Von
C a rl S c h m i t t
Seile
32. Völkerrechtliche Neutralität und völkischeTotalität (1938) .............................. 255
33. Uber die zwei großen „Dualismen“ desheutigen Rechtssystems (1939) .. 261
34. Neutralität und Neutralisierungen (1939) ........................................................... 271
35. Großraum gegen Universalismus (1939) ........................................................... 295
36. Der Reichsbegriff im Völkerrecht (1939) ........................................................... 303
Hinweise ....................................................................................................................... 313
Sachregister .................................................................................................. 318
Namenregister .............................................................................................................. 320
*
l. Die politische Theorie des Mythus (1923)
Es darf hier wiederholt werden, daß unsere Betrachtung ihr Interesse
konsequent auf die ideelle G rundlage politischer und staatsphilosophischer
Tendenzen richtet, um die geistesgeschichtliche Situation des heutigen
Parlam entarism us und die K raft der parlam entarischen Idee zu erkennen.
Lag in der Marxistischen D ik tatu r des Proletariats immer noch die Möglich
keit einer rationalistischenD iktatur, so beruhen die Lehren von der direkten
Aktion alle m ehr oder weniger bew ußt auf einer Irrationalitätsphilosophie.
In der W irklichkeit, wie sie in der bolschewistischen Herrschaft auftrat,
zeigte sich, daß im politischen Leben sehr verschiedene Ström ungen und
Tendenzen nebeneinander w irksam sein können. Obwohl die bolsche
wistische Regierung aus politischen G ründen die Anarchisten unterdrückte,
enthält der Komplex, in dem sich die bolschewistische A rgum entation ta t
sächlich bewegt, ausgesprochen anarcho-syndikalistische Gedankengänge,
und daß die Bolschewisten ihre politische Macht gebrauchen, um den
Anarchismus auszurotten, vernichtet die geistesgeschichtliche V erw andt
schaft ebensowenig, wie die U nterdrückung der Levellers durch Crom well
seinen Zusammenhang mit ihnen auf hebt. Vielleicht ist der M arxismus auf
russischem Boden gerade so hemmungslos aufgetreten, weil hier das prole
tarische D enken von allen Bindungen w esteuropäischer T radition und allen
den moralischen und Bildungsvorstellungen, in denen M arx und Engels noch
ganz selbstverständlich lebten, endgültig gelöst w ar. Die Theorie von der
D ik tatu r des Proletariats, wie sie heute offiziell ist, w äre zwar ein schönes
Beispiel dafür, wie ein der geschichtlichen Entwicklung sich bew ußter
Rationalism us zur G ew altanw endung schreitet; auch lassen sich in der G e
sinnung, in der A rgum entation, in der organisatorischen und adm inistrativen
D urchführung zahllose P arallelen zur jakobinischen D ik tatu r von 1793
zeigen, und die ganze Unterrichts- und Bildungsorganisation, die von der
Sow jetregierung im sogenannten „P roletkult“ geschaffen w urde, ist ein
herrlicher F all einer radikalen E rziehungsdiktatur. A ber damit ist noch
nicht erklärt, w arum gerade auf russischem Boden die Ideen des Industrie
proletariats m oderner G roßstädte zu solcher Herrschaft gelangen konnten.
D er G rund liegt darin, daß neue, irrationalistische Motive der G ew alt
anwendung mit w irksam gewesen sind. Nicht der aus einer extrem en Über
treibung in sein Gegenteil umschlagende Rationalism us, der in Utopien
phantasiert, sondern eine neue Bew ertung rationalen Denkens überhaupt,
ein neuer Glaube an Instinkt und Intuition, der jeden G lauben an die Dis
kussion beseitigt und es auch ablehnen w ürde, durch eine Erziehungs
diktatu r die Menschheit reif zur Diskussion zu machen.
10 Die politische Theorie des Mythus
Von den Schriften der Theorie einer direkten A ktion ist in Deutschland
eigentlich nur Enrico F erris „revolutionäre M ethode“ dank der Übersetzung
von Robert Michels (in der Grünbergschen Sammlung der H auptw erke des
Sozialismus) bekanntgew orden. D ie D arlegung im folgenden h ält sich an
die „Réflexions sur la violence“ von Georges Sorel1, die den geistesgeschicht
lichen Zusammenhang am deutlichsten erkennen lassen. Dies Buch hat
außerdem den Vorzug zahlreicher origineller historischer und philosophi
scher Aperçus und bekennt sich offen zu seinen geistigen Ahnen, zu P ro u
dhon, B akunin und Bergson. Sein Einfluß ist bedeutend größer, als m an auf
den ersten Blick erkennen könnte, und ist sicher noch nicht erledigt. Bene
detto Croce m einte zwar von Sorel, er habe dem m arxistischen Traum eine
neue Form gegeben, doch habe bei der A rbeiterschaft der demokratische
G edanke endgültig gesiegt. Nach den Ereignissen in R ußland und in Italien
w ird man das nicht m ehr so endgültig annehm en können. Die G rundlage
jen e r Reflexionen über die G ew alt ist eine Theorie unm ittelbaren kon
k reten Lebens, die von Bergson übernom m en und u n ter dem Einfluß von
zwei Anarchisten, Proudhon und Bakunin, auf Problem e des sozialen Lebens
übertragen wird.
F ü r Proudhon und für B akunin bedeutet Anarchismus einen Kam pf
gegen jede A rt systematischer Einheit, gegen die zentralisierende U ni
form ität des m odernen Staates, gegen die parlam entarischen Berufs
politiker, gegen B ürokratie, M ilitär und Polizei, gegen den als m etaphysi
schen Zentralismus empfundenen Gottesglauben. Die Analogie der beiden
Vorstellungen von Gott und Staat drängte sich Proudhon unter dem Einfluß
der Restaurationsphilosophie auf. E r gab ih r eine revolutionäre, an ti
staatliche und antitheologische W endung, die B akunin zur letzten Konse
quenz geführt h a t*23*. Die konkrete Individualität, die soziale W irklichkeit
des Lebens w ird in jedem um fassenden System vergew altigt. D er E inheits
fanatism us der A ufklärung ist nicht w eniger despotisch wie die Einheit und
Identität der m odernen D em okratie. Einheit ist Sklaverei; auf Z entralis
mus und A utorität beruhen alle tyrannischen Institutionen, mögen sie nun,
wie in der m odernen D em okratie, durch das allgem eine W ahlrecht sanktio
n iert sein oder nicht8. B akunin gibt diesem Kam pf gegen G ott und Staat
den C h arak ter eines Kampfes gegen Intellektualism us und gegen die über
lieferte Form der Bildung überhaupt. E r sieht — m it gutem G rund — in der
Berufung auf den V erstand eine Prätention, das H aupt, der Kopf, das
G ehirn einer Bewegung zu sein, also w ieder eine neue A utorität. Auch die
Wissenschaft hat nicht das Recht, zu herrschen. Sie ist nicht das Leben, sie
schafft nichts, sie konstruiert und erhält, aber sie versteht nu r das A llge
meine, das A bstrakte und opfert die individuelle F ülle des Lebens auf dem
A ltar ih rer A bstraktion. Die K unst ist für das Leben der Menschheit
! nack ^er ^ Auflage, Paris 1919; erste Publikation 1906 im „Mouvement
socialiste .
2 Politisdie Theologie, S. 45.
3 B a k u n i n , Oeuvres t. IV, Paris 1910, p. 428 (in der Auseinandersetzung mit
Marx aus dem Jahre 1872), II p. 34, 42 (das Referendum als neue Lüge).
Die politische Theorie des Mythus 11
Proudhon, strengste Disziplin und Moral. Die große Schlacht w ird kein
W erk wissenschaftlidier Strategie sein, sondern eine „accum ulation d’ex
ploits héroïques“ und eine Entfesselung der „force individualiste dans les
masses soulevées“ (Réflexions p. 376). Die schöpferische Gewalt, wie sie
aus der Spontaneität enthusiasm ierter Massen bricht, ist infolgedessen
etw as anderes als D iktatur. Rationalism us und alle Monismen, die ihm
folgen, Zentralisation und U niform ität, ferner die bürgerlichen Illusionen
von dem großen Mann, gehören nach Sorel zur D iktatur. Ihr praktisches
R esultat ist systematische Unterjochung, justizförm ige G rausam keit und
ein mechanischer A pparat. Die D ik tatu r ist nichts als eine aus rationalisti
schem Geist geborene m ilitärisch-bürokratisch-polizeiliche Maschine. Die
revolutionäre G ew altanw endung der Massen dagegen entspringt dem un
m ittelbaren Leben, oft w ild und barbarisch, aber niem als systematisch
grausam und unmenschlich.
D ik tatu r des Proletariats bedeutet auch für Sorel, wie für jeden, der den
geistesgeschichtlichen Zusammenhang sieht, eine W iederholung von 1793.
W enn der Revisionist Bernstein die Meinung ausgesprochen hat, diese
D ik tatu r w erde verm utlich die eines Klubs von Rednern und L iteraten sein,
so dachte er eben an die Im itation von 1793, und Sorel erw idert ihm
(Réflexions, p. 251): die Vorstellung einer D ik tatu r des Proletariats ist ein
E rbteil aus dem ancien régime. Sie hat zur Folge, daß man, wie die Jako
biner es getan haben, einen neuen bürokratischen und m ilitärischen A pparat
an die Stelle des alten setzt. Das w äre eine neue H errschaft von Intellek
tuellen und Ideologen, aber keine proletarische Freiheit. Auch Engels, von
dem das W ort stammt, daß es bei der D ik tatu r des Proletariats zugehen
w erde wie 1793, ist in den Augen von Sorel ein typischer R ationalist1. A ber
daraus folgt nicht, daß es bei der proletarischen Revolution revisionistisch-
friedlich-parlam entarisch zugehen müßte. Vielm ehr tritt an die Stelle der
mechanisch-konzentrierten Macht des bürgerlichen Staates die schöpferische
proletarische Gewalt, an die Stelle der „force“ die „violence“. Diese ist nur
ein kriegerischer Akt, keine juristisch und adm inistrativ form ierte Maß
nahme. M arx hat die Unterscheidung noch nicht gekannt, weil er noch in
den überlieferten politischen V orstellungen lebte. Die proletarischen, nicht
politischen Syndikate und der proletarische G eneralstreik sind spezifisch
neue Kampfmethoden, die eine W iederholung der alten politischen und
m ilitärischen M ittel ganz unmöglich machen. F ü r das P ro letariat gibt es daher
n u r eine G efahr, daß es sich seine K am pfm ittel durch die parlam entarische
D em okratie aus der H and nehmen und p aralysieren läßt (Réflexions p. 268).
W enn m an einer so entschieden irrationalistischen Theorie mit A rgu
m enten entgegentreten darf12, so w ird man auf m ehrere Unstim m igkeiten
1 Matériaux d’une théorie du prolétariat, Paris 1919, p. 53.
2 Daraus, daß er sich auf Bergson stützt, wird man keinen Einwand gegen Sorel
entnehmen können. Er legt eine Philosophie konkreten Lebens seinen politischen
Theorien des Antipolitisdien, d. h. des Antiintellektuellen, zugrunde, und eine soldie
Philosophie hat, wie der Hegelianismus, im konkreten Leben viele versdiiedene
Seiten. In Frankreich hat Bergsons Philosophie gleichzeitig einer Rückkehr zur kon-
Die politische Theorie des Mythus 15
hinw eisen müssen, nicht also auf Fehler im Sinne einer abstrakten Logik,
sondern auf unorganische W idersprüche. Zunächst versucht Sorel die rein
ökonomische Basis des proletarischen Standpunktes beizubehalten und geht,
trotz m ancher Einwände, immer entschieden von M arx aus. Er hofft, das
P ro le ta riat w erde eine Moral ökonomischer Produzenten schaffen. D er
K lassenkam pf ist ein Kampf, der sich auf ökonomischer Basis mit ökonomi
schen M itteln abspielt. Im vorigen K apitel w urde gezeigt, daß M arx aus
einer systematischen und logischen Notw endigkeit seinem Gegner, dem
Bourgeois, auf das ökonomische G ebiet gefolgt ist. H ier hat also der Feind
das T e rra in bestimmt, auf dem m an käm pft, und auch die Waffen, d. h. die
S tru k tu r der Argum entation. W enn m an dem Bourgeois auf das ökono
mische Gebiet folgt, w ird man ihm auch in D em okratie und Parlam entaris
mus folgen müssen. A ußerdem w ird man ohne den wirtschaftlich-technischen
Rationalism us der bürgerlichen Ökonomie sich vorläufig wenigstens auf
ökonomischem Gebiete nicht bewegen können. D er vom kapitalistischen
Z eitalter geschaffene Mechanismus der Produktion hat eine rationalistische
Gesetzm äßigkeit in sich. Aus einer M ythe kann m an wohl den Mut schöpfen,
ihn zu zerschlagen; soll er aber w eitergeführt w erden, soll die Produktion
sich noch w eiter steigern, was auch Sorel selbstverständlich will, so w ird
das P ro letariat auf seinen M ythus verzichten müssen. Ebenso wie die
Bourgeoisie w ird es durch die Übermacht des Produktionsmechanism us in
eine rationalistische und mechanistische M ythenlosigkeit hineingeraten.
