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Schriften zum Strafrecht

Heft 234

Gesetzlichkeit und Strafrecht

Herausgegeben von

Hans Kudlich, Juan Pablo Montiel


und Jan C. Schuhr

Duncker & Humblot · Berlin


HANS KUDLICH, JUAN PABLO MONTIEL
und JAN C. SCHUHR (Hrsg.)

Gesetzlichkeit und Strafrecht


Schriften zum Strafrecht
Heft 234
Gesetzlichkeit und Strafrecht

Herausgegeben von

Hans Kudlich, Juan Pablo Montiel


und Jan C. Schuhr

Duncker & Humblot · Berlin


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ISSN 0558-9126
ISBN 978-3-428-13718-3 (Print)
ISBN 978-3-428-53718-1 (E-Book)
ISBN 978-3-428-83718-2 (Print & E-Book)
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entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort
Der vorliegende Sammelband enthält Beiträge von neunzehn – überwiegend
deutsch- und spanischsprachigen, aber auch einem englischsprachigen – Autoren,
die sich aus den verschiedensten Blickwinkeln dem Gesetzlichkeitsprinzip im Straf-
recht widmen. Anstoß für diesen Band war ein vor Kurzem in spanischer Sprache
erschienener, von Juan Pablo Montiel herausgegebener Sammelband zum gleichen
Thema mit dem Titel „La crisis del principio de legalidad en el nuevo Derecho penal:
¿decadencia o evolución?“. Schon wegen der regen Beteiligung deutscher Autoren
an diesem Band lag die Idee nicht fern, die Autoren auch für einen Band in deutscher
Sprache zu gewinnen. Hinzukommt, dass das große Interesse der spanischsprachigen
Strafrechtswissenschaft am deutschen Strafrecht gerade in Grundsatzfragen heute
eine Erwiderung verdient, die das vorliegende Buch fördern soll. Es ist dennoch
mehr als eine bloße Übersetzung, weil es nicht nur zu einer Erweiterung im deutsch-
sprachigen Autorenkreis gekommen ist, sondern weil die Beiträge teilweise auch in
überarbeiteter, aktualisierter und erweiterter Form vorliegen.
Das Buch ist ein Produkt internationaler Kooperation zu strafrechtlichen Grund-
lagenfragen, in dem in drei Beiträgen auch die völkerstrafrechtliche Dimension auf-
gegriffen wird. Es lässt sich insoweit zugleich als erster deutschsprachiger „Output“
der von Juan Pablo Montiel angestoßenen internationalen Forschergruppe CRIMINT
verstehen, die sich insbesondere Themen aus den Bereichen „Philosophie des Straf-
rechts, Wirtschaftsstrafrecht und Internationales Strafrecht“ widmen will und aus der
u. a. die deutschen Mitglieder Hans Kudlich, Lothar Kuhlen und Helmut Satzger an
diesem Band beteiligt sind.
Die Realisierung dieses Projekts wäre nicht ohne die Unterstützung der Dr. Alfred
Vinzl-Stiftung und der Dr. German Schweiger-Stiftung möglich gewesen, welche
sich jeweils mit namhaften Zuschüssen an den Kosten für die Übersetzungen der spa-
nischen Texte und für den Druck beteiligt haben. Ihnen danken die Herausgeber
ebenso wie Herrn Christian Härteis für die Durchführung der Formatierungsarbeiten
sowie dem Verlag Duncker & Humblot für die problemlose Zusammenarbeit bei der
Herstellung des Buches.
Erlangen, im Juli 2012 Hans Kudlich
Juan Pablo Montiel
Jan C. Schuhr
Inhaltsverzeichnis

Hans Kudlich, Juan Pablo Montiel und Jan C. Schuhr


Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

I. Grundlagen und Grundprobleme des Gesetzlichkeitsprinzips


im Strafrecht

Eric Hilgendorf
Gesetzlichkeit als Instrument der Freiheitssicherung – Zur Grundlegung des
Gesetzlichkeitsprinzips in der französischen Aufklärungsphilosophie und bei
Beccaria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

Ralph Christensen
Das Paradox der Rechtsentscheidung – Systemtheorie und Dekonstruktion . . . . 35

II. Allgemeine Anforderungen


an die Umsetzung des Gesetzlichkeitsprinzips
in der Rechtsanwendung

Jesús-María Silva Sánchez


Gesetzesauslegung und strafrechtliche Interpretationskultur . . . . . . . . . . . . . . . . 55

Pablo Sánchez-Ostiz
Die Bedeutung von Legaldefinitionen für die Anwendung des Strafrechts . . . . . 69

Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno


Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip – Ein Befehl an den Gesetzgeber ohne
Bedeutung für die Gesetzesanwender? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

Matthias Klatt
Die Wortlautgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
8 Inhaltsverzeichnis

III. Das Gesetzlichkeitsprinzip in einzelnen Bereichen


des materiellen Strafrechts

José Juan Moreso


Gesetzlichkeitsprinzip und Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

Ingeborg Puppe
Rechtfertigung und Bestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Franz Streng
Das Gesetzlichkeitsprinzip im Bereich der Schuldfähigkeitsentscheidung . . . . . 179

Raquel Montaner Fernández


Die normative Selbstregulierung im Umweltstrafrecht – Probleme aus Sicht des
Gesetzlichkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

IV. Blick über die Grenzen


(des Nationalstaats und des materiellen Strafrechts)

Matthias Jahn
Rechtstheoretische Grundlagen des Gesetzesvorbehaltes im Strafprozessrecht . 223

Hans Kudlich
Das Gesetzlichkeitsprinzip im deutschen Strafprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 233

Jan C. Schuhr
Der „Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“ im Recht der Europäischen
Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

Kenneth S. Gallant
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts – Das Verbot der Rück-
wirkung von Straftaten und Bestrafungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

Juan Pablo Montiel


Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen – Analyse
und Prognose des Gewohnheitsrechts als Quelle des Völkerstrafrechts . . . . . . . 321

Helmut Satzger
Das Völkerstrafgesetzbuch zwischen Gesetzlichkeits- und Komplementaritäts-
prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
Inhaltsverzeichnis 9

V. Krise des Gesetzlichkeitsprinzips und Ansätze einer Neuausrichtung

Enrique Bacigalupo
Über die Gerechtigkeit und Rechtssicherheit im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 379

Eugenio C. Sarrabayrouse
Gesetzlichkeitskrise, Gesetzgebungstheorie und das in dubio pro reo-Prinzip . . 403

Lothar Kuhlen
Aktuelle Probleme des Bestimmtheitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445
Einleitung
Hans Kudlich, Juan Pablo Montiel
und Jan C. Schuhr

I. Das Gesetzlichkeitsprinzip prägt das staatliche Handeln im modernen Verfas-


sungsstaat in allen Bereichen. Für das Strafrecht wird es – zusammen mit den mate-
riellen Garantien des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des Schuldprinzips – in
seiner nicht nur in Deutschland bekannten Ausprägung „nullum crimen, nulla poena
sine lege scripta, stricta, praevia et certa“ geradezu als Grundvoraussetzung rechts-
staatlichen Strafens verstanden.
So unstreitig das im Ausgangspunkt ist, so diffizil sind die daraus erwachsenden
Konsequenzen im Detail. Die Schwierigkeiten beginnen ganz basal dort, wo ein naiv
idealisierendes Verständnis von bestmöglicher „Bestimmtheit“ oder von rein syllo-
gistischen, jedes Verstoßes gegen das Gebot der lex stricta unverdächtigen Subsum-
tionsvorgängen mit unvermeidbaren Unschärfen der natürlichen Sprache (wie sie in
der Sprachwissenschaft schon seit Langem bekannt sind und untersucht werden) kol-
lidiert. Sie gehen weiter, wo Regelungen auch noch jenseits der unvermeidbaren
sprachlichen Unschärfen – z. B. aus rechtspolitischen Gründen vielleicht sogar be-
wusst – eine gewisse „sprachliche Flexibilität“ erhalten (oder sogar: erhalten müs-
sen?), um in hochkomplexen Materien (man denke etwa an die Strafnormen des Ka-
pitalmarktstrafrechts) bzw. für sich schnell wandelnde „Märkte“ (man denke etwa an
das Betäubungsmittelstrafrecht) ein hinreichend effektives Reaktionspotential für
den Rechtsanwender bereitzuhalten, ohne dass der Gesetzgeber im Monatstakt
„nachregeln“ muss. Und die Probleme sprießen wie junge Triebe zusammen mit
neuen tatsächlichen und (auch außerstraf-)rechtlichen Rahmenbedingungen sowie
in Konstellationen, deren Regelung jedenfalls für den nationalstaatlichen Strafge-
setzgeber sich verbietet und für die es lange an supranationalen Gesetzgebungsorga-
nen gefehlt hat – eine Situation, wie sie sich auch über 60 Jahre nach Abschluss der
Nürnberger Prozesse im Völkerstrafrecht darstellt oder jedenfalls bis in die aller-
jüngste Vergangenheit dargestellt hat.
II. All die genannten – und noch diverse weitere – Fragen im Zusammenhang mit
dem Gesetzlichkeitsprinzip stellen sich in verschiedenen Strafrechtsordnungen, wel-
che zumindest im Kern den Grundsatz „nulla poena sine lege“ berücksichtigen wol-
len, in ganz ähnlicher Weise. Das grundsätzliche Problem des nur beschränkten, un-
klaren und der Regelungsintention des Gesetzgebers bisweilen auch widerstreiten-
den normativen Gehalts von natürlicher Sprache ist von der Landessprache unabhän-
gig, in der (Straf-)Gesetze verfasst sind. Ebenso selbstverständlich und geradezu
12 Hans Kudlich, Juan Pablo Montiel und Jan C. Schuhr

„wesensnotwendig“ rechtssystemübergreifend sind die Fragen, die aus der Perspek-


tive eines nulla-poena-Postulats an das Völkerstrafrecht gestellt werden. Und auch
das in Deutschland mitunter beklagte Phänomen einer Aufweichung der formalen
strafrechtlichen Garantien, um das Strafrecht als schneidiges und effektives Instru-
ment eines „staatlichen Krisenmanagements“ einsetzen zu können, macht nicht an
den Grenzen Halt.
Indes: Trotz insoweit identischer Ausgangslagen ist eine Beschäftigung mit den
daraus entstehenden Problemen aus der Tradition verschiedener Rechtssysteme her-
aus keine bloße „Doppelung“. Denn der Umgang mit den unvermeidlichen Spannun-
gen zwischen möglichst strikter Einhaltung des Gesetzlichkeitsgrundsatzes und dem
Bedürfnis nach Effizienz und damit auch im Einzelfall erforderlicher Flexibilisie-
rung von Strafverfolgung und Strafrechtsanwendung, der Umgang mit dem aus
sprachtheoretischer Sicht geradezu unvermeidbaren „Paradox der Gesetzesbindung“
– all das sind im Einzelfall und im Detail auch rechtspolitische Wertentscheidungen,
die bestimmten Traditionen und speziellen Sensibilitäten innerhalb eines Rechtssys-
tems folgen.
Vor diesem Hintergrund ist es von nicht zu unterschätzendem Wert, dass sich an
diesem Band Autoren aus verschiedenen lateinamerikanischen und europäischen
Ländern beteiligen, deren rechtsstaatliche Strafrechtsstrukturen oft ganz bewusst
in Reaktion auf Diktaturen ausgebildet wurden, die dabei aber auf unterschiedlich
lange und unterschiedlich kontinuierliche Traditionen zurückblicken können, und
dass ihre Stellungnahmen neben derjenigen eines angloamerikanischen Autors
steht, in dessen Rechtskreis „Gesetzlichkeit“ unter den Prämissen des common
law ein anderer Stellenwert zukommen muss und in dem sie vor ganz anderen his-
torischen Erfahrungen steht. Dabei darf man in beide Richtungen weder der Versu-
chung erliegen, für die eigene Rechtsordnung von vornherein eine überlegene Stel-
lung anzunehmen, noch umgekehrt leichtfertig die Errungenschaften einer ausgefeil-
ten Dogmatik auch in diesem Bereich geringschätzen oder gefährden: So wird eine
rechtsstaatliche Strafrechtstradition mit kürzerer Tradition z. B. oft noch stärker für
drohende Erosionen sensibilisiert sein; und umgekehrt mag der common law-Blick-
winkel zeigen, dass ein rechtsstaatliches Strafrecht auch möglich ist, wo „bloß auf die
Form von Rechtstexten“ bezogene Garantien etwas weniger hoch gehängt werden.
Insoweit kann man aus diesen Perspektiven für jede Rechtsordnung eigentlich nur
lernen – manchmal aber vielleicht gerade auch die eigenen Errungenschaften in be-
sonderer Weise schätzen lernen.
III. Die Beiträge, die einen thematisch weit gesteckten Rahmen füllen, sind im
Folgenden thematisch so angeordnet, dass der Bogen sich von allgemeinen Proble-
men des Gesetzlichkeitsgrundsatzes und seinen historischen Wurzeln über grund-
sätzliche Fragen der Rechtsanwendung im Strafrecht unter der Herrschaft des Ge-
setzlichkeitsgrundsatzes und seine Bedeutung in speziellen Bereichen bzw. für spe-
zielle Fragestellungen bis hin zur Krise des Gesetzlichkeitsprinzips und Ansätzen für
eine Neuausrichtung spannt.
Einleitung 13

Im ersten Teil zu Grundlagen und Grundproblemen des Gesetzlichkeitsprinzips


zeichnet Hilgendorf die historischen Wurzeln dieses Prinzips bei Beccaria und in
der französischen Philosophie der Aufklärung nach, bevor Christensen sich dem Pa-
radox von Gesetzesbindung und Gesetzesanwendung widmet, das sich seiner Auf-
fassung nach daraus ergibt, dass die Bindung an etwas postuliert wird, das eigentlich
erst durch die richterliche Rechtsanwendung entsteht.
Im zweiten Teil über das Gesetzlichkeitsprinzip und seine Umsetzung bei der
Rechtsanwendung im Allgemeinen beschreibt zunächst Silva Sánchez die Entwick-
lung der Auslegungskultur und ihren Zusammenhang zum Gesetzlichkeitsprinzip.
Im Anschluss beleuchtet Sánchez-Ostiz die Frage, welche Bedeutung Legaldefinitio-
nen für die Umsetzung des Gesetzlichkeitsprinzips zukommen kann. Ortiz de Urbina
Gimeno untersucht sodann Grenzen der Auslegung, bevor Klatt diese Grenzen kon-
kret am Topos der „Wortlautgrenze“ expliziert.
Der dritte Teil ist dem Gesetzlichkeitsprinzip und seiner Bedeutung für verschie-
dene Bereich des materiellen Strafrechts gewidmet: Moreso und Puppe behandeln
dabei in zwei Beiträgen die schwierige und den nulla-poena-Grundsatz gleich mehr-
fach in seinem Kern betreffende Frage nach Gesetzlichkeit und insbesondere Be-
stimmtheit im Bereich der Rechtfertigungsgründe, während Streng das seltener un-
tersuchte, aber nicht weniger intrikate Problem der Gesetzlichkeit im Bereich von
Entscheidungen zur Schuldfähigkeit aufgreift. Den Abschluss dieses Teils liefert
Montaner Fernández mit einem Thema aus dem Besonderen Teil, das in weitem Um-
fang durch Blankett-Straftatbestände und Bezugnahmen auf außer-(straf-)rechtliche
Regelwerke geprägt ist (Umweltstrafrecht).
Der vierte Teil behandelt gleichsam Erweiterungen in territorialer wie in rechts-
gebietsbezüglicher Sicht: Jahn und Kudlich untersuchen in zwei Beiträgen die Be-
deutung des Gesetzlichkeitsgrundsatzes für das Strafverfahrensrecht. Schuhr befasst
sich mit der „Gesetzmäßigkeit der Strafen“ im Recht der Europäischen Union, bevor
Gallant, Montiel und Satzger drei unterschiedliche Aspekte des Gesetzlichkeitsprin-
zips im Völkerstrafrecht behandeln.
Den Abschluss bilden im fünften Teil drei Beiträge, in denen Bacigalupo, Sar-
rabayrouse und Kuhlen die (natürlich auch in anderen Teilen immer wieder aufschei-
nende) Krise des Gesetzlichkeitsprinzips deutlich machen und Impulse für ihre Über-
windung – sei es unter Berücksichtigung der Gesetzgebungslehre, sei es durch „Neu-
bestimmung des Bestimmtheitsgrundsatzes“ – geben.
I. Grundlagen und Grundprobleme
des Gesetzlichkeitsprinzips im Strafrecht
Gesetzlichkeit als Instrument der Freiheitssicherung
Zur Grundlegung des Gesetzlichkeitsprinzips
in der französischen Aufklärungsphilosophie
und bei Beccaria

Eric Hilgendorf

I. Das Gesetzlichkeitsprinzip und die französische Aufklärung


Das Gesetzlichkeitsprinzip soll der Willkür der Strafrichter und damit der Staats-
macht durch Bindung der Strafgewalt an das Gesetz Schranken setzen.1 Es gehört
mithin zu den Maßnahmen, mittels derer der spezifisch europäische Sonderweg
einer „Zähmung der Herrschaft“ gebahnt und gesichert wurde.2 Obwohl die Wurzeln
des Gesetzlichkeitsprinzips bis weit in das Mittelalter zurückreichen,3 ist seine heu-
tige Fassung doch ganz wesentlich eine Errungenschaft der Aufklärung, jener ge-
samteuropäischen Bewegung des 17. und vor allem des 18. Jahrhunderts, die den
Menschen aus den Fesseln des überkommenen Feudalsystems und der Kirche befrei-
te und sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse und Lehren einer kritischen Prüfung
unterwarf.4 Das Individuum, seine Freiheit und Würde, sollte Angelpunkt und Maß-
stab aller menschlichen – und damit auch: aller rechtlichen – Regelungen sein.
1
Zur heutigen dogmatischen Diskussion um Begriff und Reichweite des strafrechtlichen
Gesetzlichkeitsprinzips mit seinen vier Ausprägungen Vorbehalt des Gesetzes, Bestimmt-
heitsgrundsatz, Analogieverbot und Rückwirkungsverbot eingehend Schmahl, Art. 103
Rn. 24 – 40, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Hofmann/Hopfauf (Hg.), Kommentar zum Grund-
gesetz, 12. Aufl. 2011; aus der Strafrechtswissenschaft Weber, in: Baumann/Weber/Mitsch,
Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrbuch, 11. Aufl. 2003, § 9 Rn. 1 – 103; Roxin, Strafrecht
Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 5.
2
Umfassend Albert, Europa und die Zähmung der Herrschaft. Der europäische Sonderweg
zu einer offenen Gesellschaft, in: ders., Freiheit und Ordnung. Zwei Abhandlungen zum
Problem einer offenen Gesellschaft, 1986, S. 9 – 59 (Walter Eucken Institut, Vorträge und
Aufsätze 109).
3
H.-L. Schreiber, Gesetz und Richter. Zur geschichtlichen Entwicklung des Satzes nullum
crimen, nulla poena sine lege, 1976; zusammenfassend Krey, Keine Strafe ohne Gesetz. Ein-
führung in die Dogmengeschichte des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“, 1983.
4
Überblick bei Röd, Der Weg der Philosophie. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert,
Bd. 2, 1996, S. 80 – 136. Die Literatur zur Philosophie der Aufklärung ist längst unüber-
schaubar geworden. In Auswahl: Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, 2. Aufl. 1932;
Gay, The Enlightenment. An Interpretation, 2 Bände, 1967/1969; Kopper, Einführung in die
Philosophie der Aufklärung. Die theoretischen Grundlagen, 3. Aufl. 1996; Schneiders, Das
18 Eric Hilgendorf

Vor allem in der deutschen Rechtsphilosophie wird die Aufklärung gerne mit Im-
manuel Kant und seiner berühmten Definition „Aufklärung ist der Aufstieg des Men-
schen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“5 in Verbindung gebracht. Dabei
wird leicht übersehen, dass die deutsche Aufklärung nur die späte Frucht einer eu-
ropaweiten Bewegung war, die im Wesentlichen von England ausging und in Frank-
reich bei den Enzyklopädisten um Diderot, d’Alembert und den Baron d’Holbach
ihre radikalste Ausprägung fand.6 Der Schwerpunkt der aufklärerischen Forderungen
verlagerte sich in Frankreich auf die Umgestaltung der politischen Verhältnisse; seit
dem Beginn des 18. Jahrhunderts wurde dort das „Ancien Regime“ und das Bündnis
von Monarchie und Kirche immer häufiger kritisiert, zunächst verdeckt, dann, etwa
ab Mitte des Jahrhunderts, offen und in großer Schärfe. Von Frankreich aus verbrei-
teten sich die neuen politischen Forderungen über ganz Europa; ihre Träger waren
französische Gelehrte, Intellektuelle und Schriftsteller, auch „philosophes“ genannt.
Der berühmteste unter ihnen war Voltaire, dessen Ansehen und Einfluss so groß
waren, dass man das 18. Jahrhundert das „Zeitalter Voltaires“ genannt hat.7
Die Propagandisten der Aufklärung bedienten sich einer Vielzahl literarischer
Formen, vom Gedicht, dem Drama und der Komödie über den Roman und die Erzäh-
lung bis hin zu intellektuellen Traktaten und gelehrten Abhandlungen. Auch thema-
tisch war die Aufklärungsphilosophie ungemein vielfältig. So überrascht es nicht,
dass die Kritik des überkommenen irrationalen, willkürlichen und oft extrem grau-
samen Strafrechts8 ebenfalls auf ihrer Agenda stand. Eberhard Schmidt hat die For-
derungen der Aufklärer an das Strafrecht treffend auf die Begriffe Säkularisierung,
Rationalisierung, Liberalisierung und Humanisierung gebracht.9 Die Formulierung

Zeitalter der Aufklärung, 4. Aufl. 2008; Schoeps (Hg.), Zeitgeist der Aufklärung, 1972; auch
die politische Geschichte einbeziehend Borgstedt, Das Zeitalter der Aufklärung, 2004; Meyer,
Die Epoche der Aufklärung, 2010 (beide mit eingehenden Hinweisen zu weiterführender
Literatur).
5
Kant, Was ist Aufklärung?, in: ders., Werkausgabe, hg. von Weischedel, Bd. XI, S. 53 –
61 (53). Vgl. auch den Sammelband: Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen
Monatsschrift, hg. von Hinske, 3. Aufl. 1981.
6
Ewald, Die Französische Aufklärungsphilosophie, 1924; Krauss, Literatur der Französi-
schen Aufklärung, 1972 (Erträge der Forschung Bd. 9); ferner Schröder u. a., Französische
Aufklärung. Bürgerliche Emanzipation, Literatur und Bewusstseinsbildung, 1974. Speziell
zum Kreis um d’Holbach siehe Blom, Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das verges-
sene Erbe der Aufklärung, 2010.
7
So etwa Victor Hugo, Über Voltaire. Rede gehalten am 30. Mai 1878 bei der Jahrhun-
dertfeier für Voltaire (Ausgabe Göttingen 1949), S. 16; ebenso z. B. A. und W. Durant, Das
Zeitalter Voltaires, 1965/1982 (Kulturgeschichte der Menschheit, Band 14). Die beiden be-
deutendsten Voltairebiographien sind: Bestermann, Voltaire, 1971 und Orieux, Das Leben des
Voltaire, 1968; Kurzbiographie von Holmsten, Voltaire, 14. Aufl. 2002.
8
Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1964,
ND. 1983, S. 178 – 211.
9
Schmidt, Die geistesgeschichtliche Bedeutung der Aufklärung für die Entwicklung der
Strafjustiz aus der Sicht des 20. Jahrhunderts, in: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 73
(1958), S. 341 – 360.
Gesetzlichkeit als Instrument der Freiheitssicherung 19

dieses Programms, seine Propagierung und seine Durchsetzung sind zu großen Tei-
len den französischen Aufklärungsphilosophen zu verdanken.
Beccarias Werk „Von den Verbrechen und von den Strafen“10 ist nicht mehr – aber
auch nicht weniger – als eine geniale Zusammenfassung der strafrechtspolitischen
Forderungen der radikalen französischen Aufklärer. Das Buch erschien 1764 und
wurde innerhalb weniger Jahre in die wichtigsten europäischen Sprachen übersetzt
und in zahllosen Auflagen über ganz Europa und darüber hinaus verbreitet.11 Zu den
Ursachen dieses enormen Erfolgs gehörten nicht nur die eklatanten Missstände im
Strafrecht der Zeit, sondern auch die Kürze und eingängige Fassung des Werkes,
das auf juristische Details weitgehend verzichtet und nach Art eines populär gefass-
ten philosophischen Einführungswerkes die Begründung von Strafe, die strafrecht-
liche Gesetzgebung und die Strafrechtsanwendung für ein breiteres intellektuell in-
teressiertes Publikum behandelt. Der Boden für die neuen Forderungen war aber
schon längst bereitet. Beccaria, so lässt sich zusammenfassen, ist im Kern das straf-
rechtsphilosophische Sprachrohr der französischen Aufklärung.
Beccaria selbst benennt in einem Brief an seinen französischen Übersetzer Mo-
rellet als seine geistigen Vorbilder die philosophischen Bücher der „philosophes“ und
bezeichnet die „Enzyklopädie“ als ein „unsterbliches Werk“.12 D’Alembert, Diderot,
Helvétius, Buffon und Hume sieht er als seine Lehrer. Sein philosophisches Erwe-
ckungserlebnis erblickt er in der Lektüre von Montesquieus 1721 erschienenen „Per-
serbriefen“13 und der Schrift „Über den Geist“ des Helvétius.14 Die enge Verknüp-
fung zwischen Beccarias Werk und der radikalen französischen Aufklärung zeigt
sich des Weiteren daran, dass „Von den Verbrechen und von den Strafen“ nicht im
italienischen Original, sondern in der schon 1765, also ein Jahr nach dem Erscheinen
der Erstausgabe herausgebrachten französischen Übersetzung von Morellet, einem
Mitglied des Kreises um d’Holbach und Freund von Diderot, in ganz Europa verbrei-
10
Sofern nicht anders vermerkt, wird im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert: Beccaria,
Von den Verbrechen und von den Strafen (1764). Aus dem Italienischen von Thomas Vorm-
baum. Mit einer Einführung von Wolfgang Naucke, 2004 (Strafrechtswissenschaft und Straf-
rechtspolitik, Kleine Reihe, Band 6).
11
Zur Publikationsgeschichte Esselborn, Beccarias Leben und Werke, in: Beccaria, Über
Verbrechen und Strafen. Ins Deutsche übersetzt, mit biographischer Einleitung und Anmer-
kungen versehen von Karl Esselborn, 1906, ND 1990, S. 1 – 58 (16 f., 20 f., 26 ff.). Die erste
deutsche Übersetzung, verfasst von Joseph Ignaz Butschek, erschien bereits 1765. Besonders
einflussreich wurde die von Hommel 1778 publizierte deutsche Übersetzung, 1966 unter dem
Titel: Karl Ferdinand Hommel, Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk von
Verbrechen und Strafen, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von John Lekschas.
12
In englischer Übersetzung abgedruckt in: Bellamy (ed.), Beccaria. On Crimes and Pu-
nishments and Other Writings, 1995, S. 119 – 127 (119) (Cambridge Texts in the History of
Political Thought).
13
Charles des Montesquieu, Perserbriefe. Aus dem Französischen von Jürgen von Sta-
ckelberg. Mit Anmerkungen zum Text und einem Nachwort, 1988. Das 1748 erschienene,
wesentlich „abgeklärtere“ Werk Montesquieus vom „Geist der Gesetze“ erwähnt Beccaria
bemerkenswerterweise nicht.
14
Brief an Morellet (Fn. 12), S. 122.
20 Eric Hilgendorf

tet wurde. Beccaria war auf die überaus positive Resonanz, die sein Werk bei den
französischen Aufklärern fand, sehr stolz; mit großer Begeisterung nahm er deshalb
auch eine Einladung d’Holbachs nach Paris an (wenngleich er sich im Kreis der ra-
dikalen Pariser Intellektuellen nicht wohlgefühlt zu haben scheint und schon nach
kurzer Zeit wieder abreiste).15
Voltaire unterstützte das Buch des jungen Mailänder Autors in seinem 1766 er-
schienenen „Kommentar zu dem Buch ,Über Verbrechen und Strafen‘. Von einem
Anwalt aus der Provinz“.16 Auch in vielen weiteren Schriften der späten 60er und
70er Jahre nimmt er darauf Bezug, teils unter Nennung von Beccarias Namen,
teils aber auch nur durch inhaltliche Rekurse. Seit den frühen 60er Jahren hatte Vol-
taire, schon weit im siebten Lebensjahrzehnt stehend, damit begonnen, sich öffent-
lich gegen strafrechtliche Willkür zu wenden und Fehlurteile der klerikal dominier-
ten französischen Justiz scharf anzugreifen. Am berühmtesten wurde Voltaires En-
gagement im Fall Calas, einem im Jahr 1762 begangenen Justizmord an einem Tou-
louser Hugenotten.17 Der Fall erregte in ganz Europa erhebliches Aufsehen und ist
mit Sicherheit auch Beccaria und seinem Mailänder Kreis junger Intellektueller18
nicht unbekannt geblieben. Es erscheint sogar wahrscheinlich, dass der Fall Calas
für Beccaria und seine jugendlichen Freunde der eigentliche Anlass war, sich mit
dem überkommenden Strafrecht zu beschäftigen19 und so den Grundstein für ein mo-
dernes, am Individuum und seiner Würde orientiertes Strafrecht zu legen.

II. Der „Fall Calas“ und Voltaire


Im Jahr 1761 tötete sich in Toulouse ein Sohn der Hugenotten-Familie Calas.
Grund für den Suizid waren persönliche und berufliche Schwierigkeiten. Die ganz
überwiegend katholische Bevölkerung von Toulouse warf dem Vater Jean Calas je-
doch vor, seinen Sohn ermordet zu haben, damit dieser nicht zum Katholizismus kon-
vertiere. Unter dem Druck der Straße und der katholischen Kirche beugten sich die

15
Näher zu den Kontakten zwischen Beccaria und dem Kreis um d’Holbach Blom, Böse
Philosophen (Fn. 6), S. 265 – 278. Als einen der Gründe für die Entfremdung nennt Blom die
große Radikalität der französischen Denker, die Beccaria verschreckte (S. 269). Zum anderen
scheinen vor allem Diderot und Melchior Grimm manche Thesen des Buches als simplizis-
tisch und den jungen Mailänder als naiv empfunden zu haben, wie Blom, Böse Philosophen,
S. 269 f. berichtet.
16
Abgedruckt in: Voltaire, Republikanische Ideen, hg. von Mensching, Bd. 2, 1979, S. 33 –
88.
17
Umfassend Hertz, Voltaire und die Französische Strafrechtspflege im achtzehnten Jahr-
hundert. Ein Beitrag zur Geschichte des Aufklärungszeitalters, 1887, zum „Fall Calas“ ebenda
S. 157 – 223; ferner Gay, Voltaire als Kämpfer für die Menschlichkeit (Der Fall Calas) (1959),
in: Voltaire, hg. von Baader, 1980, S. 152 – 191 (Wege der Forschung, Band CCLXXXVI)
sowie zuletzt Gilcher-Holtey (Hg.), Voltaire. Die Affaire Calas, 2010.
18
Esselborn, Beccarias Leben und Werke (Fn. 11), S. 8 ff.
19
Esselborn, Beccarias Leben und Werke (Fn. 11), S. 10, 15 f.
Gesetzlichkeit als Instrument der Freiheitssicherung 21

Toulouser Richter diesem schon damals offenkundig zu Unrecht erhobenen Vorwurf


und verurteilen Calas zu Folter und anschließendem Tod durch Rädern. Die Richter-
schaft wollte, so wird heute vermutet, mit diesem krassen Fehlurteil ein Exempel
gegen die Hugenotten statuieren.20
Als Voltaire von dem Urteil hörte und sich durch weitere Recherchen von dessen
Unrechtmäßigkeit überzeugt hatte, setzte er alle Hebel in Bewegung, um eine Reha-
bilitation des toten Calas und Schadensersatz für seine Familie zu erlangen. Er führte
zahllose Gespräche, schrieb Briefe, Eingaben und Traktate und setzte auch in erheb-
lichem Umfang eigenes Vermögen ein, um die Durchschlagskraft seiner Kampagne
zu erhöhen. Voltaires Einsatz war von Erfolg gekrönt: 1765, drei Jahre nach dem Jus-
tizmord an Calas, wurde das Urteil aufgehoben.21
Das Engagement für Calas und andere Opfer von Willkürjustiz spiegelt sich seit
den 60er Jahren zunehmend auch in Voltaires schriftstellerischer Tätigkeit wider,
etwa in seinem Philosophischen Wörterbuch,22 vor allem aber in der „Abhandlung
über die Toleranz“, die 2010 von Ingrid Dilcher-Holthey zusammen mit anderen
wichtigen Texten Voltaires zum „Fall Calas“ neu herausgegeben wurde:
„Das Menschenrecht kann auf nichts anderes als auf [das] Naturrecht gegründet
werden, und der große Grundsatz beider über den ganzen Erdboden ist: Was du nicht
willst, das man dir tun soll, das tue du auch nicht. Nach diesem Grundsatz ist’s aber
nicht einzusehen, wie ein Mensch zum anderen sagen kann: Glaube, was ich glaube
und was du nicht glauben kannst, oder du sollst des Todes sein. So spricht man indes
in Portugal, Spanien und zu Goa. In verschiednen andern Ländern begnügt man sich
itzt, den Satz so zu fassen: Glaube, oder ich verabscheue dich. Glaube, oder ich tue dir
Böses, soviel ich nur kann. Ungeheuer, du hast nicht meine Religion; du hast also
keine Religion. Du musst deinen Nachbarn, deiner Stadt, deiner Provinz ein Greuel
sein.“23 Dieses „Recht der Intoleranz“ ist für Voltaire „ebenso unvernünftig als bar-
barisch.“24 Er setzt ihm seine Forderung nach Toleranz entgegen, die für ihn die
„Menschlichkeit überhaupt“ darstellt.
Staatliche Toleranz bedeutet nicht zuletzt die (Selbst-)Bindung staatlicher Macht.
Damit steht das Gesetzlichkeitsprinzip im Strafrecht in unmittelbarem Zusammen-
hang, denn es bindet die Ausübung der staatlichen Strafgewalt an die Vorgaben der
Gesetze und beugt richterlicher Willkür vor. Schon in einem Brief an den Grafen von
Argental zum Fall Calas vom 5. Juli 1762 schreibt Voltaire: „Gibt es eine abscheu-
lichere Tyrannei als jene, nach Gutdünken Blut zu vergießen, ohne dafür nur den ge-
20
Zum „Fall Calas“ vgl. die Nachweise oben Fn. 17.
21
Hertz (Fn. 17), S. 215 f.
22
Eine vollständige deutsche Übersetzung fehlt. Die umfassendste Ausgabe stammt von
Noack (Hg.), Voltaire. Abbé, Beichtkind, Cartesianer. Philosophisches Wörterbuch, 1963, hier
benutzt die 3. Aufl. 1967.
23
Voltaire, Über die Toleranz. Veranlasst durch die Hinrichtung des Johann Calas im Jahre
1762, in: Gilcher-Holtey (Hg.), Voltaire (Fn. 17), S. 111 – 147 (142 f.).
24
Die Affaire Calas (Fn. 17), S. 143.
22 Eric Hilgendorf

ringsten Grund anzugeben? Das ist nicht üblich, sagen die Richter; ihr Ungeheuer,
das muss üblich werden!“25
Äußerungen Voltaires zum Gesetzlichkeitsprinzip finden sich verstreut in vielen
seiner Schriften. So heißt es etwa in der 1747 erschienenen Erzählung „Zadig oder
das Schicksal“ von dem Protagonisten „Wenn er einen Fall zu entscheiden hatte, so
war nicht sein eigenes Urteil maßgebend, sondern immer nur das Gesetz. Schienen
ihm die Gesetze jedoch zu hart, so milderte er sie“.26 Diese Formulierung spiegelt
prägnant die Schwierigkeit, in der sich viele Rechtsreformer der Aufklärung befan-
den: Einerseits forderten sie die Bindung der Strafgewalt an das Gesetz, um richter-
liche Willkür zu verhindern. Andererseits waren die meisten Strafgesetze der Zeit so
grausam, dass ihre strikte Anwendung der Orientierung am Ideal der Humanität wi-
derstreben musste.27
Ein wesentlicher Grund für die Unmenschlichkeit des frühneuzeitlichen Straf-
rechts war dessen theokratische Verankerung, die dazu führte, dass jeder Verstoß
gegen das Strafgesetz auch als Ungehorsam gegenüber dem göttlichen Willen gedeu-
tet werden konnte.28 Ein derartiges Strafrecht war kaum zu reformieren. Der einzige
konsequente Ausweg bestand darin, Strafrecht und Religion zu entkoppeln und neue
Strafgesetze zu erlassen. Es war Zeit für einen Neuanfang.

III. Das Gesetzlichkeitsprinzip bei Beccaria


Ausgangspunkt Beccarias ist die Loslösung des Strafrechts von der Religion. Als
Jurist behandelt er Verbrechen, nicht Sünden. Um Verbrechen zu verhindern, bedarf
es zweckmäßiger Vorkehrungen – damit beginnt die rationale Auseinandersetzung
mit der Frage, welche Mittel am besten geeignet sind, um Verbrechen zu verhindern.
Es ist offensichtlich, dass in einem derartigen Ansatz Prävention wichtiger wird als
(stets nachträgliche) Strafe, und dass Strafen nur dann gerechtfertigt werden können,
wenn sie tatsächlich dazu beitragen, Verbrechen zu verhindern.
Das Gesetzlichkeitsprinzip nimmt in „Von den Verbrechen und von den Strafen“
eine zentrale Rolle ein. Ansatzpunkt Beccarias ist eine teils vertragstheoretische,
teils utilitaristische Begründung von Strafe. Schon in der Einführung stellt Beccaria
klar, dass „Gesetze Verträge unter freien Menschen sind oder es doch […] sein soll-
25
Die Affaire Calas (Fn. 17), S. 17. Vgl. auch das Philosophische Wörterbuch (Fn. 22),
S. 219 ff.
26
Voltaire, Candide. Sämtliche Romane und Erzählungen, 1969, S. 24.
27
Fischl, Der Einfluß der Aufklärungsphilosophie auf die Entwicklung des Strafrechts in
Doktrin, Politik und Gesetzgebung und Vergleichung der damaligen Bewegung mit den heu-
tigen Reformversuchen, 1913, S. 3 ff.; differenzierend Schreiber, Gesetz und Richter (Fn. 3),
S. 29 ff.
28
Schon Böhmer, Handbuch der Literatur des Criminalrechts, 1816, S. 513, spricht davon,
dass „Hierarchie [d.h. religiöse Herrschaft, E.H.], der Auswuchs echter Religiösität, … dem
Aufkeimen liberaler Grundsätze im Criminalrechte [nie] günstig war“.
Gesetzlichkeit als Instrument der Freiheitssicherung 23

ten“. Sie dürften nicht das „Werkzeug der Leidenschaften einiger weniger“ sein oder
gar zufällig oder aus einem vorübergehenden Anlass entstehen. Für Beccaria geht
eine sinnvolle Gesetzgebung vielmehr streng zweckrational vor: Die Gesetze werden
„von einem kühlen Betrachter der menschlichen Natur erlassen, der die Handlungen
einer Masse von Menschen auf einen einzigen Gesichtspunkt konzentriert und sie
von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, nämlich von dem Gesichtspunkt: das größ-
te Glück, verteilt auf die größte Zahl.“29 Und an einer anderen Stelle heißt es. „Es ist
besser, Verbrechen zu verhüten, als sie zu bestrafen. Dies ist das vorrangige Ziel jeder
guten Gesetzgebung, welche die Kunst ist, Menschen zu größtmöglicher Glückselig-
keit oder doch zu geringstmöglichem Unglück zu führen.“30
Die Formel vom „größten Glück der größten Zahl“ ist aus der Diskussion um den
klassischen Utilitarismus bekannt. Sie taucht im 18. Jahrhundert immer wieder auf,
auch wenn die Formulierung vor allem mit Jeremy Bentham in Verbindung gebracht
wird. Wegen ihres doppelten Optimierungsgebotes ist die Forderung nach Errei-
chung des größten Glücks der größten Zahl in ihrer gängigen Fassung allerdings un-
erfüllbar.31 Bei Beccaria wird deutlich, was damit gemeint ist: es soll das menschli-
che Wohlergehen soweit wie nur irgend möglich gefördert werden, und zwar nicht
bloß das Wohlergehen einiger weniger Privilegierter, sondern das Wohlergehen mög-
lichst vieler, vielleicht sogar aller:
„Das Jahrhundert war der Verknüpfung des individuellen Glücks mit der Einrich-
tung des Staates endgültig gewiss geworden. Man konnte das Glück der vielen Men-
schen nicht mehr auf die Tugend nur des einzelnen, die Gottesgefälligkeit gründen.
… Die Gesetzgebung erhielt nun ihr eigentliches Ziel: die Glücksgüter bis hin zur
Naturgrenze selber zu fördern. Nichts anderes meint die Formel vom größten
Glück der größten Zahl. Sie hat die Meinung überwunden, es gebe unaufhebbare ge-
sellschaftliche Bedingungen, die einen Teil der Menschen, wenn auch eine Minder-
zahl, vom Glücke ausschlössen.“32
Nach Beccaria haben Strafgesetze die Aufgabe, das allgemeine Wohlergehen da-
durch zu befördern, dass Verbrechen verhütet werden. Sie sollen mithin präventiv
wirken, wobei Beccaria, wie einige seiner Formulierungen erkennen lassen, den Ge-
danken der (negativen) Generalprävention, also der Abschreckung, vertritt. Diese
Zielsetzung wird mit vertragstheoretischen Vorstellungen von der Legitimation
der Strafe verbunden:

29
Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 6.
30
Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 107.
31
Weitere Argumente gegen (und für) den Utilitarismus bei Hilgendorf, Der ethische
Utilitarismus und das Grundgesetz, in: Brugger (Hg.), Legitimation des Grundgesetzes aus
Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996, S. 249 – 272.
32
Alff, Zur Einführung in Beccarias Leben und Denken, in: Beccaria, Über Verbrechen und
Strafen. Nach der Ausgabe von 1766 übersetzt und herausgegeben von Wilhelm Alff, 1988,
S. 37 f.
24 Eric Hilgendorf

„Die Gesetze sind […] die Bedingungen, unter denen unabhängige und vereinzel-
te Menschen sich zur Gesellschaft zusammenschließen, da sie es müde sind, in einem
ständigen Zustand des Krieges zu leben und eine Freiheit zu genießen, die infolge der
Ungewißheit, sie bewahren zu können, unnütz geworden ist. Sie opfern einen Teil
von ihr, um den verbleibenden Teil in Sicherheit und Ruhe zu genießen. Die
Summe aller dieser Freiheitsanteile, die jedermanns Wohl geopfert worden sind, bil-
det die Souveränität einer Nation, und der Herrscher ist ihr rechtmäßiger Bewahrer
und Verwalter. Es genügte aber nicht, dieses Gut zu bilden; man musste es auch gegen
die privaten Besitzanmaßungen einzelner Menschen verteidigen, denn diese versu-
chen stets, von dem in Verwahrung Gegebenen nicht nur den eigenen Anteil zurück-
zuziehen, sondern sich auch noch desjenigen der anderen zu bemächtigen. Man
brauchte daher fühlbare Beweggründe, welche hinreichten, um den despotischen
Geist aller Menschen daran zu hindern, die Gesetze der Gesellschaft wieder im
alten Chaos untergehen zu lassen. Diese fühlbaren Beweggründe sind die Strafen,
welche gegen die Gesetzesbrecher verhängt werden.“33 In dieser Legitimationserzäh-
lung wird also die Fiktion eines ursprünglichen Vertrags mit der empirischen Einsicht
in die Defizite der zum Normverstoß neigenden Menschennatur verknüpft und dar-
aus das Institut der Strafe begründet.
Indem Beccaria das Strafrecht dem Ziel der Beförderung menschlichen Wohler-
gehens unterstellt, wird sein Grundansatz zweckrational: Strafen müssen dem Ziel
der Kriminalitätsprävention und letztlich der Beförderung des Wohlergehens aller
dienen, insofern also nützlich sein. Wenn mit Strafe kein praktischer Nutzen erreicht
wird, ist sie illegitim. Dieser Gedanke ist ein fester Topos in der Strafrechtskritik der
Aufklärer. So schreibt etwa Voltaire noch in einer seiner letzten Publikationen: „Stra-
fet – aber strafet nicht blindlings. Strafet so, dass die Strafe noch nützlich ist. Man hat
die Gerechtigkeit mit verbundenen Augen gemalt, damit sie durch die Vernunft ge-
leitet werde.“34
Immer wieder betont Beccaria, dass Strafen verhältnismäßig sein müssen: „Die-
jenigen Strafen, die über das hinausgehen, was zur Erhaltung des Gemeingutes des
öffentlichen Wohls erforderlich ist, sind ihrer Natur nach ungerecht; und umso ge-
rechter sind die Strafen, je heiliger und unverletzbarer die Sicherheit und je größer
die Freiheit ist, die der Herrscher seinen Untertanen bewahrt.“35
Aus diesen Grundsätzen wird das Gesetzlichkeitsprinzip zweckrational begrün-
det. Zunächst stellt Beccaria fest, dass „allein die Gesetze die Strafen für die Verbre-
cher bestimmen können, und diese Befugnis kann nur beim Gesetzgeber liegen, der
die gesamte durch einen Gesellschaftsvertrag vereinte Gesellschaft vertritt“.36 Der
Herrscher (Gesetzgeber) darf nur „allgemeine, für alle Mitglieder verbindliche Ge-
33
Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 10.
34
Preis der Gerechtigkeit und der Menschenliebe, in: Republikanische Ideen, Bd. 2
(Fn. 16), S. 89 – 166 (95). Voltaires Text erschien 1777.
35
Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 11.
36
Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 12.
Gesetzlichkeit als Instrument der Freiheitssicherung 25

setze erlassen“, nicht aber über den Einzelfall urteilen.37 Demgegenüber sind die Kri-
minalrichter nicht befugt, Strafgesetze auszulegen, „und zwar aus eben dem Grunde,
dass sie nicht Gesetzgeber sind.“38
Beccaria verbindet diesen Gedanken mit folgenden Erwägungen: „Bei jedem Ver-
brechen muss vom Richter ein vollständiger Syllogismus vollzogen werden: der
Obersatz muss das allgemeine Gesetz sein; der Untersatz muss die mit dem Gesetz
übereinstimmende oder nicht übereinstimmende Handlung sein; der Schluss Freiheit
oder Strafe. Stellt der Richter, gezwungen oder freiwillig, auch nur zwei Syllogismen
auf, so öffnet sich die Pforte zur Unsicherheit.“39 Dahinter steht der Gedanke, der
Strafrichter müsse sich, um nicht in die Versuchung der Willkür zu geraten,40 unbe-
dingt auf eine strikte Anwendung des Gesetzes ohne Eigenwertung beschränken,
eine (wie wir heute wissen: methodologisch naive) Vorstellung, die sich in der Straf-
rechtsliteratur der Aufklärung häufig findet.41 Allein der Gesetzeswortlaut soll die
richterliche Entscheidung bestimmen.
Beccaria sieht deutlich, dass in der strafrechtlichen Praxis meist ganz andere Ge-
sichtspunkte eine Rolle spielen, oft verborgen unter weiten, bedeutsam klingenden
Auslegungsregeln. Seine Ausführungen dazu klingen überaus aktuell:
„Nichts ist gefährlicher als jenes verbreitete Axiom, dass man den Geist des Ge-
setzes zu Rate ziehen müsse. Dies ist der Damm, der vor dem Strom der Meinungen
birst. … Jeder Mensch hat seinen Standpunkt; jeder Mensch hat zu verschiedenen
Zeiten einen anderen Standpunkt. Der Geist des Gesetzes wäre somit das Ergebnis
einer guten oder schlechten Logik eines Richters, seiner leichten oder ungesunden
Verdauung, wäre abhängig von der Stärke seiner Leidenschaften, von der Gebrech-
lichkeit, unter der er leidet, von den Beziehungen des Richters zum Verletzten und
von allen diesen kleinen Kräften, die das Erscheinungsbild aller Gegenstände im
wandelbaren Gemüt des Menschen verändern. Daher sehen wir häufig, wie das
Schicksal eines Bürgers bei seinem Gang, den es durch verschiedene Gerichte
nimmt, sich wandelt, und wie das Leben der Unglücklichen zum Opfer falscher
Schlüsse eines Richters wird, der das unklare Ergebnis dieser ganzen ungeordneten
Reihe von Begriffen, die ihm durch den Kopf gehen, für rechtmäßige Auslegung
hält.“42

37
Ebenda.
38
Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 13.
39
Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 14.
40
Es ist bemerkenswert, dass die willkürliche Sanktionspraxis der Strafgerichte in der
Strafrechtslehre teilweise aus Präventionserwägungen heraus verteidigt wurde, dazu Ogorek,
Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, 1986, S. 41 f.
41
Locus classicus ist Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (1748), Buch XI Kap. 6 („Von
der Verfassung Englands“). Hier verwendet die von Forsthoff übersetzte und herausgegebene
Ausgabe, 1958, Bd. 1, S. 214 – 229. Vgl. im Übrigen Fischl, Einfluß der Aufklärungsphilo-
sophie (Fn. 27), S. 32, 74, 128, 183, 203 und passim.
42
Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 14 f.
26 Eric Hilgendorf

Angesichts der Willkürjustiz seiner Zeit erscheint diese Mahnung Beccarias nur
allzu verständlich.43 Die strenge Orientierung des Strafrichters am vernünftigen Ge-
setz und am Gesetz allein war für die Aufklärer das wichtigste Mittel, um richterliche
Willkür einzuschränken, die Rechtsanwendung zu rationalisieren und übermäßig
grausamen Strafen vorzubeugen. Das Gesetzlichkeitsprinzip ist somit geradezu
ein Angelpunkt ihres Strafrechtsreformprogramms.44 Dass eine strenge Deduktion
der richterlichen Entscheidung aus dem Gesetz ganz ohne Eigenwertung des Rechts-
anwenders sehr häufig nur schwer zu erreichen ist, dürfte ihnen kaum entgangen
sein;45 mit Rücksicht auf ihr Reformprogramm war es aber kaum opportun, auf die-
sen Umstand explizit hinzuweisen.46
Des Weiteren fordert Beccaria, dass Strafgesetze möglichst klar, einfach und ver-
ständlich formuliert werden sollen. Nur wenn der Rechtsunterworfene zu erkennen
vermag, was ihm bei Strafe verboten ist, kann das Strafgesetz präventive Wirkung
entfalten.47 Beccaria führt das Gesetzlichkeitsprinzip streng und mit großer Konse-
quenz durch; so verwirft er insbesondere die Möglichkeit, Begnadigungen auszu-
sprechen – nicht der Herrscher, sondern das Gesetz soll alle Strafen und ebenso
die Voraussetzungen besonderer Milde festlegen.48 Auch die Möglichkeit, innerhalb
eines Landes dem Gesetz durch Asylnahme auszuweichen, lehnt er ab.49

43
Zu Recht weist Ogorek (Fn. 40), S. 40 f. darauf hin, dass Beccarias Forderungen nicht
methodologisch, sondern politisch begründet waren.
44
Fischl, Einfluß der Aufklärungsphilosophie (Fn. 27), S. 183, 210.
45
Gerade bei Voltaire finden sich Passagen, die eine methodologisch begründete Skepsis
gegenüber dem Ideal einer absoluten Gesetzesbindung verraten. So heißt es in der Erzählung
„Der Lauf der Welt. Eine Vision Babuks, von ihm selbst geschrieben“: „Am anderen Tag
führte [der Gelehrte] Babuk zum Obersten Gerichtshof, wo ein wichtiges Urteil gesprochen
werden sollte. Der Fall war allgemein bekannt. Alle älteren Anwälte, die sich dazu äußerten,
schwankten in ihren Ansichten; sie führten hundert Gesetze an, von denen keines den Kern der
Sache ganz traf; sie betrachteten die Angelegenheit von den verschiedensten Seiten, ohne sie
richtig zu beleuchten. Die Richter entschieden rascher, als die Anwälte erwartet hatten. Ihr
Urteil war nahezu einstimmig und der Richterspruch gut, weil sie sich von den Einsichten der
Vernunft leiten ließen, während die anderen falsch urteilten, weil sie nur ihre Bücher befrag-
ten.“ (Sämtliche Romane und Erzählungen (Fn. 26), S. 102).
46
Die oben skizzierten Zusammenhänge werden in der heutigen Debatte um Sinn und
Durchführbarkeit einer strengen Gesetzesbindung häufig nicht hinreichend berücksichtigt.
Manchem Kritiker des Gesetzesbindungspostulats scheinen die geistesgeschichtlichen Zu-
sammenhänge, in denen das Postulat der Gesetzesbindung entstand, infolge einer Fixierung
auf Problemfälle (deren Existenz niemand bestreitet) aus dem Blick geraten zu sein.
47
Fischl, Einfluß der Aufklärungsphilosophie (Fn. 27), S. 101 und passim.
48
Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 27), S. 64 f.
49
„Innerhalb der Grenzen eines Landes darf es keinen Ort geben, der von den Gesetzen
unabhängig ist. Ihre Gewalt muss jedem Bürger folgen, so wie der Schatten seinem Körper
folgt.“ (Von den Gesetzen und den Strafen (Fn. 10), S. 66).
Gesetzlichkeit als Instrument der Freiheitssicherung 27

IV. Die Kritik an Beccaria


1. „Von den Verbrechen und von den Strafen“
und die christliche Religion

Beccarias Buch passte, wie oben bereits ausgeführt wurde, in seine Zeit; es griff
verbreitete Topoi der Kritik am überkommenen Strafrecht auf und formulierte Re-
formvorschläge, die gleichsam „in der Luft“ lagen.50 Es überrascht deshalb nicht,
dass „Von den Verbrechen und von den Strafen“ ganz überwiegend auf Zustimmung
stieß. Kritik kam zunächst vor allem von klerikaler Seite; dem Autor wurde vorge-
worfen, nicht bloß das Strafrecht, sondern auch die christliche Religion anzugreifen,
ein sehr gefährlicher Vorwurf, der nicht bloß die Verbreitung des Werks, sondern
auch Freiheit und Leben seines Autors zu gefährden geeignet war. Beccaria war des-
halb gezwungen, in die späteren Auflagen seines Werks eine neue Vorrede einzufü-
gen, in der er die Trennung von Religion und Strafrecht betonte und hervorhob, mit
der Kritik an strafrechtlichen Missständen keinesfalls auch das Christentum tadeln zu
wollen.51
Jedem aufmerksamen Leser musste allerdings klar sein, dass viele kirchlich ge-
billigte oder sogar geforderte Strafpraktiken mit Beccarias Programm unvereinbar
waren, obwohl sich Beccaria bei Themen, die die Religionswächter auf den Plan
rufen konnten, sehr weit zurücknimmt. Nur an einer Stelle, an der er auf die Inqui-
sition anspielt, wird der Mailänder deutlicher:
„Der Leser dieser Schrift wird feststellen, dass ich eine Art von Verbrechen über-
gangen habe, welche Europa mit menschlichem Blut bedeckt und jene düsteren
Scheiterhaufen aufgerichtet hat, wo lebende Menschenleiber den Flammen als Nah-
rung dienten, als es für die blinde Menge noch ein heiteres Schauspiel und ein ange-
nehmer Klang war, zu hören, wie unter dem Prasseln der verkohlenden Gebeine und
dem Brodeln der noch zuckenden Eingeweiden aus den Wirbeln des schwarzen Rau-
ches – eines Rauches aus menschlichen Gliedern – unverständliche, dumpfe Klage-
laute der Unglücklichen drangen.“52
Diese ungemein drastische, an die Religionskritik Voltaires erinnernde Schilde-
rung ließ den Leser über Beccarias Haltung gegenüber der Inquisition nicht im Un-
klaren, und auch die deutliche Ironie, mit der er in diesem Zusammenhang das Ziel
einer „vollkommene[n] Einheitlichkeit der Gedanken“ in einem Staat verteidigt,53
spricht Bände.

50
Vgl. oben I.
51
Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 1 – 5.
52
Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 98.
53
Von den Verbrechen und von den Strafen (Fn. 10), S. 98 f.
28 Eric Hilgendorf

2. Deutsche Schwierigkeiten mit der Philosophie


der Aufklärung

Beccarias (und Voltaires) Kritik an einer inhumanen, religiös begründeten Straf-


rechtspraxis hat sich nicht bloß in der Rechtswirklichkeit, sondern auch im europäi-
schen Christentum durchgesetzt.54 Wenn Beccaria und sein Buch „Von den Verbre-
chen und von den Strafen“ heute kritisiert werden, so richtet sich die Kritik weniger
gegen einzelne Punkte seines Reformprogramms als vielmehr gegen die französische
Aufklärung als solche, die vor allem in Deutschland gerne als „unsystematisch“ und
oberflächlich abgetan wird.
Hinter derartigen Wertungen verbergen sich oft noch alte, meist unreflektiert an-
genommene Vorstellungen von der Überlegenheit „deutscher Kultur“ (Kant!) über
die angeblich „seichte“ westliche, vor allem französische „Zivilisation“ (Voltaire).55
Die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, wohin ein derartiger Dün-
kel führen kann. Der Vorwurf mangelnder Systematik übersieht, dass Autoren wie
Voltaire oder Diderot gar nicht anstrebten, systematische fachphilosophische
Werke zu verfassen. Weder Voltaire56 noch Diderot, immerhin der „Motor der Enzy-
klopädie“, dessen vielfältiges Werk erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts gewürdigt
wurde,57 verstanden sich in erster Linie oder gar ausschließlich als Fachgelehrte. An-
dere französische Aufklärungsphilosophen, etwa Helvétius und d’Holbach, haben
dagegen überaus systematisch angelegte philosophische Werke vorgelegt,58 die aller-
dings in Deutschland (anders als in Frankreich oder England) weitgehend ignoriert
wurden.
54
Die durch Voltaire propagierten Ideale des Humanismus, des Liberalismus und des Sä-
kularismus sind in Europa so sehr Allgemeingut geworden, dass sie bis heute das intellektuelle
Leben prägen, auch wenn sie gar nicht mehr mit Voltaire oder der französischen Aufklärung in
Verbindung gebracht werden.
55
Hamann/Hermand, Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart, Bd. 4, 1973,
Taschenbuchausgabe 1977, S. 102 – 120.
56
Das Werk Voltaires ist so umfassend und vielfältig, dass sich sein Autor einer klaren
Etikettierung entzieht. Man dürfte Voltaire jedoch nicht Unrecht tun, wenn man ihn in erster
Linie als Schriftsteller und Intellektuellen versteht. Kennzeichnend für ihn ist sein nicht
nachlassendes gesellschaftliches und politisches Engagement: Wie ein roter Faden zieht sich –
über 6 Jahrzehnte hinweg! – der Kampf gegen die politischen, religiösen und gesellschaftli-
chen Missstände seiner Zeit durch sein Werk. Dazu etwa Hempel, Zu Voltaires schriftstelle-
rischer Strategie, in: Schmidt (Hg.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen
Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, 1989, S. 243 – 260; vgl.
auch Beeson/Cronk, Voltaire: philosopher or philosophe?, in: Cronk (Hg.), The Cambridge
Companion to Voltaire, 2009, S. 47 – 64.
57
In der Gegenwart hat sich besonders Hans Magnus Enzensberger mit dem Multi-Talent
Diderot auseinandergesetzt (Diderots Schatten, 1994; Voltaires Neffe. Eine Fälschung in Di-
derots Manier. 1996; Ein Philosophenstreit über die Erziehung und andere Gegenstände, aus
Denis Diderots Widerlegung des Helvétius, 2004).
58
Helvétius, Vom Geist (1758), dt. in: Philosophische Schriften, hg. von Krauss, Bd. 1,
1973; d’Holbach, System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der morali-
schen Welt (1770), dt. Ausgabe 1978 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 259).
Gesetzlichkeit als Instrument der Freiheitssicherung 29

Unzutreffend ist auch die bisweilen anzutreffende Behauptung, die französische


Aufklärungsphilosophie erschöpfe sich in unfruchtbarer Kritik und Spötteleien. Wer
so argumentiert, übersieht das leidenschaftliche Bekenntnis der französischen Auf-
klärer zu Humanität und universellen Werten. Gerade bei Voltaire kommen diese
Tendenzen besonders deutlich zu Ausdruck. Als der alte Voltaire 1778 nach Jahr-
zehnten erzwungener Abwesenheit in einem Triumphzug – bisweilen spricht man
gar von der „Apotheose“ Voltaires59 – nach Paris zurückkehrte, begrüßte ihn das
Volk auf den Straßen nicht als Schriftsteller, sondern als „l’homme aux Calas“,
als Kämpfer gegen staatliche und richterliche Willkür und Vorkämpfer eines huma-
neren Rechts.60 Voltaire war es auch, der in Romanen wie „Candide“ oder Erzählun-
gen wie dem „Ehrlichen Huronen“ kulturbezogenen Vorurteilen und falschen Über-
legenheitsgefühlen der Europäer entgegentrat.61 Er ist der wichtigste Vorkämpfer in-
terkultureller Toleranz im 18. Jahrhundert.62
Kritisiert wird die französische Aufklärung schließlich auch wegen ihrer Orien-
tierung am menschlichen Wohlergehen. In der Tat ist der Maßstab aller gesellschaft-
lichen und rechtlichen Reformen für die meisten französischen Aufklärungsphiloso-
phen das menschliche Glück. Sie vertreten damit – vor Bentham und John Stuart Mill
– einen am Humanitätsideal orientierten Utilitarismus. Rechtsnormen, die nichts
zum menschlichen Wohlergehen beitragen, sind für die Aufklärer unnütz, u. U.
sogar schädlich, und damit abzuschaffen. Das darin zum Ausdruck kommende in-
strumentelle Rechtsverständnis ist gerade in Deutschland lange Zeit auf erbitterte
Kritik gestoßen. Ohne Übertreibung kann man von einem „anti-instrumentellen Af-
fekt“ sprechen, der im Recht allerdings weniger bei Rechtspolitikern und dogmatisch
arbeitenden Rechtswissenschaftlern als vielmehr bei Rechtstheoretikern und Rechts-
philosophen auftritt.
Besonders ausgeprägt ist der anti-instrumentelle Affekt in der deutschen Philoso-
phie. Schon Kant spricht von den „Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre“.63
Adorno und Horkheimer haben diese Position in ihrer „Dialektik der Aufklärung“
noch einmal erneuert und sind nicht davor zurückgeschreckt, das aufklärerische Den-
ken mit den Verwüstungen des Dritten Reiches in Verbindung zu bringen.64 Jochen
Schmidt spricht treffend von einem „in einer alten gegenaufklärerischen Tradition“
stehenden, spezifisch deutschen Vorurteil, „demzufolge Aufklärung wesentlich ne-
gativ und ,zersetzend‘ sei, weil sie sich angeblich auf die abstrakte Konsequenz eines

59
Bestermann (Fn. 7), S. 446.
60
Dazu, neben dem oben Fn. 17 angeführten Werk von Hertz, auch Renwick, Voltaire and
the politics of toleration, in: The Oxford Companion to Voltaire (Fn. 56), S. 179 – 191.
61
Abgedruckt in: Sämtliche Romane und Erzählungen (Fn. 26), S. 289 – 385.
62
Zum Kosmopolitismus der Aufklärung und seiner Entstehung Meyer, Epoche der Auf-
klärung (Fn. 4), S. 23 ff., 39 ff.
63
Metaphysik der Sitten (1797), Werkausgabe, hg. von Weischedel, Bd. VIII, S. 453; vgl.
auch Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1788, Werkausgabe Bd. VII, S. 133 ff.
64
Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, 1944/1947, Vorrede.
30 Eric Hilgendorf

wertfreien Zweckrationalismus reduziere.“65 Damit wird, wie auch Schmidt hervor-


hebt, die Orientierung der Aufklärung an Humanität und universellen Werten unter-
schlagen.

3. Die Kritik Wolfgang Nauckes an Beccarias


strafrechtstheoretischem Ansatz

In jüngerer Zeit hat vor allem Wolfgang Naucke die strafrechtspolitischen Forde-
rungen Beccarias kritisiert.66 In der Einleitung zu seiner Neuausgabe des Textes weist
er zunächst darauf hin, dass Beccarias Reformprogramm zwar in der Theorie höchst
einflussreich wurde, sich praktisch aber bis heute nicht vollständig durchsetzen
konnte. In den 250 Jahren seit der Publikation der Schrift „Von den Verbrechen
und von den Strafen“ habe es immer wieder Strafrechtsexzesse gegeben – etwa
das „Kolonialstrafrecht“67 und den Einsatz des Strafrechts in den totalitären Dikta-
turen des 20. Jahrhunderts – die sich nicht einfach als Rückfälle in ein voraufkläre-
risches Strafrechtsdenken erklären ließen, sondern nach Nauckes Ansicht auf grund-
legende Defizite in Beccarias Ansatz hindeuten. Beccaria habe keine wirklich trag-
fähige Begründung für sein Programm geliefert. Beccarias Appell an Humanität sei
zwar in seiner Zeit überzeugend gewesen und habe Anhänger mobilisieren können.
Heute jedoch wirke der Humanitätstopos im Rechtsdenken wie ein Fremdkörper.68
Naucke kritisiert des Weiteren Beccarias utilitaristische Orientierung am „Glück“
möglichst Vieler. Die darin zum Ausdruck kommende Zweckorientierung von Strafe
– Naucke spricht von „Nützlichkeitsdenken“69 – hält er für von Grund auf verfehlt.
Naucke erblickt darin die Basis einer Ausweitung des Strafrechts zu letztlich belie-
bigen Zwecken. Es fehle bei Beccaria eine „elementare Begründung“ des Strafrechts,
von welcher Naucke offenbar nicht bloß eine Legitimation, sondern auch eine sichere
Begrenzung des Strafrechts auf einen eindeutig bestimmten Kreis von Aufgaben er-
wartet.

65
Einleitung: Aufklärung, Gegenaufklärung, Dialektik der Aufklärung, in: Schmidt (Hg.),
Aufklärung (Fn. 56), S. 1 – 31 (3 f.).
66
Einführung (Fn. 10), S. XVI ff. Vgl. ergänzend ders., Die Modernisierung des Straf-
rechts durch Beccaria, in: Naucke, Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts.
Materialien zur neueren Strafrechtsgeschichte, 2000, S. 13 – 28; Naucke folgend Vormbaum,
Beccaria und die strafrechtliche Aufklärung in der gegenwärtigen strafrechtswissenschaftli-
chen Diskussion, in: Jakobs (Hg.), Gegen Folter und Todesstrafe. Aufklärerischer Diskurs und
europäische Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 2007, S. 305 – 319; ders., Ein-
führung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 2009, S. 32 f.
67
Dazu Naucke, Deutsches Kolonialstrafrecht 1886 – 1918, in: Zerbrechlichkeit (Fn. 66),
S. 265 – 285.
68
Einführung (Fn. 10), S. XIX.
69
Einführung (Fn. 10), S. XX, XXIV und passim.
Gesetzlichkeit als Instrument der Freiheitssicherung 31

Auch Beccarias Ausführungen zum Gesetzlichkeitsprinzip lehnt Naucke ab. Das


Gesetz werde dadurch „zum unwiderstehlich drohenden Herrschaftsinstrument“,
zumal Beccaria keinerlei Ausnahmen von der Gesetzesgeltung zulasse.70 Für eine
so große Macht des Gesetzes reiche der Verweis auf seine Nützlichkeit aber nicht
aus.71 Naucke kritisiert das Fehlen weitergehender inhaltlicher Bindungen: „Die Ge-
setzesmacht, die Beccaria fördert, ist deswegen so unverständlich, weil Beccaria sich
kaum darum kümmert, was man in die Gesetze schreiben darf, sich nicht überlegt, ob
es einen Zusammenhang von Gesetz und Gesetzwürdigkeit geben muss.“72
Was ist von dieser Kritik zu halten? Naucke kommt das große Verdienst zu, die
wissenschaftliche Debatte um Beccaria und das Strafrechtsdenken der Aufklärung
neu belebt zu haben. Zutreffend ist auch, dass die Zweckorientierung des Strafrechts
gegen Missbrauch nicht gefeit ist. Wenn man Strafrecht als Mittel konzipiert, um ge-
sellschaftliche Sicherheit und damit letztlich menschliches Wohlergehen zu errei-
chen, bleiben dem jeweiligen Gesetzgeber in der Tat erhebliche Spielräume, in
denen er bestimmen kann, was genau unter „gesellschaftlicher Sicherheit“ zu verste-
hen ist. Strafrechtsausweitungen – Naucke spricht auch von „Strafrechtsverstär-
kung“73 – lassen sich damit nicht ausschließen. Letztlich sind instrumentelle Konzep-
te immer abhängig von der genauen Festlegung der mit ihnen verfolgten Zwecke.74
Offen ist allerdings, was Naucke als Alternative zu einem instrumentellen Straf-
rechtsverständnis anzubieten hat. Dazu äußert er sich in seiner Beccaria-Kritik be-
merkenswerterweise nicht. Nur en passant verweist er auf Kant und dessen Begrün-
dungsmodell.75 Das Kantianische Begründungsprogramm war allerdings von An-
fang an umstritten und kann keineswegs als konsentiertes Allgemeingut der prakti-
schen Philosophie gelten. Ob der Rekurs auf Kant eine „elementare Begründung“
von Strafrecht zu leisten vermag, müsste deshalb erst noch gezeigt werden. Man
wird jedenfalls nicht ohne Weiteres davon ausgehen können, dass Kants Ansatz
dem der französischen Aufklärer und Beccarias überlegen ist.
Zu bedenken ist darüber hinaus, dass es Beccaria kaum um eine akademisch-sys-
tematische Begründung seines Reformprogramms gegangen sein dürfte. Zu offen-
kundig waren die Missstände im Strafrecht seiner Zeit, zu dringend der praktische
Reformbedarf. Neu war bei Beccaria vor allem die zusammenfassende Explikation
des aufklärerischen Strafrechtsreformprogramms.76 Die meisten seiner Elemente
waren aber schon von Montesquieu, Voltaire und anderen vorgedacht und vorformu-
liert worden. Eine systematische Begründung von Reformvorschlägen, die ange-
70
Einführung (Fn. 10), S. XXIX.
71
Ebenda.
72
Einführung (Fn. 10), S. XXX.
73
Einführung (Fn. 10), S. XL.
74
Hilgendorf, Begründung in Recht und Ethik, in: Brand u. a. (Hg.), Wie funktioniert
Bioethik? 2008, S. 233 – 254 (237).
75
Einführung (Fn. 10), S. XXVII.
76
Vgl. oben I.
32 Eric Hilgendorf

sichts drängender Unrechtserfahrungen77 jedem Intellektuellen unmittelbar ein-


leuchteten, strebte Beccaria ebenso wenig an wie Voltaire oder die Autoren des
d’Holbach-Kreises.
Aber auch unabhängig von den konkreten Intentionen Beccarias erscheint die Kri-
tik an seinem strafrechtstheoretischen Ansatz fragwürdig. Es trifft zwar zu, dass der
instrumentelle Ansatz, also das „Nützlichkeitsdenken“ im Strafrecht, missbraucht
werden kann. Andererseits kann man die Frage, ob eine bestimmte Strafe überhaupt
geeignet sei, das mit ihr verfolgte Ziel zu erreichen, in hervorragender Weise dafür
einsetzen, Kritik an überzogenen, ineffektiven und damit auch inhumanen Strafen zu
üben. Die übertriebene Grausamkeit und Willkür der europäischen Strafpraxis in der
Mitte des 18. Jahrhunderts, die weder die Gesellschaft sicherer machte noch die Täter
besserte, mithin zum gesellschaftlichen wie individuellen Wohlergehen nichts bei-
trug, musste jedem nachdenklichen Beobachter als unzweckmäßig und damit als ver-
fehlt erscheinen. Die Überprüfung auf Zweckmäßigkeit spielt übrigens bis heute im
Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine wesentliche Rolle: Jedes Gesetz
muss bestimmten Zwecken dienen, zu deren Erreichung es geeignet (also zweckmä-
ßig) und erforderlich (das mildeste Mittel) sein muss.78 Die zu verfolgenden Zwecke
sind allerdings nicht in das Belieben des Gesetzgebers gestellt, sondern müssen mit
bindenden übergeordneten Werten, v. a. der Werteordnung des Grundgesetzes und
ihrem Fundament, der Menschenwürde, vereinbar sein. Im Aufklärungszeitalter
waren es die Ideale der Humanität und des gesellschaftlichen Wohlergehens, an
denen die Gesetzgebung ausgerichtet werden sollte.
Ein weiterer Gesichtspunkt tritt hinzu: Ob ein Mittel geeignet ist, bestimmte Ziele
zu erreichen, ist eine Frage, die letztlich empirischer Natur ist. Daher ist auch die
Frage nach der Tauglichkeit bestimmter Strafen und strafrechtlicher Einrichtungen
zur Sicherung und womöglich Steigerung des gesellschaftlichen Wohlergehens letzt-
lich empirisch zu entscheiden. Es handelt sich also nicht um ein Problem der Meta-
physik oder der Theologie, zu dessen Lösung nur die jeweiligen Fachleute, also Phi-
losophen und Theologen, beitragen können. Die Neukonzeption eines aufgeklärten,
zweckmäßigen und das Wohlergehen aller Betroffenen befördernden Strafrechts
wird durch Beccarias Art der Fragestellung vielmehr demokratisiert und einer kriti-
schen Öffentlichkeit überantwortet. Auch darin liegt ein wesentliches Element eines
aufgeklärten Strafrechts.
Die Probe der Zweckrationalität, also das Messen der eingesetzten Mittel an den
jeweils verfolgten Zwecken, ist deshalb ein durchaus überzeugendes Argument der
Rechtskritik. Dass der zweckrationale Ansatz im Strafrecht sein kritisches Potential
bis heute nicht verloren hat, zeigen die Diskussionen um neue Erscheinungsformen
von Punitivität in der Strafgesetzgebung, Strafrechtsanwendung und im Strafvoll-

77
Zum Zusammenhang von Rechtsreformen und erfahrenem Unrecht Hilgendorf, Recht
durch Unrecht? Interkulturelle Perspektiven, in: JuS 2008, S. 761 – 767.
78
Dreier, Vorbemerkungen vor Artikel 1 GG, Rn. 146, 147, in: ders. (Hg.), Grundgesetz.
Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004.
Gesetzlichkeit als Instrument der Freiheitssicherung 33

zug.79 Wer eine Tendenz zu „zu viel Strafrecht“ wirkungsvoll kritisieren möchte, er-
reicht dies vor allem dadurch, dass er aufzeigt, dass eine Strafrechtsvermehrung kei-
neswegs zwingend zu mehr Sicherheit führt, bisweilen sogar den angestrebten Zielen
abträglich ist. Beispielhafte Bereiche sind etwa das Jugendstrafrecht, das Insider-
strafrecht oder auch das Betäubungsmittelstrafrecht.
Noch viel bedeutsamer ist der zweckrationale Ansatz der Strafrechtskritik in
fremden Strafrechtsordnungen, in denen das Gedankengut der Aufklärung und
seine strafrechtsphilosophischen Ausprägungen Säkularität, Rationalität, Liberalität
und Humanität noch nicht Fuß fassen konnten. Wer etwa den Einsatz von Folter, die
Todesstrafe oder das religiös begründete Totalverbot des Schwangerschaftsabbruchs
kritisieren will, kann durch den Aufweis, dass diese Mittel ihre Ziele nicht oder je-
denfalls kaum verwirklichen können, wesentlich mehr erreichen als durch den Ver-
such einer bislang letztlich doch meist in Beliebigkeit mündenden „absoluten“, etwa
religiös oder metaphysisch argumentierenden Strafrechtsbegründung. Keiner dieser
Versuche hat bisher der rationalen Prüfung auf Dauer standhalten können. Insgesamt
bleibt damit festzuhalten, dass es Rang und Bedeutung des Gesetzlichkeitsprinzips
keinerlei Abbruch tut, dass es in der Strafrechtsphilosophie der Aufklärung zweck-
rational – als Mittel zu Begrenzung der Staatsmacht – eingeführt wurde.

V. Zusammenfassung und Ausblick


Beccarias epochemachendes Buch „Von den Verbrechen und von den Strafen“
kann nur vor dem Hintergrund der französischen Aufklärung um die Mitte des 18.
Jahrhunderts verstanden werden. Dies gilt auch und gerade für das Gesetzlichkeits-
prinzip, dessen zentrale Funktion, die Beschränkung richterlicher Willkür und damit
die Bändigung der Staatsmacht, für das rechtspolitische Programm der Aufklärung
von grundlegender Bedeutung ist. Über Feuerbach prägt das Gesetzlichkeitsprinzip
das deutsche Strafrecht bis heute, auch wenn seine politische Bedeutung als Instru-
ment der Freiheitssicherung mangels konkreter Gefährdungen abgenommen hat. In
vielen Staaten der Welt ist das Strafrecht dagegen immer noch von Richterwillkür
und teilweise grausamen, nutzlosen Strafen geprägt. Das strafrechtspolitische Pro-
gramm der Aufklärung und vor allem seine Kernforderung nach strenger Gesetzlich-
keit sind deshalb nach wie vor hoch aktuell.

79
Hilgendorf, Punitivität und Rechtsgutslehre: Skeptische Anmerkungen zu einigen Leit-
begriffen der heutigen Strafrechtstheorie. In: Neue Kriminalpolitik, Bd. 22 (2010), S. 125 –
131.
Das Paradox der Rechtsentscheidung –
Systemtheorie und Dekonstruktion
Ralph Christensen

Das Gesetz macht noch keine Entscheidung. Dazu braucht es den Richter. Aber
der Richter ist dabei nicht frei, sondern gebunden. Doch worin bestehen seine Bin-
dungen, wenn er das Recht, an das er gebunden ist, selbst erzeugt?
Meist wird diese Frage mit pathetischen Gesten beantwortet. Der Richter sei in
einer kafkaesken Situation, weil er wisse, dass er gebunden sei, aber nicht wisse,
woran. Soviel Nichtwissen kann sich ein Richter bei den heute vorgegebenen Erle-
digungszahlen aber nicht mehr erlauben. Er muss sich vielmehr mit den vorgetrage-
nen Argumenten, Schriftsätzen und Vorentscheidungen in knapper Zeit auseinander-
setzen. Als Alternative zu Kafka bietet sich Carl Schmitt an: die Situation des Rich-
ters wird dann aufgeladen mit der existenziellen Intensität der großen Entscheidung.
Der Richter sei hineingehalten ins normative Nichts und stehe als einsames Subjekt
vor der Notwendigkeit, zwischen Freund und Feind zu wählen. Der von Kommuni-
kation überschwemmte Richter kennt das einsame Subjekt aber nur noch aus der Li-
teratur; seine vielfältigen Äußerungspflichten lösen die große Entscheidung in eine
Vielzahl von kleinen Entscheidungen auf. Daher sind weder Verzweiflung noch De-
zisionismus angebracht, sondern eine nüchterne Analyse der Anschlusszwänge, der
die Richter bei der Erzeugung von Recht ausgeliefert sind.

I. Die Entscheidung verschwindet im Recht


Die traditionelle Auffassung von der richterlichen Bindung ging vom klassischen
Positivismus aus: danach liefert der Gesetzgeber dem Richter vermittels der Sprache
den Inhalt seiner Entscheidung. Mit diesem schlichten Modell von Gewaltenteilung
wollte man sicherstellen, dass Gesetze und nicht Menschen herrschen. Das, was im
Rechtsystem tagtäglich vorgeht, die gerichtlichen Verfahren, die dort vorgetragenen
Argumente und die Begründungsarbeit der Richter kommen darin aber nicht vor. Das
Verfahren dient allenfalls der didaktischen Vermittlung des vorher schon feststehen-
den Ergebnisses. Die Rechtslage kann man allein aus dem Gesetz ablesen.
Der herkömmliche Ansatz konstruiert Rechtserkenntnis nach dem Modell einer
Gegenstandserkenntnis: „Gegenstand der Auslegung ist der Gesetzestext als ,Träger‘
des in ihm niedergelegten Sinnes, um dessen Verständnis es in der Auslegung geht.
,Auslegung‘ ist, wenn wir an die Wortbedeutung anknüpfen, ,Auseinanderlegung‘,
36 Ralph Christensen

Ausbreitung und Darlegung des in dem Text beschlossenen, aber gleichsam verhüll-
ten Sinnes.“1
Wenn man die Rechtslage aus dem Text des Gesetzes ablesen will, stößt man aber
auf eine Schwierigkeit: die vorgeblich objektive Bedeutung ist nicht festzustellen.
Das Gesetz existiert nur in einer Vielzahl von Lesarten; ohne Verfahren und die
dort vorgetragenen Argumente weiß man nicht, welche Lesart die beste ist. Man
will im Gesetz eine Regel finden und sie in der Entscheidung abbilden. Aber niemand
hat eine versionslose Beschreibung. Es fehlt die Regel für die Anwendung der Regel.
Die klassische Lehre reagiert auf diese Schwierigkeit mit einer Vermehrung der
Rechtsquellen. Eine weitere Größe hinter der Rechtsquelle soll sicherstellen, dass
die Regel nicht streitig wird und ihre Anwendung funktioniert: Es wird uns damit
empfohlen, vom bloßen Text auf den Geist des Gesetzes zurückzugehen. Denn, so
heißt es etwa in einer Methodik des europäischen Privatrechts: Auslegung ist „Re-
konstruktion des dem Gesetze innewohnenden Gedankens.“2 Es genüge daher, bei
schwierigen Fällen von der Ebene des Textes zur Ebene der Gedanken oder Prinzi-
pien übergehen. Wenn man sich von diesen Prinzipien leiten lasse, werde vorgezeich-
net, was sozusagen „eigentlich“ hätte im Text stehen können.
Als Gegenstand der Erkenntnis springen die Rechtsprinzipien dort in die Bresche,
wo sich die Bedeutung des Normtextes einer umstandslosen Lektüre versagt. An der
Vorstellung eines objektiv vorgegebenen Rechts ändert sich dadurch nichts; es wird
lediglich der Gegenstandsbezug geändert. Hinter dem Gefüge gesetzlicher Anord-
nungen soll ein weiteres System liegen, zu dem man sich über den bloßen Text hinaus
durcharbeiten muss. Es ist das System der Rechtsprinzipien, wie es schon Savigny
entworfen hat: „Diese herauszufühlen, und von ihnen ausgehend den inneren Zusam-
menhang und die Art der Verwandtschaft aller juristischen Begriffe und Sätze zu er-
kennen, gehörte […] zu den schwierigsten Aufgaben unserer Wissenschaft, ja es ist
eigentlich dasjenige, was unserer Arbeit den wissenschaftlichen Charakter gibt.“3
Dabei gingen weder historische Rechtsschule noch Wertungsjurisprudenz bzw. Dis-
kurstheorie von einem unbeweglichen oder geschlossenen System aus.4 Vielmehr
wird es beeinflusst vom Fortgang der Gesetzgebung und dem gesellschaftlichen Wer-

1
Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl., Berlin, 1979, S. 299. Zum
Problem im Engeren auch Larenz, „Richterliche Rechtsfortbildung als methodisches Pro-
blem“, NJW 1965, S. 1 ff. Wie fest dieser Begriff immer noch etabliert ist, zeigt etwa Buck,
Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, Frankfurt
am Main, 1998, S. 29.
2
Pechstein/Drechsler, „Auslegung und Fortbildung des Primärrechts“, in: Riesenhuber
(Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2006, Berlin, S. 91 ff., S. 91.
3
von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 3. Aufl.,
Heidelberg, 1840, S. 66.
4
Vgl. dazu Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz: entwickelt am
Beispiel des deutschen Privatrechts, 2. Aufl., Berlin, 1983; vgl. dazu auch Larenz/Canaris,
Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Berlin, 1995, S. 314 ff.
Das Paradox der Rechtsentscheidung – Systemtheorie und Dekonstruktion 37

tewandel.5 Die geschilderte Offenheit führt aber nicht in eine kontextuell und prak-
tisch gewendete Semantik des Rechts, vielmehr wird die fehlende Schließung zu
einer epistemischen Aufgabe. Die Offenheit der Prinzipien muss dann als Mangel
definiert werden: „Bei der Umschreibung des Bedeutungsgehalts der allgemeinen
Rechtsgrundsätze gibt es allerdings manche Unsicherheit.“6 Man kann die Prinzipi-
en7 folglich nicht einfach anwenden, sondern benötigt eine darüber hinausgehende
Wertung.8 Dabei zeigen sich Konflikte zwischen verschiedenen Prinzipien:9 „Prinzi-
pien sind normative Aussagen so hoher Generalitätsstufen, dass sie in der Regel nicht
ohne Hinzunahme weiterer normativer Prämissen angewendet werden können und
meistens durch andere Prinzipien Einschränkungen erfahren.“10 Die weiteren Wer-
tungen entnimmt man dem Innersten des inneren Systems, der Rechtsidee, sei
diese nun naturrechtlich, neuhegelianisch, wertungsbezogen11 oder diskurstheore-
tisch12 bestimmt. Mit dem Abschluss dieser Bewegung nach innen landet man wieder
beim Hegelschen Begriff der Totalität und damit einem vertikalen Holismus: „Geht
man ,von unten‘, d. h. von den positiven Einzelregeln auf die ihnen zugrunde liegen-
den Leitgedanken zurück, ,von oben‘, also von der Rechtsidee zu deren historischen
Konkretisierungen in der gegebenen Rechtsgemeinschaft herunter, und lässt sich
übereinstimmend aufgrund beider Gedankengänge ein Rechtsgedanke formulieren,
so handelt es sich um ein rechtsethisches Prinzip.“13 Mit der Ausdehnung des Begriffs
der Auslegung auf einen Fundus an Rechtsprinzipien, zusammengehalten von der
Rechtsidee, hat sich die argumentative Bewegung der klassischen Lehre zur Totalität
gerundet. Dabei ist diese Totalität strukturiert wie die stratifizierte Gesellschaft: über
dem vom Adel der Prinzipien beherrschten Volk der Begriffe thront die Rechtsidee
wie ein König – woran sich zeigt, dass die Bewusstseinsformen der vorangegangenen
gesellschaftlichen Formation auch in der nachfolgenden zunächst noch dominant
bleiben.
5
Vgl. Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im Bürgerlichen Recht, Graz,
1951; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., Wien/New York,
1991; Bydlinski u. a., Das bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, Wien/New
York, 1986.
6
Vgl. dazu Kramer, Juristische Methodenlehre, Bern, 1998, S. 188.
7
Vgl. grundlegend zu diesem Begriff: Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen
Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl., Tübingen, 1990, mit Klassifikation der Prinzipien
S. 87 ff.; sowie Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt am Main, 1984, S. 56 ff.;
Habermas, Faktizität und Geltung, 4. Aufl., Frankfurt am Main, 1994, S. 254 ff.; Koch/Rüß-
mann, Juristische Begründungslehre, München, 1982, S. 97.
8
Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt am Main, 1996, S. 390; Kra-
mer, Juristische Methodenlehre, 1998, S. 188.
9
Vgl. dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, Baden-Baden, 1985, S. 143 ff.
10
Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 3. Aufl., 1996, S. 390.
11
Vgl. dazu Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., 1991,
S. 131 f., S. 297 ff.
12
Vgl. dazu Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 2. Aufl., Freiburg, 1994, S. 201 f.
13
Vgl. dazu Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., 1991,
S. 133.
38 Ralph Christensen

II. Das Recht verschwindet in der Entscheidung


Die Rechtsidee oder der Gedanke der Gerechtigkeit können aber den Konflikt der
gegenläufigen Prinzipien nicht entscheiden. Die vom alteuropäischen Rechtsden-
ken vorausgesetzte objektive Erkenntnisgrundlage für die richterliche Entscheidung
ist nicht verfügbar. Die Gerechtigkeit ist nämlich entweder formulierbar und damit
nicht zentral, oder sie ist zentral, um den Preis, nicht formuliert zu werden. Ohne
Zentrum kann das System der alteuropäischen Rechtsquellen aber nicht operieren.
Wenn der Richter mit seinem Fall bei den Rechtsquellen zur Erkenntnis vorspricht,
erhält er keine Antwort. Der gute Wille des Richters findet damit keinen Erkennt-
nispartner.
Wird aber die ehrwürdige Hierarchie der Rechtsquellen als bloße Metapher be-
handelt,14 stellt sich die Frage, ob man damit nicht in die Position des Dezisionismus
gedrängt wird: „Der Begriff der Positivität legt eine Erläuterung durch den Begriff
der Entscheidung nahe. Positives Recht gelte qua Entscheidung. Das führt auf den
Vorwurf des ,Dezisionismus‘ im Sinne einer willkürlichen, nur von Durchsetzungs-
macht abhängigen Entscheidungsmöglichkeit. Das aber führt in eine Sackgasse, da
schließlich jedermann weiß, dass im Recht nie und nimmer beliebig entschieden wer-
den kann. Irgendetwas ist bei diesem Räsonnement also schiefgelaufen (…).“15 Es
könnte sich also in dem Gegensatz von Rechtsquellenlehre und Dezisionismus ein
grundlegendes Problem ankündigen. Dazu muss man das Zusammenspiel beider Po-
sitionen genauer betrachten.
Die herkömmliche Lehre von den Rechtsquellen sieht den Richter als Diener des
Rechts. In seinem Urteil spricht er nur aus, was in die Hierarchie der Rechtsquellen
bereits vorgegeben ist. In jedem praktischen Fall muss natürlich der Richter die Rolle
der Rechtsquelle als Quasi-Subjekt übernehmen. Der Diener souffliert den Herrn. Es
ist eine Doppelrolle. Und vor allem in jedem wirklichen Verfahren muss sich der
Richter zum Herren über den Inhalt des Rechts machen, um seine Verständnisweise
des Gesetzestextes gegen andere durchzusetzen, ohne selbst Verantwortung zu über-
nehmen. Die Unterworfenheit unter die Rechtsquelle ist damit nur die Fassade, hinter
der sich der Übergang zur richterlichen Entscheidung ohne die Möglichkeit äußerer
Kritik vollziehen kann.
Die Rechtsquellenlehre ist damit eine verdeckte Herrschaftstechnik. Sie liefert die
Selbstdarstellung nach außen gegenüber anderen sozialen Systemen und insbeson-
dere die Rechtfertigung gegen Kritik. Aber mit dem Dezisionismus gibt es eine zwei-
te Variante juristischer Selbstreflexion. Danach ist das Gesetz bedeutungslos. Allein
der Richter entscheidet, was Recht ist. Es handelt sich um die zynische, eher nach
innen zu den Fachkollegen als nach außen zu den Laien gewendete Form des juris-
tischen Bewusstseins. Die beiden Positionen sind keine Gegensätze. Sie ergänzen

14
Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main, 1993, S. 100 und öfter.
15
Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 38 f.
Das Paradox der Rechtsentscheidung – Systemtheorie und Dekonstruktion 39

sich nach dem Muster einer klassischen Zweierbeziehung. Die Rechtsquellenlehre


liefert nach außen hin die soziale Legitimation, während der Dezisionismus in
aller Stille die Entscheidungen trifft. Der Dezisionismus liegt im Schatten der
Rechtsquellenhierarchie und liefert alle Antworten, zu denen diese Instanzen gerade
nicht in der Lage sind.
Wenn zwei gegensätzliche Positionen wie die Rechtsquellenlehre und der Dezi-
sionismus sich als zwei Seiten lediglich der einen Medaille erweisen, dann kann die
Problematik nur diesseits der damit vorgezeichneten Alternative liegen. Das Ausein-
anderfallen des alteuropäischen Rechtsdenkens in Gegensätze verweist auf einen un-
eingestandenen Zwiespalt der Praxis und den Unwillen, diesen zu bearbeiten. Es ist
Reflex der Situation des Rechts der Moderne, das in Anspruch und Wirklichkeit von
einem Widerstreit zwischen Gesetzesbindung und Entscheidungsmacht durchzogen
ist, den es immer wieder nur als Praxis abarbeiten kann und über dem es seinem Be-
griff nach nie zur Ruhe kommt.

III. Das Paradox der Entscheidung


Wollte man die Entscheidung, die der Jurist zu treffen hat, schlicht als eine Wahl
zwischen den im Verfahren vorgetragenen Rechtspositionen nach der Maßgabe einer
Gesetzesnorm betrachten, so bliebe das bestenfalls nichtssagend. In Alternative kön-
nen sich die im Verfahren vorgetragenen Rechtspositionen nur gegenüber stehen,
wenn sie gleichermaßen als Recht betrachtet werden können. Ansonsten wären sie
so weit gar nicht gekommen. Genau dieses Moment macht ja auch die Notwendigkeit
aus, dass sich die beiden Positionen aneinander abarbeiten. Das heißt, die Prozess-
parteien versuchen, durch Argumente der Gegenpartei ihren Anspruch auf das Recht
zu entziehen. Inwiefern ist aber dann noch Entscheidung notwendig? Offenbar des-
halb, weil sie zum einen überhaupt als Recht zur Wahl stehen. Und zugleich deshalb,
weil nur eine von ihnen den Anspruch auf Recht nicht nur erheben, sondern tatsäch-
lich auch verkörpern kann. Das macht ihre Alternativität aus. Auf einen schlichten
Nenner gebracht dreht sich also die Apostrophierung der Entscheidung als Wahl
in dem Kreis sagen zu müssen, dass die widerstreitenden Positionen deshalb zur
Wahl stehen, weil die Wahl nur auf eine von ihnen fallen kann, also weil sie zur
Wahl stehen. Diese Tautologie deutet an, dass hier ein elementares Problem liegt.
Etwas, was nicht so ohne weiteres aufgelöst werden kann, um der Entscheidung
von vornherein ihre Spur zu weisen. Etwas, das daher nicht anderes sein kann,
als die Entscheidung zu treffen, damit es sich um eine Entscheidung handelt. Es
lauert hier ein Paradox, das sich mit Luhmann zunächst abstrakt anzeichnen
lässt: „Manchmal wird die Mehrheit der Möglichkeiten als Alternative bezeichnet,
manchmal nur jeweils eine Version aus der Menge der nicht gleichzeitig realisier-
baren Möglichkeiten; und oft bleibt unklar, welche dieser beiden einander aus-
schließenden Bedeutungen gemeint ist. Diese Ambivalenz des Sprachgebrauchs
scheint ein Indikator dafür zu sein, dass man es mit einer Paradoxie zu tun
40 Ralph Christensen

hat“.16 Für das Recht stellt sich dann die ernste Frage, ob es anders aufgelöst werden
kann als durch schiere Dezision, wie bekanntlich Carl Schmitt meinte.
„Die Paradoxie des Entscheidens“ lässt sich dabei mit Luhmann zunächst nach
dem Vorbild derjenigen der Bobachtung modellieren.17 Analog des Bobachterpara-
doxes sind „Entscheidungsparadoxien (…) unentscheidbar, weil jede Entscheidung
ihr Gegenteil enthält.“18 Die Entscheidung kann sich also nicht erfassen gerade auf-
grund der Voraussetzung, getroffen werden zu können und zu müssen: „Die Form
,Alternative‘ ist also diejenige Form, die eine Beobachtung zu einer Entscheidung
macht. Die Entscheidung bezeichnet diejenige Seite der Alternative, die sie präfe-
riert.“19 So weit, so gut. Aber das Problem wird virulent mit der Frage, „wie denn
die Entscheidung sich zu der Alternative verhält, innerhalb derer sie eine der Mög-
lichkeiten zu bezeichnen hat.“20 Denn die Antwort kann nur lauten, „dass die Ent-
scheidung selbst in der Alternative gar nicht vorkommt. Die Entscheidung ist
nicht etwa eine der Möglichkeiten, die man wählen kann (…). Aber ohne Alternative
gäbe es auch keine Entscheidung; nur die Alternative macht die Entscheidung zur
Entscheidung. Also scheint die Entscheidung das eingeschlossene ausgeschlossene
Dritte zu sein; oder das Beobachten, das die Unterscheidung verwendet, sich aber bei
diesem Vollzug nicht selber bezeichnen kann“.21
Mit anderen Worten, ganz so wie sich die Beobachtung nicht beobachten kann,
kann die Entscheidung sich nicht entscheiden. Und hier droht sich nun jener Abgrund
aufzutun, über den nach Carl Schmitt nur der dezisionistische Sprung helfen kann.
Die Modellierung des Urteils als Rechtsanwendung vermag hier nicht zu helfen. Das
war die vergebliche Mühe des Positivismus, die zugleich gegen ihren eigenen Willen
gezeigt hat, warum sie scheitern musste. Denn der Jurist als Entscheider würde sich
gern unsichtbar machen, damit sich die Entscheidung als Rechtsanwendung vollzie-
hen kann. Das Urteil wird ihm zugerechnet. Es darf aber nicht seine Entscheidung
sein. Er darf sie allenfalls vollziehen, weil sie sonst seine Entscheidung über
Recht und nicht die Entscheidung des Rechts wäre. Allenfalls ist der Entscheider
also, wie Luhmann mit Verweis auf Serres konstatiert, „der Parasit seines Entschei-
dens. Er profitiert davon, dass der Entscheidung eine Alternative zu Grunde liegt. Die
Entscheidung vergeht, er bleibt. Die Entscheidung kann allenfalls noch Thema wei-
terer Kommunikation sein, den Entscheider kann man fragen (und damit anerken-
nen).“22

16
Luhmann, Organisation und Entscheidung, Opladen/Wiesbaden 2000, S. 124.
17
Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, S. 123 ff.
18
Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, S. 131.
19
Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, S. 131 f.
20
Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, S. 133.
21
Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, S. 134.
22
Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, S. 134.
Das Paradox der Rechtsentscheidung – Systemtheorie und Dekonstruktion 41

Hier deutet sich nun auch der Weg nicht einer Auflösung des Entscheidungspa-
radoxes an, wohl aber seiner Bearbeitung im Sinne der Rationalität von Recht:
„Die Entscheidung muss über sich selbst, aber dann auch noch über die Alternative
informieren, also über das Paradox, dass die Alternative eine ist (denn sonst wäre die
Entscheidung keine Entscheidung) und zugleich keine ist (denn sonst wäre die Ent-
scheidung keine Entscheidung).“23 Mit der Befragung des Entscheiders als „re-
entry“, mit einer Beobachtung, die ihn unterscheidet auf die Frage hin, ob seine Ent-
scheidung von Recht zu Recht oder Unrecht besteht, kann der kommunikative Zug
des Entscheidens zum Tragen gebracht werden. Und zwar in den beiden Richtungen
des Vorher und Nachher. Zurückbefragen lässt sich die Entscheidung als Thematisie-
rung ihrer Begründung. Voranbefragen lässt sie sich als Kritik. Denn „kommuniziert
nicht jede Entscheidung auch die Kritik an sich selber, weil sie zugleich mitteilt, dass
sie auch anders möglich gewesen wäre? Die Entscheidung muss, könnte man auch
sagen, eine Meta-Information mitkommunizieren, die besagt, dass der Entscheider
die Autorität oder gute Gründe hatte, so zu entscheiden, wie er entschieden
hatte.“24 Hoffnungslos bleibt die Situation der Entscheidung also nur, wenn man
sie aus der Zeit nimmt, wenn man sie also nur für sich nimmt, anstatt sie in der
Zeit und damit als kontingent zu sich kommen zu lassen. Schneidet man sie von
dem Vorangegangenen ab, mit dem sie natürlich in einen neuen Zustand bricht, so
bliebe in der Tat nichts anderes übrig als mit Thomas Wirtz zu konstatieren, „Argu-
mentation besitzt für die Entscheidung selbst keinerlei Bedeutung und deckelt nur
nachträglich das Begründungsloch.“25 Demgegenüber macht aber Gunther Teubner
zu Recht darauf aufmerksam, dass die „Aufdeckung des Irrationalen nicht etwa das
dezisionistische Ende der Analyse (ist), sondern erst ihr Anfang“26 Daraus ergibt sich
aber, dass „die Ansprüche an die Qualität der Begründungen im Angesichte ihrer Pa-
radoxien“ gesteigert werden. „Oder anders: Das Irrationale der Entscheidung aufzu-
decken, bedeutet (…) nicht, die Gerechtigkeitsfrage zu suspendieren, sondern die
Anforderungen an Gerechtigkeit zu intensivieren.“27 Genau dies eben geschieht,
wenn man das Paradox nicht verdunkelt mit dem Verweis auf die Faktizität, sondern
es erneut aufreißt mit der Frage, warum die Entscheidung nicht anders oder gar ge-
genteilig getroffen wurde.

23
Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, S. 140.
24
Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, S. 141.
25
Wirtz, „Entscheidung. Niklas Luhmann und Carl Schmitt“, in: Koschorke/Vismann
(Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie, Berlin, 1999, S. 175 ff., S. 183.
26
Teubner, „Ökonomie der Gabe – Positivität der Gerechtigkeit: Gegenseitige Heimsu-
chungen von System und différance“, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Sys-
temtheorie, Berlin, 1999, S. 199 ff., S. 200.
27
Teubner, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie, 1999,
S. 199 ff., S. 200.
42 Ralph Christensen

IV. Die dezisionistische Lesart des Paradoxes


Aber ist diese Frage für das Recht überhaupt noch möglich? Die Systemtheorie
liefert zu diesem Problem zwei Lesarten. Eine vor-dekonstruktive in Luhmanns Mo-
nographie „Das Recht der Gesellschaft“ und eine dekonstruktive in Luhmanns Auf-
satz „Die Metamorphosen des Staates“ sowie den Arbeiten Teubners. Betrachten wir
zunächst den vor-dekonstruktivistischen Lösungsvorschlag. Luhmanns Position in
seiner Monographie „Das Recht der Gesellschaft“ ist von einer starken Affinität
zum Dezisionismus geprägt: „Wie Schmitt seine Weimarer Gegenwart in der ver-
spielten Romantik attackierte, so argumentiert auch Luhmann strikt gegenwartsbe-
zogen. Die überfordernde, weil code-multiplizierende Romantik öffnet nur den Blick
auf ein historisches Modell und seine Überwindung, um diesen Erfolg in der Jetztzeit
zu wiederholen. Der unernste, aber keineswegs lächerliche Gegner heißt Dekon-
struktion. Alle systemtheoretische Sympathie für ein differenzbeobachtendes Mo-
dell endet im Moment des geforderten Aufschubs, dem ein Luhmann’sches Pathos
des Abbruchs entgegentritt: ,Die Daseinslage zwingt zu Verkürzungen, die an sich
endlose Interpretation der Welt oder der Texte muss abgebrochen werden.‘ Luh-
manns Recht der Gesellschaft ist durchzogen von einer Polemik gegen dekonstruk-
tives Zögern, hinter der eine Schmitt-analoge Kritik an luxurierendem Egoismus und
verhängnisvoller Neutralisierung steht.“28 Luhmann vertraut hier also auf die Kraft
der Entscheidung zur Entparadoxierung des Rechts. Er gibt allerdings zu, dass die
Entscheidung diese Kraft nicht alleine hat. Denn als Entscheidung macht sie ja deut-
lich, dass auch anders entschieden werden könnte. Deswegen braucht sie die Hilfe
der Begründung. Diese stellt eine Hilfssemantik dar und ist als Supplemente der idea-
le Ansatzpunkt einer Dekonstruktion.29 Das sieht auch Luhmann, wenn er konzediert,
„dass Gründe etwas verschweigen müssen, und zwar ihre Redundanz. Sie verwenden
Unterscheidungen mit ihrer bezeichneten, nicht mit ihrer unbezeichneten Seite. Was
nicht bezeichnet wird, kann auch nicht benutzt werden. Als Verschwiegenes kann es
nicht die Funktion eines Kriteriums übernehmen. Oder doch? Das führt auf die Frage,
ob und wie das Verschwiegene zur Kritik, wenn nicht gar zur ,Dekonstruktion‘ der
juristischen Argumentation verwendet werden kann. Jedenfalls wohl nicht so, dass
man sagt: ich weiß selbst nicht wie. Die Dekonstruktion führt nicht zur Rekonstruk-
tion, sondern allenfalls nach der Regel ,hit the bottom‘ zu einem Therapiebedarf.
Man kann die Belehrung verweigern, bis man selbst hinreichend ratlos ist. Aber
wer soll das Rechtssystem therapieren? Und wer übernimmt zwischenzeitlich die
Funktion?“30 Hier schreckt Luhmann vor dem Potential der Dekonstruktion zurück.
Es bewegt ihn dabei der Schrecken, dass man „sehr gut ohne Religion und vielleicht

28
Wirtz, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie, 1999, S. 175 ff.,
S. 179. Wirtz zitiert hier Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 312.
29
Vgl. zum Sprachgebrauch „Zusatzsemantik oder Supplemente“ Luhmann, „Meta-
morphosen des Staates“, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 4, Frankfurt am
Main, 1999, S. 101 ff., S. 107.
30
Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 370 f.
Das Paradox der Rechtsentscheidung – Systemtheorie und Dekonstruktion 43

ohne Kunst leben“ kann, „aber nicht ohne Recht und ohne Geld“.31 Er fürchtet also
um die Stabilität des Rechtssystems. Diese Furcht treibt Luhmann in die Arme des
Schmitt’schen Dezisionismus. Er trennt die Rechtsanwendung vom Recht. An die
Stelle von substantieller Gerechtigkeit tritt der Zeitdruck der Entscheidung: „Im
Als-ob einer idealen Versöhnung finden individueller Fall und allgemeines Gesetz
zusammen – während die Unberechenbarkeit auf diesem Wege im Gerichtsverfahren
unsichtbar gemacht wird, tritt sie auf dem anderen ins grelle Licht der Zumutung.
Denn wo erst gar keine Ordnung herrscht und die Norm nicht zur Normalität gefun-
den hat, muss eine Entscheidung beiden erst zur Existenz verhelfen. Die Entschei-
dung ist nicht abzuleiten, weil ihr überhaupt nichts vorausgeht. Sie ist dort, wo vorher
Unordnung war.“32 Obwohl Luhmann Carl Schmitt für überschätzt hält33, übernimmt
er hier dessen Denkweise: „Beiden Zugängen (Schmitt und Luhmann) in die Ent-
scheidung ist das Moment inhaltlicher Gleichgültigkeit gemein. In ihm bricht die
Vorgeschichte des Urteils abrupt ab, das selbst wiederum mit seiner nachfolgenden
Begründung nur rhetorisch verknüpft werden kann. Die Systemgeschichte des Ge-
richtsverfahrens ist zentriert um eine Zäsur; Fall, Urteil und seine Begründung be-
gegnen einander in einer Leerstelle (…) Luhmann präpariert den Spruch über
Recht und Unrecht mit Schmitt’scher Entschiedenheit aus dem Verfahren heraus. Ar-
gumentation als Kompromiss einer rhetorisch vermittelten Logik besitzt für die Ent-
scheidung selbst keinerlei Bedeutung und deckelt nur nachträglich das Begründungs-
loch.“34 Stabilität des Rechts wird hier also erreicht, indem man die Entscheidung
von der Argumentation im Verfahren und auch ihrer Zusatzsemantik, dem Supple-
ment der Begründung, radikal abtrennt.
Aber lässt sich das Ziel der Stabilität überhaupt erreichen? Ist die richterliche Ent-
scheidung überhaupt in der Lage, den Aufschub der Bedeutung durch die Kontexte
und damit das Gleiten der Schrift ruhig zu stellen? „Interpretiert wird nicht zur
Selbsterleuchtung, sondern zur Verwendung in kommunikativen Zusammenhängen,
wie immer selektiv dann Ergebnisse, Gründe, Argumente vorgetragen werden und
wie immer die Sicherheit, weitere Argumente nachschieben zu können, zur Inan-
spruchnahme und Anerkennung von Autorität beiträgt.“35 Das Ruhigstellen der
Schrift geschieht also nicht allein durch die Entscheidung, sondern wird ergänzt
durch Argumentation und gute Gründe. Allerdings kann Luhmann nicht verleugnen,
dass Gründe Texte erzeugen und Texte die Möglichkeiten erhöhen, nein zu sagen. Im
„Recht der Gesellschaft“ sieht Luhmann für dieses Problem eine Lösung in der Sti-

31
Luhmann, „Schwierigkeiten mit dem Aufhören“, in: ders., Archimedes und wir, Berlin,
1987, S. 74 ff., S. 79.
32
Wirtz, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie, 1999, S. 175 ff.,
S. 183.
33
Wirtz, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie, 1999, S. 175 ff.,
S. 176, Fn. 4, Nachweis eines Radiointerviews mit Luhmann.
34
Wirtz, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie, 1999, S. 175 ff.,
S. 182 f.
35
Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 364.
44 Ralph Christensen

lisierung der Begründung. In der kontinental-europäischen Tradition wird die Be-


gründung als richtige Exegese eines Textes stilisiert und findet damit die Gestalt
einer objektiven Erkenntnis. In der angelsächsischen Tradition werden Meinungsver-
schiedenheiten im Kollegium dagegen publiziert und damit offengelegt. Darin sieht
Luhmann aber kein Problem: „Allerdings darf der Unterschied, vor allem für die
neuere Zeit, nicht überschätzt werden; und außerdem ist zu bedenken, dass auch
die festgehaltene Einzelfallkontroverse keineswegs den gesamten Ausschließungs-
effekt einer gut begründeten Regel sichtbar macht.“36

V. Die dekonstruktivistische Lesart des Paradoxes


An dieser Stelle, wo Luhmann aus Furcht um die Stabilität des Rechts die Kon-
sequenzen seiner eigenen Theorie abschneidet, wird seine dekonstruktive Selbstkor-
rektur ansetzen. Die Begründung und damit die Argumentation lässt die feste Regel
des Rechts nicht unangetastet, sondern verschiebt sie: Danach markiert jede kollektiv
bindende Entscheidung gleichzeitig die Möglichkeit anderer Entscheidungen: „Dies
Dilemma des Einschlusses des Ausgeschlossenen, dies Problem des Systemgedächt-
nisses, das auch die nichtaktualisierten Möglichkeiten festhält, wird als Text verbrei-
tet. Das multipliziert die Möglichkeiten, den Text anzunehmen oder abzulehnen, das
heißt: die Entscheidung als Prämisse für weitere Entscheidungen zu verwenden –
oder auch nicht. Die Information, also die konstative Komponente des Textes, die
besagt, dass der Text kraft seines Ursprungs verbindlich ist, besagt noch nicht,
dass er im weiteren Verlauf als verbindlich behandelt wird. Dazwischen vergeht
Zeit, und Zeit heißt unabwendbar: Offenheit für Einflüsse aus dem unmarkierten Be-
reich des Ausgeschlossenen. Von der Texttheorie her gesehen, bedeutet dieser Be-
fund, dass die im Text vorgesehenen Unterscheidungen dekonstruierbar sind und
dass der Text selbst dazu den Schlüssel liefert.“37 Ab hier hat sich die Rolle der De-
konstruktion in der Systemtheorie geändert. Sie ist nicht länger eine äußere Kritik des
Rechts, welche von romantischen Individuen aus geht.38 Sie wird jetzt nicht nur in-
nerer, sondern auch konstitutiver Moment des Rechts. Jetzt nimmt Luhmann die Dif-
ferenz zwischen der Entscheidung als Behauptung von Recht und ihrer Kommuni-
kation als Entscheidung, die auch anders sein könnte, wirklich ernst. Das performa-
tive Element der Entscheidung lässt sich vom konstativen Element der behaupteten
Rechtserkenntnis nicht festbinden. Darin liegt für Luhmann jetzt eine Stärke des
Rechts. Es kann sich damit über Irritationen an gesellschaftlichen Strukturwandel
anpassen. Die Begründungstexte der Gerichte speichern nicht einfach Vergangen-

36
Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 370.
37
Luhmann, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 4, 1999, S. 101 ff.,
S. 106 f.
38
Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 172: „Überhaupt darf man die romanti-
sche Bewegung als die vorläufig letzte gezielte Opposition gegen die Dominanz des binären
Codes Recht/Unrecht einschätzen.“
Das Paradox der Rechtsentscheidung – Systemtheorie und Dekonstruktion 45

heit, um sie der Gegenwart als mit sich identischen Sinn zur Verfügung zu stellen,
sondern sie halten nicht aktualisierte Möglichkeiten fest und stellen sich neuen Kon-
texten zur Sinnverschiebung durch Lektüre bereit. Sie öffnen damit das Recht für
„den unmarkierten Bereich des Ausgeschlossenen.“39 Die Regel bleibt also durch
ihre beständige Begründung gerade nicht fest und unangetastet, sondern sie ver-
schiebt sich und macht Metamorphosen durch. Das Recht beendet nicht den Streit
der Bürger in der Stabilität der Entscheidung. Sondern die für das Recht kontingenten
Streitigkeiten der Bürger verschieben ständig das Recht und zwingen es in Metamor-
phosen.40
Aber kann darin eine Stärke liegen, dass das Recht den Bürgern nicht aufgezwun-
gen wird, sondern von diesen beständig verschoben? Die funktional differenzierte
Gesellschaft hat nach Luhmann, evolutionstheoretisch betrachtet, die Schwierigkeit,
Varietät von Restabilisierung abzugrenzen. Anders formuliert, sie hat ihre Restabi-
lisierung dynamisiert, so dass Veränderung zur Konstante wird. Genau an dieser Stel-
le könnte systemtheoretisch die Rolle der Dekonstruktion liegen. Sie hebt in der Be-
gründung neben dem Moment der Reduktion das der Varietät heraus und öffnet damit
das Recht für Außeneinflüsse und sein jeweils Unbeobachtbares. Hier lag der blinde
Fleck der vordekonstruktiven Systemtheorie. Die unbestreitbare Leistung, die Auto-
nomie des Sozialen zu begründen und gleichzeitig mit der System/Umwelt-Unter-
scheidung seine Auskernung in verschiedenen Sprachspielen zu belegen, macht
diese Theorie „notwendig blind für Sinn-Zusammenhänge, die in Kommunikation
und Bewusstsein oder die Gesellschaft und Individuen übergreifen.“41 Das heißt
also, dass die Beobachtung von Sprachspielen, die sich zu Institutionen ausgekernt
haben, mit dem Risiko behaftet ist, diese Systeme zu isolieren. Beziehungen zwi-
schen diesen Sprachspielen muss die Systemtheorie dann mit Hilfe der Kategorie
struktureller Kopplung und Interpenetration ins Innere des jeweiligen Sprachspiels
verlegen. Die Situation der Überdeterminierung eines Ereignisses durch mehrere
Systeme kommt damit nicht in den Blick. Die Systemtheorie beobachtet nur die Ir-
ritationen in einem der beteiligten Systeme, nicht aber ihren Streit: „Die notwendige
Blindheit der System/Umwelt-Unterscheidung wirkt sich dann massiv im system-
theoretischen Begriff der Gerechtigkeit aus. Entgegen verbreiteten Vorurteilen ver-
abschiedet Luhmann nicht etwa Gerechtigkeit als abgestandenes alteuropäisches Ge-
dankengut, sondern platziert sie an zentraler Stelle seiner Rechtstheorie, nun aber
nicht mehr als internen Maßstab für die Entscheidung von Einzelfällen, auch nicht
mehr als höchste innere Norm des Rechts, auch nicht mehr als externen politischen
oder moralischen Wert, an dem sich das Recht ausrichten sollte, sondern als Kontin-
genzformel des Rechts, also als Verhältnis des Rechts zu seiner Umwelt. Nach Luh-
39
Luhmann, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 4, 1999, S. 101 ff., S. 107.
40
Vgl. dazu auch Werber, „Vor dem Vertrag. Probleme des Performanzbegriffs aus sys-
temtheoretischer Sicht“, in: Wirth (Hrsg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und
Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main, 2002, S. 366 ff., S. 381 f.
41
Teubner, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie, 1999,
S. 199 ff., S. 209.
46 Ralph Christensen

mann ist Gerechtigkeit adäquate Komplexität des Rechtssystems, höchstmögliche


innere Konsistenz angesichts extrem divergierender Umweltanforderungen. Aber
auch hier offenbart sich der Mangel, dass die Umweltrelation zwar angezielt, aber
nicht, als solche ,systemtheoretisch‘ erfasst werden kann, sondern nur asymmetrisch,
entweder aus der Innenperspektive des Rechtssystems oder aus einer externen Beob-
achterperspektive. Das Verhältnis von Recht und Gesellschaft selbst, die Überset-
zung von einem System in das andere, verschwindet im blinden Fleck der Sys-
tem/Umwelt-Unterscheidung. Diese Art von Gerechtigkeit wird daher allenfalls
dem Rechtssystem selbst gerecht.“42 Es bedarf also der Supplemente, damit das
Recht umweltsensibel wird und neben der Herstellung von Redundanzen, seine zwei-
te Aufgabe der Varietät, erfüllen kann. Gerechtigkeit bleibt damit als Aufgabe. Die
Kontingenzformel muss ergänzt werden durch die Beobachtung der Art, wie die Ent-
scheidung die Argumente im Verfahren berücksichtigt. Erst nach dieser dekonstruk-
tiven Wendung der Systemtheorie gibt es tatsächlich die von Teubner konstatierte
„enge strukturelle Kopplung von Entscheidungsnetzen und Argumentationsnetzen,
die entscheidungsstrukturierende Kraft von Argumenten und die Steuerung von Red-
undanz und Varietät der Entscheidung durch Argumentation.“43 Der Schritt über den
Dezisionismus hinaus führt also nicht in Sprachfassaden, welche nur die Funktion
haben, die Brutalität der Entscheidung zu verdecken, sondern er führt in eine neue
Problemstellung. Wie kann das Recht einen Ausgleich zwischen Redundanz und Va-
rietät über die Streitigkeiten und Argumente der Bürger herstellen? Wenn die Be-
gründung als Supplement der Entscheidung die Argumente der Verfahrensbeteiligten
aufnimmt, relativiert sie damit den gewaltsamen Charakter der Entscheidung. Die zu
Grunde gelegte Regel wird damit nicht einfach aus dem normativen Nichts den Be-
teiligten oktroyiert. Damit wären wir bei Carl Schmitt. Vielmehr wird über die Ar-
gumentation und die Darstellungszwänge des Richters in der Begründung die Erfin-
dung der Regel für die Mitgestaltung durch die Beteiligten geöffnet. Die Entschei-
dung ist dadurch mit dem vorangegangenen Verfahren und den betroffenen Subjek-
ten verknüpft. Wenn der Bürger eines Rechtsstaats einen Prozess verliert, trifft ihn
nicht das Beil aus dem normativen Nichts. Er hat vielmehr in der Regel die Möglich-
keit, Rechtsmittel einzulegen und diese sind nur sinnvoll, wenn es Maßstäbe gibt, an
denen überprüft werden kann, ob es sich nur um eine Entscheidung oder um eine
Rechtsentscheidung handelt. Die Möglichkeit, dies zu beurteilen, wird durch das
Supplement der Begründung geschaffen. Die Entscheidung sagt nur, dass auch an-
ders hätte entschieden werden können. Aber trotzdem muss der Betroffene sie hin-
nehmen, wenn in der Begründung seine Argumente integriert oder widerlegt sind.
Das Recht ist damit trotz seines Entscheidungscharakters mehr als reine Gewalt.

42
Teubner, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie, 1999,
S. 199 ff., S. 210.
43
Teubner, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie, 1999,
S. 199 ff., S. 200.
Das Paradox der Rechtsentscheidung – Systemtheorie und Dekonstruktion 47

VI. Das Recht als Enthymem


Die Entscheidung als Paradoxie zu begreifen, ist ein Risiko. Denn es macht ein
Stück der vom Gesetz nicht kontrollierbaren richterlichen Macht sichtbar und bringt
damit eine politische Dimension ins Recht. Die Frage ist, ob damit nicht das Recht
seine Einheit verliert und nicht mehr zu unterscheiden ist von der Politik.
Auf den ersten Blick ist die Abgrenzung zwischen Recht und Politik in der Sys-
temtheorie klar. Es handelt sich um verschiedene soziale Systeme. Aber auf den
zweiten Blick wird diese Abgrenzung schwierig. Der Rechtsordnung fehlt ja ein sta-
bilisierender Zentralsinn, ein letzter Obersatz, welcher der richterlichen Erkenntnis
Halt geben könnte. Nach der Verabschiedung der alteuropäischen Rechtsquellenleh-
re wird die Rechtsordnung damit zum Enthymem. Trotzdem scheint Luhmann die
von ihm immer wieder betonte Geschlossenheit des Rechtssystems44 dadurch
nicht für gefährdet zu halten. Zur Stabilisierung dient dabei die Unterscheidung
von Code und Programmen. Codierung ist im Recht die Unterscheidung von
Recht und Unrecht. Programme sind Regeln, die über die Zuteilung dieser Werte
in einem konkreten Fall entscheiden. In komplexen Gesellschaften können diese Pro-
gramme sehr viel an Offenheit für wechselnde Umweltbedingungen aufweisen. Dies
„führt jedoch niemals zur Auflösung der Einheit des Rechts, solange diese im System
durch einen (und nur einen) Code präsentiert wird, der nirgendwo sonst in der Ge-
sellschaft benutzt werden kann.“45 Das Wörtchen „solange“ hat es in sich. Die Ge-
schlossenheit des Rechts hängt daran, dass die Codierung stabil bleibt. Denn mit
Hilfe der Codierung bewältigt das System die Kontingenz und die Vielzahl wechseln-
der Beobachter. Die Codierung schafft dies, indem sie die Kontingenz auf die Pro-
grammebene abschiebt. Aber damit stellen sich für die Codierung dieselben Proble-
me, die wir schon bei der Idee der Gerechtigkeit beobachtet haben. Der Zentralsinn
oder die Codierung kann nur herrschen, wenn er leer bleibt. Sobald man ihn be-
stimmt, wird er zu einer bestreitbaren Aussage neben anderen. Man müsste die Co-
dierung also semantisch gegen die Ebene der Programme abdichten können. „Wie
aber lässt sich die Grenze zwischen einer Codebestimmung und einer semantischen
oder einer semiotischen Unterscheidung ziehen? Ist der Code wahr/unwahr, nur eine
funktionale und referenzlose Diskriminierung oder bereits eine semantisch induzier-
te Beobachtung? Und lässt sich eine semantisch leere Beobachtung überhaupt durch-
führen?“46 Natürlich braucht man zur Beobachtung eine Unterscheidung und inso-
weit ist sie leer nicht möglich. Damit ist das „solange“ der Geschlossenheit des
Rechtssystems eine praktische Frage, die sich in jedem Verfahren stellen kann.
Die Geschlossenheit des Rechtssystems ist nicht einfach vorhanden, sondern sie

44
Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, Kap. 2, S. 38 ff.
45
Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 93.
46
Vgl. dazu Binczek, Im Medium der Schrift. Zum dekonstruktiven Anteil in der System-
theorie Niklas Luhmanns, München, 1994, S. 260.
48 Ralph Christensen

steht auf dem Spiel.47 Sonst unterliegt das Recht dem Risiko der Zweitcodierung
durch andere Unterscheidungen.
Eine solche Zweitcodierung läge vor, wenn die Unterscheidung Recht/Unrecht
inhaltlich besetzt wird und der Begriff des Rechts fixiert wird. Diese Besetzung
muss nicht explizit erfolgen. Sie kann sich vielmehr stillschweigend vollziehen im
Schatten der enthymematischen Struktur der Rechtsordnung. Das Enthymem beruht
also auf der Ableitung des Falls aus dem Allgemeinen, ohne dies ausdrücklich zu
machen. Der Schluss des Enthymems lässt die entscheidenden Prämissen unerwähnt,
indem er offen lässt, was jeder weiß. Seine durchschlagene Kraft gewinnt es aus der
Glaubhaftigkeit eines Systems von Überzeugungen. Es beruht auf Plausibilität.
Schon Aristoteles hatte daher das Enthymem als Umgang mit Wahrscheinlichkeit
verhandelt. Man äußert gewisse Prämissen nicht, da sie sich ohnehin verstehen
und daher als unnötig, langweilig und quälend empfunden würden. Brisanter wird
dies, wenn diese Figur der Aufrechterhaltung zweifelhafter Prämissen dient. Das
Recht könnte auch Unrecht sein. Vor dieser Frage bewahrt allein der bleibende
Stand der Überzeugung. Und den erreicht man am besten, indem man sie nicht aus-
spricht und so dem Angriff der möglichen Negation aussetzt. Das Enthymem zielt auf
Vereinnahmung. Selbstverständliche Prämissen bleiben unausgesprochen und zur
geflissentlichen Komplettierung anheimgestellt. Es erscheint formal als unmittelba-
rer Schluss von a auf b und belässt es beim Stillschweigen über das „aufgrund c“, das
c so scheinbar unangetastet belässt.
Im Schweigen des Obersatzes überhört man das Dröhnen der Hegemonie. So voll-
zieht sich die Usurpierung des Obersatzes durch die Macht. Das gelingt umso besser,
je stärker eben diese Macht zur Bemächtigung ist. Denn damit wird sie in ihrer
schlichten Wirkungsfaktizität unbefragbar. Und das ermöglicht es, das Paradox
durch Verschweigen zum Verschwinden zu bringen. Mit der Vereinnahmung des
letzten Obersatzes von Recht kann die hegemoniale Macht als die Kraft der Depa-
radoxierung auftreten.
Die Frage nach dem Recht von Recht wird damit ersetzt durch die Frage, was
unter den gesellschaftlichen Verhältnissen plausibel ist. Nach einer Antwort braucht
in der azentrisch ausdifferenzierten Gesellschaft nicht lange gesucht zu werden. Po-
litik, Wirtschaft, Wissenschaft, Technologie, Mediensystem, Sozialwesen, Moral
und andere stehen bereit, das Recht durch Zweitcodierung für sich einzunehmen.
Auf diesem Wege soll es gelingen, aus partieller Macht das normative Kapital uni-
versaler Rationalität zu schlagen. Recht droht so vom Austragungsort von Konflikten
zum Vehikel von Durchsetzung von Macht zu werden. Das gilt für das Kosten-Nut-
zen-Denken ebenso wie etwa für den militärischen Kalkül der Bedrohung und Ab-
wehr. Macht, Effizienz, Wahrheit, Machbarkeit, oder Sicherheit treten an die Stelle
der Gerechtigkeit. Das hat dann zur Konsequenz, dass die demokratisch legitimierte

47
Vgl. zu diesem Begriff Laclau, „Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun?“, in:
ders., Emanzipation und Differenz, Wien, 2002, S. 65 ff.
Das Paradox der Rechtsentscheidung – Systemtheorie und Dekonstruktion 49

Ordnungsleistung des Rechts in den Imperialismus der jeweiligen Rationalitäten um-


schlägt.
Wie ist eine solche Zweitcodierung des Rechts zu erklären? Dazu muss man die
Beobachtungsweisen von Systemtheorie und Dekonstruktion kombinieren.48 Wenn
man vor-dekonstruktiv allein von der Unterscheidung System/Umwelt ausgeht,
kann mein eine Zweitcodierung des Rechts nicht erfassen, weil Politik nur Politik
machen kann und Recht nur Recht. Man muss dann annehmen, dass eine außerrecht-
liche Beeinflussung des Rechts unmöglich ist, weil das Recht entweder seine Auto-
nomie behauptet, oder untergeht. Aber schon Luhmann selbst räumt die Möglichkeit
von Grenzverletzungen ein: „Damit sind tiefgreifende Umgestaltungen des Rechts
etwa als Folge politischer Umwälzungen natürlich nicht ausgeschlossen (…). Es
ist bezeichnend genug, dass die nationalsozialistische Umfärbung des deutschen
Rechts nicht primär über Gesetze geleitet wurde, sondern sich drastischer personal-
politischer Mittel bedient. Nur durch außerrechtliche Beeinflussung der richterlichen
Entscheidungspraxis war zu erreichen, dass das gesamte Recht innerhalb kurzer Frist
nach Maßgabe einer neuen ,Gesinnung‘ uminterpretiert wurde.“49 Diese Konzession
ist auch folgerichtig. Denn die grundlegende Codierung eines Sozialsystems ist eine
Unterscheidung und eine solche kann man immer nur semantisch treffen. Eine Se-
mantik lässt sich aber gegen Kontexte nie abdichten und ist deswegen beständig
davon bedroht, Teil des Spiels zu werden. Es stehen sich in einem Rechtsstreit
nicht einfach zwei Sozialsysteme gegenüber, an die dann das Recht verteilt wird, son-
dern es stehen sich zwei Rechtsauffassungen gegenüber, zwei unvereinbare Vorstel-
lungen von Recht und Unrecht.
Hier bewährt sich die von Teubner vorgeschlagene perverse Konstellation Sys-
temtheorie und Dekonstruktion wechselseitig auf ihren blinden Fleck aufsitzen zu
lassen. Die Grundunterscheidung der Dekonstruktion ist die von Signifikant/Signi-
fikat, wobei wir auf der Seite des Signifikats immer nur weitere Signifikanten finden.
Dadurch hat sie Schwierigkeiten, Stabilität zu erklären. Hier hilft die Ersetzung
durch die Unterscheidung von System und Umwelt. Umgekehrt hat die Systemtheo-
rie Schwierigkeiten, die Beziehung Recht/Gesellschaft zu präzisieren. Hier kann ihr
die Unterscheidung von Text/Kontext anstelle der Unterscheidung von System und
Umwelt helfen. Die Vorstellung, dass jede Wiederholung zu einer Verschiebung der
Regel führen kann, macht aus der Form etwas Gespenstisches und Unscharfes. Die-
ser Nachteil bei der Beschreibung von Stabilität hat aber den Vorteil, Veränderungen
besser erklären zu können. Es wird damit deutlich, dass die Codierung nicht so un-
berührt über den Programmen schwebt, wie es die Systemtheorie meist nahe legt. Sie
ist vielmehr über Semantisierung ständig von imperialistischen Übernahmen be-
droht.

48
Vgl. zu dieser Forderung Teubner, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der
Systemtheorie, 1999, S. 199 ff., S. 204 f.
49
Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 3. Aufl., Frankfurt am Main, 1975, S. 149.
50 Ralph Christensen

Daraus ergibt sich die Aufgabe des gerichtlichen Zentrums, die imperialistische
Besetzung des Codes durch die Peripherie abzuwehren. Der von dort vorgeschlagene
Begriff des Rechts muss einem re-entry unterzogen werden: Ist der im Rahmen der
fremden Codierung entwickelte Begriff des Rechts Recht oder Unrecht? Nur durch
diese Arbeit der Reparadoxierung kann man den Zustand, den Luhmann als vorhan-
den beschreibt, erreichen. Indem das Recht als leerer Signifikant erhalten bleibt, wer-
den die kollidierenden Sozialsysteme gezwungen, in der sozialen Interaktion des
Verfahrens herauszufinden, wo die Grenzen der Universalisierung ihrer Logik liegen.
Das Recht kann also als „gentle civilizer“50 funktionieren, wenn die Gerichte das
wahrnehmen, was Teubner mittels eines Wiethölter Zitats als Hauptaufgabe der Ju-
risten bezeichnet: „Rechtspflege als Pflege der Rechtsparadoxien selbst, ihre Erhal-
tung und Behandlung zugleich.“51
Worin liegt der Unterschied zwischen der Performanz des Rechts und der Perfor-
manz der Macht? Der Macht geht es um Dezision, die mit Verfahren und Argumen-
tation nichts zu tun hat. Nur das Ergebnis zählt. Aber der Traum des Dezisionismus
von der Aufhebung des Konflikts in der Entscheidung ist nicht einlösbar. Der Kon-
flikt bleibt. Denn es hätte ja auch anders entschieden werden können. Deswegen
braucht man die Begründung. Aber natürlich reicht auch das nicht. Denn die Ent-
scheidung hat etwas entschieden, was durch Erkenntnis nicht entschieden werden
kann. Deswegen gibt es das Verfahren und die Argumentation. Sie ziehen die Streit-
parteien in die Entscheidung hinein. Auch dadurch wird der Konflikt nicht gelöst.
Aber er hat im Durchlauf durch die Kühlsysteme des Verfahrens seine Temperatur
geändert. Die abgegebene Hitze verändert natürlich auch das Kühlsystem. Es
muss durch Rückkopplung neu justiert werden. Aber nur durch Änderung bleibt
es stabil.
Dem Recht geht es um Aufschub durch Supplemente. Nur dadurch gerät es in Me-
tamorphosen und bleibt lernfähig. Recht wäre damit die Verzögerung und Erschwe-
rung des Machtspruchs durch Verfahren, Argumentation und Begründung. Der Ent-
zug des Rechts aus dem Gesetz in das Verfahren, von dort in die Entscheidung, ihre
Begründung und die daran anschließende Kritik kann negativ begriffen werden als
Ausliefern des Rechts an die Macht. Aber es kann auch positiv begriffen werden
als von Regeln der Kunst geordneter Versuch, die Verdinglichung der Gerechtigkeit
zu verhindern.
Recht ist aus dem Streit der Parteien erst zu erzeugen. Erzeugen heißt aber nicht
etwas zu machen, das gerade fehlt, etwas, das abwesend ist, anwesend zu machen.
Das wäre nur eine Verlängerung der Präsenzmetaphysik. Recht ist weder im Geset-

50
Vgl. dazu Fischer-Lescano/Teubner, „Regime-Collision“, in: Michigan Journal of In-
ternational Law (25), 2004, S. 999 ff., S. 1008 unter Bezug auf Koskenniemi, The Gentle
Civilizer of Nation, Cambridge, 2002.
51
Wiethölter zur Argumentation im Recht: „Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe?“, in:
Teubner (Hrsg.), Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe: Folgenorientiertes Argumentieren in
rechtsvergleichender Sicht, Frankfurt/Main, 1994, S. 89 ff., S. 113.
Das Paradox der Rechtsentscheidung – Systemtheorie und Dekonstruktion 51

zestext anwesend, noch im Sprechen der Parteien, noch in der richterlichen Begrün-
dung. Recht existiert als Aufschub. Weil wir es im Text nicht finden können, deswe-
gen sprechen wir. Und weil wir uns im Sprechen nicht einigen können, deswegen
muss entschieden werden. Aber weil auch anders entschieden werden könnte,
braucht man eine Begründung. Aber weil auch diese zur Überzeugung nicht aus-
reicht, braucht man dazu noch Rechtsmittel. Der Aufschub des Rechts endet auch
nicht mit der Rechtskraft. Denn auch jetzt kann zwischen den Parteien und in der Li-
teratur weiter gestritten werden. Trotzdem: Auch wenn das Recht nie endgültig ge-
funden wird, ist mit seinem Aufschub im medialen Verbund des Verfahrens etwas
erreicht. Das Gefühl des Unrechts ist ein Stück weit artikuliert. Der semantische
Kampf ist ein Stück weit zur Argumentation kultiviert und das Ergebnis liefert wei-
teren Streitfällen bessere Gründe.
II. Allgemeine Anforderungen
an die Umsetzung des Gesetzlichkeitsprinzips
in der Rechtsanwendung
Gesetzesauslegung und strafrechtliche
Interpretationskultur
Jesús-María Silva Sánchez

I. Tradition und Legalismus


1. Bis zum Mittelalter und auch während diesem beschränkte sich das Recht im
Allgemeinen allein auf die Tätigkeit der Richter und der Juristen.1 Das ius commune
gründete seine Wurzeln im Wesentlichen auf gerichtliche Entscheidungen und juris-
tische Gutachten. Dies hatte zur Folge, dass das Recht als geschichtliches Erzeugnis,
als eine Art überlieferte Tradition verstanden wurde. Vorherrschend war folglich ein
Verständnis des Rechts als dynamische, einem ständigen Prozess der Suche und
„Ent-Deckung“ unterworfene Realität. Ihr Ende fand diese Sichtweise erst mit
dem Beginn des Absolutismus. Der Souverän trat in diesem namentlich als Schöpfer
autoritär fundierter Gesetze in Erscheinung,2 das Recht unterlag unabhängig von
konkreter Form oder Inhalt seiner Ausgestaltung. Schlussendlich entstand damit
eine enge Verknüpfung zwischen Recht und Macht,3 dies je nach Prägung des Wil-
lens eines Einzelnen.
2. Vor diesem Hintergrund entwickelten sich schließlich die ersten Züge des Po-
sitivismus. Der Richter des Ancien Régime fungierte als jemand, der anhand der klu-
gen (also prudenten) Entscheidung der Justiz für den Einzelfall (juris-prudentia) die
Machtbefugnisse des Gesetzgebers (und damit des absoluten Monarchen) begrenzte.
Zugestanden wurde ihm dafür, den Richterspruch auf eine freie Auslegung des Ge-
setzes, darüber hinaus allerdings auch auf Analogieschlüsse oder Quellen des unge-
schriebenen Rechts zu stützen.4 Letzten Endes führte das Ausarten dieser Vorgehens-
1
García Pascual, Notas sobre creación e interpretación del Derecho. Jueces, profesores y
legisladores, AFD 1996 – 1997, 603 ff.
2
Während des Mittelalters oblag es dem Fürsten oder dem Kaiser, den Frieden durch seine
Rechtsprechung zu gewährleisten, vgl. Roellecke, Kann Rechtsprechung Politik ersetzen?,
DriZ 1996, 174 ff., 176.
3
Über die Entwicklung von einem eng mit der Gesellschaftsform verknüpften Recht zu
einem Gesetz als Ausdruck der Macht des Souveräns, vgl. Grossi, Mitología jurídica de la
modernidad (spanische Übersetzung: Martínez Neira), 2003, passim, S. 29 ff.
4
Henkel, Strafrichter und Gesetz im neuen Staat, Hamburg 1934, S. 12. Insbesondere zu
den Naturrechtsverbrechen (mala per se) Renzikowski, Mala per se et delicta mere prohibita –
rechtsphilosophische Bemerkungen zum Rückwirkungsverbot (Art. 7 EMRK), Festschrift für
Volker Krey zum 70. Geburtstag, 2010, S. 407 ff., 411 ff.
56 Jesús-María Silva Sánchez

weise allerdings zunehmend dazu, die Tätigkeit der Justiz mit dem Anstrich der Will-
kür einzufärben, was letztlich sogar als deren grundlegendster Wesenszug erschien
und damit den Umstieg auf ein neues Modell notwendig werden ließ.
3. Parallel dazu war es namentlich die bahnbrechende Entwicklung in der Philo-
sophie, die den Weg für ein Rechtsverständnis bereitete, das sich sowohl von einer
rein historischen Orientierung als auch von der willkürlichen Prägung des Absolu-
tismus unterschied und stattdessen die Vernunft in den Mittelpunkt der rechtlichen
Bewertung rückte. Entgegengesetzt zum individuellen Willen des Souveräns sah
das politische Verständnis der Aufklärung den Staat insbesondere dem Gemeinwohl,
der volonté générale, verpflichtet. Dem dergestalt auf der Grundlage eines Sozialver-
trages konstruierten Staat kam in diesem Zusammenhang die Funktion zu, die Frei-
heit des Einzelnen anzuerkennen und tatsächlich zu gewährleisten; übertragen wurde
dieser Gedanke entsprechend auch auf die grundsätzliche Ausrichtung der Rechts-
ordnung.
4. Im Rahmen dieses neuen Grundverständnisses war daher das Recht das Gesetz
und das Gesetz das Recht.5 Frei zu sein bedeutete in diesem Rahmen, von nichts an-
derem abzuhängen als von der Gültigkeit der Gesetze, lag doch deren innerstem
Wesen per se die Anerkenntnis der bürgerlichen Freiheit zugrunde. Im Strafrecht
fand diese Entwicklung hin zur Freiheit des Individuums mit dem Grundsatz nulla
poena sine lege ihren deutlichsten Ausdruck. Im Gegenzug dazu wirkte wiederum
die Freiheit des Richters wie ein Risiko für die Freiheit des Bürgers. Der aus dem
strengen Befolgen der Gesetze entstehende Schaden (so groß dieser auch ausfallen
mochte) schien in diesem Zusammenhang in den Augen der Aufklärung immer noch
geringer als jener, der aus der freien Verfügbarkeit des Rechts in den Händen des
Richters drohte. Es galt für den Richter daher, das Recht lediglich „auszusprechen“,
indem ein konkreter Sachverhalt im Rahmen eines quasi-logischen Vorgehens unter
die Anforderungen des Gesetzestextes subsumiert wurde.
5. In diesen Zusammenhang sind Aussagen wie jene von Montesquieu einzuord-
nen, dass ein Urteil „immer mit dem ausdrücklichen Wortlaut des Gesetzes überein-
stimmen“ müsse, da die Richter der Nation nicht mehr als der Mund seien, „der den
Wortlaut des Gesetzes ausspricht, Wesen ohne Seele gleichsam, die weder seine Stär-
ke noch seine Strenge zu mäßigen vermögen“.6 In diesen Rahmen lässt sich auch Bec-

5
Vgl. Henkel (Fn. 4) S. 15.
6
Montesquieu, De l’Esprit des lois (1748), Livre XI, Kapitel VI (Oeuvres complètes),
1838, S. 268: „les juges de la nation ne sont que la bouche qui prononce les paroles de la loi,
des êtres inanimés qui n’en peuvent modérer ni la force ni la rigueur“. Vgl. auch Art. 47 des
Allgemeinen Landrechts für die Preussischen Staaten vom 5. Februar 1794: „Findet der
Richter den eigentlichen Sinn des Gesetzes zweifelhaft, so muss er, ohne die prozeßführenden
Parteien zu benennen, seine Zweifel der Gesetzescomission anzeigen und auf deren Beur-
theilung antragen“. Außerdem Feuerbach, Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs zu einem
Peinlichen Gesetzbuch für die Chur-Pfalz-Bayerischen Staaten, Giessen 1804, II, S. 20: Die
Aufgabe des Richters könne keine andere sein als „den Einzelfall am Buchstaben des Gesetzes
Gesetzesauslegung und strafrechtliche Interpretationskultur 57

caria fassen, der veranschaulicht, dass die Auslegung der Strafgesetze den Richtern
eben deshalb, weil sie keine Gesetzgeber sind, nicht zukommen kann7. Er geht wei-
ter: „Daher kommt es, daß des öfteren das Schicksal eines Bürgers durch den bloßen
Übergang seines Prozesses aus einem Gerichtshofe zu einem anderen verändert wird.
Daher kommt es, daß öfters Unschuldige ein Schlachtopfer falscher Begriffe, oder
leider! wohl gar aufbrausender Leidenschaften werden, nach welchen öfters die Ob-
rigkeit eine Reihe verworrener Schlüsse für eine rechtmäßige Auslegung des Geset-
zes hält. Daher kommt es, daß einerlei Verbrechen, vor einerlei Gerichten in verschie-
den Zeiten auf verschiedene Weise bestraft werden. Der schwankende Unbestand
willkürlicher Auslegungen übertäubt alsdann die sich immer gleiche und reine Stim-
me des Gesetzes“8. Aus diesem Grund gelte, dass die „Bedrängung von kleinen Des-
poten weit unseliger ist, als die Oberherrschaft eines Einzigen“.9
6. Trotz dieser deutlichen Worte kann es praktisch als gesichert gelten, dass es zu
keiner Zeit einen daraus eigentlich schlüssig zu verlangenden automatisierten Rich-
ter gab.10 Selbst wenn aber doch einmal angenommen werden soll, dass es zu Beginn
des 19. Jahrhunderts so gewesen sein könnte, stünde fest, dass sich die Funktion des
Richters nur wenig später zunehmend zu einer nicht nur auf die Erkenntnis, sondern
auch verstärkt auf die Wertung des Einzelfalles ausgerichteten Tätigkeit wandelte.11
Ausgehend davon hat sich das Verständnis einer interpretativen Anwendung des –
nicht schlechterdings vollständig im Buchstaben des Gesetzes enthaltenen – Rechts

zu prüfen und, ohne nach dessen Sinn oder Geist zu fragen, zu bestrafen wenn der Klang des
Wortes Bestrafung verlangt, freizusprechen, wenn freizusprechen verlangt wird.“
7
Beccaria, Dei delitti e delle pene, 1764, § IV Interpretazione delle leggi:„Nemmeno
l’autorità d’interpretare le leggi penali può risedere presso i giudici criminali per la stessa
ragione che non sono legislatori“.
8
Vgl. Lekschas/Griebe (Hrsg.), Karl Ferdinand Hommel, Des Herrn Marquis von Beccaria
unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen (Breslau, 1778), 1966, § 4. Im italienischen
Original: „Quindi veggiamo la sorte di un cittadino cambiarse spesse volte nel passaggio che
fa a diversi tribunal, e le vite de’ miserabili essere la vittima dei falsi raziocini o dell’ attuale
fermento degli umori d’un giudice, che prende per legittima interpretazione il vago risultato di
tutta quella confuse serie di nozioni che gli muove la mente. Quindi veggiamo gli stessi delitti
dallo stesso tribunale puniti diversamente i diversi tempi, per aver consultato non la constante
e fissa voce della legge, ma l’errante instabilità delle interpretazioni“.
9
„… il dispotismo di molti non è corregibile che dal dispotismo di uno solo“.
10
Vgl. Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahr-
hundert, 1986, S. 3, wo zwei gegensätzliche Modelle beschrieben werden, jenes der strengen
Bindung an das Gesetz und jenes des richterlichen Ermessensspielraumes. Ersteres gehe auf
die Verfassung zurück, während das zweite auf einen methodischen Illusionismus verweise.
Vgl. auch S. 48 f., wo die Entscheidung für einen Legalismus als Reaktion auf die richterliche
Willkür der Strafrechtssprechung zwischen dem 17. und dem 18. Jahrhundert charakterisiert
wird.
11
Vgl. H.-L. Schreiber, Gesetz und Richter, 1976, S. 222, bei dem dieser Umstand als
althergebrachter Gemeinplatz beschrieben wird.
58 Jesús-María Silva Sánchez

als Prozess der Rechtsfindung zweifelsohne zum Schwerpunkt der juristischen Evo-
lution der letzten eineinhalb Jahrhunderte entwickelt.12
7. Während des 19. Jahrhunderts verschwand zunehmend die Vorstellung davon,
den Rechtsstaat in seinem Gehalt allein auf das Prinzip des Ausdrucks individueller
Freiheit gründen zu können. Zur Folge hatte dies, dass sich die Rechtswirklichkeit
von dem politischen Ideal der Aufklärung entfernte.13 Oder, um es anders zu fassen:
Das gesetzlich festgehaltene Recht entwickelte sich auf der Grundlage eines neuen
politischen Programms.14 Das Gesetzlichkeitsprinzip hatte nicht länger allein die
Aufgabe, ein bestimmtes rechtliches Idealbild (nämlich die Freiheit des Bürgers)
zum Ausdruck zu bringen, sondern erschien als politisches Prinzip formeller Selbst-
beschränkung (und damit juristischer Sicherheit), das von einem Gesetzgeber auf den
Weg gebracht wurde, der Freiheit und Ordnung verwaltete. Bei dieser neuen politi-
schen Ausrichtung handelte es sich dabei im Wesentlichen darum, im Rahmen eines
freiheitlich-autoritären Staates größtmögliche Rechtssicherheit und Stabilität zu ga-
rantieren.15
8. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts befanden sich Denkmodelle im Vormarsch,
welche die Rolle des Rechts auf eine individualisierende Annäherung an die Umstän-
de des Einzelfalles relativierten. Insbesondere geschah dies in der sogenannten Frei-
rechtsschule. Im Strafrecht standen die ersten Einflüsse der als solche bezeichneten
jungdeutschen Kriminalistenschule der Strenge und Abstraktheit des Gesetzes ent-
gegen, da sie sich unmittelbar an der Persönlichkeit des Täters orientierten. Zur
Folge hatte dies, dass ein bedeutender Vertreter der Klassischen Schule, Karl von
Birkmeyer, den Vorwurf erhob, die ursprüngliche Idee des nulla poena sine lege droh-
te aufgehoben zu werden.16 Es sollte dem verhältnismäßig radikalen Maßstab der
Modernen Richtung allerdings nur eine kurze Blütezeit beschieden sein. Bereits
im von Liszt’schen Werk war eine Kompromissposition festzustellen, in deren Rah-
men die Gesetzlichkeit als Grenze der spezialpräventiven Orientierung des Richters
erschien. Es zeigte sich das Strafrecht (d. h. das Gesetz) in diesem Zusammenhang als
unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik (d. h. einer auf die Gefährlichkeit des
12
Zaccaria, Límites y libertad de la interpretación, Persona y Derecho 47 (2002), 217 ff.,
219.
13
Interessant ist das vor dem Hintergrund, dass nach der Systemtheorie der Gesetzgeber
und sein Erzeugnis, die Gesetze, nicht dem juristischen, sondern dem politischen System
angehören. Vgl. Grasnick, Methodologisches – oder: Aus gegebenem Anlaß –, GA 2000,
153 ff., 156.
14
Im Strafrecht führte dies zu einer Umstellung vom Schutz subjektiver Rechte hin zu
einem (auch rein formalen) Rechtsgüterschutz.
15
Aus diesem Grund stellte sich im Strafrecht fortan die Frage nach der Legitimität der
Rechtsfigur einer Analogie in bonam partem, die im vorhergehenden juristisch-politischen
Modell nicht denkbar gewesen wäre. Die grundsätzliche Möglichkeit einer solchen Analogie
begünstigte dabei zu einem gewissen Grad die Wiederherstellung der bei dem Wechsel der
juristisch-politischen Modelle verlorengegangenen Freiheit.
16
Was lässt von Liszt vom Strafrecht übrig? Eine Warnung vor der modernen Richtung im
Strafrecht, 1907.
Gesetzesauslegung und strafrechtliche Interpretationskultur 59

Täters abstellenden Strafrechtsidee). Zur Verfügung gestellt wurde dem Straftäter


damit schlussendlich eine Art Magna Charta, die ihn gegenüber den freiheitsbe-
schneidenden Tendenzen einer der Spezialprävention verpflichteten Kriminalpolitik
in Schutz nehmen sollte.17

II. Der Durchbruch der Auslegung


1. Zum Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts trat die Po-
larität zwischen gesetzlicher Norm und richterlichem Urteil immer deutlicher zu
Tage.18 Als theoretisches Postulat war zu jener Zeit noch immer die „Ideologie
der Subsumtion“ als herrschend einzustufen. Nichtsdestotrotz bestand auch das Be-
wusstsein, dass sich der Wert der Rechtssicherheit aus der Epoche der Aufklärung
nicht nur mit der Klarheit der Form des Gesetzes, sondern auch – und vor allem –
mit der Einigkeit über dessen Inhalte (geprägt durch die naturrechtlich-rationale Tra-
dition ebenso wie durch bürgerliche Werte) erklären ließ. Als sich schließlich gegen
Mitte des 19. Jahrhunderts ein Wertewandel abzuzeichnen begann (einerseits durch
einen autoritären Liberalismus, andererseits durch den Einfluss der Werte des Pro-
letariats) konnte das Festhalten am klassischen rechtlichen Formalismus den Verlust
des allgemeinen Konsenses über das Wesen des Rechts nicht verhindern. Daraus
ergab sich eine dritte Phase, von welcher wohl am ehesten als von einer „neuen Ge-
setzlichkeit“ gesprochen werden kann. Geprägt wurde sie nicht nur durch die Einbu-
ße eines inhaltlichen Konsenses, sondern auch durch das Zurückbleiben der klassi-
schen formalen Klarheit. Das alles führte endgültig dazu, dass die Gesetzesauslegung
in den Mittelpunkt der juristischen Evolution rückte.19
2. Gehen wir davon aus, dass dies unser Ausgangspunkt ist, kann zugleich fest-
gestellt werden, dass auch der Endpunkt bereits bekannt ist, der in den charakteris-
tischen Ausprägungen des 20. Jahrhunderts liegt. Es handelt sich dabei um das Phä-
nomen der „Pulverisierung des Gesetzes“, das sich aus dem Bankrott des klassischen
Verständnisses des Gesetzlichkeitsgrundsatzes ergibt, der unserem zeitgenössischen
Recht zugrunde zu liegen scheint.20 Dieser „Bankrott des Gesetzlichkeitsprinzips“,
mit dem wir uns heute noch ebenso wie in den zurückliegenden Jahrzehnten zu be-
fassen haben, geht zweifelsohne auf eine Vielzahl verschiedener Faktoren zurück.
Als sicher darf gelten, dass im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts das Phänomen
der Globalisierung in seiner juristischen Ausprägung einen entscheidenden Anteil
17
Henkel (Fn. 4), S. 32; Ehret, Franz von Liszt und das Gesetzlichkeitsprinzip. Zugleich
ein Beitrag wider die Gleichstellung von Magna-charta-Formel und Nullum-crimen-Satz,
1996, S. 103 ff.
18
Vgl. dazu die Nachweise bei Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung
des Richters an das Gesetz, in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie
und Rechtstheorie der Gegenwart, 1981, S. 79 ff.
19
Zaccaria (Fn. 12), 219.
20
Zagrebelsky, El Derecho dúctil (spanische Übersetzung: Gascón Abellán), 1995, passim.
60 Jesús-María Silva Sánchez

beitrug. Mit sich bringt diese neue Entwicklung eine enorme Pluralität und stete De-
zentralisierung der Quellen gesetzlicher Texte. Konkret zur Folge hat dies, dass der
Grundriss des Rechts zunehmend geprägt wird durch die Verknüpfung staatlicher
Gesetze, internationaler Verträge, Verfügungen supranationaler Gebilde, technische
Richtlinien usw. Für den Durchschnittsbürger sind die normativen Verflechtungen,
die sich aus der Integration all dieser unübersichtlichen Rechtskörper in den recht-
lichen Alltag ergeben, längst nicht mehr durchschaubar, dies zumal die kommunika-
tive Erklärung strafrechtlicher Anforderungen ohnehin auch zuvor schon durch eine
eher komplexe und indirekte Vermittlung geprägt wurde. In der heutigen Zeit nun
erweist sich eine solche Kommunikation zwischen Gesetzgeber und Bürger zuneh-
mend als nahezu unmöglich, fehlt es doch an einer vermittelnden Größe, die nicht nur
in der Lage dazu ist, die sich aus dem normativen Geflecht ergebenden Wirrnisse zu
sammeln und auszuwerten, sondern vor allem auch dazu, die dabei gewonnen Er-
kenntnisse dem ganz normalen Menschen einfach und verständlich nahezubringen.
Daraus ergibt sich, dass der Rechtsprechung immer mehr die Funktion zukommt, ge-
genüber dem andauernden (und unumkehrbaren?) Rückgang der Bedeutung sowohl
des politischen Gesetzgebers als auch der Ausrichtung an einem aufgeklärt-liberalen
Ideal kraft der Fähigkeit zur verständlichen Gesetzesauslegung im Zentrum der
Rechtsordnung einen Ruhepol darzustellen.21

III. Das zeitgenössische Recht


1. Trotz des Vorstehenden erschiene es allerdings übertrieben, etwa mit Roellecke
darauf abzustellen, dass die Rechtsprechung Herrin und Herr des positiven Rechts ist
bis zu dem Punkt, dass weder die Verfassung noch das Gesetz selbst als etwas anderes
wirken als das, was die Rechtsprechung selbst daraus macht.22 Zugestanden werden
muss allerdings, dass das Strafrechtsverständnis unserer Zeit sich ganz erheblich von
jenem des 19. Jahrhunderts unterscheidet.23 Der gesetzliche Positivismus trat dazu
an, sein Ziel der Rechtssicherheit dadurch zu verwirklichen, dass „das Recht auf
das Gesetz reduziert werde, was ein geschriebenes Gesetz meint, das einem jeden
vom Zeitpunkt seiner Veröffentlichung an als bekannt unterstellt werden darf“.24
Es fehlte daher nicht an Maximem wie jener, dass es nicht der Richter sei, der das
21
Grasnick (Fn. 13), 155: „Wir haben nur Richterrecht“. In diesem Zusammenhang sollte
allerdings auch nicht vergessen werden, dass die Justizverwaltung (also die das Gesetz an-
wendende Stelle) sich auf unabhängige und professionelle Richter verlässt.
22
Roellecke (Fn. 2), 175.
23
Vgl. zum Folgenden Silva Sánchez, Constitución europea, legalidad y Derecho penal
económico, in: Bajo Fernández (Dir.), Constitución europea y Derecho penal económico,
2006, S. 253 ff; ders., Vorwort zu Íñigo Corroza/Ruiz de Erenchun Arreche, Los acuerdos de
la Sala Penal del Tribunal Supremo, naturaleza jurídica y contenido, 2007, S. 13 ff.
24
García-Huidobro/Herrera, El hombre y el derecho viven en la tradición, in: Persona y
Derecho 47, 2002, 361 ff., 374: „reduciendo el Derecho a la ley, una ley escrita y que se
presumía conocida por todos desde el momento de su publicación“.
Gesetzesauslegung und strafrechtliche Interpretationskultur 61

Recht auslege, sondern der Bürger selbst, da er es schließlich auch sei, der sich nach
dem Wortlaut des Gesetzes ausrichten müsse („ce n’est pas le juge qui interprète,
c’est le citoyen lui-même, puisque c’est sur le texte de la loi qu’il doit régler ses ac-
tions“).
2. Um der Wahrheit gerecht zu werden, muss allerdings eingeräumt werden, dass
die Zahl der Bürger, die jene Gesetzesblätter lesen, in welchen täglich neue Gesetze
veröffentlicht werden, doch eher überschaubar ist.25 Die Wirkung der Strafgesetze
tritt damit eher auf eine indirekte Art und Weise ein, in deren Zusammenhang
sich allerdings die Feinheiten der detailliert und durchdacht erlassenen Normen na-
hezu zwangsläufig zu verlieren drohen.26 Nach dem Erhalt der Rechtssicherheit und
dem tieferen Sinn des Gesetzlichkeitsprinzips wird daher auf eine andere Weise zu
suchen sein, die sich eher aus den indirekten Folgen der Beziehung zwischen Gesetz
und Richter und wiederum deren Auswirkung und Vermittlung für den Bürger ergibt
als über eine hypothetische – in Wirklichkeit nicht existierende – direkte Beziehung
zwischen dem Wortlaut des Gesetzes und dem Rechtsunterworfenen selbst. Von ganz
entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang allerdings die Garantie
einer verlässlichen Handhabung rechtlicher Grundsätze durch die Rechtsprechung
und – daraus folgend – in ihrem Umfang vorhersehbarer Urteile. Daneben ist eine
intensive und klarstellende Kommunikation zwischen Gesetzgeber und Richter als
weiterer zentraler Aspekt einer Rechtssicherheit gewährleistenden Gesetzesausle-
gung hervorzuheben.27 Es handelt sich dabei dem Wesen nach um einen rein juris-
tischen Dialog, der sich dementsprechend auch auf die juristische Fachsprache
und deren ganz besondere Grammatik beschränkt. Alles in allem ist ein solcher kom-
munikativer Vorgang jedenfalls von grundlegend anderer Art, als dies eine rein for-
mal am Endprodukt des Gesetzestextes orientierte „Ideologie der Subsumtion“ im
Sinn hatte.28

25
García-Huidobro/Herrera (Fn. 24), 374.
26
Anerkannt wird das auch von Kuhlen, Zum Verhältnis vom Bestimmtheitsgrundsatz und
Analogieverbot, in: Festschrift für Harro Otto zum 70. Geburtstag, 2007, S. 89 ff., 94 f., wenn
auch aus einer anderen Perspektive.
27
Der Richter erscheint in diesem Zusammenhang als der „lebendige Vertreter“ des Ge-
setzgebers. Vgl. Binding, Strafgesetzgebung, Strafjustiz und Strafrechtswissenschaft in nor-
malem Verhältnis zu einander, ZStW 1 (1881), 4 ff., 15.
28
Daraus folgt, dass die Lehre, wie bereits angedeutet, die Entscheidung des Gerichts als
Ausdruck eines „praktischen Syllogismus“ aufnimmt, dessen Kern das rechtliche Problem
darstellt und in dessen Randbereich die Umstände des Einzelfalles eine Rolle spielen können.
Intensiv durchdacht zeigt sich dies bei Beccaria (Fn. 7): „Bei der Untersuchung eines jegli-
chen Verbrechens muß der Richter einen förmlichen Vernunftschluß machen. […] Macht der
Richter in einer peinlichen Frage mehr als einen Schluß, entweder freiwillig oder aus Not, weil
er hierzu durch die Untauglichkeit elender Gesetze gezwungen ist, so wird der Ungewißheit
Fenster und Türe geöffnet“ („In ogni delitto si deve fare dal giudice un sillogismo perfetto
(…)“ „Quando il giudice sia costretto, o voglia fare anche soli due sillogismi, si apre la porta
all’incertezza“). Vgl. dazu auch Bockelmann, Richter und Gesetz, in: Rechtsprobleme in Staat
und Kirche. Festschrift für Rudolf Smend zum 70. Geburtstag, 1952, S. 23 ff., 26 ff.
62 Jesús-María Silva Sánchez

3. Es ergibt sich damit, dass das moderne Rechtsverständnis nicht davon ausgeht,
bereits aus dem wörtlichen Inhalt der Gesetze selbst unmittelbaren Einfluss auf das
Verhalten des Bürgers zu nehmen. Angesichts der Detailgenauigkeit der gesetzlich
festgehaltenen Tatbestände erschiene ein solches Ziel schlussendlich unter einem
realistischen Blickwinkel auch nahezu unmöglich. Der Anspruch des Strafrechts
sollte daher grundsätzlich sein, zumindest eine Interaktion zwischen gesetzgebender
und rechtsprechender Gewalt dahingehend zu bewirken, dass sich daraus eine legi-
time und verlässliche richterliche Auslegung ergibt, sprich: eine vorhersehbare Inter-
pretation des Rechts.
4. Vor diesem Hintergrund fordert das Strafrecht vom Gesetzgeber zunächst ein
gewisses Legitimitätsmoment: das der demokratischen Fundierung. In Ergänzung
dazu ist ein weiterer Beitrag zu verlangen, der die Verlässlichkeit der Auslegung be-
günstigt, namentlich die größtmögliche Verständlichkeit und Eindeutigkeit der anzu-
wendenden Norm.
Die demokratische Legitimationsgrundlage bringt dabei zwei wesentliche Aspek-
te mit sich: Zum einen den öffentlichen Diskurs, der zur Bildung jener Mehrheiten
führt, die der Erlass neuer Gesetze erfordert (diskursorientierte Demokratie), zum
anderen eine Anpassung an grundlegende Prinzipien und an Grundrechte (verfas-
sungsorientierte Demokratie).29
5. Von dem einzelnen Richter fordert das Strafrecht in diesem Zusammenhang zu-
nächst eine Orientierung am Gesetzestext, darüber hinaus aber auch die Achtung ver-
fassungsrechtlicher Grundsätze als Grundstein der demokratischen Legitimation des
Urteils. Zudem sollte der Richter auch der Berücksichtigung der Auslegungsmetho-
den der Rechtswissenschaft verpflichtet sein, die ebenfalls einen großen Anteil zur
Verlässlichkeit der Rechtsanwendung beizutragen im Stande sind.30 Diese Grundaus-
richtung des Rechtsprechenden, die glücklicherweise zunehmend erfüllt und berück-
sichtigt wird, umfasst damit schlussendlich ein ganzes Bündel zu beachtender Fak-
toren.31

29
Nachdem dieses Thema jahrzehntelang relativ wenig bearbeitet wurde, waren in den
letzten zwanzig Jahren intensive monographische Bearbeitungen zu verzeichnen. Unter an-
deren stechen dabei heraus: Lewisch, Verfassung und Strafrecht. Verfassungsrechtliche
Schranken der Strafgesetzgebung, 1993; Lagodny, Strafrecht vor dem Schranken der Grund-
rechte, 1995; Appel, Verfassung und Strafe, 1998; Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfas-
sungsstaat, 1998.
30
Anschaulich Remmers, Der politisch indifferente Richter: Leitbild der Dritten Gewalt?,
in: Festschrift für Rudolf Wassermann zum 60. Geburtstag, 1985, S. 165 ff.
31
Vgl. in diesem Sinn Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsan-
wendung, 1996, S. 71 ff., S. 86.
Gesetzesauslegung und strafrechtliche Interpretationskultur 63

IV. Die – in der Strafrechtsdogmatik fundierte –


Gesetzesrekonstruktion durch den Richter
1. In der Praxis läuft all das darauf hinaus, dem Strafrichter eine (durch das Kri-
terium der methodischen sowie axiologischen Vernunft gekennzeichnete) Kompe-
tenz zur Rekonstruktion der Gesetze zuzuerkennen.32 Es handelt sich dabei um ein
Rekonstruktionsansinnen, für welches nicht zuletzt der Beitrag der Strafrechtsdog-
matik von fundamentaler Bedeutung ist.
2. Wie auch bisher wird der Ausgangspunkt eines solchen Vorgehens sicherlich
bei der Interpretation der Gesetze liegen, dort namentlich bei der sogenannten teleo-
logischen Auslegung, die seit jeher den größten Teil der konstruktiven Tätigkeit des
Richters und seines Kommunikationsprozesses mit dem Gesetz darstellt.33 Nichts-
destoweniger ist darauf hinzuweisen, dass dieses Vorgehen durch die Vertreter
einer strengen Subsumtionsideologie zu Beginn mit harten Worten verworfen
wurde.34 So besteht etwa Beccaria darauf, dass „es ein ebenso gefährlicher wie ge-
meiner Grundsatz (ist), daß man gleichsam in die Seele und die Absichten des Ge-
setzes dringen und den Sinn desselben zu Rate ziehen müsse. Das heißt, den Damm,
welcher dem Strom der Meinungen vorgebaut ist, durchstechen und ihnen freien Lauf
lassen“35. Denn „jeder Mensch hat seinen eigenen Standpunkt. Ein und eben derselbe
Mensch sieht einerlei Gegenstände zu verschiedenen Zeiten auf ganz unterschiedli-
che Art. Also würden der Geist und die Absicht eines Gesetzes das Ergebnis einer
guten oder schlechten Logik des Richters sein. Dessen gesunde oder verdorbene
Säfte, ein aufwallender Sturm seiner Leidenschaften, die Schwäche und Dürftigkeit
des Angeklagten, des Richters Verbindungen mit dem beleidigten Teile und die üb-
rigen gering scheinenden Ursachen, welche das veränderte Gemüt des Menschen wie
Wellen herumtreiben, würden auf dieses wichtige Geschäft des Richters widrige Ein-
flüsse verbreiten.“ Und dann mit den oben bereits zitierten Worten: „Daher kommt
es, daß des öfteren das Schicksal eines Bürgers durch den bloßen Übergang seines
Prozesses von einem Gerichtshofe zu einem anderen verändert wird. Daher
kommt es, daß öfters Unschuldige ein Schlachtopfer falscher Begriffe, oder leider!
wohl gar aufbrausender Leidenschaften werden, nach welchen öfters die Obrigkeit
eine Reihe verworrener Schlüsse für eine rechtmäßige Auslegung des Gesetzes hält.
Daher kommt es, daß einerlei Verbrechen, vor einerlei Gerichten in verschiedenen
32
Vgl. dazu auch den programmatisch wirkenden Satz von Binding (Fn. 27), 29: „Die
Praxis aber darf über dem einzelnen Paragraphen das Gesetz als Ganzes und über dem Gesetz
das Recht nicht übersehen.“
33
Vgl. Silva Sánchez, Zur sogenannten teleologischen Auslegung, in: Festschrift für
Günther Jakobs zum 70. Geburtstag, 2007, S. 645 ff. Dargestellt wird dabei die enge Ver-
knüpfung dieser Auslegungsfigur mit dem dogmatischen System.
34
Für diese ging es schlussendlich darum, jede Form der Interpretation zu verbieten. Bei-
spielsweise enthielt das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 das ausdrückliche Verbot einer
Gesetzesauslegung jenseits der Grenzen des ausdrücklich Vorgegebenen.
35
„Non v’è cosa piú pericolosa di quell’assioma comune che bisogna consultare lo spirito
della legge. Questo è un argine rotto al torrente delle opinion“.
64 Jesús-María Silva Sánchez

Zeiten auf verschiedene Weise bestraft werden. Der schwankende Unbestand will-
kürlicher Auslegungen übertäubt alsdann die sich immer gleiche und reine Stimme
des Gesetzes“.36
3. Auch heutzutage sieht sich ein der teleologischen Interpretation verbundenes
Auslegungsverständnis der Skepsis jener ausgesetzt, die dafür eintreten, dem Text
und der Grammatik des Gesetzes streng verhaftet zu bleiben, da sich nur ein solches
Vorgehen mit der Garantie der Rechtssicherheit und damit dem Prinzip der Rechts-
staatlichkeit vereinbaren lasse37.
4. Zuzugestehen ist sicherlich, dass Gesetze „in der Vorstellung vieler Menschen
einen göttlichen Ursprung“ haben. Haft bemerkt dazu: „Sie sind die älteste juristi-
sche Erfindung und werden mit Ehrfurcht behandelt“.38 Dem aber steht entgegen,
dass die Gesetze letztlich „nur vom Menschen geschaffene Hilfsmittel“ sind, „die
durchaus profanen Aufgaben dienen und die auch mängelbehaftet sind.“ Es gilt
daher, dass „ein erheblicher Teil der Arbeit der Strafrechtswissenschaft“ schlicht
darin besteht, „diese Mängel zu reparieren.“ Es gilt daher für Haft abschließend
die zustimmungswürdige Erkenntnis: „Gesetze müssen darum zwar selbstverständ-
lich mit Respekt, aber auch mit kritischen Augen gelesen werden.“39
5. Teilweise wird in diesem Zusammenhang vertreten, die Tätigkeit des Gesetzes-
interpreten – sei es ein Richter oder ein Rechtswissenschaftler – solle ausschließlich
darin bestehen, Vorschläge de lege ferenda zu erarbeiten, anhand derer der Gesetz-
geber seiner Verantwortung nachkommen könne, die „Fehler“ der Gesetze zu „repa-
rieren“. Allerdings lässt sich eine solche Herangehensweise nicht mit dem Anspruch

36
Vgl. Beccaria (Fn. 7): „Ciascun uomo a il suo punto di vista, ciascun uomo in differenti
tempi ne ha un diverso. Lo spirito della legge sarebbe dunque il risultato di uno buona o
cattiva lógica di un giudice, di una facile o malsana digestione, dipenderebbe dalla violenza
delle sue passioni, dalla deboleza di chi soffre, dalle relazioni del giudice coll’offeso e da tutte
quelle minime forze cha cangiano le apparenze di ogni oggetto nell’animo fluttuante del-
l’uomo (…) Quindi veggiamo gli stessi delitti dallo stello tribunale puniti diversamente in
diversi tempi, per aver consultato non la constante e fissa voce della legge, ma l’errante
instabilità delle interpretazioni.“
37
Vgl. die Darstellung von Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Prag-
matik, in: Festschrift für Heike Jung zum 65. Geburtstag, 2007, S. 231 ff., zurückhaltend
S. 246 f.
38
Vgl. Haft, Kritische Anmerkungen zur „Auslegung“ von Straftatbeständen, Festschrift
für Th. Lenckner zum 70. Geburtstag, 1998, S. 81 ff., 93. Die Überschätzung der Strafge-
setzgebung „in ihrer Leistungsfähigkeit und in ihren Leistungen“ war seinerzeit nach Binding
schlichtweg als „das bedeutendste der Grundübel unseres Rechtszustandes“ anzusehen. Denn:
„Von ihm erscheint nicht nur das Laientum befallen, welches diesem seinen Irrtum in den
Parlamenten und auf der Richterbank praktische Folge giebt, sondern ebenso das gelehrte
Richtertum, die Gesetzgebung selbst und die in Ehrfurcht vor deren Ansprüchen das Haupt
beugende Wissenschaft“: (Fn. 27), S. 7.
39
Vgl. Haft (Fn. 38), S. 93. Für Binding (Fn. 27), S. 18 steht fest, dass „die Theorie sowohl
als Auslegerin wie als Beurteilerin der beständigen Fühlung mit der lebendigen Rechtsan-
wendung gar nicht entbehren kann: daß die echte Rechtswissenschaft stets eine Wissenschaft
des positiven praktischen Rechtes sein muß.“
Gesetzesauslegung und strafrechtliche Interpretationskultur 65

einer verfassungsrechtlichen Demokratie, bei der es den Richtern schlussendlich in


Wirklichkeit nicht nur obliegt, den Wortlaut der Gesetze wiederzugeben, sondern das
Recht auch bewusst hinsichtlich der Ziele und Wertungen der Rechtsordnung zu kon-
kretisieren40. Tatsächlich sieht das Grundgesetz eine Bindung der rechtsprechenden
Gewalt an Gesetz und Recht vor (Art. 20 Abs. 3 GG). Die Entscheidung im Einzelfall
über das „Ob“ und „Wie“ der Strafbarkeit muss der Gesetzgeber den dazu berufenen
– an Gesetz und Recht gebundenen – Strafgerichten überlassen.41
6. Was wiederum das Betätigungsfeld der Wissenschaft anbelangt, kann festge-
stellt werden, dass sowohl deren Selbstverständnis als auch und vor allem deren Pra-
xis ziemlich weit von einer der wortgenauen Wiedergabe des Gesetzes verpflichteten
Auslegung entfernt sind. Vermehrt wird in diesem Rahmen insbesondere die Wieder-
herstellung und Korrektur des Gesetzestextes angestrebt. Die teleologische Rekon-
struktion des Gesetzes ist daher in diesem Umfeld – ob bewusst oder unbewusst –
omnipräsent42. Wie Freund es sehr schön formuliert hat: „Zwischen dem Gesetz
und dem Sachverhalt des konkreten Falles steht die Straftatlehre, die nicht zuletzt
verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen muss. Nur dann sichert sie die
Bindung des Richters an Gesetz und Recht. Sie entlastet den Gesetzgeber von Pro-
grammierungsaufgaben, die er selbst gar nicht angemessen erfüllen kann. Vor rich-
terlicher Willkür schützt sie besser, als es der Gesetzgeber je tun kann. Sie ermöglicht
es ihm überhaupt erst, seiner eigentlichen Regelungsaufgabe gerecht zu werden,
nämlich der gesetzlichen Bestimmung der Strafbarkeit i. S. einer (doppelten) Fest-
legung durch den Wortlaut und den daraus ersichtlichen Zweck der Vorschrift“.43

V. Wortlaut und Tradition


1. So scheint der Wortlaut des Gesetzes trotz seiner theoretisch enormen Bedeu-
tung tatsächlich nicht immer eine feste Grenze der Auslegung darstellen zu können.
Denn er bringt zahlreiche Probleme mit sich, die offenbar werden, sobald es um die
konkrete Anwendung der Gesetzessätze geht. Spätestens dann werden z. B. Druck-

40
Deswegen kann der Richter als „Gesetzgeber zweiter Stufe“ charakterisiert werden:
Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? Eine rechtslinguistische Untersuchung, 1989, S. 5.
41
So auch Freund, Die Definitionen von Vorsatz und Fahrlässigkeit. Zur Funktion ge-
setzlicher Begriffe und ihrer Definition bei der Rechtskonkretisierung, in: Festschrift für
W. Küper zum 70. Geburtstag, 2007, S. 63 ff., 64.
42
Kritisch Lagodny, Strafrechtsdogmatik und Strafrechtsdidaktik auf der Suche nach dem
Wortlaut des Gesetzes, in: Grundlagen des Straf- und Strafverfahrensrechts, Festschrift für
K. Amelung zum 70. Geburtstag, 2009, S. 51 ff., 52: „Die Unterschätzung des Wortlauts in der
Lehre wird durch eine Überschätzung der Dogmatik verstärkt: Deren Erkenntnisse scheinen
für uns derart im Mittelpunkt zu stehen, dass wir darüber eben den Gesetzestext vergessen
oder ihn als „quantité négligeable“ betrachten“.
43
Freund (Fn. 41), S. 64; auch Hassemer (Fn. 37), S. 255: „Vermittlungsfunktion“. Au-
ßerdem Silva Sánchez (Fn. 33), S. 645 ff.
66 Jesús-María Silva Sánchez

fehler, Redaktionsversehen und inhaltliche Irrtümer des Gesetzgebers für die ganz
konkrete Gesetzesanwendung relevant44.
2. Geht es etwa um Druckfehler (Rechtschreibfehler oder Fehler bei der Veröf-
fentlichung), können Divergenzen zwischen dem veröffentlichten Text aus dem Ge-
setzblatt und der eigentlichen Entscheidung des Parlaments zum Vorschein kommen.
In diesem Fall aber sollte unzweifelhaft sein, dass ein Richter ausschließlich dem ur-
sprünglich gewollten, originalen Text und nicht etwa der publizierten Fassung ver-
pflichtet ist. Von sogar noch größerem Interesse ist der Umgang mit redaktionellen
Versehen,45 obwohl es zuweilen schwerfällt, den „Redaktionsirrtum“ des Gesetzge-
bers genau zu bestimmen46 und ihn insbesondere von anderen Irrtümern abzugrenzen
(etwa einem Inhaltsirrtum, oder aber einem Irrtum über rechtliche Grundkonzepte, in
deren Rahmen wiederum ein Redaktionsversehen auftreten kann). Bei diesen Feh-
lern geht es darum, dass der Gesetzgeber etwas Bestimmtes zum Ausdruck bringen
wollte, sich aber schlecht ausdrückte und daher tatsächlich etwas grundlegend ande-
res erklärte. Bei einem Inhaltsirrtum handelt es sich dagegen darum, dass der Gesetz-
geber etwas anderes hätte ausdrücken müssen, um das erstrebte Ziel zu erreichen,
dies aber aus irgendeinem Grund nicht wollte oder nicht zu formulieren verstand.
3. Als entscheidende Frage bleibt damit offensichtlich, ob der Wortsinn des Ge-
setzes tatsächlich als Grenze für die juristische Auslegung gelten kann, wenn Redak-
tionsversehen oder inhaltliche Irrtümer in Rede stehen. Für Jahr stellt es sich im
Rahmen seiner Bearbeitung des Problems als entscheidend dar, ob generell einer ob-
jektiven oder einer subjektiven Auslegungstheorie gefolgt wird. Da letztere den tat-
sächlichen Willen des Gesetzgebers umfasse, solle die Grenze der Interpretations-
möglichkeit des Gesetzes nicht bei dessen Wortlaut liegen, sondern es zulässig
sein, diesen im Nachhinein zu berichtigen.47
4. Das Problem reicht insgesamt gesehen sogar noch weiter, dies dahingehend,
dass selbst der eigentliche Begriff des „Wortlautes“ mehrdeutig verstanden werden
kann. Auf der einen Seite könnte er so aufgefasst werden, dass sich jede Interpreta-
tionsmöglichkeit eines Begriffes im Rahmen dessen zu bewegen hat, was durch den
alltäglichen Sprachgebrauch vorgegeben wird (also durch die Regeln der Umgangs-
sprache). Andererseits könnte in diesem Zusammenhang aber auch – alternativ oder

44
Vagheit und Porosität der Sprache können hier beiseitegelassen werden. Zum Thema
neuerdings Schünemann, Vagheit und Porosität der Umgangssprache als Horizont extensio-
naler Rechtsfortbildung durch die Strafjustiz, in: Strafrecht als Analyse und Konstruktion.
Festschrift für I. Puppe zum 70. Geburtstag, 2011, S. 243 ff.
45
Behandelt wird dieses Thema bereits umfänglich bei Binding, Handbuch des Strafrechts,
Erster Band, 1885, S. 450 ff., der zunächst zwischen „Redaktionsversehen“ und einfachen
Schreib- oder Druckfehlern unterscheidet und sich darüber hinaus gegen Auslegungsmani-
pulationen verwehrt, die dem Text zuwiderlaufen.
46
Jahr, Redaktionsversehen, in: Strafgerechtigkeit. Festschrift für Arthur Kaufmann zum
70. Geburtstag, 1993, S. 141 ff.
47
Vgl. Jahr (Fn. 46), S. 156 ff.
Gesetzesauslegung und strafrechtliche Interpretationskultur 67

kumulativ – der mögliche Sinngehalt der Gesetzeswörter im Rahmen eines gramma-


tisch-normativen Verständnisses festgestellt werden.
5. Fraglich bleibt auch, ob die Wortlautgrenze sich im Rahmen des allgemeinen
Sprachgebrauches erschöpft48 oder ob in diesem Zusammenhang etwa ein wissen-
schaftliches Fachverständnis zu berücksichtigen sein sollte49. Unter anderen wissen-
schaftlichen Fachverständnissen kommt die juristische Fachsprache besonders in
Frage. Eine solche juristische Begriffsverständnisvorgabe könnte dabei etwa
durch eine Legaldefinition (aus dem Strafgesetzbuch selbst) vorgegeben werden
oder sich auch aus dem außerstrafrechtlichen Zusammenhang ergeben, in welchen
die zu beurteilende Angelegenheit fällt. Auch in diesem Bereich gehen die vertrete-
nen Meinungen letztlich weit auseinander. Namentlich Hassemer tritt für eine Ori-
entierung am allgemeinen Sprachgebrauch ein, erweitert durch die Frage nach dem
„möglichen“ Sinn.50 Im Gegenzug dazu verfechten wiederum andere Autoren den
Vorrang einer Orientierung an der juristischen Fachsprache51, sogar am Begriffsver-
ständnis des strafrechtlichen Normativismus.52
6. Zu beachten ist schließlich auch, dass der Rückgriff auf den Wortlaut eines
Strafgesetzes spätestens dann praktisch an Bedeutung verliert, wenn es um die Aus-
legung normativer Tatbestandselemente oder sogar von Blankettstrafgesetzen geht,
die allein anhand einer systematischen Herangehensweise erschlossen werden kön-
nen. Fraglich ist, ob vor diesem Hintergrund die These der generellen Begrenzung
der Auslegung durch den Gesetzeswortlaut nicht grundsätzlich abwegig erscheint.
Ob man vorzugsweise von einer grammatischen oder etwa von einer systematischen
Auslegung zu sprechen neigt, hängt in diesem Zusammenhang letztendlich bis zu
einem gewissen Grad von der grundsätzlichen Ausrichtung ab, die man aufnimmt.
Zunehmend entfernt sich das generelle Auslegungsverständnis von der Vorstellung
des Gesetzeswortlautes als genau umrissenem Ganzen und scheint sich stattdessen
vielmehr an einem eher fragmentarischen Verständnis des Gesetzestextes unter

48
Schon J. L. Austin, A Plea for Excuses (1956 – 1957), in: White (ed.), The Philosophy of
Action, 1968, S. 19 ff., 27 betonte: „Ordinary language is not the last word: in principle it can
everywhere be supplemented and improved upon and superseded. Only remember, it is the
first word“ (kursiv im Original).
49
Zur Problematik Montiel/Ramírez, Von Biologie-Studenten als Kellner bis zu Richtern
als Biologen. Zur Entscheidung des BGH über halluzinogene Pilze und der Verweis auf die
Experten im Strafrecht, ZIS 10/2010, S. 618 ff.; anders Scheffler, Von Pilzen, die keine
Pflanzen, von Kolibris, die Dinosaurier, und von Walen, die Fische sind. Zu biologischer
Fachsprache und Wortsinngrenze im Strafrecht, in: Strafrecht als Analyse und Konstruktion.
Festschrift für I. Puppe zum 70. Geburtstag, 2011, S. 217 ff.
50
Hassemer, Crítica al Derecho penal de hoy, (spanische Übersetzung: Ziffer), 1998,
S. 34 f.
51
So auch schon Binding (Fn. 45), S. 452 f.
52
Kritisch F.-Ch. Schroeder, Die normative Auslegung, JZ 2011, S. 187 ff. m.w.N.
68 Jesús-María Silva Sánchez

dem Einfluss der zu beurteilenden Konfliktkonstellation, insbesondere der Gegeben-


heiten des Einzelfalles, zu orientieren.53
7. In diesem Zusammenhang ist eine skeptische Einstellung gegenüber der Leis-
tungsfähigkeit des Wortlauts als Grenze der Gesetzesauslegung vollauf verständ-
lich54. Auf der Suche nach Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit scheint ein kom-
plementärer Blick auf die Auslegungskultur der Juristen angezeigt, was bei uns be-
deutet: auf das Instrumentarium der strafrechtlichen Dogmatik55. Dies entspricht
auch unserer wissenschaftlichen Selbstvorstellung und -darstellung. Wie Hruschka
ausgeführt hat: „Eine Strafrechtslehre, die sich als Wissenschaft versteht, ist danach
nicht von den Zufälligkeiten positiver Gesetzgebung abhängig, sondern untersucht
einen in der Geschichte gewachsenen, überlieferten Corpus von Begriffen“.56 Dieser
überlieferte Corpus von Begriffen, der einem ständigen Prozess der Suche und „Ent-
Deckung“ unterworfen ist und unser echtes ius commune darstellt, heißt ja Straf-
rechtsdogmatik und prägt unsere Interpretationskultur. Sich dieser dogmatisch me-
diatisierten Auslegungskultur verpflichtet zu fühlen, schließt dabei Veränderungen
keinesfalls aus, erfordert aber andererseits auch, sollten solche tatsächlich angestrebt
werden, eine Rechtfertigung durch dogmatisch fundierte Argumente. Wie Jakobs es
unterstrichen hat: „Das Problem des Generalisierungsverbots lässt sich nur lösen,
wenn anerkannt wird, dass es eine zwingende Grenze bei der Interpretation nicht
gibt, dass sich die Grenze vielmehr nach der praktizierten Interpretationskultur rich-
tet. Damit ist gemeint, dass die Grenze der Auslegung nicht der Sinn ist, den die Be-
griffe des Rechts haben, sondern der ihnen beigelegt werden kann“.57 Es folgt daraus,
dass der Gesetzestext ebenso wie eine umgangssprachliche Herangehensweise hin-
sichtlich seines Wortlauts in unserer juristischen Tradition weiterhin auch eine wich-
tige Rolle spielen werden. Entscheidend für die Auslegung eines Strafgesetzes sollte
letztendlich aber die strafrechtliche (d. h. strafrechtsdogmatische) Tradition sein.

53
Kudlich, Die strafrahmenorientierte Auslegung im System der strafrechtlichen Rechts-
findung, ZStW 115 (2003), S. 4 f., Fn. 19. Detaillierter ders., „Regeln der Grammatik“,
grammatische Auslegung und Wortlautgrenze, in: Strafrecht als Analyse und Konstruktion.
Festschrift für I. Puppe zum 70. Geburtstag, 2011, S. 123 ff.
54
Lapidar Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung: Vom vertikalen zum horizontalen Ver-
ständnis, 2008, S. 216: „Der Rechtsstaat kann eine Grenze im Normtext nicht objektiv vor-
geben. Aber er fordert von den Gerichten eine Praxis der Grenzziehung“. Dieser rechtstheo-
retische Ausgangspunkt wird hier jedoch nicht aufgenommen.
55
Hassemer (Fn. 37), S. 256.
56
Hruschka, Der Einfluß des Aristoteles und der Aristoteles-Rezeptionen auf die Bildung
heutiger Rechtsbegriffe am Beispiel der „actio libera in causa“, in: Bürgerliche Freiheit und
Christliche Verantwortung. Festschrift für Christoph Link zum 70. Geburtstag, 2003, S. 687.
57
Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl., 1991, 4/37, kursiv im Original.
Die Bedeutung von Legaldefinitionen
für die Anwendung des Strafrechts
Pablo Sánchez-Ostiz*

I. Einleitung und Fragestellung


1. Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, zu untersuchen, ob die in den Straf-
gesetzen enthaltenen Legaldefinitionen Einfluss auf die richterliche Rechtsanwen-
dung haben (d. h., ob sie die Gerichte binden können und wenn ja, in welchem Um-
fang).1 Es soll dabei weder eine Definitionstheorie aufgestellt oder deren besonderer
Bezug zum Inhalt der Gesetze herausgearbeitet werden, noch soll es um eine Analyse
der juristischen Hermeneutik zur Kenntniserlangung und Entscheidung als Vorgang
der Ermittlung des Rechts durch den Richter gehen2. Diese Arbeit beschränkt sich
vielmehr auf eine Beschäftigung mit der Frage nach dem möglicherweise verpflich-
tenden Charakter von Legaldefinitonen und liegt dabei auf halbem Weg zwischen
den obengenannten Ansätzen. Die Fragestellung ist aber eine Einfachere: In wel-
chem Maß beeinflussen die in den Strafgesetzen verwendeten Definitionen den
Rechtsanwender?
2. Soweit man in die strafrechtliche – oder, im Allgemeinen, juristische, d. h. nicht
philosophische3 – Literatur blickt, existieren zu Legaldefinitionen im Wesentlichen

* Oft verwendete Abkürzungen: CP, código penal, d. h. Strafgesetzbuch; GS, Gedächt-


nisschrift; JZ, Juristenzeitung; STS, Urteil des spanischen Tribunal Supremo; ZStW, Zeit-
schrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. Übersetzung: Diana Rodriguez.
1
Grds. zu Definitionen vgl. Bochenski, Los métodos actuales del pensamiento (1957,
Übers. Drudis Baldrich), Madrid, 1988, S. 165 – 176; Klug, Juristische Logik, 2. Aufl., Berlin
u. a., 1958, S. 89 – 100; Engisch, „Logische Überlegungen zur Verbrechensdefinition“ (1974),
in: Beiträge zur Rechtstheorie, Frankfurt a.M., 1984, S. 158 – 169; Herberger/D. Simon,
Wissenschaftstheorie für Juristen, Frankfurt a.M., 1980, S. 303 – 340; Atienza, El sentido del
Derecho, 2. Aufl., Barcelona, 2003, S. 42 – 56 und 104; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre.
Ein Lehrbuch, 3. Aufl., Köln/München, 2008, § 4, S. 37 – 43.
2
Vgl. Hassemer, „Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung des Richters an das Ge-
setz“, in: Arth. Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und
Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl., Heidelberg, 2004, S. 254 – 255. Über die Bedeutung
von Definitionen im angloamerikanischen Raum, vgl. Halpin, Definition in the Criminal Law,
Portland, 2004, passim, speziell auf S. 187 – 196.
3
Ich beziehe mich v. a. auf das Gemeinschaftswerk Omnis definitio in iure periculosa? Il
problema delle definizioni legali nel diritto penale, koordiniert von Alberto Cadoppi, Padova,
1996, passim, hier zitiert mit dem Namen des Autors, gefolgt von Omnis definitio.
70 Pablo Sánchez-Ostiz

zwei Grundansichten. Auf der einen Seite werden Definitionen als Hindernis für eine
wirksame und sachgerechte strafrechtliche Gesetzgebung empfunden (was für ge-
wöhnlich dem Prisco Javoleno zugerechneten Grundsatz „Omnis definitio in iure ci-
vile periculosa est“ entnommen wird4). Auf der anderen Seite sollen sie, soweit sie
den Gesetzesinhalt präzisieren, ein gutes Mittel zur Beschränkung des ius puniendi
sein (entsprechend dem Bestimmtheitsgebot, als Charakteristikum des Gesetzlich-
keitsprinzips und Korollar der Aufklärung: Nullum crimen sine lege)5.
Beide Ansätze scheinen sich auszuschließen. So versteht es sich, dass sich ein
Strafrecht als umso rechtsstaatlicher darstellt, je größer die erreichte begriffliche Prä-
zision ist; gleichzeitig und in gleichem Maße wird es aber auch ineffizienter, sodass
es früher oder später obsolet werden muss. Mit anderen Worten: Je mehr im Straf-
recht die praktische Rechtsanwendung reguliert und beschränkt wird, desto eher
steigt die Gefahr ihrer Obsoleszenz. Daraus ergibt sich, dass Bestimmtheit und Nutz-
barkeit von gesetzlichen Bestimmungen im Widerspruch zueinander stehen können6.

4
Omnis definitio in iure civile periculosa est: parum est enim ut non subverti possit,
Digesto, 50.17.202 (Javoleno Prisco, ca. 49 – ca. 140 d. C). „En Derecho civil, toda definición
es peligrosa, pues es difícil que no tenga que ser alterada“, entsprechend der spanischen
Version von D’Ors/Hernández-Tejero/Fuenteseca/García-Garrido/Burillo, Pamplona, 1975,
in loco.
5
Genauer: nullum crimen sine poena legali und nulla poena legali sine crimine, formuliert
von P. J. A. v. Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen
Rechts, I. Teil, Erfurt, 1799 (Neudruck, Aalen, 1966), S. 148: „Es [sc. das Strafgesetz] bezieht
sich: 1) auf die Staatsbeamten, welche die richterliche Gewalt des Staats ausüben. Diesen legt
es die vollkommene Verbindlichkeit auf, die Verbrechen nach ihm zu bestrafen und läßt sich in
so ferne in zwei Propositionen auflösen: a) kein Verbrechen soll ohne die gesetzliche Strafe
seyn; oder das Strafübel ist die Bedingung des Verbrechens (nullum crimen sine poena legali).
b) Die gesetzliche Strafe soll nicht ohne das Verbrechen seyn, oder: die Bedingung (der
nothwendige Grund) der Strafe ist allein das Verbrechen (nulla poena legali sine crimine).
[…]“ (im Text hervorgehoben); genauer zu diesem Gedanken, wenn auch mit anderem
Wortlaut in Revision, I, p. 63; II. Teil, Chemnitz, 1800, S. 14. Über das Strafgesetz, wie es die
Bürger lenkt, vgl. ibidem, I, S. 149. Zwei Jahre später in der 1. Aufl. des Handbuchs (Lehr-
buch des gemeinen in Deutschland geltenden peinlichen Rechts, 1. Aufl., Gießen, 1801, § 24,
auf S. 20; 4. Aufl., Gießen, 1808, § 20, auf S. 21 – 22; und folgende Aufl.) formuliert: „I. Jede
Zufügung einer Strafe setzt ein Strafgesetz voraus. (Nulla poena sine lege). Denn lediglich die
Androhung des Uebels durch das Gesetz begründet den Begriff und die rechtliche Möglichkeit
einer Strafe. II. Die Zufügung einer Strafe ist bedingt durch die Existenz der bedrohten
Handlung. (Nulla poena sine crimine). Denn durch das Gesetz ist die gedrohte Strafe an das
Factum als eine rechtliche nothwendige Voraussetzung geknüpft. III. Das gesetzlich bedrohte
Factum (die gesetzliche Voraussetzung) ist bedingt durch die gesetzliche Strafe. (Nullum
crimen sine poena legali). Denn durch das Gesetz wird an die bestimmte Rechtsverletzung das
Uebel als eine nothwendige rechtliche Folge geknüpft.“ (Im Text hervorgehoben.) Trotz
allem, die Zurechnung der Ursprünge des Gesetzlichkeitsprinzips zu Feuerbach seit dem
Beitrag von Hruschka, „Kant, Feuerbach und die Grundlagen des Strafrechts“, in: Paeffgen/
Böse/Kindhäuser/Stübinger/Verrel/Zaczyk, Festschrift für Ingeborg Puppe, Berlin, 2011,
S. 17 – 37, 18 – 23, verlangt eine Präzisierung der üblichen Doktrin, die man heranzuziehen
pflegt.
6
Vgl. Cadoppi, „Il problema delle definizioni legali dell diritto penale. Presentazione“, in:
Omnis definitio, S. 13 – 14. Vgl. auch die Fragestellung in Melchionda, „Definizioni norma-
Die Bedeutung von Legaldefinitionen für die Anwendung des Strafrechts 71

Ungeachtet dessen, dass Bestimmtheit mit Beschränkungen des Strafrechts einher-


gehe (ein Terminus kann mit größter linguistischer Sorgfalt, aber dennoch so weit
wie möglich definiert sein!), wird nicht selten angenommen, dass Definitionen
ein Mittel seien, den Rückgriff auf das ius puniendi zu beschränken und einzudäm-
men. Der vorliegende Beitrag will diese Behauptung in Frage stellen.
3. Diese Arbeit soll auf der einen Seite bewerten, inwieweit Definitionen im ak-
tuellen Strafrecht geeignet sind, dem Gesetz Präzision und Zweckmäßigkeit zu ver-
leihen (II.). Auf der anderen Seite soll analysiert werden, ob das aufgezeigte Ideal
von der Beschränkung des staatlichen ius puniendi bei der richterlichen Rechtsan-
wendung gelingen kann (III.). Diesem folgen schließlich abschließende Überlegun-
gen zur vernünftigen Nutzbarmachung von Definitionen im Prozess der Rechtsset-
zung (IV.).

