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Der soziologische und der juristische staatsbegriff, kritische untersuchung

des verhältnisses von staat und recht, von Hans Kelsen.


Kelsen, Hans, 1881-1973.
Tübingen, Mohr, 1922.

http://hdl.handle.net/2027/uc1.$b563897

Public Domain in the United States,


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ALVMNVS BOOK FVND
DER SOZIOLOGISCHCAUF
UND DER

JURISTISCHE STAATSBEGRIFF
KRITISCHE UNTERSUCHUNG
DES VERHÄLTNISSES VON STAAT UND RECHT

VON

HANS KELSEN

/
.

TÜBINGEN
VERLAG VON J. C. B. MOHR (PAUL SIEBECK)
1922
Alle Rechte vorbehaltet

'

Druck Ton H. Laupp jr in Tübingen.


Inhalt.
Seite
Einleitung.
§ 1. Das Problein 1

I. Der Staat als soziale Realität.


(Der soziologische Begriff des Staates.)

1. Kapitel. Die Realität des Sozialen.


§ 2. Wechselwirkung 4

§
§
3.
4.
5.
Psychische „Verbindung"
Parallelität psychischer Prozesse und Motivation
Die „libido" als Kriterium der sozialen Verbindung
....
...
12
15
19
§
§ 6. Die sozialen „Gebilde« 33

2. Kapitel. Die normative Tendenz der Soziologie.


§ 7. Spencer 46

§ 8. Dürkheim 51

§ 9. Jerusalem 59

§ 10. Toennies, Spann 64

/
§ 11. Individuum und Gemeinschaft 67

II. Der Staat als Nonnensystem.


(Der juristische Begriff des Staates.)

3. Kapitel. Staat und Recht.


§ 12. Sollen und Sein 75

§ 13. Der Staat als Zwangsordnung 82

§ 14. Die Elemente des Staates 84

§ 15. Identität von Staats- und Rechtsordnung 86

4. Kapitel. Wirksamkeit der Staatsideologie und Geltung der


Staatsordnung.
§
§
16.
17.
Die „Macht" des Staates als Wirksamkeit einer Ideologie
Beziehung zwischen Faktizität und Normativität .... 91
92

5. Kapitel. Die Zwei-Seiten-Theorie.


§ 18. Die soziale (reale) u. die juristische (ideale) „Seite" des Staates 105

§ 19. Die soziologische Zwei-Seiten-Theorie 106

III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.


A. Der Staat als Voraussetzung des Rechts.

6. Kapitel. Soziallehre vom Staat und Staatsrechtslehre.


§ 20. Die juristische Zwei-Seiten-Theorie (Jellinek) 114

§ 21. Der Staat als „Verband" (sozialer Staatsbegriff) u. als „Körper


schaft" oder Rechtssubjekt (juristischer Staatsbegriff) identisch 121

521 136
1$ : Inhalt.

• • .- • ••• • Seite
""7. 'Kapitelr '-Die Selbstverpflichtung des Staates.
§ 22. Die Selbstverpflichtung des Staates als Personifikation
der
Rechtsordnung 132

§ 23. Politischer Mißbrauch des metarechtlichen Staatsbegriffes 136

B. Das Recht als Voraussetzung des Staates.

8. Kapitel. Der Staat als Rechtsgeraeinschaft.


§24. Die Naturrechtelehre (Kant) 140

§ 25.
§ 26.
Der Staat als besondere Rechtsordnung (Stammler)
Der Staat als besondere Rechteordnung (Wundt)
. . .

Der Staat als Rechtsordnung in den Kategorien der .ver


.... 143
149

§ 27.
stehenden Soziologie" (Max Weber) 156

§ 28. Der Staat als Rechtsverhältnis (Loening) 171

9. Kapitel. Die Ausscheidung des Gewaltelementes aus dem

§ 29.
§ 30.
Staatsbegriff.
Die Ueberflüssigkeit des Staatsbegriffs (Affolter)
Die Rechtsstaatetheorie (Krabbe)
.... 178
184

§ 31. Der Staat als Gesetzesgemeinschaft (Wenzel) 191

§ 32. Staat und Recht als zwei Seiten desselben Gegenstandes


(Somlo, Radbruch) . : 202

IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der


Erkenntniskritik.
10. Kapitel. Der Staatsbegriff als Substanzbegriff.
§ 33. Der metarechtliche Staatebegriff als verdoppelnde Fiktion
(Vaihinger) 205

§ 34. Die positivistische Kritik des Substanzbegriffes und der Be


griff des Staates (Avenarius, Petzoldt) 208
§ 35. Der kritische Idealismus und die Auflösung des Staatsbe
griffes (Cassirer, Sander) 211

11. Kapitel. Staat und Recht: Gott und Natur.


§ 36. Staat und Gott 219
§ 37. Die Transzendenz Gottes gegenüber der Natur, des Staates
gegenüber dem Recht 222
§ 38. Die Bezogenheit Gottes auf die Natur, des Staates auf das
Recht: Menschwerdung Gottes, Selbstverpflichtung (Recht-
werdung) des Staates 226

§ 39. Die „Zweiseiten*theorie in Theologie und Jurisprudenz . . 230


§ 40. Theodizee und Staatsunrecht 233

§ 41. Gott — Mensch, Staat — Individuum; die Willensfreiheit 237

§ 42. Der theologische und der juristische Wunderglaube . . . 245

12. Kapitel. Pantheismus und reine Rechtslehre.


§ 43. Die Ueberwindung der theologischen Methode 247

§ 44. Der Staat als Gott 249


§ 45. Der übernatürliche Gottesbegriff und der überrechtliche
Staatsbegriff als Hypostasierung gewisser, den Natur- bzw.
Rechtsgesetzen widersprechender Postulate .... 251
Einleitung.

§ i.
Das Problem.
Die Frage nach dem Begriff des Staates ist untrennbar ver
bunden mit der Frage nach dem Begriffsverbältnis zwischen Staat
und Recht. Zwar ist es für die moderne Staatslehre, die keine
bloße Staatsrechtslehre sein will, bezeichnend, daß sie einen
metarechtlichen Staatsbegriff postuliert. Dennoch
ist es ihr bisher nicht gelungen, sich von der rein juristischen
Disziplin der Staats rechts lehre zu emanzipieren. Diese be
hauptet nach wie vor und trotz des Umstandes, daß die Identi
fikation der Staatslehre mit der Staatsrechtslehre nachdrücklichst
abgelehnt wird, ihren Platz zumindest als ein wesentlicher und,
wenn man näher zusieht, als der weitaus gehaltvollste Bestandteil
der Wissenschaft vom Staate. Auch die neuere Staatsrechts
lehre setzt einen metajuristischen, im Grunde eigentlich supra
juristischen Staatsbegriff voraus. Indem aber zugegeben wird,
daß der — unabhängig von Recht und Rechtserkenntnis bestimm
bare — Staat in der Staatsrechtslehre doch irgendwie Gegenstand
juristischer, d. h. auf das. Recht gerichteter Erkenntnis sein kann,
wird die Beziehung zwischen Staat und Recht in das Problem der
Begriffsbestimmung des Staates (wie übrigens auch des Rechtes)
wieder hineingezogen.
Daß die Begriffe „Staat" und „Recht" zwei voneinander ver
schiedeneWesenheiten bezeichnen, kann heute als die herrschende
Lehrmeinung aller mit diesem Gegenstand befaßten Disziplinen gelten.
Nun sind über das Verhältnis von Staat und Recht sehr abweichende
Anschauungen verbreitet; aber selbst dort, wo man die innigsten
Wechselbeziehungen zwischen beiden sozialen Phänomenen anzu
nehmen geneigt ist, hält man immer noch ein Verhältnis für
gegeben und so grundsätzlich eine Zweiheit der Erkenntnisobjekte
aufrecht.
Kelsen, Staatabegriff. 1
2 -•-•«." Einleitung.
.— ; ; rH ' —

Trotz der außerordentlichen Mannigfaltigkeit der Lehren über das


Verhältnis von Staat und Recht lassen sich doch die meisten als
Spielarten eines Durchschnittstypus erkennen, dessen Grundgedanken
sich etwa folgendermaßen darstellen: Der Staat ist — soferne nach
seinem genus proxiraum die Frage ist — ein (näher zu bestimmender)
menschlicher Verband, eine irgendwie geartete Vereinigung oder
Verbindung, eine organisierte Gruppe von Menschen, die man gerne
auch als Körperschaft bezeichnet. Als fällt
er unter den
solche
Begriff der Gesellschaft im weitesten Sinne, ist eine soziale
Tatsache und real, d. h. von der gleichen Realität wie soziale
Tatsachen überhaupt. Die soziale Wirklichkeit des Staates ist Ge
genstand einer sozialwissenschaftlichen, nach Kausalgesetzen — so
wie die Naturwissenschaft — orientierten Erkenntnis, die man als
Soziallehre vom Staat bezeichnet und neuestens als Bestandteil der
Soziologie ansieht. Diese empirische Realität des Staates wird fast
von allen Autoren ausdrücklich oder stillschweigend angenommen
Und schon mit dieser Qualifikation tritt der Staat in einen gewissen
Gegensatz zum Recht. Dieses fällt unter den Begriff der Norm.
Es wird als ein Inbegriff von Regeln, als ein Komplex von Geboten
und Verboten, als ein System von durch Sollsätze oder Imperative
ausdrückbaren Vorschriften, als eine Ordnung menschlichen Ver
haltens aufgefaßt. Und die Existenz des Rechts wird nicht — wie
jene des Staates — in der kausalen Realität, sondern in einer nor
mativen Idealität angenommen. Es handelt sich dabei nicht um
eine absolute, sondern nur um eine relative Idealität des Rechts.
Sein Wert ist nur ein bedingter. Immerhin ist die Geltung des
Rechts ihrem eigentlichen Sinne nach zunächst ein Sollen, das sich
von der kausalen Wirksamkeit des Staates — als eines sozialen Fak
tums — deutlich abhebt. Und wenn man auch leicht geneigt ist,
die Sollgeltung des Rechtes — unter dem Gesichtspunkt seiner
Positivität — in eine Seinswirksamkeit übergehen zu lassen und
auch das Recht als ein reales Faktum des sozialen Geschehens an
zusehen (damit aber schon den Gegensatz zum Staat verwischend),
so wird doch an der Sollgeltung des Rechts gerade dann festge
halten, wenn dessen Verhältnis zum Staat in Frage kommt: Der Staat
wird als das Seinsfaktum, als die wirkende Kraft und darum
als Macht oder Gewalt
behauptet, die „hinter" dem Rechte steht,
um dieses aus seiner Sphäre der Idealität in die Realität zu setzen,
um es aus dem bloßen Sollen in das Sein zu überführen. Diese
Grundvorstellung kommt in den verschiedenen Theorien über das
Verhältnis von Staat und Recht bald mehr, bald weniger zum Aus
druck; ob man nun lehrt, der Staat „ erzeuge" das Recht, oder der
§ 1. Das Problem. 3

Staat „garantiere" das Recht, er sei die reale Kraft, die die An
wendung und Befolgung des Rechts durchsetze, d. h. das Recht ver
wirkliche (positiviere) ; der Staat sei der „ Träger" des Rechts, der
äußere, Zwangsapparat, der die ideelle Rechtsordnung
materielle
realisiere, wie sonst die mannigfachen Bilder beschaffen sein
oder
mögen, in denen man sich das Verhältnis der beiden Wesenheiten
anschaulich zu machen versucht: Stets geht die Tendenz dahin, den
Staat sich ebenso real zu denken wie einen Menschen, als eine Art
"
„Makroanthropos oder Uebermensch, der das Recht als ein Ideelles
„setzt", „trägt", „realisiert" usw. Das ist im großen und ganzen
der Sinn, den die herrschende Lehre mit der Annahme verbindet,
daß der Staat als Verband sich von dem Rechte als Norm
unterscheiden müsse1).
Allein muß ernstlich bezweifelt werden, ob zwischen den
es

Begriffen „Verband" und „Norm", „Körperschaft" und „Regel


komplex", „Organisation" und „Ordnung" ein solcher Unterschied
besteht, daß man darauf irgendeinen Wesensgegensatz zwischen Staat
und Recht als den besonderen anter diese Allgemeinbegriffe zu sub
sumierenden Gegenständen begründen kann. Ja, es ist leicht zu
zeigen, daß es sich dabei nur um verschiedene Namen für ein und
denselben Begriff handelt. Dessen wird man sich bewußt, wenn man
das Wesen der „Verbindung" die den Staat als soziale
analysiert,
Realität ausmachen soll, wenn man die Frage untersucht : Wie
ist der Staat als Verband von Menschen möglich? Dabei muß die
Frage zunächst in dem Sinne gestellt werden, daß man die Mög
lichkeit prüft, den Staat als Gegenstand einer kausalwissen
schaftlich orientierten Soziologie zu bestimmen, die Einheit des
Staates empirisch, d.h. in einer dem Bereich der N a t u r erfahrung
zugehörigen sozialen Erfahrung zu begründen.

') Als ein typisches Beispiel: Richard Schmidt, Allgemeine Staatslehre


1901, I. Bd., S. 7 ff. Hier wird der Staat als „Verband", das Recht als .Regel«
oder „Norm" charakterisiert. „Verbände und Regeln bilden somit von
vornherein zwei verschiedenartige Brennpunkte des gesellschaftlichen Lebens."
„Die Verbände stellen sich ....
als Formen äußerer Organisationen
. . . dar" ; „das Recht bedarf seinerseits selbst der Aufrechterhaltung ....
durch
eine äußere Organisation" (S. 9, 11, 16). Die Norm des Rechts wird „garan
tiert" durch den Verband des Staates, der die Norm des Rechts „im Falle
ihrer Nichterfüllung zwangsweise durchführt". A. a. 0. S. 175
ff.

1*
4

I. Der Staat als soziale Realität.


(Der soziologische Begriff des Staates.)

1. Kapitel.
Die Realität des Sozialen.

§ 2.

Wechselwirkung.
Wenn dem Staate der Sozio
als einem möglichen Gegenstande
logie von dieser „Realität"
zugesprochen wird, so soll dies nur jene
Art von Wirklichkeit sein, in der das Soziale überhaupt sich der
Erkenntnis darbietet. Der Staat ist offenbar eine soziale Wirk
lichkeit. Das Wesen des Sozialen aber wird von den neuem Sozio
logen in ziemlich weitgehender Uebereinstimmung nach zwei Rich
tungen hin bestimmt: Erstlich werden soziale Tatsachen als
psychische Prozesse, als Vorgänge in den menschlichen Seelen
gegenüber den Körperbewegungen „ Natur" im engeren
einer Sinn
abgegrenzt. Dann aber erkennt mau das gesellschaftliche Moment
in einer spezifischen Verbindung, einem Verknüpftsein der
Menschen einem irgendwie beschaffenen
untereinander, Zusammen
sein und glaubt diese Verbindung in der psychischen Wechsel
wirkung, d. h. also darin zu sehen, daß die Seele des einen Men
schen auf die Seele des andern Wirkung übt und von ihr Wirkung
empfängt.
Nur weil Soziologie auch den Staat unter der
die moderne
Kategorie der „Wechselwirkung psychischer Elemente" zu begreifen
versucht, muß hier auf diese Grundfrage der Gesellschaftslehre nach
dem Kriterium Realität näher eingegangen werden.
der sozialen
Es ist der Ausdruck der in diesem Punkte auf
vollendetste
fallend übereinstimmenden Anschauungen fast aller neueren Sozial
theoretiker wenn SIMMEL in seinem umfangreichen Werke über

') Vgl. dazu Spann, Untersuchungen über den Gesellschaftsbegriff, I. Bd.,


1907, S. 141 u. 179 und Moede, Die Massen- und Sozial psychologie im kri
tischen Ueberblick. Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimen
telle Pädagogik, 1915.
§ 2. Wechselwirkung. 5

„Soziologie"1) ausführt: Gesellschaft existiert, „ wo mehrere Individuen


in Wechselwirkung treten. Diese Wechselwirkung entsteht immer
aus bestimmten Trieben heraus oder um bestimmter Zwecke willen . . .
Diese Wechselwirkungen daß aus den individuellen Trägern
beweisen,
jener veranlassenden Triebe
Zwecke eine Einheit, eben eine
und
»Gesellschaft« wird. Denn Einheit im empirischen Sinne ist nichts
anderes als Wechselwirkung von Elementen : ein organischer Körper
ist eine Einheit, weil seine Organe in engerem Wechseltausch
ihrer Energien stehen als mit irgend einem anderen
äußeren Sein, ein Staat ist einer, weil unter seinen
Bürgern das entsprechen de V er h ältnis gege nse i ti g e r
Einwirkung besteht, ja, die Welt könnten wir nicht eine
nennen, wenn nicht jeder ihrer Teile irgendwie jeden beeinflußte,
wenn irgendwo die, wie immer vermittelte, Gegenseitigkeit der Ein
wirkung abgeschnitten wäre. Jede Einheit oder Vergesellschaftung
kann je nach Art und Enge der Wechselwirkung sehr verschiedene
Grade haben, von der ephemeren Vereinigung zu einem Spaziergang
bis zur Familie, von allen Verhältnissen »auf Kündigung« bis zu
der Zusammengehörigkeit zu einem Staate, von dem
flüchtigen Zusammensein einer Hotelgesellschaft bis zu der innigen
Verbundenheit einer mittelalterlichen Gilde"
2).

Es ist von Wichtigkeit, sich alle Elemente des so bestimmten


Gesellschaftsbegriffes, unter den auch der Staat subsumiert
werden soll, deutlich zu Bewußtsein zu bringen. Zunächst, daß das
durch psychische Wechselwirkung hergestellte Zusammen "sein, diese

„Vereinigung" oder „Verbundenheit" eine empirische Einheit ist.


Dann aber, daß diese Verbindung ihrer „Enge" oder
je

nach
Intensität verschiedene „Grade" haben kann; und schließlich, daß
die soziologische Einheit des Staates einen hohen, wenn nicht den
höchsten Grad der Enge oder Intensität des durch Wechselwirkung
Verbundenseins darstellt. Und es sei nochmals betont, daß diese
Darstellung SlMMELs als durchaus typisch gelten darf, daß seine
Theorie der Gesellschaft und die in ihr beschlossene soziologische
Theorie des Staates nur die in allen wesentlichen Punkten konse
quente Durchführung des als „psychische Wechselwirkung" be
stimmten Gesellschaftsbegriffes ist.
Nach dieser von der herrschenden Lehrmeinung akzeptierten
Bestimmung muß als die eigentliche Sphäre des Sozialen die Welt
des Seelischen, nicht aber die Körperwelt gelten. Wieder kann
SlMmEL als Kronzeuge, kann seine Formulierung als Idealtypus an-

A. 0.
S.

1908.
6.
5,

a.
!)
')
6 I. Der Staat als soziale Realität.

geführt werden. Es sei kein Zweifel, legt er dar, „daß alle gesell
schaftlichen Vorgänge und Instinkte ihren Sitz in Seelen haben, daß
Vergesellschaftung ein psychisches Phänomen ist und daß es zu
ihrer fundamentalen Tatsache : daß eine Mehrheit von Elementen zu
einer Einheit wird — in der Welt
nicht einmal des Körperlichen
eine Analogie gibt, da in dieser alles in das unüberwindliche Aus
einander des Raumes gebannt bleibt" Ohne bei dem möglichen
Einwand zu verweilen, Organismus —
daß auch im physischen
also doch wohl in der Körperwelt eine Mehrheit von Elementen—
zu einer Einheit wird, und daß gerade diese räumlich körperliche
Einheit nicht zuletzt von SmmeL als Analogie zum Begreifen der
sozialen Einheit herangezogen wird — sei vor allem festgehalten,
daß die Welt als Inbegriff von „ seelischen Ereignissen,
des Sozialen,
deren sich nicht zu einer selbständigen Raumeswelt zu
Inhalte
sammenschließen" mit der Kategorie des Raumes nicht erfaßt zu
2),

werden braucht, ja, streng genommen nicht erfaßt werden kann.


Soziale Tatsachen haben keine Ausdehnung. Demgegenüber dürfte es
schwer fallen, die übliche Vorstellung vom Staate als einem seinem —
Wesen nach — räumlich begrenzten Gebilde zu rechtfertigen. Wenn
die herrschende Staatslehre einen fest abgegrenzten Teil der
Erdoberfläche, das Staatsgebiet, als eines der wesentlichen Staats
elemente, als ein Begriffsmerkmal des Staates behauptet, so ist
dies keineswegs der einzige räumlich-körperliche Bestandteil, der
ihm zugesprochen wird. Auch das Element des Staats-Volks wird
als eine Vielheit der Menschen gedacht, deren durchaus körper
liche, raumfüllende Existenz und deren biologisch-physiologische
Funktionen neben ihren seelischen als zum Staate gehörig von
der üblichen Anschauung vorgestellt werden. Ja, in einem gewissen
Sinne wird sogar gerade das äußere Verhalten der Menschen
unter direktem Ausschluß ihres inner-seelischen Lebens, also gerade
ihre biologisch-physiologische Funktion, ihr materielles Dasein
als zum Staate gehörig angesehen
*).

Nun ist hier noch nicht der Anlaß, die Stellung der sogenannten
Elemente des Staates in dessen Begriff zu untersuchen. Nur muß
betont werden, daß bei einer Auffassung des Staates als psycho
logischer Tatsache die Raumlosigkeit der letzteren unverein
bar bleiben muß mit der nicht wegzuleugnenden Raumhaftigkeit des

A. a. 0. SimmeL, a. a. 0. S. 22.
S.

21.
»)
3) ')

Als Typus dieser Auffassung könnte die Begriffsbestimmung TreitschKes


angeführt werden: der Staat ist „ein Volk in seinem einheitlichen äußeren
Zusammenleben". Die Gesellschaftswissenschaft, ein kritischer Versuch. Leipzig
S.

1859, 73.
§ 2. Wechselwirkung. 7

irgendwie ja doch zum Staate gehörigen Gebietes und Volkes.


Schon daraus, daß sich dieses Problem vom Standpunkt einer
psychologisch-soziologischen Theorie als unlösbar erweist, ergibt
sich die Unmöglichkeit dieses Standpunktes!
Will man die „Staat" bezeichnete Verbindung von Menschen
als psychische Wechselwirkung begreifen, darf man nicht übersehen,
daß keineswegs jede Wechselwirkung
Verbindung" der sozialen
eine „

Elemente bedeutet. Jede soziologische Untersuchung stellt der die .Ge


sellschaft — als Einheit — erzeugenden Assoziation eine die Ge
sellschaft zerstörende Dissoziation entgegen. Diese dissoziierenden
„Kräfte" aber äußern sich durchaus als Wirkung und Wechselwirkung
zwischen den psychischen Elementen. Damit, daß zwischen Menschen
Wechselwirkung aufgezeigt wird, ist noch keineswegs jene
spezifische Verbindung erwiesen, die aus einer Vielheit von
Menschen eine Gesellschaft macht. Es wäre ein leeres Spiel mit
Worten, neben den anziehenden auch die abstoßenden Kräfte als
Tendenzen gelten zu lassen; ja es bedeutete einen
.gesellschaftliche"
offenkundigen Widerspruch, das Wesen des Sozialen darin zu sehen,
daß aus einer Mehrheit von Menschen eine Einheit wird, die
Gesellschaft als ein irgendwie geartetes Zusammen-, ein Verknüpft-
und Verkettet-Sein zu erkennen, die Möglichkeit eines Zustandes
zuzugeben, in dem Menschen zwar asozial räumlich nebeneinander,
nicht aber gesellschaftlich miteinander, ja antisozial gegeneinander
stehen, zuzugeben, daß der gesellschaftliche Zustand, die gesell
schaftliche Einheit durch Kampf, Haß, Feindschaft, Konkurrenz,
wirtschaftliche, religiöse oder sonstige Gegensätze gebrochen werden
und so ein Zustand eintreten kann, dem nicht das Wesen des So
zialen zukommt — und dabei dennoch die Wechselwirkung, die
den sozialen ebenso wie den asozialen Zustand erzeugt oder erhält,
als das spezifische Kriterium des Sozialen zu behaupten. Gewiß,
dadurch daß A zu B, daß eine Vielheit von Individuen X zu einer
andern Vielheit Yin Gegensatz gerät, muß weder A noch B,
weder X noch Y aus der Gesellschaft überhaupt herausfallen. Aber
A steht in Gesellschaft nicht wegen der von ihm zu seinem Wider
sacher und von diesem zu ihm zurückführenden „ Wechselwirkung",
sondern um jener Verbindung willen, die ihn mit andern zu
einer Gruppe vereinigt, als jene ist, der sein Gegner
andern
kraft eben solch einer Verbindung angehört. Wer an der „ Wechsel
wirkung" als Basis der Gesellschaft festhält, dem fällt die Aufgabe
zu, die Besonderheit jener Wechselwirkungen aufzuzeigen, die „ver
binden", zum Unterschied von jenen, die „trennen"; wohl ein ganz
aussichtsloses Beginnen, weil sich bei eingehender Analyse zeigen
8 I. Der Staat als soziale Realität.

muß, daß der eigentlichste Sinn dessen, was man mit der das Soziale
darstellenden „Verbindung" bezeichnet, durch den Gedanken der
Wechselwirkung gar nicht erreicht wird, daß von dieser „Verbindung"
Eigenschaften ausgesagt werden müssen, die einer „Wechselwirkung"
gar nicht zukommen können. Wäre die soziale Verbindung identisch
mit psychischer Wechselwirkung, dann gäbe es keine Gliederung
und Differenzierung und es bestände nur eine einzige menschliche

Gesellschaft1).
Sieht man zunächst von dieser Schwierigkeit ab, die sich durch
die Scheidung trennender und verbindender
„Wechselwirkungen"
ergibt und geht man auf diese Vorstellung der Soziologie ein, dann
muß sich der Staat offenbar als eine durch verbindende Wechsel
wirkung hergestellte Einheit von Menschen darstellen. Verfügt
man über kein anderes Kriterium als das der verbindenden Wechsel
wirkung, ist es schlechterdings unmöglich, aus den zahllosen Grup
pen, in die die Menschheit auf solche Weise zerfällt, jene be
sondere Verbindung herauszuerkennen, die man den Staat nennt.
Die Familie, die Nation, die Arbeiterklasse, die Religionsgemein
schaft, sie alle wären durch Wechselwirkung verbundene Einheiten,
und wenn sie sich untereinander und gegenüber der sozialen Einheit
des Staates unterscheiden sollen, müßte ein durchaus außersozio
logischer oder außerpsychologischer Begriff dieser Einheiten, ins
besondere des Staates vorausgesetzt werden.
Daß man in der modernen Soziologie, mit einem
solchen von einer anderen Disziplin hergeholten
Begriff des Staates ausgerüstet, an die vermeint
liche soziale Wirklichkeit herantritt, kann kei
nem Zweifel unterliegen. Die hier in Betracht kommende
Gedankenfolge ist doch wohl die : Wer zu einem Staate gehört,
welche Menschen den Staat bilden, das ist aber: die Einheit des
Staates, wird vorerst als gegeben vorausgesetzt; auch von den
Soziologen, die empirisch die soziale Einheit des Staates aufzu
suchen und zu
bestimmen bemüht sind. Gegeben ist aber
die auch von den Soziologen vorausgesetzte Staats
einheit durch die Rechtswissenschaft und die Zu
gehörigkeit zum Staat wird, durchaus juristisch,
nach der e i n h e i tl i c h e n G e 1 t u n g einer aisgültig
l) RümeLin, Reden und Aufsätze, L Bd., 1875, S. 94. „Unser Drang geht
nicht dahin, uns ins Unbegrenzte anzuschließen, sondern einer Gruppe anzu
gehören, in einen bestimmten Kreis einzutreten, der sich geschlossen und ab
gegrenzt gegen andere zu behaupten strebt. Dem Sich-anschliefien-wollen
ist untrennbar gleich das Sich-abschließen-wollen beigesellt."
§ 2. Wechselwirkung. 9

vorausgesetzten Rechtsordnung bestimmt. Diese


Rechts- oder Staatsordnung aber stellt einen vom kausalgesetzlichen
System der Natur gänzlich verschiedenen, spezifisch eigengesetzlichen
Zusammenhang der Elemente dar. Alle, für die diese Rechts- oder
Staatsordnung als gültig vorausgesetzt wird, werden als zum Staate
gehörig angenommen. Nicht auf Grund empirisch-psychologischer
Untersuchung der zwischen den Menschen bestehenden Wechsel
wirkungen wird bestimmt, ob jemand zu einem Staate gehört —
wie wäre denn solches möglich! Sondern es kann bestenfalls nur
untersucht werden, ob diejenigen Menschen, die man juristisch als
zu einem Staate gehörig ansieht, untereinander auch in jener Wechsel
wirkung stehen, die man für das die reale Einheit der Gesellschaft
konstituierende Element hält. Der Fehler dieser Methode ist offenkundig.
Sonderlicli dann, wenn sie sich — wie stets — bis zu der Fiktion ver
steigt, daß die empirisch-kausale, soziologische Einheit mit der spezi
fisch-juristischen Einheit des Staates zusammenfällt. Oder hätte jemals
die empirische Soziologie die Behauptung aufgestellt, daß irgendwelche
Individuen zwar soziologisch, nicht aber juristisch, oder zwar juristisch,
nicht aber soziologisch zu einem bestimmten Staate gehören l) ? Daß
die zur juristischen Einheit des Staates zusammengefaßten Individuen
— darunter Kinder, Wahnsinnige, Schlafende, und solche, denen das
Bewußtsein dieser Zugehörigkeit gänzlich fehlt — in einer seeli
schen Wechselwirkung stehen, die die innige Verbindung eines sozio
logischen Verbandes darstellt, ist ebenso eine von der herrschen
den Soziologie mit völliger Selbstverständlichkeit gemachte Annahme,
wie eine gänzlich unzulässige Fiktion. Und man muß sich nur wundern,
daß deren Resultat : die restlose Kongruenz von kausal-soziologischer
und normativ-juristischer Betrachtung nicht einigermaßen verblüfft
hat, und daß auch nicht einmal die Möglichkeit erörtert wurde, daß
die soziologische Realität, die man Staat nennt, ihrem Umfang
nach von dem juristischen Staat sehr verschieden sein könnte, in
welchem Falle ernstliche Zweifel entstehen müßten, beide, nach so
verschiedenen Methoden gewonnene Einheiten, deren Umfang nun

1) Ist nicht der angeblich nach naturwissenschaftlichen Methoden ver


fahrenden Soziologie die kritiklose Uebernahme des juristischen Staatsbegriffs
und dessen rein normativer Einheit so selbstverständlich, daß sie bisher auf
eine selbständige Untersuchung des Staatsproblems so gut wie verzichtet hat ?
Tatsache ist jedenfalls, daß die Frage nach der soziologischen Einheit des
Staates in den neueren Gesellschaftstheorien entweder nur sehr gelegentlich
und oberflächlich gestreift wird oder — wo ausführliche Untersuchungen vor
liegen — diese auf eine mehr oder weniger verhüllte Reproduktion einer juri
stischen Staatstheorie hinauslaufen. Vgl. dazu die §§ 25, 26.
10 I. Der Staat als soziale Realität.

auch handgreiflich auseinanderfällt, als dasselbe Wesen unter dem


selben Begriffe zu erfassen.
Zieht man aber gar die dissoziierenden Kräfte, die trennenden
Wechselwirkungen in Rechnung, dann bleibt es gänzlich unverständ
lich, wie die durch wirtschaftliche, nationale, religiöse und sonstige
"
Interessen miteinander in „ Wechselwirkung zu sozialen Gruppen ver
bundenen, außerhalb dieser Gruppen aber durch ebendiese feindlichen
Interessen getrennten Menschen, die wohl in einer Rechts-, d.h.
Soll- oder Norm-Einheit gedanklich zusammengefaßt werden können,
auch realiter über diese trennenden Gegensätze hinweg „verbunden"
sein sollen. Ergibt soziologische Untersuchung innerhalb der —
notabene juristischen , nicht empirisch-kausalen — Staatsgemein
schaft eine Trennung nach wirtschaftlichen Klassen, dann be
deutet die Behauptung gleichzeitigen „ Staats "verbindung
einer
der als getrennt Individuen einen unlösbaren Widerspruch.
erkannten
Weil es sich um psychologische Realitäten, um Bewußtseins
vorgänge handelt, kann man nicht behaupten, Unternehmer und
Arbeiter werden durch
Bewußtseinsgegensatz der Klasse ge
den
trennt nnd zugleich durch die Bewußtseinsgemeinschaft des Staates
verbunden. Man kann nicht zugleich Freund und Feind sein, kann
nicht zugleich lieben und hassen. Der Klassengegensatz muß aus
dem Bewußtsein verschwinden, wenn die Staatsgemeinschaft — als
reale, soziologisch-psychologische Einheit
werden — lebendig soll.
Das ist ja der Sinn des Appells, den man im Augenblick der
Gefahr an die politischen Parteien des Staates zu richten pflegt:
Die die politische Gruppenbildung begründenden Gegensätze im Be
wußtsein zurückzudrängen, damit für das Staatsbewußtsein Platz
werde, d. h. damit die zum Staate juristisch Zugehörigen auch
psychologisch -real eine Einheit, eine Verbundenheit bilden. Wie
weit aber eine solche Forderung im konkreten Falle realisiert wird,
ja überhaupt realisierbar ist, muß sehr zweifelhaft bleiben. — Wie
könnte man für möglich halten, daß die juristischen
ernstlich
Staatsgrenzen auch für die empirisch psychologische Betrachtung
jenes Netz verbindender Wechselwirkungen abschließen, die allein
den Staat zu einer soziologisch-realen Einheit machen? Sollten
nicht Klassen-, nationale und religiöse Interessen stärker sein können
als Staatsbewußtsein, sollten sie nicht über die juristischen Grenzen
hinweg Gruppen bildend wirken und so den Bestand einer mit
der juristischen Staatseinheit zusammenfallenden Gruppe in Frage
stellen? Gar wenn man die — zur Konstituierung der sozialen Ein
heit auf Basis psychischer Wechselwirkung unerläßliche — An
nahme macht, daß eine Vielheit von Menschen nur dann und nur
§ 2. Wechselwirkung. 11

insoferne eine empirisch- soziale Einheitbildet, wenn die sie unter


einander verknüpfenden Wechselwirkungen stärker, intensiver sind,
als die sie mit andern verbindenden, wenn sie untereinander so wie
die Organe eines lebendigen Körpers, — um mit SIMMEL zu sprechen —
„in engerem Wechseltausch ihrer Energien stehen, als mit irgend
einem äußeren Sein". Denn wer könnte ernstlich in Frage stellen,
daß etwa nationale Gemeinschaft zwischen Angehörigen verschiedener
Staaten ein unendlich engeres Band schlingt oder doch schlingen kann,
als die juristische Zugehörigkeit zu einem Staate? Ist die sozio
logische Theorie der psychischen Wechselwirkung entschlossen, die
Konsequenzen ihrer Lehre zu ziehen, die sich für den Staat ergeben,
der, wollte man ihn auf ihr begründen, in den bodenlosen Ab
gründen wirtschaftlicher, religiöser und nationaler Gegensätze ver
sinken müßte l) ?

') Schon in dem 1863 erschienenen dreibändigen, so etwas wie eine Sozio
logie des Staates intendierenden Werke von Josef HeLd, Staat und Ge
sellschaft, wird die Frage aufgeworfen: Was ist ein Volk? und die Ant
wortgegeben: eine „durch irgendein starkes Band zur Einheit
gewordene größere Menschenmasse". Diese Einheit, auf die sich die
Problemstellung bewußt richtet, wird als „staatliche Einheit" erkannt, das
Volk des näheren als das „gesamte lebendige Substrat des Staates, die staat
liche Einheit einer größeren Menschenmasse" bezeichnet- Und im Abschluß
daran heißt es: „Wenn man die unendliche Verschiedenheit der Menschen,
die Mannigfaltigkeit ihrer Bestrebungen, ihre Freiheit und deren unmittelbare
Richtung auf das individuelle Interesse, den fortgesetzten Wechsel in den
Individualitäten, deren Sichwegziehen vom Staat und Hinausgehen Aber den
selben bedenkt, so gibt es gewiß nichts Wunderbareres als
die staatliche Einheit von vielen Tausenden und Millionen Menschen."
HeLd glaubt dieses „Wunder" der staatlichen Einheit als „Organismus" be
greifen zu können. „In jedem Organismus ist ein so inniger und lebendiger
Zusammenhang, daß das diesem entsprechende Gefühl jedes organischen Gliedes
nicht nur dieses ganz durchdringt, sondern auch mit den betreffenden Gefühlen
aller übrigen organischen Glieder in beständiger Wechselwirkung sich
befindet. Man kann auch sagen, daß nur soweit eine solche Einheit
der Gefühle oder des Bewußtseins da ist, eine lebendige
organische Einheit des Staates angenommen werden
könne." Diese Auffassung des Staates als einer realen, natürlichen
Einheit kann HeLd begreiflicherweise nicht aufrechthalten und er setzt sie auch
— wie sich gleich zeigt — gar nicht ernstlich voraus. Wohin er eigentlich
zielt — und das ist im höchsten Grade symptomatisch — , geht aus der Fol
gerung hervor, die er aus dem Prinzip der organischen Einheit ableiten zu
können glaubt: „Diese Einheit erfordert jedoch in jedem Organismus einen
Punkt, in welchem sie gleichsam gipfelt, in welchem, da in ihm das staatliche
Leben aller Glieder zusammenläuft, sie sich am höchsten potenziert. Dieser
Punkt ist das Haupt, das Höchste usw." Kurz: der Monarch. Das Naturgesetz
der organischen Einheit wird zu einem politischen Postulat und später zum
Gesetz der Rechts einheit, einer bloß rechtsgesetzlichen Einheit :
12 I. Der Staat als soziale Realität.

§ 3.
Psychische „Verbindung8.
Erblickt man das Wesen der sozialen Realität und sohin auch
des Staates als eines Stücks der gesellschaftlichen Wirklichkeit in
einer irgendwie näher zu charakterisierenden psychischen „Verbin
dung", dann ist es nicht überflüssig, sich den durchaus bildlichen
Charakter dieser Vorstellung klar zu machen, mit der eine Raum
relation auf unräumlich seelische Tatsachen übertragen wird. Das
Mißliche, mit einer auf die Körperwelt zugeschnittenen Sprache
psychische Vorgänge zu bezeichnen, macht sich hier besonders fühl
bar. Und die Schwierigkeit wird noch dadurch erhöht, daß der
volle Sinn des Sozialen offenbar nicht durch die Erkenntnis einer
bloß psychischen Verbundenheit erschöpft wird, daß irgenwie auch
ein räumlich körperliches Beisammen menschlicher Leiber auf einem
Teile der Erdoberfläche als dazu gehörig angesehen wird. Der Be
griff des Staates sei hier nur als Beispiel erwähnt. Und in der
Tat, wenn man die gesellschaftlichen Phänomene, wie das in der
neueren Soziologie behauptet aber nicht durchgeführt wird, als reine
Seelenvorgänge betrachtet, ist es gänzlich ausgeschlossen, zu jenen
„Gebilden", jenen sozialen „Einheiten" zu gelangen, die schließ
lich und endlich sich jeder Soziologie als ihre eigentlichsten Objekte
aufdrängen.
Unterzieht man dasjenige, was eine soziale Verbindung ps y cho-
logisch bedeuten kann, einer Analyse, so ergibt sich als der Sinn
der Behauptung, daß A mit B verbunden sei, nicht etwa, daß beide
als Körper in denselben Raum gebannt sind, keine — wie sich die

.Diese ideale Einheit ist aber nie vollkommen dagewesen und wird es nie sein.
Wo und soweit sie vorhanden ist, wird die Regierung nur ihr natürlicher Ver
treter sein ; wo und soweit sie fehlt, da ist Kampf, Streit und Kollision" — aber
dennoch »Staat«! — «und nun tritt das Haupt in seiner besonderen Funktion
auf, indem durch die Entscheidung im Interesse der Einheit die dieselbe
es

gefährdende Kollision und Verschiedenheit der Meinungen wenigstens äußer


lich und insoferne jedenfalls endgültig aufhebt." Diese Einheit beschränkt
sich aber offenkundig auf die Sphäre des Rechts! „Dies kann oder sollte ge
schehen entweder nach einem feststehenden organischen Gesetz, welches selber
das Produkt einer organischen Entwicklung ist" — aber nichts anderes als
ein Rechtsgesetz sein kann — „oder nach derjenigen eigenen Meinung des
Hauptes, welche dieses, erfüllt von der Aufgabe seiner Stellung im Organis
mus und geleitet von der daraus erwachsenden Pflicht, für die dem Organis
mus am meisten entsprechende hält, halten darf und muß" — was auch nur
der Ausdruck eines Rechtsgesetzes ist, eines besonderen freilich, nämlich jenes
der absoluten Monarchie. An Stelle des naturwissenschaftlichen (organischen)
sind der politische und juristische Gesichtspunkt getreten. Die unklare Ver
mengung beider ist das Charakteristikum der Staatslehre des 19. Jahrhunderts.
§ 3. Psychische .Verbindung". 13

neuere Soziologie auszudrücken pflegt — äußerliche, sondern eine


„innerliche" Relation. Als psychische Tatsache ist das Verbundensein
eine Vorstellung oder ein Gefühl in der Seele des A, der sich mit B
verbunden weiß oder fühlt. So charakterisiert
SIMMEL die soziale
Verbindung einer Religionsgemeinschaft, „daß jeder sich mit dem
andern im Glauben eins weiß"1); so ist das Wesen jenes Bandes,
das die Liebe um zwei Menschen schlingt, dies, daß in dem
einen die Vorstellung des andern mit einer spezifischen Gefühls
betonung auftritt, die eben nur durch ein räumlich körperliches Bild :
A ist B gefesselt, mit B unlöslich verkettet, verbunden, Ausdruck
an
findet. Auch der Staat erscheint — als soziale Verbindung — in
dem Gefühl, das die Vorstellung einer gewissen Gemeinsamkeit:
gemeinsamer Einrichtungen, gemeinsamen Gebietes usw. in der Seele
des Einzelnen begleitet. Wieder muß ein außerpsychologischer Staats
begriff vorausgesetzt werden, dessen — für sein Wesen irrelevanter —
psychischer Reflex in den Seelen der den Staat erlebenden Menschen
dieses Verbundenseins " erzeugen mag.
Gefühl des „ Es ist, streng
genommen, unrichtig, von einer Verbindung „zwischen" den Men
schen zu sprechen; ist Gesellschaft ein Psychisches, dann voll
zieht sich die als Gesellschaft erkannte „Verbindung" zur Gänze
i n dem Einzelindividuum. Es ist nur eine hypostasierte, zu unrecht
in die Außenkörpenvelt verlegte, durchaus intra-individuelle Relation,
wenn behauptet wird : Der A ist mit dem B verbunden. Verbunden,
d. h. in bestimmter Weise gefühlsbetont ist in der Seele des A die
Vorstellung des B. Und auch eine durchaus analoge „Verbindung"
in der Seele des B hinsichtlich der Vorstellung des A — eine Wechsel
seitigkeit, die überdies zur Annahme einer Verbindung zwischen A
und B gar nicht nötig — kann an dem durchaus intra
ist
individuellen Charakter der sozialen „Verbindung"
nichts ändern. Von Wechselwirkung braucht eigentlich gar nicht
die Rede zu sein. Daß das Verbindungsgefühl in A entsteht, hat ge
wiß seine Ursachen, unter denen auch ein Verhalten des B seine
Rolle spielen Aber die Verbindung besteht nicht in dieser
mag.
von dem B auf A geübten Wirkung. Ebensowenig wie die
den
Wirkung eines leblosen Gegenstandes auf A diesen mit jenem zu
einer Einheit verbindet. Die Frage, ob das Verbindungsgefühl nicht
nur die Vorstellung eines Menschen, sondern auch die eines Gegen
standes —
etwa die Vorstellung der Heimat als Heimatsgefühl,
Gefühl von Verbundenheit mit einem Stück Erde — begleiten kann,
soll hier nicht weiter verfolgt werden. Nur erinnert sei an das Ge-

1
) SchmoLLeRs Jahrbuch, Bd. 20, S. 579.
14 I. Der Staat als soziale Realität.

fühl der „Eingegrenztheit", das sicherlich nur mit der Vorstellung


eines Stück Erde assoziiert ist und vermutlich Bestandteil des psy
chischen Tatbestandes ist, der als die psychische Tatsache des
Staates gelten kann.
Nur der innerhalb der Einzelseele
Gefühlston, den lebendige
man als „Verbindung" bezeichnet, nicht aber die zwischen den
Menschen spielende „Wechselwirkung" kann jene „ Grade", jene
Intensitätsstufen haben, die die Soziologie an dem gesellschaftlichen
Grundphänomen zu erkennen glaubt, die für sie geradezu zum Krite
rium des Sozialen, der sozialen Einheit werden.
zwischen Menschen
Eine angenommene Wechselwirkung kann
keine bloß psychische sein, denn die in Betracht kommende Kausal
reihe müßte, um von der Seele des A in die des B und wieder
zurückzugelangen, zweimal den Weg durch beide Körper nehmen!
Ist schon die Anwendung der Kausalität auf das Seelische proble
matisch, muß die Konstruktion einer psychophysischen Kausalreihe
vollends zu unlösbaren Schwierigkeiten führen. Diese scheinen aber
unvermeidlich zu sein, wenn man das Soziale nicht auf das Psychische
einschränken zu dürfen glaubt. Widersprüche sind hier kaum zu
vermeiden. SlMMEL spricht von einem „Doppelsinn des Zwischen,
daß eine Beziehung zwischen zwei Elementen, die doch nur eine,
in dem einen und in dem andern immanent stattfindende Bewegung
oder Modifikation ist, zwischen ihnen, im Sinne des räumlichen
Dazwischentretens stattfinde"
Soll jedoch die Vorstellung einer
1).

zwischen den Menschen bestehenden (raumfüllenden) Beziehung


nicht ein auf seine eigentliche Bedeutung einer innerhalb der Einzel
seele beschlossenen, immanenten Modifikation zu reduzierendes Bild
sein, dann bedeutet sie Sphäre und
das Verlassen der psychischen
die Verlegung des Sozialen
in die Körperwelt. Dies muß SlMMEL
entgegengehalten werden, wenn er fortfährt: Das Zwischen als eine'

bloß funktionelle Gegenseitigkeit, deren Inhalte in jedem ihrer perso


nalen Träger verbleiben, realisiert sich hier wirklich auch als Be
anspruchung des zwischen diesen beiden bestehenden Raumes; es
findet wirklich immer zwischen den beiden Raumstellen statt,
an deren einer und andrer ein jeder seinen für ihn designierten, von
ihm allein erfüllten Platz hat"2).
Daß die soziologische Betrachtung nicht in jenem psychologischen
Bereiche ihr Genüge finden kann, der ihr durch den als psychische
Wechselwirkung bestimmten GesellschaftsbegrifT gesteckt ist, kann
leicht verstanden werden. Schon aus dem Grunde, weil alle psycho-

Soziologie, 0.
S.

a. 616.
S.

616. a.
»)
')
§ 4. Parallelität psychischer Prozesse und Motivation. 15

logische Untersuchung letztlich nur als individualpsychologische


denkbar ist; denn wenn sie einmal in die Einzelseele hinabsteigt,
führt sie kein Weg aus dieser heraus. Für die psychologische Be
trachtung ist die Einzelseele wirklich eine fensterlose Monade. Und
dabei ist alle Soziologie auf ein ü b e r in di v i du e 1 le s
Ziel gerichtet, weil alles Soziale seinem Wesen
nach über das Individuelle hinausweist, ja, als
ein durch und durch Andersartiges, geradezu die
Ueberwindung und Negation d e s I n d i v i d uu m s zu
bedeuten scheint.
§ 4.
Parallelität psychischer Prozesse und Motivation.
Man vermeint im Bereiche des Psychologischen zu verbleiben
und dabei dennoch das Ueberindividuelle zu erfassen, wenn man —
als eine Form der gesellschaftlichen Verbindung oder sozialen Ein
heit — eine Mehrheit von Individuen als Gemeinschaft da
durch erkennt, irgendeine inhaltliche Ueberein-
daß man
stimmung ihres Wollens, Fühlens oder Denkens
annehmen zu dürfen glaubt. Man könnte hier von einer Paralle
lität psychischen Prozesse sprechen, und eine solche liegt
der
immer vor, wenn von einem „ Gesamtwillen", einem „ Gemein gefühl",
einem Gesamt- oder Gemeinbewußtsein oder -Interesse die Rede ist.
Gerade den Staatpflegt man in solcher Weise als sozialpsycho
logische Realität charakterisieren.
zu Sieht man indes näher zu,
zeigt sich, daß eine rein psychologische Bedeutung dieser „Gemein
schaften" diese keineswegs als soziale, überindividuelle Einheiten
begreifen läßt. Denn die Anforderung, die man zu allererst an
den Begriff einer sozialen Einheit stellt und die auch von allen
Soziologen gestellt wird, ist die, daß dieser Begriff nicht das bloße
Abziehen gleicher Merkmale von einer Mehrheit von Individuen,
sondern eine irgendwie geartete Zusammenfassung, Verbindung
dieser Individuen zu einer höheren Einheit darstellt. Der Begriff
des Negers, als Inbegriff aller Menschen schwarzer Hautfarbe, be
deutet ebensowenig eine soziale Einheit oder eine Gesellschaft, wie
etwa alle Lebewesen, die durch Kiemen atmen, einen Organismus
bilden. Dies gerade ist ja das unter allen Umständen gültige ter-
tium comparationis zwischen Gesellschaft und Organismus, daß eine
die bloße Abstraktion übersteigende Synthese der Elemente das die
Einheit in der Vielheit hier wie dort konstituierende Moment ist.
Daß man diese Synthese sozusagen in das Objekt selbst projiziert,
die Gesellschaft als die durch Wechselwirkung zwischen den Men
16 I. Der Staat als soziale Realität.

sehen zusammengehaltene Einheit vorstellt, ist ein Irrtum, dessen


Korrektur in einem späteren Zusammenhange versucht werden soll.
In der Tatsache, daß eine Vielheit von Menschen dasselbe wollen,
fühlen oder vorstellen, liegt jedenfalls zunächst keine andere „Ge
meinschaft" als jene, die in dem Begriff eines gemeinsamen körper
lichen Merkmals gedanklich vollzogen wird. Ftlgt man aber bei
jedem Einzelnen noch das Bewußtsein oder Gefühl der Gemeinsam
keit hinzu, so ist damit für die Struktur des Begriffes nichts Wesent
"
liches gewonnen, innere Verbindung dadurch zwischen den
eine „

Einzelnen nicht hergestellt. Ganz abgesehen von dem Widerspruch,


der in der Vorstellung einer „inneren", d. h. doch wohl im Innern
"
der Einzelseelen beschlösse nen Verbindung „ zwischen den Einzelnen
also einer Außenseite zu Außenseite wirkenden Verbindung,
von
gelegen ist. Auch ist es sicherlich unbegründet, eine derartige
Willens-, Gefühls- oder Vorstellungsgemeinschaft nur auf „ Wechsel
wirkung" zu begründen oder gar als eine Form der „Wechselwir
kung" zu bezeichnen. Die in der Kirche versammelten Menschen,
die von dem Priester durch Erzeugung gewisser, bei allen gleichen Vor
stellungen in einen dem Inhalte nach gleichen Zustand von Andachts
verzückung versetzt werden, die Menschen einer Volksmenge, die durch
die aufreizende Rede eines Führers in revolutionärer Begeisterung
von demselben Willen — etwa ein Regierungsgebäude zu zerstören,
— erfüllt werden, Beispiele einer aktuellen Gefühls-,
sind vollendete
Vorstellungs- oder Willensgemeinschaft, die nicht durch Wechsel
wirkung zwischen den Einzelnen, sondern durch eine gemeinsame
Wirkung von außen, d. h. von dritter Seite her erzeugt wird.
Neben dieser Wirkung spielt das Bewußtsein, daß die andern in
gleicher Weise fühlen, denken oder wollen, eine sekundäre Rolle.
Dieses durch Verständigung der Individuen untereinander in jedem
Einzelnen entstehende Bewußtsein gleichartiger seelischer Inhalte
kann unter gewissen Umständen eine Intensivierung des seelischen
Grunderlebnisses der Einzelnen herbeiführen. Die aus irgendeinem
Anlaß geweckte patriotische Begeisterung wird verstärkt durch die
Wahrnehmung der gleichen Stimmung bei den andern und kann
vielleicht in einem gewissen Verhältnis zu der Ausdehnung dieser
Erscheinung in der Masse bei dem Einzelnen wachsen. Indeß ist
auch das Umgekehrte möglich, wie schon die Weisheit des Sprich
wortes erkennt:„Geteiltes Leid ist halbes Leid." Mit Rücksicht
auf die in dies.em Punkte sehr erhebliche Verschiedenheit der individu
ellen Anlage und der nicht abzusehenden Begleitumstände, die für
eine verstärkende oder abschwächende Wirkung des Gemeinsamkeits
bewußtseins bestimmend sind, wird wohl eine allgemein gültige Regel
§ 4. Parallelität psychischer Prozesse und Motivation. 17

kaum aufzustellen sein. Aber jedenfalls muß die Anschauung ab


gelehnt werden, daß der Gesamtwille, das Gesamtgefühl oder die
Gesamtvorstellung eine durch Summierung der einzelnen Wollungen,
Gefühle oder Vorstellungen gewonnene und dementsprechend intensi
vierte seelische Größe sei. Nur weil eine solche Anschauung mit
unter von Sozialtheoretikern vertreten wird, muß noch ausdrücklich
gesagt werden, daß sich seelische Elemente verschiedener
Individuen
nicht addieren lassen und daß eine solche Summe, selbst wenn sie
sich ziehen ließe, kein Ausdruck für irgendeine seelische Realität
wäre1). Gesamtgefühl, Gesamtwille und Gesamtvorstellung kann nie
etwas anderes bedeuten als eine Bezeichnung für dje Uebereinstim-
mung der Bewußtseinsinhalte einer Mehrheit von Individuen.
Wollte man den Staat ernstlich als eine solche Bewußtseins
gemeinschaft begreifen — und tatsächlich wird vielfach demjenigen,
was man staatlichen Gesamtwillen oder staatliches Gesamtinteresse
nennt, ein derartiger realistischer, empirisch-p sychologischer
Sinn beigelegt — dann müßte man — Fiktionen zu
um unzulässige
vermeiden — so konsequent sein, wirklich nur jene Menschen den
Staat bilden zu lassen, bei denen die erforderliche Uebereinstim-
mung ihrer Bewußtseinsinhalte erwiesen ist. Man müßte sich ver
gegenwärtigen, daß Willens-, Gefühls- oder Vorstellungsgemeinschaft
als psychologische Massenerscheinung zu verschiedenen Zeiten und
an verschiedenen Orten in äußerst schwankendem Umfang auftritt.

') Die Bildung eines Gesamt- oder Kollektivbewußtseins sucht Kistia-


KOWsKi, Gesellschaft und Einzelwesen, 1899, S. 150, unter anderem an fol
gendem Beispiel darzustellen: „Das patriotische Gefühl von zwei Personen
ist viel stärker als das patriotische Gefühl von einer; das patriotische Gefühl
von hundert Personen ist noch stärker, von tausend noch stärker usw. Es
findet hier also eine Anhäufung und Steigerung der individuellen Gefühle statt;
die Zusammenfassung aber dieser einzelnen Vorgänge nennen wir das allge
meine Gefühl. Wir können also behaupten, wenn wir vorläufig von der Un-
genauigkeit des Ausdrucks absehen, daß das allgemeine patriotische Gefühl
einer Gesamtheit von Personen eine bestimmte psychische Größe bildet, welche
die Summe der einzelnen Gefühle übersteigt." Ist nur zu fragen, wie bei der
bloßen Eonstatierung, daß mehrere Individuen dasselbe Gefühl haben, ein von
diesen Einzelgefühlen verschiedenes, aus ihnen zwar zusammengesetztes, selbst
aber „ein ganzes oder potenziertes Kollektivgefühl" (S. 152) entstehen kann.
Diese Hypostasierung eines Abstraktionsproduktes ist so erstaunlich, daß der
rätselhafte Zuschlag zur Summe aller Einzelgefühle beim Ausmessen des Kol
lektivgefühls keine Rolle mehr spielt. Das von der neueren Sozialpsychologie
angenommene, aber keineswegs ausnahmslose Gesetz der sogenannten „Affekt-
steigerung in der Masse", auch „Summation der Gefühlsbewegung" genannt,
besagt nur: „Jedes Wachstum des Affektes in die Weite bedeutet zugleich
auch einen Zuwachs von Gemütsbewegung im Bewußtsein des schon Ergriffenen.*
Vgl. Moede, a a. 0. S. 393 ff.
Eeleen, Staatsbegriff. 2
18 I. Der Staat als soziale Kealität.

In dem Ozean des seelischen Geschehens mögen solche Gemein


schaften wie Wellen im Meere auftauchen und nach kurzer Existenz
in ewig wechselndem Umfang wieder versinken. Die übliche Vor
stellung vom Staate als einem festumgrenzten, dauernden Gebilde
dürfte keinen Bestand mehr haben. Und man müßte schließlich der
Frage Rede und Antwort stehen: Welches der spezifische Inhalt
jenes Wollens, Fühlens oder Denkens ist, dessen paralleles Erleben
in einer Vielheit von Individuen gerade die staatliche Gemeinschaft
ausmacht; da ja doch nicht jede beliebige Massenerscheinung nach
Art der Parallelität psychischer Prozesse die staatliche Gemeinschaft
darzustellen vermag. Und dabei dürfte sich wohl herausstellen, daß
der Staat eben nur der spezifische Inhalt eines Bewußtseins ist,
dessen realpsychologische Massenhäufung für seinen Begriff zunächst
von problematischer Bedeutung bleibt.
Aehnliches gilt im Prinzipe von jener Anschauung, die den
Staat als eine Summe von Herrschafts verhältnissen psycho
logisch zu charakterisieren versucht. Den Staat — was mitunter
unternommen wird — als ein einziges Herrschaftsverhältnis
aufzufassen, ist psychologisch nicht möglich, da die Einheit des
Herrschenden ebensowenig wie die des Beherrschten realiter ge
geben ist. Nimmt man dies für den Staat an, so setzt man eben
voraus, was erst durch psychologische Untersuchung gewonnen
werden soll, wobei die vorausgesetzte Einheit des Staates offenbar
außerpsychologischen, und wie sich stets zeigen läßt, juristischen
Charakters ist. PsychologischerBetrachtung liegt nur eine Vielheit
von herrschenden und Menschen vor, deren Einheit
beherrschten
psychologisch nicht anders als durch den gleichen Inhalt des
Herrschafts verhältnisses — also im Wege einer Abstraktion — be
gründet werden kann. Auf den spezifischen Inhalt dieser Herr
schaftsrelation kommt es somit auch hier an. Zumal Herrschaft
psychologisch nichts anderes ist als Motivation: der Wille, die
Willensäußerung des einen Menschen wird zum Motiv für den Willen
oder das Handeln des andern Menschen, auf dessen Verhalten der
Wille des ersteren gerichtet ist. Und bei näherer Betrachtung wird
sich wohl jedes Verhältnis zwischen Menschen als Herrschafts
verhältnis, zumindest aber: auch als Herrschaftsverhältnis heraus
stellen. Selbst bei jener Beziehung, die solches auszuschließen
scheint, bei Liebe und Freundschaft, wird eine feinere Analyse nicht
völlige Gleichheit der beiden Elemente, sondern fast immer einen
Führer und einen Geführten, einen Stärkeren und einen Schwächeren
unterscheiden. Wenn aber jedes menschliche Verhältnis ein Herr
schaftsverhältnis ist, dann ist die hier zur Verfügung stehende psycho
§ 5. Die „libido" als Kriterium der sozialen Verbindung. 19

logische Schablone so weit und nichtssagend, daß nicht einmal das


den Inhalt des Staates tragende Gerüst seelischer Prozesse damit hin
reichend charakterisiert wird.

§ 5.
Die „libido" als Kriterium der sozialen Verbindung.
Neben der Parallelität der psychischen Prozesse und der „Moti
vation" kann als dritte mögliche Form der sozialen Verbindung —
soferne solche auf psychologischem Wege gesucht wird — jene eigen
artige Beziehung angesehen werden, die darin besteht, daß ein Indi
viduum ein anderes zum Objekt seines dementsprechend auf dieses
andere Individuum gerichteten Wünschens, . Wollens oder Begehrens
macht. Während man bisher diese spezifische seelische Einstellung
nur für die paarweise
Verbindung des Liebes- und Freund
schafts verhältnisses (im engsten Sinne) als konstituierend an
gesehen hat, versucht neuestens FREUD, die für seine „Psychoanalyse"
grundlegende Theorie der „libido" auch zur Lösung des Hauptpro
blems der Sozialpsychologie, zur Beantwortung der Frage nach dem
Wesen der sozialen „Verbindung" zu verwenden1). Scheinbar geht
dabei FREUD nur von einem Spezialproblem der Sozialpsychologie,
der durch die Untersuchungen SIGHELEs 2) und Le Bons 3) geschil
derten Phänomene der Massenpsychologie aus. Allein
sogenannten
das Problem der
„Masse" muß sich schon bei einiger Vertiefung
als das Problem der sozialen „Einheit" oder sozialen „Verbindung"
schlechtweg erweisen. Da3 gerade zeigt die Darstellung FßEUDs,
in deren auch den Staat
letzter Konsequenz es gelegen ist,
als eine wenn auch komplizierte — „Masse",

oder doch als ein Phänomen der Massenpsycho
logie zu begreifen.
Als eine Masse
„im gewöhnlichen Wortsinne" bezeichnet
Le BON „eine Vereinigung irgendwelcher Individuen von beliebiger
Nationalität, beliebigem Berufe und Geschlecht und beliebigem An
lasse der Vereinigung" Es ist klar, daß damit keinerlei Begriffs
4).

ist. Denn das ist


ja

bestimmung ausgesprochen gerade die Frage,


worin das Wesen dieser „Vereinigung" besteht. Das Problem, das
sich Le BON stellt, ist aber dieses: Welche seelischen Veränderungen

Freud, Massenpsychologie und Ichanalyse, 1921, und Totem und Tabu,


')

Aufl.,
2.

1920.
La coppia criminale, Aufl., deutsch von RuReLLa, Psychologie des
2.
2)

Auflaufs und der Massenverbrechen, 1898.


Die Psychologie der Massen (Psychologie des foules). Uebersetzt von
a)

Dr. Rud. EisLer, Aufl. 1919. a. a. 0.


S.
9.
3.

4)

2*
20 I. Der Staat ah soziale Realität.

ergeben sich für den einzelnen aus der Tatsache seines Beisammen
seins mit „Masse" ist ihm zunächst der Ausdruck für
anderen?
eine spezifische Bedingung, unter deren Gegebenheit gewisse gleich
artige individual-psychische Wirkungen bei einer Mehrheit Ton Indi
viduen eintreten. Dieser Begriff erfährt aber sofort einen charak
teristischen Bedeutungswandel. „Vom psychologischen Gesichtspunkt
bedeutet der Ausdruck »Masse« etwas ganz anderes. Unter bestimmten
Umständen und bloß unter diesen besitzt eine Versammlung von
Menschen Merkmale, ganz verschieden von denen der diese
neue
Gesellschaft bildenden Individuen. Die bewußte Persönlichkeit schwin
det, die Gefühle und Gedanken aller Einheiten sind nach derselben
Richtung orientiert. Es bildet sich eine Kollektivseele, die, wohl
transitorischer Art, aber von ganz bestimmtem Charakter ist. " Le BON
spricht nunmehr von einer „psychologischen Masse", zu der die Ge
samtheit geworden ist und sagt von ihr: „Sie bildet ein einziges
Wesen und unterliegt dem Gesetz der seelischen Einheit der Masse"
(loi de l'unite mentale des foules) Die psychologische Masse
1).


ist ein provisorisches Wesen, das aus heterogenen Elementen besteht,
die für einen Augenblick sich miteinander verbunden haben, genau
so wie die Zellen des Organismus durch ihre Vereinigung ein neues
Wesen mit ganz anderen Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen
bilden"2). War „Masse" ursprünglich der Ausdruck für die spezi
fische Bedingung, ist er nunmehr der Ausdruck für die Folgen,
die unter den vorausgesetzten Bedingungen eintreten. Dabei wird
die Tatsache, daß diese Folgen bei einer Vielheit von Individuen
gleichmäßig eintreten, dadurch vereinfacht dargestellt, daß die spe
zifischen Eigenschaften und Funktionen des in die Masse eingereihten
Individuums von der Masse selbst als einem von den die Masse
bildenden Subjekte ausgesagt wird. Neben
Subjekten verschiedenen
den Seelen der — die Masse bildenden — Einzelmenschen erscheint
plötzlich eine Massenseele (die Masse ist
ja

diese Seele).
Zwar sagt Le BON: „Die Hauptmerkmale des in der Masse
befindlichen Individuums sind demnach: Schwund der bewußten
Persönlichkeit, Vorherrschaft der unbewußten Persönlichkeit, Orien
tierung der Gedanken und Gefühle in derselben Richtung durch Sug
gestion Tendenz zur unverzüglichen Verwirklichung
und Ansteckung,
der suggerierten Das Individuum ist nicht mehr es selbst;
Ideen.
es ist ein willenloser Automat. Ferner steigt durch die bloße Zu
gehörigkeit zu einer Masse der Mensch mehrere Stufen auf der
Leiter der Zivilisation herab. In seiner Vereinzelung war er viel-

0. 0.
S.
S.

a. a. 12.
9.

a. a.
»)
')
§ 5. Die .libido" als Kriterium der sozialen Verbindung. 21

leicht ein gebildetes Individuum, in der Masse ist e r ein Barbar,


d. h. ein Triebwesen. Er besitzt die Spontaneität, die Heftigkeit,
die Wildheit und auch den Enthusiasmus und Heroismus primitiver
Wesen. Diesen nähert er sich auch noch durch die Leichtigkeit,
mit der er sich von Worten und Bildern, die auf jedes einzelne
Individuum gänzlich ohne Wirkung wären. beeinflussen und zu Hand
lungen, die zu seinen entschiedenen Interessen und bekanntesten Ge
wohnheiten in Widerspruch stehen, verführen läßt" Allein aus

1).
dieser Peststellung einer Summe gleicher Eigenschaften der in der
Masse befindlichen Individualseelen werden schließlich Aeußerungen
einer von den Individualseelen verschiedenen „Massenseele". Es wird
behauptet, daß die Masse stets dem isolierten Menschen in

tellektuell untergeordnet ist, daß „die M oft verbrecherisch,

e
s
s
oft aber auch heldenhaft ist"
2),
es wird von einem Gefühlsleben,
einer Sittlichkeit der Masse gesprochen usw. Weil die Individuen
in der Masse andere Eigenschaften haben als im Zustand der Ver
einzelung, wird von „Eigentümlichkeiten der Massen" gesprochen,
welche die Individuen nicht besitzen" und so ein Gegensatz zwi
3)

schen Individuum fingiert, der nicht besteht.


und Masse Und diese
Hypostasierung abstraktiven Einheit, diese in der An
einer bloß
nahme einer Kollektivseele vollzogene Realsetzung eines Verhält

nisses der Uebereinstimmung des Inhalts vieler Einzelseelen wird


gelegentlich ganz bewußt betont, und die Annahme, daß es sich
dabei nur um den abbrevierenden und veranschaulichenden Ausdruck
für eine Summe gleicher Einzelerscheinungen handelt, direkt ab
gelehnt. „Im Widerspruch mit einer Anschauung, die sich befremd
licherweise bei einem so scharfsinnigen Philosophen, wie HERBERt
Spencer es ist, findet, gibt es in dem eine Masse bildenden Aggre
gat keineswegs eine Summe und einen Durchschnitt
der Elemente, und Bildung neuer
sondern eine Kombination
Elemente, genau so wie in der Chemie sich bestimmte Elemente,
wie z. B. die Basen und Säuren bei ihrem Zusammenkommen zur
Bildung eines neuen Körpers verbinden, dessen Eigen
schaften von denen der Körper, die an seinem Zustandekommen be
teiligt völlig verschieden sind" Weil die Individuen (in
4).

waren,
der Masse) neue Eigenschaften aufweisen, wird die Masse zu einem
„Körper", zu einem Individuum
als Träger dieser neuen
neuen —
Eigenschaften — hypostasiert!
Indem nun Freud an Le Bons Schilderung der Massenseele
anknüpft, verfällt er durchaus nicht in den Fehler dieser Hypo-
0.
S. S.

S.

S.

a. a. 16, 17. 17. 14.


»)

a)
4) ')

a. a. 0. 12.
22 I. Der Staat als soziale Realität.

stasierung. Er leugnet mit Schärfe gleich zu Beginn


dankenswerter
seiner Untersuchungen von Individual- und Sozial
den Gegensatz
psychologie und erklärt, daß der Gegensatz von sozialen und nicht
sozialen („nazistischen" oder „autistischen", d. h. nicht auf einen
anderen bezogenen) seelischen Akten „durchaus innerhalb des Be
"
reiches der Individualpsychologie
fällt1). Demgemäß formuliert
Freud die für Le Bon Tatsache durchaus korrekt
entscheidende
dahin: daß das „Individuum unter einer bestimmten Bedingung ganz
anders fühlt, denkt und handelt als von ihm zu erwarten stand, und
diese Bedingung in eine Menschenmenge,
ist die Einreihung welche
die Eigenschaft »psychologischen Masse« erworben hat".
einer Für
FREUD gibt es keine anderen als Individualseelen und seine Psycho
logie bleibt unter allen Umständen Individualpsychologie. Das ist
gerade das Spezifische seiner Methode, daß er die Phänomene der so
genannten Massenseele als Erscheinungen der Individualseele aufzeigt.
Aber auch in anderer Hinsicht bedeuten FreUDs Untersuchungen
einen entschiedenen Fortschritt über Le Bon hinaus. Dieser begnügt
sich im Grunde, einen psychologischen Tatbestand zu schildern ; was
er an Erklärung durch die Annahme einer „Kollektivseele" versucht,
kommt nicht weiter in Betracht. FREUD aber dringt in den Kern
dieses Problems, an Le Bons Darstellung der
wenn er im Anschluß
Einheit Individuen — (als Ausdruck
der in der Masse verbundenen
dieser Einheit tritt eben die — hypostasierte — Metapher der Kol
lektivseele auf) — die bei Le Bon außer acht gelassene Frage stellt :
„ Wenn die Individuen in der Masse zu einer Einheit verbunden sind,

so muß es wohl etwas geben, was sie aneinander bindet,


und dieses Bindemittel könnte gerade das sein, was für die
Masse charakteristisch ist" Zwar beschränkt sich schon Le BON
2).

nicht darauf, die Masse als die Tatsache gleichartiger seelischer


Reaktion einer Vielheit von Individuen, also als einen Fall der
„Parallelität psychischer Prozesse" zu beschreiben. Er spricht stets
auch von einem „Verbundensein" der gleichartig sich verhaltenden
Individuen; und die Metapher des „Organismus" und der „Kollektiv
seele" soll offenbar diese „Verbindung" als etwas über das bloße
ja

Gleichgerichtetsein Hinausgehendes bezeichnen. Aber worin diese


„Verbindung" eigentlich besteht, fragt er nicht. Gerade mit dieser
Frage aber zerreißt FREUD nicht nur den Schleier der Hypostasierung
„Kollektivseele", sondern er erhebt auch das Problem der „Masse"
zum Problem der sozialen Einheit, der sozialen Verbindung überhaupt.

Massenpsychologie und Ichanalyse,


2.
S.
») ')

a. a. 0.
S.
7.
§ 5. Die „libido" als Kriterium der sozialen Verbindung. 23

Wenn der Versuch Freuds kurz skizziert wird,


im folgenden
den Grundbegriff Psychoanalyse, die „libido" zur Aufklärung
seiner
der Massenpsychologie zu verwenden, die Verbindung der Individuen
zu der — allzu eng als „Masse" bezeichneten — sozialen Einheit
als eine Gefühls bindung, als einen Fall der libido zu begreifen,
so muß vorangeschickt werden, daß eine solche Skizze nur ein sehr
unvollkommenes Bild der FEEUDschen Sozialpsycbologie geben kann.
Die Lehre von der „libidinösen Struktur der Masse" ist so innig
mit der ganzen psychologischen Theorie FREUDs ver
umfassenden
bunden, daß sie, losgelöst von dem Boden der allgemeinen Psycho
analyse, ohne große Schwierigkeiten für das Verständnis und ohne
die Gefahr, mißverstanden zu werden, nicht dargestellt werden kann.
Indes kommt es in diesem Zusammenhange nicht so sehr auf den
spezifischen Wert der Psychoanalyse zur Aufklärung der Phänomene
der Massenpsychologie, sondern vielmehr darauf an, ob und inwie
weit dieser Versuch, die soziale Realität psychologisch zu bestim
men, für Begriff Wesen des Staates fruchtbar
und
gemacht werden, ob der Staat als eine „psycho
logische Masse" der durch die FREUDsche Psycho
analyse aufgehellten Struktur angesehen werden
kann. Zu diesem Zwecke genügt aber eine die prinzipiellen Ge
sichtspunkte festhaltende Darstellung und ist ein näheres Eingehen
auf die Grundvoraussetzungen der allgemeinen Psychoanalyse nicht
erforderlich.
Wenn Freud die Annahme macht, daß „libido", „daß Liebes
beziehungen (indifferent ausgedrückt Gefühlsbindungen) auch das
:

Wesen der Massenseele ausmachen" so versteht er das Wort „libido"


1),

oder „Liebe" in einem weitesten, nicht bloß die Geschlechtsliebe


umfassenden Sinne, etwa in der gleichen Bedeutung, in der der
„Eros" PLAtONs auftritt. FREUD sagt, er stütze seine Erwartung,
daß Liebesbeziehungen auch das Wesen der sozialen Verbindung
ausmachen, zunächst auf zwei „flüchtige Gedanken": „Erstens, daß
die Masse offenbar durch irgendeine Macht zusammengehalten wird.
Welcher Macht könnte man aber diese Leistung eher zuschreiben
als dem Eros, der alles in der Welt zusammenhält? Zweitens, daß
man den Eindruckempfängt, wenn der einzelne in der Masse seine
Eigenart aufgibt und sich von den anderen suggerieren läßt, er tue
es, weil ein Bedürfnis bei ihm besteht, eher im Einvernehmen mit
ihnen als im Gegensatz zu ihnen zu sein, also vielleicht doch »ihnen
zuliebe«"2). Wenn das Wesen der Massenbildung, der sozialen

0. 0.
S.

S.

a. a. 45. a. a. 45.
»)

»)
24 I. Der Staat als soziale Realität.

Verbindung überhaupt in
„libidinösen Bindungen" der Massen
glieder, der die Gruppe Individuen bestehen soll, so
bildenden
wird doch zugleich mit Nachdruck betont, daß es sich dabei nicht
um Liebestriebe handeln „die direkte Sexualziele verfolgen".
könne,
„Wir haben es hier mit Liebestrieben zu tun, die, ohne darum
minder energisch zu wirken, doch von ihren ursprünglichen Zielen
abgelenkt sind" Solche Ablenkung des Triebes von seinem

1).
Sexualziel beschäftigt die Psychoanalyse in vielfacher Richtung.
Diese Erscheinungist, wie die Psychoanalyse lehrt, mit gewissen
Beeinträchtigungen des Ichs verbunden. Die Vermutung, daß sich
die soziale Verbindung als eine derartige libidinöse Bindung be
greifen lasse, wird zunächst dadurch bestärkt, daß

ja
als ein wesent
liches Merkmal des in die Masse eingereihten Individuums das
Schwinden Selbstbewußtseins angegeben wird.
des „Solange die
Massenbildung anhält oder soweit sie reicht" — diese Anerkennung
der bloß ephemeren, flüchtigen, in ihrem Umfang schwankenden Exi
stenz der sozialen Gruppenbildung ist von größter Wichtigkeit! —
„benehmen sich die Individuen als wären sie gleichförmig, dulden
sie die Eigenart des andern, stellen sich ihm gleich und verspüren
kein Gefühl der Abstoßung gegen ihn. Eine solche Einschränkung
des Narzißmus2) kann nach unseren theoretischen Anschauungen nur
durch ein Moment erzeugt werden, durch libidinöse Bindung an
andere Personen. Die Selbstliebe findet nur an der Fremdliebe, Liebe
zu Objekten, eine Schranke"3). Als eine Gefühlsbindung an eine
andere Person, die nicht Geschlechtsliebe ist, hat die Psychoanalyse
— schon vor ihrer Untersuchung des sozialpsychologischen Problems
— die sogenannte „Identifizierung" festgestellt. Auf den kompli
zierten seelischen Mechanismus dieser „Identifizierung", den die
Psychoanalyse in eigenartiger Weise aufdeckt, kann und braucht
hier nicht näher eingegangen zu werden. Festgehalten sei hier nur,
daß die Identifizierung nach der Lehre FREUPs die ursprünglichste
Form der Gefühlsbindung an ein Objekt ist (sie ist noch vor jeder
sexuellen Objektwahl möglich, z. B. wenn der kleine Knabe sich
mit dem Vater identifiziert, indem er so sein möchte wie der Vater,
in allen Stücken an seine Stelle treten möchte, kurz, den Vater zu
seinem Ideal nimmt) und weiters, daß es nach den Ergebnissen der
;

Psychoanalyse typische Fälle gibt, in denen die Identifizierung in


der Weise erfolgt, daß das eine Individuum an einem anderen, das

a. a.0. S. 64.
')

Ein tenninus technicus der Psychoanalyse für die Phänomene der


*)

Eigenliebe im Gegensatz zur Fremdliebe.


a. a. 0. S. 62.
*)
I

§ 5. Die „libido" als Kriterium der sozialen Verbindung. 25

nicht Objekt seines Sexualtriebes ist, eine bedeutsame


Analogie zu
sich selbst, wichtigen Punkte wahr
eine Gemeinsamkeit in einem
genommen hat. Das erstere Individuum identifiziert sich nunmehr
— allerdings nur partiell, nur in einer bestimmten Hinsicht — mit
dem letzteren, an dem die entscheidende Gemeinsamkeit wahrge
nommen wurde. „Je bedeutsamer diese Gemeinsamkeit ist, desto
erfolgreicher muß diese partielle Identifizierung werden können und
so dem Anfang einer neuen Bindung entsprechen" Diese Gemein
samkeit kann insbesondere affektiver Natur sein, in der affektiven
Bindung beider Individuen an ein gemeinsames Objekt bestehen.
Und nun behauptet FREUD, „ daß die gegenseitige Bindung der Massen
individuen von der Natur einer solchen Identifizierung durch eine
wichtige affektive Gemeinsamkeit ist", und daß diese Gemeinsamkeit
„in derArt der Bindung an den Führer" liege2).
Auch diese Bindung an den Führer beruht nach FebUD auf
einem von seinem Sexualziel abgelenkten Liebestrieb. Mit Recht
hält Freud der bisherigen Sozial- oder Massenpsychologie vor, daß
sie die außerordentliche Wichtigkeit
des Führermomentes übersehen
habe. Eine Masse Sinne : eine soziale Gruppe — ist
— im weiteren
psychologisch nach FREUD ohne Führer gar nicht möglich, ob nun der
Führer ein körperlicher Mensch wie bei der ursprünglichen, natürlichen,
primitiven Masse, oder — als Führerersatz — eine Idee ist. „ Viele
Gleiche, die sich miteinander identifizieren können und ein einziger
ihnen allen Ueberlegener, das ist die Situation, die wir in der lebens
fähigen Masse verwirklicht finden. " Der Mensch ist kein Herden-
tier — wie man zu sagen pflegt — , er ist vielmehr „ein Horden
tier, ein Einzelwesen einer von einem Oberhaupt angeführten Horde"3).
Das Verständnis der Beziehung zum Führer setzt aber die Erkennt
nis eines wichtigen Phänomens voraus, das die psychoanalytische
Forschung als in Verbindung stehend mit der Ersetzung direkter
Sexualstrebungen durch zielgehemmte festgestellt hat: die Spaltung
des Ichbewußtseins in ein Ich und ein Ichideal. Das letztere diffe
renziert sich dem ersteren gegenüber dadurch, daß es die Funktionen
der Selbstbeobachtung, der Selbstkritik, des Gewissens, der mora
lischen Instanz ausübt. Das eigenartige Verhältnis zum Führer: die
Hingabe des Ichs an das Objekt seines sexualgehemmten Triebes,
das vollständige Versagen zugeteilten Funktionen,
der dem Ichideal
das Schweigen der Kritik, die von dieser Instanz ausgeübt wird, so
weit es sich um Aeußerungen des Objektes handelt; — alles was das
Objekt tut und fordert ist untadelhaft; das Gewissen findet keine
*) a. a. 0. S. 66 ff., S. 71/72. ») a. a. 0. S. 98, 99.
•) a. a. 0. S. 72.
26 I. Der Staat als soziale Realität.

Anwendung auf alles, was zugunsten des Objekts geschieht: „Diese


ganze Situation läßt sich restlos in eine Formel zusammenfassen :
das Objekt hat sich an die Stelle des Ichideals gesetzt" Eine
Masse, und zwar eine primäre, ursprüngliche Masse, ist demnach
nach eine Anzahl von Individuen, die ein und
FREUD
dasselbe Objekt an Stelle ihres Ichideals gesetzt,
ihr Ideal aufgegeben, gegen das im Führer ver
körperte Massenideal vertauscht und sich infolge
dessen miteinander identifiziert haben2).
Den von Le BON geschilderten für das in die Masse eingereihte
Individuum charakteristischen Rückfall in den Zustand seelischer
Primitivität, ja Barbarei erklärt FREUD durch Heranziehung seiner
Hypothese von der Entstehung der menschlichen Gesellschaft. In
Anschluß an eine von DARWIN ausgesprochene Vermutung nimmt
FREUD an, daß die Urform der menschlichen Gesellschaft die von
einem starken Männchen unumschränkt beherrschte Horde war

3).
Dieser als Führer fungierende Mann ist ein gewalttätiger, eifer
süchtiger Vater, der alle Weibchen für sich behält, die Männer aber,
das sind die heranwachsenden Söhne, an der Befriedigung ihrer
direkten auf die Weibchen gerichteten Sexualtriebe verhindert. Er
zwingt sie zur Abstinenz und infolgedessen zu den Gefühlsbindungen
an ihn und aneinander, die aus den Strebungen mit gehemmtem
Sexualziel hervorgehen. Die Abhaltung der Söhne von den Weib
chen der Horde führt zur Vertreibung.
Eines Tages kommen die
ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlagen und verzehren den Vater
und machen so der Vaterhorde ein Ende. An Stelle der Vater
horde tritt der Brüderclan. Auf die sehr interessanten Details dieser
Hypothese, die vor allem eine überraschende Erklärung der bisher
rätselhaften Erscheinungen des sogenannten Totemismus bringt, kann
nicht eingegangen werden. Hier ist nur die Behauptung FREUDs
festzuhalten, daß die Schicksale der Urhorde „unzerstörbare Spuren
in der menschlichen Erbgeschichte hinterlassen haben"*). Speziell

a. a. Die Beziehung zum Führer ist eine ähnliche wie die


0. S. 83.
l)

des „Verliebten", ist des mit Verdrängung des Sexualziels Liebenden zu


das
seinem Objekt oder die des Mediums zum Hypnotiseur. Die im Text angeführte
Darstellung gibt Freud für die Beziehung des Verliebten zu seinem Objekt.
a. a. 0.
S.

87/88, 113.
!)

Totem und Tabu, S. 116 ff.; Massenpsychologie und Ichanalyse, 100 ff.
S.
')

An dieser Stelle muß HeinRich SohuRtz erwähnt werden, der in seinem


*)

Werke .Altersklassen und Männerbünde", 1902, die These vertritt, daß alle
höheren sozialen Verbände, also insbesondere der Staat, auf Männerver
bände zurückgehen, die bei allen primitiven Völkern als Männerhäuser, klub
artige Vereinigungen, Geheimbünde usw. beobachtet werden. Diese Männer
§ 5. Die „libido" als Kriterium der sozialen Verbindung. 27

die „Masse" erscheint FfiEDD als ein Wiederaufleben der Urhorde.


„Die menschlichen Massen zeigen uns wiederum das vertraute Bild
des überstarken Einzelnen inmitten einer Schar von gleichen Genossen,
das auch in unserer Vorstellung von der Urhorde enthalten ist.
Die Psychologie dieser Masse, wie wir sie aus den oft erwähnten
Beschreibungen kennen — 1 der Schwund der bewußten Einzelpersön
lichkeit, die Orientierung von Gedanken und Gefühlen nach gleichen
Richtungen, die Vorherrschaft der Affektivität und des unbewußten
Seelischen, die Tendenz zur unverzüglichen Ausführung auftauchender
Absichten — , das alles entspricht einem Zustand von Regression
zu einer primitiven Seelentätigkeit,
wie man sie gerade
"
der Urhorde zuschreiben möchte „Der unheimliche, zwanghafte

1).
Charakter der Massenbildung, der sich in ihren Suggestionserschei
nungen zeigt", müsse „auf ihre Abkunft von der Urhorde zurück
geführt werden. Der Führer der Masse ist noch immer der ge
fürchtete Urvater, die Masse will immer noch von unbeschränkter
Gewalt beherrscht werden, sie ist im höchsten Grade autoritätssüch
tig, hat nach Li! BONs Ausdruck den Durst nach Unterwerfung.
Der Urvater ist das Massenideal,
das an Stelle des Ichideals das
Ich beherrscht" „Die Masse erscheint uns so als ein Wieder
2).

aufleben der Urhorde. So wie der Urmensch in jedem einzelnen


virtuell erhalten ist, so kann sich aus einem beliebigen Menschen
haufen die Urhorde wiederherstellen; soweit die Massenbildung die
Menschen habituell beherrscht, erkennen wir den Fortbestand der
Urhorde in ihr
3).
"

Unter der Voraussetzung, daß Freuds Lehre vom Wesen der


sozialen Verbindung .als einer Gefühls n u n g, seine Theorie der
b

d
i

libidinösen Struktur der Masse gemäß der doppelten Bindung der


Individuen untereinander (Identifizierung) und an den Führer (Ein
setzung Objekts an Stelle des Ichideals) richtig sei, geht die —
des
für das Problem des soziologischen Staatsbegriffs maßgebende —
Frage: ob auch der Staat eine psychologische Masse
sei, dahin: ob auch die im Staat, durch den Staat verbundenen,
den Staat bildenden Individuen in jener doppelten Bindung stehen,
ob auch der Staat — als soziale Gruppe, als sozialpsychische Realität

bände beruhen nach ScHUKtz auf einem spezifischen Gesellschaftstrieb, der


zwar sympathischer Natur, dennoch aber von dem Geschlechtstrieb verschieden,
gegen diesen gerichtet ist. Nur die Verdrängung des im Grunde anti-sozialen
ja

Geschlechtstriebes sei Bedingung für soziale Differenzierung und kulturellen


Fortschritt.
a. a. 0.
S.

a. a. 0. S. 101. 111.
!)
')

a. a. 0.
S.

102.
»)
28 I. Der Staat als soziale Realität.

aufgefaßt — jene „libidinöse Struktur" aufweist. FREUD selbst


scheint geneigt, diese Frage zu bejahen. Er sagt: «Jeder einzelne
ist ein Bestandteil von vielen Massen, durch Identifizierung vielseitig
gebunden und hat sein Ichideal nach den verschiedensten Vorbildern
aufgebaut. Jeder einzelne hat also Anteil an vielen Massenseelen,
an der seiner Rasse,Glaubensgemeinschaft, der
des Standes, der
Staatlichkeit usw. und kann sich darüber hinaus zu einem
"
Stückchen Selbständigkeit und Originalität erheben Der Staat

1).
erscheint somit FREUD als eine „Massenseele". Freilich von etwas
anderer Art als jene Massen, in denen die Urhorde unmittelbar
lebendig wird. Diese ständigen und dauerhaften Massen

bildungen fallen in ihren gleichmäßig anhaltenden Wir


kungen der Beobachtung weniger auf als die rasch gebilde
ten, vergänglichen Massen, nach denen Le BON die glänzende
psychologische Charakteristik der Massenseele entworfen hat, und in
diesen lärmenden, ephemeren, gleichsam superponierten
den anderen
Massen begibt sich eben das Wunder, daß dasjenige, was wir eben
als die individuelle Ausbildung anerkannt haben, spurlos, wenn auch
nur zeitweilig, untergeht" Allein der Unterschied zwischen den
2).

„vergänglichen" und den „ständigen" Massen ist — nach der eigenen


Darstellung Freuds — ein so prinzipieller, daß die ersteren als
„Massen" oder gar als „Massenseelen" zu bezeichnen, als gänzlich
unzulässig und irreführend zurückgewiesen werden muß. Was man
„Staat" nennt, ist etwas gänzlich anderes als jenes Phänomen, das
als „Masse" von Le BON geschildert und von FREUD psychologisch
erklärt wurde.
Schon anläßlich der Tatsache, daß neben der Regression
der in der Masse sich äußernden Individualpsyche auch „entgegen
gesetzt wirkende Aeußerungen der Massenbildung" festgestellt werden,
daß neben den abfälligen Urteilen Le Bons auch eine „weit höhere
Einschätzung der Massenseele" vorkommt, spricht FREUD die Ver
mutung aus, daß
„Massen" man als sehr verschiedene Bildungen
zusammengefaßt habe, die einer Sonderung bedürfen3). „Die An
gaben von SIGHELE, Le BON und anderen beziehen sich auf Massen
kurzlebiger Art, die rasch durch ein vorübergehendes Interesse aus
verschiedenartigen Individuen zusammengeballt werden. Es ist un
verkennbar, daß die Charaktere der revolutionären Massen, besonders
der großen französischen Revolution, ihre Schilderungen beeinflußt
haben. Die gegensätzlichen Behauptungen stammen aus der Wür
digung jener stabilen Massen oder Vergesellschaftungen, in
0. 0.
S.
S. S.

a. a. 112. a. a. 113.
s)
')

a. a. 0. 28.
")
§ 5. Die .libido" als Kriterium der sozialen Verbindung. 29

denen die Menschen ihr Leben zubringen, die sich in den Insti
tutionen der Gesellschaft verkörpern. Die Massen der ersten Art
sind den letzteren gleichsam aufgesetzt wie die kurzen, aber hohen
Wellen den langen Dünungen der See" So bestechend dieses Bild

1).
sein mag, so sehr ist es geeignet, den prinzipiellen Unterschied
zwischen den „kurzlebigen" und den „stabilen" Massen, die sich in
den „Institutionen" verkörpern, zu verdunkeln, einen Unterschied,
den FREUD zwar gefühlt, aber nicht deutlich genug erkannt hat.
In der maßgebenden Differenzierung zwischen den beiden Arten
von „Massen" schließt sich Freud der Darstellung des engliscben
Soziologen Mc DOUGALL an, der zwischen primitiven, „unorgani
2)

sierten" und „organisierten", artifiziellen Massen unterscheidet. Da


das Phänomen der Regression, insbesondere die Tatsache der kollek
tiven Herabsetzung der intellektuellen Leistung nur bei den Massen
ersterer Art zu konstatieren ist, führt er das Ausschalten der regres
siven Wirkung auf das Moment der „Organisation" zurück. Die
einzelnen Elemente, in denen MC DOUGALL diese „Organisation"
erblicken zu sollen glaubt, kommen hier nicht weiter in Betracht.
Das Entscheidende ist jedenfalls die Tatsache, daß in den Gliedern
der Gruppe das Bewußtsein einer ihre Beziehungen regulierenden
Ordnung, also eines Systems von Normen, besteht. Durch diese „Or
ganisation" werden — nach MC DOUGALL — die psychischen Nach
teile Massenbildung aufgehoben.
der FREUD meint, daß man die
Bedingung, die Mc DOUGALL als „Organisation" beschreibt, anders
beschreiben müsse. „Die Aufgabe besteht darin, der Masse gerade
jene Eigenschaften zu verschaffen, die für das Individuum charak
teristisch waren und die bei ihm durch die Massenbildung ausgelöscht
wurden." Gemeint sind: Selbstbewußtsein, Kritik, Verantwortungs
gefühl, Gewissen usw. „Diese Eigenart hatte es durch seinen Ein
tritt in die nichtorganisierte Masse für eine Zeit verloren. Ziel der
"

Entwicklung zur „organisierten" Masse sei: „die Masse mit den


Attributen des Individuums auszustatten" Sicherlich bedarf die
3).

Anschauung MC DouGALLs von der „Organisation" einer Kon-ektur.


Allein auch jene Freuds muß befremden. Obgleich gerade er das
individualpsychologische Prinzip aufs schärfste betont und in der
Psychologie der primitiven Masse konsequent durchgeführt hat,
bedient er sich jetzt einer Darstellung, die einen Bruch seiner indi
vidualpsychologischen Methode zu verraten scheint. Die „Masse"
soll gewisse Eigenschaften des Individuums erlangen. Wie könnte
das möglich sein, da es sich doch immer nur um Eigenschaften,

The group mind, Cambridge, 2)Ja. a. 0.


S.

1920. 35.
i)

a. a. 0.
S.

28.
»)
30 I. Der Staat ah soziale Realität.

Funktionen der Individualseele handeln kann? Hier liegt nicht eine


bloße metaphorische Darstellungsform vor, hier vollzieht sich eine
Verschiebung in der Begriffsbildung. Denn wenn man das Bild von
der „ Masse, die die Eigenschaften des Individuums erhält", auflöst,
zeigt sich, daß überhaupt keine Masse — auch nicht eine von der
primitiven verschiedene Masse — gegeben ist! Das Wesen der Masse
liegt — darin gipfeln die ganzen Untersuchungen FREUDs — in der
spezifischen Verbindung, die sich als eine doppelte affektive
Bindung der Glieder aneinander und an den Führer herausstellt.
Eben auf diesem ihrem psychischen Charakter beruht der spontane,
ephemere Charakter, der schwankende Umfang dieser Erscheinung,
den FREUD selbst wiederholt betont. FREUD ist nur konsequent,
wenn er erklärt, man müsse „von der Feststellung ausgehen, daß
eine bloße Menschenmenge noch keine Masse ist,
solange sich jene Bindungen in ihr nicht herge
stellt haben"1). Auf
Bindungen allein führt er die
diese
charakteristischen Erscheinungen der Regression zurück, deretwegen
er die Masse als ein Wiederaufleben der Urhorde erklärt! Bei dem
Individuum, das als Glied der von MC DOUGALL und FREUD so ge
nannten „organisierten" oder „artifiziellen" Massen auftritt, fehlen
eben jene Bindungen, denn es mangelt an jener charak
teristischen Regression, zu deren Erklärung allein jene affek
tiven Bindungen, jene libidinöse Struktur herangezogen werden
mußten. Wäre man sich bewußt geworden, daß hinter dem Schein
der positiven Behauptung einer „mit den Eigenschaften des Indi
viduums ausgestatteten Masse" die durchaus negative Feststellung
steht, — als Glied der hier in Frage kommen
daß das Individuum
den sozialen „Gebilde" — nicht in jener Bindung auftritt, die die
spezifische Massenwirkung der Regression auslöst, daß das Individuum
hier alle diejenigen Eigenschaften hat, die es „für sich", die es
„vereinzelt" hat und deren Mangel ja gerade das spezifische Problem
der Massen- oder Sozialpsychologie ist — dann hätte man sich nie
mals veranlaßt gesehen, die fraglichen „Gebilde" auch als
sozialen
„Massen" zu bezeichnen. Dann hätte man vielleicht auch bemerkt,
daß die Eigenschaften, die man diesen „Massen" zuerkannte und
derzufolge man sie als „stabile", „dauernde", „feste" Massen be
zeichnete, im Widerspruch zu der Natur
Objektes stehen,desjenigen
das aller psychologischen Untersuchung gegeben ist. Weshalb denn
auch FREUD seine psychologische Charakterisierung der Masse :
„eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die

») a. a. 0. S. 57.
§ 5. Die „libido" als Kriterium der sozialen Verbindung. 31

Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich


miteinander identifiziert haben" — ausdrücklich nur auf die „pri
märe", d. h. eine solche Masse bezieht, die „nicht durch allzu
viel »Organisation« sekundär die Eigenschaften
eines Individuums erwerben konnte"1). Wenn die Be
griffsbestimmung der Masse auf die artifizielle „Masse" nicht zutrifft,
dann ist diese letztere eben keine Masse im Sinne einer sozialpsycho-
logischen Einheit. Und daß die Charakteristik der psychologischen
Masse speziell auf den Staat nicht zutreffen kann, das bedarf
eigentlich keines Vielleicht ist es aber — aus
weiteren Beweises.
methodischen Gründen — nicht überflüssig, auf das folgende hinzu
weisen: Wäre der Staat eine psychologische Masse im Sinne der
Freud-Le BONschen Theorie, dann müßten die zu einem Staat ge
hörigen Individuen sich miteinander identifiziert haben. Der psychische
Mechanismus der Identifikation setzt aber voraus, daß das eine Indi
viduum an demjenigen, mit dem es sich identifiziert, eine Gemein
samkeit wahrnimmt. Man kann sich nicht mit einem Unbe
kannten, niemals Wahrgenommenen, nicht mit einer un
bestimmten Zahl von Individuen identifizieren. Die Identifikation ist
von vornherein auf eine ganz begrenzte Zahl von sich wahrnehmen
den Individuen beschränkt und daher — ganz abgesehen von allen
Einwänden — für eine psychologische Charakterisierung des
anderen
Staates unbrauchbar.
Nichtsdestoweniger besteht sicherlich eine Beziehung zwischen
den zu Unrecht als stabile „Massen" bezeichneten sozialen Gebilden
und den psychologischen Massen im wahren Sinne. Welcher Natur
eigentlich diese letzteren sind, zur Beantwortung dieser Frage findet
sich bei Freud selbst eine Andeutung, die auf den richtigen Weg
zu führen scheint, insbesondere eine korrekte Darstellung des Ver
hältnisseszwischen den konstanten und den variablen Massen ermög
licht.FREUD unterscheidet „zwischen Massen, die einen Führer haben,
und führerlosen Massen" und spricht die Vermutung aus, „ob nicht
die Massen mit Führer die ursprünglicheren und vollständigeren sind,
ob in den andern der Führer nicht durch eine Idee, ein Abstraktum
ersetzt sein kann Das Abstrakte könnte sich wiederum mehr
oder weniger vollkommen in der Person eines gleichsam sekundären
Führers verkörpern . . . " Wenn nicht alle Anzeichen trügen, fällt
2).

die Unterscheidung zwischen den primitiven, variablen und den artifi-


ziellen, stabilen Massen mit jener in Massen mit unmittelbarem Führer
und solchen, bei denen der Führer durch eine Idee ersetzt und die Idee

0. 0. S.
S.

a. a. 87. a. a. 58.
')

!)
32 I. Der Staat als soziale Realität.

dann durch die Person eines sekundären Führers verkörpert wird, zu


sammen. Vor allem seheint der Staat eine solche „Masse" der letzteren
Art zu sein. Sieht man aber näher zu, dann ist der Staat nicht diese
„Masse", sondern die „Idee", eine „führende Idee", eine Ideologie, ein
spezifischer Sinngehalt, der sich nur durch seinen besonderen Inhalt von
anderen Ideen — wie die Religion, die Nation usw. — unterscheidet.
Bei der Realisierung dieser Idee, bei dem Realisierungs
akt, der — zum Unterschied von der in ihm realisierten Idee selbst
— psychologischer Prozeß ist, kommt es zweifellos zu jenen
ein
massenpsychologischen Phänomenen, die Le Bon so treffend geschil
dert und FREUD individual psychologisch zu erklären versucht
hat, zu jenen libidinösen Bindungen und den damit verbundenen
Regressionen. Nur daß eben der Staat' nicht eine der zahlreichen,
ephemeren, in ihrem Umfang sehr schwankenden Massen libidinöser
Struktur, sondern die führende Idee ist, die die zu den variab
len Massengehörigen Individuen an Stelle ihres Ichideals gesetzt
haben, um sich dadurch miteinander identifizieren zu können. Die
verschiedentlichen Massen oder real-psychischen Gruppen,
die sich bei der Realisierung ein und derselben Staatsidee
bilden, umfassen durchaus nicht alle jene Individuen, die — in
einem ganz anderen Sinne — zum Staate gehören. Die durchaus
juristische Idee des Staates kann nur in ihrer spezifisch rechtlichen
Eigengesetzlichkeit, nicht aber — wie die psychischen Prozesse der
libidinösen Bindungen und Verbindungen, die den Gegenstand der
Sozialpsychologie bilden — auf psychologischem Wege erkannt wer
den. Der psychische Vorgang, in dem sich die Bildung der führer
losen, d. h. solcher Massen vollzieht, bei denen die sich gegenseitig
identifizierenden Individuen an Stelle ihres Ichideals statt der Vor
stellung einer konkreten Führerpersönlichkeit eine abstrakte Idee
setzen, ist in allen Fällen der gleiche, ob es sich um die Idee einer
Nation , einer Religion oder eines Staates handelt. Wäre die
psychologische Masse das soziale Gebilde, nach dem die
Frage geht, dann wäre — da nur der psychologische Prozeß in Be
tracht kommt — zwischen Nation, Religion, Staat kein relevanter
Unterschied. Als differenzierte Gebilde treten diese sozialen
Phänomene nur unter einem auf ihren spezifischen Inhalt ab
gestellten Gesichtspunkt auf, nur soferne sie als ideelle Systeme, als
spezifische Gedankenzusammenhänge, geistige Inhalte und
als
nicht, soferne die diese Inhalte realisierenden, tragenden seeli
schen Prozesse erfaßt werden
8).

