Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
http://hdl.handle.net/2027/uc1.$b563897
JURISTISCHE STAATSBEGRIFF
KRITISCHE UNTERSUCHUNG
DES VERHÄLTNISSES VON STAAT UND RECHT
VON
HANS KELSEN
/
.
TÜBINGEN
VERLAG VON J. C. B. MOHR (PAUL SIEBECK)
1922
Alle Rechte vorbehaltet
'
§
§
3.
4.
5.
Psychische „Verbindung"
Parallelität psychischer Prozesse und Motivation
Die „libido" als Kriterium der sozialen Verbindung
....
...
12
15
19
§
§ 6. Die sozialen „Gebilde« 33
§ 8. Dürkheim 51
§ 9. Jerusalem 59
/
§ 11. Individuum und Gemeinschaft 67
521 136
1$ : Inhalt.
• • .- • ••• • Seite
""7. 'Kapitelr '-Die Selbstverpflichtung des Staates.
§ 22. Die Selbstverpflichtung des Staates als Personifikation
der
Rechtsordnung 132
§ 25.
§ 26.
Der Staat als besondere Rechtsordnung (Stammler)
Der Staat als besondere Rechteordnung (Wundt)
. . .
§ 27.
stehenden Soziologie" (Max Weber) 156
§ 29.
§ 30.
Staatsbegriff.
Die Ueberflüssigkeit des Staatsbegriffs (Affolter)
Die Rechtsstaatetheorie (Krabbe)
.... 178
184
§ i.
Das Problem.
Die Frage nach dem Begriff des Staates ist untrennbar ver
bunden mit der Frage nach dem Begriffsverbältnis zwischen Staat
und Recht. Zwar ist es für die moderne Staatslehre, die keine
bloße Staatsrechtslehre sein will, bezeichnend, daß sie einen
metarechtlichen Staatsbegriff postuliert. Dennoch
ist es ihr bisher nicht gelungen, sich von der rein juristischen
Disziplin der Staats rechts lehre zu emanzipieren. Diese be
hauptet nach wie vor und trotz des Umstandes, daß die Identi
fikation der Staatslehre mit der Staatsrechtslehre nachdrücklichst
abgelehnt wird, ihren Platz zumindest als ein wesentlicher und,
wenn man näher zusieht, als der weitaus gehaltvollste Bestandteil
der Wissenschaft vom Staate. Auch die neuere Staatsrechts
lehre setzt einen metajuristischen, im Grunde eigentlich supra
juristischen Staatsbegriff voraus. Indem aber zugegeben wird,
daß der — unabhängig von Recht und Rechtserkenntnis bestimm
bare — Staat in der Staatsrechtslehre doch irgendwie Gegenstand
juristischer, d. h. auf das. Recht gerichteter Erkenntnis sein kann,
wird die Beziehung zwischen Staat und Recht in das Problem der
Begriffsbestimmung des Staates (wie übrigens auch des Rechtes)
wieder hineingezogen.
Daß die Begriffe „Staat" und „Recht" zwei voneinander ver
schiedeneWesenheiten bezeichnen, kann heute als die herrschende
Lehrmeinung aller mit diesem Gegenstand befaßten Disziplinen gelten.
Nun sind über das Verhältnis von Staat und Recht sehr abweichende
Anschauungen verbreitet; aber selbst dort, wo man die innigsten
Wechselbeziehungen zwischen beiden sozialen Phänomenen anzu
nehmen geneigt ist, hält man immer noch ein Verhältnis für
gegeben und so grundsätzlich eine Zweiheit der Erkenntnisobjekte
aufrecht.
Kelsen, Staatabegriff. 1
2 -•-•«." Einleitung.
.— ; ; rH ' —
Staat „garantiere" das Recht, er sei die reale Kraft, die die An
wendung und Befolgung des Rechts durchsetze, d. h. das Recht ver
wirkliche (positiviere) ; der Staat sei der „ Träger" des Rechts, der
äußere, Zwangsapparat, der die ideelle Rechtsordnung
materielle
realisiere, wie sonst die mannigfachen Bilder beschaffen sein
oder
mögen, in denen man sich das Verhältnis der beiden Wesenheiten
anschaulich zu machen versucht: Stets geht die Tendenz dahin, den
Staat sich ebenso real zu denken wie einen Menschen, als eine Art
"
„Makroanthropos oder Uebermensch, der das Recht als ein Ideelles
„setzt", „trägt", „realisiert" usw. Das ist im großen und ganzen
der Sinn, den die herrschende Lehre mit der Annahme verbindet,
daß der Staat als Verband sich von dem Rechte als Norm
unterscheiden müsse1).
Allein muß ernstlich bezweifelt werden, ob zwischen den
es
1*
4
1. Kapitel.
Die Realität des Sozialen.
§ 2.
Wechselwirkung.
Wenn dem Staate der Sozio
als einem möglichen Gegenstande
logie von dieser „Realität"
zugesprochen wird, so soll dies nur jene
Art von Wirklichkeit sein, in der das Soziale überhaupt sich der
Erkenntnis darbietet. Der Staat ist offenbar eine soziale Wirk
lichkeit. Das Wesen des Sozialen aber wird von den neuem Sozio
logen in ziemlich weitgehender Uebereinstimmung nach zwei Rich
tungen hin bestimmt: Erstlich werden soziale Tatsachen als
psychische Prozesse, als Vorgänge in den menschlichen Seelen
gegenüber den Körperbewegungen „ Natur" im engeren
einer Sinn
abgegrenzt. Dann aber erkennt mau das gesellschaftliche Moment
in einer spezifischen Verbindung, einem Verknüpftsein der
Menschen einem irgendwie beschaffenen
untereinander, Zusammen
sein und glaubt diese Verbindung in der psychischen Wechsel
wirkung, d. h. also darin zu sehen, daß die Seele des einen Men
schen auf die Seele des andern Wirkung übt und von ihr Wirkung
empfängt.
Nur weil Soziologie auch den Staat unter der
die moderne
Kategorie der „Wechselwirkung psychischer Elemente" zu begreifen
versucht, muß hier auf diese Grundfrage der Gesellschaftslehre nach
dem Kriterium Realität näher eingegangen werden.
der sozialen
Es ist der Ausdruck der in diesem Punkte auf
vollendetste
fallend übereinstimmenden Anschauungen fast aller neueren Sozial
theoretiker wenn SIMMEL in seinem umfangreichen Werke über
nach
Intensität verschiedene „Grade" haben kann; und schließlich, daß
die soziologische Einheit des Staates einen hohen, wenn nicht den
höchsten Grad der Enge oder Intensität des durch Wechselwirkung
Verbundenseins darstellt. Und es sei nochmals betont, daß diese
Darstellung SlMMELs als durchaus typisch gelten darf, daß seine
Theorie der Gesellschaft und die in ihr beschlossene soziologische
Theorie des Staates nur die in allen wesentlichen Punkten konse
quente Durchführung des als „psychische Wechselwirkung" be
stimmten Gesellschaftsbegriffes ist.
Nach dieser von der herrschenden Lehrmeinung akzeptierten
Bestimmung muß als die eigentliche Sphäre des Sozialen die Welt
des Seelischen, nicht aber die Körperwelt gelten. Wieder kann
SlMmEL als Kronzeuge, kann seine Formulierung als Idealtypus an-
A. 0.
S.
1908.
6.
5,
a.
!)
')
6 I. Der Staat als soziale Realität.
geführt werden. Es sei kein Zweifel, legt er dar, „daß alle gesell
schaftlichen Vorgänge und Instinkte ihren Sitz in Seelen haben, daß
Vergesellschaftung ein psychisches Phänomen ist und daß es zu
ihrer fundamentalen Tatsache : daß eine Mehrheit von Elementen zu
einer Einheit wird — in der Welt
nicht einmal des Körperlichen
eine Analogie gibt, da in dieser alles in das unüberwindliche Aus
einander des Raumes gebannt bleibt" Ohne bei dem möglichen
Einwand zu verweilen, Organismus —
daß auch im physischen
also doch wohl in der Körperwelt eine Mehrheit von Elementen—
zu einer Einheit wird, und daß gerade diese räumlich körperliche
Einheit nicht zuletzt von SmmeL als Analogie zum Begreifen der
sozialen Einheit herangezogen wird — sei vor allem festgehalten,
daß die Welt als Inbegriff von „ seelischen Ereignissen,
des Sozialen,
deren sich nicht zu einer selbständigen Raumeswelt zu
Inhalte
sammenschließen" mit der Kategorie des Raumes nicht erfaßt zu
2),
Nun ist hier noch nicht der Anlaß, die Stellung der sogenannten
Elemente des Staates in dessen Begriff zu untersuchen. Nur muß
betont werden, daß bei einer Auffassung des Staates als psycho
logischer Tatsache die Raumlosigkeit der letzteren unverein
bar bleiben muß mit der nicht wegzuleugnenden Raumhaftigkeit des
A. a. 0. SimmeL, a. a. 0. S. 22.
S.
21.
»)
3) ')
1859, 73.
§ 2. Wechselwirkung. 7
muß, daß der eigentlichste Sinn dessen, was man mit der das Soziale
darstellenden „Verbindung" bezeichnet, durch den Gedanken der
Wechselwirkung gar nicht erreicht wird, daß von dieser „Verbindung"
Eigenschaften ausgesagt werden müssen, die einer „Wechselwirkung"
gar nicht zukommen können. Wäre die soziale Verbindung identisch
mit psychischer Wechselwirkung, dann gäbe es keine Gliederung
und Differenzierung und es bestände nur eine einzige menschliche
Gesellschaft1).
Sieht man zunächst von dieser Schwierigkeit ab, die sich durch
die Scheidung trennender und verbindender
„Wechselwirkungen"
ergibt und geht man auf diese Vorstellung der Soziologie ein, dann
muß sich der Staat offenbar als eine durch verbindende Wechsel
wirkung hergestellte Einheit von Menschen darstellen. Verfügt
man über kein anderes Kriterium als das der verbindenden Wechsel
wirkung, ist es schlechterdings unmöglich, aus den zahllosen Grup
pen, in die die Menschheit auf solche Weise zerfällt, jene be
sondere Verbindung herauszuerkennen, die man den Staat nennt.
Die Familie, die Nation, die Arbeiterklasse, die Religionsgemein
schaft, sie alle wären durch Wechselwirkung verbundene Einheiten,
und wenn sie sich untereinander und gegenüber der sozialen Einheit
des Staates unterscheiden sollen, müßte ein durchaus außersozio
logischer oder außerpsychologischer Begriff dieser Einheiten, ins
besondere des Staates vorausgesetzt werden.
Daß man in der modernen Soziologie, mit einem
solchen von einer anderen Disziplin hergeholten
Begriff des Staates ausgerüstet, an die vermeint
liche soziale Wirklichkeit herantritt, kann kei
nem Zweifel unterliegen. Die hier in Betracht kommende
Gedankenfolge ist doch wohl die : Wer zu einem Staate gehört,
welche Menschen den Staat bilden, das ist aber: die Einheit des
Staates, wird vorerst als gegeben vorausgesetzt; auch von den
Soziologen, die empirisch die soziale Einheit des Staates aufzu
suchen und zu
bestimmen bemüht sind. Gegeben ist aber
die auch von den Soziologen vorausgesetzte Staats
einheit durch die Rechtswissenschaft und die Zu
gehörigkeit zum Staat wird, durchaus juristisch,
nach der e i n h e i tl i c h e n G e 1 t u n g einer aisgültig
l) RümeLin, Reden und Aufsätze, L Bd., 1875, S. 94. „Unser Drang geht
nicht dahin, uns ins Unbegrenzte anzuschließen, sondern einer Gruppe anzu
gehören, in einen bestimmten Kreis einzutreten, der sich geschlossen und ab
gegrenzt gegen andere zu behaupten strebt. Dem Sich-anschliefien-wollen
ist untrennbar gleich das Sich-abschließen-wollen beigesellt."
§ 2. Wechselwirkung. 9
') Schon in dem 1863 erschienenen dreibändigen, so etwas wie eine Sozio
logie des Staates intendierenden Werke von Josef HeLd, Staat und Ge
sellschaft, wird die Frage aufgeworfen: Was ist ein Volk? und die Ant
wortgegeben: eine „durch irgendein starkes Band zur Einheit
gewordene größere Menschenmasse". Diese Einheit, auf die sich die
Problemstellung bewußt richtet, wird als „staatliche Einheit" erkannt, das
Volk des näheren als das „gesamte lebendige Substrat des Staates, die staat
liche Einheit einer größeren Menschenmasse" bezeichnet- Und im Abschluß
daran heißt es: „Wenn man die unendliche Verschiedenheit der Menschen,
die Mannigfaltigkeit ihrer Bestrebungen, ihre Freiheit und deren unmittelbare
Richtung auf das individuelle Interesse, den fortgesetzten Wechsel in den
Individualitäten, deren Sichwegziehen vom Staat und Hinausgehen Aber den
selben bedenkt, so gibt es gewiß nichts Wunderbareres als
die staatliche Einheit von vielen Tausenden und Millionen Menschen."
HeLd glaubt dieses „Wunder" der staatlichen Einheit als „Organismus" be
greifen zu können. „In jedem Organismus ist ein so inniger und lebendiger
Zusammenhang, daß das diesem entsprechende Gefühl jedes organischen Gliedes
nicht nur dieses ganz durchdringt, sondern auch mit den betreffenden Gefühlen
aller übrigen organischen Glieder in beständiger Wechselwirkung sich
befindet. Man kann auch sagen, daß nur soweit eine solche Einheit
der Gefühle oder des Bewußtseins da ist, eine lebendige
organische Einheit des Staates angenommen werden
könne." Diese Auffassung des Staates als einer realen, natürlichen
Einheit kann HeLd begreiflicherweise nicht aufrechthalten und er setzt sie auch
— wie sich gleich zeigt — gar nicht ernstlich voraus. Wohin er eigentlich
zielt — und das ist im höchsten Grade symptomatisch — , geht aus der Fol
gerung hervor, die er aus dem Prinzip der organischen Einheit ableiten zu
können glaubt: „Diese Einheit erfordert jedoch in jedem Organismus einen
Punkt, in welchem sie gleichsam gipfelt, in welchem, da in ihm das staatliche
Leben aller Glieder zusammenläuft, sie sich am höchsten potenziert. Dieser
Punkt ist das Haupt, das Höchste usw." Kurz: der Monarch. Das Naturgesetz
der organischen Einheit wird zu einem politischen Postulat und später zum
Gesetz der Rechts einheit, einer bloß rechtsgesetzlichen Einheit :
12 I. Der Staat als soziale Realität.
§ 3.
Psychische „Verbindung8.
Erblickt man das Wesen der sozialen Realität und sohin auch
des Staates als eines Stücks der gesellschaftlichen Wirklichkeit in
einer irgendwie näher zu charakterisierenden psychischen „Verbin
dung", dann ist es nicht überflüssig, sich den durchaus bildlichen
Charakter dieser Vorstellung klar zu machen, mit der eine Raum
relation auf unräumlich seelische Tatsachen übertragen wird. Das
Mißliche, mit einer auf die Körperwelt zugeschnittenen Sprache
psychische Vorgänge zu bezeichnen, macht sich hier besonders fühl
bar. Und die Schwierigkeit wird noch dadurch erhöht, daß der
volle Sinn des Sozialen offenbar nicht durch die Erkenntnis einer
bloß psychischen Verbundenheit erschöpft wird, daß irgenwie auch
ein räumlich körperliches Beisammen menschlicher Leiber auf einem
Teile der Erdoberfläche als dazu gehörig angesehen wird. Der Be
griff des Staates sei hier nur als Beispiel erwähnt. Und in der
Tat, wenn man die gesellschaftlichen Phänomene, wie das in der
neueren Soziologie behauptet aber nicht durchgeführt wird, als reine
Seelenvorgänge betrachtet, ist es gänzlich ausgeschlossen, zu jenen
„Gebilden", jenen sozialen „Einheiten" zu gelangen, die schließ
lich und endlich sich jeder Soziologie als ihre eigentlichsten Objekte
aufdrängen.
Unterzieht man dasjenige, was eine soziale Verbindung ps y cho-
logisch bedeuten kann, einer Analyse, so ergibt sich als der Sinn
der Behauptung, daß A mit B verbunden sei, nicht etwa, daß beide
als Körper in denselben Raum gebannt sind, keine — wie sich die
.Diese ideale Einheit ist aber nie vollkommen dagewesen und wird es nie sein.
Wo und soweit sie vorhanden ist, wird die Regierung nur ihr natürlicher Ver
treter sein ; wo und soweit sie fehlt, da ist Kampf, Streit und Kollision" — aber
dennoch »Staat«! — «und nun tritt das Haupt in seiner besonderen Funktion
auf, indem durch die Entscheidung im Interesse der Einheit die dieselbe
es
1
) SchmoLLeRs Jahrbuch, Bd. 20, S. 579.
14 I. Der Staat als soziale Realität.
Soziologie, 0.
S.
a. 616.
S.
616. a.
»)
')
§ 4. Parallelität psychischer Prozesse und Motivation. 15
§ 5.
Die „libido" als Kriterium der sozialen Verbindung.
Neben der Parallelität der psychischen Prozesse und der „Moti
vation" kann als dritte mögliche Form der sozialen Verbindung —
soferne solche auf psychologischem Wege gesucht wird — jene eigen
artige Beziehung angesehen werden, die darin besteht, daß ein Indi
viduum ein anderes zum Objekt seines dementsprechend auf dieses
andere Individuum gerichteten Wünschens, . Wollens oder Begehrens
macht. Während man bisher diese spezifische seelische Einstellung
nur für die paarweise
Verbindung des Liebes- und Freund
schafts verhältnisses (im engsten Sinne) als konstituierend an
gesehen hat, versucht neuestens FREUD, die für seine „Psychoanalyse"
grundlegende Theorie der „libido" auch zur Lösung des Hauptpro
blems der Sozialpsychologie, zur Beantwortung der Frage nach dem
Wesen der sozialen „Verbindung" zu verwenden1). Scheinbar geht
dabei FREUD nur von einem Spezialproblem der Sozialpsychologie,
der durch die Untersuchungen SIGHELEs 2) und Le Bons 3) geschil
derten Phänomene der Massenpsychologie aus. Allein
sogenannten
das Problem der
„Masse" muß sich schon bei einiger Vertiefung
als das Problem der sozialen „Einheit" oder sozialen „Verbindung"
schlechtweg erweisen. Da3 gerade zeigt die Darstellung FßEUDs,
in deren auch den Staat
letzter Konsequenz es gelegen ist,
als eine wenn auch komplizierte — „Masse",
—
oder doch als ein Phänomen der Massenpsycho
logie zu begreifen.
Als eine Masse
„im gewöhnlichen Wortsinne" bezeichnet
Le BON „eine Vereinigung irgendwelcher Individuen von beliebiger
Nationalität, beliebigem Berufe und Geschlecht und beliebigem An
lasse der Vereinigung" Es ist klar, daß damit keinerlei Begriffs
4).
Aufl.,
2.
1920.
La coppia criminale, Aufl., deutsch von RuReLLa, Psychologie des
2.
2)
4)
2*
20 I. Der Staat ah soziale Realität.
ergeben sich für den einzelnen aus der Tatsache seines Beisammen
seins mit „Masse" ist ihm zunächst der Ausdruck für
anderen?
eine spezifische Bedingung, unter deren Gegebenheit gewisse gleich
artige individual-psychische Wirkungen bei einer Mehrheit Ton Indi
viduen eintreten. Dieser Begriff erfährt aber sofort einen charak
teristischen Bedeutungswandel. „Vom psychologischen Gesichtspunkt
bedeutet der Ausdruck »Masse« etwas ganz anderes. Unter bestimmten
Umständen und bloß unter diesen besitzt eine Versammlung von
Menschen Merkmale, ganz verschieden von denen der diese
neue
Gesellschaft bildenden Individuen. Die bewußte Persönlichkeit schwin
det, die Gefühle und Gedanken aller Einheiten sind nach derselben
Richtung orientiert. Es bildet sich eine Kollektivseele, die, wohl
transitorischer Art, aber von ganz bestimmtem Charakter ist. " Le BON
spricht nunmehr von einer „psychologischen Masse", zu der die Ge
samtheit geworden ist und sagt von ihr: „Sie bildet ein einziges
Wesen und unterliegt dem Gesetz der seelischen Einheit der Masse"
(loi de l'unite mentale des foules) Die psychologische Masse
1).
„
ist ein provisorisches Wesen, das aus heterogenen Elementen besteht,
die für einen Augenblick sich miteinander verbunden haben, genau
so wie die Zellen des Organismus durch ihre Vereinigung ein neues
Wesen mit ganz anderen Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen
bilden"2). War „Masse" ursprünglich der Ausdruck für die spezi
fische Bedingung, ist er nunmehr der Ausdruck für die Folgen,
die unter den vorausgesetzten Bedingungen eintreten. Dabei wird
die Tatsache, daß diese Folgen bei einer Vielheit von Individuen
gleichmäßig eintreten, dadurch vereinfacht dargestellt, daß die spe
zifischen Eigenschaften und Funktionen des in die Masse eingereihten
Individuums von der Masse selbst als einem von den die Masse
bildenden Subjekte ausgesagt wird. Neben
Subjekten verschiedenen
den Seelen der — die Masse bildenden — Einzelmenschen erscheint
plötzlich eine Massenseele (die Masse ist
ja
diese Seele).
Zwar sagt Le BON: „Die Hauptmerkmale des in der Masse
befindlichen Individuums sind demnach: Schwund der bewußten
Persönlichkeit, Vorherrschaft der unbewußten Persönlichkeit, Orien
tierung der Gedanken und Gefühle in derselben Richtung durch Sug
gestion Tendenz zur unverzüglichen Verwirklichung
und Ansteckung,
der suggerierten Das Individuum ist nicht mehr es selbst;
Ideen.
es ist ein willenloser Automat. Ferner steigt durch die bloße Zu
gehörigkeit zu einer Masse der Mensch mehrere Stufen auf der
Leiter der Zivilisation herab. In seiner Vereinzelung war er viel-
0. 0.
S.
S.
a. a. 12.
9.
a. a.
»)
')
§ 5. Die .libido" als Kriterium der sozialen Verbindung. 21
1).
dieser Peststellung einer Summe gleicher Eigenschaften der in der
Masse befindlichen Individualseelen werden schließlich Aeußerungen
einer von den Individualseelen verschiedenen „Massenseele". Es wird
behauptet, daß die Masse stets dem isolierten Menschen in
„
e
s
s
oft aber auch heldenhaft ist"
2),
es wird von einem Gefühlsleben,
einer Sittlichkeit der Masse gesprochen usw. Weil die Individuen
in der Masse andere Eigenschaften haben als im Zustand der Ver
einzelung, wird von „Eigentümlichkeiten der Massen" gesprochen,
welche die Individuen nicht besitzen" und so ein Gegensatz zwi
3)
waren,
der Masse) neue Eigenschaften aufweisen, wird die Masse zu einem
„Körper", zu einem Individuum
als Träger dieser neuen
neuen —
Eigenschaften — hypostasiert!
Indem nun Freud an Le Bons Schilderung der Massenseele
anknüpft, verfällt er durchaus nicht in den Fehler dieser Hypo-
0.
S. S.
S.
S.
a)
4) ')
a. a. 0. 12.
22 I. Der Staat als soziale Realität.
a. a. 0.
S.
7.
§ 5. Die „libido" als Kriterium der sozialen Verbindung. 23
0. 0.
S.
S.
a. a. 45. a. a. 45.
»)
»)
24 I. Der Staat als soziale Realität.
Verbindung überhaupt in
„libidinösen Bindungen" der Massen
glieder, der die Gruppe Individuen bestehen soll, so
bildenden
wird doch zugleich mit Nachdruck betont, daß es sich dabei nicht
um Liebestriebe handeln „die direkte Sexualziele verfolgen".
könne,
„Wir haben es hier mit Liebestrieben zu tun, die, ohne darum
minder energisch zu wirken, doch von ihren ursprünglichen Zielen
abgelenkt sind" Solche Ablenkung des Triebes von seinem
1).
Sexualziel beschäftigt die Psychoanalyse in vielfacher Richtung.
Diese Erscheinungist, wie die Psychoanalyse lehrt, mit gewissen
Beeinträchtigungen des Ichs verbunden. Die Vermutung, daß sich
die soziale Verbindung als eine derartige libidinöse Bindung be
greifen lasse, wird zunächst dadurch bestärkt, daß
ja
als ein wesent
liches Merkmal des in die Masse eingereihten Individuums das
Schwinden Selbstbewußtseins angegeben wird.
des „Solange die
Massenbildung anhält oder soweit sie reicht" — diese Anerkennung
der bloß ephemeren, flüchtigen, in ihrem Umfang schwankenden Exi
stenz der sozialen Gruppenbildung ist von größter Wichtigkeit! —
„benehmen sich die Individuen als wären sie gleichförmig, dulden
sie die Eigenart des andern, stellen sich ihm gleich und verspüren
kein Gefühl der Abstoßung gegen ihn. Eine solche Einschränkung
des Narzißmus2) kann nach unseren theoretischen Anschauungen nur
durch ein Moment erzeugt werden, durch libidinöse Bindung an
andere Personen. Die Selbstliebe findet nur an der Fremdliebe, Liebe
zu Objekten, eine Schranke"3). Als eine Gefühlsbindung an eine
andere Person, die nicht Geschlechtsliebe ist, hat die Psychoanalyse
— schon vor ihrer Untersuchung des sozialpsychologischen Problems
— die sogenannte „Identifizierung" festgestellt. Auf den kompli
zierten seelischen Mechanismus dieser „Identifizierung", den die
Psychoanalyse in eigenartiger Weise aufdeckt, kann und braucht
hier nicht näher eingegangen zu werden. Festgehalten sei hier nur,
daß die Identifizierung nach der Lehre FREUPs die ursprünglichste
Form der Gefühlsbindung an ein Objekt ist (sie ist noch vor jeder
sexuellen Objektwahl möglich, z. B. wenn der kleine Knabe sich
mit dem Vater identifiziert, indem er so sein möchte wie der Vater,
in allen Stücken an seine Stelle treten möchte, kurz, den Vater zu
seinem Ideal nimmt) und weiters, daß es nach den Ergebnissen der
;
a. a.0. S. 64.
')
3).
Dieser als Führer fungierende Mann ist ein gewalttätiger, eifer
süchtiger Vater, der alle Weibchen für sich behält, die Männer aber,
das sind die heranwachsenden Söhne, an der Befriedigung ihrer
direkten auf die Weibchen gerichteten Sexualtriebe verhindert. Er
zwingt sie zur Abstinenz und infolgedessen zu den Gefühlsbindungen
an ihn und aneinander, die aus den Strebungen mit gehemmtem
Sexualziel hervorgehen. Die Abhaltung der Söhne von den Weib
chen der Horde führt zur Vertreibung.
Eines Tages kommen die
ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlagen und verzehren den Vater
und machen so der Vaterhorde ein Ende. An Stelle der Vater
horde tritt der Brüderclan. Auf die sehr interessanten Details dieser
Hypothese, die vor allem eine überraschende Erklärung der bisher
rätselhaften Erscheinungen des sogenannten Totemismus bringt, kann
nicht eingegangen werden. Hier ist nur die Behauptung FREUDs
festzuhalten, daß die Schicksale der Urhorde „unzerstörbare Spuren
in der menschlichen Erbgeschichte hinterlassen haben"*). Speziell
87/88, 113.
!)
Totem und Tabu, S. 116 ff.; Massenpsychologie und Ichanalyse, 100 ff.
S.
')
Werke .Altersklassen und Männerbünde", 1902, die These vertritt, daß alle
höheren sozialen Verbände, also insbesondere der Staat, auf Männerver
bände zurückgehen, die bei allen primitiven Völkern als Männerhäuser, klub
artige Vereinigungen, Geheimbünde usw. beobachtet werden. Diese Männer
§ 5. Die „libido" als Kriterium der sozialen Verbindung. 27
1).
Charakter der Massenbildung, der sich in ihren Suggestionserschei
nungen zeigt", müsse „auf ihre Abkunft von der Urhorde zurück
geführt werden. Der Führer der Masse ist noch immer der ge
fürchtete Urvater, die Masse will immer noch von unbeschränkter
Gewalt beherrscht werden, sie ist im höchsten Grade autoritätssüch
tig, hat nach Li! BONs Ausdruck den Durst nach Unterwerfung.
Der Urvater ist das Massenideal,
das an Stelle des Ichideals das
Ich beherrscht" „Die Masse erscheint uns so als ein Wieder
2).
d
i
a. a. 0. S. 101. 111.
!)
')
a. a. 0.
S.
102.
»)
28 I. Der Staat als soziale Realität.
1).
erscheint somit FREUD als eine „Massenseele". Freilich von etwas
anderer Art als jene Massen, in denen die Urhorde unmittelbar
lebendig wird. Diese ständigen und dauerhaften Massen
„
a. a. 112. a. a. 113.
s)
')
a. a. 0. 28.
")
§ 5. Die .libido" als Kriterium der sozialen Verbindung. 29
denen die Menschen ihr Leben zubringen, die sich in den Insti
tutionen der Gesellschaft verkörpern. Die Massen der ersten Art
sind den letzteren gleichsam aufgesetzt wie die kurzen, aber hohen
Wellen den langen Dünungen der See" So bestechend dieses Bild
1).
sein mag, so sehr ist es geeignet, den prinzipiellen Unterschied
zwischen den „kurzlebigen" und den „stabilen" Massen, die sich in
den „Institutionen" verkörpern, zu verdunkeln, einen Unterschied,
den FREUD zwar gefühlt, aber nicht deutlich genug erkannt hat.
In der maßgebenden Differenzierung zwischen den beiden Arten
von „Massen" schließt sich Freud der Darstellung des engliscben
Soziologen Mc DOUGALL an, der zwischen primitiven, „unorgani
2)
1920. 35.
i)
a. a. 0.
S.
28.
»)
30 I. Der Staat ah soziale Realität.
») a. a. 0. S. 57.
§ 5. Die „libido" als Kriterium der sozialen Verbindung. 31
0. 0. S.
S.
a. a. 87. a. a. 58.
')
!)
32 I. Der Staat als soziale Realität.
Der französische Soziologe Tarde (La logique sociale, 1895 und Les
3)
lois de l'imitation, id. 1895) geht bekanntlich von der Tatsache der sug-
2.
§ 6. Die sozialen .Gebilde". 33
Mit
der Einstellung auf die sogenannten stabilen, organisierten
Massen vollzieht die soziologische Untersuchung eine auffallende
Richtungsänderung. Nach welcher Richtung aber diese
Wendung führt, soll später geprüft werden. Für diese Prüfung sei
nur aus den hier behandelten Resultaten der Massenpsychologie fest
gehalten, daß als das Charakteristikum der sogenannten stabilen
Massen die „Organisation" erblickt und daß angenommen wird, daß
sie sich „in Institutionen verkörpern". „Organisation" und „In
stitution" sind aber Normenkomplexe, Systeme von menschliches
Verhalten regulierenden Vorschriften.
§ 6.
Die sozialen „Gebilde".-
Die entscheidende Richtungsänderung, die bei
jeder psychologisch orientierten Soziologie zu konstatieren ist,
tritt ausnahmslos an jenem Punkte ein, wo die Darstellung aus der
allgemeinen Sphäre der Wechselwirkung zwischen psychischen Ele
menten zu jenen sozialen „Gebilden" aufsteigt, die sich aus den
Wechselwirkungen irgendwie ergeben und schließlich zu dem spezi
fischen Gegenstande der Soziologie werden. Von einer prinzipiellen
Richtungsänderung muß gesprochen werden, weil mit der Erfassung
dieser Objekte die wissenschaftliche Betrachtung in eine gänzlich
neue, von der bisherigen verschiedene Methode eintritt. Den meisten
Soziologen freilich unbewußt und in der Meinung, den alten Weg
fortzusetzen, wird der Bereich psychologisch - empirischer Unter
suchung verlassen und ein Gebiet betreten, dessen Begriffe, weil man
sie mit einem ihnen gänzlich wesensfremden Sinn, nämlich dem
psychologischen, zu belasten sucht, die seltsamsten Verfälschungen
erdulden müssen.
Der für die psychologische Soziologie typi
sche Sprung aus derPsychologie heraus manifestiert
sich in den mit aller Psychologie unvereinbaren Eigenschaften, die
von den sozialen „Gebilden" ausgesagt werden und ausgesagt werden
müssen, will man nur einigermaßen jene Vorstellungen erfassen, die sich
in unserem Bewußtsein als soziale Wesenheiten, als Kollektiva vor
finden. Da ist vor allem die bei jedem Soziologen wiederkehrende
Behauptung, daß die sozialen „Gebilde", die sich aus den Wechsel
wirkungen zwischen psychischen Elementen „verfestigen", „kristalli
sieren", „zusammenballen", einen „überindividuellen" Charakter haben.
Da Seelisches nur i m Individuum, d. h. in den Seelen der Einzel
menschen möglich ist, muß alles Ueberindividuelle, jenseits der
Einzelseele Gelegene metapsychologischen Charakter haben.
Schon die „Wechselwirkung" zwischen den Individuen ist ebenso
überindividuell wie metapsychologisch; und nur sofern man sich dessen
nicht bewußt wird, glaubt man, ohne das Psychische zu verlassen
auf der Zwischenstufe der „Wechselwirkung" zu der Ueberindivi-
dualität, als einer Art höherer Form des Psychischen, aufsteigen zu
können. In Wahrheit liegt eine vollständige u.exaßaats sCg &XXo
yevo; vor. Es wäre denn, daß man außer der Einzelseele noch eine
den Raum zwischen den Einzelnen erfüllende, alle Einzelnen um
fassende Kollektivseele Vorstellung, der
annehmen wollte ; eine
gerade die neuere Soziologie —
wie bereits gezeigt — nicht allzu
ferne steht, und auf die später noch zurückzukommen sein wird.
In demselben Sinne, in dem die sozialen „Gebilde" als über
individuell bezeichnet werden, sprechen ihnen alle Soziologen in den
verschiedensten Wendungen „Objektivität" zu. Es ist ein durchaus
typischer Ausdruck für die in Frage stehende Vorstellung: daß die
psychischen Wechselwirkungen zwischen den Individuen „ nach ihrem
Erstarren und Stabil werden zu objektiven Mächten wer
den" Man spricht von den sozialen Wesenheiten als von Ob-
1).
„
jektivationen oder von Objektivationssystemen In
"
"
geradezu
2).
„
Ebenso wie die Objektivität setzt auch die Dauer oder Kon
stanz, die man von den sozialen Gebilden aussagt, diese in einen
prinzipiellen Gegensatz zu der fluktuierenden, blitzartigen Existenz
der individualpsychischen Tatsachen, aus denen sie auf irgendeine
Weise entstehen sollen. Gerade beim Staat wurde hier schon auf
merksam gemacht, wie unvereinbar die ihm wesentliche Gleichmäßig-
9.
55,
')
') EisLer, a. a. 0. S. 9.
8*
36 I. Der Staat als soziale Realität.
*) GierKe, Das Wesen der menschlichen Verbände, 1902, S. 17. Vgl. dazu
auch meine Bemerkungen zu KjeLLenb, „Der Staat als Lebensform* in meiner
Schrift : Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, 1920,
S. 19, 76. Die Sichtbarkeit und Greifbarkeit des Staates, als eines biologischen
Organismus, vertritt neuestens auch: UxxüLL, Staatsbiologie, 1920.
2) EisLer, a. a. 0. S. 38, 90. 3) EisLer, a. a. 0. S. 90.
38 I. Der Staat als soziale Realität.
damit beruhigt, daß es nur ein Vergleich sei, dessen man sich
mit der Vorstellung des Organismus bediene. Und es sei nochmals
hervorgehoben, ganze Differenz zwischen der organischen
daß die
und der anorganischen Soziologie psychologischer Richtung nur die
ist, daß die erstere durchaus folgerichtig neben dem Organismus einer
sozialen Seele den eines sozialen Körpers annimmt, während die
anorganische sich mit der Konstruktion eines durchaus organi
schen Kollektivgeistes begnügen zu können glaubt
"
Sehr treffend hat SWKKL den „Mystizismus jener soziologischen
Geisterlehre charakterisiert, die „von einer Volksseele, einem Be
wußtsein der Gesellschaft, einem Geist der Zeiten als von realen,
beseelt. Auch diese hat ihre Entwicklung. In jenem einfachen Staat ist
diese Idee wohl nur ein Herrscherwille und so vergänglich wie ein Menschen
leben, in diesem Eulturstaat ist das ganze Volk ihr Träger. Damit erneuert
die Seele des Staates unablässig ihr Leben, wie die Generationen aufeinander
folgen. Die kräftigsten Staaten sind die, wo die politische Idee den ganzen
Staatskörper bis in alle Teile erfüllt. Teile, wo die Idee, die Seele nicht hin
wirkt, fallen ab, und zwei Seelen zerreißen den Zusammenhang des politischen
Leibes." Auf den Inhalt dieser .Idee", die die Seele des Staates bildet, geht
RatzeL nicht weiter ein. Und doch droht sich ihm der Staat auf diese „Idee"
zu reduzieren, zeigt sich die Tendenz, den Staat nicht so sehr als Körper,
denn vielmehr als „Seele" zu begreifen! Als ein Stück Boden, das mit einem
Stück Menschheit in Verbindung steht, ist der Staat ein körperlicher Organis
mus wie irgendein anderer. Das ist ja der ursprüngliche Gedanke RatzeLs.
Aber gerade an dem Problem der Staats seele wird ihm „die Grenze des
Organismus im Staat" bewußt. Gegenüber den Algen und Schwämmen ist der
Staat nur ein unvollkommener Organismus; „denn seine Glieder bewahren sich
eine Selbständigkeit, wie sie schon bei niederen Pflanzen und Tieren nicht
mehr vorkommt". „Was nun diese als Organismus unvollkommene Vereinigung
von Menschen, die wir Staat nennen" — in dem Sinne wie Algen und Schwämme
ist aber der Staat eben wegen der Selbständigkeit seiner Glieder überhaupt
kein Organismus ! — , „zu so gewaltigen, einzigen Leistungen befähigt, das ist,
daß er ein geistiger und sittlicher Organismus t". Man
(!)
•
beachte die prinzipielle Wendung, die die Darstellung nimmt! „Der geistige i
Zusammenhang verbindet das körperlich Getrennte, und darauf paßt aller
dings dann kein biologischer Vergleich. Aber als das die getrennten Menschen
"
des Staates mit einem Organismus mehr auf die primitiven als die fortge
schrittenen Staaten." Ist der Staat also kein „organischer" Organismus,
so kann man ihn doch als einen „sittlichen Organismus" bezeichnen.