H ier w ar M arx auch im vitalen Sinne konsequenter, weil er rationalistischer
w ar. A ber vom Irratio n alen aus gesehen, w ar es ein V errat, noch ökono
mischer und noch rationalistischer sein zu wollen als die Bourgeoisie.
B akunin h at das durchaus richtig empfunden. Die Bildung und Denkweise
von M arx blieben noch im Ü berlieferten, das hieß damals im Bürgerlichen,
so daß er in eine geistige A bhängigkeit von seinem G egner geriet. Trotzdem
h at er gerade durch seine K onstruktion des Bourgeois eine für den M ythus
im Sinne von Sorel unentbehrliche A rbeit geleistet.
Die große psychologische und geschichtliche Bedeutung der M ythen
theorie kann gar nicht geleugnet werden. Audi die mit den M itteln Hege-
lischer D ialektik unternom m ene K onstruktion des Bourgeois hat dazu ge
dient, ein Bild von einem G egner zu schaffen, auf das alle Affekte von Haß
und Verachtung sich häufen konnten. Ich glaube, die Geschichte dieses
Bildes vom Bourgeois ist ebenso wichtig wie die Geschichte des Bourgeois
servativen Tradition, zum Katholizismus und einem radikalen, atheistischen An
archismus gedient. Das ist keineswegs ein Zeichen innerer Falschheit. In dem Gegen
satz der Rechts- und Links-Hegelianer hat dies Phänomen eine interessante Analogie.
Man könnte sagen, daß eine Philosophie selber aktuelles Leben hat, wenn sie leben
dige Gegensätze belebt und die kämpfenden Gegner als lebendige Feinde gruppiert.
Unter diesem Gesichtspunkt ist es beachtenswert, daß nur Gegner des Parlamentaris
mus aus Bergsons Philosophie diese Belebung geschöpft haben. Der deutsche Libera
lismus der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte, im Gegensatz dazu, den Begriff des
Lebens gerade für das parlamentarisch-konstitutionelle System verwertet und im
Parlament den lebendigen Träger der Gegensätze des sozialen Lebens gesehen;
vgl. oben Kap. II.
16 Die politische Theorie des Mythus
2 1682
18 Die politische Theorie des Mythus
2*
20 Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff
E rst in der D em okratie soll der Satz, daß der Staat eine Körperschaft
ist, „vollkomm ene W ahrheit“ geworden sein (S. 48). D er Staat als volks-
verbindende juristische Person, die Staatspersönlichkeit, die als solche
selber herrscht (im Gegensatz zu den in concreto herrschenden Menschen
oder G ruppen), ist „in der D em okratie sogar verhältnism äßig w eniger
fiktiv als in jed e r andern Staatsform “ (S. 57). Diese Ä ußerung fällt um so
m ehr auf, als in der soziologischen Betrachtung vom Volkswillen gesagt
w ird, er sei eine „Illusion“, wenn d aru n ter eine bewußte, positive Initiative
verstanden w erden solle; das Volk w ird, nach Hegel, als der Teil der
N ation bezeichnet, der nicht weiß, was er w ill oder, fügt Thoma hinzu,
bestenfalls in einigen A ngelegenheiten weiß, was er (verschiedene G ruppen
aus verschiedenen Motiven) nicht will. In A m erika gebe es noch eine öffent
liche Meinung, in den europäischen D em okratien sei sie längst proble
matisch. „U m so f i k t i v e r “, heißt es w eiter (S. 63), „ist der Begriff
des Volkswillens gew orden.“ W ir dürfen in Parenthese bem erken: und
um so bedenklicher die einfache Ü bernahm e des „weitläufigen“ Sprach
gebrauchs. In der Sache aber erhebt sich ein anderes Bedenken. In
W irklichkeit ist „der ideelle Staatsw ille der D em okratie der auf Volks
bew illigung oder D uldung beruhende W ille der jew eils herrschenden
Parteiorganisation“ (S. 63). W enn nun der W ille des Staates eine n u r
gedachte Größe ist, dann ist es juristisch gleichgültig, ob man ihn in dem
R esultat der zufällig am W ahl- oder Abstim m ungstag sich ergebenden
M ehrheitsentscheidung findet, oder in der Entscheidung periodisch gewähl
te r R epräsentanten, oder in der eines dauernden „R epräsentanten der
N ation“, als welcher in der Verfassung von 1791 auch der König auftritt.
J u r i s t i s c h k ann also, wie Thom a seine Begriffe bestimmt, die Demo
k ratie als Staat nicht in einem besondern Sinne „vollkommene W ahrheit“
sein. D er S taat w ird als ein „G edankending“ definiert und „herrscht“
„als solcher“ in der absolutesten Monarchie oder B ürokratie nicht m ehr
und nicht w eniger fiktiv wie in Rousseaus Korsika.
W eder die B erufung auf den Sprachgebrauch noch eine „form ale“
Betrachtungsw eise können die F rage nach dem V erhältnis von D em okratie
und Staat beantw orten. D afür dürfte m indestens ein w eiterer Schritt
unumgänglich sein, der über die Feststellung, daß D em okratie auf dem
allgem einen, gleichen W ahlrecht beruhe, hinausgeht und der ideellen
S tru k tu r des Begriffes näherkom m t. In W ahrheit hat Thoma diesen Schritt
getan, indem er die D em okratie als „Selbstregierung“ bezeichnet (S. 63).
A llerdings fließt das bedeutungsvolle W ort anders als mit der sonst
beobachteten Sorgfalt, ja B ehutsam keit der Ausdrucksweise, nu r beiläufig
und unversehens ein, aber doch imm er an entscheidender Stelle. Die
„vollkommene W ah rh eit“ der D em okratie im Sinne des „juristischen“
Staatsbegriffs kan n nämlich n u r d arin liegen, daß sie eine „sich selbst
regierende Genossenschaft aller erwachsenen Staatsangehörigen“ ist (S. 46);
ihr ausschließlicher G egensatz ist daher der „Privilegienstaat“, die
prinzipielle V erneinung aller P rivilegien ist ihr wesentlich (S. 44); sie erhält
24 Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff
auf diese W eise eine universale, über den Rang einer einfachen Staatsform
hinausgehende Bedeutung (S. 45). Das alles beweist, daß auch das a ll
gemeine gleiche W ahlrecht n u r den Sinn hat, die S e l b s t r e g i e r u n g ,
d. h. eine bestimm te A rt Id en tität zu verw irklichen. Eine Definition der
D em okratie muß daher ausgehen von den Identitätsvorstellungen, die
allem demokratischen D enken typisch sind (Identität von H errscher und
Beherrschten, Regierenden und Regierten, Staat und Volk, S ubjekt und
O b je k t politischer A utorität), w orauf ich mehrfach hingew iesen habe1.
Thoma lehnt es ab, seinen Begriff anders als nach dem Sprachgebrauch
zu bestimm en und verzichtet insbesondere ausdrücklich darauf, die Demo
k ratie nach einem Zusamm enhang m it einer W eltanschauung zu u n ter
scheiden. „Innere und notw endige V erknüpfungen irgendeiner W elt
anschauung m it irgendeiner A rt D em okratism us bestehen nicht“ (S. 42
Anm.). Zur W iderlegung von Kelsens Satz, daß der demokratische G edanke
den Relativism us als W eltanschauung voraussetze, w ird bem erkt, angel
sächsische Independenten, R ationalisten des linken N aturrechts und K atho
liken seien D em okraten, aber keine R elativisten gewesen. Mit diesem
geschichtlichen Hinweis dürfte kaum w iderlegt sein, daß ein Zusammen
hang mit einer W eltanschauung möglich ist. N atürlich können demokratische
Forderungen und Institutionen, ebenso wie religiöse, zu politischen M itteln
relativ iert werden. In der T ak tik des außen- und innerpolitischen Kampfes
wie in der konkreten geistesgeschichtlichen Situation kommt es oft zu
m erkw ürdigen Allianzen. Das schließt begriffliche und wesentliche Zu
samm enhänge mit W eltanschauungen keineswegs aus. Es scheint, als w ollte
der A utor gerade in dieser wichtigen F rage den Leser einer U nklarheit
überlassen. D enn w ährend er zunächst jede H eranziehung einer W elt
anschauung für die Begriffsbestimmung der D em okratie ablehnt, definiert
er einige Seiten später (S.46) innerhalb der D em okratie ihre beiden A rten
(repräsentative und gemischte D em okratie) nach dem Gegensatz von
„G eistesrichtungen“ innerhalb des „gemeinsamen Ideals der F reiheit und
Gleichheit“. W oher haben Ideale und Geistesrichtungen die K raft, inner
halb eines Begriffes eine differentia specifica zu konstituieren, w enn sie
nicht mit dem Begriff selbst wesentlich Zusammenhängen? Und w enn die
D em okratie wirklich nichts m it W eltanschauung zu tu n hat, so kann sie
niem als in irgendeinem Sinne die „vollkomm ene W ahrheit“ einer Staats
persönlichkeit realisieren und niem als m ehr sein, als in der politischen
und verfassungsrechtlichen Technik eine Staatsform neben andern. Alles
was darü b er hinausgeht, macht es notwendig, in die Bestimmung des
Begriffs jen e Identität — auf der auch seine ganze Idealität b eru h t —
aufzunehm en. Aus den verschiedenen Identitätsvorstellungen e rk lären sich
alle spezifisch dem okratischen Phänom ene: die Unterscheidung von
rep räsen tativ er und unm ittelbarer D em okratie b eru h t darauf, daß der
Begriff der R epräsentation noch personalistische Elem ente beibehält,
1 Politische Theologie, S. 44, 45. Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Par
lamentarismus, S. 13 ff.
Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff 25
lieh machen. Die Form en und Methoden, mit denen ein Land und ein Volk
zum O b jek t internationaler Politik gemacht wird, haben sich nämlich
gew andelt und sind nicht m ehr dieselben wie noch im 19. Jahrhundert.
Alte W orte und Denkgewohnheiten w erden w eitergetragen und können
leicht dazu führen, die politische W irklichkeit zu verbergen. Ein gutm ütiger
Mensch könnte heute glauben, daß sich niem als ein europäisches Land
sicherer fühlen dürfte als gerade jetzt. D enn die lange Geschichte des
Kampfes um den Rhein w ar eine Geschichte des Kampfes um die politische
A n n e x i o n rheinischer Gebiete, ebenso wie der Kampf um Elsaß-
Lothringen ein Kampf um Annexionen w ar. H eute aber spricht niemand
m ehr von Annexion. Im Namen der F reiheit und des Selbstbestimmungs
rechtes auch der kleinen Völker und Nationen hat die W elt vier Jahre Krieg
geführt. Zahlreiche neue Staaten sind auf G rund des Selbstbestimmungs
rechtes und des N ationalitätenprinzips entstanden. Seltsame Zerreißungen
und Verschiebungen natürlicher G renzen und Zusamm engehörigkeiten hat
man durch dieses Prinzip gerechtfertigt. W ilson e rk lärte am 11. F ebruar
1918 als A ntw ort auf die deutsche E rklärung über den Frieden, „daß
Völker und Provinzen nicht von einer Staatshoheit zur anderen ver
schachert w erden dürfen, als w ären sie bloß Sachen oder Steine in einem
Spiel“, und ferner, „daß jede durch diesen Krieg aufgeworfene Gebiets
frage im Interesse und zugunsten der beteiligten Bevölkerungen gelöst
w erden muß und nicht als Gegenstand eines bloßen Ausgleichs oder
Kompromisses zwischen verschiedenen Staaten“. In den Vorschlägen und
Entw ürfen der französischen D elegierten auf der Pariser Friedens
konferenz w ird im F rü h ja h r 1919 zw ar immer w ieder verlangt, daß die
W estgrenze Deutschlands mit dem Rhein zusam m enfallen müsse, es w ird
aber gleichzeitig immer betont, daß keineswegs das linke R heinufer
annektiert w erden solle. Die öffentliche Meinung der ganzen Erde scheint
sich zu em pören bei dem G edanken, daß ein Volk zum Gegenstand einer
Annexion gemacht w ird. W enn m an soviel vom Selbstbestimmungsrecht
der Völker hört, könnte man leicht glauben, daß heute überhaupt kein
Volk m ehr O b je k t internationaler Politik w erden kann, denn Selbst
bestimmung heißt doch wohl, daß ein Volk als Subjekt seine eigene
politische und staatliche Existenz bestimmt, also das Gegenteil davon,
daß es O b jek t wird.