Der französische Soziologe Tarde (La logique sociale, 1895 und Les
3)

lois de l'imitation, id. 1895) geht bekanntlich von der Tatsache der sug-
2.
§ 6. Die sozialen .Gebilde". 33

Mit
der Einstellung auf die sogenannten stabilen, organisierten
Massen vollzieht die soziologische Untersuchung eine auffallende
Richtungsänderung. Nach welcher Richtung aber diese
Wendung führt, soll später geprüft werden. Für diese Prüfung sei
nur aus den hier behandelten Resultaten der Massenpsychologie fest
gehalten, daß als das Charakteristikum der sogenannten stabilen
Massen die „Organisation" erblickt und daß angenommen wird, daß
sie sich „in Institutionen verkörpern". „Organisation" und „In
stitution" sind aber Normenkomplexe, Systeme von menschliches
Verhalten regulierenden Vorschriften.

§ 6.
Die sozialen „Gebilde".-
Die entscheidende Richtungsänderung, die bei
jeder psychologisch orientierten Soziologie zu konstatieren ist,
tritt ausnahmslos an jenem Punkte ein, wo die Darstellung aus der
allgemeinen Sphäre der Wechselwirkung zwischen psychischen Ele
menten zu jenen sozialen „Gebilden" aufsteigt, die sich aus den
Wechselwirkungen irgendwie ergeben und schließlich zu dem spezi
fischen Gegenstande der Soziologie werden. Von einer prinzipiellen
Richtungsänderung muß gesprochen werden, weil mit der Erfassung
dieser Objekte die wissenschaftliche Betrachtung in eine gänzlich
neue, von der bisherigen verschiedene Methode eintritt. Den meisten
Soziologen freilich unbewußt und in der Meinung, den alten Weg
fortzusetzen, wird der Bereich psychologisch - empirischer Unter
suchung verlassen und ein Gebiet betreten, dessen Begriffe, weil man
sie mit einem ihnen gänzlich wesensfremden Sinn, nämlich dem
psychologischen, zu belasten sucht, die seltsamsten Verfälschungen
erdulden müssen.
Der für die psychologische Soziologie typi
sche Sprung aus derPsychologie heraus manifestiert
sich in den mit aller Psychologie unvereinbaren Eigenschaften, die
von den sozialen „Gebilden" ausgesagt werden und ausgesagt werden
müssen, will man nur einigermaßen jene Vorstellungen erfassen, die sich
in unserem Bewußtsein als soziale Wesenheiten, als Kollektiva vor
finden. Da ist vor allem die bei jedem Soziologen wiederkehrende

gestiven Nachahmung als der sozialen Grundtatsache aus und charak


terisiert die soziale Gruppe als einen Inbegriff von Wesen, die einander nach
ahmen. Es ist klar, daß der Staat als eine soziale Gruppe im Sinne der
TARDEschen Bestimmung nicht angesehen werden darf. Daß es aber hei der
Realisierung der Staatsidee zu solcher Gruppenbildung kommen kann, das soll
prinzipiell zugegeben werden.
Kelsen, Staatebegriff. 3
34 I. Der Staat als soziale Realität.

Behauptung, daß die sozialen „Gebilde", die sich aus den Wechsel
wirkungen zwischen psychischen Elementen „verfestigen", „kristalli
sieren", „zusammenballen", einen „überindividuellen" Charakter haben.
Da Seelisches nur i m Individuum, d. h. in den Seelen der Einzel
menschen möglich ist, muß alles Ueberindividuelle, jenseits der
Einzelseele Gelegene metapsychologischen Charakter haben.
Schon die „Wechselwirkung" zwischen den Individuen ist ebenso
überindividuell wie metapsychologisch; und nur sofern man sich dessen
nicht bewußt wird, glaubt man, ohne das Psychische zu verlassen
auf der Zwischenstufe der „Wechselwirkung" zu der Ueberindivi-
dualität, als einer Art höherer Form des Psychischen, aufsteigen zu
können. In Wahrheit liegt eine vollständige u.exaßaats sCg &XXo
yevo; vor. Es wäre denn, daß man außer der Einzelseele noch eine
den Raum zwischen den Einzelnen erfüllende, alle Einzelnen um
fassende Kollektivseele Vorstellung, der
annehmen wollte ; eine
gerade die neuere Soziologie —
wie bereits gezeigt — nicht allzu
ferne steht, und auf die später noch zurückzukommen sein wird.
In demselben Sinne, in dem die sozialen „Gebilde" als über
individuell bezeichnet werden, sprechen ihnen alle Soziologen in den
verschiedensten Wendungen „Objektivität" zu. Es ist ein durchaus
typischer Ausdruck für die in Frage stehende Vorstellung: daß die
psychischen Wechselwirkungen zwischen den Individuen „ nach ihrem
Erstarren und Stabil werden zu objektiven Mächten wer
den" Man spricht von den sozialen Wesenheiten als von Ob-
1).


jektivationen oder von Objektivationssystemen In
"

"
geradezu

2).

allen diesen Wendungen


drängt ein Gegensatz zu den subjektiven,
h. in der Einzelseele spielenden
psychischen Prozessen, den mole
d.

kularen Bewegungen des sozialen Lebens, nach Ausdruck. Diese


intraindividuellen, subjektiven Seelenvorgänge sind jedoch das
allein Reale, von jener psychologischen Realität, die
h.
d.

allein für eine sozialpsychologisch orientierte Soziologie in Betracht


kommen Wie die reale Subjektivität durch ihre bloße An
dürfte.
häufung Vervielfachung zu einer ebenso realen Objektivität
oder
werden kann, muß rätselhaft bleiben. Hier schlägt die Quantität in
Qualität um oder mit andern Worten Hier ist ein Wunder, glaubet nur.
:

Ebenso wie die Objektivität setzt auch die Dauer oder Kon
stanz, die man von den sozialen Gebilden aussagt, diese in einen
prinzipiellen Gegensatz zu der fluktuierenden, blitzartigen Existenz
der individualpsychischen Tatsachen, aus denen sie auf irgendeine
Weise entstehen sollen. Gerade beim Staat wurde hier schon auf
merksam gemacht, wie unvereinbar die ihm wesentliche Gleichmäßig-

BisLek, Soziologie, vgl. auch


S.
S.

9.

55,
')

Vgl. Spanw, a. a. 0. 60 ff.


S.
-)
§ 6. Die sozialen „Gebilde". 35

keit und Ununterbrochenheit seines spezifischen Seins, die feste


Umgrenztheit seines Umfangs — die ja nur die Permanenz einer
scharf umrissenen Geltung ist — mit der wellenartig schwankenden,
ewig intermittierenden, sich bald ausdehnenden, bald sich zusammen
ziehenden Realität jener psychischen Massenphänomene ist, unter
die eine psychologisch-naturwissenschaftliche Theorie dieses soziale
Gebilde vergeblich zu subsumieren bemüht ist. Es ist eine naive
Selbsttäuschung, wenn die Soziologie als Sozialpsychologie glaubt,
in den sozialen Gebilden sozusagen gefrorene Wellen, erstarrte see
lische Massenbewegungen vor sich zu haben, an denen die Gesetze
des Psychischen bequemer und sicherer abgelesen werden könnten
als an den ewig oszillierenden Phänomenen der Einzelseele. Wenn
ein Soziologe „die geistigen Gebilde, mit denen es die
meint, daß
Soziologie zu tun hat, gewisse Objektivität und Konstanz be
eine
sitzen, die sie der Beobachtung und Analogie in ganz anderer —
(nämlich intensiverer!)
— Weise fähig macht, als die flüchtigen Vor
gänge im Einzelbewußtsein es erlauben"1), so muß er wohl die Ant
wort darauf schuldig bleiben, wie denn eigentlich diese Metamor
phose möglich sein soll, kraft der aus einer Masse subjektiver „flüch
tiger Vorgänge im Einzelbewußtsein" — denen notabene allein
Realität zukommt — Gebilde von „Objektivität und Konstanz" wer
den, die trotz dieser Wesens Wandlung den psychischen Charakter
ihres Ursprungs nicht nur nicht verlieren, sondern sogar noch in er
höhtem Maße behaupten.
Der Grundirrtum dieser — als herrschend zu bezeichnenden —
Anschauung liegt darin, daß die sozialen Gebilde, die das Resultat
einer außerpsychologischen Synthese sind, einer psycho
logischen Betrachtung gegenüber, die notwendigerweise auf die
„flüchtigen Vorgänge im Einzelbewußtsein" zurückgreifen muß, gar
keinen Bestand haben können. Wenn die Soziologie immer wieder
den synthetischen Charakter der sozialen „Gebilde" hervorhebt, wenn
man sie als „Zusammenballungen", „Verkettungen", „Verfestigungen"
psychischer Einzelphänomene bezeichnet, wenn man mit Nachdruck
betont, daß diese überindividuellen, objektiven und konstanten Wesen
mehr sind bloße Summe von andersartigen psychischen
als eine
Elementen, mehr als ein Aggregat von Vorstellungen, Empfindungen
oder Wollungen, wenn man auf das „schöpferische" Element ver
weist, das in ihnen enthalten ist, und wenn man gar diese „ Gebilde "
den sie zusammensetzenden Elementen als ein „höheres" Ganze
über ordnet, so sind dies alles nur sprachliche Wendungen, die den

') EisLer, a. a. 0. S. 9.
8*
36 I. Der Staat als soziale Realität.

Szenenwandel der Methode mehr zu verraten als zu verdecken im


stande sind.Die Konsequenzen, zu denen das Festhalten an der psycho
logischen Basis in diesem Stadium der Begriffsentwicklung führen
muß, lassen sich leicht ad absurdum führen. Die aus individual-
psychischen Phänomenen „ zusammengesetzten" sozialen „Gebilde"
wirken, da sie zwar nicht in der Einzelseele existent, aber doch
psychischen Charakters sind, in der Sphäre eines „objektiven"
Geistes, einer „Volksseele" oder „Gesamtbewußtseins". Es ist mehr
als eine Analogie, wenn man dieses „Gesamtbewußtsein" in eine
Linie mit dem Individualbewußtsein stellt und argumentiert: Wie
aus der schöpferischen Verbindung aller einzelnen psychischen Vor
gänge das Ichbewußtsein als ein übergeordnetes Ganze entsteht,
dessen Eigenschaften in den Bestandteilen, aus denen es sich auf
baut, nicht enthalten sind, so entsteht das „Gesamtbewußtsein", die
„Volksseele" oder der „objektive Geist" in dem durch Wechsel
wirkung zwischen den Individualseelen hergestellten Zusammenhang.
Dieser „objektive Geist" ist ebenso wie die Individualseele ein durch
die psychologische Betrachtung bedingtes Substanz- oder dingartiges
Wesen. Nun pflegt man wohl für gewöhnlich den objektiven Geist
als den Inbegriff aller überindividuellen Wechselwirkungen, aller
sozialen Beziehungen anzusprechen. Nichts
hindert jedoch, jedes
einzelne soziale Gebilde als solch „objektiven Geist", solch
einen
eine soziale oder „Kollektiv-Seele" gelten zu lassen. Ja, mit Rück
sicht darauf, daß nur innerhalb dieser „ Gebilde" jene „innige" Wechsel
wirkung, jene enge Verkettung besteht, die eine Synthese zur Ein
heit rechtfertigt und allein der Einheit der individuellen Seele ent
spricht, könnte man, strenggenommen, überhaupt nur von objektiven
Geistern, nicht aber von einem objektiven Geiste sprechen. So wie
es ja nicht nur eine Volksseele, sondern ebenso viele Volks- und
Staatsseelen geben muß, als es Völker oder Staaten gibt. Dabei
ist es, im Grunde, inkonsequent, bei der Konstruktion eines ob
jektiven sozialen Geistes oder
Kollektivgeistes stehenzubleiben,
ohne die nunmehr unvermeidliche Annahme der dazugehörigen so
zialen Körper zu vollziehen. Denn wenn schon im allgemeinen
keine Seele ohne Leib und insbesondere
möglich die Einheit und
Individualität einer Seele an die Einheit und Individualität eines
Körpers gebunden ist, so muß das den Raum füllende soziale Ge
bilde, zu dem ja die Individualseelen nicht ohne ihre Körper ge
hören (zumal ja die das soziale Gebilde konstituierende
können
Wechselwirkung, eben weil sie „zwischen" den Einzelseelen spielt,
auch durch die Einzelkörper gehen muß), aus demselben Grunde und
mit demselben Rechte als sozialer Körper wie als soziale Seele
'
§ 6. Die sozialen „Gebilde". 37

vorgestellt werden. Sonderlich dann, wenn man — wie dies in der


Regel geschieht — den sozialen Gebilden eine Eigenwirksamkeit zu
spricht, sie als selbständige von außen an die Einzelmenschen heran
tretende Ursachen eine soziologische Wirkung üben, von ihnen somit
eine die Körperwelt zumindest schneidende Kausalreihe ausgehen läßt.
In diesem Punkte, wo die unausweichliche Konsequenz der psycho
logischen Soziologie bis zu einer ins Mythologische ragenden Hypo
stasierun g führen muß, setzt die organische Gesellschafts- und
Staatstheorie ein. Sie erblickt in den sozialen Gebilden, insbe
sondere im Staate nicht bloß eine Verbindung der Seelen, sondern auch
der dazugehörigen Körper. Sie läßt die Staatsseele in einem Staats
körper wohnen, „äußere Gegenständlichkeit" sie ausdrücklich
dessen
behauptet falsche
und gegen Schlüsse verteidigt, die man aus seiner
infolge der „ Unzulänglichkeit der Sinne" nur teil weisen Wahr
nehmbarkeit („ wir bezweifeln ja auch nicht, daß die Erde ein kugel
förmiger Körper ist, obschon wir nur winzige Stöcke davon un
mittelbar wahrnehmen") ziehen könnte1). Was immer, gegen diese
Ungeheuerlichkeit vorgebracht werden kann und auch schon vorge
bracht wurde, das eine muß anerkannt werden, daß die Organismus
theorie selbst in ihren extremsten Hypostasierungen nur die folge
richtige Fortführung der mechanistisch-psychologistischen Soziologie
ist. In der die sozialen Gebilde begründenden „ Wechselwirkung"
steckt der Keim des Staatskörpers wie der Staatsseele. Und es ist
nicht uninteressant zu beobachten, wie die psychologische Soziologie
zwar vor den Konsequenzen der mythologischen Organismustheorie
zurückscheut, immer wieder aber die Vorstellung des Organismus in
einem die Analogie weit überschreitenden Sinn heranziehen muß,
um die „reale", „objektive" Verbindung der Menschen zu sozialen
Einheiten im Wesen der Wechselwirkung begreiflich zu machen.
In den verschiedensten Wendungen wird immer wieder — auch von
jenen, die die organische Theorie ablehnen — betont, daß die eine
Gesellschaft darstellende Verbindung von Menschen eine „mehr als
mechanische" sei2). „Eine unorganische Masse, ein Aggregat kör
perlicher Elemente ist nur eine äußere Einheit"3); die innere
Verbindung in der Gesellschaft muß schließlich doch eine irgendwie
organische sein. Es ist eine Selbsttäuschung, wenn man sich

*) GierKe, Das Wesen der menschlichen Verbände, 1902, S. 17. Vgl. dazu
auch meine Bemerkungen zu KjeLLenb, „Der Staat als Lebensform* in meiner
Schrift : Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, 1920,
S. 19, 76. Die Sichtbarkeit und Greifbarkeit des Staates, als eines biologischen
Organismus, vertritt neuestens auch: UxxüLL, Staatsbiologie, 1920.
2) EisLer, a. a. 0. S. 38, 90. 3) EisLer, a. a. 0. S. 90.
38 I. Der Staat als soziale Realität.

damit beruhigt, daß es nur ein Vergleich sei, dessen man sich
mit der Vorstellung des Organismus bediene. Und es sei nochmals
hervorgehoben, ganze Differenz zwischen der organischen
daß die
und der anorganischen Soziologie psychologischer Richtung nur die
ist, daß die erstere durchaus folgerichtig neben dem Organismus einer
sozialen Seele den eines sozialen Körpers annimmt, während die
anorganische sich mit der Konstruktion eines durchaus organi
schen Kollektivgeistes begnügen zu können glaubt

') Zu der für die organische Staatstheorie charakteristischen Vorstellung


des Staates als eines beseelten Körpers kommt man nicht nur auf dem oben
im Texte angedeuteten Weg, indem man, von einem psychologischen Stand
punkt ausgehend, zuerst eine Staatsseele annimmt, zu der man dann nolens
volens einen Staatskörper hinzudenken muß, sondern auch umgekehrt : indem
man den Staat zuerst als eine körperliche Einheit behauptet, zu der dann
unvermeidlich ein seelisches Moment hinzutritt. Ein sehr charakteristisches
Beispiel für diesen letzteren Gedankengang bietet die Staatstheorie, die RatzeL
in seiner „Politischen Geographie" (2. Aufl., 1903, S. 3—23) entwickelt : Der
Staat ist hier „eine Form der Verbreitung des Lebens auf der Erdoberfläche"
und trägt — als eine solche Form — „alle Merkmale eines beweglichen
Körpers, der im Vorschreiten und Zurückweichen sich ausbreitet und sich zu
sammenzieht ... .". „Jeder Staat ist ein Stück Menschheit und ein Stück Bo
den." Das die Einheit konstituierende Moment ist nicht etwa irgendeine sozial
psychische Bindung der das Staatsvolk bildenden Menschen, sondern der Boden.
Der Staat ist eine räumliche körperliche Einheit ! Das Volk ist eine
Vielheit von „Einzelmenschen, die weder stamm- noch sprachverwandt zu sein
aber durch den gemeinsamen
brauchen, Boden auch räumlich
verbunden sind". In den Organismus „Staat" geht ein Teil der Erd
oberfläche so ein, „daß sich die Eigenschaften des Staates aus denen des Volkes
und des Bodens zusammensetzen". „Der Staat ist uns nicht ein Organis
mus bloß weil er eine Verbindung des lebendigen Volkes mit dem starren
Boden ist, sondern weil diese Verbindung sich durch Wechselwirkung so sehr
befestigt, daß beide eins werden und nicht mehr auseinandergelöst gedacht
werden können, ohne daß das Leben entflieht." „Das stofflich Zusammen
hängende am Staat ist nur der Boden, und daher denn die starke Nei
gung, auf ihn vor allem die politische Organisation zu stützen, als ob er
die immer getrennt bleibenden Menschen zusammen
zwingen könnte. Je größer die Möglichkeit des Auseinanderfallens,
desto wichtiger wird allerdings der Boden, in dem sowohl die zusammen
hängende Grundlage des Staates, als auch das einzige greif
bare und unzerstörbare Zeugnis seiner Einheit gegeben ist."
RatzeL konstatiert die Vorstellung — und anerkennt ihre Richtigkeit — , ein
bestimmter, offenbar geographisch irgendwie einheitlicher Boden „sei nur fähig,
einen ganzen, vollen Staat zu tragen, der eine Staat müsse sich mit dem einen
Boden decken". Dieser aus einem geographisch einheitlichen Boden und den
darauf lebenden, durch die Einheit des Bodens verbundenen Menschen gebildete
Körper braucht aber eine Seele. Diese Seele ist die „politische Idee". Die
geographische Karte eines Staates zeige nur das Schema des lebendigen Kör
pers, „das gar nichts ahnen läßt von der politischen Idee, die ihn
§ 6. Die sozialen „Gebilde". 39

"
Sehr treffend hat SWKKL den „Mystizismus jener soziologischen
Geisterlehre charakterisiert, die „von einer Volksseele, einem Be
wußtsein der Gesellschaft, einem Geist der Zeiten als von realen,

beseelt. Auch diese hat ihre Entwicklung. In jenem einfachen Staat ist
diese Idee wohl nur ein Herrscherwille und so vergänglich wie ein Menschen
leben, in diesem Eulturstaat ist das ganze Volk ihr Träger. Damit erneuert
die Seele des Staates unablässig ihr Leben, wie die Generationen aufeinander
folgen. Die kräftigsten Staaten sind die, wo die politische Idee den ganzen
Staatskörper bis in alle Teile erfüllt. Teile, wo die Idee, die Seele nicht hin
wirkt, fallen ab, und zwei Seelen zerreißen den Zusammenhang des politischen
Leibes." Auf den Inhalt dieser .Idee", die die Seele des Staates bildet, geht
RatzeL nicht weiter ein. Und doch droht sich ihm der Staat auf diese „Idee"
zu reduzieren, zeigt sich die Tendenz, den Staat nicht so sehr als Körper,
denn vielmehr als „Seele" zu begreifen! Als ein Stück Boden, das mit einem
Stück Menschheit in Verbindung steht, ist der Staat ein körperlicher Organis
mus wie irgendein anderer. Das ist ja der ursprüngliche Gedanke RatzeLs.
Aber gerade an dem Problem der Staats seele wird ihm „die Grenze des
Organismus im Staat" bewußt. Gegenüber den Algen und Schwämmen ist der
Staat nur ein unvollkommener Organismus; „denn seine Glieder bewahren sich
eine Selbständigkeit, wie sie schon bei niederen Pflanzen und Tieren nicht
mehr vorkommt". „Was nun diese als Organismus unvollkommene Vereinigung
von Menschen, die wir Staat nennen" — in dem Sinne wie Algen und Schwämme
ist aber der Staat eben wegen der Selbständigkeit seiner Glieder überhaupt
kein Organismus ! — , „zu so gewaltigen, einzigen Leistungen befähigt, das ist,
daß er ein geistiger und sittlicher Organismus t". Man
(!)


beachte die prinzipielle Wendung, die die Darstellung nimmt! „Der geistige i
Zusammenhang verbindet das körperlich Getrennte, und darauf paßt aller
dings dann kein biologischer Vergleich. Aber als das die getrennten Menschen
"

Verbindende wird doch in anderem Zusammenhange das körperliche Moment


des Bodens bezeichnet! Und der Staat wird als Form der „Verbreitung des
Lebens", also durchaus biologisch charakterisiert, wenn er als „ein Stück
Menschheit und ein Stück Boden" definiert wird. „Was den Staatsorganismus
geistig führt und leitet, das ist eben das über die Welt der übrigen Organismen
Hinausliegende." Und schließlich: „Je höher ein Staat sich entwickelt, desto
ein Herauswachsen aus der
ja

mehr wird seine ganze Entwicklung


organischen Grundlage, und so paßt also der einfache Vergleich
(!)

des Staates mit einem Organismus mehr auf die primitiven als die fortge
schrittenen Staaten." Ist der Staat also kein „organischer" Organismus,
so kann man ihn doch als einen „sittlichen Organismus" bezeichnen.
Das heißt Der Staat ist überhaupt kein Organismus im eigentlichen Sinne
:

des Wortes, und zwar wegen der Selbständigkeit seiner Glieder, sondern ist
die sittlich-politische „Idee", die ursprünglich nur als seine Seele, die ihm als
Körper, als körperlichem Organismus innewohnende Seele bezeichnet wurde.
Es ist ganz die gleiche Denkmechanik, die wir schon bei dem Versuche kennen
gelernt haben, den Staat als „Masse" zu begreifen. Das Wesen der „Masse"
liegt ebenso in der „Bindung", wie das Wesen des Organismus in der „Unselb
ständigkeit" der Glieder. Der Staat wird hier wie dort trotz des Mangels des
entscheidenden Kriteriums als „Masse", bzw. als „Organismus" zu verstehen
gesucht, indem man neben der primitiven eine artifizielle Masse, neben dem
40 I. Der Staat als soziale Realität.

produktiven Mächten"1) spricht. Er skizziert den zu solchen Hypo


stasierungen führenden Gedankengang etwa derart: daß die soziale
Psychologie in den sozialen Gebilden „Produkte von unbestrittener
Seelenhaftigkeit, in der Gesellschaft existierend und doch nicht von
Individuen als abhängig" vor sich sieht und so zu dem
solchen
Schlusse kommt, daß „wenn sie nicht vom Himmel gefallen sind,
nur die Gesellschaft, das seelische Subjekt jenseits der Individuen,
als ihr Schöpfer und Träger anzusehen ist". „Diesen Mystizismus,
der seelische außerhalb von Seelen, die immer einzelne
Vorgänge
sind, stellen will", glaubt SIMMEL dadurch vermeiden zu können,
daß er „ die konkreten geistigen Vorgänge, in denen Recht und

biologischen einen sittlichen Organismus zu unterscheiden versucht. Allein der


Bedeutungswandel ist ein solcher, daß er keinen gemeinsamen Begriff mehr . >
zuläßt. —
Welcher ethisch-politische Sinn Übrigens auch schon in der angeblich ganz
geographisch-naturwissenschaftlichen Einheit des Staates liegt, kann man aus
den Folgerungen ersehen, die RatzeL gelegentlich aus ihr ableitet. Aus der
Tatsache, daß ein geographisch einheitlich qualifizierter Boden nur
einen Staat tragen könne, wird geschlossen: „Auf einem Boden kann daher
auch immer nur eine politische Macht so aufwachsen, daß sie den ganzen
politischen Wert dieses Bodens in sich aufnimmt. Rechte eines Staates auf
den Boden eines andern vernichten dessen Selbständigkeit." Es ist der Ver
such, die durchaus normative Ausschließlichkeit der Geltung
einer Staatsordnung geographisch zu begründen! In Wahrheit erweist sich
hier die angebliche geographische Einheit des Bodens als die Einheit der Gel
tung des als Staat bezeichneten Normensystems. Vgl. dazu die Ausführungen
der §§12 und 13. — Aus der Tatsache der organischen Einheit des Bodens
folgert RatzeL „die Verurteilung der mechanischen Gebiets verteilungen,
die einen politischen Körper wie den Leichnam eines geschlachteten
Tieres behandeln, aus dem Stücke unbekümmert wo und wie groß heraus
geschnitten werden Und behauptet demnach gegenüber einer konkreten
„das organische Wachstum" der deutschen und französischen Kolonien ver
hindernden, durch die Politik Englands bewirkten Gebietsabgrenzung „das
Recht" der benachteiligten Staaten, eine Ausdehnung zu verlangen. Die
naturwissenschaftlich geographische Einheit des Gebietes entpuppt sich so als
das politische Postulat einer von irgendeinem Gesichtspunkt aus
wünschenswerten Gestaltung und Ausdehnung des Staatsgebietes.
RatzeLs Grundanschauung vom Staate als einem bodenständigen Organis
mus akzeptiert GtimpLowicz in seinem Werk „Die soziologische Staatsidee",
2. Aufl., 1902. Auf GumpLowicz ebenso wie auf RatzeL stützt sich die Sozio
logie des Staates, die Fhanz Oppenheimer in seiner Schrift „Der Staat"
(Sammlung „Die Gesellschaft", herausgegeben von Martin Buber) unter
nimmt. Ein näheres Eingehen auf diese beiden Schriften ist darum hier nicht
nötig, weil sie sich im wesentlichen darauf beschränken, eine Hypothese der
Entstehung des Staates aus dem Zusammenstoß wirtschaftlich hete
rogener „Gruppen" oder „Horden" zu geben.
1) a. a. 0. S. 557.
§ 6. Die sozialen .Gebilde". 41

Sitte, Sprache und Kultur, Religion und Lebensformen" — also die


sozialen „Gebilde" — „entstehen und wirklich sind, von den
ideellen, für sich gedachten Inhalten derselben unterscheidet"1).
Er sagt speziell vom Staate, dessen Entwicklung weit über jede
Einzelseele hinausrage, er sei einer jener „seelischen Inhalte", an
denen die Einzelnen wohl „ teilhaben" können, „ohne daß aber das
wechselnde Maß dieses Teilhabens den Sinn oder die Notwendigkeit
jener Gebilde alteriert"2). In dieser Wendung, die tatsächlich zum
Wesen des Staates und vermutlich auch der übrigen sozialen „Ge
bilde" zu führen scheint, liegt jedoch das vollständige Aufgeben
der von SlMmEL — in Uebereinstimmung mit der herrschenden
Anschauung — ursprünglich für die Soziologie akzeptierten psycho
logischen Basis. Wenn der Staat — wie alle anderen sozialen „Ge
bilde", die den eigentlichen Gegenstand der Gesellschaftslehre bilden —
der Inhalt eines seelischen Vorganges, nicht aber dieser Vor
gang selbst ist, wenn sich die Soziologie nur mit diesem Inhalt,
nicht aber mit dem diesen Inhalt tragenden Seelenvorgang zu be
fassen hat — (von welch letzterem sie abstrahiert), so wie ein Drei
eck, ein Säugetier oder ein Planet zwar auch eine Vorstellung, d. h.
also Inhalt eines menschlichen Seelenaktes ist, als Gegenstand der
Geometrie, Biologie oder Astronomie jedoch nur als dieser von sei
nem psychischen Vehikel losgelöste Inhalt in Betracht kommt, dann
ist die Soziologie als Sozialpsychologie ebensowenig imstande
das Objekt „Staat" — oder sonst ein soziales Gebilde — zu erfassen,
wie Psychologie außerstande ist, die Erkenntnisse
Geometrie, der
Biologie oder Astronomie zu ersetzen. Dann sind psychologische
Untersuchungen in einer „Soziologie" ebensowenig am Platze wie in
einer Physik und für die Bestimmungen der sozialen Begriffe ebenso
bedeutungslos wie für den pythagoräischen Lehrsatz, der auch ein
geistiger Inhalt ist, an dem die Einzelnen teilhaben, ohne daß aber
das wechselnde Maß dieses Teilhabens den Sinn und die Geltung
desselben alteriert.Den Staat als empirisch-reale Einheit psychi
scher Wechselwirkungen zu begreifen, hätte etwa dieselbe Bedeu
tung die Eigenart der Ellipse aus irgendeiner
wie der Versuch,
psychischen Besonderheit — etwa dem Gefühlston — zu er
klären, der mit der Vorstellung dieses Gebildes verbunden ist.
Daß der Staat und alle anderen sozialen Gebilde in den „kon
kreten geistigen Vorgängen" „entstehen und wirklich sind", das
kann kein Grund sein, diese psychischen Prozesse zu untersuchen,
um sie zum Substrat der Begriffe des Staates und der andern so-

') a. a. 0. S. 557/8. ») a. a. 0. S. 557.


42 I. Der Staat als soziale Realität.

zialen Einheiten zu machen, wenn der Staat eben ein geistiger In-
halt und somit nicht der diesen Inhalt tragende Prozeß ist. Jeder
„Begriff" entsteht und ist wirklich — wenn man psychologisch
betrachtet — in konkreten seelischen Vorgängen. Könnte aber
psychologische Forschung seinen spezifischen geistigen Gehalt zutage
fördern? Obgleich auch er ein geistiges „Gebilde" ist, zu dem
sich seelische Prozesse „ verfestigen", obgleich er eine „starr ge
wordene" Verbindung von Vorstellungen, eine sozusagen intra-indi-
viduelle Assoziation, d. h. Vergesellschaftung psychischer Elemente ist.
Ist aber mit all dieser psychologischen Erkenntnis über den geistigen
Inhalt, den er darstellt, das geringste gesagt 1) ? Ebensowenig wie
über den Staat, wenn man ihn als eine durch Wechselwirkung her
gestellte Verbindung psychischer Elemente, als ein objektives Gebilde
bezeichnet, sich die „nur der psychologischen Mikroskopie
zu dem
zügängigen Wechselwirkungen zwischen den Atomen der Gesellschaft
verfestigen".
Indem SlMMEL, um den Mystizismus der Annahme sozialer Seelen
oder Geister zu vermeiden, „die konkreten geistigen Vorgänge",
in denen die sozialen Gebilde entstehen und wirklich sind, von den
„ideellen für sich gedachten Inhalten derselben
"
2) unterscheidet,
bezeichnet er die spezifische Existenz dieser „Inhalte" als ein „Gel
ten". Was SIMMEL ausdrücklich nur von den als Recht, Sitte,

') Der Gedanke, daß die Verbindung der Vorstellungen in der mensch
lichen Seele, die man „Assoziation", also Vergesellschaftung nennt,
in Analogie stehe zur Verbindung der Menschen in der gesellschaftlichen Gruppe,
liegt allerdings nahe und ist schon öfters ausgesprochen worden. So von Her
baRt in seiner Abhandlung „Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie
und Staatswissenschaft". Sämtliche Werke, herausgegeben von Hartenstein,
IX. Bd., S. 201 ff. Dort wird behauptet, „daß in dem Staate eine ähnliche Ver
knüpfung stattfinde wie in dem menschlichen Geiste" (S. 203). Doch kommt
die Beweisführung über recht allgemeine und vage Analogien nicht hinaus;
so etwa, wenn gezeigt wird, daß im Staate wie im einzelnen Menschengeiste
„Hemmung des Entgegengesetzten und Verbindung dessen, was sich nicht
hemmt", stattfinde, oder daß es im Staate wie in der Seele darauf ankomme,
„Gleichgewicht" in ein „System von Kräften" zu bringen u. a. HbRbakt geht
sogar so weit, zu behaupten, daß die von der Psychologie abgeleitete Staats
wissenschaft sozusagen zur „Rechnungsprobe" für die erstere dienen könne,
so zwar, „daß die Irrtümer, welche in die Psychologie eingeschlichen sein
möchten, sich dadurch verraten werden, wenn in der Staatswissenschaft nichts
Haltbares vorkommt, was ihnen entsprechen könnte" (a. a. 0. S. 217). Als aus
führbar haben sich jedoch diese Anregungen HeRbarts bisher nicht erwiesen.
Für eine spezifische „Staats"lehre sind sie schon darum nicht zu brauchen,
weil das Wort „Staat" bei HeRbart so viel wie Gesellschaft überhaupt be
deutet.
») a. a. 0. S. 558.
§ 6. Die sozialen „Gebilde". 43

Sprache und Kultur, Religion und Lebensformen bezeichneten sozialen


Wesenheiten sagt, das trifft — mit einer später zu erwähnenden
Modifikation — auch auf den als Staat erkannten geistigen Inhalt zu:
„. . . Diese Gültigkeit ihres Inhalts ist keine seelische Existenz, die
eines empirischen Trägers bedürfte, so wenig .... der pythagoreische
Lehrsatz einer solchen bedarf er bleibt gültig, völlig, un
abhängig davon, ob er überhaupt von solchen (einzelnen Seelen) vor
gestellt wird oder nicht, wie die Sprache, die Rechtsnormen, die
sittlichen Imperative, die Kulturformen ihrem Inhalte und Sinne nach
bestehen, unabhängig von der Vollständigkeit oder Unvollständigkeit,
Häufigkeit oder Seltenheit, mit der sie in dem empirischen Bewußt
sein erscheinen Aber in jener Gelöstheit von den indivi
duellen Realiaierungsprozessen sind Sprache, Recht, allgemeine
Kulturgebilde usw. nicht etwa Produkte des Subjektes: Gesellschafts
seele, weil die Alternative: wenn das Geistige nicht individuellen
Geistern einwohnt, so müsse es eben einem sozialen Geiste ein
wohnen — brüchig ist. Es gibt vielmehr ein Drittes: den objektiv
geistigen Inhalt, der nichts Psychologisches mehr
ist, wie der logische Sinn eines Urteils etwas Psycho
so wenig
logisches ist, obgleich er nur innerhalb und vermöge der seelischen
Dynamik eine Bewußtseinsrealität erlangen kann"
1).

Daraus folgt, daß vom Staate als einer sozialen Einheit nur im
Sinne jener unpsychologischen Gültigkeit, nicht einer psychischen
Wirksamkeit die Rede sein kann. Wenn aber das soziale Ge
bilde des Staates seine spezifische Existenz in einer Gültigkeit
findet, die unabhängig ist von der psychischen Realität oder Wirk
samkeit irgendwelcher Seelenvorgänge, gänzlich aus muß es als
geschlossen gelten, in der Wechselwirkung zwischen psychischen
Elementen die gesuchte Einheit zu finden, durch empirische Unter
suchungen den Staat als soziologische Realität im Sinne psycho
logischer Wirksamkeit oder Wirklichkeit aufzuzeigen.
Damit daß der Staat als ein spezifischer geistiger Inhalt, nicht
aber als der diesen Inhalt tragende seelische Vorgang oder als
irgend eine Häufung solcher Vorgänge erkannt wird, ist für den Be
griff des Staates noch sehr wenig gewonnen. Jetzt beginnt erst
das Problem. Denn jeder Gegenstand wissenschaftlicher Er
kenntnis kommt nur als Inhalt seelischer Vorgänge — unter Ab
straktion von den letzteren — in Betracht. Nur insoferne ist eine
negative Bestimmung nicht seelische Vorgänge —
gewonnen, daß
in der Psychologie den Gegenstand und somit geistigen Inhalt
ja

die

a. a. 0. S. 558/9.
')
44 I. Der Staat als soziale Realität.

bilden — Staat gelten dürfen, daß Staatslehre nicht Psycho


als
logie sein kann.
Sieht man näher zu, wie die Soziologie die sozialen „Gebilde"
im allgemeinen und den „ Staat" im besondern charakterisiert, zeigt
sich deutlich, »in welcher Richtung das Wesen jener spezifischen
Einheit zu suchen ist, die der Staat darstellt. Es ist schon auf
fallend genug, wenn in einer den Charakter des Empirisch-psycho
logischen beanspruchenden rein kausal-orientierten, naturwissenschaft
lichen Untersuchung den sozialen Gebilden, insonderheit dem Staate
im Verhältnis zu den von ihm zusammengefaßten Individuen eine
prinzipielle Ueberordnung zuerkannt wird. In allen soziologischen
Darstellungen wird der Staat als eine Synthese von Elementen
charakterisiert, die diesen gegenüber ein „Höheres" repräsentiert.
Dabei ist es offenkundig, daß dieses „Höher "sein des Staates, diese
seine Ueberordnung über die individuellen Elemente, die er zu einer
Synthese zusammenfaßt, nicht einen bloß logischen Charakter
hat, sondern irgendeinen anderen Wert oder Mehrwert des Staates
ausdrücken soll. Solche Niveaudifferenzen können für eine wahrhaft
kausal erklärende, rein psychologische Betrachtung nicht ge
geben sein. Denn es handelt sich dabei offenbar um eine Wertung,
die mit der prinzipiell wertfreien Kausalerkenntnis unvereinbar
ist. In der Höherstellung des Staates kommt nichts anderes zum
Ausdruck als die Vorstellung, daß der Staat ein Wert und zwar ein
objektiver, vom Betrachter als gültig vorausgesetzter Wert
sei. In die Welt des S o 1 1 e n s , des Wertes oder objektiven
Zweckes, in die Welt der Normen führt jener Sprung aus dem
Psychologischen, jene (ieraßaac? e?s <*XXo yhot, die für alle Sozio
logie als typisch erkannt wurde. Die Einheit des Staates entpuppt
sich als die Einheit eines Wertsystems, als die Einheit einer
gültigen Ordnung im Sinne einer Norm oder eines Normkomplexes.
Nur als Normsystem kann der Staat jene Eigenschaften haben, die
psychologische Betrachtung vergeblich einer fiktiven sozialpsychischen
Realität anzudichten versucht: die Objektivität dieses Gebildes,
die in prinzipiellem Gegensatz zu der Subjektivität der psychologischer
Untersuchung allein gegebenen Seelenprozesse steht, und die nichts
anderes ist als die objektive, das heißt, von dem Wollen und Wün
schen der Subjekte unabhängige Gültigkeit einer normativen Ordnung.
Die Konstanz dieses Gebildes, die in ebensolchem Gegensatz zu
der zeitlichen wie örtlichen Fluktuation der psychischen Vorgänge
steht, und die nichts ist als die Konstanz einer von dem ewigen
Wechsel und Wandel der seelischen Realität unabhängigen Idealität
eines gültigen Normsystems. Die Räumlichkeit dieses Ge
§ 6. Die sozialen „Gebilde". 45

bildes, unräumlich sein müßte, wäre es ein psychischer Vor


das
gang, die nur als die Raumbedingung aufzufassen ist, die
und
neben zeitlichen und sonstigen Bedingungen zu dem hypothetischen
Inhalt der die staatliche Ordnung bildenden Normen gehört. Dies
aber ist das Ueber-Indi viduelle, das „Höhere" der „schöpferi
schen" Synthese des Staates: daß er als Ordnung gültiger Soll
normen, Ideal oder Wert über dem empirischen
als Sein der
Individuen steht, sofern eben die Relation von Sein und Sollen, von
Wirklichkeit und Wert in dem Bilde des Raumverhältnisses von
Unten und Oben dargestellt wird — der Wert steht „über" der Wirk
lichkeit — ; daß an dem besondern Inhalt dieses Sollens der Inhalt
des individuellen Seins gemessen, gewertet wird, daß die staatliche
Ordnung als Ziel oder Zweck gilt, nach dem sich das Verhalten
der in der Geltung dieser Ordnung als Einheit zusammengefaßten
Vielheit von Individuen richten soll.
Daß all dies mit Psychologie so gut wie nichts zu tun hat,
ist klar. Ebenso, daß diesem Durchbruch der normativen Betrachtung
in den Bereich psychologisch-soziologischer bei prinzipiellem Festhalten
an der der letzteren wesentlichen empirisch-naturwissenschaftlichen
Basis, die ja den Ausgangspunkt aller soziologischen Darstellung bil
det, zu einem argen Synkretismus führen muß; und überdies zu einer
Hypostasierung: Die erkenntnismäßige Einheit eines Betrachtungsstand
punktes, die Einheit der als gültig vorausgesetzten Ordnung,
diese durchaus ideelle Synthese im Geiste des die soziale Welt
Erkennenden wird in eine seelisch-körperliche Außenwelt projiziert
1)
und als reale Verbindung durch Wechselwirkung zusammenge
haltener Elemente behauptet, ein Erkenntnismittel wird zu einem
womöglich greif- und sichtbaren, irgendwie wahrnehmbaren Körper,
zumindest aber zu einer seelischen Sub stanz, einem der Erkenntnis
gegebenen Ding fingiert. Dabei ist wohl zu beachten, daß sozu
sagen eine doppelte Verschiebung vorgenommen wird : die spezifisch
juristisch-normative Einheit des Staates wird zunächst als eine
kausalwissenschaftliche behauptet und sodann als dinghaft seelisch
körperliches Wesen hypostasiert.

1) „eine Synthese, die wir zu bestimmten Erkenntniszwecken vornehmen":


Max WebeR, im Archiv für Sozial Wissenschaft und Sozialpolitik, XIX. Bd., 1904,
S. 74. Vgl. dazu als Gegenstück: „Kant lehrte, daß die Synthese nicht in den
Dingen selbst und in den Beziehungen und Verhältnissen zwischen ihnen ent
halten, sondern im menschlichen Bewußtsein als dessen spontane Funktion be
gründet ist. Es gibt jedoch noch ein Subjekt, dem die Syn
these als von ihm erzeugt und nur ihm angehörig zukommt,
und das ist der Staat.* KistiaKowsKi, a. a. 0. S. 200.
46 I. Der Staat als soziale Realität.

2. Kapitel.

Die normative Tendenz der Soziologie.

§ 7.
Spencer.

Der normative Charakter der sozialen Gebilde, insbesondere des


Staates kommt in den meisten Soziologien ziemlich deutlich, wenn
auch meist nicht ausdrücklich anerkannt und psychologistisch ver
kleidet, zum Ausdruck. Daß die moderne Soziologie im allgemeinen
an Stelle des Naturrechts getreten ist, dessen normative Probleme
sie fast unverändert übernommen auf dem gleichen nor
hat und
mativen Wege —
wenn auch nur äußerlich durch eine naturwissen
schaftliche Terminologie verdeckt — zu lösen versucht, hat schon
MenzeL in seiner ausgezeichneten Schrift „Naturrecht und Sozio
"
logie 1) nachgewiesen. Damit ist aber noch mehr gezeigt, nämlich
dies: daß die Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft, trotz
der verschiedenen Gestaltungen, die sie im Laufe der geschichtlichen
Entwicklung angenommen hat, im Prinzipe den Charakter nicht ab
zustreifen vermochte, den sie schon im Altertum hatte : den Charakter
ethisch - politischer Spekulation. Dabei muß „ethisch -politisch" im
weitesten Sinne verstanden werden. Nicht nur die als „Ethik" oder
„Politik" im engeren Sinne verstandenen Systeme, sondern auch die
als Religion oder Naturrecht bezeichneten Normenkomplexe fallen dar
unter. Ja, als Normensystem steht auch das positive Recht
methodisch in derselben Reihe und kommt gerade für die von der
Gesellschaftslehre versuchte Begriffsbestimmung des Staates in
Betracht. Statt von einem „ethisch-politischen" wird daher besser
von einem normativen Charakter der Soziologie zu sprechen sein.
Eine kritische Analyse der verschiedenen sozialen „Gebilde" würde
vermutlich die verschiedensten Normensysteme zutage fördern. In
wiefern sich gerade unter diesem Gesichtspunkte ein methodisch ein
heitlicher Standpunkt für eine Soziologie ergeben könnte, muß hier
dahingestellt bleiben. Worauf es in diesem Zusammenhange an
kommt, ist allein, das Normensystem zu eruieren, das der Entwick
lung des soziologischen Staatsbegriffes zugrunde liegt.

') Wien, 1912. Auf die rein normative Richtung der Staatstheorie Pia
tons und Aristoteles' hat neuerdings aufmerksam gemacht: Pitamic, Piaton,
Aristoteles und die reine Rechtslehre, Zeitschrift für Oeifentliches Recht,
II. Bd., S. 683 ff.
§ 7. Spencer. 47

Als Beispiel der krypto-juristischen Methode sei von


typisches
älteren Soziologen SPENCER angeführt1). Seine Soziologie ist durchaus
naturwissenschaftlich gedacht, auf dem Entwicklungsgedanken aufge
baut, und stellt sich als unmittelbare Fortsetzung seiner Biologie dar.
Er unterscheidet eine anorganische, eine organische und eine „ über
organische "Entwicklung und dementsprechend anorganische, organische
und überorganische
„Aggregate". ein über Die Gesellschaft ist
organisches Aggregat. Sie ist das höchste Ergebnis der Gesamt
entwicklung. Der normative Charakter des EntwicklungsbegrifFes
— der schon in die Naturwissenschaft ein methodisch fragwürdiges
Wertelement einschmuggelt — tritt hier besonders deutlich hervor;
hier enthüllt er seinen eigentlichen Sinn. Weil Entwicklung ihrem
Wesen nach „Höher "-Entwicklung sein muß, scheint dieser Begriff
besonders geeignet zur Erfassung der Tatsache, daß das soziale
Gebilde den in ihm zusammengefaßten Einzelmenschen gegenüber
etwas „Höheres" ist. Dementsprechend sagt SPENCER: „Wir dürfen
angemessenerweise den Anfang der überorganischen Entwicklung erst
da setzen, wo etwas Höheres entsteht als die bloß kombinierten
Dabei sucht SPENCER die Gesell
2).

Anstrengungen der Erzeuger"


schaft und insbesondere das „staatliche Wesen" als natürliche Rea
lität, als Organismus festzuhalten und lehnt die nominalistische
3)

Annahme, das soziale Aggregat sei „nicht ein Ding, sondern nur
eine bestimmte Ordnung von Einzelpersonen ausdrücklich
"

ab.
4)

Seine eigene Anschauung von der dinghaften Realität des Sozialen im


allgemeinen und des Staates im besonderen begründet er mit der üb
lichen Behauptung einer Art Wechselwirkung zwischen den Elementen,
der „Dauer der Beziehungen zwischen den einzelnen Bestandteilen".
Man dürfe eine Gesellschaft darum „ als ein eigenes — das soll heißen
"

von den Bestandteilen verschiedenes, dinghaftes — Wesen betrachten,


weil, obschon es sich aus diskreten Einheiten aufbaut, doch eine
gewisse Konkretheit in dem Aggregat desselben schon gegeben ist
durch dieallgemeine Fortdauer der Lagebeziehungen
zwischen den Einheiten auf dem ganzen von ihnen ein
genommenen räumlichen Gebiet. Und dieses Merkmal ist
es auch, welches unsere Idee von einer Gesell
schaftbegründet"5). Sieht man indes näher zu, ist es keineswegs
dieses naturwissenschaftlich-kausal feststellbare, körperliche Merk-

Die Prinzipien der Soziologie, — III. Bd. (System der synthetischen


I.
1)

Philosophie, VI.— VIII. Bd.) übersetzt von VetteR.


;

Bd., II. Bd.,


S.

S.

ff.
4.
I.
») 4) »)

3
')

Der Uebersetzer sagt „Anordnung".


n. Bd., 4.
S.
48 1 !• Dör Staat als soziale Realität.

mal, sondern ein ganz anderes, nämlich ein normativ ideelles Moment,
ein objektiv gültiger Zweck, mit dem Spencer die Einheit einer
konkreten Gesellschaft, speziell aber des Staates bestimmt. Im wei
teren Verlaufe seiner Darstellung gelangt er zu folgendem, schon
an die juristische Definition des souveränen Staates stark anklingen
den Begriff der einfachen Gesellschaft :
„Die einzige Möglichkeit für
uns ist also die, als einfache Gesellschaft diejenige anzusehen, welche
ein einzelnes wirksames Ganzes darstellt, das keinem andern
untergeordnet ist und dessen Teile mit oder ohne ein regu
lierendes Zentrum zu gewissen öffentlichen Zwecken zu
"
sammenwirken Diese „öffentlichen" Zwecke stellen sich später
nicht etwa als die real-psychischen Wollungen, Zielstrebungen der
einzelnen Menschen, sondern als ein objektiver,
objektiv d. h. als

gültig vorausgesetzter, seinem Inhalt nach mit den .privaten" d. i.


subjektiven Wünschen und Wollungen der Menschen möglicherweise
in Widerspruch stehender, in seiner Geltung von ihnen unabhängiger
und darum „öffentlicher", das heißt eben objektiver Zweck oder
„Wille" heraus.
Seine Darstellung des Wesens des Staates beginnt SPENCER mit
der Behauptung: „Die bloße Ansammlung von Individuen zu einer
Gruppe bildet noch keine Gesellschaft"
Zu einer Gesellschaft
2).

wird die Gruppe — so sollte man nach der ersten Begriffs


bestimmung SPENCERs glauben — durch die Dauer der gegen
seitigen räumlichen Lagebeziehung, hervorgerufen durch gewisse
konstante Wechselwirkungen. Allein, um zum Staate zu gelangen,
schlägt er einen anderen Weg ein. Eine Gesellschaft im sozio
logischen Sinne entstehe erst „wo außer der Nebeneinander
da,
lagerung auch ein Zusammen wirken stattfindet. Solange die
Glieder der Gruppe ihre Kräfte nicht vereinigen, um einen oder
mehrere gemeinsame Zwecke zu verfolgen, ist das sie zu
sammenhaltende Band nur schwach". Man sollte meinen, es komme
also auf die Gemeinsamkeit der realpsychischen Wünsche und
Wollungen der Menschen an. Allein dem ist keineswegs so. Denn
fast unmerklich vollzieht sich eine entscheidende — die typische
!

— Metamorphose Zweckstrebungen;
der subjektiven die Tatsachen
der Seinswelt objektiven Zwecken, die Normen sind.
sind, zu Im
Grunde genommen steckt dies schon in dem unscheinbaren Satz,
den SPENCER als Uebergang zu seinen weiteren Ausführungen auf
stellt: „Zusammenwirken bedingt aber Organisation." Vollends
deutlich wird es aber dadurch, daß Spencer zwei Arten von sozialer

ü. IH. Bd.,
S.

Bd., 293 ff.


S.

122.
»)
')
§ 7. Spencer. 49

Organisation unterscheidet, von denen aber nur die zweite „Organi


sation" im eigentlichen Sinne ist und auch nach Spencer allein das
Wesen der staatlichen Organisation ausmacht. „Es gibt ein spon
tanes Zusammenwirken, das ohne bestimmte Absicht bei der Ver
folgung privater Zwecke zustandekommt, und es gibt ein mit
bewußter Absicht erzieltes Zusammenwirken, das eine klare An
erkennung öffentlicher Zwecke voraussetzt"1).
Die erstere Art von Organisation ergebe sich gleichsam instinktiv
dadurch, daß jeder nur seine privaten Zwecke verfolgt, bloß seinem
eigenen Vorteil nachgeht. Dasjenige Zusammenwirken aber, „welches
die Handlungen der Individuen zu einem unmittelbar die ganze Ge
sellschaft betreffenden Zwecke vereinigt, ist eine bewußte Tätigkeit
und vollzieht sich vermöge einer Organisation anderer Art, die auch
auf andere Weise entstanden ist"2). Indes könnte eine auf die Rea
lität des tatsächlichen Verhaltens der Menschen und seine Motive
gerichtete Betrachtung andere als „private" Zwecke, andere als auf
den eigenen Vorteil gerichtete Handlungen nicht feststellen. Selbst
wenn Menschen zu beobachten sind, die glauben, im „öffentlichen"
Interesse, zu „öffentlichen" Zwecken zu handeln, so muß doch der
nach den realen Motiven forschende Psychologe sich auf die Fest
stellung beschränken, daß auch diese Handlungen — weil aus dem
Triebe der Selbsterhaltung, aus dem ausnahmslosen Streben nach
Lustvermehrung entsprungen — nur zu ihrem eigenen Vorteil erfolgen,
daß sie „private" Zwecke, d. h. eben eigene, subjektive
damit
Zwecke verfolgen, weil es andere als eigene, subjektive oder private
Zwecke als Motive des eigenen, subjektiven privaten Handelns nicht
geben kann. Für den kausalen Mechanismus der Motivation ist die —
natürlich auch nur subjektive — Meinung der Handelnden, daß ihre
privaten Zwecke „öffentliche" seien, gleichgültig. Angesichts der tat
sächlichen Verschiedenheit der privaten Zwecke (und ebenso der privaten
Meinungen über das, was „öffentlicher" Zweck sei) besteht für den vor
aussetzungslosen Psychologen oder psychologischen Soziologen jeden
falls kein Anlaß und gewiß keine Berechtigung, irgendeinen Zweck als
„öffentlich", d. h. als objektiv gültig vorauszusetzen. Insbesondere aber
ist es unzulässig, wenn Spencer an Stelle der „gemeinsamen" Zwecke
der Menschen einen „die ganze Gesellschaft unmittelbar betreffenden
Zweck" annimmt. Die Natur dieses öffentlichen Zwecks zeigt sich
darin, daß SPENCER von den Menschen behauptet, daß sie bei Gel
tung dieser anderen Organisation „unter dem Anreiz eines höheren
Triebes als nur der rein persönlichen Wünsche" zusammenarbeiten,

') III. Bd., S. 294. ») III. Bd., S. 296.


Kelsen, Staatsbe griff. 4
50 I. Der Staat als soziale Realität.

daß nunmehr jeder einzelne zu einem bestimmten


„ver Verhalten
pflichtet" sei, daß diese Art des sozialen Zusammenwirkens „keines
wegs der freien Wahl anheimgegeben" sei, „oft läuft sie viel
mehr den Wünschen der einzelnen schnurstraks
zuwider". Wie wäre das möglich, wenn es sich nur um gemein
same Zwecke der einzelnen handelte?
spricht nunmehrSPENCER
von „über den Bürgern stehenden Einrichtungen", welche die
Einzelnen „zwingen, mehr oder minder für öffentliche statt nur für
private Zwecke tätig zu sein". „Somit unterscheidet sich diese Art
der sozialen Organisation von der andern dadurch, daß sie aus der
bewußten Verfolgung öffentlicher Zwecke hervorgeht, gemäß welcher
der Wille der Einzelnen eingeschränkt wird zunächst durch den ver
einten Willen der ganzen Gruppe" ( — wie könnte ein gemeinsamer
Wille, richtiger die Tatsache der Gemeinsamkeit, die Tatsache, daß
mehrere dasselbe wollen, den Willen eines dieser einschränken ?
In der sprachlichen Wendung, die aus dem Verhältnis der Ueber-
einstimmung mehrerer Willen einen gemeinsamen Willen
macht, steckt schon der Wechsel des Standpunkts! — ) „und später
in bestimmter Weise durch den Willen eines regelnden
Agens, das die Gruppe aus sich heraus entwickelt hat"1). Hier
vollzieht sich das Mysterium der Wandlung der volonte de tous zu
der von ihr verschiedenen, über ihr stehenden volonte generale. Und
dieses Mysterium klärt sich — methodologischer Kritik — als der
Wechsel der Erkenntni s weise : An Stelle kausalwissenschaftlicher
Wirklichkeitserklärung tritt normative Wertbetrachtung. Der Autor
setzt objektiv gültige Norm, einen „öffentlichen" Willen oder
eine
einen öffentlichen Zweck für eine Vielheit von Menschen voraus.
Mit diesem „öffentlichen Zweck", diesem „Willen eines regelnden
Agens" ist der Begriff des Staates gewonnen. Indem man die ob
jektiv gültige Norm als Naturding hypostasiert, kann man von ihr
dann dasselbe aussagen, was man sonst nur von einem realen Lebe
wesen aussagen könnte: sie lebt ein von dem Leben der Menschen ver
schiedenes Leben, hat ein von den Interessen der Menschen verschiedenes
Interesse, Willen und auch eine eigene Wohlfahrt, die
einen eigenen
keineswegs Wohlfahrt der Menschen sein muß. Selbst ein Indi
die
vidualist wie Spencer läßt sich durch seine eigene Hypostasierung
täuschen: Die Organisation, die bei Verfolgung bloß privater Zwecke
zustande kommt und die angeblich in der Teilung der Arbeit zu
gewerblichen Zwecken uns entgegentritt, so lehrt er, „ führt wohl zu
gemeinsamer Tätigkeit, aber es ist eine Tätigkeit, welche direkt die

J) a. a. 0. S. 297.
§ 8. Dürkheim. 51

Wohlfahrt der Einzelnen erstrebt und fördert und nur indirekt zur
Wohlfahrt der ganzen Gesellschaft beiträgt, indem sie ihre Individuen
erhält. Jene Organisation dagegen, welche sich zu Regierungs- und
Verteidigungszwecken ausgebildet hat, führt zwar auch zu gemein
samer Tätigkeit. Dies ist aber eine Tätigkeit, welche direkt die
Wohlfahrt der ganzen Gesellschaft anstrebt und fördert und nur in
direkt zum Wohlsein der Einzelnen beiträgt, indem sie die Gesell
schaft erhält. Das Streben der Einheiten nach Selbsterhaltung hat
die eine, das Streben des Aggregats nach Selbst
erhaltung die andere Form von Organisation ins
Leben gerufen"1).
§ 8.
DUrKHeiM.

Wie Engländer SPENCER will auch der Franzose DURK


der
HEIM die Soziologie als Naturwissenschaft, an Kausalgesetzen
orientiert, begründen2). Er übernimmt von COMtE den Grund
satz, „daß die sozialen Erscheinungen Naturtatsachen und als solche
"
den Naturgesetzen unterworfen sind Damit sei aber der ding
s).


liche Charakter" der sozialen Tatsachen anerkannt. „Denn in der
Natur gibt es nur Dinge" (choses). Und „die erste und grund
legende Regel" für die Erkenntnis des Sozialen bestehe darin, „die
sozialen Tatsachen so zu betrachten wie die Dinge"4). DURKHEIM
lehnt eine Soziologie als Erkenntnis von Ideen oder Ideologien be
wußt ab und stellt ihr
„Wissenschaft von Realitäten" ent
eine
gegen. Als „Dinge" aber behauptet DUrKHelM die sozialen Tat
sachen, weil und insoferne sie etwas „Objektives", vom Einzel
menschen Unabhängiges, schon vor ihm und daher unabhängig von
ihm, außerhalb seiner Person Existentes sind, Realitäten
also auch
seiner in die er sozusagen hineingeboren wird. Diese
Außenwelt,
Tatsachen einer — dem Einzelmenschen gegenüber transzendenten,
ohne ihn gewordenen — sozialen Welt bestimmen das Individuum,
sind mit zwingender Gewalt ihm gegenüber ausgestattet. Diese als
Dinge" charakterisierten, außerhalb des Individuums stehenden, ob

jektiven sozialen Tatsachen äußern sich zwar in dem Handeln, Denken,


Fühlen der Individuen, aber sie dürfen mit ihren individuellen Aus

strahlungen" nicht verwechselt werden. „Hier liegt also eine Klasse


von Tatbeständen von sehr speziellem Charakter vor: sie bestehen

a. 0.
S.

a. 297.
») ')

Les regles de la methode sociologique, 1905. Autorisierte Uebersetzung


nach der Auflage. Leipzig 1908 (Philos.-soziol. Bücherei V).
4.

a. a. 0. S. 43, 171. a. a. 0.
S.

88.
4)
»)

4*
52 I. Der Staat als soziale Realität.

in besondern Arten des Handelns, Denkens und Fühlens, stehen


außerhalb des Einzelnen und sind mit zwingender Gewalt ausgestattet,
kraft deren sie sich ihm aufdrängen" Der zwingende Charakter

1).
ist eine „diesen Dingen immanente Eigenschaft, die bei jedem
Versuche des Widerstandes sofort hervortritt"2).
Das „Substrat" oder der Träger dieser sozialen Tatsachen ist
nicht das Individuum, sondern die soziale Gruppe. „Mit organischen
Erscheinungen sind sie nicht zu verwechseln, denn sie bestehen in
Vorstellungen und Handlungen. Ebenso wenig mit psychischen
Erscheinungen, deren Existenz sich im Bewußtsein erschöpft. Sie
stellen also eine neue Gattung dar und man kann ihnen mit Recht
die Bezeichnung sozial« vorbehalten. Sie gebührt ihnen, denn da
>

ihr Substrat nicht im Individuum gelegen ist, so verbleibt für sie


kein anderes als die Gesellschaft, sei es die staatliche Gesellschaft
als Ganzes, sei es eine der Teilgruppen, die sie einschließt, Religions
genossenschaften, politische oder literarische Schulen,berufliche
Korporationen usw."3). Ein offenbarer Zirkelschluß! Denn daß be
stimmte Arten des Handelns, Fühlens, Denkens gerade „sozial", h.

d.
gesellschaftlich und darum außerhalb des Individuums sind, wird
schließlich damit begründet, daß ihr Substrat die „Gesellschaft" ist,
von der vorausgesetzt wird, daß sie eine außerhalb des Individuums
stehende Realität ist. Das ist gerade die Frage! Dieser Zirkel
ja

wird noch des näheren in folgender Weise ausgeführt: „Da ihre


(der sozialen Tatsachen) wesentliche Eigentümlichkeit in ihrer Fähig
keit besteht, von außen her einen Zwang auf das individuelle Be
wußtsein auszuüben, so bedeutet das, daß sie sich nicht von
diesem herleiten daher die Soziologie keine Folgerung
und
der Psychologie ist
Kommt nun das Individuum außer Be
tracht, so bleibt nur die Gesellschaft übrig; es ist also die Natur
der Gesellschaft selbst, in der die Erklärung des sozialen Lebens
zu suchen ist"4). „Kraft dieses Prinzipes ist die Gesellschaft nicht
bloß eine Summe von Individuen, sondern das durch deren Verbin
dung gebildete System stellt eine spezifische Realität dar, die einen
eigenen Charakter hat. Allerdings kann eine solche Erscheinung
nicht entstehen, wenn kein Einzelbewußtsein vorhanden ist; doch
ist diese notwendige Bedingung allein nicht ausreichend. Die ein
zelnen Psychen müssen
noch verbunden und in einer bestimmten
Art kombiniert sein; ist diese Verbindungsart, aus der das soziale
es
Leben folgt, und es ist daher diese Verbindungsart, die es erklärt.
Indem sie aneinandertönen sich durchdringen und verschmelzen,
,

a. a. 0. S. 28. a. a. 0. S. 27.
*)

!)

0. S. 0.
S.

a. a. 28. a. a. 131, 131.


•)

*)
§ 8. Dürkheim. 53

bringen die individuellen Psychen ein neues, wenn man will


psychisches Wesen hervor, das eine psychische Individualität
einer neuen Gattung darstellt. In
Natur dieser Individualität, der
nicht in jener der sie zusammensetzenden Einheiten müssen also die
nächsten und bestimmenden Ursachen der Phänomene, die sich dort
abspielen, gesucht werden. Die Gruppe denkt, fühlt, handelt ganz
anders als es ihre Glieder, wären sie isoliert, tun würden" Die

l).
Erkenntnis Tatsache, daß die einzelnen Menschen sich anders
der
verhalten, wenn sie miteinander in Verbindung stehen, als wenn sie
isoliert wären, führt auf dem bekannten Wege einer unkritischen
Hypostasierung zur Annahme einer außerhalb der Menschen stehen
den sozialen Realität. Die Verschiedenheit der Funktion bei
Verschiedenheit der Bedingungen wird zur Verschiedenheit von
Substanzen, zu verschiedenen „Dingen". Diesen Dingchar akter
des Sozialen kann DUrKHelM nicht nachdrücklich genug hervor
heben. „In der Tat Arten des Handelns und des
nehmen manche
Denkens infolge ihres ständigen Auftretens eine gewisse Konsi
stenz an, welche sie von den einzelnen Geschehnissen, durch die sie
ausgelöst werden, isoliert und unabhängig Sie nehmen
macht.
körperhafte Gestalt, wahrnehmbare ihnen eigene Form
an und sui generis,
bilden eine Realität die sich von den individuellen
Handlungen, in denen sie sich offenbart, vollständig unterscheidet

"

Ä).
Die Körperlichkeit, zu der die sozialen Dinge sich schließlich
versteigen, kann nicht mehr bezweifelt werden, denn ihre sinn
liche Wahrnehmbar keit wird ausdrücklich behauptet: „Da
uns das Aeußere der Dinge nur durch die Wahrnehmung vermittelt
wird, läßt sich zusammenfassend sagen: Die Wissenschaft soll, um
objektiv zu sein, nicht von Begriffen, die ohne ihr Zutun gebildet
werden, ausgehen, sondern die Elemente ihrer grundlegenden Defi
nitionen unmittelbar dem sinnlich Gegebenen Das entlehnen"
s).

steht im vollen Widerspruch zu der Behauptung, daß die sozialen


Tatsachen zwar „Dinge", aber keine „materiellen" Dinge seien4).
Aber auchzu der Behauptung, daß die Gesellschaft ein „psychi
sches" Wesen sei, und diese Behauptung ist wieder im Widerspruch
zu der, daß Soziologie mit Psychologie nichts zu tun habe. All diese
Widersprüche leiten sich letztlich aus der fehlerhaften Hypostasierung
her. — DUrKHelMs „Methode der Soziologie" ist einfach die An
wendung einer mythologischen An
naiv- substantialistischen, also
schauungsweise auf die Beobachtung des unter der Bedingung einer
gegenseitigen Einwirkung stehenden Verhaltens der Menschen.
0. 0. S.
S. S.

a. a. 132, 133. a. a. 32.


')

4) !)

0. a. a. 0.
S.
7.

a. a. 69.
*)
54 I. Der Staat als soziale Realität.

Daß die sozialen Tatsachen zwar körperliche, sinnlich wahr


nehmbare Dinge, aber doch nicht materieller Natur, daß die Gesell
schaft ein außerhalb der Individuen stehendes „Psychisches", aber
doch keine Seele im Sinne der Psychologie sei, all diese Wider
sprüche sollen dadurch überwunden werden, daß DURKHEIM zum
„Körperlichen" wie „Seelischen" der sozialen Dinge ein „sui ge-
neris" hinzufügt. Ja, aber welcher Art soll denn dies Seelische sein,
das kein Seelisches, dies Körperliche, das kein Körperliches, welcher
Art die Existenz des Sozialen, wenn sie weder psychisch noch ma
teriell ist? Gerade widerspruchsvolle Hin- und Hertasten,
dieses
dieses Eingeständnis der Unzulänglichkeit der von der Naturwissen
schaft zur Verfügung gestellten Kategorien des Körperlichen und
Seelischen ist ein überaus charakteristisches Symptom dafür, daß
DUrKHelM, mit seinen negativen, außerhalb der Individuen stehenden,
das Individuum bestimmenden, Dingen" ein Objekt erfassen
sozialen „
will, das etwas anderes ist als die Regel des Verhaltens des mit
anderen verbundenen Menschen und das eben mit den Kategorien
der kausalen Naturwissenschaft nicht eingefangen werden kann! Dies
Etwas ist aber — und das geht gerade aus der Darstellung DUrK
helMs besonders deutlich hervor : die Norm des menschlichen Ver
haltens in ihrer spezifischen Sollgeltung.
Wenn DURKHEIM die sozialen Tatsachen als „Dinge der Außen
welt" bezeichnet, wenn er sich dieses gefährlichen Bildes bedient,
so geschieht dies vor allem deshalb, weil er damit die eigenartige
„Objektivität" des als „sozial" charakterisierten Gegenstandes, das
heißt: die Unabhängigkeit der spezifischen Existenz dieses Objektes
von dem Wollen, Denken und Fühlen des Einzelmenschen, der die
Gesellschaft bildenden Individuen ausdrücken wollte. Behauptet
man von dem Sozialen dieselbe Realität oder Existenzart wie sie den
Wollungen der Menschen zukommt, von denen es als unabhängig
vorausgesetzt wird, dann gerät man in einen unlösbaren Widerspruch.
Denn dann besteht das Soziale einerseits nur aus den Akten der
Menschen, ist aber andererseits wieder ein davon unabhängiges Etwas.
Der Widerspruch löst sich sofort, wenn man die Objektivität der
sozialen Gebilde als die objektive Geltung gewisser Normen oder
Normkomplexe erkennt, die menschliches Verhalten regeln, d. h. zum
Inhalt haben. wobei die Geltung dieser Normen unabhängig ist von
dem tatsächlichen Verhalten der Menschen, das den Normen zuwider
laufen, normwidrig sein kann, ohne daß dadurch die Geltung der
Normen — ihre spezifische Existenz — unterbrochen würde. Daß aber
DUrKHelM offenbar diese normative Geltung im Auge hat, das zeigt
seine Behauptung, allem Sozialen sei im Verhältnis zum Individuum
§ 8. Dürkheim. 55

ein „imperativer Charakter" eigen. Schon die Beispiele,


an denen er die „Objektivität" des Sozialen demonstriert, zeigen
deutlich die Wendung zum Normativen. „In Wirklichkeit gibt es
in jeder Gesellschaft eine fest umgrenzte Gruppe von Erscheinungen,
die sich in scharfen Zügen von allen denen unterscheiden, welche die
übrigen Naturwissenschaften erforschen. Wenn ich meine Pflich
ten als Bruder, Gatte oder Bürger erfülle, oder wenn ich übernommene
Verbindlichkeiten einlöse, so gehorche ich damit Geboten,
die außerhalb meiner Person und der Sphäre meines Willens, im
Recht und in der Sitte begründet sind. Selbst wenn sie mit meinen
Gefühlen im Einklang stehen und ich ihre Wirklichkeit im Innersten
empfinde, so ist diese doch etwas Objektives. Denn ich habe jene
Pflichten nicht neu geschaffen, sie nur im Wege der Erziehung neu
übernommen. Wie oft kommt es vor, daß über die Einzelheiten der
a uf e rlegten Verpflichtungen Unklarheit herrscht, und sieb,
um sie voll zu erfassen, die Notwendigkeit ergibt, das Gesetz
und seine berufenen Interpreten zu Rate zu ziehen"1). Hier ist von
Rechtsnorm, Gesetz, Pflicht und Verbindlichkeit, also von spezifisch
Normativem die Rede und zwar in einem Sinne, der jede Natur
wirklichkeit ausschließt. Es wäre ja denkbar, den tatsächlichen Ab
lauf des Denkens, Wollens, Handelns zu betrachten, der der Ver
pflichtung durch die Norm und der Erfüllung der Verpflichtung zu
geordnet ist: das Denken und Wollen der Norm, die motivierende
Wirkung dieses psychischen Aktes, die ein bestimmtes Handeln be
wirkt usw. Allein — ganz abgesehen davon, daß dann nicht mehr
eigentlich davon die Rede sein könnte, daß jemand verpflichtet sei,
sondern nur davon, für verpflichtet hält, daß nicht
daß sich jemand
von Erfüllung einer Pflicht, nur von der Ausführung eines
sondern
Willensentschlusses gesprochen werden könnte, — jener Gegensatz
von Subjektiv und Objektiv, mit dem DUrKHelM hier operiert, wäre
unmöglich. Denn vom Standpunkt dieser Wirklichkeitsbetrachtung
wäre alles subjektiv, nämlich in der Seele des Einzelnen als psychi
scher Akt beschlossen oder Handlung des Subjektes : das Gebot, die
Pflicht, das Gesetz, die Erfüllung, alles wäre Akt des Subjektes —
oder eswäre überhaupt nicht. Die natürliche Realität, die man
als „Pflicht" bezeichnet, nämlich ein bestimmter Seelenzustand, eine
. innere Gebundenheit des Menschen, ist durchaus „neu geschaffen",
war bis zum Augenblick ihrer aktuellen Existenz in der Seele des
Menschen noch nicht da. Daß dieser Seelenzustand hervorgerufen
wurde durch die Willensäußerung eines andern Menschen, des Leh-

') a. a. 0. S. 26, 27.


56 I. Der Staat als soziale Realität.

rer9, Vaters, des Vorgesetzten usw., nimmt ihr nichts von dieser
ihrer „ Subjektivität die vom Standpunkt der N a t u r erkenntnis
Objektivität ist. Die Gegenstände der Psychologie haben sicherlich
keine andere Objektivität. In dieser Sphäre muß die Annahme
einer von den Akten der Einzelmenschen verschiedenen Realität des
Sozialen zu einer Hypostasierung führen, die nicht minder monströs
ist als die Annahme der primitiven Mythologie, die hinter dem Meer
Poseidon vorstellt. Die Regel, das Gesetz, die Einheit der realen
Phänomene wird selbst als reales Phänomen gesetzt. Ein alter Denk
fehler! Vollends die Annahme, daß eine Pflicht existiere, die der
Verpflichtetegar nicht oder nicht ganz kennt! Das kann ja nur
die ideelle Existenz einer als gültig vorausgesetzten Norm sein,
einer Norm, die gültig ist und verpflichtet, auch wenn der Mensch,
dessen Verhalten postuliert wird, davon nichts weiß. Es ist die
spezifisch juristische Sphäre, innerhalb deren sich die Begriffe DURK
HEIMS bewegen, es ist die spezifische Existenz des Rechtes als eines
in Sollgeltung stehenden Normensystems. Die Frage, ob jemand
und wozu er rechtlich verpflichtet sei, wird nicht durch eine Unter
suchung des empirischen Menschen und seines Willens, sondern durch
die Interpretation eines ideellen Systems von Rechtssätzen beant
wortet. Eben weil die Antwort auf diese Frage unabhängig davon
ist, was dieser Mensch in concreto denkt, fühlt oder will, ist das
Recht, die Rechtspflicht „objektiv". Kann es etwas anderes sein,
wenn DURKHEIM in näherer Ausführung des bereits früher zitierten
Gedankens, daß manche Arten des Handelns infolge ihres ständigen
Auftretens eine gewisse Konsistenz annehmen, sich von den Han
delnden loslösen und körperhaft wahrnehmbare Gestalt annehmen,
diese körperhaften sozialen Gebilde als „Normen" bezeichnet und
von ihnen sagt : „ Keine dieser Normen geht vollkommen in den
Anwendungen auf, die die einzelnen von ihr machen, ja sie können
vorhanden sein, ohne wirklich in Anwendung zu stehen"
1).

„Eine soziale Tatsache ist an der äußerlich verbindlichen Macht


zu erkennen, die sie über die Einzelnen ausübt oder auszuüben im
stande ist"2). Ja „Sozial", speziell „Kollektiv" und „Verbindlich"
sind für DURKHEIM gleichbedeutend Das Vorhandensein der „ver
3).

bindlichen Macht" zeige sich an entweder durch das Dasein einer


bestimmten Sanktion oder durch den Widerstand, den die Tatsache
jedem Beginnen des Einzelnen, das sie zu verletzen geeignet
ist, entgegensetzt. „Eine andere Bestimmung bietet die Ausbreitung,
die die soziale Tatsache innerhalb einer Gruppe aufweist, voraus-

a. 0. 0.
S. S.

32.
S.

a. a. a. 35.
»)
')

a. a. 0. 34.
*)
§ 8. Dürkheim. 57

gesetzt, daß ...


als zweites und wesentliches Merkmal hin
zugefügt wird, daß sie unabhängig von den Einzelformen existiert,
die sie, indem sie sich ausbreitet, annimmt." „Dieses zweite Kri
terium ist sogar in manchen Fällen leichter anzuwenden als das
früher erwähnte . . . . " Das tatsächliche Beginnen eines Menschen

1).
kann eine soziale Tatsache nur dann „verletzen", wenn unter der
letzteren eine Soll-Norm verstanden wird. Denn andernfalls ist das
tatsächliche Beginnen eines Menschen selbst eine soziale Tatsache,
die in der Wirklichkeit neben
und nicht „gegen" sie der andern
steht. Dies „gegen" setzt eben die normative Beziehung voraus.
Daß die von dem Verhalten der Einzelindividuen unabhängige Exi
stenz der sozialen Tatsache, das ist die objektive Soll-Geltung,
leichter festzustellen ist als die Sanktion, das hängt aber damit zu
sammen, daß nur ganz bestimmte Normen Sanktionen, h. Zwangs

d.
aktestatuieren: die Rechtsnormen. Die Normen der Moral, Logik,
Grammatik z. B. enthalten solches nicht. Hier ist nur ihre objektive,
von dem tatsächlichen Handeln, Denken, Sprechen der Einzelnen
unabhängige normative Geltung vorhanden.
Im übrigen vermengt DÜRKHEIM — wie üblich — die in der
objektiven Geltung der Norm gelegene, von ihr als das Besondere
aus dem Allgemeinen herzuleitende Verpflichtung mit der von
der Vorstellung der Norm bewirkten Bindung des Willens, das
ist der motivierenden Wirkung der Normvorstellung. Er bezeichnet
es bekanntlich als eine wesentliche Eigenschaft der sozialen Phäno
mene, „von außen her einen Zwang auf das individuelle Be
wußtsein auszuüben"2). Die Gesellschaft sei somit imstande, dem
Individuum „die Arten des Denkens und Handelns aufzuerlegen,
die sie mit ihrer ut it
Diese „Autorität"
A

ausgestattet hat3).
o

ä
r

der Gesellschaft besteht in ihrer Fähigkeit zu verpflichten, dieses


„Auferlegen" ist ein Verpflichten zu bestimmtem Verhalten. Weil
solche Verpflichtung „von außen" komme, sei „die Quelle alles des
sen, was verbindlich ist, außerhalb des Individuums"4). Indes: be
zieht man sich auf das Faktum des „von außen" auf das indivi
duelle Bewußtsein geübten Zwanges, faßt man also eine Tatsache
des subjektiven Bewußtseins ins Auge, und erklärt man dieses Fak
tum als ein wesentliches Merkmal des Sozialen, dann ist es um die
Objektivität des Sozialen geschehen. Dann ist aber auch nicht ein
zusehen, warum noch von „Verpflichtung" die Rede ist. Es handelt
sich bloß um die Wirkung einer Ursache der durch irgendeinen Akt
:

der Außenwelt in dem Menschen erzeugte Vorstellungsprozeß, der


0. 0.
S. S.

S. S.

a. a. 35. a. a. 130.
«) »)
')

a. a. 0. 181. a. a. 0. 134.
»)
58 I. Der Staat als soziale Realität.

wieder zu einem Willensimpuls und schließlich zu einer Handlung


führt, das ist in demselben Sinne eine Kette von Ursachen und Wir
kungen, wie die Erwärmung und das Schmelzen eines Metallstückes
durch das Brennen einer Spiritusflamme. „Verpflichtet" etwa das
Feuer das Metallstück dazu, warm zu werden und schließlich zu
schmelzen? Hat das Herz eine „Verbindlichkeit" zu schlagen? Ist
die Ursache „Autorität" für die Wirkung? Ist der „Zwang", kraft
dessen die Wirkung auf die Ursache folgt, und von dem der „Zwang",
den die soziale Tatsache „von außen" auf das individuelle Bewußt
sein ausübt, offeubar nur ein Spezialfall ist, eine Verpflichtung, hat
die Ursache „imperativen" Charakter? Gerade auf diesen scheint es
aber im Bereich des Sozialen anzukommen! Was für „Zwang" ist
also gemeint, wenn DURKHEIM lehrt: „In Wirklichkeit ist die Tat
sache der Assoziation, so weit man auch in der Geschichte zurück
geht, die zwangmäßigste von allen; denn sie ist die Quelle
aller übrigen Verbindlichkeiten." Nach der „ Quelle ",
das ist dem Geltungsgrund der Verbindlichkeiten, nicht nach
der Ursache für Vorstellungen, Wollungen und Handlungen ist die
Frage ! Gerade in diesem Zusammenhang führt DURK
HEIM die Zwangsgemeinschaft des Staates an, dem
man angehöre und verbunden sei, ohne Rücksicht
auf den eigenen Willen. Den Einwand , daß man ja
diesem Zwange zustimme, wenn man in der Heimat bleibe, weist
DURKHEIM zurück: „Mein Einverständnis nimmt jener Gebundenheit
nicht ihren imperativen Charakter." Gewiß! Denn diese
Bindung, wir „Staat" nennen, ist eine objektive, von der
die
Zustimmung oder Ablehnung des Einzelnen, für den sie Geltung
beansprucht, unabhängig! DURKHEIM gleitet freilich wieder in die
Sphäre des psychischen Zwanges aus. Aber zuletzt kommt er mit
einem Argument, das — echt juristisch-normativ — sich auf die
reine Soll- Geltung der Staatsordnung bezieht: „Schließlich kann die
Zustimmung für die Zukunft insoweit keine Bedeutung haben, als
mir diese unbekannt ist. Ich kenne nicht einmal die Pflichten,
die mir in meiner Eigenschaft als Staatsbürger auferlegt werden
können. Wie kann ich da im Voraus einwilligen ? " Und doch
steht „Gebundenheit" durch diese mir unbekannten Pflichten
die
außer Zweifel. Der unentrinnbare „Zwang" des Staates kann wohl
hier nicht eine Wirkung auf das individuelle Bewußtsein sein. Es
ist die Geltung einer normativen Ordnung.
Die Gesellschaft ist die Quelle aller Verbindlichkeiten, der Staat
aber die Gesellschaft als Ganzes: DUrKHelMs Soziologie läuft auf
Staatsrechtslehre hinaus !
§ 9. Jerusalem. 59

§ 9-
JerusaLem.
Das gilt noch in höherem Maße für die an DUrKHelMs „Methode"
orientierte Soziologie JerusaLems1). Dessen Darstellung ist auch
darum sehr instruktiv, weil sie ein Niederschlag der herrschenden
empirischen Theorie ist.
Als den Gegenstand der Soziologie bezeichnet JerusaLem den
„Mensch als soziales Wesen oder richtiger gesagt, die zur Ein
heit zusammengeschlossene Menschengruppe"2).
Welches aber das die Einheit begründende Prinzip sei, auf diese Frage
erhält man keine klare Antwort. Diese Einheit wird — wie gewöhn
lich — irgendwie bereits als gegeben vorausgesetzt. „Eine solche
Gruppe ist mehr und ist etwas anderes als die' Summe der sie bilden
den Individuen. Jede derartige Gruppe ist eine Art von Gemeinschaft
und zwar eine Gemeinschaft des Denkens,
des Zieles und des Stre
bens." Der Staat wird sogleich als „Rechtsgemeinschaft" bezeichnet.
Auch wird die Gruppe — in der üblichen Weise — hypostasierWnd
als ein Glied in die Reihe von Ursache und Wirkung gestellt. „Die
Gruppe übt auf jedes ihrer Mitglieder einen mächtigen Einfluß aus.
. . . Durch die Gemeinschaft der Individuen entsteht etwas Neues,
Ueberp ersönliches, das sich dem einzelnen gegenüberstellt
und das doch wieder durch die Arbeit der Individuen vermehrt und
modifiziert wird"3). Warum dadurch, daß mehrere Menschen sich
infolge ihrer durch das Beisammensein bedingten wechselseitigen
Beeinflussung in ganz bestimmter Weise — und zwar anders als
wenn jeder isoliert bliebe — verhalten, noch etwas „Neues", „Ueber-
persönliches ", etwas anderes entstehen soll, als was schon da war,
nämlich mehrere sich nach irgendeiner Regel verhaltende Menschen,
muß rätselhaft bleiben. JerusaLem stellt aber diese Behauptung
einfach als eine „soziologische Grundeinsicht" hin. Er beruft sich
dabei ausdrücklich auf DURKHEIM, der die sozialen Gebilde eben
wegen ihres überpersönlichen Charakters als „Dinge" auffaßt. JE
RUSALEM sieht den Vorzug dieser Methode gerade darin, daß sie
fähig sei „ in den Einzelseelen den sozialen Gehalt von dem
persönlichen zu scheiden". Allein wenn das Soziale ein „Gehalt
der Einzelseele" ist, dann bleibt die Existenz des „ Ueberpersönlichen"
erst recht unverständlich. Uebrigens läßt sich wohl in der Einzel-

') Diese bildet einen großen Teil seiner „Einleitung in die Philosophie",
7. u. 8. Aufl., 1919. Das Werk ist außerordentlich verbreitet und in sieben
fremde Sprachen übersetzt.
2) a. a. 0. 252, 287. ») a. a. 0. S. 252.
60 I. Der Staat als soziale Realität.

seele kaum irgendein nichtsozial bestimmen, da mit


Inhalt als
Rücksicht auf die durchgehende Vergesellschaftung des Menschen
von keinem solchen Inhalt behauptet werden kann, daß er auch unter
der Bedingung der Isolierung zustandegekommen wäre. Der Mensch
— so wie er uns in der Erfahrung gegeben ist — ist eben
stets und nach jeder Richtung mit anderen verbunden. Wenn JERU
SALEM „durch fortwährende seelische Wechselwirkung,
meint: die
sich zwischen den Mitgliedern der Gruppe abspielt, wird tatsächlich
etwas Neues geschaffen, was der Einzelne aus sich selbst niemals
hervorbringen könnte", und als Beispiel Sprache, Recht, Sitte an
führt so ist darauf zu erwidern, daß weder der Mensch noch sonst
irgendein Objekt „aus sich selbst heraus" etwas hervorbringen kann.
Jede Wirkung ist auf eine Vielheit von Ursachen zurückzuführen
und ist selbst wieder Ursache für andere Wirkung. Auch die an
geblich bloß „persönlichen" Funktionen bringt der Mensch nicht
aus sich selbst hervor. Und die „Wechselwirkung" ist keines
wegs etwas spezifisch Soziales. Dabei unterläuft bei JERUSALEM
— wieübrigens auch bei andern Soziologen — eine gewisse Un
klarheit. Ist das „Neue", das durch die Wechselwirkung geschaffen
wird, das Recht oder die Gruppe, die Rechtsgruppe oder Rechts
gemeinschaft, die Sprache oder die Sprachgemeinschaft usw. ? Erst
hieß es von der Gruppe, daß sie das vom Individuum Verschiedene,
das dem Individuum von außen objektiv als „Ding" Entgegentretende
sei. Jetzt ist es das Recht, die Sprache usw., die als „Gemeingut
jedem Einzelnen als etwas Dauerndes,
Gegebenes, Festes, zugleich
aber als etwas Ehrfurcht Zwingendes entgegen" trete2).
gebietendes,
Doch wird hinzugefügt: „Dieser Gemeinbesitz ist es, durch den die
Gruppe mehr und etwas anderes ist als die Summe ihrer Mit
glieder. Sie bekommt eben durch dieses geistige Gemeingut eine
Art selbständige Existenz, ein eigenes Leben." Es sind also eigent
lich drei Arten von „Dingen" zu unterscheiden: Die nach irgend
einer Regel sich verhaltenden Einzelmenschen, das soziale Gut (Ge
meingut) und die soziale Gruppe! Offenbar fallen die Begriffe „so
ziales Gut" und „soziale Gruppe" unter den weiteren Begriff der
„sozialen Phänomene". Von diesen sagt JERUSALEM : „Alle sozialen
Phänomene bieten dem Betrachter ein merkwürdiges Doppelantlitz
dar. Sie sind außer uns und treten uns da als Macht und
Autorität gegenüber. Sie beeinflussen, sie beschränken, sie gebieten
und sie zwingen. Das ist zweifellos die Wirkung der geltenden
Gesetze, der herrschenden Sitten, der religiösen Glaubenssätze, der

') a. a. 0. S. 288. •) a. a. 0. S. 288.


§ 9. Jerusalem. 61

Kultgebräuche, der Mode und des herrschenden Geschmackes. Die


sozialen Phänomene sind aber nicht bloß außer und über uns,
sie sind auch in uns. Sie erfüllen unsere Seele mit reichem In
halt. sie geben uns Anschluß und inneren Halt, den wir, auf uns
allein gestellt, nie gewinnen könnten, sie geben unserem Denken
Stoff, Richtung und Ziel"1). Bei der Formulierung der »soziolo
gischen Grundeinsichten ", die sich doch offenbar auf den Gegen
stand der Soziologie, die soziale „Gruppe" beziehen sollen, sagt
JERUSALEM allerdings : „ Alle sozialen Gebilde, d. h. alle Erzeug
nisse des menschlichen Gemeinschaftslebens haben
eine eigenartige Doppelfunktion. Sie sind außer uns und über uns,
zugleich aber auch in uns." Hier ist offenbar nur das soziale „Gut",
Sprache, Recht, Sitte usw. gemeint und als Wirkung der „Gruppe"
behauptet. Die Gruppe erzeugt das Gut? aber ist es nicht an
dererseits doch wieder das Gut, die Sprache, das Recht, die Sitte,
die eine Mehrheit von Menschen zur „Gruppe", zur sozialen Ein
heit macht? 2)
Die Erkenntnis der „Doppelfunktion" der sozialen „Gebilde"
übernimmt JERUSALEM von zwei französischen Soziologen der Schule
DUrKhelMs, H. Hubert und M. Mann,
die in ihrer Schrift „Essai
sur la nature et la fonction du sacrifice"3) die Bemerkung machen:
„Dieser Charakter der intimen Durchdringung und Trennung, der
Immanenz und Transzendenz ist im höchsten Grade bezeichnend für
die sozialen Dinge. Sie sind je nach dem Standpunkt auf den man
sich stellt, zugleich innerhalb und außerhalb des Individuums." Es
ist überaus bezeichnend für die Richtung dieser soziologischen Spe
kulation, daß JERUSALEM diesen Gedanken der DURKHEIMschen Schule
mit den Worten darstellt: Die sozialen Gebilde sind nicht nur in
uns, sie sind außer uns und über„Ueber uns" verrät
uns. Dieses
das eigentliche Prinzip, die letzte,
eingestandene nicht
Voraus
setzung. JERUSALEM interpretiert die DURKHElMsche Lehre dahin:
„Der Kern dieser Wahrheit ist allerdings schon in dem ebenso tief
sinnigen wie schlichten Worte Christi enthalten: »Wenn zwei bei
sammen sind in meinem Namen, so bin ich mitten unter ihnen.«
Wo immer sich mehrere Menschen zu einer gemeinsamen sittlichen
') a. a. 0. S. 253.
*) L'annee sociologique, II
(zitiert nach JekusaLem, S. 289).
») In erscheinen Sprache, Recht usw. als „Erzeug
anderem Zusammenhang
nisse des Gesamtgeistes" (S. 253). Der Gesamtgeist muß aber doch wohl als
„Erzeugnis" der Gruppe gelten? Oder die Gruppe ist „Träger" des Gesamt
geistes? Dieser aber wieder das konstituierende Prinzip für die Einheit der
Gruppe. Ein ewiger Zirkel, hervorgerufen durch die verdoppelnde Hyposta-
sierung.
62 I. Der Staat als soziale Realität.

Aufgabe vereinen, da erhebt sich zwischen ihnen und über


ihnen ein Höheres, ein Ueberpersönliches, das dem Einzelnen
als etwas Objektives gegenübersteht, das aber doch wieder tief in
seine Seele eindringt, sein Selbst erweitert und ihn zu einer
höheren Weihe emporhebt.
"
Wäre solch ethisches Pathos bei
einer wirklich naturwissenschaftlichen Untersuchung, etwa bei einem
Problem der Mechanik, möglich? Kann noch zweifelhaft sein, warum
die sozialen Gebilde etwas „Höheres", warum sie „über uns" sind?
Kann mit dem Gegensatz ihrer Existenz in uns und jener außer, bzw.
über uns etwas anderes verstanden (richtiger: mißverstanden) werden
als die objektive Sollgeltung der Norm zum Unterschied von der
Wirksamkeit der Vorstellung solcher Norm in der Seele des Ein
zelnen? Ist die Vorstellung des „über" den Menschen stehenden
sozialen Gebildes etwas anderes als ein — zu wörtlich genommenes
— Bild für den Wert, der in seiner spezifischen Geltung „über"
der Wirklichkeit steht? Kann der Widerspruch: daß etwas — eben
dasselbe Ding — in mir und zugleich nicht in mir, weil außer
mir ist, anders behoben werden als durch die Erkenntnis, daß es
sich um zwei verschiedene Gegenstände, weil um zwei verschiedene
Erkenntnisrichtungen handelt, daß die zwei verschiedenen „Stand
punkte ", von denen Hubert und Mann sprechen, eben zu zwei ver
schiedenen Erkenntnisobjekten führen müssen?
Als ein besonders Beispiel eines sozialen Gebildes,
bedeutsames
das einerseits in uns, aber außer und über uns ist,
andererseits
führt JerusaLem den Staat an. Er meint: „Wäre er bloß in uns
wie der ideale Begriff der ganzen Menschheit, und nicht zugleich
über uns als zwingende und gebietende Macht, er könnte uns nie
mals zu so kraftvoller Einheit zusammenschließen und zu so großen
Kulturleistungen vereinigen"1). Gerade das- Umgekehrte ist wahr.
Als motivierende, Wirkung zeugende „Kraft" kommt der Staat über
haupt nur „in uns" in Frage, d. h. kommt nur die psychische Realität
der Vorstellungen in Betracht, die die staatlichen Normen zum In
halt haben. Je intensiver im Innern der Einzelmenschen das Denken,
Fühlen, Wollen ist, das die staatlichen Normen zum Inhalt hat,
desto stärker jene Wirkungen, die JerusaLem im Auge hat. Als
Realität im natürlichen Sinne, als „Macht", d. h. wirksame Ursache
ist der Staat — wenn der Terminus in dieser Beziehung überhaupt
zulässig wäre, Sofern er außer uns ist — nämlich
nur in uns.
als ideelles System gültiger Normen, kommt die Wirksamkeit, die
sich in dem tatsächlichen Verhalten der Menschen äußert, gar nicht

') Der Krieg im Liebte der Gesellschaftslehre, 1915, S. 65.


§ 9. Jerusalem. 63

in Beträcht.' Im übrigen sagt JerusaLem in anderem Zusammen


hange wieder das Gegenteil: „Die soziale Wirksamkeit des Staates
ist also (im Kriege) dadurch erhöht worden, daß er seinen Bürgern
nicht bloß als Macht und Autorität gegenüberstand, also nicht bloß
außer und über ihnen stand, sondern auch einen integrierenden Be
standteil jeder Einzelseele bildete und so zugleich in ihnen wirksam
wurde"
1).

Sofern der Staat eine außer und über den Individuen stehende •
Realität ist, wird er von JERUSALEM — wie dies

ja
auch seitens
der meisten Juristen geschieht — als und zwar als Ge Wille


sa mtwille" charakterisiert.
Näher betrachtet ist jedoch der Staat
nicht dieser Gesamtwille selbst, sondern nur der Träger" dieses


Gesamtwillens, als welcher gelegentlich auch das Recht aufgefaßt
wird. „Der Gesamtwille schafft sich aber auch sehr verschiedene Träger.
.... In fast allen Kulturländern aber geht in den letzten Jahrhun
derten die Entwicklung dahin, daß der Staat immer mehr zum Man
datar der Ges ellschaft sich ausgestaltet . ."2). Es ist nicht

.
recht klar, was mit dieser letzteren Behauptung eigentlich gemeint
ist. Vermutlich, daß der umfassendste Gesamtwille, der der ganzen
Gesellschaft, im Staat seinen Träger findet. Ein ähnlicher Gedanke,
wie er schon bei DUrKHelM auftritt, wenn dieser von Staat als„ Ge
sellschaft als Ganzes" spricht. Daß der Staat eine Rechtsgemein

schaft" sei, hat JERUSALEM gleich zu Anfang behauptet. Nunmehr


führt er aus: „Der Staat hat als Machtorganisation begonnen und
wird in gewissem Sinne immer Machtorganisation bleiben. Die Ent
wicklung geht aber dahin, daß die Macht immer weniger Selbst
zweck und immer mehr bloßes Mittel wird, das dazu verwendet
werden muß, höheren Zwecken zu dienen. Das zeigt sich zunächst
darin, daß die Organisation der Macht von selbst dazu führt, den
Staat zur Rechtsorganisation auszugestalten"3). Allein ebenso wie
der Staat „in gewissem Sinne" immer Machtorganisation ist, ist er „in
gewissem Sinne", nämlich von einem bestimmten Standpunkt aus
nichts
ja

gesehen, immer Rechtsordnung. Die Rechtsordnung ist


anderes Organisation, Macht- oder Zwangsorganisation.
als Nur
wenn man den Begriff des Rechtes nicht positivistisch, sondern natur
rechtlich-ethisch faßt, wenn man nur eine inhaltlich bestimmt quali
fizierte Zwangsordnung Recht nennt, dann kann man zwischen Staaten, .

die Rechtsordnungen und solchen, die es nicht sind, unterscheiden.