II. Juristische Präzision durch Definitionen?


1. Zumindest was das spanische Strafgesetzbuch (código penal) betrifft, kann
man feststellen, dass in diesem in großem Maße auf Definitionen zurückgegriffen
wird, so etwa für „Amtsträger“ (Art. 24.1), „unfähig“ (Art. 25) oder „Urkunde“
(Art. 26)7. Das ist aber kein Einzelfall. Beispiele von Legaldefinitionen finden

tive e reforma del codice penale (spunti per una reflessione sul tema)“, ibidem, S. 396 – 400;
Morales Prats, „Omnis definitio periculosa est? El problema de las definiciones legales en el
código penal español y en el proyecto de código penal de 1992“, ibidem, S. 282 – 283. Für
Palazzo, „Sulle funzioni delle norme definitorie“, ibidem, S. 383 – 385, handelt es sich nicht
um einen Konflikt, sondern um zwei Ziele: (1) Sicherheit und technische Präzision zu erlan-
gen und (2) Verstöße gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz zu verhindern; ähnlich, Bricola,
„Le definizioni normative nell’esperienza dei codici penali contemporanei e nel progetto di
legge delega italiano“, ibidem, S. 177; Jori, „Definizioni legislative e pragmatica giuridica“,
ibidem, S. 89; da Passano, „Le definizioni nella storia del diritto penale italiano contempo-
raneo“, ibidem, S. 96; Atienza, El sentido del Derecho, S. 42 (auch wenn er die Gefahr, auf die
sich Javaleno bezieht, in der Begrenzung der Auslegungsmacht des Anwenders und nicht in
der Obsoleszenz der Definition sieht).
7
Ohne Anspruch auch Vollständigkeit kann man für das spanische Strafgesetzbuch Fol-
gende nennen: „schwere Straftaten“ (Art. 13.1); „weniger schwere Straftaten“ (Art. 13.2);
„Übertretung“ (Art. 13.3); „Versuch“ (Art. 16.1); „Verabredung“ (Art. 17.1); „Vorschlag“
(Art. 17.2); „Aufforderung“ (Art. 18.1); „Verteidigung“ (Art. 18.1.II); „rechtswidriger An-
griff“ (Art. 20.4.8.1.8); „Heimtücke“ (Art. 21.1.a); „Rückfall“ (Art. 21.8.a); „Verwandtschaft“
(Art. 23); „Amtsträger und Beamte“ (Art. 24); „unfähig“ (Art. 25); „Urkunde“ (Art. 26);
„Täter“ (Art. 28.I); „Teilnehmer“ (Art. 29); die Strafen (Art. 34 ff.); „Gewohnheitstäter“
(Art. 94); „zivilrechtliche Haftung“ (Art. 110); „Rückgabe“ (Art. 111.1); „Wiedergutma-
chung“ (Art. 112); „Entschädigung“ (Art. 113); „Prozesskosten“ (Art. 124); „medizinische
Behandlung“ einer Körperverletzung (Art. 147.1); „Gewohnheit“ bei gewohnheitsmäßigen
Misshandlungen (Art. 173.3, Fassung LO 11/2003); „falscher Schlüssel“ (Art. 239); „be-
wohntes Haus“ beim Raub (Art. 241.2); „Nebenräume eines bewohnten Hauses“ (Art. 241.3);
„Gesellschaft“ (Art. 297); „ärztliches Personal“ bei der Geldwäsche (Art. 303.II); „kriminelle
Organisation“ (Art. 570 bis.1); „kriminelle Vereinigung“ (Art. 570 ter.1); „geschützte Perso-
nen“ bei Straftaten bei einem bewaffneten Konflikt (Art. 608). Darüber hinaus in negativer
72 Pablo Sánchez-Ostiz

sich auch im kolumbianischen Strafgesetzbuch, das festschreibt, was man unter „öf-
fentlicher Server“ (Art. 20) oder „Behandlung und Diagnose“ (Art. 132.II) zu verste-
hen hat; wie auch im Model Penal Code unter dem Titel „Allgemeine Definitionen“
(Section 1.13); im deutschen StGB für „Verwandte“, „Amtsträger“, „rechtswidrige
Tat“, etc. (§ 11 Abs.1); im Portugiesischen u. a. für „Urkunde“ (Art. 255); im Perua-
nischen für „Versuch“ (Art. 16) oder im Französischen für den Vorsatz (Art. 132 –
72). An Beispielen von Strafgesetzen, die diese Gesetzgebungstechnik nutzen, man-
gelt es aus jüngerer Zeit nicht, es ist sogar eine steigende Verbreitung erkennbar. Sie
scheint zur Regel zu werden8. Dennoch kann nicht von einer einmütigen Nutzung von
Definitionen gesprochen werden. Der Gesetzgeber nutzt Definitionen, um einen Ter-
minus begrifflich auf seine Bedeutung im konkreten Zusammenhang zu begrenzen9.
Tatsächlich ist eine Definition die Verallgemeinerung eines Begriffs in seiner Bedeu-
tung für das Gesetzeswerk oder Teile desselben10. Die Definition ist also eine Form
der Rechtssetzung, eine Rechtssetzungstechnik. Darüber hinaus könnte es auch eine
Form der sachgerechten Rechtssetzung sein, dann nämlich, wenn sie geeignet wäre,
den richterlichen Entscheidungsprozess bei Anwendung der entsprechenden Rege-
lungen zu lenken11. Diese Definitionstechnik wäre so geeignet, ein begrenztes,
rechtsstaatliches Strafrecht zu erreichen. Nichtdestotrotz ist dieser Schluss nicht halt-
bar.
2. Unter einer Definition versteht man einen Vorschlag, der Unbekanntes oder Un-
klares über bekannte Elemente er- bzw. aufklärt, getreu der Regel genus proximum et
differentia specifica. Sie beantwortet also die Frage was ist x?, wobei x beliebig ist.
Es sind aber nominale und reale Definitionen zu unterscheiden. Eine Realdefinition
nimmt Bezug auf die Sache selbst, auf die Beschaffenheit des definiendum, unabhän-
gig davon, ob diese aus äußerlichen (entsprechend ihres sachgerechten und/oder ab-

Form „nicht als Strafe angesehen …“ (Art. 34); und implizit für „Grausamkeit“ (Art. 22.5.a
und 139.3.a).
8
So neigt die spanische Gesetzgebung dazu, wohlbekannten Vorschriften den Vorrang
einzuräumen: z. B. L 19/1993, vom 28. Dezember, welches bestimmte präventive Maßnahmen
hinsichtlich der Geldwäsche festlegt (Art. 1.2); LO 12/1995, vom 12. Dezember, die Be-
kämpfung von Schmuggel betreffend (Art. 1); L 3/2003, vom 14. März, auf europäische
Vorgaben hin die Festnahme und Auslieferung betreffend (Art. 1); RD 515/2005, vom 6. Mai,
über die Vollstreckung von Bestrafung durch gemeinnützige Arbeit (Art. 2).
9
Vgl. Robles Morchón, Las reglas del Derecho y las reglas de los juegos, Palma de Mal-
lorca, 1984, S. 220 – 223.
10
Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., Berlin/Heidelberg u. a.,
1991, S. 440.
11
Definitionen sind aber kein Allheilmittel (De Faria Costa, „Le definizioni legali del dolo
e della colpa quali esemplificationi delle norme definitorie nel diritto penale“, in: Omnis
definitio, S. 273) um eine defizitäre Gesetzgebungstechnik zu korrigieren; ähnlich: Cadoppi,
ibidem, S. 28 – 29. Letztlich ist eine „gute“ Definition nicht das Gleiche wie eine weite oder
Beschreibung. Darüber hinaus zur Bedeutung von doktrinellen, richterlichen und gesetzlichen
Definitionen im angloamerikanischen Raum, vgl. Halpin, Definition in the Criminal Law,
S. 187 – 196, der die Zweckmäßigkeit von Definitionen immer dann hervorhebt, wenn sie
adäquat seien (vgl. seinen Korrekturvorschlag ibidem, S. 188 – 189).
Die Bedeutung von Legaldefinitionen für die Anwendung des Strafrechts 73

schließenden Rechtsgrunds) oder der Sache innewohnenden Gegebenheiten (ent-


sprechend ihrer Wesenseigentümlichkeit, Beschaffenheit und Gestalt, oder Beschrei-
bung des Gegenstandes12) erwachsen. Im Gegensatz dazu wird bei einer Nominalde-
finition einem Wort eine Bedeutung zugeschrieben13. Letztere erlauben es durch
schon bekannte Elemente (Definiens) ein Unbekanntes (Definiendum) zu erklären;
sie können dabei analytisch (lexikalisch) oder künstlich (schöpferisch) sein14. Die
analytische Definition erklärt und erhellt die präexistente Bedeutung des zu definie-
renden Terminus, sie beschreibt sie; die künstliche erschafft die Wortbedeutung da-
gegen erst, sie führt sie ein15. Die Polarität von künstlichen und analytischen Defini-
tionen ist aber alles andere als klar16 ; oft zeigen Definitionen beiderlei Charakteris-
tika17. Dies ist insbesondere in Hinblick auf das Gesetzlichkeitsprinzip von Bedeu-
tung18.
Nach alledem sind die in den Gesetzen anzutreffenden Definitionen auf den ersten
Blick analytische Nominaldefinitionen.

12
Die Bestätigung, dass ein menschliches Wesen ein „rationales Tier“ ist, stellt eine we-
sensnotwendige Definition dar, während, dass es „zweibeinig und federlos“ ist, rein deskriptiv
ist.
13
Vgl. Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Aufl., Berlin/New
York, 1988, S. 407.
14
Dazu vgl. Bochenski, Los métodos, S. 165 – 176.
15
Bei dieser Vorgehensweise ist derjenige, der definiert, nicht frei davon, auf den Ge-
brauch von Sprache und Bedeutungen zu verzichten, die die Begriffe bereits besitzen. Vgl.
Hruschka, Strafrecht, S. 410; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 4.I.2, S. 39.
16
Weil es sich um synthetische Definitionen handelt, haben sie außerdem analytischen
Charakter (soweit man von einer analytischen Wirkung der juristischen Sprache sprechen
kann). Sie haben, wie gesagt, häufig nominalen, synthetischen Charakter, d. h. die Bedeutung
wird in demselben Gesetz festgeschrieben, wobei es nicht verwundert, dass diese sich ver-
breitet und in den Wörterbüchern „wiederkehrt“, weil sie ihren Bedeutungsumfang erweitert
hat. Konkret wird in dem spanischen „Duden“, der Real Academia Española de la Lengua, die
Bedeutung von strafrechtlichen Begriffen aufgenommen, die nicht immer mit derjenigen des
Gesetzes übereinstimmt. So erscheint etwa im Diccionario eine Bedeutung des Terminus
„Vorsatz“, der sich als juristisch geriert („der absichtliche Wille, mit Wissen von ihrer
Rechtswidrigkeit eine Straftat zu begehen“), aber nur mit einer teilweise vertretenen Ansicht
übereinstimmt und sogar mit dem Gesetzestext nur schwer zusammenpasst (vgl. Art. 14 span.
CP). So erhält das, was als synthetische Definition beginnt, gewissermaßen einen analytischen
Charakter, die vom Gesetzgeber „gegebene“ Definition formt also das Objekt, welches sie
definieren will. Mit anderen Worten: die synthetische Definition legt eine Bedeutung fest, die
Teile der Sprache und genannte Begriffe formt. Wer z. B. außerhalb des Strafrechts den Ter-
minus „Versuch“ definieren will, muss gleichzeitig dessen strafgesetzliche Bedeutung be-
achten (Art. 16.1 span. CP).
17
Vgl. Hruschka, Strafrecht, S. 408, wo er hervorhebt, dass die Unterscheidung von no-
minalen semantischen Definitionen in analytisch und synthetisch nicht ausschließt, dass eine
Definition sowohl analytische als auch synthetische Elemente haben kann (vgl. ibidem,
S. 410).
18
Vgl. als Bsp. den geschilderten Fall infra, Fn. 57. Nach meiner Sicht der Dinge kann das
Analytische einer Definition als Begrenzung einer synthetischen Definition dienen.
74 Pablo Sánchez-Ostiz

3. Legaldefinitionen weisen üblicherweise nominalen Charakter auf19, soweit sie


einem Terminus (das Definiendum) über bestimmte Elemente (das Definiens) eine
Bedeutung verleihen20. So beispielsweise Art. 26 des spanischen Strafgesetzbuchs
für „Urkunde“, „materieller Träger, der Daten, Tatsachen oder Schilderungen aus-
drückt oder enthält, die Beweiswert oder irgendeine andere Art von rechtlicher Be-
deutung haben“. Das Definiendum bekommt im Gesetz eine eigene Bedeutung, die
mehr oder weniger der „laiensprachlichen“ entspricht.
Manchmal handelt es sich aber weniger um Definitionen (da sie die Regel des
genus proximum et differentia specifica verlassen)21, als vielmehr um Beschreibun-
gen oder Aufzählungen, die einen Begriff eingrenzen – dabei kann man nur noch von
Definieren im weiteren Sinne sprechen. Bei noch weiter reichendem Verständnis
könnte jede gesetzgeberische Festlegung einer Straftat als Definition angesehen wer-
den, da sie begrifflich die Bedeutung des Definiendum eingrenzt; dies wäre gleich-
zeitig die Bezeichnung des in Frage kommenden Tatbestandes22. So sind „Tot-
schlag“, „Mord“, „Hausfriedensbruch“, „Raub“ … Termini, die der Gesetzgeber an-
hand einer Reihe von Elementen, die diese nomina iuris begründen, definieren
würde. Im Sinne des Gesetzlichkeitsprinzips legen Strafgesetze ein strafrelevantes
Verhalten fest (sie haben damit nominalen Charakter), welches Einfluss auf das all-
gemeine Verständnis, sowie auf die Begriffsbedeutung in anderen Abschnitten des
Gesetzes23 oder gar in anderen Gesetzen ausüben kann (soweit haben sie teils analy-

19
So Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 4.I.2, S. 39. Larenz, Methodenlehre, S. 226,
der Bezug nimmt auf „ein[en] großen Teil der Begriffe, mit denen ein Jurist arbeitet“; vgl.
auch ibidem, S. 440 – 441. In diesem Sinne legt die Definition einen Sinn fest (vgl. Nino,
Introducción al análisis del Derecho, 6. Aufl., Barcelona, 1995, S. 254; Atienza, El sentido del
Derecho, S. 42). Vgl. über Definitionen, Atienza, ibidem, S. 42 – 56 und 104.
20
Als nominale Definitionen kann es passieren, dass sie eine exklusive Bedeutung erhal-
ten, soweit das definiendum einen technischen Terminus in einem abgesteckten Feld darstellt
(so etwa „unmündig“ oder „Urkunde“, der Art. 25 und 26 span. CP diesbzgl.). Es kann aber
auch sein, dass der Gesetzgeber die technische Bedeutung des Terminus, welche er schon in
einem anderen Rahmen besitzt, zu Hilfe nimmt („Gebrauchsmuster“, z. B. im Art. 273.1 span.
CP).
21
Es handelt sich also eigentlich nicht um Definitionen, sondern um „Beschreibungen
einer Sache“ (vgl. Klug, Juristische Logik, S. 97 – 98). Für Puppe, „Vom Umgang mit Defi-
nitionen in der Jurisprudenz. Kreative Definitionen oder warum sich Juristen über Begriffe
streiten“, in: Dornseifer/Horn/Schilling/Schöne/Struensee/Zielinski, Gedächtnisschrift für
Armin Kaufmann, Köln u. a., 1989, S. 19 und 33, gehen die im Gesetz verwendeten Defini-
tionen dagegen weiter als diese logische Anforderung; vgl. auch Röhl/Röhl, Allgemeine
Rechtslehre, § 4.I.1, S. 37.
22
Ähnlich Palazzo, in: Omnis definitio, S. 381. Es ist aber anzuerkennen, dass die fragli-
chen Tatbestände sich zweifellos vom Gehalt der Definitionen entfernen (nächste Gattung und
aufgezeigte Differenz), da sie sich eher auf Beschreibungen, als auf Definitionen im engeren
Sinne beziehen (Klug, Juristische Logik, S. 97 – 98), oder aber in bestimmten Fällen alterna-
tive Formulierungen verwenden, um eine bestmögliche Bedeutung festzulegen.
23
Jedweder Versuch über Termini, die eine Vielzahl von Bedeutungen zulassen, zu defi-
nieren, muss letztlich daran scheitern, dass das Ziel, den Begriff einzugrenzen, nicht erreicht
wird. (vgl. Noll, „Zur Gesetzestechnik des Entwurfes eines Strafgesetzbuches“, JZ 1963,
Die Bedeutung von Legaldefinitionen für die Anwendung des Strafrechts 75

tischen, teils künstlichen Charakter größeren oder geringeren Maßes24). Ohne Zwei-
fel definiert der Tatbestand eigentlich nicht, sondern konkretisiert einige Elemente
des begrifflichen Dunstkreises25, ohne jedoch dessen vollkommene Erschöpfung an-
zustreben26. Definitionen beabsichtigen damit durch die Abgrenzung i.R. einer Gat-
tung einen begrifflichen Bereich einzugrenzen27. Aus diesem Grunde muss man fest-
stellen, dass genannte Legaldefinitionen in Wahrheit lediglich Beschreibungen und
noch nicht einmal Definitionen im weitesten Sinne sind, weil die Bestandteile sich
oft nicht in die sie beinhaltende Begriffswelt einfügen und die Gesetzesentwicklung
und ihre Konkurrenzen zueinander selbst immer wieder neue weitergehende Be-
schreibungen zulässt.
4. Legaldefinitionen sind im strengen Sinne, abgesehen von nominal, oft künst-
lich: Anders als einen Begriff zu bestimmen, schaffen sie ihn erst28. Und sie pflegen
dabei nicht restriktiv, sondern gerade extensiv zu sein, verglichen mit der Bedeutung
des Definiendum in der Laiensprache oder in anderen Bereichen, so etwa die zitierten
Definitionen von „Urkunde“29, „Amtsträger“ oder „Amtsgewalt“ (Art. 24 span. CP),
deren Bedeutung erheblich erweitert ist30.

S. 299; Stratenwerth, „Die Definitionen im Allgemeinen Teil des Entwurfs 1962“, ZStW 76
[1964], S. 673 – 695 und 704).
24
Vgl. supra, Fn. 17. Es ist zu beachten, dass auch die Begriffe des Definiens ihrerseits
definiert werden müssen (Atienza, El sentido del Derecho, S. 45), was das Problem von Le-
galdefinitionen erhöht (vgl. Orrù, „La definizioni del legislatore e le ridefinizioni della
giurisprudenza“, in: Omnis definitio, S. 156).
25
„Der Typus wird nicht definiert, sondern beschrieben“: Larenz, Methodenlehre, S. 221.
26
In diesem Sinne, Belvedere, „Note in tema di definizioni legislative penalistiche“, in:
Omnis definitio, S. 115; von verdeckten, oder Definitionen in Klammern spricht Frisch, „Le
definizioni legali nel diritto penale tedesco“, ibidem, S. 196, um sich auf die verbreitete Ge-
setzgebungstechnik im deutschen Strafrecht, ein konkretes nomen iuris der Beschreibung
einer typischen Verhaltensweise folgen zu lassen, zu beziehen; Stratenwerth, ZStW 76 (1964),
S. 669 – 670, jedenfalls für die Anstiftung (auch andere auf S. 696 – 704); vgl. auch Herberger/
D. Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, S. 337. Demgegenüber ist für Puppe, in: Armin
Kaufmann-GS, 1989, S. 25 – 28, der Typus deshalb definierbar, weil man ein weiteren Begriff
für die Definition wählt.
27
Definitionen wollen „nicht erhellen, sondern begrenzen“ (Noll, JZ 1963, S. 299).
28
Was aber nicht ausschließt, dass sie analytische Inhalte nicht zuließen: vgl. supra, Fn. 17.
29
Es scheint nicht so, dass der durch das Wörterbuch festgelegte Sinn ein Kriterium für
eine juristische Definition sei (vgl. supra, Fn. 16). Die eigentliche Bedeutung jedes Begriffs im
fraglichen Kontext ist entscheidend. Vgl. Halpin, Definition in the Criminal Law, S. 190.
30
So wird z. B. „Amtsträger“ im spanischen CP sehr viel weiter definiert als im nicht-
technischen Zusammenhang oder in anderen Gesetzen (wie es auch mit dem Begriff der
„Amtsgewalt“ geschieht). Auf der anderen Seite kommen die Definitionen aus verschiedenen
Quellen: in concreto aus dem technischen, wie juristischem Bereich, anderen Gesetzen oder
der Wissenschaft, der Rechtsprechung und technischen Behörden. Es ist aber gleichermaßen
festzustellen, dass weder der Strafgesetzgeber noch die Gerichte an die Definitionen aus an-
deren Bereichen gebunden sind (was sich mit dem Begriff der beweglichen Sachen im Zivil-
recht bestätigt, bei dem die spanische Jurisprudenz keine Hemmungen hatte, i.R.d. Vermö-
gensdelikte davon abzuweichen).
76 Pablo Sánchez-Ostiz

Sind Nominaldefinitionen dagegen analytisch, stellt sich die Frage nach richtig
oder falsch unabhängig vom Definierten, das Definiens ist mithin immer am präexis-
tenten Sinn zu messen. Künstliche Definitionen hingegen werden selbst zum Bewer-
tungsmaßstab (die Frage nach richtig oder falsch kann nicht beantwortet werden).31
So schafft die Definition von „Urkunde“, als künstliche Nominaldefinition, einen Be-
griff der Urkunde i.S.d. código penal, der eines Bezugspunktes oder einer Wahrheit
außerhalb des Gesetzbuches ermangelt: Eine Urkunde ist das, was der código als sol-
che verstehen will. Diese Definition muss sich aber wiederum decken mit dem, was
dasselbe Gesetzbuch und das gesamte Strafrecht für die Wirkungskraft von Urkun-
den vorsieht. Mit anderen Worten: Die künstlichen Definitionen haben nicht densel-
ben Wahrheitsanspruch wie die analytischen, eine Übereinstimmung mit Gegebe-
nem kann nicht festgestellt werden. Als Korrektiv muss daher wenigstens eine innere
Kohärenz zwischen der eigentlichen Definition und dem sprachlichen Zusammen-
hang, in dem sie gebraucht wird, bestehen (die Gesetze der Logik respektierend)32.
Es fehlt mithin nicht an einer möglichen Wirksamkeitskontrolle, die sich nämlich an
der inneren Kohärenz und Logik bemisst und dem Ziel der Vermeidung von Unbe-
ständigkeiten in Hinblick auf andere Definitionen desselben Bereichs genügen
muss33.
5. Der nominale und künstliche Charakter bringt den Vorteil mit sich, dass Legal-
definitionen eine „doppelt schaffende Kraft“ haben. Das heißt: Sie legen nicht nur
eine Bedeutung fest, sondern deren Sinn wird Teil einer strafrechtlichen Norm,
um dieser zu dienen. So besitzt die Festlegung eines Bedeutungsgehalts legislative
Kraft im doppelten Sinne34. Auf der einen Seite wird eine Bedeutung normativ fest-
gelegt, auf der anderen Seite wird diese im Gesetz festgeschrieben35. In diesem Sinne

31
Vgl. Klug, Juristische Logik, S. 94; Engisch, in: Beiträge zur Rechtstheorie, S. 161;
Hruschka, Strafrecht, S. 409. Radikaler die Meinung von Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre,
§ 4.I.2, S. 39, für die die juristischen Definitionen (die Nominalen) weder wahr noch falsch
sind, sondern nützlich oder überflüssig, entsprechend der Gründe, weswegen sie geschaffen
wurden (ähnlich Nino, Introducción, S. 255, für die „Klauseldefinitionen“). Um diese Ziele zu
erreichen, ist es zweifelsohne hilfreich, sprachlichen Vorgaben zu folgen.
32
So Klug, Juristische Logik, S. 95; Nino, Introducción, S. 255 (für die Definitionen mit
„Klauselcharakter“).
33
Vgl. Hruschka, Strafrecht, S. 409 – 410; Klug, Juristische Logik, S. 94 – 95; Belvedere,
in: Omnis definitio, S. 115. Mit den Worten von Zippelius, Juristische Methodenlehre, 1971,
8. Aufl., München, 2003, 9.I, genießt der Gesetzgeber Definierfreiheit, ohne sich einem vor-
bestimmten technischen Vokabular gegenüberzusehen, aber – aus meiner Sicht – verpflichten
ihn die innere Kohärenz und die Gesetze der Logik.
34
Definition und Gesetzgebung hätten dann eine Gemeinsamkeit: ihre normative Kraft und
Macht. Vgl. Klug, Juristische Logik, S. 94 (für Nominaldefinitionen). Mit den Worten von
Zippelius, Juristische Methodenlehre, 1971, 8. Aufl., München, 2003, 9.I, genießt der Ge-
setzgeber Definierfreiheit, ohne sich einem vorbestimmten technischen Vokabular gegen-
überzusehen.
35
Die legislativen Definitionen sind „Definitionsnormen“. Vgl. die Bezeichnung in Fi-
kentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, vol IV, Tübingen, 1977,
S. 246.
Die Bedeutung von Legaldefinitionen für die Anwendung des Strafrechts 77

kann ein Begriff seine Anwendung im fraglichen Teil des Gesetzes „festlegen“ und
„-schreiben“. Soweit Legaldefinitionen nicht beanspruchen, das Wesen des Definier-
ten zu erklären, sondern die Handhabung von sprachlichen Regelungen im gesetzli-
chen Bereich zu steuern, kann man sie als teleologisch bezeichnen36. Letztendlich
kann man sie für Teleologische halten, sobald sie eine konkrete Rolle für die Geset-
zesanwendung, genauer die Anwendung des Strafrechts, spielen. Aus diesem Grunde
besteht der Zweck der Definition in der „Verpflichtung“, die Tatbestände zu konkre-
tisieren, auf die sie sich bezieht, um deren einheitliche Handhabung auch in Bezug
auf die Rechtfolge sicherzustellen37. Das verdeutlicht sich gerade in solchen Formu-
lierungen wie „im Sinne des Gesetzes“, „im Sinne dieses Gesetzes“ oder „im Sinne
dieses Gesetzbuches“. Entsprechend könnte man deren Definitionscharakter im
engen Sinne bezweifeln und erwägen, ob es sich nicht um Fiktionen handelt38, die
sich in dem Fall vom Sprachgebrauch entfernen.
6. Die soeben gemachten Bemerkungen lassen erkennen, dass Definitionen dazu
dienen können, einen begrifflichen Bereich ein- und abzugrenzen. Dennoch ist be-
grenzteres und restriktiveres Strafrecht mit dieser Technik kaum zu erreichen.
Was die Legaldefinitionen betrifft, die oft nominalen und künstlichen Charakter auf-
weisen, werden sie eingesetzt, um die Rechtskraft der Strafgesetze zu sichern, wenn
nicht auch, um den Sinn des Definierten im Vergleich zur allgemeinen sprachlichen
Bedeutung zu erweitern. Tatsächlich zählen sie mit ihrem künstlichen Charakter, d. h.
eine Bedeutung dem eingeführten Terminus zuschreibend, auf die interne Wider-
spruchsfreiheit im Gefüge als Kontrolle der „Richtigkeit“ und eben nicht auf den Ver-
gleich mit einem Begriff. Und dieses Kontrollkriterium scheint nicht sehr effektiv.
Soweit es um die Sicherung des Gefüges geht, zielen diese vielmehr darauf ab,
sich einen Anwendungsbereich zu geben und schließlich gar Begriffe neu zu definie-
ren, um sich vor zeitlicher Überholung zu schützen. Dementsprechend können die
Definitionen, die sich bisher als Garant eines rechtsstaatlichen Strafrechts dargestellt
haben, leicht zu einem Mittel werden, dieses abhängig von den Umständen auszu-
dehnen39. Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass eine Definition in den Straf-
gesetzen nicht aus sich heraus die Bestimmtheit garantiert, die ein rechtsstaatliches

36
Legaldefinitionen haben so ihre eigenen Zwecke. d. h. man könnte sie für teleologisch
halten, soweit sie eine bestimmte Rolle und Aufgabe in der Anwendung der Regelung spielen
und wahrnehmen: so Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 4.I.2, S. 39: „,teleologische Be-
griffsbildung‘ ist die Methode der Juristen“; vgl. auch Noll, JZ 1963, S. 299; Klug, Juristische
Logik, S. 94; Manzin, „Il problema della ,definitio‘ nel razionalismo scolastico e le prime
critiche dell’umanesimo giuridico“, in: Omnis definitio, S. 170 – 171, zur doppelten Etymo-
logie von „de-finieren“ als Limitierung und Absichtserklärung (spanisch: fin).
37
So, Puppe, in: Armin Kaufmann-GS, 1989, S. 20.
38
Dazu vgl. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2003, 6.c).
39
Gewiss haben klare und eindeutige Vorschriften die Frage nach dem Inhalt des Defi-
nierten nicht geklärt, sondern eine große wissenschaftliche Diskussion entfacht: vgl. Frisch,
in: Omnis definitio, S. 220 (vgl. ibidem, S. 231 – 232).
78 Pablo Sánchez-Ostiz

Strafrecht anstrebt40. Es stellt sich daher als falsch heraus, die Frage nach der Bedeu-
tung von Definitionen als Mittel der Darstellung des Bestimmtheitsgebots als Forde-
rung des Gesetzlichkeitsprinzips zu betrachten41. Dasjenige, was eingegrenzt sein
soll, kann sich selbst schwerlich eingrenzen. Es wird sich zeigen, ob die richterliche
Rechtsanwendung dies vermag (III.).

III. Beschränkung des ius puniendi durch


die richterliche Anwendung der Definitionen?
1. Obwohl die Definitionen im Rahmen der Rechtssetzung kein erhöhtes Maß an
Bestimmtheit bringen, muss man sich fragen, ob sie wenigstens geeignet sind, das ius
puniendi in seiner Anwendung zu begrenzen42, d. h., ob und in welcher Weise sie eine
Restriktion des Strafrechts ermöglichen43. Auf den ersten Blick und unter idealen
Umständen würde eine Legaldefinition helfen, den Auslegungsvorgang zu lenken
und so zu einer einheitlichen Rechtsanwendung führen44. Wenn die genannten De-
finitionen aber weit sind, dann ermöglichen sie auch eine weite Anwendung des Ge-
setzes. Dementsprechend ist der Rückgriff auf Definitionen nicht aus sich heraus
schon die Garantie für eine einheitliche Rechtsanwendung45. Das heißt, wenn die
richterliche Tätigkeit allein darin besteht, ein Gesetz anzuwenden, und dieses jeden-
falls in seinen Definitionen weit ist, dann sind die Richter Anwender eines weiten
Gesetzes. Es scheint mithin nicht die beste Methode zu sein das Strafrecht zu limi-
40
Dies ist vielmehr auch erreichbar über Beispielsfälle, eine bessere Gesetzgebungstech-
nik, den Gebrauch von einheitlichem Vokabular oder auf anderen Wegen: vgl. den Vorschlag
von Orrù, in: Omnis definitio, S. 158; Frisch, ibidem, S. 226 – 238. Danach sind Definitionen
kein Allheilmittel: so De Faria Costa, ibidem, S. 273, um eine defizitäre Gesetzgebungs-
technik zu korrigieren; ähnlich: Cadoppi, ibidem, S. 28 – 29.
41
Vgl. die Gegenauffassung von Palazzo, in: Omnis definitio, S. 389, dazu eine Verfas-
sungskontrolle über die Bindung der Rechtsprechung an Legaldefinitionen erreichen zu wol-
len (so Bricola, ibidem, S. 189, wenn auch mit Einschränkungen).
42
Andere Autoren betonen in realistischer Weise, dass das Legalitätsprinzip heutzutage
das Ziel hat, weniger den Büger vor dem Staat zu schützen, als die Effektivität der Richter zu
erhöhen: vgl. Jack, „Le definizioni nel nuovo codice penale francese“, in: Omnis definitio,
S. 351, Giudicelli-Delage zitierend; eine ähnlich realistische Vision findet sich bei Dennis,
„Funzioni ed ambito delle definizioni nel progetto di codice penale inglese“, ibidem, S. 373 –
374 (etwas was mit den Legislativplänen in England – CP-Projekt von 1989 – zu tun hat, auch
ein Strafgesetzbuch zu erlassen, welches mehr die Funktion hätte, den anwendenden Juristen
Klarheit und Uniformität zu bringen, als Garantien für die Bürger festzusetzen: vgl. ibidem,
S. 369 – 371; ähnlich Halpin, Definition in the Criminal Law, S. 188, der, aus der anglo-
amerikanischen Sicht, hervorhebt, wie Definitionen Rationalität im Strafrecht schaffen).
43
Für einige Autoren – vgl. Bricola, in: Omnis definitio, S. 189 – müssten Definitionen
bindend sein, es sei denn, es handelt sich um solche, die einzig eine konkrete dogmatische
Orientierung darstellen (S. 180).
44
Diese Forderung deutet sich in der italienischen Erfahrung an, die Gegenstand des be-
reits zitierten Werks ist: Cadoppi, in: Omnis definitio, S. 1.
45
Vgl. E. Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, Berlin, 2005, S. 45.
Die Bedeutung von Legaldefinitionen für die Anwendung des Strafrechts 79

tieren. Auf der anderen Seite können Legaldefinitionen als Ausdruck des Sinns und
Zwecks einer Norm dem Richter einen Fakt an die Hand geben, auf den er eine te-
leologische Reduktion stützen kann. Da diese Definitionen für gewöhnlich aber weit
sind, scheint auch der Gesetzeszweck seinerseits weit.
2. Deshalb mutet die dargestellte Forderung, den Richter durch das Gesetz zu bin-
den und sein Wirken auf eine einfache Anwendung desselben zu beschränken, idea-
listisch an. Darüber hinaus bedeuten Legaldefinitionen noch nicht einmal notwendi-
gerweise eine eindeutige Anwendung des Rechts46, weil man sich im Rahmen dieser
einem Gegenstand, dem Gesetz, gegenüber sieht, dessen Inhalt selten eindeutig und
dessen Legaldefinitionen oft weit sind. Aus diesem Grund muss die Forderung nach
Bestimmtheit durch Definitionen an der praktischen Rechtsanwendung durch den
Richter scheitern. Soweit das Gesetz selbst sein Verständnis nicht präzisiert, scheint
es auch nicht einfacher, die juristische Arbeit am Gesetz durch Definitionen zu len-
ken47.
Abgesehen davon darf man nicht vergessen, dass in dieser Aufgabe eine wesent-
liche Schwierigkeit liegt: Die Gesetzessprache ist eine eigene, nicht die einer Ge-
meinschaft von Muttersprachlern, sondern eine spezielle, nämlich die des fraglichen
juristischen Bereichs48. Dass die Rechtssprache, und damit deren Definitionen, oft
vom allgemeinen Wortsinn abweicht, scheint verbreitet.

46
Zweifelsohne, bewirken für Larenz, Methodenlehre, S. 226, vom Gesetzgeber geschaf-
fene (Nominal-)Definitionen in gesetzlichen Vorschriften „niemals mehr, als das, was die
Definition selbst enthält“.
47
Die Meinung Beccarias ist bekannt, soweit er im Kapitel IV seines Werks „De los delitos
y las penas“ (1764), den Rückgriff auf den „perfekten Syllogismus“ bei der Anwendung des
Gesetzes postuliert, ohne die Möglichkeit der „Auslegung“: „Auch die Macht der Gesetzes-
auslegung dürfen Strafrichtern aus demselben Grund nicht haben, weshalb sie keine Gesetz-
geber sind […] Bei jedem Delikt muss der Richter einen perfekten Syllogismus finden. Zu
prüfen ist primär das allgemeine Gesetz, sekundär das fraglich mit dem Gesetz vereinbare
Verhalten, aus dem die Konsequenz Freiheit oder Strafe folgt. Will der Richter gezwunge-
nermaßen oder freiwillig mehr als einen Syllogismus, öffnet sich die Tür zur Unsicherheit. Es
gibt nichts Gefährlicheres als dieses kommune Axiom, welches es als nötig ansieht, den Geist
des Gesetzes zu konsultieren. Es ist ein gebrochener Damm gegenüber den Strömen von
Meinungen […] Der Geist des ernsten Gesetzes, also die Folge der guten oder schlechten
Logik eines Richters, seiner guten oder schlechten Verdauung; es würde von der Heftigkeit
seiner Leidenschaften abhängen, von der Schwäche des Leidenden, von den Beziehungen zum
Geschädigten, und von all jenen kleinen Kräfte, die die Erscheinung der Dinge im wechsel-
baren Geist des Menschen ändern […] Eine Unordnung, die aus der rigorosen und wörtlichen
Einhaltung des Strafgesetzes erwächst, kann nicht verglichen werden mit der Unordnung, die
durch die Auslegung entsteht […] Ein fester gesetzlicher Kodex, der buchstäblich einzuhalten
ist, gibt dem Richter nicht mehr Befugnisse, als die, zu entscheiden, ob das Verhalten eines
Bürgers vereinbar mit dem geschriebenen Recht ist.“: Beccaria, De los delitos y las penas
(1764, Übers. De las Casas, verschiedene Aufl.), Kapitel IV.
48
Vgl. Jori, in: Omnis definitio, S. 91. Auch wenn es nicht wenige sind, die es als ange-
bracht sehen, die Bedeutung der juristischen Termini an die natürliche Wortbedeutung anzu-
nähern, soweit dem Recht die Aufgabe zukommt, das Verhalten zu leiten: vgl. Atienza, El
sentido del Derecho, S. 56.
80 Pablo Sánchez-Ostiz

3. Es scheint angesichts des Charakters juristischer Gesetzesarbeit, welche weit


entfernt davon ist nach Automatismen zu funktionieren, aber auch nicht erreichbar
zu sein, Beccarias Idealvorstellung umzusetzen. Die angestrebte kompromisslose
und eindeutige Anwendung des Gesetzes ist nicht machbar, soweit es einen Gegen-
stand verwendet, den es anhand von Vorbedeutungen und Vorurteilen interpretiert
und wertet. Selbst bei der genausten Definition bedarf es einer Behandlung des Ge-
setzes, die vom Abstrakt-Generellen der Norm zum Konkret-Individuellen der Tat-
sachen kommt. Dabei ist die Bestimmung der Bedeutung des Gesetzestextes auch mit
Definitionen schon ein schwieriger Schritt; daneben muss man den Sachverhalt be-
werten und beides zusammenbringen49. Und das alles wegen eines Individuums, des
Interpreten, der sich nicht frei machen kann von seinen gefestigten Ansichten, bzw.
diese allenfalls erkennen und bewerten kann. Weil die Definition Teil des Gesetzes
ist, hat sie auch Normenqualität und muss deshalb anhand einer Auslegung auf den
konkreten Fall angewandt werden.
Im juristischen Alltag kommt es auch vor, dass Richter definieren50, weil dies er-
laubt, Begriffe zur Argumentation festzulegen, d. h. zur Verteidigung einer konkreten
Position. Es handelt sich dabei, auch in diesem Sinne, um „teleologische“ Definitio-
nen, soweit sie der Gesetzesanwendung im Einzelfall dienen51. Tatsächlich greift die
juristische Praxis auf die Definitionen zurück, die in der Argumentation und Ent-
scheidungsfindung weiterzuhelfen scheinen52 Dabei fehlt es nicht an kritischen Stim-

49
Vgl. die Beiträge von Arth. Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“, 2. Aufl., Hei-
delberg, 1982; ders., Rechtsphilosophie, S. 75 – 93 (spanische Übersetzung Montoya/Villar:
Filosofía del Derecho, Bogotá, 1999); ders., Das Verfahren der Rechtsgewinnung: eine ra-
tionale Analyse. Deduktion, Induktion, Abduktion, Analogie, Erkenntnis, Dezision, Macht,
München, 1999; ders, Filosofia del diritto ed ermeneutica, Sammelband (1972 – 1996) unter
Verantwortung von Marino (Übers.), Milano, 2003; ders., Hermenéutica y Derecho (heraus-
gegeben von Ollero/Santos), Granada, 2007. Vgl. auch über seinen Beitrag, Santos, Arthur
Kaufmann en la encrucijada de la filosofía jurídica alemana de la posguerra, Granada, 2008.
50
Vgl. die sehr bildliche Beschreibung von Ferrajoli, Derecho y razón. Teoría del garan-
tismo penal, 5. Aufl., Madrid, 2001, aptdo. 9.4, auf S. 127 (Übers. Ruiz Miguel), über die
Rechtsprechungsarbeit in Bezug auf die Gesetzgebung: diese definiert, die andere re-definiert.
51
So bestätigt sich in ihrer gerichtlichen Anwendung der synthetische Charakter der
Definitionen. So z. B. mit der Definition von Heimtücke (Art. 22.1.a span. CP): Auf eine
scheinbar klare Legaldefinition folgt eine eigene Definition in ihrer richterlichen Anwendung.
So ist zu beobachten, dass normalerweise drei Arten von Heimtücke unterschieden werden
(hinterlistig oder verräterisch, die Überraschende durch plötzlichen oder unerwarteten Angriff
und die, die die Hilflosigkeit des Opfers ausnutzt), um damit zu schließen, dass der Sachver-
halt unter eine der drei subsumiert werden kann (vgl. STS 25. Nov. 2003: „Entsprechend der
Art und Weise, Situation oder Mittel, der sich der Täter bedient, um den Erfolg durch Aus-
schluss von Gegenwehr, und folglich Minimierung des eigenen Risikos, zu sichern, unter-
scheidet dieser Senat die drei bekannten Fälle von heimtückischen Mord: Die hinterlistige
oder verräterische Heimtücke, die Überraschende durch plötzlichen oder unerwarteten Angriff
und die Heimtücke aus Hilflosigkeit, bei der der Täter die Situation besonderer Schutzlosig-
keit des Opfers ausnutzt, die jede Gegenwehr ausschließt, wie etwa im zu entscheidenden
Fall“, mit Zitat der STS vom 22. Juni 1993, 9. Juni 1999 und 13 Juni 2000).
52
Vgl. E. Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, S. 41.
Die Bedeutung von Legaldefinitionen für die Anwendung des Strafrechts 81

men bzgl. des Rückgriffs auf solche Definitionen, die nicht aus dem Gesetz folgen53,
sondern selbstständig formuliert werden und als Instrument von größter Überzeu-
gungskraft gebraucht werden54, ohne als solches zwingend zu sein.
Im Übrigen legen die Gerichte aus und bestimmen im gleichen Zug Definitionen
oder nehmen sogar eine Auslegung vor, die dann als „authentisch“ qualifiziert wird55,
wie es etwa mit der interpretativen Rechtskraft der Beschlüsse des spanischen Ver-
fassungsgerichts56 oder den nichtrichtenden Entscheidungen („acuerdo“) der Sala II
des Tribunal Supremo über ein bestimmtes Auslegungskriterium geschieht57. Man-
che dieser Entscheidungen finden sich später in den Gesetzbüchern wieder, indem sie
deren Auslegungen oder Definitionen vervollständigen oder nuancieren. Damit wird
ein Prozess abgeschlossen, der beim Gesetz beginnt, welches sich selbst definiert und
dessen Definitionen dann durch die Rechtsprechung weiterentwickelt werden, indem
letztere ihrerseits definiert58.
4. In Anbetracht des bereits Gesagten, scheint es angebracht, die These Beccarias
(1764) zu relativieren, was die Bestimmtheit und die Arbeit der Richter betrifft. Auch
wenn sein Ansatz sich als gemeinsamer Nenner aufklärerischer Denkströme dar-
stellt59, würde der Hinweis auf den „perfekten“ juristischen Syllogismus noch
53
Vgl. Herberger/D. Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, S. 326 – 327.
54
So auch für die von der Rechtsprechung geschaffenen Definitionen (vgl. E. Simon, Ge-
setzesauslegung im Strafrecht, S. 172), auf die die Argumentation auch gestützt wird. Für die
von der Lehre Geschaffenen, vgl. Klug, Juristische Logik, S. 98 – 99.
55
So Robles Morchón, Las reglas del Derecho, S. 224.
56
Über die Urteile des spanischen Verfassungsgerichts mit interpretativen Charakter, vgl.
Art. 40.2 LO 2/1979, vom 3. Oktober, des Verfassungsgerichts, und 5.1 LO 6/1985, vom
1. Juli, von der Judikative.
57
Über solche Entscheidungen nicht richtender Art der Sala II des spanischen Tribunal
Supremo, vgl. Íñigo Corroza/Ruiz de Erenchun Arteche, Los acuerdos de la Sala Penal del
Tribunal Supremo: naturaleza jurídica y contenido (1991 – 2007), Barcelona, 2007, passim.
Gelegentlich erhält die Auslegung eines gesetzlichen Terminus durch die Jurisprudenz den
Charakter einer (synthetischen) Definition und für diese gilt dann das weiter oben über die
Wahrheitskriterien bei solchen Gesagte. So würde etwa die Bedeutung des Begriffs „einwil-
ligen“, „bewilligen“ eingeschlossen, keine analytische, sondern synthetische Behauptung
(Definition?) darstellen, deren Gültigkeit an dem Vergleich vom definens, nicht mit dem
definiendum des natürlichen Sprachgebrauchs, sondern den Gesetzen der Logik (neben der
inneren Kohärenz) gemessen werden könnte. Dabei ist zu beachten, dass man in einem sol-
chen Fall kritisieren könnte, dass noch nicht einmal die sprachliche Logik beachtet wurde (die
passive Stimme gegenüber der aktiven). Über den nichtrichtenden Beschluss der Sala II des
spanischen Tribunal Supremo, der diese Auslegung verallgemeinert hat, vgl. Íñigo Corroza/
Ruiz de Erenchun Arteche, Los acuerdos, S. 370 – 374.
58
Vgl. supra, Fn. 50. Besonders deutlich am spanischen Bsp. des Falschgeldbegriffs von
1995 (Art. 386 span. CP) und erweitert 2010 (Art. 299 span. CP), ausgehend von der nicht-
richtenden Entscheidung der Sala II des Tribunal Supremo, die diese Auslegung hervorge-
bracht hat: vgl. Íñigo Corroza/Ruiz de Erenchun Arteche, Los acuerdos, S. 320 – 324.
59
Vgl. Ferrajoli, Derecho y razón, aptdo. 9.2, auf S. 122 (Übers. Ruiz Miguel), mit Ver-
weisen (auf S. 179 – 180). Wie Ferrajoli, ibidem, u. a. feststellt, ist dieses Ideal von Klarheit
und Präzision „niemals ganz erreichbar“.
82 Pablo Sánchez-Ostiz

nicht einmal bei naiver Betrachtung standhalten. So kämen auch andere Verfechter
des Gesetzlichkeitsprinzips der Aufklärung nicht auf die Idee zu glauben, dass ein
Gesetz jeden möglichen Fall mit Präzision definieren kann; in ihren Darstellungen
kann man vielmehr einen gewissen „Realismus“ beobachten. So etwa bei Feuerbach,
der der Idee von Gesetzlichkeit die eines mögliches Rückgriffs auf eine analogia
legis durch den Richter hinzufügt. Eine der Absichten Feuerbachs, als er die Revision
(1799 – 1800) verfasste, war es, die Willkür der juristischen Praxis (Sonderstrafen)
dieser Zeit einzudämmen;60er setzt sich aber nicht gegen eine Auslegung des Geset-
zes ein, sondern dafür, dass es auslegend angewandt wird61. Eigentlich distanziert
sich Feuerbach ausdrücklich von der Meinung Beccarias, wonach richterliche Aus-
legung nicht möglich sei62. Aus diesem Grund erkennt er auch die Möglichkeit der
Analogie (legis) und Teleologie an63.
60
Tatsächlich sind Straffestsetzungen nach des Richters Gnaden nicht möglich: vgl. Feu-
erbach, Revision, I, S. 109 ff.; 125; diese letztgenannte Idee bildet den roten Faden der Ar-
gumentation in der Revision: vgl. S. 203 ff.: „Er [sc. der Richter] ist weiter nichts als Diener
und Executor des Gesetzes“, Revision, I, S. 212; „gegen den Willen des Gesetzgebers ist keine
Willkühr des Richters gerecht“, Revision, I, S. 218; „Richter […] ist nur der, der Gesetze auf
vorkommende Fälle anwendet, der einzelne Thatsachen unter dieselben subsumirt, der die
rechtlichen Wirkungen des Gesetzes mit den rechtlichen Voraussetzungen desselben in
concreto verknüpft“, Revision, I, S. 243 (im Text hervorgehoben); „Der Richter steht also blos
unter dem Gesetze, ist Diener und Interpret desselben.“, Revision, I, S. 243 (im Text hervor-
gehoben).
61
Er hält seinen Gegnern vor, dass das Gesetz das genaueste Mittel für die Subsumtion sei
(vgl. Feuerbach, Revision, I, S. 121 – 124). In diesem Kontext des Strafgesetzes nicht nur den
Bürger, sondern auch den anwendenden Amtsträger bindend, taucht die lateinische Formu-
lierung des Gesetzlichkeitsprinzips in der Revision das erste Mal auf.
62
Vgl. Feuerbach, Revision, I, S. 259, Fn. *, wo er schreibt: „Diese Behauptung [von
Beccaria] … ist doch nur italiänischer Witz.“; auch Revision, II, S. XLI-XLII. Aber diese
Befugnis des Richters setzt in keiner Weise die Fähigkeit, vom Gesetz, welchem er ver-
pflichtet ist und welches er ohne Strafmilderung oder -schärfung anwenden muss, abzuwei-
chen, voraus: „die Aufgabe des Richters besteht nur in der Ermittlung des Sachverhaltes und
dessen Subsumtion unter das Gesetz“, Revision, I, S. 386; II, S. 3. Es ist festzustellen, dass
Feuerbach nach alledem etwas anderes unter Subsumtion versteht als Beccaria.
63
Tatsächlich vgl. Feuerbach, Revision, I, S. 193 – 196, 264 – 265. Feuerbach akzeptiert die
analogia legis; zeigt Zweifel gegenüber der analogia iuris (vgl. ibidem, S. 196); und lehnt ab,
was er „Aehnlichkeit“ nennt (nicht eigentlich eine Analogie im juristischen Sinne – geäußert
in Revision, II, S. 17: so ist jemanden betrunken machen, vergiften ähnlich). Der gleiche
Feuerbach fasst seine Position wie folgt zusammen: „Aus allen diesen [sc. Argumente gegen
eine analogische Extension, wie sie Grolmann und Kleinschrod angesichts einer Karolinger
Vorschrift vertraten] folgt denn, glaube ich, zur Genüge, daß Handlungen, welche in den
Gesetzen nicht ausdrücklich gennant sind, nur dann gestraft werden können, wenn sie still-
schweigend in dem Gesetze selbst enthalten sind; mithin wenn 1) der bennante Fall als Art
oder species unter der Gatung oder Art des bennanten Falls enthalten, und 2) die ratio legis auf
denselben anwendbar ist“, Revision, II, S. 32 – 33 (im Text hervorgehoben). Man kann also
festhalten, dass Feuerbach die Auslegung verteidigt (der Fall 1) und auch die analogia legis
(Fall 2). Über die Ungenauigkeit von Feuerbach im Bezug auf die Analogie, vgl. Langhein,
Das Prinzip der Analogie als juristische Methode. Ein Beitrag zur Geschichte der methodo-
logischen Grundlagenforschung vom ausgehenden 18. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin, 1992,
S. 81 – 84.
Die Bedeutung von Legaldefinitionen für die Anwendung des Strafrechts 83

Und Feuerbach ist nicht der Einzige, der anerkennt, dass die Arbeit des Richters,
obwohl eine Beschränkung nötig, sich nicht auf automatisierte Gesetzesanwendung
reduzieren lässt64. So sieht das etwa auch Marat (1790), der einen gewissen Entschei-
dungsspielraum des Richters verteidigt65. Bei Lardizábal (1782) tritt die Frage einer
ernstlichen Gesetzlichkeit hinter derjenigen nach Qualität und Art und Weise der
Verhängung von Strafen zurück66. Die These Beccarias bzgl. des Automatismus’
des juristischen Subsumtionsvorgangs bleibt eine nicht sehr realistische Idee, die
die Zeit und die Beiträge der Hermeneutik widerlegt haben. Was den hier zitierten
Autoren wiederum gemeinsam ist, ist der Wunsch, die richterliche Rechtsanwen-
dung auf die im Gesetz gesetzten Spielräume zu begrenzen und damit Willkür zu ver-
meiden. Das ist die rechtsstaatliche Beschreibung des Gesetzlichkeitsprinzips der
Aufklärung, die man als „realistischer“ bezeichnen kann.
Damit ist die aufgezeigte richterliche Arbeitsweise weit entfernt davon, sich der
Forderung Beccarias anzunähern, Richter sollten „Strafgesetze aus dem gleichen
Grund nicht auslegen, aus dem sie keine Gesetzgeber sind“67. Die Definitionen,
wie weiter oben bereits festgestellt wurde, sind einerseits tatsächlich Faktoren, die
als Auslegungshilfe den Anwendungsbereich der sie enthaltenden Gesetze erweitern,
andererseits versteht man sie als Instrumente der Beschränkung des ius puniendi. Es
handelt sich also, anders als gedacht, um keine sehr effektiven Instrumente.

IV. Was nützen Definitionen in der Auslegung des Rechts?


1. Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass die Verwendung von Definitio-
nen nicht gleichbedeutend mit einem rechtsstaatlichen Strafrecht ist. Weder im legis-
lativen Bereich noch in seiner Anwendung durch die Gerichte findet das Strafrecht
Grenzen durch Definitionen. Eine Beschränkung kommt allenfalls durch andere Fak-
toren zustande. Definitionen beschränken nicht per se das ius puniendi, reicht es doch
bereits, ihren Anwendungsbereich oder ihre Bedeutung auszudehnen. Die Bestre-

64
Binding, positivistischer Autor, dessen Inhalt und Ausgangspunkt seiner Forschung die
Normen – und nicht so sehr das Gesetz – waren, lässt die analogische Konstruktion zu: vgl.
Silva Sánchez, Aproximación al Derecho penal contemporáneo, Barcelona, 1992, S. 51 – 52.
Darüber auch Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege,
3. Aufl., Göttingen, 1965, § 273 (S. 307).
65
Vgl. Marat, Plan de législation criminelle (1790), S. 27 – 28, zit. durch Jacq, in: Omnis
definitio, S. 337. Marat verteidigt in diesem Werk die Präzision des Gesetzes (vgl. span.
Übers., in Verantw. v. A.E.L.: Principios de legislación penal, Madrid, 1891, reimpr., Pamp-
lona, 2004, S. 27 – 29), aber auch, dass den Richtern ein gewisser Entscheidungsspielraum
zukommen muss (vgl. ibidem, S. 38 – 39 der span. Übers.).
66
Im Discurso sobre las penas (1782), hrsg. v. Moreno Mengíbar, Cádiz, 2002, wird als
Ziel die Bekämpfung von Willkür als neuer Gesichtspunkt genannt. Das Maß der Strafe zu
begrenzen (insb. durch ihren Nutzen) dominiert gegenüber der Formalität der gesetzlichen
Beschreibung, obwohl dieser Aspekt auch nicht fehlt (cap. II, Nr. 37).
67
Vgl. supra, Fn. 47.
84 Pablo Sánchez-Ostiz

bungen, die Reichweite des Strafgesetzes mit demselben Strafgesetz zu begrenzen,


erscheinen illusorisch. Und dies durch die Gerichte zu leisten, ist ebenso unrealis-
tisch. Die „Rolle“ der Definitionen ist, bildlich gesprochen, deshalb eine „kleinere“,
wie im Folgenden dargelegt werden soll.
2. Weil Legaldefinitionen Teil des Gesetzes sind, müssen sie als das ausgelegt
werden, was sie sind: Teil des Textes. Die Definition ist mithin selbst Auslegungsge-
genstand68: Sie gehört zum Gesetz und wird in diesem Sinne ausgelegt. Definitionen
sind aber auch mehr als das: Mit ihrem teleologischen Charakter69 sind sie „Text für
den Text“, d. h. Gesetzesteile, die eine bestimmte Funktion im Gesetz erfüllen70. Kon-
kret heißt das, dass sie sich, einmal ausgelegt, dazu eignen, andere Passagen der
Norm nicht nur sprachlich zu konkretisieren. So können sie etwa das „normative Pro-
gramm“, wie es im Gesetz enthalten ist, identifizieren71. Deshalb ist es nötig, nicht
nur die Begriffe der Definition auszulegen72, sondern dies auch in Hinblick auf deren
Sinn im Zusammenhang und deren Zweck zu tun73.

68
Wie an verschiedenen Stellen in der Wissenschaft genannt, verliert sich der Satz „in
claris non fit interpretatio“ in logischer Zirkelhaftigkeit. Es wäre zuerst nötig, zu präzisieren,
was „klar“ ist, und dies erfordert, den Begriff zunächst daraufhin zu untersuchen, ob er ein-
heitlich ist und keine anderen Bedeutungen zulässt.
69
Vgl. supra, in II. 5. und in III. 3.
70
Vgl. Robles Morchón, Las reglas del Derecho, S. 221. Daher tragen Definitionen zur
systematischen Einordnung des Gesetzes bei (vgl. Belvedere, in: Omnis definitio, S. 112 –
113) und stellen „Hilfselement zum Verständnis der Grundaussagen des Rechts“ dar (Atienza,
El sentido del Derecho, S. 44).
71
Im Konzept der Gesetzesauslegung, wie es von Müller/Christensen, Juristische Metho-
dik, 8. Aufl.: vol. I: Grundlagen; Öffentliches Recht, Berlin, 2002, passim, beschrieben wird,
ist der Normtext der Ausgangspunkt und besitzt Geltung, ermangelt aber aus sich heraus der
Bedeutung, die er erst im Prozess der Auslegung erhält (vgl. ibidem, Rn. 185 und 226). Vgl.
auch Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, Berlin, 2001.
Die von Müller genannte „strukturierende Theorie des Rechts“ hat dazu beigetragen, den
Ansatz, der das Gesetz mit dem Recht gleichsetzt und von der Existenz der lex ante casum und
deren syllogistischen Anwendung ausgeht, zu zerstören: vgl. Müller/Christensen, Juristische
Methodik, 8. Aufl.: vol. I: Grundlagen; Öffentliches Recht, Berlin, 2002, passim, Nr. 471
(1. Aufl., 1971; ab der 7. Aufl., 1997, Müller/Christensen). Entsprechend dem genannten
Ansatz muss nicht der Normentext determiniert werden, sondern die Norm selbst, eine Ent-
scheidungsnorm (Rn. 225 – 229). „Die Rechtsnorm entsteht nicht ,aus‘ dem Normentext,
sondern misst sich an dessen Regelung und muss sich in Relation zu diesem bestätigen“
(Rn. 479). Der Text der Norm „schafft einen Rahmen, in dem die Bestimmung einer Rechts-
vorschrift gelingen kann“ (Rn. 177, 305); vom Text (als primär „linguistische Daten“) und Fall
aus (als „reale Daten“) wird das Normenprogramm festgelegt (Auslegungsergebnis); von
diesem, bezogen auf den vorgestellten Fall, wird der genannte Normenkreis abgesteckt
(Komplex dieser Daten des Falls, die Teil der Norm sein müssten). Programm und Kreis der
Norm führen zur Rechtsnorm, die als Entscheidungsnorm verstanden wird, wie es sich in dem
Urteil darstellt (Rn. 14 – 16; 230 ff.). Das ist der Zeitpunkt, in dem die juristische Aussage
„Normativität“ erhält.
72
Vgl. De Faria Costa, in: Omnis definitio, S. 263 – 264 (der die „Asymmetrie“ des por-
tugiesischen CP – was aber auf andere Rechtsordnungen übertragbar ist – zwischen den De-
finitionen des allgemeinen und besonderen Teils hervorhebt).
Die Bedeutung von Legaldefinitionen für die Anwendung des Strafrechts 85

3. Für die Auslegung ist ein Fakt von gewissem Wert, nämlich, dass der Gesetz-
geber selbst erklärt hat, was ein Begriff bedeuten soll („authentische“ Auslegung74).
So ermöglicht im legislativen Bereich der Rückgriff auf Definitionen dem Gesetzge-
ber einem Terminus einen bestimmten Sinn zu geben. Insoweit heißt definieren, eine
authentische Auslegung eines Begriffs, des Definiendum, zu realisieren. So wird es
möglich, die voluntas legislatoris zu erfahren. Und in diesem Sinne legt eine gesetz-
geberische Definition relativ sichere Kriterien für die Rechtsanwendung fest75, so-
weit dabei einige Auslegungsvarianten, die extrem vom ursprünglich legislativ Ge-
wollten abweichen, ausgeschlossen werden76. Aus dieser Sicht können Definitionen
besser sein, als ihr Fehlen. Man könnte also von einem negativen Effekt sprechen77,
wenn Definitionen mit gewisser Bindungswirkung Ergebnisse möglicher Auslegung
ausnehmen. Insoweit stellt die Definition sich als Regel dar, die wesentlich die Aus-
legung lenkt78. Die Auslegung muss aber weiter gehen als das. Letztlich ist sie daher
kein End-, sondern vielmehr ein Ausgangspunkt für weiterführende Präzisierungen
des Gesetzestextes79.
4. Darüber hinaus präzisieren Definitionen, soweit sie eine deutliche Erklärung
des Gesetzestextes vornehmen, nicht schon das Ziel des Gesetzgebers, sondern
auch des Gesetzes selbst80. Sie können daher als Ausdruck der voluntas legis dienen.
Letztlich ist es bei der Anwendung des Gesetzes der Richter, der eine Auslegung in
Hinblick darauf vornimmt, welches Verhalten im Zeitpunkt seiner Anwendung das

73
Vgl. Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 4.II, S. 42.
74
Vgl. De Faria Costa, in: Omnis definitio, S. 273. Im Allgemeinen über die Auslegung
der authentischen Auslegung (oder explicatio) vgl. Hruschka, La comprensione dei testi
giuridici (1972, trad. Perlingieri), Camerino, 1983, S. 91.
75
Darüber hinaus: der Rückgriff auf die voluntas legislatoris (subjektive Auslegung) ver-
schafft dem Richter fundierte Gründe für seine Entscheidung, um „wie ein Gesetzgeber“
vorzugehen. Vgl. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl., Heidelberg, 1999, Rn. 481.
Natürlich muss man sich fragen, ob diese Bindung des Gerichts an die Legaldefinition als
Ausdruck der voluntas legislatoris eine ausreichende Grundlage besitzt, da um diese zu prä-
zisieren, im Ursprung des Gesetzes selbst gesucht werden muss (vgl. E. Simon, Gesetzesaus-
legung im Strafrecht, S. 46), quam erat interpretandam!
76
Vgl. Melchionda, in: Omnis definitio, S. 403; De Faria Costa, ibidem, S. 274.
77
Vgl. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2003, 9.I, wo er aufzeigt, wie das in seinem
Kontext ausgelegte Gesetz die linguistische Grundlage bildet, um Ausgangspunkt der juristi-
schen Auslegung zu sein. In diesem Sinne könnte man von einer negativen Funktion oder einer
Limitierung durch Definitionen sprechen: vgl. De Faria Costa, in: Omnis definitio, S. 266 und
274.
78
Vgl. so Robles Morchón, Las reglas del Derecho, S. 219, der die Legaldefinitionen für
Auslegungsregeln hält.
79
Über die Relativierung des Gesetzgeberwillens als Gegenstand der Auslegung vgl.
Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, S. 31; Röhl/Röhl, Allgemeine
Rechtslehre, § 79.I, S. 627 – 628.
80
Mit den Worten von Vogel, Juristische Methodik, Berlin/New York, 1998, S. 113, sind
die gesetzlichen Definitionen Auslegungsergebnisse, aber auch „Gebrauchs- und Verwen-
dungsregeln“ für eine fortwährende Auslegung des Gesetzestextes.
86 Pablo Sánchez-Ostiz

Gesetz verlangt81. Nun gibt der Gesetzgeber vor dem Gesetz gerade dem nach, was
von Rechtsprechung und Lehre entwickelt wurde. Die subjektive Auslegung gibt der
objektiven den Vortritt, aber nicht einer solchen freien Auslegung ohne jede Regel,
sondern einer, die von Grundsätzen geleitet ist. Bei dieser Auslegungsarbeit können
Legaldefinitionen Kriterien bilden, um besonders abwegige Auslegungen zu verhin-
dern82. In diesem Sinne könnte man auch von einem positiven Effekt der Legaldefi-
nitionen sprechen.
5. Zusammenfassend lässt sich mithin feststellen, dass Legaldefinitionen nicht in
der Lage sind, die Erwartungen an sie als Mittel der Beschränkung des Strafrechts zu
erfüllen. Definitionen können dazu dienen einen Begriff zu präzisieren, ist dieser Be-
griff aber weit gefasst, dienen sie dazu das Strafrecht auszuweiten. Mit anderen Wor-
ten: Was durch die Beschränkung des ius puniendi nicht erreicht wird, wird durch
dessen Ausweitung bewirkt. Letztendlich ist die Beschränkung des ius puniendi
eine dem Rechtsstaatsprinzip eigene Aufgabe, die nur dann gelingen kann, wenn
der Wille eines rechtsstaatlichen Strafrechts gegeben ist und nicht eine bloße Anwen-
dung sprachlicher Regeln stattfindet: Das Strafrecht beschränkt sich nicht nur durch
dessen Terminologie, sondern auch durch die Nutzer dieser. Ebenjene sind es, die mit
dem Willen, den Anwendungsbereich des Gesetzes zu begrenzen, von einer Termi-
nologie Gebrauch machen, die die Rechtsstaatlichkeit ermöglicht, die proklamiert
wird. Daraus ergibt sich, dass das Rechtsverständnis und die Auslegung mehr und
etwas anderes sind, als die bloße Anwendung: eine Argumentation anhand von
Grundsätzen83.
Abschließend bleibt festzustellen, dass Definitionen nicht das beste Mittel sind,
das ius puniendi einzugrenzen. Ihre Effektivität ist eingeschränkt und konzentriert
sich darauf, herauszustellen, was die voluntas legislatoris und die voluntas legis
sind. Es wäre illusorisch in den Definitionen den Schlüssel zu einer rechtsstaatlichen
Gesetzgebung zu sehen, aber auch töricht ihnen eine gewisse Brauchbarkeit in der
Auslegung absprechen zu wollen.

81
Es ist zweifelsohne notwendig, die bindende Kraft von Definitionen zu relativieren: sie
sind i. d. R. weit und es gibt Stimmen, die zur Auslegung auf die soziale Realität des An-
wendungszeitpunktes abstellen wollen. Vgl. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 4a und
368. Zum Konflikt zwischen objektiver und subjektiver Auslegung vgl. die Darstellung von
Engisch, Einführung in das juristische Denken, 9. Aufl., Stuttgart u. a., 1997, S. 106 ff.
82
Dort haben „Re-Definitionen“ eine wichtige Funktion: den Umfang des Willens abzu-
stecken. Sie eignen sich dazu die Intentionen der vagen Begriffe zu präzisieren, so dass deren
Sinn klarer abgegrenzt wird: vgl. Ferrajoli, Derecho y razón, 2001, aptdo. 9.1, auf S. 120
(Übers. Ruiz Miguel). Vgl. auch Morales Prats, in: Omnis definitio, S. 328.
83
Ich habe einige Vorschläge in diesem Sinne vorgestellt in „Principios y reglas de las
decisiones de la Política criminal“, Persona y Derecho 56 (2007), S. 59 – 102; „Política cri-
minal sobre la base de principios“, Revista Peruana de Ciencias Penales 20 (2008), S. 387 –
397; „Principios constitucionales de la Política criminal. Una aproximación“, Revista Peruana
de Ciencias Penales, 21 (2009), S. 289 – 327.
Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip
Ein Befehl an den Gesetzgeber ohne Bedeutung
für die Gesetzesanwender?

Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno*

I. Das Gesetzlichkeitsprinzip
und die Auslegung des Strafrechts
Muss der Gesetzgeber im Bereich des Strafrechts exakt bestimmte Gesetze erlas-
sen? Garantiert die Bestimmtheit dieser Gesetze die Vorhersehbarkeit der Rechtsan-
wendung? Gilt das Gesetzlichkeitsprinzip auch für diejenigen, die die Gesetze aus-
legen?
Die Strafrechtslehre gibt auf diese drei Fragen üblicherweise die folgenden Ant-
worten: „ja“, „nein“ und „es kommt drauf an“. In diesem Beitrag werde ich aufzei-
gen, dass die Antworten auf die ersten beiden Fragen zwar richtig sind, dass die dritte
Antwort allerdings „ja“ heißen muss. Dies ergibt sich genau aus denselben Gründen
wie die Antworten auf die beiden ersten Fragen: Die durch das Gesetzlichkeitsprin-
zip (nicht nur, aber auch im Strafrecht) geschützten Rechtsgüter und alles, was wir
heutzutage über die Gesetzesauslegung im Strafrecht wissen, erwecken den An-
schein, im Strafrecht sei eine spezielle Auslegungsmethode notwendig, genauer ge-
sagt, eine Beschränkung des Handlungsspielraums des Auslegenden. Dem ist jedoch
nicht so. Es gibt eine große Diskrepanz zwischen der (zu Recht) an den Gesetzgeber
gerichteten Forderung nach Bestimmtheit bei der straftatbestandlichen Beschrei-
bung von Verhaltensweisen und der Freiheit, die dem Auslegenden zugestanden
wird. In diesem Beitrag werde ich die Probleme dieser widersprüchlichen Haltung
aufzeigen. Hierfür werde ich im zweiten Teil die Antwort auf jede der zu Beginn auf-
geworfenen Fragen näher erläutern. Im dritten Teil werde ich den tieferen Grund des
Problems ansprechen, nämlich das große Misstrauen, das gegenüber dem Gesetzge-
ber besteht und das große Vertrauen, das dem Auslegenden entgegengebracht wird.
Im vierten Teil werde ich die Grundzüge einer Auslegungstheorie für strafrechtliche
Vorschriften darlegen, die, in Verbindung mit einer Theorie des Bestimmtheitsgrund-
satzes, den Wirkungsgrad des (strafrechtlichen und allgemeinen) Gesetzlichkeits-
prinzips auf ein Höchstmaß bringt.

* Übersetzung ins Deutsche durch Anna Richter.


88 Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno

II. Drei Fragen, drei Antworten


1. Muss der Gesetzgeber im Strafrecht eindeutig
bestimmte Gesetze erlassen?

Aber selbstverständlich. Jeder Jurastudent weiß, dass das Gesetzlichkeitsprinzip


genau dies fordert, was von der Lehre und der Allgemeinheit der Rechtsanwender
auch ganz einhellig anerkannt wird. Die Bestimmtheit des Gesetzeswortlautes (lex
certa) ist ein Grundelement des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips, das aus
gutem Grund die tragende Säule des modernen Strafrechts ist. Der Respekt vor
der Würde des Menschen und seiner Fähigkeit zu entscheiden, wie er handeln
will (Handlungsfreiheit), erfordert, dass die Bürger ihr Leben frei gestalten können,
wofür sie die rechtlichen Folgen ihres Handelns erkennen können müssen. In dieser
Garantie der ex-ante-Vorhersehbarkeit besteht das Gesetzlichkeitsprinzip für staatli-
che Eingriffe. Hiervon ist das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip nur eine Konkre-
tisierung1, deren Besonderheit einem offensichtlichen Grund geschuldet ist: Strafen
sind die einschneidendsten staatlichen Reaktionen, die das Verhalten eines Staatsbür-
gers nach sich ziehen kann, weswegen die Anforderungen an das Gesetzlichkeits-
prinzip in dem Rechtszweig, der ihre Androhung und Auferlegung regelt, d. h.
dem Strafrecht, besonders hoch sein müssen.
Die Vorhersehbarkeit der rechtlichen Folgen ist eine Garantie, die in verschiede-
nen Ausprägungen des – nicht nur demokratischen – Rechtsstaats gilt. Es ist aber
dennoch gerade dem Letztgenannten wesenseigen, dass das Leben der Bürger von
den Entscheidungen desjenigen Organs mit der größten Legitimität und öffentlichen
Vertretungsbefugnis, des Parlaments, bestimmt werden muss (Demokratieprinzip).2
Wenn die durch das Parlament verabschiedeten Regelungen nicht genau umgrenzt
wären, würden am Ende die Gerichte (die mit einer bestenfalls indirekten demokra-
tischen Legitimation ausgestattet sind) entscheiden, welche Verhaltensweisen zur
Annahme einer Straftat führen und welche nicht. Aus der größeren demokratischen
Legitimität des Parlaments und aus der Tatsache, dass dieses sich durch Gesetze äu-
ßert, leitet man auch die Notwendigkeit ab, die Typisierung strafrechtlichen Verhal-
tens durch diese Art von geschriebenen Regelungen zu vollziehen und strafbarkeits-
begründendes Gewohnheitsrecht auszuschließen3.
1
In diesem Sinne, Krey/Weber-Linn, „Parallelitäten und Divergenzen zwischen straf-
rechtlichem und öffentlichrechtlichem Gesetzesvorbehalt“, in: Schwind/Berz/Geilen/Herz-
berg/Warda (Hrsg.), Festschrift für Günter Blau, Walter de Gruyter, Berlin/New York 1985,
S. 123 – 150, die eine ausgezeichnete Analyse der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwi-
schen dem allgemeinen Gesetzmäßigkeitsprinzip und dem strafrechtlichen Gesetzlichkeits-
prinzip ausgearbeitet haben.
2
Die Trennbarkeit der beiden Fragen (Vorhersehbarkeitsgarantie und Demokratieprinzip) ist
schon unter einem historischen Gesichtspunkt offensichtlich: Die ersten Fassungen des Legali-
tätsprinzips in der Aufklärung erforderten nicht die demokratische Qualität der bestimmten
Gesetzgebung (vgl. Prieto Sanchís, La filosofía penal de la Ilustración, Palestra, 2007, S. 65).
3
Gelegentlich wird vertreten, dass das Gewohnheitsrecht aufgrund seiner Unbestimmtheit
nicht strafbarkeitsbegründend wirken dürfe. Es besteht kein Zweifel daran, dass das Ge-
Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip 89

Schließlich fördern die Bestimmtheit einer Norm und ihre Allgemeingültig-


keit den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz und bei der Gesetzesanwen-
dung, da eine unpräzisere Regelung die Gefahr unterschiedlicher Auslegungen ver-
größert4.
Zusätzlich zu den Begriffen der Vorhersehbarkeit, der demokratischen Legitimität
und des Gleichheitserfordernisses wurde in der Strafrechtslehre auch auf den Zusam-
menhang zwischen der Bestimmtheit und den general-präventiven Erfordernissen
hingewiesen. Eine Ansicht, die nach der vorherrschenden Meinung durch die Arbeit
von Feuerbach5 in die Diskussion eingeführt wurde und in neuerer Zeit von Schüne-
mann und Roxin6 vertreten wird, geht davon aus, dass eine Norm nur dann ihre prä-
ventive Wirkung entfalten kann, wenn die gesetzliche Anordnung klar verständlich
ist.
Hiergegen werden viele unterschiedliche Einwände erhoben. Einige sind unbe-
rechtigt, andere sind dagegen kaum zu widerlegen. Zu den unzutreffenden Einwän-
den gehört die Ansicht einiger Autoren, die bezweifeln, dass Menschen sich wirklich
aus Furcht vor Strafe legal verhalten, so dass die großen und kleinen Bestimmtheits-
probleme letztlich irrelevant seien. Diese Kritik ist insoweit berechtigt, wie sie be-
hauptet, dass die Menschen teilweise und vielleicht sogar hauptsächlich aus anderen
Gründen als der Angst vor Strafe das Gesetz befolgen7. Aber diese Feststellung, die
die meiste Zeit für die Mehrheit der Bürger gilt, beeinträchtigt nicht die Richtigkeit
der weniger weitreichenden Aussage, dass die Strafandrohungen manchmal Perso-
nen motivieren, für die andere Anreize nicht ausreichend waren. Wie die meisten em-
pirischen Fragen, mit denen sich die Sozialwissenschaften befassen, kann die Frage,
ob die Strafandrohung präventiv wirkt oder nicht, nicht mit einem „alles oder nichts“

wohnheitsrecht, genauso wie mündlich überlieferte Regelungen, Bestimmtheitsprobleme


aufwirft. Dennoch gibt es auch gewohnheitsrechtliche Regelungen, die – insbesondere auf
regionaler Ebene – eine hohe Bestimmtheit aufweisen. Ohne noch weiter auszuholen: Das
britische Common Law arbeitete seit seiner sehr umfassenden Kodifikation im 19. Jahrhun-
dert mit dem Gewohnheitsrecht, das auch Straftatbestände enthielt, und auch noch heute er-
kennen in den USA einige Bundesländer (nicht aber das Bundesrecht) die „Common Law
Crimes“ an.
4
Eine ausgezeichnete Analyse dieser Grenzen des Gesetzlichkeitsprinzips, die außer-
dem zwischen objektiven und subjektiven Deutungen bezüglich der juristischen Sicherheit
differenziert, enthält Navarro Frías, Mandato de determinación y tipicidad penal, 2010,
S. 23 – 61.
5
Jedoch lässt sich diese Auffassung, wie Montiel, Analogía favorable al reo. Fundamentos
y límites de la analogía ,in bonam partem‘ en el Derecho penal, 2009, S. 68, Rn. 144 zeigt,
schon in der Arbeit von Beccaria aus dem Jahre 1764 finden.
6
Schünemann, Nulla poena sine lege? Rechtstheoretische und verfassungsrechtliche Im-
plikationen der Rechtsgewinnung im Strafrecht, 1978, passim, insbes. S. 11 – 15; Roxin,
Strafrecht, AT, Bd. I, 4. Aufl., 2006, S. 147 – 148. Für Roxin ist die Bestimmtheit eines Ge-
setzes eine Voraussetzung sowohl der negativen als auch der positiven Generalprävention.
7
Eine auf der Psychologie der Legitimation (besonders der der Wahrnehmung der Legi-
timität) basierende Argumentation in diesem Sinne findet sich bei Tyler, Why People Obey the
Law, Princeton 1990, Neudruck 2006), passim.
90 Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno

beantwortet werden. Es geht vielmehr darum, ob die drohende strafrechtliche Reak-


tion einen Anreiz dafür liefert, sich rechtmäßig zu verhalten. Nachdem die Exzesse
einiger kriminologischer Orientierungen in den siebziger und achtziger Jahren über-
wunden wurden, haben wir heutzutage genügend empirische Erkenntnisse gesam-
melt, um diese Frage bejahen zu können: Strafen, und besonders das Bestehen
eines Strafrechtssystems, das eine erhebliche Verurteilungswahrscheinlichkeit si-
cherstellt, haben eine präventive Wirkung8 (wenngleich diese weniger stark ist, als
das die klassische Theorie der Abschreckung behauptete)9. Wenn die Androhung
von Strafe präventive Auswirkungen auf sonst unzureichend zur Normtreue moti-
vierte Bürger haben kann, wird der vorgebrachte Einwand beseitigt.
Die These, das Gesetzlichkeits- und das Bestimmtheitsprinzip hingen mit der Ge-
neralprävention zusammen, wirft in Wirklichkeit ein anderes Problem auf: Diese Be-
hauptung ist falsch, da die Generalprävention auch sehr gut ohne klar bestimmte Nor-
men funktioniert und sie de facto sogar wirksamer ist, wenn das Gesetz unklar ist
(auch wenn sie dann weniger Legitimität besitzt): Wenn der Rahmen eines strafbaren
Verhaltens nicht klar umrissen ist, die Sanktion für einen Normverstoß aber hinrei-
chend streng ist, dann werden die Bürger dazu neigen, nicht nur diejenigen Handlun-
gen zu unterlassen, von denen sie denken, dass sie strafbar sind, sondern auch solche,
bei denen sie dies nur für möglich halten. Ebenso könnten die Strafverfolgungsbe-
hörden Verhaltensweisen verfolgen und sanktionieren, deren Bestrafung der Gesetz-
geber beim Normerlass gar nicht im Sinn hatte, wenn sich im Nachhinein herausstel-
len sollte, dass eine solche Verfolgung oder Sanktionierung nützlich ist, „um ein Ex-
empel zu statuieren“.
Die These, dass die Klarheit der gesetzlichen Regelung für die Generalprävention
von Bedeutung ist, basiert auf dem nicht verwirklichbaren aufklärerischen Traum
von Bürgern, die die gesetzlichen Verfügungen lesen, um daran ihr Verhalten auszu-
richten. Jedoch hat die Mehrheit der Bürger zumindest in den Rechtsordnungen der
komplexen Gesellschaften einen über die sozialen Normen gehenden Zugang zur
Gesetzmäßigkeit, wobei auf völlig rationale Weise eher ein besonderes Augenmerk
8
Dies wird auch von den Kritikern der Abschreckungstheorie anerkannt, vgl. z. B. Ro-
binson/Darley, „Does Criminal Law Deter? A Behavioral Science Investigation“, in: Oxford
Journal of Legal Studies 24:2, 2004, S. 173 – 205. Gelegentlich wird kritisch behauptet, dass
die Wahrscheinlichkeit einer Sanktion wichtiger sei als ihre Ernsthaftigkeit. Das ist sicher
wahr (vgl. nur Doob/Webster, „Sentence Severity and Crime: Accepting the Null Hypothesis“,
in: Tonry (Hrsg.), Crime and Justice Bd. 30, 2003, S. 143 – 195), aber es ist nicht leicht, diesen
Einwand zu berücksichtigen: Die Wahrscheinlichkeit ist wichtiger als die Schärfe der Sank-
tion, aber damit sie eine präventive Wirkung hat, muss die Sanktion ausreichend scharf sein.
Eine Wahrscheinlichkeit von 95 %, dass eine Geldstrafe verhängt wird, die 0,005 % des Ein-
kommens des Rechtssubjekts darstellt, wird wohl nicht abschreckend wirken.
9
Die klassische Abschreckungstheorie ist der Vorschlag einiger Autoren wie Beccaria oder
Bentham, die durch die gesetzliche Androhung ausgezeichnete abschreckende Ergebnisse
prophezeiten. Die moderne Abschreckungstheorie erkennt an, dass die präventiven Wirkun-
gen gleichzeitig wesentlich moderater und schwerer zu erreichen sind. Zu dieser Frage vgl.
Apel/Nagin, General deterrence: a review of recent evidence, in: Wilson/Petersilia (Hrsg.),
Crime and Public Policy, 2011, S. 411 – 436.
Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip 91

auf die Verfolgungsrichtlinien gelegt wird, welche faktisch in der fraglichen Rechts-
ordnung bestehen, als auf die anscheinend in den Gesetzestexten enthaltene Bot-
schaft und deren Bestimmtheitsgrad.
Man stelle sich eine Diktatur vor, die folgende Anordnung erlässt: „Derjenige, der
entgegen der öffentlichen Ordnung handelt, wird mit Freiheitsstrafe bestraft“. Man
wird kaum annehmen können, dass die diesem Regime unterworfenen Bürger ge-
neigt sind, ihr Glück auf die Probe zu stellen, nur weil der Rahmen des verbotenen
Verhaltens und die Sanktion nicht klar umrissen sind. Nein, sie werden das zumindest
nicht tun, ohne vorher abgewartet zu haben, wie die Strafverfolgungsbehörden und
die Richter dieses Systems sich verhalten und welche Verhaltensweisen sie als
„Handlungen gegen die öffentliche Ordnung“ ansehen. Selbstverständlich ist eine
kriminalpolitische Struktur, die auf dem Fehlen der Bestimmtheit des strafrechtli-
chen Systems basiert, gänzlich illegitim. Dennoch sind die Legitimität der Abschre-
ckung und ihre faktische Wahrscheinlichkeit verschiedene Fragen. Zur Widerlegung
der These, die Bestimmtheit sei als Voraussetzung der Abschreckung erforderlich,
muss einzig und allein gezeigt werden, dass die Bestimmtheit als tatsächliche
Frage keine Voraussetzung der Abschreckung ist, sondern sie diese vielmehr
sogar behindern kann (und, wenn man vom empirischen auf das normative Gebiet
übergeht, dass wir gerade dies wollen).
Letztendlich zeigt sich, dass es genügend Gründe dafür gibt, die zu Beginn ge-
stellte Frage, ob der Gesetzgeber in der strafrechtlichen Materie exakt bestimmte Ge-
setze zu erlassen hat, mit „ja“ zu beantworten. Dennoch lassen sich diese Gründe mit
keinem spezifischen Charakteristikum des Strafrechts erklären, außer mit seiner Ei-
genschaft als schärfstes Schwert des Staates: Das spezielle Erfordernis der Be-
stimmtheit im Strafrecht ist die Konsequenz der enormen Schwere der Folgen auf
diesem Gebiet. Dies ist vollständig kompatibel mit der Berücksichtigung des straf-
rechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips als einer besonderen Ausprägung des allgemei-
neren Gesetzlichkeitsprinzips für staatliche Eingriffe.

2. Garantiert die Bestimmtheit einer gesetzlichen Anordnung


die Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung?

Ganz offensichtlich nicht. In unserer post-formalistischen Zeit weiß jeder Jurist,


der etwas auf sich hält, dass die Anwendung gesetzlicher Normen kein „logisch-de-
duktiver“ Prozess ist, durch den – ohne Wertung – aus dem Wortlaut der Norm der
Sinn hinter den Wörtern abgeleitet wird, damit diese auf den Fall angewendet werden
kann.
Das einzige Problem bei der vorherigen Antwort ist die bemühte Abgrenzung zu
früheren Auffassungen. Natürlich ist die Anwendung gesetzlicher Normen kein
algorithmischer Subsumtionsvorgang – das wissen und wussten aber auch die
Vertreter einer „formalistischen“ Lehre (wer auch immer als solcher angesehen
92 Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno

wird)10. Ansonsten ließe sich nicht erklären, dass über die Auslegungsvorschriften
und -gegenstände diskutiert wurde. Außerdem ist es evident, dass alle Autoren, die
sich irgendwann einmal Formalisten genannt haben, solche Diskussionen auch
häufig geführt haben. Heute, wie auch schon damals, sind wir Juristen uns sehr
wohl bewusst, dass dieselbe Regelung sehr unterschiedliche Auslegungen und An-
wendungen ermöglicht, je nachdem, welche Auslegungsregeln angewandt werden
und was als Auslegungsgegenstand angesehen wird (historisch gesehen wurden
hauptsächlich zwei Auslegungsgegenstände vertreten: den Zweck der Regelung
oder die Bedeutung ihres Wortlautes zu ergründen). Somit ist auch in diesem
Fall folgende Antwort richtig: Die Bestimmtheit einer gesetzlichen Anordnung ga-
rantiert nicht die Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung.
Die erste Antwort hat aufgezeigt, wie wichtig die Vorhersehbarkeit der rechtli-
chen Folgen für die Bürger bezüglich der Ausübung der Handlungsfreiheit ist.
Gleichzeitig hat sie gezeigt, wie die Regierungsweise einer Gesellschaft Auswirkun-
gen auf die Legitimität der demokratischen Systeme hat (Demokratieprinzip) und
wie die Gleichheit vor dem Gesetz gefördert werden muss (Gleichheitsgrundsatz).
Die zweite Antwort zeigt uns, dass die Gesetzesauslegung nicht nur die Vorherseh-
barkeit und die Gleichheit bei der Gesetzesanwendung beeinträchtigen kann, son-
10
In den letzten Jahren häuften sich Untersuchungen, die bewiesen haben, dass die
furchteinflößendsten „Formalisten“ – ernsthaft betrachtet – gar nicht so furchteinflößend und
formalistisch sind, wie man denkt: Grey rettet Langdell (Grey, „Langdell’s Orthodoxy“, in:
University of Pittsburgh Law Review, Herbst 1983, S. 1 – 53; ebenso, „Modern American
Legal Thought“ (Rezension von „Patterns of American Thought“, von Neil Duxbury), in: Yale
Law Journal, November 1996, S. 495 – 497); Haferkamp resozialisiert Puchta (Haferkamp,
Hans-Peter: Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, 2004); Ogorek und
Montiel humanisieren den „Subsumtionsautomaten“ von Montesquieu (Ogorek, „Die er-
staunliche Karriere des ,Subsumtionsmodells‘ oder wozu braucht der Jurist Geschichte?“, in:
Prittwitz et al. (Hrsg.), Festschrift für Klaus Lüderssen zum 70. Geburtstag, S. 127 – 140;
Montiel, Analogía favorable al reo, 2009, S. 63 – 66); Ortiz de Urbina zeigt, dass die Gesetz-
geber der Aufklärung doch nicht so naiv waren und dass der berühmteste strafrechtliche
Vertreter des Formalismus, Karl Binding, keiner der üblichen Definitionen des Formalismus
entspricht (Ortiz de Urbina, La excusa del positivismo. La presunta superación del „positi-
vismo“ y el „formalismo“ por la dogmática penal contemporánea, besonders Kapitel IV). Im
Werk von Tamanaha (Beyond the Formalist-Realist Divide: The Role of Politics in Judging,
2010, besonders die Kapitel 2, 3 und 4) „findet sich eine große Anzahl von Belegen, die
beweisen, dass während der sogenannten formalistischen Ära viele der wichtigsten Juristen
vollkommen realistische Standpunkte bezüglich des Rechts und der Arbeit des Richters ver-
traten“ (Tamanaha, „Unsupported Assertions about the Formalist Age: A Response to Leiter“,
in: Balkinization, 9. September 2010. Abrufbar unter http://balkin.blogspot.com/2010/09/un
supported-assertions-about-formalist.html). Wie Montiel gezeigt hat (Analogía favorable al
reo, 2009, S. 63), scheint gerade Beccaria der einzige Autor zu sein, der vor diesem „mecha-
nistischen Formalismus“-Vorwurf nicht gerettet werden kann (siehe auch Prieto, La filosofía
penal de la Ilustración, 2007, S. 107 – 108: „Beccaria hat uns die entschiedenste Formel von
dem, was man als mechanistische Konzeption der Interpretation kennt, hinterlassen“). Die
exzessive Aussage dieses Autors ist nicht ganz unverständlich, wenn man bedenkt, dass er sein
Werk mit kaum 25 Jahren geschrieben hat und dass seine Zielsetzung eher philosophisch-
politischer als strafrechtlicher Art war (und in der Tat hat Beccaria, worauf Prieto, a.a.O.,
S. 99, hinweist, niemals wieder eine strafrechtliche Abhandlung geschrieben).
Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip 93

dern auch die Vorstellung zu Fall bringen kann, dass der Gesetzgeber selbst über die
Strafbarkeit von Verhaltensweisen zu entscheiden hat. Somit sind die Auslegungs-
methoden gerade für das Verständnis und die Wirkkraft des Gesetzlichkeitsprinzips
von größter Bedeutung. Dies bringt uns zur nächsten und letzten Frage:

3. Gilt das Gesetzlichkeitsprinzip auch für diejenigen,


die die gesetzlichen Anordnungen auslegen?

Die Stellungnahmen in der Lehre und von Seiten der Rechtsanwender geben auf
diese Frage eine sehr viel weniger eindeutige Antwort als wir sie auf die Frage nach
der Bedeutung des Gesetzlichkeitsprinzips für die Aufgaben des Gesetzgebers erhal-
ten haben. Im Bereich der Auslegung ist die Antwort kein eindeutiges „Ja“, sondern
vielmehr ein „Jein“. „Ja“, weil – abstrakt gesehen – gefordert wird, dass der Ausle-
gende keine unvorhersehbaren Auslegungen vollziehen und noch viel weniger Vor-
schriften analog anwenden darf11. „Nein“, weil die Kriterien, mit denen man über die
Extravaganz einer Auslegung oder die Grenzen einer Analogie12 und andere Formen
der Interpretation entscheidet, sehr lax ausgestaltet sind und daher einen niedrigen
Anforderungsgehalt haben, der nichts mit der entschiedenen Haltung zu tun hat,
mit der man die Einhaltung des Bestimmtheitsgebots fordert.
Das strikte Verbot einer Analogie zum Nachteil des Beschuldigten geht in erster
Linie mit einem deutlichen Mangel an konzeptueller Bestimmtheit bei der Festle-
gung der Umrisse dieser Art der Rechtsfortbildung und seiner Unterscheidung
von anderen Auslegungs- und Rechtsfortbildungstechniken einher. Mit den Worten
von Montiel: „Das Fehlen eines kohärenten methodologischen Modells hat das Ana-
logieverbot ständig der Lächerlichkeit und dem Etikettenschwindel ausgesetzt (…).

11
Für die Festlegung des strafbaren Verhaltens und der verhängbaren Strafen ist der un-
bestimmte Begriff des „Analogieverbots“ zusammen mit dem Bestimmtheitsgebot, dem
Rückwirkungsverbot und dem Verbot des Gewohnheitsrechts in unseren Rechtsordnungen
eines der Korollare des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips (s. hierzu Roxin, AT, Bd. I,
4. Aufl., 2006, S. 148 – 158, und dort S. 148: „Das Analogieverbot stellt die Aufgabe, die
zulässige gesetzestreue Auslegung von der verbotenen rechtsschöpferischen Analogie abzu-
grenzen.“). Nach der herrschenden Meinung richten sich das Bestimmtheitsgebot und das
Rückwirkungsverbot an den Gesetzgeber, während sich das Verbot strafbegründenden Ge-
wohnheitsrechts und das Analogieverbot an den Richter richten. Genau genommen wurde
vertreten, dass das Analogieverbot das Bestimmtheitsgebot auf die Rechtsanwendung „er-
streckt“. In jedem Fall handelt es sich um eine sehr nuancierte „Erstreckung“ (hierzu Kuhlen,
„Zum Verhältnis von Bestimmtheitsgrundsatz und Analogieverbot“, in: Dannecker/Langer/
Ranft/Schmitz/Brammsen (Hrsg.), Festschrift für Harro Otto, Carl Heymann, Berlin/New
York 2007, S. 89).
12
Obwohl die hier untersuchte Ausprägung des Gesetzlichkeitsprinzips für gewöhnlich
„Analogieverbot“ genannt wird, handelt es sich dabei um einen unzureichenden Ausdruck, da
man allgemein davon ausgeht, dass das Korollarium nicht nur das Analogieverbot im engeren
Sinne enthält, sondern auch andere Methoden der Rechtsauslegung und -fortbildung zu Lasten
des Beschuldigten umfasst (z. B. die teleologische Reduktion eines Rechtfertigungsgrundes).
Vgl. dazu Kuhlen, Otto-FS, 2007, S. 96 – 97.
94 Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno

Ein klares Beispiel findet sich darin, dass in bestimmten Fällen weite Auslegungen
akzeptiert werden, Analogien aber strikt abgelehnt werden, wobei gleich darauf die
weite Auslegung jedoch sehr ähnlich definiert wird wie die Analogie, womit eine als
weite Auslegung getarnte Analogie vorliegt“.13
Letzteres ist immer dann der Fall, wenn man als weite Auslegung „jede mögliche
Auslegung“ begreift, „die den strafrechtlichen Vorwurf auf Verhaltensweisen aus-
dehnt, die außerhalb des möglichen Wortlautsinnes stehen“ und fordert, dass dies
zu vermeiden ist14, man aber später darlegt, dass die weite Auslegung genau diejenige
ist, bei der der Auslegende „über den Normtext hinausgeht und seine Reichweite aus-
dehnt, um dessen wahren Sinn herauszufinden. Ihre Grenze findet sich in der analo-
gen Auslegung, die im Strafrecht verboten ist“15. In diesem letzten Punkt scheinen
die analoge und die weite Auslegung nicht das Gleiche zu sein, und nur die Analogie
scheint eine verbotene Auslegungsart zu sein. Vorher wurde jedoch gesagt, die ana-
loge Auslegung bedeute, über den Wortlaut des Strafgesetzes hinauszugehen16, was
auch über die weite Auslegung gesagt wurde.17 Demnach werden wir nicht genau her-
ausfinden, wie der Autor die eine oder die andere Auslegungsmethode begreift
(selbst wenn man aus dialektischen Gründen annimmt, dass die Analogie eine Art
Auslegung und keine Rechtsfortbildung ist). Daher können wir weder zwischen
den beiden Auslegungsmethoden differenzieren, noch wissen wir, ob die Auslegung,
die den Gesetzeswortlaut überschreitet, um den wahren Sinn der Norm herauszufin-
den, akzeptabel ist oder nicht.
Auf die gleiche Weise wird gelegentlich der Wert des Wortsinns gegenüber der
teleologischen Auslegung betont, indem man behauptet, Letztere werde durch ihn
begrenzt,18 dann aber später einräumt, dass die weite Auslegung sehr wohl weiter
gehen kann als der Wortlaut. Hierzu wird die weite Auslegung unter Berufung auf
den Wortlaut und den Geist des Gesetzes definiert, womit sie von der teleologischen
Auslegung praktisch nicht unterschieden werden kann.19
Zweitens besteht eine große Diskrepanz zwischen der Berücksichtigung des
Wortlautes einer Norm, wie sie von einer Vielzahl von Autoren zunächst gefordert
wird, und seiner Vernachlässigung, wenn nicht gar seines Verschwindens wenige Ab-
schnitte später durch die Zulassung einer Auslegung „gemäß dem Geist des Geset-
zes“, die das Ergebnis „korrigiert“, zu dem man zuvor aufgrund der Wortlautausle-
gung gekommen ist. Diese Frage wird seit vielen Jahren als „Problem der Rangfolge

13
Montiel, Analogía favorable al reo, 2009, S. 130.
14
Berdugo Gómez de la Torre et al., Curso de Derecho Penal, Parte General, 2004, S. 54.
15
Ebd., S. 56.
16
Ebd., S. 55.
17
Ebd., S. 54.
18
s. z. B. Landrove Díaz, Introducción al Derecho penal español. 5. Aufl., 2000, S. 99, der
aufgrund des Gesetzlichkeitsprinzips und vor allem als Grenze der teleologischen Auslegung
auf der Wichtigkeit der grammatikalischen Auslegung besteht.
19
Landrove Díaz, Introducción al Derecho penal español, 5. Aufl., 2000, S. 101.
Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip 95

der Auslegungsmethoden“ (grammatikalische, systematische, historische und teleo-


logische Auslegung) diskutiert und war Gegenstand einer empirischen Untersuchung
von Joachim Rahlf. Hierbei wurden die diesbezüglichen Standpunkte in elf straf-
rechtlichen Lehrbüchern und Kommentaren sowie in vier rechtsphilosophischen Ab-
handlungen untersucht. Neun Strafrechtler sprachen sich für eine Rangfolge aus und
wiesen innerhalb dieser Auslegungsmethoden der teleologischen Auslegung die Vor-
rangstellung zu, das heißt der Auslegung, die dem Sinn und Zweck der Norm ent-
spricht.20 Die wichtigste Feststellung hat jedoch einen negativen Charakter: Keines
der untersuchten Lehrbücher oder Kommentare stellte den Wortlaut an die Spitze,
obwohl an anderer Stelle in dem Werk beteuert wurde, „dass zumindest im strafrecht-
lichen Bereich ,der mögliche Wortsinn‘ die Grenze der Auslegung darstellt, den
Kernbereich der juristischen Methodik ausmacht, welche den Prinzipien des Rechts-
staats und der Gewaltenteilung verpflichtet ist“21.
Wie die klare und deutlich mehrheitliche Akzeptanz einer Analogie zugunsten des
Angeklagten beweist, fühlen sich die Strafrechtswissenschaftler aber in Wahrheit
nicht dem Rechtsstaatsprinzip und der Gewaltenteilung verpflichtet, sondern der Be-
grenzung der Strafgewalt des Staates22. Nun ist die Begrenzung der Strafgewalt des

20
Rahlf, „Die Rangfolge der klassischen juristischen Interpretationsmittel in der straf-
rechtswissenschaftlichen Auslegungslehre“, in: Neumann/Rahlf/Savigny: Juristische Dog-
matik und Wissenschaftstheorie, 1976, S. 17 – 24. Zwei weitere strafrechtliche Autoren wer-
den unter der Überschrift „Unklare Stellungnahmen“ eingeordnet. Bezüglich der rechtsphi-
losophischen Texte galt Larenz zusammen mit der Mehrheit der Strafrechtler als Befürworter
einer Rangfolge (an deren Spitze auch er die teleologische Auslegung stellte), während Eike v.
Savigny, Esser, Kriele und Kelsen zu denjenigen gehörten, die eine solche ablehnten.
21
Neumann, „Der ,mögliche Wortsinn‘ als Auslegungsgrenze in der Rechtsprechung der
Strafsenate des BGH“, in: Neumann/Rahlf/Savigny, Juristische Dogmatik und Wissen-
schaftstheorie, 1976, S. 42. Neumann geht von der Theorie auf die Strafrechtspraxis über und
weist nach, dass, obwohl der BGH methodologische Aussagen im eben genannten Sinn macht,
er diese oft durch eine Auslegungspraxis widerlegt, die den möglichen Wortsinn überschreitet.
Konkret zeigt Neumann, dass der BGH in den zahlreichen in seine Untersuchung eingeflos-
senen Entscheidungen nie ausdrücklich anerkennt, dass er gegen den möglichen Wortsinn
entscheidet, nicht einmal in den Fällen, in denen dies offensichtlich erscheint. Außerdem weist
Neumann nach, dass es keine Fälle gibt, in denen eine Auslegung nur deswegen abgelehnt
wird, weil sie über den möglichen Wortsinn hinausgeht (op. cit., S. 43 – 46 und 49 – 50). Zu
dem gleichen Ergebnis kommt auch der Beitrag von Eike von Savigny in demselben Band.
Darin werden 168 Entscheidungen untersucht, wobei bei 165 von ihnen die Billigkeitsargu-
mente „gewinnen“. Hierbei wird unter „gewinnen“ verstanden, dass sie – nicht immer aus-
schließlich – in der Urteilsbegründung benutzt werden. Auch wenn nicht viele Fälle vorliegen,
bei denen ein Konflikt mit dem Wortlaut (oder das Eingeständnis eines solchen) vorliegen,
„fühlt sich [der BGH in diesen Fällen] bei der Abweichung vom Wortlaut völlig gerechtfer-
tigt“ (Savigny, „Konflikte zwischen Wortlaut und Billigkeit in der Rechtsprechung des BGH“,
in: Neumann/Rahlf/Savigny (Hrsg.), Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, 1976,
S. 76).
22
Diesbezüglich erscheint es signifikant, dass der Vordenker des modernen Strafrechts,
Claus Roxin, der Behandlung des Analogieverbotes 12 Seiten widmet (AT, Bd. I, 4. Aufl.,
2006, S. 48 – 159), aber (buchstäblich) nur 5 Zeilen auf die Analogie zugunsten des Ange-
klagten verwendet. Dies erklärt sich durch die Idee des Autors, dass, im Gegensatz zur Ana-
96 Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno

Staates ohne Zweifel eine anerkennenswerte Zielsetzung. Doch besteht dabei unver-
meidlich das Risiko, dadurch andere, auch sehr wichtige Interessen zu vernachläs-
sigen, wie z. B. die für einen Rechtsstaat typische Forderung, dass die Leitlinien
der sozialen Koordinierung durch den Gesetzgeber und nicht durch den Rechtsan-
wender gesetzt werden müssen. Ohne Zweifel hat der Gesetzgeber diese Grenzen
unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu schaffen, was einen Per-
spektivenwechsel des Rechtsanwenders erfordert (gelegentlich wird sogar hochtra-
bend von einem „epistemologischen Wechsel“ gesprochen), der bei seiner Arbeit das
einfache Gesetzesrecht im gleichen Maße wie die Verfassung beachten muss. Trotz
der vorhergehenden Aussage, die in Staaten, welche die Verfassung an die Spitze
ihrer Rechtsordnung stellen, eine Binsenweisheit ist, bedeutet dies nicht, dass jedwe-
de Abweichung (wer stellt überhaupt fest, dass es sich um eine Abweichung han-
delt?) von der materiellen Gerechtigkeit eine verfassungsrechtliche Bedeutung
hat. Auch heißt es nicht, dass der Richter automatisch befugt ist, den Gesetzgeber
durch eine Rechtsauslegung oder -fortbildung zu korrigieren, wenn Letzterer die ver-
fassungsrechtlichen Grenzen nicht beachtet.
Die rechtlichen Normen können den Auslegenden zwingen, gewisse Umstände zu
berücksichtigen, die nicht zu einer gerechten Lösung beitragen, und dabei andere
Umstände, die zu einer solchen gerechten Lösung beitragen, außer Acht zu lassen.
Anders ausgedrückt lässt sich zusammenfassend sagen, dass die Normen, die mittels
der Auslegung erarbeitet werden, sowohl zu viel als auch zu wenig einschließen kön-
nen23. Ebenso kann man mit klassischeren Worten sagen, dass die Formulierung der
gesetzlichen und selbstverständlich auch der strafrechtlichen Regelungen viel weiter
reichen kann als der Gesetzgeber es gewollt hatte oder es ratsam wäre (je nachdem,
ob die voluntas legislatoris oder die voluntas legis als Maßstab genommen wird).
Dass es auch ungerechte rechtliche Lösungen gibt, muss jeder anerkennen, der
kein Anhänger des extremen ethischen Legalismus24, des Naturrechts25 oder der

logie zum Nachteil des Angeklagten, „die Analogie zugunsten des Angeklagten unbeschränkt
zulässig ist“ (S. 159). In Spanien ergibt sich eine andere Situation, weil das positive Recht
deutlich auf den Ausschluss einer Analogie, auch zugunsten des Angeklagten, hinweist (Art. 4
Abs. I-III des Strafgesetzbuches). Dennoch ist für eine Vielzahl von Autoren eine Analogie
zugunsten des Angeklagten grundsätzlich zulässig, obwohl das positive Recht sie eigentlich
ausschließt (s. Cerezo, Curso de Derecho Penal español, Parte general I, Introducción,
6. Aufl. 2004, S. 213 – 214; Rodríguez Mourullo, „Artículos 1, 2, 3 y 4“, in Cobo del Rosal
(Hrsg.), Comentarios al Código Penal, Bd. I, Art. 1 bis 18, 1999, S. 138 und 160). Im Ge-
gensatz dazu spricht sich eine Minderheit aufgrund der Gewaltenteilung deutlich für einen
Ausschluss der Analogie zugunsten des Angeklagten aus (so Álvarez García, Introducción a la
teoría jurídica del delito, Tirant lo blanch, S. 28).
23
Diesbezüglich vgl. Schauer, Playing by the Rules, A Philosophical Examination of Rule-
Based Decision-Making in Law and in Life, 1991, passim, insbes. S. 31 – 34; ebenso: Think-
ing Like a Lawyer, 2009, S. 26 – 29.
24
Aus Sicht dieser letzten Ansicht bringt die rechtliche Regelung eines Verhaltens oder
eines Zustandes seine ethische Angemessenheit mit sich, d. h. wenn sich aus dem Gesetz eine
Folge ergibt, dann muss diese (zumindest prima facie) als ethisch korrekt angesehen werden.
In zu vielen Fällen wird diese Sichtweise mit der für den Positivismus charakteristischen
Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip 97

Skepsis in ethischen Fragen26 ist. Zum Glück werden all diese Ansätze heutzutage
nur selten vertreten, so dass es nicht nötig ist, die Existenz dieses Problems zu ver-
neinen: Es gibt ungerechte rechtliche Entscheidungen, was die Frage aufwirft, was in
einem solchen Fall zu tun ist.
Historisch wurde vertreten, dass die Ungerechtigkeit der Entscheidungen, zu
denen man mithilfe des Gesetzestexts gelangt, dazu berechtigt, sich über den Wort-
laut hinwegzusetzen. Die Notwendigkeit dieses Vorgehens lässt sich mit dem „Geist
der Gesetze“ oder dem Willen des Gesetzgebers rechtfertigen, indem man die un-
glückliche Abfassung der in Frage stehenden Norm korrigiert27. Namentlich im
Strafrecht stellt sich eine andere Frage, da das Analogieverbot und die Berufung
auf den Wortlaut die Auslegung unbestreitbar begrenzen. Dennoch haben wir gese-
hen, dass diese Grenze in Wirklichkeit nur für die Analogie zum Nachteil des Ange-
klagten gilt und dass heutzutage gelegentlich vertreten wird, die Wahrung des Geistes
des Gesetzes oder des Gesetzgeberwillens würden eine „weite“ oder „restriktive“
Korrektur der Textauslegung auferlegen, die durchgeführt werden könne, ohne auf
eine analoge Anwendung zurückgreifen zu müssen28.

begrifflichen Trennung zwischen Recht und Moral verwechselt. Bezüglich dieses groben
Fehlers s. Ortiz de Urbina, La excusa del positivismo, 2007.
25
Das Naturrecht würde das Problem leugnen und behaupten, dass bestimmte Möglich-
keiten, rechtliche Normen auszulegen (normalerweise die sehr ungerechten, nicht die nur
ungerechten) nicht als „Recht“ angesehen werden könnten. Sicherlich wird das Naturrecht
gewöhnlich durch weitere Begriffe definiert, wobei die Ungerechtigkeit des „Gesetzes“ und
nicht die der „Möglichkeiten, das Gesetz auszulegen“ vertreten wird. Jedoch ermöglicht (und
verpflichtet) die gegenwärtig übliche Unterscheidung zwischen dem Gesetzestext und der ihm
entnehmbaren Norm, sich eher auf die Auslegungsmöglichkeiten der Gesetzestexte zu be-
ziehen als auf die Gesetzestexte selbst.
26
Der Skeptiker in ethischen Fragen kann entweder einwenden, dass es keine verbindli-
chen Gerechtigkeitskriterien gibt und dass es deshalb keinen Sinn ergibt zu sagen, etwas wäre
ungerecht, oder dass diese Kriterien nicht mit den Mitmenschen diskutiert werden können, so
dass eine Person höchstens behaupten kann, ihr persönlich erscheine eine Situation ungerecht.
27
Beide Bezugspunkte können einander sehr nah oder sehr fern sein, je nachdem, wie man
den Ausdruck „Gesetzgeberwillen“ interpretiert. Wenn er faktisch ausgelegt wird (was wollte
der Gesetzgeber wirklich?), dann kann das Ergebnis sehr weit entfernt und sogar völlig ent-
gegengesetzt zu dem Ergebnis sein, das „der Geist des Gesetzes“ bestimmt. Wenn der „Ge-
setzgeberwille“ hingegen in einem normativen Sinne ausgelegt wird, also als „der Wille, den
ein ehrenhafter Gesetzgeber hätte“, dann gibt es kaum Unterschiede zum Begriff des „Geistes
des Gesetzes“ (hierzu s. López Medina, La letra y el espíritu de la ley, Reflexiones prágmáticas
sobre el lenguaje del Derecho y sus métodos de interpretación, Universidad de los Andes/
Temis, Bogotá 2008, S. 155 – 156).
28
Entsprechend der bekannten Ansicht von Alchourrón/Bulygin, Introducción a la meto-
dología de las ciencias jurídicas y sociales, 1975, S. 100 – 102, gehe ich davon aus, dass die
Analogie keine Form der Auslegung, sondern der Rechtsfortbildung ist, die nur angewendet
wird, wenn sich keine Lösung findet (Gesetzeslücke) oder die Lösung völlig unpassend wäre
(axiologische Lücke). In diesem Sinne auch Rodríguez Mourullo, „Art. 1, 2, 3 und 4“, in:
Comentarios al Código Penal, Bd. I, 1999, S. 159, und Montiel, Analogía favorable al reo,
2009, passim, insbes. S. 140 – 146, dem wir die wichtigste Untersuchung über die Bedeutung
dieser Unterscheidung für das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip verdanken.
98 Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno

Gegenwärtig erleichtern die größere Präzision der juristischen Methodik und die
Existenz von Verfassungen mit einem weiten normativen Inhalt auch die Möglichkeit
(vergrößern aber auch das Risiko), den Wortlaut einer Regelung zu überschreiten, da
man hierzu nur von einem normtextnahen Verständnis zu einer die Verfassung ein-
schließenden „Rechtsauslegung“ übergehen muss29. Dieses Vorgehen könnte nicht
einfacher sein: Da sich sehr wenige Verfassungen nicht auf die Gerechtigkeit beru-
fen, widersprechen Lösungen, die als ungerecht angesehen werden, der Verfassung
selbst. Daher stellen sie Hindernisse dar, die mithilfe der Auslegung überwunden
werden müssen, welche, wenn es keine Gesetzesauslegung sein kann, eben eine Aus-
legung der gesamten Rechtsordnung („Rechtsauslegung“) sein muss. Auf diese
Weise ist die Überschreitung der Auslegungsmöglichkeiten des Wortlautes als „ver-
fassungskonforme Auslegung“ gerechtfertigt. Es ist möglich, dass der Leser ebenso
wie ich zu der Ansicht kommt, dass eine solche Praxis übertrieben und beinahe gro-
tesk erscheint. Auch ist es möglich, dass er auf den Gedanken kommt, hier würde ein
gewissermaßen fiktives Feindbild konstruiert. Leider ist dem aber nicht so.

III. Was macht man mit ungerechten gesetzlichen Entscheidungen?


Ein Beispiel des spanischen Tribunal Supremo
Die unbegrenzten Möglichkeiten einer „korrigierenden“ Auslegung und Rechts-
fortbildung und die Gefahr, dass man diese nicht nur zur Vermeidung massiver, son-
dern auch weniger gravierender Ungerechtigkeit verwendet, zeigt sich in einer Be-
gründung eines jüngeren Urteils des spanischen Tribunal Supremo (oberster spani-
scher Gerichtshof, entspricht dem BGH, im Folgenden TS) zu Artikel 65.3 des Straf-
gesetzbuches.
Gemäß dieser Vorschrift kann das Gericht in den Fällen, in denen ein Außenste-
hender an einem Sonderdelikt beteiligt ist, „eine geringere Strafe aussprechen als
dies in dem verletzten Gesetz angeordnet wird“30. Der Gesetzgeber benutzt das
Wort „können“, das sowohl im allgemeinen Sprachgebrauch als auch aus juristischer
Sicht generell auf eine Befugnis hindeutet (und nicht auf eine Pflicht oder ein Ver-
bot). Dementsprechend verstehen sowohl der allgemeine als auch der juristische
29
Vgl. Lifante Vidal, La interpretación jurídica en la teoría del Derecho contemporánea,
1999, S. 40 – 43.
30
Diese Regelung ist einer harten und gerechtfertigten Kritik ausgesetzt: Die Bearbeitung
des Gesetzesentwurfes, unter Beachtung der Mitwirkungen des Consejo General del Poder
Judicial (Generalrat der rechtsprechenden Gewalt, das leitende Organ der spanischen Judika-
tive), weist darauf hin, dass der Gesetzgeber höchstwahrscheinlich keine klare Vorstellung von
der Ausgangssituation hatte (was ein unzureichendes Verständnis von der Rechtsvergleichung
mit einschloss) und dass irrtümlicherweise bei der Gesetzesabfassung Entscheidungen ge-
troffen wurden, die dem ausdrücklichen normativen Ziel widersprachen (hierzu Robles Pla-
nas, Garantes y cómplices, La intervención por omisión y en los delitos especiales, 2007,
S. 105 – 155). Es handelt sich hierbei um wichtige Fragen der Normanpassung, welche jedoch
die folgende Analyse nicht beeinträchtigen.
Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip 99

Sprachgebrauch die Klausel dahingehend, dass die Richter frei entscheiden können,
ob sie die Strafe mildern oder nicht31. Dies ist jedoch nicht die Auslegung des TS, der
Folgendes erklärt hat:
„Obwohl Art. 65.3 Código Penal (span. Strafgesetzbuch, im Folgenden CP) nur einen fakul-
tativen Strafmilderungsgrund enthält, ist unsere Rechtsprechung, die sich auf Art. 1 Cons-
titución Española (span. Verfassung, im Folgenden CE) stützt, zu dem Entschluss gekom-
men, dass die Strafe für einen Außenstehenden bei Sonderdelikten notwendigerweise immer
geringer sein muss als die des Täters, weil er nicht die Pflicht verletzt hat, deren Verletzung
die Tätereigenschaft bestimmt, weswegen der Schuldvorwurf geringer ist“ (STS, 13. Juli
2007, Berichterstatter Bacigalupo).32

Wie man sehen kann, wird unzweifelhaft anerkannt, dass der Gesetzeswortlaut
darauf schließen lässt, dass der Gesetzgeber eine Möglichkeit bestimmt hat („Ob-
wohl Art. 65.3 CP nur einen fakultativen Strafmilderungsgrund enthält …“). Den-
noch wird unmittelbar danach erklärt, dass die Rechtsprechung des TS auf eine
dem Gesetzeswortlaut widersprechende Art und Weise argumentiert. Der Grund
dafür ist, dass der Teilnehmer eines Sonderdelikts „nicht die Pflicht verletzt hat,
deren Verletzung die Tätereigenschaft bestimmt“. Der normative Anknüpfungs-
punkt, der es hier erlauben soll, sich über das Gesetz hinwegzusetzen, wird in
Art. 1 CE gesehen („unsere Rechtsprechung, gestützt auf Art. 1 CE“).
Ungeachtet des materiellen Grundes, der den TS zu seiner Rechtsprechung mo-
tiviert, erscheint es verwunderlich, dass der Anknüpfungspunkt für ein Absehen vom
Gesetzeswortlaut Art. 1 der Verfassung sein soll. Im ersten der drei Absätze dieses
Artikels, dem einzigen, bei dem man einen Bezug zu der Frage vermuten kann, wird
bestimmt, dass „Spanien einen sozialen und demokratischen Rechtsstaat bildet, der
die Freiheit, die Gerechtigkeit, die Gleichheit und den politischen Pluralismus als die
hohen Werte seiner juristischen Ordnung verteidigt“33. Angesichts der Weite der
Klausel „sozialer und demokratischer Rechtsstaat“ erscheint es nicht unlogisch,
dass der TS sich auf die Freiheit, die Gerechtigkeit, die Gleichheit und den politi-
31
Das Fehlen von Kriterien, die dem Richter bei der Entscheidung über die Strafminderung
(oder Nichtminderung der Strafe) als Richtschnur dienen, ist ein weiterer kritisierbarer As-
pekt, der hier aber nicht behandelt wird. Zu diesem Phänomen, mit zahlreichen Beispielen aus
dem spanischen Strafgesetzbuch, vgl. Navarro Frías, Mandato de determinación y tipicidad
penal, 2010, S. 56 – 59.
32
Diese Argumentationsweise wiederholt sich in der STS vom 23. 12. 2009, Berichter-
statter Varela. Dort wird erneut auf den verpflichtenden Charakter der Strafmilderung hinge-
wiesen: „Obwohl Art. 65.3 CP nur einen fakultativen Strafmilderungsgrund enthält, ist unsere
Rechtsprechung, gestützt auf Art. 1 CE, der Ansicht, dass die Strafe eines Außenstehenden bei
Sonderdelikten notwendigerweise (…) gegenüber derjenigen des Täters gemindert werden
muss“. Im Gegensatz dazu bestätigte die STS vom 25. 01. 2010, Berichterstatter Marchena,
kaum einen Monat später den fakultativen Charakter der Strafmilderung. Die Auswirkungen,
die die unterschiedlichen Auslegungen bzgl. derselben Regelung für den Gleichheitsgrundsatz
bei der Gesetzesauslegung haben, werden infra behandelt.
33
Die anderen zwei Absätze bestimmen Folgendes: „2. Die nationale Souveränität liegt bei
dem spanischen Volk, von dem die Staatsmacht ausgeht“ und „3. Die politische Form des
spanischen Staates ist die parlamentarische Monarchie“.
100 Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno

schen Pluralismus bezieht, die zu den höchsten Werten der Rechtsordnung erklärt
werden. Auch erscheint die Ansicht nicht unvernünftig, dass von diesen vier Werten
nur die Gerechtigkeit und die Gleichheit von der Entscheidung des Gesetzgebers,
eine Strafmilderung für die Teilnehmer an einem Sonderdelikt zuzulassen (und
nicht verbindlich anzuordnen, so wie es der TS möchte), betroffen sein können. Da-
gegen erscheint die Meinung sehr wohl unverständlich, dass man lediglich aufgrund
des Hinweises auf die Gerechtigkeit und die Gleichheit als höchste Werte des juris-
tischen Systems eine Ermächtigung der Gerichte ableiten könne, die gesetzliche
Wertung außer Acht zu lassen (außerdem muss beachtet werden, dass der TS aner-
kennt, dass der Gesetzgeber sich hier sehr wohl klar ausdrückt, auch wenn dies nicht
immer der Fall ist).
Die Lösung des TS widerspricht nicht nur dem herrschenden Verständnis von der
Bedeutung des Gesetzes in einem demokratischen Staat, sondern sie wendet auch
Mittel an, die für den angestrebten Zweck deutlich unverhältnismäßig sind und zu
deren Benutzung der TS verfassungsrechtlich außerdem gar nicht befugt ist.
Bezüglich des ersten Punktes sticht hervor, dass sehr wenig auf dem Spiel steht, da
der Abstand zwischen der Lehre des TS und der gesetzlichen Regelung in Wirklich-
keit sehr klein ist. Jeder Richter oder jedes Gericht, der/das der Ansicht des TS über
die Verbindlichkeit der Strafmilderung für den Teilnehmer folgt, kann von der Mög-
lichkeit, die der Gesetzgeber ihm gibt, Gebrauch machen und auf diese Weise „Ge-
rechtigkeit herstellen“34. Die „Ungerechtigkeit“, die dazu führt, dass der TS eine
„Korrektur“ des Gesetzes für verfassungsrechtlich erforderlich hält, besteht in der
Möglichkeit, dass andere Richter oder Gerichte diese Meinung nicht teilen und
die Strafe in keinster Weise mildern werden. Denn die zu Art. 1 CE konforme Aus-
legung des Art. 65.3 CP will sicherstellen, dass kein Richter oder Gericht eine unge-
minderte Strafe verhängt, was der Gesetzgeber ja erlaubt. Die verfassungskonforme
Auslegung besteht in diesem Fall nicht in der Aufklärung des Sinns eines von dem
Gesetzgeber verwendeten Begriffes („können“), sondern vielmehr in dessen Aufhe-
bung und Ersetzung durch einen anderen („müssen“). Ohne jeden Zweifel setzt die
Verfassung dem Gesetzgeber Grenzen und ermächtigt einige (aber nicht alle) Rechts-
anwender dazu, gesetzliche Vorschriften nicht bzw. nur mit einer bestimmten Aus-
legung anzuwenden. Aber diese Befugnis zur Korrektur der gesetzgeberischen Ar-
beit über dessen Kopf hinweg ist für solche Fälle vorbehalten, bei denen es um
eine gravierende Verletzung verfassungsrechtlicher Vorschriften mit einem speziel-
leren Inhalt als der Idee der Gerechtigkeit geht. Und es ist unverhältnismäßig, sie zur
Korrektur jeder (vermeintlichen oder tatsächlichen) Ungerechtigkeit zu benutzen.
Am Ende des vorherigen Abschnitts habe ich angezweifelt, dass eine Ungerech-
tigkeit besteht, die den Tribunal Supremo dazu gebracht hat, Art. 65.3 CP contra
legem auszulegen. Tatsächlich wird dem TS zu viel zugestanden, wenn man vorbe-
haltlos annimmt, dass die Teilnehmer eines Sonderdelikts immer eine niedrigere
34
Von nun an werde ich mich nur auf die Gerechtigkeit beziehen, wobei ich davon aus-
gehe, dass eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes auch eine Ungerechtigkeit ist.
Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip 101

Strafe verdienen als die Täter. Dies so allgemein zu behaupten bedeutet, die „Verlet-
zung der besonderen Pflicht“ des Täters bei den Sonderdelikten als ein Gerechtig-
keitskriterium anzusehen, das alle anderen Gesichtspunkte dominiert. Dies ist jedoch
nicht nachvollziehbar. Man denke zum Beispiel an einen Fall, in dem ein millionen-
schwerer Bauunternehmer die bedrängte wirtschaftliche Situation eines Beamten,
der über seinen Bauantrag zu entscheiden hat, ausnutzt und ihm einen Geldbetrag
dafür anbietet, dass im Gegenzug zu seinen Gunsten entschieden wird, obwohl er
sich völlig sicher ist, dass der Bauantrag nicht die gesetzlichen Voraussetzungen er-
füllt. Nachdem der Beamte einen Monat lang nachgedacht hat, stimmt er aufgrund
seiner wirtschaftlichen Situation zu. Hier besteht eine administrative Rechtsbeugung
(bzw. in deutscher Terminologie: Bestechlichkeit) des Beamten auf Grund der An-
stiftung durch den millionenschweren Bauunternehmer und zweifellos ist es der
Beamte, der seine besondere Pflicht verletzt hat. Dennoch ist es überhaupt nicht of-
fensichtlich, dass der Millionär, der das Ganze erst in Gang gebracht hat und die wirt-
schaftlich schwache Situation des Beamten ausnutzte, nicht eine zumindest ebenso
hohe Strafe wie dieser verdient.
Zweitens ist die Handlung des TS auch deshalb falsch, weil er in diesen Situatio-
nen keine Handlungslegitimation hat. In Rechtssystemen mit konzentrierter oder
spezialisierter Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit wie in Spanien oder Deutschland
ist die Entscheidung über die Angemessenheit der Verfügungen mit Gesetzesrang mit
Blick auf die Verfassung nicht Sache des TS (also allgemeiner gesprochen: der Fach-
gerichtsbarkeit), sondern einzig des Tribunal Constitucional (span. Verfassungsge-
richtshof, im Folgenden TC). Wenn der TS der Ansicht ist, dass Art. 65.3, der
25 Jahre nach der höherrangigen Norm in Kraft getreten ist, verfassungswidrig ist,
hat er gemäß Art. 163 CE eine Richtervorlage zu stellen und die Entscheidung
des TC abzuwarten.35
Wie oben schon angedeutet, ist dies das Beispiel einer Missachtung des Gesetzes-
textes im Interesse der Gerechtigkeit, die heutzutage nicht mehr in dem „Geist des
Gesetzes“, sondern in dem „Geist der Rechtsordnung“ zu Tage tritt und sich rheto-
risch auf die abstrakteren Regelungen der Verfassungstexte stützt. Es ist aber auch ein
Beispiel für den momentanen Misskredit der Gesetzgebung, auf den viele Juristen,
Theoretiker wie Praktiker, reagiert haben, wie sie schon immer in solchen Situatio-
nen reagiert haben: indem sie die Macht der Auslegenden steigerten. Auch wenn man
nicht sagen kann, dass der Gesetzgeber diesen Misskredit nicht verdient hat, so ist

35
Art. 163 der spanischen Verfassung schreibt vor: „Wenn ein Organ der Rechtspflege in
irgendeinem Prozess erwägt, dass eine Norm mit Gesetzesrang, die in dem entsprechenden
Fall angewendet wird und von deren Gültigkeit der Fall abhängt, nicht der geltenden Verfas-
sung entspricht, legt es die Frage dem Verfassungsgerichtshof vor (…)“. Man beachte, dass
der Artikel mit „Wenn ein Organ der Rechtspflege“ beginnt, was zweifellos auch den TS
einschließt. Man beachte ferner, dass, obwohl das Verfahren mit „Frage der Verfassungs-
widrigkeit“ überschrieben ist, der Zweifel über die Verfassungswidrigkeit keine Vorausset-
zung des Verfahrens ist: Auch wenn der gewöhnliche Auslegende fest davon überzeugt ist,
dass eine Norm von Gesetzesrang verfassungswidrig ist, muss er erst die „Frage“ stellen.
102 Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno

doch die gewählte Gegenstrategie – Aufwertung der Auslegung und der Freiheit der
Auslegenden gegenüber dem Gesetzestext – nicht sachgemäß.

IV. Gesetz und Auslegender: das Misstrauen von Binding,


125 Jahre später
„Die Überschätzung der Produktivität und der Leistungsfähigkeit der Gesetzgebung stellt
den bedeutsamsten Grundfehler unseres Rechts dar“36.

Vor mehr als 125 Jahren hat ein deutsches Genie diesen Satz geschrieben und
heute stimmt die Mehrheit aller deutsch- und spanischsprachigen Strafrechtswissen-
schaftler dem zu. Wie ich im Anschluss zeigen will, ist dies ein Fehler, sowohl aus
axiologischer als auch aus faktischer Sicht. Es besteht im Gegenteil gegenwärtig
keine Überschätzung der Produktivität und der Leistungsfähigkeit der Gesetzge-
bung, sondern vielmehr eine Überschätzung der Produktivität und der Leistungsfä-
higkeit der Dogmatik und deren Einfluss auf die praktische Rechtsanwendung.
Man kann schwer leugnen, dass im Recht (nicht nur im Strafrecht) die Ansichten
über das Verhältnis der Gesetzestexte und derjenigen, die sie anwenden, zu Extremen
neigen. Mit Schärfe schrieb García Amado „je mehr Rationalität man dem Recht und
dem Gesetzgeber einräumt, desto weniger Beachtung schenkt man der juristischen
Rationalität; und umgekehrt, wenn die Idee der gesetzgeberischen Vernunft verfällt,
sorgt man sich umso mehr um die Rationalität des Richters“37. Gelegentlich wird das
Gesetz und der Gesetzgeber erhöht, und gleichzeitig der „ideologische“ Charakter
der gerichtlichen Aufgabe angeprangert, während ein anderes Mal davon ausgegan-
gen wird, dass der Gesetzgeber einfach unfähig (wenn nicht etwas schlimmeres) ist
und die Verteidigung „des Rechtlichen“ durch das Bündnis der akademischen Lehre
mit dem Richter vorbereitet wird, wobei Erstere Letzteren mit Instrumenten zur Kor-
rektur der gesetzlichen Fehlgriffe ausstattet.
Dennoch fehlt in den meisten Fällen dem Vertrauen oder Misstrauen, das gegen
den Gesetzgeber oder den Richter gehegt wird, eine berechtigte Grundlage. Die Ein-
schätzung der Richterschaft etwa38 bildet zumindest teilweise das Ergebnis einer sich

36
Binding, Handbuch des Strafrechts, Leipzig 1885, S. 7.
37
García Amado, „Razón práctica y teoría de la legislación“, in: Derechos y Libertades,
Revista del Instituto Bartolomé de las Casas, Nr. 9, Juli-Dezember 2000, S. 305. Die Idee
wurde von dem Autor bereits in seiner Doktorarbeit aufgezeigt, Teorías de la tópica jurídica,
Civitas, Madrid 1988, S. 293 – 294.
38
Wie García Amado, Derechos y Libertades, 2000, S. 303, zum Ausdruck bringt, ist das
aktuelle Vertrauen auf die richterlichen Fähigkeiten blind. Es stützt sich also nicht auf Argu-
mente, die das Vertrauen tragen, das in die Vernünftigkeit oder die Kompetenz der richterli-
chen Entscheidungen gesetzt wird. Anders vor einigen Jahren, als man mit Nachdruck den
sozialen Ursprung der Richter aufzeigen wollte (vorherrschend obere Mittelklasse und höher)
und ohne Weiteres den ideologisch befleckten Charakter aus ihren Entscheidungen abgelei-
tete. Über die Einseitigkeit dieser Untersuchungen und Feststellungen, vgl. schon Schelsky,
Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip 103

selbst erfüllenden Prognose. Letzteres ist der Fall, wenn von vornherein darauf ver-
zichtet wird, die Gesetzgebung den Kriterien der Rationalität zu unterwerfen (man
verzichtet sogar auf die so grundlegende Forderung, dass die Gesetzgebungsprozesse
Informationen für die Entscheidungsträger enthalten müssen). Das Ergebnis eines
solchen Verzichts ist, dass eine Überprüfung der gesetzgeberischen Rationalität
durch ein geeigneteres Organ (vielleicht das einzige), nämlich den Tribunal Consti-
tucional unmöglich gemacht wird. Der TC, der von Juristen gebildet wird, die einer
Rechtskultur angehören, für welche die der Norm vorhergehenden Schritte und deren
Motivation unerheblich sind, weigert sich, selbst bei den Anordnungen, die Verfas-
sungsvorschriften zur Ausarbeitung von Gesetzen enthalten, die Qualität der Normen
und die ihrem Inkrafttreten vorhergehenden Prozesse zu untersuchen, und bringt
hierzu verschiedene Gründe mit unterschiedlichem Rechtfertigungsmaß vor39.
Gegenwärtig befindet sich die Strafrechtsdogmatik auf einem Höhepunkt der po-
sitiven Wertschätzung der Rationalität der Rechtsanwendung und einer vergleichba-
ren Geringschätzung der Gesetzgebungsmöglichkeiten. Dies ist aufgrund des offen-
sichtlich verbesserbaren Zustands der Gesetzgebung vielleicht nicht verwunderlich.
Die Gesetzgebung, als eine der Politik unterworfene Tätigkeit, bleibt dieser auch
jetzt verbunden, da sie immer mehr dem ewigen Hin und Her unterworfen ist, das
zum größten Teil auf der Verallgemeinerung des politischen Diskurses basiert. Letz-
terer ist das Ergebnis der Professionalisierung der politischen Parteien in einem Um-
feld, welches von der massiven Informationsmenge und dem Wettkampf der Medien,
dem gespannten Publikum diese Information anzubieten, beherrscht wird. Dennoch
werden bei der Beurteilung des Wertes der Gesetzgebung drei Fehler gemacht:
– Aus axiologischer Sicht dürfen die Überlegungen zur Rolle, die der Rechtsanwen-
der oder der Auslegende zu erfüllen hat, nicht vergessen, dass die Gesetzgebung
vom Parlament, dem Repräsentanten der Volkssouveränität40, ausgeht, und dass
dies schon per se etwas wert ist; wie weiter unten angedeutet wird, schuldet
man der Gesetzgebung als Erzeugnis Respekt, und nicht dem Parlament selbst.
– Aus faktischer Sicht41 neigt man in den üblichen juristischen Untersuchungen
dazu, die wahre Leistungsfähigkeit der Gesetzgebung, vor deren Überbewertung
uns Binding gewarnt hatte, zu vergessen.

„Soziologiekritische Bemerkungen zu gewissen Tendenzen von Rechtssoziologen“, in: Jahr-


buch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band III, 1972, S. 609 und neuer Albrecht,
Kriminologie 1999, S. 264 sowie Robles Morchón, Sociología del Derecho, 2. Aufl., 1997,
S. 263 – 265.
39
So ist es in der spanischen Verfassung, deren Art. 88 bestimmt, dass die von der Regie-
rung vorgeschlagenen Gesetzesentwürfe (ungefähr 85 % aller Projekte) „vom Kabinett ge-
nehmigt werden, welches sie dem Abgeordnetenhaus zusammen mit einer Darlegung der
Gründe und der für die Stellungnahme notwendigen Vorgeschichte vorlegt“.
40
Welches in den parlamentarischen Demokratien alleiniger Volksvertreter ist und sich in
den Präsidialdemokratien diese Aufgabe mit dem Präsidenten als Staatsoberhaupt teilt.
41
Ich benutze diesen Begriff, um den genaueren Begriff „empirisch“ zu vermeiden, da es
unter den Juristen üblich ist, „empirisch“ als Beschreibung für das zu verstehen, was besteht
104 Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno

– Bezüglich der Art und Weise dieser Bewertung sollten die Möglichkeiten der Ge-
setzgebung nicht im Hinblick auf ihren deutlich verbesserungsfähigen aktuellen
Zustand bewertet werden, sondern entsprechend ihrer abstrakten Möglichkeiten.
Ebenso wie sich die Möglichkeiten der juristischen Dogmatik nicht an den Leis-
tungen messen lassen müssen, die die Gerichte eines bestimmten Landes in einem
konkreten Moment erreichen, sondern mit den Möglichkeiten, die die Dogmatik
in einer Rechtsordnung mit einer passenderen institutionellen Ausgestaltung
hätte. Schauen wir uns diese Punkte etwas genauer an:

1. Normativität: der Wert der Gesetzgebung

Warum ist die Gesetzgebung so wertvoll? Wenige Autoren haben den Wert des
Gesetzes in letzter Zeit so klar beschreiben können wie Jeremy Waldron. Einer seiner
letzten Beiträge diente mir auch dazu, diesen Absatz zu ordnen und zu entwickeln42.

a) Gesetzgebung und Demokratie43

In unserer politischen Umgebung ist die Gesetzgebung ein demokratisches Pro-


dukt, das das Ergebnis einer Tätigkeit ausgewählter Parlamentarier ist, welche sich
regelmäßig der Wahl durch das Volk stellen müssen. Es handelt sich um ein konjunk-
turelles und graduelles Merkmal der Gesetzgebung, das auch in nicht demokrati-
schen politischen Systemen oder in unvollständigen demokratischen Parlamenten
vorkommt (da einige ihrer Mitglieder – wie das britische House of Lords – nicht ge-
wählt wurden oder noch umstrittener, weil die Wahlregeln einige Wähler bevorzugen
– z. B. diejenigen, die in einem bestimmten Gebiet wohnen). Andererseits gibt es
Rechtssysteme, die die demokratische Wahl und Absetzung bestimmter Organe

und über die Sinne wahrnehmbar ist, eine Definition, die aus Sicht eines Wörterbuches an-
nehmbar ist, aber aus Sicht der Wissenschaftstheorie etwas kurz geraten ist. Wenn in Letzterer
von „empirischem Diskurs“ gesprochen wird, bezieht man sich auf jeden Diskurs, der mittels
der Erfahrung auf seine Wahrheit oder Unwahrheit hin überprüft werden kann. So ist die
Behauptung, dass der Leser in diesem Moment mit seinen eigenen Augen einen Text liest, eine
empirische Behauptung; möglicherweise ist sie falsch (vielleicht liest irgendjemand ihm den
Text laut vor), aber in jedem Fall ist sie durch die Erfahrung auf ihren Wahrheitsgehalt hin
überprüfbar; dies ist ebenso bei der Behauptung, dass der Leser diesen Text morgen um
17.00 Uhr lesen werde, da dies eine Vorhersage ist, die verifizierbar sein wird, sobald der
beschriebene Moment eintritt, auch wenn im Moment noch keine gemäß der Erfahrung veri-
fizierbare Tatsache vorliegt (da diese noch nicht eingetreten ist). Somit handelt es sich um eine
empirische Vorhersage. Auf dieselbe Weise beziehe ich mich ab jetzt mit dem Begriff der
„empirischen“ Möglichkeiten der Gesetzgebung auf ihre faktischen Möglichkeiten, unab-
hängig davon, ob diese von den Gesetzgebern wahrgenommen werden oder nicht.
42
Waldron, „Representative Lawmaking“, in: Boston University Law Review, Bd. 89,
2009, S. 335 – 355.
43
Waldron, Boston University Law Review (89), 2009, S. 335 – 336.
Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip 105

der Rechtspflege vorsehen, ebenso wie solche, in denen die Bürger an der Rechtsan-
wendung als Laienrichter teilhaben44.

b) Gesetzgebung und Erschaffung des Rechts45

Zweitens ist die parlamentarische Gesetzgebung das Produkt eines Organs, das
sich auf öffentliche und ausdrückliche Art und Weise der Aufgabe verschrieben
hat, das Recht zu verabschieden und zu modifizieren. Das ist auch die Aufgabe,
die ihm durch die Verfassung übertragen und durch die Bürgerschaft problemlos an-
genommen wurde, so dass die Legitimität des Parlaments dadurch nicht als gestört
angesehen wird, wie es bei der Rechtsprechung der Fall wäre, deren Legitimität in
den Augen der Bürgerschaft entscheidend von der Vorstellung abhängt, dass die
Rechtsprechung bestehende Regelungen anwendet, nicht aber neue Regeln erschafft
oder bestehende modifiziert.46 Natürlich kann man immer auch behaupten, das Pro-
blem bestehe darin, dass die Bürgerschaft nicht ausreichend informiert ist und dass
man diese Wissenslücke füllen muss47. Diese Möglichkeit würde nicht nur in den
Fachzeitschriften wichtige Diskussionen hervorrufen, welche unvorhersehbare Fol-
gen hätten. Jedenfalls spiegelt dies nicht den momentanen Stand der Frage in unseren
Gesellschaften wider.

c) Gesetzgebung und Pluralismus48

Drittens erfolgt die Gesetzgebung durch ein Organ, das sich aus einer hohen An-
zahl von Mitgliedern zusammensetzt, was gemäß einer wichtigen Tradition des
rechtspolitischen und sozialwissenschaftlichen49 Denkens die Qualität des normati-

44
In jedem Fall fällt diese Teilnahme für gewöhnlich bei der Erarbeitung von Tatsachen
stärker aus, und weniger stark (bzw. gar nicht) bei der Rechtsauslegung, die das Thema dieses
Beitrages ist.
45
Waldron, Boston University Law Review (89), 2009, S. 336 – 340.
46
Dies sieht man deutlich in den Systemen, in denen die Richter einer Art Wahl unter-
worfen sind. Das bekannteste Beispiel ist das des „hearings“ des US-amerikanischen Senats
zur Bestätigung der Richter des Supreme Court. Darin untersuchen die Senate die Position des
Kandidaten ganz genau und alle Befragten antworten mit der exakt gleichen Antwort, dass sie
die Arbeit des Richters als Anwendung von bereits bestehenden Regeln verstehen – und dies in
einem System der Rechtsfamilie des common law, in dem man traditionell ehrlicher war, was
den Grad der Freiheit des Richters bei seiner Arbeit bei der Rechtsanwendung angeht.
47
Meiner Ansicht nach erkennt die Bürgerschaft zu Recht, dass eine gewisse Freiheit
unvermeidbar ist; wichtig ist nur, dass die Richter hiervon nicht unvorhersehbar großen Ge-
brauch machen.
48
Waldron, Boston University Law Review (89), 2009, S. 340 – 345.
49
Eine Tradition, die ihren juristisch-politischen Ursprung bei Adam Smith hat und sich
seit dem Werk von Condorcet als sozialwissenschaftliche Tradition festigte. Zu diesem Thema
vgl. Sen, The Idea of Justice, Penguin, London 2009, S. 44 – 46 und 91 – 94.
106 Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno

ven Produkts verbessert, da es die Berücksichtigung verschiedener Gesichtspunkte


sowie unterschiedlicher Kenntnisse, Erfahrungen und Interessen ermöglicht50.

2. Tatsächliche Möglichkeiten der Gesetzgebung

a) Die Untersuchung der sozialen Realität

Anders als die Justizorgane sind die Organe, die bei der Ausarbeitung und der
Ausfertigung der Gesetze beteiligt sind, im Allgemeinen nicht von Rechts wegen
dem Druck unterworfen, innerhalb einer bestimmten Zeitspanne zu entscheiden,
und sie sind in der Tat in den meisten Fällen nicht einmal rechtlich dazu verpflichtet,
überhaupt zu entscheiden;51 anders als der Richter, der durch das non liquet gebunden
ist.52 Auch sehen sie ihre Arbeit nicht durch die Grenzen beschränkt, die ihnen eine
konkrete Streitfrage auferlegt, und sie können Experten der unterschiedlichsten Be-
reiche sowohl zur Informationsgewinnung als auch zu deren Verarbeitung um Rat
fragen.
Es ist allgemein anerkannt, dass die Möglichkeiten zur Untersuchung der sozialen
Realität, über die der Gesetzgeber verfügt, die des Richters weit übersteigen. Der Ge-
setzgeber verlässt sich nicht nur auf überlegene Mittel, sondern findet sich – anders
als der Richter – auch nicht durch die Umstände des ihm vorgelegten Einzelfalls und
die Notwendigkeit, in einer angemessenen Zeit zu einer Lösung zu kommen, be-
schränkt53. Wenn erreicht werden soll, dass das Recht einer bestimmten Gesell-

50
In diesem Sinne, Waldron, Boston University Law Review (89), 2009, S. 343.
51
Die Erfahrung zeigt, dass dies sogar bei dem Bestehen einer auf höchster Ebene, der
Verfassung, anerkannten Pflicht zur Gesetzgebung gemächlich angegangen wird, was für
Spanien der späte Erlass (erst 1995) des Geschworenengerichtsgesetzes zeigt, auf welches
Art. 125 CE verweist, oder der Erlass des Regierungsgesetzes (verabschiedet im Jahr 1997),
dessen Erlass ebenfalls in der 1978 verabschiedeten Verfassung (in Art. 98) vorgeschrieben
war.
52
Natürlich nicht wegen des non liquet an sich, sondern wegen seiner Positivierung in
Art. 1.7 Código Civil (spanisches BGB, im Folgenden CC) und Art. 448 CP.
53
Jetzt, da niemand mehr leugnet, dass die Richter sich nicht auf die quasi-mechanische
Anwendung des Rechts beschränken, sondern einer kreativen Arbeit nachgehen, wurde die
Ansicht vorgeschlagen, dass das Unterscheidungskriterium zwischen der Arbeit der Richter
und der Gesetzgeber nicht von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Ermessens bei der
Arbeit abhängt, sondern von der jeweiligen Form, in der beide ihre Handlung einleiten und
dem unterschiedlichen Maß an Bindung an ihren Verfahrensgegenstand: „Das, was dazu führt,
dass ein Richter ein Richter ist und ein Gericht ein Gericht, ist nicht ihre Kreativität und daher
ihre Passivität auf substanzieller Ebene, sondern vielmehr ihre prozessuale Passivität, das
heißt die Verbindung ihrer Entscheidungstätigkeit mit den Fällen und Kontroversen, und ins-
besondere mit den ,Parteien‘, die in diesen konkreten Fällen auftreten“ (Prieto Sanchís,
Ideología e interpretación jurídica, Tecnos, Madrid, 1087, S. 111). Diese prozessuale Passi-
vität besteht sogar bei dem Gerichtsorgan, dessen funktionale Unterscheidung vom Gesetz-
geber die meisten Probleme aufwirft, dem TC, welches ebenfalls auf seine Aktivierung „von
außen“ warten muss (Söllner, „Zum Eingriff der Rechtsprechung in die Gesetzgebung“, in:
Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip 107

schaftsordnung besser dient, ergibt es keinen Sinn, auf die Analyse des Moments zu
verzichten, in welchem die Charakteristiken dieser Gesellschaft am besten berück-
sichtigt werden können. Schauen wir uns das etwas genauer an:
Die verschiedenen sozialen Notwendigkeiten zu identifizieren, festzusetzen, was
die tatsächliche Situation ist, und zu entscheiden, welche Art der Behandlung dieser
Situation die beste ist, sind für die Gerichtsorgane sehr viel problematischere Auf-
gaben als für die Gesetzgeber.
Wenn man mit dem ersten Aspekt beginnt und noch einmal zu meiner eigenen
normativen Argumentation im vorherigen Abschnitt IV.1. zurückkehrt, fehlt es den
Organen der Justizverwaltung in unserem rechtspolitischen System an der Legitimi-
tät zu entscheiden, was eine Notwendigkeit oder ein soziales Anliegen ist: Die Gren-
zen ihrer Handlungsmöglichkeiten in diesem Punkt wurden durch die früheren Ent-
scheidungen des gesetzgeberischen Organs bestimmt54.
Angesichts der Kenntnis um die tatsächliche Situation fehlt den Gerichten im All-
gemeinen die notwendige empirische Information. Diese ist für gewöhnlich weder
vorhanden noch kann sie mittels der zur Lösung gerichtlicher Kontroversen ange-
wandten Verfahren erhalten werden, da diese darauf gerichtet sind, die faktische In-
formation zu erhalten, die notwendig ist, um das Bestehen oder Nichtbestehen der
Mindestvoraussetzung für den gerichtlichen Syllogismus festzustellen55. Aber selbst
wenn sie über solche Informationen verfügen, sind die Gerichte im Allgemeinen
nicht auf deren Bewertung vorbereitet56.

Zeitschrift für Gesetzgebung, 1996, S. 248 und Noll, Gesetzgebungslehre, Rowohlt, Hamburg
1973, S. 50 – 51).
54
In dem speziellen Fall des TC, der ein Gericht, aber kein Teil der Justizgewalt ist, werden
ihm nicht vom gewöhnlichen, sondern vom verfassungsgebenden Gesetzgeber Grenzen auf-
erlegt. Diese Grenzen beziehen sich hauptsächlich auf den großen Respekt, der dem ge-
wöhnlichen Gesetzgeber bei der Entwicklung der verfassungsrechtlichen Verfügungen ein-
geräumt werden muss.
55
In der Tat gibt es sogar bei dieser Arbeit Beschränkungen für die Erlangung der Wahrheit
(z. B. die Normen über das Verwertungsverbot von unrechtmäßig erlangten Beweisen).
56
Hierzu Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 27 – 28, der damit argumentiert, dass die In-
formationsbeschränkung beabsichtigt und notwendig ist: „Das Gesetz wirkt auch für den
Richter gleichzeitig als Filter, der einen Teil der Realität abdeckt. Wenn der Richter in ihrer
Gesamtheit über sie entscheiden müsste, würde er nie zu einer Entscheidung gelangen“. Die
Frage, wie viel empirische oder allgemeinwissenschaftliche Informationen ein Gericht be-
handeln kann, wird von Meares/Harcourt, „Foreword: Transparent Adjudication and Social
Science Research in Constitutional Criminal Procedure“, in: Journal of Criminal Law and
Criminology 90:3, 2000, S. 795 – 796, behandelt, die diesbezüglich behaupten, dass die Fä-
higkeit, empirische und wissenschaftliche Informationen zu behandeln, viel größer ist als man
denkt und dass diese durch Metastudien anstatt konkreter Untersuchungen noch vergrößert
werden kann.
108 Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno

b) Die schwierige Verallgemeinerung von Entscheidungskriterien

Aber sogar wenn sie solche Informationen hätten und in der Lage wären, sie ent-
sprechend zu nutzen, hätten die Gerichte auch erhebliche Schwierigkeiten, die Ent-
scheidungskriterien zu verallgemeinern. Die Schwierigkeiten einer Verallgemeine-
rung variieren, je nachdem, um welches Organ es sich gerade handelt, wobei dies für
den Gerichtshof eines Gebiets schwerer ist als für ein Obergericht auf nationaler
Ebene wie den TS. Die Gründe hierfür sind tatsächlicher Art (die Entscheidungen
der niedrigeren Gerichte sind viel zahlreicher und daher ist es auch schwieriger,
sie im Detail zu kennen), liegen aber auch im Ansehen (der TS wird als ein Organ
mit einem hohen juristischen Niveau angesehen), und in taktischen Entscheidungen
(auch wenn man den TS oder seine spezielle Meinung in einem Bereich nicht allzu
hoch einschätzt, können die niedrigeren Gerichte seinen Entscheidungen folgen, um
die Aufhebung des eigenen Urteils im Rechtsmittelverfahren zu vermeiden). Außer-
dem können Rechtssysteme die Verallgemeinerung der Kriterien erleichtern, indem
sie die Entscheidungen der Obergerichte für verbindlich erklären.
Das Problem der Verallgemeinerung der Kriterien ist eine tatsächliche Frage, die
– zusammen mit einigen normativen Voraussetzungen – erhebliche normative Aus-
wirkungen hat. Dies ergibt sich daraus, dass „Problemlösungen“ durch die Recht-
sprechung, die nicht allgemein gelten, aus Sicht des Gleichheitsgrundsatzes anzu-
zweifeln sind. Dies zeigt deutlich ein Beispiel aus der jüngeren gesetzgeberischen
Entwicklung im Bereich der Delikte gegen das geistige Eigentum in Spanien.
Seit der Strafrechtsreform auf Grund der LO 15/2003 vom 25.11. und bis zur Re-
form durch die LO 5/2010 vom 22.06. erweckte die Ausgestaltung der strafrechtli-
chen Delikte gegen das geistige Eigentum den Eindruck, als würden sie auch das Ver-
halten desjenigen erfassen, der auf der Straße illegale Kopien von CDs oder DVDs
verkauft. Dieses Phänomen ist als „Top Manta“ bekannt, da diese Kopien für ge-
wöhnlich öffentlich auf Decken (spanisch: „Manta“) zum Verkauf angeboten wer-
den, die, wenn die Polizei naht, schnell mit der Verkaufsware eingerollt werden kön-
nen. Es kennt als Täter hauptsächlich Immigranten ohne Aufenthalts- oder Arbeits-
erlaubnis, die zum Erwerb ihres Lebensunterhaltes Raubkopien verkaufen. Entspre-
chend dem Wortlaut der Norm gingen viele Gerichte dagegen vor und verhängten
Freiheitsstrafen über diejenigen, die einen solchen Straßenverkauf von illegalen Re-
produktionen durchführten.
Wegen der erkennbaren Härte der Strafe und der Zweifel an ihrer Verhältnismä-
ßigkeit versuchen die Strafgerichte, eine Verurteilung zu vermeiden, indem sie zwei-
felhafte Beweisprobleme vorbringen oder die strafrechtliche Relevanz einer Verfol-
gung mittels unterschiedlicher dogmatischer Hilfsmittel oder mittels der direkten
Anwendung der verfassungsrechtlichen Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und ul-
tima ratio ausschließen57. Hier ist nicht der Ort, um die Probleme zu erörtern, die mit

57
Für eine komplette Analyse dieser Rechtsprechung, vgl. Castiñeira/Robles, „¿Cómo absolver
a los Top manta? Panorama jurisprudencial“, in: InDret 2/2007, abrufbar unter www.indret.com.
Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip 109

jedem dieser Lösungsansätze einhergehen58. Wir belassen es dabei aufzuzeigen, dass


einige Angeklagte aufgrund dieser Auslegungsverfahren freigesprochen wurden,
während andere in axiologisch und juristisch nicht unterscheidbaren Situationen
im Gefängnis landeten, was weit davon entfernt ist, eine gleichwertige Behandlung
zu sein59.
Hier ist noch zu betonen, dass, wenn die Lösung nicht vom Gesetzgeber (und in
geringerem Maße vom Tribunal Constitucional) kommt, das Risiko besteht, dass
– wie in dem soeben genannten Beispiel – trotz juristisch und axiologisch gleich-
wertiger Umstände einige Gerichte verurteilen und andere nicht, was eine Verletzung
des Gleichheitsgrundsatzes bei der Rechtsanwendung darstellt; was in diesem Fall
noch viel schwerwiegender ist, da es sich um ein Gesetz handelt, dass die Auferle-
gung der schwersten Folge unseres Rechtssystems vorsieht, die Freiheitsstrafe.
Natürlich kann das Problem mit ähnlichen Worten wie ein Notstand geschildert
werden, und man könnte fragen: „Wie viele können wir retten?“. Das heißt: Wenn
wir durch dogmatische Argumente erreichen, dass 50 % der Angeklagten freigespro-
chen werden, dann wäre die Welt besser als wenn diese 50 % verurteilt würden.
Indes: In diesem „Zustand der besseren Welt“ müsste die Verletzung des Gleichheits-
grundsatzes beachtet werden und vor allem müsste man sich fragen, warum bzw. ob
die Mitglieder dieser Lehre behaupten können, dass die Gesellschaft mit einer grö-
ßeren Anzahl an Freisprüchen in diesen Fällen tatsächlich besser gestellt ist. Dies ist
meine persönliche Ansicht und ich denke, es gibt auch gute Argumente, die dafür
sprechen, diesen Artikel wegen der Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
für verfassungswidrig zu erklären. Die Rechtsordnung hält jedoch schon eine Lösung
58
Hier muss noch einmal eindrücklich darauf hingewiesen werden, dass es illegitim ist,
Verfassungsverfügungen direkt anzuwenden, um den Wortlaut des einfachgesetzlichen Rechts
zu umgehen: Die nach-konstitutionelle Gesetzgebung genießt die Vermutung der Verfas-
sungsmäßigkeit. Wenn der Richter der Ansicht ist, dass dem nicht so sei, hat er die Pflicht,
eine Richtervorlage vor dem TC zu stellen, er kann aber nicht einfach von selbst die Norm
nicht anwenden. Dass man nicht so handelt, hat einen pragmatischen Grund: Bei seiner Ver-
fassungsmäßigkeitskontrolle der Gesetze des demokratisch legitimierten Gesetzgebers – und
zwar sowohl mit Blick auf formelle als auch auf materielle Rechtsverletzungen – legt der TC
den Auslegenden sehr strenge Maßstäbe auf (vgl. die umfassende Analyse von Gómez Corona,
Las Cortes Generales en la jurisprudencia del Tribunal Constitucional, Congreso de los Di-
putados, 2008, S. 126 – 266), wobei Letztere versuchen, diese Maßstäbe zu umgehen und sich
selbst die Befugnis anmaßen, die Norm verfassungsgemäß auszulegen.
59
Und zwar unabhängig davon, ob diese ungleiche Behandlung verfassungsrechtliche
Bedeutung hat. Nach der strengen Lehre des spanischen TC besteht keine solche verfas-
sungsrechtliche Bedeutung, da dieser die Ansicht vertritt, dass die unterschiedlichen Ausle-
gungen vom gleichen Organ ausgehen müssen (wobei für ihn schon die unterschiedlichen
Kammern desselben Gerichts verschiedene Organe sind). Dies steht aber der axiologischen
Bedeutung der Frage nicht entgegen. In diesem Sinne Ollero, Igualdad en la aplicación de la
ley y precedente judicial. 2. Aufl., 2005, S. 110: „Den zwei Bürgern, die die gleiche Situation
erfahren haben, die man aber unterschiedlich behandelt, nützt es nichts, wenn man ihnen sagt,
dass das Gesetz zwischen ihnen keine Unterschiede vorsieht, und dass dieses Unrecht nur von
einem Wechsel in dem Normsinn hervorgerufen wurde, der in der Gesetzesanwendung zu
Tage tritt“.
110 Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno

für dieses Problem bereit, die nicht in der phantasievollen Anwendung der Dogmatik
und der Rechtshermeneutik besteht, sondern in der Einlegung der Richtervorlage,
damit der höchste Auslegende der Verfassung, der TC, entscheiden kann, ob die
Regel verfassungsmäßig ist oder nicht.

3. Weder Salomon noch Herkules:


wie man Institutionen vergleicht

Es gibt keinen Grund, die abstrakte Überlegenheit der eben geschilderten Mög-
lichkeiten der Gesetzgebungsorgane anzuzweifeln. Auch kann man nicht in Zweifel
ziehen, dass zwischen der Schaffung von Gesetzen und ihrer Fortentwicklung ein be-
trächtlicher Unterschied besteht und dass zahlreiche Faktoren ihre Verwirklichung
erschweren60. Das bedeutet allerdings nicht, dass es entbehrlich wäre, sich mit der
Gesetzgebung zu befassen, bevor diese verabschiedet wird, sondern es zeigt im Ge-
genteil gerade die Notwendigkeit, dies zu tun. Das Ergreifen von Maßnahmen, die
dazu dienen sollen, die Verzerrung zwischen der abstrakten Möglichkeit und der kon-
kreten Verwirklichung zu beseitigen, lässt sich nicht auf allgemeine Prinzipien stüt-
zen, egal wie treffend diese auch sein mögen, sondern auf die Kenntnis der Probleme
und der strukturellen Umstände der Tatsachen, gegen die man vorgehen möchte: in
diesem Fall die gesetzgeberische Tätigkeit. Diese Kenntnisse zu erlangen, scheint
jedoch nicht zu den Prioritäten der gegenwärtigen Juristen, und viel weniger noch
der Strafrechtler zu gehören. Sie vergleichen im Gegenteil weiterhin eine Institution,
das Parlament, mit all den oben aufgezeigten Problemen seiner tatsächlichen Funk-
tionsweise mit einem idealisierten Modell eines Richters, von dem angenommen
wird, dass er bestimmte theoretische Kenntnisse sowie viel Zeit und Mittel zur Ver-
fügung hat, die offensichtlich außerhalb seiner Reichweite stehen. Als wäre das eben
Gesagte nicht schon weit genug von der Realität entfernt, handelt jeder Theoretiker
außerdem so, als ob alle Richter einer einzigen Lehre folgen würden (die gewöhnlich
zufälligerweise die von Ersterem vorgeschlagene ist), womit er mit einem Feder-
strich die bedeutenden Schwierigkeiten beseitigt, welche die Existenz zahlreicher
Richter mit unterschiedlichsten Ansichten sowie die Vielfältigkeit der Antworten
der Lehre auf viele Probleme darstellen.
Der Vergleich einer Institution in ihrer Funktionsfähigkeit und einer anderen idea-
lisierten, der unter Wirtschaftswissenschaftlern als „Nirvana-Effekt“ bekannt ist,
kann beim Vorschlagen von Lösungen vom Sofa aus sehr bequem sein. Doch es
ist überflüssig zu betonen, dass dies für einen Vorschlag der öffentlichen Politik
nicht nützlich ist61. Denn deren Gremien bestehen nicht aus weisen und gerechten
60
Bedeutend für diesen Punkt Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 94 – 95, der darauf hin-
weist, dass der Gesetzgeber in der Tat wenig Vorteile aus diesen vielen Möglichkeiten zieht.
61
Gegen diese Art von Analyse und für die sogenannte „vergleichende institutionelle
Analyse“ (comparative institutional analysis), die darauf besteht, die gegebenen Alternativen
immer hinsichtlich ihrer Implementationsprobleme zu vergleichen, Gómez Pomar/Ortiz de
Urbina, Chantaje e Intimidación: un análisis jurídico y económico, 2005, S. 155 – 160.
Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip 111

Abgeordneten wie Salomon, aber auch die Gerichte sind nicht mit mutigen und un-
ermüdlichen Richtern besetzt wie Dworkins Herkules. Stattdessen sind die Fähigkei-
ten und das Vermögen jeder einzelnen Institution zu untersuchen und sie untereinan-
der zu vergleichen, wobei darüber nachgedacht werden muss, welcher institutionelle
Entwurf und welches Koordinationsverhältnis zwischen den beiden Institutionen für
die Werte, die man vorantreiben möchte, d. h. in diesem Fall für die dem Gesetzlich-
keitsprinzip zugrunde liegenden Werte, mehr Nutzen bringt. Meiner Meinung nach
umfasst die Lösung keine Lizenz zur freien Auslegung von Gesetzen, deren Ergeb-
nisse uns nicht gefallen. Ich denke, dass diese imaginäre Koalition zwischen Wissen-
schaft und Rechtsanwender gegen den Gesetzgeber schädlich ist, weil sie zu einer
unbeherrschbaren Rechtsordnung führt.

V. Von Binding zu Bentham: Der „Übertragungskreislauf“


und die Auslegung strafrechtlicher Vorschriften
Fast ein Jahrhundert vor Bindings Worten, mit denen der vorherige Abschnitt be-
gonnen wurde, beschrieb ein anderes Genie mit ganz anderen intellektuellen Neigun-
gen die Existenz von etwas, das spätere Autoren „Übertragungskreislauf“ genannt
haben62. Unter Bezug auf die Entwicklung des Common Law wies Bentham auf
die Existenz eines dreiphasigen Kreislaufs hin: In der ersten Phase sind die Richter
in ihrer Handlung völlig frei, da weder ein konstanter Rechtskörper noch die Ver-
pflichtung, den Vorentscheidungen zu folgen, besteht. In der zweiten Phase und auf-
grund der zunehmenden Wahrnehmung von Willkür kommt die Lehre des stare dec-
isis auf und es kommt zu einer Verschiebung zu der starren Befolgung der Vorent-
scheidungen. Nochmals später wird der Eindruck der übermäßigen Willkür durch
die Wahrnehmung anderer Überschreitungen ersetzt; in diesem Fall durch die Wahr-
nehmung der Strenge: Die strenge Beachtung der Vorentscheidungen hatte zur Folge,
dass man zu ungerechten und unzeitgemäßen Ergebnissen kam, die eine neue Unzu-
friedenheit nach sich zogen, welche den Übergang zum dritten Satz ermöglicht. Dort
heißt es, dass die Richter ihre Entscheidungen rechtfertigen, indem sie sich auf zwei
sehr unterschiedliche Argumente berufen. Sie können den Vorentscheidungen folgen
und auf die Lehre vom „stare decisis“ hinweisen oder sie können sich davon trennen,
indem sie sich auf die Notwendigkeit der gerechten Lösung im konkreten Fall beru-
fen. Das war der Moment, als die Richter zu den Herren des Rechts wurden.
Bekanntlich sah Bentham die Hinzuziehung der Gesetzgebung als einzigen Weg
zur Beseitigung dieser Unzufriedenheit, da nur diese sicherstellen konnte, dass die
Normen, mit deren Hilfe die Streitigkeiten entschieden wurden, sowohl in ihrem An-
wendungsgebiet allgemein waren als auch präzise in ihrer Formulierung. Für die

62
Für eine besonders klare Darstellung vgl. Atria, „Adjudication and the Particular“, in:
Bánkowski/MacLean (Hrsg.), The Universal and the Particular in Legal Reasoning. 2006,
S. 70 – 73.
112 Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno

Richter blieb nur eine sehr beschränkte Rolle: Sie sollten das Gesetz anwenden, auch
wenn es ungerecht sei, und in diesem Fall seine Ungerechtigkeit feststellen63. Zwei
Jahrhunderte später haben die vielen Zweige des englischen Rechts, die traditionell
durch das common law bestimmt werden, einen sehr intensiven Gesetzgebungspro-
zess durchlaufen, der zu 8.000 strafrechtlichen Verstößen in England und Wales ge-
führt hat64. Wenn dieses „Naturexperiment“ etwas gezeigt hat, dann dass die Gesetz-
gebung selbst die Probleme nicht lösen, sondern sie sogar noch verstärken kann65.
Damit die Gesetzgebung sich verbessert, ist eine Änderung der Rechtskultur erfor-
derlich, die den Wert und die Möglichkeiten der Gesetzgebung rehabilitiert und zu-
gleich dem Gesetzgeber Verfahrens- und Motivationsanforderungen auferlegt66.
Damit diese Verbesserung auch beständig bleibt, müssen die Gesetze unter Beach-
tung der institutionellen Stellung des Auslegenden im Rechtsstaat ausgelegt werden,
was meiner Meinung nach bedeutet, dass der Auslegende bescheiden in der Ausle-
gung der lex lata und schlagkräftig in seinen Vorschlägen zur lex ferenda sein muss.
Die bisherigen Ausführungen ermöglichen eine Revision der aktuellen Behand-
lung der Auslegungstheorie im Strafrecht. Wegen des Ausmaßes dieser Aufgabe

63
Sogar Blackstone, die juristische Nemesis von Bentham, stimmt mit ihm bei der Beur-
teilung des kläglichen Zustands des common law dieser Zeit überein, wenn auch nicht in der
Therapie: Während Bentham ein Anhänger einer großen Kodifikation war, lag die Lösung
nach Blackstone in dem common law selbst (Postema, Bentham and the Common Law Tra-
dition, 1986, S. 263 – 266).
64
Vgl. Card, Card, Cross and Jones, Criminal Law. 17. Aufl., 2006, S. 1, der diese Zahl als
„eine konservative Einschätzung“ betrachtet.
65
Damit soll Bentham jedoch überhaupt nicht kritisiert werden. Wie viele andere Auf-
klärer hat er großes Vertrauen in die Führung, die die Gesetzestexte über die Entscheidungen
konkreter Fälle ausüben können. Aber der gesetzgeberische Prozess, den er im Sinn hatte, war
eine Kodifizierung in einem strengen Sinne und hat nichts mit dem Gesetzgebungsverfahren
tun, das tatsächlich durchgeführt wurde. Heutzutage sieht die Mehrheit der Lehre und der
englischen Rechtsprechung die Zeit für eine Reform des Strafrechts gekommen, und es be-
stehen zahlreiche Petitionen, die fordern, den ständig gescheiterten Kodifizierungsversuch für
die wichtigsten Teile der Kodifikation fortzuführen. Zu einigen der letzten Versuche, unter
denen die Ausarbeitung eines ehrgeizigen Projekts von 1985 durch ein Komitee der Law
Commission (Codification of the criminal law: a report to the Law Commission) hervorsticht,
das als Grundlage für das Projekt des Strafgesetzbuches für England und Wales von 1989
diente (Criminal Law: A Criminal Code for England and Wales), vgl. Ashworth, Principles of
Criminal Law, 4. Aufl., 2003, S. 6 – 8, 58 – 61.
66
Daran ist nichts Ungereimtes: Niemand bezweifelt, dass dem Gesetzgeber verfassungs-
rechtlich eine große Freiheit bei der Gestaltung der sozialen Verbindungen eingeräumt wird.
Aber es erscheint einfach unverständlich, dass diese weite Befugnis, die ihm eingeräumt wird,
damit er diese zugunsten von Dritten (den Bürgern) ausübt, nicht an irgendein Verfahrens-
oder Motivationserfordernis der gewählten Entscheidung geknüpft ist. Die Nützlichkeit der
gesetzgeberischen Theorie wurde ausführlich dargestellt durch Díez Ripollés, „El Derecho
penal simbólico y los efectos de la pena“, in: Actualidad Penal, Nr. 1, 1.–7. Januar 2001, S. 3:
„die Verschiebung des Schwerpunkts der strafrechtlichen Überlegung von der Rechtsanwen-
dung zu ihrer Schaffung“ ist eine Art, der beunruhigenden Entwicklung der strafrechtsge-
setzlichen Politik zu begegnen. s. zu diesem Thema auch Díez Ripollés, La racionalidad de las
leyes, 2003, passim, insbes. S. 13 – 16.
Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip 113

kann diese hier nicht vollständig entfaltet werden – aber zumindest die Grundzüge
des Modells können dargestellt werden, das meiner Ansicht nach ausgezeichnet ist
und zu zwei klassischen, aber in der (zumindest spanischen) zeitgenössischen Lehre
schlecht gelösten Themen Stellung bezieht: zur Frage nach der Anwendbarkeit der
Auslegungsmethoden und etwaigen Vorrangregeln und zur Frage nach dem Zweck
der Auslegung (letztere Frage kann man folgendermaßen zusammenfassen: Hat die
Auslegung sich darauf zu richten, den Sinn eines Textes, den Willen desjenigen, der
ihn verfasst hat oder etwas dazwischen zu ergründen?). Der hier skizzierte Vorschlag
ist Folgender: Hinsichtlich der Auslegungsmethoden und ihrer Rangfolge muss eine
absolute Priorität der Methode bestehen, die wenig treffend „grammatikalische Aus-
legung“ heißt und richtigerweise auch die systematische Auslegung umfasst. Dage-
gen ist die teleologische Auslegung nur im Rahmen des möglichen Auslegungssinns,
der durch die grammatikalische Auslegung begrenzt wird, zulässig, und auf die his-
torische Auslegung ist komplett zu verzichten67. Was den Zweck der Auslegung an-
geht, kann dieser sich nur auf die Erforschung des Sinns des tatsächlich erlassenen
Textes und nicht auf irgendeine möglicherweise darin enthaltene Intention beziehen.
Wie oben (II.2.) gezeigt, ist die Bedeutung des Auslegenden bei der Aufgabe der
Rechtsanwendung Teil der methodologischen Grundausstattung des zeitgenössi-
schen Juristen. Deswegen verwundert es, wie wenig Beachtung die Auslegungsme-
thoden und ihre mögliche Rangfolge in der spanischen Strafrechtslehre finden. Eine
Analyse der Stellungnahmen in fünfzehn Lehrbüchern, Monografien über die straf-
rechtliche Methodik und Strafrechtskommentaren68 zeigt, dass in mehr als einem
67
Dieser letzte Schritt spiegelt weder die mehrheitliche Meinung noch das positive spa-
nische Recht wider, welches in Art. 3.1 CC diese Methode als eine derjenigen aufnimmt, die
die Aufgabe der Rechtsanwendung steuern sollen. Hier wird jedoch eine präskriptive, nicht
deskriptive Erarbeitung vorgeschlagen, die daher die Grenzen des positiven Rechts nicht be-
achten muss (ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, zu zeigen, ob das positive Recht ange-
messen ist oder nicht).
68
Die Untersuchung wurde 2005 von Prof. Marisa Iglesias, Prof. Lorena Ramírez und mir
durchgeführt. Ich danke den Professorinnen Marisa Iglesias und Lorena Ramírez, beide vom
Institut für Rechtsphilosophie der Universität Pompeu Fabra, für die Genehmigung zur Be-
nutzung in dieser Arbeit. Folgende Texte (in alphabetischer Reihenfolge) wurden untersucht:
Álvarez García, Introducción a la teoría jurídica del delito, 1999, S. 21 – 29, 59 – 63; Berdugo
Gómez de la Torre et al., Curso de Derecho Penal, Parte General, 2004, S. 49 – 56; Carbonell
Mateu, Derecho penal: concepto y principios constitucionales, Tirant lo blanch, 1995, S. 102 –
133; Cerezo Mir, Curso de Derecho Penal español, Parte general I, Introducción, 2004,
S. 184 – 214; Cobo del Rosal/Vives Antón, Derecho Penal, Parte General, 5. Aufl., 1999,
S. 67 – 80, 115 – 122, 137 – 169; Cortés Bechiarelli, „Art. 4“, in: Cobo del Rosal (Hrsg.),
Comentarios al Código Penal, Bd. I, Art. 1 bis 18, 1999, passim; Cuello Contreras, El Der-
echo Penal español, Parte general, Nociones introductorias, Teoría del delito, 3. Aufl., 2002,
S. 203 – 244; Landrove Díaz, Introducción al Derecho penal español, 5. Aufl., 2000, S. 82 –
110; Luzón Peña, Curso de Derecho penal, Parte General I, 1996, S. 91 – 97, 162 – 175; Mir
Puig, Derecho Penal, Parte general, 7. Aufl., 2004, S. 124 – 125; Morillas Cuevas, Curso de
Derecho penal español, parte general, Marcial Pons, 1996, S. 23 – 31, 71 – 76 und 90 – 97;
Muñoz Conde/García Arán, Derecho Penal, Parte General, 6. Aufl., 2004, S. 121 – 126;
Quintero Olivares (in Zusammenarbeit mit Morales Prats und Prats Canut), Manual de Der-
echo Penal, Parte General, 3. überarbeitete Aufl., 2002, S. 67 – 97 und 147 – 158; Rodríguez
114 Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno

Drittel der Fälle (sechs) nicht einmal auf die Existenz dieser Methoden hingewiesen
wird69, während in den restlichen Fällen kaum die Frage nach der Rangfolge behan-
delt wird und wenn, dann nur sehr schemenhaft70 ; schließlich wird in zwei von den
drei Fällen, in denen die Rangfolgenfrage angesprochen wird (was nur 20 % der un-
tersuchten Bücher ausmacht), die grammatikalische Auslegung an die Spitze ge-
stellt71, während in dem dritten Fall die teleologische Auslegung favorisiert
wird.72 Bei einer großen Mehrheit von Autoren ist eine deutliche „hermeneutische
Promiskuität“ erkennbar, derzufolge alle Auslegungsmethoden mit unterschiedli-
cher Intensität und Rangfolge sowie alleine oder zusammen angewandt werden kön-
nen, um das vom Auslegenden gewünschte Auslegungsergebnis zu erreichen73. Dies
unterscheidet sich nicht von anderen Rechtsgebieten, ist aber im Bereich des Straf-
rechts wegen seiner strengeren Bestimmtheitsanforderungen noch problematischer.

Mourullo, „Art. 1, 2, 3 und 4“, in: Comentarios al Código Penal, 1999, passim; Zugaldía
Espinar (Hrsg.), Derecho Penal, Parte General, 2. Aufl., 2004, S. 253 – 268.
69
Es handelt sich um die Werke von Álvarez García, Carbonell Mateu, Cerezo Mir, Cortés
Bechiarelli, Mir Puig y Rodríguez Mourullo, zitiert in der vorherigen Fußnote.
70
Das Hauptproblem ist, dass z. T. behauptet wird, der „mögliche Wortsinn“ sei die Grenze
der Auslegung, dass aber nicht erklärt wird, welche Auslegungsmethoden angewendet werden
müssen, um diesen „möglichen Wortsinn“ zu bestimmen, und auch wenn die grammatikali-
sche Methode der wahrscheinlichste Kandidat zu sein scheint, schließt dies andere Möglich-
keiten nicht vollständig aus. In diesem Sinne besteht Zugaldía Espinar, Derecho Penal, Parte
General, 2. Aufl., 2004, S. 266, darauf, dass es wichtig sei, den „möglichen Wortsinn“ nicht zu
überschreiten, aber bei der Untersuchung der Auslegungsmethoden erklärt er, dass die teleo-
logische Methode, die an das Rechtsgut anknüpft, welches der Gesetzgeber schützen will,
„eine besondere Bedeutung“ habe. Wenn trotz dieser „besonderen Bedeutung“ der mögliche
Wortsinn nicht überschritten werden kann (der gemäß der grammatikalischen Auslegung zu
bestimmen ist?), dann scheint die grammatikalische Methode die entscheidende zu sein. Dann
wird jedoch nicht erklärt, worin die „besondere Bedeutung“ der teleologischen Auslegung
besteht. Und wenn diese über die grammatikalische hinausgehen könnte, dann wäre die
Aussage, dass die Auslegung nicht über den möglichen Wortsinn hinausgehen könne, nicht
wahr.
71
Luzón Peña, Curso de Derecho penal. Parte General, 1996, S. 163 – 175; Muñoz Conde/
García Arán, Derecho Penal, Parte General, 6. Aufl., 2004, S. 125 und 126.
72
Quintero Olivares, Manual de Derecho Penal, Parte General, 3. Aufl., 2002, S. 153: „die
Auslegung, die ohne Zweifel eine herausragende Stellung gegenüber den anderen einnimmt,
ist die teleologische Auslegung oder rationale Auslegung wie sie einige Autoren nennen“, die
darin besteht, dass die strafrechtlichen Vorschriften „aufgrund des Ziels des Strafrechts, d. h.
des Schutzes der strafrechtlich relevanten Rechtsgüter ausgelegt werden müssen“.
73
In manchen Fällen wird diese hermeneutische Promiskuität sowohl ausdrücklich als
auch energisch vertreten. So Cobo del Rosal/Vives Antón, DP, PG, 1999, S. 122, welche einen
angeblichen „Grundsatz der interpretativen Freiheit“ geltend machen, den sie mit folgender
Behauptung stützen: „Jeder ,interpretative Dirigismus‘ hat eine autoritäre Wurzel, und steht
sowohl zu der jeder wissenschaftlichen Untersuchung inhärenten Freiheit als auch zu der
Diskussion über die charakteristischen Werte eines demokratischen Staates im Widerspruch“.
Dennoch verwehrt niemand dem Auslegenden, einem „wissenschaftlichen“ oder praktischen
Juristen, die Fähigkeit, sich kritisch über das geltende Recht oder seine axiologische oder
allgemein praktische Geeignetheit zu äußern.
Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip 115

Ich denke, dass es zumindest im Strafrecht wegen seiner hohen Bestimmtheitsan-


forderungen nötig ist, die Rangfolge der Auslegungsmethoden in dem oben genann-
ten Sinne festzulegen. Der Erforschung des möglichen Wortsinns muss Vorrang ein-
geräumt werden (dies scheint mir eine bessere Formulierung zu sein, um sich auf die
grammatikalische Auslegungsregel zu beziehen, wenn diese weit verstanden wird
und auch die systematische Auslegung mit umfasst). Teleologische Überlegungen
sind nur noch in dem so gebildeten Spielraum möglich und auf die historische Aus-
legung ist komplett zu verzichten.
Diese Auffassung stößt bei denjenigen auf Kritik, die der Meinung sind, dass die
sogenannte grammatikalische Auslegung die „Bedeutung der Wörter“ dem Wortlaut
vorziehe. Diesbezüglich muss man sich an Engischs Warnung vor der Tendenz erin-
nern, die genannte grammatikalische Auslegung als eine Wort- und nicht als Sinn-
auslegung zu verstehen74. Jedoch wird auch in der grammatikalischen Auslegung
ein Sinn untersucht, mit der einzigen Begrenzung, dass man diesen allein in den
vom Gesetzgeber tatsächlich verwendeten Ausdrücken sucht, ohne z. B. auf parla-
mentarische Diskussionen, auf die historische Entwicklung (Zielrichtung der histo-
rischen Auslegung) oder auf die sozialen Erfordernisse (Zielrichtung der teleologi-
schen Auslegung) zurückzugreifen. Dieses Verständnis der grammatikalischen Aus-
legung nähert sich der systematischen Auslegung an, wenn man mit ihr vorrangig auf
die Behandlung des fraglichen Begriffs in anderen Äußerungen des Gesetzgebers ab-
stellt und nicht auf die systematische Verortung der jeweiligen Institution in der
Strafrechtstheorie. In Wahrheit erweist sich die systematische Auslegung, weil sie
die Aufmerksamkeit auf andere Entscheidungen der gleichen erlassenden Person
richtet, in vielen Fällen als entscheidend für die Aufklärung des Sinns der Vorschrift.
Ich versuche das an einem Beispiel zu verdeutlichen.
Im spanischen Strafrecht ist die Auslegung des Begriffs „Gewalt“, wie er in der
Nötigung (Art. 174 CP) verwendet wird, strittig. Genauer gesagt wird darüber ge-
stritten, ob er auch die psychische Nötigung oder Angriffe gegen Gegenstände um-
fasst, welche in anderen Straftatbeständen als unter die Begriffe „Einschüchterung“
und „Gewalt gegen Sachen“ fallend angesehen werden. Das Problem besteht, weil
der Gesetzgeber diese anderen Merkmale (wie Einschüchterung, Gewalt gegen Sa-
chen) bei der Nötigung nicht mit aufgenommen hat. Wenn also z. B. der Begriff „Ge-
walt“ bei der Nötigung genauso verstanden würde wie bei der Vergewaltigung, dann
würden die einschüchternden Verhaltensweisen nicht unter den Nötigungstatbestand
fallen. Da dieses Ergebnis der Rechtsprechung ungerecht erschien, ging sie zu einer
„Vergeistigung“ des Begriffs „Gewalt“ bei der Nötigung über75. In einer systemati-
schen Auslegung erscheint diese Rechtsprechungsentwicklung unpassend, da der
Gesetzgeber, wenn er gewollt hätte, den Begriff „Einschüchterung“ oder den Aus-
74
Engisch, Einführung in das juristische Denken, 9. Aufl., 1997, S. 92.
75
Für die Entwicklung und den aktuellen Zustand dieser Rechtsprechung, vgl. Ragués i
Vallès, „¿Coacciones sin violencia? Apuntes sobre el difícil encaje de la legalidad en un
sistema funcional del derecho penal“, in: El funcionalismo en Derecho Penal, Libro Homenaje
al profesor Günther Jakobs, 2003, S. 484 – 488.
116 Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno

druck „Gewalt gegen Sachen“, auch bei der Nötigung hätte verwenden können. Dass
dies auch einfach möglich ist, zeigt sich am Auftreten dieses Begriffs zusammen mit
der „Gewalt“ in anderen Straftatbeständen wie der Vergewaltigung oder dem Raub:
Sein Fehlen bei der Nötigung, die auch dem Kern des Strafrechts angehört, muss als
Ausschluss dieser tatbestandlichen Begehungsform verstanden werden.76
Der vorherige Vorschlag zur Reihenfolge der Auslegungsmethoden wird auch
denjenigen ungeeignet erscheinen, die der teleologischen Auslegungsregel einen hö-
heren Stellenwert einräumen, da sie ihrer Meinung nach „den Zweck, die ratio, die
idea rectora der Gesetzesvorschrift ermittelt und davon ausgehend ihren Sinn mit-
teilt“77. Dennoch kann nach meiner Ansicht die teleologische Argumentation nur
in dem durch den möglichen Wortlaut (oder, wenn man so will, durch die möglichen
Wortlaute) bestimmten Rahmen Anwendung finden. In Wirklichkeit resultiert die
Gegenansicht z. T. aus der Unklarheit darüber, was es bedeutet, sich für eine Ausle-
gung auszusprechen, die den Wortlaut überschreitet. Konkret bedeutet das Über-
schreiten des Wortlautes zwei Dinge nicht:
Es heißt zuallererst einmal nicht, dass es möglich ist, immer und in jedem Fall
einen einzigen Sinn zu ermitteln: Ganz im Gegenteil, es wird ausdrücklich zugege-
ben, dass ein Begriff z. T. mehrere verschiedene Bedeutungen haben kann78 und dass
in diesen Fällen ausgewählt werden muss. In einem solchen Fall wird vorgeschlagen,
dann entsprechend den teleologischen Kriterien auszuwählen.
Es bedeutet auch nicht, dass man von den Möglichkeiten, die der mögliche Wort-
sinn anbietet, immer die strengste wählen muss, sei sie nun zugunsten oder zum
Nachteil des Angeklagten. An diesem Punkt ist es interessant, auf eine bekannte Dis-
kussion zwischen den Richtern des US-amerikanischen Supreme Courts zurückzu-

76
Das bedeutet nicht, dass der Gesetzgeber einen Begriff nicht für ein Delikt oder eine
Gruppe von konkreten Delikten speziell und anders definieren kann (aber in diesen Fällen hat
er mitzuteilen, was er da macht). Noch weniger bedeutet es, dass der Gesetzgeber die Ein-
schüchterung nicht als Teil des Nötigungstatbestandes einschließen kann: Er muss dies nur
ausdrücklich tun.
77
Engisch, Einführung in das juristische Denken, 9. Aufl., 1997, S. 88, der auch der An-
sicht ist, dass diese Regel von der Mehrheit der Juristen als die wichtigste angesehen wird.
78
Ein Begriff kann ziemlich viele Bedeutungen haben, aber niemals so viele, wie ge-
wöhnlich angenommen wird. Wir Juristen, und insbesondere wir Rechtswissenschaftler leiden
unter einem Perspektivenproblem, weil wir uns fast vollständig auf die von den Obersten
Gerichtshöfen und Verfassungsgerichten entschiedenen Fälle konzentrieren. Das kann zum
Teil auf unterschiedliche Produktionsmengen (die „niedrigeren“ Gerichte stellen eine Un-
menge an Entscheidungen pro Jahr her) zurückzuführen sein. Es ist jedoch vor allem eine
Folge von Gründen des theoretischen Interesses: Die höheren Gerichte neigen dazu, Fälle zu
entscheiden, die von einem theoretischen Gesichtspunkt aus „saftiger“ sind. Hierbei finden
sich auch überproportional viele Fälle, bei denen mehrere mögliche Wortsinne bestehen. Die
Realität der Rechtsanwendung an den ordentlichen Gerichten ist sehr viel weniger aufregend
und umfasst eine sehr überwiegende Anzahl „einfacher Fälle“, zumindest was die Rechtsfra-
gen betrifft (die hier den Problemen der Tatsachenfeststellung gegenübergestellt werden). Zu
diesem Thema siehe Schauer, Thinking Like a Lawyer, 2009, S. 20 – 23, 140 – 141.
Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip 117

kommen, die in der Rechtssache Smith vs. United States stattfand79. In dem Fall be-
sagte der entscheidende Gesetzestext, dass „jeder, der bei und im Zusammenhang mit
der Begehung eines Gewaltdelikts oder dem Drogenhandel eine Schusswaffe ver-
wendet oder bei sich trägt, (…) zusätzlich zu der für das jeweilige Delikt vorgesehe-
nen Strafe (…) zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren (verurteilt wird)“. Im konkreten
Fall hatte der Angeklagte eine Schusswaffe gegen Drogen getauscht und die Diskus-
sion erstreckte sich darauf, ob jene Verwendung der Waffe als Tauschobjekt bei
einem vermuteten Drogenverkauf „den Gebrauch bei oder im Zusammenhang mit
der Begehung eines Drogenhandels“ darstellte oder nicht. Eine Mehrheit des Su-
preme Courts war dieser Ansicht, die einzig durch Richter Scalia abgelehnt
wurde. Letzterer kam Jahre später auf den Fall zurück, um ihn als Beispiel für die
Unterschiede zwischen seiner Interpretationstheorie, dem „Textualismus“ (textua-
lism), und einer anderen, der er gewöhnlich zugeschrieben wird, der „strengen Ge-
setzestextauslegung“ (strict constructionism), anzuführen80. Entsprechend der
„strengen Gesetzestextauslegung“ müsste der Angeklagte in dem Fall zusätzliche
5 Jahre ins Gefängnis, da die Benutzung einer Waffe als Austauschwährung ein „Ver-
wenden“ darstellt. Anders Scalia, der zwar zugab, dass die Verwendung der Waffe als
„Verwenden“ im Sinne des Wörterbuches zu verstehen ist, aber anführte, dass nach
dem allgemeinen Sprachgebrauch das „Verwenden“ einer Waffe deren Verwendung
zum Angreifen oder Einschüchtern ist, und nicht deren Austausch (oder, wie ich hin-
zufüge, als Instrument, um sich den Kopf zu kratzen oder als Briefbeschwerer, um zu
vermeiden, dass Dokumente weggeweht werden). Es lässt sich nicht leugnen, dass
das Verwenden für den Austausch unter die mögliche Bedeutung des Ausdrucks „Ge-
brauchen“ fällt. Dennoch wird hier entschieden erklärt, dass es auch unter den mög-
lichen Wortsinn fällt, den Begriff „Verwenden“ restriktiv auf Vorschriften zum ag-
gressiven und einschüchternden Gebrauch anzuwenden, und dass diese letzte Aus-
legung aus teleologischer Sicht viel passender81 und deshalb zu bevorzugen ist.
Dass auf der Restriktion der Auslegung hinsichtlich der möglichen Wortbedeu-
tung(en) beharrt wird, bedeutet nicht, dass man der Ansicht ist, dass die beste Art
zu ihrer Erforschung ausschließlich darin besteht, vom Wörterbuch und grammati-
kalischen Regeln Gebrauch zu machen82. Zur Erforschung des Mitteilungssinns ist es
auch erforderlich, sich an der Lehre und am Sprachgebrauch der Gesellschaft zu ori-
entieren, die, wie uns das Beispiel zeigt, für den gemeinen Gebrauch von dem in dem

79
508 U.S. 223 (1993).
80
Vgl. Scalia, A Matter of Interpretation: Federal Courts and the Law, 1997, S. 23.
81
Das kommt daher, dass der Zweck der Norm darin besteht, die größten Risiken, die mit
einer Bewaffnung oder dem gewalttätigen Gebrauch von Schusswaffen bei der Ausführung
der Tat verbunden sind, zu vermeiden. Hingegen erscheint es schwer zu erklären, warum der
Gebrauch einer Schusswaffe als Tauschobjekt eine unterschiedliche Gefährlichkeit aufweisen
sollte als der Gebrauch anderer Tauschmittel wie Bargeld, Schmuck oder anderen Drogen.
82
Aus dieser einfallsreichen, aber ungerechten Form bestimmen Alexander/Sherwin, De-
mistifying Legal Reasoning, 2008, S. 141, die Konzentration auf den Text statt auf die Absicht
des Auslegenden.
118 Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno

Wörterbüchern Vorgeschriebenen und von den grammatikalischen Regeln abwei-


chen können.
Zuletzt bleibt auf den Vorschlag der Vernachlässigung der historischen Ausle-
gungsregel (oder ohne Euphemismen: auf die vollständige Aufhebung ihrer Bedeu-
tung) hinzuweisen. Unter dem Begriff „historische Auslegungsregel“ bezieht man
sich üblicherweise auf zwei unterschiedliche Dinge. Auf der einen Seite bezieht
man sich auf die Entwicklung der Regelung vor und nach dem Inkrafttreten der Vor-
schrift, die man auslegen möchte; auf der anderen Seite bezieht man sich auf die
Texte, die den Erlass der Norm begleitet haben (für gewöhnlich auf die parlamenta-
rische Ausführung; aber wenn es um die Erforschung von Bedeutungen geht, kann
man die Bedeutung der Regierungsausführung nicht ausschließen). Das Problem bei
der historischen Auslegung ist, dass sie im ersten der genannten Sinne nicht viel In-
formation beiträgt, und man im zweiten Sinn das Risiko eingeht, für die Parlaments-
mitglieder einen Anreiz dazu zu schaffen, zu viel Information beizubringen. In bei-
den Fällen wird die Bedeutung der Auslegung nach dem Wortlaut herabgesetzt und
dem Gesetzgeber kein Ansporn geboten, seine Arbeit gut zu erledigen.
In dem ersten Sinne, der die Unterschiede zwischen der aktuellen und der vorhe-
rigen Regelung erforscht, können die Unterschiede groß ausfallen, und die Regelung
kann daher an Wert verlieren, da es sich gerade darum handelt, festzulegen, was die
neue Regelung bedeutet. Oder es kann passieren, dass es Ähnlichkeiten und Unter-
schiede gibt, und dass sich in diesem Fall die Unterschiede zwischen der alten und der
neuen Regelung als Zeichen der Absicht, eine Bedeutungsänderung einzuführen,
deuten lassen, aber auch als vermeintlicher „Fehler“ des Gesetzgebers, wenn er vor-
gibt, grundsätzlich den status quo beizubehalten, ohne sich von dem zuvor vorbe-
stimmten Sinn zu entfernen. Es ist ferner daran zu denken, dass es, wenn der Gesetz-
geber seine Arbeit gut gemacht hätte, nicht notwendig wäre, über den Text hinaus zu
forschen83: Wenn man sich fragt, was er über das tatsächlich Gesagte hinaus noch
sagen wollte, bietet man dem Gesetzgeber nicht viel Anreiz dafür, sich präzise aus-
zudrücken, da er sich immer auf die spätere Ermittlung seiner Absicht durch den Aus-
legenden verlassen kann.
In der zweiten Bedeutung, der Untersuchung des Ausarbeitungsprozesses hat die
historische Auslegung das große Problem, dass der schließlich ausgearbeitete Text
die Endentscheidung darstellt, die u. U. das Ergebnis von als notwendig erachteten
Verhandlungen und Vergleichen ist. Wenn während der Ausarbeitung darüber disku-
tiert wurde, ob ein bestimmter Fall in den Tatbestand eingefügt werden sollte oder
nicht (wenn eine solche Diskussion nicht stattgefunden hat, wäre die historische Aus-
legung ja gar nicht anwendbar), dann fragt man sich, warum nicht eine Formulierung
gewählt wurde, die insoweit eindeutig ist. Auch gibt es keine Notwendigkeit, den Ar-
beiten der Parlamentsmitglieder mehr Beachtung zu schenken. Wenn man den par-

83
Nämlich den Text, den der Gesetzgeber selbst erlassen hat, wenn die Auslegung kurz
nach dem Inkrafttreten des Gesetzes stattfindet; oder den Text, den der Gesetzgeber hätte
verändern können, wenn die Auslegung erst später stattfindet.
Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip 119

lamentarischen Diskussionen Bedeutung zumisst, wird den Parlamentsmitgliedern


ein Anreiz geboten, sich im legislativen Prozess strategisch zu verhalten, um ihre
Auffassung über den Anwendungsbereich einer Norm zu Protokoll zu geben. Das
führt zu einem unbefriedigenden Ergebnis: Wenn alle mit einer Formulierung einver-
standen waren, warum fand die Lösung dann keinen Niederschlag im Text? Und
wenn man sich nicht einig war und unterschiedliche Wortmeldungen zu verschiede-
nen Bedeutungen stattfanden, nützt es wenig, sich auf eine bestimmte Äußerung zu
berufen.84
In Wirklichkeit muss die Frage – bezogen auf die historische Auslegung, aber
auch auf die übrigen Auslegungsmethoden – anders gestellt werden: Was ist das Aus-
legungsobjekt, d. h. muss die Absicht des Gesetzgebers oder der Wortlaut ermittelt
werden?
Nachdem der Leser nun die Auffassung des Autors vom Vorrang der Wortlautaus-
legung zur Kenntnis genommen hat, wird es ihn nicht verwundern, dass der Verfasser
sich für die zweite dieser beiden Möglichkeiten ausspricht: für die Ermittlung des
Sinnes des Textes. Es ist möglich, dass diese Annahme überraschend erscheint,
wenn man daran denkt, wie viel Wert oben auf die Gesetzgebung gelegt wurde.
Gleichwohl ist das nicht verwunderlich, da es die Gesetzgebung und nicht der Ge-
setzgeber (i.S.e. konkreten personellen Ausgestaltung des Parlaments in einem kon-
kreten geschichtlichen Moment) ist, dem in demokratischen Systemen eine beson-
dere Bedeutung beizumessen ist. Warum diese Unterscheidung? Ziel ist es, dem Ge-
setzgeber einen passenden Anreiz dazu zu geben, seine Aufgabe zu erfüllen, und das
heißt: nicht nur Gesetze zu erlassen, sondern gute Gesetze zu erlassen. Die gesetz-
geberische Gewalt ist kein subjektives Recht, das dem Gesetzgeber frei zur Verfü-
gung steht, um seine eigenen Ziele zu erreichen, sondern eine Befugnis, die ihm zu-
gunsten Dritter, nämlich der Bürger, gewährt wird. Wenn der Gesetzgeber seine Ar-
beit schlecht verrichtet und seinen Willen nicht in dem Text umsetzen kann, ist es
nicht wünschenswert, dass der Auslegende oder der Anwender sein Werk korrigiert,
indem sie sich auf seinen wahren Willen berufen (wenn dieser historisch gesehen be-
stimmbar ist). Denn das motiviert den Gesetzgeber nicht dazu, sich im Gesetzestext
korrekt auszudrücken. Und noch weniger kann man für die geforderte Korrektur auf
den Willen des idealen Gesetzgebers abstellen. Zwar kann dies wahrscheinlich den
realen Gesetzgeber dazu verleiten, vorsichtiger zu sein, indem er die Einmischung
der Auslegenden und der Anwender vorwegnimmt, doch ist die Berufung auf diesen
idealen Gesetzgeber aus einem anderen Grund nicht zulässig: Jener ideale Gesetz-
geber existiert nicht und mit seiner Anrufung bezieht der Auslegende oder Anwender
sich darauf, was er selbst für passend erachtet. Dies führt zu dem unlösbaren Pro-

84
Man könnte denken, dass in diesem Fall die Auslegung bevorzugt werden müsste, die die
Mitglieder einer Gruppe befürworten, deren Summe eine ausreichende Mehrheit darstellt, um
den Text zu genehmigen. Unabhängig von anderen Problemen führt uns dies aber zu der
vorherigen Frage zurück: Warum haben sie nicht den Text gebilligt, der die Frage klar löst,
wenn sie doch eine Mehrheit waren?
120 Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno

blem, dass es Letzteren an der notwendigen demokratischen Legitimation fehlt, um


eine solche Entscheidung zu treffen.