A ber bleiben w ir bei dem, was unsere tausendjährige Geschichte uns
so eindringlich lehrt, bei unserer Vorsicht. W enn heute ein politisch
gebildeter Mensch hört, daß die großen Seemächte eine Abrüstungs
konferenz veranstaltet und beschlossen haben, den Bau der Riesenkriegs
schiffe, der sogenannten capital ships, zu beschränken, so verm utet er leicht,
daß diese Abrüstung, die gewiß sehr zu begrüßen ist, wohl nur veraltete
Typen trifft, aber leider gerade nicht die wirklich modernen Waffen, auf
die es ankommt, nämlich Luftflotte und Unterseeboote. Ähnlich w ird dieser
vorsichtige Mensch, w enn er sieht, mit welcher Freigebigkeit ideale P rin
zipien zugebilligt w erden, den Verdacht nicht unterdrücken können, daß
28 Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik
es sich bei dem Verzicht auf Annexionen vielleicht um den Verzicht auf
eine Methode handelt, auf die es nicht m ehr ankommt, weil m an andere,
w irksam ere und vorteilhaftere M ethoden gefunden hat. In der T at ist die
alte kontinental-europäische Methode der politischen Annexion, wie sie
sich zum Beispiel an dem Kam pf um Elsaß-Lothringen zeigt, von der
m odernen W eltpolitik aus betrachtet eine ziemlich unm oderne Sache. Im
Zeitalter des Im perialism us haben sich andere Form en der Beherrschung
herausgebildet, die gerade eine offene politische U nterw erfung verm eiden
und das Land, das beherrscht w erden soll, als Staat bestehen lassen, ja,
wenn es notwendig ist, einen neuen unabhängigen Staat schaffen, dessen
F reiheit und Souveränität ausdrücklich proklam iert w ird, so daß scheinbar
das Gegenteil dessen geschieht, was m an als H erabw ürdigung eines Volkes
zum O b jek t frem der Politik bezeichnen könnte.
An einigen Beispielen läßt sich diese Entwicklung erkennen. Zunächst
gaben die Großmächte im 19. Ja h rh u n d ert dem sogenannten P r o t e k t o
r a t einen neuen Inhalt und beherrschten hauptsächlich halbzivilisierte
Staaten, deren Bevölkerung sie keine Staatsbürgerrechte verleihen konnten,
in der Weise, daß sie die außenpolitische V ertretung des Staates ü b er
nahmen, eine A rt Vormundschaft einrichteten, dem „beschützten“ Staate
aber eine gewisse selbständige innerpolitische Existenz beließen. Diese
Methode braucht hier n u r erw ähnt zu werden. Es handelt sich dabei um
Staaten, die nicht im europäischen Sinne zivilisierte Staaten sind, z. B.
Tunis, M arokko und die malaiischen Protektorate. D as könnte einen
Europäer sehr beruhigen. Es kom mt hinzu, daß die Entwicklung auf dem
B alkan insbesondere seit 1878 auf dem W ege über sogenannte P rotektorate
zur nationalen Selbständigkeit geführt hat. Rum änien, B ulgarien und
Serbien sind auf diese W eise freie Staaten geworden. In dem Falle Bosnien
und Herzegowina, die seit 1878 unter österreichisch-ungarischer V er
w altung standen, kam es 1908 zu einer offenen Annexion. Vielleicht könnte
m an also aus dieser Entwicklung auf dem B alkan entnehm en, daß ein
europäisches Volk entw eder nationale Selbständigkeit erhalten oder offen
annektiert w erden muß. W iew eit dieser Optim ism us gegenüber der Form
des P rotektorats berechtigt ist, kan n aber leider dahingestellt bleiben,
nicht nur deshalb, weil m an politisch. die ausw ärtige V ertretung Danzigs
an Polen übertragen hat, — das kann m an n u r auf G rund oberflächlicher
Analogien als wirkliches P ro tek to rat bezeichnen, sondern vor allem aus
einem anderen G runde: die Form des P rotektorats ist selbst schon w ieder
veraltet und durch ein neues V erfahren ersetzt, welches darin besteht, dem
zu beherrschenden Staate auch außenpolitisch seine Handlungsbefugnis zu
belassen, ihn ausdrücklich als frei und unabhängig anzuerkennen, ihm
sogar die E tikette der Souveränität zu verleihen, die H errschaft aber u n ter
dem Namen „K ontrolle“ durch die Besetzung entscheidender Punkte, durch
wirtschaftliche A usbeutung oder durch eigenartige Interventionsrechte zu
sichern. H eute herrscht England über Ä gypten, obwohl das englische
P ro tek to rat 1922 feierlich aufgehoben und Ä gypten als freier souveräner
Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik 29
Staat anerkannt ist. Die Herrschaft Englands beruht rechtlich auf vier
Vorbehalten, die bei der Anerkennung gemacht w urden und England zur
Intervention berechtigen: Verteidigung und Schutz des Suezkanals durch
England; Schutz der frem den Interessen in Ä gypten durch England; Schutz
Ä gyptens gegen fremde Angriffe durch England; Verwaltung des Sudans,
d. h. des oberen Nillaufes durch England. Das genügt als rechtliche G rund
lage, um im Ernstfälle einen englisch-ägyptischen Konflikt als interne
A ngelegenheit Englands erscheinen zu lassen, wie das (anläßlich der
Erm ordung eines englischen Offiziers) im November 1924 geschah. Es
genügte ferner, um es zu erreichen, daß im März 1925 ein den Engländern
nicht genehmes Parlam ent binnen 12 Stunden nach seinem Zusam m entritt
aufgelöst war. Ein Begriff wie „Schutz frem der Interessen“ ist wegen seiner
Unbestimmtheit besonders geeignet, einem auf ihm aufgebauten In ter
ventionsrecht den C h arak ter einer wirklichen H errschaft zu geben.
Auch die sogenannte K ontrolle der Vereinigten Staaten von Am erika
über Kuba, H aiti, San Domingo und Panam a ist hier zu erw ähnen. D er
„kontrollierte“ Staat w ird als frei, unabhängig und souverän bezeichnet,
obwohl seine gesamte politische Existenz in entscheidenden Fällen durch
die V ereinigten Staaten bestimm t wird. Die vier Fälle dieser Herrschaft
der V ereinigten Staaten sind in sich wiederum sehr verschieden. Das
Charakteristische daran ist, daß sich eine rechtliche Form der Herrschaft
entw ickelt hat, welche darin besteht, ein Besetzungsrecht mit einem Inter
ventionsrecht zu verbinden. Das Interventionsrecht hat den Sinn, daß der
eingreifende Staat über gewisse unbestimmte, jedoch für die politische
Existenz des andern Staates wesentliche Begriffe, wie Schutz frem der
Interessen, Schutz der U nabhängigkeit, öffentliche O rdnung und Sicherheit,
E inhaltung internationaler V erträge usw., entscheidet. Bei allen diesen
Interventionsrechten ist immer zu beachten, daß infolge der Unbestimmt
heit solcher Begriffe die herrschende M ä h t n a h ihrem Ermessen e n tsh e id et '
und d a d u rh die p o litish e Existenz des kontrollierten Staates in der Hand
behält.
Schließlich sei n o h mit einem W ort daran erinnert, daß durch den
V ertrag von Versailles die d e u tsh e n Kolonien nicht etw a von den alliierten
H a u p tm ä h ten annek tiert oder als Kolonien übernommen wurden, sondern
die Form von sogenannten M andaten erhielten, die im Namen des Völker
bundes ausgeübt werden. Bei den sogenannten A-M andaten (Syrien,
Palästina, Irak) ist sogar gesagt, diese Gemeinwesen hätten eine so lh e
Entwicklungsstufe erreicht, „daß sie in ihrem Dasein als unabhängige
Nation vorläufig anerkannt w erden können u nter der Bedingung, daß die
R a tsh lä g e und die U nterstützung eines M andatars ihre Verwaltung bis
zu dem Zeitpunkt leiten, wo sie im stande sein werden, s i h selbst zu leiten“
(A rtikel 22 des V ersailler Vertrages). Trotzdem muß man sagen, daß Eng
land über Palästina und Ira k und F ra n k re ih über Syrien wirklich h e rrs h t,
weil der M andatar selbst darüber en tsh eid et, worin die S ih e rh e it und
30 Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik
3 1682
34 Der Status quo und der Friede
dum vom 9. F eb ru ar 1925 eine G arantie des gegenw ärtigen status quo am
Rhein vorgeschlagen und dam it eine Reihe von V erhandlungen und Be
sprechungen eröffnet, in deren V erlauf imm er vom status quo die Rede ist.
Bezeichnenderweise spricht m an heute vom status quo und nicht von
dem status quo ante, der zur Zeit der alten D iplom atie eine beliebte F ormel
w ar. Man nimmt also den heute bestehenden Zustand. W orin er besteht, ist
anscheinend leicht zu erkennen, denn w ir haben ihn ja vor Augen. W as zu
nächst den status quo am R hein betrifft, von welchem am m eisten die Rede
ist, so w ird er offenbar in erster Linie dadurch gekennzeichnet, daß die
Rheinlande b e s e t z t e s G e b i e t sind. D er V ertrag von V ersailles, das
Rheinlandabkom m en m it allen seinen K onsequenzen und seiner Praxis,
Verordnungsrecht der in teralliierten Rheinlandkom m ission, Q u a rtie r
anspruch und Beschlagnahme von W ohnungen, Ausw eisung von Deutschen
usw., alles gehört zu dem heute noch bestehenden Zustand. G erade die
F rage der Besetzung w ird aber heute offiziell von der F rage der G arantie
des status quo getrennt, obwohl sie in der Sache nicht davon zu trennen ist.