Das ethische Kriterium wird freilich ein recht subjektives sein müssen
und man wird von verschiedenen Parteistandpunkten ans zu sehr

Einleitung in die Philosophie, 291.


S.
») ')

a. a. 0. S. 261. a. 0. 339.
S.

a.
»)
64 I. Der Staat als soziale Realität.

verschiedenen Beurteilungen desselben Staates (aber auch desselben

Rechtes) gelangen1).
Die Ausführungen, die JERUSALEM dem Staate widmet, haben
einen durchaus ethischen, man berücksichtigt, daß er den
und wenn
Staat als RechtsOrdnung auffaßt, einen naturrechtlichen Charakter.
Und so wird die Hypostasierung realpsychischer Funktionen der
Einzelmenschen schließlich zu einer Hypostasierung ethisch-politischer
» Postulate. Der Weg, auf dem dies geschieht, ist: die bekannte
Lehre von der Persönlichkeit des Staates. „Dadurch, daß die Bürger
in immer weiterem Umfang an der Leitung und Verwaltung teil
nehmen und siph infolgedessen für die Handlungen ihres Staates
mitverantwortlich fühlen, wächst der Staat in die Tiefe und bildet
sich allmählich zu einer Art von Persönlichkeit höherer Ord
nung aus. Mit dem Begriff der Persönlichkeit ist aber, wie uns
KANt gezeigt hat, das Bewußtsein der eigenen Würde und der daraus
sich ergebenden sittlichen Forderungen unzertrennlich verknüpft.
Nun ist aber das Bewußtsein der Menschenwürde aus der indivi
dualistischen Entwicklungstendenz dadurch hervorgegangen, daß diese
zum Universalismus geführt und so die Idee der ganzen Mensch
heit als einer großen Einheit gezeitigt hat. Wenn nun der Staat
so weit in die Tiefe gewachsen ist, daß er sich zu einer innerlich
geschlossenen einheitlichen Persönlichkeit ausgestaltet hat, die sich
nicht bloß ihrer Macht, sondern vor allem ihrer eigenen Würde
deutlich bewußt geworden ist, so tritt er dadurch in neue, vorher
nicht deutlich genug vorgestellte Beziehungen zur Idee der ganzen
Menschheit und der daraus sich ergebenden sittlichen Verbindlich
keiten. In diese Beziehungen zwischen Staat und Nation auf der
einen und der ganzen Menschheit auf der anderen Seite vermag die
soziologische Betrachtungsweise tief hineinzuleuchten"2); deren rein
normativer Charakter hiemit freilich zur Genüge dargetan ist.

§ 10.
Tönnies, Spann.
Von neueren Soziologen sei auch TÖNNIES erwähnt, der in seiner
etwas eigenartigen Terminologie den Staat nicht als „Gemeinschaft",
sondern als „Gesellschaft" gelten läßt, d. h. als „ideelle mecha
nische", nicht als „reale organische" Verbindung charakterisiert3)
und von den Personen, deren Kreis der Staat als eine „Gesellschaft"
konstituiert, behauptet, sie seien nicht, wie in der „Gemeinschaft",

') Vgl. dazu unten S. 188 ff. ») a. a. 0. S. 340, 341.

") Gemeinschaft und Gesellschaft, 2. Aufl., S. 3.


§ 10. Tönnies, Spann. 65

„wesentlich verbunden", sondern „wesentlich getrennt"1), ohne


„gegenseitige innere Einwirkung"2), ein nur „durch Konvention
und Naturrecht einiges Aggregat"3); der Staat sei ein „Verein",
somit kein Naturprodukt, sondern ein in Gedanken gemachtes Wesen*),
eine „künstlich-fingierte Person" und als solche eine Konstruktion
wissenschaftlicher Erkenntnis, eine Einheit, die „ erst durch das Denken
zusammengesetzt wird und mithin ihre Existenz, welche durchaus
ideeller Natur ist, nach der Existenz der Vielheit, außerhalb der
selben und gleichsam über ihr hat"

5).
Oder wenn SPANN die sozialen Gebilde in bewußtem
Gegensatz
zu einer psychologistischen Anschauung als „Objektivationssysteme"
zu begreifen versucht und sie derart charakterisiert, daß sie sich als
objektiv gültige Normsysteme oder Ordnungen darstellen: nämlich
als Systeme ideeller, auf dasselbe prinzipielle Ziel gerichteter
Handlungen Eine „ideelle" Handlung kann aber nur — im Gegen
").

satz zu einer real-empirischen — eine geforderte, ideale, gesollte


Handlung, kann nur die Norm einer Handlung sein. Die Einheit
des Ziels ist nach SPANN nicht etwa die faktische Uebereinstimmung
empirischer Wollungen, Zielstrebungen, kann somit nur die Einheit
eines gültigen Zwecks oder Zwecksystems
objektiv sein, was nur
ein anderes Wort für Normsystem ist. Wenn SPANN die „Objekti-
vationen" als „Abstraktionen" empirischen Gebilden entgegen
setzt, so übersieht er, daß auch die empirische Erkenntnis mit
Abstraktionen operieren muß, daß „empirisch" und „abstrakt"
gar kein Gegensatz ist. In
immer wiederkehrenden Betonung
der
der „Abstraktion" liegt offenbar die nicht ganz bewußt gewordene
Vorstellung von dem bloß erkenntnistheoretischen Charakter der
sozialen Einheit, so wie in der Opposition gegen die psycho-
logistisch - realistische Konstruktion der Gesellschaft sich die Be
sinnung geltend macht, daß die soziologischen Einheiten nicht in der
realen Außenwelt psychischen oder physischen Geschehens, sondern
in dem Geist des die Gesellschaft Erkennenden konstituiert sind.
In
'),

seinem „System der Gesellschaftslehre" das keineswegs eine


juristische Theorie sein will, gelangt SPANN bei der Wesens
.

bestimmung Staates — der hier beinahe


des mit der Gesellschaft
zusammenfällt8), in unmittelbarste Nähe der Rechtsordnung. „Staat
ist allgemeinste und oberste Anstalt, Einheitserscheinung, Ein-
h.
d.

heitsträger aller Veranstaltung. Hiermit ist der Staat zugleich ge-

0. S. 0. 0.
S. S.
S. S.

a. a. 78. a. a. 63. a. a. 63.


2)

•) »)
«) ')

0. 0. 0. ff.
S.

a. a. 275. a. a. ff. a. a.
6
2
")

Kurz gefaßtes System der Gesellschaftslehre, 1914.


')

Vgl. insbesondere S. 189


f.
«)

K n Staatabegriff.
5
1
8
e

e
,
66 I. Der Staat als soziale Realität.

kennzeichnet als : die ideelle,


einheitliche Summe aller veran
staltenden Handlungen in der menschlichen Gesellschaft, und ent
sprechend sind alle nichtstaatlichen Anstalten begrifflich bloß als
Delegierte zu betrachten, wie sie denn auch in Wirklichkeit vom
Staate nur geduldet sind ....
Umgekehrt gipfelt dann im Staate
alles. Dieser ist daher nicht nur der Ausdruck dieser Einheit, son
dern ideell gefaßt, diese selbst" Der Zusammenhang des Staates

1).
— als oberste „Anstalt" — mit dem Recht wird bei SPANN durch
dessen eigenartigen Begriff der „Veranstaltung" hergestellt. Das
„veranstaltende" Handeln geht auf die Verstetigung der Gemein
schaftsvorgänge, auf ihre Sicherstellung als Vorgänge, die sich wieder
holen werden oder n Zum Wesen des veranstaltenden

(!)
2).
e
o
1
1
s


Handelns" gehört aber auch: „daß dieses Handeln als inhaltlich
beeinflussendes bedarf, eines Regelwerkes,
Eingreifen der Richtlinien
.

einer Prinzipienlehre, wenn man so sagen darf. Wir nennen diese


Richtlinien Satzung. So ist individuelle Moral Satzung für die
individuelle Gestaltung und Einteilung des Lebens, gesellschaftliche
Moral und Recht sind die grundlegenden Satzungen für alle kon-
gregalen (d. h. überhaupt alle wirklichen) Veranstaltungen" Da

s).
das Recht nur die Fortsetzung des Moralsystems ist, indem dieses
objektiv auf die Gesellschaft übertragen wird ist der Staat die
Veranstaltung des Rechts, die Einheit aller durch das Recht ge 4),
richteten, das Recht veranstaltenden Handlungen. „Die Einheit der
Satzungen ist in demselben Maße gegeben", als auch „die Veran
staltungen eine ideelle Einheit bilden, den Staat" Sofern die Ein
5).

heit der veranstaltenden Handlungen — das sind die das Recht reali
sierenden Handlungen — nur in der Einheit der Rechtssatzungen,
der Rechtsnormen, der Rechtsordnung gegeben ist, scheint es eine
überflüssige Verdoppelung zu sein, neben der Satzung die Veran
staltung, neben dem Recht den Staat zu unterscheiden. Und wenn
Spann das Recht als „Einheitsträger aller Satzungen" dem Staat
6)

als „Einheitsträger aller Veranstaltungen" zuordnet, so sind, da


7)

die als „Veranstaltung" bezeichnete Handlung inhaltlich identisch


sein muß mit der Handlung, die den Inhalt der die Veranstaltung deter
minierenden Satzung bildet, letztlich beide „Einheitsträger" identisch.
So liefert — und das ist gewiß höchst symptomatisch — diese Ge
sellschaftslehre einen rein juristischen Staatsbegriff8).

0. 0. 0. S. 53.
S. S.

S.

a. a. 186. a. a. 23. a. a.
») 2)

•) »)
4) ')

a. a. 0. 179. a. a. 0. S. 179. a. a. 0. S. 179.


a. 0. S. 180.
a.
')

Vgl. dazu auch die Bemerkungen zur Gesellschaftstheorie Wundts und


3)

Max Webers, unten 149 ff.


S.
§ 11. Individuum und Staat. 67

§ 11.
Individuum und Staat.
Besonders deutlich zeigt sich der normative Charakter des Staates
als einer überindividuellen Einheit in dein Gegensatz, den man
im allgemeinen zwischen Individuum und Gesellschaft anzunehmen
pflegt und der sich politisch am schärfsten gerade in dem Verhältnis :
Einzelmensch und Staat konkretisiert. SlMMEL formuliert gelegent
lich das Problem der Assoziation dahin, „daß aus in sich geschlossenen
Einheiten — wie die menschlichen Persönlichkeiten es mehr oder
weniger sind — eine neue Einheit werde. Man kann doch
nicht ein Gemälde aus Gemälden herstellen, es entsteht doch kein
Baum aus Bäumen; das Ganze und Selbständige erwächst nicht aus
Ganzheiten, sondern aus unselbständigen Teilen. Ganz allein die
Gesellschaft macht das Ganze und in sich Zentrierende zum bloßen
Gliede eines übergreifenden Ganzen"1). Es muß wohl alles
darauf ankommen, wie dieses „Uebergreifen" gedacht werden kann,
ohne in einen Widerspruch zu der Ausgangsbasis, dem in sich ab
geschlossenen Individuum
zu geraten, wie die Sphäre des Psycho
logischen auch nach Uebergriff noch behauptet, oder wenn
diesem
sie nicht behauptet werden kann, in welchen Denkbereich dieser
Uebergriff führt. SlMMEL fährt fort: „All die ruhelose Evolution
der gesellschaftlichen Formen im großen wie im kleinen ist im letzten
Grunde nur der immer erneute Versuch, die nach innen hin orientierte
Einheit und Totalität des Individuums mit seiner sozialen Rolle als
eines Teiles und Beitrages zu versöhnen, die Totalität der Gesellschaft
vor der Sprengung durch die Selbständigkeit ihrer Teile zu retten."
Für eine rein psychologische oder — wenn man will — sozial
psychologische und als solche soziologische Betrachtung liegt der
fragliche Tatbestand darin, daß der Einzelmensch den ihn mit den
andern „verbindenden" sozialen Tendenzen widerstrebt, die ihn in
eine Uebereinstimmung des Wollens und Handelns mit den andern
und zu dem Gefühl oder Bewußtsein dieser Uebereinstimmung drängen,
und den „trennenden", d. h. asozialen Trieben folgt, die ihn zu einem
andern Wollen und Handeln als das der andern und zu einem Gefühl
oder Bewußtsein des führen. Das Problem: wie aus
Gegensatzes
dem Ganzen ein Teil, wie aus Einheiten eine höhere „übergreifende"
Einheit werde, ist hier — für die psychologische Betrachtung — gar
nicht gegeben. Denn ganz abgesehen davon, daß auch das mensch
liche Individuum für diese Betrachtung keineswegs eine unbezweifel-

') Soziologie, S. 186/87.


5*
68 I. Der Staat als soziale Realität.

bare Einheit oder ein abgeschlossenes Ganze sein muß: diese Einheit
selbst zugegeben, kann ihr dadurch keinerlei Abbruch geschehen,
daß ihr Bewußtsein und das daraus entspringende äußere Verhalten
mit dem anderer Individuen gleichgerichtet ist, daß in dem indi
viduellen Bewußtsein die Vorstellung oder das Gefühl dieser Ueber-
einstimmung, oder worin sich sonst das psychische Moment des
„ Verbundenseins
"
manifestiert, lebendig wird. Wenn SlMMEL — in
Fortsetzung seines zitierten Gedankens — meint, daß „jeder
oben
Konflikt zwischen den Gliedern einer Gesamtheit deren Weiterbestand
zweifelhaft macht", so ist dies nur dahin richtigzustellen, daß jeder
Konflikt die Gesamtheit unrettbar zerstört,weil die „Gesamt
heit", sofern der „Konflikt" sie überhaupt berühren kann, in nichts
anderem als in der Uebereinstimmung des inneren oder äußeren Ver
haltens der einzelnen besteht. Von sozialer Einheit ist hier im Sinne
jenes Typus die Rede, der früher als „Parallelität psychischer Pro
zesse" charakterisiert wurde. Und in solcher sozialen Einheit ist
nicht das Problem des aus Ganzen zusammengefaßten „übergreifen
den" Ganzen gestellt, solches soziale „Gebilde" ist nicht das aus
Gemälden hergestellte Gemälde, der aus Bäumen entstandene Baum,
sondern nur der im Verhältnis zu den zusammensetzenden Teilen
gänzlich unproblematischen Gemälde Sammlung oder einem Walde
zu vergleichen, den nur dichterische Phantasie in der Hypostase eines
einzigen Baumes zu verkörpern das Bedürfnis fühlt.
Zu einem theoretischen Problem wird die soziale Einheit
nicht, wenn sie nur eine Abstraktion von Individuen gleicher Eigenschaft,
d. h. gleichen Wollens und Handelns ist. Hier käme höchstens ein
praktisches Problem in Frage : Wie können die Individuen zu
gleichem Verhalten gebracht werden. Allein dieses Problem der
praktischen Politik ist scharf zu trennen von dem Problem einer
theoretischen Soziologie : Wie ist soziale Einheit zu begreifen.
Und problematisch wird die Idee der sozialen Einheit nicht,
wenn diese Einheit durch jeden „Konflikt" der die Einheit bildenden
Individuen in Frage gestellt oder zerstört wird, sondern wenn
diese Einheit trotz des Konfliktes, ungeachtet
d e s K o n f 1 i kt e s als existent g e d a c h t w er d e n m u ß ,
wenn diese Einheit unabhängig von dem Wollen
und Handeln der in ihr zusammengefaßten Indi
viduen ihren Bestand, ihre Geltung haben soll.
In diesem Widerspruch zwischen dem „Willen des Staates" und
dem Willen der Menschen, die doch selbst den Staat, deren Willen
den Staatswillen „bilden", und nicht so sehr darin, wie aus den Indi
viduen als in sich geschlossenen Ganzen der Staat — selbst ein
§ 11. Individuum und Staat. 69

Ganzes — erst gebildet werden kann, liegt die prinzipielle Antinomie,


die es als bloßen Schein aufzulösenliegt gilt! Und die Lösung
darin, daß dasjenige, was man den Staates nennt und „Willen" des
was mit dem Staate selbst identisch ist, als etwas wesentlich anderes
erkannt wird als der empirisch reale, psychische Wille des Einzel
menschen, der grundsätzlich zum Willen des Staates in Widerspruch
stehen kann, ohne daß dadurch dessen Einheit berührt wird, obgleich
er nur die Einheit einer Vielheit von Einzelwillen ist. Denn dieser
„ Wille" des Staates (oder der Staat selbst) ist nur der anthropo-
morphe Ausdruck für die Einheit einer Ordnung, einer
Sollordnung menschlicher Wollungen oder Handlungen, die in diesem
Staatswillen so enthalten sind, wie eben ein Willensakt oder eine
Handlung als Inhalt einer Norm gedacht wird. Daß dieser Staatswille
aus den empirischen Willensakten der Menschen gewonnen werde, ist
nur insoferne richtig, als der sog. Staatswille seinen Inhalt, nicht
aber seine Wesensform, seine Geltung durch empirische Willensakte
erhält. Nur die irreführende Terminologie, die in beiden Fällen von
einem zu der ins Mystische drängenden
„Willen" spricht, verleitet
Annahme einer Wesensgleichheit. Spräche man von Staatsordnung
statt von Staatswillen, läge gar kein Problem mehr vor. Nur wenn
man den seinem Inhalt nach etwa durch Majoritäts beschluß
bestimmten Kollektiv-, Willen" mit den den Abstimmungsakt bilden
den menschlichen Einzelwillen in der gleichen Sphäre der Seinswelt
annimmt, muß man — wie etwa SlMMEL — im Wesen des die
Grundlage des demokratischen Staates bildenden Majoritätsprinzips
eine „fundamentale Problematik" suchen, die darin besteht, „einen
einheitlichen Willensakt aus einer Gesamtheit zu extrahieren,
die aus gerichteten Individuen besteht". Allein es ist
verschieden
ein Irrtum, zu glauben, daß die soziale Einheit den Charakter eines
„jenseits der bloßen Summen der Individuen" stehenden Ganzen, das
„nicht ganz eines Tones entbehrt"
1),

überempirischen, mystischen
erst dann und nur dann erhält, wenn das Majoritätsprinzip in Gel
tung steht, weil die Majorität ihren Willen der Minorität nur als
Vertreterin oder Organ der auch die Minorität umfassenden sozialen
Gesamtheit aufdrängen darf. Auch die mit Einstimmigkeit be
schließende Volksversammlung hat nie und nirgends tatsächlich alle
Menschen umfaßt,
für die der Beschluß Geltung beansprucht und
die — nur in der Einheit dieser Sollgeltung zusammengefaßt
eben
— die soziale Gruppe bilden. Und weil auch eine solche Volks
versammlung nicht bloß räumlich immer nur ein Teil des Volks-

SniMEL, 0.
S.

a. a. 190.
1)
70 I. Der Staat als soziale Realität.

körpers, sondern auch zeitlich nur einen Augenblick in der


dauernden Einheit des sozialen Ganzen darstellt, müssen auch die
einstimmig Beschließenden stets als Organ einer überindividuellen,
jenseits nicht nur der faktisch abstimmenden Individuen (die ihren
Willen faktisch ändern können), sondern auch aller nicht Abstimmungs
berechtigten Einheit
angesehen werden, wenn überhaupt
stehenden
jene soziale begriffenEinheit
weiden soll, die auch bei einer ein
stimmig beschließenden Volksversammlung in Frage steht. SIMMEL
meint, die „ursprünglich soziologische Empfindung der Germanen"
sei gewesen: „Die Einheit des Gemeinwesens lebt nicht jenseits der
Einzelnen, sondern ganz und gar in ihnen, daher war der Gruppen
wille nicht nur nicht festgestellt, sondern er bestand überhaupt nicht,
solange noch ein einziges Mitglied dissentierte" Die „soziologische

1).
Empfindung" der Germanen mag heute nicht mehr leicht festzustellen
sein. Ihre Anschauung vom Wesen der Gesellschaft und insbeson
dere Staates dürfte recht primitiv gewesen sein.
ihres Und wenn
sie auch für einzelne staatliche Institutionen, für den Inhalt gewisser
Normen bestimmend gewesen sein mag, für unsere Anschauung
vom Wesen des germanischen Staates kann sie es ebensowenig
sein wie die höchst unklaren Vorstellungen, die auch heute in den
Köpfen der den Staat bildenden Menschen von diesem Gemeinwesen
bestehen, für eine wissenschaftliche Bestimmung der soziologischen
Einheit Staates maßgebend sein können.
des Das ist jedenfalls ein
Irrtum — und zwar ein solcher, den nicht einmal die Germanen
selbst gemacht haben dürften: daß ein Gruppenwille nicht bestand,
solange nur ein einziges Mitglied dissentierte. Denn wie schon früher
bemerkt, gehörten zu der Gruppe — nicht etwa bloß nach heutiger
Ansicht, sondern auch nach Ansicht der Germanen — sehr viele
„Mitglieder" — es war sicherlich die überwiegende Mehrheit! —
,

die bei der Abstimmung gar nicht teilnehmen durften; dann aber
bewährte sich der Gruppen „wille" in seinem spezifischen „Bestand",
in seiner Sollgeltung, gerade auch jenen stimmberechtigten Mit
d.
i.

gliedern die nach erfolgter Abstimmung


gegenüber, dissentierten,
ganz von jenen Inhalten des „ Gruppenwillens
abgesehen die nicht
durch Beschlüsse der lebenden Generation, sondern aus uralter Vor
zeit übernommen, ohne jede Mitwirkung der in der Volksversamm
lung jeweils Stimmberechtigten als „bindend", als verpflichtend
h.
d.

galten. Daß dies alles im Bewußtsein — nämlich im Rechts-


bewußtsein — der Germanen stand, und daß die Einheit des Gemein
wesens von allem anthropomorphistischen und mythologischen Bei-

0.
S.

a. a. 190.
')
§ 11. Individuum und Staat. 71

werk entkleidet eben nur in dem Bewußtsein der Rechts einheit,


der Einheit einer als gültig vorausgesetzten Rechtsordnung — auch
bei den Germanen — besteht, dürfte nach dem Gesagten kaum be
zweifelt werden. Ebenso, daß dies unvereinbar ist mit der Vorstel
lung einer ausschließlich in dem Willen der an der Volksversamm
lung teilnehmenden Einzelmenschen lebendigen und nicht „ über
individuellen " sozialen Einheit. Weshalb es zumindest gewagt
erscheinen muß, gerade diese soziologische Theorie den alten Ger
manen zu imputieren. Was soll daher bedeuten, wenn SlMMEL fort
fährt: „Dem gegenüber ist es nun eine prinzipiell neue Wendung,
wenn eine objektive Gruppeneinheit mit einem ihr eigenen einheit
lichen Willen vorausgesetzt wird, sei es bewußt, sei es, daß die Praxis
so verläuft, als ob ein solcher für sich seiender Gruppenwille
bestünde"; und unmittelbar daran das Ergebnis knüpft, „der Wille
des Staates" bestehe „ebenso jenseits des Gegensatzes der in ihm
enthaltenen Individualwillen, wie er jenseits des zeitlichen Wechsels
seiner Träger besteht" Bedeutet diese „prinzipiell neue Wendung"
eine historische Aenderung im Wesen des Staates? oder eine Aende-
rung in der Anschauung vom Staate? Konnte der Staat jemals
anders begriffen werden denn als eine „jenseits des Gegensatzes der
in ihm enthaltenen Individualwillen" existente „objektive Gruppen
einheit"? War der Staat jemals etwas anderes? Und konnte es irgend-
jemals oder irgendwie möglich sein, diese „objektive Gruppeneinheit"
auf dem Wege p s y ch o lo g is ch - emp ir i s ch e r Untersuchung
als Einheit zu begreifen, wenn sie die zueinander in „ Gegensatz
stehenden" Individualwillen in sich „enthalten" und zugleich „jen
seits" dieser gegensätzlichen Individualwillen stehen soll? Kann dieses
„überindividuelle" Gebilde, das nicht ganz eines überempirischen und
„mystischen Tones entbehrt", jene „Einheit im empirischen Sinne"
sein, als welche SrjtfMEL zu Beginn seiner Untersuchungen ausdrück
lich auch den Staat, vor allem den Staat bezeichnet und
die nichts anderes ist als „Wechselwirkung von Elementen", „die
untereinander in einem engeren Wechseltausch ihrer Energien stehen
als mit irgendeinem äußeren Sein"? Und muß nicht das „Mystische"
dieser überindividuellen Einheit verschwinden, das Unlösbare dieses
Problems gelöst werden, sobald man erkennt, daß die Einheit, in der
der Staat die Individuen „objektiv" und „überindividuell" zusammen
faßt, der Sinn, in dem der „Wille" des Staates die individuellen
Wollungen und Handlungen „enthält", in einer prinzipiell andern
Sohäre liegt als die Seins ebene , in der der Gegensatz,

') a. a. 0. S. 191.
72 I. Der Staat als soziale Realität.

der Konflikt dieser individuellen Wollungen und Handlungen


aktuell wird, nämlich in der Sphäre des Sollens. Die individuellen
Wollungen können zueinander (und darum zum Staate) realiter in
Gegensatz stehen und dennoch — in der Sollordnung des Staates
so „enthalten", wie irgendwelche Handlungen „Inhalt" irgend
den
einer Norm bilden — eine Einheit bilden, die von dem ordnungs
widrigen „Konflikt" ebenso unberührt bleibt wie irgendeine Norm
von dem ihrem Inhalt widersprechenden Faktum. Ein „Wille des
Staates", der „jenseits des Gegensatzes der in ihm enthaltenen Indi-
vidualwillen " und „jenseits des zeitlichen Wechsels seiner Träger"
besteht, ist eine unvollziehbare Vorstellung, ist ein Widerspruch in
sich selbst, wenn dieser „Wille des Staates", diese Einheit des
Staates, wenn dieser Staat in derselben Form gedacht werden soll
wie die gegensätzlichen Individualwillen, die in Konflikt stehenden
Individuen, nämlich: in der Ebene des Seins, wenn er — der durch
die ihm angewiesene Stellung „jenseits" der einzig realen Indi
viduen — aller empirischen Realität entkleidet ist, als empirisch
reale Wesenheit gelten soll. Er ist aber möglich, ist widerspruchslos
denkbar, wenn er als ideale
Ordnung der individuellen Willen und
Handlungen verstanden, in der Soll form vorgestellt wird, die
d. h.
zu einem inhaltlich widersprechenden Seins inhalt konkreter
Wollungen und Handlungen der Einzelmenschen in keinem aus
schließenden Gegensatz steht, wenn man erkennt, daß das „Jenseits",
in das die staatliche Einheit verlegt werden muß, keine metaphysische
oder mystische Welt der objektiven Geister oder sozialen Seelen,
sondern die gedankliche Welt des Sollens, d. h. ein vom Sein der
Natur verschiedenes System gewisser in einer spezifischen — durch
das „Sollen" eben ausgedrückten — Eigengesetzlichkeit
verknüpfter
Elemente ist.
Wo ein einheitlicher überindividueller Gruppenwille „supponiert"
werde, da „dissentieren die Elemente der Minorität sozusagen als
bloße Individuen, nicht als Gruppenglieder", sagt SIMMEL womit
er nur behauptet : Das Gruppenmitglied kann nicht dissentieren,
was, wenn Gruppenmitglied als Naturfaktum genommen, sein
das
Wollen Handeln vom empirisch -psychologischen Standpunkt
und
einer Seinsbetrachtung gesehen wird, ein Unding ist und einen mög
lichen Sinn nur erhält, wenn das Gruppenmitglied, wenn dessen Wollen
und Handeln eben so genommen wird, wie es in dem Gruppen„ willen",
in der überindividuellen Einheit „enthalten" ist: als Inhalt einer
Norm, eines S o 1 le ns , d.h. als Inhalt eben jenes spezifischen, vom

') a. a. 0. S. 192.
§ 11. Individuum und Staat. 73

System der Natur verschiedenen, eigengesetzlichen Systems, das man


als Staat oder Recht oder Gemeinschaft oder sonstwie als soziales
„ Gebilde" bezeichnet. Die Behauptung, man könne als Gruppen
mitglied keinen dem Gruppenwillen widersprechenden Willen haben,
ist nur der in die Seins form gekleidete und darum fiktive Aus
druck für die Erkenntnis, daß die die Einheit der Gruppe bildende
Sollnorm unter allen Umständen für alle Mitglieder ihre Geltung
behauptet, auch dem faktisch Dissentierenden gegenüber, dessen
Spaltung in zwei reale Wesenheiten : Individuum und Gruppen
mitglied, nur die typische Verdoppelung anthropomorphistischer Hypo-
stasierung der in ihrer Gültigkeit unverletzbaren Norm seines
Wollens ist, die zu der Wirklichkeit seines Wollens als zweiter
Mensch hinzutritt. Der Gruppen „wille" oder die mit ihm identische
soziale Einheit, das soziale Gebilde ist ebensowenig eine „Realität"
im Natursinne wie das „ Gruppenmitglied ". Darin liegt ja die Fiktion,
daß man diese normativen Gedankendinge auf dieselbe Ebene proji
ziert, in der der empirische Seelenprozeß des individuellen Wol
lens verläuft, der als das Grundmaß der „ Realität" gilt. Der
Gruppenwille ist ein Normsystem, eine Ordnung, das Gruppenmitglied
— die physische Person — eine Teilordnung. Dies aber ist der
methodische Grundfehler: daß man den inhaltlichen Gegensatz zwi
schen der So 11 Ordnung und einer Seinstatsache als logischen Wider
spruch voraussetzt und durch eine Fiktion,
die Fiktion eines mit
der Ordnung übereinstimmenden Seins (das nicht dissentieren
könnende Gruppenmitglied) aufzuheben versucht, während die
Erkenntnis, daß von den beiden einander widersprechenden In
halten der eine in der Form des Seins, der andere in der des
Sollens auftritt, das Fehlen eines logischen Widerspruchs zeigt und
jede Fiktion überflüssig macht ; insbesondere die Fiktion der
„ realen" sozialen Einheit des Staates, die sich als eine irgendwie
organismusartige Verbindung der als real fingierten Staatsglieder
darstelllt.
Man pflegt das Problem, das sich hier darbietet, in dem Gegen
satz von Individuum und Gesellschaft, Individuum und Staat zu
charakterisieren. Mit Rücksicht auf die problematische Einheit des
Individuums, empirische Realität durchaus zweifelhaft ist,
dessen
wäre es richtiger, die individuellen Wollungen oder Handlungen dem
kollektiven Staat entgegenzusetzen. Solange man den Gegensatz in
einer und derselben Erkenntnisebene des empirischen Naturseins ver
mutet, muß das Problem tatsächlich den Eindruck der Unlösbarkeit
machen. Doch kann insolange nicht eigentlich von einem „unver
söhnlichen und tragischen Dualismus zwischen dem Eigenleben des
74 I. Der Staat als soziale Realität.

Individuums und dem des gesellschaftlichen Ganzen" 1) gesprochen


werden, als nur ein fehlerhafter logischer Widerspruch zwischen der
Thesis: das Individuum ist ein Ganzes, und der Antithesis: das Indi
viduum ist nur ein Teil eines (gesellschaftlichen) Ganzen, vorliegt.
Das Problem wird erst aufgelöst, d. h. es verliert den Schein eines
logischen Widerspruchs, wenn man die fragliche Antithese als einen
besonderen Fall des Gegensatzes von Sein und Sollen erkennt. Und
jetzt erst liegt kein unzulässiger logischer Fehler vor, sondern in
Wahrheit und im eigentlichsten Sinne : ein logischer und unversöhn
licher Dualismus.

») SimmeL, a. a. 0. S. 197.
75

IL Der Staat als Normensvstem.


(Der juristische Begriff des Staates.)

3. Kapitel.
Staat und Recht.

§ 12.
Sollen und Sein.
Indem der Staat als eine normative Ordnung, d. h. als ein System
von Normen begriffen wird, die sprachlich in Sollsätzen, logisch in
hypothetischen Urteilen ausgedrückt werden, in denen die Bedingung
mit der Folge durch das „Soll11 verknüpft wird (wenn a, soll b), ist
er prinzipiell in dieselbe Sphäre gerückt, in der das Recht begriffen wird.
Damit ist der Staat in demselben Sinne wiq das Recht als ein „Wert"
der „Wirklichkeit", als ein „Sollen" dem „Sein" entgegengesetzt. Diese
Gegensätzlichkeit von „Sollen" und „Sein" ist ein Grundelement der
geisteswissenschaftlichen Methode im allgemeinen und der staats- und
rechtswissenschaftlichen Erkenntnis im besonderen1). Denn in dem
Gegensatz von Sollen und Sein tritt hier derjenige von Geist und Natur
auf. Daß der Staat sowie das Recht als Normsystem in den Bereich
des Sollens, nicht aber des Seins fällt, will zunächst nichts anderes

besagen, als daß die spezifische Existenz und Gesetzlichkeit des Staates
eine andere sei als jene der Natur. Dem Natur sein, das man
gemeinhin als das „Sein" schlechthin bezeichnet, wird das Sein des
Staates, der Kausalgesetzlichkeit der Natur — die man für die Ge
setzlichkeit schlechtweg hält — , wird die Normgesetzlichkeit des
Staates als eine von der Kausalgesetzlichkeit gänzlich verschiedene
entgegengestellt. In dieser negativen Bedeutung einer prin
zipiellen Andersartigkeit des Zusammenhanges, in dem die Elemente,
deren Einheit man als „Staat" zusammenfaßt, gegenüber der spe
zifischen Kausalverknüpfung im System der Natur stehen, liegt vor
allem der Wert des Begriffes „Sollen". Die Norm, die aussagt,

') Vgl. dazu Cohen, Ethik des reinen Willens, 3. Aufl., 1901, S. 12, 14 ff.
76 II. Der Staat als Normensystem.

daß unter bestimmter Bedingung ein bestimmter Akt (als Staatsakt)


im System der Staats- oder Rechtsordnung gesetzt sei, verknüpft
die Bedingung mit dem Bedingten in einem ganz anderen Sinn als
etwa das Naturgesetz : daß ein Körper, wenn er erwärmt wird, sich
ausdehnt. Daß die Verknüpfung, derzufolge jemand, wenn er stiehlt,
im System des Staats oder Rechts, m. a. W. von Staats- oder Rechts
wegen bestraft wird, derzufolge in diesem System auf die Bedingung
des Diebstahls die Strafe folgt, eine andere ist als jene, derzu
folge im System der Natur auf die Bedingung der Erwärmung
die Ausdehnung folgt, das wird einem vor allem daran bewußt,
daß die Inhalte, die im ersten System in ausnahmslos gesetzlicher
Verbindung des dem zweiten System
stehen, spezifischen (kausal)
gesetzlichen Zusammenhangs ermangeln. Auf das Seins faktum
des Diebstahls muß keineswegs als notwendige Wirkung die Strafe
folgen. Sie folgt sehr häufig nicht. Von ausnahmsloser Gesetz
lichkeit — allerdings nicht Kausalgesetzlichkeit — ist nur der
spezifisch rechtliche Zusammenhang zwischen Diebstahl und
Strafe. D. h. nur als Inhalt des Rechtssatzes, der Rechtsnorm kann
der Zusammenhang ausgesagt werden. Man kann nicht sagen:
wenn jemand stiehlt, wird (im Sinne kausaler Folge) er bestraft,
sondern: soll (im Sinne der Rechtsfolge) er bestraft werden. Diese
Unterscheidung vom Naturgesetz leistet das „Soll".
Faßt man den Begriff des „Sein" nicht in dem engen Sinn des
Natur seins, der kausal gesetzlichen Bestimmtheit, sondern ver
steht man darunter im weitesten Sinne das gedankliche Gesetztsein
überhaupt oder den Gegenstand der Erkenntnis schlechthin, dann ist
der Staat ebenso wie das Recht als Gegenstand der Erkenntnis natür
lich auch ein Sei n. Man kann dann von einem Sein des Sollens
sprechen Nur ist es eben ein andersartiges Sein als das der Natur.
1).

Der Gegensatz von Sollen und Sein wird häufig für das Verhältnis
')

der Ethik oder Politik zum positiven Recht in Anspruch genommen, so zwar
daß das letztere als Sein der ersteren als Sollen gegenübergestellt wird (vgl.
dazu Metzger, Sein und Sollen im Recht, 1920). Im Begriff der „Positivität"
wird das Recht geradezu als ein Seiendes von den Postulaten der Ethik oder
Politik — die besagen, wie das Recht sein soll — unterschieden. Dieses
.Sein" des positiven Rechts darf aber nicht — was häufig geschieht — mit
dem Natursein, der Wirksamkeit irgendwelcher Rechtsvorstellungen, ver
wechselt werden. Das positive Recht kann im Einzelfalle unwirksam
sein, ohne seine positive Geltung zu verlieren. Gerade zur Unterscheidung
von der faktischen Wirksamkeit der Rechts lu n wird das Recht
o

g
v

1
e
r
t
s

(als geistiger Inhalt des seelischen Aktes des Vorstellens) als ein Sollen be
griffen. Und nur gegenüber einem faktischen Verhalten der Menschen, der
durch Willensakte zu vollziehenden Gestaltung der Rechtsnormen, nicht aber
gegenüber den Rechtsnormen in ihrem spezifischen Eigensinn als geistige In
§ 12. Sollen und Sein. 77

Dann kann man auch eine „Realität" des Staates oder Rechtes be
haupten, nur daß dabei nicht eine Verwechslung mit der spezifischen
Realität der Natur unterlaufen darf. Eben weil diese Verwechslung
sehr nahe liegt, weil die naive Anschauung die Tendenz hat, die
„Realität" des Staates für Naturrealität, die Erkenntnis des Staates
für Naturerkenntnis zu halten, ist es — sozusagen als didaktische
Anpassung an Torwissenschaftliche Einstellung, die stets un
die
mittelbar nur auf das Natursein gerichtet ist — empfehlenswert, sich
der Terminologie des „Soll" zu bedienen, um die prinzipielle Schei
dung des Systems Staat (oder Recht) von dem System »Natur" zu
gewährleisten. Die Terminologie des „Soll" garantiert solcherweise
die Reinheit der auf den Staat (oder das Recht) als einen von der
Natur verschiedenen Gegenstand gerichteten Wissenschaft.
Dadurch, daß die Aussageform der das System „Staat" oder
„Recht" darstellenden Urteile das „Sollen" ist, wird wohl die Ab-
scheidung gegenüber dem System „Natur" vollzogen, aber eine Ver
mengung mit anderen Systemen zur Gefahr, die ebenso bedenklich ist
wie die eben vermiedene. Das Sollen ist auch die Sphäre der Moral.
Und ebenso wie die naive Anschauung das Sein mit dem Natur-Sein
schlechthin identifiziert, identifiziert sie das Sollen mit dem Sollen
der Moral, normative Erkenntnis — als Erkenntnis von Normen —
mit der Ethik schlechtweg. Damit, daß man Staat und Recht
als ein Normensystem bezeichnet und die Normen dieses Systems
als Sollsätze charakterisiert, scheint man der naiven Anschauung
den Staat als eine Moralgemeinschaft, das Recht als einen Inbe
griff sittlicher Forderungen zu behaupten. Allein schon die Er
wägung, daß ja auch die Logik als eine Lehre von Normen auftritt
— sofern ihr Verhältnis zur Psychologie in Betracht kommt — daß

halte treten die Normen der Ethik oder Politik als Sollen auf. Betrachtet
man das positive Recht als Norm, so tritt es als ein von Ethik oder Politik
gänzlich verschiedenes und unabhängiges System auf, das mit dem Normen
system der Ethik oder Politik nicht zugleich als gültig angenommen werden
kann. So löst sich der Widerspruch, der darin liegt, daß das positive Recht
zugleich als Sein und Sollen behauptet wird. Ebenso löst sich auch der ana
loge Widerspruch, den man hinsichtlich der Stellung der Ethik bemerkt hat,
der nämlich, daß das ethische Ideal ein soziales Entwicklungsprodukt und als
solches ein Sein (im Sinne des Naturseins) ist, und doch zugleich den Maßstab
für die soziale Entwicklung abgeben soll, das heißt aber : als Sollen auftritt
(6. Cohn, Ethik und Soziologie, 1916, S. 240). Allein nicht die Normen der
Ethik, sondern der seelische Prozeß, in dem die Moralvorstellungen entstehen,
faktisch gedacht, gefühlt oder gewollt werden, ist ein Entwicklungsprodukt
und als solches ein Natursein. Als das Gedachte oder Gewollte, als der spe
zifische geistige Inhalt des bezeichneten seelischen Prozesses, als Norm in ihrem
sachlichen Sinn ist die Moral ein Sollen.
78 II. Der Staat als Normensystem.

diese Wissenschaft mit einem Sollen zu tun hat, das durchaus


es
keinen sittlichen Charakter hat, muß diese Identifikation von Sollen
und sittlichem Sollen als hinfällig erscheinen lassen. Wodurch sich
das rechtliche von dem sittlichen Sollen unterscheidet, sieht hier
nicht in Frage. Die Vermengung des Systems „Recht" oder „Staat"
mit dem ' System der Moral ist das Wesen der Naturrechtstheorie
und ebenso abzulehnen wie die Vermengung mit dem System der
Natur — das charakteristische Merkmal der soziologisch-psycho
logischen Staats- und Rechtslehre.
Festgestellt sei, daß das rechtliche Sollen von mir in einer dem
moralischen oder logischen Sollen gegenüber durchaus selbständigen
Bedeutung vorausgesetzt wird, und daß das Sollen des Rechts in einem
Gegensatz zum Sein im engeren Sinne des Naturseins auftritt. Indem
die durch das rechtliche Sollen bezeichnete Verknüpfung der Elemente
als eine durchaus andersartige behauptet wird als die das Natursein
begründende kausale, ist aus dem Sollen auch jede Beziehung auf
die „Verwirklichung", Realisierung ausgeschlossen, ist die
normative Betrachtung als durchaus verschieden
von der teleo
logischen oder technischen, d. h. von jeder auf die Relation von Mit
tel und Zweck gerichteten Betrachtung qualifiziert. Des Wesens von
Recht oder Staat als eines durchaus ideellen Systemes von Normen,
von Sätzen, Elementen eine spezifische Ver
die zwischen spezifischen
bindung aussagen, bemächtigt man sich, indem man den Sinn und
Gehalt dieser Sätze, ihren eigenartigen Zusammenhang erfaßt, ohne
Rücksicht darauf, ob sich diese Normen „verwirklichen". Allerdings
steckt in einer besonderen — vielleicht der ursprünglichen — Be
deutung des Wortes„Sollen" gerade dieser Bezug auf die Verwirk
lichung. Wenn vulgäre Sprachgebrauch irgendeinen Inhalt als
der
gesoljt, wenn man speziell den Inhalt des Rechts als gesollt aussagt,
so meint man damit eine — mit der Selbständigkeit des Sollens gegen
über dem Sein nicht mehr vereinbare — Beziehung auf das
Sein. Etwas soll — sein! Das, was man als gesollt aussagt,
wird irgendwie als noch nicht vollendet, irgendwie als Fragment
angesehen. Es bedarf der Verwirkli chung, der Ueberführang
aus der Sphäre des „bloßen" Sollens in die des Seins! Das Sollen
der Logik realisiert sich im Sein des „richtigen" Denkens, das Sollen
der Moral im Sein des richtigen Handelns ; und ebenso das Sollen des
Rechts im Sein, im tatsächlichen, der Welt der Naturwirklichkeit an-
gehörigen, kausal determinierten Verhalten der Menschen, dem recht
mäßigen, rechtlich-richtigen, im Rechtssinne richtigen, dem Recht ent
sprechenden Verhalten. Dem System der Normen, dem ideellen
Sollen der Logik, Moral wie des Rechts wird — gleichsam als Fort
§ 12. Sollen und Sein. 79

setzung und Vollendung dieser Systeme — je


ein inhaltlich überein
stimmendes Sein, ein System Stück der realen Natur, der Wirk
oder
lichkeit des tatsächlichen Ablaufs eines im Denken oder Handeln sich
vollziehenden Geschehens zugesellt. Und gerade mit Beziehung auf
dieses Sein, auf diesen tatsächlichen Ablauf des Geschehens (der als
solcher natürlich kausalgesetzlich determiniert ist !) spricht man den
fraglichen Bewußtseinsinhalten So 11 en s charakter zu. Nur mit Be
ziehung auf die Psychologie, d. i. die Erkenntnis des tatsächlichen
Ablaufs unseres Denkens, erscheint der Inhalt der Logik, mit Be
ziehung auf das tatsächliche Handeln der Menschen der Inhalt der
Moral oder des Rechtes als gesollt. Dem Sollen — in diesem
Sinne — ist der Hinweis, die Tendenz auf das Sein so immanent,
daß von einem prinzipiellen Gegensatz zwischen diesem
Sollen und dem Natursein eigentlich keine Bede sein kann.
Tieferer Besinnung kann jedoch nicht verschlossen bleiben, daß
die ideellen Systeme der Logik, Ethik wie des Rechts jener — im Sinne
solches Sollens gelegenen — Vollendung, jener
als „Verwirklichung"
charakterisierten Ueberführung aus ihrer ureigensten Sphäre in die des
Seins weder bedürftig noch — ohne Wesenswiderspruch — fähig sind.
So wie der Gegenstand der Logik oder der Ethik ist auch das Recht
als ein System von Normen, von Urteilen, die einen spezifisch ge
setzlichen Zusammenhang aussagen, durchaus in sich vollendet.
Wenn von einer „Verwirklichung" oder „Realisierung" gesprochen,
und darunter irgendwelche in der Sphäre der Naturwirklichkeit ab
laufenden, kausalgesetzlich bestimmten Ereignisse — Denkakte oder
Handlungen — gemeint sind, so muß man sich sehr wohl davor
hüten, Seinsfakten, die nur als Inhalt von Seins urteilen
diese
(im Sinne
engeren des Naturseins) auftreten, im System des vom
Natursein verschiedenen Rechts mitzubegreifen. Das müßte ja
den Dualismus von Sollen und Sein, Wert und Wirklichkeit völlig
aufheben. Der unwissenschaftliche Sprachgebrauch freilich vollzieht
diesen Synkretismus, wenn er von einer „wertvollön Wirklichkeit",
einem gesollten Sein spricht und so die Annahme einer mit dem
Wert zu einem Gegenstande verbundenen Wirklichkeit vortäuscht1).
Allerdings darf nicht übersehen werden — und darin liegt offenbar
der Grund des mangelhaften Sprachgebrauches — daß die vom Sy
stem des Seins oder der Naturwirklichkeit logisch isolierten „ Wert"-
Systeme z. B. des Rechts oder der Moral doch irgendwie mit der
Naturwirklichkeit inhaltlich vergleichbar sind. Die Norm, daß
ein Reicher einem Armen helfen soll, oder daß ein Dieb bestraft

1) Vgl. dazu meinen Aufsatz: Die Rechtswissenschaft als Norm oder als
Kulturwissenschaft, in SchmoLLers Jahrbüchern, Bd. 40, S. 95 ff.
80 II. Der Staat als Normensystem.

werden soll, kann, obgleich ihre Geltung in keiner Weise aus der
Tatsächlichkeit des kausal bestimmten menschlichen Verhaltens ab
geleitet werden kann, doch an dieses Verhalten herangebracht werden;
und es ist demnach das Urteil möglich, daß der Inhalt des Seins
mit dem des irgendwie als gültig vorausgesetzten Sollens überein
stimmt oder nicht. Ja, man ist sogar geneigt, anzunehmen, daß
die verschiedenen Wertsysteme gar keinen Sinn hätten, wenn das Sein
sich nicht dem Inhalt dieser Systeme entsprechend gestalten könnte
und würde. Dies kann zugegeben werden. Aber darüber darf nicht
vergessen werden: Wenn von einer „Verwirklichung des Wertes",
einer „Realisierung der Norm" gesprochen wird, so ist nicht der
Wert die Ursache der (wertvollen) Wirklichkeit, die nonngemäße
Handlung (in der sich die Norm realisiert) nicht die Wirkung der
Norm. Die Ursache des sollensgemäßen Seins, der wertvollen Wirk
lichkeit, des richtigen oder rechtmäßigen Handelns ist nicht das
Sollen oder der Wert, die Moral oder das Recht, die Norm in
ihrem spezifischen Eigensinn, sondern das Denken, Fühlen, Wollen,
die Seinstatsache des psychischen Erlebens der Norm. Und diese
Seinstatsache hat — als Ursache, als Motiv — das entsprechende
Verhalten zur Wirkung. Auf dieses psychische Erleben, ins
besondere auf das „ Wollen" der Norm bezieht sich die Vorstellung
der Verwirklichung, Realisierung, zumal auf die Ueber-
führung aus der bloßen Innerlichkeit des Wollens in die
Aeußerlichkeit des Handelns, des moral- oder rechtmäßigen Handelns.
„Verwirklicht" wird das Wollen der Norm im normgemäßen
Handeln, weil eben dieses Wollen das Motiv, die Ursache für die
Handlung als die Wirkung ist. Diese Beziehung verläuft somit
völlig in der Sphäre des Naturseins.
Soferne in der vulgären Bedeutung des Wortes „Sollen" dieser
Bezug auf die „Verwirklichung" steckt, mag es ursprünglich mit
dem „Wollen" der Norm identisch oder doch nahe verwandt sein.
Indem man aber den Inhalt dieses psychologischen Wollens, die
Norm in ihrer spezifischen Eigengesetzlichkeit von dem psychischen
Akt — als ihrem „Träger" — loslöst und
selbständig anschaut,
wandelt sich die Bedeutung des Sollens. Es verliert
jeden psychologischen Sinn und damit jeden Bezug auf eine Ver
wirklichung. Es wird zu einem Ausdruck der spezifischen Eigen
gesetzlichkeit des Normsystems und gewinnt erst jetzt die Bedeutung
jenes prinzipiellen Gegensatzes zum Sein, der eine Abscheidung des
rechtlichen Sollens (das ist des spezifischen Seins des Rechts) von
dem Natursein, insbesondere auch dem Natursein des psychischen
Geschehens ermöglicht. Diese prinzipielle logische Isolierung des
§ 12. Sollen und Sein. 81

Sollens vom Sein, speziell des Systems der Rechtsnormen von der
kausal determinierten Wirklichkeit ist aber unerläßlich und unver
meidlich, soll überhaupt eine Wissenschaft vom Recht (oder Staat)
möglich sein. Diese hat eben die Rechtsnormen in ihrer spezifischen
Eigengesetzlichkeit und ohne Rücksicht auf irgendeine Natur gesetz-
lichkeit zu erkennen. Insofern ist sie eben „reine" Rechtserkenntnis,
Erkenntnis des reinen Rechts oder des reinen Staates
') Schon in meinen „Hauptproblemen" habe ich mich für die un
psychologische Bedeutung des Sollens, das, von irgendeinem Inhalt ausge
sagt, durchaus verschieden von der Behauptung ist, daß irgend jemand diesen
Inhalt wolle oder wünsche, auf die Darstellung berufen, die HusserL in seinen
. Logischen Untersuchungen" I, 2. Aufl., S. 40 ff. von diesem Problem gibt Hier
möchte ich auf die weitgehende Parallele aufmerksam machen, die zwischen dem
von mir immer wieder betonten Gegensatz der ideellen normativ-juristischen zu
der realen kausal-gesetzlich psychologischen Betrachtung und dem von HussErL
so glänzend dargestellten Gegensatz zwischen ideell - normativ - logischer und
real-psychologischer Erkenntnis besteht (vgl. dazu insbesondere HusserL, a. a. 0.
S. 50 ff.). Wie weit diese Parallele geht, soll hier nicht untersucht werden. Merk
würdig ist jedenfalls, daß die im Gegensatz zur psychologischen Logik stehende
normative Logik die gleiche Tendenz hat, zur „reinen" Logik zu werden
wie die im Gegensatz zur soziologischen stehende „normative" Rechts- und
Staatslehre zur reinen Rechts- und Staatslehre. Ob die „reine" Logik keine
„normative" mehr sein kann, wie HosserL darlegt, kann ich nicht entscheiden.
Mir fällt aber auf, daß zumindest HusserLs Terminologie in dieser Hinsicht
nicht ganz eindeutig ist. Obgleich er an Stelle des Gegensatzes von Sein
und Sollen, Naturgesetz und Norm den Gegensatz von Natur gesetz und
Ideal gesetz, Real- und Idealwissenschaft setzt, obgleich er — speziell gegen
Herbart — die Identifizierung von Idealität und Normalität perhorresziert
und die „reine" Logik als ein System theoretischer Sätze, nicht aber als
System von Normen (Sollsätzen) gelten lassen will, spricht er doch selbst
von dem fundamentalen Unterschied zwischen den rein logischen Nor
men und den technischen Regeln „einer spezifisch humanen Denkkunst" (159),
teilt er die „Normen" in zwei Klassen: „die einen, die alles Begründen, allen
apodiktischen Zusammenhang a priori regeln, sind rein idealer Natur" (also
doch „Normen") „und nur durch evidente Uebertragung auf menschliche
Wissenschaft bezogen. Die andern . . . sind empirisch" (S. 163). Er sagt
S. 68: „Die psychologistischen Logiker verkennen den grundwesentlichen und
ewig unüberbrückbaren Unterschied zwischen Idealgesetz und Realgesetz,
zwischen normierender Regeluag und kausaler Regelung . . . ." Aber S. 164/65:
„Der Gegensatz von Naturgesetz als empirisch begründeter Regel eines tatsäch
lichen Seins und Geschehens ist nicht das Normalgesetz als Vorschrift, sondern
das Idealgesetz im Sinne einer rein in den Begriffen, Ideen, rein begrifflichen
Wesen gründenden und daher nicht empirischen Gesetzlichkeit. ..." Auch
scheint es mir kein Zufall zu sein, daß gerade jene Theoretiker, die die Logik
als normative Disziplin den psychologistischen Logikern entgegenstellten (Kant,
Herbart, Drobisch, SigwaRt), zugleich eine „reine" Logik postulierten. Das
„Sollen" leistet ihnen ebenso die „Reinheit" gegenüber der Psychologie, wie es
diese Funktion der Rechts- und Staatslehre gegenüber der psychologisch-natur
wissenschaftlichen Soziologie leistet.
Kelsen, Staatsbegriff. 6
82 II. Der Staat als Normensystem.

§ 13.
Der Staat als Zwangsordnung.
Ist der Staat normative Ordnung menschlichen Ver
als eine
haltens erkannt, dann bedarf es noch des Nachweises der spezifischen
Differenz, die diese Lebensordnung von anderen scheidet. In Ueber-
einstimmung mit der herrschenden Lehre, die den Staat als einen
„Zwangsapparat", als eine „Herrschaftsorganisation" bezeichnet, wird
die staatliche Ordnung von dem hier vertretenen Standpunkte aus
als Zwangsordnung begriffen1). Nur daß es nicht die Faktizität des
Zwanges ist, die als Begriffsmerkmal akzeptiert wird, vielmehr er
scheint hier der Zwang — und zwar der sogenannte physische,
äußere Zwang — als Inhalt der Sollordnung, als Norm-
Inhalt. Der Staat erscheint als die Einheit eines Systems von
Normen, die regeln, unter welchen Bedingungen ein bestimmter
Zwang von Mensch zu Mensch geübt werden solle. Ob und in
welchem Ausmaße dieser Zwang auch tatsächlich geübt wird, ist
eine andere Frage, auf die noch zurückzukommen sein wird. Zum
Begriff gehört die Faktizität des Zwangs jedenfalls
des Staates
nicht. Auch die herrschende Lehre würde sich weigern, jeden fak
tischen Zwang, jede „nackte" Gewalt als Staat, bzw. als Staats
akt gelten zu lassen. Wenn der fragliche Akt dem „Staate" zuge
rechnet werden soll, muß er bestimmten normativen Bedingungen
entsprechen, muß er ordnungsgemäß sein. Gerade wenn man sich
des im üblichen Begriffe des Staates gelegenen Zurechnungs
problems bewußt wird, muß sich der Staat als normative Ordnungs
einheit enthüllen : Die Regel, nach der man irgendwelche mensch
liche Handlungen — und einer naturalistisch empirischen Betrach
tung sind nur einzelne menschliche Handlungen gegeben — nicht
dem physisch Handelnden selbst, sondern einem „hinter" ihm ge
dachten unkörperlichen Wesen, einem ideellen Einheitspunkt zu
rechnet, kann nur eine Norm
sein. Die Normgemäßheit, der Um
stand, daß der Inhalt fraglichen Aktes sich als Inhalt einer
des
Norm erweist, normativ gesetzt ist, das allein kann der Grund der

Ueber die doppelte Bedeutung des „Sollens" finden sich — in bezug auf
die Normen der Logik — sehr interessante Ausführungen bei WikdeLband,
Die Prinzipien der Logik, 1913, S. 18. Diese Ausführungen decken sich zum
größten Teil mit dem, was im Text über die Doppelbedeutung des rechtlichen
Sollens gesagt wurde.
l) Ueberden Standpunkt, von dem allein die Frage nach der spezifischen
Differenz der Rechtsnormen von den anderen Normen und damit die Einfüh
rung des Zwangsmoments in den Rechtsbegriff möglich ist, vgl. mein „ Problem
der Souveränität* S. 13 ff.
§ 13. Der Staat als Zwangsordnung. 83

Zurechnung sein, deren normativen Charakter jedes beliebige Bei


spiel erweist. Oder könnte man den Fall, daß ein Ehemann seine
Frau aus Eifersucht erwürgt, von dem Fall, daß an diesem Mörder
die Strafe des Erhängens durch den Richter und Nachrichter voll
zogen wird, anders unterscheiden als durch Beziehung auf eine nor
mative Ordnung, auf ein. System von Zwangsnormen ? Für eine auf
die Wirklichkeit des tatsächlichen Geschehens gerichtete, kausal
orientierte, „voraussetzungslose " Erkenntnis unterscheiden sich beide
Fälle nicht wesentlich voneinander ! Ein Mensch tötet den andern.
Nur wenn man den Inhalt dieses Seins als Inhalt eines Sollens
zu begreifen sucht, d. h. auf die Beziehung zu einer als gültig
vorausgesetzten Zwangsordnung greift, stellt sich der eine als ein
gesollter Zwangsakt dar, als der unter bestimmten Bedingungen
normierte Zwang, und in diesem Sinne als Inhalt einer Norm, die
selbst in der Einheit eines Zwangsnormen-Systems steht. Faßt man
diesen — und nur diesen — Akt als Staatsakt auf, rechnet man ihn
nicht — wie den andern — dem physisch Handelnden (dem Täter),
sondern dem „Staate" zu, so drückt man damit nur den Einheits
bezug aus, in dem dieser Norminhalt zu andern Norminhalten des
gleichen Systems steht.
Es ist von Wichtigkeit, daß bei der Begriffsbestimmung des
Staates das Zwangsmoment in dieser eindeutigen Bestimmtheit: als
Inhalt der Sollordnung, gefaßt und nicht — wie dies die in die
Seinsebene ausgleitende herrschende Lehre zu tun geneigt ist —
durch das unklare Moment der „Herrschaft" im Sinne einer Mo
tivation ersetzt werde. Daß ein Mensch über den andern herrsche,
das heißt, daß der Wille des einen zum Motiv für den Willen des
anderen werde, kann den Staat nicht charakterisieren. Vielmehr,
daß eine feste Ordnung besteht, nach der der eine zu befehlen
und der andere zu gehorchen habe. Nur diese Ordnung begründet
die Einheit der zahlreichen Herrschaftsverhältnisse, die einer bloß
empirischen Betrachtung gegeben wären. Aber auch das genügt
noch nicht. Das für die staatliche Herrschaft Wesentliche ist, daß
jeder staatliche Befehl letztlich in einen äußeren Zwangsakt
mündet, auf ihm, nicht auf dem — nur eine seiner Bedingungen bil
denden — „Befehl" eines Staatsorgans liegt das begriffliche Schwer
gewicht. Und weil die die staatliche „Herrschaft", die Befehlsmacht
des Staates ausübenden Menschen auch vor der herrschenden Lehre
nur als „Organe" des Staates gelten, wird der Gehorsam nicht eigent
lich diesen Menschen, sondern dem Staate, d. h. der staatlichen

Ordnung, ihren Zwangsnormen gezollt, deren Werkzeuge diese „Or


gane" wie übrigens alle sind, die den Inhalt der staatlichen Ordnung
6*
84 II. Der Staat als Normensystem.

erfüllen. Damit ist aber dasjenige,


was man die „Herrschaft" des
Staates zu nennen pflegt, ins Psychologische verschobene
als der
Sinn der staatlichen Ordnung, nämlich ihre Geltung, ihre Soll-
Geltung enthüllt. Gewiß ist es nicht gleichgültig, ob und inwieweit
diese Soll- Geltung zu einer Seins-Wirkung, die staatliche Ordnung
zum Motiv für das Verhalten der Menschen, der Inhalt
ihres Sollens
zum Inhalt eines Seins wird. Allein diese Beziehung zum Sein, so
entscheidend sie nach einer bestimmten Richtung hin sein kann und
tatsächlich ist, für das Wesen des Staatsgedankens ist sie ohne Belang.

§ 14-
Die Elemente des Staates.
Wie sehr in der Vorstellung des Staates als „Gewalt" oder
„Macht" der Gedanke Ordnung eingeschlossen
einer geltenden ist
und diese entstellende Verhüllung zu durchbrechen strebt, das zeigt
sich, wenn die herrschende Lehre versucht, die Staatsgewalt von
andern tatsächlichen Gewaltfaktoren dadurch zu unterscheiden und
eindeutig zu bestimmen, daß sie sie als „höchste", „ursprüngliche",
„nicht weiter ableitbare" oder „souveräne" Gewalt begreift. Wäre
die Staatsgewalt ein Seinsfaktum, dann könnte „Souveränität"
sog.
oder „Ursprünglichkeit" oder wie sonst man das Wesensmerkmal
"
des „ Zuhöchst-Seins umschreibt, nur so viel bedeuten wie eine
prima causa. Denn innerhalb der sozialen Realität der menschlichen
Beziehungen ist „Gewalt" ein Fall der Motivation; und eine „höchste"
oder ursprüngliche Gewalt ein wirksames Motiv, das selbst keine
Ursache hat. Was natürlich vom Standpunkt einer kausalwissen
schaftlichen Seinsbetrachtung in sich selbst ist.
ein Widerspruch
Wollte man sich unter einer höchsten Gewalt eine
aber begnügen,
wirksame Macht zu verstehen, so liefe dies auf den Pleonasmus
eines motivierenden Motivs hinaus ! In einem anderen Zusammen
hange habeich des näheren den Nachweis dafür gebracht, daß
„Souveränität", „Ursprünglichkeit", „ Unableitbarkeit " oder wie sonst
man die Staatsgewalt wesentlich zu charakterisieren versucht, sinn
voll nur als Attribut einer normativen Ordnung ausgesagt werden
kann, daß mit der Behauptung einer souveränen oder ursprünglichen
Staatsgewalt nur die Geltung einer höchsten, d. h. von keiner höheren
Norm ableitbaren Zwangsordnung vorausgesetzt wird
Nunmehr läßt sich das Verhältnis richtig bestimmen, in dem
auch die beiden anderen „Elemente" des Staates: Volk und Gebiet,
zueinander stehen. Es ist nicht so, wie die naive Vorstellung

') Vgl. dazu mein „Problem der Souveränität" S. lff.


§ 14. Die Elemente des Staates. 85

glauben machen will, daß das Staatsding eine mehr oder weniger
mechanische Verbindung dieser drei voneinander auch isoliert denk
baren Dinge ist. Die Körperlichkeit bei den ersteren „Elementen"
hätte die Körperlichkeit des Staatsganzen zur Folge. Auch müßte
das Raumelement nicht — wie dies seltsamerweise geschieht — zwei
dimensional als Fläche, sondern dreidimensional — etwa als ein im
Erdmittelpunkt mündender Kegel (ohne feste Grenzen gegen den
Weltraum zu) vorgestellt werden, sofern man den Raum des Staates
nicht mit dem Raum identifizieren wollte, den die einzelnen Menschen
des „Volkes" gerade einnehmen, sondern darunter den Herrschafts
bereich des Staates versteht. Dieser aber ist doch offenbar auch im
Sinne der herrschenden Lehre nicht
Raum, innerhalb dessen
der
Herrschaftsakte des Staates faktisch
möglich sind; sondern es ist
der Geltungs bereich der staatlichen Ordnung. Damit ist aber
der Raum, d. h. das W o der Geltung als ein Inhaltsbestandteil der
staatlichen Sollordnung aufgezeigt. So wie die Normen bestimmen,
was geschehen solle, bestimmen sie auch, wo es geschehen solle.
Und es nur unverständlich,
ist warum die herrschende Lehre
neben dem Raum nicht auch die Zeit als „Element" des Staates
angenommen hat. Die staatliche Existenz ist ja nicht nur im Raum,
sie ist ebenso auch in der Zeit begrenzt; das heißt, die Normen
können ebenso das „Wo" wie das „Wann" des menschlichen Ver
haltens bestimmen. Allerdings scheint es nicht zum Wesen der
staatlichen Ordnung zu gehören, daß sie ihre eigene Totalgeltung
zeitlich begrenzt, so wie ihre Geltung räumlich fest begrenzt ist.
Allein gerade die auf das Faktische der Wirkung und nicht das
Normative der Geltung eingestellte herrschende Lehre hätte doch
Anlaß gehabt, die Tatsache zu berücksichtigen, daß die historisch
gegebenen Staaten nur eine zeitlich begrenzte Existenz aufweisen.
Aber auch von einem rein normativen Gesichtspunkt aus muß das
Moment der zeitlichen Begrenzung berücksichtigt werden.
Ebenso wie Raum und Zeit, so kann auch das Element „Volk"
nur als Inhalt der staatlichen Normen für den Staatsbegriff frucht
bar gemacht Es sind nicht die Menschen — als biologisch
werden.
psychologische Einheiten — , sondern es sind menschliche Handlungen,
die den Inhalt der staatlichen Ordnung bilden und so zu einer — von
der für die Biologie oder Psychologie relevanten Einheit gänzlich ver
schiedenen — juristischen Einheit verbunden werden. Daß eine mensch
liche Handlung als Inhalt einer Norm, eines Sollens, d. h. daß sie als
gesollt erscheint, drückt man auch so aus, daß der Mensch zu dieser
Handlung verbunden, verpflichtet sei, und sagt damit nichts anderes,
als daß diese Handlung in dem spezifischen System dieser normativen
86 II. Der Staat als Normensystem.

Ordnung stehe, mit anderen Handlungen zu einer normativen Einheit


verbunden sei. In diesem Sinne, der nur scheinbar ein Doppel-Sinn
ist, ist Staat eine Verflechtung oder Verpflichtung von Men
der
schen, eine menschliche Verbindung, ein menschlicher Verband. Und
so wie die Einheit des — vom Standpunkt einer natürlich-geogra
phischen Betrachtung aus — durchaus nicht einheitlichen Staats
gebietes ist die Einheit des in psychologischer, ethnographischer,
religiöser, wirtschaftlicher Hinsicht ebensowenig einheitlichen „ Staats
volkes" nur in der Einheit
einer als gültig vorausgesetzten Soll-
Ordnung begründet. Indem sich alle sog. Elemente des Staates als
Inhalt, bzw. als Geltung einer ideellen und (relativ) idealen Ordnung
erweisen, die ohne diesen Inhalt begrifflich gar nicht möglich ist,
wird der innere Widerspruch vermieden, in den sich die herrschende
Lehre verirrt, wenn sie, gestützt auf die Lehre von den drei paritä
tischen Elementen des Staates, diesen als ein raumfüllendes, aber doch
nicht körperliches, weil psychisches Wesen vorstellt. Und wenn die
herrschende Lehre die Vorstellung von dem raumfüllenden Staate bis
zu dem bekannten Dogma von der „Undurchdringlichkeit" des Staates
treibt, darunter verstehend, daß in dem Raum, den ein Staat erfüllt,
kein anderer Staat Platz hat, so stellt sich dies von dem hier dar
gelegten Standpunkt als ein Bild dafür dar, daß die staatliche Ord
nung als eine höchste und darum denknotwendig auch als eine aus
schließliche zu gelten hat, daß die Einheit des Staates seine Einzig
keit bedeutet, soferne der Staat eben als souverän gedacht wird.
In meiner Untersuchung des Souveränitätsbegriffes habe ich gezeigt,
daß die Souveränität des einen Staates unvereinbar ist mit der Sou
veränität anderer Staaten; daß die Koexistenz gleichartiger und gleich
berechtigter Staaten nur unter der Voraussetzung denkmöglich ist,
daß über diesen Staaten ein ihre Macht-, d. h. Geltungsphären gegen
einander abgrenzender, höherer, sie alle umfassender Verband an
genommen wird, demgegenüber die Einzelstaaten nur mehr als Teil-
verbände erscheinen. Mit dem Merkmal der Souveränität aber, das
damit auf den höheren Verband, die Völkerrechtsgemeinschaft über
geht, verlieren die Einzelstaaten jede wesentliche Differenz
gegenüber den ihnen selbst eingegliederten Teilverbänden wie Ge
meinden, Provinzen, Gliedstaaten usw. ')

§ 15.
Identität von Staats- und Rechtsordnung.
Sobald der Staat als Ordnungseinheit, als Norm erkannt ist,
liegt keine Möglichkeit mehr vor, ihn als .Verband" dem Recht als
') Vgl. dazu mein „Problem der Souveränität" S. 187 ff.
§ 15. Identität von Staats- und Rechtsordnung. 87

Norm entgegenzusetzen. Staat und Recht fallen beide unter die


gleiche Kategorie der normativen Ordnung. Und wenn man — gleich
falls in Uebereinstimmung mit der herrschenden Auffassung -— das
Wesen der Rechtsnorm in ihrem Zwangscharakter sieht, dann sind
Recht und Staat gleicherweise Zwangsordnungen im Sinne eines
Systems zwanganordnender Normen. Und damit wäre eigentlich
schon der Nachweis der Identität von Staat und Recht erbracht.
Eine Begriffsbestimmung des Staates endet bei einer Definition des
Rechtes. Insbesondere ist auch die Souveränität ein Wesensmerkmal
ebenso des Staates wie des Rechtes. Daß das Recht eine höchste, von
keinem anderen Normsystem ableitbare Ordnung sei, dessen wird
man hier meist nur bewußt, wenn es gilt, die Selbständigkeit
sich
des „positiven" Rechtes gegenüber den Norm Systemen der Moral
"
oder Religion zu behaupten. Daß die
positive Rechtsordnung und

das System der Moral oder religiösen Normen nicht zugleich als
gültig angenommen werden kann, weil sonst unlösbare Normkonflikte
sich ergeben, daß der Jurist als solcher von der Moral (so wie der
Moralist als solcher vom Recht) abstrahieren muß, um die Einheit
des Standpunkts normativer Erkenntnis zu wahren, das wird von der
herrschenden Lehre ausdrücklich oder stillschweigend vorausgesetzt.
In dieser Ausschließlichkeit der Geltung der positiven Rechtsordnung
liegt, was man bei der Staatsordnung als Souveränität bezeichnet;
Positivität des Rechtes und Souveränität des Staates bedeutet — in einem
gewissen Sinne — dasselbe. In dieser Positivität oder Souveränität ist
die Möglichkeit einer selbständigen, von Ethik und Religionsdogmatik
unabhängigen Rechts- und Staatswissenschaft begründet. Das Pro
blem jedoch, wie eigentlich eine Mehrheit positiver Rechtsordnungen
nebeneinander in Geltung stehen können, ohne daß dabei die Ein
heit des Rechts und sohin die Einheit rechtswissenschaftlicher Er
kenntnis und mit dieser Einheit juristische Erkenntnis überhaupt in
Frage gestellt wird, dieses Problem ist in voller Schärfe noch nicht ge
stellt worden. Allein
läßt sich nicht wegleugnen. Und der Versuch
es
seiner Lösung führt ebenso zu einer über den Einzelrecbtsordnungen
stehenden, sie zu einer universalen Einheit zusammenfassenden Völker
rechtsordnung, der gegenüber die einzelnen nationalen RechtsordnuÄgen
nur Teilorduungen sind, die ihre Geltung letztlich aus der Ursprungs
hypothese des Völkerrechts holen, wie die Möglichkeit, eine Mehrheit
gleichgeordneter Staaten nebeneinander existent zu denken, nur
durch den Rekurs auf einen höheren Verband, die Staatengemeinschaft
geschaffen wird. Völkerrechtsordnung und Staatenverband sind ebenso
identisch wie Einzelrechtsordnung und Staat. Nur durch eine den
Primat des Völkerrechts begründende Hypothese wird die Einheit des
88 II. Der Staat ah Normensystem.

Rechts — und juristischer Erkenntnis — auf solche Weise


damit
gewahrt, daß die einzelstaatlichen Rechtsordnungen koordiniert,
d. h. nebeneinander auf der gleichen Stufe der Rechtskonkretisation,
oder mit anderen Worten: die Einzelstaaten
gleichartige und als
gleichgeordnete Verbände gleichzeitig vorgestellt werden können

1).
Wollte man, die Identität von Staat und Recht in Frage stel
lend, beide als zwei verschiedene Zwangsordnungen gelten lassen,
so müßte man ihr gegenseitiges Verhältnis klar stellen. Da beide
—- dagegen dürfte wohl kein Widerspruch bestehen — zugleich als
geltend vorausgesetzt werden müssen, können sie nur entweder zur
Gänze zusammenfallen oder die eine muß der anderen untergeordnet,
als eine von der der oder Teil
h.

anderen, höheren, delegierte


d.

ordnung gelten. Bei der außerordentlichen Vieldeutigkeit des


Wortes „Staat" wäre die Möglichkeit von vornherein nicht ausge
schlossen, die Rechtsordnung als den weiteren, allgemeineren, die
Staatsordnung aber als den engeren, besonderen Kreis, den Staat
als speziellen Teil des Rechts, als Teilrechtsordnung anzu
einen
sprechen. Bei der durchgängigen Bezogenheit, die aber der
herrschende Sprachgebrauch zwischen Staat und Recht annimmt, muß
der Grundsatz gelten, daß kein Stück des Staates außerhalb des
Rechtes und kein Stück des Rechtes außerhalb des Staates fällt.
Zwar mag nach herrschender Auffassung zweifelhaft sein, ob jeder
Akt des Staates Rechtsakt ist. Das gerade muß aber von dem hier
vertretenen Standpunkt als sichergestellt gelten. Fraglich könnte
nur sein, ob jeder Rechtsakt auch Staatsakt sein muß. Und in dieser
Richtung wieder ist gerade die herrschende Lehre geneigt, alles Recht
als staatliches Recht gelten zu lassen. „Es kann im Staate kein
anderes als staatliches, h. vom Staate erzeugtes oder zugelassenes
d.

Recht geben. Das Recht ist der Wille des Staates." Das etwa
ist der Ausdruck der herrschenden Lehre. Sie gründet sich darauf,
daß die jedem Rechtssatz wesentliche Zwangssanktion jeden Rechts
satz als Funktion des staatlichen Zwangsapparates erscheinen läßt.
So nahe es liegt, so ist es doch theoretisch unzulässig, neben einer
die zwanganordnenden Normen enthaltenden Ordnung ein System von
Rechtsnormen zu unterscheiden, die das zwangvermeidende Verhalten
der Menschen statuieren, und die erstere als den „Zwangsapparat"
des Staates, das letztere als das Recht im eigentlichen und engeren
Sinne gelten zu lassen. Aehnliche Tendenzen weist die Literatur
ja

auf.Diese Zerreißung des in sich einheitlichen


Rechtssatzes ist undurchführbar, denn jeder Rechts-

Vgl. dazu mein Problem der Souveränität" S. 151 ff.


')


§ 15. Identität von Staats- und Rechtsordnung. 89

satz muß als kleinster als letzte Einheit des Rechts


Bestandteil,
alle dem Rechte wesentlichen Eigenschaften, also insbesondere das
Zwangsmoment, aufweisen. Der Dualismus eines Systems von Rechts
normen (die nur Fragmente, unvollständige Rechtsnormen wären)
und eines Systems von Normen, die für den Fall der Nichtbefolgung
der ersteren Zwang androhen (sollten das nicht auch Rechtsnormen
sein?), könnte nur als eine sehr vorläufige Hilfsvorstellung geduldet
werden und müßte schließlich doch in der Einheit eines Systems von
vollständigen, d. h. Zwang statuierenden Rechtssätzen seine Auflösung
finden. Jedenfalls wäre aber dieser Dualismus ungeeignet, sich mit
dem Gegensatz von Recht und Staat zu identifizieren. Zumal wenn
man dabei den Staat als Zwangsapparat vorstellt, dessen Funktion
es ist, die Durchsetzung der Rechtsnormen zu „garantieren". Denn
dieser „Apparat" ist selbst nur ein System von Normen, und das
eine Sollen wird wohl dadurch nicht zum Sein, daß man ihm ein
anderes Sollen hinzufügt.
Es ist naive Kurzsichtigkeit, bequemes Nicht-Zuende-Denken, das
man populärer Anschauung, nicht aber wissenschaftlicher Erkenntnis
entschuldigen kann, wenn man bei dem von den Rechtsnormen
angeblich verschiedenen „Zwangs"- oder „Machtapparat" des Staates
an körperlich-reale Dinge wie Produktionsmittel, Waffen, Festungen
usw. denkt. Man sagt wohl gerne — angelehnt an LASSALLEs ebenso
oberflächlichen wie wirkungsvollen Vortrag über Verfassungswesen
— „Staat": das sind die Kanonen und Bajonette, das sind die
Produktionsmittel usw. Allein dabei vergißt man, daß all das nur
tote, indifferente Dinge sindund daß nur der Gebrauch entscheidend
ist, den Menschen von ihnen machen. Nur in Verbindung mit mensch
lichen Handlungen kommen Maschinen und Maschinengewehre im
Bereich des Sozialen in Betracht. Die Regel oder Norm für diese
menschlichen Handlungen ist das Letzte, Entscheidende, auf das
hier alles ankommt. Und irgendeine „Macht" liegt nicht in der
Existenz dieser Dinge, dieses Galgens oder jenes Maschinengewehrs,
sondern ausschließlich und allein darin, daß die Galgen und Maschinen
gewehr bedienenden Menschen sich von den Normen motivieren lassen,
die für sie gelten und die in ihrer Totalität als Zwangsordnung den
Staat oder das Recht bilden. aber alle soziale „Macht" in
Liegt
der motivierenden Kraft Normvorstellungen, dann ist es
gewisser
schlechterdings sinnlos, den Staat als Macht vorzustellen, die „hinter"
den Rechtsnormen steht, um diese zu verwirklichen. Der Staat ist
ja selbst eine Ordnung, die „verwirklicht" wird.
ideelle In dem
Augenblick, da diese Ideologie ihre motivierende Kraft verliert, gibt
es keine Staats- „Macht" mehr, auch wenn sich an dem Bestand der
90 II. Der Staat als Normensystem.

Galgen und Maschinengewehre nichts geändert hat Faßt man

1).
aber die als „Recht" bezeichnete Zwangsordnung ins Auge, so zeigt
sich ganz dasselbe. Wirkt die Vorstellung dieser Ordnung moti
vierendauf die Menschen, dann besteht eine „Macht", eine Rechts
macht, der gleichen Natur ist wie die „Staats "-Macht.
die von Die
Rechtsmacht durch die Staatsmacht erzeugen zu lassen, ist eine
überflüssige Verdoppelung und nur die Konsequenz des Dualismus
von Staat und Recht.
Noch einer anderen Möglichkeit muß gedacht werden, den Staat
zwar als Rechtsordnung zu
begreifen, dennoch aber eine Identität
von Staat und Recht abzulehnen. Dies ist dann der Fall, wenn man
den Staat nur als eine besonders qualifizierte Rechtsordnung gelten
lassen will. Jn dem Zustand des Primitivismus überträgt die Rechts
ordnung den ihr wesentlichen Zwangsakt ursprünglich dem jeweils
in seinen (vom Recht zu schützenden) Interessen Verletzten. Dieser
fungiert hier selbst als das „Organ" der Zwangsordnung (Blutrache).
In diesem Zustand befindet sich noch heute die Völkerrechtsordnung.
Wie überall, so vollzieht sich auch auf dem Gebiete des Rechts eine
Entwicklung zur Arbeitsteilung. Mit dem Zwangsakt wird nicht jeder
Verletzte selbst, sondern für alle ein vom Verletzten Verschiedener,
allmählich diese Funktion berufsmäßig Ausübender betraut. Man
bezeichnet arbeitsteilige Funktion als „Organisation", ob
solche
gleich schon die primitive Rechtsordnung eine Organisation,
auch
eben eine Ordnung darstellt. Will man von „Staat" erst
h.
d.

dann sprechen, wenn die Rechtsordnung arbeitsteilig funktionie-

Vgl. dazu die folgende Stelle aus ToLstois Schrift: „Das Reich Gottes
')

ist inwendig in Euch", Jena, 1911. II. Bd.. 181, 182: „Die Lage des christ
S.

lichen Menschen mit seinen Festungen, Kanonen, Dynamitbomben, Torpedos,


Gefängnissen, Galgen, Kirchen, Fabriken, Zollkammern, Palästen ist wirklich
entsetzlich, aber die Festungen und die Kanonen uud die Gewehre schießen
doch nicht von selbst, die Gefängnisse schließen niemand selbst ein, die Galgen
hängen niemand^Jiie Kirchen betrügen niemand, die Zollkammern halten nie
mand im Weg auf, die Paläste und Fabriken erbauen sich nicht selbst und
erhalten sich nicht selbst, alles das machen die Menschen. Wenn
aber die Menschen erst begriffen haben, daß sie dies nicht tun dürfen,
so wird nichts von alledem geben." In Gorkis Drama .Nacht
e
s

asyl" gibt der Pilger auf die Frage des Schauspielers, ob es einen Gott gibt,
die Antwort: Wenn du an ihn glaubst, gibt es einen Gott. Das gilt wörtlich
auch vom Staat, nämlich von der realen Existenz des Staates — als dem
Denken, Fühlen, Wollen eines bestimmten Inhalts, einer bestimmten Ideologie:
wenn man an ihn glaubt, d. h. wenn die Vorstellung der als Staat bezeichneten
Ordnung zum Motiv des Handelns wird, „gibt" es einen Staat als Realität,
wird der Staat zur Realität. Wobei freilich — was immer wieder betont
werden muß — diese Realität und die ihr zugeordnete Ideologie womöglich
auch terminologisch unterschieden werden sollten.
§ 16. Die .Macht" des Staates als Wirksamkeit einer Ideologie. 91

rende Organe einsetzt, so ist dagegen nichts einzuwenden. Doch


muß man sich bewußt bleiben, daß der die „Strafe" Tollziehende
Richter nicht weniger „Organ" der (Staat oder Recht genannten)
Zwangsordnung ist wie der eine von der Rechtsordnung gebotene
Blutrache ausführende Sohn eines getöteten Vaters; und daß für
die auf die wesentlichen Beziehungen eingestellte Betrachtung
nicht erst — wie man anzunehmen pflegt — mit der Einsetzung
arbeitsteilig Organe eine öffentliche „ Gewalt" ent
funktionierender
steht, der die unterworfen sind.
Volksgenossen „Unterworfen"
ist man in dem einen wie dem andern Falle der Ordnung, nicht
irgendwelchen Menschen oder einer bei bestimmten Menschen kon
zentrierten Gewalt. Würden diese Menschen — die die „öffentliche
Gewalt" okkupieren — nicht als „Organe" einer Gesamtheit, d. h.
einer allgemein gültigen Zwangsordnung vorgestellt werden, wäre
somit letztlich nicht der Gedanke entscheidend, daß diese „Organe"
bei Ausübung der Gewalt nur die Rechtsordnung realisieren, man
also nur dieser Rechtsordnung, nicht den die Macht faktisch be
hauptenden Menschen untertan ist, dann wäre eben der Gedanke des
Staates nicht vorhanden. Das bedeutete aber, daß wohl Tatsachen
„nackter Gewalt", nicht aber ein Staat zu konstatieren wäre. Denn
nichts anderes als ein Gedanke, ein Ordnungsgedanke ist der Staat!

4. Kapitel.

Wirksamkeit der Staatsideologie und Geltung der Staatsordnung.

§ 16.
Die „Macht" des Staates als Wirksamkeit einer
Ideologie.
Daß der Staat nur ein Gedankenwesen sei, diese Erkenntnis
schließt keineswegs die übliche Anschauung aus, nach der mit dem
Begriff des Staates die Vorstellung einer intensiven „Macht" oder
„Gewalt" verbunden ist. Nur daß eben das Verhältnis, in dem der
Staat zu dieser „seiner" Macht steht, richtig gestellt wird: Der
Staat ist als eine ideelle Ordnung, als ein System von Zwangsnormen
erkannt, in deren Geltung seine spezifische geistige Existenz ruht.
Darin, daß diese Ordnung als geistiger Inhalt von Menschen vor
gestellt und gewollt und so zum Motiv ihres Handelns wird, in dieser
Wirksamkeit besteht die Macht oder Gewalt, die man mit Un
recht als die des Staates bezeichnet oder gar mit dem Staate identifi
ziert. Denn es geht nicht an, einen geistigen Inhalt mit dem seeli
schen Prozeß, dem natürlichen Ablauf psychischer Akte zu vermengen,
die den spezifischen Inhalt, auf dessen Eigengesetzlichkeit
92 II. Der Staat als Normensystem.

es ankommt, gleichsam nur tragen. Es ist nicht zuletzt die irre


führende Aequivokation unserer Sprache, die zwischen Denken und
Gedachtem, Wollen und Gewolltem nicht scharf genug unterscheidet,
die auf dem Gebiete der Staats- und Rechtslehre zu der verhäng
nisvollen Identifikation der allein als „Staat" zu begreifenden Ideo
logie mit ihrem psychischen Vehikel geführt hat. Erkennt man,
daß der kausalgesetzliche Ablauf jener psychischen Akte, in denen
das Erleben der Staatsideologie, ihr Denken, Fühlen, Wollen sich
vollzieht, dem Reich der Natur angehört und nur durch naturwissen
schaftlich-psychologische Betrachtung faßbar ist — (sofern sich ein
so kompliziertes Problem überhaupt mit Aussicht auf Erfolg be
handeln läßt!) — während die Ideologie des Staates selbst als ideelle
Ordnung in der Sphäre des Geistes ihren Platz hat, dann be
deutet die gerügte Begriffsverschiebung, die an Stelle eines geistigen
Inhalts den ihm zugeordneten psychischen Prozeß treten läßt — sie ist
auch auf anderen Erkenntnisgebieten häufig und bildet speziell inner
halb der Philosophie den charakteristischen Gegenstand des Kampfes,
den der Logismus gegen den Psychologismus führt — zugleich die
Verwischung des Gegensatzes von Natur und Geist. Der
Versuch, den Staat als „reale" Macht, d.h. als ein Stück kausalgesetz
licher Natur zu begreifen, muß an dem inneren Widerspruch scheitern,
der in der Identifikation der natur gegen sätzlichen Geistigkeit einer
Ideologie mit naturgesetzlichen Bewegungen des Motivations
den
mechanismus Auch wäre es Selbsttäuschung, wollte man —
besteht.
wie dies so häufig geschieht — das Wesen des Staates nur in der
durch die motivierende Wirkung der Ordnungsvorstellung herbeige
führten Regelmäßigkeit des Verhaltens einer Vielheit von Menschen,
das hieße also als Summe von Seinsregeln, als Chance oder Wahr
scheinlichkeit eines bestimmten Verhaltens begreifen. Denn eine
solche Betrachtungsweise ist nur dadurch möglich, daß man primär
eine normative Ordnung als gültig voraussetzt und dann als Deu
tungsschema für das tatsächliche Verhalten der Menschen be
nützt. Ohne eine solche Voraussetzung könnte man niemals zur
Einheit des Staates kommen.

§ 17.
Beziehung zwischen Faktizität und Normativität.
Wenn auch mit größter Entschiedenheit daran festgehalten wer
den muß, daß die sogenannte „ Macht" des Staates, als motivierende
Kraft oder Wirksamkeit seelischer Akte, sich nicht eigentlich auf
die allein als „Staat" zu begreifende geltende Ordnung, als geistigen
Inhalt, somit also auf einen anderen Gegenstand als den Staat bezieht,
§ 17. Beziehung zwischen Faktizität und Normativität. 93

so besteht doch noch eine gewisse Beziehung zwischen der Geltung


und der Wirksamkeit der Staatsideologie (sofern dies eine Wort für die
beiden Objekte verwendet werden darf). Es muß vor
verschiedenen
allem die unleugbare Tatsache festgestellt werden, daß eine staatliche
Ordnung als gültig nur dann vorausgesetzt wird, wenn sie — genauer:
wenn die Tatsache, daß sie von den Menschen vorgestellt wird — auch
wirksam ist. Dabei wird nicht vorausgesetzt, daß alle Menschen, für
die die staatliche Ordnung Geltung beansprucht, ausnahmslos
dem Inhalt dieser Ordnung entsprechend motiviert werden, d. h. ord
nungsgemäß handeln, es genügt schon ein gewisser, exakt allerdings
nicht bestimmbarer Grad von Wirksamkeit. Wenn die herrschende
Lehre die Behauptung aufstellt, daß zum Wesen und Begriff des
Staates Macht gehöre, so ist es die eben erwähnte
eine gewisse
Tatsache, die damit — •
allerdings unrichtig — zum Ausdruck kom
men soll. Gleich jetzt muß festgestellt werden, daß ebendasselbe
der herrschenden Lehre zufolge vom Recht gilt; nur daß hier der
gleiche Gedanke — dem üblichen Dualismus
von Staat und Recht
entsprechend — mit anderen Worten
auftritt. Man ist sich im all
gemeinen darüber einig, daß ein Recht nur dann Geltung habe, wenn
es auch wirksam sei. Ja, gerade in dieser Wirksamkeit erblickt
man die „Positivität" Der „mächtige" Staat und das
des Rechtes.
„positive" Recht sind so sehr identisch, daß man ebensogut von einem
positiven Staat und einem mächtigen Recht sprechen könnte.
Was bedeutet nun diese Tatsache, daß nur eine wenigstens bis zu
einem gewissen Grade wirksame Staats- oder Rechtsideologie Relevanz
behauptet ? In welchem Verhältnis steht dieses Minimum an Wirksam
keit zu der Geltung, steht die Normativität der Staats- und Rechts
ordnung, d. i. ihre spezifische Geltungsexistenz, zu ihrer Faktizität,
richtiger : zur Faktizität, d. i. der Wirksamkeit des Vorstellens, Füh
lens, Wollens, kurz des Erlebens dieser Ordnung? Zunächst sicherlich
in keinem anderen Verhältnis als jenem, in dem sonst ein psychischer
Akt zu dem ihm zugeordneten geistigen Inhalt steht ! So wie wenn
man z. B. zu sagen pflegt,
könnte keinen pythagoräischen Lehr
es
satz geben, wenn es keine Menschen gäbe, die ihn denken, das heißt,
daß der psychische Akt des Denkens zwar die conditio sine qua non,
nicht aber die conditio per quam ist für den geistigen Inhalt, den
man als pythagoräischen Lehrsatz bezeichnet. Dessen Geltung findet
ihren spezifischen Grund nicht in der Tatsache, daß er gedacht wird,
sondern in irgendwelchen letzten Axiomen. So findet auch die als
„Staat" bezeichnete Zwangsordnung den Grund ihrer Geltung durch
aus nicht in der Wirklichkeit der Wollungen und Handlungen, die
sie zum Inhalt haben. Die Frage nach dem Geltungsgrund der
94 II. Der Staat als Normensystem.

souveränen Zwangsordnung, nach dem Existenzgrund des Staates


führt zu einer höchsten, als gültig vorausgesetzten Norm, die als
Urprungsnorm letzte die Quelle jenes konkreten, individuell be
stimmten Normeusystems darstellt, das man mit dem historisch ge
wordenen Namen eines staatlichen Gemeinwesens bezeichnet. Das
Charakteristische dieser Ursprungsnorm ist, daß sie eine oberste
Autorität einsetzt, die dadurch zur Normsetzung legitimiert erscheint.
Sie wäre — um den einfachsten Fall zu wählen — für eine abso
lute Monarchie etwa so zu formulieren: Es soll Zwang unter den
Bedingungen und auf die Weise geübt werden, wie es der Mon
arch bestimmt. Diese Ursprungsnorm, die man voraussetzen muß,
um einen als absoluteMonarchie existenten Staat zu begreifen,
ist die Verfassung im rechtslogischen Sinne. Sie ist eine oberste
Regel für die Erzeugung von Normen — wie immer die von ihr
eingesetzte oberste Autorität beschaffen sein sollte — für die in
haltliche Gestaltung, die Bildung und Fortbildung der in ihrer Ge
samtheit das Normsystem darstellenden Rechtssätze. Bezeichnet man
die in der Verfassung zur Setzung genereller Normen eingesetzte
Autorität als Gesetzgebungsorgan oder
Gesetzesquelle (darunter
auch den Tatbestand der Gewohnheit
bezeichnend, falls durch
die Ursprungshypothese auch Gewohnheitsrecht delegiert ist), dann
sind auch die auf dieser Stufe der Rechtskonkretisation gesetzten
generellen Normen Regeln für die Erzeugung von Normen, nämlich
der individuellen Normen des Urteils, Verwaltungsakts usw., d. h.
auch in diesen generellen Normen der Gesetzesstufe werden Autori
täten zur Setzung von individuellen Normen eingesetzt. In dieser
stufenweisen Abfolge von der Ursprungsnorm der Verfassung bis
zum individuellen Staats- oder Rechtsakt erfüllt sich die Staats- oder
Rechtsordnung mit immer konkreterem Inhalt1). Und so holt jede
konkrete Norm ihre Geltung aus der höchsten Ursprungsnorrni~Ihren
Inhalt aber aus~den S e~i~ns~tatsachen des Urteils und des'Gesetzes-
~Itefehls (oder Bggcirrnsses), ^durch die sich das genetische System,
der Ursprungszusammenhang der normativen Ordnung stetig vollzieht,
und die als Seinstatsachen der Sollordnung gegenüber zwar die con
ditio sine qua non, nicht aber die conditio per quam sind. Ihren
Geltungsgrund findet die Staats- oder Rechtsordnung nicht in dem

1) Gegen das Vorurteil,


daß das Recht nur in der Form des generellen
Gesetzes hat zuerst MerKL Stellung genommen und dabei die Theorie
bestehe,
vom stufenweisen Aufbau des Rechts entwickelt. Vgl. dessen Abhandlungen:
Die Rechtseinheit des österreichischen Staates, Archiv des öffentl. Rechts,
Bd. 37, S. 56 Das Recht im Lichte seiner Anwendung, Deutsche Richter
ff.
;

zeitung, 1917 Das doppelte Rechtsantlitz, Juristische Blätter, 1918.


;
§ 17. Beziehung zwischen Faktizität und Normativität. 95

Seinsfaktum irgendeiner in der Außenwelt sich vollziehenden Satzung,


sondern in der Voraussetzung einer höchsten Norm als einer Ur
sprungshypothese. In der stufenweisen Abfolge von Normen und
normsetzenden liegt ebenso das Wesen der Rechtspositivität
Organen
wie der Organschaft. Eine konkrete Norm weist sich als positive
Rechtsnorm aus, wenn ihre Geltung auf die das Rechtssystem be
gründende Ursprungsnorm zurückführbar, wenn somit ihre Stellung
im System nachweisbar ist. Die „Gewalt" des Staates, sein Herr
schafts- oder Obrigkeitscharakter aber kommt unmittelbar in den
Staatsorganen zum Ausdruck. Die herrschende Lehre läuft ja Ge
fahr, den Staat vor lauter Staatsorganen nicht zu sehen. Der „ Herr
schafts oder Obrigkeitscharakter, auf den die herrschende Lehre
solches Gewicht legt, reduziert sich aber auf diese letztlich auf der
Ursprungsnorm gegründete Delegation zur Normsetzung.
Diese den Inhalt der Staats- oder Rechtsordnung bestimmende
Beziehung zu gewissen Seinstatsachen (den Rechtssetzungs-, Befehls
oder „ Herrschafts "akten) ist jedoch nicht die einzige Relation der
Normativität zur Faktizität. Während die Axiome der Mathe
matik, auf denen die Geltung des pythagoräischen Lehrsatzes beruht,
sich mit zwingender Notwendigkeit ergeben und ihre Annahme —
als Faktum zwar nicht möglich, wenn nicht der eine oder andere
Mensch die erforderlichen Denkoperationen vollzöge — unabhängig
davon ist, ob mehr oder weniger Menschen sie für richtig hal
ten, ist die Ursprungshypothese, die gesetzt werden muß, um den
Staat, einen konkreten Staat zu erfassen, doch inhaltlich dahin be
stimmt, daß die aus ihr ableitbare ideelle Ordnung sich als ein in
der Regel brauchbares Deutungsschema für das tatsächliche Ver
halten der Menschen erweist, daß die nach der Regel der Ursprungs
norm erzeugte Staats- und Rechtsordnung, sofern sie zum Inhalt des
Vorstellens und Wollens der Menschen wird, über ein gewisses
Mindestmaß von Wirksamkeit verfügt. Es wäre schlechterdings
sinnlos, wollte man heute, um das Wesen des russischen Staates
zu begreifen, jene Ursprungsnorm gelten lassen, mit der vor der
Revolution jedermann rechnen mußte, der das gleiche Erkenntnis
ziel verfolgte, jene Norm, die den absoluten Zaren als oberste Norm
setzungsautorität einsetzte. Und zwar wäre dies nur darum sinnlos,
weil die so zu gewinnende Ordnung keinerlei Möglichkeit böte, das
tatsächliche Verhalten der Russen als sinnvoll, das heißt als irgend
wie normgemäß zu deuten. Für die Wahl des Ausgangspunktes
staats- oder rechtswissenschaftlicher Betrachtung, für die Gestaltung
der entscheidenden Ursprungsnorm ist ein Postulat maßgebend, das
eine bestimmte Relation zwischen dem Inhalt des durch die Ur
96 II. Der Staat als Normensystem.

sprungsnorm zu begründenden Sollens und dem Inhalt des korrespon


dierenden Seins garantieren will: Die Spannung zwischen dem Sollen
und dem Sein, die als Möglichkeit einer inhaltlichen Differenz
— dem Wesen jeder normativen Ordnung entsprechend — grund
sätzlich bestehen bleiben muß, darf andererseits wieder nicht über
ein bestimmtes Höchstmaß hinausgehen. In dieser Determination
verknüpft sich Normativität und Faktizität in eigenartigster Weise
zu einer Parallelität von Geltung und Wirkung.
charakteristischen
Was damit gebracht werden soll, ist die Tatsache,
zum Ausdruck
daß dem ideellen System der Staats- oder Rechtsordnung in
seiner spezifisch normativen Gesetzlichkeit ein Stück des
realen Lebens, des tatsächlichen, nach kausaler Gesetzlichkeit
ablaufenden Verhaltens der Menschen irgendwie zugeordnet ist, und
daß zwischen dem Inhalt des Systems „Recht" (oder „Staat") und
jenem des zugeordneten Stücks des Systems „Natur" eine gewisse
Uebereinstimmung bestehen muß, die ein gewisses Maximum nicht
überschreiten, aber auch nicht unter ein bestimmtes Minimum
sinken darf.
Das Problem, das hier der Staats- und Rechtstheorie aufgegeben
ist, besteht — zusammenfassend dargestellt — darin : Auf der
einen Seite muß eine von der Kausalgesetzlichkeit der Natur
und sohin des Ablaufs tatsächlichen Geschehens offenbar verschiedene
Eigen gesetzlichkeit des Systems Staat oder Recht, der
Staats- oder Rechtsordnung angenommen werden. Deren Sätze sagen
durchaus nicht ein tatsächliches Geschehen und dessen kausale Ver
knüpfung, sondern ganz spezifische Zusammenhänge aus. Diese
Eigengesetzlichkeit, zu deren Ausdruck da3 rechtliche Sollen dient,
zeigt sich — wie bereits festgestellt wurde — darin, daß die ein
zelnen in den hypothetischen Urteilen der Rechtssätze ausgesagten
Beziehungen ohne Rücksicht darauf existent sind, ob zwischen den
bezogenen Elementen auch Seinsrelationen bestehen. (Daß, wer stiehlt,
bestraft werde, dieses Rechtsgesetz ist unabhängig davon, ob auf
den tatsächlich verübten faktisch die Strafe folgt.)
Diebstahl auch
Diese Eigengesetzlichkeit zeigt sich aber auch darin, daß die Ab
änderung des Systems der Staats- oder Rechtsordnung, die inhalt
liche Fortbildung ihrer Normen nach dem eigenen, immanenten Prinzip
des Systems selbst erfolgt. Dieses selbst bestimmt die Bedingungen,
unter denen sein Inhalt als abgeändert angesehen werden muß.
Tritt an Stelle der alten Ordnung eine neue, so ist nicht danach
die Frage, ob die Menschen ihr tatsächliches Verhalten geändert
haben, sondern ob die Rechtsordnung verfassungsmäßig geändert
wurde. Ist das letztere nicht der Fall, liegt Revolution vor.
§17. Beziehung zwischen Faktizität und Normativität. 97

Und dieses Geschehen ist vom Standpunkt der dadurch gebrochenen


Staats- oder Rechtsordnung Staats- oder rechtswidrig, nichtig,
ist Nichtrecht, Nichtstaat, sondern Gewalt.
Darin, daß sich die neue Ordnung nicht aus der alten nach deren
eigenem Abänderungsgesetz ableiten, daß sich die neue nicht als eine
eigengesetzliche Modifikation
der alten Ordnung begreifen läßt, daß
zwischen beiden Ordnungen nicht die Kontinuität, nicht die Einheit
eines gesetzlichen Zusammenhanges besteht, in diesem Bruch
besteht die „Revolution". Nicht aber in irgendwelchen kausaler
Seinsbetrachtung gegebenen tatsächlichen Vorgängen. Während eine
auf das Sein des tatsächlichen Geschehens gerichtete Betrachtung —
ihrer Voraussetzung nach — immer nur Evolution, d. h. kausal
gesetzlichen Zusammenhang in der Einheit des Systems der Natur
vorfinden kann, besagt der Begriff der Revolution die Diskontinuität
zweier miteinander unvereinbarer Systeme, jener beiden Wertsysteme
oder normativen Ordnungen, deren Verschiedenheit und Unvereinbarkeit
— im Gegensatz zudem ungebrochenen Fluß des tatsächlichen Geschehens
in der Ebene der Seins- Wirklichkeit — auf die Verschiedenheit und
Unvereinbarkeit zweier oberster Werte, normativer Ursprungshypo
thesen zurückgeht, aus denen sich die Geltung dieser Ordnung ab
leitet. Gerade der Begriff der Revolution, der innerhalb des Systems
der Natur keinen Platz findet, zeigt deutlich, daß man sich, soll der
eigentliche, der spezifische Sinn einer sozialen Ordnung, ihr Eigen
sinn erfaßt werden, der Eigengesetzlichkeit dieser Ordnung, im
Gegensatz zu Naturkausalgesetzlichkeit
der des tatsächlichen Ge
schehens, des regelhaften Verhaltens der Menschen bewußt werden
muß. Und diese Eigengesetzlichkeit ist es eben, die in der Norma
tivität der Staatsordnung gegenüber der Naturgesetzlichkeit der
Faktizität zum Ausdruck kommt1).

