand leisten oder sei mir an Tapferkeit und Scharfsinn eben-
bürtig. Meiner Kampfkraft und meiner Verdienste war ich mir
bewusst, ohne dein Kriegsglück und deine militärischen Möglich-
keiten bisher erfahren zu haben. Doch wie sehr du mir überlegen
warst, [305] hat der Ausgang des Kriegs gelehrt. Indes beglückt es
mich nicht wenig, nach dir jetzt Zweiter zu sein. Doch rühme dich
nicht allzu sehr dieses Zufalls, der dich hat siegen lassen. Ich selbst
kann dir als Beispiel dienen, der ich ungeachtet meiner ungewöhnli-
chen Tapferkeit einen noch Stärkeren fand. Nicht solltest du jeman-
den glücklich preisen, [310] der etwas hat, was ihn hoch über alle
anderen erhebt, außer ihm bleibt der Absturz erspart. Besser ist es,
gar nicht erst aufzusteigen, als nach dem Aufstieg wieder zu Fall zu
kommen; besser ist es, überhaupt nicht aufzusteigen, als nach dem
Aufstieg wieder herabgesetzt zu werden. Schlimmer werden die
Habgierigen durch die Erinnerung an ihre Verluste gequält, als sie
482 ALEXANDREIS

Proinde tui cursus frenum moderare. Caduca 315


sunt bona fortunae stabilisque ignara favoris.”
Miratur Macedo fortunae turbine regem
infractum victumque animum victoris habentem.
Ergo refrenata mutati pectoris ira,
contra spem procerum curavit prodigus egrum, 320
curatum fovit, confirmatumque benigne
inter amicorum cetus numerumque recepit.
Largius exhibuit dilatavitque prioris
imperii metas, tantoque exceptus honore
est hostis, quantum sibi vix speraret amicus. 325

Postquam magnanimus Macedum victricibus armis


succubuit Porus, succumbere nescius ante,
elatus Macedo, cui vix cedentibus astris
prodiga tam celebrem dederat Fortuna triumphum,
quo mediante sibi fines Orientis apertos 330
censebat, laxis propere festinat habenis
orbis in extremas convertere prelia gentes
oceanique suis populos adiungere castris.
Ocior ergo Nothis Indos extremaque mundi
clymata subiciens, populos regesque pererrat, 335
nec minus humanis portenti mentibus infert
terrorisve minus nocturni fulguris igne,
quem sequitur fragor et fractae collisio nubis
BUCH IX 483

durch ihre Besitztümer erfreut werden. [315] Zügle deshalb deinen


stürmischen Lauf. Vergänglich sind die Güter des Schicksals und
fremd ist diesem beständige Gunst.« Der Makedone bewunderte
den von den Stürmen des Schicksals ungebrochenen König, der
sich ungeachtet seiner Niederlage die Haltung eines Siegers bewahrt
hatte. Mit gezügeltem Zorn und gewandelten Sinns kümmerte sich
Alexander [320] entgegen der Erwartung der griechischen Anführer
voller Hingabe um den Verletzten, unterstützte auch den genesenen
König und nahm ihn, als dieser wieder zu Kräften gekommen war,
wohlwollend in den Kreis und die Gemeinschaft seiner Freunde
auf. Überaus großzügig beschenkte er diesen und vergrößerte ihm
die Grenzen des früheren Reichs. Mit einer so großen Ehrerbietung
wurde [325] der ehemalige Feind aufgenommen, wie kaum ein
Freund dies jemals für sich zu hoffen gewagt hätte.

Alexander als Welteroberer (326–340)

Nachdem der heldenhafte Porus, ohne zuvor schon einmal die Er-
fahrung einer Niederlage gemacht zu haben, den siegreichen Waffen
der Griechen hatte nachgeben müssen, eilte Alexander, dem die
Schicksalsgöttin in ihrer Großzügigkeit mit kaum nachlassender
Unterstützung einen so herrlichen Sieg geschenkt hatte [330] und
durch deren Beistand seines Erachtens nun auch den Weg in den
Orient offenstand, voll Stolz in vollem Galopp geschwind dahin,
um die Kämpfe zu den Stämmen am äußersten Ende des Erdkreises
zu tragen und die Völker am östlichen Ozean seiner Herrschaft zu
unterwerfen. Schneller als der stürmische Südwind unterwarf Ale-
xander die Inder [335] und die äußersten Gegenden der Welt, traf
auf zahlreiche Völker und Könige und erfüllte dabei die Herzen der
Menschen mit nicht weniger Grausen oder auch Schrecken als das
zuckende Feuer eines nächtlichen Blitzes, dem ein Krachen und
Aufprall berstender Wolken und ein weithin hallender Donner fol-
484 ALEXANDREIS

et vaga pallentem motura tonitrua mundum,


mentem preteritae memorem terrentia culpae. 340

Ausa tamen fatis Macedumque resistere famae


gens Sudracarum validae se menibus urbis
inclusit, dubio metuens se credere Marti.
Aptari scalas iubet et cunctantibus illis
primus in oppositum galeato vertice murum 345
evadit Macedo. Sed erat locus artus ut ipsum
vix caperet murus. Sic ergo suprema tenebat
ut magis hereret quam staret. Cum tamen ipse
mille citaretur iaculis ex turribus unus
nec Macedum quisquam gradibus succedere posset, 350
quippe ascendentes removebat ab aggere missus
missilium turbo, tandem discrimina vimque
telorum vicit pudor et confusio frontis.
Nam mora subsidii poterat compellere lenti,
dederet ut sese vel morti forte vel hosti. 355
Festinant igitur certatim ascendere vitae
pignore postposito, sed festinando morantur
auxilium. Nam dum certant evadere, scalas
plus onerant. Quibus effractis ruit omnis ab alto
in se lapsa manus, et desperare coegit 360
spem Macedum Magnus, quem solum stare videbant,
tamquam in deserto fuerit desertus ab illis.
Iamque manus, clipeum qua contorquebat ad ictus,
lassa minabatur defectum, iamque monebant
clamantes socii, celer ut resiliret et ipsum 365
BUCH IX 485

gen, der den zitternden Erdkreis erschüttert [340] und die Men-
schen erschreckt, die einstiger Schuld sich erinnern.

Alexanders Kampf gegen die Sudraker (341–500)

Doch dem Schicksal und dem Ruhm der Griechen zu trotzen,


wagte das Volk der Sudraker und verschanzte sich aus Furcht, auf
einen unberechenbaren Krieg vertrauen zu müssen, hinter den
Mauern ihrer gut befestigten Stadt. Alexander erteilte den Befehl,
Sturmleitern an den Fuß der Mauer zu stellen. Als seine Soldaten
zögerten, diese zu erklimmen, stieg er helmbewehrt [345] als erster
die vor ihm liegende Mauer hinauf. Doch die Stellung war eng, so
dass er auf der Mauer kaum sicheren Halt finden konnte. So hielt er
also mehr hängend als stehend die Mauerkrone besetzt. Als er
jedoch von den Mauertürmen aus als einziger mit tausend Pfeilen
beschossen wurde [350] und ihm kein Grieche hinterhergehen
konnte, da ein vom Mauersims abgegebener Sturm von Geschossen
jeden verjagte, der hinaufsteigen wollte, obsiegten schließlich doch
ihr Schamgefühl und ihre Verlegenheit über die Gefahr und die
Wucht der feindlichen Geschosse. Denn die langsam anlaufende
Hilfe hätte Alexander verleiten können, [355] sich dem Feind oder
dem Tod zu ergeben. Wetteifernd kletterten sie deshalb eilig die
Mauern hinauf, ohne dabei Rücksicht auf ihr eigenes Leben zu
nehmen, doch verzögerten sie durch ihre übermäßige Eile die Hilfe.
Während sie sich nämlich eifrig bemühten, die Mauer zu erklim-
men, belasteten sie die Sturmleitern zu stark. Als diese zerbrachen,
stürzten alle miteinander [360] aus der Höhe hinab in die Tiefe. Da
nötigte Alexander die Griechen, ihre Hoffnung fahren zu lassen, als
sie ihn von den Seinen wie in einer einsamen Einöde zurückgelassen
ganz alleine dastehen sahen. Schon drohte seiner ermatteten Hand,
mit der er seinen Schild auf die Einschläge der Speere ausrichtete,
die endgültige Erschöpfung, schon mahnten ihn [365] seine Kampf-
486 ALEXANDREIS

exciperent, cum rex, ausus mirabile dictu


atque fide maius, saltu se prepete dira
barbarie plenam preceps inmisit in urbem,
indignum reputans divino stemmate, princeps
tot clarus titulis si tergum ostenderet hosti. 370
Queritur an fortis facto an temerarius isto
rex fuerit, sed si contraria iungere curas,
et fortis fuit et facto temerarius isto,
cumque capi vivus posset perimive priusquam
surgeret, excussit Fortuna potenter utrumque 375
et miro miranda modo protexit alumpnum.
Sic etenim Macedo corpus libraverat ut se
exciperet pedibus. Stans ergo lacessere pugnam
cepit, et a tergo ne posset ab hoste noceri,
magnipotens Fortuna duci providerat ante. 380
Stabat enim laurus annoso stipite tamquam
nata ducem Macedum vetulis defendere ramis.
Huius ut applicuit trunco insuperabile corpus,
ultio caelestis clipeum circumtulit, ictus
telorum excipiens, cumque omnes eminus unum 385
impeterent, propius accedere nemo manumve
conferre audebat. Celeberrima fama verendi
nominis, edomitum iam dilatata per orbem,
pro duce pugnabat et desperatio, magnae
virtutis stimulus, et honestae occasio mortis. 390
Sed clipeum iam missilium perfoderat imber,
fractaque plangebat saxorum turbine cassis.
Lubrica succiderant genua et labefacta laboris
pondere continui vix sustentare valebant
BUCH IX 487

gefährten schreiend, er solle sich schnell zurückziehen und in ihre


offenen Arme hinabspringen, als ihr König ein beinahe unaus-
sprechliches und kaum zu glaubendes Wagnis einging und sich – in
der Meinung, es sei seiner göttlichen Abstammung unwürdig,
[370] wenn ein so ruhmreicher Fürst dem Feind den Rücken zu-
kehren würde – in einem beherzten Sprung kopfüber in die von
wilden Barbaren bevölkerte Stadt hinabstürzte. Zwar stellt sich die
Frage, ob der König tapfer oder tollkühn gehandelt hat, doch will
man gegensätzliche Dinge miteinander vereinbaren: Gehandelt hat
er tapfer und tollkühn zugleich. Obwohl er lebend hätte ergriffen
oder getötet werden können, bevor er sich wieder [375] erhoben
hätte, verhinderte die treffliche Fortuna machtvoll beides und
schützte ihren Zögling auf wundersame Weise. Alexander hatte
nämlich seinen Körper so ins Gleichgewicht gebracht, dass er sich
auf den Beinen halten konnte. Im Stehen also begann er den Feind
zum Kampf herauszufordern. Damit ihm der Feind nicht von hin-
ten Schaden zufügen konnte, hatte [380] die mächtige Schicksals-
göttin zuvor schon Vorkehrungen für den Anführer getroffen.
Dort stand nämlich ein Lorbeerbaum mit uraltem Stamm, gleich-
sam dazu geschaffen, den König mit seinen in die Jahre gekomme-
nen Zweigen zu beschützen. Als Alexander seinen unbezwingbaren
Körper an den Stamm dieses Baumes presste, drehte der göttliche
Rächer seinen Schild hin und her, [385] um die anfliegenden
Geschosse abzufangen. Obwohl alle diesen einen aus der Distanz
angriffen, wagte es keiner, näher heranzugehen und den Nahkampf
zu suchen. Der glänzende Ruf seines verehrungswürdigen Namens,
schon überall auf dem besiegten Erdkreis verbreitet, kämpfte
aufseiten des griechischen Anführers, und auch die Verzweiflung,
[390] Ansporn für große Tapferkeit, und ebenso die Gelegenheit
für einen ehrenvollen Tod. Doch die zahlreichen Geschosse hatten
den Schild schon durchschlagen, laut schon dröhnte der von wir-
belnden Steinen zerbrochene Helm. Die wankenden Knie waren zu
Boden gesunken und konnten geschwächt durch die Bürde des
488 ALEXANDREIS

egregium corpus. Quem cum spoliare pararent 395


qui stabant propius, hos sic mucrone recepit
Magnus ut ante ipsum vita fugiente iacerent
exanimes gemini. Quorum sic terruit omnes
Sudracas obitus ut nemo lacessere deinceps
cominus auderet collato robore Magnum. 400
Ille tamen genibus exceptum corpus, ad omnes
ictus expositum, non egre, tygridis instar,
ense tuebatur donec per inane sagitta
accelerans latus in dextrum scelus ausa cucurrit.
Cuius ad introitum crudo de vulnere tantum 405
sanguinis emicuit ut rex tremefactus et amens
non posset telum nutanti evellere dextra.
Exangues igitur afflicti corporis artus
applicuit lauro moribundus et arma remisit.
Accurrens alacer iaculum qui miserat Indus 410
exanimem credens regem spoliare parabat.
Quem simul ac sensit corpus regale prophana
attrectare manu Macedo, “Proch dedecus,” inquit
“mene ducem Macedum nosti?” nec plura locutus,
languentem revocans animum, nudum latus hostis 415
subiecto mucrone fodit, iungitque duobus
exanimem sociis. “Talem decet ire sub umbras,”
inquit Alexander “talis michi nuncius esto.”
Dixit, et ut moriens invictus dimicet ante
quam sacer in tenues erumpat spiritus auras, 420
se clipeo et lauri ramis attollere temptat.
Sed neque sic proferre potens venerabile corpus,
poblite succiduo rursus procumbit et hostem
BUCH IX 489

fortlaufenden Ringens kaum mehr [395] den ruhmvollen Körper


tragen. Als diejenigen, die näher an ihn herangerückt waren, diesen
seiner Rüstung berauben wollten, empfing Alexander sie so mit
dem Schwert, dass zwei ihr Leben verloren und schließlich entseelt
vor ihm dalagen. Der Tod der beiden erschütterte alle Sudraker so
sehr, dass daraufhin keiner mehr das Wagnis einging, [400] Alexan-
der in einem harten Zweikampf herauszufordern. Doch mit dem
Schwert verteidigte jener auf Knien gleich einem Tiger seinen Kör-
per – allen Geschossen ausgesetzt – einigermaßen leicht, bis ein
Pfeil durch die Luft zischte und – das Verbrechen wagend – des
Königs rechte Seite durchbohrte. [405] An der Eintrittsstelle des
Pfeils strömte aus der klaffenden Wunde so viel Blut hervor, dass
der König zitternd und schon der Bewusstlosigkeit nah mit unsi-
cherer Hand den Pfeil nicht mehr herausziehen konnte. Also lehnte
er im Sterben liegend die kraftlosen Glieder seines geschwächten
Körpers an den Lorbeerbaum und ließ seine Waffen fallen. [410] Freu-
dig lief der Inder herbei, der den Pfeil auf Alexander abgefeuert
hatte, und wollte den tot geglaubten König seiner Rüstung be-
rauben. Als Alexander spürte, wie dieser mit ruchloser Hand nach
seinem königlichen Körper griff, herrschte er ihn an: »Kennst du
mich nicht, o Schande, den Anführer der Griechen?« Und ohne
weitere Worte durchbohrte er [415] in einer erneuten Kraftanstren-
gung mit seinem von unten angesetzten Schwert die ungeschützte
Seite des Feindes und gesellte dessen beiden Gefährten den nun
Leblosen hinzu. Alexander sagte: »Ein solcher Schurke verdient es,
zu den Schatten des Todes hinabzufahren und mir als Herold zu
dienen.« So sprach er. Am Schild und an den Ästen des Lorbeer-
baums versuchte er sich aufzurichten, um sterbend und doch im-
mer noch unbesiegt weiterzukämpfen, [420] bevor der heilige Atem
in die zarten Lüfte entweichen würde. Doch nicht mehr in der
Lage, seinen verehrungswürdigen Körper zu diesem Zweck aufzu-
richten, sank er erneut auf die wankenden Knie und reizte ungeach-
tet seiner misslichen Lage dennoch den Feind mit den Worten, ob
490 ALEXANDREIS

provocat, exerto si quis confligere ferro


audeat et tantae spolium sibi tollere palmae. 425
Tandem, alia muri vestigia parte secutus,
Peucestes, pulsis propugnatoribus urbis,
inpiger irrumpens aditus et claustra retecto
ense supervenit. Tremulo quem lumine postquam
intuitus Macedo, iam non solatia vitae 430
sed mortis socium ratus advenisse, tepenti
excepit clipeo corpus. Subit inde Timeus,
deinde Leonnatus et Aristonus. Omnibus isti
Indis oppositi regem defendere totis
viribus ardescunt. Sed dum tot milia soli 435
reicerent, cecidit preclaro Marte Timeus,
Peucestesque, gravi capitis discrimine lesus,
deinde Leonnatus. Armis iacuere remissis
ante pedes regis. Iam spes in Aristone solo
unica restabat. Sed et ipse ruentibus Indis 440
saucius haut poterat tantos inhibere furores.
Interea cecidisse ducem intra menia rumor
pertulit ad Grecos. Alios tam dira timore
fregisset sed eos animavit fama. Pericli
tocius inmemores murum fregere dolabris, 445
molitique aditum spreto discrimine mortis,
per murum fecere viam. Perit obvia passim
turba, cadit sine quo delectu sexus et etas
omnis. Alexandro mortis seu vulneris auctor
creditur, occurrit quicumque. Nec improbus iram 450
deposuit gladius donec superesse ruinae
desiit et dextrae ferienti defuit hostis.
Nec mora, concurrunt avidi curare iacentem
BUCH IX 491

es irgendeiner denn wagen möchte, mit gezücktem Schwert auf ihn


loszugehen [425] und die Beute für einen so großen Sieg für sich zu
gewinnen. Nachdem Peucestes, der an einem anderen Teil der
Mauer Alexanders Spuren gefolgt war, die Beschützer der Stadt
vertrieben hatte, stürmte er die verschlossenen Tore und eilte mit
gezücktem Schwert seinem König schließlich zu Hilfe. [430] Als
Alexander mit flimmernden Augen diesen erblickte, war er der
Meinung, dass dieser nicht als Retter seines Lebens gekommen sei,
sondern als Gefährte im Tod und ließ seinen Körper auf den
unbrauchbar gewordenen Schild sinken. Da kam Timaeus zu Hilfe,
darauf Leonnatus und auch Aristonus, die allen Indern zum Trotz
darauf brannten, ihren König [435] mit aller Macht zu beschützen.
Doch während sie ganz auf sich gestellt so viele Tausend Inder
zurückwarfen, fiel in einem ruhmreichen Gefecht Timaeus. Peuces-
tes wurde in einem schweren und bis zum Äußersten gehenden
Kampf verwundet, dann auch Leonnatus. Ihrer Waffen entblößt,
lagen sie beide zu Füßen ihres Königs am Boden. Jetzt blieb
[440] als einzige Hoffnung Aristonus übrig. Doch beim Angriff der
Inder verwundet, konnte auch er sich schwerlich einer so großen
Wucht erwehren. Inzwischen fand das Gerücht den Weg zu den
Griechen, ihr Anführer sei innerhalb der sudrakischen Mauern ge-
fallen. Andere hätte ängstlich eine so schlimme Nachricht sicherlich
entmutigt, die Griechen jedoch befeuerte sie. [445] Ohne auf die
Gefahren zu achten, zerstörten sie die Mauern mit Brechäxten,
schufen sich auf diese Weise einen Zugang und bahnten sich dann
ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben den Weg durch die Mauern.
Die von überall herbeigeeilten Sudraker fielen, es starb ausnahmslos
jeder, egal welchen Geschlechts oder Alters. [450] Man hielt jeden
Sudraker, der ihnen begegnete, für schuldig an Alexanders Tod oder
an dessen Verwundung. Und nicht legte das unersättliche Schwert
seinen Zorn ab, bis nur noch Ruinen übriggeblieben und der
schlagenden Rechten die Feinde ausgegangen waren. Vom innigen
Wunsch beseelt, den am Boden liegenden Alexander zu retten,
492 ALEXANDREIS

Pelleum proceres referuntque in castra deorum


invidiam. Cuius nudato vulnere magnus 455
inter doctores medice Critobolus artis
comperit hamata percussum cuspide regem
nec posse educi nisi vulnus docta secando
augeret manus et ferrum, multumque cruoris
ne traheret fluxum cuspis retracta, trementi 460
mente verebatur. Igitur cum fata videret,
si male curaret regem, sibi triste minari
inque suum reditura caput mala, pectore stabat
attonito. Quem rex stupidum ut percepit amictu
siccantem lacrimas et captum mente, “Quid” inquit 465
“expectas, cum sit hoc insanabile vulnus,
me saltim lento moriturum absolvere leto?
Cumque michi possis celeri succurrere morte,
an metuis ne sis fati reus huius?” At ille,
sive nichil metuens tandem sibi sive timorem 470
dissimulans, supplex oravit ut ipse tenendum
preberet corpus, teli dum velleret hamos,
quippe levem motum quantumlibet affore vitae
non leve discrimen. “Non est” ait ille “decorum
vinciri regem, Critobole, sive teneri. 475
Libera sit regis et semper salva potestas.”
Sic ait, et quod vix auderes credere, corpus
prebuit inmotum, neque vultus signa doloris
contraxit rugas. Sed abacta cuspide postquam
largior emicuit patefacto vulnere sanguis, 480
suffudit caligo oculos, animumque labantem
suspendit tantus dolor ut moribundus ab ipsis
qui circumstabant vix exciperetur amicis.
BUCH IX 493

liefen alle Anführer unverzüglich zusammen und trugen ihren Kö-


nig, [455] den selbst die Götter beneideten, ins eigene Lager zurück.
Als Alexanders Wunde freigelegt war, musste Critobulus, ein
ausgewiesener Fachmann unter den Gelehrten der Medizin, feststel-
len, dass der König von einem mit Widerhaken versehenen Pfeil
durchbohrt worden war und er diesen nicht herausziehen konnte,
ohne dass seine erfahrene Hand die Wunde mit einem Schnitt des
Messers noch weiter vergrößerte, und er hegte die schlimme Be-
fürchtung, [460] dass die Entfernung des Pfeils eine schwere Blu-
tung nach sich ziehen könnte. Weil ihm bewusst war, dass ihm sein
eigenes Ende entsetzlich drohte, wenn er den König nicht retten
würde und jedes Scheitern allein auf ihn zurückfallen würde, stand
er bestürzt einfach nur da. Als der König den Mann erblickte, wie
er ergriffen mit dem Gewand [465] seine Tränen trocknete, sprach
er ihn an: »Warum wartest du, wenn meine Verwundung unheilbar
ist, mich, der ich im Sterben liege, wenigstens von einem langsamen
Tod zu erlösen? Oder fürchtest du etwa, später zur Rechenschaft
gezogen zu werden, weil du mir zu einem schnellen Tod verholfen
hast?« Jener bat, [470] vielleicht nicht mehr bange oder seine Angst
auch verhehlend, demütig seinen König nun doch, er möge, solange
er die Widerhaken der Pfeilspitze zu entfernen versuche, seinen
Körper festhalten lassen, da nämlich die kleinste Bewegung in
höchstem Maße lebensgefährlich sei. Alexander erwiderte darauf:
»Unehrenhaft ist es, Critobulus, [475] als König gefesselt oder auch
nur gehalten zu werden. Unantastbar und frei soll immer die Macht
eines Königs sein.« So sprach er. Und was man kaum zu glauben
gewagt hätte, er überantwortete dem Arzt seinen still daliegenden
Körper, ohne auch nur ansatzweise das Gesicht schmerzverzerrt zu
verziehen. Als jedoch das Blut nach der Entfernung der Pfeilspitze
in Strömen aus der offenen Wunde [480] hervorquoll, trübte sich
sein Blick ein und ein so gewaltiger Schmerz durchdrang den nie-
dersinkenden König, dass der Todgeweihte von seinen Freunden,
die ihn umstanden, mit Mühe nur aufgefangen werden konnte. Als
494 ALEXANDREIS

Quod simul acceptum est, oritur per castra tumultus


flebilis, et Macedum ruit in lamenta iuventus, 485
confessi se omnes unius vivere vita.
Nec prius obticuit clamor quam pollice docto
restrinxit fluxum medicis Critobolus herbis.
Tunc demum sompno licuit succumbere Magnum.
Tunc demum, accepta regis per castra salute, 490
exule mesticia turmas statuere per omnes
prodiga leticiae positis sollempnia mensis,
qualis in Egeo Borea bachante profundo
exoritur clamor cum fracta puppe magister
volvitur in medios inverso vertice fluctus; 495
fit fragor, et similem timet unusquisque ruinam,
seque omnes anima periisse fatentur in una:
Si tamen incolomem revocare tenacibus uncis
et clavum reparare queunt, sonat aura tumultu
leticiae, et primum vincunt nova gaudia luctum. 500

Postquam Pellei curato vulnere pauci


effluxere dies, cum nondum obducta cicatrix
posse videretur graviorem gignere morbum,
impaciens tamen ille morae parat arma repostis
gentibus Oceani et celeres inferre sarissas, 505
perdomitoque sibi nascentis cardine Phebi,
querere nescitum Nili mortalibus ortum.
Regibus Indorum Poro Abysarique, iuvante
Taxile, navigii mandatur cura parandi.
Rumor hic attonitas implevit militis aures, 510
BUCH IX 495

dies im Lager bekannt wurde, entstand dort ein [485] beweinens-


werter Tumult, unter den griechischen Soldaten setzte Wehklagen
ein und sie bekannten offen, dass sie alle nur durch des einen Leben
gelebt hätten. Und nicht eher verstummte das Geschrei, als bis
Critobulus mit kundigem Daumen den Blutfluss mit Hilfe von
Heilkräutern hemmen konnte. Jetzt erst fand Alexander in den
Schlaf. [490] Jetzt erst, als die Rettung des Königs im Lager be-
kannt wurde und die Traurigkeit wie weggeblasen war, wurden in
allen Heeresabteilungen an freudvoll hergerichteten Tischen ausgie-
bige Feiern veranstaltet. Ein ebensolcher Lärm bricht los, wenn im
ägäischen Meer beim Wüten des Boreas [495] der Kapitän vom be-
schädigten Heck kopfüber in die Fluten gespült wird, beim Kra-
chen der Planken ein jeder den gleichen Untergang befürchtet,
davon überzeugt, alle gemeinsam mit dem Kapitän nun sterben zu
müssen. Doch wenn sie ihn dann mit festen Schiffshaken lebend
aus dem Wasser ziehen und das Ruder instand setzen können, hallt
die Luft wider [500] von ihrem Jubelgeschrei und die neu entstan-
dene Freude siegt über die frühere Trauer.

Craterus mahnt Alexander (501–544)

Obwohl Alexanders Wunde kaum richtig verheilt war und die noch
nicht mit Haut überzogene Narbe eine überaus gefährliche Krank-
heit hätte hervorrufen können, traf jener nach wenigen Tagen, jeder
weiteren Verzögerung müde, dennoch Vorbereitungen, entlegene
[505] Völker am Rande des Ozeans zu unterwerfen und die schnel-
len Lanzen gegen diese zu richten und nach dem Sieg über diese
östlichen Reiche die den Menschen noch unbekannten Nilquellen
zu suchen. Die Inderkönige Porus und Abisares beauftragte er des-
halb, mit Taxiles’ Unterstützung für die Bereitstellung von Schiffen
zu sorgen. [510] Diese Nachricht drang auch an die Ohren des er-
staunten Heeres, und weil die Anführer sich Sorgen um die Ge-
496 ALEXANDREIS

cumque fatigati regisque suaeque saluti


consulerent proceres, cuncti velut agmine facto
convenere duces, quorum Craterus, ad ipsum
vota precesque ferens, “Tua, regum maxime, virtus”
inquit “et esuries mentis, cui maximus iste 515
non satis est orbis, quem proponunt sibi finem
vel quem sunt habitura modum? Tua si tibi vilis
ut nunc est vel cara minus, preciosa tuorum
sit saltim tibi, Magne, salus. Gens omnis in istos
conspiret iugulos, lateat sub classibus equor, 520
cuncta venenatos acuant animalia dentes,
quelibet occurrat ignoto belua vultu,
omnibus obice nos terrae pelagique periclis
dummodo te serves, dum tu tibi parcere cures.
Ad nova tendentes semper discrimina quis nos 525
invictos tociens poterit prestare? Secunde
res ita se prebent ut nulli fas sit in uno
semper stare gradu. Sed quis spondere deorum
audeat hoc, Macedum diuturnum te fore sydus?
Quis te precipitem per mundi lubrica possit 530
incolomem servare diu? Cur te manifestis
casibus obicis ut capias ignobile castrum?
Cum labor et merces equa sibi lance coherent
et causis paribus respondent premia dampnis,
dulcior esse solet fructus maiorque secundis 535
rebus et adversis maius solamen haberi.
Esto tibi deinceps et nobis partior in te.
Obice nos cuivis portento. Ignobile bellum,
degeneres pugnas, obscura pericula vita.
Gloria quantalibet vili sordescit in hoste. 540
BUCH IX 497

sundheit ihres angeschlagenen Königs und auch um ihr eigenes Wohl


machten, kamen sie alle geschlossen zusammen, deren Wünsche
und Bitten Craterus an Alexander herantrug: »Mächtigster aller
Gebieter, dem selbst der riesige Erdkreis nicht genügt, welches Ziel
erstreben dein Mut [515] und deines Geistes Begierde oder welches
Maß werden sie zukünftig einhalten? Wenn dir dein eigenes Wohl-
ergehen – wie jetzt gerade – wertlos oder zumindest weniger wert
ist, so möge dir, Alexander, wenigstens das Wohlergehen deiner
eigenen Leute am Herzen liegen. Mögen uns alle Völker zusammen
[520] die Kehle zudrücken wollen, mag das von feindlichen Schiffen
bedeckte Meer kaum noch zu erkennen sein, mögen alle wilden
Tiere ihre Giftzähne schärfen, mag jedwedes Untier mit einem uns
unbekannten Aussehen auf uns losgehen, setze uns allen Gefahren
zu Land und zu Wasser aus, solange nur du auf dich Rücksicht
nimmst und dich zu schonen verstehst. [525] Wer wird für uns, die
wir so oft unbesiegt geblieben sind, dann eintreten, wenn wir zu
immer neuen Kämpfen eilen? Das Glück verhält sich so, dass es
keinem erlaubt ist, beständig auf einer Stufe stehen zu bleiben.
Doch wer von den himmlischen Göttern dürfte es zu versprechen
wagen, dass du für immer die Zierde der Griechen sein wirst?
[530] Wer könnte dich, durch die Unsicherheiten der Welt ins
Verderben stürzend, lange unversehrt bewahren? Warum setzt du
dich dem sicheren Tod aus, um eine unbedeutende Burg zu er-
obern? Erst wenn Aufwand und Ertrag in einem angemessenen
Verhältnis zueinander stehen und der Lohn gleichermaßen dem
erlittenen Schaden entspricht, [535] ist die Befriedigung im Falle
eines Erfolgs gewöhnlich angenehmer und größer und spendet
umgekehrt im Falle des Scheiterns auch größeren Trost. Gehe fort-
an für dich und für uns schonender mit dir um. Jedwedem Un-
geheuer setze uns aus, doch vermeide ruhmlosen Krieg, unbedeu-
tende Schlachten und glanzlose Gefahren. Der eigene Ruhm wird,
wie groß er auch immer sein mag, wertlos im Kampf mit unbedeu-
tenden Feinden. [540] Überaus unwürdig ist es, den eigenen Ruhm
498 ALEXANDREIS

Indignum satis est ut consumatur in illis


gloria vel virtus ubi multo parta labore
ostendi nequeat.” Eadem Tholomeus et omnis
concio cum lacrimis confusa voce perorat.

Non fuit Eacidae pietas ingrata suorum, 545


atque ita “Non minimum vobis obnoxius” inquit
“aut ingratus ero, non solum quod scio nostram
vos hodie, proceres, vestrae preferre saluti
sed quod ab introitu regni vel origine belli
erga me nullum pietatis opus vel amoris 550
pignus omisistis. Verum non est michi prorsus
mens ea que vobis, neque enim desistere ceptis
aut bellum finire volo. Non me capit etas,
sed neque me spacio etatis vel legibus evi
metior. Excedit evi mea gloria metas. 555
Hec sola est, vestrum metiri qua volo regem.
Degeneres animi pectusque ignobile summum
credunt esse bonum diuturna vivere vita.
Sed mundi rex unus ego, qui mille tryumphos
non annos vitae numero, si munera recte 560
computo Fortunae vel si bene clara retractem
gesta, diu vixi. Tracas Asiamque subegi.
Proximus est mundi michi finis, et absque deorum
ut loquar invidia, nimis est angustus et orbis,
et terrae tractus domino non sufficit uni. 565
Quem tamen egressus postquam hunc subiecero mundum,
en alium vobis aperire sequentibus orbem
BUCH IX 499

und die eigene Tapferkeit im Kampf mit jenen zu vergeuden, wo


keine mühevoll errungene Beute gezeigt werden kann.« Entspre-
chend äußerte sich Ptolemäus, und die ganze Versammlung pflich-
tete Craterus unter Tränen und schluchzend bei.

Alexanders Antwort an Craterus (545–580)

[545] Durchaus willkommen war Alexander die Treue der Seinen,


und er antwortete ihnen folgendermaßen: »Ich werde euch immer
verpflichtet und dankbar sein, nicht nur, weil ich heute gesehen
habe, dass ihr mein Leben, ihr Vornehmen, wichtiger nehmt als
euer eigenes Wohlergehen, sondern weil ihr seit meiner Machtüber-
nahme und seit Beginn dieses Kriegs keine Treuepflicht und keinen
Beweis eurer Zuneigung [550] mir versagt habt. Allerdings habe ich
ganz andere Pläne als ihr, und nicht will ich vom Begonnenen
ablassen oder den Krieg beenden. Nicht kann mich mein Alter
aufhalten, auch ist für mich nicht der Maßstab des Lebens begrenz-
te Zeit mit seinen ewigen Gesetzen. [555] Mein Ruhm sprengt die
Kategorien der Zeit, an dem allein ihr euren König bemessen sollt.
Einfache Menschen und gewöhnliche Geister sind der Ansicht, das
höchste Gut sei ein langes Leben. Doch als inzwischen einziger
König der Welt, der tausend Siege [560] und nicht die Jahre seines
Lebens zählt, währt mein Leben, wenn ich die Gaben der Schick-
salsgöttin richtig einordne oder wenn ich mir auch meine glänzen-
den Taten vor Augen führe, schon lange. Die Thraker und ganz
Asien habe ich meiner Macht unterworfen. Ganz nah am Ende der
Welt stehe ich nun, und um es zu bekennen, ohne die Missgunst
der Götter hervorzurufen, zu eng ist mir wahrlich der Erdkreis,
[565] und nicht reicht dem einzigen Herrn über die Welt die gesam-
te Ausdehnung der Länder. Und wenn ich nach der Unterwerfung
dieses Erdteils weiterziehe, da habe ich für mich den Entschluss
gefasst, euch – solltet ihr mir folgen – die andere Hemisphäre zu
500 ALEXANDREIS

iam michi constitui. Nichil insuperabile forti.


Antipodum penetrare sinus aliamque videre
naturam accelero. Michi si tamen arma negatis, 570
non possum michi deesse. Manus ubicumque movebo,
in theatro mundi totius me rear esse,
ignotosque locos vulgusque ignobile bellis
nobilitabo meis, et quas Natura removit
gentibus occultas calcabitis hoc duce terras. 575
Hiis operam dare proposui nec rennuo claram
si Fortuna ferat vel in hiis extinguere vitam.”
Dixit et ad naves socios invitat. At illi,
ducat eos quocumque velit, hortantur, et ecce
nauticus exoritur per fluminis ostia clamor. 580
BUCH IX 501

öffnen. Nichts ist für einen tapferen Mann unerreichbar. Schleu-


nigst will ich der Antipoden Buchten erkunden und die andere
[570] Welt sehen. Doch auch wenn ihr mir keine Waffenfolge leisten
wollt, wird es mir nicht an waffenfähigen Männern fehlen. Wohin
auch immer ich meine Hände ausstrecken werde, glauben werde ich
stets, ich sei auf dem Schauplatz der ganzen Welt unterwegs, un-
bekannte Orte und unbedeutende Völker werde ich mit meinen
Kriegszügen berühmt machen [575] und unter meiner Führung
werdet ihr verborgene Länder betreten, die Natura dem Zugriff
fremder Völker entrückt hat. Dieses Vorhaben versuche ich in die
Tat umzusetzen, und nicht versage ich meine Zustimmung, mein
ruhmvolles Leben dort zu beenden, wenn dies die Schicksalsgöttin
verlangen sollte.« So sprach er und rief die Gefährten zu den
Schiffen. Jene aber forderten ihn auf, sie dorthin zu führen, wohin
auch immer er wolle, und schon [580] erhob sich über die Mün-
dung des Flusses hinweg das Rufen der Schiffsleute.
Liber X
Capitula decimi libri

Oceanum decimus audaci classe fatigat.


Infernum Natura Chaos civesque Iehennae
conquestu monitisque movet. Redit equore Magnus
occeani domito, mirandaque pectore versans
occiduum bellis proponit frangere mundum 5
navigiumque parat. Sed territus orbis in unum
confluit et misso veneratur munere Magnum.
Qui, licet invictus ferro, mediante veneno
vincitur, et luteo resolutus carcere tandem
liber in ethereas vanescit spiritus auras. 10

Decimus liber

Sydereos fluctus et amicum navibus amnem


prebuerat Zephirus, et iam statione soluta
longius impulerat acclinis navita classem,
ignarus quo tendat iter vel quam procul absit
hactenus Oceani populis incognitus amnis. 5
Buch X
Themenübersicht (1–10)

Im zehnten Buch zerwühlt die verwegene griechische Flotte das


Meer. Die Göttin Natura versetzt mit Wehklagen und Mahnungen
den Abgrund des Chaos und die Bewohner der Hölle in Aufruhr.
Alexander kehrt vom bezwungenen Ozean zurück. Erstaunliche
Ideen erwägend, fasst er den Entschluss, [5] die westliche Welt im
Kampf zu erobern, und lässt dafür eine Flotte ausrüsten. Doch
angstvoll strömt der ganze Erdkreis zusammen und bezeugt mit
Geschenken Alexander seine Verehrung. Obgleich im Krieg niemals
besiegt, wird dieser indes durch Gift niedergeworfen. Dem schmut-
zigen Kerker des Körpers entronnen, [10] entschwindet seine Seele
schließlich befreit in die himmlischen Lüfte.

Alexanders Aufbruch zu den Antipoden (1–5)

Sanfte Fluten und eine für Schiffe günstige Strömung hatte Zephyr
gewährt, nach Lichten des Ankers hatte der Seemann mühelos
schon länger die Flotte vorangetrieben, ohne zu wissen, wohin die
Reise ihn trug oder welche Ausdehnung [5] der den Völkern un-
bekannte Ozean besaß.
504 ALEXANDREIS

Interea memori recolens Natura dolore


principis obprobrium mundo commune sibique,
qui nimis angustum terrarum dixerat orbem
archanasque sui partes aperire parabat
gentibus armatis, subito turbata verendos 10
canicie vultus, ylen irata novumque
intermittit opus et quas formare figuras
ceperat, et variis animas infundere membris
turbida deseruit, velataque nubis amictu
ad Stiga tendit iter mundique archana secundi. 15
Quo se cumque rapit, cedunt elementa sueque
artifici assurgunt. Veneratur pendulus aer
numinis ingressum. Terrae lascivia vernis
floribus occurrit. Solito mare blandius undis
imperat, et tumidi tenuere silencia fluctus. 20
Omnia Naturam digne venerantur et orant
ut sata multiplicet fetusque et semina rerum
augeat infuso mixtoque humore calori.
Illa suis grates referens servare statutas
iussit et in nullo naturae excedere metas. 25
“Ad Stiga descendo, michi provisura meisque,”
inquit “Alexandri, quem terra fretumque perhorrent,
eversura caput, nobis commune flagellum.”
Dixit et obscuros aperit telluris hyatus
Tartareumque subit declivi tramite limen. 30
BUCH X 505

Das Strafgericht in der Unterwelt (6–167)

Descensus ad inferos – Die Göttin Natura in der Unterwelt (6–107)

Die Charakterisierung der Göttin Natura (6–30)

Zornerfüllt und das ehrwürdige alte Antlitz verzerrt, unterbrach


unterdessen die Göttin Natura, in unversöhnlichem Schmerz an die
Schande des Fürsten denkend, die dieser der Menschheit und auch
ihr selbst mit der Bemerkung zugefügt hatte, der Erdkreis sei ihm zu
eng, und mit der Absicht, ihre geheimsten Reiche [10] bewaffneten
Völkern öffnen zu wollen, plötzlich ihre Arbeit an der Urmaterie
und ließ das neue Werk und die Gebilde, die sie bereits zu formen
begonnen hatte, unbearbeitet liegen. Nicht mehr kam sie dazu, den
verschiedenen Körpern die Seelen einzuhauchen. Von einem Wol-
kenschleier verborgen, [15] eilte sie zum Styx und zu den geheimen
Gefilden der anderen Welt. Wohin auch immer sie sich eilends
bewegte, wichen die Elemente zurück und erhoben sich vor ihrer
Schöpferin. Die schwebenden Lüfte bezeugten dem Einzug der
Gottheit ihre Verehrung. Mit Blumen des Frühlings lief ihr heiter
die Erde entgegen. Sanfter als gewohnt gebot das Meer den Wellen
[20] und Stille umgab die schwellenden Fluten. Alles brachte der
Göttin Natura die angemessene Ehrerbietung entgegen und bat sie
darum, die Saaten zu mehren und durch Feuchtigkeit und Wärme
die Triebe und Samen der Pflanzen gedeihen zu lassen. Jene gab,
ihren Schützlingen dankend, die Anweisung, [25] die von ihr
gesetzten Grenzen zu wahren und niemals zu verletzen. Folgender-
maßen sprach sie: »Zum Styx steige ich hinab, um für mich und die
Meinen Vorkehrungen zu treffen und Alexander, vor dem Länder
und Meere erschaudern, diese uns allen gemeinsame Geißel, zu
vernichten.« Nach diesen Worten öffnete sie die verborgenen
Schlünde der Erde [30] und näherte sich auf abschüssigem Pfad der
Schwelle des Tartarus.
506 ALEXANDREIS

Ante fores Herebi Stigiae sub menibus urbis


liventes habitant terrarum monstra sorores,
inter quas antris aliarum mater opacis
abscondit loculos et coctum mille caminis
faucibus infusum siccis ingutturat aurum, 35
explerique nequit sitis insatiabilis ardor.
Subsannans alias cunctis supereminet una
dedignata parem flagrante Superbia vultu.
Mersa iacens ardente luto torquetur et ardet
pube tenus totis exhausta Libido medullis. 40
Nauseat Ebrietas, Gula deliciosa ligurrit
et mendica suos consumit morsibus artus.
Immemor Ira sui est et quo rapit impetus illuc
ebria discurrit et se sociasque flagellat.
Prodicioque, Doli comes, et Detractio, macri 45
filia Livoris, que cum bene facta negare
non possit, quocumque modo pervertere temptat
et minuit laudes quas non abscondere fas est.
Has colit Ypocrisis marcenti livida vultu
sedes et summus hodie processus in aula 50
Pestis adulandi, bibulis studiosa potentum
auribus instillans animae letale venenum.
Huic aulae vicio tanta est concessa potestas
ut rerum dominis humanas subtrahat aures.
Has ubi preteriens obliquo lumine fixit 55
rerum prima parens, urbis se menibus infert,
qua videt aeternis animas ardere caminis.
BUCH X 507

Die Laster am Eingang zur Unterwelt (31–57)

Am Fuße der stygischen Burg hausten vor Erebus’ Toren die neidi-
schen Geschwister, die Scheusale der Erde. Unter ihnen verbarg
Avaritia, Herrin der anderen, in schattigen Höhlen Geldschatullen
[35] und verschlang – in ihren trockenen Schlund gegossen – in
tausend Öfen geschmolzenes Gold. Und doch konnte auch damit
nicht die Glut ihrer unstillbaren Gier gelöscht werden. Durch spöt-
tische Gebärden die anderen mit funkelndem Blick verhöhnend,
verachtete Superbia als einzige der Geschwister die anderen und
verschmähte eine gleichberechtigte Stellung. Überdeckt von glim-
mendem Unrat lag Libido da, wälzte sich hin und her und brannte
vor Begierde, [40] in ihrem Inneren hinunter bis zur Scham voll-
kommen ausgezehrt. Ebrietas erbrach sich, Gula schlemmte voller
Gier und biss bettelarm sich die eigenen Gliedmaßen ab. Rück-
sichtslos zu sich selbst war Ira, und wohin sie ihr Ungestüm trieb,
dorthin raste sie berauscht und schlug sich selbst und auch ihre
Geschwister. [45] Proditio, Gefährtin des Dolus, und Detractio,
Tochter des hageren Livor, versuchten auf jegliche Art und Weise
großartige Taten, die man nicht leugnen konnte, zumindest zu
schmälern, verminderten den Ruhm, den zu verschweigen verbre-
cherisch gewesen wäre. Dieselben Räume bewohnten neidisch mit
bleichem Gesicht Hypocrisis sowie Pestis adulandi, [50] auch heut-
zutage am Hofe in höchstem Maße erfolgreich, wenn sie eifrig den
geneigten Ohren der Mächtigen das für die Seele tödliche Gift ein-
flößt. Diesem Laster wird am Hofe eine so große Macht einge-
räumt, dass sie den Mächtigen dieser Welt das klare Urteilsvermö-
gen raubt. [55] Und noch während die erste Mutter der Schöpfung
diese im Vorbeigehen mit seitlichen Blicken musterte, betrat sie die
Mauern der Stadt, wo sie Seelen erblickte, die im ewigen Feuer
brannten.
508 ALEXANDREIS

Est locus extremum baratri devexus in antrum,


perpetua fornace calens ubi crimina punit
et sontes animas ultricis flamma Iehennae. 60
Et licet unus eas atque idem torreat ignis,
non tamen infligunt equas incendia penas
omnibus. Hii levius torquentur, sevius illi.
Sic se conformat meritis cuiusque Iehenna
ut qui deliquit levius, levioribus ille 65
subiaceat penis, et qui graviore reatu
excessit gravius, graviorem sentiat ignem.
Sunt quibus, excepta primi levitate parentis,
nulla fuit vitae contagio vel venialis.
Hiis nichil aut modicum penae vapor igneus infert. 70
Sicut in estivo cum tempore noxius agros
Syrius exurit, sub eodem lumine solis
sanus lascivit, cruciatur et estuat eger.
Illic perpetuae miscens incendia mortis
Leviathan, medii stans in fervore baratri, 75
ut procul inspexit numen, fornace relicta
tendit eo, sed eam ne terreat, ora colubri
ponit et in primam redit assumitque figuram
quam dederat Natura creans cum sydere solis
clarior intumuit tantumque superbia mentem 80
extulit ut summum partiri vellet Olympum.

Quo dea conspecto “Scelerum pater” inquit “et ultor,


quem matutini superantem lumine vultum
Luciferi tumor etherea deiecit ab arce,
BUCH X 509

Erster Ort der Bestrafung – Leviathan und das Fegefeuer (58–81)

Es gab einen Ort, der steil in den tiefsten Bereich der Hölle hinab-
führte, wo das Feuer der rächenden Hölle – im ewigen Ofen ge-
schürt – Verbrechen [60] und schuldige Seelen bestrafte. Und mag
diese Seelen auch ein und dasselbe Feuer versengen, peinigte der
Brand doch nicht alle mit der gleichen Vergeltung. Die einen wur-
den weniger heftig gequält, andere hingegen schlimmer. Dergestalt
bemaß die Hölle die Schuld eines jeden, [65] dass derjenige, der nur
leichterer Sünden sich schuldig gemacht hatte, auch nur leichtere
Strafen zu gewärtigen hatte, derjenige aber, der schlimmere Sünden
begangen hatte, auch ein schlimmeres Feuer zu spüren bekam.
Auch gab es welche, die – abgesehen vom Leichtsinn unseres Ur-
vaters – in ihrem Leben keine oder eine zumindest verzeihliche
Schuld auf sich geladen hatten. [70] Diese Menschen peinigte das
Höllenfeuer gar nicht oder nur mäßig, vergleichbar der Situation,
wenn im Sommer der schädliche Hundsstern die Äcker ausdörrt,
der Gesunde dabei ausgelassen sein Leben verbringt, der Kranke
unter derselben Glut der Sonne jedoch von der Hitze entsetzlich ge-
quält wird. [75] Als Leviathan, der mitten im Höllenfeuer stehend
die Flammen des ewigen Todes schürte, von ferne die Göttin er-
blickte, verließ er unverzüglich die Feuerstätte und eilte ihr ent-
gegen. Um sie jedoch nicht zu erschrecken, legte er seine Schlangen-
gestalt ab und nahm die erste Gestalt wieder an, die Mutter Natur
einst ihm gegeben hatte, [80] als er heller als das Licht der Sonne
erstrahlte und ihn der Hochmut so sehr mit sich fortriss, dass er
seinen Teil vom Himmel begehrte.

Die Klagerede der Natura am ersten Ort der Bestrafung (82–107)

Als die Göttin Leviathan erblickte, rief sie: »Vater und Rächer der
Sünden, den Hochmut aus der himmlischen Burg hinabstürzte, als
du mit deinem Licht das strahlende Antlitz des Morgensterns hast
510 ALEXANDREIS

ad te confugio tandem miserabilis, ad te, 85


quem, ne nulla tibi perdenti sydera sedes
esset, in hac saltim terrarum nocte recepi.
Ad te communes hominumque deumque querelas
affero. Scis etenim quantis elementa fatiget
motibus armipotens Macedo. Qui classe subacto 90
equore Pamfilico Darium ter vicit et omnem
confringens Asiam Porum servire coegit
indomitum bellis. Nec eo contentus eoas
vestigat latebras et nunc vesanus in ipsum
fulminat Oceanum. Cuius si fata secundis 95
vela regant ventis, caput indagare remotum
a mundo Nyli et Paradysum cingere facta
obsidione parat, et ni tibi caveris, istud
non sinet intactum Chaos Antipodumque recessus
alteriusque volet nature cernere solem. 100
Ergo age, communem nobis ulciscere pestem.
Que tua laus, coluber, vel que tua gloria primum
eiecisse hominem si tam venerabilis ortus
cedat Alexandro?” Nec plura locuta recessit.
Ille secutus eam dictis promittit in omnes 105
eventus operam nec se desistere donec
BUCH X 511

verblassen lassen, [85] bei dir, den ich wenigstens in diesem Dunkel
der Erde aufgenommen habe, damit du nach dem Verlust deines
himmlischen Wohnsitzes nicht ohne Zuhause bist, suche ich
klagend zuletzt meine Zuflucht. An dich trage ich alle gemeinsamen
Klagen von Menschen und Göttern heran. Denn du weißt, wie
heftig [90] der waffenmächtige Makedone die Elemente bedrängt.
Nachdem er das pamphylische Meer mit seiner Flotte durchmessen
hatte, besiegte er Darius dreimal und auf seinem Eroberungszug
durch Asien hat er auch den zuvor im Kampf niemals besiegten
Porus gezwungen, sich ihm zu unterwerfen. Doch damit noch nicht
zufrieden, spürt er nun östliche Schlupfwinkel auf und richtet sein
wahnsinniges Toben [95] gegen den Ozean selbst. Wenn ihm das
Schicksal mit günstigen Winden die Segel spannen sollte, wird er
die entlegenen Nilquellen aufspüren und das Paradies belagern.
Wenn du nicht aufpasst, wird er die Unterwelt nicht unberührt las-
sen und wünschen, die geheimen Reiche der Antipoden [100] und
die Sonne auf der anderen Hemisphäre zu sehen. Deshalb wohlan,
nimm Rache an der uns gemeinsamen Geißel. Welche Bedeutung
hat noch dein Ansehen, o Schlange, was noch bedeutet dein Ruhm,
den ersten Menschen aus dem Paradies vertrieben zu haben, wenn
ein so ehrwürdiger Garten dem Alexander erliegen sollte?« Ohne
weitere Worte eilte die Göttin Natura von dannen. [105] Leviathan
aber folgte ihr und versprach der Göttin für alle erdenklichen Be-
gebenheiten seine Unterstützung. Und nicht eher werde er davon
ablassen, bis der Feind aller Menschen im Dunkel der Hölle ver-
senkt sei.
512 ALEXANDREIS

inferni tenebris mergatur publicus hostis.

Nec mora, rugitu tenebrosam concutit urbem


conciliumque vocat. Iacet inveterata malorum
planicies, durata gelu et nive saucia, cuius 110
nec sol indomitum nec mitigat aura rigorem.
Hic sontes animae passim per plana iacentes
mortis inauditae torquentur agone, quibus mors
est non posse mori. Quia quorum hic mortua vita
in culpa fuerit, ibi vivet semper eorum 115
mors in suppliciis ut qui hic delinquere vivus
non cessat, finem moriendi nesciat illic.
Attritus glacie nivium, de frigore transit
ad prunas. O supplicium miserabile! Semper
et numquam moritur quem carcer torquet Averni. 120
Hic ubi collecti satrapae Stigis et tenebrarum
consedere duces, tria gutture sibila rauco
edidit antiquus serpens, quibus omne repressit
murmur et infernis indicta silentia penis,
umbrarumque graves iubet obmutescere planctus. 125

Ergo ubi compressit gemitus a pectore, surgens


in medium mandata deae proponit et addit:
“Nam quis erit modus, o socii, aut que meta flagelli
huius” ait “quo cuncta tremunt, prolixior illi
si mora pro libitu frangendum indulserit orbem? 130
Ecce, sed id taceo, rupto parat obice terrae
BUCH X 513

Die Unterweltsversammlung (108–167)

Zweiter Ort der Bestrafung – Leviathan und die Hölle (108–125)

Unverzüglich ängstigte er die finstere Wohnstatt mit seinem Ge-


brüll und berief eine Versammlung ein. Seit jeher liegt hier die Ebe-
ne der Sünden, [110] im Frost erstarrt und vom Schnee zerfurcht,
deren unbändige Strenge weder die Sonne noch ein Lufthauch zu
mildern vermögen. Nach allen Seiten verstreut auf der Ebene lie-
gend, erleiden hier die schuldigen Seelen im Kampf mit einem au-
ßergewöhnlichen Tod unendliche Qualen. Tod bedeutet für diese
nämlich, nicht sterben zu können. Diejenigen, deren erloschenes
Leben auf Erden [115] voller Sünde war, werden dort eben darum
einen Tod in Bestrafung erleben, so dass jene, die hier zu Lebzeiten
von der Sünde nicht abließen, dort kein Ende des Sterbens kennen.
Ermattet vom eisigen Frost gehen jene aus der Kälte hinüber in die
glühende Hitze. O elende Buße! Unablässig [120] und doch niemals
sterben jene, welche der Kerker der Unterwelt martert. Sobald die
hier versammelten Satrapen des Styx, die Fürsten der Finsternis,
sich niedergesetzt hatten, zischte die uralte Schlange dreimal aus
heiserer Kehle, untersagte ihnen jedwedes Murmeln, erlegte den
höllischen Martern schweigende Stille auf [125] und gab den Befehl,
das laute Wehklagen der Schatten verstummen zu lassen.

Die Rede des Leviathan am zweiten Ort der Bestrafung (126–142)

Sobald er also das Wehklagen unterdrückt hatte, stand er in der


Mitte der Versammlung auf und enthüllte erbost den Auftrag der
Göttin. Und er fügte Folgendes noch hinzu: »Welches Maß, ihr Ge-
fährten, welche Grenze wird es denn für diesen Verbrecher geben,
vor dem alles erzittert, [130] falls man jenem noch länger die Ge-
legenheit dazu geben sollte, den Erdkreis nach Belieben zu zertrüm-
mern? Gebt acht, auch schickt er sich an – lieber würde ich dies
514 ALEXANDREIS

Tartareum penetrare Chaos belloque subactis


umbrarum dominis captivos ducere manes.
Est tamen in fatis, quod abhominor, affore tempus
quo novus in terris quadam partus novitate 135
nescio quis nascetur homo qui carceris huius
ferrea subversis confringet claustra columpnis,
vasaque diripiens et fortia fortior arma,
nostra triumphali populabitur atria ligno.
Proinde, duces mortis, nascenti occurrite morbo 140
et regi Macedum. Ne forte sit ille futurus
inferni domitor, leto precludite vitam.”

Vix ea ructarat cum blando subdola vultu


Proditio surgens “labor iste brevissimus,” inquit
“est michi mortiferum super omnia toxica virus, 145
quod nec testa capit nec fusilis olla metalli
nec vitri species nec vas aliud nisi solum
ungula cornipedis. Dabitur liquor iste Falerno
mixtus Alexandro. Presto est occasio dandi.
Nam meus Antipater, Macedum prefectus, ab ipsis 150
cunarum lacrimis pretendere doctus amorem
voce sed occultis odium celare medullis,
ad regem ire parat, Babylona citatus ab ipso
ut sub eo senium consumat et aspera rursus
perferat emeritus castrensis tedia vitae. 155
Hoc, ego si dea sum qua nulla potencior inter
noctigenas, si me vestram bene nostis alumpnam,
hoc mediante duci virus letale datura
BUCH X 515

doch verschweigen –, nach Sprengung der Schwelle zwischen Erde


und Tartarus in unsere Welt vorzudringen und die Manen gefangen
zu nehmen, nachdem er die Herren der Schatten im Kampf besiegt
hat. Vorherbestimmt ist es doch – was mich erschaudern lässt –,
dass eine Zeit anbrechen wird, [135] in der auf Erden irgendein neu-
artiger Mensch – durch eine neuartige Weise geboren – das Licht
der Welt erblicken wird, der die Säulen des Hades umstürzen, die
ehernen Riegel zu diesem Kerker aufbrechen, unsere Werkzeuge
und machtvollen Waffen mit größerer Macht zerstören und unsere
Wohnstatt mit dem siegreichen Kreuz verwüsten wird. [140] Des-
halb tretet, ihr Fürsten des Todes, dem Unheil schon in seinen An-
fängen entgegen und stellt euch dem König der Makedonen in den
Weg. Bringt ihn zuvor schon zur Strecke, damit er in Zukunft nicht
über die Hölle herrscht.«

Die Rede der Proditio am zweiten Ort der Bestrafung (143–167)

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als sich Proditio mit schmei-
chelnder Miene erhob und heimtückisch sagte: »Dies ist mir ein
Leichtes, [145] bin ich doch im Besitz eines todbringenden und
über alle Maßen giftigen Suds, den außer dem Huf eines Pferdes
weder ein tönerner Krug noch ein Topf aus Metall noch ein Behäl-
ter aus Glas noch irgendein anderes Gefäß aufnehmen kann. Diesen
Sud wird man vermischt mit Falernerwein Alexander reichen. Die
Gelegenheit dazu ist günstig. [150] Denn der mir gewogene Antipa-
ter, ein makedonischer Kommandant, seit frühester Kindheit darin
geübt, mit Worten Gefolgschaft zu heucheln, Hassgefühle jedoch
tief im Herzen zu verbergen, ist auf dem Weg zu Alexander, von
ihm selbst nach Babylon gerufen, um bei ihm sein betagtes Alter zu
verbringen [155] und eigentlich schon Veteran von neuem die har-
ten Mühen des Feldlagerdaseins zu ertragen. Wenn ich unter den
Töchtern der Nacht als mächtigste Göttin gelte, wenn ich als euer
Zögling trefflich bekannt bin, will ich zur Oberwelt eilen, um mit
516 ALEXANDREIS

evehor ad superos.” Sic fatur, et omnis in unum


conclamat tenebrosa cohors, laudatur ab omni 160
provida concilio quod sic studiosa pararet
infractum bellis armato frangere potu.
Nec mora, Prodicio faciem mutata vetustam
emergit tenebris, Siculumque per aera pennis
vecta venenatis, thalamum tandem intrat alumpni. 165
Quem satis instructum blando sermone relinquens,
ad Chaos eternum solitasque revertitur umbras.

Iamque reluctantem Pelleus classe minaci


fregerat Oceanum, iamque indignantibus undis
victor ab Oceano Babylona redire parabat. 170
Constituebat enim miser ignarusque futuri,
dispositis rebus Asiae, transferre sarissas
Penorum in fines, et Numidiae peragratis
finibus Hyspanas, quibus Herculis esse columpnas
fama loquebatur, ultra descendere metas 175
occiduumque sibi bello submittere solem.
Gentibus his domitis animi sitientis in arce
concipere audebat post hec transcendere montes
velle Pyreneos armisque domare rebelles
Gallorum populos Renumque adiungere victis, 180
tunc demum patriam Macedumque revisere fines.
Alpibus abiectis agitabat et inter eundum
Italiam servire sibi Romamque docere
Grecorum portare iugum. Pretoribus ergo
precepit Syriae faciendae querere classis 185
BUCH X 517

seiner Unterstützung dem König den tödlichen Sud zu bringen.«


Nach ihren Worten [160] brach die ganze finstere Schar gemeinsam
in lauten Jubel aus, die fürsorgliche Göttin wurde von der ganzen
Versammlung gepriesen, da sie entschlossen sich anschickte, den im
Krieg niemals besiegten König mit dem mächtigen Trank zu ver-
nichten. Unverzüglich stieg Proditio mit verändertem Aussehen aus
der Unterwelt empor und betrat zuletzt, [165] nachdem sie mit gif-
tigen Flügeln durch die Lüfte geflogen war, auf Sizilien das Schlaf-
gemach ihres Schützlings. Nachdem sie diesen in ausreichendem
Maße mit schmeichelnden Worten unterwiesen hatte, verließ sie
ihn wieder und kehrte in das Reich der ewigen Finsternis und zu
den vertrauten Schatten zurück.

Alexanders weitere Pläne (168–190)

Und schon hatte Alexander mit drohender Flotte den widerspensti-


gen Ozean überwunden, schon war er dabei, [170] als Sieger über
die empörten Wogen vom Ozean nach Babylon zurückzukehren.
Denn ohne zu wissen, was die Zukunft ihm bringen würde, fasste
der Unglückselige den Entschluss, nach der Ordnung der Angele-
genheiten in Asien den Krieg in das Gebiet der Punier hinüberzu-
tragen, nach der Durchquerung Numidiens über das äußerste Ende
Spaniens, [175] wo – wie Fama erzählt – die Säulen des Herkules
stehen sollen, hinaus seinen Fuß zu setzen und sich die Länder im
Westen durch Krieg zu unterwerfen. Nach der Unterwerfung dieser
Völker wollte er dann als Gipfel seiner unersättlichen Gier wagemu-
tig die Pyrenäen überqueren, die widerspenstigen [180] gallischen
Stämme mit Waffengewalt unterwerfen, den Besiegten die Völker
am Rhein hinzugesellen, um dann erst die makedonische Heimat
wiederzusehen. Auf dieser Route beabsichtigte er nach Bezwingung
der Alpen Italien zu lehren, ihm dienstbar zu sein, und Rom be-
greiflich zu machen, das Joch der Griechen zu tragen. [185] Und so
518 ALEXANDREIS

materiam. Dolet aerias procumbere cedros


Lybanus et virides addictas fluctibus alnos.
In classem cadit omne nemus, stupet ethera tellus
arboreis viduata comis umbraque perhenni,
miranturque novum nudata cacumina solem. 190

Quo tendit tua, Magne, fames? Quis finis habendi,


querendi quis erit modus aut que meta laborum?
Nil agis, o demens. Licet omnia clauseris uno
regna sub imperio totumque subegeris orbem,
semper egenus eris. Animum nullius egentem 195
non res efficiunt sed sufficientia. Quamvis
sit modicum, si sufficiat, nullius egebis.
O facilem falli qui cum parat arma, paratur
eius in interitum quod comprimat arma venenum.
Crescit avara sitis iuveni, sed potio tantam 200
comprimet una sitim. Nam proditor ille, scelestis
instructus monitis, ventis advectus iniquis,
venerat Antipater Babylona, ubi cum patricidis
complicibusque suis facinus tractabat acerbum.
Quis furor, o superi? Quid agis, Fortuna? Tuumne 205
protectum tociens perimi patieris alumpnum?
Si fati mutare nequis decreta volentis
ut pereat Macedo, saltim secreta revela
carnificum. Potes auctores convertere leti
et mortis mutare genus. Converte venenum 210
BUCH X 519

erteilte er den Statthaltern Syriens den Befehl, Holz für den Schiffs-
bau zu beschaffen. Der Libanon war betrübt, dass hochragende
Zedern und grüne Erlen – für die Fluten bestimmt – krachend zu
Boden stürzten. Jeglicher Hain fiel für die Flotte, die ihres Laub-
werks und des beständigen Schattens beraubte Erde bestaunte den
Himmel, [190] die nackten Gipfel wunderten sich über die unge-
wohnte Intensität der Sonne.

Autorexkurs: Klage über Alexanders Ende (191–215)

Wohin, Alexander, dehnt deine Gier sich noch aus? Welche Gren-
zen noch kennt deine Herrschsucht? Welches Maß haben deine
Eroberungen noch? Welches Ende denn hast du deinen Mühen
gesetzt? Gar nichts bewirkst du, Verblendeter. Magst du auch alle
Reiche unter einem Befehl halten und den ganzen Erdkreis dir
unterwerfen, [195] immer wirst du bedürftig sein. Nicht Reichtum
macht den Menschen bedürfnislos, sondern Genügsamkeit. Ob-
gleich du nur wenig besitzt, wirst du nichts entbehren, wenn es zum
Leben ausreicht. Wie mühelos wird jener getäuscht! Noch während
er Vorbereitungen für den Krieg traf, wurde für dessen Tod das Gift
vorbereitet, das den Krieg verhindern sollte. [200] Heißes Verlan-
gen nach Macht wuchs in dem jungen Mann, doch wird der eine
Trank selbst einen derart großen Durst löschen. Denn schon war
Antipater, unterrichtet von den ruchlosen Weisungen und von
missgünstigen Winden geleitet, nach Babylon gekommen, wo jener
Verräter mit verbündeten Mördern die grässliche Tat vorbereitete.
[205] Welch ein Wahnsinn, ihr Götter! Was willst du jetzt unterneh-
men, Fortuna? Wirst du jetzt zulassen, dass dein von dir so oft
beschützter Zögling niedergestreckt wird? Wenn du den Willen des
Fatums, Alexander zu vernichten, nicht abwenden kannst, enthülle
wenigstens die geheimen Pläne der Henker. Vielleicht kannst du
jene umstimmen, die den Mord planen oder zumindest [210] die
520 ALEXANDREIS

in gladium. Satius et honestius occidet armis


is qui plus deliquit in hiis. Sed forsitan armis
non potuere palam superi quem vincere dirum
clam potuit virus. Fuit ergo dignius illum
occultum sentire nephas quam cedere ferro. 215

Ut tamen ante diem extremum, quem fata parabant,


omnia rex regum sibi subdita regna videret,
fecit eum famae sonus et fortuna monarcham.
Tantus enim terror et consternatio gentes
invasit reliquas ut post domitos Orientis 220
tocius populos turbata medullitus omnis
natio contremeret longeque remota paveret
insula fluctivago quecumque includitur estu.
Oblatis igitur cursum flexura tyranni
muneribus toto peregrina cucurrit ab orbe 225
ad mare descendens plenis legatio velis.
Non dedignantur subdi Kartaginis arces
imperio Magni, sed et Affrica tota remoto
scribit Alexandro sese servire paratam.
Scribit idem solo terrore coercita quamvis 230
tuta situ et multis pollens Hyspania bellis,
totaque terrificum misso diademate, quod vix
credere sustineam, veneratur Gallia regem.
BUCH X 521

Todesart ändern. Vertausche das Gift mit dem Schwert. Besser und
ruhmvoller wird jener durch Waffen sterben, der mit diesen die
meiste Schuld auf sich geladen hat. Doch vielleicht hätten die
Götter einen solchen Mann offen mit Waffen gar nicht besiegen
können, den heimlich nur ein schreckliches Gift zu besiegen ver-
mochte. Demzufolge passte es dann doch besser zu Alexander,
[215] den Tod durch ein tückisches Verbrechen zu erleiden als durch
das Schwert zugrunde zu gehen.

Die Versammlung der Völker in Babylon (216–325)

Der Aufmarsch der Völker in Babylon (216–248)

Aber damit noch der König der Könige, bevor ihm das Schicksal
den letzten Tag bereitete, alle ihm untergebenen Reiche zu Gesicht
bekam, machten ihn der Klang seines Namens und seine Stellung
zum Monarchen. Eine so große Furcht nämlich und ein so großes
Entsetzen ergriff die übrigen Völkerschaften, [220] dass nach der
Unterwerfung des ganzen Ostens alle Menschen, bis ins Mark
erschüttert, erzitterten und jede auch noch so weit entfernt liegende
Insel, die von den wogenden Fluten des Meeres umgeben war,
angstvoll erbebte. Um also mit der Überreichung [225] von Ge-
schenken den König vom eigenen Land fernzuhalten, ließen fremde
Gesandte vom ganzen Erdkreis Schiffe mit vollen Segeln zu Wasser
und fuhren nach Babylon. Nicht verschmähte es Karthagos Burg,
sich der Macht Alexanders zu beugen, aber auch ganz Afrika melde-
te, dem weit entfernten König bereitwillig dienstbar zu sein.
[230] Auch Spanien verkündete, allein durch den Schrecken gebän-
digt, schriftlich Gefolgschaft, obgleich seine Lage es schützte und es
in vielen Kriegen seine Wehrhaftigkeit unter Beweis gestellt hatte.
Und auch Gallien verehrte den furchterregenden König und
schickte – was ich kaum glauben kann – eine Krone. Selbst die Ger-
522 ALEXANDREIS

Mitescit Reni rabies, positoque furore


Teutonicus mixto tendit Babylona Sicambro. 235
Nec minor Italiae gentes servire coactas
invasit metus, et licet hinc natura nivosas
obiciat cautes, illinc maris obice tuta
continui maneat, tamen insuperabile Magno
nil credens, regis spontanea prevenit iram 240
muneribus sedare datis. Trinacria montes
infernosque lacus proli servire Philippi
imperat et scribit. Sed quid moror? Omnis in unum
natio concurrit clarasque Semiramis arces
equore vecta petit. Legatos inde videres 245
affluere et naves rerum speciebus onustas
quadrupedumque greges quo pervenisse loquacem
credere vix posses famae premobilis auram.

Magnus ut accepit quod confluxisset in unum


ipsius exspectans adventum territus orbis, 250
ardet adire locum mortis remisque citata
classe Semiramiam tendit festinus ad urbem.
Non aliter procul inspecto grege tygris equorum,
cuius fulmineas urit sitis aspera fauces,
excutitur stimulante fame vivumque cruorem 255
inmitis bibit et laceros incorporat artus:
Quam si forte sequens occulto tramite pungat
cuspide venator, plangit fusoque per herbam
BUCH X 523

manen entsagten dem Grimm und es eilten, jeglicher Wut sich


enthaltend, [235] Teutonen vereint mit Sigambern nach Babylon.
Nicht weniger fürchteten sich die Völker Italiens vor aufgezwunge-
ner Knechtschaft. Auch wenn die Natur das Land auf der einen
Seite durch schneebedeckte Berge absperrte und auf der anderen
Seite durch einen ununterbrochenen Riegel des Meeres sicherte,
sorgten sie doch freiwillig vor, den Zorn des Königs mit der Über-
gabe von Geschenken zu beschwichtigen, [240] da man der Mei-
nung war, nichts sei für Alexander unüberwindlich. Sizilien erteilte
den Bergen und den zur Unterwelt führenden Seen den schriftli-
chen Befehl, dem Sohn Philipps zu dienen. Aber was soll ich noch
weitere Worte darüber verlieren? Der ganze Erdkreis strömte an
einem einzigen Ort zusammen [245] und eilte über das Meer zu
Semiramis’ Burg. Man hätte von dort Gesandtschaften herbeiströ-
men sehen können, ebenso mit allerlei Dingen beladene Schiffe und
zahllose Pferde, und kaum hätte man es für möglich gehalten, wo-
hin überall die überaus flinke Fama mit ihrer schwatzhaften Zunge
gelangen konnte.

Alexanders Rückkehr nach Babylon (249–282)

Als Alexander erfuhr, dass der entsetzte Erdkreis, seine Ankunft


erwartend, [250] an einem einzigen Ort zusammengeströmt war,
entbrannte er, den Ort seines Todes zu betreten, und segelte mit
seiner Flotte – von Rudern zusätzlich vorwärts getrieben – eilends
zu Semiramis’ Stadt. Nicht anders wird auch ein vom Hunger ge-
triebener Tiger fortgerissen, dessen tödliches Maul ein heftiges Ver-
langen quält, wenn er in der Ferne eine Herde von Pferden entdeckt
hat, grausam [255] das warme Blut trinkt und die zerfetzten Glieder
verschlingt: Ebenso jammert er auch, wenn ihn dann der Jäger, ihm
auf heimlichem Pfad folgend, mit dem Speer verletzt, und er noch
immer nicht satt und immer noch durstig dann stirbt, wenn über die
524 ALEXANDREIS

inmoritur sitiens nec adhuc saciata cruore.


Iam sibi fatales Pelleus, proch dolor, arces 260
agmine quadrato stipatus inibat, et ecce
obvia mirifico splendebat turba paratu.
Occurrunt proceres. Quibus ut comitantibus urbem
arduus intravit sumpsitque insignia regni,
legatos iubet admitti positumque monarcha 265
ascendens solium victo sibi victor ab orbe
munera missa capit: clypeum quem Gallia gemmis
miserat intextum, galeam Kartago pyropo
desuper ardentem, visumque sitire cruorem
Teutonicus gladium, spumantem Hyspania labris 270
cornipedem vario distinctum membra colore
aureaque attritis mandentem frena lupatis.
Tortilis argento digitis intexta Cyclopum
traditur a Siculo veniens lorica tyranno.
His tamen exceptis, quot mundi regna tot illi 275
tradita designant regum diademata regem.
His varie gentis cultus, his plurima miris
purpura texta modis, his quicquid ubique repertum est
quod mentem alliciat, quod delectare tuendo
mortales oculos queat, additur omne metallum 280
et lapidum splendor. His, ut brevius loquar, orbis
adduntur tocius opes.
Quibus ille receptis,
“Gratia diis,” inquit “quorum michi parta favore
regna, triumphatae quas nondum vidimus urbes.
Nec minor a vobis debetur gratia celo 285
BUCH X 525

Gräser sein Blut in Strömen dahinfließt. [260] Schon betrat Alexan-


der, umgeben vom geschlossen marschierenden Heer, o Schmerz,
die für ihn todbringende Stadt. Da kam ihm eine von wunderba-
rem Gepräge erstrahlende Menge entgegen. Babylons bedeutendste
Persönlichkeiten eilten herbei. Als er in deren Begleitung in die
Stadt einzog und stolz die Krone des Herrschers empfing, [265] er-
teilte er den Befehl, die Gesandtschaften vorzulassen. Dann bestieg
der Monarch den aufgestellten Thron und nahm als Sieger die vom
besiegten Erdkreis dargebotenen Geschenke entgegen: Einen mit
Edelsteinen versehenen Schild hatte Gallien geschickt, Karthago ei-
nen an seiner Spitze golden schimmernden Bronzehelm, [270] Ger-
manien ein blutrünstig wirkendes Schwert, Spanien ein an den Lef-
zen schäumendes Pferd mit scheckigen Gliedern, das auf ein gol-
denes und mit abgewetzten eisernen Stacheln versehenes Zaumzeug
biss. Vom Tyrannen aus Sizilien kommend, wurde als Geschenk ein
von Zyklopenhänden geflochtener und mit silbernem Draht gewun-
dener Panzer übergeben. [275] Doch auch wenn er diese Geschenke
alle empfangen hatte, zeichneten jenen doch erst die ihm aus aller
Welt überreichten Diademe als König der Könige aus. Ihnen fügte
man hinzu die Pracht verschiedener Völker: eine Vielzahl auf
wunderbare Weise gewebte purpurne Stoffe und was auch immer
man sonstwo gefunden hatte, was das Herz der Menschen bezau-
berte und [280] das menschliche Auge bei seinem Anblick erfreuen
konnte, und auch Metalle jeglicher Art und den Glanz von Edelstei-
nen, kurzum: den Reichtum des ganzen Erdkreises.

Alexanders Ansprache (282–329)

Nachdem er all diese Dinge empfangen hatte, sagte Alexander: »Den


Göttern sei Dank, durch deren Gnade ich mir alle Reiche verschaf-
fen konnte und ich noch nie gesehene Städte bezwungen habe.
[285] Nicht weniger müsst ihr dem Himmel danken, da ihr euch
526 ALEXANDREIS

quod sine conflictu bellorum, quod sine vestri


sanguinis impensa, Macedum certamina nondum
cominus experti, nostrae cessistis habenae.
Cui si se Darius posito diademate supplex
commisisset, eo regnorum in parte recepto, 290
sensisset nichil esse iugo mansuetius isto.
Porus in exemplo est qua mansuetudine victis
presideam victor, nedum parentibus ultro.
Quosque iugum nostrum vis nulla subire coegit
subiectos michi mortales ita vivere salva 295
libertate volo ut iam non sit servitus, immo
libertas, servire michi. Distinctio nulla
libertatis erit inter quos nemo rebellis.”
Hec ubi legatis breviter, conversus ad illos
egregia quorum virtute subegerat orbem, 300
“Vos quoque victores, quorum labor arduus” inquit
“egit ut in nostro conspectu terra sileret,
premia digna manent. Dignissimus, hercule, miles
hic me rege meus, et rex hoc milite dignus,
milite quem nec hiemps fregit glacialibus horis 305
nec medius Lybiae torpentem reddidit estus.
Indica viderunt Macedum deserta catervae
his vestris manibus domitis lugentia monstris.
Quid referam Dario triplicem vivente tryumphum,
Mennona deiectum, Porique et Taxilis arma? 310
Quid loquar informes vobis cessisse Gygantes?
Nunc quia nil mundo peragendum restat in isto,
ne tamen assuetus armorum langueat usus,
eia, queramus alio sub sole iacentes
Antipodum populos ne gloria nostra relinquat 315
vel virtus quid inexpertum quo crescere possit
BUCH X 527

kampflos und ohne Blutzoll und ohne die Erfahrung einer unmit-
telbaren kriegerischen Konfrontation mit uns Makedonen meinem
Machtanspruch gebeugt habt. Wenn Darius auf die Krone verzich-
tet und sich mir demütig anvertraut hätte, wäre jenem – [290] ein-
gesetzt in einem Teil seines ursprünglichen Reichs – deutlich
geworden, dass nichts milder als meine Herrschaft ist. Porus dient
als Beispiel, mit welcher Milde ich als Sieger noch mehr als die
eigenen Eltern Besiegte umsorge. Und jene mir hörigen Völker, die
nicht gewaltsam gezwungen wurden, sich meiner Herrschaft zu
fügen, [295] sollen nach meinem Willen wohlbehalten so in Freiheit
leben, dass mir zu dienen nicht Knechtschaft bedeutet, sondern
ganz im Gegenteil Freiheit bezeugt. Unter Völkern, die sich nicht
gegen mich auflehnen, wird es keine unterschiedliche Bemessung
von Freiheit geben.« Sobald er dies den Gesandtschaften in aller
Kürze mitgeteilt hatte, wandte er sich jenen zu, [300] durch deren
herausragende Tapferkeit er den Erdkreis unterworfen hatte: »Auch
euch, ihr siegreichen Männer, deren unermüdlicher Einsatz im
Krieg dazu geführt hat, dass die Welt bei unserem Anblick schwei-
gend erstarrte, erwartet ein würdiger Lohn. Beim Herkules, überaus
würdig sind meine Soldaten meiner Person als König, und auch der
König ist seiner Soldaten würdig, [305] Soldaten, die weder der
Winter in eisigen Gefilden brechen noch die gleißende Hitze im
Inneren Libyens aufzuhalten vermochte. Makedonische Scharen sa-
hen die Einöden Indiens in Trauer, nachdem mit euren Händen die
dortigen Scheusale bezwungen waren. Was soll ich den dreifachen
Sieg – noch war Darius damals am Leben – über die Perser erwäh-
nen, [310] Memnons Sturz oder die Schlachten gegen Porus und
Taxiles? Was soll ich darüber sprechen, dass euch das abscheuliche
Geschlecht der Riesen nachgeben musste? Da in dieser Welt nun
nichts mehr zu tun bleibt, so lasst uns doch, damit nicht der Waf-
fenübung Gewohnheit erlahmt, die auf der anderen Hemisphäre
wohnenden Völker [315] der Antipoden aufsuchen, auf dass unsere
ruhmreiche Tapferkeit nichts unversucht lässt, wodurch sie weiter
528 ALEXANDREIS

vel quo perpetui mereatur carminis odas.


Me duce nulla meis tellus erit invia. Vincit
cuncta labor. Nichil est investigabile forti.
Plures esse refert mundos doctrina priorum. 320
Ve michi, qui nondum domui de pluribus unum!
Scitis enim, socii, quia cum michi miserit olim
Roma per Emilium regni diadema michique
scripserit ut regi, opposita modo fronte resumptis
cornibus excedit corrupto federe pactum. 325
Nunc igitur vestris ne pars vacet ulla tryumphis
neve meis desit tytulis perfectio, Romam
imprimis delere placet.” Dedit hoc ubi, solvit
concilium, proni curru iam deside Phebi.

Iam maris undisonis rota merserat ignea solem 330


fluctibus, et preceps confuderat omnia tetro
nox elementa globo. Tenuit prodire volentes
in lucem stellas solito lugubrior aer
nocturnus. Lunam noctique preesse statuta
sydera caligo nubesque suborta repressit. 335
Illa nocte oculis Cinosuram nauta requirens
nunc Elicen vetitumque mari se mergere Plaustrum,
cum nusquam auderet sine sydere flectere cursus,
in medio iacuit prora fluitante profundo.
Funus Alexandri mortis presaga futurae 340
omnia lugebant. Moriturum flevit Olympus,
quem modo nascentem signis portenderat istis:
BUCH X 529

wachsen oder sich die Heldengesänge eines unsterblichen Liedes


verdienen kann. Unter meiner Führung wird meinen Männern kein
Land dieser Erde unzugänglich sein. Tatkraft siegt über alles. Nichts
ist für einen tapferen Mann unerforschlich. [320] Der Vorväter
Weisheit lehrt, dass mehrere Welten existieren. Wehe mir, der ich
von vielen Welten noch nicht einmal eine bezwungen habe. Denn
ihr wisst, meine Gefährten, dass mir Rom, obwohl es mir einst
durch Aemilius die Krone des Reichs geschickt und mir wie einem
König geschrieben hat, vor kurzem mit trotziger Stirn und mutig
geworden nach dem Bruch des Vertrags nun doch [325] die ur-
sprüngliche Übereinkunft aufgekündigt hat. Deshalb will ich nun,
damit nicht irgendein Teil dieser Welt von euren Triumphen unbe-
rührt bleibt oder meinem Ruhm die Vollkommenheit fehlt, Rom
zuerst vernichtend schlagen.« Nach diesen Worten löste er bei Son-
nenuntergang die Versammlung auf.

Unheilvolle Vorzeichen (330–355)

[330] Schon hatte der feurige Wagen die Sonne in die wellenrau-
schenden Wogen des Meeres getaucht und die schnell eintretende
Nacht hatte alles in einem wenig ansehnlichen Klumpen unkennt-
lich gemacht. Der nächtliche Nebel hielt trüber als sonst den
Aufzug der Sterne auf. Dunkle Wolken verdeckten den Mond und
[335] die Sterne, eigentlich dazu bestimmt, der Nacht zu gebieten.
In jener Nacht lag der Seemann auf der Suche nach den Sternbil-
dern des Kleinen und Großen Bären und des Wagens, der niemals
ins Meer tauchen darf, mit seinem mitten im Meer treibenden
Schiff untätig da, weil er das Wagnis nicht eingehen konnte, den
Kurs ohne das Licht der Sterne in irgendeine Richtung zu ändern.
[340] Den unmittelbar bevorstehenden Untergang ahnend, betrau-
erte alles den Tod Alexanders. Der Olymp beweinte den Todgeweih-
ten, dessen Ende die Götter schon bei seiner Geburt mit mancherlei
530 ALEXANDREIS

De celo veri lapides cecidere. Locutus


agnus in Egypto est. Peperit gallina draconem,
et nisi digna fide mentitur opinio vulgi, 345
tecta patris culmenque super gemine sibi tota
qua peperit regina die velut agmine facto
conflixere aquilae. Tot presignatus ab ortu
prodigiis Macedo, superi, quo crimine vestrum
demeruit vite in tanta brevitate favorem? 350
Sed si mortali contentus honore fuisset,
si se gessisset humilem inter prospera, si sic
dulcia fortunae velut eius amara tulisset,
forsitan et gladium et gladio crudelius omni
vitasset fato sibi disponente venenum. 355

Iam piger expleta flectebat nocte Bootes


emeritos currus, teneraeque infantia lucis
sopierat tenebras. Sed nec tunc lucis in ortu
roscidus aurorae super herbam decidit humor,
nec volucres cantu tremula sub fronde canoro 360
prevenere diem. Venturi prescia luctus
vocis amoriferae cytharam phylomena repressit,
Luciferumque ferunt primum cessisse diei
venture et reliquis nondum cedentibus astris.
Primus ad occidui versa vice litora ponti 365
flexit iter pronus hebetique relanguit ore,
sed tandem, licet invitus quia fata morari
BUCH X 531

Zeichen prophezeit hatten: Vom Himmel fielen damals wahrhaftige


Steine, in Ägypten konnte ein Lamm plötzlich sprechen, eine kleine
Schlange entschlüpfte dem Ei einer Henne, [345] und wenn der ver-
trauenswürdige Glaube des Volkes nicht lügt, dann kämpften am
Dachfirst des väterlichen Hauses, während die Königin ihren Sohn
zur Welt brachte, zwei Adler den ganzen Tag wie Krieger gegenein-
ander. Für welches Verbrechen, ihr Götter, hat Alexander, seit An-
beginn seines Lebens von so vielen Wunderzeichen in seiner Be-
stimmung im Vorhinein festgelegt, [350] eure Gunst in einem so
kurzen Leben verwirkt? Wenn er aber mit irdischem Ruhm zufrie-
den gewesen wäre, wenn er in glücklichen Zeiten demütig sich
gezeigt hätte, wenn er Fortunas süße Gaben ebenso wie die bitteren
ertragen hätte, vielleicht hätte er dann das todbringende Schwert
und – grausamer als jedes Schwert – [355] das ihm vom Schicksal
bestimmte Gift vermieden.

Alexanders letzter Tag (356–432)

Das unaufhaltsame Fatum (356–377)

Schon wollte Bootes am Ende der Nacht ermattet den müden


Wagen wenden, das erste Licht hatte die Dunkelheit schon vertrie-
ben, doch weder senkte sich bei Sonnenaufgang an diesem Morgen
der feuchte Tau auf die Gräser [360] noch kündigten die Vögel im
bewegten Laubwerk mit ihrem melodischen Gesang den kommen-
den Tag an. Im Bewusstsein der kommenden Trauer hielt die Nach-
tigall den saitengleichen Klang ihrer Liebe erweckenden Stimme
zurück und Lucifer soll sich als erster dem aufziehenden Tag und
den anderen noch am Himmel stehenden Sternen verweigert ha-
ben. [365] Titan wandte sich anders als sonst in umgekehrter Rei-
henfolge zuerst abwärts zur Küste des westlichen Meeres und
erlahmte bereits mit mattem Antlitz, erhob schließlich dann – zwar
532 ALEXANDREIS

non poterat, Tytan Nabatheis extulit undis


armatum radiis caput, et nisi provida fati
obstaret series, toto conamine currus 370
velle minabatur flexo themone reverti.
Siste gradum, venerande parens et lucis et ignis,
siste gradum. Nisi luciferum converteris orbem,
extinguet Macedum tua, Phebe, lucerna lucernam.
Sed iam magnanimi fatalis venerat hora 375
rectoris mersura caput, nec fata sinebant
differri scelus ulterius mundique ruinam.

Eois redolens fulgebat odoribus aula


quo populus procerumque sacer convenerat ordo.
Cum quibus ut fando pars est consumpta diei 380
plurima, tunc demum, cum donarentur opimis
a duce muneribus ditati, vina ministris
circumferre iubet. Et qui securus ab hoste
in bello tociens hostilia fuderat arma,
et pater et dominus cadit et perit inter amicos. 385
Diriguit totum subita torpedine corpus,
vixque sui compos, demisso poblite, lecto
redditur. Extimplo ferali tota tumultu
regia concutitur, necdum proferre dolorem
in medium audebant quia Fortunae medicinam 390
affore sperabant, que semper adesse ruenti
quoslibet in casus consueverat. Ergo ubi venas
infecit virus et mortis certa propinquae
signa dedit pulsus, media sibi iussit in aula
BUCH X 533

ungern, da er das Schicksal nicht aufhalten konnte – doch sein


strahlenbewehrtes Haupt aus Arabiens Fluten. Wenn ihn der vor-
bestimmte Ablauf des Schicksals [370] nicht daran gehindert hätte,
hätte er seinen Wagen nach dem Schwenken der Deichsel drohend
mit aller Kraft gewendet. Bleib stehen, verehrungswürdiger Vater
des Lichts und des Feuers, bleib stehen! Denn wenn du dein
strahlendes Rund nicht wendest, wird dein Licht, Phoebus, das
Licht der Griechen auslöschen. [375] Aber schon war die Schicksals-
stunde gekommen, das Haupt des edlen Gebieters zu senken, und
nicht gewährte das Schicksal einen weiteren Aufschub für das
Verbrechen und für die Verwüstung der Welt.

Alexanders Tod (378–432)

Von Gerüchen des Morgenlandes durchzogen, erstrahlte der kö-


nigliche Palast, wo das gemeine Volk und der ehrwürdige Adel
zusammengekommen waren. [380] Als Alexander mit diesen den
größten Teil des Tages im Gespräch zubrachte, ließ er erst dann
seine Diener für alle den Wein bringen, nachdem er seine Männer
mit reichen Gaben beschenkt hatte. Da sank plötzlich der Vater
und Gebieter zu Boden [385] und lag jener Mann im Kreis seiner
Freunde im Sterben, der im Krieg furchtlos gegenüber dem Feind
so oft die feindlichen Linien vernichtend geschlagen hatte. In plötz-
licher Lähmung erstarrte der ganze Körper, und kaum seiner
mächtig bettete man ihn mit hängenden Knien wieder auf das Sofa.
Augenblicklich wurde der ganze Königspalast von schrecklicher
Unruhe erfasst, [390] aber noch wagten seine Freunde es nicht,
ihren Schmerz den anderen offen zu zeigen, da sie die Hoffnung
hegten, dass die Schicksalsgöttin Fortuna, die Alexander bisher in
allen schwierigen Situationen stets unterstützt hatte, Abhilfe schaf-
fen könnte. Als das Gift jedoch die Adern durchströmte und der
schwache Pulsschlag sichere Zeichen des nahenden Todes verriet,
534 ALEXANDREIS

aptari lectum. Quo postquam exercitus amens 395


convenit mixtoque ducum manus inclita vulgo,
undantes lacrimis et arantes unguibus ora
intuitus, “Quis, cum terris excessero,” dixit
“talibus inveniet dignum? Iam sufficit orbem
terrarum rexisse michi. Satis axe sub isto 400
prospera successit parentibus alea bellis.
Iam tedere potest membris mortalibus istam
circumscribi animam. Consumpsi tempus et evum
deditus humanis, satis in mortalibus hesi.
Hactenus hec. Summum deinceps recturus Olympum 405
ad maiora vocor, et me vocat arduus ether
ut solium regni et sedem sortitus in astris
cum Iove disponam rerum secreta brevesque
eventus hominum superumque negocia tractem.
Rursus in ethereas arces superumque cohortem 410
forsitan Ethneos armat presumptio fratres
duraque Typhoeo laxavit membra Pelorus.
Sub Iove decrepito superos et sydera credunt
posse capi ex facili rursusque lacessere temptant.
Et quia Mars sine me belli discrimen abhorret, 415
consilio Iovis et superum, licet ipse relucter,
invitus trahor ad regnum.” Sic fatur, at illi
querere cum planctu lacrimisque fluentibus instant
quem velit heredem mundique relinquere regem.
“Optimus” inquit “et imperio dignissimus esto 420
rex vester.” Sed vox postquam non affuit, aurum
BUCH X 535

gab er den Befehl, [395] das Sofa in der Mitte des Palasts aufzustel-
len. Nachdem das Heer – der Generäle berühmte Schar mitsamt
den gemeinen Soldaten – bestürzt am Sterbebett ihres Königs zu-
sammengekommen war, blickte er seine Gefährten an, die ihr
tränenüberströmtes Gesicht mit Fingernägeln zerfurchten, und
sagte zu ihnen: »Wer wird nach meinem Tod jemanden finden, der
solchen Männern würdig sein kann? Lange genug [400] habe ich
über den Erdkreis geherrscht. Oft genug hatte ich in dieser Him-
melsgegend das Kriegsglück auf meiner Seite. Schon kann ich es
kaum mehr ertragen, dass meine Seele von diesen sterblichen Glie-
dern eingeengt wird. Mit menschlichen Dingen beschäftigt, habe
ich nun die Zeit und mein Leben aufgebraucht, lange genug habe
ich mich mit irdischen Problemen aufgehalten. [405] Doch hiervon
genug. Zu Höherem berufen, werde ich bald ganz oben im Olymp
herrschen, mich ruft der hochragende Äther, damit ich nach der
Übernahme des himmlischen Throns gemeinsam mit Jupiter über
die Geheimnisse der Welt bestimme, mich um das vergängliche
Schicksal der Menschen kümmere und die Belange der Götter ver-
walte. [410] Von neuem werden vielleicht die Ätnäischen Brüder in
ihrer Anmaßung gegen die himmlischen Burgen und die Gemein-
schaft der Götter die Waffen erheben und Pelorus hat vielleicht
schon dem Typhoeus die schwerfälligen Glieder gelöst. Denn sie
glauben, da Jupiter vom Alter geschwächt ist, die Götter besiegen
und den Himmel mit Leichtigkeit einnehmen zu können, und ver-
suchen ein weiteres Mal, diese herauszufordern. [415] Und da Mars
ohne mich vor der Entscheidung zum Krieg zurückschreckt, werde
ich auf Anraten Jupiters und der anderen Götter – mag ich selbst
mich auch sträuben – gegen meinen Willen zur Herrschaft be-
stimmt.« Nach diesen Worten bedrängten ihn indes jene wehkla-
gend und tränenüberströmt mit der Frage, wen er als Erben und
König über die Welt eigentlich einzusetzen gedenke. [420] Alexan-
der entgegnete: »Der beste Mann und derjenige, welcher der Herr-
schaft am würdigsten ist, soll euer König sein.« Als ihm aber die
536 ALEXANDREIS

detractum digito Perdice tradidit, unde


presumpsere duces regem voluisse supremum
in regni sibi Perdicam succedere summam.
Nec mora, vitalis resolutum frigore corpus 425
destituit calor, et luteo de carcere tandem
spiritus erumpens tenues exivit in auras.
Tunc vero in luctum dolor est resolutus amarum.
Tunc vires habuere suas lamenta, nec ultra
mobilis horrendos suppressit turba tumultus. 430
Non tantus ciet astra fragor cum quatuor axem
stelliferum quatiunt agitando tonitrua fratres.

O felix mortale genus si semper haberet


eternum pre mente bonum finemque timeret
qui tam nobilibus media quam plebe creatis 435
inprovisus adest. Animae discrimine magno
dum queruntur opes, dum fallax gloria rerum
mortales oculos vanis circumvolat alis,
dum petimus profugos qui nunc venduntur honores,
verrimus equoreos fluctus vitamque perosi 440
et caput et merces tumidis committimus undis.
Cumque per Alpinas hiemes turbamque latronum
Romuleas arces et avare menia Rome
cernere solliciti, si cursu forte beato
ad natale solum patriumque revertimur orbem, 445
ecce repentinae modicaeque occasio febris
dissolvit toto quecumque paravimus evo.
Magnus in exemplo est. Cui non suffecerat orbis,
BUCH X 537

Stimme versagte, übergab er den von seinem Finger gezogenen gol-


denen Ring an Perdikkas. Daraus zogen die Generäle den Schluss,
dass nach Alexanders Willen Perdikkas ihm an der Spitze des Reichs
als mächtigster Mann nachfolgen solle. [425] Unverzüglich verließ
die lebenspendende Wärme nun endgültig den bereits von der Kälte
erschöpften Körper, aus dem schmutzigen Kerker des Körpers
entwich schließlich die Seele und entschwand in die zarten Lüfte.
Da aber wandelte sich der Schmerz in bittere Trauer. Da kannte ihr
Wehklagen kein Halten mehr [430] und die leicht erregbare Schar
konnte nicht weiter ihre schreckliche Erschütterung unterdrücken.
Nicht erschüttert ein so gewaltiges Dröhnen die Sterne, wenn die
vier Brüder mit ihren krachenden Donnerschlägen den Sterne
tragenden Himmel erbeben lassen.

Moralexkurs (433–454)

Glücklich wäre das Menschengeschlecht, wenn es sein ewiges Heil


und sein Lebensende immer vor Augen hätte, [435] das für den
Adel ebenso wie für das einfache Volk unvorhersehbar eintritt.
Während die Menschen unter großer Gefahr für ihr Seelenheil nach
Reichtümern streben, während der trügerische Ruhm sie mit eitlen
Schwingen umflattert, während wir flüchtige Ehrenstellen erstre-
ben, die zu unserer Zeit feilgeboten werden, [440] fahren wir über
die Meeresfluten dahin und vertrauen, das Dasein verachtend, un-
ser Leben und unsere Habe den sturmgepeitschten Wogen des Oze-
ans an. Und während wir uns den unwirtlichen Alpen und Diebes-
banden aussetzen, um in unserer Selbstverblendung des Romulus
Burg und die Mauern des habgierigen Rom mit eigenen Augen zu
sehen, reicht – sofern wir dann wieder glücklich [445] nach Hause
kommen – ein plötzlich auftretendes Fieberchen aus, um alles
zunichtezumachen, woran wir unser ganzes Leben gearbeitet ha-
ben. Dafür steht beispielhaft Alexander. Ihm, dem der ganze Erd-
538 ALEXANDREIS

sufficit exciso defossa marmore terra


quinque pedum fabricata domus, qua nobile corpus 450
exigua requievit humo donec Tholomeus,
cui legis Egyptum in partem cessisse, verendi
depositum fati toto venerabile mundo
transtulit ad dictam de nomine principis urbem.

Sed iam precipiti mersurus lumina nocte, 455


Phebus anhelantes convertit ad equora currus.
Iam satis est lusum, iam ludum incidere prestat.
Pyerides, alias deinceps modulamina vestra
alliciant animas. Alium michi postulo fontem,
qui semel exhaustus sitis est medicina secundae. 460

At tu, cuius opem pleno michi copia cornu


fudit, ut hostiles possim contempnere linguas,
suscipe Galteri studiosum, magne, laborem,
presul, et hanc vatis circum tua timpora sacrae
non dedigneris ederam coniungere mitrae. 465
Nam licet indignum tanto sit presule carmen,
cum tamen exuerit mortales spiritus artus,
vivemus pariter, vivet cum vate superstes
gloria Guillermi nullum moritura per evum.
BUCH X 539

kreis nicht ausgereicht hat, muss jetzt eine mit Marmor verzierte
Behausung [450] von fünf Fuß im ausgeworfenen Boden genügen.
Dort ruhte der edle Leib in spärlicher Erde, bis Ptolemäus, dem –
wie man liest – die Herrschaft über Ägypten zugefallen war, das
auf der ganzen Welt verehrte Unterpfand des erhabenen Schicksals
in die nach Alexander benannte Stadt am Nil brachte.

Walters Abwendung von der antikisierenden Dichtung (455–460)

[455] Aber um bei schon hereinbrechender Nacht seine Fackel zu


löschen, wandte Phoebus das schnaubende Gespann hinab in das
Meer. Schon genug ist getändelt, schon ist es besser, das Spiel zu
beenden. Mögen hinfort, Pieriden, eure Melodien andere Seelen
gewinnen. Mich verlangt es nach einer anderen Quelle, [460] die –
einmal getrunken – heilend den zweiten Durst stillt.

Walters Widmung an seinen Gönner Wilhelm von Blois (461–469)

Du aber, dessen innerer und äußerer Reichtum mir Hilfe aus vol-
lem Füllhorn gespendet hat, empfange, damit ich gehässiger Schmäh-
sucht wirksam entgegentreten kann, erhabener Erzbischof, das ge-
lehrte Werk Walters, sträube dich nicht, [465] mit dem Efeu des
Dichters um deine Schläfen herum die heilige Mitra zu schmücken.
Denn mag auch meine Dichtung eines so bedeutenden Erzbischofs
nicht würdig sein, werden wir beide zugleich, wenn die Seele unsere
sterblichen Glieder einmal verlassen hat, am Leben bleiben, mit dem
Dichter wird der Ruhm Wilhelms überdauern und in ewiger Zeit
niemals vergehen.
KOmmentar
EINFÜHRUNG ZUM PROLOG
Beherrschendes Thema des Prologs ist die Problematik missgünsti-
ger Neider, die aus unterschiedlichen Motiven heraus meinen, ein
Werk herabwürdigen zu müssen. Um sich schon vorab gegen eine
derartige Kritik zu wappnen, führt Walter mit Vergil und Hierony-
mus im Sinne einer captatio benevolentiae zwei weithin anerkannte
Autoritäten an, die ungeachtet ihrer herausragenden literarischen
Qualitäten eben diese Erfahrung gemacht haben.
Doch ist der Schutz vor missgünstigen Neidern durch das argu­
mentum ad verecundiam nicht der einzige und vermutlich auch nicht
der wichtigste Grund für die explizite Bezugnahme auf den augustei-
schen Dichter und den lateinischen Kirchenvater. Vor dem Hinter-
grund nämlich, dass die Alexandreis in ihrer grundsätzlichen Anlage
– allein schon durch die Auswahl eines heidnischen Feldherrn wie
Alexander als wichtigstem Protagonisten des Epos bedingt – die an-
tik-pagane Ebene mit christlichen Vorstellungen zu verbinden sucht
– als Beispiele lassen sich etwa der doppelte Musenanruf im Prooe-
mium oder auch das Nebeneinander von aristotelischer Tugendleh-
re und christlichen Moralvorstellungen anführen  –, repräsentieren
Vergil und Hieronymus auf paradigmatische Weise die beiden im
Epos Walters zugrunde gelegten Darstellungsperspektiven. Doch bei
Walters Auswahl scheint noch ein weiterer, darüber hinausgehender
Aspekt eine Rolle zu spielen. Bei beiden prominenten Vertretern ih-
rer jeweiligen Zeit lassen sich nämlich ebenso wie in der Alexandreis
insgesamt eine antik-pagane und eine christliche Seite ausmachen.
Ohne Zweifel ist Vergil in erster Linie der antike lateinische Epiker
par excellence. Doch hat die Wertschätzung für den augusteischen
Dichter im Mittelalter ihren Ursprung bekanntlich in der christli-
chen Auslegung der vierten Ekloge in der Oratio ad Sanctos Kaiser
Konstantins genommen, womit durch die historisch erstmalige Deu-
544 KOmmentar

tung oder – wie Wlosok diesen Vorgang treffender bezeichnet – die


Usurpation des puer nascens als Jesus Christus der antik-pagane Dich-
ter Vergil zum vates Christianus avancierte (vgl. Wlosok 1983, 437).
Nicht anders verhält es sich – allerdings in vertauschten Rollen – mit
Hieronymus, der als Verfasser der Vulgata und als Autor zahlreicher
Kommentare zu biblischen Büchern selbstredend in erster Linie die
christliche Dimension innerhalb der Alexandreis verkörpert, der je-
doch auch – und dies in besonderer Weise – mit dem antik-paganen
Schrifttum in Verbindung gebracht werden kann. Denn in einem im
Jahre 384 n. Chr. verfassten Brief an Julia Eustochium – eine vorneh-
me junge Römerin, die sich der Jungfräulichkeit verschrieben hatte
und mit welcher der Kirchenvater eine langjährige intensive Korres-
pondenz pflegte – berichtet Hieronymus von einer Traumvision, in
der ihn der himmlische Richter beschuldigt, sich mehr mit der an-
tik-paganen Literatur zu beschäftigen als mit der Bibel, und ihm den
schwerwiegenden Vorwurf macht, eher ein Anhänger Ciceros zu sein
als ein Christ (vgl. Hier., epist. ad Eust. 22, 30: Cum subito raptus in
spiritu, ad tribunal judicis pertrahor; ubi tantum luminis, et tantum
erat ex circumstantium claritate fulgoris, ut projectus in terram, sur­
sum aspicere non auderem. Interrogatus de conditione, Christianum
me esse respondi. Et ille qui praesidebat: Mentiris, ait, Ciceronianus
es, non Christianus). Auch wenn Hieronymus in seiner Traumvision
nach schmerzhaften Peitschenschlägen versprechen muss, sich zu-
künftig wieder vornehmlich der Heiligen Schrift zu widmen, zeigt
dieser Brief, wie sehr sich der Kirchenvater auch der antik-paganen
Literatur verpflichtet wusste. Vor diesem Hintergrund kann man das
von Walter im Prolog auf Hieronymus bezogene noster auch als einen
Hinweis auf die Gemeinsamkeit mit den Gelehrten des 12. Jahrhun-
derts in Frankreich verstehen, die sich ebenso wie der spätantike Kir-
chenvater neben der christlichen Literatur im Allgemeinen und der
Bibel im Besonderen auch mit den Werken der heidnischen Antike
intensiv beschäftigten und diese ungeachtet ihres christlichen Glau-
bens zu würdigen wussten (vgl. Einleitung 1).
EINFÜHRUNG ZUM PROLOG 545

Ein weiterer Beleg für die an dieser Stelle vorgenommene Ver-


flechtung des antiken Dichters mit dem spätantiken Kirchenvater
findet sich zudem in Walters Formulierung siquis tamen hoc captus
amore leget, mit welcher der mittelalterliche Autor – wie Janka/
Stellmann (2020) 68–69 in ihrem Beitrag Die Alexandreis als ty­
pologisches Epos aufzeigen – nicht nur einen unmittelbaren Bezug
zu Hieronymus herstellt – der Kirchenvater benutzt die Worte in
seiner Vorrede zu den Hebraici Quaestiones in Genesim in ganz ähn-
licher Weise –, sondern zugleich auf eine Stelle aus der sechsten Ek-
loge Vergils verweist, die wiederum Hieronymus als Quelle gedient
hat (vgl. Alex., prol. 30–31; zu Walters Formulierung hinsichtlich sei-
nes Überbietungsanspruchs vgl. Komm. prol., 30–36). Dies macht
deutlich, dass Walter es auf virtuose Weise versteht, die Alexandreis
schon über die gezielte Auswahl der im Prolog aufgeführten Persön-
lichkeiten zwischen antik-paganer und christlicher Deutungsebene
zu positionieren.
Das Alleinstellungsmerkmal der Alexandreis wird durch die ex-
plizite Erwähnung des Servius unterstrichen, indem der Kommen-
tator der Aeneis Vergils als Zeuge angeführt wird, dass keiner der
antiken Dichter es gewagt hat, ein Alexander-Epos zu verfassen (vgl.
Alex., prol. 35). Darüber hinaus dient die ausdrückliche Nennung
des spätantiken Grammatikers in seiner Eigenschaft als Kommenta-
tor als greifbarer Hinweis nicht nur auf die Kommentierungswür-
digkeit, sondern vielmehr auch auf die aufgrund der intertextuellen
Mehrdeutigkeit der Alexandreis vom mittelalterlichen Autor inten-
dierte Kommentierungsbedürftigkeit. Janka/Stellmann (2020)
72 betonen zu Recht, dass es Walters poetischer Strategie entspricht,
durch intertextuelle Mehrdeutigkeit – wie die duplizierte Referenz
des Eklogen-Zitats von Vergil zu belegen vermag – beim Leser ein
Bedürfnis nach Kommentierung zu wecken, um dem Epos zusam-
men mit dem Dichter und seinem Gönner über eine dauerhafte
und kontroverse Auseinandersetzung mit dem Werk ebenso wie der
Aeneis Vergils einen die Zeiten überdauernden Ruhm – vivet cum
546 KOmmentar

vate superstes  | gloria Guillermi nullum moritura per aevum – zu


verschaffen (vgl. Komm. prol., 30–36; vgl. auch Komm. I, 209–211;
vgl. auch Alex. X, 468–469). Als besondere Pointe kann in diesem
Zusammenhang der bemerkenswerte Umstand gelten, dass Walter
mit diesen Worten sogar ein Selbstzitat aus seinem Tractatus contra
Iudaeos vornimmt, in welchem er den Leser ebenso wie in der Ale­
xandreis um Nachsicht für sein Werk bittet (vgl. Walter v. Châtillon,
Tract. contra Iud. III, 14, col. 458: De caetero ab illis qui hoc opus lectu­
ri sunt, si quis tamen hoc captus amore leget, de omissis vel non sane
dictis, veniam postulamus). Damit erweitert sich die intertextuelle
Mehrdeutigkeit noch um eine intratextuelle Ebene und steigert so-
mit die Möglichkeit der Sinnbezüge, wohlverstanden im Sinne einer
von Walter intendierten potenzierten Kommentierungsbedürftig-
keit (vgl. Janka/Stellmann 2020, 72).
Mit einer an der typologischen Bibelauslegung angelehnten
Ausdrucksweise versucht Walter dem Leser gegen Ende des Prologs
zudem die für das Verständnis der Alexandreis notwendige Rezep-
tionshaltung zu vermitteln, die darin ihren Ausdruck finden sollte,
das Epos inhaltlich und formal in die Auslegungstradition der Bibel
einzubetten (vgl. Komm. prol. 36–39).
KOMMENTAR ZUM PROLOG

Die Problematik der Neider (1–13)


P 1–13 Moris est usitati, cum in auribus multitudinis aliquid novi
recitatur … et facilius sit ei ambigua depravare quam in partem
interpretari meliorem: Der Prolog beginnt – wie Janka/Stell-
mann (2020) 60 zutreffend formulieren – mit einer Reflexion über
die antizipierte Rezeption und Interpretation der Alexandreis. Im
Zuge dessen schildert Walter die unterschiedlichen Reaktionen des
Publikums, die gewöhnlich bei der Neuerscheinung einer Dichtung
– selbstredend hat er mit diesen Worten ungeachtet der an dieser
Stelle allgemein gehaltenen Aussagen sein eigenes Werk vor Augen
– üblicherweise zu erwarten sind und von wohlwollender Anerken-
nung bis zu schmerzhafter Ablehnung reichen können. Mit diesen
einleitenden Worten folgt Walter den Empfehlungen eines Matthä-
us von Vendôme oder eines Galfredo de Vinosalvo, eine Dichtung
mit einem Sprichwort oder einem Beispiel zu beginnen, mit dem der
Dichter mit seinen Lesern einen gemeinsamen literarischen Raum
betritt, welcher der Bezeugung und der Bestätigung einer gemeinsa-
men Erfahrung dient. Damit fügt sich Walter in einen bereits existie-
renden Diskurs ein, der mit der eigenen Dichtung nun aufgenom-
men und fortgesetzt werden soll (vgl. Brinkmann 1966, 85–86). ⇔
Ohne auf die möglichen Gründe für die öffentliche Anerkennung
eines Werks näher einzugehen, wendet sich Walter im Folgenden
ausschließlich den kritischen Stimmen zu. Dabei verwendet er den
aus dem apologetischen Schrifttum der Kirchenväter – unter den
christlichen Schriftstellern hat insbesondere der von Walter gegen
Ende seines Prologs explizit erwähnte Hieronymus die für die Pat-
ristik charakteristische Auseinandersetzung mit missgünstigen Kri-
tikern gesucht – übernommenen Topos der böswilligen Neider, die
548 KOmmentar

ein Werk ungeachtet der dargebotenen Qualität mit ihrer Verach-


tung und ihrem Hass strafen (vgl. Schmeidler 1916, 26–27). Wie
das Vorwort des Honorius Augustodunensis zu seinem um 1100
datierten, in Canterbury verfassten Elucidarium zu zeigen vermag,
in welchem sich der gelehrte Benediktinermönch ebenfalls mit bös-
willigen Neidern auseinandersetzt, war Walter nicht der einzige Ge-
lehrte des 12. Jahrhunderts, der diesen Topos verwendete (vgl. Hon.
Aug., Eluc. praefatio, col. 1109–1110: Nomen autem meum ideo volui
silentio contigi, ne invidia tabecens suis juberet utile opus contemnen­
do negligi). Im Widmungsbrief zum ersten Buch der Imago Mundi
greift Honorius diesen Topos noch einmal auf, wo nicht nur die
Schmähung des kritisierten Werks, sondern auch dessen heimliche
Aneignung durch weniger talentierte Dichter zur Sprache gebracht
wird (vgl. Hon. Aug. De imagine mundi, Epistola ad Christianum,
de eodem, col. 119–120: Periculosum autem propter invidos qui cuncta
quae nequeunt imitari non cessant calumniari, et quae assequi non
possunt venenoso dente, ut setiger hircus lacerare non omittunt, ut ea
quae publice arguunt, furtive intente legunt, atque de labore nostro
sibi scientiam usurpant). ⇔ Dass die von Walter zum Ausdruck
gebrachten Befürchtungen jedoch nicht nur topischen Charakter
besitzen, vermag eine Stelle aus dem Anticlaudianus des ebenso
wie Walter aus Lille stammenden Alanus ab Insulis zu belegen, der
mit der böswilligen Imitation der Eingangsworte der Alexandreis
– gesta ducis Macedum – Walters Werk mit scharfer Zunge her-
abzuwürdigen suchte (zur Interpretation der Stelle bei Alanus ab
Insulis vgl. Ratkowitsch 1991, 237–241). Zum Leidwesen seines
Intimfeindes Alanus war Walters Epos jedoch nicht nur unmittelbar
nach seinem Erscheinen – wie die am praktischen Unterricht aus-
gerichtete Glossierung der Handschriften der Alexandreis belegen
– äußerst erfolgreich, sondern konnte sich auch in den auf Walter
folgenden Jahrhunderten als vielgelesene Schullektüre durchsetzen.
⇔ Des Weiteren bringt Walter die aus seiner Sicht unlautere und
auch unqualifizierte Kritik auch an hochrangigen Werken in einen
KOMMENTAR ZUM PROLOG 549

inneren Zusammenhang mit dem seit der Schöpfung des Menschen


und dem Sündenfall zunehmenden moralischen Verfall, durch den
der Mensch im Zweifel eher dazu neigt, das literarische Werk eines
Dichters zu verurteilen als anzuerkennen. In diesem Kontext wirbt
Walter mit dem für ihn positiv konnotierten Begriff ambigua da-
für, die in seinem Alexander-Epos bewusst angelegte intertextuelle
Mehrdeutigkeit nicht als störend zu empfinden, sondern im Sinne
eines Qualitätsmerkmals als integralen Bestandteil seiner Dichtung
anzuerkennen und zu würdigen (zur intertextuellen Mehrdeutig-
keit in der Alexandreis vgl. auch die Einführung zum Prolog). Wie
Janka/Stellmann (2020) 61–62 aufzeigen, bedient sich Walter
mit der Formulierung versus bene tornatos incudi reddendos esse
dabei einer Stelle aus der Ars poetica des Horaz, welche diese über
die gesamte Alexandreis hinweg wirksame und auf einem kontras-
tiven Vorgehen beruhende poetische Strategie des mittelalterlichen
Dichters eindrücklich zu beleuchten vermag (vgl. Hor., Ars poet.
441: et male tornatos incudi reddere versus). Während bei Horaz
schlecht geschmiedete Verse wegen ihrer fehlenden Eindeutigkeit
zur Verbesserung auf den Amboss zurückgeschickt werden, beklagt
Walter in Umkehrung des Horaz-Zitats die Tatsache, dass auch gut
geschmiedete Verse trotz ihrer geistreichen Mehrdeutigkeit – auch
an der vorliegenden Stelle hat Walter zweifellos sein eigenes Epos vor
Augen – möglicherweise nicht die angemessene Anerkennung fin-
den. Damit kritisiert Walter die durch mangelnde Bildung bedingte
Ahnungslosigkeit mancher Leser, da sie den wahren Gehalt seiner
Dichtung nicht zu erkennen vermögen, womit Walter kontrastie-
rend dazu auch die Verbindung zur gebildeten Leserschaft des 12.
Jahrhunderts als der eigentlichen Zielgruppe seines dichterischen
Schaffens herstellt. Mit der von Walter über eine Apostrophe an
die Alexandreis gerichteten Aufforderung, sich zu den literarischen
Denkmälern der Antike zu gesellen, verkehrt der Autor der Alexan­
dreis zudem eine Ovid-Stelle aus den Briefen vom Schwarzen Meer
in ihr Gegenteil, in der ausdrücklich betont wird, dass der Text des
550 KOmmentar

antiken Dichters nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist (vgl. Alex.,
prol. 14–19: o mea Alexandrei … ut demum auderes in publica venire
monimenta; vgl. auch Ov., Pont. I, 1, 5: Publica non audent [libelli]
intra monumenta venire; vgl. Janka/Stellmann 2020, 63). Damit
dokumentiert Walter zum einen den eigenen Wunsch und auch den
eigenen Anspruch, dass sein Epos gelesen werden soll – der mittel-
alterliche Autor bezeichnet sein Publikum dementsprechend auch
mit den Begriffen multitudo und turba –, auch wenn das Werk und
sein Autor dadurch unweigerlich der öffentlichen Kritik ausgesetzt
werden. Zum anderen ist es Walter unter poetologischen Aspekten
mit einer derartigen, auf Mehrdeutigkeit angelegten Kontrastierung
jedoch auch darum zu tun, seinen aemulativen Anspruch gegen-
über den wichtigsten Werken der Antike zum Ausdruck zu bringen
(vgl. Komm. prol. 30–36; vgl. auch Einleitung 6).

Das Vorbild Vergil (13–23)

P 13–23 Hoc ego reveritus diu te, o mea Alexandrei, in mente habui
semper supprimere … ut demum auderes in publica venire monimen­
ta: Im Anschluss an die Schilderung der verdorbenen, zu Neid und
Missgunst neigenden und inzwischen entgegen ihrer wahren Na-
tur sich im moralischen Verfall befindlichen Menschheit berichtet
Walter davon, dass er aus Furcht vor missgünstigen Kritikern daran
gedacht habe, sein Werk vollständig zu vernichten oder zumindest
zu Lebzeiten nicht zu veröffentlichen. ⇔ Mit dieser Bemerkung
stellt sich Walter demonstrativ in die Nachfolge des augusteischen
Dichters Vergil – die Donatvita berichtet, dieser habe testamenta-
risch verfügt, die unvollendet gebliebene Aeneis zu vernichten –,
der im Mittelalter als der lateinische Epiker par excellence galt und,
wie im weiteren Verlauf der Alexandreis noch zu sehen sein wird,
insbesondere mit der Aeneis in vielfacher Hinsicht als Orientierung
und wichtiger Bezugspunkt für Walter fungiert. Auch mit der ex-
KOMMENTAR ZUM PROLOG 551

pliziten Erwähnung der für die Abfassung benötigten Zeit nimmt


Walter Bezug auf die in der Donatvita für die drei Hauptwerke Ver-
gils diesbezüglich gemachten Angaben. ⇔ Im folgenden Textab-
schnitt, in welchem nach den unübersehbaren Hinweisen auf den
antiken Dichter in Form einer Antonomasie auch der Name Vergils
fällt, liefert Walter nun die Begründung für das zuvor geschilderte
Zögern, sein Werk zu veröffentlichen: Wenn schon Vergil, dem zu
Lebzeiten keiner gleichkommen konnte, nach seinem Tod Schmä-
hungen ausgesetzt war, was hat dann erst der Autor der Alexandreis,
der hier Vergils Überlegenheit zumindest vordergründig anerkennt,
zu erwarten (vgl. Alex., prol. 19–20: Non enim arbitror me esse me­
liorem Mantuano vate)? Auch für diesen Passus steht die Donatvita
Pate, in der Vergil mit Homer in Beziehung gesetzt wird (vgl. Vitae
Vergilianae, Donatvita, § 43: Obtrectatores Vergilio numquam de­
fuerunt, nec mirum, nam nec Homero quidem). Auffällig ist dabei
insbesondere die sprachliche Anlehnung von obtrectantium linguae
gegenüber den obtrectatores bei Donat. Gleichzeitig stellt sich Wal-
ter mit dieser Bezugnahme geschickt nicht nur in die Nachfolge des
augusteischen Dichters, sondern reiht sich auf dem Umweg über
Homer auch in die gesamte epische Tradition der Antike ein (vgl.
Wulfram 2000, 222–269).

Das Vorbild Hieronymus (24–29)

P 24–29 Sed et Ieronimus noster, vir tam disertissimus quam chri­


stianissimus … cum virum tam nominatae auctoritatis pupugerit
stimulus emulorum: Nach dem antik-paganen Vorbild Vergil fällt
mit Hieronymus nun auch der Name der christlichen Autorität,
der – wie bereits erwähnt – in den Prologen zu seinen Werken in
besonderem Maße die Auseinandersetzung mit missgünstigen Kri-
tikern gesucht hat. Walter bezieht sich mit seiner Aussage, dass ge-
mäß Hieronymus kein Schriftsteller mehr vor übelwollender Kritik
552 KOmmentar

sicher sei, wenn sogar Vergil von derartigen Schmähungen betroffen


gewesen sei, auf den Prolog der von Hieronymus verfassten Hebrai­
cae Quaestiones in Genesim, in denen der Kirchenvater den antiken
Dichter als Opfer böswilliger Kritiker in Schutz nimmt, die diesen
eines wörtlich übernommenen Homerzitats wegen als Plünderer
der Alten diskreditieren (vgl. Hier., Liber Hebraicarum Quaestio­
num in Genesim, praefatio, col. 983: Hoc idem passus est ab æmulis
et Mantuanus vates, ut cum quosdam versus Homeri transtulisset ad
verbum, compilator veterum diceretur. Quibus ille respondit, magna­
rum esse virium, clavam Herculi extorquere de manu).

Walters aemulativer Überbietungsanspruch (30–36)

P 30–36 In hoc tamen lectores huius opusculi … quam nullus veterum


poetarum teste Servio | ausus fuit aggredi perscribendam: Walter geht
es ungeachtet seiner vordergründigen Anerkennung der Überlegen-
heit Vergils indes nicht nur um eine imitatio des antiken Dichters,
sondern auch darum, mit diesem in einen aemulativen Wettstreit
zu treten. Dabei möchte Walter mit drei Argumenten – erstens der
Tatsache, dass er sein Werk nach einigem Zögern im Unterschied zu
Vergil – die Aeneis wurde nach dem Tod des vates Mantuanus erst
auf Betreiben des Augustus veröffentlicht – schließlich doch selbst
herausgab, zweitens dem im Vergleich zur Aeneis kurzen Abfas-
sungszeitraum von fünf Jahren – die Donatvita gibt für die Aeneis
elf Jahre an – und drittens der Erhabenheit des Stoffes, an die sich
dem Kommentar des Servius zur Aeneis Vergils zufolge keiner der
antiken Dichter herangewagt hat – seinen Überbietungsanspruch
artikulieren (die von Walter angesprochene Servius-Stelle ist nicht
erhalten, so dass eine Überprüfung dieser Behauptung nicht mög-
lich ist). ⇔ Mit den Worten nullus veterum poetarum – keiner der
antiken Dichter – ist jedoch nicht nur Vergil angesprochen, son-
dern insbesondere auch Lucan, der mit seinem ebenso auf zehn Bü-
KOMMENTAR ZUM PROLOG 553

cher angelegten, im engeren Sinne historiographischen Epos über


den Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius einen mindestens
ebenso wichtigen Maßstab für Walter darstellt. ⇔ Wie Janka/
Stellmann (2020) 68–70 zeigen, bedient sich Walter in seinen
diesbezüglichen Ausführungen mit der Formulierung siquis tamen
hoc captus amore leget – der Wortlaut findet sich leicht abgewandelt
auch bei Hieronymus in dessen Vorrede zum Genesis-Kommentar
– zudem einer Stelle aus der sechsten Ekloge Vergils, in der mit ver-
gleichbaren Worten die Bitte um eine wohlmeinende Rezeption der
bukolischen Dichtung zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Verg.,
Buc. VI, 9–10: Si quis tamen haec quoque, si quis | captus amore leget;
vgl. auch Hier., Hebr. Quaes. in Gen., praef., col. 935–936: Unde
lectorem obsecro, … si quis tamen haec quoque, si quis. Captus amore
leget; zu der hier besprochenen Stelle vgl. auch die Einführung zum
Prolog). Auch mit dieser kontrastierenden Imitation gelingt es Wal-
ter, seinen aemulativen Anspruch zum Ausdruck zu bringen, indem
er mit seinem Alexander-Epos hinsichtlich der Stilhöhe – er selbst
spricht dabei bezeichnenderweise von der altitudo materiae – die
Hirtendichtung seines antiken Vorbilds übertrifft (Antike und Mit-
telalter unterscheiden bezogen auf Vergil zwischen dem niedrigen
Stil – dem stilus humilis – für die Eclogae, dem mittleren Stil – dem
stilus medius – für die Georgica und dem hohen Stil – dem stilus
gravis – für die Aeneis).

Walters Rezeptionsanweisung (36–39)

P 36–39 et ad hoc | habito respectu discant saltim ex dispensacione |


debere tolerari que, siquis de scripto iure | ageret, poterant de rigore
condempnari: Wie Janka/Stellmann (2020) 73 darlegen, gibt
Walter in diesem Abschnitt dem Leser eine Rezeptionsanweisung
an die Hand, die dahingehend zu verstehen ist, dass die an dieser
Stelle in den Kontext der typologischen Bibelexegese eingebettete
554 KOmmentar

Alexandreis in derselben Weise gelesen werden sollte wie die Heilige


Schrift. Sie begründen ihre These mit Hilfe der Wiener Scholien, in
denen zum einen der von Walter benutzte Begriff dispensacio mit
der in der Zeit sub gratia wirksamen misericordia in Verbindung ge-
bracht wird, zum anderen mit dem gegensätzlichen Begriff des rigor
eine Anspielung auf die Zeit sub lege vorliegt, in welcher der Mensch
noch nach dem Buchstaben des Gesetzes – de scripto iure – handel-
te. Auf Walters Epos übertragen ist der Leser mit anderen Worten
nur dann in der Lage, die Alexandreis in ihrer ganzen Bedeutung
zu verstehen, wenn er analog zu den in der Bibel angelegten typolo-
gischen Bezügen zwischen Altem und Neuem Testament und dem
darin zum Ausdruck gebrachten göttlichen Heilsplan – bezeich-
nenderweise hat der Begriff dispensacio im Kirchenlatein auch die
Bedeutung Heilsplan bzw. göttliche Vorsehung angenommen – über
die einfache Wortbedeutung hinaus und jenseits eines Rigorismus
des Buchstabens und des Gesetzes auch den dreifachen geistigen
Sinn des Epos zu erfassen vermag. Diese Erkenntnis verweist unmit-
telbar auf die von Claudia Wiener in ihrem Beitrag Proles vaesana
Philippi totius malleus orbis für die Alexandreis fruchtbar gemachte
Lesart vom vierfachen Schriftsinn und das damit verbundene Ge-
schichtsverständnis bzw. die Geschichtsdeutung Walters, ohne de-
ren Berücksichtigung man dem vielschichtigen Alexander-Epos tat-
sächlich nicht gerecht werden würde (vgl. Einleitung 7). ⇔ Doch
berührt die Rezeptionsanweisung Walters, die Alexandreis zu lesen
wie die Bibel, noch einen weiteren für das Verständnis von Walters
Alexander-Epos überaus bedeutsamen Aspekt. In vergleichbarer
Weise nämlich, wie in der Bibel das Alte Testament spiegelbildlich
zum Alten Testament aufgebaut ist – was im Alten Testament an-
gekündigt bzw. verheißen wird, findet bekanntlich im Neuen Testa-
ment seine Erfüllung bzw. Vollendung – und dabei der Kreuzestod
Christi bzw. dessen Auferstehung die zentrale Spiegelachse bildet,
oder auch einzelne Teile der Bibel formal-strukturell – als Beispiel
lässt sich in diesem Kontext etwa der Psalm 23 anführen, in welchem
KOMMENTAR ZUM PROLOG 555

zwei Gebete in der Mitte von zwei äußeren Bekenntnissen zu Gott


eingerahmt werden – nach diesem chiastischen Prinzip angeordnet
sind, so ist auch die Alexandreis sowohl in ihrem Gesamtaufbau als
auch in einzelnen Teilen – etwa der als eigene und in sich konsisten-
te Einheit ausgewiesene Perserkrieg oder auch die Aristoteles-Rede
in Buch I – einer derartigen, auf einer um eine hinsichtlich ihrer
Bedeutung für das Gesamtwerk zentrale Stelle herum gestalteten
Struktur miteinander korrespondierender Rahmenteile unterwor-
fen (zur Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2; zur Gesamt-
struktur der Alexandreis vgl. 7.3; zur Struktur der Aristoteles-Re-
de vgl. die Einführung zu Buch I). ⇔ Bezüglich dieser von Walter
für sein Epos zugrunde gelegten Gestaltungsprinzipien stellt die
Alexandreis im Mittelalter – wie das am Ende des 11. Jahrhunderts
verfasste Proslogion des Anselm von Canterbury zu zeigen vermag –
dabei keinen Einzelfall dar. Wie Corbin (1986) 225 aufzeigt, besitzt
beispielsweise auch das Werk des scholastischen Philosophen und
Theologen, in welchem der sogenannte ontologische Gottesbeweis
entwickelt wird, einen vergleichbaren konzentrischen Aufbau, über
den die zentrale Botschaft von Gottes «Über-Unbegreiflichkeit» in
die Mitte des Werks gerückt wird.

Hinweis auf die Themenübersichten (39–42)

P 39–42 Sed hec hactenus … totum opus per capitula distinguamus:


Der Prolog endet mit dem Hinweis auf eine jedem der zehn Bücher
vorangestellte Themenübersicht – von Walter als capitula bezeich-
net –, die dem Leser den Überblick über die Schilderung der Ge-
schehnisse erleichtern soll. Diese Themenübersichten sind sicher-
lich auch der Tatsache geschuldet, dass Walter mit seinem Epos über
Alexander den Großen eine breite Rezeption im mittelalterlichen
Schulunterricht antizipiert (vgl. Janka/Stellmann 2020, 74).
Einführung zu Buch I
Vor der eigentlichen Erzählung legt Walter dem Leser die wesent-
lichen Linien seines Epos in einem aus zwei Teilen bestehenden,
kunstvoll gestalteten Prooemium dar. Im ersten Teil mündet die
von großer Anerkennung oder gar von Bewunderung getragene
Wiedergabe von Alexanders wichtigsten Taten – genannt werden
dabei dessen Siege über den persischen König Darius und den In-
derkönig Porus sowie die Befreiung Griechenlands von den Tribut-
zahlungen an die Perser – gleich im ersten Satz in einen antiken Mu-
senanruf (vgl. Alex. I, 1–5). Mit Bedauern stellt Walter im Anschluss
an seine sprachlich ausgefeilte Lobrede fest, dass die weltgeschicht-
liche Bedeutung von Alexanders Taten noch größer gewesen wäre,
wenn er durch den Willen der Parzen – mit der Erwähnung der drei
Schicksalsgöttinnen wird zugleich eine erste transzendente Macht
für die Alexandreis eingeführt – ein längeres Leben gehabt hätte,
so dass dann sogar der Ruhm der Römer völlig verblasst wäre (vgl.
Alex. I, 5–11; zum Götterapparat und zur Rolle des Schicksals in der
Alexandreis vgl. Einleitung 5; zum Verständnis wahren Ruhms in
der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). Mit dieser über das ganze Epos
hinweg auszumachenden Distanzierung gegenüber den Leistungen
der römischen Antike geht es dem Autor der Alexandreis auf po-
etologischer Ebene nach Maßgabe seines gerade für einen mittel-
alterlichen Dichter charakteristischen aemulativen Anspruchs dabei
immer wieder auch um die Überbietung der römischen Epiker (zu
Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6).
Der zweite Teil des Prooemiums enthält die Widmung an seinen
Gönner Wilhelm von Blois und führt nach der ausführlichen Wür-
digung der eindrucksvollen Karriere und der herausragenden Bil-
dung des Erzbischofs von Reims folgerichtig auch zur Anrufung der
christlichen Muße (vgl. Alex. I, 12–26). Damit erfüllt Walter auch
Einführung zu Buch I 557

zeitgenössische Anforderungen an ein Epos und dokumentiert im


Zuge dessen schon zu diesem frühen Zeitpunkt seines carmen he­
roicum, dass – gerade auch durch die Auswahl eines antiken Helden
wie Alexander als wichtigstem Protagonisten bedingt – das Neben-
einander antik-paganer und christlich geprägter Vorstellungen ein
wiederkehrendes Element in der Alexandreis darstellt (vgl. die Ein-
führung zum Prolog).
Einen ersten Schwerpunkt innerhalb der eigentlichen Erzählung
bildet die Aristoteles-Rede. Um die Bedeutung der darin aufgeführ-
ten aristotelischen Tugenden – entsprechend der Mesotes-Lehre
des Aristoteles geht es bei den genannten Tugenden dabei immer
um die entscheidende Frage, inwieweit ein Mann in der Lage ist, den
Impuls des im Augenblick gerade vorherrschenden Affekts der je-
weiligen Situation entsprechend von der Vernunft gesteuert in eine
moralisch richtige Handlung zu überführen – deutlicher herauszu-
arbeiten, ist es im Hinblick auf bestimmte Tugenden geboten, die
deutsche Übersetzung gegenüber der in der modernen Forschung
gängigen Praxis dahingehend zu ändern und anzupassen, dass da-
durch jeweils das gesamte Spektrum der entsprechenden Tugend
besser abgebildet werden kann. Beispielsweise gibt Wolf (2006)
357 das im Gegenstandsbereich des Zorns angesiedelte griechische
πρᾳότης mit dem einseitigen und irreführenden deutschen Begriff
der Sanftmut wieder, womit dem Umstand, dass es bezogen auf die
nämliche Tugend nicht um die grundsätzliche Schonung eines Fein-
des geht, sondern unter bestimmten Umständen durchaus auch die
Zerstörung einer Stadt impliziert sein kann, in keiner Weise Rech-
nung getragen wird. Pieper (1974) 1141 beschreibt dieses Manko der
deutschen Sprache hinsichtlich dieser Tugend treffend wie folgt:
Es macht mir kein sonderliches Vergnügen, die Inzuchtnahme der Zürnkraft
mit diesem allzu schlaff und harmlos klingenden Namen ›Sanftmut‹ zu be-
zeichnen. Doch ist wieder einmal festzustellen, daß wir für eine großartige
Sache keinen lebendigen, wirklich verdeutlichenden oder gar bewegenden
Namen zur Verfügung haben. […] Sanftmut bedeutet ja gerade nicht, daß
558 KOmmentar
die ursprüngliche Kraft des Zürnens abgetötet werde. Sanftmut heißt, diese
Kraft nicht zu schwächen, sondern zu ordnen. Die Unfähigkeit zu zürnen
hat mit Sanftmut nicht das Mindeste zu tun. Solche blaßgesichtige Leisetre-
terei, die sich leider oft mit Erfolg als Sanftmut ausgibt, soll doch niemand
für eine christliche Tugend halten.

Auch die von Krapinger (2020) 624 für diese Feldherrntugend


verwendete Übersetzung mit dem nicht minder einseitigen deut-
schen Begriff der Milde vermag an dieser unbefriedigenden Situa-
tion nichts Wesentliches zu ändern. Aus den genannten Gründen
soll in der vorliegenden Arbeit das griechische πρᾳότης bzw. das la-
teinische humilitas im Deutschen deshalb mit dem verdeutlichen-
den Begriff der angemessenen Zürnkraft wiedergegeben werden, da
damit die unterschiedlichen Handlungsoptionen innerhalb dieser
Feldherrntugend besser zum Ausdruck gebracht werden können.
Ebenso unpräzise ist die Wiedergabe der im Gegenstandsbereich des
Gebens und Nehmens angesiedelten Tugend der ἐλευθεριότης bzw.
der liberalitas mit dem deutschen Begriff der Freigebigkeit, da damit
die innerhalb dieser Tugend auch vorhandene Seite des Nehmens
keine ausreichende Berücksichtigung findet (vgl. Wolf 2006, 357;
vgl. auch Krapinger 2020, 624). Deshalb soll an dieser Stelle für
diese Tugend der deutsche Begriff der angemessenen Gebefreudigkeit
eingeführt werden, um deutlich zu machen, dass es dabei nicht aus-
schließlich um das großzügige Verteilen von Geschenken geht, son-
dern mitunter auch die Verweigerung von Geschenken und sogar
die Zurücknahme von Beute impliziert sein können (vgl. Komm.
VIII, 49–74). Nicht anders verhält es sich mit der im Gegenstands-
bereich des menschlichen Miteinanders angesiedelten und mit dem
undeutlichen deutschen Begriff der Freundlichkeit wiedergegebe-
nen Tugend der φιλíα bzw. der amicicia (vgl. Wolf 2006, 358; vgl.
auch Krapinger 2020, 624). Auch mit diesem Begriff ist letztlich
eine zu große Einseitigkeit verbunden, die den Blick lediglich auf die
positive Zuwendung des Feldherrn gegenüber seinen Soldaten rich-
tet, ohne jedoch auch die unter Umständen notwendige Fähigkeit
Einführung zu Buch I 559

zur deutlichen Distanzierung gegenüber den eigenen Gefolgsleuten


mit in den Blick zu nehmen. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, im
Deutschen besser von angemessener Zuwendung zu sprechen, da
mit diesem Begriff auch hier das innerhalb dieser Tugend vorhande-
ne Spektrum als Ganzes besser abgebildet werden kann (vgl. Komm.
IV, 131–141). Auch bei der im Gegenstandsbereich des richtigen Um-
gangs mit der Ehre angesiedelten μεγαλοψυχία – Krapinger (2020)
624 gibt diese Tugend im Deutschen mit dem unzureichenden Be-
griff der Großmut und ebenso wie Wolf (2006) 357 auch mit dem
noch immer nicht eindeutigen Ausdruck Stolz wieder – bedarf es
einer deutschen Übersetzung, die der Tatsache Rechnung trägt,
dass mit dieser Tugend die Eigenschaft oder Fähigkeit eines Mannes
beschrieben wird, auf der Grundlage einer realistischen Selbstein-
schätzung einen seinen Taten entsprechenden Stolz zu empfinden.
Demzufolge soll in der vorliegenden Arbeit im Kontext dieser Tu-
gend der verdeutlichende deutsche Begriff des angemessenen Stolzes
Verwendung finden.
Mit der kunstvoll gestalteten Aristoteles-Rede gelingt es Walter,
die darin aufgeführten aristotelischen Tugenden so miteinander in
Beziehung zu setzen, dass durch die dabei entstehende Struktur die
für den Erfolg des aus christlicher Sicht mit der Eroberung des Per-
serreichs entscheidenden Unternehmens unabdingbaren Feldherrn-
tugenden und innerhalb dieser Feldherrntugenden die herausra-
gende Bedeutung der Tapferkeit durch ihre zentrale Positionierung
unmittelbar sichtbar werden (vgl. Abb. 3; vgl. auch Gartner 2018,
38; zur Stellung der Aristoteles-Rede innerhalb der Gesamtstruktur
der Alexandreis vgl. Einleitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79;
zur Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 3).
Nach der Legitimierung von Alexanders Macht durch die Krö-
nung zum makedonischen König und zum Hegemon des Korinthi-
schen Bundes sieht sich Alexander noch vor seinem Aufbruch nach
Persien gezwungen, zuerst einmal seinen Führungsanspruch inner-
halb der griechischen Welt durchzusetzen. Während Athen gerade
560 KOmmentar

Hinführung zur Aristoteles-Rede 59–81

Definition des aristotelischen Tugendbegriffs 82–104

GERECHTIGKEIT 105–114

ANGEMESSENE
ZÜRNKRAFT 115

FELDHERRN TAPFERKEIT TUGENDEN

116–143

ANGEMESSENE GEBEFREUDIGKEIT 144


WAHRHAFTIGKEIT –
ANGEMESSENE FREUNDLICHKEIT 163

BESONNENHEIT 164–182

Angemessener Stolz 182–183

Ausleitung der Aristoteles-Rede 184–201

Abb. 3: Die Struktur der Aristoteles-Rede in der Alexandreis (vgl. Gartner 2018, 38)

noch rechtzeitig seinen Widerstand gegen Alexander aufgibt und sei-


ne Bereitschaft bekundet, unter makedonischer Führung mit in den
Perserkrieg zu ziehen, statuiert Alexander am abtrünnigen Theben
ein Exempel und macht die Stadt dem Erdboden gleich (zu Athen
Einführung zu Buch I 561

vgl. Komm. I, 268–283; zu Theben vgl. Komm. I, 284–348). Mit die-


ser Darstellung der im Hinblick auf die Tugend der angemessenen
Zürnkraft unterschiedlichen Reaktion des makedonischen Königs
auf die Unabhängigkeitsbestrebungen beider Städte wird erstmals
in der Alexandreis Walters im weiteren Verlauf des Epos noch häufig
anzutreffendes Bestreben erkennbar, Alexander als einen Feldherrn
und König zu inszenieren, der sich in seinem Handeln nach den in
der Aristoteles-Rede aufgeführten Vorgaben in moralischer Hin-
sicht vorbildlich verhält und dessen Vorgehen demzufolge auch von
Erfolg gekrönt ist (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw.
zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4).
Mit Alexanders Ankunft in Kilikien – der unhistorische Lan-
dungsort ist der als eigene Einheit innerhalb der Alexandreis ange-
legten Struktur des Perserkriegs geschuldet – beginnt die kriegeri-
sche Auseinandersetzung mit dem Perserreich, die den größten Teil
der Alexandreis einnimmt und erst zu Beginn von Buch VIII mit
der Eroberung von Hyrkanien ein für Alexander erfolgreiches Ende
findet (zur Stellung der unhistorischen Landung Alexanders inner-
halb der Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2). Die Informa-
tion über die leicht zu besiegenden Völker Kilikiens dürfte Walter
dabei Justin entnommen haben (vgl. Iust., Epit. Hist. XI, 11, 1–2:
Ciliciamque sine certamine recipit).
Noch vor der ersten Schlacht am Granikus im Nordwesten der
kleinasiatischen Halbinsel kommt Alexander nach Troja und be-
sucht dort das Grab des Achilles. Walter nutzt diese Episode dabei
nicht nur, um sich als zweiten Homer zu stilisieren, sondern gibt
mit Alexanders megalomanen Vorstellungen über eine zukünftig
von ihm allein beherrschte Welt erstmals in der Alexandreis in Form
eines Vorverweises auf die Zeit nach dem Perserkrieg auch einen
Hinweis auf die aus Sicht des christlichen Autors moralisch verwerf-
liche Hybris seines wichtigsten Protagonisten, die im Epos letztlich
zum Tod des makedonischen Helden führt (vgl. Komm. Alex. I,
468–492; zur Funktion der Vorverweise in der Alexandreis vgl. Ein-
562 KOmmentar

leitung 7.4; zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Ein-


leitung 6; zur Stellung der Troja-Episode innerhalb der Struktur des
Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2).
Das erste Buch endet damit, dass Alexander am Vorabend der
Schlacht am Granikus seinen Soldaten von einer Vision berichtet,
die er schon zwei Jahre zuvor in Pella empfangen hatte und ihm in
der Person des jüdischen Hohepriesters Jaddus den Sieg über das
Perserreich unter der Bedingung versprochen hatte, bei seinem Er-
oberungsfeldzug Jerusalem zu verschonen (vgl. Komm. I, 493–554).
Diese Episode hat in der modernen Forschung eine vergleichswei-
se große Aufmerksamkeit gefunden und immer wieder Anlass zu
kontroversen Diskussionen geboten. Im Mittelpunkt dieser wis-
senschaftlichen Auseinandersetzung steht dabei die übergeordnete
Frage nach der moralischen Bewertung des makedonischen Königs
durch den christlichen Autor des Epos, deren Beantwortung auch
für die Gesamtinterpretation der Alexandreis eine richtungsweisen-
de Rolle spielt (zur moralischen Beurteilung Alexanders in der Ale­
xandreis vgl. Einleitung 7.4). Dabei geht es im Wesentlichen darum,
inwiefern der mit der Kritik des christlichen Autors assoziierte Tro-
jabesuch Alexanders inhaltlich und strukturell mit der im Erzählab-
lauf unmittelbar folgenden Jerusalem-Episode in Verbindung steht.
Ratkowitsch und Lafferty etwa glauben in den Worten omnem gen­
tem des jüdischen Hohepriesters Jaddus – und dies stellt das zentrale
Missverständnis in dieser Frage dar – eine göttliche Zusage für die
Unterwerfung der ganzen Welt erkennen zu können und ziehen da-
raus den Schluss, dass Walter damit in Fortsetzung der innerhalb der
Troja-Episode zum Ausdruck gebrachten Autorkritik auch in der
Jerusalem-Episode den Ruhmesdurst des makedonischen Königs
negativ herausstellen wolle (vgl. Ratkowitsch 1996, 115; vgl. auch
Lafferty 1998, 48–49; zum Verständnis wahren Ruhms in der Ale­
xandreis vgl. Einleitung 7.4). Anders jedoch, als Ratkowitsch und
Lafferty bei ihrer diesbezüglichen Übertragung der Troja-Episode
auf die Jerusalem-Episode vermuten, ist mit den Worten omnem
Einführung zu Buch I 563

gentem des jüdischen Hohepriesters keineswegs die aus christlicher


Sicht ohne Zweifel inakzeptable Herrschaft über die ganze Welt im
Sinne von jedes Volk gemeint, sondern lediglich die heilsgeschicht-
lich legitimierte Herrschaft über das ganze Volk der Perser (vgl. Alex.
I, 533: omnemque tibi pessundabo gentem). Denn es ist nicht davon
auszugehen, dass Walter ausgerechnet über die Person des jüdischen
Hohepriesters Jaddus – immerhin vertritt dieser mit seinem Auf-
tritt vor Alexander die Position des jüdisch-christlichen Gottes
– dem makedonischen König ein Weltreich in Aussicht stellt, das
über dessen in den prophetischen Büchern der Bibel festgehaltene
heilsgeschichtliche Aufgabe hinausgeht (zum Begriff Weltreich vgl.
Einleitung 7.2). Abgesehen davon kann Alexander die nämlichen
Worte des jüdischen Hohepriesters ohnehin nur auf den Perserkrieg
bezogen verstanden haben, da sie innerhalb der Jerusalem-Episode
die Funktion einer Antwort auf die kurz vor der eigentlichen Vision
von ihm selbst zum Ausdruck gebrachten Zweifel bezüglich des tak-
tischen Vorgehens bei der in absehbarer Zeit bevorstehenden Kon-
frontation mit dem persischen Erbfeind besitzen. Somit stellen die
Worte des Hohepriesters für Alexander eine göttliche Legitimation
und zugleich eine göttliche Erfolgsgarantie für die Stoßrichtung sei-
nes weiteren Handelns und seine konkreten militärischen Pläne dar.
Genau aus diesem Grund auch berichtet Alexander seinen Soldaten
erst am Vorabend der Schlacht am Granikus von dieser bereits zwei
Jahre zurückliegenden Vision, um ihnen einen anderen Blickwinkel
auf den gerade begonnenen Perserkrieg – Neu vos excutiat cepto, gens
provida, bello – und die unmittelbar vor ihnen liegende, objektiv
betrachtet nur schwer lösbare militärische Aufgabe zu verschaffen
(vgl. Alex., I, 493). Er führt seinen Soldaten mit dieser Erzählung vor
Augen, dass der Sieg und die Herrschaft über das persische Reich
ungeachtet der zahlenmäßigen Überlegenheit der feindlichen Trup-
pen eine von der göttlichen Vorsehung beschlossene Sache ist (vgl.
Lehmann 2018, 15–22). Auch der von Ratkowitsch bei Alexanders
Einzug in Jerusalem an dessen Adresse gerichtete Vorwurf, er bringe
564 KOmmentar

dem jüdischen Hohepriester nur deshalb die gebührende Ehrerbie-


tung entgegen – Walter gibt dies mit der auf Alexander bezogenen
Wendung pronus adorare wieder –, weil ihn sein Streben nach Welt-
herrschaft dazu treibe und er deshalb die demütige Verehrung des
Namens Gottes vermissen lasse, ist bei genauer Betrachtung der
Textstelle und deren Einordnung in den zeitgenössischen Horizont
nicht haltbar (vgl. Alex. I, 546–547: Quem tamquam cognoscat equo
descendit eumque | pronus adoravit; vgl. Ratkowitsch 1996, 117;
vgl. auch Lehmann 2018, 18). Die Wendung pronus adorare be-
zeichnet nämlich – und dies spielt für einen gebildeten Leser des 12.
Jahrhunderts die entscheidende Rolle – in der Vulgata neben der
demütigen Verehrung von Menschen, die in einer besonderen Be-
ziehung zu Gott stehen – man denke dabei an den jüdischen Ho-
hepriester Jaddus – eben auch und gerade die demütige Verehrung
Gottes. Mit dieser an der lateinischen Bibel orientierten Wortwahl
führt Walter dem gebildeten zeitgenössischen Leser vor Augen, dass
sich Alexander bei seinem Einzug in Jerusalem ganz im Gegenteil
zum Deutungsversuch von Ratkowitsch moralisch völlig korrekt
verhält. Genauso wenig nachvollziehbar ist der ebenfalls im Kon-
text der Jerusalem-Episode von Ratkowitsch als Hybrisvorwurf zu
verstehende Gedanke, Alexander ursurpiere mit der auf ihn bezo-
genen Wendung pacifica offerre – der Leser erwarte ihres Erachtens
eigentlich ein pacem offerre – in der Übertragung auf Salomon die
Rolle Christi als Friedensfürst (vgl. Alex. I, 551–552: obtulit illic | pa­
cifica et multo ditavit munere templum; vgl. Ratkowitsch 1997,
118; vgl. auch Lehmann 2018, 18–19). Ratkowitsch übersieht dabei
den bedeutsamen Umstand, dass auch diese Wendung gerade in der
Vulgata in häufigem Gebrauch steht und dort damit ausnahmslos
die kultische Handlung eines Friedensopfers oder eines Heilsopfers
bezeichnet wird. Somit schildert Walter auch an dieser markanten
Stelle des Epos den makedonischen König eben gerade nicht als
einen gedankenlosen und überheblichen Eroberer, sondern ganz im
Gegenteil als einen verständigen Herrscher, der die religiösen Tradi-
Einführung zu Buch I 565

tionen des jüdischen Volkes kennt und durchaus auch zu respektie-


ren versteht. Wiener (2001) 76–77 weist in diesem Zusammenhang
zu Recht auf die Kirchengeschichtsschreibung des 12. Jahrhunderts
hin, in der wie in der Historia scholastica des Petrus Comestor das
korrekte Vorgehen Alexanders bei dessen Einzug in Jerusalem im
Unterschied zum Einzug des Pompeius und dessen Truppen positiv
kontrastierend hervorgehoben wird (vgl. Lehmann 2018, 18–19).
Der innere Zusammenhang zwischen dem Trojabesuch Alexan-
ders und der Jerusalem-Episode besteht demzufolge lediglich auf
der Ebene des sensus historicus, der die Ereignisse in Troja über die
Erzählung der Vision bis hin zur ersten Schlacht am Granikus in ein
sinnvolles Nacheinander einfügt. Auf der Ebene des sensus spiritua­
lis – wie insbesondere am sensus allegoricus und am sensus tropologi­
cus aufgezeigt werden kann – macht Walter durch zahlreiche kon-
trastierende Bezüge deutlich, dass beide Episoden inhaltlich eben
gerade nicht als Einheit verstanden werden dürfen. Während beim
Trojabesuch Alexanders nämlich die zur Sprache gebrachten Vor-
stellungen einer Herrschaft über die ganze Welt tatsächlich als Aus-
druck einer christlich motivierten moralischen Kritik am grenzen-
losen Ruhmesdurst des makedonischen Königs verstanden werden
müssen, ist dieser Vorwurf – wie oben bereits dargelegt – nicht auf
die Jerusalem-Episode übertragbar, da es darin lediglich um die heils-
geschichtlich legitimierte und damit aus christlicher Sicht moralisch
gerechtfertigte Herrschaft Alexanders über das Perserreich geht.
Der Gegensatz dieser beiden Episoden wird auch dadurch deutlich,
dass der im Rahmen des Trojabesuchs Alexanders zum Ausdruck
gebrachte Hybris-Vorwurf als Vorverweis auf die Zeit nach dem
Perserkrieg gestaltet ist, während es sich bei der Erzählung der noch
in Pella erhaltenen Vision um eine Rückschau handelt. In dieselbe
Richtung weisen zudem die von Walter eingesetzten kontrastieren-
den Bezüge, die beispielsweise vom Brand der antik-paganen Stadt
Troja einerseits und von der Rettung der jüdisch-christlichen Stadt
Jerusalem andererseits über die für Alexander verständlichen grie-
566 KOmmentar

chischen Schriftzeichen (epygrammata) auf Achills Grabmal und


den für diesen im Gegensatz dazu nicht verständlichen hebräischen
Schriftzeichen (tetragrammata) auf der Stirn des jüdischen Hohe-
priesters reichen (vgl. Alex. I, 470; vgl. auch Alex. I, 525).
Ebenso wie die angeführten inhaltlichen und sprachlichen
Gründe sprechen darüber hinaus auch strukturelle Überlegungen
gegen einen unmittelbaren inneren Zusammenhang zwischen dem
Troja-Besuch Alexanders und der Jerusalem-Episode. Bezogen auf
den Zeitraum des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs ist die
Jerusalem-Episode aus kompositorischen Gründen nämlich gerade
nicht mit Alexanders Trojabesuch verknüpft, sondern muss viel-
mehr als Teil einer inneren kompositorischen Klammer mit der in
Buch VII wiedergegebenen Beschreibung des von Apelles geschaf-
fenen Darius-Grabmals – auch dort macht Walter unter expliziter
Bezugnahme auf die Danielprophetie deutlich, dass Alexanders Sieg
über das Perserreich heilsgeschichtliche Relevanz besitzt – in Ver-
bindung gebracht werden (vgl. Komm. VII, 379–430; zur Stellung
der Jerusalem-Episode innerhalb der Struktur des Perserkriegs vgl.
Einleitung 7.2).
Die Jerusalem-Episode ist jedoch auch noch unter einem weite-
ren Aspekt in höchstem Maße bemerkenswert. Denn Walters Schil-
derung eines zutiefst verunsicherten Helden, der in einer für ihn
selbst krisenhaften Situation erst durch eine transzendente Erfah-
rung zu einer Entscheidung fähig ist, stellt unter motivischen Ge-
sichtspunkten eine interessante Parallele zu der in Buch V der Aeneis
Vergils geschilderten Vision des Aeneas dar, innerhalb derer ihm
sein jüngst auf Sizilien verstorbener Vater Anchises im Auftrag Jupi-
ters zur Weiterfahrt nach Italien rät und ihn zudem zum Besuch der
Unterwelt auffordert (vgl. Verg., Aen. V, 700–745). Damit ist Wal-
ter in der Lage, mit einer in imitativer Absicht gestalteten epischen
Inszenierung einer für die Gattung des Epos typischen Entschei-
dungsszene die Schicksalsgebundenheit beider Akteure herauszu-
arbeiten, die ungeachtet ihres sonstigen Verhaltens der Unterstüt-
Einführung zu Buch I 567

zung einer außerhalb ihrer Person liegenden Macht bedürfen (vgl.