Man begnügt sich auf deutscher Seite m it A ndeutungen darüber, daß der
Abschluß eines „Sicherheitspaktes“ auf die Zustände im besetzten G ebiet
„nicht ohne Einfluß“ bleiben könne, möchte also bei der Regelung des status
quo am Rhein von dem absehen, was als status quo unm ittelbar in die
Augen springt. Auch die Frage, ob Deutschland in den V ölkerbund eintritt,
soll von der F rage der G arantie des status quo getrennt w erden, obwohl
der E in tritt Deutschlands entw eder dem status quo eine neue G arantie
hinzufügt oder eine Möglichkeit seiner Ä nderung herbeiführt, jedenfalls
also für den status quo nicht gut ignoriert w erden kann. Offiziell w ird heute
die Besetzung der R heinlande m it etw as anderem verbunden, m it der E n t
waffnung Deutschlands. Die Entw affnungsnoten der alliierten R egierungen
vom 5. Januar 1925 und vom 6. Juni 1925 machen die Räum ung der K ölner
Zone davon abhängig, daß die deutsche R egierung eine Reihe w eitgehender
Entwaffnungsvorschriften erfüllt. D ie Räum ung der folgenden Zonen bleibt
deshalb ebenfalls von der Entwaffnung Deutschlands abhängig, setzt also
eine w eitergehende m ilitärische K ontrolle Deutschlands voraus, d. h. ein
Investigationsrecht, welches französischen Ansprüchen genügen muß, auch
wenn es nach A rt. 213 des V ersailler V ertrages vom V ölkerbundsrat aus
geübt w ird. Auf diese W eise bleibt die Besetzung eine m ilitärische Frage,
weil sie mit dem verbunden bleibt, was Frankreich u n ter seiner m ilitäri
schen Sicherheit versteht; eine folgenreiche V erbindung, wenn m an sich an
das erinnert, was G eneral M organ in seinem berühm ten Aufsatz über die
Entwaffnung Deutschlands ausgeführt hat. „W ie die Sache steht, liegt die
wirkliche Sicherheit des europäischen Friedens nicht in den Ergebnissen,
welche die Kontrollkommission oder ein vom V ölkerbund organisierter
Ausschuß erreicht oder zu erreichen hofft, sondern in der Besetzung der
R heinlande und der Brückenköpfe am Rhein, besonders des M ainzer
Brückenkopfes. D er letztere ist das historische E infallstor nach Deutschland,
Der Status quo und der Friede 35
und w er ihn beherrscht, k ann Deutschland ins H erz treffen, die Verbindung
vom N orden und Süden trennen und die Mobilmachung lähm en1.“
D er status quo am R hein ist w eiterhin dadurch gekennzeichnet, daß die
Rheinlande noch über die G renzen des besetzten Gebietes hinaus e n t
m i l i t a r i s i e r t e s G e b i e t sind. Es ist Deutschland untersagt, auf dem
linken R heinufer und auf dem rechten Ufer innerhalb einer 50 Kilometer
östlich des Stromes verlaufenden Linie Befestigungen anzulegen; in dieser
Zone ist die ständige oder zeitweise U nterhaltung oder Sammlung von
Streitkräften untersagt; jede m ilitärische Übung, jede Maßnahme, die als
V orkehrung einer Mobilmachung gelten kann, ist verboten. Durch eine
solche Bestimmung w erden die R heinlande vom übrigen Deutschland
völkerrechtlich unterschieden. Sie sind zw ar noch nicht neutralisiert, wo
durch ih r außenpolitisches Schicksal von dem des übrigen Deutschland ge
trennt w ürde, doch darf m an die Folgen der bestehenden Unterscheidung
nicht verkennen. Kein deutscher Soldat darf jem als w ieder rheinischen
Boden betreten, auch dann nicht, w enn es sich um die Niederschlagung von
A ufruhr und U nruhen handelt; jed e r Eisenbahnbau, jed er Straßenbau, alle
denkbaren V erkehrseinrichtungen und industriellen Anlagen können bei
einer einseitigen Auslegung unter den grenzenlosen Begriff der „Vor
kehrung einer Mobilmachung“ gebracht werden. Eine alliierte Note vom
25. Mai 1922 hat den Bau irgendeiner harm losen Eisenbahnstrecke auf dem
linken R heinufer als eine solche V orkehrung bezeichnet und auf diese Weise
mit den grenzenlosen Auslegungen bereits begonnen. Auch hier enthält der
vorhin erw ähnte Aufsatz des G enerals Morgan eine interessante Prognose:
„Die einzige A rt, das R heinland endgültig zu dem ilitarisieren“, sagt er
wörtlich, „ist entw eder, daß m an es annektiert oder, was im großen und
ganzen auf dasselbe hinausläuft, daß man es dauernd besetzt hält.“ Selbst
wenn m an es räum t, m eint er, und w enn die Deutschen wirklich keine
Truppengarnisonen in dieses G ebiet legen, w äre es immer noch ein
„A rsenal“, und zw ar deshalb, weil fast alle großen chemischen F abriken in
der entm ilitarisierten Zone liegen und w ährend des W eltkrieges die
gesamte deutsche H erstellung von Explosivstoffen zu 78 v. H., von G ift
gasen zu 94 v. H., auf diesem G ebiete stattfand.
Inhaltlich gehen die Entm ilitarisierungsbestim m ungen sehr weit, und
das R heinland könnte dadurch einer Sonclerbehandlung unterw orfen
werden, wie sie eine große Provinz eines großen Staates bisher noch niemals
erfahren hat. Trotzdem enthalten jene A rtikel 42—44 nach französischer
Auffassung einen Mangel. W enn Deutschland die Entm ilitarisierungs
bestimm ungen verletzt, so gilt das zw ar als eine feindselige H andlung gegen
jeden alliierten Staat, es gilt als eine beabsichtigte Störung des W elt
friedens12, aber es bleibt den einzelnen alliierten Staaten, insbesondere Eng-
1 Quarterly Review, Oktober 1924. In Morgans V o r t r a g über das Sidierheits-
problem vom 4. Mai 1925 (abgedruckt: Revue des deux mondes vom 15.6.1925) wird
die Bedeutung von Köln hervorgehoben und Köln als Clé de la Sécurité bezeichnet.
2 Art. 44 lautet in der offiziellen deutsdien Übersetzung: „Jeder etwaige Verstoß
Deutschlands gegen die Bestimmungen der Art. 42 und 43 gilt als eine feindselige
36 Der Status quo und der Friede
enthält und durch welche konkreten M ittel der gefährdete Friede geschützt
und der gestörte Friede w iederhergestellt w ird. Im m er bleibt die Frage die
gleiche: Quis iudicabit?
Allgemein gesprochen, b eru h t also das internationale politische Interesse
an den R heinlanden als einem besetzten und einem dem ilitarisierten G ebiet
auf seiner geographischen Lage, nach welcher es im Schnittpunkt englischer,
französischer und deutscher Interessen liegt. N ur u n ter diesem A spekt läßt
sich erkennen, was der status quo am R hein bedeutet. Die einzelnen Mächte
haben für ihre Betrachtung sehr verschiedene Gesichtspunkte. Infolgedessen
bedeutet das W ort status quo fü r jeden etw as anderes. Das e n g l i s c h e
Interesse geht vorläufig wohl dahin, daß der F riede auf dem europäischen
K ontinent nicht gestört w ird; die E rhaltung des Friedens entspricht sowohl
den ökonomischen Interessen englischen H andels und englischer Industrie,
als auch dem politischen Interesse am Bestände des englischen W eltreiches.
Was diesem W eltreich an G efahren drohen könnte, liegt heute anscheinend
nicht auf dem europäischen K ontinent, sondern in R ußland und Asien und
beruht auf dem Bündnis, welches der proletarische Sozialismus der Sow jet
republik mit dem N ationalgefühl u nterdrückter V ölker Asiens und A frikas
geschlossen hat. F ür Deutschland scheint eine Vereinigung von N ationalis
mus und Kommunismus nicht in Betracht zu kommen, obwohl sie gelegent
lich gefordert w urde. Im m erhin darf man die Möglichkeit nicht ignorieren,
zumal die Parteien, welche bisher in D eutschland den N ationalism us für
sich in Anspruch nahmen, mit den wachsenden Schwierigkeiten der w irt
schaftlichen und politischen Lage vor ganz neue Problem e gestellt w erden,
u nter deren Einw irkung sich die überlieferten Ideenverbindungen leicht
auflösen können.
N ur dieser eine Gegner, das Bündnis von Bolschewismus und N ationalis
mus, könnte eine auf Kampf und K rieg gerichtete P olitik Englands herbei
führen und die W elt nach dem Kreuzzug gegen Deutschland möglicherweise
noch einen w eiteren Kreuzzug erleben lassen. Im übrigen geht das politische
Interesse Englands durchaus auf den F rieden und die A ufrechterhaltung des
heutigen status quo der Erde, d. h. die A ufrechterhaltung der englischen
W eltherrschaft. Das W ort status quo h at also für England einen großen, ein
fachen Sinn. In den V erhandlungen über den sog. G aran tiep ak t kom m t es
für England darauf an, keine neuen Verpflichtungen zu übernehm en und
darauf hinzuweisen, daß in der V ölkerbundssatzung bereits das Höchst
maß englischer Verbindlichkeiten enthalten sei.
Das f r a n z ö s i s c h e Interesse am status quo richtet sich darauf, keines
von den Rechten aufzugeben, welche der V ertrag von V ersailles fü r F ra n k
reich und seine V erbündeten enthält. D ieser V ertrag h at ja die wesentliche
Eigenschaft, ein Interventionsvertrag in dem spezifischen Sinne des W ortes
zu sein, d. h. durch absichtlich unbestim m te Begriffe dem politisch und
militärisch überlegenen V ertragsgegner ständige Interventionen zu erm ög
lichen. Das berühm te Recht auf Sanktionen ist n u r ein A nw endungsfall
dieser systematischen Interventionstechnik. Es kom m t fü r Frankreich dar-
Der Status quo und der Friede 39
der unbestim m ten Begriffe des V ersailler V ertrages im m er neue L asten und
Erschütterungen entstehen. Es ist das Interesse, w enigstens die W ährung
stabil zu halten und vor neuen Sanktionen, R epressalien und anderen Be
lastungen zu schützen. Es ist ein Interesse, das nicht, wie der englische G e
sichtspunkt, die ganze E rde oder, wie der französische, w enigstens E uropa
überschaut, sondern ein auf den nächsten Augenblick und die nächste A tem
pause gerichtetes Interesse eines vor allem an seiner Industrie interessierten
Volkes.
Im Schnittpunkt des W eltinteresses von E ngland und des kontinentalen
europäischen Interesses von F rankreich stehen D eutschland und insbeson
dere die R heinlande. In dieser Lage k ann ganz D eutschland und können
insbesondere die R heinlande herabsinken zum bloßen A usgleichsobjekt
zwischen jenem englischen und diesem französischen Interesse. D as ist der
politische status quo Deutschlands und der status quo am Rhein. Jede
Legalisierung dieses Zustandes w ürde den O b je k tc h a ra k te r verew igen.
* *
*
Bei der großen V erschiedenheit der V orstellungen vom status quo ist
es eigentlich erstaunlich, daß m an sich auf diesen Status zu einigen sucht
und glauben kann, in einem solchen Begriff eine gemeinsame, einigende
G rundlage zu haben. W ie konnte gerade dieser Begriff heute zu solcher Be
deutung gelangen? Das W ort bezeichnet doch zunächst n u r ein F aktum ,
einen bloß tatsächlichen Zustand, w enn sich auch bei n ä h e re r B etrachtung
herausstellt, daß man hier die Sachlage nicht von der Rechtslage trennen
kann. Als die Koalition der europäischen Mächte N apoleon I. besiegt hatte,
sprach m an von L egitim ität und m einte dam it fü r die außenpolitische
Situation ebenfalls eine G arantie des status quo. D ie berühm ten D iplom aten
der Heiligen Allianz w aren nicht edler gesinnt als die Staatsm änner der
heutigen D em okratien. A ber sie sprachen w enigstens von L egitim ität und
g arantierten nicht ein bloßes F aktum , eine bloß tatsächliche politische
Situation, sondern einen Zustand, den m an fü r n o r m a l hielt. Man garan
tierte sich gegenseitig eine außenpolitische O rdnung und w ar klug genug
zu wissen, daß die \ roraussetzung je d e r außenpolitischen O rdnung eine
homogene innerpolitische O rdnung ist. D er dynastische Legitim itätsbegriff,
auf welchem die innerpolitische O rdnung der H eiligen A llianz beruhte, ging
in den demokratischen R evolutionen der folgenden G eneration zugrunde.