Das heißt Der Staat ist überhaupt kein Organismus im eigentlichen Sinne
:
des Wortes, und zwar wegen der Selbständigkeit seiner Glieder, sondern ist
die sittlich-politische „Idee", die ursprünglich nur als seine Seele, die ihm als
Körper, als körperlichem Organismus innewohnende Seele bezeichnet wurde.
Es ist ganz die gleiche Denkmechanik, die wir schon bei dem Versuche kennen
gelernt haben, den Staat als „Masse" zu begreifen. Das Wesen der „Masse"
liegt ebenso in der „Bindung", wie das Wesen des Organismus in der „Unselb
ständigkeit" der Glieder. Der Staat wird hier wie dort trotz des Mangels des
entscheidenden Kriteriums als „Masse", bzw. als „Organismus" zu verstehen
gesucht, indem man neben der primitiven eine artifizielle Masse, neben dem
40 I. Der Staat als soziale Realität.
zialen Einheiten zu machen, wenn der Staat eben ein geistiger In-
halt und somit nicht der diesen Inhalt tragende Prozeß ist. Jeder
„Begriff" entsteht und ist wirklich — wenn man psychologisch
betrachtet — in konkreten seelischen Vorgängen. Könnte aber
psychologische Forschung seinen spezifischen geistigen Gehalt zutage
fördern? Obgleich auch er ein geistiges „Gebilde" ist, zu dem
sich seelische Prozesse „ verfestigen", obgleich er eine „starr ge
wordene" Verbindung von Vorstellungen, eine sozusagen intra-indi-
viduelle Assoziation, d. h. Vergesellschaftung psychischer Elemente ist.
Ist aber mit all dieser psychologischen Erkenntnis über den geistigen
Inhalt, den er darstellt, das geringste gesagt 1) ? Ebensowenig wie
über den Staat, wenn man ihn als eine durch Wechselwirkung her
gestellte Verbindung psychischer Elemente, als ein objektives Gebilde
bezeichnet, sich die „nur der psychologischen Mikroskopie
zu dem
zügängigen Wechselwirkungen zwischen den Atomen der Gesellschaft
verfestigen".
Indem SlMMEL, um den Mystizismus der Annahme sozialer Seelen
oder Geister zu vermeiden, „die konkreten geistigen Vorgänge",
in denen die sozialen Gebilde entstehen und wirklich sind, von den
„ideellen für sich gedachten Inhalten derselben
"
2) unterscheidet,
bezeichnet er die spezifische Existenz dieser „Inhalte" als ein „Gel
ten". Was SIMMEL ausdrücklich nur von den als Recht, Sitte,
') Der Gedanke, daß die Verbindung der Vorstellungen in der mensch
lichen Seele, die man „Assoziation", also Vergesellschaftung nennt,
in Analogie stehe zur Verbindung der Menschen in der gesellschaftlichen Gruppe,
liegt allerdings nahe und ist schon öfters ausgesprochen worden. So von Her
baRt in seiner Abhandlung „Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie
und Staatswissenschaft". Sämtliche Werke, herausgegeben von Hartenstein,
IX. Bd., S. 201 ff. Dort wird behauptet, „daß in dem Staate eine ähnliche Ver
knüpfung stattfinde wie in dem menschlichen Geiste" (S. 203). Doch kommt
die Beweisführung über recht allgemeine und vage Analogien nicht hinaus;
so etwa, wenn gezeigt wird, daß im Staate wie im einzelnen Menschengeiste
„Hemmung des Entgegengesetzten und Verbindung dessen, was sich nicht
hemmt", stattfinde, oder daß es im Staate wie in der Seele darauf ankomme,
„Gleichgewicht" in ein „System von Kräften" zu bringen u. a. HbRbakt geht
sogar so weit, zu behaupten, daß die von der Psychologie abgeleitete Staats
wissenschaft sozusagen zur „Rechnungsprobe" für die erstere dienen könne,
so zwar, „daß die Irrtümer, welche in die Psychologie eingeschlichen sein
möchten, sich dadurch verraten werden, wenn in der Staatswissenschaft nichts
Haltbares vorkommt, was ihnen entsprechen könnte" (a. a. 0. S. 217). Als aus
führbar haben sich jedoch diese Anregungen HeRbarts bisher nicht erwiesen.
Für eine spezifische „Staats"lehre sind sie schon darum nicht zu brauchen,
weil das Wort „Staat" bei HeRbart so viel wie Gesellschaft überhaupt be
deutet.
») a. a. 0. S. 558.
§ 6. Die sozialen „Gebilde". 43
Daraus folgt, daß vom Staate als einer sozialen Einheit nur im
Sinne jener unpsychologischen Gültigkeit, nicht einer psychischen
Wirksamkeit die Rede sein kann. Wenn aber das soziale Ge
bilde des Staates seine spezifische Existenz in einer Gültigkeit
findet, die unabhängig ist von der psychischen Realität oder Wirk
samkeit irgendwelcher Seelenvorgänge, gänzlich aus muß es als
geschlossen gelten, in der Wechselwirkung zwischen psychischen
Elementen die gesuchte Einheit zu finden, durch empirische Unter
suchungen den Staat als soziologische Realität im Sinne psycho
logischer Wirksamkeit oder Wirklichkeit aufzuzeigen.
Damit daß der Staat als ein spezifischer geistiger Inhalt, nicht
aber als der diesen Inhalt tragende seelische Vorgang oder als
irgend eine Häufung solcher Vorgänge erkannt wird, ist für den Be
griff des Staates noch sehr wenig gewonnen. Jetzt beginnt erst
das Problem. Denn jeder Gegenstand wissenschaftlicher Er
kenntnis kommt nur als Inhalt seelischer Vorgänge — unter Ab
straktion von den letzteren — in Betracht. Nur insoferne ist eine
negative Bestimmung nicht seelische Vorgänge —
gewonnen, daß
in der Psychologie den Gegenstand und somit geistigen Inhalt
ja
die
a. a. 0. S. 558/9.
')
44 I. Der Staat als soziale Realität.
2. Kapitel.
§ 7.
Spencer.
') Wien, 1912. Auf die rein normative Richtung der Staatstheorie Pia
tons und Aristoteles' hat neuerdings aufmerksam gemacht: Pitamic, Piaton,
Aristoteles und die reine Rechtslehre, Zeitschrift für Oeifentliches Recht,
II. Bd., S. 683 ff.
§ 7. Spencer. 47
Annahme, das soziale Aggregat sei „nicht ein Ding, sondern nur
eine bestimmte Ordnung von Einzelpersonen ausdrücklich
"
ab.
4)
S.
ff.
4.
I.
») 4) »)
3
')
mal, sondern ein ganz anderes, nämlich ein normativ ideelles Moment,
ein objektiv gültiger Zweck, mit dem Spencer die Einheit einer
konkreten Gesellschaft, speziell aber des Staates bestimmt. Im wei
teren Verlaufe seiner Darstellung gelangt er zu folgendem, schon
an die juristische Definition des souveränen Staates stark anklingen
den Begriff der einfachen Gesellschaft :
„Die einzige Möglichkeit für
uns ist also die, als einfache Gesellschaft diejenige anzusehen, welche
ein einzelnes wirksames Ganzes darstellt, das keinem andern
untergeordnet ist und dessen Teile mit oder ohne ein regu
lierendes Zentrum zu gewissen öffentlichen Zwecken zu
"
sammenwirken Diese „öffentlichen" Zwecke stellen sich später
nicht etwa als die real-psychischen Wollungen, Zielstrebungen der
einzelnen Menschen, sondern als ein objektiver,
objektiv d. h. als
— Metamorphose Zweckstrebungen;
der subjektiven die Tatsachen
der Seinswelt objektiven Zwecken, die Normen sind.
sind, zu Im
Grunde genommen steckt dies schon in dem unscheinbaren Satz,
den SPENCER als Uebergang zu seinen weiteren Ausführungen auf
stellt: „Zusammenwirken bedingt aber Organisation." Vollends
deutlich wird es aber dadurch, daß Spencer zwei Arten von sozialer
ü. IH. Bd.,
S.
122.
»)
')
§ 7. Spencer. 49
J) a. a. 0. S. 297.
§ 8. Dürkheim. 51
Wohlfahrt der Einzelnen erstrebt und fördert und nur indirekt zur
Wohlfahrt der ganzen Gesellschaft beiträgt, indem sie ihre Individuen
erhält. Jene Organisation dagegen, welche sich zu Regierungs- und
Verteidigungszwecken ausgebildet hat, führt zwar auch zu gemein
samer Tätigkeit. Dies ist aber eine Tätigkeit, welche direkt die
Wohlfahrt der ganzen Gesellschaft anstrebt und fördert und nur in
direkt zum Wohlsein der Einzelnen beiträgt, indem sie die Gesell
schaft erhält. Das Streben der Einheiten nach Selbsterhaltung hat
die eine, das Streben des Aggregats nach Selbst
erhaltung die andere Form von Organisation ins
Leben gerufen"1).
§ 8.
DUrKHeiM.
„
liche Charakter" der sozialen Tatsachen anerkannt. „Denn in der
Natur gibt es nur Dinge" (choses). Und „die erste und grund
legende Regel" für die Erkenntnis des Sozialen bestehe darin, „die
sozialen Tatsachen so zu betrachten wie die Dinge"4). DURKHEIM
lehnt eine Soziologie als Erkenntnis von Ideen oder Ideologien be
wußt ab und stellt ihr
„Wissenschaft von Realitäten" ent
eine
gegen. Als „Dinge" aber behauptet DUrKHelM die sozialen Tat
sachen, weil und insoferne sie etwas „Objektives", vom Einzel
menschen Unabhängiges, schon vor ihm und daher unabhängig von
ihm, außerhalb seiner Person Existentes sind, Realitäten
also auch
seiner in die er sozusagen hineingeboren wird. Diese
Außenwelt,
Tatsachen einer — dem Einzelmenschen gegenüber transzendenten,
ohne ihn gewordenen — sozialen Welt bestimmen das Individuum,
sind mit zwingender Gewalt ihm gegenüber ausgestattet. Diese als
Dinge" charakterisierten, außerhalb des Individuums stehenden, ob
„
a. 0.
S.
a. 297.
») ')
a. a. 0. S. 43, 171. a. a. 0.
S.
88.
4)
»)
4*
52 I. Der Staat als soziale Realität.
1).
ist eine „diesen Dingen immanente Eigenschaft, die bei jedem
Versuche des Widerstandes sofort hervortritt"2).
Das „Substrat" oder der Träger dieser sozialen Tatsachen ist
nicht das Individuum, sondern die soziale Gruppe. „Mit organischen
Erscheinungen sind sie nicht zu verwechseln, denn sie bestehen in
Vorstellungen und Handlungen. Ebenso wenig mit psychischen
Erscheinungen, deren Existenz sich im Bewußtsein erschöpft. Sie
stellen also eine neue Gattung dar und man kann ihnen mit Recht
die Bezeichnung sozial« vorbehalten. Sie gebührt ihnen, denn da
>
d.
gesellschaftlich und darum außerhalb des Individuums sind, wird
schließlich damit begründet, daß ihr Substrat die „Gesellschaft" ist,
von der vorausgesetzt wird, daß sie eine außerhalb des Individuums
stehende Realität ist. Das ist gerade die Frage! Dieser Zirkel
ja
a. a. 0. S. 28. a. a. 0. S. 27.
*)
!)
0. S. 0.
S.
*)
§ 8. Dürkheim. 53
l).
Erkenntnis Tatsache, daß die einzelnen Menschen sich anders
der
verhalten, wenn sie miteinander in Verbindung stehen, als wenn sie
isoliert wären, führt auf dem bekannten Wege einer unkritischen
Hypostasierung zur Annahme einer außerhalb der Menschen stehen
den sozialen Realität. Die Verschiedenheit der Funktion bei
Verschiedenheit der Bedingungen wird zur Verschiedenheit von
Substanzen, zu verschiedenen „Dingen". Diesen Dingchar akter
des Sozialen kann DUrKHelM nicht nachdrücklich genug hervor
heben. „In der Tat Arten des Handelns und des
nehmen manche
Denkens infolge ihres ständigen Auftretens eine gewisse Konsi
stenz an, welche sie von den einzelnen Geschehnissen, durch die sie
ausgelöst werden, isoliert und unabhängig Sie nehmen
macht.
körperhafte Gestalt, wahrnehmbare ihnen eigene Form
an und sui generis,
bilden eine Realität die sich von den individuellen
Handlungen, in denen sie sich offenbart, vollständig unterscheidet
"
Ä).
Die Körperlichkeit, zu der die sozialen Dinge sich schließlich
versteigen, kann nicht mehr bezweifelt werden, denn ihre sinn
liche Wahrnehmbar keit wird ausdrücklich behauptet: „Da
uns das Aeußere der Dinge nur durch die Wahrnehmung vermittelt
wird, läßt sich zusammenfassend sagen: Die Wissenschaft soll, um
objektiv zu sein, nicht von Begriffen, die ohne ihr Zutun gebildet
werden, ausgehen, sondern die Elemente ihrer grundlegenden Defi
nitionen unmittelbar dem sinnlich Gegebenen Das entlehnen"
s).
4) !)
0. a. a. 0.
S.
7.
a. a. 69.
*)
54 I. Der Staat als soziale Realität.
rer9, Vaters, des Vorgesetzten usw., nimmt ihr nichts von dieser
ihrer „ Subjektivität die vom Standpunkt der N a t u r erkenntnis
Objektivität ist. Die Gegenstände der Psychologie haben sicherlich
keine andere Objektivität. In dieser Sphäre muß die Annahme
einer von den Akten der Einzelmenschen verschiedenen Realität des
Sozialen zu einer Hypostasierung führen, die nicht minder monströs
ist als die Annahme der primitiven Mythologie, die hinter dem Meer
Poseidon vorstellt. Die Regel, das Gesetz, die Einheit der realen
Phänomene wird selbst als reales Phänomen gesetzt. Ein alter Denk
fehler! Vollends die Annahme, daß eine Pflicht existiere, die der
Verpflichtetegar nicht oder nicht ganz kennt! Das kann ja nur
die ideelle Existenz einer als gültig vorausgesetzten Norm sein,
einer Norm, die gültig ist und verpflichtet, auch wenn der Mensch,
dessen Verhalten postuliert wird, davon nichts weiß. Es ist die
spezifisch juristische Sphäre, innerhalb deren sich die Begriffe DURK
HEIMS bewegen, es ist die spezifische Existenz des Rechtes als eines
in Sollgeltung stehenden Normensystems. Die Frage, ob jemand
und wozu er rechtlich verpflichtet sei, wird nicht durch eine Unter
suchung des empirischen Menschen und seines Willens, sondern durch
die Interpretation eines ideellen Systems von Rechtssätzen beant
wortet. Eben weil die Antwort auf diese Frage unabhängig davon
ist, was dieser Mensch in concreto denkt, fühlt oder will, ist das
Recht, die Rechtspflicht „objektiv". Kann es etwas anderes sein,
wenn DURKHEIM in näherer Ausführung des bereits früher zitierten
Gedankens, daß manche Arten des Handelns infolge ihres ständigen
Auftretens eine gewisse Konsistenz annehmen, sich von den Han
delnden loslösen und körperhaft wahrnehmbare Gestalt annehmen,
diese körperhaften sozialen Gebilde als „Normen" bezeichnet und
von ihnen sagt : „ Keine dieser Normen geht vollkommen in den
Anwendungen auf, die die einzelnen von ihr machen, ja sie können
vorhanden sein, ohne wirklich in Anwendung zu stehen"
1).
a. 0. 0.
S. S.
32.
S.
a. a. a. 35.
»)
')
a. a. 0. 34.
*)
§ 8. Dürkheim. 57
1).
kann eine soziale Tatsache nur dann „verletzen", wenn unter der
letzteren eine Soll-Norm verstanden wird. Denn andernfalls ist das
tatsächliche Beginnen eines Menschen selbst eine soziale Tatsache,
die in der Wirklichkeit neben
und nicht „gegen" sie der andern
steht. Dies „gegen" setzt eben die normative Beziehung voraus.
Daß die von dem Verhalten der Einzelindividuen unabhängige Exi
stenz der sozialen Tatsache, das ist die objektive Soll-Geltung,
leichter festzustellen ist als die Sanktion, das hängt aber damit zu
sammen, daß nur ganz bestimmte Normen Sanktionen, h. Zwangs
d.
aktestatuieren: die Rechtsnormen. Die Normen der Moral, Logik,
Grammatik z. B. enthalten solches nicht. Hier ist nur ihre objektive,
von dem tatsächlichen Handeln, Denken, Sprechen der Einzelnen
unabhängige normative Geltung vorhanden.
Im übrigen vermengt DÜRKHEIM — wie üblich — die in der
objektiven Geltung der Norm gelegene, von ihr als das Besondere
aus dem Allgemeinen herzuleitende Verpflichtung mit der von
der Vorstellung der Norm bewirkten Bindung des Willens, das
ist der motivierenden Wirkung der Normvorstellung. Er bezeichnet
es bekanntlich als eine wesentliche Eigenschaft der sozialen Phäno
mene, „von außen her einen Zwang auf das individuelle Be
wußtsein auszuüben"2). Die Gesellschaft sei somit imstande, dem
Individuum „die Arten des Denkens und Handelns aufzuerlegen,
die sie mit ihrer ut it
Diese „Autorität"
A
ausgestattet hat3).
o
ä
r
S. S.
a. a. 35. a. a. 130.
«) »)
')
a. a. 0. 181. a. a. 0. 134.
»)
58 I. Der Staat als soziale Realität.
§ 9-
JerusaLem.
Das gilt noch in höherem Maße für die an DUrKHelMs „Methode"
orientierte Soziologie JerusaLems1). Dessen Darstellung ist auch
darum sehr instruktiv, weil sie ein Niederschlag der herrschenden
empirischen Theorie ist.
Als den Gegenstand der Soziologie bezeichnet JerusaLem den
„Mensch als soziales Wesen oder richtiger gesagt, die zur Ein
heit zusammengeschlossene Menschengruppe"2).
Welches aber das die Einheit begründende Prinzip sei, auf diese Frage
erhält man keine klare Antwort. Diese Einheit wird — wie gewöhn
lich — irgendwie bereits als gegeben vorausgesetzt. „Eine solche
Gruppe ist mehr und ist etwas anderes als die' Summe der sie bilden
den Individuen. Jede derartige Gruppe ist eine Art von Gemeinschaft
und zwar eine Gemeinschaft des Denkens,
des Zieles und des Stre
bens." Der Staat wird sogleich als „Rechtsgemeinschaft" bezeichnet.
Auch wird die Gruppe — in der üblichen Weise — hypostasierWnd
als ein Glied in die Reihe von Ursache und Wirkung gestellt. „Die
Gruppe übt auf jedes ihrer Mitglieder einen mächtigen Einfluß aus.
. . . Durch die Gemeinschaft der Individuen entsteht etwas Neues,
Ueberp ersönliches, das sich dem einzelnen gegenüberstellt
und das doch wieder durch die Arbeit der Individuen vermehrt und
modifiziert wird"3). Warum dadurch, daß mehrere Menschen sich
infolge ihrer durch das Beisammensein bedingten wechselseitigen
Beeinflussung in ganz bestimmter Weise — und zwar anders als
wenn jeder isoliert bliebe — verhalten, noch etwas „Neues", „Ueber-
persönliches ", etwas anderes entstehen soll, als was schon da war,
nämlich mehrere sich nach irgendeiner Regel verhaltende Menschen,
muß rätselhaft bleiben. JerusaLem stellt aber diese Behauptung
einfach als eine „soziologische Grundeinsicht" hin. Er beruft sich
dabei ausdrücklich auf DURKHEIM, der die sozialen Gebilde eben
wegen ihres überpersönlichen Charakters als „Dinge" auffaßt. JE
RUSALEM sieht den Vorzug dieser Methode gerade darin, daß sie
fähig sei „ in den Einzelseelen den sozialen Gehalt von dem
persönlichen zu scheiden". Allein wenn das Soziale ein „Gehalt
der Einzelseele" ist, dann bleibt die Existenz des „ Ueberpersönlichen"
erst recht unverständlich. Uebrigens läßt sich wohl in der Einzel-
') Diese bildet einen großen Teil seiner „Einleitung in die Philosophie",
7. u. 8. Aufl., 1919. Das Werk ist außerordentlich verbreitet und in sieben
fremde Sprachen übersetzt.
2) a. a. 0. 252, 287. ») a. a. 0. S. 252.
60 I. Der Staat als soziale Realität.
Sofern der Staat eine außer und über den Individuen stehende •
Realität ist, wird er von JERUSALEM — wie dies
ja
auch seitens
der meisten Juristen geschieht — als und zwar als Ge Wille
„
sa mtwille" charakterisiert.
Näher betrachtet ist jedoch der Staat
nicht dieser Gesamtwille selbst, sondern nur der Träger" dieses
„
Gesamtwillens, als welcher gelegentlich auch das Recht aufgefaßt
wird. „Der Gesamtwille schafft sich aber auch sehr verschiedene Träger.
.... In fast allen Kulturländern aber geht in den letzten Jahrhun
derten die Entwicklung dahin, daß der Staat immer mehr zum Man
datar der Ges ellschaft sich ausgestaltet . ."2). Es ist nicht
.
recht klar, was mit dieser letzteren Behauptung eigentlich gemeint
ist. Vermutlich, daß der umfassendste Gesamtwille, der der ganzen
Gesellschaft, im Staat seinen Träger findet. Ein ähnlicher Gedanke,
wie er schon bei DUrKHelM auftritt, wenn dieser von Staat als„ Ge
sellschaft als Ganzes" spricht. Daß der Staat eine Rechtsgemein
„
a. a. 0. S. 261. a. 0. 339.
S.
a.
»)
64 I. Der Staat als soziale Realität.
Rechtes) gelangen1).
Die Ausführungen, die JERUSALEM dem Staate widmet, haben
einen durchaus ethischen, man berücksichtigt, daß er den
und wenn
Staat als RechtsOrdnung auffaßt, einen naturrechtlichen Charakter.
Und so wird die Hypostasierung realpsychischer Funktionen der
Einzelmenschen schließlich zu einer Hypostasierung ethisch-politischer
» Postulate. Der Weg, auf dem dies geschieht, ist: die bekannte
Lehre von der Persönlichkeit des Staates. „Dadurch, daß die Bürger
in immer weiterem Umfang an der Leitung und Verwaltung teil
nehmen und siph infolgedessen für die Handlungen ihres Staates
mitverantwortlich fühlen, wächst der Staat in die Tiefe und bildet
sich allmählich zu einer Art von Persönlichkeit höherer Ord
nung aus. Mit dem Begriff der Persönlichkeit ist aber, wie uns
KANt gezeigt hat, das Bewußtsein der eigenen Würde und der daraus
sich ergebenden sittlichen Forderungen unzertrennlich verknüpft.
Nun ist aber das Bewußtsein der Menschenwürde aus der indivi
dualistischen Entwicklungstendenz dadurch hervorgegangen, daß diese
zum Universalismus geführt und so die Idee der ganzen Mensch
heit als einer großen Einheit gezeitigt hat. Wenn nun der Staat
so weit in die Tiefe gewachsen ist, daß er sich zu einer innerlich
geschlossenen einheitlichen Persönlichkeit ausgestaltet hat, die sich
nicht bloß ihrer Macht, sondern vor allem ihrer eigenen Würde
deutlich bewußt geworden ist, so tritt er dadurch in neue, vorher
nicht deutlich genug vorgestellte Beziehungen zur Idee der ganzen
Menschheit und der daraus sich ergebenden sittlichen Verbindlich
keiten. In diese Beziehungen zwischen Staat und Nation auf der
einen und der ganzen Menschheit auf der anderen Seite vermag die
soziologische Betrachtungsweise tief hineinzuleuchten"2); deren rein
normativer Charakter hiemit freilich zur Genüge dargetan ist.
§ 10.
Tönnies, Spann.
Von neueren Soziologen sei auch TÖNNIES erwähnt, der in seiner
etwas eigenartigen Terminologie den Staat nicht als „Gemeinschaft",
sondern als „Gesellschaft" gelten läßt, d. h. als „ideelle mecha
nische", nicht als „reale organische" Verbindung charakterisiert3)
und von den Personen, deren Kreis der Staat als eine „Gesellschaft"
konstituiert, behauptet, sie seien nicht, wie in der „Gemeinschaft",
5).
Oder wenn SPANN die sozialen Gebilde in bewußtem
Gegensatz
zu einer psychologistischen Anschauung als „Objektivationssysteme"
zu begreifen versucht und sie derart charakterisiert, daß sie sich als
objektiv gültige Normsysteme oder Ordnungen darstellen: nämlich
als Systeme ideeller, auf dasselbe prinzipielle Ziel gerichteter
Handlungen Eine „ideelle" Handlung kann aber nur — im Gegen
").
0. S. 0. 0.
S. S.
S. S.
•) »)
«) ')
0. 0. 0. ff.
S.
a. a. 275. a. a. ff. a. a.
6
2
")
K n Staatabegriff.
5
1
8
e
e
,
66 I. Der Staat als soziale Realität.
1).
— als oberste „Anstalt" — mit dem Recht wird bei SPANN durch
dessen eigenartigen Begriff der „Veranstaltung" hergestellt. Das
„veranstaltende" Handeln geht auf die Verstetigung der Gemein
schaftsvorgänge, auf ihre Sicherstellung als Vorgänge, die sich wieder
holen werden oder n Zum Wesen des veranstaltenden
(!)
2).
e
o
1
1
s
„
Handelns" gehört aber auch: „daß dieses Handeln als inhaltlich
beeinflussendes bedarf, eines Regelwerkes,
Eingreifen der Richtlinien
.
s).
das Recht nur die Fortsetzung des Moralsystems ist, indem dieses
objektiv auf die Gesellschaft übertragen wird ist der Staat die
Veranstaltung des Rechts, die Einheit aller durch das Recht ge 4),
richteten, das Recht veranstaltenden Handlungen. „Die Einheit der
Satzungen ist in demselben Maße gegeben", als auch „die Veran
staltungen eine ideelle Einheit bilden, den Staat" Sofern die Ein
5).
heit der veranstaltenden Handlungen — das sind die das Recht reali
sierenden Handlungen — nur in der Einheit der Rechtssatzungen,
der Rechtsnormen, der Rechtsordnung gegeben ist, scheint es eine
überflüssige Verdoppelung zu sein, neben der Satzung die Veran
staltung, neben dem Recht den Staat zu unterscheiden. Und wenn
Spann das Recht als „Einheitsträger aller Satzungen" dem Staat
6)
0. 0. 0. S. 53.
S. S.
S.
a. a. 186. a. a. 23. a. a.
») 2)
•) »)
4) ')
§ 11.
Individuum und Staat.
Besonders deutlich zeigt sich der normative Charakter des Staates
als einer überindividuellen Einheit in dein Gegensatz, den man
im allgemeinen zwischen Individuum und Gesellschaft anzunehmen
pflegt und der sich politisch am schärfsten gerade in dem Verhältnis :
Einzelmensch und Staat konkretisiert. SlMMEL formuliert gelegent
lich das Problem der Assoziation dahin, „daß aus in sich geschlossenen
Einheiten — wie die menschlichen Persönlichkeiten es mehr oder
weniger sind — eine neue Einheit werde. Man kann doch
nicht ein Gemälde aus Gemälden herstellen, es entsteht doch kein
Baum aus Bäumen; das Ganze und Selbständige erwächst nicht aus
Ganzheiten, sondern aus unselbständigen Teilen. Ganz allein die
Gesellschaft macht das Ganze und in sich Zentrierende zum bloßen
Gliede eines übergreifenden Ganzen"1). Es muß wohl alles
darauf ankommen, wie dieses „Uebergreifen" gedacht werden kann,
ohne in einen Widerspruch zu der Ausgangsbasis, dem in sich ab
geschlossenen Individuum
zu geraten, wie die Sphäre des Psycho
logischen auch nach Uebergriff noch behauptet, oder wenn
diesem
sie nicht behauptet werden kann, in welchen Denkbereich dieser
Uebergriff führt. SlMMEL fährt fort: „All die ruhelose Evolution
der gesellschaftlichen Formen im großen wie im kleinen ist im letzten
Grunde nur der immer erneute Versuch, die nach innen hin orientierte
Einheit und Totalität des Individuums mit seiner sozialen Rolle als
eines Teiles und Beitrages zu versöhnen, die Totalität der Gesellschaft
vor der Sprengung durch die Selbständigkeit ihrer Teile zu retten."
Für eine rein psychologische oder — wenn man will — sozial
psychologische und als solche soziologische Betrachtung liegt der
fragliche Tatbestand darin, daß der Einzelmensch den ihn mit den
andern „verbindenden" sozialen Tendenzen widerstrebt, die ihn in
eine Uebereinstimmung des Wollens und Handelns mit den andern
und zu dem Gefühl oder Bewußtsein dieser Uebereinstimmung drängen,
und den „trennenden", d. h. asozialen Trieben folgt, die ihn zu einem
andern Wollen und Handeln als das der andern und zu einem Gefühl
oder Bewußtsein des führen. Das Problem: wie aus
Gegensatzes
dem Ganzen ein Teil, wie aus Einheiten eine höhere „übergreifende"
Einheit werde, ist hier — für die psychologische Betrachtung — gar
nicht gegeben. Denn ganz abgesehen davon, daß auch das mensch
liche Individuum für diese Betrachtung keineswegs eine unbezweifel-
bare Einheit oder ein abgeschlossenes Ganze sein muß: diese Einheit
selbst zugegeben, kann ihr dadurch keinerlei Abbruch geschehen,
daß ihr Bewußtsein und das daraus entspringende äußere Verhalten
mit dem anderer Individuen gleichgerichtet ist, daß in dem indi
viduellen Bewußtsein die Vorstellung oder das Gefühl dieser Ueber-
einstimmung, oder worin sich sonst das psychische Moment des
„ Verbundenseins
"
manifestiert, lebendig wird. Wenn SlMMEL — in
Fortsetzung seines zitierten Gedankens — meint, daß „jeder
oben
Konflikt zwischen den Gliedern einer Gesamtheit deren Weiterbestand
zweifelhaft macht", so ist dies nur dahin richtigzustellen, daß jeder
Konflikt die Gesamtheit unrettbar zerstört,weil die „Gesamt
heit", sofern der „Konflikt" sie überhaupt berühren kann, in nichts
anderem als in der Uebereinstimmung des inneren oder äußeren Ver
haltens der einzelnen besteht. Von sozialer Einheit ist hier im Sinne
jenes Typus die Rede, der früher als „Parallelität psychischer Pro
zesse" charakterisiert wurde. Und in solcher sozialen Einheit ist
nicht das Problem des aus Ganzen zusammengefaßten „übergreifen
den" Ganzen gestellt, solches soziale „Gebilde" ist nicht das aus
Gemälden hergestellte Gemälde, der aus Bäumen entstandene Baum,
sondern nur der im Verhältnis zu den zusammensetzenden Teilen
gänzlich unproblematischen Gemälde Sammlung oder einem Walde
zu vergleichen, den nur dichterische Phantasie in der Hypostase eines
einzigen Baumes zu verkörpern das Bedürfnis fühlt.
Zu einem theoretischen Problem wird die soziale Einheit
nicht, wenn sie nur eine Abstraktion von Individuen gleicher Eigenschaft,
d. h. gleichen Wollens und Handelns ist. Hier käme höchstens ein
praktisches Problem in Frage : Wie können die Individuen zu
gleichem Verhalten gebracht werden. Allein dieses Problem der
praktischen Politik ist scharf zu trennen von dem Problem einer
theoretischen Soziologie : Wie ist soziale Einheit zu begreifen.
Und problematisch wird die Idee der sozialen Einheit nicht,
wenn diese Einheit durch jeden „Konflikt" der die Einheit bildenden
Individuen in Frage gestellt oder zerstört wird, sondern wenn
diese Einheit trotz des Konfliktes, ungeachtet
d e s K o n f 1 i kt e s als existent g e d a c h t w er d e n m u ß ,
wenn diese Einheit unabhängig von dem Wollen
und Handeln der in ihr zusammengefaßten Indi
viduen ihren Bestand, ihre Geltung haben soll.
In diesem Widerspruch zwischen dem „Willen des Staates" und
dem Willen der Menschen, die doch selbst den Staat, deren Willen
den Staatswillen „bilden", und nicht so sehr darin, wie aus den Indi
viduen als in sich geschlossenen Ganzen der Staat — selbst ein
§ 11. Individuum und Staat. 69
überempirischen, mystischen
erst dann und nur dann erhält, wenn das Majoritätsprinzip in Gel
tung steht, weil die Majorität ihren Willen der Minorität nur als
Vertreterin oder Organ der auch die Minorität umfassenden sozialen
Gesamtheit aufdrängen darf. Auch die mit Einstimmigkeit be
schließende Volksversammlung hat nie und nirgends tatsächlich alle
Menschen umfaßt,
für die der Beschluß Geltung beansprucht und
die — nur in der Einheit dieser Sollgeltung zusammengefaßt
eben
— die soziale Gruppe bilden. Und weil auch eine solche Volks
versammlung nicht bloß räumlich immer nur ein Teil des Volks-
SniMEL, 0.
S.
a. a. 190.
1)
70 I. Der Staat als soziale Realität.
1).
Empfindung" der Germanen mag heute nicht mehr leicht festzustellen
sein. Ihre Anschauung vom Wesen der Gesellschaft und insbeson
dere Staates dürfte recht primitiv gewesen sein.
ihres Und wenn
sie auch für einzelne staatliche Institutionen, für den Inhalt gewisser
Normen bestimmend gewesen sein mag, für unsere Anschauung
vom Wesen des germanischen Staates kann sie es ebensowenig
sein wie die höchst unklaren Vorstellungen, die auch heute in den
Köpfen der den Staat bildenden Menschen von diesem Gemeinwesen
bestehen, für eine wissenschaftliche Bestimmung der soziologischen
Einheit Staates maßgebend sein können.
des Das ist jedenfalls ein
Irrtum — und zwar ein solcher, den nicht einmal die Germanen
selbst gemacht haben dürften: daß ein Gruppenwille nicht bestand,
solange nur ein einziges Mitglied dissentierte. Denn wie schon früher
bemerkt, gehörten zu der Gruppe — nicht etwa bloß nach heutiger
Ansicht, sondern auch nach Ansicht der Germanen — sehr viele
„Mitglieder" — es war sicherlich die überwiegende Mehrheit! —
,
die bei der Abstimmung gar nicht teilnehmen durften; dann aber
bewährte sich der Gruppen „wille" in seinem spezifischen „Bestand",
in seiner Sollgeltung, gerade auch jenen stimmberechtigten Mit
d.
i.
0.
S.
a. a. 190.
')
§ 11. Individuum und Staat. 71
') a. a. 0. S. 191.
72 I. Der Staat als soziale Realität.
') a. a. 0. S. 192.
§ 11. Individuum und Staat. 73
») SimmeL, a. a. 0. S. 197.
75
3. Kapitel.
Staat und Recht.
§ 12.
Sollen und Sein.
Indem der Staat als eine normative Ordnung, d. h. als ein System
von Normen begriffen wird, die sprachlich in Sollsätzen, logisch in
hypothetischen Urteilen ausgedrückt werden, in denen die Bedingung
mit der Folge durch das „Soll11 verknüpft wird (wenn a, soll b), ist
er prinzipiell in dieselbe Sphäre gerückt, in der das Recht begriffen wird.
Damit ist der Staat in demselben Sinne wiq das Recht als ein „Wert"
der „Wirklichkeit", als ein „Sollen" dem „Sein" entgegengesetzt. Diese
Gegensätzlichkeit von „Sollen" und „Sein" ist ein Grundelement der
geisteswissenschaftlichen Methode im allgemeinen und der staats- und
rechtswissenschaftlichen Erkenntnis im besonderen1). Denn in dem
Gegensatz von Sollen und Sein tritt hier derjenige von Geist und Natur
auf. Daß der Staat sowie das Recht als Normsystem in den Bereich
des Sollens, nicht aber des Seins fällt, will zunächst nichts anderes
besagen, als daß die spezifische Existenz und Gesetzlichkeit des Staates
eine andere sei als jene der Natur. Dem Natur sein, das man
gemeinhin als das „Sein" schlechthin bezeichnet, wird das Sein des
Staates, der Kausalgesetzlichkeit der Natur — die man für die Ge
setzlichkeit schlechtweg hält — , wird die Normgesetzlichkeit des
Staates als eine von der Kausalgesetzlichkeit gänzlich verschiedene
entgegengestellt. In dieser negativen Bedeutung einer prin
zipiellen Andersartigkeit des Zusammenhanges, in dem die Elemente,
deren Einheit man als „Staat" zusammenfaßt, gegenüber der spe
zifischen Kausalverknüpfung im System der Natur stehen, liegt vor
allem der Wert des Begriffes „Sollen". Die Norm, die aussagt,
') Vgl. dazu Cohen, Ethik des reinen Willens, 3. Aufl., 1901, S. 12, 14 ff.
76 II. Der Staat als Normensystem.
Der Gegensatz von Sollen und Sein wird häufig für das Verhältnis
')
der Ethik oder Politik zum positiven Recht in Anspruch genommen, so zwar
daß das letztere als Sein der ersteren als Sollen gegenübergestellt wird (vgl.
dazu Metzger, Sein und Sollen im Recht, 1920). Im Begriff der „Positivität"
wird das Recht geradezu als ein Seiendes von den Postulaten der Ethik oder
Politik — die besagen, wie das Recht sein soll — unterschieden. Dieses
.Sein" des positiven Rechts darf aber nicht — was häufig geschieht — mit
dem Natursein, der Wirksamkeit irgendwelcher Rechtsvorstellungen, ver
wechselt werden. Das positive Recht kann im Einzelfalle unwirksam
sein, ohne seine positive Geltung zu verlieren. Gerade zur Unterscheidung
von der faktischen Wirksamkeit der Rechts lu n wird das Recht
o
g
v
1
e
r
t
s
(als geistiger Inhalt des seelischen Aktes des Vorstellens) als ein Sollen be
griffen. Und nur gegenüber einem faktischen Verhalten der Menschen, der
durch Willensakte zu vollziehenden Gestaltung der Rechtsnormen, nicht aber
gegenüber den Rechtsnormen in ihrem spezifischen Eigensinn als geistige In
§ 12. Sollen und Sein. 77
Dann kann man auch eine „Realität" des Staates oder Rechtes be
haupten, nur daß dabei nicht eine Verwechslung mit der spezifischen
Realität der Natur unterlaufen darf. Eben weil diese Verwechslung
sehr nahe liegt, weil die naive Anschauung die Tendenz hat, die
„Realität" des Staates für Naturrealität, die Erkenntnis des Staates
für Naturerkenntnis zu halten, ist es — sozusagen als didaktische
Anpassung an Torwissenschaftliche Einstellung, die stets un
die
mittelbar nur auf das Natursein gerichtet ist — empfehlenswert, sich
der Terminologie des „Soll" zu bedienen, um die prinzipielle Schei
dung des Systems Staat (oder Recht) von dem System »Natur" zu
gewährleisten. Die Terminologie des „Soll" garantiert solcherweise
die Reinheit der auf den Staat (oder das Recht) als einen von der
Natur verschiedenen Gegenstand gerichteten Wissenschaft.