VI. Schlussfolgerung
Das Gesetzlichkeitsprinzip stellt hohe Ansprüche an den Gesetzgeber. Muss man
dies so verstehen, dass diese auch für den Auslegenden gelten? In diesem Artikel
habe ich den Schluss gezogen, dass dem so ist. Es geht nicht darum, die These in
Zweifel zu ziehen, dass Texte ihre Exegeten weniger stark binden. Vielmehr geht
es im Gegenteil, und gerade weil die Texte ihre Auslegenden nicht so rigoros binden
können, darum, eine präskriptive These zu entwickeln, nach der sich die Rechtsan-
wender aufgrund des Gesetzlichkeitsprinzips binden und Beschränkungen ihrer be-
reits bestehenden Auslegungsfähigkeiten anerkennen sollen. Der Weg zu diesem Ziel
führt über eine tiefer greifende Überlegung über die Auslegungsmethoden und ihr
Verhältnis und – in der dargestellten Ansicht – über eine Bevorzugung der zwei Re-
geln, die direkt mit dem durch den Gesetzgeber verabschiedeten Text verbunden
sind: der sogenannten „grammatikalischen Auslegung“ und der systematischen Aus-
legung.
Zusammengefasst: Vom Gesetzgeber muss vehement die Abfassung präziser
Normen gefordert werden, aber wir Auslegenden müssen von uns selbst verlangen,
sie enger an dem und mit mehr Respekt gegenüber dem vorliegenden Gesetzestext
auszulegen.
Die Wortlautgrenze
Matthias Klatt*

Nach einer in der juristischen Methodenlehre weit verbreiteten Auffassung ist


jede Anwendung einer Norm entweder Interpretation oder Fortbildung des Rechts.1
Die Grenze zwischen beiden wird durch den Wortlaut der Norm markiert. Jede An-
wendung, die innerhalb des Wortlautes einer Norm liegt, ist Interpretation. Jede An-
wendung, die über den Wortlaut hinausgeht, ist Rechtsfortbildung.
Das Problem der Wortlautgrenze2 betrifft die Frage, ob der Wortlaut diese ihm
zugeschriebene Abgrenzungsfunktion erfüllen kann. Diese Frage scheint auf den er-
sten Blick nur eine unter den vielen zu sein, die zwischen den verschiedenen Theorien
der juristischen Argumentation umstritten sind. Tatsächlich jedoch bündeln sich im
Problem der Wortlautgrenze fundamentale rechtstheoretische Differenzen wie in
einem Brennglas.
Das rechtstheoretische Kernproblem der Wortlautgrenze ist die sprachphilosophi-
sche Frage nach Struktur und Erkenntnis von Bedeutung. Die Diskussion über die
Wortlautgrenze ist ein Paradebeispiel für die – je nach Standpunkt – gescheiterte
oder gelungene Zusammenarbeit von Juristen, Linguisten und Sprachphilosophen
sowie für Möglichkeit und Grenzen von Interdisziplinarität überhaupt.
Insbesondere für linguistisch und sprachphilosophisch basierte Ansätze ist die
Wortlautgrenze ein beliebtes Angriffsziel, scheint sich doch in der überkommenen
Lehre ein antiquiertes Sprachverständnis der Juristen zu offenbaren.3 Dem ist entge-

* Der vorliegende Beitrag erschien ursprünglich in: Kent D. Lerch (Hrsg.), Recht Ver-
handeln. Argumentieren, Begründen und Entscheiden im Diskurs des Rechts, Berlin: Walter
de Gruyter, 2005, S. 343 – 368.
1
Alexy, Theorie der juristischen Argumentation – Die Theorie des rationalen Diskurses als
Theorie der juristischen Begründung, 1996, S. 288 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begrün-
dungslehre – Eine Einführung in Grundprobleme der Rechtswissenschaft, 1982, S. 182; La-
renz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 143; Hassold, in: Canaris/
Diederichsen (Hrsg.), Festschrift für Karl Larenz zum 80. Geburtstag, 1983, S. 211, 219;
Engisch, Einführung in das juristische Denken, 1997, S. 100 Fn. 47, 121 Fn. 47; Fikentscher,
Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung – Band IV: Dogmatischer Teil, 1977,
S. 301; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 1992, S. 184.
2
Zur Problemgeschichte siehe Klatt, Theorie der Wortlautgrenze – Semantische Norma-
tivität in der juristischen Argumentation, 2004, S. 40 ff.
3
Müller, Juristische Methodik, 1997, Rn. 533 – 535; Busse, Juristische Semantik –
Grundfragen der juristischen Interpretationstheorie in sprachwissenschaftlicher Sicht, 1993,
S. 127 ff., 225 f., 251; Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? Eine rechtslinguistische
122 Matthias Klatt

genzuhalten, daß das platonistische Ideal der Begriffsjurisprudenz, welches Begriffe


als ewiggleiche, unveränderbare Entitäten betrachtet, in der Theorie der juristischen
Argumentation schon seit langem einhellig verabschiedet ist. Es hat sich die Erkennt-
nis durchgesetzt, daß jede Interpretationstheorie auf den Fundamenten einer sprach-
philosophisch fundierten Theorie sprachlicher Bedeutung aufbauen und mithin die
pragmatische Wende, welche Bedeutung jedenfalls auch auf konkrete Verwendungs-
praktiken einer Sprachgemeinschaft zurückführt, zur Kenntnis nehmen muß. Um-
stritten ist nicht diese sprachliche Basis jeglicher juristischer Methodik, sondern
die Schlußfolgerungen, die aus ihr zu ziehen sind.
Ohne Frage kritikwürdig ist die herkömmliche Terminologie. Der Begriff „Wort-
lautgrenze“ ist in dreifacher Weise falsch. Erstens legt die neuere Sprachphilosophie
überzeugend dar, daß propositionale Bedeutung gegenüber begrifflicher analytisch
vorrangig ist.4 Die Bedeutung einzelner Wörter leitet sich von der ganzer Sätze
ab, nicht umgekehrt. Folglich geht es bei der Frage der Grenze der Gesetzesbedeu-
tung nicht in erster Linie um das einzelne Wort. Zweitens beschäftigt sich die Theorie
der juristischen Argumentation zu Recht nicht mit der Phonetik, sondern mit der Se-
mantik einer Norm.5 Irreführend ist daher der Terminus Wortlaut. Drittens kann auch
von einer Grenze keine Rede sein, suggeriert dieser Begriff doch eine absolute Sperr-
wirkung, die für die meisten Rechtsgebiete gerade nicht gegeben ist: Die Grenzüber-
schreitung durch Rechtsfortbildung ist weit überwiegend zulässig.
Zu Recht wird auch die Verwendung des Begriffes möglicher Wortsinn kritisiert.6
Bedeutung kommt Worten nur im Kontext bestimmter Sprechakte zu.7 Deshalb ist
nicht auf eine lexikalisch mögliche Bedeutung, sondern auf die aktuelle Bedeutung
der Worte des Gesetzes abzustellen.
Aufgrund dieser Schwächen der herkömmlichen Bezeichnung ist es vorzuziehen,
statt von „Wortlautgrenze“ von „semantischer Grenze“ zu sprechen. Dabei werden
zwei der drei Ungenauigkeiten vermieden. Die Verwendung des Terminus „seman-
tisch“ meint dabei nicht den Gegensatz zu „pragmatisch“. Vielmehr wird hier von
einem intrinsischen Zusammenhang zwischen Semantik und Pragmatik ausgegan-
gen. Im Kontext des methodologischen Pragmatismus kann man einzelne sprachli-
che Phänomene nicht mehr zuverlässig als entweder pragmatisch oder semantisch

Untersuchung, 1989, S. 285; Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze – Thesen zu einem Topos
der Verfassungsinterpretation, 1988, S. 40; Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik – Zum
Einfluß Wittgensteins auf die Rechtstheorie, 1995, S. 239 f.
4
Zu dieser Priorität siehe Klatt (Fn. 2), S. 144 f.; vgl. Fuller, der feststellt: „Even in the
case of statutes, we commonly have to assign meaning, not to a single word, but to a sentence,
a paragraph, or a whole page or more of text.“ Fuller, Harvard Law Review 71 (1958), 630
(663).
5
So schon Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten – Zur hermeneutischen Transpo-
sitivität des positiven Rechts, 1972, S. 28.
6
Koch/Rüßmann (Fn. 1), S. 194.
7
Dies betont auch Hoecke, Norm, Kontext und Entscheidung – Die Interpretationsfreiheit
des Richters, 1988, S. 236.
Die Wortlautgrenze 123

voneinander unterscheiden.8 Wie zu zeigen sein wird, besteht auch nicht nur eine se-
mantische Grenze, sondern es gibt mehrere.
Abgesehen von der Terminologie ist jedoch dem Ausgangspunkt der überwiegen-
den Auffassung ausdrücklich beizupflichten: Semantische Grenzen sind eine unver-
zichtbare Grundlage der juristischen Methodik (I.). Angesichts dessen bedarf die
sprachphilosophische und linguistische Kritik (II.) am Postulat semantischer Gren-
zen einer sorgfältigen Revision. Dabei zeigt sich, daß kein Anlaß besteht, sich von
dem Postulat semantischer Grenzen zu verabschieden. Im Gegenteil: Ein neues Sy-
stem semantischer Grenzen ist möglich (III.).

I. Semantische Grenzen als unverzichtbare Grundlage


juristischer Methodik
Die bereits erwähnte Hauptfunktion9 semantischer Grenzen – die Abgrenzung
von Interpretation und Rechtsfortbildung – ist kein juristisches Glasperlenspiel, son-
dern unverzichtbare Grundlage des juristischen Arbeitens.10 Dies gilt insbesondere
für das Strafrecht11: Hier ist dem Richter die Überschreitung der semantischen Gren-
zen durch das verfassungsrechtliche Analogieverbot gem. Art. 103 II GG verboten.
Auch über das Analogieverbot hinaus kann die verfassungsrechtliche Bedeutung
semantischer Grenzen nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Verwirklichung
fundamentaler Strukturentscheidungen des Grundgesetzes hängt von der Existenz
semantischer Grenzen ab. Dies gilt zuvörderst für die Gesetzesbindung der richter-
lichen Gewalt gem. Art. 20 III GG. Wegen der open texture of law, die nach Rawls zu
den burdens of reason zählt,12 und wegen der Vagheit13 der Sprache haben Richter
einen Spielraum bei der Rechtsanwendung. Semantische Grenzen haben die Aufga-
be, diesen Spielraum durch die Bedeutung des Gesetzes einzuengen. Auf diese Weise
8
Brandom, Making It Explicit – Reasoning, Representing, and Discursive Commitment,
1994, S. 592; Dummett, in: Dummett (Hrsg.), The Seas of Language, 1993, S. 34, 36, 51;
Dummett, in: Dummett (Hrsg.), The Seas of Language, 1993, S. 106, 108, 115; Bilgrami, in:
LePore (Hrsg.), Truth and Interpretation – Perspectives on the Philosophy of Donald David-
son, 1986, S. 101, 119 f.
9
Zu den weiteren Funktionen siehe Klatt (Fn. 2), S. 19 – 22.
10
Siehe hierzu und zum folgenden auch Klatt (Fn. 2), S. 22 – 26. Zum Zusammenhang mit
der Frage der Objektivität juristischer Argumentation siehe Klatt, Archiv für Rechts- und
Sozialphilosophie 90 (2004), 51 f.
11
Zur Bedeutung der Wortlautgrenze im einfachen Recht sowie zu weiteren Analogiever-
boten siehe Klatt (Fn. 2), S. 23 – 25.
12
Rawls, Political Liberalism, 1996, S. 56.
13
Nach Alexy ist Vagheit „der praktisch bedeutsamste Fall eines semantischen Spiel-
raums“, siehe Alexy, in: Alexy (Hrsg.), Recht, Vernunft, Diskurs – Studien zur Rechtsphilo-
sophie, 1995, S. 13, 24. Vgl. auch Waldron, California Law Review (1994), 509 (512). Zur
Bedeutung der Vagheit im Recht siehe Endicott, Legal Theory 7 (2001), 379; Sorensen, Legal
Theory 7 (2001), 387; Raz/Sorensen, Legal Theory 7 (2001), 417.
124 Matthias Klatt

werden Freiheit und Bindung des Richters gegenüber dem positiven Recht in ein an-
gemessenes Verhältnis gebracht. Semantische Grenzen sind damit ein wesentliches
Fundament für Legitimität und Objektivität juristischer Entscheidungen.
Semantische Grenzen sind notwendige Bedingung für die Gewaltenteilung gem.
Art. 20 II 2 GG und damit auch für das Demokratieprinzip gem. Art. 20 I GG. Inter-
pretation bedeutet immer, daß der Richter seine Entscheidung als aus dem Gesetz
ableitbar darstellen kann. Auf diese Weise wird die Verantwortung für die Entschei-
dung ein Stück weit auf den demokratisch legitimierten Gesetzgeber delegiert. Für
die Rechtsfortbildung dagegen wird eine besondere Begründung verlangt, die über
rein interpretatorische Argumente hinausgeht. Der Richter muß z. B. für eine Analo-
gie nachweisen, daß eine Lücke im Recht besteht und daß der Zweck der analog an-
gewendeten Norm auch auf seinen Fall zutrifft.14 Aufgrund dieses Unterschiedes in
den Begründungsanforderungen kann die Begründung einer juristischen Entschei-
dung nur beurteilt werden, wenn die Rechtsanwendung als Interpretation oder als
Rechtsfortbildung qualifiziert wird. Dafür sind semantische Grenzen entscheidend.
Gleiches gilt für die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes.
Das Postulat semantischer Grenzen stellt eine der wichtigsten Schnittstellen zwi-
schen tragenden Grundentscheidungen der Verfassung und der juristischen Metho-
denlehre dar.
Geboten kann allerdings nur etwas sein, das möglich ist. Wenn hier von seman-
tischen Grenzen als „unverzichtbarer“ Grundlage gesprochen wird, so ist damit zu-
nächst nur bezweckt, die verfassungskräftigen Gründe für das Postulat semantischer
Grenzen wieder in den Blick zu rücken. Trotz dieser Gründe wäre das Postulat se-
mantischer Grenzen aufzugeben, wenn es sich sprachphilosophisch als haltlos her-
ausstellte. Damit kommt es auf die Überzeugungskraft der sprachphilosophischen
und linguistischen Kritik an.

II. Sprachphilosophische und linguistische Kritik


In dem Maße, in dem sich die Aufmerksamkeit der juristischen Methodenlehre
auf die außergesetzlichen Bedingungen der Entscheidungsfindung richtete,15
wurde das Postulat der semantischen Grenzen als wirkungslos verurteilt. Es sei
ein bloßes „Verbalbekenntnis“16, Ausdruck rein „symbolische[r] Treue“17 und spie-
14
Koch/Rüßmann (Fn. 1), S. 260.
15
Vgl. Maus, in: Deiseroth (Hrsg.), Ordnungsmacht – Über das Verhältnis von Legalität,
Konsens und Herrschaft, 1981, S. 153. Für die amerikanische Verfassungsauslegung zieht
Schefer das Fazit, daß sich die engen sprachlichen Ansätze, die den Interpreten an den Text
binden wollen, vor dem Hintergrund der Kritik von Fish als haltlos erwiesen haben. Schefer,
Konkretisierung von Grundrechten durch den U.S.-Supreme Court – Zur sprachlichen, histo-
rischen und demokratischen Argumentation im Verfassungsrecht, 1997, S. 154.
16
Vgl. Krahl, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundes-
gerichtshofs zum Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht (Art. 103 II GG), 1986, S. 412.
Die Wortlautgrenze 125

gele ein unzeitgemäßes Richterbild18. Von Autoren des „Arbeitskreises Rechtslingui-


stik“ um Friedrich Müller stammen ernstzunehmende Einwände, in denen sprachphi-
losophisch argumentiert wird. Die zentrale These lautet, daß die Bedeutung einer
Norm kein vor der Rechtsanwendung feststehender Maßstab sei, mithin diese
nicht begrenzen könne.19
Die Ansicht, daß die Fixierung auf Gesetzestexte auf einer Überschätzung sprach-
licher Ausdrucksmöglichkeiten beruht und daß der Richter kein macht- und willen-
loses Sprachrohr des Gesetzgebers ist, ist keineswegs neu. Sie findet sich schon in der
Freirechtslehre.20 Auch die Hermeneutik hat den Einfluß des Vorverständnisses des
Interpreten betont.21 Die Argumente der ontologischen Hermeneutik kehren in der
Strukturierenden Rechtslehre Friedrich Müllers wieder, allerdings in sprachphiloso-
phischer Gestalt.22 Die Betonung der Normoffenheit durch den „Arbeitskreis Rechts-
linguistik“ steht in einem engen Zusammenhang mit rechtssoziologischen Ansät-
zen23 einerseits und mit dem sprachphilosophischen Bedeutungsskeptizismus ande-
rerseits.
Die wesentlichen Argumente24 gegen das Postulat semantischer Grenzen sind
sprachphilosophischer Natur. Insbesondere das hier sogenannte Sprachspielargu-
ment25 verweist im Gefolge des späten Wittgenstein auf die Offenheit von Bedeutung
innerhalb von Sprachspielen. Die Verwendung von Sprache sei nicht durch feste
Grenzen limitiert.26 Die Mitglieder eines Sprachspiels könnten dessen Regeln stän-
dig verändern. Konventionen eigneten sich nicht als Instrument der Disziplinierung.

17
Ogorek, in: Forstmoser (Hrsg.), Rechtsanwendung in Theorie und Praxis – Symposion
zum 70. Geburtstag von Arthur Meyer-Hayoz, 1993, S. 21, 31.
18
Ogorek (Fn. 17), S. 33.
19
Müller (Fn. 3), Rn. 533 – 535. Zur Sprache der Richter aus Sicht der forensischen Lin-
guistik siehe Solan, The Language of Judges, 1993.
20
Vgl. Maus (Fn. 15), S. 154. Siehe auch Ogorek (Fn. 17), S. 22.
21
Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Rationalitätsgrundlagen
richterlicher Entscheidungspraxis, 1972, S. 41 f.; Hruschka (Fn. 5), S. 102; Kriele, Theorie
der Rechtsgewinnung. Entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 1967, S. 233,
311; Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung – Eine rationale Analyse: Deduktion,
Induktion, Abduktion, Analogie, Erkenntnis, Dezision, Macht, 1999, S. 92. Kritisch aus Sicht
einer neuen subjektiven Auslegungstheorie auch Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und
linguistische Pragmatik – Dargestellt am Beispiel der Lehre vom Wortlaut als Grenze der
Auslegung, 1982, S. 17, 24 – 27; Depenheuer (Fn. 3), S. 33 – 40; Herbert (Fn. 3), S. 250.
22
Vgl. dazu im einzelnen Klatt (Fn. 2), S. 102, Fn. 617.
23
Morlok/Kölbel/Launhardt, Rechtstheorie 31 (2000), 15 (30 f.).
24
Eine Zusammenstellung aller gegen das Postulat der Wortlautgrenze vorgebrachten Ar-
gumente gibt Klatt (Fn. 2), S. 99 – 102.
25
Zum Sprachspielargument und seinen vier Varianten siehe Klatt (Fn. 2), S. 100 f.
26
Herbert (Fn. 3), S. 239 f.
126 Matthias Klatt

Daher sei auch die von der analytischen Methodenlehre27 als (bloße) Feststellung
einer Sprachregel bezeichnete Operation in Wirklichkeit kein Erkenntnis-, sondern
ein Gestaltungsakt, mithin stets Festsetzung von Bedeutung.28 Die empirische Er-
mittlung von Bedeutung sei unmöglich. Wenn die herrschende Methodenlehre so
tue, als ob Bedeutung vorgefunden werde und feststellbar sei, führe dies zu „freier
Dezision“ und Willkür.29 Die Bedeutung einer Norm werde vom Rechtsanwender
nicht vorgefunden und könne nicht rein semantisch bestimmt werden, sie werde viel-
mehr vom Rechtsanwender selbst im hermeneutischen Zirkel erst normiert.30
Diese Erschütterung der Theorie semantischer Grenzen ist von erheblicher Trag-
weite. Wenn die Bedeutung einer Norm nicht nur nicht feststeht, sondern die Rechts-
anwendung nicht einmal steuern kann, dann sind die genannten verfassungsrecht-
lichen Grundsätze nicht zu realisieren. Der naheliegende Hinweis, die juristische
Interpretation sei durch Regeln begrenzt, die innerhalb einer Interpretationsgemein-
schaft gelten,31 wird von den kritischen Positionen nicht akzeptiert. Bloße Konven-
tionen böten keine Richtigkeitsgewähr, sondern unterlägen dem Generalverdacht
einer ideologisch infiltrierten, protektionistischen Interessendurchsetzung.
Angesichts dieser dekonstruktivistischen Herausforderung ist eine analytische
Rekonstruktion der Voraussetzungen semantischer Grenzen erforderlich. Dafür
muß die Rechtstheorie auf sprachphilosophische Bedeutungstheorien zurückgreifen.

III. Analytische Rekonstruktion semantischer Grenzen


Die Basis für eine analytische Rekonstruktion semantischer Grenzen bildet se-
mantische Normativität (1.). Deren Voraussetzungen und Möglichkeiten sind Gegen-
stand der Kritik, die aber zurückzuweisen ist (2.). Demgemäß ist auf der Basis von
Wortgebrauchsregeln und einer Theorie semantischer Fehler ein neues System se-
mantischer Grenzen möglich (3.), das an einem Beispiel erläutert wird (4.).

27
Alexy (Fn. 1), S. 288 – 291; Koch/Rüßmann (Fn. 1), S. 163.
28
Hegenbarth (Fn. 21), S. 51; Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, Ent-
wickelt an Hand einer Studie zum Verhältnis von verfassungskonformer Auslegung und
Analogie, 1979, S. 102 – 104; Herbert (Fn. 3), S. 240 f.; Müller (Fn. 3), Rn. 184; Christensen
(Fn. 3), S. 198.
29
Christensen (Fn. 3), S. 180 f.; Busse (Fn. 3), S. 130.
30
Christensen (Fn. 3), S. 75; Busse, in: Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslingu-
istik – Interdisziplinäre Studien zu praktischer Semantik und Strukturierender Rechtslehre in
Grundfragen der juristischen Methodik, 1989, S. 93, 100; Busse spricht insoweit von „Will-
kür“, siehe Busse (Fn. 3), S. 130 f.; Esser (Fn. 21), S. 41 f.; Röhl, Allgemeine Rechtslehre –
Ein Lehrbuch, 1995, S. 630, 657; Zippelius, Juristische Methodenlehre – Eine Einführung,
1999, S. 47 f.
31
So etwa Fiss, Stanford Law Review 34 (1982), 739 (762).
Die Wortlautgrenze 127

1. Semantische Normativität als Fundament


semantischer Grenzen

Die Frage der Normativität sprachlicher Bedeutung ist ein auch in der neuesten
sprachphilosophischen Literatur äußerst kontrovers diskutiertes Problem.32 Grundle-
gend für alle Normativitätstheorien ist die Erwägung, daß es unmöglich ist, über-
haupt etwas Bedeutungsvolles zu sagen, solange es nicht möglich ist, Worte falsch
zu verwenden.33 Die auf diesem sehr generellen Normativitätsbegriff aufbauende all-
gemeine Normativitätsthese lautet:34
Es kann in einer intersubjektiv gültigen Weise zwischen einem korrekten und einem inkor-
rekten Gebrauch von sprachlichen Ausdrücken unterschieden werden.

Der Streit um diese Normativitätsthese dreht sich um zwei Fragen: Wie kann die
jeder Normativität inhärente Vorstellung einer kontext-transzendentalen Objektivität
mit der Pluralität existierender Sprachspiele und Weltkonzepte in Einklang gebracht
werden? Und wie kann die intuitiv plausible Ansicht, daß Bedeutung in der konven-
tionellen Praxis einer Sprachgemeinschaft entsteht, einbezogen werden, ohne Be-
deutung zugleich auf Quines „common-sense platitudes“35 zu reduzieren?
Die gegenwärtig bedeutsamste Verteidigung sprachlicher Normativität hat Robert
Brandom mit Making It Explicit (1994) vorgelegt.36 Seine Bedeutungstheorie basiert
auf einer Variante des Konventionalismus, geht über diesen jedoch hinaus. Die Re-
gularität im Sprachverhalten einer Gemeinschaft wird durch einen diskurstheoreti-
schen Anspruch auf Richtigkeit überwölbt.
Wie bereits der programmatische Titel des Werkes zeigt, sieht Brandom es als
Aufgabe seiner Philosophie, auszudrücken und damit explizit zu machen, was in un-
seren Praktiken bereits implizit vorliegt. Die zentrale These Brandoms lautet: Unsere
diskursive Praxis ist implizit normativ strukturiert. Ihr wesentliches Merkmal ist die

32
Der These von der Normativität sprachlicher Bedeutung stehen kritisch gegenüber:
Bilgrami, in: Stoecker (Hrsg.), Reflecting Davidson – Donald Davidson Responding to an
International Forum of Philosophers, 1993, S. 121, 144; Glüer/Pagin, Synthese 118 (1999),
207 (224 f.); Wikforss, Philosophical Studies 102 (2001), 203 (220); Horwich, Mind 104
(1995), 355 (357); Coates, Mind 95 (1986), 77 (78). Für Normativität: Boghossian, Mind 98
(1989), 507 (532, 548); Blackburn, Synthese 58 (1984), 281 (291); McDowell, Synthese 58
(1984), 325 (329); Wright, Journal of Philosophy 81 (1984), 759 (771 f.); Lance/O’Leary-
Hawthorne, The Grammar of Meaning – Normativity and Semantic Discourse, 1997, S. 13;
Gampel, Philosophical Studies 86 (1997), 221.
33
Zum Begriff semantischer Normativität sowie zu den Bedingungen semantischer Nor-
mativitätstheorien siehe Klatt (Fn. 2), S. 122 – 138.
34
Boghossian (Fn. 32), S. 513; McDowell (Fn. 32), S. 359 Fn. 3. Vgl. auch Glüer, Sprache
und Regeln – Zur Normativität von Bedeutung, 1999, S. 38; Glüer, Acta Analytica 14 (1999),
111 (121).
35
Van Orman Quine, The Pursuit of Truth, 1990, S. 13.
36
Brandom (Fn. 8).
128 Matthias Klatt

Möglichkeit, Sprechakte als richtig oder falsch, als angemessen oder unangemessen
zu bewerten:
„The practices that confer propositional and other sorts of conceptual content implicitly con-
tain norms concerning how it is correct to use expressions, under what circumstances it is
appropriate to perform various speech acts, and what the appropriate consequences of such
performances are.“37

Insgesamt bietet Brandom eine großangelegte Apologie der oben genannten all-
gemeinen Normativitätsthese. Indem Brandom den Zusammenhang zwischen dem
begrifflichen Inhalt einer Handlung und dem praktischen Kontext ihres Bezugs aus-
arbeitet, entwickelt er eine ausgesprochen elaborierte Fassung der sonst häufig zum
Schlagwort reduzierten Gebrauchstheorie der Bedeutung nach Wittgenstein.38
Das zentrale Paradox sprachlicher Bedeutung ist die Frage, wie es möglich ist, daß
die sprachliche Praxis semantischen Normen unterworfen ist, die sie selbst ent-
wickelt. Schon die Existenz des Streites über die Bedeutung vieler Begriffe wird
als Widerlegung der These, semantische Normen könnten intersubjektiv oder gar in-
terkulturell gelten, verstanden. Wie Brandom treffend bemerkt, lebt die sprachliche
Praxis „in dieser Spannung zwischen der praktischen Übereinstimmung, daß für uns
alle dieselben Normen bindend sind, auf der formalen Seite, und der Uneinigkeit dar-
über, was diese Normen sind, auf der inhaltlichen Seite.“39
Brandom widmet sich diesem Paradox der Entstehung sprachlicher Normen in der
Praxis in seiner normativen Pragmatik. Damit ist nicht der Pragmatismus Rortys ge-
meint, der Argumentation zum Gespräch degradiert und angesichts der Sprachspiel-
gebundenheit von Bedeutung interkonzeptionelle Diskurse von vornherein für un-
möglich hält.40 Vielmehr geht es um eine pragmatisch fundierte Bedeutungstheorie,
die das Problem des Zusammenhangs von Wahrheit und Rechtfertigung aufnimmt
und die Rolle versteht, die der Wahrheitsbegriff in der diskursiven Praxis spielt.
In einer pragmatischen Untersuchung des Gebrauchs von Begriffen klärt Bran-
dom, was Handelnde tun müssen, damit ihre Praktiken als spezifisch sprachliche gel-
ten können. Ausgangspunkt ist ein in der Tradition Kant stehendes anthropologisch-
handlungstheoretisches Verständnis, demzufolge der Mensch sich gerade durch
seine Urteils- und Handlungsfähigkeit auszeichnet. Menschliches Urteilen und Han-
deln hat stets mit Gründen zu tun, und es ist spezifisch begriffliche Tätigkeit.41 Damit
37
Brandom (Fn. 8), XIII; Hervorhebungen im Original.
38
Brandom (Fn. 8), XII f.
39
Brandom, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1999, 1005 (1019).
40
Vgl. Wellmer, in: Sandbothe (Hrsg.), Die Renaissance des Pragmatismus – Aktuelle
Verflechtungen zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie, 2000, S. 253; Welsch,
in: Sandbothe (Hrsg.), Die Renaissance des Pragmatismus – Aktuelle Verflechtungen zwi-
schen analytischer und kontinentaler Philosophie, 2000, S. 167.
41
Brandom (Fn. 8), S. 8. Kritisch zur Verbindung von Rationalität und Sprache vor allem
MacIntyre, der für die „Animalität“ des Menschen argumentiert, siehe MacIntyre, Dependent
Rational Animals – Why Human Beings Need the Virtues, 1999, S. 5 – 8.
Die Wortlautgrenze 129

kommt begrifflich strukturiertem Tun ein normativer Charakter zu, für den Brandom
den Begriff des normativen Status einführt.42 Intentionales Handeln unterliegt we-
sentlich der Beurteilung anhand der „Kraft des besseren Grundes“. Diese Relevanz
von Gründen bei der Beurteilung von Sprechakten innerhalb eines Sprachspiels ver-
leiht den Sprechakten eine normative Dimension.
Diese normative Dimension kann nur mittels eines normativen Vokabulars ad-
äquat erfaßt werden. Nach Brandom werden Normen in der sozialen Praxis implizit
konstituiert. Diese These kann als Prinzip der sozioempraktischen Instituierung des
Normativen bezeichnet werden.43 Wesentlich für diese Instituierung sind normative
Beurteilungseinstellungen der Beteiligten. Wiederum auf der Basis von Kant zeigt
Brandom, daß rationale Wesen nicht einfach gemäß Regeln handeln, sondern we-
sentlich gemäß ihren Vorstellungen von Regeln. Sprachliche Normen zwingen wie
alle Handlungsnormen nicht naturgesetzlich und unmittelbar, sondern erst aufgrund
der normativen Anerkennung durch das handelnde, sprechende Subjekt. Diese An-
erkennung (oder auch Zurückweisung) beruht auf der Bewertung von Sprechakten
als richtig oder falsch anhand von normativen Einstellungen.
Die Rede von normativen Einstellungen ruft den Einwand44 hervor, es handele
sich dabei selbst wieder um expliziten propositionalen Gehalt. Die als normativ be-
zeichneten Einstellungen wären dann nichts anderes als reguläre Verhaltensmuster,
die rein deskriptiv beschrieben werden könnten, also Normativität gerade nicht er-
klärten.
Brandom zeigt jedoch die Möglichkeit eines impliziten Verständnisses des Ein-
stellungen, das diesem Regreßeinwand nicht ausgesetzt ist. Denn die Tätigkeit des
Beurteilens von Sprechakten besteht wesentlich in Sanktionen. Sprechakte werden
dadurch als richtig oder angemessen beurteilt, daß sie belohnt werden, und dadurch
als unrichtig oder unangemessen, daß sie bestraft werden. Die sozialen Konstellatio-
nen solcher Sanktionsdispositionen haben zwar eine konformistische Struktur, kön-
nen aber – und dies ist entscheidend – nicht rein deskriptiv als Verhaltensregularitäten
beschrieben werden.
Brandom erläutert dieses Problem am Beispiel einer archaischen Gesellschaft.
Eine in dieser geltenden Norm besagt, daß eine bestimmte Hütte nur betreten werden
darf, wenn man ein Blatt eines bestimmten Baumes vorzeigt. Die Verletzung der
Norm wird mit Stockhieben sanktioniert. Hier ist die beurteilende Reaktion vollstän-
dig in nichtnormativen Begriffen beschreibbar, nämlich in der Verweigerung des
Hüttenzugangs und in Stockhieben, wenn das Blatt nicht vorgezeigt wird. Die Bestra-
fung kann jedoch auch darin bestehen, daß andere Handlungen für unangemessen

42
Brandom (Fn. 8), S. 16 – 18.
43
Vgl. Knell, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 2000, 225 (235 f.); Rosen, Philosophy
and Phenomenological Research 57 (1997), 163 (170).
44
Zu diesem Einwand des Regulismus siehe Klatt (Fn. 2), S. 141.
130 Matthias Klatt

erklärt werden, beispielsweise indem bei Verletzung der Hüttenzutrittsnorm die Teil-
nahme am wöchentlichen Dorffest verweigert wird. Brandom führt aus:
„In such a case, the normative significance of transgression is itself specified in normative
terms (of what is appropriate of the transgressor is entitled to do). The punishment for vio-
lating one norm is an alteration in other normative statuses. Acting incorrectly alters what
other performances are correct and incorrect.“45

Dieses Beispiel zeigt, daß die nichtnormative Beschreibbarkeit von Einstellungen


und Sanktionen kontingent ist und jedenfalls nicht alle Normen erklären kann. Selbst
wenn die unangemessene Teilnahme am Dorffest ebenfalls mit Stockhieben bestraft
wird, ist nur diese Teilnahmenorm selbst nichtnormativ intelligibel. Für die Hüt-
tenzutrittsnorm gilt dennoch, daß sie in Begriffen von Einstellungen intelligibel
ist, die durch Sanktionen ausgedrückt werden, die ihrerseits vollständig in normati-
ven Begriffen, nämlich in der Berechtigung zum Festbesuch, angegeben werden kön-
nen.
Die normativen Einstellungen bestehen in Vorstellungen von Handlungsnormen
und führen zur Bewertung von Handlungen durch Sanktionen bzw. zu entsprechen-
den Bewertungsdispositionen. Diese Beurteilungseinstellungen haben eine soziale
Struktur. Daher sind die Praktiken, in denen Normen implizit enthalten sind, als so-
ziale Praktiken aufzufassen. Eine Beschreibung dieser Normen setzt demnach Regu-
laritäten des Verhaltens und der Dispositionen voraus. Regularitäten sind notwendi-
ge, aber nicht hinreichende Bedingungen für normatives Vokabular.46 Das Richtig-
sein besteht nicht in der bloßen Übereinstimmung.
Brandom entwickelt die normative Pragmatik zu einem Modell diskursiver Pra-
xis, welches für die Theorie sprachlicher Bedeutung wichtig ist.47 Im Mittelpunkt der
sprachlichen Praxis steht danach das Spiel des Gebens und Forderns von Gründen.48
Dessen Hauptelemente sind Behauptungssprechakte. Behauptungen übernehmen in
der normativen Pragmatik eine doppelte Funktion: Einerseits legt sich der Behaup-
tende auf einen bestimmten Inhalt fest, andererseits kann nach anderen Behauptun-
gen gefragt werden, welche den Sprecher zu dieser Behauptung berechtigen. Festle-
gung und Berechtigung sind die deontischen Status einer Behauptung. Sie spielen
eine entscheidende Rolle bei der Beurteilung eines Sprechaktes als richtig oder falsch
und konstituieren damit dessen Bedeutung.
Um die besondere Beziehung von Sprechakten, deontischen Status und semanti-
schem Gehalt zu erläutern, entwickelt Brandom ein Modell deontischer Kontofüh-
rung.49 Die Grundidee dieses Modells lautet, daß die Teilnehmer eines Sprachspiels
über die Einstellungen, Festlegungen und Berechtigungen einzelner Sprecher wech-

45
Brandom (Fn. 8), S. 43.
46
Brandom (Fn. 8), S. 46.
47
Siehe dazu und zum folgenden Klatt (Fn. 2), S. 147 – 154.
48
Brandom (Fn. 8), S. 159.
49
Brandom (Fn. 8), S. 181 ff.
Die Wortlautgrenze 131

selseitig quasi Buch führen. Auf diese Weise entsteht ein Bild davon, was in der Ge-
meinschaft als richtiger und was als falscher Sprechakt gilt.
Alle Behauptungen einer Sprache sind auf diese Weise intern miteinander ver-
netzt. Daher beruht die Bedeutungstheorie Brandoms neben der normativen Pragma-
tik auf einer inferentiellen Semantik.50 Grundlage sprachlicher Bedeutung sind infe-
rentielle Relationen zwischen den Propositionen einer Sprache. Dieses Verständnis
beruht auf der Auffassung, daß begriffliche Tätigkeit wesentlich im Fordern und Lie-
fern von Gründen besteht, die eine Behauptung rechtfertigen. Demgemäß ist eine
Aussage verstanden, wenn ihre inferentielle Rolle innerhalb eines Netzes von Aus-
sagen, die jeweils untereinander Definitionen und Begründungen liefern, erfaßt ist.51
Die impliziten Normen, welche die inferentiellen Rollen von Aussagen festlegen,
können als Punktestandfunktionen explizit gemacht werden, so daß sich die Sprach-
praxis insgesamt in Begriffen einer deontischen Kontoführung erfassen läßt.52 Durch
die Praxis der Kontoführung verleihen die Teilnehmer eines Sprachspiels bestimm-
ten Äußerungen propositionalen Gehalt. Das von Brandom vorgelegte Modell dis-
kursiver Praxis ermöglicht damit eine in rein normativen Begriffen gehaltene Ana-
lyse propositionaler Bedeutung.
Die normative Pragmatik Brandoms zeigt, daß das Sprachspielargument die Of-
fenheit von Bedeutung überbetont. Sprachliche Handlungsnormen einer Sprachge-
meinschaft reduzieren diese Offenheit. Daher ist auch die Unterscheidung von Fest-
stellung und Festsetzung von Bedeutung keineswegs von vornherein unmöglich.53
Denn wenn es implizite Normen der diskursiven Praxis gibt, ist nicht verständlich,
warum diese nicht auch empirisch feststellbar sein sollten. Die Gleichsetzung von
Feststellung und Festsetzung von Bedeutung ist nicht gerechtfertigt.
All dies gilt aber nur, wenn die normative Pragmatik ihrerseits der Kritik stand-
hält.

2. Kritik

Die wichtigsten Einwände gegen jede Normativitätstheorie sprachlicher Bedeu-


tung haben Kripke und Quine formuliert. Beide bestreiten, daß die Bedeutung eines
Ausdrucks die Möglichkeit seines richtigen und falschen Gebrauchs determiniert.54
Kripke stützt seine Indeterminismusthese auf eine radikal skeptische Lesart von
Wittgensteins Überlegungen zum Regelfolgen.55 Kripkes vergebliche Suche nach
einem Bedeutungsfaktum läßt sich mit einer antinaturalistischen Strategie widerle-
50
Zur inferentiellen Semantik Brandoms siehe Klatt (Fn. 2), S. 144 – 147.
51
Brandom (Fn. 8), S. 89 – 91.
52
Brandom (Fn. 8), S. 181.
53
Klatt, Associations 7 (2003), 115 (122); Klatt (Fn. 2), S. 226 – 234.
54
Klatt (Fn. 10), 57 f.
55
Vgl. Coleman/Leiter, in: Marmor (Hrsg.), Law and Interpretation, Essays in Legal Phi-
losophy, 1995, 203 (219 – 223).
132 Matthias Klatt

gen. Jeder naturalistische Versuch, die Normativität von Bedeutung auf Tatsachen
zurückzuführen, muß daran scheitern, daß auf diese Weise nur unterschiedliche Wei-
sen des Gebrauchs von Sprache festgestellt werden können, nicht aber richtige und
falsche Verwendungsweisen. Kripkes zentrales Argument lautet, daß jedes sprachli-
che Zeichen seinerseits in seinem Gebrauch gerechtfertigt werden müsse. Daher
führe der Versuch, sprachliche Regeln festzustellen, notwendig in einem infiniten
Begründungsregreß.
Kripke übersieht, daß in der Praxis des Argumentierens prima facie-Berechtigun-
gen bestehen. Der normative Status der Berechtigung ist implizit in den sozialen
Praktiken des Gebens und Verlangens von Gründen enthalten. Demgemäß werden
bestimmte Behauptungen als solche angesehen, zu denen die Sprecher prima facie
berechtigt sind. Dieser prima facie-Status ist weder dauerhaft noch unerschütterbar.
Vielmehr kann er durch Zweifel angefochten werden. Bis zu ihrer Anfechtung recht-
fertigen prima facie-Berechtigungen jedoch bestimmte Verwendungsweisen eines
Wortes, während sie andere als falsch ausschließen. Brandom spricht insoweit von
der Vorschuß- und Anfechtungsstruktur der Berechtigung.
„Claims such as ,There have been black dogs‘ and ,I have ten fingers‘ are ones to which in-
terlocutors are treated as prima facie entitled. They are not immune to doubt in the form of
questions about entitlement, but such questions themselves stand in need of some sort of
warrant or justification.“56

Durch prima facie-Berechtigungen wird ein vorläufiges Ende der Rechtferti-


gungsspirale erreicht. Der Einwand Kripkes, der den Sprachgebrauch an externen
objektiven Kriterien zu messen verlangt, ist damit hinfällig. Bedeutungsdeterminis-
mus kann auf die Praxis einer Sprachgemeinschaft relativ sein.57
Quines semantischer Holismus basiert wesentlich auf dem Reversibilitätsargu-
ment. Es besagt, daß jeder Satz einer Sprache auf der Basis von Erfahrungen verän-
derbar ist. Wenn dieses Argument zutrifft, ist ein Modell Brandomscher Prägung, das
von normativ festgelegten, inferentiellen Relationen zwischen Propositionen aus-
geht, unhaltbar. Nach Dummetts Analyse argumentiert Quine mit seiner Reversibi-
litätsthese wie folgt gegen die Annahme inferentieller Relationen:
„The principles governing deductive connections themselves form part of the total theory,
which, as a whole, confronts experience. […] But, in that case, there is nothing for the in-
ferential links between sentences to consist in. They cannot be replaced by superinferential
links, compelling, us, if we accept certain logical principles, to accept the consequences
under those principles of other sentences we accept: for any such superlogical laws could
in turn be formulated and considered as sentences no more immune to revision than any
other.“58

56
Brandom (Fn. 8), S. 177.
57
Zur triadischen Relativität der Analytizität siehe Klatt (Fn. 2), S. 190 – 193.
58
Dummett, Frege – Philosophy of Language, 1973, S. 596.
Die Wortlautgrenze 133

Der zentrale Aspekt von Quines Reversibilitätsthese liegt in der Annahme, daß
sämtliche Sätze einer Sprache der Möglichkeit der Revision unterliegen. Quine zu-
folge kann nicht auf vermeintlich feststehende Sätze, etwa die der Logik, zurückge-
griffen werden, um sie als Metaregeln für inferentielle Relationen zu verwenden.
Vielmehr, so Quines Argument, sind auch logische Sätze reversibel, so daß die Zu-
schreibung von Wahrheitswerten zu Behauptungen letzthin nur von der Gesamtheit
aller Behauptungen einer Sprache gesteuert wird. Diese jedoch sei uns nicht zugäng-
lich: „No speaker of a language can make fully explicit the principles underlying her
linguistic practice.“59
Natürlich kann nicht geleugnet werden, daß viele Zuschreibungen von Wahrheits-
werten zu Sätzen einer Sprache im Lichte neuer Welterfahrung geändert werden. Für
die Gültigkeit der Quineschen Argumentation ist es jedoch erforderlich, daß diese
Änderungen prinzipiell alle Sätze einer Sprache erfassen.60 Diese notwendige Bedin-
gung ist nicht erfüllt, wenn in einer Sprache stets ein bestimmtes Set an Sätzen
immun gegen Änderungen ist.
Auf der Basis einer solchen limitierten Reversibilität ist gegen den Quineschen
radikalen Holismus ein moderater Holismus geltend zu machen. Er beruht auf der
These, daß nicht alle Sätze einer Sprache in gleichem Maße reversibel sind. Es
spricht nämlich viel für die Annahme, daß es in jeder Sprachpraxis einige Sätze
gibt, die prima facie revisionsimmun sind. Dazu gehören z. B. die Regeln der
Logik. Ihre Revisionsimmunität beruht auf den normativen Einstellungen der Spre-
cher einer Sprachgemeinschaft. Logische Sätze sind demnach immun, weil sie von
der Sprachgemeinschaft als solche behandelt werden. Die Revisionsimmunität ist an
der deontischen Kontoführung ablesbar. Es spricht sogar viel dafür, daß jede Sprache
notwendig ein Set an prima facie immunen Sätzen enthalten muß, damit es Kommu-
nikation und Bedeutung überhaupt geben kann.61
Natürlich ist es denkbar, daß auch prima facie revisionsimmune Sätze geändert
werden. dies ist jedoch nicht möglich, ohne daß das Sprach- und Argumentationsver-
halten einer Sprachgemeinschaft eine völlig neue Struktur bekommt. Das hier ent-
scheidende Argument lautet: Eine Änderung der fundamentalen Sätze unserer Spra-
che, der Logik, wäre als äußerst wesentliche Veränderung erkenn- und beschreib-
bar.62 Es entstünde eine andere Sprache mit einem anderen Begriff propositionaler
Bedeutung.

59
Vgl. Shieh, in: Heck (Hrsg.), Language, Thought and Logic – Essays in Honour of
Michael Dummett, 1997, S. 71, 90.
60
Vgl. Peacocke, in: Hale/Wright (Hrsg.), A Companion to the Philosophy of Language,
1997, S. 227, 233.
61
Zu dieser These von der notwendigen Inkorporation immuner Sätze siehe Klatt (Fn. 2),
S. 180.
62
Kritisch zu einer solchen Strategie zur Rettung der Revisionsimmunität der Logik durch
ein Sprachspiel- oder Konventionsargument Putnam, in: Moser (Hrsg.), A priori Knowledge,
1987, S. 85, 110.
134 Matthias Klatt

Brandoms Analyse zeigt, daß sich im Gebrauch der Sprache notwendig ein expli-
katives Instrumentarium herausbildet, das eine normative Bewertung der Gültigkeit
bestimmter Inferenzen ermöglicht. Der Unterschied, den Sprecher in ihren normati-
ven Einstellungen zwischen ohne weiteres reversiblen und prima facie revisionsim-
munen Propositionen machen, wird von Quine ignoriert. Für ihn sind alle Behaup-
tungen, die in einer Sprache geäußert werden, in gleicher Weise unsicher. Für Quine
unterliegen sie in demselben Maß der Möglichkeit der Revision. Wenn demgegen-
über nicht alle Sätze einer Sprache in gleichem Maße reversibel sind, ist es gerecht-
fertigt, von der normativ festgelegten Existenz inferentieller Relationen zwischen
Behauptungen zu sprechen. Der moderate Holismus führt deshalb nicht zu den weit-
reichenden bedeutungsskeptischen Konsequenzen, die aus einem radikalen Holis-
mus Quinescher Prägung gezogen werden. Damit sind die beiden wesentlichen Ar-
gumente des Bedeutungsskeptizismus widerlegt.

3. Wortgebrauchsregeln und semantische Fehler

Bevor das Gesagte anhand eines Beispiels erläutert werden kann, sind noch einige
theoretische Ergänzungen erforderlich. Auf der Basis der oben verteidigten Norma-
tivität sprachlicher Bedeutung kann ein System semantischer Grenzen entwickelt
werden, welches anhand einer neuen Terminologie eine differenzierte Analyse juri-
stischer Entscheidungen ermöglicht. Statt von „der“ Wortlautgrenze zu sprechen, ist
zwischen acht allgemeinen und fünf besonderen semantischen Grenzen zu unter-
scheiden.63
Ausgangspunkt für dieses System semantischer Grenzen sind die normativ aus-
gezeichneten inferentiellen Relationen zwischen Behauptungen, wie sie hier anhand
von Brandoms Theorie verteidigt wurden. Alexy hat diese Relationen als „Wortge-
brauchsregeln“ analysiert.64 Diese Regeln werden in der internen Rechtfertigung65
juristischer Entscheidungen als sprachliche Regeln über die Bedeutung von Aus-
drücken gebraucht, die in vorangegangenen Begründungsschritten verwendeten wur-
den. Wortgebrauchsregeln geben an, welche Eigenschaften (M) ein Objekt (x) erfül-
len muß, damit es unter einen Gesetzesbegriff (T) fällt.
Die Basisstruktur einer Wortgebrauchsregel W lautet: Für alle Objekte x gilt:
Wenn x die Eigenschaften M hat, dann ist x unter den Gesetzesbegriff T zu subsu-
mieren. Formalisiert:
W: (x) (Mx ! Tx).
Es ist eine Leitidee der hier vorgestellten Theorie, daß diese Wortgebrauchsregeln
eine Art der impliziten Normen sind, welche nach Brandom sprachliche Bedeutung
63
Zum System semantischer Grenzen siehe Klatt (Fn. 2), S. 236 – 264 mit weiteren Bei-
spielen.
64
Alexy (Fn. 1), S. 288.
65
Zum Begriff der internen Rechtfertigung siehe Alexy (Fn. 1), S. 274.
Die Wortlautgrenze 135

konstituieren.66 Sie zählen die Merkmale auf, die aufgrund der Bedeutung eines Aus-
drucks erfüllt sein müssen, damit der Ausdruck auf ein Objekt richtigerweise ange-
wendet wird. Die Geltung dieser Regeln kann durch die normative Pragmatik Bran-
doms erklärt werden. Wortgebrauchsregeln sind in der alltäglichen Sprachpraxis im-
plizit vorhanden. Sie werden durch die Einstellungen und Bewertungshandlungen
der Teilnehmer eines Sprachspiels hervorgebracht, also sozioempraktisch instituiert.
Semantische Grenzen werden durch semantisch fehlerhafte Verwendung sprach-
licher Ausdrücke überschritten. Die Verwendung eines sprachlichen Ausdrucks ist
fehlerhaft, wenn die ihr zugrundeliegende Wortgebrauchsregel nicht mit der in der
Sprachgemeinschaft tatsächlich geltenden, d. h. normativ als richtig ausgezeichneten
Wortgebrauchsregel übereinstimmt. In einem solchen Fall formuliert der Sprecher
die Wortgebrauchsregel falsch.67 Betrachtet man die oben erläuterte Struktur von
Wortgebrauchsregeln, so ist deutlich, daß sich eine solche falsche Formulierung ent-
weder auf rechte oder auf die linke Seite des Konditionals beziehen kann. Entweder
der Sprecher verwendet für einen Gesetzesbegriff T1 einen falschen Merkmalkatalog
M2, oder er verwendet zwar das richtige M1, verbindet dieses aber mit einem anderen
Gesetzesbegriff T2.
Hier soll nur die zweite Fehlerart interessieren, d. h. die Verwendung eines fal-
schen Gesetzesbegriffes.68 Dieser semantische Fehler hat zur Folge, daß ein Indivi-
duum a aufgrund der Merkmale M1 unter T2 anstatt unter T1 subsumiert wird. Der
aufgrund der Merkmale zutreffende Begriff wird dagegen übersehen. Der entschei-
dende semantische Fehler lautet formalisiert:
W: (x) (M1x ! T2x).

4. Das Geldwäsche-Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Ein Beispiel für die Überschreitung der soeben charakterisierten semantischen


Grenze bildet das kürzlich ergangene Geldwäsche-Urteil des Bundesverfassungsge-
richt.69 In diesem Verfassungsbeschwerdeverfahren war die Frage zu entscheiden, ob
und unter welchen Voraussetzungen sich Strafverteidiger wegen Geldwäsche gem.
§ 261 II Nr. 1 StGB strafbar machen können, wenn sie von ihren Mandanten ein Ho-
norar annehmen, das diese aus einer rechtswidrigen Vortat erlangt hatten.

66
Dies wird näher ausgeführt bei Klatt (Fn. 2), S. 237 f.
67
Neben den hier dargestellten Fehlerarten, die auf einer falschen Formulierung der
Wortgebrauchsregel beruhen, gibt es auch Grenzüberschreitungen, die bei richtig formulierter
Wortgebrauchsregel quasi auf einem Subsumtionsirrtum beruhen. Diese spielen hier jedoch
keine Rolle. Siehe im einzelnen Klatt (Fn. 2), S. 238 ff.
68
Diese semantische Grenze kann als konsequentielle Festlegungsgrenze bezeichnet wer-
den, siehe Klatt (Fn. 2), S. 244 – 252 mit weiteren Beispielen.
69
BVerfG NJW 2004, 1305 – 1313.
136 Matthias Klatt

Nach dem Wortlaut der Norm ist diese auch auf Strafverteidiger anwendbar, im
Gesetz sind keine Ausnahmen vorgesehen. Dies ist jedoch aus verfassungsrechtli-
chen Gründen problematisch, weil die drohende Strafbarkeit in die Berufsaus-
übungsfreiheit der Strafverteidiger eingreift und die rechtsstaatliche Bedeutung
der Institution der Strafverteidigung beachtet werden muß. Insofern besteht zwi-
schen dem Zweck des § 261 StGB, rechtswidrig bereicherte Straftäter durch das Ver-
bot der Geldwäsche wirtschaftlich zu isolieren, einerseits und dem Recht des Be-
schuldigten, sich einen Verteidiger zu wählen und diesen zu bezahlen, sowie dem
Recht des Verteidigers auf freie Berufsausübung andererseits ein Zielkonflikt.70
Zur Lösung dieses Konfliktes werden unterschiedliche Lösungen diskutiert.71 Das
Bundesverfassungsgericht hat sich mit seinem Urteil vom 30. März 2004 der soge-
nannten Vorsatzlösung72 angeschlossen. Hiernach machen sich Strafverteidiger gem.
§ 261 II Nr. 1 StGB nur dann strafbar, wenn sie im Zeitpunkt der Annahme ihres Ho-
norars sichere Kenntnis von dessen Herkunft hatten.
Methodisch stützt das Bundesverfassungsgericht dieses Ergebnis auf eine soge-
nannte verfassungskonforme Auslegung. Wegen des Grundsatzes der Verhältnismä-
ßigkeit sei der durch die Strafandrohung bewirkte Eingriff in die Berufsausübungs-
freiheit nur dann gerechtfertigt, wenn die Norm einschränkend ausgelegt werde.
Durch diese einschränkende Auslegung erhöht das Bundesverfassungsgericht die
Anforderungen, die an den Vorsatz der Strafverteidiger zu stellen sind. Bedingter
Vorsatz, d. h. Für-Möglich-Halten und billigende Inkaufnahme, reicht nicht aus.
Vielmehr ist direkter Vorsatz, d. h. sicheres Wissen von der Herkunft des Geldes er-
forderlich.
Eine verfassungskonforme Auslegung ist immer dann möglich, wenn eine Norm
mehrere Auslegungen, die teils zu einem verfassungswidrigen Ergebnis und teils zu
einem verfassungsmäßigen Ergebnis führen, zuläßt. Die Norm ist dann verfassungs-
konform auszulegen. Jede verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenze aber
am Wortlaut des Gesetzes.73 Durch diesen allgemein anerkannten Grundsatz werden
die einleitend genannten verfassungsrechtlichen Grundsätze sichergestellt. Insbe-
sondere soll vermieden werden, daß durch eine verfassungskonforme Auslegung
an die Stelle einer gesetzlichen Vorschrift inhaltlich eine andere Vorschrift gesetzt
wird. Dies wäre ein für die Justiz unzulässiger Akt der Rechtssetzung, der nur
dem Gesetzgeber zukommt.74

70
Vgl. OLG Hamburg NJW 2000, 673; Katholnigg, NJW 2001, 2041 f.
71
Überblick bei Tröndle/Fischer, StGB, 51. Auflage München 2003, § 261 Rn. 33 – 33d
m.w.N.
72
Grüner/Wasserburg, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 2000, 430 (438 ff.); Matt,
Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 2002, 137 (145).
73
BVerfGE 2, 398; 18, 111; 54, 277 [299 f.]; 71, 81 [105]; 90, 263 [275]; 95, 64 [93]; 101,
312 [329].
74
Vgl. BVerfGE 2, 406.
Die Wortlautgrenze 137

Das Bundesverfassungsgericht ist der Meinung, daß die vorgenommene restrik-


tive Auslegung nicht gegen die semantischen Grenzen der Norm verstößt. Diese Auf-
fassung ist falsch, wie im folgenden zu zeigen ist.
Der hier als Norm N1 bezeichnete § 261 II Nr. 1 StGB besteht aus Tatbestand und
Rechtsfolge. Der Tatbestand nennt für die Rechtsfolge der Bestrafung (hier als R be-
zeichnet) fünf Voraussetzungen, welche hier als T1 bis T5 bezeichnet werden: Wer
einen in Absatz 1 bezeichneten Gegenstand (T1) sich oder einem Dritten verschafft
(T2) und – so ist über den reinen Normtext hinaus zu ergänzen75 – dies vorsätzlich
(T3), rechtswidrig (T4) und schuldhaft (T5) tut, ist zu bestrafen. Diese Voraussetzun-
gen müssen kumulativ vorliegen. Wenn ein Objekt x alle fünf Voraussetzungen er-
füllt, ist es geboten, die Rechtsfolge auf x anzuwenden. Dies läßt sich in der von
Alexy eingeführten Schreibweise76 wie folgt formalisieren:
N1: (x) (T1x ^ T2x ^ T3x ^ T4x ^ T5x ! ORx).
Der hier entscheidende Tatbestandsbegriff ist T3, also der Vorsatz. Für diesen Be-
griff gilt in der juristischen Fachsprache die Wortgebrauchsregel W1: Vorsätzlich
handelt, wer entweder mit direktem (M6) oder mit bedingtem Vorsatz (M7) handelt.
Beide Vorsatzarten unterscheiden sich, wie erwähnt, dadurch, daß der direkte Vorsatz
sichere Kenntnis von der Verwirklichung des Tatbestandes voraussetzt, während der
bedingte Vorsatz ein Für-Möglich-Halten mit billigender Inkaufnahme genügen läßt.
Diese Wortgebrauchsregel läßt sich wie folgt formalisieren:
W1: M6x _ M7x ! T3x.
Das Bundesverfassungsgericht verwendet demgegenüber, soweit Strafverteidiger
betroffen sind, für den Gesetzesbegriff T3 nicht W1, sondern eine andere, engere
Wortgebrauchsregel W2. Nach dieser liegt Vorsatz nur in der Form des direkten Vor-
satzes, d. h. bei sicherem Wissen vor:
W2 : M6x ! T3x.
Dadurch wird nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts eine semantische
Grenze nicht überschritten. Zur Begründung verweist das Bundesverfassungsgericht
in seinem Urteil darauf, daß § 261 II Nr. 1 StGB selbst keine Umschreibung der Vor-
aussetzungen vorsätzlichen Handelns enthalte. Das Gesetz überlasse es Rechtspre-
chung und Literatur, zu bestimmen, was „Vorsatz“ im einzelnen bedeute.
Dies überzeugt nicht. Denn die vom Gesetz offengelassene Definition des Begrif-
fes „Vorsatz“ und die unterschiedlichen Vorsatzarten sind in Rechtsprechung und Li-
teratur seit langem geklärt. Es besteht eine feste fachsprachliche Konvention, über
die nicht einfach hinweggegangen werden darf. Diese Konvention zum Wortge-

75
Die Merkmale T3 bis T5 werden in dem Normtext nicht explizit genannt. Sie stellen
jedoch allgemeine Voraussetzungen der Strafbarkeit dar, die im Allgemeinen Teil des Straf-
gesetzbuchs genannt werden und bei jeder Strafnorm zu ergänzen sind.
76
Zur Erläuterung der Symbolik siehe Alexy (Fn. 1), S. 274.
138 Matthias Klatt

brauch setzt einer völlig neuen Begriffsbestimmung Grenzen. Wenn das Gesetz eine
Beschränkung des Vorsatzes auf die Form der Wissentlichkeit in anderen Normen
explizit macht (vgl. §§ 257, 258 StGB), folgt daraus e contrario, daß in allen übrigen
Fällen auf die allgemeinen Vorsatzformen zurückzugreifen ist. Es entspricht allge-
meiner Meinung, daß jede Form des Vorsatzes ausreicht, wenn sich aus dem Gesetz
selbst nichts anderes ergibt.77 Dies ist bei § 261 II Nr. 1 StGB der Fall.
Hinzu kommt, daß § 261 II Nr. 2 StGB als zusätzliches Merkmal die positive
Kenntnis von der Herkunft des Geldes fordert.78 Dieses zusätzliche Merkmal ist
aber in Nr. 1 gerade nicht aufgenommen worden. Schließlich ist auch § 261 V
StGB zu bedenken, welcher die Strafbarkeit über den Vorsatz hinaus sogar auf Fahr-
lässigkeit ausdehnt.79 Mithin ist bedingter Vorsatz erst recht erfaßt. Entgegen dem
Bundesverfassungsgericht ist daher von der Geltung von W1 auszugehen; W2 ist ab-
zulehnen.
Steht W2 aber nicht zur Verfügung, so ist deutlich, daß das Bundesverfassungsge-
richt der Sache nach den Gesetzesbegriff T3 durch einen neuen Gesetzesbegriff T8
ersetzt. Das Bundesverfassungsgericht verbindet das aus der Wortgebrauchsregel
W1 stammende Merkmal M6 (sichere Kenntnis) mit dem Gesetzesbegriff T3 und
ignoriert dabei das ebenfalls in W1 disjunktiv enthaltene M7 (Für-Möglich-Halten).
Auf diese Weise tauscht das Gericht T3 gegen einen neuen Begriff T8 aus. Exakt in
dieser falsch formulierten Wortgebrauchsregel besteht der semantische Fehler. Das
Bundesverfassungsgericht legt sich auf einen anderen Gesetzesbegriff T8 fest, der in
der Norm N1 nicht enthalten ist, anstatt die Wortgebrauchsregel für den Gesetzesbe-
griff T3 zu beachten. Die falsch formulierte Wortgebrauchsregel lautet formalisiert:
W3: (x) (M6x ! T8x).
Der Sache nach formuliert das Bundesverfassungsgericht auf der Basis der Wort-
gebrauchsregel W3 eine neue Norm N2. Diese hat zwei Alternativen. Die erste Alter-
native entspricht der Norm N1, enthält also das richtige T3, wird aber um das negative
Merkmal ergänzt, daß der Betroffene nicht Strafverteidiger ist ( T9x). Diese erste
d

Alternative gilt also für alle Personen, die nicht Strafverteidiger sind. Für sie bleibt es
bei der normalen Vorsatzdefinition. Die zweite Alternative gilt dagegen für Strafver-
teidiger. Hier wird statt der normalen Vorsatzdefinition T3 der neue, engere Vorsatz-
begriff T8 verwendet. Diese neue Norm N2 lautet formalisiert:
N2:(x) (T1x^T2x^T3x^T4x^T5x^ T9x)
d

_ (T1x^T2x^T8x^T4x^T5x^T9x) ! ORx).

77
Vgl. Tröndle/Fischer (Fn. 71), § 15 Rn. 5.
78
Dieses zusätzliche Merkmal in Nr. 2 wird allerdings von der herrschenden Meinung als
irrelevant interpretiert, so daß auch für Nr. 2 bedingter Vorsatz ausreiche, siehe Tröndle/Fi-
scher (Fn. 71), § 261, Rn. 26a mit der unzutreffenden Feststellung, der Wortlaut sei „unklar“.
Diese Interpretation wirft gleichfalls Probleme im Hinblick auf die Wortlautgrenze auf, was
hier aber nicht vertieft werden soll.
79
Vgl. Barton, Strafverteidiger 1993, 156 (159).
Die Wortlautgrenze 139

Der entscheidende Fehler des Bundesverfassungsgerichts liegt darin, daß diese


Prozedur nicht offengelegt wird. Vielmehr wird diese Neuformulierung der Norm
N2 gerade als Auslegung von N1 bezeichnet. Das Bundesverfassungsgericht schränkt
den Anwendungsbereich der Norm ein, indem es für Strafverteidiger mit T8 einen
engeren Begriff als T3 verwendet. Die als „einschränkende Auslegung“ bezeichnete
Operation des Bundesverfassungsgerichts ist in Wirklichkeit eine Rechtsfortbildung
in Form einer teleologischen Reduktion. Denn das Bundesverfassungsgericht nimmt
in die Norm die zusätzlichen Begriffe T8 und T9 auf. Es hält den vorhandenen Geset-
zesbegriff T3 für zu weit, weshalb es den restriktiveren Begriff T8 in die Norm auf-
nimmt. Dies ist eine Ergänzung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale, die sich auf-
grund der für den Begriff T3 geltenden Wortgebrauchsregel W1 gerade nicht mehr im
Rahmen des Wortlautes hält. Die semantischen Grenzen der Norm werden daher
überschritten. Das Bundesverfassungsgericht legt § 261 II Nr. 1 StGB nicht aus, son-
dern formuliert ihn um. Damit überschreitet es die Grenzen verfassungskonformer
Auslegung.
Es muß betont werden, daß das Bundesverfassungsgericht für sein Ergebnis über-
zeugende Gründe vorzuweisen hat. Es spricht viel dafür, daß der Wortlaut des § 261
II Nr. 1 StGB tatsächlich zu weit ist und aus den dargelegten verfassungsrechtlichen
Gründen der Einschränkung bedarf. Dies gilt insbesondere für den erstrebten Schutz
der Strafverteidigung. Diesen Gründen soll hier keineswegs widersprochen werden.
Die hier geübte Kritik bezog sich allein auf das methodische Vorgehen des Gerichts.
Zu zeigen war ausschließlich, daß das Bundesverfassungsgericht an einer verfas-
sungskonformen Auslegung durch die semantische Grenze des Begriffes „vorsätz-
lich“ gehindert war.80 Es hätte demnach richtigerweise die Verfassungswidrigkeit
der Norm konstatieren müssen. Allein der Gesetzgeber ist berufen, die Norm
durch die Einführung eines expliziten Verteidigerprivilegs nachzubessern.
Es ist daran zu erinnern, daß dieser semantische Fehler nur eine Art der Über-
schreitung semantischer Grenzen darstellt. Abschließend sollen noch einmal die we-
sentlichen Merkmale der hier erläuterten semantischen Grenze dargestellt werden.
Diese Grenze wird überschritten, wenn die angebliche Auslegung auf eine Textkor-
rektur durch den Rechtsanwender hinausläuft. Es handelt sich nicht nur um eine re-
striktive Interpretation, sondern um eine teleologische Reduktion. Der Normtext
wird durch einen vom Rechtsanwender formulierten Quasi-Normtext ersetzt. Eine
solche Rechtsfortbildung wird als Auslegung deklariert, wenn so getan wird, als
gehe es um Merkmale für einen Begriff des gesetzlichen Tatbestandes, während
die Zuordnung dieser Merkmale zu diesem Begriff in Wirklichkeit an der semanti-

80
Im Ergebnis ebenso Schaefer/Wittig, NJW 2000, 1387 (1388); Burger/Peglau, wistra
2000, 161; Hetzer, wistra 2000, 281 (288). Vgl. auch Matt (Fn. 72), S. 145. Diese Autoren
beziehen sich alle auf Entscheidungen des OLG Hamburg bzw. des BGH, in denen die Frage
der verfassungskonformen Auslegung des § 261 II Nr. 1 StGB allerdings wie hier im Mittel-
punkt stand.
140 Matthias Klatt

schen Grenze dieses Begriffes scheitert. Tatsächlich wird daher vom Rechtsanwen-
der ein zweiter Tatbestandsbegriff in die Norm eingefügt, diese daher verändert.81
Diese Veränderung der Norm wird verschleiert, wenn so getan wird, als gehe es
um die Definition des Begriffes der Norm. Das wesentliche Merkmal der Überschrei-
tung dieser Art semantischer Grenzen ist dieses: Die Wortgebrauchsregel, die für die
Subsumtion herangezogen wird, wird insofern falsch formuliert, als nicht der von der
Gesetzesnorm vorgegebene Begriff gewählt wird, sondern ein anderer Begriff. Die
Aufnahme zusätzlicher Tatbestandsmerkmale in die Norm kann zu einer Einschrän-
kung oder Ausweitung ihres Anwendungsbereiches führen. Hier handelte es sich um
eine Einschränkung, also um eine teleologische Reduktion.

IV. Ergebnis
Anhand der Bedeutungstheorie Brandoms wurde die Normativität sprachlicher
Bedeutung gegen sprachphilosophische und linguistische Kritik verteidigt. Sodann
wurde auf dieser Basis ein neues System semantischer Grenzen angedeutet und
eine Art dieser Grenzen anhand des Geldwäsche-Urteils des Bundesverfassungsge-
richts erläutert. Dabei zeigte sich, daß die hochkomplexen sprachphilosophischen
Überlegungen zur Normativität sprachlicher Bedeutung mit dem Instrumentarium
der analytischen Methodenlehre verbunden und für die Analyse gerichtlicher Ent-
scheidungen fruchtbar gemacht werden können.
Auch die hier vorgestellte Theorie semantischer Grenzen zeigt nicht, wo diese in
jedem Einzelfall verlaufen.82 Insofern sind keine allgemeingültigen Aussagen über
einzelne Begriffe möglich, weil sprachliche Bedeutung eine holistische Struktur
hat. Sie ist zu Hintergrundfestlegungen einzelner Sprecher und ganzer Sprachge-
meinschaften relativ.83 Es bleibt daher bei der Notwendigkeit, einen sprachanalyti-
schen Diskurs zu führen.
Die wesentliche Argumentform dieses Diskurses ist der Verweis auf Wortge-
brauchsregeln. Der Nutzen der hier vorgestellten Theorie liegt darin, daß erstmals
die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten semantischer Grenzen möglich
ist. Mit der hier vorgestellten Terminologie kann der sprachanalytische Diskurs
um die Geltung von Wortgebrauchsregeln und die Struktur der Bedeutung von Ge-
setzesbegriffen differenzierter und präziser geführt werden.
Jede Theorie semantischer Grenzen basiert auf einer Einschätzung der Leistungs-
fähigkeit und Steuerungskraft der Semantik. Mit dem Problem semantischer Gren-
zen wird daher zugleich der Stellenwert der semantischen Argumentation im Recht
erörtert. Daß von dem Ergebnis der semantischen Interpretation aus guten Gründen

81
Vgl. Seebode, Juristenzeitung 1998, 781 (782).
82
Vgl. Klatt (Fn. 10), S. 64 f.
83
Vgl. Klatt (Fn. 2), S. 190 – 193, 205 – 207.
Die Wortlautgrenze 141

abgewichen werden darf,84 hat viele Autoren veranlaßt, den Stellenwert der seman-
tischen Argumentation als gering einzustufen.85 Im Hinblick auf die vehemente Kri-
tik an theoretischen Versuchen, das Kontinuum sprachlicher Bedeutung durch Kate-
gorien und Strukturen zu analysieren, sowie im Hinblick auf die anerkannten
Schwierigkeiten in Fällen semantischer Unklarheit wurde die semantische Argumen-
tation von der juristischen Methodenlehre zunehmend mit Unbehagen, wenn nicht
mit Geringschätzung betrachtet. Die extreme Position wird von der These gekenn-
zeichnet, daß semantische Argumentation keinen eigenen Stellenwert habe, die Be-
deutung des Gesetzes sich vielmehr ausschließlich aus anderen juristischen Argu-
mentformen ergebe.86
Demgegenüber können die hier vorgestellten Strukturen der Semantik als Grund-
stein für eine neue Theorie der semantischen Interpretation begriffen werden. Insge-
samt kann daher von einer Rehabilitierung der semantischen Interpretation für das
Recht gesprochen werden, die auch für den Streit um die Rangfolge der Auslegungs-
kriterien von Bedeutung ist.87 Die Sprachpraxis ist nicht im Sinne einer unverbind-
lichen façon de parler aufzufassen, die von grenzenloser sprachlicher Willkür ge-
prägt wäre, wie dieses dekonstruktivistische Positionen annehmen. Vielmehr sind
in der Praxis implizite Normen vorhanden, deren Struktur mit der hier vorgestellten
Terminologie analysiert und rekonstruiert werden kann. Auf diese Weise werden die
Strukturen zugänglich, in denen sich begrifflicher Gehalt in einer Sprachgemein-
schaft herausbildet. Hierdurch können auch die rechtstheoretischen Unterscheidun-
gen zwischen schwierigen und leichten Fällen der Interpretation sowie zwischen
Feststellung und Festsetzung von Bedeutung gerechtfertigt werden.88
Die Interpretation von Gesetzen hat insgesamt Diskurscharakter. Interpretationen
sind Behauptungen über die Bedeutung eines vom Gesetz verwendeten Begriffes.
Diese Behauptungen werden vom Rechtsanwender mit dem Anspruch auf Richtig-
keit und unter Angabe von Gründen geäußert. Innerhalb der Klasse dieser Gründe ist
semantische Normativität eigenständig. Dies wird hier als Externalität der Sprache
für das Recht bezeichnet.89 Semantische Normativität wird in der juristischen Argu-
mentation in einem eigenständigen, von den übrigen Argumentformen zu trennenden
sprachanalytischen Diskurs zur Geltung gebracht.

84
Schauer, Playing by the Rules – A Philosophical Examination of Rule-Based Decision-
Making in Law and in Life, 1991, S. 215 – 218; Brink, Canadian Journal of Law and Juris-
prudence 1989, 181 (186 f.).
85
In diesem Sinne Bix, Law Language, and Legal Determinacy, 1993, S. 178 – 182; Esser
(Fn. 21), S. 103 f.; Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“ – Zugleich ein Beitrag zur
Lehre vom Typus, 1982, S. 42; Kriele (Fn. 21), S. 311; Hruschka (Fn. 5), S. 102; Pawlowski
Methodenlehre für Juristen – Theorie der Norm und des Gesetzes, 1999, Rn. 458, 507.
86
So Schefer (Fn. 15), S. 154.
87
Klatt (Fn. 53), S. 127.
88
Klatt (Fn. 53), S. 121 f.
89
Vgl. Klatt (Fn. 53), S. 126.
142 Matthias Klatt

Die Externalität der Sprache für das Recht bedeutet, daß Zahl und Art der Argu-
mente im sprachanalytischen Diskurs beschränkt sind. Es sind nur solche Gründe zu-
gelassen, die sich auf Semantik beziehen. Nach der hier verfolgten Grundidee ist der
Diskurs, der nach Brandom durch die expressive Rolle des logischen Vokabulars er-
möglicht wird, mit dem sprachanalytischen Diskurs i. S. Alexys identisch. Der
sprachanalytische Diskurs hat die Funktion, Bedeutung dadurch festzustellen, daß
er vorhandene Normen explizit macht. Es handelt sich um einen Diskurs über die
Berechtigung einzelner Sprecher zu Festlegungen und über die deontischen Status
einzelner Sprechakte. Die hier vorgestellte Bedeutungstheorie stellt ein ausgearbei-
tetes terminologisches System zur Verfügung, das die bisherigen sprachanalytischen
Modelle der juristischen Methodenlehre vertieft und ergänzt.
III. Das Gesetzlichkeitsprinzip in einzelnen Bereichen
des materiellen Strafrechts
Gesetzlichkeitsprinzip und Rechtfertigungsgründe
José Juan Moreso*

Aber gerade die Dinge, die, wie es scheint, ein Gesetz nicht eindeutig regeln kann, kann doch
ein Mensch wohl kaum erkennen.
Das Gesetz hat jedoch mit voller Absicht die Bürger erzogen und überträgt Angelegenhei-
ten, die es nicht eindeutig regeln kann, den Amtsinhabern, damit sie nach bestem Gewissen
entscheiden und Maßnahmen treffen.
(Aristoteles, Politik, III, 16)

I. Einführung
Der Titel dieses Beitrags verspricht, ohne Zweifel, viel. Aus diesem Grund emp-
fiehlt es sich, vor allem die angestrebten Ziele zu definieren. Zunächst werde ich
mich ausschließlich auf das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip beziehen, nämlich
das, was man als Bestimmtheitsprinzip kennt. Das heißt, dass meine Überlegungen
sich auf drei der grundlegenden Ausprägungen der klassischen Gestaltung des Ge-
setzlichkeitsprinzips richten werden, und zwar auf das Rückwirkungsverbot (nullum
crimen sine lege praevia), auf das Verbot des Gewohnheitsrechts (nullum crimen sine
lege scripta) und auf die Forderung nach der Bestimmtheit der Strafgesetze (nullum
crimen sine lege stricta o sine lege certa). Ich werde mich hauptsächlich mit den letz-
ten dieser Ausprägungen beschäftigen. Im Anschluss werde ich die Rechtfertigungs-
gründe – und zwar nur aus der Perspektive der Forderung nach der Bestimmtheit der
Strafgesetze – betrachten. Obwohl die von mir vorgetragene Argumentation sich
auch auf einige Schuldausschließungsgründe anwenden ließe, wie z. B. auf die un-
überwindbare Furcht (§ 20. 6. spanStGB), werde ich mich nicht auch mit den begriff-
lichen Problemen der Unterscheidung zwischen Rechtfertigungsgründen und
Schuldausschließungsgründen beschäftigen1, auch nicht – zumindest nicht unmittel-
bar – mit der entscheidenden Frage nach der Einbeziehung von außergesetzlichen
Rechtfertigungsgründen.

* Aus dem auf Spanisch vorliegenden Original: Principio de legalidad y causas de justi-
ficación (El alcance de la Taxatividad), in: La Constitución: modelo para armar, 2009, S. 205 –
222. Übersetzung ins Deutsche von Jorge Alexander Portocarrero Quispe.
1
Für die Zwecke dieser Arbeit genügt es zu erwähnen, dass ein Verhalten gerechtfertigt ist,
wenn es dem Täter als Deliktsverwirklichung zugerechnet werden kann, aber die Tat recht-
mäßig ist; dagegen ist ein Verhalten entschuldigt, wenn die Tat rechtswidrig ist, aber der Täter
nicht dafür schuldig ist. Vgl. hierzu John L. Austin, „A Plea for Excuses“, in: Philosophical
Papers, Oxford, 1961, S. 175 – 204, 176.
146 José Juan Moreso

Mit diesen Erklärungen im Blick will ich das Problem darstellen, das in Folgen-
dem besteht: Häufig wird behauptet, das Bestimmtheitsgebot verlange, dass die
Strafgesetze bei der Tatbestandsbeschreibung nur deskriptive Begriffe enthalten dür-
fen, und dass solche Begriffe so präzise wie möglich sein sollen. Das bedeutet, dass
die Vagheit, die alle allgemeinen Begriffe betrifft – sogar auch die empirischen Be-
griffe – so gering wie möglich sein muss. Wenn man das erste und zweite Buch un-
seres Strafgesetzbuches liest, kann man feststellen, dass die Forderung nach Be-
stimmtheit bei verschiedenen Sachverhalten in unterschiedlichen Graden, aber
immer in ausreichendem Maße, erfüllt wird. Um feststellen zu können, ob ein
menschliches Verhalten (ein Tun oder ein Unterlassen) strafgesetzlich verboten
ist, reicht es aber nicht aus, dass ein derartiges Verhalten ein im ersten und zweiten
Buch des Strafgesetzbuches dargestellter allgemeiner Fall ist, sondern es ist auch not-
wendig, dass ein derartiges Verhalten nicht unter einen der in § 20 dargestellten
Rechtfertigungsgründe fällt. Es ist gleichgültig, ob die sogenannte Lehre von den ne-
gativen Tatbestandsmerkmalen zu verteidigen ist oder nicht. Laut dieser Lehre be-
steht der strafrechtliche Tatbestand aus zwei Merkmalen, nämlich dem positiven
Merkmal, das die allgemeine Beschreibung eines prima facie verbotenen Verhaltens
ist; und dem negativen Merkmal, der allgemeinen Beschreibung der Umstände, die
als Ausnahmen für das obige prima facie Verbot fungieren2. Aus diesem Grund ist ein
tatbestandsmäßiges aber nicht rechtwidriges Verhalten immer noch ein strafrechtlich
erlaubtes Verhalten. Nun aber sind in unserem Rechtssystem die Rechtfertigungs-
gründe meistens anhand mehrdeutiger und bewertender Begriffe niedergeschrieben.
Diese Überlegungen führen uns zu dem folgenden Trilemma: Entweder schlagen
wir einen neuen Wortlaut der Rechtfertigungsgründe vor, der das Bestimmtheitsprin-
zip einhält, oder wir schlagen ein Strafrecht frei von Rechtfertigungsgründen vor,
oder wir begrenzen die Reichweite des Bestimmtheitsprinzips, sodass es die Recht-
fertigungsgründe nicht oder nur in abgeschwächter Weise beinhaltet.
In den folgenden Absätzen werde ich mich mit der Untersuchung der drei Hörner
dieses Trilemmas und einiger seiner Varianten beschäftigen. Vorher ist aber eine nä-
here Darstellung des Bestimmtheitsprinzips und seiner Rechtfertigung zu schildern.
Das wird uns erlauben, die folgenden Themen kritisch zu betrachten.

II. Der Begriff des Bestimmtheitsgebots3


Das Bestimmtheitsprinzip erfordert die Formulierung der strafrechtlichen Tatbe-
standsmerkmale mit präzisen Ausdrücken4. Diese Forderung wird häufig mit zwei

2
Vgl. hierzu und im Folgenden, Santiago Mir Puig, Derecho Penal. Parte General, Bar-
celona, 1998, S. 130.
3
Das Bestimmtheitsprinzip wirft viele und interessante Fragen auf, die hier nicht zu be-
trachten sind. Zu einer näheren Betrachtung des Bestimmtheitsprinzips kann man indes die
folgenden Arbeiten in der spanischen Doktrin vergleichen: eine strafrechtliche Ansicht Ful-
Gesetzlichkeitsprinzip und Rechtfertigungsgründe 147

verschiedenen Bedeutungen verstanden: a) eine Reduktion der Vagheit der angewen-


deten Begriffe, um das strafrechtlich verbotene Verhalten festzustellen und b) eine
Neigung zur Anwendung deskriptiver Begriffe gegenüber der Anwendung bewerten-
der Begriffe.
Dennoch ist bei der gegenwärtigen Diskussion bekannt, dass die Vagheit der Be-
griffe und die semantische Mehrdeutigkeit unausweichliche Merkmale unserer all-
gemeinen Begriffe sind5. Dafür sprechen zwei Gründe: Erstens, dass neue extreme
Fälle von einem allgemeinen Begriff vorliegen können (z. B. wie viele Haare sind
nötig, um nicht eine Glatze zu haben? Aus wie vielen Grammen entsteht ein Sand-
haufen? usw.). Es ist immer möglich, dass neue bestimmte individuelle Fälle entste-
hen können, bei denen wir darüber Zweifel haben könnten, ob sie Fälle von einem
Begriff sind oder nicht. H. L. A. Hart hat das so dargestellt6 :
„Alle Regeln lassen uns Einzelfälle als Beispiele erkennen und klassifizieren; und überall,
wo es eine Regel gibt, ist es auch möglich, einfache und zentrale Beispiele, für die die Regel
mit Sicherheit gilt, von anderen zu unterscheiden, wo man deren Gültigkeit sowohl begrün-
den wie verwerfen kann. Nirgendwo kann diese Dualität von sicherem Kern und Zwielicht-
zone vermieden werden, wenn wir Einzelfälle unter allgemeine Regeln bringen“.

Und zweitens, weil unsere Welt die Struktur hat, dass sie aus einer unendlichen
Zahl von Merkmalen zusammengebaut ist. Deshalb ist es immer möglich, in der Zu-

gencio Madrid Conesa, La legalidad del delito, 1983; Nicolás García Rivas, El principio de
determinación del derecho punible en la doctrina del Tribunal Constitucional, Publicaciones
del Ministerio de Justicia, 1992; und eine verfassungsrechtliche Ansicht vgl. Víctor Ferreres
Comella, El principio de taxatividad en materia penal (una perspectiva constitucional) (Ma-
nuscript).
4
Das Verfassungsgericht Spaniens geht davon aus, dass eine solche Forderung sich in der
verfassungsrechtlichen Formulierung des Gesetzlichkeitsprinzips von § 25 (spanische Ver-
fassung) befindet, vgl. hierzu STC (Entscheidungen des Verfassungsgerichts) 133/1987
(S. 48). In der spanischen strafrechtlichen Doktrin vgl. Santiago Mir Puig, Derecho Penal.
Parte General (Fn. 2), S. 78 und Manuel Cobo del Rosal/Tomás S. Vives Antón, Derecho Penal.
Parte General, 1999, S. 329 – 342.
5
Zu den ersten analytisichen Philosophen zählen Bertrand Russell, „Vagueness“, in:
Australian Journal of Philosophie and Psycology 1 (1923), S. 84 – 92; Frederick Waismann,
„Verifiability“ in: A.N.G Flew (Hg.), Logic and Language, 1951, S. 117 – 144 und Ludwig
Wittgenstein, Philosophical Investigations, Oxford, 1953, secc. 76 und 80. Zwei jüngere Ver-
öffentlichungen, die das philosophische Problem der Vagheit betrachten, sind: Timothy Wil-
liamson, Vagueness, 1994 und Rosanna Keefe, Theories of Vagueness, 2000. Rechtphiloso-
phische Autoren, die sich mit dem Thema befasst haben: Alf Ross, On Law and Justice,
London, 1958, S. 114 – 115; H. L. A. Hart, The Concept of Law, Oxford, 1961, S. 121 ff.;
Genaro R. Carrió, Notas sobre derecho y lenguaje, 1965, S. 31 ff. Neuerlich Claudio Luzzati,
La Vaghezza delle norme. Un’analisi del liguaggio giuridico, 1990; Jeremy Waldron,
„Vagueness in Law and Language: Some Philosophical Issues“, in: California Law Review 82
(1994), S. 510 – 540; Timothy Edicott, Vagueness in Law, 2000. Unter den Strafrechtlern
Winfried Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 1981, S. 163 – 181.
6
H. L. A. Hart, The Concept of Law (Fn. 5), S. 119. Der auf Deutsch vorliegende Text
entspricht der deutschen Ausgabe: H. L. A. Hart, Der Begriff des Rechts, 1. Aufl., 1973,
S. 171 – 172.
148 José Juan Moreso

kunft auf neue Fälle zu stoßen. Ebenso ist es möglich, dass wir uns hypothetische
Fälle ausdenken, bei denen wir starke Zweifel haben, ob der Begriff anzuwenden
ist oder nicht. Dies kennt man als potentielle Vagheit oder open texture der Sprache.
Noch einmal in den Worten von H. L. A. Hart7:
„Es ist ein Grundzug der menschlichen Situation (und deshalb auch der Legislative), dass
wir stets zwei miteinander verbundenen Hindernissen entgegenarbeiten, wann immer wir
versuchen, unzweideutig und im voraus einige Bereiche des menschlichen Verhaltens
durch allgemeine Standards zu regeln, die ohne weitere amtliche Anleitung in besonderen
Fällen angewandt werden sollen. Das erste Hindernis ist, dass wir relativ wenig von den Tat-
sachen wissen; das zweite Hindernis ist, dass wir unser Ziel relativ wenig bestimmen kön-
nen. Wenn die Welt, in der wir leben, nur durch eine begrenzte Anzahl von Merkmalen be-
stimmt wäre und diese mit all ihren Kombinationsweisen bekannt wären, könnten wir für
jede Möglichkeit im voraus eine Vorhersage machen. Wir könnten Regeln aufstellen,
deren Anwendung auf besondere Fälle niemals eine weitere Wahl erfordern würden.
Alles wäre bekannt, und für alles, da es bekannt ist, könnte im Voraus eine Regel aufgestellt
werden. Dies wäre eine Welt, die für eine ,mechanische‘ Jurisprudenz geeignet wäre“.

Diese zwei Merkmale unserer Sprache werden bei der Einschätzung der Reich-
weite des Bestimmtheitsprinzips berücksichtigt. Die Bestimmtheit der Begriffe,
die in den strafrechtlichen Vorschriften enthalten sind, ist eine Angelegenheit des
Grades, und gerade die Bestimmung dieser Grade hängt hauptsächlich von der
Rechtfertigung des Bestimmtheitsgebots ab. Zum Beispiel erkennt die amerikani-
sche Lehre des Bestimmtheitsgebots, die als void-for-vagueness doctrine bekannt
ist, diese zwei Präzisionsgrenzen in ihrem Rechtssystem an. Dadurch stellt sie
fest, ob eine Vorschrift verfassungsmäßig ist oder nicht8.
Jetzt wollen wir uns den Problemen zuwenden, die die bewertenden Begriffe mit
sich bringen. In einigen Fällen wird die Forderung nach der Anwendung von deskrip-
tiven Begriffen statt der Anwendung bewertender Begriffe als eine sehr strikte dar-
gestellt. In diese Richtung geht Luigi Ferrajoli, wenn er das Bestimmtheitsgebot als
Voraussetzung seiner Strafrechtslehre (Garantismo penal) ansieht9. Ferrajoli be-
hauptet, dass die Einbeziehung von deskriptiven Begriffen in die Formulierung
der strafrechtlichen Normen es erlaubt, verifizierbare und falsifizierbare deskriptive
Aussagen über diese strafrechtlichen Normen formulieren zu können. Zum Beispiel
wird der § 148.3 des spanischen Strafgesetzbuches als Strafverschärfungsgrund der
Körperverletzung angesehen, wenn das Opfer jünger als zwölf Jahre bzw. unmündig
war. Die Tatsache, dass jemand jünger als zwölf Jahre ist, kann anhand einer solchen
Aussage dargestellt werden (das gleiche kann man über jemanden sagen, der unmün-

7
Ebd., S. 125, 178.
8
Vgl. hierzu Wayne R. LeFave/Austin W. Scott, Jr., Substantive Criminal Law, Vol 1, 1986,
S. 126 – 128. Die gegenwärtige nordamerikanische strafrechtliche Doktrin behauptet, dass die
void-for-vagueness doctrine in dem fünften (zumindest was die Bundesgesetze betrifft) und
vierzehnten (bzgl. der Gesetze der Bundesländer) amendment der Verfassung beinhaltet ist,
nämlich in „the due process clauses“.
9
Luigi Ferrajoli, Diritto e Ragione. Teoria del garantismo penale, 1989, S. 94 – 107.
Gesetzlichkeitsprinzip und Rechtfertigungsgründe 149

dig ist, obwohl eine solche Behauptung schwieriger zu begründen ist, da „unmündig“
einen juristischen Ausdruck darstellt, dessen genaue Bedeutung seinerseits von an-
deren Rechtsnormen abhängt). Dagegen erlaubt laut Ferrajoli die Einbeziehung be-
wertender Begriffe bei der Formulierung der strafrechtlichen Normen nicht, verifi-
zierbare und falsifizierbare Aussagen herzustellen10.
„Eine Alternative dazu ergibt sich aus der Tatsache, dass die Sprache des Gesetzgebers be-
wertende Ausdrücke ausschließt oder einschließt. Man kann als Beispiel für eine strafrecht-
liche Norm, die eine Tatsache und nicht einen Wert beschreibt, § 575 unseres Strafgesetz-
buches anführen [Ferrajoli bezieht sich hier auf das italienische Gesetzbuch]. Diese Norm
definiert Mörder als denjenigen, der einen Menschen tötet. Ein Gegenbeispiel dazu – eine
strafrechtliche Norm, die einen Wert ausdrückt und dementsprechend gegen das Gesetzlich-
keitsprinzip verstößt (,stretta legalità‘ ist der Ausdruck, den Ferrajoli anwendet, um das Ge-
setzlichkeitsprinzip zu bezeichnen) – können wir in § 529 des italienischen Strafgesetzbu-
ches finden. Diese Norm definiert Handlungen und Gegenstände als obszön, die die gemein-
schaftliche Sittsamkeit verletzen. Die Anwendung der erstgenannten Norm setzt ein Tatsa-
chenurteil voraus, nämlich, ,Ticio hat den Tod eines Mannes verursacht‘; die Anwendung
der zweiten Normsetzt hingegen ein bewertendes Urteil voraus, nämlich, ,Ticio hat laut
der gemeinschaftlichen Moral die Sittsamkeit verletzt‘. Das erste Urteil ist, indem es sich
auf eine empirisch-objektive Tat bezieht, (einigermaßen) verifizierbar oder falsifizierbar.
Damit wird dieses Urteil eine Erkenntnis und eine gerichtliche Handlung sein. Das zweite
Urteil ist, indem es eine moralische Behauptung ausdrückt, keineswegs verifizierbar oder
falsifizierbar, und damit wird dieses Urteil eine bewertende Handlung darstellen, die auf
einer subjektiven und bloß beliebigen Behauptung basiert.“

Wenn Ferrajoli Recht hätte, das heißt, wenn alle die Prämissen, die ein bewerten-
des Urteil vorsehen, nicht tauglich wären, verifizierbar oder falsifizierbar zu sein
(etwa bloße emotive Ausdrücke), dann läge ein starker Grund vor, um bewertende
Ausdrücke von der Formulierung strafrechtlicher Normen auszuschließen: Bei Vor-
liegen bewertender Begriffe wird es unmöglich sein festzustellen, ob ein individuel-
ler Fall ein Unterfall des bewertenden Begriffs ist oder nicht. Es ist wichtig zu erken-
nen, dass das Vorliegen bewertender Begriffe in den strafrechtlichen Normen ein
schwereres Problem wäre als das Problem der Vagheit der Begriffe, weil vage Begrif-
fe sich als problematisch bei marginalen Anwendungsfällen erweisen, während die
bewertenden Begriffe, laut dieser Auffassung, sich als problematisch bei allen ihren
Anwendungsfällen zeigen.
Indes: Was spricht dafür, diese Auffassung der bewertenden Begriffe zu überneh-
men? Es scheint, als sehe diese Auffassung eine non-kognitivistische Auffassung von
der Moral voraus, d. h. eine Einstellung, nach der die moralischen Urteile Ausdrücke
von Emotionen oder von Verhaltensvorschriften sind und keine objektive Beschrei-
bung.11 Setzen wir voraus, dass in diesem Kontext die bewertenden Begriffe eine lin-
10
Ebd, S. 100 – 101. Vgl. hierzu über bewertende Begriffe auch Jerzy Wròblewski, The
Judicial Application of Law, 1992, S. 138 – 141.
11
Die Hauptvertreter der emotivistischen Auffassung sind: A. J. Ayer, Language, Truth and
logic, 1936, Kap. 6 und Charles L. Stevenson, Ethic and Language, New Haven, 1945.
Hauptvertreter der präskriptivistischen Fassung R. M. Hare, The Language of Morals, 1952.
150 José Juan Moreso

guistische Funktion haben, die grundlegend präskriptiv ist. Das schließt nicht aus,
dass einige bewertende Begriffe vorliegen, nämlich Begriffe über das Gute, das Kor-
rekte oder das Sittenwidrige – die sogenannten „leichten bewertenden Begriffe“
(thin) – deren Gehalt kaum deskriptiv ist (aber nicht vollkommen leer, denken wir
an Ausdrücke wie „X ist ein guter Professor“ oder „Y ist eine gute Schauspielerin“).
Es gibt andere bewertende Begriffe mit mehr deskriptivem Inhalt, nämlich die soge-
nannten „dichten bewertenden Begriffe“ (thick), wie die Begriffe ehrlich, keusch
oder mutig12. Bei den dichten Begriffen ist es möglich, ihnen einen deskriptiven In-
halt zuzuschreiben. Der Satz „Das Leben von Königin Isabel II ist kein Beispiel von
Keuschheit.“, hat einen informativen Inhalt, obwohl derjenige, der das sagt oder das
hört, die ihm zugrundeliegende Idee der sexuellen Sittlichkeit nicht teilt.
Sogar in Bezug auf Ferrajolis Beispiel über die Sittsamkeit (wir können an die
obszönen Handlungen des § 185 des spanischen Strafgesetzbuches denken) kann
man auch behaupten, dass dieser Ausdruck sich nicht auf die Zustimmung oder Miss-
billigung desjenigen bezieht, der eine vorschriftsmäßige Entscheidung trifft. Viel-
mehr bezieht sich dieser Ausdruck auf den Glauben und die Einstellungen einer be-
stimmten Gesellschaft. Die Darstellung des Glaubens und der Einstellung einer be-
stimmten Gesellschaft sind immer noch eine Beschreibung13. Dennoch erscheint dies
kein geeigneter Weg zu sein, weil in der Mehrzahl der schwierigen Fälle die Mitglie-
der der Gesellschaft unterschiedliche Meinungen haben können. Aus diesem Grund
sollten wir uns mit Winfried Hassemer fragen, was für einen Grad der Übereinstim-
mung man braucht, um feststellen zu können, ob ein bewertender Begriff entstanden
ist oder nicht14.
Von äußerster Bedeutung ist hier, dass die „bewertenden Begriffe dichter Art“
einen informativen Inhalt haben und sie sich dadurch nicht von den deskriptiven Be-
griffen unterscheiden lassen. Sie sind deskriptive Begriffe, die eindeutige oder para-
digmatische Anwendungsfälle haben: Wenn man sagt, dass ein Verhalten mutig oder
feige war, enthält dies schon einen informativen Inhalt. Trotzdem ist es wahr, dass die
bewertenden Begriffe unten normalen Umständen eine zustimmende oder missbilli-
gende Einstellung von demjenigen implizieren, der sie verwendet. Das ist das ent-
scheidende Merkmal, das die bewertenden Begriffe von den bloß deskriptiven Be-
griffen unterscheidet.

12
Die ursprüngliche Idee stammt von R. M. Hare, The Language of Moral (Fn. 11),
S. 121 ff., und wird fortgeführt bei Bernard Williams, Ethic and the Limits of Philosophy,
1985, Kap. 8: „Ethics“, in: A. C. Grayling (Hg.), Philosophy, Oxford, 1995, S. 546 – 582 und
„Truth en Ethics“, Ratio 8 (1985), S. 227 – 242. Vgl. hierzu auch Joseph Raz, „Notes on Value
and Objectivity“, in: Engaging Reason: On the Theory of Value and Action, 1999, Kap. 6.
13
Dieses Argument stammt von Carlos E. Alchourrón/Eugenio Bulygin, „Los Límites de
la lógica y el razonamiento jurídico“, in: Carlos E. Alchourrón/Eugenio Bulygin, Análisis
lógico del Derecho, 1991, S. 315 – 316. Der von Ferrajoli erwähnte Abschnitt der strafrecht-
lichen Norm scheint sich auf diese Annahme zu beziehen.
14
Vgl. Winfried Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts (Fn. 5), S. 179 –
181.
Gesetzlichkeitsprinzip und Rechtfertigungsgründe 151

Die verwendeten bewertenden Begriffe, die in der Formulierung der strafrechtli-


chen Tatbestände („ein besonders erniedrigender oder entwürdigender Charakter“,
§ 180 Abs. 2 des spanischen Strafgesetzbuchs; „besonders verletzbare Person“,
§ 180 Abs. 3 des spanischen Strafgesetzbuchs) sowie in der Formulierung der Recht-
fertigungsgründe stehen („Gefahr der unmittelbar bevorstehenden Zerstörung“, „un-
erlaubtes Eindringen“, „vernunftgemäße Erforderlichkeit des angewandten Mittels“,
„ausreichende Provokation“, § 20 Abs. 4 des spanischen Strafgesetzbuchs oder „um
ein eigenes oder fremdes Übel zu vermeiden“, § 20 Abs. 5 des spanischen Strafge-
setzbuchs), sind „bewertende Begriffe dichter Art“ und haben damit einen informa-
tiven Inhalt. Solche Begriffe sind vage, einige sogar von äußerster Vagheit.15 Dem-
nach ist die „Grauzone“ des Begriffes, d. h. der Bereich, in dem Zweifel über die An-
wendung des Begriffes vorliegen, sehr breit. Damit liegt das Problem der Nutzung
der bewertenden Begriffe in der strafrechtlichen Gesetzgebung nicht am fehlenden
informativen Inhalt, wie Ferrajoli behauptet, sondern viel mehr in ihrer hohen Vag-
heit.
Auf Grund dessen, dass die Vagheit eine intrinsische Eigenschaft der Sprache ist,
mit der wir die generellen Vorschriften formulieren, und, dass – wie ich zu beweisen
versucht habe – das Problem der bewertenden Begriffe an ihrem hohen Grad an Un-
bestimmtheit liegt, können wir behaupten, dass das Bestimmtheitsprinzip einen be-
stimmten Grad an semantischer Bestimmtheit verlangt. Dennoch kann diese Be-
stimmtheit nie vollkommen sein. Was für einen Grad an Präzision braucht man?
Wo liegt die Schwelle der ausreichenden Bestimmtheit? Wo liegt der Grad der ver-
fassungsmäßig mindestens erforderlichen Bestimmtheit?16 Solche Fragen hängen
nicht von dem Begriff des Bestimmtheitsgebots ab, sondern von seiner Rechtferti-
gung.

III. Die Rechtfertigung des Bestimmtheitsgebots


Dass die strafrechtlichen Gesetze bestimmt sind und dass sie dem Bestimmtheits-
prinzip untergeordnet sind, ist ein Teil des Ideals der Rechtssicherheit in der Aufklä-
rung. Nur klare und bestimmte Gesetze, die von ihren Adressaten erkennbar sind,
erlauben den Menschen, ihre Entscheidungen und ihre Lebenspläne mit Sicherheit
festsetzen zu können.17 Wenn wir uns nach den Gründen fragen, weswegen es wichtig
ist, dass die Personen ihre Entscheidungen und ihre Lebenspläne festsetzen können,
15
Denken wir an den unterschiedlichen Präzisionsgrad des ersten und des zweiten Tatbe-
standsmerkmals, die beide als strafverschärfende Gründe für die sexuellen Angriffe bei § 180
des spanischen Strafgesetzbuches vorgesehen sind. Während das erste Merkmal sich darauf
bezieht, dass die ausgeübte Gewalt oder Einschüchterung einen besonders erniedrigenden
oder entwürdigenden Charakter aufweisen, bezieht sich das zweite Merkmal auf Taten, die
durch das gemeinsame Handeln von zwei oder mehr Personen begangen sind.
16
Manuel Cobo del Rosal/Tomás S. Vives Antón, Derecho Penal, Parte General (Fn. 4),
S. 335: „Ein strafrechtliches Gesetz …, das nicht mit Bestimmtheit den Bereich des Strafbaren
feststellt, verstößt gegen die Verfassung“.
17
Anschaulich begründet bei Lon Fuller, The Morality of Law, 1969, Kap. II.
152 José Juan Moreso

gibt es nur eine mögliche Antwort, nämlich, dass das ein Weg ist, um Respekt für ihre
Autonomie zu zeigen18. Eine der grundlegenden Eigenschaften der Autonomie be-
steht eben darin, dass jeder in der Lage sein soll, die für ihn wichtigen Entscheidun-
gen und Lebenspläne allein festzusetzen19. In dem Maße, wie die strafrechtlichen
Normen unbestimmt sind, nimmt die Fähigkeit des einzelnen, sein eigenes Leben
zu planen und dabei das Strafrecht zu beachten, ab. Die Autonomie, so verstanden,
ist ein Prinzip der Rationalität. Angenommen, dass wir rationale Wesen mit der Fä-
higkeit sind, Ziele zu setzen und zu erreichen, ist es für uns von äußerster Wichtigkeit
zu wissen, was für Hindernisse der Erreichung unserer Ziele entgegenstehen kön-
nen.20 Demzufolge kann das Bestimmtheitsprinzip als eine der Dimensionen des Ge-
setzlichkeitsprinzips angesehen werden und, noch allgemeiner, als eine der Gewähr-
leistungen der Rechtstaats – Rule of Law –21. Diese Auffassung versteht das Straf-
recht als ein öffentliches Maßnahmenbündel, das sich gezielt an rationale Personen
richtet, um ihr Verhalten zu steuern und ihnen eine Grundlage für die soziale Zusam-
menarbeit zu geben. Es ist auch möglich, anhand dieser Kriterien die Verbindung
zwischen Bestimmtheit und Freiheit zu rekonstruieren. Wie John Rawls behauptet:
„Wird aber der Grundsatz, dass es kein Vergehen ohne ein Gesetz gibt, verletzt, etwa
durch ungenaue Vorschriften, so ist das, was man tun darf, ebenso ungenau bestimmt.
Die Grenzen unserer Freiheit sind ungewiss“22.
Es ist wichtig zu beachten, dass das Ideal an Rechtssicherheit aus drei Perspek-
tiven betrachtet werden kann: a) aus der Sicht der Bürger, b) aus der Sicht der Polizei
und c) aus der Sicht der strafrechtlichen Organe. Demgegenüber wurde manchmal
behauptet, dass die strafrechtlichen Normen nicht an die Bürger adressiert sind, son-
dern an die Richter. Wir werden hier davon ausgehen, dass ein verbotenes Verhalten
impliziert, dass dieses Verhalten eine strafrechtliche Sanktion voraussetzt, d. h., dass
dieses Verhalten ein Delikt oder eine Übertretung ist. Zugleich werden wir davon
ausgehen, dass die strafrechtlichen Normen in der Lage sind, das Verhalten der Bür-
ger zu steuern. Gewöhnlich bezieht sich die Klarheit der strafrechtlichen Normen,
aus der Sicht der Bürger, ausschließlich auf die Reduktion des Spielraumes der Po-
lizei und anderer strafrechtlicher Organe. Sie sind wie die zwei Seiten der gleichen
Münze: Je klarer die Norm ist, desto mehr Autonomie besteht für die Bürger und
desto weniger Spielraum für die Richter und die Polizei bei dem Verurteilen und
bei dem Verhaften von Bürgern. Dennoch gibt es Fälle, in denen dies nicht so zu
sein scheint: Eine strafrechtliche Norm kann festsetzen, dass bei bestimmten Um-
ständen, wie z. B. bei sozialen Unruhen, die Polizei in der Lage sei, von den Bürgern
das Verlassen bestimmter Zonen zu fordern und sie bei Missachtung festzuhalten und
18
Vgl. hierzu Andrew Ashworth, Principles of Criminal Law, Oxford, 1995, S. 67.
19
Vgl. hierzu Carlos Santiago Nino, Ética y derechos humanos, 1989 (2), S. 229.
20
Vgl. hierzu Joseph Raz, The Authority of Law, 1979, S. 27 (Fn. 27).
21
Joseph Raz (Fn. 19), S. 214 – 215.
22
John Rawls, A Theory of Justice, 1971, S. 279. Der auf Deutsch vorliegende Text ent-
spricht der deutschen Ausgabe: John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979, S. 270 –
271.
Gesetzlichkeitsprinzip und Rechtfertigungsgründe 153

nachträglich von einem Richter verurteilen zu lassen. Obwohl der Tatbestand dieser
Norm sowohl für die Bürger als auch für die Richter bestimmt ist – wenn die Polizei
den Befehl verkündet, eine bestimmte Zone zu verlassen, gibt es die Pflicht dem zu
folgen, und wenn jemand diesen Befehl missachtet, müssen die Richter ihn bestra-
fen –, zeigt sich dieser Tatbestand als unbestimmt für die Polizei und erhöht ihren
Spielraum.23
Aus diesem Grunde ist es wichtig hervorzuheben, dass die Forderung nach
Rechtssicherheit der strafrechtlichen Normen eine doppelte Dimension vorweist: Ei-
nerseits wendet sie sich an den Gesetzgeber, denn die strafrechtlichen Normen sollen
klar und bestimmt sein; andererseits wendet sie sich an die Polizei und an die Richter,
um ihre Spielräume für Festnahmen und Verurteilungen zu beschränken. Damit
zwingt man sie, das Gesetz zu respektieren und verbietet ihnen die analoge Anwen-
dung der strafrechtlichen Normen.24
Wir können uns fragen, ob diese Forderung nach Bestimmtheit extrem sein soll.
Es scheint plausibel, eine negative Antwort auf diese Frage zu geben. Eine extreme
Bestimmtheit könnte einen starken Kasuismus implizieren. Der Kasuismus zeigt sich
als problematisch, weil der Tatbestand einer Norm nicht alle möglicherweise vor-
kommenden bzw. nicht vorkommenden Fälle ein- bzw. ausschließen kann. Aus die-
sem Grund gilt der Satz: Je ungenauer die den Tatbestand rechtfertigenden Ziele sind,
desto größer ist die Gefahr der Ein- bzw. Ausschließung von allen möglichen vor-
kommenden bzw. nicht vorkommenden Fällen. Exemplarisch: In einem Restaurant
befindet sich ein Schild, auf dem steht: „Hunden ist der Zutritt nicht gestattet!“. Das
diese Regel rechtfertigende Ziel ist, den Kunden ein ruhiges Essen zu ermöglichen.
Nun ist es aber so, dass die Formulierung der Regel ein Zutrittsverbot für Blinden-
hunde impliziert, das vom Ziel der Regel aber nicht gerechtfertigt wird, während die
Formulierung gleichzeitig Tigern den Zutritt erlaubt, obwohl das Ziel, das die Regel
rechtfertigt, dem entgegensteht.25 Daraus entsteht das folgende Problem: Entweder
nehmen wir lediglich die allgemeinen rechtfertigenden Ziele der Regeln in die For-
mulierung der Regel auf (etwa, „Hunden Zutritt nicht gestattet, soweit es die Ruhe
der Kunden betrifft!“) und geben damit dem Regelanwender einen weiten Spiel-
raum; oder wir formulieren die Regel, ohne in ihr die rechtfertigenden Ziele zu nen-
nen und fassen so ausdrücklich auch Fälle, die nicht von dem rechtfertigenden Grund
abgedeckt werden, unter die Regel und lassen Fälle, die von dem rechtfertigenden
Grund eingeschlossen werden, außerhalb ihres Anwendungsbereichs. Es liegt
nahe, dass es die Übernahme des zweiten Lösungsansatzes voraussetzt, wenn man
23
Ein ähnlicher Sachverhalt, bei dem der US Supreme Court die sogenannte void-for-
vagueness doctrine angewendet hat: City of Chicago v. Morales (US Supreme Court, 10 June
1999).
24
Vgl. Jesús-María Silva Sánchez, Aproximación al Derecho penal contemporáneo, 1992,
S. 254.
25
Diese für alle generellen Regeln kennzeichnenden Merkmale (under- und over-inclu-
siveness) wurden von Frederick Schauer ausgearbeitet. Vgl. Frederick Schauer, Playing by the
Rules, Oxford, 1991, S. 31 – 34.
154 José Juan Moreso

menschliches Verhalten steuern will. Je ausführlicher und kasuistischer unsere For-


mulierung ist, desto größer wird die Gefahr von Schutzlosigkeit vor nicht in den Tat-
bestand einbezogenen Verhaltensweisen. Wiederum zeigt sich hier das Bestimmt-
heitsgebot als eine graduierbare Angelegenheit.
Wenden wir diese Ideen auf die strafrechtlichen Normen an. Wir merken, dass das
Problem der Schutzlosigkeit vor nicht in den Tatbestand einbezogenen Verhaltens-
weisen im Strafrecht relativ gering ist, da man davon ausgeht, dass strafrechtlich er-
laubt ist, was nicht strafrechtlich verboten wurde. Es gibt andere Mechanismen in der
Rechtsordnung, um die Verhaltensweisen, die außerhalb der abschließenden straf-
rechtlichen Regelungen liegen, zu verhindern. Dennoch spielt das Problem der Ein-
beziehung der über den Tatbestand hinausgehenden Verhaltensweisen eine wichtige
Rolle im Strafrecht. Zahlreiche Autoren haben bereits darauf hingewiesen, dass die
Erweiterung strafrechtlicher Tatbestände die Gefahr impliziert, dass das Gewiss-
heitsideal völlig verloren geht. Diese Gefahr entsteht aus der Tatsache, dass in diesen
Tatbeständen Fälle, die nicht von den rechtfertigenden Zielen gedeckt sind, einge-
schlossen sein können26.
Trotzdem ist es für das Thema, das wir betrachten wollen, nämlich die Rechtfer-
tigungsgründe, von besonderer Bedeutung, darauf hinzuweisen, dass die Funktion
solcher strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe darin liegt, ein strafrechtlich verbo-
tenes Verhalten, das – obwohl es unter einen Straftatbestand fällt – doch nicht von den
eine Bestrafung rechtfertigenden Gründen erfasst wird27, aus dem Anwendungsbe-
reich der strafrechtlichen Sanktionierbarkeit auszuschließen. Dabei ist es notwendig,
dass die Rechtfertigungsgründe in einer Weise formuliert werden, die es erlaubt, die
für die Haftungsausschließung sprechenden Argumente angemessen zu fundieren.
Dadurch wird vermieden, dass der Rechtfertigungsgrund seinerseits überbordend an-
gewendet wird.

IV. Fallbezogene Analyse und Rechtfertigungsgründe


Die erste Möglichkeit zur Lösung des dargelegten Trilemmas ist eine Forderung
nach Ausführlichkeit und Korrektheit bei den Rechtfertigungsgründen im Strafrecht.
Daraus könnte die Behauptung abgeleitet werden, dass Rechtfertigungsgründe für
alle der im zweiten und dritten Buch des spanischen Strafgesetzbuches vorliegenden
Tatbestände bestehen müssten. Wenn es nicht so wäre, hätten offensichtlich die straf-
rechtlichen Tatbestände eine generelle und, in diesem Sinn, eine unbestimmte For-
26
Vgl. hierzu Winfried Hassemer, „Kennzeichen und Krisen des modernen Strafrechts“,
ZRO (1992), S. 378 – 383; Jesús-María Silva Sánchez, Aproximación al Derecho penal
constemporáneo, (Fn. 22), S. 252 – 258.
27
Wie Hart es gedeutet hat: „Killing in self-defence is an exception to a general rule
making killing punishable, it is admitted because the policy or aims which in general justify
the punishment of killing do not include cases such as this.“ Vgl. hierzu H. L. A. Hart, Pun-
ishment and Responsibility, 1968, S. 13.
Gesetzlichkeitsprinzip und Rechtfertigungsgründe 155

mulierung. Diese Formulierung bezieht sich nämlich auf alle in den Tatbeständen
aufgenommenen Sachverhalte. Wie Claus Roxin aufzeigt28 :
„Sie greifen erstens über den jeweiligen Deliktstypus hinaus, gelten für alle Tatbestände
oder doch eine Vielzahl von ihnen und treffen ihre Regelungen daher nicht durch die Be-
schreibung deliktstypischer Lebensausschnitte, sondern durch die Aufstellung sozialer Ord-
nungsprinzipien (Güterabwägungsprinzip, Selbstschutzprinzip usw.).“

Dagegen könnte man einwenden, dass der strafrechtliche Gesetzgeber diese So-
zialordnungsprinzipien in die Struktur jedes Tatbestandes einbauen durfte, um das
von dem Bestimmtheitsprinzip geforderte Gewissheitsideal zu erhalten. Die Folge
ist der sogenannte Kasuismus, welcher seinerseits eine schwere Gefahr von Schutz-
losigkeit gegenüber den nicht in den Tatbestand einbezogenen Verhaltensweisen im-
pliziert. Dies bedeutete die Überschreitung der Hauptfunktion der Rechtfertigungs-
gründe im Strafrecht: die Einbeziehung der über den Tatbestand hinausgehenden ver-
botenen Verhaltensweisen auszuschließen29. Mit anderen Worten: Die von der For-
mulierung, aber nicht den Zielen des Tatbestandes erfassten Verhaltensweisen, die
auf Grund eines Übermaßes an Einzelheiten in der Formulierung auch nicht in die
Rechtfertigungsgründe aufgenommen wurden, wären und blieben rechtswidriges
Verhalten. Während einerseits bei der Formulierung des strafrechtlichen Tatbestan-
des wichtig ist, dass seine Formulierung nicht Verhalten, das über den Tatbestand hin-
ausgeht, einbezieht, ist andererseits bei der Formulierung der Rechtfertigungsgründe
von besonderer Bedeutung, dass ihre Formulierung Verhalten, das nicht in den
(Rechtfertigungs-)Tatbestand einbezogen wird, schutzlos lässt. Da der Kasuismus
die Schutzlosigkeit des nicht in den Tatbestand einbezogenen Verhaltens impliziert,
müssen wir eine ausführliche Formulierung der Rechtfertigungsgründe ablehnen.

V. Strafrecht ohne Rechtfertigungsgründe


Die zweite Möglichkeit zur Lösung unseres Trilemmas hat zwei Varianten: a) bei
der ersten geht es, da die Rechtfertigungsgründe sich nicht durch das Bestimmtheits-
prinzip rekonstruieren lassen, um die Entstehung eines Strafrechts ohne jegliche
Rechtfertigungsgründe; b) bei der zweiten geht es um die Entstehung eines ausdrück-
lichen Strafrechtes ohne explizite Rechtfertigungsgründe, bei dem den rechtsanwen-

28
Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1, 2006, S. 289.
29
Man kann gegen das, was gerade gesagt wurde, argumentieren, dass der Gesetzgeber die
Rechtfertigungsgründe manchmal (wie bei den Vorschriften über den Schwangerschaftsab-
bruch des § 147-bis des früheren spanischen Strafgesetzbuchs, welcher immer noch wegen der
Abschaffungsvorschrift 1.a) des geltenden Strafgesetzbuchs in Geltung ist) ausführlich nie-
derschreibt. Zwei Elemente sind hier von besonderer Bedeutung: einmal, ob die jeweilige
Regelung für die Gesamtheit der strafrechtlichen Tatbestände gilt, und weiter, ob diese Re-
gelung die Rechtfertigungsgründe genereller Art unanwendbar macht. Meine Antwort zu
beiden Elementen lautet: nein.
156 José Juan Moreso

denden Organen die Kompetenz zukommt, die Täter, angesichts der konkreten Sach-
verhaltsumstände, freizusprechen.
Die erste Variante wurde, soweit ich weiß, noch von niemandem vertreten. Sie
impliziert einen so weitgehenden dogmatischen Standpunkt zur Bestimmtheit,
dass sie nicht mehr zu vertreten ist. Das Bestimmtheitsideal ist nicht das einzige
Ideal, das das Strafrecht verlangen muss. Zum Beispiel: Die Vorschriften in einem
Konzentrationslager können sehr bestimmt formuliert sein, dennoch wird damit
das Leben in diesem Konzentrationslager nicht besser.30 Weiterhin muss das Be-
stimmtheitsideal, da es seine Rechtfertigung im Autonomieprinzip finden soll, mit
den weiteren Idealen, die mit der Privatautonomie verbunden sind, in Einklang ge-
bracht werden. Meine Privatautonomie endet, wenn ich mich z. B. nicht vor fremden
Eingriffen verteidigen kann, ohne ein Straftat zu begehen. Den Normadressaten für
ein selbständiges Wesen zu halten, bedeutet, die Annahme in Kauf zu nehmen, dass
Konflikte zwischen den Rechtgütern, die man schützen will, entstehen können und
dabei Lösungskriterien für diese Konflikte anzubieten. Einem Strafrecht ohne Recht-
fertigungsgründe mangelt es an Lösungskriterien für die erwähnten Konflikte (es
setzt sogar keine Konflikte voraus). Demzufolge greift ein solches Strafrecht in
die Autonomie, die das Bestimmtheitsideal rechtfertigt, ein.
Die zweite Variante scheint plausibler. Dies kann man an Luigi Ferrajolis Auffas-
sung sehen. Da Luigi Ferrajoli behauptet, dass die Anwendung bewertender Begriffe
nicht überprüfbar ist, scheint es nicht ungewöhnlich, dass dieser Autor keinen be-
sonderen Platz für die Betrachtung der Rechtfertigungsgründe in seiner Theorie
einräumt. Er möchte das Problem der Einbeziehung von über den Tatbestand hinaus-
gehendem Verhalten anhand der von ihm sogenannten „Macht der Richter, die fall-
bezogenen Umstände zu identifizieren“, und der „Gerechtigkeitsbehauptung des
Richters“31 rekonstruieren. Laut Ferrajoli steht dem Richter, sobald ein bestimmtes
Verhalten als individueller Fall eines generellen Falles festgestellt ist, die Möglich-
keit zu, den Täter angesichts der fallbezogenen Eigenschaften nicht zu bestrafen. Es
ist mir nicht klar, welchen Sinn diese „Macht der Richter, die fallbezogenen Umstän-
de zu identifizieren“ hat. Im Gegenteil, der Richter muss angeben, welche Merkmale
des generellen Falles für einen strafrechtlichen Freispruch zutreffen. Dies impliziert
eine Darstellung dieser Merkmale und damit eine Kennzeichnung (Denotation).
Dennoch ist es klar, dass es hier wichtig ist, dass der Richter auch Merkmale betrach-

30
Ein Einwand gegen Lon Fullers Auffassung (Fn. 16) kann bei Matthew Kramer, In De-
fense of Legal Positivism, 1999, Kap. 2, gefunden werden. Dabei will Kramer zeigen, dass ein
ungerechtes System auch die Voraussetzungen der inneren Moralität des Rechts respektieren
kann.
31
Luigi Ferrajoli, Diritto e Ragione, Teoria del garantismo penale, (Fn. 9), S. 135 – 160. In
diese Richtung auch Rafael Hernández Marín, der, obwohl er die Rolle der Bestimmtheit in
den Vordergrund stellt, sie mit der Möglichkeit ergänzt, dass die hochrangigen Gerichtshöfe
Contra Legem-Entscheidungen treffen können, soweit diese Entscheidungen das Recht der
Dritten nicht verletzen. Rafael Hernández Marín, Introducción a la teoría de la norma jurídica,
1998, S. 141 – 146.
Gesetzlichkeitsprinzip und Rechtfertigungsgründe 157

tet, die nicht in der Tatbestandsformulierung eingeschlossen sind. Ferrajoli selbst be-
trachtet in einem seiner Beispiele32 als Voraussetzung dieser „Macht der Richter, die
fallbezogenen Umstände zu identifizieren“, einen Mundraub, welcher üblicherweise
als Notstand eingestuft wird. Das bedeutet, dass für Ferrajoli ein Strafrecht ohne aus-
drückliche Rechtfertigungsgründe möglich wäre, wobei dem Richter die Macht zur
Verfügung steht, jeden angesichts der fallbezogenen Umstände freizusprechen, ob-
wohl ein tatbestandsmäßiges Verhalten vorliegt.
Der von Ferrajoli dargestellte Vorschlag ähnelt der Konzeption der Notwehr im
englischen Recht. Laut Ashworth ist die einzige Voraussetzung, die die englischen
Gerichtshöfe machen, um den self defence-Rechtfertigungsgrund anzunehmen, die
Vernünftigkeit (reasonableness). Dies impliziert, wie Ashworth hervorhebt, dass
das Bestimmtheitsprinzip im englischen Recht nicht mit einer gerechten Anwendung
von Zwang verbunden ist33.
Ein Strafrecht ohne explizite Rechtfertigungsgründe, bei dem aber die Richter
dazu ermächtigt sind, Täter trotz der Erfüllung der Tatbestandsmerkmale freizuspre-
chen, respektiert die Voraussetzung, dass die Einbeziehung von über den Tatbestand
hinausgehendem verbotenen Verhalten zu vermeiden ist. Dies hat aber einen hohen
Preis, nämlich die erhebliche Erhöhung des richterlichen Spielraums (sowie die Un-
gewissheit, wann eigentlich ein Verhalten als gerecht angesehen werden wird), was
einen Mangel an Stringenz und an Systematik bei der richterlichen Entscheidungs-
findung als unausweichliche Folge mit sich bringt. Weiterhin wird die Behauptung
übersehen, dass die Strafe auch mit dem Bestimmtheitsgebot verbunden ist. Wenn
man die Grenzen der Tatbestände nicht klar festlegt, dann verstößt dies auch
gegen das Bestimmtheitsgebot.

VI. Die Reichweite des Bestimmtheitsprinzips


in Bezug auf Rechtfertigungsgründe
Das dritte Horn des Trilemmas besteht darin, die Kraft des Bestimmtheitsprinzips
bei der Formulierung der Rechtfertigungsgründe zu mildern. Das geringere Maß an
Bestimmtheit bei der Formulierung der strafrechtlichen Tatbestände muss höher als
das Maß an Bestimmtheit bei der Formulierung der Rechtfertigungsgründe sein. Der
Grund dafür kann aus den Einwänden gegen die anderen Hörner des Trilemmas ab-
geleitet werden: Die Formulierung der Rechtfertigungsgründe muss die Behauptung
der Straflosigkeit aller Fälle, die nicht in ihr aufgenommen wurden, bereits beinhal-
ten. Um dies zu ermöglichen benötigt man flexible Rechtfertigungsgründe, d. h. sol-

32
Ebd., S. 139.
33
Andrew Ashworth, Principles of Criminal Law (Fn. 19), S. 136: „This indicates that the
principle of maximum certainty is not followed in the English law in justifiable force“.
158 José Juan Moreso

che, die sich an jeden neuen Umstand anpassen können.34 Das setzt voraus, dass die
Formulierung der Rechtfertigungsgründe einige generelle Grundsätze festlegt, die es
einerseits erlauben, strafrechtlich verbotenes Verhalten, dem kein Rechtfertigungs-
grund zugrunde liegt, auszuschließen, und anderseits Einschränkungen des Entschei-
dungsspielraums des Richters einzuführen und klar festzustellen, wann ein Verhalten
gerechtfertigt ist.
Dies spiegelt die Auffassungen von Andrew Ashworth und Claus Roxin wider.
Ashworth behauptet, dass es angemessen ist (im Entwurf eines Criminal Codes)
einen Komplex von Prinzipien und Unteregeln, die die Rechtfertigungsgründe kon-
kretisieren, auszuarbeiten35.
„Moreover, legal certainty is important from the point of view of producing consistent and
principled court decisions, as well as guiding the conduct of citizens. The approach of the
draft Criminal Code in seeking to articulate some distinct principles and sub-principles is
therefore to be welcomed. Greater legislative guidance of this kind would cover some recur-
rent issues which ought properly to be determined in a principled rather than an ad hoc fa-
shion“.

Auch Roxin ist dieser Meinung. Laut Roxin dürfen die Rechtfertigungsgründe
dem Bestimmtheitsprinzip nicht in der gleichen Weise unterzogen werden wie die
Formulierung der strafrechtlichen Tatbestände36.
„Unter diese leitenden Prinzipien ist bei der Rechtsfindung nicht wie unter Tatbestands-
merkmale zu subsumieren, sondern sie sind am Rechtsstoff konkretisierend zu entfalten.
Die dem nullum-crimen-Grundsatz entsprechende Auslegung ist daher bei ihnen nicht an

34
Dies wird zum Beispiel in der Milderung der Anforderungen an die „gegenwärtige Ge-
fahr“ bei der Formulierung des Notstandes und Fällen von häuslicher Gewalt deutlich. Vgl.
hierzu in der spanischen strafrechtlichen Doktrin Elena Larrauri, „Violencia doméstica y
legítima defensa un caso de aplicación masculina del derecho“, in: E. Larrauri/D. Varona,
Violencia doméstica y legítima defensa, Barcelona, 1995, S. 9 – 88; ferner Heidi Hurd, „Moral
Rights and Legal Rules: A Natural Law Theory“, Legal Theory 6 (2000), S. 423 – 455, 427 ff.
35
Andrew Ashworth, Priciples of Criminal Law (Fn. 17), S. 136.
36
Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, (Fn. 27), S. 289. In die gleiche Richtung auch
George P. Fletcher, „The Nature of Justification“, in: Stephen Shute/John Gardner/Jeremy
Holder (Hg.), Action and Value in Criminal Law, Oxford1993, S. 175 – 186, 180: „The legis-
lation has a function in the field of justification […] which is different from its role in ren-
dering as precise as possible the elements of offence. […] Accordingly, these provisions
governing justifying criteria may admit of a degree of vagueness that would be intolerable
under the due process principle of ,fair warning‘, requiring that criminal offences be defined
with sufficient specificity to advise common people of their rights and obligations“; Ángel J.
Sanz Morán, „Teoría general de la justificación“, Revista Penal 5 (2000), S. 74 – 89, 78 f.:
„[…] Bestimmtheitsgebot bzw. Taxativität bei der Formulierung der strafrechtlichen Tatbe-
stände entkräften sich, wenn es um Ausschließungsvoraussetzungen (Milderung) der straf-
rechtlichen Haftung geht“; Víctor Ferreres Comella, El principio de taxatividad en materia
penal (una perspectiva constitucional), (Fn. 3): „Ein liberales strafrechtliches Rechtssystem
muss ein gewisses Maß an Unbestimmtheit zugunsten der Verdächtigen haben. Diese Unbe-
stimmtheit liegt in den Tatbestandselementen der Umstände zur Haftungsbefreiung (Recht-
fertigungs- und Ausschließungsgründe)“.
Gesetzlichkeitsprinzip und Rechtfertigungsgründe 159

die Wortlautgrenze, sondern nur an die den jeweiligen Rechtfertigungsgründen immanenten


Ordnungsprinzipien gebunden […]“.

Der von Roxin gegebene Hinweis besteht darin, dass es bei den Anwendungsfäl-
len der Rechtfertigungsgründe nicht um einen Subsumtionsvorgang, sondern um
einen der Prinzipienabwägung ähnlichen Vorgang geht. Die Rechtfertigungsgründe
liefern nur die generellen Grundsätze, mit denen der Richter eine fallbezogene
Gruppe von Regeln rekonstruieren soll. Diese Gruppe von Regeln hebt hervor, wel-
che relevanten Merkmale die Anwendung der Rechtfertigungsgründe möglich bzw.
unmöglich machen. Der Richter muss seine Entscheidung soweit wie möglich mit
seinen früheren und zukünftigen Entscheidungsergebnissen in Einklang bringen.
Dennoch wird er in der Lage sein, neue Argumente über die Relevanz eines der fall-
bezogenen Merkmale einzuführen37.
Uns scheint es, dass das dritte Horn des Trilemmas der richtige Weg ist, um gerade
dieses lösen zu können. Es impliziert eine Reduktion der Reichweite des Bestimmt-
heitsprinzips, um die Ausschließung des außerhalb der Rechtfertigung der Norm lie-
genden verbotenen Verhaltens zu begünstigen. Das dritte Horn des Trilemmas impli-
ziert auch einen hohen Grad an Beachtung des Autonomieprinzips. Das Autonomie-
prinzip fordert einerseits, dass das Verhalten der Normadressaten ausführlichen und
präzisen Formulierungen untergeordnet sei, und andererseits setzt es voraus, dass die
Normempfänger als vernünftige Wesen zu behandeln sind. Ein vernünftiges Verhal-
ten ist notwendigerweise ein gerechtfertigtes Verhalten38.

VII. Strafrecht und Moralität


Es ist bekannt, dass die Hauptthese des Rechtspositivismus die Trennung zwi-
schen Recht und Moral impliziert39. Allerdings wäre es möglich zu behaupten,
dass die auf moralischen Argumenten beruhenden Rechtfertigungsgründe im Straf-
recht in Widerspruch zur rechtspositivistischen Auffassung stehen.
Zunächst will ich erläutern, was die Trennungsthese nicht behauptet. Diese These
behauptet nicht, dass der Bereich des Rechts (hier Strafrecht) und der Bereich der
Moral unterschiedlich sind. Sowohl die Moral als auch das Strafrecht verbieten
z. B. den Mord, die Vergewaltigung, die körperlichen Verletzungen usw. Es ist
37
Über die Abwägung vgl. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main,
1986, S. 143 – 157. Einen Vorschlag, die Abwägung als einen notwendigen Schritt vor der
Subsumtion zu verstehen, macht José Juan Moreso, „Conflictos entre principios constitucio-
nales“, in: La Constitución: modelo para armar, 2009, S. 267 – 284.
38
Die Menschen für verantwortungsfähige Wesen zu halten, impliziert notwendigerweise,
sie für autonome Wesen zu halten. Vgl. hierzu Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960,
S. 95 – 102; Lon Fuller, The Morality of Law (Fn. 16), S. 162; John Rawls, A Theory of
Justice, (Fn. 21), S. 241.
39
Vgl. hierzu H. L. A. Hart, „Positivism and the Separation of Law and Morals“ [1958] in:
H. L. A. Hart, Essays in Jurisprudence and Philosophy, 1983, S. 21 – 48.
160 José Juan Moreso

wahr, dass einige Vertreter des Naturrechtes behaupteten, dass die Reichweite der
Moral identisch mit der Reichweite der geistigen Absichten sei, während das
Recht sich mit externen Handlungen beschäftige. Dies ist aber eine unhaltbare
These. Auch die Moral hält eine Mutter, deren weinende kleine Tochter in der Ba-
dewanne ertrinkt, für verwerflicher als eine Mutter, die das nur will, aber es nicht
tut. Das Recht hält auch eine Mutter, die vorsätzlich ihre kleine Tochter in der Ba-
dewanne ertränkt, für verwerflicher als diejenige Mutter, die nachlässig das Ertrinken
ihrer kleinen Tochter in der Badewanne verursacht. In diesem Sinne sind Recht und
Moral nicht unterschiedlich.
Zweitens habe ich bereits zwischen den Gründen, die die Norm rechtfertigen, und
der Norm an sich unterschieden. Ich bezeichne die ersteren als „zugrundeliegende
Gründe“ und das zweite als „ausschließende Gründe“. Dennoch ist es offensichtlich,
dass die „zugrundeliegenden Gründe“ eine moralische Natur aufweisen. Damit kön-
nen die Rechtspositivisten nicht bestreiten, dass die rechtfertigenden Gründe einer
Norm eine moralische Natur haben40.
Dennoch gibt es zur aktuellen Problematik des Rechtspositivismus eine Ausein-
andersetzung, die mit unserer Diskussion über die Rechtfertigungsgründe verbunden
ist. Es geht um die Auseinandersetzung zwischen dem exklusiven Rechtspositivis-
mus und dem inklusiven Rechtspositivismus41. Der exklusive Rechtspositivismus be-
hauptet, dass man auf moralische Argumente verzichten kann, um das geltende Recht
zu identifizieren. Aus diesem Grund hängt die rechtliche Gültigkeit der Normen
nicht von ihrer moralischen Angemessenheit ab. Mehr noch: Wenn das Recht mora-
lische Begriffe nutzt, impliziert es die Einräumung eines Entscheidungsspielraums
für die rechtsanwendenden Organe. Der inklusive Rechtspositivismus behauptet
im Gegenteil, dass dann, wenn das Recht gelegentlich moralische Begriffe benötigt,

40
Eine Ausnahme wären diejenigen Autoren, die behaupten, dass es erlaubt ist, dass das
Strafrecht die Leute als bloße Objekte behandelt, und die für eine Abschaffung von Begriffen
wie „Haftung“ sind. Solche Ideen finden sich z. B. in der Law and Economics Theorie. Vgl.
hierzu Richard Posner, The Problems of Jurisprudence, 1990, Kap. 5.
41
Für eine weitere Betrachtung dieser Diskussion vgl. José Juan Moreso, „In Defense of
Inclusive Legal Positivism“, in: Pierluigi Chiassoni (Hg.), The Legal Ought, Torino, 2001,
S. 37 – 64. Der Hauptvertreter des exklusiven Rechtspositivismus ist Joseph Raz (vgl. infra
und Fn. 41). Die Entstehung des inklusiven Rechtspositivismus findet sich bei Genaro R.
Carrió, Principios jurídicos y positivismo jurídico, 1971; David Lyons, „Principes, Positivism
and Legal Theory“, Yale Law Journal 87 (1977), S. 415 – 436; Philip Soper, „Legal Theory
and Obligation of the Judge; The Hart/Dworkin Dispute“, in: Michigan Law Review 75
(1977), S. 511 – 542. Zu einer systematischen Entwicklung vgl. Jules L. Coleman, „Negative
and Positive Positivism“, in: Journal of Legal Studies 11 (1982), S. 139 – 162; ders., „On the
Relationship between Law and Morality“, in: Ratio Juris 2 (1989) S. 66 – 78; ders., „Authority
and Reason“, in: Robert P. George (Hg.), The Autonomy of Law, 1996, S. 287 – 319; ders.,
„Second Thoughts and Other First Impressions“, (Fn. 9), S. 258 – 278; ders., „Incorporatio-
nism, Conventionality, and the Practical Difference Thesis“, in: Legal Theory 4 (1998),
S. 381 – 426; W. J. Waluchow, Inclusive Legal Positivism, Oxford, 1994. Auch in diese Rich-
tung läuft der sogenannte „soft-positivism“, vgl. hierzu H. L. A. Hart, „Postscript“, in: The
Concept of Law, 2. Aufl., 1994.
Gesetzlichkeitsprinzip und Rechtfertigungsgründe 161

die Moral meist eine entscheidende Rolle bei der Feststellung, was das Recht vor-
schreibt, und bei der Beschränkung des richterlichen Entscheidungsspielraums
spielt.
Einer der Hauptvertreter des exklusiven Rechtspositivismus ist Joseph Raz. Die
zentrale These Razs bezieht sich auf das Autoritätsargument. Dieses Argument ist
das Kernstück seiner gesamten Rechtsauffassung.42 Das Autoritätsargument Razs
lässt sich wie folgt schematisieren: Eine philosophische Doktrin des Rechts muss
uns dabei helfen, die relevanten Aspekten des Rechts zu erfassen. Das entscheidende
kennzeichnende Merkmal, um das Recht von anderen Zwangsordnungen, z. B. einer
Mafiaorganisation, zu differenzieren, ist der Anspruch auf Autorität. Die Autoritäts-
träger beanspruchen Legitimität für die von ihnen erlassenen Normen, d. h., dass
diese Normen verbindlich für die Mitglieder der Gesellschaft sein können. Dies
aber gewährleistet nicht, dass die Autoritätsträger selber legitimiert sind. Dennoch
sind die Gründe, um einen Räuber von einem Autoritätsträger zu unterscheiden,
die autoritätsrechtfertigenden Gründe. Die Kennzeichnung als Autoritätsträger im-
pliziert die Kompetenz, verbindliche Normen zu erlassen. Damit muss eine philoso-
phische Doktrin in der Lage sein zu erklären, was eigentlich die Autorität ist und
unter welchen Voraussetzungen sie sich ergibt.
Raz zufolge ist die einzige Auffassung, die in der Lage ist, die Autorität des Rechts
zu erklären, eine positivistische Betrachtung. Die zentrale Struktur dieses Argumen-
tes lautet: Die normativen autoritätstragenden Organe haben eine praktische Natur,
d. h. ihre Normen modifizieren unsere Gründe zu agieren. Zum Beispiel erkennen wir
keine Autorität eines geisteskranken Mannes an, die Höhe unserer Steuern an den
Staat festzulegen. Wenn eine solche Person uns auffordert, zwanzig Prozent unseres
Einkommens als Steuern an den Staat zu bezahlen, ist diese Forderung kein Grund,
um das zu tun. Wenn hingegen das Parlament uns entsprechend auffordert, entsteht
ein Grund das zu tun.
Die geltenden Normen sind ausschließende Gründe. Sie verdrängen unsere eige-
nen Gründe. Eine Norm zu akzeptieren bedeutet, dass wir ein bestimmtes Verhalten
an den Tag legen sollen, sogar gegen unseren eigenen Willen. Die autoritätstragenden
Organe erlassen in ihrer präskriptiven Funktion Handlungsnormen. Normalerweise
versuchen die autoritätstragenden Organe soziale Probleme bzw. Konflikte anhand
ihrer Normen zu lösen. Die Rechtfertigung ihrer Normen hängt mit den Gründen,
die die Personen haben, um ihr Verhalten zu steuern, eng zusammen. Die Vorschrif-
ten eines autoritätstragenden Organs finden ihre Rechtfertigung bei den Gründen, die
Konflikte zu lösen.
Daher nennt Raz seine Doktrin die „Konzeption der Autorität als Dienst“. Ihr
kennzeichnendes Merkmal ist das Verlangen, dass die Kompetenz der autoritätstra-
genden Organe auf den Annahmen beruht, dass Vorschriften der autoritätstragenden

42
Vgl. hierzu Joseph Raz, The Morality of Freedom, 1986, insbesondere Kap. 2 – 3; ders.,
„Authority, Law and Morality“, in: Ethics in the Public Domain, 1994, S. 194 – 221.
162 José Juan Moreso

Organe es uns erlauben, mit diesen Vorschriften unser Verhalten besser zu steuern als
ohne sie. Die autoritätstragenden Organe helfen uns, indem sie die zugrunde liegen-
den Gründe für unser Handeln in Normen konkretisieren. Dieses Merkmal wird als
„Abhängigkeitsthese“ bezeichnet. „Die Konzeption der Autorität als Dienst“ impli-
ziert auch eine notwendige Voraussetzung, um den Einwand gegen die Relevanz der
autoritätstragenden Organe zu überwinden. Die Autorität hat einen Sinn, soweit wir
unser Verhalten durch ihre Normen steuern lassen, statt unseren eigenen Einschät-
zungen zu folgen. Dieses Merkmal ist die sogenannte These der normativen Recht-
fertigung. Demzufolge impliziert die Anerkennung der Autorität eines Organs die
Anerkennung der von ihm erlassenen Normen als „verdrängende Gründe“ – bei
Raz: ausschließende Gründe –, d. h. Normen, die unsere eigenen Einschätzungen
über Gründe zum Agieren verdrängen. Die von dem autoritätstragenden Organ erlas-
senen Normen sind keine lediglich zusätzlichen Gründe, um unsere eigene Interes-
sengewichtung zu steuern, sondern ihre Funktion liegt genau darin, unsere eigene
Einschätzung zu ersetzen. Aus diesem Grund wird dieses Merkmal als die These
der Ersetzung bezeichnet.
Eine Person hat nur unter der Voraussetzung Autorität, dass die notwendigen au-
toritätszuschreibenden Umstände vorliegen. Einer dieser Umstände ist die Möglich-
keit, die von ihr getroffenen Entscheidungen bekanntzumachen. Diese Entscheidun-
gen spiegeln – wenn das autoritätstragende Organ dafür legitimiert ist – die zugrunde
liegenden Gründe wider, in einer bestimmten Situation zu agieren. Dies setzt voraus,
dass die von dem autoritätstragenden Organ erlassenen Normen ohne Zuhilfenahme
einer Abwägung der Gründe identifiziert werden können. Daraus folgt, dass nur eine
Rechtstheorie, die das Recht frei von moralischen Argumenten versteht, die Autorität
des Rechts richtig rekonstruieren kann. Die social sources-These zu verlassen bedeu-
tet – laut Raz – die Autorität des Rechts außer Betracht zu lassen. Deswegen lässt sich
die Auseinandersetzung zwischen exklusivem und inklusivem Rechtspositivismus
zugunsten des exklusiven Rechtspositivismus lösen, weil dieser die einzige Konzep-
tion ist, die die Natur des Rechts erfassen kann.
Es ist wichtig zu bemerken, dass bei Razs Argumentation die Rechtfertigungs-
gründe keine vollständigen „ausschließenden Gründe“ sind. Der Grund dafür besteht
darin, dass, um die Rechtfertigungsgründe anzuwenden, moralische „zugrunde lie-
gende Gründe“ nötig sind. Deswegen bleiben für Raz nur zwei Möglichkeiten offen,
nämlich das erste und das zweite Horn des Trilemmas. Das heißt, entweder sind die
Rechtfertigungsgründe so ausführlich zu formulieren, dass ihr Inhalt ohne den Rück-
griff auf die moralischen „zugrundeliegenden Gründe“ feststellbar wird, oder die
ausdrückliche Formulierung der Rechtfertigungsgründe ist mit der Hoffnung zu ver-
werfen, dass der Entscheidungsspielraum der Richter verhindert, Personen ohne „zu-
grundeliegende Gründe“ zu bestrafen.
Wir haben die Schwierigkeiten, die die beiden Hörner des Trilemmas überwinden
müssen, schon dargestellt. Diese Schwierigkeiten bilden ein indirektes Argument zu-
gunsten des Rechtspositivismus. Francisco Laporta hat darauf hingewiesen, dass ge-
Gesetzlichkeitsprinzip und Rechtfertigungsgründe 163

rade beim Strafrecht die moralische Argumentation eine zentrale Rolle gewonnen
hat. „Die strafrechtlichen Normen verlangen eine praktische Argumentation, die
sehr ähnlich zu der moralischen Argumentation ist“43. Dennoch gibt derselbe
Autor zu44:
„Die moralischen Normen, die in dem Rechtssystem Geltung haben, besitzen diese Geltung
nicht auf Grund ihres moralischen Charakters, d. h., nicht wegen ihrer eigenen ethischen
Wichtigkeit, sondern, weil eine ausschließlich positive Norm des Systems ihnen diese Qua-
lität zuschreibt. Dieser Hinweis begründet die notwendige Verbindung zwischen Recht und
Moral und gleichzeitig, dass die Normen der modernen Rechtsnormen häufig moralische
Elemente enthalten“.

Das Strafrecht bezieht sich, wenn es um Rechtfertigungsgründe geht, auf die „zu-
grundeliegenden Gründe“ gerade weil dies der einzige Weg ist, die Einbeziehung des
über den Tatbestand hinausgehenden Verhaltens, das nicht in diese Gründe aufge-
nommen wurde, auszuschließen. Ein Strafrecht, das solchen Grundsätzen unterwor-
fen ist, muss sich an eine moralische Argumentation, d. h. an die moralischen „zu-
grundeliegenden Gründe“, anpassen. Damit versuchen diese Gründe die rechtanwen-
denden Organe nicht zu einer strikten Version des Bestimmtheitsprinzips zu zwin-
gen, sondern an einen nicht strikten Entscheidungsfindungsspielraum, der mit der
Konsistenz und der Systematik verbunden ist, zu binden.

VIII. Fazit
In meiner Argumentation habe ich versucht, die Übernahme des dritten Horns des
dargelegten Trilemmas zu begründen, das heißt, die Reichweite des Bestimmtheits-
prinzips in Bezug auf Rechtfertigungsgründe zu mildern. Es liegen Gründe vor, um
die Existenz einer Schwelle zu begründen, wobei das zu verlangende Maß an Be-
stimmtheit bei der Formulierung der strafrechtlichen Tatbestände höher sein muss
als die entsprechenden Anforderungen an die Bestimmtheit bei der Formulierung
der Rechtfertigungsgründe. Die Gründe dafür sind die folgenden: Während einer-
seits bei der Formulierung der strafrechtlichen Tatbestände die Bestimmtheit ein ge-
wisses Maß an Schutzlosigkeit der nicht in den Tatbestand einbezogenen Verhaltens-
weisen verursachen kann, kann andererseits bei der Formulierung der Rechtferti-
gungsgründe das von der Bestimmtheit verursachte Maß an Schutzlosigkeit der
nicht in den Tatbestand einbezogenen Verhaltensweisen schwerer wiegen, da die For-
mulierung implizierte, dass einiges zu rechtfertigende Verhalten strafbar wäre. Aus
diesem Grund ist es notwendig, eine breite und flexible Formulierung der Rechtfer-
tigungsgründe zu schaffen, die in der Lage ist, all die Fälle, bei denen kein Grund
vorliegt zu bestrafen, zu umfassen.

43
Francisco Laporta, Entre el derecho y la moral, 1993, S. 62.
44
Ebd., S. 61.
164 José Juan Moreso

Eine breite und flexible Formulierung (die alle bewertenden Begriffe einschließt)
führt bei vielen Anwendungsfällen der Rechtfertigungsgründe zu einer starken Ähn-
lichkeit zwischen der juristischen Rechtfertigung und einer moralischen Rechtferti-
gung. Hier besteht ein notwendiger Zusammenhang, weil die Einführung von flexi-
blen Kriterien es erlaubt, den Rechtsanwender an die zugrundeliegenden Gründe zu
binden, und diese Gründe haben meistens einen moralischen Charakter. Der inklu-
sive Rechtspositivismus erfasst diese Konstellation am besten.
Es wurde auch für ein gewisses Maß an Bestimmtheit bei der Formulierung der
Rechtfertigungsgründe argumentiert und gegen einen schrankenlosen Entschei-
dungsspielraum der rechtanwendenden Organe. Dass das Strafrecht die Kriterien
setzt, anhand derer die autoritätstragenden Organe die „zugrundeliegenden Gründe“
anwenden können, scheint mir von äußerster Bedeutung, um die Systematizität und
die Konsistenz der institutionellen Entscheidungen gewährleisten zu können. Auf
diese zwei Merkmale (Systematizität und Konsistenz) kann keine Entscheidungspro-
zedur verzichten.
Rechtfertigung und Bestimmtheit
Ingeborg Puppe

I. Einleitung
Auf kaum einem anderen Gebiet des Strafrechts ist die Grenze zwischen erlaub-
tem und verbotenem, strafbarem und straffreiem Verhalten so weit vom Ideal der ge-
setzlichen Bestimmtheit entfernt, wie bei den Rechtfertigungsgründen. Das liegt
zum Teil in der Natur der Sache. Denn bei der Rechtfertigung geht es stets um die
Entscheidung eines Konflikts zwischen grundsätzlich legitimen Interessen, also
um eine Interessenabwägung. Für diese Abwägung kann der Gesetzgeber die Ge-
sichtspunkte aufzählen, die gewissermaßen in die Waagschalen zu werfen sind
sowie die Maßstäbe angeben, nach denen die Abwägung vorzunehmen ist und
zwar von Rechtfertigungsgrund zu Rechtfertigungsgrund verschieden. Aber die Ab-
wägung im Einzelfall muss er am Ende doch dem Richter überlassen. Darüber hinaus
bestehen aber bei den Rechtfertigungsgründen weitere richterliche Entscheidungs-
spielräume, die vermeidbar wären, wenn Gesetzgeber und Richter die Grundprinzi-
pien der einzelnen Rechtfertigungsgründe klarer herausgearbeitet und konsequenter
angewandt hätten, als sie es tun. Dies soll hier anhand der beiden wichtigsten Not-
rechte, der Notwehr und des allgemeinen, sogenannten aggressiven, Notstandes de-
monstriert werden.
Bei der Notwehr hat sich die Rechtsprechung in Deutschland mit den sog. rechts-
ethischen Einschränkungen des Notwehrrechts praeter legem zusätzliche Entschei-
dungsspielräume eröffnet, die im Wortlaut des Gesetzes heute, notdürftig genug und
unbestimmt genug, durch das Erfordernis der sog. Gebotenheit der Notwehr veran-
kert werden.1 Sind die gesetzlichen Voraussetzungen der Notwehr erfüllt, wollen
aber die Gerichte dem Angegriffenen doch nicht das volle Notwehrrecht zuerkennen,
so stellen sie eben fest, dass im vorliegenden Fall diese Notwehr gleichwohl „nicht
geboten“ war. Es soll gezeigt werden, dass diese Generalklausel zur Einschränkung
des Rechts auf Notwehr bei dessen richtigem Verständnis nicht nötig ist.
Im Gegensatz zur gesetzlichen Regelung der Notwehr besteht bei der des allge-
meinen, sog. aggressiven Notstandes ein unabweisbares Bedürfnis nach einer Ein-
schränkung praeter legem, denn die gesetzliche Regelung ist schon im Ansatz viel
1
Vgl. dazu Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Aufl. 2006, § 15 Rn. 55; kritisch
dazu Münchener Kommentar/Erb, StGB Band 1, 2003, § 32 Rn. 179; Nomos Kommentar/
Paeffgen, StGB Band 1, 3. Aufl. 2010, Vor § 32 Rn. 150.
166 Ingeborg Puppe

zu weit geraten, was nicht nur für die deutsche, sondern in noch höherem Maße etwa
für die spanische, die brasilianische, die argentinische, die kolumbianische und die
chilenische Regelung gilt.2 Im deutschen Strafrecht wird dieser Mangel des Gesetzes
dadurch ausgeglichen, dass mit Hilfe der sog. Angemessenheitsklausel der rechtfer-
tigende Notstand derart eingeschränkt wird, dass seine Anwendung auf die vom
Wortlaut des Gesetzes umfassten Fälle nicht mehr die Regel sondern geradezu die
Ausnahme darstellt. Dabei wird dann so schweres Geschütz aufgefahren wie die Un-
antastbarkeit der Menschenwürde. Geht man von dem allgemeinen Prinzip aus, dass
der Rechtfertigung eines Eingriffs in fremde Rechtsgüter durch Notstand in Wahrheit
zugrunde liegt, lässt sich der Wortlaut des Gesetzes von vornherein so präzisieren,
dass die Anwendung derart verschwommener Begriffe wie der Angemessenheit
des Mittels (§ 34 deutsches StGB) oder der Zumutbarkeit der Rechtsbeeinträchti-
gung (Art. 24 brasilianisches StGB) weitgehend überflüssig wird.

II. Die Notwehr


1. Das allgemeine Prinzip der Notwehr

Nach § 32 deutsches StGB findet bei der Notwehr grundsätzlich keine Abwägung
der Güter und Interessen von Angreifer und Angegriffenem statt. Von den noch zu
besprechenden sog. rechtsethischen Einschränkungen der Notwehr abgesehen, wer-
den die Interessen des Angreifers nur insofern berücksichtigt, als der Verteidiger von
mehreren ihm zu Gebote stehenden gleich sicheren Abwehrmitteln das wählen muss,
das die Interessen des Angreifers am wenigsten verletzt. Dieses Mittel ist dann im
Sinne des Gesetzes zur Abwehr erforderlich und damit grundsätzlich auch geboten.
Diese Schärfe des Schwerts der Notwehr ist oft beklagt worden und aus ihr erklären
sich die sog. rechtsethischen Einschränkungen, die die Rechtsprechung nachträglich
eingeführt hat.
In anderen Ländern besteht diese Schärfe von vornherein nicht. Nach Art. 20
Nr. 4, Abs. 2 des spanischen StGB, Art. 34 Nr. 6b des argentinischen StGB und
Art. 10 Nr. 4 chilenisches StGB muss für die Verteidigung „necesidiad rational“ be-
stehen, was die h.L. im Sinne einer Proportionalität zwischen Angriff und Verteidi-
gung interpretiert. Der Ausdruck necesidad rational wird aber von einer Mindermei-
nung auch im Sinne der Erforderlichkeit verstanden.3 Nach Art. 25 des brasiliani-
schen StGB ist nur eine Verteidigung „usando moderadamente dos meios“ als Not-
wehr gerechtfertigt. Nach § 32 des kolumbianischen StGB ist die Verteidigung sogar

2
All diese Regelungen verlangen im Gegensatz zu § 34 des deutschen StGB nicht einmal
ein wesentliches Überwiegen des gewahrten gegenüber dem aufgeopferten Interesse, vgl.
Art. 20 Nr. 5 StGB Spanien; Art. 34 Ziff. 3 StGB Argentinien; Art. 24 StGB Brasilien; Art. 32
Nr. 7 StGB Kolumbien; Art. 10 Nr. 6 StGB Chile, der allerdings ähnlich § 904 deutsches BGB
nur einen Eingriff in fremdes Eigentum gestattet.
3
Rodriguez Devesa, Derecho penal espanol, Parte General, Madrid, 1970, S. 467 f.
Rechtfertigung und Bestimmtheit 167

ausdrücklich auf Mittel beschränkt, die zum Angriff proportional sind. Der Verteidi-
ger darf also dem Angreifer keine schwerere Gefährdung oder Schädigung zufügen,
als sie ihm selbst von diesem droht.4
Eine solche Beschränkung der Mittel der Verteidigung, mit der Konsequenz, dass
der Angegriffene den Angriff über sich ergehen lassen muss, falls er kein in diesem
Sinne proportionales, rationales oder maßvolles Verteidigungsmittel zur Verfügung
hat, wird aber der Situation des Verteidigers nicht gerecht, weil sie ihn und seine
Interessen mit denen des Angreifers auf die gleiche Stufe stellt. Dem kann auch
nicht dadurch abgeholfen werden, dass der Richter den Unterschied zwischen
Recht und Unrecht irgendwie als Abwägungsposten in die Proportionalität ein-
bringt. Das Ergebnis einer solchen modifizierten Güterabwägung wäre allzu unbe-
stimmt und für den Angegriffenen nicht voraussehbar. All diese Rechtsordnungen
sehen also ein gemäßigtes Notwehrrecht vor. Das gilt auch für die meisten europäi-
schen Länder.5 Aber der Preis dieser Mäßigung ist ein Mangel an Bestimmtheit des
Gesetzes, der zur Folge hat, dass der Verteidiger seiner Rechte, sofern es nicht ge-
rade um sein Leben geht, das Risiko trägt, dass später der Richter seine Verteidigung
nicht als vernünftig, maßvoll, proportional oder auch geboten beurteilen wird. Der
einzige hinreichend klare und präzise Maßstab zur Bestimmung dessen, was ein
rechtswidrig Angegriffener zur Abwehr des Angriffs tun darf, ist also der der Erfor-
derlichkeit.6
Dass der Angegriffene nach deutscher Rechtsauffassung nicht auf eine verhältnis-
mäßige Gegenwehr beschränkt ist, sondern grundsätzlich dem Angreifer einen
schwereren Schaden zufügen darf, als er ihm von diesem droht, hat seinen Grund
darin, dass von Rechts wegen gar kein Rechtsgüterkonflikt besteht. Der faktische
Konflikt wird allein vom Angreifer verursacht und dies unter Verletzung des Gebotes
neminem laedere. Die von Rechts wegen richtige Lösung des faktischen Konflikts
besteht also darin, dass der Angreifer den Angriff abbricht. Tut er dies, so ist er
dem viel berufenen scharfen Schwert der Notwehr des Verteidigers nicht mehr aus-
gesetzt. Deshalb kann er keinen Anspruch darauf erheben, dass der Verteidiger seine
Interessen berücksichtigt, er kann dies selbst tun. „Der Angreifer ist nicht zu bekla-
gen, weil er sich selbst in die Gefahr begeben hat.“7 Dies ist die Erklärung für das viel

4
Eine Ausnahme stellt Art. 20 Abs. 3 des peruanischen StGB dar, der eine Einschränkung
der Notwehr nach Verhältnismäßigkeitskriterien expressis verbis abgelehnt hat.
5
Für eine ausführliche rechtsvergleichende Darstellung des europäischen Notwehrrechts
vgl. Leipziger Kommentar/Rönnau/Hohn, StGB, Band II, 12. Aufl. 2006, § 32 Rn. 6 ff.; ein
Abriss der historischen Entwicklung des Notwehrrechts in Deutschland bei Grünewald, ZStW
(122), 2010, 51, 53 ff.
6
Münchener Kommentar/Erb (Fn. 1), § 32 Rn. 180 ff.
7
Beling, Grundzüge des Strafrechts, 11. Aufl. 1930, S. 16. Siehe auch Binding, Systema-
tisches Handbuch der deutschen Rechtswissenschaft, Abteilung 7, Teil 1, Band 1, Neudruck
der Ausgabe Leipzig 1885, Aalen 1991, S. 778: „Wer sich in Gefahr begeben hat, der komme
darin um.“
168 Ingeborg Puppe

berufene scharfe Schwert der Notwehr,8 nicht etwa die Tatsache, dass eine gelungene
Abwehr auch der Verwirklichung der Rechtsordnung insgesamt oder der Generalprä-
vention dient.9 Der Verteidiger tritt nicht als Hilfssheriff auf, der öffentliche Interes-
sen wahrzunehmen hat. Als solcher wäre er an Grundsätze der Verhältnismäßigkeit
gebunden.10 Er verteidigt sein eigenes in der konkreten Situation angegriffenes Recht
und sonst nichts.
Da der Angreifer dem Angegriffenen den faktischen Konflikt rechtswidrig auf-
zwingt, ist er allein für die Rechtsgutsverletzungen verantwortlich, die er durch
die zur Abwehr des Angriffs erforderliche Verteidigung erleidet. Aus seiner Perspek-
tive handelt es sich um einen Fall von freiverantwortlicher Selbstgefährdung.11 Ent-
gegen Frister12 ist daraus allerdings nicht die Konsequenz zu ziehen, dass nur dispo-
nible Rechtsgüter des Angreifers dem Notwehrrecht ausgesetzt sind. Dass dem An-
greifer durch die erforderliche Abwehr kein Unrecht geschieht, liegt nicht daran, dass
er wirksam über seine Rechtsgüter disponiert hat, sondern daran, dass er allein durch
seinen Angriff diejenige Ursache gesetzt hat, die die Zurechnung seiner eigenen Ver-
letzung von Rechts wegen begründet.
Andere Einschränkungen des Notwehrrechts im Vergleich zur h.L. ergeben sich
aber aus diesem Grundgedanken sehr wohl. Diese können durchweg in plausibler
Weise durch eine geeignete Auslegung des Begriffs des Angriffs legitimiert werden.
Zunächst besteht ein Angriff nur solange, als es der Angreifer in der Hand hat, die
Gefahr, die er für den Angegriffenen begründet, durch Abbruch des Angriffs selbst
abzuwenden. Dauert die Gefahr, etwa ein Brand fort, nachdem der Täter aufgehört
hat zu handeln, so ist er zwar nach den Grundsätzen der Ingerenz verpflichtet, nun zur
Beseitigung der Gefahr alles zu tun, was ihm möglich und zumutbar ist, aber zu un-
zumutbaren und unverhältnismäßigen Opfern oder Wagnissen ist er auch durch die
Ingerenz nicht verpflichtet. Dementsprechend steht auch dem Angegriffenen in die-
sem Zeitpunkt nicht mehr das Notwehrrecht zu, das auch unverhältnismäßige Ein-
griffe in die Rechtsgüter des Angreifers gestattet, sondern nur noch ein sog. defen-
sives Notstandsrecht.
Ein solches defensives Notstandsrecht gilt nach § 228 des deutschen BGB zu-
gunsten dessen, dem von einer fremden Sache eine Gefahr droht. Gedacht war
dabei in erster Linie an ein angreifendes Tier. Um die Gefahr abzuwenden, darf
8
Frister, GA 1988, 291, 301 f.; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991,
12. Abschnitt, Rn. 16 f.
9
So aber die h.L. in Deutschland, vgl. Schönke/Schröder/Perron, Strafgesetzbuch,
28. Aufl. 2010, § 32 Rn. 1 f.; Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 15 Rn. 1 ff.; Jescheck/Weigend,
Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 32 I 1, 2.
10
Münchener Kommentar/Erb (Fn. 1), § 32 Rn. 10; Frister, GA 1988, 291, 297 ff.; Beling,
Grundzüge des Strafrechts, 1930, S. 516; Binding, Handbuch der deutschen Rechtswissen-
schaft, 1885, S. 778.
11
Frister, GA 1988, 291, 299; Puppe, Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Recht-
sprechung, 2. Aufl. 2010, § 12 Rn. 23 ff.
12
Frister, GA 1988, 291, 313 ff.).
Rechtfertigung und Bestimmtheit 169

der Gefährdete die gefährliche Sache beschädigen oder zerstören, wenn der dadurch
dem Eigentümer entstehende Schaden „nicht außer Verhältnis zu der Gefahr steht“.
Der Grund dafür ist, dass es der Eigentümer der gefährlichen Sache ist, der die von ihr
ausgehende Gefahr zu tragen hat, nicht ein anderer, den diese Gefahr zufällig getrof-
fen hat. Dieser Gedanke kann auf andere Gefahren übertragen werden, für die der
Grundsatz casum sentit dominus nicht gilt, weil nicht der Betroffene, sondern ein an-
derer eher daran ist, die Gefahr zu tragen. So ist auch der Angreifer, der eine Gefahr
für den Angegriffenen verursacht hat, die er nicht durch Abbruch des Angriffs been-
den kann, eher daran, sie zu tragen, als der Angegriffene. Deshalb kann der Ange-
griffene dem Angreifer in analoger Anwendung des sog. defensiven Notstands zur
Abwendung der Gefahr jedes Opfer abverlangen, das nicht außer Verhältnis zu seiner
eigenen Gefährdung steht.13
Von einem Angriff sollte man auch nur dann sprechen, wenn der Täter fremde
Rechtsgüter vorsätzlich verletzt oder gefährdet.14 Das alltagssprachliche Verständnis
des Worts Angriff legt diese Einschränkung sogar nahe. Sie muss allerdings damit
bezahlt werden, dass man zugunsten des fahrlässig von einem anderen Verletzten
oder Gefährdeten den defensiven Notstand analog anwendet. Diese Analogie ist
leicht zu begründen, sofern man bei Rechtfertigungsgründen überhaupt Analogien
erlaubt. Denn ebenso wie der Eigentümer einer gefährlichen Sache näher dran ist,
für deren Gefahren aufzukommen, ist der fahrlässig handelnde Gefährder eher
dran, die Kosten der Abwendung der Gefahr zu tragen, als der Gefährdete. Damit
ist auch das Problem des in einem Erlaubnistatbestandsirrtum handelnden Angreifers
gelöst.
Für den schuldlosen Angreifer sollte dasselbe gelten. Auch er kann ja nicht darauf
verwiesen werden, dass es in seiner Hand liegt, den Angriff jederzeit abzubrechen
und dadurch das scharfe Schwert der Notwehr von sich selbst und seinen eigenen
Rechtsgütern abzuwenden.15 Damit wäre auch das in der deutschen Strafrechtsdog-
matik zur Kritik des rigiden Notwehrrechts immer wieder angeführte Beispiel erle-
digt, dass der gelähmte Gartenbesitzer die Kirschen stehlenden Kinder mit der
Schrotflinte aus dem Baum schießt.16 Es muss allerdings zugegeben werden, dass
dies nun wirklich eine Einschränkung des Notwehrrechts praeter legem ist, weil
13
Nomos Kommentar/Neumann (Fn. 1), § 34 Rn. 86; Jakobs, AT, 2. Aufl. 2006, 13. Ab-
schnitt, Rn. 46 ff.; Frister, GA 1988, 291 293 ff.
14
Frister, GA 1988, 291, 305; Hellmuth Mayer, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1967, S. 98;
Schmidhäuser, Allgemeiner Teil, Studienbuch, 1984, § 6 Rn. 65; anders die h.L. in Deutsch-
land, vgl. Nomos Kommentar/Herzog (Fn. 1), § 32 Rn. 5 m.w.N.; Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006,
§ 15 Rn. 10. Entgegen Roxin ist es aber mit dem allgemeinen Sprachgebrauch und also auch
mit dem Wortlaut des Gesetzes durchaus vereinbar unter einem Angriff nur eine vorsätzliche
Verletzungshandlung zu verstehen.
15
Jakobs, AT, 2. Aufl. 2006, 12. Abschnitt, Rn. 18 f.; Frister, GA 1988, 291, 304 ff.; a.A.
Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 15 Rn. 17 ff.; Schönke/Schröder/Perron (Fn. 9), § 32 Rn. 24;
Münchener Kommentar/Erb (Fn. 1), § 32 Rn. 55; Nomos Kommentar/Herzog (Fn. 1), § 32
Rn. 5, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung.
16
Vgl. z. B. Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 40. Aufl. 2010, Rn. 343.
170 Ingeborg Puppe

rechtswidrig und schuldhaft eben verschiedene Begriffe sind.17 Aber diese Ein-
schränkung ist klar genug, um den Bestimmtheitsgrundsatz nicht zu gefährden.
Auch sie muss durch eine analoge Anwendung des Defensivnotstandes aufgefangen
werden, denn auch der schuldlos Handelnde ist näher daran, die Kosten der Abwen-
dung der von ihm ausgehenden Gefahr zu tragen, als der zufällig von ihm Betroffene.
Ich sehe nicht, dass eine solche analoge Anwendung eines Rechtfertigungsgrundes,
sofern sie methodengerecht geschieht,18 das Bestimmtheitserfordernis, soweit es im
allgemeinen Teil des Strafrechts gilt, in Frage stellt. Jedenfalls gefährdet eine solche
Analogie das Bestimmtheitserfordernis nicht annähernd in dem Maße, in dem es ge-
fährdet würde, wenn man auf die Situation das Notwehrrecht anwenden würde, um es
dann durch sozialethische Einschränkungen praeter legem zu reduzieren.

2. Die sog. rechtsethischen Einschränkungen


des Notwehrrechts

Eine sog. rechtsethische Einschränkung des Notwehrrechts hat die deutsche


Rechtsprechung unter nahen Angehörigen vorgenommen. Sie wurde insbesondere
auf Ehefrauen angewandt, die sich gegen die wiederholten Misshandlungen durch
ihren trunksüchtigen Ehemann mit erforderlichen aber lebensgefährlichen und letzt-
lich tödlichen Mitteln verteidigt haben. Teilweise hat der BGH von den betroffenen
Ehefrauen nicht nur verlangt, die Flucht zu ergreifen, sondern auch leichtere Körper-
verletzungen hinzunehmen, zumal sie aus Erfahrung wussten, dass es wahrscheinlich
zu schwereren nicht kommen werde.19 Es ist zynisch, wenn die Rechtsprechung hier
ganz offen die Partei des Stärkeren und des Unrecht Handelnden ergreift gegen die
Schwächere und Unrecht Leidende. Zynisch ist es auch, dies damit zu begründen,
dass die Ehefrau selbst ein Interesse am Fortbestand der ehelichen Beziehung
hat.20 Hat sie dies, so mag sie selbst darüber entscheiden, ob es ihr einen Verzicht
auf die erforderliche Abwehr und die Duldung von Schlägen wert ist. Die Rechtsord-
nung handelt scheinheilig, wenn sie ihr ein solches Opfer in ihrem vermeintlichen
Eigeninteresse aufzwingt.
In Deutschland begründet man die Selbstaufopferungspflicht der Ehefrau gegen-
über dem zuschlagenden Mann auch mit ihrer Garantenstellung ihm gegenüber.21
Aber der Begünstigte einer Garantenpflicht kann auf Leistungen und gar Opfer
des Garanten erst dann Anspruch erheben, wenn er nicht mehr in der Lage ist,
17
Vgl. Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 15 Rn. 10.
18
Näher dazu Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 2. Aufl. (2011), S. 113 ff.
19
BGH, GA 1969, 117; NJW 1969, 802; JZ 1975, 35. In BGH, JZ 2003, 50, 51 wurde es als
eine zum Ausweichen vor dem zu erwartenden Angriff verpflichtende Selbstgefährdung der
Ehefrau anerkannt, dass sie ihren gewalttätigen Mann, von dem sie sich getrennt hatte, immer
wieder besuchte.
20
Schönke/Schröder/Perron (Fn. 9), § 32 Rn. 53; Münchener Kommentar/Erb (Fn. 1),
§ 32 Rn. 194.
21
Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 12 Rn. 19.
Rechtfertigung und Bestimmtheit 171

seine Interessen selbst zu wahren. Dazu ist der Angreifer, solange er rechtswidrig und
schuldhaft handelt, aber sehr wohl in der Lage, indem er genau das tut, was er von
Rechts wegen ohnehin zu tun verpflichtet ist, nämlich den Angriff abbricht.22
Die praktisch wohl wichtigste Einschränkung des Notwehrrechts, die im deut-
schen Recht praeter legem von der Rechtsprechung vorgenommen worden ist,23
und in anderen Rechtsordnungen ausdrücklich im Gesetz steht,24 ist die Provokation
des Angriffs durch den Verteidiger selbst. Diese Einschränkung dürfte praktisch die
größte Rolle spielen, denn viele Notwehrsituationen erwachsen aus der Eskalation
eines Streits, der zunächst mit Worten ausgetragen wird. Die deutsche Rechtspre-
chung sieht für diese Fälle in der Einschränkung des Notwehrrechts ein probates Mit-
tel, nicht nur den provozierten Angreifer, sondern auch den Provokateur in seine
Schranken zu weisen, der sich ja ebenfalls unfriedlich verhalten hat.25 Diese Not-
wehreinschränkung wird insbesondere dann angewandt, wenn der Streit am Ende
schlecht ausgeht, einer der Kontrahenten also schließlich zu Tode kommt.26 Auch
wenn beide an der Eskalation des Streites in dem Sinne schuld sind, dass sie sich ge-
genseitig provoziert oder sich unfriedlich verhalten haben, wird dann das Fehlverhal-
ten des Überlebenden aufgebauscht und das des durch eine Abwehrhandlung tödlich
verletzten Angreifers klein geredet, um dem Überlebenden das Notwehrrecht zu ent-
ziehen.27 Betrachten wir die verschiedenen Konstellationen der Notwehreinschrän-
kung wegen Angriffsprovokation näher, so zeigt sich, dass sie nicht nur mit dem
Grundgedanken der Notwehr unvereinbar sind, sondern dass auch kein praktisches
Bedürfnis für eine solche Einschränkung des Notwehrrechts besteht und dass sie, wie

22
Puppe, AT, 2. Aufl. 2010, § 12 Rn. 19.
23
RG, DR 1939, 364; HRR 1940, 340; BGH, NJW 1983, 2267; NStZ 2003, 425, 427.
24
Art. 10 Abs. 4 Nr. 3 StGB Chile; Art. 34 Nr. 6c StGB Argentinien; Art. 20 Abs. 5 Nr. 2
StGB Spanien.
25
So zuletzt Grünewald, ZStW (122), 2010, 51, 67 ff.
26
Vgl. BGH, NStZ 2006, 332 ff.; BGHSt, 42, 97 dazu Puppe, AT, 2. Aufl. 2010, § 12
Rn. 23.
27
Vgl. BGHSt, 42, 97: Der Angeklagte fand in seinem Zugabteil erster Klasse einen al-
koholisierten und Bier trinkenden Passagier, den J, vor, der vom Schaffner nur einen Fahr-
schein zweiter Klasse löste, aber in das Abteil erster Klasse zurückkehrte als der Schaffner
weggegangen war. Der Angeklagte, der sich nicht verpflichtet fühlte, mit dem J das Abteil zu
teilen, öffnete das Fenster, um ihn zu vertreiben. J schloss es wieder und drohte dem Ange-
klagten Schläge an, falls er es wieder öffnen sollte. Dieser zeigte dem J das Fahrtenmesser, das
er bei sich führte, öffnete das Fenster wieder und legte sich auf zwei Sitzen nieder. J sprang
auf, schloss das Fenster, beugte sich über den Angeklagten und griff ihm mit beiden Händen in
das Gesicht. Daraufhin stach der Angeklagte ungezielt mit dem Messer nach oben dem J in
den Oberbauch. Beide kämpften weiter miteinander, bis sie von einem anderen Reisenden
getrennt wurden. Der Messerstich war tödlich. Der BGH wertet den Versuch des Angeklagten,
J durch Öffnen des Fensters zu vertreiben, als „eine Missachtung die ihrem Gewicht nach einer
schweren Beleidigung gleichkommt“ und den unberechtigten Aufenthalt des trinkenden und
schon alkoholisierten J im Abteil erster Klasse nur als „Anlass zu Ärger“. Die Drohung des J,
den Angeklagten zu schlagen würdigte der BGH überhaupt nicht. Vgl. BGHSt, 42, 97 (110).
172 Ingeborg Puppe

schon gezeigt, unbestimmt ist und den Richtern die Möglichkeit eröffnet, nach dem
Endergebnis zu entscheiden, also danach, ob der Streit gut oder böse ausgegangen ist.
Als besonders provozierend wird die Anwendung des ungeschmälerten Notwehr-
rechts auf die sog. Absichtsprovokation empfunden.28 Der heimtückische Feind setzt
seinem Opfer solange zu, bis dieses die Nerven verliert und ihn angreift, um ihn dann
im Schutze des Notwehrrechts straflos verletzen zu können. Ein solcher Fall ist nicht
nur in der deutschen Praxis meines Wissens bisher nicht vorgekommen, er ist auch
praktisch kaum durchführbar. Der Provokateur muss sich nämlich bei seinen Provo-
kationen streng an die Rechtsordnung halten, um nicht seinerseits ein Notwehrrecht
des Provozierten auszulösen. Jedenfalls wird von der h.L. in Deutschland ein zwar
ungehöriges, sog. sozialwidriges, aber nicht rechtswidriges Verhalten nicht als not-
wehreinschränkende Provokation anerkannt.29 Ein rechtswidriger Angriff kommt als
Provokationsmittel nur dann in Betracht, wenn er so kurz andauert, dass der Ange-
griffene nicht zu einer Notwehr kommt, so eindeutig sofort beendet ist, dass er sich
nicht auf Putativnotwehr berufen kann und so geringfügig ist, dass der Provozierte
auch nicht durch Notwehrexzess entschuldigt sein kann. Viel mehr als eine einmalige
sofort und eindeutig beendete Sachbeschädigung oder Beleidigung bleibt da nicht
übrig. Für eine solche Beleidigung ebenso wie für provozierendes ungehöriges
aber nicht rechtswidriges Verhalten gilt, dass es dem Provozierten durchaus zumut-
bar ist, sich an den Grundsatz zu halten, dass man sich nicht zu rechtswidrigen An-
griffen provozieren lassen darf. Es zeigt sich also, dass das Problem der Absichtspro-
vokation in der Praxis nicht existiert,30 sondern von der deutschen Strafrechtsdiskus-
sion künstlich geschaffen und aufgebauscht wird.
Für die unbeabsichtigte Provokation gilt, dass sie selten einseitig ist und wenn sie
es doch ist, so ist sie so geringfügig, dass sie eine Einschränkung des Notwehrrechts
kaum rechtfertigt. Denn selbst rechtswidrig darf sie ja nicht sein. Haben aber beide
Kontrahenten zur Eskalation des Streites beigetragen, bis schließlich einer von ihnen
zur körperlichen Auseinandersetzung, also zu einem rechtswidrigen Angriff über-
geht, so gibt es keine Begründung dafür, nur die letzte Provokation des Angreifers
notwehreinschränkend zu berücksichtigen und nicht auch die vorhergegangene Pro-
vokation des Provokateurs zur Einschränkung der Einschränkung zu verwerten.31
Aber dann ist es kaum möglich, einigermaßen klare und vorausberechenbare Krite-
rien dafür anzugeben, inwieweit und wie lange sich beide Kämpfer mit ihrer Notwehr
zurückhalten sollen.32 Verfolgt ein Kontrahent den anderen hartnäckig, so muss des-
28
Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 15 Rn. 65 ff.
29
BGHSt, 27, 336; Münchener Kommentar/Erb (Fn. 1), § 32 Rn 208; Perron, in: Schönke/
Schröder, Strafgesetzbuch, 28. Aufl. 2010, § 32 Rn. 59; Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 15
Rn. 69; Grünewald, ZStW (122) 2010, 51, 79 ff.
30
Vgl. auch Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 15 Rn. 65.
31
Festschrift für Paul Bockelmann/Hassemer, 1979, S. 225, 234 ff.
32
Vgl. hierzu BGH, NJW 1972, 1821 ff. (mit Anm. Roxin); NJW 1976, 634; BGH, NStZ
1991, 32, 33; Hassemer, in: Bockelmann-FS, 1979, S. 225, 237 ff.; Puppe, AT, 2. Aufl. 2010,
§ 12 Rn. 20 ff.
Rechtfertigung und Bestimmtheit 173

sen Pflicht zur Zurückhaltung schließlich einmal enden.33 Hinzu kommt, dass die
Rechtsprechung eine solche Zurückhaltung dem Angegriffenen auch noch dann auf-
erlegt, wenn die von ihm mitprovozierte Auseinandersetzung zunächst beendet ist,
der andere sie aber wieder aufnimmt.34
Die Mutter in der Kinderstube und die Erzieherin im Kindergarten mögen nach
solchen Regeln Streitigkeiten unter Kindern schlichten. Das Recht ist für Erwachse-
ne geschrieben, es muss also von allgemeinen Prinzipien ausgehen, nach denen man
sich zuverlässig orientieren kann und kann von den Erwachsenen ein gewisses Maß
an Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung fordern. Unter Erwachsenen sollte es bei
dem Prinzip bleiben, dass man sich nicht provozieren lassen soll, weder durch ein
rechtmäßiges, wenn auch vielleicht ungehöriges Verhalten zu einem Angriff, noch
durch einen Angriff zur Überschreitung seines Notwehrrechts. Ein Recht braucht
auch eine gewisse Rigidität und Strenge bei der Verwirklichung seiner Prinzipien.
Nach alledem ist eine Einschränkung des Notwehrrechts wegen einer Provokation
des Angriffs nicht nur notwendig zu unbestimmt, es besteht auch kein praktisches
Bedürfnis nach einer solchen Einschränkung und es gibt für sie auch keine rechts-
ethische Legitimation.35 Es ist also der Klarheit und der gesetzlichen Bestimmtheit
des Notwehrrechts ein schlechter Dienst dadurch geschehen, dass Strafgesetze wie
das spanische in Art. 20 Abs. 5 Nr. 2, das argentinische in Art. 34 Nr. 6c und das chi-
lenische in Art. 10 Abs. 4 Nr. 3 das Notwehrrecht an die Bedingung des Fehlens einer
„provocation suficiente“ knüpfen.
Die erste rechtsethische Einschränkung der Notwehr, mit der die Erosion dieses
Rechtfertigungsgrundes in der deutschen Strafrechtspraxis und Strafrechtswissen-
schaft begonnen hat, betraf den Gebrauch einer Schusswaffe, um einen Dieb zu stel-
len, der mit einer leeren Flasche flüchtete.36 Hat der Verteidiger nur ein für den An-
greifer lebensgefährliches Mittel zur Verfügung, um den Verlust eines geringwerti-
gen Gegenstandes oder sonst einen kleinen Vermögensschaden abzuwenden, so wird
ihm die Hinnahme dieses Schadens von Rechts wegen zugemutet. Darüber besteht
heute Einigkeit. Wer ein Notwehrrecht beansprucht, indem er den Angreifer tötet
oder sein Leben einer erheblichen Gefahr aussetzt, um ein geringwertiges Recht
zu verteidigen, der missbraucht sein Notwehrrecht. Aber es ist nicht notwendig,
um dieses Extremfalles willen ein besonderes Institut der rechtsethischen Einschrän-
kung oder ein eigenständiges inhaltliches Erfordernis der Gebotenheit in das Not-
wehrrecht hineinzutragen. Die Ausübung eines jeden Rechts steht unter dem Vorbe-

33
Vgl. BGH, NJW 1976, 634; NStZ 1991, 32, 33.
34
BGH, NStZ 2006, 332 ff.
35
Nomos Kommentar/Paeffgen (Fn. 1), Vor § 32 Rn. 147; Frister, GA 1988, 291 (309 f.);
Puppe, AT, 2. Aufl. 2010, § 12 Rn. 20 ff.
36
OLG Stuttgart, Urteil v. 21. 4. 1948 – Ss 30/48 = Höchstrichterliche Entscheidungen
Bd. I, 254, 255.
174 Ingeborg Puppe

halt der Schikane und des Missbrauchs. Dieses Missbrauchsverbot bedarf keiner be-
sonderen gesetzlichen Legitimation.37
Eine andere Frage ist, ob man lebensgefährliche Verteidigungsmittel zum Schutz
von bloßen Sachwerten generell vom Notwehrrecht ausnehmen will. Allgemein und
ausdrücklich hat die deutsche Rechtsprechung einen solchen Grundsatz nicht aufge-
stellt. Sie würde damit auch ihre Kompetenzen überschreiten, denn nur der Gesetz-
geber ist zu einer solchen Einschränkung des Notwehrrechts befugt. Trotzdem würde
ich dem Angegriffenen dringend davon abraten, zum Schutz von Sachwerten das
Leben des Angreifers zu gefährden, etwa hinter einem fliehenden Dieb her zu schie-
ßen. Geht dies für den Angreifer nämlich im Einzelfall tödlich aus, so wird die Recht-
sprechung Mittel und Wege finden, den Verteidiger von Sachwerten dafür verant-
wortlich zu machen, indem sie ihm ein anderes, wenn auch wenig wirkungsvolles
Verteidigungsmittel vorschreibt oder sein Notwehrrecht mit anderer Begründung
einschränkt, etwa durch eine analoge Anwendung der Vorschriften zum polizeilichen
Schusswaffengebrauch.38

III. Der allgemeine, sog. aggressive Notstand


1. Die Positivierung des allgemeinen Notstandes im Strafgesetzbuch

Der allgemeine Notstand, also das Recht, zur Rettung eigener gefährdeter Rechts-
güter beliebige Rechtsgüter unbeteiligter Dritter in Anspruch zu nehmen, war im
deutschen StGB ursprünglich nicht positiv geregelt. Man sprach deshalb von
einem übergesetzlichen Notstand. Geregelt war nur ein Ausschnitt des aggressiven
Notstandes und zwar in § 904 BGB. Diese Vorschrift schränkt das Eigentum, also das
Recht mit einer Sache nach Belieben zu verfahren und jeden anderen von der Ein-
wirkung auf die Sache auszuschließen (§ 903 BGB) dahin ein, dass der Eigentümer
den Eingriff eines anderen in die Sache nicht verbieten oder verhindern darf, „wenn
die Einwirkung zur Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr notwendig und der dro-
hende Schaden gegenüber dem aus der Einwirkung dem Eigentümer entstandenen
Schaden unverhältnismäßig groß ist. Der Eigentümer kann Ersatz des ihm entstan-
denen Schadens verlangen“.39
Der allgemeine Notstand wurde erst durch das zweite Strafrechtsreformgesetz
vom 04. 07. 1969 positiviert. Durch diese Positivierung ist, so widersinnig das klingt,
der Rechtssicherheit kein Dienst geschehen und wir hätten besser daran getan, uns

37
Es wird aber auch in einigen europäischen Strafgesetzen ausdrücklich statuiert, so in
§ 13 des dänischen StGB, in § 48 des norwegischen StGB und in § 3 des österreichischen
StGB.
38
Vgl. etwa LG München, NJW 1988, 1860 ff. = JZ 1988, 565 (mit Anm. Schroeder). Vgl.
dazu Puppe, JZ 1989, 728 ff.
39
So ist heute noch die Rechtslage in Chile, vgl. Art. 10 Nr. 7 chilenisches StGB.
Rechtfertigung und Bestimmtheit 175

mit der positiven Regelung des sog. Sachnotstandes in § 904 BGB zu begnügen.40
Die gesetzliche Regelung des allgemeinen Notstandes in § 34 des deutschen StGB
ist nämlich im Ansatz viel zu weit gefasst, und das gilt für die entsprechende Vor-
schrift in anderen Strafgesetzen in noch höherem Maße. Während § 34 StGB ein Ein-
griffsrecht gegenüber an der Gefährdung nicht Beteiligten nur gewährt, wenn „das
geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt“, genügt es nach
Art. 20 Abs. 5 Ziff. 1 des spanischen StGB, dass das dem Unbeteiligten zugefügte
Übel „nicht größer“ als das abgewendete ist. Sie können also sogar gleich groß
sein. Nach Art. 34 Abs. 3 des argentinischen StGB muss das abgewendete Übel le-
diglich „größer“ sein als das angerichtete. Um sie auf das rechte Maß einzuschränken
bedienen sich die Gesetzgeber der Hinzufügung von Generalklauseln, die an Unbe-
stimmtheit nichts zu wünschen übrig lassen. Nach § 34 des deutschen StGB muss der
Eingriff in das fremde Rechtsgut ein „angemessenes Mittel“ sein, um „die Gefahr
abzuwenden“,41 scil. die Gefahr für das durch den Eingriff gerettete Gut. Mit
Hilfe dieser sog. Angemessenheitsklausel werden die verschiedensten Gründe gel-
tend gemacht, das Notstandsrecht zu versagen, obwohl das gewahrte Interesse das
verletzte wesentlich überwiegt.
So soll die Angemessenheitsklausel das Notstandsrecht beispielsweise dann aus-
schließen, wenn es ein geordnetes Verfahren gibt, die Notlage zu beheben, auch wenn
dieses Verfahren im Einzelfall versagt,42 beispielsweise Rechtsmittel gegen unge-
rechte Urteile, Krankenversicherungen oder Sozialhilfe. Überhaupt soll die Ange-
messenheitsklausel die Anwendung des Notstandsrechts zur Behebung einer finan-
ziellen Notlage ausschließen.43
Schließlich soll es auch unangemessen sein, die körperliche Integrität eines ande-
ren zur Rettung eines noch so stark überwiegenden Rechtsguts vorsätzlich zu verlet-
zen. Standardbeispiel dafür ist die zwangsweise durchgeführte Blutspende zur Ret-
tung des Lebens eines Patienten, die die Menschenwürde des Zwangsspenders ver-
letze.44 Höchstpersönliche Rechtsgüter, nicht nur das Leben und die körperliche Un-

40
Gallas, ZStW (80) 1968, 1, 23 f., schreibt dazu (S. 23): „Je mehr die Diskussion darüber
(über den allgemeinen Notstand) fortschreitet, desto deutlicher wird es, dass eine Formulie-
rung, die allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten gerecht werden wollte, sich in einer
vagen Allgemeinheit erschöpfen müsste.“
41
Art. 24 des brasilianischen StGB verlangt, dass die verhinderte Beeinträchtigung dem
Notstandstäter „nicht zumutbar ist“.
42
Nomos Kommentar/Neumann (Fn. 1), § 34 Rn. 40; Jakobs, AT, 2. Aufl. 2006, 13. Ab-
schnitt, Rn. 36 ff.; Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl. 1996, § 33 IV 3d; Wessels/Beulke, AT,
40. Aufl. 2010, Rn. 317 ff.; Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 54.
43
Münchener Kommentar/Erb (Fn. 1), § 32 Rn. 173; Nomos Kommentar/Neumann
(Fn. 1), § 34 Rn. 40; Jakobs, AT, 2. Aufl. 2006, 13. Abschnitt, Rn. 37; Wessels/Beulke, AT,
40. Aufl. 2010, Rn. 317; Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl. 1996, § 33 IV 3d.
44
Dieses Beispiel geht zurück auf Gallas, Niederschriften über die Sitzungen der Großen
Strafrechtskommission Bd. 2, 1958, S. 151; vgl. auch ders., „Pflichtenkollision und Schuld-
ausschließungsgrund“ in: Festschrift für Helmut Mezger, 1954, S. 325 f.; Schönke/Schröder/
176 Ingeborg Puppe

versehrtheit sondern auch etwa die Freiheit und die Ehre des Einzelnen unterliegen
also grundsätzlich nicht dem Notstandsrecht.45 Es ist danach verständlich, wenn Gal-
las urteilt, dass wir besser daran getan hätten, uns mit dem Sachnotstand des § 904
BGB zu begnügen und die wenigen Fälle, in denen außerhalb dieses Bereichs aus-
nahmsweise eine Rechtfertigung durch Notstand in Betracht kommt, einer überpo-
sitiven Rechtsbegründung zu überlassen.46 Aber wie wir sehen werden ist auch § 904
BGB schon zu weit gefasst.