') Das tatsächliche Verhalten der Menschen, ihre tatsächlichen Vorstel


lungen, die zum Motiv ihres Handelns werden, und dieses Handeln selbst steht
natürlich in kausalem Zusammenhang mit anderen Tatsachen der Natur, dem
Klima, der Bodenbeschaffenbeit usw. Geht man nicht von der Ideologie
des Staates aus, nicht von der Frage nach der Geltung dieses Normensystems,
sondern von dem tatsächlichen Verhalten, und fragt man, unter welchen spezi
fischen Bedingungen gerade diese bestimmte Ideologie eines bestimmten Staates
(im Sinne des tatsächlichen Vorstellens, Fühlens und Wollens einer bestimmten
Staatsordnung) entstanden ist und wirksam bleibt, so ist gewiß zuzugeben,
daß dies nur als kausale Wirkung ganz bestimmter äußerer und innerer (psy
chischer) Ursachen begreiflich ist. Damit ist freilich nur eine selbstverständ
liche Allgemeinheit gesagt; es ist damit nur das Kausalprinzip für die Er
klärung eines — als Stück der Natur vorausgesetzten — Objektes anerkannt.
Mehr besagt auch die von Mahx und EngeLs vertretene Theorie des sog.
historischen Materialismus nicht, die Staat und Recht auch als .Ideologien*
Kelsen, SUatibegriff. 7
98 II. Der Staat als Normensystem.

Auf der anderen Seite ist aber die unleugbare Tatsache


zu konstatieren, daß mit der siegreichen Revolution die Staatsideo
logie sich faktisch ändert, daß man nunmehr bei der rechtlichen
Beurteilung von einer neuen, gegenüber der bisherigen verschiedenen
Grundnorm ausgeht, in der die in der Revolution tatsächlich zur
Macht gelangten Faktoren als oberste Rechts(Staats)autoritäten ein
gesetzt sind. Die Macht ist zum Recht geworden.
Dieser Standpunktwechsel hat zur Folge, daß das auf die neue Ur-
sprnngsnorm gegründete System von Normen in keinen allzugroßen
begreift, diese Ideologie aber als „Oberbau" auf der diesen Oberbau bestim
menden, erzeugenden . Basis" der „Produktionsverhältnisse" (die wieder einer
bestimmten Stufe der .Produktionskräfte" entsprechen) charakterisiert.
Worauf es Marx dabei anzukommen scheint, ist vor allem die kausale Deter
mination der Ideologie durch ihre Basis; das Verhältnis von Ursache und
Wirkung soll offenbar durch das Bild des Unterbaues und des auf ihm ruhen
den Oberbaues dargestellt werden. Dafür spricht schon der Satz: „Es ist
nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr ge
sellschaftliches Sein" — darunter ist eben die Gesamtheit der Produktions
— , das ihr Bewußtsein bestimmt." Daß die Produk
verhältnisse" gemeint
tionsverhältnisse als bestimmende Ursache für die Ideologie eines bestimmten
Staates nicht ausreichen, daß diese Basis als Erklärucgsprinzij) zu schmal ist,
daß zu den bestimmenden Ursachen der Ideologie „Staat" insbesondere auch
andere Ideologien, z. B. Religion, Moral usw., gehören, daß insbesondere die
„Produktionsverhältnisse" selbst zum Teil ideologischen Charakter haben, all
diese Einwände gegen das Spezifische der „materialistischen" Geschichtsauf
fassung kommen hier nicht in Betracht. In diesem Zusammenhang ist von
Interesse nur der Umstand, daß an der Darstellung der materialistischen
Geschichtsauffassung das Wort „ Ideologie " die schon wiederholt betonte
Doppelbedeutung eines psychischen Prozesses und eines geistigen In
haltes hat, ohne daß zwischen beiden Bedeutungen klar geschieden würde.
Nur in der ersten Bedeutung steht die „Ideologie" im Kausalnexus, kann von
den Ursachen, d. h. von den „natürlichen" Bedingungen einer Ideologie
gesprochen werden. Mit der zweiten Bedeutung ist eine spezifische Eigen
gesetzlichkeit verbunden.
Ungefähr in diese Richtung dringt — wenn auch nicht ganz bewußt —
die Kritik, die Oppenheimer („Grundlegung einer einheitlich-soziologischen
Auffassung von Staat und Gesellschaft", Jahrbuch des öffentlichen Rechts,
Bd. VI, Tübingen, 1912, S. 141) an der herkömmlichen materialistischen Ge
schichtsauffassung versucht. Er gibt grundsätzlich eine „sehr starke Ab
hängigkeit dieser Ideologien von dem Unterbau" zu. „Aber man darf das
Prinzip nicht überschätzen, und das haben viele Marxisten — Marx selbst
weniger — entschieden getan. Unmöglich kann geleugnet werden, erstens, daß
wenigstens Kunst und Wissenschaft ein Stück innerer Dialektik haben,
ein eigenes unabhängiges Gesetz, nach dem sie sich entfalten,
so stark sie auch von den sozialen und wirtschaftlichen Dingen der Zeit be
einflußt werden." Diese Eigengesetzlichkeit, diese „innere Dialektik" — wenn
auch nicht ganz in dem Sinne wie Kunst und Wissenschaft — weist auch die
Ideologie „Staat" oder „Recht" auf!
§ 17. Beziehung zwischen Faktizität und Normativität. 99

inhaltlichen Widerspruch zu dem tatsächlichen Verhalten der Men


schen geraten kann. Und gerade diese Sachlage veranlaßt manche
Theoretiker, Macht und Recht gleichzusetzen, das Recht und den Staat
nicht unter dem Gesichtspunkt des Sollens, sondern des Seins, nicht
als System von Normen, sondern als eine Summe von Regeln tat
sächlichen Geschehens zu betrachten Allein dabei übersieht man

') Nach dieser Richtung tendiert


— wenn er sie auch nicht ohne Wider
spruch behauptet — ERich Kaufmann, der mit seinem Buche „Das Wesen
des Völkerrechts und die Causula rebus sie stantibus", 1911 durch die Ver
teidigung der — auf eine Identifikation des Rechts mit der Macht hinaus
laufenden — Thesen: „Nicht die Gemeinschaft frei wollender Menschen, son
dern der siegreiche Krieg ist das soziale Ideal" (a. a. 0. S. 146), „Nur der, der
kann, darf auch" (a. a. 0. S. 151) eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. In
seiner jüngsten Schrift, die sich als „Kritik der neukantischen Rechtsphilo
sophie" (1921) bezeichnet, macht Kaufmann wie gegen den Neukantianismus
überhaupt, so insbesondere gegen meine rechtstheoretischen Aufstellungen gel
tend, daß der „reine Rationalismus" — als welchen Kaufmann die neukantische
Philosophie offenkundig mißversteht — „zu gar keinen Ergebnissen kommen kann,
und daß, wo er solche liefert, sie erschlichen sind" (a. a. 0. S. 20fF.). Um mir
solche Erschleichungen nachzuweisen, beschränkt sich Kaufmann in seiner
Kritik beinahe ausschließlich auf die letzten Seitetf meines Buches „Das Problem
der Souveränität", wo ich die ethisch-politi sehe Bedeutung der beiden
möglichen Hypothesen untersuche, die für die Bestimmung des Verhältnisses
von Staatsrecht und Völkerrecht maßgebend sein können: Primat der eigen
staatlichen Rechtsordnung oder Primat der Völkerrechtsordnung. Kaufmanns
kritischer Methode beliebt es, einzelne Sätze des Gegners aus dem Zusammen
hang herauszugreifen, ohne es dem Leser möglich zu machen, diesen Zu
sammenhang selbsttätig wieder herzustellen, da Kaufmann die Angabe des
Werkes und der Seitenzahl verschmäht. Seine Ausführungen sind überdies so
vage und in ihrer Allgemeinheit so unpräzis, daß es schwer fällt, gegen sie
Stellung zu nehmen. Soweit ich sie zu verstehen vermag, scheint Kaufmann
zu behaupten, daß ich das Völkerrecht als eine über den einzelstaatlichen
Rechtsordnungen stehende, sie zu einer Einheit verbindende Rechtsordnung,
das Völkerrecht als sogenannte civitas maxima aus dem Begriff des reinen
Sollens deduzieren zu können glaube. Sofern damit gesagt sein will, daß ich
hier — gegen meine eigenen Prinzipien der „Reinheit" — das Politische mit
dem Juristischen vermenge, muß ich feststellen, daß Kaufmann es unterlassen
hat, Lesern zu sagen, daß ich die eine civitas maxima begründende
seinen
Hypothese des Primats der Völkerrechtsordnung als juristisch
durchaus
gleichwertig mit der Hypothese vom Primat der eigenstaatlichen Rechtsordnung
hingestellt, und daß ich ausdrücklich betont habe, daß es nur ein ethisch
politischer Gesichtspunkt ist, von dem aus der einen oder der andern
Hypothese ein Vorzug gegeben werden kann. Es ist — um mit Kaufmann
selbst zu sprechen — eine „Erschleichung" seines kritischen Resultates, wenn
er meinen Gedankengang so darstellt, als ob das von mir als Postulat der

Rechtswissenschaft behauptete Prinzip der Einheit alles als Recht zu Be


greifenden notwendig und ausschließlich zum Primat der Völkerrechtsordnung
führen müsse. Wahr ist, daß ich gezeigt habe, wie dem von mir als immanente
7*
100 IL Der Staat als Normensystem.

gänzlich die früher charakterisierte Eigengesetzlichkeit der


Rechts- oder Staatsordnung. Deren normatives System beginnt
erst mit der Grund- oder Ursprungsnorm ; ist diese, deren Norm-

Tendenz der Rechtswissenschaft nachgewiesenen Postulat, das Völkerrecht und


die einzelstaatlichen Rechtsordnungen irgendwie als Einheit zu begreifen,
entweder durch die Hypothese vom Primat der Völkerrechtsordnung
oder jene vom Primat der eigenstaatlichen Rechtsordnung entsprochen wer
den kann, und daß die herrschende Lehre zwischen beiden Hypothesen —
eben weil sie sich ihrer nicht bewußt wird — inkonsequent hin- und her
schwankt. Daß ich diese beiden Hypothesen — und nicht bloß die eine, wie
es nach Kaufmanns Darstellung scheinen möchte — politisch deute, an ihnen
auch eine politische Bedeutung finde, das ist durchaus nicht, wie KAUFMANN
meint, ein Widerspruch zu meiner Ablehnung der Zweiseitentheorie. Diese
besagt, daß der Staat sowohl eine reale, d. h. empirisch-kausal bestimmte, als
auch eine (relativ) ideale, normativ bestimmte Einheit oder Wesenheit sei.
Das ist darum unmöglich, weil kausale und normative Betrachtung auseinander
fallen. Ganz abgesehen davon, daß politische und juristische Betrachtung da
gegen beide normativ sind und daher schon von vornherein eine ganz andere
methodologische Situation gegeben ist, kann man, ohne im geringsten die
Selbständigkeit der Normensysteme der Politik und des Rechts zu gefährden,
ohne beide einen identischen Gegenstand sein oder konstituieren zu lassen,
dennoch den Inhalt beider Systeme vergleichen und Uebereinstimmung oder
Widerspruch konstatieren. So wie man den Inhalt einer Rechtsnorm als un
sittlich, kann man den eines politischen Postulates als rechtswidrig erkennen.
Man kann nur nicht Normen zweier verschiedener Systeme zugleich als gültig
voraussetzen. Kaufmann hätte sich nicht einmal die Mühe nehmen müssen,
zu tun was er seinen Lesern widerrät, nämlich meine „dicken Bücher* zu lesen;
er hätte nur meine kleine, gegen die auch von ihm bekämpfte südwestdeutsche
Schule gerichtete Abhandlung: „Rechtswissenschaft als Norm oder Kultur
wissenschaft" (ScHmOLl^EEs Jahrbuch Bd. 40) beachten müssen, um sich dieses
Mißverständnis zu ersparen.
Daß Kaufmann das von mir angenommene (von mir freilich niemals —
wie er fälschlich behauptet — als „denkökonomisch" begründete) Postulat der
Rechtswissenschaft leugnet, alles Recht, d. h. allen Stoff, der sich als „Recht"
darbietet, als ein einheitliches System zu begreifen, das bringt mich allerdings
zu ihm in einen prinzipiellen Gegensatz. Indes bezweifle ich, ob Kaufmann
entschlossen ist, die Konsequenzen dieser Ablehnung des Einheitspostulates zu
ziehen. Wie erklärt er z. B. die Tatsache, daß die Völkerrechtsnormen, die
im Krieg absichtliche Tötung gegnerischer Soldaten gestatten, offenbar den
einzelstaatlichen Rechtsordnungen derogieren, die absichtliche Tötung — ohne
den Kriegsfall positiv-rechtlich auszunehmen — verbieten? Etwa damit, daß
der betreffende Staat das Völkerrecht „anerkannt" und damit zum Bestandteil
seiner eigenen Rechtsordnung gemacht habe? Steckt nicht darin und in jedem
anderen solchen Versuche, die einzelstaatlichen Rechtsnormen in ihrer Geltung
als durch das Völkerrecht beschränkt zu begreifen, einen Konflikt zwischen
Völkerrecht und einzelstaatlicher Rechtsordnung zu vermeiden, die von Kauf
mann geleugnete Tendenz zur Einheit? Nun, vielleicht ist es noch möglich,
das Postulat der Einheit zwischen Staat und Völkerrecht in Frage zu «teilen.
Will Kaufmann aber auch in Abrede stellen, daß dem Juristen die Einheit
§ 17. Beziehung zwischen Faktizität und Noiuiattv-ttät.v lOl'

charakter unzweifelhaft ist, einmal — gleichgültig' wie -nnel Wühier- —


vorausgesetzt, dann ist die reine Geltungssphäre gewonnen und jeder
Einbruch- der Faktizität ausgeschaltet. Daß die Willensakte der von

der einzelnen staatlichen Rechtsordnung selbst als Aufgabe gegeben ist? Hält
Kaufmann für möglich, zwei Rechtssätze derselben Rechtsordnung oder,
es
um in der üblichen Terminologie zu sprechen : zwei Rechtsnormen desselben
Staates zugleich als gültig zu behaupten, von denen die eine den Inhalt a und
die andere den Inhalt non a hat? Was soll denn die Grundvorstellung der
herrschenden Lehre : daß der Staat einen .Willen* habe und daß das Recht
der Wille des Staates sei. anderes bedeuten als den anthropomorphen Ausdruck
dafür, daß die Rechtssätze als widerspruchsloser Sinngehalt begriffen werden
sollen? Gewiß, es gibt noch einen anderen Begriff der Einheit, aber könnte
Rechtswissenschaft sich unter diesem anderen Prinzip der Einheit als Wissen
schaft behaupten ? Wenn es mathematisch unmöglich ist, den Satz 2x2=4
und den 2x2 = 5 (also nicht 4) zugleich als gültig anzunehmen, so ist es
doch psycho logisch nicht unmöglich, zu behaupten, daß ein und derselbe
Mensch beide Sätze tatsächlich zugleich für wahr hält, denn in der Mathematik
kommt es auf den spezifischen Sinngehalt des Satzes, in der Psychologie
auf den psychischen Prozeß des Denkens dieses Satzes oder dieser Sätze an.
Nun liegt aber das Wesen des Rechts (und des Staates) in dem spezifischen
Sinngehalt der Rechtssätze, nicht in dem psychologischen Prozeß ihres Denkens
oder Wollens oder dem Ablauf der durch diese Seelenprozesse bewirkten
Körperbewegungen. Die entgegengesetzte Meinung vertritt allerdings die so
genannte soziologische Rechts- und Staatstheorie , die ja nur die natur
wissenschaftliche Terminologie für die Machttheorie liefert und damit Staat
und Recht als spezifische Gegenstände einer besonderen Erkenntnis aufhebt.
Daß Kaufmann nach dieser Richtung tendiert, hat schon sein Buch über
„Das Wesen des Völkerrechts" gezeigt.
Was nun die KAUFmANNsche Behauptung betrifft, daß ich ein „bestimmtes
positives Ergebnis" (welches, ist nicht klar gesagt) au3 dem formalen Begriff
des reinen Sollen trotz dessen von mir vorausgesetzter Leere, zu gewinnen
suche und so „erschleiche", so habe ich folgendes zu erwidern: Als Geltungs
grund der Rechtsordnung, sei es der einzelstaatlichen Rechtsordnung, sei es
des Völkerrechts als eines einheitlichen Systems von Nonnen habe ich nie
mals das reine, inhaltsleere Sollen, sondern eine konkrete, inhaltserfüllte
Grundnorm angenommen, deren Geltung nicht absoluten, sondern nur hypo
thetischen Charakter behaupten kann. Das Sollen habe ich als die Aussage
form des Rechtssatzes, als Ausdruck für die spezifische Verknüpfung zwischen
Bedingung und Folge im Rechtssatz verwendet. Erst durch den besonderen
Inhalt der Grundnorm (die als eine oberste Norm vorausgesetzt ist) wird das
Sollen zum rechtlichen Sollen. Aus dem reinen Sollen könnte eine
konkrete Rechtsordnung gewiß nur durch Erschleichung gewonnen werden.
Aus der von mir angenommenen Grundnorm aber ist dies ohne jede Er
schleichung möglich, denn diese Grundnorm ist ja nichts anderes als eine
Erzeugungsregel, als eine Norm, nach der das konkrete Recht erzeugt
wird. Natürlich habe ich auch niemals behauptet, daß die konkreten Sätze
des positiven Rechts durch bloße Spekulation aus der Grundnorm deduziert
werden können, was mir der KAUFMANNSche Vorwurf der Erschleichung auch
zu unterstellen scheint. Das wäre etwa so, wie wenn man aus den synthe-
tO^ . '.- i -- : . .' II. Der Staat als Normensystem.

: -der Örundnornr unmittelbar oder mittelbar — eingesetzten Auto


'->-

ritäten Seins tatsachen sind, das kann den S o 1 1 e n s Charakter der


Normen nicht berühren, die dem Inhalt dieser Willensakte konform

tischen Grundsätzen des Verstandes, bzw. aus dem Prinzip der synthetischen
Einheit der Apperzeption die besonderen Naturgesetze, die konkrete Gestaltung
der Naturwirklichkeit ableiten wollte. Kaufmann konnte und mußte wissen,
daß gerade ich einen solchen Denkfehler auf das schärfste perhorresziere !
Eben weil ich solche Erschleichung vermeiden wollte, habe ich die -i- oben
im Texte neuerlich dargestellte — Unterscheidung zwischen Geltung und
Inhalt der Rechtsnorm gemacht, und ich habe diese Unterscheidung nicht
etwa auf das Völkerrecht beschränkt — wie Kaupmann (a. a. 0. S. 31) be
hauptet, allerdings um sich später zu korrigieren! — , sondern von der obersten
Grundnorm bis auf den konkretesten Rechtsakt, die individuellste Rechtsnorm
durchgeführt. Diese Unterscheidung, gegen die man alles, nur nicht den Vor
wurf der Erschleichung vorbringen kann, nimmt Kaufmann auch zum Anlaß,
festzustellen, daß ich damit den Dualismus von Sollen und Sein aufgegeben
habe. Er spricht von einer völligen „Kapitulation". Ich würde nicht einen
Augenblick zögern, offen und ehrlich zu „kapitulieren", wenn ich die Grund
lage meiner Rechtstheorie nicht mehr halten könnte. Allein dies scheint mir
nicht der Fall zu sein.
Ich verweise auf die Darstellung oben im Texte und möchte hier nur
noch hinzufügen: So sehr man auch die Uebereinstimmung zugeben
muß, die inhaltlich zwischen den Rechtsnormen und dem tatsächlichen
Verhalten der Menschen, der „Macht" zu konstatieren ist, so kann man doch
niemals — will man nicht des ureigensten Wesens alles Rechts verlustig gehen
— auf jenen Gegensatz verzichten, der immer wieder und unter allen Um

ständen zwischen dem Recht und der Macht, als zwischen dem Sollen
und dem Sein, dem Werte und der Wirklichkeit angenommen werden muß.
Hätte die juristische Grundnorm den Charakter eines absoluten Wertes,
dann wäre das Problem recht einfach. Eben weil die Grundnorm aber nur
relative, hypothetische Gültigkeit beanspruchen kann, weil ihr Inhalt offen
kundig mit Seinstatbeständen korrespondiert und diese Korrespondenz durch
gängig bis zur letzten Rechtskonkretisation feststellbar ist, dennoch aber die
Rechtsordnung als Norm dem Sein des tatsächlichen Verhaltens gegenüber
tritt, gestaltet sich das Problem so schwierig. Aber alle Korrespondenz zwischen
dem Inhalt des rechtlichen Sollens und dem des natürlichen Seins kann die
Tatsache nicht verdunkeln, daß die Frage nach dem Warum eines rechtlichen
Sollens, nach dem Grunde eines konkreten Rechtssatzes immer wieder nur zu
einem Sollen, niemals zu einem Sein, stets nur zu einer Norm, niemals zu
einem Naturgesetz führen kann. Der Begründungszusammenhang, in dem die
Rechtsnormen stehen, beruht auf einer Norm, auf der von mir als .Ursprungs
hypothese* charakterisierten Grundnorm. Sie stellt die Einheit in der Mannig
faltigkeit der „empirischen", d. h. positiven Rechtssätze, Rechtsnormen, Rechts
tatsachen her, nur die stufenweise Rückführung einer konkreten Rechtsnorm
auf diese Grundnorm begründet deren Stellung im System einer bestimmten
Rechtsordnung. Und diese Grundnorm tritt in der spezifischen Aussageform
der juristischen, Rechtliches aussagenden Urteile auf, stellt sich als ein S o 1 1-
satz dar. Ueber diese Grundnorm hinaus aber kann man juristisch
nicht
mehr fragen, denn erst mit der Grundnorm beginnt das System des Rechts.
§ 17. Beziehung zwischen Faktizität und Normativität. 103

sind, die — wie man sich ausdrückt — ihren Inhalt


aus jenen Willens
akten „holen". Und ebensowenig wie die Grundnorm darum, weil
ihr Inhalt in Uebereinstimmung mit gewissen Seinstatsachen bestimmt

Indem die juristische Betrachtung von der individuellsten, konkretesten Norm


zur Grundnorm, nicht aber über sie hinausdringt, bleibt sie in der Sphäre der
Normen, des Sollens und somit „rein".
Mit dem Problem, das es hier zu lösen gilt, dem Verhältnis von Recht
und Macht — wie man es nicht ganz zutreffend zu charakterisieren pflegt — ,
der Beziehung zwischen Recht und Wirklichkeit oder zwischen der spezifischen
Rechtswirklichkeit und der Wirklichkeit der Natur hat ja Kaufmann selbst
in seiner Schrift über „Das Wesen des Völkerrechts" ehrlich gerungen. Dort
stellt er — trotz der erwähnten Tendenz, Recht und Macht schlechthin zu
identifizieren — das Recht als Norm der Wirklichkeit des Tatsächlichen
deutlich gegenüber. Energisch lehnt er die „empirisch-soziale" Rechtslehre
ab, die das Recht nicht als „prinzipiell selbständige Welt", nicht als abseits
— d. h. von der Natur abseits — gelagertes Reich zu begreifen vermag. „Das
Verhältnis zwischen den Mächten außerhalb des Rechts und den
Rechtsnormen selbst" bestimmt Kaufmann hier dahin, daß nicht das
Recht in seiner „normativen Macht" an den „natürlichen Fakten der tatsäch
lichen Mächte" zerschellt, wie das die empirisch-soziale Rechtstheorie annimmt;
'„sondern ihre Tatsächlichkeit soll und will am Recht zerschellen: sie wollen
an dessen normativem Charakter teilhaben" (a. a. 0. S. 55/56). Auf eine
Gegenkritik Kaufmanns kann ich verzichten, da er — wie es scheint — seinen
damaligen Standpunkt aufgegeben hat; freilich ohne seinen neuen zu verraten.
Aus seiner schroff ablehnenden Kritik der hauptsächlich in Betracht kommen
den neueren Rechtstheoretiker ist auch nicht die leiseste Andeutung zu ent
nehmen, welchen Weg der rigorose Kritiker aus all der von ihm gerügten
Wirrnis vorschlägt. Darum hat Kaufmann nicht das Recht, in der Vorrede
von seiner Schrift zu sagen, sie sei nicht bloß auf „das Negieren und die Zer
störung früherer Gültigkeiten eingestellt", sondern gehe von „entgegengesetzten
Positivitäten" aus. Denn er muß sich sogleich selbst das Armutszeugnis aus
stellen: „Aber diese Positivitäten selbst sollen noch nicht zur ausdrücklichen
Formulierung kommen, sondern können höchstens in ihrer allgemeinen
(!)

Richtung von dem einen oder andern Aehnlichstrebenden her ausg fühl
(!)
e

werden." Solange Kaufmanns „Positivitäten" nicht auch für Anders


strebende unzweideutig erkennbar werden, muß er sich wohl gefallen
lassen, daß man ihn hinsichtlich seiner „Positivitäten" für insolvent hält.
Und das ist um so bedenklicher, als Kaufmann allen Ernstes behauptet,
daß Deutschland den Weltkrieg verloren habe, weil wir — nicht
die richtige Staats- und Rechtsphilosophie hatten! (Kritik der neukantischen
Rechtsphilosophie S. 2). Trotz des schon 1911 erschienenen Werkes über „Das
Wesen des Völkerrechts", dessen Staats- und Rechtstheorie, weil sie den „sieg
reichen Krieg" als soziales Ideal erklärte, nur folgerichtig auch eingehende
Erörterungen über militärische Taktik aufnahm (a. a. 0. 146/47) und
S.

so gerade den mit der Führung des Weltkriegs befaßten militärischen Kreisen
entsprechen mußte? Es mag schon richtig sein, daß wir den Weltkrieg ver
loren haben, weil wir nicht die richtige Staats- und Rechtsphilosophie hatten.
Aber müßte nicht mancher Autor zugeben, daß er nicht die richtige Staats
und Rechtsphilosophie hat, weil wir den Weltkrieg verloren haben? Sonder
104 II. Der Staat als Normensystem.

wurde, aufhört eine Norm zu sein, ebensowenig verliert das auf


dieserGrundnorm beruhende System von Normen — weil die Span
nung zwischen dem durch diese Normen statuierten Sollen und dem
korrespondierenden Sein ein gewisses Maximum nicht übersteigt,
weil durch die inhaltliche Gestaltung der Ursprungsnorm die auf ihr
gegründete Staats- oder Rechtsordnung in einer gewissen Ueberein-
stimmung mit dem korrespondierenden Ablauf des kausal deter
minierten menschlichen Verhaltens bleibt — seinen normativen
Charakter. Ja,
diese ganze auf die inhaltliche Ge
staltung der Ursprungsnorm und das Verhältnis
zwischen dem Inhalt der Staats- oder Rechtsord
nung und dem des korrespondierenden Seins ge
richtete Betrachtung fällt bereits außerhalb der
auf die Staats- oder R e c h t s i d e o 1 o g i e als einen
spezifischen Sinngehalt abzielenden Erkenntnis.
Nur diese letztere Erkenntnis aber ergibt jene Einheit, die als
Staat (oder Rechtsordnung) begriffen wird. Damit soll natürlich
durchaus nicht die Bedeutsamkeit der ersteren Betrachtung bezweifelt,
sondern nur ihre methodische Andersartigkeit festgestellt werden.
Aus all dem folgt, daß der Begriff des Staates oder Rech
tes rein normativen Charakters sein muß, und daß die Be
ziehungen, die im Inhalt der Ursprungsnorm zur Faktizität der staat
lichen Ordnung aufgedeckt wurden, den rein normativen Charakter
des Staats- oder Rechtsbegriffs nicht berühren können. Und daran
ändert sich auch nichts, man den Einzelstaat als Glied der
wenn
Staatengemeinschaft, einzelstaatliche Rechtsordnung als Teil
die
rechtsordnung der Völkerrechtsordnung erkennt und die Existenz
des Einzelstaates, d. h. die Geltung der einzelstaatlichen Rechts

ordnung aus dem Völkerrecht, bzw. der Völkerrechtshypothese ab


leitet. Das Völkerrecht, das die Bedingungen für die Entstehung
und Beendigung eines Staates enthält, so wie die einzelstaatliche
Rechtsordnung dies für eine Gemeinde statuiert, muß einen Begriff
des Staates — als Rechts i n h a 1 t s begriff — statuieren. Tatsäch
lich findet sich auch ein solcher Rechtssatz, der aussagt, unter wel-
lich jener, der vielleicht zu einseitig, bestimmt durch den Erfolg des Feldzugs
1870/71, von der These: Macht ist Recht, zu der naheliegenden Konsequenz
gelangte: „So stellt sich ....
der siegreiche Krieg als Bewährung des
Rechtsgedankens, als die Norm heraus, die darüber entscheidet,
welcher der Staaten Recht hat" (Kaufmann, Wesen des Völker
rechts, S. 153). Daß einem eine Kritik solcher Rechtsphilosophie angesichts
des verlorenen Weltkriegs dringend notwendig erscheint, wäre begreiflich.
Aber eine .Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie"? Man sollte
doch nicht mit Steinen werfen, wenn man in solch einem Glashause sitzt!
§ 18. Die soziale (reale) und die juristische (ideale) „Seite" des Staates. 105

chen Bedingungen ein Gemeinwesen völkerrechtlich (d. h. überhaupt)


als Staat anzusehen ist. Und unter diesen Bedingungen findet sich
— die Faktizität. Das Völkerrecht anerkennt eine „Macht" als
staatliche unter anderem nur dann, wenn diese Macht ihre Normen
in der Regel durchzusetzen imstande ist Was vom Standpunkt

1).
der Souveränität des Einzelstaates als metarechtliches Postulat be
hauptet wurde, erscheint hier als Inhalt einer Rechtsnorm. Durch
seine Aufnahme in den Inhalt einer Norm ist das Moment der
Faktizität gleichsam denaturiert. Gerade vom Standpunkt eines
Primats der Völkerrechtsordnung ist der normative Charakter des
Staatsbegriffs, dessen Bestimmung als Rechtsordnung außer jeden
Zweifel gerückt.

Kapitel.
5.

Die Zwei-Seiten-Theörie.

18.
§

Die soziale (reale) und die juristische (ideale) „Seite"


des Staates.
Wenn die herrschende Lehre Staat und Recht als verschiedene
Wesenheiten behauptet, so sucht sie doch den so geschaffenen Dua
lismus dadurch wieder aufzuheben oder abzuschwächen, daß sie Staat
und Recht, wenn schon nicht als zwei verschiedene Dinge, so doch
als zwei Seiten desselben Dinges bezeichnet. Diese Zwei-
Seiten -Theorie ist außerordentlich Irgendeine Klarheit
verbreitet.
darüber, was dieses Bild — und nur um ein Bild handelt es sich —
erkenntnistheoretisch eigentlich bedeuten soll, fehlt jedoch durchwegs.
Gerade der Mangel einer klaren Einsicht in das Verhältnis von Staat
und Recht führt
ja

zu dieser unpräzisen Formel, die jeder weiteren


Rechenschaft über die entscheidende Beziehung zu entheben scheint.
Prüft man die Vorstellung von den „zwei Seiten" des Staat-
Recht-Dinges näher, so zeigt sich die Tendenz, den Staat mit dem
jenigen zu identifizieren, von dem hier Faktizität ausgesagt wurde,
das Recht mit demjenigen, worauf hier die Normativität bezogen
wurde. Indes läßt sich die Faktizität in demselben Sinne vom Recht
aussagen Staat und die Normativität sich ebenso auf den
wie vom
Staat beziehen wie
auf das Recht. Und so gibt es denn auch
Juristen, die das Recht in gewissen realen Vorgängen begreifen wollen
(man denke an die übliche Bestimmung des Begriffs der Rechts-
positivität und. andererseits findet man bei Staatstbeoretikern
!)
,

Vgl. dazu: VerdRoss, Grundlagen und Grundlegungen des Völker


1)

rechts, NeEmeykrs Zeitschr. internationales Recht, Bd. XXIX, 65 ff.


S.
f.
106 II. Der Staat als Normensystem.

den Staat auch als normative Ordnung geschildert. Der grund


legende Fehler liegt eben in dem immer wieder hervorzuhebenden
Irrtum, als ob Normativität oder Faktizität sich auf
Ding dasselbe
beziehen könnten. Die eine gilt einem geistigen Inhalt, die andere
einem psychischen Prozeß, wie immer wieder gesagt werden muß.
Die häufigste Form, in der diese Zwei -Seiten -Theorie auf
tritt, ist diejenige, nach der das zweiseitige Ding der Staat ist,
der eine reale und eine ideale, eine kausalwissenschaftlich und eine
juristisch zu erfassende Seite habe. Daß der Staat, wenn er sich
juristisch begreifen läßt, Recht sein muß, da etwas rechtlich be
greifen nichts anderes heißen kann als etwas als Recht begreifen,
scheint eine Selbstverständlichkeit zu sein. Indes ist die herrschende
Staats- und Rechtslehre von dieser Selbstverständlichkeit noch sehr
weit entfernt. Denn sie hält es — in der Zwei-Seiten- Theorie — für
möglich, eben denselben Gegenstand, den sie juristisch, d. h. auf
juristische Methode bestimmt nun auch einer Betrachtung »zu
hat,
unterziehen, die zugestandenermaßen in ihrer Richtung von der juri
stischen Methode wesensverschieden ist. Die kausalwissenschaftliche
Erkenntnis, der die andere, die nicht juristische Seite des Staates
zugewendet ist, soll nämlich auf das Sein, die Natur- Wirklichkeit
gerichtet sein, während die juristische Betrachtung auf das Sollen,
auf Normen zielt. Wenn zwischen Gegenstand und Methode der
Erkenntnis — wie nicht anders möglich — Korrelation besteht, die
spezifische Methode den spezifischen Gegenstand bestimmt und um
gekehrt, dann kann unmöglich auf zwei nach verschiedenen Rich
tungen gehenden Erkenntniswegen derselbe Erkenntnisgegenstand
erreicht, dann kann es nicht derselbe identische Staat — der Staat
als Ding an sich — sein, der zugleich durch kausale und normative
Betrachtung erfaßt wird. Die erkenntnistheoretische Naivität, die
in dieser Zwei-Seiten-Theorie gelegen ist — es handelt sich um eine
besonders primitive Anwendung der sog. Abbildtheorie — , ist um so
verwunderlicher, als die Widersprüche, in die sie sich in ihrer Durch
führung verwickelt, zu handgreiflich sind, um nicht an ihrer prin
zipiellen Voraussetzung zumindest Zweifel zu erwecken.

§ 19.
Die soziologische Zwei-Seiten-Theorie.
Von soziologischer Seite hat die Zwei-Seiten-Theorie in typischer
Weise der SmMEL-Schüler KlStIAKOWSKl 1) entwickelt. Seine Aus
führungen sind ein überaus charakteristisches Beispiel für das er-

') Gesellschaft und Einzelwesen, 1899.


§ 19. Die soziologische Zwei-Seiten-Theorie. 107

kenntnistheoretische Niveau, auf dem das Problem des Verhältnisses


von Staat und Recht behandelt wird. Darum sollen sie hier etwas
eingehender kritisch gewürdigt werden.
KlStIAKOWSKI geht von
prinzipiellen Scheidung zwischen
der
einer empirisch-kausalen Gesellschaftslehre, deren Aufgabe
die Erforschung der sozialen Wirklichkeit ist, und einer norma
tiven Betrachtung aus, so wie sie in der Rechtswissenschaft
vorgefunden wird. In der ersteren Richtung schließt er sich ganz
an SlMMEL an, dessen Gesellschaftsbegriff: psychische Wechselwir
kung zwischen den sozialen Elementen, er bedingungslos akzeptiert.
Während es nun bei SIMMEL zweifelhaft sein kann, ob der Staat als
empirisch-reale Einheit der miteinander in seelischer Wechselwirkung
stehenden Menschen einen der kausalen Soziologie gegebenen Gegen
stand darstellt, oder aber als überindividuelles und metapsycho
logisches Gebilde in die Ebene normativer Erkenntnis fällt,
versucht KlStIAKOWSKI den Nachweis, daß der Staat beides zugleich
sei: empirische Realität und normative Idealität, Gegenstand sozialer
Kausalforschung und Objekt normativ juristischer Erkenntnis.
KIStIAKOWSKI unterscheidet „zwei verschiedene Staatsbegriffe ".
„Der Staat im juristischen Sinne oder der Staat als rechtliche Ver
bindung und als Subjekt der Rechte, der Pflichten und der Macht
ist etwas Grundverschiedenes vom Staat im Sinne einer Gesellschaft
oder einer Gesamtheit der Menschen selbst, die sich in unmittel
barer Wechselwirkung befinden" und die durch diesen „sozial
psychischen Prozeß zu einer Einheit verbunden sind"1). KlStIA
KOWSKI legt nur die unter Juristen allgemein verbreitete Anschauung
auseinander, wenn er den Staat als Realität von „substantiellem

Wesen"2) darstellt,
juristische „Eigenschaften" hat, die dem
die
Staate etwa so anhaften, wie die rechtliche Qualität der Persön
lichkeit dem physisch - psychischen Menschen. „Das substantielle
Wesen des Staates steht außerhalb des Rechtes und des Staates
selbst im juristischen Sinne. Dasselbe gehört zu der ganz beson
deren Kategorie der Wirklichkeit, das seinem Begriffe nach nichts
mit den rechtlichen Formen und Funktionen des staatlichen Da
seins zu tun hat. Denn neben dem Substrat des Staates oder den
einzelnen Bürgern (gemeint sind hier die in Wechselwirkung
stehenden Menschen) existiert das substantielle Wesen des Staates
nicht, es besteht vielmehr gerade in denselben. Diese können
aber ohne staatliche äußere Form gedacht wer
den, ohne dadurch aufzuhören eine Gemeinschaft

') a. a. 0. S. 72. •) a. a. 0. S. 60.


108 II. Der Staat als Normensystem.

zu sein"1). Der Staat im juristischen Sinne, dasjenige, was die


Rechtswissenschaft an dem Staate erkennt, das sind die „Formen,
Regeln und Normen"2) des Staates, ist die „juristische Persönlich
keit", die dem Staat als , Träger seiner Rechte"3) zukommt. „Die
den Staat bildenden Personen werden im Begriffe der staatlichen Per
sönlichkeit nicht in eine Summe oder irgendwelche andere höhere
Einheit verschmolzen, sondern" — seltsamerweise! — „einfach weg
gedacht"4). Was bleibt aber dann übrig ? KIStIAKOWSKI sieht nur,
daß die Menschen nicht realiter die normative Staatseinheit bilden
können, also läßt er sie, von denen er doch zugeben muß, daß sie „ den
Staat bilden", in einem Begriff des Staates einfach weg! Daß sie,
bzw. ihre Handlungen und Wollungen als Inhalt der staatlichen Ord
nung, der Normen oder des Sollens in die staatliche Synthese ein
gehen, Als „ideale Persönlichkeit", d. h. als
bleibt ihm unerkannt.
juristisch normative Einheit — „die Idealität der Einheit oder die
Personifizierung derselben ist das Hauptmerkmal des Staates im ju
ristischen Sinne" — steht der Staat über der „realen Verbindung",
der empirischen Einheit des Staates, die KIStIAKOWSKI auch „das
Volk" nennt5).
KIStIAKOWSKI ist sich der prinzipiellen und fundamentalen Ver
schiedenartigkeit kausaler und normativer Betrachtung wohl bewußt.
„ Die Erkenntnis der rechtlichen Bedeutung und der gesellschaftlichen
Natur des Staates bilden zwei völlig unvereinbare Wissens
zweige"8). Er folgert daraus, daß zwei verschiedene Begriffe vom
Staate konstituiert werden müssen. Aber wie ist das Verhältnis
beider zueinander vorzustellen ? Kann es derselbe Staat sein,
der das eine Mal als empirische Realität, das andere Mal als ideale
Norm gedacht werden soll ? Woher stammt die von KlStlAKOWSKI
als selbstverständlich vorausgesetzte inhaltlic h e Uebereinstim-
mung der realen und der idealen Gemeinschaft, wie kommt es, daß
die Menschen, für die die staatliche Sollordnung in Geltung steht,
zufällig in Wirklichkeit alle untereinander in jener spezifischen
Wechselwirkung stehen, die eine empirische Einheit ausmacht?
Liegt nicht schon in dem Beibehalten desselben Wortes für beide
Begriffe die Aufhebung des prinzipiell akzeptierten Dualismus der
Methoden ? KIStlAKOWSKI läßt jedoch gar
keinen Augenblick daran
zweifeln, daß er seine beiden
„völlig unvereinbaren" Betrachtungs
weisen im Grunde doch für vereinbar hält. „In einer konkreten Vor
stellung vom Staate fließen diese zwei Seiten jedes gemein-
») a. a. 0. S. 60. ») a. a. 0. S. 59.

') a. a. 0. S. 68. *) a. a. 0. S. 68.

») a. a. 0. S. 68. •) a. a. 0. S. 73.
§ 19. Die soziologische Zwei-Seiten-Theorie. 109

schaftlichen Wesens vollständig ineinander; man kann keine sach


liche Trennung zwischen ihnen finden, weder in der Zeit noch im
Raum ; begrifflich dagegen bestehen sie aus ganz verschiedenen
Elementen und müssen getrennt gedacht weil sie jedesmal werden,
andere, für jeden von den verschiedenen Erkenntniszwecken wesent
liche Merkmale zusammenfassen" Und er drückt seinen metho

').
dischen Gedanken schließlich in der für die Durchschnittsmeinung
von dem Verhältnis der Rechtswissenschaft zu der naturwissenschaft
lichen Gesellschaftslehre charakteristischen Formel aus: Die empirische
Realität und die normative Idealität des Staates „sind zwei verschie
dene Seiten eines und desselben anschaulich gegebenen Dinges"2).
Dieses Ergebnis ist nicht etwa deshalb bemerkenswert, weil es sich
zu der Behauptung der sinnlichen Wahrnehmbarkeit des sozialen
Gebildes — KIStlAKOWSKI spricht gelegentlich geradezu von einer
„sichtbaren Gesellschaft"3) — versteigt, sondern gerade wegen jenes
Momentes, in dem eine typische Anschauung konsequent durch
dacht und so ad absurdum geführt wird. Die Meinung, daß die
juristisch normative und die kausal-empirische Betrachtung nur zwei
Seiten die ideale und die reale, die Rechte oder Pflichten und
:

die physisch-psychischen Qualitäten eines identischen Dinges erfasse,


muß zu dem Resultate führen, daß es eine
„konkrete Vorstellung"
kein möglicher Begriff entspricht,
der h. daß man eine
d.

gäbe,
Verbindung von Idealem und Realem, von Sollen und Sein zwar vor
stellen, aber nicht denken könne! Daß der „Gegenstand" der Er
kenntnis als ein einheitliches „Ding" gegeben sei, daß die Erkennt
nis aber auf zwei voneinander verschiedenen, sich niemals treffenden
Wegen an diesen „Gegenstand" herantaste, der eine rätselhafte Ver
bindung von „Eigenschaften" ist, die zwar nur gedanklich erkannt
werden können, gedanklich aber miteinander unvereinbar sind!
Daß die Scheidung in normative und in kausale Betrachtungsweise
zwei gänzlich auseinanderfallenden Blickrichtungen entspricht, daß
aber in der konkreten Vorstellung des Staates das Objekt der normativen
Betrachtung, die Norm oder Sollordnung, nur die Form ist, die als
Inhalt das Objekt der kausalen Betrachtung, die reale seelisch
körperliche Substanz der Gesellschaft in sich einschließt daß das Sein
;

den Inhalt des Sollens ausmachen, also, daß die innigste Synthese,
h.
d.

die Synthese schlechtweg zwischen zwei Kategorien vollzogen wird,


deren absolute und unüberbrückbare Gegensätzlichkeit behauptet wird!
Die Anschauung, daß juristische und soziologisch-psychologische
Betrachtung nur zwei Seiten desselben als „Staat" zu bezeichnenden
0. 0.
S. S.

a. a.
S.

72/73. a. a. 73.
«)
») ')

a. a. 0. 143.
lio II. Der Staat als Normensystem.

Dinges erfasse, verstößt gegen den fundamentalen erkenntnistheo


retischen Grundsatz, daß zwei verschiedene, miteinander unverein
bare Erkenntnisprozesse zwei ebenso verschiedene und miteinander
unvereinbare Gegenstände erzeugen müssen. Andernfalls bliebe die
Erkenntnis in einem unaufhebbaren Widerspruch zu ihrem Gegen
stande befangen, der eine Einheit darzustellen behauptet, die sie
nicht nur nicht begreifen, sondern geradezu leugnen muß !
Nicht nur, daß KlStlAKOWSKl in der „konkreten Vorstellung"
des Staates den Dualismus von normativer und kausaler Betrachtung

bewußt aufhebt, auch sonst verfällt er unbewußt — auch hier ein


Spiegelbild der herrschenden Lehre — einem primitiven Synkretis
mus. Um nur einige typische Beispiele zu geben: Er spricht dem
Staat „als Rechtssubjekt" „Selbsterhaltungstrieb"1), also eine sehr
empirisch reale Seelentätigkeit zu ; nachdem er die reale Einheit des
Staates als „Volk" der juristisch-normativen Einheit entgegengesetzt
hat, erklärt er den Staat als Personifikation des Volkes8), was auf
eine sachliche Identifizierung der juristischen Einheit mit der realen
hinausläuft. Da KlStIAKOWSKI gelegentlich den juristisch-norma
tiven Staat als „Inbegriff des Rechtes"3) bezeichnet, kann das Sub
strat dieserPersonifikation nicht das empirisch-reale „Volk" sein,
das man allerdings — nach Angabe KlStIaKOWSKIs — „wegdenken"
müsse, um den juristischen Begriff des Staates zu gewinnen. Ins
besondere faßt KlStIAKOWSKI die Normen, den spezifischen Ge
genstand der darum normativen juristischen Erkenntnis sehr häufig in
einem der empirischen Realität gar nicht entgegengesetzten Sinne,
nämlich als real-psychische Tatsache, als verursachte und verur
sachende seelische Prozesse, als Motive menschlichen Verhaltens, so
daß die Gegenüberstellung einer kausalen und einer normativen Be
trachtungschlechterdings sinnlos wird. So beispielsweise wenn er
das Staatsrecht habe „die staatlichen Formen, Regeln und
behauptet,
Normen zu untersuchen, durch welche der Bestand und die Dauer
der Staaten bedingt ist"4). Natürlich können hier nur der Bestand
und die Dauer des Staates als eines empirisch-realen Gebildes, so
mit die Bedingungen realer, in der Welt des Seins sich abspielender
Vorgänge gemeint sein, und es wäre der Rechtswissenschaft in
den „Formen, Regeln und Normen" ein durchaus kausalwissen
schaftlich bestimmtes Objekt zugewiesen. Oder wenn er das Sollen,
die Norm in ihrer spezifischen Gegensätzlichkeit zum Sein, insbeson
dere des tatsächlichen psychischen Verhaltens der Menschen, d. h.
also das Objekt der normativen Erkenntnis doch irgendwie als einen
') a. a. 0. S. 67. ») a. a. 0. S. 68.
0. '
») a. a. S. 171. 4) a. a. 0. S. 59.
§ 19. Die soziologische Zwei-Seiten-Theorie. III
„objektiven Geist" aus den Einzelseelen, den Objekten der kausalen
Erkenntnis, „genetisch" entstehen lassen will1).
Trotz der wiederholten Versicherung, daß es neben der juristisch
normativen Einheit des Staates (die ja auch nach KistiaKowsKis
Ausführungen nichts anderes als die Rechtsordnung — KlStIAKOWSKI
sagt: „Inbegriff des Rechts" — sein kann) noch eine empirisch-reale
Einheit des Staates gäbe, zeigt sich, daß die Argumentationen
KistiaKowsKis eigentlich nur der ersteren gelten, daß nur die erstere
durch sie begründet wird. Es muß schon auffallen, wenn er ge
legentlich bemerkt: „Das eigentlich »Staatliche« am Staat besteht
ausschließlich in der rechtlichen Beschaffenheit dieser Insti
tution"2); und das halb unbewußte Gefühl, dasjenige, was er das
Substrat oder die empirisch-reale Einheit des Staates
des Staates
nennt, eigentlich gar nicht die Bezeichnung „Staat", kommt
verdiene
direkt in den Worten zum Ausdruck: „Wie oben ausgeführt, hat
der Staat eine doppelte Bedeutung. Im gesellschaftlichen Sinne um
faßt der Staat die Gesamtheit aller Individuen, die zu ihm gehören. "
(Ja, aber welche„gehören" zu ihm? Im „gesellschaftlichen" Sinne
nur die durch
Wechselwirkung miteinander verbundenen!) „Als
solche bildet er bloß ein Kollektivum, das jedoch reale Einheit be
sitzt oder ein Kollektiv wesen ausmacht, aus welchem Grunde er in
dieser Beziehung einfach als Gesellschaft bezeichnet wer- '

den kann. ist


im juristischen Sinne eine
Dagegen der Staat
"
ideelle Und darum scheint es kein bloß zu
Persönlichkeit usw.
s).

fälliges Weglassen eines Wörtchens zu sein, wenn KlStIAKOWSKI


kurz nachher vom Staat schlechtweg und nicht etwa vom juristi
schen Staat sagt Denn der Staat ist nicht eine empirische und
:

aus der Summation psychischer Elemente sich ergebende, sondern


eine in das Reich einer an er ar ti n as in Sphäre
D
d

e
e
s

hineinragende Zusammenfassung aller ihm angehörigen Per


sonen"4). Und es ist einfach ein Widerspruch, wenn er nach
einigen Zeilen hinzufügt: der Staat sei nicht nur diese Synthese,
sondern er besitze noch „eine empirische Realität für sich" Zumal
5).

der Staat im Sinne der KlStLAKOWSKIschen Ausführungen empiri


sche Realität nur insofern haben könnte, als er als eine durch
psychische Wechselwirkung hergestellte, einheitliche Gesell
schaft behauptet Diese Behauptung scheint aber
werden könnte.
KistiaKowsKi gelegentlich selbst fallen zu lassen oder doch so ein
zuschränken, daß er der juristischen Einheit des Staates nur zeit-

0. 153 ff. a. a. 0. S.
S. S. S.

a. a. 59.
*) »)
») ») ')

a. 0. 0.
S.

a. 160. a. a. 161.
a. a. 0. 162 u. 172.
112 II. Der Staat als Normensystem.

weil ig, unter ganz besonderen Umständen auch eine real-gesell


schaftliche Einheit entsprechen lassen will. So wenn er ausführt: „Das
deutsche Volk bildete z. B. in der Tat während des Freiheitskrieges
vom Jahr 1813 oder im Jahre 1870 eine einzige Gesellschaft, in der
•einHerz schlug und der ein einziger Gedanke vorschwebte. Ebenso
war ein so aus den heterogensten Teilen zusammengesetzter Staat
wie Oesterreich-Ungarn im siebenjährigen Kriege real eine einzige

Gesellschaft"1). Allein der Staat ist eben nur insofern und insoweit
eine reale Einheit, als er eine einzige Gesellschaft ist. Und wenn
dies — wieder angeführtes Beispiel — gerade
ein typisches, immer
nur in gewissen Augenblicken, etwa anläßlich eines Krieges der Fall
sein soll, so beweist schon die ganze Art der Problemstellung die
durchaus primäre und dominierende Stellung des normativ-juristi
schen, d. i. des ideologischen Staatsbegriffs. Denn dieser wird prin
zipiell als Staat schlechtweg vorausgesetzt und es fragt sich nur,
in welchem Umfange die juristisch
zum Staat gehörenden Men
schen tatsächlich von der im Augenblick der Kriegsbegeisterung
entstehenden Massensuggestion, von Massenvorstellungen und Massen
gefühlen ergriffen werden. Hier liegt die bereits früher charakteri
sierte Fiktion, daß wirklich alle juristisch zum Staat Gehörenden
eine reale soziale Einheit bilden. Hinter ihr versteckt sich nicht
selten eine politische Absicht, die man merkt und die
gewisse
einen — zumal bei Theoretikern — verstimmt. Im übrigen stünde
diese „Realität" des Staates — selbst den unwahrscheinlichen Fall
zugegeben, daß ihr Umfang jenem des juristischen Staates gleich
käme — auf recht schwachen Beinen. Nicht bloß wegen ihrer rela
tiv seltenen und doch nur auf Augenblicke beschränkten Existenz,
sondern vor allem deshalb, weil solche massenpsychologischen Er
scheinungen durchaus gleicherArt aus den verschiedensten An
lässen entstehen und meist über die staatlichen Grenzen hinausgreifen.
Das Bekanntwerden einer bedeutenden technischen Erfindung, die den
Fortschritt der Zivilisation fördert, eine furchtbare, viele Menschen
leben vernichtende Katastrophe, eine Seuchengefahr, das alles er
zeugt Uebereinstimmung im Seelenleben einer Vielheit von Menschen,
Bewußtseinsgemeinschaft, die als reale soziale Einheit, als Gesell
schaft angesprochen wird, und die sich psychologisch durch
nichts von jener Augenblicks-„ Gesellschaft" unterscheiden, die ein
Kriegsausbruch hervorruft, zumal auch diese — man denke etwa
an die Situation in Deutschland und Oesterreich-Ungarn im August
1914 — keineswegs an den staatlichen Grenzpfählen Halt macht.

') a. a. 0. S. 83.
§ 19. Die soziologische Zwei-Seiten-Theorie. 113

In der Terminologieder Realisten gesprochen, hätte in diesem Au


genblick Deutschland und Oesterreich-Ungarn eine einzige Gesell
schaft und somit einen einzigen Real-Staat gebildet. Nur daß eben
diese höchst wandelbaren massenpsychologischen Erscheinungen mit
der konstanten und scharf umgrenzten sozialen Einheit normativen
Charakters nichts zu tun haben, die man allein als Staat bezeichnet
und an die alle — auch die Realisten — allein denken, wenn von
„Staat" die Rede ist.
Auch KlStlAKOWSKI, wenn er seine Untersuchungen in die Er
kenntnis zusammenfaßt, daß „aus dem bloßen Kollektivieren der
sozialen Kräfte oder aus der Vielheit der Menschen, die in psychi
scher Wechselwirkung untereinander stehen, ein sittliches Ge
bot oder ein Staat mit seinem eigenen Willen, d. h. etwas ganz
Andersartiges, welches über allen steht und alle beherrscht, nicht
unmittelbar abgeleitet werden kann, sondern nur als die letzte Syn
these denkbar ist, die durch das Hinzutreten des in irgendeiner Form
auftretenden erreicht wird . ."l). Und wenn der Staat
Zweckmoments
eine normative Synthese und nicht die reale Einheit in Wechsel
wirkung stehender Menschen ist, dann wird aus der Behauptung
einer diesen Gegensatz oder Widerspruch umfassenden Doppelnatur
des Staates die Behauptung zweier, voneinander verschiedener Wesen
heiten, von denen nur die eine den Namen und den Begriff des
Staates darstellen kann.

') a. a. 0. S. 199.

Kelsen, Staatslirgriff. 8
114

III. Kritischer Beweis der Identität von Staat


und Recht.
A. Der Staat als Voraussetzung des Rechts.

6. Kapitel.
Soziallehre vom Staat und Staatsrechtslehre.

§ 20.

Die juristische Zwei-Seiten-Theorie (JELLInEK).


Von juristischer Seite ist als der Hauptvertreter der Zwei-Seiten-
Theorie GEORG JELLInEK zu nennen. Seltsamerweise ist er zugleich
ein typischer Repräsentant der Lehre, daß der Staat — als Macht
faktor — die Voraussetzung des Rechtes sei.. Durch eine
kritische Prüfung dieser Lehre sowie ihres Gegenspiels in der mo
dernen Literatur, der Anschauung vom Recht als Voraussetzung des
Staates, soll der hier erbrachte Beweis der Identität von Staat und
Recht seine volle Bestätigung finden. Da es immer den Schein der
Willkür hat, was man „Staat" nennt, und jede neue Bestimmung
dieses Begriffes auf eine terminologische Streitfrage hinauszulaufen
droht, kann der Beweis der hier vertretenen Thesis nicht besser ge
führt werden, als daß schließlich gezeigt wird, wie schon die beiden
typischen Versuche der herrschenden Lehre, den Begriff des Staates
zu bestimmen, in eine Definition der Rechtsordnung münden. Nicht
ein neuer Begriff des Staates wird hier aufgestellt. Sondern der
Begriff, mit dem die heutige Wissenschaft arbeitet, soll analysiert
und in dieser Analyse der nur terminologisch verborgene Begriff des
Rechts bloßgelegt werden.
GEORG JELLINEKs methodischer Grundgedanke ist, ähnlich jenem,
der auch der Staatssoziologie KlStIAKOWSKIs zugrunde liegt, der
folgende: Der Staat ist ein soziales Gebilde, das an sich eine vom
Recht unabhängige Existenz hat. Als solches ist er Gegenstand einer
von der Rechtswissenschaft verschiedenen, mit ihr nicht zu ver
wechselnden Soziallehre. Der Staat als soziales Faktum ist eine
§ 20. Die juristische Zwei-Seiten-Theorie (Jellinek). 115

Macht. Als solche ist er eine Voraussetzung des Rechtes, dessen


Normen von einer über den durch sie verbundenen Gliedern stehen
den Macht ausgehen und deren Verbindlichkeit durch eine solche
Macht garantiert sein muß Der Staat ist aber auch rechtliche
Institution: und zwar dadurch, daß er sich unter das Recht stellt,
Träger von Rechten und Pflichten wird Als Rechtssubjekt

2).
ist er Gegenstand der Staats rechts lehre. JELLInEK protestiert
energisch gegen den „Fehler, der bis an den heutigen Tag begangen
wird, die Staatslehre mit der Staatsrechtslehre zu identifizieren"

8).
Und versucht zunächst — unter Abstraktion von allen Rechtsnonnen
und gänzlicher Ausschaltung juristischer Methode — einen sozialen
Staatsbegriff, sodann aber einen juristischen Staatsbegriff, einen Rechts
begriff vom Staate zu gewinnen
4).
JELLInEKs Theorie ist für die Anschauungsweise der ganzen
jüngeren Generation bestimmend geworden, sein Werk über die all
gemeine Staatslehre ist das verbreitetste und wissenschaftlich voll
kommenste seiner Art, gilt derzeit auf seinem Gebiete als das Stand
ard work und gibt somit das wissenschaftliche Niveau der Staats
theorie von heute an. JELLInEKs Verdienst liegt nicht eigentlich
in der Erweiterung unserer Erkenntnis vom Staat, als vielmehr in
einer glänzenden, zusammenfassenden und abgerundeten Darstellung
ihrer bisherigen Ergebnisse. Er hat die heutige Staatslehre in ein
geschlossenes System gebracht. Mit der Theorie JELLInEKs muß die
herrschende Lehre fallen.
JELLInEK und mit ihm fast die ganze neuere Staatsrechtstheorie
geht von der Vorstellung aus, daß der Staat als ein und das
selbe Objekt das eine Mal als Gegenstand der Soziallehre oder
Soziologie, das andere Mal als Objekt der Rechtswissenschaft, die als
solche Staatsrechtslehre ist, fungiert. JELLINEK sagt wörtlich Für
:

die juristische Erkenntnis handelt es sich nun ausschließlich um Be


antwortung der Frage Wie habe. ich mir den Staat recht
:

lich zu denken"5)? Und gemeint ist: denselben Staat, der


den Gegenstand der Soziologie bildet. Denn JELLINEK fährt fort:
„Die Antwort hierauf soll und kann nicht bestimmt sein, eine all
Erkenntnis des Staates
seitige zu liefern. Ein und dasselbe
Objekt kann zu einer Fülle von Erkenntnisarten

Allgem. Staatslehre, Aufl., 333 ff. Vgl. insbes. auch: Die Lehre
S.
3.

168,
')

von den Staatenverbindungen, S. 262.


Allgem. Staatslehre,
S.

183.
6) ») 2)

a. 0. a. a. 0. S. 179
S.

2. ff.

a. 11.
*)

System der subjektiven öffentlichen Rechte, Aufl., S. 13. Vgl. dazu


Allgem. Staatslehre,
S.

163.
8*
116 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

Anlaß geben." Und er führt als Beispiel: eine Symphonie als


Objekt der Physiologie und der Aesthetik Allein in dieser Vor

1).
stellung liegt ein bereits früher charakterisierter fundamentaler Irr
tum beschlossen. Die Identität des Erkenntnis- Objektes ist bedingt
durch die Identität der Erkenntnis-Methode Eine prinzipiell andere

!
Betrachtungsweise hat einen prinzipiell anderen Gegen
stand zur Folge. Gerade das von JeLLIneK gewählte Beispiel zeigt
dies deutlich. Für die physiologische Betrachtung existiert überhaupt
keine Symphonie. Dieses besondere Objekt, diese synthetische Ein
heit von Tönen ist ausschließlich das Produkt einer musikalisch
ästhetischen Betrachtung. Und so könnte — gäbe es ein als „Staat"
zu bezeichnendes Objekt der Soziologie — dieser soziale Staat für
die juristische Erkenntnis überhaupt nicht in Betracht kommen. Es
müßte ein von dem durch juristische Betrachtung gewonnenen „Staat"
gänzlich verschiedenes Objekt sein. JELLINEK meint — beinahe

ja
ganz richtig Für die physiologische und psychologische Betrachtung
:

existiert eine Symphonie als konstantes Objekt nicht"2). Richtiger:


existiert eine Symphonie als Objekt überhaupt nicht. Aber daraus
hätte er den Schluß ziehen müssen: Da der Staat als soziales Ge
bilde ein Produkt der soziologischen, unjuristischen Erkenntnis ist,
existiert der Staat für die juristische Erkenntnis ebensowenig wie
die Symphonie für die Physiologie. Allein er verfährt so, als ob es
doch irgendwie derselbe Staat sei, der —
nachdem er durch sozio
logische Erkenntnis sichergestellt — nun juristisch erfaßt werden müsse.
Wie soll dies möglich sein, wenn man — wie gerade JELLINEK —
immer wieder den prinzipiellen
Dualismus soziologischer und
explikativer Seins- und normativer Sollensbetrachtung
juristischer,
betont und vor einem Synkretismus beider Methoden warnt3).
Das logisch Unmögliche wird scheinbar dadurch möglich ge
macht, rechtlichen Eigenschaften" eines realen — im
daß man von

Sinne von Naturding realen — Gegenstandes spricht. Diese typische


Verquickung naturwissenschaftlicher oder nach Art der naturwissen
schaftlichen gedachten gesellschaftswissenschaftlichen Methode mit
normativ juristischer ist auch für den Begriff der „physischen
ja

Person" charakteristisch, der nur dadurch zustande kommt, daß man


den Menschen mit der juristischen „Eigenschaft" der Rechts
fähigkeit bekleidet. Das gleiche logische Unding vollzieht JEL
LINEK an dem Staate: „Die juristische Erkenntnis des Staates will
daher nicht sein reales Wesen erfassen" — der Staat, der der juri
stischen Erkenntnis gegeben oder aufgegeben ist, hat also doch ein

System, S. 14. a. a. 0.
S.

14.
«)
») J)

Vgl. a. a. 0. S. 14.
§ 20. Die juristische Zwei- Seiten-Theorie (Jellinek). 117

realea Wesen, die juristische Erkenntnis drückt nur sozusagen davor


ein Auge zu — , „ sondern den Staat juristisch denkbar machen" —
wie kann man, was die Soziologie denkbar gemacht hat, weil nur
sie es denkbar machen kann, juristisch machen? — „d. h.
denkbar
einen Begriff auffinden, in dem alle rechtlichen Eigenschaften
des Staates widerspruchslos zu denken sind. Die Erkenntnis des
realen Daseins des Staates muß diesem Begriff des Staates z u-
grundegelegt, darf ihm aber nicht gleichgestellt werden"

1).
Wie kann man einer Betrachtung einen Begriff
zugrunde legen",


der nur durch gänzlich anders gerichtete Betrachtung ge
eine
wonnen, nur für eine gänzlich anders gerichtete Betrachtung über
haupt gegeben ist?
Der Versuch, eben dasselbe Objekt: den Staat, zum Inhalt zweier
verschiedener Begriffe, eines sozialen und eines Rechtsbegriffs zu
machen und dabei die Identität des Erkenntnisgegenstandes aufrecht
zuerhalten, muß natürlich zu den schwersten Widersprüchen und
Verrenkungen führen. Wenn „Staat" ein begriff sein soll,
R

h
e
c

s
t
dann kann unter „Staat" nichts anderes verstanden werden als das
jenige, was überhaupt Gegenstand eines Rechtsbegriffes sein kann.
Ein Naturbegriff ist entweder der Begriff der Natur überhaupt oder
eines irgendwie bestimmten, abgegrenzten Teiles der Natur. Ein
Rechtsbegriff ist entweder ein Begriff des Rechts überhaupt,

h.
d.
der gesamten Rechtsordnung eines irgendwie bestimmten, ab
oder
gegrenzten Der Staat muß die Rechtsordnung oder
Teiles derselben.
ein Teil derselben, eine Teilordnung des Rechts sein, wenn Staat
ein Rechtsbegriff sein soll. Und „Staat" kann dann ebensowenig
oder ebensosehr eine „Realität" oder ein soziales Faktum sein wie
das Recht. Es muß solchen Realitäten oder Fakten in demselben
Sinne entgegengesetzt werden wie die Rechtsnormen, wenn überhaupt
das Recht in seiner spezifischen Geltungs existenz dem Natur-
sein oder dem ihm gleichgesetzten sozialen Sein als Sollen ent
gegengestellt wird. Verzichtet man auf solchen Gegensatz, dann ist
Rechtswissenschaft nur eine naturwissenschaftliche Spezial Wissenschaft;
dann ist der ganze Dualismus von explikativer und normativer Be
trachtung, von Soziallehre und Rechts lehre sinnlos. Gerade dieser
Gegensatz bildet die Grundlage der JELLINEKschen Staatslehre.
Es ist fast unbegreiflich, wie JELLINEK, der sein ganzes System
auf den Dualismus von Sein und Sollen aufbaut, der das Recht
als Norm, als Sollen dem Sein entgegenstellt, der die
sozialen
scharfe Scheidung von normativ- juristischer und explikativ - sozio-
S.

Staatslehre, 163.
')
118 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

logischer Methode fordert, zugleich einen vom juristischen verschie


denen , sozialen Begriff des Staates für möglich halten und
dabei den Satz aussprechen konnte: „Kein Staat ist ohne Recht
möglich1'1). Und weiter: „Da das Recht dem Staate wesentlich
ist, so ist eine vollendete Erkenntnis des Staates ohne Kenntnis seiner
rechtlichen Natur nicht möglich. Der Staat, geordnet durch das
Recht, Bewahrer und Fortbildner des Rechts, muß notwendig im
Rechte selbst muß einen Rechtsbe
seine Stellung haben, es
griff des Staates geben"2). Nur methodische Unklarheit kann
das Wesen des Rechtsbegriffs wie folgt bestimmen: „Den Rechts
begriffen dienen die objektiven und innerhalb der Subjekte sich ab
spielenden sozialen Vorgänge zwar als Substrat, das Recht muß
stets von realen Tatbeständen ausgehen, weil es, wie immer es be
schaffen sein mag, stets den Zweck hat, auf reale Tatbestände an
"
gewendet zu werden. Aber nicht das „ Recht", das auf Tatbestände
angewendet wird, sondern die Rechtswissenschaft produziert die
Rechtsbegriffe. Darum ist der Anwendungszweck für die Struktur
der Rechts be gr i f f e gänzlich irrelevant! Und wenn „reale Tat
bestände" das Substrat der Rechtsbegriffe sind, dann unterscheiden diese
sich durch nichts von den soziologischen oder naturwissenschaft
lichen Begriffen. Wie fährt aber JELLINEK fort ? „ Allein die realen
Tatbestände (die das „Substrat" der Rechtsbegriffe sind) sind nicht
die Rechtsbegriffe selbst." Die realen Tatbestände sind
Natürlich!
auch nicht die Begriffe selbst! Und nun vollzieht
soziologischen
JELLINEK eine Wendung, die eigentlich seine ganzen bisherigen Aus
führungen überflüssig erscheinen läßt ! „ Sie (die Rechtsbegriffe) sind
vielmehr Abstraktionen, die aus den gegebenen Rechtsregeln
gewonnen werden und den Zweck haben, die Vielheit der Regeln
unter einheitliche Gesichtspunkte zu ordnen" Die Substrate der
3).

Rechtsbegriffe sind somit nicht „reale Tatbestände", sondern Rechts


normen. Der Staat als Substrat eines Rechtsbegriffs könnte somit
nur ein Inbegriff von Rechtsnormen sein. Er wäre die Rechts
ordnung oder eine Rechtsordnung, keinesfalls aber könnte er durch
das Recht geordnet oder Bewahrer oder Fortbildner, Erzeuger
h.
d.

oder Aufsteller Rechts sein. Wenn es wahr ist, was JELLINEK


des

sagt, „durch Rechtsbegriffe


daß niemals ein reales Sein, sondern
immer nur Rechtsnormen erkannt werden" — und es ist wahr —
,

dann kann der Staat, der ein Rechtsbegriff ist, keine reale Existenz,
und mit irgendeiner realen Existenz, die man auch als Staat be
zeichnen mag, nichts zu tun haben.
0. 0.
S. S.

S.

a. a. 11. a. a. 162.
2)
») ')

a. a. 0. 162.
§ 20. Die juristische Zwei- Seiten-Theorie (Jellinek). 119

Allein zweifeln, ob JELLINEK wirklich


man muß ernstlich daran
die Normen, das Sollen, dem Natursein der Realität oder Wirklich
keit entgegengestellt hat. Er ist nicht bis zu dem spezifischen
Eigensinn des Sollbegriffes vorgedrungen, sondern ist an dem psycho
logischen Tatbestand des seelischen Prozesses h.aften geblieben, der
das Sollen zu seinem Inhalt hat. Das Fühlen, Wissen oder Wollen
eines Sollen ist ein Sein und in keiner Weise der Naturwirklichkeit
entgegengesetzt. JELLINEK sucht Existenz der Nor-
die spezifische *

men, ihre Geltung, in ihrer Wirk samkeit 1) ! Es ist ein Miß


verständnis, wenn er dieses Objekt zum Gegenstand einer norma
tiven, von der explikativen Natur- und Sozialwissenschaft verschiedenen
Disziplin macht. Und dieses Mißverständnis ist um so unbegreiflicher,
als er, der die Normwissenschaft den erklärenden und beschreibenden
Kausal Wissenschaften entgegenstellt, die Normen, den spezi
fischen, charakteristischen Gegenstand der normativen Disziplinen,
sowohl als „Objekt der Beschreibung als auch der Erklärung" gelten
läßt, und es ist die vollständige Aufhebung des von ihm proklamierten
Dualismus, wenn er erklärt: „Die Rechtsnormen sind geltende, näm
lich in Kraft stehende Normen .... diese Geltung erhebt sie zu
einem Teil des Seienden das positive Recht unterscheidet
sich von irgendwelchen andern Willensnormen dadurch, daß es als
reale Macht bestimmte berechenbare Wirkungen ausübt." Und es
ist unverständlich, warum JELLINEK die Einschränkung macht:
„Darum ist das Recht dieser Seite nach (also auch das Recht
hat zwei Seiten!) Gegenstand der Wissenschaft vom Seienden" und
warum er von „Doppelstellung" des Rechtes spricht. Denn
einer
nur das positive Recht ist Gegenstand der Rechtswissenschaft und
dieses ist nach JELLINEK eine reale Ursache realer Wirkungen.
Die Rechtsnormen können demnach nichts anderes sein als Seins-
Regeln, die sich — psychologisch — im subjektiven Bewußtsein
des
rechtsregelhaft Handelnden als Sollen spiegeln ; welcher subjektive
Meinungsreflex für die Methode ihrer Erforschung gleichgültig sein
müßte! Daß JELLINEK bei dieser durchaus psychologistischen Grund
anschauung von dem Wesen der Rechtsnormen auf Schritt und Tritt
mit dem von ihm unbegreiflicherweise aufrechterhaltenen Postulat
des strengen Methodendualismus von Sein und Sollen in Konflikt
geraten muß, ist selbstverständlich. Sagt er zuerst, die Rechtsbegriffe
seien Abstraktionen von Normen, es könne durch sie kein reales Sein
erkannt werden — obgleich seine Normen geradezu ein reales Sein,
Ursache und Wirkung, darstellen — , so versichert er doch bald

') Vgl. a. a. 0. S. 20 u. 332 ff.


120 EL Kritischer Beweis der Identität von Staat und Hecht.

darauf: „Die juristischen Begriffe sind jedoch nicht etwa Fiktionen,


sondern sie ruhen auf dem festen Boden der gegebenen Welt."
Und wenn er hinzufügt: „die Welt der Rechtsnormen", so muß
man doch daran zweifeln, ob dieser Hinweis auf den festen Boden
der Gegebenheit nicht doch eine Flucht in die Natur Wirklichkeit
bedeutet. Zumal wenn man seine eingehenden Ausführungen über
Rechtsbegriffe aus einem anderen Zusammenhange heranzieht. Dort
"sagt er zwar auch: „Die juristischen Begriffe haben daher keine
Wesenheiten zum Objekt, die juristische Welt ist eine reine Gedanken
welt, die zu der Welt des realen Geschehens sich ähnlich verhält wie
die Welt der ästhetischen Empfindung zu der der theoretischen Er
kenntnis. Sie ist aber eine Welt der Abstraktionen, nicht der Fiktionen "

1).
Und nun charakterisiert JELLInEK die Abstraktionen im allge
meinen und damit implicite natürlich auch die juristischen Ab
straktionen folgendermaßen „Der Abstraktion liegen reale
:

Vorgänge in der Welt des äußeren und inneren


Geschehens zugrunde, die Fiktion hingegen setzt an Stelle
des natürlichen einen ersonnenen Tatbestand und setzt ihn dem ersten
gleich. Die Abstraktion ruht auf dem Geschehenen,
die Fiktion auf dem Erfundenen"2). Es ist fast überflüssig, dem
gegenüber noch ausdrücklich zu bemerken, daß jede Wissenschaft
mit „Abstraktionen", weil mit Begriffen arbeitet, und daß es eben
nur auf die Richtung ankommt, nach der sich die Begriffsbildung
bewegt, auf das „Substrat", das den Begriffen „zugrundegelegt" wird.
Wenn den Abstraktionen der Rechtswissenschaft „reale Vorgänge
des inneren und äußeren Geschehens" zugrunde lägen, wäre die
Rechtswissenschaft eben eine Erkenntnis dieses Geschehens, wäre sie
eine erklärende, nach dem Kausalgesetz orientierte Seinsbetrachtung.
Also das gerade Gegenteil dessen, was JELLInEK anzunehmen ver
sucht, wenn er sie als „normative" Disziplin den erklärenden Kausal
wissenschaften entgegensetzt. Freilich nur scheinbar! Denn indem
er die Norm
als sozialpsychische Realität auffaßt, nimmt er sich
jede Möglichkeit, den postulierten Gegensatz aufrecht zu erhalten.
Und kommt dann zu dem Widerspruch, der sich am schärfsten in seiner
programmatischen These ausdrückt: „Eine juristische Theorie muß
eben die Erscheinungen des Rechts lebens erklären können: sie
darf weder psychologisch noch naturwissenschaftlich, weder empirisch
noch realistisch, sie muß ausschließlich juristisch sein" Irgendein
3).

Leben erklären, dessen Realität eine seelische ist, und dabei nicht
empirisch, naturwissenschaftlich verfahren, das ist wohl undenkbar.
h.
d.

0.
S. S.

S.

System, 17. a. a. 17.


2)
») ')

System, 34/35.
§ 21. Der Staat als „Verband" und als „Körperschaft" identisch. 121

§ 21.
Der Staat als „Verband" (sozialer Staatsbegriff)
und als „Körperschaft" oder Rechtssubjekt (juri
stischer Staatsbegriff) identisch.
Die Vorstellung des Staates als einer Voraussetzung des
Rechtes, als eines selbständigen, von aller juristisch normativen Be
trachtung unabhängigen Objektes soziologischer, d. h. kausalwissen
schaftlicher Erkenntnis ist nur aufrechtzuerhalten, wenn es gelingt,
einen Begriff des Staates unter Abstraktion von allen Rechtsnormen
im Wege einer auf das Natur- oder (diesem gleichgestellten) gesell
schaftliche Sein gerichteten Forschung zu gewinnen. Seinem metho
dischen Programm gemäß, kausalwissenschaftliche Sozial
das eine
lehre des Staates normativen Staatsrechtslehre scheidet,
von einer
mußte JELLINEK tatsächlich den Versuch unternehmen, den sozialen
Begriff des Staates zu gewinnen, und zwar bevor er an den
Rechts begriff des Staates herantrat und ohne dabei auf die Rechts
ordnung Bezug zu nehmen. Dieses Unterfangen erscheint zwar
von vornherein schon darum problematisch, weil JELLMEK im
mer wieder versichert, daß zum Wesen des Staates — also doch
wohl auch zu seinem Begriffe — das Recht gehöre l) ; aber viel
leicht half sich JELLINEK — so wie dies häufig geschieht — über
dieses Bedenken durch die Vorstellung hinweg: Ist der Staat einmal
konstituiert, dann — erst dann — muß er notwendig eine Rechts
ordnung „aufstellen" oder „besitzen". Jedenfalls geht er daran
— und ist, wie bemerkt, durch sein methodisches
Programm ge
zwungen „den
—, Staatsbegriff
sozialen zu erkennen"2). Er stellt
zunächst als „die letzten nachweisbaren Tatbestände des staatlichen
Lebens", und zwar als „objektive Bestandteile des Staates"

„Willensverhältnisse Herrschender und Beherrschter" fest. Er kon


statiert die „ ausschließlich psychische Art dieses Substrates,
"

das sich ihm somit als eine Vielheit innermenschlicher Seelen


prozesse darstellt. Was ihn freilich nicht hindert, den Staat später
als eine „äußere" Macht3) zu bezeichnen. Schon in einem anderen
Zusammenhange wurde bemerkt, daß schließlich alle
Beziehungen
zwischen Menschen letztlich als „Herrschaftsverhältnisse" erkannt
werden können, wenn nichts anderes bedeutet, als daß
„Herrschaft"
die Willensäußerung des einen zum Motiv für das Verhalten des andern
Menschen wird. Es käme natürlich darauf an, zu zeigen, welche
Willensverhältnisse „staatlichen" Charakter haben. Darauf läßt sich

') Vgl. speziell Staatslehre S. 162, 477.

») a. a. 0. S. 174 ff. ») a. a. 0. S. 333, 335.


122 HI. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

jedoch JELLINEK nicht ein. Dagegen stellt er fest, daß der Staat
offenbar eine irgendwie geartete Einheit solcher Willensverhältnisse
ist, eine Einheit, die durch eine Ordnung konstituiert wird. Und
er stellt weiter fest, daß diese Ordnungseinheit keine kausale, son
dern eine teleologische ist1).
Nun liegt schon in dieser Wendung der völlige Bruch seines
methodischen Grundprinzips. Wenn der Staat das Ergebnis
einer
teleologischen und zwar akausalen Betrachtung ist, dann kann der
so gewonnene Begriff nicht als ein „sozialer" der kausalwissen
schaftlichen Gesellschaftslehre angehören, und von einem Begriff der
normativ-juristischen Betrachtung — normativ und teleologisch sind
für JELLINEK keine Gegensätze, der Gegensatz liegt vielmehr zwischen
Kausalität und Teleologie — prinzipiell zu unterscheiden sein. Dies
um so weniger, als JELLINEK ausdrücklich als Beispiele teleologischer
Begriffsbildung geradehin R e c h t s begriffe
diesem Zusammenhange
anführt: „ Rechtsgeschäfte
und Delikte werden so durch teleologische
Betrachtung zu Einheiten verdichtet"2), und in anderem Zusammen
hang geradezu erklärt: „Menschenmehrheiten werden für das prak
tische Denken durch einen sie verbindenden Zweck geeinigt" und
nach Darlegung der teleologischen Methode zu dem Schluß kommt:
„Daß nun auch der Staat dem juristischen Denken als eine
Einheit erscheint, ist nach den vorangehenden Erörterungen klar"3).
Also keineswegs bloß der „soziale", auch der „juristische"
Staatsbegriff ist eine teleologische Einheit ! Soll es somit
überhaupt einen Sinn haben, den sozialen von dem Rechts
begriff des Staates zu unterscheiden, so könnte dies nur insofern
geschehen, als zwei gänzlich verschiedene Zwecke und sonach
zwei gänzlich verschiedene normative Ordnungen behauptet
würden. Der „soziale" und der „juristische" Staat verhielten sich
etwa zueinander wie Staat und Kirche — als zwei voneinander ver
Organisationen derselben Menschen gedacht.
schiedene
Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, daß die Ord
nung, unter der die Vielheit von „Herrschaftsverhältnissen"
alsEinheit des Staates erscheint, keine andere ist als die
Rechts Ordnung, und daß dies eben der Sinn der bei JELLINEK
immer wiederkehrenden Versicherung ist, dem Staat sei das Recht
wesentlich. Es kann natürlich nicht ernstlich daran gedacht werden,
daß der Zweck, dessen Einheit den sozialen Staatsbegriff kon
stituiert, kein anderer ist als der Rechtszweck oder die Rechtsordnung,
was ja identisch ist. Welch anderer Zweck, welch andere Ordnung

') a. a. 0. S. 178/9. ») a. a. 0. S. 178.


') System, S. 25, 26 ff., wo ein Rechts begriff des Staates ent wickelt wird.
§ 21. Der Staat als „Verband" und als „Körperschaft" identisch. 123

sollte denn herangezogen werden können? Natürlich kann nur von


einem objektiven Zweck, d. h. von einer als objektiv gültig
vorausgesetzten Norm oder Ordnung die Rede sein ; nur dieser er
füllt das Postulat jener Denkeinheit, die JELLInEK im Auge hat.
Nur die objektive Gültigkeit der Rechtsordnung oder des
Rechtszwecks ist das einigende Band, nicht aber die konkreten
Wollungen, Strebungen, Zwecksetzungen der Einzelmenschen, die ja
an sich ein Chaos, ein sinnloses Neben- und Nacheinander bilden,
zur Einheit erst in der Rechtsordnung erhoben werden. Der typische
Fehler einer Vermengung des sogenannten subjektiven Zweckes, d. h.
der psychischen Tatsache eines Wollens, Wünschens oder Zweck
strebens, des Vorstellens künftigen Erfolges als Mittel der Bedürfnis
befriedigung, mit dem vom Erkennenden als objektiv gültig
vorausgesetzten Zweck, die Vermengung von psychologischem Wollen
(Sein) und Sollen begeht auch JELLINEK, wenn er den Zweck,
der die gedankliche Einheit des Staates, die durch die wissen
schaftliche Erkenntnis
konstituiert wird, in den tatsächlichen
Zwecken, d.h. Zweckstrebungen der Menschen erblickt: „auch
die Einheit des Staates ist wesentlich teleologische Einheit. Eine
Vielheit von Menschen wird für unser Bewußtsein geeinigt, wenn
sie durch konstante, innerlich kohärente Zwecke miteinander ver
bunden sind"1). Der Plural „Zwecke" ist nicht ohne Bedeutung.
Er sagt etwas gänzlich anderes als der Satz: „Menschenmehrheiten
werden für das praktische Denken durch einen sie verbindenden
Zweck geeinigt"2). Dieser „Zweck" steht im „praktischen"
Denken des Staat und Recht Erkennenden, das darum
ein „praktisches" ist, weil es nach einem vorausge
setzten „Zweck", einerNorm oderOrdnung sich orien
tiert. Jene „Zwecke" sind das zu ordnende, sind identisch mit
jenen Wollungen, deren Chaos das praktische Denken überwindet.
Offenbar hat JELLINEK jene subjektiven „Zwecke" im Auge, wenn
er fortfährt: „Je intensiver diese Zwecke sind, desto stärker ist die
Einheit ausgeprägt. Diese Einheit kommt aber auch nach außen
zum Ausdruck durch eine Organisation, d. h. durch Personen, die
berufen sind, die einigenden Zweckmomente durch ihre Handlungen
zu versorgen"3). „Intensität" kann nur von den realpsychischen
Wollungen ausgesagt werden; die gedankliche Einheit ist nicht
mehr oder weniger stark „ausgeprägt", noch auch kommt ßie „nach
außen" zum Ausdruck. Auch ist die „Organisation" nicht Personen,
die zu irgend etwas berufen sind, sondern ist gleichbedeutend mit

') Staatslehre, S. 179.

2) System, S. 25. 3) a. a. 0. S. 179.


124 HI. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

Ordnung, mit jener Ordnung, deren Einheit den Staat bedeutet. Die
„ innerliche Kohärenz" der Zwecke, die „Verbindung", die durch die
Zwecke erfolgt, ist nicht — wie JELLINEK und die herrschende
Lehre anzunehmen scheint — die Tatsache, daß eine Vielheit von
Menschen dieselben Zwecke fakti sch anstrebt, daß in den
zum Staat vereinigten Menschen die gleiche Zweckvorstellung und
Zweckstrebung lebendig ist. Denn ganz abgesehen von der darin
gelegenen Fiktion eines tatsächlich gemeinsamen Zweckes, be
dürfte es zur Erfassung dieser Tatsache — ihre Existenz und Kon-
statierbarkeit vorausgesetzt — keineswegs einer spezifisch „prakti
schen", d. h. einer normativen oder teleologischen Begriffsbildung.
Es ist ein Irrtum, wenn JELLINEK meint: „Je intensiver, je dauern
der die einigenden Zwecke sind, desto stärker erscheint uns auch
die Einheit ausgeprägt. Unter dem Gesichtspunkt theoretischer
Erkenntnis aber sind selbstverständlich in allen Fällen nur Einzel
individuen vorhanden, die sich in mannigfachen Beziehungen zuein
ander und gegenseitig verursachten Zuständen befinden. Allein weder
für das praktische Leben noch für das durch und durch praktische
Recht hat diese Erkenntnis den geringsten praktischen Wert, d. h.
jene Einheiten werden dadurch für das menschliche Be
wußtsein nicht aufgehoben"1). Die Tatsache, daß eine Vielheit
von Menschen den gleichen Zweck anstrebt, daß gleichgerich
tete Wollungen lebendig sind, diese Tatsache
ist durchaus
und nur unter dem Gesichtspunkt theoretischer Erkenntnis
zu begreifen und einheitlich in einem Begriff der explika
tiven Sozialpsychologie zum Ausdruck zu bringen. Es ist keine
andere Tatsache als die, daß sich eine Mehrheit von Pflanzen unter
gewissen Bedingungen gleichmäßig den auf sie gerichteten Licht
strahlen zuwenden. Hier wie dort muß die gemeinsame Ursache
erforscht werden. Die Psychologie — auch die Sozialpsychologie —
als Tatsachenforschung und Tatsachenerklärung hat mit dem teleologi
schen Zweckbewußtsein, das das Bewußtsein des Forschers
ist, nichts zu tun, auch wenn die zu erforschenden Tatsachen zweck-
strebige Seelenprozesse der Menschen sind. Der prinzipielle Wider
spruch in der Grundanschauung vom Staate kommt bei JELLINEK ganz
"
unverhüllt zum Ausdruck. In seiner „ Allgemeinen Staatslehre ver
sucht er den Staat als soziale „Realität" und sohin als eine „objektive"
Einheit, als einen Gegenstand staatswissenschaftlicher Erkenntnis zu
begreifen: „Der Staat findet erstens seine Stelle in der Gesamtheit
des Geschehens, er tritt
uns entgegen als ein des Teil
') System, S. 25.
§ 21. Der Staat als „Verband" und als „Körperschaft" identisch. 125

Weltlaufs und damit des Realen im Sinne des Ob


jektiven, außer uns Befindlichen. Es ist eine Vielheit
von Vorgängen, die in Raum und Zeit sich abspielen. Diese
Vorgänge müßte auch der wahrnehmen können,
der nichts N ä h eres über den Menschen und seine
Zwecke wüßte, denn das außer uns Seiende, Reale ist
als solches ohne Innerlichkeit"1). Allerdings meint JELLINEK, schon
hier diese mit einer kausalwissenschaftlichen Staatslehre unvermeid
liche Behauptung, der Staat sei eine objektive Realität der Außen
welt, beinahe wieder aufhebend : „ Eine solche den Staat ausschließ
lich von außen betrachtende Weise aber, die objektive, wie wir
sie nennen wollen", sei zwar nicht unmöglich — aber: „gibt nur
ein äußerst kümmerliches und wissenschaftlich gänzlich unbrauch
bares Bild vom Staate"; aber doch immerhin ein Bild? Diese Zwei
deutigkeit ist eine Folge der erkenntnistheoretischen Unklarheit.
Kein Wunder, wenn JELLINEK in seinem „System der subjektiven
öffentlichen Rechte" das gerade Gegenteil erklärt: „Für die vor
keiner Konsequenz zurückschreckende, um die praktischen Resultate
ihrer Forschung unbekümmerte, streng theoretische Betrachtung, die
das unabhängig von unserer praktischen Welt Existierende, dieser
vielmehr Subsistierende erkennen will" — das ist doch die kau
salwissenschaftliche Erkenntnis vom Staate zum Unterschied von
der normativen, so wie sie JELLINEK in seiner Allgemeinen Staats
lehre als theoretische Soziallehre vom Staat postuliert und der prak
tischen oder normativen Staatsrechtslehre entgegensetzt, das ist doch
die Betrachtungsweise, der der Staat oder die eine Seite des Staates
als soziale Realität gegeben ist — „wird die staatliche Ein
heit nicht vorhanden sein"2). Das heißt aber: wird der
Staat nicht vorhanden sein ! Und JELLINEK fährt fort, die Mög
lichkeit jeder explikativen, kausalvvissenschaftlich - „theoretischen"
Staatslehre, weil die Möglichkeit des Staates als Objekts solcher
Wissenschaft gänzlich negierend: „Eine unübersehbare Reihe psy
chischer Massenprozesse, die zwar einander folgen und untereinander
in Kausalzusammenhang stehen, aber in einer fortwährenden wech
selnden, durch keine Kontinuität des Bewußtseins, die ja nur im
Individuum stattfindet, zusammengehaltenen Menschenmenge vor sich
gehen, das ist der Staat für die die Realität in ihre letzten Elemente
auflösende Forschung." Wenn man die Zweideutigkeit ignoriert, die
zum Schlusse wieder in den Worten auftaucht: das ist der Staat,
als ob mit dem Vorhergehenden nicht gesagt wäre : ein Staat ist für

') a. a. 0. S. 137. «) a. a. 0. S. 27.