Schultheiss 2012, 255–274; zum Götterapparat und der Rolle
des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Im selben Maße
nämlich, wie der antike Dichter Vergil mit der Aeneis seinem teleolo-
gischen Geschichtsverständnis entsprechend das augusteische Rom
als goldenes Zeitalter im Sinne eines von der Vorsehung bestimmten
Konvergenzpunktes betrachtet, versteht der mittelalterliche Dichter
Walter von Châtillon in der Alexandreis das mit der Eroberung Me-
diens und Persiens entstehende Weltreich Alexanders auf Grund-
lage seines eschatologischen Geschichtsverständnisses als eine von
den prophetischen Büchern der Bibel angekündigte und in den
Heilsplan Gottes eingebettete Zwischenstation auf dem Weg zum
letzten Reich Gottes (vgl. Lehmann 2018, 15–34; zur anagogischen
Ebene der Alexandreis bzw. zum eschatolgischen Sinn des Epos vgl.
Einleitung 7.3; zum Begriff Weltreich vgl. Einleitung 7.2). Insofern
lässt sich hinter der vorliegenden Darstellung auch eine aemulative
Absicht Walters vermuten, der mit seinem eschatologischen Ansatz
alle vier in der Danielprophetie angekündigten Weltreiche umfasst,
während Vergil mit seinem teleologischen Ansatz lediglich das rö-
mische Reich in den Blick nimmt und damit gerade aus christlicher
Sicht hinsichtlich der weltgeschichtlichen Bedeutung mit seiner
Darstellung zurückzustehen hat (zu Walters poetologischem Selbst-
verständnis vgl. Einleitung 6; zu Walters ambivalentem Verhältnis
zu Vergil vgl. auch Einleitung 6; zum Begriff Weltreich vgl. Einlei-
tung 7.2).
Kommentar zu Buch I

Themenübersicht (1–10)

C 1–2 Primus Aristotilis imbutum nectare sacro  | scribit Alexan­


drum sceptroque insignit et armis: Mit dem heiligen Nektar nimmt
Walter konkret Bezug auf Aristoteles und die Nikomachische Ethik
des antiken Philosophen, die ihm in Gestalt der als Ethica Vetus be-
kannten lateinischen Teilübersetzung des Burgundio von Pisa vor-
gelegen und die er als inhaltliche Grundlage insbesondere für die
innerhalb der Aristoteles-Rede aufgeführten Feldherrntugenden
herangezogen hat (vgl. Komm. I, 82–183; zur Aristoteles-Rede vgl.
auch die Einführung zu Buch I; zur Quellenfrage der Aristoteles-
Rede vgl. auch Einleitung 3).

C 3 Cicropidas regi rursus confoederat: Als Bewohner Attikas stam-


men die Cicropidae dem Mythos zufolge vom sagenhaften König
und Gründer Athens namens Kekrops ab. Walter weist damit an
dieser Stelle auf zwei Ereignisse hin, die jeweils in einem brüchigen
Bündnis zwischen Makedonien und Athen ihren Abschluss fanden.
⇔ Das erste Mal hatte Alexander nach der Schlacht von Chaironeia
(338 v. Chr.) – durch die damalige Niederlage Athens und seiner
Verbündeten war die Hegemonie Makedoniens über Griechenland
endgültig besiegelt worden – noch als Kronprinz im Auftrag seines
Vaters Philipp II. von Makedonien den Bündnisvertrag mit Athen
ausgehandelt. Nach Philipps Ermordung (336 v. Chr.) und den da-
raus resultierenden Unabhängigkeitsbestrebungen der wichtigsten
griechischen Städte – in diesem Kontext sind insbesondere Athen
und Theben zu nennen – führte Alexander dann als neuer make-
Kommentar zu Buch I 569

donischer König die Verhandlungen mit den wankelmütigen Athe-


nern, die auf Betreiben des begabten Redners Demosthenes kurz
davor waren, das ursprünglich mit Philipp geschlossene Bündnis
mit Makedonien aufzukündigen (335 v. Chr.). Erst durch den ener-
gischen diplomatischen Einsatz von Demades und Aeschines, die
in Athen als promakedonische Fraktion und entschiedene Gegner
des Demosthenes auftraten, konnte die drohende Zerstörung von
Griechenlands geistigem Zentrum gerade noch rechtzeitig verhin-
dert werden. Alexander verzichtete auf Betreiben und Bitten des in
Makedonien in hohem Ansehen stehenden Demades sogar auf die
von ihm zuerst geforderte Auslieferung des Demosthenes. ⇔ Inso-
fern ist die Bezeichnung regi von Walter äußerst geschickt gewählt,
da sich dahinter zugleich Philipp (338 v. Chr.) und Alexander (335 v.
Chr.) verbergen (vgl. Komm. I, 268–283).

C 3–4 Arces | diruit Aonias: Mit den arces Aonias bezeichnet Walter
die Stadt Theben und das alte Böotien, eine Landschaft im südöstli-
chen Mittelgriechenland. ⇔ Im Unterschied zu der oben beschrie-
benen Verschonung Athens statuiert Alexander an den abtrünnigen
Thebanern ein Exempel und macht die Stadt mit Ausnahme der
Tempel und des Wohnhauses des griechischen Dichters Pindar dem
Erdboden gleich (vgl. Komm. I, 284–348; vgl. auch Demandt 2013,
99).

C 4–5 Numerosa classe profundum  | intrat et appellens Asyam de


nave sagittat: Der Name Asia bezeichnet seit Aischylos zumeist
nichts anderes als das Perserreich, da man dessen Ausdehnung nach
Osten hin nicht kannte und aus diesem Grund auch synonym für
den ganzen Kontinent verwendete (vgl. Demandt 2013, 128). Aller-
dings sollte dabei nicht übersehen werden, dass mit diesem Begriff
seit der römischen Herrschaft auch nur das als römische Provinz be-
kannte Kleinasien gemeint sein kann. ⇔ Da im vorliegenden Kon-
text die Landung an der Küste Kleinasiens angesprochen wird, ist
570 KOmmentar

an dieser Stelle die letztere Bedeutung zu präferieren (vgl. Komm.


I, 359–385). ⇔ Mit dem Verb sagittare nimmt Walter darauf Bezug,
dass Alexander noch vom Schiff aus seinen Speer an das Ufer der
kleinasiatischen Küste wirft, um sein Anrecht auf das speergewon­
nene Land zu dokumentieren. Der Begriff speergewonnen beinhaltet
dabei einen Rechtsanspruch, der sich aus dem agonalen Denken
der Griechen herleitet, die den Krieg als Wettkampf und den Sieg
als Göttergeschenk ansahen (vgl. Komm. I, 386–395; vgl. auch De-
mandt 2013, 110).

C 6–9 parcendumque ratus hostem sine Marte tryumphat, | elatu­


sque animo sub sole iacentia regna | iam sibi parta putat. Asiam de
vertice montis  | inspicit et patrias partitur civibus urbes: Alexander
ist nach der Landung in Kleinasien und einigen kampflos errunge-
nen Siegen im berechtigten Stolz auf diese doch beachtliche Leis-
tung und im Überschwang der Gefühle der Ansicht, das vor ihm
liegende Perserreich damit schon erobert zu haben. ⇔ Die moderne
Forschung möchte in den Worten elatusque animo sub sole iacentia
regna | iam sibi parta putat bisweilen einen vom christlichen Autor
der Alexandreis an den makedonischen König gerichteten Hybris-
Vorwurf erkennen, wobei im Zuge dessen zum einen Alexanders
eigentlich berechtigter Stolz ohne die notwendige inhaltliche An-
bindung an den im Vers zuvor dafür ausdrücklich genannten Grund
als Hochmut missverstanden wird, zum anderen die unter der Son-
ne liegenden Gegenden oder Königreiche fälschlicherweise mit der
ganzen Welt identifiziert werden (vgl. Gwynne 2017, 202: »For
Walter, Alexander’s determination reveals a flaw in character, and
the verse summary to Book I remarks that Alexander’s pursuit of
boundless empire and glory is a product of hubris«). Als Beleg für
den an dieser Stelle angenommenen Hybris-Vorwurf wird auf eine
beinahe wortgleiche Formulierung im letzten Buch der Alexandreis
verwiesen, in der Alexanders Streben nach grenzenloser Herrschaft
über die ganze Welt tatsächlich einer christlich motivierten morali-
Kommentar zu Buch I 571

schen Kritik unterzogen wird (vgl. Alex. X, 314–315: Eia, queramus


alio sub sole iacentes | Antipodum populos ne gloria nostra relinquat).
Dabei wird jedoch übersehen, dass der vermeintlich inhaltsgleiche
Ausdruck sub sole iacentes in Buch X einzig und allein und erst durch
das auf sole bezogene Attribut alio auf Alexanders moralisch ver-
werflichen, da grenzenlosen Herrschaftsanspruch hinweist, der mit
dem tadelnswerten Versuch einhergeht, die nicht nur in der Antike,
sondern auch zu Walters Zeit noch immer unbekannten Gefilde der
auf der Gegenhemisphäre vermuteten Antipoden aufzusuchen und
diese seiner Herrschaft zu unterwerfen (vgl. Komm. X, 1–5). Walters
auf bloßen Spekulationen beruhende Vorstellungen zu Antipoden
und ihrer Position auf dem kugelförmig verstandenen Erdball schei-
nen dabei wie sonst auch in geographischen Kontexten von Isidor
geprägt zu sein, der die Existenz von Gegenfüßlern wegen fehlender
historischer Zeugnisse zwar verneint und als bloße Mutmaßungen
der Dichter betrachtet, dennoch aber eine unter geographischen
Gesichtspunkten überaus schlüssige Erklärung für ihre relative geo-
graphische Lage liefert (vgl. Isid. v. Sev., Etym. IX, 2, 133–134: Iam
vero hi qui Antipodae dicuntur, eo quod contrarii esse vestigiis nostris
putantur, ut quasi sub terris positi adversa pedibus nostris calcent ve­
stigia, nulla ratione credendum est, quia nec soliditas patitur, nec cen­
trum terrae; sed neque hoc ulla historiae cognitione firmatur, sed hoc
poetae quasi ratiocinando coniectant; zu der seit der Antike vielerorts
diskutierten und bis in das Entdeckungszeitalter und die dritte Rei-
se des Amerigo Vespucci empirisch nicht zu klärenden Frage über
die mögliche Existenz von Antipoden vgl. Lehmann 2016, 167–191;
zu Alexanders Antipodenfahrt vgl. die Einführung zu Buch X; vgl.
auch Einleitung 7.4). Die von Isidor mit den Worten quasi sub terris
positi geographisch exakt beschriebene Position von Antipoden auf
der noch unbekannten Gegenhemisphäre korreliert dabei inhaltlich
betrachtet wenig überraschend mit den von Walter dafür benutzen
Begriffen alius orbis oder alia natura (vgl. Alex. IX, 567–570: En
alium vobis aperire sequentibus orbem | iam michi constitui. Nichil
572 KOmmentar

insuperabile forti.  | Antipodum penetrare sinus aliamque videre  |


naturam accelero). Über diese Erkenntnis hinaus gibt es noch einen
weiteren offenkundigen Hinweis darauf, dass Walter mit den in der
Themenübersicht zu Buch I verwendeten Worten sub sole iacentia
regna tatsächlich nur die heilsgeschichtlich legitimierte Eroberung
des Perserreichs in den Blick nimmt. An der entsprechenden Stelle
im Haupttext spricht er nämlich davon, dass Alexander nach seiner
Landung an der Küste Kilikiens am frühen Morgen von einem Berg
aus die Gebiete Kleinasiens mit ihren fruchtbaren Äckern, bewalde-
ten Hügeln, zahlreichen Weinstöcken und mauerbewehrten Städ-
ten mit eigenen Augen mustert und beim Blick in alle vier Himmels-
richtungen eben diese Gebiete, nämlich das ihm – natürlich nicht in
seiner gesamten Ausdehnung – vor Augen liegende persische Reich
als bereits erobert betrachtet (vgl. Alex. I, 444–445: Regnorum que­
cumque iacent sub cardine quadro | iam sibi parta putat; zur Gleich-
setzung der Bezeichnung Asia mit dem Perserreich vgl. Demandt
2013, 128; zur Stellung der unhistorischen Landung Alexanders in
Kilikien innerhalb der Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2;
vgl. auch Komm. I, 359–385; vgl. auch Komm. I, 447–451). Dem-
zufolge lässt sich aus den Worten elatusque animo sub sole iacentia
regna | iam sibi parta putat in der Themenübersicht zu Buch I eben
gerade kein Hybris-Vorwurf ableiten, der auf einer moralischen
Kritik Walters an Alexanders Streben nach einer grenzenlosen Herr-
schaft über die ganze Welt beruht. ⇔ Mit den patrias urbes weist
Walter auf das wechselvolle Schicksal Kleinasiens hin, das um ca. 500
v. Chr. dem Perserreich eingegliedert worden war, infolge der Per-
serkriege im frühen 5. Jahrhundert insbesondere an der Westküste
wieder griechischer Oberhoheit unterstand, nach dem Peloponne-
sischen Krieg (431–404 v. Chr.) jedoch erneut unter persische Kon-
trolle geriet. Nach der erneuten Rückeroberung Kleinasiens durch
Alexander konnte man somit an die Tradition der griechischen
Herrschaft in Kleinasien anknüpfen (vgl. Komm. I, 427–446).
Kommentar zu Buch I 573

C 10 Pergama miratur et sompnia visa retractat: Mit Pergama


meint Walter nicht die in Mysien gelegene, zu Alexanders Zeit völlig
unbedeutende Stadt Pergamon, sondern das ehemals bedeutende
Troja, dem der makedonische König noch vor der ersten Schlacht
am Granikus in Kleinasien einen Besuch abstattet. Dabei besichtigt
er auch das Grab des Achilles, den er – beeinflusst durch die Lektüre
der homerischen Epen – neben Herkules als Vorbild für sein eige-
nes Leben ausgewählt hatte (vgl. Komm. I, 468–492). ⇔ Mit der
Formulierung sompnia visa retractat nimmt Walter Bezug auf eine
schon zwei Jahre zurückliegende Vision Alexanders, durch die ihm
noch am Hof in Pella durch die Person des jüdischen Hohepriesters
Jaddus die göttliche Unterstützung bei der künftigen Eroberung des
Perserreichs zugesichert worden war. Als Gegenleistung sollte Alex-
ander bei seiner späteren Ankunft in der heiligen Stadt die Bewoh-
ner Jerusalems und die Stadt selbst verschonen. Aus Gründen der
Motivation berichtet Alexander seinen Soldaten von dieser Vision
erst unmittelbar vor der ersten Schlacht gegen die Perser am Grani-
kus in Kleinasien (vgl. Komm. I, 502–538; vgl. auch die Einführung
zu Buch I).

Prooemium (1–26)

Prooemium Teil 1 (1–11)

Antiker Musenanruf (1–5)

1–5 Gesta ducis Macedum totum digesta per orbem | quam large di­
spersit opes, quo milite Porum | vicerit et Darium, quo principe Grecia
victrix | risit et a Persis rediere tributa Chorintum, | Musa refer: Wal-
ter thematisiert gleich mit dem ersten Vers des nach antikem Vorbild
gestalteten Musenanrufs insbesondere auch durch die Anfangsstel-
lung von gesta bedingt die weltgeschichtliche Bedeutung der auf
574 KOmmentar

dem ganzen Erdkreis – gemeint sind dabei die zum damaligen Zeit-
punkt bekannten Kontinente Europa, Afrika und Asien – voll-
brachten und zugleich auch dort verbreiteten Taten des makedoni-
schen Königs (vgl. die Handschrift Ms. C 100, die für digesta das
Verständnis divulgata per famam glossiert, verfügbar unter dem
Permalink: https://www.e-codices.unifr.ch/de/zbz/C0100/4v/0/).
⇔ Der mit dem Auftakt gesta absichtsvoll hervorgerufene Anklang
an die arma Vergils und die bella Lucans gibt dabei in Verbindung
mit dem raumgreifend an das Versende gesetzten totum digesta per
orbem einen deutlichen Hinweis auf jene antiken Autoren, mit de-
nen sich Walter in seinem Epos auf poetologischer Ebene imitativ
und aemulativ vorrangig auseinanderzusetzen gedenkt. Erstrecken
sich Aeneas’ Taten nämlich lediglich von der Küste Trojas bis nach
Latium bzw. Italien oder führt Caesar seinen Bürgerkrieg lediglich
in Thessalien, so ist Alexanders Wirkungskreis mit der Eroberung
des Perserreichs und seinen damit auf allen drei Kontinenten voll-
brachten Taten – mit dem Gleichklang von gesta und digesta sprach-
lich brillant in Szene gesetzt – erheblich größer und besitzt in Wal-
ters Augen demzufolge auch eine weltgeschichtlich sehr viel größere
Bedeutung (vgl. Verg., Aen. I, 1–3: Troiae qui primus ab oris | Ita­
liam, fato profugus, Laviniaque venit | litora; vgl. auch Luc., Phars.
I, 1: Bella per Emathios plus quam civilia campos). Überdies implizie-
ren die gesta bei Walter im Unterschied zu den arma bei Vergil und
den bella bei Lucan auch Großtaten jenseits militärischer Aktivitä-
ten, die weit über die zentrale Feldherrntugend – die Tugend der
Tapferkeit – hinausreichen. Damit begibt sich Walter aemulativ in
den dichterischen Wettstreit mit Lucan und auch mit seinem im
Prolog explizit noch als nahezu unerreichbar apostrophierten Vor-
bild Vergil, der für seine Aeneis aus Sicht des mittelalterlichen Au-
tors nicht nur einen weniger bedeutenden Helden ausgewählt hat,
sondern mit dieser Auswahl zugleich auch in seiner Bedeutung als
Dichter hinter dem Autor der Alexandreis zurückstehen muss (vgl.
Kern 2009, 323; zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl.
Kommentar zu Buch I 575

Einleitung 6). ⇔ Die mit ducis Macedum mittels einer Antonoma-


sie gestaltete Vermeidung, den Namen des Helden schon in den An-
fangsversen des Epos explizit zu nennen, entspricht der antiken Tra-
dition (vgl. Verg., Aen. I, 1: Arma virumque cano). ⇔ In
unmittelbarem Anschluss an den einleitenden Satz über Alexanders
weltgeschichtliche Bedeutung rückt Walter durch drei bemerkens-
wert gestaltete indirekte Fragesätze – zwei davon stehen mittellatei-
nischen Gepflogenheiten entsprechend ohne einen bestimmten
Grund im Indikativ – dessen Führungsqualitäten und dessen erst
dadurch ermöglichten militärischen und politischen Leistungen in
den Mittelpunkt der Betrachtung. Im ersten mit quam eingeleiteten
Teilsatz nimmt er dabei mit den Worten dispersit opes Bezug auf die
Feldherrntugend der angemessenen Gebefreudigkeit, im zweiten
Teilsatz verweist er mit dem bewusst singularisch gehaltenen quo mi­
lite auf die zentrale Feldherrntugend der Tapferkeit, die Alexander
erst in die Lage versetzt, mit einem zahlenmäßig deutlich unterlege-
nen Heer die persische Übermacht zu besiegen (vgl. Komm. I, 116–
143; zur erneuten Hervorhebung dieses bedeutsamen Sachverhalts
an zentraler Stelle des Epos vgl. Alex. V, 500–502: si fide recolas quam
raro milite contra | victores mundi tenero sub flore iuventae | quanta
sit aggressus Macedo; zur deutschen Übersetzung des griechischen
Begriffs ἐλευθεριότης bzw. des lateinischen Begriffs liberalitas mit
angemessener Gebefreudigkeit vgl. die Einführung zu Buch I). Mit
den opes können an dieser Stelle demzufolge nicht – wie Strecken-
bach irrigerweise vermutet – Streitkräfte gemeint sein, zumal Walter
diese mit den Worten quo milite bereits in ausreichendem Maß be-
rücksichtigt hat (vgl. Streckenbach 1990, 29). Im dritten, mit quo
principe eingeleiteten Teilsatz, führt er dem Leser eindrücklich –
und diese Begebenheiten bilden ganz bewusst das Ende der aus drei
Teilen bestehenden Gliedsatzabfolge – die insgesamt positiven Fol-
gen des durch Alexanders herausragende Führungsqualitäten er-
möglichten Sieges über die Perser vor Augen: Ganz Griechenland
feiert ausgelassen den langersehnten und endgültigen Sieg über das
576 KOmmentar

Perserreich und auch die von den Griechen im Kontext der Perser-
kriege zuvor gegenüber dem persischen König Xerxes I. geleisteten
Tributzahlungen finden ihren Weg zurück in die griechische Hei-
mat (vgl. Alex. I, 4: a Persis rediere tributa Corinthum). ⇔ Auffal-
lend ist in diesem Abschnitt die von Walter in den ersten beiden
Teilsätzen als Hysteron-Proteron gestaltete Anordnung der beiden
Feldherrntugenden der Tapferkeit und der angemessenen Gebefreu­
digkeit sowie der Namen seiner wichtigsten Widersacher Darius
und Porus (zum Hysteron-Proteron in der Alexandreis vgl. Einlei-
tung 4). Denn ebenso wie die Tapferkeit eine unabdingbare Voraus-
setzung für die angemessene Gebefreudigkeit darstellt – nur ein sieg-
reicher Feldherr ist freilich in der Lage, seinen Soldaten die
Schatzkammern des Feindes zu öffnen –, so ist auch Alexander der
Chronologie der Ereignisse folgend natürlich nur dann imstande,
den Inderkönig Porus zu besiegen, nachdem er zuvor auch das Reich
des Perserkönigs Darius erobert hat. Mit diesem stilistischen Kunst-
griff gelingt es Walter, die mit dem bewusst singularisch gehaltenen
quo milite zum Ausdruck gebrachte Tapferkeit als wichtigste Feld-
herrntugend innerhalb dieser aus drei indirekten Fragesätzen beste-
henden Einheit in eine betonte Mittelstellung zu bringen (zur Mit-
telstellung der Tugend der Tapferkeit innerhalb der Aristoteles-Rede
vgl. Komm. I, 156–163; vgl. auch die Einführung zu Buch I). Zu-
gleich ist Walter mit der betonten Endstellung von Darius innerhalb
dieser zentralen Einheit über die Tugend der Tapferkeit in der Lage,
auf Alexanders wichtigsten Gegner zu verweisen, durch dessen auf-
fällige Positionierung darüber hinaus auch das als Anfangswort des
Prooemiums dienende gesta wiederaufgenommen wird und mit
diesem eine kompositorische und inhaltliche Verbindung eingeht:
Im Ergebnis finden somit Alexanders von der Tugend der Tapfer­
keit geprägten Taten im Sieg über den Perserkönig Darius ihren aus
christlicher Sicht unbestreitbaren Höhepunkt und stellen für den
Autor der Alexandreis das aus heilsgeschichtlicher Perspektive zent-
rale Ereignis innerhalb der Alexandergeschichte dar. ⇔ Einen weite-
Kommentar zu Buch I 577

ren Kontrast zu seinen antiken Vorbildern, die wie Lucan nur die
negativen Seiten eines vernichtenden Bürgerkriegs bedauern oder
wie Vergil einen beinahe tragischen Helden beschreiben, der seine
Ziele nur unter großen Mühen und nach vielen auch selbst als leid-
voll empfundenen Erfahrungen zu erreichen vermag, gestaltet Wal-
ter an dieser Stelle mit der Inszenierung von Alexanders Feldherrn-
tugenden und der überaus positiven Darstellung der Umstände
seines wie selbstverständlich und beinahe mühelos erscheinenden
Wirkens (vgl. Verg., Aen. I, 2–5: Italiam fato profugus Laviniaque
venit | litora, multum ille et terris iactatus et alto | vi superum, saevae
memorem Iunonis ob iram, | multa quoque et bello passus, dum con­
deret urbem; vgl. auch Luc., Phars., I, 2–7: iusque datum sceleri ca­
nimus, populumque potentem | in sua victrici conversum viscera dex­
tra | cognatasque acies, et rupto foedere regni | certatum totis concussi
viribus orbis | in commune nefas, infestisque obvia signis | signa, pares
aquilas et pila minantia pilis; zu Walters ambivalentem Verhältnis
zu Vergil vgl. Einleitung 6). ⇔ Mit dem an antiken Vorbildern ori-
entierten, als Vokativ bzw. Imperativ gestalteten Worten bringt Wal-
ter seinen stilistisch und inhaltlich anspruchsvoll gestalteten antiken
Musenanruf zum Abschluss (vgl. Verg., Aen. I, 8: Musa, mihi cau­
sas memora; vgl. Stat., Achill. I, 3: diva, refer).

Alexanders Ruhm (5–8)

5–8: Qui si senio non fractus inermi | pollice fatorum nostros vixisset
in annos, | Cesareos numquam loqueretur fama tryumphos, | totaque
Romuleae squaleret gloria gentis: Mit der Textpassage sind in der
Forschung zahlreiche Schwierigkeiten verbunden, die insbesondere
mit dem Verständnis des irrealen Bedingungssatzes qui … si nostros
vixisset in annos in Zusammenhang stehen und das Zusammenspiel
dieser Passage mit den Worten senio non fractus inermi betreffen.
Adkin (1991) 207–210 versteht Walters qui si nostros vixisset in annos
578 KOmmentar

in Verbindung mit senio non fractus inermi im Sinne von wenn die­
ser – gemeint ist Alexander – nicht durch ein wehrloses Greisenalter
gebrochen – bis in unsere Zeit gelebt hätte. Er sieht dabei die logische
Verbindung zwischen senio non fractus inermi und nostros vixisset in
annos darin, dass ein in der Vorstellung dann 1500 Jahre alter make-
donischer König freilich nicht von den negativen Begleiterschei-
nungen des Greisenalters betroffen sein darf, um auch in Walters
Zeit als vorbildhafter und nachahmenswerter Feldherr dienen zu
können. Zudem begreift Adkin diese Formulierung als ein von Wal-
ter an einer für das gesamte Epos bedeutenden Stelle – dem Prooe-
mium – bewusst eingesetztes rhetorisches Stilmittel der Hyperbole,
um damit einen zeitgenössischen Bezug zu dem noch jugendlichen
und – eben noch nicht durch ein wehrloses Greisenalter gebroche-
nen – König Philipp II. von Frankreich herzustellen. Dieser sollte
seit seiner im Alter von vierzehn Jahren erfolgten Krönung zum
Mitregenten am 1. November 1179 und insbesondere nach dem Tod
seines am 19. September 1180 verstorbenen und zuvor einem schwe-
ren Siechtum anheimgefallenen Vaters Ludwig VII. als alleiniger
König von Frankreich die Geschicke seines Landes lenken und nach
dem wenig erfolgreichen zweiten Kreuzzug (1147–1149) und nach
der desaströsen Niederlage des byzantinischen Kaisers Manuel ge-
gen die Seldschuken im Jahre 1176 als Hoffnungsträger des christli-
chen Abendlandes das Vorhaben eines neuerlichen Waffengangs ge-
gen die Muslime in die Tat umsetzen (zur anagogischen Ebene der
Alexandreis bzw. zum eschatolgischen Sinn des Epos vgl. Einleitung
7.3). Adkin (1991) 210 formuliert seine in diesem Punkt einleuch-
tende These wie folgt: »The concept of an Alexander who had lived
›to our day‹ is meant to suggest that France’s own royal prince is
himself a contemporary analogue of the great Macedonian.« Adkin
arbeitet zudem überzeugend heraus, dass mit dem Begriff senio zu-
gleich auch ein direkter Bezug zu Ludwig VII. hergestellt wird, der
– durch einen Schlaganfall einseitig gelähmt – in der zeitgenössi-
schen Literatur häufig mit Formulierungen wie iam decrepito senio­
Kommentar zu Buch I 579

que labanti, senio et morbo laborans paralytico, senio et corporis debi­


litate gravis, morbo simul et senio valde gravatus oder auch senio iam
et valetudine confectus beschrieben wird. Adkin (1991) 211 fasst die-
sen Sachverhalt wie folgt zusammen: »Moreover, no fewer than five
of the passages cited apply to him the word senium. Here we surely
have the key to Walter’s ›senio non fractus inermi‹. These words will
have been recognized immediately by the contemporaries as a refe-
rence to the senile and paralytic king« [Ludwig VII.]. Adkin zieht
ausgehend von seiner These zudem eine sinnvolle Verbindung zu
den zentralen, am Ende von Buch V gestalteten Versen des Epos, in
denen Walter dem innerhalb der intellektuellen Elite weit verbreite-
ten zeitgenössischen Wunsch nach einem alexanderhaften christli-
chen Anführer mit aller Deutlichkeit Ausdruck verleiht (vgl. Alex.
V, 510–512: Si gemitu commota pio votisque suorum | flebilibus divina
daret clementia talem | Francorum regem). ⇔ Doch stellt Adkins
Interpretation nicht die einzige Möglichkeit zum Verständnis dieser
bemerkenswerten Passage dar. Denn die immerhin älteste existieren-
de Handschrift zur Alexandreis nimmt zu den Worten qui … si nos­
tros vixisset in annos die Glossierung id est quantum nostrates vivere
solent vor und legt damit nahe, dass man diese Formulierung durch-
aus auch nur als diejenige Zeitspanne begreifen kann, die Alexander
zur Verfügung gestanden hätte, wenn er in einem für Walters Zeit
normalen Alter von vielleicht sechzig Jahren gestorben wäre (vgl.
Colker 1978, 277). Vor diesem Hintergrund kann der Ausdruck
aus guten Gründen ebenso gut mit den Worten wenn dieser ein für
unsere Zeit normales Alter erreicht hätte wiedergegeben werden.
Adkin (1991) 207–208 lehnt dieses alternative Verständnis der Stelle
ab, da sie seines Erachtens nicht in einen logischen Zusammenhang
mit seinem Verständnis der Worte senio non fractus inermi – nicht
durch ein wehrloses Greisenalter gebrochen gebracht werden kann.
Dabei übersieht er jedoch, dass senium nicht unbedingt mit dem Be-
griff Greisenalter wiedergegeben werden muss, sondern durchaus
auch im Sinne einer Entkräftung des Körpers Verwendung finden
580 KOmmentar

kann. Somit lässt sich senio hier ebenso auch mit dem auf Alexander
bezogenen Prozess des Sterbens abzielenden Begriff der Entkräftung
in Verbindung bringen und kann dann mit der Übersetzung wenn
dieser – nicht durch wehrlose Entkräftung dahingerafft – ein für un­
sere Zeit normales Alter erreicht hätte durchaus mit den Worten nos­
tros vixisset in annos logisch verknüpft werden. Auch mit diesem auf
einer alternativen Übersetzung beruhenden Verständnis dieser Pas-
sage kann ausgehend von der ebenso primär auf Alexander bezoge-
nen Aussage darüber hinaus dann ein zeitgenössischer Bezug zu
Walters Zeit hergestellt werden. Im selben Maße nämlich wie in Ad-
kins Verständnis die Formulierung qui … si nostros vixisset in annos
– wenn dieser bis in unsere Zeit gelebt hätte auf das 12. Jahrhundert
verweist, schlägt auch die Übersetzung dieser Stelle mit wenn dieser
ein für unsere Zeit normales Alter erreicht hätte den Bogen zu Wal-
ters Zeit. Auch lässt sich dann der Passus senio non fractus inermi –
nicht durch wehrlose Entkräftung dahingerafft in seiner Ganzheit
mit dem ebenso jungen wie vitalen König Philipp II. in Verbindung
bringen, zugleich jedoch wird dem Leser der Alexandreis mit dem
Begriff senio in der Bedeutung von Siechtum als isoliertem Begriff
auch – Adkin hatte bereits im Zusammenhang mit dem Verständnis
von senio im Sinne von Greisenalter auf diesen Sachverhalt hinge-
wiesen – die schwere und über mehrere Monate andauernde Krank-
heit Ludwigs VII. in Erinnerung gerufen. ⇔ Insofern stellt sich an
diesem Punkt der Erörterung die Frage, welcher der beiden Über-
setzungsvarianten der Vorzug zu geben ist. Berücksichtigt man, dass
Walter mit seiner Grundaussage, nach der Alexander den Ruhm der
Römer hätte verblassen lassen, wenn er länger gelebt hätte, dessen
überragende weltgeschichtliche Bedeutung in den Mittelpunkt der
Betrachtung rücken möchte, ist es naheliegend, dass es sehr viel be-
merkenswerter und damit auch sehr viel ruhmreicher bzw. über-
haupt nur ruhmreich für Alexander gewesen wäre, wenn ihm dies in
einer kurzen Zeitspanne von vielleicht nur zwanzig Jahren gelungen
wäre und nicht erst nach langen 1500 Jahren (zum Verständnis wah-
Kommentar zu Buch I 581

ren Ruhms in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). Demzufolge


spricht vieles dafür, der Übersetzung wenn dieser – nicht durch wehr­
lose Entkräftung dahingerafft – ein für unsere Zeit normales Alter
erreicht hätte den Vorzug zu geben. Bezeichnenderweise hatte Mu-
eldener (1863) 5 in seiner Textausgabe der Alexandreis allerdings
ohne irgendeinen handschriftlichen Befund die Konjektur von nos­
tros zu iustos vorgenommen, um die für ihn offenbar schwer zu ak-
zeptierende Vorstellung, Alexander könnte tatsächlich 1500 Jahre
gelebt haben, zu vermeiden. Dabei war ihm offensichtlich nicht auf-
gefallen, dass auch die von Colker aufgrund des handschriftlichen
Befunds zurecht favorisierte Lesart nostros eben durchaus auch den
Sinn wenn dieser ein für unsere Zeit normales Alter erreicht hätte an-
nehmen kann. ⇔ Mit der Formulierung pollice fatorum ist der Dau-
men der Parzen gemeint, der die Drehbewegung der Spindel in
Gang setzt und damit den Lauf des Schicksals bestimmt (zur Be-
schreibung des ganzen Verfahrens des Spinnens bei Catull vgl. Cat.,
carm. 64, 311–317, zur Funktion des (Schicksals-) Daumens vgl.
Cat., carm. 64, 313–314: tum prono in pollice torquens | libratum te­
reti versabat turbine fusum; vgl. auch Ov., Met. IV, 34: stamina pol­
lice versant, Ov., Met. XII, 475: stamina pollice torque; zu den Par-
zen vgl. die Einführung zu Buch I; vgl. auch Einleitung 5). ⇔ Der
dem irrealen Bedingungssatz folgende Hauptsatz Cesareos num­
quam loqueretur fama tryumphos, | totaque Romuleae squaleret glo­
ria gentis stellt die im irrealen Konjunktiv formulierte Situation dar,
die eingetreten wäre, wenn Alexander länger gelebt hätte. Dann
wäre nichts vom Ruhm der Römer übriggeblieben und in der ge-
schichtlichen Überlieferung würde man vergeblich nach den Ruh-
mestaten der Römer suchen. Im Unterschied dazu geht Walter am
Ende von Buch V auf die tatsächliche historische Situation ein, in
der Alexander zum Zeitpunkt seines Todes die Römer zwar bereits
an Ruhm übertrifft, durch dessen frühen Tod bedingt jedoch einige
Schriftsteller wie Claudian oder Lucan zum Leidwesen des Autors
der Alexandreis in ihren Werken noch vom Ruhm der Römer be-
582 KOmmentar

richten (zu Alexanders nicht mehr realisierten Plänen, seine Erobe-


rungen nach Westen zu richten und dabei insbesondere die Römer
niederwerfen zu wollen vgl. Alex. X, 326–328: Nunc igitur vestris ne
pars vacet ulla tryumphis | neve meis desit tytulis perfectio, Romam |
imprimis delere placet). ⇔ Mit Cesareos entsteht eine von Walter be-
wusst in Szene gesetzte doppelte Assoziation. Zum einen kann man
sich darunter Gaius Julius Caesar vorstellen, zum anderen aber auch
die lange Reihe der römischen Kaiser. Damit stellt Walter hier eben-
so wie im Zusammenhang mit der Formulierung qui si senio non
fractus inermi | pollice fatorum nostros vixisset in annos einen Bezug
zum Ende von Buch V her, wo nicht nur Caesar und Lucan explizite
Erwähnung finden, sondern auch der spätantike Dichter Claudian,
der in seinen panegyrischen Gedichten die Taten des weströmischen
Kaisers Flavius Honorius verherrlicht. Insgesamt stellen damit Wal-
ters diesbezügliche Ausführungen eine deutlich vernehmbare Rom-
kritik dar, die freilich den Blick nicht nur auf das Rom zur Zeit Cae-
sars oder des Honorius richtet, sondern auch die von Walter als
verheerend wahrgenommenen Zustände innerhalb der römischen
Kurie in seiner eigenen Zeit impliziert (zu Walters zeitgenössischer
Kritik vgl. Einleitung 8). Ebenso jedoch schwingt bei Walters Rom-
kritik aber auch der schon zum Auftakt des Prooemiums konstatier-
te aemulative Ansatz des christlichen Dichters mit, der ihn auf poe-
tologischer Ebene über die Schriftsteller dieser von ihm kritisierten
heidnischen Vergangenheit hebt (zu Walters poetologischem Selbst-
verständnis vgl. Einleitung 6).

Die Strahlkraft der Taten Alexanders (9–11)

9–11 Preradiaret enim meriti fulgore caminus  | igniculos, solisque


sui palleret in ortu | Lucifer, et tardi languerent Plaustra Boete: Der
zuvor besprochene irreale Hauptsatz, mit dem Walter die negativen
Folgen für den Ruhm der Römer thematisiert, wenn Alexander län-
Kommentar zu Buch I 583

ger gelebt hätte, wird an dieser Stelle mit einem Bild aus dem Bereich
der unterschiedlich hell strahlenden Himmelskörper verglichen, mit
dem Walter die ungeheuere Strahlkraft der Triumphe seines wich-
tigsten Protagonisten hervorhebt, die dann – anders als dies durch
Alexanders allzu frühen Tod der Fall war – die römischen Siege hät-
ten völlig verblassen lassen.

Prooemium Teil 2 (12–26)

Die Karriere des Wilhelm von Blois (12–18)

12–18 At tu, cui maior genuisse Britannia reges | gaudet avos, Seno­
num quo presule non minor urbi | nupsit honos quam cum Romam
Senonensibus armis | fregit adepturus Tarpeiam Brennius arcem, | si
non exciret vigiles argenteus anser. | Quo tandem regimen kathedrae
Remensis adepto, | duriciae nomen amisit bellica tellus: Der zweite
Teil des Prooemiums, der von Walter mit der persönlichen Anrede
at tu bewusst auch formal vom ersten Teil abgesetzt wird, enthält
die Widmung des Heldengedichts an seinen Gönner Wilhelm von
Blois, der ebenso wie dessen älterer Bruder Pierre von Blois der ge-
bildeten obersten Herrschaftsschicht Frankreichs angehörte. Walter
spricht mit den reges … avos gleich zu Beginn seiner dedicatio Wil-
helms königliche Abstammung an, der als Urenkel von Wilhelm I.
– seines Zeichens König von England – schon durch seine Herkunft
bedingt von einer besonderen Aura umgeben war. Im Anschluss
an die Angaben über Wilhelms Herkunft rückt Walter dessen Ver-
dienste als Erzbischof von Sens (1169–1176) ins rechte Licht, indem
er sie mit den Taten des zum Stamm der Senonen gehörenden Gal-
liers Brennus in Beziehung setzt, der im Jahre 387 v. Chr. mit seinen
Kriegern die römischen Legionen besiegen konnte, Rom in Brand
gesteckt und beinahe auch, wären nicht die kapitolinischen Gänse
mit ihrem lauten Geschnatter dazwischengekommen, das römi-
584 KOmmentar

sche Kapitol eingenommen hätte. Unerwähnt lässt Walter die Zeit


Wilhelms als Bischof von Chartres (1164–1176), ein Amt, das dieser
bereits in jungen Jahren übernommen hatte und auch nicht wieder
abgab, als er im Jahre 1169 zum Erzbischof von Sens berufen wur-
de. Mit dem letzten Satz dieses Abschnitts beleuchtet Walter den
Abschluss und zugleich auch den Höhepunkt der kirchlichen Lauf-
bahn seines Gönners, der zwischen 1176 bis zu seinem Tod im Jah-
re 1202 das ehrenvolle Amt des Erzbischofs von Reims bekleidete.
Dabei führt er mit den huldvollen Worten duriciae nomen amisit
bellica tellus den ursprünglich keltischen und später von den Rö-
mern übernommenen Namen von Reims – Durocortorum – auf
den Begriff Hartherzigkeit zurück (lat. durus für hart und cor für
Herz), um auf die ausgewogene, auf wahrer christlicher Gesinnung
beruhende Amtsführung des Erzbischofs anzuspielen, mit der
es Wilhelm den Worten Walters zufolge gelungen war, der lange
Zeit kriegerischen Stadt wieder zu Frieden, Wohlstand und Glanz
zu verhelfen (vgl. Christensen 1905, 11, Anm. 4). ⇔ Da Reims
der Legende nach von Remus gegründet worden war, stand sie im
kollektiven Bewusstsein ihrer mittelalterlichen Bewohner und ins-
besondere ihrer Amtsträger in natürlicher Konkurrenz zu dem von
Romulus gegründeten Rom und damit in gewisser Weise auch auf
einer Stufe mit der ewigen Stadt (vgl. Haye 2009, 37). Vor diesem
Hintergrund ist es verständlich, dass Wilhelm im 12. Jahrhundert
zahlreiche Schriftsteller und Poeten um sich geschart hat, um dem
damals immer stärker werdenden Führungsanspruch der römischen
Kirche durch poetische Repräsentation und literarische Verherr-
lichung entschieden entgegenzutreten (vgl. Haye 2009, 36). Die
starke Stellung und die besondere Würde Wilhelms als Erzbischof
von Reims war zudem dadurch bedingt, dass seit Beginn des 12.
Jahrhunderts den dortigen Bischöfen die bedeutsame Aufgabe und
die große Ehre der Königsweihe – man denke dabei an die Krönung
Philipps II. zum Mitregenten durch Wilhelm im Jahre 1179 – oblag
(vgl. Haye 2009, 36).
Kommentar zu Buch I 585

Die Bildung des Wilhelm von Blois (19–23)

19–23 quem partu effusum gremio suscepit alendum  | phylosophia


suo totumque Elycona propinans | doctrinae sacram patefecit pectoris
aulam, | excoctumque diu studii fornace, fugata | rerum nube, dedit
causas penetrare latentes: Nach der königlichen Abstammung und
den einzelnen Stationen von Wilhelms beeindruckender Karriere
bringt Walter im letzten Teil seiner Charakterisierung dessen heraus-
ragende, bereits seit frühestem Kindesalter auf den Weg gebrachte
Bildung zur Sprache, die er zu Beginn seines Kirchendienstes wohl
in erster Linie von dem Zisterzienserabt und frühscholastischen
Mystiker Bernhard von Clairveaux erhalten hatte, der mit seinen
eindringlichen Kreuzzugspredigten in ganz Europa immer wieder
für Aufruhr gesorgt hat. Interessanterweise handelt es sich bei der
Unterweisung in allen Künsten des Helikon um eine klassisch-an-
tike Bildung, die von Walter als diejenige Voraussetzung angespro-
chen wird, die es seinem Gönner ermöglicht, hinter das Wesen der
Dinge zu schauen und versteckte Zusammenhänge zu entdecken
(zu Wilhelms Bildung vgl. auch Komm. X, 461–469). Damit do-
kumentiert Walter ungeachtet der christlichen Ausrichtung seines
Werks den überaus hohen Stellenwert, den er als typischer Vertreter
der Renaissance des 12. Jahrhunderts auch und gerade heidnisch-
antiker Bildung beimisst (zur Renaissance des 12. Jahrhunderts vgl.
Einleitung 1). Die seinem Gönner zugeschriebenen Fähigkeiten ver-
weisen dabei unzweideutig auf die Alexandreis, die den gebildeten
Leser mit zahlreichen intertextuellen Bezügen und gezielten zeit-
genössischen Anspielungen intellektuell herauszufordern versteht
und damit im gebildeten Erzbischof den idealen Leser findet (vgl.
Rombach 2008, 92). Ohnehin ist die Alexandreis nicht an ein
Laienpublikum gerichtet, die lectores huius opusculi – wie sie Wal-
ter im Prolog zu seinem Epos selbst anspricht – sind nur dann in
der Lage, sein carmen heroicum entsprechend zu würdigen, wenn
sie die dafür notwendigen Bildungsvoraussetzungen mitbringen.
586 KOmmentar

Nicht von ungefähr war Wilhelm in seinen frühen Jahren daher


auch selbst schriftstellerisch tätig gewesen und hatte eine unter dem
Titel De Flaura et Marco bekannt gewordene Tragödie und mit De
pulice et musca auch ein scherzhaftes Gedicht über einen Floh und
eine Fliege verfasst, die sich gegenseitig ihrer Untaten am Menschen
rühmen. Beide Werke haben die Jahrhunderte nicht überdauert,
werden jedoch im Briefwechsel Wilhelms mit seinem Bruder Pierre
von Blois erwähnt (vgl. Manitius 1931, 1021). Erhalten ist dagegen
eine unter dem Titel Alda veröffentlichte Komödie Wilhelms, die in
ihrem Stoff auf Menander zurückgeht und in ihrer Anlage und ih-
rem Charakter weiteren griechischen Vorbildern folgt (vgl. Fischl
2016, 151–154).

Christlicher Musenanruf und Widmung


an Wilhelm von Blois (24–26)

24–26 Huc ades et mecum pelago decurre patenti,  | funde sacros


fontes et crinibus imprime laurum | ascribique tibi nostram paciare
camenam: Die mit den Worten huc ades et mecum pelago decurre
patenti an die Adresse Wilhelms gerichtete Bitte um Beistand wird
getragen von einer Metapher für die Größe der übernommenen
Aufgabe, die bereits Vergil in seinen Georgica bezogen auf seinen
Gönner Maecenas auf ganz ähnliche Weise formuliert hat (vgl.
Verg., Georg. II, 39–41: tuque ades inceptumque una decurre la­
borem, | o decus, o famae merito pars maxima nostrae, | Maecenas,
pelagoque volans da vela patenti). Dem zu Anfang des Prooemiums
nach antikem Vorbild gestalteten Musenanruf lässt Walter am Ende
des Prooemiums mit den Worten funde sacros fontes abschließend
nun auch die an Wilhelm gerichtete Bitte um den christlichen Segen
für sein Epos folgen. Damit weist er – formal gestützt durch die da-
durch entstehende Rahmenbildung – ganz bewusst antike weltliche
Bildung und christlichen Geist als mehr oder weniger gleichberech-
Kommentar zu Buch I 587

tigte Inspirationsquellen für sein Epos aus. ⇔ In der Tat bietet der
Text der Alexandreis nicht nur eine häufig an antiken Vorbildern
orientierte Episierung des Alexanderstoffes, sondern verschafft im-
mer wieder auch zeitgenössischen und damit dem christlichen Welt-
bild gehorchenden Moralvorstellungen Gehör (vgl. Glock 2000,
273). Besonders eindrücklich ist dieser Sachverhalt innerhalb des
gesamten Epos an der Charakterisierung Alexanders auszumachen,
die als maßgebliche Grundlage für dessen moralische Bewertung
neben antik-paganen Vorstellungen insbesondere nach dem heils-
geschichtlich legitimierten Perserfeldzug immer wieder auch christ-
liche Maßstäbe heranzieht. ⇔ Mit der Zueignung seines epischen
Gedichts an seinen Gönner Wilhelm – verbunden mit der Bitte um
Dichterlohn – endet das Prooemium der Alexandreis.

Beginn der Erzählung (27–58)

Klage und Zornesausbruch Alexanders (27–39)

27–39 Nondum prodierat naturae plana tenellis … exprimit iram


… Persarum dampnare iugum, profugique tyranni  | cornipedem
lentum celeri prevertere cursu | confusos turbare duces, | puerumque
leonis … in bello simulare virum?: Mit dem Hinweis auf Alexanders
gerade beginnenden Bartwuchs schildert Walter den erst zwölfjähri-
gen makedonischen Kronprinzen, wie er voller Tatendurst innerlich
darüber klagt, dass die Pelasger, ein ursprünglich in Thessalien und
Epirus beheimatetes und von dort aus auch nach Kleinasien ausge-
wandertes Volk, an der dortigen Westküste unter Darius’ Herrschaft
stehen und der persische König durch Allianzen mit verschiedenen
griechischen Städten sogar politischen Druck auf Makedonien aus-
zuüben versucht. ⇔ Walter bezeichnet hier irrtümlich oder viel-
leicht auch in bewusster Übertragung Darius bereits als persischen
König, der jedoch wie Alexander selbst erst im Jahre 336 v. Chr. an
588 KOmmentar

die Macht kam. In der erzählten Zeit des Epos hatte eigentlich noch
Artaxerxes III. (358–338 v. Chr.) den persischen Thron inne. ⇔ Im
direkten Anschluss an den inneren Monolog folgt eine Rede Alex-
anders, in der er seinem Zorn freien Lauf lässt und Klage darüber
führt, dass er als Zwölfjähriger noch nicht aktiv in den Kampf gegen
die Perser eingreifen darf. ⇔ Die Perser waren, wie die Bemerkung
Persarum dampnare iugum nahelegt, seit den Perserkriegen im 5.
Jahrhundert v. Chr. eine ständige Bedrohung für die griechischen
Stadtstaaten und insbesondere auch für ihre Verbündeten an der
Westküste Kleinasiens, auch wenn man dabei nicht übersehen darf,
dass beim allmählichen Aufstieg Makedoniens zur Hegemonial-
macht in Griechenland einzelne Stadtstaaten immer wieder auch
mit den Persern Bündnisse schlossen, um sich damit vom stetig zu-
nehmenden makedonischen Druck zu befreien. ⇔ Mit den Wor-
ten profugi tyranni | cornipedem lentum celeri prevertere cursu fügt
Walter einen Vorverweis auf die Schlacht bei Issus ein, in der Darius
ängstlich die Flucht ergreift, da er sich von dem mitten in die Reihen
der Perser vorwärts drängenden Alexander persönlich bedroht fühlt
(vgl. Komm. III, 189–202). ⇔ Die mit puerumque leonis  | vexillo
einhergehende Bezugnahme auf einen Löwen ist von Walter an die-
ser Stelle nicht zufällig gewählt, da sie einerseits einen willkomme-
nen charakterlichen Gegensatz zwischen dem ängstlich agierenden
Darius und dem forsch voranstürmenden Alexander auszudrücken
vermag, andererseits beim gebildeten Leser die in der Literatur häu-
fig anzutreffende Identifikation Alexanders mit einem Löwen in Er-
innerung ruft. Beispielsweise berichtet Plutarch, dass Olympias und
Philipp durch Träume beunruhigt den Seher Aristander aufgesucht
haben, der diese dahingehend ausgelegt hat, dass ihnen die Geburt
eines mutigen und löwengleichen Kindes bevorstehe (vgl. Plut.,
Αλέξανδρος II, 3: Ἀρίστανδρος ὁ Τελμησσεὺς κύειν ἔφη τὴν ἄνθρωπον·
οὐθὲν γὰρ ἀποσφραγίζεσθαι τῶν κενῶν· καὶ κύειν παῖδα θυμοειδῆ καὶ
λεοντώδη τὴν φύσιν). Auch Alexanders Frisur wird in der antiken
Literatur nicht selten als löwenhaft beschrieben. Darüber hinaus
Kommentar zu Buch I 589

leitet das Bild des Löwen meisterhaft über zu dem in den folgenden
Versen erwähnten Herkules, der bekanntermaßen zumeist mit dem
Fell des von ihm selbst erlegten Nemeischen Löwen dargestellt wird.

Alexander und Herkules (39–41)

39–41 Verumne dracones  | Alcydem puerum compressis faucibus


olim | in cunis domuisse duos?: Das Beispiel des jungen Herkules er-
füllt an dieser Stelle einen doppelten Zweck: Zum einen ist Alexan-
der damit in der Lage, sein noch jugendliches Alter zu relativieren,
da der Alkide bekanntermaßen bereits als Säugling zwei von Hera
gesandte Schlangen erwürgt hatte, zum anderen gibt es Walter die
Gelegenheit, schon zu Beginn der Alexandreis das neben Achilles
wichtigste Vorbild des späteren makedonischen Königs in die Epos-
handlung einzuführen (vgl. Komm. I, C 10).

Alexander und Aristoteles (41–46)

41–46 Ergo nisi magni | nomen Aristotilis pueriles terreat annos, |


haut dubitem similes ordiri fortiter actus: | Adde, quod etati duoden­
ni corpore parvo | maior inesse solet virtus viridisque iuventae | ar­
dua vis supplere moras: Mit Alexanders Bemerkung, dass allein Aris-
toteles ihn davon abzuhalten vermag, auf der Stelle in den Krieg zu
ziehen, spielt Walter auch hier geschickt mit den Assoziationen des
gebildeten Lesers, der sich dessen bewusst ist, dass der makedoni-
sche Jüngling überhaupt erst durch seinen berühmten Erzieher und
Lehrer mit Homers Epen und den darin geschilderten Heldentaten
des Herkules in Berührung gekommen ist, und verknüpft damit
beide Aussagen Alexanders gekonnt miteinander. Zugleich bereitet
Walter damit auch schon den wenig später in Szene gesetzten Auf-
tritt des berühmten Philosophen vor, der seinem Schützling in einer
590 KOmmentar

langen Rede das richtige Verhalten eines guten Königs und erfolg-
reichen Feldherrn vermitteln wird.

Alexander und Nektanabus (46–48)

46–48 Semperne putabor  | Nectanabi proles? Ut degener arguar,


absit!» … perorat: Alexanders Rede, in der er neben der bereits an-
gesprochenen Bezugnahme auf Herkules ein weiteres Mal den Ver-
such unternimmt, die Vorzüge seines Jugendalters herauszustrei-
chen, mündet in der von den Worten Semperne putabor | Nectanabi
proles? getragenen Klage, ob er etwa für alle Zeiten als Nektanabus’
Spross gelten solle und schließt mit der eindringlichen Warnung
– ut degener arguar, absit –, ihn als entartet zu beschimpfen (vgl.
Alex. III, 167; vgl. auch Komm. III, 140–188). ⇔ Damit geht Wal-
ter auf eine ursprünglich aus Ägypten stammende und im Alexan-
derroman verarbeitete Erzählung über den letzten einheimischen
Pharao Nektanabus III. ein, der vor den Persern nach Makedonien
geflohen war und sich dort als Orakelpriester niedergelassen hatte.
Von Philipps Gattin um Rat gefragt, soll er Olympias prophezeit
haben, dass sie vom Gott Hammon einen Sohn empfangen werde,
der sich an ihrem rücksichtslosen Ehemann für die zahlreich erlit-
tenen Missachtungen rächen werde. Daraufhin zeugte Nektanabus
in Gestalt des Gottes Hammon mit Olympias Alexander, der bei
seinem späteren Einzug in Ägypten daher weniger als Eroberer,
sondern vielmehr als Befreier vom persischen Joch gefeiert werden
sollte. Möglicherweise ist in dieser Erzählung eine Reaktion der
Ägypter auf den Sturz der letzten einheimischen Dynastie durch
die Perser bzw. durch Alexander zu sehen, mit dem nach der per-
sischen Fremdherrschaft wieder eine gewisse Kontinuität zu den
früheren Pharaonen und zur eigenen Geschichte hergestellt wer-
den konnte. ⇔ Die Szene schließt mit einem in sich gekehrten Ale-
xander, der wegen der im Raum stehenden Gerüchte hinsichtlich
Kommentar zu Buch I 591

seiner möglicherweise illegitimen Abstammung innerlich nach wie


vor ungehalten ist.

Alexanders Ungeduld (49–58)

49–58 Qualiter Hyrcanis si forte leunculus arvis … cui nondum totos


descendit robur in armos, | nec pede firmus adhuc nec dentibus asper
aduncis | palpitat … Sic puer effrenus totus bachatur in arma, | in­
validusque manu gerit alto corde leonem, | et preceps teneros audacia
prevenit annos: Walter greift an dieser Stelle auf das bereits zu Be-
ginn von Alexanders Klage bemühte Löwenmotiv zurück, um den
vor Ungeduld mit den Füßen scharrenden makedonischen Jüngling
anschaulich zu beschreiben. ⇔ Mit dem endponderierten arvis be-
stehen hinsichtlich der Wortwahl und der Wortstellung auffällige
Parallelen zu Löwenvergleichen bei Vergil und Lucan, auch wenn
Walter anders als die beiden antiken Autoren den Erfordernissen sei-
ner Darstellung entsprechend das Bild eines noch nicht ausgewach-
senen Löwen bemüht (vgl. Verg., Aen. XII, 4: Poenorum qualis in
arvis; vgl. auch Luc., Phars. I, 205: sicut squalentibus arvis). Eine
diesbezügliche Übereinstimmung besteht auch mit dem spätanti-
ken Dichter Claudian, der im Panegyricus für Kaiser Honorius zum
dritten Konsulat mit dem Bild eines jungen Löwen versucht, den
in der entsprechenden Szene gerade einmal zehnjährigen Honorius
davon abzuhalten, schon in so jungen Jahren in den Krieg zu ziehen
(vgl. Claud., Paneg. de tertio cons. Hon. Aug., 73–82: Quae tibi tum
Martis rabies quantusque sequendi | ardor erat? Quanto flagrabant
pectora voto | optatas audire tubas campique cruenta | tempestate frui
truncisque inmergere plantas? | Ut leo, quem fulvae matris spelunca
tegebat  | uberibus solitum pasci, cum crescere sensit  | ungue pedes et
terga iubis et dentibus ora, | iam negat imbelles epulas et rupe relic­
ta | Gaetulo comes ire patri stabulisque minari | aestuat et celsi tabo
sordere iuvenci). Walters Bezugnahme auf Claudian wird noch deut-
592 KOmmentar

licher, wenn man den Panegyricus für Kaiser Honorius auf das vierte
Konsulat hinzuzieht, wo Theodosius den jungen und kriegsberei-
ten Honorius vertröstet und ihn sogar mit Alexander vergleicht,
der schon befürchtet hatte, dass ihm die Eroberungen seines Vaters
Philipp keinen Raum mehr für eigene Heldentaten übriglasse (vgl.
Claud., Paneg. de quarto cons. Hon. Aug., 8, 369–377: Delibat dul­
cia nati | oscula miratusque refert: »Laudanda petisti; | sed festinus
amor. Veniet robustior aetas; | ne propera. Necdum decimas emensus
aristas | adgrederis metuenda viris: vestigia magnae | indolis agnosco.
Fertur Pellaeus, Eoum | qui domuit Porum, cum prospera saepe Phi­
lippi | audiret, laetos inter flevisse sodales | nil sibi vincendum patris
virtute relinqui; vgl. auch Zwierlein 2004, 619–621).

Hinführung zur Aristoteles-Rede (59–81)

Aristoteles als Gelehrter (59–71)

59–71 Forte macer pallens incompto crine magister … ubi nuper cor­
pore toto | perfecto logyces pugiles armarat elencos ... interior sibi sumit
homo fomenta laboris: Walters Hinweis auf das von Erschöpfung
und Magerkeit geprägte und ungepflegte äußere Erscheinungsbild
des Aristoteles in Verbindung mit dem gerade erfolgten Abschluss
der Arbeiten zu den in lateinischer Sprache erst wieder Mitte des 12.
Jahrhunderts verfügbaren logischen Schriften des antiken Philoso-
phen – corpore toto | perfecto logyces – wirkt auf den ersten Blick auf
seltsame Weise isoliert und scheint dabei ohne einen inneren Zusam-
menhang mit der im weiteren Textverlauf wiedergegebenen Rede
des Stagiriten zu stehen. Stellt man jedoch in Rechnung, dass Walter
in seinen moralisch-satirischen Gedichten immer wieder auch Klage
über die von Mühsal und fehlender Anerkennung geprägte Existenz
des mittelalterlichen Gelehrten und Intellektuellen führt, scheint es
nicht abwegig, dass es sich dabei um eine geschickt inszenierte und
Kommentar zu Buch I 593

an den zeitgenössischen Leser gerichtete Gesellschaftskritik handelt


(zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Einleitung 8). ⇔ Die erst
von byzantinischen Gelehrten in sechs Bücher eingeteilten und als
Organon bezeichneten logischen Schriften des Aristoteles enthalten
im sechsten und letzten Buch die sogenannten sophistici elenchi, in
denen der antike Philosoph die verschiedenen sophistischen Trug-
schlüsse mit schlagkräftigen Argumenten – pugiles armarat elencos
– widerlegt.

Alexanders erneute Klage (72–81)

72–81 Ergo ubi flammato vidit Philippida vultu … Ille sui reverens
faciem monitoris ocellos | supplice deiecit vultu … atque … vigili bibit
aure magistrum: Nach der Charakterisierung des Aristoteles kehrt
Walter in seiner Darstellung zu Alexander zurück und findet damit
wieder den Anschluss an den oben beschriebenen Löwenvergleich.
Aristoteles fordert seinen Schüler auf, ihm die Gründe für dessen
aufgewühlten Gemütszustand mitzuteilen. Voller Respekt und mit
großer Ehrfurcht wagt es Alexander, seinem mit monitor bezeichne-
ten Lehrer von der Bedrohung der Heimat durch Darius und der al-
tersbedingten Schwäche seines Vaters Philipp zu berichten. ⇔ Diese
Hinführung zur Aristoteles-Rede endet damit, dass Alexander, von
Walter mit der Formulierung vigili bibit aure anschaulich zum Aus-
druck gebracht, sich aufmerksam seinem Lehrer zuwendet, der ihm
nun in einer langen Rede nützliche Ratschläge über das richtige Ver-
halten eines Feldherrn und Königs vermittelt.
594 KOmmentar

Die Aristoteles-Rede (82–183)

Definition des aristotelischen Tugendbegriffs (82–104)

Entfaltung des Tugendpotenzials durch praktische Übung (82–84)

82–84 «Indue mente virum, Macedo puer, arma capesce.  | Mate­


riam virtutis habes, rem profer in actum;  | Quoque modo id possis,
aurem huc adverte, docebo: Der originären aristotelischen Tugend-
lehre folgend – als Quelle lässt sich an der vorliegenden Stelle ebenso
wie bei den noch folgenden Feldherrntugenden die Ethica Vetus des
Burgundio von Pisa heranziehen – kann sich das von Walter ange-
sprochene Tugendpotenzial nur durch praktische Übung heraus-
bilden und wirksam in einer konkreten Charaktertugend entfalten
(vgl. Gartner 2018, 37; zur Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl.
Einleitung 3). ⇔ Hinsichtlich der hier von Aristoteles an seinen
Schüler Alexander gerichteten Aufforderung, von seinem grund-
sätzlich vorhandenen Tugendpotenzial im Kontext des Kriegs Ge-
brauch zu machen, muss in der Übersetzung freilich – anders als
Streckenbach dies tut – beachtet werden, dass der Stagirit seine
Anweisungen nicht auf die Gegenwart des zwölfjährigen Jungen
bezieht, sondern auf denjenigen Zeitpunkt anspielt, an dem dieser
als junger Mann von seinem tugendhaften Charakter geleitet diesen
Aufgaben auch tatsächlich gewachsen sein wird (vgl. Strecken-
bach 1990, 31).

Sklaven von Natur aus (85–91)

85–91 Consultor procerum servos contempne bilingues  | et nequam


nec, quos humiles natura iacere | precepit, exalta. Nam qui pluviali­
bus undis | intumuit torrens, fluit acrior amne perhenni. | Sic partis
opibus et honoris culmine servus | in dominum surgens, truculentior
aspide surda | obturat precibus aures, mansuescere nescit: Im Folgen-
den richtet Aristoteles die Aufmerksamkeit seines Schülers auf den
Kommentar zu Buch I 595

Umstand, dass die Tugendhaftigkeit eines Menschen grundsätzlich


nicht vom gesellschaftlichen Stand oder von der Herkunft einer Per-
son abhängig ist, sondern ausschließlich auf einer von edler Gesin-
nung getragenen inneren Haltung beruht. In einem ersten Schritt
erteilt Aristoteles seinem Schüler dabei den nützlichen Rat, charak-
terlich weniger befähigte und minder vernunftbegabte Personen
ungeachtet vorhandener Reichtümer oder einer möglicherweise
angesehenen Herkunft nicht mit Führungspositionen zu betrau-
en, da sie als Sklaven von Natur aus dafür keine Eignung besitzen.
Derartige Charaktere besitzen nicht die Fähigkeit, von vernünfti-
gen Gründen geleitet anderen Menschen gegenüber mit Milde zu
begegnen, sondern setzen bei der ersten Gelegenheit mit großer
Rücksichtslosigkeit lediglich ihre eigenen Interessen durch. ⇔ Da
der Text der von Walter ansonsten intensiv genutzten Ethica Vetus
für diesen Passus nicht als Grundlage gedient haben kann – mit die-
sem Thema setzt sich der antike Philosoph nämlich vornehmlich in
der zur Zeit Walters noch nicht verfügbaren Politik auseinander –,
dürfte Walter als Vorlage wohl die von Claudian verfasste Invektive
gegen Eutropius, seines Zeichens oberster Kammerherr am Hof in
Konstantinopel, herangezogen haben, wo die angesprochene Pro-
blematik auf vergleichbare Weise behandelt wird (vgl. Claud., In
Eutrop. I, 181–186: Asperius nihil est humili cum surgit in altum: |
cuncta ferit dum cuncta timet, desaevit in omnes | ut se posse putent,
nec belua taetrior ulla | quam servi rabies in libera terga furentis; |
agnoscit gemitus et poenae parcere nescit, | quam subiit, dominique
memor, quem verberat, odit; zur Quellenfrage der Aristoteles-Rede
vgl. auch Einleitung 3).

Charakterstarke Personen (92–104)

92–104 Non tamen id prohibet rationis calculus, ut non  | exaltare


velis, siquos insignit honestas, | quos morum sublimat apex licet am­
pla facultas  | et patriae desit et gloria sanguinis alti … Virtus non
596 KOmmentar

queritur extra. | Non eget exterius, qui moribus intus habundat. | No­
bilitas sola est, animum que moribus ornat: In einem zweiten Schritt
stellt Aristoteles den charakterlich weniger befähigten und minder
vernunftbegabten sklavischen Naturen kontrastierend diejenigen
Personen gegenüber, die sich auch ohne finanzielle Mittel oder ohne
eine angesehene Herkunft durch inneren Reichtum und charakter-
liche Größe auszeichnen. In diesem Kontext hebt der Text insbeson-
dere den schädlichen Einfluss von Reichtümern auf den Charakter
des Menschen hervor. Denn allein die von allen äußeren Gütern un-
abhängige edle Gesinnung verleiht dem Menschen Charakterstär-
ke und befähigt diesen zur Übernahme von Führungspositionen.
⇔ Auch an dieser Stelle scheint die Invektive gegen Eutropius Pate
gestanden zu haben, in welchem Claudian jenen Personen die Be-
fähigung zur Herrschaft abspricht, die in ihrem Leben nicht auch
die Schattenseiten des Daseins erfahren und diese als Beweis ihrer
Tugendhaftigkeit ohne zu klagen ertragen haben (vgl. Claud., In
Eutrop. I, 142–144: qui servi non est admissus in usum, | suscipitur
regnis, et quem privata ministrum | dedignata domus, moderantem
sustinet aula; vgl. auch Claud., Paneg. de quarto cons. Hon. Aug.,
220: virtute decet, non sanguine niti; zur Quellenfrage der Aristote-
les-Rede vgl. auch Einleitung 3).

Die Einzeltugenden (105–183)

Die Tugend der Gerechtigkeit (105–114)

105–114 Si lis inciderit te iudice, dirige libram | iudicii … Cum semel


obtinuit viciorum mater in aula | pestis avaritiae, que sola incarcerat
omnes | virtutum species, spreto moderamine iuris | curritur in faci­
nus, nec leges curia curat: Nach der grundsätzlichen Definition des
Tugendbegriffs wendet sich Aristoteles den für einen erfolgreichen
Feldherrn und König unabdingbaren Einzeltugenden zu und be-
ginnt dabei mit der allen Tugenden übergeordneten Tugend der Ge­
Kommentar zu Buch I 597

rechtigkeit, die in Walters Darstellung insbesondere Alexanders Tä-


tigkeit als Richter berührt. Denn als oberster Kriegsherr oder auch
als König muss er jederzeit in der Lage sein, aufkommenden Streit
zu schlichten und dabei mit Augenmaß und einer möglichst objek-
tiven Einschätzung der jeweiligen Situation ein gerechtes Urteil zu
fällen. Bei der Urteilsfindung haben eigene Sympathien oder Vorbe-
halte zurückzustehen. Insbesondere sind Geschenke, die in der Lage
sind, das eigene Urteilsvermögen zu trüben, grundsätzlich zu miss-
billigen. Ebenso darf das Ansehen einer Person vor Gericht keine
Rolle spielen. Die Autorität des Richters hängt im Kern davon ab,
dass das Urteil von der großen Mehrheit der Beteiligten als gerecht
empfunden werden muss, da sich der Richter ansonsten schnell
dem Vorwurf der Bestechlichkeit ausgesetzt sieht. Die grundlegende
Bedeutung der Gerechtigkeit zeigt sich auch darin, dass bereits durch
ein einmaliges Versagen eines habgierigen Richters das Recht seine
Bedeutung verliert und somit kein Vertrauen mehr in die richter-
liche Gewalt besteht. Mit der Formulierung nec leges curia curat
bezieht sich Walter dabei auf der Erzählebene der Alexandreis vor-
dergründig auf den Kreis der Vertrauten und Berater Alexanders,
auf das 12. Jahrhundert übertragen kritisiert er jedoch im selben
Augenblick im Hintergrund auch die von Korruption, Neid und
Missgunst geprägten Zustände innerhalb der römischen Kurie (zu
Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Einleitung 8). Zugleich gelingt
es Walter damit, die grundlegende Bedeutung der Tugend der Ge­
rechtigkeit für jede Gruppierung, Gesellschaft oder jeden Staat un-
abhängig vom jeweiligen Jahrhundert herauszustellen. ⇔ Walters
Ausführungen zur Tugend der Gerechtigkeit können nur bedingt
mit der Ethica Vetus in Verbindung gebracht werden, da diese dort
im Kontext der Einzeltugenden mit nur wenigen Worten erwähnt
wird. Naheliegend ist auch hier eine Orientierung an Claudian, der
in seinem Panegyricus für Mallius Theodorus zum Konsulatsantritt
eine längere Passage integriert, innerhalb derer die Göttin Iustitia
Theodorus zur erneuten Übernahme des Konsulats auffordert und
598 KOmmentar

dabei auch dessen Gerechtigkeitssinn rühmt (vgl. Claud., Paneg.


dict. Manlio Theodoro cons., 113–197; zur Quellenfrage der Aristote-
les-Rede vgl. auch Einleitung 3).

Die Tugend der angemessenen Zürnkraft (115)

115 Parce humili, facilis oranti, frange superbum: Im Kontext der


Beschreibung der zentralen Feldherrntugenden beginnt Walter mit
der Tugend der angemessenen Zürnkraft – in der Nikomachischen
Ethik mit dem griechischen Begriff πρᾳότης und in der Ethica Vetus
mit der lateinischen Bezeichnung humilitas wiedergegeben –, die
er mit nur einem einzigen, aber auch einzigartigen und mit einer
metrischen Anomalie versehenen Vers abbildet (vgl. Gartner
2018, 43, Anm. 14; zur Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl. auch
Einleitung 3; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs
πρᾳότης bzw. des lateinischen Begriffs humilitas mit angemessener
Zürnkraft vgl. die Einführung zu Buch I). Der aus drei Teilen be-
stehende Vers gibt als erstrebenswerte Mitte des Zornesaffekts die
auch in der Ethica Vetus wiedergegebene aristotelische Tugend der
angemessenen Zürnkraft wieder und bezeichnet die Eigenschaft
eines Mannes, der sich von der Vernunft geleitet weder durch ein
Übermaß an Zorn aus dem bloßen Affekt heraus zu einer unüber-
legten Handlung hinreißen lässt noch sich durch einen Mangel an
Zorn zu gar keiner emotionalen Regung fähig zeigt. Beide ihrem
Wesen nach gegensätzlichen Reaktionen, auf der einen Seite die sich
in blinder Wut artikulierende, im Deutschen mit dem Begriff Jäh-
zorn wiedergegebene Zornmütigkeit, auf der anderen Seite die sich
in apathischem Phlegma manifestierende Zornlosigkeit, werden im
Epos Walters in Übereinstimmung mit der Mesotes-Lehre des Aris-
toteles grundsätzlich als zu vermeidende Laster angesehen und stel-
len demzufolge für einen tugendhaften und moralisch handelnden
Mann keine Handlungsoption dar (vgl. Gartner 2018, 43–45).
Die von der Vernunft getragenen Handlungsmöglichkeiten inner-
Kommentar zu Buch I 599

halb der aristotelischen Tugend der angemessenen Zürnkraft sind


mit der Verschonung eines am Boden liegenden Gegners jedoch
nicht erschöpft, sondern schließen – und dieser Sachverhalt ist für
das Verständnis der aristotelischen Tugend der angemessenen Zürn­
kraft von zentraler Bedeutung – auch und gerade die Vernichtung
eines hochmütigen Feindes mit ein. ⇔ Mit dem Ausdruck Parce hu­
mili, facilis oranti, frange superbum fügt Walter in seinem Epos in
imitativer und aemulativer Absicht zudem eine Reminiszenz an das
mit den Worten parcere subiectis et debellare superbos endende Rö-
merprogramm der Aeneis Vergils ein. Gartner (2018) 51 beschreibt
diesen Sachverhalt auf prägnante Weise wie folgt: »Während Ver-
gil seinem Protagonisten Aeneas mit den Worten parcere subiectis
et debellare superbos als moralische Richtschnur […] lediglich eine
starre Verhaltensregel ohne eine darüber hinausgehende Reflexion
verordnet, gibt Walter mit dem facilis oranti seinem Protagonisten
die Möglichkeit an die Hand, jenseits moralischer Imperative (parce
humili, frange superbum) aus der jeweiligen Situation heraus eine
eigene, autonome Entscheidung zu treffen. Damit emanzipiert Wal-
ter seinen Helden und verschafft ihm mit seinem gegenüber Vergils
Römerprogramm erweiterten Alexanderprogramm einen für den
jeweils konkreten Entscheidungsprozess notwendigen Spielraum,
innerhalb dessen im Unterschied zu den regeldogmatischen und
damit starren Vorgaben Vergils weniger die Handlung selbst als viel-
mehr die Tugendhaftigkeit des Protagonisten – und dies ist gleich-
bedeutend mit dem Schritt von der reinen Moral zur Moralität – im
Vordergrund steht.« ⇔ Insofern verarbeitet Walter im Kontext der
Tugend der angemessenen Zürnkraft nicht nur aristotelisches Ge-
dankengut, sondern begibt sich auf poetologischer Ebene auch in
einen aemulativen Wettstreit mit seinem dichterischen Vorbild Ver-
gil (zu der von Walter im Kontext der angemessenen Zürnkraft ae-
mulativ in Szene gesetzten Porus-Episode vgl. Komm. IX, 291–325;
zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. auch Einleitung 6;
zur Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 3).
600 KOmmentar

Die Tugend der Tapferkeit (116–143)

Auch hinsichtlich der Tugend der Tapferkeit übernimmt Walter die


in der Ethica Vetus dargelegten aristotelischen Vorstellungen und
beschreibt die als erstrebenswerte Mitte im Gegenstandsbereich der
Furcht bzw. des Mutes verstandene fortitudo – in der Nikomachi­
schen Ethik mit dem griechischen Begriff ἀνδρεία wiedergegeben – als
die Eigenschaft eines Mannes, der von der Vernunft geleitet weder
zu sehr der Furcht nachgibt noch umgekehrt zu großen Mut zeigt.
Beide ihrem Wesen nach gegensätzlichen Reaktionen oder Verhal-
tensweisen, auf der einen Seite die sich in übersteigerter Furcht ar-
tikulierende Feigheit, auf der anderen Seite die sich in übertriebe-
nem Mut manifestierende Tollkühnheit, werden entsprechend der
Mesotes-Lehre des Aristoteles im Epos Walters grundsätzlich als zu
vermeidende Laster angesehen und stellen demzufolge keine Hand-
lungsoption für einen tugendhaften und moralisch handelnden
Mann dar (vgl. Gartner 2018, 54–60; zur Quellenfrage der Aristo-
teles-Rede vgl. Einleitung 3).

Schnelligkeit und Entschlossenheit (116–117)


116–117 Castra move, turmas instaura, transfer in hostem. | Grande
aliquid si velle tenes, et posse tenebis: Mit der asyndetischen Reihung
der aus drei Teilen bestehenden Aufforderung, den Feind mit einem
gut organisierten Heer anzugreifen – castra move, turmas instaura,
transfer in hostem –, führt Walter dem Leser rhetorisch geschickt
gleich zu Beginn seiner Ausführungen über die aristotelische Tu-
gend der Tapferkeit als entscheidende Kriterien für den Kriegserfolg
die Schnelligkeit und die Entschlossenheit eines Feldherrn vor Augen.
Beide Eigenschaften sind dabei Ausdruck der unbändigen Willens-
kraft eines Feldherrn, der den Lauf der Dinge nicht einfach dem Zu-
fall überlässt, sondern das Geschehen aktiv gestaltend in die Hand
nimmt. Unter diesen Voraussetzungen lassen sich dann auch große
Vorhaben verwirklichen.
Kommentar zu Buch I 601

Überzeugungskraft (118–127)
118–127 Si conferre manum … pugnantem precibus monituque minis­
que tonantem … dum languida terror | agmina prosternit … si gravis
hortatu preceptor inebriat aures, | se timor absentat, et sic formidine
mersa | irruit in ferrum monitis effrena iuventus: Ein weiterer As-
pekt innerhalb der Tugend der Tapferkeit stellt die Überzeugungs­
kraft eines Feldherrn dar. Ungeachtet der eigenen Gefühlslage muss
ein Feldherr mit seinem Verhalten in der Lage sein, die Soldaten mit
Bitten zum Kampf zu ermuntern oder diese nötigenfalls auch mit
Mahnungen dazu antreiben. Unbedingte Voraussetzung dafür ist
das Motivationstalent eines Feldherrn, dem es durch die emotionale
Nähe zu seinen Soldaten gelingen muss, das bei diesen möglicher-
weise nicht in ausreichendem Maße vorhandene Selbstbewusstsein
zu stärken und die von Ängsten geplagte Jugend für den Einsatz im
Krieg zu gewinnen.

Vorbildfunktion (128–132)
128–132 Hostibus ante alios primus fugientibus insta … ultimus in­
stando fugias, videantque morantem, | indecoresque fuga pudeat sine
rege reverti: Auch die Vorbildfunktion eines Feldherrn trägt in ent-
scheidendem Maße zum Erfolg in der Schlacht bei. Von großer Be-
deutung ist es in diesem Kontext, als erster den Feind zu verfolgen
und als letzter das Schlachtfeld zu verlassen, auch wenn der Feind
möglicherweise die eigenen Reihen zum Rückzug zwingen sollte.
Die eigenen Soldaten sollen es durch das leuchtende Vorbild ihres
Anführers beeindruckt bereuen, vor diesem den Rückzug angetre-
ten zu haben.

Strategisches Vermögen (133–136)


133–136 Interea metire oculis, quot milibus instent … nec te terruerit
numerus: An dieser Stelle behandelt Walter das strategische Vermö­
gen eines Feldherrn, der durch ebenso kluge wie kühle Berechnung
– treffend mit dem Ausdruck metire oculis umschrieben – die Vor-
602 KOmmentar

aussetzungen für den militärischen Erfolg schafft und sich mit einer
überlegenen taktischen Ausrichtung auch einem zahlenmäßig über-
legenen feindlichen Heer mit Zuversicht stellen kann. Natürlich
nimmt Walter damit Bezug auf Alexanders beinahe aussichtsloses
Unterfangen, einen übermächtigen Feind wie die Perser besiegen zu
wollen.

Handlungsschnelligkeit (136–143)
136–143 Si molliter illos | videris instantes, rue primus in arma se­
quentum, | primus equum verte, pressoque relabere freno … Vix liceat
victis victori offerre tryumphum: Nach den strategischen Fähigkeiten
im Vorfeld eines Kampfes thematisiert Walter im Folgenden die si-
tuationsbedingte Flexibilität bzw. die Handlungsschnelligkeit eines
Feldherrn, der sich im Verlauf einer Schlacht auf schnell ändernde
Umstände einzustellen weiß. Die als Hysteron-Proteron gestaltete,
aus drei Teilen bestehende Aufforderung rückt nicht nur denjenigen
Teil sprachlich eng an die zaghaft agierenden Feinde heran, der mit
der konkreten Feindberührung in unmittelbarem Zusammenhang
steht, sondern unterstreicht mit der asyndetischen Reihung zudem
die insgesamt herausragende Handlungsschnelligkeit eines Feldherrn
(zum Hysteron-Proteron in der Alexandreis vgl. Einleitung 4). Da-
mit führt Walter den Leser geschickt mitten in das Schlachtgetüm-
mel hinein, in welchem ein Feldherr auf seine Kampfkraft, seine
Erfahrung, seinen Mut und seine gute Beziehung zu den eigenen
Soldaten vertrauen soll. ⇔ Mit den stilistisch durch eine dreifache
Alliteration und einem Polyptoton gestalteten Worten vix liceat
victis victori offerre tryumphum bringt Walter abschließend zum
Ausdruck, dass in einem derartig grausamen Kampfgetümmel der
eigenen Partei der Sieg nicht geschenkt wird, sondern immer nur
das Ergebnis einer harten, von zahlreichen Opfern geprägten kriege-
rischen Auseinandersetzung sein kann.
Kommentar zu Buch I 603

Die Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit: Teil 1 (144–151)

144–151 Cumque vel intraris victis tradentibus urbem, | vel, si resti­


terint, portas perfregeris urbis, | thesauros aperi, plue donativa mani­
plis, | vulneribus crudis et corde tumentibus egro | muneris infundas
oleum, gazisque reclusis | unge animos donis, aurique appone liquo­
rem. | Hec egrae menti poterit medicina mederi. | Sic inopi dives lar­
gusque medetur avaro: Ebenso wie bei den Tugenden der angemes­
senen Zürnkraft und der Tapferkeit übernimmt Walter auch bei der
Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit die in der Ethica Vetus
wiedergegebenen aristotelischen Vorstellungen und beschreibt die
als erstrebenswerte Mitte im Gegenstandsbereich des Gebens und
des Nehmens verstandene liberalitas – in der Nikomachischen Ethik
mit dem griechischen Begriff ἐλευθεριότης wiedergegeben – als die
Eigenschaft eines Mannes, der von der Vernunft geleitet weder zu
verschwenderisch mit äußeren Gütern umgeht noch umgekehrt zu-
viel davon für sich selbst beansprucht (zur deutschen Übersetzung
des griechischen Begriffs ἐλευθεριότης bzw. des lateinischen Begriffs
liberalitas mit angemessener Gebefreudigkeit vgl. die Einführung zu
Buch I). Beide in ihrer Wesensart gegensätzlichen Verhaltensweisen,
einerseits die sich in übersteigernder Lust am Geben artikulierende
Verschwendungssucht, andererseits die sich in übertriebener Lust
am Nehmen manifestierende Habgier, werden entsprechend der
Mesotes-Lehre des Aristoteles grundsätzlich als zu vermeidende
Laster angesehen und stellen demzufolge keine Handlungsoption
für einen tugendhaften und moralisch handelnden Mann dar (vgl.
Gartner 2018, 60–61; zur Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl.
Einleitung 3). ⇔ Im ersten Teil seiner Erörterungen über die Tu-
gend der angemessenen Gebefreudigkeit schildert Walter in Fortset-
zung der Ausführungen zur Tugend der Tapferkeit in acht Versen
sehr konkret und in eindrücklichen Bildern die Situation nach einer
Schlacht, bei der die Soldaten an den Rand ihrer physischen und
psychischen Belastbarkeit gehen mussten, um als Sieger hervorzu-
604 KOmmentar

gehen. In dieser insbesondere psychologisch schwierigen Lage ist es


die Aufgabe eines Feldherrn, die körperlich verwundeten und auch
mental angeschlagenen Soldaten mit Geschenken zu überhäufen,
um sie – wie mit einer Arznei – von den negativen Begleiterschei-
nungen der Schlacht zu kurieren. Auf diese Weise ist ein Feldherr in
der Lage, auf die unterschiedlichen Bedürfnisse seiner Soldaten ein-
zugehen und diese zu befriedigen. Die von der Vernunft getragenen
Handlungsmöglichkeiten innerhalb der aristotelischen Tugend der
angemessenen Gebefreudigkeit sind mit dem großzügigen Verteilen
von Geschenken jedoch nicht erschöpft, sondern schließen – und
dieser Sachverhalt ist für das Verständnis der aristotelischen Tugend
der angemessenen Gebefreudigkeit von zentraler Bedeutung – auch
die Verweigerung von Geschenken bzw. die Vernichtung bereits er-
beuteter Reichtümer mit ein (vgl. Komm. VIII, 49–74; vgl. auch die
Einführung zu Buch I).

Die Tugend der angemessenen Zuwendung (152–154)

152–154 At si forte animo res non respondeat alto, | copia si desit vel
si minuatur acervus, | non minuatur amor, non desit copia mentis:
Auch für die an der vorliegenden Stelle in vier Versen behandelte
Tugend der angemessenen Zuwendung übernimmt Walter die in
der Ethica Vetus wiedergegebenen aristotelischen Vorstellungen
und beschreibt die als erstrebenswerte Mitte im Gegenstandbe-
reich des menschlichen Miteinanders verstandene amicicia – in der
Nikomachischen Ethik mit dem griechischen Begriff φιλíα wieder-
gegeben – als die Eigenschaft eines Mannes, der von der Vernunft
geleitet weder durch eine übersteigerte Sucht nach Beliebtheit zu
heuchlerischer Schmeichelei neigt noch sich aus einem Mangel an
Kompromissbereitschaft achtlos und hartherzig zeigt (zur deut-
schen Übersetzung des griechischen Begriffs φιλíα bzw. des lateini-
schen Begriffs amicicia mit angemessener Zuwendung vgl. die Ein-
führung zu Buch I). Die beiden gegensätzlichen Verhaltensweisen,
Kommentar zu Buch I 605

auf der einen Seite die sich in einem übersteigerten Bedürfnis nach
Anerkennung artikulierende Geneigtheit, auf der anderen Seite die
sich in übertriebener Streitlust manifestierende Unverträglichkeit,
werden entsprechend der Mesotes-Lehre des Aristoteles in Walters
Epos grundsätzlich als zu vermeidende Laster angesehen und stellen
demzufolge keine Handlungsoption für einen tugendhaften und
moralisch handelnden Mann dar (vgl. Gartner 2018, 63–64; zur
Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 3). Die Tugend
der angemessenen Zuwendung spielt Walters Ausführungen zufolge
insbesondere in Situationen eine Rolle, in denen es einem Feldherrn
aus Mangel an äußeren Gütern wie Geld oder Schätzen – copia si
desit – nicht möglich ist, seine Soldaten großzügig zu beschenken.
Dann müssen das mit dem Begriff amor zum Ausdruck gebrachte
gute Verhältnis zu seinen Männern und die mit copia mentis – die
Wiederaufnahme des Begriffs copia ist von Walter freilich beabsich-
tigt – wiedergegebene innere, auf Zuwendung und Warmherzigkeit
beruhende Zuwendung eines Feldherrn dieses Defizit ausgleichen,
um eine möglicherweise aufkommende Unzufriedenheit unter den
eigenen Leuten zu verhindern und bereits im Keim zu ersticken.

Die Tugend der Wahrhaftigkeit (155)

155 Allice pollicitis promissaque tempore solve: Auf die Tugend der
angemessenen Zuwendung lässt Walter die mit nur einem Vers be-
handelte Tugend der Wahrhaftigkeit folgen. Auch für diese Tu-
gend übernimmt Walter die in der Ethica Vetus wiedergegebenen
aristotelischen Vorstellungen und beschreibt die als erstrebenswer-
te Mitte im Gegenstandsbereich der Wahrheit verstandene veritas
– in der Nikomachischen Ethik mit dem griechischen Begriff ἀλή-
θεια wiedergegeben – als die Eigenschaft eines Mannes, der von der
Vernunft geleitet hinsichtlich seiner Person weder eine von falschen
Hemmungen geprägte Zurückhaltung an den Tag legt noch zu an-
geberischer Übertreibung neigt. Die beiden gegensätzlichen Ver-
606 KOmmentar

haltensweisen, auf der einen Seite die sich in übertriebenem Under-


statement artikulierende Bescheidenheit, auf der anderen Seite die
sich im übersteigerten Bedürfnis nach Selbstdarstellung manifestie-
rende Überhöhung der eigenen Person, werden entsprechend der
Mesotes-Lehre des Aristoteles in Walters Epos grundsätzlich als zu
vermeidende Laster angesehen und stellen demzufolge keine Hand-
lungsoption für einen tugendhaften und moralisch handelnden
Mann dar (vgl. Gartner 2018, 64–65; zur Quellenfrage der Aristo-
teles-Rede vgl. Einleitung 3). Folgt ein Feldherr dieser aristotelischen
Maxime, wird er seine Versprechen auch einhalten können.

Die Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit: Teil 2 (156–163)

156–163 Munus enim mores confert, irretit avaros, | occultat vicium,


genus auget, subicit hostem. | Non opus est vallo, quos dextera dapsilis
ambit. … est dare pro muro et solidi muniminis instar. | Non murus,
non arma ducem tutantur avarum: Im zweiten Teil seiner Betrach-
tungen zur Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit erörtert Wal-
ter erneut in acht Versen den allgemeinen Nutzen dieser Tugend für
einen Feldherrn. Sie ist in der Lage, den Gehorsam der Soldaten zu
festigen, auch habgierige Charaktere zu befriedigen und die eigene
Anhängerschaft zu vergrößern. Walter zählt diese durch die Tugend
der angemessenen Gebefreudigkeit ermöglichten Verhaltensweisen
der Soldaten zu den entscheidenden Faktoren bei der Unterwerfung
des Feindes. Abschließend kommt er zu der pointiert formulierten
Feststellung, dass die angemessene Gebefreudigkeit eines Feldherrn
einen besseren Schutz vor Feinden zu bieten vermag als die Mauern
einer Stadt. Walter gliedert diese drei Tugenden dadurch, dass er mit
den endponderierten, in diesem Kontext sozusagen als Warnhinweis
dienenden Worten avaro und avaros nicht nur einen von der Tu-
gend der angemessenen Gebefreudigkeit gebildeten Rahmen um die
beiden inneren Tugenden der angemessenen Zuwendung und der
Wahrhaftigkeit herum komponiert, sondern mit dem Wort avarum
Kommentar zu Buch I 607

auch die Erörterung der Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit


beendet. ⇔ Mit dieser stilistisch ausgefeilten sprachlichen Einbet-
tung der beiden inneren Tugenden in die Tugend der angemessenen
Gebefreudigkeit bringt der Autor der Alexandreis zum Ausdruck,
dass diese drei auf das Sozialverhalten eines Feldherrn abzielenden
und dessen Fürsorgepflicht gegenüber seinen Soldaten betreffenden
Tugenden in einem untrennbaren inneren Zusammenhang stehen
und zwei Seiten ein- und derselben Medaille darstellen. ⇔ Darü-
ber hinaus bildet im Kontext der Feldherrntugenden der aus den
Tugenden der angemessenen Gebefreudigkeit, der angemessenen Zu­
wendung und der Wahrhaftigkeit bestehende Dreiklang zusammen
mit der Tugend der angemessenen Zürnkraft eine innere komposi-
torische Klammer um die zentrale Tugend der Tapferkeit (vgl. die
Einführung zu Buch I).

Die Tugend der Besonnenheit (164–182)

164–182 Cetera quid moneam? … prodiga luxuries … Si Bacho Ve­


nerique vacas, qui cetera subdis, | sub iuga venisti … ebrietas. Rigidos
enervant hec duo mores. | Parca voluptates sit eis explere voluntas, | qui
leges hominum et mundi moderantur habenas … donec pertranseat
ira, | nec meminisse velis odii post verbera: Im Anschluss an die Tu-
gend der angemessenen Gebefreudigkeit kommt Walter auf die Tu-
gend der Besonnenheit zu sprechen, die als Musterbeispiel ethischer
Tugenden in allgemeiner Weise das rechte Maß zwischen affektivem
Übermaß einerseits und Apathie andererseits beschreibt. ⇔ Wie die
zu Beginn behandelte Tugend der Gerechtigkeit nimmt auch sie eine
Sonderstellung unter den aristotelischen Tugenden ein und bildet
innerhalb der Aristoteles-Rede gemeinsam mit der Tugend der Ge­
rechtigkeit eine weitere, über die Feldherrntugenden gespannte kom-
positorische Klammer (vgl. die Einführung zu Buch I). ⇔ In einem
ersten Schritt thematisiert Walter wieder in enger Anlehnung an die
Ethica Vetus mit der Genusssucht, dem sexuellen Verlangen und der
608 KOmmentar

Trunksucht zuerst diejenigen Laster, die der Tugend der Besonnen­


heit in besonderem Maße zuwiderlaufen und einen Feldherrn auf-
grund ihrer ausgeprägten Dynamik und Intensität zugrunderichten
können (zur Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 3).
Aus diesem Grund stellt es für einen Herrscher eine unabdingba-
re Voraussetzung dar, den genannten Lastern nicht die Führung
über den eigenen Körper und den eigenen Geist zu überlassen. ⇔
In einem zweiten Schritt zeigt Walter, inwiefern die Tugend der Be­
sonnenheit ihre Wirkung auf die Tugend der Gerechtigkeit ausübt.
Unter der von Gerechtigkeitssinn geprägten Herrschaft Alexanders
soll die Göttin Astraea, die dereinst als letzte der Himmlischen von
der frevelhaften Menschheit enttäuscht nach dem goldenen Zeital-
ter die Erde verlassen hatte, auf die Erde zurückkehren. Auch wenn
die Bezugnahme auf diese Göttin im Kontext der Tugend der Ge­
rechtigkeit in der Literatur keine Seltenheit darstellt, hat sich Walter
möglicherweise auch an dieser Stelle von Claudian inspirieren lassen
(vgl. Claud., Paneg. dict. Manlio Theodoro cons., 122–123: laeta­
tur terra reverso  | numine, quod prisci post tempora perdidit auri).
Aus diesem Grund soll Alexander die mit der Gerechtigkeit in Ver-
bindung stehenden Tugenden der Rechtschaffenheit, des Anstands
und der Achtung vor dem Rechten zur Grundlage seines Handelns
erheben. ⇔ Die mit divinos rimare apices zum Ausdruck gebrach-
te Aufforderung, die göttlichen Schriften zu durchforschen, ist die
einzige Stelle in der Aristoteles-Rede der Alexandreis, die in keiner-
lei Bezug zum originären aristotelischem Gedankengut steht. Diese
Anweisung bildet nämlich die christliche, auf der biblischen Da-
nielprophetie basierende und an Alexander adressierte Forderung
ab, in den göttlichen Schriften seinen heilsgeschichtlichen Auftrag
zu erkennen, der ausschließlich in der Eroberung des Perserreichs
liegt. Dennoch ist diese christliche Anweisung ebenso dem Bereich
der Gerechtigkeit zuzurechnen, da es sich dabei sozusagen um die
Einhaltung eines göttlichen Gesetzes handelt. ⇔ Desweiteren spielt
die Tugend der Besonnenheit eine Rolle, wenn es beispielsweise vor
Kommentar zu Buch I 609

Gericht darum geht, Bittstellern mit Milde zu begegnen, sich selbst


an die Gesetze zu halten oder mit der für einen Ankläger angemes­
senen Zuwendung aufzutreten. In besonderem Maße gilt das Gebot
der Besonnenheit in emotional aufgeladenen Situationen, in denen
der Richter kein Urteil fällen, sondern zuerst einmal das Geschehen
beruhigen sollte. Ist das Urteil aber erst einmal gesprochen, soll der
besonnene Richter keinen Gedanken mehr darauf verschwenden.

Die Tugend des angemessenen Stolzes (182–183)

182–183 Si sic | vixeris, eternum extendes in secula nomen: Zuletzt


geht Walter auf Grundlage aristotelischer Vorstellungen auf die
Tugend des angemessenen Stolzes ein (zur deutschen Übersetzung
des griechischen Begriffs μεγαλοψυχία bzw. des lateinischen Begriffs
magnanimitas mit angemessener Stolz vgl. die Einführung zu Buch
I). Die in der Ethica Vetus als erstrebenswerte Mitte im Gegenstands-
bereich des richtigen Umgangs mit der Ehre verstandene magnani­
mitas – in der Nikomachischen Ethik mit dem griechischen Begriff
μεγαλοψυχία wiedergegeben – wird als die Eigenschaft eines Mannes
beschrieben, der von der Vernunft geleitet weder in schüchternem
Kleinmut verharrt noch in aufgeblasener Eitelkeit umherstolziert.
Die beiden gegensätzlichen Verhaltensweisen, auf der einen Seite die
sich in übertriebener Zaghaftigkeit artikulierende Verlegenheit, auf
der anderen Seite die sich in einer dünkelhaften Blasiertheit manifes-
tierende Überheblichkeit, werden entsprechend der Mesotes-Lehre
des Aristoteles in Walters Epos grundsätzlich als zu vermeidende
Laster angesehen und stellen demzufolge keine Handlungsoption
für einen tugendhaften und moralisch handelnden Mann dar. ⇔
Die Tugend des angemessenen Stolzes ist von Walter aus gutem
Grund deshalb an das Ende der Aristoteles-Rede gesetzt worden, da
sie alle anderen Tugenden sozusagen zur Voraussetzung hat, oder
anders gesagt die einer Person entgegengebrachte Ehre – deshalb
auch der potentiale Konditionalsatz si sic vixeris – immer nur die
610 KOmmentar

Folge tugendhaften Handelns sein kann (vgl. Gartner 2018, 39;


zur Quellenfrage der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 3; zum Ver-
ständnis wahren Ruhms in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). ⇔
Aufgrund ihres übergeordneten Charakters bildet die Tugend des
angemessenen Stolzes zusammen mit der ganz zu Beginn erbrachten
Definition des aristotelischen Tugendbegriffs eine weitere komposi-
torische Klammer und stellt damit zugleich den idealen Abschluss
für den durch Walter in der Aristoteles-Rede in Szene gesetzten aris-
totelischen Tugendkatalog dar (vgl. die Einführung zu Buch I).

Ausleitung der Aristoteles-Rede (184–202)

184–202 Talibus informans monitor virtutis alumpnum  | imbuit


irriguam fecundis imbribus aurem … Ille libens sacris bibulas accom­
modat aures  | vocibus, extremae commendans singula cellae … iam
regnat, iam servit ei quadrangulus orbis … Non solum in Persas …
parat insanire, sed ipsum | et totum, si fata sinant, coniurat in orbem:
Die Ausleitung der Aristoteles-Rede beschreibt in einem ersten
Schritt erneut auf sehr bildhafte Art und Weise den Vorgang, wie
der als monitor virtutis bezeichnete Aristoteles seine Tugendlehre
im zukünftigen makedonischen König zu verankern versteht. Ale-
xander, der den Worten seines Lehrers aufmerksam lauscht, trägt
seinen Teil zum Erfolg der Belehrung bei, indem er jede einzelne
Anweisung verinnerlicht. ⇔ Die bildhafte Wortwahl verweist dabei
unzweideutig auf die bereits angesprochene und ebenso bildhafte
Hinführung zur Aristoteles-Rede, mit der zusammen die Auslei-
tung der Rede einen letzten, äußeren kompositorischen Rahmen
bildet (vgl. die Einführung zu Buch I). ⇔ In unmittelbarem An-
schluss daran schildert Walter die Auswirkungen der Aristoteles-Re-
de auf Alexander, der ungeachtet seines noch jungen Alters im Geis-
te bereits zukünftige Schlachten und Siege antizipiert und sich vor
dem inneren Auge bereits als Herrscher über die ganze Welt sieht.
Kommentar zu Buch I 611

⇔ Ohne das genaue Alter Alexanders zu nennen, macht Walter in


einem zweiten Schritt mit der Beschreibung des nun um wenige
Jahre älteren und inzwischen waffenfähigen Alexander einen nicht
genau bestimmbaren zeitlichen Sprung, der beim zeitgenössischen
Leser die Identifikation des Makedonen mit dem mit nur vierzehn
Jahren zum Mitregenten von Frankreich gekrönten Philipp II. er-
möglicht (zur anagogischen Ebene der Alexandreis bzw. zum escha-
tolgischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.3). ⇔ Im letzten Ab-
schnitt thematisiert Walter über einen Vergleich mit Achilles und
dessen Sohn Neoptolemus den unbändigen Ehrgeiz Alexanders, der
nicht nur die Perser besiegen möchte, sondern darüber hinaus auch
nach der Herrschaft über die ganze Welt strebt und damit seinen
Vater Philipp zu übertreffen sucht. Diesem noch in weiter Ferne lie-
genden Vorhaben könnten lediglich die paganen Götter – si fata si­
nant – im Wege stehen, auch wenn Walter mit dem Begriff coniurat
andeutet, dass sich Alexander aus christlicher Sicht mit seinen über
das Perserreich hinausgehenden Eroberungen in moralischer Hin-
sicht dann nicht mehr richtig verhält (zur Stellung der Aristoteles-
Rede innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung
7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79).

Die Legitimierung von Alexanders Herrschaft


in Griechenland (203–267)

Walter wendet sich mit dem nächsten größeren Abschnitt dem An-
tritt der Regentschaft Alexanders zu, die den historischen Quellen
zufolge aus einer zweifachen Legitimierung seiner Herrschaft be-
stand. Zuerst wurde Alexander gleich nach der Ermordung seines
Vaters Philipp im Jahre 336 v. Chr. in Pella zum makedonischen
König gekrönt, um sich daraufhin noch im selben Jahr mit der Er-
hebung zum Hegemon des Korinthischen Bundes in Korinth auch
die Macht und die Verfügungsgewalt über nahezu alle griechischen
612 KOmmentar

Poleis für den Kampf gegen die Perser zu sichern. Walter inszeniert
diese beiden Ereignisse in auffälliger Art und Weise als Hysteron-
Proteron, um dem Leser die herausragende Bedeutung dieser Vor-
gänge vor Augen zu führen und zugleich – wie insbesondere im
Abschnitt über Alexander als Herrscher im Wartestand deutlich
wird – eine geschickt inszenierte zeitgenössische Bezugnahme zu
Philipp II. von Frankreich herzustellen, der mit dem Vorhaben eines
Kreuzzugs in einem ähnlichen Alter wie Alexander vor einer dem
Perserkrieg vergleichbaren Aufgabe stand (vgl. Alex. I, 226–238; zur
anagogischen Ebene der Alexandreis bzw. zum eschatolgischen Sinn
des Epos vgl. Einleitung 7.3; zum Hysteron-Proteron in der Alexan­
dreis vgl. Einleitung 4).

Alexanders Erhebung zum Hegemon (203–238)

Beschreibung von Korinth als Ort der Zeremonie (203–206)

203–206 Urbs erat auctoris nomen sortita Chorintus,  | quam situs


ipse loci, quam rerum copia maior,  | quam rerum et populi, quam
regum firma voluntas  | sanxerat, ut regni caput et metropolis esset:
Die Beschreibung von Korinth und die Namensgebung der Stadt
haben ihren Ursprung wohl in den Etymologiae des Isidor (vgl.
Isid. v. Sev., Etym. XV, cap. I, 45: Corinthum in Achaia condidit
Corinthus Orestis filius). Walter führt die privilegierte Stellung der
Stadt auf ihre günstige geographische Lage und die sich daraus er-
gebenden Vorteile zurück, die in einer guten Versorgung mit Le-
bensmitteln, einer hohen Bevölkerungszahl – darunter auch eine
beachtliche Anzahl vermögender Bürger – sowie im politischen
Willen der Könige nahezu aller griechischer Stadtstaaten liegen, Ko-
rinth als Hauptstadt und Zentrum des bereits ein Jahr zuvor (337 v.
Chr.) von Philipp ins Leben gerufenen Korinthischen Bundes zu
etablieren. Damit gibt Walter im Wesentlichen das wieder, was ins-
besondere nach der Übernahme der Herrschaft durch Makedonien
Kommentar zu Buch I 613

in der Historiographie über Korinth als ein weit über die Grenzen
Griechenlands hinaus bekanntes wirtschaftliches und kulturelles
Zentrum berichtet wird. Nach dem griechischen Geographen und
Geschichtsschreiber Strabon etwa lässt sich der Aufstieg Korinths
zum zentralen Handelsplatz dieser Gegend insbesondere dadurch
erklären, dass die Stadt aufgrund ihrer Lage auf dem schmalen
Isthmus zur Peloponnes nicht nur über zwei gut geschützte Häfen
verfügte, sondern auch die mit Korinth konkurrierende Handels-
route um das Kap Malea herum wegen der widrigen Winde an der
Südostspitze der Peloponnes von Kaufleuten eher gemieden wurde.
Zudem konnte Korinth auch mit Abgaben rechnen, die aus dem
Handel über den schmalen Landweg zwischen der Peloponnes und
dem restlichen Griechenland resultierten (vgl. Strab., Geogr. VIII,
6, 20). ⇔ Allerdings fällt auf, dass Walter mit der Bezeichnung ca­
put regni Korinth als die Hauptstadt eines Reichs bezeichnet, das
durch den festen Willen der Könige – regum firma voluntas – für
diese Führungsrolle bestimmt wurde. Interessanterweise herrschten
jedoch weder in den am Korinthischen Bund beteiligten Poleis Kö-
nige noch lässt sich der Korinthische Bund selbst als Königreich be-
zeichnen. Wiener (2001) 103 vermutet wohl zu Recht, dass Walter
mit dieser historisch eigentlich unzutreffenden Wortwahl die Ab-
sicht verfolgt, beim zeitgenössischen und insbesondere beim franzö-
sischen Leser das Bild der französischen Königskrönung zu evozie-
ren, um damit erneut auf die bereits im Rahmen des Prooemiums
zum Ausdruck gebrachte Parallele zwischen Alexander und dem
jungen Philipp Augustus verweisen zu können (zur anagogischen
Ebene der Alexandreis bzw. zum eschatolgischen Sinn des Epos vgl.
Einleitung 7.3). Nimmt man hinzu, dass der unter politischen Ge-
sichtspunkten für Korinth auch schon zu Alexanders Zeit durchaus
passende Begriff metropolis – in der Antike wurde damit die Haupt-
stadt einer Provinz bezeichnet – in der kirchlichen Terminologie des
Mittelalters die Stadt eines Erzbischofs kennzeichnete, wird deut-
lich, dass Walter bereits in der auf den ersten Blick unverdächtig
614 KOmmentar

wirkenden Beschreibung von Korinth zeitgenössische Parallelen


anklingen lässt und in einem übertragenen Sinn immer auch die
mittelalterliche Stadt Reims mit ihrem Erzbischof Wilhelm meint,
wenn er von der antiken Stadt Korinth spricht (zu zeitgenössischen
Bezügen innerhalb der Alexandreis vgl. Einleitung 8).

Paulus in Korinth (207–208)

207–208 Hanc, Ewangelico propulsans ydola verbo, | Paulus ad ae­


terni convertit pascua veris: Walters Bemerkung, nach der Paulus
Korinth in Weiden des ewigen Frühlings verwandelt und die Hei-
den mit dem Evangelium vertrieben hat, lässt die Schwierigkeiten
erahnen, die Paulus bei der Christianisierung dieser in der Antike
als kulturellem und ethnischem Schmelztiegel fungierenden und
aus einer bunten Mischung verschiedener Kulturen, Sprachen und
Religionen bestehenden Stadt zu bewältigen hatte, bis Korinth
im zweiten nachchristlichen Jahrhundert schließlich Bischofssitz
wurde. Paulus selbst beklagt sich in einem Brief an die Korinther
über die Schwierigkeiten, die gerade entstandene und noch nicht
gefestigte christliche Gemeinde in einem multikulturellen Umfeld
wie Korinth aufrechtzuerhalten (vgl. 2. Kor. 6, 11). Als Hafenstadt
hatte Korinth beispielsweise einen derart schlechten Ruf, dass sich
der Begriff κορινθιάζεσθαι – zur Dirne gehen eingebürgert hatte (zur
Erwähnung des Paulus im Zusammenhang mit Tarsus vgl. Komm.
II, 145–152). ⇔ Da die Paulus-Mission von Walter in Übereinstim-
mung mit der christlichen Tradition – zu nennen wäre dabei ins-
besondere die Historia Scholastica des Petrus Comestor – beschrie-
ben wird, wäre eigentlich zu erwarten gewesen, dass auch die von
Paulus vorgenommene Bekehrung des Dionysius Areopagita und
die Einsetzung desselben zum Bischof von Korinth in seiner Dar-
stellung der Stadt Erwähnung findet. Walter vermeidet dies wohl,
um – wie Wiener (2001) 103 nachvollziehbar vermutet – nicht
näher auf das in Konkurrenz zum Erzbistum Reims stehende und
Kommentar zu Buch I 615

insbesondere als Grablege für die französischen Könige fungierende


Saint Denis – Dionysius galt als Schutzpatron für diese Stadt und
die dortige Abtei – eingehen zu müssen (zu zeitgenössischen Bezü-
gen innerhalb der Alexandreis vgl. Einleitung 8). ⇔ Wie Janka/
Stellmann (2020), 79–81 vermuten, berührt die Erwähnung des
Paulus an dieser Stelle noch eine weitere Ebene, die über die blo-
ße Beschreibung seiner Heidenmission hinausgeht. Denn vor dem
Hintergrund der paulinischen Unterscheidung zwischen tötendem
Buchstaben und belebendem Geist kann der Missionar des Urchris-
tentums auch als Verkörperung des vierfachen Schriftsinns der Bi-
bel angesehen werden, der ein wesentliches Element im Verständnis
der Alexandreis darstellt (vgl. 2 Korinther 3, 6: Littera enim occidit,
Spiritus autem vivificat; vgl. Einleitung 7). Da es nach christlicher
Vorstellung dem alttestamentlichen Menschen aufgrund seiner ge-
fallenen Natur nicht möglich war, in der Zeit sub lege die schrift-
lichen Gebote Gottes – gleichbedeutend mit dem Buchstaben des
Gesetzes – einzuhalten, und der Mensch, wäre er tatsächlich nach
dem Buchstaben des Gesetzes beurteilt worden, getötet worden
wäre, wird seit dem Kreuzestod Christi und dessen Auferstehung
dem neutestamentlichen Menschen in der Zeit sub gratia die als
Gnade Gottes zu verstehende Möglichkeit eingeräumt, allein aus
dem Glauben zu leben. Übertragen auf die Alexandreis sollte der
Leser demzufolge über den historischen bzw. literalen Sinn des Epos
hinaus auch dessen geistigen Sinn – bestehend aus dem heilsge-
schichtlichen Sinn (Interpretation im Glauben), dem moralischen
Sinn (Interpretation in der Liebe) und dem eschatologischen Sinn
(Interpretation in der Hoffnung) – erfassen. Insofern lässt sich die
vorliegende Stelle auch so einordnen, dass Paulus den auf der exege-
tischen Differenz zwischen Buchstabe und Geist basierenden vier-
fachen Schriftsinn repräsentiert, der von Walter bereits im Prolog
in Gestalt einer Rezeptionsanweisung für den Leser der Alexandreis
als unabdingbare Voraussetzung angesprochen wurde, dem Werk
als Ganzem gerecht zu werden (vgl. Alex., prol. 36–39). In dem von
616 KOmmentar

Walter in diesem Kontext verwendeten Begriff pascua – eigentlich


mit Weiden wiederzugeben – klingt dabei bezeichnenderweise das
lateinische Pascha oder das hebräische Pessach an, mithin ein Hin-
weis auf die Ereignisse an Ostern – in einigen Volkssprachen hat pa­
scua diese Bedeutung angenommen –, die mit dem Tod Christi und
dessen Auferstehung genau den Wendepunkt zwischen der Zeit sub
lege und der Zeit sub gratia markieren.

Die Zeremonie der Erhebung Alexanders zum Hegemon (209–211)

209–211 Hic igitur Macedo, ne iura retunderet urbis  | post patris


occasum, sacrum diadema verendo  | suscipiens capiti sceptro radia­
vit eburno: Mit den hier vorliegenden Versen wird Alexanders Er-
hebung zum Hegemon des Korinthischen Bundes für den schon
von seinem Vater geplanten Feldzug gegen die Perser geschildert.
⇔ Walter macht dabei mit dem aktiven Partizip suscipiens deutlich,
dass sich Alexander in vollem Bewusstsein über Makedoniens Vor-
machtstellung in Griechenland – Sparta war als einzige bedeutende
Polis auf dem Festland nicht am Korinthischen Bund beteiligt – das
als Zeichen der Führungsrolle fungierende Diadem selbst auf das
Haupt setzt. Mit der im Vordergrund auf Philipp von Makedonien
bezogenen Formulierung ne iura retunderet urbis | post patris occa­
sum stellt Walter im Hintergrund erneut einen zeitgenössischen Be-
zug her, der mit dem innerfranzösischen Streit mit Orléans um den
Krönungsort der französischen Könige in Zusammenhang steht.
Im selben Maße nämlich, wie Alexander der Stadt Korinth nicht
das Recht auf die Erhebung des Hegemon streitig machen möchte
und demzufolge dafür denselben Ort wählt wie sein verstorbener
Vater Philipp, beansprucht auch der Erzbischof Wilhelm damit das
Recht, den jungen Philipp Augustus ebenso wie schon dessen Vater
Ludwig VII. in der Kathedrale von Reims krönen zu dürfen (vgl.
Wiener 2001, 104–105; zu zeitgenössischen Bezügen innerhalb der
Alexandreis vgl. auch Einleitung 8).
Kommentar zu Buch I 617

Weise Berater und leidenschaftliche Krieger (212–225)

212–225 Stat procerum medius, stipat latus eius utrumque | canities


veneranda patrum mitisque senectus … sedit Aristotiles molli velatus
amictu, | iam rude donatus fatisque prementibus annos | curvus, et
inpexos castigat laurea crines: Thema dieses Abschnitts ist die Be-
schreibung der schon betagten Berater Alexanders, die nach der Ze-
remonie der Erhebung zum Hegemon noch anwesend sind. Walter
arbeitet dabei den Kontrast zwischen den alten und erfahrenen, aber
nicht mehr aktiv in den Kampf ziehenden Männern zu den von die-
sen beratenen jungen Soldaten heraus, die sich aufgrund ihrer grö-
ßeren Körperkräfte sehr viel mehr für die kriegerische Auseinander-
setzung eignen. Exemplarisch nennt Walter mit Nestor den weisen
Berater der Griechen vor Troja, der aufgrund seiner Erfahrung mit
seinen Ratschlägen auch einem Mann wie Achilles dienstbar sein
konnte. Walter nennt als Zeugen dieser Zeremonie auch Aristoteles,
obgleich dieser das Geschehen vom unaufhaltsamen Alter gebeugt
nur in sitzender Position verfolgen kann. ⇔ Auch diese Situation
ist geeignet, beim zeitgenössischen Leser Assoziationen zur Krö-
nung des jungen Philipp Augustus zum Mitregenten zu wecken,
der sich ebenso unverhofft wie der junge Alexander der betagten
Beraterschar seines Vaters gegenübersah und diese in allen Fragen
der Herrschaftsausübung und Kriegsführung hinzuziehen konnte
(vgl. Wiener 2001, 106; zur anagogischen Ebene der Alexandreis
bzw. zum eschatolgischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.3; zu zeit-
genössischen Bezügen innerhalb der Alexandreis vgl. Einleitung 8).

Alexander als Herrscher im Wartestand (226–238)

226–238 Contemplans igitur Macedo … regis ad aspectus … fuit ex fa­


cili regem … Ornamenta licet regi regalia desint … sola tamen loqui­
tur vultus reverentia regem: Im vorliegenden Abschnitt richtet Wal-
ter sein Augenmerk wieder verstärkt auf Alexander, der sich durch
den Zuspruch des Adels und des Volks ermutigt fühlt, mit dem Per-
618 KOmmentar

serkrieg etwas zu wagen, was eigentlich alle Kraft überschreitet. ⇔


Auch wenn Walter betont, dass Alexander in Korinth noch nicht
mit den als ornamenta regalia bezeichneten Herrschaftsinsignien
eines Königs bedacht worden war, sondern nur mit einer als Dia-
dem beschriebenen Kopfbinde, hält dies den Autor der Alexandreis
nicht davon ab, den Makedonen aufgrund seiner ehrwürdigen und
königlichen Ausstrahlung dennoch gleich viermal mit dem Begriff
rex zu bezeichnen. Mit diesem als Vorgriff auf die Krönung zum
makedonischen König zu bewertenden Kunstgriff gelingt es Walter
ebenso wie mit dem zuvor auf die Provinz Korinth bezogenen Be-
griff regnum auch an dieser Stelle einen zeitgenössischen Bezug zu
Philipp Augustus herzustellen, der als Mitregent seines todkranken
Vaters noch nicht die volle Regierungsgewalt ausüben konnte und
ebenso wie Alexander – zumindest in Walters als Hysteron-Prote-
ron gestalteten Darstellung – vor seiner Krönung zum makedoni-
schen König gewissermaßen noch ein Herrscher im Wartestand war
(zur anagogischen Ebene der Alexandreis bzw. zum eschatolgischen
Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.3; zu zeitgenössischen Bezügen in-
nerhalb der Alexandreis vgl. Einleitung 8).

Alexanders Krönung zum makedonischen König (239–267)

239–267 Mensis erat, cuius iuvenum de nomine nomen … cum Ma­


cedo assensu pariter vulgique ducumque | in regem erigitur … tot re­
gna uni submittere paucos: Über die etymologische Herleitung des
Monatsnamens Juni und dem darin enthaltenen Hinweis auf das
zurückweichende Sternbild des Krebses – gemeint ist damit der
unmittelbare Zeitraum nach dem 21. Juni, in welchem der Sonnen-
höchststand den auch als Wendekreis des Krebses bezeichneten
nördlichen Wendekreis verlässt und bis zum 21. Dezember den auch
als Wendekreis des Steinbocks bezeichneten südlichen Wendekreis
erreicht – gibt Walter mit den Worten in regem erigitur Auskunft
Kommentar zu Buch I 619

über Alexanders Krönung zum makedonischen König in Pella. ⇔


Im Unterschied zu Alexanders Erhebung zum Hegemon in Korinth
schildert Walter dessen Krönung zum makedonischen König als pas-
siven Vorgang, der nicht durch die eigene Initiative, sondern durch
die Zustimmung des Volkes und des Adels legitimiert wird. Ebenso
wie bei der Erhebung zum Hegemon in Korinth thematisiert Wal-
ter auch bei der Krönung in Pella die Tatsache, dass sich Alexanders
Berater zumeist in bereits fortgeschrittenem Alter befinden, um im
Anschluss daran eine Heerschau und eine Beschreibung der Waffen
zu präsentieren. ⇔ Walter bringt sein Erstaunen zum Ausdruck,
dass Alexander nicht nur den Willen besaß, mit so wenigen Soldaten
die ganze Welt zu erobern, sondern sogar dazu in der Lage gewesen
ist. Abschließend formuliert Walter die Erkenntnis, dass es wohl als
eine Laune des Schicksals anzusehen sei, dass so wenige Soldaten ei-
nem einzigen Mann dennoch so viele Reiche unterwerfen konnten
(zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis
vgl. Einleitung 5).

Die Sicherung der Macht Alexanders in Griechenland (268–348)

Nach Philipps Ermordung im Jahre 336 v. Chr. und ungeachtet der


Erhebung Alexanders zum Hegemon des Korinthischen Bundes
im selben Jahr forderten in der Folgezeit einige griechische Städte
den makedonischen König heraus, indem sie die vertraglichen Ver-
einbarungen des Korinthischen Bundes zu hintertreiben suchten.
Diese Situation war für Alexander äußerst gefährlich, da die Unab-
hängigkeitsbestrebungen der wichtigsten griechischen Stadtstaaten
nicht nur mehr oder weniger offen seinen panhellenischen Macht-
anspruch in Frage stellten, sondern auch seine weitreichenden Pläne
bedrohten, mit einem vereinten griechischen Heer das Perserreich
zu erobern. Als Alexander im Frühjahr des Jahres 335 v. Chr. mit
15000 Soldaten nach Norden gegen die aufständischen Völker Thra-
620 KOmmentar

kiens und Illyriens zu Felde zog, brach im Süden Griechenlands auf


ein bewusst gestreutes Gerücht vom Tod Alexanders hin die offene
Rebellion aus. Zuerst erhoben sich die Bewohner von Theben, wel-
che die in der Stadt als Besatzungssoldaten stationierten makedoni-
schen Offiziere töteten. Alexander reagierte sofort und stand nach
nur vierzehn Tagen überraschend vor den Toren der abtrünnigen
Stadt. Da sich der Korinthische Bund bereits im Krieg mit den Per-
sern befand – ein von Parmenion geleitetes Truppenkontingent
stand bereits in Kleinasien –, wog der Abfall Thebens besonders
schwer und erforderte, wollte Alexander nicht den kompletten Zu-
sammenbruch der griechischen Koalition riskieren, eine exemplari-
sche Bestrafung. Daher machte er die Stadt dem Erdboden gleich,
wobei sechstausend Thebaner ihr Leben verloren und die übrigen
dreißigtausend in die Sklaverei verkauft wurden. Von diesem Straf-
gericht Alexanders beeindruckt, beendeten die Athener, die sich
zuvor noch auf Betreiben des Demosthenes aus der politischen Um-
klammerung Makedoniens hatten befreien wollen, auf Anraten des
Aeschines noch im selben Jahr die Revolte und sicherten dem ma-
kedonischen König und Hegemon des Korinthischen Bundes ihre
Unterstützung im Perserfeldzug zu. Gegenüber Athen verzichtete
Alexander daraufhin auf eine Bestrafung, da sein panhellenischer
Feldzug gegen die Perser mit den Ruinen der Akropolis im Rücken
nicht denkbar gewesen wäre.

Alexander verschont Athen (268–283)

268–283 In tanto rerum strepitu mundique fragore … Cicropidae et


vires opponere viribus ausi … Artibus ingenuis studiisque vacare se­
reno | annuit his vultu Martemque remittit agendum: Ähnlich wie
im Abschnitt über die Legitimierung der Herrschaft Alexanders ge-
staltet Walter auch die Sicherung der Macht des makedonischen Kö-
nigs in Griechenland als Hysteron-Proteron, indem er die Rückkehr
Kommentar zu Buch I 621

der Athener in die Allianz des Korinthischen Bundes und die Zer-
störung Thebens in umgekehrter Reihenfolge darstellt (zum Hys-
teron-Proteron in der Alexandreis vgl. Einleitung 4). Mit diesem
stilistischen Kunstgriff gelingt es Walter, die Verschonung Athens
– historisch betrachtet wie beschrieben eine unmittelbare Folge der
Zerstörung Thebens – als das Ergebnis des tugendhaften Verhaltens
Alexanders zu inszenieren. Denn ganz im Sinne der aristotelischen
Tugendlehre gestaltet Walter diese Episode zum einen als ein ein-
drückliches Beispiel für die von Alexander verinnerlichte Tugend
der angemessenen Zürnkraft, da der makedonische König unge-
achtet des anfänglichen Widerstands Athens den Affekt des Zorns
aus Vernunftgründen zügelt und die letztlich noch rechtzeitig zur
Einsicht fähige Stadt auch und gerade wegen ihrer herausragenden
geistigen Bedeutung für Griechenland – artibus ingenuis studiisque
vacare sereno | annuit vultu – verschont (vgl. Gartner 2018, 48).
Zum anderen legt Alexander in seinem Verhalten gegenüber Athen
entsprechend der in der Aristoteles-Rede formulierten Vorgaben die
Tugend der angemessenen Zuwendung an den Tag, da er von der
Zuneigung zu seinen flehenden Landsleuten in einem vernünftigen
Maß ergriffen – patriae tactus suplicantis amore | rex fedus renovat
pacemque redintegrat urbi – auf eine Bestrafung der Stadt verzichtet
(vgl. Gartner 2018, 66). ⇔ Diese hier beschriebene Inszenierung
der Tugendhaftigkeit Alexanders bildet den Auftakt für zahlreiche
Episoden, in denen Walter das moralisch einwandfreie Verhalten sei-
nes wichtigsten Protagonisten in den Mittelpunkt der Betrachtung
rückt (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum mora-
lischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4; zu dem für die gesamte
Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl.
auch Einleitung 7.4).
622 KOmmentar

Alexander bestraft Theben (284–348)

284–348 Inde ubi discordes iterum sibi iunxit Athenas, | impiger ad


veteres rapto volat agmine Thebas … Finierat Cleades, sed stat sen­
tentia regis, | propositique tenax irae permittit habenas, | equarique
solo turres ac menia primo | imperat et reliquam Vulcano fulminat
urbem: Anders reagiert Alexander auf den anhaltenden Widerstand
Thebens. Walter macht gleich zu Beginn des Abschnitts mit Hilfe
einer Autorklage deutlich, dass auch die Stadt Theben durchaus
zu retten gewesen wäre, wenn sich ihre Bewohner ebenso wie die
Athener nach ihrem anfänglichen Widerstand noch rechtzeitig reu-
mütig gezeigt und Alexander freiwillig die Tore geöffnet hätten. ⇔
In seiner weiteren Darstellung lässt Walter die Thebaner, die mit
ihrer standhaften Weigerung, sich wieder dem Korinthischen Bund
anzuschließen, zu Recht den Zorn des makedonischen Königs auf
sich ziehen, in einem überaus schlechten Licht erscheinen. Verstärkt
wird der Eindruck von der Rechtmäßigkeit dieses Zorns durch die
ausführliche Darstellung des von Freveltaten und Verrat geprägten
mythologischen Ursprungs der Stadt. ⇔ Als die Thebaner sich trotz
der Belagerung der Stadt weiterhin weigern, in die Gemeinschaft des
Korinthischen Bundes zurückzukehren, gibt Alexander den Befehl
zum Angriff und lässt die Tore gewaltsam öffnen. Nach der erfolg-
reichen Eroberung der abtrünnigen Stadt tritt der Thebaner Clea-
des an Alexander heran und versucht ihn mit den Worten ut invic­
tus victis et parcere scires | supplicibus victor et debellare rebelles – die
Bezugnahme auf das in der Aristoteles-Rede bezüglich der Tugend
der angemessenen Zürnkraft formulierte parce humili, facilis oranti,
frange superbum ist unübersehbar – zur Milde zu mahnen und von
der endgültigen Zerstörung der Stadt abzuhalten. Unbeeindruckt
von der Rede des Cleades jedoch macht Alexander Theben dem
Erdboden gleich und lässt die Trümmer in Brand stecken. ⇔ Auch
in diesem Kontext arbeitet Walter in auffälliger Weise die aristote-
lische Tugend der angemessenen Zürnkraft heraus, die anders als
Kommentar zu Buch I 623

im Fall von Athen jedoch die Zerstörung der Stadt impliziert. Mit
der Erwähnung des Gegenstandsbereichs des Zorns zu Beginn der
Schlacht – flagrescit principis ira – und noch einmal vor der end-
gültigen Zerstörung von Theben – propositique tenax irae permittit
habenas – macht Walter deutlich, dass Alexander von der Vernunft
geleitet den anhaltenden Widerstand der Thebaner in einem Akt der
angemessenen Zürnkraft brechen musste, um nicht phlegmatisch zu
agieren und damit dem Laster der Zornlosigkeit zu verfallen (vgl.
Alex. I, 308; vgl. auch Alex. I, 346; vgl. auch die Einführung zu Buch
I). Der falsch verstandene Hinweis des Cleades auf die Tugendlehre
des Aristoteles kommt dabei insofern zu spät, als die Grundlage für
eine Verschonung der Stadt nach ihrer durch den ungebrochenen
Widerstand der Thebaner ausgelösten Eroberung schlichtweg nicht
mehr gegeben war (vgl. Gartner 2018, 48–49). Damit führt Walter
die im Kontext der Verschonung Athens begonnene Inszenierung
seines wichtigsten Protagonisten im Hinblick auf dessen moralisch
angemessenes Verhalten als Feldherr und König fort (zur tropologi-
schen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos
vgl. Einleitung 7.4; zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen
Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. auch Einleitung 7.4).

Der Transfer von Europa nach Asien (349–395)

Vorbereitungen (349–358)

349–358 Postquam digna satis compescuit ultio Dircen … navigii


numerum quinquagenarius equat: Nach der endgültigen Ordnung
der Verhältnisse in Griechenland, für die er den weniger kampfer-
probten Teil seiner Truppen als Schutzmacht zurücklässt, kann sich
Alexander seinem eigentlichen Vorhaben – dem Angriff auf das von
Darius beherrschte Perserreich – zuwenden. Durch die vereinte grie-
chische Streitmacht, die sich der historischen Überlieferung zufolge
624 KOmmentar

in der nordgriechischen Küstenstadt Amphipolis zum Aufbruch


versammelt hatte, sieht sich der Makedonenkönig in der Lage, eine
Flotte von beachtlicher Größe auszurüsten – explizit werden 128
Schiffe genannt –, was nach Walters Aussage zweifelsohne der Grö-
ße der militärischen Aufgabe gerecht wird.

Alexanders Überfahrt nach Kleinasien (359–385)

359–385 Iamque ubi velivolum tenuit mare libera classis … principis


et multo castigant verbere pontum: Alexanders Überfahrt nach Klein-
asien gestaltet Walter als Kontrastimitation zu der von Lucan in der
Pharsalia geschilderten Überfahrt des Pompeius von Italien nach
Griechenland (vgl. Zwierlein 2004, 606–609; zum produktions-
ästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einlei-
tung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol.,
1–13). Während im antiken Epos allein Pompeius wehmütig und me-
lancholisch auf die langsam am Horizont sich entfernende Heimat
zurückblickt – seine Soldaten richten den Blick im Unterschied zu
ihrem dem Untergang geweihten Feldherrn auf das vor ihnen liegen-
de Meer –, sind es bei Walter Alexanders Soldaten, die aus Liebe zu
Familie und Heimat ihren Blick nicht von der heimatlichen Küste
Griechenlands abwenden können (vgl. Luc., Phars. III, 1–7: Pro­
pulit ut classem velis cedentibus Auster | incumbens mediumque rates
movere profundum, | omnis in Ionios spectabat navita fluctus | solus
ab Hesperia non flexit lumina terra | Magnus, dum patrios portus,
dum litora numquam | ad visus reditura suos tectumque cacumen |
nubibus et dubios cernit vanescere montes). Allein Alexander wendet
erwartungsfroh seine Aufmerksamkeit der Küste Kleinasiens zu, um
möglichst bald den Kampf gegen die Perser aufzunehmen (vgl. Alex.
I, 377–380: Solus ab Inachiis declinat lumina terris | effrenus Mace­
do. Qui cum Cilicum prius arva | collibus eductis Asiamque emergere
vidit, | gaudet). ⇔ Mit einer derartigen Inszenierung seines wich-
Kommentar zu Buch I 625

tigsten Protagonisten wird Walters Bemühen deutlich, den make-


donischen König im Kontrast zum römischen Feldherrn Pompeius
und ganz im Sinne der aristotelischen Tugendlehre als einen tatkräf-
tigen und mutigen Anführer zu kennzeichnen. Zugleich tritt Walter
damit in aemulativen Wettstreit mit seinem bereits im Prooemium
angesprochenen antiken Vorbild Lucan, indem er im Unterschied
zum römischen Epos einen unerschrockenen und im Felde unbe-
siegten Feldherrn beschreibt (zu Walters poetologischem Selbstver-
ständnis vgl. Einleitung 6). ⇔ Als Alexanders Landungsstelle nennt
Walter überraschenderweise die Küste Kilikiens im Süden der klein-
asiatischen Halbinsel (vgl. Komm. I, C 6–8). Dies macht er jedoch
nicht – wie Christensen irrigerweise vermutet –, weil der Autor der
Alexandreis keine klare Anschauung über die Geographie Klein-
asiens gehabt hatte oder in dem Glauben gewesen war, dass es zwei
Gegenden mit demselben Namen gab, sondern weil er aus komposi-
torischen Gründen den Weg von Kilikien über Phrygien nach Troja
als Hysteron-Proteron gestaltet (vgl. Komm. I, 447–451; zur Stel-
lung der unhistorischen Landung Alexanders in Kilikien innerhalb
der Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2; zum Hysteron-Pro-
teron in der Alexandreis vgl. Einleitung 4). Walter konnte nämlich
aus der Epitome des Justin – anders als Christensen dies annimmt
– sehr wohl Alexanders ungefähren Landungspunkt in der Nähe
von Troja ebenso wie Informationen über die Schlacht am Grani-
kus entnehmen (vgl. Iust., Epit. Hist. XI, 5, 1–12 und XI, 6, 11–12).
Christensen ist darüber hinaus der Ansicht, dass sich Walter bei der
Auswahl von Alexanders Landungspunkt den Ausführungen des
Valerius bedient habe, der mit den Worten tunc rebus compositis ire
in barbaros parat, itinere per Ciliciam ordinato einen direkten Zu-
sammenhang zwischen den Angelegenheiten in Griechenland und
Alexanders Tätigkeit in Kilikien nahelege. Dabei berücksichtigt er
jedoch nicht, dass aus den nur wenig später im Text folgenden An-
gaben des Valerius deutlich hervorgeht, dass mit der diesbezüglichen
Angabe – und dies wird Walter nicht verborgen geblieben sein – gar
626 KOmmentar

nicht Alexanders Landungsstelle gemeint ist (vgl. Christensen


1905, 146). ⇔ Unmittelbar nach der Abfahrt aus Griechenland zer-
reißt eine unheilverkündende Stimme – vox hominum presaga mali
– die Luft (zum Motiv der presaga mali vgl. Verg., Aen. X, 843; vgl.
auch Luc., Phars. VII, 186). Damit stellt Walter den Aufbruch der
Griechen nach Osten ungeachtet der beschriebenen Inszenierung
Alexanders als aus antik-paganer Sicht moralisch vorbildlichen Feld-
herrn und König unter das Zeichen unheilvoller Vorbedeutung und
verschafft damit auch der christlichen Stimme Gehör, die in Alexan-
ders späterem Tod ihre Bestätigung findet.

Alexanders Ankunft in Kleinasien – Der Perserkrieg


beginnt (386–395)

386–395 Tantum aberat classis portus statione … continuant serae


convivia nocti: Noch vor dem Ankern im Hafen schleudert Alex-
ander vom Schiff aus im Sinne einer Kriegserklärung an die Perser
eine Lanze auf den feindlichen Boden (vgl. Komm. I, C 4–5). Die
griechischen Soldaten begreifen diese Handlung ihres Feldherrn als
gutes Omen für das Gelingen des Feldzugs und jubeln begeistert.
Nachdem die Anker geworfen und die Schiffe entladen sind, erho-
len sich alle bei einem Gelage (vgl. Iust., Epit. Hist. XI, 5, 10–11:
Cum delati in continentem essent, primus Alexander iaculum velut
in hostilem terram iecit; vgl. auch Demandt 2013, 110).

Asienexkurs (396–426)

396–426 Tercia pars orbis, cuius ditione teneri | olim dicta fuit, eius
quoque nomen adepta est. | Hec Asia est … Totque Asiae partes, quas
si meus exaret omnes  | aut seriem scindet stilus aut fastidia gignet:
Der zwischen dem nächtlichen Gelage und Alexanders erstem Er-
Kommentar zu Buch I 627

kundungsgang am folgenden Morgen eingefügte Asienexkurs bildet


die auch als retardierendes Element zu verstehende Überleitung zu
einem neuen Erzählabschnitt, in welchem nun die unmittelbar be-
vorstehende kriegerische Auseinandersetzung mit den Persern den
übergeordneten Rahmen der Handlung bildet. ⇔ Walters auf den
ersten Blick wie ein erratischer Block wirkende Beschreibung von
Asien orientiert sich dabei interessanterweise nicht an den wichtigs-
ten Stationen von Alexanders Feldzug, sondern gibt lediglich die all-
gemeinen geographischen und topographischen Vorstellungen des
Mittelalters über den asiatischen Kontinent wieder, die vornehm-
lich den Etymologiae des Isidor entstammen. Dies gilt für die von
Walter auf eine sagenhafte Königin des Ostens zurückgeführte Na-
mensgebung für den asiatischen Erdteil ebenso wie für die ohne ge-
naue geographische Angaben vollzogene Abgrenzung Asiens nach
Osten durch den weltumspannenden Ozean. Auch die durch den
Don und das Asowsche Meer umgesetzte Abgrenzung nach Nor-
den sowie die Abgrenzung nach Westen hin durch das mit nostrum
equor bezeichnete Mittelmeer entsprechen den gängigen geographi-
schen Annahmen des Mittelalters (vgl. Isid. v. Sev., Etym. XIV, cap.
III: Asia ex nomine cuiusdam mulieris est appellata, quae apud anti­
quos imperium tenuit orientis). Auch Walters Vorstellungen über die
Größenverhältnisse der drei zum damaligen Zeitpunkt bekannten
Kontinente ist an den berühmten T-O-Karten des Isidor abzulesen.
Asien allein ist dabei so groß wie Europa und Afrika zusammen,
eine Größenvorstellung, die bereits bei Augustinus nachgewiesen
werden kann (vgl. Aug., civ. XVI, Kap. 17, col. 497: Unde viden­
tur orbem dimidium duae tenere, Europa et Africa, alium vero di­
midium sola Asia). Ebenso werden einzelne Provinzen oder Länder
durch landestypische Merkmale charakterisiert, welche die seit der
Antike gängigen und durch Isidor verbreiteten ethnographischen
Vorstellungen des Mittelalters wiedergeben. Indien wird beispiels-
weise für seinen Reichtum an Edelsteinen und Elefanten gerühmt
und Arabien ist für seinen Weihrauch berühmt. ⇔ Indem die geo-
628 KOmmentar

graphische Beschreibung Asiens überdies durch die Einbeziehung


heilsgeschichtlich relevanter Ereignisse und Orte ergänzt wird – ex-
plizite Erwähnung finden das nach allgemeiner Vorstellung im Os-
ten des asiatischen Kontinents verortete Paradies, die Sintflut und
Jerusalem als Mittelpunkt der Welt –, geht es Walter augenschein-
lich nicht nur darum, den Schauplatz des Epos unter geographi-
schen und damit rein weltlichen Gesichtspunkten zu beschreiben,
sondern ist es ihm zugleich auch ein unbedingtes Anliegen, das pro-
fanhistorische Ereignis von Alexanders Perserfeldzug in das von der
Heilsgeschichte geprägte christliche Denkmodell einzuschreiben
(vgl. Glock 2000, 287). Harich (1987) 160 betont, dass Walters
Asienexkurs vor allem dem Ziel dient, Jerusalem als Zentrum der
christlichen Welt darzustellen, das gegen jede Feindesaggression ge-
schützt werden muss. Möchte man ihrer These zustimmen, über-
nimmt der Asienexkurs zudem eine vorbereitende Funktion für die
am Ende von Buch I wiedergegebene Vision Alexanders, in der ihm
der jüdische Hohepriester Jaddus erscheint und ihm die göttliche
Unterstützung bei der Eroberung des Perserreichs verspricht, wenn
er auf seinem Feldzug Jerusalem verschont (zur allegorischen Ebene
der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl.
Einleitung 7.2; vgl. auch Komm. I, 539–554).

Alexander und die Schätze Kleinasiens (427–446)

427–446 Iamque sub auroram volucrum garrire parabat … Asiae


metitur lumine fines … «Iam satis est,» inquit «socii, michi sufficit
una | hec regio. Europam vobis patriamque relinquo.» … sub cardine
quadro … liberat et pecorum raptus avertit ab hoste: Nach nur kurzer
Nacht erwacht Alexander aus leichtem Schlaf – erneut ein Hinweis
auf die innere Unruhe des makedonischen Königs – und erklimmt
sogleich einen Berg, um das vor ihm liegende Land in Augenschein
zu nehmen. Walter nimmt damit den Faden der Erzählung vor dem
Kommentar zu Buch I 629

Asienexkurs wieder auf und schildert im Zuge dieses ersten Erkun-


dungsgangs seines Protagonisten aus dessen Perspektive die für ihn
von dieser erhöhten Position aus erkennbaren Reichtümer Kleinasi-
ens: waldreiche Gebirge, fruchtbare Äcker, zahlreiche mit Mauern
befestigte Städte und unzählige Weinstöcke (vgl. Komm. I, C 6–8).
Alexanders Begeisterung für diesen fruchtbaren Landstrich mündet
in Anlehnung an eine entsprechende Stelle bei Justin darin, dass er –
bereits im Gefühl des sicheren Sieges über den persischen Erbfeind
– das heimatliche Europa an seine Freunde abzutreten beabsichtigt
und er verlauten lässt, dass ihm die sozusagen als pars pro toto für
das gesamte Perserreich zu verstehende Weltgegend ausreiche (vgl.
Iust., Epit. Hist. XI, 5–6: Patrimonium omne suum, quod in Ma­
cedonia Europaque habebat, amicis dividit, sibi Asiam sufficere prae­
fatus). ⇔ Stellt man Alexanders in der Alexandreis immer wieder
zur Sprache gebrachten, weitreichenden und über das Perserreich
hinausgehenden Eroberungspläne in Rechnung, wirkt diese Aus-
sage geradezu bescheiden und scheint dem auch im Epos Walters
immer wieder entworfenen Bild des von geradezu unstillbarem Er-
oberungswillen getriebenen Feldherrn gänzlich zu widersprechen.
Allerdings gilt es zu bedenken, dass Alexander an dieser Stelle der
Eposhandlung mit der Eroberung des Perserreichs seinem heilsge-
schichtlich legitimierten Auftrag folgt und somit vor einer christlich
motivierten Autorkritik ganz bewusst verschont bleibt. Bestätigung
erfährt dieser Umstand durch einen Vergleich mit verschiedenen
Stellen gegen Ende der Alexandreis, in denen die von Walter zu Be-
ginn des Perserkriegs gewählten Worte bezeichnenderweise wieder
aufgenommen und in ihrer Bedeutung in das genaue Gegenteil ver-
kehrt werden. Beispielsweise stellt der Feldherr Craterus nach der
Eroberung des Perserreichs seinem Anführer Alexander die Frage,
wohin er in seiner unerschöpflichen Gier eigentlich weiter strebe, da
ihm doch der ganze Erdkreis nicht ausreiche (vgl. Alex. IX, 515–517:
cui maximus iste | non satis est orbis, quem proponunt sibi finem | vel
quem sunt habitura modum?). Nur wenig später bekennt Alexander
630 KOmmentar

selbst, dass ihm der Erdkreis nach all seinen Eroberungen zu eng ge-
worden sei und ihm die Weite der Länder nicht mehr genüge (vgl.
Alex. IX, 562–565: Tracas Asiamque subegi.  | Proximus est mundi
michi finis, et absque deorum | ut loquar invidia, nimis est angustus
et orbis, | et terrae tractus domino non sufficit uni). Und zuletzt be-
müht Walter selbst am Ende des Epos in einer Rückschau auf das
Leben des makedonischen Königs das Bild eines Herrschers, dem
der ganze Erdkreis nicht ausgereicht hat und dem jetzt ein nur fünf
Fuß großes Grab genügen muss (Alex. X, 448–450: Cui non suffe­
cerat orbis,  | sufficit exciso defossa marmore terra  | quinque pedum
fabricata domus). Diese Beispiele zeigen, dass Walters Wortwahl zu
Beginn des Perserkriegs nicht zufälligen Überlegungen entspringt,
sondern mit Bedacht kontrastierend in Beziehung zu der nach dem
Perserkrieg geschilderten Situation gesetzt werden soll, in welcher
der Autor der Alexandreis zum Ausdruck bringen möchte, dass sein
wichtigster Protagonist inzwischen den heilsgeschichtlichen Rah-
men verlassen hat und sich deshalb von nun an der massiven Kritik
des christlichen Autors und dem deutlich artikulierten Vorwurf der
Hybris ausgesetzt sieht. Doch dies ist zum momentanen Zeitpunkt
seines Eroberungszugs nach der Landung in Kleinasien noch nicht
der Fall. ⇔ Im festen Vertrauen auf das Schicksal, dass die in allen
vier Himmelsrichtungen – sub cardine quadro – ihm vor Augen lie-
genden Länder des Perserreichs schon bald seiner Herrschaft unter-
stehen werden, verteilt er entsprechend seiner obigen Ankündigung
das heimatliche Europa an seine Freunde, obgleich Alexanders Ge-
neräle ob dieser aus ihrer Sicht voreiligen Einschätzung nicht gerade
begeistert sind. Als äußeres Zeichen dieser inneren Haltung schützt
Alexander noch vor dem eigentlichen Eroberungszug das tatsäch-
lich noch gar nicht in seinem Besitz befindliche feindliche Vieh vor
Räubern (vgl. eine ähnliche Darstellung bei Iust., Epit. Hist. XI, 6,
1–3: Inde hostem petens milites a populatione Asiae prohibuit, parcen­
dum suis rebus praefatus, nec perdenda ea, quae possessuri venerint).
Kommentar zu Buch I 631

Alexanders Zug durch Kleinasien (447–492)

Alexander in Kilikien (447–451)

447–451 Iamque iter arripiens Cylicum sibi vendicat arces, | conci­


liatque pii clementia principis urbes … sollertia … agitque | pace vices
belli, cum parcit et obruit hostem: Ähnlich wie in den Abschnitten
über die Legitimierung der Herrschaft oder über die Sicherung der
Macht Alexanders in Griechenland gestaltet Walter auch das Vor-
gehen seines wichtigsten Protagonisten in Kleinasien als Hysteron-
Proteron, indem er den historischen Ablauf der einzelnen Stationen
– den Besuch von Troja, den Durchzug durch Phrygien und die An-
kunft in Kilikien – in umgekehrter Reihenfolge darstellt (zur Stel-
lung der unhistorischen Landung Alexanders in Kilikien innerhalb
der Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2; zum Hysteron-Pro-
teron in der Alexandreis vgl. Einleitung 4).