A ber selbstverständlich versucht jed e r Sieger, dem durch den Sieg erreichten
politischen Zustand die G arantie der Legitim ität zu geben. D er V ertrag von
V ersailles bestätigt diese E rfahrung. In dem B estreben, die politische A us
nutzung der N iederlage des G egners zu legitim ieren, geht er sogar w eiter
als jem als ein V ertrag der Weltgeschichte. E r benutzt die Idee des V ölker
bundes und die in allen L ändern v erb reiteten pazifistischen G efühle und
Ideen, um eine besonders rad ik ale A rt von L egitim ierung zu erreichen. Die
pazifistischen Bem ühungen, die sich an diesen V ertrag anschließen, insbeson
dere der Versuch einer Beilegung alle r Konflikte durch ein Schiedsrichter-
Der Status quo und der Friede 41
liches V erfahren, die m erkw ürdige Juridifizierung der Politik und ähnliche
als große Fortschritte auf dem Wege von der Macht zum Recht gefeierten E r
scheinungen können ja n u r ein Ergebnis haben: den Zustand, den der Ver
trag von V ersailles geschaffen hat, zu legitim ieren. D er R uf nach der H e rr
schaft des Rechts, der etwas sehr Sympathisches und Ideales hat, bekommt
hier einen höchst gefährlichen politischen Sinn, nämlich den der Legiti
m ierung eines sehr problem atischen Zustandes. D aß alle internationalen
M einungsverschiedenheiten künftig im W ege eines justizförm igen Ver
fahrens beigelegt w erden sollen, bedeutet nur, daß diejenigen, welche nach
den bestehenden V erträgen im Recht sind, dauernd im Recht bleiben. Die
G arantie, welche sich die Mächte der Heiligen Allianz gegenseitig gaben,
w ar eine bescheidene und vernünftige Sache im Vergleich zu der phan
tastischen Juridifizierung, die heute den Sieger legitim ieren soll. Gelingt
es wirklich, auf diese W eise jeden K rieg zu beseitigen, so hat der Stärkere
nicht n u r die Macht und den Besitz, sondern auch das Redit, und es w ird
etw as Schlimmeres geben als Kriege: die justizförm ige Beseitigung des
politischen oder w irtschaftlidien Gegners der nicht in einem Kriege besiegt,
sondern in einem Prozeß zum Tode veru rteilt und exekutiert w ird.
Es ist sehr m erkw ürdig, daß gerade in einer Zeit rapider V eränderungen
und technischer Fortschritte der status quo g arantiert w erden soll. Es ist
seltsam, daß ein Zeitalter, dessen D enken von den Vorstellungen ewigen
W erdens, ewigen Fließens und substanzlosen Funktionierens ganz be
herrscht ist, gerade auf politischem Gebiete einen bestehenden Zustand
stabilisieren möchte. Das ist schon an sich etwas W iderspruchsvolles, aber der
eigentliche W iderspruch liegt noch tiefer.. W oher entsteht — um diese Frage
zu w iederholen — das Bedürfnis nach einer G arantie des status quo? D a r
aus, daß der Wunsch nach Ruhe, F rieden und Gerechtigkeit sich mit der Un
fähigkeit verbindet, ein rechtliches Prinzip, ein Legitim itätsprinzip, zu
finden. Man k ann n u r einen Rechtszustand garantieren, nicht etwas bloß
Faktisches, und auch den Rechtszustand nur, w enn er als n o r m a l em pfun
den w ird. Ist dem aber so — m an kann es vernünftigerw eise nicht be
streiten —, so erscheint der innere W iderspruch in dem moralischen Zu
stand des heutigen E uropa als etw as Schreckliches. Die faktisch bestehenden
Zustände sind so unbefriedigend, so abnorm und infolgedessen so wenig
stabil, daß die Sehnsucht nach Stabilität täglich stärker wird. Aus der Sehn
sucht nach F rieden und Stabilität entsteht die Forderung einer G arantie
des status quo, d. h. einer Stabilisierung. A ber die Stabilisierung des gegen
w ärtigen Zustandes w ürde gerade diesen unbefriedigenden, jed er Stabili
tä t erm angelnden Zustand stabilisieren, und das Ergebnis wäre, daß man
durch eine künstliche Verewigung und Legalisierung nicht etw a Ruhe und
Frieden, sondern neue Konflikte, neue Verschärfung der Gegensätze und
eine Verewigung der m angelnden Stabilität erreichte. Ein gefährlicher, für
ganze V ölker vielleicht tödlicher Zirkel! Das ist das Fatale dieses ganzen
Systems der Legalisierung und Juridifizierung des status quo. Man sagt uns :
Die G arantie des status quo ist der Friede. Gewiß, der Friede, sogar d e r
42 Der Status quo und der Friede
Friede, nämlich der Friede von Versailles. Ein auf dieser Basis stabilisierter
status quo ist ebenso problematisch wie jen e r Friede selbst problematisch
ist. Audi hier zeigt sich die Fülle von inneren W idersprüchen, von denen
die politische und moralische Lage Europas heute beherrscht ist. W enn der
status quo nicht der Friede i s t , wie kann seine G arantierung den Frieden
herbeiführen? Die Sehnsucht nach dem Frieden entspringt doch gerade der
Friedlosigkeit des bestehenden Zustandes. Den müden und gequälten Men
schen, die vor allem Ruhe und Frieden suchen, w ird eine G arantie ver
sprochen, die nichts g arantiert als die Ursache aller U nruhe und F ried
losigkeit.
Die europäischen Völker haben im Laufe des letzten Jahrhunderts von
mancherlei gehört, daß es der F riede sein soll: die Heilige Allianz w ar der
Friede; das französische Kaiserreich unter Napoleon III. w ar der Friede:
dann hörten w ir w ährend des Krieges: die D em okratie ist der Friede; w ir
hörten: der Völkerbund ist der Friede, und hören jetzt: die G arantie des
status quo ist der Friede. A ber wenn der status quo nicht selbst schon der
Friede ist, so ist seine G arantie etw as Schlimmeres als ein Krieg, nämlich
die Legalisierung eines unerträglichen Zwischenzustandes von Krieg und
Frieden, in welchem der politisch Mächtige dem politisch Schwachen nicht
nur das Leben, sondern auch sein R edit und seine Ehre nimmt.
5- Das Doppelgesicht des Genfer Völkerbundes (1926)
Die K ernfrage des G enfer Bundes ist, ob er den status quo von Ver
sailles legitim iert, und das ist w iederum davon abhängig, ob diese Ver
einigung zahlreicher Staaten als ein w irklicher Bund betraditet werden
muß. F ragt m an nach dem Kennzeichen des wirklichen Bundes, nach
G arantie und Hom ogenität und nach den konkreten Prinzipien für diese
G arantie und für das M indestmaß von Gleichartigkeit, so erhält man keine
Antwort. D er berühm te deutsche Kom m entar zur Völkerbundssatzung von
Schücking und W ehberg spricht davon, daß der Genfer Völkerbund einen
„Januskopf“ habe, dessen eines A ntlitz die Züge des „im perialistischen“
Zeitalters trage, aus dem der W eltkrieg geboren sei, dessen anderes Antlitz
aber beherrscht w erde von den Zügen des Solidarismus, von dem allein die
Rettung der Zukunft kommen könne. „Gelingt es nicht, ihn in K ardinal
punkten aus- und um zugestalten, so w ird er allerdings dem Schicksal der
Heiligen A llianz verfallen“. A ber von der Heiligen Allianz könnte der
Völkerbund lernen, daß kein Bund ohne Legitim itätsprinzip bestehen kann,
und einen „Januskopf“ h at er nicht nur in seiner Mischung von Vorkriegs
und Nachkriegsideen, sondern in etwas vielleicht viel Gefährlicherem, näm
lich darin, daß er es absichtlich im unklaren läßt, wieweit er ein echter
Bund ist oder nicht und w iew eit infolgedessen die unvermeidlichen Konse
quenzen des Bundescharakters zur Anwendung kommen. Auf diese Weise
ist es möglich, daß französische Juristen den A rtikel 10 der Völkerbund-
satzung so auslegen, als seien darin alle grundlegenden G arantien des
echten Bundes gegeben, w ährend sie den A rtikel 19, der Änderungsmög
lichkeiten vorsieht, so behandeln, als habe das Genfer Gebilde mit einem
wirklichen Bunde nichts zu schaffen; deutsche Pazifisten dagegen versuchen
die in A rtikel 10 enthaltene G arantie zu beschränken und dafür dem
A rtikel 19 eine große Anwendungsmöglichkeit zu geben. Es besteht nun die
große G efahr, daß der G enfer V ölkerbund von F all zu Fall verschiedenen
Staaten ein verschiedenes Gesicht zeigt und sich absichtlich nicht entscheidet,
sondern bald die H altung eines wirklichen Bundes annimmt, mit allen dazu
gehörigen Ansprüchen auf G arantie und Gleichartigkeit und mit allen
lnterventionsm öglichkeiten, bald aber nur als Büro, als praktisch brauch
bare Konferenz- und Verm ittlungsgelegenheit gelten will. So kann er aller
dings zwei Gesichter haben, eines nach W esten und ein anderes nach Osten.
Er kann den westlichen Großmächten gegenüber als dienstbereites, be
scheidenes Zweckgebilde vorsichtig und unverbindlich auftreten, w ährend
er einem schwachen und entw affneten Staat das hoheitsvolle Antlitz
strengen Rechtes zeigt und ihn, wenn er den politischen Interessen einer
44 Das Doppel gesicht des Genfer Völkerbundes
S. 151, 165, 382) und die A bneigung des A utors gegen das Logisch-Juristische
ist offenbar so groß, daß dieses P rä d ik a t genügt, um derartige K onstruk
tionen und die Bücher, die sich m it ihnen beschäftigen, anscheinend grund
sätzlich zu ignorieren. A ber die K onstruktion der „Ausnahm e“ h ätte ihm
die ganze Problem atik seines „individuellen Lebensgesetzes“ und seiner
„individuellen Staatsräson“ zeigen können, w eil ein solches individuelles
Gesetz natürlich keine Ausnahm e kennt, wie das „allgem eine M oralgebot“,
zu welchem das Buch sich ebenfalls schließlich bekennt. Mir scheint die
Frage nach der N orm alität oder A bnorm ität der konkreten Situation von
grundlegender Bedeutung zu sein. W er davon ausgeht, daß ein abnorm er
Zustand vorliegt — sei es nun, daß er die W elt in einer radikalen Ab
norm ität erblickt, sei es, daß er n u r eine besondere Situation fü r abnorm
hält — w ird das Problem von Politik, M oral und R edit anders lösen, als
w er von ih re r prinzipiellen, n u r durch kleine Störungen getrübten N orm a
lität überzeugt ist. O b m an den Menschen fü r von N atur gut oder von N atur
böse hält, ist in der staatstheoretischen L ite ratu r m eistens n u r eine Um
schreibung oder eine besondere A nw endung dieses fundam entalen Gegen
satzes. Aus der A nnahm e der abnorm en Situation ergeben sich besonders
geartete, dezisionistische Konsequenzen, ergibt sich ein Sinn fü r Durch
brechungen, fü r eine, oberflächlicherweise sogenannte „ Irratio n a litä t“ (im
Religiösen z. B. fü r die Lehre von der Prädestination), A nerkennung außer
ordentlichen H andelns und Eingreifens, wie des a deo excitatus, ferner D ik
tatu r, aber auch Begriffe w ie Souveränität und Absolutismus, also Vor
stellungen, die Meiriecke m it seiner schlagw ortartig erw eiterten Staatsräson
in V erbindung bringen w ill, die er aber in ih re r Besonderheit nicht beachtet.
Sein D ualism us verm eidet sowohl diese metaphysisch-logische, wie die
juristische Seite des Problem s und bleibt im Moralischen, d. h. in der libe
ralen T radition des 18. und 19. Jahrhunderts, die zw ar durch das große
historische V erständnis fü r die Individualität jedes staatlichen Lebens
m odifiziert w ird, aber d afür auch ihre w iderspruchslose Einfachheit verliert.