126 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

solche Betrachtung nicht gegeben, so ist es die gleiche Argumen


tation, mit der hier die soziologische Realität des Staates wider
legt wurde!
Sieht man von den Schwankungen ab, die JELLINEKs Darstel
lung des für die staatliche Einheit wesentlichen Zweckmomentes auf
weist und hält man sich nur an den von ihm ja auch ausgespro
chenen richtigen Gedanken : daß der Staat eine Ordnungseinheit ist,
vollzogen durch das teleologische oder normative Bewußtsein juristi
scher Erkenntnis, dann kann hinsichtlich der Stellung der Willens
beziehungen oder Herrschaftsverhältnisse zu dieser Einheit kein
Zweifel sein. Sie bilden den Inhalt dieser Ordnung. Der Staat
ist eine Einheit von Normen, die menschliches Verhalten zum
Inhalt haben. Es sei dahingestellt, ob diese Inhalte als Her r-
s c h a ft s verhältnisse gerade in diesem Zusammenhange richtig
charakterisiert sind. Aber angenommen, es sei dies der Fall, so muß
doch die schließlich gewonnene Definition des
„sozialen" Staatsbe
griffes einigermaßen befremden. Sie ist ein typisches Beispiel unzu
lässiger Hypostasierung, und es verlohnt darum die Mühe, ihre Ent
wicklung im einzelnen zu verfolgen. JELLINEK führt aus : „ Die zur
Verbandseinheit zusammengefaßten staatlichen Willens verhältnisse
sind wesentlich Herrschaftsverhältnisse. "
Bisher hatte
jedoch JELLINEK nicht sichergestellt als dies: Eine Vielheit
mehr
von Herrschaftsverhältnissen seßhafter Menschen unter einem ein
heitlichen Zweckgesichtspunkt betrachtet; weder welches der be
sondere Zweck ist, unter dem die Herrschaftsverhältnisse gedanklich
zusammengefaßt werden, noch welche Herrschaftsverhältnisse zu
sammengefaßt werden müssen, um den Staatsbegriff zu gewinnen.
Und er fährt fort: „Nicht daß im Herrschen das Wesen des Staates
sich erschöpft. Aber das Vorhandensein von Herrschaftsverhältnis
sen ist dem Staate derart notwendig, daß ohne Herrschaftsverhält
nisse ein Staat nicht gedacht werden kann." Hier wird der erste
Schritt zu jener Hypostasierung getan. Zunächst muß rätselhaft
bleiben, was noch anders als „Herrschaftsverhältnisse", um das Wesen
des Staates zu vollenden, hinzutreten müsse, nachdem JELLINEK bei
seiner vorangeschickten Analyse als „objektive Bestandteile des
Staates" nichts, aber gar nichts anderes gefunden und aufgezeigt
hatte als: „Willensverhältnisse Herrschender und Beherrschter"1).
Dann aber — und dies ist der springende Punkt: Das Wesen des
Staateswurde bisher als eine gedankliche Zusammenfassung, als eine
Zweckeinheit, als eine Ordnung dargestellt. Nun wird plötzlich

') a. a. 0. S. 177.
§ 21. Der Staat als „Verband" und als „Körperschaft" identisch. 127

behauptet, daß der Staat, der als gedankliche Einheit seine Existenz
nur im teleologischen Bewußtsein, d. b. in der normativen Erkennt
nis hat, selbst „herrsche", also einen Willen äußern könne. Und -

JELLINEK spricht es sofort geradezu aus: „Der Staat hat Herrscher


"
gewalt. „Herrschen heißt aber, die Fähigkeit haben, seinen Willen
anderen Willen unbedingt zur Erfüllung auferlegen, gegen andern
Willen unbedingt durchsetzen zu können. Diese Macht unbedingter
Durchsetzung des eigenen Willens gegen andern Willen hat nur der
Staat. Er ist der einzige, kraft ihm innewohnender, ursprünglicher,
rechtlich von keiner andern Macht abgeleiteter
"
Macht herrschende Verband.
Und so ergibt sich die Definition des
sozialen Staatsbegriffs: „Der Staat ist die mit ursprünglicher
Herrschermacht ausgerüstete Verbandseinheit seßhafter Menschen"

x).
War der Staat bisher die Einheit von Herrschaftsverhältnissen,
ist er jetzt plötzlich ein Herrscher! Nur noch das Herrschen, nicht
das — zum Herrschaftsverhältnis wesentliche — Beherrschtsein
wird von ihm ausgesagt. Es könnte aber nach dieser Methode ebenso,
mit mehr Recht vom Staat gesagt werden, er sei ein Beherrschter
ja

!
Hier verrät sich die Theorie, ihr politischer Charakter guckt hervor.
Der Staat ist nur mehr die „Obrigkeit"! Die Beherrschten gehören
sozusagen nicht zum „Staat"! Daß ein Gedankensprung von solch
verblüffender Dimension möglich ist, ohne daß er dem Autor selbst
zum Bewußtsein kommt, ist nur so zu erklären, daß mit ihm eine
Position erreicht wird, die der Ausdruck einer durch lange Denk
gewohnheit festgewurzelten, bereits für selbstverständlich und absolut
sicher erachteten Vorstellung ist: Die Hypostasierung einer Denk
einheit zu einem realen, willensbegabten, machtvollen Wesen. Es
muß natürlich rätselhaft bleiben, wie denn eigentlich die teleolo
gische Bewußtseinssynthese, „Staat" genannt, ihren „eigenen" Willen
anderen Willen, offenbar den Willen von Menschen, anderer
Menschen, unbedingt aufzwingen kann. Wobei es nicht uninteressant
ist, die Sprache dieser Hypostasierung zu belauschen, die die
„Willensmacht" ihrem Geschöpfe ebenso „innewohnen" läßt, wie
sie den psychischen Willen im „Innern" des Menschen vermutet,
und die ihr Geschöpf, den Staat, als eine äußere Macht auftreten
läßt. Noch rätselhafter aber daß „nur" diese Einheit des teleo
:

logisch Bewußtseins diese Macht der Willensdurch


erkennenden
von einer Vielheit von
ja

setzung Eben früher erfuhr man


habe.
Verhältnissen Herrschender und Beherrschter; also muß es doch viele
Menschen die herrschen, h. nach JELLINEK die Fähigkeit
d.

geben,

0.
S.

a. a. 180/81.
')
128 HI. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

haben, ihren Willen anderen Willen unbedingt zur Erfüllung aufzu


erlegen ! Und dabei kann es doch gar nicht zweifelhaft sein, daß,
wenn man den Blick auf die soziale Realität richtet — wie es ja
innerhalb einer sozialen, nicht juristischen Theorie, von der hier
die Rede ist, geboten ist — , und wenn man dem Sprach gebrauche
vom Staate — der ja das wahre und einzige Leitmotiv der JELLI-
NEKschen Definition ist — folgt, der Fall,
daß der Staat „seinen"
Willen anderen Willen nicht aufzwingen kann, keineswegs selten ist.
Wille des Staates ist: daß niemand stehle. Jeder Dieb beweist, daß ih m
der Staat seinen Willen nicht unbedingt zur Erfüllung auferlegen kann.
Sollte dies nicht daher rühren, daß diese „unbedingte Willensmacht"
des Staates nichts anderes ist als der Gedanke: niemand soll
stehlen, dessen unbedingte Gültigkeit mit einer unbedingten
Wirksamkeit verwechselt wird?
Das Seltsamste an dieser Bestimmung des „sozialen" Staats
begriffes, der als ein Produkt soziologischer, d. h. kausal-, nicht norm
wissenschaftlicher, einer Seins-,, nicht einer Sollensbetrachtung auftritt.
ist aber das Attribut, das — ganz unvorhergesehen und ohne induk
tive Vorarbeit — der „Herrschermacht" beigefügt, die Eigen
schaft, mit der die teleologische Denkeinheit „ausgerüstet" wird:
Diese Herrschermacht soll nämlich .eine „ursprüngliche" sein.
Soferne in dieser Herrschermacht des Staates nur der hypostasierte
Ausdruck der einzelnen Herrschaftsverhältnisse, Willensäußerungen
liegt, die hier gedanklich zusammengefaßt werden, kann natürlich
diese Herrschermacht keine Eigenschaft haben, die nicht auch den
einzelnen Herrschaftsverhältnissen zukommt. Bei diesen — die sich
ja nur als Bewegungen des sozialpsychischen Geschehens darstellen
— kann von „Ursprünglichkeit", was im Bereiche einer Seins
betrachtung nur UrsachlosigkeitEigenschaft
, die
einer prima
causa bedeuten könnte, keine Rede sein. Oder in der Hypostase
des Staates, als sozialen Gebildes, gesprochen : Die Macht des Staates
als eines sozialen, der Welt des Seins,Wirklichkeit an-
der sozialen
gehörigen Faktums, kann nur kausal determiniert sein, also not
wendig als durch gewisse Ursachen bestimmt, keinesfalls als „ ursprüng
lich" gedacht werden. Allein das Attribut der „Ursprünglichkeit"
ist nur deshalb möglich, weil der von der „Soziallehre" gewonnene
Staatsbegriff nicht kansalwissenschaftlich, sondern normativ erzeugt
wurde, und weil die Ursprünglichkeit nicht der „Herrschermacht",
also einer sozialpsychischen Realität, sondern der „Ordnung" gilt,
die die Einheit des -Staates darstellt. Und wenn noch irgendein
Zweifel darüber bestehen könnte, welches diese Ordnung eigentlich
ist, die Erläuterung, die JELLInEK dem Attribut der „Ursprünglich
§ 21. Der Staat als .Verband" und als „Körperschaft" identisch. 129

keif gibt, müßte Sicherheit schaffen. Daß die Macht des Staates
— die reale, in der Welt der sozialen Wirklichkeit existente Macht
des Staates — eine „ursprüngliche" ist, bedeutet nämlich: daß sie
„rechtlich von keiner anderen Macht abgeleitet" ist! Das bedeutet
aber gar nichts anderes als : daß diese Macht rechtlichen
Charakter hat und darum gar nichts anderes sein kann als die Rechts
ordnung, und daß diese Ordnung
— die man auch Staat nennen kann
— als von keiner anderen, höheren Ordnung abgeleitet vorausgesetzt
wird. In anderem Zusammenhange habe ich nachgewiesen, daß damit
nur zum Ausdruck kommt, was man die Souveränität des Staates
nennt. Und daß insbesondere JELLINEK — trotzdem er die Sou
veränität als keine wesentliche Eigenschaft des Staates gelten lassen
wollte — in seinem Attribut der „Ursprünglichkeit" nur ein anderes
Wort für Souveränität verwendete.
Nachdem so in dem sog. „sozialen" Staatsbegriff bereits die
hypostasierende Personifikation ist —
der Rechtsordnung vollzogen
die nach Analogie des willensbegabten Menschen konstruierte, mit
Herrschermacht ausgerüstete Verbands e i n h e i t stellt ja die Denk
einheit des Staates in dem Bilde der Person, des Subjektes vor —
kann man gespannt sein, was für die Deduktion des „juristischen"
Staatsbegriffs eigentlich noch übrig bleibt. JELLINEK meint, die
juristische Erkenntnis des Staatsbegriffs habe sich an den sozialen
Staatsbegriff „anzuschließen" Wie ist dies aber möglich, wenn
die juristische und die soziale Betrachtungsweise auseinanderfallen?
Und dies muß um so schwieriger sein, als JELLINEK im juristischen
Begriffe des Staates — des Staates, der als soziales Faktum die
Voraussetzung des Rechts bildet — ein „ Gebilde des Rechts"
erblickt, d. h. also das Recht als Voraussetzung des Staates an
nimmt. Dies stimmt nur mit der üblichen auch von JELLInEK ge
teilten Vorstellung, daß die Rechtspersönlichkeit von der Rechts
ordnung „verliehen", aus der Rechtsordnung „abgeleitet" wird. Als
Rechtsbegriff stellt sich der Staat nämlich als Rechtssubjekt, als
Persönlichkeit dar. „Seiner juristischen Seite nach kann der Staat . . .
nur als Rechtssubjekt gefaßt werden, und zwar ist es näher
der Begriff der Körperschaft, unter den er zu subsumieren ist"
2).

Diese Rechtssubjektivität gründet JELLINEK auf die „Möglichkeit


rechtlicher Selbstbeschränkung des Staates, durch die er sich unter
das Recht stellt, Träger von Rechten und Pflichten wird" Von
3).

der Theorie dieser „Selbstverpflichtung Staates" wird später noch


des
näher die Rede sein. Hier genügt der Hinweis darauf, daß, wenn

0. 0.
S. S.

S.

a. a. 182. a. a. 183.
2)
») ')

a. a. 0. 183.
Kelsen, Staatsbegriff.
9
130 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

man den Staat als Rechtsbegriff nur auf der Idee einer rechtlichen
Selbstverpflichtung des Staates gründen zu können glaubt, der Staat,
und zwar der Staat, den man der Vorstellung einer Staats p er so n,
eines Recbtssubjektes „Staat" voraussetzt, mit der Rechtsordnung, nicht
aber mit irgendeinem sozialen Faktum als identisch gedacht werden muß.
Denn verpflichten und insbesondere rechtlich verpflichten oder berech
tigen kann nur die Rechtsordnung; und wenn man den Staat —
sei es sich selbst oder wen immer verpflichten oder berechtigen läßt,
so muß dieser Staat in seiner Eigenschaft als verpflichtende und be
rechtigende Autorität die Rechtsordnung sein. Eine „Herrscher
macht", als welche der soziale Staat charakterisiert wird, kann
an und für sich möglicherweise faktisch zwingen, aber nicht recht
lich verpflichten oder berechtigen. Sie kann es, wenn sie — als
Rechtsperson — nichts anderes als der personifikative Ausdruck für
die Einheit der Rechtsordnung ist.
Nach all dem ist die zunächst wohl verblüffende Tatsache
nur selbstverständlich, daß nämlich der „juristische" Staatsbegriff,
der angeblich durch eine von der „sozialen" ganz verschiedene
Betrachtungsweise gewonnen wurde, mit dem „sozialen" Staats
begriff völlig identisch ist: „Als Rechtsbegriff ist der Staat demnach
die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Körperschaft
eines seßhaften Volkes" Der — freilich nur scheinbare — Unter
1).

schied besteht darin, daß in der Definition des „sozialen" Staats


begriffs von Verbandseinheit" die Rede ist, während in der
einer

„juristischen" Definition „Körperschaft" gesagt wird. Indes ist die


„Körperschaft" eben eine „Verbandseinheit", und zwar die gleiche
„teleologische" Verbandseinheit, die der „soziale" Staat darstellt.
Es könnte ernstlich nur dann eine Differenz angenommen weiden,
wenn — wie bereits bemerkt — dem sozialen Staatsbegriff ein
anderer Zweck, bzw. eine andere Ordnung zugrunde läge als dem
juristischen Staatsbegriff. Dies hat JELLINEK gewiß nicht für mög
lich gehalten, zumal er mit einer alle Zweifel ausschließenden
ja

Deutlichkeit als die Ordnung, deren Einheit die Synthese der im


sozialen Staatsbegriff zusammengefaßten Willensverhältnisse bildet,
die Rechtsordnung gelten lassen mußte. Ganz abgesehen davon, daß,
wenn neben der Rechtsordnung eine von dieser verschiedene „soziale"
Ordnung angenommen würde, der die erstere darstellende „juristische"
Staat mit dem die letztere darstellenden „sozialen" Staat ebenso
wenig identisch wäre wie die beiden Ordnungen — voraussetzuhgs-
gemäß — nicht identisch wären, und dem Verhältnis Recht und Staat
in

a. a. 0.
S.

183.
')
§ 21. Der Staat als „Verband" und als „Körperschaft" identisch. 131

das Problem, richtiger : die Problemlosigkeit zweier voneinander un


abhängiger und beziehungsloser Ordnungen vorläge

1).
Indem JELLINEK ernstlich die Frage nach der „Entstehung"
des Staates aufwirft und darunter das Werden „objektiver" Realität
versteht, indem er sich bemüht, zu zeigen, daß die „Entstehung des
Staates" außerhalb des Rechtsgebiets fällt2), zwingt
er geradezu zu der Annahme, daß der Staat etwas sein müsse, was
unabhängig von aller teleologischen Bewußtseinssynthese besteht.
Daß JeLLInEK in direktem Widerspruch zu dieser Vorstellung
den Staat gelegentlich ausdrücklich als „Ordnung",

ja
als Rechts
ordnung bezeichnet, darf nach all dem Gesagten nicht wundernehmen.
In seiner „Allgemeinen Staatslehre" findet sich der an diesem Ort
höchst seltsame Satz, „daß die Staatsordnung selbst Reclttsordnung
Und schon früher, in der .Lehre von den Staaten verbindungen

"
sei"3).
heißt es: „Das wesentlichste Moment im Begriffe des Staates ist,
(!)

daß er Ordnung ist"


Bei dieser Gelegenheit erklärt er mit aller
4).

größtem Nachdruck die Vorstellung, der Staat könne vor der Rechts
ordnung bzw. der Verfassung (die identisch mit der gesamten
ja

Rechtsordnung ist, da gerade nach JELLINEKs Theorie in jedem


Rechtssatz der Staat verpflichtet wird) existent, die Voraussetzung
dieser Ordnung sein, als einen Widerspruch in sich selbst. Ja, er
behauptet sogar: die Verfassung sei die logische Voraussetzung des
Wenn JeLLineK gerade bei seiner Darlegung des „juristischen" Staats
')

begriffes das Bedürfnis hat, gegen den möglichen Vorwurf einer „Hypostasie-
rung" von vornherein Verwahrung einzulegen, so kann ihm ohne weiteres zu
gestanden werden, daß gerade bei seinen — in diesem Zusammenhang übrigens
sehr kurzen — Ausführungen über den juristischen Staatsbegriff keine besondere
Hypostasierung unterlaufen ist. Sie steckt nämlich schon in dem „sozialen"
an den sich sein juristischer anschließt. Er gesteht sie
ja

Staatsbegriff, dort
direkt und ausdrücklich zu, wenn er sagt „Die natürlichen, in den Individuen
:

sich abspielenden Willens vorgänge werden nämlich von unserem Denken zugleich
auf die Verbandseinheit selbst bezogen" (a. a. 0. 181). Das ist eben eine Hy po-
S.

stasierung, wenn man eine bloß gedankliche Einheit, eine nur im „teleo
logischen" Bewußtsein des erkennenden Juristen vollzogene Synthese mit einem
psychischen Willen, einer ihr „innewohnenden" Herrschermacht ausrüstet.
Und er ist gegen eine in dieser Richtung zielende Kritik im Unrecht, wenn er
behauptet, er habe niemals den Satz aufgestellt, „daß unseren Abstraktionen
außerhalb unseres Bewußtseins irgendeine Existenz zukommt" (a. a. 0.
S.

182).
Denn trotzdem er den Staat auf der einen Seite nur als ideelle Synthese eines
teleologischen Bewußtseins betont, behandelt er den Staat auf der anderen Seite
dennoch als realen, in der Außenwelt tätigen Machtfaktor. Dazu zwingt ihn
schon seine Grundposition Staat als Machtfaktor Voraussetzung des
:

Rechts und daher nicht identisch mit diesem, das als Einheit einer normativen
Ordnung allein die spezifische Synthese teleologischen Bewußtseins darstellt.
a. a. 0.
S.

Staatslehre,
S.

269. 355.
»)

Staatenverbindungen,
S.

266.
*)

9*
132 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

Staates. Obgleich er einige Seiten vorher ebenso apodiktisch erklärt :


der Staat sei Voraussetzung der Rechtsordnung1); und einige Zeilen
nachher: die Staatsordnung (Verfassung) habe „ihren Grund in der
Existenz des Staates, welche stets etwas Faktisches ist";
obgleich
er soebenversichert hatte, „die erste Verfassung des Staates ist
bereits mit seinem Dasein als solchen gesetzt" ; kann also doch
wohl in diesem nicht ihren „Grund" haben, da Grund und Folge
nicht identisch sind. Allerdings fügt er hinzu: „Die Verfassung
eines neuentstandenen (warum nur eines neuentstandenen?) Staates ist
ebenso ein Faktisches wie der Staat selbst." Es
(?)

daher sind also


Staat als Faktura und Staatsordnung als Faktum zu scheiden. Und
doch sind wieder beide identisch. Der Staat ist die Voraussetzung,
h. wohl der Grund der Ordnung, die Ordnung ist wieder der Grund
d.

des Staates usw.


All diese Widersprüche ergeben sich letzten Endes aus der
mangelnden Erkenntnis der Identität von Staat und Recht unter dem
Gesichtspunkt der Ordnung. Und dabei läuft die mit einem großen
theoretischen Apparate auf dem Doppelgeleise einer soziologischen
und einer juristischen Methode durchgeführte Entwicklung des
Staats begriffs in zwei unerkläilicherweise identischen Begriffen
— wenn man sie aus der ihren Kern versteckenden Hypostase heraus
schält — schließlich auf eine Bestimmung des Rechtsbegriffes hinaus.
Die Verbandseinheit ist zugegebenermaßen einer Ord die Einheit
nung; und wenn man das „Herrschafts"moment — Herrschen heißt,
seinen Willen „gegen anderen Willen unbedingt durchsetzen",
also zwingen — als den Inhalt der diese Ordnung bildenden
Normen erkennt, zeigt es sich als mit jenem „Zwange" identisch,
der seit jeher als das- Wesen des Rechtes gilt.

Kapitel.
7.

Die Selbstverpflichtung des Staates.

22.
§

Die Selbstverpflichtung des Staat es als Personi


fikation der Rechtsordnung.
Der innere Widerspruch der JELLINEKschen Theorie über das
Verhältnis von Staat und Recht wurzelt und gipfelt zugleich in der
von ihm in den Mittelpunkt seines Systems gestellten Lehre von der
„Selbstverpflichtung" des Staates. Diese ist nicht etwa erst von
JELLINEK begründet worden. Sie hat unmittelbare Vorgänger, z. B.

0.
S.

a. a. 262.
')
§22. Die Seibstverpflichtung d. Staates als Personifikation d. Rechtsordnung. J33

in BERGBOHM JELLINEK hat diese Lehre nur dogmatisch aus

1).
gebaut und damit zu einem leiert faßbaren Gegenstand der Kritik
gemacht. Gerade an der
Selbstverpflichtungstheorie, die das
sog.
unbegreifliche begreiflich zu machen versucht, wie aus der dem Rechte
begrifflich entgegengesetzten Macht — Recht wird, wie sich der als
außerrechtliches, metarechtliches,

ja
rechtsfremdes, rechtsfeindliches
Wesen vorausgesetzte Staat in Recht verwandelt, wurde der innere
Widerspruch schon oft bemerkt. Man hat wiederholt gegen diese
Theorie geltend gemacht daß der Staat als machtvolles omni

,
potentes Wesen, das als solches über dem Recht stehe, das Recht
erzeuge, nicht durch das Recht, sein eigenes Geschöpf, gebunden werden
könne, daß jede rechtliche Bindung mit dem Begriff des Staates
unvereinbar sei
2).

Und wenn man wieder eine rechtliche Verpflichtung des Staates


für möglich hält, kann man den Staat — sofern von ihm selbst,
und nur von ihm, die Verpflichtung ausgeht — nicht mehr als außer
rechtliche Macht gelten lassen. Recht kann nur aus Recht werden

;
der Staat muß, soll er wen immer, und sei es auch sich selbst, ver
pflichten können, wie bereits früher bemerkt, als die Rechtsordnung
gedacht werden. Als eine unterworfene Person
der Rechtsordnung
aber ist er wiederum nur diese Rechtsordnung selbst. Erkennt man
den Staat — sofern er in der anthropomorplien Form der Person
auftritt — als Personifikation der Rechtsordnung, dann ist die voll
endete Sinnlosigkeit der Problemstellung offenbar, die zur Theorie
der Selbstverpflichtung führt Kann der Staat, der die Rechtsordnung
:

„trägt" oder „aufstellt", auch durch die Rechtsordnung gebunden,


verpflichtet werden? „Ist der Staat" — dessen „Priorität" vor dem
Rechte behauptet wird — „selbst rechtlicher Ordnung fähig"
')
?

Nur noch die scholastische Theologie hat sich mit solchen Schein
problemen beschäftigt! Der Schein eines möglichen Problems wird
aber dadurch erzeugt, daß man die verpflichtende Rechtsordnung auf
dem Wege einer veranschaulichenden Personifikation — die „Person"
Staates — hypostasiert, h. real setzt, als realen Menschen
d.

des
behandelt und nun fragt, ob dieses von der juristischen Phantasie
erzeugte Wesen — wie die andern Menschen — durch die Rechts
ordnung verpflichtet werden könne. Diesem Selbstbetrug der
Rechtswissenschaft wird dadurch Vorschub geleistet, daß man sich
des eigentlichen Sinnes, der logischen Struktur jenes Tatbestandes

Staatsverträge und Gesetze als Quellen des Völkerrechts, 1877.


») ')

VgL dazu statt vieler etwa Otto MatEr, Deutsches Verwaltungsrecht,


Bd., 110 und die dagegen gerichtete Polemik JeLLineKs, System,
S.

S.
I.

195.
JeLLikeK, Staatslehre, S. 337.
»)
134 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

nicht klar ist, der in


juristischen Urteil ausgedrückt
dem wird:
Jemand ist zu irgend etwas rechtlich verpflichtet. Dies bedeutet
nichts anderes als: eine bestimmte menschliche Handlung ist als
Inhalt einer Rechtsnorm gesollt. Dabei ist zu beachten, daß dieses
rechtliche Sollen nichts mit dem moralischen Sollen einer sittlichen
Pflicht zu tun hat, daß es nur der Ausdruck für den spezifischen
Systetnzusammenhang des Rechts ist. Da nichts anderes als eine
menschlicheHandlung solcher Inhalt der Rechtsnorm sein kann, kann
nur von einem Menschen in diesem spezifischen Sinne ausgesagt
werden, daß er verpflichtet sei, daß er Pflichten „habe". Der Staat
oder irgendeine andere juristische Person kann in diesem Sinne
Nun ist aber — nach juristischer Anschauung
nicht verpflichtet sein.
— nicht der physische Mensch, sondern die Person der „Träger"
von Pflichten und Rechten, der Person — sei es der physischen oder
juristischen — werden die Pflichten und Rechte zugerechnet, die
Person ist das — physische oder juristische — Rechts- Subjekt. Und
es ist ein charakteristisches Grunddogma der Jurisprudenz, hinsicht
lich dieser Zurechnung physische und juristische Personen gleich
zustellen. Gerade in dieser Gleichstellung beruht die Möglichkeit
von Pflichten der juristischen Person des Staates. -Und in dieser
Richtung liegt ja auch der richtige Kern des Pro
blems, das zur „Selbstverpflichtung" des Staates
sinnlos verzerrt wird. Es ist richtig, daß der Staat
durchaus
— als juristische Person — ebenso Pflichten und Rechte „hat" wie
eine physische Person. Aber der Sinn dieses Satzes kann ohne Ent
gleisung in Hypostasierungen nur erfaßt werden, wenn die — von
der Rechtswissenschaft zwar postulierte, aber bisher noch nicht reali
sierte — Einheit des Begriffs der Rechtsperson,
die Wesensgleichheit und damit die Unhaltbarkeit des heute
noch angenommenen Unterschiedes der sogenannten „physischen"
und der juristischen Personen klargestellt ist. Die 'Lösung
dieses Problems habe ich schon in anderem Zusammenhange grund
sätzlich formuliert. Die Rechtsperson oder das Rechtssubjekt —
die physische wie die juristische — ist die aus Gründen der Veran
schaulichung vollzogene antropomorphe Personifikation eines Rechts
normenkomplexes. Die Person des Staates ist die Personifikation
der Gesamtrechtsordnung, die übrigen Personen Personifikationen von
Teilrechtsordnungen, Normenkomplexen, deren Abgrenzung, deren Indi
vidualisierung von wirtschaftlichen, religiösen, kurz rechts i n h a 1 t-
lichen Gesichtspunkten aus erfolgt. Die sog. physische Person ist
die Personifikation aller das Verhalten eines Menschen be
inhaltenden Rechtsnormen. In der „Person" tritt der Rechtsordnung
§ 22. Die Selbstverpflichtung d. Staates als Personifikation d. Rechtsordnung. 135

nicht eine andersartige „gegenüber" — wie die Hypo-


Wesenheit
stasierung der Person in der herrschenden Lehre vortäuscht — , son
dern die Person ist ein Stück der Rechtsordnung selbst oder die
Rechtsordnung als Ganzes. Wäre es anders, könnte der Rechts
wissenschaft das Rechtssubjekt als Gegenstand der Erkenntnis nicht
gegeben sein, denn die Rechtserkenntnis hat keinen anderen Gegen
stand als das Recht, das Recht aber ist Norm1). In dem Urteil:
eine Person —
physische bestimmter Weise
oder juristische — ist in
verpflichtet, „hat" eine Pflicht, kommt somit nichts anderes zum
Ausdruck als die Zurechnung eines konkreten Norm
inhalts zu der — personifizierten — Einheit des
N o r m sy s t em s : es ist die Aussage, daß ein bestimmter Inhalt
in dem spezifischen Einheitsbezug einer Rechtsordnung, sei es einer
Teil- oder einer Gesamtrechtsordnung, steht.
Und so ergibt sich — nachdem man das in der Rechtswissen
schaft leider so üppig wuchernde Gestrüpp irreführender Hypostasie
rungen ausgerottet hat — die einfache und selbstverständliche und
höchst unproblematische Erkenntnis : daß der Staat ebenso Rechts
pflichten hat wie eine andere Rechts p e r s o n , nicht, obgleich er
die Rechtsordnung, sondern weil er die Rechtsordnung nicht
etwa „erzeugt" oder „trägt", sondern ist. Daß man die Men
schen, deren Handlungen — als Inhalt von Rechtsnormen — auf
'
die personifizierte Einheit der Rechtsordnung bezogen, dieser Einheit
„zugerechnet werden", „Organe" nennt, geschieht darum, weil man
im Bilde des Organismus sich den rein ideellen Systemzusammenhang
einer normativen Ordnung am bequemsten veranschaulicht.
Befreit man die Vorstellung des Staates von der antropomorphen
Hypostasierung, zu der sich die herrschende Lehre versteigt, hebt
man mit der Realsetzung des Denkbehelfs der Personifikation
die
verbundene Verdoppelung des einheitlichen Erkenntnisgegenstandes
in eine verpflichtende Macht und eine verpflichtete Person des Staates
auf, reduziert man den Staat auf
Einheit der Rechtsordnung,
die
dann verschwinden mit einem Schlage all die zahlreichen Schwierig
keiten, die sich aus der Selbstverpflichtungstheorie ergeben, indem
sie sich als Scheinprobleme auflösen. So zeigt sich insbesondere
auch, warum sich die traditionelle Staatsrechtslehre bisher vergeblich
bemühen mußte, das Problem zu lösen, wie ein Unrecht des Staates
möglich sei! Und wenn z. B. JELLInEK meinte, nur „in dem Ideal-
bilde des Staates müßte der Satz des englischen Staatsrechts :

') Was hier bezüglich des Begriffs des Rechtssubjektes vorgenommen


wurde, die Befreiung von der Hypostasierung und die Reduktion auf Rechts
normen, muß auch hinsichtlich des Begriffs des subjektiven Rechts geschehen 1
136 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

The king can do no wrong, zu der unfehlbaren Wahrheit sich aus


dehnen, daß der Staat nicht Unrecht tun könne" so ist dies nur
ein Symptom dafür, wie sehr der Begriff des Staates mit dem Be
griff des Rechtes sich zu identifizieren strebt. Da es sich aber nur
um das Verhältnis von Begriffen, nicht aber etwa um eine politische
Entwicklung aus einem Zustand Rechtmäßigkeit des
geminderter
Staates zu einem Ideal voller Rechtmäßigkeit handelt, wie JELLInEK
anzunehmen scheint, da Identität von Staat und Recht auf jeder
Stufe der historischen Entwicklung vorliegt, ist die Vorstellung eines
Staatsunrechts ein Widerspruch in sich selbst. Ein Unrechtstat
bestand kann nie der Personifikation des Rechts, er kann nur einem
anderen Subjekte zugerechnet werden. Das Unrechtssubjekt kann
nie zugleich das Rechtssubjekt sein. Der Mensch freilich kann
unrecht handeln. Welche Konsequenzen daraus für die Rechtstheorie
erwachsen, kann allerdings hier nicht weiter verfolgt werden-

§ 23.
Politischer Mißbrauch des metarechtlichen Staats
begriffes.
Da die herrschende Lehre von einer natürlichen Existenz des
Staates ausgeht, den Staat als ein vom Recht verschiedenes Wesen
gelten läßt, läßt sich das Problem der staatlichen Selbstverpflichtung
auch mit den Worten JELLINEKs ausdrücken : „Von Natur aus
alles könnend, was seiner Macht
zugänglich ist, kann der Staat
von Rechts wegen nur das, wozu ihn
die Rechtsordnung ermächtigt,
darf er nur das, was sein gesetzlich gebundener Wille ihm gestattet"2).
Es sind demnach Staatsakte möglich, die nicht nur als rechtswidrig,
die als rechtlich unfaßbare,
außerrechtliche, rechtlich nicht begreif
bare Fakten angesehen werden müssen. Da es sich dabei nur um
menschliche Handlungen handeln kann, die — als Staatsakte — nicht
dem physisch Handelnden selbst, sondern einem „hinter" ihm ge
dachten Subjekt zugerechnet werden, ist auch diesen juristisch un
faßbaren Akten gegenüber die Frage nach der Zurechnungsregel nicht
zu vermeiden. Diese Zurechnungsregel kann — voraussetzungsgemäß
— nicht eine Rechtsnorm sein. Die Ordnung, in deren systematischer
Einheit diese Inhalte begriffen werden, ist nicht die Rechtsordnung,
nach der andere Akte des Staates sich als Rechtsakte begreifen
lassen. Hier ist die Theorie in flagranti auf einem Doppelspiel er
tappt: Sie operiert mit zwei voneinander verschiedenen, einander aus
schließenden Systemen und behauptet dennoch einen einheitlichen,

') System, S. 242. !) System, S. 194/195.


§ 23. Politischer Mißbrauch des inetarechtlichen Staatsbegriffes. 137

identischen Das ist eine logische Unmöglichkeit! Und


Gegenstand.
das ist auch der eigentliche und ungeschminkte Sinn jenes „Staats"-
begriffes, von dem hervorragende Staatsrechtslehrer behaupten, daß
er als Begriff einer natürlichen Macht rechtlicher Verpflichtung nicht
fähig sei Die Naturmacht ist in Wahrheit das anthropomorph ver
!

kleidete, in üblicher Weise hypostasierte politische Postulat: daß


alles gestattet, bzw. geboten sei, was den Interessen gewisser Träger
der „öffentlichen Gewalt" entspricht. Diese Ursprungsnorm eines
— auf den Absolutismus abgestellten — Normsystems ist nicht
etwa ein metarechtliches Seinsfaktum, sondern nur die Grundinge
eines andern Rechtssystems als jenes ist, das man nach anderen
Richtungen voraussetzt. In dem Versuche, mit zwei einander aus
schließenden Systemen zu operieren, liegt die Unzulässigkeit dieses
Standpunktes. Sie ist so offenkundig, daß sie kaum zu begreifen
wäre, wäre sie nicht durch uneingestandene, vielleicht auch unbewußte
politische Tendenzen zu erklären. Es besteht in gewissen Kreisen
das Bedürfnis, bestimmte ordnungswidrige, aus der — sonst — als
gültig vorausgesetzten Ordnung heraustretende und daher auf die
Ordnungseinheit nicht beziehbare Handlungen bestimmter Menschen
— etwa des Monarchen — dennoch zu rechtfertigen, sie nicht als
rechtswidrige Kompetenzüberschreitung, sondern als Akt der Ge
samtheit, sie trotzdem sie staatswidrig sind — doch als Staats

akte gelten zu lassen. Damit, daß der an sich rechtswidrige Akt
dennoch als Staatsakt behauptet wird, ist ihm — auch wenn man
die Identität von Staat und Recht zu leugnen versucht — ja doch
irgendeine Art von Rechtmäßigkeit zuerkannt. Man manipuliert
eben neben der Rechtsordnung noch mit einer zweiten, die sog.
Staatsraison darstellenden Ordnung, die hauptsächlich auf die
Bedürfnisse gewisser oberster Organe abgestellt ist. Vielleicht ist
es nicht überflüssig, in diesem Zusammenhange daran zu erinnern,
daß das Wort „Staat" — ja vielleicht sogar der Begriff eines von
der Rechtsordnung verschiedenen Staates — in die deutsche Wissen
schaft ursprünglich in der Bedeutung einer gegen die prinzipiell
durch Gewohnheit, also volkstümlich und — wenn man will —
demokratische Rechtsordnung gerichteten, auf die Interessen des
Fürsten und seines Anhangs abgestellten, autokratischen Ord
nung eingedrungen ist. Auf MACHIAVELLIs Buch: „Vom Fürsten"
und dessen „ragione di stato" geht die Terminologie zurück. Das
unter dem Namen „Staat" zusammengefaßte Normensystem will
gegen die überkommene Rechts-(und „Staats"-) verfassung dem Herr
scher einen weiten Spielraum freien Ermessens, insbesondere auf dem
Gebiete der äußeren Verwaltung, erobern. Man drückt dies mit den
138 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

Worten aus, „daß das augenblickliche Interesse des Staates für den
Staatsmann allein maßgebend sein müsse und die Politik weder
an die Schranken des Rechtes noch an die der Moral
gebunden sei". So LOENING in seiner ausgezeichneten Geschichte
des Wortes „Staat" Er fügt bezeichnenderweise hinzu : „ Der Aus
druck Staat selbst erhielt dadurch eine üble Nebenbedeutung, und
V. L. V. SECKENDOBPF verwahrt sich in der Vorrede zu seinem
Fürstenstaat (1655) dagegen, daß er »mit dem Worte Staat keines
wegs das gemeint, was darunter heutzutage öfters begriffen werde
und fast eine Untreue, Schandtat und Leichtfertigkeit zu nennen sein
wird, die an etlichen verkehrten Orten mit dem Staat, ratione status
oder Staatssachen entschuldigt werden will«. Noch 1685 (Vorrede
zu dem Cliristenstaat) erklärt er, der Gebrauch des Wortes Staat
ekle ihn eigentlich an, doch gebrauche er es, »weil er es mit keinem
bequemeren auszuwechseln gewußt und es Bürgerrecht in unserer
Sprache verdient zu haben scheine«." Diese autokratische — gegen
das demokratische Volksrecht gerichtete — Ordnung will aber selbst
Recht werden und wird es auch. Der „Staat" wird eben zum
neuen Staatsrecht, und damit wird auch der ursprüngliche Gegen
satz zwischen Staat und Recht — der ein historischer Konflikt des
neuen mit dem alten Rechte ist — aufgehoben.
Nichtsdestoweniger behält der Terminus des Staates etwas von
seiner ursprünglichen rechtsfeindlichen Bedeutung bei. Sein histo
rischer Ursprung macht ihn immer wieder zu einem Ausdruck für
gewisse, gegen die Rechtsordnung gerichtete politische
positive
Postulate, die sich dennoch den Schein geltenden Rechtes geben wollen.
Denn eine allzu gefällige Theorie deckt manche Rechtswidrigkeit
der Machthaber mit Hilfe ihres Doppelstaatsrechts, womit sie sich
ein wissenschaftliches Instrument geschaffen hat, das eine verteufelte
Aehnlichkeit mit dem Zylinder des Taschenspielers zeigt: es hat
nämlich einen doppelten Boden, und man kann aus ihm immer
herauszaubern, was den jeweiligen politischen Bedürfnissen der
„obersten Organe" entspricht. Das ist es, was der Staatsrechtslehre
den Charakter der Unaufrichtigkeit aufprägt: Ihr System, das sich
als ein System positiven Rechts und als solches freilich von jeder
des
Politik verschieden und unabhängig erklärt, hat eine Hintertüre, die
sich diese „Wissenschaft" sorgfältig offenhält, um durch sie eben
jene „Politik" wieder Die „Politik" tritt einfach unter
hereinzulassen.
dem Namen des dem Recht entgegengesetzten „Staates" oder „öffent
lichen" Interesses, des dem „Recht" (das zum „Privat "recht zusammen-

') Art. „Staat« im Handwörterb. d. Staatswiss., VII, S. 693.


§ 23. Politischer Mißbrauch des metarechtlichen Staatsbegriffes. 139

schrumpft) entgegengesetzten, „öffentlichen" Rechtes auf. Der ganze


von der herrschenden Lehre streng festgehaltene, theoretisch aber
nicht begründbare Wesens gegensatz von öffentlichem und privatem
Recht beruht letztlich auf dem eben charakterisierten politischen
Gegensatz von „Staat" — als Ausdruck gewisser, gegen das positive
Recht gerichteter Postulate — und „Recht" als Inbegriff der positiv
allein gültigen Rechtsnormen Der Gegensatz von Staat und Recht
oder öffentlichem und privatem Recht, den die Theorie allen in
neren Widersprüchen zum Trotz aufrechterhält, ist letzten Endes aus
dem Bestreben zu erklären, die positive, konstitutionell-demokratische
Verfassung, den sogenannten „Rechtsstaat", im Wege einer Inter
pretation aus dem Wesen des„Staates" oder
des „öffentlichen"
Rechtes zugunsten des absolutistisch-monarchischen Prinzipes des
Polizeistaates zu verdrängen
2).

Schon in den einleitenden Ausführungen seinerAllgemeinen


Staatslehre sagt JELLINEK einerseits: „So wenig Recht
und Politik miteinander vermischt werden sollen, so sehr jeder
zeit ihre scharfen Grenzen zu beachten sind anderer

",
seits: „so ist doch ersprießliche staatsrechtliche Unter
suchung ohne Kenntnis des politisch Möglichen aus
geschlossen". Allein
soll nicht bei der bloßen „Kenntnis" bleiben;
es

„ohne dessen grundsätzliche Beachtung gerät nämlich das


Staatsrecht notwendig auf bedenkliche Abwege". Wie das? Das
selbe Staatsrecht, dem soeben eingeschärft wurde, die „scharfen
von der Politik
ja

Grenzen" nur
nicht zu überschreiten, die es
trennen? Und jetzt wird ihm gar gesagt: ohne „grundsätzliche
Beachtung dieser Politik läuft es Gefahr, sich in eine dem Leben
und der realen Erkenntnis abgewandte rein scholastische
Disziplin zu verwandeln" Wenn der Staatsrechtslehrer eine
3).

Rechtswidrigkeit, sofern sie von einem Mächtigen be


gangen, h. faktisch durchgesetzt wird, irgendwie doch als rechtmäßig
d.

konstruiert, wenn er ein, von seiner allgemeinen Rechtsvoraussetzung


aus beurteilt, falsches Rechts wer turteil fällt — aus Motiven,
die hier dahingestellt bleiben — so tut er dies mit der naiven und
,

Auf die politischen Tendenzen, die sich hinter dem angeblich theore
*)

tischen Gegensatz von öffentlichem und privatem Recht verbergen, habe ich
schon in meiner Abhandlung „Zur Lehre vom öffentlichen Rechtsgeschäft*,
Archiv des öffentl. Rechts, 31. Bd., Vgl. dazu
S.

53 ff. aufmerksam gemacht.


auch WEtR, Zum Problem eines einheitlichen Rechtssystems, Archiv des
öffentl. Rechts, 529 ff.
S.

1908,
Vgl. dazu MerKL, Die monarchische Befangenheit der deutschen Staats
*)

rechtstheorie. Schweizerische Juristenzeitung, 1920, Heft 24.


a. a. 0. S. 16.
»)
140 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

fadenscheinigen Ausrede: er habe das „reale Leben" zu erkennen.


Als Urteile Seinstatsachen zu konstatieren und kausal
ob juristische
zu erklären hätten ! Es muß ausgesprochen werden, daß die typische
Berufung auf die Erkenntnis des „realen Lebens" stets nur die
Tatsache bemänteln soll, daß der juristische mit einem politischen
Standpunkt vertauscht wurde.
Zwei wichtige Grundsätze leitet JELLINEK aus dem Postulate
ab, das Staatsrecht müsse der —
von ihm durch „scharfe Grenzen"
getrennten, mit ihm nie zu vermischenden — Politik „grundsätzliche
Beachtung" schenken! Erstens: „daß das politisch Unmögliche nicht
Gegenstand ernsthafter juristischer Untersuchung sei". Dieser Grund
satz, dessen innere Haltlosigkeit leicht zu erweisen wäre, interessiert
aber in diesem Zusammenhange weniger als der zweite: „daß die
Vermutung für die Rechtmäßigkeit der Hand
lungen der obersten Staatsorgane spricht"1). Das
kann wohl als hinreichende Illustration zu all dem gelten, was oben
über die politische Bedeutung eines metarechtlichen Staats
begriffes gesagt wurde.

B. Das Recht als Voraussetzung des Staates.

8. Kapitel.
Der Staat als Rechtsgemeinschaft.

§ 24.

Die Naturrechtslehre (Kant).


So wie der Versuch, als Voraussetzung des Rechtes
den Staat
zu bestimmen, muß auch jener, das Recht als Voraussetzung des
Staates zu begreifen, wenn man ihn zu Ende denkt, zu einer Identi
fikation beider Begriffe führen.
Die Anschauung, daß das Recht eine Voraussetzung des Staates
sei, liegt schon jener Naturrechtstheorie zugrunde, die den Staat
durch einen Kontrakt begründen läßt, ihn somit als Recht s-
verhältnis auffaßt. Wenn der Vertrag als Rechtsgeschäft ein
Rechtsverhältnis, d. h. gegenseitige Pflichten und Rechte zur Folge
haben soll, muß eine Rechtsordnung vorausgesetzt werden, die an
solchen Tatbestand solche Konsequenzen knüpft, sei es auch, daß
diese Rechtsordnung nur aus der einzigen Norm bestünde: pacta sunt
servanda.
Es kann in diesem Zusammenhange nicht darauf ankommen,
zu prüfen, ob eine solche Norm tatsächlich als Rechts norm nach-
i) a. a. 0. S. 18.
§ 24. Die Naturrechtslehre (Kant). 141

weisbar ist. Es genügt, daß die Naturrechtslehrer sie als solche


vorausgesetzt haben oder doch hätten voraussetzen müssen, um aus
ihr den Staat als Rechts verhältnis zu deduzieren. Daß man sich
solcher Voraussetzung nicht immer klar bewußt war, mag ohne wei
teres zugegeben werden. Auch dies, daß man nicht eigentlich den
tatsächlichen Abschluß eines Staatsvertrags im Sinne eines histo
rischen Faktums behaupten, sondern mit der Vertragstheorie vor
allem das gegenseitige Verhältnis der Bürger, ihre Verbindung
im Staate oder zum Staate als ein Rechts verhältnis, als ein Ver
hältnis von Pflichten und Rechten charakterisieren wollte, und daß
man zur Begründung solchen Verhältnisses auf den Begriff des Ver
trages griff, weil man Pflichten und Rechte regelmäßig auf das
Rechtsgeschäft des Vertrages unmittelbar begründet sah. In der
Konstruktion des Staatsvertrages scheint der angezogene Rechts
begriff vornehmlich nur als der geläufigste Ausdruck für die Be
gründung von Pflichten und Rechten überhaupt verwendet zu sein.
Gerade weil man für gewöhnlich zu übersehen pflegt, daß nicht das
Rechtsgeschäft, sondern die Rechtsordnung Pflichten und Rechte
konstituiert, genauer: enthält, das Rechtsgeschäft nur die Bedingung
ist, an die die Rechtsordnung ihre Folgen anknüpft, nahm der Staats
vertrag in der Naturrechtstheorie eher die Stellung einer Rechte
und Pflichten begründenden Grundordnung als die einer Rechte und
Pflichten nur vermittelnden Bedingung ein. Als eine Art pars pro
toto drückt hier die Bezeichnung eines speziellen Rechtsgeschäftes
die Vorstellung einer Rechts Ordnung aus. Daß der Staat auf
einem Vertrage soll im Grunde nichts anderes bedeuten, als
beruhe,
daß die Verbindung der Menschen zu einem Staate so wie die Ver
bindung zweier Vertragspartner auf einer Sollordnung beruht, die
nur die Rechtsordnung sein kann.
Kant, dessen Rechts- und Staatstheorie nur der typische Aus
druck der Naturrechtslehre ist, bestimmt den Staat als „die Ver
einigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen" Zieht
man das räumliche Bild ab, das in der Vorstellung der „unter" den
Rechtsnormen stehenden Menschen steckt und reduziert man diese
Staatsdefinition auf eine bildfreie Formel, kann diese nicht anders
lauten als : das i Rechtsnormen (d. h. als Inhalt der Rechts
n den

normen) verbundene Verhalten einer Vielheit von Menschen. Es ist


jedoch nicht einfach der Inhalt
der Rechtsordnung, auf den ab
gestellt ist, es ist auch die Form angezogen, denn nur in dieser
liegt die spezifische Verbindung. Die Identität von Staat und
Rechtsordnung zeigt sich aber bei KANt noch auf andere Weise,
') Metaphysik der Sitten, I. Teil, § 45.
142 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

obgleich KANt diese Identität nicht ausdrücklich ausgesprochen hat.


Das Problem des Staates ist ihm als das Problem der Freiheit
gestellt. Der Staat erscheint ihm als die Bedingung der wahren,
gesetzmäßigen und nicht wilden, äußeren Freiheit. „Der Akt, wo
durch sich das Volk selbst zu einem Staat konstituiert, eigentlich
aber nur die Idee desselben, nach der die Rechtmäßigkeit desselben
allein gedacht werden kann" — hier lehnt Kant den Vertrag als
Faktum ab und läßt ihn nur als normative „Idee" gelten — „ist
der ursprüngliche Kontrakt, nach welchem alle (omnes et
singuli) im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder
eines gemeinen Wesens, d. i. des Volkes, als Staat betrachtet (uni-
versi) sofort wieder aufzunehmen, und man kann nicht sagen: der
Mensch im Staate habe einen Teil seiner angeborenen äußeren Frei
heit einem Zweck aufgeopfert, sondern er hat die wilde gesetzlose
Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer
gesetzlichen Abhängigkeit, d. i. in einem rechtlichen Zustande
unvermindert wiederzufinden"1). Wenn schon nicht aus dieser Dar
stellung des Staatsvertrags selbst zu entnehmen wäre, daß der durch
den ursprünglichen Kontrakt begründete „rechtliche Zustand" iden
tisch ist mit dem staatlichen Zustand, so müßte die berühmte
Rechtsdefinition KANts jeden Zweifel beseitigen. Denn diese ist,
ganz so wie das Problem des Staates auf die Freiheit abgestellt:
das Recht ist nach KANt der Inbegriff der Bedingungen, nach denen
die Willkür oder Freiheit des einen mit der des andern nach einem
allgemeinen Gesetz der Freiheit
vereinigt werden kann Es ist der 2).

gleiche Gedanke, der auch als Sinn des den Staat begründenden
Kontrakts auftritt. Und wenn KANt in Uebereinstimmung mit einer
geläufigen Vorstellung der Naturrechtslehre die Einheit des Staates
als Willenseinheit auffaßt in Gemäßheit des Kontraktes, der eine

Willensvereinigung ist, als das Substrat des Staates einen „Gesamt


willen Allgemeinwillen einen „vereinigten Willen bezeichnet,
"
",
",

so ist er weit davon entfernt, darunter irgendeine psychologische


Realität begreifen zu wollen. Er versteht unter diesem „Wollen"
zweifellos nur ein Sollen, denn er sagt von diesem „vereinigten
Willen" ausdrücklich, daß er „bloß Idee eines äußeren Verhält
nisses der Willkür vernünftiger Wesen gegeneinander", daß er „noch
kein Faktum, sondern bloß Norm ist"3); daß diese Norm nur
das Recht sein kann, versteht sich von selbst.

0. 47.
a. a.
3) ») ')

0., Einleitung in die Rechtslehre,


a. a. 13.
§

Lose Blätter aus Kants Nachlaß. Mitgeteilt von RudoLf ReicKe,


Königsberg, 1898, III. Heft,
S.

79.
§ 25. Der Staat als besondere Rechtsordnung (Stammler). 143

Nicht verschwiegen werden darf, daß KANt neben dem Begriff


des Staates als einer Rechtsvereinigung oder, was dasselbe ist, einer
Rechtsordnung menschlichen Verhaltens noch mit einem zweiten
Staatsbegriff operiert, den er, leider auch in diesem Punkte ein
typischer Vertreter naturrecbtlicher Vorstellungen, nicht von dem
ersten unterscheidet, sondern als gleichbedeutend verwendet: der Staat
als eine das Recht erzeugende Macht oder Gewalttatsache. Es ist
schon an sich nicht verständlich, wie aus der Definition des Staates
als Rechtsvereinigung die Dreigewaltentheorie abgeleitet werden kann.
Denn im unmittelbarsten Anschluß an die erwähnte Begriffsbestim
mung sagt Kant: „Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich"1);
und führt speziell von der gesetzgebenden Gewalt aus: sie könne
nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen, von ihr solle
„alles Recht "
2).

ausgehen

25.
§

Der Staat als besondere Rechtsordnung (StammLer).


Diese schwankende Bedeutung des Staatsbegriffs findet sich auch
bei StAMMLER, der sich gerade in der Frage nach dem Verhältnis von
Recht und Staat eng an die naturrechtliche Auffassung anschließt,
indem er prinzipiell das Recht als Voraussetzung des Staates gelten
lassen will, und bei dem gleichfalls dieses Verhältnis logischer Vor
aussetzung und Folge zwischen zwei verschiedenen Begriffen bei
näherer Untersuchung als die Identität desselben Begriffes, eines und
nämlich desjenigen der Rechtsordnung, nachweisbar ist.
Immerhin taucht gelegentlich auch die Vorstellung des Staates
als einer „Autorität" auf, die „schützend oder treibend sich hinter
den Einzelindividuen aufstellt" also eines durchaus im Kausal
3),

. .
.

nexus stehenden, wirk samen Faktums und die Polemik gegen


;

die Annahme, Recht sei die vom Staate erlassene Norm, wird durch
den Nachweis zu führen versucht, es sei durchaus nicht notwendig,
„daß die Rechtsnormen von einer organisierten Gewalt erlassen wer
den, die wir als die staatliche begreifen Nun ist es nicht gleich
"
4).

gültig, ob man den Staat als „organisierte Gewalt" oder als „Organi
sation einer Gewalt" bestimmt. Denn das eine Mal ist er Gawalt,
das andere Mal Organisation. Und StAMMLER will offenbar die
letztereAuffassung akzeptieren, denn er bezeichnet den Begriff des
Staates ausdrücklich als den „Begriff einer Organisation mensch
lichen Zusammenlebens" Organisation aber ist nur das Fremdwort
8).

a. a. 0. 45. a. a. 0. 46.
2)
')

Wirtschaft und Recht, Aufl., S. 100/1.


3.
4) 3)

a. a. 0. a. a. 0.
S.

S.

117.
6)

116/17.
144 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

für Ordnung oder, wie StAMMLER meint, der Ausdruck für die Ver
einigung unter äußeren Regeln Ist der Staat aber eine Ordnung,

1).
dann ist er etwas dem Recht durchaus Gleichartiges, und unter-
. scheidet man dann noch zwischen Rechtsordnung und Staatsordnung,

dann könnte das Verhältnis zwischen beiden nur dasjenige einer


einer Total- zu einer Teil

h.
höheren Ordnung,
zu einer niederen

d.
ordnung sein. Denn daß Staatsordnung und Rechtsordnung als zwei
voneinander unabhängige disparate Normsysteme — so wie etwa
Recht und Moral — angesehen werden, darf wohl von vornherein
als ausgeschlossen gelten.
Will man das Recht als Voraussetzung des Staates gegen
die Vorstellung des Rechtes als der vom Staate erzeugten Norm
erweisen, darf man nicht, wie dies so häufig geschieht, auf die
Kirche oder andere Rechtsgemeinschaften verweisen, denen die
Bildung des Rechtes zeitweise überlassen gewesen sei Ist die

2).
Kirche eine Rechtsgemeinschaft, ist diese Organisation eine Rechts
ordnung, dann kann diese Rechtsordnung sich ebensowenig selbst
erzeugen, wie dies die als Staat bezeichnete
Rechtsordnung kann.
Will man Kirche bezeichnete Organisation mit der
aber die als
Kirchenrechtsordnung nicht zusammenfallen lassen, dann müßte, wäre
die Kirche eine gemeinschaft, das Recht ebenso „Voraus
R

h
c
e

t
s

setzung" der Kirche sein, wie es als Voraussetzung des Staates auf
gefaßt wird.
Eine andere Argumentation ist die, daß es Rechtsgemeinschaften
gäbe, die keine Staaten seien, weil ihnen „die feste Beziehung zu
einem bestimmten Territorium" fehle, „die wir als wesentliches Merk
mal dem Begriffe unterlegen"
des Wenn man — wie
Staates
5).

insbesondere auch StAMMLER tut — das Territorium als ein Begriffs


merkmal des Staates ansieht, weil man den Staat als eine Vielheit
von Menschen ansieht, die von einer bestimmten „Gewalt" auf einen
bestimmten räumlichen Gebiet beherrscht wird — etwa wie eine von
Hirten gewaltsam zusammengehaltene Herde — so faßt man den
,

Staat als ein den Raum erfüllendes und sohin körperliches oder
körperlich-seelisches Wesen auf. StAMMLER spricht vom Staate als
von einem „Staatsvolk auf seinem Staatsgebiet unter einer staatlichen
Gewalt"4), und diese aus den drei üblichen „Elementen" zusammen
gesetzte Staatsvorstellung ist nichts anderes als die eines dreidimen
sionalen Gegenstandes. Zumal die „Gewalt" nur der Ausdruck für
eine ursächliche Wirksamkeit ist, die, wenn sie auch zunächst in
0. 0.
S.

So StammLeR,
S.

a. a. 118. a. a. 117.
2)
')

StammLer, a. a. 0.
S.

117.
4) »)

Theorie der Rechtswissenschaft,


S.

191, 397.
§ 25. Der Staat als besondere Rechtsordnung (Stammler). 145

menschlichen Seelen vor sich geht, dennoch nicht der menschlichen


Leiber entbehren kann Angesichts dieses Urastandes muß es un

1).
verständlich bleiben, wie StAMMLER, der das Gebiet als ein wesent
liches Element des Staatsbegriffs bezeichnet, in anderem Zusammen
hang durchaus zutreffend „das räumliche Bestehen der menschlichen
Verbände" verwirft, weil es sich unter den bleibenden Bestimmungen
nicht findet, die den Begriff jener Verbände festlegen StammLer

2).
behauptet hier auch den Staat als eine unräumliche Wesenheit, ob
gleich er an anderer Stelle die nichtstaatliche Rechtsgemeinschaft von
der staatlichen gerade dadurch unterscheidet, daß die letztere
eine „feste Beziehung zu einem bestimmten Territorium" habe.
Der Staat hat zwar keinen räumlichen Bestand, aber — ein be
stimmtes Territorium Ganz ähnlich steht es auch mit dem Element
!

des Staats s. Volk definiert StammLer als die Gesamtheit


k
o
v


der unter einer Rechtsordnung vereinigten Menschen" (so wie Kant

3)
den Staat Eine Gesamtheit von Menschen aber ist ein raum-
!).

füllendes Ding. — Nicht aber die Verbindung oder die Ordnung,


die eine „Vielheit von Menschen", oder richtiger: menschliches Ver
halten in ihrem Inhalt zu einer Einheit zusammenfaßt!
Daß aber der Staat eine Rechts Ordnung sei, das zeigt gerade
die Argumentation StammLers, die das Recht als Voraussetzung
des Staates im Hinblick auf das für den Staat wesentliche Element
des Territoriums nachweisen will. Er sagt, der Begriff des Rechtes
sei „das logische Prius" für den Begriff des Staates und führt dies
so aus: „Man kann die Rechtsordnung definieren, ohne auf die staat
liche Organisation im geringsten Bezug zu nehmen; nicht aber ist
es möglich, von einer Staatsgewalt zu reden, es sei denn, daß man
rechtliche Bindung von Menschen dabei in Gedanken hätte. So wie der
Begriff einer Organisation menschlichen Zusammenlebens überhaupt
nur durch Bezugnahme auf menschlich gesetzte regelnde Normen
gegeben werden kann, so muß dieses durch
bei dem Staate gerade
Hinweis auf rechtliche Sätze geschehen, durch welche der Begriff
einer staatlichen Gemeinschaft allererst konstituiert wird" Was
4).

soll es nun bedeuten, daß man von Staatsgewalt nicht reden könne,
ohne dabei rechtliche Bindung von Menschen in Gedanken zu haben?
Doch wohl nur das, daß Staatsgewalt nichts anderes als rechtliche
Bindung sei Was die Behauptung, daß ein Begriff staatlicher Or
!

ganisation nur durch „Bezugnahme", durch „Hinweis" auf


Rechtsnormen gegeben werden könne? Doch wohl nur dies, daß
staatliche Organisation eine Rechtsordnung sei! Und dies
Vgl. dazu oben 35 ff. Theorie, S. 890.
S.

*) 2)
») ')

Theorie, S. 392. Wirtschaft und Recht,


S.

117.
Kelsen, Staatsbegriff. 10
146 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

sagt StammLer ausdrücklich in seiner „Theorie der Rechtswissen


„Der Staat ist eine besonders geartete
schaft":
Rechtsordnung" Als die Besonderheit dieser Rechtsordnung

1).
kann StammLer nur das Merkmal des Staatsgebiets anführen, das er
freilich hinsichtlich seiner Stellung im Staatsbegriff irerade in diesem
Zusammenhange seltsamerweise als „nur konventional angenommene
Denkweise"2) charakterisiert! Dies könnte nur ein Grund sein, den
Betriff Staates von diesem „nur konventionalen" Elemente zu
des
befreien,worauf er mit dem der Rechtsordnung zusammenfällt. Und
daß dies den eigentlichen Sinn des Staatsbegriffs trifft, das zeigt die
Ueberlegung, daß niemand, der sich des Staats begriffs bedient, bei
einer Analyse dieses Begriffs sich bewußt werden dürfte, daß das
besondere Element, wodurch sich der Staat von andern Rechts
gemeinschaften unterscheidet, in jener eigenartigen und höchst kom
plizierten Geltungsbeschränkung auf ein bestimmtes Terri
torium gelegen sei. Das in allen Staatsvorstellungen dominierende
Charakteristikum einer höchsten Gewalt reduziert sich auf die
Vorstellung einer obersten Rechtsordnung. Zumal, wenn man weiß,
daß jede Rechtsordnung für irgendeinen Raum gilt, daß — um in
der anschaulichen Vorstellung der populären Denkweise zu bleiben —
jede höchste Gewalt auf irgendeinem
Gebiete ein Volk beherrscht
daß also der ganze Unterschied auf die mehr oder weniger präzise
Bestimmtheit der Abgrenzung dieses Gebietes — das nur

ja
ein Geltungsgebiet ist — hinausläuft.
Wenn das Recht als die Voraussetzung des Staates behauptet
wird, so stützt sich solche Annahme nicht so sehr darauf, daß der
Staat als besondere Rechtsordnung den Begriff einer Rechtsordnung
überhaupt voraussetze — ist doch die „Besonderheit" der als Staat
bezeichneten Rechtsordnung recht unsicher — sondern vielmehr
,

darauf, daß der Begriff der Rechtsordnung durch den des Rechtes
bedingt sei. In solcher Weise differenziert StammLer diese beiden
Begriffe. Allein es muß bezweifelt werden, ob mit Erfolg. „Das
Recht tritt überall als eine über dem Einzelnen stehende Ordnung
auf" sagt StAMMLER selbst und identifiziert hier — indem er das
3),

Recht als Ordnung bezeichnet — diese Ordnung, die, zum Unter


schied von anderer Ordnung, eben die Rechtsordnung heißt, mit dem
Recht. Auch in anderem Zusammenhange verwendet er die Ausdrücke
„Recht" und „Rechtsordnung" als Synonyma4); so insbesondere in
„Wirtschaft und Recht" bei der These, daß das Recht die logische

a. a. 0.
S.

S.

397. 396.
»)
») ")

StammLeR, Theorie, S. 101; vgl. auch a. a. 0. S. 110 und 233.


Wirtschaft und Recht, S. 117.
')
§ 25. Der Staat als besondere Rechtsordnung (Stammler). 147

Voraussetzung des Staates sei, die er dadurch beweist, daß er zu


zeigen versucht, man könne „die Rechtsordnung definieren",
ohne auf die staatliche Organisation Bezug zu nehmen, nicht aber
umgekehrt. Allein in anderem Zusammenhange operiert er mit einem
von dem Begriff des Rechtes Rechtsord
verschiedenen Begriff der
nung; er behauptet,
indem daß zum Begriffe des Rechtes „dessen
besondere Erscheinung in abgegrenzten Rechtsordnungen und
Staaten" nicht gehöre Es ist nicht klar ersichtlich, was unter
dieser Begrenztheit der Rechtsordnung zu verstehen ist. Vermutlich
dasselbe, was StammLer in dem dem Begriff der Rechtsordnung be
sonders gewidmeten Abschnitt in dem Satze sagt: „Der Begriff des
Rechtes und der einer einzelnen Rechtsordnung sind zu unter
scheiden"2). Dann entstünde die fragliche Differenzierung
nur da
durch, daß dem allgemeinen Begriff des Rechtes der eines beson
deren, eines nur durch seinen besonderen Inhalt als „einzelnen"
bestimmbaren Rechtes, etwa des preußischen, des spanischen, des
schweizerischen Rechtes, bzw. der so individualisierten Rechtsord
nungen entgegengesetzt würde. Allein dem Begriff „ einer einzelnen
Rechtsordnung" oder dem Begriff der „besonderen Erscheinung des
Rechts" in einer solchen „abgegrenzten" Rechtsordnung muß ein
allgemeiner Begriff einer inhaltlich unbestimmten Rechtsordnung
überhaupt logisch vorausgehen, der mit dem des Rechts, mit dem
Begriff der als Recht bezeichneten Ordnung identisch ist. Und wenn
der Staat eine Rechtsordnung ist, dann muß vor dem Begriff eines
besonderen Staates der allgemeine Begriff des Staates stehen, der mit
dem ebenso allgemeinen Begriff der Rechtsordnung zusammenfällt.
Indes verwendet StammLer den Begriff der Rechtsordnung in
einer Bedeutung, die er nach zwei Richtungen dem Begriff des Rechtes
gegenüber einschränkt. „ Die Rechtsordnung will eben selbst wieder

anderes Recht ordnen. Sie bedeutet daher den Rechtsgrund ....


für anderes Recht." Und dazu tritt, daß die Rechtsordnung nur
„objektives Recht" darstellt, so daß die Definition dieses Begriffes
lautet: „Eine Rechtsordnung ist der Inbegriff von objektivem Rechte,
der in seiner Einheit als Rechtsgrund alles darunterstehenden recht
lichen Wollens gedacht ist"
3).

Daß die Rechtsordnung nur objektives Recht darstellt, ist


selbstverständlich. Daraus kann jedoch kein Argument gegen die
Identität von Staat und Recht geholt werden. Denn es geht nicht
an, das subjektive Recht als einen neben dem objektiven existenten
Bestandteil des Rechts gelten zu lassen; vielmehr ist es als in der

Theorie, 0.
S.

a. a.
S.

239. 484.
») »)

»)

a.a. 0. S. 386, 387.


10*
148 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

Rechtsordnung enthalten vorzustellen. Ist das Recht seinem Wesen


nach Ordnung, dann kann jede besondere Erscheinungsform des
Rechts nur als Teilordnung gedacht werden. Ein „unter" der
Rechtsordnung stehendes einzelnes „Wollen" ist eben — da wie
StammLer sagt : das Recht „überall als eine über dem Einzel
nen stehende Ordnung" auftritt, und in dieser Stellung die Selbst
herrlichkeit als ein Wesens merkmal des Rechtsbegriffs liegt1)
— kein Recht.
Was aber das den Begriff der Rechtsordnung gegenüber dem
des Rechtes zu differenzieren bestimmte Moment betrifft: die Rechts
ordnung wolle anderes Recht ordnen, sie sei der Rechtsgrund
für das letztere, so steht auch dieses im Widerspruch zu den anderen
Ausführungen StammLers. Denn abgesehen davon, daß Recht als
Ordnung nicht selbst wieder geordnet werden kann und die Vor
stellung eines unter der Rechtsordnung stehenden, von dieser ge
ordneten Rechts notwendigerweise dahin aufgelöst werden muß, daß
dieses untergeordnete „Recht" in die eine und einheitliche, alles
Recht umfassende, alles Recht seiende Rechtsordnung ver
richtiger :

legt werden muß, gerät die Charakterisierung der Rechtsordnung als


Rechts g r u n d für darunterstehendes Wollen auch noch in direkten
Widerspruch zu der an anderer Stelle aufgestellten Behauptung
StammLers, daß der Staat — der ja eine Rechtsordnung sein
soll — ein Rechtsinstitut sei2). Denn das Rechtsinstitut
bestimmt StammLer als „die Wiedergabe des in verschiedenen
Rechtssätzen inhaltlich
gleichmäßig auftretenden Rechtsverhält
nisses"3). Läßt man die unklare und ganz überflüssige „Wieder
gabe" weg — könnte der Staat die „Wiedergabe" eines Rechtsver
hältnisses sein? — bleibt als Begriff des Rechtsinstitutes: ein in
verschiedenen Rechtssätzen inhaltlich gleiches Rechtsverhältnis, was
so ziemlich auf dasselbe hinausläuft wie die von StammLer bekämpfte
Begriffsbestimmung WINDSCHElDs: die Gesamtheit der auf ein Rechts
verhältnis sich beziehenden Vorschriften. Jedenfalls ist das Rechts
institut nach StammLer ein — irgendwie qualifiziertes — Rechts
verhältnis. Das Rechtsverhältnis ist aber nach StammLer eine
Art Teil kategorie des Rechts ; in ihm kommt nicht der ganze
Rechtsbegriff zum Ausdruck. Er knüpft vielmehr an eine bestimmte
Eigenschaft des Rechtes an; und zwar, wie StammLer sagt, an die
Eigenschaft des Rechtes als verbindendes Wollen. Allein
gerade im Begriff des Rechtsverhältnisses kommt nicht der Gedanke
zum Ausdruck, daß das Recht ein über dem Einzelnen stehendes,

') Theorie, S. 101. 2) Theorie, S. 335.

») a. a. 0. S. 335.
§ 26. Der Staat als besondere Rechtsordnung (Wundt). 149

die Einzelwollungen verbindendes Wollen ist, dieser Gedanke wird


im Begriffe des Rechtsgrundes erfaßt; sondern im Begriff des
Rechtsverhältnisses kommt der Gedanke der verbundenen
Willensinhalte zum Ausdruck. „ Rechtsverhältnis ist das recht
liche Bestimmtsein mehrerer Willensinhalte als Mittel füreinander"1).
Nun soll also der Staat als Rechtsordnung ein Rechts-
grund und zugleich als Rechtsinstitut gerade das dem Rechtsgrund
gegenübergestellte Rechts verhältnis sein.
So fällt mit dem Versuche, die Begriffe Recht und Rechtsord-
ordnung zu differenzieren, auch diese Möglichkeit, das Recht als
Voraussetzung des eine Rechtsordnung darstellenden Staates
zu behaupten, und es bleibt kein anderes Verhältnis beider Begriffe
als das der Identität.

§ 26.
Der Staat als besondere Rechtsordnung (WUNDt).
Die Anschauung, daß Staat und Recht zwar nicht identisch,
daß aber der Staat eine bestimmt qualifizierte Rechtsordnung sei,
wird neuestens auch von WUNDt vertreten. Dieser Gedanke ist das
Ergebnis der im Rahmen seiner „Völkerpsychologie" durchgeführten
Untersuchungen über „Die Gesellschaft" (Bd. VII und VIII) und „Das
Recht" (Bd. IX). Im Gegensatz zu anderen Soziologen hat WüNDt
das Problem des Staates ausführlich behandelt; ja man kann es
geradezu als das Kernproblem seiner Gesellschaftslehre bezeichnen,
die vom Staate ausgeht und in der Darstellung des Wesens des Staates
mündet. Es ist bedeutsam genug, daß ein durchaus psychologisch
orientierter Soziologe zu einer so ausgesprochen juristischen
Staatstheorie gelangt, daß seine Ergebnisse hier nur im Zusammen
hange mit denen juristischer Theoretiker behandelt werden müssen.
Und dieses Symptom kann durch den Einwand nicht in seiner Be
deutung geschmälert werden, daß ja auch das Recht und die Rechts
ordnung als sozialpsychische Realität aufgefaßt werden können.
Denn VVundts Staats- und Rechtslehre ist im Wesen die leider nicht
sehr kritische Wiedergabe gewisser, zum Teil sogar schon überholter,
spezifisch juristischer Theorien.
In seiner Gesellschaftslehre sagt WUNDt zwar, „daß Staat
nicht bloß eine »Idee«, sei es im platonischen, sei es im modernen
empirischen Sinne, sondern ein reales Gebilde
ist, das konkrete
Menschen als seine Träger umfaßt"
Der Staat ist ein „Gesamt
2).

wille" und als solcher „weder jemals mit einem durch Unterwerfung
a. a. 0.
S.

204/5.
')

Die Gesellschaft,
S.

Bd., 66.
»)

I.
150 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

der Staatsgenossen zur Herrschaft gelangten Einzel willen identisch,


-wie noch ist er die bloße Summe der Einzel
HOBBES voraussetzte,
willen der zur politischen Gesellschaft vereinigten Staatsgenossen,
wie ROUSSEAU verlangte, sondern er ist eine psychische Resul
tante ganz im selben Sinne, in welchem überall im geistigen Leben
die zusammengesetzten Gebilde nicht Additionen ihrer einzelnen Ele
mente, sondern Resultanten der als seelische Kräfte mit
einander in Wechselwirkung tretenden Faktoren
sind"1). Allein in seiner R e c h t s theorie treten an Stelle dieser
psychologischen juristische Kategorien auf. „Der Gesamt wille" ist
hier „in erster Linie eine Willens o r g a n i s a t i o n , die als ihre
Träger oder, bildlich gesprochen, ihre Organe mannigfach abgestufte
Gruppen individueller Willen und beschränkter Kollektivwillen in sich
schließt" Wenn die Rechtsordnung als ein einheitlicher Wille
2).

aufgefaßt wird, so liegt dieser „Begriff eines einheitlichen Rechts-


willens" in der Forderung der Widerspruchslosigkeit der verschie

denen Bestandteile einer gegebenen Rechtsordnung" enthalten

3).
Bei solcher Auffassung des „Gesamtwillens" ist es nur selbstver
ständlich, daß der Staat als Willensorganisation, Organisation des
Rechtswillens, die Rechtsordnung sein muß. Wenn WUNDt dennoch
Staat und Recht nicht für identisch erklärt und Staats- und Rechts
ordnung als zwei verschiedene Wesenheiten betrachtet, so ist dies
nur darauf zurückzuführen, daß er im Banne der herrschenden juri
stischen Anschauungen und speziell der herrschenden Rechtstermino
logie befangen bleibt.
WUNDt beginnt seine Rechtslehre charakteristischerweise mit
einer Wesensbestimmung des Staates. Dabei geht er von zwei,
von allen Teilen der Gesellschaft nur dem Staate zustehenden Eigen
schaften aus: der Autonomie und der Autarkie. Unter „Auto
nomie" des Staates versteht WUNDt dasselbe, was man als Sou
veränität zu bezeichnen pflegt: die Eigenschaft, „vermöge deren er
in seinem Bestand von keiner äußeren Willensmacht abhängig ist"
4).

„Autark" ist der Staat, weil ihm „die genügenden Mittel zur Aus
führung seiner Entschlüsse aus eigener Kraft zu Gebote stehen"6).
„Eine weitere Eigenschaft", „die erst der Staat gegenüber den ihm
vorangegangenen Gemeinschaftsformen in deutlich ausgeprägter Weise
darbietet und die zumindest erst innerhalb des Staates zu
ihrer vollen Ausbildung gelangt", ist: „der einheitliche
Charakter, der das Handeln der Einzelnen wie der unter-

a. a. 0. II. Bd., S. 333.


«) •) ')

Das Recht, 0.
S. S.
6. S.

327. a. a. 333/34.
») »)

0. a. a. 0.
S.

a. a.
6.
§ 26. Der Staat als besondere Rechtsordnung (Wundt). 151

geordneten Verbände
regelnden Rechtsordnungen". Die
Rechtsordnung erscheint hier als ein Attribut oder als Funktion des
souveränen und hinreichend mächtigen Staates, innerhalb dessen
sie zur Ausbildung kommt. Jedenfalls sind Staat und Rechtsordnung
noch als zwei verschiedene Wesen anzusehen, denn sonst hätte WUNDt
ja gleich von Anfang an Autonomie und Autarkie statt der Staats
ordnung der Rechtsordnung zusprechen können. Später tut er dies ja.
Einstweilen aber sagt er: „Demnach ist es nicht das Recht an
sich, welches den Staat kennzeichnet, sondern eben jene Verbin
dung der in der Gemeinschaft geltenden also die all Rechte,
gemeine Rechtsordnung, die erst mit dem Staat in
die Geschichte eintritt"1). Staat und Rechtsordnung stehen
also nebeneinander, sind miteinander irgendwie verbunden. Daß
WUNDt zwischen Rechten und der Rechtsordnung unter
einzelnen
scheidet, das geht darauf zurück, daß er eine als naturrechtlich heute
beinahe schon allgemein fallengelassene Anschauung älterer Juristen
noch als selbstverständlich voraussetzt. Daß es nicht erst subjektive
Einzelrechte gibt, und daß sich nicht erst später aus der zusammen
fassenden Regelung dieser subjektiven Rechte die allgemeine Rechts
ordnung bildet, daß vielmehr ein subjektives Recht nur aus der
Rechtsordnung stammen, nur durch eine Rechtsordnung statuiert, ein
geräumt werden kann, darf heute wohl als communis opinio angesehen
werden. Das ist nur eine, wenn auch verhältnismäßig spät eingesehene
Konsequenz des Positivismus. Mit der Vorstellung eines subjektiven,
von der positiven Rechtsordnung, dem objektiven Recht, unabhängig
existenten Rechtes bringt das Individuum nur eine andere
Rechtsordnung, eine aus der Natur der Sache oder der Vernunft
abgeleitete oder sonstwie angeborene Rechtsnorm an das positive Recht
heran. Läßt man diese Vorstellung fallen, dann ist das sog. subjektive
Recht — so wie es heute bestimmt wird — das durch das objektive
Recht, die Rechtsordnung, geschützte Interesse, die von der objektiven
Rechtsordnung eingeräumte Willensmacht, jedenfalls etwas, was vor
der Rechtsordnung, ohne das objektive Recht kein subjektives
Recht wäre. Indes haften auch dieser Fassung des subjektiven
Rechts noch naturrechtliche Elemente an, auch das subjektive Recht
kann, wenn es Recht sein soll, wie das '„objektive" nur Norm
sein. Es geht nicht an, das „Recht" einmal als schützende Norm,
das andere Mal als geschütztes Substrat, einmal als Ordnung, das
andere Mal als Geordnetes gelten zu lassen. Zudem ist die „Objek
tivität" so sehr ein Wesensmerkmal des Rechtes, daß ein „subjek-

') a. a. 0. S. 10.
152 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

tives" Recht, Aufhebung der objektiven Rechts


wenn damit die
geltung gemeint ein Widerspruch in sich selbst wäre.
wäre, Das
sog. „ subjektive" Recht kann daher im System der reinen Rechts
lehre, wenn überhaupt, nur als die individuelle Rechtsnorm
gegenüber der als „objektives" Recht bezeichneten generellen
oder allgemeinen Rechtsnorm sein. Dem sei indes wie ihm
wolle; ein subjektives Recht, ein Einzelrecht vor — sei es logisch
oder zeitlich — einer Rechtsordnung ist eine unvollziehbare Vor
stellung. Sie gerade liegt der WüNDtschen Theorie zugrunde.
„Einzelne Rechte können nicht nur, sie müssen notwendig schon
zuvor vorhanden sein, da jede Ordnung ein zu Ordnendes als ge
"
gebenes Material voraussetzt. Das zu ordnende Material sind aber
nicht „Rechte", sondern menschliche Handlungen. WUNDt glaubt,
daß „die Rechtsordnung aus der allmählichen Verbindung von Einzel
rechten entspringt, wobei dieser Prozeß stetig der Vereinheitlichung
zustrebt". „Der vom Einzelrecht zur einheitlichen Rechtsordnung
reichende Prozeß bildet auf diese Weise eine Entwicklung, bei der
die beiden in jedem Recht enthaltenen Momente, die man als sub
jektives und objektives Recht zu unterscheiden pflegt, eine Kette
wechselnder Beziehungen darstellen" Innerhalb der Staaten also
1).

vollziehtsich die Vereinheitlichung und Verbindung der einzelnen


Rechte zu einer allgemeinen Rechtsordnung. Dazu ist zu sagen, daß
es sich bei dem von WUNDt genannten Prozeß nur um die Ver
bindung und Vereinheitlichung kleiner Rechtskreise, h. Rechts
d.
ordnungen von territorial und personal geringem Geltungsumfang, zu
einer Rechtsordnung, von kleinen Rechtsgemeinschaften zu
weiteren
größeren handeln kann, da Recht und Recbtsgemeinschaf't identische
Begriffe sind, „Recht" nur als Ordnung einer Mehrheit von Menschen,
menschlicher Verhaltungen denkbar ist. Vor ihrer Verbindung und
Vereinheitlichung zu größeren Rechtssystemen sind diese kleineren
Rechtsordnungen aber ebenso „autonom" wie die größeren und ihre
;

„Autarkie" ist ebenso nur relativ vorhanden wie heute selbst beim
größten Staat. Auch ist der Prozeß der Verschmelzung kleiner
Rechtskreise zu größeren noch im vollen Zuge und der Umstand,
daß man eine Rechtsordnung als „Staat" bezeichnet, kein Grund
dafür, sie einer Verbindung mit andern Rechtsordnungen oder „Staa
ten" nicht mehr für fähig oder bedürftig zu halten. Bundesstaat
und Völkerrechtsgemeinschaft sind hinreichende Beispiele.
Weil erst im Staate die Vereinheitlichung der vor dem Staat
existenten „Rechte" erfolge, sei es nicht zutreffend, meint WUNDt,

a. 0.
S.

a. 17.
')
§ 26. Der Staat als besondere Rechtsordnung (Wundt). 153

„wenn der Staat als Schöpfer des Rechts bezeichnet wird, sondern
es beruht die Auffassung sichtlich auf der Verwechslung von Recht

und Rechtsordnung"1). Daß aber diese Unterscheidung un


möglich sei, wurde gezeigt; doch dies kommt hier nicht weiter in
Betracht. WTJNDt fährt nun in der Weise fort, daß er — ganz
unmotiviert — den Staat als Rechtsordnung bezeichnet: „Vielmehr
ist der Staat selbst nicht nur eine Rechtsord
nung, sondern es ist keineswegs ausgeschlossen, daß ihm in den
vorstaatlichen Formen der Gesellschaft bereits partielle Ordnungen
ähnlicher Art vorausgehen." Warum nur „partielle" Ordnungen?
Waren nur Teil Ordnungen, dann muß mit ihnen das Ganze
es
— der Staat — bestanden haben. Das „Merkmal", „in welchem
sich die staatliche von solchen vorausgehenden Ordnungen scheidet",
bestehe darin: „daß sie in dem ausgebildeten Staat eine umfas
sende geworden ist, indem sie alle solche teilweise Ordnungen
als von ihr abhängige Glieder in sich schließt, dagegen keine ihr
übergeordnete zuläßt. Damit ist eben erst jene Autonomie und
Autarkie des Staates gegeben, die sein Wesen ausmacht"2). Der offen
bare Fehler der Argumentation, die im wesentlichen der herrschenden
Staatslehre folgt, liegt in dem Versuch, den Staat — den souve
ränen Staat — als Absolutum zu setzen. Als ob die ihm voran
gehenden Ordnungen vor ihrer Vereinigung zu allgemeineren nicht
ebenso relativ autonom wären, wie auch der heutige Staat nur relativ
autonom ist. Für Wundtallerdings tatsächlich — ganz im
scheint
Sinne der heutigen Souveränitätstheorie — der Staat, d. h. die heutigen
konkreten Einzelstaaten, die absolut höchste und letzte Stufe des
Prozesses der Rechtsvereinheitlichung „Allgemein muß darzustellen.
aber die Frage nach dem Verhalten von Recht und Staat dahin
beantwortet werden, daß sie sich miteinander entwickeln, und daß
der Staat nur insofern die Rechtsentwicklung abschließt, also
das spätere darstellt, als er die gesamte Entstehung der
Rechtsordnung im Laufe seiner eigenen Entwicklung zu Ende
f ü h rt" Konsequent lehnt WUNDt jede über die souveränen Einzel-
sfcaaten hinausgehende Entwicklung zu einer höheren Rechtsgemein
schaft ab: „Ein Universalstaat dagegen, mag er in der Form des
Einzelstaates oder des Staatenbundes gedacht werden, ist kein wirk
licher Staat, sondern ein Phantasiegebilde, dessen glücklichste Eigen
schaft darin besteht, daß er unmöglich ist"4). Dabei bezeichnet er
5),

den Staat selbst nur als „eine Rechtsordnung ausgebildetster Form"


obgleich er allerdings vorher die Rechtsordnung „innerhalb" des
0. 0. 0. S.
S.

a. a.
S.

11. a. a. 11. a. a. 13.


5) 3)
*) ')

!)

Die Gesellschaft. II. Bd., Das Recht,


S.

335.
S.

12.
154 IDT. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

Staates zur Entwicklung kommen ließ. „Autonomie" sagt er erst


vom Staate aus, dann aber auch von der Rechtsordnung, die „keine
ihr übergeordnete zuläßt" Damit sei die Autonomie des Staates

ja
1).
gegeben! Dannwieder, die vereinheitlichte Rechts
aber heißt es

ordnung Vorbedingung der Autonomie und Autarkie des


sei die


Staates"2). „Aber auch auf die Entstehung einer einheitlichen und
autonomen Rechtsordnung" sei der Staat nicht zurückzuführen,
es sei denn, daß man diese Entstehung als „Entwicklung" begreift
und die Beziehung des Staatsganzen zu den in ihm enthaltenen relativ
autonomen Gesellschaftseinheiten nicht ignoriert. Immerhin scheint
es doch, daß der Staat als nichts anderes denn als eine höchste,
den Abschluß des Vereinheitlichungsprozesses darstellende, also auto
nome Rechtsordnung ausgebildetster Form anzusehen sei.
Allein in einem „Der Staat und die Rechtsordnung" überschrie-
benen Kapitel führt WUNDt folgendes aus „In einer langen, den

3):
größten Teil der politischen Geschichte einnehmenden und in dem
allgemeinen Bewußtsein wahrscheinlich nie ganz zur Vollendung
gelangenden Entwicklung schiebt sich der Einheit der Rechtsordnung
die Einheit einer Einzelpersönlichkeit unter, die als deren Träger
gedacht wird." Man sollte meinen, daß mit dieser anthropomorphen
Personifikation mit ihrem „Träger" der Staat
der Rechtsordnung,
gemeint sei. ist nicht der Fall. „Hierdurch tritt aber
Allein dies
diese Substitution eines Einzelwillens an Stelle einer der Rechtsord
nung selbst innewohnenden Willensmacht in enge Verbindung mit
einer anderen, analogen Substitution, an die sie ohnehin durch
das ihr Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft
entsprechende
geknüpft ist. Sie besteht darin, daß der Rechtsordnung der Staat
substituiert wird. Zwar trennt auch ihn noch ein weiter Abstand
von dem Individuum. Aber diese Kluft ist ungleich leichter zu
überbrücken, weil sie hier tatsächlich auf einer langen Strecke poli
tischer Entwicklung in der Tendenz zur monarchischen Staatsform
sich ausspricht. Hier empfängt dann diese Uebertragung eine reale
Grundlage in jener Autonomie und Autarkie des Staates, die über
seine Macht, Träger der in ihm bestehenden Rechtsordnung
zu sein, wesentlich hinausreicht, indem er nicht nur diese Macht,
namentlich in seinem Verkehr
mit anderen Staaten in besonderen
zu einzelnen Zwecken entstandenen Vereinbarungen oder selbständig
getroffenen Maßregeln betätigt, sondern indem er außerdem seine
eigene Rechtsordnung verändern kann." Von allen anderen Unklar
heiten abgesehen, bedenke man nur dieses der Staat, der eben früher
:

0. S. 11. 0.
S.

a. a. a. a. 12.
»)
») ')

a. a. 0.
S.

20.
§ 26. Der Staat als besondere Rechtsordnung (Wundt). 1 55

als eine Rechtsordnung bezeichnet wurde, wird nunmehr als „Träger"


einer „in ihm" bestehenden Rechtsordnung behauptet; die Eigen
schaft, „Träger" der Rechtsordnung zu sein, wird seltsamerweise als
„Macht" bezeichnet. Der Staat hat aber plötzlich eine noch weiter
gehende Macht; diese soll in der Autonomie und Autarkie bestehen,
Eigenschaften, die früher auch von der Rechtsordnung selbst aus
gesagt und dahin bestimmt wurden, keine höhere Rechtsordnung
über sieh zuzulassen. Diese „Macht" betätigt der Staat — der eine
Rechtsordnung ist! — nicht nur durch Abschluß von Verträgen
und selbständig getroffene Maßregeln, sondern insbesondere dadurch,
daß er — die .Rechtsordnung — seine eigene Rechtsordnung

(!)
verändern kann. Man erwartet, daß WlJNBt all dies als Konse
quenzen einer unzulässigen Hypostasierung der Rechtsordnung ab
lehnt; leider vergebens. „Darin kommt zur Geltung, daß die Rechts
ordnung zwar ein notwendiges Attribut des Staates" — den WUNDt
einige Seiten vorher als eine »Rechtsordnung ausgebildetster Form«
bezeichnet hat! — „aber keineswegs mit diesem identisch ist."
,

Vordem wurde nur die Identifikation des Staates mit dem Rechte,
nicht aber mit der vom Recht angeblich verschiedenen Rechtsordnung
abgelehnt! „Als solche ermangelt sie selbst eben jener Autonomie
und Autarkie, die den Charakter der Gesamtpersönlichkeit nur dem
Staate und teilweise nur solchen Unterverbänden innerhalb des Staates
verleihen, die eine durch die staatliche Rechtsordnung gleichzeitig
geschützte und beschränkte Autonomie besitzen" Die Autonomie,
1).

die eben früher der Rechtsordnung zuerkannt wurde, wird ihr also
jetzt wieder aberkannt und nur dem Staate zugesprochen; freilich
aber sofort wieder zurückerkannt: „Hiermit beantwortet sich nun
schließlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Staat und Recht.
Da der Staat eine oberste, auf den höheren Stufen der politischen
Entwicklung allen anderen übergeordnete Rechts
ordnung ist" — also der Staat wieder eine autonome Rechtsord
nung! — „so kann er unmöglich das Recht ursprünglich geschaffen
,

haben, sondern er setzt Einzelrechte und die Möglichkeit beschränk


terer, vor ihm vorhandener teilweiser Rechtsordnungen voraus. In
Tat ist nicht das Dasein einer Rechtsordnung überhaupt,
ja

der es
die Staat kennzeichnet, sondern dessen wesentliche Merkmale
den
bestehen in jener Autonomie des staatlichen Willens,
die ihm erst den Charakter einer Gesamtpersönlichkeit verleiht".
Hier sei daran erinnert, daß vor kurzem behauptet wurde, in der
Eigenschaft der Rechtsordnung, keine übergeordnete zuzulassen, sei

a. a. 0. S. 20.
')
156 HI. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

ja die Autonomie und Autarkie des Staates gegeben! — „Durch


diese erscheint speziell die staatliche Rechtsordnung als die
Schöpfung dieses einheitlichen Willens." Also der
Staat doch Schöpfer der Rechtsordnung, nachdem die Vor
stellung des Staates als Schöpfer des Rechts abgelehnt und ge
legentlich behauptet wurde, daß Staat und Recht sich beide gleich
zeitig entwickeln, daß Staat und Recht gleichzeitig entstehen: „der
Augenblick, wo das Recht aus der Sitte entspringt, fällt mit dem
zusammen, wo aus den vorangehenden Entwicklungsformen der Staat
entsteht" Wohlgemerkt: „Recht" und Staat entstehen gleich
zeitig, nicht „Rechtsordnung" und Staat; von der „allgemeinen
Rechtsordnung" wird in diesem Zusammenhange gesagt, daß die
Staatsgewalt ihre Trägerin sei und daß „die staatliche Ordnung ein
wesentlicher Bestandteil der allgemeinen Rechtsordnung" sei2).
Schließlich heißt es: „Hiernach ist das Recht nicht als solches,
sondern eben in dieser sich mit ihm verbindenden Vereinheitlichung
als das psychologische Merkmal der juristischen Seite
der Staatsordnung anzusehen, und darin liegt zugleich der entschei
dende Unterschied der Staatsverfassung von der Stammesverfassung"

3).
Daß das Recht die „juristische Seite" des Staates sei, ist die bekannte
These der Zweiseitentheorie, die WUNDt hier gleichfalls akzeptiert
zu haben scheint. Während aber diese Theorie das psychologisch
reale Merkmal des Staates seine andere „Seite" sein läßt, wird bei
WllNDt das Recht zu einem „psychologischen" Merkmal der juri
stischen Seite des Staates! Damit ist wohl der Gipfelpunkt der
Verwirrung erreicht.

27.
§

DerStaat als Rechtsordnung in den Kategorien


der „verstehenden Soziologie" (Max Weber).
Auch die bedeutendste soziologische Leistung, die seit SIMMELs
„Soziologie" erschienen ist, MAX Webers geistvolle Untersuchungen
über „Wirtschaft und Gesellschaft"4), bestätigt, daß alle Bemühungen,
das Wesen des Staates auf außerjuristischem, speziell soziologischem
Wege zu bestimmen, immer wieder auf eine mehr oder weniger ver
steckte Identifikation des gesuchten Begriffes mit dem Begriff der
Rechtsordnung hinauslaufen. Bei MAX Weber ist dieses — un
beabsichtigte — Ergebnis durch die Eigenart seiner soziologischen

Die Gesellschaft, S. 67.


I,
*) ») ')

a. 0.
S.

a. 67. Das Recht, S. 21.


3)

Grundriß der Sozialökonomik, III. Abt. Teil: Die Wirtschaft und


1.

die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Tübingen, 1921.


§ 27. Der Staat als Rechtsordnung (Max Weber). 157

Methode eigentlich schon von allem Anfang an vorherbestimmt, ob


gleich der Gegensatz seiner „verstehenden Soziologie " zur
juristischen Erkenntnis immer wieder mit Nachdruck betont wird.
Soziologie soll — nach Auffassung WEBERs —
der spezifischen
soziales, d. h. seinem Sinne nach auf das Verhalten anderer bezogenes
Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen
Wirkungen ursächlich erklären Indem nun diese Betrachtung auf
den immanenten Sinn menschlichen Verhaltens gerichtet ist,
dieses Verhalten durch Ermittlung seines Sinnes deuten will, muß
sie sich notwendig auf andere — von dem eigenen als
„Soziologie" bezeichneten Standpunkt aus verschiedene — E r-
kenntnissysteme beziehen. Denn wenn die Menschen mit
ihrem Handeln einen Sinn verbinden, wenn ihr Handeln rational ist,
so muß sein Inhalt mit dem Inhalt bestimmter Gedanken korrespon
dieren, die ihren Platz in bestimmten, voneinander verschiedenen
Gedankensystemen haben. Der Physiker, der ein Experiment macht,
der Händler, der eine Ware verkauft, sie lassen ihr Handeln von
einem bestimmten Wissen oder Denken leiten, dessen Zusammenhang
nachdenken, reproduzieren muß, wer ihr Handeln „deutend ver
stehen" will. Das eine Mal sind es physikalische Gesetze, das andere
Mal Rechtsnormen, auf die sich die „Deutung" beziehen muß, ja
durch die allein die „Deutung" erfolgen kann. Ob es ein vom Stand
punkt solchen „deutenden Verstehens" immanentes, somit wesent
liches (wesensgemäßes) Kriterium ist, das zur Abgrenzung gerade
der verstehenden „Soziologie" führt: die Bezogenheit einer Handlung
gerade auf die Handlung eines anderen Menschen und nicht etwa
auf das Verhalten eines beliebigen Objekts, kann hier dahingestellt
bleiben. Es genügt, festzustellen, daß „deutendes Verstehen" keines
wegs ein Spezifikum der von Weber postulierten „Soziologie" ist,
und daß diese „Soziologie", weil sie ihr Deutungsprinzip, richtiger
ihre Deutungsprinzipe aus anderen Gebieten holen muß, einen durch
aus unselbständigen Charakter hat.
Der „Sinn" einer Handlung, in dessen Ermittlung die Deutung
der „verstehenden" Soziologie besteht, ist entweder der vom Han
delnden tatsächlich gemeinte Sinn oder der „in einem begrifflich
konstruierten reinen Typus von dem oder den als Typus gedachten
Handelnden subjektiv gemeinte Sinn" Im letzteren Falle kon
2).

struiert die Soziologie einen Idealtypus streng zweckrationalen


Handelns, sozusagen als Deutungsschema. Alles zweckwidrige, irra
tionale Verhalten der Menschen wird dann als „Abweichung

0. S. 0.
S.

a. a.
1.

1.

a. a.
')

!)
158 HL Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

von dem bei rein rationalem Verhalten Verlaufe"


zu gewärtigenden
verstanden. Genau genommen: „verstehen" kann man menschliches
Verhalten nur, soweit es irgendeinen Verstand, d. h. Zweck hat,
sofern es irgendeinem Zwecksystem entspricht. Die „Abweichung"
von dem einen System kann Entsprechung einem anderen Zweck
system gegenüber „Verstehen" kann man also eigentlich nur
bedeuten.
ein Zwecksystem, einen logischen Zusammenhang. Dies muß Weber
gegenüber nur darum bemerkt werden, weil der „Staat" im Sinne
der „verstehenden Soziologie" offenbar ein „Idealtypus", eine begriff
liche Konstruktion streng zweckrationalen Handelns, d. h. ein ge
dachtes Zwecksystem ist, das man als Deutungsschema menschlichen
Handelns benützt. „Verstehen", und zwar als „Staat" verstehen
kann man menschliches Verhalten nur insoweit, als es diesem „kon
struierten", gedachten System entspricht. Man geht mit diesem
System als mit einem Deutungsschema an das tatsächliche Verhalten
der Menschen heran, als ob die Menschen imallgemeinen nur
zweckrational und den spezifischen Zwecken des hier als Deutungs
schema fungierenden Systems im besondern entsprechend handeln
würden. Sofern dies nicht der Fall, erklärt man
„Abweichung". es als
Die „verstehende Soziologie" ist, wie Weber immer wieder betont,
auf das reale Verhalten der Menschen gerichtet. Aber „verstehen"
kann man dieses Verhalten — zumindest dort, wo mit dem Idealtypus
gearbeitet wird — nur, soweit es inhaltlich dem idealen, ge
dachten Zwecksystem entspricht. Schließlich läuft alles auf die Ein
sicht in dieses Zwecksystem hinaus; und speziell beim Problem des
Staates kommt es einzig und allein darauf an, festzustellen, welches
eigentlich das als Deutungsschema, als Idealtypus fungierende Zweck
system ist. Dies scheint trotz Webers nachdrücklichem Hinweis
auf die Tatsächlichkeitals Gegenstand der Soziologie der Kernpunkt
zu sein. Von den sozialen „Gebilden" im allgemeinen und dem Staat
im besonderen sagt Weber, sie seien für die verstehende Deutung
des Haudelns durch die Soziologie lediglich „Abläufe und Zusammen
hänge spezifischen Handelns einzelner Menschen, da diese
allein für verständliche Träger von sinnhaft orientiertem Han
uns
deln sind"1). Das „Spezifische" dieses Handelns liegt offenbar in
dem Sinn, der mit diesem Handeln tatsächlich verbunden wird oder
— mit Hilfe der Konstruktion eines Idealtypus rationalen Handelns
— verbunden werden kann. Welches ist aber der Sinn, an dem die
Handlungen orientiert sind, deren Ablauf eben wegen dieses Sinnes
„Staat" heißt? WEBER nennt ein „seinem Sinngehalt nach aufein-

') a. a. 0. S. 6.
§ 27. Der Staat als Rechtsordnung (Max Weber). 159

ander eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer"


soziale „Beziehung" 1) und sagt speziell in bezug auf den Staat:

„Die soziale Beziehung besteht, auch wenn es sich um sogenannte


»soziale Gebilde« wie Staat, Kirche, Genossenschaft, Ehe usw. han
delt, ausschließlich und lediglich in der Chance, daß ein seinem
Sinngehalt nach in angebbarer Art aufeinander eingestelltes Handeln
stattfand, stattfindet oder stattfinden wird. Dies ist immer festzu
halten, um eine »substantielle« Auffassung dieser Begriffe zu ver
meiden" Das Wesen des „Staates" — zum Unterschied von der
2).

„Kirche" oder „Ehe" — liegt offenbar in dem spezifischen Sinngehalt


gewisser Handlungen, nicht in den körperlich-mechanischen, ohne
Bezug auf ihren „Sinn" nur Muskelkontraktionen darstellenden Hand
lungen selbst. Der Staat ist der spezifische Sinn gewisser Hand
lungen, nicht irgendeine Handlung oder auch nur ein Komplex von
tatsächlichen Handlungen. Gewiß ist es von Bedeutung und Wichtig
keit, die Chance oder Wahrscheinlichkeit festzustellen, mit der Hand
lungen eines gewissen Sinnes tatsächlich erfolgen. Aber die
Chancen der Tatsächlichkeit
solcher Handlungen sind wohl zu unter
scheiden von dem Sinngehalt dieser Handlungen. Nur durch diesen
Sinngehalt unterscheiden sich die Handlungen für die auf das Wesen
nur auf
ja
der sozialen „Gebilde" gerichtete Betrachtung; diesen
Sinngehalt und nicht auf die äußeren, an sich „sinnlosen" Hand
lungen muß eine Betrachtung gerichtet sein, die das Wesen von
Staat, Kirche, Ehe usw. erfassen will. Es ist darum zumindest eine
irreführende Terminologie, wenn nicht eine unzulässige Begriffsver
schiebung, wenn Weber fortfährt: „Ein »Staat« hört z. B. sozio
logisch zu »existieren« dann auf, .sobald die Chance, daß be
stimmte Arten von sinnhaft orientiertem sozialem Handeln ablaufen,
geschwunden ist." Denn nunmehr hat Weber den Begriff des Staates
von dem „Sinngehalt", der „bestimmten Art sinnhaft
spezifischen
orientierten" Handelns auf die Tatsächlicbkeit des Handelns ver
schoben. Der Staat ist nicht mehr der Sinn eines Handelns, son
dern dieses an sich sinnlose Handeln selbst, bzw. die Wahrschein
lichkeit dieses Handelns. Weber hat
Sprachgebrauch des dem
täglichen Lebens ein verhängnisvolles Begriffsopfer gebracht. Dieser
spricht wohl von einer „Existenz" des Staates ebenso wie von der
Existenz irgendeines sinnlich wahrnehmbaren Dinges oder Vorganges.
Allein als Sinngehalt, als Zwecksystem oder Deutungsschema, als
welches allein der Staat gerade für eine auf den Sinn des Handelns
gerichtete „verstehende" Soziologie in Betracht kommt, „existiert"

a. a. 0. 0.
S.

a. a.
S.