2. Das allgemeine Prinzip des rechtfertigenden Notstands

Die Einschränkungen, die die Praxis unter Anknüpfung an die Generalklausel des
angemessenen Mittels bei der Anwendung des § 34 vornimmt, gehen, wie wir gese-
hen haben, so weit, dass es am Ende nicht die Regel sondern die Ausnahme ist, dass
ein Bürger, der die Rechtsgüter eines anderen zur Rettung von wesentlich überwie-
genden eigenen Interessen benötigt, einfach auf sie zugreifen kann. In unserer
Rechtsordnung und auch in jeder anderen Ordnung, die sich Rechtsordnung
nennt, gilt immer noch der Grundsatz casum sentit dominus. Jeder hat die Gefahren,
die ihn treffen, sei es durch Zufall und Unglück, sei es durch eigenes Verschulden,
grundsätzlich selbst zu tragen.47 Es ist also nicht die Idee des Utilitarismus und schon
gar nicht das Bestreben nach Maximierung von Gütern, das dem Notrecht zugrunde
liegt. Es stellt sich die Frage, wann ein Bürger ausnahmsweise zur Wahrung seiner
überwiegenden Interessen in Rechtsgüter des anderen Bürgers eingreifen darf.
Dies ist dann der Fall, wenn er einen Anspruch auf die Solidarität des anderen hat,
Gedanke der Mindestsolidarität.48 In der deutschen Notstandsdogmatik beginnt sich
der Gedanke durchzusetzen, dass der aggressive Notstand nichts anderes ist, als die
Kehrseite der Hilfeleistungspflicht nach § 323c.49 Diese besteht nur bei einem Un-
glücksfall, also bei einem plötzlichen Ereignis, das unmittelbar einen erheblichen
Schaden herbeizuführen droht und auf das man sich nicht ausreichend vorbereiten
kann oder vorbereitet hat. Ist der Hilfspflichtige nicht an Ort und Stelle oder kann
er aus anderen Gründen die erforderliche Hilfe nicht leisten oder will er sie nicht leis-
ten, so darf sich der Gefährdete eben selbst an dessen Gütern bedienen. Ob es rational

Perron (Fn. 9), § 34 Rn. 41e; Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch/Günther, § 34


Rn. 51; Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl. 1996, § 33 IV 2d.
45
Gallas, ZStW (80) 1968, 1, 25.
46
Gallas, ZStW (80) 1968, 1, 24 f..
47
Nomos Kommentar/Neumann (Fn. 1), § 34 Rn. 7.
48
Münchener Kommentar/Erb (Fn. 1), § 32 Rn. 6; Systematischer Kommentar zum
Strafgesetzbuch/Günther, § 34 Rn. 11; Nomos Kommentar/Neumann (Fn. 1), § 34 Rn. 9 ff.;
ders., ZStW (116) 2004, 751, 752 f.; Jakobs, AT, 2. Aufl. 2006, 11. Abschnitt, Rn. 3 f., 12,
13. Abschnitt, Rn. 1, 8; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2008, § 8 Rn. 9; vgl. auch
Roxin, AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 10 f.; Frisch, in: Puppe-FS (2011), S. 425, 438 ff.
49
Münchener Kommentar/Erb (Fn. 1), § 34 Rn. 6; Nomos Kommentar/Neumann (Fn. 1),
§ 34 Rn. 9; Festschrift für Hans Joachim Hirsch/Kühl, 1999, S. 259, 266.
Rechtfertigung und Bestimmtheit 177

befriedigend zu erklären ist, dass gerade in diesen Fällen der eine Bürger einen An-
spruch auf die Solidarität des anderen geltend machen kann, während in anderen Not-
lagen der Grundsatz casum sentit dominus unbarmherzig gilt, kann man bezweifeln.
Dies mag damit zu rechtfertigen sein, dass der Inhaber des Eingriffsguts nicht sicher
sein kann, ob er nicht eines Tages selbst auch von einem Unglück getroffen wird, in
dem auch er das Notstandsrecht in Anspruch nehmen würde. Die Bereitschaft zu sol-
cher Mindestsolidarität wurzelt vielleicht auch in unserer Instinktausrüstung, die aus
einer Zeit stammt, als die Menschen in kleinen Gruppen einer übermächtigen Natur
gegenüberstanden, gegen die sie sich nur durch Solidarität behaupten konnten. Je-
denfalls gehört diese Mindestsolidarität im Unglücksfall zu jenem ethischen Mini-
mum, das nicht nur die Moral, sondern auch das Recht vom einzelnen verlangt.

3. Zur Positivierung der Einschränkungen des Notstandsrechts

Aus dieser Erkenntnis ergibt sich eine erste und radikale Einschränkung des Not-
standsrechts, diejenige, dass es nur für einen Unglücksfall gilt. Das gilt auch für den
Sachnotstand nach § 904 BGB. Ohne diese Einschränkung würde das Prinzip des
Vorrangs des erheblich überwiegenden Interesses vor dem Recht des anderen direkt
zu einer Art Steinzeitkommunismus führen. Nur bei einem Unglücksfall ist jeder-
mann zur Hilfeleistung verpflichtet. Nur bei einem Unglücksfall darf der Betroffene
sich fremder Sachen zur Abwendung eines wesentlich überwiegenden Schadens be-
dienen.
Da nach heute in Deutschland herrschender Auffassung diese Solidaritätspflicht
sich nur auf den Einsatz der eigenen Kraft und Zeit sowie vertretbarer Güter be-
schränkt, ist der bewusste Einsatz der Verletzung fremder höchstpersönlicher
Güter als Mittel zur Rettung anderer von vornherein vom Notstandsrecht ausge-
schlossen, auch wenn das gerettete Interesse das verletzte noch so stark überwiegt.
Da hier die andere Person als bloßes Mittel eingesetzt wird, verstößt dies nach heu-
tiger Auffassung unter allen Umständen gegen deren Menschenwürde.50 Das gilt aber
nicht für eine bloße Gefährdung fremder höchstpersönlicher Rechtsgüter. Das mag
seinen Grund darin haben, dass im Falle einer Realisierung dieser Gefährdung durch
die Verletzung des gefährdeten Rechtsgutes, diese nicht in erster Linie als Werk des
Gefährdenden erscheint, sondern als Unglück und Schicksal. In der Praxis sind es
denn auch, abgesehen vom Sachnotstand, ausschließlich Fälle der Gefährdung,
etwa des Straßenverkehrs, für die eine Rechtfertigung durch Notstand in der Praxis
in Betracht gezogen wird.51 Allerdings darf die Gefährdung nicht das Ausmaß einer
Vorsatzgefahr erreichen. Das kann dadurch sichergestellt werden, dass nicht nur das
gerettete Rechtsgut, sondern auch dessen Gefährdung die verursachte Gefährdung
50
Nomos Kommentar/Neumann (Fn. 1), § 34 Rn. 118; Systematischer Kommentar zum
Strafgesetzbuch/Günther, § 34 Rn. 51; Schönke/Schröder/Perron (Fn. 9), § 34 Rn. 41e; Je-
scheck/Weigend, AT, 5. Aufl. 1996, § 33 IV 2d; Frisch, in: Puppe-FS (Fn. 48), S. 425 ff.
51
OLG Koblenz, NJW 1988, 2316; OLG Düsseldorf, NJW 1990, 2264; OLG Hamm, VRS
36, 27.
178 Ingeborg Puppe

wesentlich überwiegen muss. Dann ist es auch nicht erforderlich, eine Ausnahme für
Rettungspflichtige, etwa Feuerwehrleute, Polizisten oder Garanten zu machen wie
sie Art. 20 Abs. 5 des spanischen StGB ausdrücklich vorsieht. Denn zu unverhältnis-
mäßigen Wagstücken sind auch diese nicht verpflichtet.
Abschließend sei ein Formulierungsvorschlag zum rechtfertigenden Notstand
vorgelegt, der nicht den Anspruch erhebt, einwandfrei zu sein, aber doch die Rich-
tung anzeigt, in der eine gesetzliche Regelung dieser Materie vorgenommen werden
könnte, die sehr viel bestimmter ist, als die in unseren Gesetzen vorfindliche.
Rechtfertigender Notstand:
Abs. 1
Die aus einem Unglücksfall erwachsene Gefahr für ein Recht oder rechtlich geschütztes In-
teresse darf durch die Schädigung oder Gefährdung einer fremden Sache oder eines sons-
tigen Vermögensinteresses abgewendet werden, wenn es zur Abwendung der Gefahr kein
milderes Mittel gibt und diese Gefahr das verletzte Interesse wesentlich überwiegt. Der Trä-
ger des gewahrten Interesses soll den Schaden ersetzen.
Abs. 2
Wer die durch einen Unglücksfall einem Rechtsgut drohende Gefahr dadurch abwendet,
dass er ein anderes Rechtsgut gefährdet, handelt nicht rechtswidrig, wenn dessen Gefähr-
dung zur Abwendung der durch den Unglücksfall drohenden Gefahr erforderlich ist und we-
sentlich geringer ist, als die durch den Unglücksfall drohende Gefahr. Tritt dadurch ein
Schaden ein, so soll der Träger des gewahrten Interesses diesen ersetzen.
Das Gesetzlichkeitsprinzip im Bereich
der Schuldfähigkeitsentscheidung
Franz Streng

I. Die Rechtsfolgen fehlender Schuldfähigkeit


Ist der Täter „bei Begehung der Tat“ schuldunfähig i.S.v. § 20 StGB, dann kann er
mangels Schuld wegen dieser Tat nicht bestraft werden. Es fehlt ihm wegen psychi-
scher Krankheit oder Störung entweder die erforderliche Unrechtseinsicht oder die
Fähigkeit, „nach dieser Einsicht zu handeln“. Eine Bejahung der Voraussetzungen
des § 20 StGB betrifft allein die fehlende Verantwortlichkeit für eine bestimmte
Tat in einer ganz konkreten Situation, obwohl der Begriff der Schuldfähigkeit und
der Gesetzeswortlaut („unfähig ist“) auf eine allgemeine Fähigkeit oder Unfähigkeit
des betreffenden Täters zu verweisen scheint.
Bei Schuldunfähigkeit kommen schuldausgleichende Sanktionen als „Strafe“
nicht in Betracht. Immerhin strafrechtliche „Maßregeln der Besserung und Siche-
rung“ und andere schuldunabhängige Sanktionen, die lediglich eine „rechtswidrige
Tat“ voraussetzen, nicht aber schuldhaftes Verhalten, können verhängt werden. Ein-
schlägig sind besonders die „Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus“
gem. § 63 StGB und auch die „Unterbringung in einer Entziehungsanstalt“ gem. § 64
StGB1.
Unbefriedigend ist die Ablehnung einer eigentlichen Bestrafung dann, wenn der
Täter sich selbst – evtl. sogar zwecks Begehung der Straftat – sehenden Auges in
einen derartigen Zustand der Schuldunfähigkeit versetzt hat.
· Beispiel: Ein Tatentschlossener betrinkt sich gezielt, um seine inneren Hemmun-
gen gegenüber der dann zu begehenden Körperverletzung herabzusetzen. In der
Folge führt er die geplante Tat im aktuellen Zustand der Schuldunfähigkeit
durch. – Hier lehnt sich der Täter letztlich genauso vorwerfbar gegen die Rechts-
ordnung und gegen die Integrität des dann angegriffenen Rechtsguts auf wie der
nüchtern bleibende Täter und er setzt diese Haltung auch in einen entsprechenden
Rechtsgutsangriff um.
Es lässt sich gegen einen solchen Täter der Vorwurf erheben, er habe eigenverant-
wortlich einen gefährlichen Zustand hervorgerufen, der sich dann gefahrentspre-

1
Dazu ausführlich Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2. Aufl. 2002, Rn. 333 ff.
180 Franz Streng

chend tatsächlich in einer Rechtsgutsschädigung realisiert hat. Unstrittig ist in der-


artigen Konstellationen eine Strafbarkeit aus dem Vollrauschtatbestand des § 323 a
StGB denkbar. Allerdings ist durch diese Norm nur die Berauschung als solche in
Form eines abstrakten Gefährdungsdelikts unter Strafe gestellt, nicht aber die eigent-
liche Rechtsgutsverletzung in Form der Schädigung des angegriffenen Tatopfers. Zu-
mindest sieht das die herrschende Meinung so2.
Daher besteht Anlass darüber nachzudenken, ob sich der Schuldvorwurf bezüg-
lich der in schuldunfähigem Zustand begangenen Tat – in unserem Beispiel die Kör-
perverletzung – an das Stadium vor Eintritt der alkoholbedingten psychischen Stö-
rung anknüpfen lässt. Eine solche Bezugnahme auf das schuldhafte Herbeiführen der
Defektlage angesichts einer dann möglichen oder sogar geplanten „Defekttat“ wird
traditionell als actio libera in causa bezeichnet. Damit ist gemeint, dass die Tat im-
merhin in freiem (schuldfähigem) Zustand in Gang gesetzt worden ist und sich dann
in vorhersehbarer Weise oder gar vorsatzgemäß auch realisiert hat. Und es besteht
weitestgehend Einigkeit darüber, dass die actio libera in causa (in fahrlässiger
oder vorsätzlicher Form) grundsätzlich dem materiellen Schuldprinzip entspricht.
Dennoch fehlt in Deutschland eine spezielle gesetzliche Regelung der Art, dass
der Täter wegen seines in der Defektbegründung liegenden Vorverschuldens für
die daran anknüpfende rechtswidrige Tat auch bestraft werden kann. Angesichts
der Anforderungen des in unserer Verfassung (Art. 103 II GG) geregelten nullum cri-
men, nulla poena sine lege scripta-Prinzips stellt sich hier die Frage nach den Gren-
zen des Gesetzlichkeitsgrundsatzes.

II. Der Streit um die actio libera in causa


Umstritten ist, wie die actio libera in causa strafrechtsdogmatisch begründet wer-
den kann. Denn § 20 StGB geht ja – zumindest auf den ersten Blick – ohne Einschrän-
kung von einer Koinzidenz bzw. Simultaneität von Tat und Schuldfähigkeit aus; ab-
geleitet wird dies daraus, dass es auf die Schuld(un)fähigkeit „bei Begehung der Tat“
ankommt. Derzeit konkurrieren im Wesentlichen drei Lehren zur Begründung der
actio libera in causa-Haftung für Vorverschulden. Diese sollen im Folgenden für
die Konstellation vorsätzlicher actio libera in causa – wenn also die vorsätzliche De-
fektherbeiführung mit Blick auf eine dann vorsätzlich zu begehende Tat erfolgt –
kurz diskutiert werden.

2
Zum Meinungsstand zur Rechtsnatur des Vollrauschtatbestands ausführlich Streng
(Fn. 1), Rn. 572 ff.; Geisler, in: Münchener Kommentar zum StGB (MüKo-StGB), 2006,
§ 323 a Rn. 2 ff.; ferner Streng NJW 2003, 2963 (2964 f.); Schöch, in: Satzger/Schmitt/Wid-
maier, StGB (SSW-StGB), 2009, § 323 a Rn. 2 ff.; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT 2,
35. Aufl. 2011, Rn. 1028 ff.; Rengier, Strafrecht BT II, 13. Aufl. 2012, § 41 Rn. 5 ff.
Das Gesetzlichkeitsprinzip im Bereich der Schuldfähigkeitsentscheidung 181

1. Vorverlegungslehre (Tatbestandsmodell)

Die wohl noch herrschenden Vorverlegungstheorien erklären die für die Rechts-
gutsverletzung kausale Defektherbeiführung – im Regelfall ein Sich-Berauschen –
zur eigentlichen Tathandlung, auf die sich die Schuld bezieht3. Dieses Tatbestands-
modell trägt dem Wortlaut von § 20 StGB immerhin insoweit Rechnung, als mit der
Defektherbeiführung ein für die Tatbestandsverwirklichung kausaler Beitrag im Zu-
stand der Schuldfähigkeit geleistet worden ist. Allerdings wird ganz berechtigt ein-
gewandt, dass das Vorverhalten lediglich kausal dafür ist, dass der Täter den Rechts-
gutsangriff im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen hat; dass er ihn ohne die Be-
rauschung gar nicht oder weniger rechtsgutsverletzend begangen hätte, ist in keiner
Weise gesichert.
Letztlich führt die Anknüpfung an die Handlung der Herbeiführung der Schuld-
unfähigkeit wegen der isolierten Vorverlagerung des Schuldvorwurfs zu einer Lö-
sung der Schuld von der eigentlichen (versuchten) Rechtsgutsverletzung und
damit zu einem jedenfalls materialen Verstoß gegen das Koinzidenzprinzip. Durch
die weitgehende Abkoppelung von der notwendigen Wertungsgrundlage des eigent-
lichen Rechtsgutsangriffs degeneriert bei der Vorverlegungslehre das Schuldurteil zu
einem bloß formalen Legitimationsakt.
Ganz konsequent leidet die tatbestandsbezogene Vorverlegungstheorie in straf-
rechtsdogmatischer Hinsicht entscheidend daran, dass sich diese Vorverlagerung
der Tathandlung etwa bei Delikten mit einem über die bloße Erfolgsverursachung
hinausgehenden Handlungsunwert überhaupt nicht konstruieren lässt. Besonders
deutlich wird dies bei „eigenhändigen Delikten“ wie dem Meineid (§ 154 StGB)
oder der Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB). Wer sich betrinkt, sagt eben nicht
falsch aus, schwört nicht und fährt auch nicht Auto4.
3
Vgl. RGSt 22, 413 (414 f.); BGHSt 17, 333 ff.; BGHSt 21, 381 (381 f.); BGHSt 34, 29
(33); Maurach, JuS 1961, 373 (374, 377); Horn, GA 1969, 289 (300); Puppe, JuS 1980, 346
(347); Behrendt, Affekt und Vorverschulden, 1983, S. 71 f.; Wolter, FS Leferenz, 1983, S. 545
(555 f.); Lange, in: Leipziger Kommentar zum StGB (LK), 10. Aufl. 1985, § 21 Rn. 70 ff.;
Roxin, FS Lackner, 1987, S. 307 (311 ff.); ders., Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 20 Rn. 59 ff.;
Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, Abschn. 17 Rn. 64; Maurach/Zipf, Strafrecht AT 1,
8. Aufl. 1992, § 36 Rn. 54 ff.; Frister, ZStW 108 (1996), 645 (647, 651); Schlüchter, FS
Hirsch, 1999, S. 345 (358 ff.); Guhra, Das vorsätzlich-tatbestandsmäßige Verhalten beim be-
endeten Versuch, 2002, S. 158 ff.; Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2003,
§ 19 Rn. 35; Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB (SK-StGB), 7. Aufl. 2003,
§ 20 Rn. 28 d – e; Schünemann, Lampe-FS, 2003, S. 537, 557; SK-StGB/Wolters/Horn,
8. Aufl. 2007, § 323 a Rn. 28 ff.; Frister, Strafrecht AT, 4. Aufl. 2009, Kap. 18 Rn. 19 ff.;
Kudlich, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2009, Nr. 130 f.; Pfister, Forens Psychiatr Psychol Kriminol 3
(2009), 253 (258); Joecks, Studienkommentar zum StGB, 9. Aufl. 2010, § 323 a Rn. 27 f.;
Puppe, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2011, § 16; Rengier, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2011, § 25 Rn. 15;
B. Heinrich, Strafrecht AT I, 2. Aufl. 2010, Rn. 603; Jäger, Strafrecht AT, 5. Aufl. 2011,
Rn. 177; ähnlich Haft, Strafrecht AT, 9. Aufl. 2004, S. 131 f. – Weitere Nachweise bei Hil-
lenkamp, 32 Probleme aus dem Strafrecht AT, 13. Aufl. 2010, S. 90 ff.
4
Vgl. Hettinger, Die „actio libera in causa“: Strafbarkeit wegen Begehungstat, 1988,
S. 438 ff.; BGHSt 42, 235 ff.
182 Franz Streng

Weniger Beachtung gefunden haben die ganz entsprechenden Probleme bei den
Unterlassungsdelikten: Wer sich betrinkt, zeigt positives Tun. Wenn der Schuldun-
fähige dann ganz im Sinne seines noch nüchtern gefassten Vorsatzes das erwartete
Handlungsgebot vorsätzlich ignoriert, dann besteht keine Möglichkeit, die Defekt-
herbeiführung zur noch schuldfähig begangenen Tathandlung zu erklären. Die
pflichtwidrige Gebotsverletzung des Nicht-Eingreifens in eine vom Täter nicht ver-
ursachte Schädigungsentwicklung kann nicht in eine Verbotsverletzung im Sinne des
aktiven Bewirkens einer Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung umgedeutet wer-
den5. Dieses Scheitern der tatbestandsbezogenen Vorverlegungslehre wird durch
§ 8 S. 1 StGB untermauert6, demzufolge eine Tat zu der Zeit begangen ist, „zu wel-
cher der Täter oder Teilnehmer … im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen“.
Des Weiteren erscheint als problematisch, dass das Tatbestandsmodell bereits die
Defektherbeiführung – im Regelfall das Sich-Berauschen – als unmittelbares Anset-
zen zur Verwirklichung des Tatbestandes i.S.v. § 22 StGB ansehen muss. Derart wäre
der geplant zur Tatvorbereitung eingesetzte Alkoholkonsum seitens eines zu einem
Mord Entschlossenen spätestens im Moment des Verlusts der Schuldfähigkeit als
versuchter Mord strafbar: also Sichberauschung als unmittelbares Ansetzen zur Tö-
tung eines anderen Menschen!
Weiterhin wird zutreffend kritisiert, dass die actio libera in causa-Konstruktion in
Fällen der verminderten Schuldfähigkeit i.S.v. § 21 StGB bezüglich des Versuchsbe-
ginns zu anderen Resultaten führe als in Fällen der Schuldunfähigkeit i.S.v. § 20
StGB; dies könne schwerlich überzeugen. In Fällen des § 21 StGB scheitert die Vor-
verlegung der Versuchsphase auf den Zeitpunkt der Erreichung des Zustands vermin-
derter Schuldfähigkeit schon deshalb, weil man beim vermindert Schuldfähigen den
Versuchsbeginn wohl kaum anders definieren kann als etwa beim voll schuldfähigen
Mittäter.
Auch die Konstruktion einer Art mittelbarer Täterschaft, bei der der Täter sich
selbst als schuldunfähiges Werkzeug benutzt7, rettet die Vorverlegungstheorien
nicht. Denn der Täter selbst kann nicht zugleich ein „anderer“ i.S.v. § 25 I 2. Alt.
StGB sein. Zudem muss auch diese Konstruktion zu einer letztlich fiktiven Versuchs-
5
Für eine Systematisierung der Grundlagen Streng ZStW 122 (2010), 1 (2 ff.).
6
Zutr. Baier, GA 1999, 272 (280 ff.), soweit er das Tatbestandsmodell kritisiert; fehlge-
hend will er sein Argument aber auch auf den Schuldtatbestand anwenden (dazu unten in
II.2.).
7
Vgl. etwa Puppe, JuS 1980, 346 (348 f.); LK/Spendel, 11. Aufl. 1996, § 323 a Rn. 36;
Roxin, FS Lackner, 1987, S. 307 (314 f.); ders., Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 20 Rn. 61;
Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, Abschn. 17 Rn. 57, 64; ders., FS Nishihara, 1998, S. 105
(117 ff., 120); Herzberg, FS Spendel, 1992, S. 203 (219 f., 222 f.); Hardtung, NZV 1997, 97
(103); Hirsch, NStZ 1997, 230 ff.; ders., JR 1997, 391 (393); Miseré, Die Grundprobleme der
Delikte mit strafbegründender Folge, 1997, S. 125 ff.; Baumann/Weber, Strafrecht AT,
11. Aufl. 2003, § 19 Rn. 45 f.; Satzger, Jura 2006, 513 (515); Dold, GA 2008, 427 ff.; Eschel-
bach, in: v. Heintschel-Heinegg, Kommentar zum StGB, 2010, § 20 Rn. 73; Joecks, StGB,
9. Aufl. 2010, § 323 a Rn. 27 f.; Schild, in: Nomos Kommentar zum StGB (NK-StGB),
3. Aufl. 2010, § 20 Rn. 112; Puppe, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2011, § 16 Rn. 8.
Das Gesetzlichkeitsprinzip im Bereich der Schuldfähigkeitsentscheidung 183

bejahung schon beim Sich-Berauschen führen; dabei wird der relevante Unterschied
zwischen actio libera in causa und mittelbarer Täterschaft, dass nämlich der sich Be-
rauschende durch die Defektherbeiführung das weitere Geschehen gerade noch nicht
aus der Hand gegeben hat, völlig ignoriert. Schließlich ist über die mittelbare Täter-
schaft keine einheitliche Erklärung der actio libera in causa möglich, da etwa eigen-
händige Delikte nicht mittelbar täterschaftlich begehbar sind.
Nicht zu überzeugen vermögen auch Ansätze, die zu begründen versuchen, dass
eine zunächst nur vorbereitende Defektherbeiführung dann bei „normalem“ Über-
schreiten der Strafbarkeitsgrenze auf Tatbestandsebene – als schuldhaft begangen
– berücksichtigbar sein soll8. Diese retrograde Umdefinition eines tatbestandslosen
in ein tatbestandliches Handeln erscheint schwerlich begründbar und hat in der Lehre
wenig Rückhalt gefunden.
Als Resümee lässt sich festhalten, dass die Vorverlegungsansätze bzw. Tatbe-
standsmodelle samt und sonders durchgreifenden Bedenken ausgesetzt sind und
daher keine tragfähige Basis für die Zurechnung von Vorverschulden abgeben9.

8
Vgl. LK/Spendel, 10. Aufl. 1985, § 323 a Rn. 32 ff.; ders., FS Hirsch, 1999, S. 379 ff.;
Herzberg, FS Spendel, 1992, S. 203 ff.; Schmidhäuser, Die actio libera in causa, 1992, S. 25 ff.
9
Vgl. für Kritik etwa Hruschka, JuS 1968, 554 (556 f.); Horn, GA 1969, 289 (298 ff.);
Küper, FS Leferenz, 1983, S. 573 (577 ff.); Neumann, Zurechnung und Vorverschulden, 1985,
S. 25 ff.; Paeffgen, ZStW 97 (1985), 513 (516 ff.); LK/Vogler, 10. Aufl. 1985, § 22 Rn. 107 f.;
Otto, Jura 1986, 426 (427 ff.); Burkhardt, Täterschaft und ihre Erscheinungsformen, in: Eser/
Kaiser/Weigend (Hrsg.), Vorverschulden, Jugendkriminalität und Jugendgerichtsbarkeit,
1988, S. 147 (154 ff.); Hettinger (Fn. 4), S. 344 ff., 437 ff.; ders., GA 1989, 1 (13 ff.);
Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Aufl. 1988, S. 39 ff., 64 ff.; Joer-
den, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs, 1988, S. 39 ff.; Landgraf, Die
„verschuldete“ verminderte Schuldfähigkeit, 1988, S. 59 ff.; Stratenwerth, GedS Armin
Kaufmann, 1989, S. 485 (492 f.); Streng, ZStW 101 (1989), 273 (309 f.); ders., JZ 1994, 709
(710 f.); ders., „Actio libera in causa“, in: Egg/Geisler (Hrsg.), Alkohol, Strafrecht und Kri-
minalität, 2000, S. 69 (72 ff.); Eser/Burkhardt, Strafrecht I, 4. Aufl. 1992, 17 A 4 ff.; Salger/
Mutzbauer, NStZ 1993, 561 (563 ff.); Rath, JuS 1995, 405 (408 ff.); Ambos, NJW 1997, 2296
(2297); Rönnau, JA 1997, 707 ff.; Baier, GA 1999, 272 (280 ff.); Jerouschek, FS Hirsch, 1999,
S. 241 (245 ff.); Stühler, Die actio libera in causa de lege lata und de lege ferenda, 1999,
S. 49 ff.; Otto, Die Beurteilung alkoholbedingter Delinquenz in der Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs, in: Roxin/Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus
der Wissenschaft, Band IV: Strafrecht, Strafprozeßrecht, 2000, S. 111 (124); Sydow, Die actio
libera in causa nach dem Rechtsprechungswandel des Bundesgerichtshofs, 2002, S. 78 ff.;
Zenker, Actio libera in causa, 2003, S. 93 ff.; Leupold, Die Tathandlung der reinen Erfolgs-
delikte und das Tatbestandsmodell der „actio libera in causa“ im Lichte verfassungsrechtlicher
Schranken, 2005, S. 194 f.; Mitsch, FS Küper, 2007, S. 347 (358 ff.); Kühl, Strafrecht AT,
6. Aufl. 2008, § 11 Rn. 13 ff.; Kindhäuser, Strafrecht AT, 4. Aufl. 2009, § 23 Rn. 16 ff.;
v. Heintschel-Heinegg/Eschelbach, StGB, 2010, § 20 Rn. 73; Lenckner/Perron, in: Schönke/
Schröder, Kommentar zum StGB, 28. Aufl. 2010, § 20 Rn. 35; Fischer, Kommentar zum
StGB, 58. Aufl. 2011, § 20 Rn. 52.
184 Franz Streng

2. Ausdehnungsmodell

Der tragfähige Leitgedanke, der ansatzweise auch dem Vorverlagerungsmodell


zugrunde liegt, kann sich allerdings in einer ausdehnenden Interpretation des Be-
griffs der Tatbegehung des § 20 StGB ausdrücken. Derart wäre auch das vortatbe-
standliche, auf die Tatbestandsverwirklichung bezogene Verhalten im Schuldtatbe-
stand erfassbar. Für eine derartige ausdehnende Interpretation des „bei Begehung der
Tat“ i.S.v. § 20 StGB spricht das im Grundsatz unstrittige normative Schuldverständ-
nis. In diesem wird die „naive“ Perspektive vermieden, Schuld sei eine im Täter zu
einem bestimmten Zeitpunkt auffindbare Eigenschaft. Das zeitliche Zusammenfal-
len von Schuldfähigkeit und Begehen einer tatbestandlichen Ausführungshandlung
verliert daher an Bedeutung.
Die Berechtigung zu einer derartigen Betrachtung i.S. des „Ausdehnungsmo-
dells“10 ergibt sich daraus, dass Schuldwertungen oder Schuldzuschreibungen
kaum jemals in ihrer Beurteilungsgrundlage genau auf den Zeitpunkt der Tathand-
lung begrenzbar sind. Besonders deutlich wird dies in den Regelungen zum Verbots-
irrtum (§ 17 S. 2 StGB) und zum entschuldigenden Notstand (§ 35 I S. 2, II StGB),
wo ein Vorverschulden die Bewertung des fraglichen Handelns prägt, das aktuelle
innere Verhältnis des Täters zu seiner vorsätzlichen Tathandlung hingegen zurück-
tritt. – Über diese Beobachtung einer grundsätzlichen Bereitschaft in unserer Rechts-
ordnung zur Ausweitung des Schuldtatbestands nach vorne hin, also vor die Phase
der eigentlichen Tatausführung, verdient die Regelung speziell des § 17 S. 2 StGB
noch weitergehende Beachtung: Genau gelesen erfasst sie nämlich exakt den Fall
der actio libera in causa, soweit es einen vorverschuldeten Verbotsirrtum angeht.
Es gibt für das Rechtsinstitut der actio libera in causa also insoweit eine gesetzliche
Grundlage!
Diese Überlegungen bedeuten für den Fall eines beim Überschreiten der Ver-
suchsschwelle Schuldunfähigen, dass eine Ausdehnung des Begriffs „Begehung
der Tat“ i.S.v. § 20 StGB auf das tatbestandsbezogene Vorverhalten die Schaffung
einer lebensnahen Bewertungseinheit herzustellen vermag. Durch diese Ausdehnung
des Schuldtatbestands gegenüber dem Unrechtstatbestand wird eine zutreffende Ein-
stufung der sozialen Relevanz der Tathandlung und damit eine adäquate Schuldwer-
tung ermöglicht.

10
Vgl. Streng, ZStW 101 (1989), 273 (310 ff.); ders., JZ 1994, 709 ff.; ders., JZ 2000, 20
(22 ff.); Safferling, Vorsatz und Schuld, 2008, S. 246 f. – Zumindest ansatzweise in die gleiche
Richtung gehen auch Überlegungen von Lange, FS Bockelmann, 1979, S. 261 (273); Krüm-
pelmann, GA 1983, 337 (356); Küper, Der „verschuldete“ rechtfertigende Notstand, 1983,
S. 85 ff.; Kuhn-Päbst, Die Problematik der actio libera in causa, Jur. Diss. Mannheim, 1984,
S. 128 ff.; Frisch, ZStW 101 (1989), 538 (608 ff.); Lampe, Jahrbuch für Rechtssoziologie und
Rechtstheorie XIV (1989), S. 286 (292); Schild, FS Triffterer, 1996, S. 203 (204 ff.); Jerou-
schek, JuS 1997, 385 (388 f.); ders., FS Hirsch, 1999, S. 241 (257 f.); Dölling, Rausch, Kri-
minalität und Strafrecht, in: Kiesel (Hrsg.), Rausch (Heidelberger Jahrbücher XLIII), 1999,
S. 149 (170 ff.); Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2011, § 10 Rn. 48; vgl. ferner
BGHSt 17, 333 (334 f.).
Das Gesetzlichkeitsprinzip im Bereich der Schuldfähigkeitsentscheidung 185

Dass „bei Begehung der Tat“ i.S.v. § 20 StGB nicht etwa die Tatbestandsverwirk-
lichung im Sinne von Versuch oder Vollendung meint und daher auch nicht mit den
zeitlichen Grenzen der „rechtswidrigen Tat“ i.S.v. § 11 Abs. 1 Nr. 5 oder der Tatzeit
i.S.v. § 8 StGB zu identifizieren ist, bedarf in Anbetracht der durchschlagenden Kri-
tik an den Vorverlegungstheorien besonderer Hervorhebung. Die Defektherbeifüh-
rung stellt vielmehr eine tatbestands- und unrechtsindifferente Vorbereitungshand-
lung dar; und dies gilt ganz unabhängig vom weiteren Gang der Dinge. Allerdings
wird ab dem Vorliegen zumindest eines Versuchs dann auch die zunächst rechtlich
völlig indifferente Vorbereitungshandlung immerhin als Bewertungsgrundlage be-
züglich der Schuld bedeutsam und ist daher Teil der Tatbegehung i.S.v. § 20
StGB, d. h. sie gewinnt zwar nie Tatbestandsrelevanz aber doch Schuldrelevanz.
Die „Begehung der Tat“ i.S.v. § 20 StGB umfasst folglich auch Dimensionen des
Vorverhaltens, soweit diese für die unter Schuldgesichtspunkten erfolgende rechtli-
che Bewertung der – nach den allgemeinen Grundsätzen abgegrenzten – „rechtswid-
rigen Tat“ (§ 11 Abs.1 Nr. 5 StGB) erforderlich sind11.
Den an das Gesetzlichkeitsprinzip anknüpfenden Bedenken des 4. Strafsenats des
Bundesgerichtshofes gegen eine andere Auslegung des „bei Begehung der Tat“ in
§ 20 StGB als in § 16 und § 17 StGB12 fehlt es schon deshalb an Durchschlagskraft,
weil der Tatbegriff in jeder der genannten Vorschriften unterschiedlichen Regelungs-
aufgaben dient: In der Irrtumsregelung des § 16 StGB geht es um die Bezugnahme
auf den objektiven Tatbestand von Vorsatzdelikten, in der Irrtumsregelung des § 17
StGB um die Kennzeichnung der vorsätzlichen oder fahrlässigen Tatbegehung ohne
das gesondert beschriebene Vorverschulden (Vermeidbarkeit) und in § 20 StGB um
die Tatbegehung i.w.S., nämlich unter Einschluss des nicht gesondert benannten Vor-
verschuldens13.
Dass der Bundesgerichtshof mit seiner Bezugnahme auf einen einheitlichen Tat-
begriff und seiner Ablehnung der Berücksichtigung von Vorverschulden im Schuld-
tatbestand wenig konsistent urteilt, zeigt sich etwa auch darin, dass er in einer durch-
aus ähnlichen Konstellation das Vorverschulden ganz entsprechend berücksichtigt
hat, wie vorstehend zur actio libera in causa vorgeschlagen. Zur Entschuldigung
wegen Notwehrexzesses urteilte er, dass zwar die Anwendung von § 33 auch bei pro-
vozierten Angriffen möglich sei, dass dies aber dann nicht gelte, „wenn sich der
rechtswidrig Angegriffene planmäßig in eine tätliche Auseinandersetzung mit sei-
nem Gegner eingelassen hat, um unter Ausschaltung der für die Konfliktlösung zu-
ständigen und erreichbaren Polizei den ihm angekündigten Angriff mit eigenen Mit-
teln abzuwehren und die Oberhand über seinen Gegner zu gewinnen. Denn in einem
solchen Fall liegt die eigentliche Ursache für die Notwehrüberschreitung nicht – wie
Sinn und Zweck des § 33 StGB es voraussetzen – in einer durch den rechtswidrigen
11
Ausf. Streng, JZ 1994, 709 (711 ff.); ders., JZ 2000, 20 (22 ff.).
12
BGHSt 42, 235 (240 f.); zust. Gropp, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2005, § 7 Rn. 54; Simon,
Gesetzesauslegung im Strafrecht, 2005, S. 149 f.
13
Vgl. MüKo-StGB/Streng, 2. Aufl. 2011, § 20 Rn. 134 f.
186 Franz Streng

Angriff ausgelösten, auf asthenischen Affekten beruhenden Schwäche des Angegrif-


fenen, sondern in dem vor Eintritt der Notwehrlage gefassten, auf sthenischen Affek-
ten beruhenden Entschluss, den ,Krieg‘ mit dem Gegner selbst auszutragen“14. Un-
verkennbar dehnt der Bundesgerichtshof hier den Schuldtatbestand nach vorne hin
aus, obwohl der Wortlaut von § 33 i.V.m. § 32 StGB den Schuldausschluss allein
auf die psychische Ausnahmesituation zur Tatzeit (der Notwehr) bezieht. Mangels
einer (auch nur teilweisen) Abstützbarkeit auf § 17 S. 2 StGB erscheint dieses Vor-
gehen gewiss gewagter15, als die hier vorgestellte Ausdehnungslösung zur actio
libera in causa. Immerhin der Rechtsgedanke des § 35 I S. 2 StGB zur Notstands-
einschränkung bei selbstverschuldeter Gefahr lässt sich für die Argumentation im
Notwehrexzess-Fall – wie bei der actio libera in causa – als Hilfsargument anfüh-
ren16.
Die hier vertretene Position ist, dass sich kein Einwand gegen die actio libera in
causa aus dem Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 II GG heraus erheben lässt, da die
lex scripta durch den Begriff der „Begehung der Tat“ die vorgeschlagene Ausdeh-
nung des Schuldtatbestands abdeckt. Dass es sich dabei nicht etwa um eine Überstra-
pazierung des Wortlauts des § 20 StGB („bei Begehung der Tat“) handelt, sondern
um eine durch das System des Gesetzes nachgerade erzwungene Textinterpretation,
ergibt sich aus Folgendem: Die Vermeidbarkeitsregelung des § 17 StGB schreibt für
Fälle des Vorverschuldens bezüglich eines bei der Tat fehlenden Unrechtsbewusst-
seins eine ebensolche Ausdehnung des Schuldtatbestands sogar vor! Damit ist in
§ 17 StGB eine echte actio libera in causa-Konstellation außerhalb des § 20 StGB
geregelt. Insoweit ist also der gegen die Rechtsfigur der actio libera in causa erho-
bene Vorwurf eines Verstoßes gegen die Garantiefunktion des Strafgesetzes gegen-
standslos17. Dass man die Fälle einer selbstverschuldet fehlenden Steuerungsfähig-
keit (§ 20 StGB: „unfähig ist, … nach dieser Einsicht zu handeln“) unter dem Vor-
verschuldensaspekt nicht anders behandeln kann als die Fälle fehlender Unrechtsein-
sicht, erscheint letztlich zwingend. Der Wortlaut des Gesetzes und damit das Gesetz-
lichkeitsprinzip steht dem jedenfalls nicht im Wege.

3. Ausnahmemodelle

Ein weiteres, neben der Vorverlagerungslösung aber schon seit längerem etablier-
tes Modell zur Legitimation der actio libera in causa, das sogenannte Ausnahmemo-

14
BGHSt 39, 133, 139 f.; zust. Gropp, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2005, § 7 Rn. 92; Fischer,
StGB, 58. Aufl. 2011, § 33 Rn. 7; vgl. auch B. Heinrich, Strafrecht AT I, 2. Aufl. 2010,
Rn. 591.
15
Zur Kritik vgl. etwa Müller-Christmann, JuS 1994, 649 (652); Roxin, Strafrecht AT 1,
4. Aufl. 2006, § 22 Rn. 93; Kudlich, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2009, Nr. 136; Schönke/Schröder/
Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 33 Rn. 9; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, § 33 Rn. 4.
16
Dagegen aber Kudlich, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2009, Nr. 136.
17
Ausf. Streng, JZ 2000, 20 (22 f.).
Das Gesetzlichkeitsprinzip im Bereich der Schuldfähigkeitsentscheidung 187

dell im Sinne einer Nichtbeachtung des Wortlauts von §§ 20, 21 StGB18, wird mit
Gedanken der Obliegenheitsverletzung oder des Rechtsmissbrauchs des Täters
oder unter Hinweis auf Gewohnheitsrecht begründet. Dagegen wird von der herr-
schenden Meinung eingewandt, dass – anders als bei § 323 a StGB – das Gesetz kei-
nen Anhaltspunkt für die Zulässigkeit einer solchen Abweichung vom Wortlaut gebe
und angesichts Art.103 II GG ein Gewohnheitsrecht-Argument zur Strafbegründung
nicht tauge19.
Entsprechendes muss dann konsequenterweise auch den anderen, in neuerer Zeit
vorgetragenen Lehren entgegengehalten werden, die trotz fehlender Tatschuld zur
Strafbarkeit gelangen wollen. Eine solche auf Vorverschulden gestützte Verantwor-
tungszurechnung trotz Verneinung von Tatschuld mittels Ausgleich20 oder Surroga-
tion21 der fehlenden Schuldfähigkeit oder im Wege eines „Verantwortungsdialogs als
dogmatische Regeln zweiter Stufe“22 würde Strafbarkeit, d. h. Schuldausgleich, ohne
Schuld bedeuten und deshalb der über das Rechtsstaatsprinzip grundgesetzlich ab-
gesicherten Bedeutung des Strafbegründungs- und Straflimitierungselements der
Tatschuld in keiner Weise entsprechen23.
Freilich lässt sich das Ausnahmemodell ebenso wie das Ausdehnungsmodell auf
die Teilregelung der actio libera in causa durch § 17 StGB für den selbstverschul-
deten Verbotsirrtum und auf die – von der Gültigkeit der actio libera in causa
ganz selbstverständlich ausgehenden – Gesetzgebungsmotive stützen. Dies ist von
den Vertretern der Ausnahmelösung bislang jedoch nicht für die Verteidigung
ihrer Position herangezogen worden24.

18
Dafür etwa Hruschka, JuS 1968, 554 (558 f.); ders., Strafrecht AT, 2. Aufl. 1988,
S. 46 ff., 293 ff.; Kienapfel, Strafrecht AT, 4. Aufl. 1984, S. 212; LK/Vogler, 10. Aufl. 1985,
§ 22 Rn. 107; Otto, Jura 1986, 426 (429 ff.); ders., Strafrecht AT, 7. Aufl. 2004, § 13
Rn. 24 ff.; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, § 40 VI 1; Schönke/Schröder/
Lenckner, StGB, 25. Aufl. 1997, § 20 Rn. 35; Tiedemann, Die Anfängerübung im Strafrecht,
4. Aufl. 1999, S. 141; Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 11 Rn. 18; Wessels/Beulke, Straf-
recht AT, 40. Aufl. 2010, Rn. 415; Fischer, StGB, 58. Aufl. 2011, § 20 Rn. 55; Krey/Esser,
Strafrecht AT 1, 4. Aufl. 2011, Rn. 709 f.; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, § 20 Rn. 25. –
Dazu auch Neumann (Fn. 9), S. 41 ff.; Joerden (Fn. 9), S. 45 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, Straf-
recht AT, 6. Aufl. 2011, § 10 Rn. 47 f.
19
Dies einräumend inzwischen auch der Vordenker der Ausnahme-Lehre Hruschka, JZ
1996, 64 ff.
20
Ehemals Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, 25. Aufl. 1997, § 20 Rn. 35; anders jetzt
Schönke/Schröder/Lenckner/Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 20 Rn. 35 a.
21
Vgl. Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 128 ff.
22
Neumann (Fn. 9), S. 269 ff.
23
Vgl. dazu etwa Küper (Fn. 10), S. 86; Roxin, FS Lackner, 1987, S. 307 (309 ff.); Herz-
berg, FS Spendel, 1992, S. 203 (231 ff.); Schmidhäuser (Fn. 8), S. 18 ff.; NK-StGB/Paeffgen,
3. Aufl. 2010, Vor § 323 a Rn. 14 ff.; MüKo-StGB/Streng, 2. Aufl. 2011, § 20 Rn. 138 f.
24
Vgl. Streng, JZ 2000, 20 (25).
188 Franz Streng

4. Ablehnung des actio libera in causa-Ansatzes

Eine in letzter Zeit zunehmend vertretene Mindermeinung hält keines der Model-
le für tragfähig und lehnt die Rechtsfigur der actio libera in causa ab, so dass nur
Strafbarkeit aus dem Vollrauschtatbestand des § 323 a StGB in Frage käme25.
Bemerkenswert an dieser Position ist das Fehlen einer Auseinandersetzung damit,
dass § 17 StGB mit der dort geregelten Strafbarkeit in Fällen des vermeidbaren Ver-
botsirrtums immerhin eine Variante der actio libera in causa positiv-rechtlich klärt –
und zwar im Sinne der oben (in 2.) dargestellten Ausdehnungslehre. Diese im frag-
lichen Zusammenhang etablierte Vernachlässigung von § 17 ist umso bemerkens-
werter, als der Vorrang der Verbotsirrtumsregelung des § 17 vor einschlägigen Re-
gelungen der §§ 20, 21 StGB der herrschenden Meinung entspricht26. Bezüglich
des für §§ 20, 21 erforderlichen Einsichtsdefizits bedeutet dieser Vorrang von
§ 17, dass bei vorliegender Unrechtseinsicht eine Ex- oder Dekulpation auf defizitäre
Einsichtsfähigkeit (wie in §§ 20, 21 angesprochen) nicht gestützt werden kann27.
Denn die Privilegierung eines Täters, der – trotz aller Handicaps – doch wusste
was er tat und mit Unrechtseinsicht handelte, würde wenig plausibel erscheinen.
Es geht bei §§ 20, 21 demnach genauso um konkrete Unrechtseinsicht wie bei
§ 17 und nicht um eine abstrakte Fähigkeit hierzu. Für das Verhältnis von § 20
und § 21 führt das zu der Konsequenz, dass eine über Unrechtseinsichtsdefizite be-
gründete Exkulpation einen unvermeidbaren Irrtum i.S. fehlender Unrechtseinsicht
voraussetzt, während § 21 (analog zu § 17 S. 2) die Konstellation vermeidbar fehlen-
der Unrechtseinsicht betrifft. Entgegen dem Wortlaut des § 21 scheidet gemäß herr-
schender Meinung eine Dekulpation wegen nur verminderter Einsichtsfähigkeit also
aus28. Auch verzichtet man in Anwendung von § 17 S. 2 bei verschuldet fehlender
Unrechtseinsicht für die Bejahung von verminderter Schuldfähigkeit auf eine dem
Wortlaut von § 21 entsprechende defektbedingt erhebliche Verminderung der Ein-

25
Vgl. etwa Paeffgen, ZStW 97 (1985), 513 (526 ff.); Hettinger (Fn. 4), S. 449; Salger/
Mutzbauer, NStZ 1993, 561 (565); Rudolph, Das Korrespondenzprinzip im Strafrecht, 2006,
S. 83 f.; Schönke/Schröder/Lenckner/Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 20 Rn. 33 ff., 35 b.
26
Vgl. Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, § 40 IV 1 (mit Fn. 50); Baumann/
Weber/Mitsch, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2003, § 19 Rn. 27; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl.
2006, § 20 Rn. 35; LK/Schöch, 12. Aufl. 2007, § 20 Rn. 12, § 21 Rn. 8 f.; Schreiber/Rosenau,
in: Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 5. Aufl. 2009, S. 77, 101 f.; Schönke/
Schröder/Lenckner/Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 21 Rn. 4, 6/7; von Heintschel-Heinegg/
Eschelbach, StGB, 2010, § 21 Rn. 3 f.; Fischer, StGB, 58. Aufl. 2011, § 21 Rn. 3; Lackner/
Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, § 21 Rn. 1; MüKo-StGB/Streng, 2. Aufl. 2011, § 20 Rn. 16 f., 50,
§ 21 Rn. 11 f.
27
Vgl. BGHSt 34, 22 (25); BGHSt 42, 385 (389); BGH, NJW 1995, 795 (796 f.); BGH,
NStZ-RR 2002, 328 f.; BGH NStZ-RR 2008, 140; BGH, NStZ 2011, 336 f.
28
Anders Frister, Die Struktur des „voluntativen Schuldelements“, 1993, S. 203; ders.,
Strafrecht AT, 4. Aufl. 2009, Kap. 18 Rn. 14; NK-StGB/Schild, 3. Aufl. 2010, § 21 Rn. 12 f.;
ferner Kotsalis, FS Stöckel, 2010, S. 397 (399 mit Fn. 10).
Das Gesetzlichkeitsprinzip im Bereich der Schuldfähigkeitsentscheidung 189

sichtsfähigkeit29. – Warum dieser etablierte Vorrang des § 17 gegenüber dem Wort-


laut der §§ 20, 21 nun gerade in actio libera in causa-Konstellationen nicht gelten
soll, bleibt seitens derjenigen, die die actio libera in causa ganz allgemein ablehnen,
ohne Begründung.
In der Tendenz hat die Lehre von der Unbegründbarkeit der actio libera in causa
gleichwohl durch die Entscheidung BGHSt 42, 235 ff. des 4. Strafsenats des Bundes-
gerichtshofes Unterstützung erhalten, wonach die Grundsätze der actio libera in
causa zumindest auf die Delikte der Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315 c
StGB) und des Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG) für nicht anwendbar erklärt
werden. Argument ist hierbei das Gesetzlichkeitsprinzip aus Art. 103 II GG. Der
Bundesgerichtshof stützt sich dabei u. a. auf die an sich berechtigte Kritik am Tatbe-
stands- bzw. Vorverlegungsmodell30. Seine Gründe für die Ablehnung speziell des
Ausdehnungsmodells, nämlich der Hinweis auf den identischen Wortlaut in § 16,
§ 17 u. § 20 StGB, erscheinen freilich vordergründig, wie oben (in 2.) schon
näher begründet wurde. Dass mit dieser Entscheidung des 4. Strafsenats noch
keine abschließende Aussage über die künftige Rechtsprechung des Bundesgerichts-
hofes abgegeben ist, zeigt sich darin, dass andere Strafsenate in neueren Entschei-
dungen die actio libera in causa-Konstruktion immerhin im Grundsatz weiterhin an-
erkennen31.
Für den Fall einer Ablehnung der actio libera in causa ist im Auge zu behalten,
dass hinsichtlich Vorsatzstrafbarkeit dann allein auf § 323 a StGB zurückgegriffen
werden kann32. Diese Strafnorm erscheint unter dem Gesetzlichkeitsprinzip zwar un-
anfechtbar, steht aber mit dem Schuldgrundsatz in Konflikt33. Denn es lässt sich

29
Vgl. Maurach/Zipf, Strafrecht AT 1, 8. Aufl. 1992, § 36 Rn. 74; Jescheck/Weigend,
Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, § 40 IV 1 (mit Fn. 50); Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 20
Rn. 36; Venzlaff/Foerster/Schreiber/Rosenau, Psychiatrische Begutachtung, 5. Aufl. 2009,
S. 77, 102; SSW-StGB/Schöch, 2009, § 21 Rn. 7; Schönke/Schröder/Lenckner/Perron, StGB,
28. Aufl. 2010, § 21 Rn. 6/7; von Heintschel-Heinegg/Eschelbach, StGB, 2010, § 21 Rn. 5;
MüKo-StGB/Streng, 2. Aufl. 2011, § 21 Rn. 13 f.; ferner Fischer, StGB, 58. Aufl. 2011, § 21
Rn. 4; Gegenposition bei Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, Abschn. 18 Rn. 31; SK-StGB/
Rudolphi, 7. Aufl. 2003, § 21 Rn. 4.
30
Vgl. BGHSt 42, 235 (238 ff.).
31
BGH, JR 1997, 391 (LS) – mit zust. Anm. von Hirsch; BGH, NStZ 2000, 584 – mit
Anm. von Streng, JuS 2001, 540 ff.
32
Bezüglich Fahrlässigkeitsstrafbarkeit kann daneben bei reinen Erfolgsdelikten auch
unmittelbar auf Fahrlässigkeitsgrundsätze zurückgegriffen werden; vgl. etwa BGHSt 42, 235
(236 f.); aus der Lit. etwa Horn, GA 1969, 289 ff.; Puppe, JuS 1980, 346 (350); Ranft, JA
1983, 193 (195); Paeffgen, ZStW 97 (1985), 513 (524 f.); Otto, Jura 1986, 426 (433); ders.,
Strafrecht AT, 7. Aufl. 2004, § 13 Rn. 32 f.; Roxin, FS Lackner, 1987, S. 307 (312); Hardtung,
NZV 1997, 97 (101 f.); Mitsch, JuS 2001, 105 (111 f.); LK/Schöch, 12. Aufl. 2007, § 20
Rn. 206; B. Heinrich, Strafrecht AT I, 2. Aufl. 2010, Rn. 603; Joecks, StGB, 9. Aufl. 2010,
§ 323 a Rn. 34; Fischer, StGB, 58. Aufl. 2011, § 20 Rn. 51; MüKo-StGB/Streng, 2. Aufl.
2011, § 20 Rn. 148 f.
33
Zur Kritik an der Regelung des § 323 a vgl. schon Arthur Kaufmann, JZ 1963, 425 ff.;
Hruschka, Strukturen der Zurechnung, 1976, S. 69 ff.; ders., Strafrecht AT, 2. Aufl. 1988,
190 Franz Streng

schwerlich rechtfertigen, die Tathandlung des Sich-Berauschens als Grundlage für


eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren zu akzeptieren. Die gesetzliche Regelung
des § 323 a II, III StGB bindet die Strafbarkeit daher auch an die Rechtsfolgegrenzen
der im Zustand der Berauschung begangenen rechtswidrigen Tat. Indirekt wird so die
im (möglichen) Zustand der Schuldunfähigkeit begangene rechtswidrige Tat doch
Gegenstand der Bestrafung. Es handelt sich in der Sache also um eine im Besonderen
Teil des Strafgesetzbuches versteckte Ausnahme zu der in § 20 StGB geregelten
Straflosigkeit des schuldunfähig Handelnden. Dabei bleibt diese verdeckte Form
der actio libera in causa ohne deren einschränkende dogmatische Voraussetzun-
gen34 ; etwa fehlt das dem Schuldprinzip geschuldete Erfordernis eines die Defekther-
beiführung mit der eigentlichen Rechtsgutsverletzung verknüpfenden Vorsatzes
(Doppelvorsatz) für Strafbarkeit aus vorsätzlicher actio libera in causa35. Immerhin
für schwerste Taten wirkt sich die in § 323 a StGB enthaltene Limitierung auf fünf
Jahre Freiheitsstrafe strafbegrenzend gegenüber der Strafdrohung des im Defekt ver-
wirklichten Straftatbestands aus36.

5. Resümee: Zur Konstruktion der actio libera in causa

Die actio libera in causa wird von der noch herrschenden Meinung als tragfähige
Konstruktion angesehen. Die wohl überwiegende Lehrmeinung und die Rechtspre-
chung verlagern den Schuldvorwurf gegen den Täter i.S. des Tatbestandsmodells
vor, so dass Anknüpfungspunkt des Schuldvorwurfs das Verhalten vor Eintritt der
Schuldunfähigkeit ist. Wer sich angesichts der zu begehenden Vorsatztat vorsätzlich
in Schuldunfähigkeit versetzt, mache sich quasi selbst zu seinem eigenen Werkzeug,
weshalb dieses Vorverhalten die schuldhafte Verwirklichung des – rein körperlich
erst später verwirklichten – Tatunrechts darstelle (sog. Vorverlagerungstheorie
bzw. Tatbestandsmodell). Dabei handelt es sich um eine ergebnisorientierte Umge-
hung der Regelung des § 20 StGB, die an einer Vielzahl konstruktiver Mängel leidet.
Nach verbreiteter anderer Ansicht stellt die actio libera in causa eine gewohn-
heitsrechtlich abgesicherte Durchbrechung der Regelung von § 20 StGB dar. Diesem
konstruktiv weniger anfechtbaren Ansatz des Ausnahmemodells wird freilich das

S. 298 ff.; Wolter, NStZ 1982, 54 ff.; Streng, JZ 1984, 114 (118 ff.); ders., JR 1993, 35 ff.;
ders., JZ 2000, 20 (26 f.); ders., NJW 2003, 2963 (2964 f.); Paeffgen, ZStW 97 (1985), 513
(526 ff.); ders., NStZ 1993, 66 ff.; Stratenwerth, GedS Armin Kaufmann, 1989, S. 485 (495,
499); Sick/Renzikowski, ZRP 1997, 484 ff.; Geisler, Zur Vereinbarkeit objektiver Bedingungen
der Strafbarkeit mit dem Schuldprinzip, 1998, S. 368 ff.; Freund/Renzikowski, ZRP 1999, 497
(498); Renzikowski, ZStW 112 (2000), 475 (504 f.); v. Heintschel-Heinegg/Dallmeyer, StGB,
2010, § 323 a Rn. 1.3.
34
Zu den daraus herzuleitenden Bedenken Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der
Grundrechte, 1996, S. 407 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner/Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 20
Rn. 35 b.
35
Dazu etwa LK/Schöch, 12. Aufl. 2007, § 20 Rn. 202 f.; v. Heintschel-Heinegg/Eschel-
bach, StGB, 2010, § 20 Rn. 74 f.; MüKo-StGB/Streng, 2. Aufl. 2011, § 20 Rn. 141 ff.
36
Ausführlich Streng, JZ 2000, 20 (26 f.); ders., NJW 2003, 2963 (2965).
Das Gesetzlichkeitsprinzip im Bereich der Schuldfähigkeitsentscheidung 191

Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 II GG) entgegengehalten, da die gewohnheitsrecht-


liche Aushebelung von § 20 StGB letztlich eine – wenn auch mittelbare – gewohn-
heitsrechtliche Strafbegründung enthalte und folglich unzulässig sei.
Oben näher begründet wurde, dass der Begriff der „Tat“ in § 20 StGB – also der
Schuldtatbestand – auch das tatrelevante Vorverhalten umfasst (sog. Ausdehnungs-
modell). Sobald zumindest das Versuchsstadium der eigentlichen Tatverwirklichung
erreicht ist, wird das zunächst straflose Vorverhalten der Defektherbeiführung rele-
vant für die Schuldwertung. Diese Ausdehnung des Schuldtatbestands steht in Über-
einstimmung mit der in § 17 S. 2 StGB kodifizierten Vorverschuldensregelung beim
Verbotsirrtum. Im Sinne solcher Gesamtbetrachtung handelt derjenige vorsätzlich
schuldhaft, der sich unter Hinblick auf die folgende Tatbestandsverwirklichung
schuldunfähig gemacht hat.

III. Allgemeines zum Verhältnis von Gesetzesauslegung


und Analogieverbot
Das eben Ausgeführte motiviert zu einer allgemeineren Stellungnahme bezüglich
der Heranziehung des Gesetzlichkeitsprinzips als Argument in strafrechtsdogmati-
schen Diskussionen. Ich plädiere dafür, das radikale, jede weitere strafrechtsdogma-
tische Beschäftigung mit der Rechtsfrage scheinbar entbehrlich oder gar unzulässig
machende Verdikt „unvereinbar mit dem Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 II GG, § 1
StGB)“ künftig mit größerer Zurückhaltung einzusetzen als derzeit in der Rechtsleh-
re in Mode37.
Dies soll kein Plädoyer für eine Großzügigkeit der Art bedeuten, wie sie der Bun-
desgerichtshof etwa in einer Entscheidung aus dem Jahre 1957 gezeigt hatte38, als er
unter „bespanntes Fuhrwerk, Kahn oder Lasttier“ (vgl. § 3 I Nr. 6 PrFDG) auch ein
Kraftfahrzeug subsumiert hatte. Jedoch ergibt sich eine Notwendigkeit zu sensiblem
Umgang mit der Behauptung eines Verstoßes gegen die Garantiefunktion des Geset-
zes aus der erfahrungsgemäß – und vielleicht notwendig – unvollkommenen Arbeit
des Gesetzgebers. Gerade im Bereich der Zurechnungsregeln des Allgemeinen Teils
muss für Rechtsentwicklung Raum bleiben, solange damit nicht Entscheidungen des
Gesetzgebers konterkariert werden39. Zudem kann der Gesetzgeber es nicht vermei-

37
Für einen kritischen Blick auf die weniger rigide Haltung der Gerichte vgl. Paeffgen,
StraFo 2007, 442 ff.; ferner Schroeder, NJW 1999, 89 ff.; zur Relativierung des Gesetzlich-
keitsprinzips im Zusammenhang mit der Internationalisierung des Strafrechts vgl. Jähnke, ZIS
2010, 463 ff.
38
Vgl. BGHSt 10, 375 f.; vgl. auch BGHSt 6, 394 (396): „Aber durch den Wortlaut ist die
Auslegung der Bestimmung nicht begrenzt; es kommt vielmehr auf den Sinn und Zweck an,
den der Gesetzgeber – nach ihrer Stellung im Gesetz – erkennbar verfolgt hat“; zur Kritik etwa
Roxin, Strafrecht AT 1, 4. Aufl. 2006, § 5 Rn. 34; Simon (Fn. 12), S. 101 ff., 124 f.; vgl. zum
Ganzen auch Naucke, Strafrecht Eine Einführung, 10. Aufl. 2002, § 2.
39
Vgl. etwa Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 7 Rn. 82 ff.
192 Franz Streng

den, bestimmte Begriffe wie etwa „Tat“ in verschiedenen Normen mit ganz unter-
schiedlichem Regelungsgegenstand zu verwenden40. Dies bringt es dann naheliegen-
der Weise mit sich, dass der jeweilige Tatbegriff eine spezifische Funktion innerhalb
des fraglichen Regelungszusammenhangs gewinnt und damit auch einen jeweils ei-
genen Bedeutungsgehalt41.
Um diese Relativität der Begriffe zu plausibilisieren, bedarf es keiner tiefschür-
fenden sprachwissenschaftlichen Begründung. Bereits ein Blick in ein beliebiges
Wörterbuch lehrt, wie viele Bedeutungen ein bestimmter Ausdruck haben kann42.
Über den Aussagegehalt des Begriffes können wir oft nur bei Berücksichtigung
des sprachlichen Kontexts Auskunft geben. Auch im strafrechtlichen Zusammen-
hang ist jede Behauptung zum „möglichen Wortsinn“ als Grenze zulässiger Ausle-
gung in eine Diskussion des Regelungszusammenhangs der Norm einzubetten43. Von
daher ist etwa die Behauptung, ein bestimmter Gesetzesbegriff müsse in verschiede-
nen Normen gleich interpretiert werden44, mit Misstrauen wahrzunehmen und be-
dürfte akribischer Begründung.
Die zunehmende Bereitschaft in Rechtsprechung und Rechtslehre, „auf dem –
scheinbar – bequemen Weg der Aktivierung des Analogieverbots“ (Küper45) die Be-
mühungen um eine sachangemessene Auslegung des Gesetzes einzustellen46, er-
scheint nicht unproblematisch47. Zwar ist die Beachtung verfassungsrechtlicher Prin-
zipien oberstes Gebot. Doch muss der Text von Art. 103 II GG gerade auch unter den

40
Vgl. für die §§ 16 ff. StGB bei MüKo-StGB/Streng, 2. Aufl. 2011, § 20 Rn. 133 ff.
41
Insoweit verdient die durchaus nicht identische Interpretation des Tatbegriffs bei § 22
und § 24 StGB besondere Beachtung, da der Rücktritt sich ja unmittelbar auf die versuchte Tat
bezieht und insoweit ein gemeinsamer Regelungsbereich vorliegt. Durch ihre auf den Rück-
trittshorizont abstellende Gesamtbetrachtungslehre zur Abgrenzung von unbeendetem und
beendetem Versuch (sowie fehlgeschlagenem Versuch) verfolgt die Rspr. (vgl. BGHSt-GS 39,
221 [227 f.]) aber eine besonders weite Interpretation der „Tat“ i.S.v. § 24, d. h. es können auch
mehrere Taten i.S.v. § 22 eine Tat i.S.v. § 24 darstellen. Wenig erstaunlich ist der Tatbegriff
des § 24 StGB hoch umstritten (vgl. etwa Murmann, Versuchsunrecht und Rücktritt, 1999,
S. 56 ff.; Scheinfeld, Der Tatbegriff des § 24 StGB, 2006; Streng, JZ 2007, 1089 [1091]; Linke,
Der Rücktritt vom Versuch bei mehreren Tatbeteiligten gemäß § 24 Absatz 2 StGB, 2010,
S. 101 ff.).
42
Vertiefend Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung: Vom vertikalen zum horizontalen
Verständnis, 2008, S. 98 ff.
43
Dazu etwa Simon (Fn. 12), S. 77 ff., 134 ff.; Kudlich, FS Stöckel, 2010, S. 93 (103 ff.);
ferner Palazzo, Strafgesetzlichkeit. Transformation und Vielschichtigkeit eines „Fundamen-
talprinzips“, 2010, S. 41 ff.
44
Vgl. etwa BGHSt 42, 235 (240); dagegen MüKo-StGB/Streng, 2. Aufl. 2011, § 20
Rn. 135; ferner BGHSt 55, 36 (48 f.).
45
Küper JZ 1997, 229 (231).
46
Vgl. etwa BGHSt 42, 158 (160): „Der Senat verkennt nicht, dass diese Auffassung im
Einzelfall unbefriedigende Ergebnisse vermeiden könnte. Ihre Vermeidung wäre aber nur
durch eine Gesetzesänderung möglich“.
47
Vgl. auch Jakobs bei Dietmeier, ZStW 110 (1998), 393 (407).
Das Gesetzlichkeitsprinzip im Bereich der Schuldfähigkeitsentscheidung 193

Bedingungen der Strafgesetzgebung und deren Umsetzung in der Praxis48 gelesen


werden. Unverkennbar ist der Gesetzgeber darauf angewiesen, dass solche Probleme,
wie sie durch die im Gesetzgebungsverfahren weithin gar nicht überschaubaren Aus-
wirkungen von Gesetzesformulierungen auftreten, dann von den Gerichten und der
Wissenschaft bewältigt werden. Und manchmal ruft der Gesetzgeber selbst Gerichte
und Wissenschaft dazu auf, die im Gesetzgebungsverfahren offen gebliebenen Fra-
gen zu klären; dies war gerade im Zusammenhang mit der früher gewohnheitsrecht-
lich anerkannten Strafbarkeit unter Heranziehung der actio libera in causa der Fall49.
Sich als Wissenschaftler hier zügig auf den Wortlaut des Gesetzes zurückzuzie-
hen, ohne die Auslegungsgrenzen des „möglichen Wortsinns“ akribisch auszuloten,
bedeutet schwerlich, dem Prinzip der Gewaltenteilung Reverenz zu erweisen. Im Üb-
rigen ist angesichts der Schutzrichtung gerade des Analogieverbots50 auf den Ver-
ständnishorizont des juristischen Laien zu achten: In concreto dürften die Bürger re-
gelmäßig davon ausgehen, dass es sich bei einer vorsätzlich mittels Selbstberau-
schung durchgeführten Tat bei der vorbereitenden Defektherbeiführung und der an-
schließenden Durchführung des Gesamtplans um ein und dieselbe Tat i.S.v. § 20
StGB handelt; der Gesetzlichkeitsgrundsatz erzwingt die Haltung derjenigen, die
die actio libera in causa ablehnen, also durchaus nicht. Solange den Bürgern
durch die lex scripta der strafrechtliche Normbereich bzw. die ihnen drohende straf-
rechtliche Haftung deutlich genug wird, bleibt es Aufgabe der Gerichte und der Wis-
senschaft, mit den vorliegenden Gesetzestexten im Sinne der allgemeinen Wahrneh-
mung des Textes zu arbeiten – trotz des immer wieder und zunehmend sich einstel-
lenden Wunsches nach gründlicherer Kodifikationsarbeit51. Dass eine puristische
Anwendung des Gesetzlichkeitsprinzips durch die Rechtswissenschaft den Gesetz-
geber tatsächlich zur wünschenswerten gründlicheren und umfassenderen Normset-
zung erziehen wird, dürfte jedenfalls mehr als fraglich sein.
Festzuhalten bleibt die Empfehlung, das Verdikt des Analogieverbots zurückhal-
tender einzusetzen als dies derzeit der Fall ist. Man hüte sich davor, das Gesetzlich-
keitsprinzip vorschnell als Mittel zur Petrifizierung einer Rechtsauslegung zu nut-
zen, die zur gesellschaftlichen Aufgabe des Rechts in Widerspruch steht. Wenn
keine Unklarheit in der Wahrnehmung der konkreten Strafdrohung in der Öffentlich-

48
Zur Unzulänglichkeit der etablierten Methodenlehre, diesen Umsetzungsprozess zu be-
wältigen vgl. Hassemer, ZRP 2007, 213 (217 ff.); Christensen/Kudlich (Fn. 42), S. 80 ff.
49
Vgl. dazu näher bei Streng, JZ 2000, 20 (22) – mit Fn. 28.
50
Näher zum Gewährleistungsgehalt von Art. 103 II GG etwa Appel, Verfassung und
Strafe, 1998, S. 117 ff.
51
Außerordentlich scharfe Kritik hat die unzulängliche Vorbereitung des 6. StrRG von
1998 bei Lackner/Kühl (Das Sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts. Eine kritische Ein-
führung, 1998, S. V ff.) gefunden. Man mag die in diesem Gesetzgebungsverfahren deutlich
gewordene überhastete und daher fehleranfällige Strafgesetzgebung als symptomatisch für die
derzeitige legislatorische Tätigkeit ansehen. Vgl. auch Hettinger, in: Laubenthal (Hrsg.),
Festgabe für Rainer Paulus zum 70. Geburtstag, 2009, S. 73 ff. Für ähnliche Erscheinungen in
einem Nachbarland Stratenwerth, SchwZStr 127 (2009), 114 ff.
194 Franz Streng

keit besteht, nämlich der normale Bürger bei einem von seinem Rechtsgefühl gelei-
teten Blick ins Gesetz von der Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens ausgehen
kann, handelt es sich bei Meinungsunterschieden über eine weitergehende Ein-
schränkung der Strafbarkeit um Fragen der Auslegung des Gesetzes, nicht aber
um die Reichweite verfassungsrechtlicher Garantien im Sinne des Bestimmtheits-
grundsatzes des Art. 103 II GG. Gleichermaßen bleibt die Geltung des Gewaltentei-
lungsprinzips unberührt, wenn der Gesetzgeber der Lehre und Rechtsprechung die
Klärung offener Fragen anvertraut hat, wie dies im Zusammenhang mit der actio li-
bera in causa der Fall war52.

52
Vgl. oben Fn. 49.
Die normative Selbstregulierung im Umweltstrafrecht
Probleme aus Sicht des Gesetzlichkeitsprinzips

Raquel Montaner Fernández*

I. Einleitung
Der Einsatz des Strafrechts als Mittel der Risikokontrolle und -prävention ist in
Bereichen sehr komplexer technischer und wissenschaftlicher Tätigkeit immer stär-
ker gefragt. Dies ist zum Beispiel bei den Tatbeständen des Unternehmensstrafrechts
der Fall, zu welchem die Fälle der Umweltkriminalität mehrheitlich zählen. Aller-
dings wird das (Straf-)Recht nicht immer das bestgeeignetste Mittel sozialer Regu-
lierungen sein, um auf alle in diesem Bereich gewonnenen Erkenntnisse zuzugreifen
und diese zu verarbeiten. Tatsächlich sind die spezialisierten privaten Subjekte des
jeweiligen Unternehmenssektors, welche in einem bestimmten Moment deliktisches
Verhalten verwirklichen können, die einzigen, die wirklich in der Lage sind, dieses
Wissen zu beherrschen und zu beurteilen.1 Beansprucht das Recht, daran Teil zu
haben, dann hat es keine andere Wahl, als den Abstand zur Technik zu verkürzen.
Deswegen ist nicht nur eine rechtliche Regulierung notwendig, welche mit Effizienz
jene technischen Handlungen oder Prozesse reguliert, deren Verwirklichung Nach-
teile für Dritte hervorbringen können – dies nennt sich heterogene Regulierung –,
sondern auch die technische Regulierung der jeweiligen technischen Sektoren zu for-
dern, in Ergänzung zur bestehenden rechtlichen Regulierung – dies ist die sogenannte
regulierte Selbstregulierung.
Nach dieser Sachlage ist es erforderlich, die Möglichkeit der Einflussnahme der
normativen Selbstregulierung im Recht und – im hiesigen Zusammenhang – im
Strafrecht zu erörtern. Denn es kommt vor, dass die strafrechtliche Eingliederung sol-
cher Selbstregulierungsformen mit dem von uns geschätzten Gesetzlichkeitsprinzip
in Konflikt gerät, was auf den folgenden Seiten näher auszuführen sein wird. Diese
Problematik kann sich konkret bei gewissen als Blankettstrafnormen ausgestalteten

* Übers. von Ref. iur. Steffen Röber, Berlin.


1
In diesem Sinne Esteve Pardo, Autorregulación. Génesis y efectos, Cizur Menor, 2002,
S. 29, S. 172; Darnaculleta i Gardella, Autorregulación y Derecho público: la autorregulación
regulada, Madrid, 2005, S. 51; auch Sieber, „Compliance-Programme im Unternehmens-
strafrecht. Ein neues Konzept zur Kontrolle von Wirtschaftskriminalität“, in: Festschrift für
Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag, 2008, S. 475 – 476.
196 Raquel Montaner Fernández

Straftatbeständen ergeben. Dies bedeutet in Anbetracht des Bereiches, in welchem


sich die darin enthaltenen tatbestandsmäßigen Handlungen normalerweise verwirk-
lichen, eine starke Berücksichtigung der technischen Regulierung.
Nach dieser kurzen Heranführung an den Begriff und die Formen der Selbstregu-
lierung ist die primäre Intention dieser Arbeit, aus der Perspektive des Gesetzlich-
keitsprinzips die strafrechtlichen Auswirkungen der Selbstregulierungsformen bei
der Bestimmung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Rahmen der Unterneh-
menskriminalität und im Speziellen der Umweltkriminalität zu analysieren. Hierzu
wird ausschließlich von der Sichtweise der Zurechnung strafrechtlicher Verantwort-
lichkeit zu Individualpersonen ausgegangen, die bei der unternehmerischen Tätig-
keit mitwirken, welche in eine deliktische Handlung mündet. So wird ein Augenmerk
auf die Art und Weise gelegt, in der in einem Unternehmen gewisse operative Formen
der normativen Selbstregulierung bei der Ausfüllung der im Spanischen Strafgesetz-
buch geregelten Umweltstraftat (Art. 325) gestalterisch einwirken oder zumindest
daran teilhaben.2 Dabei ist eine der großen Fragen, ob die Nichterfüllung einer tech-
nischen Umweltschutznorm ein bei der Würdigung der Strafbarkeit dieser Zuwider-
handlung zu beachtendes Tatbestandsmerkmal ist. Es handelt sich mit anderen Wor-
ten um die Analyse, inwiefern die Produkte der normativen Selbstregulierung, unter
Beachtung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips, dazu dienen dürfen, den Tat-
bestand der Umweltstraftat – insofern ein Blankettstrafgesetz – auszufüllen.
Bevor das Hauptanliegen dieser Arbeit angegangen wird, müssen jedoch einige
Begriffe um das Phänomen, die Kategorien und die aus der Selbstregulierung hervor-
gehenden Produkte im Rahmen der unternehmerischen Tätigkeit abgegrenzt werden.

II. Die Selbstregulierung im Unternehmen


1. Annäherung an den Anwendungskontext

a) Jede Tätigkeit von gewisser Komplexität, welche zumindest das wirksame Er-
reichen ihrer Zwecke verfolgt, erfordert die Bestimmung optimaler Richtlinien oder
Parameter zur Erreichung dieses Ziels. Hierzu ist es nicht nur notwendig, über das
geeignete Wissen und die Mittel zur Entfaltung einer Tätigkeit zu verfügen. Vielmehr
ist auch entscheidend, über die Kapazitäten für die Anwendung des Wissens und die
Mittel dazu zu verfügen. Dieser Gedanke lässt sich perfekt auf die unternehmerische
Tätigkeit übertragen, denn auch hier ist die korrekte Vereinigung von Wissen (Wis-
senschaft) und Anwendung des Wissens zur Erreichung eines Ziels (Technik) uner-
lässlich. Vor allem von Seiten der besonders zu beachtenden Verwaltungsrechtslehre
wird hervorgehoben, dass die Anstrengungen, die zur Anerkennung von Konzepten
2
Bezüglich der letzten Gesetzesnovellierung der Straftaten gegen die Umwelt im Spani-
schen Strafgesetzbuch Montaner Fernández, „Delitos contra los recursos naturales y el medio
ambiente“, in: Ortiz de Urbina Gimeno (Hrsg.), Memento Experto. Reforma Penal 2010,
2010, S. 369 – 409.
Die normative Selbstregulierung im Umweltstrafrecht 197

wie der „Technikwissenschaft“ geführt haben, die immer wichtigere Rolle der An-
wendung und Nützlichkeit der Wissenschaft offenbaren, mehr als deren klassische
Funktion der Suche nach Gewissheit.3 Die unternehmerische Tätigkeit ist genau ge-
nommen ein eindeutiger Ausdruck dieser wissenschaftlichen Neuorientierung. Denn
bei der unternehmerischen Tätigkeit manifestiert sich deutlich die Instrumentalisie-
rung des Wissens auf der Suche nach dem hauptsächlich ökonomischen Nutzen.
b) Die Entwicklung und Verbreitung von Selbstregulierungsformen unterschied-
licher Tätigkeitsbereiche steht in engem Bezug zur sogenannten Risikogesellschaft.4
In einer ausgesprochen risikofeindlichen Gesellschaft scheint klar, dass eine ihrer
Prioritäten die Suche und die Entwicklung von Mechanismen ist, welche die Redu-
zierung oder zumindest die Kontrolle von Gefahrenräumen erlauben. Die Formen
privater Regulierung können gerade eines dieser Instrumente sein.5 In der Tat ist
eine der wesentlichen Eigenschaften der unterschiedlichen Selbstregulierungsfor-
men deren enge Verknüpfung mit der Funktion des Risikomanagements und der Ri-
sikokontrolle.6 Tatsächlich und gerade im Umfeld der Unternehmenstätigkeit sind
bestimmte Systeme der Corporate Governance und von Compliance Programmen7
wie auch von anderen Formen der normativen Selbstregulierung in den Unternehmen
als Antwort auf große Skandale der Wirtschaftskriminalität etabliert worden, dies vor
allem in den Vereinigten Staaten.8 Deshalb wird auch mittels der Selbstregulierungs-

3
Vgl. Esteve Pardo, El desconcierto del Leviatán. Política y derecho ante las incertidum-
bres de la ciencia, 2009, S. 54.
4
Hierzu Beck, La sociedad del riesgo. Hacia una nueva modernidad, 1998.
5
In diesem Sinne Esteve Pardo, „El reto de la autorregulación o cómo aprovechar en el
sistema jurídico lo que se gesta extramuros del mismo. Mito y realidad del caballo de Troya“,
in: Arroyo Jiménez/Nieto Martín, Autorregulación y sanciones, 2008, S. 44, zeigt, dass zu-
sammen mit dem Bereich der Grundrechte und des Wirtschafts- und Finanzsystems das Ri-
sikomanagement technologischen Ursprungs der dritte Bereich ist, in welchem die Selbstre-
gulierung typischerweise wirkt, vgl. S. 43 – 45.
6
Vgl. Vorwort von Esteve Pardo, in: Darnaculleta i Gardella, Autorregulación y Derecho
público: la autorregulación regulada, 2005, S. 14; Esteve Pardo, Autorregulación. Génesis y
efectos, 2002, S. 84.
7
Hierüber und andere Kategorien ethischer Kodizes Laufer/Roberston, „Corporate Ethics
Initiatives As Social Control“, Journal of Business Ethics, vol. 16, Nr. 10, 1997, S. 1030; vgl.
auch De Maglie, „Sanzioni pecuniarie e tecniche de controllo dell’impresa. Crisi e innovazioni
nel diritto penale statunitense“, Riv. It. Dir. e Proc. Penale, 1995, S. 137 ff.
8
Vgl. Sieber, in: Tiedemann-FS, S. 449, unter Hinweis auf die Skandale bei World-Com,
Enron, Parmalat und Flowtex; auch De Cleyn, „Compliance of Companies with Corporate
Governance Codes: Case Study on listed Belgian SMEs“, Journal of Business Systems,
Governance and Ethics, vol. 3, Nr. 1, 2008, S. 1, S. 2; McConvill, „Positive Corporate
Governance“, in: Journal of Business and Security, 2005 – 2006, S. 51 – 52. Über die Gründe
für diese Skandale Tillman, „Making the rules and breaking the rules: the political origins of
corporate corruption in the new economy“, Crime Law Soc Change (51), 2009, S. 73 – 86.
Siehe auch Laufer/Roberston, Journal of Business Ethics, vol. 16, Nr. 10, 1997, S. 1035, die
jedoch zeigen, dass sich nicht allgemein sagen lässt, dass diese Unternehmenskodizes eine
abwehrende Antwort auf Unternehmensskandale mit großem medialem Echo seien, sondern
198 Raquel Montaner Fernández

formen Risikomanagement betrieben, was hochspezialisierte und hochkomplexe Be-


reiche umfassen kann. Dies geschieht von Seiten der die fragliche Tätigkeit durch-
führenden Subjekte bzw. Personen selbst, welche auch über das Spezialwissen des
Sektors verfügen.
c) Die die Unternehmen zur Selbstregulierung motivierenden Interessen sind
nicht immer die gleichen. Für einige sind sie der Funktionsweise des Unternehmens
inhärent, da das Erfüllen und Befolgen von Normen – nicht nur der rechtlichen Nor-
men – das ethisch Richtige ist.9 So führt die Betrachtung des Unternehmens als eines
nicht nur auf Maximierung seiner ökonomischen Vorteile ausgerichteten Wirt-
schaftsakteurs, sondern auch als eines moralisch Handelnden, sozial Engagierten
und um die Auswirkungen seiner Entscheidungen Besorgten, zum Begriff der unter-
nehmerischen sozialen Verantwortlichkeit oder der körperschaftlichen sozialen Ver-
antwortlichkeit.10 Die Reputation des Unternehmens ist auch ein gewichtiges Motiv
für die Durchführung von Selbstregulierungsprogrammen. Tatsächlich ist dies für
manchen Autor der derzeit gewichtigste Faktor, sich für die Selbstregulierung zu ent-
scheiden. Denn NGOs oder andere soziale Interessensgruppen sind dazu fähig, harte
Kampagnen gegen gewisse Unternehmen zu fahren – zum Beispiel wegen deren re-
spektlosen Umgangs mit der Umwelt – und können so deren Reputation und Position
auf dem Markt schwer beeinträchtigen.11 Ferner wird von den Unternehmen die An-
nahme und die Erfüllung der Selbstregulierungsformen als etwas begriffen, das mit
ihren eigenen Unternehmenszielen verbunden ist. Denn die Selbstregulierungsfor-
men können sich langfristig in einen finanziellen Vorteil für die eigene Unterneh-
menstätigkeit verwandeln. So kann zum Beispiel die Wandlung zu einem öko-effi-
zienteren Unternehmen die unternehmerischen Kosten senken.12 Des Weiteren kann
man die Selbstregulierung als eine Methode einsetzen, um ein staatliches Eingreifen
zu verringern oder zu verhindern.13 D.h. die Privatsubjekte entscheiden sich vor einer
Erhöhung oder Verschärfung der öffentlichen Regulierung wegen möglicher Verstö-
ße selbst, sich „einem selbstregulierenden System [zu unterwerfen], das Aktivitäten
wegen eines Verstoßes gegen rechtliche Normen verhindert oder vorbeugt, die dem
Unternehmen sehr negative Konsequenzen verursachen könnten“.14 Deshalb funktio-
nieren aus Sicht der praktischen Ausführbarkeit der unternehmerischen Tätigkeit die

vielmehr aus dem Schutzmechanismus der eigenen Unternehmensinteressen hervorgehen,


siehe S. 1035 – 1036.
9
Vgl. Braithwaite/Fisse, „Self-regulation and the control of corporate crime“, in: Shea-
ring/Stenning (Hrsg.), Private Policing, Newbury Park (California), 1987, S. 221 – 222.
10
Vgl. Calveras/Ganuza, „Responsabilidad social corporativa. Una visión desde la Teoría
Económica“, in: http://hdl.handle.net//2072/1578.
11
Vgl. Vogel, „Private Global Business Regulation“, Annual Review of Political Science,
vol. 11, 2008, S. 268; auch O’Riordan/Fairbrass, „Corporate social responsibility (CSR):
Models and theories in stakeholder dialogue“, Journal of Business Ethics (83), 2008, S. 746.
12
Vgl. Vogel, Annual Review of Political Science, 2008, S. 268 – 269.
13
Vgl. Braithwaite/Fisse, Private Policing, 1987, S. 221 – 222.
14
Vgl. Esteve Pardo, Autorregulación. Génesis y efectos, 2002, S. 58.
Die normative Selbstregulierung im Umweltstrafrecht 199

Mittel der Selbstregulierung als echte Präventionsinstrumente. Insofern sind die Un-
ternehmen nicht nur am Rückgriff auf Formen der Selbstregulierung interessiert, um
eine verwaltungsrechtliche oder sogar strafrechtliche Sanktionierung zu verhindern,
sondern auch um Produktreklamationen oder große zivilrechtliche Schäden zu ver-
hindern.15

2. Selbstregulierung und regulierte Selbstregulierung


in der unternehmerischen Tätigkeit:
Begriffliche Abgrenzung

a) Das Hauptmerkmal der Selbstregulierung ist deren privater Ursprung oder, wie
Esteve Pardo aufzeigt, ihr Ursprung in der Gesellschaft selbst, also außerhalb des
Staates.16 Die Selbstregulierung bildet auf diese Weise eine Regulierung, welche
die privaten Subjekte und Organisationen eigenständig in deren Berufsumfeld
ohne Intervention der öffentlichen Gewalten entwickeln.17 Folglich werden die
Selbstregulierungsformen im privaten Umfeld nicht nur ausgearbeitet, sondern ver-
breiten dort auch ihre Wirkung. Dies verhindert allerdings nicht, dass deren Wirkun-
gen über den eigenen Tätigkeitssektor hinausgehen und auf diese Weise von Seiten
der öffentlichen Gewalt berücksichtigt werden.18
Konkret lässt sich bezüglich der unternehmerischen Tätigkeit festhalten, dass die
dort angewandten Selbstregulierungsformen entweder Produkt des jeweiligen indi-
viduellen Unternehmens – zum Beispiel ein ethischer Kodex – oder auch ein Produkt
aus Vereinbarungen eines Unternehmens- bzw. Berufsverbandes des Sektors sein
können.19 Auf jeden Fall sind die Schöpfer dieser Selbstregulierungsformen Privat-
subjekte, die nicht nur über das spezialisierte Wissen verfügen, sondern auch über die
Erfahrung bei dessen Anwendung.
b) Die Hauptformen der privaten Regulierung sind die normative Selbstregulie-
rung, die deklarative Selbstregulierung und die resolutive Selbstregulierung. Zu-
nächst einmal kann die Selbstregulierung normativen Charakter haben, wenn sie
sich in Form von Richtlinien oder Normen manifestiert, welche die beste Methode
zur Erreichung bestimmter Resultate vorgeben. Hieraus folgt, dass besonders im in-
dustriellen und beruflichen Sektor die rechtlichen Normen mit einer Reihe von ex-
trajuristischen Sozialnormen zusammentreffen: die technischen Normen und Regeln
bzw. Verhaltenskodizes oder ethischen Kodizes.20 Zweitens kann die Selbstregulie-
rung in der Deklaration von Einzelvereinbarungen oder -entscheidungen bestehen,
15
Vgl. Braithwaite, Regulation, Crime and Freedom, 2000, S. 95.
16
Vgl. Esteve Pardo, in: Autorregulación y sanciones, 2008, S. 40, S. 43.
17
Vgl. Esteve Pardo, Autorregulación, S. 15 – 17; Lenckner, „Technische Normen und
Fahrlässigkeit“, in: Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag, 1969, S. 490.
18
Vgl. Esteve Pardo, in: Autorregulación y sanciones, S. 45 – 46.
19
Diesbezüglich Bermejo, Prevención y castigo del blanqueo de capitales. Una apro-
ximación desde el Análisis Económico del Derecho (Tesis doctoral UPF), 2009, S. 110.
20
Diesbezüglich Esteve Pardo, Autorregulación. Génesis y efectos, 2002, S. 114 – 120.
200 Raquel Montaner Fernández

wie der Bewilligung von technischen Zertifikaten, Qualitätsmarken oder -kennzei-


chen. Und letzten Endes kann sich die Selbstregulierung in Form von Schiedsent-
scheidungen oder disziplinarischen Sanktionen (also im Sinne einer Resolution) aus-
drücken.21 Die vorliegende Abhandlung wird sich nur mit den Formen der normati-
ven Selbstregulierung beschäftigen.
c) Einer der grundlegenden Wesenszüge der normativen Selbstregulierung ist im
Unterschied zur rechtlichen Regulierung, dass sie von Seiten der Privatpersonen frei-
willig erfolgt. Und es sind die handelnden Personen des jeweiligen Sektors selbst, für
die die Anwendung dieser Sozialnormen privaten Ursprungs gedacht ist. Diese ent-
scheiden letztlich über die Selbstbindung durch diese Formen der Selbstregulierung.
Entscheidet sich nun ein Subjekt vor dem Hintergrund des freiwilligen Charakters,
sich diesen privaten Normen nicht zu unterwerfen, kann es abweichend von diesen
Normen verfahren, ohne dass dies unmittelbar sanktionsrechtliche Konsequenzen
nach sich ziehen würde.22 So steht es zum Beispiel zur Entscheidung des Unterneh-
mens, sich an eine Norm der ISO (International Organization for Standardization)
der 14000er-Serie bezüglich des Umweltmanagements und der Umweltprüfung zu
binden oder an deren spanische Version, die korrespondierenden Normen der
UNE (Una Norma Española), welche die AENOR (Asociación Española de Norma-
lización y Certificación) erarbeitet. Da es sich bei all diesen Normen um technische
und nicht rechtliche Normen handelt, bedeutet deren freiwilliger Charakter tatsäch-
lich, dass die Unternehmen selbst die Entscheidungsbefugnis darüber besitzen, ob sie
auf deren Basis operieren oder nicht.
d) Die Wirkung der unternehmerischen Tätigkeit entfaltet sich offenkundig nicht
nur ad intra des Unternehmens, sondern auch ad extra. So gibt es zahlreiche denk-
bare Gruppierungen (stakeholders), die – positiv oder negativ – von den Resultaten
der unternehmerischen Tätigkeit betroffen sein können. In gleicher Weise gibt es
viele, die daran interessiert sind, dass die Tätigkeit in dieser Form reguliert wird,
kann dies doch die Wahrung ihrer Interessen sichern. So kann es sich gerade bei
den öffentlichen Interessen verhalten. So kann der Staat zu einem der Hauptinteres-
senten an der Sicherung werden, dass die unternehmerische Tätigkeit korrekt ausge-
richtet ist. Deshalb ist die Selbstregulierung nicht etwas, das komplett im Rahmen der
öffentlichen Gewalt existiert und entsteht, sondern ganz im Gegenteil. Obwohl die
Selbstregulierung im engeren Sinn die Form der durch die Privatsubjekte generierten
Regulierung bleibt, ohne Eingreifen der staatlichen Gewalt, werden die durch den
Staat gesteuerten oder „extern bedingten“ privaten Regulierungen aber immer häu-
figer.23
Trotz der möglichen Vorteile für die unternehmerische Organisation durch die
Selbstregulierung ist gewiss, dass nicht alle Unternehmen sich auf Grund eigener In-
21
Vgl. Esteve Pardo, Autorregulación. Génesis y efectos, 2002, S. 15.
22
Vgl. Salmoni, Le norme tecniche, 2001, S. 242.
23
Vgl. Arroyo Jiménez, „Introducción a la autorregulación“, in: Arroyo Jiménez/Nieto
Martín (Hrsg.), Autorregulación y sanciones, 2008, S. 23.
Die normative Selbstregulierung im Umweltstrafrecht 201

itiative für eine Selbstregulierung entscheiden. Vielmehr ist es gelegentlich notwen-


dig, dass die Unternehmen irgendeine Form externen Drucks verspüren.24 Die öffent-
liche Gewalt ist gerade eines der Subjekte, die in der Lage sind, besagten Druck aus-
zuüben. Dies drücken die Wendungen „regulierte Selbstregulierung“ und „Ko-Regu-
lierung“ aus. Sie nehmen auf diejenigen „Bekundungen der Selbstregulierung
Bezug, deren Kontext und Wirkung von der Verwaltungsgesetzgebung vorbestimmt
wird“.25 Die regulierte Selbstregulierung ist folglich das Resultat der Beziehung zwi-
schen Fremdregulierung und Selbstregulierung. Nach der Verwaltungsrechtslehre ist
sie eine Form der „durch den Gesetzgeber und die Verwaltung kontrollierten und in-
strumentalisierten“ Selbstregulierung, eine Selbstregulierung in Diensten öffentli-
cher Zwecke.26
e) Jedoch bleibt auch im Umfeld der regulierten Selbstregulierung die direkte Ver-
antwortlichkeit des Risikomanagements in den Händen der Privatpersonen, die das
Risiko generieren – normalerweise individuelle Unternehmen. Wie die Verwaltungs-
rechtslehre aufzeigt, kommt es vor, dass Privatsubjekten erlaubt wird, „diese Verant-
wortung ihrerseits an andere Privatsubjekte zu übertragen; Technikexperten, welche
die Risiken minimalisieren können – Normierungsorganisationen, Zertifizierungs-
stellen, Kontrollorgane, Umweltprüfer, Wirtschaftsprüfstellen und Test- und Eichla-
bore“. Dann beschränkt sich auch die Funktion des Staates „auf die Kontrolle der
korrekten Funktionsweise des für das Risikomanagement verfassten Selbstregulie-
rungssystems“.27 Obwohl der Staat nicht in der Lage ist, direkt in die Regulierung
von Bereichen erhöhter technischer Komplexität einzugreifen – da er, neben anderen
Gesichtspunkten, nicht über die erforderlichen Spezialkenntnisse verfügt – hat er
durch die regulierte Selbstregulierung die Kontroll- und Überwachungsmöglichkeit
über die Selbstregulierungsinstanzen und das, was diese zur Reduzierung der von
ihnen verursachten Risiken unternehmen. So wandelt sich die regulierte Selbstregu-
lierung in eine indirekte Strategie der öffentlichen Regulierung.28

3. Die Hauptausdrucksformen
der technisch-normativen Selbstregulierung:
die technischen Regeln und Normen

a) Unter den Formen der normativen Selbstregulierung unterscheidet man zwi-


schen jenen Regulierungen von technischem Charakter – wie es die technischen Re-
geln und Normen sind – und jenen von ethischer Natur – wie zum Beispiel den ethi-
schen Kodizes. Aus strafrechtlicher Sicht zeigt sich die Bedeutung der ethischen

24
Vgl. Simpson, Corporate Crime, S. 100.
25
Darnaculleta i Gardella, Autorregulación y Derecho público, 2005, S. 33 – 34.
26
Vgl. Darnaculleta i Gardella, Autorregulación y Derecho público, 2005, S. 75, S. 83;
auch Arroyo Jiménez, Autorregulación y sanciones, S. 24.
27
Vgl. Darnaculleta i Gardella, Autorregulación y Derecho público, 2005, S. 136.
28
Vgl. Darnaculleta i Gardella, Autorregulación y Derecho público, 2005, S. 85, S. 87.
202 Raquel Montaner Fernández

Selbstregulierungsformen hauptsächlich auf dem Gebiet der Begründung von Ver-


antwortlichkeit juristischer Personen. Dagegen haben die Formen der technischen
Selbstregulierung größere Bedeutung zur Begrenzung individueller Verantwortlich-
keitssphären erlangt. Hinsichtlich der Auswirkungen der Selbstregulierung auf die
Bestimmung der Straftatbestandsmäßigkeit von Handlungen, soll hier nur auf die
normative Selbstregulierung technischer Art eingegangen werden.
b) Zunächst sind die technischen Regeln (regulae artis oder lex artis) „Methoden,
um als im beruflichen Sektor, um den es sich handelt, allgemein anerkannt geeignet
zu verfahren“. Ihre Funktion ist es, „das vernünftigerweise zu fordernde Niveau, die
Sorgfaltspflichten oder den Sorgfaltsmaßstab einer konkreten Leistung“ zu definie-
ren.29 Deshalb meinen manche, dass die technischen Regeln als Kriterien bei der
Würdigung hinsichtlich der Einhaltung der gebotenen Sorgfalt herangezogen werden
können.30 Tatsächlich beziehen sich die technischen Regeln auf die „gute Ausfüh-
rung eines Berufes oder Handwerks“,31indem es ihre Hauptaufgabe ist, das bestge-
eignete technische Mittel oder Verfahren zur Realisierung der fraglichen Tätigkeit
aufzuzeigen.
Diese beruflichen Verwendungen entbehren im Allgemeinen einer schriftlichen
und bestimmten Formulierung und besitzen darüber hinaus auch keine „bindenden
Wirkungen a priori“, wie etwa rechtliche Normen.32 Letzten Endes bestehen die tech-
nischen Regeln aus einer Reihe von Grundsätzen, welche die Ausführung bestimmter
Tätigkeiten lenken und deren Daseinsberechtigung sich aus einem auf Erfahrung ba-
sierenden Verfahren der Vorhersehbarkeit ergibt.33 So führt die Durchführung einer
gewissen Tätigkeit auf eine bestimmte und erfolgreiche Weise zur Standardisierung
der zur Durchführung dieser Tätigkeit übernommenen Grundsätze oder Parameter.
So üben die technischen Regeln eine der Funktionen der Selbstregulierung aus.
Sie bilden auf diese Art eine Methode der Risikoreduzierung in bestimmten Berei-
chen, die von der rechtlichen Regulierung nicht erfasst werden.34 Deshalb zeigen ei-
nige Autoren, dass es diese Kategorie der technischen Regulierung erlaubt, „den In-

29
Vgl. Esteve Pardo, Técnica, riesgo y Derecho. Tratamiento del riesgo tecnológico en el
Derecho ambiental, 1999, S. 156 – 157.
30
Vgl. Esteve Pardo, Técnica, riesgo y Derecho, 1999, S. 157.
31
So Tarrés Vives, Normas técnicas y ordenamiento jurídico, 2003, S. 248.
32
Vgl. Esteve Pardo, Técnica, riesgo y Derecho, 1999, S. 157 – 158.
33
Vgl. Schünemann, „Reglas de la técnica en Derecho penal“, in: Temas actuales y per-
manentes del Derecho penal después del milenio, 2002, S. 162 und Fn. 30; Frisch, Compor-
tamiento típico e imputación de resultado (Übers. Cuello Contreras/Serrano González de
Murillo), 2004, S. 119.
34
Diese Meinung vertritt Frisch, Comportamiento típico e imputación de resultado, 2004,
S. 117, und meint, dass diese Regeln „angewandtes empirisches Wissen repräsentieren“,
S. 119; auch Kuhlen, „Technische Risiken im Strafrecht“, in: Das Recht von der Herausfor-
derungen der modernen Technik, 1999, S. 62.
Die normative Selbstregulierung im Umweltstrafrecht 203

halt der objektiven Sorgfaltspflicht“35 auszufüllen, weswegen sie auch für die Be-
stimmung der Verhaltensnorm relevant ist.
c) Neben den technischen Regeln sind die technischen Normen weitere Formen
der normativen Regulierung. Im Allgemeinen sind die technischen Normen eine Un-
terklasse der technischen Regeln, mit der Besonderheit, dass diese in schriftlicher
Form wiedergegeben werden.36 Wenn diese Wiedergabe durch die hierfür autorisier-
ten Normierungsorganisationen durchgeführt wird, spricht man von einer anerkann-
ten technischen Norm.37 Danach ist die technische Norm als eine nicht-rechtliche
Norm definiert, welche „die schriftliche Fixierung des Inhalts der technischen
Regel durch dessen Systematisierung von Seiten der Normierungsorganisationen
voraussetzt“,38 wie zum Beispiel der AENOR (Asociación Española de Normali-
zación y Certificación) für den industriellen Sektor und Dienstleistungen.39 Auch
wenn die technische Norm einzig die schriftliche Verbreitung einer technischen
Regel voraussetzen kann, hat sie im Unterschied zur technischen Regel „das Endre-
sultat einer Leistung zum Gegenstand“, bezüglich derer der Normadressat eine Er-
folgspflicht hat.40 Dem schadet allerdings nicht, dass hierzu, außer ein festgelegtes
Ziel oder Resultat zu verfolgen, in den technischen Normen Richtlinien oder Verfah-
ren festlegt werden. Zu diesem Zweck – und ähnlich den rechtlichen Normen – pfle-
gen die technischen Normen „einen starren Wortlaut [zu haben] und streben nach Be-
stimmtheit und Allgemeingültigkeit“.41 Allerdings bilden die technischen Normen
auf den ersten Blick auch keinen Teil der Rechtsordnung, das heißt, sie sind keine
rechtlichen Normen.42 Ihre Formulierung ist privaten Ursprungs. Außerdem ist
deren Anwendung auch für den privaten Sektor bestimmt. Trotzdem können manche
technische Normen zur Entfaltung öffentlich-rechtlicher Wirkungen gelangen, wie
noch später zu sehen sein wird.
Zusammenfassend teilen sowohl die technischen Regeln als auch die technischen
Normen den gemeinsamen Nenner – zumindest ursprünglich – außerrechtlicher
Natur zu sein. Auf der anderen Seite besitzen sie auch beide Begrenzungsfunktion

35
Romeo Casabona, Conducta peligrosa e imprudencia en la sociedad del riesgo, 2005,
S. 17. In diesem Sinne sagt Köhler, Die haftungsrechtliche Bedeutung technischer Regeln, in:
BB (4), 1985, dass man für die Bestimmung der Sorgfaltspflichten nicht nur die technischen
Regeln berücksichtigen solle, S. 10; Kuhlen, in: Das Recht von der Herausforderungen der
modernen Technik, 1999, S. 62.
36
Vgl. Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, 1979, S. 47.
37
Vgl. Tarrés Vives, Normas técnicas y ordenamiento jurídico, 2003, S. 247. Zu dieser
Gruppe gehören zum Beispiel die technischen Normen der UNE (Una Norma Española), DIN
(Deutsches Institut für Normung), UNI (Ente Nazionale Italiano di Unificazione), ISO (In-
ternational Organization for Standardization) etc.
38
Vgl. Tarrés Vives, Normas técnicas y ordenamiento jurídico, 2003, S. 247 – 248.
39
www.aenor.es.
40
Vgl. Tarrés Vives, Normas técnicas y ordenamiento jurídico, 2003, S. 248 – 249.
41
Vgl. Esteve Pardo, Autorregulación, S. 118.
42
Vgl. Lenckner, in: Engisch-FS, S. 494.
204 Raquel Montaner Fernández

oder zumindest Orientierungsfunktion bezüglich des Inhalts der gebotenen Sorg-


faltspflicht für die Personen, auf die sie anwendbar sind. Soweit diese Regulierungs-
art von den Subjekten des im jeweiligen Fall zu berücksichtigenden Sektors weitge-
hend konsolidiert oder anerkannt wird, tragen sie außerdem dazu bei, den Vorherseh-
barkeitsgrundsatz für die in diesem Sektor interagierenden Personen zu befolgen.

III. Die Formen der Selbstregulierung im Straftatbestand


des Art. 325 des Spanischen Strafgesetzbuches
1. Einführung

a) Bis heute hat die spanische Lehre, welche sich mit der Selbstregulierung im
Unternehmensstrafrecht befasst hat, ihre Aufmerksamkeit auf das jeweilige Unter-
nehmenskollektiv bei der Selbstregulierung als mögliche Quelle für die Zurechnung
strafrechtlicher Verantwortlichkeit konzentriert.43 Dieser Denkansatz erklärt sich
schlicht durch die konstante Entwicklung der Selbstregulierungsformen in den Un-
ternehmen und/oder mit der Anwendung im Unternehmen und folglich der jedes Mal
größeren Berücksichtigung dieser privaten Regulierungsformen von Seiten der öf-
fentlichen Gewalt. Tatsächlich erfordert die Idee der Selbstregulierung selbst den
Bezug auf ein mehr oder weniger breites Personenkollektiv. Denn es handelt sich
um die Parameter oder die Grundsätze, welche das gemeinsame Vorgehen dieser Per-
sonen abstimmen sollen. Allerdings verhindert die enge Verknüpfung zwischen der
Selbstregulierung und der Idee des Kollektivs nicht deren Berücksichtigung im Hin-
blick auf das Kompetenzumfeld der dem Kollektiv angehörenden Einzelpersonen;
und dies ist der Aspekt, auf den hier das Augenmerk gelegt wird.
b) Häufig sind die unterschiedlichen Formen der operativen Selbstregulierung
eines bestimmten Sektors für die daran beteiligten Arbeitnehmer „verbindlich“.
So kann zum Beispiel die Entfaltung eines gewissen technischen Prozesses oder
die Bedienung von Maschinen oder die Handhabung von in der Produktion verwen-
deten Substanzen der Befolgung der verfahrensmäßigen technischen Regeln oder
Normen unterworfen sein, welche die Unternehmensführung übernommen hat. Aus-
gehend von dieser Prämisse ist die sich stellende Frage, ob die Bindung der Arbeit-
nehmer an diese Kategorie der unternehmensinternen Selbstregulierungsnormen bei
der Anwendung strafrechtlicher Normen und hinsichtlich strafrechtlicher Konse-
quenzen im Falle der Nichterfüllung relevant sein kann. Diesbezüglich ist zu fragen,
43
Vgl. Nieto Martín, La responsabilidad penal de las personas jurídicas, 2008; Feijóo
Sánchez, „Autorregulación y Derecho penal de la empresa: ¿una cuestión de responsabilidad
individual?“, in: Arroyo Jiménez/Nieto Martín (Hrsg.), Autorregulación y sanciones, 2008,
S. 204 ff., wenngleich er sich hinsichtlich der Auswirkungen der Selbstregulierung auch auf
die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit bezieht, S. 247 ff.; Gómez-Jara Díez, „La
incidencia de la autorregulación en el debate legislativo y doctrinal actual sobre la responsa-
bilidad penal de las personas jurídicas“, in: Arroyo Jiménez/Nieto Martín (Hrsg.), Autorre-
gulación y sanciones, 2008, S. 253 ff.
Die normative Selbstregulierung im Umweltstrafrecht 205

ob die Handlung desjenigen strafrechtlich relevant ist, der, entgegen den Festlegun-
gen einer bestimmten privaten Emissionsgrenzwertregulierung für gewisse umwelt-
schädigende Substanzen diesen Grenzwert überschreitet, ohne hierdurch den gesetz-
lich festgelegten Grenzwert zu überschreiten.
c) Wie bereits erwähnt worden ist, betreiben die Unternehmen durch die Formen
der Selbstregulierung das Risikomanagement für die aus der Entfaltung ihrer Tätig-
keit hervorgehenden Risiken. So fördert die nach einer freiwillig übernommenen
technischen Regel oder Norm bestimmungsgemäße Durchführung einer gewissen
Tätigkeit nicht nur die Standardisierung dieser Tätigkeit. Gleichzeitig neutralisiert
sie auch die möglichen Risiken, die im Falle anderweitigen Handelns entstehen kön-
nen. Die technischen Regeln oder Normen bilden eine Maßnahme der Risikokontrol-
le. Sofern das Unternehmen – jenseits der Unterwerfung unter die anwendbaren
rechtlichen Vorschriften – diese technische Regulierung als Richtlinie für die Entfal-
tung einer gewissen Tätigkeit übernimmt und einbindet, sind die diese konkrete Tä-
tigkeit durchführenden Personen außerdem verpflichtet, ihr Verhalten an den Vorga-
ben der in Frage stehenden technischen Norm auszurichten. So sind die Personen,
bezogen auf innerunternehmerische Wirkungen, in der Art zur Erfüllung der Vorga-
ben der technischen Norm(en) verpflichtet, insofern deren Nichterfüllung disziplina-
rische Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Aus dieser Perspektive ist zu konsta-
tieren, dass der Inhalt dieser privaten technischen Regulierung dazu beiträgt, die
Sphäre der sozio-unternehmerischen Verantwortung der an der Tätigkeit teilhaben-
den Personen zu konstituieren. Tatsächlich stützt sich die geforderte innerunterneh-
merische Sorgfaltspflicht für die durch eine bestimmte technische Norm verpflich-
teten Berufsschaffenden nicht nur auf die Einhaltung der rechtlichen Normen, son-
dern auch auf die Einhaltung der technischen Norm. In diesem Maße kann das
gebotene Verhalten, oder besser gesagt, können die von den Arbeitnehmern zu for-
dernden Parameter der Sorgfaltspflicht sehr weit angehoben sein; ihnen wird viel
mehr abverlangt, als allein von der rechtlichen Norm verlangt würde.
d) Jenseits der disziplinarischen Konsequenzen, welche die Nichterfüllung der
Selbstregulierungsnormen innerhalb des unternehmerischen Rahmens verursachen
kann,44 ist von Bedeutung, ob diese Nichterfüllung von nicht-rechtlichen Normen
darüber hinaus die Verhängung strafrechtlicher Konsequenzen begründen kann. Es
ist also der Frage nachzugehen, in welchem Maße die normative Selbstregulierung
zur Bestimmung der Reichweite des verbotenen Verhaltens oder der Straftatbe-
standsmäßigkeit der in einem bestimmten Sektor wirkenden Personen berücksichtigt
werden kann.45 Bei dieser Analyse ist eine der grundlegenden Fragen, ob die private

44
Hierzu zeigt Darnaculleta i Gardella, „Autorregulación sanciones administrativas y
sanciones disciplinarias“, in: Arroyo Jiménez/Nieto Martín (Hrsg.), Autorregulación y san-
ciones, 2008, dass diese disziplinarischen Sanktionen von der Beendigung einer konkreten
Tätigkeit bis zur Kündigung bzw. Entlassung bestehen können, vgl. S. 125 – 126.
45
Diese Frage stellt sich auch Sieber, Tiedemann-FS, S. 462 ff.; vom Standpunkt der
Rechtmäßigkeit der Inanspruchnahme eines solchen extrarechtlichen Normtypus von Seiten
206 Raquel Montaner Fernández

Regulierung außer der innerunternehmerisch geforderten Sorgfaltspflicht auch die


strafrechtlich geforderte Sorgfaltspflicht bestimmt. Dies setzt allerdings nicht not-
wendigerweise voraus – wie es traditionellerweise getan wurde46 – dies im Rahmen
der Fahrlässigkeitsstraftaten anzusiedeln.47 Die Frage ist m. E. vor der subjektiven
Tatbestandsmäßigkeit zu stellen. Es handelt sich tatsächlich darum, zu bestimmen,
in welchem Maße die Selbstregulierungsprodukte des Unternehmens zur Gestaltung
der strafrechtlichen Verantwortungssphäre seiner Mitglieder beitragen. Dabei er-
laubt es die Nichterfüllung jener Selbstregulierungsprodukte die objektive Tatbe-
standsmäßigkeit der Handlung zu bejahen. Auf diese Weise liegt die Frage, ob die
technische Norm zur Bestimmung der objektiven Sorgfaltspflicht dienen kann, in
Wirklichkeit darin, ob der Verstoß gegen diese Norm eine strafrechtlich missbilligte
Gefahr schafft.
Hier soll die Analyse dieser Problematik auf Basis einer bestimmten Unterneh-
menskriminalität vollzogen werden, nämlich der Umweltkriminalität. So wird im
Folgenden der Einfluss der am Umweltrisikomanagement ausgerichteten techni-
schen Normen auf die Ausgestaltung des Tatbestandes der Umweltstraftat
(Art. 325 Código Penal [Spanisches Strafgesetzbuch], im Weiteren CP) analysiert.
Wie wir sehen werden zentriert sich die Problematik in diesem strafrechtlichen Rah-
men auf die Möglichkeit, das normative Element dieses Tatbestands durch einen Ver-
weis auf die normativen Selbstregulierungsformen auszugestalten. In diesem Sinne
handelt es sich um die Analyse, ob die auf die Umwelt bezogenen technischen Regeln
und Normen als Ergänzung der Blankettstrafnorm dienen können.48 Deshalb ist es
notwendig, sich der Frage zu widmen, ob es einer Übertretung umweltschützender
Gesetze oder anderer allgemeiner Bestimmungen gleichkommt, wenn zum Beispiel
eine Person eine gewisse Substanz über den in einer technischen Regulierung fest-
gelegten Grenzwerten emittiert oder die für den Umgang mit gewissen Umweltrisi-
ken vorgesehenen technischen Sorgfaltspflichtrichtlinien nicht respektiert. Wenn-
gleich beide Fallkonstellationen in Zusammenhang stehen, muss die Antwort auf
die erste Alternative mit den Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips in Überein-

des Strafrechts siehe auch Nieto Martín, „Autorregulación, compliance y justicia restaurati-
va“, in: Arroyo Jiménez/Nieto Martín (Hrsg.), Autorregulación y sanciones, 2008, S. 83.
46
In diesem Sinne zeigt Schünemann, in: Temas actuales, 2002, dass die Regeln der
Technik „eine Ermahnung an den Richter [bedeuten können], damit dieser ein besonderes
Augenmerk auf den technischen Kontext in der Entscheidung über den Sorgfaltsmaßstab für
die Verantwortlichkeit wegen Fahrlässigkeit legt“, S. 161.
47
Anders Frígols i Brines, „El papel de las reglas técnicas en la determinación del injusto
de los delitos imprudentes: su relevancia en el ámbito de la responsabilidad penal por el
producto“, in: Boix Reig/Bernardi (Koord.), Responsabilidad penal por defectos en productos
destinados a los consumidores, 2005, S. 257 ff., der sich speziell auf die „Rolle der techni-
schen Regeln in der Definition des Unrechts der Fahrlässigkeitsdelikte“ konzentriert; vgl.
auch Lenckner, Engisch-FS, S. 491 ff.
48
Sich die gleiche Frage stellend, aber in Bezug auf das Umfeld der Verhütung von Ar-
beitsrisiken und das Arbeitsstrafrecht Nieto Martín, in: Autorregulación y sanciones, 2008,
S. 85 – 90.
Die normative Selbstregulierung im Umweltstrafrecht 207

stimmung gebracht werden. Umgekehrt wäre die zweite Alternative zunächst mit der
Möglichkeit zu verknüpfen, Richtlinien der technischen Sorgfalt bei der Konkretisie-
rung der strafrechtlich gebotenen Sorgfaltspflicht zu berücksichtigen. Sicher ist, dass
in der Kategorie der Blankettstrafgesetze letztere Alternative auch das Gesetzlich-
keitsprinzip betrifft, denn die Bestimmung der Sorgfaltspflicht würde bedeuten,
die Technik der normativen Verweisung anzuwenden.
e) Erörtert man die strafrechtliche Relevanz der Selbstregulierungsformen, was
die Bestimmung der tatbestandsmäßigen Handlung anbelangt, umfasst dies also
eine eher allgemeine, aber keineswegs unwichtige Fragestellung: die ihrer fragwür-
digen Vereinbarkeit mit dem Gesetzlichkeitsprinzip. Tatsächlich müssen wir uns fra-
gen, ob die Maxime nullum crimen nulla poena sine lege, im Falle des Rückgriffs auf
außerrechtliche Normen, wie den aus der Selbstregulierung entspringenden Normen,
um eine Handlung als strafrechtlich verboten zu bestimmen, verletzt wäre.49 Diese
Problematik wird in Bereichen, in welchen keinerlei rechtliche Regulierung besteht,
nicht aufgeworfen. Vielmehr stellt sich diese Problematik in Bereichen, die bereits
Gegenstand einer bestimmten rechtlichen Regulierung sind und aus deren Tätigkeit
deliktische Erfolge entstehen können, so wie bei der technisch-unternehmerischen
Tätigkeit. Mehr noch ist die tatsächlich relevante Fallgruppe jene, in welcher die
Frage darin besteht, die Straftatbestandsmäßigkeit einer Handlung zu bejahen, ob-
wohl der Verletzungserfolg nicht direkt der Vorgabe einer rechtlichen Norm ent-
springt, sondern einer außerrechtlichen Norm, wie zum Beispiel einer technischen
Norm.

2. Die Umweltstraftat aus der Perspektive


der Selbstregulierung

a) Wie bereits betont, wird in dieser Arbeit die mögliche strafrechtliche Relevanz
einer gegen technische Normen verstoßenden Handlung aus der Perspektive der Um-
weltstraftat des Art. 325 CP analysiert.50 Deswegen ist es angebracht, kurz auf die
49
So zeigt Esteve Pardo, Derecho del medio ambiente, 2. Aufl. 2008, dass das Gesetz-
lichkeitsprinzip zumindest „abgewertet“ wäre, wenn die deliktische Handlung letztlich durch
technische Normen definiert würde. In solch technisch komplexen Bereichen wie der Umwelt
sei es jedoch sehr schwierig, auf den Verweis auf Selbstregulierungsnormen zu verzichten,
vgl. S. 116.
50
Der Wortlaut dieser Vorschrift: „Mit Freiheitsstrafe von zwei bis fünf Jahren, Geldstrafe
von acht bis vierundzwanzig Monatssätzen und der besonderen Untauglichkeitserklärung zur
Ausübung des Berufs oder der beruflichen Tätigkeit für die Dauer von einem bis drei Jahren
ist zu bestrafen, wer unter Verstoß gegen die Gesetze oder anderer allgemeiner Umwelt-
schutzbestimmungen Emissionen, Verklappungen, Strahlungen, Förderungen oder Abgra-
bungen, Aufschüttungen, Lärm, Vibrationen, Einspritzungen oder Lagerungen in der Atmo-
sphäre, im Boden, im Untergrund oder in den Binnengewässern, den Meeren, einschließlich
der hohen See, oder dem Grundwasser mit Auswirkungen auch in jenseits der Grenze gele-
genen Gebieten, sowie Wasserentnahmen, die das Gleichgewicht der natürlichen Systeme
schwer beeinträchtigen können, unmittelbar oder mittelbar herbeiführt oder vornimmt. Be-
steht die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung für Menschen, ist die Strafe aus der
oberen Hälfte zu verhängen.“
208 Raquel Montaner Fernández

Hauptmerkmale dieses Straftatbestandes einzugehen51 und konkret auf die wichtigs-


ten Merkmale für die Würdigung des Einflusses der Selbstregulierungsformen.
Dieser Straftatbestand erfordert, dass die handelnde Person mit der Realisierung
der angesprochenen Aktivität gegen „die Umweltschutzgesetze oder andere allge-
meine Umweltschutzbestimmungen“ verstößt. Auf diese Art gestaltet der Gesetzge-
ber den Tatbestand des Art. 325 CP als ein Blankettstrafgesetz, dessen Verfassungs-
konformität durch unser Verfassungsgericht stets bestätigt worden ist, soweit die An-
forderungen der sogenannten Lehre der unabdingbaren Ergänzung (complemento
indispensable)52 erfüllt werden.53 Zur Rechtfertigung des Rückgriffs auf diese Ge-
setzgebungstechnik wird auf den erhöhten Aktualisierungsbedarf der Straftatbestän-
de wegen neuer normativer und faktischer Situationen in Bezug auf den Schutz ge-
wisser Rechtsgüter hingewiesen. Auf diese Weise – so wird vertreten – werden Fälle
von „Fossilbildung“ oder „Versteinerung“ der strafrechtlichen Regelungen vermie-
den.54 Auf Grund der Gestaltung dieses Tatbestandes als Blankettstrafnorm ist ein
Verweis vom Strafrecht auf die Bestimmungen der verwaltungsrechtlichen Umwelt-
schutznormen notwendig. Wenngleich die Erwähnung der „Gesetze“ keine Proble-
me verursacht, gilt dies nicht in Bezug auf die „allgemeinen Umweltschutzbestim-
mungen“. Zunächst scheint diese Formulierung auf Rechtsverordnungen hinzudeu-
ten, und dass die Verwaltungsakte ausschlossen sind. Diese Rechtsverordnungen
können bundesstaatlich, autonom (autonómicas), lokal (locales) und sogar kommu-
nal (comunitarias) sein – obwohl unter den letzteren Verordnungen die nicht in Kraft
gesetzten ausgenommen sind.55 Auf Grund dieser Erwägungen können die außer-
rechtlichen technischen Normen und Regeln nicht direkt als Ergänzung der Blankett-
strafnorm dienen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass jene nicht auf andere Weise auf
die Bestimmung des Tatbestandes Einfluss nehmen können. An diesem Punkt ver-
weist die Verwaltungsrechtslehre darauf, dass manche technischen Reglementierun-
51
Vgl. für alle Silva Sánchez, Delitos contra el medio ambiente, 1999; Silva Sánchez/
Montaner Fernández, Los delitos contra el medio ambiente. Reforma legal y aplicación ju-
dicial, 2012.
52
So die Ansicht des Tribunal Constitucional Español. Demnach müssen für die Verfas-
sungskonformität der Blankettstrafgesetze mehrere Voraussetzungen erfüllt sein: a) von der
Rechtsnorm muss eine ausdrückliche und durch das geschützte Rechtsgut gerechtfertigte
Verweisung ausgehen; b) die Strafnorm muss die Strafe und den Kernbereich des Verbots
enthalten; c) die Strafnorm muss das Bestimmtheitsgebot erfüllen und ausreichend konkreti-
siert sein.
53
Hierzu Urteil des Tribunal Constitucional (STC) 127/1990, vom 5. Juli, Votum (ponente)
García-Mon y González Regueral; speziell für die Umweltstraftat vgl. STC 62/1994, vom
28. Februar, Votum Gabaldón López.
54
Vgl. Doval Pais, Posibilidades y límites para la formulación de las normas penales. El
caso de las leyes penales en blanco, 1999, S. 109 und Fn. 178; De Vicente Martínez, El
principio de legalidad penal, 2004, S. 52.
55
Hierzu Silva Sánchez, Delitos contra el medio ambiente, 1999, S. 57 – 63. Silva Sánchez/
Montaner Fernández, Delitos (Fn. 51), S. 77 – 84. Zur Rechtsprechung, vgl. Urteil des Tribu-
nal Supremo (STS) vom 24. Februar 2003, Votum (ponente) Granados Pérez (FD 48); STS
vom 13. Februar 2008, Votum Berdugo y Gómez de la Torre (FD 198).
Die normative Selbstregulierung im Umweltstrafrecht 209

gen anerkannte öffentlich-rechtliche Wirkungen in Bezug auf die eigene rechtliche


Ordnung entfalten können.56
b) Dabei ist auf die Indizwirkungen hinzuweisen. Denn die Erfüllung gewisser
Selbstregulierungsformen kann als Indiz für den Sorgfaltsgrad dienen, mit welchem
eine Person ihre Tätigkeit entfaltet.57 Die Normen der Selbstregulierung können auch
Vermutungswirkungen entfalten. Dies ist der Fall, wenn die Einhaltung dieser Nor-
men sich in eine durch die rechtliche Ordnung anerkannte gesetzliche Vermutung der
Sorgfaltspflicht verwandelt. Diese gesetzliche Anerkennung besteht nicht im Rah-
men der Indizwirkung. Weitere Wirkung ist der Sachverstand. Denn häufig bilden
die technischen Normen und Regeln ein antizipiertes Sachverständigengutachten.
Sind sie rechtlich anerkannt, können die Selbstregulierungsformeln auch integrative
Wirkungen haben und zwar in der Weise, dass sie „gewisse Segmente oder Lücken
der öffentlichen Regulierung einbinden bzw. ausfüllen können“, wie zum Beispiel
gewisse Instanzenwege eines Verwaltungsverfahrens. Vielleicht eine der relevantes-
ten Wirkungen ist die rechtliche Anerkennung von technischen Normen, sei es be-
reits durch den von einer rechtlichen Norm oder einer Verwaltungsentscheidung aus-
gehenden Verweis oder auch durch Beleihung von Privatpersonen, damit diese Ent-
scheidungen mit öffentlich-rechtlicher Wirkung treffen können. In diesem Fall
spricht man von der Umwandlungswirkung (efecto transformador) der Selbstregulie-
rungsformen. Die Bezugnahmen der rechtlichen Ordnung auf Normen technischer
Art können durch Klauseln verwirklicht werden, die zur inhaltlichen Ausfüllung
der Blankettstrafnorm beispielsweise auf Anforderungen gemäß des „Stands der
Technik“58 verweisen oder auf das geeignete Verfahren gemäß „der besten Technik
oder verfügbaren Technologien“.59 Nach der Verwaltungsrechtslehre bedeutet nur
56
Vgl. Esteve Pardo, Autorregulación, 2002, S. 130 – 157; ders., Derecho del medio am-
biente, 2. Aufl. 2008, S. 137 – 140.
57
Auch die Strafrechtslehre erwähnt diese Indizfunktion der technischen Regeln, vgl.
Choclán Montalvo, „Deber de cuidado y riesgo permitido“, in: Castellano Rausell (Hrsg.),
CDJ: La responsabilidad penal de las actividades de riesgo, 2002, S. 168 – 169.
58
Nach Darnaculleta i Gardella, Autorregulación, 2008, wird unter dem Begriff „Stand
der Technik“ der „Entwicklungsstand in einem bestimmten Moment der Organisation, der
Produktionsprozesse oder der Methoden“ verstanden, „der es erlaubt, die praktische Taug-
lichkeit einer Sicherheitsvorkehrung zu zeigen. Eine Sicherheitsvorkehrung dieser Art be-
deutet in der Praxis, die neuen durch die Technik erprobten Entwicklungen anzuwenden. Dass
die Vorkehrung praktische Tauglichkeit aufweisen sollte, bedeutet allerdings nicht, dass sie
allgemein anerkannt sein müsse. Um Teil des Stands der Technik zu sein, ist die Verwirkli-
chung eines erfolgreichen Testlaufs im Unternehmen ausreichend. Dieses Konzept entspricht
der herrschenden deutschen Lehre hinsichtlich der normativen Rezeption der Sicherheits-
standards, welche durch die sogenannte Drei-Stufen-Theorie repräsentiert wird. Nach besagter
Theorie existiert kein einheitlicher normativer Sicherheitsstandard, sondern das Recht der
technischen Sicherheit hat dessen Fundament auf drei verschiedenen Stufen. Das geringste
Sicherheitsniveau wird durch die ,allgemein anerkannten Regeln der Technik‘ festgelegt, das
mittlere Niveau ist der ,Stand der Technik‘ und letztlich wird das höchste Niveau durch den
,Stand von Wissenschaft und Technik‘ festgelegt“, S. 108.
59
So legt zum Beispiel das Gesetz (Ley) 16/2002 vom 1. Juli zur integrierten Vermeidung
und Verminderung der Umweltverschmutzung in dessen Art. 4.1 a) fest, dass man für eine
210 Raquel Montaner Fernández

der Verweis auf technische Normen eine echte Übertragung von verbindlichen recht-
lichen Wirkungen auf diese Formen der Selbstregulierung.60
c) Unter den möglichen Wirkungen der Selbstregulierungsformen kommen die
Umwandlungswirkungen im Zusammenhang mit der Figur der Blankettstrafgesetze
in Betracht. Dies ist der Fall, wenn die technischen Normen und Regeln durch die von
der verwaltungsrechtlichen Norm ausgehende Verweisung rechtlich anerkannt sind.
So erfordert die Antwort auf die Frage, ob die Formen der normativen Selbstregulie-
rung den Bereich der objektiven Tatbestandsmäßigkeit der Umweltstraftat ausfüllen
können, die Berücksichtigung zweier Variablen: Auf der einen Seite die Kategorie
der normativen Selbstregulierung, unterteilt in aus der Selbstregulierung im engeren
Sinn stammenden technischen Regeln und Normen und jenen, die aus der sogenann-
ten regulierten Selbstregulierung stammen. Auf der anderen Seite die Kategorie der
normativen Verweisung, ausgehend vom Verwaltungsrecht auf die Formen der
Selbstregulierung. Dabei wird grundlegend zwischen dynamischen und statischen
Verweisen unterschieden.

3. Die Produkte der normativen Selbstregulierung


und deren strafrechtliche Relevanz

a) Umweltstraftat und Selbstregulierung im engeren Sinn

aa) Die Selbstregulierung im engeren Sinn meint die Regulierung, welche die pri-
vaten Subjekte erschaffen, weiterentwickeln und denen sie sich freiwillig, abseits
jeglichem staatlichen Einflusses unterwerfen. Es handelt sich folglich um Verhal-
tensregeln oder Grundsätze, welche die Tätigkeit gewisser Berufsgruppen reglemen-
tieren, die nicht in irgendeiner Form durch Recht ausgearbeitet worden sind. Hier-
unter fallen die Regeln der Technik oder leges artis, die sich die privaten Personen
oder Organisationen auf Grund ihrer Erfahrung und wiederholter Übung zur Erfül-
lung ihrer Tätigkeit freiwillig selbst auferlegen. Nach einer Meinung sind diese Fälle

Genehmigung der Umweltbehörde in den fraglichen Anlagen unter anderem „die geeigneten
Vorkehrungen übernehmen [muss], um der Umweltverschmutzung vorzubeugen, speziell
durch die Anwendung der besten verfügbaren Technik“; auch im Rahmen der Autonomiege-
setzgebung (legislación autonómica) legt das Gesetz (Ley) 3/1998 vom 27. Februar der In-
tervención Integral de la Administración Ambiental de Cataluña, außer sich auf die Anpas-
sung an die „beste verfügbare Technik“ als eine der Handlungsprinzipien der diesem Gesetz
unterworfenen Tätigkeiten (Art. 5) zu beziehen, in dessen Art. 8 fest, dass für die Bestimmung
der „Emissionsgrenzwerte und der technischen Vorschriften allgemeiner Art“ unter anderem
die „beste verfügbare Technik“ anzuwenden sei; auch das Gesetz (Ley) 11/2003 vom 8. April
der Prevención Ambiental de Castilla y León legt fest, dass zu den Prinzipien, welche die
Tätigkeit der verpflichteten Personen (titulares) oder Trägerschaften (promotores) der vom
Anwendungsbereich der Norm umfassten Tätigkeiten und Anlagen bestimmen, das Prinzip
der „Vermeidung der Kontamination und deren Freisetzung, durch die Anwendung der ge-
eigneten Vorkehrungen und im speziellen der besten Technik oder verfügbaren Technologien“
(Art. 5.2 a) zählt.
60
Vgl. Darnaculleta i Gardella, Autorregulación, 2008, S. 407.
Die normative Selbstregulierung im Umweltstrafrecht 211

der Selbstregulierung im engeren Sinn die große Ausnahme, da die Mehrheit der
Selbstregulierungsformen „Gegenstand irgendeiner direkten oder indirekten Gestal-
tung oder Bedingung von Seiten der öffentlichen Gewalt“ sind.61 Es bleibt aber trotz-
dem wichtig sich die Frage zu stellen, ob die Nichterfüllung dieser Selbstregulie-
rungsstrukturen für die Bestimmung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in Be-
tracht gezogen werden muss.
bb) In Übereinstimmung mit der Lehre, wonach man den technischen Regeln und
Normen die gleiche Funktionalität wie rechtlichen Normen zuspricht,62 kann man
deren Verwendung von einem rechtlichen Standpunkt aus zur Begrenzung der zu for-
dernden Sorgfaltspflicht in Betracht ziehen. So wird vertreten, dass deren Erfüllung
für die Einhaltung der gebotenen Sorgfalt zumindest Indizwirkung hat.63 Auf dieser
Grundlage kommt die spanische Rechtsprechung zur Anlehnung an die sogenannte
lex artis, um die gebotene strafrechtliche Sorgfalt des gegenständlichen Berufsfeldes
festzulegen.64 Die Anerkennung einer Indizwirkung der Kategorien technischer Re-
gulierung bedeutet trotzdem nicht, dass diese, hinsichtlich der Bestimmung der ge-
botenen Verhaltensweise, in jedem Fall die strafrechtlich gebotene Sorgfaltspflicht
bestimmen.
cc) Im Rahmen der unternehmerischen Tätigkeit kann sich die Selbstregulierung
im engeren Sinn in zwei unterschiedlichen Situationen manifestieren: in Sektoren,
die schon Gegenstand einer bestimmten rechtlichen Norm sind, oder in Bereichen,
in welchen keine rechtliche Regulierung besteht. In der ersten Alternative bedeutet
die Selbstregulierung normalerweise, anspruchsvollere Verhaltensrichtlinien oder
-normen als die rechtlichen Normen zu entwickeln. In der Konsequenz wird der tech-
nische Parameter der gebotenen Sorgfalt höher sein als der rechtlich geforderte Pa-
rameter. Trotzdem ist dieser Sorgfaltsmaßstab nur im Rahmen der unternehmeri-
schen Tätigkeit geboten, bei der die technische Regulierung angewandt wird.
Denn es handelt sich um ein Produkt der Selbstregulierung im engeren Sinn. In
der zweiten Alternative, wie auch im vorherigen Fall, macht die Forderung der Er-
füllung der technischen Regulierung nur vom innerunternehmerischen Standpunkt
aus Sinn. Folglich kann deren Verletzung auch keine rechtlichen Wirkungen entfal-
ten.
dd) Es bleibt zusammenfassend festzuhalten, dass der Verletzung technischer Re-
geln oder Normen nicht immer die Verletzung eines strafrechtlich geschützten Inter-
61
Arroyo Jiménez, in: Autorregulación y sanciones, 2008, S. 24 Fn. 10.
62
So sagt Frisch, Comportamiento típico, 2004, dass diese vorrechtlichen Normen „im
Allgemeinen funktionell gleichwertige Surrogate der korrespondierenden staatlichen Regu-
lierungen sind“, S. 124.
63
Vgl. Feijóo Sánchez, „Imputación de hechos delictivos en estructuras empresariales
complejas“, in: La Ley (40), 2007.
64
Vgl. zum Beispiel Urteil des Tribunal Supremo (STS) vom 23. Februar 2009 (Votum
[ponente] Prego de Oliver y Tolivar), FD 58, STS vom 9. Februar 2007 (Votum Maza Martín),
FD 28; STS vom 25. April 2005 (Votum Granados Pérez), FD 18, wenngleich dies die Be-
stimmung der Verantwortlichkeit für Fahrlässigkeitsdelikte betraf.
212 Raquel Montaner Fernández

esses innewohnt. Soweit diese Produkte der normativen Selbstregulierung nicht in


irgendeiner Weise durch das Recht konstituiert worden sind oder durch Recht kon-
trolliert werden, kann ein Verstoß nicht direkt für die strafrechtliche Bewertung der
Verletzungshandlungen herangezogen werden. Hinsichtlich der Umweltstraftat kön-
nen die aus der Selbstregulierung im engeren Sinn hervorgehenden technischen Re-
geln und Normen auch nicht bei der Würdigung der Straftatbestandsmäßigkeit be-
rücksichtigt werden. Obwohl diese Kategorie der Selbstregulierungsformen de
facto den Anwendungsbereich der Handlungsnorm begrenzt, dringen deren Wirkun-
gen nicht zum rechtlichen Rahmen durch, auch nicht bis zum strafrechtlichen Rah-
men. Da sich nicht einmal das Umweltverwaltungsrecht auf diese Kategorie der pri-
vaten Regulierung bezieht, kann auch das Strafrecht diese nicht zur Ausfüllung der
Blankettstrafnormen heranziehen.

b) Umweltstraftat und regulierte Selbstregulierung

aa) Wie bereits gezeigt wurde, ist es nicht mehr möglich von Selbstregulierung im
engeren Sinne zu sprechen, sobald die Formen der Selbstregulierung in irgend einer
Weise durch die staatliche Regulierung bedingt worden sind. Der passende Terminus
ist nun regulierte Selbstregulierung oder Ko-Regulierung. Nach der Verwaltungs-
rechtslehre ist dies die einzige Kategorie der Selbstregulierung, die für das Öffent-
liche Recht relevant sein kann.65 Mehr noch werden die durch die bereits angedeutete
Verletzung des Gesetzlichkeitsprinzips verursachten Zweifel an der Verfassungsmä-
ßigkeit – auch mit spezieller Tragweite im Rahmen des Strafrechts – für einige durch
die regulierte Selbstregulierung geheilt. Gewiss bedeutet diese Selbstregulierungs-
form, dass die öffentliche Verwaltung bereits interveniert hat, sei es „ex ante mit
dem Ziel, die durch das Selbstregulierungssystem zu befolgenden Richtlinien fest-
zulegen oder ex post, um zu kontrollieren, ob die Selbstregulierung den notwendigen
Grad an Qualität besitzt.“66 In diesen Fällen hält man es für legitim, dass das Recht
das Produkt der normativen Selbstregulierung zur rechtlichen Begründung der objek-
tiven Sorgfaltspflicht heranzieht.67
bb) Die regulierte Selbstregulierung kann sich in unterschiedlichen Formen ma-
nifestieren. Der Einfluss oder die Kontrolle von Seiten der öffentlichen Gewalt auf
die Privatsubjekte und die Produkte ihrer Selbstregulierung ist demnach nicht ein-
heitlich. Die relevanteste Form der regulierten Selbstregulierung ist für Umweltstraf-
taten diejenige, welche durch die Technik der normativen Verweisung formuliert
wird. Da der Umweltstraftatbestand als Blankettstrafnorm gestaltet ist, ist tatsächlich
die einzige Möglichkeit die Regulierungen technischer Art bei der Bestimmung der
Straftatbestandsmäßigkeit mit einzubeziehen, dass auf die technischen Regulierun-
gen durch die Umweltschutzverwaltungsgesetze oder allgemeinen Umweltschutz-

65
Vgl. Darnaculleta i Gardella, Autorregulación, S. 75.
66
Nieto Martín, in: Autorregulación y sanciones, S. 89.
67
So Nieto Martín, in: Autorregulación y sanciones, S. 90.
Die normative Selbstregulierung im Umweltstrafrecht 213

verwaltungsbestimmungen verwiesen wird. Nur so lässt sich begründen, dass der In-
halt der technischen Norm Teil der Rechtsordnung wird.68
cc) Im Rahmen der beruflichen Tätigkeit ist der Regelfall, dass die auf Basis einer
bereits existenten rechtlichen Regulierung stehenden Formeln der normativen
Selbstregulierung die Grenzen der gebotenen Sorgfalt anheben.69 Auf diese Weise
verwandeln sich die Selbstregulierungsnormen in noch anspruchsvollere Kontroll-
mechanismen für die von der unternehmerischen Tätigkeit ausgehenden (Um-
welt-)Risiken. Sie reduzieren den erlaubten Risikobereich der Unternehmenstätig-
keit und heben den Standard der gebotenen Sorgfalt für die an dieser Tätigkeit teil-
habenden Personen an. Folglich kann es sein, dass der Rahmen des rechtlich erlaub-
ten Risikos weiter gefasst ist als der Rahmen des technisch erlaubten Risikos. Anders
ausgedrückt ist das durch die Technik tolerierte Risiko geringer als das durch das
Recht tolerierte Risiko.

4. Die strafrechtlich zulässigen Verweisungen


auf die Formen der Selbstregulierung

a) Die Gestaltung gewisser Vorschriften als Blankettstrafnormen macht es not-


wendig, sich mit der Technik der normativen Verweisung zu befassen.70 Denn in die-
sen Fällen verweist ein Tatbestand zu dessen Ausfüllung auf andere Normen. Im Fall
der Umweltstraftat verweist Art. 325 CP ausdrücklich auf außerstrafrechtliche Nor-
men, welche den grundlegenden Tatbestand der Straftat ausfüllen. Wie sie formuliert
ist, gestaltet sich diese normative Verweisung als eine externe, dynamische und en
bloc Verweisung auf Tatbestände, welche Ausfüllungsnormen der Umweltschutzge-
setze und anderer allgemeiner Umweltschutzbestimmungen im Moment der Tat
sind.71 Jenseits der bereits aufgezeigten Problematik hinsichtlich des Konzepts der
„allgemeinen Umweltschutzbestimmungen“, ist die nun in Bezug auf die Umwelt-
straftat aufgeworfene Frage zu untersuchen, ob gewisse Selbstregulierungsnormen
als indirekte Ausfüllung der Strafrechtsvorschrift dienen können oder besser gesagt
als Strafrechtsvorschrift zweiten Grades.72 Diese Frage bedeutet ihrerseits, sich mit
68
Vgl. Esteve Pardo, Técnica, riesgo y Derecho, der zeigt, dass durch diese Verweisung
„die technische Norm zu einer rechtlichen Norm mutiert“, S. 168.
69
In diesem Sinne Darnaculleta i Gardella, Autorregulación, S. 191.
70
Vgl. De Vicente Martínez, El principio de legalidad penal, 2004, S. 51 – 52; auch Doval
Pais, Posibilidades y límites para la formulación de las normas penales, der zeigt, dass die
Blankettstrafgesetze als eine Kategorie der normativen Verweisung gesehen werden können,
vgl. S. 78.
71
Über die unterschiedlichen Klassifizierungen der Verweisung, wie auch zu deren Kon-
zeption vgl. Doval Pais, Posibilidades y límites para la formulación de las normas penales,
S. 79 – 93; zuletzt auch Fakhouri Gómez, Delimitación entre error de tipo y de prohibición.
Las remisiones normativas: un caso problemático, 2009, S. 98 – 106.
72
Nach Fakhouri Gómez, Delimitación entre error de tipo y de prohibición, „ergänzt“ im
Falle der Verweisung zweiten Grades „die Norm, auf die der Straftatbestand verweist, den
Straftatbestand nicht – im Unterschied zu den Verweisungen ersten Grades. Vielmehr verweist
214 Raquel Montaner Fernández

den normativen Verweisungen zu befassen, die vom Verwaltungsrecht auf normative


Selbstregulierungen in ihren verschiedenen Formen bestehen.
b) Die stetig zunehmende Verwendung der normativen Verweisung auf gewisse
Produkte der Selbstregulierung erklärt sich durch die formalere oder verfahrensmä-
ßigere Gestaltung der rechtlichen Regulierung in diesem Bereich. So lässt man die
Funktion, materiellen Inhalt hinzuzufügen, auf technische Normen übergehen.73
Falls diese Verweisung gesetzlich anerkannt ist, sollte man sich konsequenterweise
fragen, ob der Inhalt der technischen Verweisungsnormen und -regeln sich selbst zu
einem Teil der rechtlichen Ordnung entwickelt.74 Daher wird das Problem aufgewor-
fen, ob dieser als rechtlich verkleidete technische Inhalt durch den Verweis indirekt
zur Ergänzung des Blankettstrafgesetzes dienen kann und damit das tatbestandlich
relevante Verhalten anpasst.75
c) Die Verwaltungsrechtslehre kennt – im Unterschied zur weiter gefassten straf-
rechtlichen Klassifizierung – drei Verweisungskategorien: die dynamische Verwei-
sung, die statische Verweisung und die Verweisung durch die technische Regel. Ers-
tere liegt vor, „wenn die rechtliche Verweisungsnorm auf eine technische Norm deu-
tet, aber nicht nur mit ihrem Wortlaut des jeweiligen Zeitpunktes, sondern auch die
Modifikationen und Adaptionen dieser technischen Norm zulässt“, ohne Kontrolle
oder auch nur irgendeiner vorherigen Kenntnis von Seiten der Verwaltung bezüglich
möglicher späterer Veränderungen der technischen Norm.76 Ein Beispiel dieser Ver-
weisungskategorie ist in Art. 6 des Gesetzes 3/1998 vom 27. Februar der Interven-
ción Integral de la Administración Ambiental de Cataluña zu finden. In dieser Vor-
schrift werden die allgemeinen Verpflichtungen der an der jeweiligen Tätigkeit be-

diese Ausfüllungsnorm ihrerseits auf eine zweite oder spätere Vorschrift, welche die Blan-
kettstrafnorm inhaltlich ergänzt“, S. 93. In diesem Sinne könnte man von einer Kettenver-
weisung sprechen.
73
Vgl. Esteve Pardo, Derecho del medio ambiente, 2. Aufl., S. 115, S. 117; ders., in:
„Protección penal y accesoriedad administrativa en la nueva regulación para la protección del
medio ambiente“, in: Berberoff Ayuda (Hrsg.), Incidencia medioambiental y derecho sanci-
onador, CGPJ, VIII, Madrid, 2006, zeigt, dass in diesem Bereich die rechtlichen Normen „die
Kontrolle, Vorbeugung und Korrektur der Umweltverschmutzung in allen ihren Formen zum
Gegenstand haben (…) sie sind inhaltsleere Gesetze und materielle Verweisungen“, wonach
man nicht erwarten sollte, dass man weder in ihnen noch in deren Durchführungsbestim-
mungen „die Bestimmung [finden wird], wann eine Umweltverschmutzung oder Abfälle ein
unerlaubtes Risiko bilden, welches die vom Strafrecht gesuchte Voraussetzung ist. Diese
Verweisungen finden sich immer häufiger in technischen Normen“, S. 135; Stella, „Scienza e
norma nella practica dell’igiene industriale“, in: Riv. it. Dir. e proc. Penale, 1999, S. 388 – 389,
zeigt die Verfassungsmäßigkeitsprobleme dieser Verweisungskategorie auf private Regulie-
rungen.
74
So zeigt Darnaculleta i Gardella, Autorregulación, dass „die technischen Normen durch
die Verweisung das Naturell rechtlicher Reglementierung erlangen“, S. 407 – 408.
75
In diesem Sinne habe ich mich bereits in einer früheren Arbeit geäußert, vgl. Montaner
Fernández, Gestión empresarial, S. 286 – 288.
76
Vgl. Esteve Pardo, Derecho del medio ambiente, 2. Aufl., S. 137; ders., Técnica, riesgo
y Derecho, S. 174; auch Darnaculleta i Gardella, Autorregulación, S. 407.
Die normative Selbstregulierung im Umweltstrafrecht 215

teiligten Personen festgelegt. Danach sind diese Verpflichtungen genau dann erfüllt,
wenn besagte Tätigkeiten „geplant, installiert und kontrolliert wurden und man sie in
Übereinstimmung mit der gerade gültigen Reglementierung und den Anweisungen
der zuständigen Verwaltung ausführt und Mangels spezieller Reglementierung oder
Anweisungen den allgemein anerkannten technischen Normen anpasst“ (Art. 6.2 a,
kursive Hervorhebung durch die Autorin). Eine statische Verweisung liegt dagegen
vor, „wenn eine rechtliche Norm sich auf eine bestimmte technische Norm bezieht,
mit dem Wortlaut und den Vorgaben, welche die technische Norm in diesem Moment
hat“.77 Diese Verweisungsform wäre aus Sicht der Gesetzmäßigkeit die einzig statt-
hafte, vorausgesetzt diese auf eine bestimmte Norm Bezug nehmende und begrenzte
Verweisung sieht die Eingliederung dieser Selbstregulierungsform in die Rechtsord-
nung vor.
Nach Esteve Pardo ist die dynamische Verweisung „grundsätzlich nicht statthaft,
da die Rechtsordnung die Herrschaft und sogar die genaue Kenntnis von den Normen
verliert, die sie eingliedert“. Außerdem würde ansonsten „eine gesetzgeberische Ge-
walt einer privaten Normierungsorganisation, mit allen Konsequenzen hinsichtlich
ihrer Integration in die Rechtsordnung, anerkannt, der die grundlegende Legitimati-
on fehlt, um bindende Normen der Rechtsordnung zu erlassen“.78 Deswegen wird aus
Sicht des Verwaltungsrechts betont, dass die dynamischen oder gleitenden Verwei-
sungen auf technische Normen nicht geeignet sind, rechtliche Pflichten zu generie-
ren. Eine andere Frage ist allerdings, ob diese technischen Normen, auf die die recht-
liche Regulierung in dynamischer Weise verweist, andersartige Wirkungen entfalten
können. In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass sie „ein Indiz oder
eine Vermutung zu Gunsten möglicher Verantwortungen“ bilden können.79 Nach
meiner Meinung haben diese Schlussfolgerungen auch Auswirkungen auf die straf-
rechtliche Bewertung des Verstoßes. Daher kann man nur für die statische Verwei-
sung auf eine technische Norm (zur Ausfüllung des materiellen Inhalts einer verwal-
tungsrechtlichen Norm) bejahen, dass diese als indirekte Ausfüllung einer Blankett-
strafnorm dienen kann.
d) Wie bereits aufgezeigt wurde, können die verwaltungsrechtlichen Normen zu
guter Letzt auch in allgemeiner Form auf den Stand der Technik verweisen. Dabei
können diese Verweisungen durch Formeln wie „den Stand der Technik“ oder
„die beste verfügbare Technik“ abgefasst sein,80 die in den Kategorien der Verwal-
tungsrechtslehre mit unbestimmten Rechtsbegriffen gleichzusetzen wären.81 Diese
Verweisungskategorie kennt man als technische Regel. Durch sie verweist die recht-
77
Vgl. Esteve Pardo, Derecho del medio ambiente, 2. Aufl., S. 136; ders., Técnica, riesgo
y Derecho, S. 173.
78
Vgl. Esteve Pardo, Derecho del medio ambiente, 2. Aufl., S. 136 – 137.
79
Vgl. Esteve Pardo, Derecho del medio ambiente, 2. Aufl., S. 137.
80
Diese rechtliche Verweisungskategorie bildet nach Darnaculleta i Gardella, Autorre-
gulación, auch „eine Verweisung bzw. eine direkte Adressierung auf/an die normative
Selbstregulierung technischen Inhalts“, S. 407.
81
Vgl. Esteve Pardo, Técnica, riesgo y Derecho, S. 175.
216 Raquel Montaner Fernández

liche Ordnung nicht auf eine konkrete technische Norm, sondern vielmehr auf die
„technische Ordnung“ in ihrer Gesamtheit, also auf die beste sich von dieser Seite
aus anbietende Lösung.82 Die Verweisungen auf die beste verfügbare Technik (im
folgenden BVT) erklärt sich durch die Logik der integralen Intervention der Verwal-
tung (intervención integral de la Administración) in beispielsweise der Umweltver-
schmutzungsprävention und -kontrolle. Ausgehend von der Europäischen Richtlinie
über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung von
1996 (IVU-Richtlinie) setzt sich so – auch in der spanischen Rechtsordnung83 – ein
Hauptziel der Verwaltung durch, „die Umweltverschmutzung im Ansatz zu verhin-
dern“.84 So handelt es sich um „Handeln direkt über den Brennpunkten der Umwelt-
verschmutzung“, indem man die Notwendigkeit sieht, dass die übernommenen Mit-
tel technischen Charakter haben und Effizienz besitzen müssen „jenseits der forma-
len Maßnahmen rechtlichen Inhalts“.85 Diese Klausel der BVT bezieht sich auf „die
rücksichtsvollste, bekannte Art des Umgangs mit der Umwelt zur Durchführung
einer Tätigkeit. Dabei wird berücksichtigt, dass die Kosten für die Unternehmen,
welche die BVT anzuwenden haben, innerhalb gewisser Grenzen bleiben“.86 Die An-
passung der Unternehmenstätigkeit an die BVT hängt von mehreren Faktoren ab. Ein
Faktor ist die technologische Anpassungskapazität der jeweiligen Anlage, wobei ein
zeitliches Element berücksichtigt wird. Demnach wird das zu fordernde Anpas-
sungsniveau an die BVT für neue Anlagen höher sein, als für jene, die bereits einige
Laufzeit besitzen. Dieser Aspekt ist eng mit dem zweiten Faktor verknüpft, nämlich
den für die Anpassung erforderlichen wirtschaftlichen Kosten.87 Durch den Verweis
auf die BVT und immer auf Grundlage der gesetzlich erlaubten Grenzen bestimmen
die vom Unternehmen zu tragenden wirtschaftlichen Kosten auch, welches beispiels-
weise die geeignetsten Emissionstoleranzwerte sind. Alles in allem entsprechen
nicht alle für die Umwelt meist rücksichtsvollsten Techniken dem Stand der BVT.
Vielmehr ist hierfür die wirtschaftliche Machbarkeit für das jeweilige Unternehmen
maßgeblich. Jedoch wird in jedem Fall der zulässige Emissionsgrenzwert gemäß der
BVT unterhalb der Emissionsgrenze festgesetzt werden, die ansonsten gesetzlich
festgelegt worden wäre.
Von hier an soll nun bestimmt werden, ob das Strafrecht beispielsweise den Ver-
stoß gegen die gemäß der BVT markierten Emissionsgrenzwerte berücksichtigen
kann. Mit anderen Worten: Kann man die Handlung einer Einzelperson für straftat-
bestandsmäßig halten, die zwar die durch die BVT qualifizierten Emissionsgrenz-
werte überschreitet, jedoch nicht gegen das gesetzlich festgelegte Limit verstößt?
Diese Frage kann sich stellen, wenn die Umweltbehörde ursprünglich die Ausfüh-
82
Vgl. Esteve Pardo, Técnica, riesgo y Derecho, S. 176.
83
So im staatlichen Bereich, Gesetz (Ley) 16/2002, vom 1. Juli, zur integrierten Vermei-
dung und Verminderung der Umweltverschmutzung.
84
Esteve Pardo, Derecho del medio ambiente, 2. Aufl., S. 39.
85
Esteve Pardo, Derecho del medio ambiente, 2. Aufl., S. 39 – 40.
86
Vgl. http://mediambient.gencat.cat/cat/empreses/mtd/.
87
Hierzu Esteve Pardo, Derecho del medio ambiente, 2. Aufl., S. 42 – 43.
Die normative Selbstregulierung im Umweltstrafrecht 217

rung einer unternehmerischen Tätigkeit genehmigte, seit besagter Genehmigung Zeit


verstreicht, in der sich die Sachlage geändert hat, und das Unternehmen seine Tätig-
keit nun nicht an die BVT anpasst, zum Beispiel hinsichtlich der erlaubten Emissi-
onswerte. In diesem Fall wird gegen die Bedingungen der Umweltbehörde verstoßen
und daher gegen das den Bedingungen zu Grunde liegende Gesetz, und trotzdem hält
der Emissionspegel dieser Tätigkeit die gesetzlich festgelegten Parameter ein. M.E.
kann nun auf Grund des Gesetzlichkeitsprinzips dieses Vorgehen nicht für die An-
wendung des Art. 325 CP relevant sein. Der gesetzliche Verweis auf die BVT gestal-
tet sich als eine gleitende oder dynamische Verweisung, welche aus Sicht der Rechts-
sicherheit unzulässig ist und folglich keine strafrechtlichen Pflichten zu erzeugen
vermag. Zudem ist diese Verweisungsform auch relativ, weil die konkrete Bestim-
mung der BVT und die von der jeweiligen Umweltbehörde festgelegten Emissions-
werte nicht nur von den operativen technischen Normen des jeweiligen Tätigkeits-
sektors abhängen, sondern auch von den Eigenschaften der Anlage oder des Unter-
nehmens. Die Nicht-Anpassung an die BVT bedeutet so lediglich einen Verstoß
gegen Verwaltungsrecht.
e) Zusammenfassend ist nur für die statische Verweisung rechtliche Wirkung an-
zuerkennen, die von der verwaltungsrechtlichen Ordnung auf die private Regulie-
rung technischen Charakters gemacht wird, obwohl unser Strafgesetzbuch die Tech-
nik der dynamischen normativen Verweisung verwendet. Die Berücksichtigung tech-
nischer Regeln und Normen über Blankettstrafnormen bei der Abgrenzung der straf-
rechtlich verbotenen Handlung hängt auf diese Weise nicht nur von der Kategorie der
privaten Regulierung ab, sondern auch von der Verweisungsart der rechtlichen Ord-
nung. Werden nach diesem Verständnis nur auf diese Weise die Anforderungen des
Gesetzlichkeitsprinzips eingehalten, sind die rechtlich relevanten Normen die der re-
gulierten Selbstregulierung, auf die eine statische Verweisung vorliegt. Damit wür-
den sich die hier aufgeworfenen Fragen – ist eine Person strafrechtlich verantwort-
lich, die eine gewisse umweltschädigende Substanz oberhalb der in einer technischen
Regulierung festgelegten Werte emittiert, oder diejenige, die nicht die vorgesehenen
technischen Sorgfaltsgrundsätze für ein gewisses Umweltrisikomanagement ein-
hält? – dahingehend lösen: Nur wenn die verletzte technische Norm durch die recht-
liche Ordnung anerkannt war (Ko-Regulierung) und diese ihrerseits auf diese tech-
nische Norm durch eine statische Verweisung verwiesen hatte, können besagte Nor-
men den Straftatbestand ausfüllen, und folglich kann dann deren Verletzung in eine
strafrechtlich relevante Handlung münden. Es ist anzunehmen, dass die hier vorge-
schlagene grundrechtsfreundliche Lösung zur Bewahrung der Gesetzmäßigkeit der
Blankettstrafgesetztechnik keine große Bedeutung zu haben scheint, wenn es sich
um die Bestimmung der Sorgfaltspflicht in den Fällen der nicht als Blankettgesetze
ausgestalteten Straftatbestände handelt. Tatsächlich ist hierfür der Rekurs auf tech-
nische Normen und Regeln sowohl von der Lehre wie auch von Rechtsprechung an-
erkannt, um einen Verstoß gegen die strafrechtlich gebotene Sorgfalt zu bestimmen,
ohne dass dies eine Verletzung des Gesetzlichkeitsprinzips zu verursachen scheinen
würde.
218 Raquel Montaner Fernández

5. Schlussbetrachtungen

a) Man muss auf Grund der vorangehenden Erwägungen davon ausgehen, dass
die Nichterfüllung der technischen Regeln und Normen nicht immer das Einschreiten
des Strafrechts rechtfertigt. Auf dem dieser Analyse gegenständlichen Sektor, näm-
lich der potentiell umweltschädigenden unternehmerischen Tätigkeit, entstehen die
Selbstregulierungsformen nicht in einem frei von rechtlicher Normierung stehenden
Kontext. So kann es sein, dass die Verantwortlichkeit der Berufstätigen des jeweili-
gen Bereichs sich nicht nur nach den Vorgaben der zur Anwendung kommenden
rechtlichen Regulierung bestimmt, sondern auch nach den Bestimmungen der
Selbstregulierungsnormen. Um die Konsequenzen für die Zurechnung der individu-
ellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit durch die Nichterfüllung gewisser unter-
nehmerischer normativer Selbstregulierungsformen zu bewerten, ist zu beachten,
dass jene normalerweise einem Fall der regulierten Selbstregulierung entsprechen
werden.
b) In jeder ihrer Formen dienen die Produkte der normativen Selbstregulierung
der Bestimmung des erlaubten Risikos im jeweiligen Anwendungssektor. Doch ein-
zig bei der regulierten Selbstregulierung kann man davon ausgehen, dass dieses Ri-
siko nicht nur erlaubt ist, sondern auch rechtlich erlaubt ist. Tatsächlich nimmt das
Recht von dem Moment an, in welchem es den Formen der normativen Selbstregu-
lierung rechtliche Relevanz verleiht, seinerseits die durch die Selbstregulierung be-
grenzten Risikoparameter an. Demnach entfaltet sich eine Tätigkeit, die gemäß den
Bestimmungen einer rechtlich durch Verweisung anerkannten technischen Norm
durchgeführt wird, auch im Rahmen des rechtlich erlaubten Risikos.
c) Zuletzt wurde in diesem Beitrag versucht, eine Antwort auf die folgende Frage
zu geben: Können die Selbstregulierungsformen zur Ausfüllung der Blankettstraf-
normen dienen? Nach meinem Verständnis ist die Antwort negativ, zumindest
wenn man vom Konzept der Selbstregulierung im engeren Sinn ausgeht. Vertritt
man, dass sich nur bei denjenigen Formen der Selbstregulierung rechtliche Wirkun-
gen entfalten, auf die sich die rechtliche Ordnung in statischer Weise bezieht, ist dem-
nach davon auszugehen, dass diese ursprünglich privaten Normen nur strafrechtliche
Relevanz erlangen, wenn sie sich in rechtliche Normen verwandeln. Also ist die ein-
zige auf Basis des Gesetzlichkeitsprinzips statthafte Verweisungskategorie die stati-
sche Verweisung auf technische Normen. Allerdings mutieren die technischen Nor-
men auf diese Weise in Wirklichkeit zu Rechtsverordnungen und bleiben folglich
nicht länger technische Normen im engeren Sinn. Deshalb werden nur die Formen
der „regulierten Selbstregulierung“ oder „Ko-Regulierung“ zur Ausfüllung der Blan-
kettstrafgesetze dienen können. Wenn dem so ist, wird der Straftatbestand des
Art. 325 CP überholt. Mehr noch wird dies allgemein mit allen als Blankettstrafge-
setz gestalteten Straftatbeständen geschehen, die auf verwaltungsrechtliche Normen
verweisen, welche ihrerseits mit sehr technischen Regulierungen verknüpft sind. Ob-
wohl die Blankettstrafgesetze ein Werkzeug sein sollen, um die oben erwähnte „Fos-
silbildung“ der strafrechtlichen Norm zu verhindern, scheint dies im Bereich der
Die normative Selbstregulierung im Umweltstrafrecht 219

stark technisierten Tätigkeit gerade nicht vermeidbar. Denn obwohl man den An-
spruch aufrechterhält, die strafrechtliche Regulierung an z. B. veränderte Anforde-
rungen des Umweltschutzes anzupassen, wird der Straftatbestand sich nicht an die
wechselhaften – und dynamischen – Notwendigkeiten dieses Schutzbereiches anpas-
sen können, wenn nur die statische Verweisung auf die technische Selbstregulie-
rungsnorm als rechtmäßig anzusehen ist. Folglich kann unter diesen Bedingungen
die Intervention des Strafrechts in stark durch die Technik reglementierten Sektoren
unbrauchbar werden. Möchte man diese Folge verhindern, bleibt kein anderes Mittel,
als sich die Frage zu stellen, ob gegebenenfalls eine Überholung oder zumindest eine
Neuauslegung des Gesetzlichkeitsprinzips notwendig ist, welche die Anpassung von
Straftatbeständen wie der Umweltstraftat an die Wirklichkeit in den Tätigkeitsberei-
chen vereinfacht.
IV. Blick über die Grenzen
(des Nationalstaats und des materiellen Strafrechts)
Rechtstheoretische Grundlagen des Gesetzesvorbehaltes
im Strafprozessrecht
Matthias Jahn*

I. Methodische Vorüberlegungen:
Die Besonderheiten des Strafverfahrensrechts
Besonderheiten der Geltung des rechtsstaatlichen Prinzips vom Vorbehalt des Ge-
setzes in der Strafprozessordnung müssten nicht eigens behandelt werden, wenn ihre
Beantwortung bereits aus der allgemeinen Methodologie der Rechtsanwendung oder
jedenfalls des materiellen Strafrechts folgte. Das wäre der Fall, wenn das Strafver-
fahrensrecht sich nicht signifikant von anderen Rechtsgebieten – insbesondere dem
materiellen Strafrecht – unterschiede, weil dessen Gewährleistungen wie das strenge
Analogie- und Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG dann ohne Weiteres
auch im Verfahrensrecht Geltung beanspruchen würden. Die damit gestellte Vorfrage
muss also zunächst geklärt werden. Wie ein Recht angewendet wird, hängt – mindes-
tens zu einem nicht unwesentlichen Teil – von dem ab, was seine spezielle Struktur
oder auch inhaltliche Konzeption genannt werden kann. Keine Einigkeit besteht aber
bereits innerhalb der strafjuristischen Fachdiskussion über die Frage, ob es überhaupt
so etwas wie ein genuin strafprozessuales Denken mit der nahe liegenden Folge einer
sowohl gegenüber den anderen Prozessrechten als auch gegenüber dem materiellen
Strafrecht eigenständigen Methodenlehre gibt1. Die methodologische (Lehrbuch-)
Literatur verknüpft das Stichwort Strafprozessrecht heute noch nicht mit eigenstän-
digen Inhalten, sondern begnügt sich bestenfalls mit kursorischen Hinweisen auf
Einzelfragen der Auslegung2. Diese Reserve beruht zum Teil auf einer aus der Ge-

* Dem Beitrag liegt die zusammen mit Klaus Lüderssen verantwortete Kommentierung
zur Methode der Rechtsanwendung im Strafverfahren in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl.
2006, Einleitung Abschn. M, zugrunde; die Nachweise wurden aktualisiert und auf das Not-
wendigste beschränkt. Der Verf. ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht
und Wirtschaftsstrafrecht und Leiter der Forschungsstelle für Recht und Praxis der Strafver-
teidigung (RuPS) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg sowie Richter am
Oberlandesgericht Nürnberg (1. Strafsenat).
1
Vgl. Meyer-Goßner, FS Schöch, S. 811 f. Mit Nachdruck bejahend zuletzt Salas, Kritik
des strafprozessualen Denkens (2005), S. 55, allerdings mit zweifelhaften Folgerungen (vgl.
Jahn, GA 2006, S. 542).
2
Dies verwundert umso mehr, als es sowohl zwischen der Rechtstheorie (und Rechtsphi-
losophie) und dem Straf(prozess)recht eine stets enge, mit großen Namen verbundene Ver-
224 Matthias Jahn

schichte der juristischen Methodenlehre erklärbaren Präponderanz zivilrechtlicher


Erkenntnisinteressen. Sowohl in der Methodenlehre als auch in der allgemeinen
rechtstheoretischen Diskussion wird über diesen Zustand allerdings nicht besonders
häufig Klage geführt3. Dies dürfte mit der Befürchtung zusammenhängen, dass die
vor allem am privatrechtlichen Beispiel entwickelte Methodenlehre ihren Universa-
litätsanspruch verlieren und darüber das hergebrachte Desiderat einer allgemeinen
Prozesslehre aus dem Blick geraten könne4.
Solche Bedenken vermögen jedoch nicht zu überzeugen. Die ungehindert fort-
schreitende Ausdifferenzierung der Rechtsordnung verlangt nicht nur nach einer Be-
sinnung auf vorhandene gemeinsame Grundüberzeugungen, sondern gerade dort, wo
diese Überzeugungen auf eine immer komplexere und technisch hochgerüstete Le-
benswirklichkeit treffen, nach einer Verfeinerung und Sektoralisierung der Metho-
denlehre. Der Hinweis auf das gemeinsame theoretische Erbe trägt der komplexen
Problemlage ebenso wenig ausreichend Rechnung wie derjenige auf Art. 2
EGGVG. Dass ein undifferenziertes Einheitsdenken zu methodisch anfechtbaren Er-
gebnissen führen kann, zeigt bereits die Behandlung der Frage, ob der zivilprozes-
suale Grundsatz, dass jede Prozesshandlung von Treu und Glauben bestimmt sein
muss, auch für das Strafprozessrecht Geltung beansprucht. Ob aus der im Zivilver-
fahrensrecht etablierten Abwehraufgabe dieser Formel gegen die funktionswidrige
Ausnutzung der Rechtsschutzeinrichtung auch im Strafprozessrecht Folgerungen
zu ziehen sind, wie dies teilweise befürwortet wird5, kann methodisch angemessen
nur beantwortet werden, wenn bei ihrer Beantwortung die Eigengesetzlichkeiten des
Strafverfahrens berücksichtigt werden.
Diese Ausgangslage macht eine eingehende Klärung des Verhältnisses von allge-
meiner Methodenlehre zur Methode der Rechtsfindung im Strafprozessrecht nicht
überflüssig. Es handelt sich hier ebenso um eine „Lebensfrage der Strafrechtsdogma-
tik“, wie dies auch für die Auslegung des Besonderen Teils des materiellen Straf-
rechts gegenüber dem Allgemeinen Teil reklamiert wird6. Gerade für das Strafpro-
zessrecht fordert das Verfassungsrecht die Beachtung von methodischen Standards
bei der Rechtsfindung. Ein Verfassungsverstoß kann nach der Rechtsprechung des

bindung gegeben hat, wie sich etwa bei Kühl, Die Bedeutung der Rechtsphilosophie für das
Strafrecht (2001), S. 19 ff. nachlesen lässt.
3
Vgl. aber Salas (Fn. 1), S. 61 f. und wohl auch Hilgendorf, Die Renaissance der Rechts-
theorie zwischen 1965 und 1995 (2005), S. 76.
4
Paradigmatisch Bruns, ZZP 87 (1974), S. 104 (105) sowie für das Strafprozessrecht –
allerdings zurückhaltender – Popp, Verfahrenstheoretische Grundlagen der Fehlerkorrektur im
Strafverfahren (2004), S. 28 ff., 51 ff.
5
Zur jüngeren Diskussion unter methodischen Aspekten Kudlich, Strafprozeß und allge-
meines Mißbrauchsverbot (1998), S. 64 ff.; Fahl, Rechtsmißbrauch im Strafprozeß (2004),
S. 79 ff.; Jahn/Schmitz, wistra 2001, S. 328 (330 ff.); Jahn, StV 2009, S. 663 (665 ff.).
6
Siehe Schünemann, FS Bockelmann, S. 117 (119).
Rechtstheoretische Grundlagen des Gesetzesvorbehaltes im Strafprozessrecht 225

BVerfG7 auch vorliegen, wenn der Richter zu einem Ergebnis, das den Wertvorstel-
lungen der Verfassung entspricht, auf einem methodischen Wege gelangt, der die ihm
bei der Rechtsfindung gezogenen verfassungsrechtlichen Grenzen missachtet. So-
weit die allgemeinen methodischen Standards im Strafprozess besonderen Modifi-
kationen unterliegen, verlangt daher die Gesetzesbindung des Richters (Art. 20
Abs. 3 GG) ihre Berücksichtigung bei der Konkretisierung des Normbefehls.

II. Die Besonderheiten des Strafverfahrensrechts


Die Besonderheiten des Strafverfahrensrechts lassen sich nicht ohne Weiteres in
einer Definition zusammenfassen. Vielmehr bedarf es zunächst induktiver Annähe-
rungen.

1. Modelle zum Verhältnis vom materiellen Strafrecht


und Strafprozessrecht

a) Konfundation von materiellem Strafrecht und Strafverfahrensrecht

Die Voraussetzungen, unter denen jemand strafrechtlich verfolgt werden kann,


werden nicht danach unterschieden, ob sie unabhängig von dem im Einzelfall zu be-
urteilenden Verhalten formuliert sind oder erst ad hoc. Auch die Rechtsfolgen (z. B.
Einsperren des Beschuldigten, Bestrafung des Verurteilten) sind nicht substantiell
geschieden.
b) Dienende Funktion des Strafverfahrens

Das Strafverfahrensrecht hat keine selbständige Funktion. Mit den Maßnahmen,


die es vorsieht, wird nur das Ziel der Aburteilung nach materiellem Strafrecht (Ver-
urteilung oder Freispruch) verfolgt.

c) Gleichrangigkeit von materiellem Strafrecht und Strafprozessrecht

Die Materien werden zwar begrifflich auseinandergehalten, die Entscheidungen


im Prozess balancieren indessen die normativen Aussagen des materiellen Rechts.

d) Dominierende Funktion des Strafverfahrensrechts

Die normativen Aussagen des materiellen Rechts treten im Vergleich mit den im
Verfahren getroffenen Entscheidungen zurück.

7
BVerfGE 34, 269 (280); BVerfGE 49, 304 (313). Siehe dazu Christensen/Kudlich, Theorie
richterlichen Begründens (2001), S. 326 f.; Gaebel, Das „Grundrecht auf Methodengleich-
heit“, 2008.
226 Matthias Jahn

2. Reale Erscheinungsformen

Alle soeben beschriebenen Modelle kommen vor, allerdings nicht in Reinkultur,


sondern mehr oder weniger gemischt, in ständiger Entwicklung begriffen, worüber
im Einzelnen die Rechtsgeschichte Auskunft gibt8. Älteren Rechtsordnungen ist die
Trennung von materiellem Strafrecht und Strafverfahrensrecht ganz unbekannt.
Dabei muss man freilich berücksichtigen, dass erst mit dem Begriff vom Strafrecht,
der einen öffentlichen, das heißt im Namen der Allgemeinheit über den Kopf der
Opfer hinweg geltend zu machenden Strafanspruch etabliert, sich die Bedeutung
von Strafrecht und Strafverfahrensrecht, die der gegenwärtige Betrachter zugrunde
legt, verbindet. Die entscheidende Zäsur bestand in der Rationalisierung des Verfah-
rens durch den inquisitorischen Prozess (als Offizialverfahren mit dem Ziel der
Wahrheitsfindung). Gleichwohl kam es noch nicht zu einer Aufspaltung der Materi-
en, sondern – im Gegenteil – erst einmal zu einer besonders eindrucksvollen Integra-
tionsleistung in Gestalt der Constitutio Criminalis Carolina (1532), mit der das öf-
fentliche Strafrecht zu Beginn der Neuzeit einen ersten Höhepunkt erreichte. Bis
weit in das 19. Jahrhundert hinein wird das Prozessrecht als rein praktische Disziplin
begriffen. Die Prozesskunde beschäftigt sich vor allem mit den „Kunstkniffen“ für
ein erfolgreiches Prozessieren. Rechtstheorie, Rechtslehre und Rechtswissenschaft
werden noch bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als Synonyme gebraucht.
Auch die moderne Trennung von Prozessrecht und materiellem Recht beginnt erst im
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und hat nicht nur mit Rechtspositivismus, sondern
auch mit Begriffsjurisprudenz etwas zu tun; beide sind ihrerseits wiederum nicht zu
trennen von der modernen Entwicklung der Naturwissenschaften in der zweiten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts: begriffliche Klarheit und Abgeschlossenheit
waren die Parole, das heißt, ein Forschungsgebiet musste sich deutlich abgrenzbar
von anderen definieren – das ist einer der Aspekte des Konzeptes der reinen Prozess-
rechtslehre. Rechtspositivismus meint freilich auch: rechtspolitische, also gesetzge-
berische Kreativität, und schließlich (im Zuge der Befreiung vom Metaphysischen)
eine große Ernüchterung, die zu einer endgültigen Eliminierung tradierter Rituale
den Weg für ein – sich dann verselbständigendes – zweckrationales Verfahren ebnete.
Die Folge dieses Trennungsdenkens war unter anderem die Ausbildung ganz
neuer Begriffspaare auch im Strafprozess: wirksam/unwirksam; zulässig/unzulässig
– in Konfrontation mit: rechtmäßig/rechtswidrig. Das implizierte eine bestimmte
Lehre von den Prozesshandlungen (Bewirkungshandlungen, Erwirkungshandlun-
gen9) und nahm, nachdem – reichlich verspätet – Eberhard Schmidt in den fünfziger
Jahren des letzten Jahrhunderts (die eine gewisse Renaissance begriffsjuristischen
Denkens brachten) die Verknüpfung der Strafprozessrechtswissenschaft mit den gro-

8
Umfassend dazu Kollmann, Begriffs- und Problemgeschichte des Verhältnisses von for-
mellem und materiellem Recht (1996) und aus straf(verfahrens)rechtlicher Sicht Grunst,
Prozeßhandlungen im Strafprozeß (2002), S. 22 ff. Zusfs. Jung, ZStrR 130 (2012), 39 (43 ff.).
9
Vgl. die Darstellung und Begründung bei Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen.
Ein Beitrag zur allgemeinen Prozeßrechtslehre (1950), S. 88 ff.
Rechtstheoretische Grundlagen des Gesetzesvorbehaltes im Strafprozessrecht 227

ßen Theorien des Zivilprozessrechts hergestellt hatte, jahrzehntelang in der gesamten


Prozessrechtswissenschaft einen großen Raum ein (nie in der Prozessrechtspraxis).
Bald indessen begann die berechtigte Kritik daran und verhalf allmählich wieder der
Auffassung zur Geltung, dass am Ende auch im Prozess doch Bewertungen den Aus-
schlag geben, die von dem, was man rechtmäßig oder rechtswidrig zu nennen ge-
wohnt ist, eigentlich nicht abweichen10. Nur die Ideologie, wonach die Prädikate
rechtmäßig/rechtswidrig lediglich für Verbotenes – im Strafrecht für strafrechtlich
Verbotenes – reserviert sind, konnte jene fruchtlosen Differenzierungen begünstigen.
Macht man sich aber klar, dass die Voraussetzungen, unter denen etwas rechtmäßig
oder rechtswidrig ist, und die Folgen, die sich an das Wort rechtmäßig oder rechts-
widrig knüpfen, ohnehin jeweils sehr vielgestaltig sein können, dann tritt die Einheit-
lichkeit des Bewertungsmaßstabs deutlich hervor. So richtig es also zunächst war, im
Zivilrecht das überkommene Konglomerat des aktionenrechtlichen Denkens aufzu-
lösen, den rein materiellrechtlichen Anspruch zu „entdecken“, so übertrieben war die
Konsequenz, die Differenzierung der Wertgesichtspunkte gleich zur Etablierung
ganz verschiedener, ständig mit ihrer Selbstbehauptung beschäftigter Rechtsgebiete
heraufzustilisieren. Dass im Straf- und Strafprozessrecht die Ausgangsposition inso-
fern anders war, hat die Übernahme dieses Trennungsdenkens aus dem Zivil- und
Zivilprozessrecht in das Strafrecht und Strafprozessrecht nicht verhindern können,
und deshalb gilt für Strafrecht und Strafprozessrecht nichts anderes als für Zivilrecht
und Zivilprozessrecht.
Nach einer Phase der künstlichen Trennung sieht man jetzt wieder das Gemein-
same. Diese Entwicklung entspricht dem heute vorherrschenden Verständnis juristi-
scher Methodologie11. Das, was vor der Modernisierung der Prozesskategorien eine
unklare Gemengelage war, ist im modernen Verhältnis von materiellem Zivilrecht
und Zivilprozessrecht eine stufenreiche, aber in einem einheitlichen Rahmen gehal-
tene Wertungsskala. Im Strafrecht und Strafprozessrecht haben wir vergleichbare
Entwicklungen, wenn man sich einen größeren Zeitraum vor Augen führt: vor der
Etablierung des öffentlichen Strafrechts im hohen Mittelalter gibt es ein Nebenein-
ander von Rache, Vergeltung, Buße, vielfältigen finanziellen Ablösungsformen, Ver-
gleichen, Verträgen und ähnlichem, und jetzt, nachdem in Jahrhunderten der öffent-
liche Strafanspruch aufgebaut worden ist und am Schluss seine Krönung durch das
Legalitätsprinzip bekommen hat, ist wiederum eine Ausdifferenzierung der Reaktio-
nen auf rechtswidrig-schuldhafte schwere Interessenverletzungen zu registrieren,
deren Stichworte sind: Wiedergutmachung, zivilrechtliche oder öffentlich-rechtliche
Alternativen zum Strafen, Konzeptionen spezieller Interventionsrechte, Mediation
im Strafverfahren, das alles auf der Basis von allmählich etablierten prozessualen
Erledigungsmöglichkeiten verschiedenster Art, insbesondere der Verständigung12
10
Volk, Prozeßvoraussetzungen im Strafrecht (1978), S. 7 ff.
11
Speziell für das Strafrecht Vogel, Juristische Methodik (1998), S. 19 f. Zur Rezeption der
Hermeneutik in der neueren Rechtstheorie umfassend Hilgendorf (Fn. 3), S. 36 ff.
12
Zur rechtstheoretischen Fundierung der Verständigung im Strafverfahren Jahn, GA
2004, S. 272 (275 ff.); krit. – mit weiteren Belegen – Hamm, FS Dahs, S. 267 ff.
228 Matthias Jahn

sowie der Forderung nach einem partizipatorisch ausgestalteten (Vor-)Verfahren13.


Dabei wächst die Gewissheit, dass diese Entwicklungen auch für die Methodenlehre
folgenreich sein müssen.

3. Konzeption der Gleichwertigkeit


strafrechtlicher Eingriffsbefugnisse

Verdichtet man diese Entwicklungslinien zu einem System, so ergibt sich eine


Konzeption der Gleichwertigkeit strafrechtlicher Eingriffsbefugnisse. Man ist ge-
wohnt, den im materiellen Strafrecht formulierten Verboten und den an sie geknüpf-
ten Sanktionen eine abstrakte Bedeutung zuzuschreiben und darauf die Behauptung
zu stützen, damit sei eine klare Trennung von der nur und erst im Strafprozess kon-
kretisierten Funktion der Strafgesetze etabliert. Aber dieses Bild einer gleichsam als
Wertetafel fungierenden Verbotsmaterie mit generalpräventivem Effekt täuscht eine
Selbständigkeit nur vor. Auch die Regeln des Strafprozessrechts existieren abstrakt
und entfalten eine ganz entsprechende Wirkung, indem sie die Voraussetzungen for-
mulieren, unter denen die bloße Existenz materiell-strafrechtlicher Verbote in – den
einzelnen Menschen treffende – Sanktionen umschlägt. Damit sind sie ein Teil auch
des abstrakten, an Bestrafung orientierten Normsystems14. Auch die Vorschriften des
Strafvollzugsgesetzes wären insoweit in die Gesamtperspektive einzuschließen, blei-
ben hier aber wegen der begrenzten Zielsetzung der Darstellung außer Betracht.
Wenn das richtig ist, kann aus der Perspektive der spezifischen Relevanz abstrak-
ter Tatbestände des materiellen Strafrechts und seiner Sanktionen nicht dem Ein-
druck entgegengetreten werden, der sich bei der Anwendung des Strafrechts und
des Strafprozessrechts einstellt: dass wir es mit einer gleitenden Skala von Eingriffen
in die Rechtssphäre der Personen, die der Strafverfolgung ausgesetzt sind, zu tun
haben. Diese Eingriffe sind einander sehr ähnlich – etwa vom Beginn der Untersu-
chungshaft bis zur Ladung zum Strafantritt nach der Verurteilung, bleiben aber auch
diesseits und jenseits davon vergleichbar: Der Verdacht gegen den Beschuldigten –
der ihn nicht erst belastet, wenn er ihn kennt – wird durch die Verurteilung zur Über-
zeugung oder durch den Freispruch beseitigt; Strafrecht und Strafprozess bewegen
sich zusammen in einem gleichsam durch ein „Auf und Ab“ geprägten Kontinuum.

13
Zu gesellschaftstheoretischen Grundlagen der Forderung ausf. Jahn, ZStW 115 (2003),
S. 815 (818 ff.).
14
Lüderssen, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers
– Wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009, S. 239 (265 ff.);
Volk, in: Streck-FS, S. 597 (600 ff.). Eine Parallele findet die hier befürwortete Konzeption in
der Gleichordnung von Verfassungsprozessrecht und materiellem Verfassungsrecht durch
Schorkopf, AöR 130 (2005), S. 465 (483 ff.), sowie in der neueren Diskussion über den Ei-
genwert des Verwaltungsverfahrens bei Fehling, VVDStRL 70 (2011), S. 278 (286 ff.). Gegen
die ganzheitliche Betrachtung von Strafrecht und Strafprozessrecht aber Schild, Der Straf-
richter in der Hauptverhandlung (1983), S. 83 ff.; Grunst (Fn. 8), S. 136 ff.
Rechtstheoretische Grundlagen des Gesetzesvorbehaltes im Strafprozessrecht 229

4. Ein Kriminal-Justiz-System?

Eine völlig konsistente Gleichordnung von materiellem Strafrecht und Strafpro-


zessrecht zu begründen, kann nicht Aufgabe dieses Beitrages sein15. Allerdings muss
hier so viel darüber gesagt werden, dass die für Auslegung und Anwendung des Straf-
prozessrechts abzuleitenden Konsequenzen nachvollziehbar werden. Das Problem
ist, dass mit der Beseitigung einer als überholt empfundenen Trennung von Phäno-
menen nicht automatisch eine einheitliche Grundlage gegeben ist. Die Beseitigung
der Trennung stellt nicht einfach wieder etwas her. Erstens deshalb nicht, weil die
Trennung zu lange angedauert hat, als dass ein einfaches Zurückgehen auf den Status
quo ante überhaupt möglich erscheint. Ferner: selbst wenn man das könnte, wird man
keineswegs auf eine geschlossene Konzeption stoßen, sondern lediglich auf etwas
relativ ungeordnet Historisch-Gewachsenes. Für unsere Epoche und die Zukunft
muss das ersetzt werden durch etwas, was man „criminal justice system“ nennen
könnte, und in der Tat scheint insofern die anglo-amerikanische Tradition eine güns-
tigere Basis für die Lösung der Probleme zu bieten, von denen hier die Rede ist. Eine
konzeptionelle Gleichgewichtigkeit materiellrechtlicher und prozessualer Probleme
muss sui generis sein, kann nicht nur durch Verschmelzung stattfinden.
Der Weg dahin ist schwierig und von der Gefahr bedroht, dass nunmehr das Pro-
zessuale gegenüber dem Materiellen zu sehr betont wird, auch wenn das zunächst
noch als liberale Lösung erscheint. Kriminalsoziologisch gesehen würde das auf
einen konsequenten Interaktionismus (jetzt – sozialer – Konstruktivismus genannt)
hinauslaufen. Bemerkenswert ist, wie nahe diesen modernen Ansichten die Version
vom Prozess gewesen ist, die in den zwanziger Jahren James Goldschmidt präsentiert
hat, klar erkannt bereits von Fritz v. Hippel16. Der Prozess erscheint „als die überge-
ordnete Macht … die nicht dem Rechte, sondern der das Recht unterworfen ist“17.
Luhmann18 hat das später „Immunisierung“ getauft, damit aber im Grunde seine Dia-
gnose nur euphemistisch verschleiert. Die Spannung zwischen materieller Richtig-
keit und prozessualer Realisierung ist letztlich nicht auflösbar.
Deshalb wird auch jene Richtung, die sich darauf beschränkt, die Auflösung der
Spannung durch eine besonders strikte Anwendung des Gesetzlichkeitsprinzips zu
bewirken19, den verschiedenen Sachlagen nicht gerecht. Erforderlich ist vielmehr
15
Grundlegende Ausführungen dazu – im Sinne der hier eingenommenen Position – bei
Naucke, GA 1998, S. 263; Hassemer, in: Mehr Gerechtigkeit (Loccumer Protokolle 09/2011),
S. 13 (15 ff.); Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, 3. Aufl. 2010, Vorb. § 1 Rn. 198 ff.
16
v. Hippel, ZZP 65 (1952), S. 424 ff. Siehe auch Heger, JZ 2010, S. 637 (643 ff.); ders.,
in: FS 200 Jahre Jur. Fakultät der HU, S. 477 (494 f.).
17
Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage (1925), S. 246. Krit. demgegenüber etwa
Grunsky, JZ 1974, S. 750 (751).
18
Legitimation durch Verfahren (1969). Zu den Auswirkungen seiner Konzeption für den
Verfahrensbegriff Schaper, Studien zur Theorie und Soziologie des gerichtlichen Verfahrens
(1984), S. 205 f.
19
So z. B. Naucke, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt (Hrsg.), Vom un-
möglichen Zustand des Strafrechts (1995), S. 483 (495).
230 Matthias Jahn

eine wirklich in die Tiefe gehende Analyse der Situation des Beschuldigten in den
verschiedenen Phasen, die er bis zur Verurteilung oder zum Freispruch erlebt, kon-
frontiert mit dem Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft und den Bedürfnissen einzel-
ner Geschädigter. Anders ausgedrückt, es konkurriert die Unschuldsvermutung mit
den Strafzwecken. Beide Materien sind in unglaublicher Bewegung. Bei den Straf-
zwecken ist längst der Abschied von den monolithischen Blöcken: Vergeltung und/
oder Prävention eingeleitet. An die Stelle davon ist ein großes Ensemble von Reak-
tionen getreten. Das Bild der Unschuldsvermutung ist ähnlich komplex, insbesonde-
re durch Rechtsvergleichung und übergreifende Rechtsordnungen bestimmt. Hinzu
kommt, dass man viel reflektierter geworden ist mit Bezug auf das wissenschafts-
theoretische Problem, das hinter der Dialektik von Unschuldsvermutung und Straf-
zwecken verborgen ist.

III. Folgerungen für die Rechtsanwendung


im Strafprozessrecht
1. Analogieverbot im Strafprozessrecht

Für die den Beschuldigten belastende Analogie ergibt sich das Analogieverbot im
Strafprozessrecht also ohne Weiteres aus der vorstehend entwickelten Gleichord-
nung des strafrechtlichen und strafprozessualen Eingriffs20. Dabei macht es keinen
Unterschied, ob der Eingriff eine Zwangsmaßnahme im Sinne des Strafprozessrechts
ist oder eine den Beschuldigten „nur“ in anderer Weise belastende Verfahrensmaß-
nahme. Auf die Frage, ob dieses Analogieverbot schon aus dem allgemeinen Geset-
zesvorbehalt für öffentlich-rechtliche Regelungen folgt, wie dies namentlich von der
Rechtsprechung des BVerfG21 angenommen wird – keine Analogie zu Lasten des
Grundrechtsträgers –, kommt es insoweit also nicht an. Noch offensichtlicher ist
das bei Zwangsmaßnahmen, die zu einer Freiheitsentziehung führen, also bei der Un-
tersuchungshaft und der vorläufigen Festnahme. Hier ergibt sich das Analogieverbot
direkt aus Art. 104 Abs. 1 GG22. Für die den Beschuldigten nicht belastenden Maß-
nahmen oder Verfahrensvorgänge ist die Parallele zum materiell-strafrechtlichen
Analogieverbot nicht ohne weiteres einsichtig. Hier wird man dann auf den allgemei-

20
Grds. zustimmend zur hier eingenommenen Position Gaede, StV 2009, S. 96 (99); ders.,
in: AnwK-StGB, § 1 Rn. 11; Ziemann, HRRS 2008, S. 364 (366) und Pfordte, StV 2008,
S. 243 (244). A.A. Jäger, GA 2006, S. 615 (622 f.) sowie – mit differenzierter Stellungnahme
und Herleitung – Kudlich, in diesem Band, S. 233 (244) unter III.1.d).
21
BVerfGE 25, 269 (286 f.); BVerfGE 63, 343 (359) sowie zuletzt – allerdings nunmehr mit
dem einschränkenden Zusatz „grundsätzlich“ – BVerfGE 112, 304 (315) sowie BVerfGE 116,
69 (83); Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl. 2011, Einl. Rn. 198; Satzger, in: SSW-StGB, 2008,
§ 1 Rn. 61; Krey, JA 1983, S. 233 (235); Beaucamp, AöR 134 (2009), S. 83 (89 ff.);
T. Schmidt, VerwArch 97 (2006), S. 139 (152 f.).
22
Das wird auch von der Rechtsprechung nicht bestritten, vgl. BVerfGE 78, 374 (383);
BVerfGE 96, 68 (97).
Rechtstheoretische Grundlagen des Gesetzesvorbehaltes im Strafprozessrecht 231

nen Gesetzesvorbehalt zurückgreifen müssen, mit der Maßgabe, dass er im öffentli-


chen Recht besonders streng zu handhaben ist23.