Alexander auf dem Weg von Kilikien nach Troja (452–467)

452–467 Inde rapit cursum Frigiaeque per oppida tendit | Ilion …


testatur enim vetus illa ruina, | quam fuit inmensa Troie mensura
ruentis: Über Phrygien gelangt Alexander nach Troja, dessen be-
sondere Bedeutung in der griechischen Geschichte von Walter –
allerdings mit einer deutlich erkennbaren negativen Konnotation
– mit zahlreichen mythologischen Hinweisen hervorgehoben wird.
Bereits der Ursprung der Stadt und der Bau der Stadtmauer waren
mit dem Wortbruch des trojanischen Königs Laomedon gegenüber
Apollon und Poseidon verbunden. Auch die Erwähnung vom Raub
des schönen Ganymed durch Jupiters Adler – zweifellos spielten in
dieser Geschichte auch homoerotische Motive eine Rolle – beinhal-
tet eine Kritik des christlichen Autors an den im trojanischen Sagen-
kreis herrschenden moralischen Zuständen. In dieselbe Richtung
632 KOmmentar

weisen Walters Bemerkungen über das unüberlegte Urteil des Paris,


der wegen Helena – immerhin mit dem spartanischen König Me-
nelaos verheiratet – seine Frau Oinone verlassen und sich damit des
Ehebruchs schuldig gemacht hatte. ⇔ Dieses moralische Fehlver-
halten führt Walter auch als eigentlichen Grund für den Untergang
der einst so mächtigen Stadt an. Insgesamt übernimmt die von Wal-
ter eingefügte Betrachtung des trojanischen Sagenkreises auch die
Funktion einer Retardierung, um im Folgenden dann wieder den
Blick auf Alexander selbst zu richten.

Alexander in Troja (468–492)

468–492 Tot bellatorum Macedo dum busta pererrat … post mortem


cineri ne desit fama sepulto, | Elisiisque velim solam hanc preponere
campis: Alexander durchstreift das Trümmerfeld Trojas und stößt
dabei auf das Grab des von ihm verehrten Achilles. Nachdem er für
den Peliden ein Totenopfer vollzogen hat, versäumt es Walter nicht
zu erwähnen, dass das Grab gemessen am Ruhm des griechischen
Helden – minora loca quam fama – eigentlich viel zu klein ist. Zu-
gleich verweist Walter damit auf Alexanders Grab, das gemessen am
Ruhm des makedonischen Königs ebenso viel zu klein ausfallen wird
(vgl. Alex., X, 448–450: Cui non suffecerat orbis, | sufficit exciso defos­
sa marmore terra | quinque pedum fabricata domus). Alexander hält
von den nur wenigen Worten auf Achills Grabmal bewegt eine eher
einem inneren Monolog gleichende Rede, in der er sich einen Dich-
ter für seine zukünftigen Taten wünscht, der diese auf vergleichbare
Weise wie Homer bei Achilles zu verewigen weiß. ⇔ Die Stelle ist
damit erkennbarer Ausdruck des poetologischen Selbstverständnis-
ses Walters, der sich als Autor der Alexandreis als zweiter Homer sti-
lisiert und damit den Rang Vergils für sich beansprucht. Darüber hi-
naus tritt Walter hier auch in aemulativen Wettstreit mit Lucan, der
seinen Protagonisten Caesar ebenfalls Troja besuchen lässt, um ihn
Kommentar zu Buch I 633

auf eine allerdings negativ verstandene Stufe mit Achilles zu stellen


(vgl. Luc., Phars., IX, 980–986). Mit Alexanders Trojabesuch und
der Bezugnahme auf Homer macht Walter damit nicht nur Caesar
den Rang neben Achilles streitig, sondern spricht zugleich auch
Lucan die Nachfolge Homers ab (vgl. Wulfram 2000, 233–235; zu
Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. auch Einleitung 6).
⇔ Abgesehen von dieser poetologischen Aussage Walters erfüllt der
vorliegende Abschnitt noch eine weitere Funktion. Indem Alexan-
der über ein zukünftiges, in alle vier Himmelsrichtungen reichendes
Herrschaftsgebiet sinniert und die Meinung vertritt, dass die Welt
dereinst mit einem Gebieter auskommen müsse wie mit der einen
Sonne, stellt diese Aussage die in der Alexandreis erstmals zum Aus-
druck gebrachte Kritik des christlichen Autors an den weit über das
Perserreich hinausgehenden Eroberungsplänen des makedonischen
Königs dar. Die Idee von dem einen Herrscher der Welt mit der ei-
nen Sonne scheint Walter Justin entnommen zu haben, der diesen
Vergleich in leicht abgewandelter Form im Kontext eines persischen
Friedensangebots vor Gaugamela Alexander in den Mund legt (vgl.
Iust., Epit. Hist. XI, cap. 12, 15: Ceterum neque mundum posse duo­
bus solibus regi, nec orbem summa duo regna salvo statu terrarum
habere). Walter inszeniert diese christlich motivierte Kritik an Ale-
xanders über dessen heilsgeschichtlichen Auftrag hinausgehenden
Eroberungsplänen in der Troja-Episode dabei bewusst als Vorver-
weis auf die Ereignisse nach dem Perserkrieg, da der makedonische
König innerhalb des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs
hinsichtlich seiner konkreten Handlungen innerhalb der Erzählung
vor dem christlichen motivierten Vorwurf der Hybris geschützt ist
(zur Funktion der Vorverweise in der Alexandreis vgl. Einleitung
7.4; zur Stellung der Troja-Episode innerhalb der Struktur des Per-
serkriegs vgl. Einleitung 7.2).
634 KOmmentar

Die Jerusalem-Episode (493–554)

Alexanders Siegesgewissheit (493–501)

493–501 «Neu vos excutiat cepto, gens provida, bello … occultum hoc
vestris inpertiar auribus unum: Mit der am Ende von Buch I wie-
dergegebenen Jerusalem-Episode findet ein geschickt inszenierter
Szenenwechsel statt. War Alexanders Rede an Achills Grab eigent-
lich eher an sich selbst gerichtet – einige seiner gerade anwesenden
Feldherren oder engeren Freunde dürften dabei die einzigen Zeugen
gewesen sein –, so wendet sich Alexander nun explizit an seine Sol-
daten, um ihnen für die in Kürze stattfindende erste ernsthafte Aus-
einandersetzung mit dem persischen Erbfeind am Granikus Mut
zuzusprechen. Dabei versucht er ihnen die Angst vor der wankel-
mütigen Schicksalsgöttin Fortuna zu nehmen, indem er ihnen vor
Augen führt, dass es in derartigen Situationen immer in erster Linie
auf die innere Haltung ankommt, die es dem einzelnen Krieger wie
der gesamten Truppe ermöglicht, auch gefährliche und schwierige
Situationen erfolgreich zu meistern. Darüber hinaus möchte Alex-
ander seinen Soldaten die Hintergründe für seine auf den Perser-
krieg bezogene Siegesgewissheit erläutern, die mit einer Vision in
Zusammenhang steht, die er bereits zwei Jahre zuvor am heimatli-
chen Hof in Pella empfangen hatte.

Alexanders Vision (502–538)

502–538 Cum patris interitu nutaret Grecia merens … incertus seque­


rerne hostes patriamne tuerer, | in neutro stabilis, facturus utrumque vi­
debar … « ‹Egredere, o Macedo fortissime, finibus› inquit | ‹a patriis,
omnemque tibi pessundabo gentem. | At si me tibi forte vides occurrere
talem, | parce meis.› … Sic fatur celeresque gradus ad castra retorquet:
Alexander empfängt die Vision des jüdischen Hohepriesters Jaddus
Kommentar zu Buch I 635

– als Vorbild für seine Darstellung diente ihm möglicherweise die im


Brief an Julia Eustochium geschilderte Traumvision des Hierony-
mus – in der für ihn äußerst schwierigen politischen Situation nach
der Ermordung seines Vaters und der damit einhergehenden Unruhe
über die zukünftige Ausrichtung des makedonischen Königshauses
(vgl. die Einführung zum Prolog). Alexander selbst ist sich in diesem
Moment nicht schlüssig, ob er gegen den persischen Erbfeind ins
Feld ziehen oder die Heimat vor den Persern beschützen soll, indem
er im vom Vater ererbten Reich bleibt. ⇔ Die von Walter an dieser
Stelle verwirklichte Darstellung eines zutiefst verunsicherten und ge-
radezu entscheidungsunfähigen makedonischen Königs steht hierbei
in einem auffälligen Kontrast zu dem ansonsten gerade auch in der
Alexandreis geprägten Alexanderbild, nach welchem der vor Selbst-
bewusstsein geradezu strotzende Held mit Entschlossenheit und
Tatkraft – man denke dabei an die Durchtrennung des gordischen
Knotens – die Dinge nach seinen Vorstellungen auch ohne göttlichen
Beistand regelt und dabei niemals einen auch nur leisen Zweifel an
seiner Handlungsfähigkeit aufkommen lässt. In diesem für Alexander
aufgrund eigener Überlegung kaum zu lösenden Dilemma – metrisch
wird Alexanders Unsicherheit durch das mit schweren Spondeen ge-
staltete incertus hervorgehoben – gibt ihm der jüdische Hohepriester
die klare Handlungsanweisung, seine Heimat zu verlassen und den
Krieg gegen die Perser zu beginnen (vgl. Alex. I, 509: incertus sequerer­
ne hostes patriamne tuerer). Mit dieser Aufforderung, das Perserreich
zu erobern, ist zugleich das Versprechen des Hohepriesters verbun-
den, ihm die Herrschaft über das mit omnem gentem bezeichnete Per-
serreich unter der Bedingung der späteren Verschonung Jerusalems zu
verschaffen (vgl. Alex. I, 532–535: ‹Egredere, o Macedo fortissime, fini­
bus› inquit | ‹a patriis, omnemque tibi pessundabo gentem. | At si me
tibi forte vides occurrere talem, | parce meis; zur Forschungsdiskussion
hinsichtlich dieser Passage vgl. die Einführung zu Buch I; vgl. auch
Lehmann 2018, 15–23; zur Stellung der Jerusalem-Episode innerhalb
der Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2).
636 KOmmentar

Alexanders Einzug in Jerusalem (539–554)

539–554 Vera tamen docuit … Iamque valefaciens indulto Marte be­


atae  | urbis perpetuo donavit munere cives: Die Jerusalem-Episode
endet mit der als Vorgriff gestalteten Darstellung über den fünf Jah-
re nach der eigentlichen Vision in die Tat umgesetzten Einzug Ale-
xanders in Jerusalem, wo er dem jüdischen Hohepriester persönlich
begegnet und seine Vision dadurch ein reale Bestätigung erfährt (zur
allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen
Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). Entsprechend der in der Vision
zum Ausdruck gebrachten Bitte des Hohepriesters ehrt Alexander
diesen, bringt Friedensopfer dar und verschont die heilige Stadt (zur
Forschungsdiskussion hinsichtlich dieser Passage vgl. die Einfüh-
rung zu Buch I; vgl. auch Lehmann 2018, 15–23).
Einführung zu Buch II
Zum überwiegenden Teil beschäftigt sich Walter in Buch II mit
den Vorbereitungen der Perser und Griechen für die Schlacht bei
Issus. Im Zuge dessen werden anhand einer intertextuellen Kon­
trastimitation zum ersten Mal in der Alexandreis die moralischen
bzw. charakterlichen Defizite des persischen Königs ins Blickfeld
des Lesers gerückt, um diesen schon im Vorhinein als Verlierer der
kommenden Auseinandersetzung in Szene zu setzen (vgl. Komm.
II, 1–17; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum mora-
lischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4; zum produktionsästheti-
schen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4;
vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13).
Demselben Zweck dient die sich unmittelbar daran anschließende
Wiedergabe eines Briefwechsels zwischen dem persischen und dem
makedonischen König, mit dem Walter anhand einer vergleichen-
den Charakterisierung die unterschiedlichen moralischen Qualitä-
ten der beiden wichtigsten Protagonisten des Epos herausarbeitet
(vgl. Komm. II, 18–44).
Nach dem in nur fünf Versen geschilderten Sieg der Griechen in
der Schlacht am Granikus gelangt Alexander über Phrygien, wo er
den gordischen Knoten zerschlägt, nach Kilikien und überwindet
auf seinem weiteren Weg an die kilikische Küste ohne Schwierig-
keiten die im Taurus-Gebirge liegende Engstelle an der Kilikischen
Pforte (vgl. Komm. II, 91–102). Auch an diesem Punkt seiner aber-
mals am sensus moralis orientierten Darstellung lässt Walter den für
die Griechen positiven Ausgang des Perserkriegs prospektiv anklin-
gen, indem er in bewusster Manier den ängstlich und zögerlich agie-
renden Darius dem mit großer Geschwindigkeit vorwärts drängen-
den Alexander – die Schnelligkeit wird in der gesamten Alexandreis
638 KOmmentar

als Teilbereich der aristotelischen Tugend der Tapferkeit dargestellt


– vergleichend gegenüberstellt.
Breiten Raum nimmt die Episode um Alexanders unheilvolles
Bad im Kydnus ein, die vom Autor der Alexandreis auf virtuose
Art und Weise zur Inszenierung der Schicksalsgöttin Fortuna ge-
nutzt wird, die ungeachtet ihres charakteristischen Wankelmuts
in ihrer Rolle als integraler Bestandteil des Fatums den zu diesem
Zeitpunkt noch von der christlichen Heilsgeschichte geschützten
makedonischen König ihrer Bestimmung entsprechend vor den un-
mittelbaren Folgen des Badeunfalls rettet (vgl. Komm. II, 186–200;
zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis
vgl. Einleitung 5). Zudem nutzt Walter die Episode am Kydnus nur
wenige Tage vor der Schlacht bei Issus noch einmal, um die heraus-
ragende Tugendhaftigkeit Alexanders herauszuarbeiten, der sich
mit seinem vertrauensvollen Verhalten gegenüber seinem Arzt Phi­
lipp entsprechend der Vorgaben der Aristoteles-Rede – noch immer
orientiert sich Walter dabei am sensus moralis – insbesondere hin-
sichtlich der Tugend der Tapferkeit vorbildlich verhält (vgl. Komm.
II, 200–217; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum
moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4).
Wie sehr Walter mit seiner Darstellung dem sensus moralis auch
und gerade in der Schilderung der Vorbereitungen zur entschei-
denden Schlacht bei Issus Ausdruck verleiht, zeigt auch die nach
Alexanders dortiger Ankunft wiedergegebene Sisines-Episode (vgl.
Komm. II, 269–271). Anders als seine wichtigste historische Vorla-
ge Curtius, der den makedonischen König mit diesem Vorfall nicht
nur einer ganz bewusst zum Ausdruck gebrachten moralischen Kri-
tik unterzieht, sondern diesen in unmittelbarem Anschluss daran
in der Begegnung zwischen Darius und dem griechischen Söldner
Tymodes auch als Negativfolie für seine überaus positive Darstel-
lung des persischen Königs benutzt, blendet Walter nahezu alle
Informationen aus, die ein negatives Bild auf seinen wichtigsten
Protagonisten werfen könnten. Damit vermeidet es Walter, Alexan-
Einführung zu Buch II 639

der zu einem Zeitpunkt, an dem sich dieser mit der Eroberung des
Perserreichs noch innerhalb seines heilsgeschichtlich legitimierten
Auftrags bewegt, einer auf die konkrete Situation der Erzählung be-
zogenen moralischen Kritik zu unterziehen, durch die dieser seiner
für die zeitgenössische Leserschaft aufbereiteten Vorbildfunktion
beraubt werden würde (zu Walters bewussten Abweichungen von
Curtius vgl. auch Einleitung 3).
Im Kontext von Darius’ Feldherrnrede entfaltet Walter mit dem
sensus anagogicus eine weitere Ebene seiner spezifischen Geschichts-
deutung. Dabei lässt sich über die Inszenierung eines locus amoenus
und dem Hinweis auf einen bedeutsamen Lorbeerbaum eine typo-
logische Verbindungslinie zwischen Alexander und Karl dem Gro-
ßen auf der einen Seite und zwischen Darius und dem Sarazenen-
führer Baligant auf der anderen Seite ziehen, die als Hinweis auf den
jungen französischen König Philipp II. und dessen zukünftige Auf-
gabe als Anführer im Kampf gegen die Muslime gedeutet werden
kann (vgl. Komm. II, 306–318; zur anagogischen Ebene der Alexan­
dreis bzw. zum eschatolgischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.3;
vgl. auch Wiener 2001, 91–92).
In der Feldherrnrede des Darius selbst weist Walter ebenso wie
mit der unmittelbar daran folgenden Ekphrasis des Darius-Schildes
mit der Erwähnung der genealogischen Verbindung der Perser mit
dem Geschlecht der Giganten und der damit einhergehenden typo-
logischen Verbindung Alexanders mit Herkules bzw. der Perser mit
den Giganten ein weiteres Mal prospektiv darauf hin, dass der Sieg
der Griechen in der Schlacht bei Issus und damit letztlich auch de-
ren Sieg im gesamten Perserkrieg aus heilsgeschichtlicher Perspekti-
ve nicht aufzuhalten ist (vgl. Komm. II, 319–371; vgl. auch Komm.
II, 450–486; zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum
heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2).
Den Abschluss von Buch II bildet ein Autorexkurs über die Ver-
gänglichkeit irdischer Macht, mit dem Walter über die Bezugnahme
auf Cyrus nicht nur auf Darius’ bevorstehendes Ende hinweist, son-
640 KOmmentar

dern darüber hinaus auch Alexander in den Blick nimmt, der nach
der heilsgeschichtlich legitimierten Eroberung des Perserreichs das
menschliche Maß überschreitet und zu einem späteren Zeitpunkt
aus christlicher Sicht demzufolge verdientermaßen den Tod im
Epos erleidet (vgl. Komm. II, 530–544).
Kommentar zu Buch II
Themenübersicht (1–10)

C 1 Preparat ad pugnam Darium Persasque secundus: Mit dem durch


preparat und Persasque alliterativ gerahmten und überdies allitera-
tiv hervorgehobenen pugnam macht Walter gleich zu Beginn seiner
Themenübersicht deutlich, dass sein Hauptaugenmerk im vorlie-
genden Buch auf den Vorbereitungen der von Darius angeführten
Perser für die bevorstehende kriegerische Auseinandersetzung mit
Alexander liegt. Während die für den Ausgang des Perserkriegs letzt-
lich weniger bedeutende erste Auseinandersetzung am Granikus im
Haupttext nur kurz erwähnt wird, liegt der Schwerpunkt in Walters
Darstellung bei den umfangreichen Vorbereitungen für die kriegs-
entscheidende Schlacht bei Issus (vgl. Komm. II, 64–68).

C 2 Scribit Alexandro Darius populumque recenset: Noch vor der


Schlacht am Granikus wird Alexander von persischen Boten ein
äußerst herablassender Brief des persischen Königs überbracht, mit
dem dieser nicht ohne beißenden Spott den Versuch unternimmt,
seinen makedonischen Gegner zu diskreditieren und ihn gleichzeitig
von der Gefährlichkeit und der Aussichtslosigkeit von dessen gegen
das Perserreich gerichteten Unternehmen zu überzeugen. Sprachlich
bringt Walter Darius’ Ansinnen an der vorliegenden Stelle dadurch
zum Ausdruck, dass der makedonische König als der Handlung des
persischen Königs unterworfenes Objekt mit der Positionierung
zwischen scribit und Darius sozusagen von allen Seiten umzingelt
und aus Darius’ Sicht damit prospektiv als Verlierer der bevorste-
henden Auseinandersetzung dargestellt wird. Zugleich wird dem
makedonischen König mit dem handelnden Subjekt Darius, der in
betonter Mittelstellung diesem sprachlich den Zugang zum zweiten
642 KOmmentar

Teil des Verses verwehrt, eine vermeintlich unüberwindliche Grenze


für dessen Eroberungsdrang gesetzt. Nicht zufällig beschäftigt sich
die zweite Hälfte des Verses dann auch ausschließlich mit dem per-
sischen König, der sein von Walter gemessen an der gewaltigen Grö-
ße der persischen Streitkräfte treffend mit populum umschriebenes
Heer in Augenschein nimmt. Mit der engen sprachlichen Verbin-
dung des Darius mit dem zahlenmäßig überlegenen Heer der Perser
verweist Walter damit auch im zweiten Teil dieses Verses geschickt
auf die in besagtem Brief auf provokative Weise zum Ausdruck
gebrachte Überzeugung des persischen Königs von der vermeint-
lichen Chancenlosigkeit Alexanders im bevorstehenden Krieg (vgl.
Komm. II, 18–44).

C 3 At Macedo fatale iugum mucrone resolvit: Mit einem gedank-


lichen Sprung in das Frühjahr 333 v. Chr. verlegt Walter das Gesche-
hen ohne weitere Umschweife in die phrygische Hauptstadt nach
Gordium. Mit der auf den schicksalhaften Charakter des Jochs ver-
weisenden Formulierung fatale iugum stellt Walter den Bezug zum
dortigen Orakel her, das verkündet hatte, dass derjenige, der in der
Lage sein sollte, den gordischen Knoten zu lösen, die Herrschaft
über Asien erringen werde (zu den verschiedenen Bedeutungen von
Asien vgl. Komm. I, C 4–5). Alexander löst die auf normalem Weg
eigentlich unlösbare Aufgabe, indem er den aus zahlreichen un-
entwirrbaren Seilen bestehenden Knoten kurzerhand mit seinem
Schwert zerschlägt (vgl. Komm. II, 75–90).

C 4 seque sibi recipit, morbum curante Philippo: Noch bevor Alexan-


der im August 333 v. Chr. die Stadt Tarsus an der kilikischen Küste
erreicht, wäre er bei einem Bad im eiskalten Wasser des Kydnus, ei-
nes im Taurus-Gebirge entspringenden Flusses, beinahe ertrunken.
Erst durch das Eingreifen der Schicksalsgöttin Fortuna – so Walter
– kann Alexander von den unmittelbaren Folgen des Badeunfalls ge-
rettet werden. ⇔ Mit morbum spricht Walter die im Anschluss an
Kommentar zu Buch II 643

das verhängnisvolle Bad aufgetretene Krankheit Alexanders an, von


der er sich erst durch die Intervention seines Leibarztes Philipp er-
holt (vgl. Komm. II, 153–256; zum Götterapparat und der Rolle des
Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5).

C 5–6 Stant hinc inde acies Cylicum conclusa iugosis | faucibus: An


einem regnerischen Novembertag des Jahres 333 v. Chr. bewegen
sich die feindlichen Heere der Perser und Griechen in der Nähe von
Issus – auf beiden Seiten der Passhöhe von den steil abfallenden
Höhenzügen des kilikischen Küstengebirges beengt – aufeinander
zu, um die Entscheidung in der Schlacht zu suchen (vgl. Komm.
II, 257–268). ⇔ Sprachlich bringt Walter den für das Verständnis
der vorliegenden Stelle bedeutsamen Umstand, dass sich die beiden
Heere an unterschiedlichen Stellen des kilikischen Gebirges – auf
der nördlichen Seite des Passes die Griechen und auf der südlichen
Seite die Perser – gegenüberstehen, zum Ausdruck, indem er das
formal ambivalente acies als Nominativ Plural nicht nur syntaktisch
mit dem Prädikat stant in Beziehung setzt, sondern mit Hilfe einer
constructio ad sensum auch mit dem singularischen Partizip conclusa
im Sinne von jedes der beiden Heere in Verbindung bringt.

C 6 Iniusti Sysenem premit alea fati: Bei Sisines handelt es sich um


einen abtrünnigen Perser, der im Feldzug gegen Darius eigentlich zu
den treuen Gefolgsleuten des makedonischen Königs gehört, auf-
grund eines falschen Verdachts jedoch ungerechtfertigterweise hin-
gerichtet wird (vgl. Komm. II, 269–271).

C 7–9 Spernitur a Persis ducibus licet utile docti | consilium Tymo­


dis: placuit committere fatis | omne simul robur: Tymodes ist der An-
führer der griechischen Söldner aufseiten des Darius, der dem per-
sischen König den Rat erteilt, in der bevorstehenden Schlacht bei
Issus nicht alles auf eine Karte zu setzen, sondern das Heer so aufzu-
teilen, dass er für den Fall, dass die Schlacht einen ungünstigen Ver-
644 KOmmentar

lauf nehmen sollte, noch frische Kräfte in der Hinterhand behält.


Der Plan wird jedoch von den ranghöchsten persischen Offizieren
hintertrieben, die es für sinnvoller halten, gleichzeitig das gesamte
Heer in die Schlacht zu schicken, um so schnell wie möglich die Ent-
scheidung mit der Wucht der vorhandenen Übermacht herbeizu-
führen (vgl. Komm. II, 272–305).

C 9–10 Socios hortatur ad arma | acer uterque ducum. Plaudentibus


assonat aer: Die Themenübersicht endet mit dem Hinweis auf die
Ansprachen beider Heerführer kurz vor der Schlacht bei Issus (vgl.
Komm. II, 325–371; vgl. auch Komm. II, 450–486).

Der Perserkönig Darius (1–63)

Die Charakterzeichnung des Darius (1–17)

1–17 Ultorem patriae Magnum iam fata minantem … desidiae


torpore gravis luxuque soluti | terrifico strepitu Darii … experientia
Martis, | qua dissuetus erat … ut in omnibus esset | inferior … si mens
tanta foret pugnandi, quanta facultas … ruit omnis in arma iuven­
tus: Wie bereits im Kontext von Alexanders Überfahrt nach Klein-
asien erkennbar geworden war, setzt Walter seine Personen über
die von seinen historischen Quellen gebotenen Zusammenhänge
hinaus bewusst in Beziehung zu seinen epischen Vorbildern (vgl.
Alex. I, 359–385). Als Darius mit Beginn von Buch II erstmals deut-
lich erkennbar ins Blickfeld des Lesers gerückt wird, stellt Walter
den persischen König dementsprechend in einer Weise dar, die mit
der Beschreibung des Pompeius in Lucans Pharsalia etliche – wie
in der Alexandreis häufig zu beobachten ist – insbesondere moti-
vische Parallelen aufweist (vgl. Zwierlein 2004, 610–611). Walter
setzt diese an der vorliegenden Stelle verwirklichte vergleichende
Charakterisierung über das grundsätzliche Streben nach imitatio
Kommentar zu Buch II 645

und aemulatio hinaus in erster Linie deshalb ins Werk, um Darius


mittels einer bewussten Inszenierung eines in Untätigkeit erstarrten
und von Luxus geschwächten Königs noch vor der ersten Schlacht
am Granikus bereits prospektiv als Verlierer des gesamten Perser-
kriegs vorzustellen. Auch die explizit angesprochene Entwöhnung
vom Krieg wird hier in Anlehnung an Lucans Pharsalia als Grund
für die Unterlegenheit des persischen Königs in pejorativem Sinn
mit Nachdruck hervorgehoben (vgl. Luc., Phars. 130–131: longoque
togae tranquillior usu  | dedidicit iam pace ducem). Die in Walters
Darstellung durch die charakterlichen bzw. moralischen Defizite
des Darius bedingte Unterlegenheit der Perser steht dabei in auffäl-
ligem Kontrast zu den militärischen Möglichkeiten, die diesem zur
Verfügung gestanden hätten, wenn er denn nur den echten Willen
zum Kampf gehabt hätte (vgl. Alex. II, 10–12: ut in omnibus esset |
inferior duce, quo poterat prestantior esse, | si mens tanta foret pug­
nandi quanta facultas; zur tropologischen Ebene der Alexandreis
bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Ebenso
deutlich wird das zaghafte und zögerliche Verhalten des persischen
Königs im Kontext der Aufstellung eines von Darius selbst ange-
führten Heeres zum Ausdruck gebracht (vgl. Alex. II, 13–17). Denn
erst die Angst vor Gesichtsverlust bringt den Perserkönig letztlich
gegen seinen Willen dazu, endlich die notwendigen Maßnahmen
zur Mobilmachung in die Wege zu leiten. Auch mit dieser Beschrei-
bung des persischen Königs verweist Walter auf Pompeius, der in
Lucans Schilderung von den im Lager anwesenden Senatoren erst
mit Nachdruck überredet werden muss, die Schlacht gegen Caesar
im Vertrauen auf das Schicksal und die zahlenmäßige Überlegenheit
der eigenen Truppen eigentlich gegen seinen Willen zu eröffnen.
Lucan lässt in seinem Epos dabei keinen Geringeren als Marcus Tul-
lius Cicero – die Anwesenheit des berühmten römischen Redners
und Politikers im Lager des Pompeius ist historisch allerdings nicht
verbürgt – die drängenden Bitten der Senatoren formulieren (vgl.
Luc., Phars. VII, 68–85). Nur durch Ciceros Rede gedrängt gibt
646 KOmmentar

Pompeius schließlich das Zeichen zum Angriff, nicht ohne zu beto-


nen, dass er diesen Befehl nicht aus innerer Überzeugung gebe, son-
dern lediglich das Schicksal nicht länger aufhalten wolle (vgl. Luc.,
Phars. VII, 87–123). ⇔ Die von Walter in diesem Kontext angeführ-
ten charakterlichen Schwächen des Darius dürfen jedoch nicht zu
dem voreiligen Schluss verleiten, dass der Autor der Alexandreis
in anderen Zusammenhängen nicht auch das im persischen König
grundsätzlich vorhandene Tugendpotenzial zum Ausdruck bringt.
Wenn Darius nämlich nicht als Negativfolie für Alexander dient,
wird – wie nur wenig später die milde Behandlung des griechischen
Söldners Tymodes zu zeigen vermag – von Walter durchaus auch
das tugendhafte Verhalten des persischen Königs positiv hervorge-
hoben (vgl. Alex. II, 272–305). ⇔ Historisch betrachtet ist der von
Walter an dieser Stelle an Darius gerichtete Vorwurf der Untätigkeit
und der Zaghaftigkeit indes so gar nicht haltbar, da der persische
König zu diesem Zeitpunkt noch davon ausgehen konnte, dass das
unter der Führung des griechischen Söldners Memnon stehende Sa-
trapenheer in der Schlacht am Granikus den Sieg über Alexander
erringen würde. Viel mehr als um historische Genauigkeit geht es
Walter hier also offenbar darum, noch vor dem ersten militärischen
Aufeinandertreffen Alexanders Sieg gegen das Perserreich vorweg-
zunehmen, indem er ganz bewusst die moralische Überlegenheit
seines wichtigsten Protagonisten kontrastierend herausstellt (zur
tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn
des Epos vgl. Einleitung 7.4).

Die Korrespondenz zwischen Darius und Alexander (18–44)

18–44 Interea a Dario, ne nil fecisse videri  | possit, Alexandro le­


gatur epistola talis … vario legatos munere donat: Nach Alexanders
Ankunft in Kleinasien überbringen ihm Boten einen mehr als an-
maßenden Brief des persischen Königs, in welchem dieser keine
Kommentar zu Buch II 647

Gelegenheit auslässt, seinen makedonischen Kontrahenten herab-


zusetzen und diesen als Anführer des griechischen Heeres zu dis-
kreditieren. ⇔ Wie Wulfram (2002) 66–67 bemerkt, bedient sich
Walter bei der Inszenierung dieser Episode der auf Basis des Alexan-
derromans entstandenen Epitome des Julius Valerius, die sowohl
den Brief des persischen Königs als auch Alexanders Antwort auf
diesen Brief in entsprechender Weise überliefert (vgl. Iul. Val. Epit.
I, 36; vgl. auch Curt., Hist. Alex. III, 5, 12–13, der jedoch nur einen
kurzen und wenig aussagekräftigen Hinweis auf Darius’ Brief gibt).
⇔ Darius, der sich in seinem Schreiben selbstgefällig als rex regum
… consanguineusque deorum bezeichnet, spricht seinen Widersacher
abschätzig mit famulus und puer an und legt diesem nahe, die für
einen unreifen Jüngling seines Alters ungeeigneten Waffen abzule-
gen und nach Hause in den Schoß der eigenen Mutter zurückzu-
kehren (vgl. Alex. II, 20–25). Abgesehen von diesem Brief werden
Alexander überdies drei symbolträchtige Geschenke – eine Peitsche,
ein Ball sowie Schatullen voller Goldmünzen – überreicht, um die
schriftlich formulierte Botschaft noch zu verstärken: Die Peitsche
und der Ball sollen dem makedonischen König seinem jugendlichen
Alter entsprechend als Spielzeug dienen und die Goldmünzen zur
Begleichung seines bisherigen Aufwands. Im Falle einer Weigerung
Alexanders, diesen Anweisungen Folge zu leisten, droht ihm Darius
mit Gefangennahme, Folter und Tod (vgl. Alex. II, 26–33). Nicht
ohne berechtigten Zorn – modice turbatus – zu empfinden – man
denke in diesem Zusammenhang an die Ratschläge des Aristoteles
hinsichtlich der Tugend der angemessenen Zürnkraft – kehrt Ale-
xander in seiner Antwort die Symbolik der Geschenke geschickt
um: Der runde Ball symbolisiere die kugelförmige Erde, die er zu
erobern gedenke, die Peitsche werde er zur Züchtigung der unterle-
genen Perser einsetzen und das Gold betrachte er als Vorgeschmack
auf die großen Reichtümer der persischen Schatzkammern, mit
denen er die Taschen der siegreichen Griechen zu füllen beabsich-
tige (vgl. Alex. II, 34–42; zur Tugend der angemessenen Zürnkraft
648 KOmmentar

vgl. Komm. I, 115). ⇔ Man kann an dieser Stelle die Frage aufwer-
fen, warum Walter diese schriftliche Auseinandersetzung zwischen
den beiden Königen in dieser Ausführlichkeit in seine Darstellung
aufnimmt, obwohl seine historische Hauptquelle Curtius darüber
nur wenige Worte verliert. Es spricht wohl vieles dafür, dass der Au-
tor der Alexandreis diesen Briefwechsel nutzen möchte, um noch
vor der ersten Schlacht am Granikus die Charaktere seiner beiden
wichtigsten Protagonisten noch einmal zu kontrastieren und so
ungeachtet der zahlenmäßigen persischen Übermacht schon vorab
die eigentlichen und tatsächlich von anderen Faktoren abhängigen
Kräfteverhältnisse in dieser kriegerischen Auseinandersetzung deut-
lich zu machen. Denn auf der einen Seite befindet sich der persische
König, der seinen Brief – so Walter – nur schreibt, um nicht untätig
zu erscheinen, dabei in Anbetracht der späteren Niederlage und der
feigen Flucht eine vollkommen grundlose Überheblichkeit an den
Tag legt und offenbar seinen Gegner auf sträfliche Art und Weise
unterschätzt. Mit diesem großspurigen Verhalten verletzt Darius je-
doch die Vorgaben der Aristoteles-Rede hinsichtlich der Tugend des
angemessenen Stolzes, indem er sich des Lasters der Eitelkeit schuldig
macht (vgl. Komm. I, 182–183; vgl. auch Komm. VII, 17–58; zur
deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs μεγαλοψυχία bzw.
des lateinischen Begriffs magnanimitas mit angemessener Stolz vgl.
die Einführung zu Buch I). Zudem assoziiert der mittelalterliche Le-
ser mit dem von Darius für die eigene Person benutzten Titel rex
regum keinen Geringeren als Christus selbst, womit die Überheb-
lichkeit des persischen Königs zusätzlich auch noch eine christliche
Dimension erhält (vgl. Timotheus 6, 15: usque in adventum Domini
nostri Iesu Christi quem suis temporibus ostendet beatus et solus po­
tens rex regum et Dominus dominantium). Auf der anderen Seite
steht mit Alexander ein Feldherr und König bereit, der sich weder
von gehässigen Diffamierungen noch von böswilligen Drohungen
einschüchtern lässt, sondern überaus gedankenschnell – ein Vor-
geschmack auf die in der Aristoteles-Rede angemahnte und in den
Kommentar zu Buch II 649

späteren Schlachten glanzvoll umgesetzte Handlungsschnelligkeit


Alexanders – in der Lage ist, mit seiner beeindruckenden geistigen
Beweglichkeit die vom Gegner ausgehende Aggression geschickt
gegen diesen zu wenden und zum eigenen Vorteil zu nutzen (zur
Handlungsschnelligkeit als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit
vgl. Komm. I, 136–143). ⇔ Damit nimmt Walter wie bereits im Ab-
schnitt zuvor durch eine vergleichende Charakterisierung der bei-
den wichtigsten Protagonisten des Epos und ihrer charakterlichen
bzw. moralischen Qualitäten bzw. Schwächen den Ausgang der
kriegerischen Auseinandersetzung auch an dieser Stelle vorweg (zur
tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn
des Epos vgl. Einleitung 7.4).

Die Heerschau des Darius (45–63)

45–63 At Darius, quamvis fama mediante recepto | Mennonis exces­


su labefacto pectore nutet, | aspera fortunae tamen in contraria tor­
quens … capripedi Fauno commendat sedula Baucis: Darius begibt
sich Walters Erzählung zufolge zum Euphrat, um in der dortigen
Ebene dem Xerxes vergleichbar von einem Wall aus eine den ganzen
Tag über andauernde Heerschau abzuhalten. Walter bedient sich da-
bei in stark verkürzter Form der Vorlage des Curtius. Während der
römische Historiker die Heerschau jedoch historisch korrekt aus-
schließlich mit den Vorbereitungen zur Schlacht bei Issus im Spät-
sommer 333 v. Chr. in Verbindung bringt, verlegt Walter die Szenerie
mit einem Teil von Curtius’ Darstellung noch vor die Schlacht am
Granikus im Mai 334 v. Chr. ⇔ Offenbar war es Walter aus kom-
positorischen Gründen ein Anliegen, in seinem Epos noch vor der
ersten Schlacht gegen die Perser eine Heerschau einzufügen, auch
wenn sich das von ihm beschriebene persische Herr zumindest in
Curtius’ Darstellung am Euphrat und nicht am Granikus aufhielt.
Die veränderte Chronologie bringt für Walter jedoch die Schwierig-
650 KOmmentar

keit mit sich, dass bei Curtius erwähnt wird, Darius habe von der
Todesnachricht des Memnon schwer erschüttert den Beschluss ge-
fasst, nun selbst in den Kampf einzugreifen (vgl. Curt. Hist. Alex.
III, 2, 1: At Dareus nuntiata Memnonis morte haud secus, quam
par erat, motus omissa omni alia spe statuit ipse decernere). Mem-
non starb jedoch tatsächlich erst bei der Belagerung von Mytilene
im Sommer des Jahres 333 v. Chr., als sich Alexander ungefähr zum
selben Zeitpunkt von Gordium aus auf dem Weg zur Kilikischen
Pforte und nach Tarsus an der Südküste Kleinasiens befand. Walter
versucht diese Schwierigkeit zu lösen, indem er Curtius’ Darstellung
dahingehend abändert, dass er die Nachricht von Memnons Tod le-
diglich als ein im Lager umlaufendes Gerücht behandelt, das sich im
Nachhinein durch dessen Beteiligung an der Schlacht am Granikus
dann eben als unwahr herausstellt (vgl. Alex. II, 45–46: At Darius,
quamvis fama mediante recepto | Mennonis excessu labefacto pectore
nutet). Im Übrigen war Memnons Tod im Sommer des Jahres 333. v.
Chr. für Alexander ein nicht zu unterschätzender strategischer Vor-
teil, da damit zumindest mittelfristig die Bedrohung im Rücken des
griechischen Heeres beseitigt war und ein gefährlicher Zweifronten-
krieg vermieden werden konnte. Dieser Sachverhalt wird besonders
vor dem Hintergrund bedeutsam, dass Alexander noch in Gordi-
um trotz der in seinen Augen damals noch bestehenden Bedrohung
durch Memnon beschlossen hatte, alles zu riskieren und mit seinem
Heer weiter in Richtung Osten zu marschieren (vgl. Barceló 2007,
209). Der begabte Feldherr Memnon ist nur ein Beispiel griechischer
Söldner in Diensten der persischen Könige unter vielen. Der Grund
für diese Unterstützung der Perser durch griechische Söldner lag
insbesondere darin, dass vonseiten zahlreicher griechischer Stadt-
staaten eine schon von Alexanders Vater Philipp angestrebte Hege-
monie Makedoniens in Griechenland verhindert bzw. rückgängig
gemacht werden sollte (vgl. Komm. I, 27–39). ⇔ Die Beschreibung
des persischen Heeres, das sich am nächsten Morgen über den Wall
des Lagers hinweg in Bewegung setzt, verbindet Walter mit einem
Kommentar zu Buch II 651

Gleichnis aus der Welt der Hirten. ⇔ Die Verwendung von Gleich-
nissen gehört schon zum Repertoire antiker Epiker und wird auch
von einem mittelalterlichen Autor wie Walter für sein Epos immer
wieder eingesetzt, um einen bestimmten Sachverhalt oder eine be-
stimmte Situation zu veranschaulichen (vgl. Christensen 1905,
77–82). ⇔ Im vorliegenden Fall wird die Situation der sich nach
der Heerschau zum Euphrat hin in Bewegung setzenden persischen
Soldaten mit den am frühen Morgen auf die Frühlingsweiden zie-
henden Schafe verglichen, die vom Hirten einer genauen Zählung
unterzogen werden, um keines der Tiere an einen Wolf zu verlie-
ren (vgl. Alex. II, 59). Walter arbeitet dabei insbesondere auf der
motivischen Ebene Gemeinsamkeiten zu literarischen Vorbildern
heraus und verbindet dabei geschickt Anklänge an antike Autoren
mit christlichem Gedankengut. Die Stelle erinnert zum einen an
die Georgica Vergils, der einen Hirten beschreibt, wie er die von der
Weide in den Stall heimkehrenden Kälber und Lämmer zählt, um si-
cherzugehen, dass keines der Tiere ein Opfer von Wölfen geworden
ist (vgl. Verg., Georg. IV, 433–436: Ipse, velut stabuli custos in monti­
bus olim, | Vesper ubi e pastu vitulos ad tecta reducit/auditisque lupos
acuunt balatibus agni, | consedit scopulo medius, numerumque recen­
set). Ferner legt die Erwähnung der sedula Baucis bei Walter eine in
diesem Fall zudem wortgetreue und auch hinsichtlich der Stellung
am Versende identische Bezugnahme auf Ovid nahe, der in seinen
Metamorphosen die Geschichte des alten Ehepaars Philemon und
Baucis erzählt (vgl. Ov., Met. VII, 640). Zum anderen werden mit
dem Bild des gewissenhaften Hirten – zumal bei einem mittelalter-
lichen Leser – aber auch Assoziationen zum Johnannes-Evangelium
geweckt, wo Jesus sich selbst als guten Hirten beschreibt, der seine
Schafe kennt und für diese auch sein Leben lässt. Im Unterschied
dazu lässt ein schlechter Hirte, dem die Schafe nicht gehören, diese
sofort im Stich, wenn er den Wolf kommen sieht (vgl. Joh. 10, 12).
652 KOmmentar

Die Schlacht am Granikus (64–68)

64–68 At prior in Magnum Darii congressus et acris … fudit Alex­


ander: Die mit der Schlacht am Granikus erste wirklich ernsthafte
kriegerische Auseinandersetzung Alexanders mit dem persischen
Reich im Mai des Jahres 334. v. Chr. schildert Walter in aller Knapp-
heit in noch nicht einmal fünf Versen. ⇔ Dies mag in erster Linie
daran liegen, dass er an dieser Stelle in Ermangelung der ersten bei-
den Bücher des Curtius nicht auf den antiken Historiker zurück-
greifen konnte und somit möglicherweise in nicht ausreichendem
Maße über verwertbare Informationen verfügte. Abgesehen davon
legt Walter in seinem Epos sein Hauptaugenmerk ohnehin sehr viel
stärker auf die für den Ausgang des Perserkriegs – auch aus histo-
rischer Perspektive – sehr viel bedeutendere Schlacht bei Issus. Als
Quelle für die ersten drei Verse in Walters Darstellung scheint – sieht
man von der Erwähnung Memnons bei Walter ab – die Epitome des
Justin gedient zu haben, der das Geschehen in vergleichbarerer Kür-
ze und in einem ähnlichen Wortlaut schildert (vgl. Iust., Epit. Hist.
XI, 6, 11–12: Prima igitur congressio in campis Adrastiis fuit. In acie
Persarum sexcenta milia militum fuere; vgl. auch Oros., Hist. adv.
pag. III, 16, 4: Primo eius cum Dario rege congressu sescenta milia
Persarum in acie fuere, quae non minus arte Alexandri superata
quam virtute Macedonum terga verterunt). ⇔ Abschließend stellt
Walter nüchtern fest, dass Alexanders Sieg am Granikus gegen das
persische Satrapenheer ungeachtet der zahlenmäßigen Unterlegen-
heit der makedonischen Truppen als das Ergebnis ihrer überlegenen
Kampfkraft betrachtet werden muss (vgl. Alex. II, 67–68: Quos licet
inferior numero, sed fortior armis | fudit Alexander).
Kommentar zu Buch II 653

Alexander in Phrygien (68–90)

Alexanders Ankunft in Phrygien (68–70)

68–70 expugnatamque suorum  | viribus intravit Midae predivitis


aulam:  | Gordian veteres, Sardis dixere moderni: Die unmittelbar
auf die Schlacht am Granikus folgende Eroberung der Westküste
Kleinasiens, die dem makedonischen König mit der Einnahme von
Sardes, Milet und Halikarnassus die Kriegskasse gefüllt hatte, bleibt
bei Walter – wohl auch wegen der fehlenden ersten beiden Bücher
des Curtius – unerwähnt. Die Bezugnahme auf seine historische
Hauptquelle setzt erst mit der Beschreibung des Alexanderzugs
durch das zur damaligen Zeit reiche Phrygien und der Ankunft des
makedonischen Königs in der phrygischen Hauptstadt Gordium
ein. ⇔ Walter vollzieht diesen Wechsel des Schauplatzes vom Grani-
kus nach Gordium in weniger als zwei Versen ausgesprochen schnell,
obgleich zwischen beiden Ereignissen historisch betrachtet tatsäch-
lich mehr als ein ganzes Jahr lag. Die Eroberung von Gordium findet
ebenso wie die Beschreibung der Stadt als ehemalige Residenz des
sagenhaften Königs Midas eine jeweils nur kurze Erwähnung. Die
irrtümliche Gleichsetzung der beiden kleinasiatischen Städte Sardes
und Gordium bei Walter geht vermutlich auf Orosius zurück (vgl.
Oros., Hist. adv. pag. III, 16, 5: Gordien Phrygiae civitatem, quae
nunc Sardis vocitatur).

Die geographische Lage von Gordium (71–74)

71–74 Hic Asiam refluis undarum incursibus artant | faucibus an­


gustis gemini confinia ponti. | Hic ab utroque mari distans Sangarius
eque | litoribus tamen alterius communicat undas: Interessanterwei-
se verortet Walter auf der geographischen Länge von Gordium mit
den Worten faucibus angustis einen Isthmus, der durch das Schwar-
654 KOmmentar

ze Meer im Norden und die Kilikische See im Süden seiner Natur


entsprechend die kleinasiatische Halbinsel verengt. ⇔ Aus moder-
ner geographischer Sicht durchaus bemerkenswert ist dabei der
Sachverhalt, dass am Übergang vom Hellenismus zur römischen
Kaiserzeit nicht nur wie in klassischer und frühhellenistischer Zeit
üblich Landengen von weniger als fünf Kilometer Durchmesser als
ἰσθμόι – bekanntestes Beispiel in der griechischen Welt ist dabei si-
cherlich der Isthmus von Korinth – bezeichnet wurden, sondern
durchaus auch Landschaften damit assoziiert wurden, die wie die
kleinasiatische Halbinsel einen sehr viel größeren Abstand der ein-
ander gegenüberliegenden Küsten aufweisen (vgl. Pettegrew
2016, 138–139). Im griechischen und lateinischen Schrifttum finden
für Kleinasien dabei insbesondere zwei ἰσθμόι Erwähnung, die je-
doch – und das lässt aufhorchen – interessanterweise beide sehr viel
weiter im Osten der kleinasiatischen Halbinsel liegen als das von
Walter beschriebene Gordium. Strabon beispielsweise erwähnt in
seiner Geographie zum einen die von Apollodorus in Anlehnung an
Homer befürwortete Verbindungslinie zwischen Issus an der kiliki-
schen Küste und Sinope an der Küste des Schwarzen Meeres, zum
anderen die von ihm selbst favorisierte und nur wenig weiter west-
lich liegende Verbindungslinie zwischen Tarsus im Süden und Ami-
sus im Norden (vgl. Strab., Geogr. XIV, 5, 22 und XII, 1, 3). Plinius
der Ältere wiederum gibt in seiner Naturalis Historia ebenso wie
Apollodorus als kürzeste Strecke zwischen den beiden Meeren die
Verbindungslinie zwischen Issus und Sinope an (vgl. Plin., Nat.
Hist. VI, 2, 7). An dieser Stelle der Erörterung liegt die Vermutung
nahe, dass Walter unter den geschilderten Umständen Gordium
möglicherweise sehr viel weiter im Osten – eben auf der geographi-
schen Länge von Tarsus oder Issus – angesiedelt hat, als dies den tat-
sächlichen geographischen Gegebenheiten entspricht (bezogen auf
Curtius äußert Mützel diese irrige Annahme, vgl. Mützel 1841, 16:
»Curtius meint […], in der Richtung von Gordium liegt die
schmalste Stelle von Kleinasien. […] Doch scheint freilich Curtius
Kommentar zu Buch II 655

die Lage von Gordium weit östlicher gedacht zu haben.«). Dabei


gilt es jedoch zu bedenken, dass auch in Walters Beschreibung der
makedonische König nur wenig später nicht nur durch das östlich
von Gordium liegende Ankyra zieht, sondern auch auf seinem ins-
gesamt nach Südosten führenden Feldzug über Kappadokien bis
nach Tarsus an die kilikische Küste gelangt. Demzufolge ist die An-
nahme einer gedanklichen Verlegung von Gordium auf die geogra-
phische Länge von Tarsus bei Walter aus rein geographischen Grün-
den – das unter dieser Prämisse zwangsläufig ebenso nach Osten
rückende Ankyra würde dann beinahe in Armenien liegen – auszu-
schließen. ⇔ Die Lösung für dieses in der modernen Forschung bis-
her ungelöste Problem ergibt sich durch einen genauen sprachli-
chen Vergleich der jeweiligen Stelle bei Curtius und Walter: Der
römische Historiker beginnt seine als geographischen Exkurs gestal-
tete Darstellung mit dem Namen der Stadt und dem durch Gordi-
um fließenden Sangarius, um dann zu der Feststellung zu gelangen,
dass dieser Ort in gleicher Entfernung vom Schwarzen Meer im
Norden und der Kilikischen See im Süden liegt und man sich damit
bezogen auf die Nord-Süderstreckung genau in der Mitte der klein-
asiatischen Halbinsel befindet (vgl. Curt. Hist. Alex. III, 1, 12–13:
Gordium nomen est urbi, quam Sangarius amnis praeterfluit pari
intervallo Pontico et Cilicio mari distantem; hinsichtlich dieser Stelle
scheinen die Ausführungen des Livius, der Gordium als Mittel-
punkt zwischen drei Meeren beschreibt, auf Curtius abgefärbt zu
haben, vgl. Liv., Ab urbe con. XXXVIII, 18, 12: Id [Gordium] haud
magnum quidem oppidum est, sed plus quam mediterraneum celebre
et frequens emporium. Tria maria pari ferme distantia intervallo
habet, ad Hellespontum, ad Sinopen, et alterius orae litora, qua Cili­
ces maritimi colunt). Allerdings ist damit noch nichts über einen
Isthmus bei Gordium ausgesagt, da die gedanklich von Nord nach
Süd durch Gordium laufende Verbindungslinie zwischen den bei-
den Meeren nicht zwangsläufig zugleich auch die kürzeste Wegstre-
cke für ganz Kleinasien darstellen muss. Im Anschluss daran führt
656 KOmmentar

Curtius aus, dass zwischen diesen Meeren – und nur darauf bezieht
sich der antike Historiker – die schmalste Stelle Kleinasiens liege, da
das Land – er nennt es ein wie eine Insel wirkendes kontinentales
Anhängsel – von beiden Seiten durch diese Meere zu einem schma-
len Isthmus zusammengepresst werde. Allein diese dünne Scheide-
linie verhindere die Vereinigung der Meere (vgl. Curt., Hist. Alex.
III, 1, 13–14: Inter haec maria angustissimum Asiae spatium esse com­
perimus utroque in artas fauces compellente terram. Quae quia conti­
nenti adhaeret, sed magna ex parte cingitur fluctibus, speciem insulae
praebet, ac, nisi tenue discrimen obiceret, quae nunc dividit maria,
committeret). Auch wenn Clayton (1793) 296 in Curtius denjeni-
gen ausgemacht zu haben glaubt, der sich historisch betrachtet des
Irrtums schuldig gemacht hat, einen Isthmus auf der geographi-
schen Länge von Gordium zu verorten, referiert Curtius an dieser
Stelle lediglich den in der römischen Antike insbesondere unter
Geographen allgemein bekannten Sachverhalt, dass in Kleinasien
zwischen beiden Meeren ein Isthmus existiert, ohne damit allerdings
– und dies ist bei der Klärung der vorliegenden Frage von entschei-
dender Bedeutung – explizit auf Gordium zu verweisen. Vielmehr
nimmt die Aussage inter haec maria, die durch den unmittelbar an-
schließenden Satz über den kontinentalen Charakter der gesamten
Halbinsel zusätzlich an Deutlichkeit gewinnt, über Gordium hin-
ausgehend ganz Kleinasien in den Blick. Auch die Feststellung, dass
die theoretisch denkbare Vereinigung beider Meere – was Kleinasien
insgesamt zu einer Insel werden ließe – nur durch den als tenue dis­
crimen bezeichneten Isthmus verhindert werde, bestätigt diesen Be-
fund. Auch Curtius verortet wie Strabon oder Plinius nämlich die-
sen Isthmus gedanklich ganz im Osten von Kleinasien, da
selbstredend nur dort die nach Westen verlaufende Halbinsel ihren
Anfang nimmt und auch nur dort so abgetrennt werden könnte,
dass aus ganz Kleinasien eine Insel entstünde. Somit lässt sich fest-
halten, dass Curtius im obigen Text beginnend mit inter haec maria
keine weiteren Informationen zu Gordium liefert, sondern seine
Kommentar zu Buch II 657

diesbezüglichen Ausführungen vielmehr als gedankliche Erweite-


rung seines geographischen Exkurses auf ganz Kleinasien betrachtet
werden müssen. In unmittelbarem Anschluss an seine geographi-
sche Einordnung der ganzen kleinasiatischen Halbinsel kehrt Curti-
us unter expliziter Bezugnahme auf Gordium dann wieder zur Be-
schreibung der Stadt zurück und berichtet, dass Alexander nach
ihrer Eroberung den dortigen Zeustempel betreten habe. Walter
seinerseits verarbeitet die Stelle bei Curtius so, dass er in drei jeweils
mit der Ortsangabe hic - hier eingeleiteten Passagen die von seiner
historischen Vorlage stammenden Informationen irrtümlich alle-
samt auf Gordium bezieht (vgl. Alex. II, 71–75). Dabei ist ihm eben-
so wie der modernen Forschung offenbar entgangen, dass die von
Curtius bezüglich des Isthmus gemachten Angaben sich gar nicht
auf Gordium beziehen, sondern ohne nähere Erläuterungen der in
der Antike gängigen Überlieferung folgen. Somit liegt an der vorlie-
genden Stelle kein Irrtum Walters über die geographische Lage von
Gordium vor, sondern ein bemerkenswertes Missverständnis des
mittelalterlichen Autors hinsichtlich der Aussageabsicht seiner anti-
ken Vorlage. Es steht zu vermuten, dass Walter die in der Antike
unter Gelehrten noch allgemein bekannten Vorstellungen hinsicht-
lich der ἰσθμόι auf der kleinasiatischen Halbinsel nicht mehr kannte
und somit durch die unter diesen Umständen zugegebenermaßen
schwer verständliche Stelle bei seiner historischen Hauptquelle Cur-
tius irregeleitet wurde.

Der gordische Knoten (75–90)

75–90 Hic Iovis in templo Midae patris alta choruscant | plaustra iu­
gumque vetus Asiae fatale … Dixit et arrepto nodos mucrone resolvit, |
unde vel elusit sortem vel forte reclusit: Ein Orakel hatte der Bevölke-
rung von Gordium prophezeit, dass ihr künftiger König auf einem
einfachen Ochsenwagen nach Gordium kommen werde. Als Midas
658 KOmmentar

eines Tages mit seinem Vater Gordius in Unkenntnis des erwähnten


Orakelspruchs tatsächlich auf einem Wagen zur Volksversammlung
nach Gordium kam, ernannten die Bewohner der Stadt Gordius
zum phrygischen König. Aus Dankbarkeit weihte dieser seinen Wa-
gen dem obersten Gott Zeus und knüpfte zwischen Deichsel und
Joch einen unentwirrbaren Knoten. Ein weiteres Orakel verkünde-
te, das derjenige, der imstande sein sollte, diesen Knoten zu lösen,
Herrscher über Asien sein werde (zu den verschiedenen Bedeutun-
gen von Asien vgl. Komm. I, C 4–5). Nach einem gescheiterten Ver-
such, den Knoten durch kluge Überlegung zu lösen, entscheidet
sich Alexander dazu, diesen mit dem Schwert zu durchtrennen. ⇔
Aristobul, ein griechischer Historiker aus dem. 4. Jahrhundert v.
Chr., berichtet im Unterschied zu der wohl auf Kallisthenes zurück-
gehenden Geschichte von der Durchtrennung des Knotens mit dem
Schwert, dass Alexander einfach nur den Holzpflock der Deichsel
entfernt und auf diese Weise den gordischen Knoten gelöst habe
(vgl. Demandt 2013, 129). Diese Geschichte gehört zweifellos zu
den bekanntesten Episoden des Alexanderfeldzugs, da sie auf ein-
drucksvolle Weise die Entschlossenheit des makedonischen Königs
zeigt, auch mit unkonventionellen Methoden sein Ziel zu erreichen.
⇔ Curtius bemerkt abschließend ebenso wie Walter, dass dabei
nicht zu entscheiden sei, ob Alexander mit seinem Schwerthieb das
Orakel verspottet oder erfüllt habe.

Von Phrygien nach Kilikien (91–102)

91–102 Hinc venit Anchiram … ictusque fragoribus aer | ingeminat


strepitus, agitantque tonitrua nubes: In Walters Darstellung gelangt
der makedonische König von Gordium aus über Ankyra nach Kap-
padokien, das er ohne nennenswerte Schwierigkeiten seiner Herr-
schaft unterstellt. Darauf versucht Alexander in einem Eilmarsch
Kilikien zu erreichen, um zu verhindern, dass Darius ihm an der
Kommentar zu Buch II 659

Kilikischen Pforte – der bis auf 1000 Meter hoch gelegenen Via
Tauri – von Süden her den einzigen durch das Taurusgebirge füh-
renden und von großer Enge geprägten Zugang nach Tarsus an der
kilikischen Küste verwehrt. ⇔ Die Verwendung zentraler Textbe-
standteile aus den Historiarum adversum paganos des Orosius, der
ebenso wie Walter Alexanders Schnelligkeit und kluge Planung in
dieser strategisch bedeutsamen Situation betont, ist unübersehbar
(vgl. Oros., Hist. adv. pag. III, 16. 5: Inde nuntiato sibi Darii cum
magnis copiis adventu, timens angustias quibus inerat locorum, Tau­
rum montem mira celeritate transcendit et quingentis stadiis sub una
die cursu transmissis, Tarsum venit). Ohne die von Alexander an nur
einem Tag zurückgelegte Strecke explizit zu nennen, erwähnt Justin
doch auch die große Schnelligkeit des makedonischen Königs bei der
Überquerung des Taurusgebirges (vgl. Iust., Epit. Hist. XI, 8, 1–3:
Haec illi agenti nuntiatur Darium cum ingenti exercitu adventare.
Itaque timens angustias magna celeritate Taurum transcendit). Es
fällt auf, dass Walter im Unterschied zu den genannten Vorlagen die
Kilikische Pforte in seinem Epos bereits zu einem Zeitpunkt thema-
tisiert, als Alexander sich gerade erst auf dem Weg dorthin befindet.
Damit gelingt es ihm noch besser als den spätantiken Historikern,
das schnelle Vorrücken Alexanders in Szene zu setzen. Auch deshalb
dürfte er sich gegen die Darstellung bei Curtius entschieden haben,
der weder einen Hinweis auf Alexanders schnelles Vorrücken liefert
noch dessen Vorgehen als strategisches Manöver im Hinblick auf die
Truppenbewegungen des Darius versteht. Curtius berichtet ledig-
lich davon, dass Alexander mehr als sonst über sein Glück staun-
te, als er den Pass von den Persern verlassen vorfand (vgl. Curt.,
Hist. Alex. III, 4, 11–12). ⇔ Dennoch handelt es sich hier keineswegs
um eine bloße Versifizierung der Darstellung des spätantiken His-
torikers Orosius. Vielmehr stellen die entsprechenden Verse in der
Alexandreis ein geradezu paradigmatisches Beispiel dar für das auf
die Inszenierung bestimmter Ereignisse zielende Vorgehen Walters
bei der epischen Umsetzung seiner historischen Vorlagen. Während
660 KOmmentar

Orosius Alexanders Schnelligkeit mit den Worten mira celeritate


nämlich nur ein einziges Mal erwähnt, rückt Walter dem Leser des-
sen überaus schnelles Vorgehen durch die dreimalige Wiederholung
des Vorgangs sprachlich mit accelerat Macedo … trepidis gressibus
… accelerans sowie unter Verwendung eines Polyptotons und einer
damit einhergehenden Alliteration auch stilistisch in auffälliger
Art und Weise ins Blickfeld des Lesers (vgl. Alex. II, 93–95). Doch
damit noch nicht genug. Über die augenfällige Betonung der be-
merkenswerten Geschwindigkeit des makedonischen Königs hinaus
stellt Walter dessen schnelles Vorrücken – und dies in auffallendem
Unterschied zu Orosius – mit den Worten pavidum regem überdies
dem ängstlichen und zaudernden Auftritt des Darius kontrastie-
rend gegenüber (vgl. Alex. II, 95). Damit versetzt sich Walter schon
allein durch die geschickte Auswahl seiner historischen Vorlage in
die Lage, eine epische Inszenierung zu verwirklichen, die mit Ale-
xander und Darius die beiden wichtigsten Protagonisten des Epos
mittels einer erneuten vergleichenden Charakterisierung in den Mit-
telpunkt der Betrachtung rückt und den persischen König wie be-
reits zu Beginn von Buch II prospektiv als Verlierer des Perserkriegs
kennzeichnet (vgl. Komm. II, 1–17; vgl. auch Komm. II, 18–44; zur
tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn
des Epos vgl. Einleitung 7.4). Doch auch damit noch nicht genug.
Darüber hinaus setzt Walter das hier inszenierte Gegensatzpaar Da-
rius und Alexander in Beziehung zu dem in Lucans Pharsalia in
Szene gesetzten Gegensatzpaar Pompeius und Caesar. Das aus der
Darstellung des Orosius übernommene und von Walter ausgebaute
Motiv der Schnelligkeit Alexanders findet nämlich schon dort auf
Caesar bezogen Anwendung, der vor der entscheidenden Schlacht
gegen Pompeius in Pharsalus schneller als ein Blitz oder eine träch-
tige Tigerin – ocior et caeli flammis et tigride feta – von Rom nach
Apulien eilt, um so schnell wie möglich nach Epirus in Griechen-
land zu gelangen (vgl. Luc. Phars. V, 405; zur Blitzmetapher vgl.
Komm. II, 388–407). Nichts erscheint Caesar in dieser Situation da-
Kommentar zu Buch II 661

bei schmachvoller als eine Beschleunigung des Kriegs zu versäumen


und die Zeit müßig zu vertrödeln (vgl. Luc., Phars. V, 409–410:
turpe duci visum rapiendi tempora belli | in segnes exisse moras). Wal-
ter übernimmt dabei für die Darstellung Alexanders die positiven
Aspekte des von Handlungsschnelligkeit und Entschlossenheit ge-
prägten Charakters Caesars, ohne dabei das negative Caesar-Bild
Lucans auf den makedonischen König zu übertragen. Gleichzeitig
deutet Walter damit auch Lucans negatives Alexander-Bild positiv
um, dessen Siegeszug gegen das Perserreich nicht wie in der Pharsa­
lia als Weltuntergang zu verstehen ist, sondern als ein vorbestimm-
ter Wechsel in der Abfolge der in den prophetischen Büchern der
Bibel angekündigten Weltreiche gedeutet wird (zur Umdeutung
des Alexander-Bilds bei Lucan vgl. auch Komm. II, 388–407; zur
allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen
Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2; vgl. auch Wiener 2001, 56; zum
Begriff Weltreich vgl. Einleitung 7.2). Im Gegensatz dazu schildert
Lucan den römischen Feldherrn Pompeius – vergleichbar der Be-
schreibung des Darius bei Walter – als einen Anführer, der zaghaft
und ängstlich in eine Schlacht zieht, die er am liebsten so lange wie
möglich hinauszögern möchte (vgl. Luc., Phars. V, 728–733: Du­
bium trepidumque ad proelia, Magne | te quoque fecit amor … iuvat
ventura trahentem | indulgere morae et tempus subducere fatis). ⇔
Die unbedingte Notwendigkeit, die Kilikische Pforte vor Darius zu
erreichen und zu durchqueren, wird von Walter auch dadurch zum
Ausdruck gebracht, dass er mit den auf Darius bezogenen Worten
primus Eoo deutlich macht, dass sich der persische König aufgrund
der weiter im Osten früher aufgehenden Sonne – immerhin liegt Ba-
bylon etwa zehn Längengrade weiter östlich als die Kilikische Pforte
in Kleinasien – bereits auf dem Weg befindet und jede Verzögerung
fatale Folgen nach sich ziehen könnte (vgl. Alex. II, 96–100: Quippe
graves aditus Asiae faucesque locorum | angustas metuens, Cylicum
iam plana tenenti | obvius ire parat Dario, qui primus Eoo, | cum sol
roriflua stillaret lampade, castra | movit ab Eufrate; in der Hand-
662 KOmmentar

schrift Ms. C 100, fol. 14r der Züricher Zentralbibliothek wird der
Umstand, dass Darius bedingt durch die geographische Lage frü-
her als Alexander aufbrechen konnte, durch eine Interlinearglosse
mit den Worten Darius in principio diei orientali erläutert, verfüg-
bar unter: https://www.e–codices.unifr.ch/de/doubleview/zbz/
C0100/14r/). ⇔ Am Ende des Abschnitts wird von Walter die für
Alexander bestehende Dringlichkeit, die Kilikische Pforte vor der
Ankunft des Darius zu durchschreiten, zusätzlich noch gesteigert,
indem er mit dem Klang der griechischen Signalhörner, der von den
hohen Felsen in großer Lautstärke zurückgeworfen wird, die gefahr-
volle Enge der Schlucht auch mit akustischen Mitteln hervorhebt
(zur Unterstreichung der Vorgänge durch akustische Beschreibun-
gen vgl. Alex. II, 487–93; vgl. auch Alex. III, 1–2).

Der Truppenaufmarsch der Perser (103–139)

103–139 Hic fragor in castris, sed et hic erat agminis ordo … pedibus­
que attritus et axe | aurea pulvereus involvit sydera turbo: Im Folgen-
den richtet Walter den Blick auf den Truppenaufmarsch der Perser,
der unter Auslassung einiger Details im Wesentlichen auf Curtius
zurückgeht und von Walter entsprechend seiner historischen Vorla-
ge in der dort wiedergegebenen Reihenfolge beschrieben wird (vgl.
Curt., Hist. Alex. III, 3, 8–25). ⇔ Ein aus religiöser Sicht wichtiger
Bestandteil des persischen Heereszugs ist etwa das von Darius auf ei-
nem silbernen Altar mitgeführte heilige und ewige Feuer der Perser
– ignem … sacrum aeternumque –, das von Magiern gehütet wurde.
In der Historia ecclesiastica des Bischofs von Kyrrhos und Kirchen-
historikers Theodoret († 460) wird dieses Feuer, von den Persern
als Symbol der Gottheit und der vollkommenen Reinheit verehrt,
beispielsweise im Rahmen der Kirchenverfolgung durch den Perser-
könig Isdigerdes beschrieben, der einen christlichen Bischof namens
Abdas hinrichten ließ, nachdem dieser einen persischen Feuertem-
Kommentar zu Buch II 663

pel – auch Pyreum genannt – zerstört hatte (vgl. Theod., Hist. eccl.
V, 39). Auch das auf einem Wagen mitgeführte Standbild des höchs-
ten persischen Gottes Ahura Mazda, von Walter in einer interpreta­
tio Latina mit Iovis angesprochen, wird als wichtiger Bezugspunkt
der persischen Religion auf dem Heereszug mitgeführt. Bei dem von
Walter erwähnten, nach der irrigen Meinung des Volkes für unsterb-
lich gehaltenen Regiment von gut ausgebildeten Soldaten, handelt
es sich um eine mit Speeren bewaffnete Eliteeinheit aus zehntausend
Angehörigen des persischen Adels, die in Friedenszeiten die Leibwa-
che des persischen Königs bildet und im Krieg als schwere Infanterie
eingesetzt wird. Herodot erklärt die Namensgebung für diese Eli-
tetruppe damit, dass nach Verlusten im Krieg oder durch Verwun-
dung oder Krankheit die Zahl der Soldaten immer wieder auf zehn-
tausend Mann aufgestockt wurde und somit die Truppe als Ganzes
niemals kleiner wurde (vgl. Herod., Hist. VII, 83). In prominenter
Position fährt in der Mitte des Heereszugs der persische König Da-
rius auf seinem prunkvollen Streitwagen einher. Anders als Curti-
us, der in seiner ausführlichen Beschreibung des persischen Königs
beinahe bewundernd wirkt, hebt Walter als christlicher Autor in
pejorativem Sinn den übermäßigen Prunk und den überflüssigen
Aufwand hervor, durch den Darius im Getümmel des Truppenauf-
marschs als persischer König auszumachen ist (vgl. Alex. II, 116–117:
quem predicat ardor | gemmarum et luxus opulentia barbara regem).
Mit den zehntausend Speerträgern – hastata decem precedunt milia
–, die bei Walter im Unterschied zu Curtius nicht dem Wagen des
Königs folgen, sondern diesem vorausgehen, dürften die oben be-
reits angesprochenen zehntausend Unsterblichen gemeint sein. Die
dreißigtausend hervorragend bewaffneten persischen Fußsoldaten,
die von Walter als diejenigen Einheiten hervorgehoben werden, die
verhindern sollen, dass die Griechen bis zum Streitwagen des Darius
vordringen können, bilden den Abschluss des Heereszugs. ⇔ Diese
Ergänzung bei Walter ist insbesondere vor dem Hintergrund inter-
essant, dass in der Schlacht von Issus genau dies den Griechen durch
664 KOmmentar

ein geschicktes Manöver gelingt und Darius daraufhin die Flucht


ergreift. Auch die Mutter, die Ehefrau und die Kinder des Darius
werden abgesehen vom Hausrat, den Nebenfrauen und der Un-
menge an Geld nach Sitte der persischen Könige mit in den Krieg
geführt. Nach Darius’ Flucht vom Schlachtfeld in Issus verbleiben
dessen Angehörige in Alexanders Lager.

Alexander in Kilikien (140–271)

Vom Lager des Cyrus nach Tarsus (140–144)

140–144 Interea Macedo, profugis vastantibus arva  | Cyliciae de­


serta videns … Tharsum seminecem Persarum servat ab igne: Über
Kappadokien gelangt Walter nach Kilikien, das zuvor – so berichtet
Curtius – von Arsames, dem Satrapen von Kilikien, in Erinnerung
an die im Kontext der Schlacht am Granikus von Memnon ins Spiel
gebrachten Taktik der verbrannten Erde mit Schwert und Feuer
verwüstet worden war (vgl. Curt., Hist. Alex. III, 4, 3–4). Walter
erwähnt den Versuch des Arsames, den makedonischen König mit
dieser Taktik ins Leere laufen zu lassen mit nur wenigen Worten,
um im Anschluss daran von Alexanders Ankunft im ehemaligen
Standlager von Cyrus II. zu berichten, das jener für seinen Kampf
gegen Croesus, den König von Lydien, mehr als zweihundert Jahre
zuvor eingerichtet hatte. Ohne die Durchquerung der von diesem
geschichtsträchtigen Lager nur etwa acht Kilometer weit entfernt
liegenden Kilikischen Pforte auch nur mit einem einzigen Wort zu
erwähnen, verlagert Walter das Geschehen ohne Umschweife nach
Tarsus, das von einem unter dem Befehl Parmenions stehenden Vo-
rauskommando gerade noch rechtzeitig vor der Brandstiftung der
Perser gerettet werden kann (vgl. Alex. II, 140–144).
Kommentar zu Buch II 665

Die Stadt Tarsus (145–152)

145–152 Hic, ut scripta ferunt, illustri claruit ortu … sed gurgite ludit |
calculus et refugo lapsu lascivit harena: Walter bleibt gedanklich in
Tarsus und geht mit zwei weiteren Punkten näher auf die kilikische
Hafenstadt ein. Zum einen berichtet er von dem dort geborenen
Apostel Paulus, welcher der christlichen Mission, wie Walter nicht
zu erwähnen versäumt, erst nach seiner Bekehrung große Dienste
erwiesen hat (zu Paulus vgl. Komm. I, 207–208). Zum anderen geht
er auf den durch Tarsus fließenden Kydnus ein, der aus dem Taurus-
gebirge kommend mit seinem kalten und klaren Wasser in sanftem
Lauf die kilikische Ebene durchströmt.

Alexanders unheilvolles Bad im Kydnus (153–171)

153–171 Hic primum didicit Magnus durare salutem  | nulli conti­


nuam … afflictus rex exanimisque suorum | extrahitur manibus: Bei
einem Epiker wie Walter nimmt es nicht Wunder, dass er ausgerech-
net Alexanders folgenreiches Bad im Kydnus und die damit in Ver-
bindung stehenden Ereignisse ausführlich schildert und dabei über
die Darstellung seiner historischen Vorlagen hinaus in einer für ihn
charakteristischen Art und Weise eigene Akzente setzt. ⇔ Beispiels-
weise nutzt Walter gleich zu Beginn in einem der eigentlichen Dar-
stellung vorausgehenden Autorexkurs die Gelegenheit, am Beispiel
Alexanders mit mahnenden Worten aufzuzeigen, dass jeder Mensch
– auch der ansonsten bisher vom Fatum stets begünstigte Alexan-
der – dem Einfluss des wankelmütigen Schicksals unterworfen ist
und das Glück ausnahmslos jeden – ungeachtet des für Alexander
am Ende günstigen Ausgangs der Episode am Kydnus – unter be-
stimmten Umständen auch einmal verlassen kann (zum Götterap-
parat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung
5). Mit diesem Autorexkurs spannt Walter gleichsam als Vorverweis
666 KOmmentar

auf die Zeit nach dem Perserfeldzug einen Bogen zu dem in Buch
X geschilderten Tod des makedonischen Königs, der im Epos Wal-
ters als Folge von dessen Streben nach Gottgleichheit und dessen
Maßlosigkeit – die außerhalb des Perserreichs liegenden Eroberun-
gen sind heilsgeschichtlich nicht mehr legitimiert – im Sinne einer
moralischen Kritik des christlichen Autors an Alexander inszeniert
wird. Derartige Vorverweise des christlichen Autors auf die Zeit nach
dem Perserkrieg sind in der Alexandreis nicht selten und gehören
zum epischem Repertoire Walters (vgl. Alex. II, 540–544; zur Funk-
tion der Vorverweise in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.4). ⇔
Die beiden in den wichtigsten Handschriften zur Alexandreis nicht
vorhandenen und von Colker aus gutem Grund auch nicht in den
Text übernommenen Verse Impulit hic regem vis praesumptiva super­
bum, | quae potius laudis potuit iactantia dici müssen ausgehend von
dieser nachvollziehbaren Textkritik insbesondere auch deshalb von
fremder und mit der grundsätzlichen Ausrichtung der Alexandreis
nicht vertrauten Hand stammen, da mit ihnen der Vorwurf der Hy-
bris – anders als in den eingangs besprochenen Versen – nicht im
Sinne eines Vorverweises auf die Zeit nach dem Perserkrieg bezogen
erhoben wird, sondern mit der konkreten Situation am Kydnus in
Verbindung steht (vgl. Alex. II, 155–156; vgl. auch Colker 1978, 44;
vgl. auch Komm. I, 427–446). ⇔ Erst nach diesem Autorkommen-
tar schildert Walter den folgenreichen Badeunfall des makedonischen
Königs im Kydnus. Demnach sucht Alexander verschmutzt und
schweißbedeckt an einem heißen Tag im Juli mit erhitztem Körper
zur Mittagszeit eine Abkühlung im eiskalten Wasser des kilikischen
Flusses (Curtius nennt als Grund für Alexanders Bad abgesehen von
der auch bei Walter wiedergegebenen Absicht, sich zu erfrischen zu-
dem das Ansinnen, den Seinen zu demonstrieren, dass auch ihm als
König einfache Mittel zur Körperpflege ausreichen, vgl. Curt., Hist.
Alex. III, 5, 2–3). Augenblicklich überfällt den makedonischen König
am ganzen Körper eine durch die Kälte des Wassers bedingte Frost-
starre, die mit akuter Atemnot und anschließender Bewusstlosigkeit
Kommentar zu Buch II 667

einhergeht. (vgl. Alex II, 166–171). Wenn ihn seine Gefolgsleute nicht
sofort aus dem Wasser gezogen hätten, wäre Alexander wohl in we-
nigen Minuten ertrunken. ⇔ Macherei (2014) 67 geht aufgrund
der Quellenlage bei Curtius davon aus, dass die dort geschilderten
Symptome auf einen im kalten Wasser erlittenen Schock hinweisen.

Die Reaktion der griechischen Soldaten (171–185)

171–185 Oritur per castra tumultus … Sed quis dignus erit tanto suc­
cedere regi?»: Im Lager der Griechen entsteht ob des unheilvollen
Bades ihres Königs im Kydnus eine große Unruhe. Während Cur-
tius lediglich von der Reaktion der Soldaten berichtet, kleidet sie
Walter in eine lebendig gestaltete und als Anklage an Fortuna ge-
richtete Rede, in der die Soldaten ihren Missmut und ihre Ängste
zum Ausdruck bringen (vgl. Curt., Hist. Alex. III, 5, 4–9). ⇔
Möglicherweise setzt Walter das sprachliche Mittel der Rede nicht
nur aus Gründen der sprachlichen Lebendigkeit ein, sondern auch
um eine Verbindung zu der kurz darauf folgenden Rede der Fortuna
herzustellen. ⇔ Zum einen führen sie Klage darüber, dass Alexan-
der völlig unbewaffnet – also nicht im Krieg – und ohne jegliche
Feindberührung einem für alle unerwarteten und ruhmlosen Tod
anheimzufallen droht. Der zentrale Vorwurf an die Schicksalsgöt-
tin betrifft dabei deren als ungerecht und grausam gebrandmarkten
Wankelmut, der das überraschende Ereignis überhaupt erst möglich
gemacht habe (vgl. Alex. II, 175–177: Improba mobilior folio Fortuna
caduco, | tygribus asperior, diris immitior ydris, | Thesiphone horridi­
or, monstroque cruentior omni; zum Götterapparat und der Rolle des
Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Zum anderen sind
die Soldaten in Sorge um ihre eigene Zukunft, da sie fern der Hei-
mat nicht ohne weiteres nach Griechenland zurückkehren könnten
und möglicherweise ohne ihren charismatischen Anführer in den
Krieg gegen Darius geschickt werden sollen. Überdies wird von den
668 KOmmentar

Soldaten die Frage aufgeworfen, wer einem so großartigen König


wie Alexander überhaupt nachfolgen solle.

Die Reaktion der Fortuna (186–200)

186–200 Audiit hec … solaque mobilitas stabilem facit.»: Die von


Walter allegorisch in Szene gesetzte Schicksalsgöttin übernimmt ihre
Verteidigung selbst. Fortuna beklagt sich über die aus ihrer Sicht
unberechtigten Vorwürfe der unwissenden Menschen, die nicht
verstehen wollen, dass gerade ihr Wankelmut die charakteristische
und ihrem eigentlichen Wesen entsprechende Eigenschaft darstellt
und ihre einzige Beständigkeit darin liegt, in eben diesem Wankel-
mut – solaque mobilitas stabilem facit – unwandelbar zu sein. ⇔
Wie Wiener (2001) 34 und 87 feststellt, greift Walter für diese Szene
auf den spätantiken Philosophen und Theologen Boethius zurück,
bei dem sich Fortuna ebenso wie in der Alexandreis in einer ima-
ginierten Apologie für ihr unstetes Verhalten rechtfertigen muss
(vgl. Boet., De cons. phil. II, 1p.–3c). Die Schicksalsgöttin kommt
bei Boethius ebenso wie bei Walter zu dem Schluss, dass das Glück,
wenn es einem Menschen beständig zuteil wird, irgendwann auf-
hört, Glück zu sein (vgl. Boet., De cons. phil. II, 1p). Auch der vom
spätantiken Philosophen zum Ausdruck gebrachte Gedanke, zum
ersten Mal auch mit der weniger angenehmen Seite der Fortuna –
mit jeweils noch glimpflichem Ausgang –, konfrontiert worden zu
sein, hat unzweifelhaft auf Walters Darstellung von Alexanders Bad
im Kydnus abgefärbt (vgl. Boet., De cons. phil. II, 3p: Nunc primum
liventi oculo praestrinxit). Walter macht mit seiner Darstellung der
Fortuna deutlich, dass die Schicksalsgöttin als integraler Bestand-
teil des Fatums auch Alexander nur so lange unterstützen kann, wie
es ihrer Aufgabe als ausführender Gewalt innerhalb des göttlichen
Heilsplans entspricht (zum Götterapparat und der Rolle des Schick-
sals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5).
Kommentar zu Buch II 669

Die Reaktion Alexanders (200–217)

200–217 Hec ubi dicta, | liberior regis iam morbida membra revisit |
spiritus et solitos paulisper habere meatus  | cepit, sed nimius urebat
viscera morbus … cursu fugitiva rapaci | terga dabunt Persae, Dana­
ique sequentur ovantes.»: Entsprechend der durch das Fatum beste-
henden Vorgaben kommt Fortuna ihrem Auftrag nach, indem sie
die lebensbedrohliche Atemnot des makedonischen Königs lindert
und ihn zudem das Bewusstsein wiedererlangen lässt. ⇔ Interes-
santerweise scheinen in Walters Darstellung die durch das eiskalte
Wasser des Kydnus hervorgerufene Starre und die Bewusstlosigkeit
Alexanders sowie die sich daran anschließende Krankheit zwei zwar
mutmaßlich in kausalem Zusammenhang stehende, aber letztlich
doch voneinander getrennte Ereignisse zu sein (Curtius schildert
die direkten Folgen des Bades und die Krankheit als ein einziges Er-
eignis, vgl. Curt., Hist. Alex. III, 5, 9–10). Der erste Teil des Satzes
nämlich bringt mit den Worten liberior regis iam morbida membra
revisit  | spiritus et solitos paulisper habere meatus  | cepit und dem
dabei gleich zweimal verwendeten resultativen Perfekt eine bereits
erfolgte Erholung von den unmittelbaren Folgen des Badeunfalls
zum Ausdruck, während die im zweiten Teil des Satzes durch sed
nimius urebat viscera morbus adversativ eingefügte und mit dem ite-
rativen bzw. durativen Imperfekt verbundene Krankheit, die über
den eigentlichen Badeunfall hinaus eine gewisse Zeit lang oder auch
durch wiederkehrende Koliken der vollständigen Genesung Alexan-
ders im Wege steht, erst neu hinzugetreten zu sein scheint. Die Tren-
nung dieser beiden Ereignisse dürfte Walters Bestreben geschuldet
sein, Alexanders erste Erholung nach dem Badeunfall erkennbar
auf das Einwirken der Fortuna zurückzuführen, um im Anschluss
daran den Umgang des makedonischen Königs mit seiner eigentli-
chen, in Walters Schilderung letztlich nur drei Tage andauernden
Krankheit, zur Heroisierung Alexanders zu nutzen. ⇔ Unabhän-
gig von Walters Darstellung und den dahinter stehenden Motiven
670 KOmmentar

stellt es aus Sicht der modernen Forschung eine interessante Frage


dar, die gesundheitlichen Probleme Alexanders als zwei voneinan-
der mehr oder weniger getrennte Ereignisse zu betrachten, da der
Badeunfall allein die historisch verbürgte tatsächliche Rekonvales-
zenz des Makedonenkönigs von zwei bis drei Monaten nicht erklä-
ren kann (vgl. Hammond 2004, 132; vgl. auch Engels 1978, 224).
Macherei (2014) 68 ist der Ansicht, dass Alexander im Sinne einer
Vorerkrankung bereits eine umfassendere Gesundheitsschädigung
gehabt haben könnte, die erst durch die infolge des Badeunfalls
eingetretene Schwächung des Körpers zum Ausbruch gekommen
ist. Allerdings besteht auch die Möglichkeit, dass sich Alexander
erst durch das Bad im Kydnus eine weitere gesundheitliche Beein-
trächtigung zugezogen hat, die erst einige Tage später die anfäng-
liche Besserung seines Gesundheitszustands negativ überlagerte. ⇔
Alexanders Reaktion auf seine gerade in dieser Situation – Darius ist
bereits im Anmarsch und nur noch wenige Tage entfernt – höchst
problematische Krankheit wird von Walter dabei ebenso wie die Re-
aktion seiner Soldaten und der Fortuna mit einer Rede in Szene ge-
setzt (allein die Tatsache, dass Alexander in seinem angeschlagenen
Gesundheitszustand überhaupt eine derartige Rede hält, ist freilich
schon eine Inszenierung). Alexander fürchtet sich nicht so sehr vor
dem Tod als solchem, sondern bedauert in erster Linie, dass ihm
sein möglicherweise vorzeitig eintretender Tod den seines Erachtens
schon greifbaren Sieg über Darius und den dafür verdienten Ruhm
rauben könnte (vgl. Alex. II, 209–210). Einen Arzt möchte Alexan-
der in seiner beispiellosen Ungeduld allein deshalb konsultieren, um
möglichst schnell – notfalls auch um den Preis einer nicht nachhal-
tig auskurierten Krankheit – wieder kampfbereit zu sein (vgl. Alex.
II, 212–213). ⇔ Damit inszeniert Walter seinen wichtigsten Prota-
gonisten als positiv konnotierten achilleischen Helden, der lieber
angeschlagen in eine risikoreiche Schlacht zieht als geduldig einen
möglicherweise langwierigen und gemessen an dessen zeitnahen Plä-
nen letztlich sinnlosen Heilungsprozess abzuwarten. ⇔ Somit stellt
Kommentar zu Buch II 671

bei Walter das Eingreifen der Schicksalsgöttin Fortuna im Kontext


des Badeunfalls und der damit verbundenen anfänglichen Gesun-
dung Alexanders erst die Voraussetzung dar für die getrennt davon
erfolgende Inszenierung der Feldherrntugenden des makedonischen
Königs im inneren Ringen um die eigene Gesundheit wie im äuße-
ren Kampf gegen den anrückenden Perserkönig (zur tropologischen
Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl.
Einleitung 7.4; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in
der Alexandreis vgl. Einleitung 5). ⇔ Alexanders Wunsch, obschon
immer noch krank, zumindest an der Spitze seines Heeres stehen
zu können, erinnert dabei an die mit den Worten Profuit interdum
dominis pugnare iubendo von Aristoteles zum Ausdruck gebrachte
Situation, in der ein Heer auch dann erfolgreich sein könne, wenn
der Anführer nur in der Lage sei, den Befehl zum Angriff zu geben
(vgl. Alex. I, 122).

Alexander – Philipp – Parmenion (218–256)

218–256 Impetus hic regis precepsque libido choortes | moverat … seg­


niciem vultuque suos ac voce refecit: Alexanders Ansinnen, den Hei-
lungsprozess durch die Gabe eines möglichst schnell wirkenden
Medikaments ohne Rücksicht auf mögliche Komplikationen zu be-
schleunigen, wird unter den Soldaten aus Furcht vor einer eventuell
eintretenden Verschlechterung des Gesundheitszustandes ihres An-
führers mit großer Bestürzung aufgenommen. Alexanders langjähri-
ger Leibarzt Philipp ist als einziger bereit, dieses Risiko auf sich zu
nehmen, weist den makedonischen König allerdings an, das Medi-
kament erst nach einem Zeitraum von drei Tagen – und schon diese
gemessen an der Schwere der Krankheit verhältnismäßig kurze War-
tezeit stellt für den Anführer der Griechen eine harte Geduldsprobe
dar – einzunehmen. ⇔ Da man in der modernen Forschung bisher
keine sinnvolle medizinische Erklärung für diesen dreitägigen Auf-
672 KOmmentar

schub ausmachen konnte, wurde die Anweisung des griechischen


Arztes einzig und allein auf ihre narrative Funktion hin interpretiert
bzw. reduziert, die – so die häufig anzutreffende Lesart – darauf ab-
ziele, ein retardierendes Element einzuführen, mit dem die Span-
nung erhöht und die Voraussetzung für den weiteren Fortgang der
Episode um Alexander und Philipp geschaffen werden solle. In die-
sem Sinne äußert sich Macherei (2014) 72 wie folgt: »Im Ganzen
erscheint diese Erzählung mit dem dreitägigen Verzug ein wenig ge-
künstelt und nachträglich in die Geschichte eingebracht, dem litera-
rischen Zweck dienend, einen Spannungsbogen aufzubauen. […]
Denn eine sinnvolle medizinische Rechtfertigung existiert meines
Erachtens nicht« (vgl. auch Neger 2018, 139). Dabei wurde aller-
dings zu wenig berücksichtigt, dass die dreitägige Wartezeit sowohl
bei Curtius als auch bei Walter auf eine dezidiert zum Ausdruck ge-
brachte ärztliche Anweisung zurückgeht (vgl. Curt., Hist. Alex. III,
6, 3–4: ita enim medicus praedixerat). Dies lässt vermuten, dass Phi-
lipp als erfahrener Arzt gute Gründe gehabt haben dürfte, diese drei
Tage zuzuwarten, bis er seinem König und Freund das Medikament
verabreichen wollte. Stellt man zudem den zeitgenössischen Hori-
zont beider Autoren in Rechnung, wird man einräumen müssen,
dass die dreitägige Wartezeit ungeachtet des dadurch unzweifelhaft
entstehenden Spannungsbogens vielleicht nicht in erster Linie aus
Gründen der epischen Inszenierung nachträglich eingefügt wurde,
sondern möglicherweise mit den Vorstellungen der antiken und
mittelalterlichen Medizin in Verbindung zu bringen ist. An diese
Vorstellungen lassen sich jedoch nicht die Maßstäbe der modernen
Medizin anlegen, die völlig zurecht die Sinnlosigkeit einer derartigen
ärztlichen Maßnahme festgestellt hat, sondern müssen antike und
mittelalterliche Auffassungen zur Heilkunde in die Betrachtung
miteinbezogen werden, die insbesondere vom Begriff des kairos, also
der Wahl des richtigen Zeitpunkts bei der Behandlung des Patienten
bzw. der Medikamentengabe, geprägt sind. Denn innerhalb dieses
von der Vorstellung des kairos geprägten Denkens wurde ärztliches
Kommentar zu Buch II 673

Handeln nicht in jedem Zustand des Patienten und auch nicht


zwangsläufig zu Beginn einer Krankheit als zielführend angesehen,
sondern konnte der geeignete Moment für eine Behandlung durch-
aus auch erst einige Tage nach Ausbruch der Krankheit liegen (vgl.
Bergdolt 2004, 27). Die in der Antike weit über den medizini-
schen Bereich hinausgehende Bedeutung dieser Vorstellung vom
kairos hatte schon Platon in seinen Nomoi verarbeitet, wo der antike
Philosoph betont, dass nur derjenige glücklich ist, der weiß, was er
tun soll, wann er es tun soll und wieviel er tun soll. Unglücklich ist
in Platons Augen dagegen derjenige Mann, der handelt, ohne zu
wissen, wie er es tun soll und das, was er tun soll, im falschen Mo-
ment tut (vgl. Plat., Nom., I, 636 d–e: ἐκτὸς τῶν καιρῶν). Auch im
Mittelalter war das Wissen um den kairos und seine Bedeutung für
die Medizin weit verbreitet. Isidor von Sevilla etwa hat in seinen Ety­
mologiae im Kontext der Septem Artes Liberales die Auffassung ver-
treten, dass ein Arzt neben den im engeren Sinn medizinischen
Kenntnissen auch die mathematische Kunst der Arithmetik beherr-
schen müsse, um die auf den Annahmen von krisis und kairos basie-
renden, rhythmischen Verläufe von Krankheiten berechnen und die
Stunden zählen zu können, in denen sich ein Leiden entwickelt (vgl.
Isid. v. Sev., Etym. IV, 13: Sic et Arithmeticam [medicus scire debet]
propter numerum horarum in accessionibus et periodis dierum). Im
selben mit der Überschrift De initio medicinae versehenen Kapitel
betont Isidor zudem auch die Bedeutung der Astronomie als wich-
tige und von einem Arzt zu beherrschende Kunst. Bei der Festle-
gung des kairos waren für den Arzt auch astrologische Zeichen zu
berücksichtigen, etwa die von Plinius in der Naturalis Historia be-
schriebenen Mondtage (vgl. Bergdolt 2004, 27; vgl. auch Schip-
perges 1976, 94). Demzufolge steht zu vermuten, dass die von Phi-
lipp verhängte Frist von drei Tagen von Walter wohl nicht aus
Gründen der epischen Inszenierung nachträglich eingefügt wurde,
sondern aus den oben genannten Gründen innerhalb des zeitgenös-
sischen Horizonts durchaus als sinnvolle ärztliche Maßnahme an-
674 KOmmentar

gesehen worden sein dürfte. ⇔ Natürlich bedeutet dies nicht, dass


Walter die von Philipp anberaumte Wartezeit von drei Tagen nicht
auch als willkommenen Anlass und Ausgangspunkt für die im wei-
teren Text folgende Inszenierung der Tugendhaftigkeit und der he-
rausragenden Führungsqualitäten Alexanders genutzt hat. In die
Wartezeit hinein nämlich erreicht Alexander ein Brief – Absender
ist der noch in Kappadokien weilende und von Walter nicht explizit
genannte Parmenion –, in welchem gegenüber Philipp der Vorwurf
erhoben wird, er sei von Darius mit Gold und der Aussicht, dessen
Schwester zur Frau zu nehmen, bestochen worden und habe die Ab-
sicht, ihn zu vergiften (nur bei Justin wird mit Kappadokien der
Aufenthaltsort des Parmenion genannt, vgl. Iust., Epit. Hist. XI,
8). Alexander hält den Brief unter Verschluss und nimmt wie vor-
gesehen nach besagten drei Tagen das von Philipp verabreichte Me-
dikament zu sich. Erst im Anschluss daran gibt er seinem Freund
und Arzt den Brief zur Kenntnis, dessen überaus souveräne Reakti-
on – dieser lässt bei der Lektüre des Schreibens keinerlei Anzeichen
von Scham erkennen und versichert seinem König sofort, dass das
Medikament in Kürze seine Wirkung entfalten wird – ihn hoffen
lässt, dass das von ihm in den Arzt gesetzte Vertrauen gerechtfertigt
ist. ⇔ Walter benutzt an dieser Stelle für Philipp interessanterweise
den Namen Archigenes. Der aus dem syrischen Apameia stammen-
de und unter Trajan lebende Arzt stand der hippokratischen Auf-
fassung nahe, dass Krankheiten durch eine Dyskrasie von Heiß,
Kalt, Feucht und Trocken entstehen. Nimmt man das von Walter
benutzte Verb urere im Sinne von ausdörren ernst, lässt sich darüber
spekulieren, ob er Alexanders Krankheit möglicherweise als einen
Infekt des Magen-Darm-Traktes beschreibt, der eine Dehydrierung
des Körpers – also letztlich eine fehlerhafte Mischung der Körper-
säfte – zur Folge hatte (vgl. Alex. II, 203). ⇔ Tatsächlich verbessert
sich bereits nach kurzer Zeit der Gesundheitszustand Alexanders,
der schon am nächsten Tag auf seinem Pferd vor seinen Soldaten
erscheint und ihnen den Mut und die Hoffnung auf eine siegreiche
Kommentar zu Buch II 675

Schlacht zurückzugeben vermag (anders als Curtius lässt Walter Ale-


xanders Genesung ohne jegliche Nebenwirkungen eintreten, vgl.
Curt., Hist. Alex. III, 6, 16). Philipp wird von allen als Vater und
Retter des Vaterlandes gefeiert und ist somit rehabilitiert. ⇔ Die
Episode wirft zum einen ein bezeichnendes Licht auf die mit der
Tugend der Tapferkeit einhergehende, von der Vernunft geleitete
Risikobereitschaft Alexanders, der mit der Einnahme des verab-
reichten Medikaments – potenzielle Nebenwirkungen und eine da-
mit möglicherweise eintretende Verschlechterung seines Gesund-
heitszustandes können dabei nicht ausgeschlossen werden – sein
Leben im Vertrauen auf die Kunstfertigkeit seines Arztes für die
durchaus berechtigte Hoffnung aufs Spiel setzt, zeitnah in die
Schlacht gegen Darius ziehen zu können (vgl. Komm. I, 116–143).
Zum anderen stellt Alexanders unbedingtes Vertrauen in die Cha-
rakterstärke seines langjährigen Freundes – die Gefahr eines Mord-
anschlags ist dabei nicht völlig abwegig – darüber hinaus ein Beispiel
für die hervorragende Menschenkenntnis des makedonischen Kö-
nigs dar, der, wie ihn die Rede des Aristoteles im Kontext der allge-
meinen Tugendhaftigkeit gelehrt hat, in der Lage ist, Philipps cha-
rakterliche Größe und inneren Reichtum, obgleich als Grieche
nicht dem wohlhabenden makedonischen Adel entstammend, zu
erkennen und von den weniger befähigten, auf äußeren Reichtum
und ausschließlich auf den eigenen Vorteil bedachten, sklavenhaf-
ten Naturen abzugrenzen weiß (vgl. Komm. I, 85–91; vgl. auch
Komm. I, 92–104). Durch diese Inszenierung der Tugendhaftigkeit
Alexanders wird damit zugleich auch sein Arzt und Freund Philipp
als tugendhafter Charakter geadelt, der sich in dieser schwierigen
Situation der ihm übertragenen Führungsposition als Leibarzt des
makedonischen Königs als würdig erweist. In der Einschätzung der
Motive für die im Brief vorgebrachten Anschuldigungen lässt es
Philipp, ohne Parmenion namentlich zu nennen, offen, ob es sich
dabei um einen zwar falschen, aber doch gut gemeinten Rat, oder
möglicherweise sogar um eine bewusste Verleumdung handelt, um
676 KOmmentar

ihm selbst und dem König zu schaden. ⇔ Parmenion hat bei Walter
wegen seiner Fehleinschätzung Philipp betreffend offenbar keinerlei
Konsequenzen zu gewärtigen, wodurch die Episode mit dem Brief
und den darin formulierten Anklagen ein wenig zusammenhangslos
wirkt. Offenbar wollte Walter im weiteren Verlauf seines Epos Cur-
tius folgen, bei dem Parmenion als wichtigster General der Griechen
weiterhin Alexanders Vertrauen genießt. In der romanhaften Über-
lieferungstradition wird Parmenion auf Verlangen Philipps abge-
setzt oder sogar getötet (vgl. Demandt 2013, 136). ⇔ Über den kon-
kreten Vorfall hinaus drückt Philipp mit den Worten sic iniuste
quandoque ligatur | iustus, et iniustos absolvit curia mendax sein all-
gemeines Unbehagen darüber aus, dass bisweilen der Gerechte auf
ungerechte Weise eines Verbrechens beschuldigt wird und ein ver-
logenes Gericht einen Schuldigen freispricht (vgl. Alex. II, 242–243).
Damit nimmt Walter erneut Bezug auf die Aristoteles-Rede, in der
innerhalb der Tugend der Gerechtigkeit mit dem Satz curritur in fa­
cinus, nec leges curia curat ebenso auf ein Gericht angespielt wird,
das sich, den Weg des Verbrechens einschlagend, nicht um die eige-
nen Gesetze kümmert (vgl. Komm. I, 105–114). Somit wird ein wei-
teres Mal auf die von Korruption, Neid und Missgunst geprägten
zeitgenössischen Zustände innerhalb der römischen Kurie ange-
spielt (vgl. Komm. I, 105–114; zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl.
auch Einleitung 8). ⇔ Mit der Entscheidung, seinem Arzt zu ver-
trauen, wird Alexander als ein König inszeniert, der sich nicht nur
hinsichtlich der allgemeinen Tugendhaftigkeit und der zentralen
Feldherrntugend der Tapferkeit vorbildlich verhält, sondern sich
auch der Tugend der Gerechtigkeit in höchstem Maße verpflichtet
fühlt. Insgesamt werden auf diese Weise kurz vor der Schlacht bei
Issus noch einmal die Führungsqualitäten des makedonischen Kö-
nigs in Szene gesetzt, die auch im weiteren Verlauf des Perserkriegs
die notwendige Voraussetzung für den Erfolg des gesamten Unter-
nehmens darstellen (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw.
zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4).
Kommentar zu Buch II 677

Alexanders Ankunft in Issus (257–268)

257–268 Inde ubi finitimas exercitus obruit urbes … Parmenio censet


angusta valle futuras: Noch auf dem Weg nach Issus eilt Parmeni-
on Alexander entgegen und führt ihn in die von den Persern ver-
lassene Stadt. In einer Heeresversammlung wird über das weitere
militärische Vorgehen beraten. Parmenion, der von einem Aufklä-
rungstrupp bereits die Gebirgspfade im Amanos-Gebirge östlich
von Issus in Richtung Syrien hatte besetzen lassen, macht den Vor-
schlag, Darius in der Enge des Gebirges zu erwarten, da die Perser
unter diesen besonderen geographischen Verhältnissen ihre zahlen-
mäßige Überlegenheit nicht ausspielen könnten. Parmenions Vor-
schlag trifft unter den Anführern und auch bei Alexander auf Zu-
stimmung.

Alexander und Sisines (269–271)

269–271 At Sysenes, quia rem tacite suppresserat, auro  | creditur a


Dario furtim corruptus, eumque  | mors iniusta ferit, non ignorante
tyranno: Um die von Walter in nur drei Versen geschilderte Episo-
de um Sisines einordnen zu können, ist es notwendig, zuvor einen
Blick auf die entsprechende Darstellung bei Curtius zu werfen und
diese zu dem unmittelbar darauf geschilderten Verhalten des Darius
gegenüber den von Tymodes angeführten griechischen Söldnern in
Beziehung zu setzen (vgl. Curt., Hist. Alex. III, 7, 11–15). ⇔ Sisines
wird bei Curtius ungeachtet seiner persischen Herkunft als treuer
Gefolgsmann Alexanders beschrieben, der schon unter Philipp am
makedonischen Hof lebte und Alexander auf dem Feldzug nach Per-
sien begleitet. Von einem kretischen Soldaten wird diesem ein Brief
mit einem ihm unbekannten Siegel zugesteckt, der sich als Aufforde-
rung des persischen Feldherrn Nabarzanes herausstellt, Alexander zu
töten. In Curtius’ Darstellung versucht Sisines mehrfach, dem make-
678 KOmmentar

donischen König von diesem Brief zu berichten, wird jedoch von sei-
ner eigenen Zurückhaltung und seiner zu großen Rücksichtnahme
auf den mit den Vorbereitungen für die Schlacht bei Issus beschäf-
tigten Alexander immer wieder davon abgehalten. Tragischerweise
war derselbe Brief zuvor – allerdings mit dem ursprünglichen Siegel
des Nabarzanes – Alexander zugespielt worden, der diesen nun sei-
nerseits mit vertauschtem Siegel über den genannten kretischen Sol-
daten dem Sisines zustecken lässt, um dessen Loyalität auf den Prüf-
stand zu stellen. Durch sein tagelanges Zögern macht sich Sisines des
Verrats verdächtig und wird auf Befehl des makedonischen Königs
– iussu regis occisus – getötet (Curtius scheint die Episode um Sisines
bewusst als Gegenstück zu der kurz davor behandelten Episode um
den Parmenion-Brief inszeniert zu haben, vgl. Neger 2018, 141). Die
Darstellung der Sisines-Episode hat bei Curtius in Verbindung mit
der im folgenden Abschnitt hervorgehobenen Milde des Darius da-
bei die literarische Funktion, Alexander mit dem persischen König
kontrastierend in Beziehung zu setzen. In besagter Szene schenkt Da-
rius den unter Tymodes’ Führung stehenden griechischen Söldnern
die Freiheit, obwohl sie der Situation des Sisines vergleichbar wegen
eines unter den ranghöchsten Persern mit Argwohn aufgenomme-
nen Vorschlags zur taktischen Ausrichtung in der kommenden
Schlacht bei Issus in den Verdacht geraten waren, Darius verraten zu
wollen. Mit dieser vergleichenden Charakterisierung verfolgt Curti-
us das Ziel, die negativen Charakterseiten Alexanders schon zu einem
frühen Zeitpunkt des Alexanderfeldzugs anzudeuten und zugleich
den persischen König moralisch aufzuwerten (vgl. Neger 2018, 143).
⇔ Im Unterschied zu Curtius versucht Walter bei der Wiedergabe
der Sisines-Episode mit allen Mitteln zu vermeiden, ein negatives
Licht auf Alexander zu werfen. Mit der Formulierung quia rem taci­
te suppresserat lässt er demzufolge die mit dem Brief des Nabarzanes
einhergehenden Umstände der in Curtius’ Darstellung von Alexan-
der selbst initiierten Überprüfung von Sisines’ Loyalität in einem
einzigen, zudem wenig aussagekräftigen Wort rem verschwinden und
Kommentar zu Buch II 679

nimmt mit dem passiven creditur Alexander aus dem Fokus einer bei
Curtius intendierten moralischen Kritik am makedonischen König.
Zudem hat Alexander bei Walter lediglich Kenntnis – non ignorante
tyranno – von der immerhin auch als ungerecht bezeichneten Hin-
richtung des Sisines, eine persönliche Beteiligung des makedoni-
schen Königs an diesem Geschehen ist dabei aber kaum zu erkennen
(zu Walters bewussten Abweichungen von Curtius vgl. Komm. III,
342–369; vgl. auch Komm. III, 370–407; vgl. auch Einleitung 3). Die
von Walter für Alexander gewählte Bezeichnung tyrannus hat dabei
nicht zwangsläufig eine pejorative Bedeutung und findet in der Ale­
xandreis oft auch eine synonyme Verwendung mit rex. Noch im Satz
davor spricht Parmenion davon, dass an jenem Ort in dem engen Tal
die Heere beider Könige – acies utriusque tyranni – gleich stark sein
werden. Es ist kaum anzunehmen, dass Parmenion seinen eigenen
König in dieser Situation als Tyrannen bezeichnet (vgl. Alex. II, 267).
⇔ Damit versucht Walter in auffälliger Weise den noch immer inner-
halb seines heilsgeschichtlichen Auftrags agierenden makedonischen
König so weit wie möglich vor einer moralischen Kritik zu schützen,
die erst nach der Eroberung des Perserreichs deutlich vernehmbar
einsetzt und zuvor – wie der in Buch I geschilderte Besuch Alexan-
ders in Troja gezeigt hat – vom Autor der Alexandreis lediglich in
Vorverweisen auf die Zeit nach dem Perserkrieg zum Ausdruck ge-
bracht wird (zum Troja-Besuch Alexanders vgl. Komm. I, 468–492;
zur Funktion der Vorverweise in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4).

Darius vor der Schlacht bei Issus (272–421)

Darius und Tymodes (272–305)

272–305 Iamque superveniens Grecis equitatus ab horis … More ta­


men veterum servato regia coniux | et soror et proles in castris fata secun­
tur: Mit der Episode um den griechischen Söldner Tymodes nimmt
680 KOmmentar

Walter einen Szenenwechsel hin zum Lager des Darius vor. Tymodes
rät dem persischen König zum Rückzug ins mesopotamische Hin-
terland, um eine Schlacht in den engen Tälern des Taurusgebirges
zu vermeiden. Zudem solle er den Schatz aufteilen und das Heer in
mehrere Truppenverbände untergliedern, um bei einem möglicher-
weise ungünstigen Verlauf der Schlacht noch eine Verstärkung in der
Hinterhand zu haben. Die ranghöchsten Perser, bei denen Tymodes’
Vorschlag auf deutliche Ablehnung stößt, bezichtigen die griechi-
schen Söldner des Verrats und machen Darius den Vorschlag, diese
zu töten. Der persische König zeigt sich jedoch äußerst wohlwollend
und entlässt die Söldner, nicht ohne den eigenen Leuten klarzuma-
chen, dass es schändlich wäre, verdiente Helfer wie Tymodes mit
dem Tod zu bestrafen. Darius entscheidet sich ungeachtet der Ver-
schonung der griechischen Söldner am Ende dennoch gegen deren
Rat und gibt den Befehl, die Schlacht in den Bergen zu führen. Den
größten Teil des Staatsschatzes lässt er nach Damaskus bringen, seine
Ehefrau, seine Kinder und seine Mutter bleiben jedoch im Lager. ⇔
Mit dieser Darstellung übernimmt Walter von Curtius zwar dessen
positive moralische Beurteilung des persischen Königs, setzt sie je-
doch nicht wie dieser in Beziehung zur Sisines-Episode. Damit ergibt
sich an der vorliegenden Stelle – ausgehend von der grundlegenden
Vorstellung Walters, dass die Tugenden des Darius nur überschattet
und nicht ausgelöscht sind – für den Autor der Alexandreis die güns-
tige Gelegenheit, dem persischen König jenseits einer vergleichenden
Charakterisierung mit Alexander die ihm angeborene Tugendhaftig-
keit zuzusprechen (vgl. Komm. II, 1–17).

Hinführung zur Feldherrnrede des Darius (306–318)

306–318 Certus abhinc Darius, cum posterus exeret orbem … pullulat,


et vallem fecundat gratia fontis: Am nächsten Morgen besteigt Da-
rius einen kleinen Hügel inmitten des Feldlagers, um von dort aus
Kommentar zu Buch II 681

zu seinen Soldaten zu sprechen und sie auf die bevorstehende


Schlacht bei Issus einzustimmen. ⇔ Walter inszeniert diesen Ort als
einen locus amoenus mit einem belaubten und weit ausladenden
Lorbeerbaum, einer sprudelnden Quelle und einem sanft dahinflie-
ßenden Bächlein, welches das umliegende Gras ergrünen lässt und
dem ganzen Tal seine Fruchtbarkeit verleiht. Walters Darstellung
gibt freilich keine real existierende Landschaft wieder, sondern folgt
einem schon bei Homer innerhalb rhetorischer Naturbeschreibun-
gen etablierten topischen Muster, das dem Mittelalter aus den lyri-
schen Gattungen der Antike wie der bukolischen Dichtung – das
von Walter erwähnte carmen silvestre der Nymphen und frechen
Satyrn verweist auf diese antike Tradition – oder durch die Vermitt-
lung mittelalterlicher Dichtungslehren bekannt war (vgl. Hafer-
land 2018, 179, Anm. 88). Grundelemente einer derartigen Ideal-
landschaft sind seit Homer der Hain, die Quelle und die Wiese. In
der lateinischen Literatur gelangt die Vorstellung des locus amoenus
über Vergil, der für diese Ideallandschaften immer den Begriff amoe­
nus verwendet, und unter Beteiligung spätantiker Vergil-Kommen-
tare ins Mittelalter, wo sich der Begriff des locus amoenus durch Isi-
dor als terminus technicus etablieren konnte (vgl. Curtius 1942,
225–230). In der noch vor 1175 verfassten Dichtungslehre des Matt-
haeus von Vendôme findet sich eine ausführliche Beschreibung ei-
nes solchen locus amoenus mit zahlreichen topischen Elementen ei-
ner solchen rhetorischen Naturbeschreibung (vgl. Matt. v. Vend.,
Ars vers. I, 111). Bei Walter lassen sich einige wörtliche Anklänge an
die Ars versificatoria finden, wie etwa das in der Alexandreis nur
zweimal benutzte Verb pullulare (vgl. Alex. II, 318 und Alex. IV, 195).
Die von Walter erwähnte mater Cybele als Symbol der lebenserzeu-
genden Kraft der Natur scheint mit der bei Matthaeus von Vendô-
me als Mutter- und Fruchtbarkeitsgöttin inszenierten Natura iden-
tisch zu sein (vgl. Alex. II, 317). ⇔ Eine besondere Bedeutung
innerhalb der von Walter geschilderten Szenerie kommt dem inmit-
ten des Feldlagers stehenden Lorbeerbaum zu, der innerhalb des von
682 KOmmentar

Donat ausgearbeiteten stilus gravis die Funktion übernimmt, den


Leser auf eine kommende Schlacht oder einen bevorstehenden
Krieg hinzuweisen (vgl. Curtius 1948, 206, Anm. 1). Da auch Ver-
gil im zweiten Prooemium der Aeneis einen mitten im Palast des La-
tinus stehenden Lorbeerbaum nutzt, um einen Hinweis auf den
bevorstehenden Krieg der Trojaner gegen die Latiner zu geben, lässt
sich hinter Walters diesbezüglicher Darstellung auch eine aemulati-
ve Absicht des mittelalterlichen Dichters vermuten, die dergestalt
zum Ausdruck gebracht werden soll, dass entsprechend der weltge-
schichtlich größeren Bedeutung von Alexanders Krieg auch Walter
als Dichter mit seinem Epos einen größeren Ruhm beanspruchen
kann als sein antikes Vorbild (vgl. Verg., Aen. VII, 59: Laurus erat
tecti medio in penetralibus altis; zu Walters poetologischem Selbst-
verständnis vgl. Einleitung 6). ⇔ Die grundsätzliche Orientierung
an Donat ist jedoch nicht der einzige Bezugspunkt für diese Szene
der Alexandreis. Zudem lässt sich mit der Inszenierung des locus
amoenus und des darin beschriebenen Lorbeerbaums eine Verbin-
dung zu dem zwischen 1075 und 1110 entstandenen altfranzösischen
Rolandslied herstellen, wo ein unter einem Lorbeerbaum abgehalte-
ner Kriegsrat des Sarazenenführers Baligant geschildert wird, in wel-
chem er den anwesenden Königen, Herzögen und Grafen verkün-
det, dass er nicht ruhen werde, bis er Karl den Großen besiegt habe,
dieser tot sei oder als Flüchtling sein Dasein friste (vgl. das altfranzö-
sische Rolandslied nach der Oxforder Handschrift, fol. 48r–48v).
Historischer Hintergrund der geschilderten Episode ist ein Kriegs-
zug, den Karl der Große im Jahre 778 gegen die muslimischen Sara-
zenen in Spanien führte. Obwohl Sulayman ben al-Arabi, der Statt-
halter von Saragossa, den Frankenkönig gegen den Emir
Abd-er-Rahman von Cordoba zu Hilfe gerufen hatte, verweigerte
ihm dieser später entgegen seiner ursprünglichen Zusage den Zutritt
in die strategisch wichtige Stadt am Ebro. Nach monatelanger er-
folgloser Belagerung von Saragossa gab Karl sein spanisches Vorha-
ben auf und plünderte auf seinem Rückzug das vornehmlich von
Kommentar zu Buch II 683

Basken bewohnte Pamplona. Im weiteren Verlauf geriet die Nach-


hut der fränkischen Truppen schließlich in der Nähe von Ronceval-
les in einen Hinterhalt der Basken, die damit für das Blutbad in
Pamplona Rache nahmen (vgl. Reichlin 2016, 271–273). In der
kollektiven Erinnerung der Franken wurde in den folgenden Jahr-
hunderten eben dieser Kriegszug Karls zum vorgezogenen Kreuzzug
gegen die muslimischen Herrscher Spaniens umgedeutet. So erzählt
auch das altfranzösische Rolandslied von dieser Niederlage, doch
wird Karls Heer dort nicht mehr von den Basken, sondern von mus-
limischen Sarazenen in besagten Hinterhalt gelockt. Dort findet
auch Karls Neffe Roland als Befehlshaber der fränkischen Nachhut
den Tod, der damit literarisch zum christlichen Märtyrer stilisiert
werden konnte. Die oben geschilderte Szene bezieht sich auf den
Augenblick, als der Sarazenenführer Baligant am Ebro nahe bei Sa-
ragossa seinen Fuß auf spanischen Boden setzt und unter dem er-
wähnten Lorbeerbaum einen Kriegsrat für die bevorstehende Aus-
einandersetzung mit Karl abhält (auch im spanischen Libro de
Alexandre wird die epische Landschaft mit der Formulierung un
lorer ançiano mit einem Lorbeerbaum markiert, vgl. El libro de Ale­
xandre, 169). ⇔ Der über den Lorbeerbaum hergestellte motivische
Bezug zum Chanson de Roland erschöpft sich jedoch nicht darin,
auf die kommende Schlacht bei Issus zu verweisen. Überdies kann
nämlich eine typologische Verbindungslinie zwischen Darius und
Baligant gezogen werden, die damit beide ungeachtet ihrer Zugehö-
rigkeit zu unterschiedlichen Epochen als Feinde des Christentums
auftreten (zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heils-
geschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). Zugleich lässt
sich damit auf vergleichbare Weise wie im zentralen Autorkommen-
tar am Ende von Buch V auch eine typologische Verbindungslinie
zwischen Alexander und Karl herstellen, die in ihrer jeweiligen Rolle
innerhalb der christlichen Heilsgeschichte Verdienste im Kampf
gegen die Feinde des Christentums erworben haben (vgl. Alex. 510–
518). ⇔ Demzufolge kann bei der epischen Inszenierung des locus
684 KOmmentar

amoenus und des darin beschriebenen Lorbeerbaums auch von ei-


ner typologischen Konstruktion ausgegangen werden, die es dem
mittelalterlichen Leser ermöglichen soll, in der Geschichte den gül-
tigen Handlungsauftrag für die eigene Gegenwart zu entdecken.
Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass Alexanders pagane Existenz
und die aus christlicher Perspektive damit einhergehenden morali-
schen Defizite in diesem typologischen Kontext nicht von Bedeu-
tung sind, sondern es dabei lediglich um seine durch die propheti-
schen Bücher der Bibel vorbestimmte Rolle innerhalb der
christlichen Heilsgeschichte geht, die einzig und allein die Ablösung
des Perserreichs vorsieht. Konkret bedeutet dies für Walter inner-
halb des zeitgenössischen Horizonts, dass die zukünftige Aufgabe
und die Bestimmung des noch jungen französischen Königs Philipp
– zumal nach dem erfolglosen zweiten Kreuzzug (1147–1149) und
nach der Niederlage des byzantinischen Kaisers Manuel gegen die
Seldschuken im Jahre 1176 – nur darin bestehen kann, den Kampf
gegen die muslimischen Feinde wieder aufzunehmen und die Aus-
breitung des christlichen Glaubens als gottgewollten Auftrag erfolg-
reich zu vollenden, indem er sich die unbeugsame christliche Hal-
tung Karls und die herausragenden Fähigkeiten Alexanders als
Feldherr zum Vorbild nimmt (vgl. Wiener 2001, 64–65; zur anago-
gischen Ebene der Alexandreis bzw. zum eschatolgischen Sinn des
Epos vgl. Einleitung 7.3). ⇔ In der Ausgabe von Colker beginnt mit
qualiter in Vers 318a eine Abfolge von sechs Versen, die Mueldener
in seiner Ausgabe sinnvollerweise ausspart (vgl. Einleitung 9). Der
hier vermeintlich ausgeführte Vergleich der als reißender Strom be-
schriebenen Rhone, die mit ihrer zerstörerischen Kraft das antike
Agaunum überflutet – mit einem munter dahinplätschernden
Bächlein im zuvor inszenierten locus amoenus will nicht so recht zu-
sammenpassen. Hinzu kommt, dass dieselben sechs Verse in nur
geringfügiger Abwandlung in Buch V die viel einleuchtendere
Funktion haben, nach Darius’ Flucht Alexanders Furor bei der Ver-
folgung des persischen Königs zu kennzeichnen und Walter ansons-
Kommentar zu Buch II 685

ten in der Alexandreis einen derartigen Vergleich nirgendwo zwei-


mal verwendet (vgl. Alex. V, 313–318). ⇔ Am Ende des Abschnitts
kehrt Walter zur eigentlichen Erzählung auf den Hügel inmitten des
Feldlagers zurück und schildert Darius bei den Vorbereitungen zur
Schlacht als umsichtigen und wohlwollenden Heerführer. Dann be-
ginnt der persische König zu seinen Soldaten zu sprechen.

Die Feldherrnrede des Darius (319–371)

319–371 Hinc ad suppositas vulgi procerumque choortes | pacifici Da­


rius … hostis erit quicumque fugae laxabit habenas.»: Auch wenn
Feldherrnreden innerhalb der literarischen Gattung der Geschichts-
schreibung eine mehr oder weniger durchgehende Tradition von
der Antike bis in das Mittelalter hinein besitzen und schon seit He-
rodot und Thukydides zum obligatorischen Bestandteil einer als
Komposition zu verstehenden Schlachtschilderung gehören, findet
die Feldherrnrede des Darius in der Alexandreis überraschenderwei-
se kein Vorbild bei Curtius, der vor Issus lediglich eine Feldherrnre-
de Alexanders einarbeitet. ⇔ Offenbar war es Walter aber ein An-
liegen – möglicherweise aus Gründen der innerhalb der Alexandreis
ohnehin oft betriebenen parallelen Charakterisierung der beiden
wichtigsten Protagonisten – für sein Epos neben der später folgen-
den Rede Alexanders vor seinen Soldaten auch eine Feldherrnrede
des Darius zu integrieren. Walter bedient sich dabei ungeachtet der
Frage nach dem konkreten literarischen Vorbild bekannter topi-
scher Muster, die in der Herabsetzung des Gegners, der göttlichen
Unterstützung der eigenen Partei und der Aufwertung der eigenen
Soldaten bestehen. Wiener (2001) 46–47 meint in der Feldherrnre-
de des Darius, der die makedonischen Truppen als Sklavenheer und
ihren Anführer Alexander als knabenhaften Bastard verunglimpft,
der nicht bekämpft, sondern bestraft werden müsse, Gedanken aus
Lucans Pharsalia erkennen zu können, mit denen Pompeius noch
686 KOmmentar

in Italien seine Truppen mit einer vergleichbaren Rhetorik vergeb-


lich von der Legitimation ihres Einsatzes gegen Caesar zu überzeu-
gen versucht (vgl. Luc., Phars. II, 539–540: Neque enim ista vocar |
proelia iusta decet, patriae sed vindicis iram). ⇔ Darüber hinaus ge-
hört der rhetorische Versuch der Herabsetzung eines feindlichen
Heeres und der Diskreditierung seines Anführers zu einem häufig
verwendeten Motiv innerhalb der Alteritätskonstruktion, so dass
Walter in dieser Hinsicht durchaus auch andere – und wie im fol-
genden Beispiel noch zu sehen sein wird – auch mittelalterliche Vor-
bilder zur Verfügung gestanden haben können. Einen möglichen
Einfluss auf Walters Darstellung von Darius’ Feldherrnrede könnte
etwa auch das im Jahre 1068 entstandene Carmen de Hastingae pro­
elio des Bischofs Guy de Amiens genommen haben, das im Kontext
der Schlacht von Hastings in den dort inserierten Feldherrnreden
gleich mehrere motivische Parallelen zu Walters Darstellung auf-
weist (vgl. Knödler 2011, 167–190). Die Konstruktion von Diffe-
renz und Identität in der Ermunterungsrede Wilhelms des Erobe-
rers an seine normannischen Soldaten beginnt nämlich mit einem
Appell an ihre edle französische Herkunft und der Erinnerung dar-
an, dass sie aufrechte Krieger und eine ruhmreiche Mannschaft sei-
en, die Gott auf ihrer Seite hätten (vgl. Guy, Bischof von Ami-
ens, Carm. de Hast. Proel., 250–252: Francia quos genuit nobilitate
cluens, | belligeri sine felle viri, famosa iuventus, | quos Deus elegit, vel
Deus ipse favet). Darius beginnt in vergleichbarer Weise und spricht
seine Männer als Erben der Götter an, da sie vom altehrwürdigen
Belus abstammten und preist seine Soldaten ebenso als ein im Krieg
einzigartiges Volk (vgl. Alex. II, 325–329). Auch hebt er die Abkunft
der Perser vom Geschlecht der Giganten – dazu am Ende dieses Ab-
schnitts noch mehr – positiv hervor und weist darauf hin, dass er
selbst in der Nachfolge des großen Cyrus stehe, was ebenso dem
Zweck der genealogischen Überhöhung im Sinne einer identitäts-
stiftenden Differenzierung gegenüber dem Feind dient (vgl. Alex. II,
346–350). Als Wilhelm während der Schlacht ein weiteres Mal zu
Kommentar zu Buch II 687

seinen Soldaten spricht, bildet die motivisch als Entmenschlichung


des Gegners zu verstehende Beschimpfung des Feindes als Vieh, vor
dem man keine Angst zu haben brauche, eine mögliche Parallele zu
der in Darius’ Rede zum Ausdruck gebrachten Herabsetzung der
Makedonen als Sklaven und ihres Anführers Alexander als knaben-
haften Bastard (vgl. Alex. II, 329–333). ⇔ Eine weitere motivische
Parallele zu Walters Darstellung bietet die gegen Ende des vierten
Jahrhunderts n. Chr. entstandene und an Kaiser Theodosius adres-
sierte Epitoma rei militaris des Flavius Vegetius. Diese Zusammen-
stellung militärischen Wissens der Kaiserzeit ist für den vorliegen-
den Kontext insbesondere auch deshalb so interessant, da sie sich in
den Jahrhunderten nach ihrer Entstehung zum maßgeblichen
Kriegshandbuch des Mittelalters entwickelte und gerade in Frank-
reich vielfach rezipiert wurde. Im dritten Buch beschäftigt sich Ve-
getius abgesehen von der üblichen adhortatio der Soldaten auch mit
der psychologischen Seite einer Feldherrnrede (vgl. Veg., Flavi Ve­
geti Renati epitoma rei militaris II, XII, 10–15: Monitis tamen et
adhortatione ducis et exercitui virtus adcrescit et animus, praecipue si
futuri certaminis talem acceperint rationem, qua sperent se facile ad
vitoriam perventuros. Tunc inimicorum ignavia vel error ostendus est,
vel, si ante a nobis superati sunt, commemorandum). Alle von Vegeti-
us angesprochenen Möglichkeiten des Feldherrn, den eigenen Sol-
daten Zuversicht zu geben und ihnen Mut zuzusprechen, werden
von Walter in der Feldherrnrede des Darius in vergleichbarer Weise
aufgegriffen: die Wahrscheinlichkeit des eigenen Sieges gegen einen
feigen Feind, die Erinnerung an vergangene Siege gegen eben diesen
Feind und der Gedanke an die aus einer Mischung aus Ahnungslo-
sigkeit und Überheblichkeit resultierenden Irrtümer dieser Feinde.
Dabei wird die vermeintliche Chancenlosigkeit des griechischen
Heeres durch die Alteritätskonstruktion in Szene gesetzt, wonach
sich wenige armselige und kraftlose Sklaven dem Irrtum hingäben,
den Herren der Welt, denen alle Metalle dienstbar sind, die Stirn bie-
ten zu können. Die für die Perser eigentlich verlorene Schlacht am
688 KOmmentar

Granikus wird von Darius rhetorisch geschickt nachträglich in ei-


nen Sieg umgedeutet, indem er seinen Widersacher Alexander als
verzweifelten Feldherrn hinstellt, der wegen der am Granikus erlitte-
nen Verluste schon an seiner misslichen Lage zu verzweifeln beginnt
(vgl. Alex. II, 337–341). ⇔ Gegen Ende der Rede wird von Walter
das schon einmal verwendete Motiv der Wahrscheinlichkeit des ei-
genen Sieges nun doch mit einer Anlehnung an Curtius noch ein-
mal verstärkt, indem der persische König von seinem als Gunstbe-
weis der Siegesgöttin Victoria verstandenen Traum erzählt, in
welchem die Zelte der Makedonen lichterloh brannten und der von
den Persern ergriffene Alexander für immer verschwand (vgl. Alex.
II, 363–368; die Traumdeutung fällt bei Curtius jedoch sehr viel am-
bivalenter aus und thematisiert auch ein für die Perser möglicher-
weise negatives Vorzeichen für die bevorstehende Schlacht, vgl.
Curt., Hist. Alex. III, 3, 3). ⇔ Abgesehen von der persischen Sicht
auf die bevorstehende Schlacht berührt die Feldherrnrede des Dari-
us mit der Erwähnung des Gigantengeschlechts jedoch noch eine
weitere Ebene, die den aus heilsgeschichtlicher Perspektive vorher-
bestimmten Ausgang der Schlacht bei Issus und des Perserkriegs ins-
gesamt durch die typologische Verbindung Alexanders mit Herku-
les bzw. der Perser mit den Giganten vorwegnimmt (vgl. Alex. II,
348–353; zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsge-
schichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). Herkules, der im
Kampf der olympischen Götter gegen die Giganten entscheidend
zum Sieg der olympischen Götter beigetragen und seinem Vater
Zeus damit die Herrschaft gesichert hatte, wird von Walter bereits
zu Beginn der Alexandreis mit Alexander in Verbindung gebracht,
als dieser sich darüber beklagt, nicht wie der Alkide schon in jungen
Jahren Heldentaten vollbringen zu dürfen (vgl. Alex. I, 39–41). Zu-
dem kündigt Alexander am Ende der Alexandreis schon im Sterben
liegend an, nach seinem Tod im Himmel den Schutz der olympi-
schen Götter zu übernehmen und sie bei einem erneuten Angriff
der Giganten zu verteidigen (vgl. Alex. X, 405–414). Damit macht
Kommentar zu Buch II 689

Walter dem mittelalterlichen Leser mit der nur kurzen Bemerkung


über die genealogische Verbindung der Perser mit den Giganten
deutlich, dass Alexander sozusagen als zweiter Herkules entspre-
chend den Aussagen der prophetischen Bücher der Bibel den Sieg
gegen die persischen Nachfahren des Gigantengeschlechts davontra-
gen wird. ⇔ Mit der Erwähnung des Turmbaus zu Babel identifi-
ziert Walter zudem nicht nur das persische Babylon mit dem bibli-
schen Babel, sondern vermischt auch Traditionen der
jüdisch-christlichen Exegese, die Nimrod für den Anführer der Gi-
ganten und Erbauer des babylonischen Turmes halten, mit dem an-
tiken Mythos der Gigantomachie (vgl. Wulfram 2000, 250).

Der verhängnisvolle Irrtum der Perser (372–387)

372–387 Plura locuturo celeri pede nuncius affert … Quo ruitis, peri­
tura manus? … forsitan ambigeret utrum minus esset honori: Darius
wird von einem Boten die Nachricht überbracht, dass das griechi-
sche Herr seine Stellungen in den Bergen überstürzt verlassen habe
und auf der Flucht durch unwegsames Gelände zum Meer hinab-
geprescht sei. Ohne den Wahrheitsgehalt dieser Nachricht zu prü-
fen, sieht Darius darin den Moment gekommen, das vermeintlich
in Auflösung begriffene Heer des makedonischen Königs zu stellen.
⇔ In einem Autorexkurs spricht Walter die Perser an und führt ih-
nen ihre Fehleinschätzung der Situation vor Augen, zu glauben, dass
ausgerechnet der bisher unbesiegte Alexander mit seinem kampfer-
probten Heer kopflos die Flucht ergreift. Walter verstärkt seine Aus-
sage noch, indem er mit einem Gedankenspiel deutlich macht, dass
für Alexander nicht nur eine Niederlage schmachvoll wäre, sondern
er auch einem unverdienten Sieg grundsätzlich nichts abgewinnen
könne. ⇔ Die von Walter mit Quo ruitis, peritura manus eingelei-
tete Passage wird ebenso wie das Motiv des strategischen Irrtums
nur wenige Jahre später in der Philippis Wilhelms des Bretonen
690 KOmmentar

nachgeahmt, der vor der Schlacht von Bouvines (1214) gegenüber


Kaiser Otto IV. in vergleichbarer Weise den Trugschluss zur Spra-
che bringt, sein Gegner Philipp würde es nicht wagen, mit ihm den
offenen Kampf zu suchen (vgl. Wilh. d. Bret., Phil. X, 721–728:
Quo ruitis, peritura manus! Male praelia tractat | impetus. An regem
sic vertere terga putatis, | quin vobis ausit versa concurrere fronte? |
Non decet ut terror vestri deterreat illum; | Non decet ut propter vos
aufugisse putetur; | Qui solum hoc optat ut, vobis forte repertis, | in
plano plane bello confligat aperto, | inque brevi id vobis nuda ratione
patebit).

Perser und Griechen bringen sich in Stellung (388–407)

388–407 Iam Chaldea cohors Ysson festina propinquans … barbariem


que nunc profugum pavitare ferebat: Auf seinem Vormarsch werden
Darius und das von Gold und Edelsteinen blitzende persische Heer
– der Verweis auf den unnötigen und überflüssigen Luxus ist dabei
als erneuter Hinweis Walters auf die moralisch weniger befähigten
und wenig kampfbereiten Perser zu verstehen – von griechischen
Spähern entdeckt. Im Unterschied zum zögerlich agierenden Darius
kann Alexander sein Glück kaum fassen, dass es nun endlich zur
Schlacht kommt. ⇔ Wie schon in der Darstellung von Alexanders
Eilmarsch von Phrygien nach Kilikien betont Walter auch hier die
herausragende Schnelligkeit und die Entschlossenheit des makedoni-
schen Königs, der sich – wie in der Aristoteles-Rede angemahnt –
in vorderster Front auf den Feind stürzt (vgl. Alex. I, 128: Hostibus
ante alios primus fugientibus insta; vgl. auch Alex. II, 396–397: Prior
urbe relicta | fulminat in Persas). ⇔ Mit der Blitzmetapher nimmt
Walter Bezug auf die überwiegend negative Charakterisierung Ale-
xanders im zehnten Buch der Pharsalia Lucans, wo der vom Wahn-
sinn getriebene makedonische König erfolgreich die Welt unterwirft
und den Völkern des Ostens die Freiheit raubt (vgl. Luc., Phars. X,
Kommentar zu Buch II 691

20–42). Auch die bekannte Caesar-Charakterisierung aus dem ers-


ten Buch der Pharsalia, in der Caesar als verheerender Blitz – so ist
aus dem vorausgehenden Vergleich des Pompeius mit einer sturm-
gebeugten Eiche zu ergänzen – in den gewaltigen Baum einschlägt
und von furor und ira getrieben am Weltuntergang arbeitet, dient
in diesem Kontext als bewusst eingesetzte Hintergrundfolie (vgl.
Luc., Phars. I, 151–157). Lucans düsteres Alexanderbild, dem auch
sein Caesar verpflichtet ist, wird von Walter jedoch umgedeutet,
indem er den Perserkrieg in den heilsgeschichtlichen Kontext ein-
bettet (vgl. Komm. 91–102). Die Epitheta, die Lucan setzt, um der
sinnlosen Destruktion Ausdruck zu verleihen, erfahren bei Walter
eine gezielt in Szene gesetzte Modifizierung und eine damit einher-
gehende christlich motivierte Umwertung. Der Blitz als Strafe des
Zeus entspricht dabei zwar einer antiken Vorstellung, kann aber zu-
gleich auf die christliche Vorstellung von der Geißel Gottes bezogen
werden. Somit wird bei Walter die Eroberung des Perserreichs durch
Alexander nicht als barbarischer Akt eines wahnsinnigen Eroberers
verstanden, sondern als Ereignis zur Erfüllung der christlichen
Heilsgeschichte inszeniert. Im Einklang mit der alttestamentari-
schen Prophetie deutet Walter damit den negativ konnotierten Ale-
xander Lucans positiv um (zur Bedeutung der biblisch konnotierten
Epithetisierung Alexanders in der Alexandreis vgl. auch Einleitung
7.2). ⇔ Am Ende des Abschnitts vergleicht Walter Alexanders Ver-
halten im Kampf zudem mit einem Motiv aus der Hirtendichtung,
nach dem sich der hungrige Wolf auf die Schafe stürzt, die entsetzt
entweder wie angewurzelt stehen bleiben oder auf ihrer panischen
Flucht anderweitig zu Tode kommen (vgl. Komm. II, 45–63).

Darius und das persische Heer (408–421)

408–421 Hos ubi discretis acies adversa catervis | aspicit … infirmat


firmum, fixum movet, ardua frangit: Walter schildert den weiteren
692 KOmmentar

Ablauf im Wesentlichen nach den Vorgaben des Curtius. Während


das persische Heer durch die unerwartete Offensive der Griechen in
Unordnung gerät – Walter bringt mit der ironischen Bemerkung, das
persische Heer könne besser marschieren als kämpfen, seine bereits
zu Beginn des letzten Abschnitts zum Ausdruck gebrachte kritische
Haltung hinsichtlich der tatsächlichen Schlagkraft des persischen
Heeres zum Ausdruck –, schildert er den persischen König Darius in
einem wesentlich positiveren Licht. Dieser beseitigt die aufgetretene
Unordnung im persischen Heer und fasst den vernünftigen Plan, die
Griechen von allen Seiten zu umzingeln und damit die eigene Über-
macht schlachtentscheidend zur Geltung zu bringen. Doch auch in
dieser für Alexander entscheidenden Situation greift wie schon am
Kydnus die Schicksalsgöttin Fortuna ein und vereitelt den durchaus
sinnvollen Plan des persischen Königs (zur Rolle des Schicksals vgl.
Komm. II, 186–200; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals
in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 5).

Alexander vor der Schlacht bei Issus (422–493)

Hinführung zur Feldherrnrede Alexanders (422–449)

422–449 Iam Macedum series certo stabilita tenore … dumque gra­


dus inhibent, hec illis pauca profatur: Im Unterschied zu den Persern
ist das griechische Heer wohlgeordnet und hat bereits die Anhöhen
besetzt. Jeder Heeresflügel hat einen fähigen Anführer, der von
Walter jeweils namentlich genannt wird. In vorderster Front reitet
Alexander die Reihen ab und bietet in seiner Waffenrüstung einen
für den Feind furchteinflößenden Anblick. Entsprechend der in der
Aristoteles-Rede formulierten Vorgaben ermuntert und motiviert
er seine Soldaten zum Kampf und gibt letzte Anweisungen für den
Einsatz der verschiedenen Waffen in der unmittelbar bevorstehen-
den Schlacht (vgl. Komm. I, 118–127).
Kommentar zu Buch II 693

Die Feldherrnrede Alexanders (450–486)

450–486 «Martia progenies, quorum ditione teneri … Rem vobis,


michi nomen amo.»: Vor der für den Ausgang des Perserkriegs ent-
scheidenden Schlacht bei Issus nimmt Alexander in der Rede an
seine Soldaten Bezug auf das Schicksal, das sich nicht nur bei den
Auseinandersetzungen mit Theben und Athen den Makedonen ge-
wogen gezeigt hatte, sondern auch in der bevorstehenden Schlacht
bei Issus auf ihrer Seite stehen wird (zum Götterapparat und der
Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Wie schon
kurz zuvor von Walter selbst erwähnt, bemüht auch Alexander das
Narrativ des effeminierten, feigen und kriegsuntüchtigen Persers,
der zwar mit vergangenen Triumphen und dabei erworbenen Schät-
zen zu prahlen versteht, der Brutalität der Schlacht jedoch nicht ge-
wachsen ist und nach den ersten Kampfhandlungen die Flucht er-
greift. Alexander fordert seine Männer dazu auf, ihm gegenüber ihre
Loyalität dadurch zu zeigen, dass sie mit ihren Waffen in den per-
sischen Reihen den größtmöglichen Schaden anrichten. Einerseits
motiviert er seine Soldaten damit, dass er die Perser aufgrund ihrer
charakterlichen Schwäche und Depravierung bereits als Besiegte an-
spricht, andererseits führt er ihnen in Anlehnung an die aristoteli-
sche Tugendlehre vor Augen, dass es keineswegs der angemessenen
Zürnkraft entspricht, in der Schlacht dem Feind gegenüber Milde
walten zu lassen (vgl. Komm. I, 115). Er fordert zudem die Tapferkeit
seiner Soldaten ein, die es nicht nur auf sich nehmen sollen, dem
Tod entgegenzugehen, sondern ihm auch zu trotzen wagen sollen.
Darüber hinaus erinnert Alexander seine Soldaten an die in der
Vergangenheit erlittenen Ungerechtigkeiten der von Xerxes ange-
führten Perser, für die Darius und das ganze persische Volk nun die
gerechte Strafe erhalten sollen. Alexander schließt seine Ansprache
mit dem Hinweis, dass er selbst nur den Ruhm für die gewonnene
Schlacht wünscht, seinen Soldaten jedoch die Beute zu überlassen
gedenkt. Damit befolgt Alexander erneut eine Vorgabe der Aristo-
694 KOmmentar

teles-Rede, in der die Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit als


wichtige Feldherrntugend charakterisiert und als ein entscheidender
Faktor bei der Unterwerfung des Feindes angesprochen wurde (vgl.
Komm. I, 144–151; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw.
zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4).

Die Schlacht beginnt (486–493)

486–493 Sic fatur, et ecce  | concurrunt acies. Persae clamore soluto


… responsura fuit numquam tot vocibus Echo: Unmittelbar im An-
schluss an Alexanders Feldherrnrede beginnt unter dem Dröhnen
der Kriegstrompeten und den schaurigen Kampfrufen der Soldaten
die Schlacht. Walter verstärkt das lärmende Treiben mit dem Hin-
weis auf die widerhallenden Berge, die hinsichtlich der Lautstärke
und der Vielzahl der Stimmen sogar die widerhallende Echo – eine
schöne Reminiszenz an Ovid – übertreffen (vgl. Ov., Met. II, 339–
510; vgl. auch Alex. II, 100–102).