13. 13.
»)
')
160 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

der Staat ebensowenig oder ebensosehr wie der pythagoräische


Lehrsatz: seine „Existenz" ist seine Geltung, und darum ist er
w e s e n s verschieden von der Tatsächlichkeit der Handlungen, deren
Sinn er ist. Diese haben als Vorgänge allerdings jene „Existenz",
von der Weber spricht. Nur daß sich ihre „Existenz" zur Geltung
des „Staat" genannten Sinngehaltes prinzipiell ebenso verhält wie
das Denken, Aussprechen, Zeichnen des pythagoräischen Lehrsatzes
zu diesem als gedachtem Sinngehalt. Und ebensowenig wie die
„Chance", daß die Menschen oder gewisse Menschen dieses mathe
matische Gesetz denken und irgendwie zum Ausdruck bringen, mit
dem Gesetz selbst identisch ist, darf der Staat mit der Chance identi
fiziert werden, daß Handlungen solchen Sinngehaltes erfolgen. Er
kennt man, daß die Rechtsordnung das Zwecksystem oder der Ideal
typus zweckrationalen Handelns ist, der als Deutungsschema ver
wendet werden muß, um jenen Sinn des sozialen Handelns zu
erfassen, der das soziale Gebilde „Staat" ausmacht, daß nur die
Rechtsordnung als der Sinngehalt jener Handlungen angegeben werden
kann, deren wahrscheinlichen Ablauf Weber die soziologische Exi
stenz des Staates nennt, dann bedeutet diese letztere „Chance" nichts
anderes als dasjenige, was hier als Faktizität des Rechts — im
Gegensatz zu seiner Normativität
bezeichnet wurde— Und es
findet sich bei Weber
gleiche Tendenz,
die die auch sonst fest
gestellt werden konnte, den Staat als Verwirklichung des Rechts, als
seine Faktizität oder doch mit besonderer Berücksichtigung dieser
Faktizität zu bestimmen. Zu ihrer Kritik bedarf es keiner weiteren
Ausführungen mehr. Daß aber die Rechtsordnung der Sinngehalt
jener Handlungen ist, deren Ablaufchance bei Weber die sozio
logische Existenz des Staates heißt, daß es die Rechtsordnung ist
an der diese Handlungen orientiert sein müssen, ja daß schließlich
der Staat — als Sinngehalt — mit der Rechtsordnung identisch
oder doch zumindest eine bestimmt qualifizierte Rechtsordnung ist,
das läßt sich aus der Darstellung Webers selbst leicht nachweisen.
Als „Recht" bezeichnet Weber eine bestimmt qualifizierte
Ordnung2). Ordnung aber ist ein bestimmter „Sinngehalt"

') Weber. hebt mit Recht von der .Chance" eines bestimmten Handlungs
ablaufes und insbesondere auch von der soziologisch als .Staat" bezeichneten
Chance hervor, daß sie verschiedene Grnde haben könne, während ein Rechtssatz
entweder bestehe oder nicht bestehe (a. a. 0. S. 13, 14). Allein kann man
wirklich von einem Staate, von jener Ordnung, die den Durchschnittsinn der
meisten Urteile über den Staat bildet, sagen, daß er bald mehr, bald weniger
existiere? Für den Staat, der den Gegenstand der Staatslehre bildet, gilt
durchaus die Alternative, die Weber für die Soziologie ablehnt und für die
Geltung der Rechtsnormen feststellt. 2) a. a. 0. S. 16 ff.
§ 27. Der Staat als Rechtsordnung (Max Weber). 161

sozialer Beziehungen. Und dieser Sinngehalt kann — wenn man


all das berücksichtigt, was WEBER von ihm aussagt — kaum anders
und deutlicher charakterisiertwerden als durch den Begriff des
Sollens, der Sollregel oder Norm. „Gelten" einer Ordnung,
betont WEBER, soll „mehr bedeuten als eine bloße durch Sitte oder
Interessenlage bedingte Regelmäßigkeit eines Ablaufs sozialen
Handelns". Natürlich, denn „verstehende" Soziologie geht auf
den „Sinn" des Handelns, jenen Sinn, den der Handelnde mit seiner
Handlung verbindet oder doch verbinden muß, wenn diese rational
deutbar sein soll. „Gelten einer Ordnung" liegt nur insofern vor,
als der Handlungsablauf (der Ablauf des an der Ordnung orientierten
Handelns) garantiert ist „durch das »Gelten« der Ordnung als
Gebot, dessen Verletzung nicht nur Nachteil brächte, sondern —
normalerweise — auch von seinem (des Handelnden) »Pflicht
gefühl« wertrational (wenn auch in einem höchst verschiedenen Maße
wirksam) perhorresziert wird". Der durch den steten Bezug auf die
Faktizität des Handlungsablaufes stark verdrängte Grundgedanke ist
wohl der: Der Sinngehalt, den wir geltende Ordnung nennen, ist:
Sollnorm oder Pflicht. Der Handelnde muß mit seiner (sozialen)
Handlung den Sinn verbinden: ich handle so, weil ich so handeln
soll, man muß sich an einer Ordnung als an einem Gebot orien
tieren. Darauf laufen auch die weiteren Ausführungen Webers
hinaus. „Einen Sinngehalt einer sozialen Beziehung wollen wir a)
nur dann eine »Ordnung« nennen, wenn das Handeln an angebbaren
>Maximen<: . . . orientiert wird." (Diese Maximen sind doch
wohl gleichbedeutend mit „Normen" und stellen als solche die „Ord
nung" dar; eingangs des Paragraphen ist davon die Rede, daß Han
deln an der Vorstellung von dem Besteben einer bestimmten
Ordnung
orientiert sein könne und wiederholt wird von einem Handeln ge
sprochen,das an einer Ordnung orientiert ist.) „Wir wollen b) nur
dann von einem Gelten dieser Ordnung sprechen, wenn diese tatsäch
liche Orientierung an jenen Maximen mindestens auch . . . deshalb
erfolgt, weil sie als irgendwie für das Handeln geltend: verbind
lich oder vorbildlichangesehen werden. Tatsächlich findet
die Orientierung des Handelns an einer Ordnung naturgemäß bei den
Beteiligten aus sehr verschiedenen Motiven statt Aber der üm-
1).

Darum ist nicht — wie in der Definition des Begriffs „Soziologie" be


')

hauptet wird — das deutende Verstehen einer Handlung mit ihrer ursächlichen
Erklärung identisch. Indem ich die Rechtsordnung als Deutungsschema ver
wende, kann ich zahlreiche Handlungen — als an der Rechtsordnung orien
tiert, der Rechtsordnung entsprechend — deutend verstehen. Das Deutungs
prinzip ist ein einheitliches, die Motive aber — die Ursachen also — aus
,

Kelsen, Staatabegriff. 11
162 DL Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

stand, daß neben den anderen Motiven die Ordnung mindestens


einem Teil der Handelnden auch als vorbildlich oder ver
bindlich und also als gelten sollend vorschwebt, steigert
naturgemäß die Chance, daß das Handeln an ihr orientiert wird,
und zwar oft in sehr bedeutendem Maße."
nach dem Sinngehalt des Handelns die Frage ist
Soferne
— und das ist nach Webers eigenen Worten beim Begriff der
Ordnung der Fall — , ist eigentlich die Chance des Handlungs
ablaufs nebensächlich. Worauf es ankommt, ist dies: damit der
Sinngehalt eines Verhaltens als „ Ordnung" bezeichnet werden kann,
muß der Handelnde mit seiner Handlung die Vorstellung einer Norm
verbinden, als gesollt setzt.
die diese Handlung Ist Ordnung als
Sinngehalt identisch mit Norm, dann ist die „ Geltung" dieser
Ordnung identisch mit Sollen. In der Vorstellung, die der sich an
der Ordnung orientierende Handelnde mit seiner Handlung verbindet,
ist die „Geltung" der Ordnung ihr Sollen. Davon verschieden die
mehr oder weniger große Chance, daß man sich tatsächlich
an einer Ordnung orientiert. Diese Chance findet ihren Ausdruck
in einer Seinsregel mit mehr oder weniger Ausnahmen; ich nenne
sie — im Gegensatz zur Geltung — Wirkung oder Wirksamkeit
einer Norm. Es ist wiederum eine unzulässige Begriffsverschiebung,
wenn WEBER eben jene Wirksamkeitschance als„ Geltung"
der Ordnung obgleich er diese Ordnung als Sinngehalt
bezeichnet,
und diesen Sinngehalt als Sollnorm charakterisiert.
Auch sonst zeigt
sich der durchaus normative Charakter des Ordnungsbegriffes
der „verstehenden" Soziologie. Von dieser Ordnung wird gesagt,
daß sie aus „Regeln" besteht, noch deutlicher, daß sie „Normen"
enthalte1), daß sie „gesatzt" werde, was nur einen Normativakt,
die Sollsetzung von Normen bedeuten wird immer wieder kann ; es
von „Innehaltung" und „Verletzung" der Ordnung gesprochen, was
sinnlos wäre, wenn „Ordnung" nur der Ausdruck für eine tatsäch
liche Regelmäßigkeit wäre. Vor allem aber wird der spezifische
Sinn der Ordnung wiederholt dahin charakterisiert: daß sie „Gel
tung in Anspruch nehme", „gelten wolle" nur die üb
ja

was
2),

liche — psychologistische — Umschreibung des Sollens ist. Dieser


durchaus normative Begriff der Ordnung ist aber einer der Haupt
bestandteile, einer der Begriffe des Systems der ver
tragenden
stehenden Soziologie, und zwar darum, weil diese gemäß ihrer spe-

denen die Menschen sich ordnungsgemäß verhalten, können sehr verschiedene


ja

sein und bleiben bei dieser Deutungsmethode völlig unbekannt, sind im


Grund genommen gleichgültig.
a. a. 0. S. 26. 0.
S.

a. a. 27, 28.
«)
')
§ 27. Der Staat als Rechtsordnung (Max Weber). 163

zifischenMethode auf den Sinngehalt des Handelns gerichtet


ist, d. ermitteln muß, den die Handelnden mit ihrem
h. den Sinn
Verhalten verbinden,, dieser Sinngehalt aber — sofern es sich um
ein an einer „Ordnung" orientiertes Verhalten handelt — zugegebener
maßen ein „Gebot", eine „Pflicht", ein „Sollen" ist. Ohne den steten
Bezug auf diesen Sinngehalt wäre Soziologie unmöglich, denn alles
Soziale ist in dem Sinngehalt menschlichen Handelns beschlossen,
demgegenüber die Faktizität oder Regelmäßigkeit des Handelns
an sich nur sekundären Charakter hat. In der eigenartigen Dop-
pelheit des Gegenstandes Blickrichtung dürfte das Wesen
und der
der — als Wissenschaft darum so problematischen •— Soziologie,
zumindest der „verstehenden" Soziologie, liegen. Darum ist es keine
bloß terminologische Pedanterie, wenn den folgenden Ausführungen
Webers nicht ganz zugestimmt wird: „Zwischen Geltung und Nicht-
geltung einer bestimmten Ordnung besteht also für die Soziologie
nicht, wie für die Jurisprudenz (nach deren unvermeidlichem Zweck),
absolute Alternative. Sondern es bestehen flüssige Uebergänge zwi
schen beiden Fällen und es können, wie bemerkt, einander wider
sprechende Ordnungen nebeneinander »gelten«, jede — heißt dies
dann — in dem Umfang, als die Chance besteht, daß das Handeln
tatsächlich an ihr orientiert wird" Richtig ist: daß der Aus
1).

schließlichkeit der (normativen) Geltung einer Ordnung die Ver


einbarkeit der Wirksamkeit zweier verschiedener Ordnungen
(genauer: des Vorstellens, Wollens, Handelns nach zwei verschiedenen
Ordnungen) gegenübersteht. Unrichtig aber ist, daß für die ver
stehende Soziologie die Soll geltung der einer Ordnung und somit
normative Ordnungsbegriff überhaupt nicht in Betracht und daß
darin ihr Unterschied gegenüber der Jurisprudenz zum Ausdruck
kommt. Dieser Unterschied, den WEBER bezeichnenderweise nicht
oft genug betonen kann, ist aber mehr als zweifelhaft. Die „ver
Soziologie
stehende" muß, da der von ihr zu ermittelnde Sinn des
Handelns sehr häufig eben das Recht ist, auch
sozialen Juris
prudenz sein oder doch mit den Augen des Juristen sehen, um
überhaupt etwas zu sehen. So vor allem, wenn es gilt,
das Phänomen des Staates zu begreifen.
„Ordnung" ist nach WEBER dann „Recht, wenn sie
Eine
äußerlich garantiert ist durch die Chance (physischen oder psychi
schen) Zwanges, durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder
Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf
Stabes von Menschen Der Unterschied dieser
"

eingestellten
2).

a. a. 0. 0.
S.

S.

17. a. a. 17.
»)

»)

11*
164 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

„soziologischen" Definition des Rechts von der üblichen juristi


schen ist kaum zu bemerken. Die Betonung der Faktizität
(„Chance") fällt um so weniger ins Gewicht, als das gewisse Mini
mum von Faktizität —
wie hier in anderem Zusammenhange gezeigt
wurde — auch vom Standpunkt normativer Betrachtung, nämlich
in den Inhalt der Norm selbst aufgenommen, dem Rechtsbegriff bei
gefügt werden kann. Auffallend ist, daß sich diese soziologische
Rechtsdefinition nicht begnügt, das Recht als Zwangsordnung über
haupt zu bestimmen, sondern daß „für den Begriff >Recht«
die Existenz eines Erzwingungsstabes entscheidend sein"1) soll.
„Eine soziale Beziehung soll nach ....
außen »offen« heißen,
wenn und insoweit Teilnahme an dem an ihrem Sinngehalt
die
orientierten gegenseitigen sozialen Handeln, welche sie konstituiert,
nach ihren geltenden Ordnungen niemand verwehrt wird, der dazu
tatsächlich in der Lage und geneigt ist. Dagegen nach außen „ge
schlossen*, insoweit und in dem Grade, als ihr Sinngehalt oder
ihre geltenden Ordnungen die Teilnahme ausschließen oder be
schränken Bedingungen knüpfen."
oder an Das Recht muß wohl
— obgleich nicht direkt gesagt ist — als eine „geschlossene"
dies
soziale Beziehung angesehen werden. Falls die Geschlossenheit einen
bestimmten Charakter hat, nämlich wenn die Beteiligung an der
sozialen Beziehung „reguliert" ist, nennt WEBEB die Beteiligten
„Rechtsgenossen"
2).

geradezu
„Verband soll eine nach außen regulierend beschränkte oder
geschlossene Beziehung dann heißen, wenn die Innehaltung
soziale
ihrer Ordnung garantiert wird durch das eigens auf deren Durch
führung eingestellte Verhalten bestimmter Menschen: eines Leiters
und eventuell eines Verwaltungsstabes, der gegebenenfalls
normalerweise zugleich Vertretungsgewalt hat" Danach muß das
3).

Recht als ein Verband gelten. Zwar fehlt in der Begriffsdefinition


des Verbandes die ausdrückliche Erwähnung des Wangsmomentes,
Z

bzw. des „Erzwingungsstabes". Aber die folgenden Ausführungen


WEBEBs lassen keinen Zweifel darüber, daß der „Verwaltungsstab"
ein „Erzwingungsstab" ist. „Das Vorhandensein eines »Leiters«:
Familienoberhaupt, Vereinsvorstand, Geschäftsführer, Fürst, Staats
präsident, Kirchenhaupt, dessen Handeln auf Durchführung
der Verbandsordnung eingestellt ist, soll genügen, weil diese
spezifische Art von Handeln ein nicht bloß an der Ordnung orien
tiertes, sondern auf deren Erzwingung abgestelltes Handeln,
soziologisch dem Tatbestand der geschlossenen »sozialen Beziehung«
0. 0.
S. S.

a. a.
S.

a. 18. a. 23.
»)
») ')

a. a. 0. 26.
§ 27. Der Staat als Rechtsordnung (Max Weber). 165

ein praktisch wichtiges neues Merkmal hinzufügt." „Durchführung"


und „Erzwingung" der Ordnung durch einen eigens dazu bestimmten
(soziologisch: darauf eingestellten) „Stab" ist also identisch. Von Be
deutung ist ferner der Begriff des „Verbandshandelns", das ist „das
Handeln des Verwaltungsstabes selbst und außerdem alles planvoll
von ihm geleitete verbandsbezogene Handeln"1). Verbandsbezogenes
Handeln ist „an der Verbandsordnung orientiertes Handeln der sonst
Beteiligten" (außer den den Verwaltungsstab bildenden Menschen).
„Eine Ordnung, welche Verbandshandeln regelt, soll Verwaltungs-
ordnung heißen. Eine Ordnung, welche anderes soziales Handeln
regelt und die durch diese Regelung eröffneten Chancen den Han
delnden garantiert, soll Regulierungsordnung heißen. Insoweit ein
Verband lediglich an Ordnungen der ersteren Art orientiert ist, soll
er Verwaltungsverband, insoweit lediglich an solchen der letzteren,
regulierender Verband heißen"2). Zunächst muß festgestellt werden,
daß das Recht eine Verwaltungsordnung sein muß, denn
es regelt das Handeln des Erzwingungsstabes, der ein Verwaltungs
stab ist, und somit Verbandshandeln. Die Rechtsordnung ist dem
gemäß eine Verwaltungsordnung, der Rechtsverband ein Verwaltungs
verband. Dann aber muß nachdrücklichst betont werden, daß die
von WEBER versuchte Unterscheidung von Verwaltungs- und Regu
lierungsordnung unvollziehbar ist. Anderes soziales Handeln (als
das Handeln des auf Erzwingung der Ordnung eingestellten Stabes
und das vomplanvoll geleitete an der Ordnung orientierte
Stab
Handeln) katin eine Ordnung garantiert nur dadurch regeln, daß
sie Verbandshandeln, Handeln eines E r z w i n g u n g s stabes regelt.
Nur dadurch, daß die Rechtsordnung z. B. das Handeln des Richters
und Exekutionsbeamten regelt, regelt sie das Verhalten des Schuld
ners, Darlehen zurückerstattet. Gerade dieses
der ein empfangenes
Handeln des Schuldners, das dem Gläubiger nur dadurch von der
Rechtsordnung garantiert wird, daß diese das Handeln des Er
zwingungsstabes regelt, scheint aber WEBER im Auge zu haben,
wenn er neben dem Handeln des Verwaltungsstabes und dem ver
bandsbezogenen Handeln von einem „verbandsgeregelten" Handeln
spricht: „Die geltende Ordnung kann auch Normen enthalten, an
denen sich in anderen Dingen das Verhalten der Verbandsbe
teiligten orientieren soll, z. B. im Staatsverband das »privatwirt
schaftliche«, n i c h t der Erzwingung der Geltung der
Verbandsordnung, sondern Einzelinteressen dienende
Handeln: am »bürgerlichen« Recht"3). Allein die Normen des bürger-

0. S. 0.
S.
'')

a. a. 26. a. a. 27/28.
2)

a. a. 0. S. 26.
3)
166 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

liehen Rechts können von den Exekutionsnormen, ihren Erzwingungs


normen, gar nicht losgelöst werden, sie bilden nur in wesentlicher
Verbindung mit ihnen Rechtsnormen, sind ohne sie rechtlich Frag
mente, eben weil das Recht, auch das sog. bürgerliche Recht,
seinem Wesen nach Zwangsordnung ist. Und weil jede
Rechtsnorm als letzte Einheit der Rechtsordnung die Eigenschaften des
ganzen Rechtes oder alle Eigenschaften des Rechtes aufweisen
muß (so wie das kleinste Stückchen Gold alle Eigenschaften dieses
Metalles), muß jede Rechtsnorm das Zwangsmoment enthalten und
dementsprechend muß die Formulierung des Rechtssatzes erfolgen.
Darum ist ja die übliche Trennung zwischen materiellem und for
malem (Prozeß-, Exekutions-) Recht unhaltbar. Diese falsche juri
stische Anschauung ist allerdings der von einer soziologischen Ter
minologie umhüllte Kern der WBBERschen Theorie vom Unterschied
zwischen verbandsbezogenem und verbandsgeregeltem Handeln, zwi
schen Verwaltungsordnung und
Regulierungsordnung, Verwaltungs
verband und Regulierungsverband. Bei dem Versuche, diesen Unter
schied durch konkrete Beispiele zu illustrieren, kommt es allerdings
zu einer argen Begriffsverwirrung. „Ein lediglich regulierender Ver
band wäre etwa ein theoretisch denkbarer reiner »Rechtsstaat«
des absoluten laissez faire." Rechtsstaat ist, herkömmlicher Wort
bedeutung nach, eine Ordnung, die sich darauf beschränkt, das Ver
halten der Gerichte,
also eines Erzwingungs- bzw. Verwaltungs
stabes, also Verbandshandeln zu regeln, müßte demnach nach der
WEBERschen Definition nur Verwaltungs-, kein Regulierungsverband
sein. (Daß sie eben dadurch auch Regulierungsordnung ist, indem
sie indirekt das zwangsvermeidende Verhalten der Genossen reguliert,
ist hier nebensächlich !) Den Ausführungen Webers scheint hier
— unbemerkt — ein anderer als der von ihm (allerdings recht will
kürlich) geschaffene Verwaltungsbegriff, nämlich der in der Juris
prudenz übliche Begriff der Verwaltung sich eingeschlichen zu haben :
Verwaltung im Gegensatz zu Gerichtsbarkeit, der Rechtsstaat im
Gegensatz zum Verwaltungs-, d. h. nicht nur Straf- und Zivilgerichts
barkeit, sondern auch andere Funktionen versehenden Staat. Daß es
sich auch bei diesen Funktionen letztlich um einen nur nicht durch
Gerichte, sondern technisch organisierte Behörden zu übenden
anders
Zwang, um Verwaltungszwang handelt, ist ja selbstverständlich. Die
traditionelle systematische Verwirrung der Jurisprudenz, die dadurch
entsteht, daß sich das formale Moment des Zwangs mit dem mate
riellen des durch die Zwangsandiohung zu erzielenden Erfolges, des
zwangsvermeidenden Verhaltens, kreuzt, und die sich insbesondere
auch in der systematisch unhaltbaren Scheidung zwischen dem sog.
§ 27. Der Staat als Rechtsordnung (Max Weber). 167

öffentlichen und dem sog. privaten Recht ausdrückt, ist bei WEBER
leider einfach ins Soziologische übertragen. „Im allgemeinen . . . .
fällt der Verwaltungs- und Regulierungsordnung mit dem
die Grenze
zusammen, was man im politischen Verband als »öffentliches« und
»Privatrecht« scheidet"1). Die verstehende Soziologie bildet ihre
Begriffe im engsten Anschluß an die Jurisprudenz.
„Betrieb soll ein kontinuierliches Zweckhandeln bestimmter
Art, Betriebsverband eine Vergesellschaftung mit kontinuierlich
zweckhandelnden Verwaltungsstab heißen" Demnach muß das

2).
Recht wohl auch als ein Betriebsverband gelten, da

ja
die
Kontinuität des Verbandshandelns des Erzwingungsstabes bei einer
auf die Chance des Handlungsablaufs eingestellten Betrachtung selbst
verständlich ist.
„Anstalt soll ein Verband heißen, dessen gesatzte Ordnungen
innerhalb eines angebbaren Wirkungsbereiches jedem nach bestimmten
Merkmalen angebbaren Handeln (relativ) erfolgreich oktroyiert werden
kann."„Oktroyiert" heißt: eine „nicht durch persönliche freie Ver
aller Beteiligten zustande gekommene Ordnung"3).
einbarung Die
Rechts Ordnung ist demnach — sofern sie gesatzt ist — eine
Anstalt und mit Beziehung auf die Kontinuität der Tätigkeit des
Erzwingungsstabes: ein Anstaltsbetrieb. (Nebenbei bemerkt, scheint
es recht willkürlich, den Anstaltscharakter von der Enstehungsart

:
Satzung oder Gewohnheit, abhängig zu machen ist nicht gerade die
;

traditionale, nicht
gewohnheitsmäßig gewordene
gesatzte, sondern
Rechtsordnung ihrem Wesen nach „oktroyiert"?)
„Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl be
stimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden"
4).

Da jede Ordnung — ihrem Sinninhalt nach, in der Vorstellung des


sich nach der Ordnung Orientierenden — als Befehl auftritt, müßte,
streng genommen, jede Ordnung Herrschaftsordnung und insbesondere
jeder Verband ein Herrschaftsverband sein. Weber sagt nur Ein
:

Verband ist vermöge der Existenz seines Verwaltungsstabes stets in


irgendeinem Grade Herrschaftsverband" Und demnach muß das
5).

Recht ein Herrschafts verband sein.


In dem Begriff des „politischen Verbandes" im allgemeinen
und dem des Staates im besonderen gipfelt die Begriffspyramide der
verstehenden Soziologie. „Politischer Verband soll ein Herrschafts
verband dann und insoweit heißen, als sein Bestand und die Geltung
seiner Ordnungen innerhalb eines angebbaren geographischen Ge
biets kontinuierlich durch Anwendung und Androhung physischen
a. 0. S. 28. 0. S. 28. a. a. 0.
S.

a. a. a. 27.
»)
')
*) ')

0. a. 0. S. 29.
S.

a. a. 28. a.
»)
168 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

Zwangs seitens des Verwaltungsstabes garantiert werden" Das


Recht ist demnach — zumindest in der Regel — ein politischer
Verband ; denn daß der Erzwingungsstab den Bestand und die Gel
tung der Rechtsordnung nur „innerhalb eines angebbaren geographi
schen Gebiets", also in räumlicherBeschränkung garantiert, das ist
schon wegen beschränkten Wirkungsradius jeder empirischen
des
Machtquelle unvermeidlich. Man vergesse nicht, daß WEBER die
Faktizität im Auge behalten will und daher selbstverständlich eine
unbegrenzte Wirksamkeit ausschließen muß. Im übrigen ist auch
mit dem rein normativen Rechtsbegriff irgendeine räumliche G e 1-
t u n g s beschränkung keineswegs unvereinbar.
„Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn
und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legi
timen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen
in Anspruch nimmt" Und so ist das Recht schließlich identisch
2).

mit dem Staat, zumindest aber der Staat eine Rechtsordnung. Denn
:

„das Monopol legitimen physischen Zwanges" muß auch der für


das Recht charakteristische Erzwingungsstab in Anspruch nehmen.
„Monopol" ist nämlich nur das dem Bereich der Wirtschaft ent
nommene Bild für „Souveränität", die Rechtsordnung aber tritt ihrem
Wesen nach als eine souveräne Ordnung auf, soferne sie eine
höchste, von keiner anderen ableitbaren und darum ausschließ
lich Ordnung ausschließende
h.

Ordnung
andere
d.

geltende, jede
zu sein beansprucht. Daß dieser Monopolcharakter die Eigenschaft
jedes selbständigen Normensystems ist, habe ich in anderem Zu
sammenhange nachgewiesen. Das gleiche gilt von der Eigenschaft
der Legitimität. Ihrem Sinngehalte nach muß jede Ordnung
als „legitime" gelten wollen. Das liegt im Begriffe des Geltens
und zwar im normativen ebenso wie in dem „Wirksamkeit" bedeu
tenden faktischen. Im übrigen identifiziert Weber selbst „Legi
timität" mit „Vorbildlichkeit oder Verbindlichkeit also mit einem
"
3),

dem Begriff jeder Ordnung wesenhaft inhärierenden Moment und


subsumiert das Recht unter die Kategorie von Ordnungen, deren
Legitimität garantiert ist
4).

Weber stellt die Unmöglichkeit fest, einen politischen Verband


durch Angabe des Zwecks seines Verbandshandelns und erweist die
Notwendigkeit, ihn „durch das — unter Umständen zum Selbstzweck
gesteigerte — Mittel zu definieren, welches nicht ihm allein eigen,
aber allerdings spezifisch und für sein Wesen unentbehrlich ist: die
Gewaltsamkeit"5), h. den Zwang. Und fährt dann fort: „Den
d.

0. 0. 0.
S. S.

a. a. 29. a. a. S. 29. a.
S.

a. 16.
»)
ä) -)
<) ')

0. 0.
S.

a. a. 17. a. a. 30.
§ 27. Der Staat als Rechtsordnung (Max Weber). 169

Staats begriff empfiehlt es sich, da er in seiner Vollentwicklung


durchaus modern ist, auch Typus entsprechend —
seinem modernen
aber wiederum unter Abstraktion von den, wie wir ja gerade jetzt
erleben, wandelbaren inhaltlichen Zwecken — zu definieren. Dem
heutigen Staat formal charakteristisch ist: eine Verwaltungs- und
Rechtsordnung, welche durch Satzung abänderbar sind, an der der
Betrieb des Verbandshandelns des (gleichfalls durch Satzung geord
neten) Verwaltungsstabes sich orientiert und welche Geltung bean
sprucht nicht nur für die — im wesentlichen durch Geburt hinein
gelangenden — in weitem Umfang für
Verbandsgenossen, sondern
alles auf dem beherrschten Handeln (also: ge-
Gebiet stattfindende
bietsanstaltsmäßig). Ferner aber: daß es »legitime« Gewaltsamkeit
heute nur noch insoweit gibt, als die staatliche Ordnung sie zuläßt
oder vorschreibt (z. B. dem Hausvater das „Züchtigungsrecht« beläßt,
einenRest einstmaliger eigenlegitimer, bis zur Verfügung über Tod
und Leben des Kindes oder Sklaven gehender Gewaltsamkeit des
Hausherrn). Dieser Monopolcharakter der staatlichen Gewaltherr
schaft ist ein ebenso wesentliches Merkmal ihrer Gegenwartslage wie
ihr rationaler »Anstalts«- und kontinuierlicher » Betriebs «charakter"

1).
Aus der hier durchgeführten kritischen Analyse der relevanten Grund
begriffe der „ verstehenden Soziologie" geht hervor, daß WEBER sich
nicht hätte vorsichtig — die Frage nach dem Verhältnis von Staat
und Recht offen lassend — darauf beschränken müssen, zu sagen:
für den Staat ist eine Verwaltungs- und Rechtsordnung charakteri
stisch; sondern der ganze Aufbau des WEBEEschen Begriffssystems
drängt geradezu zu der Erkenntnis: der Staat ist eine Rechtsordnung.
Damit ist die Staatssoziologie als Rechtslehre enthüllt. Daran kann
der stete Bezug auf die Faktizität, die spezifische Einstellung auf
die Frage nach der Chance eines Ablaufs von Handlungen mit dem
Sinngehalt „Staat" (oder Recht) nichts ändern. Die primäre, wahr
haft grundlegende Bedeutung des normativen Rechtsbegriffs ist
gerade in der Methode der „verstehenden" Soziologie unverlierbar
festgehalten. Denn diese ist auf den Sinngehalt des Handelns
gerichtet, und der stellt sich dort, wo die Untersuchung auf den Staat
zielt, immer wieder nur als der Gedanke des Rechts als
einer Zwangsnorm heraus. In diesen immanenten Sinn muß
sich die verstehende Soziologie versenken, den spezifischen Stand
punkt der Rechtsbetrachtung muß sie sich zu eigen machen, soll sie
die Handlungen deuten können. In diesem immanenten, spezifisch
juristischen Sinne liegt alles beschlossen, was diese Soziologie über

a. a. 0. S. 30.
')
170 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

das Wesen des Staates aussagen ist nicht um ein


kann ; es
Wörtchen mehr als die normative Rechtstheorie
lehrt. Fügt die Soziologie noch die Frage hinzu : unter welchen
Bedingungen und in welchem Maße ein an der „Staat" benannten
Rechtsordnung, also an einer bestimmten Ideologie orientiertes
Handeln wahrscheinlich ist, so begibt sie sich allerdings in eine
von normativer Rechtserkenntnis verschiedene Sphäre. Aber dieses
Problem ist sekundären Charakters, d. h. es ist erst nach Er
mittlung des Sinngehalts stellbar und keinesfalls liegt in seinem
Bereiche die Lösung der Frage nach dem Wesen des sozialen Ge
bildes „Staat".
Wie sehr gerade der juristisch-normative Gesichtspunkt für die
Erkenntnis des Staates entscheidend ist, das zeigen gerade die letzt
zitierten Ausführungen Webers. Der „Monopolcharakter" des Staates,
bzw. der staatlichen Zwangsordnung, d. h. in die Rechtssprache
übersetzt: die Souveränität des Staates ist natürlich nur für den
Bereich normativer Betrachtung gegeben. Daß es einen legitimen
Zwang nur insoweit „gibt", als die staatliche Ordnung ihn zuläßt
oder vorschreibt, das ist geradenur von einem spezifisch juristisch
normativen Standpunkt, d. h. in dem immanenten Sinne des Systems
von Rechtsnormen, richtig. Soziologisch, d. h. bei Betrachtung des
tatsächlichen Verhaltens des Menschen „gibt" es natürlich neben
dem staatlichen Zwang innerhalb des Rechtsbereiches der staatlichen
Zwangsordnung faktisch auch anderen legitimen Zwang, d. h. Zwangs
akte, die die handelnden Menschen tatsächlich an einer anderen als
der staatlichen Rechtsordnung orientieren. WEBER selbst hat ja
diesen Unterschied zwischen seiner soziologischen und der juristischen
Betrachtung hervorgehoben 1) und erkannt, daß die Ausschließlich
keit der Geltung einer Ordnung nur im spezifisch juristischen, d. i.
normativen Sinn gegeben ist, während im Bereich des Tatsächlichen
die Wirksamkeit zweier verschiedener Ordnungsvorstellungen neben
einander möglich ist. (Dabei darf allerdings nicht übersehen werden,
daß ganze Problem einer Ordnungskonkurrenz nur von einem
das
spezifisch normativen Standpunkt aus einen Sinn hat und in der
Sphäre der Seinserkenntnis nur sekundär und eigentlich ganz de
naturiert, weil nicht mehr auf gültige Ordnungen, sondern auf das
Vorstellen von Ordnungen und auf das dadurch motivierte Handeln
bezogen, auftritt.) Indem WEBER den Monopolcharakter als zum
Wesen des Staates gehörig behauptet. faßt er den Staat wesentlich
als eine normative Rechtsordnung.

') Vgl. das oben S. 160 angeführte Zitat.


§ 28. Der Staat als Rechtsverhältnis (Loening).
171

§ 28.
Der Staat als Rechtsverhältnis (LOENING).
Verhältnismäßig sehr nahe einer Identifikation von Staat und
Recht sind jene Theoretiker gekommen, die den Staat als Rechts
verhältnis Als
ihr typischer Repräsentant kann
erklären.
EDGAR LOENING gelten, kurze Darstellung der Allgemeinen
dessen
Staatslehre (unter dem Schlagwort „Staat" im Handwörterbuch der
Staatswissenschaften, Bd. VII) zu dem besten gehört, was die neuere
Literatur aufzuweisen hat. Er sagt, der Begriff des Staates „kann
nur ein Rechtsbegriff sein. Denn was den Staat zum Staat
macht, Rechtsnormen, durch welche die Herrschergewalt und
sind
das Volk im Verhältnis der Ueber- und Unterordnung verbunden sind.
Denken wir uns diese Rechtsnormen weg, so fällt der Begriff des
Staates in sich zusammen" Aus dem System der Rechtsbegriffe
!).

wählt LOENING den des Rechtsverhältnisses und nicht,


wie etwa JELLINEK und LA.BAND die Rechtsperson, zur Charak
terisierung des Staates. Der Staat „ist ein reales Rechtsver
hältnis zwischen dem Herrscher und dem Be
herrschten". Unter den zahlreichen Rechtsverhältnissen, die
die Rechtsordnung statuiert, ist der Staat somit ein spezielles, offen
bar durch seinen besonderen Inhalt charakterisiertes Rechtsverhältnis.
In der Sprache einer reinen Rechtslehre, auf die
ja

LOENINGs Ge
dankengänge unbewußt gerichtet sind, bedeutet dies den Versuch,
den Staat als Teilrechtsordnung, als öinen speziellen Komplex von
Rechtsnormen zu bestimmen. Denn das „Rechtsverhältnis" ist für
eine juristische Betrachtung nichts von den es „begründenden" Rechts
nonnen verschiedenes. Wenn LOENING meint, „ein Rechtsverhältnis
aber ist eine durch Rechtsnormen geordnete Beziehung von Menschen
zu Menschen, zwischen Berechtigten und Verpflichteten" so ver
2),

fällt er in den allgemein begangenen Fehler, zu dem die Sprache


verführt: das Recht als eine von ihrem Inhalt verschiedene Form,
als ein von seinem Prädikat (oder Objekt) verschiedenes Subjekt zu
isolieren. Als ob es auf der einen Seite eine Rechtsnorm gäbe und
auf der andern Seite
einen Gegenstand, der durch die Rechtsnorm
geordnet Das Recht ist aber mit dem „von ihm" geordneten
würde.
Wesen eins, kann ohne dieses Element gar nicht gedacht werden,
das als sein Inhalt notwendig mitgedacht werden muß. Es ist darum
ein Irrtum, neben dem Recht eine von ihm geordnete „Beziehung"
zu unterscheiden. Dieser Irrtum ist verhängnisvoll, denn er führt

0. S. O.
S.

a. a. 694. a. a. 702.
»)
')
172 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

schließlich zu dem Dualismus von Recht und Staat, der ein Spezial
fall dieses Dualismus von Hecht und rechtlich Geordnetem ist. Das
„ Rechtsverhältnis" wird nicht, wie man zu sagen pflegt, durch die
Rechtsnorm „geschaffen", sondern ist die Rechtsnorm. Und wenn
der Staat ein spezielles Rechtsverhältnis sein soll, dann ist er nicht
ein vom Recht geordnetes besonderes Lebensverhältnis, was ja zu
der Annahme führt, der Staat sei ein vom Recht unabhängiges,
„reales Wesen, ein Seinsfaktum, zu dem das Recht — später —
8

ordnend hinzutritt; sondern dann ist er ein Komplex von durch


ihren besonderen Inhalt charakterisierten Rechtsnormen und nicht die
totale Rechtsordnung selbst. Es ist leicht zu zeigen, daß LOENING
ebensowenig imstande ist, die Abgrenzung der Teilrechtsordnung,
die er allein als „Staat" gelten lassen will, durchzuführen, wie daß
er in die Vorstellung des Staates als einer dem Recht gegenüber
stehenden Seinstatsache ausgleitet und sich so in Selbstwidersprüche
verwickelt.
Die Besonderheit jenes Rechtsverhältnisses, als welches sich der
Staat darstellt, besteht nach LOENING darin, daß es ein Gewalt-
verhältnis Die Gewaltverhältnisse stellt er — in üblicher
ist.
Weise — den Vertrags verhältnissen gegenüber, „in denen der Schuldner
nur zu denjenigen Handlungen oder Unterlassungen verpflichtet ist,
zu denen er in freier Willensbestimmung im Vertrage sich
selbst verpflichtet hat. In dem Gewaltverhältnis aber hat der
Gewaltunterworfene nach dem Willen des Gewalthabers
Handlungen vorzunehmen oder zu unterlassen". Diese Unterscheidung
— sie fällt im großen und ganzen mit dem Gegensatz von öffent
lichem und privatem Rechte zusammen — ist aber unhaltbar. Nie
mals — auch im privatrechtlichen Vertrag nicht — verpflichtet sich
jemand selbst. Verpflichten kann nur die Rechtsordnung. Es ist
einer der gefährlichsten Irrtümer, den Grund der Rechtsverpflichtung
in dem Willen des Rechtsunterworfenen zu sehen. Das Wesen des
Rechtes ist seine Objektivität, d. h. seine von dem Willen
der Unterworfenen unabhängige Geltung. Auch wenn die Rechts
norm unter den von ihr aufgestellten Bedingungen des rechtlichen
Sollens eine Willensäußerung des zu Verpflichtenden aufweist, ist die
Rechtsnorm, nicht die Willensäußerung das Verpflichtende. Dies
zeigt sich am deutlichsten darin, daß eine Willens änderung des
Verpflichteten keineswegs eine Aufhebung der Pflicht bewirkt. Gibt
man aber die Vorstellung von dem Willen Verpflichteten als
des

Verpflichtungs g r u n d auf, dann verliert die Einteilung der Ver


pflichtungen in Selbst- und Fremdverpflichtungen jede Bedeutung:
zumal wenn sich zeigt, daß auch in den sog. Gewaltverhältnissen
§ 28. Der Staat als Rechtsverhältnis (Loening). 17S

es nicht der Wille des Gewalthabers, sondern wiederum nur der


„ Wille" der Rechtsnorm ist, der verpflichtet. Sagt doch LOENING
selbst: „Das Gewaltverhältnis ist ein rechtliches, wenn der Gewalt
unterworfene hierzu durch Rechtsnormen verpflichtet ist und der
Gewaltinhaber zur Ausübung der Gewalt berechtigt oder nach Rechts
normen verpflichtet ist." „Unterworfen" ist man eben
sie auszuüben
— der Gewaltunterworfene ebenso wie der Gewalt„inhaber" — den
Rechtsnormen und diese Unterordnung ist das juristischer Betrach
tung allein relevante „Gewalt "verhältnis. Wenn sich auch in dem
von LOENING sogenannten „Gewalt "verhältnis nach LOENINGs eigener
Darstellung nur Verpflichtete und Berechtigte gegenüberstehen, wenn
auch der sog. Gewaltinhaber in diesem Verhältnis nur als Ver
pflichteter, das heißt eben Unterworfener, der Rechtsordnung Unter
worfener, in Betracht kommt, dann sind Gewaltinhaber und Gewalt
unterworfener — sub specie juris — koordiniert ; das relevante
Ueber- und Unterordnungsverhältnis besteht nicht zwischen ihnen,
sondern beiden gemeinsam der Rechtsordnung gegenüber.
Will man — nach dieser Einsicht — tatsächlich
einen Unter
schied zwischen Rechtspflichten machen, deren Inhalt, nicht deren
Geltung durch den Willen des zu Verpflichtenden mitbestimmt wird
und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist, und will man die
letzteren „Gewalt "verhältnisse bezeichnen, so ist ja gegen eine
als
solche Einteilung der Rechtsinhalte nichts einzuwenden. Allein man
muß dann als „Gewaltverhältnisse" gelten lassen, was mit der eigent
lichen Bedeutung nichts zu tun hat, in der dieser Begriff bei LOENING
wie überhaupt in der neueren Theorie auftritt. Alle sog. „dinglichen"
oder „absoluten" Rechte müßten dann als „Gewalt" verhältnisse gelten.
Denn der Inhalt der unzweifelhaften Rechtspflicht, gewisse konkrete
Handlungen in bezug auf einen bestimmten Gegenstand, etwa einem
Hause gegenüber, zu unterlassen, kommt ohne den Willen der hiezu
Verpflichteten zustande. Indem jemand — der Eigentümer — auf
seinem Grundstück ein Haus errichtet, verpflichtet „er" alle anderen
zur Unterlassung gewisser Störungsakte Man wird einwenden, die
1).

Verpflichtung gehe nicht von dem Eigentümer, sondern von dem


Eigentumsrechtssatz aus. Das ist richtig. Nur daß eben die „öffent
lich-rechtliche" Verpflichtung, etwa einem Polizeibefehl zu gehorchen,
ebensowenig oder ebensosehr von dem befehlenden Polizeiorgan, dem

Da — in der üblichen Terminologie gesprochen — der Staat durch


')

die Klage des Gläubigers — und zwar einseitig, nicht vertragsmäßig — ver
pflichtet wird, gegen den säumigen Schuldner Exekution zu führen, bestünde
zwischen Kläger und Staat ein „Gewaltverhältnis", in welchem Gewaltunter
worfener — der Staat wäre!
174 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

„zur Ausübung der Gewalt Berechtigten" ausgeht. Die Willens


äußerung ist ebenso nur die von einer Rechtsnorm gesetzte Be
dingung für eine Pflicht wie die Errichtung eines Hauses oder
irgendein Ereignis, an das die Rechtsordnung Pflichten knüpft. Der
konkrete Inhalt der Rechtspflicht, gerade dieses Haus zu respek
tieren, ist in der gleichen Weise durch die Entstehung dieses indi
viduellen Hauses bestimmt wie der konkrete Inhalt einer Polizei
durch die Satzung des konkreten Befehlsaktes. Nur
verpflichtung
wenn man den Verpflichtungsgrun d in die bloß inhaltsbestimmende
Bedingung verlegt — das ist ja die nur aus politischen Motiven
erklärbare Irrlehre vom Wesen des Staats(verwaltungs)aktes — , ent
steht jene schiefe Einteilung in Gewalts- und Vertragsverhältnisse.
Alle Rechtsverhältnisse sind Gewaltverhältnisse, wenn man nur die
Rechtsgewalt, d. h. die Verbindlichkeit oder Geltung des Rechts im
Auge hat. Oder kein Rechtsverhältnis ist ein Gewaltverhältnis, weil
Recht und Gewalt einander ausschließen, wenn man nämlich eine
andere eine von der Rechtsordnung verschie
als die Rechtsgewalt,
dene, die faktischeGewalt im Auge hat. Die Vorstellung von
dieser faktischen Gewalt ist es auch, die bei LOENING schließlich
doch durchbricht, wenn er von der „Herrschergewalt des Staates",
die er eben als ein Rechtsverhältnis hat, erklärt : sie stehe
behauptet
„hinter" den verschiedenen rechtlichen Gewaltverhältnissen, „um
die Gewaltunterworfenen zum Gehorsam zu zwingen". Dieser Staat
steht aber nicht nur „hinter" den „Gewalt "verhältnissen, er steht
hinter allen Rechtsverhältnissen, denn bei allen Rechtsverhältnissen
ist Gehorsam erforderlich. Daß der Staat nicht mehr als Rechts
verhältnis, sondern als faktische Gewalt auftritt — wie sollte ein
Rechtsverhältnis „hinter" Rechtsverhältnissen stehen, um die Ver
pflichteten zum Gehorsam zu zwingen? — , das geht auch aus an
deren Stellen bei LOENING hervor; z. B. wenn er die Identität des
Staates für nicht aufgehoben erklärt, „wenn die Rechtsnormen, sei
es auf rechtlichem Wege, sei es infolge eines Rechtsbruches
verändert werden", nur die selbständige Herrschergewalt
soferne
über die auf dem Gebiete lebenden Beherrschten fortdauert" Was
nur dann einen Sinn hat, wenn die Herrschergewalt als ein von den
Rechtsnormen verschiedenes und unabhängiges Seinsfaktum voraus
gesetzt wird, was wiederum mit der LOENINGschen Begriffsbestimmung
des Staates in Widerspruch steht. („Denken wir uns die Rechts
normen weg, so fällt der Begriff des Staates in sich zusammen,
ebenso wie ein konkreter Staat aufhört zu existieren, sobald Herr-

') a. a. O. S. 709.
§ 28. Der Staat als Rechtsverhältnis (Loening). 175

scher und Volk nicht mehr durch geltende Rechtsnormen zusammen


gehalten werden") Denn wie das Rechtsverhältnis dasselbe bleiben
kann, wenn die Rechtsordnung durch Bruch geändert, d. h. wenn
an Stelle der einen Rechtsordnung diskontinuierlich eine andere tritt,
muß rätselhaft bleiben.
Als Rechtsverhältnis aber muß sich der LOENINGsche Staats
begriff aus dem Begriff eines speziellen Rechtsverhältnisses zum Be
griff des Rechtsverhältnisses überhaupt, d. h. zum Begriff der Rechts
ordnung, ausweiten. Ist schon dadurch eine durchgängige Beziehung
des Staates zu allen
Rechtsverhältnissen behauptet, daß der Staat
als eine „hinter" den Gewaltverhältnissen und sohin konsequenter
weise hinter allen Rechtsverhältnissen stehende, den Rechtsgehorsam
garantierende Macht vorgestellt wird, so wandelt sich der Staat ganz
ausdrücklich zur Rechtsordnung, wenn LOENING fortfährt: „Alle diese
Gewaltverhältnisse — gemeint sind alle Gewaltverhältnisse mit Aus
"

nahme des Staates — „sind nur insoweit Rechtsverhältnisse, als sie


vom Staate anerkannt sind und geschützt werden ". So
wie die Gewaltverhältnisse, so müssen
konsequenterweise auch alle
anderen Rechtsverhältnisse als wirtschaftliche, religiöse oder sonstige
Lebensverhältnisse angesehen werden, die dadurch zu Rechts ver
hältnissen werden, daß sie der Staat anerkennt und schützt. Man
darf hier LOENING nicht mehr einwenden : Und wie wird der Staat,
der ja ursprünglich
als ein spezielles Gewaltverhältnis bezeichnet
wurde, zum Rechtsverhältnis? Auch dadurch, daß der Staat dieses
Verhältnis anerkennt und schützt? Denn inzwischen ist der „ Staat"
zur Rechtsordnung geworden, die alle besonderen „Verhältnisse" in
ihren Inhalt aufnimmt und so zu Rechtsverhältnissen macht!
Da LOENING den Staat als ein besonderes Rechtsverhältnis,
nämlich als ein Gewaltverhältnis und zwar wiederum nur als ein spe
zielles Gewaltverhältnis bestimmt, indem er auch andere Gewaltver
hältnisse — die elterliche Gewalt, die Gewalt des Lehrherrn über
den Lehrling, des Schiffskapitäns gegenüber der Schiffsmannschaft
— unterscheidet, hätte er die Aufgabe, das Besondere des staatlichen
Gewaltverhältnisses aufzuzeigen. Er sagt: die staatliche Gewalt sei
„nicht die einzige rechtliche Gewalt im Staats gebiete ; allein
"

warum bezeichnet er das Gebiet, für das alle Gewalt, ja alle Rechts
verhältnisse gleicherweise Geltung beanspruchen, gerade mit dem
Namen eines speziellen Rechtsverhältnisses ? Das Staats gebiet ist
offenbar das Rechts gebiet und Staat und Recht offenbar identisch,
wenn LOENING damit den Geltungsbereich benennt. Diese Identi-

') S. 694.
176 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

fikation ergibt sich aber auch aus der Art und Weise, in der LOENING
das scheinbar spezielle Rechtsverhältnis „Staat" gegenüber den an
deren Rechtsverhältnissen zu charakterisieren sucht. Er sagt: „Ist
demnach die Staatsgewalt nicht die einzige rechtliche Gewalt im
Staatsgebiet, so ist sie doch diejenige, die alle anderen rechtlichen Ge
waltverhältnisse aufrecht erhält. " Allein gemeint ist eigentlich : „alle
anderen Rechts verhältnisse aufrecht erhält". Das geht nicht nur
daraus hervor, daß LOENING hinzufügt: „der alle Menschen im Staats
gebiet unterworfen sind", vor allem aus der Bedeutung, in
sondern
der von dem Staate behauptet wird, daß er angeblich nur die Ge
waltverhältnisse „aufrechterhalte", „um den Willen Einzelner, der
sich gegen das Recht auflehnt, zu beugen". Gegen das
„Recht" schlechtweg. Die Staatsgewalt hat also alle Rechtsverhält
nisse „aufrecht zu erhalten", kann also nicht selbst ein spezielles
Rechtsverhältnis sein. Sie ist, trotz der gegenteiligen Behauptung
LOENINGs, nach seiner eigenen Ausführung die einzige rechtliche
Gewalt im Staatsgebiet; denn aus der „Anerkennung durch diese
Gewalt" holen alle andern „ Gewalt "verhältnisse, ja alle Rechtsver
hältnisse ihre „Gewalt", da die „Staats "gewalt es doch ist, die den
jedes Gewaltverhältnis begründenden „Gehorsam" letztlich be
gründet; wie ja auch alle Gewaltverhältnisse, ja überhaupt alle Ver
hältnisse nur durch die Staats „gewalt" zu Rechtsverhältnissen
werden. Diese „Staatsgewalt" ist einfach die Hypostasierun g des
Inbegriffs aller Rechtsverhältnisse: der Rechtsordnung; sie tritt ver
doppelnd „hinter" das Recht, dessen Erfüllung sie als „Macht" oder
„Gewalt" garantiert. Es ist im Wesen der gleiche Gedankengang
wie bei JELLINEK, nur daß der Staat nicht als hypostasierte Rechts-
p e r s o n , sondern als hypostasiertes Rechts verhältnis erscheint.
Der Unterschied ist — ungeachtet der scharfen Polemik LOENINGs
gegen die Persönlichkeitstheorie — nicht groß.
Trotz einiger guter
Bemerkungen über das Wesen der Personifikation hat LOENING sich
dennoch des gleichen Fehlers schuldig gemacht wie JELLINEK: er
hat ein Gedankending, eine Hilfsvorstellung real gesetzt. Sein
Haupteinwand gegen die Anschauung des Staates als Person ist die,
daß der Staat keine bloße „Vorstellung" sein könne1). Der Staat
besitze „Realität so gut wie der einzelne Mensch", sagt LOENING,
dabei GlERKE ausdrücklich zustimmend. Allein er fügt hinzu : „aber
der Staat ist nicht ein reales Lebewesen, eine reale Substanz. Als
solche ist er kein Gegenstand möglicher Erkenntnis, sondern er ist
real als ein Verhältnis von Menschen zu Menschen"2).

') a. a. 0. S. 701. ») a. a. 0. S. 700.


§ 28. Der Staat als Rechtsverhältnis (Loening). 17 7

„Real" „so gut wie" der Mensch und doch nicht real „wie" der
Mensch ? Daher rührt denn LOENINGs Begriffsbestimmung des Staates
als „reales Rechtsverhältnis". Allein ist ein Rechtsverhältnis
etwas anderes als eine Vorstellung? Hat der Staat als Rechts
verhältnis „außerhalb der Vorstellungen der Menschen irgendeine
reale Existenz"? Daß er eine solche Existenz als bloße Person
nicht habe, eben das führt LOENING gegen die Persönlichkeits
theorie an. Kann der Staat als Rechtsverhältnis „Träger von Rechten
und Pflichten" sein, während er es — wie LOENING sagt — als
Person, als bloße Vorstellung nicht sein könne, da nur physische
Menschen von der Rechtsordnung berechtigt und verpflichtet werden?
LOENING verwechselt hier die beiden Bedeutungen, in denen Pflichten
und Rechte, das einemal auf den Menschen, das anderemal auf die
Person bezogen werden.
Weil die „Realität", die LOENING dem Staat zuerkennt, die
Realsetzung eines Gedankendings ist, gerät auch seine Theorie, die
von trefflichen Anfängen ausgeht, zum Schlusse doch in den üblichen
wüsten Wirrwar von Widersprüchen : was den Staat zum Staate
mache, sei das Recht, denke man sich das Recht weg, falle der Be
griff des Staates in sich zusammen. Aber: der Staat ist ein spe
zielles Rechtsverhältnis, also „ setzt er den Begriff des Rechtes vor

aus"1). Oben schon wurde gezeigt, daß dieses spezielle Rechts


verhältnis sich schließlich als Einheit aller
Rechtsverhältnisse
enthüllt und daher Staat und Recht identisch sein müssen. Diese
letztere Konsequenz ergibt. sich auch daraus, daß LOENING den
Geltungsgrund des Rechts mit der Wirksamkeit des Staates
identifiziert: «Die verpflichtende Kraft des Rechts beruht . . . darauf,
daß die Menschen von der ihnen innewohnenden Vorstellung be
herrscht sind, daß sie um ihrer selbst willen in einem Zustand der
Herrschaft leben müssen, weil sie nur unter einer Herrschaft ihre
Lebensbedürfnisse befriedigen können und in ihren Interessen ge
schützt sind"2). Der „Zustand der Herrschaft" ist das „Rechtsver
hältnis der staatlichen Herrschaft". Es ist dieselbe Tautologie, die
bei JELLINEK in gekleidet ist : Die Gültigkeit der Rechts
die Worte
norm „entspringt aus der nicht weiter ableitbaren Ueberzeugung, daß
wir verpflichtet sind, sie zu befolgen"3). LOENING sagt: Das Recht
ist wirksam, weil wir überzeugt sind, im Recht, das jetzt „Staat"
heißt, leben zu müssen. — Obgleich LOENING das Recht als Voraus
setzung des (ein angeblich spezielles Rechtsverhältnis darstellenden)
Staates, dann aber das Recht als identisch mit dem Staate behandelt,

') a. a. 0. S. 701. 2) a. a. 0. S. 703.

») Staatslehre, S. 333.
Kelten, Stantshegriff. 12
178 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

behauptet er schließlich auch:


„Das Recht setzt den Staat (im wei
testen Sinne einer Verbindung) voraus"
staatlichen Hier muß
allerdings jedes Verständnis versagen. Die staatliche „Verbindung"
hatte er eben früher als Rechts verbindung („ durch Rechtsnormen
zusammengehalten") charakterisiert und, sofern sie eine spezielle
Rechtsverbindung ist, das Recht, die allgemeinste Verbindung, als
ihre Voraussetzung erklärt. Und nun wird wieder der Staat als
Voraussetzung des Rechts behauptet: offenbar weil der Staat hier
als „reale", d. h. faktische, von den Rechtsnormen unabhängige Ver
bindung gedacht ist.

9. Kapitel.
Die Ausscheidung des Gewaltelementes ans dem Staatsbegriff.

§ 29.
Die Ueberflüssigkeit des Staatsbegriffs (AffOLter).
Zu jenen Theoretikern, die das Recht als Voraussetzung des
Staates begreifen wollen, gehört auch der Schweizer AFFOLtER2).
Er lehnt mit besonderem Nachdruck die Ansicht ab, daß der Staat
die Rechtsordnung aufstelle und aufrechterhalte. „Das würde voraus
setzen, daß Staat und Recht sich einander gegenüberstehen, der Staat
wäre da vor dem Recht und würde das Recht schaffen, das neben
dem Staate einherginge. Diese Auffassung ist nicht zutreffend"

s).
„Daran ist . festzuhalten, daß das Recht zum Wesen des Staates
.
.

selbst gehört und nicht ein für sich und neben dem Staat bestehendes
Produkt desselben ist" Allein die eigene Anschauung AFFOLtERs
*).

ist, trotz vieler scharfsinniger Bemerkungen und kühner, die letzten


Konsequenzen mehr ahnender als klar erfassender Behauptungen,
nur inkonsequent und widerspruchsvoll durchgeführt. „Das Recht
ist Voraussetzung", sagt er und fügt dem widersprechend hinzu
:

„Bestandteil der Organisation und der zwischen Gliedern und Or


ganen untereinander bestehenden Verhältnisse. Das Recht zeigt
nur den Weg, wie die Organisation und die Zwecke derselben
vollführt werden, es ist nicht das Ziel selbst." Man sieht: von einer
Erkenntnis noch weit entfernt, daß die staatliche Organisation und
die Rechtsordnung dasselbe ist. AffOLter subsumiert den Staat
unter dem Oberbegriff des Verbandes oder der Körperschaft und setzt
0.
S.

a. a. 703.
») *)

Auf
die Bedeutung AFFOi/rEKs hat erst kürzlich Sander, Alte und
neue Staatsrechtslehre, Zeitschr. für öffentl. Recht, II. Bd., 183 ff. aufmerk
S.

sam gemacht.
Studien zum Staatsbegriff. Arch. öffentl. XVII.
») »)

d.

S.

Rechts, Bd., 114.


0.
S.

a. a. 133.
§ 29. Die Ueberflüssigkeit des Staatsbegriffs (Affolter). X79

„Verband" dem „Recht" als Norm in der üblichen Weise entgegen,


obgleich er selbst diese Spaltung in zwei Wesenheiten tadelt. Als
Verband erscheint ihm der Staat als „Wirkung" des Rechts. „Die
" —
reine Körperschaftstheorie dies könnte ja nur eine reine Rechts
theorie sein — „sieht im Rechte die ßewirkerin des Stäatsverbandes.
Das Recht Bewirkerin nicht in dem Sinne, daß es dem
ist dabei
Staatsverbande vorausgeht und dann letzteren erzeugt, sondern in
dem Sinne, daß die Entstehung des geltenden Gesetzes die Verbin
dung von Menschen und damit den Verband bewirkt" Wie man

1).
die Kategorie von Ursache und Wirkung verwenden kann, ohne das,
was man als Ursache bezeichnet, dem, was man als Wirkung an
sieht, vorausgehen zu lassen, die Ursache die Wirkung „erzeugen"
zu lassen, ist unverständlich. Ein offener Widerspruch ist es
aber, wenn AFFOLtEE erst gegen die Anschauung polemisiert: „das
Staatssubjekt macht die Gesetze, setzt das Recht", und auch die
Theorie der gleichzeitigen Entstehung von Staat und Recht ab
lehnt, „Staat und Recht entständen miteinander als Zwillinge"
und dennoch selbst beide Anschauungen vertritt. So spricht er
gelegentlich von einem „von den betreffenden Staaten aufgestellten
Privatrecbt" und erklärt in seiner allgemeinen Theorie der Körper
2)

schaft — der Staat ist nur eine besondere Körperschaft — „Das

:
eigene Körperschaftsrecht entsteht gleichzeitig
mit der Körperschaft.... Es wird nicht etwa zuerst die
Körperschaft begründet und dann das Recht. Das eigene Körper
schaftsrecht ist Bestandteil der Körperschaft selbst, es be
wirkt die Organisation und damit den Verband."
Vorher hieß es: „Ein Organismus, der nur Rechtsorganismus ist,
ist die Körperschaft. Wir haben hier eine Rechtsorganisation"
3).

Dabei identifiziert er in anderem Zusammenhang „Körperschaft" und


„Verband": das Recht „verbinde" die Menschen. „Was verbunden
Verbundenen. Die Ver
(?)

ist, hebt sich ab von dem nicht damit


bindung wird dadurch zum Verbande, zu einer Körper
schaft"4). Er behauptet also: Das Körperschaftsrecht entsteht
gleichzeitig mit dem Verband und es bewirkt erst den Verband.
Hier wird es besonders deutlich, wie die substantivische Sprache
irreführt
Ä).

Zur Lehre von der Persönlichkeit des Staates, Arch. öffentl. Rechts,
d.
')

XX, Archiv, XVII,


S.

S. 380. 129.
4) »)

a. a. 0. Archiv, XX,
S.

375.
S.

101.
6) »)

Da AffoLter nicht überblickt, daß seine reine Körperschaftstheorie


letztlich zu einer Aufhebung des Gegensatzes von öffentlichem und privatem
Rechte führen muß, gerät er auch in folgenden Widerspruch: Er sagt: „Das
Gesetz als »Inbegriff sämtlicher Rechtssätzec begründet eine Rechtsge-
12*
180 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

AffOLter leitet mit der These ein:


seine Körperschaftstheorie
„Die Körperschaft weist auf : eine Anzahl von Personen und Rechts
normen" Indem er die Rechtsnormen als einen Bestandteil

').
neben den Menschen
meint, begeht er den ersten Grundfehler,
der alle andern sich zieht. Die Körperschaft ist eine Ordnung,
nach
die menschliches Verhalten zum Inhalt hat, eine Summe von Normen,
die ohne diesen Inhalt keine Normen, ein leeres Nichts wären.
Hier steckt schon ein unheilbarer Dualismus. Die Menschen"


haben mit der Körperschaft gar nichts zu tun. Nicht aus „Men
schen" — das sind biologisch-psychologische Einheiten — sondern

,
aus menschlichen Handlungen setzt sich der Inhalt der Körperschaft
zusammen. Demgemäß muß AffOLter auch den konventionellen
Irrtum aussprechen: „Der Staat besteht aus einzelnen Menschen"

2),
und muß seine Definition des Staates auf diese Menschen abstellen,
statt auf die Rechtsnormen, was er tun müßte, wollte er den eigent
lichen Sinn seiner instinktiven Ablehnung des Dualismus von Staat
und Recht erfüllen. Der Staat ist die zur Ermöglichung eines

geordneten und gedeihlichen, vor äußeren Angriffen geschützten Zu


sammenlebens rechtlich organisierte und durch diese Organisation
zu einem geschlossenen Ganzen verbundene Bevölkerung eines
Gebietes, welches Ganze als handelndes Subjekt auftritt und völker
rechtlich die Eigenschaft als Rechtssubjekt besitzt" Diese Defi

3).
nition ist aus mehr als einem Grunde sehr unglücklich. Daß die
organisierte Bevölkerung den Zweck hat, ein geordnetes, d.h.
organisiertes Zusammenleben zu ermöglichen, ist, abgesehen von
allem anderen, eine Tautologie. Daß das Zusammenleben „gedeih
lich" und „geschützt" sein müsse, sind subjektive Zutaten, die besser
wegbleiben. Der Rest Der Staat ist eine rechtlich organisierte
:

Bevölkerung, oder besser: ein rechtlich organisiertes Volk. Zu der


als „Volk" oder Bevölkerung bezeichneten Einheit wird eine Viel
heit von Menschen erst durch die Organisation. Richtiger: Diese
Einheit die Organisation. Und darum ist der Staat nicht das
t
s
i

Volk, sondern die rechtliche Organisation des Volkes, wobei dann


schon die Zufügung des Genitivs „des Volkes" überflüssig ist, denn

meinschaft, in welcher jedes einzelne Glied als Subjekt von Rechten und
Pflichten steht." Damit wird „eine Verbindung und damit nach außen ein
Verband bewirkt". Obgleich soeben erklärt wurde, daß es die Gesamtheit der
Rechtssätze, h. die einheitliche Rechtsordnung ist, die den Verband bewirkt,
d.

heißt es jetzt weiter: „Da es hauptsächlich öffentliches Recht, Staats


recht ist, das den Verband bewirkt . . . .« (Archiv, XX, S. 405.) Nach dem
Ausgangspunkt AffoLteRs müßte alles Recht Staatsrecht sein!
Archiv, XVII, Archiv, XX,
S. S.

S.

193. 374.
>) »)

»)

Archiv, XVII, 130.


§ 29. Die Ueberflüssigkeit des Staatsbegriffs (Affolter). 181

es nurmehr den selbstverständlichen Inhalt der Rechts


bezeichnet
organisation; und dies ist wiederum nur ein Fremdwort für Rechts
ordnung.
Hinsichtlich des Problems nimmt Af
der Staatspersönlichkeit
fOLter eine sehr eigenartige Stellung ein. „Die rechtlich organi
sierte Bevölkerung erscheint uns als eine Einheit, als ein Subjekt,
das mit Willen begabt ist und zu handeln vermag" Da dieser

1).
„Wille" doch offenbar nur der Rechtswille sein kann, da die
Handlungsfähigkeit des Staates nichts anderes sein kann als der
Ausdruck für die Zurechnung der Rechtsakte, Organakte, die Be
ziehung der durch die „Organe" zu erfüllenden Pflichten und Rechte
auf die Einheit der Rechtsordnung, muß dieses Subjekt wohl als
Rechtssubjekt oder Person gelten. Allein AffOLtER zieht diese
Konsequenz noch nicht. Es sei eine „allgemeine, nicht speziell juri
stische Betrachtungsweise", die uns den Staat als „geschlossenes
Ganzes erscheinen läßt"2). Wenn der Staat „Rechtssubjekt", „Rechts
persönlichkeit" ist, so kann er dies nicht nach seinem eigenen „in
neren" Recht, sondern nur nach Völkerrecht sein. „Nach dem eigenen
Rechte des Staates vermag sich letzterer weder zu berechtigen noch
zu verpflichten" „Der Staat ist Rechtssubjekt nach Völkerrecht.
3).

Nicht aber ist es das innere positive Recht des Staates, welches den
Organismus zum Rechtssubjekt macht, ihm die Eigenschaft der
Rechtspersönlichkeit gibt. Dieses innere eigene Recht des Staates
vermag die Anerkennung der Einheit als Rechtssubjekt nicht anzu
ordnen, weil dieses Recht selbst zur Substanz der Einheit ge
hört"
4).

Dieser Anschauung liegt die irrige Vermengung zweier von


einander sehr verschiedener Personenbegriffe zugrunde: Person als
Personifikation eines Normenkoraplexes und Person als Ausdruck
reclitsinhaltlicher Statuierung einer Haftungsbeschränkung. Wenn
vom Staate als „Person" die Rede ist, ist hauptsächlich der Personen
begriff im ersten Sinne gemeint. Daneben kommt auch der zweite
Begriff in Betracht, wenn man vom Staate als einer „juristischen
Person" in demselben Sinne spricht, in dem nyin die Aktiengesell
schaft, nicht aber die offene Handelsgesellschaft als juristische Per
son bezeichnet: weil bei der ersteren, nicht aber bei der letzteren
eine spezifische Haftungsbeschränkung positiv rechtlich normiert ist.
Nur die letztere „schafft" oder „verleiht" die Rechtsordnung, so wie
sie konkrete Pflichten und Rechte statuiert. Die erstere ist ein
Hilfsbegriff der normativen Erkenntnis. Offenbar hat AFFOLTER die
Archiv, XVII, 0.
S.

S.

125. a. a. 125.
»)
')

a. a. 0. 0. S.
S.

131. a. a. 130.
*)
»J
182 III. Kritischer Beweis der Identität Ton Staat und Recht.

letztere im Auge, wenn er meint, die eigene Rechtsordnung des


Staates könne die Anerkennung des Staates als Rechtssubjekt nicht
„anordnen". Dagegen irrt er, wenn er diesen Begriff der Person
mit den Worten umschreibt: „Nach dem eigenen Recht des Staates
vermag sich letzterer weder zu berechtigen noch zu verpflichten.
Der Staat hat nach dem in ihm geltenden Rechte weder Berech
tigungen noch Verpflichtungen. Das staatliche Recht kann bloß die
Organe des Staates, die Glieder gegenüber den Organen, die Glieder
und Organe untereinander berechtigen und verpflichten" Denn

1).
von der als Hilfsbegriff juristischer Erkenntnis fungierenden Staats
person, von der Personifikation
der Rechtsordnung kann man sagen,
daß sie Pflichten und Rechte „habe", daß die Rechtsordnung Pflichten
und Rechte des Staates statuiere. AFFOLtER sagt es selbst, wenn
er von Pflichten und Rechten der „Organe" und „Glieder" spricht.
Wessen „Organ" oder „Glied"? Des Staates doch wohl! Indem
nun Pflicht oder Berechtigung als solche eines „Organes" aufgefaßt
wird, wird sie als Pflicht oder Berechtigung des Organismus vor
gestellt, die Funktion des Teils muß aufs Ganze bezogen werden.
In der Qualifikation als „Organ" liegt nichts und auch gar nichts ja
anderes als der Bezug aufs Ganze, die Zurechnung zur Einheit.
Von Pflichten und Rechten Pflichten und
der Organe zu sprechen,
Rechte des Staates aber für unmöglich zu erklären, ist ein Wider
spruch in sich selbst. Und so kühn und bahnbrechend die Auf
forderung AFFOLtERs wäre: „den Begriff des Staates bei Darstellung
des positiven Rechts (Staatsrechts wie de3 übrigen Rechts) eines
Staates verschwinden zu lassen" wenn er den Staat als bloße
2),

Personifikation des Rechts begriffe, so unerfüllt und unerfüllbar


bleibt sie in der eigenen Darstellung AFFOLtERs Spricht er doch
!

selbst von dem positiven Recht „eines Staates" in demselben Satze,


in dem er den Begriff „Staat" zu eliminieren vorschlägt, und sagt,
es sei „eine ungenaue Sprach weise, wenn man bei Behandlung und

Darstellung des inneren Lebens und Rechtes eines Staates —


vom Staate spricht So ist es unrichtig, zu sagen, der Staat
"
3).

regiere, mache Gesetze, schütze


den einzelnen die Regierung regiert,
;

die gesetzgebende Behörde macht die Gesetze, die Polizei usw., Be


hörden schützen den einzelnen. Die Regierung regiert auch nicht
namens des Staates, die Gesetze werden nicht namens des Staates
gemacht Der einzelne hat nicht Pflichten und Rechte gegen
usw.
über dem Staate, er hat Pflichten gegenüber den militärischen Oberen,
gegenüber der Polizei, gegenüber den Steuerbehörden, Rechte gegen-
a. a. 0. S. 132. a. a. 0. S. 135.
')
')

a. a. 0. S. 180.
*)
§ 29. Die Ueberflüssigkeit des Staatsbegriffs (Affolter). 183

über den Verwaltungsbehörden Der Bedrohte ruft nicht den


usw.
Staat, sondern die Behörden zur Hilfe usw. Die Polizei faßt den
Verbrecher nicht namens des Staates ab, der Richter beurteilt ihn
nicht namens des Staates usw. ; alle diese Handlungen sind Ausflüsse
eigener, vom positiven Rechte gewährter Befugnisse der Organe"

1).
AffOLter übersieht hier einfach, daß mit der Zurechnung dieser
Funktionen zum Staate nichts anderes ausgedrückt wird als die
Sy m einh eit, und daß er selbst dem Bedürfnis nach solchem
e
t
s

Ausdruck dadurch trägt,


daß er von „Organen" statt
Rechnung
von Menschen ist eine offenkundige
spricht. Und es Entgleisung,
wenn er sich zu der Behauptung versteigt: das „Phantom" des
„inneren Staatssubjekts" stehe „jeder natürlichen Auf

(!)
fassung im Wege und degradiert die leitenden und verantwortungs
vollen Männer im Staate zu bloßen Figuranten herab" Käme

2).
diese Behauptung nicht aus der löblichen allerdings hier stark
,

,
über das Ziel schießenden Tendenz einer Auflösung der Hypostasie-
rung des Staates, wäre man versucht, dahinter eine politische Ten
denz zu vermuten.
Weil AffOLter nicht einsieht, daß die Staatsperson, gegen
die er polemisiert, nicht vom Recht „verliehen" wird,
überhaupt
kommt er zu der seltsamen Annahme, daß sie dem „Staate" vom
Völkerrecht verliehen werden müsse. Er meint, das Völkerrecht,
nicht aber das eigene Recht des Staates könne diesen verpflichten
und berechtigen. Das eigene staatliche Recht verpflichte und be
rechtige nur die Organe und Glieder Staates. Aber auch das
des
Völkerrecht verpflichtet und berechtigtnicht den Staat als solchen,
sondern Menschen, deren Handlungen auf Grund der staatlichen
Rechtsordnung — einer Teilrechtsordnung im Verhältnis zum Völker
recht — eben der Einheit dieser Teilordnung zugerechnet werden.
(Hier spielt der schon früher betonte Doppelsinn von Pflichten und
Rechten der Menschen neben Pflichten und Rechten der Person eine
entscheidende Rolle.) Setzt man aber das Völkerrecht als eine über
den einzelstaatlichen Rechtsordnungen stehende Universalrechtsord
nung voraus, dann fließen alle in der einzelstaatlichen Rechtsord
nung statuierten Pflichten und Rechte letzten Endes aus dem Völker
recht, so daß der ganze prinzipielle
Unterschied, den AFFOLtER
zwischen dem „inneren" Recht des Staates, das angeblich nur die
Organe und Glieder des Staates berechtigt und verpflichtet, und
dem „äußeren" Recht des Staates, als welches das den Staat
berechtigende und verpflichtende Völkerrecht fungiert, in sich zu
sammenfällt.
Archiv, XX,
S.
S.

Ö~a.~äT0. 181. 381.


3)
184 TTT. Kritischer Beweis der Identität yon Staat und Recht.

Person ist der Staat, sofern man die sog. staatliche Rechts
ordnung, sei es als Universalrechtsordnung
(Primat der einzelstaat
lichen Rechtsordnung), sei es als Teilrechtsordnung (Primat der
Völkerrechtsordnung), personifiziert. Auch wenn man die einzel
staatliche Rechtsordnung in dem übergeordneten Völkerrecht be
gründet, ist der Satz falsch, den AFFOLtER
— übrigens im Wider
spruch zu seiner eigenen Staatsdefinition — aufstellt: „Der Staat
ist Staat, nicht weil sein Recht es so sagt, sondern weil er nach
völkerrechtlicher Anschauung Staat ist." Denn AFFOLtER versteht
darunter, daß der Staat erst durch das Völkerrecht Persönlichkeit
erhält. Dagegen ist sehr zutreffend, was AffOLtER über den Be
"
griff der Staats„ gewalt ') und seinen spezifisch politischen Charakter
sagt. Daß AffOLter den Gewaltbegriff aus der Rechtssphäre aus
zuscheiden bemüht ist, wird sicherlich sein dauerndes Verdienst
bleiben.

§ 30.
Die Rechtsstaatstheorie (Krabbe).
Die Eliminierung des „Gewalt "dementes aus der Begriffsbe
stimmung des Staates ist stets die Konsequenz der Annahme, daß
das Recht die Voraussetzung des Staates sei. Ein typischer Reprä
sentant dieser Anschauung ist auch der Holländer KRABBE, dessen
Staatslehre hauptsächlich aus der Kritik der deutschen Machtstaats
theorie herausgewachsen ist und den Begriff des Rechtsstaates
zur Grundlage hat „Jede Gewalt, welche in der Gesellschaft Gel
2).

tung beansprucht, ist einzig und allein Rechtsgewalt. Wie jede


andere natürliche oder Rechtsperson, hat auch der Staat nur inso-
ferne Rechte und Befugnisse, nur insoferne Autorität, als es aus
einer positiven Rechtsordnung hervorgeht. Bei dem Streben nach
Erreichung seines Zweckes bleibt auch der Staat gebunden durch
das Recht, entweder durch das für alle gleiche Recht oder durch
ein für seine Beziehungen zu der Gesellschaft geschaffenes spezielles
Recht, wie es solche spezielle Rechte für viele andere Personen
ja

auch gibt. Hier entsteht aber die Frage, wie das Recht eine selb
ständige Gültigkeit dem Staate gegenüber besitzen kann, da doch
die Bildung des Rechts in steigendem Grade vom Staat ausgeht"
3).

So charakterisiert KRABBE seinen prinzipiellen Standpunkt. Auch


er sieht in Staat und Recht zwei verschiedene Wesenheiten, obgleich
er in seinen späteren Argumentationen sich immer mehr der Identi-

Archiv, XVII, 135 u. XX, S. 396.


S.
2) ')

Die Lehre der Rechtssouveränität, 1906; Die moderne Staatsidee, 1919.


Rechtseouveränität,
5.
S.
*)
§ 30. Die Rechtsstaatstheorie (Krabbe). 185

fikation beider nähert. Der Staat ist eine Rechtsperson neben


anderen Rechtspersonen, über denen aber gemeinsam die
Rechtsordnung steht. Dabei ist KRABBE der üblichen Hypostasierung
des Personenbegriffs verfallen. Er hält die Rechtsperson für etwas,
das der Rechtsordnung irgendwie „gegenüber "steht! Das überträgt
sich auf seine Vorstellung vom Staat, den er durchaus als Rechts
person begreift. Und weil KRABBE nicht erkennt, daß die Rechts
person nur ein Teil des Rechts (oder das Recht selbst), eine Per
sonifikation einer Teilrechtsordnung oder der Gesamtrechtsordnung
ist, bringt er sich um die Früchte seiner der herrschenden Macht
staatstheorie gegenüber durchaus neuen und glücklich gefundenen
These, daß auch die Autorität des Staates — seine „Gewalt" — nur
eine Rechts autorität, eine Rechtsgewalt sei. Und obgleich er
diese These später zu der Formel erweitert hat, „daß die Autorität
des Staates nichts weiter ist als die Autorität des Rechtes

1),
so
hält er dennoch an einer selbständigen Wesenheit des Staates gegen
über dem Rechte fest, bleibt ihm die — eine widerspruchslose Staats
theorie allein ermöglichende — Erkenntnis der Identität von Staats
und Rechtsordnung versagt Der Grund hiefür liegt nicht nur
2).

darin, daß KRABBE die persouifikative Hypostasierung und damit


den prinzipiellen Dualismus nicht
aufzulösen vermag (obgleich er
sich gerade diese letztere Aufgabe stellt), sondern vor allem darin,
daß er die Identifikation von Staat und Recht nicht als ein logisch-
erkenntnistheoretisches Problem, sondern als ein politisches Postulat
auffaßt, das in einem historischen Prozeß realisiert oder auch nicht
realisiert werden kann, nachdem sich ein Staat zum „Rechtsstaat"
je

entwickelt oder nicht; und diese Auffassung hat letztlich ihren Grund
darin, daß er nicht von
positivistischen,
einer sondern von einer
naturrechtlichen Rechtsanschauung ausgeht.

2.
S.

Staatsidee,
1)

VeRdRoss (Grundlagen und Grundlegungen des Völkerrechts, Zeitschr.


-)

für internat. Recht, XXIX. Bd., S. 85) meint, daß Krabbe so wie ich im Staate
nichts anderes als eine Personifikation der Rechtsordnung sehe. Der grund
satzliche Unterschied zwischen KRabbes — im übrigen sehr widerspruchs
voller, keineswegs einheitlicher — Auffassung des Verhältnisses von Staat
und Recht und meiner Theorie geht aus dem Texte hervor. Vgl. dazu auch
die ausführliche Kritik der KBABBEschen Lehre in meinem Problem der
,

Souveränität" 22 — 31. Krabbe sagt z. B. Es „kann das durch den Gesetz


S.

geber produzierte Recht als Staatswille angesehen werden. Das Umgekehrte


aber würde selbstverständlich falsch sein. Denn nicht jeder Staats
wille eine Rechtsnorm. Schon aus dem einfachen Grunde, daß
8
t
i

nicht jeder Staatswille die Bestimmung eines Rechtswertes enthält. Die


Staatsaufgabe umfaßt unendlich mehr als die Rechtsproduktion". Rechts
S.

souveränität, 246.
186 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

Dabei handelt es sich um durchaus typische, auch in der deut


schen Staatsrechtslehre, speziell von demokratisch orientierten Autoren,
vertretene Gedanken, die alle von dem politischen Begriff des Rechts
staates ihren Ausgang nehmen.
Der Rechtsstaat wird in der Regel als ein Staat definiert, „in
dem Gesetze herrschen, in dem also Verwaltung und Rechtsprechung
gemäß Rechtsregeln erfolgen" In der Sprache der Selbstver

1).
pflichtungslehre ausgedrückt: „Es kommt in letzter Linie darauf ...
an, ob nach der Anschauung einer bestimmten Zeitepoche der Staat
selbst abstrakten Willenserklärungen
durch seine gebunden ist
oder nicht und, wenn er gebunden ist, in welchem Maße solche Bin
dung besteht. Diese Frage ist aber eine historische,
mit keiner allgemeingültigen Formel zu lösende" Und weil dies

2).
eine historische Frage sei, so könne der Staat nicht schlechthin ein
Rechtsbegriff sein, es gäbe eben Rechtsstaaten und solche, die es
nicht sind, „solche, die sich durch ihr Recht binden und solche, die
es nicht tun". Seltsamerweise versucht man aber auch die Nicht-
rechtsstaaten als Rechtsbegriffe juristisch zu begreifen Aber was

3)
!
ist denn dieser Staat", der das eine Mal sich durch sein Recht bindet,

das andere Mal nicht? Daß die Rechtsnormen „binden", liegt in


ihrem „Begriff", daß sie den Menschen „binden", dessen Verhalten
in der Rechtsnorm als gesollt gesetzt ist. Was kann da noch weiter
Problem sein Sollte damit, daß der „ Staat an sein Recht nicht
"
?

gebunden sei, gemeint sein, daß der Mensch oder die Menschen, die
zur Erlassung der Rechtsnormen berufen sind, diese Rechtsnormen
jederzeit ändern können Das gilt in der Regel von jeder Rechts
?

norm, wenn sie selbst nicht ihre Unabänderlichkeit oder erschwerte


Abänderbarkeit Jedenfalls liegt keine Ungebundenheit vor,
festsetzt.
wenn die Aenderung in der Form Rechtens geschieht. Anders kann
sie aber — rechtlich — nicht erfolgen. Daß die Gesetze jederzeit
geändert werden, kann jedenfalls dem Charakter der Staaten, die als
„Rechtsstaaten" bezeichnet werden, keinen Abbruch tun. — Oder
meint man, daß die zur Gesetzgebung berufenen Menschen als Unter
tanen, sofern sie eben auch Menschen und nicht Staatsorgane sind,
durch die Normen, die sie selbst setzen, nicht gebunden werden, so
wie etwa der Monarch vom Strafgesetz ausgenommen zu sein pflegt?
Selbst wenn das der Fall ist, kann man nicht sagen, daß der „Staat6
an sein Recht nicht gebunden sei. Oder sollte der „Staat" mit diesem

JeLLineK, Staatslehre,
S.

613.
») ») ')

JeLLineK, a. a. 0. S. 371.
Speziell JeixineK, a. 0. MenzeL im Handbuch der
S.

a. 371 gegen
Politik, S. 41.
I,
§ 30. Die Rechtsstaatstheorie (Krabbe). 187

Menschen oder diesen Menschen identisch sein, die den Inhalt der
Rechtsordnung zu bestimmen haben? Diese Menschen sind ja nur,
sofern sie ihre Rechtscrzeugungs- (oder -erhaltungs-) Funktion erfüllen,
der „Staat" bzw. Organe des Staates und nicht, soferne sie von der
Rechtsordnung eximiert sind. —
Es kann somit keinen Staat geben, der nicht an seine Ordnung
gebunden, von dieser Ordnung frei ist, weil — sofern die Vorstel
lung eines an seine Ordnung gebundenen Staates, aus der Hypo-
stasierung befreit, einen Sinn hat — der Staat diese Ordnung selbst
ist, nichts anderes sein kann als Ordnung, die Vorstellung
eines von „seiner" Ordnung befreiten Staates ein Widerspruch in
sieb, selbst ist. — Soferne aber diese Ordnung nur die Rechtsord

nung sein kann, ist ein anderer Staat als ein Rechtsstaat gar nicht
denkbar, das Wort Rechtsstaat ein Pleonasmus. Ein „Staat, in dem
Gesetze herrschen", sagt die erste Definition. Wenn keine Gesetze
herrschen, sondern Willkür, dann besteht eben Anarchie, dann
ist eine Einheit in der Vielheit der Menschen und menschlichen
Verhältnisse nicht vorstellbar, ein Staat nicht vorhanden. Zumindest
das eine Gesetz, die eine Regel wird doch
immer vorausgesetzt,
daß geschehen solle, was irgend jemand befiehlt. Man denkt ja bei
dem Nichtrechtsstaat speziell an die absolute Monarchie, die Despotie.
Aber auch diese hat eine spezifische Ordnung, ist nur als spezifische
Ordnung denkbar. Die Regel, daß Zwang nur geübt werden solle,
wenn und wie der Despot befiehlt, ist ebensogut eine Rechts-
regel wie die, daß Zwang nur geübt werden solle, wenn und wie
die Volksversammlung es beschließt. Beides sind — vom Standpunkt
eines positiven Rechtsbegriffes — gleichwertige Ursprungs-
hypothesen.
Hier aber liegt der entscheidende Punkt! Ethisch-politische
Vorurteile sind es, die den Staats- und Rechtstheoretiker diese
beiden Ursprnngshypothesen nicht als gleichwertig, nicht beide
als Rechts hypothesen erscheinen lassen. Man geht — meist
unbewußt — von einem naturrechtlichen Rechtsbegriff aus.
Man begnügt sich nicht, unter Recht eine souveräne Zwangsordnung
zu verstehen, deren individueller Inhalt und systematische Einheit
durch eine spezifische Erzeugungsregel bestimmt wird; man schränkt
den Begriff des Rechtes dadurch ein, daß man darunter nur eine
Zwangsordnung verstehen will, die durch eine bestimmte Erzeugungs
regel ihren Inhalt erhält, etwa in der Weise, daß an der Bestimmung
des Inhalts der Rechtsordnung die ihr Unterworfenen irgendwie be
teiligt sein müssen. Das ist Naturrecht oder — was dasselbe ist —
die Verunreinigung des formalen Rechtsbegrifls durch ethisch-poli
III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

tische Elemente. Ist Recht nur eine Zwangsordnung ganz bestimmten


Inhalts, „Staat" aber jede Zwangsordnung als solche, dann kann die
politische Forderung, die die Begriffsbildung bestimmt hat, dahin
formuliert werden : daß jede Staats Ordnung durch entsprechende
Modifikation ihres Inhalts zur Rechtsordnung werden, daß Staat und
Recht zusammenfallen solle; und dann kann man, je nachdem ob
die historische Entwicklung zu diesem Ziele geführt hat oder nicht,
die Staaten in Rechtsstaaten und Nichtrechtsstaaten einteilen.
Dieser Gedankengang, der bei den meisten Autoren, die mit
dem politischen Begriff des Rechtsstaates arbeiten, nicht klar zum
Bewußtsein kommt und wegen des positivistischen, antinaturrecht-
lichen Grunddogmas, das ja heute allgemein akzeptiert ist, nicht
zum Bewußtsein kommen will,
tritt gerade bei Krabbe klar und
deutlich hervor. Ich kann hier zum Teil wiederholen, was ich schon
in anderem Zusammenhange ausgeführt habe. Was KRABBE der
herrschenden Staatslehre vorwirft, ist : daß sie eine tatsächliche Ent
wicklung, eine „Veränderung in den Herrschafts verhältnissen
"

ignoriert, „welche seit etwa einem halben Jahrhundert sich allmäh


lich vollzieht" Indem KRABBE
„Rechtsgewalt" die „Obrig
der
keitsgewalt" gegenüberstellt, glaubt er die folgende historische Ent
wicklung aufzeigen zu können: Ursprünglich ist der Staat eine reine
Rechtsgemeinschaft. Eine „Obrigkeit" entsteht erst mit der Aus
bildung militärischer Organisation. Diese „Obrigkeit", der Heer
führer, der König, gründet seine Stellung zunächst noch auf das
Recht, das durch das Volk oder die Volksversammlung erzeugt wird.
Mit zunehmender Macht des Oberhauptes macht sich dieses vom
Volksrecht unabhängig. „Von diesem Augenblicke herrschen über
die Gemeinschaft tatsächlich zwei verschiedene, nicht aufeinander
zurückfuhrbare Gewalten, nämlich die uralte Gewalt des Rechtes
und die neue Gewalt, welche sich als Obrigkeitsgewalt anmeldet"
2).

Unversehens identifiziert KRABBE das Recht mit dem „Volksrecht"


und den Staat mit der autokratisch organisierten „Obrigkeit". Deut
lich tritt dies bei der Darstellung zutage, die KRABBE von dem
historischen Prozesse gibt, in dem die „moderne Staatsidee" entstand.
Es ist sehr bezeichnend, daß KRABBE die Identifikation von Rechts
und Staatsgewalt in der Ausbildung des Konstitutionalismus erblickt.
„Der alten, historischen, in dem König verkörperten Obrigkeitsgewalt
stellt sich ein aus dem Volke und durch das Volk gewähltes Organ
als die Volksvertretung gegenüber, welche eine andere Gewalt als
die Obrigkeitsgewalt zur Offenbarung bringt. Diese andere Gewalt
"

a. a, 0. 0.
S.
3.
S.

a. a. 14.
2)
')
§ 30. Die Rechtsstaatstheorie (Krabbe). 189

sei eben die des Rechtes. Und in demselben Maße, als die
Obrigkeit dem „Gesetz", das ist dem Beschlusse der Volksver
tretung unterworfen wird, realisiert sich die Idee des Rechtsstaates,
das ist die Idee der dem Volksiecht unterworfenen Obrigkeit. „ Voll

ständig gelangt aber diese Staatsidee erst dort zum Ausdruck, wo


entweder die republikanische oder die parlamentarische Regierungs
form sich ausgebildet hat. Wo dagegen, wie etwa (früher) in Preußen
das Sanktionsrecht des Königs noch ein lebendiges Recht ist, ist die
alte Obrigkeitsidee noch nicht ganz ausgeschaltet . . ." In diesen
Staaten, „namentlich in Deutschland, Oesterreich und Ungarn", habe
sich noch bis vor kurzem „unabhängig vom Recht eine Gewalt"
geltend gemacht, eben jene, „außerhalb des Rechtes bestehende, vom
Rechte mehr oder weniger eingeschränkte Obrigkeitsgewalt"; eben
darum sei dort die Lehre von der Rechtssouveränität nicht zur Herr
schaft gekommen. Aber wäre in solchen Staaten diese Lehre nicht
falsch? Stünde hier nicht tatsächlich neben der Rechtsidee die
Staatsidee als Obrigkeitsidee? Ist aber nicht diese ganze Gegenüber
stellung von Recht und Staat und damit diese ganze mißverständ
liche Umdeutung eines logisch-systematischen Verhältnisses zweier
Begriffe zu dem historischen Prozeß einer tatsächlichen Entwicklung
verschiedener Kräfte nur dadurch möglich, daß KRABBE mit dem
oben charakterisierten verengten Rechtsbegriff und einem willkürlich
eingeschränkten Staatsbegriff operiert? Recht ist ihm nur ein auf
bestimmte Weise, nämlich demokratisch erzeugtes Recht. Aber
warum in aller Welt sollte Recht nicht auch autokratisch,
durch Befehl des absoluten Monarchen entstehen können? Aus dem
Begriffe des Rechtes geht keine Bestimmung seiner Quelle hervor.
Allerdings bedient sich KRABBE keines positivistischen
Rechtsbegriffes. Recht ist ihm nur ein Ausfluß des Rechtsgefühls
oder Rechtsbewußtseins. Er zögert nicht, zu behaupten, ein Gesetz,
welches nicht auf diese Grundlage sich stützt, sei nicht Recht.
Allein selbst wenn man das Rechtsgefühl als letzte Quelle des Rechtes
annimmt : sollte die absolute Monarchie sich nicht sehr häufig gerade
auf das Rechtsgefühl der breitesten Massen stützen? Das müßte
für eine so psychologische Rechtstheorie quaestio facti bleiben.
Was Krabbe als bloß obrigkeitlichen Befehl gelten lassen will, kann
auch nach seiner eigenen Rechtsordnung „Recht" sein. Spricht er
doch selbst von einem „lebendigen Recht"1) des Monarchen und läßt
so die Obrigkeitsidee auch als eine Rechtsidee gelten. — Anderer
seits ist durchaus nicht zu begreifen, warum nur die autokratisch

') a. a. 0. S. 36.
190 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

"
berufenen Organe als „ Obrigkeit bezeichnet werden sollen. Sind nicht
das vom Volke gewählte Parlament, der vom Volke gewählte Präsi
dent, die vom Parlamente gewählte Regierung ebenfalls „Obrigkeit",
d. h. Menschen, deren Willensäußerungen in bestimmten Schranken
von der Rechtsordnung für andere Menschen für verbindlich erklärt
sind? Der Gegensatz, den Krabbe zwischen Recht und Obrigkeit und
damit — wenigstens für gewisse Entwicklungsperioden — zwischen
Recht und Staat erblickt, ist nur der Unterschied zweier verschiedener
Rechtserzeugungsmethoden, der demokratischen und der autokratischen ;
und dieser Unterschied zweier Rechts formen ist identisch mit dem
Unterschied zweier Staats formen ! Historisch mögen immerhin
beide Formen miteinander im Kampfe gestanden haben. Von dem
systematischen Standpunkte einer Staatslehre ist es jedoch aus
geschlossen, zu behaupten, daß —
irgendeiner Zeit — „zwei
zu
verschiedene. nicht aufeinander zurückfuhrbare Gewalten", nämlich
die Gewalt allein als Recht angesehenen Volksrechts und die
des

Gewalt zur autokratischen Obrigkeit zusammengeschrumpften


des
Staates, über die Gemeinschaft herrschen. Soll nur eine „Gemein
schaft" bestehen, kann nur eine Ordnung gelten. Ueberdies
schließen sich das demokratische und das autokratische Rechts
erzeugungsprinzip keineswegs völlig aus. Die demokratische und
die autokratische Erzeugung des Rechtes sind zumeist nebeneinander
und in demselben Rechtssystem in Geltung ! So wird — in der kon
stitutionellen Monarchie, aber auch in den nach ihrem Muster or
ganisierten Republiken — die generelle Form des Rechts als Gesetz
demokratisch, weil durch Beschluß der Volksvertretung, die nächst
niedrigere Stufe des Rechts aber autokratisch, als einseitig von
ernannten Exekutivorganen (Ministern usw.) erlassene Verordnung,
als einseitig von autokratisch organisierten Behörden ergehende
Entscheidung, Verfügung, als Urteil usw. erzeugt.
Die naturrechtliche Voraussetzung KRABBEs steht mit seinem
sonstigen Positivismus in Widerspruch. Dieser Positivismus ist es ja,
der ihn zu dem Satze drängt, daß die Autorität des Staates mit der
Autorität des Rechtes identisch sei und nur sein Rückfall in natur
rechtliche Anschauung vom Wesen des Rechts läßt ihn die hier bei
nahe schon erfaßte Erkenntnis der Identität von Staat und Recht
wieder verlieren. Gerade der Versuch KRABBEs zeigt deutlich, daß
die Identifikation von Staat und Recht die not
wendige Konsequenz des Rechtspositivismus ist,
allerdings nur eines konsequent zu Ende gedachten Positivismus.
Dieser ist mit dem naturrechtlich-politischen Begriif des Rechtsstaates
als eines speziellen, inhaltlich irgendwie qualifizierten Staates
§ 31. Der Staat als Gesetzesgemeinschaft (Wenzel). 191

unvereinbar. Er muß zu der Erkenntnis führen, daß jeder Staat


Rechtsstaat ist.
§ 81.

Der Staat als Gesetzesgemeinschaft (WenzeL).


Da das Bestreben, den begreifen — und
Staat rechtlich zu
anders kann die „Staat" genannte soziale Einheit nicht begriffen
werden — notwendig dazu führen muß, den Staat als Recht zu

begreifen, ist es nur selbstverständlich, daß in demselben Maße, als


ein Autor die Reinheit der juristischen Methode wahrt, sein Staats
begriff sich dem Rechtsbegriff nähert. Ein besonders typisches Bei
spiel hiefür liefern die sehr verdienstvollen Untersuchungen, die
neuestens WENZEL in seinem Werke „Juristische Grundprobleme"
dem Begriff des Staates gewidmet hat Es sind ristische
1).

u
j
Untersuchungen, denen man das Zeugnis ausstellen muß, daß sie in
relativ hohem Maße den üblichen Synkretismus, die Vermengung
juristischer mit politischen und psychologisch-soziologischen Gesichts
punkten, vermieden haben. WENZEL geht vom Begriff des Gesetzes
und der Gesetzesgemeinschaft aus. Versteht man unter „Gesetz"
nicht — wie dem Sprachgebrauch entspricht — nur eine bestimmte,
aus politischen Gründen gerade in der konstitutionellen Monarchie
besonders bedeutungsvolle Stufe der Rechtserzeugung oder Rechts-
konkretisation, sondern das Recht auf allen seinen Stufen, in allen seinen
Erscheinungsformen allgemeinsten bis zur letzten
von der höchsten,
:

konkretesten, h. nimmt man


nicht den Begriff des Gesetzes „im
d.

formellen Sinne", sondern nimmt man das Gesetz im materiellen Sinne


— und nur in diesem Sinne hat es eine allgemein theoretische Be
deutung — dann sind die Begriffe Rechts„ gesetz" und Rechts„norra"
,

identisch, zumal wenn man den normativen Charakter des Rechts


voraussetzt. Das letztere tut WENZEL. Und wenn er auch den
stufenweisen Aufbau des Rechts, der von der hypothetischen Grund
norm über das Gesetz im formellen Sinne zur Verordnung und von
dieser zum Verwaltungsakt oder richterlichen Urteil führt, nicht
deutlich erkennt, so läuft doch sein Gesetzesbegriff schließlich und
endlich auf den Begriff der Rechtsnorm hinaus. Er sagt zwar, Ge
setze seien die von der höchsten, der „souveränen Instanz" gesetzten
Normen2), welche Instanz er den „Gesetzgeber" nennt; und meint,
der „Gesetzgeber" sei nicht die einzige normsetzende Instanz. Stellt
aber fest, daß alle übrigen normsetzenden Instanzen — soferne sie

Band: Der Begriff des Gesetzes. Zugleich eine Untersuchung zum


I.
')

Begriff des Staates und Problem des Völkerrechts. Berlin, 1920.


a. a. 0.
S.