2. Rückwirkungsverbot

Der Grundsatz der Gleichrangigkeit strafrechtlicher und strafprozessualer Ein-


griffe muss auch dazu führen, das Rückwirkungsverbot auch im Strafprozessrecht
durchzusetzen. Eine direkte Anknüpfung an Art. 103 Abs. 2 GG scheint dabei frei-
lich zunächst nicht in Betracht zu kommen, denn dort ist eindeutig von der Strafbar-
keit einer Tat die Rede. Eine reflektierte Wortauslegung könnte die Strafbarkeit zwar
in dem hier skizzierten umfassenden Sinne deuten, und auch systematisch-teleologi-
sche Erwägungen könnten dieses Ergebnis stützen, man hätte dann jedoch mit der
historischen (subjektiven wie objektiven) Ausgangsposition Schwierigkeiten24 –
unter der Voraussetzung, dass bei einer derartigen Sachlage die Konkurrenz der Aus-
legungskriterien, die auch für das Verfassungsrecht gelten25, zugunsten der histori-
schen Auslegung aufzulösen wäre. Ein dahingehender Grundsatz existiert allerdings
nicht. Hinzu kommt, dass man die Auffassungen, die sich in der Gesetzgebungsge-
schichte widerspiegeln, in ihrem Selbstverständnis korrigieren muss. Wenn der Sinn
des Rückwirkungsverbots darin bestanden hat, den Bürger vor gesetzgeberischer
Willkür durch eine objektive Begrenzung staatlicher Strafgewalt zu schützen, so
folgt daraus, dass dieser Schutz durch das Erfordernis „allgemeiner, nicht auf be-
stimmte Einzelfälle rückwirkender Gesetze“ auch die Einbeziehung von Prozessge-
setzen nahe legt, die den Freiheitsbereich des Betroffenen berühren26.
Wer das in dieser Allgemeinheit nicht anerkennen möchte, dem bleibt immer noch
die Position, es vom konkreten Einzelfall abhängig zu machen, ob Rückwirkung im
23
Einzelheiten gehören wiederum nicht hierher. Aber ergänzend ist vielleicht zu vermer-
ken, dass das Bild, das Rechtsprechung und Literatur in Bezug auf die Frage der Zulässigkeit
der Analogie im Strafverfahren bietet, sehr unübersichtlich ist. In der Literatur überwiegen die
Meinungen, wonach das Analogieverbot des materiellen Strafrechts nicht auf das Strafver-
fahrensrecht übertragen werden dürfe. In der Rechtsprechung wird generalisierend ebenso
argumentiert. Daher mag es überraschen, dass in so vielen Einzelfällen die Erweiterung von
Eingriffsbefugnissen abgelehnt wird (vgl. etwa BGHSt 34, 39 [51]; BGHSt 30, 38 [41]). Die
Erklärung hierfür mag darin liegen, dass in diesen Fällen die Rechtsprechung offenbar nicht
die Frage des Analogieverbotes vor Augen hat, sondern den allgemeinen Gesetzesvorbehalt
im öffentlichen Recht (so freilich auch ein Teil der Literatur, insbesondere Krey, FS Blau,
S. 123 ff.; Kudlich, in: Vieweg/Gerhäuser (Hrsg.), Digitale Daten in Geräten und Systemen
(2010), S. 137 (139)). Im Text dürfte deutlich geworden sein, dass diese Positionen zu un-
differenziert sind.
24
Speziell zur Entstehungsgeschichte des Art. 103 Abs. 2 GG BVerfGE 25, 269 (287 ff.).
25
Die These, das BVerfG selbst wende, wie Bleckmann, JuS 2002, S. 942 f. meint, seinen
Methodenkanon ohne Unterschied sowohl auf strafprozessuale als auch materiell-strafrecht-
liche Vorschriften an, bedürfte allerdings noch näherer Untersuchung. Einige Hinweise dazu
finden sich bei Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht (2005), S. 577 ff.
26
Schreiber, ZStW 80 (1968), S. 366 (368). A.A. Jäger, GA 2006, S. 615 (625 f.); Kudlich,
in diesem Band, S. 233 (248 f.) unter IV.1.c).
232 Matthias Jahn

Prozess möglich sei oder nicht. So gesehen ist also auch verfassungsrechtlich die Ar-
gumentation offen für ein teleologisches Verständnis des Eingriffscharakters der
Strafverfolgung, das Prozessrecht und Strafrecht gleichermaßen im „Tat“begriff be-
rücksichtigt. Dass man dabei ein „abgestuftes System“ der Geltung des strafrechtli-
chen Rückwirkungsverbots zum Strafverfahrensrecht befürwortet, ist dann nicht
mehr von prinzipieller Bedeutung, zumal die Geltung des Rückwirkungsverbotes
im Strafverfahrensrecht auch danach sehr weit geht; es soll erst bei den Normen
der Gerichtsverfahrensorganisation enden. Dass demgegenüber im verfassungs-
rechtlichen Schrifttum die – freilich im Wesentlichen begründungslose – kategori-
sche Ablehnung der Geltung des Rückwirkungsverbotes im Strafverfahrensrecht
überwiegt27, ist ein merkwürdiger, die mangelhafte Kooperation der an der Behand-
lung dieses Problems beteiligten Fächer widerspiegelnder Anachronismus.
Immerhin hat das BVerfG in der Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des deut-
schen Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbe-
fehl nunmehr – wenn auch den Nichtigkeitsausspruch nicht tragend – ausdrücklich
anerkannt, dass es auch im Prozessrecht Lagen geben kann, die eine Anwendung des
Art. 103 Abs. 2 GG rechtfertigen. Zwar wird zunächst stereotyp der hergebrachte
Grundsatz wiederholt, nach dem das Rückwirkungsverbot nur bei Änderungen des
materiellen Strafrechts und nicht bei solchen des Verfahrensrechts gelte. Doch gera-
de durch ein Auslieferungsrecht, das auf die Prüfung der Strafbarkeit nach bundes-
deutschem Recht zum Zeitpunkt der Begehung der Tat vollständig verzichtet und die
Auslieferung nur davon abhängig macht, dass der ersuchende Mitgliedsstaat der Eu-
ropäischen Union nach Verhängung einer rechtskräftigen Freiheitsstrafe oder sons-
tigen Sanktion anbieten wird, den Verfolgten auf seinen Wunsch zur Vollstreckung in
den Geltungsbereich dieses Gesetzes zurückzuüberstellen, wird dieser Grundsatz of-
fensichtlich dementiert. An die Stelle der materiell-rechtlichen Vorschriften des in-
nerdeutschen Strafrechts tritt hier das formelle Auslieferungsrecht, durch das der
ausländische Gesetzesbefehl quasi unmittelbare innerstaatliche Wirksamkeit er-
langt. Die Gefahren dieser Strafbegründung durch Prozessrecht erkennt auch der
2. Senat28 und merkt an, dass es einer materiellen rückwirkenden Rechtsänderung
– so wörtlich – „gleichstehen“ könne, wenn sich ein bislang vor Auslieferung absolut
geschützter Deutscher für Taten in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ver-
antworten muss, die keinen maßgeblichen Auslandsbezug aufweisen und zum Zeit-
punkt ihrer Begehung in Deutschland straffrei waren.

27
Statt vieler Schmidt-Assmann, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: 64. Lfg. 2012, Art. 103
Abs. 2 Rn. 245 m.w.N.
28
BVerfGE 113, 273 (308) m. insoweit zust. Anm. Ranft, wistra 2005, S. 361 (364 f.)
widerspricht damit ausdrücklich der im Verfahren vorgetragenen Rechtsansicht der Bundes-
regierung. Ebenso Dannecker, in: LK-StGB, 12. Aufl. 2007, § 1 Rn. 106; Pabst, ZIS 2010,
S. 126 (130).
Das Gesetzlichkeitsprinzip
im deutschen Strafprozessrecht
Hans Kudlich

I. Hinführung
Die Diskussion um die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen und Vorga-
ben im Strafrecht zeichnet für das materielle Strafrecht auf der einen und für das
Strafverfahrensrecht auf der anderen Seite ein heterogenes – man könnte auch
sagen: hinsichtlich der verschiedenen verfassungsrechtlichen Kategorien ein diame-
tral gegensätzliches – Bild: Im materiellen Strafrecht wird die formelle Garantie des
Gesetzlichkeitsprinzips in seiner konkreten Ausformung des „nulla-poena-Grund-
satzes“ in Art. 103 II GG allenthalben (zumindest formal bzw. in der Theorie1) be-
tont,2 während die inhaltlichen Garantien der Grundrechte und ihre Bedeutung ins-
besondere auch für die Rechtsanwendung erst in der jüngeren Vergangenheit zum
zentralen Thema auch des materiellen Strafrechts geworden sind.3 Für das Strafver-

1
Zur Kritik an der mangelhaften praktischen Beachtung des nulla-poena-Grundsatzes vgl.
etwa (mit Blick auf die Wortlautgrenze) Schünemann Nulla poena sine lege?, 1978, S. 4, der
anschaulich von der „in der Rechtswirklichkeit vorherrschenden Geringschätzung“ spricht,
die in einem gewissen Widerspruch zu der grundsätzlichen Anerkennung der Wortlautgrenze
steht. Freilich muss diese Kritik in verschiedenen zeitlichen Phasen und auch mit Blick auf
verschiedene Facetten des Grundsatzes durchaus differenziert ausfallen.
2
Vgl. nur den breiten Raum, den Art. 103 II GG zumindest in den großen Lehrbüchern
zum Allgemeinen Strafrecht einnimmt, vgl. etwa Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Band I.
Grundlagen Aufbau der Verbrechenslehre, 4. Aufl. 2006 § 5 Rn. 1 ff.; Jescheck/Weigend,
Lehrbuch des Strafrechts – Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 15 I = S. 126 ff.
3
Vgl. seit etwa Mitte der 1990-er Jahre Appel, Verfassung und Strafe, 1998; Lagodny, Das
Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996; Paulduro, Die Verfassungsmäßigkeit
von Strafrechtsnormen, insb. der Normen des Strafgesetzbuches, 1992, sowie Staechelin,
Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998. Als Vorreiter der Diskussion ist auch die
Kurzmonographie von Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991, zu nennen. Unter-
suchungen, die zu einzelnen Problemfeldern auch vertiefend auf verfassungsrechtliche Lö-
sungsansätze zurückgreifen, liegen natürlich schon aus der vorangegangenen Zeit vor, vgl.
statt Vieler nur Kohlmann, Der Begriff des Steuergeheimnisses und das verfassungsrechtliche
Gebot der Bestimmtheit von Strafvorschriften, 1969; Lemmel, Unbestimmte Strafbarkeits-
voraussetzungen und der Grundsatz nullum crimen sine lege, 1970, und Stree, Deliktsfolgen
und Grundgesetz, 1960. Vielleicht auch deshalb sieht Naucke, Die Legitimation strafrechtli-
cher Normen – durch Verfassungen oder durch überpositive Quellen, in: Lüderssen (Hrsg.),
Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse? Bd. I, 1998, S. 156, 163, den Be-
234 Hans Kudlich

fahrensrecht wird dagegen in der deutschen Diskussion zwar schon seit den 1950-er
Jahren betont, dass das Strafprozessrecht „angewandtes Verfassungsrecht“ bzw.
„Seismograph der Staatsverfassung“4 sei; diese Diskussion ist aber in hohem
Maße auf die inhaltlichen Grenzen fokussiert, welche die Grundrechte z. B. strafpro-
zessualen Ermittlungsmaßnahmen setzen, und blendet die formelle Dimension des
Gesetzlichkeitsprinzips vielfach aus. Beides ist keinesfalls selbstverständlich:
Denn natürlich sind auch materiell-strafrechtliche Verbotsnormen inhaltlich an
den Gewährleistungen der Grundrechte zu messen;5 und ebenso natürlich ist auch
für das Verfahrensrecht bedeutsam, ob etwa auf der Grundlage ungeschriebener
(lex scripta) oder nicht hinreichend bestimmter (lex certa) gesetzlicher Grundlagen
bzw. sogar in nur analoger bzw. sonst gesetzesüberschreitender6 Weise durch Verfah-
renshandlungen in die Rechte der Betroffenen (und insbesondere des Beschuldigten)
eingegriffen werden darf. Gerade diese formell-verfassungsrechtliche Dimension
bildet damit auch im Prozessrecht die entscheidende Schnittstelle zwischen Verfas-

ginn der „Debatte ,GG und Strafrecht‘“ an der Wende der 50-er zu den 60-er Jahren, als nach
der Naturrechts-Renaissance der Nachkriegszeit die Zeit für eine Rückkehr zum Positivismus
reif, zugleich aber vorstrafrechtliche (aber nicht offen als überpositiv bezeichnete) Wertungen
erforderlich gewesen seien. Dies ist sicher richtig, soweit darauf abgestellt wird, dass die
Verfassung als relevantes Argument in der strafrechtlichen Diskussion auftaucht. Die grund-
sätzliche (und nicht nur punktuelle) Befassung auf der Basis der fortschreitenden Verfas-
sungsinterpretation des BVerfG fällt allerdings in die hier skizzierte jüngere Vergangenheit;
und noch 1995 konnte Braum (KritV 1995, 371 f.) feststellen, dass in der materiell-straf-
rechtlichen Argumentation das Verfassungsrecht zwar erwähnt, aber noch nicht vertieft
fruchtbar gemacht wird.
4
Vgl. Sax, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. III/2, 1959,
S. 909, 967; auf S. 910 spricht Sax (ohne Nachweis) davon, dass schon 1959 die Einordnung
der StPO als „Ausführungsgesetz zum Grundgesetz“ verbreitet gewesen sei. Das Bild des
„angewandten Verfassungsrechts“ wird später auch vom BVerfG (etwa E 32, 373, 383) auf-
genommen. Eine andere Metapher mit gleicher Bedeutung benutzen etwa Roxin/Schünemann,
Strafverfahrensrecht, 26. Aufl. 2009, § 2 Rn. 1 mit der Redensart vom Strafverfahren als
„Seismograph der Staatsverfassung“.
5
Vgl. ergänzend zu den Nachweisen in Fn. 3 auch Kudlich, JZ 2003, 127 ff.
6
Für das materielle Recht ist anerkannt, dass die Garantie der lex stricta nicht nur die
analoge Anwendung von Strafvorschriften in malam partem (zur Frage nach der Zulässigkeit
von Analogien in bonam partem im Strafverfahren vgl. eingehend Montiel, Analogía favorable
al reo. Fundamentos y límites de la analogía in bonam partem in el Derecho penal, 2009)
umfasst, sondern auch andere Formen der gesetzesüberschreitenden Rechtsanwendung vor
Augen hat, vgl. nur Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. III, 2. Aufl., 2008,
Art. 103 II Rn. 40 unter Berufung auf BVerfGE 71, 108, 115; 92, 1, 13 f. Ähnlich in einer
Analyse der Rechtsprechung des BVerfG Appel, Strafe und Verfassung, 1998, S. 118. Dies ist
an sich nur selbstverständlich, da Art. 103 II GG weder explizit von einer „Analogie“ spricht
noch sich auf ihre Voraussetzungen im technischen Sinne bezieht; anschaulich die Metapher
von Jakobs, Strafrecht AT, Studienausgabe, 2. Aufl. 1993, Abschn. 4 Rn. 33 ff., der von einem
„Generalisierungsverbot“ spricht: Das Niveau der Generalisierung darf durch den Rechtsan-
wender gegenüber dem des Gesetzgebers nicht angehoben werden.
Das Gesetzlichkeitsprinzip im deutschen Strafprozessrecht 235

sungsrecht und Methodik bzw. umgekehrt formuliert: macht methodische Fragen


auch zu verfassungsrechtlichen.7
Im Folgenden soll dem letztgenannten Desiderat etwas näher nachgegangen wer-
den. Dabei spricht Manches dafür, dass die Gesetzlichkeitsfrage im Prozessrecht
sogar besonders bedeutsam ist, weil das Verfahren als Zustand rechtlicher Interaktion
immer in die eine oder andere Richtung „weitergehen“ muss – ein dem materiellen
Recht vergleichbarer Zustand von „Keine Regelung, daher keine Relevanz“ ist hier
oft nicht denkbar, weil prozessual zumindest irgendwie reagiert werden muss.8 In
diesem Zusammenhang soll nun untersucht werden, ob bzw. in welcher Ausprägung
und mit welchen grundsätzlichen Konsequenzen das Gesetzlichkeitsprinzip als for-
melle Garantie auch im Strafverfahrensrecht Geltung beansprucht. Darauf aufbau-
end werden die Konsequenzen des Gesetzlichkeitsprinzips für verschiedene prozes-
suale Konstellationen näher erläutert.

II. Stand der Diskussion um das Gesetzlichkeitsprinzip


im Strafprozessrecht im Überblick
Ungeachtet der hier einleitend skizzenhaft plausibel gemachten (wissenschaftli-
chen wie praktischen) Bedeutung der formell-verfassungsrechtlichen Frage nach
dem Gesetzlichkeitsprinzip kann von einer einhelligen Ansicht oder auch nur
einer gesicherten Rechtsprechung zur Frage, auf welcher Grundlage und mit welchen
Konsequenzen das Gesetzlichkeitsprinzip im Strafverfahrensrecht gilt, noch keine
Rede sein. Deutlich wird das etwa in der – insoweit nur exemplarischen, aber
noch am meisten diskutierten – Frage, inwieweit im Strafverfahrensrecht eine Ana-
logie (im oben verstandenen weiten Sinne) zulässig ist.9

1. Die Rechtsprechung

a) Die Rechtsprechung befasst sich selten explizit mit der Problematik und bietet
– soweit sie berührt und sogar angesprochen wird – ein uneinheitliches Bild; vor
allem aber ist eine Ableitung verallgemeinerungsfähiger Grundsätze kaum möglich.
So stellt z. B. das BVerfG in einer Entscheidung vom 23. 02. 199010 im Zusammen-
hang mit Straferlass und Gesamtstrafenbildung fest, dass für verfahrensrechtliche
Vorschriften ein Analogieverbot gelte; dabei könne offen bleiben, ob dieses aus

7
Vgl. bereits (dort speziell zum methodischen Topos des Judizierens contra legem) Krey,
JZ 1978, 361, 363.
8
Zum Zusammenhang zwischen Inhalt und Struktur der rechtlichen Materie und Regeln
der Rechtsanwendung auch Jahn in diesem Band, S. 223, 225 ff.
9
Zu den nachfolgenden Überlegungen vgl. auch bereits Kudlich, Strafprozeß und allge-
meines Missbrauchsverbot, 1998, S. 131 ff.
10
BVerfG NJW 1991, 558.
236 Hans Kudlich

Art. 103 II GG oder aus dem allgemeinen Vorbehalt des Gesetzes (und damit letzt-
lich aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 III GG) herzuleiten sei. Demgegenüber
führt der BGH in seiner bekannten Leitentscheidung zum ungeschriebenen allgemei-
nen Missbrauchsverbot im Strafprozessrecht11 ohne weitere Begründung (oder auch
nur Erörterung dieser Problematik) aus, dass auf der Grundlage des allgemeinen
Missbrauchsverbots – das prima vista für den Gesetzesvorbehalt ähnlich relevant er-
scheint wie der Analogieschluss12 – auch ohne gesetzliche Verankerung das Beweis-
antragsrecht des Angeklagten nicht unerheblich eingeschränkt werden dürfe. Ande-
rerseits betont der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung zur Unzulässigkeit der
strafprozessualen Onlinedurchsuchung,13 dass es „dem Grundsatz des Gesetzesvor-
behaltes für Eingriffe in Grundrechte (Art. 20 III GG) sowie dem Grundsatz der Nor-
menklarheit und Tatbestandsbestimmtheit von strafprozessualen Eingriffsnormen
widersprechen“ würde, wenn gewissermaßen aus mehreren, für sich allein jeweils
nicht „passenden“ Eingriffsbefugnissen eine als solche nicht geschriebene Befugnis
für diese Ermittlungsmaßnahme abgeleitet würde.
b) In einer Reihe weiterer Entscheidungen wird die Frage nach einer Analogie
zwar gestreift, jedoch sogar jeweils für sich genommen kaum verallgemeinerungsfä-
hig beantwortet, z. B. weil nicht zur Möglichkeit einer Analogie im Strafverfahren
überhaupt Stellung genommen wird, sondern eine solche beispielsweise mit der (zu-
mindest konkludenten) Begründung abgelehnt wird, dass eine vergleichbare Interes-
senlage gar nicht vorliege:14
– So hatte z. B. der BGH in einem Urteil vom 25. 06. 197015 (ebenso wie für ähnlich
gelagerte Fragen verschiedene andere Obergerichte16) die Ableitung aktiver Mit-
wirkungspflichten im Zusammenhang mit der Bestimmung der Fahr(un)tüchtig-
keit in analoger Anwendung des § 81a StPO abgelehnt; dies wird aber vor allem
darauf gestützt, dass die Interessenlage einer aktiven Mitwirkung mit der bei einer

11
BGHSt 38, 111, insb. 112 f.
12
Zur methodischen Dimension des „Missbrauchsurteils“ vgl. auch schon Christensen/
Kudlich, Recht und Missbrauch des Rechtsmissbrauchs, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), Norm und
Entscheidung. Prolegomena zu einer Theorie des Falls, 2000, S. 189 ff.
13
Vgl. BGHSt 51, 211, 219 m. Anm. Kudlich, JA 2007, 391 ff., sowie schon vorher zur
Entscheidung des Ermittlungsrichters des BGH Jahn/Kudlich, JR 2007, 57 ff.
14
Eine (über die im folgenden aufgezählten Entscheidungen hinausgehende) ausführliche
Übersicht zu Entscheidungen, die sich mit der Frage einer Analogie bzw. eines Analogiever-
bots im Strafprozessrecht beschäftigen, findet sich – jeweils mit kurzer Inhaltsangabe und
Wiedergabe der wichtigsten Entscheidungsgründe – bei Bär, Der Zugriff auf Computerdaten
im Strafverfahren, 1992, S. 72 ff. Die Tatsache, dass diese Entscheidungen ohne nähere Stel-
lungnahme nur der Reihe nach aufgezählt werden, darf wohl als Bestätigung dafür gesehen
werden, dass sie für eine allgemeine Beantwortung der Frage wenig hergeben. Allerdings
scheint Bär nicht näher zwischen der Uneinheitlichkeit hinsichtlich der Ergebnisse und der
schon per se begrenzten Aussagekraft einzelner Entscheidungen zu differenzieren.
15
BGH VRS 39, 184.
16
Vgl. nur BayObLG NJW 1963, 772; OLG Hamm NJW 1976, 1524; OLG Schleswig
VRS 30, 344.
Das Gesetzlichkeitsprinzip im deutschen Strafprozessrecht 237

Duldungspflicht nicht vergleichbar ist. Dann wären aber selbst bei grundsätzlicher
Zulässigkeit einer Analogie deren Voraussetzungen gar nicht gegeben, so dass der
damit begründeten Ablehnung einer Analogie im konkreten Einzelfall kein gene-
relles Analogieverbot entnommen werden kann.
– Ähnlich stellt sich die Situation bei der Ablehnung einer analogen Anwendung des
§ 108 StPO auf „Zufallsfunde“ im Rahmen der Telefonüberwachung17 oder gar
auf Raumgespräche18 oder des § 97 II 3 StPO auf das aus § 148 StPO abgeleitete
Verbot einer Überwachung des Verteidigertelefonanschlusses dar.19 Einzig in
einer Entscheidung zur analogen Anwendung der §§ 100a f. StPO auf einen
Stimmvergleich auf Grund eines bei einem nicht telefonischen Gespräch aufge-
nommenen Tonbandes20 bemüht der BGH ausdrücklich den Vorbehalt des Geset-
zes, wobei aber auch in diesem Fall eine Analogie auf Grund fehlender Interes-
sengleichheit hätte ausscheiden müssen.
– In einer weiteren Gruppe von Entscheidungen wurde zwar eine Rechtsfindung
praeter legem ebenfalls abgelehnt, indes spielten hier besondere Erwägungen
eine zusätzliche Rolle, die nicht zwingend allgemein übertragbar sind: So hatte
das BVerfG in seinem „Schily-Beschluss“21 einen Verteidigerausschluss ohne ge-
setzliche Grundlage (entgegen der Vorentscheidung des BGH22) abgelehnt. Doch
wurde dies weniger auf die Beeinträchtigung der prozessualen Situation der An-
geklagten, sondern auf den gleichzeitig damit verbundenen Eingriff in die Berufs-
freiheit des Rechtsanwalts gestützt. Außerdem hatte der BGH in der Vorentschei-
dung den Ausschluss nicht auf eine Analogie, sondern auf – vom BVerfG im kon-
kreten Fall verneintes – Gewohnheitsrecht sowie auf eine allgemeine, den Vor-
schriften über die Verteidigung vorgeblich entnehmbaren Wertungen und somit
letztlich auf eine methodisch in keiner Weise untermauerte rechtspolitische Beur-
teilung gestützt.
– In einem weiteren Fall hatte das BVerfG den vom BGH gebilligten23 Haftbefehl
auf Grund einer analogen Anwendung des § 30 des Deutschen Auslieferungsge-
setzes (DAG) beanstandet, da eine Analogie nicht den speziellen Anforderungen
des § 104 GG genügen könne, der explizit eine förmliche Regelung fordere.24
Doch ist gerade dieses auf Art. 104 GG gestützte, spezielle Erfordernis eines for-
mellen Gesetzes, welches das BVerfG in die Nähe des Art. 103 II GG rückt, nicht
ohne weiteres auf jede andere grundrechtsrelevante Maßnahme zu übertragen.
17
Vgl. BGHSt 26, 298, 303 (heute gesetzlich übergreifend geregelt in § 477 II 2, V StPO).
18
Vgl. BGHSt 31, 296, 301.
19
Vgl. BGHSt 33, 347, 352 f.
20
Vgl. BGHSt 34, 39, 50.
21
Vgl. BVerfGE 34, 293. Vgl. dazu und zur Entstehung des § 138a StPO auch Kröpil,
DRiZ 1996, 448, 451.
22
Vgl. BGH NJW 1972, 2140.
23
Vgl. BGHSt 22, 58.
24
Vgl. BVerfGE 29, 183, 195 f.
238 Hans Kudlich

c) Umgekehrt tragen einzelne, eine weite Rechtsanwendung billigende Entschei-


dungen nicht die Annahme eines allgemeinen Grundsatzes, wonach eine Analogie
stets zulässig sei:
– So billigt z. B. das BVerfG eine Gegenüberstellung mit einer zwangsweisen
Veränderung der Haar- und Barttracht des Beschuldigten als „weite Auslegung“
des (und damit gerade nicht als Analogie zu) § 81a StPO.25
– Eine Entscheidung des BGH vom 21. 06. 1956 billigte zwar die analoge Anwen-
dung des § 251 I Nr. 2 StPO a.F. im Falle einer anwesenden, aber auf absehbare
Zeit nicht verhandlungsfähigen Zeugin;26 indes handelt es sich (nicht nur um
eine recht frühe Entscheidung, sondern auch) um einen Fall, in dem subjektive
Rechtspositionen des Beschuldigten allenfalls sehr mittelbar tangiert wurden,
da der von § 251 StPO eingeschränkte Unmittelbarkeitsgrundsatz vor allem
eine objektiv-rechtliche Dimension hat.
– Ebenso wenig kann die allgemeine Zulässigkeit der Analogie aus einer Entschei-
dung des BVerfGE abgeleitet werden, in der die (durch Anordnung einer Verjäh-
rungsunterbrechung für die Zeit vom 8. 5. 1945 bis zum 31. 12. 1949) faktische
Verlängerung der Verjährung für bestimmte Straftaten gebilligt und ein Verstoß
gegen Art. 103 II GG abgelehnt wurde:27 Denn da es sich um einen Akt des Ge-
setzgebers und nicht der Judikative handelte, stellte sich die Vorbehaltsproblema-
tik ohnehin nicht im hier interessierenden Sinne.

2. Der Meinungsstand in der Literatur

a) In der strafprozessualen Literatur wird der allgemeine Vorbehalt des Gesetzes,


der im Verwaltungsrecht eine herausragende Bedeutung hat, von einigen Ausnahmen
abgesehen28 allenfalls knapp behandelt und insbesondere auch in seiner Bedeutung
für die Rechtsfindung außerhalb des Bereichs secundum legem oft gar nicht ange-
sprochen. Dazu würde freilich durchaus Anlass bestehen, gibt es doch gute Gründe,
z. B. auch bei grundsätzlicher Billigung von Analogien unter methodischen Gesichts-
25
Vgl. BVerfGE 47, 239, insb. 246 ff.
26
Vgl. BGHSt 9, 297, 300.
27
Vgl. BVerfGE 25, 269, insb. 287.
28
Mit dem Vorbehalt des Gesetzes im Straf- und Strafverfahrensrechts auch außerhalb des
Anwendungsbereichs des Art. 103 II GG hat sich vor allem Krey mehrfach auseinanderge-
setzt. Vgl. vor allem seine Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht. Eine Einführung in
die Problematik des Analogieverbots, 1977; ders., Parallelitäten und Divergenzen zwischen
strafrechtlichem und öffentlich-rechtlichem Gesetzesvorbehalt, in: Schwind (Hrsg.), Fest-
schrift für Günter Blau, 1985, S. 123 ff.; vor allem auf der Grundlage der Arbeiten Kreys findet
sich auch eine ausführliche Diskussion bei Bär, Der Zugriff auf Computerdaten im Strafver-
fahren, 1992, S. 69 ff., insb. S. 122 ff., der sich allerdings im Wesentlichen auf den Bereich
strafprozessualer Zwangsmaßnahmen beschränkt. Nicht zuletzt erwähnt seien die Kommen-
tierung der „Einleitung M“ im Großkommentar von Löwe-Rosenberg aus der Feder von Lü-
derssen und Jahn, vgl. Rn. 41 ff. insb. Rn. 47, sowie der Beitrag von Jäger, GA 2006, 615 ff.
Das Gesetzlichkeitsprinzip im deutschen Strafprozessrecht 239

punkten deren Zulässigkeit im Geltungsbereich des Gesetzesvorbehalts anzuzwei-


feln.
b) Freilich käme es auf diese (auch im sonstigen öffentlichen Recht als originärer
Heimat der Vorbehaltsdogmatik noch nicht erschöpfend behandelte) Frage nicht ent-
scheidend an, wenn bzw. soweit – und dies ist der zweite, tendenziell wohl etwas häu-
figer behandelte Punkt in diesem Problemfeld – auch für das Strafprozessrecht
Art. 103 II GG mit seinen unbestrittenen Ausformungen der Garantien der lex scrip-
ta, praevia, stricta und certa Anwendung findet. Nach wohl herrschender Ansicht ist
dies zumindest insoweit nicht der Fall, als es um rein verfahrensrechtliche Vorschrif-
ten geht. Andere vertreten ein Konzept einer zumindest weitgehenden Gleichwertig-
keit der strafrechtlichen und strafprozessualen Eingriffe,29 das auf das Bild „einer
gleitenden Skala von Eingriffen in die Rechtssphäre der Personen, die der Strafver-
folgung ausgesetzt sind“ gestützt wird, die „einander sehr ähnlich“ seien und „sich
zusammen in einem gleichsam durch ein ,Auf und Ab‘ geprägten Kontinuum“ bewe-
gen. Vermittelnde Auffassungen unterstellen zumindest solche strafprozessualen
Normen den speziellen Garantien des Art. 103 II GG, die unmittelbar dem Nachweis
der Voraussetzungen der Tatbestandsmerkmale dienen (wie z. B. Vorschriften aus
dem Beweiserhebungsrecht), da diese Regelungen mittelbar ebenfalls zu „Strafbar-
keitsvoraussetzungen“ führen.30

III. Art. 103 II GG und/oder allgemeiner Gesetzesvorbehalt


als Anknüpfungspunkt des Gesetzlichkeitsprinzips
im Strafprozessrecht
Vor diesem Hintergrund einer einerseits nur vereinzelt aufgegriffenen, dann an-
dererseits aber durchaus kontrovers geführten Diskussion in der Literatur und eher
punktueller Äußerungen in der Rechtsprechung dürfte es lohnend sein, etwas weiter
auszuholen. Dazu sollen Wortlaut, Geschichte und spezifische Funktion des Art. 103
II GG untersucht werden, um herauszufinden, ob bzw. ggf. inwieweit seine Anwen-
dung im Strafprozessrecht gerechtfertigt ist; darauf aufbauend wird dargestellt, wel-
che Funktion dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt zukommen kann.31

1. Unmittelbare Geltung des Art. 103 II GG im Strafprozessrecht?

a) Art. 103 II GG fordert, dass „die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt“ war, bevor
die Tat begangen wurde. Zwar erschiene es mit dem Wortlaut des Art. 103 II GG ver-

29
Vgl. dazu insbesondere die sorgfältige Analyse von Jahn, in diesem Band, S. 223, 228 ff.
30
Vgl. Jäger, GA 2006, 615, 619 ff.
31
Vgl. zum Folgenden auch bereits Kudlich, Strafprozeß und allgemeines Mißbrauchs-
verbot, 1998, S. 134 ff.
240 Hans Kudlich

einbar, den Begriff „Strafbarkeit“ verfassungsspezifisch weit zu verstehen32 und


unter seine Garantie all die Normen fallen zu lassen, die letztlich für die Verhängung
einer Strafe von Bedeutung sein können. Dafür spricht nicht nur, dass für das von der
Strafverfolgung betroffene Individuum als durch das grundrechtsgleiche Recht ge-
schütztes Rechtssubjekt verfahrensrechtliche Vorschriften von ähnlich großer Be-
deutung sein können wie das materielle Recht,33 sondern auch die systematische Stel-
lung des Art. 103 II GG zwischen dem Prozessgrundrecht des Art. 103 I und der
ebenfalls formalen Garantie des Art. 104 GG.
Rein sprachlich spricht indes mehr dafür, unter dem in Art. 103 II GG verwende-
ten Begriff der „Strafbarkeit“ ausschließlich die materielle Verbotsnorm (also die
Frage, ob ein bestimmtes Verhalten unter Androhung einer Strafe verboten ist) zu
verstehen, nicht dagegen die Frage, unter welchen Voraussetzungen und nach wel-
chem Verfahren diese Strafe verhängt wird. Hätte der Verfassungsgeber einen wei-
teren Anwendungsbereich gewünscht, hätte er genauer von einer „Verfolgbarkeit“
sprechen müssen.34 Unter systematischen Gesichtspunkten ist ferner anzuführen,
dass auch der Art. 103 II GG nachfolgende Grundsatz des ne bis in idem (Art. 103
III GG) den Begriff des „Strafgesetzes“ und des „Bestrafens“ sinnvollerweise nur
i.S.d. materiellen Rechts und der darin angedrohten Sanktion verstehen kann.35
Schließlich ist zu beachten, dass Art. 103 II GG nicht nur wortgleich mit
§ 1 StGB übereinstimmt, sondern auch mit dem früheren § 2 I StGB a.F. Zwar ist
Bär darin zuzustimmen, dass grundsätzlich Verfassungsbegriffe nicht durch einfach-
gesetzliche Formulierungen eingeschränkt werden können;36 dies schließt jedoch
nicht die Vorstellung aus, dass auch der Verfassungsgeber sich an Sprachgebrauch
und Inhalten des Gesetzesrechts orientiert, wenn er bei seiner Wortwahl feststehende
gesetzliche Formulierungen in den Verfassungstext übernimmt.
Im Ergebnis wäre somit eine weite, das Strafprozessrecht (generell) miteinbezie-
hende Auslegung des Art. 103 II GG seinem Wortlaut nach zwar nicht ausgeschlos-

32
In diesem Sinne wohl Arndt, NJW 1961, 14, 15. Lüderssen, JZ 1979, 449, 450. Allge-
mein zum Gebot einer weiten Auslegung von Grundrechten, nach der „die juristische Wir-
kungskraft des betreffenden Norm am stärksten entfaltet“ wird, BVerfGE 6, 55, 72; 43, 154,
167 als Beispiele aus der ständigen Rechtsprechung des BVerfG.
33
So deutlich Bär, Der Zugriff auf Computerdaten im Strafverfahren, 1992, S. 104: „Ihn
(= den betroffenen Bürger, H.K.) interessiert neben dem ,Ob‘ eines strafbaren Verhaltens vor
allem die Frage, mit welchen Mitteln (,Wie‘) dies festgestellt werden kann.“ Vgl. auch
nochmals den Beitrag von Jahn in diesem Band.
34
So im Ergebnis Calvelli-Adorno, NJW 1965, 273, 274; Krey, JA 1983, 233, 235; vgl.
auch BVerfGE 25, 269, 287, wonach mit der Strafbarkeit die Verfolgbarkeit, nicht dagegen
mit der Verfolgbarkeit auch die Strafbarkeit entfallen soll; vgl. dazu auch Böckenförde,
ZStW 91 (1979), 888, 891; krit. insoweit Schünemann, NStZ 1981, 143, 144.
35
Von diesem speziellen Zusammenhang in Art. 103 III GG abgesehen wäre der Begriff
der „Strafe“ eventuell sogar noch etwas weiter zu verstehen als der der „Strafbarkeit“, was um
so mehr dafür spricht, die Strafbarkeit in Art. 103 II GG in einem engen materiellen Sinn zu
verstehen.
36
Vgl. Bär, Der Zugriff auf Computerdaten im Strafverfahren, 1992, S. 103 f.
Das Gesetzlichkeitsprinzip im deutschen Strafprozessrecht 241

sen. Die besseren Gründe im Rahmen einer grammatischen und systematischen Aus-
legung sprechen aber für die grundsätzliche Beschränkung auf materielle Normen;
zumindest aber ergeben sich aus dem Wortlaut keinesfalls ernsthafte Bedenken
gegen die enge Auslegung der herrschenden Meinung.
b) Etwas anderes ergibt sich letztlich auch nicht – und zwar auch nicht unter Be-
rücksichtigung der teilweise gemeinsamen historischen Entwicklung von Straf- und
Strafprozessrecht, auf die Jahn in seinem Beitrag grundsätzlich zu Recht hinweist37 –
aus dem historischen Hintergrund des nulla-poena-Grundsatzes, der – trotz gewisser
Ausprägungen einer richterlichen Willkürkontrolle auch schon in Art. 104, 105 der
Constitutio Criminalis Carolina (CCC) und in Art. 39 der Magna Carta Libertatis
(MCL)38 König Johanns von England – im Wesentlichen „eine Frucht des aufkläre-
rischen Denkens“39 ist. Fasst man die Entwicklung beginnend etwa ab den Arbeiten
Montesquieus und Beccarias (Idee des Gesetzesstaats und der Gewaltenteilung in
„De l’esprit des lois“ und ihre vertiefende Aufnahme für das Strafrecht in „Dei delitti
e delle penne“) über die Aufnahme in verschiedene Kodifikationen (beginnend mit
der „Josephina“ von 1787,40 später dann im Entwurf zum „Strafgesetzbuch für das
Königreich Bayern“ von 1813, dessen Art. 1 zum Vorbild für viele weitere Kodifi-
kationen des 19. Jahrhundert wurde), die theoretische Fundierung durch von Feuer-
bachs „Theorie des psychologischen Zwangs“ und in Art. 116 WRV bis hin zum
Bonner Grundgesetz zusammen, so ergibt diese dogmengeschichtliche Betrachtung
zwei wesentliche Wurzeln: Das rechtsstaatliche Element des Schutzes vor richterli-
cher Willkür (das einer Erstreckung seiner Geltung auf das Strafverfahrensrecht nicht
entgegenstehen, ja sogar für sie sprechen würde) und das präventive Element nach
von Feuerbachs Theorie des psychologischen Zwanges, dem echte Berechtigung
nur für das materielle Strafrecht zukommt (im Zusammenhang mit diesem von Feu-
erbach den Gedanken auch ausschließlich entwickelt hat).
Somit spricht auch die historische Betrachtung insgesamt eher für, jedenfalls aber
nicht gegen ein enges Verständnis des speziellen strafrechtlichen Gesetzlichkeits-
prinzips, wie es in Deutschland in Art. 103 II GG Ausdruck gefunden hat. Diese Son-
derrolle des Strafrechts ist auch unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht zu be-
anstanden: Denn zum einen ist die aufklärerische, von Kodifikationsoptimismus und
-euphorie genährte Vorstellung des idealen Gesetzes und des vollkommenen Geset-
zesstaats einem gewissen Realismus hinsichtlich der unvermeidbaren Unvollständig-
keit der geschriebenen Rechtsordnung gewichen, der als liberalistisches Minimalziel
37
Vgl. in diesem Buch S. 225, 229.
38
Vgl. näher zur Bedeutung der Magna Carta Libertatis insgesamt Voigt, JuS 1965, 218 ff.
39
Vgl. Krey, in: Blau-FS, 1985, S. 123, 127. Näher Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, 1983,
Rn. 13, 38. 53; Schreiber, Gesetz und Richter – Zur geschichtlichen Entwicklung des Satzes
nullum crimen, nulla poena sine lege, 1976, S. 53 ff.
40
Vgl. dazu nur Schreiber, Gesetz und Richter – Zur geschichtlichen Entwicklung des
Satzes nullum crimen, nulla poena sine lege, 1976, S. 75 ff. Aufnahme finden diese Gedanken
außerdem z. B. auch in das Preußische ALR und in die französische Menschenrechtserklärung
von 1789.
242 Hans Kudlich

die Forderung nach einer vollständigen Normierung durch die lex scripta wenigstens
(andererseits aber auch nur) für den als ultima ratio ohnehin als lückenhaft angeleg-
ten Bereich des (materiellen) Strafrechts aufrechterhalten kann. Zum anderen ist die
Anwendung des Strafprozessrechts jedenfalls unter dem allgemeinen Vorbehalt des
Gesetzes (vgl. dazu auch unten 2.) auch ohne Rückgriff auf Art. 103 II GG keines-
falls frei von gesetzlichen Bindungen.
c) Entscheidend für die Reichweite des Art. 103 II GG und seine Anwendung
oder Nichtanwendung im Strafprozessrecht muss aber – ungeachtet der Befunde
aus der Wortlautbetrachtung und aus der Geschichte (die im Übrigen auch nur Rich-
tungen induziert, aber keine eindeutigen Ergebnisse geliefert haben) – seine Bedeu-
tung nach modernem, grundgesetzlich geprägtem Verständnis und unter Berücksich-
tigung des Kriminalsystems insgesamt41 sein. Beschränkt man diese Funktion auf die
Bewahrung rechtsstaatlicher (aber auch demokratischer Grundsätze), so ließen diese
– wie oben gezeigt – zwar eine Ausdehnung der Anwendung auf das Strafverfahrens-
recht zu, fordern sie aber nicht unbedingt, da auch unter diesen Gesichtspunkten eine
Sonderrolle des materiellen Strafrechts begründbar ist. Noch eindeutiger zu einer Be-
schränkung des Art. 103 II GG auf das materielle Recht würde die namentlich von
Sax vertretene Ansicht führen, wonach Art. 103 II GG vornehmlich als Ausprägung
des strafrechtlichen Schuldprinzips zu verstehen sei.42
Daneben lassen sich aber für eine grundsätzliche Beschränkung des Art.103 II GG
auf das materielle Strafrecht auch noch weitere Gründe anführen, die in der Natur der
Strafnormen liegen. Auch ohne die selten allein ausschlaggebende Trennung zwi-
schen formellem und materiellem Recht überzubetonen, können hier folgende Ge-
sichtspunkte genannt werden: Die materiellen Verbotsnormen richten sich an den
Bürger („Was ist ihm verboten?“), während sich prozessuale Vorschriften vorrangig
an den Staat richten (bei Zwangsmaßnahmen: „Was ist ihm erlaubt?“, bei Verfah-
rensvorschriften: „Welche Rechte muss der Staat dem Bürger einräumen?“).
Diese unterschiedliche Adressierung des Normbefehls ist als differenzierendes Ele-
ment stärker zu gewichten als die mitunter erhobene Forderung, dass der nulla-
poena-Grundsatz auch das zur Strafe führenden Verfahren lückenlos vorherbeschrei-
ben müsste (was im Übrigen etwa dazu führen würde, dass Art. 101 GG im Strafrecht
keine eigenständige Bedeutung mehr hätte).
Damit eng zusammen hängt der Aspekt, dass die Normen des materiellen Straf-
rechts unmittelbar, generell und dauernd verhaltenssteuernd wirken sollen, während
dem Prozessrecht nur eine vor allem auf die jeweiligen Prozesssubjekte gerichtete
und der Dynamik des Verfahrens unterworfene Verhaltenssteuerungsfunktion zu-
kommt. Schließlich enthält vorrangig das materielle Strafrecht ein autoritatives Un-
rechtsurteil, während das Prozessrecht an Stelle der Kategorie „rechtswidrig“ häufig

41
Insoweit zutreffend Jahn in diesem Band, S. 223, 229.
42
Vgl. Sax, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hg.), Die Grundrechte, Bd. III 2. Halb-
band, 1959, S. 999.
Das Gesetzlichkeitsprinzip im deutschen Strafprozessrecht 243

„nur“ die Beurteilung als „unwirksam“, „unzulässig“ oder „unbegründet“ verwen-


det.
Zwar dürfen diese Unterschiede – wie in diesem Band Jahn noch einmal ein-
drucksvoll herausarbeitet43 – nicht überschätzt werden, da es teilweise nur um „For-
mulierungstraditionen“ geht und manches durch einen Wechsel in der eingenomme-
nen Perspektive ineinander umformuliert werden könnte. Gleichwohl: Wahrschein-
lich ist es kein Zufall, dass sich gerade unterschiedliche Perspektiven und Termino-
logien herausgebildet haben. Denn die Sonderstellung des materiellen – und nur des
materiellen! – Strafrechts innerhalb eines generell vom Postulat des Gesetzlichkeits-
prinzips für das Verhältnis zwischen Staat und Bürger beherrschten Rechtssystems
liegt gerade darin, dass mit der strafrechtlichen Verurteilung der sozialethische Vor-
wurf einer Schädigung elementarer gesellschaftlicher Interessen verbunden ist. Das
gilt schon wegen der Unschuldsvermutung und wegen des Verdachts als hinreichen-
dem Anordnungsgrund selbst für einschneidendste strafprozessuale Ermittlungs-
maßnahmen gerade nicht für das Strafprozessrecht: Die in ihm ausgesprochenen
Handlungs- und Duldungspflichten treffen den einzelnen (sei es als Unbeteiligter,
sei es als Prozesssubjekt) einerseits unabhängig von einem persönlichen Vorwurf,
andererseits nur im speziellen Kontext der aktuellen Verfahrenssituation. Eine
über das allgemeine Gesetzlichkeitsprinzip hinausgehende, besonders strikte Bin-
dung durch Art. 103 II GG ist aber auch überhaupt nur notwendig, wo mit der Sub-
sumtion unter die Vorschrift nicht nur eine Rechtseinbuße, sondern ein herausgeho-
bener Vorwurf verbunden ist. Auch können im Bereich des materiellen Strafrechts
aus einem strikten Gesetzlichkeitsprinzip erwachsende Regelungslücken als norma-
tive Aussage der Straflosigkeit in einem fragmentarischen System hingenommen
werden, während der Verfahrensablauf als Gesamtsystem mitunter auf die Schlie-
ßung von Lücken angewiesen sein kann.
Exemplarisch: Ist die Vorbereitungshandlung zu einem Delikt (wie regelmäßig!)
nicht strafbar, so mag dies in Einzelfällen aus Gründen eines effektiven, da früh an-
setzenden Rechtsgüterschutzes bedauerlich sein – das materiell-strafrechtliche Ge-
samtsystem leidet dadurch aber keinen Schaden, und die Effektivität des Straftatbe-
standes selbst wird nicht beeinträchtigt. Setzt dagegen z. B. eine strafprozessuale
Eingriffsbefugnis zwangsläufig voraus, dass zu ihrer Vorbereitung eine weitere
grundrechtsinvasive Maßnahme durchgeführt wird (wie etwa das Betreten einer
Wohnung, um in dieser eine im Gesetz vorgesehene Abhörmaßnahme durchführen
zu können), würde die „Kernbefugnis“ letztlich ihre Bedeutung überwiegend verlie-
ren, wenn man mit ihr nicht gleichsam ungeschrieben (und daher z. B. mit einem
engen Verständnis des Art. 103 II GG nicht zu vereinbaren) die typischen und unver-
zichtbaren Vorbereitungshandlungen als erlaubt ansehen würde. Dieses Beispiel il-
lustriert zugleich den oben angesprochenen Aspekt, dass ganz generell Verbote (wie
sie die materiellen Strafvorschriften enthalten) viel eher isoliert und fragmentarisch

43
Vgl. S. 223, 225 ff.
244 Hans Kudlich

bestehen können als Handlungserlaubnisse (wie sie zumindest vielfach in der Straf-
prozessordnung enthalten sind).
d) Zusammenfassend beansprucht daher sub specie Art. 103 II GG auch heute
noch die Einschätzung Belings Gültigkeit, der bereits vor über 80 Jahren am Beispiel
des Analogieverbots zum Verhältnis von Strafrecht und Strafprozessrecht ausführ-
te:44
„Wenn § 2 StGB (vgl. heute § 1 StGB n.F., HK) das Individuum in strafrechtlicher Hinsicht
vor einer zu seinen Ungunsten wirkenden Analogie sicherstellt, so beruht dies auf dem Ge-
danken, dass das Strafrecht, bei dem der Nachdruck gerade auf dem Leidensollen liegt, nach
Ob und Wie nicht ins Ungewisse gestellt sein soll. Die Prozessbehelligung ist generisch an-
derer Art; wenn sie das Individuum in seinen Interessen beeinträchtigt, so besteht darin nicht
ihr Wesen, und deshalb steht sie nicht mit dem Strafleiden, sondern mit solchen Interessen-
verkürzungen auf derselben Linie, die sich das Individuum im Verwaltungsrecht dem Staate
gegenüber gefallen lassen muss. Es fehlt damit an der ratio, um das Analogieverbot des
§ 2 StGB analog in das Strafprozessrecht zu übertragen.“

2. Die Bedeutung des Vorbehalts des Gesetzes


für die Rechtsfindung im Strafprozessrecht

a) Kann damit auch als Zwischenergebnis davon ausgegangen werden, dass


Art. 103 II GG jedenfalls grundsätzlich auf das Strafverfahrensrecht nicht anwend-
bar ist (sondern nur im Einzelfall die Frage aufgeworfen werden muss, ob alle in der
Strafprozessordnung geregelten oder traditionell etwa als Verfahrensvoraussetzung
dem Prozessrecht zugeschlagenen Materien wirklich rein formaler Natur sind oder
ob sie nicht doch zumindest im hier interessierenden Sinne [auch?] dem materiellen
Recht zuzurechnen sind45), bedeutet das keinesfalls, dass das Gericht im Strafverfah-
rensrecht von der Gesetzesbindung freigestellt wäre. Gerade der o.g. Hinweis Be-
lings auf das Verwaltungsrecht ist noch von einem Verständnis vom Verhältnis der
staatlichen Gewalt zum Individuum geprägt, das der heutigen, durch das Grundge-
setz bestimmten Sichtweise nicht mehr ohne weiteres entsprechen kann. Vielmehr
bleibt noch die Bedeutung des allgemeinen Vorbehalts des Gesetzes für die Rechts-
findung im Strafprozessrecht zu klären. Zwar könnten dessen Grenzen insgesamt
eher für Ausnahmen in Einzelfällen durchlässig sein als die des Art. 103 II GG,
indes lässt sich dies erst auf der Grundlage einer genaueren Analyse entscheiden.
Fest steht aber jedenfalls, dass sich etwa die unbefangene Neigung zu Analogien

44
Beling, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht mit Einschluss des Strafgerichtsverfassungs-
rechts, 1928, S. 22.
45
Besonders plastisch wird diese Frage etwa bei der Verjährung, die letztlich genauso als
Strafausschließungsgrund statt als Verfahrensvoraussetzung zu konstruieren wäre. Diesen
Schnittstellen soll hier nicht näher nachgegangen werden, da sie in der Literatur schon häufig
untersucht worden sind.
Das Gesetzlichkeitsprinzip im deutschen Strafprozessrecht 245

aus dem Zivilrecht nicht auf das öffentliche Recht und (damit auch nicht auf Rechts-
verkürzungen durch das Strafverfahren) übertragen lässt.46
b) Da es eine gesetzliche Normierung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts nicht
gibt, muss – anders als oben bei Art. 103 II GG – auf eine Analyse des Wortlauts ver-
zichtet werden, so dass nach einer knappen Darstellung der historischen Wurzeln der
Anwendungsbereich des Vorbehaltsgrundsatzes sowie die Frage nach den daraus re-
sultierenden Konsequenzen für das Strafverfahren behandelt werden sollen. Was die
Entwicklungsstränge des allgemeinen Vorbehalts des Gesetzes angeht, kann auf die
Ausführungen zu Art. 103 II GG verwiesen werden, soweit dessen allgemeine staats-
rechtlichen Wurzeln beschrieben wurden.47 In Deutschland wurde dieses Gedanken-
gut vor allem durch die konstitutionelle Bewegung unter maßgeblichem Einfluss des
Freiherrn vom Stein verbreitet.48
Neben dieser rechtsstaatlichen Entwicklungslinie wird auch beim allgemeinen
Gesetzesvorbehalt seit dem 19. Jahrhundert eine „demokratisch-partizipatorische“
Komponente deutlich.49 Der Wille des Bürgertums nach Teilhabe am Staat erscheint
hier noch klarer verständlich als beim nulla-poena-Grundsatz: Ging es bei diesem
„nur“ darum, dass die Strafnorm vom Parlament als demokratisch legitimierten
Staatsorgan erlassen werden, so sind beim allgemeinen Vorbehalt – der z. B. auch
den großen Bereich der Wirtschaftsordnung oder des Steuerrechts betrifft – Zusam-
menhänge betroffen, die den Bürger auch in seinen ganz alltäglichen Interessen be-
rühren. Während diese Forderung damals politisch noch viel brisanter war als die
nach Machtmäßigung des Staates in Form von selbstbindender Beschränkung des
Monarchen,50 ist der demokratische Aspekt heute (durchaus noch wichtig, aber)
nicht mehr der Problemschwerpunkt: Durchbrechungen des Vorbehaltsgrundsatzes
erfolgen durch die Exekutive (oder Judikative) zumindest regelmäßig nicht in der In-
tention, dass dem Parlament das Entscheidungsrecht über eine bestimmte Frage ziel-
gerichtet entzogen werden soll.51

46
Ähnlich Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche
Demokratieprinzip, 1973, S. 172.
47
Vgl. bereits Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961, S. 33, nach dem der „Vorbehalt des
Gesetzes für Verwaltungsmaßnahmen (…) ein Unterfall eines umfassenden Gesetz-
mäßigkeitsprinzips (sc. ist), dessen andere Komponente der Satz nulla poena sine lege dar-
stellt.“ Zustimmend Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977, S. 242.
48
Vgl. Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961, S. 123; Bär, Der Zugriff auf Computerdaten
im Strafverfahren, 1992, S. 125.
49
Vgl. Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961, S. 132 ff.; Pietzcker, JuS 1979, 710, 712;
Selmer, JuS 1968, 498, 491. Vgl. auch den Hinweis von Roellecke, NJW 1978, 1778, wonach
die Legitimation des Vorbehaltsgrundsatzes für belastende Maßnahmen im Gedanken des
„volenti non fit iniuria“ liegt: soweit das Parlament als „Vertreter“ des Bürgers einem Eingriff
zustimmt, kann darin dem Bürger gegenüber kein Unrecht mehr liegen.
50
Vgl. Kloepfer, JZ 1984, 685.
51
Freilich sind Fälle beobachtbar, in denen die Rechtsprechung in (vermeintlich zulässi-
ger) rechtsfortbildender Weise Ansätze aufgreift, die im Gesetzgebungsverfahren gescheitert
sind, so etwa die faktische Einführung einer Präklusion im Beweisantragsrecht durch die
246 Hans Kudlich

c) Der Vorbehalt des Gesetzes verlangt auf der angedeuteten Entwicklung basie-
rend eine gesetzliche Grundlage jedenfalls für Eingriffe in subjektive Rechte des
Bürgers52 und dürfte damit, über die klassische Formulierung des „Eingriffs in Frei-
heit und Eigentum“ hinausgehend, die wichtigste Ausprägung des Rechtsstaatsprin-
zips in seinem heutigen gesetzespositivistisch-formellen Verständnis53 sein. Dabei ist
– auch ohne Rückgriff auf die ganz überwiegend abgelehnte Lehre vom Totalvorbe-
halt54 – davon auszugehen, dass der Gesetzesvorbehalt nicht nur „uneingeschränkt
auch“,55 sondern sogar in besonderem Maße für das Strafverfahren gilt, das einen be-
sonders intensiven Eingriff in die Rechtsposition des Bürgers darstellt.56

IV. Konsequenzen aus der Geltung


des allgemeinen Gesetzesvorbehalts
im Strafprozessrecht?
Welche praktischen Konsequenzen ergeben sich nun aus der Tatsache, dass im
Strafverfahrensrecht zwar der allgemeine Gesetzesvorbehalt, nicht aber der spezielle
Gesetzesvorbehalt des Art. 103 II GG gilt? Zur Antwort kann auf zwei verschiede-
nen Ebenen differenziert werden: Zum einen hinsichtlich der verschiedenen Folge-
rungen aus den Gesetzesvorbehalten (für den nulla-poena-Grundsatz als Garantien
der lex scripta, stricta, certa und praevia bekannt), zum anderen nach den verschie-
denen vom Strafverfahren betroffenen Rechtspositionen (als welche die materiellen
Grundrechtsgarantien vor allem bei Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren,
die – im deutschen Grundgesetz vielfach durch die sog. Verfahrensgrundrechte ab-
gedeckten – Verfahrensgarantien vor allem bei Einschränkungen der prozessualen
Befugnisse in Betracht kommen).

Fristsetzungsrechtsprechung des 1. Strafsenats (vgl. BGHSt 52, 355, sowie dazu statt vieler
Kudlich, Fristsetzung für Beweisanträge als legitimes Mittel der Verfahrensbeschleunigung?,
in: Kotsalis/Kourakis/Mydonopoulos (Hrsg.), Festschrift für Argyrios Karras, 2010,
S. 591 ff.), nachdem entsprechende gesetzliche Initiativen gescheitert sind, vgl. instruktiv
Jahn, StV 2009,663, 667
52
Vgl. zum Anwendungsbereich des Gesetzesvorbehalts etwa Wehr, JuS 1997, 419, 420 ff.
53
Vgl. dazu Jentsch, ZRP 1995, 9 ff., 11.
54
Vgl. dazu Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961, insb. S. 171 f., 205. Zu den Stimmen
gegen diese Ansicht vgl. statt vieler BVerfGE 68, 1, 87; Duttge, Der Begriff der Zwangs-
maßnahme im Strafprozessrecht, 1995, S. 115 f. m.w.N.; Rogall, Informationseingriff und
Vorbehalt des Gesetzes, 1992, S. 16.
55
Vgl. etwa BVerfGE 47, 239, 248.
56
Ebenso Krey, in: Blau-FS, 1985, S. 123, 124 f., der zu Recht darauf hinweist, dass die
spezielle Regelung des Art. 103 II GG nach h.M. für das Strafverfahren und seine Eingriffs-
befugnisse (und nach Kreys Ansicht auch für die materiell-rechtlichen Rechtsfolgen der
§§ 61 ff. StGB, a.A. die wohl h.M.) nicht gilt und deshalb auf den allgemeinen Geset-
zesvorbehalt zurückzugreifen ist.
Das Gesetzlichkeitsprinzip im deutschen Strafprozessrecht 247

1. Inhalte des Gesetzesvorbehalts

a) Das Gebot der lex scripta, welches ungeschriebene und dabei insbesondere ge-
wohnheitsrechtliche Belastungen für die Grundrechte des Bürgers (und im Fall des
nulla poena-Grundsatzes: Strafbarkeitsanordnungen) verbietet, sollte auch im An-
wendungsbereich des einfachen Gesetzesvorbehalts Geltung beanspruchen. Seine
demokratische Dimension gebietet gerade, dass über die Beeinträchtigungen der par-
lamentarische Gesetzgeber entscheidet. Freilich bleibt im Einzelfall zu prüfen, in-
wieweit Rechtspositionen, die nicht gleichsam vorrechtlich angenommen werden
können bzw. nicht explizit im einfachgesetzlichen Strafprozessrecht fundiert sind,
sondern erst durch die Rechtsprechung entwickelt werden, von dieser auch wieder
eingeschränkt werden können. Macht also etwa die Rechtsprechung im Bereich
der gesetzlich nicht näher geregelten Beweisverwertungsverbote das Eingreifen
eines solchen für bestimmte Konstellationen von einem Widerspruch durch den ver-
teidigten Angeklagten in der Hauptverhandlung abhängig, so mag man dagegen in-
haltlich gute Gründe anführen können57 – ein unzulässiger ungeschriebener Eingriff
in eine feststehende Rechtsposition liegt dagegen nicht vor, denn die in der Strafpro-
zessordnung im Wesentlichen nicht erwähnten Beweisverwertungsverbote werden in
diesen Fällen vom Rechtsanwender gewissermaßen mit dieser Einschränkung ge-
schaffen.58
b) Hinsichtlich des Gebotes der lex stricta gibt es im öffentlichen Recht (d. h. ins-
besondere auch Verwaltungsrecht) als originärer Heimat des Vorbehaltsdogmas eine
lange Diskussion über die Zulässigkeit belastender Analogien. In dieser wird ein Ein-
griff in den Kernbereich der Kompetenzabgrenzung zwischen Legislative und Judi-
kative durch eine Analogie zumindest dann nicht angenommen, wenn durch sie kein
unvorhergesehenes Übergewicht der rechtsanwendenden Gewalten entsteht. Eine
Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips soll danach nicht vorliegen, wenn durch
die Analogie keine vollständig neue Regel für einen bisher ungeregelten Sachverhalt
(d. h. auf den Eingriff in subjektive Rechte übertragen: keine neue Eingriffsbefugnis
in ein Recht, in das der Gesetzgeber bisher noch keinen Eingriff vorgesehen hatte)
geschaffen wird, sondern nur die bereits bestehende Regelung erweitert bzw. ergänzt
(also ohnehin bereits gesetzlich vorgesehene Eingriffe in ein Recht auch unter den
geregelten Fällen ähnlichen Voraussetzungen ermöglicht) werden.
Betrachtet man den Gesetzesvorbehalt freilich nicht nur in seiner gewaltenteilen-
den, sondern auch in seiner demokratietheoretischen Dimension, dürfte das zu kurz
gegriffen sein: Denn vor dem zweitgenannten Hintergrund besteht ein grundsätzli-

57
Vgl. Kudlich, Erfordert das Beschleunigungsgebot eine Umgestaltung des Strafverfah-
rens?, Gutachten C zum 68. Deutschen Juristentag, 2010, S. C 92 ff.
58
Etwas Ähnliches findet sich im Übrigen sogar im materiellen Strafrecht unter dem Re-
gime des Art. 103 II GG: Die im deutschen Strafgesetzbuch nicht explizit geregelte rechtfer-
tigende Einwilligung kann selbstverständlich im Einzelfall von bestimmten, notwendiger-
weise ebenfalls nicht geschriebenen einschränkenden Kriterien abhängig gemacht werden, um
Wirksamkeit zu erlangen.
248 Hans Kudlich

cher Vorrang der jeweils dem Wortsinn des Gesetzes nächsten Rechtsfindung, da nur
das Gesetz einen Akt des alleine unmittelbar demokratisch legitimierten Parlaments
darstellt.59 Aus dieser Forderung aber lassen sich z. B. gute Gründe für ein Verbot
belastender Analogien im Strafprozessrecht ableiten. In der öffentlich rechtlichen
Diskussion um ein Analogieverbot werden Analogien unter dem Gesichtspunkt
des Demokratieprinzips zwar jedenfalls dann für unbedenklich gehalten, wenn
damit die Entscheidung des Gesetzgebers gleichsam dadurch nur „weitergeführt“
wird, dass sich die Analogie innerhalb der ratio legis bewegt.60 Hiergegen spricht je-
doch die Erwägung, dass gerade aus demokratischen Aspekten der Gesetzesvorbe-
halt in manchen Bereichen zum Parlamentsvorbehalt erstarkt ist und insbesondere
nach der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des BVerfG wesentliche Entschei-
dungen durch den Gesetzgeber selbst getroffen werden müssen; wo aber selbst eine
Delegation der Rechtssetzung in einem (z. B. durch Art. 80 GG) geregelten und an
sich im Grundgesetz vorgesehenen Verfahren nicht möglich ist, müsste dies für
die außerlegislative „Rechtssetzung durch Analogie“ erst Recht gelten. Soweit mit
dem BVerfG die „Wesentlichkeit“ zumindest in grundrechtsrelevanten Bereichen
mit der „Wesentlichkeit für die Grundrechtsverwirklichung“ gleichgesetzt wird,61 er-
gäbe sich für den Bereich von Grundrechtsbeschränkungen – sei es für den Bereich
der Zwangsmaßnahmen i. e.S.,62 sei es für die Beschränkung von Verfahrensrech-
ten – ein Analogieverbot im Strafprozessrecht.63
c) Dagegen ist eine Art. 103 II GG vergleichbare Garantie der lex praevia dem
allgemeinen Gesetzesvorbehalt fremd. Zwar gelten auch insoweit die allgemeinen
59
Vgl. zum Demokratieprinzip allgemein Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts,
20. Aufl. 1999, Rn. 127 ff.; Sachs, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 5. Aufl. 2009, Art. 20
Rn. 10 ff.; vgl. ferner im Zusammenhang mit der hier behandelten Frage Krey, in: Blau-FS,
1985, S. 123, 131 m.w.N. (allerdings zur demokratischen Komponente des Art. 103 II GG)
sowie Bär, Der Zugriff auf Computerdaten im Strafverfahren, S. 142 ff.
60
Vgl. Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche De-
mokratieprinzip, 1973, 176 f. sowie Gern, DÖV 1985, 558, 562, der allerdings die weitere
nicht ganz klare Einschränkung macht, dass keine „Grundrechte verletzt“ werden dürften: Da
ein erheblicher Streit eigentlich nur um die Analogie zu Lasten des Bürgers besteht, hängt die
Frage, ob ein Grundrecht verletzt wird, ja regelmäßig in erster Linie davon ab, ob die Analogie
zulässig und damit ausreichend ist, den Grundrechtseingriff zu rechtfertigen. Im Übrigen ist zu
dieser Ansicht anzumerken, dass die Fortführung der ratio legis nur ein sehr ungenaues Ab-
grenzungskriterium zwischen zulässiger und unzulässiger Analogie sein kann, da es schon
methodische Voraussetzung des Analogieschlusses (in Form des Erfordernis einer vergleich-
baren Interessenlage) ist, dass die ratio legis ihn trägt.
61
Vgl. BVerfGE 47, 46, 78 f.; 58, 257, 268 f. Ein instruktiver Überblick über andere Kri-
terien zur Bestimmung der Wesentlichkeit findet sich bei Duttge, Der Begriff der Zwangs-
maßnahme im Strafprozeßrecht, 1995, S. 126 ff.; allerdings würden auch die dort genannten
Ansätze für die vorliegende Analogiefrage überwiegend zu keinem anderen Ergebnis führen.
62
Gemeint sind hier vor allem die Befugnisse nach §§ 94 ff. StPO; umfassend zum Begriff
Duttge, Der Begriff der Zwangsmaßnahme, 1995.
63
Ebenso im Ergebnis Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977, S. 244;
ders., in: Blau-FS, 1985, S. 123, 149; Bär, Der Zugriff auf Computerdaten im Strafverfahren,
1992, S. 147; vgl. ferner Amelung, NStZ 1982, 38, 40.
Das Gesetzlichkeitsprinzip im deutschen Strafprozessrecht 249

rechtsstaatlichen Grundsätze über den Vertrauensschutz bei einer Rückwirkung. So-


weit man hier als Anknüpfungspunkt aber jeweils nur das prozessuale Geschehen
(und nicht die zu verfolgende Straftat) sieht, werden sich Rückwirkungsverbote in
einer in Art. 103 II GG vergleichbaren Weise regelmäßig nicht ergeben. Vielmehr
ist der Prozess nach dem jeweils geltenden Verfahrensrecht zu führen.
d) Unterschiede ergeben sich auch hinsichtlich der Garantie der lex certa: So sind
etwa im Sicherheitsrecht, in dem als klassischem Eingriffsrecht selbstverständlich
auch der allgemeine Gesetzesvorbehalt gilt, Generalklauseln, die in ihrer Bestimmt-
heit hinter den für materielle Strafgesetze geltenden Anforderungen deutlich zurück-
bleiben, nicht unüblich und hinsichtlich ihrer Zulässigkeit auch grundsätzlich aner-
kannt. Freilich wird man insoweit eine gewisse Korrespondenz mit der Eingriffstiefe
dahingehend anzunehmen haben, dass auf Generalklauseln gestützte Maßnahmen
zum einen keine massiven Grundrechtsbeeinträchtigungen gestatten können und
dass durch sie zum anderen die Wertungen spezieller Vorschriften nicht unterlaufen
werden dürfen.

2. Betroffene Rechtspositionen

a) Von strafprozessualen Maßnahmen im weiteren Sinn betroffen sein können


zum einen die „allgemeinen Grundrechte“, da insbesondere strafprozessuale Ermitt-
lungsmaßnahmen in sämtliche Lebensbereiche eingreifen können.64 Dies beginnt
etwa bei Hausrecht und Eigentum, soweit Durchsuchungen oder Beschlagnahmen
angeordnet werden, setzt sich beim Telekommunikationsgeheimnis fort, soweit Te-
lefonate oder Emails überwacht werden und mündet bei der Beeinträchtigung der
Freiheit der Person, wenn Untersuchungshaft angeordnet wird. Für all diese und ver-
gleichbare Bereiche, für welche sich zahllose Beispiele finden lassen würden, ist
davon auszugehen, dass die oben genannten Inhalte des Gesetzesvorbehaltes in stren-
ger Form gelten und damit nur vergleichsweise enge Eingriffsbefugnisse bieten, da es
sich um Rechtspositionen handelt, die gewissermaßen schon „vorprozessual“ beste-
hen, und in die durch das Prozessrecht und die Prozesshandlung unmittelbar einge-
griffen wird. Dass dabei – anders, als dies wohl nach Art. 103 II GG für das materielle
Strafrecht möglich wäre – notwendige Begleit- bzw. Vorfeldbefugnisse in der Ein-
räumung bestimmter Zwangsbefugnisse mit umfasst sein müssen und dürfen,
wurde oben bereits erwähnt.
b) Davon zu unterscheiden ist der Eingriff in prozessuale Verfahrenspositionen
etwa durch Verkürzungen von Beweisantrags-, Frage- oder sonstigen Äußerungs-
rechten: Ihre grundrechtliche (und damit auch Gesetzesvorbehalts-)Relevanz mag
– freilich nur auf den ersten Blick – weniger evident sein als bei Grundrechtseingrif-
64
Vgl. zur Diskussion statt vieler nur mit einem insoweit geradezu programmatischen Titel
Amelung, Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe, 1976; ders., NJW 1979,
1678; ferner mit umfassenden Nachweisen Duttge, Der Begriff der Zwangsmaßnahme im
Strafprozeßrecht, 1995; exemplarisch zur Frage sog. Informationseingriffe Rogall, Informa-
tionseingriff und Gesetzesvorbehalt im Strafprozeß, 1992; vgl. ferner die ausführliche Dar-
stellung bei Bär, Der Zugriff auf Computerdaten im Strafverfahren, 1992, S. 51 ff.
250 Hans Kudlich

fen durch strafprozessuale Zwangsmaßnahmen und wird deswegen auch in der Li-
teratur weniger intensiv diskutiert und teilweise nur mit Blick auf die verfahrens-
rechtliche Dimension der Grundrechte vertieft. Diese verfahrensrechtliche Dimensi-
on – der status activus processualis – auch von Grundrechten mit primär materiellem
Gewährleistungsgehalt beruht auf der Erkenntnis, dass effektiver Grundrechtsschutz
nicht nur eine materielle Rechtsposition, sondern auch ein Verfahren voraussetzt, in
dem diese Position durchgesetzt bzw. gegen Eingriffe geschützt werden kann.65
Die prozessuale Wirkdimension der Grundrechte ist zwar durchaus auf das Straf-
verfahren übertragbar, das vom Staat sogar schon in der Erwartung eingeleitet wird,66
dass sein Abschluss zu massiven Grundrechtseingriffen für den Beschuldigten in
Form von Kriminalstrafen führt. Gleichwohl ist die verfahrensrechtliche Dimension
von primär materiellen Grundrechten nicht der entscheidende Anknüpfungspunkt,
wenn es um die Verkürzung prozessualer Rechte geht, da diese spezieller durch Ver-
fahrensgrundrechte bzw. -prinzipien geschützt sind.67 In Betracht kommt insoweit
vor allem der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 I GG, welcher die wich-
tigste Grundrechtsgewährleistung für den Ablauf des Hauptverfahrens und insbeson-
dere der Hauptverhandlung beinhaltet. Danach hat jeder „unmittelbar rechtliche
betroffene“68 Verfahrensbeteiligte ein Anrecht darauf, sich vor Erlass einer Entschei-
dung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu äußern. Nach h.M. umfasst
Art. 103 I GG auch das Vorfeld und den Wirkbereich dieser Äußerungen und
damit drei grundsätzliche Dimensionen der aktiven Beteiligung am Prozess:69 ein
Recht auf Information, ein Recht zur Äußerung zu Tatsachen- und Rechtsfragen
sowie ein Recht auf Berücksichtigung dieser Äußerungen (im Sinne einer Aufnah-
mefähigkeit und -bereitschaft der mitwirkenden Richter). Für typische strafprozes-
suale Befugnisse (des Angeklagten und seines Verteidigers) gilt dabei im Einzelnen:

65
Vgl. in der Rechtsprechung BVerfGE 24, 367, 400 f.; 37, 132, 141, 148; 49, 220, 225
(jeweils zu Art. 14 GG); BVerfGE 39, 276, 294; 44, 105, 119 ff.; 45, 422, 430 ff. (jeweils zu
Art. 12 GG) sowie BVerfGE 53, 30, 65 f. (zu Art. 2 II GG). In der Literatur grundlegend vor
allem Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL Bd. 30 (1972), 43 ff., insb. 88 f.;
vgl. aus der reichhaltigen Literatur ferner Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien – ein
Beitrag zum Verständnis des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 1981; Held,
Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, 1981; 1984, insb. 69 ff.
66
Vgl. §§ 170 I, 203 StPO, wonach Anklage erhoben bzw. das Hauptverfahren eröffnet
wird, wenn „genügend Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage“ besteht bzw. der Ange-
schuldigte „hinreichend verdächtig“ erscheint. Diese Tatbestandsmerkmale setzen aber gerade
voraus, dass der Staatsanwaltschaft bzw. dem Gericht eine spätere Verurteilung wahrschein-
lich erscheint.
67
Vgl. hierzu exemplarisch für das Beweisantragsrecht instruktiv Jahn, Verfassungs-
rechtliche Grundlagen des Beweisantragsrechts der Verteidigung im deutschen Strafprozess,
in: Neumann/Herzog (Hrsg.), Festschrift für Winfried Hassemer 2010, S. 1029 ff.
68
So die gängige Umschreibung der Grundrechtsträgerschaft durch das BVerfG, vgl. nur
BVerfGE 60, 7, 13; 65, 227, 233; 75, 201, 215.
69
Vertiefend und mit weiteren Nachweisen Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung: Vom
vertikalen zum horizontalen Verständnis, 2008, S. 188 ff.
Das Gesetzlichkeitsprinzip im deutschen Strafprozessrecht 251

aa) Das Beweisantragsrecht fällt nach zutreffender h.M. in den Schutzbereich des
Art. 103 I GG bzw. stellt eine Konkretisierung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
dar, da eine Äußerung, die Aussicht auf Beachtung haben soll, vor allem eine mit
einem Beweismittel untermauerte ist.
bb) Auch das einfachgesetzlich in § 258 II StPO garantierte Recht des Angeklag-
ten auf das „letzte Wort“ wird als unmittelbare Gewährleistung des Anspruches auf
rechtliches Gehör verstanden.70 Dabei kann zwar nicht übersehen werden, dass die
gesetzlichen Regelungen (insbesondere in ihrer – zu Recht – strengen Auslegung
durch die Rechtsprechung) über die verfassungsrechtliche Minimalgarantie hinaus-
geht. Art. 103 I GG verlangt nämlich nur, dass dem Angeklagten überhaupt in effek-
tiver Weise rechtliches Gehör verschafft wird, nicht aber dass er das letzte Wort
haben muss. Man wird aber jedenfalls annehmen können, dass die Möglichkeit
des letzten Wortes einer optimalen Verwirklichung des rechtlichen Gehörs dient,
da in diesem Augenblick der Zustand bestmöglicher und vollständiger Information
über den Prozessstoff besteht und die Möglichkeit einer Äußerung unmittelbar vor
der Urteilsfindung gegeben ist.
cc) Wesentlich problematischer erscheint demgegenüber die verfassungsrechtli-
che Verankerung des in §§ 240, 241 StPO geregelten Fragerechts. Obwohl es sich
auch bei Fragen um Äußerungen i.w.S. handelt, erscheint der engere Bereich des
rechtlichen Gehörs verlassen, da es dem Fragesteller nicht in erster Linie darum
geht, dass seine Äußerung wahrgenommen wird, sondern auf die Antwort des Befrag-
ten ankommt. Aus diesem Grund wird in der Literatur das Fragerecht (anders als etwa
das Beweisantragsrecht) i. d. R. nicht ausdrücklich Art. 103 I GG zugeordnet. Soweit
sich ausdrückliche Stellungnahmen finden, wird eine Einbeziehung unter
Art. 103 I GG sogar abgelehnt und eine Verankerung außerhalb der StPO „nur“ in
Art. 6 III d EMRK gesehen. Dies erscheint freilich bei der Art. 103 I GG sonst zu-
kommenden weiten Auslegung nicht unbedingt zwingend: So wie die Einbeziehung
des Beweisantragsrechts damit begründet werden kann, dass eine Tatsachenäuße-
rung ohne Beweisangebot u. U. nur von geringem Wert ist, ließe sich hier anführen,
dass die Äußerung zur Aussage eines Zeugen u. U. nur dann sinnvoll ist und die ge-
bührende Beachtung erfahren kann, wenn durch Fragen an den Zeugen Widersprü-
che aufgeklärt oder Sachverhalte ins rechte Licht gerückt werden können. Aus die-
sem Grund erschiene es keinesfalls abwegig, ähnlich wie beim Recht auf das letzte
Wort ein Fragerecht zwar nicht als unabdingbare Forderung des Anspruchs auf recht-
liches Gehör, wohl aber in einer Beschneidung des nach dem gesetzlichen status quo
bestehenden Fragerechts eine nach Art. 103 I GG grundrechtsrelevante Maßnahme
zu sehen.
dd) Wohl nicht mehr von Art. 103 I GG gedeckt ist das Recht der Richterableh-
nung nach §§ 24 ff. StPO, da hier (noch mehr als beim Fragerecht) nicht die mit der
Ablehnung gleichzeitig verbundene Äußerung, sondern deren rechtlichen Konse-
70
Vgl. BVerfGE 54, 140; vgl. ferner zur Bedeutung des § 258 StPO BGHSt 3, 368; 20,
273; 22, 278.
252 Hans Kudlich

quenzen im Mittelpunkt des Interesses stehen.71 Da diese Folgen – und insoweit be-
steht ein wichtiger Unterschied zur oben aufgeworfenen Problematik beim Frage-
recht – ausschließlich verfahrensrechtlicher Natur sind und eine unmittelbare Ein-
flussnahme auf den Wahrheitsfindungsprozess und die tatsächlichen und rechtlichen
Probleme des Falles nicht stattfindet, kann die Richterablehnung nicht mehr als In-
anspruchnahme des rechtlichen Gehörs gesehen werden. Andererseits dürfte kein
Zweifel daran bestehen, dass die durch das Ablehnungsrecht gesicherte Unbefangen-
heit (im technischen Sinne) des Richters ein zentrales Element eines rechtsstaatli-
chen und „fairen“ Verfahrens ist. Dies wird daran deutlich, dass ein unabhängiges
und unparteiisches Gericht auch durch Art. 6 I EMRK garantiert wird. Außerdem be-
steht ein enger Zusammenhang zum Grundrecht auf den gesetzlichen Richter nach
Art. 101 I 2 GG. Zwar hat Art. 101 GG selbst nur den Einfluss des Staates auf ein
Verfahren durch den Einsatz eines bestimmten Richters vor Augen;72 indes steht da-
hinter in hohem Maße der Wunsch nach richterlicher Objektivität, die im Mikrokos-
mos des einzelnen Verfahrens durch das Ablehnungsrecht gesichert werden kann.
Einschränkungen des Ablehnungsrechts über den gesetzlichen Ist-Zustand hinaus
sind daher zwar verfassungsrechtlich nicht ohne weiteres unzulässig, tangieren
aber den subjektiven Anspruch jedes Einzelnen auf ein faires Verfahren nach
Art. 2 I GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip.

3. Konsequenzen

Fasst man die Überlegungen unter 1. und 2. knapp zusammen, führt das für den
Gesetzlichkeitsgrundsatz im Strafverfahren zu folgenden Konsequenzen: Sowohl
durch strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen als auch durch die Verkürzung pro-
zessualer Teilhaberechte in der Hauptverhandlung kann es zu Grundrechtseingriffen
kommen, die den allgemeinen Gesetzesvorbehalt auslösen. In dessen Anwendungs-
bereich gelten insbesondere die Garantien der lex scripta und der lex stricta in einer
Art. 103 II GG durchaus vergleichbaren Weise, während hinsichtlich der Rückwir-
kung und der Bestimmtheit gegenüber den im materiellen Strafrecht geltenden Ga-
rantien Abstriche zu machen sind.
Insbesondere, soweit es um die Verkürzung genuin prozessualer Positionen (etwa
im Bereich der Antragsrechte) geht, ist dabei freilich zu bedenken, dass sowohl der
Anspruch auf rechtliches Gehör als auch (und insbesondere) der Anspruch auf ein
„faires Verfahrens“ in hohem Maße normgeprägte Garantien sind.73 Das bedeutet,
71
Wenngleich ein befriedigendes rechtliches Gehör nicht durch einen Richter gewährt
werden kann, der aus nachvollziehbaren Gründen kein Vertrauen des Zuhörenden besitzt, vgl.
Herzog, StV 1995, 372, 374.
72
Die historische Wurzel des Art. 101 GG liegt insoweit in einer Bekämpfung der Kabi-
nettsjustiz, vgl. bereits BVerfGE 4, 412, 416.
73
Zu Art. 103 I GG vgl. etwa BVerfGE 67, 208, 211; zur Frage der normgeprägten Ver-
fahrensgrundrechte auch bereits Kudlich, Strafprozeß und allgemeines Mißbrauchsverbot,
1998, S. 127 f.
Das Gesetzlichkeitsprinzip im deutschen Strafprozessrecht 253

„das rechtliche Gehör“ bzw. „das faire Verfahren“ sind weniger leicht vornormativ
greif- und verstehbar (als etwa Termini wie Leben, Meinung oder Freizügigkeit).
Rechtliches Gehör und faire Verfahrensstrukturen können daher im Grundsatz erst
einmal nur dadurch gewährt werden, dass sie durch den Staat zur Verfügung gestellt
werden. Da es sich insoweit nicht um absolute, jeder Abwägung Wechselwirkung
entzogene Garantien handelt, wird damit in formeller Hinsicht eine solche Verfah-
rensgarantie erst einmal in dem Umfang gewährt, in dem sie spezialgesetzlich vor-
gesehen ist. Das bedeutet zwar nicht, dass die spezialgesetzliche Ausprägung nicht
am (materiellen) Maßstab der Verfassung gemessen werden könnte; sehr wohl ist es
aber so, dass nicht automatisch jeder neue gesetzliche (!) Zustand in das Grundrecht
eingreift, nur weil er nicht die bisherige Gewährleistungstiefe erreicht.74 Wird aber
umgekehrt ein bestimmter Umfang durch die gesetzliche Regelung zur Verfügung
gestellt, so sind Verkürzungen dieses Zustandes durch den Rechtsanwender als
Grundrechtseingriffe legitimierungsbedürftig (und sollten als solche regelmäßig
auch auf gesetzlicher Grundlage erfolgen).

V. Zusammenfassung und Fazit


1. Im deutschen Recht gilt Art. 103 II GG mit seinen Garantien der lex scripta,
stricta, praevia und certa als strengste Ausformung des Gesetzlichkeitsgrundsatzes
nicht im Strafverfahrensrecht. Auch jenseits der spezifischen deutschen Regelung
wird man – vorbehaltlich entsprechender expliziter Klarstellungen in anderen natio-
nalen Rechtsordnungen – den international weit anerkannten besonderen Gesetzlich-
keitsgrundsatz für das materielle Strafrecht („nulla poena sine lege“) nicht auf das
Strafprozessrecht übertragen können,75 da weder seine geistesgeschichtlichen Wur-
zeln dazu zwingen noch die Betrachtung „des Kriminalrechts“ als Gesamtheit dem
Wesen des Strafprozesses eher gerecht wird als ein Vergleich mit sonstigem Verfah-
rensrecht bzw. (hinsichtlich der Eingriffsbefugnisse) mit dem sonstigen öffentlichen
Recht. Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass sämtliche durch das Prozessrecht
selbst bedingten Rechtsbeeinträchtigungen auch dem „bloß Verdächtigen“ auferlegt
werden können und daher per se keinesfalls mit einem vergleichbaren sozialethi-
schen Unwerturteil verbunden sind wie eine (materiell) strafrechtliche Verurteilung.
2. Allerdings gilt im Strafprozessrecht als Sondermaterie des öffentlichen Rechts
der allgemeine Gesetzesvorbehalt, der in seiner Wirkung insbesondere hinsichtlich
der Garantien der lex scripta und der lex stricta Art. 103 II GG zumindest nahe
kommt. Eingriffe in Rechtspositionen, für die das Gesetzlichkeitsprinzip insoweit re-
levant wird, können dabei durch Zwangsmaßnahmen (vor allem im Ermittlungsver-
74
Vgl. auch BVerfG NJW 2009, 1469, 1474.
75
Wobei im Detail einmal bei manchen Regeln, wie etwa der Verjährung, schwierig zu
entscheiden sein kann, ob sie zum Strafprozessrecht oder zum materiellen Strafrecht gehören.
Klar zum Strafprozessrecht gehören jedenfalls die prozessualen Zwangsmaßnahmen und die
Regelungen der prozessualen Teilhabebefugnisse in der Hauptverhandlung.
254 Hans Kudlich

fahren) in nahezu alle materiellen Grundrechte der Art. 1 ff. GG vorliegen; die Ver-
kürzung prozessualer Rechte kann insbesondere in die sog. Justizgrundrechte (insb.
Art. 101, 103, 104 GG) eingreifen.
3. Mit Blick auf das Gesetzlichkeitsprinzip und etwaige ungeschriebene Rechts-
eingriffe sind dabei zwei bedeutsame Konstellationen besonders zu betonen, bei
denen die Überlegungen zur Geltung des Gesetzlichkeitsprinzips auch Lösungsan-
sätze für die dogmatische Durchdringung des Prozessrechts liefern:
a) Im Bereich strafprozessualer Zwangsmaßnahmen wird man unverzichtbare
Vorbereitungshandlungen regelmäßig als von der Befugnis mit gedeckt betrachten
können (jedenfalls wenn keine Anforderungen eines speziellen Gesetzesvorbehalts
betroffen sind). Gestattet der Gesetzgeber nämlich eine bestimmte Maßnahme, ist
nicht davon auszugehen, dass er ihren Anwendungsbereich dadurch „auf null redu-
zieren“ will, dass er die unabdingbaren Vorbereitungshandlungen dafür nicht zulas-
sen will. Insoweit streiten weder Willkürverbot noch Demokratieprinzip gegen die
Rechtmäßigkeit der Maßnahme.
b) Im Bereich prozessualer (etwa Verteidigungs-)Befugnisse ist zu berücksichti-
gen, dass es sich vielfach um normgeprägte Grundrechte handelt, deren konkrete
Reichweite erst durch die einfachgesetzlichen Regelungen festgelegt werden. Soweit
diese Reichweite mittels gesetzlicher Regelung verkürzt wird, ist das nicht per se ver-
fassungsrechtlich zu beanstanden. Dagegen stellen Verkürzungen gegenüber dem ge-
setzlichen status quo durch den Rechtsanwender Grundrechtsverkürzungen dar, die
mangels gesetzlicher Grundlage regelmäßig unzulässig sind. Vor diesem Hinter-
grund ist eigentlich erstaunlich – und jedenfalls kritisch zu vermerken –, dass in
der gegenwärtigen Strafprozessrechtspraxis immer wieder solche „Rechtsverkür-
zungen“ auf richterrechtlicher Grundlage erfolgen (so etwa die Einschränkung der
Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls76 oder die Quasi-Präklusion im Be-
weisantragsrecht durch das Fristsetzungsmodell77). Gerade hier wäre eine einschrän-
kende gesetzliche Regelung verfassungsrechtlich vergleichsweise unkritisch und
daher leicht möglich, so dass das Vorpreschen durch die Gerichte die Gefahr
birgt, aus rein formalen Gründen – nämlich mangels gesetzlicher Grundlage – die
Rechte der Betroffenen zu verletzen.

76
Vgl. BGHSt 51, 88, sowie BVerfGE 122, 248, und dazu krit. Kudlich, BLJ (www.law-
journal.de), 125 ff., sowie speziell zur Kompetenzüberschreitung des BGH bei der Rechts-
fortbildung Kudlich/Christensen, JZ 2009, 943 ff.
77
Vgl. nochmals Fn. 51.
Der „Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“
im Recht der Europäischen Union
Jan C. Schuhr

I. Themenstellung und Überblick


In vielen Staaten der Welt ist das auf Strafnormen bezogene Gesetzlichkeitsprin-
zip Bestandteil der Rechtsordnung. Oft hat es Verfassungsrang. Im Grundgesetz der
Bundesrepublik Deutschland etwa steht es in Art. 103 II des Grundgesetzes (GG).
Das Gesetzlichkeitsprinzip hat auch Eingang in internationale Übereinkommen
gefunden. Beispiele hierfür sind Art. 15 des Internationalen Paktes für Bürgerliche
und Politische Rechte1 und Art. 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention
(EMRK)2. Naturgemäß entstehen Verschränkungen zwischen den nationalen und in-
ternationalen Regelungen.3 So gehören in der Bundesrepublik sowohl Art. 103 II GG
als auch Art. 7 EMRK zum unmittelbar innerstaatlich geltenden Recht.
Zum Recht der Europäischen Union (EU), dem Unionsrecht sowie früher dem Ge-
meinschaftsrecht,4 gehört das Gesetzlichkeitsprinzip ebenfalls. Doch seine dortige
Verortung ist alles andere als übersichtlich. Heute steht das Gesetzlichkeitsprinzip
in Art. 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh). Dieser
hat enge Verbindungen zu Art. 7 EMRK, auch wenn die EMRK selbst nicht zum
Unionsrecht gehört5 und die EU ihr bislang noch nicht beigetreten ist. Art. 49
GRCh aber ist neu, und es gibt schon wesentlich länger Rechtsprechung des Ge-
richtshofs der Europäischen Union (EuGH) zum Gesetzlichkeitsprinzip bei Sanktio-

1
Resolution 2200 A (XXI) der Vollversammlung der Vereinten Nationen vom 16. 12. 1966,
in Kraft getreten am 23. 3. 1976 (für die Bundesrepublik Deutschland vgl. BGBl. 1973 II
S. 1553).
2
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, unterzeichnet in Rom
am 4. November 1950 (CETS Nr. 5; BGBl. 1952 II S. 686). Sie gilt seit 1. Juni 2010 in der
Fassung des Protokolls Nr. 14 vom 13. Mai 2004 (CETS Nr. 194; BGBl. 2006 II S. 138 ff.;
2010 II S. 1196 und 1276).
3
Vgl. statt vieler Schmahl, EuR 2008 Beiheft 1, 7 ff.
4
Oft spricht man einfach vom „Europarecht“. Zum Europarecht im weiteren Sinne gehört
aber auch die EMRK, ohne zum Unionsrecht zu gehören. Weil diese Differenzierung im
vorliegenden Zusammenhang eine gewisse Bedeutung hat, wird die Bezeichnung „Europa-
recht“ hier vermieden.
5
Die EMRK ist eine Konvention des von der EU unabhängigen Europarats.
256 Jan C. Schuhr

nen mit Strafcharakter. Auch zwischen dieser Rechtsprechung des EuGH und der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu
Art. 7 EMRK bestehen enge Verbindungen.
Dass es solche Rechtsprechung gibt, ist auf den ersten Blick keineswegs selbst-
verständlich. Die EU hat keine Allzuständigkeit. Es gelten vielmehr der Grundsatz
der begrenzten Einzelermächtigung6 und das Subsidiaritätsprinzip7. Strafrecht fiel
traditionell nicht (bzw. nur in einem eng umgrenzten Bereich) in den Kompetenzbe-
reich der EU bzw. der Europäischen Gemeinschaften. Es war aber umgekehrt auch
nicht ausgenommen, sodass sich aus dem Sachzusammenhang zu einem originären
Zuständigkeitsbereich die Kompetenz zu einer europäischen Regelung von Sanktio-
nen ergeben konnte.8 Im Vertrag von Lissabon sind nunmehr sogar originär straf-
rechtliche Kompetenzen vorgesehen.
Der folgende Beitrag soll einen Überblick über Ort und Inhalt des Gesetzlichkeits-
prinzips im Unionsrecht geben. Sein Gegenstand sind die Gründungsverträge und die
Rechtsprechung des EuGH. Es geht dabei um eine Bestandsaufnahme. Eine einge-
hende Erörterung bislang ungelöster bzw. unbefriedigend gelöster Probleme muss
einer wesentlich umfangreicheren Arbeit vorbehalten bleiben.

II. Unionsrecht und Sanktionsnormen


mit strafendem Charakter
Die EU ist eine supranationale Organisation9 mit primär wirtschaftspolitischen
Zielen und Zuständigkeiten. Weil sich das Gesetzlichkeitsprinzip auf Sanktionsnor-
men bezieht, muss man sich vergegenwärtigen, mit welchen Sanktionsnormen bzw.
was für Bezügen auf Sanktionsnormen im Unionsrecht zu rechnen ist. Die Frage
strafrechtlicher Kompetenzen der EU war zumindest vor dem Vertrag von Lissabon10
so heftig umstritten,11 dass ihre Vertiefung hier nicht möglich ist. Im vorliegenden
6
Art. 5 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV); siehe auch
Art. 1 Unterabs. 1, Art. 4 Abs. 1, Art. 5, Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 und Abs. 2 S. 2 EUV – zu
Gefahren aus gleichwohl unklarer Kompetenzabgrenzung und Zielkonflikten siehe Hassemer,
ZStW 116 (2004), 304 ff. Auch wenn seine Warnungen sich auf den letztlich nicht in Kraft
getretenen Verfassungsvertrag beziehen, bleiben sie mit Bezug auf den Vertrag von Lissabon
aktuell.
7
Art. 5 Abs. 1 S. 2 und Abs. 3 EUV.
8
Eingehend Vogel, GA 2003, 314 ff.; Ligeti, Strafrecht und strafrechtliche Zusammenar-
beit in der Europäischen Union, 2005, S. 227 ff.
9
Vgl. statt vieler Hecker, Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. 2010, § 4 Rn. 1 mit weiteren
Nachweisen.
10
Unterzeichnet am 13. Dezember 2007, in Kraft getreten am 1. Dezember 2009.
11
Statt vieler siehe dazu Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht,
4. Aufl. 2010, § 9 Rn. 2, § 10 Rn. 1; Hecker, Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. 2010, § 8
Rn. 9 ff., 48 ff.; Hugger, NStZ 1993, 421 ff. sowie insbesondere Urteil des EuGH vom 16. Juni
2005, M. Pupino, C-105/03, Slg. 2005, I-5285, Rn. 34 und 43 – 45 (= JZ 2005, 838 = NJW
„Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“ im Recht der EU 257

Zusammenhang genügt aber ein knapper Abriss zu Sanktionsnormen mit strafendem


Charakter im Unionsrecht, der zeigt, weshalb das Unionsrecht ein strafrechtliches
Gesetzlichkeitsprinzip enthält und der Gerichtshof darüber urteilt.
In einigen von der EU erlassenen Verordnungen wird die Kommission zur Verhän-
gung von Sanktionen, insbesondere Geldbußen, ermächtigt. Ebenso erlässt die EU
Richtlinien (bzw. erließ sie Rahmenbeschlüsse), in denen sie die Mitgliedstaaten
zur Schaffung von Sanktionsnormen verpflichtet.12 Dass es dabei meist nicht um
im engeren Sinne strafrechtliche Sanktionen geht, steht der Anwendung des straf-
rechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips nicht entgegen. Ihm genügt als Bezugspunkt
vielmehr die Androhung bzw. Verhängung von Sanktionen, die im weiteren Sinne
strafrechtlicher Art sind.
Die genannten Sanktionsnormen beruhen jeweils auf strafrechtsfremden Sachzu-
ständigkeiten (Kartellrecht, Agrarpolitik etc.). Nach der Rechtsprechung des EuGH
darf der Gemeinschaftsgesetzgeber auch Sanktionen androhen bzw. Maßnahmen mit
Bezug auf das Strafrecht der Mitgliedstaaten anordnen, wenn er sie für erforderlich
hält, um die volle Wirksamkeit von im Rahmen seiner Zuständigkeit erlassenen
Rechtsnormen zu gewährleisten.13 Wo immer ein solcher Sachzusammenhang be-
steht, verschafft dies der EU Zugriff auf die gesamte Spannbreite strafrechtlicher
Sanktionen, allerdings begrenzt durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Die EU fin-
det zunehmend Anlass, von diesen Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Zwar ändert
die Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs nichts an der originären strafrechtli-
chen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, soweit Rechtsakte der EU bestehen, setzen
diese der Ausübung dieser Kompetenz aber Schranken.14
Nahezu alle das Gesetzlichkeitsprinzip betreffenden bisherigen Entscheidungen
des EuGH beziehen sich auf Verordnungen und Richtlinien (sekundäres Unionsrecht
bzw. früher sekundäres Gemeinschaftsrecht) dieser Art. Neben dem Gesetzlichkeits-
prinzip stehen dabei weitere, ein Ausufern von Sanktionsdrohungen bis zu einem ge-
wissen Grad einschränkende Grundsätze. Insbesondere muss die Verhängung wirk-
samer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen durch die zuständigen Be-

2005, 2839), mit Anmerkungen u. a. von Hillgruber, JZ 2005, 841 ff.; Wehnert, NJW 2005,
3760 ff.; Gärditz/Gusy, GA 2006, 225 ff.; Tinkl, StV 2006, 36 ff.; Bock, ZStW 119 (2007),
664 ff.; Tinkl, ZIS 2007, 419 ff.; Rackow, ZIS 2008, 526 ff.
12
Zu Beispielen siehe jeweils Fn. 48 (mit 55 und 73), 79, 101.
13
Urteil des EuGH vom 13. September 2005, Kommission/Rat, C-176/03, Slg. 2005
I-7879, Rn. 48 (= JZ 2006, 307 = EuZW 2005, 632), mit Anmerkungen von Heger, JZ 2006,
310 ff.; Jour-Schröder, EuZW 2005, 550 ff.; Wegener/Greenawalt, ZUR 2005, 585 ff.; Böse,
GA 2006, 211 ff.; Braun, wistra 2006, 121 ff.; Diehm, wistra 2006, 366 ff.; Fromm, ZIS 2007,
26 ff.; Rackow, ZIS 2008, 526 ff.; Zöller, ZIS 2009, 340 ff.; vgl. auch Art. 83 Abs. 2 AEUV.
14
Urteile des EuGH vom 11. November 1981, G. Casati, 203/80, Slg. 1981, 2595, Rn. 27
(= NJW 1982, 504); vom 2. Februar 1989, I. W. Cowan/Trésor public, 186/87, Slg. 1989, 195,
Rn. 19 (= NJW 1989, 2183) und vom 16. Juni 1998, Joh. M. Lemmens, C-226/97, Slg. 1998,
I-3711, Rn. 19 (= JZ 1998, 1068 = EuZW 1998, 569) mit Anmerkungen von Kühne, JZ 1998,
1070 f.; Abele, EuZW 1998, 571 f.; Satzger, StV 1999, 132 f.; Gleß, NStZ 1999, 142 ff. und
Streinz, JuS 1999, 599 f.
258 Jan C. Schuhr

hörden eine zur Bekämpfung schwerer Beeinträchtigungen des Ziels der jeweiligen
Gesetzgebung unerlässliche Maßnahme darstellen.15
Im Vertrag von Maastricht16 wurde eine „justitielle Zusammenarbeit in Strafsa-
chen“ – in der Knappheit dieser Worte – vereinbart (Art. K.1 Nr. 7 EUV a.F. [Maas-
tricht]17). Mit dem Vertrag von Amsterdam18 wurde daraus ein ganzer Titel (Art. 29
bis 42 EUVa.F. [Amsterdam]19) zur polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in
Strafsachen. Hier wurde auch das seither bestehende Ziel formuliert, einen „Raum
der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (Art. 2 Spiegelstrich 4 und Art. 29 Un-
terabs. 1 EUV a.F. [Amsterdam]) zu schaffen und zu erhalten. Im Hinblick auf das
materielle Strafrecht sahen Art. 31 lit. e EUV a.F. [Amsterdam] und insoweit unver-
ändert Art. 31 Abs. 1 lit. e EUV in der Fassung des Vertrages von Nizza20 die schritt-
weise Annahme von Maßnahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften über die
Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen in den Bereichen orga-
nisierter Kriminalität, Terrorismus und illegalen Drogenhandels vor. Das Mittel hier-
zu waren einstimmig zu fassende Rahmenbeschlüsse nach Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b
EUV a.F. [Amsterdam und Nizza]. Rahmenbeschlüsse waren den Richtlinien ähnli-
che Rechtsakte, nicht unmittelbar anwendbar, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels
verbindlich, überließen die Wahl der Form und der Mittel aber dem einzelnen Mit-
gliedstaat.
Mit dem Vertrag von Lissabon wurde der Vertrag zur Gründung der Europäischen
Gemeinschaft (EGV) umbenannt in „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen
Union“ (AEUV); der EUV ist (neugefasst) geblieben.21 Nach Art. 3 Abs. 2 EUV
„bietet“ die EU nunmehr „ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit,
der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen“ und hat hierzu nunmehr eine ei-
gene, aber mit den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit (Art. 4 Abs. 2 lit. j
AEUV).22 Dieser Raum wird im AEUV eingehend behandelt. Dessen dritter Teil be-

15
A.a.O., Fn. 13; die Passage des zu einem Rahmenbeschluss mit umweltrechtlichem
Hintergrund ergangenen Urteils lautet in der verbindlichen französischen Fassung: „Cette
dernière constatation ne saurait cependant empêcher le législateur communautaire, lorsque
l’application de sanctions pénales effectives, proportionnées et dissuasives par les autorités
nationales compétentes constitue une mesure indispensable pour lutter contre les atteintes
graves à l’environnement, de prendre des mesures en relation avec le droit pénal des États
membres et qu’il estime nécessaires pour garantir la pleine effectivité des normes qu’il édicte
en matière de protection de l’environnement.“ – Beachte dazu heute Art. 49 III GRCh.
16
Unterzeichnet am 7. Februar 1992, in Kraft getreten am 1. November 1993.
17
ABl. C 224 vom 31. 8. 1992, S. 97.
18
Unterzeichnet am 2. Oktober 1997, in Kraft getreten am 1. Mai 1999.
19
ABl. C 340 vom 10. November 1997, S. 164.
20
Beschlossen am 11. Dezember 2000, unterzeichnet am 26. Februar 2001, in Kraft ge-
treten am 1. Februar 2003 – Abl. C 325 vom 24. 12. 2002, S. 23.
21
Konsolidierte Fassungen gibt das ABl. C 115 vom 9. Mai 2008.
22
Vgl. dazu Müller-Graff, EuR 2009 Beiheft 1, 105 ff.; Nettesheim, EuR 2009, 24 ff.;
sowie (zum Verfassungsvertrag) Pache (Hrsg.), Die Europäische Union – Ein Raum der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts?, 2005, mit hier einschlägigen Beiträgen von Pache,
„Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“ im Recht der EU 259

trifft „die internen Politiken und Maßnahmen der Union“. Er beginnt mit Titeln zum
Binnenmarkt, zur Zollunion, zu Landwirtschaft und Fischerei sowie zur Freizügig-
keit nebst freiem Dienstleistungs- und Kapitalverkehr. In Titel V dieses Teils, noch
vor den Gemeinsamen Regeln zum Wettbewerb, zu Steuerfragen und zur Anglei-
chung von Rechtsvorschriften, zur Wirtschafts- und Währungspolitik u.s.w. behan-
deln nun die Art. 67 bis 89 AEUV den „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des
Rechts“. Dieser Titel enthält in Kapitel 4 die Regeln zur justiziellen Zusammenarbeit
in Strafsachen (Art. 82 – 86 AEUV) und im Kapitel 5 diejenigen zur polizeilichen
Zusammenarbeit (Art. 87 – 89 AEUV).23 Die zum „Kerngeschäft“ der Union gehö-
rende justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen (Kapitel 3) kommt demgegenüber
mit einem einzigen Artikel aus.
Die Zusammenarbeit in Zivilsachen und die Zusammenarbeit in Strafsachen sol-
len gleichermaßen auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher
Urteile und Entscheidungen beruhen. Beide umfassen Maßnahmen zur Angleichung
der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten. Soweit die Maßnahmen sich auf Art. 82
Abs. 2 AEUV (Strafverfahrensrecht) oder Art. 83 AEUV (materielles Strafrecht)
stützen, dürfen durch sie nur Mindestvorschriften festgelegt werden und dies aus-
schließlich in Form einer Richtlinie. Auch das Mehrheitsprinzip bleibt hier weiterhin
erheblich eingeschränkt.24
Im materiellen Strafrecht („Festlegung von Straftaten und Strafen“) darf die
Union künftig Mindestvorschriften „in Bereichen besonders schwerer Kriminalität
festlegen, die aufgrund der Art oder der Auswirkungen der Straftaten oder aufgrund
einer besonderen Notwendigkeit, sie auf einer gemeinsamen Grundlage zu bekämp-
fen, eine grenzüberschreitende Dimension haben. Derartige Kriminalitätsbereiche
sind: Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kin-
dern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fäl-
schung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität.“
(Art. 83 Abs. 1 Unterab. 1 und 2 AEUV).25 Mit einstimmigem Beschluss und Zu-
stimmung des Parlaments kann der Rat weitere Kriminalitätsbereiche bestimmen,
die die Kriterien erfüllen (Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 3 AEUV). Die Möglichkeit,

S. 9 ff., Ruffert, S. 14 ff., Baldus, S. 34 ff., Schünemann, S. 81 ff. und v. Bubnoff, S. 101 ff.;
Weigend, ZStW 116 (2004), 275 ff.; sowie Zuleeg (Hrsg.), Europa als Raum der Freiheit, der
Sicherheit und des Rechts, 2007, mit Beiträgen von Bitter, S. 9 ff., Esser, S. 25 ff., Günther,
S. 47 und Gusy, S. 61 ff.
23
Siehe dazu Böse, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen
Konvents, 2004, S. 151 ff.
24
Zu Form und Verfahren der Gesetzgebung siehe grundsätzlich Art. 82 Abs. 1 Unterabs. 2
sowie Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 1 i.V.m. Art. 288, 289, 294 sowie 231, 238 Abs. 1 AEUV und
zum Initiativrecht der Mitgliedstaaten Art. 76 AEUV. In Art. 82 Abs. 3 und 83 Abs. 3 AEUV
werden jedoch einem Erfordernis der Zustimmung jedes Mitgliedstaats relativ nahe kom-
mende Sonderregeln aufgestellt und zugleich die Möglichkeit einer Verstärkten Zusammen-
arbeit (Art. 20 EUV und Art. 326 ff. AEUV) einer Gruppe von Mitgliedstaaten vorgesehen.
25
Näher dazu Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. 2010, § 8
Rn. 18 ff.
260 Jan C. Schuhr

auf anderer Kompetenzgrundlage ergehende Harmonisierungsmaßnahmen mit „un-


erlässlichen“ strafrechtlichen Maßnahmen zu begleiten, bleibt daneben ausdrücklich
bestehen (Art. 83 Abs. 2 AEUV). Im Strafverfahrensrecht wurden weitgehende Zu-
ständigkeiten neu aufgenommen (Art. 82 Abs. 2 AEUV).
Neben diesen Befugnissen der EU stehen weitere mit zumindest indirekter Aus-
wirkung auf das materielle Strafrecht. So darf sie insbesondere Regeln und Verfahren
festlegen, um die Anerkennung aller Arten von gerichtlichen Entscheidungen in der
gesamten Union sicherzustellen und um Kompetenzkonflikte zwischen den Mit-
gliedstaaten zu beheben (Art. 82 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV).
Mit der Ausdehnung strafrechtlicher Kompetenzen der EU wachsen auch der An-
wendungsbereich eines strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips und das Bedürfnis
nach ihm und seiner Geltung in allen Mitgliedstaaten. Dies kann sich noch weiter
verstärken, wenn der institutionelle Ausbau der EU voranschreitet. Der Vertrag
von Lissabon ermöglicht erstmals26 die Schaffung einer Europäischen Staatsanwalt-
schaft (Art. 86 AEUV). Wird sie eingerichtet, soll sie Straftaten zum Nachteil der
finanziellen Interessen der Union bekämpfen und kann eventuell sogar mit der Ver-
folgung schwerer Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension befasst wer-
den.

III. Die Bezeichnung des Gesetzlichkeitsprinzips


im Unionsrecht
Das Gesetzlichkeitsprinzip hat viele Aspekte und viele Namen. Nicht selten
werden all diese Aspekte in der deutschen Rechtssprache gemeinsam als „Bestimmt-
heitsgrundsatz“ bezeichnet. Oft wird dieser Begriff dabei synonym mit „Art. 103 II
GG“ verwendet. Um abzustecken, worum es dabei geht, sind eine etwas ausdifferen-
ziertere Sprechweise und ein engeres Verständnis des Begriffs „Bestimmtheitsgrund-
satz“ hilfreich. Mit der Nennung der folgenden Aspekte soll nicht gesagt sein, dass
sie das Gesetzlichkeitsprinzip im Unionsrecht adäquat abbilden. Sie legen erst ein-
mal nur das begriffliche Vorverständnis offen, mit dem sich ein deutscher Jurist die-
sem zu nähern versucht:27
Man kann einen Bestimmtheitsgrundsatz und ein Analogieverbot einander gegen-
überstellen. Dann versteht man den Bestimmtheitsgrundsatz meist als an den Gesetz-
geber gerichtet und auf die Formulierung von Gesetzen bezogenen (nullum crimen
sine lege certa). Das Analogieverbot versteht man im Kontext dieser Unterscheidung
als an die Anwender des Rechts, insbesondere Richter, gerichtet und auf die Methode
der Rechtsfindung bezogen (nulla poena sine lege stricta, nulla poena sine crimine

26
Es gibt aber bereits Eurojust, siehe dazu Art. 85 AEUV sowie Esser/Herbold,
NJW 2004, 2421.
27
Vgl. z. B. Jähnke, ZIS 2010, 463 ff.
„Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“ im Recht der EU 261

und nullum crimen sine poena legali28). Dem Analogieverbot kann man das Verbot
von Gewohnheitsrecht zur Seite stellen. Je nach Verständnis des Analogieverbots ist
das Verbot von Gewohnheitsrecht dessen Korrelar, also logische Folge des Analogie-
verbots, oder ein selbständiges, neben das Analogieverbot tretendes und dieses er-
gänzendes Verbot. Auf Seiten des Bestimmtheitsgrundsatzes, d. h. als an den Gesetz-
geber gerichtete Norm, korrespondiert dem Verbot von Gewohnheitsrecht dann das
Gebot der Schriftlichkeit von Strafdrohungen (nullum crimen sine lege scripta).
Traditionell mit dem Gesetzlichkeitsprinzip verbunden ist das Rückwirkungsver-
bot. Je nach Verständnis des Gesetzlichkeitsprinzips kann man sich auch das Rück-
wirkungsverbot als Korrelar des Gesetzlichkeitsprinzips oder als selbständigen
Rechtssatz vorstellen. Jedenfalls muss sich das Rückwirkungsverbot wiederum so-
wohl an den Gesetzgeber – als Verbot rückwirkender Gesetzgebung (nullum crimen
sine lege praevia) – als auch an den Rechtsanwender – als Verbot der rückwirkenden
Anwendung von Strafrecht (nulla poena sine lege praevia) – richten.
Die Verbote beziehen sich jeweils auf dem Täter bzw. dem Beschuldigten nach-
teilige Rechtssätze. Werden strafrechtliche Vorschriften geändert, ordnen viele
Rechtsordnungen an, dass bei der Sanktionierung von vor der Änderung begangenen
Taten die dem Täter günstigere Rechtslage (lex mitior) zugrundezulegen ist (z. B.
§ 2 III StGB). Folglich gilt gegebenenfalls also sogar ein Gebot der Rückwirkung.
Der Sprachgebrauch des EuGH in Entscheidungen zum Gesetzlichkeitsprinzip
war über die Jahre nicht einheitlich. Zum Teil ist das eine Selbstverständlichkeit,
denn nach Art. 29 bis 31 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs29 kann jede der
heute 23 Amts- und Arbeitssprachen der EU Verfahrenssprache sein und die Sprache
der verbindlichen Fassung der Entscheidung entsprechend wechseln. Doch auch
wenn man dies in Rechnung stellt, war die Bezeichnung des Gesetzlichkeitsprinzips
in einschlägigen Entscheidungen zunächst bemerkenswert uneinheitlich und Über-
setzungen in verschiedene Sprachen „streuten“ stark. Eine rein terminologische
Unsicherheit, die den Inhalt nicht beträfe, wäre wenig interessant. Als die Entschei-
dungen ergingen, war das Gesetzlichkeitsprinzip im geschriebenen primären Uni-
onsrecht bzw. Gemeinschaftsrecht aber noch nicht enthalten, wirkten die Formulie-
rungen des Gerichts also notwendig prägend.

28
Feuerbach hatte in seinem Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen
Rechts (2. Aufl. 1803, § 20 S. 20 f., Hervorhebungen im Original) die Grundsätze „I. Jede
Zufügung einer Strafe setzt ein Strafgesetz voraus. (Nulla poena sine lege).“, „II. Die Zufügung
einer Strafe ist bedingt durch die Existenz der bedrohten Handlung. (Nulla poena sine crimi-
ne).“ und „III. Das gesetzlich bedrohte Factum (die gesetzliche Voraussetzung) ist bedingt
durch die gesetzliche Strafe. (Nullum crimen sine poena legali).“ formuliert. Bei II. ist ge-
meint, dass wirklich ein den Tatbestand erfüllendes Verhalten vorliegen muss. Bei III. ist
gemeint, dass eine Straftat eine gesetzliche Strafandrohung voraussetzt.
29
Konsolidierte Fassung ABl. C 177 vom 2. 7. 2010; ursprünglich vom 19. Juni 1991 (ABl.
L 176 vom 4. 7. 1991, S. 7 und Berichtigungen ABl. L 383 vom 29. 12. 1992, S. 117).
262 Jan C. Schuhr

Zunächst (1979) prüfte der EuGH in einer in deutscher Sprache verbindlichen


Entscheidung die „Unbestimmtheit von Sanktionsnormen“.30 1984 wurde eine in
niederländischer Sprache verbindliche Entscheidung mit der Formulierung „Grund-
sätze der Gesetzmäßigkeit (,nullum crimen sine lege‘), der Verhältnismäßigkeit […]“
wörtlich ins Deutsche übertragen.31 Die Wendung „Grundsatz der Gesetzmäßigkeit
der Strafen“ bzw. leichte Abwandlungen davon finden sich danach nicht nur in Über-
setzungen32, sondern auch in einer in deutscher Sprache verbindlichen Entschei-
dung.33 Dieser Sprachgebrauch stand aber neben anderen Formulierungen, etwa in
einer Übersetzung aus dem Italienischen „Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit
von strafbaren Handlungen und Strafen“34 und in einer unter anderem auch in deut-
scher Sprache verbindlichen Entscheidung „Grundsatz der gesetzlichen Bestimmt-
heit von Tatbestand und Strafe (nullum crimen, nulla poena sine lege)“35.
Unabhängig von der Frage, welche Formulierung wann wie häufig gewählt wurde
und ob sie einer verbindlichen Entscheidung oder einer Übersetzung entstammt,
dürfte der künftige deutsche Sprachgebrauch im Unionsrecht durch die Überschrift
von Art. 49 GRCh geprägt werden. Seit Ende 2000 fand er als bald verbindliche For-
mulierung und seit Ende 2009 als geltendes Recht weithin Beachtung. Die Über-
schrift lautet „Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit im Zu-
sammenhang mit Straftaten und Strafen“, wobei mit dem Verhältnismäßigkeits-

30
Urteil des EuGH vom 13. Februar 1979, Hoffmann-La Roche & Co. AG/Kommission,
85/76, Slg. 1979, 461, Überschrift bei Rn. 128, siehe auch Rn. 130 (= NJW 1979, 2460).
31
Urteil des EuGH vom 29. Februar 1984, Estel NV/Kommission, 270/82, Slg. 1984,
1195, Rn. 9 (Hervorhebung nicht im Original) – im Niederländischen hieß es „het wettig-
heidsbeginsel (,nullum crimen sine lege‘), het […]“.
32
Z.B. Urteile des EuGH vom 25. Juni 1997, Euro Tombesi u. a., C-304/94, C-330/94,
C-342/94 und C-224/95, Slg. 1997, I-3561, Rn. 43; vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de
Wereld VZW/Leden van de Ministerraad, C-303/05, Slg. 2007, I-3633, Rn. 49 (= NJW 2007,
2237 = EuGRZ 2007, 273; zu Anmerkungen siehe Fn. 47) – die wörtliche Übersetzung der
verbindlichen niederländischen Formulierung „legaliteitsbeginsel ter zake van strafbare feiten
en straffen (nullum crimen, nulla poena sine lege)“ wäre wohl eher „Gesetzlichkeitsprinzip“
gewesen –; vom 3. Juni 2008, The Queen, auf Antrag der International Association of Inde-
pendent Tanker Owners (Intertanko) u. a./Secretary of State for Transport, C-308/06,
Slg. 2008, I-4057, Rn. 70 (= EuZW 2008, 439) und vom 28. Oktober 2010, Belgisch Inter-
ventie- en Restitutiebureau/SGS Belgium NV u. a., C-367/09, Slg. 2010, Rn. 39.
33
Urteil des EuGH vom 22. Mai 2008, Evonik Degussa GmbH/Kommission und Rat,
C-266/06 P, abgekürzt in Slg. 2008, I-81, Rn. 38.
34
Urteil des EuGH vom 12. Dezember 1996, X, C-74/95 und C-129/95, Slg. 1996, I-6609,
Rn. 25 und 31 (Hervorhebung nicht im Original) – in der verbindlichen italienischen Fassung
hieß es „principio della previsione legale dei reati e delle pene“, die Übersetzung war also
nicht wörtlich.
35
Urteil des EuGH vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri A/S u. a./Kommission, C-189/
02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P, Slg. 2005, I-5425, Rn. 217
(Hervorhebung nicht im Original; zu Anmerkungen siehe Fn. 89). Die weiteren verbindlichen
Formulierungen lauten (englisch) „principle that offences and punishments are to be strictly
defined by law (nullum crimen, nulla poena sine lege)“ und (dänisch) „princippet om, at
strafbare forhold og straffe skal have lovhjemmel (nullum crimen, nulla poena sine lege)“.
„Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“ im Recht der EU 263

grundsatz der hier nicht einschlägige Art. 49 III GRCh gemeint ist. Man wird also
davon ausgehen müssen, dass „Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Straftaten und
Strafen“ der Name des Gesetzlichkeitsprinzips im Unionsrecht ist.
„Gesetzmäßigkeit“ ist in der deutschen Rechtssprache keine sehr übliche Be-
zeichnung für das Gesetzlichkeitsprinzip. Das Gesetzlichkeitsprinzip stellt – wie ge-
rade skizziert – Anforderungen an Rechtsquellen bzw. reglementiert den Umgang
mit Rechtsquellen, ohne ihn vollständig zu regeln (der Wortlaut wird als eine Grenze
der Auslegung vorgestellt, nicht aber als alleiniger Maßstab der Anwendung des Ge-
setzes). Mit „Gesetzmäßigkeit“ meint man hingegen üblicherweise eine (in jeder
Hinsicht) richtige Anwendung des Gesetzes. Das setzt insbesondere eine – soweit
sie sich auf die gefundene Rechtsfolge auswirkt – zutreffende Auslegung – also
weit mehr als lediglich die Beachtung der Wortlautgrenze – voraus. Dabei mag es
mehrere widerstreitende und gleichwohl jeweils zutreffende, „vertretbare“ Ausle-
gungen und dann auch unterschiedliche jeweils nicht zu beanstandende Ergebnisse
der Anwendung des Gesetzes geben, ohne dass dies zur Beliebigkeit der Gesetzes-
anwendung führen und damit das Prädikat „gesetzmäßig“ seines Sinns entleeren
würde.36 Freilich bestehen auch in der „allgemeinen“ deutschen Rechtssprache
enge Beziehungen zwischen dem Gesetzlichkeitsprinzip und der Forderung nach Ge-
setzmäßigkeit; insbesondere setzt Gesetzmäßigkeit im Strafrecht – weil das straf-
rechtliche Gesetzlichkeitsprinzip zum geltenden Recht gehört – die Befolgung des
Gesetzlichkeitsprinzips voraus. In der deutschen Allgemeinsprache bezeichnet
man ein Geschehen als „gesetzmäßig“, wenn es einer Gesetzlichkeit – einem Gesetz,
das aber nicht bis ins letzte Detail bekannt zu sein braucht und nicht ausnahmslos
gelten muss – folgt. Die Bedeutung des allgemeinsprachlichen Ausdrucks kommt
dem Inhalt des Gesetzlichkeitsprinzips also sehr nahe. Aber die rechtliche Unter-
scheidung eines die Zulässigkeit von Strafdrohungen und der Bestrafung von Perso-
nen begrenzenden Gesetzlichkeitsprinzips, eines die Anwendung des Gesetzes ins-
gesamt betreffenden Prädikats37 der Gesetz(es)mäßigkeit (die ein Teil der die Rechts-
anwendung insgesamt betreffenden Rechtmäßigkeit ist) und des Strafverfolgung
gebietenden Legalitätsprinzips im Verfahrensrecht droht dabei sprachlich verloren
zu gehen, und recht unterschiedliche Konzepte können verschwimmen.

36
Eingehend Schuhr, JZ 2008, 603 ff.
37
Von einem „Prädikat“ wird hier gesprochen, weil ein Gesetz das Gebot, es sei zu be-
folgen, zwar stets implizit voraussetzt, dieses Gebot aber nicht selbst sinnvoll aufstellen kann,
denn die Geltung eines solchen gesetzlichen Gebots würde die Pflicht zur Befolgung des
Gesetzes bereits voraussetzen. Das Gebot eines bestimmten Verhaltens und das Gebot der
Befolgung dieses Gebots fallen stets zusammen (und beider Geltung setzt bei positivem Recht
eine entsprechende Regelungskompetenz voraus). Gesetzmäßigkeit im gerade angegebenen
Sinne gehört daher nicht in das System von Rechtsregeln. Gesetzmäßigkeit ist vielmehr ein
Urteil über die Anwendung der Regeln eines solchen Systems. Wenn man eine Regel als
„Grundsatz der Gesetzmäßigkeit“ bezeichnet, wird dies vermengt.
264 Jan C. Schuhr

Es ist müßig, der Frage nachzugehen, ob der vom EuGH und in der GRCh gewähl-
te Name „schön“ ist. Es erscheint aber wichtig, die gerade getroffenen Unterschei-
dungen weiterhin zu bedenken, auch wenn der Name das nicht begünstigt.

IV. Schriftlichkeit und unionsrechtskonforme Auslegung


In der kontinentaleuropäischen Tradition wird bisweilen als Selbstverständlich-
keit unterstellt, dass nur ein geschriebenes Strafgesetz bestimmt sein könne. Dem
korrespondiert eine Begrifflichkeit, in der sich das Schriftlichkeitsgebot als Korrelar
des Bestimmtheitsgrundsatzes darstellt (so dass sich zwischen den oben angegebe-
nen Prinzipien symmetrische logische Beziehungen ergeben, wenn man das Analo-
gieverbot so weit versteht, dass das Verbot des Gewohnheitsrechts logisch aus ihm
folgt). Demgegenüber gibt es im anglo-amerikanischen Recht common law crimes.
Deren Strafbarkeit ergibt sich nur aus case law. Daran zeigt sich, dass das Schriftlich-
keitsgebot weit weniger selbstverständlich ist, als teilweise angenommen. Wie der
Supreme Court of the United States38 hat auch der EGMR zu Art. 7 EMRK entschie-
den, dass bereits etablierte common law crimes zwar weiterhin die Grundlage für eine
Bestrafung darstellen können, die Gerichte aber keine neuen common law crimes
mehr „schaffen“ dürfen.39
Die Position des Unionsrechts und des EuGH zu dieser Frage ist noch nicht so weit
ausgearbeitet. An dieser Stelle kann daher nur das Problemfeld für das Unionsrecht
umrissen werden. Dem EuGH stellt sich die Frage nach dem Schriftlichkeitserforder-
nis zumindest bislang nicht so scharf wie dem EGMR. Das Unionsrecht wird – wie
das kontinentaleuropäische Recht – vom gesetzten, geschriebenen Recht dominiert.
Der EuGH postuliert keine neuen Straftatbestände. Die Frage nach dem Schriftlich-
keitserfordernis ist für das Unionsrecht daher in erster Linie – ähnlich wie im deut-

38
United States v. Hudson and Goodwin, 11 U.S. 32 (1812).
39
Grundlegend zu den Begriffen „law“ bzw. „loi“ und „droit“ in der EMRK (aber zur
Frage einer wirksamen Beschränkung nach Art. 10 II EMRK) war das Urteil des EGMR
Sunday Times ./. Vereinigtes Königreich (Nr. 1) [P], 26. April 1979, Nr. 6538/74, Serie A
Nr. 30, § 47 f. (= dt. EGMR-E 1, 366 = EuGRZ 1979, 386). Für Art. 7 EMRK wurde das dort
entwickelte Gesetzesverständnis ausdrücklich übernommen (Urteile des EGMR Kafkaris ./.
Zypern [GK], 12. Februar 2008, Antrag Nr. 21906/04, § 139, vorgesehen für die Reports,
[= dt. NJOZ 2010, 1599]; Liivik ./. Estland, 25. Juni 2009, Antrag Nr. 12157/05, § 93 f. und
Scoppola ./. Italien (Nr. 2) [GK], 17. September 2009, Antrag Nr. 10249/03, vorgesehen für
die Reports, § 99). Schon länger unterscheidet der EGMR bei Art. 7 EMRK zwischen der
gerichtlichen Interpretation von Normen einerseits und andererseits der richterrechtlichen
Schaffung neuer Normen oder Änderung bestehender Normen (Urteile des EGMR G. ./.
Frankreich, 27. September 1995, Antrag Nr. 15312/89, Serie A Nr. 325-B, § 25 [= dt.:
ÖJZ 1996, 150]; S.W. ./. Vereinigtes Königreich, 22. November 1995, Antrag Nr. 20166/92,
Serie A Nr. 335-B, § 36 [= dt.: ÖJZ 1996, 356]; C.R. ./. Vereinigtes Königreich, 22. Novem-
ber 1995, Antrag Nr. 20190/92, Serie A Nr. 335-C, § 34 und Cantoni ./. Frankreich [GK],
15. November 1996, Antrag Nr. 17862/91, Reports 1996-V, §§ 29, 31 – 35 [= dt.: EuGRZ
1999, 193 = ÖJZ 1997, 579]).
„Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“ im Recht der EU 265

schen Recht – die Frage danach, inwieweit allgemeine Lehren und in der Rechtspre-
chung zur Anwendung der Straftatbestände aufgestellte Prinzipien die Strafbarkeit
des Täters begründen dürfen (bzw. in welchem Maße sie im geschriebenen Gesetz
Anhaltspunkte finden müssen) und ob die Änderung einer Rechtsprechung das Ge-
setzlichkeitsprinzip verletzen kann. In zweiter Linie kann aber z. B. die Frage auf-
kommen, ob es zur Umsetzung einer unionsrechtlichen Richtlinie, die die Schaffung
eines Straftatbestandes fordert, in England ausreicht, wenn dort bereits ein die Richt-
linie erfüllender Satz des common law gilt. Auch vor dem EuGH kann sich die Frage
daher irgendwann scharf stellen.
Auch ohne Entscheidung in der Sache lässt sich über die grundsätzliche Haltung
des EuGH doch bereits ein wenig sagen: Wenn er in einem Fall am Maßstab des Ge-
setzlichkeitsprinzips prüft, bezieht er sich ohne weiteres auf den Wortlaut der gegen-
ständlichen Normen. Er formuliert die Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips
auch so, dass sie den Wortlaut einer Norm voraussetzen.40 Hier zeigt sich einmal
mehr der französisch-deutsche Einfluss auf die EU und eine zumindest unterschwel-
lig starke Tendenz zugunsten eines Schriftlichkeitserfordernisses.
Praktisch größere Bedeutung als diese Zuspitzung der Frage nach der Schriftlich-
keit hat ein anderes, eng verwandtes Problem: Nationales Recht ist unionsrechtskon-
form auszulegen41 – wie innerstaatliches Recht niedrigeren Rangs höherrangigem
Recht konform auszulegen ist. Andererseits begrenzt bei Geltung eines Gesetzlich-
keitsprinzips mit Schriftlichkeitserfordernis der Wortlaut der geschriebenen Norm
den Auslegungsspielraum. Wie man sich eine solche Grenzziehung vorzustellen
hat, ist ein Problem für sich, aber ohne eine Vorstellung dieser Art hätte das Schrift-
lichkeitsgebot keinen Inhalt. Wenn der EuGH ernsthaft von einem Schriftlichkeits-
erfordernis ausgeht, wird er – soweit es um die Rechtmäßigkeit strafrechtlicher Sank-
tionen geht – ausgehend vom Wortlaut der nationalen Rechtsgrundlage eine Grenze
ziehen müssen, innerhalb derer eine unionsrechtskonforme Auslegung nur möglich
ist. Das wird dann dazu führen, dass Spannungen zwischen dem Unionsrecht und na-
tionalem Recht – die in allen Rechtsgebieten zur Normalität geworden sind – sich im
Strafrecht gehäuft als echter Normwiderspruch darstellen werden, der de lege lata
nicht auflösbar ist. Ob der EuGH ernsthaft von einem Schriftlichkeitserfordernis aus-
geht, wird sich daher wohl primär daran zeigen, ob er in solchen Kollisionsfällen be-
reit ist (soweit die entsprechenden Fragen rechtshängig sind), die folgenden rechtli-
chen Feststellungen zu treffen: 1. Dass entgegen einer Richtlinie (oder anderer Re-
gelungen des sekundären Unionsrechts) eine strafrechtliche Sanktion mangels aus-
reichender nationaler Rechtsgrundlage – und sei sie auch gerade zur Umsetzung der
Richtlinie geschaffen worden, aber eben doch nicht ausreichend – nicht verhängt
wurde, ist unionsrechtlich rechtmäßig, ja sogar vom primären Unionsrecht (nämlich
40
Siehe z. B. Urteil des EuGH vom 22. Mai 2008, Evonik Degussa GmbH (siehe Fn. 33),
Rn. 39 f. und 44 (unten bei Fn. 51 f. wörtlich zitiert).
41
Oft spricht man hier von „europarechtskonformer Auslegung“ und meint dasselbe. Vgl.
auch insoweit Fn. 4. – Einen Überblick über die zugrundeliegenden Probleme und einschlä-
gige Literatur gibt Hecker, Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. 2010, § 10.
266 Jan C. Schuhr

Art. 49 GRCh) geboten. 2. Dadurch, dass der Mitgliedstaat bislang keine ausreichen-
de Rechtsgrundlage zur Verhängung der Sanktion schuf, verstößt er gegen die Ver-
träge.
Ein solches Vorgehen macht das Normensystem zumindest kurz- und mittelfristig
weniger effizient als ein System, in dem Korrekturen unter dem Mantel „konformer“
Auslegung „großzügig“ vorgenommen werden. Die Judikative stößt hier ja nur einen
komplexen politischen und administrativen Prozess mit letztlich ungewissem Aus-
gang an, statt selbst eine rechtskonforme Lage zu schaffen. Von seinen Vorstellungen
praktischer Wirksamkeit („effét utile“) müsste der EuGH sich im Strafrecht eventuell
recht weit entfernen. Vom Standpunkt des Gesetzlichkeitsprinzips – und auch vom
Standpunkt der Gewaltenteilung und des unionsrechtlichen Zuständigkeitsregimes –
wäre das aber nichts Besonderes, sondern gerade die vorgesehene Konsequenz eines
Verstoßes.
Zu diesem Problemkreis gibt es bereits einige Entscheidungen des EuGH, deren
zentrale Aussagen im Folgenden nachgezeichnet werden. Seine Haltung zur Kern-
frage hat der EuGH aber noch nicht in Entscheidungen festgelegt.
Eine Richtlinie kann für sich allein, d. h. ohne zu ihrer Durchführung erlassene
innerstaatliche Rechtsvorschriften keine strafrechtliche Verantwortlichkeit festlegen
und eine solche nicht verschärfen.42 Insbesondere auch im Rahmen der unionsrechts-
konformen Auslegung nationalen Rechts darf eine Richtlinie nicht zur Begründung
oder Schärfung der Strafbarkeit herangezogen werden, soweit diese Richtlinie im na-
tionalen Recht noch nicht umgesetzt ist.43
Nationale Vorschriften, die zur Umsetzung einer Richtlinie erlassen wurden, sind
gemeinschaftsrechtskonform auszulegen; für Strafsachen macht der EuGH keine

42
In seinem Urteil vom 11. Juni 1987, Pretore di Salò/X, 14/86, Slg. 1987, 2545, Rn. 20
gründete der EuGH dies auf den Grundsatz, dass die unmittelbare Wirkung einer Richtlinie
nicht zum Nachteil eines Einzelnen gehen darf (dazu Urteil des EuGH vom 26. Februar 1986,
M.H. Marshall/Southampton u. a., 152/84, Slg. 1986, 723, Rn. 48 [= NJW 1986, 2178]),
entsprechend in seinen Urteilen vom 8. Oktober 1987, Kolpinghuis Nijmegen BV, 80/86,
Slg. 1987, 3969, Rn. 13 (= EuR 1988, 391); vom 26. September 1996, L. Arcaro, C-168/95,
Slg. 1996, I-4705, Rn. 37 (= EuZW 1997, 318); vom 12. Dezember 1996, X (siehe Fn. 34),
Rn. 24 und vom 11. November 2004, Antonio Niselli, C-457/02, Slg. 2004, I-10853, Rn. 29 f.
(= EuZW 2005, 219 = NVwZ 2005, 306), mit Anmerkung von Wegener/Lock, EuR 2005,
802 ff. In neueren Entscheidungen stützte er sich zudem auf die speziell strafrechtliche Aus-
prägung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Rückwirkungsverbots (Urteile vom
7. Januar 2004, X, C-60/02, Slg. 2004, I-651, Rn. 61 [= EuZW 2004, 285]; vom 3. Mai 2005,
Berlusconi u. a., C-387/02, C-391/02, C-403/02, Slg. 2005 I-3565, Rn. 74 [= JZ 2005, 997];
siehe dazu auch die Anmerkungen von Satzger, JZ 2005, 998 ff.; Luther, EuGRZ 2005, 350 ff.
und Gross, EuZW 2005, 371 ff. sowie Dannecker, ZIS 2006, 309 ff. und vom 16. Juni 2005,
M. Pupino [siehe Fn. 11], Rn. 45).
43
Urteile des EuGH vom 8. Oktober 1987, Kolpinghuis Nijmegen BV (siehe Fn. 42),
Rn. 13, vom 26. September 1996, L. Arcaro (siehe Fn. 42), Rn. 42, vom 12. Dezember 1996,
X (siehe Fn. 34), Rn. 24, vom 7. Januar 2004, Kommission/Spanien, C-58/02, Slg. 2004,
I-621, Rn. 28 und vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri A/S u. a. (siehe Fn. 35), Rn. 220 f.
„Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“ im Recht der EU 267

Ausnahme.44 In einem hierzu entschiedenen Fall, der die Strafbarkeit von Insider-
Geschäften betraf, ging es um die Anwendbarkeit einer sowohl in der Richtlinie
als auch in der nationalen Vorschrift vorgesehenen Ausnahme von der Strafbarkeit.
Der EuGH legte die Ausnahme vom Verbot im Interesse seiner praktischen Wirksam-
keit eng aus45 und beanspruchte dafür grundsätzlich auch strafrechtliche Geltung. Er
wies aber darauf hin, dass es Sache des vorlegenden Gerichts sei, für die Einhaltung
des Grundsatzes der Rechtssicherheit zu sorgen.46

V. Grundsätze des EuGH, Ermessen und Kenntnis


Der EuGH hatte den „Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“ schon längere
Zeit vor Art. 49 GRCh als allgemeinen Grundsatz des Gemeinschafts- bzw. Unions-
rechts entwickelt.47 Mit Art. 49 GRCh greift die Charta diese Rechtsprechung auf.
Der EuGH stützte sich darauf, dass das Gesetzlichkeitsprinzip den gemeinsamen
Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zugrunde liegt und durch verschiedene
völkerrechtliche Verträge anerkannt wird. Er hob dabei Art. 7 Abs. 1 EMRK hervor
und orientierte seine eigene Rechtsprechung an Urteilen des EGMR.
Die Rechtsprechung des EuGH hat sich zu einem erheblichen Teil an kartellrecht-
lichen48 Bußgeldsachen entwickelt, die gegen juristische Personen verhängt wurden.
In einer solchen Entscheidung hat der EuGH wesentliche Aspekte seines Grundsat-
zes der Gesetzmäßigkeit der Strafen zusammengestellt und ausgeführt,49

44
Urteil des EuGH vom 22. November 2005, K. Grøngaard und A. Bang, C-384/02,
Slg. 2005, I-9939, NJW 2006, 133, Rn. 28.
45
Rn. 27 des Urteils (Fn. 44).
46
Rn. 29 f. des Urteils (Fn. 44).
47
U. a. (vgl. auch Fn. 30 bis 35) Urteile des EuGH vom 12. Dezember 1996, X (siehe
Fn. 34), Rn. 25, vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri A/S u. a. (siehe Fn. 35), Rn. 215 – 219,
vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld VZW (siehe Fn. 32) , Rn. 49 – mit Anmerkun-
gen von Braum, wistra 2007, 401 ff.; Tinkl, ZIS 2007, 419 ff.; Michalke, EuZW 2007, 377 f. –,
vom 22. Mai 2008, Evonik Degussa GmbH (siehe Fn. 33), Rn. 38 und vom 3. Juni 2008,
Intertanko (siehe Fn. 32), Rn. 70.
48
Es geht um Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962
(ABl. 1962, Nr. 13, S. 204), Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln [101] und [102]
des [AEUV]. Dieser lautet: „Die Kommission kann gegen Unternehmen und Unternehmens-
vereinigungen durch Entscheidung Geldbußen in Höhe von eintausend bis einer Million
Rechnungseinheiten oder über diesen Betrag hinaus bis zu zehn vom Hundert des von dem
einzelnen an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen im letzten Geschäftsjahr erzielten
Umsatzes festsetzen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig:
a) gegen Artikel [101] Absatz (1) oder Artikel [102] des [AEUV] verstoßen, […].
Bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße ist neben der Schwere des Verstoßes auch die
Dauer der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen.“
49
Die Passagen stammen jeweils aus dem Urteil des EuGH vom 22. Mai 2008, Evonik
Degussa GmbH (siehe Fn. 33); die verbindliche Sprache des Urteils ist Deutsch (in seinem
268 Jan C. Schuhr

„dass der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen ein Korrelat des Grundsatzes der
Rechtssicherheit ist, der verlangt, dass jede Gemeinschaftsregelung klar und bestimmt ist.“50
„Aus diesem Grundsatz folgt, dass das Gesetz die Straftaten und die für sie angedrohten
Strafen klar definieren muss. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der Rechtsunterworfene
anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Aus-
legung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine
strafrechtliche Verantwortung begründen (vgl. Urteil Advocaten voor de Wereld, Rand-
nr. 50).
Außerdem ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
die Klarheit des Gesetzes nicht nur anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung zu
beurteilen, sondern auch anhand der Präzisierungen durch eine ständige und veröffentlichte
Rechtsprechung (vgl. u. a. EGMR, Urteil G./Frankreich vom 27. September 1995, Serie A,
Nr. 325-B, § 25). Insoweit hat der Gerichtshof anerkannt, dass nach dieser Rechtsprechung
der Begriff ,Recht‘ im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EMRK dem in anderen Bestimmungen der
EMRK verwendeten Begriff ,Gesetz‘ entspricht und sowohl das Gesetzes- als auch das
Richterrecht umfasst (vgl. Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Randnr. 216).“51
„… [Es wird] nicht verlangt, dass der Wortlaut der einschlägigen Bestimmung, aufgrund
deren eine Sanktion verhängt wird, so genau formuliert ist, dass die möglichen Folgen
eines Verstoßes gegen sie mit absoluter Gewissheit vorhersehbar sind.
… [Das] Erfordernis der Vorhersehbarkeit [steht] einem durch das Gesetz verliehenen Er-
messen, dessen Umfang und Ausübungsmodalitäten hinreichend deutlich festgelegt sind,
nicht entgegen […].“52

Der EuGH akzeptierte in diesem Fall einen weiten Ermessensspielraum der Kom-
mission. Er stellte aber darauf ab, dass dessen Ausübung durch die Einführung ob-
jektiver Kriterien beschränkt war, namentlich die Geldbuße eine im Voraus beziffer-
bare, absolute Obergrenze hatte.53 Als Rechtssicherheit schaffend sieht der EuGH
auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze an, insbesondere die Grundsätze der Gleich-
behandlung und der Verhältnismäßigkeit, wie sie durch die Rechtsprechung des
Gerichtshofs und des Gerichts erster Instanz entwickelt wurden.54 Rechtssicherheit
ergebe sich – im auf die EGKS zurückgehenden Wettbewerbs- bzw. Kartellrecht –
ferner aus den Verhaltensregeln zur Ermessensausübung, welche die Kommission
sich selbst auferlegt habe und an die sie nach den Grundsätzen der Gleichbehandlung

Urteil vom 17. Juni 2010, Lafarge SA/Kommission, C-413/08 P, Slg. 2010, Rn. 94 f. hat der
EuGH sich entsprechend geäußert).
50
Rn. 43 des Urteils (Fn. 49); der EuGH referiert hier zustimmend die Entscheidung des
Gerichts erster Instanz.
51
Rn. 39 f. des Urteils (Fn. 49); zu den zitierten Urteilen des EuGH siehe Fn. 47.
52
Rn. 44 f. des Urteils (Fn. 49); der EuGH referiert wiederum zustimmend die Entschei-
dung des Gerichts erster Instanz.
53
Rn. 50 des Urteils (Fn. 49).
54
Rn. 51 des Urteils (Fn. 49); siehe zum Gleichheitssatz heute auch Art. 20 ff. GRCh sowie
Art. 2, 9 EUV, Art. 8 AEUV und zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Art. 49 Abs. 3, 52
Abs. 1 GRCh sowie allgemeiner Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 4 EUV und Art. 12 lit. b EUV,
Art. 69, 276, 296 Unterabs. 1 AEUV.
„Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“ im Recht der EU 269

und des Vertrauensschutzes rechtlich gebunden sei.55 Schließlich seien Sanktionsent-


scheidungen der Kommission gerichtlich unbeschränkt nachprüfbar und unbestimm-
te Rechtsbegriffe der Strafnorm in gefestigter Rechtsprechung konkretisiert wor-
den.56
Selbstgesetzte Verhaltensregeln zur Ermessensausübung bzw. veröffentlichte
Leitlinien oder schriftliche Mitteilungen spielen eine bemerkenswerte Rolle im uni-
onsrechtlichen (wettbewerbsrechtlichen) System zur Sicherung der Vorhersehbar-
keit von Sanktionen. Im Interesse der Rechtssicherheit prüft der EuGH grundsätzlich
alle Stufen der Konkretisierung einer Sanktionsnorm auf hinreichende Vorhersehbar-
keit der Sanktion. Er trennt nicht zwischen einer Bestimmtheitsprüfung der Rechts-
grundlage (insbesondere Verordnung) und einer Prüfung der Entscheidung (z. B. auf
verbotene Analogie) oder der Berücksichtigung eines Verbotsirrtums (z. B. als ent-
schuldigend oder die Schuld mindernd).
Der EuGH verlangt, dass der Entscheider (i.a. die Kommission) im Voraus offen-
legt, in welcher Weise er die wesentlichen in der Rechtsgrundlage aufgeworfenen
Auslegungsfragen (sowohl bzgl. der Verhaltensnorm als auch bzgl. der Sanktionie-
rung) beantworten will, ohne damit die Einzelfallentscheidung vorwegzunehmen.
Z. B. hat der EuGH hinsichtlich Sanktionen wegen der Überschreitung der Erzeu-
gungsquoten für Stahl verlangt, dass die Kommission ihre Berechnungsmethode
für die Quoten den Betroffenen von sich aus zu Beginn des Quartals der Erzeugung
mitteilt.57 In Ermangelung der nötigen Mitteilung hat der EuGH zur Bemessung der
Sanktion im zu entscheidenden Fall die vom Unternehmen selbst angenommene
(ihm günstigere) Auslegung (hier: Berechnungsmethode für die Quote) zugrunde ge-
legt.58
Dass zahlreiche Normen erst dadurch bestimmt werden können, dass die Praxis
sie im Zuge ihrer Anwendung konkretisiert, ist einerseits eine unwiderlegliche Wahr-
heit,59 kann andererseits aber leicht in das Gesetzlichkeitsprinzip aushöhlenden Flos-
keln missbraucht zu werden. Dem EuGH gelingt es durch seine bemerkenswerte

55
Rn. 52 f. des Urteils (Fn. 49); es ging um die Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung
von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65
Absatz 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden (ABl. C 9 vom 14. 1. 1998, S. 3) sowie die Mit-
teilung der Kommission über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geld-
bußen in Kartellsachen (ABl. C 207 vom 18. 7. 1996, S. 4). Diese sieht der EuGH als Recht im
Sinne des Art. 7 Abs. 1 EMRK an und damit als für die Dauer ihres Bestehens bindend und
unter das Rückwirkungsverbot fallend (Urteile vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri A/S u. a.
[siehe Fn. 35], Rn. 211, 222 f. und vom 21. September 2006, JCB Service/Kommission,
C-167/04 P, Slg. 2006, I-8935, Rn. 208 f.).
56
Rn. 54 f. und 61 des Urteils (Fn. 49).
57
Urteil des EuGH vom 29. Februar 1984, Estel NV (siehe Fn. 31), Rn. 15.
58
Rn. 32 i.V.m. Rn. 4 des Urteils (Fn. 57).
59
Eingehend Müller/Christensen/Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 22 ff.;
Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung: Vom vertikalen zum horizontalen Verständnis, 2008,
S. 186 ff.
270 Jan C. Schuhr

Konstruktion, der Notwendigkeit einer Konkretisierung in der Praxis Rechnung zu


tragen und zugleich bestimmte Anforderungen an diese Praxis zu formulieren, die
die Vorhersehbarkeit der Entscheidung und damit die Rechtssicherheit erheblich för-
dern. Das ist eine sehr interessante Anwendung des Gesetzlichkeitsprinzips. Leider
ist die Situation, für die der EuGH diese Anforderungen entwickelt hat, vom Mas-
sengeschäft einer Staatsanwaltschaft im Allgemeinstrafrecht grundverschieden.
Die Anforderungen können nicht einfach übertragen werden. Im Anwendungsbe-
reich der Anforderungen des EuGH ist von vornherein klar, welcher recht überschau-
bare Adressatenkreis von der Norm erfasst wird, und schon vor der Tat besteht eine
gewisse Arbeitsbeziehung zwischen dem Entscheider und den Adressaten.
Der EuGH erhält diese Anforderungen nicht in der Schärfe, in der sie ursprünglich
herausgestellt wurden, aufrecht. Er hat später entschieden, dass die bei der Ermes-
sensausübung zu berücksichtigenden Aspekte in der Rechtsgrundlage der Entschei-
dung nicht aufgezählt sein müssen. Das gelte auch dann, wenn zum Tatzeitpunkt
keine den letztlich maßgebenden Aspekt nennenden Leitlinien der Ermessensaus-
übung veröffentlicht waren. Bei einer ca. 50 %-igen Erhöhung einer Geldbuße
wegen wiederholter Tat nahm der EuGH ohne weiteres an, dass die Normunterwor-
fenen auch ohne solche Leitlinien in der Lage waren, die Konsequenzen ihres Han-
delns vorherzusehen.60
Der EuGH prüft die Vorhersehbarkeit für den Adressaten nicht objektiv, nicht ab-
strakt-generell. Er prüft individuelle Kenntnis bzw. individuelles Kennen-Können
und Kennen-Müssen. Das wird deutlich in einem unmittelbar mit der gerade behan-
delten Entscheidung zusammenhängenden Urteil (selbe Parteien, ein Quartal später).
Der EuGH hat dort ausgesprochen, dass das Unternehmen sich von sich aus bei der
Kommission erkundigen muss, wenn es weiß, dass diese eine andere Berechnungs-
methode verwendet als es selbst, diese Methode seitens des Unternehmens aber mög-
licherweise noch nicht richtig verstanden wurde oder für falsch gehalten wird.61
Dabei verwendete der EuGH ausdrücklich den Begriff „Legalitätsprinzip (,nulla
poena sine lege‘)“62 und sprach zugleich davon, die Klägerin könne sich nicht
mehr auf ihre „Gutgläubigkeit oder auf eine mögliche Ungewissheit“ berufen.63
Diese Vermengung der vom Gesetzlichkeitsprinzip gebotenen objektiven Vorher-
sehbarkeit der Sanktion – als Folge der Bestimmtheit der Norm – und individueller
Irrtümer bzw. Verantwortlichkeit für Unkenntnis letztlich nach Fahrlässigkeitsmaß-
stäben rechtfertigt sich nicht aus der dargestellten Sondersituation, für die der EuGH

60
Urteil des EuGH vom 8. Februar 2007, Groupe Danone/Kommission, C-3/06 P,
Slg. 2007, I-1331, Rn. 25-30 (= EuZW 2007, 145) mit Anmerkung Seitz, EuZW 2007, 304 f.
61
Urteil des EuGH vom 17. Mai 1984, Estel NV/Kommission, 83/83, Slg. 1984, 2195,
Rn. 35 f.
62
Überschrift vor Rn. 16 des Urteils (Fn. 61) – verbindlicher Wortlaut: „Legaliteitsbegin-
sel (,nulla poena sine lege‘)“ –; vgl. dort auch Rn. 29 und 37.
63
Rn. 36 des Urteils (Fn. 61); verbindlicher Wortlaut: „goede trouw, noch op een eventuele
onzekerheid“.
„Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“ im Recht der EU 271

geurteilt hat. Ob sie einen Mangel an nötiger dogmatischer Schärfe darstellt oder eher
Dinge, die zusammengehören, zusammenführt, kann hier nicht weiter vertieft wer-
den.
Jedenfalls ist es nicht etwa so, dass der EuGH Verbotsirrtümer gänzlich im Rah-
men des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit abhandeln würde. Er erkennt auch eine
eigene Wertungsstufe der Schuld und den Grundsatz nulla poena sine culpa an, ver-
meidet aber zumindest bislang eine klare Einordnung von Verbotsirrtümern.64 Bis-
weilen behandelt er sie ohne Unterscheidung von Tatsachen- und Rechtsirrtümern
unter dem Gesichtspunkt der Fahrlässigkeit65, bisweilen stellt er pauschal fest, die
Berufung auf die Unkenntnis einer Vorschrift sei wegen deren Veröffentlichung aus-
geschlossen66, bisweilen behandelt er sie beim Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der
Strafen67, bisweilen verweist er auf das nationale Recht und eine dortige Entschul-
digung68, bisweilen erkennt er (wie § 17 StGB) die Möglichkeit entschuldigender
Rechtsirrtümer an und unterscheidet diese Frage von der Vorsätzlichkeit eines Ver-
stoßes69.

VI. Wortlaut und Bestimmtheit der Begriffe


Mehrere Entscheidungen des EuGH beziehen sich auf folgende Bestimmung aus
einer Verordnung, also im Fall unmittelbar anwendbaren sekundären Unionsrechts:
64
In seinem Urteil vom 17. Mai 1984, Estel NV/Kommission (siehe Fn. 61), Rn. 41 be-
gründet der EuGH die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Kommission immerhin damit,
die Klägerin habe ihren Irrtum über die richtige Berechnungsmethode, der zum sanktionierten
Verstoß führte, bewusst als Risiko in Kauf genommen, und daher sei „[d]ieser Irrtum […]
nicht entschuldbar.“ Der EuGH unterscheidet zwar zwischen Tatsachen- und Rechtsirrtümern
und sieht im Unrechtsbewusstsein keine Voraussetzung für Vorsatz (vgl. Urteil des EuGH vom
6. April 1995, Ferriere Nord SpA/Kommission, T-143/89, Slg. 1995, II-917, Rn. 41 mit wei-
teren Nachweisen). Im selben Zusammenhang meint er aber, die Auskunft eines Rechtsbera-
ters (vor der Tat) könne nicht entschuldigend wirken, und folgert daraus Vorsatz (Urteil des
EuGH vom 1. Februar 1978, Miller International Schallplatten GmbH/Kommission, 19/77,
Slg. 1978, 131, Rn. 18).
65
So Urteil des EuGH vom 10. Dezember 1985, Stichting Sigarettenindustrie u. a./Kom-
mission, 240/82, 241/82, 242/82, 261/82, 262/82, 268/82 und 269/82, Slg. 1985, 3831,
Rn. 60 – 66
66
So Urteile des EuGH vom 12. Juli 1989, Friedrich Binder GmbH & Co. KG/Haupt-
zollamt Bad Reichenhall, 161/88, Slg. 1989, 2415, Rn. 19 (= DStR 1990, 74) und vom
20. November 2008, Heuschen & Schrouff Oriëntal Foods Trading BV/Kommission, C-38/
07 P, Slg. 2008, I-8599, Rn. 61.
67
Siehe dazu oben bei Fn. 61.
68
Urteil des EuGH vom 25. November 1998, Giuseppe Manfredi/Regione Puglia, C-308/
97, Slg. 1998, I-7685, Rn. 34.
69
So bzgl. Vertragsverletzungen durch Mitgliedstaaten das Urteil des EuGH vom 5. März
1996, Brasserie du Pêcheur SA/Deutschland und The Queen/Secretary of State for Transport,
ex parte: Factortame Ltd u. a., C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 56 (= JZ 1996,
789 = NJW 1996, 1267) mit Anmerkungen u. a. von Ehlers, JZ 1996; 776 ff.; Böhm, JZ 1997,
53 ff.; Streinz, EuZW 1996, 201 ff.; Beul, EuZW 1996, 748 ff.
272 Jan C. Schuhr

„Bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße ist neben der Schwere des Verstoßes
auch die Dauer der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen.“70 Anhand dieser Ent-
scheidungen lassen sich die Einstellung des EuGH zum Wortlaut einer Vorschrift
und die Anwendung des Prinzips der Gesetzmäßigkeit der Strafen auf Rechtsfolgen
ausloten.
Der EuGH fühlt sich nicht besonders eng an den Wortlaut gebunden. Er meint aus-
drücklich, die Schwere (des Verstoßes) sei unter Heranziehung zahlreicher anderer
Faktoren als der Schwere zu ermitteln.71 Das war keineswegs nur eine misslungene
Wortwahl. Der EuGH möchte neben den Umständen des Verstoßes auch die Ab-
schreckungswirkung der Geldbuße bei ihrer Bemessung berücksichtigt wissen.72
Diese ist kein Aspekt der Tat. Sie bezieht sich vielmehr auf künftiges Verhalten
des Adressaten und Dritter. Inhaltlich ist das weder zu beanstanden noch überra-
schend. Der EuGH fordert lediglich, dass ein Strafzweck73 bei der Zumessung der
Geldbuße berücksichtigt wird. Diesen Inhalt durch Auslegung des Wortes „Schwere“
in die Norm bringen zu wollen, ist aber ein Vorgehen, das das Bestehen einer Wort-
lautgrenze, d. h. eine Begrenzung zulässiger Auslegung durch den Wortlaut der Vor-
schrift, von vornherein in Zweifel zieht. Dies gilt umso mehr, als der EuGH die Liste
der Zumessungsgesichtspunkte ohnehin nicht für abschließend hält (was mit dem
Wortlaut durchaus vereinbar ist).74 Das geht so weit, dass der EuGH auch die Berück-
sichtigung des Nachtatverhaltens (als Verschleierung und Behinderung der Ermitt-
lungen gewertete Warnungen anderer Unternehmen) billigt, die in der Vorschrift
nicht angelegt, bei der Zumessung von Strafen indes grundsätzlich üblich ist.75
Die Verwendung allgemeiner Begriffe hält der EuGH auch in Verordnungen für
bisweilen notwendig. Ein Kriterium, wie weit sie gehen darf, gibt er zwar letztlich
70
Siehe Fn. 48 am Ende.
71
Urteil des EuGH vom 8. Februar 2007, Groupe Danone (siehe Fn. 60), Rn. 25. Der
maßgebliche französische Text (letzter Satz von Rn. 24, erster von Rn. 25, Hervorhebung
hinzugefügt) lautet: „En vertu de cette disposition, pour déterminer le montant de l’amende, la
durée et la gravité de l’infraction dont il s’agit doivent être prises en considération. [Rn. 25:]
S’agissant du dernier élément énoncé ci-dessus, la Cour a jugé que, tandis que le montant de
base de l’amende est fixé en fonction de l’infraction, la gravité de celle-ci est déterminée par
référence à de nombreux autres facteurs, pour lesquels la Commission dispose d’une marge
d’appréciation.“
72
Beschluss des EuGH vom 25. März 1996, Vereniging van Samenwerkende Prijsreg-
elende Organisaties in de Bouwnijverheid (=SPO) u. a./Kommission, C-137/95 P, Slg. 1996,
I-1611, Rn. 54 sowie Urteile des EuGH vom 17. Juli 1997, Ferriere Nord SpA/Kommission,
C-219/95 P, Slg. 1997, I-4411 Rn. 33 (= EuZW 1997, 632) und vom 7. Januar 2004, Aalborg
Portland A/S u. a./Kommission, C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P
und C-219/00 P, Slg. 2004, I-123, Rn. 90.
73
Es geht um einen solchen, auch wenn Art. 15 Abs. 4 der Verordnung Nr. 17 (Fn. 48)
bestimmt, die Entscheidung sei „nicht strafrechtlicher Art“.
74
Beschluss des EuGH vom 25. März 1996, SPO (siehe Fn. 72), Rn. 54 und Urteil des
EuGH vom 17. Juli 1997, Ferriere Nord SpA (siehe Fn. 72), Rn. 33.
75
Urteil des EuGH vom 29. Juni 2006, SGL Carbon AG/Kommission, C-308/04 P,
Slg. 2006, I-5977, Rn. 69-71 (= EuR 2006, 554).
„Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“ im Recht der EU 273

nicht an. In einer älteren wettbewerbsrechtlichen Entscheidung hat er aber Aspekte


zusammengetragen, die die Vorhersehbarkeit von Sanktionsentscheidungen fördern
und dabei die Allgemeinheit verwendeter Begriffe kompensieren können. Er nennt
hierzu den systematischen Zusammenhang, die Verwendung von Begriffen, die sich
auf eine in den Mitgliedstaaten etablierte Praxis beziehen, das exemplarische Ange-
ben starker Indizien (zumindest in Rechtsprechung und Praxis) sowie das Bestehen
eines Verfahrens, in dem die Adressaten der Norm die Feststellung beantragen kön-
nen, dass nach den bekannten Tatsachen kein Anlass zum Einschreiten besteht.76
Während Verordnungen einen Normbefehl an Unionsbürger richten können,77
adressieren Richtlinien die Mitgliedstaaten der Union. Diese sind zur Umsetzung
der Richtlinie im eigenen nationalen Recht verpflichtet. Dabei sollen ihnen aber ge-
rade Spielräume verbleiben. Die Anforderungen an Richtlinien müssen daher von
den Anforderungen an Verordnungen und Vorschriften des nationalen Rechts unter-
schieden werden. In welchem Umfang der EuGH unbestimmte Rechtsbegriffe in
Richtlinien akzeptiert und in welcher Weise er sie klärt oder im Vagen belässt,
zeigt sich in einer Entscheidung zum Begriff grober Fahrlässigkeit.78 Dieser Begriff
wurde in einer die Mitgliedstaaten zur Ahndung von Verstößen verpflichtenden
Richtlinie ohne Definition verwendet.79 Der EuGH sah ihn als hinreichend bestimmt
an und führte aus, darunter sei „ein nicht vorsätzliches Handeln oder Unterlassen zu
verstehen, mit dem die verantwortliche Person die Sorgfaltspflicht, der sie in Anbe-
tracht ihrer Eigenschaften, ihrer Kenntnisse, ihrer Fähigkeiten und ihrer persönlichen
Lage hätte genügen können und müssen, in qualifizierter [verbindliche englische
Fassung: ,patent‘] Weise verletzt.“80 Es geht ihm dabei gar nicht um eine subsumti-
onsfähige Definition für das Unionsrecht. Vielmehr verweist er letztlich darauf, dass
die nationalen Rechtsordnungen jeweils über weiter ausgearbeitete Fahrlässigkeits-
konzepte verfügen, an die das Unionsrecht anknüpft.81

76
Urteil des EuGH vom 13. Februar 1979, Hoffmann-La Roche & Co. AG (siehe Fn. 30),
Rn. 130, 132 f.
77
Zu besonderen Problemen unionsrechtlicher Verordnungen, die nationale Blankettstraf-
tatbestände ausfüllen siehe Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht,
4. Aufl. 2010, § 9 Rn. 58 ff. und Hecker, Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. 2010, § 7 Rn. 76 ff.
78
Urteil des EuGH vom 3. Juni 2008, Intertanko (siehe Fn. 32).
79
Art. 4 S. 1 der Richtlinie 2005/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom
7. September 2005 über die Meeresverschmutzung durch Schiffe und die Einführung von
Sanktionen für Verstöße, ABl. L 255 vom 30. 9. 2005, S. 13 (die Richtlinie wurde berichtigt in
ABl. L 33 vom 4. 2. 2006, S. 87 sowie ABl. L 105 vom 13. 4. 2006, S. 65).
80
Rn. 77 des Urteils (Fn. 78); Original: „Accordingly, ,serious negligence‘ within the
meaning of Article 4 of Directive 2005/35 must be understood as entailing an unintentional act
or omission by which the person responsible commits a patent breach of the duty of care which
he should have and could have complied with in view of his attributes, knowledge, abilities
and individual situation.“
81
Vgl. dazu auch Rn. 75 des Urteils (Fn. 78).
274 Jan C. Schuhr

VII. Reichweite des Grundsatzes


der Gesetzmäßigkeit der Strafen
Auch wenn der EuGH nicht von einem Analogieverbot und nur selten von der Be-
stimmtheit einer Vorschrift spricht, geht er davon aus, dass der Grundsatz der Gesetz-
mäßigkeit der Strafen sich sowohl an den Normgeber als auch an den Anwender der
Norm richtet. Selbst außerhalb sanktionenrechtlicher Bezüge fordert er, „daß die ge-
meinschaftsrechtlichen Vorschriften klar sein müssen und daß ihre Anwendung für
alle Betroffenen vorhersehbar sein muß. Dieses Gebot der Rechtssicherheit verlangt,
daß jede Maßnahme, die rechtliche Wirkungen erzeugen soll, ihre Bindungswirkung
einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts entnimmt, die ausdrücklich als Rechts-
grundlage bezeichnet sein muß und die Rechtsform vorschreibt, in der die Maßnah-
me zu erlassen ist.“82 Schon zuvor hatte er ausgesprochen, „dass eine Sanktion, selbst
wenn sie keinen strafrechtlichen Charakter besitzt, nur dann verhängt werden darf,
wenn sie auf einer klaren und unzweideutigen Rechtsgrundlage beruht.“83
Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen umfasst ein Rückwirkungsver-
bot.84 Die Geltungsdauer eines Rechtsakts der Gemeinschaft kann grundsätzlich
nicht vor seiner Veröffentlichung beginnen. Das Rückwirkungsverbot ist zwar
nicht auf das Strafrecht beschränkt, außerhalb des Strafrechts macht der EuGH
aber Ausnahmen, „wenn das angestrebte Ziel es verlangt und das berechtigte Ver-
trauen der Betroffenen gebührend beachtet ist.“85 Eine Strafbarkeit kann eine im
Rechtsakt angeordnete und eventuell sogar grundsätzlich zulässige Rückwirkung
hingegen nicht begründen.86 Auch auf eine zum Zeitpunkt der Tat bestehende,
aber gegen Unionsrecht verstoßende nationale Vorschrift darf keine Strafe gestützt

82
Urteil des EuGH vom 16. Juni 1993, Frankreich/Kommission, C-325/91, Slg. 1993,
I-3283, Rn. 26 (= RIW 1993, 789) – die Passage lautet in der verbindlichen französischen
Fassung: „Or, ainsi que la Cour l’ a jugé à maintes reprises, la législation communautaire doit
être claire et son application prévisible pour tous ceux qui sont concernés. Cet impératif de
sécurité juridique requiert que tout acte visant à créer des effets juridiques emprunte sa force
obligatoire à une disposition du droit communautaire qui doit expressément être indiquée
comme base légale et qui prescrit la forme juridique dont l’ acte doit être revêtu.“ – Eingehend
zur Rechtsprechung des EuGH zum Bestimmtheitsgrundsatz bei anderen als strafrechtlichen
Sanktionsnormen Hammer-Strnad, Das Bestimmtheitsgebot als allgemeiner Rechtsgrundsatz
des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S. 67 ff.
83
Urteil des EuGH vom 25. September 1984, Karl Könecke GmbH & Co. KG/Bundes-
anstalt für landwirtschaftliche Marktordnung, 117/83, Slg. 1984, 3291, Rn. 11; die Entschei-
dung ist in deutscher Sprache verbindlich.
84
Eingehend Dannecker, ZIS 2006, 309 ff.
85
Urteile des EuGH vom 25. Januar 1979, Weingut Gustav Decker KG/Hauptzollamt
Landau, 99/78, Slg. 1979, 101, Rn. 8 und vom 11. Juli 1991, Antonio Crispoltoni/Fattoria
autonoma tabacchi di Città di Castello, C-368/89, Slg. 1991, I-3695, Rn. 17.
86
Urteil des EuGH vom 29. Juni 2010, E und F, C-550/09, Slg. 2010, Rn. 59 (= NJW
2010, 2413 = EuGRZ 2010, 289) mit Anmerkung Meyer, NJW 2010, 2397 ff. sowie die fol-
genden Entscheidungen (Fn. 87).
„Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“ im Recht der EU 275

werden.87 Die Vorlagefrage, ob es gegen das Rückwirkungsverbot verstoße, wenn


eine zur Umsetzung einer Richtlinie ergangene nationale Vorschrift wegen Verstoßes
gegen Unionsrecht für nichtig erklärt wurde, aber eine unionsrechtskonforme neue
nationale Regelung rückwirkend in Kraft gesetzt wird, hat der EuGH verneint; er hat
dabei aber darauf abgestellt, dass die darin vorgesehene Ahndung durch eine Zusatz-
abgabe nicht als Strafvorschrift (sondern fiskalisch) zu qualifizieren sei und das
schärfere Verbot der Rückwirkung von Strafvorschriften daher keine Anwendung
finde.88
Das Rückwirkungsverbot steht Richterrecht im Sinne einer schrittweisen Klärung
strafrechtlicher Vorschriften durch die Gerichte nicht prinzipiell entgegen. Wenn
durch eine neue Auslegung einer Norm eine Zuwiderhandlung aber erst festgelegt
wird, darf auch diese nicht rückwirkend zugrunde gelegt werden. Als maßgebliches
Kriterium prüft der EuGH dabei, ob die richterliche Auslegung für den Betroffenen
hinreichend vorhersehbar war.89
Der EuGH beschränkt das Rückwirkungsverbot nicht auf Gesetzgebungsakte,
legt bei anderen Rechtsakten aber einen ungleich niedrigeren Maßstab an die Vorher-
sehbarkeit an. Auch die „Änderung einer repressiven Politik, […] vor allem dann,
wenn sie durch den Erlass von Verhaltensnormen wie den Leitlinien [für das Verfah-
ren zur Festsetzung von Geldbußen90] erfolgt“91, untersteht danach grundsätzlich
dem Rückwirkungsverbot. Soweit die wirksame Anwendung der sanktionsbewähr-
ten Regeln nach Ansicht des EuGH aber Flexibilität bei der Bemessung der Sanktio-
nen erfordert, hält er Änderungen sowohl des Niveaus der Geldbußen als auch Än-
derungen der Methode ihrer Berechnung generell für vorhersehbar92 und goutiert
sogar eine rückwirkende Änderung von „Verhaltensnormen mit allgemeiner Geltung
wie d[en] Leitlinien“93. Das ist nicht unproblematisch, denn die genannten Leitlinien

87
Urteile des EuGH vom 10. Juli 1984, Kent Kirk, 63/83, Slg. 1984, 2689, Rn. 21 – 23 und
vom 13. November 1990, Minister of Agriculture, Fisheries and Food und Secretary of State
for Health, ex parte: Fedesa u. a., C-331/88, Slg. 1990, I-4023, Rn. 44.
88
Urteil des EuGH vom 15. Juli 2004, Willy Gerekens und Association agricole pour la
promotion de la commercialisation laitière Procola (Gerekens und Procola)/Luxemburg,
C-459/02, Slg. 2004, I-7315 Rn. 23 – 38, insbesondere Rn. 35 – 37.
89
Urteil des EuGH vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri A/S u. a. (siehe Fn. 35), Rn. 217
bis 224. Kritisch dazu z. B. Eissler, ELR 2005, 370 ff.; Hirsbrunner/Schädle, WuW 2009,
12 ff.
90
Siehe dazu oben Fn. 55 sowie hier Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission.
91
Urteil des EuGH vom 18. Mai 2006, Archer Daniels Midland Co. und Archer Daniels
Midland Ingredients Ltd (Midland)/Kommission, C-397/03 P, Slg. 2006, I-4429, Rn. 20
(= EWS 2006, 262) gestützt auf Urteil des EuGH vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri A/S
u. a. (siehe Fn. 35), Rn. 222.
92
Rn. 21 – 23 desselben Urteils (Fn. 91).
93
Rn. 24 desselben Urteils (Fn. 91); entsprechend die Urteile des EuGH vom 28. Juni
2005, Dansk Rørindustri A/S u. a. (siehe Fn. 35), Rn. 227 – 232 und vom 8. Februar 2007,
Groupe Danone (siehe Fn. 60), Rn. 90 – 93.
276 Jan C. Schuhr

sind gerade dazu da, die in der zugrundeliegenden Norm angedrohte Sanktion über-
haupt erst vorhersehbar zu machen.94
Neben dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot hat der EuGH auch die lex mi-
tior-Regel, also ein Rückwirkungsgebot zu Gunsten des Täters, als Bestandteil der
allgemeinen Prinzipien des Unionsrechts anerkannt.95
Der unionsrechtliche Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen gilt nicht nur für
materielles Strafrecht in einem engen Sinne. Insbesondere fallen Bußgelder, wie sie
im deutschen Recht mit Ordnungswidrigkeiten verbunden sind, in seinen Anwen-
dungsbereich. Umgekehrt umfasst dieser Anwendungsbereich nicht das Verfahrens-
recht.96 Er umfasst auch nicht alle Sanktionsnormen im materiellen Recht. Der EuGH
verlangt vielmehr, dass die Sanktionsnorm „strafrechtlichen Charakter“97 besitzt:98
Verneint hat er einen solchen Charakter und mit ihm die Anwendbarkeit des straf-
rechtlichen Rückwirkungsverbots z. B. für Zusatzabgaben wegen der Überschreitung
von Milchproduktionsquoten. Diese hätten zwar einen verhaltenssteuernden Zweck,
sie seien aber selbst Teil der Interventionen zur Regulierung der Agrarmärkte und
sollten zugleich finanzielle Mittel für diese Intervention verfügbar machen. Der
EuGH ordnet sie daher als wirtschaftliche Maßnahme der Markt- oder Strukturpoli-
tik ein, die er strafenden Sanktionen gegenüberstellt.99 Solange damit missbilligtes,
aber nicht rechtswidriges Verhalten erfasst wird und die Verhaltenssteuerung durch
eine Änderung von Kosten- bzw. Einkommensfaktoren der Marktteilnehmer erfolgt,
die über ihr Verhalten im Markt weiterhin autonom – nur eben unter geänderten Rah-
menbedingungen – entscheiden, ist diese Gegenüberstellung durchaus sinnvoll.100
Im Zusammenhang mit der Anwendbarkeit des strafrechtlichen Schuldprinzips
(nulla poena sine culpa) hat der EuGH einen strafenden Charakter der Vorschrift
94
Siehe oben bei Fn. 57.
95
Urteile des EuGH vom 3. Mai 2005, Berlusconi u. a. (siehe Fn. 42), Rn. 68 und vom
4. Juni 2009, Percy Mickelsson und Joakim Roos, C-142/05, Slg. 2009, I-4273, Rn. 43 – zum
Gebot der Anwendung des milderen Rechts mit Bezug auf die Überlagerung von nationalem
Recht durch Unionsrecht siehe Gleß, GA 2000, 224 ff.
96
Urteil des EuGH vom 16. Juni 2005, M. Pupino [siehe Fn. 11], Rn. 46.
97
Urteil des EuGH vom 11. Juli 2002, Käserei Champignon Hofmeister GmbH & Co. KG/
Hauptzollamt Hamburg-Jonas, C-210/00, Slg. 2002, I-6453, Rn. 35 f. (= DVBl 2002, 1344);
das Urteil ist in deutscher Sprache verbindlich.
98
Zur Rechtsprechung des EuGH und des EGMR in dieser Frage siehe auch Mylonopou-
los, ZStW 121 (2009), 68 (69 ff.); Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht,
4. Aufl. 2010, § 8 Rn. 5 ff.; Hecker, Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. 2010, § 4 Rn. 62 ff.
99
Urteile des EuGH vom 25. März 2004, Cooperativa Lattepiù arl u. a./Azienda di Stato
per gli interventi nel mercato agricolo u. a., C-231/00, C-303/00 und C-451/00, Slg. 2004,
I-2869, Rn. 73 – 77 und vom vom 15. Juli 2004, Gerekens und Procola (siehe Fn. 88), Rn. 36 f.
mit weiterem Nachweis.
100
Vgl. dazu auch die Urteile des EuGH vom 18. November 1987, Maizena GmbH u. a./
Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung (BALM), 137/85, Slg. 1987, 4587
Rn. 13 f. sowie vom 3. März 1982, Alphasteel Ltd./Kommission, 14/81, Slg. 1982, 749,
Rn. 29.
„Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“ im Recht der EU 277

weit weniger plausibel verneint: In dem Fall ging es um schuldlos unrichtig abgege-
bene Erklärungen zur Erlangung landwirtschaftlicher Ausfuhrerstattungen. Der
EuGH hat entschieden, die vorgesehene Geldbuße101 in Höhe des Betrages, der zu
Unrecht ausgezahlt worden wäre, wenn die zuständigen Behörden keine Unregelmä-
ßigkeit entdeckt hätten, habe keinen strafenden Charakter.102 Zur Begründung führt
er aus, die Sanktion diene der Bekämpfung der zahlreichen Unregelmäßigkeiten und
der mit ihnen verbundenen Belastung des Gemeinschaftshaushalts.103 Sie sei zur Ver-
wirklichung der Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik bestimmt und habe so ausweis-
lich der Begründung der Verordnung „einen eigenen Zweck“.104 Sie solle „die Aus-
führer veranlassen, das Gemeinschaftsrecht einzuhalten“105 und könne nur gegen
Wirtschaftsteilnehmer verhängt werden, die sich aus freien Stücken zur Abgabe
eines Antrags entschieden hätten. Der EuGH folgert, die gegenständliche Sanktions-
norm sei eine spezifische Handhabe für die Verwaltung und Bestandteil der Beihil-
feregelung.106 Bemerkenswert ist daran weniger das Ergebnis (Zulassung einer
schuldunabhängigen Bußgeldzahlung) als die Argumentation. Der EuGH verneint
den Strafcharakter mit verhältnismäßig langer Begründung, in der er kein Wort
dazu verliert, welche Eigenschaften eine Norm mit strafrechtlichem Charakter auf-
weisen müsste und wie die gegenständliche Norm sich davon unterscheidet. Die her-
vorgehobenen Merkmale sind für Straftatbestände keineswegs untypisch.
Es besteht wenig Anlass zu bezweifeln, dass der EuGH mit dem Anwendungsbe-
reich des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Strafen ebenso verfahren würde.
Wenn er dessen Anwendung ablehnt, ist aber davon auszugehen, dass er auf seine
qualifizierten Anforderungen an belastende Regelungen zurückgreifen wird. Diese
müssen so „klar und deutlich“ sein, dass der Adressat „seine Rechte und Pflichten
unzweideutig erkennen und somit seine Vorkehrungen treffen kann“.107 Auch
diese Anforderungen leitet der EuGH – ebenso wie vor Art. 49 GRCh den Grundsatz
der Gesetzmäßigkeit der Strafen – unmittelbar aus dem Grundsatz der Rechtssicher-
heit her.

101
Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 1 lit. a der Verordnung Nr. 3665/87 (ABl. L 351 vom 14. 12.
1987, berichtigt im ABl. L 164 vom 7. 7. 1993, S. 12).
102
Urteil des EuGH vom 11. Juli 2002, Käserei Champignon Hofmeister GmbH & Co. KG
(siehe Fn. 97), Rn. 43.
103
Rn. 38 des Urteils (Fn. 102).
104
Rn. 39 des Urteils (Fn. 102) mit weiteren Nachweisen.
105
Rn. 40 des Urteils (Fn. 102) mit weiteren Nachweisen.
106
Rn. 41 des Urteils (Fn. 102) mit weiteren Nachweisen.
107
Urteil des EuGH vom 9. Juli 1981, Administration des douanes/Société anonyme
Gondrand Frères und Société anonyme Garancini (Gondrand Frères), 169/80, Slg. 1981, 1931,
Rn. 17 (Original: „Le principe de sécurité juridique exige qu’une réglementation imposant des
charges au contribuable soit claire et précise, afin qu’il puisse connaître sans ambiguïté ses
droits et obligations et prendre ses dispositions en conséquence.“). Entsprechend z. B. das
Urteil des EuGH vom 20. Mai 2003, Consorzio del Prosciutto di Parma und Salumificio
S. Rita SpA/Asda Stores Ltd und Hygrade Foods Ltd., C-108/01, Slg. 2003, I-5121, Rn. 89
mit weiterer Verweiskette.
278 Jan C. Schuhr

VIII. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen


in der Europäischen Grundrechtecharta
Das Gesetzlichkeitsprinzip steht heute in Art. 49 GRCh:
„Art. 49 Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang
mit Straftaten und Strafen.
(1) 1Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit
ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. 2Es
darf auch keine schwerere Strafe als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt
werden. 3Wird nach Begehung einer Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe eingeführt, so
ist diese zu verhängen.
(2) Dieser Artikel schließt nicht aus, dass eine Person wegen einer Handlung oder Unterlas-
sung verurteilt oder bestraft wird, die zur Zeit ihrer Begehung nach den allgemeinen, von der
Gesamtheit der Nationen anerkannten Grundsätzen strafbar war.
(3) Das Strafmaß darf zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein.“

Die Grundrechtecharta wurde vom europäischen Konvent erarbeitet und zur Er-
öffnung der Tagung des Europäischen Rats in Nizza am 7. Dezember 2000 feierlich
unterzeichnet und proklamiert.108 Mit ihr wurde eine Verbürgung von Grundrechten
geschaffen, die sich gezielt nicht auf den wirtschaftlichen Bereich beschränkt. Ge-
dacht war sie als Teil einer Verfassung der EU.109 Es ist schon deshalb nicht erstaun-
lich, in ihr ein Prinzip mit spezifisch strafrechtlichem Bezug zu lesen.
Die Grundrechtecharta wurde am 12. Dezember 2007, einen Tag vor dem Vertrag
von Lissabon, in leicht geänderter Fassung110 erneut unterzeichnet und veröffent-
licht.111 In Kraft getreten ist sie erst zusammen mit dem Vertrag von Lissabon112
am 1. Dezember 2009. Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 2. Hs. EUV (n.F.) stellt sie in den
Rang der Verträge113. Die Charta gilt nun einerseits für sämtliche Organe, Einrich-
tungen und Stellen der Union und andererseits für die Mitgliedstaaten, für diese
aber „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ (Art. 51 Abs. 1
S. 1 GRCh).
Art. 49 GRCh steht im Titel VI (Justizielle Rechte) zusammen mit dem Recht auf
einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Verfahren (Art. 47 GRCh), der
Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechten (Art. 48 GRCh) und dem Recht,

108
ABl. C 364 vom 18. 12. 2000.
109
Sie bildete Teil II des Vertrages über eine Verfassung für Europa (ABl. C 310 vom 16.
12. 2004), der am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnet wurde, dessen Ratifizierung aber
scheiterte. Art. 49 GRCh hatte dort die Bezeichnung Artikel II-109.
110
In Art. 49 GRCh wurde lediglich in Abs. 3 das heutige „zur“ an die Stelle der früheren
Formulierung „gegenüber der“ gesetzt.
111
ABl. C 303 vom 14. 12. 2007.
112
ABl. C 306 vom 17. 12. 2007.
113
Gemäß Art. 1 Abs. 3 S. 1 EUV n.F. sind das der EUV selbst sowie der AEUV.
„Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“ im Recht der EU 279

wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu wer-
den (Art. 50).
Art. 49 GRCh gibt im Wesentlichen Art. 7 EMRK wieder,114 ergänzt ihn aber an
zwei Stellen: Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh und Art. 49 Abs. 3 GRCh haben im Wortlaut
des Art. 7 EMRK keine Entsprechung. Zwischenzeitlich hat der Europäische Ge-
richtshof für Menschenrechte (EGMR) indes u. a. anknüpfend an bereits vor Geltung
des Art. 49 GRCh ergangene Rechtsprechung des EuGH115 Art. 7 Abs. 1 EMRK da-
hingehend interpretiert, dass auch dieser die lex mitior-Regel verbürge, und dabei
seine ältere entgegenstehende Rechtsprechung aufgegeben.116 Inhaltlich geht
Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh nach dieser Rechtsprechung also nicht über Art. 7
EMRK hinaus. Art. 49 Abs. 3 GRCh hingegen hat einen zwar thematisch verwand-
ten, aber nicht unmittelbar zum Gesetzlichkeitsprinzip gehörenden Inhalt. Es geht
dort vielmehr um einen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
Art. 52 Abs. 1 GRCh enthält zwar eine allgemeine Schrankenregelung.117 Die in-
haltliche Übereinstimmung mit Art. 7 EMRK hat nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh
aber zur Folge, dass die Bestimmung der Grundrechtecharta „die gleiche Bedeutung
und Tragweite, wie sie [ihr] in der genannten Konvention verliehen wird“ hat. Das
bedeutet einerseits, dass eine Einschränkung von Art. 49 GRCh selbst bei Einhaltung
der Voraussetzungen des Art. 52 Abs. 1 GRCh praktisch immer unzulässig wäre. An-
dererseits ist damit eine Anknüpfung an die Rechtsprechung des EGMR intendiert.
Damit zeigt sich heute das Bild weitestgehender Übereinstimmung des Gesetzlich-
keitsprinzips in der Grundrechtecharta und der Europäischen Menschenrechtskon-
vention. Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRCh stellt aber klar, dass ein über die EMRK hinaus-
gehender Schutz im Recht der Union durchaus möglich ist.
Art. 49 GRCh erkennt Grundrechte an, die sich aus den gemeinsamen Verfas-
sungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben. Gemäß Art. 52 Abs. 4 GRCh
ist diese Bestimmung daher auch „im Einklang mit diesen Überlieferungen“ auszu-
legen. Nachdem der EGMR die EMRK ebenso nach diesen Grundsätzen auslegt, sind
Kollisionen der Auslegungsregeln in Art. 52 Abs. 3 und 4 GRCh nicht zu erwarten.

114
Zu einem Überblick über diesen und zentrale Aussagen des EGMR siehe Satzger, In-
ternationales und Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. 2010, § 11 Rn. 77 ff.; Ambos, Internatio-
nales Strafrecht, 2. Aufl. 2008, § 10 Rn. 64 ff.
115
Siehe dazu bereits Fn. 95.
116
Urteil des EGMR Scoppola ./. Italien (Nr. 2) [GK], 17. September 2009, Antrag
Nr. 10249/03, § 109 (sowie §§ 114 – 119).
117
Dessen Voraussetzungen knüpfen an bestehende Rechtsprechung des EuGH an, vgl.
dazu das Urteil des EuGH vom 13. April 2000, K. Karlsson u. a., C-292/97, Slg. 2000, I-2737,
Rn. 45 (= EuGRZ 2000, 524) mit weiteren Nachweisen.
280 Jan C. Schuhr

IX. Zusammenfassung und Ausblick


Das Gesetzlichkeitsprinzip firmiert im Recht der Europäischen Union als „Grund-
satz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“. Er ist heute in Art. 49 Abs. 1 und 2 GRCh
niedergelegt, wurde aber schon zuvor vom EuGH anerkannt. Inhaltlich lehnt das Uni-
onsrecht sich eng an Art. 7 EMRK und die Rechtsprechung des EGMR an. Die Wort-
wahl birgt aber die Gefahr, das Gesetzlichkeitsprinzip mit einer Gesamtbetrachtung
der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung sowie dem Legalitätsprinzip zu vermengen.
Der EuGH leitet insbesondere aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit Anforde-
rungen an die Vorhersehbarkeit hoheitlichen Handelns auf der Grundlage von Uni-
onsrecht ab. Diese sind nicht auf das Strafrecht beschränkt, aber nach dem Grad der
Belastung für den Bürger abgestuft. Die höchsten Anforderungen werden an Sank-
tionsnormen mit strafendem Charakter gestellt; für sie gilt der Grundsatz der Gesetz-
mäßigkeit der Strafen einschließlich des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots. Die
Vorhersehbarkeit prüft der EuGH oft individuell, konkret und subjektiv, sodass der
Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen teilweise Regeln über die Behandlung
eines Verbotsirrtums vertritt. Hinsichtlich seiner Haltung zum Schriftlichkeitserfor-
dernis, zur unionsrechtskonformen Auslegung und zum Bestimmtheitsgebot im
Strafrecht zeichnen sich zwar bereits Konturen ab, die Kernbereiche sind aber bis-
lang noch ungeklärt.
Mit dem Vertrag von Lissabon sind die strafrechtsbezogenen Kompetenzen der
EU erheblich erweitert worden. Es ist damit zu rechnen, dass die bislang wirtschafts-
rechtlich geprägte Rechtsprechung zum Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen
sich künftig verstärkt mit Fällen des Kernstrafrechts wird beschäftigen müssen.
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts
Das Verbot der Rückwirkung von Straftaten und Bestrafungen

Kenneth S. Gallant*

Das berühmte Urteil am Ende der Nürnberger Prozesse von 1946 stellt fest:
„Der Grundsatz nullum crimen sine lege ist keine Begrenzung der Souveränität, sondern ein
allgemeines Prinzip der Gerechtigkeit.“1

Nullum crimen sine lege („Keine Straftat ohne [vorher bestehendes] Gesetz“) war
in anderen Worten 1946 keine bei der Bestrafung von Verbrechen durchsetzbare
Norm des internationalen Rechts. Ähnliches galt für die verwandte Regel nulla
poena sine lege („Keine Strafe ohne [vorher bestehendes] Gesetz“).
Heutzutage stellt nullum crimen, nulla poena sine lege ein international anerkann-
tes Menschenrecht dar. Die Prinzipien sind zu Normen des internationalen Gewohn-
heitsrechts geworden. Sie sind nicht länger „nur“ Grundsätze der Gerechtigkeit. Mit
anderen Worten hat sich das Recht seit den Nürnberger Prozessen gewandelt. Die
Wandlung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit zu einer Norm des Völkergewohn-
heitsrechts war Teil einer grundlegenden und noch andauernden Veränderung der Art
und Weise, in der internationale Menschenrechtsbestimmungen geschaffen und an-
gewendet werden.
Dieser Beitrag soll zwei Dinge aufzeigen:
Erstens, dass das Verbot der Rückwirkung von Straftaten und Bestrafungen zu
einer Norm des Völkergewohnheitsrechts geworden ist.
Zweitens, dass eine Norm des internationalen Menschenrechts ebenso exakt
durch Praxis und opinio juris nachgewiesen werden kann wie jede andere Regel
des internationalen Gewohnheitsrechts. Gelegentlich wird vorgebracht, dass es we-
niger Belege an Staatenpraxis bedürfe, um ein internationales Menschenrecht als
Völkergewohnheitsrecht zu behandeln.2 Allerdings sind die Regeln des internationa-
len Menschenrechts bei weitem sicherer, wenn sie durch die Praxis und opinio juris

* Übersetzung ins Deutsche durch Andreas Doser.


1
United States et al. v. Göring et al., Judgment of 30 September 1946, 1 Trial of the Major
War Criminals Before the International Military Tribunal: Nuremberg 14 November 1945 –
1 October 1946 171, 219 (Nuremberg: International Military Tribunal, 1947) [IMT, Trial].
2
Meron, S. 264.
282 Kenneth S. Gallant

fundiert sind. Das Gesetzlichkeitsgebot ist dabei ein ausgezeichnetes Hilfsmittel zur
Demonstration einer solchen Technik auf dem Gebiet der Menschenrechte.
Da die Gesetzmäßigkeit, wie andere Menschenrechte, die Beziehung zwischen
den Staaten und ihren Staatsangehörigen regelt, muss ein breiteres Spektrum an Pra-
xisquellen herangezogen werden, als es sonst häufig zum Beleg von internationalem
Gewohnheitsrecht der Fall ist, das sich nur auf die Wechselwirkungen zwischen den
Staaten bezieht. Zusätzlich wurden die Praxis und opinio juris internationaler Orga-
nisationen, einschließlich internationaler Tribunale/Gerichte zu vorrangigen Bele-
gen für internationales Gewohnheitsrecht und sind somit nicht mehr nur ein ergän-
zendes Mitteln zu dessen Bestimmung.3 Daher wird dieser Beitrag sowohl die inter-
nationale als auch die innerstaatliche Praxis, einschließlich der von nationalen und
internationalen Organisationen in Verträgen, Verfassungen, Gesetzen, anderen bin-
denden Rechtstexten sowie „case-law“, untersuchen.

I. Die zentralen Regeln der Gesetzmäßigkeit


im internationalen Gewohnheitsrecht
Die Erklärung zum Verbot der Rückwirkung von Straftatbeständen und Bestra-
fungen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN (UN-Menschen-
rechtscharta) von 1948 ist internationales Gewohnheitsrecht geworden:
Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur
Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar
war. Ebenso darf keine schwerere Strafe als die zum Zeitpunkt der Begehung der
strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden.4
Das Verbot einer Handlung oder eines Unterlassens und die Höchststrafe müssen
also auf den Handelnden/Unterlassenden und die Handlung/die Unterlassung zum
Zeitpunkt der Handlung/des Unterlassens anwendbar sein. Eine Handlung/ein Unter-
lassen kann daher keinen mit Strafe bedrohten Gesetzesverstoß darstellen, wenn kein
nationales oder internationales Gesetz zum Tatzeitpunkt auf den Täter und die Tat
anwendbar ist. Wenn die Tat nach einem auf den Täter anwendbaren nationalen
oder internationalen Gesetz strafbar war, kann die Tat nach einem später in Kraft
getretenen Gesetz nur in dem zum Zeitpunkt der Tat erlaubten Umfang bestraft wer-
den.
Diese Auffassung von Gesetzlichkeit findet als Gegenstand der internationalen
Menschenrechte sowohl durch nationale als auch durch internationale Strafgerichte
3
Zu einer Diskussion dieses Punktes durch den Verfasser siehe Kenneth S. Gallant, Inter-
national Criminal Courts and the Making of Public International Law: New Roles for Inter-
national Organizations and Individuals, 43 John Marshall Law Review 603 (2010).
4
Universelle Erklärung der Menschenrechte – Universal Declaration of Human Rights
(Art. 11(2), Vollversammlungsbeschluss 217 (III), 10 Dezember 1948, Art. 11(2) [UN-Men-
schenrechtscharta], GAOR, 3d sess., Teil. I, S. 71).
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts 283

Anwendung, unabhängig davon, ob nationale oder internationale Straftaten verhan-


delt werden. Eine striktere Auffassung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit findet
sich in vielen innerstaatlichen Rechtsordnungen, die besagt, dass das bestimmte Ge-
setz, auf dessen Grundlage eine Person angeklagt wird, zum Zeitpunkt der Tat bereits
in Kraft gewesen sein muss, nullum crimen, nulla poena sine praevia lege scripta.5
Diese striktere Auffassung ist jedoch nicht zu internationalem Gewohnheitsrecht ge-
worden, das Staaten und/oder internationale Organisationen binden würde.
Mit Rücksicht auf den begrenzten Platz wird dieser Beitrag zumindest zwei für die
Schaffung eines Systems des Verbots der Rückwirkung von Straftat und Bestrafung
wichtige Doktrinen nicht analysieren. Die erste ist die der Vorhersehbarkeit und der
damit verwandten Idee der Klarheit. Gesetzesinterpretation und Entwicklungen des
common law sowie des internationalen Gewohnheitsrechts können manchmal zu
Verurteilungen für Taten führen, für die es in der Vergangenheit noch keine Verur-
teilungen gab. Das ist insoweit akzeptabel, als der Täter vernünftigerweise hätte vor-
hersehen können, dass die Tat nach dem zum Tatzeitpunkt bestehenden Gesetz, com-
mon law oder internationalen Gewohnheitsrecht als strafbar behandelt werden wird.6
Das übliche Maß an strafrechtlicher Klarheit wurde kürzlich von Ward N. Ferdinand-
usse basierend auf der Rechtsprechung des EGMR treffend wie folgt beschrieben:
„Der Wesenskern des Prinzips der Gesetzmäßigkeit, also dass ein Individuum
nicht strafrechtlich verfolgt werden kann für ein Verhalten, von dessen Strafbarkeit
es nichts wissen konnte, erfordert, dass ein Gesetz so klar sein muss, dass seine Fol-
gen vorhersehbar sind.“7

5
Siehe bspw. die Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 Art. 8
(„[N]iemand darf bestraft werden außer aufgrund eines Gesetzes, das vor der Straftat verab-
schiedet und veröffentlicht ist“).
6
Für eine ausführliche Darstellung, siehe Gallant, Chap. 4.h. Es gibt eine beachtenswerte
Entwicklung in der Doktrin der Vorhersehbarkeit in der Rechtsprechung des EGMR (der sich
stets mit Entscheidungen nationaler Gerichte der Unterzeichnerstaaten befasst). Einige dieser
Fälle sind: Kokkinakis v. Greece, Judgment, Eur. Ct. H.R. (25 May 1993), ser. A-260-A, 40;
G. v. France, Judgment, Eur. Ct. H.R. (27 September 1995), ser. A-325-B; Baskaya v. Turkey,
Judgment, Eur. Ct. H.R. (8 July 1999), 39; C. R. v. United Kingdom, Judgment, Case. No.
Case No. 48/1994/495/577, Eur. Ct. H.R. (27 October 1995); S. W. v. United Kingdom,
Judgment, Case No. 47/1994/494/576, Eur. Ct. H.R. (27 October 1995); Streletz, Kessler and
Krenz v. Germany, 54 – 55, 74 – 76, 77 – 106, Case Nos. 34044/96, 35532/97, 44801/98, Eur.
Ct. H.R. 2001-II (22 March 2001) (die Handlungen waren nach DDR-Recht zum Zeitpunkt
der Tatbegehung illegal und die strafrechtliche Verantwortlichkeit daher vorhersehbar);
K.-H. W. v. Germany, 49 – 50, 66 – 67, 68 – 91, Case No. 37201/97, Eur. Ct. H.R. 2001-II (22
March 2001) (mit ähnlicher Folge). Zu Fällen nationaler Gerichte, die die unvorhersehbare
Ausdehnung von strafrechtlicher Verantwortlichkeit durch richterliche Gesetzesauslegung
betreffen, siehe Bouie v. City of Columbia, 378 U.S. 347 (1964); Public Prosecutor v. Ma-
nogaran, [1997] 2 L.R.C. 288 (Ct. of App. of Singapore), vermerkt in Nihal Jayawickrame,
The Judicial Application of Human Rights Law: National, Regional and International Juris-
prudence 588 (Cambridge Univ. Press, 2002).
7
Ward N. Ferdinandusse, Direct Application of International Criminal Law in National
Courts 238 (TMC Asser 2006) 238, sich auf G. v. France, Judgment, Eur. Ct. H.R. 24 – 25 (27
September 1995), und Sunday Times v. United Kingdom, Judgment, Eur. Ct. H.R. 48 – 49 (26
284 Kenneth S. Gallant

Der zweite hier nicht vertiefte Aspekt betrifft die Frage danach, was eigentlich
„Bestrafung“ im Sinne eines strafrechtlichen Rückwirkungsverbots darstellt. Einige
Staaten erlauben gegenwärtig Freiheitsverkürzungen wie die Einweisung von psy-
chischen Kranken und andere rehabilitive Maßnahmen, selbst wenn diese erst
nach der Tat durch ein Gesetz angeordnet werden.