Dadurch, daß die Aussageform der das System „Staat" oder
„Recht" darstellenden Urteile das „Sollen" ist, wird wohl die Ab-
scheidung gegenüber dem System „Natur" vollzogen, aber eine Ver
mengung mit anderen Systemen zur Gefahr, die ebenso bedenklich ist
wie die eben vermiedene. Das Sollen ist auch die Sphäre der Moral.
Und ebenso wie die naive Anschauung das Sein mit dem Natur-Sein
schlechthin identifiziert, identifiziert sie das Sollen mit dem Sollen
der Moral, normative Erkenntnis — als Erkenntnis von Normen —
mit der Ethik schlechtweg. Damit, daß man Staat und Recht
als ein Normensystem bezeichnet und die Normen dieses Systems
als Sollsätze charakterisiert, scheint man der naiven Anschauung
den Staat als eine Moralgemeinschaft, das Recht als einen Inbe
griff sittlicher Forderungen zu behaupten. Allein schon die Er
wägung, daß ja auch die Logik als eine Lehre von Normen auftritt
— sofern ihr Verhältnis zur Psychologie in Betracht kommt — daß
halte treten die Normen der Ethik oder Politik als Sollen auf. Betrachtet
man das positive Recht als Norm, so tritt es als ein von Ethik oder Politik
gänzlich verschiedenes und unabhängiges System auf, das mit dem Normen
system der Ethik oder Politik nicht zugleich als gültig angenommen werden
kann. So löst sich der Widerspruch, der darin liegt, daß das positive Recht
zugleich als Sein und Sollen behauptet wird. Ebenso löst sich auch der ana
loge Widerspruch, den man hinsichtlich der Stellung der Ethik bemerkt hat,
der nämlich, daß das ethische Ideal ein soziales Entwicklungsprodukt und als
solches ein Sein (im Sinne des Naturseins) ist, und doch zugleich den Maßstab
für die soziale Entwicklung abgeben soll, das heißt aber : als Sollen auftritt
(6. Cohn, Ethik und Soziologie, 1916, S. 240). Allein nicht die Normen der
Ethik, sondern der seelische Prozeß, in dem die Moralvorstellungen entstehen,
faktisch gedacht, gefühlt oder gewollt werden, ist ein Entwicklungsprodukt
und als solches ein Natursein. Als das Gedachte oder Gewollte, als der spe
zifische geistige Inhalt des bezeichneten seelischen Prozesses, als Norm in ihrem
sachlichen Sinn ist die Moral ein Sollen.
78 II. Der Staat als Normensystem.
1) Vgl. dazu meinen Aufsatz: Die Rechtswissenschaft als Norm oder als
Kulturwissenschaft, in SchmoLLers Jahrbüchern, Bd. 40, S. 95 ff.
80 II. Der Staat als Normensystem.
werden soll, kann, obgleich ihre Geltung in keiner Weise aus der
Tatsächlichkeit des kausal bestimmten menschlichen Verhaltens ab
geleitet werden kann, doch an dieses Verhalten herangebracht werden;
und es ist demnach das Urteil möglich, daß der Inhalt des Seins
mit dem des irgendwie als gültig vorausgesetzten Sollens überein
stimmt oder nicht. Ja, man ist sogar geneigt, anzunehmen, daß
die verschiedenen Wertsysteme gar keinen Sinn hätten, wenn das Sein
sich nicht dem Inhalt dieser Systeme entsprechend gestalten könnte
und würde. Dies kann zugegeben werden. Aber darüber darf nicht
vergessen werden: Wenn von einer „Verwirklichung des Wertes",
einer „Realisierung der Norm" gesprochen wird, so ist nicht der
Wert die Ursache der (wertvollen) Wirklichkeit, die nonngemäße
Handlung (in der sich die Norm realisiert) nicht die Wirkung der
Norm. Die Ursache des sollensgemäßen Seins, der wertvollen Wirk
lichkeit, des richtigen oder rechtmäßigen Handelns ist nicht das
Sollen oder der Wert, die Moral oder das Recht, die Norm in
ihrem spezifischen Eigensinn, sondern das Denken, Fühlen, Wollen,
die Seinstatsache des psychischen Erlebens der Norm. Und diese
Seinstatsache hat — als Ursache, als Motiv — das entsprechende
Verhalten zur Wirkung. Auf dieses psychische Erleben, ins
besondere auf das „ Wollen" der Norm bezieht sich die Vorstellung
der Verwirklichung, Realisierung, zumal auf die Ueber-
führung aus der bloßen Innerlichkeit des Wollens in die
Aeußerlichkeit des Handelns, des moral- oder rechtmäßigen Handelns.
„Verwirklicht" wird das Wollen der Norm im normgemäßen
Handeln, weil eben dieses Wollen das Motiv, die Ursache für die
Handlung als die Wirkung ist. Diese Beziehung verläuft somit
völlig in der Sphäre des Naturseins.
Soferne in der vulgären Bedeutung des Wortes „Sollen" dieser
Bezug auf die „Verwirklichung" steckt, mag es ursprünglich mit
dem „Wollen" der Norm identisch oder doch nahe verwandt sein.
Indem man aber den Inhalt dieses psychologischen Wollens, die
Norm in ihrer spezifischen Eigengesetzlichkeit von dem psychischen
Akt — als ihrem „Träger" — loslöst und
selbständig anschaut,
wandelt sich die Bedeutung des Sollens. Es verliert
jeden psychologischen Sinn und damit jeden Bezug auf eine Ver
wirklichung. Es wird zu einem Ausdruck der spezifischen Eigen
gesetzlichkeit des Normsystems und gewinnt erst jetzt die Bedeutung
jenes prinzipiellen Gegensatzes zum Sein, der eine Abscheidung des
rechtlichen Sollens (das ist des spezifischen Seins des Rechts) von
dem Natursein, insbesondere auch dem Natursein des psychischen
Geschehens ermöglicht. Diese prinzipielle logische Isolierung des
§ 12. Sollen und Sein. 81
Sollens vom Sein, speziell des Systems der Rechtsnormen von der
kausal determinierten Wirklichkeit ist aber unerläßlich und unver
meidlich, soll überhaupt eine Wissenschaft vom Recht (oder Staat)
möglich sein. Diese hat eben die Rechtsnormen in ihrer spezifischen
Eigengesetzlichkeit und ohne Rücksicht auf irgendeine Natur gesetz-
lichkeit zu erkennen. Insofern ist sie eben „reine" Rechtserkenntnis,
Erkenntnis des reinen Rechts oder des reinen Staates
') Schon in meinen „Hauptproblemen" habe ich mich für die un
psychologische Bedeutung des Sollens, das, von irgendeinem Inhalt ausge
sagt, durchaus verschieden von der Behauptung ist, daß irgend jemand diesen
Inhalt wolle oder wünsche, auf die Darstellung berufen, die HusserL in seinen
. Logischen Untersuchungen" I, 2. Aufl., S. 40 ff. von diesem Problem gibt Hier
möchte ich auf die weitgehende Parallele aufmerksam machen, die zwischen dem
von mir immer wieder betonten Gegensatz der ideellen normativ-juristischen zu
der realen kausal-gesetzlich psychologischen Betrachtung und dem von HussErL
so glänzend dargestellten Gegensatz zwischen ideell - normativ - logischer und
real-psychologischer Erkenntnis besteht (vgl. dazu insbesondere HusserL, a. a. 0.
S. 50 ff.). Wie weit diese Parallele geht, soll hier nicht untersucht werden. Merk
würdig ist jedenfalls, daß die im Gegensatz zur psychologischen Logik stehende
normative Logik die gleiche Tendenz hat, zur „reinen" Logik zu werden
wie die im Gegensatz zur soziologischen stehende „normative" Rechts- und
Staatslehre zur reinen Rechts- und Staatslehre. Ob die „reine" Logik keine
„normative" mehr sein kann, wie HosserL darlegt, kann ich nicht entscheiden.
Mir fällt aber auf, daß zumindest HusserLs Terminologie in dieser Hinsicht
nicht ganz eindeutig ist. Obgleich er an Stelle des Gegensatzes von Sein
und Sollen, Naturgesetz und Norm den Gegensatz von Natur gesetz und
Ideal gesetz, Real- und Idealwissenschaft setzt, obgleich er — speziell gegen
Herbart — die Identifizierung von Idealität und Normalität perhorresziert
und die „reine" Logik als ein System theoretischer Sätze, nicht aber als
System von Normen (Sollsätzen) gelten lassen will, spricht er doch selbst
von dem fundamentalen Unterschied zwischen den rein logischen Nor
men und den technischen Regeln „einer spezifisch humanen Denkkunst" (159),
teilt er die „Normen" in zwei Klassen: „die einen, die alles Begründen, allen
apodiktischen Zusammenhang a priori regeln, sind rein idealer Natur" (also
doch „Normen") „und nur durch evidente Uebertragung auf menschliche
Wissenschaft bezogen. Die andern . . . sind empirisch" (S. 163). Er sagt
S. 68: „Die psychologistischen Logiker verkennen den grundwesentlichen und
ewig unüberbrückbaren Unterschied zwischen Idealgesetz und Realgesetz,
zwischen normierender Regeluag und kausaler Regelung . . . ." Aber S. 164/65:
„Der Gegensatz von Naturgesetz als empirisch begründeter Regel eines tatsäch
lichen Seins und Geschehens ist nicht das Normalgesetz als Vorschrift, sondern
das Idealgesetz im Sinne einer rein in den Begriffen, Ideen, rein begrifflichen
Wesen gründenden und daher nicht empirischen Gesetzlichkeit. ..." Auch
scheint es mir kein Zufall zu sein, daß gerade jene Theoretiker, die die Logik
als normative Disziplin den psychologistischen Logikern entgegenstellten (Kant,
Herbart, Drobisch, SigwaRt), zugleich eine „reine" Logik postulierten. Das
„Sollen" leistet ihnen ebenso die „Reinheit" gegenüber der Psychologie, wie es
diese Funktion der Rechts- und Staatslehre gegenüber der psychologisch-natur
wissenschaftlichen Soziologie leistet.
Kelsen, Staatsbegriff. 6
82 II. Der Staat als Normensystem.
§ 13.
Der Staat als Zwangsordnung.
Ist der Staat normative Ordnung menschlichen Ver
als eine
haltens erkannt, dann bedarf es noch des Nachweises der spezifischen
Differenz, die diese Lebensordnung von anderen scheidet. In Ueber-
einstimmung mit der herrschenden Lehre, die den Staat als einen
„Zwangsapparat", als eine „Herrschaftsorganisation" bezeichnet, wird
die staatliche Ordnung von dem hier vertretenen Standpunkte aus
als Zwangsordnung begriffen1). Nur daß es nicht die Faktizität des
Zwanges ist, die als Begriffsmerkmal akzeptiert wird, vielmehr er
scheint hier der Zwang — und zwar der sogenannte physische,
äußere Zwang — als Inhalt der Sollordnung, als Norm-
Inhalt. Der Staat erscheint als die Einheit eines Systems von
Normen, die regeln, unter welchen Bedingungen ein bestimmter
Zwang von Mensch zu Mensch geübt werden solle. Ob und in
welchem Ausmaße dieser Zwang auch tatsächlich geübt wird, ist
eine andere Frage, auf die noch zurückzukommen sein wird. Zum
Begriff gehört die Faktizität des Zwangs jedenfalls
des Staates
nicht. Auch die herrschende Lehre würde sich weigern, jeden fak
tischen Zwang, jede „nackte" Gewalt als Staat, bzw. als Staats
akt gelten zu lassen. Wenn der fragliche Akt dem „Staate" zuge
rechnet werden soll, muß er bestimmten normativen Bedingungen
entsprechen, muß er ordnungsgemäß sein. Gerade wenn man sich
des im üblichen Begriffe des Staates gelegenen Zurechnungs
problems bewußt wird, muß sich der Staat als normative Ordnungs
einheit enthüllen : Die Regel, nach der man irgendwelche mensch
liche Handlungen — und einer naturalistisch empirischen Betrach
tung sind nur einzelne menschliche Handlungen gegeben — nicht
dem physisch Handelnden selbst, sondern einem „hinter" ihm ge
dachten unkörperlichen Wesen, einem ideellen Einheitspunkt zu
rechnet, kann nur eine Norm
sein. Die Normgemäßheit, der Um
stand, daß der Inhalt fraglichen Aktes sich als Inhalt einer
des
Norm erweist, normativ gesetzt ist, das allein kann der Grund der
Ueber die doppelte Bedeutung des „Sollens" finden sich — in bezug auf
die Normen der Logik — sehr interessante Ausführungen bei WikdeLband,
Die Prinzipien der Logik, 1913, S. 18. Diese Ausführungen decken sich zum
größten Teil mit dem, was im Text über die Doppelbedeutung des rechtlichen
Sollens gesagt wurde.
l) Ueberden Standpunkt, von dem allein die Frage nach der spezifischen
Differenz der Rechtsnormen von den anderen Normen und damit die Einfüh
rung des Zwangsmoments in den Rechtsbegriff möglich ist, vgl. mein „ Problem
der Souveränität* S. 13 ff.
§ 13. Der Staat als Zwangsordnung. 83
§ 14-
Die Elemente des Staates.
Wie sehr in der Vorstellung des Staates als „Gewalt" oder
„Macht" der Gedanke Ordnung eingeschlossen
einer geltenden ist
und diese entstellende Verhüllung zu durchbrechen strebt, das zeigt
sich, wenn die herrschende Lehre versucht, die Staatsgewalt von
andern tatsächlichen Gewaltfaktoren dadurch zu unterscheiden und
eindeutig zu bestimmen, daß sie sie als „höchste", „ursprüngliche",
„nicht weiter ableitbare" oder „souveräne" Gewalt begreift. Wäre
die Staatsgewalt ein Seinsfaktum, dann könnte „Souveränität"
sog.
oder „Ursprünglichkeit" oder wie sonst man das Wesensmerkmal
"
des „ Zuhöchst-Seins umschreibt, nur so viel bedeuten wie eine
prima causa. Denn innerhalb der sozialen Realität der menschlichen
Beziehungen ist „Gewalt" ein Fall der Motivation; und eine „höchste"
oder ursprüngliche Gewalt ein wirksames Motiv, das selbst keine
Ursache hat. Was natürlich vom Standpunkt einer kausalwissen
schaftlichen Seinsbetrachtung in sich selbst ist.
ein Widerspruch
Wollte man sich unter einer höchsten Gewalt eine
aber begnügen,
wirksame Macht zu verstehen, so liefe dies auf den Pleonasmus
eines motivierenden Motivs hinaus ! In einem anderen Zusammen
hange habeich des näheren den Nachweis dafür gebracht, daß
„Souveränität", „Ursprünglichkeit", „ Unableitbarkeit " oder wie sonst
man die Staatsgewalt wesentlich zu charakterisieren versucht, sinn
voll nur als Attribut einer normativen Ordnung ausgesagt werden
kann, daß mit der Behauptung einer souveränen oder ursprünglichen
Staatsgewalt nur die Geltung einer höchsten, d. h. von keiner höheren
Norm ableitbaren Zwangsordnung vorausgesetzt wird
Nunmehr läßt sich das Verhältnis richtig bestimmen, in dem
auch die beiden anderen „Elemente" des Staates: Volk und Gebiet,
zueinander stehen. Es ist nicht so, wie die naive Vorstellung
glauben machen will, daß das Staatsding eine mehr oder weniger
mechanische Verbindung dieser drei voneinander auch isoliert denk
baren Dinge ist. Die Körperlichkeit bei den ersteren „Elementen"
hätte die Körperlichkeit des Staatsganzen zur Folge. Auch müßte
das Raumelement nicht — wie dies seltsamerweise geschieht — zwei
dimensional als Fläche, sondern dreidimensional — etwa als ein im
Erdmittelpunkt mündender Kegel (ohne feste Grenzen gegen den
Weltraum zu) vorgestellt werden, sofern man den Raum des Staates
nicht mit dem Raum identifizieren wollte, den die einzelnen Menschen
des „Volkes" gerade einnehmen, sondern darunter den Herrschafts
bereich des Staates versteht. Dieser aber ist doch offenbar auch im
Sinne der herrschenden Lehre nicht
Raum, innerhalb dessen
der
Herrschaftsakte des Staates faktisch
möglich sind; sondern es ist
der Geltungs bereich der staatlichen Ordnung. Damit ist aber
der Raum, d. h. das W o der Geltung als ein Inhaltsbestandteil der
staatlichen Sollordnung aufgezeigt. So wie die Normen bestimmen,
was geschehen solle, bestimmen sie auch, wo es geschehen solle.
Und es nur unverständlich,
ist warum die herrschende Lehre
neben dem Raum nicht auch die Zeit als „Element" des Staates
angenommen hat. Die staatliche Existenz ist ja nicht nur im Raum,
sie ist ebenso auch in der Zeit begrenzt; das heißt, die Normen
können ebenso das „Wo" wie das „Wann" des menschlichen Ver
haltens bestimmen. Allerdings scheint es nicht zum Wesen der
staatlichen Ordnung zu gehören, daß sie ihre eigene Totalgeltung
zeitlich begrenzt, so wie ihre Geltung räumlich fest begrenzt ist.
Allein gerade die auf das Faktische der Wirkung und nicht das
Normative der Geltung eingestellte herrschende Lehre hätte doch
Anlaß gehabt, die Tatsache zu berücksichtigen, daß die historisch
gegebenen Staaten nur eine zeitlich begrenzte Existenz aufweisen.
Aber auch von einem rein normativen Gesichtspunkt aus muß das
Moment der zeitlichen Begrenzung berücksichtigt werden.
Ebenso wie Raum und Zeit, so kann auch das Element „Volk"
nur als Inhalt der staatlichen Normen für den Staatsbegriff frucht
bar gemacht Es sind nicht die Menschen — als biologisch
werden.
psychologische Einheiten — , sondern es sind menschliche Handlungen,
die den Inhalt der staatlichen Ordnung bilden und so zu einer — von
der für die Biologie oder Psychologie relevanten Einheit gänzlich ver
schiedenen — juristischen Einheit verbunden werden. Daß eine mensch
liche Handlung als Inhalt einer Norm, eines Sollens, d. h. daß sie als
gesollt erscheint, drückt man auch so aus, daß der Mensch zu dieser
Handlung verbunden, verpflichtet sei, und sagt damit nichts anderes,
als daß diese Handlung in dem spezifischen System dieser normativen
86 II. Der Staat als Normensystem.
§ 15.
Identität von Staats- und Rechtsordnung.
Sobald der Staat als Ordnungseinheit, als Norm erkannt ist,
liegt keine Möglichkeit mehr vor, ihn als .Verband" dem Recht als
') Vgl. dazu mein „Problem der Souveränität" S. 187 ff.
§ 15. Identität von Staats- und Rechtsordnung. 87
1).
Wollte man, die Identität von Staat und Recht in Frage stel
lend, beide als zwei verschiedene Zwangsordnungen gelten lassen,
so müßte man ihr gegenseitiges Verhältnis klar stellen. Da beide
—- dagegen dürfte wohl kein Widerspruch bestehen — zugleich als
geltend vorausgesetzt werden müssen, können sie nur entweder zur
Gänze zusammenfallen oder die eine muß der anderen untergeordnet,
als eine von der der oder Teil
h.
Recht geben. Das Recht ist der Wille des Staates." Das etwa
ist der Ausdruck der herrschenden Lehre. Sie gründet sich darauf,
daß die jedem Rechtssatz wesentliche Zwangssanktion jeden Rechts
satz als Funktion des staatlichen Zwangsapparates erscheinen läßt.
So nahe es liegt, so ist es doch theoretisch unzulässig, neben einer
die zwanganordnenden Normen enthaltenden Ordnung ein System von
Rechtsnormen zu unterscheiden, die das zwangvermeidende Verhalten
der Menschen statuieren, und die erstere als den „Zwangsapparat"
des Staates, das letztere als das Recht im eigentlichen und engeren
Sinne gelten zu lassen. Aehnliche Tendenzen weist die Literatur
ja
„
§ 15. Identität von Staats- und Rechtsordnung. 89
1).
aber die als „Recht" bezeichnete Zwangsordnung ins Auge, so zeigt
sich ganz dasselbe. Wirkt die Vorstellung dieser Ordnung moti
vierendauf die Menschen, dann besteht eine „Macht", eine Rechts
macht, der gleichen Natur ist wie die „Staats "-Macht.
die von Die
Rechtsmacht durch die Staatsmacht erzeugen zu lassen, ist eine
überflüssige Verdoppelung und nur die Konsequenz des Dualismus
von Staat und Recht.
Noch einer anderen Möglichkeit muß gedacht werden, den Staat
zwar als Rechtsordnung zu
begreifen, dennoch aber eine Identität
von Staat und Recht abzulehnen. Dies ist dann der Fall, wenn man
den Staat nur als eine besonders qualifizierte Rechtsordnung gelten
lassen will. Jn dem Zustand des Primitivismus überträgt die Rechts
ordnung den ihr wesentlichen Zwangsakt ursprünglich dem jeweils
in seinen (vom Recht zu schützenden) Interessen Verletzten. Dieser
fungiert hier selbst als das „Organ" der Zwangsordnung (Blutrache).
In diesem Zustand befindet sich noch heute die Völkerrechtsordnung.
Wie überall, so vollzieht sich auch auf dem Gebiete des Rechts eine
Entwicklung zur Arbeitsteilung. Mit dem Zwangsakt wird nicht jeder
Verletzte selbst, sondern für alle ein vom Verletzten Verschiedener,
allmählich diese Funktion berufsmäßig Ausübender betraut. Man
bezeichnet arbeitsteilige Funktion als „Organisation", ob
solche
gleich schon die primitive Rechtsordnung eine Organisation,
auch
eben eine Ordnung darstellt. Will man von „Staat" erst
h.
d.
Vgl. dazu die folgende Stelle aus ToLstois Schrift: „Das Reich Gottes
')
ist inwendig in Euch", Jena, 1911. II. Bd.. 181, 182: „Die Lage des christ
S.
asyl" gibt der Pilger auf die Frage des Schauspielers, ob es einen Gott gibt,
die Antwort: Wenn du an ihn glaubst, gibt es einen Gott. Das gilt wörtlich
auch vom Staat, nämlich von der realen Existenz des Staates — als dem
Denken, Fühlen, Wollen eines bestimmten Inhalts, einer bestimmten Ideologie:
wenn man an ihn glaubt, d. h. wenn die Vorstellung der als Staat bezeichneten
Ordnung zum Motiv des Handelns wird, „gibt" es einen Staat als Realität,
wird der Staat zur Realität. Wobei freilich — was immer wieder betont
werden muß — diese Realität und die ihr zugeordnete Ideologie womöglich
auch terminologisch unterschieden werden sollten.
§ 16. Die .Macht" des Staates als Wirksamkeit einer Ideologie. 91
4. Kapitel.
§ 16.
Die „Macht" des Staates als Wirksamkeit einer
Ideologie.
Daß der Staat nur ein Gedankenwesen sei, diese Erkenntnis
schließt keineswegs die übliche Anschauung aus, nach der mit dem
Begriff des Staates die Vorstellung einer intensiven „Macht" oder
„Gewalt" verbunden ist. Nur daß eben das Verhältnis, in dem der
Staat zu dieser „seiner" Macht steht, richtig gestellt wird: Der
Staat ist als eine ideelle Ordnung, als ein System von Zwangsnormen
erkannt, in deren Geltung seine spezifische geistige Existenz ruht.
Darin, daß diese Ordnung als geistiger Inhalt von Menschen vor
gestellt und gewollt und so zum Motiv ihres Handelns wird, in dieser
Wirksamkeit besteht die Macht oder Gewalt, die man mit Un
recht als die des Staates bezeichnet oder gar mit dem Staate identifi
ziert. Denn es geht nicht an, einen geistigen Inhalt mit dem seeli
schen Prozeß, dem natürlichen Ablauf psychischer Akte zu vermengen,
die den spezifischen Inhalt, auf dessen Eigengesetzlichkeit
92 II. Der Staat als Normensystem.
§ 17.
Beziehung zwischen Faktizität und Normativität.
Wenn auch mit größter Entschiedenheit daran festgehalten wer
den muß, daß die sogenannte „ Macht" des Staates, als motivierende
Kraft oder Wirksamkeit seelischer Akte, sich nicht eigentlich auf
die allein als „Staat" zu begreifende geltende Ordnung, als geistigen
Inhalt, somit also auf einen anderen Gegenstand als den Staat bezieht,
§ 17. Beziehung zwischen Faktizität und Normativität. 93
der einzelnen staatlichen Rechtsordnung selbst als Aufgabe gegeben ist? Hält
Kaufmann für möglich, zwei Rechtssätze derselben Rechtsordnung oder,
es
um in der üblichen Terminologie zu sprechen : zwei Rechtsnormen desselben
Staates zugleich als gültig zu behaupten, von denen die eine den Inhalt a und
die andere den Inhalt non a hat? Was soll denn die Grundvorstellung der
herrschenden Lehre : daß der Staat einen .Willen* habe und daß das Recht
der Wille des Staates sei. anderes bedeuten als den anthropomorphen Ausdruck
dafür, daß die Rechtssätze als widerspruchsloser Sinngehalt begriffen werden
sollen? Gewiß, es gibt noch einen anderen Begriff der Einheit, aber könnte
Rechtswissenschaft sich unter diesem anderen Prinzip der Einheit als Wissen
schaft behaupten ? Wenn es mathematisch unmöglich ist, den Satz 2x2=4
und den 2x2 = 5 (also nicht 4) zugleich als gültig anzunehmen, so ist es
doch psycho logisch nicht unmöglich, zu behaupten, daß ein und derselbe
Mensch beide Sätze tatsächlich zugleich für wahr hält, denn in der Mathematik
kommt es auf den spezifischen Sinngehalt des Satzes, in der Psychologie
auf den psychischen Prozeß des Denkens dieses Satzes oder dieser Sätze an.
Nun liegt aber das Wesen des Rechts (und des Staates) in dem spezifischen
Sinngehalt der Rechtssätze, nicht in dem psychologischen Prozeß ihres Denkens
oder Wollens oder dem Ablauf der durch diese Seelenprozesse bewirkten
Körperbewegungen. Die entgegengesetzte Meinung vertritt allerdings die so
genannte soziologische Rechts- und Staatstheorie , die ja nur die natur
wissenschaftliche Terminologie für die Machttheorie liefert und damit Staat
und Recht als spezifische Gegenstände einer besonderen Erkenntnis aufhebt.
Daß Kaufmann nach dieser Richtung tendiert, hat schon sein Buch über
„Das Wesen des Völkerrechts" gezeigt.
Was nun die KAUFmANNsche Behauptung betrifft, daß ich ein „bestimmtes
positives Ergebnis" (welches, ist nicht klar gesagt) au3 dem formalen Begriff
des reinen Sollen trotz dessen von mir vorausgesetzter Leere, zu gewinnen
suche und so „erschleiche", so habe ich folgendes zu erwidern: Als Geltungs
grund der Rechtsordnung, sei es der einzelstaatlichen Rechtsordnung, sei es
des Völkerrechts als eines einheitlichen Systems von Nonnen habe ich nie
mals das reine, inhaltsleere Sollen, sondern eine konkrete, inhaltserfüllte
Grundnorm angenommen, deren Geltung nicht absoluten, sondern nur hypo
thetischen Charakter behaupten kann. Das Sollen habe ich als die Aussage
form des Rechtssatzes, als Ausdruck für die spezifische Verknüpfung zwischen
Bedingung und Folge im Rechtssatz verwendet. Erst durch den besonderen
Inhalt der Grundnorm (die als eine oberste Norm vorausgesetzt ist) wird das
Sollen zum rechtlichen Sollen. Aus dem reinen Sollen könnte eine
konkrete Rechtsordnung gewiß nur durch Erschleichung gewonnen werden.
Aus der von mir angenommenen Grundnorm aber ist dies ohne jede Er
schleichung möglich, denn diese Grundnorm ist ja nichts anderes als eine
Erzeugungsregel, als eine Norm, nach der das konkrete Recht erzeugt
wird. Natürlich habe ich auch niemals behauptet, daß die konkreten Sätze
des positiven Rechts durch bloße Spekulation aus der Grundnorm deduziert
werden können, was mir der KAUFMANNSche Vorwurf der Erschleichung auch
zu unterstellen scheint. Das wäre etwa so, wie wenn man aus den synthe-
tO^ . '.- i -- : . .' II. Der Staat als Normensystem.
tischen Grundsätzen des Verstandes, bzw. aus dem Prinzip der synthetischen
Einheit der Apperzeption die besonderen Naturgesetze, die konkrete Gestaltung
der Naturwirklichkeit ableiten wollte. Kaufmann konnte und mußte wissen,
daß gerade ich einen solchen Denkfehler auf das schärfste perhorresziere !
Eben weil ich solche Erschleichung vermeiden wollte, habe ich die -i- oben
im Texte neuerlich dargestellte — Unterscheidung zwischen Geltung und
Inhalt der Rechtsnorm gemacht, und ich habe diese Unterscheidung nicht
etwa auf das Völkerrecht beschränkt — wie Kaupmann (a. a. 0. S. 31) be
hauptet, allerdings um sich später zu korrigieren! — , sondern von der obersten
Grundnorm bis auf den konkretesten Rechtsakt, die individuellste Rechtsnorm
durchgeführt. Diese Unterscheidung, gegen die man alles, nur nicht den Vor
wurf der Erschleichung vorbringen kann, nimmt Kaufmann auch zum Anlaß,
festzustellen, daß ich damit den Dualismus von Sollen und Sein aufgegeben
habe. Er spricht von einer völligen „Kapitulation". Ich würde nicht einen
Augenblick zögern, offen und ehrlich zu „kapitulieren", wenn ich die Grund
lage meiner Rechtstheorie nicht mehr halten könnte. Allein dies scheint mir
nicht der Fall zu sein.
Ich verweise auf die Darstellung oben im Texte und möchte hier nur
noch hinzufügen: So sehr man auch die Uebereinstimmung zugeben
muß, die inhaltlich zwischen den Rechtsnormen und dem tatsächlichen
Verhalten der Menschen, der „Macht" zu konstatieren ist, so kann man doch
niemals — will man nicht des ureigensten Wesens alles Rechts verlustig gehen
— auf jenen Gegensatz verzichten, der immer wieder und unter allen Um
ständen zwischen dem Recht und der Macht, als zwischen dem Sollen
und dem Sein, dem Werte und der Wirklichkeit angenommen werden muß.
Hätte die juristische Grundnorm den Charakter eines absoluten Wertes,
dann wäre das Problem recht einfach. Eben weil die Grundnorm aber nur
relative, hypothetische Gültigkeit beanspruchen kann, weil ihr Inhalt offen
kundig mit Seinstatbeständen korrespondiert und diese Korrespondenz durch
gängig bis zur letzten Rechtskonkretisation feststellbar ist, dennoch aber die
Rechtsordnung als Norm dem Sein des tatsächlichen Verhaltens gegenüber
tritt, gestaltet sich das Problem so schwierig. Aber alle Korrespondenz zwischen
dem Inhalt des rechtlichen Sollens und dem des natürlichen Seins kann die
Tatsache nicht verdunkeln, daß die Frage nach dem Warum eines rechtlichen
Sollens, nach dem Grunde eines konkreten Rechtssatzes immer wieder nur zu
einem Sollen, niemals zu einem Sein, stets nur zu einer Norm, niemals zu
einem Naturgesetz führen kann. Der Begründungszusammenhang, in dem die
Rechtsnormen stehen, beruht auf einer Norm, auf der von mir als .Ursprungs
hypothese* charakterisierten Grundnorm. Sie stellt die Einheit in der Mannig
faltigkeit der „empirischen", d. h. positiven Rechtssätze, Rechtsnormen, Rechts
tatsachen her, nur die stufenweise Rückführung einer konkreten Rechtsnorm
auf diese Grundnorm begründet deren Stellung im System einer bestimmten
Rechtsordnung. Und diese Grundnorm tritt in der spezifischen Aussageform
der juristischen, Rechtliches aussagenden Urteile auf, stellt sich als ein S o 1 1-
satz dar. Ueber diese Grundnorm hinaus aber kann man juristisch
nicht
mehr fragen, denn erst mit der Grundnorm beginnt das System des Rechts.
§ 17. Beziehung zwischen Faktizität und Normativität. 103
Richtung von dem einen oder andern Aehnlichstrebenden her ausg fühl
(!)
e
so gerade den mit der Führung des Weltkriegs befaßten militärischen Kreisen
entsprechen mußte? Es mag schon richtig sein, daß wir den Weltkrieg ver
loren haben, weil wir nicht die richtige Staats- und Rechtsphilosophie hatten.
Aber müßte nicht mancher Autor zugeben, daß er nicht die richtige Staats
und Rechtsphilosophie hat, weil wir den Weltkrieg verloren haben? Sonder
104 II. Der Staat als Normensystem.
1).
der Souveränität des Einzelstaates als metarechtliches Postulat be
hauptet wurde, erscheint hier als Inhalt einer Rechtsnorm. Durch
seine Aufnahme in den Inhalt einer Norm ist das Moment der
Faktizität gleichsam denaturiert. Gerade vom Standpunkt eines
Primats der Völkerrechtsordnung ist der normative Charakter des
Staatsbegriffs, dessen Bestimmung als Rechtsordnung außer jeden
Zweifel gerückt.
Kapitel.
5.
Die Zwei-Seiten-Theörie.
18.
§
§ 19.
Die soziologische Zwei-Seiten-Theorie.
Von soziologischer Seite hat die Zwei-Seiten-Theorie in typischer
Weise der SmMEL-Schüler KlStIAKOWSKl 1) entwickelt. Seine Aus
führungen sind ein überaus charakteristisches Beispiel für das er-
Wesen"2) darstellt,
juristische „Eigenschaften" hat, die dem
die
Staate etwa so anhaften, wie die rechtliche Qualität der Persön
lichkeit dem physisch - psychischen Menschen. „Das substantielle
Wesen des Staates steht außerhalb des Rechtes und des Staates
selbst im juristischen Sinne. Dasselbe gehört zu der ganz beson
deren Kategorie der Wirklichkeit, das seinem Begriffe nach nichts
mit den rechtlichen Formen und Funktionen des staatlichen Da
seins zu tun hat. Denn neben dem Substrat des Staates oder den
einzelnen Bürgern (gemeint sind hier die in Wechselwirkung
stehenden Menschen) existiert das substantielle Wesen des Staates
nicht, es besteht vielmehr gerade in denselben. Diese können
aber ohne staatliche äußere Form gedacht wer
den, ohne dadurch aufzuhören eine Gemeinschaft
») a. a. 0. S. 68. •) a. a. 0. S. 73.
§ 19. Die soziologische Zwei-Seiten-Theorie. 109
').
dischen Gedanken schließlich in der für die Durchschnittsmeinung
von dem Verhältnis der Rechtswissenschaft zu der naturwissenschaft
lichen Gesellschaftslehre charakteristischen Formel aus: Die empirische
Realität und die normative Idealität des Staates „sind zwei verschie
dene Seiten eines und desselben anschaulich gegebenen Dinges"2).
Dieses Ergebnis ist nicht etwa deshalb bemerkenswert, weil es sich
zu der Behauptung der sinnlichen Wahrnehmbarkeit des sozialen
Gebildes — KIStlAKOWSKI spricht gelegentlich geradezu von einer
„sichtbaren Gesellschaft"3) — versteigt, sondern gerade wegen jenes
Momentes, in dem eine typische Anschauung konsequent durch
dacht und so ad absurdum geführt wird. Die Meinung, daß die
juristisch normative und die kausal-empirische Betrachtung nur zwei
Seiten die ideale und die reale, die Rechte oder Pflichten und
:
gäbe,
Verbindung von Idealem und Realem, von Sollen und Sein zwar vor
stellen, aber nicht denken könne! Daß der „Gegenstand" der Er
kenntnis als ein einheitliches „Ding" gegeben sei, daß die Erkennt
nis aber auf zwei voneinander verschiedenen, sich niemals treffenden
Wegen an diesen „Gegenstand" herantaste, der eine rätselhafte Ver
bindung von „Eigenschaften" ist, die zwar nur gedanklich erkannt
werden können, gedanklich aber miteinander unvereinbar sind!
Daß die Scheidung in normative und in kausale Betrachtungsweise
zwei gänzlich auseinanderfallenden Blickrichtungen entspricht, daß
aber in der konkreten Vorstellung des Staates das Objekt der normativen
Betrachtung, die Norm oder Sollordnung, nur die Form ist, die als
Inhalt das Objekt der kausalen Betrachtung, die reale seelisch
körperliche Substanz der Gesellschaft in sich einschließt daß das Sein
;
den Inhalt des Sollens ausmachen, also, daß die innigste Synthese,
h.
d.
a. a.
S.
72/73. a. a. 73.
«)
») ')
a. a. 0. 143.
lio II. Der Staat als Normensystem.
e
e
s
0. 153 ff. a. a. 0. S.
S. S. S.
a. a. 59.
*) »)
») ») ')
a. 0. 0.
S.
a. 160. a. a. 161.
a. a. 0. 162 u. 172.
112 II. Der Staat als Normensystem.
Gesellschaft"1). Allein der Staat ist eben nur insofern und insoweit
eine reale Einheit, als er eine einzige Gesellschaft ist. Und wenn
dies — wieder angeführtes Beispiel — gerade
ein typisches, immer
nur in gewissen Augenblicken, etwa anläßlich eines Krieges der Fall
sein soll, so beweist schon die ganze Art der Problemstellung die
durchaus primäre und dominierende Stellung des normativ-juristi
schen, d. i. des ideologischen Staatsbegriffs. Denn dieser wird prin
zipiell als Staat schlechtweg vorausgesetzt und es fragt sich nur,
in welchem Umfange die juristisch
zum Staat gehörenden Men
schen tatsächlich von der im Augenblick der Kriegsbegeisterung
entstehenden Massensuggestion, von Massenvorstellungen und Massen
gefühlen ergriffen werden. Hier liegt die bereits früher charakteri
sierte Fiktion, daß wirklich alle juristisch zum Staat Gehörenden
eine reale soziale Einheit bilden. Hinter ihr versteckt sich nicht
selten eine politische Absicht, die man merkt und die
gewisse
einen — zumal bei Theoretikern — verstimmt. Im übrigen stünde
diese „Realität" des Staates — selbst den unwahrscheinlichen Fall
zugegeben, daß ihr Umfang jenem des juristischen Staates gleich
käme — auf recht schwachen Beinen. Nicht bloß wegen ihrer rela
tiv seltenen und doch nur auf Augenblicke beschränkten Existenz,
sondern vor allem deshalb, weil solche massenpsychologischen Er
scheinungen durchaus gleicherArt aus den verschiedensten An
lässen entstehen und meist über die staatlichen Grenzen hinausgreifen.