180.
')
192 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

innerhalb „Gesetzesgemeinschaft" bestehen, d. h. soferne


derselben
die von ihnen gesetzten Normen zu demselben Normensystem ge
hören — von der höchsten Instanz delegiert sein müssen, das heißt
doch wohl letztlich Normen des „Gesetzgebers", also „Gesetze" sein
müssen. WENZEL gründet die Einheit des Normensystems auf der
Einheit eines obersten „Gesetzgebers". Dieser „Gesetzgeber" ist
aber nur die anthropomorphe Personifikation des einheitlichen
Geltungsgrundes, der einheitlichen Ursprungshypothese oder
Grundnorm, durch die ja die
„oberste* Gesetzgebungsinstanz —
etwa der Monarch oder das Parlament — erst eingesetzt wird. Das
— auf der Einheit des „Gesetzgebers" begründete — einheitliche
„Gesetzessystem" ist somit identisch mit dem auf der Einheit einer
Ursprungsnorm begründeten einheitlichen System von Rechtsnormen,
wobei unter „Rechtsnormen" eben alle, auf der Ursprungsnorm
begründeten generellen und individuellen Rechtsnormen begriffen
werden gleichgültig, ob sie als „Gesetze", „Verordnungen",
müssen,
Verwaltungsakte und Urteile usw. auftreten.
Das Gesetzes- oder Rechtsnormensystem — man könnte auch
„Rechtssystem" oder „Rechtsordnung" sagen — muß notwendig
identisch sein mit dem, was man Rechtsgemeinschaft nennt
und was bei WENZEL — weil hier der Begriff der Rechtsnorm unter
dem Namen „Gesetz" auftritt —
etwas ungewöhnlich „Gesetzes
gemeinschaft" heißt. Wenn WenzEL diese Identität nicht einsieht,
wenn er zwischen Gesetzessystem und Gesetzesgemeinschaft unter
scheidet, so beruht dies auf dem typischen Irrtum, der hier schon
wiederholt festgestellt wurde. Mit „Gemeinschaft" oder „Verband"
will man eine Vielheit von Menschen begreifen, die auf eine
bestimmte Weise — indem ein und dasselbe Gesetzes- oder Rechts
normensystem für sie in Geltung steht — miteinander verbunden
sind. Die „Gemeinschaft" oder der „Verband" ist eine Vielheit von
Menschen, das Gesetzessystem eine Vielheit von Normen.
Daher glaubt man die Gemeinschaft oder den Verband als etwas
"
„reales ansprechen zu können (die Menschen haben doch körperlich
seelische Existenz), während man die Normen nicht gut als etwas
anderes denn als „Gedankending" gelten lassen muß. Der prinzipielle
Fehler dieser Begriffsbildung , der im wesentlichen auch WenzEL
folgt, besteht darin, daß für eine juristische, auf das Gesetz oder die
Norm gerichtete Betrachtung die Menschen als physisch-psychische
Wesenheiten gar nicht gegeben sind. In Betracht kommen nur
menschliche Handlungen und diese als Inhalt des Gesetzes oder
der Normen. Die Trennung des Inhalts von seiner Gesetzes „form"
ist eine unvollziehbare Vorstellung. Das Gesetzes- oder Rechts
§ 31. Der Staat als Gesetzesgemeinschaft (Wenzel). 193

normensystem, m. a. W. die Rechtsordnung ist die Gesetzes- oder


Rechtsgemeinschaft, die Verhindung i es ist eine
s t der Verband, und
durch die Sprache freilich geförderte, nichtsdestoweniger aber sinn
lose Verdoppelung, der Verbindung den Verband, der Rechtsordnung
oder dem Rechtsnormensystem die Rechtsgemeinschaft gegenüberzu
stellen und das eine als etwas „ Reales", das andere als etwas
„ Ideelles" anzusehen.
Das tut aber WENZEL. Er sagt: „Das dargelegte gleiche Ver
hältnis der den besonderen Gesetzgebungsbereich bildenden Menschen
zu ein und demselben Normsetzer und die Regelung ihrer Lebens
beziehungen durch den Komplex seiner Normen geben dieser Viel
heit von Menschen für das menschliche Denken den Charakter
eines Ganzen, einer Ein h e i t , einer Verbundenheit.
Wir nennen eine so verbundene Vielheit einen menschlichen Ver
band, eine Gemeinschaft. Da die Merkmale nicht an bestimmten
individuellen Menschen haften, so ist die Existenz dieser Gemein
schaft von der Individualität der ihr zugehörigen Menschen unab
hängig . . . Und nun behauptet er, aus dem Gesagten erhelle,
„daß die Gemeinschaft etwas Seiendes, Wirkliches ist; sie ist eine
reale Gemeinschaft, nicht etwa ein bloßes Gedanken ding"

1).
Das erhellt aus dem von WENZEL Gesagten aber nur insofern,
als dort die „Gemeinschaft" unter die Kategorie „Mensch" ver
schoben wird. Daß es sich dabei um eine Verschiebung
handelt, zeigt deutlich die Unsicherheit und Inkonsequenz, mit der
WENZEL fortfährt: „Sie ist zwar nichts sinnlich Wahrnehmbares,
aber doch eine aus physischen und psychischen Tat
sächlichkeiten herauszudenkende Erscheinung.
"
(!)

Das ist eine etwas rätselhafte Erscheinung. Dabei erklärt WENZEL


das Gesetzes System, das System der Rechtsnormen ausdrücklich
als „Gedankending". „Wir können die Gesetze darum auch kurz
'Gemeinschaftsnormen« nennen . . . Da man für Norm
auch »Wille« zu sagen pflegt, so läßt sich das Gesetz auch als . ...
„Gemeinschaftswille« Der Gemeinschaftswille ist also
bezeichnen.
nicht etwas rein Psychisches, aber auch nicht der Wille aller Ge
meinschaftsangehörigen, sondern ein Gedankending, heraus
zudenken aus den äußeren Tatsachen der Setzung seitens einer durch
eine reale Gesamterscheinung, nämlich durch eine gewisse mensch
liche Gemeinschaft näher determinierten menschlichen Instanz: er ist
ein Wille, der sich in diesen sinnenfälligen Tatsachen objek
tiviert hat" Also: die Gemeinschaft ist zwar nicht sinnlich wahr-
2).

0. 0. S.
S.

a. a. 145, 146. a. a. 147.


»)
')

Kelsen, Staatsbcgriff. 13
194 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

nehmbar, kein Gedankending,


aber sie ist „real", denn sie ist aus
physischen und psychischen Tatsächlichkeiten herauszudenken. Das
Gesetz und sohin wohl auch das Gesetzessystem ist nicht etwas grein"
Psychisches, es ist aber überhaupt nichts Psychisches oder Physisches,
es ist nicht real, sondern ein „Gedankending", dennoch aber aus
„ äußeren" — das sind doch wohl physische und psychische — Tatsachen
„herauszudenken Diese „ äußeren Tatsachen ", aus denen das „ Gedanken

ding" des Gesetzes darunter soll verstanden


„herauszudenken" ist,
werden die Setzung, Normsetzung seitens einer menschlichen
offenbar
Instanz, die durch die Gemeinschaft determiniert ist. Die „Ge
meinschaft" wurde früher als etwas sinnlich nicht Wahrnehmbares
bezeichnet. Jetzt wird die Tatsache, die durch die Gemeinschaft
„näher determiniert", wird, als eine „sinnenfällige" erklärt; in ihr
„objektiviert" sich der „Wille". Das verstehe, wer kann ! Dabei wird
ein völlig widerspruchsvolles Verhältnis zwischen Gesetzesgemein
schaft und Gesetzessystem behauptet. Erst heißt es, durch ein ein
heitliches Gesetzessystem wird eine Vielheit von Menschen zu einer
Einheit, die Gemeinschaft, d. h. die Einheit des Gesetzessystems er
zeugt, begründet die Einheit der Gemeinschaft; dann wird behauptet,
daß das Gesetzessystem durch die Gesetzesgemeinschaft determiniert
werde. Es ist das, im Grunde genommen, derselbe Widerspruch, der
darin liegt, daß man behauptet,der Staat (die Gemeinschaft) erzeuge
das Recht und das Recht erzeuge die Einheit des Staates!
Nun lehnt WENZEL gerade diesen für die herrschende Lehre so
charakteristischen Zirkel ausdrücklich ab Und er erklärt den Staat
1).

als mit der „Gesetzesgemeinschaft" aber nicht mit dem Gesetzes


h. also mit der Rechtsgemeinschaft, nicht mit der Rechts
d.

system,
ordnung identisch. Er glaubt, den Staat in diesem Sinne von anderen
Bedeutungen des Staates ausdrücklich unterscheiden zu sollen und
schlägt vor, hier lieber von „Staatsgemeinschaft" oder „Staatsver
band" als von „Staat" schlechthin zu sprechen. Als ob nicht ge
rade mit dieser Bedeutung das Wesen des Staates, der wesent
lich ein „Verband" oder eine „Gemeinschaft" ist, erfaßt wäre.
Alle anderen Bedeutungen des Wortes Staat sind aber entweder nur
Umschreibungen dieser Grundbedeutung oder mehr oder weniger zu
fällige Modifikationen. Ist nachzuweisen, daß Rechtsgemeinschaft
und Rechtssystem (Rechtsordnung) dasselbe ist, dann bedeutet Wen
zeLs Erkenntnis von der Identität des Staates mit der Gesetzes
gemeinschaft die Identität des Staates mit der Rechtsordnung.
WenzEL sagt: „Der Staat in diesem Sinne bedeutet also eine be-

0.
S.

a. a. 199.
')
§ 31. Der Staat als Gesetzesgenieinsehaft (Wenzel). 195

stimmte Art menschlicher Gemeinschaft, nämlich die nach räumlich


persönlichen Gesichtspunkten abgegrenzte Vielheit von Menschen,
die einem souveränen, mit einer gewissen Autorität
. . . Art von
ausgestattetenNormsetzer schlechthin unterstellt ist und von ihm in
ihren Beziehungen durch einen Komplex von Normen geregelt wird.
Die schlechthinnige Unterstellung der Menschen des so abgegrenzten
Bereichs unter ein und denselben autoritativen Willen und die Rege
lung ihrer Beziehungen durch einen Komplex seiner Normen bilden
das einigende Band, welches das Konglomerat von physischen und
psychischen Tatsächlichkeiten für das menschliche Denken zu einer
Einheit verbindet. " Für eine normative Betrachtung, wie sie
WENZEL, nachdem er den Normencharakter des Rechtsgesetzes
grundsätzlich anerkennt, postulieren muß, ist das „Konglomerat von
physischen und psychischen Tatsächlichkeiten wenn überhaupt, so
nur als Normeninhalt und somit nicht neben dem „Normen-
komplex", sondern nur mit und in ihm gegeben. Wenn der Staat
— was WenzeL doch gewiß nicht leugnen wird — wesentlich eine
Einheit ist, so sollte WENZEL doch beachten, daß er selbst nichts
anderes behauptet, als daß diese Einheit „für das menschliche
Denken" gegeben ist. Aber was für Konsequenzen zieht WENZEL
selbst? Er fährt fort: „Der Staat in diesem Sinne, den wir zum
Unterschied von anderen Bedeutungen Staatsgemeinschaft oder
Staatsverband nennen wollen, ist also kein rein subjektives Gedanken
gebilde, sondern ein objektiv Daseiendes." WENZEL sucht offenbar
nach einem Ausdruckfür die Objektivität des Staates, die nichts
anderes ist als die objektive Geltung des als „Staat" bezeichneten
Normensystems. Allein WENZEL verwechselt — für Juristen typisch!
— Objektivität mit Naturrealität und sagt: „Er ist zwar nicht eine
sinnlich wahrnehmbare, aber doch eine aus physischen und psychi
schen Tatsachen herauszudenkende, in ihnen begründete und darum
reale Gesamterscheinung"1). Und darum ist der Staat von der
Rechtsordnung verschieden, denn diese ist ein „Gedankending", jener
aber „real". Daß man natürlich ebenso von dem Gesetzessysteme
sagen könnte, daß es aus physischen und psyohischen Tatsachen
„herauszudenken, in ihnen begründet" und darum „real" sei, liegt
auf der Hand. WENZEL bleibt bei seinem Bestreben nach rein
juristischer Erkenntnis auf halbem Wege stehen. Er kann sich bei
einer spezifisch juristischen Realität, bei der „Realität", das ist
der spezifischen Geltungsexistenz des Rechtes, nicht beruhigen.
Er vermutet immer noch „hinter" dem Recht irgendeine eigentliche

') a. a. 0. S. 198, 199.


13*
196 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

„Realität", ein Natursein und übersieht, daß er so zwei verschiedene


Erkenntnissysteme miteinander unklar vermengt. Damit verfällt er
schließlich doch wie die ganze herrschende Lehre in jenen wider
spruchsvollen Dualismus einer Rechtsordnung und eines ihr irgendwie

1).
gegenüberstehenden „Staates"
Neben dem Staat, der mit der Gesetzesgemeinschaft identisch ist
und daher, wie hier gezeigt wurde, mit dem Begriff der Rechtsord
nung zusammenfallen muß, glaubt WENZEL noch einen zweiten Be
griff des Staates unterscheiden zu sollen, der mit dem ersteren nicht
vermengt werden dürfe. Zweifellos hat das Wort Staat — wie schon
oft betont — sehr verschiedene Bedeutungen allein gerade der zweite

;
Begriff des Staates, auf den WENZEL hinweist, ist mit seinem ersten
vollkommen identisch. Er geht von jenen juristischen Urteilen aus,
in denen der Staat als Subjekt von Handlungen behauptet wird,
dem Staat menschliche Handlungen zugerechnet werden, der
Staat als Person erscheint; und er stellt den Begriff der Staats
person dem der Staats gemeinschaft entgegen; als ob
nicht der Staat gerade als Gemeinschaft Person wäre „ Die Gesamt

!
person Staat, kurz die Staatsperson, ist nicht identisch mit der
oben erörterten Gemeinschaft Staat" Und doch sagt WENZEL
2).

selbst vom „Subjekt" Staat, „es sei aus vielen Individuen u-

z
sammengesetzt", man könne die Gesamtperson des Staates als
„Verbands person" bezeichnen ist diese „Zusammmensetzung",
;

dieser „Verband" nicht dasselbe wie eine „Gemeinschaft", ist denn


die „Person" des Staates etwas anderes als die Personifikation der
steckt denn nicht schon in dem Substantivum „Ge
ja

Gemeinschaft,
meinschaft" — von dem man als Subjekt all jene Tätigkeiten als
Prädikat aussagt, die WENZEL zum Begriff der Staatsperson führen
— die fragliche Personifikation
?

Schon in meinen „Hauptproblemen" habe ich das Problem des

Staates und speziell der Staatsperson als Zurechnungsproblem er


kannt und den Staat als Zurechnungspunkt bezeichnet und habe damit
nur zum Ausdruck gebracht, daß der Staat — als Person — die Einheit
der Rechtsordnung. bedeutet. Die „Zurechnung" einer menschlichen
Handlung zum Staate ist — wie ich später insbesondere in meinem
Buche „Das Problem der Souveränität" dargestellt habe — nichts

Aus dieser methodisch unhaltbaren Voraussetzung heraus polemisiert er


')

gegen Ablehnung jeder seinswissenschaftlichen Grundlegung der Lehre


meine
vom Rechtssatz (a. a. 0. 147) und gegen mein prinzipielles Auseinanderhalten
S.

von Sein und Sollen; obgleich er selbst das Rechtsgesetz und somit das Recht
als Norm, d.h. doch wohl als Sollen charakterisiert.
a. a. 0.
S.

203.
»)
§ 31. Der Staat als Gesetzesgemeinschaft (Wenzel). 197

anderes als die Beziehung auf die Einheit des Systems. Und in der
Personifikation kommt dieser Einheitsbezug nur anthropomorph zum
Ausdruck. Obgleich WENZEL die Auffassung des Staates als Zu
rechnungsproblem von mir übernimmt, was notwendigerweise die
Einsicht in die Identität des Begriffs der Staatsperson mit dem Be
griff der Staatsgemeinschaft zur Folge haben mußte, kommt er selt
samerweise zu
der oben gekennzeichneten Unterscheidung beider
Begriffe. Und zwar auf Grund mehrerer Mißverständnisse. Er meint
nämlich das Kriterium für die „Zurechnung einer Handlung zum
Staate" sei ein anderes als das der Zugehörigkeit eines Menschen
zur Staatsgemeinschaft. In dem einen Falle handle es sich um ein
„Subjekt eines Komplexes menschlicher Handlungen", im andern
um eine Vielheit von Menschen1). Allein die
Zugehörigkeit
eines Menschen zum Staate ist auch nur eine
„Zurechnung", und
zwar eineZurechnung von menschlichen Handlungen, denn nicht
der „Mensch" als biologisch - physiologische Einheit „bildet" den
Staat, sondern menschliche Handlungen, die in der Rechtsordnung
statuiert sind. Auch als Gesetzesgemeinschaft ist der Staat nur ein
„Komplex", d. h. ein System — und zwar ein normatives System
— menschlicher Handlungen und nicht etwa ein körperlich-räumlicher
Klumpen von Menschenleibern (samt dazugehörigen Seelen!). Und
die „Zurechnung", die zur „Staatsgemeinschaft" WenzELs führt, be
ruht ganz auf dem gleichen Kriterium wie die Zurechnung, die zur
Staatsperson führt. Eine menschliche Handlung wird auf die Einheit
des Systems bezogen, weil und insofern sie in diesem Systeme,
auf die diesem Systeme spezifische Weise gesetzt, das heißt in der
Rechtsordnung statuiert, als gesollt normiert wird. Nun scheint aber
der Kreis der Handlungen, die in der Rechtsordnung normiert sind oder
— in der üblichen Terminologie gesprochen — der Kreis der Men
schen, die der Rechtsordnung unterworfen sind, und der Kreis der
jenigen Handlungen, die als Staatsakte, bzw. derjenigen Menschen, die
als Staatsorgane bezeichnet zu werden pflegen, keineswegs zusammen
zufallen. Und auf diesen Schein begründet auch WenzeL seine
Unterscheidung zwischen Staatsgemeinschaft und Staatsperson. Allein
näheres Zusehen zeigt nicht nur, daß beide Kreise denselben Mittel
punkt haben : der sog. „Wille" der Staatsgemeinschaft und der „Wille
der Staatsperson („Wille" ist hier ja nur ein anderer Anthropomorphis-
mus für Systemeinheit!) müssenidentisch sein", sondern auch: daß
zwischen dem Begriff der Normunterworfenheit, bzw. dem Kreis der
Normunterworfenen und dem der Staatsorganschaft, bzw. dem Kreis

') a. a. 0. S. 203.
198 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

der Staatsorgane keine feste Grenze zu ziehen ist, daß es eine mehr
öder weniger willkürliche Einschränkung ist, wenn man die spezi
fische Beziehung des Norniunterworfenen zur Rechtsordnung, die Er
füllung oder letzte Konkretisierung der Rechtsordnung nicht
als
Staats- oder — was dasselbe ist — als Rechtsakt gelten lassen will.
Denn das wesentliche juristische Kriterium des Begriffes Staats
organ, bzw. Staatsakt ist nichts anderes als eben dies: Erfüllung,
Konkretisation Rechtsordnung, die sich stufenweise
der aus der
höchsten Allgemeinheit der Ursprungshypothese zu immer kon
kreteren Formen verdichtet. Zwischen dem „weiteren" Kreise der
Untertanen schlechtweg und dem „engeren" Kreise der Staatsorgane
im herkömmlichen Sinne dieser Worte könnte nur die graduelle
Differenz zweier (oder mehrerer) verschiedener Konkretisationsstufen
eines und desselben Prozesses : der Erzeugung des Rechts
aus der Ursprungshypothese, erblickt werden.
WENZEL meint, bei der Staatsgemeinschaft bilde „die schlecht-
hinnige Unterstellung eines abgegrenzten Menschenkreises unter ein
und denselben autoritativen Willen und die Regelung durch einen
Komplex seiner Normen das einigende Band, das dem menschlichen
Denken die Vielheit der Menschen als eine Einheit erscheinen läßt.
Auf solchem Moment beruht aber die Einheit der Staats p e r s o n
offenbar nicht. Den verschiedenen Staatshandlungen kommt nicht
darum ein einheitlicher Charakter zu, weil die sie vornehmenden Indi
viduen ein und derselben Instanz, und als solche käme hier nur die
gesetzgebende in Frage, schlechthin unterstehen." WENZEL macht
darauf aufmerksam, daß es Staatsorgane gäbe, die nicht Staatsange
hörige seien; allein die Staatsangehörigkeit, diese besondere Quali
fikation gegenüber sog. Staatsfremden ist kein dem Staate oder der
Rechtsordnung wesentliches Institut. Es kann Verfassungen geben,
die zwischen Staatsbürgern und Staatsfremden keinen Unterschied
machen. Es handelt sich hier um einen historisch bedingten Rechts
inhalt, der mit dem Begriff der Recbtsunterworfenheit nichts zu tun
hat. Staatsbürgerschaft ist nichts anderes als eine bestimmte Quali
fikation als Bedingung bestimmter Pflichten und Rechte ; das für den
Begriff der Staatsgemeinschaft wesentliche Moment ist die Norm
unterworfenheit. Diese gilt ebenso für „Fremde" wie für „Staats
bürger", und der „ausheimische Fremde", der Staatsfunktionen aus
übt — auf den WENZEL hinweist — , ist zweifellos ein Normunter
worfener. Dann aber macht WENZEL geltend, daß, wenn die Norm
unterworfenheit das Merkmal der Staatsorganschaft wäre, „alle der
gesetzgebenden Instanz schlechthin unterstehenden Individuen Teile
der Staatsperson bilden und alle ihre gesetzlich vorbestimmten Hand
§ 31. Der Staat als Gesetzesgemeinschaft (Wenzel). 199

lungen solche des Staates„Beides ist offensichtlich nicht


wären.
der Fall." Allein daß alle Normunterworfenen Bestandteile der Staats
person seien, ist eine durchaus zulässige, ja die übliche Vorstellung.
Man muß dabei gar nicht die Ansicht zu Hilfe rufen, derzufolge das
„Volk" Staatsorgan ist. Daß aber üblicherweise nicht alle Rechts-
erfüllungs- (oder Erzeugungs-)Akte als Staatsakte bezeichnet werden,
daß man bestimmt qualifizierte Akte vorzugsweise als Staatsakte
gelten läßt, das ist zweifellos auf gewisse außerjuristische, politische
Gesichtspunkte zurückzuführen, unter denen man die Rechtsakte be
urteilt. Juristisch ist einzige Kriterium der Zurechnung zum
das
Staate, d. auf die Einheit der Rechtsordnung die
h. des Bezuges
Gesetztheit eines Inhalts im System. Vergeblich wird man bei
WENZEL ein anderes Kriterium suchen. Er glaubt die Frage be
antwortet zu haben, wenn er ausführt: Die einzelnen Handlungen
empfangen ihren Charakter als Staatsakte dadurch, daß diese Hand
lungen durch gesetzliche Bestimmungen, also durch den Inhalt der
Rechtsordnung, als solche des Staates qualifiziert werden. Diese ge
setzlichen Bestimmungen „rechnen gewisse Handlungen bestimmter
Individuen nicht diesen, sondern ein und demselben Subjekt, das sie
»Staat« nennen,zu und geben ihnen dadurch einen einheitlichen
Charakter. Die Zurechnung zum »Staat« ist das Mittel, durch das
der Gesetzgeber die einheitliche Qualifikation der zugerechneten Hand
lungen erreicht. Einzig
und allein die gleiche Qualifizierung
der Handlung durch die gesetzlichen Bestimmungen in Form der Zu
rechnung zu ein und demselben Subjekt, dem »Staat«, ist das Merk
mal, das alle Staatshandlungen eint und die einheitliche Staatsper
sönlichkeit begründet". Hier liegt ein prinzipieller Irrtum von großer
Tragweite vor! Die Personifikation, die im Begriff der Staatsperson
auftritt, ist das Produkt der die Rechtsordnung bearbeitenden E r-
kenntnis, ist eine Hilfsvorstellung der juristischen Anschauung,
deren man sich bedienen kann oder auch nicht, sie ist nur ein anthro-
pomorpher Ausdruck für die Einheit, die erkenntnismäßig zu ge
winnende Einheit der Rechtsordnung. Die Zurechnung zur Rechts
person, „Staat" genannt, ist eine freie Tat der juristischen Erkenntnis
und durchaus nicht ein Gebot der Rechtsordnung selbst, irgendein
Inhalt einzelner Rechtsnormen, wie WENZEL annimmt. Die Rechts
ordnung statuiertunter bestimmten Bedingungen ein bestimmtes
menschliches Verhalten. Nicht sie schafft die Person, sondern
die juristische Erkenntnis, die bald die ganze Rechtsordnung, bald
Teilkomplexe von Rechtsnormen unter gewissen Gesichtspunkten als
Einheit begreift und diese Einheit im Bilde der Person veranschau
licht. Die Rechtsordnung bestimmt, daß der Kaiser Krieg erklärt
200 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

und Frieden schließt, daß der vom Parlament gewählte Minister des
Innern eine Konzession erteilt usw., aber sie sagt nicht, daß diese
Handlungen der durch den Inhalt der Rechtsordnung näher be
stimmten Menschen dem „Staate" zugerechnet werden sollen. In
welcher Rechtsordnung findet sich ein solcher Rechtssatz ? Oder die
Rechtsnorm, daß der Kaiser oder die Minister oder sonst irgendein
qualifizierter Mensch als „Staatsorgan" angesehen werden solle?
Und wenn er sich fände, so bedeutete er eine rechtlich gänzlich
irrelevante theoretische Anschauung des Verfassers des Gesetzes. Die
Rechtsordnung kann die Menschen zu Handlungen verpflichten, nicht
aber die juristische Erkenntnis zu bestimmten Denkakten. Weil die
Einheit der Rechtsordnung — oder einer Teilordnung — nur das
Produkt der das Material der Rechtsnormen bearbeitenden E r-
kenntnis, die Personifikation aber nur der anthropomorphe
Ausdruck dieser Einheit ist. muß petitio principii
es als eine naive
bezeichnet werden, wenn WENZEL die Staatsperson — zum Unter
schied von der Staatsgemeinschaft — als ein Produkt der Rechts
ordnung, der Gesetzesnormen auffaßt. „Sie treten an das menschliche
Denken heran mit der Forderung, bestimmte Vorstellungen zu voll
ziehen, nämlich gewisse Handlungen näher bezeichneter Menschen
als von gleicher Eigenschaft, als solche ein und desselben Subjektes,
der Staatsgemeinschaft, anzusehen, diese Gemeinschaft also als eine
handelnde Person aufzufassen. Indem das menschliche Denken diese
Forderung befolgt, entsteht in ihm der Eindruck der Einheitlichkeit
der Staatstätigkeit und der Personeneigenschaft der Staatsgemein
schaft" WenzeL verwechselt ein Postulat juristischer Erkenntnis
mit einer Norm der positiven Rechtsordnung.
Das Seltsamste aber ist,' daß sich bei WENZEL die Staatsperson,
die er prinzipiell von der Staatsgemeinschaft getrennt wissen wollte,
schließlich als nichts anderes herausstellt als — die Staatsgemein
schaft. Das mysteriöse Subjekt „Staat", dem der Gesetzgeber ge
wisse menschliche
Handlungen zuzurechnen befiehlt — etwa bei
sonstiger Strafe? — ist nämlich — so behauptet WENZEL — die
Staatsgemeinschaft, die „reale Gesamterscheinung'' der Gesetzesgemein
schaft2). WENZEL lehrt: Der Gesetzgeber „macht hiermit die Staats
gemeinschaft, also einen menschlichen Verband zum Subjekt eines Tun
und Lassens, zu einer Person; er personifiziert sie" Also die Staats
s).

person ist die — personifiziert gedachte — Staatsgemeinschaft!


Warum also die Trennung beider Begriffe? Offenbar nur darum,
weil WenzeL irrtümlich glaubt, daß die Veranschaulichung der Ein-
a. a. 0. 0.
S.

S.

206. a. a. 204.
») ')

!)

a. a. 0. S. 205.
§ 31. Der Staat als Gesetzesgemeinschaft (Wenzel). 201

heit der Gesetzesgemeinschaft — und ohne Einheit wäre es keine


Gemeinschaft — diese auf den verschiedensten Gebieten menschlichen
Denkens typisch auftretende Hilfsvorstellung der Personifikation den
Inhalt einer Rechtsnorm bildet. Aber er kann doch wohl ernstlich
nicht leugnen, daß diese Hüfsvorstellung juristischer Erkenntnis
auch vollzogen werden könnte, wenn der „Gesetzgeber" den Personi
fizierungsbefehl zu erteilen unterließe, und daß sich an dem Bestande
des positiven Rechtes und seiner erkenntnismäßigen Einheit nichts
änderte, wenn der Gesetzgeber zwar überflüssigerweise diese Norm,
sich eines Denkbefehls zu bedienen, erlassen, die juristische Er
kenntnis aber die Norm nicht befolgen und ohne den Anthropomor-
phismus der Personifikation sich behelfen würde.
Ganz ebenso wie WENZEL die Begriffe Staatsgemeinschaft und
Staatsperson erst prinzipiell scheidet, um schließlich zu sagen, die
Staatsperson sei die Staatsgetueinschaft, so versucht er zuerst zwei
„Willen des Staates" zu unterscheiden, einen Willen der Staats
gemeinschaft und einen Willen der Staatsperson, und betont mit
größtem Nachdruck, daß beide wohl auseinandergehalten werden
müßten Daß der „Wille" des Staates keine real-psychische Tat
1).

sache, sondern nur der anthropomorphe Ausdruck, der gleiche anthro-


pomorphe Ausdruck für die Einheit des Rechtssystems ist wie die
Wille sind
ja

(Person und juristisch ident habe ich seit


!),
Staatsperson
jeher und wie ieh glaube als erster behauptet. WENZEL übernimmt
auch diese meine Erkenntnis von der rein juristischen, unpsycho
logischen Bedeutung des Staatswillens. Aber er unternimmt den
aussichtslosen Versuch, diesen juristischen Willen .des Staates zu
spalten,richtiger zu verdoppeln. Als Wille der Staatsgemeinschaft
:

bedeute er so viel wie „Norm", als Wille der Staatsperson be


deute er die Einheit der Zurechnung. Allein beides ist dasselbe
!

Wenn von der Gesetzesgemeinschaft ausgesagt wird, daß sie etwas


„wolle", so besagt das nichts anderes als: daß der Inhalt dieses
Willens der Inhalt einer Norm sei, die den integrierenden Bestand
"

teil eines — die Gesetzesgemeinschaft konstituierenden — Gesetzes


systems bilde, und daß dieses System eine Einheit bilde,
also gleichsam einen einheitlichen „Willen" habe. Inhalt der Nor
men — und also von der Gesetzesgemeinschaft „gewollt" — sind
menschliche Handlungen. In der Vorstellung, daß alle normierten
Handlungen von der Gesetzesgemeinschaft, dem Staat, gewollt
sind, kommt die gleiche Zurechnung, h. der gleiche Einheits
d.

bezug zum Ausdruck wie in der Vorstellung einer Handlung der


Staats n.
o
p
e
r
s

a. a. 0. S. 211, 212.
')
202 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

Wenn alle rechtlich gebotenen Handlungen als vom Staat —


als Staatsgemeinschaft — „gewollt" angesehen werden, so können,
ja so müssen sie als Handlungen des Staates gelten, dem Staate
zugerechnet werden. Denn eine Handlung ist meine Handlung,
weil ich sie gewollt habe, der Wille das Zurechnungsprinzip
schlechtweg und die Staatsgemeinschaft, eben weil ihr ein „Wille"
zugesprochen wird, „Person"1).
Darum ist nicht zu verwundern, daß WENZEL, nachdem er den
Willen der Staatsgemeinschaft und den Willen der Staatsperson als
zwei grundverschiedene Begriffe voneinander getrennt hat, schließlich
doch sagen „Der souveräne Wille der Gesetzesgemeinschaft
muß:
ist Wille der Statsperson, Staats wille"2). Was im Grunde genommen
nichts anderes bedeutet als : Der Staat ist die Rechtsordnung.

§ 32.
Staat und Recht als zwei Seiten desselben Gegen
standes (SomLo, Radbruch).
Die Erkenntnis der Identität von Staat und Recht setzt sich in
der neueren rechtstheoretischen Literatur immer deutlicher und be
wußter durch. Nachdem ich in meinen „Hauptproblemen" den Ge
danken ausgesprochen habe, daß Staat und Recht nur als zwei ver
schiedene Seiten desselben identischen Gegenstandes betrachtet 'werden
müssen, und daß die „Person" des Staates nur der Ausdruck für die
Einheit der Rechtsordnung sei, hat insbesondere SOMLO mit aus
drücklicher Berufung auf diese Auffassung eine Lehre entwickelt,
die beinahe auf eine vollständige Identifizierung der beiden Begriffe
hinausläuft3). „Staat" ist nach SOMLO die durch die Befolgung der
') WenzeL meint, weil ich in meinen .Hauptproblemen" den Begriff des
Staatswillens nur als Zurechnungsbegriff gelten lasse, etwas überlegen, daß ich
„über das Ziel hinausschieße*. Ich überlasse es nach dem oben Gesagten der
weiteren wissenschaftlichen Entwicklung, festzustellen, wer das Ziel besser
getroffen hat, möchte aber speziell WenzeL — bei aller Anerkennung seiner,
wie bereits gesagt, sehr verdienstlichen Arbeit — daran erinnern, daß das Ziel
nach dem auch er schießt, nämlich der unpsychologische, rein juristische
Willensbegriff, von mir erst aufgestellt werden mußte, damit auch Wenzel
sich als Schütze bewähren konnte. 2) a. a. 0. S. 242.
») Juristische Grundlehre, 1917, S. 251 ff. Vgl. dazu die kritische Dar
stellung der SoMLOschen Theorie in meinem .Problem der Souveränität"
SomLo stützt sich auf die folgende Stelle meiner .Hauptprobleme":
ff.

S. 31
„Ein derartiges Verhältnis von Staat und Recht, demzufolge der erstcre das
prius, der letztere das posterius ist, muß jedoch mit Entschiedenheit abgelehnt
werden, da ein Staat ohne Recht ebensowenig denkbar ist wie ein Recht ohne
Staat und die historische Forschung die Anfänge des Rechts und der staat
lichen Organisation nicht voneinander getrennt aufzeigen kann. Staat und
Recht müssen zweifellos als zwei verschiedene Seiten derselben Tatsache be
§ 32. Staat und Recht (Soinlo, Radbruch). 203

Rechtsnormen gebildete Gesellschaft. Er nennt also die Faktizität


des Rechts, seine Wirksamkeit: „Staat". Bezeichnet man als
„Recht" nicht bloß die Norm in ihrer spezifischen Sollgeltung,
die Norm als spezifischen Sinngehalt, Bedeutungsinhalt, sondern auch
das — allein wirksame, Wirkung habende — Denken, Fühlen,
Wollen der Norm, kurz das Faktum des Normerlebnisses, dann ist
eigentlich nicht einzusehen, warum man nicht auch die Wirkung
dieses Faktums: das in Handlungen umgesetzte (innere)
Normerlebnis — ' und nichts anderes ist ja das „Befolgen" der
Norm — als „Recht" bezeichnen will, warum gerade nur die Wir
kung, nicht auch die Ursache „Staat" heißen soll. Und andererseits
ist nicht zu leugnen, daß dieses in den „Befolgungs"akten vorliegende
tatsächliche Geschehen als solches gar nicht faßbar, gar nicht von
dem übrigen Naturgeschehen abgrenzbar wäre, wenn sein Inhalt sich
nicht als Inhalt eines bestimmten Normsystems deuten ließe.
Nur kraft des Normsystems hebt
als Deutungsschema verwendeten
sich die als „Staat" angesprochene Naturwirklichkeit von ihrer Um
gebung ab. Und die Bezeichnung „Staat" gebührt somit eigentlich
mehr diesem Normsystem, das man als „Recht" anspricht.
Zu dieser willkürlichen Terminologie wird SOMLO wahrscheinlich
dadurch verleitet, daß er — im Anschluß
an die herrschende Lehre
— ursprünglich von dem Dualismus Staat — Recht ausging und den
Staat als „Gesellschaft" dem Recht als „Norm" gegenüberstellte.
So hat er denn auch diesen Dualismus nicht ganz überwunden und
ist darum den Widersprüchen nicht entgangen, die mit ihm ver
bunden obgleich er diese Widersprüche bei der herrschenden
sind,
Lehre als Mängel empfunden hat. Insbesondere hat er auch die
übliche Hypostasierung des Rechts nicht vermieden. Er nimmt eine
„Rechtsmacht" an, von der das Recht ausgeht und verfällt schließ
lich sogar in die Scheinprobleme der Selbstverpflichtungstheorie
1).

Deutlicher als SOMLO, wenn auch nur in Form eines Bildes, hat
RADBRUCH die Identität von Recht und Staat gelehrt. Mit Be
2)

rufung auf die Darstellung des Verhältnisses in meinen „Haupt


problemen" spricht er zwar nicht von zwei Seiten eines identischen
Gegenstandes, aber von den verschiedenen Modi einer Substanz
".

Seine Ausführungen sollen, da sie die relativ fortgeschrittenste Dar


stellung der neueren Literatur sind, hier wörtlich wiedergegeben

trachtet werden* 405, 407. Diese Formulierung kann ich heute nicht mehr
S.

aufrecht erhalten! Sie ist sozusagen erst das vorletzte Stadium auf dem müh
samen Weg, der zur Erkenntnis der Identität fuhrt.
Vgl. dazu mein „Problem der Souveränität" S. 34.
')

Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1914, 82 ff.


S.
2)
204 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

werden „Es ist eine alte Streitfrage, ob das Recht dem Staate oder
:

der Staat dem Rechte >vorangehe«, oder — um klarzustellen, daß


nicht der zeitlichen, sondern der logischen Priorität des Rechts oder
des Staates nachgefragt werde — : ob der Staat seine Befehlsgewalt
dem Recht oder umgekehrt das Recht seine Geltung dem Staatswillen
verdanke. Der Staat ist Rechtsquelle und geht als solche dem Recht
voran, — und die andern entgegnen: Der Staat ist
sagen die einen
selbst Rechtsgebilde, er ist in seiner juristischen Existenz das Pro
dukt des Verfassungsrechts und setzt also seinerseits das Recht
voraus. Die offensichtliche Aussichtslosigkeit der Beantwortung dieses
Problems läßt Unrichtigkeit der Frage vermuten. In der Tat darf
nach der Priorität des Rechts oder des Staates deshalb gar nicht
gefragt werden, weil beide dasselbe, nur verschiedene Modi
einer Substanz, nurBetrachtungsweisen derselben
verschiedene
Gegebenheit sind. Für den Juristen existiert der Staat nur, soweit
er sich im Gesetze ausspricht, nicht als soziale Macht, nicht als
historisches Gebilde, sondern nur als Subjekt und Objekt seiner Ge
setze. Schon das Wort Gesetzgebung bezeichnet, wie alle Worte
mit dieser Endung, sowohl einen Prozeß wie dessen Produkt, eine
Wollung und ein Gewolltes
zugleich. Sehen wir in der Gesetz
gebung den Inhalt einer bestimmten Wollung, so stellt sie sich uns
als Recht dar. Sehen wir in ihr eine Wollung bestimmten Inhalts,
so personifiziert sie sich zum Staat. Als ordnende Ordnung ist die
Gesetzgebung als geordnete Ordnung Recht.
Staat, Der Staat ist
das Recht normierende Aktivität, das Recht der Staat als
als
normierte Zuständlichkeit, eins vom andern zwar unter
scheidbar, aber ungeschieden,
und unteilbar deshalb
auch die Frage nach dem Zweck des Rechts und des Staates"1).
Die Erkenntnis der Identität von Recht und Staat, die Einsicht, daß
mit den beiden Worten nicht zwei verschiedene Wesenheiten oder
Gegenstände bezeichnet werden, wird einigermaßen durch dies Be
mühen getrübt, den dualistischen Sprach gebrauch wenigstens auf
irgendeine Weise zu rechtfertigen. Dabei setzt aber schon eine er
hebliche Unideutung der mit „Staat " und „Recht" bezeichneten Be
griffe ein. Und Bedeutungswandel an die Unter
soferne dieser
scheidung einer statischen und dynamischen Betrachtung anknüpft,
scheint er tatsächlich Aussicht zu haben, die wissenschaftliche Be
griffsbildung in Zukunft zu bestimmen2).
') a. a. 0. S. 83/84; auch S. 160, wo der Gedanke der Selbständigkeit des
Rechts-(Staats-)Systems in einem anschaulichen Bilde dargestellt wird. Vgl.
dazu Sandes, Alte und neue Staatsrechtslehre, Zeitschr. f. öffentl. Recht,
II. Bd., S. 189 ff. ") Vgl. dazu die Ausführungen des § 34.
205

IV. Der Dualismus von Staat und Recht im


Lichte der Erkenntniskritik.
10. Kapitel.

Der Staatsbegriff als Substanzbegriff.

§ 33.
Der metarechtliche Staatsbegriff als verdoppelnde
Fiktion (VaihINger).
Betrachtet man den Begriff des Staates, so wie ihn die Staats
lehre neben, ja gegen den des Rechtes entwickelt hat, von einem
höheren, die Begriffstechnik auch anderer Wissenschaften
vergleichenden, erkenntniskritischen Standpunkt aus, so zeigt sich,
daß er als Hypostasierung, als Personifikation und Realsetzung von
Rechtsnormen oder Rechtsrelationen, als Verdinglichung von Be
ziehungen nur eine jener zahllosen Fiktionen darstellt, von denen
die Geschichte des menschlichen Denkens voll ist. Es ist das große
Verdienst VAIHINGERs das Wesen dieser Fiktionen durchleuchtet
zu haben. Als Personifikation der Rechtsordnung bildet der Staat
ein klassisches Beispiel der sogenannten personifikativen Fiktionen2).
Wie jede Personifikation, so wird auch die des Staates voll
zogen, um eine Vielheit von Relationen für das Denken zu verein
fachen und zu veranschaulichen. Weil es dem menschlichen Denken
unbequem ist, wenn es mit der Rechtsordnung als Einheit zu ope
rieren hat, den komplizierten Mechanismus einer Vielheit abstrakter
Normen zu vergegenwärtigen, stellt man diese Rechtsordnung unter
dem anschaulichen Bilde der menschlichen Person vor, als
deren wesentliche Qualität ein „Wille" angenommen wird. Die
eigenartige Weise, in der menschliche Handlungen als normiert, als
gesollt gelten, läßt sich am leichtesten durch die Analogie zu dem

') Die Philosophie des Als ob. 1911. Vgl. dazu auch meine Abhandlung :
Zur Theorie der juristischen Fiktionen in Annalen der Philosophie, I. Bd.,
1919, S. 630 ff. •) a. a. 0. S. 50 ff.
206 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

subjektiven Erlebnis das in dem psychischen Akt des


darstellen,
Irgendetwas -Wollena liegt. Der Drang nach Personifikation, der
identisch ist mit dem Streben, alles nach Analogie des eigenen Ich
zu begreifen (alles als Ich zu begreifen), scheint tief in der Natur
des menschlichen Geistes zu wurzeln; zugleich aber auch die Nei
gung, „Hilfsmittel" des Denkens als „reale" Wesenheit zu
dieses
hypostasieren. Es ist dies nur ein besonderer Fall des „allgemeinen
Hanges des Denkens, die reinen Erkenntnis m i t t e 1 in ebensoviele
Erkenntnis gegenstände zu verwandeln
"
Dadurch verdop

1).
pelt aber — wie VAIHINGER gezeigt hat — das Denken den Gegen
stand, den zu bewältigen
seine Aufgabe ist. An Stelle der einen
Wesenheit treten zwei; die Aussagen über beide sind — nur durch
die Terminologie verhüllte — Tautologien und entwickeln sich
notwendig zu inneren Widersprüchen, zu jenen, für alle Fik
tionen so charakteristischen Antinomien, Sch ein problemen, die sich
aus der vermeintlichen Zweiheit des Gegenstandes, aus dem künst
lich erzeugten Dualismus eines Erkenntnisobjekts und seiner hypo-
stasierten Personifikation ergeben und sich nur lösen lassen, indem
die künstliche Zweiheitauf die ursprüngliche Einheit reduziert, die
Hypostasierung und mit ihr der Dualismus aufgelöst, das „Ding"
auf die nur fiktiv von ihm losgelösten „Relationen", die Substanz
auf die Funktionzurückgeführt wird. Das ist der erkenntnis
theoretische Sinn des hier versuchten Nachweises, daß der „Staat"
identisch ist mit der Rechtsordnung als einem System von Rechts
sätzen, das sind Aussagen über Relationen menschlicher Hand
lungen, die eben in der Rechtsnorm auf spezifische Weise verknüpft
werden. Der Begriff des Staates spielt in der Rechtswissenschaft
durchaus die gleiche Rolle wie der Begriff der „Kraft" in der
Physik, der Begriff der „Seele" in der Psychologie allgemein
2),

Vgl. Casserek, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissen


')

schaft der neueren Zeit, II. Bd., 1907, S. 588.


Im VIII.
Band seiner .Völkerpsychologie* (Die Gesellschaft, IL,
S.
»)

326)
sagt Wundt: .Damit rückt aber die Frage nach dem Wesen des Staates für
die Völkerpsychologie genau auf die gleiche Linie, auf der für die individuelle
Psychologie die alte Frage nach dem Wesen der Seele steht. Wie die Seele
ein die Wirklichkeit der unendlich mannigfaltigen seelischen Vorgänge in eine
Einheit zusammenfassender Begriff ist, der seine Grundlage lediglich in den
wechselnden Beziehungen und in dem durch sie vermittelten stetigen Verlauf
jener Vorgänge findet, so ist der Staat der Zusammenhang der einzelnen Vor
gänge des staatlichen Lebens selbst, nichts, was neben ihnen als
eine selbständige Substanz oder auch als ein spezifischer »Volke-
geist«, substantielle Form« nach dem alten Ausdruck der Scholastik
eine
existiert." Für Wundt ist der Staat — hier — allerdings die Einheit real
psychischer Prozesse, eine „Resultante" psychischer „Wechselwirkungen". —
§33. Der nietarechtliche Staatsbegriff als verdoppelnde Fiktion (Vaihinger). 207

der Begriff der Substanz in der Naturwissenschaft1). Was ein


Naturforscher vom Begriff der Kraft sagte: „ Kraft ist nichts als
eine versteckte Ausgeburt des unwiderstehlichen Hanges zur Per
sonifikation, gleichsam ein rhetorischer Kunstgriff unseres Gehirns,
das zu tropischen Wendungen greift, weil ihm zum reinen Aus
druck die Klarheit der Vorstellung fehlt" 2) , gilt wörtlich vom
Staat*). Und wenn die moderne Physik den Begriff der Kraft aus

Daß der Begriff der Rechtsperson — und somit auch der Begriff des Staates
— in Analogie zum Begriff der Seele steht, habe ich schon in der oben zitierten
Abhandlung „Zur Theorie der juristischen Fiktionen" festgestellt.
') Ben Begriff des Staates erkenntnistbeoretisch als Substanz begriff
klar nachgewiesen zu haben, ist das Verdienst SandeRs: „Wie also die theo
retische Physik zwischen »Energie« als dem synthetischen Grundsatze der Ein
heit der Naturkräfte und »den Energien« (Energiearten) als den empirischen
Verwirklichungen jenes Grundsatzes unterscheidet, so muß auch in der Theorie
der Rechtserfahrung zwischen der Beharrlichkeit des Rechtsverfahrens (Staat)
als synthetischem Grundsatz der Einheit des Rechts und den »Rechtsverfahren«
(Verfahrensarten) als empirischer Erfüllungen jenes Grundsatzes unterschieden
werden. Nur daß »die Energie« kein Ding hinter den Energien, sondern
ihr Einheitsbezug, ihr gemeinsamer Maßstab, »Staat« nicht ein Verfahren
hinter den Verfahren, sondern Beharrlichkeit des Verfahrens als Maßstab der
Rechtserzeugung bedeutet Der in der Staatslehre so beliebte Begriff
der »Gewalt« ist ein Analogon zum unkritischen Begriff der »Kraft« in der
früheren Naturwissenschaft. Wie aber »Kraft« nur eine subjektivistische Zu
sammenfassung bestimmter Naturgesetze, das heißt synthetischer Urteilsfunk
tionen, bo bedeutet »Gewalt« lediglich eine subjektivistische Zusammenfassung
synthetischer Rechtssatzfunktionen." Sander, Alte und neue Staatsrechts
lehre, Zeitschrift für öffentl. Recht, II. Bd., S. 193, 203. Vgl. auch die Aus
führungen der §§ 33, 34.
*) Dubois-Retmond zitiert nach VaihingeR, a. a. 0. S. 50.
3) In seiner in naturwissenschaftlicher Terminologie vorgetragenen Sozio
logie erklärt Spencer den Staat als eine unsichtbare „Kraft", deren bloßes —
allerdings sichtbares — Werkzeug die Staatsorgane seien. „Die hier erläuterte
Neigung, die allen Menschen in gewissem und den meisten in sehr hohem
Grade zukommt, eine Kraft mit dem sichtbar sie ausübenden Agens statt
mit ihrer eigentlichen nicht wahrnehmbaren Quelle zu verknüpfen, hat, wie
schon oben angedeutet, einen verderblichen Einfluß auf unsere Vorstellungen
im ganzen und namentlich auf diejenige vom Staate gehabt.
Wenn auch die in vergangenen Zeiten allgemein verbreitete Gewohnheit, der
Regierung bestimmte, ihr innewohnende Kräfte zuzuschreiben, durch das Empor
kommen volkstümlicher Verfassungen wesentlich abgeschwächt ist, so herrscht
doch auch heute noch keineswegs eine klare Erkenntnis der Tatsache, daß eine
Regierung an sich nicht mächtig, sondern nur das Werkzeug einer Macht ist.
Diese Macht existierte, bevor Regierungen entstanden. Diese wurden selber
erst durch jene geschaffen und sie bleibt auch nach wie vor das Agens, das,
mehr oder weniger vollständig verborgen, durch ihre Vermittlung wirksam ist"
(Prinzipien der Soziologie, HI. Bd., S. 377). Charakteristisch ist, wie Spencer
diese angeblich naturwissenschaftlich -soziologische Tatsache im Sinne eines
208 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

ihrem Erkenntnissystem eliminiert hat, so wie die moderne Psycho


logie keine von den einzelnen psychischen Akten verschiedene „Seele"
mehr kennt, so muß die Rechtswissenschaft den Staat als ein von
der Rechtsordnung verschiedenes Wesen aus ihrem
Bereich ausscheiden. In
Sinne wird es dann ebenso eine
diesem
Staatslehre ohne Staat geben (und das wird die Rechtslehre sein),
wie es heute — nach der Kritik des Substanzbegriffes durch LOCKE,
Hume, Kant, MacH und AvenariUs — eine Psychologie, das ist eine
Seelenlehre ohne Seele und eine Physik (das ist eine Kraftlehre,
speziell : Lehre von den Zentral k r ä f t e n) ohne Kraft, gibt Als

1).
Ausdruck für die Einheit der Rechtsordnung mag die Bezeichnung
immerhin stehenbleiben. Nur muß

"
„Staat" oder Staatsperson
v

man sich dieses ihres Charakters bewußt bleiben und alles vermeiden,
was zu einer Hypostasierung dieses Gedankendings führen kann,
wenn anders man all die unnützen und törichten Scheinprobleme
vermeiden will, deren die Wissenschaft von Staat und Recht mehr
als genug hat. Wenn es das Symptom der mythologischen Welt
anschauung ist, daß sie „hinter" der wahrnehmbaren Natur in ihren
mannigfachen Erscheinungen eine Vielheit von die Naturerscheinungen
verursachenden Gottheiten, hinter dem Baum eine Dryas, hinter dem
Quell einen Quellgott, hinter dem Meer Poseidon, hinter der Sonne
Apollo vorstellt, so die Natur verdoppelnd, dann steckt unsere Staats
und Rechtslehre noch tief in jenem mythologischen Stadium, aus dem
die Naturwissenschaften sich allmählich befreit haben.

34.
§

Die positivistische Kritik des u n


b
a
S

f
f
r

e
z

s
g
t

e
s

i
und der Begriff des Staates (AVENAEIUS, PEtZOLDt).
Die Kritik, die sowohl die auf HUME, MACH und AvENABIUS
gegründete positivistische als auch die auf Kant gestützte
idealistische Philosophie an
dem Substanzbegriff geübt und
die zur Auflösung dieses Begriffesin seinen verschiedenen Erschei
nungsformen innerhalb der Naturwissenschaft geführt hat, läßt sich
fast wörtlich auf den Staatsbegriff übertragen Immer wieder wird
2).

politischen Postulates, nämlich der Volkssouveränität, deutet. Die


„eigentliche, nicht wahrnehmbare Quelle" der als Staat bezeichneten Kraft",
.

der .Staatsgewalt" sei nämlich die Gesamtheit. das Volk; der Häuptling,
König, kurz, die Regierung sei nur sichtbares Werkzeug (a. a. 0. S. 379, 80).
Vgl. dazu PetzoLdt, Die Stellung der Relativitätstheorie in der gei
')

stigen Entwicklung der Menschheit, 1921,


S.

48, 49.
Vgl. dazu PetzoLdt, Das Weltproblem vom Standpunkt des relativi
»)

stischenPositivismus aus (Wissenschaft u. Hypothese, XIV. Bd.), Aufl. 1912


2.

und Cassireb, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, 1910.


§ 34. Die positivistische Kritik des Substanzbegriffes (Avenarius, Petzoldt). 209

betont, daß die Annahme eines von den Qualitäten, beziehungsweise


Relationen der Dinge „hinter" ihnen stehenden, als
verschiedenen
ihr „Träger" einer
anzusehenden als Materie, Kraft, Sesle,
Etwas,
Atom, Aether oder sonstwie bezeichneten „Substanz" eine anthro-
pomorphe, mythologische „Verdoppelung" der Welt sei sowie hier

1),
der vom Recht „hinter" dem Recht stehende, als
verschiedene,
„Träger" Staat als eine Verdoppelung der
des Rechtes angesehene
Rechtswelt behauptet wurde. Geradeso wie die Substanz der natur
philosophischen Spekulation als ein bloßes „Gedankending" bezeichnet
wird, das die Phantasie überflüssigerweise und verwirrend der Er
so ist hier der Staat als ein bloßes Gedanken
2),

fahrung hinzufügt
ding erkannt, das man — wenn es mehr als ein Ausdruck für die
Einheit der Rechtswirklichkeit, das heißt: des positiven Rechtes,
sein soll — als eine „unberechtigte Hinzufügung" ablehnen muß.
Wenn die Rechts- und Staatstheorie den Staat als Rechtssubstanz
über das Recht — als Normzusammenhang — stellt, wenn sie
den Staat, der dem Recht zugrunde liegt, der in jedem einzelnen
Rechtsakt wiederkehrt und dem wandelnden Inhalt der Rechtsordnung
gegenüber als das Dauernde, alle Wandlungen Ueberdauernde beharrt,
nicht nur politisch, sondern theoretisch höher wertet als das
Recht, so entspricht dem in Naturwissenschaft und Naturphilo
sophie ein ganz analoger Prozeß, den PEtZOLDt folgendermaßen
charakterisiert3): „Die Substanz, die in allem wiederkehrt, jedem
Ding zugrunde liegt und alle Wandlungen der Dinge überdauert,
wird höher bewertet als die sich ändernden und so mannigfaltigen
Dinge der Erfahrung selbst. Das ist nur der ganz natürliche Ausdruck
der allgemeinen Vorliebe für das Einheitliche und Dauernde ....
So gewinnt die Substanz für den Philosophen Art Sein, eine höhere
sie ist das eigentlich Seiende, das eigentlich Existierende, dem
gegenüber das Sein des flüchtigen Einzelnen zum Schein hinabsinkt."
Die Tendenz zur Verabsolutierung, die im Substanzbegriff auf
gezeigt wurde, sie hat sich hier im Begriff der Souveränität des Staates
manifestiert. Was die positivistische Kritik speziell zur Psychologie
des Substanzbegriffes beigebracht hat: daß die Vorliebe für diese
Konstruktion auf der Vorliebe des Menschen für das Stabile, Feste,
Unerschütterliche, also auf einem konservativen Zug der menschlichen
Natur ist gewiß auch für Psychologie des Staatsbegriffes
beruhe4),
aufschlußreich. Und wenn auch das Festhalten am Staats- als einem
Substanzbegriff durchaus zu scheiden ist von ttem Festhalten an der
PetzoLdt, 0., 34, 54, 87, 89, 90,
S. S.

a. a. 100.
1)

PetzoLdt, a. a. 0., 35, 109.


*)

a. 0. S. 51. PetzoLdt, a.0.,


S.

a. a. 39.
4)
*)

Kelsen, Staatsbegriff. 14
210 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

Staats- als einer Rechts-, das heißt Zwangsordnung, so besteht doch


zwischen beiden ein gewisser Zusammenhang. Denn würde man den
Staat nicht als ein von der wandelbaren, willkürlich und nach bloßer
Zweckmäßigkeit zu gestaltenden Rechtsordnung verschiedenes, von
diesen Rechtssätzen unabhängiges, irgendwie naturnotwendig, schick
salhaft gegebenes Wesen, als eine absolute Realität (oder einen ab
soluten Wert) ansehen, dann wäre auch die kritische Einstellung
gegen den konkreten Staat (als eine bloß zufällige Rechtsordnung)
eine viel leichtere, es stünden der Reform weniger Hemmungen
im Wege.
Der Substanzbegriff tritt in mannigfachen Verhüllungen auf. Er
führt nicht nur zur Verdoppelung der Welt, sondern auch — unter
einem anderen Gesichtspunkt — zu ihrer Zerreißung in zwei Teile.
Auch die Spaltung der Welt in eine lebendige Geist- und eine tote
Materiesubstanz führt der Positivismus auf ihn zurück. Von der auf
diesem Dualismus aufgebauten Philosophie des ANAXAGORAS sagt
PEtZOLDt: „So zerfällt das All in zwei grundverschiedene Teile, in
die tote, einerBewegung unfähige Materie, die nur Bau
eigenen
stoff der Welt ist, und in den denkenden, bewegenden, ordnenden
Baumeister ....
Die Herrschaft des Naturgesetzes wird untergraben
und die Wirklichkeit zum Ausfluß eines menschenähnlichen, nur dem
Menschen unendlich überlegenen Willens gemacht" Indem die

1).
Rechts- und Staatstheorie den Staat doch irgendwie in die erweiterte
Sphäre des Rechtes einzubeziehen trachtet, erklärt sie den Staat als
den Erzeuger des Rechtes, als die Kraft an sich, die die bewegungs
lose Rechtsordnung in Funktion setzt, die Rechtsordnung durch Er
zeugung neuer Normen abändert, die Rechtsordnung vollzieht. Der
Staat wird zu einem transzendenten Baumeister des Rechtes; statt
daß man das Recht als ein einheitliches System begreift, das sich
nach immanenten Gesetzen ändert, das autonom funktioniert. Durch
diese Vorstellung eines metarechtlichen Staates, der aber doch höchste
Rechtspotenz ist, wird die Herrschaft des reinen, positiven Rechts
gesetzes untergraben und die Rechtswirklichkeit zum Ausfluß eines
menschenähnlichen, nur den Menschen unendlich überlegenen Willens
gemacht. Man wende nicht ein, daß das Recht doch tatsächlich
Produkt menschlichen Willens sei. Denn die herrschende Theorie
erklärt das Recht als Willen des Staates, also eines vom Einzel
ja

menschen verschiedenen Uebermenschen


2)
!

Ist die Welt durch den Substanzbegriff verdoppelt oder in zwei


Teile zerrissen, dann entsteht für die Philosophie die — unlösbare
0.
S.

a. a. 96.
') ')

Vgl. dazu die späteren Ausführungen 222 ff.


S.
§ 35. Der kritische Idealismus (Cassirer, Sander). 211

— Aufgabe, die Einheit wieder herzustellen Ganz ebenso bemüht

1).
sich die Staats- und Rechtslehre, nachdem sie die Rechtswelt in
„Staat" und „Recht" verdoppelt, beziehungsweise in zwei Teile ge
teilt hat (das letztere soferne sie den „Staat" doch irgendwie als
zur Rechtswelt gehörig ansieht), eine Beziehung zwischen beiden,
das heißt irgendwie eine Einheit herzustellen.
doch Natürlich ver
In Versuch liegt

ja
gebens. diesem
aussichtslosen das ganze „Pro
blem" des „Verhältnisses" von Staat und Recht beschlossen2). „Das
Denken würde eine ganze Reihe und zwar gerade der quälendsten
Probleme weniger haben, wenn es sie nicht erst machte", sagt
PEtZOLDt von den durch den Substanzbegriff ausgelösten Schein
problemen. Es gilt wörtlich von dem Problem des Verhältnisses
zwischen Staat und Recht. Und indem hier der Versuch unter
nommen wurde, den Begriff des vom Recht verschiedenen Staates
aus seiner Hypostasierung herauszulösen und auf einen bloßen Ein
heitsausdruck für den des Rechtes zu redu
Systemzusammenhang
zieren, somit also den reinen,
von aller verdoppelnden Substan-
zialisierung befreiten Rechtsbegriff wieder herzustellen, wird
für den Bereich der Rechtswissenschaft etwas ganz ähnliches unter
nommen, was AVENARIUS
mit der Auflösung des Substanzbegriffes
für die Weltanschauung überhaupt anstrebt und was er „die Resti
tution des natürlichen Weltbegriffes" nennt3).

35.
§

Der kritische Idealismus und die Auflösung des


Staatsbegriffes (Cassirer, Sander).
Damit soll jedoch durchaus nicht die „positivistische" Philosophie,
so wie sie AVENARIUS und PEtZOLDt dargestellt haben, der „reinen
Rechtstheorie" zugrunde gelegt werden. Nur ihre Argumentation gegen
den Substanzbegriff und deren reinigende Wirkung auf die Natur
wissenschaft soll für die Rechtswissenschaft fruchtbar gemacht werden.
Gerade in dem Bemühen, den Substanzbegriff in seinen verschiedenen

PetzoLdt, a. a. 0., S. 105.


')

„Das immer wieder erörterte Problem des Verhältnisses von »Staat


-)

und Recht« ist überhaupt nur verständlich, wenn man sich das metajuristische
(rechtsmetaphysische) Grunddogma der Staatsrechtslehre, den Dualismus zwi-
.

sehen absoluten Substanz des Staates und den relativen Erscheinungen


der
des »Staats rechts« zum Bewußtsein bringt »Energie« und »Staat«
bedeuten nicht Dinge an sich jenseits der Urteilssysteme der reinen Erkenntnis
und des reinen Willens, sondern in diesen Urteilszusammenhängen beharr
lich auftretende und damit die Einheit verbürgende Grundurteile." Saxdek,
Alte und neue Staatsrechtslehre, Zeitschrift für öffentl. Recht, IL Bd.,
S.

181 ff.
Der menschliche Weltbegriff, 1891,
S.

63 ff.
»)

14*
.
212 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

Formen aufzulösen, geht ja der Positivismus


mit dem kritischen
Idealismus durchaus parallel. Das zeigt am deutlichsten die glän
zende Leistung CASSIRERs, dessen Werk „ Substanzbegriff und Funk-
"
tionsbegriff gerade unter diesem Gesichtspunkte die erkenntniskritische
Analyse auf den einzelnen Gebieten der Naturwissenschaft in meister
hafter Weise durchführt. Was CASSIRER für die Grundbegriffe der
Naturwissenschaft wie Atom, Aether, Materie, Kraft, Seele usw., das
ist in ganz analoger Weise auch für die Grundbegriffe der Rechts
wissenschaft, insbesondere für den Begriff des Staates, zu leisten:
sie aus Substanz- in reine Funktionsbegriffe zu wandeln, zu beweisen,
daß die Tendenz zu diesem Wandel in der Ent
wicklung der Wissenschaft selbst liegt. So zeigt
z. B. CASSIRER, wie das Atom aus einem realen Ding mit konkreten
Eigenschaften allmählich zu einem „gedachten Ansatzpunkt für
mögliche Relationen", aus einem Teil des Stoffes zu einem bloßen
ideellen „Subjekt für bestimmte Aenderungen" wird1). „Für die erste
naive Betrachtung erscheint das Atom als ein fester substantieller
Kern, an dem sich nacheinander für uns verschiedene Eigenschaften
unterscheiden und aussondern lassen ; während umgekehrt vom Stand
punkt der Erfahrungskritik aus eben jene »Eigenschaften« und ihre
wechselseitigen Verhältnisse die eigentlichen empirischen Daten bil
den, zu deren Ausdruck der Begriff des Atoms geschaffen wird.
Das gegebene Tatsachenmaterial wird zugleich mit dem noch zu
erforschenden, das begrifflich vorweggenommen wird, in einem ein
zigen Brennpunkt vereinigt, der jedoch, gemäß einer natürlichen
Täuschung, statt als „virtueller« Punkt, alsbald als ein einheit
liches reelles Objekt erscheint. " Schon zur Zeit, da mir der erkenntnis
kritische Zusammenhang zwischen Naturwissenschaft und Rechts
wissenschaft noch unbewußt war, habe ich mich bemüht, in meinen
„Hauptproblemen" zu zeigen, daß der Staat nicht eine vom Recht
verschiedene „Realität" mit bestimmten Eigenschaften, daß er nur
ein begrifflicher Einheitspunkt, ein juristischer „Zurechnungs
punkt"2), der Ausdruck
für die systematische Einheit des Rechts
sei, der gemeinsame Schnittpunkt aller Zurechnungslinien, der ein
heitliche Zielpunkt aller Zurechnungsurteile, die auf Grund der Rechts
sätze gefällt werden. Und wenn CASSIRER hinzufügt: Das Atom
sei demnach „eine Idee" in dem strengen Sinne, den Kant diesem
Terminus gegeben hat — sofern es in der Tat „einen vortrefflichen
und unentbehrlich notwendigen regulativen Gebrauch" besitzt, „näm
lich den Verstand zu einem gewissen Ziel zu richten, in Aussicht

') a. a. 0. S. 213. 2) a. a. 0. S. 280.


§ 35. Der kritische Idealismus (Cassirer, Sander). 213

die Itichtungslinien all seiner Regeln


auf welches
in einem Punkte zusammenlaufen . . . . " so ist dies

1),
nur eine weitere Bestätigung der Parallele zwischen den Begriffen
Staat und Atom. Wie dieses, so ist auch jener eine „Idee", nicht
die Idee des Rechtes im soziologisch- oder naturrechtlich-ethisch
metaphysischen Sinne, sondern eine logische Idee, die Idee der
Einheit des „eine Idee, die zum Zwecke der Ordnung der
Rechtes,
Erscheinungen konzipiert ist, aber mit diesen Erscheinungen selbst
methodisch nicht auf der gleichen Stufe steht"

2).
Nimmt man die Einheit
des Rechtes nicht als von vornherein
gegeben, fragt man, wie diese Einheit erzeugt wird,
sondern
das heißt nach dem Prinzipe, das die Einheit herstellt, garantiert,
kurz, geht man aus einer statischen Betrachtung — in der man das
Postulat der Einheit des Rechtes bereits als erfüllt voraussetzt —
zu einer dynamischen über, bei der die Grundregel zu suchen ist,
nach der die geforderte Einheit des Rechtsmaterials, der Rechtssätze,
erst hergestellt wird, dann wird der Begriff des Staates zum Ausdruck
für diese die Einheit
des Rechtsstoffes erzeugende Grundfunktion.
Und in demselben Maße, in dem man dem Begriff des Staates diese
Bedeutung eines das Rechtsmaterial ordnenden Grundschemas ab
gewinnt, muß sich eine logische — aber keine metaphysische —
Differenzierung zwischen Staat und Recht als zwischen dem obersten
Ordnungsprinzip und dem geordneten Ganzen ergeben, muß sich
die Parallele zu den Grundbegriffen der Naturwissenschaft im Sinne
des transzendentalen Idealismus vollenden. So sagt CASSIBER (im
Anschluß an PEABSONs Grammar of science) von den Widersprüchen
und Antinomien, in die sich die Physik anläßlich des r-
A

h
e
e
t

begriffes verwickelt hat, sie seien darauf zurückzuführen, daß man


„eine gedankliche Schöpfung, die auf Herstellung einer wissen
schaftlichen Ordnung der Phänomene abzielt, selbst als phänomenalen
Einzelinhalt anschauen" wollte3). „Allein die Erkenntnis bedarf einer
derartigen Verdoppelung nicht, die doch die logische Form,
in der sich uns die Wahrnehmungen darbieten, unverändert lassen
würde. Statt hinter der Welt der Perzeptionen ein neues Dasein
zu erdichten, das doch immer nur aus den Materialien der Empfin
dung aufgebaut sein könnte, begnügt sie sich damit, die allgemein
gültigen intellektuellen Schemata zu entwerfen, in welchen die Be
ziehungen und Zusammenhänge der Perzeptionen sich vollständig
darstellen lassen müssen. Atom, Aether, Masse und Kraft sind nichts
anderes als Beispiele derartiger Schemata, die ihre Aufgabe um so

Kritik der reinen Vernunft, Aufl.,


S.

672.
2.
!) ')

Cassiker, 0., 224. 0.


S.
S.

a. a. a. a. 160.
»)
214 I^- Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

genauer erfüllen, je weniger sie in sich selbst von direktem Wahr-


nehmungsgehalt bewahrt haben Die Ordnungsbegriffe der
mathematischen Physik haben keinen anderen Sinn und keine andere
Funktion, als dem vollkommenen gedanklichen Ueberblick Ober die
Beziehungen des empirischen Seins zu dienen. Wird dieser Zusammen
hang zerrissen, so entsteht eine doppelte Antinomie. Hinter der Welt
unserer Erfahrungen erhebt sich ein Reich absoluter Substanzen,
die, selbst eine Art von Dingen, dennoch allen Erkenntnismitteln,
mit denen wir sonst die Dinge der Erfahrung erfassen, unzugänglich
bleiben ....
Auf der anderen Seite wird es unbegreiflich, wie wir
mit unseren physikalischen Begriffen, die lediglich durch ein Ueber-
schreiten des »Vorstellungssystems« entstanden sind, zu eben diesem
System wieder zurückkehren, wie wir hoffen können, es auf Grund
von Gedanken zu bewußten Widerspruch zu
beherrschen, die im
seinem eigentlichen Inhalt geschaffen worden sind"1). Das gilt

mutatis mutandis — durchaus für die Antinomien, in die sich die
Rechtswissenschaft durch den Staatsbegriff verstrickt hat. Auch der
Staat ist als das die Einheit des Rechtes verbürgende Prinzip — im
Verhältnis zu diesem nichts Reales, das heißt nicht von der spezi
fischen (von der Realität der Natur verschiedenen!) Realität des
Rechtes als eines geordneten Ganzen ; er ist eine bloße — die Ein
heit und sohin Realität des Rechts — ermöglichende Kategorie, eine
gedankliche Schöpfung. Auch hier entsteht eine unlösbare Anti
nomie, wenn man, was nur gedanklich zur Bearbeitung, Beherrschung,
Ordnung der Rechtswirklichkeit bestimmt ist, als solche Wirklichkeit
selbst setzt. Auch die juristische Erkenntnis bedarf eigentlich einer
derartigen Verdoppelung nicht. Statt hinter der Welt des Rechtes
ein neues Dasein
zu errichten, das doch immer nur aus den
Materialien Rechtes aufgebaut sein könnte, soll und wird sie
des
sich damit begnügen, allgemeingültige intellektuelle Schemata zu
entwerfen, in welchen die Beziehungen und Zusammenhänge des
Rechtes sich vollständig darstellen lassen müssen. Der Staat —
soferne er nicht geradezu mit dem Recht als ident begriffen wird —
ist ein Beispiel eines solchen Schemas, das seine Aufgabe um so
besser erfüllen wird, je weniger es in sich vom Rechts i n h a 1 t be
wahrt hat. Die Ordnungsbegriffe des Rechtes, insbesondere auch der
so als spezieller Ordnungsbegriff verstandene Staat, haben dann
keinen Sinn und keine andere Funktion, als dem vollkom
anderen
menen gedanklichen Ueberblick über die Beziehungen des Rechtes
— oder der Rechtserfahrung, wie man dann in Analogie zur Natur-

') a. a. 0. S. 218, 219.


§ 35. Der kritische Idealismus (Cassirer, Sander). 215

Wissenschaft sagen kann *)


— zu dienen. Wird dieser Zusammen
hang zerrissen, so entsteht eine doppelte Antinomie. Hinter der Welt
des Rechtes Rechtserfahrung, den Rechtssätzen,
oder der sogenannten
erhebt sich ein Reich absoluter Substanzen, speziell: die absolute
Substanz des Staates, der selbst eine Art von Rechts ding, den
noch allen juristischen Erkenntnismitteln unzugänglich bleibt, ob
gleich ihn „juristisch zu begreifen" postuliert wird. Auf der anderen
Seite wird es unbegreiflich, wie wir mit dem Begriff des Staates,
der lediglich durch ein Ueberschreiten des Rechtes, der „ Rechts
"
erfahrung entstanden ist, zu eben diesem Recht wieder zurückkehren,
wie wir hoffen können, es auf Grund eines Begriffes zu beherrschen,
der im bewußten Widerspruch zum Recht geschaffen worden ist.
Diese Analogie des Staatsbegriffes zu den Grundbegriffen
verblüffende
der Naturwissenschaft wird nur dadurch erschwert und zunächst
etwas verdunkelt, daß beim Staat eine doppelte Hypostasierung
unterläuft: indem er aus der Realität des Rechtes in die der Natur
versetzt, als Naturwirklichkeit angenommen wird. Gegen diese
letztere muß vor allem die kritische Arbeit sich
richten. Auf die spezifische Sphäre des Rechtes
muß der Begriff des Staates zunächst beschränkt
werden. Diese Arbeit ist geleistet, wenn der Staat als eine vom
Rechte verschiedene Wesenheit aufgelöst, wenn er als mit dem Rechte
identisch erwiesen ist. Neben diesem Begriff des Staates, der das
Ganze der Rechtsordnung in ihrer Einheit darstellt und der sich als
der immanente Sinn des überwiegenden Sprachgebrauchs der Wissen
schaft aufzeigen läßt, mag dann die weitere Entwicklung zu jenem
engeren Begriff führen, der den Staat als das die Einheit des Rechtes
erzeugende Grundschema von dem zur Einheit gebrachten Ganzen des
Rechtes selbst differenziert.
In diesem Sinne hat SANDER den Begriff entwickelt
des Staates
und aus der Erkenntnis des Substanzcharakters dieses Begriffes alle
erkenntniskritischen Konsequenzen gezogen. In Anwendung der trans
zendentalen Methode auf die Rechtsphilosophie hat er den Versuch
unternommen, in einer reinen Verfahrenslehre ein System der synthe
tischen Grundsätze des reinen Willens in strenger Analogie zum System

1) Den Begriff der . Rechtserfahrung" hat Sander geprägt, der als erster
die erkenntnistheoretische Parallele zur Naturwissenschaft — allerdings auf
einem anderen als dem hier versuchten Wege — durchgeführt hat. Vgl. die
folgende Darstellung seiner Theorie. Um Mißverständnisse zu vermeiden, be
tone ich, daß der von mir schon vor Sander verwendete Begriff der „Rechts -
Wirklichkeit", ebenso wie der der Rechtserfahrung für mich nur analogische
Bezeichnungen für das „positive" Recht sind.
216 IV. Der Dualismas von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

der synthetischen Grundsätze der reinen Erkenntnis aufzubauen


Der Begriff des Staates rindet seinen Platz in der ersten der „drei Ana
logien der Rechtserfahrung", die er in Parallele zu den drei Analogien
der Erfahrung der KANtschen Erkenntnistheorie aufstellt. „ Die erste
dieser Regeln ist der Grundsatz der Beharrlichkeit des Staates und
lautet: Bei allem Wechsel der Rechtserscheinungen beharrt der Staat
und seine Rechtsform ist unveränderlich"2). „Die Hypothesis des
Staates bedeutet nichts anderes, als daß in allen Synthesen, Tatbestands
funktionen des reinen Willens ein »Grundbestand der Veränderungen«
sich erhält und im Systeme des Rechtes immer neue empirische
Rechtsformen annimmt. Daß ein Grundbestand von Rechtsverände
rungen sich erhalte, das bedeutet aber nichts anderes, als daß das
Verfahren in allen Rechts veränderungen als Grundbestand des reinen
AVillens immer erhalten bleibt. Damit gewinnen wir einen ent
scheidenden Einblick in das Wesen des Staates. Wie im Gebiete
der reinen Erkenntnis die Substanz sich zur Energie bestimmt, so
bestimmt sie sich im Gebiete des reinen Willens zum Staate, das
heißt zum beharrlichen Verfahren. Ueber den Staat läßt sich a priori
nichts anderes aussagen, als daß er als beharrliches Verfahren die
Vorbedingung, der objektive Maßstab und Erzeugungsweg der Tat
bestandsrelationen ist. Die Beharrung
Staates in allen Ver des
änderungen des Rechtes alle Rechtsveränderungen,
bedeutet, daß
gleichgültig welches ihr empirischer Inhalt sei, nur in der Form des
Verfahrens möglich sind. Der Staat als Verfahren ist der objektive
Maßstab aller Bestimmungen des reinen Willens, ist jene objektive
Ordnung, in welcher alle Tatbestände eingezeichnet werden, weil alle
Tatbestände nur am Verfahren gemessen, nur im Verfahren bestimmt
und erzeugt werden können. So wird der Begriff des
Staates, die Hypothesis des Staates zum wich
tigsten Mittel des reinen Willens, die Einheit
des Rechtes aufzubauen. Da der Staat die Beharrlichkeit
des Verfahrens bedeutet, ist alle Rechtslehre Staatsrechtslehre, alle
Staatsrechtslehre Verfahrenslehre " Daß alles Recht Staatsrecht,
3).

ist ein Gedanke, den ich schon in meinen Hauptproblemen" mit dem

größten Nachdruck vertreten habe. „Vom alten Staatsbegriff bleibt


Die transzendentale Methode der Rechtsphilosophie und der Begriff
*)

des Rechtsverfahrens, Zeitschr.für öffentl. Recht, Bd., S. 468 ff.


I.

0.
S. S.

a. 486.
a.
3) s)

0.
a. 487. Zu beachten
a. ist, daß die von Kant angenommene
Einheitsfunktion der Erkenntnis von Sauder — sehr unverständlich —
zu einer Einheitsfunktion des — als .reiner Wille" behaupteten — Rechts-
verfahrens umgedeutet wird. Das Rechts verfahren tritt in Parallele
zum — Erkenntnisprozeß der Naturwissenschaft.
§ 35. Der kritische Idealismus (Cassirer, Sander). 217

für die neue Staatsrechtslehre nicht mehr übrig, als vom alten Gottes
begriff für die mathematische Naturwissenschaft übrig geblieben ist:
der Gedanke der Einheit des Rechtes, welcher im
alten Staatsbegriff als Gedankenkern durch alle naturrechtlichen Hüllen
hie und da durchschimmerte. So wird der Terminus „Staatsrechts
lehre " eigentlich zu einer Tautologie, weil, da alle Lehre vom Recht
Lehre von der Einheit des Rechtes ist, auch jede Rechtslehre Staats
rechtslehre sein muß" Die — sehr problematische — Parallele
zwischen „reiner Erkenntnis" und Recht als dem „reinen Willen",
derzufolge der Staat als — die Einheit des Rechtes verbürgender —
„synthetischer Grundsatz", als Kategorie des Rechtes verstanden wird,
fordert einen dem Begriff der „Erfahrung" im System der Erkenntnis
analogen Begriff im System des „reinen" Willens. SANDER hat dem
gemäß den Begriff der „Rechtserfahrung" geprägt. Die Lehre vom
positiven Recht wird so zur Lehre von der Rechtserfahrung. „Für
die Theorie der Rechtserfahrung, die also an Stelle der bisherigen
verschiedenen Rechtslehren treten muß, bedeutet alles Recht Staats
recht: weil »Staat« nicht mehr ein Ding oder mehrere Dinge an sich
meint, sondern die Beharrlichkeit des Rechtsverfahrena als rechtlicher
Erzeugungsmethode, auf eine
in welcher alle Rechtssatzfunktionen
Verfahrensgrundreihe als letzten Maßstab zurückbezogen werden2)."
Die Einheit der Rechtserfahrung wird ebenso durch den „synthe
tischen Grundsatz", „Kategorie" des Staates verbürgt, wie die
die
Einheit der Naturerfahrung durch die Kategorie der Substanz im
KANtschen Sinne eines synthetischen Grundsatzes. Dabei betont
SANDER immer wieder mit größtem Nachdruck das dynamische
Moment, das in seiner zu einer Verfahrens lehre gestalteten
Rechtslehre liegt. „Der Begriff der Dynamik des Rechts ist der
Rechtsdogmatik fast vollkommen unbekannt, von den Rechtsverfahren
ist es nur der (Zivil- und Straf-)Prozeß, welchem aus praktischen
Gründen eingehende Untersuchungen gewidmet wurden. — Kein
System der Rechtsphilosophie, keine Theorie der Rechtswissenschaft
hat in fundamentaler Weise auf den Prozeß, das Rechtsverfahren
überhaupt, Bezug genommen. Die Lehre vom Rechtsverfahren war
lange Zeit hindurch das Aschenbrödel unter ihren Schwestern. Sie
ist heute eine gleichberechtigte Schwester. Vielleicht aber wird die
Lehre vom Rechtsverfahren
morgen die Königin der Rechtswissen
schaften oder gar —
die reine objektive Rechtswissenschaft sein
Rechtssatz und Tatbestand sind die beiden Komponenten des reinen
Willens, seiner Funktion der Einheit und seiner Funktion der Mannig-

1) Alte und neue Staatsrechtslehre, Zeitschr. für Offentl. Recht, II. Bd.,
S. 191, S. 191. ») a. a. 0. S. 192.
218 IV- Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

faltigkeit. Die kontinuierlich ins Unendliche fortschreitende Synthesis


von Einheit und Mannigfaltigkeit des reinen Willens bedeutet das
Rechtsverfahren"
Damit ist versucht, Methode vollständig auf
die transzendentale
das Gebiet des Rechtes zu die Grundlage zu einer
übertragen und
Neubearbeitung der Rechtstheorie zu legen. Bis zu welchem Grade
dies gelingen wird, ist noch nicht abzusehen. Auch ist hier nicht
der Ort, zu untersuchen, wie weit die Parallele zwischen dem Prozeß
der reinen Erkenntnis und dem zu einem Verfahren des „reinen
Willens" aufgelösten Recht zwanglos durchführbar ist; ob die trans
zendentale Methode in bezug auf das Faktum des Rechtes,
wie Sander es versucht, und nicht, wie z. B. Cohen meint, mit
Bezug auf das Faktum der Rechtswissenschaft zu be
tätigen ist2), ob es eine Rechts e r f a h r u n g anders als in und mit
einer Rechts w i s s e n s c h a ft, Rechtserkenntnis geben und wie
der Begriff der Rechts erfahrung gegenüber dem der Natur-
erfahrung abgegrenzt werden kann 3).

Die transzendentale Methode der Rechtsphilosophie und der Begriff


')

S.

des Rechtsverfahrens, 469, 479.


Vgl. dazu auch Sanders Kritik der an Cohen und seiner Schule
2)

orientierten Schrift von SaLomon Grundlegung der Rechtsphilosophie, 1919,


:

in der Zeitschr. für öff. Recht, II. Bd., 241 ff.


S.

Gegen die von mir vertretene Meinung, daß der Begriff der Staats
»)

,
person" als Ausdruck für die systematische Einheit des Rechtes bestehen bleiben
könne, macht Sander geltend (Alte und neue Staatsrechtslehre,

S.
177 ff):

„ Persönlichkeit ist ein ungeeigneter Ausdruck für die Einheit des Rechtes,
weil die Einheit niemals in der unvermeidlichen Dinghaftigkeit der
>Personc, sondern nur in den Bewegungen des Verfahrens gefunden werden
kann. Einheit des Rechtes bedeutet nicht Einheit der Persönlichkeit, sondern
Einheit der Rechtssatzfunktionen, also Einheit des Rechtsverfahrens. Einheit
eines Urteilszusammenhanges kann niemals — auch nur im bildlichen Sinne —
Einheit eines Dinges, sondern nur Einheit einer Erzeugungsmethode bedeuten.
Einheit der Erzeugungsmethode aber bedeutet die Souveränität des Urteils
zusammenhanges, Einheit des Rechtsverfahrens im besonderen die Souveränität
des Rechtes. Aus dem reinen Ursprung des Rechtsverfahrens werden alle Ge
bilde des Rechtes erzeugt." Ob das Bild der „Person" mehr oder weniger
geeignet ist, die Einheit auszudrücken, scheint mir nicht von irgendeiner Rele
vanz zu sein. Schließlich kommt es nur darauf an, was man ihm für
B

e-
u u n beimißt. Daß ich aber die Einheit des Rechtes niemals als Einheit
d

g
e

eines Dings, sondern stets nur als Einheit eines Urteilszusammenhanges


habe, gibt Sander später selbst — mit Beziehung auf meine
ja

verstanden
„Hauptprobleme" — zu, wo ich das Recht nur als System von Rechtssätzen,
also Urteilen begriffen habe.
weil Sander Kants Kritik der rationalen Psychologie und
Gerade
Theologie zu einer Kritik der herrschenden Staatslehre transponiert (in
seinem im Erscheinen begriffenen Buche: Staat und Recht, Prolegomena zu
g 36. Staat und Gott. 219

11. Kapitel.

Staat und Recht: Gott und Natur.

§ 36.
Staat und Gott.
Während die Mythologie als Theologie des Polytheismus hinter
die eineNatur eine Vielheit von Göttern setzt, begnügt sich die
Theologie des Monotheismus mit einer einzigen Hypostase. Und

einer Theorie der Rechtserfahrung, Wiener staatswissenschaftliche Studien,


herausgegeben von Hans KeLsen, Neue Folge, I. Bd.), indem er den Staat
als die regulative Idee der systematischen Einheit des Rechts auffaßt und
so zu Kants Ideen der reinen Vernunft (Seele, Welt, Gott) in Parallele stellt,
möchte ich ihm die folgende Stelle aus der transzendentalen Dialektik, und
zwar aus dem Abschnitt „Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der
menschlichen Vernunft" in Erinnerung bringen. Die Endabsicht der Ideen
— so führt Kant hier aus — ist die Herstellung der systematischen Einheit.
„Die Vernunft kann aber diese systematische Einheit nicht anders denken,
als daß sie ihrer Idee zugleich einen Gegenstand gibt, der aber durch keine
Erfahrung gegeben werden kann; denn Erfahrung gibt niemals ein Beispiel
vollkommener systematischer Einheit. Dieses Vernunftwesen (ens rationis
ratiocinatae) ist nun zwar eine bloße Idee und wird also nicht schlechthin
und an sich selbst als etwas Wirkliches angenommen, sondern nur problema
tisch zum Grunde gelegt (weil wir es durch keinen Verstandesbegriff erreichen
können), um alle Verknüpfung der Dinge der Sinnenwelt so anzusehen, als
o b sie in diesem Vernunftwesen ihren Grund hätten, lediglich aber in der
Absicht, um darauf die systematische Einheit zu gründen, die der Vernunft
unentbehrlich, der empirischen Verstandeserkenntnis aber auf alle Weise be
förderlich und ihr gleichwohl niemals hinderlich sein kann. Man verkennt
sogleich die Bedeutung dieser Idee, wenn man sie für die Behauptung oder
auch nur die Voraussetzung einer wirklichen Sache hält Dieses
transzendentale Ding ist bloß das Schema jenes regulativen Prinzips, wodurch
die Vernunft, so viel an ihr ist, systematische Einheit über alle Erfahrung
verbreitet. — Das erste Objekt einer solchen Idee bin ich selbst, bloß als
denkende Natur (Seele) betrachtet. Will ich die Eigenschaften, mit denen ein
denkendes Wesen an sich existiert, aufsuchen, so muß ich die Erfahrung be
fragen, und selbst von allen Kategorien kann ich keine auf diesen Gegenstand
anwenden, als insoferne das Schema derselben in der sinnlichen Anschauung
gegeben ist. Hiemit gelange ich aber niemals zu einer systematischen Einheit
aller Erscheinungen des inneren Sinns. Statt des Erfahrungsbegriffs also (von
dem was die Seele wirklich ist), der uns nicht weit führen kann, nimmt die
Vernunft den Begriff der empirischen Einheit alles Denkens und macht da
durch, daß sie diese Einheit unbedingt und ursprünglich denkt, aus
demselben einen Vernunftbegriff (Idee) von einer einfachen Substanz, die
an sich selbst unwandelbar (persönlich identisch) mit anderen wirklichen
Dingen außer ihr in Gemeinschaft stehen, mit einem Worte: von einer ein
fachen selbständigen Intelligenz. Hiebei hat sie nichts anderes
vor Augen als Prinzipien der systematischen Einheit
220 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

darum entspricht der Begriff des einig-einzigen Staates der Rechts


lehre vor allem und insbesondere dem Begriff des einig- einzigen
Gottes der jüdisch-christlichen Theologie. Schon in meiner 1913

in Erklärung nämlich alle Bestimmungen als in


der Erscheinungen der Seele:
einem einzigen Subjekte, alle Kräfte so viel als möglich als abgeleitet
von einer einzigen Grundkraft, allen Wechsel als gehörig zu den Zuständen
eines und desselben beharrlichen Wesens zu betrachten ....
— Aus einer
solchen psychologischen Idee kann nun nichts anderes
als Vorteil entspringen, wenn man sich nur hütet, sie
für etwas mehr als bloße Idee, d. i. bloß relativisch auf
den systematischen Vernunftgebrauch in Ansehung der
Erscheinungen unserer Seele gelten zu lassen." Das heißt
in die Sphäre des Rechts Übersetzt : Die Vorstellung der systematischen Einheit
des Rechts unter dem Schema der Staatsperson ist zulässig, wenn man sich
nur hütet, diese Personifikation zu hypostasieren, wenn man sich bewußt bleibt,
es nur mit dem Ausdruck für die geforderte systematische Einheit des Rechts,
nicht aber mit einem vom Rechte verschiedenen realen Wesen, d. h. mit einem
Wesen von der gleichen Realität — wie jene des Rechtes ist — zu tun zu haben.
Noch weiter geht Kant bei der regulativen Idee „Gott". Die Frage, ob man
diese „bloß regulative" Idee, die nichts anderes besage, „als daß die Vernunft
gebiete, alle Verknüpfung der Welt nach Prinzipien einer systematischen Ein
heit zu betrachten", „nach einer Analogie mit den Gegenständen der Erfahrung
denken dürfe", wird von Kant ausdrücklich bejaht, jedoch mit der Ein
schränkung, daß Gott nur „als Gegenstand in der Idee und nicht in der Rea
lität, nämlich nur sofern er ein uns unbekanntes Substratum der systematischen
Einheit, Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welteinrichtung ist, welche sich
die Vernunft zum regulativen Prinzip ihrer Naturforschung machen muß.
Noch mehr, wir können in dieser Idee gewisse An throp omor-
phismen, die dem gedachten regulativen Prinzip be
förderlich sind, ungescheut und ungetadelt erlauben..."
(Kritik derreinen Vernunft, IL Auflage, S. 709 ff., 725 ff.). Ob die Konzes
sionen, die Kantspeziell hinsichtlich der Darstellung der Gottidee gemacht
hat, nicht zu weit gehen und welches die Motive hiefür gewesen sein mögen,
kann hier dahingestellt bleiben. Die Personifikation der systematischen Ein
heit ist jedenfalls durch Kant selbst als zulässiges Hilfsmittel des Denkens
legitimiert.
Vielleicht darf ich auch daran erinnern, daß selbst ein so rigoroser Er
kenntniskritiker wie Cassiker es für zulässig erklärt, das Atom als „S u b-
jekt für bestimmte Veränderungen" zu definieren, als „Ansatzpunkt für mög
liche Relationen" zu begreifen (a. a. 0. S. 213). Ist „Subjekt" etwas anderes
als „Person", ist „Punkt" nicht ein von d i n g hafter Anschauung herstam
mendes Bild, aber eben nur Bild, und als solches, weil anschaulich, dinghaft.
Indes will ich Sander gerne zugeben, daß man, um die logische Mechanik
ganz zu durchschauen und sich so ganz und gar vor jeder Substanzialisierung
zu bewahren, aus der statischen Betrachtung der irgendwie hergestellten Ein
heit des Rechtes zu der dynamischen Betrachtung des diese Einheit erzeugen
den Prozesses aufsteigen muß. Das habe ich freilich in meinen „Hauptpro
blemen" noch nicht getan. Dort wird das Recht als reine statische Einheit
genommen. In meinem „Problem der Souveränität" aber bin ich bereits —
§ 36. Staat und Gott. 221

"
erschienenen Abhandlung „ Ueber Staatsunrecht
l) schrieb ich : „ Die
Annahme, daß die Rechtsordnung der Wille einer einheitlichen Staats
person sei, ist nur der Ausdruck für die logische Geschlossenheit,
die innere Widerspruchslosigkeit eines Systems von Rechtsnormen.
Bei der damit verbundenen Personifikation findet ein ähnliches Denk
bedürfnis seine Befriedigung wie jenes, das den nur viel komplizier
teren und auf zahlreichere Quellen zurückführenden Denkprozeß in
Bewegung setzt, der zum Gottes begriff führt. Wenn eine Ana
logie zwischen dem Mikrokosmos der Rechtsordnung und dem Makro
kosmos der Ordnung des Universums zulässig ist — und sie ist
keineswegs neu und schon dem primitiven Denken bewußt —, dann
steckt in der grandiosen Personifikation aller das Universum be
herrschenden Normen, sofern sie als ein sinnvolles, widerspruchloses
System gedacht werden, dann steckt in dieser Idee eines persönlichen,
einheitlichen Gottes die gleiche oder doch eine verwandte Oekonomie
und zwar unter dem Eindruck von MbrKLs Theorie vom Stufenbau des Rechts,
deren Einfluß auch auf Sanders Verfahrenslehre unverkennbar ist — zur
Dynamik übergegangen. Es geht eben auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft
nicht anders, als es — nach der klassischen Darstellung Cassirers — auf dem
Gebiete der Naturwissenschaft gegangen ist. Der Fortschritt vom Substanz-
zum Funktionsbegriff ist ein allmählicher. „Die Abwehr der metaphysischen
Ansprüche ist es, die die Theorie zunächst zu leisten hat", sagt Cassirer von
der Entwicklung der Physik; und für die Rechtswissenschaft galt es zunächst,
die soziologisch - psychologischen, die naturrechtlicben — kurz : die meta
rechtlichen Ansprüche abzuwehren; „und diese Abwehr kann nur
dadurch geführt werden, daß die empirischen Grundlagen der exakten
'Wissenschaft immer genauer und deutlicher bloßgelegt werden"; für die
Rechtswissenschaft: daß die Einschränkung auf die rein positiv
rechtlichen Elemente, die Reinheit der juristischen Methode immer schärfer
betont wird. „Die logischen Faktoren treten zurück, solange
das Bemühen, die reine Erfährung gegen das Eindringen der Metaphysik zu
schützen, alle philosophischen Kräfte in Anspruch nimmt" (a. a. 0., S. 180).
Den erkenntniskritischen Reinigungsprozeß, zu dem die Naturwissenschaft
Jahrhunderte und mehr gebraucht hat und der heute noch nicht beendet ist,
hat die Rechtswissenschaft eben erst begonnen.
Indes möchte ich den Gegensatz, der zwischen meiner und Sanders
Anschauung besteht, durchaus nicht unterschätzen ! Da für mich das Recht
ein System von Normen ist, bleibt die Rechtswissenschaft als Normenlehre
und in diesem Sinne als Dogmatik trotz ihrer völligen sachlichen Selb
ständigkeit dennoch der Ethik methodisch verwandt. Ich ziele auf eine reine,
d. h. von Ethik ebenso wie von Naturwissenschaft freie Rechtsdogmatik.
Sander aber wendet sich gegen jede Rechtsdogmatik überhaupt und läßt
das Recht als Norm nicht gelten. Inwieweit er dabei nicht in das Fahrwasser
der — von ihm ursprünglich bekämpften — sogenannten soziologischen
Rechtstheorie geraten muß, ist nach seinen bisherigen Publikationen noch
nicht zu übersehen.
') Grünhuts Zeitschrift für das private u. öffentl. Recht d. Gegenw., XL. Bd.
222 IV- Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

des Denkens wie in der juristischen Konstruktion eines einheitlichen,


persönlichen Trägers der staatlichen Rechtsordnung, der Staatsperson,
"
des persönlichen einheitlichen Staates. Die vollkommene Parallelität
in der logischen Struktur des Staats- und des Gottesbegriffes mani
festiert sich in einer verblüffenden Gleichartigkeit der Probleme und
Problemlösungen in Staatslehre und — Theologie, wobei deren Haupt
problem : Das Verhältnis von Gott und Welt (oder Gott und Natur)
in vollkommenster Weise der Kernfrage der Staatslehre nach dem
Verhältnis von Staat und Recht entspricht.

§ 37. .
Die Transzendenz Gottes gegenüber der Natur,
des Staates gegenüber dem Recht.
Den Begriff des Staates bestimmt die Staatstheorie grundsätzlich
als ein dem Rechte transzendentes Wesen. Der Staat steht außer
und über dem Recht. Nur diese Transzendenz verbürgt eine von
der Rechtslehre verschiedene Staatslehre.Indem der Staat aber als
ein dem Recht transzendentes Wesen, also grundsätzlich doch immer
nur mit Bezug auf das Recht charakterisiert wird, führt der
Versuch, die Eigenschaften des Staates zu bestimmen, hauptsächlich
(in Wahrheit ausschließlich) zur Feststellung negativer Qualitäten.
Die Eigenschaft der sogenannten „Souveränität" des Staates bedeutet
nichts anderes als die Behauptung des Staates als eines Absolutums,
und zwar sowohl im Sinne einer höchsten Macht — das ist einer solchen,
über der keine höhere steht, die durch keine andere beschränkt wird,
was konsequent zur Vorstellung des Staates als prima causa führt — ,
als auch eines höchsten Gutes oder höchsten Willens. Die „Macht"
des Staates ist innerhalb seiner spezifischen Existenzsphäre durchaus
als „ Allmacht" zu deuten, d. h. nicht als Allmacht im natürlichen
Sinne — obgleich man mitunter auch in diesem Sinne von einer
„Omnipotenz" des Staates spricht — , sondern im normativen Sinne,
so zwar, daß die Staatsordnung jeden beliebigen Inhalt aufnehmen,
daß der Staat — wie man sich ausdrückt — rechtlich alles kann,
was er will. Der Staat als absoluter Wille im Sinne einer obersten
Quelle des Rechtes findet seinen Ausdruck in der Vorstellung des
Staates als Person, und zwar hier zunächst als metarechtlicher Person
(zum Unterschied von der der Rechtsordnung unterworfen gedachten
Person des Staates). Als „Person" wird der Staat in dieser Hin
sicht insofern vorgestellt, als er gegenüber den veränderlichen Funk
tionen des Rechtes als ruhende „Substanz", als einziger und einheit
licher Träger des Rechtes gedacht wird. Zur Einheit und Einheit
lichkeit des Staates tritt aber, als Konsequenz der Souveränität, die
§ 37. Die Transzendenz Gottes gegenüber der Natur. 223

Einzigkeit hinzu. Die Souveränität des einen Staates ist unvereinbar


mit der eines andern und der Staat — sofern er wesentlich souverän
ist — einzig1).
Der Gottesbegriff der christlichen Theologie charakterisiert sich
vor allein durch seine Transzendenz. Der evangelische Dogmatiker
Kaptan lehrt: „Dem entspricht nämlich, daß die Transzendenz Gottes
in der stärksten Weise betont, daß Gott vor allem als Nichtweit,
als im Gegensatz zur Welt stehend erkannt werde" Die Ueber
weltlichkeit" Gottes — ihr entspricht die Ueberrechtlichkeit des
Staates — wird
von der Theologie darum immer wieder und mit
solchem Nachdruck betont, weil die pantheistische Identifikation
Gottes mit der Welt jede Theologie aufheben und nur Naturwissen
schaft bestehen lassen müßte. Von den Versuchen, dem Begriff Gottes
„die Gesamtheit des endlichen Daseins", also die Welt, zum Inhalt
zugeben, sagt Kaftan: „Allen diesen Theorien, die den christlichen
Gottesglauben in das pantheistische Geleise der Logosspekulation
überzuführen drohen, ist das Verständnis der Ueberweltlichkeit Gottes
entgegenzuhalten, das sich aus dem christlichen Glauben ergibt: er
ist in seinem eigenen Sein und Leben mit dem Sein und Leben der
Welt unverworren" Und der katholische Dogmatiker POHLE sagt:
s).