II. Der Hintergrund zur Zeit des Zweiten Weltkrieges:


Keine Regel des internationalen Gewohnheitsrechts
Die am Anfang berichtete Aussage aus den Nürnberger Prozessen von 1946, dass
der nullum crimen-Grundsatz keine Beschränkung der Souveränität darstellt, war zu
diesem Zeitpunkt zutreffend. Am Ende des Zweiten Weltkrieges steckte das Recht
der internationalen Menschenrechte in seinem engsten Sinn als Beschränkung des
Rechts der Staaten, mit seinen Angehörigen (und ebenso den Angehörigen anderer
Staaten) nach Belieben zu verfahren, noch in den Kinderschuhen. Besondere Regeln
des Völkergewohnheitsrechts für die Art und Weise, in der ein Staat seine Justiz aus-
übt, waren noch nicht geschaffen.
So hielt zum Beispiel nicht lange vor dem zweiten Weltkrieg der Permanent Court
of International Justice in einer beratenden Stellungnahme ein von den Nazis inspi-
riertes Gesetz in Danzig, das zum ersten Mal die Schaffung rückwirkender Straftaten
und Sanktionen erlaubte, für gültig. Der Permanent Court of International Justice
behandelte den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit nicht als Gegenstand der internatio-
nalen Menschenrechte – also nicht als Frage von Rechten eines Individuums gegen
staatliche Behörden. Stattdessen stellte er auf die besondere Rolle des Völkerbundes
beim Schutz Danzigs und seiner Verfassung ab und vertrat den Standpunkt, dass das
von den Nazis inspirierte Gesetz gegen die Verfassung Danzigs als einer dem Rechts-
staatsprinzip unterworfenen Körperschaft verstoße.8
Zum Zeitpunkt des Endes des Zweiten Weltkriegs hatte das Rückwirkungsverbot
nur in einer Minderheit der Staaten Verfassungsrang.9 In anderen Staaten war es im-
merhin auf einfach gesetzlicher Ebene verankert.10 Bedeutende Staaten ohne Rück-

April 1979) stützend. Für eine klare Erklärung der Vorhersehbarkeit im Zusammenhang der
internationalen Kernverbrechen, siehe im Allgemeinen Ferdinandusse, S. 238 – 248.
8
Advisory Opinion on the Consistency of Certain Danzig Legislative Decrees with the
Constitution of the Free City, 4 December 1935, P.C.I.J. (ser. A/B) No. 65.
9
Siehe Documented Outline of an International Bill of Rights, UN Doc. E/CN.4/AC.1/3/
Add.1, arts. 25 – 26, pp. 215 – 234 (2 June 1947); [United Nations] Yearbook on Human Rights
1946, UN Sales No. 1948.XIV.1 (rep. William S. Hein & Co. 1996), beide behandelt in Gal-
lant, Kap. 5.b.
10
Italienisches Strafgesetz von 1931 Art. 1, 2 (ohne eine verfassungsrechtliche Vorschrift
zur Gesetzlichkeit im Strafrecht; festzuhalten ist, dass das faschistische Italien anders als
Nazi-Deutschland das Rückwirkungsverbot gesetzlich beibehalten hat); Lebanesischer Code
Pénal von 1943 Art. 1 – 14 (nulla poena nicht in der Verfassung enthalten).
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts 285

wirkungsverbot waren: die Sowjetunion,11 Großbritannien (das zu diesem Zeitpunkt


noch immer die Schaffung von Straftaten nach common law zuließ und wegen der
Doktrin der Oberherrschaft des Parlaments rückwirkende Strafgesetze nicht verbot),
einige andere common law Länder, die die Beschränkung der Parlamente und Ge-
richte durch die Verfassung noch nicht kannten, sowie einige islamisch-rechtliche
Länder (für Straftaten, die als ta’azir [Gegenstand eines gewissen Maßes an Ermes-
sen] nach islamischem Recht qualifiziert wurden).12 Zudem erlaubten auch einige
Staaten mit kodifikatorischer Rechtstradition im ersten Teil des 20. Jahrhunderts
die Analogiebildung bei Straftaten.13 Analogien dienten somit als Technik dazu, Ver-
halten zu kriminalisieren, das zwar nicht vom Wortsinn, wohl aber von Sinn und
Zweck der Norm erfasst wurde.14 Selbst die USA verboten unvorhersehbare Erwei-
terungen von Straftatbeständen durch Gerichte erst in den 1960ern.15
Die Aussage des Urteils zu den Nürnberger Prozessen von 1946 zum Status von
nullum crimen sine lege war also korrekt. Wie wir sehen werden, hat sich das Recht
diesbezüglich geändert.

III. Der Wandel seit dem Zweiten Weltkrieg:


Der Beweis, dass das Verbot der Rückwirkung von Straftatbeständen
und Sanktionen eine Regel des internationalen Gewohnheitsrechts
geworden ist
Der Beleg für das völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Menschenrecht auf Ge-
setzlichkeit basiert auf Praxis und Rechtsauffassungen der Staaten, Gründungs- und
anderer Dokumente, auf Praxis und Rechtsauffassungen internationaler Organisatio-
nen (insbesondere, aber nicht ausschließlich der internationaler Strafgerichte und

11
Siehe John N. Hazard/Isaac Shapiro, The Soviet Legal System: Post-Stalin Documen-
tation and Historical Commentary, I-4 und n. 3 (Oceana Publications 1962), der Art. 16 des
Strafgesetz der RSFSR von 1926, der Art. 10 des Strafgesetz der RSFSR von 1922 1 Sob.
Uzak. RSFSR, Nr. 15, Punkt 153 (in Kraft getreten am 1. Juni 1922) wiederholt.
12
Siehe Haidar Ala Hamoudi, The Muezzin’s Call and the Dow Jones Bell: On the Ne-
cessity of Realism in the Study of Islamic Law, 56:2 Am. J. Comp. L. (oben) (sec. II.A)
[Hamoudi]; Ghaouti Benmelha, Ta’azir Crimes, in: The Islamic Criminal Justice System 211,
S. 216 – 217 und n. 15 (M. Cherif Bassiouni [Hrsg.], Oceana Publications 1982), der sich auf
Abu ‘Abd Allah al-Zubayr (d. 939 c.e.) aus der Schafiitischen-Rechtsschule (für die These,
dass einige islamische Gesetze eine der im Zivilrecht anerkannten, der Analogie ähnliche
Technik auf ta’azir-Straftaten erlauben) stützt; Stefan Glaser, Nullum Crimen Sine Lege, 24 J.
Comp. Legis. & Int’l L., 3d ser., 1942, S. 29, 32 (Widerstand gegen nulla poena in Afgha-
nistan im frühen 20. Jhd.).
13
Jerome Hall, Nulla Poena Sine Lege, 47 Yale L.J. 165, 1938, S. 172 – 180.
14
Siehe Gallant, Kap. 1.c.ii.
15
U.S. Verf., amend. XIV(1) (1868) (Grundsatz des fairen Verfahrens, der für die US-
Bundesstaaten gilt) wurde dazu herangezogen, im Fall Bouie v. City of Columbia, 378
U.S. 347 (1964) das Verbot unvorhersehbarer Ausdehnung der strafrechtlichen Verantwort-
lichkeit zu begründen. Ebenso in Rogers v. Tennessee, 532 U.S. 451 (2001).
286 Kenneth S. Gallant

-tribunale), auf Beiträgen von Rechtsexperten und auf anderen Beweisen.16 Diese
zeigen, dass Gesetzmäßigkeit auch ein allgemeines, von der Gemeinschaft der Staa-
ten anerkanntes Rechtsprinzip ist.

1. Staatenpraxis – Staaten verpflichten sich selbst


zum Verbot der Rückwirkung von Straftaten und Strafen
durch Verfassung, Gewohnheit und Abkommen

Alle bis auf zwei Mitglieder der UN akzeptieren das allgemeine Verbot der Rück-
wirkung von Straftatbeständen und Sanktionen durch Verfassung, Gesetz, Abkom-
men (dem IPbpR und/oder andere Menschenrechtsabkommen) oder einer Kombina-
tion der drei Rechtsformen. In der großen Mehrheit der Staaten ist das Rückwir-
kungsverbot verfassungsrechtlich verankert. Mehr als vier Fünftel (162 der 192
oder etwa 84 %) der UN-Mitglieder erkennen das Rückwirkungsverbot für Straftaten
(nullum crimen) in ihren Verfassungen an.17 Mehr als drei Viertel (147 der 192 oder

16
Dieses Material ist zusammengetragen und ausführlich dargestellt in Gallant, Kap. 4
(state treaty practice and opinio juris and international human rights court practice), 5 (internal
state practice), 6 (international and hybrid national-international criminal tribunal practice),
und den Anhängen A–C. Die meisten Belege in diesem Beitrag sind diesem Material ent-
nommen und aktualisiert, um neuen Entwicklungen gerecht zu werden.
17
Dieses Material ist zusammengefasst in Gallant, Anhang A, mit der Dokumentation der
Texte bis Anfang 2008 in Anhang C. Eine aktualisierte Liste der verfassungsrechtlichen nul-
lum crimen Vorschriften bis Mitte 2010: Afghanische Verf. Art. 24 (alternative Nummerierung
Kap. 2, Art. 7); Albanische Verf. Art. 29(1); Algerische Verf. Art. 46, 140; Andorranische
Verf. Art. 3(2), 9(4); Angolanische Verf. Law, Art. 9(3, 4); Verf. von Antigua & Barbuda
Art. 15(4); Argentinische Verf. Art. 18; Armenische Verf. Art. 22; Aserbaidschanische Verf.
Art. 71(VIII); Bahamaische Verf. Art. 20(4); Bahrainische Verf. Art. 20(a); Bangladeschische
Verf. Art. 35(1); Barbadische Verf. Art. 18(4); Belarussische (Weißrussische) Verf. Art. 104;
Belizische Verf. Art. 6(4); Beninische Verf. Art. 7, 17; Bolivische Verf. Art. 129 (neue Ver-
fassung, bestätigt durch Referendum vom Januar 2009); Verf. von Bosnien & Herzegowina
Verf. Art. II(2); Botswanische Verf. Art. 10(4); Brasilianische Verf. Art. 5(XXXIX, XL);
Bulgarische Verf. Art. 5(3); Verf. von Burkina Faso Art. 5; Burundische Verf. Art. 19, 39, 41;
Kambodschanische Verf. Art. 31 (Einbindung der UN-Menschenrechtscharta und von Men-
schenrechtsabkommen); Kamerunische Verf., Präambel; Kanadische Verf.-Gesetz, Art. 11(g);
Kapverdische Verf. Art. 16(5), 30(2); Verf. der Zentralafrikanischen Republik Art. 3; Verf. des
Tschads Art. 23; Chilenische Verf. Art. 19(3); Kolumbianische Verf. Art. 28, 29; Komorische
Verf. Art. 48; Verf. der Dem. Rep. Kongo Art. 17; Verf. Costa Ricas Art. 34, 39; Verf. der
Elfenbeinküste Art. 21; Kroatische Verf. Art. 31; Kubanische Verf. Art. 59; Zypriotische Verf.
Art. 12(1); Verf. der Tschechischen Republik Art. 3 und Tschechische Charta der Grundrechte
und Grundfreiheiten Art. 40(6); Djiboutische Verf. Art. 10; Dominikanische Verf. Art. 8(4);
Verf. der Dominikanischen Rep. Art. 47; Verf. Ost-Timors Art. 31(2, 5); Ecuadorianische
Verf. Art. 24(1); Ägyptische Verf. Art. 66, 187; Verf. El Salvadors Art. 15; Äquatorialguinea
Fundamental Law Art. 13(s); Eritreische Verf. Art. 17(2); Estländische Verf. Art. 23; Äthio-
pische Verf. Art. 22(1); Verf. Fidschis Art. 28(1)(j); Finnländische Verf., ch. 2, § 8; Franzö-
sische Verf. Präambel und Erklärung der Rechte der Menschen und Bürger Art. 8; Gabunische
Verf. Art. 79 (nur hinsichtlich hoher Regierungsbeamten; Gabun ist an nullum crimen und
nulla poena für Straftaten allgemein durch den ACHPR und den IPbpR gebunden); Gambi-
sche Verf. Art. 24(5); Georgische Verf. Art. 42(5); Deutsches Grundgesetz Art. 103(2); Gha-
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts 287

etwa 76 %) erkennen auch das Rückwirkungsverbot für erhöhte Sanktionen (nulla


poena) durch ihre Verfassungen an.18 Das bedeutet, dass eine große Mehrheit der

naische Verf. Art. 19(5, 6, 11), 107; Griechische Verf. Art. 7(1); Verf. Grenadas Art. 8(4);
Guatemaltekische Verf. Art. 15, 17; Verf. von Guinea Art. 9, 122 (7. Mai 2010) (Art. 9 all-
gemein, Art. 122 besonders für hohe Regierungsbeamte); Verf. von Guinea-Bissau Art. 33(2);
Guyanische Verf. Art. 144(4); Haitische Verf. Art. 51; Honduranische Verf. Art. 95, 96; Un-
garische Verf. Art. 57(4); Isländische Verf. Art. 69; Indische Verf. Art. 20(1); Indonesische
Verf. Art. 28I(1); Iranische Verf. Art. 169; Irakische Verf. Art. 19(2, 10); Irische Verf. Art. 15
(5)(1); Italienische Verf. Art. 25; Jamaikanische Verf. Art. 20(7); Japanische Verf. Art. 39;
Kasachische Verf. Art. 77(3)(5, 10); Kenianische Verf. Art. 50(2)(n) (21. August 2010); Ki-
ribatische Verf. Art. 10(4); Verf. der Rep. Korea, Art. 13(1); Kuwaitische Verf. Art. 32; Kir-
gisische Verf. Art. 6(5) (bestätigt in einem Referendum Juni 2010); Lettische Verf. Art. 89
(verfassungsrechtliches Erfordernis des Schutzes grundlegender Menschenrechte in Überein-
stimmung mit internationalen Abkommen, die Lettland binden, die die Implementierung des
EMRK und des IPbpR zu erfordern scheint); Lesothische Verf. Art. 12(4); Liberische Verf.
Art. 21(a); Mazedonische Verf. Art. 14, 52; Madagassische Verf. Art. 13; Malawische Verf.
Art. 42(2)(f)(vi); Malaiische Verf. Art. 7(1); Maledivische Verf. Art. 17(1); Malische Verf.
Art. 9; Maltesische Verf. Art. 39(8); Verf. der Marshall Is. Art. II(8)(1); Mauritische Verf.,
Kap. II, Art. 10(4); Mexikanische Verf. Art. 14; Micronesische Verf. Art. IV(11); Moldawi-
sche Verf. Art. 22; Monegassische Verf. Art. 20; Montenegrinische Verf. Art. 33, 34; Marok-
kanische Verf. Art. 4; Mosambikanische Verf. Art. 99; Verf. Myanmars Art. 43, 353, 377
(2008); Namibische Verf. Art. 12(3); Verf. von Nauru Art. 10(4); Nepalesische Übergangs-
verf. [2007], Art. 24(4); Niederländische Verf. Art. 16; Nicaraguanische Verf. Art. 34(11), 38,
100; Verf. des Nigers Art. 15, 16, 17; Nigerianische Verf. Art. 36 (8, 12); Norwegische Verf.
Art. 96, 97; Omanisches Grundgesetz des Staates Art. 75; Pakistanische Verf. Art. 12(1) (mit
Ausnahmen für bestimmte Fälle der Zersetzung der Verfassung); Palauische Verf. Art. IV(6);
Verf. Panamas Art. 31, 46; Papua Neu Guineische Verf. Art. 37(2, 7, 21, 22 – wobei in
Dorfgerichten nullum crimen und nulla peona einfachgesetzliche Geltung zu beanspruchen
scheinen); Paraguayische Verf. Art. 14, 17(1); Peruanische Verf. Art. 2(24)(d); Philippinische
Verf. Art. III(22); Polnische Verf. Art. 42(1); Portugiesische Verf. Art. 29(1); Verf. Katars
Art. 40; Rumänische Verf. Art. 15(2); Russische Verf. Art. 54; Ruandische Verf. Präambel 9,
Art. 18, 20; Verf. von St. Kitts & Nevis Art. 10(4); Verf. von St. Lucia Art. 8(4); Verf. St.
Vincent & the Grenadines Art. 8(4); Samoanische Verf. Art. 10(2); Verf. von São Tomé und
Príncipe Art. 7, 36; Senegalesische Verf. Art. 9; Serbische Verf. Art. 34, 197; Seychellische
Verf. Art. 19(4); Sierra Leonische Verf. Art. 23(7); Singapurische Verf. Art. 11(1) (mit Aus-
nahmen für bestimmte politische Straftaten); Slowakische Verf. Art. 50(6); Slowenische Verf.
Art. 28, 153, 155; Verf. der Solomon Is. Art. 10(4); Somalische Verf. Art. 34; Südafrikanische
Verf. Art. 35(3)(l); Spanische Verf. Art. 9(3), 25(1); Sri-lankische Verf. Art. 13(6); Sudanesi-
sche Übergangsnationalverfassung Art. 34(4); Verf. Surinamas Art. 131(2); Swasiländisches
Verf.-Gesetz § 21(5); Schwedisches Grundgesetz zur Regierungsform Kap. 2, Art. 10; Syri-
sche Verf. Art. 30; Tadschikische Verf. Art. 20; Tansanische Verf. Art. 13(6)(c); Thailändische
Verf. § 39; Verf. Togos Art. 19; Tongische Verf. Art. 20; Tunesische Verf. Art. 13; Türkische
Verf. Art. 38; Turkmenische Verf. Art. 43; Verf. Tuvalus § 22(6); Ugandische Verf. Art. 28(7);
Ukrainische Verf. Art. 58; Verf. der Vereinigten Arabischen Emirate Art. 27; U.S. Verf. Art. I,
§§ 9, 10; Verf. von Vanuatu Art. 5(2)(f); Venezolanische Verf. Art. 24, 49(6); Jemenitische
Verf. Art. 46, 103; Sambische Verf. Art. 18(4, 8); Simbabwische Verf. Art. 18(5). Die Zahlen
im Text beziehen sich nicht auf solche Staaten, die nulla poena verfassungsrechtlich nur auf
hohe Regierungsbeamte anwenden und andere Quellen für die allgemeine Anwendung im
Strafrecht haben.
18
Dieses Material ist zusammengefasst in Gallant, Appendix A, mit einer Dokumentation
des Wortlauts von Anfang 2008 im Appendix C. Eine aktualisierte Liste (bis Mitte 2010) der
288 Kenneth S. Gallant

verfassungsrechtlichen nulla poena Vorschriften: Afghanische Verf. Art. 24 (alternative


Nummerierung Kap. 2, Art. 7); Albanische Verf. Art. 29(2); Algerische Verf. Art. 140, 142;
Andorranische Verf. Art. 3(2), 9(4); Angolanische Verf.-Gesetz, Art. 9(4); Verf. von Antigua
& Barbuda Art. 15(4); Argentinische Verf. Art. 18; Armenische Verf. Art. 22; Verf. der Ba-
hamas Art. 20(4); Verf. Bahrains Art. 20(a); Bangladeschische Verf. Art. 35(1); Barbadische
Verf. Art. 18(4); Belarussische (weißrussische) Verf. Art. 104; Belizische Verf. Art. 6(4);
Beninische Verf. Art. 7, 17; Bolivische Verf. Art. 129 (neue Verfassung bestätigt durch Re-
ferendum vom Januar 2009); Verf. von Bosnien & Herzegowina Verf. Art. II(2); Botswanische
Verf. Art. 10(4); Brasilianische Verf. Art. 5(XXXIX, XL); Verf. von Burkina Faso Art. 5;
Burundische Verf. Art. 19, 39, 41; Kambodschanische Verf. Art. 31 (Einbindung der UN-
Menschenrechtscharta und von Menschenrechtsabkommen); Kamerunische Verf. Präambel;
Kanadische Verf.-Gesetz Art. 11(i); Kapverdische Verf. Art. 16(5), 30(2); Verf. der Zentral-
afrikanischen Republik Art. 3; Chilenische Verf. Art. 19(3); Kolumbische Verf. Art. 28, 29;
Komorische Verf. Art. 48; Verf. Dem. Rep. Kongo Verf. Art. 17; Costa-ricanische Verf.
Art. 34; Ivorische Verf. Art. 112 (nur hinsichtlich hoher Regierungsbeamten – für Straftaten
im Allgemeinen ist nulla poena einfachgesetzlich); Kroatische Verf. Art. 31; Kubanische
Verf. Art. 59; Zypriotische Verf. Art. 12(1); Verf. der Tschechischen Rep. Art. 3 und Tsche-
chische Charta der Grundrechte und -freiheiten Art. 40(6); Djiboutische Verf. Art. 10; Do-
minikanische Verf. Art. 8(4); Verf. der Dominikanischen Rep. Art. 47; Verf. Ost-Timors
Art. 31(3, 5); Ecuadorianische Verf. Art. 24(1); Ägyptische Verf. Art. 66, 187; El Salvado-
rianische Verf. Art. 15; Grundgesetz Äquatorialguineas Art. 13(s); Estländische Verf. Art. 23;
Äthiopische Verf. Art. 22(1); Verf. Fidschis Art. 28(1)(j); Finnische Verf. Kap. 2, § 8; Fran-
zösische Verf. Präambel und Französische Erklärung der Rechte der Menschen und der Bürger
Art. 8; Gabunische Verf. Art. 79 (nur hinsichtlich hoher Regierungsbeamter ist Gabun an
nullum crimen und nulla poena für Straftaten im Allgemeinen durch den ACHPR und den
IPbpR gebunden); Gambische Verf. Art. 24(5); Georgische Verf. Art. 42(5); Ghanaische Verf.
Art. 19(5, 6, 11), 107; Griechische Verf. Art. 7(1); Grenadische Verf. Art. 8(4); Guatemalte-
kische Verf. Art. 15, 17; Verf. von Guinea Art. 9, 122 (7 Mai 2010) (Art. 9 allgemein, Art. 122
besonders, wohl ausdrücklich, für hohe Regierungsbeamte); Verf. von Guinea-Bissau Art. 33
(2); Guyanische Verf. Art. 144(4); Haitische Verf. Art. 51; Honduranische Verf. Art. 95, 96;
Ungarische Verf. Art. 57(4); Isländische Verf. Art. 69; Indische Verf. Art. 20(1); Indonesische
Verf. Art. 28I(1); Irakische Verf. Art. 19(2, 10); Italienische Verf. Art. 25; Jamaikanische Verf.
Art. 20(7); Kasachische Verf. Art. 77(3)(5); Kenianische Verf. Art. 50(2)(p) (21. August
2010); Kiribatische Verf. Art. 10(4); Kuwaitische Verf. Art. 32; Kirgisische Verf. Art. 6(5)
(bestätigt durch Referendum im Juni 2010); Lettische Verf. Art. 89 (verfassungsrechtliches
Erfordernis des Schutzes grundlegender Menschenrechte in Übereinstimmung mit interna-
tionalen Abkommen, die Lettland binden, die die Implementierung des EMRK und des IPbpR
zu erfordern scheint); Lesothische Verf. Art. 12(4); Liberische Verf. Art. 21(a); Mazedonische
Verf. Art. 14, 52; Madagassische Verf. Art. 13; Malawische Verf. Art. 42(2)(f)(vi); Malaiische
Verf. Art. 7(1); Maledivische Verf. Art. 17(2); Malische Verf. Art. 95 (nur hinsichtlich hoher
Regierungsbeamter – hinsichtlich allgemeiner Straftaten wird nulla poena von ACHPR und
IPbpR erfordert); Maltesische Verf. Art. 39(8); Verf. der Marshall Is. Art. II(8)(1); Mauriti-
sche Verf. Kap. II, Art. 10(4); Mexikanische Verf. Art. 14; Mikronesische Verf. Art. IV(11);
Moldawische Verf. Art. 22; Monegassische Verf. Art. 20; Montenegrinische Verf. Art. 33, 34;
Marokkanische Verf. Art. 4; Mosambikanische Verf. Art. 99(2); Verf. von Myanmar Art. 43,
353, 377 (2008); Namibische Verf. Art. 12(3); Verf. Naurus Art. 10(4); Nepalesische Über-
gangsverf. [2007], Art. 24(4); Nicaraguanische Verf. Art. 34(11), 38, 100; Verf. des Nigers
Art. 16, 17; Nigerianische Verf. Art. 36 (8, 12); Norwegische Verf. Art. 96, 97; Grundgesetz
des Staates von Oman Art. 21, 75; Pakistanische Verf. Art. 12(1); Verf. von Palau Art. IV(6);
Panamaische Verf. Art. 46; Papua Neu Guineaische Verf. Art. 37(2, 7, 21, 22) (wobei für
Dorfgerichte nullum crimen und nulla peona anscheinend einfachgesetzlich sind); Paragua-
yische Verf. Art. 14, 17(1); Peruanische Verf. Art. 2(24)(d); Philippinische Verf. Art. III(22);
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts 289

UN-Mitgliedsstaaten19 beide Grundsätze in ihrem höchsten nationalen Rechtsdoku-


ment anerkennen.
15 Staaten haben beide Grundsätze als einfachgesetzliche Regelungen implemen-
tiert: Österreich, Belgien, die VR China, Dänemark, Israel, Libanon, Litauen, Lich-
tenstein, Luxemburg, Mauretanien, Neuseeland, Saudi Arabien, die Schweiz, das
Vereinigte Königreich, Uruguay und Usbekistan.20

Polnische Verf. Art. 42(1); Portugiesische Verf. Art. 29(4); Verf. Katars Art. 40; Rumänische
Verf. Art. 15(2); Russische Verf. Art. 54; Ruandische Verf. Präambel 9, Art. 20; Verf. von St.
Kitts & Nevis Art. 10(4); Verf. von St. Lucia Verf. Art. 8(4); Verf. von St. Vincent & the
Grenadines Art. 8(4); Samoanische Verf. Art. 10(2); Verf. von São Tomé und Príncipe Art. 7,
36; Senegalesische Verf. Art. 9; Serbische Verf. Art. 34, 197; Seychellische Verf. Art. 19(4);
Sierra Leonische Verf. Art. 23(8); Singapurische Verf. Art. 11(1); Slowakische Verf. Art. 50
(6); Slowenische Verf. Art. 28, 153, 155; Verf. der Solomon Is. Art. 10(4); Somalische Verf.
Art. 34; Südafrikanische Verf. Art. 35(3)(n); Spanische Verf. Art. 9(3); Sri-lankische Verf.
Art. 13(6); Surinamische Verf. Art. 131(2); Verf.-Gesetz des Swasilandes § 21(6); Schwedi-
sches Grundgesetz zur Regierungsform Kap. 2 Art. 10; Syrische Verf. Art. 30; Tadschikische
Verf. Art. 20; Tansanische Verf. Art. 13(6)(c); Thailändische Verf., Abschnitt 39; Togoische
Verf. Art. 129 (nur im Bezug auf hohe Regierungsbeamte; Togo ist an nulla poena für allge-
meine Straftaten durch ACHPR und IPbpR gebunden); Tongische Verf. Art. 20; Tunesische
Verf. Art. 13; Türkische Verf. Art. 38; Turkmenische Verf. Art. 43; Verf. von Tuvalu § 22(7);
Ugandische Verf. Art. 28(8); Ukrainische Verf. Art. 58; Verf. der VAE Art. 27; U.S. Verf.
Art. I, §§ 9, 10; Verf. von Vanuatu Art. 5(2)(g); Venezolanische Verf. Art. 24; Jemenitische
Verf. Art. 46, 103; Sambische Verf. Art. 18(4, 8); Simbabwische Verf. Art. 18(5). Ausnahmen
von diesen Vorschriften werden in Gallant, Kap. 5.c.vi diskutiert und sind in Appendix A
vermerkt sowie in Appendix C dokumentiert. Die Zahlen im Text beziehen sich nicht auf
solche Staaten, die nulla poena verfassungsrechtlich nur auf hohe Regierungsbeamte anwen-
den und andere Quellen für die allgemeine Anwendung im Strafrecht haben.
19
Zu Körperschaften, die nicht Mitglied der UN sind und diese Doktrinen angenommen
haben, siehe Kosovo Verf. Art. 33 (2008) (Der Kosovo wird von einigen Staaten als Staat
anerkannt); Palästinensisches Ergänztes Grundgesetz Art. 15 (Palästina ist eine Körperschaft,
die die Anerkennung als Staat anstrebt); Türkische Rep. Nordzypern Verf. Art. 18(1) (nur von
der Türkei als Staat anerkannt; der UN-Sicherheitsrat hat die Staaten in der Resolution UN
Security Council Res. 541, UN Doc. S/RES 541 (18. November 1983) dazu angehalten, diese
nicht als Staat anzuerkennen).
20
„Civil law“-Staaten: Österreichisches StGB § 1; Belgischer Crim. Code Art. 2; Däni-
scher Crim. Code §§ 3, 4; Liechtensteinisches StGB § 1; Luxemburgischer Code Pénal Art. 2;
Schweizer Code Pénal Art. 1, 2; Uruguayischer Código Penal Art. 15. Common-law-Staaten:
New Zealand Bill of Rights Act Art. 26(1); United Kingdom Human Rights Act 1998,
sched. 1, pt. 1, Art. 7; siehe auch Knuller (Publishing, Printing and Promotions), Ltd. v. DPP,
[1973] AC 435 (U.K. H.L.). Kommunistische oder frühere Sowjetstaaten, die in der Vergan-
genheit die Gesetzlichkeit abgelehnt haben: Volksrepublik China Strafgesetz Art. 12 und Le-
gislativgesetz Art. 84; Litauer Strafgesetz Art. 3; Usbekisches Strafgesetz Art. 13. Drei Staa-
ten mit Verbindungen zu Europa und einer religiösen Rechtstradition: Israelisches Strafgesetz
§§ 1 – 6; Libanesischer Code Pénal Art. 1 – 3, 6 – 8, 12 – 14; Mauretanischer Code Pénal Art. 4.
Islam-rechtliche Staaten: Saudi Arabisches Grundgesetz des Beratungsgremiums Art. 38,
Dekret A-90 (obwohl dieses Dokument manchmal wie eine Verfassung behandelt wird, ist die
offizielle Verfassung Saudi-Arabiens der Koran und die Sunna des Propheten).
Die Republik China (Taiwan) (deren Verfassung noch immer behauptet, der einzige Staat
Chinas zu sein) implementiert diese Regeln ebenfalls durch Gesetz. Republik China Strafge-
290 Kenneth S. Gallant

Eine andere Gruppe sind die vierzehn Staaten, die zwar eine nullum crimen Vor-
schrift in ihrer Verfassung haben, aber keine (ausdrückliche) zu nulla poena. Aller-
dings hat jeder dieser Staaten heutzutage das Verbot rückwirkender neuer Bestrafun-
gen anerkannt: Fünf dieser Länder haben dies durch Gesetz getan: Bulgarien,
Deutschland, die Elfenbeinküste, Japan und die Niederlande.21 Alle dieser Länder
haben eines oder mehrere Menschenrechtsabkommen akzeptiert, die das Rückwir-
kungsverbot für Straftatbestände und Sanktionen beinhalten,22 einschließlich jener
Staaten, in denen sich kein gesetzliches Verbot finden lässt: Aserbaidschan, Eritrea,
Iran, Irland, Südkorea, Mali, der Sudan, Togo und der Tschad.23
Zudem gibt es eine Gruppe von Staaten, die zwar Menschenrechtsabkommen ak-
zeptiert haben, die die Verpflichtung zum Rückwirkungsverbot von Straftaten und
Sanktionen enthalten, für die sich jedoch weder entsprechende verfassungsrechtliche
noch einfachgesetzliche Vorschriften finden: Zu dieser Gruppe gehören Australien,
Gabun, Jordanien, die Republik Kongo, Laos, Libyen, die Mongolei, Nordkorea, San
Marina, Trinidad und Tobago sowie Vietnam, die alle Parteien des Internationalen
Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) sind sowie häufig regionale
Menschenrechtsabkommen unterzeichnet haben.24
Von besonderer Bedeutung für die Konstruktion internationalen Gemeinschafts-
rechts ist das Verhalten der Staaten, die nicht Unterzeichner des IPbpR und regionaler
Menschenrechtsabkommen sind oder waren. Die große Mehrheit hat das Rückwir-
kungsverbot für Straftatbestände und Sanktionen in ihrer Verfassung niedergelegt:
Antigua und Barbuda, die Bahamas, Kuba, Fidschi, Kiribati, Malaysia, die Marshall

setz Art. 1 und 2 und Gesetz zur Implementierung des International Covenant on Civil and
Political Rights and the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights
(IPbpR) Art. 2 (22. April 2009) (das Gesetz transformiert die Vorschriften beider Abkommen
in nationales taiwanesisches Recht). Siehe auch Republic of China Council of Grand Justices,
Interpretation No. 384.
21
Bulgarische Verf. Art. 5(3) und Strafgesetz Art. 2; Ivorische Verf. Art. 21, und Code
Pénal Art. 19 – 21; Deutsches Grundgesetz Art. 103(2) und §§ 1, 2, StGB; Japanische Verf.
Art. 39, und Strafgesetz Art. 6; Niederländische Verf. Art. 16 und Strafgesetz Art. 1.
22
Abkommenstatus der Staaten mit nulla poena-Gesetzen: Bulgarien, EMRK und IPbpR;
Elfenbeinküste, ACHPR und IPbpR; Deutschland, EMRK und IPbpR; Japan, IPbpR; Nie-
derlande, EMRK und IPbpR; Staaten ohne Gesetz stehen in der folgenden Fußnote.
23
Aserbaidschanische Verf. Art. 71(VIII) mit EMRK, IPbpR; Tschadische Verf. Art. 23
mit ACHPR, IPbpR; Eritreische Verf. Art. 17(2) mit ACHPR, IPbpR; Iranische Verf. Art. 169
mit IPbpR; Irländische Verf. Art. 15(5)(1) mit EMRK, IPbpR; Rep. [Süd-]Koreanische Verf.
Art. 13(1) mit IPbpR; Malische Verf. Art. 9 mit ACHPR, IPbpR; Sudanesische Nationale
Übergangsverfassung Art. 34(4) mit ACHPR, IPbpR; Togoische Verf. Art. 19 mit ACHPR,
IPbpR.
24
Australien, Laos, Demokratische Republik [Nord-]Korea und Vietnam sind Parteien des
IPbpR; Rep. Kongo, Gabun, und Libyen sind Parteien des ACHPR und des IPbpR; Jordanien,
überarbeitete ArCHR und IPbpR; Mongolei, IPbpR; San Marino, EMRK und IPbpR; Trinidad
und Tobago, ACHR und IPbpR. Sahrauische Arabische Demokratische Republik (West-Sa-
hara – eine Körperschaft, die von einer beträchtlichen Minderheit der Staaten Anerkennung
gefunden hat) hat den ACHPR akzeptiert.
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts 291

Inseln, Mikronesien, Myanmar, Nauru, Oman, Palau, Papua Neu-Guinea, Katar,


St. Kitts und Nevis, St. Lucia, Samoa, Singapur (mit Ausnahmen für politische Straf-
taten), Solomon Inseln, Tonga, Tuvalu, die Vereinigten Arabischen Emirate und Va-
nuatu.25 Einige Staaten, die kürzlich dem IPbpR beigetreten sind, hatten bereits daher
Rückwirkungsverbote in ihren Verfassungen verankert.26 Zwei Staaten, die den Bei-
tritt zum internationalen Menschenrechtsregime erwägen, die Volksrepublik China
und Saudi-Arabien, haben Gesetze, die das Rückwirkungsverbot von Straftaten
und Sanktionen bekräftigen.27
Von besonderer Bedeutung ist die heutige Akzeptanz des Gesetzlichkeitsprinzips
durch alle islamrechtlich und säkular geprägten Länder mit islamischer Bevölke-
rungsmehrheit. Haider Ala Hamoudi hat herausgestellt, dass es im klassischen isla-
mischen Rechts „wegen der großen Vielfalt von Ermessensstraftaten, ta’azir ge-
nannt, […] [ursprünglich] kein Konzept des nulla poena/nullum crimen [gegeben
habe].“28 Nichtsdestotrotz haben heute fast alle islamischen Staaten nulla poena/nul-
lum crimen akzeptiert, „selbst solche, von denen behauptet wird, sie wendeten die
shari’a an.“29 Daraus lässt sich schließen, dass diese Staaten ta’azir-Gesetze so an-
wenden, dass diese nicht gegen das Rückwirkungsverbot von Straftaten und Sank-
tionen verstoßen. Daher lässt sich auch nicht sagen, dass diese Staaten noch
immer hartnäckige Gegner des gewohnheitsrechtlichen Rückwirkungsverbots seien.

25
Verf. von Antigua & Barbuda Art. 15(4); Kubanische Verf. Art. 59, 61; Verf. Fidschis
Art. 28(1)(j); Kiribatische Verf. Art. 10(4); Malaiische Verf. Art. 7(1); Verf. der Marshall In-
seln Verf. Art. II(8); Mikronesische Verf. Art. IV(11); Myanmarische Verf. Art. 23; Nauru-
ische Verf. Art. 10(4) (Nauru hat den IPbpR unterzeichnet); Omanisches Grundgesetz des
Staates Art. 21, 75, Sultan Verf. No. 101/96 (1996); Palauische Verf. Art. IV(6); Katarische
Verf. Art. 40; Verf. von St. Kitts & Nevis Art. 10(4); Verf. von St. Lucia Art. 8(4); Singapu-
rische Verf. Art. 11(1), 149(1); Verf. der Solomon Is. Art. 10(4); Tongische Verf. Art. 20; Verf.
von Tuvalu sec. 22(6, 7); Verf. der VAE Art. 27.
26
Bahamische Verf. Art. 20(4), die Bahamas sind dem IPbpR am 23. Dezember 2008
beigetreten; Pakistanische Verf. Art. 12 (mit Ausnahmen für Umstürze der Verfassung), Pa-
kistan ist dem IPbpR am 23. Juni 2010 (ohne Vorhalt, der diese Ausnahme erlauben würde –
somit hat Pakistan jetzt eine internationale Verpflichtung dazu, nicht auf diese Ausnahme
zurückzugreifen) beigetreten; Papua Neu-Guineische Verf. Art. 37(2, 7, 21 und 22), dem
IPbpR am 21. Juli 2008 beigetreten; Samoanische Verf. Art. 10(1 und 2), dem IPbpR am
15. Februar 2008 beigetreten; Vanuatuische Verf. Art. 5(2)(f und g), dem IPbpR am 21. No-
vember 2008 beigetreten.
27
Strafgesetz der Volksrepublik China Art. 3, 12; Legislativgesetz der Volksrepublik China
Art. 9, 84; Saudi Arabisches Grundgesetz des Beratungsbeirats Art. 36. Die Volksrepublik
China hat den IPbpR unterzeichnet. Saudi Arabien hat die überarbeitete ArCHR unterzeichnet
und interne Schritte unternommen, um diese zu ratifizieren. Siehe Shura Council ratifies Arab
Charter on Human Rights, auf http://www.saudiembassy.net/2008News/News/RigDetail.
asp?cIndex=7698 (Website der Königlichen Botschaft Saudi-Arabiens in den USA).
28
Hamoudi, sec. II.A [Material in Klammern vom Verf. hinzugefügt].
29
Hamoudi, sec. II.A; islamrechtliche Staaten und Staaten mit islamischer Mehrheit, die
diese Doktrin akzeptieren, sind in der obigen Zusammenstellung aufgelistet, abhängig von der
Methode der Zustimmung (Verfassung, Gesetz oder Abkommen). Die einzige Ausnahme zur
allgemeinen Akzeptanz des Rückwirkungsverbots ist Brunei.
292 Kenneth S. Gallant

Lediglich in zwei UN-Mitgliedsstaaten, Bhutan und Brunei, sowie einem Staat


mit Beobachterstatus bei der UN, der Vatikanstadt, besteht weder durch Verfassung,
Gesetz noch durch Abkommen ein allgemeines Verbot der Rückwirkung von Straf-
taten und Sanktionen. Selbst diese Staaten haben sich jedoch durch Abkommen unter
bestimmten Umständen zum Verbot der Rückwirkung verpflichtet. Durch die Unter-
zeichnung der UN-Kinderrechtskonvention haben Brunei und Bhutan ein Rückwir-
kungsverbot für Straftaten zumindest für Jugendliche akzeptiert.30 Brunei und der
Vatikan haben ein Rückwirkungsverbot sowohl hinsichtlich Straftaten, als auch
Sanktionen während nicht-internationalen bewaffneten Konflikten mit dem Zusatz-
protokoll II von 197731 zur Genfer Konvention von 1949 akzeptiert.
In anderen Worten: Das Verbot der Rückwirkung von Straftatbeständen und Sank-
tionen ist eine nahezu weltweite Regel. Somit zeigt die beinahe universelle Anerken-
nung des Rückwirkungsverbots für Straftaten und Strafen, dass es sich dabei um
einen allgemeinen Grundsatz des Rechts handelt, der von der Gemeinschaft der Staa-
ten anerkannt wird.32 Allgemeine Prinzipien des Rechts schließen die Kategorie der
weit verbreiteten „grundlegenden Prinzipien des Strafrechts“, wie der Gesetzesbin-
dung, mit ein.33 Dies gestattet auch die Anwendung dieser Regel durch den Interna-
tionalen Gerichtshof und andere Instanzen, die den Grundsätzen des Internationalen
Gerichtshofs zu den Quellen internationalen Rechts folgen.34 Der völkergewohn-
heitsrechtliche Status zeigt jedoch auch, dass sie eine größere als die bloße normative
Kraft besitzt.
Heutzutage ist die Verabschiedung von inländischen Gesetzen, verfassungsrecht-
lich oder auf anderem Wege, Teil der „Praxis der Staaten“, wenigstens hinsichtlich
der Schaffung von internationalen Menschenrechten. Einige ältere Definitionen von
Staatenpraxis im internationalen Recht würden innerstaatliche verfassungsrechtli-
che oder gesetzliche Vorschriften nicht als Instanzen der Staatenpraxis mit einbezie-
hen, sondern würden sich auf Akte zwischen den Staaten beschränken.35 Heute ist
jedoch anerkannt, dass auch eine konsistente innerstaatliche Praxis der Staaten zu
den Akten zählen kann, die internationales Recht, insbesondere internationale Men-
schenrechte, begründen.
Die gegenwärtige Praxis des internationalen Gerichtshofs legt nahe, dass die na-
hezu universelle Anerkennung dieser Rechtsregel bereits genügt, um seinen Status

30
Konvention über die Rechte des Kindes Art. 40(2)(a).
31
Zusatzprotokoll II Art. 6(2)(c).
32
Siehe Statute of the International Court of Justice [im Folgenden ICJ Stat.], Art. 38(1)(c)
(das den Begriff „zivilisierten“ statt der späteren Formulierung „Gemeinschaft der“ Nationen
verwendet).
33
Marc Henzelin, Le principe de l’universalité en droit pénal inernational: Droit et obi-
gation pour les États de poursuivre et juger selon le principe de l’universalité, 2000, S. 641.
34
ICJ Stat. Art. 38.
35
George Brand, The Sources of International Criminal Law, 15 U.N.W.C.C., Law Rep.
S. 5, S. 6 – 10.
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts 293

als internationales Gewohnheitsrecht zu belegen. Im Fall des Haftbefehls vom


11. April 2000 (Demokratische Republik Kongo vs. Belgien) untersuchte der Interna-
tionale Gerichtshof sorgfältig „die Staatenpraxis, einschließlich der Gesetzgebung
und die wenigen Entscheidungen höherer nationaler Gerichte“, um festzustellen,
ob es das internationale Gewohnheitsrecht gestattet, einen amtierenden ausländi-
schen Minister wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Missachtung sei-
ner diplomatischen Immunität in einem anderen Staat vor Gericht zu stellen.36 In an-
deren Worten zählt heutzutage auch interne Staatenpraxis, einschließlich der Gesetz-
gebung und Gerichtsbarkeit,37 als Beleg für internationales Gewohnheitsrecht. Der
Haftbefehl-Fall verlangte von den Staaten keine Rechtfertigung ihrer internen Staa-
tenpraxis anhand des internationalen Rechts, um dieses für die Begründung interna-
tionalen Gewohnheitsrechts heranzuziehen. Der Internationale Gerichtshof schien
weniger Wert auf eine opinio juris38 gelegt zu haben, als es früher einmal der Fall
war – wenigstens dort, wo diese Praktiken weitverbreitet sind. In diesem Sinne
kann man kaum die weite Verbreitung des Rückwirkungsverbots für Straftaten
und Sanktionen als Menschenrecht in nationalen Verfassungen und Gesetzen be-
zweifeln.
Der Haftbefehl-Fall ist nicht der einzige Beweis für innerstaatliche Praxis, die in-
ternationales Gewohnheitsrecht begründete. Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs war
man teilweise davon überzeugt, dass eine Praxis, die von den Staaten durch ihr Ver-
halten als allgemeiner Grundsatz der Gerechtigkeit anerkannt wird, auch als Regel
des internationalen Gewohnheitsrechts durchgesetzt werden kann.39 Das indiziert na-
türlich, dass Praktiken zu innerstaatlichen Angelegenheiten als Teil der Praktiken be-
trachtet werden können, die für die Bestimmung von Regeln des internationalen Ge-
wohnheitsrechts herangezogen werden.
Das Menschenrecht bezieht sich vorrangig auf die Interaktion von Staaten und In-
dividuen. Obwohl diese Individuen gelegentlich Ausländer sind, halten sich die
meisten von uns den größten Teil der Zeit im Staat unserer jeweiligen Nationalität
auf. Daher schützen internationale Menschenrechtsabkommen generell individuelle
Menschenrechte (mit Ausnahme der politischen Partizipation) ungeachtet dessen, ob

36
Case Concerning the Arrest Warrant of 11 April 2000 (Democratic Republic of Congo v.
Belgium), Judgment, 58 (ICJ, 14 February 2002).
37
Gerichtsentscheidungen wurden traditionell als subsidiär bei der Bestimmung von
Rechtsregeln angesehen. ICJ Statute Art. 38 I d.
38
Vgl. die Fälle zum Kontinentalschelf in der Nordsee (Fed. Rep. of Germany v. Denmark,
Fed. Rep. of Germany v. Netherlands), 1969 I.C.J. 3.
39
George Brand, The Sources of International Criminal Law, 15 U.N.W.C.C., Law Rep.,
S. 5, 6 – 10 (die Autorenschaft wird ihm im Vorwort von [Lord] Wright [of Durley] zuge-
schrieben, ebda. S. x), der sich auf United States v. List (Hostages Case) stützt, wie in 8 id. 34,
49 – 50 (19. Februar 1948), und die Analyse des Schonfeld Case, 11 id. 64, 72 – 73 (British
Military Ct., Essen, 19. Juni 1946) zitiert.
294 Kenneth S. Gallant

die beteiligte Person ein Staatsbürger des jeweiligen Staates ist oder nicht.40 Diese
internationalen Menschenrechte schützen die Staatsangehörigen vor ihrem eigenen
Staat. Eine Vorstellung von gewohnheitsrechtlichen internationalen Menschenrech-
ten würde ohne den Schutz von Staatsbürgern vor ihrem eigenen Staat wenig Sinn
machen. Daher ist es vernünftig, auch die Praxis der Staaten, einschließlich verfas-
sungsrechtlicher Vorschriften und Gesetze, die sich auf die eigenen Staatsbürger aus-
wirkt, mit in die Staatenpraktiken einzubeziehen, die internationale Menschenrechte
begründen.
Islamisches Recht mag sich zwar als ein sogenannter „ständiger Einspruch“ zu
diesem Thema präsentiert haben – gegenwärtig tut es das aber nicht. Auch wenn ta’a-
zir-Recht in einigen islamischen Gesellschaften bzw. Staaten noch traditionell (d. h.
im Widerspruch zur Gesetzmäßigkeit) angewendet wird, so sind die in diesem Bei-
trag getroffenen Aussagen hinsichtlich einer gewohnheitsrechtlichen Regel doch
nicht widerlegt. Ein Staat, der beständig Einspruch gegen die Bildung einer Regel
des internationalen Gewohnheitsrechts erhebt, während diese sich herausbildet,
wird als „persistent objector“, also als ständig Einsprechender, bezeichnet. Ein „per-
sistent objector“ mag sich zwar im Widerspruch zu internationalem Gewohnheits-
recht verhalten, ein solcher Widerspruch zerstört jedoch nicht die Verpflichtung
der anderen Staaten zur Befolgung des Gewohnheitsrechts.
Jedenfalls zeigen die oben angeführten Nachweise, dass fast alle islamischen
Staaten sich einer Anwendung von ta’azir-Recht verschrieben haben, die das Verbot
der Rückwirkung für Straftaten und Sanktionen anerkennt. Entsprechend lässt sich
auch nicht sagen, dass einer dieser Staaten wirklich ein persistent objector wäre.

2. Die Abkommen – Allgemeine Menschenrechtsabkommen,


Abkommen des humanitären Völkerrechts und andere

Der Beweis des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots als Gegenstand des Völ-


kergewohnheitsrechts stützt sich nicht nur auf innerstaatliche Praxis und die UN-
Menschenrechtscharta, sondern auch auf den Internationalen Pakt über bürgerliche
und politische Rechte (IPbpR),41 auf die Europäische Menschenrechtscharta

40
Siehe allgemein IPbpR Art. 2 (eine Unterscheidung nach der Nationalität wird generell
nicht getroffen), 25 (politische Beteiligungsrechte sind für „Bürger“ des Staats); EMRK
Art. 14 (eine Unterscheidung nach der Nationalität wird generell nicht getroffen), 16 (politi-
sche Beteiligungsrechte von „Ausländern“ können beschränkt werden); ACHR Art. 1 (eine
Unterscheidung nach der Nationalität wird generell nicht getroffen), 23 (Recht zur Beteiligung
an der Regierung kann auf „Bürger“ beschränkt werden); ACHPR Art. 2 (eine Unterscheidung
nach der Nationalität wird generell nicht getroffen), 13 (Recht zur Beteiligung an der Regie-
rung kann auf „Bürger“ beschränkt werden); überarbeitete ArCHR Art. 3 (eine Unterschei-
dung nach der Nationalität wird generell nicht getroffen), 24 (politische Rechte können auf
„Bürger“ beschränkt werden).
41
IPbpR Art. 15, G.A. Res. 2200 A (XXI), 21 GAOR Supp. No. 16, p. 52, UN Doc. A/
6316, 993 U.N.T.S. 171 (16. Dezember 1966, in Kraft getreten am 23. März 1976) [IPbpR].
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts 295

(EMRK),42 auf die Amerikanische Konvention der Zivilen und Politischen Rechte
(the American Convention on Civil and Political Rights [ACHR])43 und auf die Afri-
kanische Charta der Menschen- und Völkerrechte (ACHPR).44 Die neu überarbeitete
Arabische Charta der Menschenrechte (überarbeitete ArCHR) bringt die Gesetzmä-
ßigkeit deutlich zum Ausdruck: Keine Straftat und keine Strafe kann ohne vorherige
Rechtsvorschrift erlassen werden. Unter allen Umständen hat das für den Angeklag-
ten vorteilhafteste Recht Anwendung zu finden“45 Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit
wird im IPbpR, der EMRK, der ACHR und der überarbeiten ArCHR ausdrücklich als
unabdingbar selbst in Krisenzeiten bezeichnet.46
Selbst die sogenannte Nürnberg-Klausel im IPbpR und der EGMR47 weicht nicht
vom Rückwirkungsverbot ab. Diese erlaubt Verurteilungen „wegen einer Handlung
oder Unterlassung (…), die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten
Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war.“48 In anderen
Worten muss der allgemeine Grundsatz bereits zum Zeitpunkt der Straftat existiert
haben.
Bezeichnend für die Herausbildung eines Völkergewohnheitsrechts ist, dass über
110 nationale Verfassungen und Gesetze diese Regel in ähnlicher Form wie die UN-
Menschenrechtscharta und diese Abkommen enthalten. Das Rückwirkungsverbot
für Straftaten und Sanktionen, wie es in diesen Verfassungen enthalten ist, stellt dar-
auf ab, ob eine Handlung oder ein Unterlassen zum Zeitpunkt der Tat eine Straftat
darstellte (oder damit eine Strafe verwirkt war).49

42
Auch bekannt als Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten Art. 7, 312
U.N.T.S. 221 (4 November 1950) [EMRK].
43
American Convention on Human Rights Art. 9, 1114 U.N.T.S. 123 (22. November
1969), abgedruckt in 9 I.L.M. 673 (1970) [ACHR].
44
African Charter of Human and Peoples’ Rights Art. 7(2), OAU Doc. CAB/LEG/67/3/
Rev. 5, Art. 7(2) (27 June 1981) abgedruckt in 21 I.L.M. 59 (1982) [ACHPR].
45
Überarbeitete Arabische Charta der Menschenrechte (Revised Arab Charter on Human
Rights) Art. 15, abgedruckt in 12 Int’l Hum. Rts. Rep. 893 (2005) (22. Mai 2004; im Kraft
getreten 15. März 2008).
46
Siehe IPbpR Art. 4; EMRK Art. 15(2); ACHR Art. 27; überarbeitete ArCHR Art. 4; 1
ICRC Customary IHL (Rule) discussion of R. 101, auf S. 371 – 372; 2 ICRC Customary IHL
(Practice, part II) 3677 – 3678, 2681 – 2682, S. 2494 – 2495.
47
Art. 15 II IPbpR; EMRK Art. 7 II EMRK (der frühere Ausdruck „zivilisierte Nationen“
aus dem ICJ-Statut wird statt „Gemeinschaft der Nationen“ verwendet).
48
Art. 7 EMRK. Die Überschrift „Keine Strafe ohne Gesetz“ zu diesem Abschnitt wurde
durch das 11. Protokoll zur EMRK eingefügt.
49
Nationale Verfassungen, die üblicherweise so verstanden wurden, sind etwa Albanische
Verf. Art. 29; Algerische Verf. Art. 46; Andorranische Verf. Art. 9(4); Argentinische Verf.
Art. 18; Armenische Verf. Art. 22; Bahamische Verf. Art. 20(4); Bangladescher Verf. Art. 35
(1); Barbadische Verf. Art. 18(4); Belizische Verf. Art. 6(4); Beninische Verf. Art. 17; Bots-
wanische Verf. Art. 10(4); Bulgarische Verf. Art. 5(3); Burundische Verf. Art. 39, 40; Kame-
runische Verf. Präambel; Kanadische Verf.-Gesetz Art. 11(g); Verf. der Zentralafrikanischen
Republik Art. 3; Tschadische Verf. Art. 23; Chilenische Verf. Art. 19(3); Komorische Verf.
Art. 48; Verf. der Dem. Rep. Kongo Verf. Art. 17; Costa-ricanische Verf. Art. 39; Ivorische
296 Kenneth S. Gallant

Die Regel in der Form der UN-Menschenrechtscharta und des IPbpR setzt nur vor-
aus, dass die Handlung von irgendeinem zum Zeitpunkt der Tat auf den Täter an-
wendbaren Gesetz unter Strafe gestellt ist und dass die Sanktion nach irgendeinem
zum Zeitpunkt der Tat auf den Täter anwendbaren Gesetz erlaubt ist. Folglich wird
keine strengere Regel vorausgesetzt, die es erfordern würde, dass ein bestimmtes Ge-
setz, das eine Verurteilung und Bestrafung erlaubt, zum Zeitpunkt der Tat in Kraft
gewesen ist, nullum crimen, nulla poena sine praevia lege scripta.50 Das legt
nahe, dass zumindest zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Textes des IPbpR das Be-
stehen eines kriminalisierenden Textes nicht Teil des Völkergewohnheitsrechts war.
Der Umstand, dass so viele Staaten den Wortlaut der UN-Menschenrechtscharta und

Verf. Art. 21; Kroatische Verf. Art. 31; Kubanische Verf. Art. 59; Verf. der Rep. Zypern
Art. 12(1); Djiboutische Verf. Art. 10; Dominikanische Verf. Art. 8(4); Verf. Ost-Timors
Art. 31(2); Ecuadorianische Verf. Art. 24(1); Salvadorianische Verf. Art. 15; Äquatorial-gui-
neisches Grundgesetz Art. 13(s); Eritreische Verf. Art. 17(2); Estländische Verf. Art. 23;
Äthiopische Verf. Art. 22(1); Verf. Fidschis Art. 28(1)(j); Finnische Verf., Kap. 2, Ab-
schnitt 8; Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte Art. 8; Gambische Verf.
Art. 24(5); Georgische Verf. Art. 42(5); Deutsches Grundgesetz Art. 103(2) (nullum crimen);
Ghanaische Verf. Art. 19(5); Griechische Verf. Art. 7(1); Grenadische Verf.-Ordnung, Art. 8
(4); Guyanische Verf. Art. 144(4); Ungarische Verf. Art. 57(4); Isländische Verf. Art. 69; In-
dische Verf. Art. 20; Iranische Verf. Art. 169; Jamaikanische Verf. Art. 20(7); Japanische Verf.
Art. 39; Kenianische Verf. Art. 50(2)(n, p) (21. August 2010); Kiribatische Verf. Art. 10(4);
Verf. Rep. (Süd-) Korea Art. 13(1); Lesothische Verf. Art. 12(4); Mazedonische Verf. Art. 14;
Madagassische Verf. Art. 13; Malawische Verf. Art. 42(2)(f)(vi); Malaiische Verf. Art. 7(1);
Maledivische Verf. Art. 17; Maltesische Verf. Art. 39(8); Verf. der Marshall Is. Art. II(8);
Mauritische Verf. Art.10(4); Mexikanische Verf. Art. 14; Moldawische Verf. Art. 22; Mo-
sambikanische Verf. Art. 99; Namibische Verf. Art. 12(3); Nauruische Verf. Art. 10(4); Ne-
palesische Übergangsverf. Art. 24(4); Nicaraguanische Verf. Art. 34(11); Verf. des Niger
Art. 17; Nigerianische Verf. Art. 36(8); Pakistanische Verf. Art. 12(1); Palauische Verf.
Art. IV(6); Papua-Neu-Guineische Verf. Art. 37; Paraguayische Verf. Art. 17(3); Peruanische
Verf. Art. 2(24)(d); Polnische Verf. Art. 42(1); Portugiesische Verf. Art. 29(1); Russische
Verf. Art. 52(1); Ruandische Verf. Art. 18, 20; Verf. von St. Kitts & Nevis Verf. 10(4); Verf.
St. Vincent & the Grenadines Art. 8(4); Samoanische Verf. Art. 10(2); Verf. von São Tomé
and Príncipe Art. 36; Senegalesische Verf. Art. 9; Serbische [früheres Serbien und Montene-
gro] Charta der Menschen-, Minderheiten- und Bürgerrechte Art. 20; Seychellische Verf.
Art. 19(4); Sierra Leonische Verf. Art. 23(7); Singapurische Verf. Art. 11(1); Slowakische
Verf. Art. 49, 50(6); Slowenische Verf. Art. 28; Verf. der Solomon Is. Art. 10(4); Somalische
Verf. Art. 34; Südafrikanische Verf. Art. 35(3)(l); Spanische Verf. Art. 25(1); Sri-lankische
Verf. Art. 13(6); Sudanesische Nationale Übergangsverfassung Art. 34(4); Tadschikische
Verf. Art. 20; Tansanische Verf. Art. 13(6)(c); Thailändische Verf., 2007 § 39; Türkische Verf.
Art. 38; Turkmenische Verf. Art. 43; Tuvaluische Verf. § 22(6); Ukrainische Verf. Art. 58;
Vanuatuische Verf. Art. 5(2)(f); Venezolanische Verf. Art. 49(6); Sambische Verf. Art. 18(4);
Simbabwische Verf. Art. 18(5); vgl. Guatemaltekische Verf. Art. 17. Die Kirgische Verfas-
sung entsprach früher diesem Schema, tut dies aber heute nicht mehr. Für einfachgesetzliche
Regelungen mit ähnlicher Auswirkung siehe Volksrepublik China Strafgesetz Art. 3, 12; Dä-
nisches Strafgesetz § 3; Neuseeländische Bill of Rights-Gesetz Art. 26(1); U.K. Human
Rights Act Art. 7. Zu einer Körperschaft, deren Status umstritten ist, siehe Kosovo Verf.
Art. 33. Zu einer im Allgemeinen nicht als Staat anerkannte Körperschaft, siehe Verf. der
Türkischen Republik Zypern Art. 18(1).
50
Siehe im Besonderen Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, Art. 8.
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts 297

des IPbpR in ihren Verfassungen aufgenommen haben,51 indiziert, dass die Regel der
praevia lex scripta bis heute nicht Völkergewohnheitsrecht geworden ist.
Das strafrechtliche Rückwirkungsverbot kommt durchgehend im humanitären
Völkerrecht, einschließlich des Rechts innerstaatlicher bewaffneter Konflikte, vor.
Die Regel ist in beiden beinahe universell unterzeichneten Genfer Konventionen
III und IV zu Kriegsgefangen und Zivilisten von 1949 sowie den zwei weithin,
aber nicht universell, angenommen Protokollen von 197752 enthalten. Mit anderen
Worten haben sich die Staaten selbst zur Gesetzmäßigkeit in Zeiten größter Belas-
tung verpflichtet – ein starker Hinweis darauf, dass es sich um Völkergewohnheits-
recht handelt.

3. Die Praxis der internationalen Organisationen und Gerichte

Das Verbot der Rückwirkung von Straftaten und Strafen findet sich auch in den
Gründungsdokumenten und/oder der Rechtsprechung der modernen internationalen
und internationalisierten Strafgerichte als von Rechts wegen erforderlich. Bezeich-
nend für die Bildung von Gewohnheitsrecht ist, dass das Rückwirkungsverbot in der
Praxis der internationalen Strafgerichte dort in Erscheinung tritt, wo es nicht in den
Gründungsdokumenten enthalten ist. Die Statuten der Internationalen Strafgerichts-
höfe für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und für Ruanda (ICTR) sowie des Son-
dergerichtshofs für Sierra Leone (SCSL) enthalten keine ausdrückliche Aussage über
den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit. Nichtsdestotrotz wurde nullum crimen sine lege
als Rechtsregel in der Rechtsprechung aller anerkannt.53

51
Einige dieser Staaten mit diesen Verfassungen wenden jedenfalls tatsächlich die striktere
Regel praevia lex scripta in ihrer tatsächlichen nationalen Praxis entweder durch Gesetz,
Richterrecht oder Gewohnheit an.
52
Genfer Konvention (Nr. IV) Art. 65 (Rückwirkungsverbot für Straftatbestände und Be-
strafungen zum Schutze von Zivilisten); Genfer Konvention (Nr. III) Art. 99 (das Gleiche für
Kriegsgefangene); Zusatzprotokoll I zur Genfer Konvention von 1949 Art. 75(4)(c) (1977);
Zusatzprotokoll II zur 1949 Genfer Konvention Art. 6(2)(c) (1977) (die beiden Vorschriften
aus den Zusatzprotokollen durch Konsens angenommen; die Zusatzprotokoll II Vorschrift
findet auf intere bewaffnete Konflikte Anwendung); Jean-Marie Henckaerts & Louise Dos-
wald-Beck, 1 Customary International Humanitarian Law (Rules) R. 101 (Cambridge Univ.
Press 2005) (Studie veröffentlicht vom ICRC) [folgend ICRC, Customary IHL] (Regel des
Völkergewohnheitsrechts, die für interne sowie internationale bewaffnete Konflikte gilt), be-
legt durch ausführliche Dokumentation in 2 (Teil 2) ICRC, Customary IHL (Practice)
§§ 3673 – 3716, S. 2493 – 2500.
53
ICTY: z. B. Prosecutor v. Milutinovic, Decision on Dragoljub Ojdanic’s Motion Chal-
lenging Jurisdiction: Joint Criminal Enterprise 10, Case No. IT-99-37-AR72 (ICTY App. Ch.,
21 May 2003); Prosecutor v. Aleksovski, Appeals Judgement 126 – 127 Case No. IT-95-14/1
(ICTY App. Ch., 24 March 2000); Prosecutor v. Delalic, Appeals Judgement 178 – 80, Case
No. IT-96-21 (ICTY App. Ch. 20 February 2001); Prosecutor v. Aleksovski (Appeal of Nob-
ilo), Judgment on Appeal by Anto Nobilo against Finding of Contempt, Case No. IT-95-14/1-
AR77 38 (ICTY App. Ch., 30 May 2001 (contempt, a non-statutory crime). ICTR: siehe
Prosecutor v. Akayesu, Judgement 617, Case No. ICTR-96-4-T (ICTR Trial Ch., 2 September
298 Kenneth S. Gallant

Hinsichtlich des materiellen Strafrechts im ICTY Statut hielt der Report des UN-
Generalsekretärs, der die Errichtung des ICTY forderte, fest, dass nur solche Straf-
taten enthalten sein sollen, die „zweifelsfrei“ völkergewohnheitsrechtlich anerkannt
waren. Dies geschah, „damit das Problem des Festhaltens einiger, jedoch nicht aller
Staaten an bestimmten Konventionen nicht entsteht“54, also um Probleme des nullum
crimen sine lege zu umgehen. Die Resolution des Sicherheitsrats, die den ICTY er-
richtet hat, ist Praxis einer internationalen Organisation.55
Die Gründungsdokumente der „internationalisierten“ Strafgerichte (Kosovo, Ost-
Timor und Kambodscha) gehen mit Blick auf den Schutz vor rückwirkender Krimi-
nalisierung noch weiter als die Statuten der ad hoc Tribunale. Diese drei Tribunale
binden durch Verweise auf Menschenrechtsdokumente die Gerichte auf beide Teile
des Gesetzlichkeitsgrundsatzes nullum crimen und nulla poena.56 Kosovo und Ost-
Timor sind Beispiele dafür, dass die Staatengemeinschaft nationalen und lokalen Re-
gierungen diese Prinzipien außerhalb des Zusammenhangs von Abkommen, die die
Einhaltung der Gesetzlichkeit direkt erfordern, auferlegt. Die UN-Charta führt das
Rückwirkungsverbot für Straftaten und Sanktionen nicht ausdrücklich als internatio-
nales Menschenrecht auf. Folglich indiziert die Praxis unter der Charta in jüngster
Zeit (d. h. durch direkte UN-Verwaltung im Kosovo und Ost-Timor) besonders,
dass dieses Recht Völkergewohnheitsrecht geworden ist.57

1998). SCSL: Prosecutor v. Norman, Decision on Preliminary Motion Based on Lack of


Jurisdiction, Case No. SCSL 04-14-AR72(E) (SCSL App. Ch., 31 May 2004).
54
Report of the Secretary-General pursuant to Paragraph 2 of Security Council Resolution
808, UN Doc. S/25704, 34 (3 May 1993), [folgend Sec-Gen’s ICTY Rep.].
55
SC Res. 827, UN Doc. S/RES/827, mit dem angehängten Statut des Internationalen
Tribunals.
56
UN Interim Administration Mission in Kosovo UNMIK Regulation No. 2000/59, UN
Doc. UNMIK/REG/2000/59, amending UNMIK Regulation No. 1999/24 [10 June 1999] On
the Law Applicable In Kosovo (27 October 2000) §§ 1.3, 1.4; UNTAET Regulation No. 1999/
1, UN Doc. UNTAET/REG/1999/1, On the Authority of the Transitional Administration in
East Timor § 2 (27 November 1999), sich stützend auf Sicherheitsratsresolution 1272, UN
Doc. No. S/RES/1272 (25 October 1999), and UNTAET Regulation No. 2000/15, UN Doc.
UNTAET/REG/2000/15, On the Establishment of Panels with Exclusive Jurisdiction over
Serious Criminal Offenses §§ 12, 13 (6 June 2000); Draft Agreement between the United
Nations and the Royal Government of Cambodia concerning the Prosecution under Cambo-
dian Law of Crimes Committed during the Period of Democratic Kampuchea (Abkommen
zwischen den Vereinten Nationen und der königlichen Regierung von Kambodscha bezüglich
der Verfolgung von während der Zeit des Demokratischen Kampuchaes nach kambodschani-
schem Recht begangenen Straftaten) Art. 12(2), bestätigt und auf Rote-Khmer-Tribunale er-
weitert, G.A. Res. 57/228 B, UN Doc. A/RES/57/228 B (22 May 2003), und die IPbpR Art. 14
und 15 miteinschließend. Das Agreement Between the United Nations and the Royal
Government of Cambodia Concerning the Prosecution under Cambodian Law of Crimes
Committed During the Period of Democratic Kampuchea wurde am 6. Juni 2003 in Phnom
Penh unterzeichnet. In Übereinstimmung mit seinem Artikel 32 trat es am 29. April 2005 in
Kraft.
57
Siehe Abschnitt III.4. unten.
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts 299

Schließlich wurde das Prinzip der Gesetzesmäßigkeit im Römer Statut des Inter-
nationalen Strafgerichtshof aufgenommen.58 Dieses wird auch vom Gerichtshof an-
gewendet.59

4. Opinio juris

Oft wird behauptet, es sei leichter eine opinio juris für internationales Menschen-
recht zu finden als eine Staatspraxis.60 Staaten haben regelmäßig verlautbart, dass das
Rückwirkungsverbot ein Menschenrecht darstellt.61 Zudem haben wir neuerdings ge-
sehen, dass der Internationale Gerichtshof weitverbreitete Staatenpraxis als Entste-
hungsgrund für Völkergewohnheitsrecht im Bereich der strafrechtlichen Immunität
angesehen hat – ohne Rückgriff auf eine opinio juris.62 Eine ältere Ansicht würde
allerdings voraussetzen, dass das Verhalten mit der Ansicht verknüpft ist, dass dieses
durch internationales Recht erforderlich (bzw. erlaubt) ist, um opinio juris zu bewei-
sen.63 Eine genaue Betrachtung des hier Aufgezeigten zeigt in vielen Fällen opinio
juris in diesem traditionellen Sinn.
Dies lässt sich am leichtesten anhand des Verhaltens der internationalen Organi-
sationen zeigen, deren Praxis und opinio mittlerweile zu den Quellen gehören, die
das Völkergewohnheitsrecht ausmachen.64 In diesem Fall ist die opinio juris von in-
ternationalen Organisationen und Staaten wesentlich. Dabei sind es die modernen
internationalen Tribunale, vom ICTY bis zum ICC, die größtenteils verantwortlich
für die Entwicklung des modernen internationalen Strafrechts sind und die Strafver-
folgung derer übernehmen, denen internationale Straftaten vorgeworfen werden, die
diejenigen bestrafen, die für schuldig befunden werden, und die diejenigen freilas-
58
ICC Statute, Art. 11, 22 – 24; vgl. Art. 21 (der eine Anwendung in Übereinstimmung mit
dem international anerkannten Menschenrechte erfordert).
59
Procureur c. Dyilo, No. ICC-01/04 – 01/06, Décision sur la confirmation des charges
(Version publique) (La Chamber Préliminaire I) 294 – 316, 29 January 2007.
60
Meron, S. 264.
61
Für entsprechende Aussagen siehe Prosecutor v. Tadic, Decision on the Defence Motion
on Interlocutory Appeal on Jurisdiction 143, Case No IT-94-1 (ICTY App. Ch., 2 October
1995) (wo Aussagen der USA, des Vereinigten Königreichs und Frankreichs zum Provisional
Verbatim Record, SCOR, 3217th mtg., S. 11, 15, 19, U.N. Doc. S/PV.3217 (25 May 1993)
diskutiert werden); Machteld Boot, Genocide, Crimes against Humanity, War Crimes: Nullum
Crimen Sine Lege and the Subject Matter Jurisdiction of the International Criminal Court
218 – 219, S. 235 und n. 55, 236 und n. 57, 237 und n. 60 (Intersentia 2002) [folgend Boot]
(die Aussagen Russlands, der Organisation der Islamischen Konferenz, Kanadas, Venezuelas,
Brasiliens, Spaniens und Mexikos zitiert, wobei die Zitate aus Venezuela, Brasilien und Spa-
nien keine direkten Verweise auf das gegenwärtige internationale Strafrecht enthalten; Gal-
lant, Kap. 4.a.ii, 4.b.2 (einschließlich Hinweise zu Aussagen einer Vielzahl von Staaten
während der Verhandlungen zur UN-Menschenrechtscharta bzw. zum IPbpR).
62
Siehe Arrest Warrant Case, der in den Fn. 38 – 40 oben diskutiert wird.
63
Siehe Fälle zum Kontinentalschelf in der Nordsee, diskutiert in Fn. 40 oben.
64
Siehe Kenneth S. Gallant, International Criminal Courts and the Making of Public In-
ternational Law: New Roles for International Organizations and Individuals, 43 John Marshall
Law Review 603 (2010).
300 Kenneth S. Gallant

sen, die für unschuldig erachtet werden, von besonderer Bedeutung, da diese Orga-
nisationen, insbesondere wenn sie sich durch ihre justiziellen Organe äußern, häufig
rechtliche Begründungen für ihre Entscheidungen geben. Als der Sicherheitsrat z. B.
das ICTYerrichtet und den Bericht des UN-Generalsekretärs angenommen hat, hat er
auch die Sicht des Generalsekretärs65, dass das Rückwirkungsverbot von rechtswe-
gen erforderlich ist, übernommen. Auf ähnliche Weise haben internationale Tribuna-
le und Gerichte, die das Rückwirkungsverbot voraussetzen, durch die Begründung
ihrer Auffassung opinio juris gezeigt.66 Das gilt insbesondere für die Rechtsauffas-
sung des ICTY, des ICTR und des SCSL, da deren Statuten nicht ausdrücklich ein
Rückwirkungsverbot aussprechen. Angesichts der Schaffung von hartem, also
durchgesetztem, Strafrecht durch die internationalen Strafgerichte und Tribunale
kann heutzutage nicht länger bezweifelt werden, dass ihre Auffassung als opinio
juris des internationalen Strafrechts (und damit verbunden: der Menschenrechte)
gilt.
Die gegenwärtige Verwaltung von Territorien durch die UN, wie in Ost-Timor und
dem Kosovo, erkennt das Rückwirkungsverbot für Straftaten und Sanktionen eben-
falls an, was dazu führt, dass auch dies opinio juris zeigt. Dies legt die Auffassung
nahe, dass die Gesetzlichkeit im Strafrecht ein internationales Menschenrecht ist, das
durch die UN-Charta und der ihr gemäß erfolgten Tätigkeit gefördert werden soll.
Dafür spricht auch, wenn man die über 110 Staaten sieht, die verfassungsrechtliche
oder einfachgesetzliche Regeln ähnlich dem Wortlaut des IPbpR oder der UN-Men-
schenrechtscharta besitzen. Eine große Mehrheit dieser Staaten hat ihre Verfassung
nach der UN-Menschenrechtscharta von 1949 geschaffen oder geändert. Daraus
kann geschlossen werden, dass diese Staaten das Rückwirkungsverbot für Straftaten
und Sanktionen deshalb übernommen haben, weil es Völkergewohnheitsrecht ver-
körpert. Dies gilt insbesondere für solche Staaten, die eine derartige Formulierung
in ihre Verfassung oder Gesetze aufgenommen haben, ohne Teil des internationalen
Menschenrechtsabkommensregimes zu sein.67 Diese Staaten hätten keine durch Ab-
kommen begründete Verpflichtung, ein Rückwirkungsverbot zu implementieren.

65
Sec-Gen’s ICTY Rep. 34.
66
ICTY: z. B. Prosecutor v. Milutinovic, Decision on Dragoljub Ojdanic’s Motion Chal-
lenging Jurisdiction: Joint Criminal Enterprise 10, Case No. IT-99-37-AR72 (ICTY App. Ch.,
21 May 2003); Prosecutor v. Aleksovski, Appeals Judgement 126 – 27 Case No. IT-95-14/1
(ICTY App. Ch., 24 March 2000); Prosecutor v. Delalic, Appeals Judgement 175 – 80, Case
No. IT-96-21 (ICTY App. Ch. 20 February 2001); Prosecutor v. Furundzija, Judgement 165 –
69, Case No. IT-95-17/1 (ICTY Tr. Ch., 10 December 1998); Prosecutor v. Aleksovski (Ap-
peal of Nobilo), Judgment on Appeal by Anto Nobilo against Finding of Contempt, Case No.
IT-95-14/1-AR77 13 – 38 (ICTY App. Ch., 30 May 2001 (contempt, a non-statutory crime).
ICTR: siehe Prosecutor v. Akayesu, Judgement 601 – 17, Case No. ICTR-96-4-T (ICTR Trial
Ch., 2 September 1998). SCSL: Prosecutor v. Norman, Decision on Preliminary Motion Based
on Lack of Jurisdiction, Case No. SCSL 04-14-AR72(E) (SCSL App. Ch., 31 May 2004).
67
Zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Beitrags hatten die folgenden Staaten kein allge-
meines Menschenrechtsabkommen unterzeichnet (IPbpR oder regionale Menschenrechtsab-
kommen), aber eine verfassungsrechtliche oder gesetzliche nullum crimen/nulla poena Be-
stimmung wie die UN-Menschenrechtscharta/IPbpR: Verf. der Bahamas Art. 20 IV; VR China
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts 301

In der Tat kann aus der großen Mehrheit der über hundert Staaten, die diese Vor-
schrift in ihre Verfassung aufgenommen haben, die Folgerung gezogen werden, dass
das Rückwirkungsverbot in der Art der UN-Menschenrechtscharta und des IPbpR
durch Völkergewohnheitsrecht gefordert wird und/oder diesem entspricht. Das er-
gibt sich daraus, dass die meisten dieser Staaten ihre Verfassungen nach 1948 (als
die UN-Menschenrechtscharta geschaffen wurde) erlassen oder wesentlich überar-
beitet haben. Es ist daher sicher, dass sie die entsprechenden verfassungsrechtlichen
Vorschriften im Lichte der UN-Menschenrechtscharta (neu-)erlassen oder inhaltich
überarbeitet haben.
Die Annahme des Textes des IPbpR im Jahr 1966 bringt eine opinio juris zum
Ausdruck, dass der Text den Anforderungen des internationalen Gewohnheitsrechts
entspricht. Der Sinn und Zweck des Abkommens war es, Menschenrechte zu festigen
und weiterzuentwickeln. Im Zusammenhang des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsge-
bots bedeutet dies, dass ein Gebot praevia lex scripta noch kein Völkergewohnheits-
recht geworden war. Ebenso ist die Vielzahl der Staaten, die seit 1948 Texte ähnlich
der UN-Menschenrechtscharta (und seit 1966 ähnlich des IPbpR und der UN-Men-
schenrechte) erlassen haben, Ausdruck der opinio juris, dass diese Texte wenigstens
dem Völkergewohnheitsrecht und/oder abkommensrechtlichen Verpflichtungen ent-
sprechen. Mehrere Abkommen, einschließlich des IPbpR, verbieten die Abweichung
vom Verbot der Rückwirkung. Angesichts der Tatsache, dass sie die Abweichung von
anderen Rechten unter bestimmten Umständen erlauben, legt dies eine opinio juris
nahe, die dahin geht, dass eine Abweichung von dieser Regel jedoch unter keinen
Umständen erlaubt ist. Die naheliegendste Erklärung dafür ist, dass es sich bei dieser
Regel in jedem Fall um Völkergewohnheitsrecht handelt.
Die Anerkennung des Rückwirkungsverbots durch islamisch-rechtliche Länder
(sunnitische und schiitische) in ihrem nationalen Recht und die überarbeitete Arabi-
sche Charta der Menschenrechte sind wegen der islamischen Tradition der ta’azir-
Straftaten von besonderer Bedeutung.68 Das Erfordernis eines Rückwirkungsverbots
für Straftaten und Strafen ist eine wichtige Entwicklung in der islamischen Recht-
sprechung und indiziert den Glauben, dass es sich dabei um internationales Gewohn-
heitsrecht handelt. Die überarbeitete Arabische Charta bringt eine islamisch-recht-
liche Perspektive auf die Menschenrechte zum Ausdruck und wiederholt nicht nur
den Text des IPbpR und der regionalen Menschenrechtabkommen.
Die wesentlichen Staaten, die eine Bindung an das Gesetzlichkeitsprinzip wäh-
rend des 20. Jahrhunderts abgelehnt haben, haben diese heute anerkannt. Dies legt

Strafgesetz Art. 3, 12 (verabschiedet nach der Unterzeichnung des IPbpR im Jahr 1998; je-
doch noch nicht ratifiziert); Verf. Kiribatis Art. 10 IV; Malayische Verf. Art. 7 I; Moldawische
Verf. Art. 22; Verf. Narus Art. 10 IV; Verf. Palaus Art. IV(6); Verf. von St. Kitts & Nevis
Art. 10 IV; Verf. von St. Lucia Art. 8 IV; Verf. der Solomon Inseln Art. 10 IV; Verf. Tuvalus
Art. 22 VI, VII. Siehe Verf. Singapurs Art. 11 I (aber siehe Art. 149 I für wichtige Ausnahmen
bei einigen politischen Straftaten); Verf. der Türkischen Republik Nordzypern Art. 18 I (nur
von der Türkei als Staat anerkannt). Der IPbpR wurde 2008 von den Bahamas unterzeichnet.
68
Siehe Text und Fn. 14, 30 – 31 oben.
302 Kenneth S. Gallant

ebenfalls eine entsprechende opinio dahingehend nahe, dass dies als internationales
Menschenrecht gefordert wird. Ein Muster für die Achtung des Gesetzmäßigkeits-
grundsatzes im Strafrecht ist in den Verfassungen des wiederhergestellten Deutsch-
land und Japan – diese traten vor der Begründung des heutigen internationalen Sys-
tems der Menschenrechtsabkommen in Kraft – und in deren Gesetzen zu finden.69
Die Sowjetunion setzte das strafrechtliche Rückwirkungsverbot 1960 um (allerdings
wohl mit einige Ausnahmen), also abermals bevor der IPbpR fertiggestellt war.70
Russland und die anderen Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion wie auch
China, die ehemaligen Europäischen Ostblockstaaten, Laos, Vietnam, Kambodscha
und Kuba haben ebenfalls Vorschriften erlassen, die die Rückwirkung verbieten.71
Das legt den Schluss nahe, dass der strafrechtliche Gesetzlichkeitsgrundsatz als
Teil des weltweiten Menschenrechtssystems anerkannt wird.
Kurz, eine opinio juris, sowohl im traditionellen als auch im erweiterten Sinn,
existiert, und sie zeigt, dass das Rückwirkungsverbot für Straftatbestände und Sank-
tionen in das Völkergewohnheitsrecht eingegangen ist.

IV. Auffassungen in der Literatur:


Unterstützung und ein Widerspruch
1. Unterstützung im Allgemeinen

Führende Rechtswissenschaftler haben im Rückwirkungsverbot für Straftaten


und Sanktionen Völkergewohnheitsrecht (und zwar sowohl internationales Men-
schenrecht als auch humanitäres Völkerrecht) gesehen. Davon müssen nur einige
hierfür zitiert werden.
Wie bereits oben erwähnt, hat der Professor und Richter in der ICTY- und ICTR-
Berufungskammer Theodore Meron geäußert, dass es sich dabei um „eine gewohn-
heitsrechtliche, sogar zwingende Norm“72 handele. Meron gehört sicher zu den füh-
renden Rechtswissenschaftlern, deren Rechtsauffassung besonderes Gewicht zu-
kommt.
Ein führender Kommentar zum Römischen Statut des ICC, herausgegeben vom
ehemaligen Präsidenten des Sondertribunals für den Libanon und ICTY Professor
Antonio Cassese sowie anderen führenden Rechtswissenschaftlern, befürwortet
69
Deutsches Grundgesetz Art. 103 (2) und §§ 1, 2 StGB; Japanische Verf. Art. 39 und
Strafgesetzbuch Art. 6.
70
1960 RSFSR Strafgesetz Art. 6, das Grundprinzip der UdSSR 6 von 1958 implementiert
(und mit ihm identisch ist) in Harold J. Berman, Soviet Criminal Law and Procedure: The
RSFSR Codes 145 – 147 (Harvard Univ. Press, 1966); id. S. 47 (for identity of provisions);
mögliche Ausnahmen werden in Gallant, sec 5.c.4 diskutiert (Auseinandersetzung mit Ber-
man und anderen Quellen).
71
Verweise in Teil III.1. oben. Weitere Diskussion bei Gallant, Teil 5.c.iv.
72
Theodore Meron, War Crimes Law Comes of Age 244 (Oxford Univ. Press 1998).
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts 303

den völkergewohnheitsrechtlichen Status des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsgebots.


In dieser Reihe von Kommentaren stellt sich Susan Lamb auf den Standpunkt, das
Prinzip der Gesetzlichkeit sei seit dem zweiten Weltkrieg „eindeutig und fest im Völ-
kergewohnheitsrecht verwurzelt“.73 Ebenso betont Raul C. Pangalangan im anderen
bedeutenden, von Otto Triffterer herausgegebenen Kommentar zum Statut, dass das
Rückwirkungsverbot für Strafen ein unerlässlicher Teil des ICC-Systems sei.74
Schließlich hat das Internationale Komitee des Roten Kreuzes in einer umfang-
reichen Studie festgestellt, dass das Rückwirkungsverbot für Straftaten und Sanktio-
nen sowohl in internationalen als auch nicht-internationalen Konflikten nach huma-
nitärem Völkergewohnheitsrecht gilt.75 Es sei nochmals besonders betont, dass dies

73
Susan Lamb, Nullum crimen, nulla poena sine lege in 1 The Rome Statute of the Inter-
national Criminal Court: A Commentary 735 (Antonio Cassese/Paola Gaeta/John R. W. D.
Jones, Hrsg., 2002) [folgend Cassese et al., Commentary]. Siehe auch Gerhard Werle et al.,
Principles of International Criminal Law 93 S. 33 (TMC Asser Press 2005).
74
Raul C. Pangalangan, Article 24, Non-retroactivity ratione personae, in Commentary on
the Rome Statute of the International Criminal Court: Observers’ Notes, Article by Article
14 – 15, S. 467, 472 – 73 (Otto Triffterer, Hrsg., 1999).
75
International Committee of the Red Cross, Customary International Humanitarian Law
(Rules), R. 101, S. 371 (im Folgenden ICRC, Customary IHL). Zur Dokumentation siehe 2
(Teil 2) ICRC, Customary IHL (Practice) 3687 (Jugoslawien und Kroatien (27. November
1991) haben zugestimmt, dass Zivilisten gem. Art. 75 Zusatzprotokoll I behandelt werden),
3688 (Vertreter der Republik Bosnien-Herzegowina, der ethnischen Serben und ethnischen
Kroaten in Bosien haben dem gleichen zugestimmt, 27 Mai 1992), 3691 – 3692 (Argentinische
Kriegsrechtsvorschrift §§ 3.30, 5.025, 5.026 (1969), „gesetzliche Bestimmung“ nur ange-
wendet, wenn zum Zeitpunkt des Verstoßes in Kraft), 3693 (Kanada LOAC-Handbuch § 49(a),
S. 12 – 16 (1999), „Strafvorschriften, die durch den Besatzer erlassen werden, dürfen nicht
rückwirkend sein.“), 3696 (Neuseeländisches Militärhandbuch §§ 1327(1)(a), 1815(2)(c)
(1993) Formulierung der Strafvorschriften ähnlich der Kanadas; in nicht internationalen be-
waffneten Konflikten darf keine Strafe schärfer sein zum Zeitpunkt des Verstoßes anwendbar
war, mit der Anwendung des Gnadenprinzips (mercy principle)), 3698 (Schwedisches Hu-
manitäres Völkerrechtshandbuch § 2.2.3, S. 19 (1991) erachtet das gesamte Zusatzprotokoll I
als Teil des Völkergewohnheitsrechts), 3699 – 3700 (U.K.-Militärhandbuch § 233 (1958)
(„kein Kriegsgefangener darf wegen einer Tat angeklagt oder verurteilt werden, die nicht nach
dem zum Zeitpunkt der Tathandlung gültigen Recht des Gewahrsamstaates oder Völkerrecht“
galt; U.K.-LOAC-Handbuch (1981) entsprechend), 3701 (US-Feldhandbuch, wendet die
Genfer Konvention (Nr. 4) Art. 65 auf Besatzungssituationen an); 3703 (Bangladeschisches
Internationales Straf(tribunal)gesetz (International Crimes (Tribunal) Act) § 3(2)(e) (1973),
„Verletzung jeglicher Regel des humanitären Völkerrechts, die in bewaffneten Konflikten
gem. der Genfer Konvention von 1949 anzuwenden ist,“ ist ein Verbrechen), 3705 (ergänztes
Irisches Genfer-Konventions-Gesetz § 4(1 und 4) (1962) bestimmt, dass „geringfügige Brü-
che“ der Genfer Konvention oder des Zusatzprotokolls I oder „Verstöße“ gegen das Zusatz-
protokoll II (einschließlich der Vorschriften zur Gesetzlichkeit aller Konventionen) strafbar
sind), 3706 (Norwegisches Militärstrafgesetz, das bestimmt, dass jedem, der gegen Vor-
schriften, die im Zusammenhang mit dem Schutz [durch die Genfer Konvention von 1949 und
den Zusatzprotokollen] von Personen oder Eigentum stehen, verstößt oder Teilnehmer eines
Verstoßes gegen diese Vorschriften ist […] Gefängnisstrafe droht; 3708 (Die jordanische
Praxis (1997) hält Art. 75 Zusatzprotokoll II für die Verkörperung von Gewohnheitsrecht,
3709 (ebenso für Syrien), 3710 (US-Praxis (1997) akzeptiert Art. 6 Zusatzprotokoll II und
militärische Notwendigkeit führt nicht zur Beeinträchtigung dieser Rechte), S. 2495 – 2499.
304 Kenneth S. Gallant

von besonderer Bedeutung ist, da das humanitäre Völkerrecht dann Anwendung fin-
det, wenn sich die Staaten dem größten Druck ausgesetzt sehen, und es für Angehö-
rige anderer Staaten (in internationalen bewaffneten Konflikten) und selbst für die
eigenen Staatsbürger (in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten) gilt. Wenn
das strafrechtliche Rückwirkungsverbot selbst in diesen Fällen gilt, sollte es in Frie-
denszeiten als Norm umso stärker sein.
Die Fassung von nullum crimen, nulla poena sine lege, die von diesen Rechtswis-
senschaftlern diskutiert wird, entspricht der oben (durch Praxis und opinio juris) als
internationales Gewohnheitsrecht dargestellten Fassung. Es ist irrelevant, ob die
fragliche Straftat durch nationales oder internationales (einschließlich des Unterfalls
der sog. allgemeinen von der Staatengemeinschaft anerkannten Rechtsprinzipien)
Recht geschaffen wurde.76

2. Ein Widerspruch:
Die Behauptung, dass nullum crimen, nulla poena nicht wirklich
auf völkerrechtliche Verbrechen anwendbar ist

Einige Positivisten kritisieren die Möglichkeit der Existenz eines internationalen


Strafrechts unter den gegenwärtigen Bedingungen – unter denen es keinen allgemei-
nen internationalen Gesetzgeber gibt – als widersprüchlich mit dem Grundsatz nul-
lum crimen, nulla poena sine praevia lege scripta.77 Dies führt dazu, dass einige von
ihnen dem gesamten Projekt eines materiellen internationalen Strafrechts ablehnend
gegenüberstehen.78
Zweifelsfrei haben die Kritiker insofern Recht: Die Nürnberger Charta und Pro-
zesse als Grundlage des modernen internationalen Strafrechts erforderten keine
praevia lex scripta. Die Kritiker argumentieren dahingehend, dass das Verbrechen
gegen den Frieden (d. h. ein Angriffskrieg) fast vollständig ausgedacht worden sei
und daher das Gesetzlichkeitsprinzip in keiner seiner Ausprägungen Anwendung ge-

Von allen Zitaten zur Unterstützung des Gesetzlichkeitsprinzips in den Materialien des inter-
nationalen Roten Kreuzes sind nur die aufgeführt, die sich auf die Einbeziehung der Gesetz-
lichkeit bei Verurteilungen in Dokumenten beziehen, die sich mit möglichen Verstößen gegen
internationales Recht befassen.
76
Gerhard Werle et al., Principles of International Criminal Law 93 S. 33 (TMC Asser
Press 2005); Susan Lamb, Nullum crimen, nulla poena sine lege, in: Cassese et al., Com-
mentary S. 735 („Das Prinzip der Gesetzlichkeit ist klar und deutlich seit dem Zweiten
Weltkrieg im Völkergewohnheitsrecht verankert“); Bassiouni, CAH-ICL S. 144, 162; sowie
das in Kapitel 1.b.v. diskutierte Material.
77
Siehe z. B., Alfred P. Rubin, The Law of Piracy 343 (1988); Alfred P. Rubin, An Inter-
national Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia?, 6 Pace Int’l L.J. 7 (1994) [folgend
Rubin, An ICTY?].
78
Das ist zweifelsohne die Ansicht von Rubin.
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts 305

funden habe. Es ist schwierig, dem etwas entgegenzusetzen.79 Daher muss die Auf-
fassung, dass es sich beim Rückwirkungsverbot um internationales Strafrecht han-
dele (wie in diesem Artikel geschehen) darlegen, dass sich das Recht seit den Nürn-
berger Prozessen gewandelt hat.
Die Behauptung, dass nullum crimen und nulla poena gegenwärtig im internatio-
nalen Strafrecht nicht angewendet werden, beruht häufig auf Missverständnissen.
Die Verfechter dieser Auffassung verwenden in der Regel die sehr strikte positivis-
tische Definition des Rückwirkungsverbots nullum crimen, nulla poena sine praevia
lege scripta oder wie es in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürger-
rechte niedergelegt ist: „Niemand darf bestraft werden, außer aufgrund eines Gesetz,
das vor dem Delikt angenommen und veröffentlicht wurde.“
Die Kritiker haben Recht, dass das Gebot der praevia lex scripta nicht auf Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit und Vorschriften des Allgemeinen Teils des Straf-
rechts angewendet wurde. Insbesondere findet sich kein einziger Text, der, universell
angenommen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert. Zudem befindet sich
der Allgemeine Teil des Strafrechts, im Besonderen die Verantwortlichkeit für das
Handeln anderer, noch immer in Entwicklung.
Allerdings gilt der praevia lex scripta-Grundsatz im Völkergewohnheitsrecht,
einschließlich des internationalen Strafrechts, nicht. Dies ergibt sich aus der oben
dargestellten Praxis der Staaten und der internationalen Organisationen sowie opinio
juris.80
Dennoch gilt nach internationalem Menschenrecht ein echtes Rückwirkungsver-
bot für Straftaten und Sanktionen sowohl für das internationale Strafrecht als auch für
sonstiges Strafrecht. Dies entspricht der Formulierung in der UN-Menschenrechts-
charta und im IPbpR, die verlangt, dass die angeklagte Handlung schon zum Zeit-
punkt der Tat strafbar gewesen sein muss und ein anwendbares Gesetz die Strafe er-
laubt haben muss. Selbst der von der Tradition der Kodifikation geprägte Rechtswis-
senschaftler Dr. Stefan Glaser aus Polen weist darauf hin, dass der zentrale Aspekt
des Gesetzlichkeitsgrundsatzes die Ablehnung der Kriminalisierung einer zum Zeit-
punkt der Tat nicht strafbaren Handlung ist.81
Dieser Beitrag soll nicht die Grundsätze kritisieren, die hinter der praevia lex
scripta-Fassung des Rückwirkungsverbots stehen. Es ist sogar so, dass der Verfasser
selbst hofft, dass irgendwann klare Texte für das internationale Strafrecht existieren.
Dieser Beitrag beschränkt sich daher darauf, die Auffassung zu kritisieren, dass es
79
Die einzige Person, die angeblich schon vor dem Zweiten Weltkrieg dafür eingetreten
ist, Aggression als Verbrechen anzusehen, war der französische Richter im Nürnberger Pro-
zess, Prof. Henri Donnedieu de Vabres. Siehe Henri Felix August Donnedieu de Vabres, Les
principes modernes de droit pénal international 426 (Librairie du Recueil Sirey 1928) („Ein
Angriffskrieg ist ein Verbrechen“) (Übersetzung des Autors).
80
Siehe Teil III. oben.
81
Stefan Glaser, La méthode d’interpretation en droit international pénal, 9 Rivista Italiana
di Diritto e Procedura Penale 757, 762 – 764 (1966).
306 Kenneth S. Gallant

ohne Gebot einer praevia lex scripta ein Gesetzlichkeitsgebot im internationalen


Strafrecht nicht gäbe, und aufzuzeigen, dass dieselben Regeln der Menschenrechte
für nationales wie für internationales Strafrecht gelten.

a) Nullum Crimen

Professor William A. Schabas, ein führender wissenschaftlicher Befürworter des


internationalen Strafrechts, hat geschrieben, dass die Interpretation des Gesetzlich-
keitsgebots des materiellen Strafrechts durch die internationalen ad hoc-Tribunale
ein „recht entspanntes“82, den Nürnberger Prozessen ähnliches, Verständnis der Ge-
setzlichkeit widerspiegele. Schabas ist aber nur insofern zuzustimmen, als die Sta-
tuten der ad hoc-Tribunale auf nullum crimen, nulla poena sine praevia lege scripta
verzichten. Seine Aussage wäre eine Übertreibung, wenn man sie so auffasste, dass
die modernen Tribunale die rückwirkende Schaffung von Straftaten, ähnlich der
Schaffung eines Verbrechens gegen den Frieden (Angriffskrieg) durch das Gericht
in Nürnberg, erlaubt hätten. Dies ist gerade nicht der Fall bei den modernen Tribu-
nalen, was nahelegt, dass sich das Recht seit dem Zweiten Weltkrieg geändert hat.
Zunächst einmal haben all diese Tribunale die Befugnis zur Verurteilung von Per-
sonen für Taten, die zum Zeitpunkt ihrer Begehung nicht strafbar waren, abgelehnt.83
Anders als das Nürnberger Tribunal haben sich all diese neueren Gerichte und Tri-
bunale an das Rückwirkungsverbot, wie es in der UN-Menschenrechtscharta und
dem IPbpR niedergelegt ist, gebunden gefühlt. Selbstverständlich gab es Kontrover-
sen darüber, was von den Statuten der internationalen Straftribunale umfasst wird:
Die Frage, wann ein materielles Verbrechen vor der Tat definiert war, ist noch
immer umstritten und stellt eine komplizierte Angelegenheit dar.84 Das spiegelt
aber nur die Schwierigkeiten bei der Anwendung des Gesetzlichkeitsgebots wider,
ist also weder eine Ablehnung des Prinzips als Rechtsregel, noch eine Behauptung,
die Regel könne für internationale Straftaten aufgeweicht werden.

82
William A. Schabas, The UN International Criminal Tribunals: The Former Yugoslavia,
Rwanda and Sierra Leone 63 (2006) [folgend Schabas, UN ICT].
83
Um den ICTY zu zitieren, vgl. etwa Prosecutor v. Milutinovic, Decision on Dragoljub
Ojdanic’s Motion Challenging Jurisdiction: Joint Criminal Enterprise 10, Case No. IT-99-37-
AR72 (ICTY App. Ch., 21 May 2003); Prosecutor v. Aleksovski, Appeals Judgement 126 –
127 Case No. IT-95-14/1 (ICTY App. Ch., 24 March 2000); Prosecutor v. Delalic, Appeals
Judgement 178 – 180, Case No. IT-96-21 (ICTY App. Ch. 20 February 2001); Prosecutor v.
Aleksovski (Appeal of Nobilo), Judgment on Appeal by Anto Nobilo against Finding of
Contempt, Case No. IT-95-14/1-AR77 38 (ICTY App. Ch., 30 May 2001 (Missachtung des
Gerichts, eine nicht-gesetzliche Straftat). ICTR: siehe Prosecutor v. Akayesu, Judgement 617,
Case No. ICTR-96-4-T (ICTR Trial Ch., 2 September 1998). SCSL: Prosecutor v. Norman,
Decision on Preliminary Motion Based on Lack of Jurisdiction, Case No. SCSL 04-14-AR72
(E) (SCSL App. Ch., 31 May 2004).
84
Siehe Prosecutor v. Furundzija, Judgement 165 – 169, Case No. IT-95-17/1 (ICTY Tr.
Ch., 10 December 1998) (on rape); Delalic, Appeals Judgement 175 – 180.
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts 307

In der Tat ist es so, dass der strittigste gegenwärtige Fall hinsichtlich der Rückwir-
kung von Strafen nicht das internationale Strafrecht betrifft, sondern die nationale
Verfolgung eines Verstoßes gegen nationales Recht. Dies sind die Fälle, in denen so-
wohl die Gerichte des Vereinigten Königreichs als auch der EGMR es für vorherseh-
bar erachtet haben, dass ein neues Vergewaltigungsgesetz im U.K. dahingehend in-
terpretiert werden würde, dass erzwungener ehelicher Geschlechtsverkehr als Verge-
waltigung zu behandeln ist, weshalb eine entsprechende Entscheidung keinen Ver-
stoß gegen das Rückwirkungsverbot darstelle.85 Man muss diesen Entscheidungen
nicht zustimmen, aber das bedeutet beileibe nicht, dass es im Vereinigten Königreich
oder vor dem EGMR kein echtes Rückwirkungsverbot gäbe. Der Punkt hier ist, dass
diese Fälle ebenso schwierig und fraglich sind wie die Fälle der neuen internationalen
Strafgerichte und Tribunale. In den Fällen vor den modernen internationalen Straf-
gerichten und Tribunalen wurde die Frage nach der Gesetzmäßigkeit nicht „ent-
spannter“ behandelt als in Fällen des nationalen Rechts.
Eines der kontroversesten Beispiele für die behauptete Schaffung rückwirkender
internationaler strafrechtlicher Verantwortlichkeit ist der Wortlaut, mit dem die in-
ternationalen ad hoc-Straftribunale eine Form der strafrechtlichen Verantwortlich-
keit von Individuen, das sog. „joint criminal enterprise“, also gemeinsames kriminel-
les Unternehmen, bezeichnet haben. Der Name dieser Art der Verantwortlichkeit ist
neu. Allerdings umfasst sie in ihren verschiedenen Formen Ideen der strafrechtlichen
Beteiligung, wie sie weltweit üblich sind. Das Rückwirkungsverbot von Straftaten
umfasst auch teilnehmende Handlungen, die eine strafrechtliche Verantwortlichkeit
nach sich ziehen. Eine Person kann nur für die strafbare Tat eines Anderen (z. B. auf
der Basis der Verantwortlichkeit wegen eines joint criminal enterprise) verantwort-
lich sein, wenn zum Zeitpunkt der behaupteten Teilnahme der beschuldigten Person
ein auf den Handelnden anwendbares Gesetz die Zurechnung der Verantwortlichkeit
von der Handlung des Beschuldigten erlaubt, wie das ICTY festgehalten hat.86 Kei-
nes der internationalen Strafgerichte und Tribunale hat etwas Gegenteiliges geurteilt.

85
C. R. v. United Kingdom, Judgment, Case. No. Case No. 48/1994/495/577, Eur. Ct. H.R.
(27 October 1995), and S. W. v. United Kingdom, Judgment, Case No. 47/1994/494/576, Eur.
Ct. H.R. (27 October 1995), including discussions of the history of the cases in the courts of
the U.K.
86
„Es gibt keinen Hinweis im Bericht des Generalsekretärs, der die persönliche Gerichts-
zuständigkeit des internationalen Tribunals hinsichtlich der Haftung wie durch Gewohn-
heitsrecht vorgeschrieben beschränkt. Jedoch erfordert das Prinzip der Gesetzlichkeit, dass das
Tribunal das Recht anwendet, das für die Individuen zum Zeitpunkt der angeklagten Hand-
lungen bindet war. Und, wie es gerade bei der Sachzuständigkeit des Tribunals der Fall ist,
dass das Gesetzeswerk das Völkergewohnheitsrecht widerspiegeln muss.“ Prosecutor v. Mi-
lutinovic, Decision on Dragoljub Ojdanic’s Motion Challenging Jurisdiction: Joint Criminal
Enterprise 10 (Fußnoten ausgelassen), Case No. IT-99-37-AR72 (ICTY App. Ch., 21 May
2003). Siehe Prosecutor v. Hadzihasanovic, Decision on Interlocutory Appeal Challenging
Jurisdiction in Relation to Command Responsibility 10 – 36 (zur Frage, ob eine Kommando-
verantwortlichkeit in nicht-internationalen Konflikten ein Verbrechen nach Völkergewohn-
heitsrecht darstellt).
308 Kenneth S. Gallant

Wenn nicht zumindest eine Theorie strafrechtlicher Beteiligung auf seine Hand-
lung zum Tatzeitpunkt anwendbar war, hat der Beschuldigte keine Handlung began-
gen, die unter dem anwendbaren Recht strafbar ist,87 unabhängig davon, welche
rechtliche Theorie benutzt wird, um eine Verbindung zur Handlung des Haupttäter
herzustellen. Nochmals sei hervorgehoben, dass dies die im nationalen und interna-
tionalen Strafrecht anzuwendende völkergewohnheitsrechtliche Regel der Gesetz-
lichkeit verkörpert.
Quelle des Rechts, das eine Handlung zur Zeit ihrer Begehung unter Strafe stellt,
können Abkommen, aber auch innerstaatliches Recht sein, wobei die Strafverfol-
gung später nach internationalem Recht erfolgen kann. Das ICTR hat den Umstand
diskutiert, dass seine Statuten die Verfolgung von Verstößen gegen das Zusatzproto-
koll II der Genfer Konvention von 1977 vorsehen, die Vorschriften enthalten, die
wohl zum Teil Straftaten schaffen, die kein internationales Gewohnheitsrecht
sind. Das Gericht hat die Verfolgung dieser Straftaten erlaubt, da Ruanda die relevan-
ten Protokolle angenommen und die entsprechenden Handlungen im nationalen
Recht unter Strafe gestellt hat und weil die infrage stehende Straftat in der Tat als
völkergewohnheitsrechtlich anerkanntes Verbrechen galt.88
Zudem gilt: Wenn eine Handlung zur Zeit der Tatbegehung nach nationalem
Recht strafbar ist, so stellt es keinen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot dar,
wenn diese Handlung später nach internationalem Strafrecht verfolgt wird:
„Mord, Folter, Sklaverei und ähnliche Verbrechen, die bisher nur nach dem Recht
der jeweiligen Staaten unter Strafe standen, fallen nun unter die Entscheidungsbefug-
nis der Familie der Nationen. Daher ist Mord nicht weniger Mord, wenn er gegen eine
ganze Rasse anstatt gegen eine einzelne Person begangen wird.“89 Der springende
Punkt ist, dass die Handelnden zur Zeit der Tat Straftaten begangen hatten, wenn
auch nur unter deutschem Recht.

87
Für einen nationalen Fall, siehe Hamdan v. Rumsfeld, 548 U.S. 557 (2006) (Teil V;
abweichende Meinungen hinsichtlich dieses Aspekts).
88
Prosecutor v. Akayesu, Judgement 600 – 617, Case No. ICTR-96-4-T (ICTR Trial Ch., 2
September 1998). Siehe auch Prosecutor v. Galic, Judgement 16 – 25, 28 – 32, Case No. IT-98-
29 (ICTY Tr. Ch., 5 December 2003).
89
Einsatzgruppen-Fall, 4 Trials of War Criminals 411, 485 – 487, 497; siehe auch ebda.
S. 459. Das war ein Fall eines US-Militärtribunals, dessen Errichtung auf ein internationales
Gesetz (Control Council Law No. 10 der Alliierten) der Legislative für das besetzte
Deutschland zurückgeht, in dem nichtsdestotrotz internationales Strafrecht angewendet
wurde. Der Fall, S. 471 – 472, zitiert Militärrecht der deutschen Staaten der vergangen Jahr-
zehnte, einschließlich des Preußischen Militärgesetzes (1845), des Sächsischen Militärstraf-
gesetzes (1857), des Baierischen Militärstrafgesetzes (1869), des Badener Militärstrafgesetzes
(1870), des Deutschen Militärstrafgesetzes, Art. 47 (1872). Ebenfalls wird das Österreich-
Ungarische Militärstrafgesetz, Art. 158 (1855) angeführt. Siehe Trial of Rauter, 14
U.N.W.C.C., Law Rep. 89, 119 – 120 (Netherlands Special Ct. of Cass. 12 January 1949).
Siehe ebenfalls die Argumente der Anklage (keines davon vom Tribunal ausdrücklich ak-
zeptiert oder abgelehnt) im Hauptprozess in Nürnberg, de Menthon, Opening, 3 IMT, Trial
S. 92, 128, und Shawcross, Closing, 19 IMT, Trial S. 433, 448.
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts 309

Entsprechend können entweder nationale oder internationale Gerichte internatio-


nale Verbrechen unter später erlassenen Gesetzen verfolgen, solange die angeklagten
Handlungen zum Zeitpunkt der Tatbegehung internationale Straftaten waren. Dies
geschah nach dem Zweiten Weltkrieg durch einige nationale Tribunale. Es war au-
ßerdem auch die Grundlage für das ICTY, ICTR und SCSL, die sich alle hauptsäch-
lich mit Ereignissen beschäftigen, die bereits in der Vergangenheit liegen. Nochmal:
Der Punkt ist, dass alle relevanten Handlungen bereits zum Zeitpunkt ihrer Begehung
Straftaten waren.
Schließlich können allgemeine Prinzipien des Rechts, die eine Handlung krimi-
nalisieren, zur Definition einer Straftat herangezogen werden, wenn sie bereits zum
Zeitpunkt der Handlung existiert haben. Dies bildet die Grundlage dafür, dass das
ICTY für sich die Befugnis in Anspruch genommen hat, die Missachtung des Ge-
richts zu bestrafen.90 Offensichtlich stellen die letzten Beispiele (internationales
Recht greift nationales Recht und nationales Recht internationales Recht sowie
nicht kodifizierte allgemeinen Prinzipien des Rechts auf) die Befürworter der prae-
via lex scripta nicht zufrieden.
Die Auffassung von nullum crimen sine lege, die die oben beschrieben Praktiken
erlaubt, ist Teil des Völkergewohnheitsrechts geworden. Es ist irrelevant, ob die frag-
liche Straftat durch nationales oder internationales Recht (einschließlich der als „all-
gemeine, von der Gemeinschaft der Staaten anerkannte Prinzipien des Rechts“ be-
zeichneten Untergruppe des internationalen Rechts) geschaffen wurde.
Wenn man erst einmal verstanden hat, dass common law oder Gewohnheitsrecht
den vom Prinzip der Gesetzmäßigkeit gesetzten Anforderungen genauso (oder fast
genauso) gut entspricht wie geschriebene Gesetze, gibt es kein grundsätzliches Pro-
blem mit der Auffassung eines die Individuen bindenden internationalen Rechts in
der gegenwärtigen Situation der Welt. Daher wurde von einigen Stimmen vorge-
schlagen, das Schlagwort in „nullum crimen, nulla poena sine iure“91 (wobei iure
eher eine allgemeinere Beschreibung von bindenden rechtlichen Norm ist als
„lege“) zu ändern.
Das anwendbare Recht (lex oder ius) kann Straftaten beinhalten, die bereits davor
von der Rechtsprechung (durch die Entwicklung von common law) und durch inter-
nationales Recht (einschließlich des internationalen Gewohnheitsrechts, anwendba-
ren Vertragsrechts und allgemeiner Rechtsprinzipien, die von der Gemeinschaft der
Staaten anerkannt sind) geschaffen wurden. Das anwendbare Recht kann nationales
Recht beinhalten, das gewöhnliche Verbrechen definiert, soweit es aufzeigt, welches
Verhalten erkennbar als Straftat angesehen wird.92
90
Prosecutor v. Tadic (Appeal of Vujin), Judgement on Allegations of Contempt against
Prior Counsel, Milan Vujin, Case No. IT-94-1-A-R77 19 – 24 (ICTY App. Ch., 27 February
2001). Eine ausführliche Darstellung dieses Aspekts, die zu lange wäre, um sie hier mit zu
behandeln, kann bei Gallant, sec. 6.a.1.A gefunden werden.
91
Siehe Kap. 1 (Einführung) und 7.b.
92
Siehe das Material zur Rechtscharakterisierung in Kap. 3.c.i und 6.a.iv.
310 Kenneth S. Gallant

Verbunden mit diesem Punkt ist die Behauptung, dass internationales Strafrecht in
der Tat nicht weit genug entwickelt ist, um Individuen in Kenntnis zu setzen und um
sie vor willkürlicher Gesetzgebung und Gesetzesvollzug zu beschützen.93 Internatio-
nales Strafrecht unterliegt dem gleichen Druck willkürlicher Ausweitung wie das
Strafrecht in manchen Ländern mit einer langen Rechtsstaatstradition. Die Behaup-
tung, dass die unvorhersehbaren Erweiterungen des Strafrechts wegen des Fehlens
eines allgemeinen Gesetzgebers in diesem System stärker als in nationalen Systemen
seien, wird dadurch weniger haltbar. Nichtsdestotrotz ist die Gefahr solcher unvor-
hersehbaren Erweiterungen real. Sicherzustellen, dass dies nicht geschieht, erfordert
Wachsamkeit bei der Durchsetzung der Prinzipien und besonders – wo es nötig ist –
bei der Feststellung, ob ein bestimmtes Verhalten wirklich nach Völkergewohnheits-
recht oder einem anderen anwendbaren Gesetz strafbar ist.
Sofern es Staaten betrifft, die das ICC Statut unterzeichnet haben, trifft innerhalb
des Systems des ICC die Behauptung, es gebe keine Befolgung des Gesetzlichkeits-
gebots, noch weniger zu. In diesen Fällen handeln die ICC-Staaten als der Gesetz-
geber und das Statut selbst dient als positiver Rechtstext.94

b) Das besondere Problem von Nulla Poena

Ungeachtet der starken Beweise dafür, dass nulla poena sine lege eine Regel des
Völkergewohnheitsrechts ist, hat diese Regel eine wechselvolle Karriere in der mo-
dernen, sich mit humanitärem Völkerrecht (d. h. Genozide, Verbrechen gegen die
Menschlichkeit und Kriegsverbrechen) befassenden, Rechtswissenschaft hinter
sich. Einige Rechtswissenschaftler sind skeptisch gegenüber einer umfassenden An-
wendung des nulla poena Grundsatzes auf die strafrechtliche Verantwortung für Ver-
letzungen des humanitären Völkerrechts geblieben – unabhängig davon, ob vor na-
tionalen oder internationalen Tribunalen verhandelt wird. Dies schließt sowohl Per-
sonen mit ein, die das Projekt eines internationalen Strafrechts unterstützen,95 als
auch solche, die ihm ablehnend gegenüber stehen.96 Beispielsweise schlägt M. Cherif
Bassiouni vor, dass nulla poena sine lege im internationalen Recht nur analog ange-
wendet wird.97 Salvatore Zappalà behauptet, dass in internationalen Strafprozessen
diese Regel zwar ein Prinzip der Billigkeit sei, sie aber nicht wirklich dem Individu-
um Rechte verleihe.98
Dieses Problem wird hier separat behandelt, da die Literatur hierzu unübersicht-
lich ist. Jedenfalls ist die Praxis weit weniger verwirrend als die Literatur es nahe legt.

93
Siehe Rubin, Piracy.
94
Siehe ICC Statute Art. 22.
95
Siehe Bassiouni, CAH-ICL S. 158 – 159, 162, 176; Zappalà, S. 196; Guénaël Mettraux,
International Crimes and the ad hoc Tribunals 356 – 357 (2005) [folgend Mettraux].
96
Siehe Rubin, An ICTY.
97
Bassiouni, CAH-ICL S. 158 – 159, 162.
98
Zappalà, S. 196.
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts 311

Der Grund für diese Verwirrung ist, dass nulla poena sine lege in verschiedenen
Rechtssystemen eine andere Bedeutung hat. Es bedarf daher eines Verständnisses
der international-rechtlichen Anwendung des Gesetzlichkeitsgebots bei der Verurtei-
lung so genannter internationaler Kernverbrechen dahingehend, dass diese nicht
mehr voraussetzt als die Definition von Straftaten. Lex (oder in Bassiounis Verwen-
dung zur Definition der Gesetzlichkeit: ius99) kann sich aus dem Völkergewohnheits-
recht zur Bestrafung als auch aus geschriebenen Gesetzen ergeben.
Auf die wichtigste Ursache für diese Verwirkung wurde von Zivkovic, einem UN
War Crimes Commission Berichterstatter, der über das Verfahren gegen Rauter
1948 – 1949 in den Niederlanden schrieb, hingewiesen: „Im kontinentalen Recht
[…] sind Strafen für Straftaten ausdrücklich und mit der Bezeichnung der bestimm-
ten Strafe oder der bestimmten Strafen, in der Regel mit einer Höchst-und/oder Min-
deststrafe, vorgeschrieben.“100 Solche „Straftarife“ waren in den Niederlanden für
Kriegsverbrechen noch nicht festgeschrieben, als Rauter seine Kriegsverbrechen,
einschließlich Mord, Sklaverei, Plünderei und illegale Beschlagnahme von Eigen-
tum, illegale Festnahmen und Haft, kollektive Bestrafung Unschuldiger und Verfol-
gung wegen der Religion begann. Die viel später erlassenen Statuten des ICTY und
des ICTR enthalten solche Straftarife ebenfalls nicht, ebenso wenig das ICC Statut.
Der Mangel eines bestimmten Verurteilungsschemas im Recht der kriminalisieren-
den Gewalt ist der Grund für viele der Behauptungen, dass nulla poena für interna-
tionale Straftaten nicht gelte.101 Bassiouni behauptet, dass die fehlende Statuierung
erlaubter Strafen in den Statuten des ICTY und des ICTR zu einer mangelhaften Er-
füllung des Prinzips nulla poena sine lege führe.102 Zappalà würde den Rückgriff auf
das Strafmaß am Ort des Verbrechens erlauben und argumentiert, dass sonst die Ver-
urteilungspraxis Jugoslawiens und Ruandas in den Statuten des ICTY und ICTR zu
einem Verstoß gegen nulla poena führen müsste.103
Bassiounis Behauptung spiegelt die Praxis vieler Staaten, insbesondere in den
sog. civil law jurisdictions, also in kodifikatorischen Rechtssystemen, mit ausgepräg-
ten Straftarifen für bestimmte Verbrechen, wider. Diese strikte Fassung des nulla
poena-Grundsatzes stellt aber nicht die weltweite Praxis aller Staaten dar, weder
im nationalen, noch im internationalen Recht. Sie geht außerdem weit über das
vom Gebot der Gesetzlichkeit für das zur Verurteilung wegen Verstößen gegen die
oben dargestellten internationalen Menschenrechte und über das von den humanitä-
ren Völkerrechtsabkommen Geforderte hinaus. Alles, was von der internationalen
Menschenrechtspraxis zur Legalität von Verurteilungen gefordert wird, ist, dass
keine schwerere Strafe verhängt wird, als zum Zeitpunkt der Straftat vorgesehen

99
Bassiouni, CAH-IHL, S. 144.
100
Zivkovic, Notes on Trial of Rauter, 14 U.N.W.C.C., Law Rep., S. 111, 120 (1949).
101
Siehe Ferdinandusse, S. 248 – 249; vgl. Bassiouni, CAH-IHL, S. 133 – 134; Zappalà,
S. 199 – 201, 208.
102
Bassiouni, CAH-ICL S. 176.
103
Siehe Zappalà, S. 196.
312 Kenneth S. Gallant

war. Die Handelnden müssen nur die mögliche Höchststrafe vorhersehen können. In-
ternationales Menschenrecht zeigt, dass dies durch Gewohnheitsrecht, einschließlich
des richterrechtlich entwickelten, geschehen kann, also auf dem gleichen Weg, wie
auch gewohnheitsrechtliche internationale Straftaten sich entwickeln. Das Bestehen
eines kontinental-typischen Strafschemas wird vom Gebot der Gesetzlichkeit, das als
internationales Menschenrecht existiert und auf internationale wie auf nationale Ver-
brechen anwendbar ist, bei der Verurteilung gerade nicht vorausgesetzt.
In der Rechtsprechung der modernen internationalen Strafgerichte findet sich
kein Beispiel dafür, dass Verurteilungen außerhalb des Rahmens erfolgten, der für
zum Tatzeitpunkt als internationale Straftaten feststehende Verbrechen erlaubt
war. Hinsichtlich der Fälle, in denen eine Tat nach ihrer Begehung von einer natio-
nalen zu einer internationalen „Rechtscharakterisierung“ wurde, stößt man auf keine
dahingehenden Äußerungen, dass die Verurteilung das nach nationalem Recht zum
Tatzeitpunkt erlaubte Maß überschritten hätte.104 Zu finden sind aber Fälle, in denen
Personen wegen internationaler Straftaten zu höheren Strafen verurteilt wurden als
sie es nach dem Recht des Staates, in dem die Tat begangen wurde, erhalten hätten
können. Die Gerichte haben in diesen Fällen jedoch festgestellt, dass keine verbotene
Rückwirkung internationaler Straftaten zulasten der Angeklagten vorlag.105 Nationa-
les Recht kann nicht aus eigener Machtvervollkommnung die für eine internationale
Straftat mögliche Strafe herabsetzen – zumindest nicht, was internationale Strafge-
richte und -tribunale anbelangt. Entsprechend verstoßen solche Verurteilungen auch
nicht gegen das völkerrechtliche Verständnis von nulla poena.
Für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Völkerge-
wohnheitsrecht bestand zur Zeit des Zweiten Weltkriegs106 als Höchststrafe die To-

104
Siehe Prosecutor v. Furundzija, Trial Judgment 168 – 169, Case No. IT-95-17/1 (ICTY
Tr. Ch., 1998) (zur Vergewaltigung); Prosecutor v. Delalic, Appeals Judgement 178 – 180,
Case No. IT-96-21 (ICTY App. Ch. 20 February 1991). Hadzihasanovic, 34 (ICTY App. Ch.,
16. Juli 2003). Ebenso Norman, 25 (SCSL App. Ch. 31. Mai 2004). Prosecutor v. Akayesu,
Judgement 617, Case No. ICTR-96-4-T (2. September 1998) (auf die Ratifizierung des Zu-
satzprotokolls II durch Ruanda am 19 November 1984 und die Umsetzung der Vorschriften in
nationales Recht sowie die Stellung solcher Vorschriften als Völkergewohnheitsrecht ver-
trauend).
105
Siehe Prosecutor v. Delalic, Appeal Judgement 813, 817 (ICTY App. Ch. 20 February
2001) (dahingehend, dass das Prinzip der Gesetzlichkeit eine materielle, den Angeklagten
schützende Regel des Strafrechts ist, nicht nur eine Frage der personalen Gerichtszuständig-
keit); Prosecutor v. Erdemovic, Sentencing Judgment 38 (ICTY Tr. Ch. 29. November 1996);
Prosecutor v. Serushago, Case No. ICTR 98-39-A 30 (ICTR App. Ch., 6 April 2000).
106
U.S. Army, Rules of Land Warfare, Field Manual 27-10 357 (1. Oktober 1940) („all war
crimes are subject to the death penalty, although a lesser penalty may be imposed“ [„Alle
Kriegsverbrechen unterliegen der Todesstrafe, wobei eine mildere Strafe verhängt werden
können“]), zitiert bei Lamb, in: Cassese et al., 1 Commentary S. 757 n. 95; [George Brand,]
Punishment of Criminals, 15 U.N.W.C.C, Law Rep. S. 200, der Fälle von Todesurteilen zitiert,
die für nicht-tödliche Kriegsverbrechen von norwegischen und österreichischen Gerichten
verhängt wurden, sondern auch für Verbrechen wie Folter und Vergewaltigung; William A.
Schabas, Article 23, Nulla poena sine lege, in: Observers’ Notes, 1, S. 463.
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts 313

desstrafe oder lebenslängliche Haft. Dies hat sich auch nicht geändert. Lebensläng-
liche Haft oder die Todesstrafe wurden von nationalen Gerichten verhängt.107 Inter-
nationale Gerichte können immer noch zu lebenslanger Haft verurteilen.108 Vermö-
gensverfall und Geldstrafen sind ebenso erlaubt109 und bleiben dies auch.110 Für Ver-
brechen gegen die Menschlichkeit (einschließlich dessen, was später als Verbrechen
des Genozid separat betrachtet wurde) im internationalen Gewohnheitsrecht lässt
sich darüber streiten, ob tatsächlich vor dem Zweiten Weltkrieg internationale Stra-
fen existiert haben. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist jedenfalls durch Chartas und
Strafverfolgung111 internationales Recht geworden, dass diese die gleiche potenzielle
Strafe zur Folge haben können wie Kriegsverbrechen.112 Folglich ist dem im inter-
nationalen Menschenrecht anzuwendenden Gebot der Gesetzlichkeit für diese ge-
wohnheitsrechtlichen internationalen Straftaten entsprochen.113

107
Todesstrafen für Völkermord (als Untergruppe der Verbrechen gegen die Menschlich-
keit in den Fällen nach dem Zweiten Weltkrieg) wurden von ruandischen Gerichten und
kürzlich vom irakischen Sondertribunal für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit verhängt. Ruanda: siehe Ministère Public v. Karamira, 1 Recueil de juris-
prudence contentieux du genocide et des massacres au Rwanda 75 (1st inst., Kigali, 14 Fe-
bruary 1997), zitiert und diskutiert in: Schabas, UN ICT S. 124 – 125 und n. 7; Mark A.
Drumbl, Punishment, Postgenocide: From Guilt to Shame to Civis in Rwanda, 75 NYU L.
Rev. 1221, 1287 n. 314 [folgend Drumbl] (der von etwa 300 Todesurteilen als Folge des
ruandischen Völkermords ausgeht). Irak: Saddam Hussein, Iraqi High Tribunal, Lawsuit
No. 1/Criminal/2005 (Urteil mündlich verkündet, 5 November 2006) (drei Personen, ein-
schließlich des früheren Staatsoberhaupts Saddam Hussein, wurden zum Tode wegen
Kriegsverbrechen verurteilt; die Urteile wurden vollstreckt); siehe auch Bushra Juhi, Death
Sentences Upheld in Iraq for ,Chemical Ali,‘ Two Others, Washington Post, 5 September
2007, S. A-11 (Todesstrafe vollstreckt am 25. Januar 2010).
108
Siehe Kap. 6(a, c).
109
Control Council Law No. 10 Art. II(3)(c – e) (das „Geldstrafen“, „Vermögensverfall“
oder „Resitution von unrechtmäßig erworbenem Eigentum“ kennt); Trial of Krupp, 10
U.N.W.C.C., Law Rep. Case No. 58, pp. 69, 158 (USMT, 30 June 1948) (Verfall des gesamten
Vermögens des Angeklagten Krupp); Brand, 15 U.N.W.C.C., Law Rep. S. 200, der die Ver-
fahren Trial of Goeth, 7 U.N.W.C.C., Law Rep. 1, 4 (Sup. Nat. Trib. of Poland, 5 September
1946), Trial of Hoess, 7 U.N.W.C.C., Law Rep. 11, 17 (Sup. Nat. Trib. of Poland, 29 March
1947) (die beide den „Verfall des gesamten Vermögens“ kennen) zitiert; Trial of Greiser, 13
U.N.W.C.C., Law Rep., Case No. 74, S. 70, 104 (Sup. Nat. Trib. of Poland, 7 July 1946)
(Verfall des gesamten Vermögens; das Gericht verband den Fall mit dem Freien Staat Danzig
sowie polnischer Interessen).
110
ICC Statute Art. 75 – 77.
111
Siehe Nuremberg Charter Art. 27; International Military Tribunal for the Far East
Charter Art. 16.
112
Man bedenke die Todesstrafe wegen Völkermords in den Verfahren vor den nationalen
ruandischen Gerichten und die lebenslange Haftstrafen wegen Völkermords im Verfahren vor
dem ICTR. Siehe Drumbl, S. 1287 n. 314.
113
Siehe Brand, 15 U.N.W.C.C., Law Rep. S. 200; siehe Ferdinandusse, S. 253 – 254, der
sich auf Trial of Klinge, 3 U.N.W.C.C., Law Rep., Case No. 11, S. 1, stützt; Prosecutor v.
Delalic, Appeals Judgement 817 (App. Ch., 20. Februar 2001); Prosecutor v. Erdemovic,
Sentencing Judgment 40 (ICTY Tr. Ch., 29. November 1996); Prosecutor v. Akayesu, Sen-
314 Kenneth S. Gallant

Höchststrafen (im Allgemeinen die lebenslängliche Haftstrafe) sind in den Statu-


ten der modernen internationalen Straftribunale festgeschrieben. Man kann diese
hohe Höchststrafe damit rechtfertigen, dass all diese Verbrechen, die in die Zustän-
digkeit dieser Gerichte fallen, extrem schwer wiegen. Da es völkergewohnheitsrecht-
liche Strafen gibt, ergibt sich auch keine Verletzung des nulla poena-Grundsatzes,
soweit dieses Prinzip nur die Festlegung einer rechtlich zulässigen Höchststrafe
für irgendeine Straftat voraussetzt.
Festzuhalten ist, dass die Festschreibung einer Strafe in den ICTY und ICTR Sta-
tuten alleine aber nicht reichen würde, um dem nulla poena-Grundsatz zu genügen.
Diese Tribunale wurden vorrangig für Verbrechen errichtet, die vor seiner Errichtung
begangen wurden. Daher müssen diese Strafen bereits zu einem früheren Zeitpunkt
erlaubt gewesen sein – d. h. zum Zeitpunkt der Tat im internationalen Recht oder im
Recht des Tatortstaates. Wenn also z. B. der ICTR zu lebenslänglicher Haft verurtei-
len will, kann dem Rückwirkungsverbot hinsichtlich nulla poena nur wirklich genügt
werden, wenn zum Zeitpunkt der Begehung der vor dem ICTR verhandelten Taten
wenigstens in irgendeinem auf den Angeklagten anwendbares Gesetz eine lebens-
längliche Haftstrafe vorgesehen war.114
Damit bleibt die hier vertretene Ansicht „unversehrt“. Die internationale Gemein-
schaft hat eindeutig die Tatbestände „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und
„Kriegsverbrechen“, wie diese in Nürnberg und gem. Kontrollratsgesetz Nr. 10
nach internationalem Recht definiert wurden, angenommen.115 Die internationale
Gemeinschaft hat die Verhängung von Strafen, einschließlich der Todesstrafe und
lebenslänglicher Haftstrafe, für diese Taten durch das IMT und andere Gerichte
nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls als maßgeblich erachtet.116 Seit dem Zweiten
Weltkrieg haben viele Staaten in ihrem nationalen Recht die Todesstrafe abgeschafft.
In jüngerer Zeit haben jedoch Ruanda und der Irak Todesstrafen für Genozide und
Kriegsverbrechen verhängt und vollstreckt.117 Die Vereinten Nationen haben die Er-

tencing Judgment (ICTR Tr. Ch., 2. Oktober 1998 – mit der Anmerkung, dass Ruanda für
Völkermord schwerste Strafen, einschließlich der Todesstrafe, erlaubt).
114
Vgl. aber Per Ole Träskman, Should We Take the Condition of Double Criminality
Seriously?, in: Double Criminality: Studies in International Criminal Law 151 (Nils Jareborg,
Hrsg., 1989) (der anscheinend argumentiert, dass das Recht des Gerichtsorts für den Zweck
der Gesetzlichkeit ausreiche).
115
Später war die internationale Praxis nicht ganz so beständig, was die Existenz eines
Verbrechens gegen den Frieden (Angriffskrieg) anbelangt. Selbst die Überprüfungskonferenz
des ICC hat das Inkrafttreten einer positiv-rechtlichen Definition der Aggression um 10 Jahre
verzögert.
116
Siehe, z. B. Eichmann v. Attorney-General, [1962] 16 Piske Din 2033 (Israel, Sup. Ct.,
29 May 1962), nachgedruckt in 36 Int’l L. Rep. 277 (1968), aff’g 45 Pesakim Mehoziim 3
(Jerusalem Dist. Ct., 11. Dezember 1961), nachgedruckt in 36 Int’l L. Rep. 18 (Eichmann
wurde hingerichtet); [George Brand], Punishment of Criminals, 15 U.N.W.C.C., Law
Rep. 200 (1949).
117
Ruanda: Ministère Public v. Karamira, oben Fn. 136, zitiert in: Schabas, UN ICT
S. 124 – 25 (der die Exekution von Karamira berichtet); Drumbl, S. 1287 n. 314. Iraq: Saddam
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts 315

mächtigung internationaler Strafgerichte zur Verhängung der Todesstrafe abge-


lehnt.118 Die an der Errichtung des ICC beteiligten Staaten haben die Verhängung
der Todesstrafe sowie von Haftstrafen von mehr als 30 Jahren durch das Gericht
selbst für die schlimmsten Verbrechen abgelehnt.119 Das bedeutet jedoch nicht,
dass keine völkergewohnheitsrechtlichen Strafen für diese Verbrechen bestünden.
Eine Strafe, die Todesstrafe, wurde lediglich aus den positiven Texten des ICC Sta-
tuts und der Gründungsdokumente anderer internationaler Straftribunale ausgeklam-
mert.
Diese Ansicht unterscheidet sich von der Analyse von nulla poena durch Zappalà.
Er führt an, dass das ICTYund das ICTR nulla poena nicht nachkämen, da diese nicht
an das jugoslawische und ruandische Recht der Strafzumessung und die jeweilige
Praxis gebunden seien.120 Nach Zappalàs Ansicht existiert noch kein wirkliches in-
ternationales Recht der Strafzumessung. Im Sinne von umfassenden einheitlichen
Regeln, die die Gerichte zu bestimmten Strafen für bestimmte Taten anweisen,
hat er selbstverständlich Recht. Allerdings setzt die völkergewohnheitsrechtliche
nulla poena-Regel kein spezifisches Strafzumessungsschema voraus. Es bestehen
im allgemeinen internationalen Strafzumessungsrecht für Straftaten nach dem huma-
nitären Völkerrecht – also Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und
Kriegsverbrechen – mit bis zu lebenslänglicher Haft oder Todesstrafe mögliche
Sanktionen. Geldbußen und die Beschlagnahme von Eigentum sind ebenfalls er-
laubt. Die einzigen Straftaten, für die dies nicht gilt, sind solche, die vom nationalen
Strafrecht in internationales Strafrecht zwischen Tatbegehung und Verurteilung
überführt werden. Für derartige Verbrechen sind nur die Strafen möglich, die zum
Zeitpunkt der Tat am Tatort möglich waren. Die Höchststrafe, die nach internationa-
lem Recht verhängt werden kann, soll in diesen Fällen nicht höher sein als die
Höchststrafe, die im Staat des Tatorts zum Zeitpunkt der Tat verhängt hätte werden
können.
Die ad hoc Tribunale haben die Behauptung zurückgewiesen, dass sie bei der An-
wendung internationalen Strafrechts an die Straftarife des Staates, in dem die Taten
begangen wurden, gebunden sind.121 Die niederländischen Gerichte haben nach dem
Zweiten Weltkrieg ebenso wie die ad hoc Tribunale deutlich gemacht, dass eine Per-
son, die diese Taten begeht, hätte vorhersehen können, dass das internationale Recht
– gleichgültig, ob durch das Kriegsrecht während des Zweiten Weltkriegs oder durch
die neuere Disziplin des humanitären Völkerrechts – solches Verhalten auf das

Hussein, oben Fn. 136, Bushra Juhi, Death Sentences Upheld in Iraq for ,Chemical Ali‘, Two
Others, Washington Post, 5. September 2007, S. A-11 (Urteil am 25. Januar 2010 vollstreckt).
118
ICTY Statute Art. 24; ICTR Statute Art. 23; SCSL Statute Art. 19.
119
ICC Statute Art. 77.
120
Siehe Zappalà, S. 196.
121
Prosecutor v. Delalic, Appeal Judgement 813, 817 (ICTY App. Ch., 20. Februar 2001 –
Erlaubnis zu höheren als im jugoslawischen Recht erlaubten Haftstrafen nach internationalem
Recht); Prosecutor v. Erdemovic, Sentencing Judgment 38 (ICTY Tr. Ch., 29. November
1996); Prosecutor v. Serushago, Case No. ICTR 98-39-A 30 (ICTR App. Ch., 6. April 2000).
316 Kenneth S. Gallant

Schärfste verurteilt. Rauter beging z. B. Straftaten, die bereits vor dem Zweiten Welt-
krieg völkergewohnheitsrechtliche Straftaten waren. Die Statuten des ICTY, des
ICTR (und des ICC für besonders schwere Verbrechen) erlauben jede Strafe hin
bis zu lebenslänglicher Haftstrafe für jedes Verbrechen innerhalb der jeweiligen Zu-
ständigkeit ohne eine zwingende Mindeststrafe für eines von ihnen. Dies genügt dem
Gebot der Gesetzmäßigkeit der Sanktionen im internationalen Strafrecht.
Zappalà geht zu weit, wenn er behauptet, nulla poena sine lege verleihe Indivi-
duen keine subjektiven Rechte des internationalen Strafrechts. Das Verbot der Rück-
wirkung von Strafen mag zwar als Gegenstand des internationalen Menschenrechts-
schutzes gewissermaßen schwächer ausgeprägt sein als in einigen (aber nicht allen)
nationalen Strafrechtssystemen. Es ist aber real und kann von Individuen in interna-
tionalen Strafprozessen eingewendet werden. Die Auseinandersetzung mit den An-
sichten Bassiounis und Zappalàs unterstreicht, was bereits zu Beginn dieses Beitrags
gesagt wurde. Behauptungen: Die Behauptung, dass nullum crimen und nulla poena
im internationalen Strafrecht keine Anwendung fänden, geht häufig auf den Umstand
zurück, dass die Vertreter dieser Ansicht das kodifikatorische Verständnis der prae-
via lex scripta als maßgebliche Ausprägung des Rückwirkungsverbots zugrundele-
gen. Diese Definition, so nützlich sie auch in einigen nationalen Systemen sein mag,
gilt nicht als internationales Menschenrecht und auch nicht im internationalen Straf-
recht. Nichtsdestotrotz wendet das internationale Strafrecht ein echtes Rückwir-
kungsverbot von Strafen und Sanktionen als Gegenstand der allgemeinen Menschen-
rechte an, wenn auch in etwas schwächerer Form.
Wenn die Strafe für internationale Kernverbrechen alles bis hin zur Todesstrafe
(mit Ausnahme von Folter und anderen grausamen und erniedrigenden Bestrafun-
gen, die stets inakzeptabel und illegal sind) einschließt, warum ist dann die Diskus-
sion, ob nulla poena gilt, überhaupt von Bedeutung?122 Zunächst ist die politische
Unterstützung des Vorhabens eines internationalen Strafrechts in großen Teilen
auf die Einhaltung von Menschenrechtsnormen angewiesen. Daher ist die Darlegung
der tatsächlichen Einhaltung dieser Norm im internationalen Strafrecht bei der Wer-
bung um Unterstützung hilfreicher als die bloße Behauptung, sie werde nicht ange-
wendet. Zweitens können mit der Reifung des internationalen Strafrechts striktere
Beschränkungen der Strafen entstehen, auf die die Anwendung von nulla poena
leichter zu verstehen ist. Drittens gibt es Taten, die von nationalen zu internationalen
Straftaten werden und die nur in dem Umfang bestraft werden dürfen, der zum Zeit-
punkt der Tathandlung bestimmt war.
Zusammengefasst kann man daher sagen, dass das moderne internationale Straf-
recht im Allgemeinen dem international anerkannten Prinzip der Gesetzlichkeit bei
Verurteilungen entspricht. Das bedeutet aber nicht, dass Fragestellungen zu den

122
Vgl. Lamb, in: Cassese et al., 1 Commentary S. 757 – 758.
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts 317

Strafzumessungsregeln bereits hinreichend geklärt wären – dem ist nicht so.123 Noch
weniger bedeutet es, dass die kriminologischen Theorien und der Sinn und Zweck
des internationalen Strafrechts, einschließlich Abschreckung, opferorientierte Ge-
rechtigkeit und Versöhnung bereits in adäquatem Umfang vom gegenwärtigen
Recht behandelt werden. Diese bedürfen noch einer ausgiebigen Entwicklung124,
können aber im Rahmen dieses Beitrags nicht behandelt werden.

V. Fazit
1. Das Rückwirkungsverbot

Heutzutage ist klar: Das Rückwirkungsverbot für Straftaten und Strafen ist inter-
nationales Menschengewohnheitsrecht, das für nationale und internationale Gerichte
gilt. Niemand kann einer Straftat wegen einer Handlung oder eines Unterlassens
schuldig sein, die bzw. das keine Straftat nach nationalem oder internationalem
Recht zum Zeitpunkt der Tat darstellte (oder mit schärferen Strafen bestraft werden
als bestimmt war).
Die rückwirkende Schaffung von neuen Straftaten und erhöhter Bestrafung ist
heute, selbst im internationalen Strafrecht, nicht glaubwürdig, wenn es das denn je-
mals war.125 Jeder Fehler der Durchsetzung der Grundprinzipien der Gesetzlichkeit in
Nürnberg und Tokio wurde von der Praxis der Staaten und internationalen Organi-
sationen und opinio juris seitdem deutlich verworfen. Allerdings wurde das von die-
sen Tribunalen geschaffene materielle Strafrecht, besonders das Recht der Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit,126 in der Folgezeit aufgenommen.
Dieses Verständnis der Gesetzmäßigkeit gilt als Gegenstand der internationalen
Menschenrechte vor nationalen und internationalen Gerichten, egal, ob nationale
oder internationale Straftaten verhandelt werden. Striktere Auffassungen des Prin-
zips der Gesetzmäßigkeit existieren in vielen nationalen Systemen und selbst in
einem regionalen Menschenrechtsregime.127 Allerdings sind diese strikteren Auffas-

123
Siehe z. B. Mark A. Drumbl, Collective Violence and Individual Punishment: The Cri-
minality of Mass Atrocity, 99 Northwestern L. Rev. 539 (2005) [folgend Drumbl, Collective
Violence]; Mettraux, International Crimes S. 357.
124
Siehe z. B. Drumbl, Collective Violence.
125
Dieser Satz ist eine ergänzte Paraphrase von (und eine Homage an) Jerome Hall, einem
bahnbrechenden Autor zur Gesetzlichkeit. Jerome Hall, Nulla Poena Sine Lege, 47 Yale L.J.
165, 172 (1937).
126
Siehe z. B. Report of the Secretary-General pursuant to Paragraph 2 of Security Council
Resolution 808, UN Doc. S/25704 47 (3. Mai 1993). Anbetracht des Mangels an strafrechtli-
cher Verfolgung von Verbrechen gegen den Frieden (Angriffskrieg) ist sein Status als Völ-
kergewohnheitsrecht eher unbedeutend.
127
Siehe ACHR Art. 7 – 9.
318 Kenneth S. Gallant

sungen außerhalb des Geltungsbereichs des Abkommens nicht Staaten und/oder in-
ternationale Organisationen bindendes Völkergewohnheitsrecht.
Man kann die Entwicklung des Rückwirkungsverbots als Regel des Völkerge-
wohnheitsrechts auf unterschiedliche Weise charakterisieren. Man kann es als Wan-
del des materiellen internationalen Menschenrechts,128 als Beschränkung der Recht-
sprechung hinsichtlich der Definition von Straftaten,129 als Beschränkung der Souve-
ränität130 oder als alles drei ansehen. Selbstverständlich ist die legitime Befugnis zur
Schaffung von Straftaten ein traditioneller Aspekt der Souveränität. Das Prinzip der
Gesetzlichkeit wirkt als Beschränkung dieser wie auch vieler anderer Regeln des
Menschenrechtsschutzes im modernen Völkerrecht.

2. Die Quellen der gewohnheitsrechtlichen Menschenrechte

Dieser Beitrag hat die verschiedenen Praktiken und Arten von opinio juris darge-
stellt. Das zeigt zwei Dinge.
Erstens ist ein echtes Wachstum der Arten von Praktiken und opinio zu verzeich-
nen, die die Existenz von Völkergewohnheitsrecht bestätigen. Interne Staatenpraxis
ist entscheidend für die Existenz von internationalem Menschenrecht. Die Praxis in-
ternationaler Organisationen und opinio juris spielen heutzutage ebenfalls eine wich-
tige Rolle im Prozess der Entwicklung von Völkergewohnheitsrecht und besonders
des internationalen Strafrechts und der internationalen Menschenrechte. Traditionel-
le Staatenpraxis und die Ausdrucksformen von opinio juris sind aber immer noch un-
entbehrlich. Sie müssen also ebenfalls betrachtet werden.
Zweitens können Staatenpraxis und opinio die Existenz von Regeln des Völker-
gewohnheitsrechts so exakt darlegen wie andere Regeln des internationalen Rechts.
Wo dies möglich ist, können Menschenrechte nicht mehr als eine zweitklassige Form
von „weichem Recht“, also zwar belegt durch opinio, aber ohne sie stützende Praxis,
abgewertet werden.

3. Ist das Rückwirkungsverbot für Straftaten und Strafen


eine Regel des jus cogens?

Einer der angesehensten Kommentatoren zum internationalen Recht und Richter,


Theodore Meron, ging sogar soweit zu sagen, dass das Rückwirkungsverbot für straf-
rechtliche Maßnahmen ein fundamentales Prinzip der strafrechtlichen Gerechtigkeit

128
Siehe z. B. Milutinovic, Decision on Dragoljub Ojdanic’s Motion Challenging Juris-
diction: Joint Criminal Enterprise 10 (dahingehend, dass das Prinzip der Gesetzlichkeit eine
materielle, den Angeklagten schützende Regel des Strafrechts ist, nicht nur eine Frage der
personalen Gerichtszuständigkeit).
129
Vgl. z. B. ebda. S. 9, 10.
130
Vgl. Nuremberg Judgment, 1 IMT Trial S. 219.
Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts 319

und eine gewohnheitsrechtliche, sogar zwingende Norm des internationalen Rechts


sei, die unter allen Umständen von nationalen oder internationalen Gerichten zu be-
achten sei.131 Die universelle Akzeptanz des strafrechtlichen Legalitätsgebots als völ-
kerrechtliche Verpflichtung durch Menschenrechtsabkommen oder humanitäre Ab-
kommen deutet in diese Richtung. Von besonderer Bedeutung ist die Akzeptanz der
Gesetzlichkeit durch die wesentlichen Staaten und Rechtssysteme, die sie noch in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgelehnt haben.
Es mag ein paar Beispiele geben, die in eine andere Richtung deuten. Das wich-
tigste dieser Beispiele ist die mögliche Ablehnung der Regel durch einige islamisch-
rechtlich geprägte Staaten. Jedenfalls sind solche Einsprüche, wie wir gesehen
haben, sollten sie jemals existiert haben, „ausgestorben“.132 Eine Aussage in einer
Entscheidung des Hohen Rates der Niederlande, nicht unbedingt nötig für die Ent-
scheidung, legt nahe, dass es Abkommensrecht geben könnte, das die rückwirkende
Schaffung von Straftaten verlangen könnte.133 Es ist aber kaum vorstellbar, dass neue
Abkommen rückwirkend etwas unter Strafe stellen, was nicht bereits nach Völker-
gewohnheitsrecht, allgemeinen Rechtsprinzipien oder irgendeiner Quelle des örtli-
chen Rechts strafbar ist. Es gibt Ausnahmen vom Verbot der Rückwirkung in den
Verfassungen Pakistans und Singapurs für bestimmte politische Straftaten, jedoch
konnte der Verfasser keine Beweise für die Verfolgung solcher rückwirkend geschaf-
fener Strafe in den letzten Jahrzehnten finden.
Daher erscheint es vernünftig anzunehmen, dass es keine Einsprüche gegen den
Grundsatz der Legalität in der hier dargestellten Auffassung als internationales Men-
schenrecht mehr gibt. Das macht es nicht automatisch zu jus cogens Standard.
Nichtsdestotrotz legen seine wiederholte Anerkennung in fast universellem Abkom-
mensrecht, seine Implementierung als Gegenstand des innerstaatlichen Rechts durch
so viele Staaten und die fehlenden Ablehnung in der Gegenwart nahe, dass Meron
Recht hat. Schlussendlich beginnt das Rückwirkungsverbot für Straftaten und Sank-
tionen sich als Norm des jus cogens herauszukristallisieren.

131
Theodore Meron, War Crimes Law Comes of Age 244 (1998) (Hervorhebung vom
Verfasser).
132
Siehe Teil III. oben.
133
Siehe [Bouterse], Appeal in cassation in the interests of the law 4.5, 32 Netherlands
Y.B.I.L. S. 291.
Von der „schlechten Angewohnheit“
Menschenrechte zu verletzen
Analyse und Prognose des Gewohnheitsrechts
als Quelle des Völkerstrafrechts

Juan Pablo Montiel*

I. Einleitung:
Das Gesetzlichkeitsprinzip und die Quellensysteme
des nationalen Strafrechts und des Völkerstrafrechts
Wie wir alle wissen, besteht eine der Hauptaufgaben des Gesetzlichkeitsprinzips
darin, die Gesamtheit der durch die Richter anzuwendenden Quellen zu bestimmen.
Im Allgemeinen erscheint diese Regel in den nationalen Strafgesetzen nicht aus-
drücklich, weil es an einer speziellen, die Quellen des Strafrechts festlegenden,
Norm fehlt, wie sie etwa in einigen Zivilgesetzbüchern zu finden ist.1 Trotzdem
lässt sich diese Regel implizit aus dem Gesetzlichkeitsprinzip und dem Vorbehalt ab-
leiten, dass das Strafrecht auf einem quellenbeschränkten System fußt, wonach die
Richter die strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschließlich aus den Gesetzesvorga-
ben – im engeren Sinne – begründen oder ausschließen dürfen. Dabei müssen sie die
nichtgeschriebenen Normen beiseitelassen (nullum crimen sine lege scripta). Nur in
Ausnahmefällen darf Richterrecht eine strafrechtliche Quelle sein, nämlich wenn es
dem Ausschluss oder der Milderung von Strafe dient.2 Da das Gesetzlichkeitsprinzip

* Im Folgenden häufig gebrauchte Abkürzungen: Römisches Statut des Internationalen


Strafgerichtshofs (IStGH-Statut), Internationaler Strafgerichtshof (IStGH), Joint Criminal
Enterprise (JCE), Statut für den Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg (IMG-Statut),
Statut für den Internationalen Militärgerichtshof für den Fernen Osten (IMGFO-Statut), In-
ternationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR), Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte (AEMR), Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten/Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), Internationaler Strafge-
richtshof für das ehemalige Jugoslawien (IStGH), Statut des Internationalen Strafgerichtshofs
für das ehemalige Jugoslawien (IStGH-Statut), Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda
(RStGH), Statut des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda (RStGH-Statut), Interna-
tionaler Gerichtshof (IGH). Übersetzung durch Ref. iur. Steffen Röber, Berlin.
1
Zum Beispiel Art. 1 des Spanischen Zivilgesetzbuches und Art. 1 des Italienischen Zi-
vilgesetzbuches.
2
Man muss sich klar machen, dass Richterrecht nicht gleichbedeutend mit Rechtsprechung
ist. Während sich m. E. die Rechtsprechung auf die Gesamtheit der erlassenen Urteile bezieht
322 Juan Pablo Montiel

versucht, die Willkür staatlicher Macht einzuschränken und dem Bürger die Vorher-
sehbarkeit staatlichen Handelns zu garantieren, erscheint es verständlich, dass es un-
geschriebene Regelungen über die Strafbarkeit dann nicht missbilligt, wenn deren
überwiegender Zweck Strafausschließung und -milderung sein sollten.
Im Völkerstrafrecht werden insoweit klare Unterschiede offenbar. Zunächst ist
sein Quellensystem als Teil des Völkerrechts in der Bestimmung des Art. 38 der Sta-
tuten des Internationalen Gerichtshofs (IGH-Statut) ausgestaltet.3 Als Primärquellen
sind in dieser Vorschrift4 völkerrechtliche Verträge, Völkergewohnheitsrecht und all-
gemeine Rechtsgrundsätze vorgesehen. Zur normativen Basis des Völkerstrafrechts
zählen also sowohl geschriebene und ausreichend bestimmte Vorschriften – ähnlich
wie in den nationalen Rechtsordnungen – (Verträge), als auch ungeschriebene Nor-
men. Für sich gesehen erscheint diese Reglementierung des Quellensystems gegen-
über der Vorschrift des Art. 21 des Römischen Statuts des Internationalen Strafge-
richtshofs (IStGH-Statut) im Wesentlichen nicht widersprüchlich. Dieser ermächtigt
ebenfalls den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), über das eigene Statut hinaus
Gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze anzuwenden.5 Deshalb spricht

(also auf die Summe der individuellen Normen, die sich aus der Anwendung eines Gesetzes
auf den konkreten Fall ergeben), besteht das Richterrecht aus generischen Normen, die von
den Gerichten entwickelt werden, um gewisse Lücken im Rechtssystem zu korrigieren. Man
kann daher sagen, dass die Rechtsprechung ein Ausfluss der rein rechtsprechenden Tätigkeit
der Gerichte ist; dagegen verdichtet sich das Richterrecht zu einer ausnahmsweise legislativen
Befugnis der Gerichte.
3
Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 123; Satzger, Internationales
und Europäisches Strafrecht. Strafanwendungsrecht. Europäisches Straf- und Strafverfah-
rensrecht. Völkerstrafrecht, 4. Aufl., 2010, § 15, Rn. 2; Bassiouni, Introduction to the Inter-
national Criminal Law, 2003, S. 2 – 4; Ambos, La parte general del Derecho penal interna-
cional. Bases para una elaboración dogmática, 2006, S. 35; ders., Internationales Strafrecht.
Strafanwendungsrecht. Völkerstrafrecht. Europäisches Strafrecht, 2. Aufl., 2008, S. 84; Rat-
ner/Abrams/Bischoff, Accountability for Human Rights Atrocities in International Law. Be-
yond the Nuremberg Legacy, 3. Aufl., 2009, S. 19.
4
Bei der Interpretation des Art. 38 IGH-Statut ist zu differenzieren: Primärquellen (Ver-
träge, Gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze), welche die wahre, anwendbare
Materie des Richters bilden; sowie Quellen zur näheren Bestimmung der Gesetzesregeln
(Richterentscheidungen und Lehrmeinungen), die hauptsächlich der Erläuterung des norma-
tiven Inhalts der Primärquellen dienen. In Bezug auf die Primärquellen sieht die Lehre zwi-
schen diesen keine bestehende Hierarchie, so dass alle den gleichen Rang innehaben, vgl.
Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht. Strafanwendungsrecht. Europäisches
Straf- und Strafverfahrensrecht. Völkerstrafrecht, 4. Aufl., 2010, § 15, Rn. 2; Schabas, An
Introduction to the International Criminal Court, 3. Aufl., 2007, S. 195. Kaczorowska, Public
International Law, 3. Aufl., 2005, S. 13 kritisiert diesbezüglich den Wortlaut des Art. 38
IStGH-Statut, da dieser keine Regeln festlege, welche die unter den Primärquellen auftau-
chenden Normkonflikte lösen würden.
5
Zwar widerspricht Art. 21 IStGH-Statut grds. nicht den Vorgaben des Art. 38 IGH-Statut;
das bedeutet aber nicht, dass er seiner Konzeption folgt. Eher ist mit Bitti, „Art. 21 of the
Statute of the International Criminal Court and the treatment of sources of law in the juris-
prudence of ICC“, in: Stahn/Sluiter (Hrsg.), The Emerging Practice of the International
Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen 323

man im Völkerstrafrecht vom Prinzip des nullum crimen, nulla poena sine iure an-
statt des Prinzips nullum crimen nulla poena sine lege.6
Daneben kann man einen zweiten Unterschied zwischen beiden Quellensystemen
ausmachen, allerdings nicht was dessen Zusammenstellung, sondern dessen Funkti-
onsweise betrifft. Im nationalen Strafrecht verbietet die Maxime des Gesetzlichkeits-
prinzips, wonach „alles, was nicht gesetzlich verboten ist, erlaubt ist“, ein anderes
„nichtgesetzliches“ Element in den Quellenfundus einzugliedern. Das bedeutet,
dass das nationale Strafrecht einen der seltenen Fälle bildet, in dem die Forderung
nach „normativer Vollständigkeit“ im Allgemeinen7 tatsächlich besteht. Auf diese
Weise bleiben Taten ungestraft, die nicht als Straftaten im geschriebenen Recht vor-
gesehen sind. Zwar besteht auch in der internationalen Ordnung der Wunsch nach
einem vollständigen System frei von Normlücken. Aber im Unterschied zum natio-
nalen Strafrecht bleiben die nicht in geschriebenen Normen erfassten Fälle durch das
Gewohnheitsrecht, die allgemeinen Rechtsgrundsätze und das zwingende Recht (ius
cogens) erfasst.8 Im letzten Fall dienen diese ungeschriebenen Normen der Bestra-
fung von Taten, anstatt deren Straflosigkeit zu garantieren.
Man darf nicht übersehen, dass die unterschiedliche Denkweise, mit der beide
Strafrechtsordnungen operieren, weithin diese so unterschiedlichen Sichtweisen be-
züglich der Quellen der Strafmacht (ius puniendi) erklärt. Die Existenz eines mono-
lithischen Quellensystems, das die Bestrafung von nicht in geschriebener Weise vor-
gesehenen Taten verbietet, entspricht den kriminalpolitischen Garantien, welche da-
nach streben ein Minimalnationalstrafrecht zu bilden. Demgegenüber führt die in der
internationalen Strafrechtsdogmatik vorherrschende Denkweise der grenzenlosen
Strafbarkeit und der „Null-Straflosigkeit“9 zur Erweiterung des Quellensystems
auf ungeschriebene und unbestimmte Normen und somit auch zur Möglichkeit,
Strafbarkeitslücken zu füllen. Wie man sich vorstellen kann, ist letztere Annäherung

Criminal Court, 2008, S. 287, zu sagen, dass sich das Rom-Statut von dem im IGH-Statut
festgelegten Quellensystem des Völkerstrafrechts unterscheidet.
6
Bassiouni, Introduction to the International Criminal Law, 2003, S. 202.
7
Alchourrón/Bulygin, Introducción a la metodología de las ciencias jurídicas y sociales,
2002, S. 198, nuancieren diese Aussage mit der Anmerkung, dass das Strafrechtssystem re-
lativ geschlossen oder vollständig ist. Denn dies ist es nur hinsichtlich strafrechtlicher Lö-
sungen: „Dass eine Handlung strafrechtlich erlaubt ist, bedeutet, dass seine Verwirklichung
keine strafrechtlichen Sanktionen verursacht, aber es schließt in keiner Weise das Verbot durch
eine Norm eines anderen Typus aus“.
8
Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y organizaciones internacio-
nales, 5. Aufl., 1994, S. 187. Genau genommen sieht dieser Autor das Völkerrecht aufgrund
des ius cogens als ein umfassendes Regelwerk (also ohne Regelungs- oder Gesetzeslücken)
an. Im gleichen Sinne bestätigt Ambos, La parte general del Derecho penal internacional.
Bases para una elaboración dogmática, 2006, S. 40 – 41, dass den Rechtsgrundsätzen über
ihren großen Nutzen als Interpretationsgrundlage der Völkerrechtsverträge hinaus, eine her-
vorgehobene Aufgabe in der Einbindung der Regelungslücken im Quellensystem des Völ-
kerstrafrechts zukommt.
9
Pastor, El poder penal internacional. Una aproximación jurídica crítica a los fundamentos
del Estatuto de Roma, 2006, S. 75 ff.
324 Juan Pablo Montiel

an das Phänomen Strafrecht und konkret an dessen Quellensystem Gegenstand man-


nigfaltiger Art von Kritik aus der traditionellen Sicht des nationalen Strafrechts ge-
wesen, da es die Strafrechtszwecke verfälscht und im Speziellen das Gesetzlichkeits-
prinzip außer Acht lässt oder es im bestem Falle erheblich flexibilisiert.10
Diese letzte Feststellung hat eine große Bedeutung für das Völkerstrafrecht und
zwingt dazu, der Missachtung des Gesetzlichkeitsprinzips die Stirn zu bieten, zumal
in der internationalen Lehre ein breiter Konsens über den gewohnheitsrechtlichen
Charakter des Gesetzlichkeitsprinzips besteht.11 Man kann sagen, dass es bislang
hauptsächlich zwei Konzeptionen gab, um eine Anwendung ungeschriebener Straf-
normen im Völkerstrafrecht zu begründen, ohne dabei das Gesetzlichkeitsprinzip
außer Kraft zu setzen. In der einen argumentiert man, dass die Anerkennung des Völ-
kergewohnheitsrechts und der allgemeinen Rechtsgrundsätze als Quelle weder die
Verkennung des Verbots, Recht ex post facto zu erlassen, mit sich bringt, noch die
totale Aufgabe der Forderung nach einer lex certa, vor allem wenn man den
IPbpR (Art. 15.2), die AEMR (Art. 11.2) und die EMRK (Art. 7.2) berücksichtigt.
Diese bestimmen, dass ein Vergehen immer bestraft werden kann, wenn es
„gemäß der allgemeinen Prinzipien der durch die Völkergemeinschaft anerkannten
Rechte“ strafbar war.12 Die andere Konzeption geht von der Frage aus, ob das Gesetz-
lichkeitsprinzip einen absoluten Grundsatz bilden kann, der keine Ausnahmen zu-
lässt, insbesondere wenn eine totale Strenge seiner Vorgaben den Anforderungen
der Gerechtigkeit zuwiderlaufen würde.13 Selbstverständlich bezieht sich letzteres
auf Fälle, in denen eine stringente Interpretation der Forderung nach einer lex praevia
und certa zum Beispiel die Straflosigkeit von Personen nach sich ziehen würde, die
sich der Brutalität ihrer Taten vollständig bewusst waren.14 Aus dieser letztgenannten

10
Demgegenüber vertritt Akande, in: Cassese (Hrsg.), The Oxford Companion to Inter-
national Criminal Justice, 2009, S. 51, dass der überwiegende Teil der Diskussionen über das
Gewohnheitsrecht als Quelle des Völkerstrafrechts, einer zu engen Interpretation des Ge-
setzlichkeitsprinzips folgt (wonach es nur möglich ist, die Beschuldigung auf positives Recht
zu stützen), was durch die Länder des common law nicht akzeptiert wurde und auch im
Völkerrecht keinen Platz fand.
11
Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht. Strafanwendungsrecht. Europäi-
sches Straf- und Strafverfahrensrecht. Völkerstrafrecht, 4. Aufl., 2010, § 15, Rn. 13; Gallant,
The Principle of Legality in International and Comparative Criminal Law, 2009, S. 352 ff.
12
Diese Ansicht schildert Ambos, La parte general del Derecho penal internacional. Bases
para una elaboración dogmática, 2006, S. 36.
13
Wie später zu sehen sein wird, spielte dieses Verständnis des Gesetzlichkeitsprinzips
eine Rolle vor dem IMG.
14
Genau diese Ansicht herrschte während der Nürnberger Prozesse, da das Gesetzlich-
keitsprinzip als ein „Gerechtigkeitsprinzip“ gesehen wurde. Das Gericht beschränkte sich
zudem auf die Feststellung, dass es ungerecht wäre, jene, welche die Verträge verletzten, ohne
Strafe davonkommen zu lassen. Es bestehe vielmehr die „Pflicht, diesen Aggressoren zu
zeigen, dass ihre Taten schlecht sind“, vgl. Ratner/Abrams/Bischoff, Accountability for
Human Rights Atrocities in International Law. Beyond the Nuremberg Legacy, 3. Aufl., 2009,
S. 24.
Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen 325

Perspektive sollte das Gesetzlichkeitsprinzip Ausnahmen zulassen, wenn die gerech-


te Lösung des Falles es so verlangt.
Ungeachtet dessen, dass diese Argumente uns, die wir gewöhnlich aus Sicht des
nationalen Strafrechts schreiben, ganz und gar nicht zufrieden stellen können, ist si-
cher, dass sie mit der Eigenart des Gesetzlichkeitsprinzips im internationalen Bereich
zusammenhängen. Begreift man das Gesetzlichkeitsprinzip als eine anerkannte, gül-
tige Norm der internationalen Gemeinschaft, soll dieses alle Überschneidungspunkte
wiederspiegeln, welche die unterschiedlichen Rechtsordnungen der Welt aufweisen.
Dies ist selbstverständlich keine einfache Aufgabe, vor allem wegen der unterschied-
lichen Arten die Forderung nullum crimen, nulla poena sine lege zu begreifen. Wie
Bassiouni zeigt,15 verbieten alle Rechtsfamilien die Bestrafung ex post facto, ob-
schon in einigen von ihnen gewisse Ausnahmen akzeptiert sind; im gleichem
Maße fehlt es umgekehrt an Einigkeit über die Reichweite des Analogieverbots.16
Trotz allem ergibt der Versuch, ein völkerrechtliches Gesetzlichkeitsprinzip zu kon-
struieren, zumindest, dass das Gebot, nur auf der Grundlage einer lex praevia zu be-
strafen (Rückwirkungsverbot) dort in gleicher Weise gilt, wie im nationalen Recht,
während die lex certa17- (Bestimmtheitsgebot) und lex stricta-Erfordernisse (Analo-
gieverbot) klar aufgeweicht scheinen und die Forderung nach einer lex scripta (Ver-
bot von strafbegründendem und -schärfendem Gewohnheitsrecht) dadurch praktisch
vollkommen an Gültigkeit verliert.18 Es kann hinzugefügt werden, dass sich trotz der

15
Bassiouni, Introduction to the International Criminal Law, 2003, S. 194.
16
Nach Ambos, ¿Cómo imputar a los superiores crímenes de los subordinados en el De-
recho penal internacional? Fundamentos y formas, 2008, S. 47 ff., erkennt die Mehrheit der
internationalen Menschenrechtsinstrumente das Erfordernis einer lex praevia (Rückwir-
kungsverbot) als Ableitung aus dem Gesetzlichkeitsprinzip an, und ebenso das Gebot des
Vorrangs des mildesten Gesetzes, nicht hingegen das Prinzip der lex certa (Bestimmtheitsge-
bot).
17
Hinsichtlich des Erfordernisses einer lex certa (Bestimmtheitsgebot) ist zu sagen, dass
die internationale Praxis trotz aktueller Bemühungen zur Verbesserung des Bestimmtheits-
standards strafrechtlicher Tatbestände in den völkerrechtlichen Instrumenten dies in Bezug auf
die Bestimmung der Strafrahmen noch schuldig bleibt. Denn es ist nicht üblich, völkerrecht-
liche Tatbestände anzuerkennen, die einen eigenen Strafrahmen haben. Man tätigt vielmehr
einen Verweis auf die Strafrahmen des nationalen Rechts (Modell der Statuten der Ad-hoc-
Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda), oder es existiert in einem Geset-
zeswerk ein allgemeiner Abschnitt mit Strafen für die unterschiedlichen völkerrechtlichen
Verbrechen (Modell des IStGH-Statuts). Aus diesem Grund erscheint es nicht verwunderlich,
dass Bassiouni, Introduction to the International Criminal Law, 2003, S. 331, erwägt, dass das
aktuelle Strafensystem im Völkerrecht nicht den Minimalvoraussetzungen des Gesetzlich-
keitsprinzips entspricht. Demnach kann der Modus der Festlegung der im völkerrechtlichen
Bereich verwendeten Strafrahmen mit dem Gesetzlichkeitsprinzip nur in Einklang gebracht
werden, wenn das Prinzip des nulla poene sine lege so ausgelegt wird, dass es lediglich fordert,
nicht nachträglich die Strafe eines Delikts zu erhöhen, nicht aber die genaue Präzisierung
eines Strafrahmens. Zu dieser letztgenannten Interpretation vgl. Gallant, The Principle of
Legality in International and Comparative Criminal Law, 2009, S. 381 ff.
18
Nach Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht. Strafanwendungsrecht. Eu-
ropäisches Straf- und Strafverfahrensrecht. Völkerstrafrecht, 4. Aufl., 2010, § 15, Rn. 13,
326 Juan Pablo Montiel

ausgehend vom IStGH-Statut erreichten Fortschritte hinsichtlich des erreichten Be-


stimmtheitsniveaus, des Rückwirkungsverbots und des Analogieverbots (Art. 22,
Art. 23 und Art. 24) an der Situation des Quellensystems in Bezug auf die Anerken-
nung des Gewohnheitsrechts wenig geändert hat.19 Meiner Meinung nach, und wie
ich später vertiefen werde, kann man zumindest sagen, dass das Inkrafttreten des
IStGH-Statuts eine Neuverortung des Gewohnheitsrechts als Quelle des Völkerstraf-
rechts bedeutet, wenngleich auch in keiner Weise dessen Abschaffung.
Dieses Szenario zeigt, dass man trotz einer langsamen Annäherung an die tradi-
tionelle Konzeption des Gesetzlichkeitsprinzips noch weit von einem totalen Ver-
zicht auf das Gewohnheitsrecht als Quelle des Völkerstrafrechts entfernt ist.
Damit haben nicht nur die eigene Phänomenologie und der politische Kontext inter-
nationaler Verbrechen zu tun, sondern auch die transzendentale Funktion, die seit
jeher diese ungeschriebene Quelle im Völkerrecht erfüllte. In Anbetracht des prak-
tisch unbeugsamen Charakters des Gewohnheitsrechts in der aktuellen Völkerstraf-
rechtsordnung versucht die folgende Ausarbeitung im Grunde eine die Strafrechts-
lehre und die Völkerrechtslehre versöhnende Sichtweise anzubieten, indem sie nach
dem bestmöglichen Ausgleich der Menschenrechte des Beschuldigten und der Inter-
essen der Opfer bzw. der internationalen Gemeinschaft strebt. Zu diesem Zweck muss
man bereits hier betonen, dass die Schwierigkeiten, Gewohnheitsrecht im Völker-
strafrecht zu akzeptieren, nicht allein darauf fußen, dass es sich um eine ungeschrie-
bene Quelle handelt, sondern auch auf dem fragwürdigen, von den Gerichten bei der
Ermittlung des Gewohnheitsrechts beschrittenen Prozess. Die folgende Analyse wird
sich um diesen Punkt drehen. Dabei wird versucht, die tatsächliche Reichweite des
Gewohnheitsrechts im Völkerstrafrecht, dessen Elemente und den von den Richtern
vorangetriebenen rechtlichen Identifikationsprozess zur Bestätigung der Elemente
zu zeigen, ohne dabei einige Rechtsmissbräuche zu übersehen, die in grotesker
Weise fundamentale Rechte der Angeklagten beschneiden.

kann man im Völkerstrafrecht weder eine schriftliche Fixierung noch eine materielle Be-
stimmtheit der mit dem nationalen Recht vergleichbaren Straftat fordern.
19
In gleicher Weise äußert sich Broomhall, Bruce, „Art. 22“, in: Triffterer (Hrsg.), Com-
mentary on the Rome Statute of the International Criminal Court, 2. Aufl., C. H. Beck/Hart/
Nomos, München, 2008, Rn. 15 und 20, für den die Strenge, mit der das Gesetzlichkeits-
prinzip im Rom-Statut gilt, im Vergleich zum allgemeinen Völkerrecht größer ist. Zugleich
hebt er aber auch hervor, dass dem Gewohnheitsrecht nach wie vor eine wichtige Rolle zu-
kommt: Insbesondere wenn man bedenkt, welch großer Teil der dort vorgesehenen Kernde-
likte eine Ableitung aus Gewohnheitsrecht sind. Dieselbe Idee präzisierend, erwägt Werle,
Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 141, dass das IStGH-Statut gewisse ge-
wohnheitsrechtliche Normen bestätigt, wenngleich es auch von diesen abweicht und großzü-
gigere oder restriktiver gefasste Regelungen formuliert, als die Ableitungen des Gewohn-
heitsrechts, zum Beispiel in Hinblick auf die Kriminalisierung verbotener Kampfmittel in
internationalen bewaffneten Konflikten.
Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen 327

II. Typologie völkerrechtlicher Strafnormen


und deren Genese im Gewohnheitsrecht
Wenn man in der Strafrechtsdogmatik die Reichweite des lex scripta-Grundsatzes
untersucht, denkt man normalerweise an die Funktion, die das Gewohnheitsrecht in
der Begründung oder im Ausschluss von Strafen haben kann. Mit anderen Worten ist
die erste Frage, mit der das Gesetzlichkeitsprinzip konfrontiert wird, ob es dem Rich-
ter zugestanden wird, Tatbestände, Straffreistellungsgründe und Strafmilderungs-
gründe aus dem Gewohnheitsrecht anzuwenden. Zu dieser Frage wird im Allgemei-
nen die klar herrschende Zurückweisung von gewohnheitsrechtlichen strafbarkeits-
begründenden Tatbeständen von der Akzeptanz des Gewohnheitsrechts in bonam
partem begleitet, das heißt, das Gewohnheitsrecht darf angewendet werden, wenn
es den Angeklagten begünstigt, die Strafe ausschließt oder mildert.20/21
Des Weiteren ist wichtig hervorzuheben, dass der durch die Anerkennung von ge-
wohnheitsrechtlichen Tatbeständen und Straferschwerungsgründen verursachte Ver-
stoß gegen den lex scripta-Grundsatz, konzeptionell eine Schwächung des Prinzips
nullum crimen, nulla poena sine lex certa bedeutet. Beim Anwenden von ungeschrie-
benen Tatbeständen verliert man genauso an Gewissheit und an Bestimmtheit der
verbotenen Handlung. Es findet eine Eingliederung von Tatbeständen statt, die im
offensichtlichen Gegensatz zu dem Ziel steht, das ius puniendi zu reduzieren, wel-
ches die Interpretation des Gesetzlichkeitsprinzips bestimmt. Die Schwierigkeiten
verschärfen sich, wenn man versucht, zumindest minimale Bestimmtheitsanforde-
rungen an die Umschreibung der unerlaubten Handlung in der gewohnheitsrechtli-
chen Norm zu formulieren. Das Problem spitzt sich nochmals zu, wenn man auch
Anforderungen an die tatbestandsmäßige Bestimmung der Strafe stellen möchte.
Es scheint fast unmöglich, im Gewohnheitsrecht überhaupt von der Androhung
einer bestimmten Strafe oder eines konkreten Strafrahmens zu sprechen.
20
Diese Unterscheidung des Gewohnheitsrechts in bonam partem und in malam partem
trifft Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Band I. Grundlagen Aufbau der Verbrechenslehre,
4. Aufl., 2006, § 5, Rn. 50; Bacigalupo, Manual de Derecho penal. Parte General, 1998, S. 38.
Ebenso sind in den Lehrbüchern reichlich Aussagen zu Gunsten des Gewohnheitsrechts als
Quelle von Rechtfertigungsgründen vorhanden, vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Straf-
rechts. Allgemeiner Teil, 5. Aufl., 1996, S. 143, Paeffgen, „Vorbemerkungen zu den §§ 32 bis
35“, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 1,
2. Aufl., 2005, Rn. 56; Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl., 1969, S. 23; Hirsch, „Vor-
bemerkung zu den §§ 32 ff.“, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar,
Strafgesetzbuch, 11. Aufl., Bd. 2, 2003, Rn. 34; Cerezo Mir, Curso de Derecho penal español,
Bd. I, 5. Aufl., 1996 S. 158; Roxin, AT, Bd. I, 2006, § 5, Rn. 49 – 50, S. 160 – 161; Naucke,
Strafrecht. Eine Einführung, 10. Aufl., 2002, § 2, Rn. 27, S. 68; Mayer, Strafrecht. Allge-
meiner Teil, 1953, S. 83.
21
Dies gilt unabhängig von der Unterscheidung, die man häufig hinsichtlich des unter-
schiedlichen Verständnisses des Gesetzlichkeitsprinzips im Allgemeinen Teil und im Beson-
deren Teil des Strafgesetzbuches macht, wo dessen Strenge im ersten Teil geringer sein soll
und letztendlich die Akzeptanz des Gewohnheitsrechts viel größer ist. Eine geringere Strenge
des Gesetzlichkeitsprinzips im Allgemeinen Teil u. a. anerkennend Silva Sánchez, Apro-
ximación al Derecho penal contemporáneo, 1992, S. 118 – 120.
328 Juan Pablo Montiel

Im Völkerstrafrecht besteht die vorrangige Funktion des Gewohnheitsrechts in


der Festlegung von Verboten. So sind die Straftatbestände die Hauptkategorie der
im internationalen Gewohnheitsrecht bestehenden strafrechtlichen Vorschriften.
Das Verbrechen des Völkermords oder das Verbrechen gegen die Menschlichkeit zei-
gen ihre gewohnheitsrechtliche Natur unbeschadet dessen, dass sie bereits in diver-
sen internationalen Vertragswerken und nationalen Gesetzen positivrechtlich veran-
kert wurden. Trotzdem darf die unterschiedliche, im internationalen Umfeld vorherr-
schende Situation nicht darüber hinwegtäuschen, dass die gleichen, bereits aufge-
zeigten Probleme wie im nationalen Strafrecht bestehen: die Unbestimmtheit des
Straftatbestandes und seiner Strafe bzw. seines Strafrahmens.
Dies ist aber nicht das einzige Umfeld, in dem das völkerrechtliche Gewohnheits-
recht als Quelle strafrechtlicher Regelungen wirken kann. Das Gewohnheitsrecht ist,
in gleicher Weise wie es im nationalen Strafrecht geschieht,22 imstande, Zurech-
nungsregeln der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in der internationalen Strafge-
walt zu begründen.23 Es fehlt zum Beispiel – wie später zu zeigen sein wird –
nicht an Ansichten in der Lehre24 und in der Rechtsprechung,25 welche die auf der
Lehre des Joint Criminal Enterprise basierende Zurechnung strafrechtlicher Verant-
wortlichkeit von einer gewohnheitsrechtlichen Norm getragen sehen. In diesem Fall
liefert das Gewohnheitsrecht Regeln über die Zurechnung strafrechtlicher Verant-
wortlichkeit hinsichtlich des Teilnehmers an der Begehung eines völkerrechtlichen
Verbrechens.
Letztendlich kann man daran denken, dass auch zwei andere Normkategorien ihre
Genese in dieser Klasse des ungeschriebenen Rechts haben: Auf der einen Seite be-
ziehe ich mich auf den gewohnheitsrechtlichen Charakter gewisser Vorschriften,
welche die Verfolgbarkeit völkerrechtlicher Verbrechen bestimmen, besonders auf
die Unverjährbarkeit völkerrechtlicher Verbrechen. Unbeschadet der unten noch
auszuführenden Kritik daran ist es wichtig hervorzuheben, dass für gewisse Sektoren
das Prinzip der Unverjährbarkeit des Verbrechens gegen die Menschlichkeit von
einer gewohnheitsrechtlichen Norm getragen wird.26 Auf der anderen Seite bot
22
Diesbezüglich existieren unzählige Anmerkungen über die Rolle des Gewohnheitsrechts
in der Herleitung von Regeln der objektiven Tatbestandszurechnung, genauso wie der sub-
jektiven Zurechnung, vor allem wenn man die gewohnheitsrechtliche Herkunft der Lehre der
actio libera in causa anspricht. Über die Rolle des Gewohnheitsrechts bei der objektiven
Zurechnung, vor allem in der Festlegung von Parametern des erlaubten Risikos Jakobs,
Strafrecht. Allgemeiner Teil. Die Grundlagen und die Zurechnungslehre. Lehrbuch, 2. Aufl.,
1991, Abschnitt 4, Rn. 47. Bzgl. der Auswirkungen des Gewohnheitsrechts in der Gestaltung
der actio libera in causa, vgl. u. a. Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl., 1996, S. 143.
23
Akande, in: Cassese (Hrsg.), The Oxford Companion to International Criminal Justice,
2009, S. 49 – 50.
24
Soweit ersichtlich, vertreten diese Ansicht van Sliedregt, „Joint Criminal Enterprise as a
Pathway to Convicting Individuals for Genocide“, JICJ (5), 2007, S. 202 – 203; Akande, in:
Cassese (Hrsg.), The Oxford Companion to International Criminal Justice, 2009, S. 49 – 50.
25
Vgl. vor allem IStGH (Appeals Chamber), Tadic, 15. 07. 1999, Abs. 220
26
Bassiouni, Introduction to the International Criminal Law, 2003, S. 168 – 169.
Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen 329

sich vor dem IStGH die Möglichkeit, über den gewohnheitsrechtlichen Charakter des
Straffreistellungsgrundes des Handelns unter dem Einfluss von Nötigung zu debat-
tieren,27 wenngleich hierbei letztendlich ein absoluter Straffreistellungsgrund durch
das Gericht abgelehnt wurde.28

III. Elemente des Gewohnheitsrechts und deren Anerkennung


im Völkerstrafrecht
1. Wie vorangehend aufgezeigt wurde, folgt die Zugehörigkeit des Gewohnheits-
rechts zu den Quellen des Völkerrechts und des Völkerstrafrechts hauptsächlich aus
lit. b des Absatzes 1 des Art. 38 IGH-Statut, wonach das Gericht „das völkerrecht-
liche Gewohnheitsrecht“ anwenden soll, für dessen Vorliegen eine „allgemein als
Recht anerkannte Praxis“ als Beweis dient. Ausgehend von dieser Definition
haben sowohl die internationale Rechtsprechung29 wie auch die internationale
Lehre30 die Ableitung zweier Elemente anerkannt, die das Gewohnheitsrecht besitzt.
Diese beiden Elemente sind: a) Das materielle oder objektive Element getragen von
der Praxis der Völkerrechtssubjekte, b) das geistige bzw. subjektive Element oder die
opinio iuris (Rechtsüberzeugung).31
Der Bezug in der Vorschrift des Statuts auf eine „als Recht anerkannte Praxis“
spiegelt beide Elemente wider, wenngleich dies nicht viel zum Verständnis der Ele-
mente beiträgt. Auch mir erscheint es daher überzeugend, auf den in der Londoner

27
Akande, in: Cassese (Hrsg.), The Oxford Companion to International Criminal Justice,
2009, S. 49 – 50.
28
IStGH (Appeals Chamber), Erdemovic, 7. 10. 1997, Entscheidungsgründe Abs. 19.
29
Nebst anderen Fällen, vgl. IGH, Rep. 266, 20. 11. 1950. Ebenfalls zeigte dies der IGH in
seinem Gutachten vom 08. 07. 1996 über die Rechtmäßigkeit der Bedrohung oder des Ge-
brauchs nuklearer Waffen.
30
Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y organizaciones internacio-
nales, 5. Aufl., 1994, S. 91; Diez de Velasco, Instituciones de Derecho internacional público,
14. Aufl., 2004, S. 122; Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 128; Meron,
The Humanization of International Law, 2006, S. 360 ff.; Dencker, ZIS (7), 2008, S. 299 (http://
www.zis-online.com/dat/artikel/2008_7_245.pdf); Ratner/Abrams/Bischoff, Accountability for
Human Rights Atrocities in International Law. Beyond the Nuremberg Legacy, 3. Aufl., 2009,
S. 20.
31
Bisher ist die Frage unbeantwortet, ob beide oder nur eines der beiden Elemente vor-
liegen müssen. Man vertrat traditionellerweise die Interpretation, dass man beide Elemente zur
Begründung einer aus Gewohnheitsrecht abgeleiteten völkerrechtlichen Norm heranziehen
sollte. Diese Interpretation folgt vor allem die Rechtsprechung des IGH, vgl. IGH, 20. Februar
1969, Nordsee-Festlandsockel. Nach einer anderen Ansicht ist es in Ausnahmefällen dann
nicht notwendig auf die opinio iuris (Rechtsüberzeugung) abzustellen, wenn die Praxis den
Anforderungen der Verbreitung, Dauerhaftigkeit und Einheitlichkeit genügt. So die Auffas-
sung der London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General
Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary
(General) International Law, 2000, S. 31.
330 Juan Pablo Montiel

Konferenz im Jahr 2000 gestalteten Begriff des Völkergewohnheitsrechts abzustel-


len, der durch das Komitee zur Bildung des Völkergewohnheitsrechts (Committee on
Formation of Customary [General] International Law) der International Law Asso-
ciation folgendermaßen gefasst wurde: „Eine völkerrechtliche Gewohnheitsregel ist
diejenige, welche durch die dauerhafte und einheitliche Praxis von Staaten und an-
deren Völkerrechtssubjekten im Rahmen ihrer internationalen Rechtsbeziehungen
oder mit Wirkung für deren internationale Rechtsbeziehungen gebildet und vertreten
wird, und dies unter Umständen, welche berechtigten Anlass geben, auch für die Zu-
kunft von gleichem Verhalten [der Staaten und Völkerrechtssubjekte] auszugehen“.32
Diese Definition erlaubt nicht nur Schlussfolgerungen auf die Anforderungen an die
Praxis und die opinio iuris (Rechtsüberzeugung), sondern auch Rückschlüsse auf ei-
nige der Merkmale. So muss die Praxis etwa dauerhaft und einheitlich sein sowie
Auswirkungen auf das internationale Umfeld haben und muss auch durch andere völ-
kerrechtliche Subjekte als die Staaten vorangetrieben werden können.
Es ist notwendig zu betonen, dass die große Klarheit, die angesichts der Identifi-
kation der Elemente des Völkergewohnheitsrechts vorherrscht, sich in dem Maße
langsam auflöst, in dem man tiefer in deren Charakterisierung und in deren Wech-
selwirkungen zueinander eintaucht. Auf der einen Seite ist das Verständnis der
Lehre und Rechtsprechung zu den Merkmalen, welche die Praxis der völkerrechtli-
chen Subjekte haben sollte (z. B. Dauerhaftigkeit, Einheitlichkeit und Verbreitung),
sehr weit davon entfernt, klar und eindeutig zu sein, und erschwert somit den Iden-
tifikationsprozess der ungeschriebenen Norm. Auf der anderen Seite – und vielleicht
ist dies die größte Schwachstelle – herrscht große Konfusion darüber, welche Ele-
mente dem Nachweis der Praxis dienen und welche der opinio iuris (Rechtsüberzeu-
gung). Denn man sieht das Problem, dass die Unterscheidung zu fließend geworden
ist, vor allem in denjenigen Fällen, in denen die gleiche Aktivität beide Elemente be-
legen kann.33 Letzteres Problem verschärft sich noch, wenn man bedenkt, dass die
tatsächliche Rolle des subjektiven Elements aktuell in Frage gestellt wird. Man
fragt sich, ob es notwendigerweise dazu beitragen muss, eine gewohnheitsrechtliche
Norm anerkennen zu können. Natürlich sind all dies keine geringfügigen Probleme
innerhalb des Völkerstrafrechts, wo die Schwere seiner Sanktionen ein höchstmög-
liches Maß an Rechtssicherheit im Bereich von gewohnheitsrechtlichen Normen er-
fordert.
2. Die Merkmale des Völkergewohnheitsrechts erfordern jeweils eine noch ein-
gehendere Betrachtung. Zunächst zur materiellen und objektiven Seite, der Praxis
der völkerrechtlichen Subjekte:

32
London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General
Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary
(General) International Law, 2000, S. 8.
33
Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 130. Im gleichen Sinne,
Ambos, La parte general del Derecho penal internacional. Bases para una elaboración dog-
mática, 2006, S. 37.
Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen 331

Vorab ist nochmals klarzustellen, dass die auf Gewohnheitsrecht basierende Norm
nicht ausschließlich aktiv betriebene internationale Praxis der Staaten voraussetzt.
Tatsächlich besteht ein breiter Konsens darüber, wonach auch die Praxis von völker-
rechtlichen Organen ausreichen kann, diese erste Komponente zu bestätigen.34,35
Doch: Welche Art des Handelns dieser völkerrechtlichen Subjekte sind in diesem
Sinne eine Praxis? Nach allgemeinem Verständnis kristallisiert sich das materielle
bzw. objektive Element speziell in der offiziellen Staatsführung heraus, was die Tä-
tigkeit seiner Organe (legislative Gewalt, exekutive Gewalt und judikative Gewalt)
sowie die diplomatischen oder politischen Erklärungen seiner auswärtigen Reprä-
sentanten, einschließlich eventueller Kommentare über ein Vertragsprojekt, Militär-
handbücher etc. umfassen kann.36 Auch wird vertreten, dass von völkerrechtlichen
Organen angenommene Deklarationen oder Resolutionen,37 die Statuten der Ad-
hoc-Strafgerichtshöfe und deren Urteile eine im Sinne des Völkerrechts geforderte
Praxis darstellen.38
Wie man sieht, fordern fast alle beschriebenen Praktiken verbale Akte der
Staaten oder der völkerrechtlichen Organe. Dies erlaubt es, mit einer recht weit
verbreiteten Ansicht in der Lehre39 zu brechen, wonach diese Art der Akte eher
34
Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y organizaciones internacio-
nales, 5. Aufl., 1994, S. 91.
35
Nach Arajärvi, „The Role of the Internacional Criminal Judge in the Formation of Cus-
tomary Internacional Law“, EJLS (2), Vol. 1, 2007, S. 13, zeigt sich die enorme Bedeutung der
„völkerrechtlichen Praxis“ gegenüber der „staatlichen Praxis“ im Fall Tadic, indem man als
Bezug der Praxis die Arbeit des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, die Erklärungen
der Europäischen Gemeinschaft von 1990 über die Situation in Liberia und der Europäischen
Union von 1995 in Bezug auf Tschetschenien heranzog.
36
London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General
Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary
(General) International Law, 2000, S. 14, 17 – 18; Werle, Tratado de Derecho penal interna-
cional, 2005, Rn. 129; Diez de Velasco, Instituciones de Derecho internacional público,
14. Aufl., 2004, S. 123 – 124. Den Ausführungen des IStGH im Fall Tadic folgend, betont
Arajärvi, EJLS (2), Vol. 1, 2007, S. 12, in welcher Weise die offiziellen Erklärungen der
Staaten, die Militärhandbücher und die Gerichtsentscheidungen zur Bildung des objektiven
Elements wichtig sein können. Vor allem, wenn das objektive Element im jeweiligen Fall
schwierig zu beweisen ist. Denn in Situationen nicht internationaler Konflikte kommt es
häufig vor, dass objektive Beobachter keine Erlaubnis haben, die Handlungen der Konflikt-
parteien zu überwachen.
37
Diesbezüglich darf man, so wie Mettraux, International Crimes and the ad hoc Tri-
bunals, 2005, S. 16, nicht übersehen, dass man es traditionell als Regel verstand, dass die
Praxis der völkerrechtlichen Organe irrelevant für die Bildung gewohnheitsrechtlicher
Normen waren.
38
Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 144, 146. In diesem Sinne
zeigt Gallant, The Principle of Legality in International and Comparative Criminal Law, 2009,
S. 402, dass seit Nürnberg die internationalen Gerichte und Organisationen eine der am
stärksten wirkenden Kräfte in der Entwicklung des Gewohnheitsstrafrechts waren.
39
Zum Beispiel bejaht Ambos, La parte general del Derecho penal internacional. Bases
para una elaboración dogmática, 2006, S. 37 – 38, dass die Entscheidungen der nicht-gericht-
lichen Völkerrechtsorgane, Gesetzesprojekte, die Erklärungen diplomatischer Konferenzen
332 Juan Pablo Montiel

mit der opinio iuris (Rechtsüberzeugung) verknüpft ist. Wie bei der Londoner Kon-
ferenz ersichtlich, sind die Verbalakte tatsächlich der Hauptbeleg des objektiven
Elements des Gewohnheitsrechts, vorausgesetzt, dass physische Akte (z. B. Fest-
nahme von Personen, Beschlagnahme von Schiffen etc.) tatsächlich die Ausnahme
sind.40
Trotzdem stellt nicht jeder Verbalakt eine Praxis im geforderten Sinne für die An-
nahme einer völkerrechtlichen Gewohnheitsnorm dar. Diese Akte müssen darüber
hinaus durch drei Merkmale begleitet sein: Dauerhaftigkeit, Verbreitung oder Reprä-
sentativität und Einheitlichkeit.41 Jene Merkmale wurden durch den IGH gefordert42
und das Komitee zur Bildung des Völkergewohnheitsrechts43 und große Teile der völ-
kerrechtlichen Lehre haben dem zugestimmt.44
Eine Praxis ist demnach dauerhaft, wenn sie während einer bestimmten Zeitspan-
ne befolgt wurde. Dies bedeutet nicht, dass es zur Annahme einer dauerhaften Praxis
notwendig ist, dass sich diese über eine lange Zeitspanne oder einen vordefinierten
Zeitraum erstreckt. Vielmehr reicht es aus, eine gewisse „zeitliche Gültigkeit“ der
Praxis zu belegen. Wenn die Akte der Völkerrechtssubjekte nur während einer kur-
zen Zeitspanne praktiziert wurden, kann dieses Defizit durch eine starke Präsenz der
anderen beiden Merkmale in diesem Zeitraum kompensiert werden.45 Daher sieht
man im Grunde genommen, dass wir es mit einer Frage der Anhäufung, also der aus-

und andere Elemente des sogenannten „soft law“ bedeutsam für den Beleg der opinio iuris
(Rechtsüberzeugung) sein können.
40
London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General
Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary
(General) International Law, 2000, S. 14.
41
Wie ebenfalls aus der London Conference, „Statement of Principles Applicable to the
Formation of General Customary International Law“, Final Report of the Committee on For-
mation of Customary (General) International Law, 2000, S. 15, folgt, ist die Öffentlichkeit ein
weiteres Merkmal der Praxis, wenngleich ich wegen der hier vorgenommenen Zielsetzung der
Arbeit dessen Beschreibung auslassen werde.
42
Siehe Anm. 29.
43
London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General
Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary
(General) International Law, 2000, S. 20 ff.
44
Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 129; ders., Principles of In-
ternational Criminal Law, 2005, Rn. 129; Kaczorowska, Public International Law, 3. Aufl.,
2005, S. 17; Diez de Velasco, Instituciones de Derecho internacional público, 14. Aufl., 2004,
S. 124; Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y organizaciones interna-
cionales, 5. Aufl., 1994, S. 92 ff.
45
So verstand dies der IGH im Fall „Nordsee-Festlandsockel“, vgl. Fall IGH, Rep. 3,
20. 02. 1969. Auch in der Lehre vertreten Kaczorowska, Public International Law, 3. Aufl.,
2005, S. 17; Diez de Velasco, Instituciones de Derecho internacional público, 14. Aufl., 2004,
S. 124.
Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen 333

reichenden Dichte bezüglich der Einheitlichkeit, Verbreitung und Repräsentativität


zu tun haben.46
Die Praxis muss auch verbreitet sein, weshalb sie durch eine gewichtige Anzahl
von Staaten befolgt werden muss. Man darf aber nicht übersehen, dass es keine reine
Frage der Quantität ist, abhängig von der Anzahl der Staaten oder Völkerrechtssub-
jekte, die dieser Praxis folgen. Vielmehr ist auch ein qualitativer Aspekt zu berück-
sichtigen.47 Aus diesem Grund ist es vielleicht besser, von Repräsentativität anstatt
von Verbreitung zu sprechen. Denn es ist auch wichtig zu berücksichtigen, welches
die der entsprechenden Praxis folgenden Staaten sind und ob es sich konkret um die
Staaten handelt, deren Interessen durch die gewohnheitsrechtliche Norm im beson-
deren Maße beeinträchtigt werden.48
Außerdem ist hervorzuheben, dass im internationalen Umfeld die gewohnheits-
rechtlichen Normen einen unterschiedlichen Verbreitungsgrad aufweisen, was un-
mittelbar von der Anzahl der Staaten abhängt, welche die in Frage kommende Praxis
anzuwenden pflegen. Daher spricht man von generellen Gewohnheitsrechten und
von partikularen Gewohnheitsrechten.49 Trotz allem existiert im begrenzten Bereich
des Völkerstrafrechts eine klare Tendenz dazu, eine weitreichende Verbreitung oder
Repräsentativität der Praxis zu fordern, und zwar in der Weise, dass eine allgemeine
Befolgung von Seiten der internationalen Gemeinschaft der ungeschriebenen Norm
besteht. Dies spiegelt sich auch zum Großteil in den theoretischen Annäherungen an
das Thema wider,50 wie auch in der Rechtsprechung der Ad-hoc-Gerichte,51 welche
die Existenz einer originären Straftat im internationalen Gewohnheitsrecht oder
eines bestimmten strafrechtlichen Zurechnungsmodells begründen, indem sie als
Beleg Praktiken der repräsentativsten Staaten der Welt heranziehen.
46
Conferencia London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation
of General Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of
Customary (General) International Law, 2000, S. 20.
47
London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General
Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary
(General) International Law, 2000, S. 25 – 26.
48
Das Hinzufügen dieses qualitativen Faktors kann zum Verlust eines gewissen demokra-
tischen Verständnisses in der Praxis führen. Zu diesem Punkt hat das Komitee zur Bildung des
Völkergewohnheitsrechts folgendes vertreten: „The fact that the test is not purely quantitative
may appear undemocratic. But leaving aside the question what is meant by ,democratic‘ in this
context, it should be noted that customary systems are rarely completely democratic: the more
important participants play a particularly significant role in the process. And certainly, the
international system as a whole is far from democratic. So, in this regard, customary inter-
national law is at least in touch with political reality“. Vgl. London Conference, „Statement of
Principles Applicable to the Formation of General Customary International Law“, Final Re-
port of the Committee on Formation of Customary (General) International Law, 2000, S. 26.
49
Diez de Velasco, Instituciones de Derecho internacional público, 14. Aufl., 2004,
S. 125 – 126; Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y organizaciones in-
ternacionales, 5. Aufl., 1994, S. 92 – 93, 100 – 102.
50
Vgl. u. a. Bassiouni, Introduction to the International Criminal Law, 2003, S. 168 ff.
51
IStGH (Appeals Chamber), Tadic, 15. 07. 1999, Abs. 224.
334 Juan Pablo Montiel

Meiner Meinung nach ist die Forderung dieses Generalisierungs- oder Repräsen-
tativitätsniveaus im Völkerstrafrecht durch zweierlei gerechtfertigt: (1) Die Schwere
der völkerrechtlichen Verbrechen erschüttert die internationale Gemeinschaft in
ihrer Gesamtheit, durch Verletzung ihrer eigenen Grundwerte; folglich ist es die ge-
samte Gemeinschaft, die reagiert. (2) Die Existenz so drastischer Sanktionen wie der-
jenigen für Verbrechen des Völkerstrafrechts52 kann nur Legitimation finden, wenn,
neben weiteren Gründen, eine allgemeine Unterstützung der internationalen Ge-
meinschaft existiert. Ich denke, eine der Hauptkonsequenzen welche man aus der ge-
forderten weiten Repräsentativität ableiten kann, ist, dass ein guter Teil der gewohn-
heitsrechtlichen Normen praktisch angeglichen oder Teil des ius cogens wird (oder –
falls bevorzugt – des ius cogens poenalis).53 Das heißt, sie werden zwingende Normen
oder Normen der öffentlichen Ordnung, welche nicht durch Verträge oder das ge-
wöhnliche Völkergewohnheitsrecht aufgehoben werden können.54 Für viele Autoren
sind bereits große Teile der gültigen Vorschriften des Völkerstrafrechts im ius cogens
integriert: das Folterverbot, die Bestrafung von Völkermord und der Versklavung,
das Verbot der Rückwirkung des nachteiligen Strafgesetzes etc.55 Trotzdem sollte
diese tendenzielle Gleichstellung des strafrechtlichen Gewohnheitsrechts und des
ius cogens – oder genereller gesagt, von ungeschriebenen völkerstrafrechtlichen Nor-
men und des ius cogens – nicht zu einer Verallgemeinerung führen, die diese notwen-
dige Unterscheidung sowohl auf praktischer wie auch auf konzeptioneller Ebene auf-
löst. Letzten Endes sollten wir bei folgender Überlegung bleiben: Damit Raum für
eine Praxis einer gewohnheitsstrafrechtlichen Norm ist, sollte diese durch eine weit-
52
Nimmt man das IStGH-Statut oder auch das Statut des TIM-Nürnberg, des IStGH und
des RStGH als Bezugspunkt, gelangt man u. a. zu der Ansicht, dass das Völkerstrafrecht –
abgesehen von der in den Nürnberger Prozessen angewandten Todesstrafe – ein Strafrecht der
Freiheitsstrafe ist. Denn weniger schwere Hauptfolgen als die Gefängnisstrafe (Geldstrafe,
Aberkennung von Rechten) sind nicht vorgesehen. Dennoch hält man auf Grund des Ver-
hältnismäßigkeitsprinzips Strafdrohungen langer Haftstrafen für notwendig, zum Beispiel
gemäß Art. 77 IStGH-Statut lebenslänglich oder bis zu 30 Jahren.
53
Es genügt, folgenden Satz von Bassiouni, Introduction to the International Criminal
Law, 2003, S. 177, heranzuziehen, um die bemerkenswerte Annäherung zwischen dem Ge-
wohnheitsrecht und dem ius cogens im Bereich des Völkerstrafrechts zu verstehen: „Eine
Norm des ius cogens erhebt sich auf dieses Niveau, wenn das dahinterstehende Prinzip, aus-
gehend von einer dauerhaften Praxis, allgemein anerkannt wird, begleitet durch die notwen-
dige Rechtsüberzeugung der Mehrheit der Staaten.“
54
Wie es die Artikel 53 und 64 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge
festlegen, ist, was das sogenannte vorangehende und nachfolgende ius cogens angeht, jeder
Vertrag nichtig, der im Moment des Abschlusses gegen eine zwingende Norm des allgemeinen
Völkerrechts verstößt oder durch dessen Abschluss eine neue Norm des ius cogens entsteht,
welche zur konventionellen Norm im Gegensatz steht. Der gleiche Effekt besteht bei einer
gewohnheitsrechtlichen Norm, welche einer zwingenden Norm des ius cogens zuwider läuft.
Vgl. hierzu Gómez Robledo, El ius cogens internacional (Estudio histórico-crítico), México,
1982, S. 96 ff.
55
Gómez Robledo, El ius cogens internacional (Estudio histórico-crítico), México, 1982,
S. 196, 198 – 199; Bassiouni, Introduction to the International Criminal Law, 2003, S. 168 –
169; Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 567; Gallant, The Principle of
Legality in International and Comparative Criminal Law, 2009, S. 352 ff.
Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen 335

reichende Repräsentativität in der internationalen Gemeinschaft gestützt sein; das


heißt, dass eine Praxis, um gültig zu sein, keinen universalen Charakter haben
muss, sondern es reicht aus, dass es sich um eine allgemeine Praxis handelt.
An dritter Stelle muss sich die Praxis, außer durch Dauerhaftigkeit und Allge-
meinheit auch durch Einheitlichkeit auszeichnen. Dieses Erfordernis sollte nicht
in der Art verstanden werden, dass es einer rigorosen und absolut identischen Praxis
bedarf.56 Man sieht dies im Gegenteil so, dass es ausreicht, wenn man von Seiten der
Staaten die Zustimmung zu einer Regel beobachten kann, und dass die ihr gegenläu-
figen Handlungen als Verstoß angesehen werden und nicht als die Begründung einer
neuen Regel.57 Ebenfalls betont man, dass die Einheitlichkeit sowohl in einem inter-
nen wie auch kollektiven Sinne entfaltet werden müsse.58 Das bedeutet: Die Praxis ist
intern einheitlich, wenn jeder Staat, dessen Verhalten berücksichtigt wird, zu fast
allen Anlässen in gleicher Art und Weise gehandelt hat. Daneben ist sie kollektiv ein-
heitlich, wenn die unterschiedlichen mit einbezogenen Staaten der Praxis keine sub-
stanziell unterschiedlichen Verhaltensweisen an den Tag gelegt haben, also manche
Staaten anders als andere handeln.
Trotz der Berührungspunkte, welche Allgemeinheit und Einheitlichkeit häufig
aufweisen, hat deren Unterscheidung eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung
für das strafrechtliche Gewohnheitsrecht. Wie später noch etwas detaillierter darzu-
legen sein wird, kann es geschehen, dass eine gewohnheitsrechtliche Norm (z. B. die-
jenige, die das Verbrechen gegen die Menschlichkeit beinhaltet), obwohl sie auf einer
allgemeinen Praxis in der internationalen Gemeinschaft beruht, einige Probleme be-
züglich ihrer Einheitlichkeit mit sich bringt. Denn nicht immer wurden dieselben
Handlungen vom Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit umfasst.
In diesem Fall würde man von einer allgemeinen Praxis sprechen, aber nicht von
einer einheitlichen. In gleicher Weise kann es Fälle geben, in denen die verfolgte Pra-
xis einheitlich ist, wegen einer spärlichen oder geringen Befolgung von Seiten der
Staaten – etwa bei der unten noch einmal aufgegriffenen Unverjährbarkeit völker-
rechtlicher Verbrechen – aber die Allgemeinheit als materielles bzw. objektives Ele-
ment des Gewohnheitsrechts fehlt.
3. Auch das geistige oder subjektive Element, die opinio iuris sive necessitatis,
bedarf noch einiger Erläuterungen. Für einige besteht dieses Element in der „Zustim-
mung“ oder in dem „Wunsch“, dass etwas eine gewohnheitsrechtliche Regel bilde,
während es sich für andere um den „Glauben“ an die Gültigkeit der Regel handelt.59
56
Kaczorowska, Public International Law, 3. Aufl., 2005, S. 18.
57
Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y organizaciones internacio-
nales, 5. Aufl., 1994, S. 92.
58
London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General
Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary
(General) International Law, 2000, S. 21.
59
London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General
Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary
(General) International Law, 2000, S. 30.
336 Juan Pablo Montiel

Indes sieht eine dritte, zwischen den vorangehenden Ansichten vermittelnde Mei-
nung in diesem Element die „Akzeptanz“ oder die „Anerkennung“ einer Praxis als
rechtlich verbindlich. Deshalb kann man sagen, dass die opinio iuris die Akzeptanz
– oder sogar die Überzeugung – der rechtlichen Erlaubnis oder Verpflichtung (je
nach Fall) zur Praxis beinhaltet.60
Eine der größten Schwierigkeiten hinsichtlich der subjektiven oder geistigen
Komponente, besteht in ihrer (mangelnden) Beweisbarkeit. Während die Praxis
der völkerrechtlichen Subjekte einfach festgestellt werden kann, stößt die Überzeu-
gung von der rechtlichen Verbindlichkeit auf die typischen Probleme der Beweisbar-
keit subjektiver Elemente. Unter den Strafrechtsdogmatikern meint man, dass die
opinio iuris (Rechtsüberzeugung) vor allem im sogenannten soft law (z. B. Entschei-
dungen nicht-juristischer internationaler Organisationen, Gesetzesprojekte, Erklä-
rungen diplomatischer Konferenzen) und in der Lehrmeinung der übrigen Juristen61
sowie in den judikativen und legislativen Aktivitäten der Staaten gesehen werden
kann.62 Für Ambos63 sind ferner die allgemeinen Rechtsgrundsätze eine große
Hilfe bei der Identifikation der Überzeugung über rechtliche Obliegenheiten/Erlaub-
nisse der Praxis, was nach seiner Meinung den Unterschied zwischen Gewohnheits-
recht und anderen ungeschriebenen Normen auflöst. Man kann trotzdem vertreten,
dass die zur Feststellung der opinio iuris (Rechtsüberzeugung) empfohlene Offen-
sichtlichkeit, die gleiche ist, die bezüglich der materiellen oder objektiven Kompo-
nente vorgeschlagen wird. Das führt in vielen Fällen dazu, ihre Rolle unterzubewer-
ten.64
Man kann – nach der Londoner Konferenz65 – sagen, dass sich die Bedeutung der
opinio iuris (Rechtsüberzeugung) hauptsächlich auf zwei Punkte konzentriert. An
erster Stelle besitzt sie eine Funktion als negatives Element, wie man auch sagt,
als die Annahme von Gewohnheitsrecht ausschließende opinio non iuris. Das
heißt, sie zeigt, dass gewisse Praktiken (als übliches Beispiel der Versand von Bei-

60
Mit gleichen Worten, vgl. Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y
organizaciones internacionales, 5. Aufl., 1994, S. 94 – 95; London Conference, „Statement of
Principles Applicable to the Formation of General Customary International Law“, Final Re-
port of the Committee on Formation of Customary (General) International Law, 2000, S. 33;
Werle, Principles of International Criminal Law, Den Haag, 2005, Rn. 130.
61
Ambos, La parte general del Derecho penal internacional. Bases para una elaboración
dogmática, 2006, S. 37 – 38.
62
Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 156, 158.
63
Ambos, La parte general del Derecho penal internacional. Bases para una elaboración
dogmática, 2006, S. 38.
64
Man darf trotzdem nicht verkennen, dass die gleiche Offensichtlichkeit beide Elemente
des Gewohnheitsrechts bekräftigt, vgl. London Conference, „Statement of Principles Applic-
able to the Formation of General Customary International Law“, Final Report of the Com-
mittee on Formation of Customary (General) International Law, 2000, S. 7.
65
London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General
Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary
(General) International Law, 2000, S. 34 – 36.
Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen 337

leidsbekundungen zwischen staatlichen Bevollmächtigten) keine gewohnheitsrecht-


liche Norm widerspiegeln, obwohl sie verbreitet, dauerhaft und einheitlich erfolgen.
Nach meinem Dafürhalten besitzt dieses subjektive Element – vor allem auf dem Ge-
biet des völkerrechtlichen Strafrechts –, dort eine besondere Bedeutung, wo man es
mit einer mehrdeutigen oder nicht dauerhaften Praxis zu tun hat, welche durch eine
solide Überzeugung von der rechtlichen Verbindlichkeit kompensiert werden kann.66

IV. Der Anerkennungsprozess des Gewohnheitsrechts


und dessen Garantiedefizit im Völkerstrafrecht
1. Der Verlust der Objektivität
und der Abbau des Identifikationsprozesses
der strafrechtlichen Gewohnheitsregel

Eine der aus dem Prinzip des Willkürverbots hervorgehenden Hauptkonsequen-


zen ist, dass die Rechtsprechungsaktivität im Wesentlichen auf der Anwendung
einer zuvor festgelegten rechtlichen Vorschrift für den konkreten Fall beruhen
muss und nicht auf einer erst nach der Tat geschaffenen rechtlichen Ad-hoc-Norm
beruhen darf. Unbeschadet gewisser Ermessenspielräume bleibt die Tätigkeit des
Richters eng an den gegebenen Grenzen der von ihm anzuwendenden Vorschrift ge-
bunden. Dieses Verständnis der Rechtsprechungstätigkeit garantiert die Objektivität
des Urteils, da es durch einen externen Parameter getragen wird und nicht durch den
Subjektivismus des Richters.67 Vor allem aber ist es aus dieser Perspektive notwen-
dig, zwei Tätigkeiten zu unterscheiden: die gerichtliche Identifikation oder Anerken-
nung einer rechtlichen Quelle (unvermeidliche gerichtliche Tätigkeit) und die ge-
richtliche Schöpfung einer rechtlichen Quelle (in der Regel Sperrgebiet im Straf-
recht).
In einem heterogenen Quellensystem, wie dem gültigen System im Völkerstraf-
recht, verläuft die Auseinanderhaltung dieser beiden Tätigkeiten nicht immer ohne
Komplikationen. Um eine konventionell gegebene Norm zu identifizieren, ist es aus-
reichend, dass der Richter auf den konkreten Artikel des Vertrages verweist, in wel-
chem sie niedergeschrieben ist. Zum Beispiel genügt es dem IStGH zur Anerkennung
der Vorschrift, welche er zur Verurteilung eines Ex-Diktators für Völkermord anwen-
det, in seiner Entscheidung auf Art. 6 IStGH-Statut zu verweisen. Weil man in das
Quellensystem des Völkerstrafrechts auch ungeschriebene Normen eingliedern
möchte, bestimmt man die Zugehörigkeit einer Norm zu diesen Quellen nicht anhand
eines rechtlichen oder vertraglichen Korpus. Der Richter erhält eine viel komplexere
66
Genau genommen wurde diese Idee durch den IStGH im Fall Kupreskic hervorgehoben,
vgl. IStGH, Prosecutor vs. Kupreskic, 2000, § 527.
67
Genau genommen ist es die Funktion des wörtlichen Tenors, dem gerichtlichen Urteil,
Gesetzmäßigkeit und Objektivität zu geben, vgl. Klatt, Theorie der Wortlautgrenze. Seman-
tische Normativität in der juristischen Argumentation, 2004, S. 19, 21 – 23.
338 Juan Pablo Montiel

Aufgabe. Sie besteht darin, den Beweis der Existenz der gewohnheitsrechtlichen
Norm anzutreten, und dies macht es notwendig, einen Verifikationsprozess oder An-
erkennungsprozess der internationalen Praxis und der opinio iuris (Rechtsüberzeu-
gung) zu durchlaufen.68 Das internationale Gericht muss alle Anstrengungen unter-
nehmen, um die Existenz dieser gewohnheitsrechtlichen Norm durch das Zusam-
mentragen einer größtmöglichen Anzahl von Beweisen für das Vorliegen der oben
dargestellten Voraussetzungen zu erbringen. Genauso ist es auch geboten, dass
das Gericht die Beweise würdigt und dass es Begründungen anbietet, weswegen
es die Elemente des Gewohnheitsrechts für verifiziert hält. Dies zeigt grundlegend,
dass die Aufgabe des Richters nicht in der Erschaffung einer Gewohnheitsregel be-
steht, sondern vielmehr darin liegt, diese anzuerkennen oder zu identifizieren.
Da es sich bei der Ermittlung des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts um einen
Prozess handelt, in dem dem Richter eine sehr aktive Rolle zukommt, kam man zu der
Ansicht, dass diese Quelle in Wirklichkeit das Produkt oder Resultat eines „informel-
len [gerichtlichen] Rechtsschöpfungsprozesses“ ist, in welchem man kein hohes Ni-
veau an Präzision und Bestimmtheit erwarten könne.69 Wie Mettraux anmerkt, findet
man gute Beispiele dieser schlechten Interpretation des Identifikationsprozesses ge-
wohnheitsrechtlicher Strafnormen (vor allem im Hinblick auf das Verbrechen gegen
die Menschlichkeit und der Aggression) in der Rechtsprechung des IMG und der Ad-
hoc-Tribunale, besonders beim IStGH.70 Häufig ist das Verständnis des Gewohn-
heitsrechts als richterliches Produkt ein Kunstgriff, der angewandt wird, um mögli-
che Kritik angesichts ausufernder Interpretation zu verhindern oder um eine subjek-
tive Entscheidung des Richters als logische Schlussfolgerung aus im Voraus festge-
legten rechtlichen Quellen auszugeben.71
In Wirklichkeit ist das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht keine rechtliche Regel,
die der Richter für den konkreten Fall entwickelt, sondern die bereits vor der rich-
terlichen Intervention besteht, dessen Existenz jedoch durch den Rechtsanwender
bewiesen werden muss. Dieser Anerkennungsprozess setzt in keiner Weise eine
schöpferische Tätigkeit des Richters voraus, sondern die Eröffnung einer Beweisauf-
nahme, in welcher solide Belege für die Existenz der ungeschriebenen Norm aufge-
boten werden müssen. Kurzum: Der Richter schafft keinerlei Rechtsnorm, sondern
beweist ihre Existenz. Nur dieses Verständnis des gewohnheitsrechtlichen Anerken-
nungsprozesses im Völkerstrafrecht kann die Kompetenzen des Richters eingrenzen
und der Objektivität seiner Entscheidungen förderlich sein.
68
Mettraux, International Crimes and the ad hoc Tribunals, 2005, S. 14.
69
London Conference, „Statement of Principles Applicable to the Formation of General
Customary International Law“, Final Report of the Committee on Formation of Customary
(General) International Law, 2000, S. 2.
70
Mettraux, International Crimes and the ad hoc Tribunals, 2005, S. 15.
71
Tatsächlich wäre dies der Fall beim IStGH nach Gradoni, Lorenzo, „Nullum crimen sine
consuetudine. A Few Observations on How the International Criminal Tribunal for the Former
Yugoslavia Has Been Identifying Custom“, in: Agorae Papers of the ESIL Inaugural Confe-
rence, Florencia, 2004, S. 6.
Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen 339

Das Hauptproblem der Zulassung des Gewohnheitsrechts als strafrechtliche


Quelle in der Völkerrechtsordnung besteht gerade darin, dass der Argumentations-
und Beweisprozess, so wie er von den Gerichten betrieben wird, defizitär ist. Das
wichtige der Völkerrechtslehre gemachte Zugeständnis, die Begründung von Strafe
durch ungeschriebenes Recht zuzulassen, sollte durch die Forderung eines äußerst
genauen und stichhaltigen Prozesses kompensiert werden, welcher den größten
Teil der Zweifel an der Existenz des Gewohnheitsrechts ausräumt. Andernfalls
ginge das zu Lasten der sich aus dem Gesetzlichkeitsprinzip ergebenden Anforderun-
gen gemachte Zugeständnis mit einem weiteren Zugeständnis bezüglich des zu for-
dernden Prozesses einher.72 Leider ist die Rechtsprechungspraxis in ihrem Eifer, den
internationalen Frieden, die Sicherheit und die Menschenrechte zu garantieren, sehr
weit davon entfernt, dieser Strenge gerecht zu werden, und der Nachweis der objek-
tiven und subjektiven Elemente des Gewohnheitsrechts zeichnet sich durch deren
Abwesenheit aus oder besteht in Beweisen von geringer Überzeugungskraft.73
Konkret zeigt sich dieser Verschlechterungstrend der Identifikation von völker-
rechtlichem Gewohnheitsrecht durch zwei essenzielle Merkmale: 1. Das Fehlen
von Beweisen, welche das Vorliegen von allen oder einigen Elementen des Gewohn-
heitsrechts belegen; 2. das Fehlen von Begründungen, welche erklären, weshalb
diese Beweise die Existenz der Praxis und der opinio iuris (Rechtsüberzeugung) be-
legen.
Bei einigen der Elemente des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts kann man oft
keine großen Bemühungen von Seiten der Gerichte beobachten, ihr Vorliegen zu be-
stätigen. So ist es vor allem bei der opinio iuris (Rechtsüberzeugung). Bei ihr verwei-
sen die Gerichte im Allgemeinen auf die Rechtsprechung oder die Gesetzgebung ei-
niger weniger Länder der Elite oder auf gewisse internationale Instrumente, welche
für sich selbst gesehen die völkerrechtliche Praxis beweisen könnten, wenngleich die
Gerichte jegliche Begründung dafür schuldig bleiben, dass die Überzeugung von der
Verbindlichkeit dieser Praxis existiert.74 Doch sogar der Nachweis des objektiven
Elements – der viel einfacher zu sein scheint – ist defizitär, da man in manchen Fällen
einfach allgemein auf völkerrechtliche Verträge oder nationale Urteile Bezug nimmt,
ohne zu erklären, warum diese eine Praxis darstellen. Gleichzeitig wird in anderen
Fällen nicht nachgewiesen, dass diese Praxis dauerhaft, einheitlich und allgemein ist.
Die Situation ist nicht weniger problematisch, wenn man trotz des Fehlens einer dau-
erhaften und allgemeinen Praxis eine gewohnheitsrechtliche Norm auf der Grundla-

72
Gradoni, in: Agorae Papers of the ESIL Inaugural Conference, 2004, S. 4.
73
Arajärvi, EJLS (2), Vol. 1, 2007, S. 5; Mettraux, International Crimes and the ad hoc
Tribunals, 2005, S. 15, welcher speziell diese Verschlechterung des Identifikationsprozesses
von Gewohnheitsrecht in den Urteilen des IMG und IStGH findet.
74
Auf dieses Problem in der Rechtsprechung des IStGH hinweisend, Gradoni, in: Agorae
Papers of the ESIL Inaugural Conference, 2004, S. 8.
340 Juan Pablo Montiel

ge eines übertriebenen, allgemeinen Bezuges auf die opinio iuris (Rechtsüberzeu-


gung) anerkennt.75
Trotz der Beispiele, die wir später analysieren werden, hilft es bereits hier, einige
entschiedene Fälle des IStGH aufzuführen. Auf der einen Seite versuchte man im Fall
Furundzija76, den Nachweis des gewohnheitsrechtlichen Charakters des Folterver-
bots ohne eine präzise Verifikation einer dauerhaften, allgemeinen und einheitlichen
Praxis der völkerrechtlichen Subjekte und der opinio iuris (Rechtsüberzeugung) zu
führen. Stattdessen bediente man sich schlicht eines allgemeinen Verweises auf den
Lieber Code von 1863, auf die Haager Konvention von 1907 zusammen mit der Mar-
tens’schen Klausel der Präambel der zweiten Genfer Konvention von 1946 und auf
das Gesetz Nr. 10 des Alliierten Kontrollrates.77 Auf der anderen Seite folgte im Fall
Krstic etwas Ähnliches: Um den gewohnheitsrechtlichen Charakter des Völkermor-
des zu beweisen, bediente man sich eines Verweises auf die Völkermordkonvention,
auf die völkerrechtliche Rechtsprechung, auf die Berichte der völkerrechtlichen Or-
gane (z. B. Bericht der Internationalen Rechtskommission über das Projekt des Straf-
gesetzbuches der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit),
auf die Arbeiten im Vorfeld des Projekts des Rom-Statuts und letztlich auf die staat-
liche Gesetzgebung und Praxis, speziell auf die gerichtlichen Interpretationen.78 Hier
gab es auch keinen ernsthaften Versuch, beide Elemente zu belegen.
Diese einfache Bezugnahme auf, unter anderem, völkerrechtliche Normen, natio-
nale Urteile, Gesetzgebung und politische Erklärungen, schafft auch Raum für ein
weiteres Defizit, welches im Identifikationsprozess des strafrechtlichen Gewohn-
heitsrechts zu finden ist. Solche Bezugnahmen werden nicht durch die gebotene
Würdigung der vorgebrachten Beweise begleitet oder wenn doch, so ist die Beweis-
würdigung dürftig und trägt nicht viel zur Überzeugungskraft des Beweises bei.
Im Folgenden werde ich die Kritik an den im Völkerstrafrecht angewendeten Kri-
terien zur Identifikation des Gewohnheitsrechts ausgehend von der Analyse des ge-
wohnheitsrechtlichen Charakters des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, der
Unverjährbarkeit völkerrechtlicher Verbrechen und der Lehre des Joint Criminal En-
terprise vertiefen.