Zum Staat gehört, w ie im m er w ieder betont w ird, Macht. A ber die Macht
soll sich in die Sphäre des Ethischen erheben und dort mit etw as ih re r
N atur Frem dem , sogar Gegensätzlichem verbinden. „K ratos und Ethos zu
sammen bauen den S taat und machen Geschichte“ (S. 5). D er Gegensatz von
Macht und E thik ru ft nun fast von selbst zahlreiche andere G egensatzpaare
hervor, geht in sie über, verbindet sich m it ihnen in den verschiedensten
Kom binationen, und so spiegelt sich der in der Idee der Staatsräson liegende
Dualism us in vielen A ntithesen, von denen folgende zu erw ähnen sind:
I. D e r m o r a l i s c h e D u a l i s m u s
Kratos — Ethos
Staatsräson — Sittliches Gebot
Handeln — Denken
Realität — Sittliche Forderung
Politik — Moral
Machtpolitik — Sittlichkeit
Egoistisches Interesse — Ethische Norm
48 Zu Friedrich Meineckes „Idee der Staatsräson
II. D i e r e c h t l i c h e S e i t e d e s D u a l i s m u s
Egoismus — Vertragstreue
Macht — Redit
( De r G e g e n s a t z v o n S t a a t s r ä s o n
und V ö l k e r r e c h t ist nur ein A n
w e n d u n g s f a l l , vgl. S. 260 u. 520)
Empirisdie Wirklichkeit — Naturredit
III. D i e m e t a p h y s i s c h e Seite des D u a l i s m u s
Natur — Sittlichkeit
Naturhafte Notwendigkeit — Sittengesetz
Natur — Geist
Natur — Kultur
Schicksal — Vernunft
Das Dunkle
Dämonische,
Vulkanische, ► — Das Rationale
Irrationale,
Leben
Böse Gut
Teufel Gott
Diese kurze Übersicht soll nicht etw a den Reichtum des Buches erschöpfen
und die Fülle der Nuancen in Fesseln schlagen, sondern nu r zeigen, daß die
Grundanschauung des W erkes vieler verschiedener Erscheinungsformen
fähig ist, aber doch immer auf der Spannung eines moralischen Dualism us
beruht. Ausdrücklich w ird der Versuch des deutschen Idealismus, die Gegen
sätze in einer Identitätsphilosophie aufzuheben, als etwas heute nicht m ehr
Mögliches behandelt. „W ir sagen heute, daß das Vernünftige wohl sein soll,
aber nicht schlechthin ist. Die K luft zwischen Sein und Sollen erscheint uns
größer, die tragische Schuld der M achtkämpfe deshalb schwerer als dem
älteren deutschen Idealismus, der die O ffenbarung G ottes in der Geschichte
nicht groß, gewaltig und um fassend genug sich vorstellen konnte
und auch die Abgründe des Lebens von ih r beglänzt sah“ (S. 506). Es bleibt
also beim Dualismus. Jene kurze Übersicht zeigt allerdings schon, daß eine
große Zahl von Kombinationen, V erbindungen, Vertauschungen und Über
gängen möglich ist, zumal wenn jede begriffliche Abgrenzung prinzipiell
verm ieden wird. Auch sind Um stellungen aus einer Reihe in die andere
möglich. Es gibt z. B. einen vernünftigen Egoismus, eine rationalistische
Staatsräson (hier w ird das W ort Rationalism us zur Kennzeichnung einer
historischen Epoche), und innerhalb der Staatsräson kann selbst w ieder ein
Dualism us gefunden werden, weil sie i n s i c h eine N atur- (und Nacht-) und
eine V ernunftseite hat (vgl. S. 459). D aß gerade solche Verschlingungen und
Verwicklungen einen H istoriker wie Meinecke besonders interessieren, ist
begreiflich. Nun liegt es für manche m oderne H istoriker sehr nahe, gegen
über den prim itiven Gegensätzlichkeiten von M achiavellismus und A nti
machiavellismus, M acchtpolitik und Moral, die Gesichtspunkte der deut
schen Identitätsphilosophie, gegenüber dieser deutschen Identität w iederum
die Berechtigung des Gegensatzes geltend zu machen, und so aus einem
beständigen Wechsel des Standpunkts, einem ewigen H in und H er, eine A rt
von Ü berlegenheit zu machen. F ü r Meineckes Buch trifft das aber nicht zu.
Zu Friedrich Meineckes „Idee der Staatsräson“ 49
einen sehr auffälligen Verzicht auf die rein historische K ontem plation, die
sonst gerade die Stärke und den Reichtum des Buches ausmacht.
Das „allgem eine M oralgebot“ und das Völkerrecht, dessen Norm en die
Staatsräson unterw orfen w erden soll, sind nun leider keine unproblem ati
schen Größen, die am Ende eines von solchem historischem W issen erfüllten
W erkes als Schluß erscheinen könnten. O bw ohl der V erfasser den „ver
hüllten und schwebenden D ualism us“ bei R anke ablehnt, w eil er „nicht die
letzte mögliche Lösung des Problem s bedeuten k onnte“ (S. 487), und obwohl
er sich mit persönlicher Entschiedenheit zum allgem einen M oralgebot be
kennt, ergibt sich aus dem W erk keine Entscheidung. Das Problem liegt
nämlich gar nicht in der inhaltlichen N orm ativität eines M oral- oder Rechts
gebotes, sondern in der Frage: W er entscheidet? D ie große staatsphilo
sophische L iteratu r des 17. Jahrhunderts, insbesondere Hobbes und Pufen-
dorff, haben dieses q u i s j u d i c a b i t ? im m er betont. Meinecke spricht wohl da
von, daß es über den Staaten keinen Richter gibt (S. 505, vgl. auch S. 371,
262), aber das Problem als solches ignoriert er, vielleicht aus A ntipathie
gegen alles, was an etw as Juristisches erinnert. In der Sache läßt es sich
nicht ignorieren. N atürlich w ollen alle n u r Recht, Moral, E thik und Frieden;
keiner w ill Unrecht tun; aber die in concreto allein interessante Frage ist
immer, w er im konkreten F all darü b er entscheidet, was rechtens ist; w orin
der Friede besteht; was eine Störung oder G efährdung des Friedens ist,
m it welchen M itteln sie beseitigt w ird, w ann eine Situation norm al und
„befriedet“ ist usw. Dieses quis ju d icab it zeigt, daß innerhalb des Rechts
und des allgem einen M oralgebots w iederum ein D ualism us steckt, der
diesen Begriffen die Fähigkeit nimmt, als einfache Gegensätze der „Macht“
entgegenzutreten und zu ih r in einer Pendelschwingung sich zu bewegen.
Das Recht, insbesondere das V ölkerrecht, ist nämlich entw eder einfach
Legitim ität des status quo und sanktioniert den bestehenden Besitzstand;
dann dient es der Macht der Besitzenden. O der es begründet Ansprüche der
Nichtbesitzenden und erscheint dann als ruhestörendes, revolutionäres
Prinzip. Dieses Problem der L egitim ität des status quo und der norm alen
Situation, das ich öfters, zuletzt in m einer Schrift über „Die K ernfrage des
V ölkerbundes“ behandelt habe, sei hier n u r angedeutet. Es muß den A spekt
des grundlegenden Dualism us von K ratos und Ethos völlig ändern.
Ist so das allgemeine M oralgebot in sich nicht ohne w eiteres überzeugend,
so hat auch die Sanktionierung, die es bei Meinecke erhält, etw as U nent
schiedenes. Ein aus G ründen der M achtpolitik vorgenom m ener Verstoß
gegen dieses Gebot w ird als „tragische“ Schuld angesehen. Das mag sie sein;
aber das ist keine Sanktion, sondern ein Übergang ins Ästhetische. „T ra
gisch“ ist keine Kategorie, die, w enn m an einm al ein moralisches Gebot
ernst nimmt, die letzte A ntw ort auf einen Konflikt geben könnte. Das W ort
ist höchstens ein Ausdruck, der inneren Problem atik dieses moralischen G e
botes selbst, eine Umschreibung tiefen B edauerns und der Erschütterung,
die aus der historischen Einsicht in die Ohnm acht des Gebotes oder in die
Unverm eidlichkeit der Durchbrechung entsteht, aber es kann nicht der
Zu Friedrich Meinedees „Idee der Staatsräson“ 51
aber, nach dem gemeinsamen Sieg, tritt der G egensatz zutage und kann
der Unterschied von liberal-parlam entarischen und m assendemokratischen
Ideen nicht länger unbeachtet bleiben. Man w ird sich also mit jenen, wie
Thoma sich ausdrückt, „verschim melten“ G rößen beschäftigen müssen, weil
n u r aus ihren G edankengängen heraus das Spezifische des P arlam entaris
mus zu erkennen ist und n u r bei ihnen das P arlam ent den C h a ra k te r einer
eigenartig fundierten Institution erhält, die sowohl gegenüber den Konse
quenzen der unm ittelbaren D em okratie als gegenüber Bolschewismus und
Fascismus eine geistige Ü berlegenheit w ahren kann. D aß der heutige
parlam entarische B etrieb das kleinere Übel ist, daß er imm er noch besser
sein w ird als Bolschewismus und D ik tatu r, daß es unabsehbare Folgen
haben w ürde, w enn m an ihn beseitigt, daß er „sozial-technisch“ eine ganz
praktische Sache ist, alles das sind interessante und zum Teil auch richtige
Erw ägungen. A ber es ist nicht die geistige G rundlage einer besonders
gearteten Institution. D er P arlam entarism us besteht heute als R egierungs
m ethode und politisches System. W ie alles, was besteht und erträglich
funktioniert, ist er nützlich, nicht m ehr und nicht w eniger. Es läßt sich
vieles dafür geltend machen, daß es so wie heute imm er noch besser geht
als bei unerprobten andern M ethoden und daß ein Minimum von O rdnung,
wie es heute doch tatsächlich vorhanden ist, durch leichtsinnige E xperim ente
gefährdet w ürde. D erartige Überlegungen w ird jed e r verständige'M ensch
durchaus gelten lassen. A ber sie bew egen sich nicht in der Sphäre eines
prinzipiellen Interesses. So anspruchslos w ird doch wohl niem and sein,
daß er mit einem „Was sonst?“ eine geistige G rundlage oder eine moralische
W ahrheit fü r erw iesen hielte.
Alle spezifisch parlam entarischen Einrichtungen und Norm en erhalten
erst durch Diskussion und Öffentlichkeit ihren Sinn. Das gilt insbesondere
von dem verfassungsm äßig heute offiziell noch anerkannten, w enn auch
praktisch kaum noch geglaubten G rundsatz, daß der A bgeordnete von
seinen W ählern und seiner P artei unabhängig ist; es gilt von den Vor
schriften über R edefreiheit und Im m unität der Abgeordneten, über die
Öffentlichkeit der Parlam entsverhandlungen usw. Diese Einrichtungen
w erden unverständlich, w enn das Prinzip der öffentlichen Diskussion
keinen G lauben m ehr findet. Es ist nicht so, als könnte man einer Insti
tution nachträglich beliebige andere Prinzipien unterschieben, und wenn
ih re bisherige G rundlage entfällt, irgendwelche E rsatzargum ente ein-
fügen. Wohl kann dieselbe Institution verschiedenen praktischen Zwecken
dienen und deshalb verschiedene praktische Rechtfertigungen erfahren.
Es gibt eine „Heterogonie der Zwecke“, einen B edeutungsw andel der p ra k
tischen Gesichtspunkte und einen Funktionsw andel der praktischen M ittel,
aber es gibt keine H eterogonie der Prinzipien. W enn w ir zum Beispiel m it
M ontesquieu annehmen, daß das Prinzip der Monarchie die „E hre“ ist, so
läßt sich dieses Prinzip nicht einer dem okratischen R epublik unterschieben,
ebensowenig wie sich auf dem P rinzip der öffentlichen Diskussion eine
Monarchie fundieren läßt. Zw ar scheint das G efühl fü r die Besonderheit
Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie 55
II. D e m o k r a t i e
D er G laube an den Parlam entarism us, an ein g o v e r n m e n t b y d i s c u s s i o n ,
gehört in die G edankenw elt des Liberalismus. Er gehört nicht zur Demo
kratie. Beides, Liberalism us und D em okratie, muß voneinander getrennt
werden, dam it das heterogen zusammengesetzte Gebilde erkannt wird,
das die m oderne M assendem okratie ausmacht.