Der Schild des Darius (494–529)

494–529 Arma tamen Darii multo sudore fabrili … Lidia et am­


biguo deceptus Apolline Cresus: Im ersten Teil seiner Beschreibung
des in sieben Kreisen gegossenen Darius-Schildes gibt Walter die
alttestamentarisch verbürgte Geschichte der babylonischen Könige
wieder, angefangen von den erdentsprossenen Giganten unter der
Führung des Nimrod, der zum Schutz vor einer erneuten Sintflut
den Turmbau zu Babel in Auftrag gegeben hatte, bis zu Nebukad-
nezar II., unter dessen Herrschaft (605–562 v. Chr.) Jerusalem zer-
stört und das Volk Israels und ihr König Zedekia in die babylonische
Gefangenschaft geführt worden war. ⇔ Mit dieser Bildbeschrei-
bung variiert Walter das vergilische Ekphrasis-Modell vom Ende
Kommentar zu Buch II 695

des achten Buchs der Aeneis, indem er dieses durch die Einbettung
in den biblisch-heilsgeschichtlichen Kontext in den Dienst der in­
terpretatio Christiana stellt. Ratkowitsch betrachtet Walters Be-
schreibung des Darius-Schildes und die darin verarbeitete christli-
che Deutungsperspektive im Sinne einer spezifisch mittelalterlichen
ekphrastic response auf das weltliche Imperium Romanum deshalb
auch nicht zu Unrecht geradezu als ein christliches Gegenstück zum
Aeneas-Schild Vergils (vgl. Ratkowitsch 1991, 145). ⇔ Auch in-
nerhalb der Schildbeschreibung weist Walter wie bereits im Kontext
von Darius’ Feldherrnrede auf die genealogische bzw. typologische
Verbindung der Perser mit dem Geschlecht der Giganten den Leser
mit aller Deutlichkeit auf den aus heilsgeschichtlicher Perspektive
vorab bereits feststehenden und für die Griechen günstigen Aus-
gang der Schlacht bei Issus hin (vgl. Alex. II, 498–499: Fulget origo
patrum Darii gentisque prophanus  | ordo Gyganteae; zur allegori-
schen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn
des Epos vgl. Einleitung 7.2). ⇔ Um die aus christlicher Perspektive
bereits zum Ausdruck gebrachte Minderwertigkeit der Perser noch
weiter zu betonen, bedient sich Walter an dieser Stelle zudem einer
geschickt inszenierten praeteritio, indem er im Anschluss an den ers-
ten Teil seiner Schildbeschreibung die aus persischer Sicht durchaus
ruhmreichen Taten mit der Verwandlung Nebukadnezars in einen
Ochsen und dessen Ermordung durch den eigenen Sohn auch die
Schandflecke der persischen Geschichte erwähnt, die auf dem Schild
selbstredend nicht abgebildet sind (die Geschichte um Nebukadne-
zar II. und dessen Sohn und Nachfolger Evilmerodach entstammt
in ihrer Ausführlichkeit allerdings nicht der Bibel, sondern findet
sich insbesondere in der Historia scholastica des Petrus Comestor,
vgl. Christensen 1905, 159, Anm. 1; vgl. auch Einleitung 3). ⇔
Im zweiten Teil seiner Schildbeschreibung kommt Walter mit der
Geschichte des letzten babylonischen Königs Belsazar, der im Jah-
re 539 v. Chr. von Cyrus am Euphrat vernichtend geschlagen und
nach dem Einzug der Perser in Babylon von einem seiner Statthal-
696 KOmmentar

ter getötet worden war, auf den Übergang vom babylonischen zum
persischen Reich zu sprechen (vgl. Streckenbach 1990, 211; über
die von Hieronymus in seinem Kommentar zum Buch Daniel fest-
gelegte Reihenfolge der Weltreiche vgl. Einleitung 7.2; zum Begriff
Weltreich vgl. auch Einleitung 7.2). ⇔ Mit der Bezeichnung vir de­
siderii, der das umschlagende Schicksal des Belsazar in seinen Schrif-
ten niedergelegt hatte, ist dann auch der biblische Prophet Daniel
angesprochen, durch den die Abfolge der verschiedenen Weltreiche
angekündigt worden war (vgl. Daniel 9, 23, wo der Engel Gabriel
auf Daniel bezogen die Bezeichnung vir desideriorum verwendet
hat; vgl. Christensen 1905, 158, Anm. 2; zum Begriff Weltreich
vgl. Einleitung 7.2). ⇔ Zuletzt und sozusagen als Höhepunkt der
Schildbeschreibung geht Walter auf die auf dem äußeren Rand des
Schildes – aufgrund der nach außen zunehmenden Größe der Run-
dung stand dem Künstler dort auch der meiste Platz zur Verfügung
– dargestellte glanzvolle Herrschaft des persischen Königs Cyrus
ein, der mit seinem Sieg über Belsazar nicht nur die Herrschaft der
babylonischen Könige beendet hatte, sondern desweiteren auch den
lydischen König Croesus besiegen konnte. Croesus hatte zuvor das
Orakel von Delphi befragt, ob er das Perserreich angreifen solle und
hatte die Antwort erhalten, dass er mit einem derartigen Angriff ein
großes Reich zerstören werde. Croesus begann den Krieg gegen die
Perser im falschen Glauben, dass damit das persische Reich gemeint
sei, zerstörte so jedoch sein eigenes großes Reich. Der mit Cyrus in
Verbindung stehende Höhepunkt persischer Herrschaft in der Ver-
gangenheit und der daraus resultierende Stolz der Perser über die
Ablösung der babylonischen Herrschaft ist auch in der Feldherrnre-
de des Darius zu spüren, in der sich Alexanders Widersacher explizit
als zweiter Cyrus inszeniert (vgl. Komm. II, 325–371).
Kommentar zu Buch II 697

Autorexkurs zur Vergänglichkeit irdischer Macht (530–544)

530–544 Ausa tamen Tamiris belli temptare tumultus … divicias


dare qui potuit, auferre valebit: Ein abschließender Autorexkurs gibt
in seinem ersten Teil den für die Perser peinlichen Untergang des
Cyrus wieder, der durch die eigentlich dem Krieg abgeneigte Köni-
gin der südöstlich des Aralsees siedelnden Massageten namens Amy-
ris zu Fall kommt. ⇔ Dieser Abschnitt kann nicht mehr der Schild-
beschreibung zugerechnet werden, da kaum anzunehmen ist, dass
Darius mit der für die Perser peinlichen Niederlage des Cyrus gegen
Amyris auf dem Schild dem makedonischen König gegenübertreten
möchte. Darüber hinaus hatte sich Darius in seiner Feldherrnrede
als zweiter Cyrus inszeniert, der als großes Vorbild in der Geschich-
te des persischen Volkes den eigenen Soldaten für die anstehende
Schlacht Mut zusprechen sollte. Auch in diesem Kontext wäre eine
Abbildung der Niederlage des Cyrus auf dem Schild nicht plausibel
(vgl. Komm. II, 325–371). ⇔ Walter inszeniert den persischen König
Cyrus als Sinnbild der Zerbrechlichkeit menschlicher Macht, der als
Spielball des Schicksals ungeachtet seiner ursprünglichen Größe am
Ende einen tiefen Fall erleidet (vgl. Zwierlein 1987, 630–631; zum
Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl.
Einleitung 5). Mit dem Ende des Cyrus gibt Walter auch einen Aus-
blick auf das bevorstehende Ende des Darius, der ebenso wie Cyrus
auf der Höhe seiner Macht von einem vermeintlich unterlegenen
Gegner besiegt wird. Mit der an dieser Stelle auf Cyrus bezogenen,
ansonsten in der Alexandreis aber auch mehrfach für Alexander ver-
wendeten Bezeichnung malleus orbis weist Walter darüber hinaus
aber auch auf das nicht abzuwendende Ende des makedonischen
Königs hin, der in seinem über das Perserreich hinausreichenden,
nicht zu bändigenden Eroberungsdrang die Weltherrschaft anstrebt
und damit gegen seinen von der christlichen Heilsgeschichte vor-
gegebenen Auftrag verstößt. ⇔ Im zweiten Teil des Autorexkurses
gestaltet Walter aus christlicher Sicht eine Warnung an den Leser
698 KOmmentar

des Epos vor dem trügerischen und vergänglichen Ruhm weltlicher


Herrschaft, indem er von der konkreten Aussage über die Vergäng-
lichkeit menschlicher Herrschaft bei Cyrus zu einer allgemeinen
Aussage über die grundsätzliche Unterworfenheit aller Menschen
unter den christlichen Gott überleitet, der den Königen die Herr-
schaft verleiht, sie ihnen aber jederzeit auch wieder nehmen kann
(zur Stellung des Moralexkurses innerhalb der Gesamtstruktur der
Alexandreis vgl. Einleitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79).
Einführung zu Buch III
Nach den im zweiten Buch ausführlich wiedergegebenen Vorberei-
tungen für die Schlacht bei Issus und dem nur kurzen Hinweis auf
den Beginn dieses für den Perserkrieg entscheidenden Feldzugs wen-
det sich Walter mit Buch III dem eigentlichen Schlachtgeschehen
zu, das sich in Anlehnung an antike Epiker im Wesentlichen als eine
Abfolge von Zweikämpfen darstellt, die den Kampf der Massen in
den Hintergrund treten lassen (vgl. Christensen 1905, 83). Walter
nutzt das epische Element der Schlachtschilderung jedoch nicht nur,
um seine Darstellung in Beziehung zu antiken epischen Vorbildern
zu setzen, sondern verfolgt dabei zudem die erkennbare Absicht,
Alexanders militärische Überlegenheit immer wieder als unmittelba-
re Konsequenz der außerordentlichen Tugendhaftigkeit seines wich-
tigsten Protagonisten in Szene zu setzen. Bereits im initialen Zwei-
kampf gegen den Perser Arethas gibt Alexander ein Beispiel seiner
außergewöhnlichen Tapferkeit ab, indem er diesen in einer harten
Auseinandersetzung niederringt und damit seine Soldaten ermutigt,
ebenso den Kampf aufzunehmen (vgl. Komm. III, 11–27; zur Bedeu-
tung eines initialen Zweikampfs vgl. auch Komm. V, 11–25; zur Tu-
gend der Tapferkeit vgl. Komm. I, 116–143; zur tropologischen Ebene
der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung
7.4). Ein eindrücklicher Beleg einer diesbezüglichen Inszenierung
stellt auch die Zoroas-Episode dar, in der Alexander den persischen
Gelehrten in einem bemerkenswerten Akt der angemessenen Zürn­
kraft verschont, obwohl er von diesem in der Schlacht beleidigt und
sogar am Oberschenkel verletzt wird (vgl. Komm. III, 140–188; zur
deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs πρᾳότης bzw. des
lateinischen Begriffs humilitas mit angemessener Zürnkraft vgl. die
Einführung zu Buch I; zur Tugend der angemessenen Zürnkraft vgl.
auch Komm. I, 115). Umgekehrt stellt Walter seinen wichtigsten Pro-
700 KOmmentar

tagonisten bei der Eroberung von Tyrus innerhalb derselben Tugend


der angemessenen Zürnkraft jedoch auch als einen Feldherrn dar, der
ohne zu zögern die phönizische Stadt dem Erdboden gleichmacht
(vgl. Komm. III, 288–329).
Wie schon im Kontext der in Buch II aufgeführten Vorberei-
tungen zur Schlacht bei Issus verabsäumt es Walter auch in der im
vorliegenden Buch realisierten Darstellung des Schlachtgeschehens
nicht, Alexanders herausragende Tugendhaftigkeit über bewusst
inszenierte Kontrastierungen mit seinem persischen Widersacher
Darius ins rechte Licht zu rücken. In unmittelbarem Anschluss an
die Zoroas-Episode etwa charakterisiert Walter den persischen König
als einen phlegmatisch agierenden Feldherrn, der in seiner Überfor-
derung nicht einmal mehr die Entscheidung zu treffen vermag, ob er
angesichts des blutigen Gemetzels die Flucht ergreifen oder sich doch
lieber das Leben nehmen soll (vgl. Komm. III, 189–202). Auch in der
darauf folgenden Wiedergabe von Darius’ Flucht vermittelt Walter
dem Leser das mitleidheischende Bild eines zutiefst verunsicherten
Mannes, der im Gegensatz zu seinem makedonischen Gegner im
Hinblick auf ein tugendhaftes Verhalten alles vermissen lässt, was ei-
nen erfolgreichen Feldherrn und König auszeichnet (vgl. Komm. III,
203–214). Walter beschränkt sich bei der moralischen Einordnung
und Beurteilung der handelnden Personen jedoch nicht nur auf die
beiden für das Epos zentralen Protagonisten Alexander und Darius.
Auch Alexanders wichtigster General Parmenion wird mehrfach als
überaus tapferer und umsichtiger Anführer geschildert, der sich im
Kampfgeschehen nicht nur als tapferer Kämpfer bewährt, sondern
überdies auch Verantwortung für seine Kampfgefährten übernimmt
(vgl. Komm. III, 53–58; vgl. auch Komm. III, 63–72). Sogar der Perser
Mazaeus, den Alexander später zum Satrapen von Babylon ernennt,
wird ungeachtet seines für die Griechen schmerzhaften Eingreifens
in die Schlacht von Walter explizit als tapferer Kämpfer beschrieben
und damit einer positiven moralischen Beurteilung unterzogen (vgl.
Komm. III, 48–49). Umgekehrt erleidet der persische Anführer von
Einführung zu Buch III 701

Damaskus beim Versuch, durch Verrat am eigenen König den in die


Stadt einrückenden Parmenion zu besänftigen, einen unter morali-
schen Gesichtspunkten – wie Walter explizit betont – gerechten Tod
(vgl. Komm. III, 258–273). Die angeführten Beispiele zeigen, dass die
mit der Aristoteles-Rede vermittelte Tugendlehre insbesondere im
Hinblick auf die zentralen Tugenden eines Feldherrn im Sinne einer
übergeordneten Leitidee unbedingten Programmcharakter für die
gesamte Alexandreis besitzt, da die Handlungen der Eposfiguren un-
abhängig von ihrer jeweiligen Rolle innerhalb der Erzählung immer
dann von Erfolg gekrönt sind, wenn sich der jeweilige Protagonist
im Sinne der in der Aristoteles-Rede vermittelten Tugendlehre ver-
hält, umgekehrt dieser jedoch auch den Misserfolg zu gewärtigen hat,
falls er die den dortigen Handlungsanweisungen zugrundeliegenden
Tugenden eines Feldherrn nicht an den Tag zu legen vermag (vgl.
Gartner 2018, 69; zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen
Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4).
Im Kontext der moralischen Beurteilung Alexanders durch den
Autor der Alexandreis ist ein weiterer Aspekt von zentraler Bedeu-
tung, der bereits vor der Schlacht bei Issus in der Sisines-Episode er-
kennbar geworden war und im vorliegenden Buch in mehreren Sze-
nen erneut zum Tragen kommt (vgl. Komm. II, 269–271; vgl. auch
die Einführung zu Buch II; vgl. auch Einleitung 3). Angesprochen ist
dabei Walters Bestreben, immer dann, wenn bei Curtius – immerhin
Walters wichtigste historische Vorlage – kritische Töne in Bezug auf
Alexanders Verhalten zum Ausdruck gebracht werden, durch geziel-
te Abschwächungen oder auch bewusst vorgenommene Ausblen-
dungen zu vermeiden, dass bereits innerhalb des heilsgeschichtlich
legitimierten Perserkriegs auf der Ebene der eigentlichen Erzählung
ein Schatten auf seinen wichtigsten Protagonisten fallen könnte. So
komprimiert Walter beispielsweise die Darstellung über die Erobe-
rung von Tyrus derart, dass er weder die monatelange Belagerung der
phönizischen Stadt erwähnt noch irgendein Wort über den bei Cur-
tius wiedergegebenen und für Alexander wenig schmeichelhaften
702 KOmmentar

Umstand verliert, dass Alexander ernsthaft überlegt haben soll, die


Belagerung abzubrechen und unverrichteter Dinge nach Ägypten
weiterzuziehen (vgl. Curt., Hist. Alex. IV, 4, 1–2). Vielmehr geht es
Walter auch hier in erster Linie darum, die Tapferkeit seines wichtigs-
ten Protagonisten herauszustreichen, der beim Anblick der abwehr-
bereiten Tyrer von großer Freude über eine bevorstehende Schlacht
erfüllt wird und es kaum erwarten kann, mit der Erstürmung der
Stadt zu beginnen (vgl. Komm. III, 274–287). Auch bei der Erobe-
rung von Gaza lässt sich der beschriebene Sachverhalt besonders ein-
drücklich aufzeigen. Während in Curtius’ Darstellung Alexander
den besiegten persischen Anführer der Stadt namens Betis dem Vor-
bild Achills folgend um die Stadtmauern schleifen lässt, spart Walter
auch diese für die moralische Bewertung des makedonischen Königs
wenig vorteilhafte Szene schlicht und ergreifend aus (vgl. Curt.,
Hist. Alex. IV, 6, 29–30; vgl. auch Komm. III, 342–369). Wenn Wal-
ter im Rahmen des Perserkriegs wirklich die Absicht gehabt hätte,
seinen wichtigsten Protagonisten einer auf die konkrete Situation
der Erzählung bezogenen moralischen Kritik zu unterziehen, hätte
er an dieser Stelle ohne besonderen Aufwand nur seiner historischen
Hauptquelle Curtius folgen müssen. Wiener (2001) 30 stellt diesen
für die moralische Beurteilung des makedonischen Königs in der
Alexandreis bedeutsamen Umstand in deutlicher Distanzierung zu
Forschungsansätzen, die in der Darstellung Alexanders bei Walter
eine kritische Distanz des mittelalterlichen Autors wahrzunehmen
glauben, überzeugend folgendermaßen klar: »Tatsächlich kann man
nicht anders, als von einer Schonung des Protagonisten zu sprechen,
wenn so auffallende Auslassungen zu konstatieren sind wie etwa die
Schleifung des Betis um die Stadtmauern von Gaza. Hier bleibt Mau-
ra Lafferty eine Erklärung schuldig, warum Walters Alexander in die-
sem Fall nicht nach Achills Vorbild handelt, während er nach ihrer
Deutung gerade als homerischer Held – in kritischer Kontrastierung
zu einem verantwortungsbewußten Herrscher – von Walter charak-
terisiert ist.« Ebenso ist dieses Bestreben Walters in der Darstellung
Einführung zu Buch III 703

von Alexanders Besuch in der Oase Siwa zu erkennen, in der die bei
Curtius zum Ausdruck gebrachte Kritik an Alexanders Streben, als
Sohn Jupiters anerkannt werden zu wollen, an der entsprechenden
Stelle der Erzählung im Epos unerwähnt bleibt (vgl. Curt., Hist.
Alex. IV, 7, 8–9; vgl. auch Komm. III, 370–407). Insbesondere vor
dem Hintergrund, dass dieser Vorwurf der Maßlosigkeit nach dem
Perserkrieg auf der Erzählebene – angesprochen ist hierbei die Episo-
de um die in Buch VIII wiedergegebene Verschwörung des Philotas
– auch in der Alexandreis explizit zur Sprache gebracht und als wich-
tiger Grund für Alexanders Tod im Epos in Szene gesetzt wird, ist
diese Auslassung ein deutlicher Beleg für den Umstand, dass Walter
innerhalb des Perserkriegs alles vermeidet, was den makedonischen
König bezogen auf eine konkrete Situation der Erzählung moralisch
diskreditieren könnte (zur Philotas-Verschwörung vgl. Komm. VIII,
75–322; zu Walters bewussten Abweichungen von Curtius vgl. auch
Einleitung 3).
Anders verhält es sich bei dem als Vorverweis auf die Zeit nach
dem Perserkrieg gestalteten Moralexkurs, in welchem Walter den
auf der Erzählebene in Buch III noch ausgeblendeten Vorwurf an
Alexander, als Spross Jupiters gelten zu wollen, deutlich zur Spra-
che bringt und mit der Kritik an dessen fehlender Unterordnung
unter den christlichen Gott verbindet (vgl. Komm. III, 242–257; zur
Funktion der Vorverweise in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4; zur
Stellung des Moralexkurses innerhalb der Gesamtstruktur der Ale­
xandreis vgl. Einleitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79).
Den Abschluss von Buch III bilden die Vorbereitungen zur letz-
ten großen Schlacht bei Gaugamela, die sich auf Seiten der Griechen
durch eine Mondfinsternis schwierig gestalten, da die griechischen
Soldaten durch das kosmische Ereignis in große Unruhe versetzt
werden. Erst durch den Einsatz der Seher gelingt es Alexander, seine
Soldaten zu beruhigen und sie für die kommende Schlacht zu moti-
vieren (vgl. Alex. III, 463–543).
Kommentar zu Buch III
Themenübersicht (1–10)

C 1 Tercius arma canit populosque in fata ruentes: Die im Haupttext


ausführlich geschilderte Schlacht bei Issus wird an der vorliegenden
Stelle in einem einzigen Vers verdichtet (vgl. Alex. III, 1–214). Dabei
bilden die Worte in fata ruentes einen von Walter imitativ gestalte-
ten Kontrast zu Lucans Pharsalia. Während Pompeius’ Soldaten in
der Darstellung des antiken Autors – obgleich von ihrem Feldherrn
noch vor der Schlacht zurückgerufen, da es sich nicht lohne, seinet-
wegen zu sterben – allerdings in einem unnötigen und moralisch
fragwürdigen Bürgerkrieg einem viel zu frühen Tod entgegengehen,
wird von Walter lediglich die Schicksalsgebundenheit der sich auf
beiden Seiten unausweichlich in den Tod stürzenden Völker – sti-
listisch durch die betonte Mittelstellung der Worte in fata zwischen
populos und ruentes betont – beschrieben, ohne dabei die Schlacht
selbst infrage zu stellen (vgl. Luc., Phars. VII, 668–669: revocat
matura in fata ruentes | seque negat tanti; zum produktionsästhe-
tischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4;
vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13).
⇔ Mit dieser Kontrastimitation möchte Walter auch auf den im
Vergleich zum römischen Bürgerkrieg weltgeschichtlich sehr viel be-
deutenderen und zudem aus christlicher Sicht auch in moralischer
Hinsicht vertretbaren Perserkrieg Alexanders hinweisen. Zugleich
ist der mittelalterliche Dichter damit nicht zum ersten Mal in der
Alexandreis auch in der Lage, seinen aemulativen Anspruch gegen-
über dem antiken Epiker Lucan in der ihm eigenen Manier zum
Ausdruck zu bringen (zu Walters poetologischem Selbstverständnis
vgl. Einleitung 6).
Kommentar zu Buch III 705

C 2 Vincuntur Persae: Der für die Perser ungünstige Ausgang der


Schlacht wird ohne weitere Ausschmückung mit nur zwei Worten
wiedergegeben. ⇔ Diese stilistisch durch eine brevitas hervorgeru-
fene Verdichtung der Information hat ihre Entsprechung in dem
zuvor in Buch II immer wieder prospektiv festgehaltenen Umstand,
dass der Sieg der Griechen aus der moralischen ebenso wie aus der
heilsgeschichtlichen Perspektive nicht aufzuhalten ist und eigent-
lich keiner weiteren Erklärung bedarf (zur tropologischen Ebene
der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einlei-
tung 7.4; zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heils-
geschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2).

C 2–4 Darii preciosa supellex | diripitur, soror et mater capiuntur et


uxor | septennisque puer: Als direkte Folge der von den Griechen ge-
wonnenen Schlacht bei Issus geraten die Schwester, die Mutter, die
Ehefrau und der Sohn des Darius in griechische Gefangenschaft. Auch
die umfangreiche und wertvolle Ausrüstung der Perser geht dabei in
den Besitz der siegreichen Griechen über (vgl. Komm. III, 215–242).

C 4–6 Capta Sydone Tyroque  | funditus eversa magno discrimine


Gaza | vincitur, et Lybicus a paucis visitur Hamon: Bevor Alexander
mit einer kleinen Delegation das ägyptische Hammon-Heiligtum in
der Oase Siwa aufsucht, unterwirft er auf dem Weg dorthin die phö-
nizischen Städte Sidon, Tyrus und Gaza (vgl. Komm. III, 288–407).

C 7–8 Interea Darius reparato robore rursus | maior in arma ruit:


In der Zwischenzeit haben sich Darius’ Truppen erholt und sind im
Begriff, stärker noch als zuvor erneut in den Kampf gegen Alexan-
der einzutreten. ⇔ Dieser für die Pläne des makedonischen Königs
grundsätzlich erst einmal gefährliche Sachverhalt wird von Walter
mit dem alliterativ geformten und lautmalerisch mit den dunklen
Vokalen -a-, -o- und -u- unterlegten reparato robore rursus stilistisch
auffällig in Szene gesetzt (vgl. Komm. III, 408–462).
706 KOmmentar

C 8–10 Fit seditionis origo | in castris Macedum lunae defectus, et


ecce  | consulti vates duro de tempore tractant: Vor der Schlacht bei
Gaugamela verursacht eine Mondfinsternis einen großen Aufruhr
im Lager der Griechen, der erst durch den Einsatz der von Alexan-
der herbeigerufenen Seher wirkungsvoll unterbunden werden kann
(vgl. Komm. III, 463–543).

Die Schlacht bei Issus (1–214)

Das Aufeinandertreffen der feindlichen Heere (1–3)

1–3 Iam fragor armorum, iam strages bellica vincit | clangorem li­
tuum, subtexunt astra sagittae,  | missiliumque frequens obnubilat
aera nimbus: Die gewaltigen Dimensionen des kriegerischen Auf-
einandertreffens werden von Walter wie schon bei der Ankunft des
griechischen Heeres in Kilikien und am Ende von Alexanders Feld-
herrnrede durch akustische Eindrücke verstärkt, die den Leser damit
sozusagen unmittelbar an der Schlacht teilhaben lassen (vgl. Alex. II,
100–102; vgl. auch Alex. II, 487–493). Zum selben Zweck bedient
sich Walter an dieser Stelle zudem eines optischen Eindrucks, indem
er davon berichtet, wie die auf beiden Seiten abgefeuerten Geschos-
se den Himmel verdunkeln.

Alexanders Schnelligkeit und Entschlossenheit (4–10)

4–10 Primus … ocius emisso tormenti turbine saxo | torquet equum


Macedo … igniti Dario prefertur forma draconis: Alexander reitet
als erster auf die Reihen der Perser zu und versucht dabei mit aller
Macht, an den persischen Anführern vorbei Darius’ Streitwagen
zu erreichen. ⇔ Wie schon in der Darstellung von Alexanders Eil-
marsch von Phrygien nach Kilikien oder bei der Beschreibung der
Kommentar zu Buch III 707

Vorbereitungen zur Schlacht bei Issus betont Walter auch hier die
herausragende Schnelligkeit und die leidenschaftliche Entschlossen­
heit Alexanders, der sich wie in der Aristoteles-Rede angemahnt
in vorderster Front und schneller als ein von einer Wurfmaschine
geworfener Stein – ocius emisso tormenti turbine saxo – auf den
persischen Feind stürzt (zu Alexanders Schnelligkeit vgl. Komm. I,
116–117; vgl. auch Komm. II, 91–102; vgl. auch Komm. II, 388–407;
vgl. auch Komm. III, 436–462; zur Vorbildfunktion des Feldherrn
in der Schlacht vgl. Komm. I, 128–132). Umgekehrt wird die Ge-
fährlichkeit der Perser von Walter kontrastierend relativiert, indem
er die persischen Fürsten mit ihren von Edelsteinen besetzten und
von Gold funkelnden Helmen wie bereits beim ersten Aufeinan-
dertreffen vor der Schlacht bei Issus als dem Luxus unterworfene
und eigentlich für den Kampf untaugliche Anführer stigmatisiert
(vgl. Alex. II, 389–391). Auch Darius verbreitet nur durch einen ihm
vorangetragenen Drachen, der mit seinem von Gold gleißenden Ra-
chen die Lüfte zu verschlingen scheint, Angst und Schrecken, sein
abwartendes und zögerliches Verhalten stellt im Widerspruch dazu
jedoch keine echte Bedrohung für die Griechen dar. Damit stempelt
Walter den persischen König wie schon bei dessen Charakterisie-
rung zu Beginn von Buch II auch an dieser Stelle schon vorab als
Verlierer in der gerade begonnenen Schlacht bei Issus ab (vgl. Alex.
II, 1–17; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum mora-
lischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Das Wort aurivomus
stellt einen Neologismus Walters dar, den er offenbar nach einer Ver-
gilstelle aus den Worten vomere und aureus geformt hat (vgl. Verg.,
Aen. X, 271: funditur et vastos umbo vomit aureus ignis; vgl. auch
Zwierlein 2004, 668; vgl. auch Glock 2000, 276–277).

Alexander gegen Arethas (11–27)

11–27 Querentique ducem quem primo vulnere dignum  | obruat


708 KOmmentar

obicitur Syriae prefectus Arethas … Greca phalanx letoque ferunt ad


sydera plausu: Der unmittelbare Zugang zu Darius wird dem ma-
kedonischen König zuerst einmal vom syrischen Satrapen Arethas
verwehrt. ⇔ Auch er wird von Walter ganz im Sinne der oben be-
schriebenen Stigmatisierung als Kämpfer geschildert, dessen Helm
ein Edelstein zu entflammen scheint und an dessen goldener Lanze
das Bild eines Löwen herabhängt, das mit seinem Glanz sogar die
Sonne herausfordert. ⇔ Der Chaldäer eröffnet den Zweikampf
und trifft mit seinem Speer den Schild Alexanders, das Wurfge-
schoss bleibt jedoch stecken, ohne weiteren Schaden anzurichten,
der Holzschaft des Speers bricht sogar ab. Alexander gelingt es, in
einem Gegenangriff mit dem eigenen Speer den Schild des Arethas
ausgerechnet an derjenigen Stelle zu durchdringen, wo der Edelstein
prangt, zudem schickt er noch einen todbringenden Pfeil hinterher.
⇔ Mit der Darstellung eines siegreichen Zweikampfes zu Beginn
einer Schlacht ist Walters Alexander somit nicht nur ein Abbild des
vergilischen Aeneas, der nach seiner Rückkehr von Euander ebenso
mit einem richtungsweisenden Zweikampf gegen den hünenhaften
Theron den Kampf gegen die Italiker erfolgreich eröffnet, sondern
auch ein von der Tugend der Tapferkeit durchdrungener Feldherr,
der mit seiner Initiative in Entsprechung der Vorgaben der Aristote-
les-Rede zu einem wichtigen Zeitpunkt der Schlacht ein glänzendes
Vorbild für seine Soldaten abgibt und sie dadurch mitzureißen ver-
steht (vgl. Verg., Aen. X, 310–314: primus turmas invasit agrestis |
Aeneas, omen pugnae, stravitque Latinos | occiso Therone, virum qui
maximus ultro | Aenean petit. huic gladio perque aerea suta, | per tu­
nicam squalentem auro latus haurit apertum; vgl. auch Zwierlein
2004, 612; vgl. auch Komm. I, 116–143; zur tropologischen Ebene
der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Ein-
leitung 7.4). ⇔ Ebenso wie die Trojaner den ersten Sieg ihres An-
führers Aeneas als gutes Vorzeichen für den Ausgang der Schlacht
gegen die Latiner betrachten, feiert das Heer der Griechen den ers-
ten Sieg ihres Anführers Alexander als faustum omen für die gerade
Kommentar zu Buch III 709

beginnende Schlacht gegen die Perser (vgl. Alex. III, 26; vgl. auch
Zwierlein 2004, 613).

Ptolemäus gegen Dodontes; Clitus gegen Androphilus (28–47)

28–47 Densantur cunei. Clytus et Tholomeus in armis … Quadru­


pedi quadrupes armoque opponitur armus,  | pectora pectoribus, or­
bisque retunditur orbe,  | torax torace, gemit obruta casside cassis …
demetit ense caput et terrae mandat humandum: Walter vergleicht
das Vorgehen der griechischen Kämpfer Ptolemäus und Clitus
gegen ihre persischen Gegner mit einem Angriff hungriger Löwen,
die in ihrem unbändigen Jagdeifer mit ihrem Schwanz den eigenen
Rücken schlagen und dadurch zusätzlichen Ansporn erhalten, auf
die nur bedingt wehrhaften Stiere loszugehen. Dieses von Walter ge-
prägte Bild findet in dem um die Mitte des 13. Jahrhunderts unter
dem Titel Gesta militum veröffentlichten Ritterspiegel des weit-
gehend unbekannten Magisters Hugo von Mâcon erneut Verwen-
dung, wo dieser den Zweikampf zwischen einem namenlosen, beim
fränkischen König – möglicherweise ist dabei an Karl den Großen
zu denken – durch eine Intrige in Ungnade gefallenen Ritter und
einem hungrigen Löwen schildert (vgl. Hugo von Mâcon, Gesta
Militum I, 375–382: Hunc stimulat ieiuna fames, hamata paratur |
ungula, crus grossum, pectora lata manent. | Simatur vultus, oculi ru­
bor intimat iram, | ardenti colera rictus utrinque fluit. | Dens cum
dente sonat, humans linguas saporat/carnes, horrescunt hispida col­
la pilis. | Costarum pars magna patet, ieiunia cingunt | ylia, cauda
ferit tergora, ciclat humum). ⇔ Ptolemaeus ist in der Lage, seinen
persischen Gegner Dodontes ohne größere Anstrengung zu töten,
während sich der Zweikampf zwischen Clitus und Androphilus
durch die Wehrhaftigkeit seines persischen Widersachers in die Län-
ge zieht. ⇔ In Anlehnung an Vergil und Statius bildet Walter die
Intensität dieses Zweikampfes durch die Reihung mehrerer polyp-
710 KOmmentar

totischer Glieder ab (vgl. Verg., Aen. X, 361: haeret pes densusque


viro vir; vgl. auch Stat., Theb. VIII, 398–399: iam clipeus clipeis,
umbone repellitur umbo, | ense mina ensis, pede pes et cuspide cuspis;
vgl. auch Zwierlein 2004, 663–664). Eine beinahe wortgleiche
Parallele ergibt sich zudem zu den im Hinblick auf die Tugend der
Tapferkeit an Alexander gerichteten Anweisungen aus der Aristo-
teles-Rede, was erneut deren Programmcharakter für das gesamte
Epos unterstreicht (vgl. Alex. I, 141–142: Hic equus opponatur equis,
hic ensibus ensis, | hic clipeus clipeis, hic obruta casside cassis; zu dem
für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aris-
toteles-Rede vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Als beide im Kampfgetümmel
vom Pferd stürzen und eine Weile ohnmächtig am Boden liegen, ge-
lingt es Clitus schneller als seinem Gegner, sich wieder aufzurichten
und dem noch wankenden Perser den Kopf abzuschlagen.

Iollas gegen Mazaeus (48–49)

48–49 Preditus eloquio bello specieque sinistro  | fuderat in cornu


Grecum Mazeus Yollam: Der ungeordneten Dynamik der Schlacht
geschuldet, ergeben sich weitere Zweikämpfe, die mit einer einzigen
Ausnahme immer einen griechischen Sieger finden. Lediglich dem
Perser Mazaeus gelingt es, den Griechen Iollas zu töten. ⇔ Dies ist
insofern bemerkenswert, als Walter ausgerechnet an dieser Stelle
seine historischen Vorlagen verlässt, die allesamt davon berichten,
dass eben dieser Iollas als Alexanders Mundschenk später – mögli-
cherweise im Auftrag seines Vaters Antipater – den makedonischen
König in Babylon vergiftet haben soll (vgl. Curt., Hist. Alex. X,
10, 14: Veneno necatum esse credidere plerique: filium Antipatri inter
ministros, Iollam nomine, patris iussu dedisse; vgl. auch Iust., Epit.
Hist. XII, 14, 9: Philippus et Iollas praegustare ac temperare potum
regis soliti in aqua frigida venenum habuerunt, quam praegustatae
iam potioni supermiserunt). Interessanterweise lässt Walter in seiner
Kommentar zu Buch III 711

Darstellung Iollas nur kurze Zeit überdies ein weiteres Mal töten
(vgl. Alex. III, 116; vgl. auch Christensen 1905, 105). Dies wirft die
Frage auf, aus welchem Grund Walter diesen gleich zweimal sterben
lässt. Handelt es sich dabei lediglich um ein unbedeutendes Verse-
hen des Autors oder möglicherweise um eine unbewusste Phantasie
Walters, durch die Iollas als verabscheuungswürdiger Königsmörder
sinnbildlich gemäß der Offenbarung des Johannes im Voraus den
ihm zustehenden zweiten bzw. ewigen Tod findet, der eigentlich
im Endgericht von Gott als endzeitlichem Richter verhängt wird?
Wie auch immer dies zu bewerten ist, versetzt sich Walter darüber
hinaus mit dieser Inszenierung in die Lage, entsprechend der Vorga-
ben der Aristoteles-Rede hinsichtlich der Tugend der angemessenen
Zürnkraft den Perser Mazaeus in Anerkennung von dessen großer
Tapferkeit später zum Satrapen von Babylon zu ernennen (vgl. Alex.
VI, 345–347; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs
πρᾳότης bzw. des lateinischen Begriffs humilitas mit angemessener
Zürnkraft vgl. die Einführung zu Buch I). Dasselbe Verhalten legt
Alexander später gegenüber dem besiegten Inderkönig Porus an den
Tag, den er nicht nur verschont, sondern sogar in seinen Freundes-
kreis aufnimmt und zum Statthalter über ein vergrößertes Reich
macht (vgl. Komm. IX, 291–329; vgl. auch Gartner 2018, 51–53).
Somit ist dieser Zweikampf zwischen Iollas und Mazaeus in zwei-
facher Weise als Inszenierung Walters zu verstehen, die sowohl der
christlichen Intention des Autors als auch der antik-paganen Linie
der Aristoteles-Rede Rechnung trägt.

Philotas gegen Ochus (50–52)

50–52 Ultor adest … Phylotas …Ochum … aggreditur, cuius latus ense


bipertit: Philotas, einer der Söhne Parmenions, versucht auf der Stel-
le, den Tod des Iollas zu rächen und den Mazaeus zu töten, im un-
durchsichtigen Schlachtgetümmel sieht er sich jedoch plötzlich dem
712 KOmmentar

Ochus gegenüber, dem er mit einem Schwerthieb die Seite durch-


trennt. Philotas sieht sich mit dieser Aktion plötzlich von hyrkani-
schen Reitern umringt, die ihm gefährlich nahekommen.

Parmenions Bedeutung für Alexander (53–58)

53–58 Interea multa sudantem cede Phylotam … Parmenio, sine quo


nichil umquam carmine dignum | gessit Alexander … talio pro meri­
tis magis arbitror esse silendum: Erst durch den energischen Einsatz
von Antigonos, Cenos, Craterus und insbesondere durch das Auf-
treten Parmenions gelingt es, die persischen Gegner für einen kur-
zen Moment auf Distanz zu halten. ⇔ Im Sinne eines retardieren-
den Moments unterbricht Walter an dieser Stelle die Handlung, um
auf Parmenions überragende Bedeutung für Alexanders Perserfeld-
zug insgesamt hinzuweisen. Dabei lässt er in einer praeteritio nicht
ohne kritische Distanz auch die nach dem Perserkrieg und noch vor
dem Feldzug gegen den Inderkönig Porus auf Alexanders Befehl hin
erfolgte Tötung Parmenions anklingen.

Die Zweikämpfe des Antigonus, Coenus und Craterus (59–62)

59–62 Antigoni iacet ense Phylax, Mida cuspide Ceni … iam viscera
rupta trahentem: Die Handlung setzt nicht unmittelbar wieder mit
Parmenion ein, sondern wird zuerst einmal mit den Zweikämpfen
der griechischen Kämpfer Antigonus, Coenus und Craterus fort-
gesetzt, die ihre persischen Widersacher Phylax, Mida und Amphi-
lochus ohne größere Probleme töten. ⇔ Wie Zwierlein (2004)
664–667 bemerkt, bedient sich Walter bei seiner Darstellung die-
ser Zweikämpfe der Figur der Regressio, indem er zunächst, wie im
Abschnitt zuvor zu sehen war, in gedrängter Form die Namen der
Kämpfer nennt, um dann, wie im vorliegenden Abschnitt erkenn-
Kommentar zu Buch III 713

bar, in einem Rückgriff die näheren Umstände ihres jeweiligen To-


des nachzutragen. Als Vorbilder für diesen stilistischen Kunstgriff
könnten Walter dabei neben der Mezentius-Aristie in der Aeneis
Vergils insbesondere auch eine Stelle aus der Thebais des Statius ge-
dient haben (vgl. Verg., Aen. X, 696–700; vgl. auch Stat., Theb.
VII, 640–643: sternunt alterna furentes | Hippomedon Sybarin, Py­
lium Periphanta Menoeceus, | Parthenopaeus Ityn: Sybaris iacet ense
cruento,  | cuspide trux Periphas, Itys insidiante sagitta). Mit dieser
kurzen Unterbrechung der auf Parmenion bezogenen Erzählung ge-
lingt es Walter nicht nur, den Spannungsbogen zu halten, sondern
er ist damit unter kompositorischen Gesichtspunkten auch in der
Lage, die allgemeinen Aussagen über Parmenions Bedeutung für
den Perserfeldzug insgesamt von dessen konkreten Taten in der
Schlacht bei Issus zu trennen. Darüber hinaus kontrastiert Walter
die Taten der drei Feldherrn Antigonus, Coenus und Craterus, die
jeweils nur einen einzigen Gegner töten, mit der unmittelbar darauf
folgenden Beschreibung Parmenions, der über seine Qualitäten als
tapferer Kämpfer hinaus – er tötet gleich fünf persische Gegner –
weitere wichtige Eigenschaften eines Feldherrn an den Tag legt.

Parmenions Bedeutung für die Schlacht bei Issus (63–72)

63–72 More suo ruit in Persas dampnatus iniquo | sydere Parmenio


… hiis addit Elan Arabemque Cherippum: Mit einem erneuten Hin-
weis auf Parmenions späteres unglückliches Ende setzt Walter an
dieser Stelle dessen zuvor explizit zum Ausdruck gebrachte Bedeu-
tung für Alexanders Erfolg im Perserkrieg insgesamt nun ganz kon-
kret für die Situation in der Schlacht bei Issus in Szene. Obgleich
von den Persern Hysannes und Dimus an der Seite getroffen, weicht
er nicht von der Stelle und ist sogar noch in der Lage, den ängst-
lich fliehenden Orestes zu schützen. Nachdem er dem Hysannes die
Brust durchbohrt und dem Dimus die Hand abgehackt hat, kann
714 KOmmentar

Orestes sogar in den Kampf zurückkehren. Darüber hinaus tötet


Parmenion mit Agilus, Hylas und Cherippus noch drei weitere Per-
ser. ⇔ In Walters Schilderung vermag Parmenion durch seine beein-
druckende Tapferkeit somit nicht nur sich selbst zu verteidigen und
im Kampfgetümmel gleich mehrere Gegner zu töten, sondern ist
darüber hinaus aufgrund seiner guten Übersicht und seiner großen
Erfahrung auch in der Lage, seinen Kampfgenossen in schwierigen
Situationen erfolgreich zur Seite zu stehen.

Eumenides gegen Diaspes und Eudochius (73–76)

73–76 Parte alia furit Eumenidus … procerum conculcat acervos:


Nicht minder erfolgreich kämpft Eumenidus, der neben Diaspes
und Eudochius noch eine Vielzahl weiterer persischer Anführer
niederstreckt. ⇔ Mit Eumenidus statt Eumenes gestattet sich Wal-
ter eine eigentümliche patronymische Bildung (vgl. Christensen
1905, 35, Anm. 3).

Nicanor gegen Echinus (77–89)

77–89 Nec minus in dextro dum pugnat Marte Nicanor … alterius


extinxit luminis usum: Besonders ausführlich schildert Walter den
Zweikampf zwischen Nicanor, einem weiteren Sohn des Parmeni-
on, gegen den Perser Echinus. Nachdem Nicanor bereits zahlreiche
Perser getötet hat, tritt ihm der von der Sippe des Cyrus abstam-
mende Echinus entgegen, der mit dem Schwert auf den Schild sei-
nes griechischen Widersachers einschlägt. Echinus gelingt es damit
jedoch nicht, seinen griechischen Gegner zu verwunden. ⇔ Walter
vergleicht das Vorgehen des persischen Kämpfers mit einem plötz-
lich auftretenden Hagelschauer im Frühling, der zwar die Dachzie-
gel des Hauses trifft, das Innere des Hauses aber nicht zu zerstören
Kommentar zu Buch III 715

vermag. Diesem eindrücklichen Bild liegt vermutlich ein entspre-


chender Vergleich in der Pharsalia Lucans zugrunde, wo bei der
Belagerung von Massilia die Soldaten Caesars beim Versuch, sich
der Mauer zu nähern, von oben herab mit Felsblöcken beworfen
werden (vgl. Luc., Phars. III, 483–485; vgl. dazu auch Zwierlein
2004, 625–626). ⇔ Nicanors Gegenangriff indes ist sehr viel erfolg-
reicher. Es gelingt ihm, seinen persischen Widersacher die Augen zu
durchstoßen und diesen damit kampfunfähig zu machen.

Philotas gegen Negusar (90–118)

90–118 Stabat in adverso discriminis agmine … Negusar … Sed


nec tibi, dure Negusar,  | missilium nimbus nec tanta ruina peper­
cit: Die Person des Negusar wird von Walter ohne Anbindung an
eine historische Vorlage als Abkömmling des Ninus, des früheren
Herrschers von Ninive, neu in die Schlacht bei Issus eingeführt (vgl.
Christensen 1905, 83). Mit Doppelaxt, Speer und Schwert richtet
er großen Schaden unter den griechischen Kämpfern an, bevor sich
Philotas nähert, um sich dem Perser im Zweikampf zu stellen. Ein
erster Schwerthieb gegen den Kopf seines persischen Gegners prallt
an dessen Helm ab. Mit einem zweiten Hieb schlägt Philotas dem
Perser die linke Hand ab. Ungeachtet dieser schweren Verwundung
wäre es Negusar dennoch beinahe gelungen, Philotas mit der Dop-
pelaxt zu töten, wenn nicht Amyntas den Hieb mit seinem Schild
abgefangen hätte. Negusar verliert bei dieser Aktion auch seine linke
Hand, stürzt sich eigentlich kampfunfähig dennoch im Fallen mit
seinem Pferd auf Iollas, um diesen mit in den Tod zu reißen (zum
zweifachen Tod des Iollas vgl. Komm. III, 48–49). ⇔ Die Szene, in
der Negusar beide Hände abgeschlagen werden, ist wohl ebenso der
Pharsalia Lucans nachempfunden, wo in einer großen Seeschlacht
zwischen der Flotte Caesars gegen die Massilioten im Kontext der
Schilderung verschiedener Nahkämpfe der Tod eines Mannes ge-
716 KOmmentar

schildert wird, der nach dem Verlust beider Hände dennoch seinen
heldenhaften Kampf fortsetzt, indem er mit seinem Körper die Ge-
schosse des Feindes abfängt und damit anderen Männern, darunter
seinem Zwillingsbruder, das Leben zu retten vermag (vgl. Luc.,
Phars. III, 609–626).

Der Mut des makedonischen Heeres (119–139)

119–139 Iam latet herba madens, terramque cadavera celant … Hiis


igitur iam terga fugae spondentibus instat | fulmineus Macedo … Hic
obit, ille obiit. Hic palpitat, ille quiescit: Nach der lebendigen und
abwechslungsreichen Schilderung zahlreicher Einzelkämpfe ver-
langsamt Walter an dieser Stelle das Tempo seiner Erzählung, indem
er dem Leser das von zahlreichen Leichen übersäte Schlachtfeld vor
Augen führt und dabei eine erste Bilanz zieht: Ungeachtet ihrer zah-
lenmäßigen Unterlegenheit ist es den Makedonen trotz eigener Ver-
luste aufgrund ihres überragenden Mutes gelungen, die Perser in die
Defensive zu drängen. ⇔ Diese suchen ihr Heil in der Flucht, Alex-
ander setzt ihnen – so Walter – wie ein Blitz nach, doch Oxathreus,
ein Bruder des Darius, zieht die persischen Linien noch einmal zu-
sammen, wodurch weitere Perser ihr Leben verlieren (vgl. Alex. III,
126–127; zur Blitzmetapher vgl. Komm. II, 388–407).

Der Astrologe Zoroas (140–188)

140–188 Stabat ab opposito niveis pretiosus in armis  | Memphites


Zoroas … Tum cetera turba iacentem | comminuunt in frusta virum
stellisque reponunt: Walter verlangsamt das Tempo seiner Erzählung
ein weiteres Mal, um die Episode über den aus dem ägyptischen
Memphis stammenden Zoroas einzufügen. In einer ausführlichen
Darstellung wird dieser als ein Gelehrter beschrieben, der mit dem
Kommentar zu Buch III 717

System der Septem artes liberales und insbesondere mit den das Qua-
drivium bildenden mathematischen Fächern – der Astronomie, der
Geometrie, der Musik und der Arithmetik – vertraut ist. Auch wenn
Walter an dieser Stelle die im Trivium angesiedelten sprachlichen
Künste – die Grammatik, die Rhetorik und die Dialektik – nicht
explizit nennt, müssen diese, wie Zoroas’ spätere Bemerkung über
die septemplicis arca sophiae zeigt, mitgedacht werden (vgl. Alex. III,
171). Den größten Teil dieser Beschreibung nimmt die Astronomie
ein, deren Kenntnis den Gelehrten in die Lage versetzt, Missernten
und fruchtbare Jahre ebenso wie den Lauf der Jahreszeiten anhand
der planetaren Konstellationen vorauszusehen. Mit der Quadratur
des Kreises, einem über Jahrhunderte ungeklärten Problem der Ma-
thematik, thematisiert Walter die Geometrie, mit der Frage, ob die
Musik die Harmonie der Sphären nachahmt, die Musik, und mit der
Berechnung der Stunden für den Umlauf der Planeten um die Son-
ne, die Arithmetik. ⇔ Da Zoroas in den Sternen seinen unmittelbar
bevorstehenden Tod herausgelesen hatte, fasst dieser im Vertrauen
auf die Unabänderlichkeit seines Schicksals den Entschluss, in der
gerade tobenden Schlacht von keinem Geringeren als von Alexander
selbst – a tanto cecidisse viro – getötet zu werden (vgl. Alex. III, 162).
⇔ Interessanterweise gibt Walter an dieser Stelle ohne jegliche kri-
tische Distanz ein Verständnis der Astrologie wieder, das von nicht
wenigen christlichen Autoritäten als fatalistische Horoskopie ab-
gelehnt und bekämpft wurde. Beispielsweise kritisiert Augustinus
diese Form der Astrologie heftig, da sie die menschliche Willensfrei-
heit negiere und dem Individuum die Verantwortung für sein eige-
nes Handeln abnehme. Ebenso differenziert Isidor zwischen einer
natürlichen, im Bereich der Naturwissenschaft anzusiedelnden und
einer ganz in Augustinus’ Sinne als Aberglauben zu charakterisie-
renden Astrologie. Auch Thomas v. Aquin sieht bei einer derartigen
divinatio superstitiosa den Teufel am Werk und meint sogar, diese
Form der Astrologie verbieten zu müssen (vgl. Lehmann 2016, 109).
⇔ Zoroas greift Alexander mit seinem Streitwagen an, durchbohrt
718 KOmmentar

dessen Schild mit einem Pfeilhagel, ohne damit allerdings seinen


berühmten Gegner verletzen zu können. Darüber hinaus beleidigt
er die makedonischen Soldaten als Feiglinge und diffamiert Alexan-
der mit dessen vermeintlich illegitimen Abstammung als Spross des
Nektanabus. Zudem versucht Zoroas den makedonischen König
mit den stolzen Worten sibi vendicat utraque laurus davon zu über-
zeugen, dass er sich nicht nur innerhalb des Systems der Septem artes
liberales auskennt, sondern sich durchaus auch auf dem Schlacht-
feld zu bewähren weiß (vgl. Alex. III, 172). Alexander lässt sich un-
geachtet dieser offenen Feindseligkeit jedoch nicht dazu hinreißen,
das Schwert gegen den persischen Gelehrten zu erheben, sondern
verschont diesen mit dem Hinweis, dass er doch mit seinem heraus-
ragenden Wissen der Welt von Nutzen sei und aus diesem Grund
nicht den Tod suchen solle (vgl. Alex. III, 178: Utilis es mundo).
Wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Walter den jungen Alexan-
der an anderer Stelle dahingehend geschildert hat, dass ihn niemand
als entartet beschimpfen solle, ist die von Alexander an dieser Stelle
praktizierte Verschonung des Zoroas besonders bemerkenswert (vgl.
Alex. I, 46–47: Semperne putabor | Nectanabi proles? Ut degener ar­
guar, absit!). Ohne sich Alexanders Worte zu Herzen zu nehmen,
steigt Zoroas von seinem Wagen und verwundet den makedoni-
schen König mit einem Schwerthieb am Oberschenkel. Daraufhin
reißt Alexander sein Pferd herum und entfernt sich vom Geschehen.
Mit diesem selbst gewählten Rückzug versetzt er sich in die Lage,
seinen Zorn zu beherrschen und kann den persischen Gelehrten
auch unter diesen schwierigen Umständen weiterhin verschonen
(vgl. Alex. III, 183–185: Infremuit Macedo, Zoroaeque ut parcere pos­
set, | admissum procul egit equum. Sic ergo remotus | continuit bilem).
⇔ Spätestens an diesem Punkt der Erörterung stellt sich die Frage
nach dem tieferen Grund für Alexanders ungewöhnliches Verhalten
gegenüber seinem persischen Gegner. Killermann (2000) 313 ver-
tritt die These, dass Alexander den persischen Gelehrten aus Mit-
leid am Leben lasse. Diese Sichtweise stellt jedoch eine unzulässige
Kommentar zu Buch III 719

Projektion moderner individualpsychologischer Kategorien auf die


Zeit Walters dar. Denn trotz der fehlenden Einsicht des Zoroas lässt
Alexander diesen eben gerade nicht aus Mitleid am Leben, sondern
verschont ihn in einer auch und gerade für ihn selbst lebensbedroh-
lichen Situation in einem Akt der angemessenen Zürnkraft, indem
er in Übereinstimmung mit den Anweisungen der Aristoteles-Re-
de den Impuls des Zorns – durch die Mittelstellung des Finalsat-
zes und die dadurch hervorgerufene Nähe von Subjekt und Objekt
der Handlung sprachlich gekonnt zum Ausdruck gebracht – in
eine von der Vernunft getragene – Zoroas ist der Welt durch sein
herausragendes Wissen nämlich von Nutzen – moralisch richtige
Handlung überführt (zur Verschonung Athens aus vergleichbaren
Gründen vgl. Komm. I, 268–283; zur tropologischen Ebene der
Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung
7.4; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs πρᾳότης
bzw. des lateinischen Begriffs humilitas mit angemessener Zürnkraft
vgl. die Einführung zu Buch I; zur Tugend der angemessenen Zürn­
kraft vgl. auch Komm. I, 115). Damit macht Walter deutlich, dass
die Tauglichkeit eines Herrschers und der Erfolg eines Feldherrn in
der Schlacht gerade durch dessen Fähigkeit bestimmt wird, einen
Affekt wie den Zorn genau im richtigen Maß zuzulassen und nicht
in einer Überreaktion eine unvernünftige Entscheidung zu treffen
(vgl. Gartner 2018, 43–53, v.a. Anm. 22). ⇔ Auch wenn Alexan-
der dem gelehrten Astrologen aus den genannten Gründen keinen
Schaden zufügt, wird er schließlich doch von Meleager und anderen
griechischen Kämpfern getötet.

Die Reaktion des Darius (189–202)

189–202 Tunc vero in Darium pondus discriminis omne | conversum


est. Quid agat? … Dum dubitat fugiatne pedes sesene laboret | perdere
… transtulit Eufraten ac se Babilona recepit: Nach der über die Zoro-
720 KOmmentar

as-Episode erfolgten Inszenierung der Tugendhaftigkeit Alexanders


hinsichtlich der Tugend der angemessenen Zürnkraft nimmt Walter
kontrastierend dazu Darius in den Blick, der im Unterschied zum
makedonischen König alle Tugenden eines erfolgreichen Feldherrn
vermissen lässt. Walter schildert den persischen König in bewuss-
tem Kontrast zu Alexander als einen vom Blutzoll des Schlachtfelds
überwältigten Anführer, der von den Seinen verlassen und von
Selbstzweifeln geplagt zögerlich überlegt, ob er zu Fuß fliehen oder
seinem Leben auf der Stelle selbst ein Ende bereiten soll (vgl. Alex.
III, 190–196). Dabei scheint Walter das Bild des lucanischen Pom-
peius vor Augen gehabt zu haben, der nicht anders als Darius bei
der Betrachtung des von Leichen übersäten Schlachtfelds von Phar-
salus überlegt, ob er sich lieber in den Tod stürzen oder aber besser
die Flucht ergreifen soll (vgl. Luc., Phars. VII, 669–682; vgl. auch
Zwierlein 2004, 615–616). ⇔ Erst ein von Perdikkas geworfener
Speer, der Darius am Kopf trifft und ihn vom Wagen schleudert,
beendet sein Gedankengefängnis und lässt ihn die Flucht durch die
nahen Wälder ergreifen. Auf dem Rücken eines beigebrachten Pfer-
des erreicht er schließlich den Euphrat und seine Residenz Babylon.
⇔ Darius wird in der Situation der Schlacht von der Last der Ent-
scheidung geradezu erdrückt. Er besitzt nicht die in der Aristote-
les-Rede mit den Worten metire oculos eingeforderte Fähigkeit, eine
von der Vernunft getragene Entscheidung über das weitere Vorge-
hen zu treffen und strategisch zu ermessen, welche taktische Maß-
nahme situativ die richtige für den Erfolg in der gerade tobenden
Schlacht sein könnte (vgl. Alex. I, 133; vgl. auch Gartner 2018, 57).
Zudem hat Darius auf die falschen Leute vertraut, indem er ganz im
Unterschied zu Alexander – die Aristoteles-Rede hatte genau davor
gewarnt – sklavenhafte, charakterlich weniger befähigte und demzu-
folge minder vernunftbegabte Personen in wichtige Positionen ge-
bracht hat, die im Ernstfall nicht die charakterliche Größe und das
menschliche Format besitzen, einem zahlenmäßig zwar unterlege-
nen, moralisch jedoch überlegenen Gegner erfolgreich die Stirn zu
Kommentar zu Buch III 721

bieten. Darius flieht ebenso wie seine von Walter als feige gebrand-
markten Krieger – pedes declinat et inter | degeneres profugosque legit
compendia saltus –, verletzt also zudem die in der Aristoteles-Rede
gemachten Vorgaben hinsichtlich der für einen Feldherrn zentralen
Tugend der Tapferkeit, nach welcher der Anführer stets als letzter
das Schlachtfeld verlassen soll, um diejenigen zu beschämen, die
bereits zuvor dem Kriegsschauplatz den Rücken zugewandt haben
(vgl. Komm. I, 84–91; vgl. auch Komm. III, 4–20). In derselben
Weise wird zu einem späteren Zeitpunkt Darius’ Entscheidung, den
von Walter mehrfach explizit als sklavisch bezeichneten Bessus in
ein hohes Amt zu berufen, als Grund für den Niedergang des per-
sischen Königs aufgezeigt (vgl. Alex. VII, 80–90). ⇔ Demnach ist
die Niederlage der Perser gegen die Griechen in ihrem Kern nicht
irgendeinem Zufall, dem Eingreifen der Götter oder dem fehlenden
Schlachtenglück geschuldet, sondern wird vom Autor der Alexan­
dreis ganz bewusst als das Ergebnis der moralischen Unterlegenheit
der Perser und ihres Königs Darius in Szene gesetzt (zur tropologi-
schen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos
vgl. Einleitung 7.4).

Die Folgen der Flucht des Darius (203–214)

203–214 Hunc ubi furtiva belli mortisque ruinam … dedecoris mortis­


que luem fugiendo meretur: Der inneren Notwendigkeit seiner Dar-
stellung folgend, schildert Walter im Anschluss an Darius’ Flucht die
fatalen Auswirkungen eines derartigen Verhaltens auf jene Männer,
die in ihrem Kampfgeist – der Perser Mazaeus wird dabei explizit als
tapferer Krieger genannt – die Schlacht noch nicht verloren gegeben
haben. ⇔ In einem kurzen Autorkommentar macht Walter anschlie-
ßend auf einer abstrakten Ebene deutlich, dass die unmittelbaren
Auswirkungen eines moralischen Fehlverhaltens eines Anführers auf
die kämpfende Truppe im Sturz der Abteilungen und im Wanken
722 KOmmentar

des gesamten Heeres liegen (vgl. Alex. III, 210–211). Im konkreten


Fall untergräbt Darius’ schlechtes Beispiel auch unter den tapfersten
persischen Kämpfern die Moral und lässt die Angst vor dem eigenen
Tod die Oberhand gewinnen. Viele Kämpfer verlieren auf der Flucht
ihr Leben und sterben so einen schmachvollen Tod. Darius missach-
tet die Vorbildfunktion eines Feldherrn und Königs und kann dem-
zufolge nicht mehr auf die Loyalität seiner Krieger zählen (vgl. Alex.
I, 128–132). Der Führungsanspruch eines Feldherrn ist zudem eng an
dessen Überzeugungskraft geknüpft, die in Darius’ Fall durch dessen
zögerliche Zurückhaltung und ängstliche Flucht anders noch als in
der Feldherrnrede vor der Schlacht bei Issus zu diesem Zeitpunkt
nicht mehr zu erkennen ist. (vgl. Alex. I, 118–127). Walter inszeniert
den persischen König somit als einen Anführer, der im Unterschied
zu Alexander die zentralen Tugenden eines Feldherrn vermissen lässt
– abermals wird dabei der Programmcharakter der Aristoteles-Rede
für das gesamte Epos deutlich – und mit seinem Vorhaben, den ma-
kedonischen Eroberer in die Schranken zu weisen, notwendigerweise
scheitern muss (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum
moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4; zu dem für die gesam-
te Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede
vgl. auch Einleitung 7.4).

Alexanders Sieg bei Issus und seine Folgen (215–242)

Nach dem Ende der Kampfhandlungen schildert Walter das weite-


re Vorgehen Alexanders und seiner Soldaten und beleuchtet dabei
deren Umgang mit den besiegten Persern. Zu Beginn und am Ende
des Abschnitts gibt Walter das vorbildliche Verhalten Alexanders im
Umgang mit seinen Soldaten und der in griechische Gefangenschaft
geratenen Familie des Darius wieder. Darin eingebettet werden in
zwei thematisch voneinander getrennten Sequenzen die weit weni-
ger tugendhaft agierenden griechischen Soldaten in ihrer überbor-
Kommentar zu Buch III 723

denden Gier und ihrer brutalen Hemmungslosigkeit dargestellt.


Mit der damit einhergehenden chiastischen Struktur verstärkt Wal-
ter den bereits während der Schlacht auf die herausragende Tugend-
haftigkeit des makedonischen Königs gerichteten Blick und macht
damit deutlich, dass dieser im Unterschied zu seinen Soldaten auch
nach der Schlacht bei Issus seinen von den Anweisungen der Aristo-
teles-Rede geprägten Weg nicht verlässt und demzufolge nicht nur
zu siegen weiß, sondern auch mit dem Sieg umzugehen versteht.

Die Verteilung der Beute (215–220)

215–220 Iam satur ad loculum redit ensis, et ipse Pelasgos … It celer


et partas partitur partibus equis  | victor opes: Alexander gibt seine
Leuten das Zeichen, die Kampfhandlungen einzustellen und be-
fiehlt ihnen, zu den im Wald versteckten Schätzen der besiegten
Perser zu eilen. Der makedonische König selbst übernimmt da-
bei in weiser Voraussicht die Verteilung der Beute, um unter den
Männern erst gar keinen Streit aufkommen zu lassen. ⇔ War das
Augenmerk während der Schlacht bei Issus naturgemäß noch auf
Alexanders Tapferkeit und dessen angemessene Zürnkraft gerichtet,
so lenkt Walter nach der gewonnenen Schlacht mit der Tugend der
angemessenen Gebefreudigkeit den Blick auch auf die dritte wesent-
liche Feldherrntugend (zur deutschen Übersetzung des griechischen
Begriffs ἐλευθεριότης bzw. des lateinischen Begriffs liberalitas mit
angemessener Gebefreudigkeit vgl. die Einführung zu Buch I). Alex-
anders Verhalten nach der Schlacht bei Issus entspricht dabei exakt
den Vorgaben der Aristoteles-Rede, nach denen der siegreiche Feld-
herr nach einem Sieg die Schatzkammern des Feindes öffnen und
die eigenen Soldaten mit Geschenken, Schätzen und Gold über-
häufen soll, um deren von der Schlacht angegriffenen Gemüter zu
heilen (vgl. Alex. I, 144–150). Nach den in der Aristoteles-Rede for-
mulierten Maßstäben ist es innerhalb des Gegenstandsbereichs des
724 KOmmentar

Gebens und Nehmens nämlich nicht nur erlaubt, sondern geradezu


geboten, die Schätze des besiegten Gegners an sich zu nehmen (vgl.
Gartner 2018, 60). Die im Kontext dieser Tugend aus den Worten
partas partitur partibus equis | victor opes bestehende zentrale Pas-
sage wird von Walter stilistisch elegant durch ein aus drei Gliedern
gebildetes Polyptoton hervorgehoben, das seinerseits durch die ge-
sperrte Stellung der miteinander korrelierenden Begriffe partas und
opes Teil eines Hyperbatons ist (vgl. Alex. III, 219–220). ⇔ Mit den
innerhalb dieser Sperrung aufeinander bezogenen Worten partibus
equis verbindet Walter zudem gekonnt die Tugend der angemesse­
nen Gebefreudigkeit mit der als Sonderfall allen Feldherrntugenden
übergeordneten Tugend der Gerechtigkeit (Komm. I, 105–114). ⇔
Mit der Einlösung seines im Antwortbrief an Darius zu Beginn von
Buch II gegebenen Versprechens, nach seinem Sieg die Geldschatul-
len der Griechen mit persischem Gold zu füllen, erfüllt Alexander
darüber hinaus auch die eng mit der Tugend der angemessenen Ge­
befreudigkeit in Verbindung stehende Tugend der Wahrhaftigkeit
(vgl. Alex. II, 41–42; zur Tugend der Wahrhaftigkeit vgl. Komm.
I, 155). ⇔ Die neben der Tugend der Wahrhaftigkeit ebenfalls in
enger Verbindung zur Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit
stehende Tugend der angemessenen Zuwendung wird von Walter
an dieser Stelle nicht ausgeführt, da diese freilich nur dann Anwen-
dung finden kann, wenn der Feldherr in Ermangelung ausreichen-
der Beute nicht in der Lage ist, seine Soldaten reich zu beschenken
(zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs φιλíα bzw. des
lateinischen Begriffs amicicia mit angemessener Zuwendung vgl. die
Einführung zu Buch I).

Die Gier der Soldaten nach Gold (220–227)

220–227 Onerantur equi, gemit axis avarus … et inaures perdidit


auris: Anders als Alexander, der die Beute vernunftgeleitet nach
Kommentar zu Buch III 725

gerechten Maßstäben verteilt, versuchen seine von Habgier getrie-


benen Soldaten so viel Gold wie nur möglich zusammenzuraffen
und auf den – mittels einer Enallage stilistisch hervorgehoben – als
avarus bezeichneten Wagen zu verladen. Die randvoll mit Gold ge-
füllten Säcke reichen dafür nicht aus, so dass die vom Einsammeln
bereits müden Hände der Soldaten auch Stiefel und Gewänder mit
Goldstücken vollstopfen. Die Habgier der Soldaten macht auch
nicht vor den persischen Frauen halt, denen sie sämtlichen Schmuck
vom Körper reißen. ⇔ Geht man davon aus, dass die griechischen
Soldaten mit ihrem Raubzug nun zufrieden sein sollten, wird dem
Leser damit auch die in der Aristoteles-Rede mit den Worten sic in­
opi dives largusque medetur avaro zum Ausdruck gebrachte heilende
Wirkung der angemessenen Gebefreudigkeit auf habgierige Soldaten
vor Augen geführt (vgl. Alex. I, 151).

Die Hemmungslosigkeit der Soldaten (228–233)

228–233 Itur in amplexus nuptarum … vis illata levat, minuitque


coactio culpam: Nach der Befriedigung ihrer Goldgier vergewalti-
gen die griechischen Soldaten in aller Öffentlichkeit zahlreiche per-
sische Frauen. Obgleich Walter auch einige Soldaten erwähnt, die
sich nicht an diesen Gewalttaten beteiligen und um Vergebung für
ihre Kameraden bitten, macht er doch keinen Hehl daraus, dass er
diese als verabscheuungswürdig und in höchstem Maße als inak-
zeptabel betrachtet. ⇔ Walter möchte mit dieser Passage offenbar
zum Ausdruck bringen, dass die unter moralischen Gesichtspunk-
ten herausragende Stellung Alexanders nicht grundsätzlich auch für
die einfachen Soldaten gilt, die mit ihrem Verhalten einen deutlich
wahrnehmbaren Kontrast zu ihrem König bilden.
726 KOmmentar

Alexander und die Familie des Darius (234–242)

234–242 Maiestate tamen salva salvoque pudore | tota domus Da­


rii … Tantus enim virtutis amor tunc temporis illi | pectore regnabat:
Kontrastierend dazu schildert Walter den makedonischen König als
nachsichtigen und milden Sieger, der Darius’ Familie in Ehren hält
und diese in die eigene Familie aufnimmt. Alexander hat sich im
Unterschied zu seinen Soldaten weder von der Gier nach Gold noch
von niederen Instinkten dazu hinreißen lassen, den Weg der Tugend
zu verlassen. ⇔ Mit den Worten tantus enim virtutis amor tunc tem­
poris illi | pectore regnabat fasst Walter noch einmal das in jeglicher
Hinsicht tugendhafte Verhalten Alexanders zusammen und macht
damit deutlich, dass der makedonische König hinsichtlich der An-
forderungen an einen vorbildlichen Feldherrn aus antik-paganer
ebenso wie auch aus christlicher Sicht zu diesem Zeitpunkt noch
alle Vorgaben erfüllt und demzufolge vom Autor der Alexandreis
eine in moralischer Hinsicht ausschließlich positive Bewertung er-
fährt (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum morali-
schen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4).

Moralexkurs: Die Überschreitung menschlicher Macht (242–257)

242–257 Si perdurasset in illo | ille tenor, non est quo denigrare va­
leret  | crimine candentem tytulis infamia famam … minimumque
videtur | esse sibi cum sit inter mortalia summus: Nach der Schlacht
bei Issus und den unmittelbaren Folgen des griechischen Sieges
meldet sich Walter in einem als Vorverweis gestalteten Moralexkurs
zu Wort, mit dem er insbesondere aus christlicher Perspektive das
mit den Worten Persarum rebus adeptis explizit auf die Zeit nach
dem Perserkrieg bezogene Fehlverhalten Alexanders kritisch in den
Blick nimmt (vgl. Alex. III, 245; zur Funktion der Vorverweise in
der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). Kontrastierend zu dessen oben
Kommentar zu Buch III 727

geschilderten fürsorglichen Umgang mit der in griechische Gefan-


genschaft geratenen Familie des Darius besteht Walters unmissver-
ständlich zum Ausdruck gebrachter Vorwurf an seinen wichtigsten
Protagonisten darin, dass dieser sich nach dem Sieg über das Perser-
reich und der damit einhergehenden außerordentlichen Machtfül-
le in Überschreitung seiner königlichen Stellung Unerlaubtes und
Erlaubtes erlauben und als pflichtvergessener Feind seiner Freunde
– ein auch aus antik-paganer Sicht gravierender Vorwurf – später
auch nicht vor Mord unter seinen Getreuen und häuslichem Zank
zurückschrecken wird (vgl. Alex. III, 246–252: suasitque licere | illi­
citum et licitum genitrix opulentia luxus, | corrupit fortuna physim,
cursuque retorto | substitit unda prior, viciorum cautibus herens. | Qui
pius ergo prius erat hostibus, hostis amicis | inpius in cedes et bella do­
mestica demum | conversus, ratus illicitum nichil esse tyranno). Ein
aus christlicher Sicht allerdings noch sehr viel schwerwiegenderes
Fehlverhalten liegt in den Augen des Autors der Alexandreis im
frevelhaften Anspruch Alexanders vor, als Spross Jupiters gelten zu
wollen und es ihm bei seinem Streben nach Gottgleichheit in sei-
ner Hybris am wenigsten zu gelten scheint, unter den Sterblichen
der Größte zu sein (vgl. Alex. III, 253–257: Preterea quis pretereat
summum sibi patrem | usurpasse Iovem? Nam se genitum Iove cre­
di | imperat et excedit hominem transgressa potestas, | seque hominem
fastidit homo, minimumque videtur | esse sibi cum sit inter mortalia
summus). Mit dieser Kritik an der fehlenden Unterordnung unter
den christlichen Gott macht Walter auch hinsichtlich dieses aus
christlicher Sicht maßlosen Anspruchs des makedonischen Königs
unmissverständlich klar, dass göttliche Macht die Möglichkeiten des
Menschen grundsätzlich überschreitet und demzufolge auch Alex-
anders Möglichkeiten natürliche Grenzen gesetzt sind (vgl. Alex. III,
255: et excedit hominem transgressa potestas; zur Stellung des Moral-
exkurses von Buch III innerhalb der Gesamtstruktur der Alexan­
dreis vgl. Einleitung 7.4; vgl. auch Gartner 2018, 73–79).
728 KOmmentar

Parmenion nimmt Damaskus ein (258–273)

258–273 Mittitur interea cum Parmenione Damascum … Sic pene


malorum  | omnia cum quodam veniunt incommoda fructu: Noch
vor der Schlacht bei Issus hatte Darius den größten Teil seines Ver-
mögens nach Damaskus bringen lassen (vgl. Komm. II, 272–305).
Alexander schickt nun nach dem Sieg über die Perser seinen wich-
tigsten General Parmenion dorthin, um die Stadt zu erobern und
den größten Teil des dort verbliebenen Schatzes an sich zu nehmen.
Zu Parmenions Überraschung leistet der von Walter als proditor
infidus gescholtene persische Anführer keinen Widerstand, son-
dern übt an seinem König Darius Verrat, indem er mit einer List
die eigenen Leute dem Feind ausliefert und den Schatz bereitwil-
lig den Griechen überlässt (vgl. Alex. III, 262). Als Grund für den
Frontenwechsel des persischen Anführers führt Walter den durch
Alexanders Sieg bei Issus aus persischer Sicht eingetretenen Wandel
des Schicksals an, den er stilistisch durch das Polyptoton for­tunae
namque meatu  | mutato mutatus erat hervorhebt (Alex. III, 263–
264). ⇔ Obwohl Walter das Verhalten des persischen Verräters als
Verbrechen und heimtückischen Betrug brandmarkt, kommt er
doch zu dem Schluss, dass Darius sich ungeachtet des Verlustes von
Männern und Vermögen damit trösten könne, dass auch der Ver-
räter seinen Verrat nicht überlebt hat (Alex. III, 264–266: Sic unius
uno | crimine Persarum cesis tot milibus, ipse | cum reliquis cecidit).
⇔ Obgleich die hier wiedergegebene Episode im Wesentlichen der
Schilderung bei Curtius entspricht, lässt sich doch ein für Walters
Art der Inszenierung charakteristischer Unterschied feststellen.
Während der antike Historiker seine Trostgründe ausschließlich mit
Darius in Verbindung bringt, hebt Walter mit der Bemerkung, dass
das Schicksal Übeltätern ihren heimtückischen Betrug bisweilen
verdientermaßen heimzahlt und beinahe alle Übel mit einem gewis-
sen Nutzen daherkommen, seine eigene Darstellung auf eine über
das rein historische Geschehen hinausgehende allgemein-morali-
Kommentar zu Buch III 729

sche Ebene (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der
Alexandreis vgl. Einleitung 5). Damit stellt Walter zum wiederhol-
ten Mal die Verbindung zu den moralischen Vorgaben der Aristote-
les-Rede her, die gemäß ihrem für die Alexandreis insgesamt gelten-
den Programmcharakter im weiteren Handlungsverlauf des Epos
insofern wirksam wird, als die Taten der Protagonisten ausnahmslos
immer nur dann von Erfolg gekrönt sind, wenn diese sich im Sin-
ne der aristotelischen Tugendlehre verhalten, sie umgekehrt jedoch
bei einem Verstoß gegen diese maßgebliche Tugendlehre auch die
negativen Konsequenzen ihrer Taten in Kauf nehmen müssen (zu
dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der
Aristoteles-Rede vgl. auch Einleitung 7.4).

Alexander auf dem Weg nach Phönizien (274–287)

274–287 Septimus accenso Phebea lampade mundo … plurima suppo­


sitis mortem ballista minatur: Nach der dem Brauch gemäßen Lei-
chenbestattung zieht Alexander mit seinem Heer zur phönizischen
Stadt Sidon weiter, die er sogleich ohne größere Probleme einnimmt.
Das weiter südlich gelegene Tyrus indes leistet dem makedonischen
Angreifer entschlossenen Widerstand. Die hochragenden Mauern
der Stadt sind mit Kämpfern besetzt, die Tore werden von schwerbe-
waffneten Schutzmannschaften geschützt und die Wurfmaschinen
sind in Stellung gebracht. ⇔ Entgegen der bei Curtius ausführlich
wiedergegebenen Darstellung der Belagerung der Stadt legt Walter
den Schwerpunkt seiner überaus komprimierten Erzählung auf die
Tapferkeit Alexanders, den der Anblick der abwehrbereiten Stadt in
Erwartung einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Freude er-
füllt. Nach Curtius’ Bericht war Alexander alles andere als begeis-
tert, einen derartigen Aufwand für die Eroberung einer einzigen
Stadt zu betreiben. Mehrfach soll er sogar ernsthaft überlegt haben,
die am Ende sechs Monate dauernde Belagerung abzubrechen (vgl.
730 KOmmentar

Curt., Hist. Alex. IV, 4, 1–2: Hic rex fatigatus statuerat soluta ob­
sidione Aegyptum petere. Quippe cum Asiam ingenti velocitate per­
cucurrisset, circa muros unius urbis haerebat tot maximarum rerum
opportunitate dimissa). Insofern lässt sich die an der vorliegenden
Stelle von seiner historischen Vorlage abweichende Darstellung
Walters als noch häufiger zu beobachtender Versuch werten, die
Schattenseiten seines wichtigsten Protagonisten innerhalb des heils-
geschichtlich legitimierten Perserkriegs auszublenden und lediglich
Alexanders Tugendhaftigkeit auffällig in Szene zu setzen (zu Walters
bewussten Abweichungen von Curtius vgl. Einleitung 3).

Alexander erobert Tyrus (288–329)

288–329 Verum ubi longa dies afflictis civibus urbem … Nec mi­
nus excidium coniunx Cithereius infert: Noch vor dem Beginn der
Kampfhandlungen schickt Alexander Gesandte in die Stadt, um
eine kampflose Übergabe zu erwirken. Die Tyrer ermorden die Ge-
sandten jedoch, was Walter mit deutlichen Worten als Verletzung
des Friedens und des Rechts der Völker brandmarkt. Mit diesem
frevelhaften Verhalten beschwören die Tyrer den Zorn des makedo-
nischen Königs herauf, der daraufhin den Befehl zur Zerstörung der
Stadt gibt (vgl. Alex. III, 294–302). ⇔ Auch wenn die Ermordung
der Gesandten und die völkerrechtliche Einordnung dieser schänd-
lichen Tat von Curtius vorgeprägt sind, versucht Walter Alexanders
Entscheidung zur Zerstörung der Stadt durch eine stilistisch auffäl-
lig gestaltete Rechtfertigung, nach der diejenigen keinen Anspruch
auf Gnade verdient haben, bei denen eine Gesandtschaft der Gnade
und des Friedens überhaupt keine Gnade fand, zusätzlich zu legiti-
mieren (vgl. Alex. III, 299–301: nec enim veniam meruere mereri, | in
quibus et veniae et pacis legatio nullam | invenit veniam). Wie schon
im Kontext der Einnahme von Damaskus durch Parmenion bedient
sich Walter auch an der vorliegenden Stelle eines Polyptotons, um
Kommentar zu Buch III 731

seine Aussage stilistisch zu unterstreichen. ⇔ Damit inszeniert Wal-


ter anhand der Person Alexanders erneut die in der Aristoteles-Rede
ausgeführte Tugend der angemessenen Zürnkraft, indem der make-
donische König von der Vernunft geleitet – die Tyrer haben durch
die völkerrechtswidrige Ermordung der griechischen Gesandten
keine Schonung verdient – Tyrus dem Erdboden gleichmacht (zur
Bestrafung von Theben aus vergleichbaren Gründen vgl. Komm.
I, 284–348; zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs
πρᾳότης bzw. des lateinischen Begriffs humilitas mit angemessener
Zürnkraft vgl. die Einführung zu Buch I). ⇔ Darüber hinaus stellt
Walter Alexanders Rolle als die eines gerechten Richters heraus, des-
sen Aufgabe es ist, eine frevelhafte Tat auch tatsächlich zu sühnen
(vgl. Alex. III, 293: et a nullo scelus equo iudice pensans). Damit ver-
bindet Walter die Tugend der angemessenen Zürnkraft mit der als
Sonderfall allen Feldherrntugenden übergeordneten Tugend der
Gerechtigkeit. Eine derartige Verbindung war schon im Kontext
der Verteilung der Beute nach der Schlacht bei Issus zu beobach-
ten gewesen, auch wenn dort die Tugend der Gerechtigkeit mit der
Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit in Verbindung getreten
war (vgl. Komm. III, 215–220; vgl. auch Komm. I, 105–114). Auch
die von Walter erwähnte Zurückhaltung Alexanders gegenüber eini-
gen in verschiedene Tempel geflüchteten Tyrern rundet die auf die
moralische Integrität des makedonischen Königs abzielende Dar-
stellung ab (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum
moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4).

Die historische Bedeutung von Tyrus (330–341)

330–341 Solvitur in cineres ab Agenore condita primo | nobilis illa


Tyrus … quas patria ditione tenet longumque tenebit: Über die ei-
gentliche Erzählung hinaus betont Walter in einer eigentümlich an-
mutenden Abschweifung die historische Bedeutung der Stadt Tyrus
732 KOmmentar

für die Erfindung der Schrift, die seinen Ausführungen folgend aus-
gehend von Phönizien großen Einfluss auf die griechische und latei-
nische Schrift ausgeübt hat. Darüber hinaus führt er den eigentlich
römischen Wiederaufbau der Stadt etwas eigenwillig auf das Vor-
handensein einer christlichen Gemeinde in apostolischer Zeit und
den rechten Glauben der dortigen Bewohner zurück. Auch die von
Walter ins Spiel gebrachte vermeintlich große Machtstellung von
Tyrus in späterer Zeit ist wohl eher dem zeitgenössischen Eindruck
geschuldet, nach dem die Stadt im Jahre 1124 durch den christlichen
König Balduin II. von den Arabern befreit und im Nachgang dieser
Ereignisse zum Sitz eines Erzbischofs mit dreizehn Bistümern wur-
de. ⇔ Streckenbach (1990) 215–216 stellt zudem die Bedeutung
von Tyrus als Festungsstadt im Zeitalter der Kreuzzüge und ihre
wichtige Funktion als Handelsstadt heraus (vgl. auch Wulfram
2000, 263, der Walters Abschweifung als deutliches Zeichen dafür
interpretiert, dass er sich an dieser Stelle als Christ und kreuzzugsbe-
geisterter Mensch des 12. Jahrhunderts zu erkennen geben möchte;
zu zeitgenössischen Bezügen innerhalb der Alexandreis vgl. Einlei-
tung 8).

Alexander erobert Gaza (342–369)

342–369 Premonuisse alias poterat Tyrus obruta gentes … et victis


urbem tradentibus intrat: Walter hebt an der vorliegenden Stelle
auf die Unbesiegbarkeit Alexanders ab und versteht die Zerstörung
von Tyrus als Warnung für alle anderen Völker, sich dem makedoni-
schen König nicht in den Weg zu stellen. Die Stadt Gaza jedoch wi-
dersetzt sich dem unbesiegten Eroberer und sucht unbedachterwei-
se die kriegerische Auseinandersetzung mit ihm. Die zweimonatige
Belagerung der Stadt sowie die damit einhergehenden Kampfhand-
lungen werden von Walter in zwei ineinander übergehende Szenen
zusammengezogen. Zuerst gelingt es einem feindlichen Kämpfer,
Kommentar zu Buch III 733

mit Hinterlist an Alexander heranzukommen und diesen ernsthaft


mit dem Schwert zu bedrohen. ⇔ Mit einer derartigen Inszenierung
der unmittelbaren Todesgefahr für Alexander verfolgt Walter die
Absicht, auf das unabänderliche Schicksal des makedonischen Kö-
nigs hinzuweisen, dem es nicht bestimmt ist, bei der Eroberung von
Gaza durch den Schwerthieb eines Barbaren zu sterben, sondern für
den durch einen von der Schicksalsgöttin Lachesis gebrauten und
für einen späteren Zeitpunkt aufbewahrten Sud der Tod durch Gift
vorgesehen ist (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in
der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Damit gibt Walter erneut einen
deutlichen Hinweis auf das Ende seines wichtigsten Protagonisten,
der – wie noch zu sehen sein wird – eben nicht in einer Schlacht
oder wegen einer Krankheit sein Ende findet, sondern auf Betreiben
der Göttin Natura und unter tätiger Mithilfe von Leviathan für sein
aus christlicher Sicht maßloses Verhalten den Tod im Epos erleiden
wird. ⇔ Zudem ist Walter wie schon bei Alexanders Zweikampf mit
Arethas zu Beginn der Schlacht bei Issus ein weiteres Mal bestrebt,
die Tapferkeit des makedonischen Königs herauszustellen, der sich
trotz einer zuvor erlittenen Verletzung an der Schulter und einem
zertrümmerten Schienbein ohne Rücksicht auf das eigene Leben in
den Kampf stürzt und den feindlichen König tötet. ⇔ Wie in zahl-
reichen Szenen zuvor ist Walter auch bei der Eroberung von Gaza
versucht, seinen wichtigsten Protagonisten in ein positives Licht zu
rücken und jegliche Kritik an der Person Alexanders auszusparen.
Dies wird besonders deutlich, wenn man Curtius’ Schilderung die-
ser Szene hinzuzieht, in welcher der makedonische König anders als
in Walters Darstellung den Befehlshaber der Stadt namens Betis um
die Mauern schleift und sich brüstet, mit dieser Art der Bestrafung
in Achills Fußstapfen getreten zu sein (vgl. Curt., Hist. Alex. IV,
6, 29–30: Per talos enim spirantis lora traiecta sunt religatumque ad
currum traxere circa urbem equi gloriante rege, Achillen, a quo genus
ipse deduceret, imitatum se esse poena in hostem capienda; zur vorlie-
genden Szene vgl. die Einführung zu Buch III; zu Walters bewussten
734 KOmmentar

Abweichungen von Curtius vgl. auch Einleitung 3). Mit der Auslas-
sung dieser Szene wird damit zum wiederholten Mal das grundsätz-
liche Bestreben des mittelalterlichen Autors erkennbar, seinen wich-
tigsten Protagonisten innerhalb des heilsgeschichtlich legitimierten
Perserkriegs von einer moralischen Kritik zu verschonen.

Alexander nimmt Ägypten ein; Alexanders Besuch


in der Oase Siwa (370–407)

370–407 Hinc ubi disposuit procerum discretio regno | tendit in Egyp­


tum … Aurorae sedes atque invia solis, adire: Alexanders Einnahme
Ägyptens wird von Walter nur kurz erwähnt. Im Unterschied zu
den phönizischen Städten trifft Alexander in Ägypten auf keinen
nennenswerten Widerstand, da das Land am Nil in den Jahren zu-
vor mehrfach von den Persern abgefallen war und erst seit wenigen
Jahren wieder unter Darius’ Herrschaft stand. Hinzu kommt, dass
der für Ägypten zuständige persische Satrap Sabakes mit einem gro-
ßen Truppenkontingent an der Schlacht bei Issus teilgenommen
hatte und dort im Kampf gefallen war, so dass der neue Satrap Ma-
zakes dem anrückenden griechischen Heer auch zahlenmäßig nichts
entgegenzusetzen hatte (vgl. Demandt 2013, 162). ⇔ Ausführlich
wiedergegeben wird im Unterschied dazu der Besuch des makedo-
nischen Königs in der Oase Siwa, in der sich das Zeus-Hammon-
Orakel befand. Walter beschreibt dabei im ersten Teil seiner Darstel-
lung den beschwerlichen Weg zu diesem Orakel, der sich durch ein
Meer aus Sand ohne irgendeinen grünen Baum oder ein bestelltes
Feld und von Sandstürmen heimgesucht schier endlos dahinzieht
(vgl. Alex. III, 373–385). Der von Walter bemühte Vergleich mit den
der griechischen Mythologie entstammenden Gestalten Skylla und
Charybdis unterstreicht die große Gefahr für Leib und Leben der
Reisenden, von denen nach vier entbehrungsreichen Tagen tatsäch-
lich auch nicht alle die Oase erreichen. Im zweiten Teil seiner Dar-
Kommentar zu Buch III 735

stellung gibt Walter ausführlich die wundersamen Eigenschaften


der dortigen Quelle wieder, deren Temperatur sich komplementär
zur stark variierenden Umgebungstemperatur verhält und beispiels-
weise während der größten Mittagshitze eiskaltes Wasser sprudeln
lässt (vgl. Alex. III, 386–403). Im dritten und letzten Teil seiner Dar-
stellung schildert Walter die Befragung des Orakels und die damit
verbundenen Opferhandlungen (vgl. Alex. III, 404–405). ⇔ Wie
am Beispiel der Eroberung von Gaza bereits dargelegt, lässt sich
auch an dem hier beschriebenen Besuch der Oase Siwa beispielhaft
aufzeigen, wie Walter im Unterschied zu seiner historischen Haupt-
quelle Curtius die Absicht verfolgt, den in seiner Vorlage gegenüber
Alexander intendierten kritischen Ton durch gezielte Auslassungen
auszublenden (zu Walters bewussten Abweichungen von Curtius
vgl. Komm. III, 274–287; vgl. auch Komm. III, 342–369; vgl. auch
Einleitung 3; vgl. auch Wiener 2001, 29). Während sich Walter mit
den Worten ardet rex Lybici Hamonis adire darauf beschränkt, le-
diglich Alexanders grundsätzliche Motivation für den Besuch des
Hammon-Orakels zu erwähnen, wird bei Curtius der Grund für die
immerhin beschwerliche Reise in die Oase Siwa explizit mit Alex-
anders Wunsch, als Sohn Jupiters gelten zu wollen, in Verbindung
gebracht (vgl. Curt., Hist. Alex. IV, 7, 8–9: Sed ingens cupido ani­
mum stimulabat adeundi Iovem, quem generis sui auctorem haud
contentus mortali fastigio aut credebat esse aut credi volebat). Noch
deutlicher wird dieses Vorgehen Walters, wenn man die Befragung
des Orakels selbst vergleichend hinzuzieht. Während Walter mit den
Worten Rex ubi consulto letus Iove munera solvit, | regreditur Mem­
phim lediglich davon berichtet, dass Alexander nach der Befragung
des Orakels voller Freude die Opferhandlungen ausgeführt hat und
vom Autor der Alexandreis dabei dessen Fragen ebenso wie die Ant-
worten des Orakels schlichtweg unterschlagen werden, unterzieht
Curtius den makedonischen König erneut hinsichtlich seines An-
spruchs, als Jupiters Sohn gelten zu wollen, auch hier einer deutlich
zum Ausdruck gebrachten Kritik (vgl. Curt., Hist. Alex. IV 7, 29–
736 KOmmentar

31: Vera et salubri aestimatione pensanti fidem oraculi vana profecto


responsa ei videri potuissent: sed fortuna, quos uni sibi credere coegit,
magna ex parte avidos gloriae magis quam capaces facit. Iovis igitur
filium se non solum appellari passus est, sed etiam iussit rerumque
gestarum famam, dum augere vult tali appellatione, corrupit). Der
mögliche Einwand, dass Walter seinem wichtigsten Protagonisten
eben diesen Vorwurf bereits im obigen Moralexkurs macht und er
an dieser Stelle nicht erneut Alexanders Streben nach Gottgleichheit
thematisieren will, greift jedoch zu kurz, da zwischen dem Moralex-
kurs und der Befragung des Orakels in der Oase Siwa ein in struktu-
reller Hinsicht entscheidender Unterschied besteht. Während sich
die Aussagen im Moralexkurs nämlich auf die Zeit nach dem heils-
geschichtlich legitimierten Perserkrieg beziehen, hätten die Fragen
an das Orakel und das darin zum Ausdruck gebrachte Streben nach
Gottgleichheit Einfluss auf die unmittelbare Gegenwart Alexanders
bei seinem Feldzug in Ägypten und der noch anstehenden Schlacht
bei Gaugamela gehabt. Da sich Walter jedoch wie bereits mehrfach
vor Augen geführt innerhalb des Perserkriegs abgesehen von einigen
bewusst inszenierten Vorverweisen auf die Zeit nach dem Perser-
krieg einer Kritik an Alexander weitgehend enthält, vermeidet er in
der Übernahme seiner historischen Hauptquelle Curtius Passagen,
die auf den Moment bezogen ein schlechtes Licht auf die Person des
makedonischen Königs werfen könnten. Dieses Vorgehen Walters
lässt sich noch an einem weiteren Beispiel im Kontext der Befragung
des Hammon-Orakels in der Oase von Siwa aufzeigen. Während
Walter wie erwähnt auf die von Alexander an das Orakel gestellten
Fragen inhaltlich in keiner Weise eingeht, berichtet Curtius, dass
dem makedonischen König auf die Frage, ob ihm nach des Gottes
Ratschluss die Weltherrschaft bestimmt sei, vom Orakel die Ant-
wort gegeben wird, dass er Herr über alle Länder sein werde (vgl.
Curt., Hist. Alex. IV, 7, 26–27). Das bei Curtius mit den Worten
totius orbis imperium zum Ausdruck gebrachte Streben Alexanders
nach der Weltherrschaft berührt ebenso wie der Anspruch, als Jupi-
Kommentar zu Buch III 737

ters Sohn gelten zu wollen, einen wesentlichen Punkt hinsichtlich


der moralischen Beurteilung des makedonischen Königs innerhalb
der Alexandreis. Auch diesen innerhalb der Erzählung über den
Perserkrieg beinahe ausschließlich in bewusst inszenierten Vorver-
weisen auf die Zeit nach dem Perserkrieg zum Ausdruck gebrachten
Vorwurf – man denke dabei an Alexanders Trojabesuch – möchte
Walter hier offenbar aussparen, um seinen wichtigsten Protagonis-
ten vor einer auf die konkrete Situation der Erzählung bezogenen
moralischen Kritik zu schützen (zu Walters bewussten Abweichun-
gen von Curtius vgl. Komm. III, 274–287; vgl. auch Komm. III,
342–369; vgl. auch Einleitung 3). ⇔ Nach der Rückkehr aus der
Oase Siwa wäre Alexander nach Walters Aussage gerne noch weiter
südlich in die Gefilde Memnons und den Wohnsitz von Aurora und
Phoebus vorgestoßen. Daran hindern ihn jedoch die Rüstungsan-
strengungen der Perser für die bevorstehende Schlacht bei Gauga-
mela (vgl. Alex. III, 405–407).

Vorbereitungen für die Schlacht bei Gaugamela (408–462)

Der Abschnitt gibt auf der Erzählebene die auf beiden Seiten unter-
nommenen Vorbereitungen für die Schlacht bei Gaugamela und
die damit in Zusammenhang stehenden taktischen Manöver wie-
der. Walter streicht dabei insbesondere die ungeheueren Anstren-
gungen der Perser heraus, trotz der beiden bisherigen Niederlagen
am Granikus und bei Issus erneut ein gewaltiges Heer aufzubieten.
Narratologisch betrachtet setzt Walter in seiner Darstellung der Ge-
schehnisse unterschiedliche Schwerpunkte: Nach einer auktorialen
Bemerkung über das unabwendbare Gemetzel bei Gaugamela zu
Beginn lenkt er den Blick auf die durch historische und mytholo-
gische Vergleiche in Szene gesetzten gewaltigen Dimensionen des
persischen Heeres. Während Darius anfangs das Heft des Handelns
in die Hand zu nehmen scheint, bleibt Alexander in seinem Erstau-
738 KOmmentar

nen über die Größe des persischen Heeres zunächst nur die Rolle
des interessierten Beobachters. Erst im letzten Teil der Textpassage
ergreift Alexander ungeachtet der persischen Übermacht mit großer
Entschlusskraft und der ihm eigenen Schnelligkeit die Initiative und
treibt den persischen König bis in die Ebene von Gaugamela vor sich
her, um diesen nicht in die Weiten Asiens entkommen zu lassen.

Die Schicksalhaftigkeit der Auseinandersetzung (408–412)

408–412 Sed durum Martis et inexpugnabile tempus … artabant ri­


gidam maiora negocia mentem: Während Alexanders Aufenthalt in
Phönizien und Ägypten ist es dem persischen König gelungen, sich
von der eigentlich verheerenden Niederlage bei Issus zu erholen und
die Entscheidung in einer weiteren Schlacht zu suchen. ⇔ Walter
wendet sich an dieser Stelle direkt an den Leser und stellt klar, dass
dem unbeugsamen makedonischen König unter diesen Umständen
keine andere Wahl bleibt als sich schleunigst ebenso für den vom
Schicksal vorherbestimmten Kampf zu rüsten.

Die gewaltige Streitmacht der Perser (413–435)

413–435 Interea Darii reparato robore … fecundam capitum domuit


Tyrintius Ydram: Darius zieht eine riesige Streitmacht zusammen,
in der sich neben dem Adel auch einfache Bauern befinden, die
wegen der Schlacht bei Gaugamela sogar auf die Bearbeitung ihrer
Äcker verzichten. Begleitet wird der Heereszug von zahlreichen
Ochsen, Kamelen, Büffeln und sogar von Elefanten. Walter führt
als Gründe für die große Kampfbereitschaft der Perser nicht nur die
durch Darius’ Flucht bei Issus und durch die Gefangennahme der
Königsfamilie empfundene Scham an, sondern erwähnt auch die
von der zahlenmäßigen Überlegenheit der eigenen Kräfte genähr-
Kommentar zu Buch III 739

te Hoffnung auf ein erfolgreiches Ende der kommenden Schlacht.


Walter hebt die beeindruckenden Rüstungsanstrengungen der Per-
ser hervor, indem er sie mit den auch nicht unbedeutenden Auf-
geboten der unter Xerxes nach Griechenland ziehenden Perser und
der unter Agamemnons Führung vor Troja kämpfenden Griechen
vergleicht. Die Verwunderung des makedonischen Königs über das
durchaus überraschende Wiedererstarken des persischen Gegners
vergleicht Walter mit dem Erstaunen des Herkules bei seinen Kämp-
fen gegen den Giganten Antaeus und die lernäische Hydra, die beide
jeweils auf unterschiedliche Art und Weise ihre Kräfte zu erneuern
wussten. ⇔ Mit der bereits in der Feldherrnrede des Darius vor der
Schlacht bei Issus gezogenen typologischen Verbindung Alexanders
mit Herkules und des persischen Heeres mit dem Giganten Antaeus
macht Walter dem aufmerksamen mittelalterlichen Leser ein wei-
teres Mal deutlich, dass Alexander sozusagen als zweiter Herkules
ungeachtet der zahlenmäßigen Überlegenheit der Perser den Sieg
bei Gaugamela gegen die persischen Nachfahren des Gigantenge-
schlechts davontragen wird (vgl. Komm. I, 39–41; vgl. auch Komm.
II, 325–371; vgl. auch Komm. X, 378–432; zur allegorischen Ebene
der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl.
auch Einleitung 7.2).

Alexander setzt Darius nach (436–462)

436–462 Iamque per Eufraten discriminis immemor … fixerat in­


fausto iam tunc tentoria vico: Nachdem Alexander sein Heer über
den Euphrat geführt hat, findet er Städte und Felder von Feuer ver-
wüstet vor. Mazaeus hatte auf Darius’ Befehl zuvor alles niederbren-
nen lassen, um dem anrückenden Feind die Nahrungsgrundlage zu
nehmen und ihn damit zum Rückzug zu bewegen. Diese taktische
Maßnahme kann Alexander jedoch nicht davon abhalten, auch den
Tigris zu überqueren und den persischen König bis in die Ebene
740 KOmmentar

von Arbela zu verfolgen, in der beide Feldherrn ihre Zelte aufschla-


gen. ⇔ Mit der Formulierung sorte secunda  | usus macht Walter
deutlich, dass das eigentlich gefahrvolle und risikoreiche Vordringen
Alexanders im Zusammenhang mit der Eroberung des Perserreichs
vom Schicksal geschützt und demzufolge auch von Erfolg gekrönt
ist (vgl. Alex. III, 448–449; zur Rolle des Schicksals vgl. Komm.
II, 153–171; vgl. auch Komm. II, 186–200; vgl. auch die Einführung
zu Buch II; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der
Alexandreis vgl. auch Einleitung 5). ⇔ Auch Alexanders Streben
nach dem höchsten Ruhm wird ebenso wie dessen überragende
Schnelligkeit zum wiederholten Mal in der Alexandreis in Szene ge-
setzt und positiv herausgestellt (vgl. Alex. III, 449–450: ad summum
semper honoris | aspirans apicem, Tigri velocior ipso; zu Alexanders
Schnelligkeit vgl. Komm. I, 116–117; vgl. auch Komm. II, 388–407;
vgl. auch Komm. III, 4–10; zum Verständnis wahren Ruhms in der
Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Mit Hilfe eines dem Mythos
entnommenen Vergleichs Alexanders mit einem der Jagdhunde Ac-
taeons, die ihren von Diana zur Strafe in einen Hirsch verwandel-
ten eigenen Herrn aufspüren und zerfleischen, setzt Walter über die
Schnelligkeit hinaus auch das zielgerichtete Vorgehen Alexanders in
Szene, der unbedingt den Perserkönig in seine Hände bekommen
möchte (vgl. Ov., Met. III, 138–252). In dieselbe Richtung weist
Walters Inszenierung Alexanders als gallischen Jäger, der mit seinem
Jagdspieß einem Wildschwein nachsetzt (vgl. Alex. III, 455–457; vgl.
auch Wulfram 2000, 265, der die Erwähnung eines gallischen Jä-
gers nachvollziehbar als Hinweis auf die räumliche Situierung des
Autors versteht). ⇔ Das auf Darius bezogene periturus lässt ab-
schließend keinen Zweifel über den Ausgang der in Kürze bevor-
stehenden Schlacht aufkommen (vgl. Alex. III, 461).
Kommentar zu Buch III 741

Die Mondfinsternis (463–543)

463–543 Tempus erat dubiam cogens pallescere lucem … in primis


raro contentus milite turmas: Im Lager von Arbela werden Alexan-
ders Soldaten im Herbst des Jahres 331 v. Chr. unfreiwillig Zeuge
einer Mondfinsternis, durch die sie in Angst und Schrecken versetzt
werden. Ihr schwindender Mut und ihre Befürchtungen, es könne
sich dabei um ein schlechtes Omen für die eigene Seite handeln,
münden in zahlreichen Vorwürfen an ihren König, sie überhaupt in
diese fremden und von der Heimat weit entfernten Gefilde geführt
zu haben. Bevor sich der Aufruhr der Soldaten zu einem echten
Problem entwickelt, beruft Alexander schleunigst eine Versamm-
lung ein, in welcher der Seher Aristander den ängstlichen Griechen
die Bedeutung dieser Mondfinsternis erklärt. Neben einer natur-
wissenschaftlichen Erklärung für eine derartige Himmelserschei-
nung beruhigt Aristander im Anschluss daran die Griechen mit
seiner Deutung dieses für die meisten ungewöhnlichen kosmischen
Phänomens: Er macht ihnen klar, dass es sich dabei entgegen ihrer
Befürchtungen ganz im Gegenteil um ein schlechtes Omen für die
Perser handle, die in ihrer Geschichte beim Auftreten einer Mond-
finsternis schon oft das Schlachtenglück verlassen habe. Nur eine
Sonnenfinsternis zeitige negative Folgen für die Griechen. Von den
Worten des Sehers ermutigt, kehren die Soldaten zu den Waffen zu-
rück. Handlungsschnell ergreift Alexander diese günstige Gelegen-
heit und erteilt sofort den Marschbefehl. ⇔ Während Walter in die-
ser Szene den makedonischen König als umsichtig und empathisch
agierenden Feldherrn beschreibt, schildert er die einfachen Soldaten
als emotional leicht zu beunruhigende Charaktere, die ihrem Kö-
nig noch innerhalb des Perserkriegs den sogar aus christlicher Sicht
völlig unhaltbaren und absurden Vorwurf machen, er überschreite
im Hinblick auf die unheilvoll empfundene Mondfinsternis mit der
anstehenden Schlacht bei Gaugamela die einem Menschen gesetz-
ten Grenzen und erstrebe den Himmel (vgl. Komm. III, 225–233).
742 KOmmentar

⇔ Darüber hinaus nutzt Walter die im Vergleich zu Curtius aus-


führlich dargestellte Szene, um eine Parallele zu den in der Pharsalia
Lucans meuternden Soldaten Caesars herzustellen und Alexander
damit vor der letzten und alles entscheidenden Schlacht gegen Da-
rius unter typologischen Gesichtspunkten zum wiederholten Male
mit dem Sieger von Pharsalus in eine allerdings positiv konnotier-
te Verbindung zu bringen (vgl. Luc., Phars. V, 237–373; vgl. auch
Wiener 2001, 28; zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw.
zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. auch Einleitung 7.2).
Einführung zu Buch IV
Mit Ende des dritten Buchs waren die feindlichen Heere der Grie-
chen und Perser in Arbela angekommen, wo beide Könige ihr Feld-
lager aufgeschlagen hatten, um sich auf die Schlacht in der Ebene
von Gaugamela vorzubereiten. Bevor Walter mit der Schilderung
des eigentlichen Kampfgeschehens beginnt, setzt er – wie in den
Büchern zuvor schon mehrfach zu beobachten war – zu Beginn von
Buch IV noch einmal Alexanders herausragende Tugendhaftigkeit
in Szene, um den Sieg der Griechen über die Perser auch in dieser
letzten großen Auseinandersetzung auf moralischer Ebene vorweg-
zunehmen (zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum
moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). So etwa gewährt
Walter dem Leser mit der Beschreibung vom Tod der Darius-Gattin
Stateira einen aufschlussreichen Einblick in das von großer Charak-
terstärke geprägte Sozialverhalten des makedonischen Königs, der
nach Maßgabe seiner clementia und insbesondere seiner pietas nicht
nur den Tod der in Gefangenschaft geratenen Ehefrau des Darius
genauso beweint, wie wenn seine eigene Familie zu Tode gekommen
wäre, sondern für die persische Königin auch ein ihrer fürstlichen
Stellung entsprechendes Grabmal errichten lässt (vgl. Komm. IV,
1–23; vgl. auch Komm. IV, 176–179). Damit erfüllt Alexander auf
vortreffliche Weise die innerhalb der Tugend der Besonnenheit zur
Sprache gebrachten Vorgaben der Aristoteles-Rede im Hinblick
auf die Rechtschaffenheit, den Anstand und die Achtung vor dem
Rechten (vgl. Alex. I, 178: Nec desit pietas pudor et reverentia recti;
vgl. auch Komm. I, 164–182; zu dem für die gesamte Alexandreis
gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung
7.4). Die Beschreibung von Alexanders moralisch einwandfreiem
Verhalten gegenüber der Familie des persischen Königs gipfelt dabei
in einer überaus bemerkenswerten Lobpreisung des makedonischen
744 KOmmentar

Königs durch Darius selbst, der sich – sollte das Schicksal tatsäch-
lich das Ende der persischen Machtstellung bestimmt haben – kei-
nen besseren Nachfolger für die eigene Herrschaft vorstellen könne
(vgl. Komm. IV, 58–67). Auch die sich unmittelbar daran anschlie-
ßende, von den persischen Gesandten mit den Worten rex clemen­
tissime eingeleitete Ansprache an Alexander, in der diese als Grund
für Darius’ Friedensangebot das von großer Güte und außerordent-
licher Milde geprägte Verhalten des makedonischen Königs anfüh-
ren, weist in dieselbe Richtung (vgl. Komm. IV, 68–92). Ebenso
nutzt Walter Alexanders schnellen und ausgezeichnet organisierten
Aufbruch aus dem Lager nach der Totenfeier für Stateira oder auch
dessen unmittelbar vor der Schlacht bei Gaugamela gehaltene Feld-
herrnrede – darin wird insbesondere auf die Vorbildfunktion eines
Anführers für die eigenen Soldaten hingewiesen – noch einmal zur
Inszenierung der Tapferkeit seines wichtigsten Protagonisten (vgl.
Komm. IV, 275–279; vgl. auch Komm. IV, 579–588; zur Vorbild­
funktion eines Feldherrn als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit
vgl. auch Komm. I, 128–132; zur tropologischen Ebene der Alexan­
dreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4).
In besonderem Maße berührt Walters Darstellung des makedo-
nischen Königs in Buch IV das für die gesamte Alexandreis gülti-
ge Verständnis wahren Ruhms (zur Unterscheidung von wahrem
und eitlem Ruhm in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.4).
Da sich der makedonische König mit der Schlacht bei Gaugamela
noch immer innerhalb des heilsgeschichtlich legitimierten Perser-
kriegs bewegt und dessen Streben nach Ruhm somit einem höhe-
ren Ziel dient, werden an dieser Stelle Alexanders diesbezügliche
Bemühungen nicht nur aus antik-paganer Sicht positiv konnotiert,
sondern finden auch aus christlicher Perspektive eine ausschließ-
lich positive Bewertung. So etwa stößt Parmenions Vorschlag, das
Friedensangebot des persischen Königs anzunehmen – Darius ist
nach der Niederlage bei Issus bereit, die Gebiete zwischen Helles-
pont und Euphrat an die Griechen abzutreten, Lösegeld für die
Einführung zu Buch IV 745

in griechische Gefangenschaft geratene Königsfamilie zu bezahlen


und seinem Widersacher die eigene Tochter als Mitgift zu über-
lassen –, bei Alexander auf entschiedene Ablehnung, da er Walters
Darstellung zufolge weder Reichtum noch eine politische Allianz
mit den Persern anstrebt, sondern es ihm ausschließlich um einen
ehrenhaften Sieg über das gesamte Perserreich und den daraus re-
sultierenden wahren Ruhm geht (vgl. Komm. IV, 131–141). Ebenso
eindeutig tritt dieses in Walters Epos zugrunde gelegte Verständnis
wahren Ruhms in Alexanders Reaktion auf Parmenions Vorschlag
am Vorabend der Schlacht bei Gaugamela zu Tage, die Perser in ei-
nem überraschenden nächtlichen Angriff zu schlagen (vgl. Komm.
IV, 327–349). Auch an dieser Stelle macht der makedonische König
seinem wichtigsten General unmissverständlich klar, dass er den
Sieg über die Perser nicht mit Hinterlist und Betrug nach Art von
Räubern und Dieben davonzutragen gedenke, sondern diesen nur
in einer ehrenhaften Feldschlacht am Tage erringen möchte. Nur so
könne gewährleistet werden, dass kein Schatten auf seinen späteren
Ruhm falle. Wenn die Perser nicht ehrenhaft besiegt werden könn-
ten, ziehe er sogar eine ehrenhafte Niederlage einem mit Hinterlist
und Betrug errungenen Sieg vor (vgl. Komm. IV, 350–373). Damit
macht Walter über die hier vorliegende Inszenierung seines wich-
tigsten Protagonisten Alexander deutlich, dass wahrer Ruhm nicht
nur aus antik-paganer Sicht immer nur und ausnahmslos die Folge
eines tugendhaften Verhaltens sein kann, sondern das tugendhafte
Verhalten auch und gerade mit der Erfüllung der heilsgeschichtli-
chen Aufgabe Alexanders in Verbindung stehen muss, um auch aus
christlicher Sicht als wahrer Ruhm Anerkennung zu finden.
In der Nacht vor der letzten großen Schlacht bei Gaugamela
findet Alexander nicht in den Schlaf, da ihn die Gedanken an den
kommenden Tag der Entscheidung in große Unruhe versetzen (vgl.
Komm. IV, 391–400). An diesem für Alexander kritischen Punkt
seines Perserfeldzugs nimmt Walter qua allegorischer Darstellung
der Siegesgöttin Victoria – auch ihr auf der Tiberinsel verorteter
746 KOmmentar

Tempel samt ihrem Gefolge werden dabei beschrieben – und des


Schlafgottes Somnus, der den makedonischen König aus dieser Be-
drängnis befreien kann und ihn schließlich doch einschlafen lässt,
den antiken Götterapparat in Dienst, um mit dem Eingreifen gött-
licher Mächte das zu diesem Zeitpunkt noch vom Schicksal be-
günstigte Wirken Alexanders – noch immer befindet sich dieser im
heilsgeschichtlich legitimierten Perserkrieg – herauszustellen (vgl.
Komm. IV, 401–432; vgl. auch Komm. IV, 433–453; zum Götterap-
parat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung
5). Nachdem Alexander am Morgen der Schlacht nicht von selbst
erwacht und von Parmenion geweckt werden muss – der Schlafgott
Somnus hatte in der Nacht zuvor ganze Arbeit geleistet –, gelingt
es Alexander mit einer an seine Soldaten gerichteten Rede, diese
noch einmal für den nun beginnenden Kampf gegen die Perser zu
motivieren (vgl. Komm. IV, 546–588; zur Überzeugungskraft eines
Feldherrn als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I,
118–127; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum mora-
lischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4).
Kommentar zu Buch IV
Themenübersicht (1–10)

C 1–2 Quartus ad uxoris Darii lacrimabile funus | convertit Ma­


gnum: Nach der Schlacht bei Issus gerät Darius’ Gattin Stateira in
Gefangenschaft, in der sie ohne Zutun der Griechen verstirbt. Alex-
ander veranlasst ein prächtiges Leichenbegängnis, für das der Heb-
räer Apelles ein prächtiges Grabmal errichtet und ausgestaltet (vgl.
Alex. IV, 176–274).

C 2–3 Darium lamenta fatigant  | falsaque suspicio: Darius kann


einem Boten, der aus dem griechischen Lager zurückkommt, nur
schwer glauben, dass seine Ehefrau Stateira vor ihrem Tod nicht das
Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden oder auf Bitten Alexan-
ders nicht sogar freiwillig eine sexuelle Beziehung mit seinem ver-
gleichsweise jugendlichen Gegner eingegangen ist (vgl. Alex. IV,
24–67).

C 3–4 Legati certa reportant | ad Darium responsa: Noch vor der


letzten großen Schlacht bei Gaugamela unterbreiten persische Ge-
sandte dem makedonischen König einen Vorschlag, nach dem er die
bisher eroberten Gebiete behalten könne und als Zeichen der laute-
ren Absichten der Perser Darius’ Tochter zur Frau und zudem drei-
ßigtausend Talente aus Gold erhalte, wenn er Darius’ Mutter und
beide Schwestern freilasse. Alexander lehnt diesen Vorschlag ab, da
es ihm um einen ehrenhaften Sieg über das gesamte Perserreich und
den daraus resultierenden wahren Ruhm geht (vgl. Alex. IV, 92–99;
vgl. auch Alex. IV, 142–175; zum Verständnis wahren Ruhms in der
Alexandreis vgl. die Einführung zu Buch IV; vgl. auch Einleitung
7.4).
748 KOmmentar

C 5–6 Terretur ymagine belli  | conciliumque vocat Macedo: Wäh-


rend Alexander in der Nacht vor der Schlacht bei Gaugamela das
Treiben im persischen Lager beobachtet und die dortigen Truppen-
massen in Augenschein nimmt, beschleicht ihn ob der beeindru-
ckenden persischen Übermacht große Angst. Er versammelt seine
Generäle und bespricht sich mit ihnen (vgl. Alex. IV, 301–327; vgl.
auch Alex. IV, 327–349).

C 6–7 Responsa suorum | reicit et sompnum differt in tempora lu­


cis: Insbesondere Parmenion rät Alexander, noch in der Nacht an-
zugreifen und die Perser damit zu überraschen. Alexander weist
den Vorschlag seines wichtigsten Generals entrüstet zurück, da er
befürchtet, es könnte ein Schatten auf seinen Ruhm fallen, wenn
er die Schlacht durch eine List für sich entscheidet (zum Verständ-
nis wahren Ruhms in der Alexandreis vgl. die Einführung zu Buch
IV; vgl. auch Einleitung 7.4). ⇔ Da er vor Aufregung lange nicht
in den Schlaf finden kann und erst durch den von der Siegesgöttin
Victoria ins griechische Lager entsandten Schlafgott Somnus erlöst
wird, schläft Alexander entgegen seiner Gewohnheit noch weit nach
Sonnenaufgang und muss von Parmenion geweckt werden (vgl.
Alex. IV, 350–373; vgl. auch Alex. IV, 391–453; vgl. auch Alex. IV,
454–497).

Der Tod der Stateira (1–23)

1–23 Luridus et piceo suffusus lumina fumo … cum regia decidit uxor
… regum fortissimus ille | et pius eversor … Custodem se esse … gloria
maior erat quam si violaret utrumque: Auf dem Weg nach Gauga-
mela verstirbt Darius’ Gattin Stateira. ⇔ Mit der aus drei Teilen
bestehenden Bemerkung, dass die persische Königin entweder aus
Sehnsucht nach ihrem Ehemann, dem Kummer über das am Boden
liegende persische Reich oder aus Erschöpfung gestorben sei, macht
Kommentar zu Buch IV 749

Walter deutlich, dass sie unzweifelhaft eines natürlichen Todes ge-


storben ist. Mit dem auf Alexander bezogenen Attribut fortissimus
charakterisiert Walter diesen als einen überaus tapferen König, der
über diese zentrale Feldherrntugend hinaus jedoch auch die mit pius
zum Ausdruck gebrachte aristotelische Tugend der angemessenen
Zuwendung verinnerlicht hat, die ihn dazu befähigt, über Stateiras
Tod nicht anders zu trauern, als wenn er seine Schwester oder seine
Mutter verloren hätte (vgl. Gartner 2018, 63–64; zur deutschen
Übersetzung des griechischen Begriffs φιλíα bzw. des lateinischen
Begriffs amicicia mit angemessener Zuwendung vgl. die Einführung
zu Buch I). Mit Walters Hinweis, dass es für Alexander ruhmvoller
war, Stateiras Schamhaftigkeit und Schönheit zu beschützen, als Da-
rius’ Gattin durch sexuellen Missbrauch zu entehren, hebt Walter
nicht nur das moralisch einwandfreie Verhalten Alexanders gegen-
über der persischen Königin hervor, sondern weist gleichzeitig auch
auf das für das Epos insgesamt gültige Verständnis wahren Ruhms
hin (vgl. Komm. IV, 350–373; zum Verständnis wahren Ruhms in
der Alexandreis vgl. auch die Einführung zu Buch IV; vgl. auch Ein-
leitung 7.4).

Tiriotes und Darius (24–67)

Darius befürchtet die Schändung seiner Familie (24–34)

24–34 Nuncius ad Darium mediis elapsus Achivis | it spado Tirio­


tes … quod tamen ipse loqui timeo: Der Eunuch Tiriotes kehrt aus
dem griechischen Lager zurück und berichtet dem Perserkönig vom
dortigen Schicksal der Königsfamilie. Da er die bei Persern üblichen
Zeichen der Trauer zeigt, meint Darius, dies als Beleg für die Schän-
dung seiner Familie werten zu müssen.
750 KOmmentar

Die Todesnachricht (34–39)

34–39 Tunc excipit ille … exiit a medio corpusque reliquit inane: Zu


Darius’ Erstaunen berichtet Tiriotes davon, dass die königliche Fa-
milie von Alexander zuvorkommend und ihrem Rang entsprechend
ehrenvoll behandelt werde. Allerdings sei seine Gattin Stateira in-
zwischen überraschend verstorben.

Trauer und Argwohn des Darius (40–58)

40–58 Tunc vero in gemitum et planctum conversa videres | castra.


Senex iacet exanimis … testante penates | et superos servo castam vixisse
maritam, | facta fides Dario: Darius fällt in tiefe Trauer und meint,
seine Ehefrau sei deshalb umgekommen, weil sie die Entehrung
nicht ertragen habe. Tiriotes versichert ihm, dass sie keine Schande
ertragen musste und Alexander ihren Tod nicht nur beweint, son-
dern sogar eine Totenfeier für sie abgehalten habe. Daraufhin arg-
wöhnt der persische König, den Walter an der vorliegenden Stelle
nicht zufällig mit senex bezeichnet, dass der makedonische König –
von Walter kontrastierend zu Darius ebenso absichtsvoll mit iuvenis
angesprochen – mit seiner Gattin eine auf Freiwilligkeit basierende
Liebesbeziehung eingegangen ist.

Darius preist Alexander (58–67)

58–67 tollensque ad sydera palmas … Quod michi si tolli iam prefi­


nistis et a me | transferri fati iubet imperiosa voluntas, | regnum Asiae
me post hic tam pius hostis habeto | tam clemens victor … invitat lacri­
mis ut vocem fata sequantur: Walter legt im vorliegenden Abschnitt
das Augenmerk auf Alexanders herausragende Tugendhaftigkeit,
indem er Darius die an das Schicksal gerichtete Bitte in den Mund
Kommentar zu Buch IV 751

legt, dass er, sollte sein Stern schicksalsbedingt tatsächlich am Sinken


sein, von niemand anderem in der Herrschaft über das Perserreich
abgelöst werden wolle als vom rücksichtsvollen und gütigen König
der Makedonen. Diese Bitte wird in ihrer Bedeutung von Walter
stilistisch auch dadurch hervorgehoben, dass er mit der zweimali-
gen Verwendung einer contradictio in adiecto mit den Wortpaaren
pius hostis und clemens victor normalerweise nicht zueinander pas-
sende Begriffe miteinander in Beziehung setzt. Damit stellt Walter
zum wiederholten Mal in der Alexandreis einen direkten Bezug zur
Aristoteles-Rede her, die ihn zu eben diesen Tugenden wie Recht-
schaffenheit, Anstand und Achtung vor dem Rechten aufgefordert
hatte, die er nach der Schlacht bei Issus Darius’ Familie gegenüber
tatsächlich auch an den Tag legt (vgl. Alex. 1, 178: Nec desit pietas pu­
dor et reverentia recti; zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen
Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4).

Die Gesandten des Darius (68–108)

Das tugendhafte Verhalten Alexanders (68–92)

68–92 Et quamquam, frustra iam pace bis ante petita … hostis


amore | victus et exemplo Palladis arbore tutos … rex clementissime,
pacem … ab illo … pietas … cura moraretur. Rata sit concordia: Von
der Güte und dem Beispiel Alexanders überwältigt, schickt Darius
eine Gesandtschaft, um über einen Frieden zu verhandeln. ⇔ Wie
schon in der an das Schicksal gerichteten Bitte des Darius kurz zu-
vor, unterstreicht Walter anhand der Rede des persischen Unter-
händlers Achillas noch einmal die über die Begriffe pietas und cle­
mentia transportierte und auf die gütige Behandlung der persischen
Königsfamilie abzielende Tugendhaftigkeit Alexanders. ⇔ Mit den
Worten Palladis arbore tutos nimmt Walter an dieser Stelle Bezug
auf Athenes Funktion als Friedensstifterin, mit der sie die persischen
752 KOmmentar

Gesandten im feindlichen Lager der Griechen beschützen soll (vgl.


Alex. IV, 70). Anders als im unter persischer Oberhoheit stehenden
Tyrus geschehen, das im Jahr zuvor die griechischen Gesandten er-
mordet hatte, entlässt Alexander die persischen Unterhändler später
unversehrt wieder ins feindliche Lager (vgl. Komm. III, 288–329).
⇔ Walter überträgt das Attribut fulmineus, das er sonst nur für
den makedonischen König benutzt, um dessen Schnelligkeit und
enorme Durchschlagskraft herauszustellen, hier auf das Pferd Ale-
xanders (zur Blitzmetapher für Alexander vgl. Komm. II, 388–407).

Darius’ Friedensangebot (92–99)

92–99 Natam | non sine dote offert Darius tibi … inter Frixei litoris
horam | Euphratenque … ter dena talentum | milia sunt precium ful­
vo decocta metallo: Der persische Unterhändler macht Alexander das
Angebot, die Landschaften zwischen dem Hellespont und den Ge-
bieten westlich des Euphrat als Herrschaftsgebiet zu übernehmen
und damit den Krieg zu beenden. Zudem bietet er dem makedoni-
schen König Darius’ Tochter als Mitgift an. Ergänzend dazu sollen
Darius’ Mutter und beide Schwestern für ein Lösegeld von dreißig-
tausend Talenten Gold zu den Persern zurückkehren. Darius’ Sohn
könne als Bürge für den Frieden in griechischer Gefangenschaft
bleiben.

Darius’ Drohung (100–108)

100–108 Quod nisi te superi maiori pectore fultum | humanosque ar­


tus divina mente beassent, | tempus erat … Quid moror? Unus habet
quas non habet area vires: Einerseits schmeichelt Tiriotes dem ma-
kedonischen König, indem er ihm zugesteht, bisher von göttlichen
Mächten profitiert zu haben. Andererseits droht er ihm jedoch auch
Kommentar zu Buch IV 753

mit der zu Wasser und zu Lande gewaltigen persischen Streitmacht,


die nach normalem menschlichen Ermessen nicht zu besiegen sein
wird, um dessen Zustimmung zum Friedensvertrag zu erreichen.

Der Standpunkt des Parmenion (109–130)

109–130 Magnus ut accepit Darii responsa, citatis | in cetum duci­


bus … et siluisse diu perhibetur curia donec  | Parmenio … Post for­
tia gesta reverti  | tucius in patriam quam vivere semper in armis:
Waren sich Alexander und sein wichtigster General bis zu diesem
Zeitpunkt über die grundsätzliche Notwendigkeit und die strategi-
sche Ausrichtung des Kriegs gegen die Perser weitgehend einig, baut
Walter beginnend mit dieser Szene Parmenion zunehmend zu Ale-
xanders Gegenspieler innerhalb der makedonischen Führungselite
auf. Der alte General macht ihm hier den Vorwurf, weniger an die
eigene Heimat zu denken als an immer weiter nach Osten reichende
Eroberungen und spricht sich dafür aus, Darius’ Friedensangebot
anzunehmen. Auch hätte er längst ein Lösegeld für Darius’ Familie
verlangt.

Alexanders Antwort auf Parmenion (131–141)

131–141 Consulis arbitrium tulit egre Magnus … securus sub pau­


pertatis amictu … Fortunae venditor absit … gratia non sequitur,
nec habent commercia grates: Alexander widerspricht Parmenions
Vorschlag vehement und stellt seinem wichtigsten General ein
schlechtes Zeugnis aus, weil dieser das persische Gold dem Ruhm
eines glanzvollen Sieges vorziehe. ⇔ Im Gegensatz dazu stellt Walter
Alexanders Unbestechlichkeit heraus, die es ihm im Unterschied zu
Parmenion ermöglicht, bei wichtigen Fragen der Kriegsführung die
richtigen Prioritäten zu setzen. Mit der Wendung securus sub pauper­
754 KOmmentar

tatis amictu bringt Walter seinen wichtigsten Protagonisten dabei


in die Nähe eines dem Reichtum abschwörenden mittelalterlichen
Mönchs, was auf der zeitgenössischen Ebene auch als dezenter Hin-
weis auf die vom Autor der Alexandreis immer wieder kritisierte
Habgier der römischen Kurie des 12. Jahrhunderts gewertet werden
kann (vgl. Alex. IV, 135; zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Ein-
leitung 8). Der Vorwurf an Parmenion, für Gold Verrat am eigenen
Schicksal zu üben, ist insofern schwerwiegend, als sich Alexander als
ein vom Schicksal begünstigter Herrscher versteht, dem es in seinen
Augen vorherbestimmt ist, das gesamte Perserreich zu erobern (zum
Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl.
Einleitung 5; vgl. auch Komm. II, 186–200; zum Selbstverständnis
Alexanders hinsichtlich der Begünstigung durch das Schicksal vgl.
Komm. IV, 546–562). Alexander möchte anders als Parmenion auch
kein Lösegeld für Darius’ Familie erpressen, sondern diese lieber
ohne eine Gegenleistung zurückgeben. Erneut stellt Walter damit
die moralische Integrität des makedonischen Königs heraus.

Alexanders Antwort an die persischen Gesandten (142–175)

142–175 Hec ubi dicta, super responso consulis intro | legatos iubet ad­
mitti Darioque referre | «Quod clementer» ait «feci quodque indole
dignum,  | naturae tribuisse meae non eius honori … quos aditurus
erat colles et plana viarum: Alexander betont, dass seine gegenüber
Darius’ Familie an den Tag gelegte clementia nicht zweckorientiert –
etwa als Hinweis auf eine möglicherweise vorhandene Bereitschaft,
Frieden zu schließen – zu verstehen sei, sondern lediglich seinem
von Menschlichkeit und Anstand geprägten Wesen entspreche. ⇔
Damit unterstreicht Walter, wie schon in Alexanders Antwort an
Parmenion zuvor, die in diesem Kontext auf den Tugenden der cle­
mentia und der pietas beruhende moralische Integrität des makedo-
nischen Königs. Genau das unterscheidet Alexander von Darius, der
Kommentar zu Buch IV 755

das zuvorkommende Verhalten seines Gegners als zweckorientierte


Botschaft missversteht, den Krieg beenden zu wollen. ⇔ Kontras-
tierend dazu zieht Alexander Darius’ Aufrichtigkeit in Zweifel, da
dieser ungeachtet seines Friedensangebots die ganze Zeit über nichts
unversucht lässt, griechische Generäle zu bestechen oder ihn durch
gedungene Mörder umbringen zu lassen. Darüber hinaus stellt Ale-
xander klar, dass die angebotene Herrschaft über das Gebiet west-
lich des Euphrat von der Realität bereits überholt worden sei, da
sich seine Truppen bereist östlich des Euphrat befinden.

Das Grabmal der Stateira (176–274)

Nach Alexanders Antwort auf Darius’ Friedensangebot folgt eine


ausführliche Ekphrasis des Grabmals der Darius-Gattin Stateira. ⇔
In dieser Beschreibung geht Walter nach der nur kurzen Erwähnung
der reges et nomina gentes Achee, die nicht näher ausgeführt werden,
auf den von Apelles angefertigten biblischen Bilderschmuck ein,
der die Weltgeschichte vom Beginn der Schöpfung an über die Pa-
triarchen bis zu Ruth umfasst und überdies von der jüdischen Kö-
nigsgeschichte bis zu den zwölf Propheten mit ihren Marien- bzw.
Christus-Prophetien reicht (zum Verständnis der auf dem Grabmal
dargestellten Episoden vgl. Ratkowitsch 1991, 148–163; zur Stel-
lung des Stateira-Grabmals innerhalb der Gesamtstruktur der Ale­
xandreis vgl. auch Einleitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79).
⇔ Wie Wiener (2001) 83–84 aufzeigt, verfolgt Walter mit der Ek-
phrasis des Stateira-Grabmals die Absicht, die persische Geschichte
in die Heilsgeschichte einzugliedern und die zeitliche Parallelität
von heidnisch-antikem Geschichtsverlauf und der Geschichte des
Gottesvolks sub lege ins Blickfeld des Lesers zu rücken, während die
auf dem Stateira-Grabmal ebenfalls verarbeiteten Prophetien schon
in die Zeit sub gratia vorausweisen, die Walter als seine eigene Zeit
insbesondere in Form einer derartigen Ekphrasis in sein Werk her-
756 KOmmentar

einholen konnte (zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum


heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2; zur anago-
gischen Ebene der Alexandreis bzw. zum eschatolgischen Schrift-
sinn des Epos vgl. Einleitung 7.3; zur Stellung des Stateira-Grabmals
innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. auch Einleitung
7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79).

Der Künstler Apelles (176–179)

176–179 Interea Macedo condivit … erexit celeber digitis Hebreus


Apelles: Mit dem Bildhauer Apelles erwähnt Walter einen Archi-
tekten und Künstler, der für den Aufbau und die künstlerische
Gestaltung der Grabmäler der Stateira und später auch des Darius
zuständig ist (vgl. Alex. VII, 379–430). Christensen (1905) 156,
Anm. 2 stellt in den Raum, dass der Name Apelles aus einer Satire
des Horaz – dort allerdings Iudaeus Apella genannt und auf einen
leichtgläubigen Juden bezogen – übernommen worden sein könn-
te, und gibt dabei zu bedenken, dass Walter auch in seiner Schrift
gegen die Juden von einem Apella Judaeus spricht (vgl. Hor., Sat.
1, 5, 100: Credat Iudaeus Apella, non ego; vgl. Walter v. Châtil-
lon, Tractatus contra Iudaeos 2, XX, PL 209, 447 B: De libro quoque
Sapientiae, qui dicitur Salomonis, testimonium Dominicae passionis
excerpsimus, cui vel Apella Judaeus obviare non possit). Wahrschein-
licher scheint die Bezugnahme – allein schon wegen der exakten na-
mentlichen Übereinstimmung – auf den in Ephesos zum Künstler
ausgebildeten Apelles zu sein, der nach dem Bericht des Plinius als
Alexanders Zeitgenosse mit diesem in sehr gutem Einvernehmen
stand. Allein diesem berühmten Maler soll der makedonische König
die Erlaubnis erteilt haben, ihn zu porträtieren. Bisweilen habe es
sich Apelles aufgrund des hohen Ansehens, das er bei Alexander ge-
noss, sogar erlauben können, diesen auf die Schippe zu nehmen (vgl.
Plin., Nat hist., 35, 85–86: Fuit enim et comitas illi, propter quam
Kommentar zu Buch IV 757

gratior Alexandro Magno frequenter in officinam ventitanti – nam,


ut diximus, ab alio se pingi vetuerat edicto –, sed in officina impe­
rite multa disserenti silentium comiter suadebat, rideri eum dicens
a pueris, qui colores tererent. Tantum erat auctoritati iuris in regem
alioqui iracundum). Janka/Stellmann (2020) 81–86 erkennen
darüber hinaus in Apelles eine poetologische Reflexionsfigur Wal-
ters, die über begriffliche und motivische Parallelen zwischen dem
Entstehungsprozess des Stateira-Grabmals sowie des in Buch VII
beschriebenen Darius-Grabmals einerseits und dem Herstellungs-
prozess der Alexandreis andererseits einen Überbietungsanspruch
Walters in der Zeit sub gratia gegenüber dem Künstler Apelles in
der Zeit sub lege zum Ausdruck bringt: »Zugleich hat Walter diese
seine eigene Reflexionsfigur typologisch übertroffen: Sein Apelles
ist ein griechischer und jüdischer Künstler, der […] über eine intime
Kenntnis der jüdischen Bibel verfügt, die ihn gegenüber den heid-
nischen Griechen seiner Zeit dazu befähigt, den Monumenten der
Stateira und des Darius biblisches Wissen, das in seiner allegorischen
Sinndimension figural-verschattet auf zentrale Ereignisse der Heils-
geschichte (Übergang zum dritten Weltreich; Jungfrauengeburt)
vorausweist, einzuzeichnen und einzuschreiben. Walter selbst da-
gegen ist ein ›römischer‹ und christlicher Künstler, der […] über
eine intime Kenntnis der jüdisch-christlichen Bibel, insbesondere
der offen typologischen Vorausdeutungen des Alten Testaments
[…] verfügt, die ihn gegenüber den heidnischen römischen Dichtern
vor seiner Zeit dazu befähigt, dem Alexander-Stoff eine vollendete
figurative Gestaltung zu verleihen, die mit ihrer allegorisch-typo-
logischen Sinndimension ein würdiges, in die Ewigkeit reichendes
Monument für Alexander bildet. Der Typus Apelles figuriert refle-
xiv Walter als Antitypus, der ihn erfüllt und vollendet« (vgl. Janka/
Stellmann 2020, 85–86).
758 KOmmentar

Schöpfung von Himmel und Erde; die vier Elemente;


Lichtwerdung (180–188)

180–188 Nec solum reges et nomina gentis Achee | sed Genesis notat
historias, ab origine mundi | incipiens. Aderat confusis partibus yle |
et globus informis … quatuor … elementa … de tenebris primam videas
emergere lucem: Walter übergeht die auf dem Grabmal dargestellten
Szenen der griechischen Welt und beginnt sogleich mit der bibli-
schen Schöpfungsgeschichte. Mit dem aus dem Griechischen stam-
menden Begriff ὕλη oder genauer ὕλη πρώτη (materia prima) weist
Walter auf das innerhalb der aristotelischen Physik und Metaphysik
noch nicht bestimmbare erste Zugrundeliegende – hier mit dem Be-
griff Urmaterie wiedergegeben – hin, das erst im weiteren Verlauf
der Schöpfung durch die Scheidung der Elemente eine bestimmte
Form (μορφή) annimmt. Zu diesen beiden dann untrennbar mitei-
nander verbundenen Prinzipien von materia und forma tritt ergän-
zend die substantia (οὐσία) hinzu, welche diejenigen Eigenschaften
beschreibt, die bestimmte Dinge wesenhaft als unwandelbaren Kern
ihrer Existenz notwendig besitzen müssen. ⇔ Die Übersetzung von
globus informis muss deutlich machen, dass sich die mit informis
zum Ausdruck gebrachte Formlosigkeit nicht auf die äußere Form
der Kugel bezieht, sondern auf die innerhalb der kugelförmigen
Masse befindlichen ungeordneten, noch nicht geschiedenen und
demzufolge auch noch nicht unterscheidbaren Teilchen (vgl. Au-
gustinus’ Beschreibung der mit dem Begriff globosa moles bezeich-
neten kugelförmigen Masse zu Beginn der Schöpfung, Aug., De
Genesi ad litteram 1, 25, col. 255). ⇔ Mit den quatuor elementa be-
zeichnet Walter die aus der unförmigen Masse geschiedenen, unvoll-
kommenen und vergänglichen sublunaren Elemente Erde, Wasser,
Luft und Feuer. Im Unterschied dazu ist der auch als Äther bezeich-
nete masselose Bereich der sieben Planeten sowie die als achte Sphä-
re geltende Fixsternsphäre – die quinta essentia – vollkommen und
unvergänglich. ⇔ Am Ende des Abschnitts greift Walter zudem
Kommentar zu Buch IV 759

die ebenso mit dem ersten Schöpfungstag in Verbindung stehende


Lichtwerdung auf.

Erschaffung des Menschen; Sündenfall; Vertreibung aus dem


Paradies (189–193)

189–193 Dignior hic inter animas ratione carentes | de limo formatur


homo … ignea custodit virgulti romphea limen: Der Mensch als einzig
vernunftbegabtes Lebewesen rahmt die nicht vernunftbegabten Tie-
re sprachlich ein und wird damit durch ein mit den Worten dignior
und homo gebildetes Hyperbaton stilistisch hervorgehoben. Auch
bei Ovid wird innerhalb seiner Schöpfungsgeschichte der Unter-
schied zwischen Mensch und Tier auf ganz ähnliche Weise zum Aus-
druck gebracht (vgl. Ov., Met. 1, 76–77: Sanctius his animal mentis­
que capacius altae | deerat adhuc et quod dominari in cetera posset). ⇔
Das christliche Mittelalter verortet das Paradies im äußersten Osten
der bewohnten Welt und somit auf Erden. Aus diesem Grund muss
es seit dem von Walter im Vers zuvor beschriebenen Sündenfall und
der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies bewacht werden,
um einen unbefugten Zutritt zu verhindern. Bildhafter Ausdruck
dieser Vorstellung sind die auf den nach Osten ausgerichteten mittel-
alterlichen Mappa Mundi wie der Ebstorfer Weltkarte umgesetzten
Darstellungen, auf denen das am oberen Kartenrand befindliche
Paradies von einem fast bis zum Himmel reichenden Feuerwall um-
geben wird (zur Ebstorfer Weltkarte und der Paradiesvorstellung im
Mittelalter vgl. Kugler 2007, Bd. 1, 34–37).

Lamech tötet Kain (194)

194 Inde Cain profugus bigami non effugit arcum: Mit bigamus ist
Lamech, der Vater Noahs und einer der vor der Sintflut lebenden
760 KOmmentar

Väter der Menschheit angesprochen, der als erste biblische Gestalt


zwei Frauen geheiratet hat. Obgleich blind, liebte er die Jagd, auf
der er von seinem Sohn geleitet wurde. Eines Tages brachte er auf
einer solchen Jagd den Brudermörder Kain mit Pfeil und Bogen ver-
sehentlich um. ⇔ Während in der Genesis diese Geschichte nur kurz
erwähnt wird, berichtet ein apokrypher Text ausführlicher über die-
sen fatalen Jagdunfall.

Versündigung der Menschen; Sintflut; Kainsmal;


Arche Noah (195–200)

195–200 Pullulat humanum genus et polluta propago … Laborat  |


archifaber. Genus omne animae clauduntur in arca: Die zunehmen-
de Versündigung der Menschen hat Gott erzürnt. ⇔ Das mit sig­
num bezeichnete Kainsmal schützte den Mörder Abels mithilfe die-
ses göttlichen Zeichens vor der Gewalt anderer, wies ihn aber auch
als Mörder seines Bruders Abel aus. ⇔ Noah erbaute die Arche, um
die drohende Sintflut mit einer ausgewählten Schar von Menschen
und Tieren überleben zu können.

Nach der Sintflut; Noah vom Wein betrunken (201–202)

201–202 Post refugos fluctus replet octonarius orbem, | vinea planta­


tur, et inebriat uva parentem: Neben Noah und seiner Frau haben
auch deren drei Söhne mit ihren Frauen die Sintflut überlebt.

Abraham, Isaak und Jakob; Geburt des Isaak (203–204)

203–204 Hic patriarcharum seriem specialius aurum  | exprimit.


Emeritos videas ridere parentes: Mit den Patriarchen oder auch Erz-
Kommentar zu Buch IV 761

vätern sind im engeren Sinne die drei Stammväter des israelischen


Volkes, Abraham, Isaak und Jakob angesprochen. Abgebildet ist die
Freude Abrahams und seiner Frau Sarah über die Geburt ihres Soh-
nes Isaak.

Der Jäger Esau; Jakobs Rückkehr; Jakobs Kampf


mit dem Engel (205–206)

205–206 venantemque Esau, turmisque redire duabus  | luctarique


Iacob: Die Stelle berührt den Bruderkonflikt zwischen Esau und Ja-
kob – der Name bedeutet Betrüger –, der seinen älteren Bruder um
das Erstgeburtsrecht und den vom altersblinden Vater gespendeten
Segen betrogen hatte und daraufhin fliehen musste. Jakob kehrte
Jahre später als wohlhabender Familienvater zurück. Als Esau sich
mit vierhundert Mann auf ihn zubewegte, teilte er seine Leute in
zwei Gruppen auf, damit im schlimmsten Fall zumindest ein Teil
unversehrt entkommen konnte. ⇔ Am Fluss Jabbok wurde Jakob
noch vor dem Treffen mit Esau von einem Mann angegriffen, der
ihn nicht besiegte, aber auch selbst nicht besiegt werden konnte. Da
Jakob begriff, dass Gott in Person eines Engels mit ihm rang, ließ er
sich segnen und nahm den Namen Israel – was Kämpfer Gottes be-
deutet – an, womit er sich nicht nur seines alten Namens entledigte,
sondern auch die Unterstützung Gottes gewann.

Verkauf Josephs; Potiphars Weib; Einkerkerung Josephs;


Fortgang der Kinder Israels nach Ägypten (206–207)

206–207 Sequitur distractio Ioseph | et dolus et carcer et transmig­


ratio prima: Joseph, der Lieblingssohn Jakobs, wurde von seinen
neidischen und faulen Brüdern an eine Karawane midianitischer
Händler als Sklave verkauft, die ihn nach Ägypten brachte. Dort
762 KOmmentar

wurde Joseph an einen Hofbeamten des Pharaos namens Potiphar


verkauft und als dessen Verwalter eingesetzt. Nachdem er sich zu-
nächst das Vertrauen seines Herrn erworben hatte, fiel er in Ungna-
de, da ihn Potiphars Frau aus verschmähter Liebe listenreich fälsch-
licherweise der versuchten Vergewaltigung bezichtigte. Daraufhin
ließ Potiphar Joseph ins Gefängnis werfen. Nachdem der Pharao
einen prophetischen Traum gehabt hatte, den ihm nur Joseph deu-
ten konnte, wurde er jedoch wieder in sein altes Amt eingesetzt. ⇔
Die transmigratio prima bezeichnet den ersten Fortgang der Kinder
Israels nach Ägypten, die ihre Heimat wegen schlechter Ernten ver-
lassen mussten und nach Ägypten kamen.

Die zehn Plagen Gottes; Auszug der Kinder Israels aus Ägypten;
Untergang des Pharaos (208–210)

208–210 Hic dolet Egyptus … et puro livescit pontus in auro: Gott be-
legte Ägypten mit zehn Plagen, die zum Auszug der Kinder Israels
unter Moses führten. Vom Grund des Meeres aus schimmerten die
goldenen Wagen der Ägypter, die bei der Verfolgung der Israeliten
von den wieder zusammenschlagenden Wassermassen verschlungen
worden waren.

Zug durch die Wüste; Versorgung mit Manna; Übergabe der


Gesetze; Eröffnung der Quelle (211–212)

211–212 Hic populum manna desertis pascit in arvis. | Lex datur, et


potum sicienti petra propinat: In der Wüste klagten die Kinder Is-
raels über Hunger und Durst. Gott schickte ihnen Brot (Manna)
und spendete Wasser aus einem Felsen. Moses erhielt mit den zehn
Geboten das Gesetz Gottes.
Kommentar zu Buch IV 763

Moses’ Tod; Zerstörung von Jericho; Josua hemmt den Jordan;


Verfluchung der Ebene von Achor; Landverteilung durch Josua;
Josuas Tod (213–217)

213–217 Succedit Bennun Moysi post bella sepulto … funiculo patri­


um divisit fratribus orbem: Nach dem Krieg gegen die Midianiter
und der damit einhergehenden Eroberung der Gebiete östlich des
Jordans starb Moses. ⇔ Ihm folgte Josua nach, der sich anschickte,
für das Volk Israel ganz Kanaan zu erobern. Am Ufer des Jordan
angekommen, zog das ganze Volk mit Gottes Hilfe trockenen Fußes
durch den Jordan. Jericho war die erste Stadt, die von den Israeliten
nach der Überquerung des Jordans eingenommen wurde. ⇔ Die
Ebene Achor wurde unter den Israeliten als Unglücksort angesehen,
da Achan aus dem Stamm Juda dort gesteinigt und verbrannt wur-
de, nachdem er sich an gebanntem Gut vergriffen und sich damit
nicht an ein Gebot Gottes gehalten hatte. ⇔ Nach dem Abschluss
der Landverteilung im östlichen Jordanland starb Josua.

Herrschaft der Richter; Blendung Samsons; Raub seiner Haare


durch Dalila (218–220)

218–220 Iudicibus tandem populum supponit Apelles … preciso Da­


lila crine: Als Architekt und Künstler des Grabmals stellt Apelles
auch Szenen aus dem Buch der Richter dar, welche die von Gott zu-
gewiesene Aufgabe erhalten hatten, Israel nach Josuas Tod in Zeiten
des Niedergangs und der Uneinigkeit von der Fremdherrschaft zu
befreien. ⇔ Genau genommen wurde Samson nicht von Dalila ge-
blendet, sondern von den von ihr herbeigerufenen Philistern.
764 KOmmentar

Ruth (221–222)

221–222 Ruthque Moabitis viduata priore marito  | in genus He­


breum felici federe transit: Die Moabiterin Ruth wurde durch die
Heirat mit Boa Teil der hebräischen Gemeinschaft.

Ankündigung der Könige Israels; Tod des Eli;


Geburt des Samuel; Unruhe in Silo (223–225)

223–225 Altera picturae sequitur distinctio, reges | aggrediens et fu­


nus Heli Samuelis ab ortu. | Murmurat in Silo populus: Noch bevor
die Könige Israels thematisiert werden, kommt Walter auf den Pries-
ter Eli zu sprechen. Dieser diente in der Stiftshütte in Silo, das noch
lange vor Jerusalem Hauptstadt und religiöses Zentrum der Israeli-
ten im Nordreich Israel war. In der dortigen Stiftshütte erblickte Eli
eine vermeintlich unfruchtbare Frau namens Hanna, die um ein ei-
genes Kind betete. Eli sicherte ihr zu, dass ihr Kinderwunsch bald in
Erfüllung gehen werde. Wenig später brachte sie den späteren Pro-
pheten Samuel zur Welt. Als Eli die Nachricht erreichte, dass seine
Söhne im Krieg gegen die Philister gefallen waren und die Bundes-
lade verlorengegangen war, fiel er vor Schreck vom Stuhl und starb.
Die Einwohner von Silo gerieten darüber in große Unruhe.

Saul erster König Israels; David zweiter König Israels;


Sieg Davids über Goliath; Tod des Saul und seiner Söhne;
Klagelied Davids (225–230)

225–230 De Beniamin exit | qui regat Hebreos, sed enim quia disso­
nat eius | principio finis … inque acie belli cum prole cadente tyran­
no,  | regia desertos dampnat maledictio montes: Aus dem Stamm
Benjamins ging Saul als erster König Israels hervor. Ihm gelang es,
Kommentar zu Buch IV 765

die israelitischen Stämme in einem Staat zu vereinen. Dem posi-


tiven Beginn seiner Herrschaft stand Sauls göttliche Verwerfung
entgegen, da er den Auftrag Gottes, alle sündigen Amalekiter und
deren Tiere zu töten, nicht ausgeführt hatte. ⇔ Gott wählte wegen
Sauls Ungehorsam als zweiten König Israels den aus dem Stamm
Jesses kommenden David aus, der bereits König von Juda war. Im
Kampf gegen die Philister besiegte er den hünenhaften Goliath mit
seiner Schleuder. Als Saul sah, dass er im Kampf gegen die Philister
auf verlorenem Posten stand – ein feindlicher Bogenschütze hatte
ihn bereits am Unterleib verletzt –, stürzte er sich in sein Schwert
und starb. ⇔ Mit den montes spricht Walter das Gilboa-Gebirge an,
einen Höhenzug an der Grenze von Nordisrael und dem Westjor-
danland, in welchem neben Saul auch dessen Söhne Jonatan, Abina-
dab und Malkischua im Kampf gegen die Philister den Tod fanden.
König David stimmte deshalb ein Klagelied an, das die Berge dieser
Gegend verfluchte.

Aufstand gegen David (231–234)

231–234 Hic Asael Abnerque cadunt … Patriam lugere putares | ef­


figiem: Die von Walter erwähnten Ereignisse stehen in Zusammen-
hang mit den Bestrebungen, König David vom Thron zu stürzen.
Abner war der Heerführer Sauls, der von Joab, dem Heerführer Da-
vids getötet wurde, nachdem dieser zuvor Asael, den Bruder Joabs
und Neffen Davids umgebracht hatte. Urija war Söldner im Heer
Davids, der diesen an die gefährlichste Stelle im Kampf gegen die
Stadt Rabba stellen ließ, um ihn damit zu Tode zu bringen. Hinter-
grund dieser Tat war, dass David dessen Frau Batseba geschwängert
hatte. Absalom, einer der jüngeren Söhne Davids, versuchte seinen
Vater zu stürzen, obwohl er von diesem sehr geliebt wurde. Im Wald
von Efraim kam es schließlich zur Schlacht, die David für sich ent-
scheiden konnte. Auf der Flucht verfingen sich Absaloms langen
766 KOmmentar

Haare im Geäst eines Baumes, so dass es für Davids nachsetzenden


Heerführer Joab ein leichtes war, diesen mit drei Spießen zu töten.
Die Trauer des Vaters wurde insbesondere dadurch gesteigert, dass
er seinen Soldaten vor der Schlacht befohlen hatte, seinen Sohn Ab-
salom zu verschonen.

Tod Davids; Salomo dritter König Israels; Tempelbau;


Tod des Joab; Tod des Simei (234–237)

234–237 Sed postquam humanitus accidit illi, | construitur templum


… Semeique vorax intercipit ensis: Nach Davids Tod herrschte Sa-
lomo in Frieden und Wohlstand. Als dritter König nach Saul und
David erhielt er nicht nur das Großreich seines Vaters, sondern ließ
in Jerusalem auch den ersten jüdischen Tempel erbauen. Da zwei
Bluttaten des Joab, darunter auch die Tötung des Absalom, noch
ungesühnt waren, ließ Salomo Joab töten, obwohl dieser am Altar
Gottes Asyl begehrte. Simei hatte König David während Absaloms
Aufstand mit einem Fluch beleidigt. David begnadigte ihn und
auch Salomo verschonte ihn unter der Bedingung, dass er Jerusalem
nicht verließ. Da er sich nicht an die Vereinbarung hielt, wurde auch
er auf Befehl Salomos hingerichtet.

Rat der Ältesten; Rat der Jünglinge; Spaltung des Reichs;


Abfall von zehn Stämmen (238–239)

238–239 Consilio iuvenum phariseat scisma perhenne  | cum regno


populum. Lis est de divite regno: Nach Salomos Tod kamen die Ver-
treter der Nordstämme zur Krönung des Rehabeam in das Südreich
nach Sichem. Sie baten um Erleichterung der Frondienste, aber Re-
habeam lehnte dies entgegen dem Rat der Ältesten auf Betreiben
des Rats der Jünglinge ab. Daraufhin verweigerten die zehn nörd-
Kommentar zu Buch IV 767

lichen Stammesführer den Gehorsam und fielen von der Dynastie


Davids ab. Sie bildeten von nun an unter der Führung Jerobeams
das Nordreich Israel, während Rehabeam mit der Hauptstadt Jeru-
salem die Herrschaft im Südreich Juda übernahm.

Praeteritio: Götzendienst der Könige; Verderbtheit von Samaria;


Justizmord an Nabot; Tod der Isebel; Tod des Ahab; Vernichtung
der Fünfzig (240–246)

240–246 Quodcumque alterutrum preclare gessit … Non ibi cum


socio quinquagenarius ardet: Ebenso wie bei der Beschreibung von
Darius’ Schild nennt Walter auch hier in einer praeteritio Gescheh-
nisse, die wegen ihres wenig ruhmreichen Charakters nicht auf dem
Grabmal abgebildet sind (zum Darius-Schild vgl. Komm. II, 494–
529). ⇔ Darunter befinden sich manche Könige Israels und Judas,
die den Götzendienst gefördert haben. Damit ist insbesondere der
mit numina negativ konnotierte Baalsdienst angesprochen, der als
sinnlicher und ekstatischer Kult der Kanaaniter von den Propheten
heftig bekämpft wurde. Insbesondere König Ahab von Israel, der
die Prinzessin Isebel aus dem benachbarten Tyrus geheiratet hatte,
förderte seiner Frau zuliebe den Baalskult, indem er in Samaria sogar
einen Tempel für Baal erbaute und selbst Kulthandlungen vollzog.
Isebel nutzte ihre Machtposition, die sie als Ehefrau Ahabs inne-
hatte, skrupellos aus. Sie plante, alle Propheten, die den Baalskult
bekämpften, umbringen zu lassen. Zudem zettelte sie einen Justiz-
mord an Nabot an, der seinen Weinberg nicht an die Königsfamilie
verkaufen wollte. Wie von Elija, einem Propheten des Nordreichs Is-
rael vorhergesagt, wurde das Königshaus von Ahab völlig vernichtet,
Isebel wurde aus dem Fenster geworfen, von Pferden zertrampelt
und von Hunden gefressen. Ahab selbst fiel auf Gottes Beschluss im
Kampf gegen die Syrer. Der Prophet Elija ließ während einer Macht-
demonstration Gottes auf die Baalspriester Feuer vom Himmel reg-
768 KOmmentar

nen und verbrannte den kanaanitischen Hauptmann mit seinen


fünfzig Männern. ⇔ Damit beendet Walter die Beschreibung der
nicht abgebildeten Szenen.

Tötung der Baalspriester durch Elija; Trauer des Elisa (247–248)

247–248 sed gens sacra Baal gladio feriuntur Helie, | discipulusque


dolet non comparere magistrum: Unmittelbar nach dieser Macht-
demonstration Gottes befahl Elija die Ermordung von vierhundert-
fünfzig Baalspriestern. Nach der Himmelfahrt des Elija klagte des-
sen Schüler Elisa, ebenso wie sein Lehrer ein überzeugter Kämpfer
gegen den Baalskult, über dessen Fortgang.

Ezechia und Josia von Juda; Beseitigung der Götzenbilder;


Wiedereinführung des Passah-Festes; Rücklauf der Sonne an der
Treppe (249–255)

249–255 Quos tamen illustres declarat pagina reges … nullusque a


crimine mundus: Ezechia, der seinem Vater Ahab als König von
Juda nachfolgte, stellte den wahren Glauben an Jahwe wieder her,
nachdem er mit der Hilfe Gottes – ein Engel soll bei der Belagerung
Jerusalems in einer einzigen Nacht 185000 Feinde erschlagen ha-
ben – die Fremdherrschaft der Assyrer beendet hatte. Als Ezechia
durch den Propheten Jesaja erfuhr, dass er nicht mehr lange zu leben
hatte, bat er Gott unter Tränen um einen Aufschub. Ihm wurden
daraufhin weitere fünfzehn Jahre Lebenszeit gestattet. Zur Unter-
mauerung dieser Vorhersage und als Beleg für die Allmacht Got-
tes soll dieser auf ein Gebet Jesajas hin im Beisein des Ezechia den
Schatten auf der Sonnenuhr um zehn Stufen zurückgedreht haben.
Es ist schwierig zu entscheiden, was mit diesem Vorgang genau ge-
meint ist, zumal es zu Ezechias Zeit in Israel noch gar keine Sonnen-
Kommentar zu Buch IV 769

uhren gab. Möglicherweise muss das hebräische ma’alot besser mit


Stufen einer Treppe wiedergegeben werden, an denen der Schatten
der Sonne wieder hinaufwanderte. Unabhängig davon, für welche
Lesart man sich entscheidet, bleibt es natürlich in Walters Augen ein
Wunder Gottes, dass Ezechia noch weitere fünfzehn Jahre am Le-
ben blieb. ⇔ Als bedeutender König von Juda orientierte sich Josia
in seinem Leben streng am jüdischen Gesetz, förderte den Glauben
an Jahwe und lehnte die Verehrung anderer Gottheiten strikt ab.
Zudem reformierte er den jüdischen Gottesdienst im Tempel von
Jerusalem und führte in Erinnerung an den Auszug aus Ägypten das
Passah-Fest wieder ein.

Die Vier großen Propheten Jesaja, Jeremia,


Hesekiel und Daniel (256–257)

256–257 Ecce prophetarum, quo rege et tempore quisque | scripserit:


Walter referiert im Folgenden jene Weissagungen der vier großen
Propheten, die nach dem Verständnis der Christen im Mittelalter
von den Voraussagen der Geburt Jesu durch die Jungfrau Maria bis
zur Kreuzigung Jesu reichten.

Verkündigung von Marias Empfängnis durch


Jesaja an Ahas (258–259)

258–259 Hic signum dat Achaz. «Ecce» inquit filius Amos | «virgo
concipiet.»: Der Prophet Jesaja, des Amos Sohn, verkündete Ahas,
dem König von Juda, Marias jungfräuliche Empfängnis.
770 KOmmentar

Jeremia; Zerstörung Jerusalems unter Zedekia; Babylonische


Gefangenschaft und das Ende Judas; Verkündigung der
jungfräulichen Geburt Jesu (259–261)

259–261 Hic sub Ioachim Iheremias  | occasum dolet et dominum


nova monstra creasse | in terra, «mulier»que «virum circundabit»
inquit: Das Grabmal zeigt die Klage des Propheten Jeremia über die
zweite, unter König Zedekia von Juda erfolgte Eroberung Jerusalems
durch Nebukadnezar II. im Jahre 587 v. Chr. und die damit einher-
gehende Zerstörung der Stadt. Nur zehn Jahre zuvor hatte der baby-
lonische Herrscher für kurze Zeit schon einmal Jerusalem erobert,
da der damalige König Jojachin die Tributzahlungen eingestellt
hatte. Die Oberschicht von Juda und ein Teil des judäischen Volkes
wurden infolge der Zerstörung von Jerusalem in die babylonische
Gefangenschaft weggeführt, womit das Reich Juda endete. ⇔ Mit
den Worten et dominum nova monstra creasse | in terra ändert Wal-
ter den ersten Teil von Jeremia 31, 22 (quia creavit Dominus novum
super terram) ab und verleiht dem Text damit einen anderen Sinn.
Gott hat nämlich nicht etwa neue abscheuliche Wesen auf der Erde
geschaffen, sondern etwas völlig Neues, etwas bisher noch nie Da-
gewesenes, nämlich die mit den Worten mulier virum circundabit
prophetisch formulierte Geburt Jesu durch die Jungfrau Maria (vgl.
Alex. IV, 260–261). Walter folgt damit immerhin im zweiten Teil des
Satzes mit der Einbettung in die Voraussagen der großen Propheten
über die Geburt Jesu durch die Jungfrau Maria der im christlichen
Mittelalter üblichen messianischen Deutung der Bibelstelle.