„Weil die „Unvermischbarkeit« Gottes


(mit der Welt) den extremen
Gegensatz zum Pantheismus bildet, so
hat das unfehlbare Lehramt
der Kirche durch die beiden Synoden von Chalcedon 451 und des
Vatikans 1870 den Pantheismus in seiner Herzmitte getroffen . . .
Die hier zum Glaubenssatz erhobene Unvermischbarkeit und folglich
Ueberweltlichkeit göttlichen Wesenheit (Substanz) ist mit dem
der
pantheistischen Gedanken ganz und gar unvereinbar, daß Gott zur
Teilsubstanz einer anderen Substanz herabsinke, daß er als lebender
Naturgrund oder als Weltseele auftrete" Würde der Staat als
4).

die Rechtsordnung und als Personifikation ihrer Einheit oder als


Teilrechtsordnung erscheinen, dann wäre für eine Staatslehre neben
der Rechtslehre kein Platz.
Daß die Betonung der Transzendenz Gottes dazu führt, „das
Wesen Gottes in negativen Prädikaten zu schildern, in denen er als
Nichtweit, als Gegensatz zur Welt erscheint" ist der Theologie
5),

deutlicher bewußt als der Staatslehre die analoge Konsequenz der


metarechtlichen Natur ihres Staatsbegriffes. Das mag damit zusammen
hängen, daß die Theologie Gott auch bewußt als Absolut um

Vgl. dazu mein .Problem der Souveränität" 187 ff.


S.
')

Dogmatik, Aufl.,
S.

153. a. a. 0.
5.

S.

193.
*) 3)

»)

Lehrbuch der Dogmatik, Bd.,


S.

Aufl.,
5.

151.
I.

Kaftan, a. a. 0., S. 162.


*)
224 rV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

setzt, während die Jurisprudenz ihr Objekt nur indirekt in der Lehre
von der Souveränität verabsolutiert. „Der erste Satz der christlichen
Gotteserkenntnis lautet, daß Gott das Absolute ist. Er bedeutet,
daß wir . . . unter Gott ...
die absolute Macht über alles Wirkliche

verstehen"1). Die „absolute" Macht Gottes ist seine „Allmacht".


„Da es keine Religion gibt, in der Gott nicht Macht zugeschrieben
wird, so ist die Allmacht insoferne die göttliche Eigenschaft xat'
^°X^vi das, was Gott zu Gott macht"2). Hört man nicht
immer wieder von Staatsrechtslehrern versichern, die Macht sei es,
die den Staat erst zum Staat mache? Die Allmacht Gottes wird
auch als „absolute Kausalität" und Gott als prima causa, 3) bezeichnet
als „Ursache Daß
der Gott Welt" erklärt.
speziell „die absolute
Substanz" sei, wird ebenso von der evangelischen wie der katho

4),
lischen Theologie behauptet daß der Staat die absolute Rechts
substanz sei, kommt in der Staats- und Rechtslehre nur gelegentlich
zum Ausdruck; ist aber darum dennoch nicht weniger wahr. „Das
Urschema aller Substantialität ist die Personalität", sagt schon
VAIHINGER Und so tritt auch die absolute Substanz in der Staats
5).

lehre ebenso wie in der Theologie als Person auf. Der tran
szendente Gottesbegriff hat — nach Kaftan — aus der platonisch
aristotelischen Philosophie in die christliche Theologie Eingang ge
funden. „Nun ist es freilich ein unveräußerliches Moment auch im
christlichen Gottesgedanken, daß Gott ein anderer ist als die Welt.
Hier bestimmt er sich jedoch dahin, daß er allem geteilten
und mannigfaltigen, relativen und abhängigen Sein der
Welt gegenüber die in sich selbst beruhende und zusammengefaßte
höchste Energie des persönlichen Wollens ist"6). Gott
ist ebenso absolute Substanz wie absolute Person. Die evangelische
Theologie bezeichnet als die beiden wesentlichen Momente des christ
lichen Gottesbegriffes die Absolutheit des Wesens und die Subsistenz
als Geist, als Ich, vorgestellt nach der Analogie der menschlichen
Persönlichkeit; zu den „drei Hauptsätzen" über Gott gehört, „daß
er absolute Substanz" und daß er „absolutes Subjekt" sei7). „Gott
wird im christlichen Glauben erkannt als überweltlicher persönlicher
Geist" Und ebenso betont auch die katholische Theologie mit
8).

größtem Nachdruck die Persönlichkeit Gottes. Auch in diesem

Kaftan, 0., 0.
S.

S.

a. a. 180. a. a. 106.
») ')

!)

PohLe, 0.,
S.

a. a. 152.
Vgl. Kaftan, a. a. 0., PohLe, 0.,
S.

S.

173, a. a. 150: „Das Dogma


*)

der absoluten Substantialität Gottes."


a. a. 0. S. 89h Kaftan, 0.,
S.

a. a. 153.
»)

») •)

Kaftan, O., S. 173 u. 174. Kaftan,


S.

a. a. 185.
')
§ 37. Die Trannzendenz Gottes gegenüber der Natur. 225

Punkte spielt der Gegensatz zum Pantheismus die entscheidende Rolle.


So sagt POHLE: „Der unpersönliche Gott des Pantheismus
ist durch das eine Wort: ich bin der ich bin, hinreichend widerlegt'1).
Um Gott als E i n h e i t gegenüber der Vielheit der Welt zum Aus
druck zu bringen, fungiert die Personifikation als erkenntnistheore
tisches Hilfsmittel. Sie wird allerdings in der Theologie zum Substrat
einer Hypostasierung. Verzichtet man auf die Personifikation, dann
verliert man eben die erste Voraussetzung für den transzendenten
Gottesbegriff. Es ist im Verhältnis von Staat und Recht nicht anders.
Wenn die Theologie aller monotheistischen Religionen der Ein
heit und Einheitlichkeit des Gottesbegrifies die Einzigkeit hinzufügt,
wenn mit besonderem Pathos die Einzigkeit Gottes behauptet wird,
so ist das nur die logische Konsequenz dessen, daß Gott als das
absolut höchste Wesen gilt. Daß auch der Staat, soferne er als
souverän erklärt, das heißt verabsolutiert, als absolut höchstes Rechts
wesen vorausgesetzt wird, das einzige Rechtswesen sein muß, das
heißt : daß die Souveränität des einen Staates die Souveränität jedes
anderen und damit jeden anderen Staat als souveränes Ge
Staates
meinwesen ausschließt, ist zwar schon grundsätzlich erkannt2), aber
als Erkenntnis noch nicht allgemein akzeptiert worden. Vom Stand
punkt erkenntnistheoretischer Deutung ist der juristische Begriff der
Souveränität des wie die Norm des Dekalogs: Ich,
Staates ebenso
der Ewige, dein Gott, bin einig und einzig, und: Du sollst keine
anderen Götter haben neben mir, nur der grandios-anthropomorphe
Ausdruck für die Einheit und die ausschließliche Geltung, die jedes
normative System immanent beansprucht.
Wie der Staat, so ist Gott als Persönlichkeit: Wille. „Gott ist
persönlicher Geist oder geistige Persönlichkeit" — so lautet in der
christlichen Gotteserkenntnis die nähere Bestimmung des Satzes vom
geistigen Wesen Gottes. Sie bedeutet die Ueberordnung des geistig
persönlichen Willens über das Denken und Erkennen. „Die Frage,
die dadurch entschieden wird, ist die, ob wir mit Aristoteles das
geistige Wesen Gottes in das Denken seiner selbst (£auTov vostv)
zu setzen und dementsprechend die dianoetische Tugend als die
eigentliche Bestimmung des Menschen zu erkennen haben, oder ob
Gott die höchste Energie des persönlichen Wollens
ist und die praktische Tugend der dianoetischen übergeordnet werden
muß. Der christliche Glaube entscheidet in letz
terem Sinne"3). Dementsprechend ist „der Gehorsam gegen
') a. a. 0. S. 251.
2) So von NELson, Die Rechtswissenschaft ohne Recht, 1917, S. 60.

3) Kaptan, S. 188.
Kelsen, Staatabegriff. 15
226 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

seinen (Gottes) Willen" „der eigentliche und wahre Gottesdienst",


so wie ja auch der Gehorsam gegen den Willen des Staates der
eigentliche Staatsdienst ist1).

§ 38. .

Die Bezogenheit Gottes auf die Natur, des Staates


auf das Recht: Menschwerdung Gottes, Selbst
verpflichtung (Rechtwerdung) des Staates.
Durch die — vor allem gegen den Pantheismus — mit Nach
druck betonte Transzendenz Gottes gegenüber der Welt gerät die
Theologie in die gleiche Schwierigkeit wie die Staatsrechtslehre an
gesichts der von ihr behaupteten metarechtlichen Natur des Staates.
Erkenntnistheoretisch besteht die Schwierigkeit, ja die Unmöglichkeit
der Situation darin, daß zwei voneinander verschiedene, unabhängige
Systeme auftreten, während die prinzipielle Tendenz der Erkenntnis
auf systematische Einheit gerichtet ist und das Einheitspostulat
selbstverständlich auch vorausgesetzt wird. Diese Schwierigkeit
drückt sich aber sowohl in der Theologie als auch in der Staats
und Rechtslehre nicht rein erkenntnistheoretisch aus. Würde sie
das, wäre der Dualismus als unmöglich sofort behoben. In der
Theologie heißt es etwa so: Mit den Eigenschaften Gottes ist eine
von ihm unabhängige Welt unvereinbar. Die Welt muß, um über
haupt zu sein, irgendwie doch von der Natur Gottes sein. Gott ist
die Weltursache, ist die in der Welt waltende Vorsehung2). Gott
hat die Welt geschaffen. Und umgekehrt könnte der Mensch,
als Teil der Welt, sich von Gott keine Vorstellung machen, wenn
nicht Gott irgendwie auch von der Natur der Welt, des Menschen
wäre. Es wird also „die christliche Gotteserkenntnis diese beiden
Gedanken müssen, die Erhabenheit Gottes über die Welt
vereinigen
und seine positive Beziehung auf die Welt" „Näher ist diese
3).

Ueberweltlichkeit Gottes so zu verstehen: er ist in seinem eigenen


Sein und Leben mit dem Sein und Leben der Welt unverworren.
Das bedeutet keinen Gegensatz zwischen Gott und Welt, der dem
christlichen Glauben widersprechen würde, wohl aber die Unabhängig
keit Gottes, seines Seins und Wesens von allem was Welt heißt"4).
Es kann also „in unserer Gotteserkenntnis niemals vom Dasein der
Welt abgesehen werden, weil wir zur Welt gehören und in unserer
Erkenntnis nicht von unserem eigenen Dasein als ihrem Einheits-

Inwiefern auch eine Ueberordnung des Staats willens über das indi
')

viduelle Denken und Erkennen in Betracht kommt, dazu vgl. mein „Staats
macht" Kaiman,
S.
S.

92, 93. 154.


4) s)

KAftan, a. a. 0., a. a. 0.
S.
S.

155. 192.
•)
§ 38. Die Bezogenheit Gottes auf die Natur, des Staates auf das Recht. 227

paukt abzusehen vermögen. Aber nicht wird Gottes Wesen deshalb


vom Dasein der Welt abhängig gemacht" Und schließlich „Denn

1).

:
so richtig es ist, daß der Glaube den uberweltlichen, den in seinem
eigenen Sein und Wesen mit der Welt unverworrenen Gott erkennt,
so gewiß können doch wir Gott niemals ohne die Welt denken ..."
Von diesen theologischen Vergewaltigungen der Logik seien hier
nur deshalb ausführlichere Proben geliefert, weil sie sich beinahe
wörtlich auch in der Staatslehre finden. Diese behauptet durchaus
das Analoge: Der Staat ist eine vom Recht verschiedene und unab
hängige Wesenheit, er ist metarechtlicher Natur, er steht über dem
Hecht, er erzeugt das Recht. Aber: das Recht ist dem Staate —
und umgekehrt, der Staat dem Recht — doch irgendwie wesentlich,
wir können uns den Staat ohne Recht und das Recht ohne Staat
nicht denken.
Und so wie das Problem
in Theologie und Staatslehre das
gleiche ist, so findet es auch in beiden Disziplinen die gleiche Lösung
— wenn anders man einem logisch unlöslichen Problem gegenüber
von „Lösung" sprechen kann. Der überweltliche Gott verwandelt
sich in die Welt, beziehungsweise in deren Repräsentanten: in den
Menschen, indem sich die Wesenheit Gottes in zwei Personen spaltet

:
in Gott- Vater und Gott-Sohn, den Gott-Menschen oder die Gott- Welt.
Dem Dogma von der Mensch- oderWeltwerdung
Gottes entspricht haargenau die Theorie von der
Selbstverpflichtung des Staates: der metarechtliche
Staat wird dadurch zum Recht, daß er — als Rechtssubjekt — sich
selbst unterwirft und so sich selbst beschränkt. Der ganze Unter
schied ist der, daß sich die Theologie bei diesem Mysterium schließlich
auf das Uebernatürliche berufen kann und auch ausdrücklich beruft,
während die Staats- und Rechtslehre zwar dasselbe Mysterium behauptet,
aber vortäuschen muß, in der Sphäre des Rationalen zu bleiben
i).

In der Person des Gott- Vater untertanen und gehorsamen Gott-


Sohnes vollzieht sich ebenso die mystische Vereinigung zwischen
Gott und Welt, die Aufhebung des fundamentalen Dualismus, wie
sich in der Person des Staates als Rechtssubjekt die rätselhafte Ver
bindung metarechtlichen Staates mit der Rechtsordnung, die
des

Aufhebung des Dualismus von Staat und Recht vollzieht. Gott-Sohn


oder „Logos" spielt dabei die Rolle des Vermittlers. „Die Bedeutung
des Logos besteht eben darin, diesen Gegensatz (zwischen Gott und
Welt) zu vermitteln, er ist das Mittel wesen zwischen Gott und Welt"3).
a. a. 0. S. 197.
») 2) ')

Vgl. dazu mein „Problem der Souveränität",


S.

21.
Kaftan, S. 219.
15*
228 IV. Der Dualismus Ton Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

Den Gedanken der Einheit von Gott und Welt, vermittelt durch
Christus, stellt der katholische Dogmatiker SCHELL in folgender Weise
dar: „. . . Immerhin bleibt die Welt ...
in wesentlicher Unterordnung
unter ihren Grundgedanken ; Gott als Urheber und Endzweck thront
in unerreichbarer Erhabenheit über ihr; sie ist ein Reich von Unter
tanen, deren König nicht i m Reiche, sondern über dem Reiche
steht . . . Welch unvergleichlich höheren Wert würde eine Schöpfung
gewinnen, . . . welche nicht bloß eine Gesamtheit von Untertanen ist,
sondern die innerweltliche Zusammenordnung von Herrscher und
Volk ? Der Urgrund und Zweck ist dann unbeschadet seiner
wesentlichen Erhabenheit in das System der freien Gestaltung selbst
hineingezogen und nicht mehr bloß tiberweltlich, sondern inner-
weltlich"1). Diese Problemstellung ist gerade, weil sie in be
denkliche Nähe des Pantheismus rückt, für die Zwecke der hier
durchgeführten Parallele sehr lehrreich. Daß ein Theologe den
transzendenten, außer und über der Welt stehenden Gott mit einem
außerhalb und überhalb der Rechtsgemeinschaft (der Untertanen)
stehenden Herrscher — das ist ja der metarechtliche Staat — ver
gleicht, ist gewiß sehr symptomatisch2). Wie das überrechtliche Ver
hältnis des Staates oder Herrschers (das im Grunde nur der Ausdruck
für die Verhältnislosigkeit ist) zu einem innerrechtlichen werde, das
ist ja die Kernfrage der Staats- und Rechtslehre geworden, nachdem
sie den Staat dem Recht gegenüber für transzendent erklärt hat.
Und genau so wie in der Theologie — die Darstellung SCHELLs
zeigt dies deutlich — tritt in der Staatslehre das Problem der
Vereinigung von Staat und Recht in einer eigenartigen Vermengung
des ethisch - politischen mit dem erkenntnistheoretischen Gesichts
punkt auf.
Die Wandlung des überweltlichen zu einem innerweltlichen Gott,
so fährt SCHELL fort, „ist durch die Menschwerdung Gottes tatsäch
lich geschehen. Gott wird durch sie zum innerweltlichen Zentrum,
') Katholische Dogmatik, DJ/1. S. 23.
*)Vgl. dazu: A. L'Houet, Der absolute, konstitutionelle und republi
kanische Gott. Religion und Geisteskultur, V. Jhg., S. 69 ff. Dort wird der
Gedanke durchgeführt, daß die G o t t e s vorstellung von der jeweiligen poli
tischen Grundvorstellung beeinflußt werde. „Gott war einst absolut und
ist im Laufe der Jahrhunderte immer konstitutioneller geworden." Der Gott
der mittelalterlichen Theologie „ist an nichts gebunden, nicht einmal an die
Gesetze der Logik. Die Unberechenbarkeit ist seine charakteristische, seine
oberste Eigenschaft! Gott ist ex lex! Aber der Gott der modernen Theologie
„mußte sich Schritt für Schritt, wie alle modernen Könige, eine Konstitution
gefallen lassen. An alle Dinge, an die er früher nicht gebunden war, an die
wurde er gebunden .... Das Gottesbild wurde — wie jedesmal — ein Ab
bild seiner Zeit. Der Himmel wurde zum Abbild der jeweiligen Welt."
§ 38. Die Bezogenheit Gottes auf di'e Natur, des Staates auf das Recht. 229

wie er an sich ihr überweltlicher Ursprung und Endzweck ist. Gott


steht nicht mehr bloß als überweltlicher König über seinem Reiche,
sondern ist ihm als innerweltliches Haupt eingegliedert. Die Schöpfung
ist ilirem Herrn nicht mehr bloß als ein Reich von Untertanen unter
geordnet, sondern er selbst gehört seinem Reich und zu seinem Reich.
Die Schöpfung nimmt infolgedessen teil an der königlichen Würde ihres
Herrn, der zu ihrer Gesamtheit gehört und wird aus dem Stand der ge
schöpflichen Knechtschaft in den Stand der Freiheit und Kindscbaft
erhoben. Gott gehört zur Welt, insoferne er zu Christus gehört; alles
zielt auf Christus, Christus aber ist Gottes ; in Christus ist Gott unser
Besitz und Eigentum, uns angehörig und zugehörig. Die Schöp
fung, welche sich nur befähigt ist, dienend
an
und gehorsam das Grundgesetz jeder Schöpfung
hinzunehmen und zu erfüllen, wird im Gottmenschen
ihr eigener Grund- und Endzweck Dem Gott ....
menschen wird die Schöpfung selbst zum Endzweck,
sie gibt sich selbst ihr höchstes Grundgesetz und
die Gnadenkraft zu dessen allgemeiner Erfüllung" Indem hier die

1).
Theologie bis zur Verselbständigung des das Gottsystem absorbie
renden Weltsystems geht, vollzieht sie denselben Gedankenprozeß
wie die Staats- und Rechtslehre, wenn sie das Recht aus seiner
Stellung als Werkzeug und Geschöpf eines überrechtlichen Staates
dadurch zum Selbstzweck, das heißt zu einer souveränen Ordnung
macht, daß sie die Staatsordnung als Rechtsordnung, das Recht als
Staatsrecht, den Staat als Rechtsstaat begreift. Daß die naturrecht
lich orientierten Staatstheoretiker die Einheit von Sbaat und Recht
als ein politisches Postulat auffassen, dessen Erfüllung im so
genannten Rechtsstaat ein historisches Faktum ist, das nur
bei bestimmten Staaten und nur nach einer bestimmten historischen
Entwicklung eingetreten ist, während die positivistische Rechts
lehre zu der Konsequenz führen muß, daß die Einheit von Staat
und Recht ein logisches Postulat, weil nur eine begriffliche
Identität darstellt, die unabhängig von jeder historischen Entwick
lung ist, daß eine Vereinigung von Staat und Recht kein historisches
Faktum sein kann, weil jeder Staat eine Rechtsordnung und
jedes Recht eine Staatsordnung ist — dies steht in voller Parallele
zu dem Gegensatz, in dem die orthodoxe Theologie zu gewissen
mystisch-pantheistischen Sektenlehren steht, die in Christus nur ein
ewiges Symbol erblicken und die Menschwerdung Gottes nicht als
ein historisches Faktum, sondern alsein im Wesen des Menschen

0.
S.

a. a. 23.
')
230 IV- Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

begründetes Erlebnis jeder Seele begreifen. In jedem Menschen


vollzieht sich die Menschwerdung Gottes, denn Gott ist seinem Wesen
nach mit der Welt ident.

§ 39.
Die „Zweiseiten"theorie in Theologie und Juris
prudenz.
Indem die Staats- und Rechtslehre den Staat einerseits als
ein machtvolles, in seiner Macht rechtlich nicht beschränktes, ja un
beschränkbares, weil Oberrechtliches Wesen, andererseits aber
als Rechtssubjekt, rechtlich verpflichtete,
als rechtlich beschränkte,
der Rechtsordnung und dadurch dem Staat im ersteren Sinne unter
worfene Person behauptet, ist sie gezwungen, mit der Selbstver
pflichtungslehre, ihrem Kernproblem, die sogenannte Zweiseiten
theorie zu entwickeln. Die Theologie, in deren Mittelpunkt das
Mysterium der Menschwerdung Gottes steht, behauptet, daß das
höchste Wesen in Christus „zwei Naturen" habe: es ist ganz Gott
und zugleich ganz Mensch. Die „Zweinaturenlehre" bildet
den Gegenstand der sogenannten Christologie. „Die Lehre von der
Naturzweiheit umfaßt zwei wichtige Glaubenswahrheiten : 1. Christus
"

1)•
ist wahrer Gott 2. Christus ist auch wahrer Mensch . . .
Das Verhältnis, in dem der Mensch Christus zu Gott steht,
wird in der Theologie durchaus in analoger Weise dargestellt, wie
man sich das Verhältnis der Staatsperson als Rechtssubjekt zu der
ihr übergeordneten Staats- (als Rechts-)macht vorstellen muß: als
Verhältnis der Unterworfenheit, des Gebundenseins, der Beschränkt
heit, des Gehorsams. Besonders das letztere Moment: die sittliche
Verpflichtung des Menschen Christus durch Gott und der Gehorsam,
in dem der Mensch Christus seinen Willen dem göttlichen Willen
unterordnet, mit dem göttlichen Willen in Uebereinstimmung bringt.
wird immer wieder betont. Wie die katholische so unterscheidet
2),

auch die evangelische Theologie peinlich zwei Willen, den gött


lichen und den menschlichen. Die evangelische Dogmatik setzt aus
drücklich „eine Spannung" zwischen dem Willen Christi und dem
göttlichen Willen voraus3). Christus bleibt „als Mensch dem alles
verfügenden, die Welt regierenden Willen Gottes untertan"*).
„Wie es dem Menschen gesetzt ist, Gott zu gehorchen, so hat Jesus
den Willen des Vaters in der Welt auszuführen gehabt" „Gehor
6).

sam gegen den Vater" wird Christus immer wieder nachgerühmt.


8)

PohLe, Bd., S. Vgl. PohLe, 0., S.


2.

6.

a. a. 82.
»)
8) ») ')

Kaftan, S. 450. Kaftan, S. 449.


')

Kaftan, S. 455. Kaftan, S. 456.


«)
§ 39. Die ,Zweiseiten"theorie in Theologie und Jurisprudenz. 231

Es ist ein Verhältnis der Verpflichtung, der sittlichen Bestimmung


durch Gott, und da Christus doch auch selbst Gott ist,- ist es eine
Selbstverpflichtung, Selbstbestimmung. Von einer solchen
„Selbstbestimmung" Gottes spricht ausdrücklich SCHELL anläßlich
der Darstellung der Menschwerdung Christi

ja
die Menschwerdung

1),
Gottes in der Person Christi wird von der Theologie geradezu unter
dem Gesichtspunkt der „Selbstbeschränkung" Gottes dar
gestellt. So lehrt (DEttINGEN „Wir müssen also im christlichen

2)
:
Glaubensbekenntnisse die Zweinaturenlehre wahren und gegen jede
Transfusion Einsprache erheben. . . Wir dürfen z. B. nicht sagen

:
.
Die Gottheit hat gehungert und gedürstet, gerungen und gelitten,
ist am Kreuze gestorben; noch auch in solcher Bedeweise uns be
wegen wie: die Menschheit Jesu war allmächtig, regierte die Welt
während sie am Kreuze hing, war allgegenwärtig, während sie in
der Krippe lag, war allwissend, während sie im Gebete rang. All
dies gilt nur von dem konkreten Gottmenschen, der im Hinblick auf
seine menschliche Eigenart der Beschränkung unterstellt war,
im Hinblick auf sein göttliches Wesen die Herrlichkeit zwar besaß,
aber freiwillig auf ihre Ausübung und Geltendmachung verzichtete.
Es bleiben also die Wirkungen des Heilands stets der Eigenart der
beiden Naturen entsprechend (proportional); die neuschöpferischen
(wunderbaren) Wirkungen weisen auf seine Gottheit: die Kampfes-
und Leidensmomente auf seine Menschheit. Aber das einheitliche Ich
nimmt mit seinem Denken und Wollen (Selbstbewußtsein und Selbst
bestimmung) an beiden teil. Um das zu ermöglichen, müssen
wir daran festhalten, daß kraft jener göttlichen Herablassung und
Selbstbeschränkung (schon bei der Fleischwerdung des

Wortes) die Gottheit an dem Leidensmoment teil hat Daher ....


ist die Idiomenkommunikation keine Zerstörung der menschlichen
Natur und Eigenart . . . Und andererseits wird . . . eine wahrhaft
menschliche Lebens entwicklung des Gottsohnes er
möglicht durch jene Selbstbeschränkung, die wir (als ein
dem genus majestaticum gegenüber zu betonender genus xojcetvtoxtxöv
"
oder xevwTixöv) ansehen. Wichtig ist auch der besonders bei (DEt
tINGEN ausgesprochene Gedanke, daß Gott, eben weil er „durch
Selbstbeschränkung Manifestation seiner Machtfülle
die
zurückhalten kann, bloße Naturkraft wirkt"3).
nie wie eine
Gerade so bemüht sich die Staatsrechtstheorie, nachdem sie den Staat
erst als eine vom Recht unabhängig existente, als eine „faktische"

0., Bd., Teil, S.


3.

a. a.
1.

68, 71.
») a) ')

Lutherische Dogmatik, 1I/S.


S.

1902, 56, 57.


a. a. 0.
S.

107.
232 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

oder „natürliche" Macht behauptet, ihn durch die „Selbstverpflichtung"


wieder dieses Charakters einer Naturkraft zu entkleiden und als
Rechtsmacht zu begreifen1).
Natürlich gerät die theologische Zweinaturenlehre mit ihrer
Selbstbestimmung und Selbstbeschränkung Gottes in Christus in die
gleichen logischen Schwierigkeiten wie die Zweiseitentheorie der
Staatslehre mit ihrem Selbstverpflichtungsdogma. Wie kann Gott
zugleich unendlich und allmächtig und dabei seine menschliche Natur
in Christus „im Vollsinn ihrer Endlichkeit und Schwäche zu denken"2)
sein? Als Mensch kann Gott ebensowenig diejenigen Eigenschaften
haben, die man von ihm als Gott aussagt, wie der Staat als Re cht s-
subjekt jene Eigenschaften haben kann, die man von ihm als über
rechtliches Wesen aussagt. „In der Tat aber würde auch die Teil
nahme an der göttlichen Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart seine
Menschheit aufheben. Ihm diese Attribute beizulegen, widerspricht
daher dem Glauben, der ebenso bestimmt seine wahre Menschheit
wie seine Gottheit behauptet" Aus diesem Widerspruch gibt es
3).

natürlich ebensowenig einen Ausweg wie aus jenem, den die Oppo
sition gegen die Selbstverpflichtungstheorie geltend macht, wenn sie
fragt Wie kann der Staat, dessen Wesen die Macht ist, irgendwie,
:

und sei es auch durch sich selbst, rechtlich gebunden werden?


Gegen die Zweinaturenlehre, den sogenannten Dyophysitismus, hat
sich innerhalb der Theologie die gleiche Opposition erhoben. Der
sogenannte Monophysitismus machte geltend, mit der Zweinaturen
lehre „käme man zu einem Zwitterwesen (Bockhirsch, Minotaurus)

"
4).
Noch ohne Kenntnis dieses theologischen Arguments bekämpfte ich
die Vorstellung, derzufolge der Staat nach außen ein machtvolles,
einer Naturgewalt gleichkommendes Wesen, nach innen aber ein
Rechtssubjekt sei, mit den Worten: „Dadurch wird der Staat zu
einem wahrhaft grotesken Fabelwesen, halb Rechtsordnung, halb
Naturding"
*).

Die Auffassung von den zwei Naturen des Staates — einerseits


als Macbttatsache, anderseits als Rechtswesen — führt zu der Glie
derung der Staatslehre in eine Soziallehre vom Staat und in eine
Staatsrechtslehre. Es handelt sich dabei darum, den Staat — der

Dies zeigt zum Beispiel sehr deutlich die Darstellung, in der neuestens
')

bei Eugkn HUbeR (Recht und Rechtsverwirklichung, 1920) die herrschende


Lehre von dem Verhältnis zwischen Staat und Recht auftritt. Insbesondere
a. a. 0. 256 ff, 273.
S.

Kaftan, S. 410. Kaftan,


S.

449.
»)
ä) 4) !)

HarnacK, Dogmengeschichte, 4. Aufl., S. 222.


Das Problem der Souveränität,
S.

201.
§ 40. Theodizee und Staatsunrecht. 233

„an sich" zwei Seiten hat — als 'denselben Gegenstand, als denselben
Stoff von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus zu erkennen; beide
Lehren müssen einander ergänzen, keine ist ohne die andere möglich.
Das ist die herrschende Auffassung, so wie sie JELLINEK klassisch
formuliert hat. Es ist wortwörtlich dasselbe Verhältnis wie zwischen
den beiden Hauptstücken der Dogmatik, Trinitätslehre und Christo-
logie. „In der Trinitätslehre heißt die Frage: Wie erkennen wir
Gott lautet die Antwort: Durch die Erkenntnis dessen, den er
? und

gesandt hat, des Menschen Jesus Christus. In der Christologie


handelt es sich dagegen um die Frage, welche Erkenntnis Jesu Christi
der Glaube hat, und lautet die Antwort, daß er Gott ist. Dort
kommt es, so paradox es scheinen mag, vor allem auf die wahre
Menschheit des Herrn an, darauf, daß wir in ihm, dem geschicht
lichen Menschen, Gott haben und erkennen, und daß es keinen
anderen Weg zur Gotteserkenntnis gibt. Hier dagegen ist die wahre
Gottheit des Herrn das Thema, das Verständnis seiner Gottheit
das, worum die Lehre sich bemüht In diesem Sinne gilt also,
daß Trinitätslehre und Christologie denselben Stoff nur je
unter anderem Gesichtspunkt behandeln.... Der
Stoff ist also in der Trinitätslehre und Christologie ein und
derselbe, der leitende Gesichtspunkt aber ein
verschiedener. Die Ausführung muß zeigen, daß beide
Lehren sich ergänzen und nicht eine die andere überflüssig
macht" Bedarf
noch eines besseren Beweises
es für die Ver
wandtschaft der Staatsrechtslehre und der Theologie?

§ 40.
Theodizee und Staatsunrecht.
Diese Verwandtschaft Ist mir zuerst an dem Problem des
Staatsunrechtes aufgefallen, das ich schon
früher in meiner
zitierten Abhandlung mit der Theodizee
in Parallele gestellt habe.
Ich schrieb damals: „Die Zurechnung eines Unrechtes zum Staate",
den ich schon damals als „Personifikation der Rechtsordnung" er
kannte wäre die gleiche logische Antinomie, die in der Vorstellung
2),

einer Sünde Gottes gelegen wäre.


ja

Daß die Theologie tatsächlich


vor dieser begrifflichen Schwierigkeit einer von Gott gewollten, also
der Gottheit zurechenbaren Sünde steht, ist bekannt, und daß sie
sich damit in der analogen Situation befindet wie die Jurisprudenz
vor der Annahme eines staatlichen Unrechtes, liegt auf der Hand"3).
Ich habe damals nicht weiter untersucht, in welchem Verhältnis die
Kaptan,
S.

432, 433.
») ')

a. a. 0. S. 10. 0.
S.

a. a. 18.
»)
234 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

theologische zu der juristischen Lösung des Problems steht. In


diesem Zusammenhang aber verlohnt es sich immerhin, zu zeigen,
daß die Lösungsmöglichkeiten und Lösungsversuche in beiden Wissen
schaften die gleichen sind. Für die Staatslehre habe ich fest
gestellt, daß die Zurechnung eines Unrechtstatbestandes als ein
Selbstwiderspruch im Staatsbegriff ausgeschlossen ist, und daß sich
ja die herrschende Staatslehre dieses Widerspruches bewußt ist,
wenn sie auch nicht konsequent genug ist, ihre Konstruktion danach
einzurichten. Die Theologie lehrt: „Die christliche Gotteserkenntnis
schließt die Annahme aus, daß der Ursprung des Bösen in Gott, in
seinem heiligen Willen liegen könnte weil die Zurückfahrung ....
des Bösen auf Gott einen Widerspruch in sich selbst bedeuten würde"

1).
Dementsprechend lehrt die Theologie: „Das Böse hat seinen Ursprung
im Willen der persönlichen Kreatur." „Der Ursprung des Bösen
liegt im freien Willen des Menschen" Und die Staatslehre sucht

2).
den gleichen Ausweg: „Die Staatsorgane, durch die allein die juri
stische Person des Staates handeln kann, repräsentieren den Staat
nur insofern, als sie dessen Willen realisieren, als ihr psychischer
Wille mit in der Rechtsordnung ausgesprochenen
dem des Staates
übereinstimmt. Im Staatsorgane, das gegen oder ohne den Willen
des Staates handelt, handelt nicht mehr der Staat, weil dem Staate
nicht zugerechnet werden kann, was ohne oder gegen den Willen
des Staates geschieht. . . Nicht Unrecht des Staates,
.

sondern Unrecht des Staatsorganes liegt vor"3).


Nicht dem Staate, sondern den handelnden Menschen — („Organ"
ist der Mensch nur, sofern seine Handlung dem Staate zurechenbar
ist!)
— wird also das Unrecht zugerechnet. — Indes ist dies nicht
das letzte Wort in dieser Frage;
bleibt bei dieser Lösung noch
es
ein unbefriedigender Rest.
im System der Theologie der
So wie
Einzelmensch nur als Gottes Geschöpf, als Gottes Subjekt, so kommt
er im System des Rechtes nur als Rechtssubjekt in Betracht. Und
so wie in der Theologie eine dem Menschen zugerechnete Sünde,
eben weil der Mensch ein Geschöpf Gottes ist, schließlich doch Gott
ja

zugerechnet werden mußte, bedeutet auch die Zurechnung des Un


rechtes zum Rechtssubjekt schließlich jene Antinomie, die vermieden
werden Denn auch die sogenannte physische Person (des
sollte.
Einzelmenschen) ist nur die Personifikation einer Teilrechtsordnung.
Das Rechtssubjekt kann nicht zugleich das Unrechtssubjekt sein;
vorausgesetzt, daß das Unrecht die Negation des Rechtes, so wie
die Sünde die Negation des göttlichen Willens, ein „Widerspruch
Kaftan, Kaftan,
S.

367. 367, 369.


S.
2)
») ')

Ueber Staatsunrecht, S. 44.


§ 40. Theodizee und Staatsunrecht. 235

gegen den Willen Gottes"1) ist. Diese Bedeutung kann aber das
Unrecht ebensowenig wie die Sünde behalten, wenn die bezüglichen
Tatbestände in das System des Rechtes, beziehungsweise Gottes ein
gehen sollen. Man muß sich der logisch- systematischen Bedeutung
des Problems ganz bewußt werden, um die Tendenzen begreifen und
beurteilen zu können, die den verschiedenen Lösangsversuchen zu
grunde liegen: Das System des Rechtes kann nicht auch dessen
Negation, das Unrecht, das System Gottes nicht zugleich dessen
Negation, die Sünde, umfassen. Daraus erklärt sich das der Rechts
theorie ebenso wie der Theologie immanente Streben, den Tatbestand
des Unrechtes, beziehungsweise der Sünde so umzudeuten, daß er
die Systemeinheit nicht stört. Im System des Rechtes erscheint das
sogenannte Unrecht als gar nichts anderes denn als Bedingung, als
eine spezifische, von der Rechtsordnung im Rechtssatz gesetzte
Bedingung für eine spezifische im Rechts s atz gesetzte Folge :
Strafe oder Exekution. Das Unrecht als Negation des Rechtes ver
schwindet, der Rechtssatz wird nicht als ein Imperativ formuliert,
der das die sogenannte Unrechtsfolge vermeidende Verhalten fordert,
sondern als hypothetisches Urteil, das an einen bestimmten
Tatbestand als Bedingung eine bestimmte Folge knüpft, und zwar
in der Aussageform des Sollens. Wenn jemand stiehlt, so soll er
bestraft werden, und nicht: 1. Niemand soll stehlen, 2. der Dieb
soll bestraft werden. Das ist unter anderem der logisch-systematische
Sinn der von mir näher durchgeführten Konstruktion des Rechtssatzes
in bezug auf den Begriff des Unrechtes. Und in diesem Sinne konnte
ich sagen, „daß das Unrecht nach den unumstößlichen Prinzipien
der Rechtslogik immer nur als Voraussetzung, nicht als Inhalt des
staatlichen Wollens oder Handelns gelten kann" Damit ist
2).

das Unrecht als Rechtsbedingung aufgelöst und


kann in das Rechtssystem Eingang finden. Durchaus den gleichen
Weg geht die Theologie. Sofern die Sünde Negation Gottes, das ist
aber des Gesamtsystems, ist, wird sie als Negation schlechtweg, als
„Nichts" begriffen, das heißt aber, sie selbst wird als Realität negiert.
„Die ist ein Zurücksinken zum Nichts", sagt SCHELL3).
Sünde
„Böse ist ein Mangel des Guten, kein Seiendes, keine reale Bestimmt
heit in sich", lehren die Thomisten Allein den zu deutenden
4).

Tatbestand der Sünde kann man nicht negieren. Man muß ihn
eben so deuten, daß er mit dem göttlichen System in Einklang gerät.
Nach dieser Richtung zielt die Lehre, „daß Gott zwar das Natur-
und Straf übel wollen kann, aber nur per accidens, dagegen niemals
Kaftan, Ueber Staatsunrecht,
S.

339. 17.
S.

«) !)
s) *)

a. a. 0., III. Bd., S. 152. Nach SchkLL, a. a. 0., S. 153.


236 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

die Sünde, die er lediglich zuläßt", und „auch dieses nur, um


nachträglich aus dem Bösen Gutes zu machen"1). Es kommt also
darauf an, die Sünde — ebenso wie das Natur- und Strafübel —
schließlich doch als etwas Gutes zu erkennen. Man spricht ge
wöhnlich von einer „Unterordnung des Bösen unter das Gute", meint
damit zwar zunächst nur eine teleologische Relation. Es kommt aber
schließlich doch auf eine begrifflich-logische Subsumtion des zunächst
"
als Sünde, als „ Böses bezeichneten Tatbestandes unter die Kategorie
des Guten an. POHLE bemerkt, es gäbe Güter, die „die Sünde als
unerläßliche Bedingung zu ihrem Bestände voraussetzen
"
Noch

2).
klarer tritt dies bei SCHELL hervor: „Die zu hoffende Lösung des
Gegensatzes zwischen dem Bösen in der Schöpfung und der Güte
des Weltenherrschers kann nicht in einer Lockerung des Ursächlich-
keitszusammenhanges zwischen Gott und der geschöpflichen Freiheit
liegen, sondern nur in der Weltgestaltung selbst, in der Ver
wendung, welche dasBöse in seiner Verdammnis
für die Weltvollendung und das Weltganze findet.
Die Unterordnung des Bösen unter das Gute muß
in dem Werke Gottes selbst stattfinden und dergestalt sein, daß das
Werk der vollendeten Schöpfung in allen seinen Teilen die unend
liche Güte und Gerechtigkeit in ihrer göttlichen Untrennbarkeit
offenbart und verherrlicht." „Es wird gelehrt: Gottes Ursächlichkeit
sei eine ganz andere hinsichtlich des Guten und des Bösen. Nicht
als ob letzteres unabhängig oder minder abhängig von der Allursache
im Reiche der zweiten Ursachen entstünde, denn sonst wäre es als
solches ein Etwas und eine Macht aus sich. Das Gute ist als
solches von Gott gewollt und gewirkt, so daß es trotz aller
weiteren Zweckbestimmungen nie den Charakter
des Guten verliert. ... Das Böse hingegen ist nur insofern
von Gottes Ursächlichkeit gewirkt, als es gut ist; dies ist es
nicht in sich, sondern nur insofern es dem Guten durch Zweck
beziehung und Unterordnung dient.Das Böse ist Gottes
Wirkung, insofern es gut ist und im Guten des
Schöpfungsganzen aufgeht"3). M. a. W.: Der als „Sünde"
bezeichnete Tatbestand kommt für die Theologie nur als e-
B

n für die von Gott gewollte und darum ein Gut darstel
u n
g
g
d
i

lende spezifische Folge in Betracht und ist insofern auch Inhalt des
göttlichen Willens und sohin ein Gut. Ganz ebenso wie der als
Unrecht bezeichnete Tatbestand für die Jurisprudenz nur als Be
dingung für die von der Rechtsordnung darauf gesetzte Folge
PohLe, Bd., S. 234,
1.

236.
2) ')

0., 0.
S.

Bd.,
S.

a. a. 239. a. a. 161/162.
»)
I.
§ 41. Gott — Mensch, Staat — Individuum; die Willensfreiheit. 237

in Betracht kommt Folge Inhalt des Staatswillens


und wie diese
und sohin Recht ist. Auch wenn die christliche Mythologie dem
„ Himmel" als dem Reiche Gottes und des Guten die „ Hölle" als
das Reich Satans und des Bösen entgegensetzt, kommt darin die
gleiche Tendenz nach Systemeinheit und -reinheit zum Ausdruck.
Das Böse scheidet aus dem System des Guten aus und bildet ein
eigenes, selbständiges System. Das Subjekt des Guten kann nicht
zugleich Subjekt des Bösen, zugleich Un
das Rechtssubjekt nicht
rechtssubjekt sein! Freilich drängt dieser Dualismus schließlich auch
zu einer letzten Vereinheitlichung ; und auch dieser Tendenz entspricht
der christliche Mythus auf mancherlei Weise. Satan ein gefallener
Engel usw.

§ 41.
Gott — Mensch, Staat — Individuum; die Willens
freiheit.
Das Verhältnis Gott — Welt tritt in einer besonderen Gestaltung
in dem Verhältnis Gott — Mensch, richtiger: Gott und Einzelseele,
auf und entspricht durchaus der Beziehung zwischen Staat und
Individuum, genauer: zwischen der Person des Staates und den dem
Staate unterworfen gedachten Einzelsubjekten, den sogenannten phy
sischen und juristischen Personen. Da Gott als geistiges Wesen
gedacht wird, muß auch der Mensch — der nach dem „Ebenbilde"
Gottes geschaffen wurde — für die Theologie grundsätzlich als gei
stiges Wesen in Betracht kommen, das heißt: der Mensch als bio
logisch-physiologische Einheit (Realität) existiert für den Bereich
des Gottessystems überhaupt nicht. Zwar wird gelehrt, der Mensch
bestehe aus Leib und Seele; sieht man aber näher zu, zeigt sich,
daß das wesentliche Element die Seele ist. Denn die dychotomistische
Theorie wird des näheren dahin bestimmt,
„daß die Geistseele un
mittelbare Wesens form des Leibes ist". Ausdrücklich wird ein
paritätisches Nebeneinander von Seele und Leib abgelehnt und sta
tuiert, daß auch „die sensitiven und vegetativen Lebensvorgänge im
Menschen auf dieselbe Vernunftseele als ihr Prinzip zurück
zuführen sind"1). Nicht eigentlich „Menschen" im Sinne der modernen
Biologie, sondern „ Seelen " stehen Gott als der Universalseele gegen
über. Wenn LACtANtIUS lehrt, der Mensch sei „kein Erzeugnis der
Welt, noch ein Teil der Welt", und AMBROSIUS: der Mensch sei
„über der Welt" so ist damit eben das Individuum des Gottes-
2),

PohLe, Bd.,
S.

462.
1.
») ')

Feuerbach, Vorlesungen üher das Wesen der Religion. Sämtl. Werke,


S.

Bd.,
8.

300/1.
238 IV- Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

Systems gemeint und der irdische Mensch abgelehnt. Das ist durch
aus der gleiche Gesichtspunkt, von dem aus in den vorhergehenden
Ausführungen betont werden mußte, daß der „Mensch" als biologisch-
psychologische Einheit nicht Gegenstand der Rechtswissenschaft sei,
daß das Recht es nicht eigentlich mit „Menschen", sondern mit
Handlungen, Unterlassungen zu tun habe, die in diesem System zu
anderen Einheiten verbunden werden, als das System der Biologie
aufweist. Das Subjekt des Rechtes ist nicht der Mensch, sondern
die Person, das Rechtssubjekt, das — als Personifikation einer
Teilrechtsordnung — ebenso nach dem „ Ebenbilde" des Staates —
der Personifikation der Totalrechtsordnung — geschaffen ist wie die
Einzelseele nach dem Ebenbilde Gottes.
So wie die Theologie notwendigerweise Gott und Mensch — im
Begriff der Seele — so muß die Rechtswissenschaft Staat und Indi
viduum im Begriffe der Person wenigstens grundsätzlich als wesens
gleich zu begreifen versuchen. Der Rechtswissenschaft ist dieser Ver
such bisher noch nicht ganz gelungen. Dem Begriff der sogenannten
physischen Person haften
— trotzdem die Theorie immer wieder be
tont, daß die „physische" Person auch nur eine „juristische" sei —
aus dem vulgären Sprachgebrauche und den unwissenschaftlichen, vor
wissenschaftlichen Denkgewohnheiten her noch starke naturalistische
Elemente an. Man stellt noch immer den „Menschen" und nicht die
Einzelperson der Uni versalperson des Staates gegenüber. Ja, die

ganze Scheinproblematik dieses Verhältnisses resultiert letztlich aus


diesem Synkretismus: mit dem „Menschen" versucht man, das System
der Natur zu dem mit ihm — voraussetzungsgemäß — verschiedenen
und zu ihm beziehungslosen System des Rechtes oder Staates in
Beziehung zu setzen! Beziehung ist nur innerhalb desselben Systems
möglich. Die — hier versuchte — Einheit des juristischen Personen
begriffes, das heißt die Reduktion der Person des Staates ebenso wie
der sogenannten physischen Person auf Rechtssatzbeziehungen, kann
erst die Lösung bringen. Wenn die sogenannte
organische Staats
lehre den Staat als einen Makroanthropos betrachtet, so tut sie dies
aus dem richtigen Instinkte heraus, Staat und Individuum als in
derselben Existenzsphäre gelegen zu begreifen und ist darum der
sogenannten anorganischen Staatstheorie überlegen, die in den oben
bezeichneten Synkretismus verfällt. Sie irrt nur, weil sie sich in
der Existenzsphäre der beiden Phänomene vergreift, die sie beide in
die Natur verlegt.
Es wäre gewiß ein dankenswertes und aufschlußreiches Unter
nehmen, die juristische Personenlehre auf ihre Beziehungen zur theo
logischen Seelenlehre zu untersuchen. Die juristische „Person" ist,
§ 41. Gott — Mensch, Staat — Individuum; die Willensfreiheit 289

wie ich schon in einem anderen Zusammenhange hervorgehoben habe,


gewiß nichts anderes als eine Rechtsseele Hier sei nur noch
darauf aufmerksam gemacht, daß das Kernproblem der Politik: das
Verhältnis zwischen Individuum und Staat und alle hier möglichen
und versuchten Lösungen zum Teile wörtliche Wiederholungen jener
Spekulation sind, die die Theologie und insbesondere die religiöse
Mystik über das Verhältnis von Gott und Einzelseele angestellt hat.
Die Einheit zwischen den beiden entgegengesetzten Polen herzustellen,
die Zweiheit als eigentliche Einheit aufzuzeigen, ist das Ziel des
religiösen ebenso wie des politischen Denkens2). Und auch die Wege
zu diesem Ziel sind die gleichen: entweder geht man vom Einzel
individuum aus, um das Universum in ihm aufgehen zu lassen, oder
man geht vom Universum aus, um das Einzelindividuum in ihm
aufzulösen. Individualismus und Universalismus sind die beiden Ur-
schemata für die religiöse wie für die politische Theorie. Unter
diesem Gesichtspunkt ist auch die Parallele zu beurteilen, die offen
bar zwischen Anarchismus und Atheismus besteht

3).
Von größter Bedeutung für die juristische Theorie aber wäre
die Erkenntnis, daß die Lehre von der Freiheit der Person
oder des persönlichen Willens, daß die ganze juristische
Willenstheorie,
ja

der Willensbegriff als solcher, wenn nicht über


haupt religiös - theologischen Ursprungs, so doch wesentlich durch
die religiös - theologische Spekulation beeinflußt ist. Die Annahme,
daß der menschliche „Wille" „frei" sein müsse, ergibt sich für die
Theologie aus dem Bedürfnis, die Sünde nicht der Person Gottes
zuzurechnen. Zunächst liegt zwar die Möglichkeit vor, das Böse
ebenso dem Teufel zuzurechnen, wie man das Gute Gott zu-

Zur Theorie der juristischen Fiktionen, Annaleh der Philosophie,


')

Bd.,
S.

630 ff.
I.

Ueber eine Parallele zwischen Religion und Politik vgl. meine Ab


2)

handlung: Politische Weltanschauung und Erziehung, in Annalen für soziale


Politik usw. 1912, S. 17 Ferner Geruch, Der Kommunismus als Lehre vom
ff.

Tausendjährigen Reich, 1920 und meine Rezension im Archiv fär die Geschichte
des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Bd. IX, 422 ff.
S.

Vgl. dazu BaKunin, Gott und der Staat, Hauptwerke des Sozialismus
3J

und der Sozialpolitik, Neue Folge, Heft — In diesen Zusammenhang gehört


2.

vor allem StiRnERs „Der Einzige und sein Eigentum". Hier verbindet sich
in eigenartiger Weise die erkenntniskritische Auflösung der Personifikation
und Hypostasierung des Staates mit der Negation der Geltung der als Staat
bezeichneten Zwangsordnung. StirneR bekämpft den Irrtum, der Staat „sei
ein Ich, als welches er sich dann den Namen einer »moralischen, mystischen
oder staatlichen Person« beilegt". „Diese Löwenhaut des Ichs muß Ich, der Ich
wirklich Ich bin, dem stolzierenden Distelfresser abziehen" (Reclams Universal
bibliothek,
S.

261).
240 IV- Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

rechnet. So wie Gott im Mensehen das Gute wirkt, wirkt der Teufel
in ihm das Böse. Der Mensch müßte eigentlich nur als ein Schnitt
punkt zweier nach verschiedenen Richtungen auseinanderfallenden
Zurechnungslinien angesehen werden. Und tatsächlich ist ein starker
Teufelsglaube, eine entwickelte Satanologie eigentlich notwendig mit
einer deterministischen Anschauung vom Wesen des
menschlichen Willens verbunden. Ein schlagender Beweis hiefür ist
wohl LUtHER, dessen Teufelsglaube Hand in Hand geht mit seiner
Leugnung der Willensfreiheit. In demselben Maße aber, als Teufels
glaube und Teufelstheorie zurücktritt, als man in der Theologie —
aus gewissen naheliegenden Gründen — die Vorstellung eines Gegen
gottes und eines dem himmlischen Reiche entgegenstehenden Höllen
reiches in den Hintergrund drängt, ergibt sich die Notwendigkeit
eines anderen Zurechnungspunktes für das Böse. Wenn man dies
dem Menschen selbst, seinem nunmehr „bösen" Willen zurechnet,
wenn der Mensch sozusagen sein eigener Teufel wird, so bedeutet das:
daß die Zurechnung innerhalb eines Teilsystems beschlossen bleibt,
das sich gegenüber verselbständigt, daß man auf
dem Gesamtsystem
die Konstruktion universalen Systems des Bösen verzichtet,
eines
die Zurechnung des einzelnen Tatbestandes nicht mehr zu der Ein
heit des Gesamt-, sondern zu der Einheit des Teilsystems führt.
"
Die Zurechnung des Bösen zum „ Menschen hat dann auch diejenige
des Guten zur Folge. Der Mensch soll nicht bloß sein eigener Teufel,
er soll auch sein eigener Gott sein. Nachdem die Dogmatik erkennt,
daß „die Zurückführung des Bösen auf Gott einen Widerspruch in
sich selbst bedeuten würde ", und da sie eine Zurechnung zum Teufel
nicht vornehmen will, muß sie erklären : „Es bleibt nur die eine
Auskunft möglich, auf die auch die Tatsachen der sittlichen Er
fahrung fußen : Das Böse hat seinen Ursprung im Willen der
persönlichen Kreatur", „der Ursprung des Bösen liegt in dem
freien Willen des Menschen"1). Die „Freiheit" der menschlichen
Person bedeutet gar nichts anderes als den Ausdruck für die in dieser
Hinsicht angenommenen Unabhängigkeit von der Person Gottes; es
ist die Aufrichtung eines zweiten selbständigen Systems; genauer:
einer Vielheit von Systemen, die* in monadologischer Isoliertheit
nebeneinanderstehen. An Stelle des Dualismus : Gott-Teufel tritt ein
Plurismus: Gottseele „freie" Einzelseelen; daß er sich gegen
und
über dem Postulat der
Systemeinheit und Einzigkeit nicht halten
kann (daß — theologisch gesprochen — die Annahme „freier", von
Gott freier Persönlichkeiten neben der Gottes Vielgötterei bedeutet),

') Kaftan, a. a. 0., S. 368, 369.


§ 41. Gott — Mensch, Staat — Individuum; die Willensfreiheit. 241

kommt hier weiter nicht in Betracht Wichtig ist nnr, daß diese

1).
„Freiheit" mit Kausalität gar nichts zu tun hat, insbesondere auch
nicht eine Negation der Kausalität für irgendeinen Bereich des Natur
geschehens bedeutet. Für gewisse Tatbestände wird ein anderer
normativer Zurechnungspunkt gesucht als der sonst übliche, die
Person oder der Wille Gottes. Bedenkt man, daß „Person" und
Wille identische Begriffe sind, daß beide Worte nur dieselbe Per
"

sonifikation eines Normensystems bedeuten, und daß die — zum


Wesen jedes Systems gehörige — Einheit
und Einzigkeit, weil Un
abhängigkeit oder Souveränität (wäre das System von einem anderen
abhängig, das heißt abgeleitet, wäre es kein „System", sondern

ja
Daß die Gottesidee an sich und ohne Zuhilfenahme der ihr wider
')

sprechenden Seihstbeschränkungstheorie mit der Freiheit des Individuums un


vereinbar ist, wurde oft gesagt. Am schärfsten von BaKuntn, a. a. 0.

8.
28:
„Die Gottesidee enthält die Abdankung der menschlichen Vernunft und Ge
rechtigkeit in sich, sie ist die entschiedenste Negation der
menschlichen Freiheit und führt notwendig zur Versklavung der
Menschen in Theorie und Praxis. So wie Gott für die Theologie, so
"

ist der Staat fOr die Staatsrechtslehre streng genommen


die einzige Person. Interessant ist, daß Theologie wie Jurisprudenz den
gleichen Versuch gemacht haben, die „Freiheit" des Individuums mit der Allmacht
Gottes, beziehungsweise der Souveränität des Staates in Einklang zu bringen, das
heißt die Selbständigkeit des Systems „Individuum" oder „Einzelperson" gegen
über dem Gesamtsystem „Gott", beziehungsweise „Staat" nur als eine relative
aufzuzeigen. Beide begründen die Einzelpersönlichkeit auf der „Selbstbeschrän-
kung" Gottes, beziehungsweise des Staates. Gott, beziehungsweise Staat schränken
ihre Sphäre zugunsten derjenigen des Individuums freiwillig selbst ein. So
entsteht, von Gott, beziehungsweise dem Staat geduldet, zugelassen, anerkannt,
delegiert, die freie Persönlichkeit des einzelnen. Der Theologe OEttingkit
lehrt: „Die Allmacht ist stets geordneter und in diesem Sinne sich selbst be
stimmender und bedingender Wille, dessen Selbstherrlichkeit auch die Mög
lichkeit, die Tatsache der Selbstbeschränkung in sich schließt.
ja

Denn sonst bliebe die Allmacht absolutistische oder physische Uebermacht


und wir müßten — mit Aufhebung aller kreatürlichen Frei
heit und Verantwortlichkeit — auch die Sünde, das Böse auf Gottes Willen
zurückführen" (a. a. 0., II/i, 251). Ganz analog führt JeLLineK die Rechts
S.

persönlichkeit der Individuen auf die „Selbstverpflichtung" des Staates zurück:


„Der Staat, an sich betrachtet Macht, wird durch Anerkennung der Person
der Subjizierten zur rechtlich beschränkten Macht. Dadurch erlangt aber die
durch seine Rechtsordnung fixierte und begrenzte Macht den Charakter der
Rechtsmacht. . . Nur indem der Staat sich als rechtlich beschränkt auffaßt,
.

wird er zum Rechtssubjekt. . . . Nur durch Anerkennung staatlicher Rechts


pflichten durch den Staat selbst" — das heißt: durch die Selbstverpflichtung,
Selbstbeschränkung des Staates — „ist subjektives öffentliches Recht wie des
Staates so der Subjizierten möglich. Durch das Dasein staatlicher
Pflichten ist erst das Dasein individueller Rechtsansprüche gegeben" das heißt:
;

nur durch die Selbstbeschränkung des Staates ist das individuelle Rechts
subjekt möglich! (System der subj. öffentl. Rechte,
S.

194, 195.)
Kelsen, Staatsbegriff. 16
242 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

nur ein Systemteil) identisch ist mit der „Freiheit4, die man von
der Personifikation des Systems, von der „Person" oder vom „ Willen"
aussagt, dann ist klar, was ich schon in meinen „Hauptproblemen"
ausgesprochen habe, daß der der für die Rechtstheorie —
„Wille",
ebenso wie für Ethik und Theologie — in Betracht kommt, nichts
anderes ist als ein Zurechnungspunkt, und als End punkt der
Zurechnung — Ausdruck für die Einheit und Unabhängigkeit eines
normativen Systems — „frei" heißt.
Bedenkt man weiter, daß der „Wille" von allem Anfang an nur
als „freier" Wille dem wissenschaftlichen Denken gegeben war, daß
es die Wissenschaften der Ethik, Politik, Jurisprudenz und vor allem
der Theologie waren, die des Willens benötigten,
den Begriff
die kausalwissenschaftliche Psychologie aber, wie sie sich
überhaupt erst viel später entwickelte so auch den Begriff des Willens
eigentlich schon von den genannten normativen Disziplinen vor
gebildet fand, so ist es gewiß mehr als wahrscheinlich, daß dieser
ganze Begriff des Willens — der als „freier" Wille in der Psycho
logie als einer Kausalwissenschaft keinen Platz finden kann —
überhaupt eine normativ - systematische Konstruktion, eine Per
sonifikation der normativen Systemeinheit ist und, wie so viele
Personifikationen hypostasiert, nun von der Psychologie — weil in
das „Innere" des Menschen verlegt — für eine psychische Realität
gehalten wird.
DieseUeberlegung findet ihre Bestätigung in der Tatsache, daß
die moderne Psychologie bei ihrer Analyse der psychischen Phä
nomene sich immer mehr gedrängt sieht, die Trias Denken, Fühlen,
Wollen durch eine Zweiteilung in der ein selbständiger
zu ersetzen,
Willensbegriff keinen Platz hat. Die kausal orientierte naturwissen
schaftliche Psychologie, die konsequenterweise nur einen unfreien,
determinierten Willen gelten lassen kann, wird durch eine immanente
Tendenz zur Auflösung des Willensbegriffes überhaupt gedrängt.
Der „unfreie" Wille stellt sich als überflüssiger Begriff heraus.
Der Wille ist entweder „frei" oder er ist überhaupt nicht, das
heißt, er ist ein Begriff
ethisch-juristischer, nicht psychologischer
Erkenntnis. Das bestätigt die von den bedeutendsten Theoretikern
vertretene sogenannte „heterogenetische" Willenstheorie, derzufolge
der „Wille" keine primäre, elementare,
ursprüngliche oder spezi
fische Tatsache des Seelenlebens, sondern nur ein Produkt oder
eine Summe anderer psychischer Faktoren, etwas Abgeleitetes, Se
kundäres ist. Nach dem Intellektualismus ist er eine Richtung oder
Funktion des Denkens oder Vorstellens, nach der sensualistischen
Assoziationspsychologie ein Komplex von Empfindungen mit moto
§ 41. Gott — Mensch, Staat — Individuum; die Willengfreiheit. 243

rischer Tendenz, nach anderen besteht der Wille nur aus Gefühlen
und ihren Wirkungen
Als ein charakteristischer Vertreter einer heterogenetischen
Willenstheorie sei FRItZ MaUthNER angeführt. Dessen Darstellung2)
zeigt besonders deutlich, wie eine das menschliche Verhalten
kausal wissenschaftlich betrachtende
Erkenntnis einen Willensbegriff
zur Erklärung der Erscheinungen gar nicht braucht, ein spezifisches
Phänomen „Wille" gar nicht vorfindet. „In der ewigen Kette der
Kausalität ...
ist immer und überall jede Veränderung die Wirkung
einer vorausgegangenen und die Ursache einer zukünftigen Verände
rung. Jedes Geschehen auf der Welt, jede minimalste Veränderung
ist ein Zwischenglied zwischen einer entfernteren Ursache und einer
entfernteren Wirkung. Bei den menschlichen Handlungen ist das
der einzige Unterschied,daß unser eigener Leib das Zwischenglied
ist. Und während bei den äußeren Sinneseindrücken dieses Leibes
der Gefühlswert oder die Beziehung zu unserem Interesse ein ge
ringerer ist und darum gewöhnlich keinen besonderen Namen hat,
ist der Gefühlswert unserer Handlungen ein sehr starker und hat
darum einen besonderen Namen erhalten: das Wollen. Die Sprache
setzt mich hier in Verlegenheit. Ich habe vorhin das Abstraktum
Wille abgelehnt und nur die einzelnen Willensakte gelten lassen.
Nun aber entdecken wir, daß diese einzelnen Erscheinungen des
Wollens gar keine Akte oder Handlungen
sein können, nur sondern
sie begleiten oder vielmehr ihnen vorausgehen, um Augenblicke vor
ausgehen. Unsere Bewegungsgefühle sind uns bekannt, sie sind so
deutlich, daß sie uns ein Bild der unmittelbar folgenden Handlung
vorausgeben, und die Folgen
dieser Handlung sind uns aus unserer
Erfahrung nicht mehrnicht weniger bekannt als andere Er
und
scheinungen der äußeren Welt. Viel lebhafter als bei den Sinnes
eindrücken, die in Milliarden auf uns einstürmen, haben wir darum
bei oder vor unseren Handlungen das Gefühl, ob sie oder ihre
Folgen uns angenehm oder unangenehm sein werden. Dieses G e-
f ü h 1 nun drücken wir, weil es uns angeht, in einem Begriff aus ;

wir sagen das eine Mal: Ich will, das andere Mal: Ich will
nicht. Die Frage, ob dieses Gefühl sich zwischen das Bewegungs
gefühl und die wirkliche Handlung drängen kann, ob die Ausführung
der Handlung von diesem Gefühl abhängig ist, wäre in anderem
Zusammenhange zu beantworten. Hier handelt es sich nur darum,
festzustellen, daß der sogenannte Wille als Kraft ein mytho-

') EisLer, Philosophisches Wörterbuch, 3. Aufl., 1910, III. Bd., S. 790.


») Abhandlung: „ SchopenhatjeR (Wille)" in seinem Wörterbuch der Philo
sophie, II. Bd., S. 344 ff.
16*
244 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

logisches Abstraktum ist, in seinen einzelnen Erscheinungen jedoch


nur ein Gefühl, also ein Gefühlseindruck, der sich von den spezi
fischen Sinneseindrücken nur durch seine Unbestimmtheit unter
scheidet"

1).
Ob man nun dieser oder einer anderen heterogenetischen Willens
theorie in allen Einzelheiten zuzustimmen geneigt ist oder nicht. das
eine muß man jedenfalls zugeben, daß die kausalwissenschaftliche
Psychologie ohne den Begriff eines spezifischen Willens auskommen
kann, daß es vornehmlich ethische (oder metaphysische) Erwägungen
sind, die zum Begriff des Willens und dann stets zu dem des freien
Willens führen. Der Begriff der Willensfreiheit
ist, wenn
nicht identisch mit, so doch in Korrelation zu dem Begriff der
Autonomie. Der freie Wille ist die in das „Innere" der Men
schen verlegte „introjizierte" und sodann — in üblicher Weise —
zu einer (psychologischen) Realität hypostasierte und zu einer „Ur
sache", und zwar „ersten", schöpferischen Ursache umgedeutete Norm.
Ist der „Wille" mit dem „freien" Willen für identisch und als
eine Personifikation eines selbständigen Normensystems, als norma
tiver Zurechnungs n punkt erkannt, dann wird endlich das welt
d
e

historisch gewordene Problem des Gegensatzes von Determinismus


und Indeterminismus als Scheinproblem, als welthistorisches Miß
verschwinden. Man wird nicht mehr annehmen müssen,

"
verständnis

daß der Wille frei (obgleich die Psychologie lehrt, daß er ge


sei
bunden sei), weil sonst nicht möglich wäre.
eine Zurechnung Man
wird vielmehr begreifen, daß die „Person" oder ihr „Wille" nur
darum „frei" ist oder frei heißt, weil und insofern ihr zugerechnet
wird, weil und insofern sie der Ausdruck für einen Zurechnungs
endpunkt ist. Und man wird einsehen, daß die kausale Bestimmtheit
der menschlichen Handlungen im System der Natur keinerlei Wider
spruch ist zu der normativen Bestimmtheit und damit zu der norma-
0. S. 366, 367. Andere Beispiele Chr. EhRenfeLs, Werttheorie
a. a.
I,
')

S. 248 ff. „Ein besonderes psychisches Grundelement (Begehren, Wünschen,


Streben oder Wollen) gibt es nicht. Was wir Begehren nennen, ist nichts
anderes als die — eine reine Glücksforderung begründende — Vorstellung
von der Ein- oder Ausschaltung irgendeines Objektes in das oder aus dem
Kausalgewebe um das Zentrum der gegenwärtigen konkreten Ichvorstellung."
Ferner: MünsteRbeRg, Die Willenshandlung, 1888. 62: „Der Wille selbst
S.

besteht aus nichts weiter als aus der von assoziierten Kopfmuskelspannungs-
empfiudungen häufig begleiteten Wahrnehmung eines durch eigene Körper
bewegung erreichten Effekts mit vorhergehender, aus der Phantasie, das heißt
in letzter Linie aus der Erinnerung geschöpften Vorstellung desselben, und
diese antizipierte Vorstellung ist, wenn der Effekt eine Körperbewegung selbst
ist, uns als Innervationsempfindung gegeben." Zitiert nach EisLeR, Philos.
Wörterb. III, S. 1807 und 1809.
§ 42. Der theologische und der juristische Wunderglaube. 245

tiven Zurechnung im System des Rechts oder der Moral. So wie


in der Erkenntnis der kausalen Bestimmtheit eines Elements kommt
in der Zurechnung nur der Einheitsbezug des spezifischen Systems
zum Ausdruck. Und indem man die „Freiheit" des Willens als ein
Systemproblem erkennt, wird man sich auch bewußt werden, daß
die Freiheit der Rechtsperson oder des persönlichen Willens das
selbe Problem ist wie die Souveränität des Staates.
Die Freiheit des Willens steht — wie bereits bemerkt — im
innigsten Zusammenhange mit der Autonomie, der Selbstgesetzgebung,
Selbstverpflichtung des Individuums : das Individuum als Ausdruck für
ein souveränes System. Es ist ein Widerspruch, wenn die Rechtstheorie
zwar die „Freiheit" der Einzelperson, nicht aber ihre Autonomie, ihre
Selbstverpflichtung annimmt. Und es ist sicher, daß die Annahme
einer Selbstverpflichtung des Staates, die Autonomie der staatlichen
Persönlichkeit unter dem direkten Einfluß der insbesonders von KANt
in Verbindung mit der Idee der individuellen Freiheit vorgetragenen
Lehre von der Autonomie, der Selbstbindung des Menschen, ent
wickelt wurde. Daß sich aber speziell bei KANt die Vorstellung der
sittlichen Autonomie des Individuums nach dem Vorbilde der in der
Menschwerdung Christi vollzogenen sittlichen Selbstbestimmung Gottes
gebildet habe, ist bei der religiösen Richtung des KANtschen Denkens
eine mehr als naheliegende Vermutung.

§ 42.

Der theologische und der juristische Wunderglaube.


Das Systemproblem, das der Dualismus von Gott und Welt der
Theologie aufgibt, tritt am schärfsten im christlichen Wunder
glauben zutage. Auf der einen Seite muß die Theologie die Welt
als Natur, das heißt als systematische Einheit der Naturgesetze um
so mehr zulassen, als Gott mit der Natur die Naturgesetze gegründet
hat. Auf der anderen Seite aber ist es ihr unmöglich, sich Gott an
die Naturgesetze gebunden zu denken. Die Freiheit Gottes gegen
über den Naturgesetzen drückt sich im Begriff des Wunders aus.
Es ist ein Ereignis, das naturgesetzlich nicht begriffen werden kann,
zu dessen Bestimmung man auf das übernatürliche System des gött
lichen Willens greifen muß. In dem beziehungslosen Nebeneinander
dieser unabhängigen Systeme, die sich gegenseitig
beiden voneinander
aufheben, liegt die logische Unmöglichkeit der Situation. Der Dog-
matiker KAFtAN schreibt: „Die wissenschaftliche Forschung kann,
ohne sich selbst aufzugeben, keine Abweichung von den Natur
gesetzen anerkennen. Wird nun ihre Konstruktion des Weltbildes
246 rV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

für die Wirklichkeit selbst genommen — und das geschieht, wenn


die Naturgesetze als Ausfluß des göttlichen Willens, als Mittelglied
zwischen Gott und der Welt verstanden werden —, so schließt die
Wissenschaft den Wunderglauben aus und macht ihn unmöglich.
Umgekehrt heißt es den christlichen Glauben ins Heiz treffen, wenn
man ihn nötigt, sich Gott mit seinem Wirken an unabänderliche
Naturgesetze gebunden, in sie gleichsam eingeschnürt zu denken.
Das würde auf eine pantheistische Umdeutung hinauskommen, auf
die Lehre, daß Gott der ewige Weltgrund und das ewige Weltziel
ist; mit dem christlichen Glauben an den weltfreien persönlichen
Gott verträgt es sich nicht" Sehr treffend hat schon FeUKRBACH
festgestellt:„Gottesglauben und Wunderglauben ist daher eins"2).
„Wollt ihr kein Wunder, nun so wollt auch keinen Gott. Geht ihr
aber über die Welt, über die Natur zur Annahme eines Gottes hin
aus, nun so geht auch über die Wirkungen der Natur hinaus"

3).
In diesem „Hinausgehen über die Natur", in dieser Annahme einer
gegen Ordnung der Natur (im System der Naturgesetze)
die ver
schiedenen und von ihr unabhängigen übernatürlichen Ordnung des
göttlichen Willens, in diesem Operieren mit zwei Ord
nungen liegt das charakteristische Moment der
Theologie, darin besteht geradezu die theologische
Methode!
Es ist die Methode der Staatslehre, die erklärt, der Staat
könne von Natur wozu er mächtig sei, von Rechts wegen
aus alles,
aber nur, wozu ihn die Rechtsgesetze — die sein Wille sind — er
mächtigen Einerseits kann ein Akt als Staats- oder Rechtsakt nur
!

begriffen werden, sofern er durch die Rechtsordnung bestimmt ist,


ja

die Rechtswissenschaft kann, ohne sich selbst aufzugeben, keine


Ausnahme von den Rechtsgesetzen anerkennen. Andererseits heißt .

es unsereStaatslehre ins Herz treffen, wenn man sie nötigt, den


Staat in seinem Wirken unabänderlich an Rechtsgesetze gebunden,
in sie gleichsam eingeschnürt zu denken. Das wäre mit dem Staat
als überrechtliche „Macht" ebenso unvereinbar wie der Verzicht auf
den Wunderglauben mit der Allmacht des überweltlichen, über
natürlichen Gottes. Und so hat auch unsere Staatslehre als einen
ihrer wesentlichsten Bestandteile ihren Wunderglauben. Der Akt,
der zwar als Akt des Staates gilt, obgleich er widerrechtlich,
ja

außerrechtlich ist, weil durch keine Rechtsnorm bestimmt oder be


stimmbar, der also auf Grund der Rechtsordnung nicht auf die Ein
heit bezogen, dem Staate als Rechtsperson nicht zugerechnet, juristisch
0. 0.
S. S.

a. a. 287.
S.

a. a. 307.
»)
•) ')

a. a. 0. 310.
§ 43. Die Ueberwindung der theologischen Methode. 247

nicht begriffen werden kann, sondern auf Grund einer anderen, über-
oder außerrechtlichen Ordnung, der Ordnung des staatlichen Willens
als eines metarechtlichen Machtphänomens bestimmt wird, er ist das
Rechtswunder Keineswegs das einzige, sondern nur das typische.
Die theologische Methode des Operierens mit zwei Systemen, die
Methode des Bodens oder der doppelten Wahrheit läßt
doppelten
auch das Rechtswunder in mannigfaltigen Gestalten auftauchen.
Wie diese spezifisch theologische Methode bis ins Detail die heutige
Staats- und Rechtslehre beherrscht, das zeigt, daß auch die theo
logische Regel, nach der die beiden verschiedenen Ordnungen im
konkreten Fall heranzuziehen sind, in der Staats- und Rechtslehre
praktiziert wird. Die katholische Dogmatik lehrt: „Weil der Schöpfer
am Anfange der Dinge nicht nur die Natur, sondern auch die Natur
gesetze begründet hat, so soll man die Zuflucht zu Wundern mög
lichst vermeiden und, wo immer es angeht, die natürlichen Erklärungen
des Schöpfungsvorganges bevorzugen" Gewiß : wenn irgend mög
lich, soll man juristisch
konstruieren ; wenn es aber nicht mehr
angeht — das heißt, wenn gewisse, vom jeweiligen Standpunkt
allerdings verschiedene politische Interessen es gebieten,
dann darf man zu dem metarechtlichen System seine Zuflucht nehmen.
Dann darf man einen Akt, den keine Norm des positiven Rechts
auf die Einheit des Rechtssystems beziehen läßt, der „außerhalb des
Rechtes steht ", also rechtlich Nichts, ein Willkürakt oder viel
leicht sogar ein Unrecht ist, auf das eine Strafe gesetzt ist (den
„nichtigen" „rechtswidrigen" Akt), dennoch als Staatsakt
oder
gelten lassen, also doch irgendwie nicht dem physisch Handelnden,
sondern einem „hinter" ihm gedachten Subjekt zurechnen, das heißt
aber : auf die Systemeinheit des Rechts beziehen
3).

12. Kapitel.
Pantheismus und reine Rechtslehre.

43.
§

Die Ueberwindung der theologischen Methode.


Die Aufhebung der theologischen Methode, die Herstellung der
Systemeinheit, das ist der von der Theologie so gefürchtete Pan
theismus. Der Pantheismus, im Grunde nur Atheismus, gipfelt

Daß mit dieser Charakterisierung des außerrechtlichen Staatsaktes


nur
')

der wesentliche Inhalt der Theorie des Verwaltungsaktes wieder


modernen
gegeben ist, so wie sie besonders durch Otto MayeRs Deutsches Verwaltungs
recht ausgebaut wurde, dürfte Kundigen nicht verborgen bleiben.
PohLe, a. a. 0., Bd.,
S.

445.
I.
») 2)

Vgl. dazu oben 136 ff.


S.
248 IV- D er Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

im Grundgedanken : Gott und Welt sind einer Wesenheit (iv xat


7tav). Jenachdem er Gott oder die Welt voranstellt, läßt er sich in
zwei Hauptformen fassen: Gott ist alles, und: alles ist Gott. Die erste
Form kann man den kosmologischen, die zweite den ontologischen
Pantheismus nennen" Der erstere lasse Gott in der Welt auf

1).
gehen, der letztere die Welt in Gott. Darum führe der erstere zum
„Pankosmismus", der letztere zum Akosmismus" der eine negiert

;
Gott zugunsten der Welt, der andere die Welt zugunsten Gottes.
Nur der Pankosmismus, ist der eigentliche Feind der
erstere, der
Theologie, und nur als Pankosmismus hat der Pantheismus historische,
wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung erlangt, indem auf dem Wege
dieses Pantheismus die Naturwissenschaft sich aus den Banden der
Theologie befreite.
Bei der Tendenz, den Dualismus von Staat und Recht zu über
winden und die Systemeinheit herzustellen — eine Tendenz, die der
Staatstheologie stets verdächtig war, weil sie ihre Methode und da
mit sie selbst zu vernichten droht — lassen sich gleichfalls die
,
beiden Richtungen unterscheiden, von denen die eine das Recht im
Staat, die andere den Staat im Recht aufgehen lassen will. Indes
spielt hier diese Richtungsverschiedenheit keine entscheidende Rolle.
Worauf es ankommt, ist vor allem die Erkenntnis, daß, solange
Staat und Recht als zwei voneinander verschiedene Wesenheiten be
hauptet werden, für die Staats- und Rechtstheorie die gleiche Alter
native gilt, vor die FeUBRBACHs Kritik des Gottesbegriffs die Theologie
stellt: Weil Gott die Natur und die Natur Gott aufhebt, darum:
„Entweder Gott oder Natur! Ein drittes, Mittleres, ein beide Ver
einigendes gibt es nicht" Weil
Auge erselbst dem blödesten
2).

sichtlich sein muß, vom daß der Staat


Recht wesensverschiedene
das Recht, das vom Staat wesensverschiedene Recht aber den Staat
aufhebt, muß die Staats- oder Rechtslehre, will sie den Forderungen
der Logik, der Wissenschaftlichkeit genügen, entweder das Recht
im Staat aufgehen lassen, das heißt: die jeweilige Rechtsordnung
als Staatsordnung erkennen oder den Staat im Recht aufgehen
lassen, die jeweilige Staatsordnung als Rechtsordnung erkennen.
h.
d.

Es kann sich dabei nur um eine Verschiedenheit des geistigen Werde


handeln, der zur Erkenntnis der Identität führt, nachdem
je

gangs
ob man von der Ueberwindung des naturrechtlichen oder des macht
politischen Standpunkts herkommt. Im ersteren Fall sagt man: Das
Recht, die jeweilige Rechtsordnung ist der Staat, das heißt ist
positiv, im zweiten Fall: Der Staat, der jeweilige Staat ist das Recht.

PohLe, 0.
S.

Bd., 403.
S.

a. a. 207.
I.
«)

2)
§ 44. Der Staat als Gott. 249

§ 44.
Der Staat als Gott.
Zwischen„Gott" und „Staat" sowie ihren beiden Widerparten
„Natur" „Recht" besteht nicht nur eine logische Parallele,
und
sondern auch manche reale Beziehung. Vor allem muß daran er
innert werden, daß die erste Naturerkenntnis mythologisch-religiösen
Charakters ist, und daß sie die natürlichen Erscheinungen bewußt
nach Analogie der durch Staat oder Recht geordneten menschlichen
Verhältnisse zu begreifen sucht. Der die Menschen durch Gesetzes
befehl leitende König ist das Urbild für die die Natur lenkende
Gottheit. Politisch-juristisches Denken geht naturwissenschaftlicher
Erkenntnis nicht nur voran, sondern weist ihr auch die ersten Wege.
Der Begriff des Gesetzes tritt zuerst als Rechtsgesetz auf und
wird zunächst unverändert von der Naturerkenntnis übernommen, um
erst in einem langwierigen Bedeutungswandel sich als Naturgesetz
seinem Ursprung, dem Rechtsgesetz, entgegenzustellen Das System
von Staat und Recht ist das bestimmende Vorbild für das System
von Gott und Natur. Auf einer gewissen Stufe der religiösen und
politischen Entwicklung fallen die Vorstellungen von Gott und Staat
geradezu zusammen : Der Nationalgott ist einfach die in der Personi
fikation vergöttlichte Nation; es ist der Zustand, in dem die religiöse
und die rechtliche Organisation, in der Kirche und Staat identisch
sind. Daß diese Entwicklungsstufe in der Regel polytheistischen
Charakter hat, ist kein ernstlicher Einwand. Denn auch die Vielheit
der Götter bildet irgendwie eine göttliche Einheit, die sich in der
Unterordnung unter einen Hauptgott oder auf andere Weise darstellt.
Andererseits geht die Loslösung des Gottesbegriffes von der nationalen
Gemeinschaft, die Ausbildung eines übernationalen, anationalen Gottes
Hand in Hand mit der Bildung eines Menschheits- oder Weltbewußt
seins, einer überstaatlichen Gemeinschaft. Trotzdem das Christentum
einen „kosmopolitischen Gott" aufgerichtet hat, läßt sich dennoch
die Tendenz feststellen, auch diesem Gottesbegriff eine nationale,
Färbung zu geben, ihn zu einem Staatsgott zu machen.
einzelstaatliche
Schon FeUERBACH hat auf die Beziehungen zwischen Staat3gefühl
und religiösem Gefühl, zwischen Patriotismus und Religion aufmerk
sam gemacht. „Haben doch selbst die Franzosen das Sprichwort:
Der liebe Gott ist gut französisch, und schämen sich doch selbst
in unseren Tagen nicht die Deutschen, welche doch wahrlich keinen
Grund haben, wenigstens in politischer Hinsicht, auf ihr Vaterland
stolz zu sein, von einem deutschen Gott zu sprechen .... so

') Vgl. dazu meine „Hauptprobleme" S. 4.


250 rV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

lange viele Völker gibt, so lange gibt es auch viele Götter ; denn
es
der Gott eines Volkes, wenigstens sein wirklicher Gott, welcher wohl
zu unterscheiden ist von dem Gott seiner Dogmatiker und Religions
"
philosophen, ist nichts anderes als sein Nationalgefühl Er hätte

1).
ruhig sagen können: nichts anderes als sein „Staat". Das zeigt sich
auch in der Tatsache, daß in demselben Maße, als bei zunehmender
religiöser Skepsis und Indifferenz die Ideologie Gottes zurücktritt, die
Ideologie des Staates an ihre Stelle tritt und als Ersatz im Bewußt
sein der Menschen eine Reihe von Funktionen übernimmt, die sonst
die Ideologie Gottes versieht. Das Anbetungsbedürfnis, das Bedürf
nis, sich einem Höheren, Heiligen zu unterwerfen, sich aufzuopfern,
kurz alle auf die Verkleinerung, Selbstentäußerung,

ja
Selbstver
nichtung gerichteten Instinkte des Menschen, sie finden ihre Be
friedigung in jener Vergöttlichung des Staates, in jeuem bis ins
Sinnlose gesteigerten Staatsfetischismus, dessen menschen- und kultur
feindliche Wirkungen wir aus nächster Nähe konstatieren können.
Andererseits sucht aber auch der Wille
zur Macht, der sich
vordem auf dem Wege der Identifikation des Einzelnen mit seinem
Gotte, im Kampfe für diesen speziellen Gott, für einen Sieg dieses
Gottes manifestierte, der doch nur als der Sieg der eigenen Persön
lichkeit befriedigte, mit dem Verblassen des Gottesgedankens nun
mehr allein im StaatWenn man bedenkt, daß
seine Maske.
"

die Nation nur im Staate konkrete Gestalt annimmt, und daß


gerade Staaten, die sich keineswegs mit der nationalen Gemeinschaft
decken, über die wirksamste Ideologie verfügen — man denke an
Großbritannien — dann ist an Stelle der religiösen nicht, wie man
,

heute sagt, die nationale Idee, sondern die Idee des Staates getreten2).

a. a. 0.
8.

49.
») ')

In diesem Zusammenhange, wo die psychologischen Beziehungen


zwischen der Staats- und der Gottesideologie in Frage stehen, möchte ich
auf die sehr interessanten Ergebnisse aufmerksam machen, zu denen FReud
bei seinem Versuche, die Anfänge der Staats-(Gesellschafts-) und Religions
bildung aufzuhellen, gelangt ist. In der bereits zitierten Schrift .Totem und
Tabu", die sich zur Aufgabe setzt, die Erscheinungen des Totemismus psycho
logisch zu erklären, knöpft er an die Untersuchungen des englischen Forschers
Robertson Smith (The religion of the Semits, Second Edition, London, 1907)
an. Dieser nimmt an, daß eine eigentümliche Zeremonie, die sog. Totem-
Mahlzeit, das Töten und gemeinsame Verzehren eines Tieres von besonderer
Bedeutung. des Totem-Tieres, von allem Anfang an einen integrierenden Be
standteil des totemistischen Systems gebildet habe. Später, als „Opfer", eine
Darbringung an die dadurch zu versöhnende Gottheit, bedeutet es ursprünglich
einen „Akt der Geselligkeit, eine Kommunion der Gläubigen mit ihrem Gott"
(„an act of social fellowship between the deity and his worshippers"). Durch
das Essen eines und desselben Opfertieres wird die Stammesgemeinschaft, die
§ 45. Der übernatürliche Gottesbegriff und der überrechtliche Staatsbegriff. 251

§ 45.
Der übernatürliche Gottesbegriff und der über
rechtliche S t aa t s b e gr i f f als H y p o s t a s i er u n g ge
wisser, den Natur- bzw. Rechtsgesetzen wider
sprechender Postulat e.
In seiner berühmten Kritik erklärt FEUERBACH die Religion im
allgemeinen wie die Idee Gottes im besonderen als ein Produkt
wunscherfüllender Phantasie. Der übernatürliche, an die
Schranken der Naturgesetze nicht gebundene, wunderwirkende Gott
soziale Einheit — nach der Vorstellung der Primitiven — hergestellt. Wer
mitißt, der gilt als zugehörig. „Warum wird aber dem gemeinsamen Essen
und Trinken diese bindende Kraft zugeschrieben? In den primitivsten Gesell
schaften gibt es nur ein Band, welches unbedingt und ausnahmslos einigt, das
der Stammesgemeinschaft (kinship). Die Mitglieder dieser Gemeinschaft treten
solidarisch füreinander ein, ein Ein ist eine Gruppe von Personen, deren Leben
solcherart zu einer physischen Einheit verbunden sind, daß man sie
wie Stücke eines gemeinsamen Lebens betrachten kann . . . Kinship bedeutet
also : einen Anteil haben an einer gemeinsamen Substanz . . ." ,Wir haben
gehört, daß in späteren Zeiten jedes gemeinsame Essen, die Teilnahme
an der nämlichen Substanz, welche in ihre Körper eindringt, ein
heiliges Band zwischen den Commensalen herstellt; in ältesten Zeiten scheint
diese Bedeutung nur der Teilnahme an der Substanz eines heiligen
Opfers zuzukommen. Das heilige Mysterium des Opfertodes rechtfertigt sich,
indemnur auf diesem Wege das heilige Band hergestellt
werden kann, welches die Teilnehmer untereinander und
mit ihrem Gotte einigt." durchaus realistische Auffassung der
„Die
Blutsgemeinschaft als Identität der Substanz läßt die Notwendigkeit
verstehen, sie von Zeit zu Zeit durch den physischen Prozeß der Opfermahlzeit
zu erneuern." Dieses Opfer hat eben „die heilige Substanz zu liefern
durch deren Genuß die Clangenossen sich ihrer stofflichen Identität
untereinander und mit der Gottheit versichern." Fkeud, a. a. 0. S. 123 ff.
Die hier angeführten Stellen sind für die im Texte behaupteten Beziehungen
zwischen Gott und Staat in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Erstlich, daß
dem primitiven Denken die soziale Einheit, die Verbindung einer Viel
heit von Individuen zur Einheit in der sieht- und greifbaren S u b s t a n z des
gemeinsam verzehrten Opfer-(Totem-)Tieres zum Ausdruck kommt. Dann aber,
daß die soziale Einheit von vornherein religiösen Charakter hat, daß die soziale
Verbindung gleichsam vermittels der Verbindung mit der Gottheit zustande
kommt, ja daß beide Verbindungen — als seelische Bindungen — im Grunde
von allem Anfang an identisch sind, was sich darin zeigt, daß
das geopferte Totem-Tier, dessen gemeinsame Verzehrung die soziale Ver
bindung herstellt, die Gottheit selbst ist. Gerade nach dieser Richtung führt
die FBEUD8che Psychoanalyse zu der bedeutsamen Erkenntnis einer gemein
samen seelischen Wurzel der Staats- und Gottesidee, der sozialen und reli
giösen Einstellung des Menschen. Diese überaus interessanten Gedankengänge
zu verfolgen, die die eigentliche Arbeit der Psychoanalyse darstellen, fällt
jedoch schon außerhalb des Rahmens dieser Arbeit.
252 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

ist nur ein Ausdruck für die über die Grenzen des Wirklichen und
Notwendigen „über die Grenzen der Natur und Welt hinausgehenden"1)
Wünsche der Menschen. „Gott erfüllt, was der Mensch wünscht;
er ist ein den Wünschen des Menschen entsprechendes Wesen"2).
Im Wunder wirkt der supranaturale Gott dieErfüllung aller Wünsche,
auf die verzichten muß, der sich im Bereiche der Natur bescheidet.
Mit dieser treffenden Psychologie des überweltlichen Gottesbegriffes
ist zugleich der Schlüssel zu dem überrechtlichen Staatsbegriff
Er ist ein Ausdruck bestimmter, in der
gegeben.
Rechtsordnung nicht anerkannter politischer
Postulate, er soll die Befriedigung von politischen
Interessen ermöglichen, die die Rechtsordnung
nicht gelten läßt, die im Widerspruch zur Rechts
ordnung stehen. Hier muß an all das erinnert werden, was
früher über die Entstehung des vom Begriff des Rechts verschie
3)
denen, gegen das Recht gerichteten Begriff des Staates und sein
Eindringen in die deutsche Rechtswissenschaft, was insbesondere
von dem die heutige Rechtssystematik beherrschenden Gegensatz von
öffentlichem und privatem Recht gesagt wurde : Daß schon diese logisch
unhaltbare Grundeinteilung des Rechtes auf einer politischen, gegen
das positive Recht gerichteten Tendenz, auf dem Wunsche beruht,
die gegebene Rechtsordnung stellenweise durch eine andere, den
politischen Wünschen des Interpreten entsprechende Ordnung zu er
setzen. Die Fernhaltung aller Politik ist zwar eine heute allgemein
anerkannte Forderung der positivistischen Rechtswissenschaft. Allein
erfüllt kann sie nur werden, wenn auf den Begriff eines metarecht
lichen Staates verzichtet wird. Und dieser Verzicht ist, weil er das
Operieren mit zwei beziehungslosen Erkenntnissystemen aufhebt,
nicht nur eine logisch-erkenntnistheoretische, er ist auch eine ethische
Notwendigkeit. An Stelle der theologischen Methode der „doppelten
Wahrheit" tritt mit der System e i n h e i t das dem logischen Ideal
der einen Wahrheit immanente Ideal der Wahrhaftigkeit.
Die Aufhebung des hier als das Wesen der Theologie bezeich
neten Dualismus der beiden miteinander unvereinbaren Systeme
„Gott — Natur" führt zur reinen Naturwissenschaft; kann aber auch
zu einer „reinen", das heißt in keiner Weise auf das System „Natur"
bezogenen Theologie führen, die dann freilich nicht mehr Theologie
im bisherigen Sinne, sondern reine Ethik wäre. Sofern in dem Dua
lismus „Staat — Recht" zwei verschiedene Normsysteme, nämlich
Politik und positives Recht (und nicht wie in dem Dualismus '„Gott

') a. a. 0. S. 306 ff. 2) a. a. 0. S. 410.


9) Vgl. oben S. 138 ff.
§ 45. Der übernatürliche Gottesbegriff und der überrechtliche Staatsbegriff. 253

— Natur" ein Normensystem und ein System der Naturgesetze)


einander gegenüberstehen, führt die Aufhebung dieses Dualismus
innerhalb der heutigen Staatslehre zu einer reinen Rechtslehre einer
seits und einer reinen Politik andererseits. Die „Reinheit" der
Rechtslehre berührt natürlich durchaus nicht ihren Charakter einer
Normenlehre. Es kann nicht darauf ankommen, die Rechtswissen
schaft zu einer Naturwissenschaft zu machen, sondern sie — un
beschadet ihres Charakters als Normenlehre — von ethisch-politischen
und naturwissenschaftlichen Elementen zu befreien. Sofern im System
„Staat" dem System „Recht" nicht ein anderes Normensystem, son
dern die Natur Wirklichkeit eines sozialen Geschehens gegenüber
zustellen versucht wird — und auch diese Tendenz wurde ja auf
gezeigt — , fuhrt die Aufhebung dieses Dualismus zu einer reinen
Rechtslehre einerseits und einer naturwissenschaftlichen Staats- und
Rechtssoziologie andererseits. Inwieweit diese letztere möglich ist,
bleibt eine andere Frage.
Die Forderung, daß die Staatslehre aufhören müsse, Staats
theologie zu sein, richtet sich ausschließlich gegen
den für die Theologie charakteristischen System
dualismus. Aus ihm ergibt sich die eben aufgezeigte Parallelität
der Scheinprobleme und Antinomien, deren Unzulässig*keit es vor

allem zu erkennen gilt. Soferne die Theologie als bloße Theorie


eines Systems religiöser Normen auftritt (in welchem Falle sie frei
lich nichts als eine Ethik ist), soll und kann ihre methodische Ver
wandtschaft mit der Rechtsnormenlehre nicht geleugnet werden.
Wenn die Absorption des supranaturalen Gottesbegriffes durch
den Begriff der Natur die Voraussetzung für eine echte, von aller
Metaphysik freie Naturwissenschaft war1), so ist die Reduktion
des überrechtlichen Staatsbegriffes auf den Begriff des Rechtes die
unerläßliche Vorbedingung für die Entwicklung einer echten Rechts-
wissenschaft als einer von allem — als Politik oder Soziologie
verkleideten — Naturrecht gereinigten Wissenschaft vom positiven
Recht. Auf sie zielt die „reine Reehtslehre ", die zugleich die reine
Staatslehre ist, weil alle Staatslehre nur als Staatsrechtslehre mög
lich, alles Recht aber Staatsrecht, wie jeder Staat Rechtsstaat ist.
1) Es ist bezeichnend, daß die Emanzipation der Naturwissenschaft von
der Theologie im Zeitalter der Renaissance in den Formen des Pantheismus
einsetzt. Hier liegt die große Bedeutung GioRdano BRunos. Indem er — im
Kampfe gegen die Theologie — Gott aus der theologischen Hypostase eines
von der Natur verschiedenen Wesens gleichsam entzaubert und als bloße Einheit
de3 gesetzlichen Zusammenhangs der Natur selbst erkennt, wird er zum Be
gründer der modernen Naturwissenschaft. Ueber den Pantheismus GioRdano
BRunos vgl. Jäsche, Der Pantheismus, 1828, II. Bd., S. 184 ff.
VerLas von J. C. B. M o h R (PauL SiebecK) in Tübingen.

WERKE VON H. KELSEN:


VOM WESEN UND WERTE DER DEMOKRATIE
8. 1920. M. 3.-.
(Separat-Ausgabe aus „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik.")

DAS PROBLEM DER SOUVERÄNITÄT


UND DIE THEORIE DES VÖLKERRECHTS
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Groß 8. 1920. M. 28.—.

ÜBER GRENZEN ZWISCHEN JURISTISCHER


UND SOZIOLOGISCHER METHODE
8. 1911. M. 1.50.

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DER STAATSRECHTSLEHRE ENTWICKELT
AUS DER LEHRE VOM RECHTSSATZE
8. 1911. M. 16.—.

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Mit vorzugsweiser Berücksichtigung der in Oesterreich (Nachfolgestaaten)
geltenden Rechtsordnung und Praxis dargestellt
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DIE STAATSFORM ALS GEGENSTAND


DER VERFASSUNGSGESETZGERUNG UND
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(Wiener staatswissenschaftliche Studien.)

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Groß 8. 1921. M. 96.—, gebunden M. 114.—.

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mit Jahreszahl 1918 and 1919: 300%, mit Jahreszahl 1920: 100%,
mit Jahreszahl 1921, 1922 und mit Preisen mit * kein Teuerangszascklag.
VeRLag von J. C. B. Mohr (PauL SiebecK) in Tübingen.

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DER NEUEN REICHSVERFASSUNG
Groß 8. 1920. M. 3.—.

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UND RELAGERUNGSZUSTANDSGESETZ
Zugleich ein Beitrag zur Gewaltenlehre
Groß 8. 1916. M. 1.—.
(Aus der Festgabe für Otto Mayer.)

ZUR LEHRE VOM WIELEN DES GESETZGERERS


Eine dogmengeschichtliche Untersuchung
Groß 8. 1908. M. 1.-.
(Aus den Staatsrechtlichen Abhandlungen, Festgabe für Paul Laband.)

A. MENZEL
ZUR LEHRE VON DER NOTVERORDNUNG
Groß 8. 1908. M. 1.—.
(Aus den Staatsrechtlichen Abhandlungen, Festgabe für Paul Laband.)

6. SEIDLER
DAS JURISTISCHE KRITERIUM DES STAATES
Groß 8. 1905. M. 2.—.

E. BEBNATZIK
REPURLIK UND MONARCHIE
2., durchgesehene Auflage.
8. 1919. M. 2.40.

H. NAW1ASKY
DER RUNDESSTAAT ALS RECHTSREGRIFF
Groß 8. 1920. M. 24.—.

6. (taufmann
ÄrtiU bcr ncuJanttfct>cn 9ierf><$WilofoMte
(Sine 33etrad)tung über bie SBejtebunflen jroifdjen spbilofopbte
unb SKecbtäroiffenfchaft
8. 1821. 301. 24.—.

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I. Band:
Die theoretische Grundlegung
8. 1920. M. 28.—.
II. Band: Unter der Presse.

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