Jede w irkliche D em okratie beru h t darauf, daß nicht n u r Gleiches gleich,
sondern, mit unverm eidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nicht gleich
behandelt w ird. Zur D em okratie gehört also notwendig erstens Homogeni
tä t und zweitens — nötigenfalls — die Ausscheidung oder Vernichtung
des Heterogenen. Als Illustrierung dieses Satzes sei mit einem W ort an
zwei verschiedene Beispiele m oderner D em okratien erinnert: an die heutige
T ürkei mit ih rer radikalen Aussiedlung der Griechen und ihrer rücksichts
losen T ürkisierung des Landes — und an das australische Gemeinwesen,
das durch Einw anderungsgesetzgebung unerwünschten Zuzug fernhält. Die
politische K raft einer D em okratie zeigt sich darin, daß sie das Frem de und
Ungleiche, die Hom ogenität Bedrohende, zu beseitigen oder fernzuhalten
weiß. Bei der F rage der Gleichheit handelt es sich nämlich nicht um
abstrakte, logisch-arithmetische Spielereien, sondern um die Substanz der
Gleichheit. Sie kann in bestim m ten physisdien und moralischen Q uali
täten gefunden werden, z. B. in der staatsbürgerlichen Tüchtigkeit, der
άρετή, die klassische D em okratie der virtus (vertu). In der D em okratie
englisdier Sektierer des 17. Jahrhunderts gründete sie sich auf die Über
einstimmung religiöser Überzeugungen. Seit dem 19. Jahrhundert besteht
sie vor allem in der Zugehörigkeit zu einer bestimm ten Nation, in der
nationalen Hom ogenität1. Immer ist die Gleichheit nur so lange politisch
interessant und wertvoll, als sie eine Substanz hat und deshalb wenigstens
die M öglidikeit und das Risiko einer Ungleichheit besteht. Es gibt vielleicht
einzelne Beispiele fü r den idyllischen Fall, daß ein Gemeinwesen sich in
jeder Beziehung selbst genügt, daß gleichzeitig jed er seiner Bewohner
ebenfalls diese glückliche A utarkie besitzt und jed er jedem andern phy
sisch, psychisch, moralisch und ökonomisch so ähnlich ist, daß eine Homo
genität ohne H eterogenität vorliegt, was in prim itiven Bauerndem okratien
oder K olonistenstaaten eine Zeitlang möglich sein könnte. Im übrigen muß
man sagen, daß die D em okratie — weil zur Gleichheit immer auch eine
andern abgesehen schon deshalb nicht, w eil die Erde in Staaten, und zw ar
meistens sogar national homogene Staaten, geteilt ist, die innerhalb ih rer
selbst auf der G rundlage nationaler Hom ogenität eine D em okratie zu
verw irklichen suchen, im übrigen aber keineswegs jeden Menschen als
gleichberechtigten B ürger behandeln1. Auch der demokratischste Staat,
sagen w ir die V ereinigten Staaten von Am erika, ist w eit davon entfernt.
Frem de an seiner Macht oder seinem Reichtum zu beteiligen. Bisher hat
es noch keine D em okratie gegeben, die den Begriff des Frem den nicht
gekannt und die Gleichheit aller Menschen verw irklicht hätte. W ollte m an
aber mit einer M enschheitsdem okratie E rnst machen und w irklich jeden
Menschen jedem andern Menschen politisch gleichstellen, so w äre das eine
Gleichheit, an der jed e r Mensch k ra ft G eburt oder Lebensalters ohne
w eiteres teilnähm e. Dadurch h ätte man die Gleichheit ihres W ertes und
ih rer Substanz beraubt, weil m an ih r den spezifischen Sinn genommen
hätte, den sie als politische Gleichheit, ökonomische Gleichheit usw., ku rz
als Gleichheit eines bestim m ten G ebietes hat. Jedes G ebiet h at nämlich
seine spezifischen G leichheiten und Ungleichheiten. So sehr es ein Unrecht
wäre, die menschliche W ürde jedes einzelnen Menschen zu mißachten, so w äre
es doch e in e ’unverantw ortliche, zu den schlimmsten Form losigkeiten und
daher zu noch schlimmerem Unrecht führende Torheit, die spezifischen Be
sonderheiten der verschiedenen G ebiete zu verkennen. Im Bereich des Poli
tischen stehen sich die Menschen nicht ab stra k t als Menschen, sondern als
politisch interessierte und politisch determ inierte Menschen gegenüber,
als Staatsbürger, R egierende oder Regierte, politische V erbündete oder
Gegner, also jedenfalls in politischen Kategorien. In der Sphäre des Poli
tischen kann m an nicht vom Politischen ab strah ieren und n u r die allgem eine
Menschengleichheit übriglassen; ebenso wie im Bereich des ökonom ischen
nicht Menschen schlechthin, sondern Menschen als Produzenten, Konsu
m enten usw., das heißt n u r in spezifisch ökonomischen K ategorien, be
griffen w erden.
Eine absolute Menschengleichheit w äre also eine Gleichheit, die sich
ohne Risiko von selbst versteht, eine Gleichheit ohne das notw endige
K orrelat der U ngleichheit und infolgedessen eine begrifflich und praktisch
nichtssagende, gleichgültige Gleichheit. N un gibt es zw ar nirgends eine
solche absolute Gleichheit, solange, w ie eben erw ähnt, die verschiedenen
Staaten der E rde ihre S taatsbürger von an dern Menschen politisch u n ter
scheiden und eine politisch abhängige, aber aus irgendwelchen G ründen
unerw ünschte B evölkerung von sich fernzuhalten wissen, indem sie eine
völkerrechtliche A bhängigkeit m it einer staatsrechtlichen F rem dheit v er
binden. D agegen scheint w enigstens i n n e r h a l b der verschiedenen
m odernen dem okratischen Staaten eine allgem eine Menschengleichheit
1 Insofern besteht ein „Pluralismus“, und der soziale Pluralismus, in den nach
der Prognose von M. J. Bonn, Die Krisis der europäischen Demokratie, 1925, die
heutige, angebliche Menschheitsdemokratie sich auflösen wird, ist in anderer, wirk
samerer Form längst vorhanden und immer vorhanden gewesen.
62 Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie
bunden sein können, wie auch Sozialismus und D em okratie sich verbunden
haben, daß aber diese L iberaldem okratie, sobald sie zur Macht gelangt,
sich ebenso zwischen ih ren Elem enten entscheiden muß wie die Sozial
dem okratie, die übrigens, weil die m oderne M assendemokratie wesentlich
liberale Elem ente enthält, in W ahrheit eine Sozial-Liberal-D em okratie ist.
In der D em okratie gibt es n u r die Gleichheit der Gleichen und den W illen
derer, die zu den Gleichen gehören. Alle anderen Institutionen verw andeln
sich in wesenlose sozial-technische Behelfe, die nicht imstande sind, dem
irgendw ie geäußerten W illen des Volkes einen eigenen W ert und ein
eigenes Prinzip entgegenzusetzen. Die Krisis des m odernen Staates beruht
darauf, daß eine Massen- und M enschheitsdemokratie keine Staatsform,
auch keinen dem okratischen Staat zu realisieren vermag.
Bolschewismus und Faschismus dagegen sind wie jede D ik tatu r zw ar
antiliberal, aber nicht notw endig antidem okratisch. In der Geschichte der
D em okratie gibt es manche D iktaturen, Cäsarism en und andere Beispiele
auffälliger, fü r die liberalen Traditionen des letzten Jahrhunderts un
gewöhnlicher Methoden, den W illen des Volkes zu bilden und eine
Hom ogenität zu schaffen. Es gehört zu den undemokratischen, im 19. Ja h r
hundert aus der Verm engung m it liberalen G rundsätzen entstandenen
Vorstellungen, das Volk könne seinen W illen nur in der Weise äußern,
daß jed er einzelne Bürger, in tiefstem Geheimnis und völliger Isoliertheit,
also ohne aus der Sphäre des P rivaten und Unverantwortlichen herauszu
treten, unter „Schutzvorrichtungen“ und „unbeobachtet“ — wie die deutsche
Reichsstimmordnung vorschreibt — seine Stimme abgibt, dann jede ein
zelne Stimme reg istriert und eine arithm etische M ehrheit berechnet wird.
Ganz elem entare W ahrheiten sind dadurch in Vergessenheit geraten und
der heutigen S taatslehre anscheinend unbekannt. Volk ist ein Begriff des
öffentlichen Rechts. Volk existiert n u r in der Sphäre der Publizität. Die
einstimmige M einung von hundert M illionen P rivatleuten ist w eder W ille
des Volkes, noch öffentliche Meinung. D er W ille des Volkes kann durch
Zuruf, durch acclamatio, durch selbstverständliches, unwidersprochenes
Dasein ebensogut und noch besser demokratisch geäußert w erden als durch
den statistischen A pparat, den man seit einem halben Jahrhundert mit
einer so m inutiösen Sorgfalt ausgebildet hat. Je stärker die K raft des demo
kratischen Gefühls, um so sicherer die Erkenntnis, daß D em okratie etwas
anderes ist als ein R egistriersystem geheim er Abstimmungen. Vor einer
nicht n u r im technischen, sondern auch im vitalen Sinne unm ittelbaren
D em okratie erscheint das aus liberalen G edankengängen entstandene
Parlam ent als eine künstliche Maschinerie, w ährend diktatorische und
cäsaristische M ethoden nicht n u r von der acclamatio des Volkes getragen,
sondern auch unm ittelbare Ä ußerungen demokratischer Substanz und
K raft sein können.
Auch wenn der Bolschewismus unterdrückt und der Faschismus fern
gehalten w ird, ist deshalb die Krisis des heutigen Parlam entarism us nicht
im geringsten überw unden. D enn sie ist nicht als Folge des A uftretens 5
5 1682
66 Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie
dieser beiden Gegner entstanden; sie w ar vor ihnen da und w ürde nach
ihnen fortdauern. Sie entspringt den Konsequenzen der m odernen Massen
dem okratie und im letzten G runde dem Gegensatz eines von moralischem
Pathos getragenen liberalen Individualism us und eines von wesentlich
politischen Idealen beherrschten dem okratischen Staatsgefühls. Ein Ja h r
hundert geschichtlicher V erbindungen und gemeinsam en Kampfes gegen
den fürstlichen Absolutismus hat die E rkenntnis dieses Gegensatzes auf
gehalten. H eute aber tritt seine E ntfaltung täglich stä rk e r hervor und läßt
sich durch keinen weitläufigen Sprachgebrauch m ehr verhindern. Es ist
der in seiner Tiefe unüberw indliche Gegensatz von liberalem Einzelmensch-
Bewußtsein und dem okratischer Hom ogenität.
8. Der Begriff des Politischen (1927)
Als man erkannte, welche große Bedeutung den wirtschaftlichen V er
einigungen innerhalb des Staates zukommt, und insbesondere das A n
wachsen der G ew erkschaften bem erkte, gegen deren wirtschaftliches Macht
mittel, den Streik, die Gesetze des Staates ziemlich machtlos w aren, hat
man etwas voreilig den Tod und das Ende des Staates proklam iert. Das
geschah, soviel ich sehe, als eigentliche D oktrin erst seit 1906 und 1907
bei französischen Syndikalisten1. Von Staatstheoretikern, die in diesen
Zusammenhang gehören, ist D uguit der bekannteste; er hat seit 1901 den
Souveränitätsbegriff und die Vorstellung von der personalen Einheit des
Staates zu w iderlegen versucht, mit manchen treffenden A rgum enten gegen
eine unkritische Staatsm etaphysik, aber im wesentlichen doch den eben
dargelegten, eigentlichen Sinn des Souveränitätsgedankens verfehlend.
Dasselbe gilt von der w eitaus interessantesten Staatslehre, die im letzten
Jahrzehnt aufgestellt w orden ist, der sogenannten pluralistischen Staats
theorie von H arold J. L aski12. Ih r Pluralism us besteht darin, die souveräne
Einheit des Staates, d. h. die politische Einheit zu leugnen und immer
wieder hervorzuheben, daß der einzelne Mensch in vielen verschiedenen
sozialen Verbindungen lebt: er ist M itglied einer Religionsgesellschaft,
einer Gewerkschaft, eines Sportklubs und vieler anderer „Assoziationen“,
die ihn von F all zu F all verschieden stark bestimmen, ohne daß man von
einer dieser Assoziationen sagen könnte, sie sei absolut m aßgebend und
souverän. V ielm ehr können sich die verschiedenen V erbindungen, jede
auf einem verschiedenen Gebiet, als die stärksten erweisen. Es w äre z. B.
denkbar, daß die M itglieder einer Gewerkschaft, wenn dieser Verband
die Parole ausgibt, keine Kirche m ehr zu besuchen, trotzdem zur Kirche
1 „Cette chose énorme. . . la mort de cet être fantastique, prodigieux, qui a tenu
dans Phistoire une place si colossale: l’Etat est mort.“ E. Berth, dessen Ideen von
Georges Sorel stammen, in Le Mouvement socialiste, Oktober 1907, p. 314. Léon
Duguit zitiert diese Stelle in seinen Vorträgen Le droit social, le droit individuel et
la transformation de l’Etat, 1. Aufl. 1908; er begnügt sich damit, zu sagen, daß der
souveräne und als Person gedachte Staat tot oder am Sterben sei (S. 150: L’Etat
personnel et souverain est mort ou sur le point de mourir). In Duguits Werk L’Etat,
Paris 1901, linden sich soldie Sätze noch nicht, obwohl die Kritik des Souveränitäts
begriffes schon die gleiche ist. Interessante weitere Beispiele dieser syndikalistischen
Diagnose des heutigen Staates bei Esmein, Droit constitutionnel (7. Auflage von
Nézard) 1921,1 , S. 55 ff. Die syndikalistische Lehre ist auch hinsichtlich ihrer Diagnose
des Staates von der marxistischen Konstruktion zu unterscheiden. Für die Marxisten
ist der Staat nicht tot oder am Sterben, er ist vielmehr als Mittel zur Herbeiführung
der klassen- und erst damit staatlosen Gesellschaft notwendig und vorläufig noch
wirklich.