Hesekiel; das geschlossene Tempeltor als Sinnbild der


Jungfräulichkeit Marias (262–264)

262–264 Stansque Ezechiel post captam a gentibus urbem | se vidisse


refert clausam per secula portam, | scilicet intactae designans virginis
Kommentar zu Buch IV 771

alvum: Nach der Eroberung von Jerusalem durch Nebukadnezar II.


berichtete Hesekiel prophetisch von der Schließung des Tempelto-
res, dem Walter in einer interpretatio Christiana erläuternd hinzu-
fügt, dass damit auf die jungfräuliche Geburt Jesu angespielt werde
(vgl. Wulfram 2000, 252).

Daniel und die siebzig Jahrwochen (265–266)

265–266 «Occidetur» ait Daniel «post septuaginta  | ebdomadas


Christus.»: Walter bezieht sich auf Daniel 9, 24–27, wo dem letz-
ten großen Propheten vom Engel Gabriel die Bedeutung der Weis-
sagung Jeremias erläutert wurde. Walter geht wie manche Bibel-
exegeten der heutigen Zeit – für eine Diskussion über alternative
Vorstellungen von Dispensionalisten, welche die letzte Jahrwoche
in die Zukunft verlegen, ist hier nicht der richtige Ort – davon aus,
dass die Kreuzigung Jesu nach insgesamt siebzig Siebenheiten (Jahr-
wochen) stattfand. Diese siebzig Jahrwochen wurden noch einmal
in sieben, zweiundsechzig und eine Jahrwoche unterteilt. Ausgangs-
punkt für Walters Berechnung dürfte das durch den persischen Kö-
nig Artaxerxes 457 v. Chr. erlassene Dekret über den Wiederaufbau
der von Nebukadnezar II. zerstörten Stadt Jerusalem sein. Innerhalb
von sieben Jahrwochen – also nach 49 Jahren – wäre demzufolge
Jerusalem dann wieder aufgebaut worden. Die im Anschluss daran
folgenden zweiundsechzig Jahrwochen sollen eine Übergangsphase
bis zum Kommen des Messias darstellen und machen insgesamt 434
Jahre aus. Zählt man diese ersten beiden Jahrwochen zusammen,
werden daraus insgesamt 483 Jahre. Damit würde man sich im Jah-
re 26 n. Chr. befinden, in welchem sich Jesus im Jordan taufen ließ
und von nun an als Gesalbter Gottes (Messias) betrachtet wurde.
Die siebzigste und letzte Jahrwoche würde dieser Vorstellung zufol-
ge dann das etwa dreieinhalb Jahre dauernde Wirken Jesu umfassen,
auf das in der zweiten Hälfte der letzten Jahrwoche die Kreuzigung
772 KOmmentar

folgte. Damit wäre Jesus – wie von Walter angegeben – tatsächlich


nach siebzig Jahrwochen ans Kreuz geschlagen worden.

Die zwölf kleinen Propheten (266–267)

266–267 Vatum bissena secuntur  | nomina: Gemeint sind die im


Zwölfprophetenbuch überlieferten Hosea, Amos, Micha, Joel,
Obadja, Jona, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja und
Maleachi.

Rückkehr der Juden nach Jerusalem und Wiederaufbau des


Tempels unter Cyrus; Zorobabel (268–270)

268–270 Ultima pars regnum Cyri populique regressum | sub duce


Zorobabel habet. Hic reparatio templi  | pingitur: Cyrus gestattete
den Juden die Rückkehr nach Jerusalem und den Wiederaufbau
des Tempels. Zorobabel oder Serubbabel organisierte als Abkömm-
ling der Dynastie Davids die Rückführung der Juden und leitete die
Arbeiten am Tempel.

Verstoßung der Vasti; Esther wird Königin; Hinrichtung des


Haman (270–271)

270–271 Hystoria hic non pretermittitur Hester  | causaque mortis


Aman stolidaeque superbia Vasti: Das in großen Teilen unhistori-
sche Buch Esther spielt am Hof des Xerxes in Persien. Die persische
Königin Vasti oder Waschti wurde von ihrem Ehemann verstoßen,
weil sie sich geweigert hatte, bei einem Trinkgelage zu erscheinen.
Xerxes wählte die schöne Jüdin Hadassa zur neuen Königin, die
auf den Rat ihres Vetters Mordechai ihre Herkunft verheimlichte
Kommentar zu Buch IV 773

und sich Esther nannte. Da der höchste Regierungsbeamte Haman


Xerxes’ Ermordung plante und Mordechai zufällig davon erfahren
hatte, kam es schließlich zur Hinrichtung Hamans.

Der unerschütterliche Glaube des Tobias (272)

272 Hic sedet in tenebris privatus luce Tobias: Obwohl König Sanhe-
rib von Assyrien dem alten Tobias die Bestattung von Hingerichte-
ten verboten hatte, widersetzte er sich dieser Anordnung, weil er der
Meinung war, Gott mehr fürchten zu müssen als den König. Tobias
wird in der Bibel damit als Beispiel unerschütterlichen Gottvertrau-
ens beschrieben, der auch dann, als er durch den Kot einer Schwalbe
erblindete, nicht an Gott zu zweifeln begann.

Judith tötet Holofernes (273)

273 in castrisque necat Holofernem mascula Iudith: Der assyrische


Feldherr Holofernes, der als General des babylonischen Königs Ne-
bukadnezar II. die Staaten zwischen Mittelmeer und Rotem Meer
unterwerfen sollte, wurde von der ebenso schönen wie mutigen
Judith betört und nach einigen Bechern Wein schließlich von ihr
geköpft.

Esra und der Wiederaufbau des Tempels (274)

274 totaque picturae series finitur in Esdra: Das Buch Esra bildet
zusammen mit dem Buch Nehemia eine Einheit, sowohl in der he-
bräischen Überlieferung als auch in der griechischen Septuaginta.
Die heute übliche Trennung beider Bücher geht auf die lateinische
Vulgata zurück. Walter nennt keine konkrete Szene, dürfte sich aber
774 KOmmentar

in erster Linie auf den im Buch Esra beschriebenen Wiederaufbau


des Tempels in Jerusalem beziehen (vgl. Komm. IV, 268–270). ⇔
Damit endet die Beschreibung von Stateiras Grabmal.

Alexanders Schnelligkeit und kluge Planung (275–279)

275–279 Magnus … festinus castra moveri | imperat et rapido cursu


bachatur in hostem | et Menidan … explorare iubet ubi rex Persaeque
laterent: Nach der ausführlichen Beschreibung von Stateiras Grab-
mal, bei der die Handlung beinahe zum Erliegen gekommen war,
nimmt das Epos mit der bewusst in Szene gesetzten Schnelligkeit
Alexanders zwischen dem Abbruch des Lagers und der offensiven
Bewegung gegen den persischen Feind wieder Fahrt auf (zu Alexan-
ders Schnelligkeit vgl. Komm. II, 91–102). Bei aller Dynamik bleibt
Alexander von der Vernunft geleitet und schickt mit Menidas einen
Späher voraus, um mögliche Hinterhalte auszuschließen (zu Alex-
anders kluger Planung vgl. Komm. IV, 526–546).

Szenenwechsel: Vorbereitungen im Lager des Darius (280–284)

280–284 Quo procul inspecto Mazeus … At Darius … instaurat bellis


acies, cuneosque pererrans | pectora tam monitis honerat quam pre­
struit armis: Walter wechselt den Schauplatz und nimmt das persi-
sche Lager in den Blick. Mazaeus entdeckt Alexanders Späher und
berichtet seinem König über die feindlichen Aktivitäten. Darius
erkennt die Situation und bereitet seine Männer auf den Waffen-
gang vor. Indem er sie ermahnt und ermutigt, kommt er in idealer
Weise den Anweisungen der Aristoteles-Rede über das motivieren-
de Verhalten eines Feldherrn vor der Schlacht nach (vgl. Komm. I,
118–127). ⇔ Diese positive Darstellung des persischen Königs ist ein
erneuter Beleg dafür, dass Walter diesem jenseits der vergleichenden
Kommentar zu Buch IV 775

Charakterisierung mit Alexander die Tugenden eines mutigen und


planvoll agierenden Feldherrn und Königs nicht grundsätzlich ab-
spricht (vgl. Komm. II, 272–305).

Griechen und Perser lagern in Sichtweite zueinander (285–300)

285–300 Iam loca Pelleus castris elegerat … ventorum facili inpulsu


per inane dracones … tremuloque genu vix sustinet Athlas | perpetuum
pondus. Rursus nova bella Gygantum | orta putans, replicat iteratos
Echo boatus … incussoque gradu raperetur in hostem: Alexander wählt
einen Platz für das Lager in unmittelbarer Nähe seines persischen
Gegners. Die Griechen können nun das gewaltige Aufgebot der Per-
ser mit eigenen Augen sehen. Einen besonderen Eindruck auf die
Griechen machen dabei die Drachenstandarten, ein bei asiatischen
Steppenvölkern wie den Sarmaten, aber auch bei den Persern ver-
breitetes Feldzeichen, das von den draconarii mit in die Schlacht ge-
führt wurde. Durch das mit einem Metallring geöffnete Maul des
Drachen konnte der Wind in einen länglichen Windsack eindringen
und optisch dabei die Wirkung eines sich schlängelnden Drachens
hervorrufen. Abgesehen von diesen optischen Eindrücken belebt
Walter seine Beschreibung beider Heere zudem mit akustischen
Eindrücken und versetzt den Leser damit in die Lage, die gewalti-
gen Dimensionen dieses Aufeinandertreffens besser zu begreifen. ⇔
Darüber hinaus setzt er mit Hilfe der Mythologie die Folgen dieses
Aufruhrs der Völker in Szene, indem er berichtet, dass Atlas kaum
noch in der Lage sei, die Welt auf seinen Schultern zu halten und
man der Meinung sein könne, ein neuer Kampf der Giganten sei
losgebrochen. Wie vor der Schlacht bei Issus bemüht Walter damit
auch vor der letzten kriegerischen Auseinandersetzung bei Gauga-
mela erneut die typologische Verbindung der Perser mit dem Ge-
schlecht der Giganten, um über die ebenso typologische Verbin-
dung Alexanders mit Herkules – der Alkide hatte bekanntermaßen
776 KOmmentar

im Kampf gegen die Giganten entscheidend zum Sieg der olympi-


schen Götter beigetragen – den aus heilsgeschichtlicher Perspektive
vorherbestimmten Ausgang der Schlacht gedanklich vorwegzuneh-
men (vgl. Komm. II, 325–371; zur tropologischen Ebene der Ale­
xandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4).
⇔ Abschließend betont Walter mit einer Reminiszenz an die von
Ovid beschriebene Nymphe Echo ein weiteres Mal die akustischen
Begleiterscheinungen des Truppenaufmarschs beider Heere (vgl.
Komm. II, 486–493).

Alexanders Entsetzen (301–327)

301–327 Sed quia iam fessus emenso Cinthius orbe | obtenebrans fa­
ciem ne funera tanta videret, | emerito mergi certabat in equore curru
… Que cuncta viro, si credere fas est, | incussere metum … Non alio Ti­
phis curarum fluctuat estu … Non secus, ut vidit tot milibus arva pre­
mentes | barbaricos instare globos, iam credere fas est | magnanimum
timuisse ducem: Um die Schlacht bei Gaugamela semantisch aufzu-
laden, inszeniert Walter zu Beginn dieses Abschnitts in einer antiken
Vorbildern nachempfundenen Szene den Sonnengott Phoebus als
mitempfindende Gottheit, die vom irdischen Geschehen unmittel-
bar berührt wird (vgl. Zwierlein 2004, 660). Der Sonnengott, der
seine tägliche Bahn bereits durchmessen hat, übereilt sich, mit sei-
nem Sonnenwagen im Meer zu versinken, um ein so großes Sterben
nicht miterleben zu müssen (vgl. Alex. IV, 302: obtenebrans faciem
ne funera tanta videret). ⇔ Der von Walter inszenierte beschleu-
nigte Untergang der Sonne am Abend findet seine Entsprechung
bei Lucan, wo die Sonne am Morgen der Schlacht bei Pharsalus
ihren Aufgang zu verzögern versucht und ihr Antlitz hinter Wol-
ken verbirgt, um das Geschehen nicht – wie Walter benutzt auch
Lucan in seiner Darstellung einen verneinten Finalsatz – sozusagen
mit eigenen Augen miterleben zu müssen (vgl. Luc. Phars. VII, 6:
Kommentar zu Buch IV 777

ne Thessalico purus luceret in orbe; vgl. auch Komm. VII, 1–16). ⇔


In einer Art visionären Trance beschleicht Alexander angesichts
der enormen persischen Truppenverbände, die sogar im spärlichen
Licht der Nacht noch glänzend hell erstrahlen, Angst vor der letz-
ten großen Auseinandersetzung. ⇔ Diese auf den ersten Blick un-
gewöhnliche Reaktion Alexanders, der ansonsten vor keiner noch
so gewaltigen Aufgabe zurückschreckt, wird erst verständlich, wenn
man die Ratschläge näher betrachtet, die Aristoteles seinem damals
jugendlichen Schüler in seiner Rede in bezug auf die Tugend der
Tapferkeit erteilt hat (vgl. Komm. I, 116–143, v.a. 118–127). In diesem
Kontext nämlich stellt die grundsätzlich vorhandene Affizierbarkeit
des Feldherrn für das Gefühl der Angst im Gegenstandsbereich der
Furcht bzw. des Mutes die unabdingbare Voraussetzung dafür dar,
überhaupt ein der jeweiligen Situation angemessenes tapferes und
damit tugendhaftes Verhalten an den Tag legen zu können. Von der
Vernunft gesteuert wird dabei das Gefühl der Angst in die richti-
gen Bahnen gelenkt und sorgt dafür, dass der Feldherr von diesem
Gefühl nicht übermannt wird und deshalb möglicherweise eine
unkluge Entscheidung trifft und demzufolge vielleicht die Flucht
ergreift (vgl. Gartner 2018, 54–60). Auf der anderen Seite verhin-
dert dieselbe Affizierbarkeit des Feldherrn aber auch, dass er sich in
unreflektierter Selbstüberschätzung und tollkühn ohne irgendeine
Strategie auf den Feind stürzt. Insofern entspricht Alexanders Ver-
halten in Anbetracht der gewaltigen persischen Truppenverbände
und der damit objektiv betrachtet vorhandenen Bedrohungslage
durchaus den Anforderungen der aristotelischen Tugendlehre und
kann damit nicht als feiges Verhalten bezeichnet werden. ⇔ Walter
erweitert die Szene, indem er Alexander mit einem Steuermann ver-
gleicht, der durch einen plötzlich aufziehenden Sturm beunruhigt
wird, eilig Vorkehrungen trifft und seine Gefährten für die notwen-
digen Arbeiten an Deck einspannt. Möglicherweise ist der Vergleich
durch die Überfahrten Walters nach England inspiriert (vgl. Komm.
VI, 370–383; vgl. auch Christensen 1905, 81).
778 KOmmentar

Versammlung der Generäle (327–349)

327–349 Vocat ergo quirites, | seu dubiae mentis quid agat seu verius ut
sic | experiatur eos que sint tractanda requirens … Hos inter Polipercon
nocte fruendum | asserit et positum Grais in nocte tryumphum: Alexan-
der beruft eine Versammlung mit seinen Generälen ein, um über das
weitere Vorgehen zu beraten. Indem sich Alexander mit seinen engsten
Vertrauten bespricht, steht das Streben nach einer von der Vernunft
geleiteten Entscheidung – ganz im Sinne der aristotelische Tugend-
lehre – im Vordergrund. Walter geht sogar so weit, dass er es für wahr-
scheinlicher hält, dass Alexander – von Walter bezeichnenderweise
als magnanimus dux angesprochen – schon unmittelbar nach seiner
angsterfüllten Vision für sich bereits eine vernünftige Entscheidung
getroffen hat und er seine Generäle eher einer Prüfung unterziehen
möchte, als dass er tatsächlich ihrer Hilfe bedarf. ⇔ Mit einer Vielzahl
teilweise durchaus nachvollziehbarer Argumente versucht Parmenion
seinen König davon zu überzeugen, dass ein nächtlicher Angriff zu
bevorzugen sei. Damit baut Walter den alten General ein weiteres Mal
zum Gegenspieler Alexanders auf, der ein derartiges Vorgehen – wie
im Folgenden noch zu sehen sein wird – aus spezifischen Gründen
ablehnt (vgl. Komm. IV, 109–130). Polypercon, ein weiterer General
Alexanders, vertritt wie Parmenion die Meinung, dass ein nächtlicher
Angriff vorzuziehen sei. Polypercon dient damit sozusagen als Puffer
zwischen Parmenion und Alexander, der seinen wichtigsten General
mit seiner nun folgenden Antwort nicht schon wieder vor aller Augen
demütigen will (vgl. Komm. IV, 131–141).

Alexanders Verständnis wahren Ruhms (350–373)

350–373 Hunc rex intuitus … redit in tentoria miles: Alexander,


der viel lieber am Tage in einer offenen Feldschlacht kämpfen will,
kritisiert Parmenions Vorschlag scharf, da sein wichtigster General
Kommentar zu Buch IV 779

in seinen Augen mit List und Tücke vorzugehen gedenkt. ⇔ Die


scharfe Reaktion ist damit zu erklären, dass mit Parmenions Vor-
schlag die für Alexander entscheidende Frage nach dem wahren
Ruhm berührt ist (vgl. Komm. IV, 1–23). Nicht der Sieg als solcher
ist dabei für den makedonischen König erstrebenswert, sondern
nur ein tugendhaft errungener Sieg, da allein daraus wahrer Ruhm
erwächst. Er würde sogar eine ehrenhafte Niederlage einem ruhm-
losen Sieg vorziehen. Alexander geht es um das Urteil der Nachwelt,
das nicht durch eine nächtliche, von Hinterlist und Betrug geprägte
Schlacht getrübt werden darf. Die Stelle zeigt über die von antik-pa-
ganen Vorstellungen geprägte Haltung Alexanders hinaus exempla-
risch das in der Alexandreis auch aus christlicher Perspektive gültige
Verständnis von Ruhm, der dann als erstrebenswert und wahr aner-
kannt wird, wenn er einem dem christlichen Glauben entsprechen-
den höheren Zweck – im vorliegenden Fall der in den prophetischen
Büchern der Bibel angekündigten Ablösung des medisch-persischen
Reichs durch Alexander – zu dienen imstande ist (vgl. Komm. VI,
311–369; zum Verständnis wahren Ruhms in der Alexandreis vgl. die
Einführung zu Buch IV; vgl. auch Einleitung 7.4).

Szenenwechsel: Letzte Vorbereitungen im Lager des Darius (374–390)

374–390 Econtra Darius Persas haut segnius armat  | premunit­


que suos ... Nullus eorum est | quem iubar ardoris non disputet esse
piropum: In Erwartung eines nächtlichen Angriffs der Griechen
versetzt Darius sein Heer in Alarmbereitschaft. ⇔ Damit stellt
Walter den persischen König jenseits einer vergleichenden Charak-
terisierung mit Alexander erneut umtriebig und planvoll agierend
dar (vgl. Komm. IV, 280–284). ⇔ Die Situation ist gespenstisch, da
die strahlenden Rüstungen der Perser sogar das Dunkel der Nacht
durchbrechen und die Geräusche der Pferde und der Soldaten sich
zu vermischen scheinen.
780 KOmmentar

Das Eingreifen der Göttin Victoria (391–453)

Alexanders Gedankengefängnis (391–400)

391–400 Invasit subitis concussum motibus ingens | agmen utrum­


que timor … insompnemque trahit, agitat dum talia, noctem, | nec
capit angustum curarum milia pectus: Alexander kann in der Nacht
vor der Schlacht bei Gaugamela keinen Schlaf finden und quält sich
mit Gedanken über die beste taktische Ausrichtung für diese letzte
große Auseinandersetzung. Darüber ist – wie im Folgenden noch
zu sehen sein wird – Victoria äußerst beunruhigt und beauftragt
den Schlafgott Somnus, ihrem Schützling zu Hilfe zu eilen. ⇔ Zu-
vor jedoch unterbricht Walter die eigentliche Erzählung mit einer
ausführlichen Beschreibung des Palastes der allegorisch in Szene
gesetzten Victoria mit ihren als Personifikationen gestalteten Ge-
schwistern.

Der Palast der Göttin Victoria (401–432)

401–432 Insula multifidi quam Tibridis alveus ambit | est ipso re­
verenda loco, que vendicat orbis | imperiique caput, quadris ubi freta
columpnis  | stat sita sub clivo lunaris in aere motus  | regia reginae
cuius Victoria nomen … et musica | circum instrumenta sonant nume­
ros aptante camena: Die ungewöhnliche Lokalisierung des Tempels
der Victoria auf der Tiberinsel in Rom – einen Tempel der Sieges-
göttin gab es in Rom seit 294 n. Chr. eigentlich am Clivus Victoriae
auf dem Palatin – steht möglicherweise damit in Zusammenhang,
dass Walter die Absicht verfolgt, eine Szene aus der Aeneis Vergils zu
imitieren, in der Aeneas in der Nacht vor der Schlacht gegen die Ru-
tuler ebenso wie Alexander von Sorgen gequält im Halbschlaf An-
weisungen des römischen Flussgottes Tiberinus erhält, die ihn von
seinen Grübeleien befreien und ihn in einen tiefen Schlaf sinken las-
Kommentar zu Buch IV 781

sen (vgl. Verg., Aen. VIII, 18–65; vgl. auch Zwierlein 2004, 658–
659). ⇔ Zugleich lässt sich hinter dieser geschickt inszenierten Imi­
tatio Walters aber auch ein aemulativer Ansatz vermuten, der darin
besteht, die Schlacht bei Gaugamela in eschatologischer Hinsicht als
das gegenüber dem Krieg gegen die Rutuler weltgeschichtlich sehr
viel bedeutendere Ereignis herauszustellen (vgl. Komm. I, 502–538;
zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6). ⇔
Möglicherweise steht darüber hinaus auch die Intention Walters im
Raum, die Tiberinsel zusammen mit dem Tempel der Victoria und
den darin auch negativ beschriebenen Gestalten wie der rastlosen
Ambitio oder der barbarischen Pecunia stellvertretend für Rom als
religiösen Mittelpunkt der mittelalterlichen Welt zu kennzeichnen
und im Sinne eines zeitgenössischen Bezugs eine satirische Kritik an
der römischen Kurie zu üben (vgl. Ratkowitsch 1996, 97–131, v.a.
124–131; zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. auch Einleitung 8).
⇔ Ein klassisches Vorbild für die Beschreibung des Tempels selbst
und der sich darin aufhaltenden Gestalten stellt etwa Vergils Un-
terweltsbeschreibung dar, in der verschiedene Personifikationen von
Lastern zu finden sind (vgl. Verg., Aen. VI, 274–281). Beispielswei-
se haben in der Aeneis am Eingang zur Unterwelt die Gram (Luctus)
und die rächenden Sorgen (Ultrices Curae) ihr Lager aufgeschlagen,
während bei Walter die allzu geschäftige Mutter der Sorgen, die
rastlose Ambitio, den Eingang zum Tempel bewacht (vgl. Alex. IV,
408–410). Aber auch Ovids Schilderung des Hauses der Fama, die
Invektive gegen Rufinus bei Claudian oder die Thebais des Statius
dürften mit ihren Schilderungen der personifizierten Laster für Wal-
ters Darstellung des Tempels der Göttin Victoria Pate gestanden ha-
ben (vgl. Zwierlein 2004, 657; vgl. Ov., Met. 12, 59–61; vgl. auch
Claud., In Ruf. I, 27–40; vgl. auch Stat., Theb. 10, 84–92). ⇔ Die
Personifikationen der letzten drei Gestalten bei Walter – Applausus,
Favor und Risus – sind männlich und passen damit eigentlich nicht
so recht zu den insgesamt als sorores bezeichneten Begleiterinnen
der Göttin Victoria (vgl. Alex. IV, 427–430). Wie Streckenbach
782 KOmmentar

(1990) 227 bemerkt, hat der Autor der Glosse im Codex Vindo-
bonensis dies offenbar als so störend empfunden, dass er die ver-
schiedenen Gestalten in Schwestern und Brüder eingeteilt hat (vgl.
Colker 1978, 425). Man kann diese Problematik im Deutschen
aber auch – wie im vorliegenden Band geschehen – damit umgehen,
indem man einfach von Geschwistern spricht. ⇔ Ungewöhnlich ist
zugegebenermaßen auch, dass eben diese Schmeichler der eigent-
lich unsterblichen Göttin Victoria ein langes Leben wünschen (vgl.
Alex. IV, 430–431). Ratkowitsch (1996) 129 wertet dies nach-
vollziehbar als Beleg dafür, dass die Göttin Victoria in ihrem Palast
im Sinne eines zeitgenössischen Bezugs den Papst in seinem Prunk
symbolisiert und Walter damit ein weiteres Mal die päpstliche Kurie
in Rom kritisieren möchte (zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl.
Einleitung 8).

Victoria und Somnus (433–453)

433–453 Hec ubi tot curas volventem pectore Magnum  | vidit …


emicat extimplo … antra Quietis adit et desidis atria Sompni, atque
ita: «Surge pater, Macedumque illabere regi  | dum iacet, et curis
animum corpusque relaxa.» … sydera Plaustri  | ethereosque celer
stimularet Lucifer ignes: In großer Eile begibt sich die Göttin Vic-
toria zum Schlafgott Somnus, der in einem düsteren und vom Son-
nenlicht abgeschirmten Palast lebt und bittet ihn inständig, ihrem
Schützling doch in den Schlaf zu helfen. Somnus bricht daraufhin
unverzüglich ins Lager der Griechen auf und lässt dort den makedo-
nischen König in einen tiefen Schlaf sinken. ⇔ Auch dieses Motiv
– das Aufsuchen des Schlafgottes durch eine andere Gottheit – hat
Walter von antiken Vorbildern übernommen und für seine eigenen
Zwecke umgestaltet. Während bei Ovid Iris auf Bitten von Juno
den Schlafgott besuchen soll, um ihm den Auftrag zu erteilen, ein
Traumbild in Gestalt des Ceyx zu Alcyone schicken, schläfert er bei
Kommentar zu Buch IV 783

Statius ebenfalls auf Bitten von Juno die thebanischen Wachen ein,
damit die Argiver das thebanische Heer leichter besiegen können
(vgl. Ov., Met. XI, 583–588; vgl. auch Stat., Theb. X, 84–92). Die
von Walter verwendete Formulierung desidis atria Somni ist dabei
eine wörtliche Übernahme aus Statius (vgl. Stat., Theb. X, 87: it
vacuum in montem, qua desidis atria Somni). Das eindrucksvolle
und von Walter benutzte Bild, nach dem sich der Schlafgott erst von
sich selbst abschütteln muss, stammt ursprünglich von Ovid (vgl.
Ov., Met. XI, 618–621). Die Auswirkungen des Schlafgottes auf die
Sterne, die bei Walter bei der Berührung mit Somnus einschlafen
und nicht mehr ihre gewohnten Bahnen ziehen, zeigen motivisch
eine gewisse Ähnlichkeit mit der Schilderung bei Statius (vgl. Stat.,
Theb. X, 141–145: ceciderunt sidera caelo; vgl. auch Zwierlein 2004,
656–659).

Unsicherheit im griechischen Lager (454–497)

Alexander verschläft (454–471)

454–471 Et iam pestiferae ducens presagia lucis  | prodierat Tytan


Nabatheis luridus undis … Ut corpora curent  | utque cibos sumant
pronunciat ergo tribunis: Die göttliche Hilfe ist so erfolgreich, dass
Alexander am nächsten Morgen verschläft und damit unter seinen
Leuten eine gewisse Unsicherheit und Unruhe auslöst. Alle wun-
dern sich darüber, dass ihr Anführer ausgerechnet am Tag der Ent-
scheidung nicht wie üblich als erster auf den Beinen ist und schon
die Vorbereitungen für die Schlacht trifft. Manche vermuten so-
gar, dass Alexander sich aus Furcht vor dem kommenden Tag im
Dunkel seines Zelts verstecke und gar nicht mehr schlafe. ⇔ Mit
den Worten fatali turbine betont Walter die Wichtigkeit dieses Mo-
ments und verweist damit gleichzeitig auf die Schicksalsspindel der
Parzen, die im entscheidenden Moment des Perserkriegs – stilistisch
784 KOmmentar

durch ein gesperrtes Homoioteleuton und eine etymologische Fi-


gur hervorgehoben – mit dem Spinnrad ihrer Arbeit als Schicksals-
göttinnen nachgehen (vgl. Alex. IV, 461; vgl. auch Cat., carm. 64,
314: libratum tereti versabat turbine fusum; zur Rolle der Parzen bei
Walter vgl. auch Komm. I, 5–8). ⇔ Parmenion versucht die Situa-
tion zu beruhigen und erteilt den Befehl, die Soldaten erst einmal
essen zu lassen.

Parmenion weckt Alexander (472–497)

472–497 Iamque movente gradus adversa parte necesse  | hiis erat


exire. Stratum tunc denique regis | dux adiit … Ite parari | ut mos
est: Alias replicabo licentius ista: Als Parmenion seinen König weit
nach Sonnenaufgang wecken muss und er diesem die Frage stellt,
ob ihm ausgerechnet am Tag der letzten Entscheidung die legendäre
Entschlossenheit abhanden gekommen sei, lügt Alexander seinen
General an und behauptet, dass er aus Furcht nur zu den Zeiten
schlecht geschlafen habe, als Darius auf seinem Rückzug ins persi-
sche Kernland die Taktik der verbrannten Erde verfolgt hatte. Jetzt,
da er dem persischen König von Angesicht zu Angesicht gegenüber-
stehe, gebe es nichts mehr, was er fürchte. ⇔ Da Alexander jedoch
– wie die Schilderung von Alexanders Gemütszustand am Abend
zuvor zeigt – sehr wohl wegen der anstehenden Schlacht nicht ein-
schlafen konnte, stellt sich die Frage, aus welchem Grund er – plötz-
lich scheinbar unbeeindruckt vom persischen Truppenaufmarsch
– nun den Befehl gibt, die Vorbereitungen für die Schlacht zu tref-
fen. Eine plausible Erklärung für dieses möglicherweise als feige und
unmoralisch misszuverstehende Verhalten Alexanders lässt sich nur
aus den Anweisungen der Aristoteles-Rede hinsichtlich der Tugend
der Tapferkeit gewinnen. Dort erteilt der Philosoph dem jugendli-
chen Alexander nämlich den Rat, in einer für das Heer beängsti-
genden Situation motivierend auf seine Soldaten einzuwirken und
Kommentar zu Buch IV 785

als Feldherr ungeachtet möglicherweise vorhandener eigener Zwei-


fel als Vorbild für andere selbstbewusst voranzugehen (vgl. Komm.
I, 116–143, v.a. 123–127). Demzufolge ist Alexanders Verhalten nach
aristotelischen Maßstäben durchaus als vernünftig und tapfer an-
zusehen, da er damit die bereits vorhandene Unsicherheit im Heer
beseitigen und insofern mit besseren Siegeschancen in die Schlacht
ziehen kann. Würde er im umgekehrten Fall Parmenion seine Be-
findlichkeit wahrheitsgemäß mitteilen, würde die ohnehin schon
bestehende Unsicherheit im Heer noch verstärkt und die Schlacht
wäre möglicherweise bereits verloren, bevor sie überhaupt begon-
nen hätte.

Alexanders Rüstung (498–525)

498–525 Dixit et armari lituo precone Pelasgos | imperat. Ipse suis ap­
tat munimina membris. | Erea crure tenus serpens descendit ad imos |
squama pedes … spes sana resuscitat egrum | agmen, et in vultu victo­
ria visa sedere: Die Schilderung über das Anlegen der Rüstung Alex-
anders ist von Curtius vorgeprägt, der den entsprechenden Vorgang
mit nur wenigen Worten abhandelt. Zudem informiert er den Leser,
dass Alexander diese nur selten anlege und dies vor der Schlacht bei
Gaugamela auch eher auf Anraten seiner Freunde mache als aus
Furcht, sich schutzlos der Gefahr auszusetzen (vgl. Curt., Hist. IV,
13, 25: munimento corporis sumpto). ⇔ Ganz anders Walters Darstel-
lung, der diese Szene zu einer detailreichen Rüstungsbeschreibung
ausweitet, die in ihrer Funktion die oben angesprochene, von Aris-
toteles eingeforderte Motivationskunst des makedonischen Königs
aufnimmt und unterstreicht (vgl. Komm. IV, 472–497). Die durch
die beeindruckende Rüstung hervorgerufene Ausstrahlung Alexan-
ders, der sich zudem beherzt auf sein Pferd Bukephalus schwingt
sowie dessen außerordentliche Entschlossenheit werden von Walter
ebenso explizit angeführt, wie die beim Anblick ihres beeindru-
786 KOmmentar

ckenden Königs zurückkehrende Zuversicht und Siegesgewissheit


seiner Soldaten. Was die Rüstung selbst betrifft, stellt Harich in
einem interessanten Vergleich mit Plutarchs Alexanderbiographie
heraus, dass der antike Autor ganz andere Rüstungsteile beschreibt
als Walter, und zeigt damit auf, wie weit der mittelalterliche Autor
mit Alexanders Verwandlung in einen geharnischten Ritter von
der Vorstellungswelt des antiken Autors entfernt ist (vgl. Harich
1987, 154–156). Zudem hebt sie hervor, dass die Panzerung Alexan-
ders im Unterschied zu den prunkvollen und selbst im nächtlichen
Licht schillernden Waffen der Perser für das Auge wenig zu bieten
hat. Damit kontrastiert Walter die zwar mit sinnlosem Reichtum
gesegneten, aber eigentlich kampfunfähigen Perser mit dem inne-
ren Reichtum des makedonischen Königs, dem es genügt, mit einer
zweckmäßigen, aber weniger aufwendigen Rüstung in den Kampf
zu ziehen (vgl. Komm. III, 4–10).

Letzte Vorbereitungen Alexanders (526–546)

526–546 Ipse suis igitur distinguens partibus agmen … currus | fal­


catos … sed eos involvere telis … Neve repulsa dolis succumberet ardua
virtus | omnibus ostendi iubet ostensumque caveri | suspectum de frau­
de locum: Mit seinen genauen Anweisungen erfüllt Alexander die in
der Aristoteles-Rede mit den Worten metire oculis wiedergegebene
Aufgabe, die Stärken des Feindes entsprechend einzuschätzen – ge-
rade die an den Rädern mit scharfen Klingen versehenen Sichelwa-
gen waren auf flachem Terrain wie bei Gaugamela eine durchaus
ernstzunehmende Gefahr – und eine vernünftige Entscheidung zu
treffen, dieser Gefahr zu begegnen (vgl. Komm. I, 116–143, v.a. 133).
Ein persischer Überläufer berichtet den Griechen zudem von im
Boden vergrabenen Fallen aus Metall, mit denen Darius das Kriegs-
glück auf seine Seite ziehen möchte. Das von Walter mit den Worten
astu latenti und occulta ruina zum Ausdruck gebrachte hinterhälti-
Kommentar zu Buch IV 787

ge Verhalten des persischen Königs kontrastiert dabei eindrucksvoll


Alexanders Bestreben, den Sieg in offener Feldschlacht ohne List
und Tücke davonzutragen (vgl. Komm. IV, 350–373). Alexander
lässt keinen Zweifel an seiner Handlungsschnelligkeit aufkommen,
indem er den Überläufer bewachen lässt, damit dieser im griechi-
schen Heer keine Gerüchte streuen kann. Gleichzeitig lässt er die
Angaben des Mannes prüfen. ⇔ Walter stellt damit noch einmal
kurz vor der Schlacht bei Gaugamela in einer bewusst gesetzten
moralischen Bewertung die beiden Feldherrn kontrastierend gegen-
über, indem er auf der einen Seite Darius mit den negativ konno-
tierten Begriffen arte | fretus Ulixea und dolis in Verbindung bringt,
auf der anderen Seite Alexanders ardua virtus herausstellt (vgl. Alex.
IV, 544–546).

Alexanders Feldherrnrede vor der Schlacht bei Gaugamela (546–588)

Alexander und das Schicksal (546–562)

546–562 Tum vero fluentes | precedens acies … et simul offerat orbem:


Rückblickend auf die Schlachten am Granikus und bei Issus spricht
Alexander in einer Rede an seine Soldaten vom Schicksal, das ihnen
immer gewogen war und auch weiterhin gewogen sein wird (zum
Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl.
Einleitung 5; vgl. auch Komm. II, 186–200; vgl. auch die Einfüh-
rung zu Buch II). Auch in der Situation vor der Schlacht bei Gau-
gamela zeigt sich Alexanders innerste Überzeugung, grundsätzlich
vom Schicksal begünstigt zu sein und demzufolge keinen Feind
fürchten zu müssen. Seit der noch in Pella erhaltenen Vision, in der
dem makedonischen König der jüdische Hohepriester erschienen
war, und ihm die Eroberung des Perserreichs unter der Bedingung
der Verschonung Jerusalems versprochen hatte, gibt es weder aus
Alexanders Sicht noch aus der Perspektive des christlichen Autors
788 KOmmentar

irgendeinen substanziellen Zweifel daran, dass auch diese letzte gro-


ße Schlacht – gleichbedeutend mit dem Sieg über das Perserreich
– für die griechische Seite erfolgreich enden wird (vgl. Komm. I,
493–538).

Alexanders Ruhm (563–578)

563–578 Tanto pluris erit nobis victoria, quanto  | a paucis partam


de pluribus esse liquebit … Qui mecum vincere curas, | participem me
laudis habes, tibi cetera tolle: Alexander münzt die durch die enorme
Truppenstärke der Perser bei seinen Soldaten vorhandene Unsicher-
heit in einen Vorteil um, indem er ihnen vor Augen führt, dass der
Sieg eines kleineren Heeres über ein größeres Heer auch größeren
Ruhm zur Folge hat. ⇔ Das Motiv war bereits im Prooemium ange-
klungen und findet auch an der für die Alexandreis zentralen Stelle
am Ende von Buch V noch einmal Verwendung, wo Walter diesen
Aspekt der zahlenmäßigen Unterlegenheit ebenso mit der Tugend
der Tapferkeit in Verbindung bringt (vgl. Alex. I, 2–3: quo milite
Porum | vicerit et Darium; vgl. dazu auch Alex. V, 500–502: si fide
recolas quam raro milite contra | victores mundi tenero sub flore iu­
ventae | quanta sit aggressus Macedo). ⇔ Indem Alexander die glän-
zenden Waffen der Perser erwähnt, die sogar dem strahlenden Glanz
der Sonne Konkurrenz machen, brandmarkt Walter damit erneut
die Prunksucht der Perser (vgl. Komm. II, 388–407). ⇔ Mit dem
Ausblick auf die Beute ist Alexander nicht nur in der Lage, seine
Soldaten zu motivieren, sondern gibt damit auch ein beeindrucken-
des Beispiel seiner angemessenen Gebefreudigkeit, indem er verkün-
det, von den persischen Schätzen selbst nichts zu begehren, sondern
lediglich den Ruhm der gewonnenen Schlacht für sich beanspru-
chen will (zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs
ἐλευθεριότης bzw. des lateinischen Begriffs liberalitas mit angemes­
sener Gebefreudigkeit vgl. die Einführung zu Buch I; zu Alexanders
Kommentar zu Buch IV 789

Verständnis wahren Ruhms vgl. Komm. IV, 350–373; vgl. auch die
Einführung zu Buch IV; vgl. auch Einleitung 7.4). Auch mit diesem
Verhalten erfüllt Alexander eine zentrale Vorgabe der aristotelischen
Tugendlehre (vgl. Komm. III, 215–220).

Alexanders Tapferkeit (579–588)

579–588 Exemplar virtutis habe … Alexandrum … primus in ag­


mine primo  | rex apparuerit … Exemplo moveat fortes … exhibeat
quicunque regit: Am Ende seiner mitreißenden Rede stellt sich Ale-
xander selbst als Beispiel eines tapferen Feldherrn dar, der stets in
vorderster Front kämpft – stilistisch mit einem gesperrten Polypto-
ton hervorgehoben – und damit stets seiner Vorbildfunktion gerecht
wird. ⇔ Damit rückt Walter, wie mit den Worten precedens acies
bereits angedeutet wird, unmittelbar vor Beginn der Schlacht mit
der Tugend der Tapferkeit noch einmal die wichtigste Tugend eines
Feldherrn in den Mittelpunkt und bringt sie in Verbindung mit sei-
nem wichtigsten Protagonisten (vgl. Alex. IV, 547; vgl. auch Komm.
I, 116–143, v.a. 128: Hostibus ante alios primus fugientibus insta).

Die Schlacht beginnt (588–593)

588–593 Sic fatur, et ecce | concurrunt acies. It tantus ad ethera cla­


mor … in Chaos antiquum rediviva lite relabens | machina corrueret,
rerum compage soluta … concussa darent elementa fragorem: Walter
verdeutlicht die gewaltigen Ausmaße und die weltgeschichtliche Be-
deutung der Schlacht mit einer Anleihe aus der Mythologie, nach
der die Welt wieder in ihr altes Chaos zu versinken drohe, ihr Ge-
füge sich aufzulösen scheine und die Elemente – in ihren Urzustand
zurückkehrend – wieder zerrüttet würden. Darüber hinaus gibt
Walter mit den Worten rediviva lite einen unscheinbaren Hinweis
790 KOmmentar

auf einen sozusagen in umgekehrter zeitlicher Abfolge noch einmal


aufflammenden Kampf der riesenhaften Giganten – Symbol für
den Aufstand der chaotischen und ungesetzlichen Kräfte – gegen
die olympischen Götter. ⇔ Stellt man in Rechnung, dass Walter in
der Alexandreis die Perser typologisch schon mehrfach mit dem Ge-
schlecht der Giganten in Verbindung gebracht hat, stilisiert er damit
auch die letzte große Schlacht bei Gaugamela zu einer Auseinander-
setzung zwischen den das Recht und die Ordnung repräsentieren-
den Griechen und den Persern, die für das Unrecht und die Unord-
nung stehen (vgl. Komm. II, 325–371, v.a. 349–350; vgl. auch Komm.
II, 494–529, v.a. 498–501; zur tropologischen Ebene der Alexandreis
bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4).
Einführung zu Buch V
Bevor Walter in Buch V mit der ausführlichen Darstellung des
Schlachtgeschehens bei Gaugamela beginnt, rückt er zu Beginn mit
zwei heilsgeschichtlich bedeutsamen Hinweisen zum konkreten
Zeitpunkt der Schlacht noch einmal den für die Griechen günsti-
gen Ausgang der letzten großen Auseinandersetzung ins Blickfeld
des Lesers. Zum einen macht er diesen Umstand mit der astrono-
mischen Bezugnahme auf die Jupitersöhne Castor und Pollux und
die Schlacht der Giganten gegen die olympischen Götter und die
damit einhergehende typologische Verbindung Alexanders mit Her-
kules deutlich, zum anderen betont er diesen Sachverhalt mit der
expliziten Erwähnung der Danielprophetie und der damit in Ver-
bindung stehenden biblischen Zeitrechnung (vgl. Komm. V, 1–10;
zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschicht-
lichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2; zur typologischen Verbin-
dung Alexanders mit Herkules vgl. Komm. II, 319–371). Auch über
die Darstellung Alexanders als ferreus malleus, der als eiserner Ham-
mer die feindlichen Linien der Perser zerschlägt – die Bezugnahme
auf die Inschrift des Darius-Grabmals ist in diesem Zusammenhang
evident –, oder mit der erneuten Bezugnahme auf die Giganten
beim Kampf Alexanders gegen den Riesen Geon hebt Walter auch
während des Schlachtgeschehens die heilsgeschichtliche Dimension
im Wirken seines wichtigsten Protagonisten mehrfach hervor (vgl.
Komm. V, 26–31; vgl. Alex. VII, 421–424: Et quia non latuit sen­
sus Danielis Apellem, | aurea signavit epigrammate marmora tali: |
«Hic situs est typicus aries, duo cornua cuius | fregit Alexander, totius
malleus orbis; vgl. Komm. V, 38–75).
Darüber hinaus streicht der Autor der Alexandreis auch im
Kontext der Schlacht bei Gaugamela die herausragende Tugendhaf-
tigkeit seines wichtigsten Protagonisten heraus, der gleich zu Beginn
792 KOmmentar

des Aufeinandertreffens in einem initialen Zweikampf gegen den


Perser Aristomenes seine Tapferkeit unter Beweis stellt und damit
für seine Soldaten ein leuchtendes Vorbild abgibt (vgl. Komm. V,
11–25; zur Bedeutung eines initialen Zweikampfes vgl. auch Komm.
III, 11–27; zur Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I, 116–143; zur
tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn
des Epos vgl. Einleitung 7.4). In einem Gefecht gegen einen persi-
schen Reitertrupp unterstreicht Walter die Vorbildfunktion Alex-
anders, indem dieser vor allen anderen den Kampf mit den Persern
sucht und sogleich den gegnerischen Anführer tötet (vgl. Alex. V,
365–369; vgl. auch Komm. V, 350–375; zur Vorbildfunktion eines
Feldherrn als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I,
128–132). Nach der siegreichen Schlacht bei Gaugamela verteilt Ale-
xander die Beute an seine Soldaten und erfüllt damit auch die in der
Aristoteles-Rede eingeforderte Tugend der angemessenen Gebefreu­
digkeit (vgl. Komm. V, 431–455; zur Tugend der angemessenen Gebe­
freudigkeit vgl. Komm. I, 144–151 bzw. 156–163; zur deutschen Über-
setzung des griechischen Begriffs φιλíα bzw. des lateinischen Begriffs
amicicia mit angemessener Zuwendung vgl. die Einführung zu Buch
I). Ebenso verhält sich Alexander im Hinblick auf die Tugend der
angemessenen Zürnkraft vorbildlich, indem er wegen der Kapitula-
tion der Perser die Hauptstadt Babylon verschont (vgl. Komm. V,
431–455; zur Tugend der angemessenen Zürnkraft vgl. Komm. I, 115;
zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs πρᾳότης bzw.
des lateinischen Begriffs humilitas mit angemessener Zürnkraft vgl.
die Einführung zu Buch I).
In Walters Schilderung verschiedener Zweikämpfe lassen sich
zahlreiche intertextuelle Bezugnahmen auf antike Autoren feststel-
len, die über ihren imitativen Charakter hinaus auch das aemula-
tive Anliegen des mittelalterlichen Autors zum Ausdruck bringen.
Damit gelingt es Walter, entweder die Themensetzung innerhalb
seiner Darstellung gegenüber den antiken Vorlagen nach seinen
Vorstellungen zu variieren oder die Helden der antiken Epen in ein
Einführung zu Buch V 793

vergleichsweise schlechtes Licht zu rücken. So etwa macht Walter


im Kontext von Clitus’ Kampf gegen den Perser Sanga und dessen
Vater Mecha deutlich, dass beim Verlust der eigenen Kinder in der
Schlacht nicht wie bei den antiken Vorbildern Vergil und Statius
der Zorn das vorherrschende Gefühl darstellt, sondern der Schmerz
(vgl. Komm. V, 76–122). Überdies betont Walter in seiner Schilde-
rung des Zweikampfes zwischen Nicanor und dem Perser Rhemnon
die Zielstrebigkeit und Entschlossenheit des griechischen Kämpfers
kontrastierend zu Vergils Darstellung des wenig erfolgreichen Aene-
as bei der Verfolgung des Turnus oder des nur wenig erfolgreicher
als Aeneas agierenden Tydeus bei dessen Kampf gegen Eteocles (vgl.
Komm. V, 145–165 bzw. 166–182; zum produktionsästhetischen An-
satz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch
die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Ohne
Zweifel ist bei derartigen intertextuellen Kontrastimitationen auch
Walters Selbstverständnis als Dichter berührt, der dem Leser bedeu-
ten möchte, dass nicht nur die antiken Helden hinter den Protago-
nisten seines carmen heroicum zurückzustehen haben, sondern dem
Autor der Alexandreis auch der Vorrang vor den antiken Dichtern
gebührt (zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. auch
Einleitung 6).
Zu den bemerkenswerten Episoden in Buch V gehört auch das
Eingreifen der Götter Mars und dessen Schwester Bellona, die dem
makedonischen König den Auftrag erteilen, die Verfolgung des Da-
rius aufzugeben, da dem persischen König vom Schicksal bestimmt
sei, durch die Hand seiner eigenen Männer zu fallen, und er besser
Parmenion zu Hilfe eilen solle, da sich dieser auf dem anderen Hee-
resflügel im Kampf gegen den tapferen Perser Mazaeus in großen
Schwierigkeiten befinde (vgl. Komm. V, 205–255; zum Götterap-
parat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einlei-
tung 5). Da sich Alexander trotzig weigert, dem göttlichen Auftrag
nachzukommen, scheint auch diese Episode eine in aemulativer
Absicht inszenierte Kontrastimitation zu sein, mit der Walter die
794 KOmmentar

Willfährigkeit des vergilischen Aeneas gegenüber göttlichen Mäch-


ten – zu denken ist dabei etwa an die Dido-Episode im vierten Buch
der Aeneis, in welchem der trojanische Held auf Merkurs Geheiß
die karthagische Königin verlässt und gehorsam die Küsten Italiens
anstrebt – als weniger heldenhaftes Verhalten kritisieren möchte (zu
Walters ambivalentem Verhältnis zu Vergil vgl. Einleitung 6; zu Wal-
ters poetologischem Selbstverständnis vgl. auch Einleitung 6; zum
produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit
vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch
Komm. prol., 1–13).
Nach dem Sieg bei Gaugamela zieht Alexander nach Babylon,
wo ihm der Perser Mazaeus in Anerkennung der persischen Nieder-
lage die Tore der prunkvollen Stadt öffnet und ihm einen triumpha-
len Empfang bereitet (vgl. Komm. V, 456–490). Bisweilen wurde
diese inhaltlich und sprachlich an die Evangelienberichte angelehn-
te Beschreibung der persischen Hauptstadt in der modernen For-
schung als eine blasphemische Angleichung Alexanders an Christus
und damit einhergehend als moralische Kritik Walters an Alexan-
der und seiner Hybris verstanden (vgl. Ratkowitsch 1996, 122).
Dieser These muss jedoch mit aller Entschiedenheit widersprochen
werden, da die zweifelsohne vorhandenen und von Ratkowitsch
durchaus richtig erkannten Parallelen zu den Evangelienberichten
gar nicht an die Adresse Alexanders gerichtet sind, sondern vielmehr
das moralisch depravierte Babylon in seiner unbelehrbaren Blind-
heit zur Umkehr bewegen sollen. Deutlich differenzierter in den Ka-
tegorien ihres Urteils ist die diesbezügliche Einschätzung Wieners,
die den Sachverhalt wie folgt beschreibt:
Von Hybris oder von moralischer Depravation ist an diesem Punkt bei
Alexander keine Rede! Die Parallelen zwischen Babylon, das für Alexander
Stätte des Triumphs und seines Todes ist, und Jerusalem, das Christus den
triumphalen Empfang und den Tod bereitet, können nicht moralisch als
Hybrisvorwurf gegen den angemaßten Weltenherrscher Alexander ausgelegt
werden, weil Walters Text dazu keinen einzigen Anhaltspunkt bietet, viel-
Einführung zu Buch V 795
mehr die Übereinstimmungen positiv und als Erfüllung heiliger Prophezei-
ung hervorhebt (vgl. Wiener 2001, 78; zum Hybris-Vorwurf an Alexander
bezogen auf die gesamte Alexandreis vgl. Einleitung 7.2 und 7.4).

Dieser Befund findet seine Bestätigung auch in der Struktur der


Darstellung des Perserkriegs, innerhalb derer Walter es abgesehen
von einigen wenigen Vorverweisen auf die Zeit nach dem Perserkrieg
vermeidet, eine auf die konkrete Situation der Erzählung bezogene
moralische Kritik an seinem wichtigsten Protagonisten Alexander
zum Ausdruck zu bringen (zur Struktur des Perserkriegs vgl. Ein-
leitung 7.2; zur Funktion der Vorverweise in der Alexandreis vgl.
Einleitung 7.4).
Den Abschluss von Buch V bildet eine für die gesamte Alexan­
dreis grundlegende Passage, in der sich Walter mit dem Hinweis auf
die Suche nach einem alexanderhaften christlichen Anführer im
Kampf gegen die Muslime über den eigentlichen Grund für die Ab-
fassung seines Alexander-Epos äußert (vgl. Komm. V. 491–520; zur
Stellung der zentralen Textstelle innerhalb der Gesamtstruktur der
Alexandreis vgl. Einleitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79; zur
poetologischen Bedeutung der Stelle vgl. Einleitung 6).
Kommentar zu Buch V
Themenübersicht (1–10)

C 1–2 Quintus habet strages varias et funera caris | deplorata suis:


Weite Teile des fünften Buchs schildern mit der Schlacht von Gau-
gamela die letzte der drei großen Schlachten im Krieg der Griechen
gegen die Perser (vgl. Komm. V, 1–430).

C 2–6 Victos apud Arbela Persas | consulit Arsamides, duro de tem­


pore tractans, | an pocius sit ei reparato robore latis | Medorum regnis
rursus committere fatis. | Sed proceres herent: Nach der Niederlage in
der Schlacht bei Gaugamela suchen die Perser ihr Heil in der Flucht.
Daraufhin fragt Darius seine Generäle hinsichtlich des weiteren
Vorgehens um Rat. Diese sind jedoch von der gerade erlittenen Nie-
derlage so betroffen, dass sie nicht in der Lage sind, ihrem König
einen konstruktiven Vorschlag zu unterbreiten. ⇔ Die Anfangsstel-
lung von victos und die Verbindung mit den durch die Ortsangabe
apud Arbela gesperrten Persae macht auch syntaktisch die Nieder-
lage der Perser deutlich, die zudem durch das endbetonte fatis den
von Walter beabsichtigten schicksalhaften Charakter annimmt (vgl.
Komm. V, 376–421; vgl. auch Komm. V, 422–430; zum Götterappa-
rat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5).

C 6–7 Ad donativa maniplos | convocat Eacides et donis vulnera cu­


rat: Nach der Schlacht bei Gaugamela verteilt Alexander entspre-
chend dem Forderungskatalog der Aristoteles-Rede hinsichtlich der
Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit die persischen Schätze an
seine Soldaten, um damit einen Ausgleich für die in der Schlacht er-
littenen Wunden zu schaffen (vgl. Komm. V, 431–455; zur deutschen
Übersetzung des griechischen Begriffs ἐλευθεριότης bzw. des lateini-
Kommentar zu Buch V 797

schen Begriffs liberalitas mit angemessener Gebefreudigkeit vgl. die


Einführung zu Buch I; zur Tugend der angemessenen Gebefreudig­
keit vgl. auch Komm. I, 144–151 bzw. 156–163).

C 8–10 Ecce vir illustris et non inglorius illa | precedente acie, stipatus
prole virili,  | Mazeus regem Babilonis menibus infert: Walter hebt
wie schon im Kontext der Schlacht bei Issus die herausragende Tap­
ferkeit des Persers Mazaeus hervor, der zur Freude Alexanders in-
zwischen eingesehen hat, dass weiterer Widerstand zwecklos ist und
dem makedonischen König die Tore Babylons öffnet (vgl. Komm.
V, 456–490).

Die Schlacht bei Gaugamela (1–430)

Der Zeitpunkt der Schlacht bei Gaugamela (1–10)

1–10 Lege Numae regis lata de mensibus olim  | quintus … mensis


erat … gaudebant hospite Phebo | Ledei fratres … creditur et scripto
Daniel mandasse latenti:  | Affuit a siccis veniens Aquilonibus hyr­
cus, | ultio divina, proles Philippica, Magnus: Mit dem astronomisch
zu verstehenden Hinweis, dass sich die Sonne beim Aufeinander-
treffen der beiden Könige im zodiakalen Sternbild der Zwillinge
Castor und Pollux befindet, verlegt Walter den Beginn der Schlacht
nach dem vom etruskischen König Numa (∼750–672 v. Chr.) auf
zwölf Monate erweiterten Kalender in den Mai des Jahres 331 v. Chr.
zurück, obwohl die Schlacht tatsächlich aller Wahrscheinlichkeit
nach erst am 1. Oktober desselben Jahres stattgefunden hat (vgl.
Christensen 1905, 104–105). Eine zufriedenstellende Antwort
auf die Frage, aus welchem Grund Walter die Schlacht um mehre-
re Monate verlegt, blieb die moderne Forschung bisher schuldig.
Eine mögliche Erklärung bietet der weitere Textverlauf, in welchem
Walter nichts unversucht lässt, Alexanders Sieg in der Schlacht von
798 KOmmentar

Gaugamela durch verschiedene, geschickt platzierte Signale vorweg-


zunehmen, wie z.B. der mehrfach angesprochene positive Einfluss
der Schicksalsgöttin Fortuna auf die Pläne des makedonischen Kö-
nigs, aber auch die wiederholte Einbettung der Szenen in die christ-
liche Heilsgeschichte (vgl. auch Komm. IV, 285–300). Insofern ist
es naheliegend, dass Walter auch schon mit dem Auftakt zu Buch
V in vergleichbarer Weise einen Hinweis auf den Sieg Alexanders
bei Gaugamela geben möchte. Folgt man diesem Gedanken weiter,
ließe sich die Verlegung der Schlacht mit der von Walter ins Spiel
gebrachten astronomischen Konstellation in Verbindung bringen,
nach der sich aufgrund der Präzession zur Zeit Alexanders die Son-
ne im Monat Mai im zodiakalen Sternbild der Zwillinge aufhielt.
Da die Zwillinge Castor und Pollux in der Mythologie als die Söhne
Jupiters gelten, wäre damit eine unmittelbare Verbindung zu den
olympischen Göttern und sogar zum Göttervater Jupiter selbst her-
gestellt, die tatsächlich mit keinem anderen Tierkreiszeichen im Zo-
diakkreis zu verwirklichen wäre. Der Sieg der olympischen Götter in
der Gigantenschlacht ist wiederum eng mit Herkules verknüpft, der
seinerseits – wie schon mehrfach ausgeführt – in der Alexandreis ty-
pologisch betrachtet mit Alexander in Beziehung gesetzt wird (vgl.
Komm. II, 319–371; vgl. auch Komm. II, 486–492). Nimmt man
hinzu, dass der Sterndeuter Aristander während der Mondfinster-
nis am Vorabend der Schlacht bei Issus den griechischen Soldaten
deutlich gemacht hatte, dass ausschließlich kosmische Ereignisse,
die mit der Sonne zu tun haben, einen Einfluss auf das Schicksal der
Griechen haben, könnte die Verlegung der Schlacht dahingehend
gedeutet werden, dass in der epischen Inszenierung Walters diese für
Alexander günstige astronomische Konstellation in ihrer astrologi-
schen Ausdeutung einen geschickt platzierten Hinweis auf den für
Alexander günstigen Ausgang der Schlacht von Gaugamela darstellt
(vgl. Komm. III, 463–543). ⇔ Die hier entwickelte Argumentation
lässt sich durch den Umstand stützen, dass ein derartiges Vorgehen
Walters auch schon vor der Schlacht bei Issus zu beobachten war,
Kommentar zu Buch V 799

als er mit dem Hinweis auf die überbordende Prunksucht der Perser
die Feinde Alexanders auch dort schon vor der eigentlichen Schlacht
im Voraus als Verlierer abgestempelt hatte (vgl. Komm. III, 4–10).
Überdies werden die an dieser Stelle im antik-paganen Kontext auf
den Monat bezogenen Angaben zum Zeitpunkt der letzten großen
Schlacht im zweiten Teil des Abschnitts durch die biblischen Aus-
sagen zum Jahr dieser Auseinandersetzung ergänzt. Denn insbe-
sondere mit dem auf Alexander bezogenen hyrcus verweist Walter
im Rahmen der Lehre von den vier Weltreichen auf die von Daniel
prophezeite Ablösung des Perserreichs durch Alexander (zum Be-
griff Weltreich vgl. Einleitung 7.2). Auch durch die Epithetisierung
Alexanders mit den aus dem biblischen Kontext stammenden Be-
griffen wie ultio divina und luem Medis Persisque verdeutlicht
Walter dem mittelalterlichen Leser, dass Alexanders Sieg über das
Perserreich dem von Daniel prophezeiten göttlichen Heilsplan ent-
spricht und demzufolge der Ausgang der letzten großen Schlacht
bereits feststeht (zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum
heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2; zur Bedeu-
tung der biblisch konnotierten Epithetisierung Alexanders in der
Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.2).

Alexander gegen Aristomenes (11–25)

11–25 Quem procul ut vidit galea flammante choruscum | Indus Aris­


tomenes … ultor Aristomenen et parcere nescius ensis | Acephalum red­
dit. «Nostra est victoria, nostra est!» | ingeminant Graii … quem duce
Fortuna virtus infracta tuetur: Ebenso wie bereits in der Schilderung
der Schlacht bei Issus wird auch das an der vorliegenden Stelle be-
schriebene Kampfgeschehen von Gaugamela antiken epischen Vor-
bildern folgend in eine Vielzahl von Einzelszenen aufgelöst (vgl. die
Einführung zu Buch III). Wie in der damaligen Schlacht wird Alex-
ander mit seinem hier dargestellten initialen Zweikampf gegen den
800 KOmmentar

Inder Aristomenes auch an dieser Stelle als Abbild des vergilischen


Aeneas inszeniert, der im Kampf gegen die Italiker den hünenhaften
Theron besiegt und damit eine für den Ausgang der Schlacht rich-
tungsweisende und von den Seinen bejubelte Heldentat vollbringt
(vgl. Komm. III, 11–27). Zudem gibt Walter mit dem stilistisch durch
ein Hyperbaton hervorgehobenen Ausdruck ultor … ensis und dem
sprachlich innerhalb dieser Sperrung stehenden persischen Kämp-
fer Aristomenes in Wiederaufnahme der Worte ultio divina aus dem
Abschnitt zuvor einen weiteren nicht zu übersehenden Hinweis auf
die innerhalb der christlichen Heilsgeschichte für Alexander vorge-
sehene Aufgabe (zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum
heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). Gleichzeitig
gelingt es ihm mit den Worten ultor und ultio jedoch auch, die antik-
pagane Ebene in seine Darstellung miteinzubeziehen, die mit dem
vonseiten der Griechen als Rachefeldzug propagierten Charakter
des Perserfeldzugs in Zusammenhang steht. Weitere Gründe für den
erstaunlichen Umstand, dass Alexander aus jeder noch so gefährli-
chen Situation in der Schlacht immer wieder siegreich hervorgeht,
stellen für Walter die Führung durch die Schicksalsgöttin Fortuna
und Alexanders ungebrochene Tugendhaftigkeit dar (vgl. Alex.
V, 25). ⇔ Damit nimmt Walter zum wiederholten Mal genau jene
antik-paganen göttlichen Kräfte sowie namentlich diejenigen Cha-
raktereigenschaften des makedonischen Königs in den Blick, die
seinem wichtigsten Protagonisten im bisherigen Verlauf des Perser-
kriegs – man denke nur an das unheilvolle Bad im Kydnus und die
sich daran anschließende Behandlung durch seinen Leibarzt Philipp
– zur Seite gestanden und ihn erst zu diesen besonderen Leistungen
befähigt haben (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in
der Alexandreis vgl. Einleitung 5; vgl. auch die Einführung zu Buch
II; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen
Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4).
Kommentar zu Buch V 801

Weitere Zweikämpfe Alexanders (26–31)

26–31 Ille per insertos invictus et inpiger enses … hic eques, ille pe­
des, Egyptius hic, Syrus ille: Mit der Darstellung eines unbesiegten
und rastlosen makedonischen Königs, der als eiserner Hammer die
feindlichen Linien zerschmettert, zeigt Walter wie schon zuvor den
gerade im Kontext der letzten entscheidenden Schlacht in besonde-
rer Weise in Szene gesetzten Zusammenhang zwischen Alexanders
Wirken und der christlichen Heilsgeschichte auf (vgl. Alex. V, 28:
ferreus armatos contundens malleus artus; zur allegorischen Ebene
der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl.
Einleitung 7.2). Dabei erinnert Walters Darstellung, die von zahlrei-
chen christlich konnotierten Epitheta geprägt ist, an Hieronymus’
Worte im Kommentar zum Buch Daniel, wonach für Alexanders
Erfolge weniger dessen Tapferkeit als vielmehr der Wille Gottes aus-
schlaggebend gewesen sei (vgl. Hier., Comm. in Dan. lib., VII, col.
530: Et potestas data est ei, non Alexandri fortitudinis, sed Domini
voluntatis fuisse; zur Bedeutung der biblisch konnotierten Epitheti-
sierung Alexanders in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.2). ⇔ Unter
stilistischen Gesichtspunkten bedient sich Walter an der vorliegen-
den Stelle wie schon im Kontext der Schlacht bei Issus ein weiteres
Mal der von Vergil und Statius her bekannten Figur der Regressio,
indem er mit Eliphaz und Pharos nicht nur die Namen der von
Alexander getöteten persischen Kämpfer nennt, sondern auch de-
ren Abstammung, die von Alexander jeweils benutzte Waffe, deren
Abteilung innerhalb des persischen Heeres und deren Herkunft er-
wähnt (vgl. Komm. III, 59–62).

Philotas rächt Hesifilus und Laomedon (32–37)

32–37 Sicca prius sterilisque diu iam flumine fusi … Enos quia fude­
rat ense | Hesifilum, Caynan quia Laomedonta securi: Die Schlacht
802 KOmmentar

tobt und auf beiden Seiten sind Verluste zu beklagen. Walter unter-
streicht den hohen Blutzoll in dieser Schlacht mit einem Bild, nach
dem der völlig vertrocknete und unfruchtbare Boden des Schlacht-
felds nun durch das Blut der Gefallenen durchfeuchtet wird. ⇔
Philotas rächt sich für die Ermordung des Hesifilus und des Laome-
don an den Persern Enos und Caynan.

Alexander gegen den Riesen Geon (38–75)

38–75 Ibat Alexandro vulnus letale daturus,  | si sineret Fortuna,


Geon … ne deroget ultra | caelicolis … quantus ubi annosam sed adhuc
radice superbam | montibus evellit Boreae violentia quercum … pecto­
ra vulneribus Acherontis ad antra remittunt: Der mütterlicherseits
von den Giganten und väterlicherseits von einem schwarzen Äthio-
pier abstammende Geon schlägt sich mordend durch die Reihen der
Griechen und versucht bis zu Alexander vorzudringen, um mit die-
sem endlich den Zweikampf aufnehmen zu können. ⇔ Walter hebt
in seiner Beschreibung insbesondere den riesenhaften Körper des
Geon und dessen schwarze Hautfarbe hervor, die in erster Linie das
für ihn furchterregende Erscheinungsbild des Mannes ausmachen.
Mit der kurzen Bemerkung si sineret Fortuna macht Walter jedoch
gleich zu Beginn seiner diesbezüglichen Darstellung deutlich, dass
auch die körperliche Überlegenheit des aufseiten der Perser stehen-
den Kämpfers nicht dazu führen wird, dass der unter dem Schutz
der Schicksalsgöttin stehende Alexander – wie schon im Kampf
gegen Aristomenes zuvor – als Verlierer aus diesem Zweikampf her-
vorgehen wird (vgl. Alex. V, 39; zum Götterapparat und der Rolle
des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5; vgl. auch die Ein-
führung zu Buch II). Auch mit dem von Geon selbst vorgebrachten
Hinweis, dass sein Kampf gegen Alexander eine Wiederauflage des
Ansturms der Giganten auf die olympischen Götter sei, wird von
Walter der für den makedonischen König positive Ausgang der krie-
Kommentar zu Buch V 803

gerischen Auseinandersetzung durch die in der Alexandreis ange-


legte und immer wieder in Szene gesetzte typologische Verbindung
Alexanders mit Herkules bzw. der Perser mit den Giganten bereits
implizit vorweggenommen (vgl. Komm. II, 319–371; zur allegori-
schen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn
des Epos vgl. Einleitung 7.2). ⇔ Nachdem Geon mehr als fünfzehn
Griechen mit seiner dreiknotigen Keule niedergestreckt hat – nach
Zwierlein (2004) 646–647 eine Anleihe aus den Fasti des Ovid, in
denen Herkules den riesigen Cacus mit einer ebenfalls dreiknotigen
Keule mehrfach ins Gesicht schlägt –, steht er schließlich vor Alex-
ander und fordert ihn mit einer von großer Überheblichkeit gepräg-
ten Schmährede auf, sich ihm im Zweikampf zu stellen (vgl. Ov.,
Fast. I, 575–576: Occupat Alcides adductaque clava trinodis | ter qua­
ter adverso sedit in ora viri). ⇔ Der von Ovid geschilderte Kampf
zwischen Herkules und dem Riesen Cacus ist für Walter möglicher-
weise auch deshalb ein besonders geeigneter Anknüpfungspunkt
für seine eigene Darstellung, da mit dem Kampf gegen einen Riesen
– ganz unabhängig davon, wer von beiden die Keule schwingt – ein
weiterer typologischer Bezug zwischen Herkules und Alexander her-
gestellt werden kann, der dem aufmerksamen mittelalterlichen Le-
ser den Sieg des makedonischen Königs in diesem Zweikampf und
in der Schlacht von Gaugamela in Aussicht stellt (zur allegorischen
Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos
vgl. Einleitung 7.2). ⇔ Noch bevor Geon seine Schmährede been-
den kann, schleudert Alexander seinen Wurfspieß auf seinen Geg-
ner, nagelt diesem die Zunge am Gaumen fest und bringt ihn damit
zum Schweigen. ⇔ Mit dieser Darstellung übernimmt Walter – wie
Harich (1986) 120 darlegt – ganz allgemein das in antiken Epen
häufig verarbeitete Motiv, nach welchem ein mit lästernden Worten
in den Kampf schreitender Gegner durch ein Geschoss im wahrsten
Sinne des Wortes zum Schweigen gebracht wird, um – wie Walter
mit den Worten ne deroget ultra caelicolis formuliert – nicht länger
die Götter verunglimpfen zu können (vgl. Verg., Aen., X 322–323:
804 KOmmentar

Ecce Pharo, voces dum iactat inertes | intorquens iaculum clamanti


sistit in ore). Zwierlein (2004) 645–646 meint das von Walter ver-
wendete Bild ganz konkret auf die Psychomachia des spätantiken
Dichters Prudentius zurückführen zu können, in der die personi-
fizierte Fides die blasphemischen Worte der Discordia verstummen
lässt, indem sie ebenso wie Alexander die Zunge ihres Gegenübers
durchbohrt. Auch hierbei scheint sich mit der Kontrastierung zwi-
schen der positiv konnotierten und dann auf Alexander bezogenen
Fides mit der negativ aufgeladenen und mit dem Gigantensproß
Geon in Beziehung gesetzten Figur der Discordia eine für Walter
willkommene Gelegenheit ergeben zu haben, den für Alexander po-
sitiven Ausgang dieses Zweikampfes über eine erneute typologische
Bezugnahme vorwegzunehmen (vgl. Prud., Psych. 715–725; vgl.
auch Komm. IV, 588–593; zur allegorischen Ebene der Alexandreis
bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). ⇔
Da sich Geon ungeachtet seiner schweren Verletzung noch immer
auf den Beinen halten kann, reitet Alexander in vollem Galopp auf
ihn zu und wirft ihn mit der Kraft seines Pferdes zu Boden. Die im
Mythos als personifizierte Erde beschriebene Gaia reagiert als Mut-
ter der Giganten auf die sich abzeichnende Niederlage Geons mit
einem tosenden Wind, den Walter mit dem Nordwind vergleicht,
der eine alte und allzu sehr auf ihre Wurzeln vertrauende Eiche –
Walter charakterisiert den Baum dabei mit dem vielsagenden Attri-
but superbam – aus dem Boden reißt und den Berg hinabstürzen
lässt (vgl. Alex. V, 70). ⇔ Harich (1986) 120 ist der Meinung, dass
es sich dabei um ein abgewandeltes Zitat aus der Aeneis handelt, bei
dem Vergil anstelle des auf quercum bezogenen superbam das At-
tribut validam verwendet (vgl. Verg., Aen., IV, 441–443: Ac velut
annoso validam cum robore quercum | Alpini Boreae nunc hinc nunc
flatibus illinc | cruere inter se certant). Mit dem auf diese Weise ad-
aptierten Vergleich verweist Walter auf die im Forderungskatalog
der Aristoteles-Rede im Gegenstandsbereich des Zorns ausgeführte
Tugend der angemessenen Zürnkraft, die den von der Vernunft ge-
Kommentar zu Buch V 805

leiteten Feldherrn in einer Situation wie dem Kampf gegen einen


hochmütigen und mit großer Dreistigkeit auftretenden Gegner wie
Geon keine andere Wahl lässt, als diesen zu töten (vgl. Komm. I, 115;
zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen
Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Alexanders Soldaten voll-
enden schließlich die Tötung des am Boden liegenden Riesen mit
zahlreichen Schwertstößen.

Clitus gegen Sanga und dessen Vater Mecha (76–122)

76–122 Parte furens alia Parthorum proterit agmen  | inclitus ille


Clytus … tendit ad infernam natis comitantibus urbem: Walter wech-
selt auf die andere Seite des Schlachtgeschehens hinüber und rückt
damit die kriegerische Leistung des Clitus in den Mittelpunkt der
Betrachtung. ⇔ Dabei versäumt er es nicht – wie im Kontext der
Schlacht bei Issus auf Parmenion bezogen –, auch hier auf die spä-
tere Ermordung des Clitus durch Alexander hinzuweisen, der damit
für seine im Perserkrieg erbrachten Leistungen ebenso wie Alexan-
ders wichtigster General Parmenion keinen seinen Taten entspre-
chenden Lohn erhalten wird (vgl. Alex. V, 78–79; zu Parmenion vgl.
Komm. III, 53–58). ⇔ Clitus hatte bereits einen der Söhne des Me-
cha niedergestreckt, bevor sich der zweite Sohn namens Sanga dafür
erfolglos zu rächen versucht und ebenso von Clitus getötet wird (vgl.
Alex. V, 80–93). ⇔ Wie Zwierlein (2004) 647–648 feststellt – al-
lerdings ohne nach der hinter der imitativen Übernahme liegenden
Intention zu fragen –, arbeitet Walter an dieser Stelle zwei Szenen
aus der Pharsalia Lucans und der Aeneis Vergils ineinander und ver-
knüpft diese zusätzlich mit Versen aus der Thebais des Statius und
den Saturae des Juvenal. Doch stellt diese Übernahme antiker Vor-
bilder für Walter an der vorliegenden Stelle keinen Selbstzweck dar.
Vielmehr geht es Walter übergeordnet darum, den durch den Tod
der eigenen Kinder hervorgerufenen unsäglichen Schmerz eines Va-
806 KOmmentar

ters episch in Szene zu setzen. Von Lucan übernimmt er dabei die an-
fängliche Erstarrung des Vaters, der im Kontext der Belagerung von
Massilia in einer Seeschlacht beim Anblick seines sterbenden Sohnes
Argos ebenso wie Mecha in Walters Schilderung – von unsäglichem
Schmerz übermannt – noch nicht einmal in der Lage ist, Tränen
der Trauer zu vergießen (vgl. Luc., Phars. III, 733–735: Pervenit ad
puppim spirantesque invenit artus. | Non lacrimae cecidere genis, non
pectora tundit, | disentis toto riguit sed corpore palmis). Auch wenn
im Unterschied zu Walters Darstellung der Schmerz in Lucans Ver-
sen an dieser Stelle noch keine explizite Erwähnung findet, wird er
nur wenig später nachgereicht, indem der antike Dichter davon be-
richtet, dass sich der grausame Schmerz des Vaters noch steigert, als
er aus seiner anfänglichen Erstarrung erwacht (vgl. Luc., Phars. III,
741–742: viresque cruentus | coepit habere dolor). Indem Walter für
seine eigene Darstellung zudem die Verse Lucans mit entsprechen-
den Szenen aus der Aeneis und der Thebais miteinander verknüpft,
ist der Autor der Alexandreis über die bloße Imitation hinaus in der
Lage, seine Intention noch deutlicher herauszuarbeiten. Denn mit
dem nach wie vor im Kontext unterdrückter Trauer verwendeten
Verb sorbere lenkt Walter die Aufmerksamkeit des Lesers auf eine
vergleichbare Stelle bei Statius – dieser benutzt beinahe wortgleich
das Verb resorbere –, in der Lykurg ebenso wie Mecha nicht in der
Lage ist, Tränen über den Verlust des eigenen Sohnes zu vergießen
(vgl. Stat., Theb. V, 654–655: lacrimasque insana resorbet | ira pa­
tris). In einer bemerkenswerten Kontrastimitation nennt Walter als
Grund für die Unterdrückung der Tränen jedoch nicht wie seine
antike Vorlage den Zorn, sondern ersetzt diesen in auffallender Wei-
se durch das Gefühl des Schmerzes (vgl. Alex. V, 96–97: dolor intus
obortas  | sorbuerat lacrimas; zum produktionsästhetischen Ansatz
der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die
Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Doch Wal-
ter geht noch einen Schritt weiter. Als Mecha schließlich aus seiner
ersten Erstarrung herausfindet, verflucht er den Clitus und wünscht
Kommentar zu Buch V 807

ihm, dass er ebenso wie er selbst einmal einen derartigen Verlust


und den damit verbundenen Schmerz erleben möge. Dabei bildet
Walter die Intensität dieses im Mittelpunkt seiner Darstellung ste-
henden Gefühls sprachlich und stilistisch dadurch ab, dass er den
Schmerz mit der Formulierung quod doleo doleant von einem Poly-
ptoton unterstützt gleich zweimal innerhalb eines einzigen Verses
verwendet (vgl. Alex. V, 113–114: Parcarum vindice filo | quod doleo
doleant et idem quod lugeo plangant). Auch dieser Szene der Alexan­
dreis liegt eine Kontrastimitation zugrunde, die auf eine Situation
aus dem zweiten Buch der Aeneis verweist. Nachdem Polites von der
Hand des Pyrrhus vor den Augen seines Vaters Priamus den Tod
gefunden hat, hält dieser vergleichbar zu Walters Darstellung eine
Rede, in der er den Mörder seines Sohnes verflucht. Indem Walter
den bei Vergil als Beweggrund für die Rede des Priamus genannten
Zorn ebenso wie bei der Übernahme der Stelle bei Statius ein weite-
res Mal durch den Schmerz ersetzt, macht er dem Leser mit diesen
jeweils nur geringfügigen Änderungen seine über den ganzen Ab-
schnitt reichende Intention deutlich, den Schmerz des Mecha über
den Verlust seiner Kinder – zumal gleichzeitig beide Söhne den Tod
finden – als existentielle Erfahrung herauszustellen, die letztlich mit
keinem anderen Leid der Welt zu vergleichen ist (vgl. Verg., Aen.
II, 533–534: Hic Priamus, quamquam in media iam morte tenetur, |
non tamen abstinuit nec voci iraeque pepercit). In dieselbe Richtung
weist Walters imitative Übernahme einer Stelle aus einer Satire des
Juvenal, die eine ironische Frage an eine als grausame Viper bezeich-
nete Mörderin ihrer beiden Kinder enthält, ob sie, – hätte sie sieben
Kinder gehabt –, auch sieben Kinder vergiftet hätte (vgl. Iuv., Sat.
VI, 641–642: Tune duos una, sevissima vipera, cena? | Tune duos? Sep­
tem, si septem forte fuissent). Indem Mecha den Mörder seiner Söhne
imitativ mit beinahe denselben Worten anspricht, gelingt es Walter
mit dem Hinweis auf dieses Verbrechen an den eigenen Kindern ein
weiteres Mal, den unsäglichen Schmerz des persischen Vaters über
den Tod seiner beiden Söhne in Szene zu setzen (vgl. Alex. V, 104–
808 KOmmentar

105: «Tune duos,» inquit «tortor sevissime, fratres, | tune duos ante
ora patris mucrone vorasti). ⇔ Es ist davon auszugehen, dass Walter
mit der an dieser Stelle eingesetzten Kontrastimitation auch einen
aemulativen Ansatz gegenüber seinen antiken Vorbildern verfolgt,
die in den Augen des mittelalterlichen Autors mit dem Zorn ein we-
niger bedeutendes Gefühl zur Grundlage ihrer Darstellung gemacht
haben und demzufolge als weniger bedeutende Dichter hinter dem
Autor der Alexandreis zurückzustehen haben (zu Walters poetolo-
gischem Selbstverständnis vgl. auch Einleitung 6). ⇔ Ebenso wie
Priamus in der Aeneis wirft Mecha nach seiner Rede seinen Speer
kraftlos und ohne Wirkung zu erzielen, auf den Mörder seiner Söh-
ne. Beide Väter werden anschließend von ihrem jeweiligen Kontra-
henten getötet.

Nicanor gegen Rhemnon (123–182)

Das zähe Ringen der Truppen (123–144)

123–144 Iamque propinquabat … Primis arrisit subdola gestis  | eius


et excepit blande Fortuna furentem … Rumpere fila manu non sufficit
una sororum … unamque duae iuvere sorores: Walter wendet sich an
dieser Stelle Nicanors Zweikampf gegen den aus Arabien stammen-
den Rhemnon zu und lässt mit der Bemerkung, dass Fortuna anfangs
den griechischen Kämpfer noch unterstützt, den für Nicanor letztlich
tödlichen Ausgang dieses Gefechts schon zu Beginn seiner Darstel-
lung anklingen. Zuerst gelingt es Nicanor, sich in Richtung Darius
vorzukämpfen, bis Rhemnon mit seinen Männern das weitere Vor-
dringen der Griechen verhindern kann. Es kommt zu einem unbe-
schreiblichen Blutvergießen, was Walter mit der bitteren Feststellung
unterstreicht, dass Atropos als eine der Parzen beim Durchschneiden
der Lebensfäden Unterstützung von ihren Schwestern Clotho und
Lachesis benötigt (zur Verwendung des Parzenmotivs in der Alexan­
dreis vgl. Komm. I, 5–8; vgl. auch die Einführung zu Buch I).
Kommentar zu Buch V 809

Nicanor tötet Rhemnon (145–165)

145–165 Mixta plebe duces pereunt utrinque … emicuit numerosa


cede Nicanor  | perque tot obiectos vestigat Remnona Persas … Uter­
que | cuspide pretenta superos agnovit in ictu | propitios, crudeque li­
cet pulsatus acerno | stipite, mansit eques tamen … et ventris latebras
capulo tenus induit ensis: Obwohl es Nicanor mit seinen Männern
gelingt, die von Rhemnon in die Schlacht geführten Perser zu töten,
kann sich der persische Anführer der direkten Konfrontation mit
Nicanor entziehen. In der vorliegenden Szene verfolgt Nicanor nun
den fliehenden Perser, da er der Meinung ist, dass in diesem Gefecht
überhaupt nichts erreicht sei, wenn der gegnerische Kompaniefüh-
rer am Leben bleibe. Nicanor gelingt es schließlich, Rhemnon zu
stellen und ihn im Zweikampf zu töten (vgl. Alex. V, 148–165). ⇔
Wie Zwierlein (2004), 634–635 anmerkt, hat Walter für seine Dar-
stellung dieser Szene zwei Episoden aus der Aeneis Vergils und der
Thebais des Statius miteinander verwoben. Allerdings äußert sich
Zwierlein auch hier nicht zu der über das imitative Vorgehen hin-
ausgehenden Intention Walters, die an dieser Stelle darin besteht,
in einer subtil gestalteten dreifachen Klimax die erfolgreiche Verfol-
gung Rhemnons und dessen Tötung durch Nicanor und die dabei
zum Ausdruck gebrachte Entschlossenheit und Zielstrebigkeit des
griechischen Kämpfers kontrastierend zu seinen epischen Vorbil-
dern in Szene zu setzen. In diesem Kontext verweist Walter mit dem
Verb vestigare (vgl. Alex. V, 148) auf das zwölfte Buch der Aeneis, wo
Aeneas dem Nicanor vergleichbar den Rutulerkönig Turnus ver-
folgt (vgl. Verg., Aen. XII, 464–467: Ipse neque aversos dignatur
sternere morti | nec pede congressos aequo nec tela ferentis | insequitur:
solum densa in caligine Turnum | vestigat lustrans, solum in certami­
na poscit; zum produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen
Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum
Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Im Unterschied zu Nicanor
jedoch ist Aeneas in der entsprechenden Szene nicht in der Lage,
810 KOmmentar

seinen Gegner zu stellen, sondern wird durch das Eingreifen der


Göttin Iuturna, die ihren Bruder Turnus mit dem Streitwagen ent-
führt, davon abgehalten, diesen im Zweikampf zu töten (vgl. Verg.,
Aen. XII, 477–480: medios Iuturna per hostis | fertur equis rapidoque
volans obit omnia curru, | iamque hic germanum iamque hic ostentat
ovantem | nec conferre manum patitur, volat avia longe). Auch Ty-
deus verfolgt dem Nicanor vergleichbar im achten Buch der Thebais
seinen Gegner Eteocles und versucht diesen ebenso im Zweikampf
zu stellen (vgl. Stat., Theb. VIII, 671–672: Hine super Thebis? Haec
robora regis? Ubi autem | egregius dux ille mihi). Beide Kontrahen-
ten setzen ihre Lanzen ein, diese verfehlen jedoch ihr jeweiliges Ziel,
da Tydeus dem Geschoss ausweichen kann und Eteocles durch das
Eingreifen der grausamen Erinys – also durch göttlichen Einfluss
– überlebt (vgl. Stat., Theb. VIII, 680–687: Ille nihil contra, sed
stridula cornus in hostem | it referens mandata ducis, quam provi­
dus heros | iam iam in fine viae percussam obliquat, et ipse | telum
ingens avide et quanto non ante lacerto | impulit. Ibat atrox finem
positura duello  | lancea (convertere oculos utrimque faventes  | Sido­
nii Graique dei), crudelis Erinys | obstat et infando differt Eteoclea
fratri). Vom Glauben beseelt, von göttlichen Mächten unterstützt
zu werden, werfen auch bei Walter beide Kämpfer ihren Speer,
die sich ungeachtet einer als möglich beschriebenen Verwundung
dennoch beide im Sattel ihrer Pferde halten können (vgl. Alex. V,
155–158: Uterque | cuspide pretenta superos agnovit in ictu | propitios,
crudeque licet pulsatus acerno | stipite, mansit eques tamen). Während
Tydeus im weiteren Verlauf des Zweikampfes keine Möglichkeit fin-
det, seinem Gegner mit gezücktem Schwert im Nahkampf zuzuset-
zen, da Eteocles – von seinen Thebanern geschützt – zurückweicht
und sich damit der Entscheidung entzieht, zerschlagen bei Walter
die beiden Kontrahenten mit gezückten Schwertern den Helm ihres
Gegners (vgl. Stat., Theb. VIII, 688–691: Ibi ingens | pugna virum,
stricto nam saevior inruit ense  | Aetolus, retroque datum Thebana
tegebant | arma ducem; vgl. auch Alex. V, 158–161: Hic vacuata pro­
Kommentar zu Buch V 811

pinquum | vertitur ad capulum manus. Erea casside quassa | proflu­


vio rigat arva cruor, nec sustinet iras | mucronis clipeus). Da Nicanor
den Perser Rhemnon nach schwerem Kampf schließlich zu töten
vermag, gelingt ihm damit etwas, was den jeweiligen Protagonis-
ten im antiken Epos – Aeneas gelingt es noch nicht einmal, einen
direkten Kontakt zu Turnus herzustellen und auch Tydeus kann
seinen Gegner nur mit dem Speer bewerfen, ohne ihn zu verwun-
den – verwehrt bleibt. (zu Walters ambivalentem Verhältnis zu Ver-
gil vgl. Komm. V, 205–255; vgl. auch Einleitung 3). ⇔ Zusammen
mit Nicanors erfolgreich geführtem Zweikampf ergibt sich daraus
die eingangs angesprochene Klimax, mit der Walter nicht nur die
Zielstrebigkeit und Entschlossenheit des griechischen Kämpfers in
den Mittelpunkt der Betrachtung rückt, sondern zugleich auch den
Kampf bei Gaugamela als weltgeschichtlich betrachtet bedeutende-
res Ereignis in Szene zu setzen versteht. Demzufolge begibt sich Wal-
ter auf poetologischer Ebene mit seiner subtil inszenierten Klimax
in aemulativer Absicht auch in den dichterischen Wettstreit mit den
von ihm kontrastiv verwendeten antiken Epikern. Im selben Maße
nämlich, wie die in den antiken Epen beschriebenen Helden hinter
Nicanor zurückzustehen haben, haben auch die antiken Epiker hin-
ter dem Autor der Alexandreis zurückzustehen (zu Walters poeto-
logischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6).

Nicanors Tod (166–182)

166–182 Extimplo turbati Arabes … Obruitur primo iaculis. Strepit


erea cassis | glandibus et saxis … mixtoque cruore | membra lavat su­
dor … mens infractaque virtus | et princeps animus capto sub pectore
regnant … turbine fulmineo vicinas obruit edes: Eine weitere für das
epische Geschehen typische Kampfszene, innerhalb derer sich ein
einzelner Kämpfer einer feindlichen Übermacht gegenübersieht
und sich dagegen zu wehren versucht, schildert Walter unmittelbar
im Anschluss an die Darstellung von Rhemnons Tod. Nicanor wird
812 KOmmentar

plötzlich von hyrkanischen Reitern umzingelt, die ihn mit Speeren


und einem Trommelfeuer aus Steinen und Felsbrocken so heftig be-
schießen, dass dessen Helm und Schild kaum noch in der Lage sind,
die vielen Geschosse aufzuhalten. ⇔ Auch hier lässt Walter – wie
Zwierlein (2004) 635–642 feststellt –, verschiedene Szenen aus
der Aeneis, der Pharsalia und der Thebais ineinanderfließen. Aller-
dings stellt für Walter die Bezugnahme auf antike Vorbilder auch in
der vorliegenden Szene keinen Selbstzweck dar. Vielmehr ist sie von
der Absicht getragen, die herausragende Tapferkeit Nicanors, der
nicht nur bis zum letzten Atemzug gegen die feindliche Übermacht
ankämpft, sondern in diesem heroischen Abwehrkampf auch zahl-
reiche Perser mit in den Tod reißt, über eine geschickt inszenierte
vierfache Klimax kontrastierend in Szene zu setzen und den make-
donischen Kämpfer auch aemulativ von seinen antiken Vorlagen ab-
zusetzen. Walter betont diesen zentralen Gesichtspunkt der Tapfer­
keit zudem mit einem Vergleich, demgemäß Nicanors Ende einem
einstürzenden Turm gleicht, der wegen seiner enormen Größe in
einer eng bebauten Stadt wie Rom noch zahlreiche benachbarte
Häuser miteinstürzen lässt (vgl. Alex. V, 181–182). Auch Turnus
wird in der Beschreibung Vergils von einem gewaltigen Geschoss-
hagel der gegnerischen Übermacht eingedeckt, als er in das Lager der
Teukrer eindringt. Anders als Nicanor jedoch ist er nicht in der Lage
oder dazu bereit, den Kampf bis zum Ende zu führen, sondern zieht
es vor, sich mit einem Sprung in den Tiber zu retten (vgl. Verg.,
Aen. IX, 806–816: Ergo nec clipeo iuvenis subsistere tantum | nec dex­
tra valet, iniectis sic undique telis | obruitur … Tum demum praeceps
saltu sese omnibus armis | in fluvium dedit). In Lucans Schilderung
wird Scaeva, der als Zenturio Caesars in der Schlacht von Dyrrha-
chium erfolgreich gegen eine ebensolche Übermacht der Truppen
des Pompeius ankämpft, von so vielen Geschossen durchbohrt, dass
nur dieser Wald aus Lanzen weitere Treffer verhindern kann (vgl.
Luc., Phars. VI, 194–195: nec quidquam nudis vitalibus obstat  |
iam praeter stantes in summis ossibus hastas). Als Caesars Soldaten
Kommentar zu Buch V 813

endlich zu Hilfe eilen, bricht Scaeva ohnmächtig zusammen und


kommt mit zahlreichen schweren Verletzungen nur knapp mit dem
Leben davon. Scaevas heldenhafte Tat wird nur noch von Nicanor
übertroffen, der sich trotz schwindender Kräfte nur noch durch
seine Vernunft, seine ungebrochene Tapferkeit und seinen vorneh-
men Geist – mens infractaque virtus | et princeps animus – auf den
Beinen halten kann, bis ihn schließlich der Tod ereilt (vgl. Alex. V,
175–176). ⇔ Damit inszeniert Walter Nicanors herausragende Tap­
ferkeit im Sinne einer Klimax kontrastierend zu seinen epischen
Vorbildern Vergil und Lucan, indem er deutlich macht, dass Alex-
anders General in seiner Haltung zum Kampf den feige fliehenden
Turnus bei weitem übertrifft, mit seinem heldenhaften Tod jedoch
auch Caesars überlebenden Zenturio noch auszustechen vermag
(zum produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeu-
tigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl.
auch Komm. prol., 1–13). ⇔ Etwas anders liegen die Dinge hinsicht-
lich Walters Bezugnahme auf die Thebais des Statius. Dort findet Ty-
deus nach einem vergleichbaren Abwehrkampf schließlich ebenso
wie Nicanor den Tod. Auch Tydeus’ Kampfesmut und Tapferkeit
sind vorerst ungeachtet seiner schweren Verwundungen und seiner
schwindenden Kräfte ungebrochen (vgl. Stat., Theb. VIII, 738–
741: odi artus fragilemque hunc corporis usum, | desertorem animi …
nec me virtus suprema fefellit). Im Unterschied zu Nicanors Ende ist
Tydeus’ Tod letztlich jedoch nicht das Ergebnis seiner auf der Tu-
gend der Tapferkeit basierenden Standhaftigkeit, sondern die Folge
eines persönlichen Fehlverhaltens. Athene hatte nämlich zuvor be-
reits bei Zeus erfolgreich Tydeus’ Unsterblichkeit erwirkt, tritt aber
von diesem Vorhaben angewidert zurück, als ihr Schützling, schon
vom Tod gezeichnet, nach dem noch zuckenden Haupt des Me-
lanippos verlangt und vom Wahnsinn getrieben – erigitur Tydeus
vultuque occurrit et amens – das Gehirn seines Feindes verzehrt (vgl.
Stat., Theb. VIII, 751–766). Insbesondere die bei Walter mit den
bereits zitierten Worten mens infractaque virtus | et princeps animus
814 KOmmentar

zum Ausdruck gebrachte geistige Klarheit und die von der Vernunft
getragene moralische Überlegenheit Nicanors stehen dabei in auffäl-
ligem Kontrast zu Statius’ Darstellung, der mit dem Attribut amens
Tydeus’ Verhalten eben gerade jenseits aller Vernunft als wahnsinnig
beschreibt. Damit lässt sich folgerichtig auch Walters Bezugnahme
auf Statius in die oben angesprochene Klimax einreihen, in der Ty-
deus mit seinem heldenhaften Kampf und seinem von ihm selbst
in Kauf genommenen Tod zwar Turnus und Scaeva an Tapferkeit
übertrifft, dem geistig gesunden und moralisch vorbildlichen Nica-
nor jedoch nachzustehen hat, da die näheren Umstände seines To-
des ein schlechtes Licht auf seine moralische Integrität werfen (zur
tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn
des Epos vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Auch hier begibt sich Walter auf
poetologischer Ebene wie im Abschnitt zuvor in aemulativer Ab-
sicht in den dichterischen Wettstreit mit den von ihm kontrastiv
verwendeten antiken Epikern, die er über eine subtile Inszenierung
der jeweiligen Protagonisten zu übertreffen sucht (zu Walters poeto-
logischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6).

Hephaestio gegen Phidias (183–204)

183–204 Interea Macedum planctu pulsatus acerbo | advolat orba­


ta catulis truculentior ursa | diluvium mundi Macedo … Si cederet
illi | gloria Martis, erat unde orta superbia … sed dispare fato … qua
flammivomo rictu micat erea tigris … et eterno clauduntur lumina
sompno: Vom Jammern seiner Gefolgsleute angetrieben, eilt Alex-
ander unverzüglich herbei, um die durch Nicanors Tod eingetrete-
ne Gefahrenlage zu entschärfen. ⇔ Zwierlein (2004) 626 meint
in diesem Zusammenhang Walters Formulierung, dass Alexander
dabei grimmiger als eine ihrer Jungen beraubte Bärin vorgeht, mit
zwei ineinandergefügten Stellen aus den Metamorphosen Ovids in
Verbindung bringen zu können, ohne sich allerdings weiter über
Kommentar zu Buch V 815

den Sinn einer derartigen Übernahme zu äußern (vgl. Ov., Met.


XIII, 547: utque furit catulo lactente orbata leaena in Verbindung
mit Met. XIII, 803: feta truculentior ursa). ⇔ Mit der Bezeichnung
diluvium mundi nimmt Walter erneut Bezug auf die einer bibli-
schen Sintflut gleichenden und sich über das Perserreich ergießen-
den Eroberungen Alexanders, mit denen sich die Prophezeiungen
Daniels erfüllen (vgl. Alex. V, 185; vgl. auch Harich 1987, 234–235;
zur allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschicht-
lichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). ⇔ Alexanders energisches
Vorpreschen ist von Erfolg gekrönt, zahlreiche Perser suchen ihr
Heil in der Flucht. Einzig Memnons Sohn Phidias stellt sich ihm
entgegen. ⇔ Mit den auf Phidias bezogenen Begriffen superbia und
sed dispare fato macht Walter deutlich, dass dessen von Hochmut
getragenen Absichten a priori zum Scheitern verurteilt sind und das
Schicksal andere Pläne verfolgt (zum Götterapparat und der Rolle
des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Noch bevor er
zu Alexander vordringen kann, wird er von Hephaestio getötet. Mit
dem Hinweis, dass der enge Freund Alexanders den Schild seines
Gegners ausgerechnet an derjenigen Stelle spaltet, an der ein glän-
zender bronzener Tiger mit flammenspeiendem Maul abgebildet ist,
bemüht Walter zum wiederholten Mal das Motiv der prunksüch-
tigen Perser, die nur dem äußeren Anschein nach, nicht jedoch in
der konkreten kriegerischen Auseinandersetzung eine echte Gefahr
darstellen (vgl. Komm. IV, 498–525).

Eine Götterbotschaft für Alexander (205–255)

205–255 At levo in cornu, cui nulli Marte secundus | Parmenio pree­


rat, discors Bellona furebat … eripiet Fortuna michi: Auch wenn die
vorliegende Szene in ihren Grundzügen Curtius nachempfunden
ist, der ebenso über Parmenions Bedrängnis auf dem linken Heeres-
flügel und Alexanders Enttäuschung über Darius’ Flucht berichtet,
816 KOmmentar

setzt Walter in der epischen Umsetzung seiner historischen Vorlage


darüber hinaus den Auftritt der blutbesudelten Kriegsgöttin Bello-
na und ihres Bruders Mars in Szene, die in ihrem schrecklichen Ge-
folge die personifizierten Gestalten des Furor, der Ira und des Impe-
tus mit sich führen (vgl. Curt., Hist. IV, 16, 1–4). Mars beauftragt
Bellona, dem makedonischen König die Botschaft zu überbringen,
dass es ihm nicht bestimmt sei, Darius persönlich zu töten. Für den
persischen König sei vorgesehen, durch Verrat der eigenen Leute zu
fallen. Er solle stattdessen besser Parmenion auf der anderen Seite
des Schlachtgeschehens zu Hilfe eilen, der von Mazaeus bedrängt in
großen Schwierigkeiten stecke. In der Gestalt von Athene überbringt
Bellona dem makedonischen König die ihr von Mars aufgetragene
Botschaft, um daraufhin auffallend schnell wieder zu entweichen.
Alexander ruft der Göttin noch nach, dass er ungeachtet ihrer Bot-
schaft nicht damit aufhören werde, den persischen König zu ver-
folgen, selbst wenn ihm Merkur persönlich verkünden würde, dass
seine Schwestern zusammen mit seiner Mutter von den Persern ge-
raubt worden seien. ⇔ Wie Harich (1987) 123 bemerkt, wirkt die
Botschaft der Göttin wie ein Stimulus, der Alexander erst recht in sei-
nem Bestreben bestärkt, Darius unbedingt in seine Gewalt bringen
zu wollen. Insofern besitzt die Götterszene die Funktion, Alexanders
Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit herauszuarbeiten, der ungeachtet
der göttlichen Intervention nicht von seinem ursprünglichen Vorha-
ben abzubringen ist. Mit dem an dieser Stelle in Szene gesetzten epi-
schen Motiv der Götterbotschaft und dem deutlichen Hinweis Ale-
xanders auf den Götterboten Merkur stellt Alexanders ablehnende
Reaktion damit möglicherweise eine von Walter aemulativ angelegte
Kontrastimitation zur Dido-Episode der Aeneis Vergils dar (zum
produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit
vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch
Komm. prol., 1–13); zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl.
Einleitung 6). Im Unterschied zu Aeneas nämlich, der auf Merkurs
rhetorische Frage, aufgrund welcher Hoffnung er in Karthago eine
Kommentar zu Buch V 817

geruhsame Zeit verbringen wolle, nach einigem Zögern und wenig


willensstark dem göttlichen Befehl Folge leistet und Dido verlässt,
weigert sich Alexander mit deutlichen Worten, den Anweisungen
Bellonas nachzukommen (vgl. Verg., Aen. IV, 271: qua spe Libycis
teris otia terris?). Alexander begründet seine Weigerung damit, dass
die einzige Hoffnung der Griechen – man beachte dabei den über
den Begriff spes hergestellten Bezug zu den an Aeneas gerichteten
Worten Merkurs – auf einen Sieg in der Schlacht darin liege, den
gegnerischen König zu stellen, auch wenn sich dadurch anderweitig
größere Verlust ergäben (vgl. Alex. V, 247: Ex Dario pendet nostri spes
unica voti). Auch die auf den ersten Blick merkwürdig anmutende
Erfindung Walters, die Göttin Bellona beim Aufeinandertreffen mit
Alexander in ihrer Funktion als Götterbotin und im Sinne eines
weiblichen Pendants zu Hermes bzw. Merkur das Aussehen und die
Rüstung Athenes zu verleihen, wird dann verständlich, wenn man
bedenkt, dass in der griechischen Mythologie Athene nicht selten in
Begleitung von Hermes erscheint und die Verbindung dieser beiden
Gottheiten durch die Jahrhunderte hindurch bildhaft in zahlreichen
Hermathenen ihren Ausdruck gefunden hat. Insgesamt verhält sich
Alexander der Logik einer Schlacht folgend nicht anders als der kurz
zuvor von Walter positiv in Szene gesetzte Nicanor, der seinen Geg-
ner Rhemnon ebenso hartnäckig verfolgt, um das Gefecht zu einem
positiven Ende bringen zu können. Der mögliche Einwand, Alexan-
der verfolge ohne Rücksicht auf Verluste egoistisch und unbelehr-
bar nur sein eigenes Ziel, greift dabei zu kurz. Denn Alexander muss
sich entsprechend der Vorgaben der Aristoteles-Rede so verhalten,
dass er immer das große Ganze im Blick behält und sein strategisches
Vorgehen an dieser Prämisse ausrichtet (vgl. Komm. I, 133–136 bzw.
Komm. I, 136–143). Dazu gehört auch, dass er auf der einen Seite aus
vernünftigen Gründen Verluste in Kauf nimmt, um auf der anderen
Seite mit Darius’ Gefangennahme eine für die gesamte Schlacht ent-
scheidende Situation herbeizuführen, die gemessen am übergeordne-
ten Ziel seines Unternehmens die erlittenen Verluste auszugleichen
818 KOmmentar

vermag. Insofern geht es Walter mit der an dieser Stelle vorgenom-


menen Verwendung des antik-paganen Götterapparats darum, Alex-
anders Weigerung, auf die Verfolgung des Darius zu verzichten, kon-
trastierend zum gehorsamen Aeneas bei Vergil als vernünftiges und
für einen moralisch handelnden Feldherrn angemessenes Verhalten
zu charakterisieren und dessen damit einhergehende Beharrlichkeit
und Zielstrebigkeit positiv herauszustellen (zu Walters ambivalentem
Verhältnis zu Vergil vgl. Komm. V, 145–165; vgl. auch Einleitung 3).
⇔ Inwiefern dabei im Sinne eines Vorverweises auf die Zeit nach
dem Perserkrieg auch eine unterschwellige Kritik Walters an Alexan-
ders fehlender Bereitschaft, sich dem christlichen Gott unterzuord-
nen, mitschwingt, ist schwer zu beurteilen. Immerhin könnte man
Alexanders Bemerkung, dass er bis in die Unterwelt vordringen wür-
de, um Darius in die Hand zu bekommen, in diesem Sinne deuten,
da später auch im Gespräch der Göttin Natura mit Leviathan der
grenzenlose und bis in die Unterwelt reichende Eroberungsdrang des
makedonischen Königs als Grund für dessen Vergiftung angeführt
wird (vgl. Alex. X, 98–99: et ni tibi caveris, istud | non sinet intactum
Chaos). Im Vordergrund steht dieser Aspekt an der vorliegenden Stel-
le jedoch nicht, zumal sich Walter ansonsten nicht scheut, bezogen
auf die Zeit nach dem Perserkrieg in gezielt eingesetzten Autorkom-
mentaren explizit Kritik an Alexanders Hybris zum Ausdruck zu
bringen (vgl. Komm. III, 242–257).

Alexander und die Griechen bedrängen Darius (255–282)

255–282 Sic fatus in armis | se locat … Iam victoris fragor aures | pul­
sabat Darii, iamque irrumpebat in ipsos | consortes lateris funestae
turbo procellae: Alexander nimmt den Kampf ungeachtet der Rat-
schläge Bellonas wieder auf und versucht seiner ursprünglichen Ab-
sicht folgend zu Darius vorzudringen. ⇔ In weiteren Zweikämpfen
bedient sich Walter erneut der Figur der Regressio, indem er mit
Kommentar zu Buch V 819

Afer und Lysias zuerst die Namen der persischen Kämpfer nennt,
im Anschluss daran deren Herkunft thematisiert, dann mit Cra-
terus und Amintas die griechischen Gegner hinzunimmt, um ab-
schließend auf die Waffen einzugehen, mit denen die Perser zu Tode
gekommen sind (vgl. Komm. III, 59–62). ⇔ Weitere aus Sicht der
Griechen erfolgreich geführte Zweikämpfe – auch Polipercon, der
doch eigentlich lieber nachts gekämpft hätte, wird lobend erwähnt
– münden in der Feststellung Walters, dass der makedonische Kö-
nig, könnte er das außerordentliche Engagement seiner Männer se-
hen, Freude darüber empfände, so viele Kämpfer vom Schlag eines
Alexander zu haben. Joseph von Exeter wandelt in seinem auf der
Basis spätantiker Prosatexte von Dares Phrygius und Dictys Creten-
sis entstandenen und nur kurz nach der Alexandreis erschienenen
Epos De bello Troiano Walters Formulierung dahingehend ab, dass
er von so vielen Kämpfern vom Schlage Hectors berichtet, was als
weiterer Beleg für die außerordentliche Wirkungsmacht der Ale­
xandreis schon kurz nach ihrem Erscheinen angeführt werden kann
(vgl. Jos. v. Ex., De bello Troiano IV, 33–34: Ut quot Priamidas, tot
iurent Hectoras esse | quot Troes, tot Marte pares tibi, Troile, dicant).
⇔ Die Szene endet mit der Feststellung Walters, dass die Griechen
bereits zu Darius’ Leibwachen vorgedrungen sind und der unmittel-
bare Kontakt zum persischen König nur noch eine Frage der Zeit ist.

Darius zwischen Kampf und Flucht (283–306)

283–306 Eger in adversis animus sapientis, et egre | consulit ipse sibi


cum duro tempore primis | diffidit rebus et spes languescit inermis. |
Nam quid agat Darius? Quo se regat ordine demens? … in domini
coniurant fata clientes: Nach einer grundsätzlichen Betrachtung
über die Handlungsoptionen eines vernünftigen Mannes im Falle
einer für ihn hoffnungslosen Situation wendet sich Walter dem per-
sischen König zu und verdeutlicht mit zwei kurzen Fragen Darius’
820 KOmmentar

Unfähigkeit, in seiner mit dem Begriff demens wiedergegebenen


Verblendung überhaupt eine vernünftige Entscheidung zu treffen
(vgl. Alex. V, 286). Walter bewertet die aus seiner Sicht bestehenden
Handlungsoptionen des persischen Königs und kommt dabei zu
dem Ergebnis, dass weder eine Flucht Sicherheit biete noch der wei-
tere Kampf in Ermangelung einer ausreichenden Zahl von Soldaten
sinnvoll sei (vgl. Alex. V, 287–290). Darius schwankt und zögert und
sieht sich nicht in der Lage, aufgrund eigener Überlegung eine Ent-
scheidung über das weitere Vorgehen zu treffen (vgl. Alex. V, 292–
294). Die Inszenierung des Zögerns und Schwankens trägt in Wal-
ters Darstellung ähnliche Züge wie schon während der Schlacht bei
Issus und stellt auch hier eine Anlehnung an Lucans Beschreibung
des Pompeius vor der Schlacht bei Pharsalus dar (vgl. Zwierlein
2004, 614–615; vgl. auch Komm. III, 189–202). Doch ist Walters
vorliegende Schilderung um zwei wichtige Aspekte erweitert. Zum
einen wird die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer weiteren Flucht
des Darius aufgeworfen – nach Issus konnte er sich immerhin noch
nach Babylon zurückziehen –, zum anderen integriert Walter eine
Vorschau auf das weitere Schicksal des persischen Königs (vgl. Ha-
rich 1986, 124). Im Unterschied zu Issus – dort war Darius gemein-
sam mit seinen Soldaten geflohen – flieht er vom Schlachtfeld von
Gaugamela erst, als seine Männer in Scharen die Flucht ergreifen.
Damit inszeniert Walter den persischen König kontrastierend zu
Alexander, der immer in vorderster Front den Lauf der Dinge be-
stimmt und sich dabei als der geborene Anführer erweist, als un-
entschlossen und zaghaft agierenden Mitläufer, der seine Soldaten
nicht führt, sondern sich von ihnen – ihrem schlechten Vorbild
folgend – mitreißen lässt. Der von Walter mit invitus bezeichnete
Unwille des Perserkönigs, die Flucht zu ergreifen, ist an dieser Stelle
keineswegs als Zeichen noch vorhandener Tugendhaftigkeit zu be-
werten, sondern beschreibt vielmehr Darius’ innere Kapitulation,
die ihm auch eine Gefangennahme durch die Griechen als eine
mögliche Option erscheinen lässt. Ebenso wie Pompeius bei Lucan
Kommentar zu Buch V 821

in der Pharsalia die Sinnlosigkeit seiner Flucht vor Caesar einsieht,


wird dem persischen König bei Walter klar, dass zum einen die Ent-
scheidung zur Flucht vor Alexander und zum anderen der Versuch,
in die Obhut seiner treulosen Mitstreiter Bessus und Narbazanes zu
gelangen, einer Wahl zwischen Scylla und Charybdis gleicht (vgl.
Alex. V, 300–306; vgl. auch Zwierlein 2004, 616–617; zu Darius’
wenig tugendhaften Verhalten vgl. auch Komm. III, 189–202). ⇔
Mit den auf Bessus und Narbazanes bezogenen Worten de humili
plebe nimmt Walter Bezug auf die Aristoteles-Rede, die eindringlich
davor gewarnt hatte, von Natur aus weniger befähigte und demzu-
folge minder vernunftbegabte Personen in Führungspositionen zu
bringen, die im Ernstfall nicht die charakterliche Größe besitzen, ih-
rem König die Treue zu halten (vgl. Alex. V, 303; vgl. Alex. I, 86–87:
nec, quos humilis natura iacere | exalta; vgl. auch Komm. III, 189–
202). Demnach wird Darius’ Niederlage auch als unmittelbare Folge
der Nichtbeachtung der aristotelischen Tugendlehre inszeniert, was
den Programmcharakter der Aristoteles-Rede für die Alexandreis
insgesamt und für die darin beschriebenen Akteure erneut unter-
streicht (zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programm-
charakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4).

Alexander verfolgt Darius (307–318)

307–318 Magnus ut ablatum medio de limine mortis | accepit Dar­


ium … totumque rigavit Agaunum: Alexander versucht alles, um
den persischen König nicht entkommen zu lassen. Walter bringt
die Intensität, mit der die Verfolgung des Darius durch den make-
donischen König betrieben wird, mit zwei eindrücklichen Verglei-
chen aus der Natur sehr anschaulich zum Ausdruck: zum einen mit
einem sich über den Himmel bewegenden Meteor, der in schnellem
Lauf seinen Feuerschweif hinter sich herzieht, zum anderen mit der
aus den Alpen hervorbrechenden Rhone, die mit ihren gewaltigen
822 KOmmentar

Fluten das antike Agaunum – das heutige im Wallis zwischen Mar-


tigny und dem Genfer See liegende St. Maurice – überschwemmt
(vgl. Alex. V, 311–318). Walter verbindet die Zerstörung von Agau-
num dabei mit einer im Mittelalter sehr populären und auf die Pas­
sio Acaunensium martyrum des Lyoner Bischofs Eucherius († um
450) zurückgehenden Legende, nach der eine römische Legion – die
ursprünglich aus Ägypten stammende legio Thebea –, von Maximi-
an zur Christenverfolgung eingesetzt werden sollte und gegen Ende
des 3. Jahrhunderts den Märtyrertod erlitten haben soll, weil sie sich
dem kaiserlichen Befehl widersetzt hatte. ⇔ Die mit der Beschrei-
bung der reißenden Rhone eingeleiteten sechs Verse waren in der
Ausgabe von Colker bereits in Buch II in nur geringfügiger Ab-
wandlung wenig überzeugend als Vergleich mit einem munter da-
hinplätschernden Bächlein in einem zuvor inszenierten locus amoe­
nus in Verbindung gebracht worden (vgl. auch Komm. II, 306–318).

Die Flucht des Darius und der Perser (319–349)

319–349 Sed iam precipiti per saxa per invia saltu | transierat Licum
… Labuntur passim, lapsosque involvit hyatus  | fluminis, et virides
stupuere cadavera Nymphae: Darius überquert auf seiner Flucht
vor Alexander den Lycus und überlegt, ob er die Brücke über den
Fluss abbrechen soll, um Alexander daran zu hindern, ihm weiter
zu folgen. Er entscheidet sich dazu, die Brücke nicht zu zerstören,
um seinen fliehenden Soldaten den Rückzug nicht zu versperren
(vgl. Alex. V, 321–329). ⇔ Walter rückt den persischen König an
dieser Stelle in ein äußerst positives Licht, indem er erwähnt, dass
für Darius mit Rücksicht auf seine Ehre die Rettung der eigenen
Leute wichtiger sei als für das eigene Schicksal Sorge zu tragen. Wal-
ters Darstellung ist ein weiterer Beleg für den schon mehrfach fest-
gestellten Sachverhalt, dass er dem persischen König jenseits einer
vergleichenden Charakterisierung mit Alexander bestimmte Tu-
Kommentar zu Buch V 823

genden nicht grundsätzlich abspricht (vgl. Komm. IV, 280–284).


⇔ Der Rückzug des persischen Heeres verläuft indes völlig unge-
ordnet und kostet unter den persischen Soldaten zahlreiche Opfer,
die entweder durch das Trinken von verschmutztem Wasser sterben
oder bei der Überquerung des Flusses von besagter Brücke stürzen
und ertrinken (vgl. Alex. V, 335–349).

Ein letztes Gefecht (350–375)

350–375 Languentes gladios et hebentia tela suorum | intuitus Macedo


… Martius ille furor ubi nemo cadebat inultus: Alexander eilt noch
vor Einbruch der Nacht nun doch auf den linken Heeresflügel, um
Parmenion zu Hilfe zu eilen. Ein Bote bringt ihm indes auf halber
Strecke die Nachricht von Parmenions Sieg, so dass er sich sogleich
anschickt, mit seinen Reitern ins Lager zurückzukehren (vgl. Alex.
V, 355–359). Auf dem Weg dorthin treffen sie auf eine Gruppe ver-
sprengter persischer Reiter, die nach kurzem Zögern Alexander und
seine Begleiter angreifen. Nach kurzem Gefecht, in welchem Alex-
ander den persischen Anführer tötet, ist die feindliche Reiterschar
besiegt (vgl. Alex. V, 360–375). Erneut weist Walter im Kontext die-
ser Auseinandersetzung auf die prunkvolle Ausrüstung der Perser
hin, die zwar die Äcker im Abendlicht erleuchten können, für den
Kampf jedoch wenig geeignet sind (vgl. Komm. IV, 563–578). ⇔ In-
dem Alexander wie gewohnt weit vor seinen Soldaten die Feinde an-
greift, erfüllt er auch hier die im Tugendkatalog der Aristoteles-Rede
im Kontext der Tugend der Tapferkeit eingeforderte Vorbildfunktion
für seine Soldaten (vgl. Komm. I, 128–132; zur tropologischen Ebene
der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung
7.4). Walter versäumt es zudem nicht zu erwähnen, dass Alexander
auch in dieser bedrohlichen Situation auf die Hilfe der Schicksals-
göttin zählen kann, die ihm – ganz entgegen ihrer eigentlichen Na-
tur – beständig zur Seite steht (zum Götterapparat und der Rolle des
824 KOmmentar

Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5; vgl. auch Komm. II,


186–200; vgl. auch die Einführung zu Buch II).

Darius’ Ansprache an seine Soldaten (376–421)

376–421 Verum cum, Phebi radiis Athlantide stella  | iam vultus


audente suos opponere … fortunam reparasse suam rursusque retusis |
hostibus adversa de parte tulisse tryumphos: Auf seiner nächtlichen
Flucht gelangt Darius nach Arbela. Dort hält er vor den wenigen
ihm noch verbliebenen Soldaten eine Ansprache, um sie aufzumun-
tern und sich mit ihnen über das weitere Vorgehen abzustimmen.
⇔ Auch wenn die Situation von Curtius vorgeprägt ist, gestaltet
Walter den ersten Teil von Darius’ Rede, in welchem der persische
König zu seinen Soldaten über die Rolle der Schicksalsgöttin im
Zusammenhang mit der gerade verlorenen Schlacht spricht, ohne
Bezugnahme auf seine historische Hauptquelle. Bei Walter versucht
Darius seine Soldaten davon zu überzeugen, dass die wankelmütige
Fortuna das Kampfgeschehen nur zufällig negativ beeinflusst habe
und man in einem neuen Anlauf versuchen müsse, das Schlach-
tenglück wieder auf die eigene Seite zu ziehen (zum Götterapparat
und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5).
Als historische Beispiele für wechselndes Schlachtenglück führt er
Croesus’ Niederlage gegen den Perserkönig Cyrus an, der seiner-
seits wieder durch Amyris zu Fall kam oder die Niederlage des zuvor
bei den Thermopylen noch siegreichen Xerxes nach der Schlacht
bei Salamis (vgl. Alex. V, 386–397). Walter benutzt den Begriff der
Thermopylen an dieser Stelle irreführend, da er diesen nicht expli-
zit mit Xerxes’ dortigem Sieg in Verbindung bringt, sondern damit
– wie Streckenbach (1990) wohl richtig vermutet – dessen von
den Thermopylen aus sichtbaren Rückmarsch mit dessen Landheer
nach der verlorenen Seeschlacht bei Salamis beschreibt. Darius zeigt
in Walters Darstellung eine ausgeprägte Schicksalsergebenheit, die
Kommentar zu Buch V 825

in einem auffälligen Kontrast zu Alexanders Verständnis dieser gött-


lichen Macht steht. Vor der Schlacht bei Issus war Alexander etwa
ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Schicksalsgöt-
tin auf seiner Seite steht (vgl. Alex. II, 452–453: ecce dies optata, parat
qua provida nobis | solvere promissum tociens Fortuna tryumphum).
Auch vor der Schlacht in Gaugamela offenbart Alexander dieses
Verständnis von der grundsätzlichen Gewogenheit des Schicksals
gegenüber der eigenen Sache, als er seine Soldaten fragt, welchen
Sinn die früheren Siege am Granikus und bei Issus gehabt haben
sollen, wenn Fortuna nicht auch in der bevorstehenden Schlacht
auf ihrer Seite stehe (vgl. Alex. III, 549–552: Bellum quod Granicus
amnis | vidit et angusto Cilicum victoria saltu | quid laudis quid ho­
noris habent nisi fine beato | terminet extremum deus et Fortuna try­
umphum?). Noch im Abschnitt zuvor hatte Walter mit den Worten
perpetua in dubiis rebus Fortuna zudem betont, dass sich Fortuna in
Bezug auf Alexander eben gerade nicht wankelmütig zeige, sondern
diesem entgegen ihrer eigentlichen Natur beständigen Beistand ge-
währe (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Ale­
xandreis vgl. Einleitung 5; vgl. auch die Einführung zu Buch II). ⇔
Die hier beschriebenen Unterschiede in der Beurteilung des Schick-
sals zeigen deutlich die verschiedenen Charaktere der beiden Könige
auf. Während Darius dem Schicksal gegenüber eine vornehmlich
passive oder sogar ohnmächtige Rolle einnimmt, wird Alexander
von Walter im Kontrast dazu als ein König beschrieben, der das
Schicksal quasi zwingt und gar nicht erst darüber nachdenkt, ob ihn
das Schlachtenglück als Spielball des Schicksals auch irgendwann
einmal verlassen könnte. ⇔ Im zweiten Teil seiner Rede spekuliert
Darius darüber, dass die Griechen in ihrer Gier nach Gold und wei-
teren Schätzen schwächer sein würden, wenn sie beutebeladen noch
einmal in die Schlacht ziehen müssten. Er selbst möchte sich mit
seinen Soldaten in das vom Krieg noch unberührte Medien zurück-
ziehen und neue Truppen ausheben (vgl. Alex. V, 398–416). Bezeich-
nenderweise benutzt Darius an dieser Stelle Alexanders Argumenta-
826 KOmmentar

tion aus dessen Feldherrnrede vor der Schlacht bei Issus, indem er
die Auffassung vertritt, dass ein Krieg nicht mit Gold, sondern mit
Eisen gewonnen werde (vgl. Alex. II, 457–460: Cernitis inbelles auro
fulgere catervas, | cernitis ut gemmis agmen muliebre choruscet: | Pre­
tendit predae plus quam discriminis. Aurum | vincendum est ferro).
Auch die Erkenntnis, dass Königreiche nicht durch Schätze, son-
dern durch die Tapferkeit und die Tatkraft der Soldaten geschützt
werden, gibt eigentlich eher das in der Alexandreis vielfach wieder-
gegebene Tugendverständnis Alexanders wieder. Darius’ Einsicht
kommt – wie der weitere Verlauf der Ereignisse zeigen wird – zu
spät, zumal Alexander, sollte es die Situation erfordern, durchaus in
der Lage ist, aus taktischen Gründen auf die erbeuteten Schätze zu
verzichten und diese zu verbrennen (vgl. Komm. VIII, 49–74). ⇔
Ungeachtet dessen demonstriert Walter mit seiner Beschreibung des
persischen Königs aber auch, dass er diesem die Kriegstauglichkeit
nicht grundsätzlich abspricht, sondern jenseits einer Kontrastierung
mit Alexander immer wieder auch Darius’ tugendhaften Seiten in
den Blick zu rücken versteht (vgl. Komm. IV, 280–284; vgl. auch
Komm. V, 319–345). ⇔ Abschließend versucht Darius noch einmal
mit Beispielen aus der persischen Geschichte zu verdeutlichen, dass
der Krieg noch nicht verloren sei und das Schlachtenglück auch wie-
der die persische Seite begünstigen könne (vgl. Alex. V, 417–421).

Die Reaktion der persischen Soldaten (422–430)

422–430 Finierat Darius. Vox plena pavoris et exspes  | visa suis …


uno  | maturant animo Medorum visere fines: Darius’ Ansprache
beeindruckt die persischen Soldaten nicht, da dessen Auftritt zum
einen wenig überzeugend wirkt, zum anderen die kurz bevorste-
hende Eroberung Babylons und anderer persischer Städte durch
Alexander das Kräftegleichgewicht so stark beeinflussen wird, dass
an eine Wiederaufnahme des Kampfes und einen noch möglichen
Kommentar zu Buch V 827

Sieg vernünftigerweise nicht zu denken ist. Dennoch ziehen die per-


sischen Soldaten – wie Walter vielsagend bemerkt – mehr aus Ge-
horsam als aus echter Überzeugung mit ihrem geschlagenen König
nach Medien.

Von Gaugamela nach Babylon (431–455)

431–455 Nec mora distribuens celebres apud Arbela gazas | munifi­


cus Macedo … agmine quadrato stupefactae illabitur urbi: Noch in
Gaugamela verteilt Alexander die Beute an seine Soldaten. Ebenso
wie nach der erfolgreichen Schlacht bei Issus erfüllt Alexander da-
mit auch nach dem Sieg in Gaugamela die im Forderungskatalog der
Aristoteles-Rede hinsichtlich der Tugend der angemessenen Gebe­
freudigkeit formulierte Aufgabe, den eigenen Soldaten die Schätze
des Feindes zu überlassen und damit deren angegriffenen Gemüter
zu heilen und deren Gier nach Gold zu befriedigen (vgl. Komm.
III, 215–220; vgl. auch Alex. I, 144–150; zur deutschen Übersetzung
des griechischen Begriffs ἐλευθεριότης bzw. des lateinischen Begriffs
liberalitas mit angemessener Gebefreudigkeit vgl. die Einführung
zu Buch I). ⇔ Noch auf dem Weg nach Babylon kommt ihm der
Perser Mazaeus entgegen und übergibt ihm freiwillig die Kontrolle
über die Stadt. Alexander ist froh, keine lange Belagerung in Kauf
nehmen zu müssen und zeigt dem Mazaeus gegenüber, der sich in
allen Schlachten des Perserkriegs als äußerst tapfer erwiesen hatte,
großes Wohlwollen. Durch die persische Kapitulation ist Alexander
im Sinne der Tugend der angemessenen Zürnkraft nämlich in der
Lage, die Stadt und deren Bewohner zu verschonen und als fried-
fertiger Sieger Babylon zu betreten (zur deutschen Übersetzung des
griechischen Begriffs πρᾳότης bzw. des lateinischen Begriffs humi­
litas mit angemessener Zürnkraft vgl. die Einführung zu Buch I).
828 KOmmentar

Alexanders Einzug in Babylon (456–490)

456–490 Splendet in occursu tanti Babilonia regis, | et quas congessit


veterum sollertia regum exponuntur opes … Memphitae vates currum
victoris adorant: Alexanders Einzug in Babylon wird von Walter
über die Darstellung bei Curtius hinaus mit zahlreichen sprach-
lichen und inhaltlichen Parallelen zu den Evangelienberichten ge-
staltet, um den übermäßigen Reichtum der prunkvollen Stadt und
die moralische Verkommenheit ihrer Einwohner in Szene zu setzen.
Beispielsweise berichtet Walter davon, dass auf der Straße Blumen
und Zweige gestreut werden und benutzt damit ein Bild, das dem
Einzug Christi in Jerusalem entnommen ist (vgl. Alex. V, 470–471;
vgl. auch Mt. 21, 8: plurima autem turba straverunt vestimenta sua
in via, alii autem caedebant ramos de arboribus et sternebant in via).
Auch das Motiv, dass viele Menschen auf die Dächer steigen, um
den neuen König besser sehen zu können, zeigt auffällige Parallelen
zum Einzug Jesu in Jericho, bei dem der kleine Zacchaeus auf ei-
nen Maulbeerbaum steigt, um den Messias besser sehen zu können
(vgl. Alex. V, 479–482; vgl. auch Luk. 19, 1–4: vir nomine Zaccheus
… ascendit in arborem sycomorum ut videret illum). Auch die von
Walter genannten Instrumente sind zwar alle bereits in der Antike
bekannt, verweisen in ihrer Zusammenstellung doch eher auf Stel-
len im Alten Testament, in denen sie zum Lob Gottes gespielt wer-
den (vgl. Alex. V, 483–486). Das anmaßende Verhalten der Mägde
und Diener, die in ihren geliehenen prunkvollen Kleidern ihren
niedrigen Stand zu vergessen scheinen und glauben, nun selbst
zur reichen Oberschicht zu gehören, oder auch die in Käfigen ein-
gesperrten Wildtiere, die sich nur mit Knurren und Fauchen gegen
ihre unnatürliche Gefangenschaft wehren können, stellen gemäß
Walter eine pervertierte Welt dar, die er in ihrer fallax opulentia ganz
bewusst einer moralischen Kritik unterzieht (vgl. Alex. V, 464–469
bzw. 475–478; zur Einordnung von Alexanders Einzug in Babylon
vgl. die Einführung zu Buch V; zum Hybris-Vorwurf an Alexander
Kommentar zu Buch V 829

bezogen auf die gesamte Alexandreis vgl. Einleitung 7.4) ⇔ Dabei


ist es – wie Wiener (2001) 63–64 feststellt – besonders bemerkens-
wert, dass Walter die Szene von Alexanders Einzug in Babylon mit
der Inszenierung der prachtvollen Gewänder der Babylonier und
auch Alexanders Triumphzug als solchen nach dem literarischen
Vorbild Claudians gestaltet und damit in imitativer Weise auch sein
aemulatives Anliegen zum Ausdruck bringt (vgl. Claud., Paneg. de
quarto cons. Hon. Aug., 8, 565–618; vgl. auch Claud., De cons. Stil.
III, 24, 14–50).

Die Suche nach einem alexanderhaften


christlichen Anführer (491–520)

491–520 Numquam tam celebri iactatrix Roma tryumpho  | victo­


rem mirata suum tam divite luxu | excepit … gens omnis et omnis |
lingua Ihesum caneret et non invita subiret  | sacrum sub sacro Re­
morum presule fontem: Diese für die Alexandreis insgesamt sowohl
in inhaltlicher als auch in kompositorischer Hinsicht zentrale Text-
stelle führt in ihrem ersten Teil über einen Vergleich von Alexanders
triumphalem Einzug in Babylon mit dem Triumphzug des Augus-
tus nach seinem Sieg bei Actium einerseits und Caesars Triumphzug
nach seinem Sieg bei Pharsalus andererseits zu der Schlussfolgerung
Walters, dass der makedonische König gemessen an seinem jugend-
lichem Alter, der kurzen Zeit seines Wirkens und der vergleichsweise
kleinen Streitmacht Taten vollbracht hat, die einen derartig aufwen-
digen und pompösen Triumphzug rechtfertigen (vgl. Alex. V, 491–
509). Hierbei klingen nicht zufällig Passagen aus dem ersten Teil des
Prooemiums an, in denen Alexanders herausragende militärische
Leistungen und der enorme Wirkungskreis seiner weitreichenden
Eroberungen hervorgehoben werden, die – so Walter weiter – auch
die Taten eines Julius Caesar oder des weströmischen Kaisers Hono-
rius bei weitem übertreffen (vgl. Komm. I, 5–8). Doch ist der darge-
830 KOmmentar

botene Überbietungstopos an dieser Stelle freilich nicht nur auf die


weniger bedeutenden Leistungen der antiken Feldherrn oder Kaiser
bezogen, sondern erstreckt sich natürlich auch auf die von Walter
explizit genannten Dichter Lucan und Claudian (zu Walters poe-
tologischem Selbstverständnis vgl. auch Einleitung 6). ⇔ Im zwei-
ten Teil der Textstelle schlägt Walter den Bogen in die eigene Zeit
(vgl. Alex. V, 510–520). Indem er Alexanders erfolgreichen Kampf
gegen die barbarischen Völker des Ostens mit der Aufforderung an
die zeitgenössischen Fürsten verbindet, einen ebenso erfolgreichen
und auch zeitlich begrenzten Kampf gegen die Feinde des Christen-
tums zu führen, wird deutlich, aus welchem Grund er ausgerechnet
den makedonischen König als zentrale Figur für sein Epos ausge-
wählt hat. Vor diesem Hintergrund muss der Wunsch des Autors
der Alexandreis nach einem französischen König gesehen werden,
der – von der divina clementia gelenkt – einem wiedererstandenen
Alexander gleicht. Dabei ist wohl an niemand anderen zu denken als
an den bereits im Prooemium angesprochenen jungen König Phil-
ipp II. von Frankreich, der nach dem Tod seines am 19. September
1180 verstorbenen Vaters Ludwig VII. als König von Frankreich die
Geschicke seines Landes zu lenken hatte (vgl. Komm. I, 5–8; vgl.
auch Komm. II, 306–318; zur anagogischen Ebene der Alexandreis
bzw. zum eschatolgischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.3). Zeitge-
nössischer Hintergrund beim Wunsch Walters nach einem alexan-
derhaften christlichen Anführer und eigentlicher Impulsgeber für
die Abfassung der Alexandreis ist dabei neben dem desaströs verlau-
fenen zweiten Kreuzzug (1147–1149) die vernichtende Niederlage des
byzantinischen Kaisers Manuel gegen die von Walter in einer inter­
pretatio Romana als Parther bezeichneten muslimischen Seldschu-
ken im Jahre 1176. Als Folge einer derartigen christlichen Herrschaft
würden sich die in einer weiteren interpretatio Romana mit Kartha-
go identifizierte muslimische Berber-Dynastie der Almohaden, die
in Walters Zeit über den Mahgreb und al-Andalus ihre Herrschaft
ausgebreitet hatte, dem christlichen Anführer unterwerfen und be-
Kommentar zu Buch V 831

geistert die heilige Taufe vom Bischof von Reims, Walters Gönner
Wilhelm von Blois, empfangen. Ebenso wäre dann auch der Makel
der Niederlage Karls des Großen in Spanien getilgt, der in der Nähe
von Roncevalles – so zumindest gemäß der Überlieferung durch das
altfranzösische Rolandslied – gegen die muslimischen Sarazenen
eine schwere Niederlage erlitten hatte (vgl. Komm. II, 306–318; zur
Stellung der zentralen Textstelle innerhalb der Gesamtstruktur der
Alexandreis vgl. Einleitung 7.3).
Einführung zu Buch VI
Nach dem am Ende des fünften Buchs geschilderten Einzug Ale-
xanders in Babylon weist Walter zu Beginn von Buch VI in einer
Apostrophe an die persische Hauptstadt – diese wird vom Autor
der Alexandreis kontrastierend zur Tugendhaftigkeit Alexanders als
Hort der schamlosen Ausschweifung und sittlichen Verwahrlosung
gebrandmarkt – mit der expliziten Erwähnung der prophetischen
Bücher der Bibel auf den Übergang der Herrschaft vom medisch-
persischen Reich (gemini cornua regni) auf das Reich Alexanders
(hyrcus) hin (vgl. Komm. VI, 1–15).
Nachdem Alexander Babylon nach nur vierunddreißig Tagen
wieder verlassen hat – der verderbliche Einfluss der persischen Met-
ropole auf die Griechen und ihren Anführer bleibt dabei nicht un-
erwähnt –, nimmt der siegreiche Feldherr eine durch den Sieg bei
Gaugamela notwendig gewordene Neuorganisation seines Heeres
vor (vgl. Komm. VI, 33–62). Im Kontext dieser Neuordnung hebt
Walter insbesondere Alexanders Tugendhaftigkeit hinsichtlich der
Tugend der Gerechtigkeit hervor, die den makedonischen König be-
fähigt, nach objektiven Maßstäben Belohnungen zu verteilen und
wichtige Positionen im Heer neu zu besetzen (zur Tugend der Ge­
rechtigkeit innerhalb der Aristoteles-Rede vgl. Komm. I, 105–114).
Nachdem das griechische Heer durch Nachschub aus der Hei-
mat ergänzt werden konnte, bricht Alexander in das Gebiet der
Uxier auf, um auch den Widerstand des in den Bergen des Zāgros
östlich von Susa beheimateten Volkes zu brechen (vgl. Komm. VI,
63–144). Walter nutzt die Episode der Eroberung von Susa und
der Unterwerfung der Uxier, um dem kriegerischen Ereignis ent-
sprechend zum wiederholten Mal die Feldherrntugenden seines
wichtigsten Protagonisten in den Mittelpunkt der Betrachtung zu
rücken, die es diesem ermöglichen, auch den harten Kampf mit
Einführung zu Buch VI 833

dem trotzigen Bergvolk erfolgreich zu gestalten. Dabei ist es überaus


bemerkenswert, dass Walter mit der angemessenen Gebefreudigkeit,
der Tapferkeit und der angemessenen Zürnkraft nicht nur alle aris-
totelischen Tugenden eines Feldherrn nacheinander herausarbeitet,
sondern innerhalb der zentralen und zudem bewusst in die Mitte
seiner Darstellung gerückten Tugend der Tapferkeit mit der Über­
zeugungskraft, der Schnelligkeit, der Handlungsschnelligkeit, dem
strategischen Vermögen sowie der Vorbildfunktion auch sämtliche
Teilaspekte dieser wichtigsten Feldherrntugend ins Feld führt und
mit Alexanders erfolgreicher Kriegsführung ursächlich in Bezie-
hung setzt (zur Mittelstellung der Tugend der Tapferkeit vgl. die
Strukturskizze zur Aristoteles-Rede in der Einführung zu Buch I;
zur Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I, 116–143). Damit wird der
Nachweis geführt, dass ein tugendhaftes Verhalten gerade im Kon-
text kriegerischer Auseinandersetzungen in Walters Darstellung
die notwendige Voraussetzung für einen erfolgreichen Feldherrn
darstellt (zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programm-
charakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4). Nachdem der
makedonische König die altpersische Residenzstadt Persepolis dem
Erdboden gleichgemacht hat, begegnen ihm dreitausend am ganzen
Körper grausam verstümmelte Kriegsgefangene, die im griechischen
Heer ob ihres schrecklichen Schicksals großes Entsetzen auslösen.
Alexander stellt ihnen frei, in die griechische Heimat zurückzukeh-
ren oder aber fern der Heimat den Rest ihres versehrten Lebens zu
verbringen (vgl. Komm. 196–212). Damit nutzt Walter auch diese
Episode, um Alexanders herausragende Tugendhaftigkeit nach
einer gewonnenen Schlacht in Szene zu setzen, indem er dessen an­
gemessene Zuwendung gegenüber seinen mit großer Brutalität ver-
stümmelten Landsleuten hervorhebt (zur deutschen Übersetzung
des griechischen Begriffs φιλíα bzw. des lateinischen Begriffs amici­
cia mit angemessener Zuwendung vgl. die Einführung zu Buch I).
Ebenso wie es Alexander durch sein tugendhaftes Verhalten ge-
lingt, alle seine Unternehmungen zum Erfolg zu führen, scheitert
834 KOmmentar

Darius umgekehrt daran, dass er nicht in der Lage ist, die in der Aris-
toteles-Rede zur Sprache gebrachten Tugenden in praxi umzuset-
zen. Dies wird etwa in Darius’ Reaktion auf das vergiftete Angebot
des mit cruentum mancipium (grausamer Sklave) angesprochenen
Narbazanes deutlich, der seinem König den hinterlistigen Vorschlag
unterbreitet, die Lenkung des Reichs an Bessus zu übergeben. Da-
mit macht Walter deutlich, dass der persische König den großen
Fehler begangen hat, wichtige Positionen in seinem Heer mit schwa-
chen und charakterlich zweifelhaften Personen zu besetzen, die bei
der ersten Gelegenheit – die Aristoteles-Rede hatte genau davor ein-
dringlich gewarnt – ihre Loyalität dem eigenen König gegenüber
aufkündigen und rücksichtslos selbst nach der Macht greifen (vgl.
Komm. VI, 425–434; zur Aristoteles-Rede über Sklaven von Natur
aus vgl. Komm. I, 85–91). Mit derselben kritischen Distanz schildert
Walter das Verhalten des persischen Königs gegenüber seinen eige-
nen Soldaten, die er aufgrund seines offenkundigen Phlegmas und
seiner mangelnden Entschlossenheit nicht mehr zu motivieren ver-
mag (zur Überzeugungskraft als Teilbereich der Tugend der Tapfer­
keit innerhalb der Aristoteles-Rede vgl. Komm. I, 118–127). Die Dar-
stellung eines überforderten und demoralisierten persischen Königs
gipfelt dabei in der Bemerkung des Autors der Alexandreis, dass die
Perser zu diesem Zeitpunkt eigentlich keinen richtigen Anführer
mehr besitzen (vgl. Komm. VI, 443–450).
Andererseits versäumt Walter es nicht, dem Leser in Kontrastie-
rung mit Narbazanes und Bessus auch Darius’ positiven Charakter-
eigenschaften vor Augen zu führen, wenn er das gütige Wesen des
persischen Königs hervorhebt, der den Verrätern nach ihrem Um-
sturzversuch noch einmal mit großer Nachsicht begegnet (vgl. Alex.
VI, 482–485: Sed nec tunc fraudis amicos | penituit sceleris cum certus
uterque videret  | quam mitis naturae hominem regemque virum­
que  | falleret). Auch mit der Schilderung von Darius’ Weigerung,
gegen die Verräter in den eigenen Reihen entsprechende Maßnah-
men zu ergreifen, da er nicht selbst zum Verräter am eigenen Volk
Einführung zu Buch VI 835

werden möchte, rückt Walter diesen in ein überaus positives Licht


und macht damit noch einmal seine über das gesamte Epos hinweg
immer wieder zum Ausdruck gebrachte Intention deutlich, den
persischen König jenseits einer vergleichenden Charakterisierung
mit Alexander nicht grundsätzlich als einen in moralischer Hinsicht
ungeeigneten König darzustellen (vgl. Komm. VI, 511–524). Ebenso
kommt dieses Ansinnen in Walters Darstellung von Darius’ Flucht
zum Ausdruck, als dieser den mutigen Entschluss fasst, sich nicht
weiter nach Medien zurückzuziehen, sondern die Entscheidung im
offenen Kampf mit Alexander suchen zu wollen (vgl. Komm. VI,
297–310).
Buch VI endet mit Walters Schilderung eines untätigen und
schicksalsergebenen persischen Königs, der es nicht versteht, den
Verschwörern in den eigenen Reihen die Stirn zu bieten (vgl. Komm.
VI, 548–552; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der
Alexandreis vgl. Einleitung 5). Damit macht Walter deutlich, dass
Darius anders als sein makedonischer Kontrahent die Vorgaben
der Aristoteles-Rede hinsichtlich der Tugend der angemessenen
Zürnkraft missachtet und demzufolge auch scheitern muss (zur
deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs πρᾳότης bzw. des
lateinischen Begriffs humilitas mit angemessener Zürnkraft vgl. die
Einführung zu Buch I; zur tropologischen Ebene der Alexandreis
bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4; zu dem für
die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristote-
les-Rede vgl. Einleitung 7.4).
Kommentar zu Buch VI

Themenübersicht (1–11)

C 1–2 Sextus Alexandrum luxu Babilonis et auro  | corruptum ost­


endit: Nach einer Apostrophe an die Stadt Babylon schildert Wal-
ter den verderblichen Einfluss der von Ausschweifung und Luxus
geprägten persischen Metropole auf die griechischen Soldaten und
ihren Anführer Alexander (vgl. Komm. VI, 16–32).

C 2–3 Castrensia munera certis | distribuit numeris: Nachdem sich


Alexander vierunddreißig Tage in Babylon aufgehalten hat, vollzieht
er nach seinem Aufbruch in das Gebiet der Uxier auf halbem Weg
eine Neuorganisation seines Heeres, die den veränderten Verhältnis-
sen nach dem Sieg bei Gaugamela geschuldet ist (vgl. Komm. VI,
33–62).

C 3–5 Armato milite fines | Uxios intrat. Sysigambis liberat urbem |


et Medatem precibus: Alexander besiegt die Uxier nach schwerem
Kampf und zeigt sich den Bitten von Darius’ Mutter Sisigambis zu-
gänglich, die besiegten Perser mit ihrem Anführer Medates zu ver-
schonen (vgl. Komm. VI, 63–144).

C 5–7 A menibus eruta fumat | inclita Persepolis. Movet occursus mi­


serorum | turbatum regem: Die altpersische Residenzstadt Persepolis
wird von Alexanders Truppen dem Erdboden gleichgemacht. Mit
der Einnahme der Stadt befreit Alexander eine Gruppe griechischer
Kriegsgefangener, die von den Persern zuvor grausam verstümmelt
worden waren (vgl. Komm. VI, 161–296).
Kommentar zu Buch VI 837

C 7–9 Darius discrimina Martis  | rursus inire parat. Hic sedicio


patricidas | separat a Dario: Darius rüstet sich erneut zum Kampf,
wird jedoch durch einen von Bessus und Narbazanes vom Zaun ge-
brochenen Aufstand in eine verzweifelte Lage gebracht (vgl. Komm.
VI, 297–489).

C 9–11 Sed eos innata simultas | acceptos reddit et credula pectora pla­
cat, | nec fatum mutare valent decreta Patronis: Der im persischen
Heer treue Dienste leistende Grieche Patron warnt Darius vor den
Verschwörern Bessus und Narbazanes. Auch wenn Darius seinem
griechischen Söldner Glauben schenkt, kann er sich nicht dazu
durchringen, die beiden Verschwörer bloßzustellen und verhaften
zu lassen. Somit sind nach Walters Worten auch Patrons Hinwei-
se nicht in der Lage, den schicksalhaften Untergang der Perser und
ihres Königs aufzuhalten (vgl. Komm. VI, 490–552).

Alexander in Babylon (1–32)

Apostrophe an die Stadt Babylon (1–15)

1–15 Ecce lues mundi, regum timor unicus, ecce | quem tociens pote­
ras, Babilon, legisse futurum | eversorem Asiae, sacra quem predixe­
rat hyrcum | pagina, quem gemini fracturum cornua regni … Aspice
quam blandis victos moderetur habenis. | Aspice quam clemens inter
tot prospera victor.  | Aspice quam mitis dictet ius gentibus ut quos  |
hostes in bellis habuit cognoscat in urbe | cives et bello quos vicit vin­
cat amore: Walter spricht in einer Apostrophe die Stadt Babylon an
und macht ihr den Vorwurf, die prophetischen Bücher der Bibel
nicht gelesen zu haben, in denen der Sieg des Geißbocks (Alexan-
der) über den zweigehörnten Widder (das medisch-persische Reich)
angekündigt worden war. Neben dieser Einbettung von Alexanders
Sieg in den Kontext der biblischen Lehre von den vier Weltreichen
838 KOmmentar

stellt Walter zudem die beispiellose Tugendhaftigkeit Alexanders –


sprachlich und stilistisch durch eine dreifache Anapher mit einem
jeweils anschließenden indirekten Fragesatz verbunden – hinsicht-
lich der Tugend der angemessenen Zürnkraft heraus, die er gegen-
über dem besiegten Feind an den Tag legt (zum Begriff Weltreich
vgl. Einleitung 7.2). Insofern inszeniert Walter den makedonischen
König auch an dieser Stelle zum einen aus der christlichen Perspek-
tive als einen Herrscher, der mit der Ablösung des Perserreichs die
Prophezeiungen Daniels erfüllt, zum anderen aber auch aus antik-
paganem Blickwinkel als vorbildlichen Feldherrn, der die Vorgaben
der Aristoteles-Rede in praxi umzusetzen versteht (zur tropologi-
schen Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos
vgl. Einleitung 7.4; zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen
Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4). ⇔
Walters Bemerkung, dass jedes Land gerne von einem solchen König
regiert werden würde, wenn Alexander weiterhin jene ihm angebo-
rene Tugendhaftigkeit an den Tag gelegt hätte, ist als Vorverweis auf
die Zeit nach dem Perserkrieg zu verstehen, in der sich der make-
donische König vonseiten des Autors der Alexandreis insbesondere
dem christlich motivierten Vorwurf der Hybris hinsichtlich seines
maßlosen Expansionsstrebens und seines ebenso maßlosen Stre-
bens nach Gottgleichheit ausgesetzt sehen wird (vgl. Komm. VIII
358–476; zur Funktion der Vorverweise in der Alexandreis vgl. Ein-
leitung 7.4).