Das Bekanntwerden einer bedeutenden technischen Erfindung, die den
Fortschritt der Zivilisation fördert, eine furchtbare, viele Menschen
leben vernichtende Katastrophe, eine Seuchengefahr, das alles er
zeugt Uebereinstimmung im Seelenleben einer Vielheit von Menschen,
Bewußtseinsgemeinschaft, die als reale soziale Einheit, als Gesell
schaft angesprochen wird, und die sich psychologisch durch
nichts von jener Augenblicks-„ Gesellschaft" unterscheiden, die ein
Kriegsausbruch hervorruft, zumal auch diese — man denke etwa
an die Situation in Deutschland und Oesterreich-Ungarn im August
1914 — keineswegs an den staatlichen Grenzpfählen Halt macht.
') a. a. 0. S. 83.
§ 19. Die soziologische Zwei-Seiten-Theorie. 113
') a. a. 0. S. 199.
Kelsen, Staatslirgriff. 8
114
6. Kapitel.
Soziallehre vom Staat und Staatsrechtslehre.
§ 20.
2).
ist er Gegenstand der Staats rechts lehre. JELLInEK protestiert
energisch gegen den „Fehler, der bis an den heutigen Tag begangen
wird, die Staatslehre mit der Staatsrechtslehre zu identifizieren"
8).
Und versucht zunächst — unter Abstraktion von allen Rechtsnonnen
und gänzlicher Ausschaltung juristischer Methode — einen sozialen
Staatsbegriff, sodann aber einen juristischen Staatsbegriff, einen Rechts
begriff vom Staate zu gewinnen
4).
JELLInEKs Theorie ist für die Anschauungsweise der ganzen
jüngeren Generation bestimmend geworden, sein Werk über die all
gemeine Staatslehre ist das verbreitetste und wissenschaftlich voll
kommenste seiner Art, gilt derzeit auf seinem Gebiete als das Stand
ard work und gibt somit das wissenschaftliche Niveau der Staats
theorie von heute an. JELLInEKs Verdienst liegt nicht eigentlich
in der Erweiterung unserer Erkenntnis vom Staat, als vielmehr in
einer glänzenden, zusammenfassenden und abgerundeten Darstellung
ihrer bisherigen Ergebnisse. Er hat die heutige Staatslehre in ein
geschlossenes System gebracht. Mit der Theorie JELLInEKs muß die
herrschende Lehre fallen.
JELLInEK und mit ihm fast die ganze neuere Staatsrechtstheorie
geht von der Vorstellung aus, daß der Staat als ein und das
selbe Objekt das eine Mal als Gegenstand der Soziallehre oder
Soziologie, das andere Mal als Objekt der Rechtswissenschaft, die als
solche Staatsrechtslehre ist, fungiert. JELLINEK sagt wörtlich Für
:
„
Allgem. Staatslehre, Aufl., 333 ff. Vgl. insbes. auch: Die Lehre
S.
3.
168,
')
183.
6) ») 2)
a. 0. a. a. 0. S. 179
S.
2. ff.
a. 11.
*)
163.
8*
116 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
1).
stellung liegt ein bereits früher charakterisierter fundamentaler Irr
tum beschlossen. Die Identität des Erkenntnis- Objektes ist bedingt
durch die Identität der Erkenntnis-Methode Eine prinzipiell andere
!
Betrachtungsweise hat einen prinzipiell anderen Gegen
stand zur Folge. Gerade das von JeLLIneK gewählte Beispiel zeigt
dies deutlich. Für die physiologische Betrachtung existiert überhaupt
keine Symphonie. Dieses besondere Objekt, diese synthetische Ein
heit von Tönen ist ausschließlich das Produkt einer musikalisch
ästhetischen Betrachtung. Und so könnte — gäbe es ein als „Staat"
zu bezeichnendes Objekt der Soziologie — dieser soziale Staat für
die juristische Erkenntnis überhaupt nicht in Betracht kommen. Es
müßte ein von dem durch juristische Betrachtung gewonnenen „Staat"
gänzlich verschiedenes Objekt sein. JELLINEK meint — beinahe
ja
ganz richtig Für die physiologische und psychologische Betrachtung
:
„
System, S. 14. a. a. 0.
S.
14.
«)
») J)
Vgl. a. a. 0. S. 14.
§ 20. Die juristische Zwei- Seiten-Theorie (Jellinek). 117
1).
Wie kann man einer Betrachtung einen Begriff
zugrunde legen",
„
der nur durch gänzlich anders gerichtete Betrachtung ge
eine
wonnen, nur für eine gänzlich anders gerichtete Betrachtung über
haupt gegeben ist?
Der Versuch, eben dasselbe Objekt: den Staat, zum Inhalt zweier
verschiedener Begriffe, eines sozialen und eines Rechtsbegriffs zu
machen und dabei die Identität des Erkenntnisgegenstandes aufrecht
zuerhalten, muß natürlich zu den schwersten Widersprüchen und
Verrenkungen führen. Wenn „Staat" ein begriff sein soll,
R
h
e
c
s
t
dann kann unter „Staat" nichts anderes verstanden werden als das
jenige, was überhaupt Gegenstand eines Rechtsbegriffes sein kann.
Ein Naturbegriff ist entweder der Begriff der Natur überhaupt oder
eines irgendwie bestimmten, abgegrenzten Teiles der Natur. Ein
Rechtsbegriff ist entweder ein Begriff des Rechts überhaupt,
h.
d.
der gesamten Rechtsordnung eines irgendwie bestimmten, ab
oder
gegrenzten Der Staat muß die Rechtsordnung oder
Teiles derselben.
ein Teil derselben, eine Teilordnung des Rechts sein, wenn Staat
ein Rechtsbegriff sein soll. Und „Staat" kann dann ebensowenig
oder ebensosehr eine „Realität" oder ein soziales Faktum sein wie
das Recht. Es muß solchen Realitäten oder Fakten in demselben
Sinne entgegengesetzt werden wie die Rechtsnormen, wenn überhaupt
das Recht in seiner spezifischen Geltungs existenz dem Natur-
sein oder dem ihm gleichgesetzten sozialen Sein als Sollen ent
gegengestellt wird. Verzichtet man auf solchen Gegensatz, dann ist
Rechtswissenschaft nur eine naturwissenschaftliche Spezial Wissenschaft;
dann ist der ganze Dualismus von explikativer und normativer Be
trachtung, von Soziallehre und Rechts lehre sinnlos. Gerade dieser
Gegensatz bildet die Grundlage der JELLINEKschen Staatslehre.
Es ist fast unbegreiflich, wie JELLINEK, der sein ganzes System
auf den Dualismus von Sein und Sollen aufbaut, der das Recht
als Norm, als Sollen dem Sein entgegenstellt, der die
sozialen
scharfe Scheidung von normativ- juristischer und explikativ - sozio-
S.
Staatslehre, 163.
')
118 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
dann kann der Staat, der ein Rechtsbegriff ist, keine reale Existenz,
und mit irgendeiner realen Existenz, die man auch als Staat be
zeichnen mag, nichts zu tun haben.
0. 0.
S. S.
S.
a. a. 11. a. a. 162.
2)
») ')
a. a. 0. 162.
§ 20. Die juristische Zwei- Seiten-Theorie (Jellinek). 119
1).
Und nun charakterisiert JELLInEK die Abstraktionen im allge
meinen und damit implicite natürlich auch die juristischen Ab
straktionen folgendermaßen „Der Abstraktion liegen reale
:
Leben erklären, dessen Realität eine seelische ist, und dabei nicht
empirisch, naturwissenschaftlich verfahren, das ist wohl undenkbar.
h.
d.
0.
S. S.
S.
System, 34/35.
§ 21. Der Staat als „Verband" und als „Körperschaft" identisch. 121
§ 21.
Der Staat als „Verband" (sozialer Staatsbegriff)
und als „Körperschaft" oder Rechtssubjekt (juri
stischer Staatsbegriff) identisch.
Die Vorstellung des Staates als einer Voraussetzung des
Rechtes, als eines selbständigen, von aller juristisch normativen Be
trachtung unabhängigen Objektes soziologischer, d. h. kausalwissen
schaftlicher Erkenntnis ist nur aufrechtzuerhalten, wenn es gelingt,
einen Begriff des Staates unter Abstraktion von allen Rechtsnormen
im Wege einer auf das Natur- oder (diesem gleichgestellten) gesell
schaftliche Sein gerichteten Forschung zu gewinnen. Seinem metho
dischen Programm gemäß, kausalwissenschaftliche Sozial
das eine
lehre des Staates normativen Staatsrechtslehre scheidet,
von einer
mußte JELLINEK tatsächlich den Versuch unternehmen, den sozialen
Begriff des Staates zu gewinnen, und zwar bevor er an den
Rechts begriff des Staates herantrat und ohne dabei auf die Rechts
ordnung Bezug zu nehmen. Dieses Unterfangen erscheint zwar
von vornherein schon darum problematisch, weil JELLMEK im
mer wieder versichert, daß zum Wesen des Staates — also doch
wohl auch zu seinem Begriffe — das Recht gehöre l) ; aber viel
leicht half sich JELLINEK — so wie dies häufig geschieht — über
dieses Bedenken durch die Vorstellung hinweg: Ist der Staat einmal
konstituiert, dann — erst dann — muß er notwendig eine Rechts
ordnung „aufstellen" oder „besitzen". Jedenfalls geht er daran
— und ist, wie bemerkt, durch sein methodisches
Programm ge
zwungen „den
—, Staatsbegriff
sozialen zu erkennen"2). Er stellt
zunächst als „die letzten nachweisbaren Tatbestände des staatlichen
Lebens", und zwar als „objektive Bestandteile des Staates"
jedoch JELLINEK nicht ein. Dagegen stellt er fest, daß der Staat
offenbar eine irgendwie geartete Einheit solcher Willensverhältnisse
ist, eine Einheit, die durch eine Ordnung konstituiert wird. Und
er stellt weiter fest, daß diese Ordnungseinheit keine kausale, son
dern eine teleologische ist1).
Nun liegt schon in dieser Wendung der völlige Bruch seines
methodischen Grundprinzips. Wenn der Staat das Ergebnis
einer
teleologischen und zwar akausalen Betrachtung ist, dann kann der
so gewonnene Begriff nicht als ein „sozialer" der kausalwissen
schaftlichen Gesellschaftslehre angehören, und von einem Begriff der
normativ-juristischen Betrachtung — normativ und teleologisch sind
für JELLINEK keine Gegensätze, der Gegensatz liegt vielmehr zwischen
Kausalität und Teleologie — prinzipiell zu unterscheiden sein. Dies
um so weniger, als JELLINEK ausdrücklich als Beispiele teleologischer
Begriffsbildung geradehin R e c h t s begriffe
diesem Zusammenhange
anführt: „ Rechtsgeschäfte
und Delikte werden so durch teleologische
Betrachtung zu Einheiten verdichtet"2), und in anderem Zusammen
hang geradezu erklärt: „Menschenmehrheiten werden für das prak
tische Denken durch einen sie verbindenden Zweck geeinigt" und
nach Darlegung der teleologischen Methode zu dem Schluß kommt:
„Daß nun auch der Staat dem juristischen Denken als eine
Einheit erscheint, ist nach den vorangehenden Erörterungen klar"3).
Also keineswegs bloß der „soziale", auch der „juristische"
Staatsbegriff ist eine teleologische Einheit ! Soll es somit
überhaupt einen Sinn haben, den sozialen von dem Rechts
begriff des Staates zu unterscheiden, so könnte dies nur insofern
geschehen, als zwei gänzlich verschiedene Zwecke und sonach
zwei gänzlich verschiedene normative Ordnungen behauptet
würden. Der „soziale" und der „juristische" Staat verhielten sich
etwa zueinander wie Staat und Kirche — als zwei voneinander ver
Organisationen derselben Menschen gedacht.
schiedene
Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, daß die Ord
nung, unter der die Vielheit von „Herrschaftsverhältnissen"
alsEinheit des Staates erscheint, keine andere ist als die
Rechts Ordnung, und daß dies eben der Sinn der bei JELLINEK
immer wiederkehrenden Versicherung ist, dem Staat sei das Recht
wesentlich. Es kann natürlich nicht ernstlich daran gedacht werden,
daß der Zweck, dessen Einheit den sozialen Staatsbegriff kon
stituiert, kein anderer ist als der Rechtszweck oder die Rechtsordnung,
was ja identisch ist. Welch anderer Zweck, welch andere Ordnung
Ordnung, mit jener Ordnung, deren Einheit den Staat bedeutet. Die
„ innerliche Kohärenz" der Zwecke, die „Verbindung", die durch die
Zwecke erfolgt, ist nicht — wie JELLINEK und die herrschende
Lehre anzunehmen scheint — die Tatsache, daß eine Vielheit von
Menschen dieselben Zwecke fakti sch anstrebt, daß in den
zum Staat vereinigten Menschen die gleiche Zweckvorstellung und
Zweckstrebung lebendig ist. Denn ganz abgesehen von der darin
gelegenen Fiktion eines tatsächlich gemeinsamen Zweckes, be
dürfte es zur Erfassung dieser Tatsache — ihre Existenz und Kon-
statierbarkeit vorausgesetzt — keineswegs einer spezifisch „prakti
schen", d. h. einer normativen oder teleologischen Begriffsbildung.
Es ist ein Irrtum, wenn JELLINEK meint: „Je intensiver, je dauern
der die einigenden Zwecke sind, desto stärker erscheint uns auch
die Einheit ausgeprägt. Unter dem Gesichtspunkt theoretischer
Erkenntnis aber sind selbstverständlich in allen Fällen nur Einzel
individuen vorhanden, die sich in mannigfachen Beziehungen zuein
ander und gegenseitig verursachten Zuständen befinden. Allein weder
für das praktische Leben noch für das durch und durch praktische
Recht hat diese Erkenntnis den geringsten praktischen Wert, d. h.
jene Einheiten werden dadurch für das menschliche Be
wußtsein nicht aufgehoben"1). Die Tatsache, daß eine Vielheit
von Menschen den gleichen Zweck anstrebt, daß gleichgerich
tete Wollungen lebendig sind, diese Tatsache
ist durchaus
und nur unter dem Gesichtspunkt theoretischer Erkenntnis
zu begreifen und einheitlich in einem Begriff der explika
tiven Sozialpsychologie zum Ausdruck zu bringen. Es ist keine
andere Tatsache als die, daß sich eine Mehrheit von Pflanzen unter
gewissen Bedingungen gleichmäßig den auf sie gerichteten Licht
strahlen zuwenden. Hier wie dort muß die gemeinsame Ursache
erforscht werden. Die Psychologie — auch die Sozialpsychologie —
als Tatsachenforschung und Tatsachenerklärung hat mit dem teleologi
schen Zweckbewußtsein, das das Bewußtsein des Forschers
ist, nichts zu tun, auch wenn die zu erforschenden Tatsachen zweck-
strebige Seelenprozesse der Menschen sind. Der prinzipielle Wider
spruch in der Grundanschauung vom Staate kommt bei JELLINEK ganz
"
unverhüllt zum Ausdruck. In seiner „ Allgemeinen Staatslehre ver
sucht er den Staat als soziale „Realität" und sohin als eine „objektive"
Einheit, als einen Gegenstand staatswissenschaftlicher Erkenntnis zu
begreifen: „Der Staat findet erstens seine Stelle in der Gesamtheit
des Geschehens, er tritt
uns entgegen als ein des Teil
') System, S. 25.
§ 21. Der Staat als „Verband" und als „Körperschaft" identisch. 125
') a. a. 0. S. 177.
§ 21. Der Staat als „Verband" und als „Körperschaft" identisch. 127
behauptet, daß der Staat, der als gedankliche Einheit seine Existenz
nur im teleologischen Bewußtsein, d. b. in der normativen Erkennt
nis hat, selbst „herrsche", also einen Willen äußern könne. Und -
x).
War der Staat bisher die Einheit von Herrschaftsverhältnissen,
ist er jetzt plötzlich ein Herrscher! Nur noch das Herrschen, nicht
das — zum Herrschaftsverhältnis wesentliche — Beherrschtsein
wird von ihm ausgesagt. Es könnte aber nach dieser Methode ebenso,
mit mehr Recht vom Staat gesagt werden, er sei ein Beherrschter
ja
!
Hier verrät sich die Theorie, ihr politischer Charakter guckt hervor.
Der Staat ist nur mehr die „Obrigkeit"! Die Beherrschten gehören
sozusagen nicht zum „Staat"! Daß ein Gedankensprung von solch
verblüffender Dimension möglich ist, ohne daß er dem Autor selbst
zum Bewußtsein kommt, ist nur so zu erklären, daß mit ihm eine
Position erreicht wird, die der Ausdruck einer durch lange Denk
gewohnheit festgewurzelten, bereits für selbstverständlich und absolut
sicher erachteten Vorstellung ist: Die Hypostasierung einer Denk
einheit zu einem realen, willensbegabten, machtvollen Wesen. Es
muß natürlich rätselhaft bleiben, wie denn eigentlich die teleolo
gische Bewußtseinssynthese, „Staat" genannt, ihren „eigenen" Willen
anderen Willen, offenbar den Willen von Menschen, anderer
Menschen, unbedingt aufzwingen kann. Wobei es nicht uninteressant
ist, die Sprache dieser Hypostasierung zu belauschen, die die
„Willensmacht" ihrem Geschöpfe ebenso „innewohnen" läßt, wie
sie den psychischen Willen im „Innern" des Menschen vermutet,
und die ihr Geschöpf, den Staat, als eine äußere Macht auftreten
läßt. Noch rätselhafter aber daß „nur" diese Einheit des teleo
:
geben,
0.
S.
a. a. 180/81.
')
128 HI. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
keif gibt, müßte Sicherheit schaffen. Daß die Macht des Staates
— die reale, in der Welt der sozialen Wirklichkeit existente Macht
des Staates — eine „ursprüngliche" ist, bedeutet nämlich: daß sie
„rechtlich von keiner anderen Macht abgeleitet" ist! Das bedeutet
aber gar nichts anderes als : daß diese Macht rechtlichen
Charakter hat und darum gar nichts anderes sein kann als die Rechts
ordnung, und daß diese Ordnung
— die man auch Staat nennen kann
— als von keiner anderen, höheren Ordnung abgeleitet vorausgesetzt
wird. In anderem Zusammenhange habe ich nachgewiesen, daß damit
nur zum Ausdruck kommt, was man die Souveränität des Staates
nennt. Und daß insbesondere JELLINEK — trotzdem er die Sou
veränität als keine wesentliche Eigenschaft des Staates gelten lassen
wollte — in seinem Attribut der „Ursprünglichkeit" nur ein anderes
Wort für Souveränität verwendete.
Nachdem so in dem sog. „sozialen" Staatsbegriff bereits die
hypostasierende Personifikation ist —
der Rechtsordnung vollzogen
die nach Analogie des willensbegabten Menschen konstruierte, mit
Herrschermacht ausgerüstete Verbands e i n h e i t stellt ja die Denk
einheit des Staates in dem Bilde der Person, des Subjektes vor —
kann man gespannt sein, was für die Deduktion des „juristischen"
Staatsbegriffs eigentlich noch übrig bleibt. JELLINEK meint, die
juristische Erkenntnis des Staatsbegriffs habe sich an den sozialen
Staatsbegriff „anzuschließen" Wie ist dies aber möglich, wenn
die juristische und die soziale Betrachtungsweise auseinanderfallen?
Und dies muß um so schwieriger sein, als JELLINEK im juristischen
Begriffe des Staates — des Staates, der als soziales Faktum die
Voraussetzung des Rechts bildet — ein „ Gebilde des Rechts"
erblickt, d. h. also das Recht als Voraussetzung des Staates an
nimmt. Dies stimmt nur mit der üblichen auch von JELLInEK ge
teilten Vorstellung, daß die Rechtspersönlichkeit von der Rechts
ordnung „verliehen", aus der Rechtsordnung „abgeleitet" wird. Als
Rechtsbegriff stellt sich der Staat nämlich als Rechtssubjekt, als
Persönlichkeit dar. „Seiner juristischen Seite nach kann der Staat . . .
nur als Rechtssubjekt gefaßt werden, und zwar ist es näher
der Begriff der Körperschaft, unter den er zu subsumieren ist"
2).
0. 0.
S. S.
S.
a. a. 182. a. a. 183.
2)
») ')
a. a. 0. 183.
Kelsen, Staatsbegriff.
9
130 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
man den Staat als Rechtsbegriff nur auf der Idee einer rechtlichen
Selbstverpflichtung des Staates gründen zu können glaubt, der Staat,
und zwar der Staat, den man der Vorstellung einer Staats p er so n,
eines Recbtssubjektes „Staat" voraussetzt, mit der Rechtsordnung, nicht
aber mit irgendeinem sozialen Faktum als identisch gedacht werden muß.
Denn verpflichten und insbesondere rechtlich verpflichten oder berech
tigen kann nur die Rechtsordnung; und wenn man den Staat —
sei es sich selbst oder wen immer verpflichten oder berechtigen läßt,
so muß dieser Staat in seiner Eigenschaft als verpflichtende und be
rechtigende Autorität die Rechtsordnung sein. Eine „Herrscher
macht", als welche der soziale Staat charakterisiert wird, kann
an und für sich möglicherweise faktisch zwingen, aber nicht recht
lich verpflichten oder berechtigen. Sie kann es, wenn sie — als
Rechtsperson — nichts anderes als der personifikative Ausdruck für
die Einheit der Rechtsordnung ist.
Nach all dem ist die zunächst wohl verblüffende Tatsache
nur selbstverständlich, daß nämlich der „juristische" Staatsbegriff,
der angeblich durch eine von der „sozialen" ganz verschiedene
Betrachtungsweise gewonnen wurde, mit dem „sozialen" Staats
begriff völlig identisch ist: „Als Rechtsbegriff ist der Staat demnach
die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Körperschaft
eines seßhaften Volkes" Der — freilich nur scheinbare — Unter
1).
a. a. 0.
S.
183.
')
§ 21. Der Staat als „Verband" und als „Körperschaft" identisch. 131
1).
Indem JELLINEK ernstlich die Frage nach der „Entstehung"
des Staates aufwirft und darunter das Werden „objektiver" Realität
versteht, indem er sich bemüht, zu zeigen, daß die „Entstehung des
Staates" außerhalb des Rechtsgebiets fällt2), zwingt
er geradezu zu der Annahme, daß der Staat etwas sein müsse, was
unabhängig von aller teleologischen Bewußtseinssynthese besteht.
Daß JeLLInEK in direktem Widerspruch zu dieser Vorstellung
den Staat gelegentlich ausdrücklich als „Ordnung",
ja
als Rechts
ordnung bezeichnet, darf nach all dem Gesagten nicht wundernehmen.
In seiner „Allgemeinen Staatslehre" findet sich der an diesem Ort
höchst seltsame Satz, „daß die Staatsordnung selbst Reclttsordnung
Und schon früher, in der .Lehre von den Staaten verbindungen
"
sei"3).
heißt es: „Das wesentlichste Moment im Begriffe des Staates ist,
(!)
größtem Nachdruck die Vorstellung, der Staat könne vor der Rechts
ordnung bzw. der Verfassung (die identisch mit der gesamten
ja
begriffes das Bedürfnis hat, gegen den möglichen Vorwurf einer „Hypostasie-
rung" von vornherein Verwahrung einzulegen, so kann ihm ohne weiteres zu
gestanden werden, daß gerade bei seinen — in diesem Zusammenhang übrigens
sehr kurzen — Ausführungen über den juristischen Staatsbegriff keine besondere
Hypostasierung unterlaufen ist. Sie steckt nämlich schon in dem „sozialen"
an den sich sein juristischer anschließt. Er gesteht sie
ja
Staatsbegriff, dort
direkt und ausdrücklich zu, wenn er sagt „Die natürlichen, in den Individuen
:
sich abspielenden Willens vorgänge werden nämlich von unserem Denken zugleich
auf die Verbandseinheit selbst bezogen" (a. a. 0. 181). Das ist eben eine Hy po-
S.
stasierung, wenn man eine bloß gedankliche Einheit, eine nur im „teleo
logischen" Bewußtsein des erkennenden Juristen vollzogene Synthese mit einem
psychischen Willen, einer ihr „innewohnenden" Herrschermacht ausrüstet.
Und er ist gegen eine in dieser Richtung zielende Kritik im Unrecht, wenn er
behauptet, er habe niemals den Satz aufgestellt, „daß unseren Abstraktionen
außerhalb unseres Bewußtseins irgendeine Existenz zukommt" (a. a. 0.
S.
182).
Denn trotzdem er den Staat auf der einen Seite nur als ideelle Synthese eines
teleologischen Bewußtseins betont, behandelt er den Staat auf der anderen Seite
dennoch als realen, in der Außenwelt tätigen Machtfaktor. Dazu zwingt ihn
schon seine Grundposition Staat als Machtfaktor Voraussetzung des
:
Rechts und daher nicht identisch mit diesem, das als Einheit einer normativen
Ordnung allein die spezifische Synthese teleologischen Bewußtseins darstellt.
a. a. 0.
S.
Staatslehre,
S.
269. 355.
»)
Staatenverbindungen,
S.
266.
*)
9*
132 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
Kapitel.
7.
22.
§
0.
S.
a. a. 262.
')
§22. Die Seibstverpflichtung d. Staates als Personifikation d. Rechtsordnung. J33
1).
gebaut und damit zu einem leiert faßbaren Gegenstand der Kritik
gemacht. Gerade an der
Selbstverpflichtungstheorie, die das
sog.
unbegreifliche begreiflich zu machen versucht, wie aus der dem Rechte
begrifflich entgegengesetzten Macht — Recht wird, wie sich der als
außerrechtliches, metarechtliches,
ja
rechtsfremdes, rechtsfeindliches
Wesen vorausgesetzte Staat in Recht verwandelt, wurde der innere
Widerspruch schon oft bemerkt. Man hat wiederholt gegen diese
Theorie geltend gemacht daß der Staat als machtvolles omni
,
potentes Wesen, das als solches über dem Recht stehe, das Recht
erzeuge, nicht durch das Recht, sein eigenes Geschöpf, gebunden werden
könne, daß jede rechtliche Bindung mit dem Begriff des Staates
unvereinbar sei
2).
;
der Staat muß, soll er wen immer, und sei es auch sich selbst, ver
pflichten können, wie bereits früher bemerkt, als die Rechtsordnung
gedacht werden. Als eine unterworfene Person
der Rechtsordnung
aber ist er wiederum nur diese Rechtsordnung selbst. Erkennt man
den Staat — sofern er in der anthropomorplien Form der Person
auftritt — als Personifikation der Rechtsordnung, dann ist die voll
endete Sinnlosigkeit der Problemstellung offenbar, die zur Theorie
der Selbstverpflichtung führt Kann der Staat, der die Rechtsordnung
:
Nur noch die scholastische Theologie hat sich mit solchen Schein
problemen beschäftigt! Der Schein eines möglichen Problems wird
aber dadurch erzeugt, daß man die verpflichtende Rechtsordnung auf
dem Wege einer veranschaulichenden Personifikation — die „Person"
Staates — hypostasiert, h. real setzt, als realen Menschen
d.
des
behandelt und nun fragt, ob dieses von der juristischen Phantasie
erzeugte Wesen — wie die andern Menschen — durch die Rechts
ordnung verpflichtet werden könne. Diesem Selbstbetrug der
Rechtswissenschaft wird dadurch Vorschub geleistet, daß man sich
des eigentlichen Sinnes, der logischen Struktur jenes Tatbestandes
S.
I.
195.
JeLLikeK, Staatslehre, S. 337.
»)
134 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
§ 23.
Politischer Mißbrauch des metarechtlichen Staats
begriffes.
Da die herrschende Lehre von einer natürlichen Existenz des
Staates ausgeht, den Staat als ein vom Recht verschiedenes Wesen
gelten läßt, läßt sich das Problem der staatlichen Selbstverpflichtung
auch mit den Worten JELLINEKs ausdrücken : „Von Natur aus
alles könnend, was seiner Macht
zugänglich ist, kann der Staat
von Rechts wegen nur das, wozu ihn
die Rechtsordnung ermächtigt,
darf er nur das, was sein gesetzlich gebundener Wille ihm gestattet"2).
Es sind demnach Staatsakte möglich, die nicht nur als rechtswidrig,
die als rechtlich unfaßbare,
außerrechtliche, rechtlich nicht begreif
bare Fakten angesehen werden müssen. Da es sich dabei nur um
menschliche Handlungen handeln kann, die — als Staatsakte — nicht
dem physisch Handelnden selbst, sondern einem „hinter" ihm ge
dachten Subjekt zugerechnet werden, ist auch diesen juristisch un
faßbaren Akten gegenüber die Frage nach der Zurechnungsregel nicht
zu vermeiden. Diese Zurechnungsregel kann — voraussetzungsgemäß
— nicht eine Rechtsnorm sein. Die Ordnung, in deren systematischer
Einheit diese Inhalte begriffen werden, ist nicht die Rechtsordnung,
nach der andere Akte des Staates sich als Rechtsakte begreifen
lassen. Hier ist die Theorie in flagranti auf einem Doppelspiel er
tappt: Sie operiert mit zwei voneinander verschiedenen, einander aus
schließenden Systemen und behauptet dennoch einen einheitlichen,
Worten aus, „daß das augenblickliche Interesse des Staates für den
Staatsmann allein maßgebend sein müsse und die Politik weder
an die Schranken des Rechtes noch an die der Moral
gebunden sei". So LOENING in seiner ausgezeichneten Geschichte
des Wortes „Staat" Er fügt bezeichnenderweise hinzu : „ Der Aus
druck Staat selbst erhielt dadurch eine üble Nebenbedeutung, und
V. L. V. SECKENDOBPF verwahrt sich in der Vorrede zu seinem
Fürstenstaat (1655) dagegen, daß er »mit dem Worte Staat keines
wegs das gemeint, was darunter heutzutage öfters begriffen werde
und fast eine Untreue, Schandtat und Leichtfertigkeit zu nennen sein
wird, die an etlichen verkehrten Orten mit dem Staat, ratione status
oder Staatssachen entschuldigt werden will«. Noch 1685 (Vorrede
zu dem Cliristenstaat) erklärt er, der Gebrauch des Wortes Staat
ekle ihn eigentlich an, doch gebrauche er es, »weil er es mit keinem
bequemeren auszuwechseln gewußt und es Bürgerrecht in unserer
Sprache verdient zu haben scheine«." Diese autokratische — gegen
das demokratische Volksrecht gerichtete — Ordnung will aber selbst
Recht werden und wird es auch. Der „Staat" wird eben zum
neuen Staatsrecht, und damit wird auch der ursprüngliche Gegen
satz zwischen Staat und Recht — der ein historischer Konflikt des
neuen mit dem alten Rechte ist — aufgehoben.
Nichtsdestoweniger behält der Terminus des Staates etwas von
seiner ursprünglichen rechtsfeindlichen Bedeutung bei. Sein histo
rischer Ursprung macht ihn immer wieder zu einem Ausdruck für
gewisse, gegen die Rechtsordnung gerichtete politische
positive
Postulate, die sich dennoch den Schein geltenden Rechtes geben wollen.
Denn eine allzu gefällige Theorie deckt manche Rechtswidrigkeit
der Machthaber mit Hilfe ihres Doppelstaatsrechts, womit sie sich
ein wissenschaftliches Instrument geschaffen hat, das eine verteufelte
Aehnlichkeit mit dem Zylinder des Taschenspielers zeigt: es hat
nämlich einen doppelten Boden, und man kann aus ihm immer
herauszaubern, was den jeweiligen politischen Bedürfnissen der
„obersten Organe" entspricht. Das ist es, was der Staatsrechtslehre
den Charakter der Unaufrichtigkeit aufprägt: Ihr System, das sich
als ein System positiven Rechts und als solches freilich von jeder
des
Politik verschieden und unabhängig erklärt, hat eine Hintertüre, die
sich diese „Wissenschaft" sorgfältig offenhält, um durch sie eben
jene „Politik" wieder Die „Politik" tritt einfach unter
hereinzulassen.
dem Namen des dem Recht entgegengesetzten „Staates" oder „öffent
lichen" Interesses, des dem „Recht" (das zum „Privat "recht zusammen-
",
seits: „so ist doch ersprießliche staatsrechtliche Unter
suchung ohne Kenntnis des politisch Möglichen aus
geschlossen". Allein
soll nicht bei der bloßen „Kenntnis" bleiben;
es
Grenzen" nur
nicht zu überschreiten, die es
trennen? Und jetzt wird ihm gar gesagt: ohne „grundsätzliche
Beachtung dieser Politik läuft es Gefahr, sich in eine dem Leben
und der realen Erkenntnis abgewandte rein scholastische
Disziplin zu verwandeln" Wenn der Staatsrechtslehrer eine
3).
Auf die politischen Tendenzen, die sich hinter dem angeblich theore
*)
tischen Gegensatz von öffentlichem und privatem Recht verbergen, habe ich
schon in meiner Abhandlung „Zur Lehre vom öffentlichen Rechtsgeschäft*,
Archiv des öffentl. Rechts, 31. Bd., Vgl. dazu
S.
1908,
Vgl. dazu MerKL, Die monarchische Befangenheit der deutschen Staats
*)
8. Kapitel.
Der Staat als Rechtsgemeinschaft.
§ 24.
gleiche Gedanke, der auch als Sinn des den Staat begründenden
Kontrakts auftritt. Und wenn KANt in Uebereinstimmung mit einer
geläufigen Vorstellung der Naturrechtslehre die Einheit des Staates
als Willenseinheit auffaßt in Gemäßheit des Kontraktes, der eine
0. 47.
a. a.
3) ») ')
79.
§ 25. Der Staat als besondere Rechtsordnung (Stammler). 143
ausgehen
25.
§
. .
.
die Annahme, Recht sei die vom Staate erlassene Norm, wird durch
den Nachweis zu führen versucht, es sei durchaus nicht notwendig,
„daß die Rechtsnormen von einer organisierten Gewalt erlassen wer
den, die wir als die staatliche begreifen Nun ist es nicht gleich
"
4).
gültig, ob man den Staat als „organisierte Gewalt" oder als „Organi
sation einer Gewalt" bestimmt. Denn das eine Mal ist er Gawalt,
das andere Mal Organisation. Und StAMMLER will offenbar die
letztereAuffassung akzeptieren, denn er bezeichnet den Begriff des
Staates ausdrücklich als den „Begriff einer Organisation mensch
lichen Zusammenlebens" Organisation aber ist nur das Fremdwort
8).
a. a. 0. 45. a. a. 0. 46.
2)
')
a. a. 0. a. a. 0.
S.
S.
117.
6)
116/17.
144 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
für Ordnung oder, wie StAMMLER meint, der Ausdruck für die Ver
einigung unter äußeren Regeln Ist der Staat aber eine Ordnung,
1).
dann ist er etwas dem Recht durchaus Gleichartiges, und unter-
. scheidet man dann noch zwischen Rechtsordnung und Staatsordnung,
h.
höheren Ordnung,
zu einer niederen
d.
ordnung sein. Denn daß Staatsordnung und Rechtsordnung als zwei
voneinander unabhängige disparate Normsysteme — so wie etwa
Recht und Moral — angesehen werden, darf wohl von vornherein
als ausgeschlossen gelten.
Will man das Recht als Voraussetzung des Staates gegen
die Vorstellung des Rechtes als der vom Staate erzeugten Norm
erweisen, darf man nicht, wie dies so häufig geschieht, auf die
Kirche oder andere Rechtsgemeinschaften verweisen, denen die
Bildung des Rechtes zeitweise überlassen gewesen sei Ist die
2).
Kirche eine Rechtsgemeinschaft, ist diese Organisation eine Rechts
ordnung, dann kann diese Rechtsordnung sich ebensowenig selbst
erzeugen, wie dies die als Staat bezeichnete
Rechtsordnung kann.
Will man Kirche bezeichnete Organisation mit der
aber die als
Kirchenrechtsordnung nicht zusammenfallen lassen, dann müßte, wäre
die Kirche eine gemeinschaft, das Recht ebenso „Voraus
R
h
c
e
t
s
setzung" der Kirche sein, wie es als Voraussetzung des Staates auf
gefaßt wird.
Eine andere Argumentation ist die, daß es Rechtsgemeinschaften
gäbe, die keine Staaten seien, weil ihnen „die feste Beziehung zu
einem bestimmten Territorium" fehle, „die wir als wesentliches Merk
mal dem Begriffe unterlegen"
des Wenn man — wie
Staates
5).
Staat als ein den Raum erfüllendes und sohin körperliches oder
körperlich-seelisches Wesen auf. StAMMLER spricht vom Staate als
von einem „Staatsvolk auf seinem Staatsgebiet unter einer staatlichen
Gewalt"4), und diese aus den drei üblichen „Elementen" zusammen
gesetzte Staatsvorstellung ist nichts anderes als die eines dreidimen
sionalen Gegenstandes. Zumal die „Gewalt" nur der Ausdruck für
eine ursächliche Wirksamkeit ist, die, wenn sie auch zunächst in
0. 0.
S.
So StammLeR,
S.
a. a. 118. a. a. 117.
2)
')
StammLer, a. a. 0.
S.
117.
4) »)
191, 397.
§ 25. Der Staat als besondere Rechtsordnung (Stammler). 145
1).
verständlich bleiben, wie StAMMLER, der das Gebiet als ein wesent
liches Element des Staatsbegriffs bezeichnet, in anderem Zusammen
hang durchaus zutreffend „das räumliche Bestehen der menschlichen
Verbände" verwirft, weil es sich unter den bleibenden Bestimmungen
nicht findet, die den Begriff jener Verbände festlegen StammLer
2).
behauptet hier auch den Staat als eine unräumliche Wesenheit, ob
gleich er an anderer Stelle die nichtstaatliche Rechtsgemeinschaft von
der staatlichen gerade dadurch unterscheidet, daß die letztere
eine „feste Beziehung zu einem bestimmten Territorium" habe.