75
Diesbezüglich begründet der IStGH im Fall Kupreskic für die gewohnheitsrechtliche
Natur des Verbots Repressalien gegenüber Zivilisten in Kampfgebieten anzuwenden, trotz
Nichtexistenz einer allgemeinen und dauerhaften Praxis, mit dem Argument des subjektiven
Elements. Das Gericht gibt sich zur Annahme der opinio iuris (Rechtsüberzeugung) mit einer
Bezugnahme auf die Martens’sche Klausel einfach zufrieden, welche „klar zeige, dass Prin-
zipien des humanitären Völkerrechts aus einem gewohnheitsrechtlichen Prozess entstehen,
unter dem Druck der Bedürfnisse der Menschlichkeit oder dem Diktat des öffentlichen Un-
rechtsbewusstseins.“ Vgl. IStGH, (Trial Chamber), Kupreskic, Abs. 527.
76
IStGH, (Trial Chamber), Furundzija, 10. 12. 1998, Abs. 137.
77
In diesem Sinne, Arajärvi, EJLS (2), Vol. 1, 2007, S. 14 – 15.
78
Arajärvi, EJLS (2), Vol. 1, 2007, S. 17 – 18.
Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen 341

2. Einige besonders problematische Beispiele der Anerkennung


des Gewohnheitsrechts als Quelle des Völkerstrafrechts:
Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Lehre
des Joint Criminal Enterprise und die Unverjährbarkeit
völkerrechtlicher Verbrechen
a) Vielleicht mag es den Leser besonders überraschen, dass hier das Verbrechen
gegen die Menschlichkeit als eines der Beispiele gewählt wird, in welchem der An-
erkennungsprozess des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts fraglich erscheint. Die
Überraschung ist verständlich, da nicht nur ein gefestigter Konsens in der Lehre79
über dessen gewohnheitsrechtliches Naturell besteht, sondern auch über seinen Cha-
rakter als Norm des ius cogens. Trotzdem frage ich mich, warum es in der Gesamt-
schau so eindeutig sein soll, dass das Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein
gewohnheitsrechtliches Naturell besitzt. Denn man kann dieses weder den ersten
gerichtlichen Äußerungen zu diesem Delikt entnehmen, noch gegenwärtig eine in-
ternationale Praxis hinsichtlich dieses Verbrechens beobachten, welche die Voraus-
setzungen an den Nachweis eines gewohnheitsrechtlichen Tatbestandes vollständig
erfüllen würden.
Diese Verbrechen traten zum ersten Mal aus Anlass der Nürnberger80 und Tokioter
Prozesse auf die Hauptbühne der strafrechtlichen Diskussion, wenngleich Frank-
reich, Großbritannien und Russland bereits im Jahr 1915 den Begriff geprägt hatten,
um auf das Massaker an der armenischen Zivilbevölkerung hinzuweisen.81 Beim
Richten der Hauptverbrecher des Zweiten Weltkriegs führte die Bestrafung auf
Grund der Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer großen Kontroverse, da
die gewohnheitsrechtliche Natur dieses Straftatbestandes trotz der Vorgeschichte
des Jahres 1915 sehr fragwürdig erschien. In Wirklichkeit handelte es sich um
eine gewohnheitsrechtliche Norm, welche sich in Entstehung befand, und so zum
Zeitpunkt, als die Taten begangen wurden, in der internationalen Gemeinschaft
noch nicht in Kraft war.82 Die Nichtexistenz eines völkerrechtlichen Gewohnheits-

79
Bassiouni, Introduction to the International Criminal Law, 2003, S. 141; Werle, Princi-
ples of International Criminal Law, 2005, Rn. 639; Ratner/Abrams/Bischoff, Accountability
for Human Rights Atrocities in International Law. Beyond the Nuremberg Legacy, 3. Aufl.,
2009, S. 51 – 52.
80
Obwohl von diesem historischen Moment an das Verbrechen gegen die Menschlichkeit
ein der Völkerrechtsordnung bekanntes Delikt war, kann man nicht außer Acht lassen, dass
man diesem während der Nürnberger Prozesse das Tribunal diesem Aufmerksamkeit
schenkte, was sich auf seine Weise in den geringen Anstrengungen zum Beweis dessen ge-
wohnheitsrechtlicher Natur zeigt. Diesbezüglich Gallant, The Principle of Legality in Inter-
national and Comparative Criminal Law, 2009, S. 119.
81
Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 67; Werle, Principles of International
Criminal Law, 2005, Rn. 636 – 637.
82
Aus diesem Grund bejaht Gallant, The Principle of Legality in International and Com-
parative Criminal Law, 2009, S. 125 u. 126, dass es sich tatsächlich um eine Anwendung des
Strafrechts ex post facto handelte.
342 Juan Pablo Montiel

rechts, welches das Verbrechen gegen die Menschlichkeit beinhaltet, war offensicht-
lich, und zwar trotz der Versuche, die staatliche Praxis, ausgehend von den offiziellen
Erklärungen der alliierten Nationen während des bewaffneten Konflikts, welche die
brutalen Handlungen des Nationalsozialismus verurteilten, anzuerkennen.83 Mehr
noch erscheint es überraschend, dass die einzige durch den IMG vorgebrachte
Rechtsquelle, um dessen Existenz zu substantiieren, ausgerechnet das eigene Statut
des Militärgerichtshofs war.84 Ich meine, dass man erstmals vom gewohnheitsrecht-
lichen Charakter des Verbrechens gegen die Menschlichkeit sprechen konnte, als
sich im Jahr 1950 mit der Resolution Nr. 177 der Generalversammlung der Vereinten
Nationen die „Nürnberger Prinzipien“ herauskristallisierten.85 Daher verdichtete
Art. 6 des IMG-Statuts keine seit Kurzem bestehende Regel des Völkerrechts, son-
dern es handelte sich in Wirklichkeit um eine neue Regel, deren Anwendung ex post
facto nur tolerabel war, wenn man das Rückwirkungsverbot nicht als eine Begren-
zung der Souveränität interpretiert, sondern als eine Maxime der Gerechtigkeit,
die in einem Konflikt mit der drohenden Straflosigkeit von Taten extremer Schwere
steht.86
Heute bestehen am gewohnheitsrechtlichen Charakter dieser Straftaten keine
Zweifel mehr, sondern allenfalls an der gewohnheitsrechtlichen Struktur des Tatbe-
standes. Auch wenn man die (meiner Meinung nach) unüberwindbaren Hindernisse,
die der Zuordnung des Strafrahmens des Verbrechens gegen die Menschlichkeit zum
Gewohnheitsrecht entgegenstehen, einmal beiseitelässt,87 verbleiben Probleme, eine
einheitliche Praxis im Hinblick auf die Tatbestandsmerkmale auszumachen. In
diesem Sinne bestehen die aktuellen Hauptprobleme des Verbrechens gegen die
Menschlichkeit in folgenden Fragen: Ob, auf der einen Seite, zwischen dem Angriff
auf die Zivilbevölkerung und den bewaffneten Konflikten eine Verbindung bestehen
muss und, auf der anderen Seite, welche Einzeldelikte vom Straftatbestand des Ver-
brechens gegen die Menschlichkeit umfasst sind.88 Entgegen landläufiger Annahmen

83
Arajärvi, EJLS (2), Vol. 1, 2007, S. 8.
84
Gallant, The Principle of Legality in International and Comparative Criminal Law, 2009,
S. 122.
85
Für Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 72, begannen die Verbrechen gegen
die Menschlichkeit erst mit dieser Resolution, sich in Völkergewohnheitsrecht zu wandeln.
86
Gallant, The Principle of Legality in International and Comparative Criminal Law, 2009,
S. 113; Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 70, 72.
87
Bezüglich dieser Kritik, vgl. Dencker, ZIS (7), 2008, S. 299 ff. Zu dieser Frage beobachtet er,
dass die Praxis der Staaten nur teilweise berücksichtigt wurde. Der Autor zeigt zum Beispiel, dass
nach dem IMG-Statut und dem IMGFO-Statut das Tribunal auf das Verbrechen gegen die
Menschlichkeit jede ihm adäquat erscheinende Strafe anwenden konnte, die Todesstrafe ein-
geschlossen. Etwas Ähnliches geschieht bei den Statuten der Ad-hoc-Tribunale, die schlicht
die Gefängnisstrafe erwähnen, um später für die konkrete Strafe auf die nationalen Regelun-
gen zu verweisen. Auch das IStGH-Statut sieht zeitige und lebenslängliche Gefängnisstrafen
vor, aber keine von diesen korreliert mit Tatbeständen des Besonderen Teils.
88
Ratner/Abrams/Bischoff, Accountability for Human Rights Atrocities in International
Law. Beyond the Nuremberg Legacy, 3.. Aufl., 2009, S. 79 – 80.
Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen 343

dauert die bereits während der Nürnberger Prozesse aufgeworfene Diskussion dar-
über an, ob die Tat des Angriffes auf eine Zivilbevölkerung in systematischer und
generalisierender Weise mit einem bewaffneten Konflikt in Verbindung stehen
muss. Anfänglich forderten die Statuten für die Internationalen Militärgerichtshöfe
von Nürnberg (Art. 6c.) und für den Fernen Osten (Art. 5c.) diese Verknüpfung. Die
Rechtfertigung dieser Verbindung zwischen systematischem Angriff und dem Krieg
fand mit folgenden Worten Raum in der Diskussion des IMG von Nürnberg: „Soweit
die in der Anklage zur Last gelegten und nach dem Beginn des Krieges verübten un-
menschlichen Taten keine Kriegsverbrechen darstellen, wurden all diese in Aus-
übung des Angriffskrieges oder in Verbindung mit dem Angriffskrieg begangen
und sind folglich Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“89,90 Den gleichen Weg in
der Gestaltung des Tatbestandes des Verbrechens gegen die Menschlichkeit hat
man in der Konvention über die Unverjährbarkeit von Kriegsverbrechen und
Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 1b.)91 und dem IStGH-Statut (Art. 5)92
beschritten. Jedoch bleibt diese Voraussetzung in anderen normativen Völkerrechts-
instrumenten unerwähnt, wie zum Beispiel im RStGH-Statut (Art. 3) und im IStGH-
Statut (Art. 7). Man muss hinzufügen, dass der Streit auch während des Kodifikati-
onsprozesses des IStGH-Statuts anhielt, vor allem, weil die Delegationen solch re-
präsentativer Staaten, wie China, Indien, Russland und einiger Länder des Mittleren
Ostens, sich anfangs gegen die Streichung aussprachen.93
Ein zweites Problem, welches im Hinblick auf die gewohnheitsrechtliche Konfi-
guration des Tatbestandes des Verbrechens gegen die Menschlichkeit aufgeworfen
wird, bezieht sich auf die konkreten Merkmale der vom Tatbestand umfassten Ag-
gressionen. Die Statuten der internationalen Militärtribunale für Nürnberg und
den Fernen Osten umfassen als Tatbestandsmerkmale der Aggression Mord, Ausrot-
tung, Versklavung, Deportation und andere unmenschliche Handlungen. Vom
IStGH-Statut werden andere Merkmale mit eingegliedert, wie die schwere Freiheits-
89
Zitat von Arajärvi, EJLS (2), Vol. 1, 2007, S. 7.
90
Es soll trotzdem nicht unerwähnt bleiben, dass bei der konkreten Anwendung des Tat-
bestandes des Verbrechens gegen die Menschlichkeit auf die nationalsozialistischen Täter
diese Verknüpfung nicht so klar erschien und man in manchen Fällen sogar direkt darauf
verzichtete. Hierüber Ratner/Abrams/Bischoff, Accountability for Human Rights Atrocities in
International Law. Beyond the Nuremberg Legacy, 3. Aufl., 2009, S. 52 – 54.
91
Trotz allem weisen Ratner/Abrams/Bischoff, Accountability for Human Rights Atroc-
ities in International Law. Beyond the Nuremberg Legacy, 3. Aufl., 2009, S. 56, darauf hin,
dass während der Erarbeitung der Definition des Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine
Arbeitsgruppe der UN-Menschenrechtskommission die Streichung der Verknüpfung mit der
Existenz eines bewaffneten Konflikts vorschlug.
92
Trotz der Festlegungen dieses Gesetzes signalisierte der IStGH, dass die Forderung eines
bewaffneten Konflikts als Voraussetzung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit über das
völkerrechtliche Gewohnheitsrecht hinausgehen, vgl. IStGH, (Trial Chamber), Kupreskic,
14. 2. 2000, Abs. 577. Dies auch hervorhebend Mettraux, International Crimes and the ad hoc
Tribunals, 2005, S. 148.
93
Ratner/Abrams/Bischoff, Accountability for Human Rights Atrocities in International
Law. Beyond the Nuremberg Legacy, 3. Aufl., 2009, S. 57 – 58.
344 Juan Pablo Montiel

beraubung, die Folter, die Festnahme, die Verfolgung von identifizierbaren Gruppen
aus religiösen, rassistischen usw. Gründen, das zwangsweise Verschwindenlassen
von Personen und das Verbrechen der Apartheid. Ihrerseits sehen das IStGH-Statut
und das RStGH-Statut praktisch die gleichen Modalitäten wie das IStGH-Statut vor,
enthalten aber keine Bezugnahme auf das Verbrechen der Apartheid und des zwangs-
weisen Verschwindenlassens. Das zeigt, dass kein völliges Einverständnis über die
strafrechtlichen Tatbestandsmerkmale des Verbrechens gegen die Menschlichkeit
herrscht.
Aus den Hauptinstrumenten des Völkerstrafrechts und aus der Aktivität der Ge-
richte insgesamt kann gefolgert werden, dass eine internationale Praxis und eine
Überzeugung von der Rechtsverbindlichkeit existiert, welche den gewohnheitsrecht-
lichen Charakter des Verbots der Verbrechen gegen die Menschlichkeit belegt. Es be-
stehen somit in der internationalen Gemeinschaft keine Zweifel, dass dies „schwer-
wiegende Gewalttaten sind, welche die Menschen in beachtlicher Weise in ihrem
Wesentlichsten verletzt: ihrem Leben, ihrer Freiheit, körperlichen Integrität, Ge-
sundheit oder Würde.“94 Ich meine trotzdem, es wäre noch etwas vorschnell anzu-
nehmen, dass ein gewohnheitsrechtlicher Straftatbestand des Verbrechens gegen
die Menschlichkeit besteht. Denn es besteht keine international einheitliche Praxis.
Deshalb ist es sehr schwierig, auf dessen tatsächlichen Anwendungsbereich zu
schließen, weil die Übereinstimmung hinsichtlich der Tatbestandsmerkmale fehlt
und ebenso die Übereinstimmung hinsichtlich der Notwendigkeit des Verknüpftseins
mit einem bewaffneten Konflikt.95
b) Im internationalen case law gibt es bedeutende Versuche, den gewohnheits-
rechtlichen Charakter der Lehre vom Joint Criminal Enterprise (JCE) zu substanti-
ieren.96 Nach der Konstruktion des IStGH stützt sich diese Theorie auf die Idee eines
Personenzusammenschlusses, welcher, ohne notwendigerweise einer administrati-
ven, militärischen, wirtschaftlichen oder politischen Struktur anzugehören, bezüg-
lich der gemeinsamen Begehung eines oder mehrerer Delikte übereinstimmt.97
Dass dies auf Gewohnheitsrecht gestützt wird, kommt im Urteil der Berufungskam-
mer (Appeals Chamber) des IStGH im Fall Tadic am deutlichsten zum Ausdruck.
Dort steht: „the notion of common design (…) is firmly established in customary in-
94
IStGH, (Trial Chamber), Erdemovic, 26. 11. 1996, Abs. 28.
95
Dies ist auch durch den Bundesgerichtshof Spaniens (Tribunal Supremo Español) aner-
kannt, wenngleich er der Frage etwas die Bedeutung abzuerkennen scheint: „Die Definition
dieser Delikte [Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit etc.] hat nicht immer die
notwendige Bestimmtheit erreicht, vor allem in Fragen bezüglich einiger ihrer Modalitäten
und konkret bzgl. des Verbrechens der Aggression, aber der Kern der am meistrelevanten
verbotenen Verhaltensweisen, sofern sie sich auf die Verletzung von individuellen Men-
schenrechten beziehen, ist ausreichend bestimmt worden“, Strafurteil (STS Penal), Nr. 798,
1. 10. 2007.
96
IStGH (Appeals Chamber), Tadic, 15. 07. 1999, Abs. 226.
97
Olásolo, Héctor, Criminal Responsability of political and military leaders for genocide,
crimes against humanity and war crimes. With special reference to the Rome Statute and the
Statute and case law of the ad hoc Tribunals, 2009, S. 33 – 34.
Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen 345

ternational law“.98 Ungeachtet dessen reicht ein Blick auf den von der Rechtspre-
chung der Ad-hoc-Strafgerichte zurückgelegten sinusartigen Weg, um zu sehen,
dass die geforderten Elemente für die Herausbildung einer gewohnheitsrechtlichen
Norm unzureichend erfüllt sind. Es erweist sich tatsächlich als sehr schwierig, von
einer einheitlichen, dauerhaften und verbreiteten bzw. repräsentativen internationa-
len Praxis zu sprechen, welche imstande wäre, das objektive Element zu begründen.99
Auch der Prozess der Beweisführung über die gewohnheitsrechtliche Natur dieser
Zurechnungslehre ist fragwürdig, da die angeführten Elemente für den Nachweis
der Komponenten des Gewohnheitsrechts unzureichend oder ungeeignet sind.100
Zunächst begründen die Unklarheit der Natur und der Reichweite des JCE bereits
manchen Warnruf, dass es an der Einheitlichkeit der internationalen Praxis fehlt.101
Man muss daran erinnern, dass erst im Jahr 2003, ausgehend vom Urteil der Beru-
fungskammer (Appeals Chamber) des IStGH im Fall Milutinovic, die Antwort klarer
schien, ob das JCE eine Lehre der Mittäterschaft oder anderen Naturells ist, und ob
ihr ein Einheitstätersystem zugrundelegt oder ein System, das die Täterschaft von der
Teilnahme unterscheidet. Auf der einen Seite ließ der bis dahin zur Bestätigung der
Befolgung des JCE übliche Verweis auf die Statuten des IMG von Nürnberg und des
Fernen Ostens und auf das Gesetz Nr. 10 des Alliierten Kontrollrates vermuten, dass
es sich um eine monistische Zurechnungslehre handelte.102,103 Auf der anderen Seite
erscheint die Natur des Begriffs des „gemeinsamen Tatplans“ (insoweit Synonym des
JCE) höchst verwirrend, wenn man die Bemerkung im Fall Tadic beachtet. In diesem
Fall scheint das JCE mit der Vorstellung der Mittäterschaft verbunden, obwohl in ge-
wissen Passagen des Urteils dessen Verknüpfung mit der Teilnahme und der akzes-

98
IStGH (Appeals Chamber), Tadic, 15. 07. 1999, Abs. 190.
99
So auch Olásolo, Criminal Responsability of political and military leaders for genocide,
crimes against humanity and war crimes. With special reference to the Rome Statute and the
Statute and case law of the ad hoc Tribunals, 2009, S. 52; Bogdan, „Individual Criminal
Responsibility in the Execution of a ,Joint Criminal Enterprise‘ in the Jurisprudence of the ad
hoc International Tribunal for the Former Yugoslavia“, International Criminal Law Review
(6), 2006, S. 119.
100
Es stellt nur die gewohnheitsrechtliche Natur der verbreiteten Form des JCE in Frage
Barthe, Joint Criminal Enterprise (JCE). Ein (originär) völkerstrafrechtliches Haftungsmodell
mit Zukunft?, 2009.
101
In diesem Sinne Powles, „Joint Criminal Enterprise: Criminal Liability by Prosecutorial
Ingenuity and Judicial Creativity“, Journal of International Criminal Justice (2), 2004, S. 615.
102
Olásolo, Indret (3), 2009, S. 4.
103
Zu diesem Punkt gelangen die Probleme bei der Erörterung des JCE, so dass für Met-
traux, International Crimes and the ad hoc Tribunals, 2005, S. 291 – 293, diese Lehre sich in
der Rechtsprechung des IStGH sehr einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit bei einer
schlichten Zugehörigkeit zu einer kriminellen Organisation annähert. Dies gelte in der Weise,
dass die Teilnahme an einer gemeinsamen Unternehmung sich aus der Art der Mitgliedschaft
an ihr ergeben würde und zudem die sekundären Beteiligten häufig eine unproportionale
Strafe im Vergleich zu deren tatsächlichen Beitrag erhalten, mit der Begründung, dass es sich
um „normale und vorhersehbare Konsequenzen“ der kriminellen Unternehmung handele.
346 Juan Pablo Montiel

sorischen Verantwortlichkeit hervor scheint.104 Die spätere Rechtsprechung des


IStGH verursachte ähnliche Verwirrung. Denn in manchen Fällen wurde das JCE
ausschließlich wie eine Theorie der strafbaren Teilnahme behandelt.105 In anderen
Fällen hingegen wurde das JCE als eine Form der Mittäterschaft oder Teilnahme an-
gesehen, wenn der Beschuldigte die objektiven Elemente der Straftat nicht selbst ver-
wirklicht hatte.106,107 Gerade kürzlich wurde im Fall Milutinovic die Annahme eines
dualistischen Zurechnungssystems im Völkerstrafrecht klarer und somit auch deut-
lich, und dass es sich beim JCE um eine Form der Mittäterschaft handelt.108 Obwohl
im Nachhinein der IStGH wie auch der RStGH diesen Kriterien folgte, schließt dieser
„Zick-Zack-Kurs“ der Rechtsprechung es gewiss aus, von einer einheitlichen inter-
nationalen Praxis zu sprechen, welche das gewohnheitsrechtliche Fundament des
JCE tragen würde.
Es ist auch ausgeschlossen, mit Bezug auf das JCE von einer verbreiteten oder
repräsentativen Praxis zu sprechen, welche durch die völkerrechtlichen Subjekte be-
folgt würde. Obwohl im Fall Tadic die Berufungskammer (Appeals Chamber) des
IStGH argumentiert, dass die Gesetzgebung zahlreicher Staaten, genauso wie die In-
ternationale Konvention zur Verhinderung von terroristischen Bombenanschlägen
und das IStGH-Statut109 den gewohnheitsrechtlichen Charakter dieser Lehre stützen,
ist es nicht möglich festzustellen, dass die Mehrheit der Mitglieder der internationa-
len Gemeinschaft oder deren wichtigste Repräsentanten diese Praxis übernommen
hätten. Schenkt man der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und dem Diskurs in
der Lehre von Ländern wie Australien, Kanada, Südafrika, England, Wales, der
Schweiz, Deutschland, Spanien, Argentinien, Kolumbien und den Vereinigten Staa-
ten Beachtung, kann man eine Befolgung von materiell-objektiven Kriterien ausma-

104
IStGH (Appeals Chamber), Tadic, 15. 07. 1999, Abs. 192, 220.
105
IStGH (Trial Chamber), Brdanin (Entscheidung über die Haftverschonung gegen Auf-
lagen von Momir Tadic), 28. 3. 2001, Abs. 43.
106
IStGH, (Trial Chamber), Kvocka, 2. 11. 2001, Abs. 249, 273.
107
Hinsichtlich dieser konfusen Rechtsprechung des IStGH seit dem Fall Tadic über das
Wesen des JCE, vgl. Olásolo, Héctor, Criminal Responsability of political and military leaders
for genocide, crimes against humanity and war crimes. With special reference to the Rome
Statute and the Statute and case law of the ad hoc Tribunals, 2009, S. 42 ff.
108
IStGH (Appeals Chamber), Ojdanic, Abs. 20, 31. Seitdem hielt der IStGH an diesen
Kriterien in späteren Fällen fest, vgl. Olásolo, Héctor, Criminal Responsability of political and
military leaders for genocide, crimes against humanity and war crimes. With special reference
to the Rome Statute and the Statute and case law of the ad hoc Tribunals, 2009, S. 46 – 47;
ders., Indret (3), 2009, S. 4.
109
Man sagt, dass die Berufungskammer (Appeals Chamber) des IStGH diese rechtlichen
Instrumente fehlinterpretiert, Olásolo, Criminal Responsability of political and military lea-
ders for genocide, crimes against humanity and war crimes. With special reference to the
Rome Statute and the Statute and case law of the ad hoc Tribunals, 2009, S. 54. Im gleichen
Sinne, weist Ambos, ¿Cómo imputar a los superiores crímenes de los subordinados en el
Derecho penal internacional? Fundamentos y formas, 2008, S. 163 – 164, darauf hin, dass in
keiner Weise irgendwelche Formen des JCE (im Speziellen die Formen II und III) unter den
Wortlaut des Art. 25 IStGH-Statut subsumiert werden können.
Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen 347

chen, die näher an der Tatherrschaftslehre als an der des JCE stehen mit klarem sub-
jektiven Einschlag.110 Dieselbe Ansicht ist sogar im Fall Katanga vor dem IGH be-
tont worden.111 Man sieht daran, dass keine allgemeine Befolgung der Zurechnungs-
regeln des JCE existiert.
Die Praxis der internationalen Strafgerichte ist auch weit davon entfernt dauerhaft
zu sein. Wie ich bereits angedeutet habe, unterlagen die Regeln des JCE in der Recht-
sprechung unzähligen Fluktuationen, die erst kürzlich im Jahr 2003 im Fall Miluti-
novic aufzuhören schienen. Obwohl die in diesem Urteil festgelegten Kriterien da-
nach durch den IStGH sowie den RStGH mit einer gewissen Dauerhaftigkeit fortge-
führt wurden, darf man nicht übersehen, dass diese Praxis durch die vom IGH ange-
wandten Kriterien durchbrochen wird. In der Bestätigung der Anklage (Confirmation
of Charges) in den Fällen Lubanga und Katanga wird nämlich die Tatherrschaftsleh-
re zu Grunde gelegt, und man betrachtet das JCE als Form akzessorischer Verant-
wortlichkeit und nicht als Form der Mittäterschaft.112 Die zeitliche Gültigkeit des
JCE als Mittäterschaft währte in der völkerrechtlichen Rechtsprechung also nur
vier Jahre, da schon im Jahr 2007 der IGH das vom IStGH eingeführte subjektive
Kriterium zur Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme ausdrücklich zu-
rückwies.
Wie man sieht, zerstreut sich die überzeugte Annahme der Berufungskammer
(Appeals Chamber) des IStGH, wonach das JCE „fest im Völkergewohnheitsrecht
etabliert“ sei, obwohl nicht ausdrücklich als Konsequenz des Fehlens des objektiven
Elements. Diese Annahme erweist sich als wenig seriös, wenn man nur detailliert in
den Argumenten und Beweisen dieses Tribunals zur Bestätigung der internationalen
Praxis ermittelt. Es ist nicht überraschend, dass die Rechtsprechung trotz der Schwä-
chen der Argumentation zur Begründung der gewohnheitsrechtlichen Natur des JCE
im Fall Tadic später im Fall Milutinovic und in den folgenden Fällen, in denen die-
selbe Überzeugung vertreten wurde, auf die Begründung im Fall Tadic verwies. Aus
diesem Grunde bleibt – worauf Olásolo zutreffend hinweist – zu sagen, dass man seit
Tadic in der Rechtsprechung des IStGH und des RStGH die Gründe, welche die ge-
wohnheitsrechtliche Basis dieser Lehre stützen würden, nicht mehr überprüfte. Man
beschränkte sich vielmehr auf eine Weiterentwicklung der Charakteristika der drei
Formen des JCE.113 Ein gutes Beispiel findet man im Fall Milutinovic, in welchem
die Berufungskammer (Appeals Chamber) des IStGH folgendes ausführt:

110
Olásolo, Criminal Responsability of political and military leaders for genocide, crimes
against humanity and war crimes. With special reference to the Rome Statute and the Statute
and case law of the ad hoc Tribunals, 2009, S. 61 – 62.
111
IGH, Katanga (Bestätigung der Anklage), 30. 9. 2008, Abs. 488, 485.
112
IGH, Lubanga (Bestätigung der Anklage), 27. 1. 2007, Abs. 338 – 337; IGH, Katanga
(Bestätigung der Anklage), 30. 9. 2008, Abs. 483.
113
Olásolo, Criminal Responsability of political and military leaders for genocide, crimes
against humanity and war crimes. With special reference to the Rome Statute and the Statute
and case law of the ad hoc Tribunals, 2009, S. 49 – 50.
348 Juan Pablo Montiel

„The Appeals Chamber does not propose to revisit its findings in Tadic concerning the cus-
tomary status of this form of liability. It is satisfied that the state practice and opinion iuris
reviewed in that decision was sufficient to permit the conclusion that such a norm existed
under customary international law in 1992 when Tadic committed the crimes for which he
had been charged and for which he was eventually convicted.“

Eine der größten Schwächen der Beweisführung und Argumentation zur gewohn-
heitsrechtlichen Natur des JCE liegt im – als eine internationale Praxis zitierten –
case law. Die Berufungskammer im Fall Tadic versucht die gewohnheitsrechtliche
Natur der dritten Form des JCE mit Verweisen auf die Rechtsprechung des Britischen
Militärgerichtshofs (Fall Essen Lynching), des US-amerikanischen Militärgerichts-
hofs (Fall Borkum Island) und des Kassationsgerichtshofs Italiens (Fälle D’Ottavio,
Aratano, Tossani, Ferrida etc.) zu begründen.114 Für den IStGH wiesen diese Präze-
denzfälle auf eine Rechtsprechungspraxis hin, welche die Zurechnung der strafrecht-
lichen Verantwortlichkeit für jene Delikte ermögliche, die vorhersehbar waren, ob-
wohl sie außerhalb des üblichen gemeinsamen Vorhabens der Mitglieder der krimi-
nellen Unternehmung stehen.115
Der erste hiergegen mögliche Einwand ist – erneut nach der Ansicht Olásolos116 –,
dass diese Rechtsprechungsverweise in Wirklichkeit so nur zur Rechtfertigung der
Erstreckung der Strafe auf Fälle des dolus eventualis dienen. Sie dienen dagegen
nicht dazu zu zeigen, dass diese Form des JCE Gewohnheitsrecht ist. Nach der An-
sicht Powles erweist sich diese Rechtsprechung darüber hinaus als unfähig, den ge-
wohnheitsrechtlichen Charakter der dritten Form des JCE in klarer und präziser Form
zu substantiieren. So zeigt er zum Beispiel, dass der Fall Essen Lynching nichts dar-
über sagt, ob derjenige verantwortlich sein muss, der eine Tötung ohne Tötungsvor-
satz begeht. Man habe nur festgelegt, dass strafrechtlich sowohl derjenige verant-
wortlich ist, der vorsätzlich getötet hat, als auch derjenige, der dies fahrlässig
getan habe.117 Letzten Endes ist für Powles unter den vielen zitierten Fällen der
Fall D’Ottavio der einzige italienische Präzedenzfall, welcher die dritte Kategorie
des JCE verbürgt.118
c) Eines der Grundprinzipien des Strafrechts war seit jeher, dass das Verstreichen
der Zeit hilft, die Erschütterungen der Straftat aus dem sozialen Gedächtnis zu tilgen.
Folglich nimmt auch die präventive Notwendigkeit von Strafe ab.119 Daher ist die
114
IStGH (Appeals Chamber), Tadic, Abs. 205 ff.
115
IStGH (Appeals Chamber), Tadic, Abs. 204.
116
Olásolo, Criminal Responsability of political and military leaders for genocide, crimes
against humanity and war crimes. With special reference to the Rome Statute and the Statute
and case law of the ad hoc Tribunals, S. 56 – 57.
117
Powles, „Joint Criminal Enterprise: Criminal Liability by Prosecutorial Ingenuity and
Judicial Creativity“, Journal of International Criminal Justice (2), 2004, S. 616. Gleiche Pro-
bleme bestehen im Bezug auf den Fall Borkum Island.
118
Powles, „Joint Criminal Enterprise: Criminal Liability by Prosecutorial Ingenuity and
Judicial Creativity“, Journal of International Criminal Justice (2), 2004, S. 616 – 617.
119
Mir Puig, Derecho penal. Parte general, 8. Aufl., 2008, L. 33, Rn. 24.
Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen 349

Verjährung von Straftaten die erklärte Regel in den strafrechtlichen Ordnungen.


Trotzdem beginnen allmählich einige wenige Gesetzgebungen eine Ausnahme
von diesem Prinzip zu akzeptieren, also die Unverjährbarkeit von völkerrechtlichen
Verbrechen anzuerkennen. So erklärt zum Beispiel Art. 131.4 des spanischen Straf-
gesetzbuches das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, den Völkermord und
Kriegsverbrechen für unverjährbar. Genauso ist die Unverjährbarkeit der völker-
rechtlichen Verbrechen unter anderem im schweizer Strafgesetzbuch (Art. 101)
und im deutschen VStGB (§ 5) gestaltet. Diese Tendenz ist die Antwort auf eine
in den sechziger Jahren initiierte internationale Entwicklung, in welcher die Verjäh-
rung sich in ein Instrument zu verwandeln schien, welches die Straflosigkeit gewisser
Verbrechen des nationalsozialistischen Krieges ermöglichte.120 Doch obwohl das
Thema seit diesem Zeitpunkt eine bedeutende Stellung in der Lehre eingenommen
hat, ist es m. E. aktuell weder möglich, von der Existenz einer gewohnheitsrechtli-
chen Regel zu sprechen, welche die Unverjährbarkeit der völkerrechtlichen Verbre-
chen begründen würde, noch viel weniger, dass dies eine Norm des ius cogens sei.121
Auf internationaler Ebene hat es mehrere die Thematik betreffende Instrumente
gegeben. Außer der Konvention von 1968 über die Unverjährbarkeit von Kriegsver-
brechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der Europäischen Konventi-
on von 1974 und dem IStGH-Statut (Art. 29) hatte die Generalversammlung der
UNO bereits zuvor verschiedene Resolutionen angenommen, in welchen das Prinzip
der Unverjährbarkeit völkerrechtlicher Verbrechen entwickelt wurde.122 Diese völ-
kerrechtlichen Anstrengungen, die Straflosigkeit derjenigen zu verhindern, welche
in schwerwiegender Weise Menschenrechte verletzt haben, reichen indes nicht
aus, um auf eine gewohnheitsrechtliche Norm zu schließen, kraft deren die Kriegs-
verbrechen, das Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Völkermord für alle
Zeiten verfolgbar sind. Es ist darauf aufmerksam zu machen, dass nach Verstreichen
von mehr als vier Jahrzehnten die Konvention von 1968 nur durch weniger als 50
Staaten ratifiziert wurde, während das Europäische Übereinkommen über die Unver-
jährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen bis
heute gerade einmal sieben Ratifikationen zählt.123
Bedenkt man, dass die Anzahl und der Umfang der ratifizierenden Länder ein fun-
damentales Kriterium des Repräsentativitätsnachweises für die internationale Praxis
sind,124 muss man feststellen, dass die spärliche Zustimmung der internationalen Ge-
120
So Corte Suprema de Justicia de la Nación Argentina, 24. 8. 2004 (Votum des Bericht-
erstatters [magistrado ponente]: Zaffaroni/Highton), para 27; Schabas, in: Triffterer (Hrsg.),
Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court, 2. Aufl., Art. 29, Rn. 3.
121
Trotzdem verteidigt Letzteres Bassiouni, Introduction to the International Criminal
Law, 2003, S. 168 – 169.
122
Schabas, in: Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International
Criminal Court, 2. Aufl., Art. 29, Rn. 2.
123
Ratner/Abrams/Bischoff, Accountability for Human Rights Atrocities in International
Law. Beyond the Nuremberg Legacy, 3. Aufl., 2009, S. 159.
124
Meron, The Humanization of International Law, 2006, S. 381 – 382.
350 Juan Pablo Montiel

meinschaft den gewohnheitsrechtlichen Charakter der Unverjährbarkeit der völker-


rechtlichen Verbrechen nicht belegt.125 Nach Ratner/Abrams/Bischoff126 ist es nicht
möglich, einer solche Delikte für unverjährbar erklärenden Vorschrift gewohnheits-
rechtlichen Charakters zuzusprechen. Im besten Falle bestünde die Möglichkeit, aus
einigen nationalen Gesetzgebungen und den Verhandlungen des Vertrages von 1968
herzuleiten,127 dass eine gewohnheitsrechtliche Ermächtigung bestehe, diese schwe-
ren Straftaten für unverjährbar zu erklären. Das heißt, dass ein Staat allenfalls sein
internes Regelwerk modifizieren und diese Unverjährbarkeitsregel aufnehmen könn-
te, ohne damit in der Völkerrechtsordnung gültige, fundamentale Prinzipien und Ga-
rantien zu verletzen.
Nach meiner Meinung führt dies alles dazu, dass die Schlussfolgerung nicht mög-
lich ist, wonach momentan in der internationalen Gemeinschaft eine ungeschriebene
Norm gilt, welche alle Staaten verpflichtet, die völkerrechtlichen Verbrechen als un-
verjährbar zu erachten.128 Deswegen ist die Schlussfolgerung der Corte Suprema de
Justica de la Nación Argentina überraschend, wenn sie im bekannten Fall Arancibia
Clavel nicht nur den gewohnheitsrechtlichen Charakter der Unverjährbarkeit des
Verbrechens gegen die Menschlichkeit vertritt, sondern zudem annimmt, dass
diese ungeschriebene Regel in der internationalen Gemeinschaft im Vorfeld der Kon-
vention der Unverjährbarkeit von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit gültig gewesen sei.129 Sogar die zum Nachweis verwendeten Argu-
mente, wie das Land an dieser Praxis mitgewirkt hat, sind äußerst schwach: Man be-
zieht sich auf die Entscheidung der Fallsammlung 318:2130. In dieser wird bestätigt,
dass die argentinische Enthaltung zum Abstimmungszeitpunkt der Resolution 3074
(XXVIII) über „Grundsätze für die internationale Zusammenarbeit zur Ermittlung,
Festnahme, Auslieferung und Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen
und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben“, zusammen
mit dem Fehlen einer entgegengesetzten nationalen Norm zu besagter Praxis zur Bil-
125
Schabas, in: Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International
Criminal Court, 2. Aufl., Art. 29, Rn. 3.
126
Ratner/Abrams/Bischoff, Accountability for Human Rights Atrocities in International
Law. Beyond the Nuremberg Legacy, 3. Aufl., 2009, S. 160.
127
Sogar, Schabas, in: Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the Inter-
national Criminal Court, 2. Aufl., Art. 29, Rn. 4, zeigt, dass in den Reihen der UN-General-
versammlung die bevorzugte Meinung zur Unverjährbarkeit nicht so eindeutig war, vor allem,
wenn man einen Bericht dieses Organs von 1966 betrachtet, in welchem Folgendes gesagt
wurde: „Some delegations suggested that, instead of establishing a rigid rule, the Prosecutor or
the President should be given flexible power to make a determination on a case-by-case, taking
into account the right of the accused to due process. It was suggested that an accused should be
allowed to apply to the Court to terminate the proceedings on the basis of fairness, if there was
lack of evidence owing to the passege of many years.“
128
Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 558, meint, dass es sehr
zweifelhaft sei, von einer gewohnheitsrechtlichen Regel zu sprechen, welche die Unverjähr-
barkeit der Delikte stütze.
129
Corte Suprema de Justicia de la Nación Argentina, 24. 8. 2004 (Votum des Berichter-
statters [magistrado ponente]: Zaffaroni/Highton), Abs. 32.
Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen 351

dung des Gewohnheitsrechts in der Materie der Unverjährbarkeit beigetragen habe.


Das ist wirklich kurios, denn die Tatsache dass sich Argentinien ausdrücklich mit
dem Argument gegen Art. 1 dieses Vertrages ausgesprochen hatte, dass dessen Inhalt
die Unverjährbarkeit der Delikte mit sich brächte, ist vielmehr geeignet, die Zweifel
an der Teilhabe an dieser Praxis zu bestätigen.130

V. Kann das Gewohnheitsrecht Quelle des Völkerstrafrechts sein?


Vermittlung zwischen der „Hysterie der Strafrechtslehre“
und dem „Imperialismus der Völkerrechtslehre“
Aktuell ist die einleitende Frage dieses Abschnitts Gegenstand einer intensiven
Diskussion, welche Strafrechtslehre und Völkerrechtslehre entzweit. Beide Seiten
sind nicht zu Zugeständnissen bereit. Auf der einen Seite scheint es vom Standpunkt
des nationalen Strafrechts aus nicht tolerabel, eines seiner Grundprinzipien – das Ge-
setzlichkeitsprinzip – zu demontieren, indem eine auf ungeschriebenen Rechtsnor-
men basierende Bestrafung zugelassen wird. Auf der anderen Seite ist die Aufgabe
einer der Hauptquellen für die Entwicklung des Völkerstrafrechts vom Standpunkt
der Völkerrechtsdogmatiker aus inakzeptabel. Aus diesem Grund scheint es wahr-
haft unmöglich, eine versöhnende Antwort auf die Frage zu geben, ob das Gewohn-
heitsrecht als Quelle des Völkerstrafrechts anerkannt werden kann.
Es ist notwendig zu betonen, dass – obwohl die sich hier prima facie präsentie-
rende Frage mit der Gestaltung des Quellensystems des Völkerstrafrechts zusam-
menhängt – im Grunde der wahre Streitpunkt darin besteht, ob die „neue Welt des
Völkerstrafrechts“ durch das Strafrecht131 oder durch das Völkerrecht132 koloniali-
siert ist. Von daher darf für die Strafrechtslehre das Quellensystem des Völkerstraf-
rechts nur aus geschriebenem Recht (den Verträgen) zusammengesetzt sein.133 Für

130
Corte Suprema de Justicia de la Nación Argentina, 24. 8. 2004 (Votum des Berichter-
statters [magistrado ponente]: Zaffaroni/Highton), Abs. 90 – 91.
131
M.E. vertritt diese Ansicht u. a. Pastor, El poder penal internacional. Una aproximación
jurídica crítica a los fundamentos del Estatuto de Roma, 2006, S. 196 ff.; Malarino, La cara
represiva de la reciente jurisprudencia argentina sobre graves violaciones de los derechos
humanos. Una crítica de la sentencia de la Corte Suprema de Justicia de la Nación de 14 de
junio de 2005 en el caso Simón, Iura Gentium (1), 2009 (http://www.juragentium.unifi.it).
132
Meiner Ansicht nach lässt sich diese Meinung speziell im Werk von Antonio Cassese
erkennen, vgl. Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 15 ff.
133
Verhoeven, „Article 21 of the Rome Statute and the ambiguities of applicable law“, in:
Dekker, Ige/Hey, Ellen (Hrsg.), Netherlands Yearbook of International Law N8 33, 2002,
S. 22: „Die Verpflichtungen des Staates im Völkerrecht befriedigen die Voraussetzungen des
Strafrechts, (…) welche sich im bekannten Spruch nullum crimen sine lege, nulla poena sine
lege, ausgedrückt finden, nicht ausreichend. Eine solche interstaatliche Praxis ist eindeutig
unzureichend, um die elementaren Rechte der Individuen, an die der Spruch adressiert ist, zu
beachten. Wie kann zum Beispiel eine Einzelperson in befriedigender Weise von der Existenz
oder dem exakten Inhalt einer völkerrechtlichen Gewohnheitsregel oder einem allgemeinen
352 Juan Pablo Montiel

die Völkerrechtsdogmatiker muss jenes durch die klassischen Quellen des Völker-
rechts gestaltet bleiben.134 In gewissem Maße erklärt dieser Hintergrund, dass als
Antwort auf diese Frage versucht wurde, die Regeln jeder dieser Rechtszweige
ohne irgendeine Modifikation zu übertragen, ohne auf die Besonderheiten des Völ-
kerstrafrechts zu achten. Wenn man hierzu die beachtlichen Differenzen beider Sei-
ten über die Art und Weise der Inangriffnahme der Völkerrechtskriminalität sum-
miert,135 tendiert die Diskussion dazu, sich zu polarisieren. Dies macht es praktisch
unmöglich, eine Antwort auf die Frage des Gewohnheitsrechts im Völkerstrafrecht
zu geben. Daher scheint sich die Debatte als Kampf des Völkerrechts gegen die „Hys-
terie der Strafrechtslehre“ oder als Strafrechtsbremse des „Imperialismus der Völ-
kerrechtslehre“ selbst zu karikieren.
In erster Linie scheinen mir die Besonderheiten des Völkerstrafrechts dagegen zu
sprechen, sein theoretisches Terrain komplett durch das Strafrecht oder allein durch
das Völkerrecht einnehmen zu lassen. Die Regeln und Prinzipien beider Ordnungen
sind meiner Ansicht nach ungenügend, um die Probleme zu lösen, mit welchen das
Völkerstrafrecht zu tun hat.
Man berücksichtigt häufig nicht genügend, dass Völkerrechtsverbrechen im Ver-
gleich mit den üblichen Materien des nationalen Strafrechts ganz andere Charakte-
ristika aufweisen. Genauer gesagt sind üblicherweise die Täter dieser Verbrechen
diejenigen, die selbst die Machthaber der die Strafgesetze statuierenden Staaten
sind. Indem sie sich dieses Privileg zunutze machen, verschaffen sie sich Straffreiheit
durch Anpassen der Gesetze oder durch Lahmlegen des Justizsystems. Wir – die üb-
licherweise aus der Sicht des nationalen Strafrechts schreiben – dürfen außerdem
nicht übersehen, dass sich die Völkerrechtsordnung historisch zu einem bedeutenden
Teil aus Gewohnheitsrecht entwickelt hat.
Doch auch die Regeln des Völkerrechts lösen diese Probleme nicht, sondern füh-
ren zu eigenen Schwierigkeiten bei der Ausübung völkerrechtlicher Strafgewalt.
Diese ergeben sich hauptsächlich daraus, dass das klassische Völkerrecht im Wesent-
lichen eine Rechtsordnung ist, welche die Beziehungen zwischen Staaten und die
Aufteilung ihrer Kompetenzen sowie die Strukturierung und die Funktionsweise
der völkerrechtlichen Organe regelt.136 Obwohl man in den letzten Dekaden auch na-

Rechtsprinzip unterrichtet werden, welche sogar die Staaten selbst weitgehend ignorieren und
welche weit entfernt davon sind, für die Individuen ,klare‘ und ,verständliche‘ Normen zu
schaffen, welche den Voraussetzungen von nullum crimen, nulla poena genügen?“.
134
U.a. Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 25 ff.
135
Ein gutes Beispiel hierfür sind die angewandten Praktiken anlässlich von Strafen gegen
Menschenrechtsbrecher: Während die Strafrechtslehre Fundamentalmaximen ihrer Disziplin
verkannt sieht (Strafklageverbrauch, Rückwirkungsverbot etc.), ist dies von Seiten der Völ-
kerrechtslehre ein wahrer Triumph, berücksichtigt man, dass hiermit letztlich eine Gattung der
„universellen Gerechtigkeit“ erreicht wird.
136
Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y organizaciones internacio-
nales, 5. Aufl., 1994, S. 209. In diesem Sinne verdeutlicht Diez de Velasco, Instituciones de
Derecho internacional público, 14. Aufl., 2004, S. 274 – 275, dass nach aktuellem Entwick-
Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen 353

türlichen oder juristischen Personen im völkerrechtlichen Umfeld zumindest in An-


sätzen aktive und passive Subjektivität zuerkannt hat, bleibt diese überwiegend un-
sicher – vor allem wenn man die mangelnde Legitimation dieser Subjekte bedenkt,
vor der völkerrechtlichen Gerichtsbarkeit Gehör zu finden. Deshalb genügt dies
nicht, um das originäre Selbstverständnis des Völkerrechts für das Strafrecht ausrei-
chend zu ändern. Pastor Ridruejo137 bemerkt zutreffend, „trotz der Transformatio-
nen, welche [die internationale Gemeinschaft] in den letzten Dekaden ausprobiert
hat, bleibt dem Grunde nach eine Struktur des Nebeneinanders souveräner Staaten,
in welchen diese ausschließlich die Subjekte und die entscheidenden Protagonisten
sind.“
Wir sehen also, dass weder das Strafrecht noch das Völkerrecht mit geeigneten
Werkzeugen ausgestattet ist, um den Bedürfnissen des Völkerstrafrechts gerecht
zu werden. In diesem Sinne ist das Völkerstrafrecht weder ein internationalisiertes
Nationalstrafrecht noch ein strafendes Völkerrecht. In Wirklichkeit stehen wir einer
rechtlichen Ordnung mit speziellen Charakteristika gegenüber, welche Elemente
beider Ordnungen übernehmen muss. Gleichzeitig konfiguriert es dabei seine eige-
nen Regeln.138 Aus diesem Grund – um hier nochmals das zentrale Thema dieses Bei-
trages aufzugreifen – sollte das Quellensystem des Völkerstrafrechts weder durch die
Nationalstrafrechtsregeln bedingt werden, welche ausschließlich geschriebene Quel-
len zulassen, noch durch die Anordnung des Art. 38 IGH-Statut.
Da das Gewohnheitsrecht seit jeher eine fundamentale Rolle im Völkerrecht ein-
genommen hat, wäre es nicht sachgerecht, das Quellensystem des Völkerstrafrechts
auf die geschriebenen Normen zu reduzieren und folglich als ausschließliche Quelle
die völkerrechtlichen Verträge heranzuziehen. M.E. bedeutet dies, dass das Gewohn-
heitsrecht zusammen mit den Verträgen das Quellensystem bilden kann. Tatsächlich
haben die in den vorangehenden Abschnitten aufgezeigten Probleme weniger mit
dessen Charakter als Quelle an sich zu tun, als vielmehr mit dem Versuch, Normen
als gewohnheitsrechtlich „durchzuschleusen“, welche in Wirklichkeit nicht verbind-
lich sind. Oder aber die Probleme liegen in einer sehr defizitären Beweisführung zu
den Voraussetzungen des Gewohnheitsrechts. In dem Maße, mit der man rigorose
Maßstäbe an die Annahme einer gewohnheitsrechtlichen Norm anlegt, kann nach
meiner Meinung die Unsicherheit dieser Quelle auf ein zu tolerierendes Maß redu-
ziert werden, in welchem das Willkürverbot gewährleistet ist.

lungsstand der internationalen Gesellschaft und internationalen Ordnung das Individuum nicht
als Subjekt des Völkerrechts anerkannt werden kann, wenngleich er anmerkt, dass derzeit eine
Tendenz dazu entsteht, eine gewisse rechtliche Persönlichkeit auf internationaler Ebene an-
zuerkennen, was gleichzeitig Gegenstand starker Restriktionen ist und sich speziell auf deren
Aktivlegitimation vor internationalen rechtlichen Organen bezieht.
137
Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y organizaciones internacio-
nales, 5. Aufl., 1994, S. 214.
138
Nahe dieser Ansicht Ambos, „Derechos humanos y Derecho penal internacional“, in:
ders., Temas de Derecho penal internacional y europeo, 2006, S. 19 – 20.
354 Juan Pablo Montiel

Diese Erweiterung der Basis von rechtlich anwendbaren Bestandteilen des Völ-
kerstrafrechts impliziert nach meiner Ansicht nicht, dass die Verträge und das Ge-
wohnheitsrecht denselben Rang innerhalb der Quellen hätten. Ganz im Gegenteil
sollten diejenigen privilegiert werden, welche neben einer breiten Unterstützung
der internationalen Gemeinschaft besser dazu geeignet sind, rechtliche Gewissheit
und eine sichere Begrenzung der Ausübung judikativer Macht beizusteuern. Ohne
jeden Zweifel ist die Quelle des Völkerstrafrechts, welche diese Voraussetzungen
schlechthin erfüllt, der Vertrag. Dies rechtfertigt es, dass er dem völkerrechtlichen
Gewohnheitsrecht vorgeht. Danach hat das Gewohnheitsrecht eine subsidiäre Funk-
tion. Es sollte also nur in jenen Fällen angewandt werden, in welchen die konventio-
nellen oder geschriebenen Normen Lücken aufweisen. Dieses Verständnis steht mei-
ner Meinung nach im Einklang mit dem im IStGH-Statut festgelegten Quellenkon-
zept, da dieses in Art. 21.1 festlegt, dass der Gerichtshof an erster Stelle die Normen
des Statuts und subsidiär das ungeschriebene Recht anwenden soll.139

VI. Die Zukunft des Gewohnheitsrechts


als Quelle des Völkerstrafrechts
(oder lediglich Wunschdenken?)
Wenn man den Entwicklungsprozess des Völkerstrafrechts betrachtet, muss nicht
nur darauf hingewiesen werden, dass das Gewohnheitsrecht noch als anwendbarer
rechtlicher Bestandteil gesehen werden kann, sondern auch, dass seine Rolle im
Quellensystem dazu berufen ist, in dem Maße, in welchem sich die Völkerrechtsord-
nung verändert, zu variieren. Folglich ist es nicht angemessen, das aktuelle Quellen-
system des Völkerrechts als etwas Fixes und bereits Gefestigtes aufzufassen. Im Ge-
genteil ist zu erwarten, dass seine Struktur sich verändert. In diesem Sinne ist die Ak-
zeptanz des Gewohnheitsrechts im internationalen Strafsystem nach meiner Ansicht
dazu berufen, in den aufeinander folgenden Entwicklungsstufen dieses Rechtszwei-
ges zu variieren. In Anbetracht dieser Situation ist die Abgabe einer Prognose über
die zukünftige Rolle dieses ungeschriebenen Rechts notwendig. Ich glaube, eine der
möglichen Herangehensweisen an diese Prognose ist, auf die Beziehung zwischen
geschriebenem und ungeschriebenem Recht im Allgemeinen einzugehen und sich
im Einzelnen der Beziehung zwischen den Verträgen und dem Gewohnheitsrecht zu-
zuwenden.
Nach der Völkerrechtslehre gibt es Auswirkungen der Verträge auf das Gewohn-
heitsrecht in dreierlei Weise: deklarative, kristallisierende und konstitutive oder ge-
139
Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht. Strafanwendungsrecht. Europäi-
sches Straf- und Strafverfahrensrecht. Völkerstrafrecht, 4. Aufl., 2010, § 15, Rn. 8; Bitti, in:
Stahn/Sluiter (Hrsg.), The Emerging Practice of the International Criminal Court, 2008,
S. 287 – 288; Ambos, La parte general del Derecho penal internacional. Bases para una ela-
boración dogmática, 2006, S. 38; Akande, in: Cassese (Hrsg.), The Oxford Companion to
International Criminal Justice, 2009, S. 45.
Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen 355

nerierende Wirkungen. Sie haben deklarative Wirkungen, da die Gesetzgebung ein


Gewohnheitsrecht aufgreift und dazu beiträgt, der Praxis Bestimmtheit zu geben;
herauskristallisierend, wenn man eine gewohnheitsrechtliche Norm in Entstehung
widerspiegelt; und letztlich konstitutiv oder generierend, da gewisse Regeln eines
Vertrages sich in zu befolgende Verhaltensmodelle für alle Völkerrechtssubjekte ver-
wandeln können.140 Im nationalen Strafrecht werden die Gesetzgebungsauswirkun-
gen auf das ungeschriebene Recht dagegen anders verstanden. Danach hat das Gesetz
auf das Gewohnheitsrecht eine aufhebende Wirkung. Obwohl man sagen kann, dass
mit der Festigung der Gesetzgebungsprozesse die Gesetzgebung dazu gelangte, ge-
wohnheitsrechtliche Regeln widerzuspiegeln, hat es mit seiner Positivierung einen
Schlusspunkt hinter dessen Gültigkeit gesetzt. Es wäre in gewissem Maße treffend
zu sagen, dass sein Naturell mutiert ist.141 Aus diesem Grunde hören im Strafrecht
die gewohnheitsrechtlichen Normen auf, solchen zu entsprechen, und gehen dazu
über, als im Gesetz wiedergegebene, geschriebene Normen zu fungieren. Insoweit
bleiben nur die positivrechtlichen Normen. Demgegenüber – und der im vorherigen
Abschnitt vorgeschlagenen Methode folgend – besteht die beste Erörterung des The-
mas im Völkerstrafrecht nicht darin, ohne Adaptionen die anerkannten Wirkungen
auf das Völkerrecht oder auf das nationale Strafrecht zu übertragen. Vielmehr ist
eine Untersuchung über die einzelnen Bestimmungen angebracht, in welcher sich
die Interaktion des Gewohnheitsrechts mit den Verträgen im Umfeld der völkerrecht-
lichen Strafgewalt zeigt.
Die Rechtsprechung der völkerrechtlichen Gerichte und die Betrachtung der üb-
lichen Staatenpraxis aus historischer Perspektive lassen die Schlussfolgerung zu,
dass eine klare Tendenz zu einer größeren Bedeutung der Verträge im Völkerstraf-
recht besteht. Wenngleich diese rechtlichen Instrumente die Ersetzung des Gewohn-
heitsrechts nicht komplett erreichen, ist sicher, dass die Positivierung vieler gewohn-
heitsrechtlicher Regeln dazu führt, dass die Verträge Teile des Terrains ungeschrie-
benen Rechts einzugliedern beginnen. Der durch das völkerrechtliche Gewohnheits-
recht seit den Verfahren von Nürnberg bis hin zum IStGH-Statut eingeschlagene Weg
zeugt m. E. von dieser Annäherung. Berücksichtigt man das Embryonalstadium des
Völkerstrafrechts während der Aburteilung der nationalistischen Täter, ist verständ-
lich, dass man sich mit besonderer Hingabe dem völkerrechtlichen Gewohnheits-
recht angenommen hat, besonders um die Bestrafung des Verbrechens gegen die
Menschlichkeit zu begründen. Für einen großen Teil der Lehre142 hatte das Gewohn-
140
Diesbezüglich, vgl. Jiménez de Aréchaga, International Law in the Past Third of a
Century, 1978, S. 14 ff.; Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y orga-
nizaciones internacionales, 5. Aufl., 1994, S. 97 – 100; Diez de Velasco, Instituciones de
Derecho internacional público, 14. Aufl., 2004, S. 129 ff.
141
Es ist trotzdem möglich, einige Ausnahmen dieser Regel anzuerkennen. Zum Beispiel
vertratt in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts v. Hippel, Deutsches Strafrecht.
Allgemeine Lehre, Bd. 2 (Das Verbrechen), 1930, S. 31 – 32, dass das Strafrecht als einzige
Quellen das Gesetz und das Gewohnheitsrecht habe und sprach beiden die gleiche Gültigkeit
zu.
142
Meron, The Humanization of International Law, 2006, S. 363.
356 Juan Pablo Montiel

heitsrecht auch eine überragende Rolle in der Rechtsprechung der Ad-hoc-Tribunale,


vor allem in der Entwicklung der Zurechnungslehren (z. B. Lehre des Joint Criminal
Enterprise) wie auch in Bezug auf die Behandlung nicht-internationaler bewaffneter
Konflikte.143 Trotzdem kann man mit Inkrafttreten des IStGH-Statuts den eindeuti-
gen Versuch des völkerrechtlichen Gesetzgebers beobachten, mit einer verstärkten
Kodifikation das große Ausmaß der Unbestimmtheit in der Anwendung des Völker-
strafrechts zu reduzieren.144 Dies zeigt sich in der Tatsache, dass zum Rom-Statut de-
taillierte Regelungen der Verbrechenselemente, der allgemeinen Prinzipien der Ver-
antwortlichkeit und der Straffreistellungsgründe zählen. Das bewirkt – neben der
Tatsache, dass dies dem Bestimmtheitsgebot zugutekommt –,145 dass das Gewohn-
heitsrecht teilweise ersetzt wird.146 Diese Schlussfolgerung wird ebenfalls durch
die Vorgaben in Art. 21.1 IStGH-Statut gestützt, kraft dessen das völkerrechtliche
Gewohnheitsrecht nur subsidiär anwendbar ist. Jedenfalls muss man trotz der wich-
tigen Fortschritte des im IStGH-Statut verkörperten völkerrechtlichen Strafsystems
sagen, dass für die herrschende Lehre das Gewohnheitsrecht nicht komplett ver-
drängt worden ist und es noch eine wichtige Rolle behält.147
143
Mit speziellem Bezug auf den RStGH zeigt Mettraux, International Crimes and the ad
hoc Tribunals, 2005, S. 11, dass „gute Gründe bestehen, weshalb der RStGH das Gewohn-
heitsrecht anwenden sollte: Zuerst waren die Verträge grundsätzlich für die Staaten, aber nicht
für die Individuen gültig, und der RStGH hatte festzulegen, welche Vorschriften anwendbar
auf die Individuen waren und nicht auf die Staaten.“
144
Mit Recht verdeutlicht Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 124,
dass mit Inkrafttreten des IStGH-Statuts ein neues Stadium in der Beziehung zwischen Ge-
wohnheitsrecht und Verträgen erreicht wurde.
145
Dieser Umstand führt zur Verteidigung von Werle, Tratado de Derecho penal interna-
cional, 2005, Rn. 124, dass die aufgeworfenen Einwendungen in Bezug darauf, dass die
Normen des Völkerstrafrechts nicht den Voraussetzungen der Bestimmtheit und Anerkennung
wie im nationalen Strafrecht genügen, an Substanz verloren haben. Denn man findet die im
IStGH-Statut vorgesehenen Strafnormen in gleicher Bestimmtheit reguliert wie die des na-
tionalen Strafrechts.
146
Akande, in: Cassese (Hrsg.), The Oxford Companion to International Criminal Justice,
2009, S. 50. Ebenso lässt sich generell sagen, dass man das ungeschriebene Recht (die allge-
meinen Rechtsprinzipien hier auch eingeschlossen) im Quellensystem des IStGH-Statuts klar
reduziert vorfindet. Im Hinblick darauf, dass es sich bei diesem um ein subsidiäres und kein
komplementäres Recht handelt, sind die allgemeinen Rechtsprinzipien und das Gewohn-
heitsrecht nur anwendbar, wenn das Normensystem des Statuts eine Lücke aufweist. In diesem
Punkt bleibt die stark reduzierte Rolle des ungeschriebenen Rechts offensichtlich, da man in
der Rechtsprechung des IGH eine recht abgeneigte Tendenz zur Anerkennung von Rege-
lungslücken beobachtet. Bezüglich letzterem vgl. Bitti, in: Stahn/Sluiter (Hrsg.), The Emerg-
ing Practice of the International Criminal Court, 2008, S. 294 ff.
147
Hierunter Ambos, La parte general del Derecho penal internacional. Bases para una
elaboración dogmática, 2006, S. 38; Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005,
Rn. 128, vor allem wenn man bedenkt, dass keine globale Institution existiert, welche die
Schaffung von strafrechtlichen Vorschriften monopolisiert. Für Meron, The Humanization of
International Law, 2006, S. 368 – 369, muss man den Grund der Wiederentdeckung des Ge-
wohnheitsrechts im aktuellen Völkerstrafrecht, trotz des gelebten intensiven Kodifikations-
prozesses, mit einem Perspektivwechsel in der Art und Weise des Verständnisses der Schöp-
fung der gewohnheitsrechtlichen Norm betrachten. Während man früher einer induktiven
Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen 357

Man kann folglich sehen, dass in dieser momentan starken Entwicklungsphase


des Völkerstrafrechts das Gewohnheitsrecht beginnt, signifikant Terrain an das ge-
schriebene und bestimmte Recht abzugeben, ohne dessen Bedeutung komplett zu
verlieren. Man kann m. E. hieraus folgern, dass die Verträge in Bezug auf das Ge-
wohnheitsrecht im Völkerstrafrecht zwei unterschiedliche Effekte haben: Konsoli-
dierende Effekte und verdrängende Effekte.
Man kann von konsolidierenden Effekten der völkerrechtlichen Verträge auf das
Gewohnheitsrecht im Völkerstrafrecht sprechen, wenn diese Instrumente dazu die-
nen, die Existenz einer internationalen Praxis zu belegen oder zu präzisieren.148 Die-
ser Effekt hat bezüglich jener Staaten eine besondere Bedeutung, welche den in Frage
stehenden Vertrag nicht ratifiziert haben. Selbstverständlich gelten für die Unter-
zeichnerstaaten die Regeln des Vertrages als positives Recht (also geschriebenes
Recht). Aber in Bezug auf Drittstaaten des Vertrages können sie dazu dienen, eine
internationale Praxis zu begründen oder zu verstärken, was zur Entwicklung einer
gewohnheitsrechtlichen Norm beiträgt.149
Andererseits können die Wirkungen der Verträge auf das Gewohnheitsrecht im
Völkerstrafrecht auch verdrängender Art sein. Zum Beispiel sind die durch Vertrag
kodifizierten strafrechtlichen Regeln für die Ratifikationsstaaten geschriebene Nor-
men. Damit sind sie positive Normen und keine gewohnheitsrechtlichen Regeln mehr.
Die in multilateralen Verträgen, wie dem IStGH-Statut, herauskristallisierten Tatbe-
stände und allgemeinen Prinzipien der Verantwortlichkeit verdrängen die gewohn-
heitsrechtlichen Regeln gleichen Inhalts, welche für die Unterzeichnerstaaten vorher
galten. Man löst folglich den gleichen Effekt aus, wie bei der Kodifizierung des
nationalen Strafrechts, mit der Besonderheit, dass diese Verdrängungswirkung nur
bezüglich der Staaten gilt, welche den Vertrag ratifiziert haben. In diesem Sinne
hat für Länder wie Spanien, Deutschland, Argentinien oder Kolumbien, welche
das IStGH-Statut ratifiziert haben, die gewohnheitsrechtliche Norm des Verbrechens
des Völkermordes gegenwärtig bereits keine eigenständige Bedeutung mehr. Sie

Methode gefolgt sei, für welche die Existenz eines Vertrages oder einer Erklärung eines völ-
kerrechtlichen Organs als Ausgangspunkt für die Schöpfung gewohnheitsrechtlicher Normen
herangezogen werden konnte, folge man aktuell einer deduktiven Methode, kraft dessen die
Existenz eines Vertrages den Konsolidierungszeitpunkt eines Gewohnheitsrechts widerspie-
gelt.
148
M.E. spielt Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 127, mit seiner
Äußerung, dass die Verträge ausdrücklich oder implizit das Gewohnheitsrecht kodifizieren,
auf diesen konsolidierenden Effekt an.
149
Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht. Strafanwendungsrecht. Europäi-
sches Straf- und Strafverfahrensrecht. Völkerstrafrecht, 4. Aufl., 2010, § 15, Rn. 4. Meron,
The Humanization of International Law, 2006, S. 357 – 358, erklärt mit unmissverständlicher
Klarheit diesen Prozess: „Auf Grund davon, dass sich das Völkerrecht mehr und mehr kodi-
fiziert, ist die wesentlichste und offensichtlichste Bedeutung des gewohnheitsrechtlichen
Charakters der Normen, dass die Norm Staaten verpflichtet, die nicht Teil des Instrumentes
sind, in welchem die Norm aufgestellt wurde. Selbstverständlich ist es nicht die Norm des
Vertrages, sondern die gewohnheitsrechtliche Norm mit identischem Inhalt, die die Staaten
verpflichtet.“
358 Juan Pablo Montiel

wurde durch den Tatbestand des Vertrages ersetzt. Die aktuelle, dem Verdrängungs-
effekt zukommende Bedeutung liegt darin, dass – wenn man bedenkt, dass das
IStGH-Statut die zentrale Normquelle des Völkerstrafrechts ist – mit dessen Geltung
große Teile des Gewohnheitsrechts, welches die Vertragsstaaten verpflichtete, kom-
plett verdrängt worden sind.
Dieser Verdrängungseffekt entspricht nach meiner Meinung einem allgemeinen
Weiterentwicklungsgedanken des Rechts in den diversen Rechtszweigen. Wenn
man die seit der Ausarbeitung des Gesetzlichkeitsprinzips beschrittenen Entwick-
lungspfade des modernen Strafrechts betrachtet, kann man erkennen, dass Kodifika-
tionen im Strafrecht das Gewohnheitsrecht vollständig verdrängt haben, so dass die-
ses im strafrechtlichen Quellensystem vollkommen ersetzt wurde.150 In diesem,
durch das aufgezeigte Gedankengut durchdrungene Strafrecht erlaubte es das Ge-
setz, die politische Freiheit der Bürger im größerem Maße zu sichern – bezüglich
der Möglichkeit, abzuschätzen, welche rechtlichen Konsequenzen wegen der jewei-
ligen Taten zu erwarten sind.151 Und es ermöglicht das Verbot von Willkür der poli-
tischen Mächte. Auf der anderen Seite wird, so Pastor Ridruejo152, eine bedeutende
Verschiebung in der Achse des Quellensystems verursacht, in welchem die Verträge
einen zentralen Raum einzunehmen beginnen und so das Gewohnheitsrecht verban-
nen. Nach Friedman153 müssen die Gründe der Verlagerung des Gewohnheitsrechts
darin gesehen werden, dass das Gewohnheitsrecht im Rahmen des aktuellen moder-
nen Völkerrechts unangemessen ist. Im modernen Völkerrecht wird die positive Re-
gelung der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen etc. Fragen gefordert. Man sieht so,
dass die Verwendung des ungeschriebenen Rechts als Quelle mit einem Embryo-
nalstadium der Rechtsentwicklung verbunden ist, obwohl die Kodifikationsprozesse
auf unterschiedlichen Gründen beruhen. Tatsächlich initiiert eine konkrete rechtliche

150
Man muss hervorheben, dass dieser Prozess nicht nur in der römisch-germanischen
Rechtsfamilie gegenwärtig war. Wie Gallant, The Principle of Legality in International and
Comparative Criminal Law, 2009, S. 54 anmerkt, sind auch im islamischen Recht die ta’zir
Verbrechen (von gewohnheitsrechtlichem Ursprung) kodifiziert worden und somit das besagte
Strafrechtssystem mit den Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips in Einklang gebracht
worden.
151
Im Wesentlichen muss man diese Idee im Zusammenhang mit dem von Montesquieu,
Del espíritu de las leyes (Übers. Bláquez/de Vega), 2. Aufl., Madrid, 1993, S. 106 vertretenen
Konzept der politischen Freiheit sehen: Die Freiheit ist „das Recht, alles zu tun, was die
Gesetze erlauben, denn wenn ein Bürger alles tun könnte, was die Gesetze verbieten, hätte er
keine Freiheit mehr, weil die anderen ebenfalls diese Macht hätten.“ Hierüber auch Zagre-
belsky, El derecho dúctil. Ley, derechos y justicia (Übers. Gascón), Madrid, 1995, S. 28;
Ferrajoli, Pasado y futuro del Estado de Derecho (Übers. Allegue), in Neoconstitucionalismo
(s), Madrid, 2003, S. 16; Guastini, La „constitucionalización“ del ordenamiento jurídico: el
caso italiano (Übers. Lujambio), in Neoconstitucionalismo(s), Madrid, 2003, S. 55; Calvo
García, Los fundamentos del método jurídico: una revisión crítica, Madrid, 1994, S. 261.
152
Pastor Ridruejo, Curso de Derecho internacional público y organizaciones internacio-
nales, 5. Aufl., 1994, S. 89.
153
Friedman, La nueva estructura del Derecho Internacional (Übers. Bárcena), México,
1967, S. 153.
Von der „schlechten Angewohnheit“ Menschenrechte zu verletzen 359

Ordnung letztlich einen Kodifikationsprozess, wenn sie ein Stadium an Reife und
Entwicklung erreicht hat, in welchem ein gewisser Konsens über die Herangehens-
weise an die rechtlichen Hauptprobleme besteht. Letztlich werden in diesem Ent-
wicklungsstadium diese Regeln in geschriebenen Normen wiedergegeben, welche
die Tätigkeit der Rechtsanwender umschreiben.
Was speziell die anwendbaren Quellen des Völkerstrafrechts betrifft, kann man
mit weiterer Vertiefung des Entwicklungs- und Kodifikationsprozesses ein stufen-
weises Verschwinden des Gewohnheitsrechts voraussagen. Das IStGH-Statut ist
ein wichtiger Schritt in diese Richtung und es veranschlagt den Ausgang aus dem
Embryonalstadium, in welchem sich die völkerrechtliche Strafgewalt seit deren In-
krafttreten befindet. Durch das Rom-Statut als dem Strafgesetz der Völkerrechtsge-
meinschaft schlechthin154 wird jeder ratifizierende Staat das Gewohnheitsrecht wei-
ter aus dem Quellensystem schwinden lassen. In diesem Sinne erscheint es mir nicht
übertrieben, die Aussage zu wagen, dass die Verträge dessen einzige Quelle sein wer-
den, sobald das Völkerstrafrecht ein höheres Entwicklungsniveau erreicht hat.

154
Vgl. Werle, Tratado de Derecho penal internacional, 2005, Rn. 126.
Das Völkerstrafgesetzbuch zwischen Gesetzlichkeits-
und Komplementaritätsprinzip
Helmut Satzger*

I. Einführung
Probleme mit dem Bestimmtheitsgrundsatz („lex certa“) können vor allem im Be-
reich des Völkerstrafrechts auftreten, was darauf zurückzuführen ist, dass die Völ-
kerrechtsverbrechen dem Völkergewohnheitsrecht entspringen und es ihnen deshalb
an der Genauigkeit einer geschriebenen Norm des nationalen Rechts fehlt. Wenn die
nationalen Gesetzgeber wegen des Komplementaritätsprinzips versuchen, die Tatbe-
stände des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs in nationales
Recht umzusetzen, kann dies Konflikte mit dem Bestimmtheitsgrundsatz und seinen
(nationalen) Anforderungen hervorrufen, was exemplarisch anhand des Völkerstraf-
gesetzbuches (VStGB) aufgezeigt werden soll.

II. Die Hintergründe des IStGH und des VStGB


1. Der Internationale Strafgerichtshof und das Rom-Statut

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) wurde 1998 in Reaktion auf die Kri-
tik an den ad-hoc-Gerichtshöfen für das ehemalige Jugoslawien bzw. Ruanda ge-
gründet, denen vor allem vorgeworfen wurde, dass ihre Strafverfolgung selektiv
und lokal begrenzt war und bei weitem nicht die Gesamtheit der begangenen völker-
strafrechtlichen Verbrechen abdeckte.1
Er ist ein ständiger Strafgerichtshof und basiert mit dem sog. Rom-Statut auf
einem völkerrechtlichen Vertrag, welcher nach seiner Ratifikation durch 60 Mit-
gliedstaaten der Vereinten Nationen am 1. Juli 2002 in Kraft trat. Aktuell sind in
der Staatenversammlung zahlreiche Staaten vertreten, allerdings fehlen bedeutende
Staaten wie etwa die USA und die Volksrepublik China. Die Funktion des IStGH be-

* Ich danke meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Herrn Johann Melchior Raiser sowie
meinen studentischen Mitarbeitern Andreas Dürr und Michael Juhas für ihre wertvolle Hilfe
bei der Anfertigung dieses Artikels.
1
Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert,
1999, S. 73 ff., 330 ff.
362 Helmut Satzger

steht darin, Verbrechen zu verfolgen, die wegen ihrer Schwere und aufgrund ihrer
Begehung im Rahmen eines ganzen Verbrechenskomplexes nicht nur die Opfer
selbst, sondern die internationale Gemeinschaft als solche berühren.2 Daher ist die
sachliche Zuständigkeit des IStGH auf vier Kernverbrechen beschränkt, welche al-
lerdings von besonderer Schwere sind: Völkermord, Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit, Kriegsverbrechen sowie das Verbrechen der Aggression. Das Statut löst
diese Verbrechenskomplexe in 73 einzelne strafbare Handlungen auf. Allerdings
übt der Gerichtshof seine Kompetenz hinsichtlich des Verbrechens der Aggression
noch nicht aus, da das Statut gemäß Art. 5 Abs. 2 noch der Annahme einer Begriffs-
bestimmung bedurfte. Auf diese Definition einigte man sich auf der Überprüfungs-
konferenz der Vertragsstaaten im Juni 2010 in Kampala.3 Dennoch wird der IStGH
seine Gerichtsbarkeit darüber nicht vor 2017 ausüben und auch nur unter der zusätz-
lichen Voraussetzung, dass mehr als 30 Vertragsstaaten die Neuregelung ratifiziert
haben werden, vgl. Art. 15bis/ter Abs. 3 IStGH-Statut.

2. Das Komplementaritätsprinzip,
Art. 17 IStGH-Statut

Neben der schon erwähnten sachlichen Zuständigkeit (Art. 5 IStGH-Statut) regelt


das Statut auch die persönliche (Art. 25 Abs. 1 IStGH-Statut), die örtliche (Art. 12
Abs. 2, 3 IStGH-Statut) und die zeitliche (Art. 11 IStGH-Statut) Zuständigkeit des
Gerichtshofs.
Sofern die Zuständigkeit des IStGH festgestellt ist, muss man sich allerdings der
Frage nach der Zulässigkeit der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit widmen, die von
der bloßen Zuständigkeit zu unterscheiden ist. Der IStGH ist nämlich nicht das ein-
zige für völkerstrafrechtliche Verbrechen zuständige Gericht, denn auch die nationa-
len Gerichte können jene Delikte aburteilen. Diese Überschneidung löst das sog.
Komplementaritätsprinzip des Art. 17 IStGH-Statut auf.
In diesem Prinzip ist der Vorrang der nationalen Strafgerichtsbarkeit vor der des
IStGH festgelegt. Danach darf der IStGH seine Gerichtsbarkeit selbst bei Vorliegen
schwerster Verbrechen grundsätzlich nicht ausüben, wenn ein nationales Strafver-
fahren stattfindet oder stattgefunden hat. Dieser Grundsatz kennt aber zwei entschei-
dende Ausnahmen: Trotz des Vorrangs nationaler Strafverfahren darf der IStGH
seine Gerichtsbarkeit ausüben, wenn der betroffene Staat „nicht willens“ oder
„nicht in der Lage“ ist, die Strafverfolgung ernsthaft zu betreiben (Art. 17 Abs. 1

2
Vgl. Absatz 4 der Präambel des IStGH-Statuts.
3
Die vereinbarte Definition befindet sich nun in Art. 8bis IStGH-Statut und lautet: „The
planning, preparation, initiation or execution, by a person in a position to effectively exercise
control over or direct the political and military action of a State, of an act of aggression, which,
by its character, gravity and scale, constitutes a manifest violation of the Charter of the United
Nations.“
Völkerstrafgesetzbuch zwischen Gesetzlichkeits- und Komplementaritätsprinzip 363

IStGH-Statut) bzw. untätig bleibt. Dies wird als Grundsatz der Komplementarität be-
zeichnet.4
Die Komplementaritätsregel setzt bei der Unterscheidung zwischen der sachli-
chen Zuständigkeit des IStGH (Art. 5 IStGH-Statut) und der Ausübung seiner Ge-
richtsbarkeit (Art. 12 IStGH-Statut) an. Sind für einen konkreten Sachverhalt sowohl
die staatlichen Gerichte als auch der IStGH sachlich zuständig, entscheidet der Kom-
plementaritätsgrundsatz darüber, welchem sachlich zuständigen Gericht der Vorrang
bezüglich der Ausübung der Jurisdiktion gebührt. Der IStGH hat sich dabei in jeder
Verfahrenslage darüber zu vergewissern, ob er seine Gerichtsbarkeit (noch) ausüben
darf. Kommt der IStGH zu dem Ergebnis, dass ein Staat aufgrund seines nationalen
Strafrechts zuständig ist und die Strafverfolgung ernstlich betreibt oder abgeschlos-
sen hat, beschließt er die Einstellung des eigenen Verfahrens.
Die Frage, wann die Ausübung der Gerichtsbarkeit des IStGH zulässig sein soll,
ist für den Gerichtshof von entscheidender Bedeutung. Die rechtliche Klippe für die
Praxis besteht darin, zu beurteilen, wann ein Vertragsstaat „nicht willens oder nicht in
der Lage“ ist, die Strafverfolgung ernsthaft zu betreiben.
Der Grundsatz der Komplementarität unterscheidet die Struktur der Strafverfol-
gung durch den IStGH deutlich von den bisherigen Experimenten internationaler Ge-
richtsbarkeit. Davon geht ein entscheidender rechtpolitischer Impuls aus. Es soll po-
litisch Druck auf die Staaten ausgeübt werden, damit sie ihre Strafrechtssysteme so
ausgestalten, dass Straftaten von eigenen Staatsangehörigen bzw. im Inland began-
gene Taten vor ihren eigenen Gerichten abgeurteilt werden können. Ein Prozess vor
dem IStGH wird nämlich immer auch eine „Rüge“ gegenüber den nach den interna-
tionalstrafrechtlichen Prinzipien zuständigen Staaten beinhalten, da sie als unfähig
bzw. unwillig erachtet werden, völkerrechtliche Verbrechen abzuurteilen.

3. Gesetzgeberische Motive

Das IStGH-Statut geht von einer zweifachen Durchsetzungsmöglichkeit des Völ-


kerstrafrechts aus: der direkten und der indirekten. Dabei verpflichtet das Statut die
Unterzeichnerstaaten allerdings nicht explizit, die dort aufgeführten Straftatbestände
in nationales Strafrecht umzusetzen.5 Der Gesetzentwurf zum VStGB nennt als eines
seiner Ziele „im Hinblick auf die Komplementarität der Verfolgungszuständigkeit
des IStGH zweifelsfrei sicherzustellen, dass Deutschland stets in der Lage ist, in
die Zuständigkeit des IStGH fallende Verbrechen selbst zu verfolgen“. Dass dies
vor dem Inkrafttreten des VStGB nicht immer möglich gewesen wäre, soll anhand
von einigen Beispielen verdeutlicht werden.
4
Zum Grundsatz der Komplementarität umfassend Lafleur, Der Grundsatz der Komple-
mentarität – Der Internationale Strafgerichtshof im Spannungsfeld zwischen Effektivität und
Staatensouveränität, 2011; Ratzesberger, The International Criminal Court. The Principle of
Complementarity, 2006.
5
Werle, JZ 2001, 886.
364 Helmut Satzger

Wenn man die Rechtslage vor der Existenz des VStGB den – durchweg Völker-
gewohnheitsrecht wiedergebenden – Tatbeständen des Rom-Statuts gegenüberstellt,
wies das deutsche Strafrecht „echte“ Lücken auf,6 weil etwa die Tatbestandsalterna-
tiven des Art. 8 Abs. 2 lit. b) [vi] (Tötung oder Verwundung eines die Waffen stre-
ckenden oder wehrlosen Kombattanten, der sich auf Gnade oder Ungnade ergeben
hat), des Art. 8 Abs. 2 lit b) [viii] (Überführung durch die Besatzungsmacht eines
Teiles ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet) sowie des
Art. 8 Abs. 2 lit. b) [xii] (Erklärung von Kriegsführenden, es werde kein Pardon ge-
geben) nicht unter Strafe standen. Daneben enthielt das allgemeine deutsche Straf-
recht aber auch insoweit qualitative Defizite, als es die im Rom-Statut genannten Ver-
haltensweisen zwar durchaus als „einfache“ Vergehen oder Verbrechen unter Strafe
stellte, jedoch den eigentlichen völkerrechtlichen Unrechtsgehalt nicht spezifisch zu
erfassen vermochte. So fallen die in Art. 7 Abs. 1 lit. a) – k) IStGH-Statut als Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit aufgeführten Handlungen weitgehend unter Straftat-
bestände des StGB.7 Die besondere Dimension des Verbrechens gegen die Mensch-
lichkeit, nämlich der funktionale Zusammenhang zwischen der Tatbegehung mit
einem ausgedehnten und systematischen Angriff gegen die Zivilbevölkerung, bleibt
aber unberücksichtigt.8 Für den Bereich der Kriegsverbrechen (vgl. Art. 8 IStGH-
Statut) gilt Ähnliches.9
Weitere Defizite ergaben sich schließlich im Bereich des Strafanwendungsrechts,
weil das Universalitätsprinzip nicht für alle Verbrechen des Rom-Statuts galt, insbe-
sondere nicht für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit.10
Diese Unzulänglichkeiten konnten auch nicht mit Hilfe einer unmittelbaren An-
wendung des Völkergewohnheitsrechts ausgeglichen werden. Dieses erlangt zwar
auf Grundlage von Art. 25 GG als Teil der sog. „allgemeinen Regeln des Völker-
rechts“ Eingang in die deutsche Rechtsordnung. Im Rang geht diesem Völkerge-
wohnheitsrecht jedoch deutsches Verfassungsrecht vor, sodass es dem verfassungs-
rechtlich vorgegebenen Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG) nicht genügen
würde.11
Mit Erlass des IStGH-Statutsgesetzes ist dieses in deutsches Recht transformiert
worden. Die Straftatbestände des IStGH-Statuts richten sich aber an die Vertragspar-
teien und entfalten nur gegenüber diesen Rechtswirkungen, nicht aber gegenüber

6
Zu den Defiziten s. MK-Werle, VStGB, Einleitung Rn. 25 ff.
7
§§ 174a, 176, 176a, 176b, 177, 178, 179, 182, 211, 212, 223, 224, 226, 232, 234, 234a,
239, 240, 340, 343 StGB.
8
So auch Kreß, Vom Nutzen eines deutschen Völkerstrafgesetzbuchs, 2000, S. 12 ff.
9
Siehe Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 5. Auflage 2011, § 17 Rn. 10.
10
Siehe Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 5. Auflage 2011, § 17
Rn. 11; Werle, JZ 2001, 886.
11
Kreß, Vom Nutzen eines deutschen Völkerstrafgesetzbuchs, 2000, S. 10; Werle, JZ 2001,
889.
Völkerstrafgesetzbuch zwischen Gesetzlichkeits- und Komplementaritätsprinzip 365

dem Individuum.12 Darüber hinaus zeigt das dem Statut inhärente System der Kom-
plementarität, dass die Verbrechenstatbestände des Statuts gerade nicht automatisch
die nationalen Strafrechtsordnungen verändern sollen.13

4. Der Inhalt des Völkerstrafgesetzbuchs

Das VStGB teilt sich in einen Allgemeinen und einen Besonderen Teil. Der Ge-
setzgeber griff weitgehend auf den Allgemeinen Teil des StGB zurück, sodass der des
VStGB nur die nach dem IStGH-Statut unvermeidlichen Abweichungen enthält. § 2
VStGB als „zentrale Umschaltnorm“ erklärt die Regeln des StGB grundsätzlich für
anwendbar, wenn nicht das VStGB Sonderregelungen trifft.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Entwurf des VStGB in § 3 noch
eine Art. 31 Abs. 1 lit. c) IStGH-Statut entsprechende, gegenüber § 32 StGB engere
Notwehrregelung enthielt14, die aber im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfah-
rens „verschwand“. Wie ein möglicher Konflikt zwischen der Rechtfertigung nach
§ 32 StGB und Art. 31 Abs. 1 lit. c) IStGH-Statut aufzulösen wäre, ist noch unge-
klärt.15
Der Besondere Teil des VStGB zählt die einzelnen Straftaten gegen das Völker-
recht auf: Völkermord (§ 6), der bislang im § 220a StGB verortet war, Verbrechen
gegen die Menschlichkeit (§ 7) und Kriegsverbrechen (§§ 8 – 12). Während die Tat-
bestände des Völkermords und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit weitgehend
originalgetreu aus dem Rom-Statut in das VStGB übernommen wurden, weist es im
Bereich der Kriegsverbrechen eine eigene – deutlich von der des Statuts abweichen-
de – Systematik auf.
Im Gegensatz zum IStGH-Statut, das im Hinblick auf die Rechtsfolgen nur allge-
meine, wenig bestimmte Vorgaben bezüglich der zu verhängenden Strafen vorsieht,16
werden den einzelnen Straftatbeständen im VStGB konkrete Strafrahmen zugeord-
net, die in ihrer Höhe den besonderen Unrechtsgehalt völkerrechtlicher Verbrechen
erkennen lassen.17

12
Schweitzer, Staatsrecht III: Staatsrecht, Völkerrecht, Europarecht, 10. Auflage 2010,
Rn. 438.
13
Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 5. Auflage 2011, § 17 Rn. 13.
14
BR-Drucks. 29/02.
15
Ambos, Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts, 2001, S. 830 f., vertritt die Ansicht,
dass die sozial-normativen Einschränkungen des deutschen Notwehrrechts auch auf völker-
strafrechtliche Konstellationen übertragen werden können, sodass es i.E. zu einer Deckungs-
gleichheit komme.
16
Siehe dazu Art. 77 f., 110 IStGH-Statut; eine Ergänzung finden diese Vorgaben in den
Verfahrens- und Beweisregeln.
17
Gropengießer, ICLR 2005, 340.
366 Helmut Satzger

III. Das Völkerstrafgesetzbuch und das Gesetzlichkeitsprinzip


1. Das Gesetzlichkeitsprinzip im Völkerstrafrecht

Das Gesetzlichkeitsprinzip (und seine besonderen Ausformungen wie der Be-


stimmtheitsgrundsatz, das Rückwirkungsverbot, das Analogieverbot und das Verbot
strafbegründenden Gewohnheitsrechts) ist ein fundamentaler Bestandteil sowohl der
deutschen als auch vieler ausländischer Rechtsordnungen. Dennoch besitzt es im
Völkerstrafrecht nicht die gleiche Reichweite, d. h. es sieht sich wegen seines völker-
rechtlichen Charakters verschiedenen Nuancierungen und Modifikationen ausge-
setzt.
Das Völkerstrafrecht entspringt grundsätzlich den allgemeinen Rechtsquellen des
Völkerrechts. Zu diesen zählen die völkerrechtlichen Verträge, das Völkergewohn-
heitsrecht sowie die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrund-
sätze. Diese drei Rechtsquellen werden noch durch die sog. Rechtserkenntnisquellen
ergänzt; hierzu zählen Gerichtsentscheidungen sowie die Lehrmeinungen der fähigs-
ten Völkerrechtler der verschiedenen Nationen (vgl. Art. 38 IGH-Statut).
Auf Ebene des Völkervertragsrechts ist das IStGH-Statut mit den ergänzenden
Vorschriften in den sog. „Elements of Crimes“ sowie den „Rules of Procedure and
Evidence“ von zentraler Bedeutung.
Völkerrechtliche Verträge bedürfen der Auslegung, für welche gemäß Art. 31
Abs. 1 WVRK folgende generelle Regel gilt:
Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnli-
chen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung
und im Lichte seines Ziels und Zweckes auszulegen. Grundlage für die Auslegung
ist nach dem hier verankerten „objektiven Ansatz“ der Vertragstext, nicht der histo-
rische Parteiwille.18 Ausgangspunkt ist daher zunächst die übliche Bedeutung des
vertraglichen Wortlauts. Zusätzlich ist bei der Auslegung die Systematik des betref-
fenden Vertrags heranzuziehen sowie der Sinn und Zweck der Regelung zu erfor-
schen.19 Neben diesen auch für das innerstaatliche Recht maßgeblichen Auslegungs-
methoden tritt der aus dem Europarecht bekannte Grundsatz des „effet utile“, wel-
cher sich aus der teleologischen Auslegungsmethode entwickelt hat.
Diese allgemeinen Auslegungsregeln sind im Grundsatz auch auf die völkerstraf-
rechtlich relevanten Verträge anwendbar, insbesondere auf das Rom-Statut. Hier sind
vor allem die „Elements of Crime“ mit heranzuziehen, die dem Gerichtshof bei der
Auslegung und Anwendung der Art. 6, 7, 8 und 8bis des IStGH-Statuts helfen (vgl.
Art. 9 Abs. 1 IStGH-Statut).

18
Siehe dazu Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, 5. Auflage 2004, § 11 Rn. 4 f.
19
Vgl. zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge Lorenzmeier/Rohde, Völkerrecht –
Schnell erfasst, 2002, S. 41 ff.
Völkerstrafgesetzbuch zwischen Gesetzlichkeits- und Komplementaritätsprinzip 367

Die Auslegung findet im Völkerstrafrecht ihre Grenze im völkergewohnheits-


rechtlichen Grundsatz „nullum crimen sine lege“, wonach eine Bestrafung nur
dann zulässig ist, wenn zum Tatzeitpunkt bereits eine Norm feststellbar ist, die
die Strafbarkeit begründet.20 Für das Völkerstrafrecht darf naturgemäß weder eine
schriftliche Fixierung („lex scripta“) noch eine dem innerstaatlichen Strafrecht ver-
gleichbare inhaltliche Bestimmtheit des strafbegründenden Rechts („lex certa“) ver-
langt werden. Völkerstrafrecht ist als Völkergewohnheitsrecht entstanden und Ge-
wohnheitsrecht stellt im Bereich des Völkerrechts (anders als im innerstaatlichen
Recht) eine der wichtigsten Rechtsquellen dar. Damit waren die völkerrechtlichen
Verbrechenstatbestände von Anfang an auf eine schrittweise und dynamische Ent-
wicklung angelegt. Insoweit kann man auf völkerrechtlicher Ebene von einer gewis-
sen Relativierung des innerstaatlich bekannten Nullum-crimen-Grundsatzes spre-
chen.21 Folgende Konsequenzen lassen sich aus dem völkerrechtlichen Gesetzlich-
keitsprinzip ableiten:
– Bestimmtheitsgrundsatz: Es muss sich überhaupt eine Norm im Völkerstrafrecht
nachweisen lassen, in deren – zumindest nach völkerrechtlichem Maßstab hinrei-
chend bestimmbaren – Anwendungsbereich das in Frage stehende Täterverhalten
fällt.22
– Analogieverbot: Wird das Verhalten nicht durch einen nachweisbaren völkerstraf-
rechtlichen Verbrechenstatbestand erfasst, so darf ein existierender Tatbestand
nicht zum Nachteil des Täters durch Analogieschluss auf ähnliche Fälle ausgewei-
tet werden. Über dieses auch aus dem nationalen Recht bekannte23 Analogieverbot
hinaus bezieht Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut auch noch den Grundsatz der engen
Auslegung der Verbrechensmerkmale in das Nullum-crimen-Prinzip ein, mit
der Folge, dass auch Zweifel bei der Auslegung zugunsten des Täters behandelt
werden. Damit geht das IStGH-Statut weiter als das deutsche Recht, das den Zwei-
felsgrundsatz allein auf Tatsachenfragen beschränkt.
– Rückwirkungsverbot: Der völkerstrafrechtliche Verbrechenstatbestand muss be-
reits zum Zeitpunkt der Tat im Völkerrecht Geltung beansprucht haben. Dieser

20
Das Gesetzlichkeitsprinzip ist nicht berührt, wenn der Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat
nur nicht wusste, dass sein Heimatstaat dem IStGH-Statut beigetreten ist, und somit nicht
davon ausging, dass seine Tat dem Anwendungsbereich der darin enthaltenen Straftatbestände
unterfällt; zur (korrekten) Ablehnung dieses von der Verteidigung Lubangas vorgetragenen
Einwands siehe IStGH, „Lubanga“ (PTIC), Confirmation of Charges v. 29. 1. 2007 (Rn. 302);
siehe auch Weigend, JICJ 2008, 474.
21
Ausführlich dazu Satzger, JuS 2004, 943 ff; siehe auch ICTY, „Delalić et al.“ (TC), Urt.
v. 16. 11. 1998 (Rn. 402 ff.), zu den im Völkerstrafrecht vorzunehmenden Einschränkungen
und Ausflüssen des Gesetzlichkeitsprinzips.
22
An der Hürde des (weniger strengen) völker(straf)rechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips
soll z. B. eine völkerstrafrechtliche Verfolgung des Genozids an den Armeniern 1915 ge-
scheitert sein, Kittichaisaree, International Criminal Law, 2001, S. 15 f.
23
Vgl. zum deutschen Recht: Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 40. Auflage 2010, Rn. 53 ff.
368 Helmut Satzger

Grundsatz ist für den IStGH in Art. 24 des Statuts niedergelegt, sodass es auf Taten
vor seinem Inkrafttreten nicht anwendbar ist.
Weiterhin gilt im Völkerstrafrecht – wie auch Art. 23 IStGH-Statut zeigt – der
Grundsatz „nulla poena sine lege“.24 Aus denselben Gründen wie bei den Vorausset-
zungen der Verbrechenstatbestände dürfen an die Bestimmtheit der Strafdrohung
aber keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Dementsprechend nennt
auch Art. 77 IStGH-Statut nur einen allgemeinen Strafrahmen, der in den einzelnen
Tatbeständen nicht weiter präzisiert wird.

2. Das VStGB zwischen dem Gesetzlichkeits-


und dem Komplementaritätsprinzip

a) Das Dilemma

Der Grundsatz der Komplementarität bedingt einen – wenn nicht rechtlichen, so


doch rechtspolitischen – Zwang, die im VStGB vorgesehenen Straftatbestände so
auszugestalten, dass möglichst alle in die Zuständigkeit des IStGH fallenden Delikte
erfasst werden, um durchgängig eine (vorrangige) Aburteilung durch deutsche Ge-
richte zu ermöglichen. Dem damit vorgezeichneten Streben nach einer möglichst
wörtlichen Übernahme des Textes des IStGH-Statuts, und somit nach einer extensi-
ven Formulierung deutscher Straftatbestände, werden jedoch dadurch Grenzen ge-
setzt, dass das VStGB – wie jedes andere Strafgesetz auch – gewisse verfassungs-
rechtliche Vorgaben beachten, insbesondere also dem – im internationalen Vergleich
strengen25 – Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG genügen muss. Diese
beiden Anforderungen – erschöpfende Erfassung der im Rom-Statut vorgezeichne-
ten Verbrechen einerseits, Verfassungskonformität andererseits – machten die Aus-
arbeitung des VStGB zu einem schwierigen Drahtseilakt.26 Ein dem Grundgesetz
entsprechendes VStGB muss notwendigerweise insoweit hinter den tatbestandlichen
Umschreibungen des Rom-Statuts zurückbleiben, wie diese – nach deutschem Maß-
stab – zu vage geraten sind. Eine solche „modifizierende Umsetzung“27 des materi-
ellen Völkerstrafrechts eröffnet aber Lücken gegenüber dem Statuts-Text, welche
nach dem Grundsatz der Komplementarität wiederum die Gerichtsbarkeit des
IStGH für vom deutschen Recht nicht abgedeckte Tatbestände bzw. Tatbestandsal-
ternativen begründen – eine Folge, die durch das Projekt eines VStGB aber gerade
vermieden werden soll.

24
Strittig, gegen die Anerkennung dieses Grundsatzes z. B. Cassese, International Criminal
Law, 2. Auflage 2008, S. 51.
25
Vgl. auch Werle, JZ 2001, 889.
26
Potentielle verfassungsrechtliche Probleme bei der Umsetzung des Rom-Statuts be-
schreibt ausführlich Duffy, Duke Journal of Comparative und International Law 2001, 5 ff.
27
Werle, JZ 2001, 889; Gropengießer, ICLR 2005, 340.
Völkerstrafgesetzbuch zwischen Gesetzlichkeits- und Komplementaritätsprinzip 369

Angesichts dieser komplexen Ausgangslage ist es kaum verwunderlich, dass das


VStGB nicht allen Anforderungen gleichermaßen gerecht werden kann, ja teilweise
nicht einmal gerecht werden will. So enthält das VStGB zahlreiche Punkte, an denen
es das selbst gesetzte Ziel, die Zuständigkeit des IStGH von vornherein auszuschal-
ten, nicht erreicht. Andererseits ergeben sich an anderen Stellen Bedenken hinsicht-
lich der Verfassungsmäßigkeit. Im Folgenden sollen beispielhaft nur einige Problem-
bereiche angesprochen werden.

b) Probleme in Bezug auf das Gesetzlichkeitsprinzip –


Konflikt mit dem Grundgesetz

Das VStGB ist als deutsches Strafgesetz konzipiert, sodass jede einzelne darin
enthaltene Vorschrift dem Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 Abs. 2 GG genügen
muss. Die Klarheit und Bestimmtheit der dort niedergelegten Straftatbestände ist
durchaus ein hohes Anliegen der Verfasser, da als Ziel des VStGB betrachtet
wird, „durch Normierungen in einem einheitlichen Regelungswerk die Rechtsklar-
heit und Handhabbarkeit in der Praxis zu fördern.“28
Das VStGB hat insbesondere im Bereich der Kriegsverbrechen ein erfreuliches
Maß an zusätzlicher Systematisierung erreicht. Um dem Bestimmtheitsgrundsatz
des Art. 103 Abs. 2 GG gerecht zu werden, muss aber gewährleistet sein, dass
stets „Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind
und sich durch Auslegung ermitteln lassen.“29 Aus Sicht eines verständigen Bürgers
muss es also möglich sein, in zumutbarer Weise den Inhalt der Strafnorm zu erfas-
sen.30
Der Bürger hat danach das Recht, durch klar formulierte Strafgesetze in die Lage
versetzt zu werden, sein Verhalten so einzurichten, dass er eine Strafbarkeit vermei-
den kann. Eine gewisse Typisierung ist dem Gesetzgeber aber zuzugestehen, sodass
für die Beurteilung der Bestimmtheit nicht auf den jeweils konkret Betroffenen ab-
zustellen ist, sondern auf einen „verständigen Rechtsunterworfenen“.31 Vor allem
aber im Nebenstrafrecht fordert man dem Rechtsunterworfenen bei der Ermittlung,
ob ein Verhalten unter Strafe steht oder nicht, einen kaum mehr zumutbaren „intel-
lektuellen Aufwand“ ab. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es sich vielfach um
„Expertenstrafrecht“ handelt. Gehört der Täter zu dem Kreis der „Experten“, an die
sich die strafrechtlichen Normen richten, wird man höhere Anforderungen an seine
„Verständigkeit“ stellen dürfen.32

28
Siehe die Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, BR-Drucks. 29/02,
S. 23.
29
St. Rspr., vgl. BVerfGE 25, 285; 55, 152; 75, 340 f.
30
Siehe Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 5. Auflage 2011, § 9 Rn. 64
sowie ders., die Europäisierung des Strafrechts, 2001, S. 241 ff.
31
Vgl. BVerfGE 78, 389.
32
Siehe auch BVerfGE 48, 57; 75, 343, 345.
370 Helmut Satzger

Diese Grundsätze lassen sich auch auf das Völkerstrafrecht übertragen. Daher
dürfte es unproblematisch sein, dass das VStGB – häufig in Anlehnung an Formu-
lierungen des Rom-Statuts – generalklauselartige Wendungen und ausfüllungsbe-
dürftige Tatbestandsmerkmale verwendet.
Beispiele: § 7 Abs. 1 Nr. 3 VStGB knüpft die Strafbarkeit wegen eines Verbre-
chens gegen die Menschlichkeit daran, dass der Täter „Menschenhandel betreibt,
… oder … auf andere Weise einen Menschen versklavt und sich dabei ein Eigentums-
recht an ihm anmaßt.“ Ein Kriegsverbrechen liegt nach § 8 Abs. 3 Nr. 2 VStGB im
Zusammenhang mit einem internationalen bewaffneten Konflikt vor, wenn jemand
als Angehöriger einer Besatzungsmacht „einen Teil der eigenen Zivilbevölkerung“
in das besetzte Gebiet überführt.
Auch nach der Rechtsprechung des BVerfG dürfen die Bestimmtheitsanforderun-
gen nicht überspannt werden, da ohne allgemeine, normative und wertausfüllungs-
bedürftige Begriffe „der Gesetzgeber nicht in der Lage wäre, der Vielgestaltigkeit des
Lebens Herr zu werden.“33 Dies gilt in besonderem Maße dann, wenn der deutsche
Strafgesetzgeber Pönalisierungspflichten aus dem ungeschriebenen Völkerstrafrecht
Folge leisten möchte und damit an komplexe, häufig wenig klar umrissene Vorgaben
anknüpft. Hier muss die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes34 zu einem
gewissen Privileg für den Gesetzgeber im Hinblick auf den anzuwendenden Be-
stimmtheitsmaßstab führen.35 Zumindest insoweit, als der Rechtsunterworfene das
Risiko einer Strafbarkeit erkennen kann und die Rechtsprechung ohne größere Pro-
bleme – auch durch Rückgriff auf völkerrechtliche Zusammenhänge – in die Lage
versetzt wird, durch Auslegung eine Konkretisierung des Tatbestands zu erreichen,
sollte man die Strafvorschriften des VStGB als noch hinreichend bestimmt erachten.
Die Grenzen dieses Privilegs sind jedoch dort erreicht, wo die Reichweite des Tat-
bestandes völlig unklar ist und auch der völkerrechtliche Hintergrund keinerlei An-
haltspunkte mehr für eine Konkretisierung liefert.
Starke Bedenken hinsichtlich der Konformität mit Art. 103 Abs. 2 GG bestehen
daher etwa hinsichtlich der Vorschrift des § 10 Abs. 1 Nr. 1 VStGB, durch die An-
griffe auf Personen und verschiedene Objekte unter Strafe gestellt werden, „die an
einer humanitären Hilfsmission oder an einer friedenserhaltend Mission in Überein-
stimmung mit der Charta der Vereinten Nationen beteiligt sind, solange sie Anspruch
auf den Schutz haben, der Zivilpersonen oder zivilen Objekten nach dem humanitä-
ren Völkerrecht gewährt wird“. Auch wenn heute im Grundsatz anerkannt ist, dass
friedenserhaltende Missionen der UNO diesen Schutz genießen, wenn sie Gewalt nur
zum Zwecke der „Selbstverteidigung“ anwenden, so ist gleichwohl unklar, wie weit
der Begriff „Selbstverteidigung“ jeweils reicht und in welchem Umfang Personen

33
BVerfGE 11, 237.
34
Vgl. insb. Art. 25 GG; siehe dazu z. B. auch BVerfGE 31, 75; 58, 34; 64, 20; Bleckmann,
DÖV 1979, 312; Dreier-Pernice, Art. 24 GG Rn. 1.
35
Ausführlich hierzu Satzger, JuS 2004, 943 ff.
Völkerstrafgesetzbuch zwischen Gesetzlichkeits- und Komplementaritätsprinzip 371

und Sachen einer solchen Mission den Schutz von Zivilpersonen oder zivilen Objek-
ten nach dem humanitären Völkerrecht verlieren, wenn nur ein Teil davon in Feind-
seligkeiten verstrickt wird.“36
Weiterhin sind vor dem Hintergrund des Art. 103 Abs. 2 GG Einwendungen
gegen die Ausgestaltung des VStGB insoweit zu erheben, als dessen Straftatbestände
mehr oder minder pauschal auf Völkergewohnheitsrecht verweisen. Zu nennen ist
hier vor allem § 7 Abs. 1 Nr. 4 VStGB. Dieser Tatbestand bedroht denjenigen mit
Strafe, der „im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen
eine Zivilbevölkerung einen Menschen, der sich rechtmäßig in einem Gebiet aufhält,
vertreibt oder zwangsweise überführt, indem er ihn unter Verstoß gegen eine allge-
meine Regel des Völkerrechts durch Ausweisung oder andere Zwangsmaßnahmen in
einen anderen Staat oder ein anderes Gebiet verbringt“. In seinen Voraussetzungen
enthält § 7 Abs. 1 Nr. 4 VStGB damit einen klaren Verweis auf Völkergewohnheits-
recht.37 Im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG erscheint dies in zweifacher Hinsicht
bedenklich:
– Zum einen verbietet diese Verfassungsnorm sowohl eine Strafbegründung als auch
eine Strafschärfung auf Grund von Gewohnheitsrecht („nullum crimen, nulla
poena sine lege scripta“).38 Mit der völkergewohnheitsrechtlichen Pflichtverlet-
zung enthält das VStGB jedoch eine Tatbestandsvoraussetzung, die allein (völ-
ker-)gewohnheitsrechtlich geprägt ist und nicht mehr durch eine „lex scripta“ um-
rissen wird.
– Zum anderen ist es bereits für einen Richter mit enormen Schwierigkeiten verbun-
den, den Inhalt des Völkergewohnheitsrechts festzustellen. Da zudem zu beden-
ken ist, dass das der Strafvorschrift zu Grunde liegende Verbot vom jeweiligen
Stand des jederzeit formlos wandelbaren Völkergewohnheitsrechts abhängig
ist, handelt es sich um eine dynamische Verweisung auf ungeschriebenes
Recht. Sind dynamische Verweisungen in Strafvorschriften angesichts der verfas-
sungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen schon im Allgemeinen nicht un-
problematisch, so ist eine Verweisung auf eine im Wesentlichen ungeschriebene
und zersplitterte Rechtsquelle gänzlich inakzeptabel. Der deutsche Gesetzgeber
kommt hier nicht umhin, die Voraussetzungen der Strafbarkeit genauer zu um-
schreiben, wenngleich dies ein schwieriges Unterfangen sein mag.
Auch soweit das VStGB auf völkerrechtliche Verträge – also geschriebenes
Recht – verweist, lassen sich Bestimmtheitsbedenken nicht ausschließen.39 So
wird beispielsweise zur Definition des „Kernbegriffs“ der im VStGB neu geordneten
36
Zusammenfassend Triffterer-Cottier, Rome Statute, Art. 8 Rn. 53 ff.; siehe auch MK-
Ambos/Zimmermann/Geiß, § 10 VStGB, Rn. 11 ff.
37
Vgl. Art. 25 GG.
38
Statt aller SK-Rudolphi, § 1 StGB Rn. 17 ff.
39
Auch bei in deutsches Recht transformierten völkerrechtlichen Verträgen gelten grund-
sätzlich die Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG, Maunz/Dürig-Schmidt-
Aßmann, Art. 103 II GG, Rn. 251.
372 Helmut Satzger

Kriegsverbrechen gegen die Person für den internationalen bewaffneten Konflikt auf
die „geschützte[n] Personen im Sinne der Genfer Abkommen und des Zusatzproto-
kolls I (Anlage zu diesem Gesetz), namentlich Verwundete, Kranke, Schiffbrüchige,
Kriegsgefangene und Zivilpersonen“ verwiesen (§ 8 Abs. 6 Nr. 1 VStGB). Die Er-
mittlung des geschützten Personenkreises ist aber nicht so einfach, wie diese Formu-
lierung nahe legt. Denn die Regelungen der Genfer Abkommen und des Zusatzpro-
tokolls I, auf die verwiesen wird, sind wesentlich differenzierter. Es werden nicht be-
stimmte Personengruppen per se geschützt, sondern zusätzlich müssen gewisse Si-
tuationen oder Bedingungen gegeben sein. Beispielsweise zählt das III. Genfer Ab-
kommen in seinem Art. 4 Milizen nur dann zum geschützten Personenkreis, wenn
diese u. a. bei ihren Kampfhandlungen die „Gesetze und Gebräuche des Krieges“ ein-
halten. Wann dies der Fall ist, lässt sich aus dem Abkommen selbst nicht mit hinrei-
chender Sicherheit bestimmen.

c) Probleme mit der Komplementarität

Durch die in § 2 VStGB angeordnete grundsätzliche Übernahme des Allgemeinen


Teils des StGB fließen in das VStGB auch die (deutschen) Rechtfertigungs- und Ent-
schuldigungsgründe ein, was zu Komplementaritätsproblemen führen kann. Das
IStGH-Statut enthält in Art. 31 Straffreistellungsgründe, doch besteht hier im Ver-
hältnis zum StGB keine durchgehende Deckungsgleichheit. Beispielsweise fehlt
im Statut der Notwehrexzess, wie er in § 33 StGB, § 2 VStGB verankert ist, sodass
eine Verurteilung nach deutschem Recht unmöglich sein kann, während eine Bestra-
fung auf Grundlage des IStGH-Statuts denkbar erscheint.40
Eine gewisse Abmilderung erfährt diese Gefahr durch die Regelung des Art. 31
Abs. 3 des Statuts, wonach der IStGH ermächtigt wird, bei der Verhandlung andere
als in Art. 31 Abs. 1 IStGH-Statut genannte Gründe für die Freistellung von straf-
rechtlicher Verantwortung in Betracht zu ziehen, wenn diese aus dem anwendbaren
Recht nach Art. 21 IStGH-Statut abgeleitet sind.
Nicht auszuschließen sind Unstimmigkeiten auch im Bereich der Irrtumslehre.
Sehr deutlich wird dies am Beispiel des Erlaubnistatbestandirrtums, der im Statut
nicht vorgesehen ist. Wird allerdings, wie hier vorgeschlagen, Art. 32 Abs. 1
IStGH-Statut auf diese Situation analog41 angewandt, decken sich deutsches Straf-
recht und das Statut wiederum.
Genauso wenig kennt das Statut den unvermeidbaren Verbotsirrtum als Strafbe-
freiungsgrund42, was im Hinblick auf das Schuldprinzip erhebliche Kritik hervor-

40
MK-Weigend, § 2 VStGB, Rn. 19, der allerdings darauf verweist, dass der Gerichtshof in
derartigen Fällen „kein Interesse an der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit haben dürfte“; vgl.
auch Triffterer-Eser, Rome Statute, Art. 31 Rn. 12, unter Anführung weiterer Beispiele.
41
Satzger, NStZ 2002, 128.
42
Siehe Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 5. Auflage 2011, § 15
Rn. 42.
Völkerstrafgesetzbuch zwischen Gesetzlichkeits- und Komplementaritätsprinzip 373

ruft.43 Allerdings wird man davon ausgehen können, dass ein solcher Irrtum im Völ-
kerstrafrecht letztlich ohnehin nur für die Kriegsverbrechen zum Tragen kommen
könnte. Selbst bei einer nur groben Übertragung der deutschen Bestimmungen
zum unvermeidbaren Verbotsirrtum erscheint es z. B. nur schwer vorstellbar, dass
der betroffene Täter bei „gehöriger Gewissensanspannung“44 zu dem Ergebnis ge-
kommen wäre, dass die Tötung eines Menschen in der Absicht, eine religiöse Gruppe
zu vernichten, erlaubt sei. Anders ist es nur im Bereich der Kriegsverbrechen; das
Dickicht der dortigen Einzelregelungen ist für den Soldaten nicht ohne Weiteres
nachvollziehbar und verständlich, sodass Situationen denkbar erscheinen, in
denen sich der Täter in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befindet.45 Zur Wah-
rung des Schuldprinzips sollte hier ein Straffreistellungsgrund in entsprechender An-
wendung des Art. 32 Abs. 2 IStGH-Statut bejaht werden.46
Eine deutliche Lücke zwischen dem Statut und dem VStGB existiert auch im Hin-
blick auf die Verjährungsregelung, Art. 29 IStGH-Statut sieht hier einen Verjäh-
rungsausschluss für sämtliche in die Zuständigkeit des IStGH fallenden Delikte
vor. Das VStGB ordnet in seinem § 5 VStGB zwar ebenfalls die Unverjährbarkeit
an, allerdings beschränkt auf Verbrechen (§ 12 Abs. 1 StGB, § 2 VStGB). Folglich
gilt der Verjährungsausschluss nicht für die Verletzung der Aufsichtspflicht (§ 13
VStGB) und das Unterlassen der Meldung einer Straftat (§ 14 VStGB), die lediglich
als Vergehen ausgestaltet sind. Hier greifen die Verjährungsregeln des § 78 StGB,
was zu dem – unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität unerwünschten – Ergebnis
führen kann, dass eine solche Straftat nicht mehr verfolgbar ist, während der IStGH
dieselbe Tat – mangels Verjährbarkeit der in seine Zuständigkeit fallenden Delikte –
aburteilen könnte. Dennoch entschied sich der Gesetzgeber für diese Variante, weil er
offenbar einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG befürchtete, würde man Vergehen
nach dem StGB und solche des VStGB in Bezug auf das Verjährungsregime unter-
schiedlich behandeln. Ob eine dem Rom-Statut entsprechende Regelung tatsächlich
gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen würde, darf jedoch bezweifelt werden, denn die
Tatsache, dass es sich um völkerrechtliche Delikte – wenngleich minderer Schwere
– handelt, die in die (komplementäre) Zuständigkeit des IStGH fallen und somit,
auch bei Verjährung nach deutschem Recht, auf internationaler Ebene verfolgt wer-
den können, stellt einen hinreichenden „sachlichen Grund“ dar, der die unterschied-
liche Verjährungsregelung rechtfertigt.47

43
Werle, Völkerstrafrecht, 2. Auflage 2007, Rn. 535.
44
So der allgemein anerkannte Maßstab im Rahmen des § 17 StGB, vgl. Satzger/Schmitt/
Widmaier-StGB/Momsen, § 17 Rn. 45 ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 40. Auflage 2010,
Rn. 466 jeweils m.w.N.
45
Die Unvermeidbarkeit eines Irrtums wird jedoch durch den IStGH nur in Einzelfällen
bejaht werden; siehe z. B. „Lubanga“ (PTC I), Confirmation of Charges v. 29. 1. 2007
(Rn. 306, 312 – 314).
46
Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 5. Auflage 2011, § 15 Rn. 42.
47
Kreicker, ZRP 2002, 371; a.A. MK-Weigend, § 5 VStGB Rn. 10.
374 Helmut Satzger

Ganz bewusst und ausdrücklich bleibt das VStGB schließlich in den §§ 4, 13 im


Bereich der Verantwortlichkeit militärischer Befehlshaber und sonstiger Vorgesetz-
ter hinter der Regelung des Art. 28 des Statuts zurück. Im VStGB wird die strafrecht-
liche Verantwortung des (militärischen) Vorgesetzten nur für die Fälle mit der des
Untergebenen gleichgesetzt, in denen der Vorgesetzte die nach dem VStGB strafbare
Tat des Untergebenen vorsätzlich nicht verhindert und ihn ebenfalls Vorsatz hinsicht-
lich der Tat des Untergebenen trifft. Das Statut geht weit darüber hinaus und dehnt die
Gleichstellung auch auf diejenigen Konstellationen aus, in denen dem Vorgesetzten
nur Fahrlässigkeit hinsichtlich der Tat des Untergebenen bzw. hinsichtlich der eige-
nen Verhinderung vorgeworfen werden kann.48 Diese Fälle werden von § 13 VStGB
zwar auch, aber nur als Vergehen erfasst. Eine Gleichbehandlung des nur fahrlässig
handelnden Vorgesetzten mit dem vorsätzlich handelnden Untergebenen passt je-
doch nicht in die Systematik des deutschen StGB.
Im Bereich des Besonderen Teils findet sich zunächst eine Form von Abwei-
chung, die im Hinblick auf das Komplementaritätsprinzip jedoch als unproblema-
tisch einzustufen ist. Das VStGB beschränkt bei einer Reihe von Delikten die Straf-
barkeit auf Taten von gewisser Erheblichkeit, was in den entsprechenden Tatbestän-
den des Statuts so keine Entsprechung findet.49 Von einem Zurückbleiben hinter dem
Maßstab des Rom-Statuts lässt sich für derartige „Bagatellen“ aber schon deshalb
nicht sprechen, weil sich die Zuständigkeit des IStGH gemäß Art. 5 Satz 1 des Statuts
„auf die schwersten Verbrechen beschränkt, welche die internationale Gemeinschaft
als Ganzes berühren“,50 sodass bereits im Statut selbst ein Erheblichkeitsfilter ange-
legt ist,51 den der deutsche Gesetzgeber insoweit nur – bezogen auf einzelne Tatbe-
stände – konkretisiert.
Problematischer sind hingegen einzelne Straftatbestände, die – im berechtigten
Bestreben, den deutschen Bestimmtheitsanforderungen für das Strafrecht gerecht
zu werden – teilweise deutlich enger als die vergleichbaren Vorschriften des Statuts
formuliert wurden, sodass sich insoweit Lücken gegenüber dem Statut ergeben.52
Diese erscheinen vor dem Hintergrund des Art. 103 Abs. 2 GG allerdings unvermeid-
lich, wobei zu berücksichtigen ist, dass es nur marginale, weniger bedeutende Ab-
weichungen sind. Problematisch ist hingegen, dass das VStGB nicht überall dem Be-
stimmtheitsgrundsatz gerecht wird, indem seine Tatbestände teilweise sehr weit ge-
fasst sind. Vor diesem Hintergrund sind gewisse Lücken gegenüber dem Statut not-
wendig und akzeptabel, sodass theoretisch die Ausübung der Gerichtsbarkeit durch
den IStGH eröffnet wäre. Das nationale Strafrecht kann nicht vollständig dem Statut

48
Siehe dazu Ambos, Criminal Law Forum 1999, 16 ff.
49
Siehe z. B. § 8 Abs. 1 Nr. 7 und § 9 Abs. 1 VStGB.
50
Siehe auch Abs. 4 der Präambel.
51
Siehe dazu Triffterer-Zimmermann, Rome Statute, Art. 5 Rn. 8 f.
52
Beispielsweise enthält Art. 7 Abs. 1 lit. g), Abs. 2 lit. f) IStGH-Statut ein weiter gefasstes
subjektives Verbrechenselement gegenüber dem entsprechenden Tatbestand des § 7 Abs. 1
Nr. 6 VStGB.
Völkerstrafgesetzbuch zwischen Gesetzlichkeits- und Komplementaritätsprinzip 375

folgen, sondern muss seinen eigenen Prinzipien treu bleiben, wenngleich dies die
komplementäre Ausübung des Gerichtshofs auszuüben vermag.53

IV. Zusammenfassung
Trotz der erhobenen Kritik löst das VStGB die Aufgabe, die deutsche Rechtsord-
nung in Einklang mit dem IStGH-Statut zu bringen, im Wesentlichen recht gut. Völ-
kerrechtsverbrechen und ihr besonderer Unrechtsgehalt können nunmehr auch vom
innerstaatlichen Strafrecht adäquat erfasst werden. Das rechtspolitische „Ideal“, die
in die Zuständigkeit des IStGH fallenden Delikte möglichst vollständig durch deut-
sche Gerichte unter Zugrundelegung des nationalen Strafrechts aburteilen zu kön-
nen, wird durch das VStGB zwar nicht komplett verwirklicht. Die Lücken, die
nur in seltenen Ausnahmefällen zu einer Übernahme von Verfahren durch den
IStGH führen könnten, erscheinen allerdings hinnehmbar und durch gute Gründe ge-
rechtfertigt. Eine wie auch immer auszugestaltende „Voll-Umsetzung“54 des Rom-
Statuts in das deutsche Strafrecht ist aus völkerrechtlicher Sicht nicht geboten und
ließe sich mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG
nicht in Einklang bringen. Das Gesetz kann somit – gerade wegen seiner gegenüber
dem Statut klareren und systematischeren Ausgestaltung – durchaus Vorbildcharak-
ter für sich in Anspruch nehmen und anderen Staaten wertvolle Anregung für die An-
passung der eigenen Rechtsordnung an das Rom-Statut bieten.55

53
Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 5. Auflage 2011, § 17 Rn. 30.
54
Dazu Werle, JZ 2001, 887.
55
Siehe auch Wirth/Harder, ZRP 2000, 146; Kreß, Vom Nutzen eines deutschen Völker-
strafgesetzbuchs, 2000, S. 31.
V. Krise des Gesetzlichkeitsprinzips
und Ansätze einer Neuausrichtung
Über die Gerechtigkeit und Rechtssicherheit
im Strafrecht
Enrique Bacigalupo*

I.
Die Idee von Sicherheit und Freiheit ist in der politisch-juristischen Tradition eng
verbunden mit der Gesetzlichkeit. Das Gesetz erlaubt es, die Grenzen staatlichen
Handelns und den Rahmen, in dem individuelle Entscheidungen allein vom Willen
der Person abhängen, zu erkennen.
In der Rechtsordnung ist es das Strafrecht, welches sich in dieser Tradition als
wichtigste Beschränkung der Freiheit dargestellt und damit am meisten zur Bedeu-
tungsbestimmung der Gesetzlichkeit beigetragen hat. Soweit es in den modernen
Verfassungen, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und dem Vertrag
über eine Verfassung für Europa, erkennbar ist, spielte das Strafgesetz seit der Erklä-
rung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 eine entscheidende Rolle für die formale
Beschränkung des ius puniendi, und garantiert so Freiheit und Rechtssicherheit.
Indem es für Rechtssicherheit sorgt, macht es auch Freiheit möglich, soweit deren
Reichweite nur durch die Grenzen, die das Strafgesetz festlegt, beschränkt wird.
Man kann folglich feststellen, dass das Gesetzlichkeitsprinzip – „das erste und
wahrscheinlich heute noch wichtigste“1 – praktisch das einzige Prinzip des Straf-
rechts ist, welches ausdrücklich in den Verfassungstexten auftaucht. Das andere
wichtige Prinzip des modernen Strafrechts, das Schuldprinzip, ist letztlich ein von
der Rechtsprechung entwickeltes dogmatisches Konstrukt, welches für gewöhnlich
auf die Menschenwürde und die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ (derecho al
libre desarrollo de la personalidad) gestützt wird (die spanische Verfassung nimmt
auf beides in Art. 10.1 Bezug). Auch wenn das Schuldprinzip gelegentlich Verfas-
sungsrang besitzt, ist es weder in allen Mitgliedstaaten der EU in gleicher Weise an-
erkannt (so z. B. nicht in Frankreich), noch bildet es ein eigenes Gebiet der grund-

* Der vorliegende Text basiert auf einem Vortrag, der am 25. März 2010 an der Rechts-
wissenschaftlichen Fakultät der Universität Austral, Buenos Aires, Argentinien, gehalten
wurde. Übersetzung ins Deutsche durch Diana Rodriguez.
1
J. de Figueiredo Dias, Direito Penal Português, As consequências jurídicas do crime,
1993, S. 71.
380 Enrique Bacigalupo

rechtlichen Dogmatik2. Darüber hinaus wird es auch in der strafrechtlichen Lehre


nicht als Ausdruck der Garantiefunktion des Strafrechts im Rechtsstaat behandelt;
es wird vielmehr für ein Prinzip der Kriminalpolitik3 oder für eine Beschränkung prä-
ventiver staatlicher Eingriffe4 gehalten.
Das Gesetzlichkeits- und das Schuldprinzip sind, ungeachtet ihrer Bedeutung,
formelle Prinzipien: Sie bestimmen weder den Inhalt des Strafgesetzes noch der
Strafbarkeit. In der aktuellen Strafrechtswissenschaft erschöpft die formelle Behand-
lung dieser Garantien nicht die verfassungsrechtliche Problematik des Strafrechts.
In letzter Zeit haben aber auch materielle Fragen an verfassungsrechtlicher
Bedeutung gewonnen, wie etwa solche danach, „wieviel“ Strafrecht mit einer demo-
kratischen Gesellschaft kompatibel ist, solche nach den verfassungsrechtlichen Be-
grenzungen der Strafgesetze oder solche nach den zulässigen Grundrechtseingriffen
zu Gewährleistung der Sicherheit. Gleichzeitig wurden in die Charta der Grundrechte
der Europäischen Union und in den Vertrag über eine Verfassung für Europa neue
verfassungsrechtliche Garantien aufgenommen, wie die Rückwirkung der günstigs-
ten Strafrechtsnorm, der bisher im Allgemeinen kein Verfassungsrang zukam, und
der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. In der Rechtsprechung hat die Reduktion der
Reichweite des Rückwirkungsverbots im Völkerstrafrecht und im nationalen Straf-
recht bezüglich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit besondere Bedeutung er-
langt.
Dieser Wandel der Verfassungsprinzipien im Strafrecht ist nicht der Erste seiner
jüngeren Geschichte, könnte aber der Tiefgreifendste sein. Der Erste vollzog sich
nach dem zweiten Weltkrieg als Folge der Reform der Rolle der Judikative im
Staat. Tatsächlich war in der Tradition des liberalen Staates, wie er aus der Franzö-
sischen Revolution hervorgegangen ist, eine Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit
von Parlamentsgesetzen durch die Gerichte nicht vorgesehen. Aus diesem Grund
blieben die Strafgesetze außerhalb der verfassungsrechtlichen Überlegungen, wäh-
rend ihre Anwendung wiederum einer Rechtsprechung vorbehalten blieb, die die Ver-
fassungsmäßigkeit des Gesetzes nicht beurteilen durfte. Dementsprechend entschied
allein das Parlament über die Verfassungsmäßigkeit seiner eigenen Gesetze: Wenn
das Parlament also ein Gesetz beschloss, konnte diese Entscheidung – vorausgesetzt
Form und Inhalt waren so von der Verfassung vorgesehen – von den Gerichten weder

2
Vgl. J. Pérez Royo, Curso de Derecho Constitucional, 3. Aufl., 1996, S. 277 ff.; B. Pie-
roth/B. Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 3. Aufl., 1987, S. 87 ff.; K. Hesse, Grundzüge des
Verfassungsrechts der BRD, 16. Aufl., 1988, S. 144 ff.
3
So H.-H. Jescheck/Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, AT, 5. Aufl., 1996, S. 23 ff.
Siehe auch: M. Köhler, Strafrecht, AT, 1997, S. 71 ff. und 347 ff. In gleichem Sinne in Italien:
G. Marinucci/E. Dolcini, Diritto Penale, PG [= AT], 2002, S. 13 ff.; G. Fiandaca/E. Musco,
Diritto Penale, PG, 1990, S. 19 ff. und 154 ff. In Frankreich taucht das Schuldprinzip als
verfassungsrechtl. Anforderung an das Strafrecht nicht auf, sondern als Begrenzung der
Strafjudikative: vgl. J.-H. Robert, Droit Pénal Général, 5. Aufl., 2001, S. 120 ff.; J. Pradel,
Droit Pénal Général, 12. Aufl., 1999, S. 131 ff.
4
So C. Roxin, Strafrecht, AT I, 3. Aufl., 1997, S. 59 ff.
Über die Gerechtigkeit und Rechtssicherheit im Strafrecht 381

beurteilt noch aufgehoben werden. Diese Situation stellt den großen Unterschied
zwischen der Verfassung der USA und dem politischen System der Französischen
Revolution dar. Dies bringt auch Alexis de Tocqueville zum Ausdruck, wenn er
den grundlegenden Unterschied zwischen den nordamerikanischen und europäi-
schen (in Wahrheit meint er die französischen) Richtern darin sieht, dass erstere
eine ausgeprägte politische Macht besitzen, und dies als Konsequenz daraus folgert,
dass „die Amerikaner […] den Richtern das Recht zugestanden [haben], ihre Urteile
vor allem auf die Verfassung und weniger auf die Gesetze zu stützen“5.
Erst nach der Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit, die vor allem ein Pro-
dukt der Verfassungsmodelle Italiens von 1948 und Deutschlands von 1949 ist, hat
die Rechtswissenschaft begonnen, sich mit der Qualität des Gesetzes als Bedingung
für die Rechtmäßigkeit des Strafrechts zu beschäftigen und die Grenzen ihres Inhal-
tes zu untersuchen. Die inhaltlichen Aspekte des Strafrechts, wie sie Art. 5, 8 und 9
der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 enthalten, wur-
den indes allenfalls als gut gemeinte Ratschläge gegenüber dem Gesetzgeber ver-
standen, deren Einhaltung gerichtlich nicht überprüfbar war. Niemand kümmerte
sich um die Durchsetzung des ersten Teils des Art. 8, wonach das Gesetz nur „Strafen
festsetzen [soll], die unbedingt und offenbar notwendig sind“. Unklar ist auch, ob der
Gesetzgeber sich jemals an Art. 5 gehalten hat, nach dem das Gesetz „nur solche
Handlungen verbieten [darf], die der Gesellschaft schaden“. Beleg dafür ist die
Art und Weise, wie über den möglichen Widerspruch von formeller und materieller
Rechtswidrigkeit zu entscheiden war: v. Liszt vertrat, dass ein Richter, der vor einem
solchen Widerspruch stand, Ersterer den Vorzug zu geben habe, soweit er „an das
Gesetz gebunden [ist] und die Korrektur geltenden Rechts außerhalb seiner Kompe-
tenz liegt“6. Auch heute noch ist es nicht die Aufgabe der Gerichte, den Gesetzgeber
zu korrigieren, aber es existiert ein „negativer Gesetzgeber“7, das Verfassungsge-
richt, welches die Möglichkeit besitzt, ein im Widerspruch zur Verfassung stehendes
Gesetz aufzuheben. Zudem war es nicht Sache der Lehre, entsprechend Art. 9 zu
überprüfen, ob das Verbot von übermäßiger Härte zur Sicherung der inhaftierte Per-
son, eine Forderung war, die nicht nur den vorläufigen, sondern auch den vollstän-
digen Freiheitsentzug betraf.
Die neue Situation hat den Gehalt des Gesetzlichkeitsprinzips nur geringfügig
verändert: Es wurden keine Garantien bezüglich des Inhaltes von Strafgesetzen auf-
genommen, aber es wurde wenigstens eine neue Konsequenz aus dem Gesetzlich-
keitsprinzip bestimmt. Früher verlangte dies lediglich eine lex praevia, scripta
und stricta. In dieser neuen historischen Phase wurde darüber hinaus die Notwendig-
keit einer präzisen Festlegung von Straftatbeständen (lex certa) deutlich. Welzel
5
De la démocratie en Amérique, 1835 zitiert gem. der Ausgabe von André Jardin, Hrsg.,
Gallimard, Paris (1986), I, S. 166 (kursiv entsprechend des Originals).
6
F. v. Liszt, stellte fest, dass der materielle Gehalt der Straftat „metajuristischer“ Natur sei,
Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 23. Aufl., 1921, S. 140. Vgl. auch zu diesem Problem
K. Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972.
7
H. Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, 1931, S. 27.
382 Enrique Bacigalupo

schrieb 1956 in diesem Sinne, dass die wahre Gefahr, die dem nulla poena-Prinzip
bedrohe, nicht die Analogie, sondern die Unbestimmtheit der Strafgesetze sei8.
Nichtsdestotrotz meinte Maurer noch 1971, dass eine lex certa überflüssig sei,
d. h. eine lex scripta ausreiche9.
Zur gleichen Zeit, als die modernen europäischen Verfassungen Gerichtsbarkei-
ten mit der Kompetenz einführten, Gesetze auf deren Verfassungsmäßigkeit zu prü-
fen, hat das Strafrecht eine beachtliche Entwicklung gemacht, bei der neue Tatbe-
stände auf die modernen Formen der Kriminalität reagieren, etwa im Völker- oder
Wirtschaftsstrafrecht oder bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In diesen
haben aus Sicht des Rechtsstaates die Gesetzmäßigkeitsanforderungen an das Straf-
recht zu neuen Problemen geführt.

II.
Praktisch alles, was zum Gesetzlichkeitsprinzip erschienen ist, enthält äußerst
wichtige Ansätze für die aktuelle Diskussion. Einige unter ihnen lassen einen Bedeu-
tungsverlust dieses Prinzips in den letzten fast drei Jahrzehnten und seine Schwierig-
keiten, sich ausreichend Geltung zu verschaffen, erkennen10.
In der ursprünglich lateinischen Version des Gesetzlichkeitsprinzips nach Feuer-
bach wurde lediglich ein präexistentes Gesetz gefordert: nulla poena sine lege, nulla
poena sine crimine, nullum crimen sine poena legali11. Diese Anfang des 19. Jahr-
hunderts aufgestellte These Feuerbachs war wahrscheinlich die erste theoretisch-ju-
ristische Formulierung der Forderungen des Art. 8 der Erklärung der Menschen- und
Bürgerrechte vom 26. August 1789. Für Feuerbach war die lex praevia aber vor allem
eine Voraussetzung für seine Theorie von der Strafe als psychologischer Zwang: Nur
eine bekannte Gefahr kann abschrecken. Nichtsdestotrotz geht die Grundlage des
Gesetzlichkeitsprinzips über die Strafzwecktheorie hinaus. Sie findet sich in einer
Staatstheorie, die von der aufklärerischen Philosophie und insbesondere von der
Idee von Demokratie in der Ausprägung der Lehre vom Gesellschaftsvertrag beein-
flusst ist12. Dementsprechend existiert die Idee, dass Freiheit allein durch den Willen
der Allgemeinheit beschränkt werden kann, d. h. durch das Gesetz eines demokrati-
schen Parlaments. Wer dieser Vertragstheorie nicht folgt, bezieht sich auf die Objek-

8
Das Deutsche Strafrecht, 5. Aufl., 1956, S. 21.
9
Deutsches Strafrecht, 4. Aufl., 1971, S. 95.
10
Vgl. B. Schünemann, Nulla poena sine lege?, 1978; Tiedemann, Verfassung und Straf-
recht, 1991, S. 36 ff.
11
Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts,
14. Aufl., 1847, § 20 (S. 41).
12
Vgl. W. Hassemer, AK-StGB, 1990, S. 142, mit weiteren Nachweisen. Siehe auch
C. Roxin, Strafrecht, AT, 3. Aufl., 1997, S. 101 ff.; H.-L. Schreiber, Gesetz und Richter, 1976,
S. 22 ff.
Über die Gerechtigkeit und Rechtssicherheit im Strafrecht 383

tivitätsgarantie13. Beide Begründungen stehen aber nicht im Widerspruch zueinan-


der, soweit es um die Folgerungen geht. Auch wer nicht den vertragsrechtlichen An-
satz vertritt, hält es dennoch für notwendig, dass die Norm von einem demokratisch
legitimierten Legislativorgan stammt.
Die Analyse der Entwicklung des Strafrechts im 20. Jahrhundert hilft zu belegen,
dass das Gesetzlichkeitsprinzip – mit seinen vier aufgezeigten Aspekten – erheblich
durch die historischen Ereignisse des letzten Jahrhunderts beeinflusst wurde. Diese
hatten eine starke Nachwirkung im öffentlichen Bewusstsein und führten letztlich
über die Europäische Menschenrechtskonvention aus dem Jahre 1950 zu einer Eu-
ropäisierung des Gesetzlichkeitsprinzips, und sogar zu einer noch weiteren Interna-
tionalisierung in der UN-Menschenrechtscharta vom 10. Dezember 1948 und im In-
ternationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (New York 1966) sowie
wiederum zu einer Regionalisierung in der Amerikanischen Menschenrechtskonven-
tion (San José, Costa Rica 1969) und der Arabischen Charta der Menschenrechte von
199414.
Diese Verträge haben bedeutende Modifikationen in Hinblick auf das Gesetzlich-
keitsprinzip eingeführt, die ohne Zweifel dessen traditionelles Fundament in seiner
Idee von Rechtssicherheit erschüttert haben. So hat etwa die EMRK in ihrem Art. 7
Abs. 1 – neben dem innerstaatlichen – das internationale Recht und in ihrem Art. 7
Abs. 2 die „von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsät-
ze“ als Quellen des Strafrechts anerkannt15. Die Charta der Grundrechte der Europäi-
schen Union (Art. 49), am 7. Dezember 2000 in Nizza verabschiedet, und der euro-
päische Verfassungsvertrag (Art. II-109, 1) haben die dargelegte Linie der Konven-
tion bestätigt, indem sie nämlich als Quelle des Strafrechts nicht nur das nationale,
sondern auch internationales Recht zulassen. Sie spezifizieren jedoch nicht, ob es
sich dabei um solches aus völkerrechtlichen Verträgen, denen die europäischen Mit-
gliedsstaaten beigetreten sind, oder um (ggf. auch ungeschriebene) Grundsätze all-
gemeiner Akzeptanz handelt16. Art. 9 der Amerikanischen Konvention nimmt hier-
bei in besonders mehrdeutiger Weise Bezug auf das „anwendbare Recht“, lässt dabei
aber offen, welches Recht damit gemeint sei.
Die Internationalisierung des Gesetzlichkeitsprinzips hat also eine beachtliche
Ausweitung der Quellen des Strafrechts mit sich gebracht und dabei auch Quellen
des Völkerrechts eingeführt, die viel weiter sind und so die Gesetzlichkeit als Idee
der Rechtssicherheit und in der Konsequenz auch die Anforderungen an eine lex
13
Vgl. G. Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., 1991, S. 73. Siehe diesbzgl. auch: M. Köhler,
Strafrecht, 1996, S. 76 f.
14
Noch nicht in Kraft.
15
In diesem Sinne: Art. 15.2 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte,
New York 1966.
16
Das französische Recht akzeptiert beispielsweise die Anwendung seiner internen Strafen
auf die Fälle der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Ex-Yugoslawien und Ruanda, wie
im Völkerrecht definiert. (Gesetze Nr. 95-1, vom 2. 1. 1995 und Nr. 96-432, vom 22. 5. 1996).
Siehe: J.-H. Robert, Droit Pénal General, 5. Aufl. 2001, S. 109.
384 Enrique Bacigalupo

scripta und lex praevia relativieren17. Auf der anderen Seite hat auch die Rechtssi-
cherheit im innerstaatlichen Strafrecht an Bedeutung verloren, die Justiz jedoch auf
Kosten der Sicherheit und Freiheit an Bedeutung dazu gewonnen, was etwa auch au-
ßerhalb des Bereichs staatlicher Kriminalität gegen Menschenrechte in einzelnen
Auslegungen der Aspekte des Gesetzlichkeitsprinzips durch die Rechtsprechung of-
fenbar wird.18
Durch das Aufgreifen der allgemeinen, von den „zivilisierten Völkern“ anerkann-
ten Rechtsgrundsätze in Art. 7 Abs. 2 EMRK, sollten bekanntermaßen die Nürnber-
ger Prozesse legitimiert werden. Dies wird aus den Veröffentlichungen des Sachver-
ständigengremiums vom 24. 02. 1950 deutlich19. Wahrscheinlich war es die gleiche
Idee, die auch die anderen Völkerverträge über Menschenrechte inspiriert hat. In die-
sem Punkt bestehen enorme Unterschiede zwischen dem Umfang der internationalen
und der ihnen korrespondierenden nationalen Gesetzlichkeitsprinzipien. Insbeson-
dere hatte sich Deutschland ursprünglich ausdrücklich bezüglich des Art. 7 Abs. 2
EMRK vorbehalten, dessen Gehalt so aufzufassen, dass er nicht von den Garantien
des Art. 103 Abs. 2 GG abweicht, soweit Art. 7 EMRK in nationales Recht, wenn
auch nur mit Gesetzesrang, überführt wurde20.
Es ist schwer zu sagen, was die „von den zivilisierten Völkern anerkannten allge-
meinen Rechtsgrundsätze“ in der aktuellen Staatspraxis bedeuten, da die Staaten
selbst sich stets als zivilisiert angesehen haben. Es kann aber nicht ignoriert werden,
dass die USA – unter absurder Verweisung darauf, dass Verfassungsgarantien den
Staat nur auf seinem Staatsgebiet binden würden – geheime Foltergefängnisse in ei-
nigen europäischen Staaten errichtet hatten und immer noch offensichtlich nach allen
Rechtsordnungen rechtwidrig21 ein Gefängnis für mutmaßliche Terroristen in ihrer
Militärbasis Guantánamo betreiben. Das Gleiche gilt für die Tatsache, dass anschei-
nend 46 % der Nordamerikaner für die Folter sind22. Es widerspricht dem juristischen

17
Vgl. G. Werle, Völkerstrafrecht, 2003, S. 52 ff.
18
Außerhalb dieses Bereichs ist die Entscheidung des Plenums der Sala de lo Penal del
Tribunal Supremo vom 29. 11. 2005 bezeichnend, in der festgestellt wurde, dass der Wo-
chenendarrest abzulehnen ist und für solche Delikte, für die nur diese Strafe in Betracht kam
und der Gesetzgeber keine Ersatzstrafe vorgesehen hatte, eine von den Gerichten als gleich-
wertig bezeichnete Strafe verhängt werden konnte. Es ist nicht zu übersehen, dass das Tribunal
Supremo damit eine legislative Aufgabe wahrnimmt, die mit dem in der Verfassung veran-
kerten Prinzip der Gewaltenteilung nicht vereinbar ist.
19
Vgl. J. A. Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., 1996, S. 327.
20
Vgl. A. Eser, in: Schönke/Schröder, StGB Kommentar, 26. Aufl., 2001, § 1 Rn. 3. Siehe
auch: H.-H. Jescheck/Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, 5. Aufl., 1996, S. 133. Dieser
Vorbehalt wurde mit Erklärung vom 1. Oktober 2001 zurückgezogen.
21
Vgl. El País (Madrid) vom 6. 12. 2005, S. 4 und 5. 12. 2005, S. 4. Siehe auch den Artikel
von Ana Barón über die Untersuchungen der Washington Post, in Clarín (Buenos Aires), 19.
11. 2005, S. 50 und den von Soledad Gallego Díaz, in El País (Madrid), 18. 11. 2005, S. 19.
22
Vgl. La Nación (Buenos Aires), 18. 11. 2005. Es entspricht auch nicht dem Charakter
zivilisierter Länder, wenn die Regierungen der EU mit den USA ein Abkommen geschlossen
haben, Stillschweigen über die Nutzung ihrer Flughäfen und Lufträume durch die CIA zur
Über die Gerechtigkeit und Rechtssicherheit im Strafrecht 385

Grundverstand, wenn im Vereinten Königreich das House of Lords im Jahre 2005


gezwungen war, das Urteil eines englischen Berufungsgerichts aufzuheben, welches
die Verwertbarkeit von Beweisen bejahte, die aufgrund von Folter gewonnen wurden,
solange diese nicht von Hoheitsträgern des Vereinten Königreichs ausgeführt worden
war.23
Bekanntermaßen spielte diese Frage im Bereich der Verbrechen gegen die
Menschlichkeit unter Zuhilfenahme des staatlichen Machtapparats eine große
Rolle und relativiert damit die Garantien, etwa die der lex scripta und lex praevia.
Das Gewicht der Taten hat bei dieser Form der Kriminalität eine besondere Bedeu-
tung. Es bestehen keine Zweifel, dass es sich um Tatbestände handelt, deren Straf-
androhung eindeutig im Widerspruch zur formellen Gesetzesmäßigkeit stehen kann.
Staatliche Verstöße gegen die Menschenrechte sind tatsächlich moralisch höchst ver-
werflich, aber in der Regel formal „gerechtfertigt“, soweit sie gesetzlich oder durch
einen Funktionär im Rahmen der geltenden (rechtswidrigen) Rechtsordnung eines
scheinbaren Rechtsstaates angeordnet werden.
Eine bedeutende Ursache dieser Tendenz ist etwa in der Relativierung des Rück-
wirkungsverbots bezüglich der Verjährung von Schwerstkriminalität auszumachen.
Ein Beispiel dafür liefert das deutsche BVerfG in seiner Entscheidung vom 26. 02.
1969 (BVerfGE 25, 269), nach der kein Vertrauensschutz bezüglich Verjährungsfris-
ten bestehe24, weil hinsichtlich dieser das Vertrauen in den Bestand der Rechtlage
„nicht schützenswert“ sei und der Gesetzgeber im Fall der Verjährung den Konflikt
zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit zugunsten letzterer auflösen durfte.
Auf diesem Wege wurde die UN-Konvention vom 26.11.98 über die Unverjährbar-
keit von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die
Rechtsprechung rückwirkend in geltendes Recht überführt25.
Desweiteren wurde in der Lehre erwogen, dass die Anwendung des Gesetzlich-
keitsprinzips in diesem Bereich zu offensichtlich ungerechtfertigten Ergebnissen
führe und mithin dort nicht gelten solle. Die weitgehendste Ansicht in diesem Pro-
blemkreis will gar einen „vierten Weg“ gehen und die Prinzipien des Gesetzlichkeits-
prinzips bei Staatskriminalität außer Acht lassen26. In diesem Sinne meinte etwa
Naucke, dass die Anwendung rechtsstaatlicher Grundsätze im positivistischen
Sinne angesichts dieser schweren Form der Kriminalität eine ungerechtfertigte Pri-
vilegierung sei: „Die aktuelle juristische Strafrechtsdogmatik besagt, sie sei eine

Überführung mutmaßlicher Terroristen in geheime Gefängnisse zu bewahren. Die Be-


schwerde des Europäischen Rats über den Mangel an Informationen trotz Anfrage sagt in
diesem Sinne alles (siehe El País (Madrid), 22. 1. 2006, S. 2 und 3).
23
Vgl. El País (Madrid) vom 9. 12. 2006, S. 9.
24
Das Urteil bezieht sich auf das Strafverjährungsfristengesetz vom 13. 4. 1965, wodurch
die Verjährungsfrist für Mord während des Naziregimes bis zum 31. 12. 1969 verlängert
wurde.
25
Im spanischen Recht legt Art. 131.4 CP diese Regel fest.
26
Vgl. W. Naucke, Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität, 1996,
S. 65 ff. und 82 ff.
386 Enrique Bacigalupo

Friedensdogmatik, eine Dogmatik der Strafbarkeit von A und B. Wenn diese auf
einen Täter angewandt wird, der sich des Staatsapparats bedienen kann oder zumin-
dest diesen hinter sich weiß, befindet er sich juristisch in einer besseren Position, als
er sollte“27. Das heißt: „Die Staatskriminalität ist ein Problem des Naturrechts.“28
Die europäische Rechtsprechung hat es bisher nicht geschafft, die Anwendung
bestimmter Aspekte des Gesetzlichkeitsprinzips für diese Art der Kriminalität zu un-
terbinden. Der EGMR hat das Gesetzlichkeitsprinzip allgemein verstanden, also
ohne es bei staatlich begangenen Delikten zu beschränken, hat es aber gleichzeitig
dergestalt nuanciert, dass es ihm erlaubt war, Straflosigkeit von Taten zu vermeiden,
die zwar nicht dem zur Zeit der Tatbegehung geltenden Recht, aber fundamentalen
Werten der internationalen Gemeinschaft widersprachen. Insoweit als das hinsicht-
lich des Strafrechts relevante Völkerrecht dem Schutz der Menschenrechte dient, be-
treffen die Beschränkungen der Folgen des Gesetzlichkeitsprinzips auch die Staats-
kriminalität gegen Menschenrechte und nicht bloß die in der Zuständigkeit der
IStGH liegenden Delikte.
In der Rechtsprechung des EGMR hat sich die Notwendigkeit eines „vorher be-
stehenden“ Gesetzes dergestalt verändert, dass ein bestehendes Gesetz i.S.d. gelten-
den Völkerrechts rechtmäßig sein muss. D.h., das Strafrecht verlangt vom Bürger,
dass dieser nicht nur nach den in seinem Staat geltenden Regeln handelt, sondern
sich auch entsprechend der ungeschriebenen Rechtsgrundsätze und des Völkerge-
wohnheitsrechts verhält, von denen kein Staat abweichen kann29. Kurz gesagt:
Das Gesetz kann im Strafrecht nicht ohne weiteres als Rechtfertigungsgrund heran-
gezogen werden. Dabei handelt es sich um keine neue Erkenntnis. Schon die Völker-
rechtskommission vertrat während ihrer zweiten Sitzungsperiode 1950 entsprechen-
de Ansichten, als sie für die durch die Statuten und die Nürnberger Prozesse aner-
kannten Völkerrechtsgrundsätze plädierte. Entsprechend des Grundsatzes II dieser
Stellungnahme befreit die „Tatsache, dass das innerstaatliche Recht keine Strafe
für eine Tat vorsieht, die nach völkerrechtlichen Regeln verboten ist, nicht von
der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit desjenigen, der die Tat begangen hat“30.
Der EGMR hat unlängst diese Ansicht bestätigt und festgestellt, dass es unzuläs-
sig ist, sich zur Rechtfertigung auf die staatlichen Befehle in der ehemaligen DDR zu
berufen, die den Grenzsoldaten auftrugen, Bürger festzunehmen oder zu erschießen,
die ohne Erlaubnis die Grenze überqueren wollten. Solche Befehle stellten, laut
EGMR, einen „Verstoß gegen die Pflicht, die Menschenrechte zu achten, und
gegen andere völkerrechtliche Pflichten“ durch den Staat dar (Fälle Streletz, Kessler
und Krenz, § 73 und K.-H. W., § 67, beide vom 22. 3. 2001) und „waren eine offen-

27
A.a.O., S. 23.
28
A.a.O., S. 26.
29
Vgl. EGMR, Fälle Streletz, Kessler und Krenz, vom 22. 3. 2001 und K. H. W. vom glei-
chen Tag.
30
Diese Frage war auch Gegenstand des Eichmann-Prozesses. Vgl. H. Arendt, Eichmann à
Jérusalem (Übersetzung aus dem Englischen von Anne Guérin), 1997, S. 431 ff.
Über die Gerechtigkeit und Rechtssicherheit im Strafrecht 387

kundige Verletzung der sich auf Art. 19 und 30 der DDR-Verfassung gründenden
Menschenrechte“ (Fälle K.-H. W. ./. Deutschland, §§ 48 ff., 67; entsprechend: Fall
Streletz/Kessler/Krenz ./. Deutschland, §§ 67/73).

III.
Wenn man die Rechtsprechung des EGMR betrachtet, stellt man außerdem fest,
dass man nur mit Zurückhaltung sagen kann, dass das geschriebene Recht die einzige
Quelle des Strafrechts sei. Schon die Europäische Menschenrechtskommission31
hatte auf der Basis von Art. 7 Abs. 1 EMRK festgestellt, dass die Verschriftlichung
der Tatbestandsmerkmale eines Delikts nicht entscheidend sei, und dass etwa in den
Ländern des common law besagte Prinzipien nicht verletzt seien, wenn die Verurtei-
lung aufgrund eines ungeschriebenen Delikts erfolge, dessen Voraussetzungen und
Folgen sich klar aus der Rechtsprechung ergeben32. Es ist offensichtlich, dass
diese Entscheidung erfolgte, um das Vereinigte Königreich nicht aus der Konvention
auszuschließen.
In jüngster Zeit hat der EGMR geäußert, dass das Wort „Recht“, wie es in Art. 7
Abs. 1 EMRK auftaucht, sowohl als geschriebenes, als auch als ungeschriebenes
Recht verstanden werden kann.33 Damit wird ein klarer Widerspruch zwischen
dem europäischen Gesetzlichkeitsprinzip und dem der europäischen Staaten, wie
Deutschland34, Italien35, Spanien36 oder Portugal37 deutlich, die als Konsequenz
aus dem Erfordernis einer lex scripta das Gewohnheitsrecht aus den Quellen des
Strafrechts ausnehmen. Die vom EGMR vertretene Position ist schwer mit dem tra-
ditionellen politischen Fundament der Forderung nach geschriebenem Recht verein-
bar, weil das ungeschriebene, insbesondere das Gewohnheitsrecht, von keiner demo-
kratisch legitimierten Stelle stammt38. Es ist offensichtlich, dass der EGMR, wenn er
von ungeschriebenem Recht spricht, stillschweigend von Gewohnheitsrecht und den
„von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ aus-
geht. Jedoch widerspricht die Anwendung dieser Grundsätze, die mangels gesetzli-
cher Regelung äußerst unpräzise sind und denen es an einer Verabschiedung durch
31
Entscheidung 8710/79.
32
Vgl. J. A. Frowein/W. Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., 1996, S. 323.
33
Siehe die bereits in Fußnote 12 angegebenen Urteile.
34
Vgl. statt aller: A. Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl., 2001, § 1 Rn. 9 f.
35
Vgl. M. Romano, Commentario Sistemático del Codice Penale, I, 1987, S. 39; auch:
Crespi/Stella/Zuccalà, Comentario breve al Codice Penale, 2002, S. 3; G. Fiandaca/E. Musco,
Diritto Penale, PG, 1990, S. 28.
36
Vgl. E. Bacigalupo, Principios de Derecho Penal, PG, 5. Aufl., 1998, S. 80 f.; S. Mir
Puig, Derecho Penal, PG, 7. Aufl., 2004, S. 116.
37
S. J. de Figueiredo Dias, Direito Penal Português, 1993, S. 71.
38
In gleichem Sinne: G. Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., 1991, S. 73; H.-L. Schreiber,
a.a.O., S. 217 ff.
388 Enrique Bacigalupo

ein nationales oder supranationales demokratisch legitimiertes Organ mangelt, of-


fensichtlich dem vertraglichen Fundament des Gesetzlichkeitsprinzips, wie auch sei-
ner Funktion im Rahmen der Strafzwecktheorie und der Objektivitätsgarantie.
Schreiber39 stellt fest, dass „bei der gegenwärtigen Verfassungslage (…) der Demo-
kratiegedanke sicher ein ganz wesentliches Element des nulla-poena-Prinzips (bil-
det): Das Recht zum Erlaß von Strafgesetzen liegt allein bei der Volksvertretung.“
Leider ist der EGMR wenig klar in der Herleitung seiner Rechtsprechung bezüg-
lich des ungeschriebenen Rechts. In den genannten Entscheidungen der Fälle Stre-
letz, Kessler und Krenz c/Deutschland und K.-H.W. c/Deutschland vom 22. März
2001 hat das Gericht festgestellt, dass aus dem Gesetzlichkeitsprinzip bezüglich
der Delikte und Strafen folgt, dass „ein Verstoß klar im Gesetz definiert“ sein
muss (§§ 50 bzw. 45 des jeweiligen Urteils). Erstaunlicherweise hat ihn das nicht
davon abgehalten, in eben diesen Entscheidungen festzustellen, dass „Art. 7
Abs. 1 der Konvention geschriebenes und ungeschriebenes Recht“ meint (§§ 57
bzw. 52), was vermuten lässt, dass er „ungeschriebene Gesetze“ inbegriffen wissen
will. In diesem Fall hatte das Gericht als ungeschriebenes Recht die Übung angese-
hen, die „zum maßgeblichen Zeitpunkt die Normen des geschriebenen Rechts über-
lagert“ (§ 67). Dadurch, dass der EGMR die ungeschriebenen Gesetze unter den Be-
griff des „inländischen und internationalen Rechts“ des Art. 7 Abs. 1 der Konvention
fasst, hat er es unzweifelhaft abgelehnt, auf Art. 7 Abs. 2 zurückzugreifen, bezüglich
dessen der verklagte Staat (Bundesrepublik Deutschland) einen (zu diesem Zeitpunkt
noch wirksamen) Vorbehalt während der Ratifizierung formuliert hatte40.
Diese Entscheidungen besitzen insoweit Tragweite, als der EGMR in ihnen die
Frage geklärt hat, ob eine lex praevia existiert, die eine Strafbarkeit der Tat im
Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 7 EMRK in der Fassung von 1950 (vergleich-
bar mit Art. 15 Abs. 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische
Rechte) begründet. Eigentlich bestand die dem EGMR vorgelegte Frage darin, zu
klären, ob eine Änderung der Auslegungspraxis eines Rechtfertigungsgrundes
nach Begehung der Tat zuungunsten des Beklagten das Prinzip der lex praevia ver-
letzt41. Der EGMR ist indes, anstatt sich den Problemen der Nichtrückwirkung des
Gesetzes anzunehmen, bei der Lösung des Problems von seiner Vorstellung von un-
geschriebenem Recht ausgegangen, was für den Fall wahrscheinlich unnötig war und
darüber hinaus für Verwirrung gesorgt hat. Wenn einige Stellen des EGMR-Urteils
sich auf „richterliche Auslegung“ und auf „Rechtsprechung als Rechtsquelle“ (§ 50)
beziehen, so ist sicher, dass seine Schlussfolgerungen – soweit sie die ungeschriebe-
ne „Praxis“ der ehemaligen DDR meinen, gewisse Delikte nicht zu verfolgen – direkt
auf Gewohnheitsrecht sowie auf der Tatsache beruhen, dass innerstaatliches Ge-
wohnheitsrecht keine im Völkerstrafrecht gültigen Rechtfertigungsgründe schaffen
kann. Es ging mithin nicht darum zu entscheiden, ob eine Tat strafbar, sondern ob

39
A.a.O., S. 218 f.
40
Bezüglich dieser Anwendung des Art. 7 EMRK, Frowein, a.a.O.
41
Vgl. BGHSt 39, S. 27 ff.
Über die Gerechtigkeit und Rechtssicherheit im Strafrecht 389

deren innerstaatliche Straffreiheit im Lichte des völkerrechtlichen Gewohnheits-


rechts zulässig war.
Der EGMR kommt zu dem Ergebnis, dass innerstaatliche gewohnheitsrechtlich
anerkannte Rechtfertigungsgründe hinter Völkerrecht inkl. internationalem Ge-
wohnheitsrecht zurücktreten können. In diesem Punkt stimmt der EGMR mit der
Doktrin des Entwurfs eines „Strafgesetzbuches der Verbrechen gegen den Frieden
und die Sicherheit der Menschheit“ der Völkerrechtskommission von 1996,
Art. 14, überein, der hinsichtlich der Strafbefreiung auf die allgemeinen Rechts-
grundsätze verweist. Dennoch war aus Sicht des Völkerrechts nicht ohne Weiteres
klar, welches das anwendbare Völkergewohnheitsrecht sei, und der EGMR machte
keine Anstalten, diese Zweifel zu beseitigen. Betrachtet man die Urteile vom
22. März 2001 anhand der Grundsätze der Völkerrechtskommission von 1950, so
stellt eine Tat nur dann ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar, wenn sie
gegen den Frieden oder als ein Kriegsverbrechen begangen wird (Prinzip VI). Dem-
gegenüber konnten diese Taten gemäß Art. 18 des Entwurfs eines „Strafgesetzbuches
der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit“ von 1996 als
Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen werden, wenn ihre Begehung, ent-
sprechend Art. 18, „systematisch oder in großem Maße und angestiftet oder gelenkt
von einer Regierung oder einer politischen Organisation oder Gruppe“ erfolgte.
Dabei widersprachen sich nicht nur die Wortlaute, sondern der letztgenannte Entwurf
enthielt in seinem Art. 13 sogar eine selbstwidersprüchliche Regel über die Nicht-
rückwirkung seiner Vorschriften, die später eine klarere Fassung in Art. 24 des Sta-
tuts des IGHSt erfahren hat. Diese Regelung, die einen Grundsatz des aktuellen Völ-
kerstrafrechts darstellt, würde offensichtlich die Anwendung der neuen Definition
der Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf Taten vor 1996 erschweren. Auf
diese Frage ist der EGMR nicht eingegangen. Andererseits war der Text von 1950
für den Beklagten günstiger, und es hätte schließlich der Grundsatz des Art. 24
Abs. 2 des Status des IGHSt Anwendung finden müssen, der besagt, dass bei Ände-
rungen immer das günstigere Recht Vorrang hat.42
Technisch präziser, wenn auch nicht unumstritten, stellt sich die Argumentation
des deutschen BGH dar, der bei der Lösung des Falles in der nationalen Rechtspre-
chung eine andere Perspektive eingenommen hat. Die Angeklagten (und am 3. 11.
199243 Verurteilten) dieses Prozesses haben, wie dargestellt, einen Verstoß gegen
das strafrechtliche Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG) geltend gemacht,
der daraus folge, dass die Normen anders ausgelegt würden, als zur Zeit der Tatbe-
gehung. Mit anderen Worten: Die Beklagten meinten, das bei Begehung der Tat gel-
tende Recht sei dasjenige, welches in seiner Auslegung durch die zuständigen Orga-
nen dieser Zeit galt. Der BGH meinte demgegenüber, es sei „allein entscheidend, ob

42
Es bleibt natürlich zu diskutieren, ob die Entscheidung des EGMR oder die letzte na-
tionalgerichtliche ausschlaggebend ist. In jedem Fall stellt das Gebot der Rückwirkung des
günstigeren Gesetzes zweifelsohne einen Grundsatz des Strafrechts dar.
43
BGHSt 39, 1 ff.
390 Enrique Bacigalupo

die Strafbarkeit gesetzlich vor Begehung der Tat festgeschrieben“ war44, und fügte
hinzu, dass „der Richter […] bei dieser Feststellung nicht an die bloß faktische Aus-
legung gebunden [ist], die in der staatlichen Praxis dieser Zeit zum Ausdruck
kommt“45. Mit anderen Worten: Das Einzige, was das Konzept der lex praevia ver-
langt, sei, dass der Gesetzestext formal schon bei Begehung der Tat in Kraft war; im
Gegensatz dazu könne dessen Auslegung – auch radikal – wechseln, ohne das straf-
rechtliche Rückwirkungsverbot zu tangieren. Diese Frage weist offenkundig Paral-
lelen zur Frage der Rückwirkung von nachteiliger Rechtsprechungsänderung auf.
Giuliano Vassalli hat kürzlich auf diesen Aspekt aufmerksam gemacht, als er fest-
stellte, dass „durch die Erhebung der Auslegungsmacht der Richter, […] die Gefahr
[entsteht], das Rückwirkungsverbot allein auf die Gesetze zu beschränken, den Inhalt
der Festsetzungen aber ernstlich zu vergessen“46.
Das Urteil des EGMR enthält darüber hinaus auch noch andere Aspekte, die Be-
achtung verdienen. In der Rechtsprechung des EGMR ist die Notwendigkeit einer lex
praevia im Sinne des Art. 7 Abs. 1 EMRK mit der Frage nach der Vorhersehbarkeit
von Bestrafung aus der Sicht des Täters verbunden. Das zieht den Grundsatz in Zwei-
fel, dass das Gesetz rechtmäßig sein muss, und zwar unabhängig davon, ob der Bür-
ger aufgrund der Unbestimmtheit des Gesetzestextes tatsächlich irrte oder nicht. Das
Kriterium der Vorhersehbarkeit darf nicht von der konkreten Vorstellung des Bürgers
abhängen, sondern betrifft allein die Konkretisierung des Verbots im Gesetz, d. h. die
Festlegung des Verbotsinhalts entsprechend der Anforderung einer lex certa.
Diese Betrachtungsweise des Problems kommt in den zitierten Entscheidungen
Streletz, Kessler und Krenz und K. H. W. (§§ 77 ff. bzw. 68 ff.) nicht zum Ausdruck,
in denen festgestellt wurde, dass die Gesetzestexte, auf die die Verurteilung der Be-
schwerdeführer gestützt wurde, „allen zugänglich“ und nicht bloß „unbekannte Vor-
schriften“ waren, weswegen ein solcher Irrtum über die Gesetze, der zur Unvorher-
sehbarkeit der Verurteilung führen würde, nicht möglich war. Diese wenig plausible
Mischung von Argumenten der Notwendigkeit einer lex certa und des vermeidbaren
Rechtsirrtums kommt wahrscheinlich aus dem französischen Recht, wo man immer
noch glaubt, dass der Spruch „nul n’est censé ignorer la loi“ das Strafrecht regiert und
wo der neue Art. 122-3 des Code Pénal dazu bestimmt ist, „in der Praxis auf die Feh-
ler, die die Unklarheit technischer Anweisungen aus dem Bau, der Umwelt, der Steu-
ergesetzgebung, dem Konsum, dem Arbeitsrecht etc. verursacht haben, angewandt
zu werden.“47
Zusammenfassend reduziert die Auslegung des europäischen Gesetzlichkeits-
prinzips durch den EGMR den Grundsatz nullum crimen nulla poena sine lege
des innerstaatlichen Rechts erheblich und entfernt sich von der demokratischen
Grundlage, die diesem im nationalen Recht zuerkannt wird. Das Konzept der lex
44
Die Strafbarkeit der Tat war in § 90 des StGB der DDR festgeschrieben.
45
A.a.O., S. 29.
46
Formula di Radbruch e diritto penale, 2001, S. 300.
47
J.-H. Robert, a.a.O., S. 309.
Über die Gerechtigkeit und Rechtssicherheit im Strafrecht 391

praevia im Völkerstrafrecht und der Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen


bezieht sich, noch vor einem förmlichen Parlamentsgesetz, auf das mit universellen
Werten vereinbare und aus diesen abgeleitete Recht48. Darüber hinaus hat der Begriff
der lex stricta praktisch keine Bedeutung im Völkerstrafrecht.
Die Bedeutung der Gesetzlichkeit erleidet demnach heutzutage beachtliche Ver-
luste und dies unzweifelhaft im Namen der Gerechtigkeit. Aber wie Vassalli sagt:
„Alles Entfliehen vom positiven Recht [im Namen der Gerechtigkeit] ist eine Flucht
auf der Suche nach Gerechtigkeit oder in ihrem Namen. Es wäre vorzugswürdig,
wenn diese Suche nach Gerechtigkeit ausschließlich dem Gesetze dienen
würde.“49 Diese Vorstellungen, die aus der Notwendigkeit, die Nürnberger Prozesse
vor den traditionellen Grundsätzen rechtfertigen zu müssen, entstanden sind,50 waren
nachvollziehbar, solange der IGHSt nicht existierte. Heutzutage erweisen sie sich als
äußerst bedenklich. Art. 21 des Statuts des IGHSt ist wahrscheinlich überflüssig und
erscheint wie eine Legitimationsnorm der Vergangenheit, wenn doch das Statut auch
die Anforderungen der lex scripta, praevia und certa erfüllen kann, mit der Ein-
schränkung, dass es unter letzterem Aspekt offensichtlich Defizite aufweist. Konse-
quenterweise macht es heute wenig Sinn, auf der Ausweitung der strafrechtlichen
Quellen, inklusive des Gewohnheitsrechts und der allgemeinen Rechtsgrundsätze
zu bestehen.