Babylons verderblicher Einfluss auf die Griechen und


Alexanders Aufbruch aus Babylon (16–32)

16–32 Hos tamen a tenero scola quos inpresserat evo | ornatus animi
… ter deni tenuere dies et quatuor … desidis effrenum piger irrupisset
in hostem: Walter brandmarkt den negativen Einfluss der sündigen
Stadt Babylon auf die Moral der griechischen Soldaten und deren
Kommentar zu Buch VI 839

Anführer Alexander. Die Beschreibung Babylons steht dabei in ei-


nem auffälligen Kontrast zur Charakterisierung des makedonischen
Königs im Abschnitt zuvor, in welchem Walter gerade noch dessen
herausragende Tugendhaftigkeit hervorgehoben hatte. Auch wenn
durch das an dieser Stelle auf Alexander bezogene Verb frangere der
Eindruck entstehen mag, dass der makedonische König durch die
Sittenlosigkeit Babylons möglicherweise gebrochen sein könnte und
man darin möglicherweise eine moralische Kritik des Autors der
Alexandreis an seinem wichtigsten Protagonisten erkennen möchte,
greift dieser Gedanke zu kurz, da – wie in den folgenden Episoden zu
sehen sein wird – Alexander die persische Hauptstadt aus eigenem
Antrieb nicht nur bald wieder verlässt, sondern von Walter auch
weiterhin als tugendhaft handelnder Feldherr und König dargestellt
wird (vgl. Alex. VI, 19). Aus diesem Grund wird das Verb frangere
in der deutschen Übersetzung auch besser mit schwächen wiederge-
geben, um deutlich zu machen, dass Alexander durch den Einfluss
der sündigen Stadt zwar nicht gänzlich unangetastet bleibt, er sich
gerade wegen seines tugendhaften Charakters jedoch nicht vollends
vereinnahmen lässt und sich mit seiner Entscheidung, Babylon nach
vierunddreißig Tagen wieder zu verlassen, selbständig vom verderb-
lichen Einfluss der persischen Hauptstadt befreien kann. Insofern
bezieht sich die moralische Kritik des Autors der Alexandreis nicht
auf Alexander selbst, sondern ist vielmehr an die moralisch depra-
vierte Stadt Babylon gerichtet, die sich das tugendhafte Verhalten
des makedonischen Königs eigentlich hätte zum Vorbild nehmen
und dessen Herrschaft als Chance zur moralischen Umkehr begrei-
fen können (zur Frage der moralischen Bewertung Alexanders im
Kontext seines Aufenthalts in Babylon vgl. die Einführung zu Buch
V; zur moralischen Beurteilung Alexanders in der Alexandreis vgl.
auch Einleitung 7.4).
840 KOmmentar

Alexanders Neuorganisation des griechischen Heeres (33–62)

33–62 Ergo Semiramiis postquam Mavortius heros | finibus egressus


… Monet allicit artat | fortes conductos cives prece munere scripto … et
maius fuit armatos decreta rigoris | suscipere in bello quam ius in pace
pacisci: Nach dem Aufbruch aus Babylon organisiert Alexander sein
inzwischen durch den Nachschub aus der Heimat ergänztes Herr
neu, indem er anstelle schlecht vernehmbarer akustischer Signale gut
sichtbare Zeichen für den Aufbruch aus dem Lager einführt und zu-
dem jeweils einem Trupp von tausend Mann einen Chiliarchen als
Anführer bestimmt. Eine weitere Neuerung stellt die Besetzung von
Führungspositionen im Heer dar, die nicht mehr wie bisher üblich
nach dem landsmannschaftlichen Prinzip vergeben werden, sondern
sich nunmehr ausschließlich an der Leistung und der Bewährung
des jeweiligen Soldaten orientiert. Die Chiliarchen hatten – wie Wal-
ter berichtet – darauf zu achten, dass unter den Reitern niemand
Belohnungen und Ruhm einfordert, die der im Kampf gezeigten
Leistung nicht entsprechen. ⇔ Auch ermahnt Alexander seine Fuß-
soldaten, mit den ihren Taten entsprechenden Belohnungen zufrie-
den zu sein. Diese mit der Tugend der Gerechtigkeit in Verbindung
stehenden Maßnahmen Alexanders können als unmittelbare Reak-
tion auf die Erfahrung sittlicher Verwahrlosung in Babylon angese-
hen werden und dienen dem Ziel, die eigenen Soldaten wieder auf
den ursprünglichen Pfad der Tugend zurückzuführen. Mit dieser
Forderung nach gerechten Maßstäben bei der Zuteilung von Beloh-
nungen und Führungspositionen stellt Walter einen unmittelbaren
Bezug zur Aristoteles-Rede her, in der die Tugend der Gerechtigkeit
als eine allen anderen Tugenden übergeordnete Tugend thematisiert
wird (vgl. Komm. I, 105–114). Doch belässt es Walter in seiner Schil-
derung nicht bei der Verbindung Alexanders mit der Tugend der
Gerechtigkeit, sondern bringt seinen wichtigsten Protagonisten im
weiteren Textverlauf im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die
Uxier auch mit der als zentrale Feldherrntugend geltenden Tugend
Kommentar zu Buch VI 841

der Tapferkeit in ihren verschiedenen Ausprägungen in Verbindung.


Walter hebt dabei mit den asyndetisch angeordneten Prädikaten mo­
net allicit artat zunächst ausdrücklich Alexanders Fähigkeit hervor,
die Soldaten, Söldner und Landsleute – fortes conductos cives – von
der Wichtigkeit gerechten Handelns zu überzeugen und arbeitet mit
der für einen Feldherrn bedeutsamen Überzeugungskraft einen ersten
Aspekt der Tugend der Tapferkeit heraus. Walters Wortwahl erinnert
dabei ebenso wie die alliterative Gestaltung der jeweils letzten beiden
Glieder sehr an die in der Aristoteles-Rede gewählte Formulierung
precibus monituque minisque, mit der dort die Aufforderung an den
Feldherrn gestaltet wird, die Soldaten zum Kampf zu ermuntern (vgl.
Komm. I, 118–127; zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Pro-
grammcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Walter
beendet den Abschnitt mit einem überschwänglichen Lob auf Alex-
ander, der im Unterschied zu den römischen Kaisern – explizit wird
der spätantike Kaiser Theodosius genannt – nicht nur in der Lage
ist, in Friedenszeiten ein Rechtssystem zu etablieren, sondern dem
es sogar gelingt, den noch im Kampf stehenden und damit weniger
leicht zu disziplinierenden Soldaten strenge Regeln vorzugeben. ⇔
Damit lässt Walter – wie im Prooemium und am Ende von Buch V
bereits ausgeführt – auch hier keinen Zweifel darüber aufkommen,
dass Alexanders Leistungen diejenigen der römischen Kaiser bei wei-
tem übertreffen und demzufolge auch die römischen Dichtungen
eines Lucan oder Claudian hinter dem Werk Walters zurückzuste-
hen haben (vgl. Komm. I, 1–5; vgl. dazu auch Komm. V, 491–520;
zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6). Das
aemulative Anliegen Walters wird dadurch noch verstärkt, dass mit
den Worten deus ultrices Furias arceret Olympo,  | Theodosius terris
ein intertextueller Bezug zu Claudian hergestellt wird, der in seiner
Invektive gegen Rufinus die Furie Allecto Klage darüber führen lässt,
dass die zerstörerischen Kräfte durch Jupiter vom Olymp und durch
Theodosius von der Erde ferngehalten werden (vgl. Claud., In Ruf.
I, 50–51: quas Iuppiter arcet Olympo, | Theodosius terris).
842 KOmmentar

Die Eroberung von Susa und der Krieg gegen die Uxier (63–144)

Die Einnahme von Susa und die Schlachtvorbereitungen


gegen die Uxier (63–80)

63–80 Hec ubi mature tractata libentibus omnes | accepere animis,


Susam tradentibus urbem | civibus et multis hilarato milite gazis, |
agmen ad Uxias convertit turbidus arces … artificum ut studiis tali
munimine tuta | funditus erueret muros armata iuventus: Auf dem
Weg in das Gebiet der Uxier nimmt Alexander die Stadt Susa kampf-
los ein. Walter betont in Anlehnung an die Aristoteles-Rede mit den
Worten tradentibus urbem auch an dieser Stelle die für einen erfolg-
reichen Feldherrn bedeutsame Tugend der angemessenen Gebefreu­
digkeit, die der makedonische König entsprechend der Vorgaben
seines Lehrers gegenüber den eigenen Soldaten nach seinem Sieg
an den Tag legt (vgl. Komm. I, 144–151 und 156–163; zur deutschen
Übersetzung des griechischen Begriffs ἐλευθεριότης bzw. des lateini-
schen Begriffs liberalitas mit angemessener Gebefreudigkeit vgl. die
Einführung zu Buch I; zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen
Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4). ⇔
Im Unterschied zu den Bewohnern von Susa sind die Uxier unter
ihrem Anführer Medates nicht bereit, dem makedonischen Erobe-
rer ihre gut geschützte Stadt kampflos zu überlassen. Auch wenn
der Kampf gegen die Uxier durch Curtius’ Darstellung vorgeprägt
ist, möchte Walter mit seiner Darstellung in Ergänzung der zuvor
geschilderten Überzeugungskraft Alexanders dennoch nicht auf die
Inszenierung weiterer Aspekte der Tugend der Tapferkeit verzich-
ten. Walter betont nämlich – und das in erkennbarem Unterschied
zu Curtius – mit dem auf Alexander bezogenen Attribut turbidus
zum wiederholten Mal in der Alexandreis die Schnelligkeit seines
wichtigsten Protagonisten, mit der er nach der kampflosen Ein-
nahme von Susa in das Gebiet der Uxier vordringt (vgl. Komm. I,
116–117; vgl. dazu auch Komm. II, 91–102). Als der makedonische
Kommentar zu Buch VI 843

König im Kontext der Schlachtvorbereitungen gegen das wehrhafte


Bergvolk erfährt, dass es einen den Feinden unbekannten Schleich-
weg in die Stadt gibt, schickt er sofort eine unter Taurons Führung
stehende Reiterschar los, um die Stadt von zwei Seiten angreifen zu
können. Damit führt Walter dem Leser auch die immer wieder posi-
tiv herausgestellte Handlungsschnelligkeit Alexanders vor Augen
(vgl. Komm. I, 136–143). Er selbst dringt von einer aus Flechtwerk
geschaffenen Deckung geschützt mit der Hauptstreitmacht bis an
die Mauern der Stadt vor. Auch hier schildert Walter den makedo-
nischen König entsprechend der Vorgaben der Aristoteles-Rede als
einen strategisch klug handelnden Feldherrn, der nichts dem Zufall
überlässt und mit seiner umsichtigen Planung erst die Voraussetzun-
gen für den militärischen Erfolg schafft (zum strategischen Vermögen
als Teilaspekt der Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I, 133–136).

Die Schlacht gegen die Uxier (81–102)

81–102 Sed gravis accessus cum dura minetur acutis | cotibus et sa­
xis succidi nescia tellus … et discent michi condescendere turres: In der
Schilderung der Schlacht gegen die Uxier setzt Walter den makedo-
nischen König zum wiederholten Mal als einen Anführer in Szene,
der als erster unter den ersten – inter primos … primus – gegen die
Mauern der Stadt zieht. Damit nimmt der Autor der Alexandreis
inhaltlich und auch sprachlich Bezug auf die Anweisungen der
Aristoteles-Rede hinsichtlich der Vorbildfunktion eines Feldherrn,
der stets in vorderster Linie dem Feind entgegentreten soll (vgl.
Komm. I, 128–132). ⇔ Neben den in den Abschnitten zuvor her-
ausgestellten Aspekten der Tugend der Tapferkeit verweist Walter
mit der Vorbildfunktion Alexanders auch auf den letzten Aspekt
dieser zentralen Feldherrntugend. Damit inszeniert Walter seinen
wichtigsten Protagonisten als einen hinsichtlich der Tugend der
Tapferkeit in allen Aspekten vorbildlichen und jederzeit handlungs-
844 KOmmentar

fähigen Feldherrn, der genau diejenigen Fähigkeiten besitzt, die sich


– wie Walter an zentraler Stelle am Ende von Buch V ausgeführt
hat – ein christlicher König und Anführer im Kampf gegen die
Muslime zum Vorbild nehmen soll (vgl. Komm. V, 491–520). Auch
die von Walter schon mehrfach für Alexander verwendete Blitzme-
tapher – fulminat in muros – verweist in bewusster Umdeutung
des negativ konnotierten Caesar bei Lucan auf das von beispiello-
ser Dynamik geprägte und mit der christlichen Heilsgeschichte in
Einklang stehende Vorgehen des makedonischen Königs (vgl. Alex.
VI, 91; zur Blitzmetapher vgl. Komm. II, 388–407). ⇔ Am Ende
des Abschnitts steigert Walter im Unterschied zu seiner historischen
Vorlage Curtius – dieser berichtet eher beiläufig lediglich von einer
Ansprache des makedonischen Königs an seine Soldaten – Alexan-
ders herausragende Rolle für die erfolgreiche Eroberung der Festung
der Uxier mit einer Rede an seine Soldaten, in der er an ihre Ehre
appelliert und ihnen klarmacht, dass keine Mauer einem Eroberer
wie ihm standhalten könne (vgl. Alex. VI, 94–102). Wie schon im
Kontext der Neuorganisation des Heeres stellt Walter damit ein
weiteres Mal die Überzeugungskraft Alexanders heraus, dem es auch
unter schwierigen Bedingungen gelingt, seine Soldaten zum Kampf
anzuspornen und damit zum Sieg zu führen.

Alexanders Sieg über die Uxier (103–144)

103–144 Dixit, et in summa Tauron apparuit arce … triste reporta­


tur responsum a principe nullum | esse locum veniae, parvas superesse
doloris | suppliciique moras … ut mitiget iram regis et ut victis invictus
parcat et urbi … Que tunc moderatio Magni, | que pietas fuerit vel que
constantia regis | arguit hoc unum quod non Medati modo verum |
omnibus ignovit et libertate priori | concessa captam captivis reddidit
urbem … Si vaga victori Dario Fortuna dedisset | urbem pre manibus,
non impetrasset ab illo | plura parens quam que victis dedit hostibus
Kommentar zu Buch VI 845

hostis: In der vorliegenden Textpassage arbeitet Walter am Verhalten


Alexanders exemplarisch die beiden von der Vernunft gesteuerten
Handlungsmöglichkeiten innerhalb der aristotelischen Tugend der
angemessenen Zürnkraft heraus, die entweder in der Zerstörung
der Stadt und der Hinrichtung der Bürger liegt oder in bewusstem
Gegensatz dazu die Verschonung der besiegten Feinde vorsieht (vgl.
Komm. I, 115). ⇔ Das strategisch kluge Vorgehen Alexanders, Tau-
ron über den Schleichweg die Stadt von oben herab angreifen zu las-
sen, ist letztlich von Erfolg gekrönt. Die Mehrzahl der Uxier ergreift
die Flucht und zieht sich, nicht ohne zuvor Gesandte mit der Bitte zu
Alexander zu schicken, unversehrt abziehen zu dürfen, in die Burg
zurück. Dieser lehnt entsprechend den Anforderungen der Aristote-
les-Rede hinsichtlich der Tugend der angemessenen Zürnkraft eine
Begnadigung ab, da die Uxier mit ihrem Widerstand einen Kampf
provoziert und den geeigneten Zeitpunkt für eine Kapitulation ver-
passt haben (zur Zerstörung von Theben und der von Cleades über-
heblich und ebenso zu spät vorgebrachten Bitte um Verschonung
vgl. Komm. I, 284–348). Erst als Sisigambis auf Medates’ Bitte hin
– die von Walter gewählte Formulierung ut mitiget iram | regis et ut
victis invictus parcat et urbi verweist dabei zweifelsfrei unmittelbar
auf die Aristoteles-Rede – aufrichtig und ohne Rücksicht auf ihr
eigenes Schicksal Alexander anfleht, zumindest den inzwischen ein-
sichtigen Medates zu verschonen, sieht sich Alexander in Erfüllung
der innerhalb der Tugend der angemessenen Zürnkraft zum Aus-
druck gebrachten Anforderung des facilis oranti aus eigener Über-
legung und ohne regeldogmatische Vorgabe in der Lage, seine Ent-
scheidung zu revidieren und nicht nur Medates, sondern gleich der
ganzen Stadt freien Abzug zu gewähren und sogar allen Bürgern die
Äcker ohne jede Tributpflicht zurückzugeben (vgl. Komm. I, 115; zu
dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der
Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4). Alexanders Sinneswandel ist
vor allen Dingen deshalb möglich, weil Sisigambis’ Verhalten von
echter Demut geprägt ist, die als unabdingbare Voraussetzung für
846 KOmmentar

Alexanders Einlenken angesehen werden muss und von Walter aus


diesem Grund auch mehrfach positiv herausgearbeitet wird. Walter
stellt dieses von der Tugend der angemessenen Zürnkraft geprägte
Verhalten des makedonischen Königs abschließend noch einmal
mit der Bemerkung heraus, dass Sisigambis im Falle von Darius’
Sieg von ihrem Sohn nicht mehr erhalten hätte als von ihrem Feind
Alexander (vgl. Alex. VI, 142–144). ⇔ Im Kontext der Auseinan-
dersetzung mit den Uxiern versteht es Walter damit meisterhaft, an
Alexanders Verhalten explizit die für einen Feldherrn maßgeblichen
aristotelischen Tugenden der Tapferkeit – und dies in all ihren ein-
zelnen Aspekten –, der angemessenen Gebefreudigkeit und der ange­
messenen Zürnkraft zu inszenieren. Dies zeigt noch einmal den für
die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristote-
les-Rede ebenso wie die Bewunderung Walters für die militärischen
Fähigkeiten des antiken Feldherrn, die – wie an zentraler Stelle am
Ende von Buch V deutlich zum Ausdruck gebracht wird – dem zeit-
genössischen christlichen Anführer im Kampf gegen die Muslime
als Vorbild dienen sollen (vgl. Komm. V, 491–520).

Schwere Kämpfe gegen den Statthalter der Provinz Persis (145–160)

145–160 Nec mora, divisis cum Parmenione catervis,  | imperat ut


Darium caute vestiget … Non alias Macedo, graviora pericula pas­
sus, | experto didicit semper variamque sibique | dissimilem et nulli
fortunam stare perhennem … victaque sederunt victricibus arma sub
armis: Während Parmenion durch das persische Flachland zieht,
gerät Alexander bei der Verfolgung des Darius im Gebirge in eine
schwierige Situation. Ariobarzanes, dem Statthalter der Provinz Per-
sis, gelingt es mehrfach, den makedonischen König zurückzudrän-
gen und ihn daran zu hindern, den Engpass der Persischen Tore zu
passieren. Erst nach schweren Kämpfen und hohem Blutzoll unter
den eigenen Leuten ist Alexander schließlich in der Lage, seinen
Kommentar zu Buch VI 847

persischen Widersacher zu besiegen. ⇔ Walter nutzt diese Begeben-


heit, um auf das wankelmütige Schicksal hinzuweisen, dem auch der
makedonische König ungeachtet seines Sieges über Ariobarzanes
unterliegt (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der
Alexandreis vgl. Einleitung 5; vgl. auch Komm. II, 186–200; zum
Selbstverständnis Alexanders hinsichtlich der Begünstigung durch
das Schicksal vgl. Komm. IV, 546–562; vgl. auch die Einführung zu
Buch II).

Alexander in Persepolis (161–296)

Alexander macht Persepolis dem Erdboden gleich (161–195)

161–195 Vix bene purgato noctis caligine caelo … rapax ostendat Ara­
xes  | menia marmoreis paulo distantia ripis: Nach dem Sieg über
Ariobarzanes überquert Alexander auf einer eigens errichteten Brü-
cke den Araxes und eilt unverzüglich vor die Tore von Persepolis.
Mit dem auf Alexander bezogenen Begriff festinus hebt Walter an
dieser Stelle erneut die Schnelligkeit des makedonischen Königs her-
vor, mit der es diesem zum wiederholten Mal gelingt, seine Feinde zu
überraschen (zu Alexanders Schnelligkeit vgl. Komm. VI, 63–80; zur
Schnelligkeit als Teilaspekt der Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I,
116–117). ⇔ Alexander macht Persepolis dem Erdboden gleich, da es
sich dabei um jene königliche Residenz handelt, von der aus Xerxes
im Jahre 480 v. Chr. seinen gigantischen Feldzug gegen Griechen-
land begonnen hatte. Insbesondere die im Kontext der Perserkriege
von Xerxes bewusst in die Wege geleitete Zerstörung der Akropolis
war als unverzeihliche Freveltat im kollektiven Gedächtnis der Grie-
chen fest verankert, so dass die völlige Zerstörung von Persepolis an
dieser Stelle auch von Walter ganz im Sinne antik-paganer Vorstel-
lungen als gezielter und moralisch vertretbarer Racheakt der Grie-
chen gegenüber den Persern beschrieben wird (zum Charakter des
848 KOmmentar

als Rachefeldzug verstandenen Perserkriegs vgl. Komm. V, 11–25).


⇔ Mit den Worten avara vetustas kritisiert Walter die Habgier der
persischen Alten, die riesige Schätze ohne einen praktischen Nut-
zen in Persepolis zusammengetragen hatten (vgl. Alex. VI, 171). Die-
se Habgier der Perser findet ihre Entsprechung – von Walter nicht
ohne einen ironischen Unterton wiedergegeben – im nicht minder
habgierigen Verhalten der griechischen Soldaten, die bei der Vertei-
lung der Schätze in ihrer blinden Wut nicht nur zahlreiche wertvolle
Gegenstände zerstören, sondern sich sogar gegenseitig umbringen,
um an die besten Stücke im persischen Schatz zu gelangen (zum
moralisch fragwürdigen Verhalten der griechischen Soldaten bei der
Verteilung der Beute vgl. auch Komm. II, 220–224).

Alexander begegnet verstümmelten Kriegsgefangenen (196–212)

196–212 Dixeris indignam dignamve his cladibus urbem | ambigitur


… visuros dulcia rura | divitis Europae, uxores dulcesque propinquos |
spondet et in patrio capturos cespite sompnum: Beim Betreten der be-
siegten Stadt begegnet Alexander dreitausend am ganzen Körper
verstümmelten griechischen Kriegsgefangenen, die zudem von den
Persern als Sinnbild ihrer Entehrung auf der Stirn mit einem Brand-
mal gekennzeichnet worden waren. Die griechischen Soldaten und
auch ihr König ringen um Fassung und können sich ihrer Tränen
nicht erwehren. Alexander fordert sie auf, tapfer zu sein und bietet
ihnen als Entschädigung für ihr grausames Schicksal die Rückkehr
in die griechische Heimat an. ⇔ Die ganze Episode ist ursprünglich
wohl eine Erfindung des Alexanderhistorikers Kleitarch, dem es zu
Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr. vermutlich darum gegangen war,
Hassgefühle des Lesers gegenüber den Persern erneut zu schüren
(vgl. Wiesehöfer 1994, 24). Curtius verleiht der Episode zusätz-
liches Gewicht, indem er ein dramatisches Rededuell zwischen Euc-
temon aus Kyme und Theteus von Athen einfügt, in welchem auf
Kommentar zu Buch VI 849

höchst emotionale Art und Weise die Frage erörtert wird, ob die ver-
stümmelten Griechen in Asien bleiben oder das Angebot ihres An-
führers Alexander, in die Heimat zurückkehren zu dürfen, anneh-
men sollen. Damit unterscheidet sich die Darstellung des römischen
Historikers in ihrer überaus detailreichen und äußerst spannungs-
geladenen Ausgestaltung deutlich von der sonstigen Überlieferung,
die keinerlei Reden wiedergibt und überdies nur von achthundert
Gefangenen berichtet (vgl. Diod. Βιβ. ἱστ. XVII, 69, 2–9; vgl. auch
Iust. Epit. Hist. XI, 14). Abgesehen davon gestaltet Curtius seine
Darstellung leicht erkennbar gemäß der römischen Vorstellungs-
welt, wenn er Theteus sagen lässt, dass er ad penates et in patriam
zurückkehren wolle (vgl. Curt., Hist. Alex. V, 5, 20). Pausch
(2016) 87 stellt als Begründung für diese erweiterte Darstellung bei
Curtius einen interessanten Zusammenhang mit der im Jahre 20
v. Chr. erfolgten und in der römischen Literatur noch lange Zeit
kontrovers diskutierten Rückkehr der römischen Soldaten aus der
Kriegsgefangenschaft der Parther her und stellt diesbezüglich fest:
»Indem Curtius die römische Parallele als zusätzliche Folie aufruft,
erhöht er die emotionale Wirkung der ohnehin schon mit allen Mit-
teln der rhetorischen Kunst gestalteten Episode und eröffnet dem
Leser zugleich die Möglichkeit, bei der Abwägung der Frage, ob die
Entscheidung der befreiten Gefangenen, in Asien zu bleiben, richtig
war oder nicht, das konträre Schicksal der römischen Kriegsgefange-
nen in Betracht zu ziehen.« ⇔ Obgleich Walter hinsichtlich dieser
Episode im Wesentlichen seiner historischen Hauptquelle Curtius
folgt, gilt es für ein tieferes Verständnis der Stelle in der Alexandreis
ein besonderes Augenmerk auf einen wesentlichen Unterschied
in seiner Darstellung zu richten. Walter gibt nämlich das traurige
Schicksal der Griechen im Unterschied zu Curtius, der die Episode
noch vor den Kämpfen um Persepolis eingefügt hat, erst nach der
Eroberung der Stadt wieder. Vor dem Hintergrund der programma-
tischen Bedeutung der Aristoteles-Rede für die Alexandreis als Gan-
zes ist anzunehmen, dass Walter mit diesem Vorgehen dem Eindruck
850 KOmmentar

entgegenwirken will, dass die rücksichtslose und brutale Zerstörung


von Persepolis – auch wenn dies bei Curtius gar nicht intendiert
war – als nicht von der Vernunft getragene Überreaktion des make-
donischen Königs beim Anblick seiner verstümmelten Landsleute
erscheinen könnte. Mit einer derartigen Positionierung der Episode
bei Walter wird Alexanders Vorgehen bei der Zerstörung von Perse-
polis damit – wie im Kommentarpunkt zuvor bereits angesprochen
– ausschließlich mit dem ursprünglichen, auf der vormaligen Zer-
störung Griechenlands durch die Perser beruhenden Racheplan der
Griechen in Verbindung gebracht, der nach antik-paganen Maßstä-
ben ohne Zweifel den Vorgaben der aristotelischen Tugend der an­
gemessenen Zürnkraft entspricht (vgl. Komm. I, v. 115; zur deutschen
Übersetzung des griechischen Begriffs πρᾳότης bzw. des lateinischen
Begriffs humilitas mit angemessener Zürnkraft vgl. die Einführung
von Buch I). Diesem Gedanken folgend kann auch Alexanders groß-
zügiges Angebot, seinen verstümmelten Landsleuten die Rückkehr
in ihr Heimatland zu ermöglichen, als wohlmeinender Akt der an­
gemessenen Zuwendung verstanden werden (zur Tugend der ange­
messenen Zuwendung vgl. Komm. I, 152–154; zur deutschen Über-
setzung des griechischen Begriffs φιλíα bzw. des lateinischen Begriffs
amicicia mit angemessener Zuwendung vgl. die Einführung zu Buch
I). ⇔ Somit dient auch diese Episode bei Walter in erster Linie der
Inszenierung der außerordentlichen Tugendhaftigkeit des makedo-
nischen Königs, obgleich mit der in der Alexandreis vorgenomme-
nen Positionierung darüber hinaus doch auch eine zusätzliche und
nachträgliche Rechtfertigung – auch dadurch zum Ausdruck ge-
bracht, dass Walter zu Beginn des Abschnitts die Frage in den Raum
stellt, ob Persepolis diesen verheerenden Untergang verdient hat –
für die völlige Zerstörung und Plünderung der Stadt beabsichtigt
zu sein scheint.
Kommentar zu Buch VI 851

Das Rededuell zwischen Euctemon und Theteus (213–296)

213–296 Secedit vallo vulgus miserabile donec … immo  | quos penes


invisum iam desiit esse cadaver … Hactenus Euctemon, cui sic oriun­
dus Athenis | Theteus obiecit … modo libera detur | visendi a superis
natalia rura facultas … Finierat Theteus sed paucos repperit huius  |
voti participes … ne frumenta solo desint, cultoribus era: Die Kriegs-
gefangenen beraten sich, ob sie Alexanders großzügiges Angebot, in
die Heimat zurückzukehren, annehmen sollen, oder ob sie doch lie-
ber in der Fremde Asiens bleiben wollen. Euctemon plädiert in einer
überaus pessimistischen Rede für einen Verbleib in Asien, da er der
Ansicht ist, dass ihre Angehörigen in der Heimat mit einem derarti-
gen Leid nicht umgehen könnten und ihrer geschundenen Körper
wegen zudem eine Zurückweisung durch ihre Ehefrauen zu erwar-
ten sei. ⇔ Obgleich sich Walter auch in der Übernahme der beiden
Reden im Wesentlichen an Curtius orientiert, verdient eine Passage
in der Rede des Euctemon besondere Beachtung, da sie keinerlei Par-
allele zu seiner historischen Hauptquelle besitzt. Euctemon entwirft
dort innerhalb seines Plädoyers für einen Verbleib in Asien ein über-
aus negatives Bild der in Griechenland zurückgelassenen Ehefrauen,
die seinen Ausführungen zufolge nach einer eventuellen Rückkehr
ihren verstümmelten Ehemännern wenig sexuelles Interesse entge-
genbringen dürften. Seine für die Ehefrauen wenig schmeichelhaften
Ausführungen führen zu der von Ernüchterung getragenen rhetori-
schen Frage Usque adeo sexus nobis incognitus ille est?, die ihrerseits
den Auftakt zu einem misogynen Ausbruch bildet, in welchem die
grundsätzliche Unbeständigkeit und mangelnde Zuverlässigkeit der
Frauen angeprangert wird, die – so Euctemon – schon unter nor-
malen Umständen ihren Ehemännern schwer zusetzen (vgl. Alex.
VI, 253; vgl. auch Alex. VI, 248–256). Walter scheint sich damit jen-
seits der Darstellung bei Curtius in einen zeitgenössischen Diskurs
einzuschalten, der – wie der in den Jahren 1174 bis 1186 entstandene
und gerade in Frankreich weit verbreitete Traktat De amore des An-
852 KOmmentar

dreas Capellanus zeigt – die erotische Liebe und die Verworfenheit


der Frauen zum Thema hat. Der zeitweise am Hof des französischen
Königs Philipp II. tätige Autor beschreibt darin einen konkreten
Fall, bei dem eine Frau, die ihren Liebhaber zurückweist, nachdem
dieser ein Auge oder ein anderes Körperteil verloren hat, mit der Be-
gründung verurteilt wird, dass eine Frau grundsätzlich aller Ehre für
unwürdig zu gelten habe, die wegen einer aus einem üblichen Kriegs-
unfall resultierenden Verstümmelung, wie sie tapferen Kämpfern zu-
zustoßen pflegt, die Entscheidung treffe, dem Liebespartner ihre Lie-
be zu entziehen (vgl. Capell., De amore II, 35–36: Amator quidam,
quum proeliando viriliter oculum vel alium sui corporis amisisset or­
natum, quasi indignus ac taedosius a sua coamante repellitur, et soliti
sibi denegantur amplexus. […] Omni honore mulier censetur indigna,
quae ob deformationem solito belli contingentem eventu, et quae solet
viriliter evenire bellantibus, coamantem suo iudicavit amore privan­
dum). Dass Walter auf die zeitgenössische Diskussion dieses Falls Be-
zug nimmt, zeigt sich auch daran, dass er mit den Worten penitus vel
lumine cassi den bereits von Curtius angeführten Verstümmelungen
auch den von Capellanus erwähnten Verlust des Augenlichts hinzu-
fügt, eine Verletzung, die bei der mittelalterlichen Kampftechnik of-
fenbar sehr häufig vorkam (vgl. Alex. VI, 201; vgl. auch Kullmann
2000, 60). Wie intensiv die Diskussion um das Thema offenbar ge-
rade zur Abfassungszeit der Alexandreis geführt wurde, belegt auch
der unter dem Titel Ille et Galeron zwischen 1167 bis 1178 entstandene
Roman von Gautier d’Arras, in welchem sich der Held des Geschich-
te nach dem Verlust eines Auges von seiner Geliebten in der irrigen
Annahme trennt, sie könnte ihn wegen der erlittenen Verstümme-
lung nicht mehr lieben. So sehr Walter damit die Verfehlungen der
Frauen in den Blick nimmt, so wenig scheint er Interesse daran zu
haben, auch das Verhalten der Männer einer kritischen Prüfung zu
unterziehen. Das bei Curtius von Euctemon vorgebrachte Argu-
ment, nicht in die Heimat zurückzukehren, da nicht zu erwarten sei,
dass die griechischen Ehefrauen ihre in Asien gezeugten Kinder ak-
Kommentar zu Buch VI 853

zeptieren könnten, findet bei Walter nämlich keine Erwähnung. ⇔


Theteus widerspricht in seiner Gegenrede Euctemon vehement und
möchte Alexanders großzügiges Angebot, in die griechische Hei-
mat zurückzukehren, unbedingt annehmen. Niemand dürfe nach
dem Zustand seines Körpers beurteilt werden, zumal dieser nicht
von Natur aus so grausam entstellt sei, sondern sein Aussehen von
Feindeshand erhalten habe (vgl. Alex. VI, 266–267). Damit macht
sich Theteus die Argumentation des Richterspruchs aus Capellanus’
De amore zu eigen, der deutlich macht, dass eine Verunstaltung der
Körperglieder durch Feindeshand doch ein Zeichen von Tapferkeit
darstelle, die ihrerseits normalerweise Frauenliebe zu erregen pflege.
Demzufolge könne ihr missgestaltetes Aussehen kein Grund für eine
Zurückweisung durch die Ehefrauen sein (vgl. Capell., De amore
II, 36: Hominum enim audacia maxime mulierum concitare consue­
vit amorem et eas in amandi proposito diutius enutrire. Quare igitur
membrorum deformitas, quae naturaliter ex audacia ipsa inevitabili
procedit eventu, amoris damno afficere debet amantem?). ⇔ Die Ge-
genrede des Theteus findet unter den Kriegsgefangenen jedoch keine
Zustimmung. Die meisten seiner missgestalteten Gefährten ziehen es
dem Vorschlag des Euctemon folgend vor, in der Fremde Asiens zu
bleiben und dort den Rest ihres Lebens zu verbringen. Demzufolge
verteilt Alexander freigiebig Land und Geld an seine bedauernswer-
ten Landsleute.

Darius zwischen Alexander und den Verschwörern


Bessus und Narbazanes (297–552)

Alexander nimmt die Verfolgung des Darius wieder auf (297–310)

297–310 Hiis ubi consulte providit Martius heros … pugnandoque


mori decrevit honestius esse | quam victam tociens fatis extendere vi­
tam: Alexander nimmt die Verfolgung des Darius wieder auf, um
854 KOmmentar

den endgültigen Sieg über das Perserreich zu erlangen. ⇔ Der an


dieser Stelle bemühte Vergleich Alexanders mit einem Panther geht
ebenso wie die bereits erfolgte Identifizierung mit einem Ziegen-
bock auf die biblische Danielprophetie zurück, mit dem Walter den
Leser erneut auf den heilsgeschichtlich legitimierten Auftrag Ale-
xanders – die Eroberung des Perserreichs – hinweist (vgl. Alex. V,
6–10; vgl. dazu auch Alex. VII, 359–360: pardis velocius agmen | ad
Tanaim transfert). ⇔ Mit den Worten precipiti cursu thematisiert
Walter als Teilaspekt der Tugend der Tapferkeit erneut auch die au-
ßergewöhnliche Schnelligkeit Alexanders, mit der er den persischen
König verfolgt (vgl. Alex. VI, 299; zur Schnelligkeit vgl. auch Komm.
VI, 63–80, zur Schnelligkeit als Teilbereich der Tugend der Tapfer­
keit vgl. Komm. I, 116–117). ⇔ Als Darius erfährt, dass Alexander
sich bereits in unmittelbarer Nähe aufhält, ändert er seine ursprüng-
lichen Pläne, sich möglichst weit in das Land der Meder zurück-
zuziehen und beschließt, die Entscheidung im offenen Kampf zu
suchen. Dies kann als weiterer Beleg für den bereits mehrfach fest-
gestellten Sachverhalt gewertet werden, dass dem persischen König
vom Autor der Alexandreis jenseits einer vergleichenden Charakte-
risierung mit Alexander bestimmte Tugenden nicht grundsätzlich
abgesprochen werden (vgl. Komm. V, 319–345). ⇔ Erneut ist auch
eine ausgeprägte Schicksalsergebenheit des Darius zu erkennen, der
seine bisherigen Niederlagen weniger seinem persönlichen Versagen
zurechnet, sondern vielmehr ursächlich mit dem für die persische
Seite nachteiligen Wirken des Schicksals in Verbindung bringt (zu
Darius’ Schicksalsergebenheit vgl. Alex. IV, 58–67; zum Götterappa-
rat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5).

Darius’ Rede an seine Soldaten (311–369)

311–369 Unde viae comites paulo consistere iussos | intuitus … ut te


contingat Olimpo  | teste vel egregia vinci vel vincere pugna: Darius
Kommentar zu Buch VI 855

teilt seinen Soldaten mit, dass er die endgültige Entscheidung im


Kampf gegen Alexander auf dem Schlachtfeld suchen möchte,
auch wenn sie alle dabei den Tod finden sollten. Der persische Kö-
nig begründet seinen Entschluss mit der tieferen Einsicht, dass sie
aufgrund ihres tugendhaften Verhaltens auch im Falle eines militä-
rischen Scheiterns mit ewigen Ruhm rechnen könnten. Darius hat
anders als im direkten Anschluss an die Schlacht von Gaugamela,
wo er noch überzeugt war, das Blatt wenden zu können, inzwischen
eingesehen, dass ihm die Götter die Unterstützung für seinen nach
eigenen Maßstäben gerechten Krieg entzogen haben und den Per-
sern letztlich nur noch die Hoffnung auf ein möglichst ehrenvolles
Ende – stilistisch durch ein Polyptoton und eine damit einherge-
hende Alliteration hervorgehoben – bleibt (vgl. Alex. VI, 361–363:
saltim | finis honestus erit, fortesque licebit honesto | mortis more mori;
vgl. auch Komm. V, 376–421). ⇔ Walter zieht an dieser Stelle zum
wiederholten Mal das in der Alexandreis immer wieder bemüh-
te Ruhmesmotiv heran, das nicht nur einen wichtigen Leitfaden
im Handeln seines wichtigsten Protagonisten Alexander darstellt,
sondern auch für seinen persischen Widersacher Darius uneinge-
schränkte Gültigkeit besitzt (vgl. Zwierlein 2004, 676; vgl. auch
Komm. IV, 350–373; zu Walters Verständnis wahren Ruhms vgl. die
Einführung zu Buch IV; vgl. auch Einleitung 7.4).

Die Reaktion der persischen Soldaten (370–383)

370–383 Hactenus Arsamides, sed non excepit eodem | verba cohors


animo … comitum titubantia firmat | pectora et invito parat ire per
equora vento: Ungeachtet der eindringlichen Rede des Darius sind
die persischen Soldaten von den Worten ihres Anführers nicht über-
zeugt. Erst als dem persischen König Artabazus in einem Freund-
schaftsdienst zur Seite springt und ihm im Namen aller Soldaten
ihre Unterstützung zusichert, spenden sie ihrem Anführer den an-
856 KOmmentar

gemessenen Beifall. ⇔ Walter unterstreicht die Sinnlosigkeit und


die Hoffnungslosigkeit des persischen Unterfangens mit einem Ver-
gleich aus dem Bereich der Seefahrt, bei welcher der Steuermann sei-
ne Matrosen aufzumuntern versucht, obwohl das Heck des Schiffs
bereits zerstört und der Schiffbruch nur noch eine Frage der Zeit
ist. Es ist nicht auszuschließen, dass Walter bei Vergleichen, die mit
den Gefahren des Meeres in Zusammenhang stehen, aus dem Er-
fahrungsschatz seiner Überfahrten nach England geschöpft hat (vgl.
Komm. IV, 301–327; vgl. auch Christensen 1905, 81).

Die Intrige des Bessus und des Narbazanes (384–424)

384–424 At Bessus facinus iam premeditatus acerbum | Narbaza­


nesque suus … ad presens committe tui moderamina regni  | ut tibi
restituat accepto tempore sceptrum: Walter entlarvt gleich zu Beginn
des Abschnitts das eigentliche Vorhaben der beiden Verschwörer
Bessus und Narbazanes, die ihren König entweder lebend festsetzen
wollen, um ihn im Falle einer Niederlage gegen Alexander als Pfand
in der Hinterhand zu behalten, oder danach trachten, ihn zu ermor-
den, sollte ihnen die Flucht vor Alexander gelingen, um dann mit
einer erneuerten Streitmacht gegen den makedonischen König zu
Felde zu ziehen. Narbazanes tritt vor Darius und führt ihm mit we-
nig schmeichelhaften Worten – er vergleicht den persischen König
dabei als unnötigen und schädlichen Ballast, den man als Seemann
auf einem sinkenden Schiff unbedingt abwerfen müsse – vor Au-
gen, dass er einem widrigen Schicksal folgend einen Krieg ohne die
Unterstützung der Götter führe und demzufolge abdanken müsse
und die Herrschaft auf Bessus übertragen solle. Um dem respekt-
losen Ansinnen ein wenig die Schärfe zu nehmen, stellt er Darius
auf heuchlerische Art und Weise in Aussicht, nach dem Sieg über
Alexander die Herrschaft über das Perserreich wieder übernehmen
zu dürfen. Narbazanes stellt in seiner anmaßenden Rede sogar die
Kommentar zu Buch VI 857

Tugendhaftigkeit seines Königs in Frage, indem er dessen Schick-


salsergebenheit als Unfähigkeit desavouiert, alle zur Verfügung ste-
henden Möglichkeiten – gemeint ist dabei natürlich insbesondere
Darius’ Ablösung als Feldherr und König – auszuloten, um doch
noch siegreich aus dem Krieg gegen Alexander hervorzugehen.

Darius’ Reaktion auf die Intrige (425–434)

425–434 Hec ubi dicta, animo vix temperat ille benignus | et paciens
rector … eumque | haut mora vinciret, nudum nisi conderet ensem:
Der von Walter mit benignus et paciens rector überaus positiv dar-
gestellte persische König ist zu Recht aufgebracht und beschimpft
seinen Unterfeldherrn Bessus als grausamen Sklaven, der in einer an-
gespannten Situation wie nach der Niederlage in Gaugamela glaubt,
den geeigneten Moment gefunden zu haben, seinen König zu tö-
ten und sich selbst zum Herrscher über das persische Reich aufzu-
schwingen (vgl. Alex. VI, 425–429). Walter hebt dabei mit Darius’
eigenen Worten dessen schwerwiegenden Fehler hervor, eine sklave-
nhafte Natur wie Bessus mit einer bedeutenden Führungsposition
betraut zu haben, obwohl dieser dafür nicht die charakterlichen
Voraussetzungen mitbringt. Sehen solche depravierten Charakte-
re gemäß Walter nämlich die Möglichkeit, ihre eigenen Interessen
rücksichtslos durchzusetzen, verhalten sie sich – wie Aristoteles in
seiner Rede einst dem noch jugendlichen Alexander ans Herz gelegt
hatte – grimmiger als eine taube Natter (vgl. Alex. I, 90: in domi­
num surgens, truculentior aspide surda; vgl. auch Komm. I, 85–91).
⇔ Insofern zeigt sich in dieser Situation erneut der Programmcha-
rakter der Aristoteles-Rede nicht nur für den makedonischen König
selbst, sondern letztlich für alle anderen innerhalb der Alexandreis
handelnden Personen (zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen
Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4).
858 KOmmentar

Der Rat des Artabazus an Darius (435–442)

435–442 Tunc vero a reliquis metari castra seorsum | precepere suis,


at regi Artabazus irae | consulit ut parcat … Blando retinendus amore
est | miles ne sanos turbet discordia sensus | neve a rege suos alienent
Bactra quirites: Die Situation beruhigt sich vorerst dadurch, dass
Bessus und Narbazanes ihr Lager in einiger Entfernung von Da-
rius aufschlagen und damit die direkte Konfrontation erst einmal
vermeiden. Als Freund gibt Artabazus dem persischen König den
Rat, seinen Zorn über den Verrat der beiden Verschwörer zu zügeln
und in dieser bedrohlichen Situation – Alexander ist bereits im An-
marsch – sein Augenmerk auf die ihm verbliebenen Soldaten zu
richten, die für den anstehenden Kampf unbedingt seiner mensch-
lichen Zuwendung bedürfen. ⇔ Damit übernimmt Artabazus für
Darius beinahe die Rolle des Aristoteles bei Alexander, der seinem
jugendlichen Schüler einst auch aufgetragen hatte, den eigenen Sol-
daten mit Warmherzigkeit zu begegnen – angesprochen ist in dieser
Situation insbesondere die Tugend der angemessenen Zuwendung
–, um einer möglicherweise sich entwickelnden oder bereits vor-
handenen Entfremdung zwischen dem König und seinen Soldaten
entgegenzuwirken sowie einer situativ bedingten Unzufriedenheit
im Heer möglichst früh Einhalt zu gebieten (vgl. Komm. I, 152–154;
zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs φιλíα bzw. des
lateinischen Begriffs amicicia mit angemessener Zuwendung vgl. die
Einführung zu Buch I). ⇔ Erneut zeigt sich damit der im Kom-
mentarpunkt zuvor bereits angesprochene Programmcharakter der
Aristoteles-Rede für alle innerhalb der Alexandreis handelnden Per-
sonen (zu dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcha-
rakter der Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4).
Kommentar zu Buch VI 859

Darius’ verzweifelte Lage (443–450)

443–450 Paruit Arsamides, superosque et fata secutus | castra locat


… pervigiles librans in pectore curas: Im ersten Punkt folgt Darius
dem Rat seines Freundes und Beraters Artabazus und geht nicht so-
gleich gegen die Verschwörer vor. Aber es gelingt ihm nicht – wie
Artabazus ihm aufgetragen hatte –, die Stimmung im Lager zu sei-
nen Gunsten zu wenden, da er grübelnd die Handlungsalternativen
erwägt, ohne daraus eine von der Vernunft getragene Entscheidung
für sein zukünftiges Handeln abzuleiten. Er verletzt damit die aus
der Aristoteles-Rede hervorgehende und von Artabazus noch ein-
mal deutlich zum Ausdruck gebrachte Anweisung, seinen Soldaten
mit Warmherzigkeit zu begegnen. Walter beschreibt die durchaus
noch beeinflussbare Stimmung im Lager als schwankend und stellt
konstatierend fest, dass die Perser durch das zögerliche Verhalten
des Darius eigentlich keinen richtigen Anführer mehr besitzen (vgl.
Alex. VI, 446–447: In castris igitur, que iam rectore carebant, | motus
erat varius animorum).

Der listige Plan der Verschwörer (451–467)

451–467 At duo, conceptum iam mente cupidine regni | tractantes fa­


cinus, agitabant pectore regem | non nisi cum magno comprendi posse
labore … Ergo dolis operam dare et excusare furorem | decrevere suum,
simulanti voce reverti | ut decet, et tanti se penituisse reatus | ficturos,
extrema pati pro rege paratos: Walter klärt an dieser Stelle auf, warum
die Verschwörer nicht schon längst ihren König Darius in Fesseln
gelegt oder sogar umgebracht haben. Er begründet das zögerliche
Vorgehen der Verschwörer damit, dass auch in einem barbarischen
Volk wie den Persern das Vertrauen in den König nur schwer zu er-
schüttern sei und für die Verschwörer die Gefahr bestehe, bei einer
öffentlichen Festsetzung des Darius den Widerstand der königstreu-
860 KOmmentar

en Truppen auf den Plan zu rufen. Aus diesem Grund beschließen


die Verschwörer entsprechend ihrem sklavenhaften Charakter eine
List anzuwenden und den König mit falschen Entschuldigungen
für ihr frevelhaftes Verhalten gnädig zu stimmen. Als Gipfel ihrer
grenzenlosen Heuchelei versichern sie ihm, auch weiterhin bis zum
Äußersten an seiner Seite kämpfen zu wollen. ⇔ Damit zeigt Walter
erneut, wie falsch es von Darius gewesen war, derartig depravierte
Charaktere mit Führungspositionen zu betrauen, die bei der ersten
Gelegenheit oder der ersten Schwäche ihres Anführers eigene Pläne
schmieden und ihrem König die Treue aufkündigen (vgl. Komm.
VI, 425–434).

Die Durchführung der List (468–489)

468–489 Crastinus amissum noctis caligine mundum  | reddide­


rat Tytan, et signum castra movendi | iam dederat Darius … laxis
properabat habenis  | maturare fugam finesque subire repostos: Am
nächsten Morgen gibt Darius das Zeichen zum Aufbruch. Auch
die beiden Verschwörer finden sich ein und heucheln samt der ih-
nen ergebenen Schar unter Tränen ihre Ergebenheit gegenüber
dem König. Walter lässt keinen Zweifel an der Unredlichkeit der
Verschwörer aufkommen, indem er zum wiederholten Mal ihren
sklavenhaften Charakter hervorhebt und dem Leser unmissver-
ständlich zu verstehen gibt, dass sie nach wie vor nichts anderes als
den Sturz ihres Königs im Sinn haben. Bessus und Narbazanes sind
noch nicht einmal in der Lage, die Güte ihres Königs zu erkennen,
als er ihnen seine Gnade gewährt und sie wieder im persischen Heer
aufnimmt. Auch wenn Walter mit wenigen Hinweisen Darius’
trauriges Schicksal bereits vorwegnimmt, lässt er das Vorgehen des
persischen Königs, den makedonischen Scharen durch einen weite-
ren Rückzug in das medische Kernland zu entkommen, ungeachtet
der damit einhergehenden Missachtung des Schicksals durchaus in
Kommentar zu Buch VI 861

einem positiven Licht erscheinen (vgl. Alex. VI, 475–480: Sceptrum


preradians et adhuc insignia regni | gestabat Darius curruque mica­
bat ab alto … et sustinuit venerari | tunc patricida ducem, quem post
in vincula servus | detrusurus erat).

Das wohlmeinende Angebot des Griechen Patron (490–510)

490–510 At Patron, Greci dux agminis, integer evo | et stabilis fidei


… Si quis tamen hec quoque si quis | carmina nostra legat, numquam
Patrona tacebit | Gallica posteritas. Vivet cum vate superstes | gloria
Patronis nullum moritura per evum: Im Gegensatz zu Bessus und
Narbazanes möchte ausgerechnet der griechische Söldner Patron,
der den persischen König in einem günstigen Moment von den wei-
terhin virulenten Plänen der Verschwörer in Kenntnis setzt, seinem
Oberbefehlshaber aufrichtig helfen, indem er diesem anbietet, mit
seinem Kontingent griechischer Soldaten als dessen Leibwache zu
dienen. ⇔ Walter nutzt die Gelegenheit, um Patrons charakterlich
einwandfreie Haltung und überaus beeindruckende Tugendhaf-
tigkeit positiv herauszustellen und in einem daran unmittelbar an-
schließenden Autorkommentar zugleich seine eigene Dichtung in
den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken. Damit macht Walter
über die Kernstellen seiner poetologischen Doppeldoktrin hinaus
noch einmal deutlich, dass zwischen dem Erfolg und dem Bekannt-
heitsgrad eines Dichters und dem Ruhm einer gepriesenen Person
– an der vorliegenden Stelle als Genitiv Singular auf den Griechen
Patron bezogen und als Eigenname deshalb auch groß geschrieben
– ein enger Zusammenhang besteht (zu den beiden Kernstellen
der poetologischen Doktrin Walters vgl. Komm. I, 468–492 und
Komm. V, 491–520; vgl. dazu auch Wulfram 2000, 238–239; vgl.
auch Einleitung 6; zur Abhängigkeit des Ruhms vom erfolgreichen
Wirken des Dichters jenseits der Kernstellen der Doppeldoktrin
Walters vgl. Komm. VII, 344–348 bzw. Komm. X, 461–469). Doch
862 KOmmentar

dem Autor der Alexandreis gelingt es, mit den Worten gloria Patro­
nis zugleich auch einen Bezug zu seinem Gönner und Widmungs-
nehmer Wilhelm herzustellen. Indem das Wort Patronis innerhalb
des Hexameters in seiner letzten Silbe nämlich eine Positionslänge
aufweist – die Genitivendung -is- von Patronis im Singular des kon-
sonantisch deklinierten Namens Patron besteht für sich genommen
aus einer Kürze, weist Walter damit überaus sprachgewandt auf den
Dativ Plural des innerhalb der o-Deklination flektierten Substantivs
patronus hin. Demzufolge bezeichnet er mit gloria Patronis eben
nicht nur den ewigen Ruhm des Griechen Patron, sondern über-
trägt mit diesem sprachlichen Kunstgriff den Ruhm auch allgemein
auf alle Patrone und damit zugleich auch auf Wilhelm. ⇔ Die Wen-
dung Vivet cum vate superstes | gloria Patronis nullum moritura per
evum benutzt Walter in leicht abgewandelter Form ansonsten nur
noch zweimal in der Alexandreis (vgl. Alex. VII, 344–346: Te tamen,
o Dari, si que modo scribimus olim | sunt habitura fidem, Pompeio
Francia iuste | laudibus equabit; vgl. auch Alex. X, 468–469: vivet
cum vate superstes | gloria Guillermi nullum moritura per evum).

Darius lehnt das Angebot des Griechen Patron ab (511–524)

511–524 Iam reor eterno causarum secula nexu | non temere volvi … Si
salvum iam me esse mei, si vivere nolint, | iam sero pereo, iam mortem
ultroneus opto: Walter macht in Fortsetzung seines oben begonne-
nen Autorkommentars aus christlicher Sicht deutlich, dass das Wir-
ken Gottes die oberste Instanz für alle Geschehnisse auf Erden ist
und setzt diese für einen mittelalterlichen Autor nicht überraschen-
de Einsicht in Beziehung zu Darius, der länger hätte leben können,
wenn er auf Patrons Vorschlag eingegangen wäre. Damit stellt Wal-
ter implizit eine Verbindung zwischen der gerade geschilderten Si-
tuation und der Danielprophetie her, die bekanntlich die Ablösung
des Perserreichs durch Alexander vorsieht (vgl. Komm. VI, 1–15).
Kommentar zu Buch VI 863

⇔ Der persische König erläutert seinem treuen Söldner Patron die


Gründe für sein ablehnendes Verhalten und macht deutlich, dass er
nicht als Verräter seines eigenen Volkes gelten möchte, sondern es
gegebenenfalls vorzieht, zusammen mit diesem unterzugehen. Auch
an dieser Stelle schildert Walter den persischen König als moralisch
einwandfrei handelnden Mann, dem die moralische Integrität wich-
tiger ist als das eigene Überleben (vgl. Komm. VI, 279–310).

Der Verschwörer Bessus verunglimpft Patron (525–547)

525–547 Attonitus Patron et desperare coactus | consilio regis ad Greca


revertitur amens | agmina … Vir sine pignoribus lare coniuge pauper
et exul | emptorum preciis ut circumfertur harundo: Ungeachtet der
Ablehnung will Patron ohne Rücksicht auf das eigene Leben den
persischen König beschützen. Bessus lässt es sich nicht nehmen,
den Griechen vor Darius schlecht zu machen und ihn als gierigen
Söldner darzustellen, dem es nur um den eigenen finanziellen Vor-
teil gehe. Noch immer heuchelt Bessus gegenüber seinem König
Dank und Ehrfurcht und hält es in der irrigen Annahme, Alexan-
der könnte für derartige Ränkespiele empfänglich sein, für besser,
seinen König nicht gleich zu töten, sondern ihn als Pfand für den
makedonischen König aufzusparen. Im Grunde genommen wirft
Bessus dem tugendhaften Patron dabei genau das vor, was er sich in
seiner Verderbtheit selbst zum Ziel gesetzt hat.

Darius’ Schicksalsergebenheit (548–552)

548–552 Annuit Arsamides, certus tamen omnia vera  | deferri a


Grais … non parere suis et eis se credere nolle | quam falli et gladiis
caput obiectare suorum: Auch wenn Darius seinem Söldner Patron
Glauben schenkt und seinen eigenen Leuten misstraut, sieht er sich
864 KOmmentar

nicht in der Lage, die verfahrene Situation zu lösen und ergibt sich
seinem Schicksal, indem er den offenen Konflikt mit den Verschwö-
rern vermeidet (zur Schicksalsergebenheit des Darius vgl. Komm.
VI, 297–310). ⇔ Auch wenn der Untergang des persischen Königs
innerhalb der christlichen Heilsgeschichte unvermeidbar ist, stellt
Walter dessen Scheitern damit zum wiederholten Mal auch in den
Kontext der aristotelischen Tugendlehre, nach der dessen Unfähig-
keit zu zürnen ein zu vermeidendes Laster darstellt und für einen
König in einer derartig schwierigen Situation nicht ohne Folgen
bleiben kann (zur deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs
πρᾳότης bzw. des lateinischen Begriffs humilitas mit angemessener
Zürnkraft vgl. die Einführung zu Buch I; zur Tugend der angemes­
senen Zürnkraft in Bezug auf Darius vgl. Komm. III, 189–202; vgl.
auch Komm. I, 115).
Einführung zu Buch VII
Nachdem Darius am Ende des sechsten Buchs das Angebot des grie-
chischen Söldners Patron abgelehnt hat, ihm gegen die Verräter in
den eigenen Reihen beizustehen, geht Walter mit Beginn von Buch
VII auf den Fortgang der Verschwörung ein, die in der Festnahme
und der Verschleppung des persischen Königs ihren vorläufigen Hö-
hepunkt findet (vgl. Komm. VII, 1–90). Innerhalb dieser längeren
Passage zeigt Walter auf, dass das Scheitern des persischen Königs
zwar durch das Schicksal vorgezeichnet ist, dieser jedoch auch selbst
zum eigenen Unglück beiträgt, da er in Missachtung der aristoteli-
schen Tugend des angemessenen Stolzes einer fatalen Fehleinschät-
zung der eigenen Person unterliegt, wenn er der Ansicht ist, ohne
eigene Schuld zwischen den Feinden in den eigenen Reihen und der
äußeren Bedrohung durch die Griechen zerrieben zu werden und
er aufgrund seiner gerechten Herrschaft doch ein längeres Leben
verdient habe (vgl. Komm. VII, 17–58; zum Götterapparat und der
Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5; zur deut-
schen Übersetzung des griechischen Begriffs μεγαλοψυχία bzw. des
lateinischen Begriffs magnanimitas mit angemessener Stolz vgl. die
Einführung zu Buch I). Auch hier zeigt sich erneut der Programm-
charakter der Aristoteles-Rede für die Protagonisten des Epos, die
nur erfolgreich sein können, wenn sie den in der Aristoteles-Rede
zum Ausdruck gebrachten moralischen Handlungsaufforderungen
nachkommen, sie jedoch auch zum Scheitern verurteilt sind, wenn
sie diese nicht erfüllen können (zu dem für die gesamte Alexandreis
gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede vgl. auch Einlei-
tung 7.4; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw. zum mo-
ralischen Sinn des Epos vgl. auch Einleitung 7.4).
Im Unterschied zu Darius wird Alexander auch im vorliegenden
Buch aufgrund seiner Charakterfestigkeit im Hinblick auf eben diese
866 KOmmentar

aristotelischen Tugenden vom Autor der Alexandreis ausschließlich


positiv dargestellt. Bei der Verfolgung des persischen Königs etwa
arbeitet Walter die Schnelligkeit ebenso wie die Handlungsschnellig­
keit seines wichtigsten Protagonisten heraus, der nichts unversucht
lässt, die Verschwörer einzuholen und Darius gefangenzunehmen,
und zudem ausgesprochen flexibel auf unerwartete Veränderungen
der äußeren Umstände zu reagieren weiß (zur Schnelligkeit sowie zur
Handlungsschnelligkeit als Teilbereiche der Tugend der Tapferkeit
vgl. Komm. I, 116–117 bzw. Komm. I, 136–143). Auch erweist sich
Alexander nach der Bestattung des persischen Königs bei der Vertei-
lung von Geldern seinen Soldaten gegenüber als äußerst großzügig
(vgl. Komm. VII, 431–435). Damit erfüllt der makedonische König
neben der Tugend der Tapferkeit auch die Handlungsanweisungen
der Aristoteles-Rede in Bezug auf die Tugend der angemessenen
Gebefreudigkeit (vgl. Komm. I, 144–151 bzw. Komm. I, 165–163; zur
deutschen Übersetzung des griechischen Begriffs ἐλευθεριότης bzw.
des lateinischen Begriffs liberalitas mit angemessener Gebefreudig­
keit vgl. die Einführung zu Buch I). Ebenso gibt Alexander in der
Ansprache an seine Soldaten ein beeindruckendes Beispiel seiner
Überzeugungskraft, als es ihm gelingt, seine Männer mit stichhal-
tigen Argumenten von der ersehnten Rückkehr in die griechische
Heimat abzuhalten (vgl. Komm. VII, 467–538; zur Überzeugungs­
kraft als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit vgl. 118–127).
Losgelöst von einer vergleichenden Charakterisierung mit Ale-
xander verfolgt Walter jedoch auch im vorliegenden Buch die er-
kennbare Absicht, den persischen König gemessen an den Vorgaben
der Aristoteles-Rede nicht als einen grundsätzlich untauglichen
Feldherrn und König darzustellen. Dieses Bestreben lässt sich un-
schwer an dem unmittelbar an die Schilderung von Darius’ Tod ein-
gefügten Moralexkurs erkennen, in welchem Walter den persischen
Verschwörer Bessus als exemplum eines rücksichtslosen und fehl-
geleiteten Menschen dem persischen König kontrastierend gegen-
überstellt und diesem als Dichter und Autor der Alexandreis sogar
Einführung zu Buch VII 867

ewigen Ruhm in Aussicht stellt (vgl. Alex. VII, 341–347). Besonders


bemerkenswert ist dieser Umstand auch insofern, als Walter sich da-
für einer Formulierung bedient, die er ansonsten in der gesamten
Alexandreis leicht abgewandelt nur noch zur Würdigung des grie-
chischen Söldners Patron und zur Lobpreisung seines Gönners Wil-
helm von Blois benutzt (vgl. Alex. VI, 507–510; vgl. auch Alex. X,
466–469). Auch in der darauf folgenden als Apostrophe an Darius
gestalteten Passage ist dieser Vorsatz des mittelalterlichen Dichters
unübersehbar, in welcher der lucanische Pompeius und der persi-
sche König mit Hilfe einer meisterhaft arrangierten Kontrastimita-
tion eine moralische Aufwertung gegenüber dem lucanischen Cae-
sar und dem Perser Bessus erfahren (vgl. Komm. VII, 344–347; zum
produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit
vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch
Komm. prol., 1–13).
Über diese bemerkenswerte Würdigung des persischen Königs
hinaus greift der Moralexkurs auf der zeitgenössischen Ebene zu-
dem die katastrophalen Zustände in Kirche und Gesellschaft des 12.
Jahrhunderts auf, die von Walter einer heftigen Kritik unterzogen
werden (vgl. Alex. VII, 306–340; zu Walters zeitgenössischer Kritik
vgl. Einleitung 8).
Nach Alexanders Totenklage folgt eine ausführliche Ekphra-
sis des Darius-Grabmals, die dem aufmerksamen Leser vor Augen
führt, dass der makedonische König seine von der christlichen
Heilsgeschichte vorgesehene Aufgabe zu diesem Zeitpunkt im We-
sentlichen erfüllt hat (vgl. Komm. 379–430; zur allegorischen Ebene
der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl.
Einleitung 7.2).
Nachdem im griechischen Lager während eines ausgelassenen
Gelages das Gerücht aufgekommen war, Alexander beabsichtige
nach dem Sieg über den persischen König, in die Heimat zurück-
zukehren, beklagt sich dieser in einer Ansprache an seine Generäle
darüber, durch die Pläne seiner Soldaten von der Herrschaft über
868 KOmmentar

die ganze Welt ausgeschlossen zu werden (vgl. Komm. VII, 435–466;


zur Stellung dieser Textstelle innerhalb der Struktur des Perserkriegs
vgl. Einleitung 7.2).
Buch VII endet mit Alexanders mitreißender Ansprache an die
einfachen Soldaten, in der er anders als zuvor vor den Generälen
nicht seine weitreichenden Welteroberungspläne thematisiert, son-
dern lediglich auf die Absicherung des bisher Erreichten dringt, das
durch eine überstürzte Rückkehr in die griechische Heimat gefähr-
det wäre (vgl. Komm. VII, 467–538).
Kommentar zu Buch VII
Themenübersicht (1–10)

C 1–2 Septimus in dominum servos liber armat et eius | iusticiam os­


tendit tandemque in vincula trudit: Zu Beginn von Buch VII schil-
dert Walter die Intrige der Verschwörer Bessus und Narbazanes, die
ihren König ungeachtet seines gerechten Verhaltens in Fesseln legen
lassen (vgl. Komm. VII, 59–90).

C 3–4 Interea Darium vestigans Magnus abactos | confecit sceleris


confuso Marte ministros: Auf der Suche nach Darius gelingt es Ale-
xander, die Truppen der Verschwörer zu besiegen, ohne allerdings
des persischen Königs und der beiden Anführer der Verschwörung
habhaft zu werden (vgl. Komm. VII, 91–239) .

C 5–7 Tunc demum Darius iaculis confossus in ipsa | morte Polis­


trato, vivos dum quereret amnes,  | extremas voces et verba novissi­
ma mandat: Der griechische Soldat Polystratus findet zufällig den
schwer verletzten Darius, der in der Stunde seines Todes dem ma-
kedonischen König über den griechischen Mittelsmann eine letzte
Botschaft zukommen lässt (vgl. Komm. VII, 240–305).

C 8–9 Inventum Macedo corpus rigat ubere fletu  | ac sepelit: Als


Alexander den persischen König findet, ist dieser bereits seinen Ver-
letzungen erlegen. Unter Tränen bestattet der makedonische König
seinen einstigen Widersacher und beauftragt Apelles, für diesen ein
prächtiges Grabmal zu errichten (vgl. Komm. VII, 348–378; vgl.
auch Komm. VII, 379–430).

C 9–10 Rursus vulgi procerumque tumultus  | comprimit et rapido


870 KOmmentar

cursu bachatur in hostem: Veranlasst durch ein im griechischen La-


ger umlaufendes Gerücht über die vorzeitige Rückkehr in die Hei-
mat treffen die griechischen Soldaten Vorbereitungen für den Auf-
bruch nach Griechenland. Alexander bereitet dem Treiben ein jähes
Ende, indem er zuerst seine Generäle und dann auch die versammel-
ten Soldaten in einer mitreißenden Ansprache von ihrem Vorhaben
abbringt (vgl. Komm. VII, 431–548).

Die Verschwörung gegen Darius (1–90)

Kosmische Zeichen künden von Darius’ Ende (1–16)

1–16 Restitit Hesperio merensque in littore Phebus | defixis herebat


equis … Sed debile semper et exspes | consilium miseri vitamque tra­
hentis in arto: Am Vorabend der von Bessus und Narbazanes schon
eine Zeit lang geplanten Verschwörung gegen Darius verlangsamt
der vom frevelhaften Treiben im persischen Lager angewiderte Son-
nengott Phoebus für eine Weile seinen von der kosmischen Ord-
nung vorgesehenen Lauf und weigert sich einstweilig, mit seinem
Gespann am westlichen Gestade in den Fluten des Meeres zu ver-
sinken. Auch die Mondgöttin Diana sträubt sich zunächst eine ge-
wisse Zeit, am Abendhimmel zu erscheinen, um nicht Zeugin eines
derartig grausamen Verbrechens werden zu müssen. ⇔ Anders als
noch vor der Schlacht bei Gaugamela jedoch – auch dort wurden
kosmische Ereignisse mit dem Fortgang des epischen Geschehens
verknüpft – verbindet Walter an der vorliegenden Stelle diese be-
sondere Art der epischen Stilisierung zusätzlich mit der stoischen
Konzeption des Fatums, dem sich aufgrund der darin enthaltenen
Vorstellung von der Vorbestimmtheit allen Geschehens auch beide
Gottheiten nicht entziehen können. Dem ewigen Gesetz und der
heiligen kosmischen Liebe folgend gehen sie deshalb nach einem
kurzen Moment des Ungehorsams und der damit entstandenen kos-
Kommentar zu Buch VII 871

mischen Unordnung dann doch wieder ihrer eigentlichen Aufgabe


nach (vgl. Alex. VII, 6–7: Sed lex eterno que colligit omnia nodo | et
sacer orbis amor, quo cuncta reguntur utrumque | corripuit iussitque
vices explere statutas; vgl. auch Komm. IV, 301–327). Walters Bezug-
nahme auf stoisches Gedankengut ist dabei durch die Pharsalia
Lucans vorgeprägt, der in einer Verbrüderungsszene zwischen den
Soldaten der beiden Bürgerkriegsparteien in einer Apostrophe an
die Göttin Concordia ebenso die heilige kosmische Liebe als Bild
für die unabwendbare kosmische Ordnung bemüht (vgl. Luc.,
Phars. IV, 189–191: Nunc ades, aeterno complectens omnia nexu, | o
rerum mixtique salus, Concordia, mundi | et sacer orbis amor). Zu-
dem nimmt Walter mit dem widerstrebenden Verhalten der beiden
als Gottheiten personifizierten Himmelskörper am Vorabend der
Verschwörung mit Hilfe einer geschickt inszenierten Kontrastimita-
tion Lucans Schilderung des Sonnenaufgangs am Tag der Schlacht
bei Pharsalus auf, der dem ewigen kosmischen Gesetz folgend auch
dort nach einigem Zögern letzten Endes doch erfolgen muss (vgl.
Luc., Phars. VII, 1–3: Segnior, Oceano quam lex aeterna vocabat, |
luctificos Titan numquam magis aethera contra | egit equos currum­
que polo rapiente retorsit, vgl. auch Zwierlein 2004, 661; zum pro-
duktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit
vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch
Komm. prol., 1–13). ⇔ Walter lässt mit dieser epischen Stilisierung
und der darin verwirklichten Einbindung stoischer Vorstellungen
über den Kosmos und die dieser kosmischen Ordnung immanenten
Unabwendbarkeit des Schicksals – im Griechischen als εἱμαρμένη
bekannt – keinen Zweifel darüber aufkommen, dass das Ende des
Darius und des von ihm beherrschten Perserreichs nicht mehr auf-
zuhalten ist (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der
Alexandreis vgl. Einleitung 5).
872 KOmmentar

Darius im Selbstgespräch (17–58)

17–58 Et tamen hec secum: «Quos me, pater impie divum, | distrahis
in casus? … Numquid adhuc sanguis, numquid michi dextera, num­
quid | ensis ut hanc dubitem fatis absolvere vitam?: Der persische Kö-
nig beginnt seinen inneren Monolog mit der vorwurfsvollen Frage
an den Göttervater, für welches Vergehen oder Verbrechen ihn das
Schicksal eigentlich zu vernichten gedenke. Von inneren Feinden
umringt werde er von Verrätern mit dem Tod bedroht, ohne dass
er sich irgendeiner Schuld bewusst sei. In der Folge stellt Darius
sein gerechtes Vorgehen gegenüber seinen Untergebenen und den
besiegten Völkern heraus, für das er in seinen Augen ein längeres
Leben verdient habe. Abschließend kommt er voller Resignation
auf das Schicksal zu sprechen, das ihm in seiner Unabänderlichkeit
nur noch die Möglichkeit gebe, den Tod mit eigener Hand herbei-
zuführen. ⇔ Es fällt auf, dass der persische König in seinen Aus-
führungen gleich zwei Missverständnissen aufsitzt. Zum einen hat
– zieht man die Anweisungen der Aristoteles-Rede zu Rate – ein
moralisch einwandfreies Verhalten nicht notwendigerweise Auswir-
kungen auf die Dauer der irdischen Existenz, sondern zieht ledig-
lich ewigen Ruhm nach sich (vgl. Alex. I, 182–183: Si sic  | vixeris,
eternum extendes in secula nomen; vgl. auch Komm. I, 182–183).
Zum anderen schätzt er seine eigene moralische Integrität falsch ein,
wenn er zwar zu Recht seine Verdienste im Bereich der Tugend der
Gerechtigkeit hervorhebt, kein einziges Wort jedoch über sein im-
mer wieder wenig tugendhaftes Verhalten hinsichtlich der als zen­
trale Feldherrntugend geltenden Tapferkeit verliert (vgl. Komm. III,
189–202; vgl. auch Komm. I, 116–143). Damit missachtet Darius die
aristotelischen Vorgaben hinsichtlich der Tugend des angemessenen
Stolzes, der den Gegenstandsbereich des richtigen Umgangs mit der
Ehre umfasst und die erstrebenswerte Mitte zwischen den Lastern
der Eitelkeit und der Kleinmütigkeit einnimmt (zur deutschen
Übersetzung des griechischen Begriffs μεγαλοψυχία bzw. des lateini-
Kommentar zu Buch VII 873

schen Begriffs magnanimitas mit angemessener Stolz vgl. die Ein-


führung zu Buch I). Indem der persische König ausschließlich auf
seine guten Taten im Kontext der Tugend der Gerechtigkeit Bezug
nimmt, seine zahlreich vorhandenen Fehler in anderen Bereichen
der aristotelischen Tugendlehre jedoch ausblendet, befindet er sich
nicht in der aristotelischen Mitte der Tugend des angemessenen Stol­
zes und macht sich mit dieser mangelnden Selbsteinschätzung des
Lasters der Eitelkeit schuldig. Anders ausgedrückt ist sein Stolz auf
die eigene Person gemessen an seinen Taten jenseits der Tugend der
Gerechtigkeit unangemessen und übertrieben (zur tropologischen
Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl.
Einleitung 7.4). ⇔ Darüber hinaus weist auch die bei Darius zuletzt
aufkommende Resignation, dem Schicksal ohnmächtig gegenüber-
zustehen und den Tod nur noch mit eigener Hand herbeiführen
zu können, ebenso wie seine vorwurfsvollen Worte zu Beginn des
Selbstgesprächs auf fehlgeleiteten Stolz hin. Allerdings verfällt er in
seiner mutlosen Weinerlichkeit dabei nicht dem Laster der Eitelkeit,
sondern verstrickt sich in das der Eitelkeit entgegengesetzte Laster
der Kleinmütigkeit. Demzufolge legt Darius an keiner Stelle seines
von Walter geschickt inszenierten inneren Monologs – gerade die
Unfähigkeit einer richtigen Selbsteinschätzung legt literarisch an
dieser Stelle eine Darstellung aus Darius’ Perspektive nahe – einen
der aristotelischen Mitte entsprechenden angemessenen Stolz an den
Tag und kann somit auch nicht mit einem für ihn positiven Aus-
gang der objektiv betrachtet bedrohlichen Situation rechnen (zu
dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der
Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4).

Darius wird in Ketten gelegt und verschleppt (59–90)

59–90 Sic ait, et gelido terebrasset viscera ferro … Quis tuto ducere vi­
tam | sub servo poterit domini sitiente cruorem?: Darius ist noch nicht
874 KOmmentar

einmal in der Lage, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Ebenso
fehlt seinen Gefolgsleuten der Mut und die Entschlossenheit, sich
gegen die Verschwörer durchzusetzen, da sie in ihrer mangelnden
Tugendhaftigkeit den eigenen Tod mehr fürchten als die Schande,
ihren König im Stich gelassen zu haben. Folglich lassen Bessus und
Narbazanes Darius in Fesseln legen, plündern den Hausrat des Kö-
nigs und verschleppen ihn schließlich. ⇔ Walter nutzt die Gelegen-
heit dieses entscheidenden Umbruchs im Lager der Perser zu einer
Klage über das wankelmütige Schicksal, das dem ehemals gefeierten
persischen König endgültig seine Gunst entzieht und ihm ein we-
nig rühmliches Ende bereitet (zum Götterapparat und der Rolle
des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5; vgl. auch Komm.
II, 186–200; vgl. auch die Einführung zu Buch II). ⇔ Erneut lässt
Walter keinen Zweifel darüber aufkommen, dass der tiefere Grund
für diese Verschwörung im moralisch minderwertigen Charakter
der Rädelsführer liegt, die ohne zu zögern ihrem König die Gefolg-
schaft aufkündigen, sobald sich ihnen eine günstige Gelegenheit
dazu bietet. Mit den Worten truculentior aspide nimmt Walter dabei
nicht zufällig Bezug auf die Aristoteles-Rede, in welcher der Stagirit
seinen Schüler Alexander nahezu wortgleich vor der Beförderung
charakterlich weniger befähigter Personen in höhere Positionen ge-
warnt hatte (vgl. Alex. VII, 82; vgl. auch Alex. I, 90: in dominum
surgens, truculentior aspide surda; vgl. auch Komm. I, 85–91; zu
dem für die gesamte Alexandreis gültigen Programmcharakter der
Aristoteles-Rede vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Insofern gibt Walter dem
persischen König auch eine gewisse Mitschuld an der für ihn aus-
weglosen Situation, da er bei der Besetzung der wichtigsten Posten
im Heer zu wenig auf die moralische Integrität seines Führungs-
personals geachtet hatte. ⇔ Am Ende des Abschnitts führt Walter
den Verschwörern mit mehreren rhetorischen Fragen deutlich vor
Augen, dass ihr frevelhaftes Unterfangen ungeachtet ihres momen-
tanen Erfolgs dennoch zum Scheitern verurteilt ist, da niemand be-
Kommentar zu Buch VII 875

reit ist, Männer zu unterstützen, die als charakterlose Sklaven ihren


König rücksichtslos beseitigen, um selbst an die Macht zu gelangen.

Alexander verfolgt Darius (91–378)

Die Schnelligkeit und die Handlungsschnelligkeit


Alexanders (91–105)

91–105 Interea, summis accincto milite rebus, | vestigans rapido Darii


vestigia cursu | terrarum domitor … intentum celeri liquisse Ebactana,
ceptum | haut mora flectit iter et Persidis arva relinquens | insequitur
profugos, animi calcaribus actus … retrusum in vincula regem | affir­
mans seriemque rei pulchro ordine pandens: Bei der Verfolgung des
persischen Königs muss Alexander seine Pläne mehrfach kurzfristig
ändern und umgehend der jeweils neuen Situation anpassen. Walter
hebt dabei nicht zum ersten Mal in der Alexandreis die große Schnel­
ligkeit und enorme Handlungsschnelligkeit des makedonischen Kö-
nigs hervor, der mit der ihm eigenen Entschlossenheit nichts unver-
sucht lässt, den flüchtigen persischen König möglichst schnell zu
stellen (zu Alexanders Schnelligkeit und Handlungsschnelligkeit als
Teilaspekte der aristotelischen Tugend der Tapferkeit vgl. Komm.
VI, 63–80; vgl. auch Komm. I, 116–117; vgl. auch Komm. I, 136–143).

Alexanders Ansprache an die griechischen Soldaten (106–127)

106–127 Horruit auditis Macedo, ducibusque citatis  | «Est brevis


iste labor et premia magna laboris | qui superest, socii … telaque fa­
tali spargentem Delion arcu: Neben der erneut hervorgehobenen
Schnelligkeit inszeniert Walter an dieser Stelle auch die ebenso der
aristotelischen Tugend der Tapferkeit zuzurechnende Überzeugungs­
kraft Alexanders, dem es in einer fesselnden Ansprache gelingt, seine
876 KOmmentar

Soldaten von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Verfolgung des


Darius zu beschleunigen, um diesen vor der Niedertracht seiner eige-
nen Männer zu schützen (vgl. Komm. VI, 33–62; vgl. auch Komm. I,
118–127). Darüber hinaus hebt Walter mit Alexanders Aussage, dass
es nicht weniger wert sei, einen beklagenswerten Mann zu verscho-
nen als einen rebellischen Mann zu zerschmettern, das vorbildliche
Verhalten des makedonischen Königs auch hinsichtlich der aristo-
telischen Tugend der angemessenen Zürnkraft hervor (vgl. Komm.
I, 115; vgl. auch Komm. III, 140–188). ⇔ Mit dem Hinweis auf die
antiken Gottheiten Mars, Athene, Apollon und auch auf den Göt-
tervater Zeus, der einst seinen Blitz auf den Giganten Typhoeus
geschleudert hatte – die genealogische und auch typologische Ver-
bindung zwischen dem Geschlecht der Giganten und den Persern ist
dem Leser der Alexandreis inzwischen bekannt –, lässt Walter erneut
auch die typologische Beziehung zwischen Alexander und Herkules
anklingen, der im Kampf der olympischen Götter gegen die Gigan-
ten erfolgreich seinem göttlichen Vater die Herrschaft gesichert hat-
te (vgl. Komm. II, 319–371; zur allegorischen Ebene der Alexandreis
bzw. zum heilsgeschichtlichen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). ⇔
Neben dieser Bezugnahme auf die antik-pagane Ebene weist Walter
mit der Epithetisierung des Makedonenkönigs als Schicksalsgeißel der
Welt ein weiteres Mal auch mit biblisch konnotierten Begriffen auf
die Aufgabe seines wichtigsten Protagonisten im Heilsplan Gottes
hin (vgl. Alex. VII, 119: mundi fatale flagellum; vgl. auch Alex. V, 185:
diluvium mundi Macedo; vgl. auch Alex. VIII, 338: fatalis malleus
orbis; zur Bedeutung der biblisch konnotierten Epithetisierung Alex-
anders in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.2).

Alexander erreicht das Lager der Verschwörer (128–174)

128–174 Ventum erat in vicum stellis nascentibus in quo | vinxerat


Arsamidem furiato pectore Bessus … magna fatigatis pugnae docu­
Kommentar zu Buch VII 877

menta daturi, | viribus alternam multum conferre quietem: Auf sei-


nem Weg in das Lager der Verschwörer gelangt Alexander in jene
Stadt, in der Bessus und Narbazanes den persischen König zuvor in
Fesseln gelegt hatten. Mit Hilfe persischer Überläufer, die Alexander
eindringlich warnen, den feindlichen Kräften in deren Ausweglosig-
keit auf keinen Fall ungeordnet und schlecht gewappnet zu begeg-
nen, kommen die Griechen über Schleichwege schneller voran und
können zudem in Erfahrung bringen, dass Darius noch am Leben
ist. Noch einmal beschleunigt Alexander deshalb das Tempo und
erreicht schließlich das auf einem nahen Hügel aufgestellte Heer der
von Walter im aristotelischen Sinne erneut als sklavenhafte Charak-
tere apostrophierten Verschwörer (vgl. Alex. VII, 146: servilia cas­
tra). ⇔ Die zuvor schon betonte Schnelligkeit des griechischen Hee-
res wird an dieser Stelle durch den optischen Eindruck einer durch
die galoppierenden Pferde hervorgerufenen riesigen Staubwolke,
die für einen kurzen Moment allen den Blick auf die gegnerischen
Streitkräfte nimmt, noch verstärkt (vgl. Komm. VII, 91–105). ⇔
Noch vor der Schlacht macht Walter deutlich, dass die persischen
Verschwörer – an Zahl und Kampfkraft ihrem Gegner eigentlich
weit überlegen – den Griechen und ihrem Feldherrn Alexander in
erster Linie aus moralischen Gründen nicht gewachsen sind und
demzufolge auch unterliegen werden. Als sich die Staubwolke näm-
lich verzogen hat, erfasst die Perser ohne einen nachvollziehbaren
äußeren Grund – der Anblick der kampfbereiten und im Glanze
ihrer Waffen erstrahlenden Griechen allein sollte entschlossene Sol-
daten normalerweise nicht allzu sehr ängstigen – aufgrund ihres na-
genden Schuldbewusstseins, den eigenen König verraten zu haben,
das nackte Entsetzen (vgl. Alex. VII, 161: pectora monstriferae tre­
muerunt conscia culpae). Umgekehrt erstürmen die durch die tage-
lange Verfolgung und den fehlenden Schlaf körperlich geschwäch-
ten Griechen aus einer strategisch eigentlich unvorteilhaften Lage
vom Fuße des vom persischen Gegner besetzten Hügels aus die
Anhöhe, um ungeachtet ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit die
878 KOmmentar

Entscheidung im Kampf zu suchen. ⇔ Damit stellt Walter ganz im


Sinne der aristotelischen Tugendlehre klar, dass die Tugendhaftig-
keit eines Feldherrn die entscheidende Größe für den militärischen
Erfolg darstellt, auf der anderen Seite moralisches Fehlverhalten je-
doch auch unweigerlich ins Verderben führt (zu dem für die gesam-
te Alexandreis gültigen Programmcharakter der Aristoteles-Rede
vgl. Einleitung 7.4).

Die Flucht der Verschwörer und Darius’ Ermordung (175–209)

175–209 Sed Macedum terror et formidabile terris | nomen Alexan­


dri, momentum non leve bellis, | avertit pavidos et desperare coegit |
vinci posse viros … Dispersi fugiunt alii vel quos metus urget | vel spes
in dubiis semper comes optima rebus: Walter nennt mit dem auf dem
ganzen Erdkreis Schrecken hervorrufenden Namen Alexanders über
das bereits erwähnte Schuldbewusstsein der Verräter hinaus noch
einen weiteren Grund für die nun beschriebene Flucht der Per-
ser. Beide auf die psychische Verfassung der Verschwörer mit aller
Wucht einwirkenden Faktoren – das Schuldbewusstsein ebenso
wie der dem makedonischen König vorauseilende Ruf – belasten
Bessus und Narbazanes so schwer, dass sie nicht in der Lage sind,
ihre objektiv vorhandene Überlegenheit – Walter spricht in diesem
Zusammenhang ironisierend von den Waffen der Perser, die sich so-
gar über die Flucht der Verschwörer empört zeigen – auch nur im
Ansatz zu erkennen und für ihre eigenen Zwecke zu nutzen (vgl.
Alex. VII, 178–179: Fugit indignantibus armis | sediciosa cohors). ⇔
Als Darius sich furchtlos und zudem schicksalsergeben weigert, ge-
meinsam mit den Verschwörern zu fliehen, wird er von diesen von
zahlreichen Spießen und Speeren niedergestreckt und schwer ver-
wundet zurückgelassen. Auf getrennten Wegen fliehen die beiden
Anführer der Verschwörung: Bessus zieht sich nach Baktra zurück
und Narbazanes versucht sich in die Wälder Hyrkaniens zu retten.
Kommentar zu Buch VII 879

Die Schlacht gegen die verbliebenen Perser (210–239)

210–239 Quingenti tantum se collegere quirites, | qui pro iusticia pa­


triaeque iacentis honore | elegere mori Macedumque resistere turmis
… in valle remota | constiterant, mortem Dariique suamque gemen­
tes: Während die meisten Perser ihr Heil in der Flucht suchen, sind
am Ende noch fünfhundert persische Reiter bereit, den Griechen
bewaffnet entgegenzutreten. Walter lässt es offen, ob sie von der
Hoffnung angetrieben werden, durch einen siegreichen Kampf ihr
Leben zu verlängern oder sie die Schande nicht ertragen können,
ihren König zu überleben. Immerhin attestiert er ihnen und den in
die Kampfhandlungen involvierten Fußsoldaten, sich in einem von
vornherein aussichtslosen Kämpf glänzenden Ruhm zu erwerben.
⇔ Das griechische Heer erscheint zum wiederholten Mal mit großer
Schnelligkeit auf dem Schlachtfeld – auch an dieser Stelle weist Wal-
ter damit auf einen Teilaspekt innerhalb der aristotelischen Tugend
der Tapferkeit hin – und ist demzufolge sogar noch in der Lage, den
persischen Gegner zu überraschen (vgl. Komm. VII, 91–105). War zu-
vor noch die unzulängliche psychische Verfassung der Perser der aus-
schlaggebende Grund für ihre eigentlich grundlose und überstürzte
Flucht, so begründet Walter Alexanders Sieg in der Schlacht nun mit
der psychischen Verfassung der Griechen, die von großer Siegesge-
wissheit und bemerkenswerter Entschlossenheit geprägt ist. Dies hat
zur Folge, dass am Ende eine größere Zahl an Gefangenen von einer
kleineren Zahl siegreicher Soldaten bewacht werden muss und die
Sieger noch nicht einmal alle Beutestücke wegtragen können. Walter
hebt zudem Alexanders herausragende Rolle als Feldherr hervor, der
es nicht nur versteht, seine Soldaten mutig in den Kampf zu führen,
sondern ihnen im richtigen Moment auf ein Zeichen hin auch Ein-
halt zu gebieten vermag. ⇔ Allerdings gelingt es den Griechen nicht,
den persischen König gefangenzunehmen, der in einem entlegenen
Tal seinem baldigen Tod entgegensieht. Indem Walter diesen für
Alexander schmerzlichen Umstand augenzwinkernd als einen üblen
880 KOmmentar

Streich des Schicksals – dedecus fati – bezeichnet, macht er deutlich,


dass Alexander im Grundsatz nach wie vor mit der Unterstützung
der Schicksalsgöttin Fortuna rechnen kann, da er sich mit der Erobe-
rung des Perserreichs noch immer auf dem Weg zur Erfüllung seiner
heilsgeschichtlich legitimierten Auftrags befindet (vgl. Alex. VII, 236;
zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis
vgl. Einleitung 5; vgl. auch Komm. II, 186–200; vgl. auch die Einfüh-
rung zu Buch II). Darüber hinaus findet mit der erfolglosen Suche
nach Darius die Botschaft, die Bellona dem makedonischen König in
der Schlacht von Gaugamela überbracht hatte, dass es ihm trotz sei-
ner Bemühungen nicht bestimmt sei, Darius persönlich zur Strecke
zu bringen, sondern dieser durch den Verrat seiner eigenen Männer
fallen werde, ihre faktische Bestätigung, so dass Alexander nolens vo­
lens einsehen muss, dass auch er ungeachtet der bisherigen Begüns-
tigung durch das Schicksal den göttlichen Mächten unterworfen ist
(vgl. Komm. V, 205–255). ⇔ Insofern lässt sich der an dieser Stelle
eingefügte Hinweis Walters, dass Alexander seinen langjährigen Wi-
dersacher Darius schicksalsbedingt nicht mehr lebend zu Gesicht
bekommen wird, durchaus auch als geschickt platzierter Hinweis
auf die Zeit nach dem Perserkrieg verstehen, in der sein wichtigster
Protagonist der epischen Inszenierung zufolge die Unterstützung des
Schicksals verlieren wird (zur Funktion der Vorverweise in der Ale­
xandreis vgl. Einleitung 7.4).

Darius’ letzte Botschaft an Alexander (240–305)

240–305 Haut procul hinc querulus lascivo murmure rivus | labitur


et vernis solus dominatur in herbis … et sacer erumpens luteo de carce­
re tandem | spiritus, hospicium miserabile carnis abhorrens, | prodiit
et tenues evasit liber in auras: Der von Walter zu Beginn dieses Ab-
schnitts beschriebene locus amoenus – genannt werden ein durch
die Felsen brechender sprudelnder Bach, der in seinem weiteren Ver-
Kommentar zu Buch VII 881

lauf den trockenen Boden lebenspendend befeuchtet – hat an dieser


Stelle eine kontrastive Funktion zu der unmittelbar im Anschluss
geschilderten Szene, in welcher der Grieche Polystratus zufällig auf
den blutüberströmten und im Sterben liegenden Darius trifft. ⇔
Der persische König drückt sein Bedauern darüber aus, dass er seine
letzten Worte nicht mehr an Alexander persönlich zu richten vermag,
um die alten Kriegsstreitigkeiten beizulegen, ist aber dennoch froh,
einen der persischen Sprache mächtigen Gesprächspartner gefunden
zu haben, der seine letzte Botschaft zu einem späteren Zeitpunkt an
Alexander übermitteln kann. Auch wenn Mueldener anstelle des von
Colker verwendeten Indo sermone die Lesart Greco sermone bevor-
zugt – Streckenbach begründet dies mit der Tatsache, dass der aller-
dings verlorengegangene Text bei Curtius durch spätere Ergänzun-
gen mit Greco sermone wiedergegeben wird und es seines Erachtens
sinnvoller erscheint, dass der persische König die griechische Sprache
beherrscht als umgekehrt ein einfacher griechischer Soldat die per-
sische Sprache –, lässt Darius’ Reaktion auf die ersten überraschen-
derweise in persischer Sprache vorgebrachten Worte des Griechen,
dass er froh sei, für das anstehende Gespräch keinen Dolmetscher zu
benötigen, auf die Richtigkeit der Lesart Indo sermone schließen, da
er eine solche Unterstützung ungeachtet möglicherweise rudimentär
vorhandener Griechischkenntnisse tatsächlich nur dann gebraucht
hätte, wenn er von Polystratus auf Griechisch angesprochen worden
wäre (vgl. Streckenbach 1990, 242). In seiner Rede hebt Darius
mehrfach Alexanders Tugendhaftigkeit insbesondere bezüglich der
Tugend der angemessenen Zürnkraft hervor und fühlt sich dem ma-
kedonischen König dafür zu Dank verpflichtet, dass die persische
Königsfamilie in der griechischen Gefangenschaft unangetastet ge-
blieben war (vgl. Alex. VII, 261: tam pius hostis; vgl. auch Alex. VII,
266–268: multumque obnoxius illi | quod matrem Darii prolemque
modestus et irae | inmemor hostilis clementi pectore fovit). Zudem be-
tont er den erstaunlichen Umstand, dass Alexander als Feind in sei-
ner königlichen Haltung eine größere Treue bewiesen habe als seine
882 KOmmentar

eigenen Männer, die ihm nach dem Leben trachteten (vgl. Alex. VII,
270–272: regalem animum victis vultumque serenum | exhibuit victor
hostique fidelior hostis | quam noti civesque mei). Als letzten Wunsch
richtet Darius an Alexander die Bitte, an seinen Mördern verdiente
Rache zu nehmen und ermahnt ihn zudem, dabei auch im eigenen
Interesse Gerechtigkeit walten zu lassen (vgl. Alex. VII, 278–279: His
precor a iusto reddatur principe talis | talio pro meritis, qualem patrici­
da meretur; vgl. auch Alex. VII, 287–289: Quam si distulerit vel forte
remissius equo | egerit, illustris minuetur opinio regis | decolor et fame
multum diversa priori). Darüber hinaus warnt er seinen ehemaligen
Widersacher, auch als gütiger König auf der Hut vor Verrätern in den
eigenen Reihen zu sein – möglicherweise ein dezenter Hinweis Wal-
ters auf die in Buch VIII geschilderte Verschwörung des Philotas (vgl.
Alex. VII, 290–291: Adde quod a simili debet sibi peste cavere | rex pius
et subiti vitare pericula casus). Zuletzt erkennt Darius in der Stunde
seines Todes den Herrschaftsanspruch Alexanders – von Walter ent-
sprechend mit einem raumgreifenden und über den ganzen Vers ge-
spannten Hyperbaton stilistisch glänzend umgesetzt – über die gan-
ze Welt an (vgl. Alex. VII, 296: totus Alexandro famuletur subditus
orbis). Zudem runden zwei weitere, mit dem Herrschaftsbereich und
dem Namen Alexanders spielende Hyperbata in Verbindung mit
zwei etymologischen Figuren das Bild des nach Darius’ Tod konkur-
renzlos herrschenden makedonischen Königs ab (vgl. Alex. VII, 297:
Magnus et in magno dominetur maximus orbe). Mit seinem letzten
Atemzug bittet Darius diesen um eine gebührende Bestattung, bis
er schließlich den Tod findet. ⇔ Auch wenn Walter in den Grund-
zügen der Darstellung seiner historischen Hauptquelle Curtius folgt,
betont er noch stärker als der römische Historiker die über die gesam-
te Zeit des Perserkriegs hin wirksame Tugendhaftigkeit Alexanders.
Gerade weil das Tugendlob aus dem Munde des besiegten und im
Sterben liegenden persischen Königs kommt, entfaltet die Lobprei-
sung ihre besondere Wirkung auf den mittelalterlichen Leser und
verleiht der Darstellung damit zusätzliche Glaubwürdigkeit. Es ist
Kommentar zu Buch VII 883

sicherlich auch kein Zufall, dass ausgerechnet in derjenigen Situati-


on, in welcher der Sieg der Griechen über das Perserreich ungeachtet
noch einiger ausstehender Kämpfe bereits feststeht, abgesehen von
der Milde und der Friedfertigkeit Alexanders die ebenso auch in Frie-
denszeiten bedeutsame Tugend der Gerechtigkeit einen besonderen
Raum in Darius’ Rede einnimmt.

Moralexkurs (306–343)

306–343 Felices animae, dum vitalis calor artus  | erigit infusos …


Inde est quod regni flammatus amore satelles, | non reverens homi­
nes, non curans numina, Bessus | et patris et domini fatalia fila resol­
vit: Walter unterbricht den Ablauf der Handlung, um ähnlich wie
gegen Ende des Epos in einem Autorexkurs Klage über den morali-
schen Zustand der Menschheit insgesamt und der römischen Kurie
im Besonderen zu führen (vgl. Alex. X, 433–450; zu Walters zeitge-
nössischer Kritik vgl. Einleitung 8). ⇔ Im Unterschied zu Walters
späteren Ausführungen, die den moralischen Zustand der Mensch-
heit am Ende mit dem Schicksal Alexanders in Verbindung bringen,
mündet seine Klage an der vorliegenden Stelle in einer moralischen
Verurteilung des als sklavenhaft charakterisierten Bessus, der sich
rücksichtslos gegenüber Menschen und Göttern und einzig und al-
lein aus eigennützigen Motiven gegen seinen König gestellt und die-
sen ermordet hat. Aus diesem Grund geht Walter anders als gegen
Ende der Alexandreis an der vorliegenden Stelle auch nicht nur auf
das aeternum bonum als dem eigentlichem Ziel allen menschlichen
Strebens ein – er spricht diesbezüglich paraphrasierend von einem
herrlichen Lohn und einer tiefen Erholung, die gerechte Seelen
nach ihrer Trennung vom menschlichen Körper erwarten dürfen –,
sondern macht implizit auch deutlich, dass derjenige, der sein irdi-
sches Leben verbrecherisch und ungerecht gegen den Nächsten ver-
bracht hat, eine ewige Bestrafung zu gewärtigen hat (vgl. Alex. VII,
884 KOmmentar

308–310: que maneant manes decurso tempore iustos | premia, que re­
quies, et quam contraria iustis | impius exspectet; vgl. auch Komm. X,
433–454; vgl. auch Thomas v. Aquin, Summa Theologiae, IIIª q.
86 a. 4 co: Ex parte igitur aversionis ab incommutabili bono, consequi­
tur peccatum mortale reatus poenae aeternae, ut qui contra aeternum
bonum peccavit, in aeternum puniatur). ⇔ Neben weit verbreiteten
und stets zu beklagenden Sünden wie denjenigen der Habgier, der
Wollust, der Völlerei und der Trunksucht prangert Walter als Aus-
druck seiner zeitgenössischen Kritik auch die unter moralischen Ge-
sichtspunkten katastrophalen Verhältnisse innerhalb der römischen
Kurie seiner Zeit und die damalige Spaltung der christlichen Kirche
an. Insbesondere der vielerorts praktizierte und mit dem Begriff der
Simonie bezeichnete Ämterkauf, den er bereits in seinen moralisch-
satirischen Gedichten einer herben Kritik unterzogen hatte, muss
dem Autor der Alexandreis ein besonders schmerzhafter Dorn im
Auge gewesen sein (vgl. Alex. VII, 317–318: Non adeo ambirent cat­
hedrae venalis honorem | Symonis heredes; non incentiva malorum |
pollueret sacras funesta Pecunia sedes; vgl. auch Mor.-sat. Ged. 9, str.
11: Evangelizantium sordidantur pedes,  | set nil credunt sordidum
Simonis heredes; | Alienas vacuant, suas implent edes, | in tribunal
vertitur pastoralis sedes). ⇔ Wenn Walter darüber hinaus den Ge-
stank der Habsucht innerhalb der römischen Kurie und die damit
einhergehende Bestechlichkeit der Richter geißelt, entwirft er das
abstoßende Bild einer innerlich zutiefst zerrütteten Kirche, die
ihren moralischen Kompass verloren hat und einer dringenden Er-
neuerung bedarf (vgl. Alex. VII, 326–327: Non lucri regnaret odor;
pervertere formam | iudicii nollet corruptus munere iudex). Auf ganz
ähnliche Weise hatte Walter auch diese von der Umkehrung des
Rechts gekennzeichneten Zustände und die in ihrer Habsucht per-
vertierten Kleriker schon in seinen moralisch-satirischen Gedichten
schonungslos an den Pranger gestellt (vgl. Walter v. Châtillon,
Mor.-sat. Ged. 5, str. 5 und 9: In primis pontifices et prelatos noto, |
nam iste grex hominum canone remoto | totus est in poculis, totus lucri
Kommentar zu Buch VII 885

voto | estuat et vite disconvenit ordine toto [...] Roma solvit nuptias
contra nutum dei,  | pervertit iudicium, fovet partem rei; vgl. auch
Tilliette 2008, 265–278). Mit der Formulierung et vite disconve­
nit ordine toto bedient sich Walter dabei einer Stelle aus den Episteln
des Horaz, in der sich die Seele mit sich selbst im Widerstreit be-
findet, nicht mehr ein und aus weiß und entzweit mit der Ordnung
des Lebens ihre innere Einheit nicht mehr herzustellen vermag (vgl.
Hor. epist. 1, 1, 99). Auch in der Alexandreis nimmt Walter gerade
in Fragen der praktischen Lebensführung und der ethisch-morali-
schen Gestaltung der irdischen Existenz des Menschen an zahlrei-
chen Stellen Bezug auf diesen augusteischen Dichter, der unter den
Gelehrten im Frankreich des 12. Jahrhunderts gerade in moralischen
Fragen eine ausnehmend hohe Autorität genoss (zur Etablierung
des antiken Dichters Horaz als moralische Autorität im Kontext
christlicher Tugendvorstellungen in der Alexandreis vgl. Wirtz
2018, 81–99). ⇔ Überdies verurteilt Walter die Ambitionen junger
Kleriker, die ungeachtet ihrer edlen Abstammung noch vor ihrem
zur Charakterbildung geeigneten Studium und nur durch die Ein-
flussnahme ihrer verdienstreichen Eltern das Amt eines Bischofs an-
streben (vgl. Alex. VII, 320–323: Non aspiraret, licet indole clarus,
aviti | sanguinis inpubes ad pontificale cacumen | donec eum mores,
studiorum fructus, et etas | eligerent, merito non suffragante paren­
tum). Als historischen Hintergrund für die an dieser Stelle wohl
kaum als allgemeine Bemerkung zu verstehende Einlassung Walters
vermutet Christensen (1905) 7–8, Anm. 2 die unter Tumulten
abgehaltene Wahl des Bischofs von Angers im Jahre 1102, der un-
geachtet seiner Abstammung aus dem berühmten Geschlecht der
Grafen von Martigny aufgrund seiner Jugend und noch fehlender
Weihen von zahlreichen Bischöfen seiner Zeit entschieden bekämpft
worden war. Doch Walter geht mit seinen kritischen Äußerungen
noch deutlich weiter. Auch das von zahlreichen Konflikten gepräg-
te Verhältnis zwischen der weltlichen und geistlichen Macht findet
seine offenkundige Missbilligung, wenn er von Neid getriebene Kar-
886 KOmmentar

dinäle angreift, deren persönlicher Ehrgeiz im konkreten Fall zum


päpstlichen Schisma (1159–1177) geführt hat (vgl. Alex. VII, 324–325:
Non geminos patres ducti livore crearent | preficerentque orbi sortiti
a cardine nomen; vgl. auch Einleitung 8). ⇔ Als weiteres Beispiel
des verheerenden Kampfes zwischen diesen beiden mittelalterlichen
Machtzentren verurteilt Walter mit aller Deutlichkeit die Ermor-
dung von Thomas Becket und Robert von Cambrai, die beide im
Amt eines Erzbischofs aus politischen Motiven einen gewaltsamen
Tod fanden (vgl. Alex. VII, 328–330: Non caderent hodie nullo di­
scrimine sacri | pontifices, quales nuper cecidisse queruntur | vicinae
modico distantes equore terrae; vgl. auch Einleitung 8; den folgenden
Vers – Flandria robertum thomam dolet anglia cesum – hat Colker
aus guten Gründen als versehentlich in den Haupttext geratene
Glosse getilgt). ⇔ Abschließend geht Walter mit deutlichen Worten
auf die Folgen ein, die sich aus diesem moralisch verwerflichen Ver-
halten ergeben – der Mensch ist zu jedweder Schandtat bereit und
besitzt keine Ehrfurcht vor Recht und Gesetz –, bevor er den Blick
ganz konkret auf den Verräter Bessus lenkt, der ebenso wie Alexan-
der am Ende der Alexandreis als exemplum für die zuvor geschilder-
ten moralischen Entgleisungen dient.

Apostrophe an Darius (344–347)

344–347 Te tamen, o Dari, si que modo scribimus olim | sunt habi­


tura fidem, Pompeio Francia iuste | laudibus equabit. Vivet cum vate
superstes | gloria defuncti nullum moritura per evum: Die Apostro-
phe an Darius nimmt Bezug auf zwei Stellen aus der Pharsalia Lu-
cans und verbindet diese zu einem Versprechen Walters an Darius,
dass er dem Pompeius an Ruhm gleichkommen werde, wenn der
Alexandreis nach ihrer Veröffentlichung Erfolg beschieden sein soll-
te. Da kaum anzunehmen ist, dass Walter daran ernsthafte Zweifel
hegte, dürfte es sich bei dem einschränkenden Konditionalsatz doch
Kommentar zu Buch VII 887

wohl eher um einen klassischen Bescheidenheitstopos handeln,


der sich an Apostrophen eines Lucan oder Vergil orientiert (vgl.
Wulfram 2000, 237, Anm. 51; zum produktionsästhetischen An-
satz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch
die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Damit
macht Walter über die Kernstellen seiner poetologischen Doppel-
doktrin hinaus noch einmal deutlich, dass zwischen dem Erfolg
eines Dichters und dem Ruhm der gepriesenen Person ein über-
aus enger Zusammenhang besteht (zu den beiden Kernstellen der
poetologischen Doktrin Walters vgl. Komm. I, 468–492; vgl. auch
Komm. V, 491–520; vgl. auch Wulfram 2000, 238–239; vgl. auch
Einleitung 6; zur Abhängigkeit des Ruhms vom erfolgreichen Wir-
ken des Dichters jenseits der Kernstellen der Doppeldoktrin Walters
vgl. Komm. VI, 490–510 und Komm. X, 461–469). ⇔ Im ersten
Teil orientiert sich Walter dabei an einer Apostrophe, mit der sich
Lucan vor der Schlacht bei Pharsalus an Pompeius wendet und ihm
die Sympathie der künftigen Leser und damit auch den in Walters
Augen offenbar verdienten Nachruhm zusichert (vgl. Luc., Phars.
VII, 212–213: attonitique omnes veluti venientia fata,  | non trans­
missa, legent et adhuc tibi, Magne, favebunt; vgl. auch Wulfram
2000, 237). ⇔ Im zweiten Teil nimmt er Bezug auf eine Apostro-
phe an Caesar, die ebenso die Vorstellung von der Unsterblichkeit
der in einem Epos besungenen Personen wiedergibt (vgl. Luc.,
Phars. IX, 980–986: O sacer et magnus vatum labor! Omnia fato |
eripis et populis donas mortalibus aevum.  | Invidia sacrae, Caesar,
ne tangere famae; | Nam, si quid Latiis fas est promittere Musis, |
quantum Zmyrnaei durabunt vatis honores,  | venturi me teque le­
gent; Pharsalia nostra | vivet et a nullo tenebris damnabimur aevo).
Den auf den ersten Blick ungewöhnlichen Vergleich des Darius mit
Pompeius erklärt die Glosse im Codex Vindobonensis mit dem
Umstand, dass beide auf vergleichbare Weise doch im Kampf für ihr
Vaterland gestorben seien (vgl. Colker 1978, 453: POMPEIO quia
sicut ille mortuus fuit pugnando pro patria, sic et tu similiter). Stellt
888 KOmmentar

man über diese Gemeinsamkeit hinaus in Rechnung, dass Lucans


Apostrophe an Caesar und das darin enthaltene Versprechen auf
dessen späteren Ruhm seinem negativen Caesarbild entsprechend
von blanker Ironie getragen ist, verdeutlicht die Verschmelzung bei-
der Lucan-Stellen in der Alexandreis die eigentliche Aussageabsicht
Walters: Ebenso wie der von ira und furor getriebene Caesar in der
Pharsalia Lucans rücksichtslos die eigenen Interessen verfolgt und
als Römer die bestehenden politischen Verhältnisse in der eigenen
Heimat gewaltsam zerschlägt, leistet der am Ende des obigen Mo-
ralexkurses als negatives exemplum herausgestellte Bessus als Perser
mit Darius’ Ermordung seinen Beitrag beim Untergang des persi-
schen Reichs. ⇔ Demzufolge geht es Walter mit seiner Darstellung
hier vornehmlich darum, die siegreichen Protagonisten Caesar und
Bessus moralisch zu diskreditieren, um in einem bewusst angelegten
Kontrast Pompeius und Darius ungeachtet ihrer jeweiligen Nieder-
lagen und der damit einhergehenden Vernichtung ihrer physischen
Existenz eine moralische Aufwertung zukommen zu lassen. Da der
Verräter Bessus an dieser Stelle als Negativfolie für Darius dient, ver-
setzt sich Walter anders als bei der vergleichenden Charakterisierung
mit Alexander in die Lage, das grundsätzlich vorhandene Tugend-
potenzial des persischen Königs anzuerkennen und ihm demzufolge
auch den verdienten Ruhm zuzusprechen (vgl. Komm. II, 1–17; vgl.
auch Komm. II, 272–305; vgl. auch Komm. IV, 280–284; vgl. auch
Komm. IV, 374–390; vgl. auch Komm. V, 319–345; vgl. auch Komm.
V, 376–421). Allerdings sollte dabei nicht übersehen werden, dass
der Autor der Alexandreis ungeachtet dessen dennoch der grundle-
genden Überzeugung ist, dass der Ruhm der beiden Verlierer Pom-
peius und Darius hinter demjenigen Alexanders zurückzustehen hat
(vgl. Alex. V, 498–509). ⇔ Die an der vorliegenden Stelle von Walter
mit den Worten Vivet cum vate superstes | gloria defuncti nullum mo­
ritura per evum formulierte Ruhmestopik ist in der Alexandreis in
ähnlicher Form nur noch an zwei weiteren Stellen zu finden (vgl.
Alex. VI, 509–510: Si quis tamen hec quoque si quis | carmina nostra
Kommentar zu Buch VII 889

legat, numquam Patrona tacebit | Gallica posteritas. Vivet cum vate


superstes | gloria Patronis nullum moritura per evum; vgl. auch. Alex.
X, 468–469: vivet cum vate superstes | gloria Guillermi nullum mori­
tura per evum; zur Unterscheidung von wahrem und eitlem Ruhm
in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.4).

Alexanders Totenklage (348–378)

348–378 Magnus ut accepit Darium expirasse, citatum | turbidus ac­


celerat gressum, inventumque cadaver | perfudit lacrimis et compluit
ubere fletu … Sic michi dent superi, traiectis Alpibus, una | cum populis
Ligurum Romanas frangere vires: Die Totenklage Alexanders führt
die Ruhmesthematik der eben besprochenen Apostrophe an Darius
weiter und verbindet diese mit der Beschreibung der Tugendhaftig-
keit des makedonischen Königs. Als Alexander vom Tod seines per-
sischen Widersachers erfährt, betont Walter dabei nicht zum ersten
Mal in der Alexandreis dessen außerordentliche Schnelligkeit, mit
der dieser vorzurücken imstande ist (vgl. Alex. VII, 348–349: Mag­
nus ut accepit Darium expirasse, citatum | turbidus accelerat gressum;
zur Schnelligkeit Alexanders als Teilbereich der Tugend der Tapfer­
keit vgl. Komm. VII, 91–105; vgl. auch Komm. I, 116–117). ⇔ Als
Alexander den Leichnam des persischen Königs erreicht, bricht er
in Tränen aus und betrauert den verstorbenen Feind, den er gerne
persönlich besiegt hätte, wenn ihm dies nicht vom Schicksal ver-
wehrt worden wäre. Von tiefer Trauer berührt, gesteht Alexander
seinem verstorbenen Feind ewigen Ruhm zu, da er es gewagt habe,
sich ihm und dem Schicksal entgegenzustellen (zur Unterscheidung
von wahrem und eitlem Ruhm in der Alexandreis vgl. Einleitung
7.4). Nach eigener Aussage hätte Alexander als Ausdruck seiner an­
gemessenen Zürnkraft den persischen König – abgesehen von der
Tatsache, dass Darius dieses Ansinnen zuvor bereits zurückgewiesen
hatte – nicht anders als später den Inderkönig Porus als Statthalter
890 KOmmentar

in einem Teil seines eroberten Reichs eingesetzt, so dass dieser nur


ihm selbst unterworfen gewesen wäre (vgl. Alex. VI, 345–347: Arbi­
trium victoris an id censetis honestum, | victus ut expectem Darioque
precaria detur  | Mazei exemplo sola in regione potestas?; vgl. auch
Alex. IX, 317–325). Alexander bedauert zutiefst, dass die erneut als
sklavenhaft charakterisierten Verräter Bessus und Narbazanes ihm
durch Darius’ Ermordung die Möglichkeit verwehrt haben, den ei-
genen Ruhm zu mehren, indem er dem besiegten persischen König
gegenüber hätte Milde walten lassen. So bleibe ihm nur noch üb-
rig, die ruchlosen Verräter zu jagen und diese ihrer gerechten Strafe
zuzuführen. ⇔ Ganz unbescheiden bringt Alexander zudem seine
weiteren Pläne zum Ausdruck, nach denen er nach der Unterwer-
fung des Ostens mit den Völkern der Gallier, Ligurer und Römer
auch den Westen unter seine Herrschaft bringen will. Damit macht
Walter zum wiederholten Mal in der Alexandreis als Vorverweis auf
die Zeit nach dem Perserkrieg den Leser auf das Ende seines wich-
tigsten Protagonisten aufmerksam, der für sein jenseits des Perser-
reichs liegendes und aus christlicher Sicht als Maßlosigkeit gebrand-
marktes Expansionsstreben, dem Wunsch nach Gottgleichheit und
der damit einhergehenden Hybris den epischen Tod erleiden wird
(vgl. Komm. III, 242–257; vgl. auch Komm. III, 330–341; zur Funk-
tion der Vorverweise in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). ⇔ Mit
der Formulierung traiectis Alpibus scheint Walter beim Leser eine
Assoziation zu dem Karthager Hannibal wecken zu wollen, der mit
der Überquerung der Alpen zwar auch eine heroische Leistung voll-
bracht hatte, letztlich jedoch wie Alexander auch beim Versuch,
Rom zu Fall zu bringen, gescheitert war (vgl. Alex. VII, 377).

Das Grabmal des Darius (379–430)

379–430 Dixit, et exequiis solito de more solutis, | regifico sepelit cor­


pus regale paratu … In summa annorum bis milia bina leguntur |
Kommentar zu Buch VII 891

bisque quadringenti decies sex bisque quaterni: Nach Alexanders


Totenklage folgt eine ausführliche Ekphrasis des von Apelles errich-
teten Darius-Grabmals, das anders als das seiner Ehefrau Stateira
nicht mit biblischen Szenen geschmückt ist, sondern eine nach dem
T-O-Schema angefertigte Weltkarte zeigt, auf der sich die geographi-
schen Vorstellungen des Mittelalters wiederfinden (vgl. Komm. VII,
379–430; zur Stellung der Ekphrasis des Darius-Grabmals innerhalb
der Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2; zur Stellung des
Darius-Grabmals innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis
vgl. Einleitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79; zu Apelles vgl.
Komm. IV, 176–179). ⇔ Das am äußeren Kartenrand umlaufende O
bezeichnet dabei den schon von Homer und Hesiod beschriebenen
erdumfließenden Ozean, das innere T wird als Trennlinie zwischen
den Kontinenten vom Mittelmeer (die senkrechte Linie), vom Don,
dem Nil, den Dardanellen und dem Schwarzen Meer (die waagrech-
te Linie) gebildet. Auf der üblicherweise nach Osten ausgerichteten
Karte erstreckt sich Asien über die gesamte obere Hälfte und ist so
groß wie die beiden im unteren Teil der Karte liegenden Kontinente
Afrika und Europa zusammen (zu mittelalterlichen geographischen
Vorstellungen vgl. Komm. I, 396–426). Nach einer zuerst unspezi-
fischen Beschreibung von Landschaften mit ihren jeweiligen Cha-
rakteristika folgt die Besprechung allgemein bekannter Gebiete mit
ihren landestypischen Begebenheiten, wie etwa der durch den Nil
bedingten Fruchtbarkeit Ägyptens oder dem wertvollen Elfenbein
der Inder. Walter lässt es sich zudem nicht nehmen, durch bewusst
angelegte Anachronismen – erwähnt werden Francia, das hier
wohl in der engeren Bedeutung von Franzien als Land um die Île
de France zu verstehen ist, und die Champagne –, auf seine eigene
Herkunft im Nordosten Frankreichs hinzuweisen (vgl. Wulfram
2000, 266). Das antike Klischee von der Qualität des in Italien an-
gebauten kampanischen Weins überträgt Walter auf die seit dem 6.
Jh. n. Chr. auch mit Campania bezeichnete französische Cham-
pagne (vgl. Wulfram 2000, 266, Anm. 136). Mit der Normandie
892 KOmmentar

und England, letzteres mit der Erwähnung des sagenhaften Königs


Arthur, ergänzt Walter seine anachronistische Darstellung um jene
Landschaften, die unter einem etwas weiter gefassten Blickwinkel
zur Einflusssphäre der französischen Kultur gehören. Weitere Völker
wie das der habsüchtigen Ligurer und der rasenden Teutonen run-
den Walters vornehmlich von Stereotypen geprägte Beschreibung
ab. ⇔ Der Unterschied in der Gestaltung des Darius-Grabmals lässt
sich dahingehend deuten, dass mit Darius’ Tod der Übergang vom
medisch-persischen Reich zum Reich Alexanders ungeachtet noch
einiger weniger ausstehender Kämpfe – angesprochen sind dabei die
zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfolgte Eroberung des am Südufer
des Kaspischen Meeres gelegenen Hyrkanien und die noch fehlende
Abrechnung mit den Königsmördern Bessus und Narbazanes – in
ihrem Kern dennoch abgeschlossen ist (vgl. Wiener 2001, 88). In
dieselbe Richtung weist auch die auf Darius’ Grabmal von Apelles
angebrachte Inschrift, auf welcher der Künstler nicht nur das alttes-
tamentliche Wissen von der Schöpfung der Welt bis zu Darius’ Tod
zusammenfasst und mit 4868 Jahren zudem eine exakte Datierung
vornimmt, sondern mit der expliziten Erwähnung der Danielpro-
phetie und der Epithetisierung Alexanders als totius malleus orbis
zudem auch deutlich macht, dass der makedonische König seine
von der christlichen Heilsgeschichte vorgesehene Aufgabe zu die-
sem Zeitpunkt im Wesentlichen erfüllt hat (zur Bedeutung der bi-
blisch konnotierten Epithetisierung Alexanders in der Alexandreis
vgl. Einleitung 7.2). Velte (2021), 104–105 bringt diesen wichtigen
Sachverhalt wie folgt zum Ausdruck: »Die Darstellung [gemeint ist
die Weltkarte auf Darius’ Grabmal] zielt auf Globalität, sie möchte
schlechterdings die ganze Welt darstellen, um dadurch die histori-
sche Abfolge der Weltreiche zu evozieren, deren Wendepunkt Da-
rius’ Tod markiert. […] Das Grabmal fungiert damit [gemeint ist der
Sachverhalt, dass Darius namentlich nirgendwo auf dem Grabmal
erscheint] nicht primär als Ausstellungsfläche der Persönlichkeit
und der Taten des persischen Königs, sondern offenbart dessen Platz
Kommentar zu Buch VII 893

in der Geschichte als letzten Vertreter einer Dynastie, die durch Ale-
xander beendet wird.« Dabei ist es im Kontext dieser Darstellung
wichtig zu verstehen, dass der Prozess der Bedeutungszuschreibung
lediglich zwischen dem auktorialen Erzähler und den mittelalterli-
chen Rezipienten stattfindet, da Alexander – obgleich Stifter und
Auftraggeber des Darius-Grabmals – vom Wissen über den Beginn
des von Daniel prophezeiten dritten Weltreichs ausgeschlossen ist
(vgl. Velte 2021, 104; zum Begriff Weltreich vgl. Einleitung 7.2).

Alexander zwischen Perserreich und Welteroberung (431–538)

Alexanders angemessene Gebefreudigkeit (431–435)

431–435 Interea meritos ad donativa quirites | invitat Macedo, ge­


mitus et vulnera largis | curat muneribus … sollempnes epulas et Bachi
gaudia totis | instaurat castris: Walter kehrt nach der Beschreibung
des Darius-Grabmals mit der Darstellung der weiteren Pläne des
makedonischen Königs zur eigentlichen Erzählung zurück. Alex-
ander beschenkt seine Soldaten für die geleisteten Dienste im nun
kurz vor dem endgültigen Abschluss stehenden Perserfeldzug über-
aus großzügig. ⇔ Damit verweist Walter zum wiederholten Mal
auf die Tugendhaftigkeit Alexanders, der es versteht, seine Soldaten
nach einer gewonnenen Schlacht entsprechend den Anforderungen
der aristotelischen Tugend der angemessenen Gebefreudigkeit reich
zu entlohnen und somit die angeschlagene Psyche und die Wunden
seiner Soldaten zu heilen (vgl. Komm. I, 144–151).

Alexanders Welteroberungspläne (435–466)

435–466 Ergo dum pocula tractat | deliciisque vacat diffusus in ocia


miles … Oritur per castra tumultus  | leticiae, mixtosque ferunt ad
894 KOmmentar

sydera plausus … Applaudit curia regi | promittitque suas in cuncta


pericula vires, | iussa secuturos proceres et mobile vulgus | si modo blan­
diciis dubias permulceat aures: Während eines Gelages macht sich
im griechischen Lager ein Gerücht breit, wonach Alexander nach
dem durch Darius’ Tod erfolgreich beendeten Kampf gegen die Per-
ser die Heimreise nach Griechenland antreten möchte. Ohne den
Wahrheitsgehalt des Gerüchts zu prüfen, packen die Soldaten ihre
Habseligkeiten zusammen und bereiten sich auf den vermeintlichen
Abmarsch vor. Als Alexander davon erfährt, ist er im ersten Moment
derartig erschüttert, dass er zu keiner vernünftigen Reaktion fähig
ist (vgl. Alex. VII, 450: contraxitque furor laxas rationis habenas).
Erst als er sich ein wenig beruhigt hat, vermag er sich seinen versam-
melten Generälen mitzuteilen. Tränenüberströmt führt er erbittert
Klage darüber, dass er von seinen eigenen Männern ausgerechnet an
der Schwelle zum endgültigen Sieg über die Perser daran gehindert
werde, sich auch der Herrschaft über die ganze Welt zu bemächti-
gen (vgl. Alex. VII, 454–456: in ipso | limine Alexandro mundi tocius
apertum | precludi imperium). ⇔ Indem Walter an dieser Stelle die
über das Perserreich hinausgehenden Welteroberungspläne Alex-
anders thematisiert, gibt er noch innerhalb des heilsgeschichtlich
legitimierten Rahmens des Perserkriegs mit diesem als Vorverweis
zu verstehenden Abschnitt einen Fingerzeig auf den Zeitraum nach
dem Perserkrieg – beginnend mit Buch VIII erobert der makedoni-
sche König zuerst das Volk der Skythen, um in der Folge dann auch
den Inderkönig Porus zu unterwerfen und in die Gefilde der Anti-
poden vorzudringen –, in welchem sich Alexander auf die jeweilige
Situation bezogen anders als im Rahmen des heilsgeschichtlich legi-
timierten Perserfeldzugs ganz konkret mit dem christlich motivier-
ten Vorwurf der Hybris konfrontiert sehen wird (zur Funktion der
Vorverweise in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4; zur Bedeutung
der an der vorliegenden Stelle zum Ausdruck gebrachten Welterobe-
rungspläne Alexanders innerhalb der Struktur des Perserkriegs vgl.
Einleitung 7.3). ⇔ Alexanders Generäle spenden den Worten ihres
Kommentar zu Buch VII 895

Anführers Beifall, geloben ihm Gefolgschaft und fordern ihn auf,


die im Adel und im einfachen Volk vorhandenen Zweifel über sein
weiteres Vorgehen mit schmeichelnden Worten zu zerstreuen.

Alexanders Ansprache an die griechischen Soldaten (467–538)

467–538 Ergo tribunali posito ducibusque citatis, | in facie procerum


plebisque astante caterva, | cepit Alexander … Ergo avidis pugnae ten­
toria vellere Magnus | imperat et rapido cursu bachatur in hostem:
Alexander ruft seine Soldaten für eine Ansprache zusammen. Darin
geht Alexander anders als im Gespräch mit seinen Generälen kurz
zuvor mit keinem einzigen Wort auf seine über die Eroberung des
Perserreichs hinausreichenden Welteroberungspläne ein, sondern
versucht seinen Männern lediglich vor Augen zu führen, dass mit
Darius’ Tod die Eroberung des Perserreichs zum momentanen Zeit-
punkt noch nicht endgültig vollzogen ist. Dieses durchaus nicht un-
kluge Vorgehen Alexanders ist wohl der Tatsache geschuldet, dass er
seinen Soldaten nicht zumuten möchte, sich zu diesem Zeitpunkt
gedanklich bereits mit der Zeit nach dem Perserkrieg zu beschäfti-
gen, um nicht den noch ausstehenden endgültigen Sieg über den
Erbfeind zu gefährden. Zu Beginn seiner Rede äußert Alexander
sein Verständnis für das Ansinnen seiner Soldaten, in die Heimat
zurückkehren zu wollen und lobt sie ausdrücklich für ihre Leistung,
die Griechen vom persischen Joch befreit zu haben (vgl. Alex. VII,
469–480). Mit diesen verständnisvollen und auch – wie von seinen
Generälen geraten – schmeichelnden Worten gelingt es Alexander,
die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer auf die eigentliche Botschaft
seiner Rede zu lenken: Das von ihnen mit großem Einsatz eroberte
Reich sei noch nicht hinreichend gefestigt, da sich die widerspensti-
gen Perser noch nicht an die griechische Herrschaft gewöhnt hätten
(vgl. Alex. VII, 481–497). Dieser Umstand erfordere die unbedingte
Anwesenheit griechischer Truppen, da die Feinde, die zwar schon
896 KOmmentar

besiegt, aber ungeachtet aller bisherigen Erfolge noch immer nicht


vollständig bezwungen seien, bei einem Abzug der griechischen
Truppen ohne Zögern die Gelegenheit zum Aufstand nutzen wür-
den (vgl. Alex. VII, 498–500). Auch wenn Darius nicht mehr unter
den Lebenden weile, rüsteten Bessus und Narbazanes bereits wieder
zum Kampf. Erneut verurteilt Alexander dabei die beiden Verschwö-
rer und Königsmörder überaus scharf und bezeichnet sie als zu ewi-
ger Dienerschaft geborene Vasallen – eternum nati servire clientes –,
die auf keinen Fall ungeschoren davonkommen dürften (vgl. Alex.
VII, 501–506; zum sklavenhaften Charakter der beiden Verschwörer
und der damit einhergehenden Bezugnahme Walters auf die Aristo-
teles-Rede vgl. Komm. VII, 59–90). Mit dem strategischen Argu-
ment, dass ein Feind im Rücken für ein abziehendes Heer ebenso
wie für das bereits eroberte Gebiet eine nicht zu unterschätzende
Gefahr darstelle und man den Feind durch das eigene Fehlverhalten
nicht unnötigerweise wieder stärken dürfe, führt Alexander seinen
Soldaten zudem die fatalen Folgen eines verfrühten Abzugs auch für
die eigene Sicherheit deutlich vor Augen (vgl. Alex. VII, 506–515).
Zuletzt appelliert er an das Ehrgefühl seiner Soldaten und macht
ihnen klar, dass sie die schlimmen Entbehrungen des Perserfeldzugs
nicht deshalb auf sich genommen hätten, um am Ende Darius’ Mör-
dern das Feld zu überlassen, zumal es sich dabei um eine nicht mehr
allzu schwierige und auch nicht besonders zeitaufwendige Aufgabe
handle (vgl. Alex. VII, 516–533). ⇔ Mit der Ansprache Alexanders
an seine Soldaten macht Walter zum wiederholten Mal in der Ale­
xandreis deutlich, dass es dem makedonischen König bei seinen
Taten grundsätzlich um wahren Ruhm geht, der entsprechend der
Vorgaben der Aristoteles-Rede nur durch ein tugendhaftes Verhal-
ten erworben werden kann (zur Unterscheidung von wahrem und
eitlem Ruhm in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.4). Beispiels-
weise spricht Alexander zu Beginn seiner Rede jenen Ruhm an, den
sich seine Soldaten durch ihre auf dem Schlachtfeld errungenen Sie-
ge verdient haben (vgl. Alex. VII, 473: et celebris vestras attollat glo­
Kommentar zu Buch VII 897

ria pugnas). Später verkündet er seinen Männern, dass ihnen ewiger


Ruhm bei der Nachwelt nur beschieden sein werde, wenn Bessus
und Narbazanes durch ihren Einsatz am Ende ihre verdiente Strafe
erhalten hätten (vgl. Alex. VII, 526–529: Memoranda per evum | glo­
ria cum servos vestro mediante labore | audierit domino penas solvisse
perempto | credula posteritas). Zuletzt betont er noch einmal, dass sie
nur durch diese für den Erfolg im Perserkrieg bedeutsame Tat ewi-
gen Ruhm erlangen könnten (vgl. Alex. VII, 531–533: Hoc uno, miles,
honorem | perpetuare tuum … conciliare potes). ⇔ Die mitreißende
Rede des makedonischen Königs verfehlt ihre Wirkung nicht, die
Soldaten brechen auf der Stelle die Zelte ab und ziehen weiter gegen
den persischen Feind (zur Überzeugungskraft Alexanders als Teil-
bereich der aristotelischen Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. VII,
106–127; vgl. auch Komm. I, 118–127).
Einführung zu Buch VIII
Nachdem es Alexander am Ende des siebten Buchs gelungen war,
seine Soldaten von der überstürzten Rückkehr in die griechische
Heimat abzuhalten, schildert Walter zu Beginn von Buch VIII die
Unterwerfung der am Südufer des Kaspischen Meeres lebenden
Hyrkaner (vgl. Komm. VIII, 1–5; zur Stellung der Eroberung Hyr-
kaniens innerhalb der Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2).
Da alle weiteren Episoden – insbesondere die Philotas-Verschwö-
rung sowie die Gefangennahme und die Hinrichtung des Bessus –
nicht mehr zu einer territorialen Erweiterung des eroberten Gebiets
führen, ist mit diesem letzten Sieg auf persischem Boden für den
mittelalterlichen Autor der von der christlichen Heilsgeschichte
legitimierte Übergang vom medisch-persischen Reich zum Alexan-
derreich endgültig abgeschlossen.
Die in mehrfacher Hinsicht für Alexander äußerst problemati-
sche und sich länger als ein Jahr hinziehende Eroberung der in Zen-
tralasien gelegenen persischen Satrapie Sogdien – diese sich jenseits
des Oxus abspielende und für die endgültige Eroberung des Perser-
reichs nicht unbedeutende Episode konnte erst durch Alexanders
Vermählung mit der baktrischen Prinzessin Roxane zu einem aus
griechischer Sicht glücklichen Ende gebracht werden – bleibt bei
Walter indes unerwähnt. Dieser auf den ersten Blick erstaunliche
Umstand wird erst verständlich, wenn man die diesbezügliche Dar-
stellung bei Curtius hinzuzieht. Wie Müller (2016) 28 aufzeigt,
blendet Walters wichtigste historische Vorlage den in diesem Kon-
text relevanten politischen Hintergrund völlig aus – den Umstand
nämlich, dass die Heirat nach dem Versagen militärischer Mittel
tatsächlich die einzige Möglichkeit gewesen war, die in Sogdien aus-
gebrochene und bis nach Baktrien reichende persische Revolte zu
beenden – und stellt Alexanders Ehe mit Roxane ausnehmend nega-
Einführung zu Buch VIII 899

tiv lediglich als peinliche Mésalliance dar, die für den antiken Histo-
riker ausschließlich in Alexanders unkontrollierter libido begründet
liegt. Überdies stellt Alexander in Curtius’ Darstellung einen Selbst-
vergleich mit Achilles an, um diese Heirat vor seiner Führungsrie-
ge zu rechtfertigen, der vom antiken Autor in auffälliger Weise zur
ironischen Negativstilisierung Alexanders genutzt wird (vgl. Curt.,
Hist. Alex. VIII, 4, 22–30). Offenbar hat Walter mit der Auslassung
dieser langwierigen und beinahe misslungenen Eroberung von Sog-
dien der maßgeblichen Intention seines Epos folgend – der zeitge-
nössischen Suche nach einem alexanderhaften christlichen Anfüh-
rer im Kampf gegen die muslimischen Feinde – wie an zahlreichen
anderen Stellen der Alexandreis auch kein Interesse daran, den
makedonischen König noch innerhalb des heilsgeschichtlich legiti-
mierten Perserkriegs auf der Erzählebene des Epos einer moralischen
Kritik zu unterziehen (zu Walters bewussten Abweichungen von
Curtius vgl. Einleitung 3; zur tropologischen Ebene der Alexandreis
bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Gerade
vor dem Hintergrund von Forschungsansätzen, die in Alexanders
Darstellung bei Walter bereits innerhalb des heilsgeschichtlich legi-
timierten Perserkriegs eine kritische Distanzierung des Autors der
Alexandreis von seinem wichtigsten Protagonisten wahrnehmen
wollen und dabei die Ansicht vertreten, Walter inszeniere den ma-
kedonischen König bewusst als homerischen Helden, um sich kri-
tisch von diesem als einem verantwortungslosen Herrscher absetzen
zu können, ist es doch äußerst bemerkenswert, dass Walter auch an
dieser Stelle nicht einmal ansatzweise die für diese Interpretation
günstige Gelegenheit nutzt, Alexander in Anlehnung an seine histo-
rische Hauptquelle als in Bezug auf seine militärischen Fähigkeiten
limitierten und moralisch wenig nachahmenswerten Feldherrn und
König zu diskreditieren (zur moralischen Beurteilung Alexanders in
der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4).
Diese Erkenntnis lässt sich auch anhand der von Walter über den
gesamten Perserkrieg aufgespannten Struktur stützen, innerhalb
900 KOmmentar

derer die mühelose Eroberung von Hyrkanien zusammen mit der


in Buch I geschilderten kampflosen Eroberung von Kilikien und
Phrygien eine äußere kompositorische Klammer bildet, die in ihrer
gliedernden Funktion des epischen Geschehens als eigene und in
sich konsistente Einheit innerhalb der Alexandreis auf bemerkens-
werte Art und Weise die heilsgeschichtliche Dimension des Perser-
kriegs auch unter gestalterischen Gesichtspunkten widerzuspiegeln
vermag (vgl. Komm. I, 359–385; zur Struktur des Perserkriegs vgl.
Einleitung 7.2; vgl. auch die Einführung zu Buch I).
Als Alexander nach Baktra aufbrechen möchte, um den Da-
rius-Mörder Bessus seiner gerechten Strafe zuzuführen, erfährt
der makedonische König von der Verschwörung des Philotas (vgl.
Komm. VIII, 75–91). Walter nutzt diese Episode, um erstmals in der
Alexandreis auch auf der Ebene der eigentlichen Erzählung seinen
wichtigsten Protagonisten einer punktuellen Kritik zu unterziehen,
die insbesondere mit Alexanders Streben in Zusammenhang steht,
als Jupiters Sohn gelten zu wollen. Mit diesem Anspruch auf Gott-
gleichheit zieht Alexander nämlich den Vorwurf der Maßlosigkeit
auf sich, der von Walter im weiteren Verlauf des Epos zum bestim-
menden Element der christlich motivierten Kritik ausgebaut wird.
Dieser an Alexander gerichtete moralische Vorwurf lässt sich an die-
ser Stelle auch nicht – wie dies Wiener versucht – mit dem Argument
abschwächen, dass Walter diesen Anklagepunkt im Philotas-Prozess
vorbringen musste, da er in seiner Darstellung beinahe wortgetreu
Curtius folgt und er das Thema der göttlichen Abstammung dazu
benutzt, um vor allem Philotas und weniger Alexander zu charakte-
risieren (vgl. Wiener 2001, 29–30). Denn auch bei der Schilderung
von Alexanders Besuch in der Oase Siwa, der bei Curtius explizit
mit Alexanders Bestreben in Verbindung gebracht wird, als Sohn
Jupiters gelten zu wollen, folgt Walter in derselben Weise seiner his-
torischen Hauptquelle. Dennoch gelingt es ihm in der eigentlichen
Erzählung ausgerechnet dort, wo der eigentliche Ursprung dieser
moralischen Verfehlung liegt, den in seiner historischen Vorlage sei-
Einführung zu Buch VIII 901

nem wichtigsten Protagonisten gegenüber intendierten kritischen


Ton bewusst durch gezielte Auslassungen vollständig auszublenden
(vgl. Komm. III, 370–407). Demzufolge hätte Walter eben diesen
Vorwurf, den er bei Alexanders Besuch in der Oase Siwa noch aus-
gespart hatte, auch im Philotas-Prozess ausblenden können, zumal
Parmenion und Philotas mit ihrem immer wieder kritischen Ver-
halten gegenüber ihrem König Anlass genug geboten haben, dessen
Argwohn zu wecken. Dazu hätte es nicht des Vorwurfs bedurft, er
halte sich für Jupiters Sohn und strebe Gottgleichheit an.
Auch Walters über den Begriff des iudex iniquus transportier-
te Kritik am feindseligen und ungerechten Verhalten Alexanders
gegenüber Philotas im Prozess selbst muss dahingehend gedeutet
werden, dass sein wichtigster Protagonist auch aus antik-paganer
Sicht im Auftreten gegenüber seinen eigenen Männern in mora-
lischer Hinsicht nicht mehr der unangreifbaren Herrscherfigur
entspricht, wie sie vom Autor der Alexandreis noch innerhalb des
heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs gezeichnet wurde (vgl.
Komm. VIII, 158–184; zur Stellung der Philotas-Verschwörung in-
nerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung 7.3; vgl.
auch Gartner 2018, 73–79).
Im Anschluss an die Darstellung der Philotas-Verschwörung
nutzt Walter das wechselvolle Leben des griechischen Generals, das
vom rasanten Aufstieg zum Anführer der Reiterei bis zur Verurtei-
lung als Rädelsführer einer Verschwörung gegen Alexander reicht,
zu einem Autorexkurs über die Bedeutungslosigkeit eitlen Ruhms
(vgl. Komm. VIII, 323–334; zum Unterschied zwischen wahrem und
eitlem Ruhm vgl. auch die Einführung zu Buch IV; vgl. auch Ein-
leitung 7.4).
Nach der Gefangennahme und der Hinrichtung des Bessus, der
von den Persern dem anrückenden makedonischen König mehr
oder minder freiwillig ausgeliefert wird, widmet sich Walter aus-
führlich der Unterwerfung der Skythen (vgl. Alex. VIII, 358–495).
Mit dem Angriff auf das Reich des nomadischen Reitervolks be-
902 KOmmentar

wegt sich Alexander im Kontext seiner Eroberungen erstmals auch


territorial außerhalb des heilgeschichtlich legitimierten Perserkriegs.
Insofern ist es nicht weiter überraschend, dass er dabei vom mit-
telalterlichen Autor massiv mit dem Vorwurf der Hybris bedacht
wird. Interessant ist dabei die formale Struktur dieses Abschnitts,
mit der ausgehend von einer äußeren Klammer – gebildet von einer
Beschreibung des skythischen Volks zu Beginn und dem nur kurz er-
wähnten Sieg Alexanders am Ende – sowie einer weiteren Klammer
im Inneren die beiden aus christlicher Sicht zentralen Vorwürfe hin-
sichtlich Alexanders Maßlosigkeit in den Mittelpunkt der Betrach-
tung gerückt werden (zur moralischen Beurteilung Alexanders in
der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). Dabei wird die in der Mitte der
Darstellung zur Sprache gebrachte grenzenlose Eroberungswut des
makedonischen Königs in zwei Passagen eingebettet, die Alexanders
maßloses Streben nach Gottgleichheit thematisieren. Mit einer sol-
chen formalen Anordnung der an Alexander gerichteten Vorwürfe
gelingt es Walter, über die innere Struktur der Skythen-Episode die
inhaltliche Aussage seiner an den makedonischen König gerichteten
moralischen Kritik zusätzlich zu unterstreichen (zur Stellung der
Skythen-Episode innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl.
Einleitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79).
Den Abschluss von Buch VIII bildet Walters Schilderung der
Reaktion der östlichen Völker auf den Sieg Alexanders gegen die
Skythen (vgl. Komm. VIII, 496–513). Ungeachtet der christlich mo-
tivierten Kritik durch den Autor der Alexandreis im Kontext der zu-
vor wiedergegebenen Skythen-Episode schildert dieser seinen wich-
tigsten Protagonisten aus antik-paganer Sicht dabei nach wie vor als
tugendhaften Feldherrn und König, der bei seinen Eroberungen we-
der hartherzig noch habgierig vorgeht, sondern manche Völker mit
seiner überall bekannten Milde gegenüber Besiegten bisweilen sogar
zur freiwilligen Akzeptanz seiner Herrschaft veranlasst.
Kommentar zu Buch VIII
Themenübersicht (1–10)

C 1–2 Hyrcanos domat octavus nec iniqua ferentem | vota pharetra­


tam presentat Amazona regi: Mit Alexanders unspektakulärem Sieg
über die am Südufer des Kaspischen Meeres lebenden Hyrkaner –
stilistisch als brevitas mit lediglich zwei Worten gleich zu Beginn der
Themenübersicht entsprechend zum Ausdruck gebracht – beendet
Walter seine Darstellung über den Perserfeldzug, um sogleich auf
den überraschenden Besuch der Amazonen im griechischen Lager
einzugehen, deren Anführerin Thalestris dem makedonischen Kö-
nig den Wunsch unterbreitet, mit ihm einen Nachkommen zu zeu-
gen (vgl. Komm. VIII, 1–5; vgl. auch Komm. VIII, 6–48).

C 3 Uruntur gaze Macedum, mirabile factu: Die Nachricht, dass


sich Darius’ Mörder Bessus auf seiner Flucht nach Baktra zurück-
gezogen hat und bereits Vorbereitungen für einen erneuten Kampf
trifft, veranlasst Alexander, den sofortigen Aufbruch in die im
Nordosten des Perserreichs gelegene Provinz Baktrien in die Wege
zu leiten. Um die Bewegungsfreiheit und die inzwischen nicht mehr
in ausreichenden Maße vorhandene Marschgeschwindigkeit des
griechischen Heeres wiederherzustellen, lässt Alexander – Walter
kommentiert dieses überaus tugendhafte Vorgehen seines wichtigs-
ten Protagonisten hinsichtlich der Tugend der angemessenen Gebe­
freudigkeit mit den lobenden Worten mirabile factu – alle bisher
erbeuteten Schätze verbrennen (vgl. Komm. VIII, 49–74).

C 4–5 Detegitur Dymi facinus, sequiturque nefandus | in castris ge­


mitus oratio morsque Phylotae: Die Verschwörung des Philotas ver-
hindert indes den Aufbruch des griechischen Heeres nach Baktrien
904 KOmmentar

und die weitere Verfolgung von Darius’ Mörder Bessus. Nach Ale-
xanders Anklagerede versucht Parmenions Sohn, sich in Abwesen-
heit seines Königs zu verteidigen, kann die versammelten Griechen
jedoch nicht von seiner Unschuld überzeugen. Unter der Folter ge-
steht er, als Drahtzieher zusammen mit einigen anderen Männern
Alexanders Ermordung geplant zu haben, wofür er schließlich auch
hingerichtet wird. ⇔ Mit der Philotas-Verschwörung beginnt Wal-
ter erstmals in der Alexandreis punktuell auch die in Alexanders
Maßlosigkeit begründeten Schattenseiten seines wichtigsten Pro­
tagonisten innerhalb der eigentlichen epischen Erzählung näher zu
beleuchten, die während des heilsgeschichtlich legitimierten Perser-
kriegs bisher lediglich in Vorverweisen und Ausblicken auf die Zeit
nach dem Perserkrieg – vom epischen Geschehen mehr oder minder
deutlich abgegrenzt – eingebettet waren. Im Philotas-Prozess wird
von Walter dabei aus christlicher Sicht insbesondere Alexanders
verwerfliches Streben nach Gottgleichheit angeprangert, aber auch
aus antik-paganer Perspektive sein gegenüber dem Angeklagten mit-
unter fragwürdiges persönliches Verhalten einer kritischen Betrach-
tung unterzogen (vgl. Komm. VIII, 75–322).

C 6–7 Impius attrahitur monstrum inplacabile Bessus, | suspensus­


que piat manes patricida paternos: Darius’ Mörder Bessus wird von
den Persern an Alexander ausgeliefert und von Darius’ Bruder, der
sich seit einiger Zeit dem makedonischen König angeschlossen hat-
te, zu Tode gebracht. Walter betont Bessus’ Ruchlosigkeit an dieser
Stelle stilistisch elegant mit einem über den ganzen Vers gespannten
und aus den Worten impius und Bessus bestehenden Hyperbaton,
wobei die verwerfliche charakterliche Disposition des Verräters in
betonter Stellung gleich zu Beginn des Verses genannt wird (vgl.
Komm. VIII, 335–357) .

C 8–10 Arma Scitis infert Macedo. Legatio postquam  | nil agit et


monitus non flectunt principis iram, | gens invicta prius victori subdi­
Kommentar zu Buch VIII 905

tur orbis: Nach dem Sieg über Hyrkanien als letzter der von Walter
geschilderten persischen Satrapien und der damit einhergehenden
Erfüllung seines christlichen Heilsauftrags greift Alexander mit dem
bis zu diesem Zeitpunkt noch unbesiegten nomadischen Reitervolk
der Skythen erstmals auch ein Volk an, das nicht mehr zum gerade
von Alexander eroberten Herrschaftsbereich der Perser gehört. Mit
der Unterwerfung der Skythen finden die im Kontext der Philotas-
Verschwörung bereits punktuell zur Sprache gebrachten kritischen
Töne hinsichtlich Alexanders Maßlosigkeit ihre deutlich vernehm-
bare und ausführliche Fortsetzung. Zentraler Vorwurf ist dabei
neben der grenzenlosen Eroberungswut des makedonischen Königs
erneut dessen Streben nach Gottgleichheit, der über die Rede eines
skythischen Barbaren an ihn herangetragen wird und ihm die Mah-
nung zukommen lässt, den Bogen nicht zu überspannen und das
rechte Maß nicht zu verlieren. Freilich bleiben die Worte des Bar-
baren ohne Wirkung auf Alexander, so dass auch das vormals unbe-
siegte Skythenreich in dessen Machtbereich eingegliedert wird (vgl.
Komm. VIII, 358–495).

Die Eroberung von Hyrkanien (1–5)

1–5 Memnonis eterno deplorans funera luctu … Hyrcanos subiit ar­


mato milite fines: Mit der aus militärischer Sicht unproblemati-
schen Einnahme von Hyrkanien findet in nur wenigen Versen der
letzte in der Alexandreis im Kontext der Eroberung des Perserreichs
beschriebene Feldzug Alexanders Erwähnung (zur bewussten Aus-
sparung des persischen Aufstands in Sogdien bei Walter vgl. die
Einführung zu Buch VIII; vgl. auch Einleitung 3). Da die nach der
Philotas-Verschwörung geschilderte Gefangennahme des Bessus in
Walters Darstellung nicht mehr zu einer territorialen Erweiterung
des eroberten Gebiets führt, ist mit diesem Sieg über die am Südufer
des Kaspischen Meeres lebenden Hyrkaner für den mittelalterlichen
906 KOmmentar

Autor der von der christlichen Heilsgeschichte legitimierte Über-


gang vom medisch-persischen Reich zum Alexanderreich endgültig
abgeschlossen (zur Stellung der Hyrkanien-Episode innerhalb der
Struktur des Perserkriegs vgl. Einleitung 7.2).

Die Amazonenkönigin Thalestris (6–48)

6–48 Quos ubi perdomuit vitamque cruentus ab ipso | Narbazanes


molli Bagoa supplicante recepit … et quod querebat adepta | ad soli­
um regni patriasque revertitur urbes: Die von Walter in enger An-
lehnung an Curtius’ Darstellung gestaltete Episode um den Besuch
der Amazonen und ihrer Königin Thalestris im griechischen Lager
lässt sich in drei Abschnitte gliedern (vgl. Curt., Hist. Alex. VI, 5,
24–32). Im ersten Abschnitt geht Walter nach der Beschreibung von
deren Herkunft aus der Gegend zwischen dem Kaukasus und dem
ins Schwarze Meer mündenden Phasis und nach der Feststellung,
dass sie in diesem Gebiet die Herrschaft ausüben, auch auf das un-
gewöhnliche Aussehen der Amazonen ein, als deren markantestes
Merkmal er die ausgebrannte rechte Brust nennt, die es den Frau-
en ermöglichen soll, Bogen und Speer besser zu tragen (vgl. Alex.
VIII, 8–23). Im zweiten Abschnitt schildert Walter das Erstaunen
der Amazonenkönigin, die sich nur schwer mit der aus ihrer Sicht
gewöhnungsbedürftigen Vorstellung anfreunden kann, dass einem
körperlich doch eher kleinen Mann wie Alexander eine so große
Tugendhaftigkeit innewohnt (vgl. Alex. VIII, 24–35). Im dritten
Abschnitt schließlich wird dann auch der Grund für den Besuch
der Amazonenkönigin genannt, der darin liegt, dass sie ungeach-
tet ihrer anfänglichen Vorbehalte gegenüber Alexander mit diesem
einen Nachkommen zeugen möchte (vgl. Alex. VIII, 36–48). ⇔
Wie Harich (1987) 204 anmerkt, ist Walters enge Anlehnung an
Curtius’ Schilderung der Thalestris-Episode der bis auf Homer zu-
rückreichenden Tradition des antiken Heldengedichts geschuldet,
Kommentar zu Buch VIII 907

die den Typus der reitenden Kämpferin in der lateinischen Literatur


mit der in Vergils Aeneis beschriebenen Volskerin Camilla und der
amazonenhaften Jungfrau Asbyte aus den Punica des Silius Italicus
geprägt hat (vgl. Verg., Aen. XI, 432–433; vgl. auch Sil. Ital., Pun.
II, 58–88). ⇔ Wie Rombach (2008) 83 aufzeigen kann, geht Walter
in seiner Charakterisierung der Amazonenkönigin als Barbarin je-
doch über die bei Curtius bereits vorhandene Distanzierung gegen-
über dem Fremden noch deutlich hinaus. Thalestris kehrt nicht nur
wie bereits von Curtius geschildert mit ihrem offensiv vorgetrage-
nen Wunsch, mit Alexander einen Nachkommen zeugen zu wollen,
die Geschlechterrollen um, sondern muss in Walters Darstellung
aufgrund ihrer im Vergleich zur griechischen Welt fehlenden phi-
losophischen Bildung auch eine bei Curtius nicht in diesem Aus-
maß intendierte Abwertung hinnehmen, die damit zum Ausdruck
gebracht wird, dass der Autor der Alexandreis die Vorstellung der
Amazonenkönigin, dass der Ruhm eines Mannes mit dessen Kör-
pergröße korrespondieren müsse, im pejorativen Sinne als barbara
simplicitas bezeichnet (vgl. Alex. VIII, 28). Ihre schlichte Vorstel-
lung wird von Walter umgehend mit einer von Curtius unabhängi-
gen philosophischen Sentenz widerlegt, wonach auch in einem we-
niger großen Körper bisweilen ein großer und starker Geist regiere,
und in den Körpergliedern eine versteckte Kraft vorhanden sei, die
den Rahmen des Körpers zu sprengen vermag (vgl. Alex. VIII, 33–
35). Mit der philosophischen Widerlegung ihrer primitiven Ansicht
bildet Walter kontrastierend jedoch nicht nur Alexanders Bildungs-
vorsprung gegenüber der Barbarin Thalestris ab, sondern inszeniert
sich mit dem von ihm vorgetragenen platonischen Antagonismus
von Körper und Geist auch selbst als ausgewiesenen Kenner der an-
tiken Philosophie. Rombach (2008) 83 bringt diesen Sachverhalt
wie folgt auf den Punkt: »Hier wird […] Walters Vertrautheit mit
dem platonischen Gedankengut des 12. Jahrhunderts ebenso deut-
lich wie das Bestreben, philosophische Erkenntnisse und ethische
Normen in sentenzenhafter Form protreptisch und didaktisch auf-
908 KOmmentar

zubereiten. Das prodesse […] steht gleichberechtigt neben dem delec­


tare, das durch die Alterität der Amazonen und ihrer Lebensweise
ausgelöst wird. Verschiedene Bereiche antiker Wissensbestände aus
Geschichte und Philosophie werden abgerufen und in der Trans-
formation miteinander verbunden.« Sicherlich dürfte unter dem
Aspekt des delectare gerade auch das Fremde und Wundersame eine
Rolle für die Übernahme der Amazonen-Episode in die Alexan­
dreis gespielt haben, die sich ansonsten bekanntermaßen nicht der
romanhaften Tradition verpflichtet fühlt (vgl. Harich 1987, 204).
⇔ Somit stellt ungeachtet der Nähe zum antiken Vorbild diese dem
Mythos entstammende Episode keine bloße Versifikation Walters
dar, sondern bekommt durch nur geringfügige Modifizierungen des
mittelalterlichen Autors eine ganz eigene, über die historische Vor-
lage hinausgehende Bedeutung innerhalb des epischen Geschehens
zugewiesen. Obwohl Thalestris Alexanders Frage nach Waffenhilfe
mit der Begründung ablehnt, in ihrem eigenen Reich für Ordnung
sorgen zu müssen, lässt sich der makedonische König dennoch auf
den Wunsch der Amazonenkönig ein, mit ihr einen Nachkommen
zu zeugen. Nach dreizehn Nächten ziehen die Amazonen schließ-
lich mit ihrer von Alexander schwangeren Königin wieder ab.