Der Staat hat zwar keinen räumlichen Bestand, aber — ein be
stimmtes Territorium Ganz ähnlich steht es auch mit dem Element
!
„
der unter einer Rechtsordnung vereinigten Menschen" (so wie Kant
3)
den Staat Eine Gesamtheit von Menschen aber ist ein raum-
!).
soll es nun bedeuten, daß man von Staatsgewalt nicht reden könne,
ohne dabei rechtliche Bindung von Menschen in Gedanken zu haben?
Doch wohl nur das, daß Staatsgewalt nichts anderes als rechtliche
Bindung sei Was die Behauptung, daß ein Begriff staatlicher Or
!
*) 2)
») ')
117.
Kelsen, Staatsbegriff. 10
146 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
1).
kann StammLer nur das Merkmal des Staatsgebiets anführen, das er
freilich hinsichtlich seiner Stellung im Staatsbegriff irerade in diesem
Zusammenhange seltsamerweise als „nur konventional angenommene
Denkweise"2) charakterisiert! Dies könnte nur ein Grund sein, den
Betriff Staates von diesem „nur konventionalen" Elemente zu
des
befreien,worauf er mit dem der Rechtsordnung zusammenfällt. Und
daß dies den eigentlichen Sinn des Staatsbegriffs trifft, das zeigt die
Ueberlegung, daß niemand, der sich des Staats begriffs bedient, bei
einer Analyse dieses Begriffs sich bewußt werden dürfte, daß das
besondere Element, wodurch sich der Staat von andern Rechts
gemeinschaften unterscheidet, in jener eigenartigen und höchst kom
plizierten Geltungsbeschränkung auf ein bestimmtes Terri
torium gelegen sei. Das in allen Staatsvorstellungen dominierende
Charakteristikum einer höchsten Gewalt reduziert sich auf die
Vorstellung einer obersten Rechtsordnung. Zumal, wenn man weiß,
daß jede Rechtsordnung für irgendeinen Raum gilt, daß — um in
der anschaulichen Vorstellung der populären Denkweise zu bleiben —
jede höchste Gewalt auf irgendeinem
Gebiete ein Volk beherrscht
daß also der ganze Unterschied auf die mehr oder weniger präzise
Bestimmtheit der Abgrenzung dieses Gebietes — das nur
ja
ein Geltungsgebiet ist — hinausläuft.
Wenn das Recht als die Voraussetzung des Staates behauptet
wird, so stützt sich solche Annahme nicht so sehr darauf, daß der
Staat als besondere Rechtsordnung den Begriff einer Rechtsordnung
überhaupt voraussetze — ist doch die „Besonderheit" der als Staat
bezeichneten Rechtsordnung recht unsicher — sondern vielmehr
,
darauf, daß der Begriff der Rechtsordnung durch den des Rechtes
bedingt sei. In solcher Weise differenziert StammLer diese beiden
Begriffe. Allein es muß bezweifelt werden, ob mit Erfolg. „Das
Recht tritt überall als eine über dem Einzelnen stehende Ordnung
auf" sagt StAMMLER selbst und identifiziert hier — indem er das
3),
a. a. 0.
S.
S.
397. 396.
»)
») ")
Theorie, 0.
S.
a. a.
S.
239. 484.
») »)
»)
») a. a. 0. S. 335.
§ 26. Der Staat als besondere Rechtsordnung (Wundt). 149
§ 26.
Der Staat als besondere Rechtsordnung (WUNDt).
Die Anschauung, daß Staat und Recht zwar nicht identisch,
daß aber der Staat eine bestimmt qualifizierte Rechtsordnung sei,
wird neuestens auch von WUNDt vertreten. Dieser Gedanke ist das
Ergebnis der im Rahmen seiner „Völkerpsychologie" durchgeführten
Untersuchungen über „Die Gesellschaft" (Bd. VII und VIII) und „Das
Recht" (Bd. IX). Im Gegensatz zu anderen Soziologen hat WüNDt
das Problem des Staates ausführlich behandelt; ja man kann es
geradezu als das Kernproblem seiner Gesellschaftslehre bezeichnen,
die vom Staate ausgeht und in der Darstellung des Wesens des Staates
mündet. Es ist bedeutsam genug, daß ein durchaus psychologisch
orientierter Soziologe zu einer so ausgesprochen juristischen
Staatstheorie gelangt, daß seine Ergebnisse hier nur im Zusammen
hange mit denen juristischer Theoretiker behandelt werden müssen.
Und dieses Symptom kann durch den Einwand nicht in seiner Be
deutung geschmälert werden, daß ja auch das Recht und die Rechts
ordnung als sozialpsychische Realität aufgefaßt werden können.
Denn VVundts Staats- und Rechtslehre ist im Wesen die leider nicht
sehr kritische Wiedergabe gewisser, zum Teil sogar schon überholter,
spezifisch juristischer Theorien.
In seiner Gesellschaftslehre sagt WUNDt zwar, „daß Staat
nicht bloß eine »Idee«, sei es im platonischen, sei es im modernen
empirischen Sinne, sondern ein reales Gebilde
ist, das konkrete
Menschen als seine Träger umfaßt"
Der Staat ist ein „Gesamt
2).
wille" und als solcher „weder jemals mit einem durch Unterwerfung
a. a. 0.
S.
204/5.
')
Die Gesellschaft,
S.
Bd., 66.
»)
I.
150 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
3).
Bei solcher Auffassung des „Gesamtwillens" ist es nur selbstver
ständlich, daß der Staat als Willensorganisation, Organisation des
Rechtswillens, die Rechtsordnung sein muß. Wenn WUNDt dennoch
Staat und Recht nicht für identisch erklärt und Staats- und Rechts
ordnung als zwei verschiedene Wesenheiten betrachtet, so ist dies
nur darauf zurückzuführen, daß er im Banne der herrschenden juri
stischen Anschauungen und speziell der herrschenden Rechtstermino
logie befangen bleibt.
WUNDt beginnt seine Rechtslehre charakteristischerweise mit
einer Wesensbestimmung des Staates. Dabei geht er von zwei,
von allen Teilen der Gesellschaft nur dem Staate zustehenden Eigen
schaften aus: der Autonomie und der Autarkie. Unter „Auto
nomie" des Staates versteht WUNDt dasselbe, was man als Sou
veränität zu bezeichnen pflegt: die Eigenschaft, „vermöge deren er
in seinem Bestand von keiner äußeren Willensmacht abhängig ist"
4).
„Autark" ist der Staat, weil ihm „die genügenden Mittel zur Aus
führung seiner Entschlüsse aus eigener Kraft zu Gebote stehen"6).
„Eine weitere Eigenschaft", „die erst der Staat gegenüber den ihm
vorangegangenen Gemeinschaftsformen in deutlich ausgeprägter Weise
darbietet und die zumindest erst innerhalb des Staates zu
ihrer vollen Ausbildung gelangt", ist: „der einheitliche
Charakter, der das Handeln der Einzelnen wie der unter-
Das Recht, 0.
S. S.
6. S.
327. a. a. 333/34.
») »)
0. a. a. 0.
S.
a. a.
6.
§ 26. Der Staat als besondere Rechtsordnung (Wundt). 151
geordneten Verbände
regelnden Rechtsordnungen". Die
Rechtsordnung erscheint hier als ein Attribut oder als Funktion des
souveränen und hinreichend mächtigen Staates, innerhalb dessen
sie zur Ausbildung kommt. Jedenfalls sind Staat und Rechtsordnung
noch als zwei verschiedene Wesen anzusehen, denn sonst hätte WUNDt
ja gleich von Anfang an Autonomie und Autarkie statt der Staats
ordnung der Rechtsordnung zusprechen können. Später tut er dies ja.
Einstweilen aber sagt er: „Demnach ist es nicht das Recht an
sich, welches den Staat kennzeichnet, sondern eben jene Verbin
dung der in der Gemeinschaft geltenden also die all Rechte,
gemeine Rechtsordnung, die erst mit dem Staat in
die Geschichte eintritt"1). Staat und Rechtsordnung stehen
also nebeneinander, sind miteinander irgendwie verbunden. Daß
WUNDt zwischen Rechten und der Rechtsordnung unter
einzelnen
scheidet, das geht darauf zurück, daß er eine als naturrechtlich heute
beinahe schon allgemein fallengelassene Anschauung älterer Juristen
noch als selbstverständlich voraussetzt. Daß es nicht erst subjektive
Einzelrechte gibt, und daß sich nicht erst später aus der zusammen
fassenden Regelung dieser subjektiven Rechte die allgemeine Rechts
ordnung bildet, daß vielmehr ein subjektives Recht nur aus der
Rechtsordnung stammen, nur durch eine Rechtsordnung statuiert, ein
geräumt werden kann, darf heute wohl als communis opinio angesehen
werden. Das ist nur eine, wenn auch verhältnismäßig spät eingesehene
Konsequenz des Positivismus. Mit der Vorstellung eines subjektiven,
von der positiven Rechtsordnung, dem objektiven Recht, unabhängig
existenten Rechtes bringt das Individuum nur eine andere
Rechtsordnung, eine aus der Natur der Sache oder der Vernunft
abgeleitete oder sonstwie angeborene Rechtsnorm an das positive Recht
heran. Läßt man diese Vorstellung fallen, dann ist das sog. subjektive
Recht — so wie es heute bestimmt wird — das durch das objektive
Recht, die Rechtsordnung, geschützte Interesse, die von der objektiven
Rechtsordnung eingeräumte Willensmacht, jedenfalls etwas, was vor
der Rechtsordnung, ohne das objektive Recht kein subjektives
Recht wäre. Indes haften auch dieser Fassung des subjektiven
Rechts noch naturrechtliche Elemente an, auch das subjektive Recht
kann, wenn es Recht sein soll, wie das '„objektive" nur Norm
sein. Es geht nicht an, das „Recht" einmal als schützende Norm,
das andere Mal als geschütztes Substrat, einmal als Ordnung, das
andere Mal als Geordnetes gelten zu lassen. Zudem ist die „Objek
tivität" so sehr ein Wesensmerkmal des Rechtes, daß ein „subjek-
') a. a. 0. S. 10.
152 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
„Autarkie" ist ebenso nur relativ vorhanden wie heute selbst beim
größten Staat. Auch ist der Prozeß der Verschmelzung kleiner
Rechtskreise zu größeren noch im vollen Zuge und der Umstand,
daß man eine Rechtsordnung als „Staat" bezeichnet, kein Grund
dafür, sie einer Verbindung mit andern Rechtsordnungen oder „Staa
ten" nicht mehr für fähig oder bedürftig zu halten. Bundesstaat
und Völkerrechtsgemeinschaft sind hinreichende Beispiele.
Weil erst im Staate die Vereinheitlichung der vor dem Staat
existenten „Rechte" erfolge, sei es nicht zutreffend, meint WUNDt,
a. 0.
S.
a. 17.
')
§ 26. Der Staat als besondere Rechtsordnung (Wundt). 153
„wenn der Staat als Schöpfer des Rechts bezeichnet wird, sondern
es beruht die Auffassung sichtlich auf der Verwechslung von Recht
a. a.
S.
!)
335.
S.
12.
154 IDT. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
ja
1).
gegeben! Dannwieder, die vereinheitlichte Rechts
aber heißt es
„
Staates"2). „Aber auch auf die Entstehung einer einheitlichen und
autonomen Rechtsordnung" sei der Staat nicht zurückzuführen,
es sei denn, daß man diese Entstehung als „Entwicklung" begreift
und die Beziehung des Staatsganzen zu den in ihm enthaltenen relativ
autonomen Gesellschaftseinheiten nicht ignoriert. Immerhin scheint
es doch, daß der Staat als nichts anderes denn als eine höchste,
den Abschluß des Vereinheitlichungsprozesses darstellende, also auto
nome Rechtsordnung ausgebildetster Form anzusehen sei.
Allein in einem „Der Staat und die Rechtsordnung" überschrie-
benen Kapitel führt WUNDt folgendes aus „In einer langen, den
3):
größten Teil der politischen Geschichte einnehmenden und in dem
allgemeinen Bewußtsein wahrscheinlich nie ganz zur Vollendung
gelangenden Entwicklung schiebt sich der Einheit der Rechtsordnung
die Einheit einer Einzelpersönlichkeit unter, die als deren Träger
gedacht wird." Man sollte meinen, daß mit dieser anthropomorphen
Personifikation mit ihrem „Träger" der Staat
der Rechtsordnung,
gemeint sei. ist nicht der Fall. „Hierdurch tritt aber
Allein dies
diese Substitution eines Einzelwillens an Stelle einer der Rechtsord
nung selbst innewohnenden Willensmacht in enge Verbindung mit
einer anderen, analogen Substitution, an die sie ohnehin durch
das ihr Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft
entsprechende
geknüpft ist. Sie besteht darin, daß der Rechtsordnung der Staat
substituiert wird. Zwar trennt auch ihn noch ein weiter Abstand
von dem Individuum. Aber diese Kluft ist ungleich leichter zu
überbrücken, weil sie hier tatsächlich auf einer langen Strecke poli
tischer Entwicklung in der Tendenz zur monarchischen Staatsform
sich ausspricht. Hier empfängt dann diese Uebertragung eine reale
Grundlage in jener Autonomie und Autarkie des Staates, die über
seine Macht, Träger der in ihm bestehenden Rechtsordnung
zu sein, wesentlich hinausreicht, indem er nicht nur diese Macht,
namentlich in seinem Verkehr
mit anderen Staaten in besonderen
zu einzelnen Zwecken entstandenen Vereinbarungen oder selbständig
getroffenen Maßregeln betätigt, sondern indem er außerdem seine
eigene Rechtsordnung verändern kann." Von allen anderen Unklar
heiten abgesehen, bedenke man nur dieses der Staat, der eben früher
:
0. S. 11. 0.
S.
a. a. a. a. 12.
»)
») ')
a. a. 0.
S.
20.
§ 26. Der Staat als besondere Rechtsordnung (Wundt). 1 55
(!)
verändern kann. Man erwartet, daß WlJNBt all dies als Konse
quenzen einer unzulässigen Hypostasierung der Rechtsordnung ab
lehnt; leider vergebens. „Darin kommt zur Geltung, daß die Rechts
ordnung zwar ein notwendiges Attribut des Staates" — den WUNDt
einige Seiten vorher als eine »Rechtsordnung ausgebildetster Form«
bezeichnet hat! — „aber keineswegs mit diesem identisch ist."
,
Vordem wurde nur die Identifikation des Staates mit dem Rechte,
nicht aber mit der vom Recht angeblich verschiedenen Rechtsordnung
abgelehnt! „Als solche ermangelt sie selbst eben jener Autonomie
und Autarkie, die den Charakter der Gesamtpersönlichkeit nur dem
Staate und teilweise nur solchen Unterverbänden innerhalb des Staates
verleihen, die eine durch die staatliche Rechtsordnung gleichzeitig
geschützte und beschränkte Autonomie besitzen" Die Autonomie,
1).
die eben früher der Rechtsordnung zuerkannt wurde, wird ihr also
jetzt wieder aberkannt und nur dem Staate zugesprochen; freilich
aber sofort wieder zurückerkannt: „Hiermit beantwortet sich nun
schließlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Staat und Recht.
Da der Staat eine oberste, auf den höheren Stufen der politischen
Entwicklung allen anderen übergeordnete Rechts
ordnung ist" — also der Staat wieder eine autonome Rechtsord
nung! — „so kann er unmöglich das Recht ursprünglich geschaffen
,
der es
die Staat kennzeichnet, sondern dessen wesentliche Merkmale
den
bestehen in jener Autonomie des staatlichen Willens,
die ihm erst den Charakter einer Gesamtpersönlichkeit verleiht".
Hier sei daran erinnert, daß vor kurzem behauptet wurde, in der
Eigenschaft der Rechtsordnung, keine übergeordnete zuzulassen, sei
a. a. 0. S. 20.
')
156 HI. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
3).
Daß das Recht die „juristische Seite" des Staates sei, ist die bekannte
These der Zweiseitentheorie, die WUNDt hier gleichfalls akzeptiert
zu haben scheint. Während aber diese Theorie das psychologisch
reale Merkmal des Staates seine andere „Seite" sein läßt, wird bei
WllNDt das Recht zu einem „psychologischen" Merkmal der juri
stischen Seite des Staates! Damit ist wohl der Gipfelpunkt der
Verwirrung erreicht.
27.
§
a. 0.
S.
0. S. 0.
S.
a. a.
1.
1.
a. a.
')
!)
158 HL Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
') a. a. 0. S. 6.
§ 27. Der Staat als Rechtsordnung (Max Weber). 159
a. a. 0. 0.
S.
a. a.
S.
13. 13.
»)
')
160 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
') Weber. hebt mit Recht von der .Chance" eines bestimmten Handlungs
ablaufes und insbesondere auch von der soziologisch als .Staat" bezeichneten
Chance hervor, daß sie verschiedene Grnde haben könne, während ein Rechtssatz
entweder bestehe oder nicht bestehe (a. a. 0. S. 13, 14). Allein kann man
wirklich von einem Staate, von jener Ordnung, die den Durchschnittsinn der
meisten Urteile über den Staat bildet, sagen, daß er bald mehr, bald weniger
existiere? Für den Staat, der den Gegenstand der Staatslehre bildet, gilt
durchaus die Alternative, die Weber für die Soziologie ablehnt und für die
Geltung der Rechtsnormen feststellt. 2) a. a. 0. S. 16 ff.
§ 27. Der Staat als Rechtsordnung (Max Weber). 161
hauptet wird — das deutende Verstehen einer Handlung mit ihrer ursächlichen
Erklärung identisch. Indem ich die Rechtsordnung als Deutungsschema ver
wende, kann ich zahlreiche Handlungen — als an der Rechtsordnung orien
tiert, der Rechtsordnung entsprechend — deutend verstehen. Das Deutungs
prinzip ist ein einheitliches, die Motive aber — die Ursachen also — aus
,
Kelsen, Staatabegriff. 11
162 DL Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
was
2),
a. a. 27, 28.
«)
')
§ 27. Der Staat als Rechtsordnung (Max Weber). 163
eingestellten
2).
a. a. 0. 0.
S.
S.
17. a. a. 17.
»)
»)
11*
164 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
geradezu
„Verband soll eine nach außen regulierend beschränkte oder
geschlossene Beziehung dann heißen, wenn die Innehaltung
soziale
ihrer Ordnung garantiert wird durch das eigens auf deren Durch
führung eingestellte Verhalten bestimmter Menschen: eines Leiters
und eventuell eines Verwaltungsstabes, der gegebenenfalls
normalerweise zugleich Vertretungsgewalt hat" Danach muß das
3).
a. a.
S.
a. 18. a. 23.
»)
») ')
a. a. 0. 26.
§ 27. Der Staat als Rechtsordnung (Max Weber). 165
0. S. 0.
S.
'')
a. a. 26. a. a. 27/28.
2)
a. a. 0. S. 26.
3)
166 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
öffentlichen und dem sog. privaten Recht ausdrückt, ist bei WEBER
leider einfach ins Soziologische übertragen. „Im allgemeinen . . . .
fällt der Verwaltungs- und Regulierungsordnung mit dem
die Grenze
zusammen, was man im politischen Verband als »öffentliches« und
»Privatrecht« scheidet"1). Die verstehende Soziologie bildet ihre
Begriffe im engsten Anschluß an die Jurisprudenz.
„Betrieb soll ein kontinuierliches Zweckhandeln bestimmter
Art, Betriebsverband eine Vergesellschaftung mit kontinuierlich
zweckhandelnden Verwaltungsstab heißen" Demnach muß das
2).
Recht wohl auch als ein Betriebsverband gelten, da
ja
die
Kontinuität des Verbandshandelns des Erzwingungsstabes bei einer
auf die Chance des Handlungsablaufs eingestellten Betrachtung selbst
verständlich ist.
„Anstalt soll ein Verband heißen, dessen gesatzte Ordnungen
innerhalb eines angebbaren Wirkungsbereiches jedem nach bestimmten
Merkmalen angebbaren Handeln (relativ) erfolgreich oktroyiert werden
kann."„Oktroyiert" heißt: eine „nicht durch persönliche freie Ver
aller Beteiligten zustande gekommene Ordnung"3).
einbarung Die
Rechts Ordnung ist demnach — sofern sie gesatzt ist — eine
Anstalt und mit Beziehung auf die Kontinuität der Tätigkeit des
Erzwingungsstabes: ein Anstaltsbetrieb. (Nebenbei bemerkt, scheint
es recht willkürlich, den Anstaltscharakter von der Enstehungsart
:
Satzung oder Gewohnheit, abhängig zu machen ist nicht gerade die
;
traditionale, nicht
gewohnheitsmäßig gewordene
gesatzte, sondern
Rechtsordnung ihrem Wesen nach „oktroyiert"?)
„Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl be
stimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden"
4).
a. a. a. 27.
»)
')
*) ')
0. a. 0. S. 29.
S.
a. a. 28. a.
»)
168 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
mit dem Staat, zumindest aber der Staat eine Rechtsordnung. Denn
:
Ordnung
andere
d.
geltende, jede
zu sein beansprucht. Daß dieser Monopolcharakter die Eigenschaft
jedes selbständigen Normensystems ist, habe ich in anderem Zu
sammenhange nachgewiesen. Das gleiche gilt von der Eigenschaft
der Legitimität. Ihrem Sinngehalte nach muß jede Ordnung
als „legitime" gelten wollen. Das liegt im Begriffe des Geltens
und zwar im normativen ebenso wie in dem „Wirksamkeit" bedeu
tenden faktischen. Im übrigen identifiziert Weber selbst „Legi
timität" mit „Vorbildlichkeit oder Verbindlichkeit also mit einem
"
3),
0. 0. 0.
S. S.
a. a. 29. a. a. S. 29. a.
S.
a. 16.
»)
ä) -)
<) ')
0. 0.
S.
a. a. 17. a. a. 30.
§ 27. Der Staat als Rechtsordnung (Max Weber). 169
1).
Aus der hier durchgeführten kritischen Analyse der relevanten Grund
begriffe der „ verstehenden Soziologie" geht hervor, daß WEBER sich
nicht hätte vorsichtig — die Frage nach dem Verhältnis von Staat
und Recht offen lassend — darauf beschränken müssen, zu sagen:
für den Staat ist eine Verwaltungs- und Rechtsordnung charakteri
stisch; sondern der ganze Aufbau des WEBEEschen Begriffssystems
drängt geradezu zu der Erkenntnis: der Staat ist eine Rechtsordnung.
Damit ist die Staatssoziologie als Rechtslehre enthüllt. Daran kann
der stete Bezug auf die Faktizität, die spezifische Einstellung auf
die Frage nach der Chance eines Ablaufs von Handlungen mit dem
Sinngehalt „Staat" (oder Recht) nichts ändern. Die primäre, wahr
haft grundlegende Bedeutung des normativen Rechtsbegriffs ist
gerade in der Methode der „verstehenden" Soziologie unverlierbar
festgehalten. Denn diese ist auf den Sinngehalt des Handelns
gerichtet, und der stellt sich dort, wo die Untersuchung auf den Staat
zielt, immer wieder nur als der Gedanke des Rechts als
einer Zwangsnorm heraus. In diesen immanenten Sinn muß
sich die verstehende Soziologie versenken, den spezifischen Stand
punkt der Rechtsbetrachtung muß sie sich zu eigen machen, soll sie
die Handlungen deuten können. In diesem immanenten, spezifisch
juristischen Sinne liegt alles beschlossen, was diese Soziologie über
a. a. 0. S. 30.
')
170 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
§ 28.
Der Staat als Rechtsverhältnis (LOENING).
Verhältnismäßig sehr nahe einer Identifikation von Staat und
Recht sind jene Theoretiker gekommen, die den Staat als Rechts
verhältnis Als
ihr typischer Repräsentant kann
erklären.
EDGAR LOENING gelten, kurze Darstellung der Allgemeinen
dessen
Staatslehre (unter dem Schlagwort „Staat" im Handwörterbuch der
Staatswissenschaften, Bd. VII) zu dem besten gehört, was die neuere
Literatur aufzuweisen hat. Er sagt, der Begriff des Staates „kann
nur ein Rechtsbegriff sein. Denn was den Staat zum Staat
macht, Rechtsnormen, durch welche die Herrschergewalt und
sind
das Volk im Verhältnis der Ueber- und Unterordnung verbunden sind.
Denken wir uns diese Rechtsnormen weg, so fällt der Begriff des
Staates in sich zusammen" Aus dem System der Rechtsbegriffe
!).
LOENINGs Ge
dankengänge unbewußt gerichtet sind, bedeutet dies den Versuch,
den Staat als Teilrechtsordnung, als öinen speziellen Komplex von
Rechtsnormen zu bestimmen. Denn das „Rechtsverhältnis" ist für
eine juristische Betrachtung nichts von den es „begründenden" Rechts
nonnen verschiedenes. Wenn LOENING meint, „ein Rechtsverhältnis
aber ist eine durch Rechtsnormen geordnete Beziehung von Menschen
zu Menschen, zwischen Berechtigten und Verpflichteten" so ver
2),
0. S. O.
S.
a. a. 694. a. a. 702.
»)
')
172 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
schließlich zu dem Dualismus von Recht und Staat, der ein Spezial
fall dieses Dualismus von Hecht und rechtlich Geordnetem ist. Das
„ Rechtsverhältnis" wird nicht, wie man zu sagen pflegt, durch die
Rechtsnorm „geschaffen", sondern ist die Rechtsnorm. Und wenn
der Staat ein spezielles Rechtsverhältnis sein soll, dann ist er nicht
ein vom Recht geordnetes besonderes Lebensverhältnis, was ja zu
der Annahme führt, der Staat sei ein vom Recht unabhängiges,
„reales Wesen, ein Seinsfaktum, zu dem das Recht — später —
8
die Klage des Gläubigers — und zwar einseitig, nicht vertragsmäßig — ver
pflichtet wird, gegen den säumigen Schuldner Exekution zu führen, bestünde
zwischen Kläger und Staat ein „Gewaltverhältnis", in welchem Gewaltunter
worfener — der Staat wäre!
174 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
') a. a. O. S. 709.
§ 28. Der Staat als Rechtsverhältnis (Loening). 175
warum bezeichnet er das Gebiet, für das alle Gewalt, ja alle Rechts
verhältnisse gleicherweise Geltung beanspruchen, gerade mit dem
Namen eines speziellen Rechtsverhältnisses ? Das Staats gebiet ist
offenbar das Rechts gebiet und Staat und Recht offenbar identisch,
wenn LOENING damit den Geltungsbereich benennt. Diese Identi-
') S. 694.
176 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
fikation ergibt sich aber auch aus der Art und Weise, in der LOENING
das scheinbar spezielle Rechtsverhältnis „Staat" gegenüber den an
deren Rechtsverhältnissen zu charakterisieren sucht. Er sagt: „Ist
demnach die Staatsgewalt nicht die einzige rechtliche Gewalt im
Staatsgebiet, so ist sie doch diejenige, die alle anderen rechtlichen Ge
waltverhältnisse aufrecht erhält. " Allein gemeint ist eigentlich : „alle
anderen Rechts verhältnisse aufrecht erhält". Das geht nicht nur
daraus hervor, daß LOENING hinzufügt: „der alle Menschen im Staats
gebiet unterworfen sind", vor allem aus der Bedeutung, in
sondern
der von dem Staate behauptet wird, daß er angeblich nur die Ge
waltverhältnisse „aufrechterhalte", „um den Willen Einzelner, der
sich gegen das Recht auflehnt, zu beugen". Gegen das
„Recht" schlechtweg. Die Staatsgewalt hat also alle Rechtsverhält
nisse „aufrecht zu erhalten", kann also nicht selbst ein spezielles
Rechtsverhältnis sein. Sie ist, trotz der gegenteiligen Behauptung
LOENINGs, nach seiner eigenen Ausführung die einzige rechtliche
Gewalt im Staatsgebiet; denn aus der „Anerkennung durch diese
Gewalt" holen alle andern „ Gewalt "verhältnisse, ja alle Rechtsver
hältnisse ihre „Gewalt", da die „Staats "gewalt es doch ist, die den
jedes Gewaltverhältnis begründenden „Gehorsam" letztlich be
gründet; wie ja auch alle Gewaltverhältnisse, ja überhaupt alle Ver
hältnisse nur durch die Staats „gewalt" zu Rechtsverhältnissen
werden. Diese „Staatsgewalt" ist einfach die Hypostasierun g des
Inbegriffs aller Rechtsverhältnisse: der Rechtsordnung; sie tritt ver
doppelnd „hinter" das Recht, dessen Erfüllung sie als „Macht" oder
„Gewalt" garantiert. Es ist im Wesen der gleiche Gedankengang
wie bei JELLINEK, nur daß der Staat nicht als hypostasierte Rechts-
p e r s o n , sondern als hypostasiertes Rechts verhältnis erscheint.
Der Unterschied ist — ungeachtet der scharfen Polemik LOENINGs
gegen die Persönlichkeitstheorie — nicht groß.
Trotz einiger guter
Bemerkungen über das Wesen der Personifikation hat LOENING sich
dennoch des gleichen Fehlers schuldig gemacht wie JELLINEK: er
hat ein Gedankending, eine Hilfsvorstellung real gesetzt. Sein
Haupteinwand gegen die Anschauung des Staates als Person ist die,
daß der Staat keine bloße „Vorstellung" sein könne1). Der Staat
besitze „Realität so gut wie der einzelne Mensch", sagt LOENING,
dabei GlERKE ausdrücklich zustimmend. Allein er fügt hinzu : „aber
der Staat ist nicht ein reales Lebewesen, eine reale Substanz. Als
solche ist er kein Gegenstand möglicher Erkenntnis, sondern er ist
real als ein Verhältnis von Menschen zu Menschen"2).
„Real" „so gut wie" der Mensch und doch nicht real „wie" der
Mensch ? Daher rührt denn LOENINGs Begriffsbestimmung des Staates
als „reales Rechtsverhältnis". Allein ist ein Rechtsverhältnis
etwas anderes als eine Vorstellung? Hat der Staat als Rechts
verhältnis „außerhalb der Vorstellungen der Menschen irgendeine
reale Existenz"? Daß er eine solche Existenz als bloße Person
nicht habe, eben das führt LOENING gegen die Persönlichkeits
theorie an. Kann der Staat als Rechtsverhältnis „Träger von Rechten
und Pflichten" sein, während er es — wie LOENING sagt — als
Person, als bloße Vorstellung nicht sein könne, da nur physische
Menschen von der Rechtsordnung berechtigt und verpflichtet werden?
LOENING verwechselt hier die beiden Bedeutungen, in denen Pflichten
und Rechte, das einemal auf den Menschen, das anderemal auf die
Person bezogen werden.
Weil die „Realität", die LOENING dem Staat zuerkennt, die
Realsetzung eines Gedankendings ist, gerät auch seine Theorie, die
von trefflichen Anfängen ausgeht, zum Schlusse doch in den üblichen
wüsten Wirrwar von Widersprüchen : was den Staat zum Staate
mache, sei das Recht, denke man sich das Recht weg, falle der Be
griff des Staates in sich zusammen. Aber: der Staat ist ein spe
zielles Rechtsverhältnis, also „ setzt er den Begriff des Rechtes vor
») Staatslehre, S. 333.
Kelten, Stantshegriff. 12
178 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
9. Kapitel.
Die Ausscheidung des Gewaltelementes ans dem Staatsbegriff.
§ 29.
Die Ueberflüssigkeit des Staatsbegriffs (AffOLter).
Zu jenen Theoretikern, die das Recht als Voraussetzung des
Staates begreifen wollen, gehört auch der Schweizer AFFOLtER2).
Er lehnt mit besonderem Nachdruck die Ansicht ab, daß der Staat
die Rechtsordnung aufstelle und aufrechterhalte. „Das würde voraus
setzen, daß Staat und Recht sich einander gegenüberstehen, der Staat
wäre da vor dem Recht und würde das Recht schaffen, das neben
dem Staate einherginge. Diese Auffassung ist nicht zutreffend"
s).
„Daran ist . festzuhalten, daß das Recht zum Wesen des Staates
.
.
selbst gehört und nicht ein für sich und neben dem Staat bestehendes
Produkt desselben ist" Allein die eigene Anschauung AFFOLtERs
*).
a. a. 703.
») *)
Auf
die Bedeutung AFFOi/rEKs hat erst kürzlich Sander, Alte und
neue Staatsrechtslehre, Zeitschr. für öffentl. Recht, II. Bd., 183 ff. aufmerk
S.
sam gemacht.
Studien zum Staatsbegriff. Arch. öffentl. XVII.
») »)
d.
S.
a. a. 133.
§ 29. Die Ueberflüssigkeit des Staatsbegriffs (Affolter). X79
1).
die Kategorie von Ursache und Wirkung verwenden kann, ohne das,
was man als Ursache bezeichnet, dem, was man als Wirkung an
sieht, vorausgehen zu lassen, die Ursache die Wirkung „erzeugen"
zu lassen, ist unverständlich. Ein offener Widerspruch ist es
aber, wenn AFFOLtEE erst gegen die Anschauung polemisiert: „das
Staatssubjekt macht die Gesetze, setzt das Recht", und auch die
Theorie der gleichzeitigen Entstehung von Staat und Recht ab
lehnt, „Staat und Recht entständen miteinander als Zwillinge"
und dennoch selbst beide Anschauungen vertritt. So spricht er
gelegentlich von einem „von den betreffenden Staaten aufgestellten
Privatrecbt" und erklärt in seiner allgemeinen Theorie der Körper
2)
:
eigene Körperschaftsrecht entsteht gleichzeitig
mit der Körperschaft.... Es wird nicht etwa zuerst die
Körperschaft begründet und dann das Recht. Das eigene Körper
schaftsrecht ist Bestandteil der Körperschaft selbst, es be
wirkt die Organisation und damit den Verband."
Vorher hieß es: „Ein Organismus, der nur Rechtsorganismus ist,
ist die Körperschaft. Wir haben hier eine Rechtsorganisation"
3).
Zur Lehre von der Persönlichkeit des Staates, Arch. öffentl. Rechts,
d.
')
S. 380. 129.
4) »)
a. a. 0. Archiv, XX,
S.
375.
S.
101.
6) »)
').
neben den Menschen
meint, begeht er den ersten Grundfehler,
der alle andern sich zieht. Die Körperschaft ist eine Ordnung,
nach
die menschliches Verhalten zum Inhalt hat, eine Summe von Normen,
die ohne diesen Inhalt keine Normen, ein leeres Nichts wären.
Hier steckt schon ein unheilbarer Dualismus. Die Menschen"
„
haben mit der Körperschaft gar nichts zu tun. Nicht aus „Men
schen" — das sind biologisch-psychologische Einheiten — sondern
,
aus menschlichen Handlungen setzt sich der Inhalt der Körperschaft
zusammen. Demgemäß muß AffOLter auch den konventionellen
Irrtum aussprechen: „Der Staat besteht aus einzelnen Menschen"
2),
und muß seine Definition des Staates auf diese Menschen abstellen,
statt auf die Rechtsnormen, was er tun müßte, wollte er den eigent
lichen Sinn seiner instinktiven Ablehnung des Dualismus von Staat
und Recht erfüllen. Der Staat ist die zur Ermöglichung eines
„
3).
nition ist aus mehr als einem Grunde sehr unglücklich. Daß die
organisierte Bevölkerung den Zweck hat, ein geordnetes, d.h.
organisiertes Zusammenleben zu ermöglichen, ist, abgesehen von
allem anderen, eine Tautologie. Daß das Zusammenleben „gedeih
lich" und „geschützt" sein müsse, sind subjektive Zutaten, die besser
wegbleiben. Der Rest Der Staat ist eine rechtlich organisierte
:
meinschaft, in welcher jedes einzelne Glied als Subjekt von Rechten und
Pflichten steht." Damit wird „eine Verbindung und damit nach außen ein
Verband bewirkt". Obgleich soeben erklärt wurde, daß es die Gesamtheit der
Rechtssätze, h. die einheitliche Rechtsordnung ist, die den Verband bewirkt,
d.
S.
193. 374.
>) »)
»)
1).
„Wille" doch offenbar nur der Rechtswille sein kann, da die
Handlungsfähigkeit des Staates nichts anderes sein kann als der
Ausdruck für die Zurechnung der Rechtsakte, Organakte, die Be
ziehung der durch die „Organe" zu erfüllenden Pflichten und Rechte
auf die Einheit der Rechtsordnung, muß dieses Subjekt wohl als
Rechtssubjekt oder Person gelten. Allein AffOLtER zieht diese
Konsequenz noch nicht. Es sei eine „allgemeine, nicht speziell juri
stische Betrachtungsweise", die uns den Staat als „geschlossenes
Ganzes erscheinen läßt"2). Wenn der Staat „Rechtssubjekt", „Rechts
persönlichkeit" ist, so kann er dies nicht nach seinem eigenen „in
neren" Recht, sondern nur nach Völkerrecht sein. „Nach dem eigenen
Rechte des Staates vermag sich letzterer weder zu berechtigen noch
zu verpflichten" „Der Staat ist Rechtssubjekt nach Völkerrecht.
3).
Nicht aber ist es das innere positive Recht des Staates, welches den
Organismus zum Rechtssubjekt macht, ihm die Eigenschaft der
Rechtspersönlichkeit gibt. Dieses innere eigene Recht des Staates
vermag die Anerkennung der Einheit als Rechtssubjekt nicht anzu
ordnen, weil dieses Recht selbst zur Substanz der Einheit ge
hört"
4).
S.
125. a. a. 125.
»)
')
a. a. 0. 0. S.
S.
131. a. a. 130.
*)
»J
182 III. Kritischer Beweis der Identität Ton Staat und Recht.
1).
von der als Hilfsbegriff juristischer Erkenntnis fungierenden Staats
person, von der Personifikation
der Rechtsordnung kann man sagen,
daß sie Pflichten und Rechte „habe", daß die Rechtsordnung Pflichten
und Rechte des Staates statuiere. AFFOLtER sagt es selbst, wenn
er von Pflichten und Rechten der „Organe" und „Glieder" spricht.
Wessen „Organ" oder „Glied"? Des Staates doch wohl! Indem
nun Pflicht oder Berechtigung als solche eines „Organes" aufgefaßt
wird, wird sie als Pflicht oder Berechtigung des Organismus vor
gestellt, die Funktion des Teils muß aufs Ganze bezogen werden.
In der Qualifikation als „Organ" liegt nichts und auch gar nichts ja
anderes als der Bezug aufs Ganze, die Zurechnung zur Einheit.