48
Eine interessante Frage in diesem Zusammenhang ist die in dem Urteil des Tribunal
Supremo Argentiniens vom 14. 6. 2005, Fall „Simón, Julio y otros“ aufgeworfene. Es geht in
dem Urteil im Endeffekt darum, bis zu welchem Punkt ein Gesetz, welches durch dasselbe
Gericht (Urteile: 310, 162) als verfassungsgemäß aufgrund des gesetzgeberischen Willens
Amnestien zu ermöglichen, festgestellt wurde, durch eine lex posterior ungültig werden
könne, die die Interamerikanische Konvention zum Schutz gegen das Verschwindenlassen
umsetzte. Das Gericht stellte fest, dass „alle Amnestie[n]“ (…) auch die als verfassungskon-
form bezeichneten, „den Bestimmungen der Amerikanischen Konvention über Menschen-
rechte und dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte widersprechen
und damit verfassungsrechtlich unerträglich sind (Art. 75, inc. 22 CN)“ (Considerando 16).
Das Gericht hat sich auf keine ausdrücklichen Bestimmungen dieser Verträge gestützt, son-
dern auf die Auslegung der diese respektierenden Organe. Die Probleme des ne bis in idem-
Prinzips und des Verbots der Doppelbestrafung wurden nicht berücksichtigt. Die Tatsache,
dass jeder Richter eine Begründung des Urteil abgegeben hat, sowie die eine Gegenstimme,
zeigen die juristische Komplexität der Entscheidung, deren Bewertung aus Sicht der Gerech-
tigkeit nur positiv und moralisch tröstend ausfallen kann, wobei nicht verschwiegen werden
darf, dass sie auf der anderen Seite aus juristischer Sicht gewisse Alarmglocken klingeln lässt.
Zu den juristischen Fragen des argentinischen Falls siehe: M. Sancinetti/M. Ferrante, El
Derecho Penal en la protección de Derechos Humanos, 1999; M. Sancinetti, in Libro de
Homenaje a Enrique Bacigalupo, 2004, I, 811 ff.
49
A.a.O., S. 313.
50
Vgl. die Kritik v. L. Jiménez de Asúa a los juicios de Nürnberg, Tratado de Derecho
Penal, II, 4. Aufl., 1964, S. 1217 ff.
392 Enrique Bacigalupo

IV.
Im Bereich der modernen Kriminalitätsformen, insbesondere im Wirtschaftsstraf-
recht, hat sich das Gesetzlichkeitsprinzip ebenfalls relativiert. Hier stellt sich das Pro-
blem im Bereich der lex certa und lex scripta. Das Strafrecht des letzten Vierteljahr-
hunderts zeichnet sich durch eine zunehmende Kriminalisierung verschiedenster Be-
reiche des wirtschaftlichen und unternehmerischen Lebens aus, in denen traditionell
allein damit zu rechnen war, vor den Zivilgerichten zur Verantwortung gezogen zu
werden. Als Beispiele aus dem geltenden spanischen Strafrecht können die folgen-
den Delikte angeführt werden: Die schwere Schädigung des Gleichgewichts eines
Ökosystems (Art. 325 CP) oder die Schädigung des biologischen Gleichgewichts
(Art. 333 CP) waren im klassischen Strafrecht nicht strafbar und sind nach Ansicht
von Roxin51 „extrem vage“ formuliert. Die Verschmutzung eines Flusses z. B. war –
wenn diesbezüglich ein ausreichendes soziales und politisches Bewusstsein existier-
te – hinsichtlich möglicher Vermögens- und Personalschäden dem zivilrechtlichen
Haftungssystem unterworfen. Nur die Vergiftung des Wassers war ein Kriminalde-
likt. Der Abschluss von verbotenen Verträgen für ein Unternehmen in rechtsmiss-
bräuchlicher Weise (Art. 291 CP), die Kompetenzüberschreitung ihrer Geschäftsfüh-
rer (Art. 295 CP) oder der Missbrauch von geheimen Informationen (Art. 285 CP)
waren u. a. bloß Fragen, die die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der jeweiligen
Akte betrafen und ebenfalls ausschließlich zu einer zivilrechtlichen Haftung führten,
ebenso wie gewisse Verletzungen von Sicherheitsbestimmungen oder die Handha-
bung von gefährlichen Stoffen.
Diese Bereiche wurden, neben anderen, direkt in das Strafrecht übernommen. An-
dere, wie z. B. die mögliche Verantwortlichkeit eines Wirtschaftsprüfers für unterlas-
sene Pflichtenerfüllung, die nicht ausdrücklich im Strafrecht enthalten sind, können
über die (widersprüchlich formulierte) Formel des Art. 11 CP pönalisiert werden, die
es ermöglicht, diejenigen Unterlassungen strafrechtlich zu verfolgen, die Schäden
produziert oder zu verhindernde Straftaten nicht verhindert haben.
Es soll nun nicht darum gehen, den Verdienst des Strafrechts in diesem Bereich zu
relativieren, sondern die Gesetzgebungstechnik zu analysieren. Diese Normen unter-
scheiden sich vom klassischen Strafrecht durch ihre „Unsichtbarkeit“ und „Immate-
rialität“. Mit Unsichtbarkeit soll Bezug genommen werden auf die Vorherrschaft der
normativen Merkmale in der Struktur der Tatbestände einschließlich der traditionell
nicht als normativ eingestuften Tatbestandsmerkmale, wie der Kausalität, die mit
dem technischen Fortschritt derart an Komplexität gewonnen hat, dass sie sich,
etwa im Umweltstrafrecht, in ein schwer überschaubares und von einer Sachverstän-
digenprüfung abhängiges Kriterium verwandelt hat, wobei auch die Interpretation
und Bewertung letztgenannter Prüfungen alles andere als einfach ist.
Unter diesem Umständen entstehen für die Konsequenzen des Gesetzlichkeits-
prinzips (die Erfordernisse einer lex praevia, lex scripta, lex certa und lex stricta)
51
Strafrecht, AT, 3. Aufl., 1997, S. 18.
Über die Gerechtigkeit und Rechtssicherheit im Strafrecht 393

besondere Schwierigkeiten, da sie in erster Linie in Hinblick auf die „sichtbaren“


Delikte entwickelt wurden, denen ein bestimmtes Beweisstück im Sinne der Straf-
prozessordnung zugewiesen ist. D.h. wir nehmen nicht wahr, was v. Liszt mit dem
strafrechtlichen Handlungsbegriff wie folgt als Voraussetzung für alle Delikte be-
schreibt: „Als Ereignis der Sinnwelt ist es die an einem bestimmten Ort, zu einer be-
stimmten Zeit erfolgende Bewirkung einer sinnfälligen Veränderung an einzelnen
bestimmten Personen oder Sachen durch willkürliche Körperbewegung“52. Der klas-
sische Prototyp eines Delikts wurde für Straftatbestände entwickelt, die aus bekann-
ten Tatbestandsmerkmalen aufgebaut sind, deren Erfüllung anhand objektiver Fest-
stellungen oder zumindest äußerlich wahrnehmbarer Indizien (Verletzte, Tote, Ver-
letzungen, Fingerabdrücke, Blutflecken, Schießpulverreste, Waffen, Schäden an
Wänden, Fenstern etc.) ermittelt werden kann. Beispielsweise verfügt die Geldwä-
sche (Art. 301. 1 CP) aber weder über ein gegenständliches Objekt, an dem sich ein
wahrnehmbarer, durch die Verbotsverletzung hervorgerufener Schaden ausmachen
lässt, noch existieren Anknüpfungspunkte im klassischen Sinne der Beweislehre.
Das „Beweisstück“ dieser Delikte sind keine wahrnehmbaren Merkmale, sondern
Dokumente, die sich nach außen nicht von denen unterscheiden, die legale Finanz-
operationen verzeichnen; ihre strafrechtliche Bedeutung ist nicht durch eine sinnli-
che Wahrnehmbarkeit gekennzeichnet, sondern bedarf einer sachverständigen Prü-
fung, die ihrerseits interpretiert werden muss. Das gleiche gilt mutatis mutandis für
Steuervergehen. In diesen Fällen erfolgt die Verbotsbeschreibung fast ausschließlich
über den Gebrauch von normativen Tatbestandsmerkmalen.
Natürlich gibt es zwei Aspekte des Gesetzlichkeitsprinzips, die von dieser Ent-
wicklung nicht berührt werden. Weder die lex praevia, noch die lex scripta stehen
in Beziehung zu den Tatbestandsstrukturen des Wirtschaftsstrafrechts. Folglich be-
darf es hier keiner näheren Beschäftigung mit ihnen. Die bedeutendere Problematik
liegt, wie bereits gesagt, in der Ausgestaltung der Tatbestände durch den Gesetzgeber
(lex certa) und in der Gesetzesauslegung durch die Gerichte (lex stricta). Diese Pro-
bleme wurden im Allgemeinen bereits im Bereich des traditionellen Strafrechts mehr
oder weniger klar voneinander abgegrenzt. Die Differenzierung, die in dem Verbot
von Generalklauseln (lex certa) und im Verbot von Analogien (lex stricta) zum Aus-
druck kam, büßt zweifelsohne durch die Gesetzgebungstendenzen an begrifflicher
Präzision ein – sofern diese jemals konsequent beachtet wurde53 – und erfährt
durch die Verfassungsgerichte eine Vollendung, wenn diese sich auf das Argument
zurückziehen, dass es in manchen Fällen nicht möglich sei, mehr Präzision zu for-
dern54. In Wahrheit war aber die exakte Unterscheidung der Anforderungen einer

52
Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, I, 1905, S. 241.
53
Eine Bemerkung Schmidhäusers ist in diesem Punkt äußerst instruktiv. Er stellt heraus,
dass man nur dann eine Verletzung des Analogieverbots feststellen könne, wenn die Ausle-
gung eine Gesetzeslücke ergibt und dieses dennoch auf Fälle angewandt wird, auf welche es
sich nicht erstreckt. Strafrecht, 2. Aufl., 1975, S. 111 ff.
54
Siehe die Kritik der spanischen Verfassungsrechtsprechung bei E. Bacigalupo, Princi-
pios de Derecho Penal, 5. Aufl., 1998, S. 93 ff. mit besonderem Bezug auf STC 62/82 (caso
394 Enrique Bacigalupo

lex certa und einer lex stricta nie einfach, da erstere nämlich genauso von der Geset-
zesauslegung abhängig ist wie die zweite. Trotzdem handelt es sich um verschiedene
Probleme: Während die Entscheidung darüber, ob die Forderungen nach einer lex
certa erfüllt sind, auch getroffen werden kann, ohne dass der Text in Relation zu
den Tatsachen gesetzt werden muss, auf die er angewandt werden soll, geht es bei
der Frage, ob eine lex stricta vorliegt, immer darum, ob ein gewisser Sachverhalt
von dem Gesetzestext erfasst wird oder nicht (bei der Auslegung im Vorfeld). Wäh-
rend es bei ersterem stets um die Frage geht, ob eine zu umfangreiche Übertragung
der Konkretisierungsmacht auf den Richter erfolgt, besteht bei zweiterem die Frage,
ob eine Auslegung über das Zulässige hinausgeht.
Zu Recht meint Peters zu dieser Frage, dass es, wenn man die schwere Krimina-
lität mit einem Tatbestand erfassen will, nötig ist, ihr eine Formulierung zu geben, die
gleichzeitig auch auf solche Taten passt, die nicht eigentlich kriminell sind oder die
jedenfalls in diesem Sinne extensiv ausgelegt werden kann.55 Aus diesem Grund – so
Peters weiter – stehe der Gesetzgeber vor einem Dilemma: Entweder schafft er sehr
bestimmte Tatbestände, muss dabei aber in Kauf nehmen, dass schwere Straftaten
aus dem Anwendungsbereich herausfallen können, und damit (bis zu einem gewissen
Grad) auf seinen Gerechtigkeitsanspruch verzichten sowie gleichzeitig einen gewis-
sen Vertrauensverlust in die staatliche Strafmacht hervorrufen, oder aber er entschei-
det sich für weite Formulierungen, mit denen eine empfindliche Störung des indivi-
duellen Handelns einhergeht, weil auch Taten erfasst werden, deren strafrechtliche
Verfolgung nicht adäquat erscheint56. Sicher ist aber, dass der Gesetzgeber sich im
Allgemeinen weiterhin solcher Formulierungen bedient, deren Konkretisierung in
der Hand der Gerichte liegt. Diese Entscheidung gibt der Rechtsprechung eine be-
sondere Verantwortung: Die Gerichte müssen eine Definition für die Tatbestands-
merkmale aufstellen, die der Gesetzgeber nicht oder nicht in angemessenem
Maße konkretisieren konnte. So entsteht eine bemerkenswerte Transformation der
lex certa-Probleme in Fragen nach einer lex scripta, d. h. eine Verschiebung der ori-
ginären Verantwortung der Legislative zu den Gerichten.
Genau aus dieser Verknüpfung der Finalitäten folgt die Bedeutung des Bestimmt-
heitsgebots: Es ist nötig, dass das Gesetz (objektiv betrachtet) dem Bürger erlaubt,
zu wissen, welches Verhalten verboten ist, und dass die Definition dieses Verhaltens
nicht in der Hand des Richters liegt. Unter diesem letzten Gesichtspunkt ist der Zusam-
menhang zwischen dem Bestimmtheitsgebot und der lex praevia unbestreitbar, es
scheint vielmehr offensichtlich, dass die richterliche Bestimmung des Straftateninhalts
zeigt, dass das Gesetz bis zum Moment seiner richterlichen Konkretisierung nicht
„existiert hat“ und dass es deshalb schwierig wäre, es als eine lex praevia anzusehen.

del escándalo público) und STC 122/87 (S. 96). Kritisch bzgl. der deutschen Verfassungs-
rechtsprechung: B. Schünemann, Nulla poena sine lege?, 1978, S. 7 mit Bezug auf die Urteile
BVerfG 4, 358 und 37, 208.
55
Festschr. für Eb. Schmidt, 1961, 488 (494).
56
Ebenda, S. 494.
Über die Gerechtigkeit und Rechtssicherheit im Strafrecht 395

V.
Die nationalen Strafrechte haben i. d. R. anerkannt, dass das günstigere Strafgesetz
rückwirkenden Charakter hat und so dem Angeklagten zugutekommt (z. B. § 2 Abs. 3
deutsches Strafgesetzbuch; § 61 österreichisches Strafgesetzbuch; Art. 112-1 franzö-
sisches Strafgesetzbuch; Art. 2.2 spanisches Strafgesetzbuch; Art. 2 italienisches
Strafgesetzbuch; Art. 2.4 portugiesisches Strafgesetzbuch; Art. 2 Abs. 2 schweizeri-
sches Strafgesetzbuch). Das spanische Recht ist weiter als andere, indem es die Rück-
wirkung einer günstigeren Norm auch noch während der Vollstreckung einer rechts-
kräftigen Strafe anordnet. Nichtsdestotrotz wurde dieser Rückwirkung kein Verfas-
sungsrang verliehen. Art. 9.3 Spanische Verfassung erlaubt es, dass das günstigere
Strafgesetz zurückwirken kann, schreibt dies aber nicht vor.
Ungeachtet dessen hat der Art. 9 des Paktes von San José (Costa Rica 1969) die
Rückwirkung des günstigeren Strafrechts als Grundrecht anerkannt. Der Vertrag über
eine Verfassung für Europa von 2005 hat ebenfalls die Rückwirkung aufgenommen
(Art. II-109 Abs. 1, Art. 49.1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union,
Nizza vom 7. 12. 2000 aufnehmend). In jedem Fall wäre das Prinzip schon nach Eu-
roparecht anwendbar. Es ist aber keine Norm, die auf die nationalen Rechte der Mit-
gliedsstaaten (Art. II-111) von Einfluss wäre, sondern lediglich im europäischen
Strafrecht von Bedeutung ist.
Drei Probleme sind hier von Interesse. In allen gibt es starke Diskrepanzen. Ers-
tens: das der rückwirkenden Anwendung von Änderungen von Gesetzen oder Vor-
schriften, die eine strafrechtliche Blankettnorm betreffen; zweitens: das des Aus-
schlusses des strafrechtlichen Rückwirkungsgebots in bonam parte in Hinblick auf
Maßregeln der Sicherung; und drittens das der Rückwirkung von günstigerer Recht-
sprechung, welches insbesondere in Rechtsordnungen der spanischen Tradition von
Bedeutung ist, wo die Rückwirkung bis in die Vollstreckungsphase des Urteils reicht
(z. B. Art. 2 Abs. 2 argentinisches Strafgesetzbuch; Art. 2 brasilianisches Strafge-
setzbuch; Art. 14 panamaisches Strafgesetzbuch; Art. 6 peruanisches Strafgesetz-
buch; Art. 15 Abs. 2 uruguayisches Strafgesetzbuch; anders: Art. 5 paraguayisches
Strafgesetzbuch, obwohl Art. 14 der Verfassung die begünstigende Rückwirkung für
den Verurteilten ebenfalls vorsieht).
Bezüglich der Rückwirkung von Gesetzen oder Vorschriften, die einen Blankett-
straftatbestand betreffen, etwa Steuergesetzen oder Verwaltungsvorschriften im Um-
weltrecht, ist man geteilter Meinung. Die spanische Rechtsprechung hat festgestellt,
dass die Verwaltungsvorschriften, die einen Blankettstraftatbestand konkretisieren
und eine günstigere Lage für den Angeklagten bzw. Verurteilten bedeuten, rückwir-
kend angewandt werden müssen57. Die deutsche Rechtsprechung und Lehre ist dem-
57
Vgl. E. Bacigalupo, Principios de Derecho Penal, citado, S. 104. Die älteste Rechtspre-
chung des TS schloss die rückwirkende Anwendung eines Gesetzes zugunsten des Ange-
klagten aus, so STS vom 31. 1. 1871; demgegenüber wurde in SSTS vom 8. 11. 1963 und 25. 9.
1985 die rückwirkende Anwendung bereits anerkannt. In entsprechenden Fragen, wie der
Straferhöhung bei Delikten gegen das Eigentum oder Erbe, war die alte Rspr. unentschlossen:
396 Enrique Bacigalupo

gegenüber gespalten. Ein Teil meint, man müsse entsprechend der Finalität der Straf-
norm unterscheiden: Manche Strafrechtsnormen wollen den Gehorsam gegenüber
der ausfüllenden Norm sichern, andere deren Regelungseffekt.58 Im ersten Fall hält
man das Rückwirkungsverbot für anwendbar, im zweiten nicht. Ein nicht unbedeu-
tender Teil der Lehre vertritt dagegen – zu Recht – die Auffassung, dass das Entschei-
dende der Vergleich der bestehenden „juristischen Gesamtsituation“ zwischen dem
Zeitpunkt der Begehung der Straftat und dem der Urteilsverkündung sei59. Wenn die
Norm, die das Blankettgesetz betrifft, dergestalt modifiziert wird, dass sich eine
günstigere Situation für den Angeklagten ergibt, müsse diese angewandt werden.
Das Rückwirkungsverbot ist auch im Hinblick auf die Maßregeln der Sicherung
problematisch. Im deutschen Recht gilt dieses Verbot für sie nicht, so dass die Maß-
nahmen der Besserung und Sicherung so zu verhängen sind, wie die zur Zeit der Ur-
teilsverkündung geltenden Regeln dies vorsehen, auch wenn sie erst nach Begehung
der Tat eingeführt wurden und sie die Rechte des Angeklagten stärker belasten als die
vormalige Rechtslage (§ 2 Abs. 7 StGB). Das BVerfG hat die Verfassungsmäßigkeit
dieser Bestimmung festgestellt, da Art. 103 Abs. 2 GG nur für Strafen gelte, d. h. für
die Verhängung einer Strafe aufgrund der Missbilligung und des Vorwurfs eines
rechtswidrigen und schuldhaften Verhaltens des Täters60. Ein großer Teil der
Lehre aber kritisiert diese Ausnahme vom Rückwirkungsverbot bei Maßregeln.
Die h.M. meint im Wesentlichen, dass „diese Regelung […] im rechtsstaatlichen
Sinne nicht befriedigen [kann]; denn auch Maßregeln bedürfen einer Objektivitäts-
garantie (…)“ und „dass Maßregeln keine Strafen sind, besagt nichts über das Ge-
wicht des Eingriffs und die Gefahr des Missbrauchs, wie sich besonders deutlich
bei der Anstaltsunterbringung und Sicherungsverwahrung zeigt“61.
Schließlich wird auch diskutiert, ob das Rückwirkungsverbot im Hinblick auf
Rechtsprechungsänderungen zu Lasten des Angeklagten gilt und ob Änderungen
zu dessen Gunsten rückwirkend angewandt werden müssen. Ein Teil der Lehre
lehnt das Rückwirkungsverbot bezüglich der Rechtsprechung ab, weil „die Gesetzes-
auslegung nicht den Sinn einer rückwirkenden Strafverschärfung hat, sondern der
Verwirklichung des Gesetzeswillens dient, der immer schon existierte“62. Eine ande-

vgl. J. R. Casabó Ruiz, in: Córdoba Roda/R. Mourullo/Toro Marzal/Casabó Ruiz, Comenta-
rios al Código Penal, II, 1972, S. 56 f.
58
Vgl. G. Jakobs, Strafrecht, AT.
59
Vgl. W. Hassemer, in: AK-Kommentar, 1, 1990, § 2 Rn. 36 ff.
60
Vgl. BVerfG, Urteil des zweiten Senats vom 5. 2. 2004.
61
G. Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., S. 95; in gleichem Sinne: M. Köhler, Strafrecht,
AT,1997, S. 98; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, AT, 5. Aufl., S. 45; W. Hassemer, in: AK-
StGB, I,1990, S.193; C. Roxin, Strafrecht, AT, 3. Aufl., 1997, S. 120. Diese Frage hat sich in
Spanien nicht gestellt, wo die Differenzierung des Art. 25.1 CE zwischen „condenado“ und
„sancionado“ den Ausschluss von Sicherungsmaßregeln aus der Rückwirkung der günstigeren
Norm ausschließen würde.
62
C. Roxin, a.a.O., S.121; B. Schünemann, Nulla poena sine lege?, 1978, S. 27 ff.; mit
Einschränkungen A. Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl., 2001, § 2 Rn. 9.
Über die Gerechtigkeit und Rechtssicherheit im Strafrecht 397

re Auffassung, der ich mich zurechne63, vertritt demgegenüber, dass das Vertrauens-
schutzprinzip durch Änderungen der Rechtsprechung genauso verletzt wird wie
durch Gesetzesänderungen.64 Dies wird von der These der Einheit von Gesetzestext
und dessen Auslegung gestützt.
Dieser Gesichtspunkt wurde von der Florenzer Version von 2000 des für die EU
geplanten Corpus Iuris aufgegriffen65. Im Hinblick auf das Gesetzlichkeitsprinzip
legt der C.I. fest, dass „les changements d’interprétation ne son admis que s’ils étaint
raisonnablement prévisibles“. Die Grundlage dieser Norm ist die genannte Auswir-
kung von Gesetzes- und Rechtsprechungsänderungen auf die Rechtssicherheit,
sowie der ergänzende Zusammenhang zwischen dem Gesetz und seiner Auslegung.
Die vom C.I. festgesetzte Norm hat, ohne Zweifel, tendenziell positivistischen Cha-
rakter. Ihre Grundlage ist aber nicht treffend. Die Grenze der „vernünftigerweisen
Vorhersehbarkeit“ einer Änderung ermangelt einer Rechtfertigung, denn die Grund-
lage der Nichtrückwirkung ist, wie gesagt, ihr Einsatz bei Gesetzesänderungen und
konsequenterweise die Objektivitätsgarantie der Gesetzesanwendung. Wenn sich das
Rückwirkungsverbot aber auf diese Objektivitätsgarantie gründet, die der Vorherseh-
barkeit durch den Bürger nicht bedarf, so ist die durch den C.I. eingeführte Begren-
zung schwer akzeptabel66.
Die Übereinstimmung der Rechtsprechung eines Revisionsgerichts mit dem aus-
gelegten Gesetz und die Objektivitätsgarantie, die der Realisierung des Gesetzlich-
keitsprinzips dient, erlauben es darüber hinaus, die Rückwirkung der günstigeren
Rechtsprechung zu vertreten. Wie bereits aufgezeigt wurde, hat diese Konsequenz
eine besondere praktische Bedeutung in den Ländern der spanischen Rechtsfamilie,
wo die Rückwirkung des günstigeren Rechts auch den bereits Verurteilten zugute-
kommt.

VI.
Die klassischen Fragestellungen des Gesetzlichkeitsprinzips schöpfen, wie be-
reits festgestellt, die verfassungsrechtliche Problematik des Strafrechts nicht aus.
Zu Recht wurde gesagt, dass die Verfassungen wenig oder gar nichts über die mate-
riellen Fragen des Rechtsstaatsprinzips im Strafrecht sagen67. Es handelt sich dabei
um die bereits angesprochene Frage der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte
von 1789: Welches sind die zwingend notwendigen Verbote und Strafen?

63
Vgl. E. Bacigalupo, in: Ambito e Prospettive di uno Spazio Giuridico Penale Europeo,
hrsg. von S. Moccia, 2004, S. 305 ff. (309 ff.).
64
U. Neumann, ZStW 101 [1991], S. 331 ff. (336, 347 ff.).
65
Verfasst durch die von der Europ. Kommission ernannte Expertengruppe (E. Baciga-
lupo, M. Delmas-Marty, G. Grasso, J. Spencer, D. Spinellis, K. Tiedemann, J. Vervaele, C. Van
den Wyngaert).
66
Vgl. E. Bacigalupo, in: Ambito e Prospettive, zitiert in Fußnote 45, S. 310.
67
Vgl. W. Naucke, Strafrecht, Eine Einführung, 3. Aufl., 1980, S. 95.
398 Enrique Bacigalupo

Das Gesetzlichkeitsprinzip gewährleistet Rechtssicherheit, garantiert aber weder


die Verhältnismäßigkeit von Strafen noch die Grenzen des Gesetzgebers Verhalten zu
pönalisieren68. Während das Prinzip nullum crimen sine lege sein praktisches Ge-
wicht wegen der Relativierung einzelner Aspekte, wie oben bereits erörtert, mehr
und mehr verliert, haben die materiellen Probleme des Strafrechts in den letzten
zwanzig Jahren beachtlich an verfassungsrechtlicher Bedeutung gewonnen.
Die Einführung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit von Strafen, erstmals durch
den Corpus Iuris (Florenzer Version-2000), kurz danach in der Charta von Nizza von
2000 (Art. 49 Abs. 3) und schließlich im Europäischen Verfassungsvertrag (Art. II-
109, 3) eröffnet neue Perspektiven für die Neufassung wenigstens dreier anderer Fra-
gen: die Verhältnismäßigkeit der lebenslänglichen Freiheitsstrafe und von Maßre-
geln, die den gleichen Effekt haben, der Charakter des Strafrechts als ultima ratio
der Sozialpolitik und die Forderung nach einem Rechtsgüterschutz. Zweifellos könn-
te die Frage auch auf die Individualisierung von Strafe zielen, die hier aber unmög-
lich behandelt werden kann69.
Die lebenslangen Freiheitsstrafen oder diejenigen langer Dauer stellen im moder-
nen Recht einen Ersatz für die Todesstrafe dar und sind das Produkt einer darwinis-
tischen Strafrechtsideologie, die Strafe als Form der „künstlichen Selektion“70 be-
trachtet. Ihre Rechtfertigung wurde im modernen Recht regelmäßig in Zweifel ge-
zogen.
Auch wenn die spanische Verfassung dies nicht ausdrücklich formuliert, so ist
klar, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip einen Aspekt des Rechtsstaatsprinzips
darstellt, soweit Art. 1 CE feststellte, dass die Gerechtigkeit eines der wichtigsten
Prinzipien der Rechtsordnung ist. Es ist also unbestreitbar, dass die Verhältnismäßig-
keit der Schwere der Strafe zu der des Delikts nichts anderes ist, als eine Minimal-
anforderung zur Realisierung von Gerechtigkeit in einem konkreten Fall. Zweifels-
ohne hat das spanische Verfassungsgericht stets einen weiten Einschätzungsspiel-
raum des Gesetzgebers bezüglich der Konkretisierung der Strafschärfe anerkannt71.
Es wurde in Spanien jedenfalls bis heute noch nie die Frage gestellt, bis zu welchem
Punkt eine Strafe, deren Vollstreckung bis zu 30 Jahre oder sogar länger dauern kann
(Art. 76 und 78 CP) und damit de facto wie eine lebenslange Freiheitsstrafe wirkt, mit
dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar ist. Mehr noch: es ist noch nicht ein-
mal sicher, ob in der formalistischen und positivistischen Tendenz der Verfassungs-
rechtsprechung eine Verfassungsbeschwerde auf diesem Gebiet zulässig wäre. Zu-

68
Nur ausnahmsweise wurde das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Grundlage von beson-
deren Schlussfolgerungen herangezogen: vgl. H.-L. Günther, Strafrechtswidrigkeit und
Strafunrechtsausschluss, 1983, S. 210 ff.
69
Vgl. B. Schünemann, in: Tatproportionalität, hrsg. v. W. Frisch/A. von Hirsch/H.-J. Al-
brecht, 2003, S. 185 ff.
70
Vgl. F. v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 23. Aufl., 1921, S. 7.
71
Trotzdem vgl. STC 136/1999 und dessen Kritik bei E. Bacigalupo, Justicia Penal y
Derechos Fundamentales, S. 270 ff.
Über die Gerechtigkeit und Rechtssicherheit im Strafrecht 399

nächst einmal erkennt das spanische Verfassungsgericht – in erklärter Abweichung


von seinem genannten positivistischen Kriterium – kein Grundrecht auf Resoziali-
sierung als Zweck jeder Bestrafung an, was eine Stütze in Art. 25 CP fände und kon-
zeptionell jede unverhältnismäßige Strafe ausschließen müsste72. Es ist klar, dass
eine unverhältnismäßige Strafe mit keinem der Verfassungsprinzipien vereinbar ist.
Die umstrittensten Fälle wurden dennoch von der nationalen Rechtsprechung an-
erkannt, wenn auch mit Perspektive auf andere Prinzipien. Der Streit wurde damit
aber nicht beendet. Dies zeigt der Fall der lebenslangen Freiheitsstrafe, die im deut-
schen, österreichischen, belgischen, italienischen und französischen Recht existiert.
Die deutsche Verfassungsrechtsprechung hat diese Strafen für verfassungskonform
erklärt. Das BVerfG hat entschieden, dass vom heutigen Kenntnisstand aus, auch in
Hinblick auf die Gnadenpraxis, nicht festgestellt werden kann, dass eine lebenslange
Freiheitsstrafe zwingend physische oder psychische Schäden verursacht, die die
Menschenwürde verletzen. Darüber hinaus fügt das BVerfG neben den Vorausset-
zungen eines die Menschenwürde achtenden Strafvollzugs hinzu, dass ein entspre-
chend Verurteilter tatsächlich die Chance haben muss, in ein freies Leben zurückzu-
kehren, wofür allein die Möglichkeit einer Begnadigung nicht ausreicht. Daher sei es
darüber hinaus nötig, dass die Möglichkeit der Aussetzung der Vollstreckung der le-
benslangen Freiheitstrafe gesetzlich festgeschrieben wird73.
Die gleiche Diskussion hat in Bezug auf den ergastolo des italienischen Rechts
stattgefunden, dessen Verfassungsmäßigkeit ebenfalls angesichts von Art. 27.3 der
italienischen Verfassung in Zweifel gezogen wurde, der festschreibt, dass die Strafen
nicht in einer menschenunwürdigen Behandlung bestehen dürfen und auf die Reha-
bilitierung gerichtet sein müssen. Das italienische Verfassungsgericht hat einschlä-
gige Anträge als unbegründet abgewiesen,74 weil der erste Teil des Art. 27.3 lediglich
die Modalitäten des Vollzuges betreffe, nicht aber die Art der Strafe, und weil die
Verfassungsnorm nicht sage, dass Resozialisierung der einzige Strafzweck sei75.
Ähnlich ist die Frage der Sicherungsverwahrung im deutschen Recht (§§ 66 und
67d Abs. 3 StGB a.F.) zu behandeln, die eine Aufrechterhaltung des Freiheitsentzugs
für bis zu zehn Jahre aus Sicherheitsgründen erlaubte, wenn es sich um einen Täter
handelt, der vor Begehung der Tat bereits zu Strafen von mindestens einem Jahr ver-
urteilt wurde, bereits mindestens zwei Jahre Freiheitsstrafe verbüßt hat und einen
Hang zu erheblichen Straftaten offenbart. Ähnliche Maßnahmen sieht das österrei-
chische StGB in §§ 23 und 25 vor, die keine Begrenzung der Dauer festlegen. Das
deutsche Verfassungsgericht hatte jüngst die Verfassungsmäßigkeit dieser Maßregel

72
Vgl. u. a. STC 109/2000.
73
Vgl. BVerfGE 45, 187, vom 21. Juni 1977.
74
BVerfG 1974/264.
75
Über die Verfassungsmäßigkeit des ergastolo (lebenslange Haft) in Italien, siehe:
M. Romano, Commentario Sistematico del Codice Penale, I, 1987, S. 195 ff., mit weiteren
Nachweisen zu dieser Frage (S. 197).
400 Enrique Bacigalupo

mit der Erwägung festgestellt76, dass eine langdauernde Sicherungsverwahrung dann


nicht die Menschenwürde verletze, wenn diese wegen der fortdauernden Gefährlich-
keit des Untergebrachten nötig ist. In diesen Fällen hält das BVerfG es für erforder-
lich, die Eigenständigkeit und Würde des Untergebrachten zu achten und zu schützen
und den Strafvollzug darauf auszurichten, die Voraussetzungen für ein freiverant-
wortliches Leben in Freiheit zu schaffen77.

VII.
Die Konstitutionalisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erlaubt es, auch
eine andere bedeutende Frage in neuem Lichte zu sehen: diejenige, ob Strafgesetze,
die k e i n e Rechtsgüter schützen, für ungültig erklärt werden können. Wäre die
Sanktionierung von Verhalten, welches kein Rechtsgut verletzt, mit dem Verhältnis-
mäßigkeitsgrundsatz vereinbar? Dabei handelt sich um die aktuelle Diskussion über
die Legitimitätsfunktion der Idee des Rechtsgüterschutzes im Strafrecht und die Be-
deutung der Thesen, die das Ziel des Strafrechts in der Geltungsverschaffung von
Gesetzen verorten.78
Die Annahme, dass die Theorie vom Rechtsgüterschutz, neben seiner hermeneu-
tischen und dogmatischen Bedeutung, eine legitimierende und limitierende Funktion
im Strafrecht habe, ist nach meinem Dafürhalten streitbar79. Die Idee, dass die
Rechtsgüter praktisch Gegenstände des täglichen Lebens unserer Gesellschaft und
nicht durch den Gesetzgeber geschaffen seien, wie es etwa v. Liszt80 glaubte, bean-
sprucht heute keine Gültigkeit mehr, weil „das Konzept des Rechtsguts in Wirklich-
keit normativ“ ist und es „zu keiner Definition passt, die ein definitives Resultat lie-
fert“81. Deshalb und aufgrund der Tatsache, dass die Rechtsgüter Erfindungen des
Gesetzgebers sind, ist es mithin schwer vertretbar, dass die Forderung nach Rechts-
gütern den Gesetzgeber limitieren könnte. In Wirklichkeit war die Idee vom Rechts-
güterschutz in ihren historisch-dogmatischen Ursprüngen keine limitierende These,
76
Urteil des zweiten Senats vom 5. 2. 2004; anders nun aber die Entscheidung des BVerfG
vom 04. 05. 2011.
77
Die Entscheidung aus dem Jahr 2004 wurde in der Lehre heftig kritisiert: vgl. K. Lü-
derssen/C. Prittwitz, in: Interpretazione e Precedente Giudiziale in Diritto Penale, hrsg. v.
G. Cocco, 2005, S. 95 ff. und 81 ff. Der EGMR hat die deutsche Sicherungsverwahrung wegen
der Möglichkeit der Rückwirkung in seinem Urteil vom 10. 5. 2010 als Verstoß gegen die
EMRK gewertet. In bestimmten Fällen könne diese einer Doppelbestrafung gleichkommen.
Anfang Dezember 2010 wurde eine neue Regelung der Sicherungsverwahrung im Therapie-
unterbringungsgesetz angekündigt, vgl. FAZ vom 3. 12. 2010, S. 1. Der genaue Text des neuen
Gesetzes lag bei Verfassen dieses Beitrags noch nicht vor.
78
Vgl. G. Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., S. 34 ff.
79
Vgl. meine Kritik bei E. Bacigalupo, El derecho penal y su racionalidad, in: Teoría de
los Sistemas y Derecho Penal, hrsg. v. C. Díez Gómez Jara, in Druck.
80
Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 23. Aufl., 1921, S. 4.
81
C. Roxin, a.a.O., S. 17.
Über die Gerechtigkeit und Rechtssicherheit im Strafrecht 401

sondern zielte darauf ab, das Strafrecht auszuweiten, welches auf dem von Feuerbach
vertretenen Konzept vom Delikt als Verletzung eines subjektiven Rechts basierte,
d. h. sie war gegen ein auf Rechtsverletzungen begrenztes Strafrecht82.
In jedem Fall ist es nötig, einige gesetzgeberische Besonderheiten, die anderen
Verfassungsrechten fremd sind, und die die deutsche Diskussion beeinflussen, zu
klären: Art. 2 GG erlaubt die Rechtfertigung eines Eingriffs in die allgemeine Hand-
lungsfreiheit durch Sittengesetze. Dies ermöglichte es dem BVerfG, den alten § 175
StGB (homosexuelle Handlungen) für verfassungskonform zu erklären83, indem es
anerkannte, dass das Sittengesetz eine begrenzende Funktion auf das Recht der all-
gemeinen Handlungsfreiheit und auch auf einige Juristen ausübte, die ungeachtet der
Tatsache, dass diese Norm kein Rechtsgut schützte, seine Strafbarkeit beibehalten
wollten84. Aus diesem Grunde vertritt die deutsche Lehre, diese punktuelle Frage au-
ßenvorlassend, mehrheitlich, dass „bloße Verstöße gegen die Moral“ oder „ideologi-
sche Ziele“ keine Rechtsgüter sind oder sein sollten85. Dieser Schluss scheint aber
wenigstens diskutabel.
Die Frage muss auf andere Weise angegangen werden. Ohne Zweifel ist die Li-
mitierung des Strafrechts eine entscheidende Voraussetzung für die freie Gesell-
schaft eines demokratischen Staates. Aber worum es eigentlich geht ist die Frage,
ob diese Begrenzung allein über die Anforderung einer rechtsgüterschützenden
Strafrechtsnorm erreichbar ist. Dabei ist es notwendig, klar zwischen dem dogmati-
schen und politischen Problem des Strafrechts zu unterscheiden. Es handelt sich also
darum, bis zu welchem Punkt die Einschränkung von Freiheit über das Strafrecht
noch als rechtmäßig bezeichnet werden kann, d. h. die Freiheit des Einzelnen und
deren rechtmäßige Beschränkung in einer demokratischen Gesellschaft zu definie-
ren. In diesem Sinne kommt es nicht darauf an, ob Rechtsgüter geschützt oder Nor-
men gesichert werden sollen, sondern ob die durch das Strafrecht gesetzten Ein-
schränkungen mit der Idee einer freien und demokratischen Gesellschaft kompatibel
sind.

VIII.
Die Analyse der aktuellen Situation hat positive Aspekte, wie die Konstitutiona-
lisierung der neuen Prinzipien, aufgewiesen. Aber in der Auslegung des Gesetzlich-
keitsprinzips durch die Rechtsprechung offenbart sich auch, dass sich der Prozess des
Bedeutungsverlustes des Gesetzes, den man seit der Französischen Revolution beob-

82
Vgl. J. M. F. Birnbaum, in: Archiv des Criminalrechts, n. F., 1834, S. 149 ff.
83
BVerfG, 6, 389 ff. [434]. Zu dieser Frage vgl. auch J. Baumann, Paragraph 175, 1968,
S. 158 ff.
84
Siehe die Meinungen von W. Gallas, K. Lackner, H.-H. Jescheck und W. Hannack, in:
J. Baumann, a.a.O., S. 159.
85
So auch Roxin, a.a.O., S. 15 f.
402 Enrique Bacigalupo

achten kann und der von Schünemann86 1978 benannt wurde, verschärft hat. Wir
haben eine Entwicklung durchlaufen, die von einem Auslegungsverbot von Strafge-
setzen in der ersten Zeit der Kodifikationen des 19. Jahrhunderts zu einer Toleranz
von extrem „kreativen“ Interpretationen in bestimmten Bereichen führte. Es ist of-
fensichtlich, dass die schreckliche Geschichte der totalitären und antidemokratischen
Staaten im 20. Jahrhundert und deren historische Ereignisse, die das öffentliche Be-
wusstsein in außerordentlicher Weise bewegt haben, ihre Spuren hinterlassen und
dem Strafrecht Anfang des 21. Jahrhunderts eine politische Dimension gegeben
haben, die auf der anderen Seite die Bedeutung des Gesetzes und der Sicherheit,
die dieses repräsentiert, zugunsten von Gerechtigkeitserwägungen geschwächt
haben. In der aktuellen Situation steht die liberale Lösung des alten Konflikts zwi-
schen Gerechtigkeit und Sicherheit in Frage, ein Hauptpunkt der traditionellen Straf-
rechtstheorie, den Beccaria beispielhaft dargelegt hat:
„La prima conseguenza di questi principii è che le sole leggi possono decretar le pene su i
delitti, e quest’autorità non può risedere che presso il legislatore, che rappresenta tutta la
società unita per un contratto sociale; nessun magistrato (che è parte di società) può con gi-
ustizia infligger pene contro ad un altro membro della società medesima. Ma una pena ac-
cresciuta al di là dal limite fissato dalle leggi è la pena giusta piú un’altra pena; dunque non
può un magistrato, sotto qualunque pretesto di zelo o di ben pubblico, accrescere la pena
stabilita ad un delinquente cittadino“.87

Heute ist es schwierig zu wissen, in welcher Weise das wünschenswerte Gleich-


gewicht zwischen Freiheit, Gerechtigkeit und Sicherheit gelingen kann. Einen ver-
nünftigen Ausgangspunkt, um über diese Frage zu reflektieren, hat bereits Gustav
Radbruch nach zwölf Jahren durchlittener Nazi-Diktatur aufgezeigt: „Angesichts
des Unrechts der letzten zwölf Jahre müssen wir einen Weg finden, den Anforderun-
gen Justitias mit dem am wenigsten möglichen Verlust von Rechtssicherheit zu genü-
gen“88. Es ist in jedem Fall nötig, darauf hinzuweisen, dass eine gewisse Tendenz, zu
glauben, dass das Strafrecht, oder, besser gesagt, die Bestrafung eines Schuldigen,
die einzig wahre Lösung sozialer Probleme sei, nicht der richtige Weg ist. Die
Suche nach dem vernünftigen Gleichgewicht ist also die dringendste Aufgabe,
derer wir (nicht nur) europäische Juristen mit demokratischen Überzeugungen uns
annehmen müssen.

86
Nullum crimen sine lege?, 1978.
87
Dei delitti e delle pene, 1764, III, entsprechend der Ausgabe der Philosophischen Ge-
sellschaft zitiert, London 1774, S. 7. „Die erste Konsequenz dieser Grundsätze ist, dass nur die
Gesetze die Strafen für die Delikte festsetzen können, und diese Befugnis kann nur von dem
Gesetzgeber ausgehen, der die ganze durch den Gesellschaftsvertrag geeinigte Gesellschaft
darstellt. Kein Richter (der Teil der Gesellschaft ist) kann dagegen berechtigt Strafen über ein
Mitglied der Gesellschaft verhängen. Aber eine Strafe, die über das von den Gesetzen fest-
gesetzte Maß hinaus erhöht wird, ist mehr eine andere als eine gerechte Strafe. Also kann der
Richter weder unter dem Vorwand des Eifers noch des Gemeinwohls eine festgesetzte Strafe
gegen einen verbrecherischen Mitbürger erhöhen.“
88
Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristen-Zeitung Nr. 5,
1946, zitiert gem. G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 6. Aufl. von E. Wolf, S. 347 ff., S. 355.
Gesetzlichkeitskrise, Gesetzgebungstheorie
und das in dubio pro reo-Prinzip
Eugenio C. Sarrabayrouse*

I. Problemstellung und Ziel des Beitrags


Mit immer größerem Nachdruck wird behauptet, dass sich das Gesetz im Allge-
meinen und das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip im Besonderen in einer tiefen
Krise befinden.1 So wird – wie wir noch sehen werden – davon gesprochen, dass die
Bedeutung des Gesetzes kontinuierlich abnimmt, während sich das Strafrecht unend-
lich ausdehnt, und zwar durch normative Aussagen, die unter anderem die dem Ge-
setzlichkeitsprinzip impliziten Gebote missachten.
Das Bestimmtheitsgebot wurde traditionellerweise als Ausprägung der Idee ver-
standen, dass der Gesetzgeber die Straftatbestände auf klare und präzise Weise ab-
fassen muss, damit die in ihnen enthaltene Nachricht für ihre Empfänger leicht ver-
ständlich ist. Dieses Korollar bildet zusammen mit den Geboten der lex praevia,
scripta und stricta auch eine Grenze für das Handeln der Richter. Wie uns die gegen-
wärtige juristische Realität zeigt, wächst jedoch täglich die Anzahl der Straftatbe-
stände mit unverständlichen Formeln und Gesetzesauslegungen, die weit entfernt
von dem aufklärerischen Ideal sind, das – als eine natürliche Folge der Gewaltentei-
lung – den Richter an das Gesetz binden wollte.
Angesichts dieser Aussichten konnte man in den letzten vierzig Jahren ein Wie-
dererstarken der Untersuchungen beobachten, die das Ziel hatten, die beschriebene
Situation zu verändern und den Prozess der Gesetzesschaffung zu rationalisieren.
Von einer anderen Perspektive aus (die aber, wie wir sehen werden, auf bestimmte
Weise mit der vorhergehenden Beschreibung verbunden ist) wurde das in dubio pro
reo-Prinzip für die Tatsachenebene entwickelt und für die Auslegung des Strafgeset-
zes als unanwendbar erklärt. Damit haben Lehre und Rechtsprechung auf ein wert-
volles Werkzeug zur Begrenzung der Strafgewalt des Staates verzichtet.
Ich versuche hier an erster Stelle unter Einbeziehung des Strafrechts kurz die
Krise zu beschreiben, die das Gesetz allgemein erleidet, und die Vorschläge zu be-

* Übersetzt von Anna Richter, München.


1
So Palazzo, La legalidad y la determinación de la ley penal: el significado lingüístico, la
interpretación y el concepto de la regla iuris, (Übersetzung von Irene Sánchez Melero und
Susana Barón Quintero), RP (25), Januar 2010, S. 104.
404 Eugenio C. Sarrabayrouse

nennen, dieser Krise mit einer wiedererstarkenden Gesetzgebungstheorie die Stirn zu


bieten. Später untersuche ich die unterschiedlichen Auslegungstheorien, wodurch
wir uns in die Frage vertiefen können, ob das in dubio pro reo-Prinzip auf diesem
Gebiet angewendet werden kann. Damit versuche ich zu zeigen, dass die strafrecht-
liche Gesetzlichkeitskrise nur mit Untersuchungen überwunden werden kann, die
sowohl die Schaffung von Strafgesetzen als auch deren Auslegung berücksichtigen.

II. Die Krise des Gesetzes im Allgemeinen


und die Renaissance der Gesetzgebungstheorie
1. Die Krise des Gesetzes

Die Sorge um das Gesetz ist keineswegs neu, sondern besteht schon seit langer
Zeit. Das Wort „Gesetz“ hat im Laufe der Zeit verschiedene Bedeutungen2 gehabt,
aber wenn wir uns in dem in der Gegenwart gebräuchlichsten Sinne darauf beziehen,
dann denken wir sofort an eine geschriebene, von den Repräsentanten des Volkes
mittels eines besonderen Verfahrens erlassene juristische Norm. Diese Vorstellung
vom Gesetz als Manifestation eines kollektiven Willens, der durch eine allgemeine
und abstrakte Regel ausgedrückt wird, besteht seit kaum mehr als zweihundert Jah-
ren, genauer: seit der Französischen Revolution und dem Aufkommen des Rechts-
staates. Zusammen mit ihm entstand eine „legalistische“ Ideologie, die das Gesetz
als höchsten Wert ansah und es – unabhängig von irgendeiner Grenze oder Kontrolle
– als im Wesentlichen gerecht auffasste, allein weil es aus dem Willen des Volkes
hervorgeht. So bildete sich ein im Wesentlichen legislativer Staat heraus, in dem
das Gesetz in strengem Sinne vorherrschte. Letztendlich entwickelte sich der Rechts-
staat in Europa zu einem legislativen Rechtsstaat, der in seinen Anfängen nur in der

2
Beim Durchblättern jeglichen Handbuchs für Philosophie oder Geschichte finden sich
ständig Verweise hierauf. Siehe zum Beispiel Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegriffe,
4. Aufl., 2000, wo unter Berücksichtigung verschiedener Autoren der Begriff „Gesetz“ un-
tersucht wird; in der Umgangssprache hat dieses Konzept zwei Bedeutungen; hauptsächlich
wird hiermit das vom Parlament verabschiedete Gesetz bezeichnet, das heißt, ein geschrie-
bener Text, der nach einem bestimmten Verfahren verabschiedet wird. Eine weiterreichende
Bedeutung ist die Bezeichnung jeder geschriebenen Rechtsnorm. Es gibt auch Gesetzeskon-
zepte für jede wissenschaftliche Disziplin (wie die Naturwissenschaften, die Soziologie und
die Politikwissenschaft, um nur einige zu nennen, die ihre eigenen „Gesetze“ haben). Ich
beziehe mich hier nur auf das juristische Konzept. Zu diesen Aspekten siehe Franz, Der
Begriff des Gesetzes – Geschichte, Typologie und neuer Gesetzesbegriff, in: Zeitschrift für
Gesetzgebung (2008), S. 140 – 141; auch Nino, Introducción al análisis del derecho, 2. Aufl.,
2001, S. 148 ff.; auch Zapatero zeigt auf, dass die Sorge um gute Gesetze schon seit vielen
Jahrhunderten besteht; siehe schon die Werke von Platon (Gesetze), Aristoteles (Politik),
Cicero (Über die Gesetze) und Thomas von Aquin (Summa Theologica); was sich verändert
hat, ist der kulturelle Kontext, denn damals gab es weder den gesetzgeberischen Staat noch die
Ende des 17. Jahrhunderts auftauchende Bestimmtheitskrise (vgl. Zapatero, El arte de legislar,
2009, S. 13).
Gesetzlichkeitskrise, Gesetzgebungstheorie und das in dubio pro reo-Prinzip 405

Unterwerfung der Verwaltung und des Richters unter das Gesetz bestand.3 Auf diese
Weise erlangte das Gesetz eine entscheidende Bedeutung.
Parallel zur Anwendung dieser Ideen finden wir in Europa die ersten von der Auf-
klärung des 18. Jahrhunderts (durch die Werke von Voltaire, Montesquieu, Beccaria
und Rousseau)4 entwickelten Abhandlungen zur Gesetzgebung und ihren Verdiens-
ten als Grenze für die willkürliche Machtausübung. Aus dieser Epoche stammen
auch einige monumentale Untersuchungen, wie „Die Wissenschaft der Gesetzge-
bung“ von Filangieri, der in sieben Bänden versuchte, die Regeln mit den Maßnah-
men zu verbinden und die Theorie mit der Praxis, um so eine Gesetzgebungswissen-
schaft zu schaffen.5 Während des folgenden Jahrhunderts finden sich in der angel-
sächsischen Welt Arbeiten, die sowohl den Gesetzesabfassungstechniken gewidmet
sind, als auch die Überlegungen der Lehre zu diesem Thema enthalten. Die Wichtig-
keit dieser Untersuchungen kann allein schon an den Namen solcher großen Autoren
wie Bentham, Austin, Llewellyn oder R. Pound gesehen werden, während auf dem
Kontinent Ihering und dann im 20. Jahrhundert Geny, Ripert, Capitan oder Carbonier
genannt werden können.6
Der auf die Politik angewandte Rationalismus und die Forderung nach größerer
Gewissheit und Sicherheit angesichts des Partikularismus des Ancien Régime, sowie
das Monopol der normativen Macht in Händen des Staates drückten sich auf zwei
Arten aus: die Kodifizierung, um die Untersuchung des geltenden Rechts zu erleich-
tern, und die Kunst der Gesetzgebung, die bessere Gesetze versprach.7

3
Vgl. Gascón Abellán/García Figouaroa, La argumentación en el derecho, 2005, S. 19 –
21 ff.; zur historischen und philosophischen Entwicklung des Gesetzeskonzeptes siehe
Marcilla Cordoba, Racionalidad legislativa. Crisis de la ley y nueva ciencia de la legislación,
2005, S. 29 – 248.
4
Peter Noll betont zu diesem Aspekt, dass die drei zitierten Autoren mit ihren Postulaten
die Vorteile festlegten, die die Gesetzgebung der Menschheit bringen konnte, obwohl ihre
empirischen Untersuchungen zum Großteil unrichtig waren und dem Vergessen anheimfielen;
vgl. Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 60.
5
Das Zitat lautet: „… niemand hat bis jetzt ein vollständiges und rationales Gesetzge-
bungssystem vorgelegt, niemand hat diese Materie in eine sichere und ordentliche Wissen-
schaft umgewandelt, indem er die Maßnahmen mit den Regeln und die Theorie mit der Praxis
vereint. Dies versuche ich mit diesem Werk zu tun, das folgenden Titel trägt: System der
Gesetzgebung …“ (vgl. Filangieri, La scienza della legislazione, Bd. I, 1855, S. 6); auch Voß,
Symbolische Gesetzgebung. Fragen zur Rationalität von Strafgesetzgebungsakten, 1989, S. 8.
6
Vgl. Zapatero, De la jurisprudencia a la legislación, in: Doxa 15 – 16 (1994), S. 770. Hans
Schneider betont im Hinblick auf Deutschland, dass die Regeln, die zum Erlass guter Gesetze
befolgt werden sollten, schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an den Universitäten
von Halle und Frankfurt (Oder) Gegenstand von Untersuchungen waren; im 19. Jahrhundert
ragen die Beiträge von Robert von Mohl zur Entwicklung einer juristischen Gesetzgebungs-
theorie hervor; zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden dann mit dem Erlass des Bürger-
lichen Gesetzbuches wichtige Arbeiten zu diesem Thema; weitere Details zur späteren Ent-
wicklung in Deutschland, Österreich, der Schweiz, den USA, Großbritannien und Frankreich
siehe Schneider, Gesetzgebung. Ein Lehr- und Handbuch, 3. Aufl., 2002, S. 3 – 9.
7
Vgl. Zapatero, El arte de legislar, S. 13.
406 Eugenio C. Sarrabayrouse

Dieses Staatsmodell, das Ende des Mittelalters langsam zu entstehen begann, sich
in der Moderne entwickelte und im 19. Jahrhundert sowie Anfang des 20. Jahrhun-
derts seinen Höhepunkt erreichte, stürzte jedoch bereits Mitte des 20. Jahrhunderts in
eine Krise. Die heutige Situation charakterisiert sich wieder durch die Zersplitterung
der normativen Quellen und den ständigen Verlust staatlicher Souveränität. Auch ist
sie geprägt vom Aufkommen neuer Themen in der Rechtsschöpfung und -anwen-
dung. Dies erinnert an das Panorama, das sich den Aufklärern bot.
Auf diese Weise wird die Schwierigkeit, das Recht auf staatliches Recht zu redu-
zieren, immer größer. Insbesondere was Europa betrifft, zwingt die Internationalisie-
rung des wirtschaftlichen, politischen und sozialen Lebens die Staaten immer stärker
dazu, Normen zu importieren und Regeln auf ihre Bürger anzuwenden, die außerhalb
ihrer Grenzen geschaffen wurden.8
Dieses mit der Globalisierung verbundene Phänomen führt dazu, dass Unterneh-
men heute auch Subjekte des Internationalen Rechts sind, was vor fünfzig Jahren
noch völlig undenkbar war. Bezüglich der Schaffung von Normen haben sich die In-
vestoren mit den Nationalstaaten auf eine Stufe gestellt, da sie Verträge mit jenen
abschließen und ihre Streitigkeiten Schiedsrichtern vorlegen. Hier wiederholt sich
nochmals die Diskussion darüber, wer der Schöpfer und wer der reine Anwender
des Rechts ist: Obgleich die Staaten die Verträge unter Berufung auf das Internatio-
nale Recht abändern können, verbleibt deren Anwendung in den Händen von Privat-
personen – den Schiedsrichtern –, wir wohnen also einer „Entstaatlichung“ der
Normauslegung bei; jedoch müssen sich die Privatpersonen zur Vollstreckung dieser
Entscheidungen wiederum an den Staat wenden.9
Im Fall Argentiniens kann außerdem eine wachsende Abhängigkeit der internen
Gesetzgebung von internationalen Menschenrechtsverträgen beobachtet werden,
sowie von Resolutionen, die von den mit der Anwendung dieser internationalen
Übereinkünfte beauftragten Organismen erlassen werden. Diese Bewegung, die
mit dem Urteil der Corte Suprema de la Nación10 im Fall „Ekmekdjian“ begann, fes-
tigte sich mit der Verfassungsreform von 1994 und verstärkte und vertiefte sich seit
2004 mit aufeinanderfolgenden Urteilen des höchsten Gerichts der Republik.11

8
Vgl. Zapatero, De la jurisprudencia a la legislación, S. 772.
9
Vgl. Hofmann, Modernes Investitionsschutzrecht. Ein Beispiel für entstaatlichte Setzung
und Durchsetzung von Recht?, Vortrag vom 16. 12. 2009 in der Vortragsreihe Recht ohne
Staat? Zur Normativität nichtstaatlicher Rechtsetzung, Johann Goethe-Universität, Frankfurt
am Main.
10
Das höchste Gericht Argentiniens, im Folgenden: CSJN (Anm. d. Ü.).
11
Siehe das Urteil vom 07. 07. 1992 der CSJN, „Ekmekdjian, Miguel A. gegen Sofovich,
Gerardo“, Dokument elDial.com AA519; zu den Spannungen zwischen den supranationalen
Entscheidungen und dem innerstaatlichen Recht siehe das Urteil der CSJN im Fall
E.224.XXXIX, „Espósito, Miguel Ángel wegen von der Verteidigung geltend gemachter
Verjährung der Straftat“ vom 23. 12. 2004, Dokument elDial.com AA26CD. Barrera Nochol-
son, El despido discriminatorio por violación de la libertad sindical, Dokument elDial –
DC110E, und Hitters, Control de constitucionalidad y control de convencionalidad, Zeitung
Gesetzlichkeitskrise, Gesetzgebungstheorie und das in dubio pro reo-Prinzip 407

Daher haben einige Autoren begonnen, von der „Konventionalität“ der internen Ver-
fügungen zu sprechen, das heißt, ihre Übereinstimmung mit den internationalen
Menschenrechtsnormen einer kritischen Beurteilung zu unterwerfen.
Das Aufkommen dieser neuen Rechtsquellen führt notwendigerweise dazu, dass
die Lehre von der Herrschaft des Parlaments als einzigem Normschöpfer und seine
Unfehlbarkeit infrage gestellt werden und die Notwendigkeit entsteht, das gesetzge-
berische Produkt zu verbessern.
Weitere wichtige Elemente zur Charakterisierung der Gesetzlichkeitskrise sind
die wachsende legislative Inflation, die Unklarheit der Normen und die Unsicherheit,
die durch die fehlerhafte Abfassung der Gesetze entsteht. Dies zwingt die Lehre und
die Gesetzgeber dazu, über andere wirkungsvollere normative Techniken sozialer
Kontrolle nachzudenken, sowie die Einführung von Ausarbeitungsverfahren, die
die Bürgerrechte stärker respektieren.12
Obgleich Schuppert verschiedene Gründe für dieses legislative Wachstum auf-
zählt (den „normativen Hunger“ der modernen Industriegesellschaften und die wach-
sende Güterknappheit, die mehr Regulierungen nötig macht), weist er darauf hin,
dass dieser „Wasserfall an Gesetzen“ empirisch schwer zu beweisen ist. Im Fall
Deutschlands kann in der 9. Legislaturperiode kein Wachstum des Gesetzeserlasses
beobachtet werden, sondern vielmehr ein Ansteigen der Verordnungen der Exekutive
und der verwaltungsrechtlichen Anordnungen; ebenso zeigt der Vergleich der ver-
schiedenen Perioden bezüglich des Erlasses neuer Gesetze einen gewissen Anstieg
der legislativen Tätigkeit zwischen 1990 und 1998, der hauptsächlich durch den deut-
schen Wiedervereinigungsprozess verursacht wurde.13
Schließlich wird als weiteres charakteristisches Element der gegenwärtigen Ge-
setzgebung die Vermehrung symbolischer Gesetze genannt, die dem Ideal widerspre-
chen, nach welchem die Gesetze bei der Anwendung größtmögliche Wirkung erzeu-
gen sollen. Diese Art von Gesetzen hat nur äußerlich Gesetzesform, das heißt, sie
strebt von vornherein keine Wirksamkeit in der Praxis an. Obwohl diese Maßnahmen
von ihrer Wirksamkeit her als irrational angesehen werden müssen, kann es vorkom-
men, dass der Gesetzgeber ihnen Sinn und Bedeutung zuspricht. So findet sich in ei-

La Ley vom 27. 07. 2009, S. 1 ff., führen die „Konventionalitätskontrolle“ als Beispiel an;
siehe auch die kritische Arbeit von Malarino, Activismo judicial, punitivización y na-
cionalización: tendencias antidemocráticas y antiliberales de la CIDH, in: Pastor (Hrsg.), El
sistema penal en las sentencias recientes de los órganos interamericanos de protección de los
derechos humanos, 2009, S. 21 – 61.
12
Vgl. Zapatero, De la jurisprudencia a la legislación, S. 773; Ulrich Karpen erklärt ent-
schieden: „… die Klage ist allgemein, es gebe zu viele und zu schlechte Gesetze.“; vgl. ders.,
Zum gegenwärtigen Stand der Gesetzgebungslehre in der Bundesrepublik Deutschland, in:
Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungslehre. Beiträge zur Entwicklung einer
Regelungstheorie, 1989, S. 13; Bulygin, Teoría y técnica de la legislación, in: Alchourron/
Bulygin, Análisis lógico y derecho, 1991, S. 409 – 410.
13
Vgl. Schuppert, Gute Gesetzgebung. Bausteine einer kritischen Gesetzgebungslehre, in:
Zeitschrift für Gesetzgebung, Sonderheft (2003), S. 5 – 8.
408 Eugenio C. Sarrabayrouse

nigen Fällen der Wert dieser Gesetze auf politischem Gebiet, da durch sie eine Be-
kräftigung bestimmter Werte angestrebt wird (zum Beispiel ein Gesetz, das den
Schwangerschaftsabbruch bestraft). Sie sind an das Gewissen der sozialen Gruppe
gerichtet und nicht direkt darauf, eine bestimmte Art von Verhalten hervorzurufen.
In anderen Fällen handelt es sich um Gesetze mit moralischem Appell, in denen der
Gesetzgeber Werturteile ausdrückt, ohne mit der Verbotsnorm Verhaltensänderun-
gen erzielen zu wollen. Ein Beispiel hierfür ist die Strafgesetzgebung zum Umwelt-
schutz. Im Fall Deutschlands versuchte die diesbezügliche Reform die Bedeutung
der inkriminierten Verhaltensweisen als „Kriminalität gegen die Umwelt“ aufzuzei-
gen und gleichzeitig erzieherische und generalpräventive Effekte zu entwickeln.
Diese Kategorie von Gesetzen umfasst auch die sogenannten „unvollkommenen Ge-
setze“, mit denen auch Wertentscheidungen deutlich gemacht werden; es sind pro-
grammatische Gesetze, deren Achtung und Einhaltung nicht durch irgendeine Sank-
tion garantiert wird. Eine andere Art innerhalb dieser Kategorie sind die Gesetze, die
Peter Noll Ersatznormen nennt. Die Verhaltensforschung zeigt, dass einige Tiere,
wenn sie angegriffen werden und (wegen ihrer physischen Unterlegenheit) unfähig
sind, sich zu verteidigen oder anzugreifen, sich damit begnügen, Drohgebärden zu
machen. Zu diesen „Ersatzhandlungen“ zählt man die „Zwangsgesetze“ und die
„Krisengesetze“. Wie verschiedene empirische Untersuchungen gezeigt haben, kön-
nen starke Emotionen der Bevölkerung den Wunsch nach gesetzgeberischen Maß-
nahmen wecken, welche sich durch kriminalisierende Tendenzen ausdrücken und
versuchen, das Volk zu beruhigen sowie eine größere Handlungsfähigkeit zu zei-
gen.14
Ortiz de Urbina Gimeno beschreibt die symbolische Gesetzgebung als diejenige
normative Produktion, die eher versucht, die Möglichkeiten des Wahlerfolges des
Handelnden zu vergrößern, als die sozialen Bedürfnisse zu befriedigen, die man
zu erfüllen behauptet; der Zweck des Gesetzes besteht nicht darin, die von ihm be-
handelte Materie angemessen zu regeln, sondern darin, das Bild der parlamentari-
schen Mehrheit und der Regierung als auf die sozialen Probleme bedachte und bei
deren Lösung aktive Gruppen zu fördern.15
Als weiteres Problem neben der symbolischen Gesetzgebung wird auch die „ge-
setzgeberische Verschmutzung“ genannt, ein Ausdruck, mit dem das unkontrollierte
Wachstum eines Elements (Gesetz, Dekret, Verordnung, Anordnung, etc.) beschrie-
ben wird, das keine Möglichkeit aufweist, den Abfall (Aufhebung) zu beseitigen. Auf

14
Vgl. Voß, Symbolische Gesetzgebung, S. 25 – 34; zur symbolischen Gesetzgebung siehe
auch Hassemer, Das Symbolische am symbolischen Strafrecht, in: Schünemann u. a., Fest-
schrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag am 15. Mai 2001, Berlin/New York, S. 1004.
15
Vgl. Ortiz de Urbina Gimeno, Teoría de la legislación y derecho penal, Manuskript,
S. 50 – 51. Martin Führ untersucht die mögliche Verfassungswidrigkeit der Symbol- und An-
scheinsgesetze und vergleicht sie mit dem Betrugstatbestand (sie seien ein Fall des „politi-
schen Betrugs“); er meint, dass symbolische Gesetze nur verfassungswidrig seien, wenn sie
eine Verletzung der Freiheit beinhalten; vgl. Führ, Symbolische Gesetzgebung: Verfassungs-
widrig?, in: KritV (2003), S. 5 – 7 und 19 – 20.
Gesetzlichkeitskrise, Gesetzgebungstheorie und das in dubio pro reo-Prinzip 409

diese Weise schafft das unkontrollierte Wachstum der Normen einen „legislativen
Urwald“ mit nicht weggeworfenem Abfall, was zu dem so gefürchteten Ergebnis
der Unkenntnis der gültigen Rechtsordnung führt.16

2. Das Wiederaufleben der Gesetzgebungstheorie

Die beschriebene Situation bewirkte, dass das Interesse an der Gesetzgebung in


den letzten vierzig Jahren neuen Auftrieb bekam. Es konnte ein wahres Wiederauf-
leben des Interesses an der Untersuchung und Verbesserung der Gesetzesschöpfungs-
arbeit festgestellt werden, das seinen Niederschlag in einer Gesetzgebungstheorie
fand. Wie schon hervorgehoben wurde, sind nämlich die Probleme, die die Aufklärer
zu lösen versuchten, zweihundert Jahre später mit ganzer Kraft wieder aufgetaucht:
die Vervielfachung der normativen Quellen, die enorme Anzahl an Gesetzen, Verord-
nungen und Anordnungen, die Prinzipien, die die Auslegung regeln sowie die der
Herrschaft des Gesetzes entgegengesetzte Herrschaft der Verfassung.17
Die Gesetzgebungstheorie konzeptualisiert das Verfahren der Gesetzesschaffung
als einen Entscheidungsprozess, dessen Rationalität durch die Verfolgung bestimm-
ter Modelle des „rationalen Gesetzgebers“ gesteigert werden kann. Hierfür werden
Ratschläge gegeben, wie die bestimmten Phasen des gesetzgeberischen Verfahrens
und die Auswertung der erhaltenen Ergebnisse auszugestalten sind.18 Diese Theorie
geht auch von einem Paradigmenwechsel aus. Der Rechtsdogmatiker hat den Aus-
gangspunkt seiner Arbeit immer in der verkündeten Norm gefunden, und so wesent-
liche Aspekte der Entstehung des Gesetzes missachtet: Was bestimmt die Ausübung
der gesetzgeberischen Initiative oder des Verwaltungsrechts, wie können die Gründe
für das zu lösende Problem untersucht werden, welche Ziele werden verfolgt und wie
kann man erreichen, dass die Norm die linguistische, logisch-formale, pragmatische,
teleologische und ethische Rationalität aufweist?19

16
Vgl. diesbezüglich Brenna, El ordenamiento de las leyes, in: Revista Electrónica de
Teoría y Práctica de la Elaboración de Normas Jurídicas, 1. Jahrgang, Nr. 1, 2004, www.
derecho.uba.ar/revistaceenj/, S. 17; auch Martino, El Digesto Jurídico Argentino: una obra
monumental, in: Doxa 28 (2005), S. 323.
17
Vgl. Zapatero, El arte de legislar, S. 15.
18
Vgl. Ortiz de Urgina Gimeno, Teoría de la legislación y derecho penal, S. 34 – 35.
19
Vgl. Zapatero, De la jurisprudencia a la legislación, S. 769 – 770. Im selben Sinne merkt
Manuel Atienza an, dass für die traditionelle Rechtsdogmatik der Ausgangspunkt die Gesetze,
also die Rechtsnormen sind, auf deren Grundlage die Probleme der Auslegung und Anwen-
dung in Angriff genommen werden (vgl. ders., Contribución a una teoría de la legislación,
Madrid, 1997, S. 17); Ortiz de Urgina Gimeno nuanciert seinerseits dieses „Vergessen“ der
Arbeit des Gesetzgebers: „… das Streben nach ,Reinheit‘, das dazu geführt hat, den Norm-
schaffungsprozess als etwas anzusehen, das dem Untersuchungsgegenstand des Juristen fern
liegt, hat vielleicht einzig erreicht, dass die Erarbeitung der Gesetzgebungstheorie sich un-
nötig verzögert hat und dass man, anstatt eine Theorie (das heißt, einen mehr oder weniger
geordneten Komplex von Kenntnissen) der Gesetzgebung zu haben, sich bis vor kurzem mit
fragmentarischen und ungeordneten, mehr oder weniger intuitiven Annäherungen zufrieden
410 Eugenio C. Sarrabayrouse

Die Theorien der juristischen Argumentation richten ihre Aufmerksamkeit fast


ausschließlich auf den Rechtsanwender, vielleicht wegen seiner Aura der Reinheit
und des unvermeidlichen und immer gegenwärtigen politischen Elements, das die
gesetzgeberische Aufgabe umgibt.20 Jenseits der traditionellerweise von der politi-
schen Theorie betonten Unterschiede (der Richter löst nur die einzelnen Konflikte,
die ihm vorgelegt werden), erweist es sich jedoch als schwierig, einen scharfen und
absoluten Unterschied zwischen den Aufgaben des Gesetzgebers und des Richters zu
finden. Diese Funktionen werden noch verschwommener, wenn wir an die Arbeit der
Verfassungsgerichte und die Ausübung der diffusen Kontrolle der Verfassungsmä-
ßigkeit denken.21 Ungeachtet der Diskussion zwischen den verschiedenen Schulen
über die Reichweite der Gesetzesauslegung steht fest, dass sowohl der Gesetzgeber
als auch der Richter Recht schaffen und anwenden.22 Jedoch ist die Tätigkeit des Ge-
setzgebers weniger streng geregelt und er ist viel besser als der Richter imstande, die
soziale Realität zu beurteilen. In neuerer Zeit wird behauptet, dass der möglicherwei-
se klarste Unterschied zwischen Richter und Gesetzgeber das Verfahren ist, dem die
Tätigkeit des Ersteren unterworfen ist, da er objektiv, unabhängig und unbestechlich
sein muss, nicht willkürlich ausgetauscht werden darf und durch die prozessualen
Regeln eingeschränkt ist. Dies trifft nicht auf den Gesetzgeber zu, der sogar die Nor-
men außer Kraft setzen kann, die seine Tätigkeit einschränken.23
Die Gesetzgebungstheorie wurde als die Wissenschaft der Gesetzgebung, des Ge-
setzgebers, des Gesetzgebungsverfahrens und des Gesetzes als Produkt dieses Ver-
fahrens definiert. Gegenwärtig beschränkt sie sich nicht mehr auf die formellen Ge-
setze, sondern umfasst schlicht und einfach Rechtsnormen; daher heißt es auch, sie
sei die Wissenschaft der Rechtsschöpfung. Als solche untersucht sie das Verhalten
der gesetzgebenden Organe, beschränkt sich aber nicht auf diese Prüfung, sondern
versucht, Verhaltensregeln aufzustellen. Daher handelt es sich um eine Seins- und
Sollens-Wissenschaft, die an der Praxis orientiert ist. Ihr Untersuchungsgegenstand
beschränkt sich nicht auf die Rechtsnormen, sondern umfasst auch die soziale Wirk-
lichkeit, auf die sich das Gesetz bezieht und in welcher es wirkt, da sich beide gegen-
seitig beeinflussen.

geben musste …“; vgl. Ortiz de Urgina Gimeno, Teoría de la legislación y derecho penal, S. 4.
Im selben Sinne weist Mainhofer darauf hin, dass Kelsen ausdrücklich eine umfassende
Denkweise des Rechts ausgeschlossen hat; vgl. ders., Nachwort zur Fragestellung: Gesetz-
gebungstheorie und Rechtspolitik, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie,
Bd. XIII, Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik, 1988, S. 404; siehe außerdem Karpen,
Zum gegenwärtigen Stand der Gesetzgebungslehre in der Bundesrepublik Deutschland, S. 20;
zu den Problemen, denen sich die Gesetzgebung ausgesetzt sieht, vgl. Bulygin, Teoría y téc-
nica de la legislación, S. 411 – 413.
20
Vgl. Ortiz de Urgina Gimeno, Teoría de la legislación y derecho penal, S. 4.
21
Zu diesem Thema siehe Bulygin, Creación judicial del derecho, in: Bulygin/Atienza/
Bayon, Problemas lógicos en la teoría y práctica del Derecho, 2009, S. 75 – 94.
22
Vgl. Guastini, Jurisdicción y sistema jurídico, 2007, S. 225 – 230.
23
Vgl. Noll, Gesetzgebungslehre, S. 54 – 55 ff.; Ortiz de Urgina Gimeno, Teoría de la le-
gislación y derecho penal, S. 5 – 6.
Gesetzlichkeitskrise, Gesetzgebungstheorie und das in dubio pro reo-Prinzip 411

Die Gesetzgebungstheorie hat fünf Arbeitszweige oder -bereiche:


– Die Untersuchung der Möglichkeiten und Grenzen der Ausarbeitung und Vermitt-
lung der Gesetzeskenntnisse (Gesetzlichkeitstheorie im engeren Sinn).
– Die Untersuchung der Hauptkonzepte von Norm, Gesetz und Gesetzgebung (Ana-
lyse der Gesetzgebung).
– Das Studium der Gesetzgebungsorgane und -verfahren („äußeres Gesetzgebungs-
verfahren“) sowie der Methoden, die es ermöglichen, auf diese einzuwirken und
sie zu beherrschen (Gesetzgebungstaktik).
– Die Erforschung der rechtspolitischen und rechtstheoretischen Vorüberlegungen,
die zu der Entscheidung führen, ein Gesetz zu erlassen („inneres Gesetzgebungs-
verfahren“), und die Erforschung, wie „gute“, „richtige“, „vollständige“ und
„wirksame“ Gesetze geschaffen werden („Gesetzgebungsmethodik“).
– Die Entwicklung von allgemeinen Regeln über die Bildung von Gesetzen, ihre
Struktur, Systematik, die angemessene Sprache, etc. (Gesetzgebungstechnik).24
Innerhalb dieser unterschiedlichen Zweige erlangt die Gesetzgebungsmethodik
besondere Bedeutung, da sie ein gutes Mittel zur Vermeidung der bereits erwähnten
symbolischen Gesetze darstellen kann. Sie versteht das Gesetzgebungsverfahren als
einen Entscheidungsprozess, dessen Rationalität steigerungsfähig ist. Der erste
Schritt besteht darin zu zeigen, dass es tatsächlich notwendig ist, das Gesetz zu ver-
abschieden; der zweite – den Nachweis der Notwendigkeit der Norm vorausge-
setzt –, zu zeigen, dass das Projekt eine gute Regelungsoption ist. In diesem Sinne
sind viele Gesetzesreformen unnötig und entsprechen eher der Absicht, vorzugeben,
dass etwas getan werde, als dem Glauben, dass die neue Vorschrift die Situation än-
dern könne. Daher und um diese Art von Normen zu vermeiden, betont die Gesetz-
gebungstheorie die Notwendigkeit, die faktische und rechtliche Situation zu bewer-
ten, bevor man sich für eine gesetzliche Regelung entscheidet.25
Bezüglich ihrer Methode ist die Gesetzgebungstheorie per se eine interdisziplinä-
re Wissenschaft. In dieser Hinsicht hat Noll das klassische Beispiel dafür vorge-
bracht, wie auf juristischem Gebiet zusammengearbeitet werden sollte. Das Modell
stammt aus der Medizin. Dort werden täglich und ohne irgendwelche Schwierigkei-
ten die Aufgaben der Internisten, Radiologen, Chirurgen und Anästhesisten verbun-
den. Vielleicht findet sich einer der Gründe für diese problemlose gemeinsame Arbeit
darin, dass alle am selben Ort arbeiten und dieselben Patienten behandeln, wobei
jeder eine andere Rolle hat. Außerdem ist wichtig, dass der Zweck dieser gemeinsa-
men Aufgabe unumstritten ist: die Bewahrung der Gesundheit und des Lebens. Hier-
zu gesellt sich, dass die Medizin, im Unterschied zur Rechtswissenschaft, nicht in

24
Vgl. Karpen, Zum gegenwärtigen Stand der Gesetzgebungslehre in der Bundesrepublik
Deutschland, S. 15 – 16; auch Ortiz de Urgina Gimeno, Teoría de la legislación y derecho
penal, S. 21 – 22.
25
Vgl. Ortiz de Urgina Gimeno, Teoría de la legislación y derecho penal, S. 59.
412 Eugenio C. Sarrabayrouse

eine rein empirisch-analytische und eine normative Wissenschaft aufgeteilt ist; viel-
mehr sind Diagnose und Therapie immer eng miteinander verbunden. Das gegentei-
lige Beispiel stellt die Rechtswissenschaft dar: Sie tendiert zu einer spezialisierten,
rein normativen Wissenschaft, die überwiegend auf die Anwendung des Rechts ge-
richtet ist, vergleichbar mit einem Chirurgen, der ohne vorhergehende Diagnose ope-
riert.26
Der interdisziplinäre Beitrag beschränkt sich nicht auf die Sozialwissenschaften
(Rechtssoziologie, Sozialpsychologie, etc.), sondern umfasst vor allem auch den
Beitrag der Naturwissenschaften und verschiedener Technologien. Es ist unumgäng-
lich, die Biotechnologie, Biomedizin und Biosicherheit in die Normschaffungspro-
zesse zum Beispiel zum Umweltschutz, zur Lebensmittelsicherheit oder zum Ver-
braucherschutz zu integrieren. Diese Kombination aus Wissenschaft, wissenschaft-
lichen Beurteilungen und der Schaffung von Rechtsnormen kann zeitlich gesehen
aus zwei Perspektiven untersucht werden: im Moment des Erlasses der Regel (ex
ante Betrachtung) oder zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Folgen des bereits er-
lassenen Gesetzes ausgewertet werden (ex post Betrachtung). In diesem letzten Fall
kann das Ergebnis einer wissenschaftlichen ex post Auswertung zum Erlass einer
neuen oder einer anderen Norm führen, die die Erstere umfasst und ergänzt.27
Das Zusammenwirken all dieser Faktoren hat zur Institutionalisierung der gesetz-
geberischen Untersuchungen geführt. In Deutschland sind neben der bereits erwähn-
ten wegbereitenden Arbeit von Peter Noll die Arbeiten von Jürgen Rödig, Carl
Böhret und Ulrich Karpen zu nennen, sowie eine ganze Reihe von gesetzgeberischen
Entscheidungen, die auf die Verbesserung der Normqualität gerichtet waren. Auf
akademischem Gebiet und in der Forschung wurde die Gesetzgebungstheorie in ver-
schiedenen Hochschulen der Schweiz, Österreichs und Deutschlands (Basel, Salz-
burg, Wien, Heidelberg, Hamburg) zu einem Forschungsgegenstand. In diesen
drei Ländern wurden auch Ministerialrichtlinien zur Überwachung der Gesetzge-
bung erlassen;28 im Falle Deutschlands schufen die Justizministerien des Bundes
und der Länder Behörden zur Beratung und Kontrolle der Gesetzgebungsprojekte be-
züglich ihrer Notwendigkeit, Wirksamkeit, systematischer Kongruenz und juristi-
scher Formulierung.29 Hierzu gesellen sich spezialisierte Zeitschriften, wie die Zeit-
schrift für Gesetzgebung, Zeitschrift für Rechtspolitik, Zeitschrift für Parlamentsfra-

26
Vgl. Karpen, Zum gegenwärtigen Stand der Gesetzgebungslehre in der Bundesrepublik
Deutschland, S. 16; Noll, Gesetzgebungslehre, S. 66.
27
Vgl. Montoro Chiner/Casado González, Erfolgreiche Beratung der Gesetzgebung durch
die Wissenschaft. Die Rolle wissenschaftlicher Ausschüsse bei der Rechtssetzung, in: Zeit-
schrift für Gesetzgebung 2008, S. 372 – 373; ausführlicher zur Methode der Gesetzgebungs-
theorie: Ortiz de Urgina Gimeno, Teoría de la legislación y derecho penal, S. 23 – 27.
28
Vgl. Karpen, Zum gegenwärtigen Stand der Gesetzgebungslehre in der Bundesrepublik
Deutschland, S. 22 – 23.
29
Vgl. Zypries, Bemühungen um gute Gesetzgebung stärken, Pflege der Rechtsordnung
gewährleisten, Qualität im gesamten Rechtsetzungsprozess absichern, in: Zeitschrift für Ge-
setzgebung, Sonderheft 2003, S. 2.
Gesetzlichkeitskrise, Gesetzgebungstheorie und das in dubio pro reo-Prinzip 413

gen, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Recht und eine große Zahl
von Lehrbüchern und Monografien, die sich mit der Gesetzgebungstheorie befas-
sen.30
Auch auf europäischem Gebiet gibt es Organismen und Institutionen für die Un-
tersuchung der Gesetzgebung (so die Europäische Gesellschaft für Gesetzgebung),
während in Großbritannien unter anderem das Royal Institute of Public Administra-
tion (RIPA) in London, das Office of Parliamentary Counsel, das Civil Service Col-
lege, die Statute Law Society sowie das Zentrum für Kriminologie und rechtsphilo-
sophische und -soziologische Studien der Universität von Edinburgh (Schottland)
sowie die rechts- und sozialwissenschaftlichen Zentren der Universitäten von Shef-
field und Oxford erwähnt werden können.31
In Spanien haben die von Salvador Coderch geleiteten Arbeiten des Grupo de
Estudios de Técnica Legislativa (GRETEL, Gesetzgebungstechnik-Forschungsgrup-
pe) eine besondere Bedeutung, sowie verschiedene Ministerialverfügungen zur Ra-
tionalisierung der Gesetzgebungsarbeit.32
In Argentinien ist der Master in der Erarbeitung von Rechtsnormen in Theorie und
Praxis hervorzuheben, der an der Juristischen Fakultät (Nationale Universität von
Buenos Aires) unter der Leitung von Prof. Dr. Miguel Ángel Ciuro Caldani angebo-
ten wird. An derselben Fakultät wurde auch ein Forschungszentrum der Erarbeitung
von Rechtsnormen geschaffen, zu dessen Zielen es unter anderem gehört, zur
Verbesserung der Ausarbeitungsprozesse von Rechtsnormen beizutragen und die
Implementierung von innovativen Systemen zur Verwaltung der normativen Produk-
tion zu fördern. Zu seinen spezifischen Aufgaben zählen die Recherche und Syste-
matisierung von Informationen über die Theorie und Praxis der Erarbeitung von
Rechtsnormen sowie die aus den durchgeführten Untersuchungen und Forschungs-
programmen hervorgehende regelmäßige Ausarbeitung von analytischen Berichten,
Statistiken und fachlichen Empfehlungen. Außerdem entwickelt das Zentrum Studi-
en und Forschungsprogramme für die Beratung bei der Erarbeitung von Gesetzge-
bungsprojekten, wobei Prioritäten gesetzt und die notwendigen Handlungslinien
festgelegt werden.33
Einen anderen wichtigen Meilenstein bildet in Argentinien das Gesetz Nr. 24.967,
dessen Ziel darin besteht „… die Prinzipien und das Verfahren für ein System zur Si-
cherung der nationalen allgemeinen gültigen Gesetze und deren Regelung festzule-
gen …“ (Art. 1), das heißt, die Verabschiedung eines sogenannten Digesto Jurídico
Argentino. Dieses monumentale Werk will alle seit 1853 verabschiedeten Gesetze
30
Vgl. Karpen, Zum gegenwärtigen Stand der Gesetzgebungslehre in der Bundesrepublik
Deutschland, S. 23.
31
Vgl. Zapatero, De la jurisprudencia a la legislación, S. 775.
32
Vgl. m.w.N. Ortiz de Urgina Gimeno, Teoría de la legislación y derecho penal, S. 38 –
46.
33
Vgl. www.derecho.uba.ar/academica/posgrados/centro_normas_juridicas.php, wo die Be-
schlüsse eingesehen werden können, die das besagte Zentrum schaffen.
414 Eugenio C. Sarrabayrouse

auf eine beherrschbare und bestimmbare Anzahl verringern. Als erster Teil dieser
Aufgabe wurde ein Handbuch der Gesetzgebungstechnik erarbeitet, und im Mai
2009 übergab der Dekan der Juristischen Fakultät (der Universität von Buenos
Aires, UBA) dem Justizminister das Projekt des Digesto Jurídico Argentino, das
die (mehr als 26.000) geltenden Gesetze auf 4000 reduziert.34
Die Gesetzgebungstheorie ist damit der ernsthafteste Versuch zur Überwindung
der aktuellen Gesetzeskrise.

III. Die Krise des Strafgesetzes – Überwindungsversuche


Die Gesetzlichkeitskrise erfährt auf dem Gebiet des Strafrechts unterschiedliche
Ausprägungen. Seit Längerem kann eine – in letzter Zeit verschärfte – wahre „Ge-
setzgebungsinflation“ des Strafsystems festgestellt werden, die sowohl zu dem soge-
nannten „Symbolischen Strafrecht“ als auch zu einer Ausweitung des Strafrechts
führt.35 Ich werde die Hauptausprägungen dieses Phänomens hier nicht darlegen,
sondern muss mich, insbesondere aus Platzgründen, auf den bloßen Hinweis auf
sie beschränken.
Ebenso kann festgestellt werden, dass die Strafe eine neue soziale Bewertung er-
fahren hat, die eine tiefe Spaltung zwischen der Mehrheit der Juristen und der sie um-
gebenden Realität markiert: Von den politischen Machthabern wird Strenge gefor-
dert und die Fähigkeit, Strafen aufzuerlegen, anstatt Toleranz und Milde walten zu
lassen. Hierzu gesellen sich die Forderungen der „Risikogesellschaft“ mit ihrer
neuen Interpretation von individueller Freiheit und Gefahren sowie die Forderungen
aller sozialen Bereiche nach mehr Strafrecht. Außerdem kommt das Auftauchen des
Opfers hinzu, das den „Täter“ (den „Verbrecher“) aus dem Zentrum der Aufmerk-

34
Weitere Details siehe Martino, El Digesto Jurídico Argentino: una obra monumental,
S. 321 – 328; auch Brenna, El ordenamiento de las leyes, insbes. S. 18; zur Übergabe des
Projekts siehe die Information in: http://www.universia.com.ar/portada/actualidad/noticia_ac
tualidad.jsp?noticia=15182.
35
Zum Konzept des Symbolstrafrechts siehe wiederum Hassemer, Das Symbolische am
symbolischen Strafrecht, S. 1004; auch Ortiz de Urgina Gimeno, Teoría de la legislación y
Derecho penal, S. 31, Fn. 91 und 92. Zur Situation in Deutschland vgl. Albrecht, Kriminolo-
gie, 3. Aufl., 2005, S. 1, mit Zitat von Michael Voß, Strafe muß nicht sein, in: H. Peters
(Hrsg.), Muß Strafe sein? Zur Analyse und Kritik strafrechtlicher Praxis, 1993, S. 135 ff.
Bezüglich der Reformen und des strafrechtlichen Expansionsdranges in Argentinien stechen
die Sammelwerke folgender Autoren hervor: Aboso, Reformas al Código penal. Análisis
doctrinario y praxis judicial, 2005; Donna (Hrsg.), Reformas penales, 2004; ders. (Hrsg.),
Reformas penales II, Rubinzal-Culzoni, 2006; sowie die exzellente Arbeit von Cesano, El
expansionismo penal argentino en los albores del siglo XXI, Zeitschrift Pensamiento Penal del
Sur, Bd. 2004/I, S. 641 – 689; sowie die Arbeit von Silva Sanchez, La expansión del Derecho
penal. Aspectos de la política criminal en las sociedades postindustriales, 2. Aufl., 2001. Eine
vollständige und tiefgreifende Untersuchung der gegenwärtigen Situation des Strafrechts fin-
det sich in: Pastor, Recodificación penal y principio de reserva de código, 2005, S. 15 ff.
Gesetzlichkeitskrise, Gesetzgebungstheorie und das in dubio pro reo-Prinzip 415

samkeit verdrängt und für einige einen echten Paradigmenwechsel verursacht.36 So


ist die Auferlegung von Strafen zu einem standardisierten Reaktionsmodell gewor-
den. Nicht nur die „devianten Verhaltensweisen“ sind strafbar, sondern auch die Per-
sonen am Rande der Gesellschaft und unangenehme Situationen: Im Fachjargon sind
all diese Verhaltensweisen „strafbar“ geworden. Es häufen sich Klagen über die Frei-
zügigkeit der Gesellschaft, über milde Prozesse gegen die „Jugendkriminalität“ und
über die Belastung durch Obdachlose, sowie über die verfassungsrechtlichen Ein-
wände, die verhindern, dass der populären Forderung entsprochen wird, gewalttätige
Täter oder Sexualstraftäter zu eliminieren. Das Strafrecht ist hiermit zu einem „so-
zialen Allheilmittel“ geworden. Dies führt zu dem Paradoxon, dass es in Wirklichkeit
nun nicht mehr notwendig ist, die Strafe zuzumessen und sie zu rechtfertigen. Im Ge-
genteil, was jetzt legitimiert und gerechtfertigt werden muss, ist Infragestellen und
Kritik an der Strafe.37
Schließlich sehen sich das Gesetzlichkeitsprinzip und seine Folgen, das Gebot der
Bestimmtheit des Strafgesetzes, das Analogieverbot und die daraus folgende restrik-
tive Auslegung der Strafgesetze, von den von Naucke sogenannten „Generalklau-
seln“ erschüttert, die sich durch Folgendes auszeichnen: a) ihre Unbestimmtheit, wo-
durch die Festlegung ihres Zwecks unmöglich gemacht wird; b) die ausgeprägte Ver-
allgemeinerung auf Grund derer ihr Regelungsbereich nicht bestimmt werden kann;
c) eine große Unklarheit. Es handelt sich hierbei um ein Phänomen, das nicht nur dem
gegenwärtigen Gesetzgeber vorbehalten ist, es kann in Deutschland vielmehr min-
destens schon seit dem Ersten Weltkrieg festgestellt werden.38
Die Gesetzgebungstheorie hat in der strafrechtlichen Forschung einen nebensäch-
lichen Platz eingenommen. Auch wenn das Paradigma des Strafrechtlers, der sich
allein der Lehre und der Anwendung des Strafrechts widmet und sich von dessen Ge-
setzgebung und der Kriminalpolitik fernhält, als überwunden angesehen werden
kann, so sind jedenfalls die Wege, diese Tätigkeiten mitzuteilen, alles andere als op-
timal.39

36
Vgl. Hassemer/Reemstma, Verbrechensopfer. Gesetz und Gerechtigkeit, 2002, insbes.
S. 13 – 15.
37
Vgl. Kunz/Mora, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, 2006, S. 253 –
255.
38
Vgl. Naucke, Über Generalklauseln und Rechtsanwendung im Strafrecht, Tübingen,
1973 S. 1; zur historischen Entwicklung dieser Gesetzgebungstechnik siehe S. 4 – 11; auch
Lenckner, Wertausfüllungsbedürftige Begriffe im Strafrecht und der Satz „nullum crimen sine
lege“, JuS 1968, S. 249 – 257; Class, Generalklauseln im Strafrecht, in: Bockelmann/Callas,
Festschrift für Eberhard Schmidt, 1971, S. 122 – 138.
39
Joachim Vogel betont, dass in Deutschland eine langjährige Tradition gemeinschaftlicher
Arbeit zwischen dem Gesetzgeber und den Professoren für Strafrecht besteht; neben der unter
anderem von Franz von Liszt gebildeten Kommission, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die
Reform des deutschen StGB untersuchte, sind die Große Kommission von 1954 und die für
den „Kampf gegen die Wirtschaftskriminalität“ einberufene Spezialistenkommission von
1973 zu nennen; die Strafrechtskommission konnte 1936 sogar den Erlass des Gesetzespro-
jektes von 1936 verhindern; jedoch wurde diese Tradition durch das im Dezember 1997
416 Eugenio C. Sarrabayrouse

So weist auch Monika Voß darauf hin, dass die Idee einer allgemeinen Gesetzge-
bungstheorie nicht bedeutet, dass diese auf eine einheitliche Behandlung von der Per-
spektive einer einzigen Wissenschaft aus beschränkt werden müsse; vielmehr müs-
sen sich diese allgemeinen Untersuchungen in einen Besonderen Teil einfügen, der
jeden einzelnen Rechtsbereich behandelt. Wenn man zum Beispiel bedenkt, dass die
Aufgaben und Folgen des Steuerrechts andere sind als die des Strafrechts, dann wird
klar, dass die von der Gesetzgebungstheorie erarbeiteten allgemeinen Prinzipien sich
notwendigerweise an jedes Gebiet anpassen müssen, auf das diese Theorie ange-
wandt werden soll.40
Es gibt wenige Arbeiten, die versucht haben, die Gesetzgebungstheorie mit dem
Strafrecht zu verbinden. In Deutschland haben drei Autoren sich um eine umfassende
Behandlung dieser Frage in ihren Werken bemüht: Monika Voß, Gregor Stächelin
und Peter Lagodny.41 Zu ihnen gesellen sich verschiedene Aufsätze, unter denen
der von Joachim Vogel in der Festschrift für Roxin von 2001 herausragt.42 Allgemein
und ohne Anspruch auf Vollständigkeit kann gesagt werden, dass diese Werke sich
grundsätzlich auf die politische Theorie von Jürgen Habermas stützen.
In Argentinien sind die Arbeiten von Daniel Pastor, Julio Maier und Marcelo San-
cientti hervorzuheben. In einer tiefgehenden und reichhaltigen Arbeit betont Ersterer
nach der Untersuchung des aktuellen Zustandes des Strafrechts, dass die Rückkehr
zur strafrechtlichen Gesetzgebungswissenschaft durch die große Unordnung, das
Chaos, die Ineffizienz und Manipulation sowie die mangelnde Ernsthaftigkeit der ge-

erlassene „Sechste Strafrechtsreformgesetz“ gebrochen; zu weiteren Details, Kritiken und


zusätzliche Literatur vgl. Vogel, Strafgesetzgebung und Strafrechtswissenschaft, in: Schüne-
mann u. a., Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag am 15. Mai 2001, Berlin/New
York, 2001, S. 106 – 107.
40
Vgl. Voß, Symbolische Gesetzgebung, S. 12.
41
Vgl. Voß, Symbolische Gesetzgebung. Fragen zur Rationalität von Strafgesetzgebungs-
akten; Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat. Normative und empirische materi-
elle und prozedurale Aspekte der Legitimation unter Berücksichtigung neuerer Strafgesetz-
gebungspraxis, 1998; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996.
42
Vgl. Vogel, Strafgesetzgebung und Strafrechtswissenschaft, S. 105 – 118; Günther, Die
Genese eines Straftatbestandes. Eine Einführung in Fragen der Strafgesetzgebungslehre, JuS
1978, S. 8 – 14; Hettinger, Zur Rationalität heutiger Strafgesetzgebung im Hinblick auf die
Rechtsfolgenbestimmung, GA 1995 S. 399 – 429; Hobe, Umsetzung kriminalpolitischer
Zielsetzungen in Gesetzgebungsverfahren, Nachwort zur Fragestellung: Gesetzgebungstheo-
rie und Rechtspolitik, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. XIII, Ge-
setzgebungstheorie und Rechtspolitik, 1988, S. 185 – 193; Maiwald, Dogmatik und Gesetz-
gebung im Strafrecht der Gegenwart, in: Behrends/Henckel (Hrsg.), Gesetzgebung und
Dogmatik. 3. Symposion der Kommission „Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und
Gegenwart“ am 29. und 30. April 1988, 1989, S. 120 – 137; Pohl, Strafgesetzgebungstheorie –
Voraussetzung für die Effektivität von Strafnormen?, in: Schäffer/Triffterer (Hrsg.), Rationa-
lisierung der Gesetzgebung. Jürgen Rödig Gedächtnissymposion 28. – 30. Oktober 1982,
1984, S. 172 – 178; Schreiber, Ist eine Effektivitätskontrolle von Strafgesetzen möglich?, in:
Schäffer/Triffterer (Hrsg.), Rationalisierung der Gesetzgebung. Jürgen Rödig Gedächtnis-
symposion 28. – 30. Oktober 1982, 1984, S. 178 – 186; Waldmann, Zur Genese von Straf-
rechtsnormen, KrimJ 1979, S. 102 – 123.
Gesetzlichkeitskrise, Gesetzgebungstheorie und das in dubio pro reo-Prinzip 417

genwärtigen Strafgesetzgebung bedingt ist. Seine wesentlichen Thesen und Vor-


schläge sind die Folgenden:
– Das Verfassungsrecht gebiete nicht nur einen bestimmten Inhalt der Strafrechts-
gesetzgebung, sondern bestimme auch eine bestimmte Art der Gesetzgebungsme-
thodik: die Kodifizierung (die auf diese Weise ein Korollar des Gesetzlichkeits-
prinzips sei). In diesem Sinne und mit einem Zitat von Luigi Ferrajoli behauptet
er: „… jetzt ist der Zeitpunkt einer Gesetzgebungswissenschaft gekommen, die die
aktuelle Entschlüsselungstendenz überwindet, die Rolle des Gesetzes im Rechts-
staat wiederherstellt und das Gesetzlichkeitsprinzip stärkt, indem sie es fest an den
Schutz der Grundrechte bindet …“.43
– Damit diese Rückkehr zur Kodifizierung effektiv sein könne, müssten weitere Be-
dingungen erfüllt werden: die Verringerung der strafbaren Handlungen auf ein zu-
lässiges Minimum44 und die Festlegung einer Serie von zusätzlichen Garantien:
So wirke das Prinzip des Gesetzbuch-Vorbehalts als eine Metagarantie der Kodi-
fizierungssystematik.45 Gleichzeitig schlägt Pastor vor, verschiedene Unterprinzi-
pien aufzustellen: So sollten alle strafrechtlichen, strafprozessrechtlichen und ge-
richtsorganisatorischen Vorschriften in einem einzigen Gesetzbuch enthalten sein.
Keine Norm, die sich außerhalb dieses Gesetzbuches befindet, solle Gültigkeit
haben. Ebenso garantiere der Numerus Clausus der Straftatbestände eine rechtlich
unmittelbar wirksame Beschränkung auf ein Minimalstrafrecht.46 Auch das Unter-
prinzip der Reformkonzentration und der Unveränderlichkeit des Numerus Clau-
sus müsse eingehalten werden: Das neue Strafgesetzbuch, das gemäß den genann-
ten Forderungen abgefasst wurde, könne nur ein Mal jährlich durch ein Gesetz ver-
ändert werden. Außerdem impliziere das Quorums-Unterprinzip die Forderung
nach einer qualifizierten parlamentarischen Mehrheit für die Verabschiedung
der Reform der kodifizierten Strafgesetzgebung. Schließlich müssen die straf-
rechtliche Rekodifizierung und ihre jährlichen Reformen außerhalb des Gesetzge-
bungsorgans diskutiert und ausgearbeitet werden. Dieses verabschiede sie ohne
Veränderungsmöglichkeit, sobald die notwendige Zustimmung erzielt worden
sei. Die bestausgebildeten Universitätsprofessoren für Strafrecht, Strafprozess-
recht und Kriminologie seien mit den Gesetzestexten zu betrauen (Unterprinzip
des geschlossenen Buches).47

43
Vgl. Pastor, Recodificación penal y principio de reserva de código, S. 12, 146 – 150, mit
Zitat von Ferrajoli, Derecho y razón, S. 449.
44
Damit greift er die Idee eines Minimalstrafrechts auf; vgl. Recodificación penal y prin-
cipio de reserva de código, S. 154 – 167.
45
Vgl. Recodificación penal y principio de reserva de código, S. 171.
46
Vgl. Recodificación penal y principio de reserva de código, S. 171, 178 – 179 und 182 –
227.
47
Vgl. Recodificación penal y principio de reserva de código, S. 235 – 245.
418 Eugenio C. Sarrabayrouse

Auch Julio B. Maier hat sich in seinen neuesten Arbeiten mit der Krise des Straf-
rechts befasst und Vorschläge zur Lösung der aktuellen Situation formuliert.48 Er for-
dert nicht nur eine Verringerung der strafbaren Verhaltensweisen, sondern auch ihre
Konzentration in einem einzigen Gesetzbuch (unter Abschaffung des sogenannten
Ergänzungs- und Spezialstrafrechts), um so die zweckmäßige Anwendung der Straf-
normen und die effektive Gültigkeit des Gesetzlichkeitsprinzips sicherzustellen. Er
schlägt auch eine qualifizierte Mehrheit zur Verabschiedung von Gesetzgebungsre-
formen strafrechtlichen Inhalts vor und stützt sich hierfür auf die analoge Anwen-
dung der argentinischen Verfassung für die Fälle der Bestrafung von Beamten. Mar-
celo Sancinetti wiederum schlägt eine Regulierung des Allgemeinen Teils des Straf-
rechts vor, der so kurz wie möglich sein solle, ein Mindestmaß zur Ermöglichung
einer freieren Entwicklung der Forderungen der Strafrechtslehre.49
Ich teile die Vorschläge von Pastor, soweit er die Rückkehr zur Strafrechtskodi-
fizierung als gesetzgeberische Methode vorschlägt, um dem aktuellen Strafrecht ent-
gegenzuwirken, das inflationär und expansiv ist, sich in Untersysteme sowie „Ergän-
zungsnormen“ auffächert, als „soziales Allheilmittel“ dient, kurz, ein neopunitivis-
tisches und neoinquisitorisches Strafrecht darstellt. Damit bietet es einen ähnlichen
Kontext, wie das Recht, dem die Aufklärer zu ihrer Zeit gegenüberstanden. Heute hat
sich das Strafrecht von den Prinzipien entfernt, die damals zu seiner Vereinigung in
einem einzigen Gesetzestext führten, nämlich die Anwendung einer präzisen Tech-
nik, die Kürze, Einheitlichkeit und einzige Quelle. All diese Prinzipien dienten dazu,
seine Auslegung zu erleichtern und die Willkür der Auslegenden (hauptsächlich der
Richter) zu vermindern. Ich glaube jedoch, dass die Rekodifizierung alleine nicht
ausreicht, hauptsächlich weil sie die Auslegungstätigkeit des Gesetzes weder besei-
tigen konnte noch können wird, was auch einer der von Pastor kritisierten Punkte ist.
Die Lektüre jeglicher Urteilssammlung zeigt uns, dass zum Beispiel das argentini-
sche Strafgesetzbuch von 1921, das als zivilisierter und aufgeklärter Meilenstein an-
gesehen wird, in dem sich jene eben genannten Ideale der strafrechtlichen Kodifizie-
rung zeigen, trotz seiner guten gesetzgeberischen Technik das Aufkommen von wi-
dersprüchlichen Auslegungen seiner Vorschriften nicht verhindern konnte. Daher
muss sich jedes Programm, das versucht, das Strafrecht zu begrenzen und zu ratio-
nalisieren, gleichzeitig sowohl mit der Schaffung als auch mit der Auslegung des
Strafgesetzes befassen. In dieser Hinsicht dürfen das Gesetzlichkeitsprinzip und
das in dubio pro reo Prinzip nicht als zwei konkurrierende Prinzipien angesehen wer-
48
Vgl. seinen Vortrag Constitución y procedimiento penal, den er im August 2008 in
Feuerland hielt; auch ¿Es posible todavía la realización del proceso penal en el marco de un
Estado de Derecho? in der Zeitschrift ¿Más Derecho? Nr. 1, 2001; La esquizofrenia del De-
recho penal, in: Rivera u. a. (Hrsg.), Contornos y pliegues del Derecho. Homenaje a Roberto
Bergalli, 2006, S. 295 – 312. Zum ideologischen Fundament, das die Ausbreitung des Straf-
rechts bewirkt, siehe Blumbergstrafrecht; vgl. NDP, 2004/B, S. I ff.; aus neuerer Zeit: Die
Zukunft des Strafrechts, in: Herzog/Neumann (Hrsg.), Festschrift für Winfried Hassemer,
2010, S. 481 – 501.
49
Vgl. Dogmática del hecho punible y ley penal – Dogmatik der Straftat und Strafgesetz
(zweisprachige Ausgabe), 2003, S. 15 ff.
Gesetzlichkeitskrise, Gesetzgebungstheorie und das in dubio pro reo-Prinzip 419

den, wie weiter unten ausgeführt wird. Bei der Auslegung des Strafgesetzes leistet
meiner Ansicht das in dubio pro reo Prinzip einen wichtigen Beitrag zu der Feststel-
lung, welche Auslegung auf einen Fall anzuwenden ist.
Zur Erklärung meines Vorschlages müssen jedoch vorher die verschiedenen
Theorien der Gesetzesauslegung kurz untersucht werden.

IV. Die Gesetzesauslegung


Gegenwärtig werden – grob gesagt – drei Theorien über die Gesetzesauslegung
anerkannt, die alle durch die Art und Weise des Verständnisses des Rechtssystems
geprägt sind: die „formalistische“, ihr Gegenspieler, die skeptische, und die vermit-
telnde, die von einigen Autoren „Theorie der offenen Struktur“ genannt wird.50
Nach der formalistischen Theorie ist die Auslegung eine objektive Erkenntnisse
ermöglichende Tätigkeit, welche darin besteht, die objektive Bedeutung der gesetz-
geberischen Verfügungen oder die Absicht des Gesetzgebers zu ermitteln. Ihre Ver-
fechter vertreten die Ansicht, dass die Wörter eine eigene Bedeutung haben, dass der
Gesetzgeber einen einheitlichen und erkennbaren Willen besitze und dass das
Rechtssystem keine Lücken aufweise, womit jeder gesetzlichen Bestimmung eine
einzige „wahre“ Auslegung entspreche. Daher bestehe das Ziel der Auslegung
darin, die objektive Bedeutung der Wörter oder den Willen des Gesetzgebers zu „er-
mitteln“. Der Richter habe so keinen Entscheidungsspielraum.51
Der Ursprung dieser Auffassung findet sich in dem aufklärerischen Ideal, richter-
liche Willkür zu vermeiden, womit die Bindung des Richters an das Gesetz zum na-
türlichen Korollar des Gewaltenteilungsprinzips erhoben wurde. In diesem Zusam-
50
Vgl. Igartúa Salaverría, Teoría analitica del Derecho (La interpretación de la ley), 1994,
S. 41 ff.; Guastini, Teoría e ideología de la interpretación constitucional, Übersetzung von
Miguel Carbonell und Pedro Salazar, 2008, S. 39 – 42; ders., Lezioni di teoría del diritto e
dello Stato, 2006, S. 69 – 82 und 95 – 104.
51
Vgl. Igartúa Salaverría, Teoría analitica del Derecho, S. 42. Dieser Autor weist darauf
hin, dass gemäß dem Formalismus „… die gerichtliche Entscheidung perfekt von den Geset-
zen beschrieben sein [muss]. Diese bilden ein ausreichend präzises, vollständiges, geschlos-
senes und nicht widersprüchliches System. Wenn doch irgendein Zweifel hinsichtlich seiner
Bedeutung auftaucht, wird dieser mit Hilfe des gesetzgeberischen Willens gelöst. Wenn Wi-
dersprüche zwischen den Normen auftreten, so bestehen diese nur scheinbar. Wenn Lücken
entdeckt werden, werden sie bequem und zutreffend durch Analogie behoben, die nur äußerst
logische Verfahren und die Rekonstruktion des Gesetzgeberwillens impliziert. Die Tatsachen,
auf welche die Gesetzesvorschrift angewandt wird, werden mit der gleichen glänzenden,
einfachen und wirksamen Klarheit gelöst wie jede nichtrechtliche Tatsache, zum Beispiel auf
wissenschaftliche und objektive Weise. Bei der Entscheidung eines konkreten Falls benötigt
der Richter also nur eine logische Schlussfolgerung, um die geltenden Normen auf eine be-
wiesene Tatsache anwenden zu können …“; vgl. ders., Prolog zu Ezquiaga, 1990, S. 21; zitiert
nach Nieto, El arbitrio judicial, Barcelona, 2000, S. 40. Ein Beispiel für diese Ansicht ist in
Argentinien das Werk von Sebastián Soler, La interpretación de la ley, 1962; zu diesem Thema
siehe auch Julio B. J. Maier, Derecho procesal penal, Bd. I, 2. Aufl., 1996, S. 191 – 238.
420 Eugenio C. Sarrabayrouse

menhang ist der Prototyp des Richters ein reiner Vollzieher des gesetzgeberischen
Willens, der in dem berühmten, Montesquieu zugesprochenen Ausspruch verkörpert
wird, dass der Richter der Mund sei, der die Worte des Gesetzes spreche.52
Die Aufklärung wollte die Rationalität auf alle menschlichen Tätigkeiten, ein-
schließlich der juristischen, ausbreiten. Daher ging man davon aus, dass die Lösung
eines Konfliktes immer im Gesetz (oder zumindest in der gesamten Rechtsordnung)
läge und dass die Richter nur die Aufgabe hätten, diese zu finden: „Alles ist im Ge-
setz und außerhalb von ihm darf nichts beachtet werden“.53 In der Gegenwart ist die-
ses Paradigma, das vielleicht in einem bestimmten historisch-politischen Kontext
gültig war – der durch die Konfrontation und den Kampf gegen ein inquisitorisches,
absolutistisches und willkürliches System gekennzeichnet war – jedoch sehr schwer
vertretbar. So zeigen zum Beispiel die Existenz von widersprüchlichen Urteilen, völ-
lig entgegengesetzten Auslegungen ein und desselben Gesetzestextes, abweichende
oder widersprüchliche individuelle Sondervoten und die Aufhebung von Urteilen
durch höhere Gerichte die Irrealität dieses Wunsches und die Notwendigkeit,
diese Sachlage anzuerkennen und eine andere Lösung zu finden.54
Die entgegengesetzte (skeptische) Theorie vertritt die These, dass die Rechtssys-
teme weder vollständig noch dauerhaft sind und dass die Richter im Endeffekt echte
Gesetzgeber sind. Für einige Vertreter dieses Standpunktes sind die Regeln bloß nette
Spielzeuge, die nur in dem Maße wichtig sind, wie sie uns helfen, das Handeln der

52
Vgl. Fiandaca/Musco, Derecho penal. Parte General, Übersetzung von Luis Niño, 2006,
S. 129; so auch Guastini, Teoría e ideología de la interpretación constitucional, S. 39. Dass
dieser Satz tatsächlich von Montesquieu stammt, wurde jedoch von verschiedenen Autoren
angezweifelt; vgl. Schönfeld, K. M., Rex, Lex et Judex: Montesquieu and la bouche de la loi
revisited, European Constitutional Law Review, 2008/2, S. 274 – 301; zu diesem Punkt siehe
auch Montiel, Juan Pablo, La analogía in bonam partem en el Derecho penal: reflexiones sobre
sus fundamentos y límites, 2009 als Vortrag gehalten im Seminar von Daniel Pastor, Juristi-
sche Fakultät (Universität von Buenos Aires), S. 5, Rn. 8; ebenso Ortiz de Urbina Gimeno, La
excusa del positivismo. La presunta superación del „positivismo“ y el formalismo por la
dogmática penal contemporánea, 2007, S. 38 – 40; auch Ogorek, Die erstaunliche Karriere des
,Subsumtionsmodells‘ oder wozu braucht der Jurist Geschichte?, in: Cornelius Prittwitz u. a.,
Festschrift für Klaus Lüderssen zum 70. Geburtstag am 2. Mai 2002, 2002, S. 127 – 140.
53
Vgl. Nieto, El arbitrio judicial, S. 33 – 41, insbes. S. 40. Diese Konzeption der Rolle der
Richter und ihre Unterordnung unter das Gesetz beeinflusste auch andere Institutionen, zum
Beispiel das Rechtsmittel der Revision; hierzu siehe Pastor, La nueva imagen de la casación
penal, 001, S. 15 – 35.
54
Die Unmöglichkeit, eine einzige Lösung zu finden, beruht auf vielen Gründen: die
Mehrdeutigkeit und Ungenauigkeit der juristischen Sprache, der allgemeine Charakter der
Gesetze, welcher es ihnen unmöglich macht, alle Einzelfälle vorherzusehen, die eigenen An-
schauungen des Richters, usw. Wie man sieht, ist die Rechtsprechung und Literatur zu der
„vorläufigen Verfahrenseinstellung“ in Argentinien ein klares Beispiel für dieses Problem
(vgl. den Kommentar von Bruzzone, Probation y pena de inhabilitación. Una „condena“ si-
milar a la que surge de un juicio abreviado, Rechtsprechungsanhang, Revista La Ley, 6. 7.
2001, S. 3).
Gesetzlichkeitskrise, Gesetzgebungstheorie und das in dubio pro reo-Prinzip 421

Richter vorherzusagen.55 Gegenwärtig nimmt diese Haltung die Zweideutigkeit und


Unbestimmtheit der Sprache ernst und behauptet, dass die normativen Texte vor der
Auslegung jeglichen Sinnes entbehren. Sie können unterschiedlich ausgelegt wer-
den, es gibt jedoch kein Kriterium, um zwischen der richtigen und der falschen Aus-
legung zu unterscheiden.56
Schließlich gibt es eine von einigen Autoren als vermittelnde Position angesehene
Theorie. Gestützt auf die Theorie von Hart über die „offene Struktur“ der Sprache57,
betont sie die nahezu unbeschränkbare Unbestimmtheit fast aller normativen Bestim-
mungen, die in natürlicher Sprache und unter Benutzung allgemeiner Gattungswör-
ter abgefasst sind.58 Ausgehend von der Unterscheidung zwischen objektiv ein-
schätzbaren „klaren“ und „zweifelhaften“ Fällen, bestimmt der Auslegende bei Letz-
teren die Bedeutung eines Textes, wenn er eine Angelegenheit dieser Art löst. Auf
diese Weise werden die abweichenden Sondervoten und unterschiedlichen Kriterien
gerechtfertigt, die zwei Gerichte angesichts ein und desselben Sachverhaltes im Falle
einer Berufung oder Revision vertreten.59

55
Nach dem Satz von Llewellyn aus seinem Werk The Bramble Bush (zitiert nach Nino,
Introducción al análisis del derecho, S. 45). Der Richter Holmes verstand unter „Recht“
„… die Prophezeiungen darüber, was die Gerichte konkret tun werden, nicht mehr und nicht
weniger …“ (vgl. Nino, op. cit., S. 46).
56
Vgl. Guastini, Teoría e ideología de la interpretación constitucional, S. 42. Jedoch wird
behauptet, dass diese Position die objektiven Grenzen vernachlässige, denen die Möglichkei-
ten der Auslegenden zwangsläufig unterliegen. In einem bestimmten kulturellen Umfeld
können die linguistischen Ausdrücke verschiedene Bedeutungen zulassen, nicht aber jedwe-
den Sinn, vgl. Igartúas Salaverría, Teoría analítica del Derecho, S. 43. Außerdem wird her-
vorgehoben, dass die Skeptiker vergessen, dass es zumindest eine Art von Normen gibt, deren
Inhalt nicht davon verschont bleibt, was die Richter „zu sagen behaupten“: diejenigen Nor-
men, die ihnen gerade die Kompetenz erteilen, bestimmte Konflikte zu lösen und festlegen,
wer diese soziale Rolle der Konfliktlösung einzunehmen hat; vgl. Nino, Introducción al aná-
lisis del derecho, S. 46 – 50; auch Hart, El concepto de derecho, Übersetzung von Genaro
Carrió, 2. Aufl., 2004, S. 169 – 191.
57
Vgl. Hart, El concepto de derecho, S. 165 – 169.
58
Vgl. Igartúas Salaverría, Teoría analítica del Derecho, S. 44.
59
In diesem Punkt ist die unserer Rechtskultur Prestige verleihende Diskussion zwischen
der formalistischen Position von Soler, La interpretación de la ley und Genaro R. Carrio,
Algunas palabras sobre las palabras de la ley, 1971, höchst interessant; ders., Notas sobre
derecho y lenguaje, Buenos Aires, 1976; zu der Ansicht von Hart siehe La decisión judicial: el
debate Hart-Dworkin, insbesondere die einleitende Untersuchung von César Rodríguez, Siglo
del Hombre Editores, 2000 S. 15 – 88. Zu der vermittelnden Theorie erklärt Igartúas Sala-
verría, Teoría analítica del Derecho, S. 45: „Diese vermittelnde Theorie nimmt an, dass die
Unterscheidung zwischen ,klaren Fällen‘ (die in den Bestimmtheitsbereich fallen) und
,zweifelhaften Fällen‘ (die in den Schattenbereich fallen) eine objektive Unterscheidung ist,
dass es kein Werk der Entscheidungen des Auslegenden ist. Als Korollar folge daraus, dass der
Auslegende die Bedeutung eines Textes ,beschreibe‘, wenn der zu lösende Fall in den Be-
stimmtheitsbereich falle; hingegen ,entscheide‘ der Auslegende die Bedeutung eines Textes,
wenn er sich im Schattenbereich bewege, das heißt, wenn er einen Zweifelsfall löse …“. Auch
Kelsen, Teoría pura del derecho, Übersetzung von Moisés Nilve, 2. Aufl., 9. Neudruck, 1996,
S. 166 – 167, lässt verschiedene mögliche Auslegungen einer Norm zu.
422 Eugenio C. Sarrabayrouse

In gewisser Weise diskutieren diese Theorien die umstrittene Frage danach, wer
die Schöpfer des Rechts sind. Diesbezüglich unterscheidet Riccardo Guastini ver-
schiedene Voraussetzungen, unter welchen die Auslegung der Rechtsschöpfung
gleichsteht. So sei die sogenannte wissenschaftliche Auslegung (im Sinne von Kel-
sen und Merkl) kein Fall der Rechtsschöpfung, da sie darin bestehe, alle Normen fest-
zulegen, die von einer Verfügung ausgedrückt werden (gemäß den unterschiedlichen
Auslegungstechniken, die in der gegenwärtigen Rechtskultur angewandt werden).
Hingegen wird Recht geschaffen, wenn die Richter einer Verfügung eine Bedeutung
zusprechen, die sich nicht in den Rahmen der möglichen Bedeutungen einfügt. Dies
ist – in starkem Sinne – die Schaffung einer impliziten Norm: ähnlich der Gesetzge-
bung, auch wenn sie nicht in der kanonischen Formulierung einer Verfügung besteht.
Es wird auch Recht geschaffen, wenn die Richter Lücken entdecken (die sie in Wirk-
lichkeit selbst konstruieren) und diese mittels bestimmter Techniken und impliziter
Normen – das heißt, Normen, die nicht die Bedeutung irgendeiner Verfügung darstel-
len – schließen. In diesen Fällen handelt es sich nicht um Auslegung: Es ist die
Schöpfung – in starkem Sinne – einer neuen Norm.
In anderen Fällen wenden die Richter Verfügungen an, die keine „Regeln“ son-
dern „Prinzipien“ ausdrücken. Die Anwendung eines Prinzips erfordert normaler-
weise zwei Dinge: Erstens seine Konkretisierung; zweitens seine Abwägung mit an-
deren, entgegenstehenden Prinzipien. Die Konkretisierung eines Prinzips besteht
darin, aus ihm neue Normen („Regeln“) abzuleiten, die implizit sein sollen. Die Ab-
wägung von Prinzipien besteht wiederum darin, eine – axiologische – hierarchische
Beziehung bestimmter Art zwischen den konkurrierenden Prinzipen herzustellen.
Besagte (in sehr weitem Sinne Abwägungs-)Verfahren, nämlich Konkretisierung
und Abwägung, sind schöpferische Tätigkeiten: von Normen (Konkretisierung) be-
ziehungsweise von hierarchischen Beziehungen (Abwägung).
Die Diskussion über die rechtlichen Prinzipien hat die rechtsphilosophische „Ta-
gesordnung“ der letzten zwei Jahrzehnte dominiert.60 Hierbei übte sowohl das Werk
von so großen Autoren wie Dworkins in seiner Polemik mit Hart Einfluss aus als auch
die Arbeit der Lehre und der Rechtsprechung bei der Auslegung der Verfassung, die
sich als Produkt komplexer politischer Kompromisse aus allgemeinen und mehrdeu-
tigen Texten zusammensetzt.61
Schließlich stellen sowohl das Außerkraftsetzen von bereits existierenden Nor-
men als auch die zusätzlichen und ersetzenden verfassungsrechtlichen Deutungsur-
teile Fälle echter Rechtsschöpfung dar.62

60
Navarro/Bouzat/Esandi, Juez y ley penal. Un análisis de la interpretación y aplicación de
normas penales, 2001, S. 16.
61
Diesbezüglich siehe Carbonell, Prólogo, in: Guastini, Teoría e ideología de la inter-
pretación constitucional, S. 10.
62
Vgl. Guastini, Jurisdicción y sistema jurídico, S. 228 – 230.
Gesetzlichkeitskrise, Gesetzgebungstheorie und das in dubio pro reo-Prinzip 423

V. Die Auslegung des Strafgesetzes


und ihre spezifischen Probleme – Gesetzlichkeitsprinzip,
Bestimmtheitsgebot und in dubio pro reo-Prinzip
Neben den gewöhnlichen Problemen sieht sich die Auslegung des Strafgesetzes
besonderen Schwierigkeiten ausgesetzt. Sancinetti wies schon mit einer gewissen
Skepsis auf die Schwierigkeiten hin, das aus dem Gesetzlichkeitsprinzip abgeleitete
Bestimmtheitsgebot in der Praxis anzuwenden.63 Zum Beispiel ist das argentinische
Strafgesetzbuch voller Tatbestände, die nicht nur an der Mehrdeutigkeit und Unbe-
stimmtheit der von ihm benutzten natürlichen Sprache kranken, sondern außerdem
auch an Generalklauseln oder Wertungskonzepten leiden, die nur durch den Ausle-
genden vervollständigt werden können. Zum Beweis meiner Behauptungen werden
folgende Beispiele genügen: Was bedeutet „sexueller Missbrauch in besonders
schweren Fällen“ gemäß Art. 119 II Código Penal argentino (argentinisches Strafge-
setzbuch, im Folgenden CP)? Oder: Umfasst der Beischlaf auf jedwedem Wege die
sogenannte „fellatio in ore“? Und was versteht man unter „Waffe“? Und unter
„Bande“? Ist es dasselbe wie eine kriminelle Vereinigung? Ein Phänomen unserer
Zeit ist in diesem Zusammenhang die immer stärker zutage tretende Tendenz des Ge-
setzgebers, sich nicht klar auszudrücken64 und auf diese Weise anderen die Entschei-
dungen zu übertragen, die er treffen müsste; in anderen Situationen ergibt sich diese
Unklarheit daraus, dass die Gesetze der Kompromiss entgegengesetzter Projekte
sind.65 Außerdem unterliegen viele Bereiche, die das Gesetz regeln soll, von Natur
aus Veränderungen (zum Beispiel das Steuerstrafrecht), was dazu zwingt, offene For-
mulierungen zu verwenden.66 Daher gibt es gute Gründe für die Ansicht, dass es au-
ßerordentlich schwierig sei, die Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit der normativen
Texte zu beseitigen.
Wegen der von ihm geschützten Güter und der Gefährlichkeit des Instruments, das
es anwendet (im Wesentlichen die Strafe, aber auch wegen der Folgen, die bereits die
Einleitung eines Prozesses mit sich bringt) hat das Strafrecht außerdem eine spezielle
63
Vgl. Sancinetti, Casos de Derecho penal. Parte General, Bd. 1, 3. Aufl., Buenos Aires,
2005, S. 75.
64
Daniel Pastor nennt als Beispiel die Unterschiede zwischen „töten“ und „unter arglisti-
gem Verschweigen von Tatsachen unrechtmäßigerweise Beihilfe in Anspruch nehmen“; vgl.
ders., Recodificación penal y principio de reserva de código, S. 74.
65
Dadurch wird die Erkenntnis, welche „Theorie“ oder welches „Konzept“ hinter ihnen
stehen, erschwert. Virgilio Zapatero zeigt auf, dass oft die objektive Schwierigkeit, „… die
Entwicklung eines Problems [vorherzusehen], den gelegentlichen Rückgriff…auf mehrdeu-
tige oder ungenaue Ausdrücke erklärt, sowie darauf, die Delegierung als Instrument dafür zu
benutzen, der unsicheren Zukunft zu begegnen …“, der sich der Gesetzgeber gegenüber sieht;
das größte Problem entsteht, wenn die Mehrdeutigkeit absichtlich besteht; die Unbestimmtheit
kann hingegen in einigen Fällen eine wertvolle Hilfe zur Erlangung politischer Vereinbarun-
gen sein; vgl. ders., El arte de legislar, S. 87 – 88 und S. 259 – 265.
66
Vgl. hierzu Hassemer, Richtiges Recht durch richtiges Sprechen? Zum Analogieverbot
im Strafrecht, in: Grawendort (Hrsg.), Rechtskultur als Sprachkultur. Zur forensischen Funk-
tion der Sprachanalyse, 1992, S. 74 – 75.
424 Eugenio C. Sarrabayrouse

Beziehung zur Sprache. Im Unterschied zu anderen juristischen Bereichen müssen


die Strafnormen auf eine bestimmte Weise ausgedrückt werden; dabei erfüllt das
nicht nur an den Gesetzgeber sondern auch an den Richter gerichtete Gesetzlichkeits-
prinzip eine spezielle Funktion. Die Anwendung dieses Prinzips stellt eine der Auf-
gaben und Ziele der Strafgerichtsbarkeit dar.67 Die Werte, die es stützen, führen dazu,
dass das Gesetzlichkeitsprinzip an zwei Fronten „handelt“: einerseits richtet es sich
an den Gesetzgeber und andererseits an den Auslegenden. Im ersteren Fall ist das
Bestimmtheitsgebot das stärkste, zusammen mit dem Verbot, Strafgesetze mit rück-
wirkender Wirkung zu schaffen; für den zweiten ist das Analogieverbot68 und das
Verbot der Gewohnheit als Quelle zur Lösung eines Falles am stärksten. Aufgrund
der Wichtigkeit dessen, was bei der Anwendung des Strafrechts auf dem Spiel
steht, hat man auf beiden Seiten der Rechtsschöpfung Garantien gesucht. In diesem
Sinne und wie im vorausgehenden Punkt erklärt wurde, steht fest, dass die Richter
nicht auf die gleiche Art Recht schöpfen wie die Gesetzgeber;69 auf jeden Fall schaf-
fen sie aber Recht bei der Entscheidung, welche Auslegung einer normativen Verfü-
gung auf einen Fall anwendbar ist.
Jedoch ist diese schöpferische Tätigkeit der Richter nach dem hier Vertretenen im
Strafrecht stark begrenzt. Der Strafrichter kann nicht jedwede Auslegung wählen: Er
muss dies unter Einhaltung aller Prinzipien, die diesen Rechtszweig beherrschen,
tun; und hierunter befindet sich auch das in dubio pro reo-Prinzip. Zu diesem
Zweck muss eine harmonische Auslegung des Gesetzlichkeitsprinzips und des in
dubio pro reo-Prinzips in Betracht gezogen werden. Wenn wir akzeptieren, dass
die Funktion beider Prinzipien der Schutz des Individuums gegen die Gefahr der
staatlichen Strafverfolgung ist,70 (in dem Sinne, dass wir aufgrund des Ersteren er-
kennen können, welches die verbotenen Verhaltensweisen sind und welche Folgen
uns für den Fall ihrer Durchführung erwarten, während das Zweite die Gegenseite
des Schuldprinzips ist), dann sehen wir, dass sie sich in Wirklichkeit – wie bereits
vorausgeschickt wurde – nicht entgegenstehen. In Wahrheit ist das in dubio pro
reo-Prinzip die Grundlage der Bestimmtheitsforderung des Strafgesetzes, welches
dann Wirkung entfaltet, wenn dieses Gebot übertreten wird. Außerdem ermöglicht
es uns, den Disput widerstreitender Auslegungen zugunsten des Einzelnen zu lösen.
Bevor kurz sowohl die Argumente derjenigen dargelegt werden können, die die
Anwendung des in dubio pro reo Prinzips auf die Auslegung des Strafgesetzes stüt-
zen, als auch die Ansicht jener, die dies verneinen, müssen einige vorausgehende Prä-
67
Vgl. Hassemer, Richtiges Recht durch richtiges Sprechen?, S. 74 – 77.
68
Zum Inhalt des Analogieverbots im Strafrecht siehe Vasallli, Analogía nel diritto penale,
in: Digesto delle Discipline Penalistische, Bd. I, 4. Aufl., UTET, 1992, S. 158 – 172. Zu die-
sem Thema siehe die exzellente Dissertation von Montiel, Fundamentos y límites de la ana-
logía in bonam partem en el Derecho penal.
69
Ich beziehe mich wiederum auf Guastini, Jurisdicción y sistema jurídico, S. 228 – 230.
70
Zum Inhalt des Gesetzlichkeitsprinzips siehe Kapitel 1 der Dissertation von Montiel,
op.cit.; auch Bacigalupo, El principio de legalidad como tarea inconclusa, in: Principios
constitucionales de derecho penal, 1999, S. 43 – 72.
Gesetzlichkeitskrise, Gesetzgebungstheorie und das in dubio pro reo-Prinzip 425

zisierungen vorgenommen werden. Die Bedeutung eines normativen Textes wird


nicht vor der Auslegungstätigkeit bestimmt. So muss zwischen Text und Bedeutung
unterschieden werden. „… Jeder in den normativen Dokumenten – die gewöhnlich
Rechtsquellen genannt werden – enthaltene strafrechtliche Text, wird von unter-
schiedlichen Juristen in verschiedenen Momenten und Umständen auf verschiedene,
einander widersprechende Arten verstanden und benutzt. Dies bedeutet, dass die
normativen Texte, die den Quellendiskurs darstellen, nicht nur eine, sondern eine
Vielzahl von Auslegungen erlauben. Mit anderen Worten, die legislativen Verfügun-
gen beinhalten nicht mehr nur eine einzige eindeutige Bedeutung, sondern unabhän-
gig voneinander so viele Bedeutungen, wie es unterschiedliche Auslegungen gibt.
Kurz, es ist notwendig die Texte von ihren Bedeutungen zu unterscheiden, und
zwar aus dem einfachen Grund, dass es kein in beide Richtungen eindeutiges Verhält-
nis zwischen den einen und den anderen gibt …“.71
Andererseits werden allgemein gesagt bei der Gesetzesauslegung im Wesentli-
chen fünf Methoden angewandt: die grammatikalische, systematische, historische
– subjektiv und objektiv –, teleologische und verfassungskonforme Auslegung.72 Je-
doch gibt es keine Regel, die anzeigt, in welcher Situation dieser oder jener herme-
neutische Kanon herangezogen werden soll; daher können die Auswahl und das Er-
gebnis prinzipiell einen willkürlichen oder zumindest beliebigen Inhalt haben.73
Auch wenn es nicht möglich ist, im Voraus festzulegen, welches die korrekte oder
angemessene Methode für jede vom Auslegenden zu entscheidende Situation ist, so
ist es doch wahrscheinlich, dass unterschiedliche Methoden zu verschiedenen Lösun-
gen führen. Das Problem besteht also darin, wie man sich für die eine oder andere
Auslegung entscheidet. Und hier nun schlage ich vor, das in dubio pro reo Prinzip
so anzuwenden, dass es sich – zusätzlich zu den bereits bestehenden – in eine weitere
Schranke für die Auslegung des Strafgesetzes verwandelt.
Hier sollten wir nun kurz innehalten, um einige Argumente zu untersuchen, die
meiner Position widersprechen. An erster Stelle wird die „dem Beschuldigten zuträg-
liche Auslegung“ mit der „restriktiven Auslegung“ gleichgesetzt. Es wird sogar be-
hauptet, dass in einigen Fällen eine „weite Auslegung“ gefordert sein könnte oder die
71
Vgl. Guastini/Rebuffa, Einleitung zu Tarello, Cultura jurídica y política del derecho,
Übersetzung von Isidro Rosas Alvarado, 1995, S. 12; auch Guastini, Il diritto come linguag-
gio, 2. Aufl., 2006, S. 141 – 142. Hiermit können die Fälle erklärt werden, bei denen zum
Beispiel behauptet wird, dass eine bestimmte Auslegung verfassungswidrig sei (so die Kri-
minal- und Rechtsmittelkammer von Buenos Aires, Saal I, Fall „Barbará, Rodrigo Ruy wegen
Haftverschonung“ vom 10. 11. 2003, Richter Donna, Bruzzone und Elbert, wo die vom Richter
der vorhergehenden Instanz vorgenommene Auslegung des Art. 319 CPPN für verfassungs-
widrig erklärt wurde) oder wenn die CSJN erklärt, dass die für die Verfassungsmäßigkeit einer
Norm vorteilhafteste Auslegung vorzugswürdig ist.
72
Diese Typologie wird von Hassemer, Richtiges Recht durch richtiges Sprechen?, S. 78 –
79, benutzt; mit weiteren Details zu den verschiedenen Typologien der Auslegung: Igartúas
Salaverría, Teoría analítica del Derecho, S. 31 – 39; auch Guastini, Teoría e ideología de la
interpretación constitucional, S. 29 – 42.
73
Vgl. Hassemer, Richtiges Recht durch richtiges Sprechen?, S. 79 – 80.
426 Eugenio C. Sarrabayrouse

Analogie „in bonam partem“ berechtigt sei (im Wesentlichen für die Rechtferti-
gungsgründe), aber niemals die Anwendung pro reo.74 Ich behaupte, dass die restrik-
tive Auslegung nicht notwendigerweise für den Beschuldigten am vorteilhaftesten
ist; im Allgemeinen kann die restriktive Auslegung darin bestehen, die unklaren
Fälle auszuschließen oder in den Gesetzestext etwas einzufügen, was der Gesetzge-
ber nicht sagt (so bei der verfassungskonformen Auslegung), um einen Unterschied
zum Ausdruck zu bringen und so den Anwendungsbereich des Textes zu verkleinern.
Es kann jedoch geschehen (wie wir bereits gesehen haben), dass es notwendig ist,
eine „weite Auslegung“ oder sogar eine „analoge“ Auslegung vorzunehmen, um
zum Beispiel die Reichweite eines Rechtfertigungsgrundes zu erweitern. In diesem
Fall so zu handeln bedeutet auch pro reo zu entscheiden. Daher bedeutet das in dubio
pro reo-Prinzip nicht notwendigerweise, dass restriktiv ausgelegt werden muss.
Ein gutes Beispiel für diese Fälle ist die Situation, die sich in Argentinien bezüg-
lich der Auslegung der in den Art. 76 b ff. CP vorgesehenen vorläufigen Verfahrens-
einstellung ergibt. Die dort angewandte äußerst schlechte Gesetzgebungstechnik
führte dazu, dass zwei wissenschaftlich mögliche Auslegungen nebeneinander be-
standen, wie auch Juan Pablo Alonso deutlich erklärt.75 Ein Kriterium zur Lösung
der „Parität“ zwischen diesen Auslegungen ist die Anwendung des in dubio pro
reo-Prinzips, die argentinische CSJN berief sich jedoch auf das Prinzip pro homine.
Auch wird behauptet, die „historische Bedeutung“ des Prinzips verhindere seine
Anwendung auf die Gesetzesauslegung, da es immer auf Tatsachen bezogen benutzt

74
Vgl. Maier, Derecho procesal penal, 2. Aufl., Bd. 1, S. 502 – 504; zum Konzept der
weiten Auslegung und der Analogie vgl. Guastini, L’ interpretazione dei documenti normativi,
Mailand, 2004, S. 157 – 161; kurz gesagt bestehe der Unterschied zwischen der weiten Aus-
legung und der Analogie in Folgendem: Erstere bestehe darin, einem Ausdruck eine weitere
Bedeutung zu geben oder ihm eine Bedeutung zuzuschreiben, die auch den Schattenbereich
umfasst; die Analogie sei hingegen ein normativer Schaffensakt; ich gehe davon aus, dass
beide bei der Auslegung von strafrechtlichen Aussagen, die die Freiheit beschränken, verboten
sind.
75
Vgl. Alonso, Interpretación de las normas y derecho penal, Buenos Aires, 2006, S. 9 – 72
und 240 ff.; nach Aufzählung der von den Richtern Magariños und García angeführten Ar-
gumente (Anhänger der Thesen, die die „weite“ beziehungsweise „restriktive“ Anwendung
der vorläufigen Verfahrenseinstellung vertreten), behauptet Alonso, dass die von beiden an-
geführten Prinzipen „… ein ähnliches Maß an Wahrscheinlichkeit besitzen. In ihren jeweili-
gen Untersuchungen resümiert jeder Richter die Teile der Gesetzgebungsdebatte, die sich auf
die vertretene Position beziehen. Beide Vorschläge spiegeln rivalisierende Straftheorien wider
und wurden auf ähnlichen Grundlagen aufgebaut (die von den Gesetzgebern im Moment der
Gesetzesverabschiedung berücksichtigten Ziele). Da beide ähnliche Wahrscheinlichkeitsgrade
aufweisen, ist es äußerst schwierig, die relative Überlegenheit der einen über die andere ab-
zuwägen … Wir sind also an die Grenzen der Kohärenz gelangt …“, vgl. S. 244 – 245; siehe
auch das Urteil der CSJN, A. 2186.XLI, „Acosta, Alejandro Esteban wegen Verletzung des
Art. 14 I des Gesetzes Nr. 23.737 – c.28/05 –“ vom 23. 04. 2008; vgl. außerdem den Kom-
mentar von Díaz Cantón, Acerca de una derivación posible de la aplicación del principio „pro
homine“ en el fallo „Acosta“ de la Corte Suprema de Justicia de la Nación, in: Pitlevnik
(Hrsg.), Jurisprudencia penal de la Corte Suprema de Justicia de la Nación, Bd. 6, 2009,
S. 189 – 195.
Gesetzlichkeitskrise, Gesetzgebungstheorie und das in dubio pro reo-Prinzip 427

wurde. Dieses Argument ist für die Lösung des Problems nicht entscheidend. Dass es
bis heute niemand im Bereich der Gesetzesauslegung angewandt hat (auch eine be-
streitbare Frage), bedeutet nicht, dass heutzutage keine guten Gründe bestehen, dies
zu tun.
Die Ablehnung des in dubio pro reo-Prinzips stützt sich auch auf die scharfe Tren-
nung zwischen Tatsachen und Recht; jedoch ist diese künstliche Aufspaltung in der
Gegenwart nur sehr schwer vertretbar.76 Wenn also diese Trennung unhaltbar ist,
dann kann sie schlecht eine Grundlage dafür sein, die Anwendung des Prinzips aus-
zuschließen.
Daher ist keines der untersuchten Argumente überzeugend, um die Anwendung
des in dubio pro reo-Prinzips auf die Auslegung des Strafgesetzes auszuschließen.
Wenn wir schließlich akzeptieren, dass es unmöglich ist, die Mehrdeutigkeit und Un-
bestimmtheit der normativen Texte völlig zu verhindern, so werden wir sehen, dass
wir auf strafrechtlichem Gebiet Prinzipien benötigen, die die Tätigkeit des Auslegen-
den regeln und begrenzen: Auf diese Weise funktionieren bereits unter anderem der
Ausschluss der Gewohnheit, das Analogieverbot und das Verbot der rückwirkenden
Anwendung von Strafgesetzen. Das in dubio pro reo-Prinzip hinzuzufügen, das har-
monisch und konsequent mit dem Gesetzlichkeitsprinzip verbunden ist, bedeutet
nichts anderes als die Tätigkeit der Auslegung des Strafgesetzes weiter zu beschrän-
ken. Die rechtlichen Theorien sind praktische Instrumente bezüglich derer wir uns
fragen müssen, wozu sie dienen oder dienen sollen. Meine Position ist klar: Im Straf-
recht müssen sie dazu dienen, seine Anwendung zu beschränken. Und dies bedeutet
in der Praxis, dass das in dubio pro reo-Prinzip angewandt wird, um innerhalb der
wissenschaftlich zulässigen Auslegungen diejenige Auslegung eines normativen
Textes zu bestimmen, die für den Beschuldigten am vorteilhaftesten ist.

VI. Schlussfolgerung
Wie wir gesehen haben, befindet sich das Gesetzlichkeitsprinzip in der Krise. Die
einzige Art, dieser entgegenzutreten, besteht darin, sowohl an der Schaffung als auch
an der Auslegung der Strafgesetze zu arbeiten. Auf diese Weise können wir vielleicht
das Ideal eines beschränkten und rationalen Strafrechts verwirklichen.

76
Vgl. hierzu Pastor, La nueva imagen de la casación penal, 2001, S. 52 ff.; auch Röhl/
Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl., 2008, S. 500 – 503.
Aktuelle Probleme des Bestimmtheitsgrundsatzes
Lothar Kuhlen*

I. Der Bestimmtheitsgrundsatz als strafrechtliches


und verfassungsrechtliches Prinzip
1. Grundsätze eines rechtsstaatlichen Strafrechts

Im Allgemeinen Teil des Strafrechts finden sich bis heute wichtige Ansätze zur
Begründung und Begrenzung des Strafrechts, die außerhalb des positiv geltenden
Rechts entwickelt wurden. So versuchen die verschiedenen Straftheorien eine
vom positiven Recht unabhängige Auskunft über Grund und Grenzen der staatlichen
Strafbefugnis zu geben. Das gleiche beansprucht nach einem verbreiteten Verständ-
nis die Rechtsgutslehre, nach der sich nur Straftatbestände rechtfertigen lassen, die
dem Schutz eines Rechtsguts vor einer Verletzung oder Gefährdung dienen. Das
Schuldprinzip besagt, daß nur wegen eines vorwerfbaren Verhaltens gestraft werden
darf (subjektive Variante) und daß zudem die Strafe ihrem Ausmaß nach dem Grad
des verschuldeten Tatunrechts entsprechen muß (objektive Variante).
Nach dem Subsidiaritätsprinzip ist Strafe als schärfste staatliche Sanktion nur als
ultima ratio zulässig, darf also nicht eingesetzt werden, wo ein milderes Mittel zur
Erreichung des verfolgten Zwecks zur Verfügung steht. Nach dem Grundsatz nullum
crimen, nulla poena sine lege bzw. dem Gesetzlichkeitsprinzip schließlich muß die
Bestrafung wegen einer Handlung auf die unmittelbare Anwendung eines Gesetzes
gestützt werden, das die Strafbarkeit derartiger Handlungen bereits zuvor ausrei-
chend bestimmt hatte. Ein Bestandteil des Gesetzlichkeitsprinzips ist der uns inter-
essierende Bestimmtheitsgrundsatz.

2. Verfassungsrechtliche Geltung strafrechtlicher Grundsätze

All diese für ein rechtsstaatliches Strafrecht fundamentalen Prinzipien lassen sich,
jedenfalls im deutschen Strafrecht, heute nicht mehr nur als vorpositive – und damit

* Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den ich im September 2009 an der Universität
Buenos Aires im Rahmen des „Congreso Internacional y Nacional del Sistema Penal“ gehal-
ten habe. Die Vortragsform wurde beibehalten. Der Text wurde, vor allem mit Blick auf den
grundlegenden Beschluß des BVerfG vom 23. 6. 2010 (BVerfG NJW 2010, 3209), lediglich
geringfügig ergänzt und geändert.
430 Lothar Kuhlen

in ihrer Legitimation entsprechend problematische – Grundsätze, sondern als Be-


standteile des geltenden Rechts, nämlich des Verfassungsrechts betrachten. Für eini-
ge dieser Grundsätze ist das umstritten, so für die Rechtsgutslehre, der in der straf-
rechtlichen Literatur vielfach verfassungsrechtlicher Rang zugesprochen wird, wäh-
rend das BVerfG in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des Inzest-Tatbe-
standes aus dem Jahr 2008 diesen verfassungsrechtlichen Geltungsanspruch der
Rechtsgutslehre dezidiert zurückgewiesen hat1.
Unbestritten und unbestreitbar ist demgegenüber, daß das Gesetzlichkeitsprinzip,
um das es in meinem Referat geht, verfassungsrechtlichen Rang hat. Denn es ist in
der deutschen Verfassung, dem Grundgesetz (GG) aus dem Jahre 1949, positiviert,
und zwar wortgleich mit der Formulierung, die es in § 1 Strafgesetzbuch (StGB), also
im einfachen Gesetzesrecht, gefunden hat.

3. Transformation strafrechtlicher
in verfassungsrechtliche Prinzipien

Die Transformation ursprünglich vorpositiver oder strafrechtlicher Grundsätze in


Bestandteile des positiven geltenden Verfassungsrechts ist ein komplexer und inter-
essanter Prozeß, den ich hier aber nicht untersuchen will2. Nur auf zwei für unser
Thema interessante Aspekte möchte ich hinweisen. Zum einen ist der Bestimmtheits-
grundsatz, als Teil des Gesetzlichkeitsprinzips, in Deutschland geltendes Verfas-
sungsrecht, man kann also das Thema meines Vortrags ebensogut als verfassungs-
rechtliches wie als strafrechtliches auffassen. Zum anderen ist mit der Transforma-
tion vorpositiver in verfassungsrechtliche Grundsätze verbunden, daß der Rechtspre-
chung der Verfassungsgerichte, in Deutschland also des Bundesverfassungsgerichts,
eine größere Bedeutung zuwächst als zuvor. Das ist einer der Gründe dafür, daß die
Argumentation, die ich Ihnen in der Folge vortrage, vergleichsweise realistisch und
wohl weniger dogmatisch ist, als man das bei einem Vertreter der deutschen Straf-
rechtswissenschaft erwartet.

1
Das BVerfG distanziert sich von der Rechtsgutslehre als von dem verfassungsrechtlich
nicht verbindlichen Versuch, die Regelungsbefugnis des Strafgesetzgebers „unter Berufung
auf angeblich vorfindbare oder durch Instanzen jenseits des Gesetzgebers anerkannte
Rechtsgüter (einzuengen)“: so BVerfG NJW 2008, 1137, 1138, mit dem Zusatz, das „Konzept
des Rechtsgüterschutzes“ stelle „keine inhaltlichen Maßstäbe bereit, die zwangsläufig in das
Verfassungsrecht zu übernehmen wären, dessen Aufgabe es ist, dem Gesetzgeber äußerste
Grenzen seiner Regelungsgewalt zu setzen“. Vgl. dazu Greco, ZIS 2008, 234; Hörnle, NJW
2008, 2085; Zabel, JR 2008, 453; Roxin, StV 2009, 544; Kuhlen, in: Manuel da Costa Andrade
u. a. (Organizadores), Estudos em homenagem ao Prof. Doutor Jorge de Figueiredo Dias,
2009, S. 401 (416 ff.).
2
Näher dazu Kuhlen (Fn. 1), S. 401 ff.
Aktuelle Probleme des Bestimmtheitsgrundsatzes 431

II. Der verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz


1. Die vier Teilpostulate des Gesetzlichkeitsprinzips

Das Gesetzlichkeitsprinzip besagt, daß „eine Tat nur bestraft werden (kann), wenn
die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde“3. Dieses
Prinzip wird üblicherweise in vier Teilaussagen aufgegliedert:
– Rückwirkungsverbot bzw. Erfordernis einer lex praevia,
– Bestimmtheitsgebot bzw. Erfordernis einer lex certa,
– Verbot gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung bzw. Erfordernis einer lex
scripta,
– Analogieverbot bzw. Erfordernis einer lex stricta.
Nach klassischem Verständnis wenden sich Rückwirkungsverbot und Bestimmt-
heitsgebot an den Gesetzgeber, das Verbot gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung
sowie das Analogieverbot dagegen an den Richter4.

2. Ratio des Bestimmtheitsgrundsatzes

Daß man das Bestimmtheitsgebot an den Gesetzgeber adressiert, leuchtet zu-


nächst ein. Denn dieses Gebot beruht auf zwei Gründen. Zum einen soll es Orientie-
rungssicherheit für den Bürger schaffen, dieser soll, bevor er sich für ein Verhalten
entscheidet, wissen können, ob dieses strafbar ist oder nicht. Diese Orientierungs-
funktion kann auch ein ausreichend präzise gefaßtes Richterrecht erfüllen. Dennoch
genügt es nach herkömmlicher Auffassung dem Bestimmtheitsgebot nicht. Denn die-
ses will auch sicherstellen, daß die so wichtige Entscheidung über die Abgrenzung
strafloser von strafbaren Verhaltensweisen nicht vom Rechtsanwender, sondern vom
Gesetzgeber getroffen wird, wofür der Grundsatz der Gewaltenteilung und dort, wo
der Gesetzgeber demokratisch legitimiert ist, auch das Demokratieprinzip sprechen.

3. Die Unbestimmtheit des Begriffs „Bestimmtheit“

Wie das Bestimmtheitsgebot genauer zu verstehen ist und welche Strafgesetze


ihm genügen oder aber widersprechen, hängt offensichtlich davon ab, wie der Begriff
der Bestimmtheit aufgefaßt wird. Dieser Begriff ist nun seinerseits sehr unbestimmt
und dementsprechend kontrovers wird die Frage beantwortet, ob die derzeit gelten-
den Strafgesetze diesem Gebot genügen oder nicht.
Nach dem praktisch maßgeblichen Verständnis von BVerfG und BGH sind die
Gesetze des materiellen deutschen Strafrechts ganz überwiegend ausreichend be-

3
§ 1 StGB, Art. 103 Abs. 2 GG.
4
Siehe Kuhlen, in: Dannecker u. a. (Hrsg.), Otto-FS, 2007, S. 89 ff.
432 Lothar Kuhlen

stimmt. Als unbestimmt im Sinne von Art. 103 Abs. 2 GG wurden bislang nur ganz
wenige Strafgesetze eingestuft5.
In der strafrechtlichen Literatur wird das zum Teil ganz anders gesehen. Hier wer-
den wichtige Straftatbestände wie Mord, Nötigung und Untreue und darüber hinaus
ganze Deliktskategorien wie die Fahrlässigkeitsdelikte oder die unechten Unterlas-
sungsdelikte als nicht ausreichend bestimmt betrachtet6. Dementsprechend kritisie-
ren viele strafrechtliche Autoren die Rechtsprechung zum Bestimmtheitsgebot als zu
zurückhaltend. Sie nehme dieses Gebot nicht ernst genug, begünstige so eine unprä-
zise Strafgesetzgebung und bilde damit die Achillesferse des Gesetzlichkeitsprinzips
in der deutschen Rechtswirklichkeit7.
Freilich findet die zurückhaltende Handhabung der Judikatur neuerdings auch in
der Literatur Anhänger. So verlangt nach Herzberg das Bestimmtheitsgebot vom Ge-
setzgeber lediglich, die Strafbarkeit eines bestimmten Handlungstyps festzulegen,
nicht aber, dies möglichst präzise zu tun.8 Nach diesem Verständnis genügt beispiels-
weise der Straftatbestand der Beleidigung (§ 185 StGB) dem Bestimmtheitsgebot,
obwohl dieser Tatbestand im Gesetz überhaupt nicht umschrieben, sondern lediglich
mit dem Begriff „Beleidigung“ benannt wird. Trotzdem hat vor einigen Jahren das
BVerfG entschieden, der Beleidigungstatbestand sei ausreichend bestimmt9.
Ich selbst stehe in diesem Streit auf der Seite der Rechtsprechung. Rechtstheore-
tisch leuchtet es zwar ein zu sagen, Strafgesetze seien dann unbestimmt, wenn sich
ihre Anwendbarkeit auf einzelne Fälle vertretbarerweise unterschiedlich beurteilen
läßt und damit ungewiß ist. In diesem Verständnis des Begriffs ist nun das materielle
Strafrecht tatsächlich in einem erheblichen und wohl auch zunehmenden Maße un-
bestimmt10.
Bei diesem theoretisch einleuchtenden Verständnis des Bestimmtheitsgebots kön-
nen die Gerichte jedoch nicht stehen bleiben. Sie fordern daher in ständiger Recht-
sprechung vom Gesetzgeber einerseits zwar, „die Voraussetzungen der Strafbarkeit

5
So insbesondere § 43a StGB, also die Vermögensstrafe, von BVerfGE 105, 135, und
§ 370a Abgabenordnung (AO), also der Verbrechenstatbestand der gewerbs- und bandenmä-
ßigen Steuerhinterziehung, von BGH NStZ 2005, 105. Zu beiden Entscheidungen siehe
Kuhlen, Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen, 2006, S. 83 ff. Weitere
Rechtsprechungshinweise bei Birkenstock, Die Bestimmtheit von Straftatbeständen mit un-
bestimmten Gesetzesbegriffen, 2004, S. 107 ff.
6
Vgl. dazu die Hinweise bei Kuhlen (Fn. 5), S. 95 Fn. 658.
7
Mit diesem Tenor etwa Schünemann, Nulla poena sine lege?, 1978, S. 29 ff.; Krahl, Die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs zum Bestimmt-
heitsgrundsatz im Strafrecht, 1986, S. 277 ff.
8
Herzberg, in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminal-
politischer Impetus. Symposium für Bernd Schünemann zum 60. Geburtstag, 2005, S. 31
(49 ff.).
9
BVerfGE 93, 266 ff.
10
Dazu Kuhlen, in: Murmann (Hrsg.), Recht ohne Regeln? – Die Entformalisierung des
Strafrechts, 2011, S. 26 ff.
Aktuelle Probleme des Bestimmtheitsgrundsatzes 433

so genau zu umschreiben, daß Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbe-


stände für den Normadressaten schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind“11. An-
dererseits müssen sie aber doch einräumen, daß „der Gesetzgeber nicht umhin kann,
Strafgesetze mit Hilfe von Begriffen zu formulieren, die in besonderem Maße der
Deutung durch den Richter bedürfen“, wobei Fälle auftreten können, in denen zwei-
felhaft ist, „ob ein Verhalten noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt oder
nicht“12.

4. Kompromißcharakter des verfassungsrechtlichen


Bestimmtheitsbegriffs

Dieser verfassungsrechtliche Begriff der Bestimmtheit hat Kompromißcharakter.


Daran führt für das Verfassungsrecht aus praktischen Gründen auch kein Weg vorbei.
Selbst wenn man vom utopischen Ideal einer völligen Bestimmtheit der Strafgesetze
absehen und vom Gesetzgeber nur verlangen wollte, Strafgesetze möglichst präzise
zu formulieren, hätte das m. E. absurde Konsequenzen. Denn man wird im nachhin-
ein immer eine Möglichkeit zu einer noch präziseren Gesetzesfassung finden. Läßt
man sich aber einmal auf den praktisch unvermeidlichen Kompromißcharakter des
verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsbegriffs ein, so landet man bei einer mehr rhe-
torisch als wissenschaftlich ergiebigen Zwar-Aber-Struktur.
Man kann dann genausogut argumentieren, das Strafgesetz dürfe zwar flexibel
und entsprechend ungenau sein, aber es müsse doch ermöglichen, die Strafbarkeit
eines Verhaltens dem Gesetz selbst zu entnehmen, wie man umgekehrt sagen
kann, zwar müsse das Gesetz die Voraussetzungen der Strafbarkeit genau beschrei-
ben, aber das schließe natürlich nicht aus, daß seine Anwendbarkeit auf einzelne
Fälle zweifelhaft sein kann. Ich sehe keine Möglichkeit, die praktisch maßgebliche
Handhabung dieses Kompromißbegriffs durch die Gerichte dogmatisch oder „theo-
retisch“ zu kritisieren. Und ich halte es auch, vor allem mit Blick auf die Gewalten-
teilung, für sachlich richtig, daß die Gerichte die Kontrolle von Strafgesetzen am
Maßstab des Bestimmtheitsgebots nur mit großer Zurückhaltung ausüben.

III. Das Gebot bestimmter Gesetzesauslegung


1. Der Richter als Adressat des Bestimmtheitsgrundsatzes

Das bislang erörterte Verständnis des Bestimmtheitsgebots hat zur Folge, daß
Strafgesetze trotz ihrer Unbestimmtheit im rechtstheoretischen Sinne verfassungs-
rechtlich ausreichend bestimmt sein können. Dieses zurückhaltende verfassungs-

11
BVerfGE 105, 135 (152 f.); BVerfG JR 2009, 290 (291); BVerfG NJW 2010, 3209 (3219,
Rn. 72).
12
BVerfGE 71, 108 (114 f.); BVerfG JR 2009, 290 (291); BVerfG NJW 2010, 3209 (3210,
Rn. 73). Aus der Rechtsprechung des BGH vgl. etwa BGHSt 38, 120 (121).
434 Lothar Kuhlen

rechtliche Verständnis der Gesetzesbestimmtheit findet seine Begründung letztlich


darin, daß eine Orientierungssicherheit verbürgende Abgrenzung strafloser von
strafbaren Verhaltensweisen nicht vom Gesetzgeber allein geleistet werden kann,
sondern der Mitwirkung durch die Gerichte bedarf, die die Strafgesetze fallbezogen
konkretisieren und so im Laufe der Zeit immer weiter präzisieren.
Erkennt man einmal an, daß auch der Richter einen Beitrag zur Bestimmung des
Strafrechts leistet, so ist es unter dem Gesichtspunkt der Orientierungssicherheit na-
heliegend, entgegen dem traditionellen Verständnis des Bestimmtheitsgrundsatzes
diesen nicht nur an den Gesetzgeber, sondern auch an die Gerichte zu adressieren.
Diese Unterwerfung des Strafrichters unter den Bestimmtheitsgrundsatz gewinnt
im deutschen Strafrecht zunehmend an Bedeutung. Dogmatisch ist sie noch wenig
geklärt, was vor allem deshalb bedauerlich ist, weil sich unter dem einheitlichen
Titel einer „Bindung des Strafrichters an den Bestimmtheitsgrundsatz“ in Wahrheit
ganz unterschiedliche Auffassungen finden. Ich habe das an anderer Stelle analy-
siert13 und will es hier nicht wiederholen. Ich greife vielmehr die m. E. interessanteste
Variante heraus.

2. Präzisierungsgebot

Hiernach verpflichtet der Bestimmtheitsgrundsatz den Richter dazu, durch ent-


sprechende Auslegung des Strafrechts zu dessen weiterer Präzisierung beizutragen.
Dieses Präzisierungsgebot macht es der Rechtsprechung zur Pflicht, „Unklarheiten
über den Anwendungsbereich einer Norm durch Präzisierung und Konkretisierung
im Wege der Auslegung nach Möglichkeit auszuräumen“14. Daraus folgt das Verbot,
„durch eine fernliegende Interpretation oder ein Normverständnis, das keine klaren
Konturen mehr erkennen läßt“, „bestehende Unsicherheiten über den Anwendungs-
bereich einer Norm zu erhöhen, und sich damit noch weiter vom Ziel des Artikel 103
Abs. 2 GG (zu) entfernen“15. Besondere Bedeutung hat das Präzisierungsgebot bei
Tatbeständen, die im Rahmen des verfassungsrechtlich noch Zulässigen „verhältnis-
mäßig weit und unscharf gefaßt“ sind16. Richterliche Gesetzesinterpretationen, die
das Präzisierungsgebot verletzen, sind verfassungswidrig, ganz ebenso wie richter-
liche Strafgesetzinterpretationen, die gegen das Analogieverbot verstoßen.
Lassen Sie mich das am Beispiel der Nötigung erläutern17. Dieser Straftatbestand
hat in den letzten Jahrzehnten in Deutschland nicht nur die Strafgerichte, sondern

13
Kuhlen (Fn. 4), S. 100 ff.
14
BVerfG NJW 2010, 3209 (3211 Rn. 81). Das „Präzisierungsgebot“ entspricht in der
Sache dem „Postulat der Auslegungsbestimmtheit“ (so Kuhlen [Fn. 4], S. 102 f.). Der Aus-
druck „Präzisierungsgebot“ trifft aber das Gemeinte besser und wird deshalb in der Folge
übernommen. Näher zu diesem Gebot jetzt Kuhlen, JR 2011, 246.
15
BVerfG NJW 2010, 3209 (3211, Rn. 81).
16
BVerfG NJW 2010, 3209 (3211, Rn. 81).
17
Weitere Beispiele bei Kuhlen (Fn. 4), S. 103. Vgl. auch (zur Untreue) BVerfG JR 2009,
290; BVerfG NJW 2010, 3212.
Aktuelle Probleme des Bestimmtheitsgrundsatzes 435

auch das BVerfG mehrfach beschäftigt, vor allem im Zusammenhang mit sog. Sitz-
oder Verkehrsblockaden. Dabei handelt es sich um eine Form der politischen Demon-
stration, mit der die Demonstranten für ihre Zielsetzung, also etwa den Protest gegen
eine Erhöhung der Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel oder auch gegen die
Rüstungspolitik der NATO, öffentliche Aufmerksamkeit erreichen wollen, indem
sie sich auf öffentlichen Straßen hinsetzen und so den Straßenverkehr zum Erliegen
bringen. Strafrechtlich führt das zu der Frage, ob darin eine Nötigung derjenigen Ver-
kehrsteilnehmer liegt, die durch die Demonstranten gegen ihren Willen an der Wei-
terfahrt gehindert werden.
Der Tatbestand der Nötigung erfordert, daß eine Person durch Gewalt oder Dro-
hung mit einem empfindlichen Übel zu einem bestimmten Verhalten genötigt wird
(§ 240 Abs. 1 StGB). Eine rechtswidrige Nötigung setzt weiterhin voraus, daß der
Einsatz des Nötigungsmittels zur Erreichung des erstrebten Zwecks verwerflich ist
(§ 240 Abs. 2 StGB). Diese Verwerflichkeitsklausel wird in der Literatur zum Teil
wegen ihrer Wertausfüllungsbedürftigkeit als unbestimmt und damit verfassungs-
widrig eingestuft18.
Die Praxis der Gerichte sieht das anders. Immerhin verpflichtet sie, sozusagen als
Kompensation für die dem Gesetzgeber nicht abverlangte Bestimmung des Straf-
rechts den Strafrichter zu einer Auslegung, die dem Begriff der Verwerflichkeit
die Bestimmtheit verleiht, die der gesetzlichen Formulierung des § 240 Abs. 2
StGB noch fehlt. Dementsprechend hat der BGH eine Interpretation der Verwerflich-
keitsklausel verworfen, nach der es für die Verwerflichkeit demonstrativer Verkehrs-
blockaden darauf ankommt, welche politischen Fernziele die Blockierer mit ihrer
Aktion verfolgen, weil „unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgrundsatzes
… eine Beschränkung auf nach außen erkennbare Umstände unverzichtbar“ sei19.
Aus der Perspektive des Bestimmtheitsgrundsatzes tritt das Präzisierungsgebot als
eigenständiges Gebot zu dem der Gesetzesbestimmtheit hinzu. Es beruht auf einer
Rechtsfortbildung, die den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz erwei-
tert und auf den Richter erstreckt.

3. Präzisierungsgebot und Analogieverbot

Aus der Perspektive des Strafrichters tritt das Präzisierungsgebot zum Analogie-
verbot hinzu, dem der Richter als Adressat des Gesetzlichkeitsprinzips unbestritten
unterliegt. Diese Ergänzung ist sachlich geboten. Denn das Analogieverbot, das nach
herrschender Meinung Interpretationen von Strafgesetzen verbietet, die deren mög-

18
Vgl. AG Hagen MDR 1985, 601; Wolter NStZ 1986, 241 (245), der selbst die Ver-
werflichkeitsklausel „nur“ in ihrer aktuellen Auslegung durch die Gerichte als unbestimmt
ansieht.
19
BGHSt 35, 270 (279).
436 Lothar Kuhlen

lichen Wortsinn überschreiten20, bindet den Richter nur dort, wo bereits das Strafge-
setz selbst ausreichend präzise formuliert ist. Wo dagegen die rechtstheoretisch ver-
standene Gesetzesbestimmtheit fehlt, funktioniert das Analogieverbot nicht, weil der
mögliche Wortsinn des Gesetzes keine relevante Begrenzung darstellt. Lassen Sie
mich auch das noch einmal am Beispiel der Nötigung verdeutlichen.
Der Begriff der Gewalt in diesem Tatbestand ist umgangs- wie fachsprachlich so
deutlich umrissen, daß der Richter im Bestreben nach einer sachlich angemessenen
Auslegung mit dem möglichen Wortsinn in Konflikt geraten und so das Analogiever-
bot verletzen kann. Dies hat nach Auffassung des BVerfG die frühere Judikatur der
Strafgerichte zu den Sitzblockaden getan, indem sie derartige Demonstrationen als
Anwendung von Gewalt und damit regelmäßig als strafbare Nötigung einstufte21.
Das BVerfG entschied, es überschreite den möglichen Wortsinn des Gesetzes und
verletze daher das Analogieverbot, wenn man das bloße Sitzen auf der Straße und
die damit verbundene nur psychische Nötigung von Verkehrsteilnehmern zum An-
halten als Gewalt bezeichne. Der Begriff der Verwerflichkeit ist demgegenüber so
konturenlos, daß bei seiner Auslegung das Analogieverbot praktisch gar nicht ver-
letzt werden kann. An seine Stelle tritt die Bindung des Richters durch das Präzisie-
rungsgebot.

IV. Normative Folgeprobleme der neuen Auffassung


des Bestimmtheitsgrundsatzes
Die Erstreckung des Bestimmtheitsgrundsatzes auf die Gerichte und seine damit
verbundene Ergänzung um das Präzisierungsgebot stellen m. E. eine Rechtsfortbil-
dung von grundlegender Bedeutung dar. Sie ist noch keineswegs abgeschlossen,

20
Vgl. jüngst etwa OLG Koblenz NStZ-RR 2006, 218; BGH NJW 2007, 524; BVerfG
StraFO 2009, 526, und dazu Kudlich/Christensen/Sokolowski, in: Müller (Hrsg.), Politik,
(Neue) Medien und die Sprache des Rechts, 2007, S. 120 – 122; Montiel/Ramirez Luduna, ZIS
2010, 618; Scheffler, Von Pilzen, die keine Pflanzen, von Kolibris, die Dinosaurier, und von
Walen, die Fische sind. Zu biologischer Fachsprache und Wortsinngrenze im Strafrecht, in:
Hans-Ullrich Paeffgen u. a. (Hrsg.), Puppe-FS, 2011, S. 217 ff. (Zauberpilze als Pflanzen?);
sowie BVerfG NStZ 2009, 83 mit Anmerkungen von Simon, NStZ 2009, 84 f.; Foth, NStZ-RR
2009, 138 f.; Kudlich, JR 2009, 210 ff. (Pkw als Waffe?)
21
BVerfGE 92, 1 (16 ff.) (dritte Sitzblockadenentscheidung). Nach Simon, GA 2007, 550
(552) hat das BVerfG einen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot, nicht gegen das Analo-
gieverbot angenommen. Aber ebenso wie die erste Sitzblockadenentscheidung BVerfGE 73,
206, eindeutig und ausschließlich einen Verstoß gegen das Analogieverbot erörtert, leitet die
dritte Sitzblockadenentscheidung aus dem „Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit“ für die
Gericht lediglich „ein Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung“ ab.
Einen Anklang an das Präzisierungsgebot kann man immerhin darin finden, dass nach Ansicht
des BVerfG die Rechtsprechung des BGH den Gewaltbegriff in einer gegen Art. 103 Abs. 2
GG verstoßenden Weise „entgrenzt“. Auch das Verbot der „Entgrenzung“ solle man jedoch
dem Analogieverbot zuordnen. Vgl. dazu BVerfG NJW 2010, 3209 (3211 Rn. 79); Kuhlen, JR
2011, 246 (248).
Aktuelle Probleme des Bestimmtheitsgrundsatzes 437

ihre Einzelheiten werden uns noch längere Zeit beschäftigen. Natürlich ist sie mit
einigen normativen Folgeproblemen verbunden, deren wichtigste ich immerhin
kurz aufzählen will.

1. Gewaltenteilung

Das Modell einer Normbestimmtheit, die nicht vom Gesetzgeber allein, sondern
„in arbeitsteiligem Zusammenwirken“22 zwischen ihm und den Gerichten hergestellt
wird, steht in Konflikt zur herkömmlichen Konzeption der Gewaltenteilung, nach der
die Rechtssetzung allein dem Gesetzgeber vorbehalten und der Richter auf die An-
wendung des Gesetzes beschränkt ist. In einer Demokratie tritt die Frage hinzu,
woher der Richter seine Legitimation zur Bestimmung des Rechts und damit auch
zur Mitwirkung an dessen Gestaltung bezieht.

2. Geringe Anforderungen an die Gesetzesbestimmtheit

Das an den Richter adressierte Präzisierungsgebot hängt eng zusammen mit dem
Verzicht darauf, den Strafgesetzgeber strengen Bestimmtheitsanforderungen zu un-
terwerfen. Wenn die richterliche Gesetzesauslegung einen wesentlichen Beitrag zur
Bestimmung des Strafrechts leistet, ist es einfach unrealistisch, die für die Orientie-
rungssicherheit des Bürgers erforderliche Bestimmtheit bereits vom Gesetzgeber zu
verlangen23. Natürlich darf das nicht dazu führen, daß man dem Gesetzgeber wegen
der irgendwann einmal erfolgenden richterlichen Präzisierung der Strafgesetze einen
Freibrief erteilt und ihn auch von realistischen Anforderungen an die erforderliche
Bestimmtheit der Strafgesetze entbindet.
Wie diese Anforderungen genau zu fassen sind, ist eine sehr schwierige Frage.
Zwar gibt es klare Fälle, etwa das Lehrbuchbeispiel eines Straftatbestandes mit
dem schönen Wortlaut: „Wer sich unangemessen verhält, wird angemessen bestraft“.
Darauf, daß diesem Tatbestand die erforderliche Bestimmtheit fehlt, kann man sich
leicht einigen. Aber genügen wirkliche Strafgesetze wie der gesetzlich nicht näher
umschriebene Beleidigungstatbestand oder offene Anweisungen zur richterlichen
Wertung wie die Verwerflichkeitsklausel bei der Nötigung dem Postulat der Geset-
zesbestimmtheit? Ich glaube nicht, daß es auf diese Frage eine informative abstrakte
Antwort gibt. Sie kann m. E. vielmehr nur typologisch, d. h. mit Hilfe einer Vielzahl
graduierbarer Kriterien24 entwickelt werden, und zwar in Interaktion von Rechtswis-
senschaft und Judikatur.

22
Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, 1983, S. 137 ff.
23
So bereits Kuhlen (Fn. 4), S. 103 f.
24
Vgl. dazu Kuhlen, in: Alexy/Koch/Kuhlen/Rüßmann, Elemente einer juristischen Be-
gründungslehre, 2003, S. 61 (69 ff.).
438 Lothar Kuhlen

3. Grad der Auslegungsbestimmtheit

Ebenso wie beim Gebot der Gesetzesbestimmtheit stellt sich beim Präzisierungs-
gebot die Frage, wie streng oder zurückhaltend die Bestimmtheitsanforderungen zu
fassen sind. Auch hier wird man keine überzogenen Anforderungen stellen dürfen,
sondern sogar anerkennen müssen, daß die Gerichte manchmal aus materiellen
Gründen genötigt sein können, die bereits erreichte Bestimmtheit des Strafrechts
wieder zu vermindern25.
Auch dafür bietet die Judikatur zur Nötigung durch Sitzblockaden ein gutes Bei-
spiel. Der BGH – und mit ihm die ständige Rechtsprechung der Untergerichte – hatte
seit 1969 solche Blockaden als gewaltsame Nötigung anderer Verkehrsteilnehmer
betrachtet, die grundsätzlich ohne weiteres rechtswidrig sei, weil die Gewaltanwen-
dung die Verwerflichkeit der Nötigung indiziere26. Diese „Indikationslösung“, also
eine bestimmte Auslegung der gesetzlichen Verwerflichkeitsklausel, verwarf das
BVerfG als nicht verfassungsgemäß, da sie die Bedeutung der Demonstrationsfrei-
heit (Art. 5 GG) verkenne27. Die Folge war, daß über die Verwerflichkeit demonstra-
tiver Sitzblockaden wieder einzelfallbezogen entschieden werden mußte, was viel-
leicht inhaltlich vorzugswürdig ist, aber die zuvor bestehende Bestimmtheit des
Strafrechts in diesem Bereich erheblich verminderte.

4. Rückwirkungsverbot für den Richter?

Ein weiteres dogmatisches Problem, das sich stellt, wenn man den richterlichen
Beitrag zur Bestimmung des Strafrechts anerkennt, betrifft das Rückwirkungsverbot.
Es gilt nach herkömmlicher und bis heute herrschender Auffassung nur für den Ge-
setzgeber. Das ist auch plausibel, solange man annimmt, der Richter wende lediglich
das ihm vorgegebene Strafgesetz auf einzelne Fälle an. Wirkt er dagegen aktiv an der
Bestimmung des Strafrechts mit, so liegt es nahe, auch ihn dem Rückwirkungsverbot
zu unterstellen.
Theoretisch denkbar, aber unrealistisch wäre ein Verständnis des Rückwirkungs-
verbotes, wonach jede neuartige Gesetzesauslegung zu Lasten des Beschuldigten un-
tersagt ist. Ernsthaft diskutiert wird demgegenüber ein Rückwirkungsverbot bei der
belastenden Änderung einer festen höchstrichterlichen Rechtsprechung. Wird also
etwa der Tatbestand der Trunkenheitsfahrt (§ 316 StGB) dadurch erweitert, daß
der BGH die Grenze der absoluten Fahruntauglichkeit von 1,3 % auf 1,1 % Blutal-
koholkonzentration (BAK) herabsetzt28, so darf diese Rechtsprechungsänderung
nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung nicht zurückwirken, also nicht

25
Vgl. Kuhlen (Fn. 4), S. 105.
26
BGHSt 23, 46 (54 ff.).
27
BVerfGE 73, 206 (247 ff.).
28
So geschehen durch BGHSt 37, 89.
Aktuelle Probleme des Bestimmtheitsgrundsatzes 439

zu Lasten von Autofahrern gehen, die vor dieser Änderung mit mehr als 1,1 %, aber
weniger als 1,3 % BAK am Straßenverkehr teilgenommen haben29.
Die h. M. lehnt diese Auffassung zwar noch ab. Aber das läßt sich nur schwer auf-
rechterhalten, wenn man einmal anerkennt, daß mit der gefestigten alten Rechtspre-
chung, trotz unveränderter Strafgesetze, auch das erst von den Gerichten ausreichend
bestimmte Strafrecht geändert wird. Denn für die Orientierung des Bürgers kommt es
auf das richterlich konkretisierte Strafgesetz an, er verdient deshalb vor dessen Än-
derung nicht nur dann Schutz, wenn das Gesetz, sondern auch dann, wenn dessen
praktisch maßgebliche Auslegung zu seinen Ungunsten geändert wird30.

V. Faktische Einschränkungen der Strafrechtsbestimmtheit


Das neue Verständnis des Bestimmtheitsgebots, das sich in dessen Erstreckung
auf die richterliche Auslegung der Strafgesetze zeigt, nimmt zwar die traditionell ge-
stellten Anforderungen an die Gesetzesbestimmtheit zurück. Aber es ist doch ein
Fortschritt, weil es ein realistischeres Bild von der Herstellung eines für den Bürger
ausreichend bestimmten Strafrechts zeichnet, an der eben auch die Gerichte durch
die fallbezogene Konkretisierung der Strafgesetze beteiligt sind. Macht man mit
einer realistischen Betrachtungsweise ernst, so muß man sie allerdings auch auf
die aktuellen Probleme des Bestimmtheitsgrundsatzes erstrecken.
Es werden dann Fragen erkennbar, die bei einer rein dogmatischen Analyse gar
nicht als solche des Bestimmtheitsgebots erscheinen. Denn sie betreffen nicht dessen
angemessenes Verständnis, um das es in der Rechtsdogmatik geht, sondern Voraus-
setzungen, von denen die Bedeutsamkeit des Bestimmtheitsgrundsatzes in der
Rechtswirklichkeit abhängt. Ich will zum Abschluß meines Vortrages auf zwei straf-
rechtlich wichtige Entwicklungen hinweisen, die zwar für sich genommen in den
letzten Jahren viel diskutiert wurden, deren Zusammenhang mit der Bestimmtheits-
frage aber bislang nicht genügend erkannt und thematisiert wurde. Es handelt sich
dabei zum einen um die zunehmende Informalisierung des Strafverfahrens, die
ihren Ausdruck in Opportunitätseinstellungen sowie, besonders aktuell, in Abspra-
chen zwischen den Verfahrensbeteiligten findet, zum anderen um die Privatisierung
von Aufgaben der Strafrechtspflege, die in Deutschland derzeit vor allem unter den
englischen Titeln Corporate Governance und Compliance diskutiert und vorangetrie-
ben wird.

29
Vgl. dazu Eser, in: Schönke/Schröder, Kommentar zum StGB, 28. Aufl. 2010, § 2 Rn. 9
mit weiteren Hinweisen.
30
Näher dazu jetzt, in Anknüpfung an BVerfG NJW 2010, 3209, Kuhlen, JR 2011, 246
(249 f.).
440 Lothar Kuhlen

1. Absprachen im Strafprozeß

Lassen Sie mich die Informalisierung des Strafprozesses exemplarisch am Bei-


spiel der sogenannten Absprachen skizzieren. Sie haben im deutschen Strafprozeß
in den letzten Jahrzehnten vor allem in Wirtschaftsstrafverfahren an Bedeutung ge-
wonnen. In der deutschen Strafprozeßordnung (StPO) waren sie bislang nicht vorge-
sehen, sie haben sich aber informell entwickelt, weil die Verfahrensbeteiligten sie für
praktisch und interessengerecht halten.
Der Sache nach bestehen solche Absprachen in einem Tauschgeschäft. Die Ver-
teidigung bietet dabei dem Gericht ein Geständnis des Beschuldigten jedenfalls zu
einem Teil der gegen ihn erhobenen Vorwürfe an. Das ist für das Gericht prozeßöko-
nomisch interessant, weil sich so ein langes Verfahren mit einer umfangreichen Be-
weisaufnahme vermeiden läßt. Die Verteidigung kann dieses Interesse dadurch un-
terstreichen, daß sie ankündigt, durch entsprechende Beweisanträge das Verfahren in
die Länge zu ziehen, wenn es nicht zu einer Einigung kommt.
Als Gegenleistung für die Abkürzung des Verfahrens bietet das Gericht seinerseits
für den Fall eines Geständnisses eine vergleichsweise milde Bestrafung an, etwa eine
Freiheitsstrafe von 2 Jahren, die nach deutschem Strafrecht noch zur Bewährung aus-
gesetzt werden kann. Das Gericht kann dieses Angebot unterstreichen, indem es dar-
auf hinweist, daß anderenfalls eine deutlich höhere Strafe, beispielsweise eine Frei-
heitsstrafe von 4 Jahren in Betracht kommt. Kommt die Absprache zustande, wird
nach dem Geständnis des Beschuldigten die zuvor in Aussicht gestellte milde Strafe
verhängt. Komplettiert wird dieser Tauschhandel typischerweise dadurch, daß nach
Verkündung des Urteils der Beschuldigte auf Rechtsmittel, insbesondere also auf
eine Revision zum BGH verzichtet.
Eine solche informelle Verfahrensgestaltung steht in Widerspruch zu tragenden
Grundsätzen des deutschen Strafprozesses, wie in der Diskussion der letzten Jahr-
zehnte vielfach betont wurde31. Diese Prinzipien sehen vor, daß das Gericht die ma-
terielle Wahrheit über die strafrechtlichen Vorwürfe ermittelt, die dem Beschuldigten
gemacht werden. Das soll in einer mündlichen und öffentlichen Hauptverhandlung
geschehen, in der der Richter seine (gemäß § 261 StPO) maßgebliche Überzeugung
davon gewinnt, was tatsächlich geschehen ist. Mit all diesen Grundsätzen ist die Ab-
sprachenpraxis nicht verträglich.
Dennoch hat der BGH sie notgedrungen akzeptiert und versucht, sie durch be-
stimmte Regeln zu begrenzen und rechtsstaatlich erträglich zu machen32. Dem hat
sich jetzt auch der Gesetzgeber angeschlossen und eine entsprechende Regelung
der Absprachen in § 257c StPO getroffen33. Einzelheiten sind an dieser Stelle

31
Vgl. aktuell etwa Schünemann, ZRP 2009, 104; Meyer-Goßner, ZRP 2009, 107; Kempf,
StV 2009, 269.
32
Vgl. insbesondere BGHSt 50, 40.
33
In Kraft getreten am 29. 7. 2009.
Aktuelle Probleme des Bestimmtheitsgrundsatzes 441

nicht zu diskutieren. Hier interessiert lediglich, daß durch Urteilsabsprachen34 die


richterliche Mitwirkung an der Bestimmung des Strafrechts empfindlich gestört
wird. Denn sie führen dazu, daß über wichtige Rechtsfragen, die sich gerade in kom-
plizierten Wirtschaftsstrafverfahren häufig stellen, überhaupt nicht mehr von einem
Strafgericht entschieden wird, womit diese Fragen dauerhaft ungeklärt bleiben.
Auch das realistisch modifizierte Modell einer Bestimmung des Strafrechts durch
Gesetzgeber und Richter stößt also mit der Informalisierung des Strafprozesses
auf eine massive faktische Barriere.

2. Compliance

Ähnlich wirkt sich die Privatisierung von Aufgaben der Strafrechtspflege aus, die
derzeit im Bereich der Wirtschaftsunternehmen zu beobachten ist. Hier entsteht unter
den Titeln Compliance und Corporate Governance ein vom Staat geduldetes, ja ge-
fördertes soft law, durch das die Unternehmen, also private kollektive Akteure, im
Wege der Selbstregulierung ihre Mitarbeiter zur Einhaltung der für sie geltenden
Rechtsnormen und darüber hinaus zu einer moralisch einwandfreien Geschäftspraxis
anzuhalten versuchen.
Wir können aus Zeitgründen dieses strafrechtlich hochinteressante Phänomen
nicht näher analysieren35. Ich will aber abschließend doch exemplarisch verdeutli-
chen, worum es dabei geht. Mein Beispiel ist die freiwillige Selbstkontrolle der Arz-
neimittelindustrie, die sich in den letzten 10 Jahren in Deutschland etabliert hat36.
Ausgangspunkt dieser Entwicklung war die sogenannte Herzklappenaffäre, die
Ende der neunziger Jahre die deutsche Öffentlichkeit beschäftigte. Hier ging es
um den Vorwurf, daß Ärzte an öffentlichen Krankenhäusern, insbesondere Univer-
sitätskliniken, von Arzneimittelherstellern Geld und andere Vorteile für sich oder
auch für ihr Klinikum erhalten hatten, damit sie sich für die Bestellung von Herzklap-
pen und anderen Produkte bei bestimmten Herstellerfirmen einsetzten. Im Zuge die-
ser Affäre kam es zu etwa 2000 Ermittlungsverfahren wegen Vorteilsannahme und
Bestechlichkeit bzw. Vorteilsgewährung und Bestechung gegen beteiligte Ärzte
und Unternehmensmitarbeiter. Diese Verfahren endeten zwar meist mit Einstellun-
gen (damit ohne Bestrafung der Beschuldigten), führten aber zu einer erheblichen
Verunsicherung der Betroffenen. Diese Verunsicherung wurde durch das 1997 in
Kraft getretene Korruptionsbekämpfungsgesetz noch erheblich gesteigert.
Denn dieses Gesetz erweiterte die Straftatbestände der Vorteilsannahme (§ 331
Abs. 1 StGB) und Vorteilsgewährung (§ 333 Abs. 1 StGB) derart, daß nach ihrem
34
Ebenso wie durch die Informalisierung des Strafverfahrens, die mit Opportunitätsein-
stellungen, insbesondere nach §§ 153 und 153a Strafprozeßordnung (StPO), verbunden ist.
35
Näher dazu Sieber, Compliance-Programme im Unternehmensstrafrecht, in: Sieber u. a.
(Hrsg.), Tiedemann-FS, 2008, S. 449 ff.; Kuhlen, in: Maschmann (Hrsg.), Arbeitsrecht und
Compliance, 2009, S. 11 ff.
36
Eingehend dazu Kuhlen, in: Herzog/Neumann (Hrsg.), Hassemer-FS, 2010, S. 875 ff.
442 Lothar Kuhlen

Wortlaut fast jede Form der Unterstützung öffentlicher Krankenhäuser und ihrer
Ärzte durch Unternehmen der Arzneimittelindustrie als strafbares Handeln gewertet
werden könnte. Das ist deshalb fatal, weil allgemeiner Konsens darüber besteht, daß
diese Unterstützung angesichts angespannter öffentlicher Finanzen dringend erfor-
derlich ist, um die Leistungsfähigkeit der deutschen Kliniken und damit auch der
deutschen Hochschulmedizin zu erhalten. Es gibt deshalb eine Vielzahl strafrechtli-
cher Stellungnahmen zu der Frage, wie man dieses Problem lösen sollte.
Die klassisch rechtsstaatliche Problemlösung wäre einfach: Man erklärt die neu-
gefaßten Straftatbestände wegen ihrer „uferlosen Weite“37 mangels Bestimmtheit für
nichtig38. Das wird gelegentlich vertreten, gilt aber überwiegend als zu weitgehend
bzw. unrealistisch, so daß de lege lata verschiedene Versuche zu einer einschränken-
den Auslegung der genannten Straftatbestände unternommen werden. Dieser Linie
folgt auch die Rechtsprechung, die in einigen Grundsatzentscheidungen die Tatbe-
stände der Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung eingeschränkt und damit für ei-
nige Teilbereiche eine gewisse Rechtssicherheit geschaffen hat39. Das entspricht dem
hier entwickelten Modell einer Bestimmung des Strafrechts im Zusammenwirken
von Gesetzgeber und Strafgerichten. Aber es läßt doch viele Fragen noch offen,
die die Beteiligten nicht erst durch strafgerichtliche Urteile geklärt wissen möchten.
Diese Klärungsaufgabe haben nun die Pharmaunternehmen selbst übernommen,
die seit 1997 verschiedene Regelwerke erstellten, in denen sehr konkret dargelegt
wird, welche Kooperationsformen, etwa bei der Finanzierung ärztlicher Kongresse
durch die Pharmaindustrie, zulässig und welche unzulässig sind40. Seit 2004 wird
zudem die Einhaltung dieser Regeln durch eine eigene Vereinsgerichtsbarkeit über-
wacht, die Regelverstöße mit „Geldstrafen“ bis zu 150.000 Euro zugunsten einer ge-
meinnützigen Einrichtung sanktionieren kann. Solche vereinsgerichtlichen Sanktio-
nen schließen eine zusätzliche Bestrafung durch staatliche Gerichte nicht aus. Aber
die freiwillige Selbstkontrolle genießt doch eine gewisse staatliche Anerkennung
und wird dauerhaft nur funktionieren, wenn bei Einhaltung ihrer Regeln eine staat-
liche Strafverfolgung unterbleibt.
An dieser Stelle interessiert die freiwillige Selbstkontrolle im Bereich der Arznei-
mittelindustrie nur wegen ihres Zusammenhangs mit der Bestimmtheitsproblematik.
Insofern kann ich mich nun kurz fassen. Die Selbstkontrolle ist entstanden als Reak-
tion auf die Unsicherheit des staatlichen Korruptionsstrafrechts. Sie führt durch pri-
vate Regelsetzung und eine sehr differenzierte Kasuistik zu Abgrenzungen zwischen
zulässigen und unzulässigen Formen der Zusammenarbeit von Industrie und öffent-

37
So Knauer/Kaspar, GA 2005, 385 (391).
38
So zuletzt Kaiser, Drittmittel, Sponsoring und Fundraising – Rechtskonforme Finan-
zierung öffentlicher Aufgaben oder Einstieg in die Korruption?, 2008, S. 136 ff.
39
So BGHSt 47, 295 für die Einwerbung von Drittmitteln seitens der pharmazeutischen
Industrie durch Hochschullehrer und BGHSt 49, 275 für die Einwerbung von Wahlkampf-
spenden durch Amtsträger.
40
Vgl. dazu Kuhlen (Fn. 36), S. 882 ff.
Aktuelle Probleme des Bestimmtheitsgrundsatzes 443

lichen Kliniken, deren Bestimmtheit die des staatlichen, auch richterlich konkreti-
sierten, Strafrechts weit übertrifft. In dem Maße, wie dieses Modell funktioniert,
wird es zu einer gerichtlichen Präzisierung der für sich genommen sehr unbestimm-
ten Strafgesetze gar nicht mehr kommen. Die Privatisierung bildet also eine ähnliche
faktisch wirksame Grenze der richterlichen Strafrechtsbestimmung wie die zuvor er-
örterte Informalisierung des Strafverfahrens durch Absprachen.

VI. Resumée
Ich fasse die wichtigsten Thesen meines Vortrags knapp zusammen. Nach klas-
sisch rechtsstaatlichem Verständnis wird die für die Orientierungssicherheit des Bür-
gers erforderliche Bestimmung des Strafrechts allein vom Gesetzgeber geleistet.
Dieses Verständnis ist unrealistisch, weil es den, in einem erheblichen Umfang un-
vermeidlichen, richterlichen Beitrag zur Konkretisierung des Strafrechts unberück-
sichtigt läßt. Es ist deshalb begrüßenswert, daß dieser Beitrag neuerdings anerkannt
und das Bestimmtheitsgebot auch an den Richter adressiert wird. Es fordert von ihm
die Präzisierung unbestimmter Strafgesetze.
Dieses Präzisierungsgebot ist allerdings seinerseits ähnlich unbestimmt wie das
klassische, an den Gesetzgeber adressierte Gebot der Gesetzesbestimmtheit.
Zudem wirft es dogmatische Folgeprobleme auf, so die Frage, ob das Rückwirkungs-
verbot nicht auch für die richterliche Gesetzesauslegung gilt. Selbst das modifizierte
und bescheidenere Programm einer Bestimmung des Strafrechts durch ein Zusam-
menwirken von Gesetzgeber und Richter stößt zudem an faktische Grenzen, wie
sich aktuell an der Informalisierung des Strafverfahrens und der Privatisierung
von Aufgaben der Strafrechtspflege im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts zeigt.
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Enrique Bacigalupo, Instituto Universitario de Investigación Ortega y Gasset
(Spanien)
Dr. Dr. Ralph Christensen, Mannheim
Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf, Universität Würzburg
Prof. Dr. Kenneth S. Gallant, Universität Arkansas (USA)
Prof. Dr. Matthias Jahn, Universität Erlangen-Nürnberg
Prof. Dr. Matthias Klatt, Universität Hamburg
Prof. Dr. Hans Kudlich, Universität Erlangen-Nürnberg
Prof. Dr. Lothar Kuhlen, Universität Mannheim
Wiss. Ass. Dr. Raquel Montaner Fernández, Universität Pompeu Fabra, Barcelona (Spanien)
Prof. Dr. Juan Pablo Montiel, z. Zt. Stipendiat der Alexander-von Humboldt-Stiftung an der
Universität Erlangen-Nürnberg
Prof. Dr. José Juan Moreso, Universität Pompeu Fabra, Barcelona (Spanien)
Prof. Dr. Íñigo Ortiz de Urbina Gimeno, Universität Pompeu Fabra, Barcelona (Spanien)
Prof. Dr. Pablo Sánchez Ostiz, Universität Navarra (Spanien)
Prof. Dr. Ingeborg Puppe, Universität Bonn
Prof. Dr. Eugenio Sarrabayrouse, Universität de Ciencias Empresariales y Sociales, Río Grande
(Argentinien)
Prof. Dr. Jesús-María Silva Sánchez, Universität Pompeu Fabra, Barcelona (Spanien)
Prof. Dr. Helmut Satzger, Ludwig-Maximilians-Universität München
Akad. Rat Dr. Jan C. Schuhr, Universität Erlangen-Nürnberg
Prof. Dr. Dr. h.c. Franz Streng, Universität Erlangen-Nürnberg

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