Die Vernichtung der Kriegsbeute (49–74)

49–74 Interea Bessus sumpto diademate Bactra | moverat et veteri


mutato nomine Scitis | accitis toto surgebat in arma paratu … et quos
subdiderat regina Pecunia servos, | principis exemplo manumissos esse
per ignem: Nachdem die Amazonen mit ihrer Königin Thalestris
abgezogen sind, richtet Alexander seine Aufmerksamkeit erneut
auf den noch immer nicht dingfest gemachten Bessus, der sich in-
zwischen nicht nur nach Baktra zurückgezogen und sich dort unter
dem Namen Artaxerxes zum neuen persischen König erklärt hat,
sondern auch die benachbarten Skythen überzeugen konnte, ihm
Kommentar zu Buch VIII 909

Waffenhilfe gegen Alexander zu leisten. ⇔ Um dieser schwierigen


Situation angemessen begegnen zu können, erteilt Alexander sei-
nen Soldaten den für sie überraschenden Befehl, um der größeren
Beweglichkeit und Schnelligkeit willen alle bisher im Perserkrieg
erworbenen Beutestücke und Schätze auf einen Haufen zu werfen
und zu verbrennen. Insbesondere der Umstand, dass auch Alexan-
der als König auf seine persönlichen Beutestücke verzichtet, führt
unter seinen Männern zur Akzeptanz dieser ungewöhnlichen Maß-
nahme. Walter kommentiert mit den bereits in der Themenüber-
sicht zum vorliegenden Buch verwendeten Worten mirabile factu
die aus seiner Sicht lobenswerte Tat Alexanders, der damit die Vor-
gaben der Aristoteles-Rede hinsichtlich der im Gegenstandsbereich
des Gebens und des Nehmens angesiedelten Tugend der angemes­
senen Gebefreudigkeit in besonderer Weise erfüllt, da er in der Lage
ist, aus einem vernünftigen Grund – der Wiederherstellung bzw. der
Steigerung der Kampfkraft seiner Soldaten – auf die im Perserkrieg
unter Einsatz des eigenen Lebens erbeuteten und zuvor an seine Sol-
daten verteilten Schätze zu verzichten (vgl. Komm. I, 152–154 bzw.
Komm. I, 156–163; zur tropologischen Ebene der Alexandreis bzw.
zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4). Doch auch in
seiner im Tugendbereich der Tapferkeit angesiedelten Vorbildfunk­
tion als Feldherr und König erweist sich Alexander als echter Anfüh-
rer, indem er mit der Vernichtung des eigenen Beuteanteils ebenso
einen Beitrag zur vollen Einsatzfähigkeit des Heeres leistet, um so-
mit die Konzentration wieder auf die eigentliche Aufgabe richten
zu können (vgl. Komm. I, 128–132). Walter geht im Unterschied zu
Curtius, der lediglich davon spricht, dass Alexanders Soldaten durch
die Maßnahme ihres Königs froh waren, nur ihr Gepäck und nicht
ihre Disziplin eingebüßt zu haben, in seinem Lob auf Alexanders
Tugendhaftigkeit so weit zu behaupten, dass die griechischen Sol-
daten nach ihrem anfänglichen Schmerz über den Verlust der Beute
gesagt haben sollen, durch das Beispiel Alexanders vor dem Sklaven-
leben gerettet worden zu sein (vgl. Alex. VIII, 74: principis exemplo
910 KOmmentar

manumissos esse per ignem; vgl. auch Curt. Hist. Alex. VI, 6, 17: lae­
tabantur sarcinarum potius quam disciplinae fecisse iacturam). ⇔
Die Episode um die vernunftgeleitete Vernichtung der persischen
Kriegsbeute macht deutlich, dass ungeachtet der Tatsache, dass sich
Alexander nach der Eroberung von Hyrkanien inzwischen außer-
halb des heilsgeschichtlich legitimierten Perserkriegs bewegt und
sich somit im weiteren Verlauf seines Eroberungszuges auch immer
wieder vornehmlich christlich motivierten moralischen Vorwürfen
vonseiten des Autors der Alexandreis ausgesetzt sehen wird, den-
noch aus antik-paganem Blickwinkel weiterhin immer wieder auch
positive moralische Bewertungen erfährt, da es Walter nicht um eine
generelle Kritik an der charakterlichen Disposition seines wichtigs-
ten Protagonisten geht, sondern lediglich um die aus christlicher
Sicht modifizierte Darstellung Alexanders im weiteren Verlauf sei-
ner Eroberungen (vgl. Gartner 2018, 79–80).

Die Verschwörung des Philotas (75–322)

Die Entdeckung der Verschwörung (75–91)

75–91 Iamque legebat iter, iam Bactra subire parabat | exhonerata


manus cum rex, invictus et hoste | tutus ab externo, pene interfectus ab
ipsis | consulibus Macedum … Inducitur ergo, revinctis | a tergo ma­
nibus, faciem velatus, in aulam: Die Entdeckung der Verschwörung
des Philotas verhindert den geplanten Aufbruch des griechischen
Heeres nach Baktra. Walter stellt gleich zu Beginn seiner Darstel-
lung klar, dass Alexander dem Anschlag seiner eigenen Leute vor
allen Dingen deshalb entkommen ist, da er noch immer unter dem
stilistisch durch eine bemerkenswerte Alliteration hervorgehobenen
Schutz der Parzen steht (vgl. Alex. VIII, 79: adhuc Parcis parcenti­
bus). Damit verfolgt Walter wie schon bei der Eroberung von Gaza
auch an der vorliegenden Stelle die Absicht, auf das unabänderliche
Kommentar zu Buch VIII 911

Schicksal Alexanders hinzuweisen, der weder wie zum damaligen


Zeitpunkt durch den Schwerthieb eines Barbaren noch in der vorlie-
genden Situation durch die Hinterlist der eigenen Leute sein Ende
findet, sondern dem es bestimmt ist, erst durch den von der Schick-
salsgöttin Lachesis gebrauten giftigen Sud zu sterben (vgl. Alex. III,
354–357: ferroque perire | non patitur Lachesis, cui iam fatale vene­
num | confectumque diu Lethea fece vitrina | pixide condierat; vgl.
auch Komm. III, 342–369; zur Rolle der Fortuna im Leben Alexan-
ders vgl. auch Komm. II, 186–200; zum Götterapparat und der Rol-
le des Schicksals in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 5). ⇔ Auch
wenn Philotas die ihm von Cebalinus angezeigte Verschwörung aus
– wie Walter ironisierend anmerkt – guten Gründen zwei Tage lang
verschwiegen hat und deshalb in Fesseln vor Alexanders Zelt geführt
wird, versäumt es Walter nicht, die gerade für den Perserkrieg gro-
ße Bedeutung dieses explizit als Freund des Königs bezeichneten
Mannes hervorzuheben, ohne den Alexander nichts vollbracht hät-
te, was eines Heldengedichts würdig gewesen wäre (vgl. Alex. VIII,
80–83: Erat inter regis amicos | precipuus tota maior legione Phylo­
tas, | Parmenione satus, sine quo nil carmine dignum | gessit Alexan­
der). Die beinahe wortgleiche Formulierung hatte Walter in einem
kurzen Autorkommentar inmitten der Schlacht bei Issus bereits für
Parmenion benutzt, um auch dort auf den bedauerlichen Kontrast
zwischen dessen überragender Leistung im Perserkrieg auf der einen
Seite und dessen unrühmlichem Ende auf der anderen Seite – Par-
menion wurde ebenso wie sein Sohn Philotas für seine führende
Rolle innerhalb der Verschwörung von Alexander mit dem Tod be-
straft – hinzuweisen (vgl. Alex. III, 56–58: Parmenio, sine quo nichil
umquam carmine dignum | gessit Alexander, sed que provenerit illi |
talio pro meritis magis arbitror esse silendum).
912 KOmmentar

Alexanders Anklagerede gegen Philotas (92–157)

92–157 Principis edicto populus convenerat armis | cinctus … Si me


salvare velitis, | vindicis officium pretendite vindice pena: Auf dem
Platz vor dem königlichen Zelt hält Alexander eine zweimal durch
das entsetzte Raunen der griechischen Soldaten unterbrochene
emotionale Ansprache, in welcher er der versammelten Menge von
der gerade entdeckten Verschwörung gegen seine Person berichtet.
Ebenso wie Walter zuvor führt auch Alexander seine glückliche Ret-
tung vor dem explizit als Verbrechen bezeichneten Mordanschlag
dabei auf die Gunst des Schicksals zurück (vgl. Alex. VIII, 99: For­
tunae munere vivo; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals
in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). ⇔ Als Drahtzieher des geplan-
ten Anschlags nennt der makedonische König seinen im Perserkrieg
wichtigsten General Parmenion – ironisierend als Freund seines Va-
ters Philipp bezeichnet – und dessen Sohn Philotas, sowie als Kom-
plizen Lecolaus, Demetrius und den durch das eigene Schwert zu
Tode gekommenen Dimus (vgl. Alex. VIII, 103–105: ille meus, patris
ille mei specialis amicus, | Parmenio, tantoque aliis prelatus amore, |
tanti flagitii fuit auctor). Als Zeugen werden Metron, Cebalinus
und Nicomachus vernommen, von denen die Ausführungen ihres
Königs bestätigt werden. Insbesondere das lange Schweigen des Phi-
lotas nach der Anzeige des geplanten Attentats durch Cebalinus legt
für Alexander den Verdacht nahe, dass dieser das Verbrechen als An-
führer vor Ort – sein Vater Parmenion befand sich zu diesem Zeit-
punkt in Medien und hatte dort in Abwesenheit des makedonischen
Königs die oberste Befehlsgewalt inne – geplant hatte. Als Motiv
für die von Alexander als schlimmstes aller Verbrechen bezeichne-
te Tat nennt er Philotas’ Hochmut, der sich aus der Machtstellung
seines Vaters Parmenion erklären lasse und diesen befeuere, selbst
nach der höchsten Stellung zu streben (vgl. Alex. VIII, 120–122: sane
patria ditione tumescit. | Quem quia prefeci Mediae, maiora super­
bus | sperat et aspirat ad summi culmen honoris). Den Umstand, dass
Kommentar zu Buch VIII 913

Philotas’ Komplizen diesen nicht als Drahtzieher des Verbrechens


nennen, begründet Alexander damit, dass sie es aus Angst vor dem
angesehenen General und wegen des Drucks, den dieser auf sie aus-
übe, nicht wagten, ihren Anführer bloßzustellen (vgl. Alex. VIII,
131–133: Indicium est ducis et terroris in illos  | prodere qui possunt.
Qui cum de se fateantur, | de duce non audent ducti terrore fateri). ⇔
Bis zu diesem Punkt der Darstellung fällt keinerlei Schatten auf die
Person Alexanders, der sich gegen ein Komplott wie dieses selbstre-
dend zur Wehr setzen und insbesondere die Drahtzieher des Verbre-
chens anklagen und als gerechter Richter dann auch bestrafen muss.
Mit der im unmittelbaren Anschluss daran folgenden Textpassage
ändert sich die Situation jedoch grundlegend. Darin nämlich bringt
Walter dem Leser gegenüber direkt aus dem Mund Alexanders die
diesem gegenüber kritische Haltung des Philotas deutlich vernehm-
bar zu Gehör, die ihren Ausdruck darin findet, dass dieser sich für
Alexander zwar über dessen Abstammung von Jupiter freue, er je-
doch die Armen bedauern müsse, die unter einem so hochmütigen
König leben müssten, der das Maß und die Möglichkeiten mensch-
licher Macht überschreite (vgl. Alex. VIII, 136–139: Se gaudere mi­
chi, genitum quem Iupiter a se | affirmabat, ait: miseris tamen esse
dolendum, | vivendum quibus est tanti sub principe fastus, | excedente
modum et stadium mortalis habenae; zur Stellung der Philotas-Ver-
schwörung innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Ein-
leitung 7.3). Um die Schwere der Schuld und die Ungeheuerlichkeit
einer Verschwörung in den eigenen Reihen zu betonen, macht Ale-
xander im weiteren Verlauf seiner Ansprache deutlich, dass er lieber
im Perserkrieg als Beute seiner Feinde gefallen wäre, als zum jetzigen
Zeitpunkt von einem griechischen Landsmann getötet zu werden
(vgl. Alex. VIII, 148–149: Melius cecidissem Marte, futurus | hostis
preda mei pocius quam victima civis). Am Ende seiner Ansprache
legt er sein Schicksal in die Hände seiner Landsleute und macht
ihnen bewusst, dass – ihre weitere Gefolgschaft vorausgesetzt – die
Verschwörer ihre gerechte Strafe erhalten müssen (vgl. Alex. VIII,
914 KOmmentar

156–157: Si me salvare velitis,  | vindicis officium pretendite vindice


pena).

Alexander als ungerechter Richter (158–184)

158–184 Hec ubi persuasit ira dictante, relinquit  | concilium vinc­


tumque iubet proferre Phylotam … resuscitat iram | sedatumque facit
rursum crudescere vulgus: Abgesehen von dem im Kommentar-
punkt zuvor angesprochenen und für Walter als christlichem Autor
zentralen Vorwurf an Alexander, in seiner Maßlosigkeit als Jupiters
Sohn gelten zu wollen und damit Gottgleichheit anzustreben, wer-
den an der vorliegenden Stelle im Philotas-Prozess erstmals auch
dessen moralisch fragwürdigen Seiten im Verhalten gegenüber ei-
nem seiner eigenen Männer in Szene gesetzt. Auch wenn dieses ver-
werfliche Verhalten gegenüber seinem vor Ort wichtigsten General
im weiteren Verlauf der Alexandreis keine weitere Erwähnung fin-
det und auch andere moralische Fehltritte Alexanders hinsichtlich
der Behandlung seiner Anführer für Walter insgesamt eine nur un-
tergeordnete Rolle spielen, lässt er es sich an dieser Stelle dennoch
nicht nehmen, auch die gegenüber Philotas gezeigte Maßlosigkeit
seines wichtigsten Protagonisten zu thematisieren. ⇔ Ausgangs-
punkt dieser moralischen Kritik ist der mit den Worten iniquo iudice
ausgerechnet von den eigenen Soldaten in den Raum gestellte Vor-
wurf, ihr König verletze als ungerechter Richter die Regeln einer ge-
rechten Prozessführung (vgl. Alex. VIII, 176–178: absente parente
superstes | tercius et patrium solus solamen iniquo | iudice barbaricis
causam dicebat in horis). Doch an welcher Stelle verletzt Alexander
die Regeln einer gerechten Prozessführung und woran genau lässt
sich dessen ungerechtes Verhalten festmachen? Die Antwort auf
diese Frage gibt Philotas in seiner im folgenden Kommentarpunkt
noch näher untersuchten Verteidigungsrede selbst. Dort beklagt er
sich nämlich darüber, dass Alexander, der sonst immer die Bedeu-
Kommentar zu Buch VIII 915

tung eines gerechten Prozesses anerkannt habe, die Versammlung


vor seiner Verteidigungsrede verlassen habe, ein Freispruch des An-
geklagten jedoch nur in Anwesenheit des Richters erfolgen könne
(vgl. Alex. VIII, 205–208: Preterea causam ingredior sine iudice, cui­
us | intererat iustae meritum cognoscere causae. |Nec video cur absit, ei
dampnare nocentem | cum liceat soli solusque absolvere possit). Damit
demaskiert Philotas den makedonischen König und stellt gegenüber
seinen Zuhörern klar, dass dessen Urteil völlig ungeachtet seiner
Verteidigung schon längst feststeht. ⇔ Der von Walter vermittelte
Eindruck der moralischen Verwerflichkeit von Alexanders unge-
rechtem Verhalten wird zusätzlich noch verstärkt, wenn man ver-
gleichend dazu Curtius’ diesbezügliche Darstellung hinzuzieht (vgl.
Curt. Hist. Alex. VI, 9, 35). Es ist nämlich durchaus bemerkens-
wert, dass der antike Autor die von Walter mit iniquo iudice zum
Ausdruck gebrachte Verfehlung Alexanders überhaupt nicht er-
wähnt und Alexander die Versammlung anders als in Walters Dar-
stellung nicht voller Erbitterung, sondern in aller Ruhe und auch
erst dann verlässt, nachdem er einige Worte mit Philotas gewechselt
hat. Zudem wird bei Curtius anders als bei Walter an keiner Stelle
Alexanders Abwesenheit während Philotas’ Verteidigungsrede kri-
tisch hinterfragt. Darüber hinaus wird die Szene insgesamt in einen
ganz anderen Kontext eingebettet. Bei Curtius nämlich beschimpft
Koinus seinen Schwager Philotas mit den übelsten Worten, bezich-
tigt ihn des Hochverrats und ist gerade dabei, einen Stein auf diesen
zu werfen, als Alexander ihn mit dem nachdrücklich vorgetragenen
Hinweis, dass dem Beklagten zuerst einmal die Gelegenheit zur Ver-
teidigung gegeben werden müsse und er ein Urteil, das auf einer an-
deren Verfahrensweise beruhe, auf keinen Fall dulden werde, daran
hindert, den Stein tatsächlich zu werfen (vgl. Curt. Hist. Alex. VI,
9, 31–32: Sed rex manum eius inhibuit dicendae prius causae debere
fieri potestatem reo nec aliter iudicari passurum se adfirmans). Alex-
ander setzt sich also bei Curtius energisch für die Einhaltung der
Rechtsordnung ein, die offenbar auch für ihn als König die einzige
916 KOmmentar

Grundlage für ein gerechtes Urteil darstellt. In Walters Schilderung


hingegen erteilt Alexander beim Verlassen der Versammlung, ohne
die in diesem Kontext nicht unbedeutende Vorgeschichte um Koi-
nus mit einem einzigen Wort zu erwähnen, erbittert nur den Befehl,
Philotas gefesselt vor die Versammlung zu führen, um ihm die Ge-
legenheit zur Rechtfertigung zu geben, damit man nicht sage, die
Rechtsordnung habe am Sitz des übermächtigen Siegers ihre Gültig-
keit verloren (vgl. Alex. VIII, 159–162: vinctumque iubet proferre
Phylotam | dicturum causam ne iudiciarius ordo | dicatur vires tanti
victoris in aula | amisisse suas). Damit führt Walter insofern eine be-
merkenswerte Akzentverschiebung herbei, als Alexander im mittel-
alterlichen Epos offenbar lediglich den Anschein erwecken möchte,
an der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung interessiert zu sein
und diese nicht wie bei Curtius mit Nachdruck zu verteidigen ge-
denkt. Stellt man zudem in Rechnung, dass Walter seinen wichtigs-
ten Protagonisten im Kontext des heilsgeschichtlich legitimierten
Perserkriegs gegenüber seinem historischen Vorbild Curtius bisher
stets eher in Schutz genommen hatte, als diesen kritisch zu hinter-
fragen, kommt man nicht umhin, in dieser Szene eine auch aus an-
tik-paganer Sicht zum Ausdruck gebrachte moralische Kritik des
Autors der Alexandreis an seinem wichtigsten Protagonisten Alex-
ander zu sehen. Nimmt man hinzu, dass sich die Figur des ungerech-
ten Königs – wie Meier (2009) 37 in ihrem lesenswerten Beitrag
zum rex iniquus in der lateinischen und volkssprachigen Dichtung
des Mittelalters unter expliziter Erwähnung von Lucans Pharsalia
und Walters Alexandreis aufzeigt – insbesondere für Epen eignet, in
denen es auch um Veränderungen in den Herrschergestalten geht,
aus deren ambivalenter Bewertung erst die Möglichkeit einer inter-
essanten Diskussion über die Königsgestalt erwächst, nimmt es
nicht Wunder, dass Walter ausgerechnet zu demjenigen Zeitpunkt
des epischen Geschehens, an dem Alexander den heilsgeschichtlich
legitimierten Rahmen des Perserkriegs verlässt, über die Formulie-
rung des iniquus iudex innerhalb der epischen Erzählung eine erste
Kommentar zu Buch VIII 917

moralische Kritik gegenüber dem epischen Helden zum Ausdruck


bringt (zur Stellung der Philotas-Verschwörung innerhalb der Ge-
samtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung 7.3). ⇔ Der Umstand,
dass der Philotas-Prozess als solcher für Walter keine moralischen
Fragen grundsätzlicher Art aufwirft, lässt sich auch an dem von Wal-
ter angeführten zeitgenössischen Vergleich von Philotas’ Schicksal
mit demjenigen des Grafen Burchard aufzeigen, der an der Ermor-
dung des Grafen von Flandern (1127) beteiligt gewesen und mit Zu-
stimmung König Ludwigs VI. von Frankreich am Rad hingerichtet
worden war (vgl. Alex. VIII, 168–171; vgl. auch Christensen 1905,
8; zu zeitgenössischen Bezügen innerhalb der Alexandreis vgl. Ein-
leitung 8). Walter spricht dabei ungeachtet der grausamen Todesart
von einer verdienten Buße, die Burchard mit der Zerschmetterung
seiner Gliedmaßen für sein Verbrechen hatte erleiden müssen. Da­
raus lässt sich ableiten, dass Walter auch für Philotas und Parmenion
eine ihrem Verbrechen angemessene Strafe befürwortet und – für
einen modernen Leser schwer zu verstehen – auch der Folter nicht
grundsätzlich abgeneigt gegenübersteht. Aus diesem Grund lässt
sich anhand des Verfahrens selbst und der Verurteilung eben gerade
keine moralische Kritik Walters an Alexander festmachen, da beide
Verschwörer lediglich ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Dass
Walter einem seinem zeitgenössischen Verständnis nach vernunft-
geleiteten Strafprozess positiv gegenübersteht, zeigt sich auch an
seiner am Ende dieses Abschnitts zustimmend wiedergegebenen
Schilderung des Generals Amyntas, der die von ihrer Wut auf Alex-
ander und ihrem Mitleid mit Philotas unsicher gewordenen Solda-
ten mit scharfen Worten angeht und den Zorn der Anführer auf
Philotas und die Strenge der einfachen Soldaten von neuem ent-
facht. ⇔ Insofern hat Walters innerhalb des Philotas-Prozesses
punktuell immer wieder aufscheinende moralische Kritik an Alex-
ander nicht die Funktion, seine beiden wichtigsten Generäle vom
Vorwurf der Verschwörung freizusprechen. Vielmehr geht es Walter
ungeachtet seiner Haltung gegenüber Philotas und Parmenion da­
918 KOmmentar

rum, seinen wichtigsten Protagonisten für sein erstmals in der Ale­


xandreis eben auch nicht immer vorbildhaftes Verhalten gegenüber
einem seiner eigenen Generäle an bestimmten Stellen zu tadeln,
ohne ihn deshalb gleich grundsätzlich moralisch diskreditieren zu
wollen.

Philotas’ Verteidigungsrede (185–301)

185–301 Tunc vero attonitus labefacta mente Phylotas … iure | posce­


bat natura suo: Philotas bekommt in Abwesenheit Alexanders die
Gelegenheit, vor den Anführern und einfachen Soldaten zu den
Vorwürfen Stellung zu nehmen und sich zu verteidigen. Im ersten
Moment ist er nicht fähig, die Anwesenden anzublicken geschwei-
ge denn das Wort an diese zu richten, sondern sinkt ohnmächtig
zu dem an seiner Seite stehenden Wachmann hinüber. Walter lässt
dabei offen, ob dieses Verhalten als Schuldeingeständnis ausgelegt
werden müsse oder Philotas aus Angst vor der zu erwartenden Stra-
fe eine derartige Reaktion zeige (vgl. Alex. VIII, 185–191). Eine Un-
schuldsvermutung zieht Walter jedenfalls nicht in Betracht. Diese
ersten, der eigentlichen Rede vorangehenden Verse finden ihre
Entsprechung unmittelbar nach dem Ende der Rede, als Philotas
bei Alexanders Rückkehr in die Versammlung erneut zusammen-
bricht und zu Boden fällt (vgl. Alex. VIII, 301–305). ⇔ Philotas
beginnt seine Rede mit einer captatio benevolentiae, indem er nicht
nur sogleich seine Unschuld beteuert, sondern den Zuhörern auch
die Schwierigkeit seiner Situation vor Augen zu führen versucht,
in einer derartigen Bedrängnis – immerhin hat ihn Alexander mit
dem Vorwurf der gemeinschaftlichen Verschwörung eines schweren
Verbrechens angeklagt – überhaupt die richtigen Worte zu finden.
Zudem habe das Schicksal ungeachtet seines reinen Gewissens, das
ihm unter anderen Umständen allein Rettung sein könnte, schon
das Richtbeil für ihn bereitgestellt und ihm die Möglichkeit einer er-
Kommentar zu Buch VIII 919

folgreichen Verteidigung schon vorab verwehrt (vgl. Alex. VIII, 191–


204). ⇔ Nach diesem ernüchternden Einstieg kommt Philotas auf
Alexanders fragwürdiges Verhalten in diesem Prozess zu sprechen,
das ihm als Angeklagten durch dessen Abwesenheit die Möglichkeit
nimmt, sich dem Ankläger gegenüber überhaupt sinnvoll zu vertei-
digen. Nicht sei damit zu rechnen – so Philotas weiter – von jenem
Mann, der ihn in seinem Beisein in Fesseln hat legen lassen, in dessen
Abwesenheit freigesprochen zu werden. Damit steht erneut das im
Kommentarpunkt zuvor bereits angesprochene ungerechte Verhal-
ten Alexanders im Raum, das ohne Vorbild bei Curtius von Walter
in Szene gesetzt wird, um seinen wichtigsten Protagonisten erstmals
in der Alexandreis innerhalb der eigentlichen epischen Erzählung in
einem unter moralischen Gesichtspunkten weniger günstigen Licht
erscheinen zu lassen. Dennoch möchte Philotas ungeachtet der Tat-
sache, dass seine Verteidigung insbesondere durch den an den make-
donischen König gerichteten Vorwurf, ungerecht zu handeln – mit
den kritischen Worten immo videtur | arguere iniusti weist Walter
den Leser erneut auf Alexanders schuldhaftes Verhalten hin –, sein
Recht einfordern und nicht zum Verräter seiner selbst werden (vgl.
Alex. VIII, 205–216). ⇔ Bevor Philotas konkret auf Alexanders
Vorwürfe eingeht, weist er in einer allgemeinen Bemerkung zuerst
einmal alle Schuld von sich und will nicht begreifen, welches Ver-
brechens er überhaupt angeklagt werde (vgl. Alex. VIII, 216–217:
Sed quo me crimine dampnet | curia, non video). Mit der expliziten
Erwähnung des Gerichtshofs, über den andernorts in der Alexan­
dreis stets ein zeitgenössischer Bezug zum moralisch verwerflichen
Gebaren der römischen Kurie hergestellt wird, weist Walter den
Leser zum wiederholten Mal innerhalb der Philotas-Verschwörung
auf Alexanders moralisch betrachtet nicht einwandfreies Verhalten
gegenüber Philotas hin (zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Ein-
leitung 8). ⇔ Erst jetzt geht Philotas konkret auf Alexanders Vor-
würfe ein und versucht in einem ersten Schritt den ihm zuvor zum
Nachteil ausgelegten Umstand, dass keiner der angeblichen Mitver-
920 KOmmentar

schwörer seinen Namen genannt geschweige denn ihn als Drahtzie-


her der Verschwörung denunziert hat, in Umkehrung der ursprüng-
lichen Argumentation für sich zu nutzen. Unwahrscheinlich sei es,
so Philotas, dass jemand einen anderen schone, der sich selbst nicht
zu schonen verstehe. Im Gegenteil sei es glaubwürdiger, dass sich
jemand unter dem Druck einer Anklage mit dem größeren Namen
zu schützen versuche (vgl. Alex. VIII, 216–228). Um seinen Argu-
menten Autorität zu verleihen, führt Philotas zwei mit Odysseus in
Verbindung stehende mythologische Beispiele an, die durch ihren
veranschaulichenden Charakter bestätigen sollen, dass der weniger
Angesehene im Falle eines Vorwurfs oder einer Anklage sich stets
damit zu entschuldigen pflegt, lediglich dem Angeseheneren gefolgt
zu sein (vgl. Alex. VIII, 229–240). ⇔ An diesem Punkt der Vertei-
digung fasst Philotas die bisher genannten und aus seiner Sicht un-
gerechtfertigten Vorwürfe zusammen: Keiner der Verschwörer habe
ihn beschuldigt, nicht einmal gerüchteweise liege etwas gegen ihn
vor und er selbst habe auch kein Geständnis abgelegt, womit er zu-
gleich Alexanders Anklage als insgesamt haltlosen Vorwurf gegen-
über einem vollkommen unschuldigen Mann kritisiert (vgl. Alex.
VIII, 241–244). ⇔ In einem zweiten Schritt geht Philotas nun auf
Alexanders Vorwurf ein, die Information über ein möglicherweise
bevorstehendes Attentat nicht umgehend weitergeleitet zu haben.
Der Beklagte versucht diesen schweren Vorwurf damit zu entkräf-
ten, dass er versichert, dieses von wenig glaubwürdigen Ohrenzeu-
gen stammende Gerücht nicht ernstgenommen zu haben. Zudem
hätte er Alexander längst töten können, als er sich mit diesem allein
in dessen Zelt aufgehalten habe. ⇔ Auch den dritten von Alexan-
der zur Sprache gebrachten Anklagepunkt, wonach er die Absicht
gehabt habe, nach dessen Ermordung die Macht an sich zu reißen,
weist er mit dem Hinweis weit von sich, keinen der anwesenden
Landsleute zuvor mit Geschenken bestochen oder mit aufwendigen
Ehrungen versehen zu haben, um sich deren Loyalität zu erkaufen
(vgl. Alex. VIII, 244–267). ⇔ Zuletzt nimmt Philotas Stellung zu
Kommentar zu Buch VIII 921

der von Alexander als Misstrauensvotum ausgelegten Äußerung,


man müsse die Armen bedauern, die unter einem so hochmütigen
König leben müssten, der das Maß und die Möglichkeiten mensch-
licher Macht mit seinem Anspruch, als Jupiter Sohn gelten zu wol-
len, überschreite. Philotas gibt unumwunden zu, einen Brief dieses
Inhalts geschrieben zu haben, betont jedoch auch, diesen Brief nicht
über Alexander, sondern an Alexander geschrieben zu haben, um
ihm im Interesse einer guten Stimmung unter den Anführern den
aufrichtigen Ratschlag zukommen zu lassen, sich lieber im stillen
Gebet zu Jupiter zu bekennen als sich vor allen Anführern damit
zu brüsten (vgl. Alex. VIII, 268–279). ⇔ Damit bringt Walter dem
Leser gegenüber ein weiteres Mal den an den makedonischen König
gerichteten, christlich motivierten Vorwurf zum Ausdruck, der ur-
sächlich mit der Maßlosigkeit seines wichtigsten Protagonisten und
dem damit einhergehenden Streben nach Gottgleichheit in Zusam-
menhang steht (vgl. Komm. VIII, 92–157). ⇔ Nachdem Philotas
seine Sicht zu jedem einzelnen von Alexander vorgebrachten Vor-
würfen dargelegt hat, führt er im nun folgenden Abschnitt Klage
darüber, dass es ihm offenbar nichts geholfen habe, in den zahlrei-
chen Kämpfen, in denen er beide Brüder verloren habe, seine Ju-
gend geopfert und seinen Schweiß vergossen zu haben (vgl. Alex.
VIII, 280–283). Damit nimmt Walter Bezug auf den zu Beginn sei-
ner Darstellung der Verschwörung schon einmal anerkennend er-
wähnten Umstand, dass Alexander ohne Philotas nichts vollbracht
hätte, was eines Heldengedichts würdig gewesen wäre (vgl. Komm.
VIII, 75–92). ⇔ Im letzten Abschnitt seiner Verteidigungsrede geht
Philotas auf seinen Vater Parmenion ein, der von Alexander in seiner
Anklagerede als eigentlicher Drahtzieher der geplanten Verschwö-
rung genannt worden war. Im vollen Bewusstsein, dass sein Vater
wegen ihm und mit ihm den Tod erleiden wird, bedauert Philotas
zuletzt, überhaupt geboren worden zu sein (vgl. Alex. VII, 283–301).
922 KOmmentar

Philotas’ Tod (301–322)

301–322 Sic fatur, et ecce  | rex in concilium ferro livente caterva  |


stipatus rediit … ut se cruciamine longo | eripiens celeri finiret mor­
te dolores: Nach Philotas’ Verteidigungsrede kehrt Alexander, von
seiner bedrohlich wirkenden Leibgarde beschützt, in die Versamm-
lung zurück. Philotas sinkt eingeschüchtert zu Boden und ist nicht
mehr in der Lage, auch nur ein Wort an die versammelten Anführer
zu richten. ⇔ Damit schildert Walter den Beklagten wie vor seiner
Verteidigungsrede nicht nur als ängstlichen und niedergeschlagenen
Mann, der sich seinem Schicksal ergibt und es nicht wagt, Alexan-
der in einer direkten Konfrontation Widerworte zu geben, sondern
gibt mit der Wiederaufnahme einer vergleichbaren Szenerie Philo-
tas’ Verteidigungsrede insgesamt auch einen formalen Rahmen (vgl.
Alex. VIII, 301–305). ⇔ Unschlüssig über das weitere Vorgehen
schlagen manche Anführer die Steinigung des Philotas vor, wieder
andere halten die Folter für angemessen, um vielleicht doch noch
die Wahrheit über die näheren Hintergründe der Verschwörung zu
erfahren. Alexander schließt sich dem letzteren Vorschlag an und
gibt den Befehl, die Folterbank herzurichten. Noch bevor die Folter
beginnt, gesteht Philotas bereits seine Schuld und gibt unter bru-
talen Schlägen weitere Details des geplanten Verbrechens preis. ⇔
Walter gibt allerdings einschränkend zu bedenken, dass man nur
Mutmaßungen darüber anstellen könne, ob Philotas nur deshalb
ein Geständnis abgelegt hat, um noch schlimmeren Schmerzen zu
entgehen (vgl. Alex. 306–322).

Autorexkurs: Die Bedeutungslosigkeit eitlen Ruhms (323–334)

323–334 O quam difficili nisu sors provehit actus | lubrica mortales …


Prelatus qui preesse cupit prodesse recusat: An Philotas’ beachtlichem
Aufstieg bis zum Anführer der Reiterei in Alexanders Heer und
Kommentar zu Buch VIII 923

dessen plötzlichem Niedergang und Tod macht Walter in einem


Autorexkurs aus christlicher Sicht beispielhaft die Bedeutungslosig-
keit und Nichtigkeit eitlen Ruhms deutlich, der sich auf vergäng-
liche Dinge wie politische Macht, weltliche Besitztümer oder die
Wertschätzung der Welt gründet (vgl. Alex. VIII, 332–333: Quam
frivola gloria rerum, | quam mundi fugitivus honor, quam nomen
inane; vgl. Komm. IV, 350–373). ⇔ Damit gibt Walter die im Mittel-
alter weit verbreitete Vorstellung vom Rad der Fortuna wieder, das
einen Menschen zwar aus seiner Bedeutungslosigkeit in ungeahn-
te Höhen zu führen vermag, auf dem Höhepunkt der Macht aber
auch schon wieder am Niedergang des gerade eben noch Erhöhten
arbeitet (zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Ale­
xandreis vgl. Einleitung 5). ⇔ In enger Verbindung mit dieser Vor-
stellung vom Schicksalsrad steht dabei das Vanitas-Motiv, das von
der Vorstellung der Vergänglichkeit alles Irdischen geprägt ist und
insbesondere den Versuch des Menschen, an irdischer Macht und ir-
dischen Reichtümern festhalten zu wollen, als törichte Verblendung
und Sünde geißelt (zum Unterschied zwischen wahrem und eitlem
Ruhm vgl. die Einführung zu Buch IV; vgl. auch Einleitung 7.4).

Die Hinrichtung des Bessus (335–357)

335–357 Sex ubi consumpti post tristia fata Phylotae | preteriere dies,
propero rapit agmina cursu  | in Bessum Macedo … Qui dum con­
scendere temptat, | labitur; imperium dum querit et imperat, in se |
regreditur, domini ponens insignia servus: Nachdem das Todesurteil
an Philotas vollstreckt worden ist, greift Alexander sein ursprüng-
liches Vorhaben wieder auf und rückt gegen Bessus vor. ⇔ Walter
betont dabei zum wiederholten Mal in der Alexandreis Alexanders
Schnelligkeit und dessen ausgeprägte Fähigkeit, auch unter schwie-
rigen äußeren Bedingungen seine Ziele konsequent zu verfolgen (zu
Alexanders Schnelligkeit als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit
924 KOmmentar

vgl. Komm. I, 116–117; vgl. auch Komm. II, 75–90; vgl. auch Komm.
II, 388–407). ⇔ Mit der Epithetisierung Alexanders als Schicksals-
hammer der Welt – fatalis malleus orbis – führt Walter dem Leser
noch einmal die positiv verstandene Unerbittlichkeit des makedo-
nischen Königs vor Augen, mit der er seine persischen Feinde zu
beeindrucken vermag, die ihm aus Angst vor einem weiteren Vor-
rücken der griechischen Armee den als unversöhnliches Scheusal
bezeichneten Bessus ausliefern, ohne dass es überhaupt zu einer
militärischen Auseinandersetzung kommt (vgl. Alex. VII, 424; zur
Bedeutung der biblisch konnotierten Epithetisierung Alexanders in
der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.2). Alexander richtet in aller
Kürze noch das Wort an Bessus und führt diesem dabei den Wahn-
sinn und die Verwerflichkeit des Verbrechens vor Augen, einen so
bedeutenden König wie Darius aus Herrschsucht in Fesseln gelegt
und ermordet zu haben. Mit Alexanders Worten diskreditiert Walter
den persischen Gefangenen in moralischer Hinsicht und legitimiert
damit die grausame und als legitimen Racheakt in Szene gesetzte
Hinrichtung des Bessus durch Darius’ Bruder, der sich seit einiger
Zeit als Alexanders Leibwächter im griechischen Heer befindet. ⇔
Mit dem auf Alexander bezogenen Begriff terrarum eversor verweist
Walter dabei rückblickend auf die Zeit des Perserkriegs, in welchem
Alexander nicht eine einzige Niederlage hinnehmen musste und da-
mit letztlich auch Darius’ Ende besiegelt hat (vgl. Alex. VIII, 349).
⇔ Am Ende des Abschnitts nimmt Walter den im Kommentar-
punkt zuvor schon beschriebenen Gedanken vom Rad der Fortuna
noch einmal auf und weist in diesem Zusammenhang erneut auf
den in aristotelischem Sinne sklavenhaften Charakter des Bessus hin
(vgl. Alex. I, 90: in dominum surgens, truculentior aspide surda; vgl.
auch Komm. VI, 59–90).
Kommentar zu Buch VIII 925

Die Unterwerfung der Skythen (358–495)

Das Volk der Skythen (358–367)

358–367 At Macedo, dudum sicienti pectore regnum  | affectans Sci­


tiae, pardis velocius agmen | ad Tanaim transfert … ambitione sacra
nolunt corrumpere vitam: Mit dem Angriff auf das Reich der Skythen
bewegt sich Alexander im Kontext seiner Eroberungen erstmals in
der Alexandreis auch in geographischer Hinsicht außerhalb des heils-
geschichtlich legitimierten Perserkriegs. Schneller als ein Panther ist
Alexander – die eigentlich im Kontext der Heilsgeschichte angesie-
delte Epithetisierung des makedonischen Königs als pardus ist an der
vorliegenden Stelle als eher seltene Reminiszenz an den Perserkrieg zu
werten – inzwischen im äußersten Nordosten des Perserreichs an den
Ufern des Tanais angelangt, der in Walters Darstellung Baktrien von
den Skythen – im europäischen Kulturkreis seit der Antike zumeist
als allgemeine Bezeichnung für alle nomadisch lebenden Steppen-
bewohner verwendet und an der vorliegenden Stelle mit dem mittel-
asiatischen Volk der Saken zu identifizieren – trennt und angeblich
zugleich die Grenze zwischen Europa und Asien darstellt (zur Bedeu-
tung der biblisch konnotierten Epithetisierung Alexanders in der Ale­
xandreis vgl. Einleitung 7.2). Diese auf Curtius zurückgehende geo-
graphische Einordnung ist insofern unzutreffend, als es sich dabei um
eine häufig zu beobachtende Verwechslung bzw. Gleichsetzung des in
das Asowsche Meer fließenden Tanais (Don) – tatsächlich lange Zeit
als natürliche Grenze zwischen Europa und Asien angesehen – mit
dem weiter östlich in den Aralsee mündenden und in der Antike als
Silis Tanais (Jaxartes oder auch Syr-Darja) bezeichneten Fluss handelt.
Zudem trennt dieser Fluss nicht Baktrien von den Skythen, sondern
das weiter nördlich gelegene Sogdien. Auch die Gleichsetzung der jen-
seits des Silis Tanais lebenden Skythen mit denjenigen Bewohnern, die
nach Walters Angaben in einem Teil Sarmatiens nördlich des Schwar-
zen Meers ihre Siedlungen hatten, beruht auf derselben Verwechs-
926 KOmmentar

lung. ⇔ Nach dieser geographischen Einordnung folgt Walters Be-


schreibung der Lebensweise der Skythen, die in ungastlichen Höhlen
wilder Tiere wohnen, Handel und Gewerbe verachten und mit der
Nahrung zufrieden sind, die ihnen die Natur zur Verfügung stellt. Als
Beweggrund für dieses einfache Leben nennt Walter den Wunsch der
Skythen, ihr glückliches Leben – stilistisch prägnant durch ein über
den Vers greifendes Hyperbaton in Szene gesetzt – nicht durch un-
heilvollen Ehrgeiz zerstören zu wollen (vgl. Alex. VIII, 363–367). ⇔
Damit stellt Walter das Volk der Skythen schon gleich zu Beginn des
vorliegenden Abschnitts kontrastierend zu Alexander als Vorbild der
Genügsamkeit dar, das mit der beatitudo dem einzig wahren Lebens-
ziel folgt. Gleichzeitig bringt Walter dem Leser gegenüber mit den an
der vorliegenden Stelle negativ konnotierten Worten ambitione sacra
im Sinne einer zeitgenössischen Kritik nochmals die bereits im Moral-
exkurs in Buch VII mit dem Verb ambire vehement kritisierte und
nicht weniger von falschem Ehrgeiz geprägte Simonie zu Gehör (vgl.
Alex. VII, 317–318: Non adeo ambirent cathedrae venalis honorem | Sy­
monis heredes; vgl. auch Alex. VIII, 366–367: beatam | ambitione sacra
nolunt corrumpere vitam; zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Ein-
leitung 8). ⇔ Darüber hinaus ist es bemerkenswert, dass sich Walter
in der gesamten Skythen-Episode der Moralvorstellungen des antiken
Dichters Horaz bedient, der damit insbesondere mit den Oden und
den Sermones Eingang in die Alexandreis gefunden hat (zur Etablie-
rung des antiken Dichters Horaz als moralische Autorität in der Ale­
xandreis vgl. Wirtz 2018, 81–99).

Die Skythen-Rede (368–476)

Alexanders Maßlosigkeit: Das Streben nach Gottgleichheit (368–403)

368–403 Dumque super Tanaim metatus castra pararet  | navigium


Macedo … debeat occursum mortisque timere procellam?: Noch be-
vor Alexander mit seinen Soldaten über den Tanais übersetzen kann,
Kommentar zu Buch VIII 927

überbringt ihm eine aus zwanzig Männern bestehende Gesandtschaft


der Skythen eine Botschaft, die ihn mit dem Vorwurf der Maßlosig-
keit konfrontiert und in der Ermahnung gipfelt, er solle sich nach
seinen bisherigen und vom Schicksal begünstigten Eroberungen an
dieser Stelle mit dem Erreichten begnügen, bevor ihm die wankelmü-
tige Fortuna ihre Gunst entziehe (zum Götterapparat und der Rolle
des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). ⇔ Die Rede des
Skythen wirkt dabei insgesamt wie eine von Walter in den Mund des
Barbaren gelegte Mahnung, den Bogen nicht zu überspannen und das
rechte Maß nicht zu verlieren (zur Stellung der Skythen-Episode inner-
halb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung 7.3). ⇔ Im
ersten Abschnitt der Rede wird Alexander mit dem bezeichnenden
Vorwurf konfrontiert, er wolle mit seinem grenzenlosen Eroberungs-
drang die Möglichkeiten eines Menschen überschreiten – sinnigerwei-
se wird die Passage als irreales Bedingungsgefüge wiedergegeben – und
strebe in seiner Überheblichkeit Gottgleichheit an. Sinnbild für dieses
frevelhafte Verhalten stellt dabei der in eine Metapher gekleidete Vor-
wurf dar, mit seinem riesigen Körper die Grenzen der Welt zu spren-
gen und als Ausdruck seines allumfassenden Herrschaftsanspruchs die
ganze Welt zu umfassen (vgl. Alex. VIII, 374–380). Auch wenn diese
bildhafte Ausdrucksweise von Curtius vorgeprägt ist, dürften Walter
dabei auch die mittelalterlichen Mappae mundi, auf denen Christus
als Weltenherrscher die kreisrunde Radkarte mit Händen, Füßen und
Kopf umschließt, Pate gestanden haben. Darüber hinaus würde Alex-
ander – so der Anführer der Skythen weiter –, noch immer nicht mit
dem Erreichten zufrieden, im Streben nach göttlicher Allwissenheit
nach der Quelle des Lichts suchen sowie nach Phoebus’ Vertreibung
den Sonnenwagen besteigen und das Licht des Tages lenken (vgl.
Alex. VIII, 381–384). Damit nimmt Walter Bezug auf den Mythos
des Phaeton – dieser hatte in der Absicht, einen Tag lang die Sonne
lenken zu wollen, den Sonnenwagen seines Vaters bestiegen und war
dabei zu Tode gekommen –, und macht anhand der Absurdität die-
ses Unterfangens Alexanders bereits im Philotas-Prozess zur Sprache
928 KOmmentar

gebrachtes maßloses Streben nach Gottgleichheit deutlich. Mit den


Worten, dass Alexander auch ohne die zuvor genannten Beispiele vie-
les erstrebt, ohne es jemals erreichen zu können, verlässt Walter den
mythologischen Bereich und entwirft daraufhin eine beängstigende
Zukunftsvision für die Zeit nach der Eroberung des Erdkreises und
der Unterwerfung des gesamten Menschengeschlechts, die geprägt ist
durch Alexanders wahnsinniges Wüten gegen Bäume, wilde Tiere und
Felsen, gegen verborgen lebende Scheusale und sogar gegen die Urstof-
fe selbst (vgl. Alex. VIII, 385–390). Damit bringt Walter Alexanders fre-
velhaftes Bestreben zum Ausdruck, gegen die Natur als gottgegebenes
System Krieg zu führen und dabei die gottgegebenen Grenzen der Na-
tur sprengen zu wollen. Mit der Frage, ob Alexander denn nicht wisse,
dass ein riesiger Baum mit seiner ausladenden Krone die himmlischen
Götter herausfordert und eines Tages zu Fall kommen wird, verweist
Walter auf Alexanders fehlendes Bewusstsein, mit seinem beispiellosen
Aufstieg die menschlichen Möglichkeiten zu überschreiten und da-
mit den göttlichen Zorn auf sich zu ziehen. Darüber hinaus müsse er
den zu einem bestimmten Zeitpunkt notwendigerweise eintretenden
Sturz auch eines mächtigen Mannes bedenken, der bisweilen sogar von
einem Schwächeren herbeigeführt werden könne (vgl. Alex. VIII, 391–
403). ⇔ Damit nimmt Walter noch einmal Bezug auf die bereits im
obigen Autorexkurs über die Bedeutungslosigkeit eitlen Ruhms aus
christlicher Sicht zur Sprache gebrachte Vorstellung vom Rad der For-
tuna, das mit seiner Bewegung nicht nur den Aufstieg eines Mannes
bis an die Spitze in Gang zu setzen vermag, sondern im weiteren Ver-
lauf auch dessen Niedergang und Tod in die Wege leitet (vgl. Komm.
VIII, 323–334).

Alexanders Maßlosigkeit: Die grenzenlose Eroberungswut (404–459)

404–459 Quid nobis tecum? … Ergo manus si forte tibi porrexerit,


alas  | corripe ne rapidis, quando volet, avolet alis: Im zweiten Ab-
Kommentar zu Buch VIII 929

schnitt der Rede bringt der Anführer der Skythen seine Empörung
zum Ausdruck, dass Alexander sich anschickt, seinen Eroberungs-
zug über den Tanais hinaus ausdehnen zu wollen, obwohl sein Volk
selbst niemals die Absicht hatte, gegen Makedonien in den Krieg zu
ziehen. Zudem äußert er den Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden
und nicht weiter über Alexander nachdenken zu müssen, um wei-
terhin ein in jeglicher Hinsicht genügsames und glückliches Leben
führen zu können. Kontrastierend zu diesem Lebensmodell macht
er deutlich, dass ein Begehren über ein bescheidenes und genügsa-
mes Leben hinaus das rechte Maß und die Grenze menschlichen
Glücks überschreite (vgl. Alex. VIII, 414–415: Igitur si quid quesi­
veris ultra,  | excedunt tua vota modum finemque beati). Diese Be-
schreibung der auf Ackerbau und Viehzucht ausgerichteten ausge-
sprochen genügsamen Lebensweise der Skythen wird zum einen als
alternatives Lebensmodell kontrastierend zu Alexanders maßlosem
Vorgehen in Szene gesetzt, ist mit der Erwähnung der verschiedenen
Waffen der Skythen zum anderen aber auch als Warnung an Alex-
ander zu verstehen, die kriegerische Auseinandersetzung mit ihnen
überhaupt erst gar nicht zu suchen (vgl. Alex. VIII, 416–421). Da-
rüber hinaus versucht der Anführer der Skythen seinem makedo-
nischen Widersacher ganz grundsätzlich vor Augen zu führen, dass
die menschliche Habgier nicht durch den Erwerb immer weiterer
Besitztümer gestillt, sondern dadurch ganz im Gegenteil nur immer
weiter angeheizt werde (vgl. Alex. VIII, 422–431). Zudem riskiere er
mit seinen weitreichenden Eroberungen immer neue Kriege, da die
eroberten Völker bald nach ihrer Niederlage erneut Widerstand leis-
ten würden. Im Folgenden wird die zu Beginn des Abschnitts bereits
angedeutete Wehrhaftigkeit des skythischen Volks näher ausgeführt.
Neben ihrer Unbestechlichkeit gegenüber allen Verlockungen wie
Reichtum oder Macht betont der Anführer der Skythen insbeson-
dere ihre Schnelligkeit – eigentlich eine noch im Perserkrieg stets
mit Alexander in Verbindung gebrachte Eigenschaft –, mit der sie
im feindlichen Lager auftauchen, ihre Feinde in die Flucht schlagen
930 KOmmentar

oder vor ihnen fliehen könnten. Als Schlussfolgerung aus diesen


mahnenden Worten erteilt der Anführer der Skythen Alexander
zuletzt noch den Rat, noch vor der Eroberung seines Volkes seinen
Waffentaten ein Maß aufzuerlegen und das wankelmütige Schick-
sal nicht weiter herauszufordern (vgl. Alex. VIII, 454–455: impone
modum felicibus armis | ne rota forte tuos evertat versa labores). ⇔
Mit diesen mahnenden Worten des Skythen wird vom Autor der
Alexandreis somit der Vorwurf der Maßlosigkeit hinsichtlich Alex-
anders grenzenloser Eroberungswut in Szene gesetzt.

Alexanders Maßlosigkeit: Das Streben nach Gottgleichheit (460–476)

460–476 Denique, si deus es, mortalibus esse benignus | et dare que


tua sunt non que sua demere debes … Pacem vultus habet, agitant
precordia bellum: Der mit denique eingeleitete letzte Abschnitt der
Rede konfrontiert Alexander mit einer zweifachen Kritik. Sollte er
zum einen nämlich tatsächlich ein Gott sein – so der Anführer der
Skythen – dürfe er den Sterblichen nichts wegnehmen, sondern
müsse ihnen das geben, was ihm selbst gehöre. Wenn er jedoch ein
Mensch sei, müsse er sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass
er an das menschliche Dasein gebunden sei und nicht danach stre-
ben dürfe, sich als Mensch aufzugeben (vgl. Alex. VIII, 460–464).
⇔ Damit erneuert Walter über die Mahnung des Skythen den seit
dem Philotas-Prozess bereits mehrfach an Alexander herangetra-
genen Vorwurf, Gottgleichheit anzustreben (zur Stellung der Sky-
then-Episode innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl.
Einleitung 7.3). ⇔ Abschließend macht der Anführer der Skythen
– stilistisch von Walter mit einem aus drei Teilen bestehenden Ady-
naton glänzend in Szene gesetzt – deutlich, dass es wahre Freund-
schaft zwischen Siegern und Besiegten niemals geben werde, da
diese nur zwischen Menschen herrschen könne, die sich auf Augen-
höhe begegneten und nicht die Unterwerfung des anderen zum Ziel
hätten (vgl. Alex. VIII, 464–476).
Kommentar zu Buch VIII 931

Alexanders Sieg über die Skythen (477–495)

477–495 Sic ait, at Macedo nichilominus agmine facto | arma Scitis


inferre parat … confractis viribus illi | succubuere Scite, superos et fata
secuti: Dass es Walter in der Skythen-Episode nicht um die Darstel-
lung der eigentlichen Schlacht geht, sondern um die Inszenierung
der moralischen Kritik an Alexander, ist auch an der kurzen und fast
beiläufigen Erwähnung der skythischen Niederlage ablesbar. Sehr viel
interessanter als die knappe Schlachtschilderung – Walter berichtet le-
diglich davon, dass Alexander nach der mühsamen Überquerung des
Tanais den Feind nicht ohne eigene Verluste in einer gemeinsamen
Kraftanstrengung besiegen konnte – ist die anschließende Metapher,
in welcher die Skythen mit einer lange Zeit verschiedenen Winden –
erwähnt werden der Eurus, der Zephir und der Auster – trotzenden
Tanne verglichen werden, die erst durch den noch schlimmeren An-
sturm des Boreas krachend zu Boden fällt. Alexanders Wüten gegen
das skythische Volk wird von Walter dabei in einer weiteren Steige-
rung als ein im Vergleich zum Ansturm des Boreas noch schnelleres
und wilderes Geschehen beschrieben. ⇔ Walter stellt abschließend
fest, dass die Skythen den Göttern und dem Schicksal folgend – der
Autor der Alexandreis nimmt an dieser Stelle seiner Wortwahl ent-
sprechend den antik-paganen Blickwinkel ein – vor jenem als blutiges
Schicksalsschwert und allgemeine Geißel der Welt bezeichneten Er-
oberer geschlagen zu Boden gesunken sind (vgl. Alex. VIII, 492–495:
ille cruentus | fatorum gladius, terrarum publica pestis, | Magnus Ale­
xander, confractis viribus illi | succubuere Scite, superos et fata secuti).
⇔ Damit endet Walters Darstellung der Skythen-Episode, die als In-
szenierung des christlich motivierten Vorwurfs der Maßlosigkeit den
makedonischen König erstmals in der Alexandreis einer nicht wie im
Philotas-Prozess nur punktuell zur Sprache gebrachten Autorkritik
unterzieht, sondern diesem ausführlich und deutlich seine unter mo-
ralischem Blickwinkel verwerfliche, grenzenlose Eroberungswut und
sein nicht minder verwerfliches Streben nach Gottgleichheit vorhält.
932 KOmmentar

Die Reaktion der östlichen Völker (496–513)

496–513 Hunc ubi vicinas dispersit fama tryumphum … sed de virtu­


tum motu certamen inisse: Als Reaktion auf Alexanders Unterwer-
fung der bisher unbesiegten Skythen erzittert der ganze Erdkreis.
Walter betont ausdrücklich, dass neben der überragenden Kampf-
kraft der Griechen insbesondere auch deren Tugendhaftigkeit der
ausschlaggebende Grund dafür sei, dass sich auch viele Völker frei-
willig der Herrschaft des makedonischen Königs unterwerfen. Auch
Alexander wird vom Autor der Alexandreis lobend hervorgehoben,
indem er ihm einen rücksichtsvollen Umgang mit den Besiegten
bescheinigt. Zudem attestiert er ihm, bei seinen Eroberungen kei-
neswegs hartherzig oder habgierig vorgegangen, sondern immer nur
von der Aussicht auf tugendhafte Taten geleitet in den Krieg gegen
widerständige Völker gezogen zu sein. ⇔ Damit schildert Walter
seinen wichtigsten Protagonisten kontrastierend zu der zuvor im
Kontext der Skythen-Episode zum Ausdruck gebrachten christlich
motivierten Kritik nach antik-paganen Maßstäben ausnehmend
positiv. Diese Art der Darstellung ist ein erneuter Beleg dafür, dass
Walter außerhalb des heilgeschichtlich legitimierten Perserkriegs
zwar zunehmend auch die aus christlicher Sicht verwerflichen Sei-
ten Alexanders in Szene setzt, er es dabei jedoch – wie bereits im
Kommentarpunkt über die Vernichtung der Kriegsbeute gezeigt –
nicht unterlässt, immer wieder auch dessen aus antik-paganer Sicht
überragende Tugendhaftigkeit herauszustellen (vgl. Komm. VIII,
49–74; vgl. auch Einleitung 7.4).
Einführung zu Buch IX
Nachdem sich am Ende des achten Buchs die meisten Völker des
Ostens nach Alexanders Sieg über das Reitervolk der Skythen frei-
willig der griechischen Herrschaft unterworfen haben, rückt der
Autor der Alexandreis mit Beginn von Buch IX den Indienfeldzug
des makedonischen Königs in den Mittelpunkt der Betrachtung,
der sich für die griechische Streitmacht Walters Darstellung zufol-
ge insbesondere wegen der charismatischen Herrschergestalt des
Inderkönigs Porus als ernstzunehmende Herausforderung erweist
(vgl. Komm. IX, 1–325).
Noch auf dem Weg nach Indien legt Alexander nicht zum ersten
Mal nach dem erfolgreich abgeschlossenen Perserkrieg – man denke
dabei insbesondere an die in Buch VIII geschilderte Philotas-Ver-
schwörung – den eigenen Gefolgsleuten gegenüber ein moralisch
fragwürdiges Verhalten an den Tag, indem er seinen General und
langjährigen Freund Clitus bei einem Streit während eines Gelages
eigenhändig tötet und den königlichen Pagen Hermolaus sowie
seinen in Ungnade gefallenen Hofhistoriographen Kallisthenes
hinrichten lässt (vgl. Komm. IX, 1–8). Der geschilderte Sachver-
halt findet seine Entsprechung im Moralexkurs von Buch III, wo
Walter in einem seiner charakteristischen Vorverweise auf die Zeit
nach dem Perserkrieg bereits explizit davon gesprochen hatte, dass
der makedonische König, der zuvor – gemeint ist sein moralisch
einwandfreies Verhalten während des Perserkriegs – seinen Feinden
gegenüber gütig gewesen war, sich nach dem Perserkrieg schließlich
aber als pflichtvergessener Feind seiner Freunde zu Mord und häus-
lichem Zank hinreißen lässt (vgl. Alex. III, 250–252: Qui pius ergo
prius erat hostibus, hostis amicis | inpius in cedes et bella domestica
demum | conversus, ratus illicitum nichil esse tyranno; zur Funktion
der Vorverweise in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). Auch wenn
934 KOmmentar

Walter damit zweifellos eine erkennbar kritische Haltung gegenüber


seinem wichtigsten Protagonisten an den Tag legt, sollte dabei je-
doch nicht übersehen werden, dass die diesbezügliche moralische
Entrüstung eher beiläufig und ohne jegliche weitere Konkretisie-
rung zum Ausdruck gebracht wird. Daraus lässt sich ableiten, dass
es Walter nicht darum geht, diesen Tadel in Bezug auf Alexanders
Verhalten gegenüber seiner eigenen Gefolgschaft besonders heraus-
zustellen, um diesen womöglich auf dieselbe Ebene zu stellen wie
den christlich motivierten Vorwurf der Maßlosigkeit hinsichtlich
dessen unstillbarem Eroberungsdrang und dessen Streben nach
Gottgleichheit (zur moralischen Beurteilung Alexanders in der Ale­
xandreis vgl. Einleitung 7.4).
Anhand einer intertextuellen Kontrastimitation mit der Ae­
neis Vergils und der Thebais des Statius – das Gleichnis eines vom
Berg herabstürzenden Felsbrockens hatte schon in der Ilias Ho-
mers Verwendung gefunden – wertet Walter den Inderkönig Porus
gegenüber dem Rutulerkönig Turnus bzw. dem gegen Theben
kämpfenden Tydeus auf, der sich im Unterschied zu den antiken
Protagonisten als der entschlossenere und tapferere Kämpfer er-
weist (vgl. Komm. IX, 35–70; zu Walters ambivalentem Verhältnis
zu Vergil vgl. Einleitung 6; zum produktionsästhetischen Ansatz
der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die
Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Mit dieser
intertextuellen Kontrastimitation bringt der mittelalterliche Autor
damit zum wiederholten Mal in der Alexandreis seinen aemulati-
ven Anspruch gegenüber den antiken Dichtern zum Ausdruck (zu
Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6). Mit
demselben Gleichnis lässt der Autor der Alexandreis jedoch auch
keinen Zweifel darüber aufkommen, dass Porus ungeachtet seiner
herausragenden Kampfkraft am Ende dem makedonischen König
unterliegen wird.
Auch in der Schilderung vom Heldentod der Griechen Nicanor
und Symmachus, die im Alleingang den Versuch unternehmen, das
Einführung zu Buch IX 935

andere Ufer des Hydaspes zu erreichen, um die Schlacht gegen Po-


rus endlich in Gang zu bringen, arbeitet Walter mittels einer weite-
ren, ebenso aemulativ angelegten intertextuellen Kontrastimitation
– erneut findet dabei die Aeneis Vergils und im Hintergrund auch
die Thebais des Statius Verwendung – die vergleichsweise größere
Tugendhaftigkeit der griechischen Kämpfer gegenüber den Tro-
janern Nisus und Euryalus heraus (vgl. Komm. IX, 71–147; zum
produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit
vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch
Komm. prol., 1–13).
Mit den im Kontext der Tugend der angemessenen Zürnkraft
formulierten Worten parce humili, facilis oranti, frange superbum
hatte Walter in der Aristoteles-Rede eine subtil inszenierte Remi-
niszenz an Vergils Römerprogramm gestaltet, mit der er das parcere
subiectis et debellare superbos des antiken Dichters imitativ aufnimmt
und aemulativ erweitert (vgl. Alex. I, 115; vgl. auch Komm. I, 115; vgl.
auch Verg., Aen. VI, 853). Besonders eindrücklich lässt sich dieser
Sachverhalt an der Porus-Episode veranschaulichen, wenn man die-
se vergleichend mit der Turnus-Szene in der Aeneis in Beziehung
setzt. Dabei fällt auf, dass Walter über motivische und sprachliche
Parallelen nicht nur in imitativer Absicht auf eine zentrale Stelle in-
nerhalb der Aeneis verweist, sondern durch das im Vergleich zu Ae-
neas in Bezug auf den Umgang mit dem besiegten Feind diametral
entgegengesetzte Verhalten Alexanders auch einen aemulativen An-
spruch gegenüber seinem antiken Vorbild erhebt. Ebenso nämlich
wie der besiegt am Boden liegende Porus den Blick zum siegreichen
Alexander emporrichtet, blickt auch der besiegt am Boden liegen-
de Turnus zum siegreichen Aeneas empor. Zugleich stellt auch die
Vorgabe parce humili aus der Aristoteles-Rede eine wörtliche Korre-
spondenz zu der Stelle in der Aeneis dar, in der Vergil den Rutulerkö-
nig als humilis charakterisiert (vgl. Alex. IX, 291–293: Porum erecto
lumine … attolentem oculos; vgl. auch Verg., Aen. XII, 930–931: Ille
humilis supplex oculos dextramque precantem | protendens). Doch im
936 KOmmentar

Gegensatz zum vergilischen Helden Aeneas, der seinen auch nach


dem Römerprogramm der Aeneis eigentlich verschonungswürdigen
Feind am Ende in blinder Wut tötet, verschont Alexander den In-
derkönig den Vorgaben der Aristoteles-Rede entsprechend, da er in
seinem besiegten Feind bewundernd die Seele eines Siegers erkennt
(vgl. Alex. IX, 317–318: Miratur Macedo fortunae turbine regem  |
infractum victumque animum victoris habentem). Demzufolge ist
Alexander in der Lage, in einem Akt der angemessenen Zürnkraft
den zuvor noch vorhandenen Hass – absichtsvoll im Vers vor den
Begriff der clementia gesetzt – zu besiegen (vgl. Alex. IX, 293: odium
clementia vicit; vgl. auch Verg., Aen. XII, 946–947: furiis accensus et
ira | terribilis). Damit entlarvt Walter Vergils Konzeption des parcere
subiectis et debellare superbos mithilfe der aristotelischen Tugendleh-
re als unzureichende moralische Richtschnur, da sie die Entschei-
dungsgewalt über das Verschonen oder das Töten nicht wie in der
Alexandreis durch die Erweiterung des facilis oranti im Protagonis-
ten selbst belässt, sondern lediglich eine von außen aufgesetzte starre
Verhaltensregel ohne eine darüber hinausgehende Reflexion anbie-
tet (vgl. Gartner 2018, 51–53). Auf poetologischer Ebene erhebt
sich Walter damit ein weiteres Mal aemulativ über sein im Prolog
noch als unerreichbar apostrophiertes antikes Vorbild Vergil, indem
er als Dichter mit Alexander für sein Epos nicht nur – wie im Pro-
oemium bereits zum Ausdruck gebracht – einen weltgeschichtlich
betrachtet bedeutenderen Helden ausgewählt hat, sondern dieser
Held den vergilischen Helden Aeneas auch unter moralischen Ge-
sichtspunkten bei weitem übertrifft (vgl. Komm. I, 1–5; zu Walters
ambivalentem Verhältnis zu Vergil vgl. Einleitung 6; zu Walters poe-
tologischem Selbstverständnis vgl. auch Einleitung 6).
Im Gespräch mit Alexander legt der besiegte Inderkönig Porus
dem siegreichen makedonischen König Selbstbeschränkung nahe
und untermauert seine Kritik durch die eigene Erfahrung, die ihm
gezeigt habe, dass dem Menschen Grenzen gesetzt seien und es auch
für erfolgreiche Könige immer noch einen Stärkeren gebe, dem es
Einführung zu Buch IX 937

sich unterzuordnen gelte (vgl. Alex. IX, 306–316). Damit themati-


siert Walter aus christlicher Sicht wie bereits in der Skythen-Rede zu-
vor Alexanders mit dem Streben nach Gottgleichheit einhergehende
Maßlosigkeit, die damit als eigentlicher Grund für dessen späteren
Tod im Epos weiter ausgebaut wird (zur moralischen Beurteilung
Alexanders in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4; zur Stellung der
Szene innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung
7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79).
Auf seinem weiteren Weg nach Osten trifft Alexander auf das
Volk der Sudraker, das nicht gewillt ist, dem makedonischen Erobe-
rer das Feld kampflos zu überlassen, und sich hinter den Mauern
seiner Stadt verschanzt (vgl. Komm. IX, 341–500). Walter nutzt die-
se Episode, um ein letztes Mal in der Alexandreis neben Alexanders
Begünstigung durch die Schicksalsgöttin Fortuna dessen herausra-
gende Tapferkeit zu inszenieren, die ihren Ausdruck darin findet,
dass der makedonische König die feindlichen Mauern überwindet
und ohne die Hilfe seiner Männer einen heldenhaften Kampf gegen
eine sudrakische Übermacht erfolgreich besteht (zur tropologischen
Ebene der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl.
Einleitung 7.4). Mit dieser beinahe melodramatischen Szene bereitet
Walter zudem das spätere Eingreifen der Göttin Natura vor, da mit
Walters Schilderung dieser Heldentat deutlich wird, dass Alexander
nach seinem Sieg über die Sudraker mit menschlichen Kräften nicht
mehr aufzuhalten ist (vgl. Wiener 2001, 88–89; zum Götterapparat
und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5).
Kaum von seinen Verletzungen genesen, trifft Alexander am
Ende von Buch IX bereits Vorbereitungen für weitere Eroberun-
gen, die ihn bis zu den Völkern am Rande des Ozeans und zu den
Nilquellen führen sollen (vgl. Komm. IX, 501–544). Die um die Ge-
sundheit ihres Königs und auch um ihr eigenes Wohl besorgten Ge-
neräle schicken aus ihren Reihen Craterus zu Alexander, der diesem
gegenüber zum Ausdruck bringt, dass es zum jetzigen Zeitpunkt
doch besser sei, das bisher Erreichte zu bewahren, als zu immer neu-
938 KOmmentar

en Eroberungen aufzubrechen. Mit der von Walter dem Craterus


in den Mund gelegten Frage, welches Ziel er eigentlich erstrebe und
welches Maß er zukünftig einzuhalten gedenke, bringt der Autor
der Alexandreis ein weiteres Mal die bereits im Kontext der Sky-
then-Rede und im Gespräch mit Porus zum Ausdruck gebrachte
christlich motivierte Kritik an Alexanders Maßlosigkeit und dessen
damit einhergehenden unstillbaren Eroberungsdrang zur Sprache
(zur moralischen Beurteilung Alexanders in der Alexandreis vgl.
Einleitung 7.4). In seiner Antwort an Craterus macht Alexander
deutlich, dass er ungeachtet aller Vorbehalte in den eigenen Reihen
beabsichtige, die Gefilde der auf der Gegenhemisphäre vermuteten
Antipoden aufzusuchen, da ihm der bekannte Erdkreis inzwischen
zu eng geworden sei (vgl. Komm. IX, 545–580). Unübersehbar ver-
weist Walter damit auf den Moralexkurs in Buch X, in welchem
Alexander aus christlicher Perspektive als Beispiel der Maßlosigkeit
angeführt wird, dem der ganze Erdkreis nicht ausgereicht habe und
jetzt nach seinem Tod eine mit Marmor verzierte Behausung von
fünf Fuß im ausgeworfenen Boden ausreichen müsse (vgl. Alex. X,
448–450: Magnus in exemplo est. Cui non suffecerat orbis, | sufficit
exciso defossa marmore terra | quinque pedum fabricata domus).
Kommentar zu Buch IX
Themenübersicht (1–10)

C 1–3 In nono Magnus collatis viribus Indos | turbidus aggreditur,


sed fata deosque moratur  | armipotens Porus: Ein großer Teil von
Buch IX beschäftigt sich mit Alexanders Indienfeldzug, in welchem
der mächtige und äußerst schlagkräftige Inderkönig Porus dem
griechischen Heer erbitterten Widerstand leistet. Mit Walters ein-
schränkender Bemerkung, dass der waffenmächtige Porus mit seiner
Gegenwehr das Schicksal und die Götter nur aufhalte, wird Alexan-
ders Sieg indes bereits gedanklich vorweggenommen (vgl. Komm.
IX, 1–325; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der
Alexandreis vgl. Einleitung 5).

C 3–4 Speciali flenda duorum | mors iuvenum planctu partem tur­


bavit utramque: Noch vor der entscheidenden Auseinandersetzung
mit Porus jenseits des Hydaspes versuchen die Griechen Nicanor
und Symmachus mit einigen Gefährten die indischen Truppen-
verbände durch einen Überraschungsangriff zu schwächen. Auch
wenn es ihnen anfangs gelingt, zahlreiche Inder zu töten, werden
sie schließlich von den nachrückenden gegnerischen Kräften besiegt
und niedergestreckt (vgl. Komm. IX, 71–147).

C 5–7 Magnus ut hostilem tenuit cum milite ripam,  | concurrere


acies. Sed fracto denique Poro | franguntur reliqui cum toto Oriente
tyranni: Nachdem es Alexander mit einer List gelungen ist, mit eini-
gen seiner Männer an das andere Ufer des Hydaspes zu gelangen und
damit in Schlagdistanz zu den indischen Streitkräften zu kommen,
entbrennt der Kampf gegen Porus und das mit Schrecken erregen-
den Kampfelefanten ausgerüstete indische Heer (vgl. Komm. IX,
940 KOmmentar

148–178; vgl. auch Komm. IX, 179–325). ⇔ Nach Alexanders Sieg


über Porus ergeben sich schließlich zahlreiche Völker des Ostens
freiwillig der griechischen Herrschaft (vgl. Komm. IX, 326–340).

C 8–10 Saltus Alexandri mirabilis agmina Graium  | seditione


movet, mirabiliusque stupendae | propositum mentis nova mittit in
arma cohortes: Einzig das Volk der Sudraker leistet Alexanders schier
grenzenlosem Eroberungswillen noch Widerstand. Bei der schwie-
rigen Einnahme der Stadt springt Alexander als einziger Grieche
von der Mauer in die sudrakische Stadt hinein und sieht sich sofort
einem nicht mehr enden wollenden Geschosshagel ausgesetzt. Auch
wenn sich der makedonische König tapfer zur Wehr zu setzen weiß,
verlassen ihn zusehends die Kräfte, bis er schließlich von einem Pfeil
getroffen zu Boden sinkt und angesichts der schweren Verletzung
und der aussichtslosen Situation eigentlich den Tod finden müsste.
Doch es gelingt den griechischen Kämpfern im letzten Moment, ih-
rem König zu Hilfe zu eilen und diesen schwer verwundet zu bergen
(vgl. Komm. IX, 342–500). ⇔ Kaum von seiner Verletzung genesen
verkündet Alexander seinen zunächst wenig begeisterten Offizieren,
die auf der Gegenhemisphäre lebenden Antipoden erobern zu wol-
len (vgl. Komm. IX, 545–580).

Alexanders Indienfeldzug (1–325)

Alexander als Feind seiner Freunde (1–8)

1–8 Ultima terribiles Macedum sensura tumultus | India restabat


multo sudore domanda | et gravibus bellis … etenim testatur eorum |
finis amicicias regum non esse perhennes: Auf dem Weg nach Indien
wird Clitus, der seinem König in der Schlacht am Granikus noch
das Leben gerettet hatte, bei einem Trinkgelage von Alexander
eigenhändig ermordet. Als einer seiner wichtigsten Offiziere hatte
Kommentar zu Buch IX 941

dieser in angetrunkenem Zustand dessen Ansehen in den Schmutz


gezogen, da er sich bei der Verteilung wichtiger Stellen im griechi-
schen Heer zurückgesetzt fühlte. Auch der Page Hermolaus und
der makedonische Geschichtsschreiber Kallisthenes finden wegen
verdächtiger Umtriebe auf Alexanders Befehl hin den Tod. ⇔ Wal-
ter kommt aufgrund dieser in der Alexandreis nicht näher ausge-
führten Ereignisse zu dem Schluss, dass Freundschaft mit Königen
keinen Bestand hat und unterzieht damit seinen wichtigsten Pro­
tagonisten aus antik-paganer ebenso wie aus christlicher Sicht einer
zwar kurzen, aber doch deutlich erkennbaren moralischen Kritik
(zur Bedeutung dieser Episode vgl. die Einführung zu Buch IX; zur
moralischen Beurteilung Alexanders in der Alexandreis vgl. Einlei-
tung 7.4).

Die Geographie Indiens (9–34)

9–34 India tota fere nascenti subdita Phebo | Eoum spectat audaci
vertice tractum … Rubentis | purgamenta freti que parvi ponderis in
se | sola sibi fecit hominum preciosa libido: Die geographischen Be-
schreibungen von Indien gehen im Wesentlichen auf die Angaben
bei Curtius zurück (vgl. Christensen 1905, 118, Anm. 1). Erzähl-
technisch bildet der Exkurs über die Geographie Indiens vergleich-
bar dem Asienexkurs in Buch I eine auch als retardierendes Element
zu verstehende Überleitung zwischen der in Buch VIII geschilder-
ten Eroberung Skythiens und der mit dem Sieg über den Inderkönig
Porus einhergehenden Inbesitznahme Indiens (vgl. Komm. I, 396–
426). Wie eine Glosse in dem aus dem 13. Jahrhundert stammenden
Codex Vindobonensis bemerkt, lässt es sich Walter mit dem Hin-
weis auf den ungeheueren Reichtum dieses Erdteils und das in den
dortigen Flüssen gefundene Gold sowie die vom Indischen Ozean
angespülten Perlen auch hier nicht nehmen, im Sinne einer zeitge-
nössischen Kritik die Habgier seiner eigenen Zeit an den Pranger zu
942 KOmmentar

stellen (vgl. Alex. IX, 26–28: aurum | illa fluenta vehunt gemmasque
et cetera que sunt |ulterius solito nostris preciosa diebus; vgl. auch Cod.
Vind. 568: Hic autor reprehendit nimiam avariciam modernorum,
qui nimium appetunt aurum et argentum; vgl. auch Colker 1978,
468; zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Einleitung 8). ⇔ Am
Ende des Abschnitts nimmt Walter diesen Gedanken noch einmal
auf, indem er die menschliche Gier dafür verantwortlich macht,
dass im Grunde genommen wertlose Dinge wie Perlen von den
Menschen für kostbar gehalten werden (vgl. Alex. IX, 32–34: riden­
tes gemmas emptura, Rubentis | purgamenta freti que parvi ponderis
in se | sola sibi fecit hominum preciosa libido).

Der Inderkönig Porus (35–70)

35–70 Ergo ubi Pelleum prolem Iovis omnia mundi | regna flagel­
lantem Macedum virtute … qui tela simillima nimbo | in medium
spargens facta statione cupita | de facili poterat naves avertere ripa:
Als Alexander Indien erreicht, ergeben sich die meisten der dortigen
Fürsten dem makedonischen König kampflos und überreichen die-
sem in Anerkennung seiner Macht und als Zeichen ihrer Unterwer-
fung zahlreiche Geschenke. ⇔ Walter zeichnet dabei ein überaus
differenziertes Bild Alexanders, indem er zum einen zwar die Tap­
ferkeit der Griechen und ihres Anführers positiv herausstellt, ihn
zum anderen mit der Bezeichnung als Jupiters Sproß und als Gott
jedoch auch einer deutlich zum Ausdruck gebrachten christlich mo-
tivierten moralischen Kritik unterzieht, die den im Philotas-Prozess
und in der Skythen-Rede bereits zur Sprache gebrachten Vorwurf
der Maßlosigkeit wieder aufgreift und erneuert (vgl. Komm. VIII,
158–184 bzw. 185–301; vgl. auch Komm. VIII, 368–476). ⇔ Einzig
der Inderkönig Porus wagt es, sich dem kampfbereiten griechischen
Heer entgegenzustellen. Walter schildert diesen als einen dem ma-
kedonischen König in jeder Hinsicht ebenbürtigen Gegner, der
Kommentar zu Buch IX 943

nicht nur alle an Körpergröße überragt, sondern auch hinsichtlich


seiner geistigen Kräfte alle anderen Inder übertrifft. ⇔ Mit einem
eindrucksvollen Gleichnis, nach welchem ein vom Berg stürzender
Felsen – gemeint ist damit Porus selbst – auf seinem Weg talabwärts
zuerst krachend kleinere Felsbrocken zerschlägt, um dann schließ-
lich durch die Macht des tief im Erdinneren verankerten und von
Alexander verkörperten Felsmassivs gestoppt zu werden, verdeut-
licht Walter überaus anschaulich zwar die gewaltige Energie, die
vom Inderkönig ausgeht, lässt zugleich jedoch keinen Zweifel an
der militärischen Unbesiegbarkeit seines wichtigsten Protagonis-
ten Alexander aufkommen (vgl. Alex. IX, 42–47). Wie Zwierlein
(2004) 627 aufzeigt, hatte bereits Vergil in Anlehnung an eine Stelle
in Homers Ilias – dort wird Hektor bei der Erstürmung des griechi-
schen Schiffslagers mit einem zu Tal donnernden Felsen verglichen,
der nach seinem Weg der Zerstörung erst im flacheren Gelände seine
ursprüngliche Wucht verliert – ein derartiges Bild auf Turnus über-
tragen, als dieser sich zögerlich und erst nach dem Selbstmord der
Amata endlich dem Zweikampf mit Aeneas stellen will und auf die
Stadtmauern von Laurentum zueilt (vgl. Hom., Ilias II, 13, 136–142:
Τρῶες δὲ προὔτυψαν ἀολλέες, ἦρχε δ᾽ ἄρ᾽ Ἕκτωρ  | ἀντικρὺ μεμαώς,
ὀλοοίτροχος ὣς ἀπὸ πέτρης, | ὅν τε κατὰ στεφάνης ποταμὸς χειμάρροος
ὤσῃ | ῥήξας ἀσπέτῳ ὄμβρῳ ἀναιδέος ἔχματα πέτρης: | ὕψι δ᾽ ἀναθρῴ-
σκων πέτεται, κτυπέει δέ θ᾽ ὑπ᾽ αὐτοῦ | ὕλη: ὃ δ᾽ ἀσφαλέως θέει ἔμπεδον,
εἷος ἵκηται | ἰσόπεδον, τότε δ᾽ οὔ τι κυλίνδεται ἐσσύμενός περ; vgl. auch
Verg., Aen. XII, 684–691: ac veluti montis saxum de vertice prae­
ceps | cum ruit avulsum vento, seu turbidus imber | proluit aut annis
solvit sublapsa vetustas; | fertur in abruptum magno mons improbus
actu | exsultatque solo, silvas armenta virosque | involvens secum: dis­
iecta per agmina Turnus | sic urbis ruit ad muros, ubi plurima fuso |
sanguine terra madet striduntque hastilibus aurae). Mit der auffäl-
ligen Übernahme des vergilischen Gleichnisses wertet Walter nicht
nur den Inderkönig Porus auf, der sich im Unterschied zu Turnus
von vornherein und ohne irgendein Anzeichen von Unentschlos-
944 KOmmentar

senheit mit großer Tapferkeit seinem Gegner stellt, sondern liefert


zugleich die Kontrastfolie für die in der Alexandreis wenig später
geschilderte Situation, in der Alexander im Unterschied zu Aeneas
seinen besiegten und am Boden liegenden Kontrahenten Porus ent-
sprechend der moralischen Anweisungen aus der Aristoteles-Rede
aus vernünftigen Gründen verschont und diesem nicht wie Aeneas
in einem plötzlichen Wutanfall den Todesstoß versetzt, sondern ihm
zum Erstaunen aller die Statthalterschaft über ein größeres Reich
überträgt und ihn sogar in den Kreis seiner Freunde aufnimmt (vgl.
Komm. IX, 291–325; zu Walters ambivalentem Verhältnis zu Vergil
vgl. Einleitung 6; zum produktionsästhetischen Ansatz der intertex-
tuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung
zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Indem Walter darüber
hinaus mit seinem Gleichnis auch eine Verbindung zur Thebais des
Statius herstellt, in der Amphiaraus die feindlichen Krieger nieder-
mäht wie eine durch einen Wintersturm oder den Zahn der Zeit
aus dem Berg gerissene Felsmasse, die auf ihrem abwärts gerichte-
ten Sturz alles mit sich reißt, um schließlich – im Tal zum Stillstand
gekommen – mit ihrer ungeheueren Masse den Lauf eines Flusses
zu verlegen oder das Tal selbst auszuhöhlen, hebt er kontrastierend
zum Feldherrn aus Argos auch die moralische Integrität des Porus
hervor (vgl. Stat., Theb. VII, 744–749: sic ubi nubiferum montis la­
tus aut nova ventis | solvit hiems, aut victa situ non pertulit aetas, | de­
silit horrendus campo timor, arva virosque | limite non uno longaeva­
que robora secum | praecipitans, tandemque exhaustus turbine fesso |
aut vallem cavat aut medios intercipit amnes; vgl. auch Zwierlein
2004, 627). Anders nämlich als der von Walter ungeachtet seiner
Niederlage gegen Alexander in allen Belangen insgesamt überaus
positiv dargestellte Inderkönig ist Amphiaraus durch seine Verwick-
lung in die Geschehnisse um den Tod des Tydeus – schon in Buch
V hatte Walter den thebanischen Sagenkreis und die Ereignisse um
Tydeus zur kontrastreichen Inszenierung seiner Charaktere genutzt
– moralisch diskreditiert. Da Amphiaraus nämlich Tydeus für den
Kommentar zu Buch IX 945

Ausbruch des Kriegs gegen Theben verantwortlich machte, unter-


lief er Athenes Plan, diesem Unsterblichkeit zu verschaffen, indem
er ihm das Hirn aus dem abgeschlagenen Kopf des Melanippos zum
Verzehr übergab. Angewidert wandte sich Athene daraufhin von
Tydeus ab und ließ ihn nun doch sterben (vgl. Komm. V, 166–182).
⇔ Ungeachtet der für das griechische Heer schwierigen Ausgangs-
lage – Porus hatte sich mit seinen Soldaten am anderen Ufer des
wegen nicht vorhandener Furten nur mit Schiffen überquerbaren
Hydaspes mit seinen Kampfelefanten aufgestellt und erwartete den
griechischen Feind von einer strategisch überlegenen Position aus –
bringt Alexander beim Anblick der indischen Schlachtreihen seine
Freude zum Ausdruck, eine gute Gelegenheit für einen großen Sieg
geboten zu bekommen.

Nicanor und Symmachus (71–147)

71–147 Fluminis in medio terrae radicitus herens | insula multa fuit


… Resoluto corpore tandem | tendit ad Elisios angusto tramite cam­
pos: Die Episode vom Heldentod der beiden Freunde Nicanor und
Symmachus, die von einer inmitten des Hydaspes gelegenen Insel
aus versuchen, die Inder aus ihrer strategisch günstigen Position am
anderen Ufer des Hydaspes zu vertreiben, ist wohl Vergils Erzählung
über Nisus und Euryalus nachempfunden, die während Aeneas’
Abwesenheit – der trojanische Anführer befindet sich gerade bei
den Etruskern – den Belagerungsring durchbrechen wollen, den
Turnus mit den Rutulern um das Lager der Trojaner gezogen hat
(vgl. Verg. Aen. IX, 176–458; bereits Statius hatte mit der Helden-
tat des Hopleus und des Dymas, die den Leichnam ihres Königs Ty-
deus im Schutz der Dunkelheit heimlich nach Hause tragen wollen,
mit der Erwähnung des Euryalus und des Nisus explizit auf Vergils
Darstellung Bezug genommen, vgl. Stat., Theb. X, 442–448: Ta­
les optatis regum in complexibus ambo, | par insigne animis, Aetolus
946 KOmmentar

et inclutus Arcas,  | egregias efflant animas letoque fruuntur.  | Vos


quoque sacrati, quamvis mea carmina surgant | inferiore lyra, me­
mores superabitis annos. | Forsitan et comites non aspernabitur um­
bras | Euryalus Phrygiique admittet gloria Nisi). In beiden antiken
Episoden sind die Handlungsträger zwei mutige junge Männer, die
in einem Zwiegespräch einen für die jeweilige Situation sinnvollen
Plan schmieden, um ihre Könige in geradezu vorbildlicher Eigen-
initiative zu unterstützen. Nicanor und Symmachus wagen ihren
gefährlichen Vorstoß, da sie Alexanders Ruhm in Gefahr sehen, der
vom nur schwer zu überquerenden Hydaspes vermeintlich davon
abgehalten wird, das von den feindlichen Indern besetzte andere
Ufer zu erreichen. Nisus und Euryalus wiederum haben die Ab-
sicht, ihren bei den Etruskern weilenden König Aeneas zurückzu-
holen, um durch dessen Anwesenheit vor Ort die Belagerung der
Rutuler zu beenden. Übergeordnetes Motiv ist in beiden Episoden
der durch diese Heldentaten erstrebte Ruhm (vgl. Alex. IX, 96–99:
Audendum est aliquid quod nos, de margine ripae | hostibus expul­
sis nostra virtute, coronet | victrici lauro, vel si quid fata minantur, |
induat aeterna nudatos corpore fama; vgl. auch Verg. Aen. IX,
194–196: si tibi quae posco promittunt (nam mihi facti | fama sat est),
tumulo videor reperire sub illo | posse viam ad muros et moenia Pal­
lantea; zur Unterscheidung von wahrem und eitlem Ruhm in der
Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.4; vgl. auch die Einführung zu
Buch IV). Doch auch mit dieser Bezugnahme auf Vergils Aeneis geht
es Walter nicht allein um die imitative Wiedergabe einer Episode sei-
ner antiken Vorlage. Vielmehr tritt jenseits aller motivischen Über­
einstimmungen deutlich erkennbar auch die aemulative Absicht
des mittelalterlichen Autors zu Tage, die signifikante Unterschiede
in Walters Darstellung zur Folge hat. Während Nisus und Euryalus
nämlich die vom Wein betäubten und im Schlaf liegenden Rutu-
ler im Schutz der Dunkelheit und ohne jegliche Gegenwehr töten,
stellen sich Nicanor und Symmachus am hellichten Tag mutig dem
indischen Gegner im direkten Kampf Mann gegen Mann. Auch
Kommentar zu Buch IX 947

wenn Walter im Verhalten der beiden Griechen nach ihren ersten


Erfolgen durchaus kritisch einen gewissen Übermut konstatiert, ist
in der Aeneis das Auftreten insbesondere des Euryalus kontrastreich
zum Geschehen in der Alexandreis in auffälliger Art und Weise von
überbordender Mordgier und unbedachter Maßlosigkeit geprägt
(vgl. Alex. IX, 116–117: Iam poterant iuvenes merita cum laude re­
verti, | sed nullo contenta modo est temeraria virtus; vgl. auch Verg.
Aen. IX, 350–354: hic furto fervidus instat … sensit enim nimia caede
atque cupidine ferri; zum produktionsästhetischen Ansatz der inter-
textuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einfüh-
rung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13). Ohne Entsprechung
bei Walter schildert Vergil zudem die Gier der beiden Trojaner, die
ungeachtet ihres eigentlichen Vorhabens den Brustschmuck und
das Wehrgehenk des Rhamnes sowie den Helm des Mesappus an
sich reißen und damit nicht nur in ihrer Bewegungsfreiheit einge-
schränkt werden, sondern sich auch durch die im Mondlicht glän-
zende Beute beim Erscheinen der rutulischen Reiter verraten (vgl.
Verg. Aen. IX, 357–378; zu Walters ambivalentem Verhältnis zu
Vergil vgl. Einleitung 6). Auch Nicanors und Symmachus’ helden-
hafter Tod im unmittelbaren Kampfgeschehen gegen die indische
Übermacht steht in einem auffälligen Kontrast zum wenig ruhm-
vollen Tod des Nisus und des Euryalus auf der Flucht vor den rutu-
lischen Reitern. ⇔ Auf poetologischer Ebene begibt sich Walter da-
mit nicht zum ersten Mal in der Alexandreis in aemulativer Absicht
in den dichterischen Wettstreit mit seinem antiken Vorbild Vergil,
der nicht nur mit seiner Darstellung weniger heldenhafter Protago-
nisten, sondern auch insgesamt als Dichter hinter der Alexandreis
und ihrem Autor zurückzustehen hat (zu Walters poetologischem
Selbstverständnis vgl. auch Einleitung 6).
948 KOmmentar

Alexanders List (148–178)

148–178 Erexit Pori victoria visa suorum  | indomitum pectus …


Attalus astabat cum Poro nuncius affert | rectorem Macedum et re­
rum dis­crimen adesse: Die im Abschnitt zuvor geschilderte Nieder-
lage der griechischen Kämpfer und der damit einhergehende Tod
der beiden Freunde Nicanor und Symmachus betonen ebenso wie
Walters einleitende Bemerkung über den bisher unbezwungenen
Porus die Schwierigkeit der vor Alexander liegenden militärischen
Aufgabe. Der makedonische König sieht sich deshalb gezwungen,
eine List anzuwenden, um das andere Ufer des Hydaspes zu errei-
chen und damit überhaupt erst die Gelegenheit für eine aussichts-
reiche Gefechtssituation zu schaffen. Während Alexander den ihm
in Wuchs und Aussehen ähnlichen Attalus in königliche Gewänder
kleiden lässt und ihm aufträgt, sich vor aller Augen offen zu zeigen,
um den am anderen Ufer aufgestellten Indern den Eindruck zu ver-
mitteln, dass er nicht weiter versuche, den Hydaspes zu überqueren,
gelingt es ihm, mit einigen Männern an einer unbewachten Stelle
flussaufwärts überzusetzen und die Schlacht zu eröffnen. Porus
wird von der Nachricht überrascht, dass der makedonische König
und damit die Entscheidung im Kampf – stilistisch von Walter als
Chiasmus in Szene gesetzt – sich in unmittelbarer Nähe befinden.
⇔ Walter nutzt die vorliegende Episode, um Alexanders heraus-
ragende Fähigkeiten als Feldherr und Motivator seiner Truppen in
Szene zu setzen (vgl. Alex. IX, 177–178: Attalus astabat cum Poro
nuncius affert  | rectorem Macedum et rerum discrimen adesse).
Über die Attribuierung seines wichtigsten Protagonisten als Ver­
nichter der Könige und Verächter jeglicher Gefahr macht der Autor
der Alexandreis deutlich, dass sich Alexander von Rückschlägen
wie der Niederlage des Nicanor und des Symmachus nicht beein-
drucken lässt und in aller Ruhe einen Plan schmiedet, der letztlich
doch zum Erfolg der griechischen Bemühungen führt. Damit er-
füllt Alexander nicht zum ersten Mal in der Alexandreis die in der
Kommentar zu Buch IX 949

Aristoteles-Rede im Kontext der Tugend der Tapferkeit mit den


Worten metire oculis zum Ausdruck gebrachten Anforderungen an
einen erfolgreichen Feldherrn hinsichtlich dessen strategischen Ver­
mögens (zum strategischen Vermögen als Teilbereich der Tugend der
Tapferkeit vgl. Komm. I, 133–136; zur tropologischen Ebene der Ale­
xandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.4).
Auch bezüglich seiner in der Alexandreis immer wieder thematisier-
ten Vorbildfunktion als Feldherr erfüllt Alexander die Vorgaben der
Aristoteles-Rede, indem er in vorderster Front gleich das erste Schiff
besteigt, das den Hydaspes überquert und mit diesem Verhalten sei-
ne Soldaten ermutigt, ihm mit großem Eifer zu folgen (zur Vorbild­
funktion als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I,
128–132). Über die Tugendhaftigkeit Alexanders hinaus versteht es
Walter zudem, den Einfluss der Götter auf den Erfolg des Unterneh-
mens in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken. Als Alexander
nämlich mit seinen Soldaten den Hydaspes überquert, behindert ein
undurchdringlicher Nebel die Sicht, was Walter zu der Bemerkung
veranlasst, dass göttliche Mächte dem kühnen Plan des großen Feld-
herrn beistehen (vgl. Alex. IX, 161–163: Animosum numina Magni |
propositum iuvere ducis, nam fusa per orbem  | involvit cecis nubes
elementa tenebris; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals
in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Auch Alexander selbst deutet
das Aufkommen des für eine sichere Überquerung des Hydaspes
an sich problematischen Nebels furchtlos als göttliche Fügung, in-
dem er darauf vertraut, dass sein gefährliches Unternehmen selbst
das Dunkel hervorruft (vgl. Alex. IX, 169–170: confisus Macedo, sua
tamquam occasio noctem | inducat). ⇔ Damit gibt Walter bereits vor
der eigentlichen kriegerischen Auseinandersetzung einen Hinweis
auf den für die Griechen glücklichen Ausgang der Schlacht, in der
Alexander dennoch seine ganze Feldherrnkunst aufbieten muss, um
den Inderkönig Porus zu besiegen.
950 KOmmentar

Die Schlacht am Hydaspes (179–325)

Die feindlichen Heere treffen aufeinander (179–258)

179–258 Mox ubi lucidior excussit nubila mundus | atque adversa


phalanx Phebo percussa refulsit … ab alto culmine monstri | spicula
fundentem, medio velut equore solum, | destituere sui: Nachdem es
Alexander und seinen Truppen durch eine List gelungen ist, den
Hydaspes zu überqueren, kommt es zur entscheidenden Schlacht
gegen die Inder und ihren waffenmächtigen König Porus. Der Aus-
gang dieses Treffens ist lange Zeit offen, da sich auf beiden Seiten
Soldaten mit herausragenden kriegerischen Fähigkeiten gegenüber-
stehen. ⇔ Walter bringt den für beide Seiten verlustreichen Kampf
mit der Bemerkung zum Ausdruck, dass zwei der drei Schwestern –
gemeint sind die Parzen – kaum in der Lage sind, die Lebensfäden zu
durchschneiden, die von der dritten Schwester gesponnen werden
(vgl. Alex. IX, 194–195: mortalia fila sorores | sufficiunt vix nere duae
que tercia rumpit; zur weiteren Verwendung des Parzenmotivs vgl.
Alex. V, 140–144: sedes implentur avari | Ditis et umbriferi domus in­
satiabilis antri. | Rumpere fila manu non sufficit una sororum, | ab­
iectaque colo Cloto Lachesisque virorum | fata metunt, unamque duae
iuvere sorores; vgl. auch Komm. I, 5–8; zum Götterapparat und der
Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). ⇔ Erst als
es den Griechen gelingt, die Kriegselefanten der Inder zu töten, er-
greifen die Feinde die Flucht und lassen ihren König Porus im Stich,
der indes weiterhin nichts unversucht lässt, das Kampfglück auf
seine Seite zu ziehen. ⇔ Einerseits schildert Walter den Inderkönig
dabei als einen überaus mutigen Anführer und fähigen Feldherrn,
dem es ungeachtet des überraschenden Auftauchens der Griechen
aufgrund seiner Handlungsschnelligkeit gelingt, augenblicklich vier-
tausend Reiter und eine große Anzahl an Fußsoldaten gegen den
griechischen Feind zu schicken (vgl. Alex. IX, 181–183: extimplo visis
equitum bis milia bina | hostibus obiecit Porus centumque cruentis |
Kommentar zu Buch IX 951

plaustra referta viris). Ebenso ist er in der Lage, die eigenen Reihen
wieder zu schließen, nachdem es den Griechen beinahe schon gelun-
gen war, die Inder in die Flucht zu schlagen (vgl. Alex. IX, 230–232:
Tamen agmine Porus | disposito rursus dispersa recolligit arma | ter­
ribilesque oculis elephantes obicit hosti). Andererseits begeht Porus
aber auch einige taktische Fehler, die von den Griechen ausgenutzt
werden und zur Niederlage des indischen Heeres entscheidend bei-
tragen. Zum einen nämlich kommen die schwer beladenen Wagen
der Inder im vom Monsunregen durchnässten Boden nicht schnell
genug voran, und auch die schweren Bögen lassen sich im schlam-
migen Untergrund nur schlecht aufstellen, zum anderen sind die
Kampfelefanten in der direkten Konfrontation mit der griechischen
Reiterei zu langsam und haben dem schnellen Lauf der griechischen
Pferde nichts entgegenzusetzen. Im Unterschied zum Inderkönig
Porus schildert Walter den makedonischen König als einen Mann,
der gerade in schwierigen Situationen in besonderer Weise in der
Lage ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen und mit seiner Ent-
schlossenheit und seinem Drang, immer als erster voranzustürmen,
die eigenen Soldaten zu motivieren versteht und ihnen damit stets
als Vorbild zu dienen vermag (vgl. Alex. IX, 189–191: Econtra Mace­
do solita levitate per Indos | strennuus invehitur. Sequitur levis ala ru­
entem | atque exerta manus; zur Vorbildfunktion als Teilbereich der
Tugend der Tapferkeit vgl. Komm. I, 128–132). Auch steht Alexan-
der in Bezug auf die innerhalb dieser wichtigsten Feldherrntugend
angesiedelten Handlungsschnelligkeit seinem indischen Gegner in
nichts nach. Denn als die griechischen Soldaten durch das Vorrü-
cken der riesigen Kampfelefanten für einen Moment ihre Ordnung
verlieren und bereits die Flucht ergreifen wollen, schickt Alexander
sofort agrianische und thrakische Reiter auf die riesigen Tiere los, so
dass den Soldaten unverzüglich der Mut zurückkehrt und sie sich
erneut in den blutigen Kampf stürzen (vgl. Alex. IX, 236–244; zur
Handlungsschnelligkeit als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit
vgl. Komm. I, 136–143). ⇔ Die geistige Überlegenheit seines wich-
952 KOmmentar

tigsten Protagonisten bringt Walter auch damit zum Ausdruck, dass


sich Alexander – von Walter explizit als unbesiegter und rastloser
Kriegsheld bezeichnet – sogar darüber freut, endlich einen Gegner
auf Augenhöhe gefunden zu haben, der mit seinen Kriegselefanten
eine echte Herausforderung darstellt (vgl. Alex. IX, 199–200: Perque
tot obiectos invictus et impiger hostes | ad Porum molitur iter Mavor­
tius heros; vgl. auch Alex. IX, 203–205: «Inveni tandem dignumque
stupore meoque  | par animo discrimen,» ait «res ecce gerenda est  |
cum monstris michi cumque viris illustribus una.»; zu Alexanders
Freude über einen ebenbürtigen Gegner vgl. auch Alex. IX, 48–53).

Alexander verfolgt Porus (258–290)

258–290 Sed cum peteretur ab omni | parte, lacessitus hinc inde no­
vemque fatiscens  | vulneribus lacer … donec multis turgentia telis  |
interius pepulere foras vitalia vitam: Porus will den inzwischen aus-
sichtslosen Kampf nicht aufgeben und wendet sich erst zur Flucht,
als er von allen Seiten angegriffen und beschossen wird. Alexander
setzt ihm – so Walter – gleich einem Blitz nach und hätte den Inder-
könig auch sofort gestellt, wenn nicht sein Pferd Bukephalus, von
zahlreichen Pfeilen tödlich getroffen, zu Boden gesunken wäre. ⇔
Nicht zum ersten Mal in der Alexandreis verwendet Walter diese ur-
sprünglich bei Lucan im pejorativen Sinn auf Caesar bezogene Me-
tapher, um Alexanders außerordentliche Schnelligkeit und enorme
Dynamik im Sinne einer Umdeutung des lukanischen Caesar posi-
tiv in Szene zu setzen (vgl. Alex. IX, 262–263: Profugo par fulminis
instat  | ira Dei Macedo; zur Gleichsetzung Alexanders mit einem
Blitz vgl. Komm. II, 388–407). ⇔ Obgleich mit der Eroberung des
Perserreichs Alexanders heilsgeschichtliche Aufgabe eigentlich ab-
geschlossen ist, bezeichnet Walter den makedonischen König an der
vorliegenden Stelle aus Sicht des christlichen Autors im Sinne eines
Epitheton commemorans noch immer als ira dei (zur Bedeutung
der biblisch konnotierten Epithetisierung Alexanders in der Ale­
Kommentar zu Buch IX 953

xandreis vgl. Einleitung 7.2). ⇔ Walter vergisst nicht zu erwähnen,


dass Alexander zu Ehren seines treuen und schon seit seiner Zeit als
Kronprinz von Makedonien an seiner Seite stehenden Pferdes die
Stadt Bukephala gründet. Mit einem neuen Pferd nimmt Alexander
die Verfolgung des Inderkönigs Porus wieder auf. In einem Szenen-
wechsel lenkt Walter nun den Blick auf den fliehenden Porus, der
von einem abtrünnigen indischen Fürsten aufgefordert wird, sich
doch endlich dem vom Schicksal begünstigten und zum Herrscher
über die Welt bestimmten gütigen makedonischen König zu erge-
ben (vgl. Alex. IX, 270–274: Sed frater Taxilis, Indis | qui preerat,
rex ipse quidem sed deditus illi | quem dederat mundo regem Fortu­
na, monebat | sollicite Porum, fortunae ut cederet utque | tam celebri
tam propicio se dederet hosti). ⇔ Damit betont Walter nicht nur die
aus antik-paganer Sicht überragende weltgeschichtliche Bedeutung
Alexanders, sondern lässt ganz im Sinne der Aristoteles-Rede auch
dessen Milde gegenüber besiegten Feinden anklingen. ⇔ Doch Po-
rus will noch immer nicht aufgeben, tötet den indischen Verräter
mit letzter Kraft und versucht erneut zu fliehen. Erst als sein riesiger
Kampfelefant schwer verwundet zu Boden geht, ist auch Porus ge-
schlagen. Als Alexander dem totgeglaubten indischen König – tat-
sächlich spricht Alexander in Anerkennung der Tapferkeit seines
Feindes wertschätzend vom trefflichen Leichnam des Porus – die
Rüstung abnehmen will, wehrt sich der Elefant noch ein letztes Mal
und erliegt schließlich seinen schweren Verletzungen (vgl. Alex. IX,
286–290).

Alexander und Porus im Gespräch (291–325)

291–325 At rex ut Porum, quem iam credebat Avernis | inmixtum


populis, erecto lumine vidit  | attollentem oculos … Largius exhibuit
dilatavitque prioris | imperii metas, tantoque exceptus honore | est hos­
tis, quantum sibi vix speraret amicus: Zu Alexanders Überraschung
lebt Porus noch, dem er in aller Offenheit sogleich die Frage stellt,
954 KOmmentar

wie er es in seinem gewaltigen Hochmut überhaupt wagen konnte,


sich mit ihm in offener Feldschlacht zu messen, obwohl er doch vom
Ruhm des makedonischen Königs gehört haben müsste. Porus ver-
sichert ihm aufrichtig, dass er vor dem Aufeinandertreffen mit ihm
nicht geglaubt hätte, auf dem ganzen Erdkreis einen Gegner finden
zu können, der ihm selbst an Tapferkeit und Scharfsinn ebenbür-
tig sein könnte. Doch die Schlacht habe Alexanders Überlegenheit
gezeigt, dem er sich von nun an als Zweiter nach ihm bereitwillig
unterwerfe und unterordne (vgl. Alex. IX, 300–306: Ante malum
certaminis huius | nemo erat in terris quem posse resistere quemve |
censerem michi Marte parem vel mente, meamque  | vim noram et
meritum, nondum tua fata tuasque  | expertus vires. Sed quam me
fortior esses, | eventus belli docuit; tibi vero secundus | non minimum
felix videor michi). Nach dieser Demutsgeste fordert Porus den sieg-
reichen makedonischen König auf, sich Selbstbeschränkung auf-
zuerlegen und untermauert seinen Ratschlag mit der gerade selbst
gemachten Erfahrung, ungeachtet der eigenen Tapferkeit dennoch
einen Stärkeren gefunden zu haben. Damit sei der Beweis erbracht,
dass dem Menschen Grenzen gesetzt seien (vgl. Alex. IX, 306–309:
Ne tamen isto | attollas animum casu quia viceris. Ipse | exemplum
tibi sum, qui cum fortissimus essem, | fortius inveni). ⇔ Die Worte
des Porus wirken dabei insgesamt – vergleichbar der Skythen-Rede
in Buch VIII – wie eine von Walter in den Mund des Inderkönigs ge-
legte christlich motivierte Mahnung, den Bogen nicht zu überspan-
nen und das rechte Maß nicht zu verlieren (vgl. Komm. VIII, 368–
384). Auch Porus’ Ausführungen über die Habgierigen, die durch
die Erinnerung an ihre Verluste schlimmer gequält werden, als sie
durch ihre Reichtümer Freude erfahren, steht in engem inhaltlichen
Zusammenhang zu der Aussage des Skythen, dass Alexander umso
mehr begehren werde, je mehr er sich an Gütern verschafft habe
(vgl. Alex. IX, 313–314: Gravius torquentur avari | amissi memores
quam delectentur habendo; vgl. auch Alex. VIII, 425–430: Proch
pudor, ad pecudes nostras extendis avaras | instabilesque manus. Et
Kommentar zu Buch IX 955

cum tibi regna ministrent | omnia divicias, tibi pauper inopsque vide­
ris. | Quid tibi diviciis opus est, que semper avaro | esuriem pariunt?
Quanto tibi plura parasti, | tanto plura petis et habendis acrius ardes).
Indem Porus mit seinem Ratschlag zudem das Bild der wankelmüti-
gen Fortuna bemüht, die einen Menschen zwar zu höchster Macht
aufsteigen lässt, diesen jedoch auch wieder herabzusetzen vermag,
stellt Walter eine weitere Verbindung zur Skythen-Rede her, in wel-
cher der Gedanke vom Schicksalsrad ebenfalls zum Ausdruck ge-
bracht worden war (vgl. Alex. IX, 309–313: Ne dixeris esse beatum |
qui quo crescat habet nisi quo decrescere possit  | non habeat. Satius
est non ascendere quam post | ascensum regredi, melius non crescere
quam post | augmentum minui; vgl. auch Alex. VIII, 448–455: Pro­
inde manu pressa digitisque tenere recurvis | fortunam memor esto
tuam, quia lubrica semper  | et levis est numquamque potest invita
teneri. | Consilium ergo salubre sequens quod temporis offert | gratia
presentis, dum prospera luditur a te | alea, dum celeris Fortunae mu­
nera nondum | accusas, impone modum felicibus armis | ne rota forte
tuos evertat versa labores). ⇔ Neben der Mahnung, das rechte Maß
nicht zu verlieren und sich Selbstbeschränkung aufzuerlegen, wird
in der vorliegenden Szene darüber hinaus jedoch von Porus auch ex-
plizit die Notwendigkeit angesprochen, sich einem noch Stärkeren
unterzuordnen, womit Walter den Bezug zur fehlenden Unterord-
nung Alexanders unter den christlichen Gott herstellt (zur Stellung
der Szene innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Ein-
leitung 7.2; vgl. auch Gartner 2018, 73–79). ⇔ Zum Erstaunen
der griechischen Anführer tötet Alexander den Inderkönig nicht,
sondern kümmert sich gewandelten Sinnes mit gezügeltem Zorn –
refrenata mutati pectoris ira – um diesen, nimmt ihn nach dessen
Genesung in den Kreis seiner Freunde auf und beschenkt ihn mit
der Verwaltung eines noch größeren Reichs (vgl. Alex. IX, 319–325).
Als Begründung führt Walter an, dass Alexander den von den Stür-
men des Schicksals ungebrochenen König bewundere, der sich un-
geachtet seiner Niederlage die Haltung eines Siegers bewahrt habe
956 KOmmentar

(vgl. Alex. IX, 317–318). ⇔ Mit diesem bewusst inszenierten, ver-


meintlich unangebrachten Verhalten Alexanders – alle anwesenden
Generäle hatten erwartet, dass er den Inderkönig tötet – verweist
Walter zum wiederholten Mal in der Alexandreis auf die im Gegen-
standsbereich des Zorns angesiedelte aristotelische Tugend der an­
gemessenen Zürnkraft, die es dem siegreichen makedonischen Kö-
nig angeraten sein lässt, einen Feind aus einem vernünftigen Grund
heraus zu schonen, auch wenn dieser zuvor das Schwert gegen ihn
erhoben hatte (vgl. Komm. III, 140–188). Mit der charakterlichen
Größe des Porus, der nicht nur seine Niederlage offen eingesteht,
sondern sich auch – zumindest in Alexanders bzw. Walters Augen –
die Haltung eines Siegers bewahrt hat, ist dieser vernünftige Grund
gegeben. Demzufolge schildert Walter in der Porus-Episode seinen
wichtigsten Protagonisten ungeachtet der Tatsache, dass dieser sich
eigentlich schon länger außerhalb des heilsgeschichtlich legitimier-
ten Perserkriegs befindet, aus antik-paganer Sicht dennoch noch
immer als einen König, dem es wie zuvor schon im Perserkrieg auch
in der Auseinandersetzung mit dem Inderkönig gelingt, die in der
Aristoteles-Rede zur Sprache gebrachten Vorgaben hinsichtlich der
drei zentralen Feldherrntugenden der Tapferkeit, der angemessenen
Zürnkraft und der angemessenen Gebefreudigkeit uneingeschränkt
zu erfüllen. ⇔ Mit der an der vorliegenden Stelle auffällig in Sze-
ne gesetzten Tugend der angemessenen Zürnkraft verfolgt Walter
jedoch auch die Absicht, Vergils in der Aeneis ausgeführtes Römer-
programm – bekanntermaßen mit den Worten parcere subiectis et
debellare superbos zum Ausdruck gebracht – als unzureichende mo-
ralische Richtschnur zu diskreditieren und sich als Dichter damit in
aemulativer Absicht über sein im Prolog der Alexandreis noch als
unerreichbar apostrophiertes Vorbild zu stellen (zur Bedeutung der
Porus-Episode im Hinblick auf das Römerprogramm der Aeneis vgl.
die Einführung zu Buch IX; zu Walters ambivalentem Verhältnis zu
Vergil vgl. Einleitung 6; zu Walters poetologischem Selbstverständ-
nis vgl. auch Einleitung 6).
Kommentar zu Buch IX 957

Alexander als Welteroberer (326–340)

326–340 Postquam magnanimus Macedum victricibus armis | suc­


cubuit Porus … mentem preteritae memorem terrentia culpae: Walter
bezeichnet Alexanders Sieg über Porus als großzügiges Geschenk des
Schicksals und macht damit deutlich, dass ungeachtet der Tatsache,
dass sich der makedonische König außerhalb des heilsgeschichtlich
legitimierten Rahmens des Perserkriegs bewegt, er von der antik-pa-
ganen Macht der Schicksalsgöttin Fortuna nach wie vor unterstützt
wird (vgl. Alex. IX, 328–329: elatus Macedo, cui vix cedentibus astris |
prodiga tam celebrem dederat Fortuna triumphum; zum Götterap-
parat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung
5). Allerdings schränkt Walter seine eigene Aussage dahingehend
ein, dass die Unterstützung im Krieg gegen Porus nur in Alexanders
Augen auch eine Rechtfertigung für weitere Kriege im Osten dar-
stellt (vgl. Alex. IX, 330–331: quo mediante sibi fines Orientis apertos |
censebat; zu Alexanders Selbstverständnis des ihn begünstigenden
Schicksals vgl. Komm. IV, 546–562). Insofern regt sich beim christ-
lichen Autor Walter an dieser Stelle durchaus ein gewisses Unbeha-
gen, das unter antik-paganen Maßstäben durchaus mutige Vordrin-
gen Alexanders in Richtung Osten grundsätzlich gutzuheißen. ⇔
Zum wiederholten Mal in der Alexandreis stellt Walter auch Alex-
anders Schnelligkeit heraus, mit der er zahlreiche Völker des Ostens
unterwirft (vgl. Komm. II, 91–102). Auch Alexanders Gleichsetzung
mit einem Blitz in Verbindung mit dessen Schnelligkeit stellt ein
in der Alexandreis häufig verwendetes Motiv dar (vgl. Komm. II,
388–407; zur Bedeutung der biblisch konnotierten Epithetisierung
Alexanders in der Alexandreis vgl. auch Einleitung 7.2). Dabei wird
auch an der vorliegenden Stelle der bei Lucan auf Caesar bezoge-
ne und in der Pharsalia destruktiv und damit negativ konnotierte
Blitz positiv umgedeutet, indem zwar der Erdkreis vor Alexander
erzittert, dieses Zittern von Walter jedoch nicht mit der blinden Zer-
störungswut Alexanders in Verbindung gebracht wird, sondern mit
958 KOmmentar

dem Bewusstsein dieser Völker über ihre einstige Schuld (vgl. Alex.
IX, 340: mentem preteritae memorem terrentia culpae).

Alexanders Kampf gegen die Sudraker (341–500)

341–500 Ausa tamen fatis Macedumque resistere famae | gens Su­


dracarum validae se menibus urbis | inclusit … Si tamen incolomem
revocare tenacibus uncis | et clavum reparare queunt, sonat aura tu­
multu | leticiae, et primum vincunt nova gaudia luctum: Als eines
der wenigen Völker leisten die Sudraker dem makedonischen König
auf seinem Weg nach Osten erbitterten Widerstand. Gleich zu Be-
ginn seiner Schilderung macht Walter jedoch deutlich, dass Alexan-
der auch diese schwierige Aufgabe lösen wird, indem er das Bemü-
hen der Sudraker, mit dem Rückzug in ihre gut befestigten Mauern
gegen Alexander zu bestehen, als untauglichen Versuch beschreibt,
den Lauf des Schicksals aufzuhalten (vgl. Alex. IX, 341–343: Ausa
tamen fatis Macedumque resistere famae | gens Sudracarum validae
se menibus urbis  | inclusit; zum Götterapparat und der Rolle des
Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Da sich die Sudraker
dem makedonischen König nicht in offener Feldschlacht stellen
wollen, müssen die Griechen versuchen, über Sturmleitern in die
Stadt zu gelangen. Alexander steigt als erster die steile Mauer hinauf
und wird sogleich von feindlichen Bogenschützen unter Beschuss
genommen (vgl. Alex. IX, 345–346: primus in oppositum galeato ver­
tice murum | evadit Macedo). Auch wenn die Griechen anfangs we-
gen des verheerenden Geschosshagels zögern, ihrem König zu fol-
gen, siegt – so Walter – am Ende doch ihr Schamgefühl über die
durchaus zurecht empfundene Gefahr (vgl. Alex. IX, 352–353: tan­
dem discrimina vimque  | telorum vicit pudor et confusio frontis).
Ohne auf ihr eigenes Leben zu achten, klettern sie daraufhin mit
großem Eifer ihrem Anführer hinterher. ⇔ Walter beschreibt an
dieser Stelle seinen wichtigsten Protagonisten wie bereits zu Beginn
Kommentar zu Buch IX 959

der Schlacht bei Issus oder auch im Kampf gegen die Uxier als leuch-
tendes Vorbild für seine Soldaten, der es wagt, als erster den Feind zu
bestürmen, nichts von seinen Männern verlangt, was er nicht selbst
zu tun bereit ist und keinerlei Rücksicht auf sein eigenes Leben
nimmt (vgl. Komm. II, 388–407; vgl. auch Komm. VI, 81–102; zur
Vorbildfunktion als Teilbereich der Tugend der Tapferkeit vgl.
Komm. I, 128–132). ⇔ Allerdings führt der Übereifer der griechi-
schen Soldaten dazu, dass die Sturmleitern unter der zu großen Be-
lastung zerbrechen und Alexander sich plötzlich ganz allein dem
feindlichen Beschuss ausgesetzt sieht. Seine Kampfgefährten versu-
chen ihn dazu zu bringen, in ihre Arme zu springen und damit den
vorläufigen Rückzug anzutreten. Doch Alexander springt zum Ent-
setzen seiner eigenen Männer kopfüber in die Stadt der Sudraker.
Walter versäumt dabei nicht zu erwähnen, dass es der makedonische
König gemessen an seiner göttlichen Abstammung für unwürdig
ansieht, dem Feind den Rücken zu kehren und macht darüber hin-
aus deutlich, dass dieser Sprung eine entscheidende Bedeutung für
den weiteren Verlauf und den Ausgang dieser Schlacht haben wird
(vgl. Alex. IX, 366–370: cum rex, ausus mirabile dictu | atque fide
maius, saltu se prepete dira | barbarie plenam preceps inmisit in ur­
bem, | indignum reputans divino stemmate, princeps | tot clarus titu­
lis si tergum ostenderet hosti). ⇔ Walter selbst wirft in diesem Kon-
text die Frage auf, wie Alexanders Verhalten eigentlich beurteilt
werden müsse und kommt zu dem Schluss, dass er tapfer und toll-
kühn zugleich gehandelt habe (vgl. Alex. IX, 371–373: Queritur an
fortis facto an temerarius isto | rex fuerit, sed si contraria iungere cu­
ras, | et fortis fuit et facto temerarius isto). Einerseits steckt in dieser
Aussage eine leise Kritik des Autors der Alexandreis, da ein tollküh-
nes Verhalten nach den Maßstäben der aristotelischen Tugendlehre
eigentlich als Laster zu betrachten ist, andererseits gibt der zuletzt
eintretende militärische Erfolg dem makedonischen König recht
und legitimiert dessen Verhalten damit ex eventu als tapfere und da-
mit unter moralischen Gesichtspunkten richtige Reaktion auf die
960 KOmmentar

schwierige militärische Herausforderung. Der tiefere Grund für


Alexanders Überleben inmitten der sudrakischen Feinde wird von
Walter zugleich nachgeliefert: Nicht zum ersten Mal in der Alexan­
dreis nämlich greift die Schicksalsgöttin Fortuna ein, um ihrem
Schützling in einer beinahe aussichtslosen Situation zu Hilfe zu
kommen (vgl. Alex. IX, 374–376: cumque capi vivus posset perimive
priusquam | surgeret, excussit Fortuna potenter utrumque | et miro
miranda modo protexit alumpnum; zum Götterapparat und der
Rolle des Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5). Ebenso
wie bei der Darstellung von Alexanders unheilvollen Bad im Kydnus
oder bei dem überraschenden Angriff eines feindlichen Kriegers auf
den makedonischen König bei der Eroberung von Gaza verfolgt
Walter mit der vorliegenden Inszenierung der unmittelbaren Todes-
gefahr für seinen wichtigsten Protagonisten auch an dieser Stelle die
Absicht, auf Alexanders unveränderliches Schicksal hinzuweisen,
das seine Vollendung erst durch einen von der Schicksalsgöttin La-
chesis gebrauten giftigen Sud finden wird (vgl. Komm. II, 186–200;
vgl. auch Komm. III, 342–369). ⇔ In der vorliegenden Situation
sorgt die Schicksalsgöttin nicht nur dafür, dass Alexander – von
Walter sinnigerweise als ultio caelestis bezeichnet – nach seinem ge-
waltigen Sprung über die sudrakische Mauer auf seinen Füßen lan-
det und damit sofort kampfbereit ist, sondern sie hatte auch Vor-
sorge getroffen, dass sich hinter Alexander ein Lorbeerbaum
befindet, an den er sich anlehnen kann und der ihn vor Angriffen in
seinem Rücken schützt (vgl. Alex. IX, 381–384: Stabat enim laurus
annoso stipite tamquam  | nata ducem Macedum vetulis defendere
ramis. | Huius ut applicuit trunco insuperabile corpus, | ultio caelestis
clipeum circumtulit). Dabei stellt es keinen Zufall dar, dass Alexan-
ders heldenhafter Kampf gegen die Übermacht der Sudraker unter
einem Lorbeerbaum stattfindet, der schon innerhalb des von Donat
entwickelten stilus gravis und auch in der mittelalterlichen Rhetorik
stets mit dem Kampf heldenhafter Krieger in Verbindung gebracht
wird (zur weiteren Funktion des Lorbeerbaums in der Alexandreis
Kommentar zu Buch IX 961

vgl. Alex. II, 306–318). Abgesehen von der Unterstützung durch die
Schicksalsgöttin kommt dem makedonischen König auch sein glän-
zender und auf dem ganzen Erdkreis verbreiteter Ruf zu Hilfe, der
dazu führt, dass es zuerst einmal kein Sudraker wagt, den Nahkampf
mit Alexander zu suchen. Nicht von ungefähr setzt Walter ausge-
rechnet an dieser Stelle auch Alexanders Tapferkeit in Szene, indem
er dessen heldenhafte Haltung in diesem verzweifelten Kampf gegen
die Übermacht der Sudraker herausstellt, in welchem der Held auch
vor dem eigenen Tod nicht zurückschreckt (vgl. Alex. IX, 387–390:
Celeberrima fama verendi | nominis, edomitum iam dilatata per or­
bem, | pro duce pugnabat et desperatio, magnae | virtutis stimulus, et
honestae occasio mortis). ⇔ Als es einigen Sudrakern doch gelingt,
näher an den inzwischen vermeintlich kampfunfähigen makedoni-
schen König heranzurücken und sie diesen seiner Rüstung berau-
ben wollen, tötet er zwei seiner Feinde mit dem Schwert (vgl. Alex.
IX, 395–398: Quem cum spoliare pararent | qui stabant propius, hos
sic mucrone recepit | Magnus ut ante ipsum vita fugiente iacerent |
exanimes gemini). Erneut sind die Sudraker so von Alexanders Tap­
ferkeit beeindruckt, dass sie es ein weiteres Mal nicht wagen, sich
ihm im Nahkampf zu stellen. Erst als ihm ein Pfeil die Seite durch-
bohrt und er stark blutet, lässt Alexander, der Ohnmacht schon nah,
seine Waffen fallen. Als der Pfeilschütze an den totgeglaubten Feind
heranrückt, tötet Alexander in einer letzten Kraftanstrengung auch
diesen. Ungeachtet seiner misslichen Lage – Alexander selbst hat
sich bereits mit dem eigenen Tod abgefunden – hält er bis zuletzt
tapfer die Stellung und reizt sogar noch den Feind mit aufreizenden
Worten. Inzwischen eilen einige Griechen, denen es inzwischen ge-
lungen war, die Mauern zu durchbrechen, ihrem König zu Hilfe
und können zumindest verhindern, dass Alexander getötet wird.
Als sich unter den Griechen dennoch das Gerücht verbreitet, dass
Alexander gefallen sei, intensivieren sie ihre Anstrengungen, bre-
chen schließlich die restlichen Soldaten an zahlreichen Stellen durch
die Mauern der Stadt, richten ein Blutbad unter den Sudrakern an
962 KOmmentar

und können ihren König im letzten Moment retten. ⇔ Walter be-


tont an dieser Stelle auch die Tapferkeit der griechischen Soldaten,
die sich von der Nachricht vom vermeintlichen Tod ihres Anführers
nicht haben entmutigen lassen, sondern ohne Rücksicht auf ihr ei-
genes Leben weiterhin den Durchbruch versucht haben (vgl. Alex.
IX, 442–447: Interea cecidisse ducem intra menia rumor | pertulit ad
Grecos. Alios tam dira timore | fregisset sed eos animavit fama. Peric­
li  | tocius inmemores murum fregere dolabris,  | molitique aditum
spreto discrimine mortis, | per murum fecere viam). Auch bei der an-
schließenden Versorgung von Alexanders Wunde durch den Arzt
Critobulus inszeniert Walter die beinahe übermenschliche Tapfer­
keit seines wichtigsten Protagonisten. Denn als der Arzt einigen
Männern aufträgt, ihren König beim Herausziehen des Pfeils festzu-
halten, da jede Bewegung die Situation verschlimmern könne, erwi-
dert Alexander, dass es für einen König unehrenhaft sei, gefesselt
oder auch nur gehalten zu werden (vgl. Alex. IX, 474–476: «Non
est» ait ille «decorum | vinciri regem, Critobole, sive teneri. | Libera
sit regis et semper salva potestas.»). ⇔ Und tatsächlich gelingt es,
den Pfeil aus der Wunde zu ziehen, ohne dass Alexander irgendeine
falsche Bewegung gemacht oder auch nur im Ansatz das Gesicht
verzogen hätte (vgl. Alex. IX, 477–479: et quod vix auderes credere,
corpus | prebuit inmotum, neque vultus signa doloris | contraxit ru­
gas). Critobulus kann die Blutung stoppen, so dass am Ende Alex-
anders Leben gerettet werden kann (zur tropologischen Ebene der
Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einleitung
7.4).

Craterus mahnt Alexander (501–544)

501–544 Postquam Pellei curato vulnere pauci | effluxere dies … Ea­


dem Tholomeus et omnis concio cum lacrimis confusa voce perorat: Ob-
wohl Alexander nach seiner Verletzung eigentlich noch nicht wieder
Kommentar zu Buch IX 963

vollständig genesen ist, trifft er schon nach wenigen Tagen Vorberei-


tungen für den Aufbruch zu weiteren Eroberungen. ⇔ Nach der
ausdrücklichen Mahnung der Skythen und des Inderkönigs Porus,
den Bogen nicht zu überspannen und das rechte Maß nicht zu ver-
lieren, wird Alexander – erstmals auch aus den eigenen Reihen –
von seinem General Craterus ein letztes Mal in der Alexandreis mit
der christlich motivierten kritischen Frage konfrontiert, welches
Ziel sein Mut und seines Geistes Begierde eigentlich erstrebe und
welches Maß er in Zukunft einzuhalten gedenke (vgl. Alex. IX,
514–517: «Tua, regum maxime, virtus» | inquit «et esuries mentis,
cui maximus iste | non satis est orbis, quem proponunt sibi finem | vel
quem sunt habitura modum?»). Auch die von Walter in den Mund
des Craterus gelegten Worte, dass dem makedonischen König der
Erdkreis nicht genüge, macht deutlich, dass es bezüglich Alexan-
ders grenzenloser Eroberungswut kaum noch Steigerungsmöglich-
keiten gibt und der von der Göttin Natura eingeleitete epische Tod
Alexanders ursächlich mit dessen Maßlosigkeit in Zusammenhang
steht. Um Alexander von weiteren Eroberungen abzuhalten, be-
müht auch Alexanders General Craterus wie schon die Skythen und
auch der Inderkönig Porus das Bild des Schicksalsrads, nach dem es
keinem Menschen erlaubt ist, immer auf derselben Stufe stehen zu
bleiben, (vgl. Alex. IX, 526–528: Secunde | res ita se prebent ut nulli
fas sit in uno | semper stare gradu; zum Bild des Schicksalsrads in der
Alexandreis vgl. Alex. VIII, 323–334; vgl. auch Alex. VIII, 448–455;
vgl. auch Alex. IX, 309–316; zum Götterapparat und der Rolle des
Schicksals in der Alexandreis vgl. Einleitung 5).

Alexanders Antwort an Craterus (545–580)

545–580 Non fuit Eacidae pietas ingrata suorum … et ecce | nauti­


cus exoritur per fluminis ostia clamor: Auch wenn Alexander seinen
Männern für ihre im Kampf gegen die Sudraker und auch in allen
964 KOmmentar

anderen Schlachten gezeigte Treue überaus dankbar ist, macht er


deutlich, dass er nicht gewillt ist, die Mahnung seines Generals ernst
zu nehmen und seinen inzwischen fast bis an den östlichen Ozean
reichenden Eroberungszug zu beenden. Ganz im Gegenteil ziehe es
ihn nach der Eroberung der bekannten Welt zu den Antipoden auf
die andere Hemisphäre, da ihm – wie Craterus bereits angesprochen
hatte – der Erdkreis tatsächlich zu eng sei (vgl. Alex. IX, 563–570:
Proximus est mundi michi finis, et absque deorum | ut loquar invi­
dia, nimis est angustus et orbis, | et terrae tractus domino non sufficit
uni. | Quem tamen egressus postquam hunc subiecero mundum, | en
alium vobis aperire sequentibus orbem | iam michi constitui. Nichil
insuperabile forti.  | Antipodum penetrare sinus aliamque videre  |
naturam accelero). Auch die Bitte seines Generals, besser auf sein
eigenes Leben zu achten, da er sonst Gefahr laufe, eines Tages doch
in irgendeiner Schlacht zu sterben, führt Alexander ad absurdum.
Nicht seine Lebensjahre seien der für ihn gültige Maßstab, sondern
die Zahl seiner Siege (vgl. Alex. IX, 559–562: Sed mundi rex unus
ego, qui mille tryumphos | non annos vitae numero, si munera recte |
computo Fortunae vel si bene clara retractem | gesta, diu vixi). Falls
er nach dem Willen der Schicksalsgöttin sein Leben bei der Erobe-
rung der Antipoden beenden müsse, nehme er dies bereitwillig in
Kauf (vgl. Alex. IX, 576–577: Hiis operam dare proposui nec rennuo
claram  | si Fortuna ferat vel in hiis extinguere vitam). Auch ihre
fehlende Gefolgschaft könne ihn nicht aufhalten, da es ihm nie an
waffenfähigen Männern fehlen werde, die ihn bei seinem Vorhaben
unterstützen werden (vgl. Alex. IX, 570–571: Michi si tamen arma
negatis, | non possum michi deesse). Alexander selbst spricht mit der
aus seiner Sicht freilich positiv verstandenen Bemerkung, dass er
verborgene Länder betreten werde, die von der Göttin Natura dem
Zugriff fremder Völker entrückt sind, einen wichtigen Aspekt ge-
nau derjenigen Maßlosigkeit an, der er sich aus Sicht der göttlichen
Mächte schuldig macht und weswegen er später den epischen Tod
erleiden wird (vgl. Alex. IX, 573–575: ignotosque locos vulgusque igno­
Kommentar zu Buch IX 965

bile bellis | nobilitabo meis, et quas Natura removit | gentibus occultas


calcabitis hoc duce terras). Alexanders Soldaten lassen sich durch die
eindringlichen Worte ihres Anführers überzeugen und geloben ihm
auch für seine weiterreichenden Pläne Gefolgschaft.
Einführung zu Buch X
Zu Beginn des zehnten Buchs nimmt Walter Alexanders bereits in
Buch IX angekündigte Fahrt zu den auf der unbekannten Gegen-
hemisphäre vermuteten Antipoden wieder auf, mit der zwei unter-
schiedliche Intentionen des Autors verknüpft sind (vgl. Komm. X,
1–5). Zum einen erfüllt die Hinfahrt zu den unbekannten Gestaden
der Gegenfüßler den literarischen Zweck, die im Anschluss daran
geschilderte Reaktion der Göttin Natura auf diese aus christlicher
Sicht maßlose Grenzüberschreitung des makedonischen Königs ver-
ständlich zu machen, die infolgedessen mit ihrem Gang in die Un-
terwelt den Tod Alexanders in die Wege leitet (vgl. Komm. X, 6–107;
zur Göttin Natura als charakteristischer Gestalt des 12. Jahrhunderts
vgl. Einleitung 5). Zum anderen dient die von Walter bewusst in die
Länge gezogene Rückfahrt von der gescheiterten Antipodenfahrt
nach Babylon dazu, den durch die Historie vorgegebenen Ablauf
der Geschichte und den Tod des epischen Helden literarisch hinaus-
zuzögern, so dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass
sich der Autor der Alexandreis nur schwer von seinem wichtigsten
Protagonisten zu trennen vermag (vgl. Komm. X, 249–282). Inso-
fern ist diese Episode bezogen auf das gesamte Epos beispielhaft in
der Lage, Walters zwischen antik-paganer Bewunderung einerseits
und christlicher Kritik andererseits oszillierende Haltung gegenüber
dem antiken Feldherrn in ihrer ganzen Bandbreite abzubilden.
Für die Darstellung der Szene über den Abstieg der von Schmerz
und Verzweiflung geplagten Göttin Natura in den Tartarus und der
damit einhergehenden Zuhilfenahme acherontischer Mächte ver-
bindet Walter zwei Episoden aus der Aeneis Vergils und den Meta­
morphosen Ovids miteinander und bringt dabei über die Imitation
der antiken Autoren hinaus zugleich seinen aemulativen Anspruch
insbesondere gegenüber dem Dichter aus Mantua zum Ausdruck
Einführung zu Buch X 967

(vgl. Komm. X, 6–107; zu Walters ambivalentem Verhältnis zu Ver-


gil vgl. Einleitung 6). Dabei setzt Walter kontrastierend zu seinen
epischen Vorbildern in einer dreifachen Klimax den aus christlicher
Perspektive altruistischen und von Erfolg gekrönten Unterwelts-
besuch der mittelalterlichen Gottheit Natura in Beziehung zu den
durchwegs egoistischen und nur teilweise erfolgreichen Bemühun-
gen der antiken Göttin Juno, die Mächte der Unterwelt für die
eigenen Zwecke einzuspannen. Im Unterschied zu Natura nämlich
gelingt es der antiken Göttin in der Aeneis ungeachtet der Hilfe
der eigens aus der Unterwelt auf die Erde gerufenen Furie Allecto
am Ende nicht, ihre gegen das Fatum gerichteten egoistischen und
destruktiven Pläne gegen Aeneas und die Trojaner in die Tat um-
zusetzen (vgl. Verg., Aen. VII, 324–326; zum produktionsästheti-
schen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Einleitung 4;
vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm. prol., 1–13).
Anders verhält es sich mit den Metamorphosen Ovids. Dort steigt
Juno im Unterschied zur Darstellung bei Vergil persönlich in die
Unterwelt hinab – bezogen auf eine Göttin ein Vorgang ohne Vor-
bild im älteren Epos und gerade deshalb von so großer Bedeutung
im Hinblick auf Walters imitative Darstellung –, um in ihrem Zorn
auf Athamas und Ino die Furie Tisiphone darum zu bitten, das ihr
verhasste Ehepaar in den Wahnsinn zu treiben (vgl. Ov., Met. IV,
469–478). Junos Plan ist im Unterschied zur Darstellung bei Vergil
von Erfolg gekrönt – Athamas tötet in seiner Verblendung Learchos
und Ino stürzt sich mit ihrem anderen Sohn Melikertes von einem
hohen Felsen ins Meer –, so dass man den Eindruck gewinnen könn-
te, dass die Darstellung bei Ovid keinen wesentlichen Unterschied
zu Walters Schilderung aufweist. Dieser Gedanke greift jedoch zu
kurz. Denn im Unterschied zu Natura handelt auch bei Ovid die
ebenso von Eifersucht getriebene Juno ungeachtet ihres erfolgrei-
chen Vorgehens noch immer aus egoistischen Motiven heraus und
legt Vergils Darstellung vergleichbar ein nicht minder destruktives
Verhalten an den Tag. Demzufolge inszeniert Walter eine über die
968 KOmmentar

motivische Imitation gestaltete dreifache Klimax, die vom erfolg-


losen und destruktiven und gegen das Fatum gerichteten Handeln
Junos bei Vergil über die zwar erfolgreichen, aber immer noch de­
struktiven Bemühungen Junos bei Ovid bis zur erfolgreichen und
altruistischen und im Sinne des Fatums handelnden Göttin Natura
bei Walter reicht. Damit begibt sich Walter auf poetologischer Ebene
über die reine Imitation hinaus in aemulativer Absicht in den dich-
terischen Wettstreit mit den genannten antiken Autoren. Im selben
Maße nämlich, wie die in den antiken Werken beschriebene Göttin
Juno hinter der mittelalterlichen Göttin Natura zurückzustehen
hat, haben auch die antiken Autoren hinter dem mittelalterlichen
Autor der Alexandreis zurückzustehen (zu Walters poetologischem
Selbstverständnis vgl. Einleitung 6). Den letzten Anstoß für die lite-
rarische Absicht, die Göttin Natura in die Unterwelt hinabsteigen
zu lassen, hat möglicherweise Lucan gegeben, der in einem emotio-
nalen Ausbruch gegen Alexander im letzten Buch der Pharsalia zu
der Erkenntnis gelangt, dass nur die Natur – allerdings nicht wie
bei Walter im Sinne einer personifizierten Göttin – mit Alexanders
physischer Vernichtung dessen unbändiges Expansionsstreben auf-
halten konnte (vgl. Luc., Phars. X, 39–42).
Mit einem bemerkenswerten Autorexkurs bringt Walter seine
Klage über den bevorstehenden Tod seines wichtigsten Protagonis-
ten zum Ausdruck, der aus christlicher Sicht aufgrund seiner Maß-
losigkeit zwar den Tod verdient hat, aus antik-paganer Sicht seinen
Heldenstatus in Walters Darstellung deshalb jedoch nicht verliert
(vgl. Komm. X, 191–215).
In seiner Ansprache an die aus aller Welt nach Babylon gekom-
menen Gesandtschaften greift Alexander in einer Art Tatenbericht
mit den Tugenden der Tapferkeit, der angemessenen Gebefreudigkeit
und der angemessenen Zürnkraft in auffälliger Weise noch einmal
die drei wichtigsten Feldherrntugenden auf und setzt diese in Be-
ziehung zu seinen überaus erfolgreichen und sich auf den ganzen
Erdkreis erstreckenden Eroberungszügen (vgl. Komm. X, 282–329;
Einführung zu Buch X 969

zur Stellung der Ansprache Alexanders an die Gesandten innerhalb


der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Einleitung 7.3; vgl. auch
Gartner 2018, 73–79; zu der im vorliegenden Kommentar gegen-
über der in der Forschung gängigen Praxis veränderten deutschen
Übersetzung bestimmter Tugenden vgl. die Einführung zu Buch I).
Nachdem Alexander das Gift getrunken hat, bricht er zusam-
men. Mit seinen letzten Worten teilt er zum Erstaunen seiner Ge-
fährten mit, dass er nun lange genug auf Erden geherrscht habe und
zukünftig im Olymp den Göttervater Jupiter in einem erneuten
Kampf gegen die Giganten unterstützen werde (vgl. Komm. X,
378–432). Hätte man nun als Leser erwartet, dass der gefallene Held
angesichts seines kurz bevorstehenden Todes eine gewisse Einsicht
zeigt und in der Rückschau auf sein Leben die eigene Überhebli-
chkeit – mithin der eigentliche Grund für dessen Tod im Epos – er-
kennt und zu seinen zweifellos herausragenden Taten in Beziehung
setzt, so sieht man sich getäuscht. Denn auch im letzten Moment
seiner irdischen Existenz ist Alexander zu dieser Selbsterkenntnis
nicht in der Lage, vielmehr treibt er seine von Selbstherrlichkeit
geprägte Maßlosigkeit noch einmal auf die Spitze, indem er bereits
neue Pläne für die Zeit nach seinem irdischen Dasein schmiedet. In
Verkennung seiner narzisstischen Persönlichkeitsdefizite handelt
Alexander damit aber noch immer genau nach demselben Muster,
das ihn – legt man dabei christliche Maßstäbe zugrunde – letzten
Endes den Tod im Epos erleiden lässt. Insofern wirkt Walters Dar-
stellung wie eine nachträgliche Rechtfertigung für die in der Ale­
xandreis eingeleitete Ermordung des makedonischen Königs, der
auf Erden niemals in der Lage gewesen wäre, seine blinde Erobe-
rungswut zu zügeln und an irgendeinem Punkt seiner Existenz mit
dem Erreichten zufrieden zu sein. An dieser Stelle des Epos scheint
auch der Autor der Alexandreis, der über weite Strecken von Buch
X nichts unversucht gelassen hatte, den epischen Tod seines wich-
tigsten Protagonisten literarisch hin­auszuzögern, seinen Frieden mit
der Situation gefunden zu haben.
970 KOmmentar

In einem letzten christlich motivierten Moralexkurs macht Wal-


ter anhand der bitteren Erkenntnis, dass dem makedonischen Er-
oberer, dem in seiner verachtenswerten Hybris zu Lebzeiten der
ganze Erdkreis nicht ausgereicht hat, nun nach seinem Tod ein
kleines, nur fünf Fuß langes Grab ausreichen muss, deutlich, dass
für alle darin aufgeführten moralischen Verfehlungen beispielhaft
Alexander steht, der sich ungeachtet seiner herausgehobenen welt-
lichen Stellung der allgegenwärtigen Fragilität der menschlichen
Existenz auch nicht entziehen kann (vgl. Komm. X, 433–454; zur
moralischen Beurteilung Alexanders in der Alexandreis vgl. Einlei-
tung 7.4).
Die Alexandreis endet mit Walters als captatio benevolentiae zu
verstehendem Bekenntnis, sich fortan von der antikisierenden Dich-
tung abwenden zu wollen, und der daran anschließenden Widmung
an seinen Gönner Wilhelm von Blois (vgl. Komm. X, 455–460 bzw.
Komm. X, 461–469).
Kommentar zu Buch X
Themenübersicht (1–10)

C 1 Oceanum decimus audaci classe fatigat: Mit der Wiedergabe der


bereits am Ende des neunten Buchs angekündigten Seefahrt zu den
Gestaden der Antipoden – im Übrigen eine vom Autor der Alexan­
dreis frei erfundene Episode – geht Walter gleich zu Beginn seiner
Themenübersicht von Buch X auf Alexanders letzte und nach der
Unterwerfung der Skythen und der Eroberung Indiens aus christ-
licher Sicht folgenschwerste Grenzüberschreitung ein, die im weite-
ren Verlauf der Darstellung die jenseitigen Mächte auf den Plan ruft
und als ausschlaggebender Grund für die Ermordung des makedo-
nischen Königs in Szene gesetzt wird (vgl. Komm. IX, 545–580; vgl.
Komm. X, 1–5; vgl. auch Komm. X, 168–190; vgl. auch Komm. X,
249–282).

C 2–3 Infernum Natura Chaos civesque Iehennae | conquestu moni­


tisque movet: Die Göttin Natura begibt sich in die Unterwelt und
versetzt die dortigen Bewohner mit einem emotionalen Bericht über
Alexanders hochragende Pläne in entsetzliche Aufruhr. Mit ihrem
eindrucksvollen Auftritt gelingt es ihr, Leviathan davon zu überzeu-
gen, dass es zum jetzigen Zeitpunkt dringend geboten ist, bei Alex-
anders Ermordung Unterstützung zu leisten (vgl. Komm. X, 6–107;
zur Göttin Natura als charakteristischer Gestalt des 12. Jahrhunderts
vgl. Einleitung 5).

C 3–6 Redit equore Magnus | occeani domito, mirandaque pectore


versans | occiduum bellis proponit frangere mundum | navigiumque
parat: Auch wenn es Alexander wegen eines heftigen Sturms nicht
gelingt, bis zu den Gefilden der Antipoden vorzudringen, kann er
972 KOmmentar

dennoch erfolgreich den Schiffbruch vermeiden und nach Baby-


lon zurückkehren. Dort angekommen fasst er den auch für seine
eigenen Männer überraschenden Entschluss, seine Eroberungen zu-
künftig in westlicher Richtung fortsetzen zu wollen (vgl. Komm. X,
168–190).

C 6–7 Sed territus orbis in unum | confluit et misso veneratur mu­


nere Magnum: Die Gesandtschaften der im Osten unterworfenen
Völker bringen als Zeichen ihrer Ehrerbietung Geschenke zu Ale-
xander. Doch auch die im westlichen Europa lebenden Völker, die
bisher noch keine kriegerische Auseinandersetzung mit Alexander
hatten, lassen es sich nicht nehmen, in vorauseilendem Gehorsam
den makedonischen König mit besonderen Gaben milde zu stim-
men (vgl. Komm. X, 216–248).

C 8–10 Qui, licet invictus ferro, mediante veneno | vincitur, et luteo


resolutus carcere tandem | liber in ethereas vanescit spiritus auras: Auf
dem Höhepunkt seiner Macht findet Alexander in Babylon schließ-
lich den Tod. Beinahe bewundernd betont Walter dabei explizit,
dass sein wichtigster Protagonist nicht durch das Schwert stirbt,
sondern einem Giftmord zum Opfer fällt (vgl. Komm. X, 378–432).

Alexanders Aufbruch zu den Antipoden (1–5)

1–5 Sydereos fluctus et amicum navibus amnem | prebuerat Zephirus


… quam procul absit | hactenus Oceani populis incognitus amnis: Bei
günstigem Wind segelt Alexander mit seiner Flotte auf südlichem
Kurs zu den Gestaden der jenseits des Indischen Ozeans vermuteten
Antipoden, ohne zu wissen, wie weit sich die riesige Wasserfläche bis
dorthin ausdehnen mag, oder ob überhaupt mit der Existenz von
Gegenfüßlern zu rechnen ist. ⇔ Diese von Walter frei erfundene
Episode ist auch deshalb so gut geeignet, aus christlicher Sicht Alex-
Kommentar zu Buch X 973

anders maßlose Eroberungswut zum Ausdruck zu bringen, da damit


zum ersten Mal innerhalb der Alexandreis Völker und Weltgegen-
den angesprochen werden, die im Unterschied zu den Skythen oder
den Indern zuvor noch von keinem Menschen des europäischen
Kulturkreises mit eigenen Augen erblickt worden waren und deren
Existenz bis in die Zeit Walters hinein mehr als fraglich erscheinen
musste (zu der seit der Antike vielerorts diskutierten und bis in das
Entdeckungszeitalter und die dritte Reise des Amerigo Vespucci
empirisch nicht zu klärenden Frage über die mögliche Existenz von
Antipoden vgl. Lehmann 2016, 167–191; zu Alexanders Antipoden-
fahrt vgl. auch die Einführung zu Buch X; vgl. auch Einleitung 7.4).
⇔ Walter beginnt seine Darstellung in Buch X auch deshalb mit
dieser Episode, um dann sogleich die Reaktion der Göttin Natu-
ra auf diese Expedition zu schildern, die sich diese letzte und hin-
sichtlich Alexanders maßlosen Expansionsdrangs schwerwiegendste
Grenzüberschreitung nicht mehr länger bieten lassen möchte (zur
Göttin Natura als charakteristischer Gestalt des 12. Jahrhunderts
vgl. Einleitung 5).

Das Strafgericht in der Unterwelt (6–167)

Descensus Ad Inferos – Die Göttin Natura in der Unterwelt (6–107)

Charakterisierung der Göttin Natura (6–30)

6–30 Interea memori recolens Natura dolore … Dixit et obscuros ape­


rit telluris hyatus | Tartareumque subit declivi tramite limen: Um in
die Unterwelt aufbrechen zu können, legt Natura ihre Arbeit an der
noch formlosen Urmaterie – im Griechischen als ὕλη πρώτη und im
Lateinischen als materia prima bezeichnet – nieder und ist nicht
mehr in der Lage, den verschiedenen Körpern die Seelen einzuhau-
chen. Damit wird Natura bei Walter als Göttin beschrieben, die den
Schöpfungsprozess in Gang hält und sich demzufolge für die creatio
974 KOmmentar

continua verantwortlich zeigt (zur Göttin Natura als charakteristi-


scher Gestalt des 12. Jahrhunderts vgl. Einleitung 5). ⇔ Der Grund
für ihr Einschreiten wird mit der von Hybris geprägten Absicht
Alexanders angegeben, seinen bewaffneten Scharen ihre geheimsten
Reiche öffnen zu wollen – eine beispiellose Grenzüberschreitung,
die alle bisherigen Taten des makedonischen Königs in den Schatten
stellt und am Ende dessen Ermordung durch die jenseitigen Mächte
hervorruft. ⇔ Kontrastierend zum hochmütigen Verhalten Alex-
anders gegen die ganze Natur schildert Walter die Elemente Erde,
Wasser und Luft, wie sie der Göttin auf ihrem Weg zur Schwelle des
Tartarus die angemessene Ehrerbietung entgegenbringen und von
ihr sogar noch einmal daran erinnert werden, die ihnen gesetzten
Grenzen – anders als der mit den Worten nobis commune flagellum
gebrandmarkte Alexander – niemals zu überschreiten und zu ver-
letzen (vgl. Alex. X, 28; vgl. auch Roling 2003, 183).