Von Pflichten und Rechten Pflichten und
der Organe zu sprechen,
Rechte des Staates aber für unmöglich zu erklären, ist ein Wider
spruch in sich selbst. Und so kühn und bahnbrechend die Auf
forderung AFFOLtERs wäre: „den Begriff des Staates bei Darstellung
des positiven Rechts (Staatsrechts wie de3 übrigen Rechts) eines
Staates verschwinden zu lassen" wenn er den Staat als bloße
2),
a. a. 0. S. 180.
*)
§ 29. Die Ueberflüssigkeit des Staatsbegriffs (Affolter). 183
1).
AffOLter übersieht hier einfach, daß mit der Zurechnung dieser
Funktionen zum Staate nichts anderes ausgedrückt wird als die
Sy m einh eit, und daß er selbst dem Bedürfnis nach solchem
e
t
s
(!)
fassung im Wege und degradiert die leitenden und verantwortungs
vollen Männer im Staate zu bloßen Figuranten herab" Käme
2).
diese Behauptung nicht aus der löblichen allerdings hier stark
,
,
über das Ziel schießenden Tendenz einer Auflösung der Hypostasie-
rung des Staates, wäre man versucht, dahinter eine politische Ten
denz zu vermuten.
Weil AffOLter nicht einsieht, daß die Staatsperson, gegen
die er polemisiert, nicht vom Recht „verliehen" wird,
überhaupt
kommt er zu der seltsamen Annahme, daß sie dem „Staate" vom
Völkerrecht verliehen werden müsse. Er meint, das Völkerrecht,
nicht aber das eigene Recht des Staates könne diesen verpflichten
und berechtigen. Das eigene staatliche Recht verpflichte und be
rechtige nur die Organe und Glieder Staates. Aber auch das
des
Völkerrecht verpflichtet und berechtigtnicht den Staat als solchen,
sondern Menschen, deren Handlungen auf Grund der staatlichen
Rechtsordnung — einer Teilrechtsordnung im Verhältnis zum Völker
recht — eben der Einheit dieser Teilordnung zugerechnet werden.
(Hier spielt der schon früher betonte Doppelsinn von Pflichten und
Rechten der Menschen neben Pflichten und Rechten der Person eine
entscheidende Rolle.) Setzt man aber das Völkerrecht als eine über
den einzelstaatlichen Rechtsordnungen stehende Universalrechtsord
nung voraus, dann fließen alle in der einzelstaatlichen Rechtsord
nung statuierten Pflichten und Rechte letzten Endes aus dem Völker
recht, so daß der ganze prinzipielle
Unterschied, den AFFOLtER
zwischen dem „inneren" Recht des Staates, das angeblich nur die
Organe und Glieder des Staates berechtigt und verpflichtet, und
dem „äußeren" Recht des Staates, als welches das den Staat
berechtigende und verpflichtende Völkerrecht fungiert, in sich zu
sammenfällt.
Archiv, XX,
S.
S.
Person ist der Staat, sofern man die sog. staatliche Rechts
ordnung, sei es als Universalrechtsordnung
(Primat der einzelstaat
lichen Rechtsordnung), sei es als Teilrechtsordnung (Primat der
Völkerrechtsordnung), personifiziert. Auch wenn man die einzel
staatliche Rechtsordnung in dem übergeordneten Völkerrecht be
gründet, ist der Satz falsch, den AFFOLtER
— übrigens im Wider
spruch zu seiner eigenen Staatsdefinition — aufstellt: „Der Staat
ist Staat, nicht weil sein Recht es so sagt, sondern weil er nach
völkerrechtlicher Anschauung Staat ist." Denn AFFOLtER versteht
darunter, daß der Staat erst durch das Völkerrecht Persönlichkeit
erhält. Dagegen ist sehr zutreffend, was AffOLtER über den Be
"
griff der Staats„ gewalt ') und seinen spezifisch politischen Charakter
sagt. Daß AffOLter den Gewaltbegriff aus der Rechtssphäre aus
zuscheiden bemüht ist, wird sicherlich sein dauerndes Verdienst
bleiben.
§ 30.
Die Rechtsstaatstheorie (Krabbe).
Die Eliminierung des „Gewalt "dementes aus der Begriffsbe
stimmung des Staates ist stets die Konsequenz der Annahme, daß
das Recht die Voraussetzung des Staates sei. Ein typischer Reprä
sentant dieser Anschauung ist auch der Holländer KRABBE, dessen
Staatslehre hauptsächlich aus der Kritik der deutschen Machtstaats
theorie herausgewachsen ist und den Begriff des Rechtsstaates
zur Grundlage hat „Jede Gewalt, welche in der Gesellschaft Gel
2).
auch gibt. Hier entsteht aber die Frage, wie das Recht eine selb
ständige Gültigkeit dem Staate gegenüber besitzen kann, da doch
die Bildung des Rechts in steigendem Grade vom Staat ausgeht"
3).
1),
so
hält er dennoch an einer selbständigen Wesenheit des Staates gegen
über dem Rechte fest, bleibt ihm die — eine widerspruchslose Staats
theorie allein ermöglichende — Erkenntnis der Identität von Staats
und Rechtsordnung versagt Der Grund hiefür liegt nicht nur
2).
entwickelt oder nicht; und diese Auffassung hat letztlich ihren Grund
darin, daß er nicht von
positivistischen,
einer sondern von einer
naturrechtlichen Rechtsanschauung ausgeht.
2.
S.
Staatsidee,
1)
für internat. Recht, XXIX. Bd., S. 85) meint, daß Krabbe so wie ich im Staate
nichts anderes als eine Personifikation der Rechtsordnung sehe. Der grund
satzliche Unterschied zwischen KRabbes — im übrigen sehr widerspruchs
voller, keineswegs einheitlicher — Auffassung des Verhältnisses von Staat
und Recht und meiner Theorie geht aus dem Texte hervor. Vgl. dazu auch
die ausführliche Kritik der KBABBEschen Lehre in meinem Problem der
,
souveränität, 246.
186 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
1).
pflichtungslehre ausgedrückt: „Es kommt in letzter Linie darauf ...
an, ob nach der Anschauung einer bestimmten Zeitepoche der Staat
selbst abstrakten Willenserklärungen
durch seine gebunden ist
oder nicht und, wenn er gebunden ist, in welchem Maße solche Bin
dung besteht. Diese Frage ist aber eine historische,
mit keiner allgemeingültigen Formel zu lösende" Und weil dies
2).
eine historische Frage sei, so könne der Staat nicht schlechthin ein
Rechtsbegriff sein, es gäbe eben Rechtsstaaten und solche, die es
nicht sind, „solche, die sich durch ihr Recht binden und solche, die
es nicht tun". Seltsamerweise versucht man aber auch die Nicht-
rechtsstaaten als Rechtsbegriffe juristisch zu begreifen Aber was
3)
!
ist denn dieser Staat", der das eine Mal sich durch sein Recht bindet,
„
gebunden sei, gemeint sein, daß der Mensch oder die Menschen, die
zur Erlassung der Rechtsnormen berufen sind, diese Rechtsnormen
jederzeit ändern können Das gilt in der Regel von jeder Rechts
?
JeLLineK, Staatslehre,
S.
613.
») ») ')
JeLLineK, a. a. 0. S. 371.
Speziell JeixineK, a. 0. MenzeL im Handbuch der
S.
a. 371 gegen
Politik, S. 41.
I,
§ 30. Die Rechtsstaatstheorie (Krabbe). 187
Menschen oder diesen Menschen identisch sein, die den Inhalt der
Rechtsordnung zu bestimmen haben? Diese Menschen sind ja nur,
sofern sie ihre Rechtscrzeugungs- (oder -erhaltungs-) Funktion erfüllen,
der „Staat" bzw. Organe des Staates und nicht, soferne sie von der
Rechtsordnung eximiert sind. —
Es kann somit keinen Staat geben, der nicht an seine Ordnung
gebunden, von dieser Ordnung frei ist, weil — sofern die Vorstel
lung eines an seine Ordnung gebundenen Staates, aus der Hypo-
stasierung befreit, einen Sinn hat — der Staat diese Ordnung selbst
ist, nichts anderes sein kann als Ordnung, die Vorstellung
eines von „seiner" Ordnung befreiten Staates ein Widerspruch in
sieb, selbst ist. — Soferne aber diese Ordnung nur die Rechtsord
nung sein kann, ist ein anderer Staat als ein Rechtsstaat gar nicht
denkbar, das Wort Rechtsstaat ein Pleonasmus. Ein „Staat, in dem
Gesetze herrschen", sagt die erste Definition. Wenn keine Gesetze
herrschen, sondern Willkür, dann besteht eben Anarchie, dann
ist eine Einheit in der Vielheit der Menschen und menschlichen
Verhältnisse nicht vorstellbar, ein Staat nicht vorhanden. Zumindest
das eine Gesetz, die eine Regel wird doch
immer vorausgesetzt,
daß geschehen solle, was irgend jemand befiehlt. Man denkt ja bei
dem Nichtrechtsstaat speziell an die absolute Monarchie, die Despotie.
Aber auch diese hat eine spezifische Ordnung, ist nur als spezifische
Ordnung denkbar. Die Regel, daß Zwang nur geübt werden solle,
wenn und wie der Despot befiehlt, ist ebensogut eine Rechts-
regel wie die, daß Zwang nur geübt werden solle, wenn und wie
die Volksversammlung es beschließt. Beides sind — vom Standpunkt
eines positiven Rechtsbegriffes — gleichwertige Ursprungs-
hypothesen.
Hier aber liegt der entscheidende Punkt! Ethisch-politische
Vorurteile sind es, die den Staats- und Rechtstheoretiker diese
beiden Ursprnngshypothesen nicht als gleichwertig, nicht beide
als Rechts hypothesen erscheinen lassen. Man geht — meist
unbewußt — von einem naturrechtlichen Rechtsbegriff aus.
Man begnügt sich nicht, unter Recht eine souveräne Zwangsordnung
zu verstehen, deren individueller Inhalt und systematische Einheit
durch eine spezifische Erzeugungsregel bestimmt wird; man schränkt
den Begriff des Rechtes dadurch ein, daß man darunter nur eine
Zwangsordnung verstehen will, die durch eine bestimmte Erzeugungs
regel ihren Inhalt erhält, etwa in der Weise, daß an der Bestimmung
des Inhalts der Rechtsordnung die ihr Unterworfenen irgendwie be
teiligt sein müssen. Das ist Naturrecht oder — was dasselbe ist —
die Verunreinigung des formalen Rechtsbegrifls durch ethisch-poli
III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
a. a, 0. 0.
S.
3.
S.
a. a. 14.
2)
')
§ 30. Die Rechtsstaatstheorie (Krabbe). 189
sei eben die des Rechtes. Und in demselben Maße, als die
Obrigkeit dem „Gesetz", das ist dem Beschlusse der Volksver
tretung unterworfen wird, realisiert sich die Idee des Rechtsstaates,
das ist die Idee der dem Volksiecht unterworfenen Obrigkeit. „ Voll
') a. a. 0. S. 36.
190 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
"
berufenen Organe als „ Obrigkeit bezeichnet werden sollen. Sind nicht
das vom Volke gewählte Parlament, der vom Volke gewählte Präsi
dent, die vom Parlamente gewählte Regierung ebenfalls „Obrigkeit",
d. h. Menschen, deren Willensäußerungen in bestimmten Schranken
von der Rechtsordnung für andere Menschen für verbindlich erklärt
sind? Der Gegensatz, den Krabbe zwischen Recht und Obrigkeit und
damit — wenigstens für gewisse Entwicklungsperioden — zwischen
Recht und Staat erblickt, ist nur der Unterschied zweier verschiedener
Rechtserzeugungsmethoden, der demokratischen und der autokratischen ;
und dieser Unterschied zweier Rechts formen ist identisch mit dem
Unterschied zweier Staats formen ! Historisch mögen immerhin
beide Formen miteinander im Kampfe gestanden haben. Von dem
systematischen Standpunkte einer Staatslehre ist es jedoch aus
geschlossen, zu behaupten, daß —
irgendeiner Zeit — „zwei
zu
verschiedene. nicht aufeinander zurückfuhrbare Gewalten", nämlich
die Gewalt allein als Recht angesehenen Volksrechts und die
des
u
j
Untersuchungen, denen man das Zeugnis ausstellen muß, daß sie in
relativ hohem Maße den üblichen Synkretismus, die Vermengung
juristischer mit politischen und psychologisch-soziologischen Gesichts
punkten, vermieden haben. WENZEL geht vom Begriff des Gesetzes
und der Gesetzesgemeinschaft aus. Versteht man unter „Gesetz"
nicht — wie dem Sprachgebrauch entspricht — nur eine bestimmte,
aus politischen Gründen gerade in der konstitutionellen Monarchie
besonders bedeutungsvolle Stufe der Rechtserzeugung oder Rechts-
konkretisation, sondern das Recht auf allen seinen Stufen, in allen seinen
Erscheinungsformen allgemeinsten bis zur letzten
von der höchsten,
:
180.
')
192 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
1).
Das erhellt aus dem von WENZEL Gesagten aber nur insofern,
als dort die „Gemeinschaft" unter die Kategorie „Mensch" ver
schoben wird. Daß es sich dabei um eine Verschiebung
handelt, zeigt deutlich die Unsicherheit und Inkonsequenz, mit der
WENZEL fortfährt: „Sie ist zwar nichts sinnlich Wahrnehmbares,
aber doch eine aus physischen und psychischen Tat
sächlichkeiten herauszudenkende Erscheinung.
"
(!)
0. 0. S.
S.
Kelsen, Staatsbcgriff. 13
194 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
system,
ordnung identisch. Er glaubt, den Staat in diesem Sinne von anderen
Bedeutungen des Staates ausdrücklich unterscheiden zu sollen und
schlägt vor, hier lieber von „Staatsgemeinschaft" oder „Staatsver
band" als von „Staat" schlechthin zu sprechen. Als ob nicht ge
rade mit dieser Bedeutung das Wesen des Staates, der wesent
lich ein „Verband" oder eine „Gemeinschaft" ist, erfaßt wäre.
Alle anderen Bedeutungen des Wortes Staat sind aber entweder nur
Umschreibungen dieser Grundbedeutung oder mehr oder weniger zu
fällige Modifikationen. Ist nachzuweisen, daß Rechtsgemeinschaft
und Rechtssystem (Rechtsordnung) dasselbe ist, dann bedeutet Wen
zeLs Erkenntnis von der Identität des Staates mit der Gesetzes
gemeinschaft die Identität des Staates mit der Rechtsordnung.
WenzEL sagt: „Der Staat in diesem Sinne bedeutet also eine be-
0.
S.
a. a. 199.
')
§ 31. Der Staat als Gesetzesgenieinsehaft (Wenzel). 195
1).
gegenüberstehenden „Staates"
Neben dem Staat, der mit der Gesetzesgemeinschaft identisch ist
und daher, wie hier gezeigt wurde, mit dem Begriff der Rechtsord
nung zusammenfallen muß, glaubt WENZEL noch einen zweiten Be
griff des Staates unterscheiden zu sollen, der mit dem ersteren nicht
vermengt werden dürfe. Zweifellos hat das Wort Staat — wie schon
oft betont — sehr verschiedene Bedeutungen allein gerade der zweite
;
Begriff des Staates, auf den WENZEL hinweist, ist mit seinem ersten
vollkommen identisch. Er geht von jenen juristischen Urteilen aus,
in denen der Staat als Subjekt von Handlungen behauptet wird,
dem Staat menschliche Handlungen zugerechnet werden, der
Staat als Person erscheint; und er stellt den Begriff der Staats
person dem der Staats gemeinschaft entgegen; als ob
nicht der Staat gerade als Gemeinschaft Person wäre „ Die Gesamt
!
person Staat, kurz die Staatsperson, ist nicht identisch mit der
oben erörterten Gemeinschaft Staat" Und doch sagt WENZEL
2).
z
sammengesetzt", man könne die Gesamtperson des Staates als
„Verbands person" bezeichnen ist diese „Zusammmensetzung",
;
Gemeinschaft,
meinschaft" — von dem man als Subjekt all jene Tätigkeiten als
Prädikat aussagt, die WENZEL zum Begriff der Staatsperson führen
— die fragliche Personifikation
?
von Sein und Sollen; obgleich er selbst das Rechtsgesetz und somit das Recht
als Norm, d.h. doch wohl als Sollen charakterisiert.
a. a. 0.
S.
203.
»)
§ 31. Der Staat als Gesetzesgemeinschaft (Wenzel). 197
anderes als die Beziehung auf die Einheit des Systems. Und in der
Personifikation kommt dieser Einheitsbezug nur anthropomorph zum
Ausdruck. Obgleich WENZEL die Auffassung des Staates als Zu
rechnungsproblem von mir übernimmt, was notwendigerweise die
Einsicht in die Identität des Begriffs der Staatsperson mit dem Be
griff der Staatsgemeinschaft zur Folge haben mußte, kommt er selt
samerweise zu
der oben gekennzeichneten Unterscheidung beider
Begriffe. Und zwar auf Grund mehrerer Mißverständnisse. Er meint
nämlich das Kriterium für die „Zurechnung einer Handlung zum
Staate" sei ein anderes als das der Zugehörigkeit eines Menschen
zur Staatsgemeinschaft. In dem einen Falle handle es sich um ein
„Subjekt eines Komplexes menschlicher Handlungen", im andern
um eine Vielheit von Menschen1). Allein die
Zugehörigkeit
eines Menschen zum Staate ist auch nur eine
„Zurechnung", und
zwar eineZurechnung von menschlichen Handlungen, denn nicht
der „Mensch" als biologisch - physiologische Einheit „bildet" den
Staat, sondern menschliche Handlungen, die in der Rechtsordnung
statuiert sind. Auch als Gesetzesgemeinschaft ist der Staat nur ein
„Komplex", d. h. ein System — und zwar ein normatives System
— menschlicher Handlungen und nicht etwa ein körperlich-räumlicher
Klumpen von Menschenleibern (samt dazugehörigen Seelen!). Und
die „Zurechnung", die zur „Staatsgemeinschaft" WenzELs führt, be
ruht ganz auf dem gleichen Kriterium wie die Zurechnung, die zur
Staatsperson führt. Eine menschliche Handlung wird auf die Einheit
des Systems bezogen, weil und insofern sie in diesem Systeme,
auf die diesem Systeme spezifische Weise gesetzt, das heißt in der
Rechtsordnung statuiert, als gesollt normiert wird. Nun scheint aber
der Kreis der Handlungen, die in der Rechtsordnung normiert sind oder
— in der üblichen Terminologie gesprochen — der Kreis der Men
schen, die der Rechtsordnung unterworfen sind, und der Kreis der
jenigen Handlungen, die als Staatsakte, bzw. derjenigen Menschen, die
als Staatsorgane bezeichnet zu werden pflegen, keineswegs zusammen
zufallen. Und auf diesen Schein begründet auch WenzeL seine
Unterscheidung zwischen Staatsgemeinschaft und Staatsperson. Allein
näheres Zusehen zeigt nicht nur, daß beide Kreise denselben Mittel
punkt haben : der sog. „Wille" der Staatsgemeinschaft und der „Wille
der Staatsperson („Wille" ist hier ja nur ein anderer Anthropomorphis-
mus für Systemeinheit!) müssenidentisch sein", sondern auch: daß
zwischen dem Begriff der Normunterworfenheit, bzw. dem Kreis der
Normunterworfenen und dem der Staatsorganschaft, bzw. dem Kreis
') a. a. 0. S. 203.
198 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
der Staatsorgane keine feste Grenze zu ziehen ist, daß es eine mehr
öder weniger willkürliche Einschränkung ist, wenn man die spezi
fische Beziehung des Norniunterworfenen zur Rechtsordnung, die Er
füllung oder letzte Konkretisierung der Rechtsordnung nicht
als
Staats- oder — was dasselbe ist — als Rechtsakt gelten lassen will.
Denn das wesentliche juristische Kriterium des Begriffes Staats
organ, bzw. Staatsakt ist nichts anderes als eben dies: Erfüllung,
Konkretisation Rechtsordnung, die sich stufenweise
der aus der
höchsten Allgemeinheit der Ursprungshypothese zu immer kon
kreteren Formen verdichtet. Zwischen dem „weiteren" Kreise der
Untertanen schlechtweg und dem „engeren" Kreise der Staatsorgane
im herkömmlichen Sinne dieser Worte könnte nur die graduelle
Differenz zweier (oder mehrerer) verschiedener Konkretisationsstufen
eines und desselben Prozesses : der Erzeugung des Rechts
aus der Ursprungshypothese, erblickt werden.
WENZEL meint, bei der Staatsgemeinschaft bilde „die schlecht-
hinnige Unterstellung eines abgegrenzten Menschenkreises unter ein
und denselben autoritativen Willen und die Regelung durch einen
Komplex seiner Normen das einigende Band, das dem menschlichen
Denken die Vielheit der Menschen als eine Einheit erscheinen läßt.
Auf solchem Moment beruht aber die Einheit der Staats p e r s o n
offenbar nicht. Den verschiedenen Staatshandlungen kommt nicht
darum ein einheitlicher Charakter zu, weil die sie vornehmenden Indi
viduen ein und derselben Instanz, und als solche käme hier nur die
gesetzgebende in Frage, schlechthin unterstehen." WENZEL macht
darauf aufmerksam, daß es Staatsorgane gäbe, die nicht Staatsange
hörige seien; allein die Staatsangehörigkeit, diese besondere Quali
fikation gegenüber sog. Staatsfremden ist kein dem Staate oder der
Rechtsordnung wesentliches Institut. Es kann Verfassungen geben,
die zwischen Staatsbürgern und Staatsfremden keinen Unterschied
machen. Es handelt sich hier um einen historisch bedingten Rechts
inhalt, der mit dem Begriff der Recbtsunterworfenheit nichts zu tun
hat. Staatsbürgerschaft ist nichts anderes als eine bestimmte Quali
fikation als Bedingung bestimmter Pflichten und Rechte ; das für den
Begriff der Staatsgemeinschaft wesentliche Moment ist die Norm
unterworfenheit. Diese gilt ebenso für „Fremde" wie für „Staats
bürger", und der „ausheimische Fremde", der Staatsfunktionen aus
übt — auf den WENZEL hinweist — , ist zweifellos ein Normunter
worfener. Dann aber macht WENZEL geltend, daß, wenn die Norm
unterworfenheit das Merkmal der Staatsorganschaft wäre, „alle der
gesetzgebenden Instanz schlechthin unterstehenden Individuen Teile
der Staatsperson bilden und alle ihre gesetzlich vorbestimmten Hand
§ 31. Der Staat als Gesetzesgemeinschaft (Wenzel). 199
und Frieden schließt, daß der vom Parlament gewählte Minister des
Innern eine Konzession erteilt usw., aber sie sagt nicht, daß diese
Handlungen der durch den Inhalt der Rechtsordnung näher be
stimmten Menschen dem „Staate" zugerechnet werden sollen. In
welcher Rechtsordnung findet sich ein solcher Rechtssatz ? Oder die
Rechtsnorm, daß der Kaiser oder die Minister oder sonst irgendein
qualifizierter Mensch als „Staatsorgan" angesehen werden solle?
Und wenn er sich fände, so bedeutete er eine rechtlich gänzlich
irrelevante theoretische Anschauung des Verfassers des Gesetzes. Die
Rechtsordnung kann die Menschen zu Handlungen verpflichten, nicht
aber die juristische Erkenntnis zu bestimmten Denkakten. Weil die
Einheit der Rechtsordnung — oder einer Teilordnung — nur das
Produkt der das Material der Rechtsnormen bearbeitenden E r-
kenntnis, die Personifikation aber nur der anthropomorphe
Ausdruck dieser Einheit ist. muß petitio principii
es als eine naive
bezeichnet werden, wenn WENZEL die Staatsperson — zum Unter
schied von der Staatsgemeinschaft — als ein Produkt der Rechts
ordnung, der Gesetzesnormen auffaßt. „Sie treten an das menschliche
Denken heran mit der Forderung, bestimmte Vorstellungen zu voll
ziehen, nämlich gewisse Handlungen näher bezeichneter Menschen
als von gleicher Eigenschaft, als solche ein und desselben Subjektes,
der Staatsgemeinschaft, anzusehen, diese Gemeinschaft also als eine
handelnde Person aufzufassen. Indem das menschliche Denken diese
Forderung befolgt, entsteht in ihm der Eindruck der Einheitlichkeit
der Staatstätigkeit und der Personeneigenschaft der Staatsgemein
schaft" WenzeL verwechselt ein Postulat juristischer Erkenntnis
mit einer Norm der positiven Rechtsordnung.
Das Seltsamste aber ist,' daß sich bei WENZEL die Staatsperson,
die er prinzipiell von der Staatsgemeinschaft getrennt wissen wollte,
schließlich als nichts anderes herausstellt als — die Staatsgemein
schaft. Das mysteriöse Subjekt „Staat", dem der Gesetzgeber ge
wisse menschliche
Handlungen zuzurechnen befiehlt — etwa bei
sonstiger Strafe? — ist nämlich — so behauptet WENZEL — die
Staatsgemeinschaft, die „reale Gesamterscheinung'' der Gesetzesgemein
schaft2). WENZEL lehrt: Der Gesetzgeber „macht hiermit die Staats
gemeinschaft, also einen menschlichen Verband zum Subjekt eines Tun
und Lassens, zu einer Person; er personifiziert sie" Also die Staats
s).
S.
206. a. a. 204.
») ')
!)
a. a. 0. S. 205.
§ 31. Der Staat als Gesetzesgemeinschaft (Wenzel). 201
a. a. 0. S. 211, 212.
')
202 III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.
§ 32.
Staat und Recht als zwei Seiten desselben Gegen
standes (SomLo, Radbruch).
Die Erkenntnis der Identität von Staat und Recht setzt sich in
der neueren rechtstheoretischen Literatur immer deutlicher und be
wußter durch. Nachdem ich in meinen „Hauptproblemen" den Ge
danken ausgesprochen habe, daß Staat und Recht nur als zwei ver
schiedene Seiten desselben identischen Gegenstandes betrachtet 'werden
müssen, und daß die „Person" des Staates nur der Ausdruck für die
Einheit der Rechtsordnung sei, hat insbesondere SOMLO mit aus
drücklicher Berufung auf diese Auffassung eine Lehre entwickelt,
die beinahe auf eine vollständige Identifizierung der beiden Begriffe
hinausläuft3). „Staat" ist nach SOMLO die durch die Befolgung der
') WenzeL meint, weil ich in meinen .Hauptproblemen" den Begriff des
Staatswillens nur als Zurechnungsbegriff gelten lasse, etwas überlegen, daß ich
„über das Ziel hinausschieße*. Ich überlasse es nach dem oben Gesagten der
weiteren wissenschaftlichen Entwicklung, festzustellen, wer das Ziel besser
getroffen hat, möchte aber speziell WenzeL — bei aller Anerkennung seiner,
wie bereits gesagt, sehr verdienstlichen Arbeit — daran erinnern, daß das Ziel
nach dem auch er schießt, nämlich der unpsychologische, rein juristische
Willensbegriff, von mir erst aufgestellt werden mußte, damit auch Wenzel
sich als Schütze bewähren konnte. 2) a. a. 0. S. 242.
») Juristische Grundlehre, 1917, S. 251 ff. Vgl. dazu die kritische Dar
stellung der SoMLOschen Theorie in meinem .Problem der Souveränität"
SomLo stützt sich auf die folgende Stelle meiner .Hauptprobleme":
ff.
S. 31
„Ein derartiges Verhältnis von Staat und Recht, demzufolge der erstcre das
prius, der letztere das posterius ist, muß jedoch mit Entschiedenheit abgelehnt
werden, da ein Staat ohne Recht ebensowenig denkbar ist wie ein Recht ohne
Staat und die historische Forschung die Anfänge des Rechts und der staat
lichen Organisation nicht voneinander getrennt aufzeigen kann. Staat und
Recht müssen zweifellos als zwei verschiedene Seiten derselben Tatsache be
§ 32. Staat und Recht (Soinlo, Radbruch). 203
Deutlicher als SOMLO, wenn auch nur in Form eines Bildes, hat
RADBRUCH die Identität von Recht und Staat gelehrt. Mit Be
2)
trachtet werden* 405, 407. Diese Formulierung kann ich heute nicht mehr
S.
aufrecht erhalten! Sie ist sozusagen erst das vorletzte Stadium auf dem müh
samen Weg, der zur Erkenntnis der Identität fuhrt.
Vgl. dazu mein „Problem der Souveränität" S. 34.
')
werden „Es ist eine alte Streitfrage, ob das Recht dem Staate oder
:
§ 33.
Der metarechtliche Staatsbegriff als verdoppelnde
Fiktion (VaihINger).
Betrachtet man den Begriff des Staates, so wie ihn die Staats
lehre neben, ja gegen den des Rechtes entwickelt hat, von einem
höheren, die Begriffstechnik auch anderer Wissenschaften
vergleichenden, erkenntniskritischen Standpunkt aus, so zeigt sich,
daß er als Hypostasierung, als Personifikation und Realsetzung von
Rechtsnormen oder Rechtsrelationen, als Verdinglichung von Be
ziehungen nur eine jener zahllosen Fiktionen darstellt, von denen
die Geschichte des menschlichen Denkens voll ist. Es ist das große
Verdienst VAIHINGERs das Wesen dieser Fiktionen durchleuchtet
zu haben. Als Personifikation der Rechtsordnung bildet der Staat
ein klassisches Beispiel der sogenannten personifikativen Fiktionen2).
Wie jede Personifikation, so wird auch die des Staates voll
zogen, um eine Vielheit von Relationen für das Denken zu verein
fachen und zu veranschaulichen. Weil es dem menschlichen Denken
unbequem ist, wenn es mit der Rechtsordnung als Einheit zu ope
rieren hat, den komplizierten Mechanismus einer Vielheit abstrakter
Normen zu vergegenwärtigen, stellt man diese Rechtsordnung unter
dem anschaulichen Bilde der menschlichen Person vor, als
deren wesentliche Qualität ein „Wille" angenommen wird. Die
eigenartige Weise, in der menschliche Handlungen als normiert, als
gesollt gelten, läßt sich am leichtesten durch die Analogie zu dem
') Die Philosophie des Als ob. 1911. Vgl. dazu auch meine Abhandlung :
Zur Theorie der juristischen Fiktionen in Annalen der Philosophie, I. Bd.,
1919, S. 630 ff. •) a. a. 0. S. 50 ff.
206 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.
1).
pelt aber — wie VAIHINGER gezeigt hat — das Denken den Gegen
stand, den zu bewältigen
seine Aufgabe ist. An Stelle der einen
Wesenheit treten zwei; die Aussagen über beide sind — nur durch
die Terminologie verhüllte — Tautologien und entwickeln sich
notwendig zu inneren Widersprüchen, zu jenen, für alle Fik
tionen so charakteristischen Antinomien, Sch ein problemen, die sich
aus der vermeintlichen Zweiheit des Gegenstandes, aus dem künst
lich erzeugten Dualismus eines Erkenntnisobjekts und seiner hypo-
stasierten Personifikation ergeben und sich nur lösen lassen, indem
die künstliche Zweiheitauf die ursprüngliche Einheit reduziert, die
Hypostasierung und mit ihr der Dualismus aufgelöst, das „Ding"
auf die nur fiktiv von ihm losgelösten „Relationen", die Substanz
auf die Funktionzurückgeführt wird. Das ist der erkenntnis
theoretische Sinn des hier versuchten Nachweises, daß der „Staat"
identisch ist mit der Rechtsordnung als einem System von Rechts
sätzen, das sind Aussagen über Relationen menschlicher Hand
lungen, die eben in der Rechtsnorm auf spezifische Weise verknüpft
werden. Der Begriff des Staates spielt in der Rechtswissenschaft
durchaus die gleiche Rolle wie der Begriff der „Kraft" in der
Physik, der Begriff der „Seele" in der Psychologie allgemein
2),
326)
sagt Wundt: .Damit rückt aber die Frage nach dem Wesen des Staates für
die Völkerpsychologie genau auf die gleiche Linie, auf der für die individuelle
Psychologie die alte Frage nach dem Wesen der Seele steht. Wie die Seele
ein die Wirklichkeit der unendlich mannigfaltigen seelischen Vorgänge in eine
Einheit zusammenfassender Begriff ist, der seine Grundlage lediglich in den
wechselnden Beziehungen und in dem durch sie vermittelten stetigen Verlauf
jener Vorgänge findet, so ist der Staat der Zusammenhang der einzelnen Vor
gänge des staatlichen Lebens selbst, nichts, was neben ihnen als
eine selbständige Substanz oder auch als ein spezifischer »Volke-
geist«, substantielle Form« nach dem alten Ausdruck der Scholastik
eine
existiert." Für Wundt ist der Staat — hier — allerdings die Einheit real
psychischer Prozesse, eine „Resultante" psychischer „Wechselwirkungen". —
§33. Der nietarechtliche Staatsbegriff als verdoppelnde Fiktion (Vaihinger). 207
Daß der Begriff der Rechtsperson — und somit auch der Begriff des Staates
— in Analogie zum Begriff der Seele steht, habe ich schon in der oben zitierten
Abhandlung „Zur Theorie der juristischen Fiktionen" festgestellt.
') Ben Begriff des Staates erkenntnistbeoretisch als Substanz begriff
klar nachgewiesen zu haben, ist das Verdienst SandeRs: „Wie also die theo
retische Physik zwischen »Energie« als dem synthetischen Grundsatze der Ein
heit der Naturkräfte und »den Energien« (Energiearten) als den empirischen
Verwirklichungen jenes Grundsatzes unterscheidet, so muß auch in der Theorie
der Rechtserfahrung zwischen der Beharrlichkeit des Rechtsverfahrens (Staat)
als synthetischem Grundsatz der Einheit des Rechts und den »Rechtsverfahren«
(Verfahrensarten) als empirischer Erfüllungen jenes Grundsatzes unterschieden
werden. Nur daß »die Energie« kein Ding hinter den Energien, sondern
ihr Einheitsbezug, ihr gemeinsamer Maßstab, »Staat« nicht ein Verfahren
hinter den Verfahren, sondern Beharrlichkeit des Verfahrens als Maßstab der
Rechtserzeugung bedeutet Der in der Staatslehre so beliebte Begriff
der »Gewalt« ist ein Analogon zum unkritischen Begriff der »Kraft« in der
früheren Naturwissenschaft. Wie aber »Kraft« nur eine subjektivistische Zu
sammenfassung bestimmter Naturgesetze, das heißt synthetischer Urteilsfunk
tionen, bo bedeutet »Gewalt« lediglich eine subjektivistische Zusammenfassung
synthetischer Rechtssatzfunktionen." Sander, Alte und neue Staatsrechts
lehre, Zeitschrift für öffentl. Recht, II. Bd., S. 193, 203. Vgl. auch die Aus
führungen der §§ 33, 34.
*) Dubois-Retmond zitiert nach VaihingeR, a. a. 0. S. 50.
3) In seiner in naturwissenschaftlicher Terminologie vorgetragenen Sozio
logie erklärt Spencer den Staat als eine unsichtbare „Kraft", deren bloßes —
allerdings sichtbares — Werkzeug die Staatsorgane seien. „Die hier erläuterte
Neigung, die allen Menschen in gewissem und den meisten in sehr hohem
Grade zukommt, eine Kraft mit dem sichtbar sie ausübenden Agens statt
mit ihrer eigentlichen nicht wahrnehmbaren Quelle zu verknüpfen, hat, wie
schon oben angedeutet, einen verderblichen Einfluß auf unsere Vorstellungen
im ganzen und namentlich auf diejenige vom Staate gehabt.
Wenn auch die in vergangenen Zeiten allgemein verbreitete Gewohnheit, der
Regierung bestimmte, ihr innewohnende Kräfte zuzuschreiben, durch das Empor
kommen volkstümlicher Verfassungen wesentlich abgeschwächt ist, so herrscht
doch auch heute noch keineswegs eine klare Erkenntnis der Tatsache, daß eine
Regierung an sich nicht mächtig, sondern nur das Werkzeug einer Macht ist.
Diese Macht existierte, bevor Regierungen entstanden. Diese wurden selber
erst durch jene geschaffen und sie bleibt auch nach wie vor das Agens, das,
mehr oder weniger vollständig verborgen, durch ihre Vermittlung wirksam ist"
(Prinzipien der Soziologie, HI. Bd., S. 377). Charakteristisch ist, wie Spencer
diese angeblich naturwissenschaftlich -soziologische Tatsache im Sinne eines
208 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.
1).
Ausdruck für die Einheit der Rechtsordnung mag die Bezeichnung
immerhin stehenbleiben. Nur muß
"
„Staat" oder Staatsperson
v
man sich dieses ihres Charakters bewußt bleiben und alles vermeiden,
was zu einer Hypostasierung dieses Gedankendings führen kann,
wenn anders man all die unnützen und törichten Scheinprobleme
vermeiden will, deren die Wissenschaft von Staat und Recht mehr
als genug hat. Wenn es das Symptom der mythologischen Welt
anschauung ist, daß sie „hinter" der wahrnehmbaren Natur in ihren
mannigfachen Erscheinungen eine Vielheit von die Naturerscheinungen
verursachenden Gottheiten, hinter dem Baum eine Dryas, hinter dem
Quell einen Quellgott, hinter dem Meer Poseidon, hinter der Sonne
Apollo vorstellt, so die Natur verdoppelnd, dann steckt unsere Staats
und Rechtslehre noch tief in jenem mythologischen Stadium, aus dem
die Naturwissenschaften sich allmählich befreit haben.
34.
§
f
f
r
e
z
s
g
t
e
s
i
und der Begriff des Staates (AVENAEIUS, PEtZOLDt).
Die Kritik, die sowohl die auf HUME, MACH und AvENABIUS
gegründete positivistische als auch die auf Kant gestützte
idealistische Philosophie an
dem Substanzbegriff geübt und
die zur Auflösung dieses Begriffesin seinen verschiedenen Erschei
nungsformen innerhalb der Naturwissenschaft geführt hat, läßt sich
fast wörtlich auf den Staatsbegriff übertragen Immer wieder wird
2).
der .Staatsgewalt" sei nämlich die Gesamtheit. das Volk; der Häuptling,
König, kurz, die Regierung sei nur sichtbares Werkzeug (a. a. 0. S. 379, 80).
Vgl. dazu PetzoLdt, Die Stellung der Relativitätstheorie in der gei
')
48, 49.
Vgl. dazu PetzoLdt, Das Weltproblem vom Standpunkt des relativi
»)
1),
der vom Recht „hinter" dem Recht stehende, als
verschiedene,
„Träger" Staat als eine Verdoppelung der
des Rechtes angesehene
Rechtswelt behauptet wurde. Geradeso wie die Substanz der natur
philosophischen Spekulation als ein bloßes „Gedankending" bezeichnet
wird, das die Phantasie überflüssigerweise und verwirrend der Er
so ist hier der Staat als ein bloßes Gedanken
2),
fahrung hinzufügt
ding erkannt, das man — wenn es mehr als ein Ausdruck für die
Einheit der Rechtswirklichkeit, das heißt: des positiven Rechtes,
sein soll — als eine „unberechtigte Hinzufügung" ablehnen muß.
Wenn die Rechts- und Staatstheorie den Staat als Rechtssubstanz
über das Recht — als Normzusammenhang — stellt, wenn sie
den Staat, der dem Recht zugrunde liegt, der in jedem einzelnen
Rechtsakt wiederkehrt und dem wandelnden Inhalt der Rechtsordnung
gegenüber als das Dauernde, alle Wandlungen Ueberdauernde beharrt,
nicht nur politisch, sondern theoretisch höher wertet als das
Recht, so entspricht dem in Naturwissenschaft und Naturphilo
sophie ein ganz analoger Prozeß, den PEtZOLDt folgendermaßen
charakterisiert3): „Die Substanz, die in allem wiederkehrt, jedem
Ding zugrunde liegt und alle Wandlungen der Dinge überdauert,
wird höher bewertet als die sich ändernden und so mannigfaltigen
Dinge der Erfahrung selbst. Das ist nur der ganz natürliche Ausdruck
der allgemeinen Vorliebe für das Einheitliche und Dauernde ....
So gewinnt die Substanz für den Philosophen Art Sein, eine höhere
sie ist das eigentlich Seiende, das eigentlich Existierende, dem
gegenüber das Sein des flüchtigen Einzelnen zum Schein hinabsinkt."
Die Tendenz zur Verabsolutierung, die im Substanzbegriff auf
gezeigt wurde, sie hat sich hier im Begriff der Souveränität des Staates
manifestiert. Was die positivistische Kritik speziell zur Psychologie
des Substanzbegriffes beigebracht hat: daß die Vorliebe für diese
Konstruktion auf der Vorliebe des Menschen für das Stabile, Feste,
Unerschütterliche, also auf einem konservativen Zug der menschlichen
Natur ist gewiß auch für Psychologie des Staatsbegriffes
beruhe4),
aufschlußreich. Und wenn auch das Festhalten am Staats- als einem
Substanzbegriff durchaus zu scheiden ist von ttem Festhalten an der
PetzoLdt, 0., 34, 54, 87, 89, 90,
S. S.
a. a. 100.
1)
a. a. 39.
4)
*)
Kelsen, Staatsbegriff. 14
210 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.
1).
Rechts- und Staatstheorie den Staat doch irgendwie in die erweiterte
Sphäre des Rechtes einzubeziehen trachtet, erklärt sie den Staat als
den Erzeuger des Rechtes, als die Kraft an sich, die die bewegungs
lose Rechtsordnung in Funktion setzt, die Rechtsordnung durch Er
zeugung neuer Normen abändert, die Rechtsordnung vollzieht. Der
Staat wird zu einem transzendenten Baumeister des Rechtes; statt
daß man das Recht als ein einheitliches System begreift, das sich
nach immanenten Gesetzen ändert, das autonom funktioniert. Durch
diese Vorstellung eines metarechtlichen Staates, der aber doch höchste
Rechtspotenz ist, wird die Herrschaft des reinen, positiven Rechts
gesetzes untergraben und die Rechtswirklichkeit zum Ausfluß eines
menschenähnlichen, nur den Menschen unendlich überlegenen Willens
gemacht. Man wende nicht ein, daß das Recht doch tatsächlich
Produkt menschlichen Willens sei. Denn die herrschende Theorie
erklärt das Recht als Willen des Staates, also eines vom Einzel
ja
a. a. 96.
') ')
1).
sich die Staats- und Rechtslehre, nachdem sie die Rechtswelt in
„Staat" und „Recht" verdoppelt, beziehungsweise in zwei Teile ge
teilt hat (das letztere soferne sie den „Staat" doch irgendwie als
zur Rechtswelt gehörig ansieht), eine Beziehung zwischen beiden,
das heißt irgendwie eine Einheit herzustellen.
doch Natürlich ver
In Versuch liegt
ja
gebens. diesem
aussichtslosen das ganze „Pro
blem" des „Verhältnisses" von Staat und Recht beschlossen2). „Das
Denken würde eine ganze Reihe und zwar gerade der quälendsten
Probleme weniger haben, wenn es sie nicht erst machte", sagt
PEtZOLDt von den durch den Substanzbegriff ausgelösten Schein
problemen. Es gilt wörtlich von dem Problem des Verhältnisses
zwischen Staat und Recht. Und indem hier der Versuch unter
nommen wurde, den Begriff des vom Recht verschiedenen Staates
aus seiner Hypostasierung herauszulösen und auf einen bloßen Ein
heitsausdruck für den des Rechtes zu redu
Systemzusammenhang
zieren, somit also den reinen,
von aller verdoppelnden Substan-
zialisierung befreiten Rechtsbegriff wieder herzustellen, wird
für den Bereich der Rechtswissenschaft etwas ganz ähnliches unter
nommen, was AVENARIUS
mit der Auflösung des Substanzbegriffes
für die Weltanschauung überhaupt anstrebt und was er „die Resti
tution des natürlichen Weltbegriffes" nennt3).
35.
§
und Recht« ist überhaupt nur verständlich, wenn man sich das metajuristische
(rechtsmetaphysische) Grunddogma der Staatsrechtslehre, den Dualismus zwi-
.
181 ff.
Der menschliche Weltbegriff, 1891,
S.
63 ff.
»)
14*
.
212 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.
1),
nur eine weitere Bestätigung der Parallele zwischen den Begriffen
Staat und Atom. Wie dieses, so ist auch jener eine „Idee", nicht
die Idee des Rechtes im soziologisch- oder naturrechtlich-ethisch
metaphysischen Sinne, sondern eine logische Idee, die Idee der
Einheit des „eine Idee, die zum Zwecke der Ordnung der
Rechtes,
Erscheinungen konzipiert ist, aber mit diesen Erscheinungen selbst
methodisch nicht auf der gleichen Stufe steht"
2).
Nimmt man die Einheit
des Rechtes nicht als von vornherein
gegeben, fragt man, wie diese Einheit erzeugt wird,
sondern
das heißt nach dem Prinzipe, das die Einheit herstellt, garantiert,
kurz, geht man aus einer statischen Betrachtung — in der man das
Postulat der Einheit des Rechtes bereits als erfüllt voraussetzt —
zu einer dynamischen über, bei der die Grundregel zu suchen ist,
nach der die geforderte Einheit des Rechtsmaterials, der Rechtssätze,
erst hergestellt wird, dann wird der Begriff des Staates zum Ausdruck
für diese die Einheit
des Rechtsstoffes erzeugende Grundfunktion.
Und in demselben Maße, in dem man dem Begriff des Staates diese
Bedeutung eines das Rechtsmaterial ordnenden Grundschemas ab
gewinnt, muß sich eine logische — aber keine metaphysische —
Differenzierung zwischen Staat und Recht als zwischen dem obersten
Ordnungsprinzip und dem geordneten Ganzen ergeben, muß sich
die Parallele zu den Grundbegriffen der Naturwissenschaft im Sinne
des transzendentalen Idealismus vollenden. So sagt CASSIBER (im
Anschluß an PEABSONs Grammar of science) von den Widersprüchen
und Antinomien, in die sich die Physik anläßlich des r-
A
h
e
e
t
672.
2.
!) ')
a. a. a. a. 160.
»)
214 I^- Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.
1) Den Begriff der . Rechtserfahrung" hat Sander geprägt, der als erster
die erkenntnistheoretische Parallele zur Naturwissenschaft — allerdings auf
einem anderen als dem hier versuchten Wege — durchgeführt hat. Vgl. die
folgende Darstellung seiner Theorie. Um Mißverständnisse zu vermeiden, be
tone ich, daß der von mir schon vor Sander verwendete Begriff der „Rechts -
Wirklichkeit", ebenso wie der der Rechtserfahrung für mich nur analogische
Bezeichnungen für das „positive" Recht sind.
216 IV. Der Dualismas von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.
ist ein Gedanke, den ich schon in meinen Hauptproblemen" mit dem
„
0.
S. S.
a. 486.
a.
3) s)
0.
a. 487. Zu beachten
a. ist, daß die von Kant angenommene
Einheitsfunktion der Erkenntnis von Sauder — sehr unverständlich —
zu einer Einheitsfunktion des — als .reiner Wille" behaupteten — Rechts-
verfahrens umgedeutet wird. Das Rechts verfahren tritt in Parallele
zum — Erkenntnisprozeß der Naturwissenschaft.
§ 35. Der kritische Idealismus (Cassirer, Sander). 217
für die neue Staatsrechtslehre nicht mehr übrig, als vom alten Gottes
begriff für die mathematische Naturwissenschaft übrig geblieben ist:
der Gedanke der Einheit des Rechtes, welcher im
alten Staatsbegriff als Gedankenkern durch alle naturrechtlichen Hüllen
hie und da durchschimmerte. So wird der Terminus „Staatsrechts
lehre " eigentlich zu einer Tautologie, weil, da alle Lehre vom Recht
Lehre von der Einheit des Rechtes ist, auch jede Rechtslehre Staats
rechtslehre sein muß" Die — sehr problematische — Parallele
zwischen „reiner Erkenntnis" und Recht als dem „reinen Willen",
derzufolge der Staat als — die Einheit des Rechtes verbürgender —
„synthetischer Grundsatz", als Kategorie des Rechtes verstanden wird,
fordert einen dem Begriff der „Erfahrung" im System der Erkenntnis
analogen Begriff im System des „reinen" Willens. SANDER hat dem
gemäß den Begriff der „Rechtserfahrung" geprägt. Die Lehre vom
positiven Recht wird so zur Lehre von der Rechtserfahrung. „Für
die Theorie der Rechtserfahrung, die also an Stelle der bisherigen
verschiedenen Rechtslehren treten muß, bedeutet alles Recht Staats
recht: weil »Staat« nicht mehr ein Ding oder mehrere Dinge an sich
meint, sondern die Beharrlichkeit des Rechtsverfahrena als rechtlicher
Erzeugungsmethode, auf eine
in welcher alle Rechtssatzfunktionen
Verfahrensgrundreihe als letzten Maßstab zurückbezogen werden2)."
Die Einheit der Rechtserfahrung wird ebenso durch den „synthe
tischen Grundsatz", „Kategorie" des Staates verbürgt, wie die
die
Einheit der Naturerfahrung durch die Kategorie der Substanz im
KANtschen Sinne eines synthetischen Grundsatzes. Dabei betont
SANDER immer wieder mit größtem Nachdruck das dynamische
Moment, das in seiner zu einer Verfahrens lehre gestalteten
Rechtslehre liegt. „Der Begriff der Dynamik des Rechts ist der
Rechtsdogmatik fast vollkommen unbekannt, von den Rechtsverfahren
ist es nur der (Zivil- und Straf-)Prozeß, welchem aus praktischen
Gründen eingehende Untersuchungen gewidmet wurden. — Kein
System der Rechtsphilosophie, keine Theorie der Rechtswissenschaft
hat in fundamentaler Weise auf den Prozeß, das Rechtsverfahren
überhaupt, Bezug genommen. Die Lehre vom Rechtsverfahren war
lange Zeit hindurch das Aschenbrödel unter ihren Schwestern. Sie
ist heute eine gleichberechtigte Schwester. Vielleicht aber wird die
Lehre vom Rechtsverfahren
morgen die Königin der Rechtswissen
schaften oder gar —
die reine objektive Rechtswissenschaft sein
Rechtssatz und Tatbestand sind die beiden Komponenten des reinen
Willens, seiner Funktion der Einheit und seiner Funktion der Mannig-
1) Alte und neue Staatsrechtslehre, Zeitschr. für Offentl. Recht, II. Bd.,
S. 191, S. 191. ») a. a. 0. S. 192.
218 IV- Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.
S.
Gegen die von mir vertretene Meinung, daß der Begriff der Staats
»)
,
person" als Ausdruck für die systematische Einheit des Rechtes bestehen bleiben
könne, macht Sander geltend (Alte und neue Staatsrechtslehre,
S.
177 ff):
„ Persönlichkeit ist ein ungeeigneter Ausdruck für die Einheit des Rechtes,
weil die Einheit niemals in der unvermeidlichen Dinghaftigkeit der
>Personc, sondern nur in den Bewegungen des Verfahrens gefunden werden
kann. Einheit des Rechtes bedeutet nicht Einheit der Persönlichkeit, sondern
Einheit der Rechtssatzfunktionen, also Einheit des Rechtsverfahrens. Einheit
eines Urteilszusammenhanges kann niemals — auch nur im bildlichen Sinne —
Einheit eines Dinges, sondern nur Einheit einer Erzeugungsmethode bedeuten.
Einheit der Erzeugungsmethode aber bedeutet die Souveränität des Urteils
zusammenhanges, Einheit des Rechtsverfahrens im besonderen die Souveränität
des Rechtes. Aus dem reinen Ursprung des Rechtsverfahrens werden alle Ge
bilde des Rechtes erzeugt." Ob das Bild der „Person" mehr oder weniger
geeignet ist, die Einheit auszudrücken, scheint mir nicht von irgendeiner Rele
vanz zu sein. Schließlich kommt es nur darauf an, was man ihm für
B
e-
u u n beimißt. Daß ich aber die Einheit des Rechtes niemals als Einheit
d
g
e
verstanden
„Hauptprobleme" — zu, wo ich das Recht nur als System von Rechtssätzen,
also Urteilen begriffen habe.
weil Sander Kants Kritik der rationalen Psychologie und
Gerade
Theologie zu einer Kritik der herrschenden Staatslehre transponiert (in
seinem im Erscheinen begriffenen Buche: Staat und Recht, Prolegomena zu
g 36. Staat und Gott. 219
11. Kapitel.
§ 36.
Staat und Gott.
Während die Mythologie als Theologie des Polytheismus hinter
die eineNatur eine Vielheit von Göttern setzt, begnügt sich die
Theologie des Monotheismus mit einer einzigen Hypostase. Und
"
erschienenen Abhandlung „ Ueber Staatsunrecht
l) schrieb ich : „ Die
Annahme, daß die Rechtsordnung der Wille einer einheitlichen Staats
person sei, ist nur der Ausdruck für die logische Geschlossenheit,
die innere Widerspruchslosigkeit eines Systems von Rechtsnormen.
Bei der damit verbundenen Personifikation findet ein ähnliches Denk
bedürfnis seine Befriedigung wie jenes, das den nur viel komplizier
teren und auf zahlreichere Quellen zurückführenden Denkprozeß in
Bewegung setzt, der zum Gottes begriff führt. Wenn eine Ana
logie zwischen dem Mikrokosmos der Rechtsordnung und dem Makro
kosmos der Ordnung des Universums zulässig ist — und sie ist
keineswegs neu und schon dem primitiven Denken bewußt —, dann
steckt in der grandiosen Personifikation aller das Universum be
herrschenden Normen, sofern sie als ein sinnvolles, widerspruchloses
System gedacht werden, dann steckt in dieser Idee eines persönlichen,
einheitlichen Gottes die gleiche oder doch eine verwandte Oekonomie
und zwar unter dem Eindruck von MbrKLs Theorie vom Stufenbau des Rechts,
deren Einfluß auch auf Sanders Verfahrenslehre unverkennbar ist — zur
Dynamik übergegangen. Es geht eben auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft
nicht anders, als es — nach der klassischen Darstellung Cassirers — auf dem
Gebiete der Naturwissenschaft gegangen ist. Der Fortschritt vom Substanz-
zum Funktionsbegriff ist ein allmählicher. „Die Abwehr der metaphysischen
Ansprüche ist es, die die Theorie zunächst zu leisten hat", sagt Cassirer von
der Entwicklung der Physik; und für die Rechtswissenschaft galt es zunächst,
die soziologisch - psychologischen, die naturrechtlicben — kurz : die meta
rechtlichen Ansprüche abzuwehren; „und diese Abwehr kann nur
dadurch geführt werden, daß die empirischen Grundlagen der exakten
'Wissenschaft immer genauer und deutlicher bloßgelegt werden"; für die
Rechtswissenschaft: daß die Einschränkung auf die rein positiv
rechtlichen Elemente, die Reinheit der juristischen Methode immer schärfer
betont wird. „Die logischen Faktoren treten zurück, solange
das Bemühen, die reine Erfährung gegen das Eindringen der Metaphysik zu
schützen, alle philosophischen Kräfte in Anspruch nimmt" (a. a. 0., S. 180).
Den erkenntniskritischen Reinigungsprozeß, zu dem die Naturwissenschaft
Jahrhunderte und mehr gebraucht hat und der heute noch nicht beendet ist,
hat die Rechtswissenschaft eben erst begonnen.
Indes möchte ich den Gegensatz, der zwischen meiner und Sanders
Anschauung besteht, durchaus nicht unterschätzen ! Da für mich das Recht
ein System von Normen ist, bleibt die Rechtswissenschaft als Normenlehre
und in diesem Sinne als Dogmatik trotz ihrer völligen sachlichen Selb
ständigkeit dennoch der Ethik methodisch verwandt. Ich ziele auf eine reine,
d. h. von Ethik ebenso wie von Naturwissenschaft freie Rechtsdogmatik.
Sander aber wendet sich gegen jede Rechtsdogmatik überhaupt und läßt
das Recht als Norm nicht gelten. Inwieweit er dabei nicht in das Fahrwasser
der — von ihm ursprünglich bekämpften — sogenannten soziologischen
Rechtstheorie geraten muß, ist nach seinen bisherigen Publikationen noch
nicht zu übersehen.
') Grünhuts Zeitschrift für das private u. öffentl. Recht d. Gegenw., XL. Bd.
222 IV- Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.
§ 37. .
Die Transzendenz Gottes gegenüber der Natur,
des Staates gegenüber dem Recht.
Den Begriff des Staates bestimmt die Staatstheorie grundsätzlich
als ein dem Rechte transzendentes Wesen. Der Staat steht außer
und über dem Recht. Nur diese Transzendenz verbürgt eine von
der Rechtslehre verschiedene Staatslehre.Indem der Staat aber als
ein dem Recht transzendentes Wesen, also grundsätzlich doch immer
nur mit Bezug auf das Recht charakterisiert wird, führt der
Versuch, die Eigenschaften des Staates zu bestimmen, hauptsächlich
(in Wahrheit ausschließlich) zur Feststellung negativer Qualitäten.
Die Eigenschaft der sogenannten „Souveränität" des Staates bedeutet
nichts anderes als die Behauptung des Staates als eines Absolutums,
und zwar sowohl im Sinne einer höchsten Macht — das ist einer solchen,
über der keine höhere steht, die durch keine andere beschränkt wird,
was konsequent zur Vorstellung des Staates als prima causa führt — ,
als auch eines höchsten Gutes oder höchsten Willens. Die „Macht"
des Staates ist innerhalb seiner spezifischen Existenzsphäre durchaus
als „ Allmacht" zu deuten, d. h. nicht als Allmacht im natürlichen
Sinne — obgleich man mitunter auch in diesem Sinne von einer
„Omnipotenz" des Staates spricht — , sondern im normativen Sinne,
so zwar, daß die Staatsordnung jeden beliebigen Inhalt aufnehmen,
daß der Staat — wie man sich ausdrückt — rechtlich alles kann,
was er will. Der Staat als absoluter Wille im Sinne einer obersten
Quelle des Rechtes findet seinen Ausdruck in der Vorstellung des
Staates als Person, und zwar hier zunächst als metarechtlicher Person
(zum Unterschied von der der Rechtsordnung unterworfen gedachten
Person des Staates). Als „Person" wird der Staat in dieser Hin
sicht insofern vorgestellt, als er gegenüber den veränderlichen Funk
tionen des Rechtes als ruhende „Substanz", als einziger und einheit
licher Träger des Rechtes gedacht wird. Zur Einheit und Einheit
lichkeit des Staates tritt aber, als Konsequenz der Souveränität, die
§ 37. Die Transzendenz Gottes gegenüber der Natur. 223
Dogmatik, Aufl.,
S.
153. a. a. 0.
5.
S.
193.
*) 3)
»)
Aufl.,
5.
151.
I.
setzt, während die Jurisprudenz ihr Objekt nur indirekt in der Lehre
von der Souveränität verabsolutiert. „Der erste Satz der christlichen
Gotteserkenntnis lautet, daß Gott das Absolute ist. Er bedeutet,
daß wir . . . unter Gott ...
die absolute Macht über alles Wirkliche
4),
lischen Theologie behauptet daß der Staat die absolute Rechts
substanz sei, kommt in der Staats- und Rechtslehre nur gelegentlich
zum Ausdruck; ist aber darum dennoch nicht weniger wahr. „Das
Urschema aller Substantialität ist die Personalität", sagt schon
VAIHINGER Und so tritt auch die absolute Substanz in der Staats
5).
lehre ebenso wie in der Theologie als Person auf. Der tran
szendente Gottesbegriff hat — nach Kaftan — aus der platonisch
aristotelischen Philosophie in die christliche Theologie Eingang ge
funden. „Nun ist es freilich ein unveräußerliches Moment auch im
christlichen Gottesgedanken, daß Gott ein anderer ist als die Welt.
Hier bestimmt er sich jedoch dahin, daß er allem geteilten
und mannigfaltigen, relativen und abhängigen Sein der
Welt gegenüber die in sich selbst beruhende und zusammengefaßte
höchste Energie des persönlichen Wollens ist"6). Gott
ist ebenso absolute Substanz wie absolute Person. Die evangelische
Theologie bezeichnet als die beiden wesentlichen Momente des christ
lichen Gottesbegriffes die Absolutheit des Wesens und die Subsistenz
als Geist, als Ich, vorgestellt nach der Analogie der menschlichen
Persönlichkeit; zu den „drei Hauptsätzen" über Gott gehört, „daß
er absolute Substanz" und daß er „absolutes Subjekt" sei7). „Gott
wird im christlichen Glauben erkannt als überweltlicher persönlicher
Geist" Und ebenso betont auch die katholische Theologie mit
8).
Kaftan, 0., 0.
S.
S.
a. a. 180. a. a. 106.
») ')
!)
PohLe, 0.,
S.
a. a. 152.
Vgl. Kaftan, a. a. 0., PohLe, 0.,
S.
S.
a. a. 153.
»)
») •)
a. a. 185.
')
§ 37. Die Trannzendenz Gottes gegenüber der Natur. 225
3) Kaptan, S. 188.
Kelsen, Staatabegriff. 15
226 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.
§ 38. .
Inwiefern auch eine Ueberordnung des Staats willens über das indi
')
viduelle Denken und Erkennen in Betracht kommt, dazu vgl. mein „Staats
macht" Kaiman,
S.
S.
KAftan, a. a. 0., a. a. 0.
S.
S.
155. 192.
•)
§ 38. Die Bezogenheit Gottes auf die Natur, des Staates auf das Recht. 227
1).
:
so richtig es ist, daß der Glaube den uberweltlichen, den in seinem
eigenen Sein und Wesen mit der Welt unverworrenen Gott erkennt,
so gewiß können doch wir Gott niemals ohne die Welt denken ..."
Von diesen theologischen Vergewaltigungen der Logik seien hier
nur deshalb ausführlichere Proben geliefert, weil sie sich beinahe
wörtlich auch in der Staatslehre finden. Diese behauptet durchaus
das Analoge: Der Staat ist eine vom Recht verschiedene und unab
hängige Wesenheit, er ist metarechtlicher Natur, er steht über dem
Hecht, er erzeugt das Recht. Aber: das Recht ist dem Staate —
und umgekehrt, der Staat dem Recht — doch irgendwie wesentlich,
wir können uns den Staat ohne Recht und das Recht ohne Staat
nicht denken.
Und so wie das Problem
in Theologie und Staatslehre das
gleiche ist, so findet es auch in beiden Disziplinen die gleiche Lösung
— wenn anders man einem logisch unlöslichen Problem gegenüber
von „Lösung" sprechen kann. Der überweltliche Gott verwandelt
sich in die Welt, beziehungsweise in deren Repräsentanten: in den
Menschen, indem sich die Wesenheit Gottes in zwei Personen spaltet
:
in Gott- Vater und Gott-Sohn, den Gott-Menschen oder die Gott- Welt.
Dem Dogma von der Mensch- oderWeltwerdung
Gottes entspricht haargenau die Theorie von der
Selbstverpflichtung des Staates: der metarechtliche
Staat wird dadurch zum Recht, daß er — als Rechtssubjekt — sich
selbst unterwirft und so sich selbst beschränkt. Der ganze Unter
schied ist der, daß sich die Theologie bei diesem Mysterium schließlich
auf das Uebernatürliche berufen kann und auch ausdrücklich beruft,
während die Staats- und Rechtslehre zwar dasselbe Mysterium behauptet,
aber vortäuschen muß, in der Sphäre des Rationalen zu bleiben
i).
21.
Kaftan, S. 219.
15*
228 IV. Der Dualismus Ton Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.
Den Gedanken der Einheit von Gott und Welt, vermittelt durch
Christus, stellt der katholische Dogmatiker SCHELL in folgender Weise
dar: „. . . Immerhin bleibt die Welt ...
in wesentlicher Unterordnung
unter ihren Grundgedanken ; Gott als Urheber und Endzweck thront
in unerreichbarer Erhabenheit über ihr; sie ist ein Reich von Unter
tanen, deren König nicht i m Reiche, sondern über dem Reiche
steht . . . Welch unvergleichlich höheren Wert würde eine Schöpfung
gewinnen, . . . welche nicht bloß eine Gesamtheit von Untertanen ist,
sondern die innerweltliche Zusammenordnung von Herrscher und
Volk ? Der Urgrund und Zweck ist dann unbeschadet seiner
wesentlichen Erhabenheit in das System der freien Gestaltung selbst
hineingezogen und nicht mehr bloß tiberweltlich, sondern inner-
weltlich"1). Diese Problemstellung ist gerade, weil sie in be
denkliche Nähe des Pantheismus rückt, für die Zwecke der hier
durchgeführten Parallele sehr lehrreich. Daß ein Theologe den
transzendenten, außer und über der Welt stehenden Gott mit einem
außerhalb und überhalb der Rechtsgemeinschaft (der Untertanen)
stehenden Herrscher — das ist ja der metarechtliche Staat — ver
gleicht, ist gewiß sehr symptomatisch2). Wie das überrechtliche Ver
hältnis des Staates oder Herrschers (das im Grunde nur der Ausdruck
für die Verhältnislosigkeit ist) zu einem innerrechtlichen werde, das
ist ja die Kernfrage der Staats- und Rechtslehre geworden, nachdem
sie den Staat dem Recht gegenüber für transzendent erklärt hat.
Und genau so wie in der Theologie — die Darstellung SCHELLs
zeigt dies deutlich — tritt in der Staatslehre das Problem der
Vereinigung von Staat und Recht in einer eigenartigen Vermengung
des ethisch - politischen mit dem erkenntnistheoretischen Gesichts
punkt auf.
Die Wandlung des überweltlichen zu einem innerweltlichen Gott,
so fährt SCHELL fort, „ist durch die Menschwerdung Gottes tatsäch
lich geschehen. Gott wird durch sie zum innerweltlichen Zentrum,
') Katholische Dogmatik, DJ/1. S. 23.
*)Vgl. dazu: A. L'Houet, Der absolute, konstitutionelle und republi
kanische Gott. Religion und Geisteskultur, V. Jhg., S. 69 ff. Dort wird der
Gedanke durchgeführt, daß die G o t t e s vorstellung von der jeweiligen poli
tischen Grundvorstellung beeinflußt werde. „Gott war einst absolut und
ist im Laufe der Jahrhunderte immer konstitutioneller geworden." Der Gott
der mittelalterlichen Theologie „ist an nichts gebunden, nicht einmal an die
Gesetze der Logik. Die Unberechenbarkeit ist seine charakteristische, seine
oberste Eigenschaft! Gott ist ex lex! Aber der Gott der modernen Theologie
„mußte sich Schritt für Schritt, wie alle modernen Könige, eine Konstitution
gefallen lassen. An alle Dinge, an die er früher nicht gebunden war, an die
wurde er gebunden .... Das Gottesbild wurde — wie jedesmal — ein Ab
bild seiner Zeit. Der Himmel wurde zum Abbild der jeweiligen Welt."
§ 38. Die Bezogenheit Gottes auf di'e Natur, des Staates auf das Recht. 229
1).
Theologie bis zur Verselbständigung des das Gottsystem absorbie
renden Weltsystems geht, vollzieht sie denselben Gedankenprozeß
wie die Staats- und Rechtslehre, wenn sie das Recht aus seiner
Stellung als Werkzeug und Geschöpf eines überrechtlichen Staates
dadurch zum Selbstzweck, das heißt zu einer souveränen Ordnung
macht, daß sie die Staatsordnung als Rechtsordnung, das Recht als
Staatsrecht, den Staat als Rechtsstaat begreift. Daß die naturrecht
lich orientierten Staatstheoretiker die Einheit von Sbaat und Recht
als ein politisches Postulat auffassen, dessen Erfüllung im so
genannten Rechtsstaat ein historisches Faktum ist, das nur
bei bestimmten Staaten und nur nach einer bestimmten historischen
Entwicklung eingetreten ist, während die positivistische Rechts
lehre zu der Konsequenz führen muß, daß die Einheit von Staat
und Recht ein logisches Postulat, weil nur eine begriffliche
Identität darstellt, die unabhängig von jeder historischen Entwick
lung ist, daß eine Vereinigung von Staat und Recht kein historisches
Faktum sein kann, weil jeder Staat eine Rechtsordnung und
jedes Recht eine Staatsordnung ist — dies steht in voller Parallele
zu dem Gegensatz, in dem die orthodoxe Theologie zu gewissen
mystisch-pantheistischen Sektenlehren steht, die in Christus nur ein
ewiges Symbol erblicken und die Menschwerdung Gottes nicht als
ein historisches Faktum, sondern alsein im Wesen des Menschen
0.
S.
a. a. 23.
')
230 IV- Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.
§ 39.
Die „Zweiseiten"theorie in Theologie und Juris
prudenz.
Indem die Staats- und Rechtslehre den Staat einerseits als
ein machtvolles, in seiner Macht rechtlich nicht beschränktes, ja un
beschränkbares, weil Oberrechtliches Wesen, andererseits aber
als Rechtssubjekt, rechtlich verpflichtete,
als rechtlich beschränkte,
der Rechtsordnung und dadurch dem Staat im ersteren Sinne unter
worfene Person behauptet, ist sie gezwungen, mit der Selbstver
pflichtungslehre, ihrem Kernproblem, die sogenannte Zweiseiten
theorie zu entwickeln. Die Theologie, in deren Mittelpunkt das
Mysterium der Menschwerdung Gottes steht, behauptet, daß das
höchste Wesen in Christus „zwei Naturen" habe: es ist ganz Gott
und zugleich ganz Mensch. Die „Zweinaturenlehre" bildet
den Gegenstand der sogenannten Christologie. „Die Lehre von der
Naturzweiheit umfaßt zwei wichtige Glaubenswahrheiten : 1. Christus
"
1)•
ist wahrer Gott 2. Christus ist auch wahrer Mensch . . .
Das Verhältnis, in dem der Mensch Christus zu Gott steht,
wird in der Theologie durchaus in analoger Weise dargestellt, wie
man sich das Verhältnis der Staatsperson als Rechtssubjekt zu der
ihr übergeordneten Staats- (als Rechts-)macht vorstellen muß: als
Verhältnis der Unterworfenheit, des Gebundenseins, der Beschränkt
heit, des Gehorsams. Besonders das letztere Moment: die sittliche
Verpflichtung des Menschen Christus durch Gott und der Gehorsam,
in dem der Mensch Christus seinen Willen dem göttlichen Willen
unterordnet, mit dem göttlichen Willen in Uebereinstimmung bringt.
wird immer wieder betont. Wie die katholische so unterscheidet
2),
6.
a. a. 82.
»)
8) ») ')
ja
die Menschwerdung
1),
Gottes in der Person Christi wird von der Theologie geradezu unter
dem Gesichtspunkt der „Selbstbeschränkung" Gottes dar
gestellt. So lehrt (DEttINGEN „Wir müssen also im christlichen
2)
:
Glaubensbekenntnisse die Zweinaturenlehre wahren und gegen jede
Transfusion Einsprache erheben. . . Wir dürfen z. B. nicht sagen
:
.
Die Gottheit hat gehungert und gedürstet, gerungen und gelitten,
ist am Kreuze gestorben; noch auch in solcher Bedeweise uns be
wegen wie: die Menschheit Jesu war allmächtig, regierte die Welt
während sie am Kreuze hing, war allgegenwärtig, während sie in
der Krippe lag, war allwissend, während sie im Gebete rang. All
dies gilt nur von dem konkreten Gottmenschen, der im Hinblick auf
seine menschliche Eigenart der Beschränkung unterstellt war,
im Hinblick auf sein göttliches Wesen die Herrlichkeit zwar besaß,
aber freiwillig auf ihre Ausübung und Geltendmachung verzichtete.
Es bleiben also die Wirkungen des Heilands stets der Eigenart der
beiden Naturen entsprechend (proportional); die neuschöpferischen
(wunderbaren) Wirkungen weisen auf seine Gottheit: die Kampfes-
und Leidensmomente auf seine Menschheit. Aber das einheitliche Ich
nimmt mit seinem Denken und Wollen (Selbstbewußtsein und Selbst
bestimmung) an beiden teil. Um das zu ermöglichen, müssen
wir daran festhalten, daß kraft jener göttlichen Herablassung und
Selbstbeschränkung (schon bei der Fleischwerdung des
a. a.
1.
68, 71.
») a) ')
107.
232 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.
natürlich ebensowenig einen Ausweg wie aus jenem, den die Oppo
sition gegen die Selbstverpflichtungstheorie geltend macht, wenn sie
fragt Wie kann der Staat, dessen Wesen die Macht ist, irgendwie,
:
"
4).
Noch ohne Kenntnis dieses theologischen Arguments bekämpfte ich
die Vorstellung, derzufolge der Staat nach außen ein machtvolles,
einer Naturgewalt gleichkommendes Wesen, nach innen aber ein
Rechtssubjekt sei, mit den Worten: „Dadurch wird der Staat zu
einem wahrhaft grotesken Fabelwesen, halb Rechtsordnung, halb
Naturding"
*).
Dies zeigt zum Beispiel sehr deutlich die Darstellung, in der neuestens
')
449.
»)
ä) 4) !)
201.
§ 40. Theodizee und Staatsunrecht. 233
„an sich" zwei Seiten hat — als 'denselben Gegenstand, als denselben
Stoff von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus zu erkennen; beide
Lehren müssen einander ergänzen, keine ist ohne die andere möglich.
Das ist die herrschende Auffassung, so wie sie JELLINEK klassisch
formuliert hat. Es ist wortwörtlich dasselbe Verhältnis wie zwischen
den beiden Hauptstücken der Dogmatik, Trinitätslehre und Christo-
logie. „In der Trinitätslehre heißt die Frage: Wie erkennen wir
Gott lautet die Antwort: Durch die Erkenntnis dessen, den er
? und
§ 40.
Theodizee und Staatsunrecht.
Diese Verwandtschaft Ist mir zuerst an dem Problem des
Staatsunrechtes aufgefallen, das ich schon
früher in meiner
zitierten Abhandlung mit der Theodizee
in Parallele gestellt habe.
Ich schrieb damals: „Die Zurechnung eines Unrechtes zum Staate",
den ich schon damals als „Personifikation der Rechtsordnung" er
kannte wäre die gleiche logische Antinomie, die in der Vorstellung
2),
432, 433.
») ')
a. a. 0. S. 10. 0.
S.
a. a. 18.
»)
234 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.
1).
Dementsprechend lehrt die Theologie: „Das Böse hat seinen Ursprung
im Willen der persönlichen Kreatur." „Der Ursprung des Bösen
liegt im freien Willen des Menschen" Und die Staatslehre sucht
2).
den gleichen Ausweg: „Die Staatsorgane, durch die allein die juri
stische Person des Staates handeln kann, repräsentieren den Staat
nur insofern, als sie dessen Willen realisieren, als ihr psychischer
Wille mit in der Rechtsordnung ausgesprochenen
dem des Staates
übereinstimmt. Im Staatsorgane, das gegen oder ohne den Willen
des Staates handelt, handelt nicht mehr der Staat, weil dem Staate
nicht zugerechnet werden kann, was ohne oder gegen den Willen
des Staates geschieht. . . Nicht Unrecht des Staates,
.
gegen den Willen Gottes"1) ist. Diese Bedeutung kann aber das
Unrecht ebensowenig wie die Sünde behalten, wenn die bezüglichen
Tatbestände in das System des Rechtes, beziehungsweise Gottes ein
gehen sollen. Man muß sich der logisch- systematischen Bedeutung
des Problems ganz bewußt werden, um die Tendenzen begreifen und
beurteilen zu können, die den verschiedenen Lösangsversuchen zu
grunde liegen: Das System des Rechtes kann nicht auch dessen
Negation, das Unrecht, das System Gottes nicht zugleich dessen
Negation, die Sünde, umfassen. Daraus erklärt sich das der Rechts
theorie ebenso wie der Theologie immanente Streben, den Tatbestand
des Unrechtes, beziehungsweise der Sünde so umzudeuten, daß er
die Systemeinheit nicht stört. Im System des Rechtes erscheint das
sogenannte Unrecht als gar nichts anderes denn als Bedingung, als
eine spezifische, von der Rechtsordnung im Rechtssatz gesetzte
Bedingung für eine spezifische im Rechts s atz gesetzte Folge :
Strafe oder Exekution. Das Unrecht als Negation des Rechtes ver
schwindet, der Rechtssatz wird nicht als ein Imperativ formuliert,
der das die sogenannte Unrechtsfolge vermeidende Verhalten fordert,
sondern als hypothetisches Urteil, das an einen bestimmten
Tatbestand als Bedingung eine bestimmte Folge knüpft, und zwar
in der Aussageform des Sollens. Wenn jemand stiehlt, so soll er
bestraft werden, und nicht: 1. Niemand soll stehlen, 2. der Dieb
soll bestraft werden. Das ist unter anderem der logisch-systematische
Sinn der von mir näher durchgeführten Konstruktion des Rechtssatzes
in bezug auf den Begriff des Unrechtes. Und in diesem Sinne konnte
ich sagen, „daß das Unrecht nach den unumstößlichen Prinzipien
der Rechtslogik immer nur als Voraussetzung, nicht als Inhalt des
staatlichen Wollens oder Handelns gelten kann" Damit ist
2).
Tatbestand der Sünde kann man nicht negieren. Man muß ihn
eben so deuten, daß er mit dem göttlichen System in Einklang gerät.