Die Laster am Eingang zur Unterwelt (31–57)

31–57 Ante fores Herebi Stigiae sub menibus urbis | liventes habitant
terrarum monstra sorores … rerum prima parens, urbis se menibus
infert, | qua videt aeternis animas ardere caminis: Am Eingang zur
Unterwelt positioniert Walter verschiedene personifizierte Laster,
die als liventes … terrarum monstra sorores ungeachtet ihrer christ-
lichen Prägung in ihrer Aufstellung an die klassischen monstra im
Vorhof der vergilischen Unterwelt erinnern (vgl. Verg., Aen. VI,
273–281: vestibulum ante ipsum primisque in faucibus Orci | Luctus et
ultrices posuere cubilia Curae, | pallentesque habitant Morbi tristisque
Senectus, | et Metus et malesuada Fames ac turpis Egestas, | terribiles
visu formae, Letumque Labosque; | tum consanguineus Leti Sopor et
mala mentis | Gaudia, mortiferumque adverso in limine Bellum, |
ferreique Eumenidum thalami et Discordia demens | vipereum cri­
nem vittis innexa cruentis). Der von Walter aufgerufene Lasterkata-
log, der sowohl Bestandteile der erst später etablierten sieben Tod-
Kommentar zu Buch X 975

sünden als auch weniger schlimme Sünden enthält, entspricht dabei


gemäß der gängigen mittelalterlichen Praxis keinem fest umrissenen
Kanon (vgl. Korte 2009, 296–297). ⇔ Ohne sie namentlich ex-
plizit zu erwähnen, nennt Walter wie bereits in der Aristoteles-Rede
zu Beginn die Avaritia als Mutter aller anderen Laster – verschie-
dene Glossierungen bestätigen diesen Befund –, die sich in ihrer
unermesslichen und unstillbaren Gier in tausend Öfen geschmol-
zenes Gold einverleibt (vgl. Alex. I, 111–114: Cum semel obtinuit vi­
ciorum mater in aula | pestis avaritiae, que sola incarcerat omnes |
virtutum species, spreto moderamine iuris  | curritur in facinus, nec
leges curia curat; vgl. auch Colker 1978, 476: INTER QUAS Hic
describit Avariciam, que est tamquam mater aliorum viciorum; vgl.
auch Colker 1978, 296: MATER Avaricia). Der Umstand, dass
Walter die Avaritia gleich zu Beginn seines Katalogs nennt und sie als
Mutter aller Laster bezeichnet, entspricht der mittelalterlichen Vor-
stellung von der übergeordneten Bedeutung dieser Todsünde. Die
besondere Stellung der Habgier unter den Sünden hat nur wenig
später Thomas v. Aquin festgehalten, indem er im Zusammenhang
mit diesem Laster von der Wurzel und der allgemeinen Ursache aller
Übel spricht (vgl. Th. v. Aquin, De malo, q. 13, a. 1, ad 5: Ad quin­
tum dicendum, quod avaritia pertinet ad omnia peccata non sicut
genus, sed sicut radix et principium: et ideo ex hoc non potest concludi
quod avaritia sit generale peccatum, sed quod sit generalis quaedam
causa peccatorum). Der überaus enge Zusammenhang der Avaritia
mit der von Walter im Anschluss daran beschriebenen Superbia
erklärt sich aus dem übergeordneten Charakter dieser beiden Tod-
sünden (vgl. Th. v. Aquin, De malo, ad. 1: Potest tamen dici, quod
etiam cupiditas et superbia, secundum quod sunt specialia peccata,
habent quidem communitatem generalem super omnia peccata se­
cundum rationem finium). ⇔ Mit der Heuchelei – der Hypocrisis
– und der Schmeichelei – der Pestis adulandi – stellt Walter darüber
hinaus einen Bezug zur eigenen Zeit her, indem er sich betont kri-
tisch über den ausgesprochen großen Erfolg dieser beiden auch als
976 KOmmentar

tödliches Gift bezeichneten typisch höfischen Laster äußert, die den


Mächtigen dieser Welt – der Anbiederung ihres Hofstaats allzu sehr
zugeneigt – das klare Urteilsvermögen rauben (zu Walters zeitgenös-
sischer Kritik vgl. Einleitung 8).

Erster Ort der Bestrafung: Leviathan und das Fegefeuer (58–81)

58–81 Est locus extremum baratri devexus in antrum … clarior intu­


muit tantumque superbia mentem | extulit ut summum partiri vellet
Olympum: Auf ihrem Weg zu Leviathan erreicht Natura einen Ort
in der Unterwelt, an dem die Seelen ihrer jeweiligen Schuld entspre-
chend vom ewigen Feuer gequält werden. Gar nicht oder nur mäßig
gepeinigt werden dabei jene Seelen, die sich auf Erden abgesehen
von der unausweichlichen Ursünde Adams nichts Wesentliches ha-
ben zuschulden kommen lassen. ⇔ Damit beschreibt Walter einen
Bereich innerhalb der Hölle, der eigentlich dem christlichen Fege-
feuer entspricht, das die Funktion der Reinigung und Läuterung
der Seelen vor ihrer Aufnahme in den Himmel besitzt. Mit dieser in
der Alexandreis wiedergegebenen Fegefeuer-Konzeption, die Walter
wohl aus den weithin bekannten Sentenzen des Petrus Lombardus
geschöpft hat, befand er sich in theologischer Hinsicht auf der Höhe
seiner Zeit (vgl. Korte 2009, 298). ⇔ An diesem Ort der Läuterung
begegnet Natura dem als Leviathan bezeichneten Fürsten der Hölle.
Als dieser die Göttin erblickt, verlässt er sogleich die Feuerstelle, an
der er beständig die Glut anfacht und legt seine Schlangengestalt ab,
um Natura nicht zu erschrecken. Leviathan erscheint nun in der ur-
sprünglichen Gestalt, die ihm Mutter Natur gegeben hatte, bevor er
wegen seines Hochmuts aus dem Himmel vertrieben worden war.
⇔ Damit bezieht sich Walter auf den im Alten Testament im Buch
des Propheten Jesaja geschilderten Sturz Luzifers und dessen Ver-
treibung aus dem Himmel. Es ist bemerkenswert, dass ausgerechnet
Leviathan, der im Buch Hiob explizit als König über alle Söhne des
Hochmuts bezeichnet wird, mit der Ermordung Alexanders beauf-
Kommentar zu Buch X 977

tragt werden soll, der seinerseits wegen eben dieser Todsünde sein
Ende finden wird (vgl. Hiob 41, 25: rex super universos filios super­
biae). Offenbar war Walter der Ansicht, dass der Teufel – in diesem
Kontext mit Alexander zu identifizieren – nur mit dem als Beelze-
bub zu verstehenden Leviathan ausgetrieben werden könne.

Die Klage der Natura am ersten Ort der Bestrafung (82–107)

82–107 Quo dea conspecto … nec se desistere donec | inferni tenebris


mergatur publicus hostis: Die Göttin Natura schildert dem Herr-
scher der Unterwelt in eindrücklichen Worten Alexanders Taten,
beginnend mit der Eroberung des Perserreichs und dem Sieg über
den Inderkönig Porus bis hin zu dessen Plänen, die Antipoden und
die Nilquellen aufzuspüren und das nach mittelalterlicher Vorstel-
lung im Osten Asiens liegende Paradies zu belagern. Zudem führt
sie ihm vor Augen, dass auch sein Reich in der Unterwelt nicht
mehr vor Alexander sicher sein werde, wenn dieser nicht umgehend
aufgehalten werden könne. Nachdem Leviathan zugestimmt hat,
der Göttin Natura bei Alexanders Ermordung seine Unterstützung
zukommen zu lassen, verlässt sie die Unterwelt wieder (zur Göttin
Natura als charakteristischer Gestalt des 12. Jahrhunderts vgl. Ein-
leitung 5).

Die Unterweltsversammlung (108–167)

Zweiter Ort der Bestrafung: Leviathan und die Hölle (108–125)

108–125 Nec mora, rugitu tenebrosam concutit urbem | conciliumque


vocat … umbrarumque graves iubet obmutescere planctus: Leviathan
beruft auf einem uralten und als Ebene der Sünden bezeichneten
Plateau eine Unterweltsversammlung ein, um sich über die von der
Göttin Natura vorgebrachten Klagen mit den Fürsten der Finsternis
zu beraten. ⇔ Im Unterschied zum kurz zuvor dargestellten Fege-
978 KOmmentar

feuer übernimmt der Ort der Zusammenkunft nicht mehr die Auf-
gabe der Läuterung der weniger sündhaften Seelen, sondern dient
der Bestrafung der für alle Ewigkeit verdammten Seelen. Damit
verlegt Walter den Ort dieser Versammlung in die Hölle selbst, die
durch die Schilderung ihrer klimatischen Extreme vom Autor der
Alexandreis als ein wahrer locus horribilis charakterisiert wird (vgl.
Korte 2009, 299). Insgesamt weist die an dieser Stelle verwirklichte
mythologische Szenerie – wie im letzten Abschnitt der Darstellung
des Strafgerichts anhand der Rede der Furie Proditio im Einzelnen
noch zu zeigen sein wird – deutlich erkennbare Parallelen zu einer
Passage aus Claudians Invektive gegen Rufinus auf, in der die Furie
Megaera alle furchterregenden Wesen der Unterwelt ebenso zu einer
Versammlung ruft, um gegen die immer weiter um sich greifende
Glückseligkeit der Völker vorzugehen (vgl. Komm. X, 143–167).

Die Rede des Leviathan am zweiten Ort der Bestrafung (126–142)

126–142 Ergo ubi compressit gemitus a pectore, surgens | in medium


mandata deae proponit et addit … Ne forte sit ille futurus | inferni
domitor, leto precludite vitam: Leviathan fasst in einer leidenschaft-
lichen Rede die zuvor von der Göttin Natura genannten Eroberun-
gen Alexanders noch einmal zusammen und wirft die Frage auf, wie
lange man diesem Verbrecher in seiner Maßlosigkeit – erneut weist
Walter damit auf den aus christlicher Sicht eigentlichen Grund für
Alexanders Tod hin – eigentlich noch die Gelegenheit dazu geben
solle, den Erdkreis nach Belieben zu zertrümmern (vgl. Alex. X,
128–129: «Nam quis erit modus, o socii, aut que meta flagelli | hu­
ius» ait). Besonders betont der Fürst der Unterwelt den bereits von
Natura angedeuteten Umstand, dass Alexander in die Unterwelt
eindringen und auch an diesem Ort die Herrschaft an sich reißen
könnte. ⇔ Dabei identifiziert Leviathan den makedonischen Er-
oberer irrtümlich mit Christus, der nach einem auch dem Fürsten
der Unterwelt bekannten Schicksalsspruch einst die Herrschaft des
Kommentar zu Buch X 979

Teufels beenden werde (vgl. Alex. X, 134–137: Est tamen in fatis,


quod abhominor, affore tempus | quo novus in terris quadam partus
novitate  | nescio quis nascetur homo qui carceris huius  | ferrea sub­
versis confringet). Im Unterschied zu der am ersten Ort der Bestra-
fung auf das Alte Testament bezogenen Darstellung Leviathans als
gefallener Engel erscheint der Teufel am zweiten Ort der Bestrafung
hier als der im Neuen Testament beschriebene Feind Christi, dem
der letzte Kampf des von Walter mit triumphali ligno gekennzeich-
neten Messias gilt und dessen Existenz auch die Grundlage für den
Teufelsglauben der christlichen Kirche im Mittelalter war (vgl. Alex.
X, 139; vgl. auch Streckenbach 1990, 262–263). Die Eigentüm-
lichkeit in Walters diesbezüglicher Darstellung fasst Korte (2009)
299 wie folgt zusammen: »Walter fügt an dieser Stelle einen heilsge-
schichtlichen Durchbruch ein, indem er den Abstieg Christi in die
Hölle und seinen Sieg über Tod und Teufel als eine Bestimmung des
fatum einfließen lässt – eine eigenwillige Verbindung christlicher
und heidnisch-antiker Vorstellungen. Wie schon einmal begehrt Le-
viathan gegen die (göttliche) Fügung auf und übersieht in seinem
Plan die Diskrepanz, die sich ergäbe, würde Natura als vicaria Dei
ihn mit der Vernichtung des Menschen beauftragen, der zum Sieg
über ihn vorbestimmt ist.«

Die Rede der Proditio am zweiten Ort der Bestrafung (143–167)

143–167 Vix ea ructarat cum blando subdola vultu | Proditio surgens


… ad Chaos eternum solitasque revertitur umbras: Die Furie Proditio
erklärt sich in der Versammlung bereit, Alexanders Ermordung zu
übernehmen, da sie in Besitz eines todbringenden Gifts sei, das man
lediglich dem Wein untermischen und Alexander reichen müsse.
Der ihr gewogene Antipater könne diese Aufgabe übernehmen, da
dieser ein Meister in der Kunst der Verstellung und Heuchelei sei. ⇔
Ebenso wie Walter am Motiv des Abstiegs einer Göttin in die Unter-
welt seinen aemulativen Anspruch gegenüber Vergil und Ovid zum
980 KOmmentar

Ausdruck gebracht hat, besteht auch hier die poetologische Ab-


sicht des mittelalterlichen Autors, die Darstellung der Alexandreis
in aemulative Beziehung zu einem literarischen Vorbild – an dieser
Stelle zu dem von ihm stark rezipierten und auch im vorliegenden
Kommentar im Kontext der Unterweltsepisode bereits angespro-
chenen Claudian – zu setzen (vgl. Komm. X, 108–125; zu Walters
poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6). Der spätantike
Dichter schildert in seiner Invektive gegen Rufinus nämlich ebenso
eine solche Unterweltsversammlung, in der die Furie Megaera – der
Proditio in der Alexandreis vergleichbar – den Prätorianerpräfekten
Flavius Rufinus als denjenigen Mann vorschlägt, der entsprechend
der Darstellung des Antipater bei Walter durch seine ausgeprägte
Fähigkeit zur Heuchelei und zur Verstellung der Aufgabe gewach-
sen sein könnte, nach dem Tod des Kaisers Theodosius den Frieden
in der Welt zu stören und gegen Stilicho, seines Zeichens Vormund
für den zum damaligen Zeitpunkt noch minderjährigen und späte-
ren Kaiser Honorius, zu intrigieren (vgl. Claud., In Ruf. I, 80–82:
Improba mox surgit tristi de sede Megaera, | quam penes insani fre­
mitus animique profanus | error et undantes spumis furialibus irae;
vgl. auch Claud., In Ruf. I, 96–100: est mihi prodigium cunctis
inmanius hydris, | tigride mobilius feta, violentius Austris | acribus,
Euripi fulvis incertius undis | Rufinus, quem prima meo de matre ca­
dentem | suscepi gremio; vgl. auch Christensen 1905, 89; vgl. Alex.
X, 150–152: Nam meus Antipater, Macedum prefectus, ab ipsis | cu­
narum lacrimis pretendere doctus amorem | voce sed occultis odium
celare medullis; vgl. auch Claud., In Ruf. I, 104–106: meque etiam
tradente dolos artesque nocendi | edidicit: simulare fidem sensusque
minaces | protegere et blando fraudem praetexere risu). Rufinus wird
in Claudians politischer Tendenzschrift als überaus skrupelloser
und charakterlich fragwürdiger Gegenspieler des von ihm gepriese-
nen Stilocho herausgearbeitet und erleidet nach seiner Ermordung
durch oströmische Truppen zuletzt im tiefsten Winkel der Hölle
ewige Strafen (vgl. Weiss/Wiener 2020, 75–78; zum produkti-
Kommentar zu Buch X 981

onsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeutigkeit vgl. Ein-


leitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl. auch Komm.
prol., 1–13). Damit ist Rufinus in seinem Bestreben, den bestehen-
den Frieden zu hintertreiben, letztlich gescheitert. ⇔ Im eindeuti-
gen Gegensatz dazu ist der Giftanschlag des Antipater – nach dem
Tod des makedonischen Königs einer der wichtigsten Diadochen
– von Erfolg gekrönt und wird von Walter als eine von der Göttin
Natura in die Wege geleitete unabwendbare Maßnahme zur Wieder-
herstellung und Erhaltung des Friedens inszeniert, der im Laufe der
Alexandreis nach der Eroberung des Perserreichs durch Alexanders
maßlosen Eroberungsdrang zunehmend gestört worden war. Mit
dieser Kontrastierung begibt sich Walter auf poetologischer Ebene
über die motivische Imitation hinaus in aemulativer Absicht in den
dichterischen Wettstreit mit dem spätantiken Dichter Claudian. Im
selben Maße nämlich, wie Megaera und Rufinus im Werk Claudi-
ans hinter Proditio und Antipater zurückzustehen haben, hat auch
der spätantike Epiker hinter dem Autor der Alexandreis zurückzu-
stehen (zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung
6). Alexanders Ermordung durch Gift konnte Walter dabei wohl aus
Justin gewinnen, der auch die Unmöglichkeit der Aufbewahrung
des Gifts in irgendeinem anderen Behältnis als in einem Pferdehuf
vorgeprägt hat (vgl. Iust., Epit. Hist. XII, 14, 7: cuius veneni tanta
vis fuit, ut non aere, non ferro, non testa contineretur, nec aliter ferri
nisi in ungula equi potuerit; vgl. auch Alex. X, 146–148: quod nec
testa capit nec fusilis olla metalli | nec vitri species nec vas aliud nisi
solum | ungula cornipedis). ⇔ Letztlich findet der Plan der Proditio
in der Versammlung allgemeine Zustimmung, so dass die Furie das
Gift zu Antipater bringt und danach augenblicklich wieder in das
Reich der ewigen Finsternis zurückkehrt.
982 KOmmentar

Alexanders weitere Pläne (168–190)

168–190 Iamque reluctantem Pelleus classe minaci | fregerat Ocea­


num … miranturque novum nudata cacumina solem: Die vorliegen-
de Passage hat innerhalb der Darstellung zwischen den Umtrieben
in der Unterwelt und Alexanders letzten Lebenstagen eine gleich
zweifache Funktion. Zum einen rückt sie das zu Beginn von Buch X
geschilderte und durch die Unterweltsepisode unterbrochene Ge-
schehen um Alexanders Antipodenfahrt wieder in den Mittelpunkt
der Betrachtung, zum anderen bereitet sie die im Anschluss folgende
christlich motivierte Autorklage über Alexanders Maßlosigkeit und
den dadurch bedingten und in auffälliger Weise auch zum Leidwesen
des Autors der Alexandreis nicht mehr aufzuhaltenden Tod seines
wichtigsten Protagonisten vor (vgl. Komm. X, 191–215). Hatten die
Verse zu Beginn von Buch X Alexanders Abfahrt zu den Antipoden
schon nur oberflächlich gestreift, so bleiben auch an dieser Stelle die
Hintergründe der Rückfahrt nach Babylon im Dunkeln. Einzig die
Erwähnung des widerspenstigen Ozeans lässt erahnen, dass der von
Walter immerhin als Sieger über die empörten Wogen gefeierte Ale-
xander – de facto durch einen Sturm zur Umkehr gezwungen – mit
seiner Expedition zu den Antipoden gescheitert sein könnte. Ohne
sein eigenes Schicksal zu kennen, fasst Alexander ungeachtet seiner
erzwungenen Umkehr noch auf der Rückfahrt nach Babylon den
Entschluss, nach der Ordnung der Verhältnisse in Asien seine Er-
oberungen zukünftig nach Westen zu richten und zu diesem Zweck
eine gewaltige Flotte zu bauen.

Autorexkurs: Klage über Alexanders Ende (191–215)

191–215 Quo tendit tua, Magne, fames? Quis finis habendi, | queren­
di quis erit modus aut que meta laborum? … Fuit ergo dignius illum |
occultum sentire nephas quam cedere ferro: Mit einem Autorexkurs
Kommentar zu Buch X 983

unterbricht Walter die Darstellung über Alexanders Rückfahrt nach


Babylon, um eine Retardierung der zwangsläufig zur Katastrophe
führenden epischen Handlung herbeizuführen. Mit diesem litera-
rischen Kunstgriff bringt Walter – wie im weiteren Verlauf seiner
Darstellung noch deutlicher zu Tage treten wird – zum Ausdruck,
dass er eigentlich davor zurückschreckt, Alexanders Ermordung
wiederzugeben und sie deshalb auch möglichst lange hinauszögern
möchte. ⇔ Die Autorklage über Alexanders in Kürze bevorstehen-
den Tod selbst enthält dabei zwei auf den ersten Bick widersprüch-
liche Aussagen. Zum einen konfrontiert Walter seinen wichtigsten
Protagonisten mit dem christlich motivierten Vorwurf, trotz seiner
maßlosen und von der Hybris befeuerten Eroberungen am Ende
nichts zu erreichen und deshalb immer bedürftig zu bleiben. Dabei
begründet Walter diesen mit der mittelalterlichen Vanitas-Vorstel-
lung in Verbindung stehenden Vorwurf damit, dass der Schlüssel
zur Bedürfnislosigkeit und dem damit einhergehenden Glück des
Menschen in der Genügsamkeit liege und nicht in der Gier, die
nicht durch den bloßen Besitz von Gütern, sondern nur durch den
fortwährenden und moralisch verwerflichen Versuch, immer weite-
re Güter zu erwerben, befriedigt werden könne. Zum anderen pro-
testiert Walter vor den Göttern und der Schicksalsgöttin Fortuna
gegen den wenig heroischen Giftmord an Alexander, den wohl auch
die Götter – so Walter mit leicht ironischem Unterton – nicht mit
Waffen hätten besiegen können. ⇔ Damit bringt der Autor der Ale­
xandreis auch noch kurz vor dem epischen Tod seines Helden seine
ungeachtet der gerade formulierten christlich motivierten morali-
schen Kritik nach wie vor vorhandene Bewunderung für die militä-
rische Schlagkraft des makedonischen Königs und die noch immer
ungebrochene Sympathie für seinen wichtigsten Protagonisten zum
Ausdruck (vgl. Wiener 2001, 89; zur moralischen Beurteilung Ale-
xanders in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). Ashurst (2009)
28 bringt dieses für den modernen Leser oft schwer verständliche
Nebeneinander von kritischer Distanzierung einerseits und offener
984 KOmmentar

Sympathie andererseits auf die vorliegende Stelle bezogen wie folgt


auf den Punkt: »Taken together the twin apostrophes form a vivid
and arresting example of a split judgement on Alexander, hero and
anti-hero; it is one that appears again and again in the vast bulk of
medieval romance and related literature about this most fascinating
and extreme of figures.« Walters Vorgehen entspricht dabei dem
innerhalb der Alexandreis schon mehrfach beobachteten Versuch,
nach dem heilsgeschichtlich legitimierten Perserkrieg ungeachtet
der christlich motivierten Kritik an Alexanders Maßlosigkeit den-
noch aus antik-paganer Sicht immer wieder auch positive morali-
sche Bewertungen einfließen zu lassen, da es ihm nicht um eine ge-
nerelle Kritik an der charakterlichen Disposition seines wichtigsten
Protagonisten zu tun ist, sondern um eine abhängig vom jeweiligen
Blickwinkel möglichst differenzierte Betrachtungsweise des make-
donischen Königs (vgl. Komm. VIII, 49–74; vgl. auch Komm. VIII,
477–495; vgl. auch Gartner 2018, 79–80). ⇔ Mit seinen an die
Schicksalsgöttin Fortuna gerichteten Worten macht Walter zudem
deutlich, dass sie als integraler Bestandteil des Fatums ihren Zögling
nicht mehr länger unterstützen kann, da eine Rettung Alexanders
zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ihrer Aufgabe als ausführender
Gewalt innerhalb des göttlichen Heilsplans entspräche (vgl. Komm.
II, 186–200; zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der
Alexandreis vgl. Einleitung 5).

Die Versammlung der Völker in Babylon (216–325)

Der Aufmarsch der Völker in Babylon (216–248)

216–248 Ut tamen ante diem extremum, quem fata parabant …


credere vix posses famae premobilis auram: Walters Bedauern über
den baldigen Tod seines wichtigsten Protagonisten kommt gleich
zu Beginn des vorliegenden Abschnitts noch einmal zum Ausdruck,
Kommentar zu Buch X 985

indem der vom ganzen Erdkreis – gemeint sind damit Vertreter der
drei zum damaligen Zeitpunkt bekannten Kontinente Europa, Af-
rika und Asien – nach Babylon strebende Aufmarsch der Völker
gleichsam als Entschädigung für Alexander in Szene gesetzt wird
und dabei auch eine gewisse Genugtuung des Autors der Alexan­
dreis über diese letzte Ehrerbietung gegenüber diesem beispiellosen
Feldherrn und Herrscher kaum übersehen werden kann. Der Um-
stand, dass die Menschen – wie von Walter an der vorliegenden Stel-
le geschildert – überall auf dem Erdkreis vor Alexander erzittern,
ist dabei ebenso wenig wie nach seinem Sieg über die Skythen als
moralische Kritik am makedonischen König zu verstehen, sondern
vielmehr als Anerkennung seiner herausragenden militärischen
Leistungen und des daraus resultierenden Respekts aller Völker (vgl.
Komm. VIII, 496–513). Von allen drei Kontinenten strömen die Ge-
sandtschaften in Babylon zusammen, um ihrem König entweder als
Besiegte ihre Ehrerbietung zu bezeugen oder als eigentlich noch frei
lebende Völker prophylaktisch den Herrscher mit Geschenken gnä-
dig zu stimmen, da sie durch die überaus flinke Fama auch in weit
entfernten Gebieten von der Unbesiegbarkeit Alexanders gehört
haben. ⇔ Damit nimmt Walter nicht ohne Grund gerade am Ende
der Eroberungen des makedonischen Königs Bezug auf den ersten
Vers des Prooemiums der Alexandreis, wo er über die Mehrdeutig-
keit des Partizips digesta bereits angezeigt hatte, dass die Taten seines
wichtigsten Protagonisten sich nicht nur auf den ganzen Erdkreis
erstrecken, sondern auch durch die Fama die entsprechende Ver-
breitung finden (vgl. Alex. I, 1: Gesta ducis Macedum totum digesta
per orbem).

Alexanders Rückkehr nach Babylon (249–282)

249–282 Magnus ut accepit quod confluxisset in unum | ipsius exspec­


tans adventum territus orbis … His, ut brevius loquar, orbis | addun­
986 KOmmentar

tur tocius opes: Mit einem erneuten Szenenwechsel lenkt Walter ein
weiteres Mal den Blick auf Alexander, der sich noch immer auf der
Rückfahrt von der gescheiterten Antipodenfahrt befindet. Da ihm
zu Ohren gekommen ist, dass Gesandtschaften vom ganzen Erdkreis
nach Babylon gekommen waren, um ihm zu huldigen, beschleunigt
er die Fahrt durch den Einsatz der Ruderer. ⇔ Es entbehrt dabei
nicht einer gewissen Ironie, dass Alexander ausgerechnet mit einer
seiner hervorstechendsten und bisher stets als zuverlässiger Garant
für seinen Erfolg dienenden Charaktereigenschaften – seiner Schnel­
ligkeit – den eigenen Tod beschleunigt. Auf der inhaltlichen Ebe-
ne der Erzählung treibt Walter demzufolge das epische Geschehen
deutlich erkennbar voran, während er mit Alexanders nicht enden
wollender Seefahrt unter strukturellen Gesichtspunkten gleichzeitig
eine erneute Verzögerung herbeiführt. Diese paradoxe Gegenläufig-
keit von Inhalt und Struktur mündet in einem dramatisierenden
Vergleich Alexanders mit einem Tiger, der sein ersehntes Ziel – eine
Herde von Pferden zu töten – zwar erreicht, durch das Erreichen sei-
nes ersehnten Ziels jedoch selbst von einem gut vorbereiteten Jäger
getötet wird. Damit arbeitet Walter auf ingeniöse Weise die ganze
Tragik der Situation heraus und unternimmt den Versuch, den für
ihn schwer erträglichen Tod seines Helden auch für den Leser emo-
tional erfahrbar zu machen. ⇔ Nachdem Alexander in Babylon an-
gekommen ist, betritt er die Stadt und empfängt in Anwesenheit der
wichtigsten Persönlichkeiten auf einem eigens aufgestellten Thron
die Krone des Herrschers über die ganze Welt. Die Gesandtschaften
werden vorgelassen und überreichen ihre Geschenke. Auch in die-
sem Moment macht Walter mit seiner Wortwahl noch einmal deut-
lich, dass ihn Alexanders vom Fatum bestimmtes Ende mit großem
Schmerz erfüllt (vgl. Alex. X, 260–261: Iam sibi fatales Pelleus, proch
dolor, arces | agmine quadrato stipatus inibat).
Kommentar zu Buch X 987

Alexanders Ansprache (282–329)

282–329: Quibus ille receptis, | «Gratia diis,» inquit «quorum mi­


chi parta favore  | regna, triumphatae quas nondum vidimus urbes
… Dedit hoc ubi, solvit  | concilium, proni curru iam deside Phebi:
Erfreut von der Ehrerbietung der Völker hält Alexander vor den
Gesandten eine als Resümee seiner bisherigen Eroberungen zu ver-
stehende Ansprache, in welcher er eingangs den Göttern für ihre
Unterstützung bei seinen weitreichenden Eroberungen dankt. Im
Anschluss daran fordert er die Gesandten der nicht im Krieg besieg-
ten Völker auf, dem Himmel dafür zu danken, sich ohne Blutvergie-
ßen der griechischen Herrschaft unterworfen zu haben. Mit seiner
damit in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückten militärischen
Überlegenheit stellt Alexander gleich zu Beginn seiner Ansprache
mit der Tugend der Tapferkeit die für einen Feldherrn wichtigste
Tugend heraus, die nicht nur in der Schlacht selbst ihre Wirkung
entfalten konnte, sondern auch einige Völker im vorauseilenden Ge-
horsam zur Unterwerfung gezwungen hat (zur tropologischen Ebe-
ne der Alexandreis bzw. zum moralischen Sinn des Epos vgl. Einlei-
tung 7.4). Darauf widmet sich Alexander mit Darius und Porus den
beiden wichtigsten Gegnern seines gesamten Eroberungsfeldzugs.
Der Perserkönig hätte sich dabei – so Alexander – nur der griechi-
schen Herrschaft beugen müssen, um wie der Inderkönig Porus als
Statthalter in einem Teil seines ursprünglichen Reichs eingesetzt zu
werden. Damit führt Alexander seinen Zuhörern vor Augen, dass er
den Vorgaben der Aristoteles-Rede folgend auch unter schwierigen
Bedingungen jederzeit in der Lage war, abgesehen von der für die
Schlacht selbst entscheidenden Tugend der Tapferkeit auch nach
einer Schlacht gegenüber Besiegten die Feldherrntugenden der an­
gemessenen Gebefreudigkeit und der angemessenen Zürnkraft wirk-
sam werden zu lassen (zur Stellung der Ansprache Alexanders an die
Gesandten innerhalb der Gesamtstruktur der Alexandreis vgl. Ein-
leitung 7.3; vgl. auch Gartner 2018, 73–79). Darauf wendet sich
988 KOmmentar

Alexander seinen Soldaten zu und lobt auch deren Durchhaltever-


mögen und Tapferkeit. In diesem Kontext lässt er noch einmal die
drei wichtigsten Schlachten gegen die Perser und auch den Sieg über
den Inderkönig Porus und weitere Erfolge Revue passieren. Mit der
Begründung, dass auf dem bisher bekannten Erdkreis seines Erach-
tens nichts mehr zu tun bleibe, versucht er seine Soldaten davon zu
überzeugen, nach der ersten gescheiterten Expedition noch einmal
den Versuch zu wagen, die auf der anderen Hemisphäre vermute-
ten Antipoden aufzusuchen und zu erobern, um die Waffenübung
nicht erlahmen zu lassen. ⇔ Mit der Formulierung vincit | cuncta
labor gestaltet Walter dabei einen imitativen Kontrast zu Vergils om­
nia vincit amor aus dessen Bucolica, um in aemulativer Absicht auf
den höheren Wert seiner epischen Dichtung gegenüber der Hirten-
dichtung seines antiken Vorbilds hinzuweisen (vgl. Verg. Buc. X,
69; zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Einleitung 6;
zu Walters ambivalentem Verhältnis zu Vergil vgl. auch Einleitung 6;
zum produktionsästhetischen Ansatz der intertextuellen Mehrdeu-
tigkeit vgl. Einleitung 4; vgl. auch die Einführung zum Prolog; vgl.
auch Komm. prol., 1–13). ⇔ Zuvor jedoch möchte Alexander noch
Rom vernichtend schlagen – im Widerspruch zu seiner obigen Aus-
sage gibt es offenbar doch noch etwas auf dem bekannten Erdkreis
zu tun –, das ihm ungeachtet eines bereits bestehenden Vertrags
seine Gefolgschaft aufgekündigt habe. ⇔ Im Zuge der an die eige-
nen Soldaten gerichteten Aufforderung Alexanders, die bekannten
Grenzen zu sprengen und die auf der anderen Hemisphäre vermute-
ten Antipoden aufzuspüren und zu erobern, verweist Walter ebenso
wie bei den oben angesprochenen Feldherrntugenden auf die Aris-
toteles-Rede, die ihm den Rat erteilt hatte, die göttlichen Schriften
zu durchforschen, in denen – wie der Leser der Alexandreis weiß
– lediglich die Eroberung des Perserreichs legitimiert wird. Da Ale-
xander jedoch in Unkenntnis seines biblischen Heilsauftrags seine
Eroberungszüge nach dem Sieg über das Perserreich nicht eingestellt
hatte, sondern in seiner überbordenden Maßlosigkeit immer weiter
Kommentar zu Buch X 989

nach Osten vorgerückt war – die geplante Antipodenfahrt dient da-


bei als Kulminationspunkt seiner grenzenlosen Gier –, wird dem-
zufolge der epische Tod des Helden eingeleitet. ⇔ Mit Alexanders
Ansprache zeigt Walter überdies auf, wie sein wichtigster Protago-
nist moralisch zu bewerten ist. Einerseits fungiert der makedonische
König bis zum Ende des Epos als leuchtendes Vorbild hinsichtlich
der in der Aristoteles-Rede aufgeführten antik-paganen Tugenden,
andererseits ist er wegen seiner aus christlicher Sicht verabscheu-
ungswürdigen Maßlosigkeit nicht mehr zu retten (zur moralischen
Beurteilung Alexanders in der Alexandreis vgl. Einleitung 7.4). ⇔
Nach seiner Ansprache entlässt Alexander am späten Abend die Ge-
sandtschaften.

Unheilvolle Vorzeichen (330–355)

330–355 Iam maris undisonis rota merserat ignea solem | fluctibus,


et preceps confuderat omnia tetro | nox elementa globo … forsitan et
gladium et gladio crudelius omni  | vitasset fato sibi disponente ve­
nenum: Zu Beginn des vorliegenden Abschnitts bringt Walter den
nächtlichen Nebel und die starke Bewölkung, die den Blick auf die
Sterne und den Mond versperren und dem Seemann die Navigation
erschweren, als unheilvolle Vorzeichen mit dem bevorstehenden To-
destag Alexanders in einen ursächlichen Zusammenhang. Darüber
hinaus werden auch verschiedene bereits bei dessen Geburt beob-
achtete göttliche Zeichen bemüht, um die Besonderheit dieser his-
torischen Situation und die weltgeschichtliche Bedeutung des make-
donischen Königs zum Ausdruck zu bringen. ⇔ Zum wiederholten
Mal erhebt Walter damit unter poetologischen Gesichtspunkten
mit einem Helden wie Alexander den Anspruch, mit seinem Epos
die antiken Vorbilder Vergil, Lucan und Claudian zu überbieten, die
ausnahmslos Anführer beschreiben, die einen im Vergleich zu Alex-
ander überschaubaren Wirkungskreis besitzen und an die Tugend-
990 KOmmentar

haftigkeit des makedonischen Königs nicht einmal im Ansatz heran-


reichen, um sich damit gleichzeitig als neuen Homer zu inszenieren
(vgl. Komm. I, 1–5; vgl. auch Komm. I, 468–492; vgl. auch Komm.
V, 491–520; zu Walters poetologischem Selbstverständnis vgl. Ein-
leitung 6). ⇔ Insgesamt führt Walter vier göttliche Vorzeichen an,
die er aus verschiedenen Quellen schöpft. Das Vorzeichen der vom
Himmel gefallenen Steine stellt ein Anleihe aus den Historiarum
adversum paganos libri VII des Orosius dar, der das von Walter be-
nutzte Bild noch dahingehend erweitert hatte, dass Felsen mit Hagel
gemischt die Erde getroffen haben (vgl. Oros., Pauli Orosii Hist.
adv. pag. III, 7, 4: Tunc etiam nox usque ad plurimam diei partem
tendi visa est et saxea de nubibus grando descendens veris terram la­
pidibus verberavit). Das Vorzeichen des sprechenden Lamms ist be-
reits bei Isidor erwähnt und ursprünglich auch bei Hieronymus zu
finden. Der Epitome des Valerius entlehnt ist Walters Darstellung ei-
ner Schlange, die aus dem Ei einer Henne kriecht. Der antike Autor
schildert die Episode der romanhaften Tradition folgend allerdings
ausführlicher als Walter und gibt auch den nicht unbedeutenden
Umstand wieder, dass die Schlange schon stirbt, bevor sie in ihre
Behausung zurückgekehrt ist (vgl. Iul. Val. Epit. I, 11: Dum igitur
Philippus in quadam regione sederet, ubi aves plurimae circumerra­
rent, intentusque agendis rebus animum occupasset, repente gallina
in sinum eius supersiliens considensque enixa est ovum. Sed ovum il­
lud, sinu eius evolutum, humi concrepuit. Cuius testula dissultante
visus est de ea dracunculus exisse. Isque circumcursans atque ambiens
ovi testulam, dum rursus eo unde exierat intrare vellet, morte praeven­
tus est). Christensen (1905) 152–153 ist der Ansicht, dass Walter die
insbesondere in den Legenden überlieferte Deutung dieses Vorzei-
chens für die Weltherrschaft und das frühe Ende Alexanders nicht
erfasst und lediglich als einfaches Wunderzeichen bei der Geburt des
Knaben verstanden habe. Dagegen spricht jedoch der einfache Sach-
verhalt, das Valerius im weiteren Textverlauf genau diese Deutung
in der Erläuterung des Zeichendeuters Antiphon wiedergibt, die
Kommentar zu Buch X 991

Walter wohl gekannt haben dürfte (vgl. Iul. Val. Epit. I, 11: At ille
percunctatus respondit, filium ei nasciturum, qui omnem mundum
obiret omnemque suae ditioni subiugaret; hunc quoque, antequam in
patriam, de qua exierat, redeat, occasu celeri periturum). Sehr viel
plausibler erscheint es, dass Walter nicht näher auf die Deutung
dieses Vorzeichens eingeht, da diese dem mittelalterlichen Leser be-
kannt gewesen sein dürfte und keiner näheren Erklärung bedurfte.
Das letzte der von Walter angeführten vier göttlichen Vorzeichen
schildert zwei Adler, die während Alexanders Geburt einen ganzen
Tag lang am Dachfirst des väterlichen Hauses miteinander kämpfen.
An dieser Stelle dürfte die Epitome des Justin Pate gestanden haben,
auch wenn die beiden Vögel beim römischen Geschichtsschreiber
lediglich sitzen und nicht wie bei Walter kämpfen (vgl. Iust., Epit.
Hist. XII, 16, 4: Prodigia magnitudinis eius in ipso ortu nonnulla
apparuere. Nam ea die, qua natus est, duae aquilae tota die perpetes
supra culmen domus patris eius sederunt, omen duplicis imperii, Eu­
ropae Asiaeque, praeferentes). Christensen (1905) 152 erklärt den
Unterschied in der Darstellung sicherlich nicht zu Unrecht damit,
dass Walter dieses Vorzeichen stärker mit der kriegerischen und stür-
mischen Natur Alexanders in Verbindung bringen wollte. ⇔ Im
letzten Teil dieses Abschnitts stellt Walter den Göttern die rhetori-
sche Frage, für welches Verbrechen Alexander eigentlich ihre Gunst
in einem so kurzen Leben verwirkt habe, um sich die Frage sogleich
selbst zu beantworten: Ursache für den frühen Tod Alexanders ist
dessen verwerfliches Streben nach Gottgleichheit, gepaart mit der
Unfähigkeit, sich in seinem maßlosen Hochmut mit irdischem
Ruhm zu begnügen. Es reicht an diesem neuralgischen Punkt in
Alexanders Lebens zum Leidwesen Walters nicht mehr aus, sich
– wie in der Ansprache vor den Gesandtschaften geschehen – auf
die Erfüllung antik-paganer Tugenden zu berufen. Es entspricht
zwar sehr wohl der Intention Walters, den makedonischen König
bis zum Ende auch als Idealbild antik-paganer Tugendhaftigkeit in
Szene zu setzen, aber nach dem Versuch, die Gefilde der Antipoden
992 KOmmentar

zu erreichen, gewinnt die christlich motivierte Kritik am Verhalten


Alexanders deutlich erkennbar die Oberhand. Somit stellt die Miss-
achtung des biblischen Heilsauftrags in Verbindung mit dem Stre-
ben nach Gottgleichheit letzten Endes den eigentlichen Grund für
den epischen Tod des makedonischen Königs in der Alexandreis dar
(vgl. Gartner 2018, 70–71; vgl. auch Komm. X, 282–329; zum Ver-
ständnis wahren Ruhms in der Alexandreis vgl. die Einführung zu
Buch IV; vgl. auch Einleitung 7.4).

Alexanders letzter Tag (356–432)

Das unaufhaltsame Fatum (356–377)

356–377 Iam piger expleta flectebat nocte Bootes | emeritos currus …


Sed iam magnanimi fatalis venerat hora | rectoris mersura caput, nec
fata sinebant | differri scelus ulterius mundique ruinam: Auch die
Morgendämmerung steht ganz im Zeichen des aufziehenden Tages,
an dem Alexander den Tod finden wird. Weder senkt sich der mor-
gendliche Tau auf die Gräser noch ist das übliche Gezwitscher der
Vögel am Morgen zu hören. In Erwartung der kommenden Trauer
verstummt auch die Nachtigall und der Morgenstern soll sich –
so Walter weiter – dem anbrechenden Tag verweigert haben. Die
Sonne wendet sich mit nur mattem Glanz bereits am Morgen dem
Untergang zu, bis sie sich zwar unwillig, dann aber schließlich doch
– den kosmischen Gesetzmäßigkeiten folgend – in der gewohnten
Weise am Himmel erhebt. ⇔ Walter betont damit wie schon im Au-
torexkurs zuvor die Unabänderlichkeit des Fatums, die es auch dem
Sonnengott nicht erlaubt, seinen Wagen zu wenden und mit die-
sem ungewöhnlichen Verhalten Alexanders Tod zu verhindern (vgl.
Komm. X, 191–215). Dennoch versucht Walter mit einer an den Son-
nengott gerichteten emphatischen Apostrophe ein letztes Mal, das
eigentlich unaufhaltsame Schicksal aufzuhalten (vgl. Alex. X, 372–
Kommentar zu Buch X 993

374: Siste gradum, venerande parens et lucis et ignis, | siste gradum.


Nisi luciferum converteris orbem, | extinguet Macedum tua, Phebe,
lucerna lucernam). Noch einmal bringt Walter damit ungeachtet
der eigenen Inszenierung von Alexanders Tod sein großes Bedauern
und sein offensichtliches Mitgefühl für den gefallenen Helden zum
Ausdruck, der trotz seines aus antik-paganem Blickwinkel betrach-
tet zeit seines Lebens zumeist tugendhaften Verhaltens wegen seiner
nach christlichen Maßstäben verwerflichen Maßlosigkeit und sei-
nes überheblichen Strebens nach Gottgleichheit den epischen Tod
finden muss (vgl. Komm. X, 282–329). Am Ende muss Walter ein-
gestehen, dass das Fatum für ein derartiges nun doch auch explizit
als Verbrechen verurteilte Verhalten des makedonischen Königs und
für die von diesem verschuldete Verwüstung der Welt keinen weite-
ren Aufschub gewähren kann.

Alexanders Tod (378–432)

378–432 Eois redolens fulgebat odoribus aula | Non tantus ciet astra
fragor cum quatuor axem | stelliferum quatiunt agitando tonitrua
fratres: Walter wendet den Blick zurück in den Palast, wo der Tag
mit Gesprächen zugebracht wird. Nachdem Alexander vom gifti-
gen Wein getrunken hat, bricht er zum Entsetzen der Anwesenden
plötzlich zusammen. ⇔ Dabei betont Walter die Ungeheuerlichkeit
der Situation, indem er die große Diskrepanz zwischen dem Vater
und Gebieter, der stets furchtlos gegenüber dem Feind so oft die
feindlichen Linien geschlagen hatte, und dem zu Boden gesunkenen
und nun im Sterben liegenden Mann kontrastierend hervorhebt
(vgl. Alex. X, 383–385: Et qui securus ab hoste | in bello tociens hos­
tilia fuderat arma, | et pater et dominus cadit et perit inter amicos).
⇔ Auch wenn Alexanders Freunde entsetzt sind, hegen sie anfangs
noch die Hoffnung, ihr König könnte sich wieder erholen, da sie
in der Vergangenheit – man denke dabei an die Episode am Kyd-
994 KOmmentar

nus oder an den Kampf gegen die Sudraker – bereits mehrfach die
Erfahrung gemacht hatten, dass die Schicksalsgöttin Fortuna ihren
Günstling auch aus scheinbar aussichtslosen Situationen hatte ret-
ten können (vgl. Komm. II, 186–200; vgl. auch Komm. IX, 341–500;
zum Götterapparat und der Rolle des Schicksals in der Alexandreis
vgl. Einleitung 5). Als sich jedoch die Anzeichen verdichten, dass der
Tod ihres Anführers nicht mehr aufzuhalten sein würde, spricht
dieser mit letzter Kraft ein letztes Mal zu seinen Männern, um ihnen
in dieser schweren Stunde eine ganz eigene Bewertung für seinen
Tod mit auf den Weg zu geben. Er selbst begreift diesen nicht als
Niederlage oder als bedauernswertes Ereignis, sondern kann darin
den richtigen Moment erkennen, nach langer Herrschaft auf Erden
die irdische Existenz nun aufzugeben, endlich den engen Kerker
des Körpers zu verlassen und in göttliche Sphären vorzudringen.
Er meint in Zukunft mit dem vom Alter geschwächten Jupiter im
Olymp zu herrschen und Mars beim Kampf gegen die von den waf-
fenschmiedenden Zyklopen unterstützten Giganten zu Hilfe kom-
men zu müssen, die möglicherweise erneut den Aufstand gegen die
olympischen Götter proben (vgl. Alex. X, 410–412: Rursus in ether­
eas arces superumque cohortem | forsitan Ethneos armat presumptio
fratres | duraque Typhoeo laxavit membra Pelorus). ⇔ Stellt man in
Rechnung, dass sich die olympischen Götter in der ursprünglichen
Gigantomachie nur durch die tatkräftige Hilfe des Herkules durch-
setzen konnten und Walter seinen zum damaligen Zeitpunkt noch
jugendlichen Helden bereits in Buch I mit dem Alkiden in Verbin-
dung gebracht hat, wird deutlich, dass Alexander an dieser Stelle
ein weiteres und letztes Mal als zweiter Herkules inszeniert werden
soll (vgl. Komm. I, 39–41; vgl. auch Zwierlein 2004, 622–623; zur
allegorischen Ebene der Alexandreis bzw. zum heilsgeschichtlichen
Sinn des Epos vgl. Einleitung 7.2). Auch der Umstand, dass Walter
Alexanders Kampf gegen die Perser immer wieder mit dem mythi-
schen Kampf der olympischen Götter gegen die Giganten in Verbin-
dung gebracht hat, lässt diese Bezugnahme auf Herkules am Ende
Kommentar zu Buch X 995

von Alexanders Lebens als besonders gelungen erscheinen (vgl.


Komm. II, 319–371; vgl. auch Komm. II, 494–529; vgl. auch Komm.
IV, 285–300; vgl. auch Komm. V, 1–6; vgl. auch Komm. V, 38–75;
vgl. auch Komm. VII, 106–127). Zwierlein (2004) 623 bringt eine
mögliche Abhängigkeit in Walters diesbezüglicher Darstellung von
einem anonymen Makkabäer-Gedicht ins Spiel – das Gedicht selbst
scheint dabei von dem pseudo-senecanischen Hercules Oetaeus be-
einflusst zu sein –, das eben den von Walter verarbeiteten Gedan-
ken entwickelt, Alexander werde zum Himmel erhoben, um die
Götter vor einem neuen Ansturm der Giganten zu schützen (vgl.
auch Zwierlein 1987, 193). ⇔ Nachdem Alexander seinen golde-
nen Ring an Perdikkas übergeben hat – die umstehenden Generäle
deuten dies als Willensbekundung ihres Königs, diesem die Herr-
schaft zu übertragen –, stirbt der makedonische König unter lautem
Wehklagen seiner Landsleute.

Moralexkurs (433–454)

433–454 O felix mortale genus si semper haberet | eternum pre mente


bonum finemque timeret … transtulit ad dictam de nomine principis
urbem: In unmittelbarem Anschluss an Alexanders Tod hebt Walter
in einem langen und letzten Moralexkurs die für die ganze Mensch-
heit aus christlicher Sicht maßgebliche Lehre hervor, die man aus
dem individuellen Beispiel Alexanders gewinnen kann. Dabei zeigt
er nicht nur ganz allgemein die Folgen moralischen Fehlverhaltens
für das Seelenheil der Menschen auf, sondern prangert mit seiner
an Deutlichkeit kaum zu überbietenden moralischen Kritik auch
noch einmal ganz konkret die gesellschaftlichen Zustände des aus-
gehenden 12. Jahrhunderts an (vgl. Komm. VII, 306–343; zu Walters
zeitgenössischer Kritik vgl. Einleitung 8). Dabei macht Walter gleich
zu Beginn deutlich, dass die Menschen ungeachtet ihrer sozialen
Stellung im Leben durch ihr moralisch verwerfliches und nur auf
996 KOmmentar

die zeitlich begrenzte irdische Existenz ausgerichtetes Verhalten ihr


eternum bonum – nach christlicher Vorstellung gleichbedeutend
mit dem ewigen Leben und der Gottesschau – aufs Spiel setzen
und dabei nicht ausreichend für ihr Seelenheil Sorge tragen. Damit
richtet Walter den Blick auf die jenseitige Existenz des Menschen,
die aus christlicher Sicht nicht nur eine sehr viel größere Bedeutung
besitzt als das irdische Dasein, sondern auch maßgeblich von einem
gottgefälligen und tugendhaften Leben im Diesseits bestimmt wird.
Wie Wirtz (2018) 84–85 zeigen kann, orientiert sich Walter dabei
mit dem Gedanken, dass die irdische Existenz auch gesellschaftlich
hochgestellter Persönlichkeiten zeitlich begrenzt ist, nicht zuletzt an
den ethischen Vorstellungen des augusteischen Dichters Horaz, der
auf ganz ähnliche Weise die moralisch fragwürdigen Zustände seiner
Zeit kritisiert (vgl. Hor., Epist. I, 6, 25–27: Cum bene notum | por­
ticus Agrippae, via te conspexerit Appi, | ire tamen restat Numa quo
devenit et Ancus; vgl. auch Hor., Od., carm. 3, 21–24: Divesne prisco
natus ab Inacho | nil interest an pauper et infima | de gente sub divo
moreris, | victima nil miserantis Orci; zur Etablierung des antiken
Dichters Horaz als moralische Autorität im Kontext christlicher
Tugendvorstellungen in der Alexandreis vgl. Wirtz 2018, 81–99).
Im Folgenden zeigt Walter die Gefahren auf, denen sich der Mensch
in seiner Gier bei seinem sinnlosen Streben nach Reichtümern, trü-
gerischem Ruhm und flüchtigen Ehrenstellen allzu risikobereit aus-
setzt, und durch die er letztlich sein eternum bonum aufs Spiel setzt.
Damit prangert Walter nicht zum ersten Mal in der Alexandreis die
unter moralischen Gesichtspunkten unhaltbaren Zustände inner-
halb der römischen Kurie seiner Zeit an, die untrennbar mit dem als
Simonie bezeichneten Ämterkauf – das zu honores gestellte Attribut
profugos steht dabei nicht ohne Grund in erkennbarem Kontrast
zum obigen eternum bonum – verbunden sind (vgl. Komm. VII,
306–343; zu Walters zeitgenössischer Kritik vgl. Einleitung 8). Auch
Walters Bemerkung über den flatterhaften Charakter vergänglichen
Ruhms scheint hierbei eine Anleihe aus den Werken des Horaz zu
Kommentar zu Buch X 997

sein, der sich in einer seiner Satiren in Bezug auf den unausweich-
lichen Tod des Menschen in ganz ähnlicher Weise äußert (vgl. Alex.
X, 437–438: dum fallax gloria rerum | mortales oculos vanis circum­
volat alis; vgl. auch Hor., Serm. II, 1, 57–58: seu me tranquilla senec­
tus | exspectat seu mors atris circumvolat alis; vgl. auch Wirtz 2018,
85–86). ⇔ Walters diesbezügliche Ansichten über die Bedeutungs-
losigkeit irdischen Ruhms – gemeint ist in diesem Zusammenhang
nur die sich auf unbedeutende Güter wie Reichtum oder Ehrenstel-
len gründende gottlose fallax gloria – sollten jedoch nicht darüber
hinwegtäuschen, dass Ruhm an sich innerhalb der Alexandreis auch
aus christlicher Sicht dann als erstrebenswert gilt, wenn er einem
übergeordneten bzw. höheren Ziel dient. Gerade derjenige Ruhm
nämlich, der sich aufgrund eines tugendhaften Lebens unter Einhal-
tung der Gebote Gottes einstellt, ist – wie an zahlreichen Stellen in
der Alexandreis gezeigt werden kann – durchweg positiv konnotiert
(zum Verständnis wahren Ruhms in der Alexandreis vgl. die Einfüh-
rung zu Buch IV; vgl. auch Einleitung 7.4; vgl. auch Gartner 2018,
71, Anm. 56). ⇔ Mit dem schon in der antiken Metaphorik häufig
eingesetzten Motiv eines auf schwankenden Wogen zur See fahren-
den Schiffs vergleicht Walter den Menschen, der sein Leben und
seine Güter in seiner maßlosen Gier und seiner fieberhaften Rast-
losigkeit den unsicheren und gefährlichen Wellen anvertraut, ohne
zu gewärtigen, dass sein Verhalten von verabscheuungswürdigem
Hochmut zeugt. Auch in diesem Kontext ist die Nähe zum antiken
Dichter Horaz spürbar, der das nämliche Motiv in seinen Werken
häufig bemüht (vgl. Hor., Epist. I, 1, 45–48: Impiger extremos curris
mercator ad Indos, | per mare pauperiem fugiens, per saxa, per ignis: |
Ne cures ea quae stulte miraris et optas, | discere et audire et melio­
ri credere non vis?; vgl. auch Wirtz 2018, 87). Mit der Bemerkung
über eine von Räuberbanden und widrigen Wetterverhältnissen be-
drohte Reise über die schneebedeckten Alpen in die mit den har-
schen Worten avare menia Rome gebrandmarkte Tibermetropole
gibt Walter eine persönliche Erfahrung wieder, die mit seiner Reise
998 KOmmentar

nach Rom und der dort gemachten Erfahrung von Korruption in-
nerhalb der immer wieder in der Alexandreis kritisierten römischen
Kurie in Zusammenhang steht (zu Walters zeitgenössischer Kritik
vgl. Einleitung 8). Dabei nutzt Walter die eigene Erfahrung einer
derartigen Reise, um dem Leser mit der Möglichkeit eines plötzlich
auftretenden Fiebers, das den Reisenden mitsamt seiner möglicher-
weise dort erworbenen Schätze innerhalb kürzester Zeit hinwegraf-
fen kann, zu konfrontieren und ihm damit die Sinnlosigkeit äußerer
Güter vor Augen zu führen. Auch mit diesem Motiv nimmt Walter
Bezug auf Horaz, der in einem seiner Briefe nicht nur vom Glück
eines Menschen spricht, der mit dem zufrieden ist, was er zum Le-
ben braucht, sondern auch die Nutzlosigkeit von Gold und Silber
beschreibt, die einen kranken Herrn auch nicht von Fieberschauern
und Sorgen befreien können (vgl. Hor., Epist. I, 2, 46–49: Quod
satis est cui contingit, nihil amplius optet. | Non domus et fundus, non
aeris acervus et auri | aegroto domini deduxit corpore febris, | non ani­
mo curas; vgl. auch Wirtz 2018, 89). ⇔ Abschließend lässt es sich
Walter indes nicht nehmen, noch einmal auf Alexanders besondere
Rolle im Weltgeschehen hinzuweisen, indem er seinen wichtigsten
Protagonisten versöhnlich noch immer und zuletzt als nobile corpus
und depositum fati toto venerabile mundo bezeichnet, der auf Betrei-
ben des Ptolemäus in die nach dem makedonischen König benannte
Stadt am Nil gebracht wird (vgl. Alex. X, 450–454).

Walters Abwendung von der antikisierenden Dichtung (455–460)

455–460 Sed iam precipiti mersurus lumina nocte … qui semel ex­
haustus sitis est medicina secundae: Mit dem Bild des ins Meer
tauchenden Sonnenwagens beendet Walter nicht nur Alexanders
letzten Lebenstag, sondern läutet damit auch kunstvoll das Ende
des Epos ein. Nach dem langen, christlich geprägten Moralexkurs
verabschiedet sich Walter abschließend von den antiken Musen,
Kommentar zu Buch X 999

um sich nach eigener Aussage fortan der christlichen Dichtung zu


widmen. Auch an dieser Stelle nimmt Walter mit den Worten Iam
satis est lusum, iam ludum incidere prestat Bezug auf Horaz, der in
einer seiner Episteln ankündigt, aus Altersgründen die Nichtigkei-
ten der leichten Dichtung verlassen zu wollen, um die Spielereien
den Jungen zu überlassen und sich selbst der Philosophie zuwenden
zu können (vgl. Alex. X, 457; vgl. auch Hor., Epist. II, 2, 141–144:
Nimirum sapere est abiectis utile nugis | et tempestivum pueris con­
cedere ludum | ac non verba sequi fidibus modulanda Latinis, | sed
verae numerosque modosque ediscere vitae; vgl. auch Wulfram
2008, 73–74, insb. Anm. 89). Ebenso wenig wie Horaz jedoch damit
die leichte Dichtung als solche verurteilt, wertet auch Walter – wie
auch in der am Ende der Alexandreis folgenden Widmung an sei-
nen Gönner Wilhelm von Blois erkennbar wird – das eigene Epos
über den antiken Feldherrn und König nicht ab (vgl. Hor. Epist.
I, 14, 36: nec lusisse pudet, sed non incidere ludum). Vielmehr geht
es ihm darum, sich nach getaner Arbeit an einem antikisierenden
Epos wie der Alexandreis als christlicher Dichter zu inszenieren
und mit einer Art captatio benevolentiae im christlichen Leser die
Bereitschaft hervorzurufen, nicht allzu strenge christliche Maßstäbe
an sein Alexander-Epos anzulegen. In diese Richtung weisen auch
Walters Worte, dass es ihn nach einer anderen Quelle dürstet, die in
der Lage sein soll, auch seinen zweiten Durst zu stillen (vgl. Alex. X,
459–460: Alium michi postulo fontem, | qui semel exhaustus sitis est
medicina secundae). Auch hier lohnt sich ein Blick auf die oben be-
reits zitierte Epistel des Horaz, in welcher der augusteische Dichter
an Florus gerichtet beinahe wortgleich deutlich macht, dass er einen
Arzt konsultieren müsse, wenn keine noch so große Wassermenge
seinen Durst zu löschen vermag (vgl. Hor. Epist. II, 2, 145–147:
quocirca mecum loquor haec tacitusque recordor: | si tibi nulla sitim
finiret copia lymphae, | narrares medicis). Geht es bei Horaz um den
Abschied von der lyrischen Poesie – erneut bewegt sich die Wort-
wahl mit ludere und bibere dabei in den oben beschriebenen Wort-
1000 KOmmentar

feldern –, so möchte Walter nach Abschluss seiner antikisierenden


epischen Dichtung zur christlichen Dichtung zurückfinden (vgl.
Hor. Epist. II, 2: lusisti satis, edisti satis atque bibisti: | tempus ab­
ire tibi est, ne potum largius aequo | rideat et pulset lasciva decentius
aetas).

Walters Widmung an seinen Gönner Wilhelm von Blois (461–469)

461–469 At tu, cuius opem pleno michi copia cornu | fudit … vivet
cum vate superstes | gloria Guillermi nullum moritura per evum: Mit
den letzten Versen der Alexandreis widmet Walter das Epos seinem
Gönner Wilhelm von Blois, der als Erzbischof von Reims nicht nur
über die notwendigen finanziellen Mittel verfügt, um den Autor der
Alexandreis in allen Lebenslagen zu unterstützen, sondern auch die
unentbehrlichen Bildungsvoraussetzungen besitzt, um die Groß-
artigkeit des Werks überhaupt erkennen zu können. Damit schlägt
Walter den Bogen zum zweiten Teil des Prooemiums, in welchem
er seinen Gönner bereits für dessen Bildung gepriesen, diesen um
Beistand für sein Epos gebeten und ihm das Werk als Lorbeerkranz
für dessen Haupt schon vorab gewidmet hat (vgl. Alex. I, 24–26:
Huc ades et mecum pelago decurre patenti, | funde sacros fontes et cri­
nibus imprime laurum | ascribique tibi nostram paciare camenam;
vgl. auch Zwierlein 2004, 678). ⇔ Auch die im Prolog bereits
ausführlich angesprochene Thematik gehässiger Neider taucht in
Walters Bitte um Beistand am Ende des Epos noch einmal auf (vgl.
Alex. X, 462: ut hostiles possim contempnere linguas). ⇔ Mit der For-
mulierung Vivet cum vate superstes | gloria Patronis nullum moritu­
ra per evum verbindet Walter den Ruhm seines Gönners mit seinem
Werk, das – sollte diesem Erfolg beschieden sein – beiden ewigen
Ruhm einbringen werde (vgl. Alex. VI, 509–510: Si quis tamen hec
quoque si quis  | carmina nostra legat, numquam Patrona tacebit  |
Gallica posteritas. Vivet cum vate superstes | gloria Patronis nullum
Kommentar zu Buch X 1001

moritura per evum; vgl. auch Alex. VII, 344–346: Te tamen, o Dari,
si que modo scribimus olim | sunt habitura fidem, Pompeio Francia
iuste | laudibus equabit). ⇔ Walters Worte zeigen dabei nicht nur
die Zufriedenheit oder sogar den Stolz auf sein antikisierendes Epos,
sondern geben noch einmal beredtes Zeugnis über das Verständ-
nis von wahrem Ruhm in der Alexandreis ab, der aus christlicher
Sicht immer dann positiv konnotiert ist, wenn er das Ergebnis einer
tugendhaften Leistung darstellt und wie die Alexandreis zugleich
einem übergeordneten bzw. höheren gottgefälligen Ziel – der Suche
nach einem alexanderhaften christlichen Anführer im Kampf gegen
die Muslime – zu dienen imstande ist. Ablehnung findet bei Wal-
ter indes nur derjenige Ruhm, der sich lediglich auf äußere Güter
und nichtige Anerkennung gründet – abwertend als fallax gloria
bezeichnet – und ausschließlich um seiner selbst willen erstrebt
wird sowie keinem übergeordneten bzw. höheren gottgefälligen Ziel
dient (zum Verständnis wahren Ruhms in der Alexandreis vgl. die
Einführung zu Buch IV; vgl. auch Einleitung 7.4; vgl. auch Gart-
ner 2018, 71, Anm. 56).
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von Gerhard Streckenbach unter Mitwirkung von Otto Klingner, mit
einer Einführung von Walter Berschin, Heidelberg 1990.
Wolf, Ursula, Aristoteles’ Nikomachische Ethik (deutsch), Reinbek bei Hamburg
2006.
Index nominum Alexandreidos
cum annotationibus
Die Namen der Personen und Orte werden in alphabetischer Reihenfolge entspre-
chend der in der Alexandreis verwendeten Lesart aufgelistet. Finden im Text mehrere
Lesarten Verwendung, wird durch einen Pfeil unmittelbar nach dem jeweiligen Na-
men auf die alternative Lesart verwiesen (Amintas → Amyntas). Neben der mittel-
lateinischen Lesart werden in Klammern zudem die Namen ergänzt, wie sie entweder
im klassischen Latein üblicherweise angegeben werden → Bachus (Bacchus) oder in
der deutschen Sprache geläufig sind → Ezechias (Hiskia).

Abner: Im Alten Testament Heerführer von König Saul → IV 231.


Abysares: Ein indischer König (Abisares), der vor der Eroberung durch → Ale­
xan­der die Herrschaft über die unter dem Namen Abhisara bekannte Gebirgs-
gegend zwischen den Flüssen → Hydaspes und → Achesis (Acesines) ausgeübt
hatte → IX 508.
Achab: Im 9. Jh. v. Chr. König des Nordreichs Israel (Ahab) → IV 245.
Achaz: Im 8. Jh. v. Chr. König des Südreichs Juda → IV 258.
Acheron: Mythologischer Fluss der Unterwelt, daher als pars pro toto auch die Be-
zeichnung für die Unterwelt insgesamt → V 75, 254.
Achesis: Ein unter dem heutigen Namen Chenab bekannter indischer Fluss (Ace-
sines), der nicht – wie Walter fälschlicherweise annimmt – in den → Ganges
fließt, sondern vom → Indus aufgenommen wird → IX 24.
Acheus: Adj. zu Achei (Achaei) → achäisch (Achaeus), andere Bezeichnung für
griechisch → IV 180; V 373.
Achillas: Ein persischer Unterhändler → IV 72.
Achilles → Eacides: Griechischer Held vor Troja, in der Erzählung der → Ale-
xandreis neben → Hercules (Herkules) das wichtigste Vorbild → Ale­xan­ders
→ I 199, 221, 471, VIII 236.
Achivi → Achyvi: Andere Bezeichnung für die Griechen → II 298; IV 24; V 310.
Achor: Ein Tal zwischen Jericho und Ai, in welchem der Sünder Achan aus dem
Stamm Juda gesteinigt wurde, da er sich des Diebstahls schuldig gemacht hatte
→ IV 215.
Achyvi → Achivi → VII 56.
Acteon: Der Jüngling Acteon (Actaeon) hatte auf der Jagd die mit ihren Nymphen
in einer Quelle badende → Diana überrascht und war von der erzürnten Göttin
1012 Index nominum

in einen Hirsch verwandelt worden. Daraufhin wurde er von seinen eigenen


Hunden, die ihn aufgrund der veränderten Gestalt nicht mehr erkannten, zer-
fleischt → III 456.
Actorides: Persischer Kämpfer → III 96.
Afer → Aristonides: Persischer Kämpfer → V 262, 263, 265, 266.
Affrica: Der Norden Afrikas (Africa) → VII 407; X 228.
Agaue: In der antiken Mythologie Tochter des Kadmus und Mutter des Pentheus,
der nach dem Tod des Kadmus die Herrschaft über Theben innehatte → I 303.
Agaunum: Das heutige nicht weit vom Rhoneknie entfernte St. Maurice im Kan-
ton Wallis zwischen Genfer See und Martigny → II 318f; V 318.
Agenor: Phönizischer König, Ahnherr der karthagischen Königin Dido → III 330.
Agilos: Persischer Kämpfer, der in der Schlacht von → Yssos (Issus) von → Parme-
nio getötet wurde → III 72.
Agriani: Ein wehrhaftes Bergvolk, das sowohl für den Nahkampf als auch für das
Werfen von Speeren bekannt war und aufseiten von → Ale­xan­der im Perser-
krieg kämpfte → IX 239.
Aiax: In der antiken Mythologie einer der wichtigsten griechischen Helden im
Trojanischen Krieg → VIII 230.
Alcides → Alcydes: → Hercules, Sohn → Iupiters (Jupiters) und der Alkmene,
griechischer Held und in Walters Epos neben → Achilles das wichtigste Vorbild
→ Ale­xan­ders (Herkules) → I 338.
Alcydes → Alcides → I 40.
Ale­xan­der → Magnus → Macedo → Peleus → Pelleus → Philippis → Philippica
proles: Sohn Philipps II., makedonischer König und Hegemon des Korinthi-
schen Bundes, Anführer der panhellenischen Streitmacht im Krieg gegen die
Perser und wichtigster Protagonist der → Alexandreis → I C. 2, I 251, 266, 432,
449; II C. 2, II 19, 21, 34, 68, 83, 206, 469; III 15, 57, 173, 280, 449; IV 87, 136, 147,
554, 580; V 38, 63, 178, 188, 261, 278, 280, 425, 503; VI C. 1, VI 101, 133, 305, 440;
VII 146, 154, 176, 187, 230, 265, 296, 301, 363, 424, 439, 455, 469; VIII 44, 83, 96,
341, 494; IX C. 8, IX 41, 48, 151, 196, 418, 449; X 27, 104, 149, 229, 340.
Alexandreis: Der Name des von Walter verfassten Epos über → Ale­xan­der den
Großen → prol. 14.
Alpes: Das als Alpen bekannte Hochgebirge in Mittel- und Südeuropa, das sich
in einem etwa 1200 Kilometer langen und etwa 200 Kilometer breiten Bogen
von der Ligurischen Küste im Westen bis zum Pannonischen Becken im Osten
erstreckt → VII 377; X 182.
Alpinus: Adj. zu → Alpes → II 318a; V 313; VIII 482; IX 43; X 442.
Aman: Höchster Regierungsbeamter des persischen Königs → Xerxes (Haman)
→ IV 271.
Index nominum 1013

Amazon → Amazones: Die Amazone → VIII C. 2.


Amazones → Amazon: In der antiken Mythologie ein Volk überaus kriegeri-
scher Frauen, die in verschiedenen Regionen am Schwarzen Meer oder auch
im → Caucasus (Kaukasus) und im Norden Anatoliens gelebt haben sollen
→ VIII 16.
Amazonius: Adj. zu → Amazon und → Amazones → VIII 9.
Ambitio: Personifikation der Ruhmsucht → IV 410.
Amintas → Amyntas: Ein Offizier (General der Infanterie) und Statthalter → Ale­
xan­ders → III 108; V 265.
Amos: Vater des biblischen Propheten Jesaja → IV 258.
Amphilocus: Persischer Kämpfer → III 60.
Amphion: Sohn → Iupiters (Jupiters) und der Antiope, König von Theben und
Gatte der → Niobe → I 340.
Amulon: Persischer Kämpfer → V 267.
Amyntas → Amintas → II 427; VIII 180.
Anchira: Antike Stadt (Ancyra) im Norden von Phrygien → II 91.
Andromachus: Griechischer Kämpfer → IX 121.
Anglia: England → VII 413.
Antheus: Einer der Giganten (Antaeus), dem die Berührung mit seiner Mutter
Gaia (Erde) immer wieder neue Kräfte verlieh und von → Hercules (Herkules)
im Ringkampf erst bezwungen werden konnte, als er ihn in die Höhe hob und
erdrückte → III 434.
Antigonus: Ein Offizier (General der Infanterie) → Ale­xan­ders und nach dessen
Tod einer der Diadochen → II 432; III 55, 59; V 269.
Antipater: Ein Offizier (Hauptgeneral) → Ale­xan­ders und nach dessen Tod einer
der Diadochen → X 150, 203.
Antipodes: Mutmaßliche Bewohner auf der bis in das europäische Entdeckungs-
zeitalter hinein noch unbekannten Gegenhemisphäre (Gegenfüßler) → IX 569;
X 99, 315.
Antonius: Zusammen mit Octavian und Lepidus einer der Triumvirn im 2. Trium-
virat; nach seinem Sieg über die Caesarmörder in der Schlacht bei Philippi
(42 v. Chr.) erhielt er die östlichen Provinzen als Herrschaftsgebiet, zu dem
auch Ägypten gehörte. Dort heiratete er → Cleopatra (Kleopatra). Im Krieg
mit Octavian um die Vorherrschaft im römischen Reich musste er sich in der
Schlacht bei Actium im Jahre 31 v. Chr. der unter dem Oberbefehl von Agrippa
stehenden Flotte Octavians geschlagen geben → V 494.
Aonidae: Thebaner, die Bewohner der Stadt Theben → I 286, 320; II 455.
Aonius: Adj. zu → Aonidae → I C. 4.
1014 Index nominum

Apelles: Einer der bedeutendsten Maler, Künstler und Bildhauer im antiken Grie-
chenland → IV 179, 218; VII 384, 393, 421.
Apollo → Delios → Delius → Phebus (Phoebus): Sohn → Iupiters (Jupiters) und
der Latona; Bruder der → Diana; Gott des Bogenschießens, der Weissagung, der
Heilkunde, der Wissenschaften und der Künste, insbesondere der Musik und
der Dichtkunst, Führer der Musen → II 529.
Applausus: Personifikation des schmeichlerischen Beifalls → IV 427.
Aquilo → Boreas: Der Sohn des Titanen Astraeus und der Göttin Eous stellte die
Personifikation des winterlichen Nordwinds dar und und wurde in der Antike
zusammen mit seinen Brüdern → Eurus (Ostwind), → Nothus (Südwind) und
dem Westwind → Zephirus (Zephyrus) verehrt → V 9.
Arabes: Die Araber, die Bewohner Arabiens → I 415; III 72, 369; IV 571; V 166, 374,
473; VIII 59.
Arabites: Wie eine Glosse im Codex Vindobonensis (13. Jh.) mit Rennon Arabites id
est de Arabia existens nahelegt, bedeutet der Begriff »aus Arabien stammend«
(vgl. Colker 433) → V 133.
Araxes: Bedeutender Fluss in → Persis (Aras), fließt an der Stadt → Persepolis
vorbei → VI 162, 194.
Arbela: Assyrische Stadt, in deren unmittelbaren Nachbarschaft → Darius in der
Schlacht von → Gaugamela im Perserkrieg endgültig dem makedonischen
König unterlag → III 459; V C. 2, V 381, 431.
Archigenus: Berühmter syrischer Arzt unter Domitian, Nerva und Trajan (Archi-
genes) → II 231.
Arctos → Artos: Großer und Kleiner Bär am nördlichen Sternenhimmel; meton.
für Norden → I 410.
Arethas: Satrap von Syrien → III 12, 18.
Argi: Die Argiver, andere Bezeichnung für die Griechen → I 354.
Argivus: Adj. zu → Argos, griechisch → V 72, 233; IX 214.
Argolici: Andere Bezeichnung für die Griechen → I 469, 494; II 188, 282, 393.
Argos → Argivi: Hauptstadt der Argolis (Landschaft auf der Peloponnes) als pars
pro toto auch für ganz Griechenland → I 372; III 422; VII 457.
Aristander: Der angesehenste Seher → Ale­xan­ders → III 502.
Aristomenes → Indus: Indischer Kämpfer → V 12, 20.
Ariston: Ein Offizier (General der Kavallerie) → Ale­xan­ders → IX 208, 209.
Aristonides → Afer: Persischer Kämpfer mit dem Namen → Afer, Sohn eines
nicht näher bezeichneten und nicht mit dem makedonischen Reiteroffizier
identischen Ariston → V 262.
Aristonus: Ein Offizier und Leibwächter → Ale­xan­ders → IX 433, 439.
Index nominum 1015

Aristotiles: Griechischer Philosoph und Lehrer → Ale­xan­ders des Großen (Aristo-


teles) → I C 1, I 42, 223, 334; IX 5.
Armenia: Hochland am Oberlauf des → Eufrates (Euphrat) und des → Tigris
I 418; VII 476.
Arsamides: → Ale­xan­ders wichtigster Gegner → Darius III. war der Sohn des Ar-
sames und gehörte der persischen Achämenidendynastie an → V C. 3; VI 370,
443, 548; VII 129.
Artabazus → Arthabazus: Persischer Kämpfer und guter Freund des Perserkönigs
→ Darius → VI 436.
Arthabazus → Artabazus → VI 374.
Arthofilos: Persischer Kämpfer (Ardophilus) → III 35, 45.
Arthurus: König Artus, sagenhafter König der Briten → VII 412.
Artos → Arctos → I 399.
Asael: Heerführer des biblischen Königs David → IV 231.
Asia → Asya: Der Kontinent Asien ebenso wie die Halbinsel Kleinasien → I C.
8, I 379, 398, 406, 425, 435: II 71, 76, 82, 96, 480; IV 65; VI 3, 95, 215, 348, 407;
VII 26, 170, 398, 416, 532; VIII 362; IX 562; X 92, 172.
Assirii: Einwohner von Assyrien (Assyrii) → I 412; VIII 490.
Astrea: Jungfräuliche Göttin der Gerechtigkeit (Astraea), die im eisernen Zeitalter
als letzte Gottheit die Erde verließ und als Sternbild Virgo (Jungfrau) am Him-
mel steht → I 177.
Asya → Asia I C. 5.
Athenae: Die Stadt Athen, das geistige Zentrum Griechenlands → I 284; II 456;
VI 263; VII 408.
Athlantiades: Hermes (Atlantiades), Enkel des → Athlas (Atlas) → V 245.
Athlantis stella: Die Siebengestirn der Plejaden, die sieben an den Himmel versetz-
ten Töchter des → Athlas (Atlas) und der Pleione (Atlantis stella) → V 376.
Athlas: Sohn des Titanen Iapetus und der Klymene (Atlas), Vater der Plejaden,
Träger des Himmelsgewölbes, durch das Medusenhaupt in den Berg Atlas ver-
wandelt → I 487; IV 294.
Atropos: Neben → Clotho und → Lachesis eine der drei → Parcae (Parzen). At-
ropos (die Unabwendbare) hatte die Aufgabe, die Lebensfäden der Menschen
abzuschneiden. Gegen die Entscheidung der Parzen konnten sogar die Götter
keine längere Lebenszeit für die Menschen erwirken → VII 54.
Attalus: Ein Offizier (General der Infanterie) → Ale­xan­ders → IX 153, 177.
Aulis: Hafenstadt in → Boetia (Böotien), Sammelpunkt der griechischen Flotte für
die Überfahrt nach Kleinasien → III 424.
Aurora → Eous: Göttin der Morgenröte, meton. für Morgen oder Osten → II 227;
III 387, 407; VIII 2.
1016 Index nominum

Auso: Persischer Kämpfer → III 201.


Auster → Nothus (Notus): Der Südwind, meton. für Süden, der neben dem
Westwind → Zephirus (Zephyrus), dem Nordwind → Aquilo und dem Ost-
wind → Eurus einen der vier Hauptwinde darstellt → I 399; IV 321; V 235, 434;
VIII 197, 484; IX 11.
Automedon: Wagenlenker des → Achilles und des Patroclus im Trojanischen
Krieg, meton. auch allgemein die Bezeichnung für einen besonders geschickten
Wagenlenker → III 62.
Avernus: Der Avernersee, ein Kratersee in Kampanien in der Nähe von Cumae
(Eingang zur Unterwelt), meton. für die Unterwelt selbst → IX 291; X 120.

Baal: Nach dem biblischen Bericht gerieten die Israeliten bereits auf ihrer Wüsten-
wanderung in Kontakt mit dem Baalskult, der in den Erzählungen zumeist als
Konkurrenz zu Jahwe als dem einzigen Gott auftaucht → IV 247.
Babilon → Babylon: Die am → Eufrates (Euphrat) liegende Hauptstadt des persi-
schen Reichs → I 414; II 366, 393; III 202; V C. 10, V 423, 443; VI C. 1, VI 2, 19, 28.
Babilonia → Babilon (Babylon) → V 456.
Babilonius: Adj. zu → Babilon (Babylon), babylonisch, chaldäisch → IV 542;
V 381.
Babylon → Babilon → X 153, 170, 203, 235.
Bachus → Liber: Sohn → Iupiters (Jupiters) und der Semele, Gott des Weines
(Bacchus) → I 167, 439; VII 314, 411, 434.
Bactra: Hauptstadt der gleichnamigen Landschaft am Oxus → IV 128, 339; VI 304,
409, 442, 501; VII 102, 206; VIII 49, 75, 360, 424, 432.
Bagoas: Liebling des → Darius, Geschenk des → Narbarzanes an → Ale­xan­der, der
diesen um dieser Gabe willen verschont hat → VIII 7.
Balthasar: Babylonischer König (Belsazar) → II 523.
Baradas: Persischer Kämpfer → V 268.
Baucis: In der antiken Mythologie die Gattin des → Philemon aus → Frigia (Phry-
gien), die wegen ihrer Gastfreundschaft gegenüber den als normale Wanderer
auftretenden Göttern → Iupiter (Jupiter) und Merkur den Wunsch erfüllt
bekamen, gemeinsam zur selben Stunde sterben zu dürfen → II 63.
Belides → Darius: Enkel des → Belus → V 321; VI 302, 481.
Bellona: Schwester des → Mars, römische Kriegsgöttin → III 134; IV 479; V 206,
235.
Belus: Mythischer Gründer von Babylon und Urahn der persischen Könige
→ II 326.
Beniamin: In der Bibel jüngster der zwölf Söhne (Benjamin) des → Iacob (Jakob)
→ IV 225.
Index nominum 1017

Bennun → Josue: Josue (Josua) führte nach dem Tod des Mose die Israeliten bei
der Landnahme an → IV 213.
Bessas → Bessus → V 495; VII 166.
Bessus → Bessas: Als Satrap der Provinz Baktrien war Bessus maßgeblich an der
Verschwörung gegen → Darius beteiligt und wird in der → Alexandreis als
Mörder des persischen Königs → Darius angegeben → V 302; VI 384, 422, 431,
528, 539; VII 40, 129, 131, 156, 162, 170, 207, 342, 502, 516, 520; VIII C. 6, VIII 49,
337, 341, 344, 350, 354, 355.
Boetes → Bootes: Als Ochsentreiber oder Bärenhüter ein Sternbild am nördlichen
Himmel beim Großen Wagen bzw. beim Großen Bären → I 11.
Boetia: Böotien, Landschaft in Mittelgriechenland mit der Hauptstadt Theben
(Boeotia) → I 350.
Bootes → Boetes → X 356.
Boreas → Aquilo → I 400, 488; V 71; VIII 485, 491; IX 493.
Brennius: Anführer der Gallier, die im Jahre 387 v. Chr. Rom eingenommen haben
und nur durch die heiligen Gänse der Juno daran gehindert wurden, auch das
Kapitol zu erstürmen (Brennus) → I 15.
Britannia maior: Damit ist das aus England, Wales und Schottland bestehende
größere Britannien angesprochen, das sich damit von der südwestlich davon
liegenden Britannia minor – der heutigen Bretagne – abgrenzen lässt → I 12.
Britones: Die Bewohner Britanniens im Sinne der → Britannia maior → VII 412.
Brocubelus: Persischer Überläufer → VII 138.
Bucifal: Das berühmte Pferd → Ale­xan­ders (Bucephalus), das ihn über die gesamte
Zeit des Perserkriegs begleitet hatte und erst im Kampf gegen den Inderkönig
→ Porus zu Tode gekommen war → IV 90, 516; IX 266.
Burkardus: Graf Burkard (Burchard) war im Jahre 1127 an der Ermordung des
Grafen von Flandern beteiligt und wurde mit Zustimmung des französischen
Königs Ludwig VI. zur Strafe auf dem Rad zu Tode gefoltert → VIII 168.

Cain: Gemäß biblischer Überlieferung der erste Sohn Adams und Evas (Kain); er
erschlug in einem Streit seinen jüngeren Bruder Abel → IV 194.
Calcas: Griechischer Seher (Calchas) → III 426.
Campania: Kampanien, Landschaft in Mittelitalien mit der Hauptstadt Capua
→ VII 411.
Cancer: Als viertes Zeichen des Zodiaks das Sternbild des Krebses; zur Zeit → Ale­
xan­ders erreichte die Sonne den höchsten Punkt ihrer Bahn (21. Juni) im Stern-
bild des Krebses (aufgrund des astronomischen Phänomens der Präzession
erreicht die Sonne heutzutage ihren Höchststand an der Grenze der Sternbilder
Zwillinge und Stier) → I 243.
1018 Index nominum

Candaceus: Persischer Kämpfer (Candaces) → IX 212.


Capadoces: Die Bewohner von Kappadokien (Cappadoces), einer Landschaft
Kleinasiens → II 92; VII 477; VIII 423.
Caribdis: Ein gefährlicher Meeresstrudel (Charybdis) in der Straße von Messina,
der in unmittelbarer Nähe der → Scilla (Scylla) mehrmals täglich die Flut ein-
saugte und wieder abgab; zumeist als alles verschlingendes Ungeheuer personi-
fiziert → III 380; V 301.
Caucasus: Hochgebirge Eurasiens zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer
→ I 411; VIII 11; IX 14.
Caynan: Persischer Kämpfer → V 36, 37.
Cebalinus: Griechischer Kämpfer, der die Verschwörung des → Phylotas (Philotas)
aufgedeckt hat → VIII 83, 111,117, 219, 245, 256.
Cenos: Ein Offizier (General der Infanterie) → Ale­xan­ders (Coenos) → II 428;
III 55, 59; V 270.
Cerealis: Adj. zu → Ceres, der Göttin des Ackerbaus, meton. für Getreide → I 436.
Ceres → Cerealis → III 448.
Cesar: Gaius Julius Caesar → V 493.
Cesareus: Adj. zu → Cesar (Caesareus) → I 7; V 508.
Chaldeus: Chaldäisch, babylonisch (Chaldaeus); die Chaldäer waren insbesondere
wegen ihrer astronomischen Kenntnisse berühmt; ihr bedeutendster König war
Nebukadnezar II. (605–562 v. Chr.) → I 414; II 388, 505; III 16.
Chaos: Ungeordneter Zustand des Kosmos vor der Scheidung der Elemente
→ IV 591.
Chaos: Bezeichnung für die Unterwelt → VII 295; X C. 2, X 99, 132,167.
Cherippus: Ein persischer Kämpfer arabischer Herkunft → III 72.
Chorintus: Bedeutende Handelsstadt am Isthmus von Korinth (Corinthus)
→ I 4, 203.
Christianus: Adj. zu → Christus → prol. 25.
Christus: Christus (der Gesalbte) → III 337; IV 266; V 516.
Cicropidae: Die Einwohner von Athen (Cecropides) → I C. 3.
Cignus: Fluss in Kleinasien (Cydnus), der bei → Tharsus (Tarsus) an der kiliki-
schen Küste ins Mittelmeer mündet → II 149.
Cilices: Die Einwohner von Kilikien → I 378, 447; II C. 5, II 97; IV 359, 550;
VII 477.
Cilicia: Kilikien, Landschaft im Süden Kleinasiens → II 141, 162; IV 346.
Cinosura: Das Sternbild des Kleinen Bären (Cynosura) → X 336.
Cinthia → Diana: Beiname der Mondgöttin → Diana (Cynthia), meton. auch für
den Mond selbst → III 528.
Cinthius: Beiname des → Apollo (Cynthius), meton. auch für die Sonne → IV 301.
Index nominum 1019

Cirus → Cyrus → II 343.


Cithereius: Adj. (Cythereius) zu Citherea (Cythereia), die mit der Liebesgöttin
→ Venus identifiziert werden kann, die der Sage nach am Ufer der Insel Kythera
aus dem Meer emporgestiegen sein soll → III 329.
Claudius: Der spätantike Dichter Claudius Claudianus → V 505.
Cleades: Ein Thebaner, der den makedonischen König erfolglos von der Zerstörung
seiner Heimatstadt abzuhalten versuchte → I 326, 345.
Clementia: Personifikation der Milde → IV 420.
Cleopatra: Die letzte Königin von Ägypten konnte sie sich mit Hilfe → Cesars
(Caesars), dem sie einen Sohn gebar (Caesarion), im Thronstreit gegen ihren
Bruder Ptolemaios durchsetzen. Nach dem Tod des römischen Diktators heira-
tete sie → Antonius, der nach dem Sieg über die Caesarmörder in der Schlacht
bei Philippi (42 v. Chr.) die östlichen Provinzen als sein Herrschaftsgebiet
erhalten hatte. Nach dessen Niederlage gegen Octavian bei Actium (32. v. Chr.)
tötete sich Cleopatra (Kleopatra) mit Schlangengift → V 495.
Clotho: Neben → Atropos und → Lachesis eine der drei → Parcae (Parzen). Clo­
tho hatte die Aufgabe, die Lebensfäden zu spinnen. Gegen die Entscheidung
der Parzen konnten sogar die Götter keine längere Lebenszeit für die Menschen
erwirken → VII 54; V 143.
Clytus: Offizier (General der Kavallerie) → Ale­xan­ders, der bei einem Gelage von
seinem König erschlagen wurde (Clitus) → II 428; III 28, 35, 45; V 77, 116, 117;
IX 4.
Concordia: Personifikation der Eintracht → IV 425.
Copia: Personifikation des Überflusses → IV 426.
Craterus: Ein Offizier (Hauptgeneral) → Ale­xan­ders → II 431; III 60; V 265; IX 513.
Cratherus → Craterus → III 55.
Cresus: Der sagenhaft reiche König (Croesus) von → Lidia (Lydien), der in der
Schlacht am Halys gegen die Perser im Jahre 547 v. Chr. Leben und Reich verlor
→ II 344, 529; V 389.
Critobolus: Griechischer Arzt → Ale­xan­ders → IX 456.
Cybele: Als Fruchtbarkeitsgöttin und Große Mutter verehrte phrygische Göttin
→ II 317; V 34.
Cyclopes: Die als Zyklopen bekannten einäugigen Riesen, die den Gott → Vulca-
nus auf Sizilien bei dessen Arbeit unterstützt haben → X 273.
Cyrus: Begründer des persischen Reichs → II 142, 527, 535: III 80; IV 268; V 191.

Dalila: Nach dem Alten Testament verriet Dalila den als unbezwingbar geltenden
israelitischen Richter → Samson → IV 220.
Damascenus: Adj. zu → Damascus → V 81.
1020 Index nominum

Damascus: Nachdem die bedeutende syrische Stadt unter Nebukadnezar II. (605–
562 v. Chr.) für kurze Zeit unter babylonischer Herrschaft gestanden hatte, fiel
Damaskus nur wenig später an das Perserreich → II 303; III 258.
Danai: Andere Bezeichnung für die Griechen → I 274, 321; II 124, 217, 396.
Daniel: Der biblische Prophet des Alten Testaments, der insbesondere durch die
Vision der vier Weltreiche Berühmtheit erlangt hat → IV 265; V 8; VII 421.
Darius → Belides: Der persische König und wichtigste Widersacher → Ale­xan­ders
→ I 3, 30, 79, 352; II C. 1, C. 2, II 4, 15, 18, 20, 42, 45, 64, 98, 115, 122, 226, 270,
274, 306, 320, 414, 481, 494, 498; III C. 2, C. 7, III 10, 129, 130, 189, 198, 2325, 238,
266, 272, 345, 413, 440, 454, 459; IV C. 1, C. 2, C. 4, IV 14, 24, 56, 58, 74, 86, 91,
93, 104, 109, 143, 156, 171, 174, 177, 282, 344, 359, 374, 384, 493, 528, 534; V 124,
192, 223, 227, 244, 247, 252, 273, 281, 286, 297, 308, 327, 422; VI C. 7, C. 9, VI 70,
116, 120, 142, 146, 299, 340, 346, 355, 386, 390, 463, 470, 476, 491, 515, 531, 539;
VII 12, 26, 48, 92, 97, 102, 108, 138, 182, 190, 234, 239, 248, 251, 256, 267, 276, 344,
348, 360, 516; VIII 348; X 91, 289, 309.
Delios → Apollo → Delius → Phebus (Phoebus) → VII 127.
Delius → Apollo → Delios → Phebus (Phoebus) → VII 136.
Demetrius: Ein Offizier und Leibwächter Ale­xan­ders, Beteiligter an der Verschwö-
rung des → Phylotas → VIII 107.
Demostenes: Athenischer Staatsmann und Redner (Demosthenes) und wichtigster
Vertreter einer antimakedonischen Politik in Athen (384–322 v. Chr.) → I 271,
277.
Detractio: Personifikation des Gelästers → X 45.
Diana → Cinthia (Cynthia) → III 519.
Dimus → Dinus → Dymus: Persischer Kämpfer → VIII 87, 97, 108, 117, 129, 224,
253, 262.
Dinus → Dimus → Dymus → III, 65, 70.
Diomedes: Sohn des Tydeus und der Deipyle, gehörte im Trojanischen Krieg zu
den wichtigsten Kämpfern auf griechischer Seite → VIII 232.
Dirce: Gattin des thebanischen Königs Lykos, meton. auch für das Volk der Theba-
ner → I 349.
Dis: Pluto, Gott der Unterwelt → V 141.
Dodon: Persischer Kämpfer parthischer Herkunft → III 33.
Dolus: Personifikation der Heimtücke → X 45.
Doricus: Adj. für griechisch → III 237.
Dorilos: Griechischer Kämpfer → III 96.
Dyaspes: Persischer Kämpfer (Diaspes) → III 74.
Dymus → Dimus → Dinus → VIII C. 4, VIII 227.
Dyonisius: Die französische Stadt Saint Denis → V 440.
Index nominum 1021

Eacides → Achilles (Aeacides): Aeacus war in der antiken Mythologie als Sohn des
Jupiter und der Aegina der Stammvater der Aeaciden → I 473.
Eacides → Ale­xan­der (Aeacides) → V C. 7; IX 545.
Ebactana: Hauptstadt von Medien und auch Residenz der persischen Großkönige
(Ecbatana) → VI 302; VII 93, 98.
Ebrietas: Personifikation der Trunkenheit → X 41.
Echo: Böotische Waldnymphe, die sich unsterblich in Narziss verliebt hatte und sich
nach der Zurückweisung durch den Jüngling im Tode in einen Felsen verwan-
delte → II 493; IV 296.
Eclimus: Persischer Kämpfer → III 81.
Effestio: Ein Offizier (Hauptgeneral) und guter Freund → Ale­xan­ders (Hephaes-
tio) → II 438; V 197.
Egeus: König von Athen, Vater des Theseus (Aegeus) → VI 379.
Egeus: Adj. (Aegeus) zum gleichlautenden Substantiv → IX 493.
Egyptius → Ein Ägypter (Aegyptius) → V 31.
Egyptus: Ägypten (Aegyptus) → III 371; IV 208; VII 405; X 344, 452.
Elas: Persischer Kämpfer (Hylas) → III 72.
Elice: Das Sternbild des Großen Bären (Helice) → X 337.
Eliphaz: Persischer Kämpfer, nach Walter der Abkömmling eines Pharaos → V 29, 30.
Elis: Griechischer Kämpfer (Hilas) → III 95.
Elisius: Adj. zu Elysium (Elysius): Sitz der Seligen im Totenreich → I 492; IX 147.
Elycon: Gebirge in → Boetia (Böotien), bekannt als Sitz der Musen (Helicon)
→ I 20.
Emathius: Adj. zu Emathia, bezeichnet Pharsalus als Ort der letzten Auseinander-
setzung zwischen → Cesar (Caesar) und → Pompeius → V 496.
Emilius: Die Person des römischen Konsuls geht auf die romanhafte Überliefe­
rungs­tradition zurück, nach der Aemilius das Bündnis der Römer mit → Ale­
xan­der aufgekündigt haben soll, obwohl er zuvor als Zeichen der Freundschaft
eine goldene Krone nach → Babilon (Babylon) geschickt hatte. Der Bruch
dieses Bündnisses soll die in der Sage wiedergegebene Unterwerfung Roms
durch → Ale­xan­der zur Folge gehabt haben → X 323.
Enacides: Hiulcon, des Enaches Sohn, ein persischer Kämpfer → IX 198.
Enos: Persischer Kämpfer → V 36.
Eous → Aurora: Göttin der Morgenröte, Morgen oder Osten (Eos) → II 98; V 425.
Ermolaus: Königlicher Page → Alexanders, der noch vor dem Indienfeldzug hin-
gerichtet wurde (Hermolaus) → IX 4.
Esau: Sohn des Isaak und der Rebekka, Enkel Abrahams und Zwillingsbruder des
→ Iacob, Stammvater der Edomiter und Amalekiter → IV 205.
Eschinus: Berühmter Redner in Athen (Aeschines) und in der Frage der Beziehun-
1022 Index nominum

gen zu Makedonien entschiedener Gegner des → Demostenes (Demosthenes)


→ I 277.
Esdra: Schriftgelehrter im 5. Jh. v. Chr. (Esra), der in Jerusalem nicht nur für Recht
und Ordnung in der neu formierten Jerusalemer Gemeinde gesorgt, sondern
auch den dortigen Neubau des Tempels in Angriff genommen hat → IV 274.
Ethiops: Ein Äthiopier (Aethiops) → III 406; V 42, 353.
Ethneus: Adj. zu dem auf Sizilien liegenden Vulkan Aetna (Aetnaeus) → X 411.
Euctemon: Verstümmelter griechischer Kriegsgefangener in Persepolis → VI 218, 263.
Eudochius: Persischer Kämpfer → III 75.
Eufrates: Der an der persischen Hauptstadt → Babilon (Babylon) vorbeifließende
größte Fluss Vorderasiens (Euphrates) → I 418; II 49, 100; III 202, 436; IV 125,
163, 166.
Eumenidus: Ein Offizier (Hauptgeneral) → Ale­xan­ders (Eumenes) → III 73; V 270.
Euphrates → Eufrates → IV 95.
Europa: Der bekannte Heimatkontinent → Ale­xan­ders → I 307, 374, 401, 441;
II 454, 480; VI 188, 211, 288, 501; VIII 362.
Eurus → Aquilo: Der Ostwind → VIII 444, 484.
Ezechias: Nachfolger seines Vaters Ahas als König von Juda (Hiskia) → IV 250.
Ezechiel: Einer der großen Schriftpropheten (Hesekiel) → IV 262.

Falernus: Ein Wein aus der Gegend zwischen Latium und Kampanien → X 148.
Fatum: Das durch Götterspruch zum Ausdruck gebrachte Schicksal → I 6; VI 272.
Faunus: Gott der Natur und des Waldes, der Beschützer von Bauern und Hirten,
ihres Viehs und ihrer Äcker, dessen Hauptfest die Lupercalien waren, die am
15. Februar eines jeden Jahres stattfanden. In der griechischen Mythologie ent-
spricht dem Faunus der Hirtengott Pan → II 63.
Favor: Personifikation der launenhaften Gunst → IV 429.
Fidias: Persischer Kämpfer (Phidias) → V 189, 203.
Flandria: Die Grafschaft Flandern ist ein historisches Territorium auf dem Gebiet
der heutigen Länder Belgien, Frankreich und den Niederlanden → VIII 168.
Flora: In der römischen Mythologie die Göttin der Blüte, die gewöhnlich als eine
mit Blumen geschmückte junge Frau dargestellt wurde → II 317.
Fortuna: Die Schicksalsgöttin der römischen Mythologie → I 494; II 175, 187, 198,
419, 453; III 270, 528; IV 552, 553, 560; V 25, 39, 130, 255, 396; VI 142, 521; VII 192,
280; VIII 99, 453, 456; IX 272, 329, 375, 380, 561, 577; X 205, 390.
Franci: Das Volk der Franken → V 512.
Francia: Franzien als das Land um die Ile de France und die Champagne im Nord-
osten Frankreichs → VII 345, 411.
Frigia: Landschaft in Kleinasien (Phrygia) → I 452.
Index nominum 1023

Frixeus: Adj. (Phrixeus) zu Phrixus, der in der griechischen Mythologie als Sohn
des Königs Athamas von → Boetia (Böotien) und seiner ersten Frau Nephele
aufgrund einer Intrige von Athamas’ zweiter Frau Ino beinahe als Opfergabe
sein Leben verloren hätte, wenn er nicht zusammen mit seiner Schwester Helle
von einem fliegenden Widder gerettet worden wäre. Nachdem seine Schwester
Helle auf der Flucht abgestürzt war – daher der Name Hellespont als das Meer
der Helle –, kam Phrixus nach Kolchis, wo er dem Zeus den Widder opferte
und dessen Fell – das berühmte Goldene Vlies – in einem dem Kriegsgott Ares
heiligen Hain aufbewahrte → IV 94.
Furiae: Rachegöttinnen (Furien), die mit den Erinnyen gleichgesetzt werden kön-
nen (Allecto, → Megera (Megaera) und → Thesiphone (Tisiphone) → VI 58;
VII 40.
Furor: Personifikation der Raserei → V 211, 212.

Gades: Tyrische Kolonie im südwestlichen Spanien → V 354; VII 410.


Galerus: Bezeichnet eine Fellkappe, mit der an dieser Stelle auf den Götterboten
Merkur (Hermes), den Gott der Händler und Diebe, verwiesen wird → III 513.
Galli: Das Volk der Gallier → X 180.
Gallia: Landschaft zwischen Pyrenäen und Rhein → X 233, 267.
Gallicus: Adj. zu → Gallia → III 457; VI 509; VII 376.
Galterus → Guillermus: Walter von Châtillon → X 463.
Ganges: Bedeutender Fluss Indiens → I 487; IX 17, 23.
Gaza: Stadt in → Palestina (Palästina) → III C. 5.
Genesis: Das erste Buch der Bibel → IV 181.
Geon: Riesenhafter persischer Kämpfer → V 39, 72.
Glaucus: Griechischer Kämpfer → IX 212.
Gloria: Personifizierung des Ruhms → IV 415.
Golias: Biblischer Riese, der David unterlag (Goliath) → IV 228.
Gordias: Bedeutende Stadt (Gordium) in → Frigia (Phrygien) → II 70.
Gorgo: Die schlangenhaarige Medusa, die mit ihrem Blick jeden in Stein verwan-
deln konnte. Perseus schlug ihr mit Athenes Hilfe das Haupt ab, das die Göttin
in der Folge auf ihrem Schild trug → V 238.
Grai: Bezeichnung für die Griechen → II 172; III 290, 320, 443, 525; IV 172, 304,
349, 538; V 22, 46; VI 72, 104, 516, 549; VII 151, 172, 217, 234; IX C. 8, IX 120, 233.
Graiugena: Ein Grieche von Geburt → IV 396; IX 125.
Granicus: Fluss im Norden Kleinasiens und Schauplatz der ersten großen Schlacht
zwischen Griechen und Persern → II 338; IV 549.
Greci: Die Griechen (Graeci) → I 299; II 272, 289, 373; III 27, 49, 466, 523; IV 121,
445; VI 490, 526; VII 153, 301, 376; IX 62, 443; X 184.
1024 Index nominum

Grecia: Griechenland (Graecia) → I 3, 502; IV 556; VII 408; IX 123.


Grecus: Sg. zu → Greci (Graeci) → VII 301.
Guillermus → Galterus → X 469.
Gula: Personifikation der Gefräßigkeit → X 41.
Gygantes: Schlangenfüßige Riesen, Söhne der Gaia (Erde), die von den Göttern
unter tätiger Mithilfe des → Hercules (Herkules) besiegt wurden, als sie den
Olymp stürmen wollten (Gigantes) → II 349; IV 295, 339; V 40; VII 122; X 311.
Gyganteus: Adj. zu → Gygantes (Giganteus) → II 499; V 41, 59.
Gygas: Sg. zu → Gygantes (Gigas) → I 197.

Hamon: Ägyptischer Orakelgott, von den Griechen als Zeus Ammon und von den
Römern als → Iupiter (Jupiter) Hammon verehrt (Hammon) → I 488; III C.
6, III 372, 389; VII 404.
Hebrei: Das Volk der Hebräer (Hebraei) → I 551; II 506; IV 179, 209, 222, 226; VII,
425.
Hector: Ältester Sohn des trojanischen Königs Priamus und dessen Frau Hekabe,
wichtigster Heerführer im Trojanischen Krieg, wurde von → Achilles besiegt
und um die Mauern seiner Heimatstadt geschleift (Hektor) → I 473, 480.
Heli: Heli (Eli) diente als Priester der Israeliten in der Stiftshütte in Silo → IV 224.
Helie: Der biblische Prophet Elija → IV 247.
Hercules → Alcides → X 174.
Herculeus: Adj. zu → Hercules (Herkules) → V 354; VII 410.
Herebus: Gott der Finsternis (Erebus), meton. für die Unterwelt → X 31.
Herinis: Allgemein für eine Rachegöttin oder Furie (Erinys) → VIII 344.
Hermogenes: Griechischer Kämpfer → III 97.
Hesifilus: Griechischer Kämpfer → V 37.
Hesperius: Adj. zu → Hesperus → III 394; VII 1, 374.
Hesperus: Der Abendstern, meton. auch für Westen → II 55; III 394, 467.
Hester: Jüdische Waise mit dem hebräischen Namen Hadassa, Adoptivtochter
ihres Cousins Mordechai, lebte im 5. Jh. v. Chr. in der persischen Diaspora und
wurde Frau des persischen Königs → Xerxes I. (Esther) → IV 270.
Hispania: Spanien → V 317; VII 410; X 231, 270.
Hispanus: Adj. zu → Hispania → V 504; X 174.
Holophernes: Im Alten Testament ein assyrischer Feldherr (Holofernes), der von
→ Iudith (Judith) getötet wurde → IV 273.
Homerus → Meonius (Maeonius): Der älteste griechische Dichter (8. Jh. v. Chr.) und
als Autor der Ilias und der Odyssee Vater der epischen Dichtkunst. Möglicher-
weise stammte Homer aus Mäonien (Lydien), was die von Walter an anderer Stelle
verwendete Bezeichnung als vates Maeonius verständlich macht → I 483.
Index nominum 1025

Honorius: Flavius Honorius, zwischen 395 und 423 n. Chr. weströmischer Kaiser
→ V 509.
Horestes: Griechischer Kämpfer (Orestes) → III 66.
Hydra: Die von → Hercules (Herkules) erlegte Hydra ist ein vielköpfiges schlan-
genähnliches Ungeheuer aus der antiken Mythologie, dem – sollte es einen
seiner Köpfe verlieren – auf der Stelle zwei neue nachwuchsen → III 435.
Hyperboreus: Adj. zur Bezeichnung des Nordens → IV 452.
Hyrcani: Das Volk der Hyrkaner → VIII C. 1.
Hyrcania: Landschaft am Südufer des Kaspischen Meeres und Heimat der → Hyr-
cani (Hyrkaner) → V 167.
Hyrcanus: Adj. zu → Hyrcani → I 49; III 54; V 478; VII 207; VIII 5.
Hyster: Die Donau (Hister) → IV 124.
Hyspania → Hispania → V 517.
Hyspanus → Hispanus → V 504.

Iacob: Sohn des Isaak und der Rebekka, Enkel Abrahams und Zwillingsbruder des
→ Esau, Stammvater der Edomiter und Amalekiter → IV 206.
Ianus: Gott des Eingangs und Ausgangs, des Tages- und Jahresbeginns, zumeist mit
zwei in entgegengesetzter Richtung blickenden Gesichtern dargestellt (Janus)
→ V 2.
Iehenna: Frühjüdisch-neutestamentliche Bezeichnung für die Hölle (Gehenna)
→ X C. 2, X 60, 64.
Ieronimus: Der von Walter im Prolog der → Alexandreis angesprochene Ge-
lehrte und Theologe gehört in der katholischen Kirche neben Ambrosius von
Mailand, Augustinus von Hippo und Gregor dem Großen zu den vier großen
Kirchenvätern der Spätantike (Hieronymus) → prol. 24.
Iezabel: Die aus Phönizien stammende Ehefrau von König → Achab (Ahab) von
Israel (Isebel), den sie dazu brachte, sich von Jahwe abzuwenden und ihre phö-
nizischen Götter zu verehren → IV 244.
Iheremias: Einer der großen Schriftpropheten (Jeremia) → IV 259.
Ihericho: Jericho liegt östlich der judäischen Wüste im Jordangraben und war die
erste Stadt, die von den Israeliten nach der Überquerung des Jordans eingenom-
men wurde → IV 215.
Iherosolima → Iherusalem: Die Stadt Jerusalem (Hierosolyma) → I 421.
Iherusalem → Iherosolima (Hierosolyma) → I 541.
Ihesus: Jesus von Nazareth → V 519.
Iliacus: Adj. zu → Ilion, trojanisch → I 464.
Ilion → Troia → Pergama: Die berühmte Stadt im Nordwesten Kleinasiens (Troja)
→ I 453.
1026 Index nominum

Impetus: Personifikation des Ungestüms → V 216.


Inachius: Adj. zu → Inachus, griechisch → I 377.
Inachus: Der erste König von → Argos und Stammvater der Könige der Argolis. Er
gilt als der Namensgeber des Flusses Inachos in der Argolis. Er ist der Sohn von
Okeanos und der Tethys oder Iapetos und der Okeanide Klymene → V 275.
Indi: Das Volk der Inder → IV 128, 338; VII 406; VIII 424; IX C. 1, IX 30, 37, 49, 61,
109, 119, 189, 215, 225, 270, 334, 434, 440, 508.
India: Gemeint ist der von → Ale­xan­der erreichte, am → Indus gelegene Teil Vor-
derindiens → I 336, 409; VI 409, 501; IX 2, 9, 15.
Indus: Adj. zu → India, indisch (persisch) → VII 253.
Indus: Der im persischen Heer kämpfende Inder Aristomenes → V 12.
Indus: Ein namentlich nicht näher bezeichneter indischer Kämpfer → IX 410.
Indus: Der mit fast 3200 km längste Fluss auf dem indischen Subkontinent → X 16.
Ioab: Mächtiger Heerführer König Davids → IV 237.
Ioachim: König von Juda; seine Herrschaft währte jedoch nur drei Monate, da er
sich Nebukadnezar II. (605–562 v. Chr.) ergab, um die Zerstörung Jerusalems
zu verhindern. Aufgrund der Kapitulation wurde Ioachim (Jojachin) mit der ju-
däischen Oberschicht nach → Babilon (Babylon) verschleppt → II 520; IV 259.
Iollas: Mundschenk und Page → Ale­xan­ders → III 49, 115, 116.
Iordanes: Der aus der Bibel bekannte Fluss Jordan in → Palestina (Palästina) → IV 214.
Ioseph: Joseph, Sohn des → Iacob (Jakob) und der Rachel → IV 206.
Iosia: Bedeutender König von Juda (Josia) → IV 253.
Iosue → Bennun (Josua) → IV 216.
Iovis → Iupiter: Höchster römischer Gott (Jupiter); entspricht im Griechischen
dem Zeus → I 455; II 75, 106, 119; III 254, 398, 404, 431; IV 393, 514; V 59; VII 122;
VIII 277; IX 35; X 408, 413, 416.
Ira: Personifikation des Jähzorns → V 213; X 43.
Italia: Italien → X 183, 236.
Iudea: Zur Zeit Jesu der südliche Teil Palästinas (Iudaea) mit der Hauptstadt
→ Iherusalem (Jerusalem) → I 421.
Iudith: Judith rettet ihre Stadt bei einer Belagerung durch die assyrische Armee,
indem sie → Holophernes (Holofernes), den Feldherrn Nebukadnezars II.
(605–562 v. Chr.), tötet. In der Kunst wird Judith zumeist als junge und schöne
Frau mit einem Schwert und dem blutigen Haupt des Holofernes in der Hand
dargestellt. In der mittelalterlichen Typologie stellt Judith die Präfiguration
Marias als Überwinderin des Bösen dar → IV 273.
Iulius: Der römische Feldherr Gaius Julius → Cesar (Caesar) → V 497.
Iulius: Der siebte Monat Juli → II 161.
Iupiter → Iovis (Jupiter) → VIII 136, 269.
Index nominum 1027

Iusticia: Göttin der Gerechtigkeit (Iustitia), meton. auch für den Gerechtigkeits-
sinn eines Menschen → I 176; IV 419.

Karolus: Karl der Große, König des Fränkischen Reichs (768–814 n. Chr.), an
Weihnachten 800 n. Chr. vom Papst als erster westeuropäischer Herrscher seit
der Antike zum Kaiser gekrönt → V 517.
Kartago: Antike Seemacht im Norden Afrikas (Karthago) und bis zu den Puni-
schen Kriegen eine ernsthafte Konkurrenz für das expandierende Römische
Reich → V 516; VII 407; X 227, 268.

Lachesis: Neben → Clotho und → Atropos eine der drei → Parcae (Parzen). La-
chesis hatte die Aufgabe, die Lebensfäden der Menschen abzumessen. Gegen
die Entscheidung der Parzen konnten sogar die Götter keine längere Lebenszeit
für die Menschen erwirken → III 355; V 143.
Laerciades: Odysseus als Sohn des Laërtes (Laertiades) → VIII 233.
Laomedon: Offizier und Gefährte → Ale­xan­ders → V 37.
Latonia: Die Göttin → Diana als Tochter der Latona → VII 4.
Lecolaus: Beteiligter an der Verschwörung des → Phylotas → VIII 107.
Ledei fratres: Die von Leda (Gattin des spartanischen Königs Tyndareos) stam-
menden Dioskuren (Laedei fratres) → V 5.
Leo: Das Sternzeichen Löwe → II 160.
Leonnatus: Ein Offizier und Leibwächter Ale­xan­ders → IX 433, 438.
Letheus: Adj. zum Unterweltsfluss Lethe (Lethaeus) → III 356; IV 443.
Leucas: Vor der griechischen Westküste im Ionischen Meer liegende Insel und Stadt
→ V 493.
Leviathan: Synonym für den Teufel, der gegen Gott rebellierte und als gefallener
Engel in die Hölle verbannt wurde → X 75.
Liber → Bachus (Bacchus) I 336; VII 316.
Libido: Personifikation der Wollust → X 40.
Licus: Fluss in Asien (Lycus) → V 320.
Lidi: Die Einwohner Lydiens (Lydi) → VIII 422.
Lidia: Lydien, eine Gegend im Westen Kleinasiens an der Mittelmeerküste und der
Südküste des Schwarzen Meeres → II 344, 529; VII 477.
Ligures: Die Ligurer, ein Volk im westlichen Norditalien → VII 378, 413.
Lisimacus: Ein Offizier und Leibwächter → Ale­xan­ders, nach dessen Tod Herr-
scher über Thrakien und Pontus (Lysimachus) → V 373.
Livor: Personifikation des Neids → X 46.
Lucanus: Epischer Dichter im 1. Jh. n. Chr., Autor der Pharsalia (Epos über den
Bürgerkrieg zwischen → Pompeius und → Cesar (Caesar) → V 507.
1028 Index nominum

Lucifer: Der auch als Morgenstern bezeichnete Planet Venus → I 11, 429; IV 3, 453;
X 84, 363.
Ludewicus: König Ludwig VI. von Frankreich (Ludovicus) → VIII 171.
Lybanus: Der für seine Zedern bekannte Libanon (Libanus), ein Gebirge im anti-
ken Syrien → X 187.
Lybia → Lybie (Libye): Libyen in Nordafrika (Libya) → VII 404; X 306.
Lybicus: Adj. zu → Lybia (Libya), libysch (Libycus) → III C. 6, III 372, 431; V 263.
Lybie → Lybia (Libya) → IX 11.
Lycaon: Der von Iupiter (Jupiter) in einen Wolf verwandelte König von Arkadien
→ II 398.
Lydia → Lidia → V 389.
Lysias: Persischer Tetrarch → V 263, 262, 265, 266.

Macedo → Ale­xan­der → Peleus → Pelleus → Magnus → Philippis → Philippica


proles → I 1, 82, 195, 209, 226, 244, 273, 295, 328, 351, 378, 468, 488, 532; II C. 3,
II 93, 140, 159, 163, 173, 291, 342, 365, 406, 422, 436; III C. 9, III 6, 124, 127, 161,
183, 301, 335, 344, 367, 388, 428, 474, 483, 540; IV C. 6, IV 167, 176, 290, 299,
347, 439, 487, 556; V 35, 66, 183, 185, 222, 231, 241, 351, 364, 385, 411, 432, 502, 509;
VI 45, 74, 83, 98, 150, 162, 199, 357, 366, 487, 542; VII C. 8, VII 106, 120, 132, 133,
162, 169, 175, 212, 219, 245, 260, 363, 365, 432; VIII C. 3, VIII 52, 78, 126, 150, 337,
358, 369, 371, 477, 481, 501, 505; IX 1, 36, 77, 120, 159, 169, 178, 189, 220, 239, 248,
263, 317, 326, 328, 341, 346, 350, 361, 377, 382, 413, 414, 430, 485, 529; X 90, 141,
150, 181, 208, 287, 307, 349, 374.
Macedones → Die Makedonen bzw. die Griechen.
Magnus → Ale­xan­der → Macedo → Peleus → Pelleus → Philippis → Philippica
proles → II 1, 64, 153; IV C. 2, IV 131, 275, 433, 524; V 10, 15, 47, 59, 77, 193, 280,
307, 365, 443, 496; VI 28, 135, 193, 197, 293, 387; VII C. 3, VII 265, 285, 297, 348,
366, 428, 537; VIII 127, 165, 265, 494, 508; IX C. 1, C. 5, IX 154, 161, 238, 285, 299,
361, 397, 400, 489, 519; X C. 3, C. 7, X 191, 228, 239, 249, 448.
Maiestas: Personifikation der Erhabenheit → IV 416.
Mantuanus: Der aus dem oberitalienischen Mantua stammende Dichter Vergil
→ prol. 20.
Marcius: Adj. zu → Mars → IV 483; VII 220 IX 115.
Mars: Der römische Kriegsgott → I C. 6, I 118, 140, 270, 283, 450, 553; II 8, 91, 205,
282, 430, 434; III 77, 153, 206, 279, 289, 320, 348, 408; IV 436, 495, 522; V 168,
193, 205, 218, 278, 366, 371, 378; VI C. 7, VI 391, 406, ; VII C. 4, VII 125, 166, 245;
VIII 148, 282, 469; IX 132, 222, 302, 343, 436; X 415.
Martius: Adj. zu → Mars → II 450; III 362; V 55, 375; VI 297; VIII 61.
Mavortius: Adj. zu → Mars → VI 33; VIII 113; IX 200.
Index nominum 1029

Maximianus: M. Aurelius Maximianus, zusammen mit Diokletian Kaiser des


Römischen Reichs → II 318b; V 314.
Mazeus: Ein tapferer persischer Kämpfer (Mazaeus) → III 49, 51, 204, 440; IV 169,
174, 280; V C. 10, V 230, 442; VI 347.
Mecha: Persischer Kämpfer → V 95.
Medates: Persischer Präfekt im Land der → Uxii (Uxier) → VI C. 5, VI 68, 116, 119,
134, 137.
Medi: Das Volk der Meder → I 412; II 35, 127; IV 477, 533, 539; V C. 5, V 7, 405, 415,
430; VI 284, 298; VII 475; VIII 176, 423, 490.
Medus: Adj. zu → Medi → IV 477, 533.
Medus: Ein Meder → IV 539.
Megera: Eine der Furien oder Erinnyen (Megaera) → II 342.
Meleager: Ein Offizier (General der Infanterie) → Ale­xan­ders → II 428; III 185;
V 271.
Memnon → Mennon: Sohn des Tithonus und der → Aurora, mythischer König
der Äthiopier, Neffe des Priamus, von → Achilles vor Troja getötet → VIII 1.
Memphis: Stadt in Mittelägypten → III 405, 523.
Memphites: Aus → Memphis stammend → III 141; V 490.
Menidas: Offizier (General der Kavallerie) → Ale­xan­ders → IV 278.
Mennon → Memnon: Sohn des Tithonus → III 387, 406.
Mennon: Griechischer Söldner in Diensten des Darius (Memnon) → II 46, 65;
X 310.
Mennonides: Der persische Kämpfer → Fidias (Phidias), Mennons (Memnons)
Sohn, nicht verwandt mit dem griechischen Söldner Mennon (Memnon)
→ V 189.
Meonius → Homerus: Aus Mäonien stammend (Maeonius) → I 479.
Meotis: Das Asowsche Meer (Maeotis) → I 400.
Mesopotamia: Mesopotamien, das fruchtbare Land zwischen den beiden Flüssen
→ Eufrates (Euphrat) und → Tigris → I 413.
Metron: Ein griechischer Kämpfer, der dem makedonischen König die Verschwö-
rung des → Phylotas angezeigt hat → VIII 85, 111.
Mida: Persischer Kämpfer → III 59.
Midas: Sagenhaft reicher König von → Frigia (Phrygien); der Sage nach soll Midas
von → Bachus (Bacchus) als Dank für die Befreiung des Silen aus der Gewalt
von Bauern damit belohnt worden sein, dass alles, was er in die Hände nahm,
zu Gold wurde. Um seine Eselsohren zu verstecken, soll Midas die Phrygische
Mütze erfunden haben, die am Ende des 18. Jh.s dann zu einem Freiheitssymbol
der Französischen Revolution wurde, da diese Mütze im antiken Rom von frei-
gelassenen Sklaven getragen worden war → II 69, 75.
1030 Index nominum

Minerva: Römische Göttin der Weisheit, der Künste und der Wissenschaften; ent-
spricht im Griechischen der → Pallas (Athene) → VIII 230.
Moabitis → Ruth: Die Moabiterin Ruth → IV 221.
Musa: Kalliope (Muse der epischen Dichtkunst), eine der neun Töchter des → Iu-
piter (Jupiter) und der Mnemosyne → I 5.

Nabatheus: Adj. zu Nabataei (Nomaden im Nordwesten Arabiens), arabisch,


morgenländisch (Nabataeus) IV 455; X 368.
Narbazanes: Neben → Bessus einer der Anführer der Verschwörung gegen den
persischen König → Darius → V 302; VI 385, 392, 495; VII 41, 56, 207, 503;
VIII 7.
Natura: Eine der Naturphilosophie der Schule von Chartres entstammende mittel-
alterliche Gottheit → VIII 410; IX 574; X C. 2, X 6, 21, 79.
Nectanabus: Ägyptischer Pharao (Nectanabis) → I 47; III 167.
Negusar: Persischer Kämpfer → III 91, 117.
Nemeus: Adj. zu Nemea, einem Tal südwestlich von → Corinthus (Korinth), in wel-
chem auch die berühmten Nemeischen Spiele stattfanden (Nemaeus) → V 48.
Nemphrot: Nach jüdischer Überlieferung der Gründer des assyrischen und ba-
bylonischen Reichs (Nimrod), der den Bau des Turmes von Babel angeregt
haben soll und damit als Sinnbild für die Selbstüberschätzung des Menschen
gegenüber Gott diente. Die Frau des Nimrod ist in der rabbinischen Tradition
→ Semiramis → II 499.
Neoptolemus: Sohn des Achilles und der Deidameia → I 199.
Neptunus: Römischer Gott der Flüsse, Quellen und Seen, durch Gleichsetzung
mit dem griechischen Meeresgott Poseidon auch der römische Gott des Meeres
→ III 383; VI 190.
Nereides: Nymphen des Meeres, Begleiterinnen des Meeresgottes Poseidon, Be-
schützer von Schiffbrüchigen → IV 319.
Nestor: Ratgeber der Griechen vor Troja → I 221.
Nicanor: Offizier (General der Infanterie) → Ale­xan­ders, einer der drei Söhne des
→ Parmenio → II 426; III 77, 81, 84; V 126, 132, 147, 169; VIII 175.
Nicanor: Freund des → Symachus (Symmachus), nicht identisch mit → Parmenios
Sohn → IX 78, 100, 112.
Nichanor → Nicanor → Freund des → Symachus (Symmachus) → IX 93.
Nicomachus: Griechischer Kämpfer, entscheidend bei der Aufdeckung der Ver-
schwörung des → Phylotas → VIII 219, 220.
Nicomacus → Nicomachus → VIII 112.
Nilus → Nylus: Mit 6650 km der längste Fluss der Erde, mündet in Ägypten ins
Mittelmeer → VII 405; IX 507.
Index nominum 1031

Ninivita: Mesopotamische Stadt am linken Ufer des → Tigris (Ninive) → III 91.


Ninus: Persischer Kämpfer → III 91.
Niobe: Tochter des Tantalus und Gattin des → Amphion; wegen ihrer Arroganz
gegenüber Latona von → Apollo und → Diana mit dem Tod ihrer zwölf Kin-
der bestraft und in Stein verwandelt → I 302.
Normannia: Die Normandie, eine Landschaft im Norden Frankreichs → VII 412.
Nothus → Auster (Notus) → VI 381; IX 334.
Numa: Der zweite römische König (Numa Pompilius), dem eine lange Friedens-
herrschaft und die ältesten sakralen Gesetze zugeschrieben werden → V 1.
Numidia: Numidien, Landschaft westlich und südlich von → Kartago (Karthago)
→ X 173.
Nyliacus: Adj. zu → Nylus (Niliacus) → V 487.
Nylus → Nilus → X 97.
Nymphae: Weibliche Naturgottheiten der Quellen, Flüsse, Wälder oder Berge
→ II 312; V 349.

Occeanus → Oceanus → X, C. 4.


Oceanus → Occeanus: Meeresgott, aber auch das alles umfassende Weltmeer
→ I 399; VII 416; VIII 472; IX 333, 505; X C. 1, X 5, 95, 169, 170.
Ochus: Persischer Kämpfer → III 51.
Oenone: Nymphe des Berges Ida, mit der Weissagung und der Heilkunst vertraut;
Ehefrau des → Paris, der sie wegen Helena verlassen hat. Als Paris später von
Philoktetes schwer verwundet wurde, weigerte sie sich, diesen zu heilen. Als sie
ihre Entscheidung später bereut hat, beging sie Selbstmord → I 459.
Olimpus → Olympus → V 351; VI 101, 368.
Olympus: Berg an der makedonisch-thessalischen Grenze, in der Mythologie Sitz
der Götter, meton. für Himmel → VI 58; X 81, 341, 405.
Orcanides: Der persische Kämpfer Pharos, Sohn des Orchanus → V 30.
Oriens: Das Morgenland, meton. auch für Osten → IV 571; VII 373; IX C. 7, IX 18,
330; X 220.
Oxathreus: Persischer Kämpfer (Oxathres) → III 130.

Pacificus: Beiname für König Salomo, Herrscher des vereinigten Königreichs Israel,
Erbauer des ersten jüdischen Tempels in Jerusalem und der dritte König in
Israel nach Saul und seinem Vater David → IV 236.
Palestina: Bezogen auf die Zeit Jesu bestand Palästina (Palaestina) aus drei Gebie-
ten. Im Norden lag Galiläa, in der Mitte Samaria und im Süden Judaea mit der
Hauptstadt Jerusalem → I 420.
Pallantheus: Adj. zu → Pallas (Pallanteus) → VII 409.
1032 Index nominum

Pallas: Die griechische Göttin der Weisheit, der Strategie und des Kampfes, der
Kunst, des Handwerks sowie die Schutzgöttin und Namensgeberin der griechi-
schen Stadt Athen, entspricht im Lateinischen der Minerva (Athene) → I 276;
IV 70; V 237; VII 126; VIII 229.
Pamfilicus: Adj. zu Pamfilia (Pamphylia), einer Landschaft im Süden Kleinasiens.
Das mare Pamphylicum entspricht dem heutigen Golf von Antalya und wird
im übertragenen Sinn auch für das ganze östliche Mittelmeer benutzt.
Paradysus: Nach jüdischer und christlicher Vorstellung derjenige Ort, an dem die
Menschen zu Anfang ihrer Existenz gelebt haben, bis sie wegen ihres Sünden-
falls daraus verstoßen wurden (Paradisus). Nach mittelalterlichen Vorstellungen
befand sich das Paradies auf der Erde und wurde auf mittelalterlichen Radkar-
ten – auch Mappae Mundi genannt – im Osten der bewohnten Welt als ab-
gegrenzter und vom Menschen zu Lebzeiten nicht erreichbarer Ort ausgewiesen
→ I 411.
Parcae: Die drei Schicksalsgöttinnen (Parzen): → Clotho, die auf ihrem Spinnrad
den Lebensfaden herstellt, → Lachesis, die den Lebensfaden zuteilt und → At-
ropos, die den Lebensfaden abschneidet. Gegen die Entscheidung der Parzen
können sogar die Götter keine längere Lebenszeit für die Menschen erwirken
→ V 113; VI 429; VIII 79.
Paris: Priamus’ Sohn, der seine Ehefrau → Oenone wegen Helena verlassen hat, die
ihm von → Venus als Belohnung für seine Wahl der Liebesgöttin zur Schöns-
ten versprochen worden war; im trojanischen Krieg durch einen Giftpfeil des
Philoktetes getötet → I 460, 474.
Parmenides: Neben → Phylotas (Philotas) und → Hector (Hektor) einer der
Söhne des → Parmenio → V 163; VIII 120, 309.
Parmenio → Parmenius: Wichtigster Offizier (Hauptgeneral) → Ale­xan­ders, der
schon unter dessen Vater → Philipp eine Führungsposition innerhalb der make-
donischen Führungselite innehatte → II 143, 260, 268, 427, 431; III 56, 64 258;
IV 113, 331, 350, 376, 469; V 131, 206, 234, 358; VI 145; VIII 82, 104, 173, 328.
Parmenius → Parmenio → IV 132.
Parthi: Die Parther waren eine Völkerschaft in Vorder- und Zentralasien, die wegen
ihrer berittenen Bogenschützen berühmt waren → V 76, 164; VII 477.
Parthia → Partia, antike Landschaft im Norden des heutigen Iran und im Süden
des heutigen Turkmenistan → V 514.
Parthus: Sg. zu Parthi → III 33.
Partia → Parthia → I 413.
Patron: Anführer eines griechischen Kontingents im persischen Heer → VI C. 11,
VI 490, 506, 508, 510, 525.
Paulus: Der Apostel Paulus → I 208.
Index nominum 1033

Pausanias: Mörder → Philipps II. von Makedonien (336 v. Chr.) → I 503.


Pax: Personifikation des Friedens → IV 426.
Pecunia: Personifikation des Geldes und des Reichtums → IV 423; VII 33, 319;
VIII 73.
Pelasgi: Andere Bezeichnung für die Griechen → I 30; II 476; III 98, 215; IV 6, 456,
498; V 229; VI 528.
Peleus → Pelleus → Macedo → Ale­xan­der → Magnus → Philippis → Philippica
proles → I 388.
Pelleus → Peleus → Macedo → Ale­xan­der → Magnus → Philippis → Philippica
proles → I 324; III 18, 344; IV 285; V 323; VI 155, 487, 532; VII 169; IX 35, 268,
454, 501; X 168, 260.
Pelorus: Einer der → Gygantes (Giganten) → X 412.
Peni: Das Volk der Punier bzw. Karthager (Poeni) → X 173.
Perdicas: Offizier (Hauptgeneral) → Ale­xan­ders und nach dessen Tod einer der
Diadochen (Perdiccas) → II 428; III 196; V 272; X 422, 424.
Pergama → Troia (Troja) → Ilion → Pergama → I C. 10, I 464.
Persae: Das Volk der Perser → I 4, 35, 200, 368; II C. 1, C. 7, II 2, 40, 104, 131, 144,
217, 287, 325, 363, 397, 425, 476, 487, 522; III C. 2, III 4, 63, 73, 133, 245, 265, 524,
525; IV 173, 279, 286, 291, 292, 374; V C. 2, V 7, 22, 35, 148, 180, 232, 246, 294,
325, 330, 361, 369, 377, 454; VI 192, 202, 284, 322, 326, 401, 455; VII 67, 70, 235,
474, 498, 501, 532.
Persepolis: Die Hauptstadt von → Persis, Sommerresidenz der Perserkönige, von
→ Ale­xan­der in Brand gesteckt → VI C. 6, VI 163.
Persicus: Adj. zu → Persae → IV 61.
Persis: Landschaft am Persischen Golf um Persepolis, Kernland des Perserreichs
→ I 412; III 527; VI 149, 167, 326; VII 99, 360, 440, 475; VIII 423, 490.
Pestis adulandi: Personifikation der Schmeichelei → X 51.
Peucestes: Ein Offizier und Leibwächter → Ale­xan­ders → IX 427, 437.
Pharao → Eliphaz → V 29.
Pharos → Orcanides → V 30.
Phasis: Fluss in Kolchis (der heutige Rioni in Georgien) → VIII 12.
Phebe → Diana (Phoebe) → II 55; III 470.
Phebeus: Adj. zu Phebus (Phoebus) → III 274, 403; V 352.
Phebus (Phoebus) → Apollo → Delios → Delius → I 243; III 398, 400, 470;
IV 384; V 4, 376; VII 1, 133; VIII 384, 400, 499; IX 9, 180, 506; X 329, 374, 456.
Phenice: Phönizien (Phoenice) → VII 475.
Phenices: Die Einwohner von Phönizien (Phoenices) → III 277.
Philippica proles → Ale­xan­der → Magnus → Peleus → Pelleus → Macedo
→ Philippis → V 10.
1034 Index nominum

Philippis → Ale­xan­der → Philippica proles → Magnus → Peleus → Pelleus


→ Macedo → I 72.
Philippus: Ale­xan­ders Arzt → II C. 4, II 220, 250.
Philippus: Ale­xan­ders Vater Philipp II. von Makedonien → VI 45; X 242.
Phylax: Persischer Kämpfer → III 59.
Phylosophia: Die Philosophie (philosophia) → I 20.
Phylotas: Offizier (General der Kavallerie), neben → Nicanor und → Hector
(Hektor) einer der Söhne des → Parmenio (Philotas) → II 432; III 50, 53, 99,
107; V 35; VIII C. 5, VIII 81, 87, 105, 123, 125, 134, 159, 182, 185, 228, 264, 275, 312,
326, 335.
Plaustrum: Das Sternbild des Großen Wagens → I 11; IV 452; X 337.
Polidamas: Ein Offizier und Gefährte → Ale­xan­ders (Polydamas) → IX 209, 211.
Polipercon: Ein Offizier (General der Infanterie) → Ale­xan­ders (Polypercon)
→ IV 348; V 273.
Polistratus: Griechischer Kämpfer, der zufällig auf den sterbenden persischen
König Darius traf und von diesem eine letzte Botschaft an → Ale­xan­der erhielt
(Polystratus) → VII C. 6, VII 246.
Pompeius: Römischer Feldherr und unterlegener Gegner im Bürgerkrieg gegen
→ Cesar (Caesar) → VII 345.
Porus: Der mächtigste König Indiens und einer der gefährlichsten Gegner → Ale­
xan­ders → I 2; IX C. 3, C. 6, IX 41, 48, 51, 55, 148, 152, 157, 177, 182, 200, 207, 216,
226, 230, 255, 269, 273, 275, 291, 294, 298, 327, 508; X 92, 292, 310.
Prodicio → Proditio: Eine Furie der Unterwelt (Proditio) → X 163.
Proditio → Prodicio → X 144.
Pyerides: Die Musen (Pierides) → X 458.
Pyreneus: Das zwischen Spanien und Frankreich liegende Gebirge der Pyrenäen
(Pyrenaeus) → X 179.

Quies: Personifikation der Ruhe →

Remensis: Adj. zu der in der Champagne im Nordosten Frankreichs, etwa 130 Kilo-
meter von Paris entfernt liegenden Stadt Reims → I 17.
Remi: Die Einwohner der Stadt Reims → V 520.
Remnon: Ein persischer Kämpfer arabischer Herkunft (Rhemnon) → V 133, 148,
163.
Renus: Der Rhein (Rhenus) → X 180, 234.
Reverentia: Personifikation der Ehrfurcht → IV 417.
Risus: Personifikation des höhnischen Gelächters → IV 430.
Rodanus: Die Rhone (Rhodanus) → II 318b; V 314.
Index nominum 1035

Roma: Die Hauptstadt Italiens und Sitz des Papstes → I 14; V 491, 508; VII 409;
X 183, 323, 327, 443.
Romani: Die Römer → VII 378.
Romuleus: Adj. zu Romulus, dem mythischen Gründer und ersten Königs von
Rom → I 8; V 181; VI 56; X 443.
Rubricus: Persischer Kämpfer → IX 210.
Rubrum mare: Das Rote Meer → V 39; IX 19, 32–33.
Ruth → Moabitis: Die Urgroßmutter König Davids → IV 221.

Sabeus: Adj. zu Saba, einer Gegend der Arabia felix (Südarabien), arabisch → I 115,
VII 410.
Samaria: Antike Hauptstadt des Königreichs Israel → IV 243.
Samson: Eine Gestalt aus dem Alten Testament und Held des israelitischen Stam-
mes Dan im Kampf gegen die Philister. Samson war so lange unbesiegbar, wie
sein Haupthaar ungeschoren blieb. Nachdem er jedoch das Geheimnis seiner
Stärke seiner Frau Delila anvertraut hatte, wurde er durch ihren Verrat gefangen
genommen, geblendet und geschoren → IV 219.
Samuel: Biblischer Prophet → IV 224.
Sanga: Persischer Kämpfer → V 81, 90.
Sangarius: Fluss in Kleinasien (Sagaris) → II 73.
Sardis: Hauptstadt von Lydien → II 70.
Sarmacia: Gebiet zwischen der Ostsee und dem Schwarzem Meer und von der
Wolga bis zum Kaspischen Meer (Sarmatia) → VIII 363.
Satrapenus: Adj. zu Satrapes, persischer Statthalter, Satrap → VI 34.
Saturnius → Iupiter (Jupiter) als Sohn des Saturn → V 61.
Satyri: Satyrn sind mythologische Mischwesen im Gefolge des Bachus (Bacchus)
→ II 312.
Scilla: Felsen in der sizilianischen Meerenge (Scylla) gegenüber dem Meeresstrudel
→ Caribdis (Charybdis); Schrecken der vorbeifahrenden Seefahrer → III 380;
V 301.
Scitae: Das Reitervolk der Skythen (Scythae) → IV 337; VIII C. 8, VIII 50, 407, 416,
417, 441, 445, 478, 495, 500, 504.
Scitia: Das Land der Skythen (Scythia) → VIII 359, 361, 409, 436, 481.
Sciticus: Adj. zu Scitae (Scythae), skythisch → V 264; VIII 370.
Secanius: Adj. zu Secana (Sequana): Die durch Frankreich fließende Seine
→ V 440.
Semei: Ein Benjaminiter aus dem Hause Sauls, der David verflucht hatte und von
Salomo hingerichtet wurde, da er sich nicht an die Abmachung gehalten hatte,
Jerusalem nicht zu verlassen → IV 237.
1036 Index nominum

Semele: In der Mythologie die Tochter der Göttin der Eintracht und des Königs
Kadmus, des Gründers von Theben, Mutter des Weingottes → Bachus (Bac-
chus) → I 304.
Semiramis: Sagenhafte assyrische Königin, Gründerin von → Babilon (Babylon),
deren hängende Gärten als antikes Weltwunder galten → X 244.
Semiramius: Adj. zu → Semiramis → V 439; VI 33; X 252.
Sennachar: Beiname des → Nemphrot (Nimrod) → II 500.
Senonensis: Adj. zu → Senones → I 14.
Senones: Völkerschaft an der oberen Seine um die Stadt Sens herum → I 13.
Septem Triones: Das Siebengestirn, das Sternbild des Großen Bären → VIII 471.
Seres: Die durch die Herstellung von Seide bekannten Chinesen → VIII 59.
Servius: Spätantiker römischer Grammatiker und Vergil-Kommentator → prol. 35.
Sicambrus/Sicambri: Ein germanisches Volk (Sigambri), das ursprünglich zwischen
den Flüssen Ruhr und Sieg gelebt hatte und von Kaiser Tiberius teilweise ins
linksrheinische Gebiet umgesiedelt wurde → X 235.
Siculus: Adj. zu Sicilia, die Insel Sizilien → X 164, 274.
Silo: Eine in der hebräischen Bibel erwähnte Siedlung im Westjordanland, die in
Israels vorstaatlicher Zeit ein Jahwe-Heiligtum besaß, in dem die Bundeslade
aufbewahrt wurde → IV 225.
Siria → Syria → I 418.
Sompnus: Römischer Gott des Schlafes (Somnus), im Griechischen dem Hypnos
entsprechend → IV 438.
Stigius: Adj. (Stygius) zu → Stix (Styx) → VIII 352; IX 45; X 31.
Stix: Fluss in der Unterwelt, meton. für die Unterwelt insgesamt (Styx) → III 179;
X 15, 26, 121.
Sudracae: Das Volk der Malli zwischen den beiden Flüssen Hydraotes (Ravi) und
dem → Achesis (Akesines) → IX 342, 399.
Superbia: Die Personifikation des Hochmuts → X 38.
Susa: Die Hauptstadt der persischen Provinz Susiana, in der sich gemäß der bibli-
schen Überlieferung der Prophet Daniel während des babylonischen Exils aufge-
halten haben soll. Ebenso wurde die persische Stadt durch die von → Ale­xan­der
dort im Frühjahr 324 veranstaltete Massenhochzeit bekannt, bei der er selbst und
ein großer Teil seiner Führungsriege Ehen mit vornehmen Perserinnen schlossen,
um den Frieden zwischen Persern und Griechen abzusichern → VI 64.
Sydon: Die älteste Stadt Phöniziens (Sidon) → III C. 4, III 276.
Symachus: Griechischer Kämpfer (Symmachus), Freund des → Nicanor → IX 79,
94, 111.
Symon: In der Apostelgeschichte wird berichtet, dass ein Simon Magus den Aposteln
Petrus und Johannes Geld für die Fähigkeit geboten hat, den Heiligen Geist auf
Index nominum 1037

andere Menschen herabzurufen. Die unter dem Begriff der Simonie bekannte
Käuflichkeit kirchlicher Ämter geht auf diesen Simon Magus zurück → VII 318.
Syria → Siria: Ein Gebiet, das im Süden von Arabien, im Osten von Mesopotami-
en, im Nordosten von Armenien und im Nordwesten von Kleinasien begrenzt
wurde → III 12; V 434; VII 476; VIII 423; X 185.
Syrius: Der im Sommer am Himmel erscheinende Hundsstern (Sirius) → X 72.
Syrtis: Das Gebiet um die im Osten der heutigen libyschen Hauptstadt Tripolis
liegende Große Syrte (Syrtis maior) und die östlich davon liegende Kleine Syrte
(Syrtis minor) → III 379; V 263; VII 404.
Syrus: Aus Syrien stammend → V 31.
Sysenes: Persischer Söldner in Diensten → Ale­xan­ders (Sisines) → II C. 6, II 269.
Sysigambis: Die Mutter des Perserkönigs Darius (Sisigambis) → VI C. 4, VI 132.

Talestris: Königin (Thalestris) der → Amazones (Amazonen) → VIII 9, 25, 44.


Tamiris: Königin der zwischen Kaspischem Meer und Aralsee lebenden Massage-
ten, die den persischen König → Cyrus in einer Schlacht im Jahre 530 v. Chr.
geschlagen und getötet haben soll (Tamyris/Tomyris) → II 530.
Tanais: Der durch Sarmatien und Syrien fließende Don → I 400.
Tanais: Der in den Aralsee mündenden und in der Antike als Silis Tanais, Jaxartes
oder auch Syr-Darja bezeichnete Fluss → VIII 360, 368, 435.
Tarpeia arx: Der tarpeische Felsen, das Kapitol → I 15; V 497.
Tartara: Der Tartarus, die Unterwelt → VIII 354.
Tartareus: Adj. zu → Tartara → X 30, 132.
Tauron: Griechischer Kämpfer → VI 74, 103.
Taxiles: Indischer König und Gefolgsmann → Ale­xan­ders → IX 270, 278, 509;
X 310.
Teutonicus: Adj. zu dem Germanenstamm der Teutonen → VII 414; X 235, 270.
Termopilae: Der in der Antike strategisch überaus bedeutsame Engpass der Termo-
pylen (Thermopylae) zwischen Kallidromo-Gebirge und dem Golf von Malia,
der insbesondere durch den heldenhaften Abwehrkampf der 300 von Leonidas
angeführten Spartaner und ihrer verbliebenen Bundesgenossen gegen die
Übermacht der Perser und ihren König → Xerxes (480 v. Chr.) in Erinnerung
geblieben ist → V 391.
Tharsus: Die am Cignus (Cydnus) gelegene Hauptstadt (Tarsus) von Kilikien
→ II 144.
Thebae: Böotiens Hauptstadt Theben → I 285, 325.
Thebeus: Adj. (Thebaeus) zu → Thebae → II 318d; V 316.
Theodosius: Kaiser im Osten des Römischen Reichs (379–394 n. Chr.). Nach
einem Bürgerkrieg verwirklichte Theodosius für kurze Zeit ein letztes Mal die
1038 Index nominum

Einheit des römischen Imperiums. Theodosius erhob das Christentum zur


Staatsreligion → VI 59.
Thesiphone: Neben Allecto und Megera (Megaera) eine der drei Furien (Tisipho-
ne) → II 177.
Theteus: Verstümmelter griechischer Kriegsgefangener in Persepolis → VI 264,
290.
Thetis: Eine Nereide, Tochter des Meeresgottes Nereus, Gemahlin des Peleus,
Mutter des → Achilles; meton. auch für das Meer → III 395, 509; VII 9.
Tholomeus: Ein Offizier (Hauptgeneral) → Ale­xan­ders und nach dessen Tod einer
der Diadochen (Ptolemaeus) → II 427; III 28, 33; V 269; IX 543; X 451.
Thyros: Bedeutende Handelsstadt auf einer Insel vor der phönizischen Küste,
Mutterstadt Karthagos, berühmt durch die wohl auch dort erfundene Purpur-
färberei (Tyrus) → I 540.
Tibris: Der durch Rom fließende Tiber (Tiberis) → IV 401.
Tigris: Mächtiger Strom in Vorderasien → III 450, 451, 452.
Timeus: Griechischer Kämpfer (Timaeus) → IX 432, 436.
Tiphis: Name des Steuermanns des unter der Führung Jasons segelnden Argo-
nautenschiffs (Argo); stellvertretend für jeden Steuermann eines Segelschiffs
→ IV 316.
Tiriotes: Ein Eunuch im Gefolge des → Darius (Tyriotes) → IV 25.
Tobias: Der alte Tobias bewahrte in der assyrischen Gefangenschaft zu Ninive
seinem Gott die Treue und zeichnete sich auch in Prüfungen durch sein großes
Gottvertrauen aus → IV 272.
Tracae: Das Volk der Thraker (Thracae) → IX 240, 562.
Trinacria: Alter Name für die Insel Sizilien → X 241.
Troia → Ilion → Pergama (Troja) → I 467.
Tymodes: Anführer der griechischen Söldner im Heer des → Darius → II C. 8,
II 273.
Typheus → Typhoeus: Einer der Giganten, hundertköpfiger Sohn des Tartarus und
der Gaia, der → Iupiter (Jupiter) vom Himmelsthron stoßen wollte und erfolg-
los nach der Herrschaft im Himmel strebte (Typhoeus) → VII 124.
Typhoeus → Typheus → X 412.
Tyrinthius: Mit dem Tyrinthier ist → Hercules (Herkules) gemeint, der in der
Stadt Tiryns von seiner dort geborenen Mutter Alkmene erzogen worden sein
soll (Tirynthius) → III 435.
Tyrius: Adj. zu → Tyrus → III 278.
Tyrus → Thyros → III C. 4, III 331, 342.
Tytan: Der Sonnengott Helius als Sohn des Titanen Hyperion (Titan) → II 307;
III 393; IV 455; VI 469; X 368.
Index nominum 1039

Tytites: Diomedes ist in der griechischen Mythologie der Sohn des Tydeus und der
Deipyle (Tytides), war König von → Argos und gehörte im Trojanischen Krieg
zu den wichtigsten Kämpfern der Griechen; gemeinsam mit Odysseus drang
Diomedes heimlich in Troja ein und entwendete das Palladium, das die Stadt
vor der Eroberung bewahren sollte → VIII 231.

Ulixeus: Adj. zu Ulixes (Odysseus) → zu Ulixes gehörig, schlau → IV 543.


Urias: Ein hethitischer Söldner im Heer König Davids (Urija). Nachdem David
dessen Frau Batseba geschwängert hatte, ließ er diesen durch brieflichen Befehl
an die gefährlichste Stelle im Kampf gegen die Stadt Rabba stellen, wo ihn wie
beabsichtigt der Tod ereilte → IV 231.
Uxii: Das Bergvolk der Uxier im heutigen Iran → VI C. 4.
Uxius: Adj. zu → Uxii → VI 66, 67.

Vasti: Vasti war nach dem Alten Testament eine Frau des Perserkönigs → Xerxes,
die sich geweigert hatte, bei einem Festmahl des Königs zu erscheinen und dort
vor zumeist angetrunkenen Männern zu tanzen (Waschti). Diesen Akt der Re-
bellion gegen König und Ehemann büßte Vasti mit ihrer Verstoßung → IV 271.
Venus: Göttin der Liebe (griech. Aphrodite), Tochter des → Iupiter (Jupiter) und
der Dione, Gemahlin des → Vulcanus, Mutter des Amor und des trojanischen
Helden Aeneas, Stammmutter des julischen Hauses → I 167, 169; VI 22, 251.
Victoria: Die Göttin des Sieges (griech. Nike) → IV 405.
Vulcanus: Gott des Feuers, der Schmiedekunst und des Handwerks (griech. He-
phaistos), Sohn des → Iupiter (Jupiter) und der Juno, Gemahl der → Venus
→ I 348; III 486.

Xerses → Xerxes: Persischer Großkönig und ägyptischer Pharao (486–465 v. Chr.)


→ II 481; III 423.
Xerxes → Xerses → II 54; V 391.

Ydalius: Adj. zu Ydalium (Idalium): Das Ida-Gebirge im Nordwesten der heutigen


Türkei in der antiken Landschaft Troas in Kleinasien; nicht zu verwechseln mit
dem bekannteren Ida-Gebirge auf Kreta → I 454.
Ydaspes: Nebenfluss des Indus (Hydaspes), an dem → Alexander mit dem Inderkö-
nig → Porus die entscheidende Schlacht schlug und Alexanders Pferd → Buci-
fal (Bucephalus) den Tod fand → IX 53, 65.
Ysai: Isai ist eine aus Bethlehem stammende biblische Person aus dem Alten Testa-
ment, Vater von König David (Jesse) → IV 227.
Ysannes: Persischer Kämpfer (Hysannes) → III 64, 68.
1040 Index nominum

Ysos → Yssos: Eine am Meer gelegene Stadt in Kilikien (Kleinasien), in deren Nähe
die zweite große Schlacht (333. v. Chr.) zwischen Griechen und Persern stattge-
funden hat (Issus) → II 259.
Yssos → Ysos (Issus) → II 388.
Ytacus: Einwohner der Insel Ithaka, im Besonderen Odysseus (Ithacus) → VIII 229.
Yulcon: Persischer Kämpfer, des Enaches Sohn (Hiulcon) → IX 198.

Zephirus: Der Westwind (Zephyrus), der neben dem → Aquilo (Nordwind), dem
→ Eurus (Ostwind), dem → Nothus (Südwind) einen der vier Hauptwinde
darstellt → II 317; IV 317, VIII 484; X 2.
Zoroas: Persischer Gelehrter und Kämpfer → III 141, 183, 186.
Zorobabel: Enkel des 597 v. Chr. in babylonische Gefangenschaft geratenen Königs
→ Ioachim (Jojachin) von Juda (Serubbabel), Statthalter der Provinz Jehud zur
Zeit des Perserkönigs Darius I. (6. Jh. v. Chr.) → IV 269.

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