Nach dieser Richtung zielt die Lehre, „daß Gott zwar das Natur-
und Straf übel wollen kann, aber nur per accidens, dagegen niemals
Kaftan, Ueber Staatsunrecht,
S.
339. 17.
S.
«) !)
s) *)
2).
klarer tritt dies bei SCHELL hervor: „Die zu hoffende Lösung des
Gegensatzes zwischen dem Bösen in der Schöpfung und der Güte
des Weltenherrschers kann nicht in einer Lockerung des Ursächlich-
keitszusammenhanges zwischen Gott und der geschöpflichen Freiheit
liegen, sondern nur in der Weltgestaltung selbst, in der Ver
wendung, welche dasBöse in seiner Verdammnis
für die Weltvollendung und das Weltganze findet.
Die Unterordnung des Bösen unter das Gute muß
in dem Werke Gottes selbst stattfinden und dergestalt sein, daß das
Werk der vollendeten Schöpfung in allen seinen Teilen die unend
liche Güte und Gerechtigkeit in ihrer göttlichen Untrennbarkeit
offenbart und verherrlicht." „Es wird gelehrt: Gottes Ursächlichkeit
sei eine ganz andere hinsichtlich des Guten und des Bösen. Nicht
als ob letzteres unabhängig oder minder abhängig von der Allursache
im Reiche der zweiten Ursachen entstünde, denn sonst wäre es als
solches ein Etwas und eine Macht aus sich. Das Gute ist als
solches von Gott gewollt und gewirkt, so daß es trotz aller
weiteren Zweckbestimmungen nie den Charakter
des Guten verliert. ... Das Böse hingegen ist nur insofern
von Gottes Ursächlichkeit gewirkt, als es gut ist; dies ist es
nicht in sich, sondern nur insofern es dem Guten durch Zweck
beziehung und Unterordnung dient.Das Böse ist Gottes
Wirkung, insofern es gut ist und im Guten des
Schöpfungsganzen aufgeht"3). M. a. W.: Der als „Sünde"
bezeichnete Tatbestand kommt für die Theologie nur als e-
B
n für die von Gott gewollte und darum ein Gut darstel
u n
g
g
d
i
lende spezifische Folge in Betracht und ist insofern auch Inhalt des
göttlichen Willens und sohin ein Gut. Ganz ebenso wie der als
Unrecht bezeichnete Tatbestand für die Jurisprudenz nur als Be
dingung für die von der Rechtsordnung darauf gesetzte Folge
PohLe, Bd., S. 234,
1.
236.
2) ')
0., 0.
S.
Bd.,
S.
a. a. 239. a. a. 161/162.
»)
I.
§ 41. Gott — Mensch, Staat — Individuum; die Willensfreiheit. 237
§ 41.
Gott — Mensch, Staat — Individuum; die Willens
freiheit.
Das Verhältnis Gott — Welt tritt in einer besonderen Gestaltung
in dem Verhältnis Gott — Mensch, richtiger: Gott und Einzelseele,
auf und entspricht durchaus der Beziehung zwischen Staat und
Individuum, genauer: zwischen der Person des Staates und den dem
Staate unterworfen gedachten Einzelsubjekten, den sogenannten phy
sischen und juristischen Personen. Da Gott als geistiges Wesen
gedacht wird, muß auch der Mensch — der nach dem „Ebenbilde"
Gottes geschaffen wurde — für die Theologie grundsätzlich als gei
stiges Wesen in Betracht kommen, das heißt: der Mensch als bio
logisch-physiologische Einheit (Realität) existiert für den Bereich
des Gottessystems überhaupt nicht. Zwar wird gelehrt, der Mensch
bestehe aus Leib und Seele; sieht man aber näher zu, zeigt sich,
daß das wesentliche Element die Seele ist. Denn die dychotomistische
Theorie wird des näheren dahin bestimmt,
„daß die Geistseele un
mittelbare Wesens form des Leibes ist". Ausdrücklich wird ein
paritätisches Nebeneinander von Seele und Leib abgelehnt und sta
tuiert, daß auch „die sensitiven und vegetativen Lebensvorgänge im
Menschen auf dieselbe Vernunftseele als ihr Prinzip zurück
zuführen sind"1). Nicht eigentlich „Menschen" im Sinne der modernen
Biologie, sondern „ Seelen " stehen Gott als der Universalseele gegen
über. Wenn LACtANtIUS lehrt, der Mensch sei „kein Erzeugnis der
Welt, noch ein Teil der Welt", und AMBROSIUS: der Mensch sei
„über der Welt" so ist damit eben das Individuum des Gottes-
2),
PohLe, Bd.,
S.
462.
1.
») ')
Bd.,
8.
300/1.
238 IV- Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.
Systems gemeint und der irdische Mensch abgelehnt. Das ist durch
aus der gleiche Gesichtspunkt, von dem aus in den vorhergehenden
Ausführungen betont werden mußte, daß der „Mensch" als biologisch-
psychologische Einheit nicht Gegenstand der Rechtswissenschaft sei,
daß das Recht es nicht eigentlich mit „Menschen", sondern mit
Handlungen, Unterlassungen zu tun habe, die in diesem System zu
anderen Einheiten verbunden werden, als das System der Biologie
aufweist. Das Subjekt des Rechtes ist nicht der Mensch, sondern
die Person, das Rechtssubjekt, das — als Personifikation einer
Teilrechtsordnung — ebenso nach dem „ Ebenbilde" des Staates —
der Personifikation der Totalrechtsordnung — geschaffen ist wie die
Einzelseele nach dem Ebenbilde Gottes.
So wie die Theologie notwendigerweise Gott und Mensch — im
Begriff der Seele — so muß die Rechtswissenschaft Staat und Indi
viduum im Begriffe der Person wenigstens grundsätzlich als wesens
gleich zu begreifen versuchen. Der Rechtswissenschaft ist dieser Ver
such bisher noch nicht ganz gelungen. Dem Begriff der sogenannten
physischen Person haften
— trotzdem die Theorie immer wieder be
tont, daß die „physische" Person auch nur eine „juristische" sei —
aus dem vulgären Sprachgebrauche und den unwissenschaftlichen, vor
wissenschaftlichen Denkgewohnheiten her noch starke naturalistische
Elemente an. Man stellt noch immer den „Menschen" und nicht die
Einzelperson der Uni versalperson des Staates gegenüber. Ja, die
3).
Von größter Bedeutung für die juristische Theorie aber wäre
die Erkenntnis, daß die Lehre von der Freiheit der Person
oder des persönlichen Willens, daß die ganze juristische
Willenstheorie,
ja
Bd.,
S.
630 ff.
I.
Tausendjährigen Reich, 1920 und meine Rezension im Archiv fär die Geschichte
des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Bd. IX, 422 ff.
S.
Vgl. dazu BaKunin, Gott und der Staat, Hauptwerke des Sozialismus
3J
vor allem StiRnERs „Der Einzige und sein Eigentum". Hier verbindet sich
in eigenartiger Weise die erkenntniskritische Auflösung der Personifikation
und Hypostasierung des Staates mit der Negation der Geltung der als Staat
bezeichneten Zwangsordnung. StirneR bekämpft den Irrtum, der Staat „sei
ein Ich, als welches er sich dann den Namen einer »moralischen, mystischen
oder staatlichen Person« beilegt". „Diese Löwenhaut des Ichs muß Ich, der Ich
wirklich Ich bin, dem stolzierenden Distelfresser abziehen" (Reclams Universal
bibliothek,
S.
261).
240 IV- Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.
rechnet. So wie Gott im Mensehen das Gute wirkt, wirkt der Teufel
in ihm das Böse. Der Mensch müßte eigentlich nur als ein Schnitt
punkt zweier nach verschiedenen Richtungen auseinanderfallenden
Zurechnungslinien angesehen werden. Und tatsächlich ist ein starker
Teufelsglaube, eine entwickelte Satanologie eigentlich notwendig mit
einer deterministischen Anschauung vom Wesen des
menschlichen Willens verbunden. Ein schlagender Beweis hiefür ist
wohl LUtHER, dessen Teufelsglaube Hand in Hand geht mit seiner
Leugnung der Willensfreiheit. In demselben Maße aber, als Teufels
glaube und Teufelstheorie zurücktritt, als man in der Theologie —
aus gewissen naheliegenden Gründen — die Vorstellung eines Gegen
gottes und eines dem himmlischen Reiche entgegenstehenden Höllen
reiches in den Hintergrund drängt, ergibt sich die Notwendigkeit
eines anderen Zurechnungspunktes für das Böse. Wenn man dies
dem Menschen selbst, seinem nunmehr „bösen" Willen zurechnet,
wenn der Mensch sozusagen sein eigener Teufel wird, so bedeutet das:
daß die Zurechnung innerhalb eines Teilsystems beschlossen bleibt,
das sich gegenüber verselbständigt, daß man auf
dem Gesamtsystem
die Konstruktion universalen Systems des Bösen verzichtet,
eines
die Zurechnung des einzelnen Tatbestandes nicht mehr zu der Ein
heit des Gesamt-, sondern zu der Einheit des Teilsystems führt.
"
Die Zurechnung des Bösen zum „ Menschen hat dann auch diejenige
des Guten zur Folge. Der Mensch soll nicht bloß sein eigener Teufel,
er soll auch sein eigener Gott sein. Nachdem die Dogmatik erkennt,
daß „die Zurückführung des Bösen auf Gott einen Widerspruch in
sich selbst bedeuten würde ", und da sie eine Zurechnung zum Teufel
nicht vornehmen will, muß sie erklären : „Es bleibt nur die eine
Auskunft möglich, auf die auch die Tatsachen der sittlichen Er
fahrung fußen : Das Böse hat seinen Ursprung im Willen der
persönlichen Kreatur", „der Ursprung des Bösen liegt in dem
freien Willen des Menschen"1). Die „Freiheit" der menschlichen
Person bedeutet gar nichts anderes als den Ausdruck für die in dieser
Hinsicht angenommenen Unabhängigkeit von der Person Gottes; es
ist die Aufrichtung eines zweiten selbständigen Systems; genauer:
einer Vielheit von Systemen, die* in monadologischer Isoliertheit
nebeneinanderstehen. An Stelle des Dualismus : Gott-Teufel tritt ein
Plurismus: Gottseele „freie" Einzelseelen; daß er sich gegen
und
über dem Postulat der
Systemeinheit und Einzigkeit nicht halten
kann (daß — theologisch gesprochen — die Annahme „freier", von
Gott freier Persönlichkeiten neben der Gottes Vielgötterei bedeutet),
kommt hier weiter nicht in Betracht Wichtig ist nnr, daß diese
1).
„Freiheit" mit Kausalität gar nichts zu tun hat, insbesondere auch
nicht eine Negation der Kausalität für irgendeinen Bereich des Natur
geschehens bedeutet. Für gewisse Tatbestände wird ein anderer
normativer Zurechnungspunkt gesucht als der sonst übliche, die
Person oder der Wille Gottes. Bedenkt man, daß „Person" und
Wille identische Begriffe sind, daß beide Worte nur dieselbe Per
"
„
ja
Daß die Gottesidee an sich und ohne Zuhilfenahme der ihr wider
')
8.
28:
„Die Gottesidee enthält die Abdankung der menschlichen Vernunft und Ge
rechtigkeit in sich, sie ist die entschiedenste Negation der
menschlichen Freiheit und führt notwendig zur Versklavung der
Menschen in Theorie und Praxis. So wie Gott für die Theologie, so
"
nur durch die Selbstbeschränkung des Staates ist das individuelle Rechts
subjekt möglich! (System der subj. öffentl. Rechte,
S.
194, 195.)
Kelsen, Staatsbegriff. 16
242 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.
nur ein Systemteil) identisch ist mit der „Freiheit4, die man von
der Personifikation des Systems, von der „Person" oder vom „ Willen"
aussagt, dann ist klar, was ich schon in meinen „Hauptproblemen"
ausgesprochen habe, daß der der für die Rechtstheorie —
„Wille",
ebenso wie für Ethik und Theologie — in Betracht kommt, nichts
anderes ist als ein Zurechnungspunkt, und als End punkt der
Zurechnung — Ausdruck für die Einheit und Unabhängigkeit eines
normativen Systems — „frei" heißt.
Bedenkt man weiter, daß der „Wille" von allem Anfang an nur
als „freier" Wille dem wissenschaftlichen Denken gegeben war, daß
es die Wissenschaften der Ethik, Politik, Jurisprudenz und vor allem
der Theologie waren, die des Willens benötigten,
den Begriff
die kausalwissenschaftliche Psychologie aber, wie sie sich
überhaupt erst viel später entwickelte so auch den Begriff des Willens
eigentlich schon von den genannten normativen Disziplinen vor
gebildet fand, so ist es gewiß mehr als wahrscheinlich, daß dieser
ganze Begriff des Willens — der als „freier" Wille in der Psycho
logie als einer Kausalwissenschaft keinen Platz finden kann —
überhaupt eine normativ - systematische Konstruktion, eine Per
sonifikation der normativen Systemeinheit ist und, wie so viele
Personifikationen hypostasiert, nun von der Psychologie — weil in
das „Innere" des Menschen verlegt — für eine psychische Realität
gehalten wird.
DieseUeberlegung findet ihre Bestätigung in der Tatsache, daß
die moderne Psychologie bei ihrer Analyse der psychischen Phä
nomene sich immer mehr gedrängt sieht, die Trias Denken, Fühlen,
Wollen durch eine Zweiteilung in der ein selbständiger
zu ersetzen,
Willensbegriff keinen Platz hat. Die kausal orientierte naturwissen
schaftliche Psychologie, die konsequenterweise nur einen unfreien,
determinierten Willen gelten lassen kann, wird durch eine immanente
Tendenz zur Auflösung des Willensbegriffes überhaupt gedrängt.
Der „unfreie" Wille stellt sich als überflüssiger Begriff heraus.
Der Wille ist entweder „frei" oder er ist überhaupt nicht, das
heißt, er ist ein Begriff
ethisch-juristischer, nicht psychologischer
Erkenntnis. Das bestätigt die von den bedeutendsten Theoretikern
vertretene sogenannte „heterogenetische" Willenstheorie, derzufolge
der „Wille" keine primäre, elementare,
ursprüngliche oder spezi
fische Tatsache des Seelenlebens, sondern nur ein Produkt oder
eine Summe anderer psychischer Faktoren, etwas Abgeleitetes, Se
kundäres ist. Nach dem Intellektualismus ist er eine Richtung oder
Funktion des Denkens oder Vorstellens, nach der sensualistischen
Assoziationspsychologie ein Komplex von Empfindungen mit moto
§ 41. Gott — Mensch, Staat — Individuum; die Willengfreiheit. 243
rischer Tendenz, nach anderen besteht der Wille nur aus Gefühlen
und ihren Wirkungen
Als ein charakteristischer Vertreter einer heterogenetischen
Willenstheorie sei FRItZ MaUthNER angeführt. Dessen Darstellung2)
zeigt besonders deutlich, wie eine das menschliche Verhalten
kausal wissenschaftlich betrachtende
Erkenntnis einen Willensbegriff
zur Erklärung der Erscheinungen gar nicht braucht, ein spezifisches
Phänomen „Wille" gar nicht vorfindet. „In der ewigen Kette der
Kausalität ...
ist immer und überall jede Veränderung die Wirkung
einer vorausgegangenen und die Ursache einer zukünftigen Verände
rung. Jedes Geschehen auf der Welt, jede minimalste Veränderung
ist ein Zwischenglied zwischen einer entfernteren Ursache und einer
entfernteren Wirkung. Bei den menschlichen Handlungen ist das
der einzige Unterschied,daß unser eigener Leib das Zwischenglied
ist. Und während bei den äußeren Sinneseindrücken dieses Leibes
der Gefühlswert oder die Beziehung zu unserem Interesse ein ge
ringerer ist und darum gewöhnlich keinen besonderen Namen hat,
ist der Gefühlswert unserer Handlungen ein sehr starker und hat
darum einen besonderen Namen erhalten: das Wollen. Die Sprache
setzt mich hier in Verlegenheit. Ich habe vorhin das Abstraktum
Wille abgelehnt und nur die einzelnen Willensakte gelten lassen.
Nun aber entdecken wir, daß diese einzelnen Erscheinungen des
Wollens gar keine Akte oder Handlungen
sein können, nur sondern
sie begleiten oder vielmehr ihnen vorausgehen, um Augenblicke vor
ausgehen. Unsere Bewegungsgefühle sind uns bekannt, sie sind so
deutlich, daß sie uns ein Bild der unmittelbar folgenden Handlung
vorausgeben, und die Folgen
dieser Handlung sind uns aus unserer
Erfahrung nicht mehrnicht weniger bekannt als andere Er
und
scheinungen der äußeren Welt. Viel lebhafter als bei den Sinnes
eindrücken, die in Milliarden auf uns einstürmen, haben wir darum
bei oder vor unseren Handlungen das Gefühl, ob sie oder ihre
Folgen uns angenehm oder unangenehm sein werden. Dieses G e-
f ü h 1 nun drücken wir, weil es uns angeht, in einem Begriff aus ;
wir sagen das eine Mal: Ich will, das andere Mal: Ich will
nicht. Die Frage, ob dieses Gefühl sich zwischen das Bewegungs
gefühl und die wirkliche Handlung drängen kann, ob die Ausführung
der Handlung von diesem Gefühl abhängig ist, wäre in anderem
Zusammenhange zu beantworten. Hier handelt es sich nur darum,
festzustellen, daß der sogenannte Wille als Kraft ein mytho-
1).
Ob man nun dieser oder einer anderen heterogenetischen Willens
theorie in allen Einzelheiten zuzustimmen geneigt ist oder nicht. das
eine muß man jedenfalls zugeben, daß die kausalwissenschaftliche
Psychologie ohne den Begriff eines spezifischen Willens auskommen
kann, daß es vornehmlich ethische (oder metaphysische) Erwägungen
sind, die zum Begriff des Willens und dann stets zu dem des freien
Willens führen. Der Begriff der Willensfreiheit
ist, wenn
nicht identisch mit, so doch in Korrelation zu dem Begriff der
Autonomie. Der freie Wille ist die in das „Innere" der Men
schen verlegte „introjizierte" und sodann — in üblicher Weise —
zu einer (psychologischen) Realität hypostasierte und zu einer „Ur
sache", und zwar „ersten", schöpferischen Ursache umgedeutete Norm.
Ist der „Wille" mit dem „freien" Willen für identisch und als
eine Personifikation eines selbständigen Normensystems, als norma
tiver Zurechnungs n punkt erkannt, dann wird endlich das welt
d
e
"
verständnis
„
besteht aus nichts weiter als aus der von assoziierten Kopfmuskelspannungs-
empfiudungen häufig begleiteten Wahrnehmung eines durch eigene Körper
bewegung erreichten Effekts mit vorhergehender, aus der Phantasie, das heißt
in letzter Linie aus der Erinnerung geschöpften Vorstellung desselben, und
diese antizipierte Vorstellung ist, wenn der Effekt eine Körperbewegung selbst
ist, uns als Innervationsempfindung gegeben." Zitiert nach EisLeR, Philos.
Wörterb. III, S. 1807 und 1809.
§ 42. Der theologische und der juristische Wunderglaube. 245
§ 42.
3).
In diesem „Hinausgehen über die Natur", in dieser Annahme einer
gegen Ordnung der Natur (im System der Naturgesetze)
die ver
schiedenen und von ihr unabhängigen übernatürlichen Ordnung des
göttlichen Willens, in diesem Operieren mit zwei Ord
nungen liegt das charakteristische Moment der
Theologie, darin besteht geradezu die theologische
Methode!
Es ist die Methode der Staatslehre, die erklärt, der Staat
könne von Natur wozu er mächtig sei, von Rechts wegen
aus alles,
aber nur, wozu ihn die Rechtsgesetze — die sein Wille sind — er
mächtigen Einerseits kann ein Akt als Staats- oder Rechtsakt nur
!
a. a. 287.
S.
a. a. 307.
»)
•) ')
a. a. 0. 310.
§ 43. Die Ueberwindung der theologischen Methode. 247
nicht begriffen werden kann, sondern auf Grund einer anderen, über-
oder außerrechtlichen Ordnung, der Ordnung des staatlichen Willens
als eines metarechtlichen Machtphänomens bestimmt wird, er ist das
Rechtswunder Keineswegs das einzige, sondern nur das typische.
Die theologische Methode des Operierens mit zwei Systemen, die
Methode des Bodens oder der doppelten Wahrheit läßt
doppelten
auch das Rechtswunder in mannigfaltigen Gestalten auftauchen.
Wie diese spezifisch theologische Methode bis ins Detail die heutige
Staats- und Rechtslehre beherrscht, das zeigt, daß auch die theo
logische Regel, nach der die beiden verschiedenen Ordnungen im
konkreten Fall heranzuziehen sind, in der Staats- und Rechtslehre
praktiziert wird. Die katholische Dogmatik lehrt: „Weil der Schöpfer
am Anfange der Dinge nicht nur die Natur, sondern auch die Natur
gesetze begründet hat, so soll man die Zuflucht zu Wundern mög
lichst vermeiden und, wo immer es angeht, die natürlichen Erklärungen
des Schöpfungsvorganges bevorzugen" Gewiß : wenn irgend mög
lich, soll man juristisch
konstruieren ; wenn es aber nicht mehr
angeht — das heißt, wenn gewisse, vom jeweiligen Standpunkt
allerdings verschiedene politische Interessen es gebieten,
dann darf man zu dem metarechtlichen System seine Zuflucht nehmen.
Dann darf man einen Akt, den keine Norm des positiven Rechts
auf die Einheit des Rechtssystems beziehen läßt, der „außerhalb des
Rechtes steht ", also rechtlich Nichts, ein Willkürakt oder viel
leicht sogar ein Unrecht ist, auf das eine Strafe gesetzt ist (den
„nichtigen" „rechtswidrigen" Akt), dennoch als Staatsakt
oder
gelten lassen, also doch irgendwie nicht dem physisch Handelnden,
sondern einem „hinter" ihm gedachten Subjekt zurechnen, das heißt
aber : auf die Systemeinheit des Rechts beziehen
3).
12. Kapitel.
Pantheismus und reine Rechtslehre.
43.
§
445.
I.
») 2)
1).
gehen, der letztere die Welt in Gott. Darum führe der erstere zum
„Pankosmismus", der letztere zum Akosmismus" der eine negiert
;
Gott zugunsten der Welt, der andere die Welt zugunsten Gottes.
Nur der Pankosmismus, ist der eigentliche Feind der
erstere, der
Theologie, und nur als Pankosmismus hat der Pantheismus historische,
wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung erlangt, indem auf dem Wege
dieses Pantheismus die Naturwissenschaft sich aus den Banden der
Theologie befreite.
Bei der Tendenz, den Dualismus von Staat und Recht zu über
winden und die Systemeinheit herzustellen — eine Tendenz, die der
Staatstheologie stets verdächtig war, weil sie ihre Methode und da
mit sie selbst zu vernichten droht — lassen sich gleichfalls die
,
beiden Richtungen unterscheiden, von denen die eine das Recht im
Staat, die andere den Staat im Recht aufgehen lassen will. Indes
spielt hier diese Richtungsverschiedenheit keine entscheidende Rolle.
Worauf es ankommt, ist vor allem die Erkenntnis, daß, solange
Staat und Recht als zwei voneinander verschiedene Wesenheiten be
hauptet werden, für die Staats- und Rechtstheorie die gleiche Alter
native gilt, vor die FeUBRBACHs Kritik des Gottesbegriffs die Theologie
stellt: Weil Gott die Natur und die Natur Gott aufhebt, darum:
„Entweder Gott oder Natur! Ein drittes, Mittleres, ein beide Ver
einigendes gibt es nicht" Weil
Auge erselbst dem blödesten
2).
gangs
ob man von der Ueberwindung des naturrechtlichen oder des macht
politischen Standpunkts herkommt. Im ersteren Fall sagt man: Das
Recht, die jeweilige Rechtsordnung ist der Staat, das heißt ist
positiv, im zweiten Fall: Der Staat, der jeweilige Staat ist das Recht.
PohLe, 0.
S.
Bd., 403.
S.
a. a. 207.
I.
«)
2)
§ 44. Der Staat als Gott. 249
§ 44.
Der Staat als Gott.
Zwischen„Gott" und „Staat" sowie ihren beiden Widerparten
„Natur" „Recht" besteht nicht nur eine logische Parallele,
und
sondern auch manche reale Beziehung. Vor allem muß daran er
innert werden, daß die erste Naturerkenntnis mythologisch-religiösen
Charakters ist, und daß sie die natürlichen Erscheinungen bewußt
nach Analogie der durch Staat oder Recht geordneten menschlichen
Verhältnisse zu begreifen sucht. Der die Menschen durch Gesetzes
befehl leitende König ist das Urbild für die die Natur lenkende
Gottheit. Politisch-juristisches Denken geht naturwissenschaftlicher
Erkenntnis nicht nur voran, sondern weist ihr auch die ersten Wege.
Der Begriff des Gesetzes tritt zuerst als Rechtsgesetz auf und
wird zunächst unverändert von der Naturerkenntnis übernommen, um
erst in einem langwierigen Bedeutungswandel sich als Naturgesetz
seinem Ursprung, dem Rechtsgesetz, entgegenzustellen Das System
von Staat und Recht ist das bestimmende Vorbild für das System
von Gott und Natur. Auf einer gewissen Stufe der religiösen und
politischen Entwicklung fallen die Vorstellungen von Gott und Staat
geradezu zusammen : Der Nationalgott ist einfach die in der Personi
fikation vergöttlichte Nation; es ist der Zustand, in dem die religiöse
und die rechtliche Organisation, in der Kirche und Staat identisch
sind. Daß diese Entwicklungsstufe in der Regel polytheistischen
Charakter hat, ist kein ernstlicher Einwand. Denn auch die Vielheit
der Götter bildet irgendwie eine göttliche Einheit, die sich in der
Unterordnung unter einen Hauptgott oder auf andere Weise darstellt.
Andererseits geht die Loslösung des Gottesbegriffes von der nationalen
Gemeinschaft, die Ausbildung eines übernationalen, anationalen Gottes
Hand in Hand mit der Bildung eines Menschheits- oder Weltbewußt
seins, einer überstaatlichen Gemeinschaft. Trotzdem das Christentum
einen „kosmopolitischen Gott" aufgerichtet hat, läßt sich dennoch
die Tendenz feststellen, auch diesem Gottesbegriff eine nationale,
Färbung zu geben, ihn zu einem Staatsgott zu machen.
einzelstaatliche
Schon FeUERBACH hat auf die Beziehungen zwischen Staat3gefühl
und religiösem Gefühl, zwischen Patriotismus und Religion aufmerk
sam gemacht. „Haben doch selbst die Franzosen das Sprichwort:
Der liebe Gott ist gut französisch, und schämen sich doch selbst
in unseren Tagen nicht die Deutschen, welche doch wahrlich keinen
Grund haben, wenigstens in politischer Hinsicht, auf ihr Vaterland
stolz zu sein, von einem deutschen Gott zu sprechen .... so
lange viele Völker gibt, so lange gibt es auch viele Götter ; denn
es
der Gott eines Volkes, wenigstens sein wirklicher Gott, welcher wohl
zu unterscheiden ist von dem Gott seiner Dogmatiker und Religions
"
philosophen, ist nichts anderes als sein Nationalgefühl Er hätte
1).
ruhig sagen können: nichts anderes als sein „Staat". Das zeigt sich
auch in der Tatsache, daß in demselben Maße, als bei zunehmender
religiöser Skepsis und Indifferenz die Ideologie Gottes zurücktritt, die
Ideologie des Staates an ihre Stelle tritt und als Ersatz im Bewußt
sein der Menschen eine Reihe von Funktionen übernimmt, die sonst
die Ideologie Gottes versieht. Das Anbetungsbedürfnis, das Bedürf
nis, sich einem Höheren, Heiligen zu unterwerfen, sich aufzuopfern,
kurz alle auf die Verkleinerung, Selbstentäußerung,
ja
Selbstver
nichtung gerichteten Instinkte des Menschen, sie finden ihre Be
friedigung in jener Vergöttlichung des Staates, in jeuem bis ins
Sinnlose gesteigerten Staatsfetischismus, dessen menschen- und kultur
feindliche Wirkungen wir aus nächster Nähe konstatieren können.
Andererseits sucht aber auch der Wille
zur Macht, der sich
vordem auf dem Wege der Identifikation des Einzelnen mit seinem
Gotte, im Kampfe für diesen speziellen Gott, für einen Sieg dieses
Gottes manifestierte, der doch nur als der Sieg der eigenen Persön
lichkeit befriedigte, mit dem Verblassen des Gottesgedankens nun
mehr allein im StaatWenn man bedenkt, daß
seine Maske.
"
„
heute sagt, die nationale Idee, sondern die Idee des Staates getreten2).
a. a. 0.
8.
49.
») ')
§ 45.
Der übernatürliche Gottesbegriff und der über
rechtliche S t aa t s b e gr i f f als H y p o s t a s i er u n g ge
wisser, den Natur- bzw. Rechtsgesetzen wider
sprechender Postulat e.
In seiner berühmten Kritik erklärt FEUERBACH die Religion im
allgemeinen wie die Idee Gottes im besonderen als ein Produkt
wunscherfüllender Phantasie. Der übernatürliche, an die
Schranken der Naturgesetze nicht gebundene, wunderwirkende Gott
soziale Einheit — nach der Vorstellung der Primitiven — hergestellt. Wer
mitißt, der gilt als zugehörig. „Warum wird aber dem gemeinsamen Essen
und Trinken diese bindende Kraft zugeschrieben? In den primitivsten Gesell
schaften gibt es nur ein Band, welches unbedingt und ausnahmslos einigt, das
der Stammesgemeinschaft (kinship). Die Mitglieder dieser Gemeinschaft treten
solidarisch füreinander ein, ein Ein ist eine Gruppe von Personen, deren Leben
solcherart zu einer physischen Einheit verbunden sind, daß man sie
wie Stücke eines gemeinsamen Lebens betrachten kann . . . Kinship bedeutet
also : einen Anteil haben an einer gemeinsamen Substanz . . ." ,Wir haben
gehört, daß in späteren Zeiten jedes gemeinsame Essen, die Teilnahme
an der nämlichen Substanz, welche in ihre Körper eindringt, ein
heiliges Band zwischen den Commensalen herstellt; in ältesten Zeiten scheint
diese Bedeutung nur der Teilnahme an der Substanz eines heiligen
Opfers zuzukommen. Das heilige Mysterium des Opfertodes rechtfertigt sich,
indemnur auf diesem Wege das heilige Band hergestellt
werden kann, welches die Teilnehmer untereinander und
mit ihrem Gotte einigt." durchaus realistische Auffassung der
„Die
Blutsgemeinschaft als Identität der Substanz läßt die Notwendigkeit
verstehen, sie von Zeit zu Zeit durch den physischen Prozeß der Opfermahlzeit
zu erneuern." Dieses Opfer hat eben „die heilige Substanz zu liefern
durch deren Genuß die Clangenossen sich ihrer stofflichen Identität
untereinander und mit der Gottheit versichern." Fkeud, a. a. 0. S. 123 ff.
Die hier angeführten Stellen sind für die im Texte behaupteten Beziehungen
zwischen Gott und Staat in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Erstlich, daß
dem primitiven Denken die soziale Einheit, die Verbindung einer Viel
heit von Individuen zur Einheit in der sieht- und greifbaren S u b s t a n z des
gemeinsam verzehrten Opfer-(Totem-)Tieres zum Ausdruck kommt. Dann aber,
daß die soziale Einheit von vornherein religiösen Charakter hat, daß die soziale
Verbindung gleichsam vermittels der Verbindung mit der Gottheit zustande
kommt, ja daß beide Verbindungen — als seelische Bindungen — im Grunde
von allem Anfang an identisch sind, was sich darin zeigt, daß
das geopferte Totem-Tier, dessen gemeinsame Verzehrung die soziale Ver
bindung herstellt, die Gottheit selbst ist. Gerade nach dieser Richtung führt
die FBEUD8che Psychoanalyse zu der bedeutsamen Erkenntnis einer gemein
samen seelischen Wurzel der Staats- und Gottesidee, der sozialen und reli
giösen Einstellung des Menschen. Diese überaus interessanten Gedankengänge
zu verfolgen, die die eigentliche Arbeit der Psychoanalyse darstellen, fällt
jedoch schon außerhalb des Rahmens dieser Arbeit.
252 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.
ist nur ein Ausdruck für die über die Grenzen des Wirklichen und
Notwendigen „über die Grenzen der Natur und Welt hinausgehenden"1)
Wünsche der Menschen. „Gott erfüllt, was der Mensch wünscht;
er ist ein den Wünschen des Menschen entsprechendes Wesen"2).
Im Wunder wirkt der supranaturale Gott dieErfüllung aller Wünsche,
auf die verzichten muß, der sich im Bereiche der Natur bescheidet.
Mit dieser treffenden Psychologie des überweltlichen Gottesbegriffes
ist zugleich der Schlüssel zu dem überrechtlichen Staatsbegriff
Er ist ein Ausdruck bestimmter, in der
gegeben.
Rechtsordnung nicht anerkannter politischer
Postulate, er soll die Befriedigung von politischen
Interessen ermöglichen, die die Rechtsordnung
nicht gelten läßt, die im Widerspruch zur Rechts
ordnung stehen. Hier muß an all das erinnert werden, was
früher über die Entstehung des vom Begriff des Rechts verschie
3)
denen, gegen das Recht gerichteten Begriff des Staates und sein
Eindringen in die deutsche Rechtswissenschaft, was insbesondere
von dem die heutige Rechtssystematik beherrschenden Gegensatz von
öffentlichem und privatem Recht gesagt wurde : Daß schon diese logisch
unhaltbare Grundeinteilung des Rechtes auf einer politischen, gegen
das positive Recht gerichteten Tendenz, auf dem Wunsche beruht,
die gegebene Rechtsordnung stellenweise durch eine andere, den
politischen Wünschen des Interpreten entsprechende Ordnung zu er
setzen. Die Fernhaltung aller Politik ist zwar eine heute allgemein
anerkannte Forderung der positivistischen Rechtswissenschaft. Allein
erfüllt kann sie nur werden, wenn auf den Begriff eines metarecht
lichen Staates verzichtet wird. Und dieser Verzicht ist, weil er das
Operieren mit zwei beziehungslosen Erkenntnissystemen aufhebt,
nicht nur eine logisch-erkenntnistheoretische, er ist auch eine ethische
Notwendigkeit. An Stelle der theologischen Methode der „doppelten
Wahrheit" tritt mit der System e i n h e i t das dem logischen Ideal
der einen Wahrheit immanente Ideal der Wahrhaftigkeit.
Die Aufhebung des hier als das Wesen der Theologie bezeich
neten Dualismus der beiden miteinander unvereinbaren Systeme
„Gott — Natur" führt zur reinen Naturwissenschaft; kann aber auch
zu einer „reinen", das heißt in keiner Weise auf das System „Natur"
bezogenen Theologie führen, die dann freilich nicht mehr Theologie
im bisherigen Sinne, sondern reine Ethik wäre. Sofern in dem Dua
lismus „Staat — Recht" zwei verschiedene Normsysteme, nämlich
Politik und positives Recht (und nicht wie in dem Dualismus '„Gott
HAUPTPRORLEME
DER STAATSRECHTSLEHRE ENTWICKELT
AUS DER LEHRE VOM RECHTSSATZE
8. 1911. M. 16.—.
HERRNRITT R. H.
GRUNDLEHREN DES VERWALTUNGSRECHTES
Mit vorzugsweiser Berücksichtigung der in Oesterreich (Nachfolgestaaten)
geltenden Rechtsordnung und Praxis dargestellt
Groß 8. 1921. M. 110.—, gebunden M. 130.—.
W. B AUER
EINFÜHRUNG
IN DAS STUDIUM DER GESCHICHTE
Groß 8. 1921. M. 96.—, gebunden M. 114.—.
Verlags- Tenemngszusclllag ab 1- Januar 1922 bei Werken mit Jahressahl bis 1917: 40<>%,
mit Jahreszahl 1918 and 1919: 300%, mit Jahreszahl 1920: 100%,
mit Jahreszahl 1921, 1922 und mit Preisen mit * kein Teuerangszascklag.
VeRLag von J. C. B. Mohr (PauL SiebecK) in Tübingen.
J.LÜKAS
DIE ORGANISATORISCHEN GRUNDGEDANKEN
DER NEUEN REICHSVERFASSUNG
Groß 8. 1920. M. 3.—.
JUSTIZVERWALTUNG
UND RELAGERUNGSZUSTANDSGESETZ
Zugleich ein Beitrag zur Gewaltenlehre
Groß 8. 1916. M. 1.—.
(Aus der Festgabe für Otto Mayer.)
A. MENZEL
ZUR LEHRE VON DER NOTVERORDNUNG
Groß 8. 1908. M. 1.—.
(Aus den Staatsrechtlichen Abhandlungen, Festgabe für Paul Laband.)
6. SEIDLER
DAS JURISTISCHE KRITERIUM DES STAATES
Groß 8. 1905. M. 2.—.
E. BEBNATZIK
REPURLIK UND MONARCHIE
2., durchgesehene Auflage.
8. 1919. M. 2.40.
H. NAW1ASKY
DER RUNDESSTAAT ALS RECHTSREGRIFF
Groß 8. 1920. M. 24.—.
6. (taufmann
ÄrtiU bcr ncuJanttfct>cn 9ierf><$WilofoMte
(Sine 33etrad)tung über bie SBejtebunflen jroifdjen spbilofopbte
unb SKecbtäroiffenfchaft
8. 1821. 301. 24.—.
A. BAüMOAUTEN
DIE WISSENSCHAFT VOM RECHT
UND IHRE METHODE
I. Band:
Die theoretische Grundlegung
8. 1920. M. 28.—.
II. Band: Unter der Presse.
verlags-Teuernngszaschlag ab 1. Januar 1*22 bei Werken mit Jahreszahl big 1917: «00%,
mit Jahreszahl 1H18 und 1919: 300%, mit Jahreitahl 1920: 100%,
mit Jahreszahl 1921, 1922 und mit Preisen mit • kein TenernnKszuschlas.
DATE
LAST
ON THE
IS DUE BELOW
THIS BOOK
STAMPED CENTS
f INE OF 25 TO RETURN
AN INITIAL FOR FAILURETHE
PENALTY
DUE. FOURTH
ASSESSED
BE DATE ON THE DAY
WILL ON THE 50 CENTS SEVENTH
BOOK TO THE
THIS ON
INCREASE
WILL TO $1.00
DAY AND
OVERDUE.