2 Studies in the Problem of Sovereignty 1917; Authority in the Modern State
1919, Foundation of Sovereignty 1921, A Grammar of Politics 1925.
5*
68 D er B egriff des P olitischen
gehen, aber gleichzeitig eine von der Kirche erlassene A ufforderung, aus
der Gewerkschaft auszutreten, ebenfalls nicht befolgen. D er geschichtliche
Vorgang, den Laski mit besonderer Vorliebe z itie rt und der auf ihn offen
b ar einen großen Eindruck gemacht hat, ist Bismarcks „K ulturkam pf
gegen die römische Kirche. E r soll beweisen, daß selbst ein S taat von der
ungebrochenen K raft des Bismarckschen Reiches nicht souverän und a ll
mächtig w ar. Ebensowenig ist der Staat auf wirtschaftlichem G ebiet all
mächtig. Das alles trifft zweifellos zu, und die W endungen von der „A ll
macht“ des Staates sind eben n u r oberflächliche R edensarten der Juristen.
A ber dam it ist die F rage noch nicht beantw ortet, welche „soziale E inheit“
(wenn ich einm al hier den ungenauen, liberalen Begriff des „Sozialen“ über
nehm en darf) den Konfliktsfall entscheidet und die m aßgebende G ru p
pierung nach F reund und Feind bestim m t. W eder eine Kirche, noch eine
G ew erkschaft h ätte einen Krieg, den das Deutsche Reich u n ter Bismarck
beschloß, verboten oder verhindert. N atürlich konnte Bismarck dem Papst
nicht den K rieg erklären, aber n u r w eil der P apst selber k ein ju s belli
m ehr hatte. Es w äre jedenfalls keine Instanz denkbar gewesen, die einer
den Ernstfall betreffenden Entscheidung der dam aligen deutschen Regie
rung hätte entgegentreten können, ohne dam it selber zum politischen
Feinde zu w erden und von allen Konsequenzen dieses Begriffes getroffen
zu werden. Das genügt, um einen vernünftigen Begriff von S ouveränität
und Einheit zu begründen. D ie politische E inheit ist eben ihrem W esen
nach die m aßgebende Einheit, gleichgültig aus welchen M otiven sie ihre
letzten psychischen K räfte zieht. Sie ex istiert oder sie ex istiert nicht. W enn
sie existiert, ist sie die höchste, d. h. im entscheidenden F all bestim m ende
Einheit.
Daß der Staat eine E inheit ist, und zw ar die m aßgebende E inheit,
b eru h t auf seinem politischen C h a ra k te r. Eine pluralistische Theorie,
welche diese E inheit b estreitet und eine politische Assoziation neben
andere, z. B. religiöse oder ökonomische Assoziationen stellt, verm ag auf
die Frage nach dem spezifischen. In h alt des Politischen keine A ntw ort zu
geben. In keinem der vielen Bücher von Laski w ird m an eine bestim m te
Definition des Politischen finden, obwohl im m er von Staat, P olitik, Souve
rän ität und „G overnm ent“ die Rede ist. D er Staat verw andelt sich in eine
Assoziation, die mit andern Assoziationen k o n k u rrie rt. E r w ird eine
Gesellschaft neben und zwischen manchen andern Gesellschaften, die in n er
halb oder außerhalb des Staates bestehen. D as ist eben d er „P luralism us“
dieser Staatstheorie. D ie frü h ere Ü berlegenheit des Staates, seine „H oheit“
gegenüber der Gesellschaft und sein „Monopol“ der höchsten Einheit, sind
dam it selbstverständlich entfallen. Es bleibt aber, genauer betrachtet, bei
Laski ganz unklar, was nunm ehr der „Staat“ ü b e rh a u p t noch sein soll.
Bald erscheint er in alter, lib eraler W eise als bloßer D iener der w esent
lich ökonomisch bestim m ten Gesellschaft, bald aber pluralistisch als eine
besondere A rt Gesellschaft, d. h. eine Assoziation neben anderen Asso
ziationen. Es m üßte nun doch vor allem k larg e ste llt w erden, aus welchem
D er B egriff des Politischen 69
töten und sich töten lassen, dam it es „nie w ieder K rieg“ gebe, ist ein
m anifester Betrug. D er Krieg, die Todesbereitschaft käm pfender Menschen,
die physische Tötung von anderen Menschen, die auf der Seite des Feindes
stehen, alles das hat keinen norm ativen, sondern nu r einen existenziellen
Sinn, und zw ar in der R ealität der Situationen des wirklichen Kampfes
gegen einen wirklichen Feind, nicht in irgendwelchen idealen Program men
oder N orm ativitäten. Es gibt keinen rationalen Zweck, keine noch so richtige
Norm, kein noch so ideales Program m , keine Legitim ität oder Legalität,
die es rechtfertigen könnte, daß Menschen sich gegenseitig dafür töten.
Wenn eine solche physische Vernichtung menschlichen Lebens nicht aus
der seinsmäßigen Behauptung der eigenen Existenzform gegenüber einer
ebenso seinsmäßigen V erneinung dieser Form geschieht, so läßt sie sich
eben nicht rechtfertigen. Auch mit ethischen und juristischen Normen kann
man keinen K rieg begründen. G ibt es wirklich Feinde in der seinsmäßigen
Bedeutung, wie es hier gemeint ist, so ist es sinnvoll, und zwar politisch
sinnvoll, sie nötigenfalls physisch abzuw ehren und m it ihnen zu kämpfen.
Das ist keine Legitim ierung oder Rechtfertigung, sondern hat einen rein
existenziellen Sinn.
Daß die G erechtigkeit nicht zum Begriff des Krieges gehört, ist seit
Grotius im allgem einen an erk an n t1. Die K onstruktionen, die einen ge
rechten Krieg fordern, dienen gewöhnlich selbst w ieder einem politischen
Zweck. Von einem politisch geeinten Volk verlangen, daß es nur aus einem
gerechten G runde Krieg führe, ist nämlich entw eder etwas ganz Selbst
verständliches, wenn es heißt, daß nur gegen einen wirklichen Feind Krieg
geführt w erden soll; oder aber es versteckt sich dahinter das politische
Bestreben, die Verfügung über das ju s belli in andere H ände zu spielen
und Gerechtigkeitsnorm en zu finden, über deren Inhalt und Anwendung
im Einzelfall nicht das Volk selbst entscheidet, sondern irgendeine andere
Instanz, welche auf diese Weise bestimmt, w er der Feind ist. Solange ein
Volk in der Sphäre des Politischen existiert, muß es, w enn auch nu r für
den extrem sten F all — über dessen Vorliegen es aber selber entscheidet —
die Unterscheidung von F reund und Feind selber bestimmen. D arin liegt
das W esen seiner politischen Existenz. H at es nicht m ehr die Fähigkeit
oder den W illen zu dieser Unterscheidung, so hört es auf, politisch zu
existieren. Läßt es sich von einem Frem den vorschreiben, w er sein Feind
ist und gegen w en es käm pfen darf oder nicht, so ist es kein politisch freies
Volk mehr. Ein Krieg hat seinen Sinn nicht darin, daß er für hohe Ideale
oder für Rechtsnormen, sondern darin, daß er gegen den eigenen Feind
geführt w ird. Alle T rübungen dieser K ategorie von Freund und Feind
erklären sich aus der Verm engung mit irgendwelchen A bstraktionen oder
Normen.
Ein politisch existierendes Volk kann also nicht d arau f verzichten,
gegebenenfalls F reu n d und Feind durch eigene Bestimmung auf eigene
1 De iure belli ac pacis, i. I, c. I, N. 2: „Justitiam in definitione (sc. belli) non
in clu d o /
72 D er Begriff des P olitischen
auf, so gibt es n u r noch W irtschaft, Moral, Recht, Kunst usw., aber keine
Politik und keinen Staat m ehr. O b und wann dieser Zustand der Erde
und der Menschheit eintreten w ird, weiß ich nicht. Vorläufig ist er nicht
da. Es w äre eine unehrliche Fiktion, ihn als vorhanden anzunehmen, und
eine handgreifliche Verwechslung, zu meinen, weil heute jeder Krieg
zwischen Großm ächten leicht zu einem „W eltkrieg“ w ird, müßte die Be
endigung dieses Krieges den „W eltfrieden“ und damit jenen idyllischen
Endzustand der Staatenlosigkeit bedeuten.
Die Menschheit als solche kann keinen Krieg führen, denn sie hat
keinen Feind, wenigstens nicht auf diesem Planeten. D er Begriff der
Menschheit schließt den Begriff des Feindes aus, weil auch der Feind nicht
aufhört, Mensch zu sein, und dam it die spezifische Unterscheidung entfällt.
Daß K riege im Namen der Menschheit geführt w erden, ist keine W ider
legung dieser einfachen W ahrheit, sondern hat nur einen besonders inten
siven politischen Sinn. W enn ein Staat im Namen der Menschheit seinen
politischen Feind bekäm pft, so ist das kein Krieg der Menschheit, sondern
ein Krieg, den ein bestim m ter Staat gegen einen andern führt. D er Name
der Menschheit könnte, weil m an nun einmal solche „Namen“ nicht ohne
gewisse Konsequenzen führen kann, nu r die schreckliche Bedeutung haben,
daß dem Feind die Q u a litä t des Menschen abgesprochen und dadurch der
Krieg besonders unmenschlich w ird. A ber abgesehen von diesem hoch
politischen M ißbrauch des unpolitischen Namens „Menschheit“ gibt es keine
Kriege der Menschheit als solcher. Menschheit ist kein politischer Begriff,
ihm entspricht auch keine politische E inheit oder Gemeinschaft und kein
Status. Die Menschheit der naturrechtlichen und liberal-individualistischen
D oktrinen ist eine universale, d. h. alle Menschen der Erde umfassende
Gesellschaft, ein System von Beziehungen zwischen einzelnen Menschen,
das erst dann vorhanden ist, w enn die reale Möglichkeit des Kampfes aus
geschlossen und jede Freund- und Feindgruppierung unmöglich geworden
ist. In dieser universalen Gesellschaft wrird es dann keine Völker als poli
tische E inheiten und deshalb auch keinen Staat m ehr geben.
Die Idee eines V ölkerbundes entspricht bisher n u r einer sehr unklaren
Tendenz, den unpolitischen Zustand der Universal-Gesellschaft „Mensch
heit“ zu verw irklichen. D eshalb w ird fast immer ziemlich kritiklos für
diesen V ölkerbund beansprucht, daß er universal sein müsse, d. h. alle
Staaten der ganzen E rde umfasse. U niversalität m üßte aber völlige Ent
politisierung und dam it Staatenlosigkeit bedeuten. Um so widerspruchs
voller erscheint die 1919 gegründete G enfer Einrichtung, die man als
„V ölkerbund“ oder, nach ihrem offiziellen Namen, besser als „Völkergesell
schaft“ (Société des nations) bezeichnet. D ieser Völkerbund ist ein zwischen
staatliches Gebilde, er setzt Staaten als solche voraus, regelt einige ihrer
gegenseitigen Beziehungen und garan tiert sogar ihre politische Existenz.
E r ist nicht n u r keine universale, sondern nicht einmal eine internationale
Organisation, wenn man das W ort „international“, wie es richtig und ehrlich
ist, von „zwischenstaatlich“ unterscheidet und nur fü r die wirklich internatio-
74 D er B egriff des P olitischen
1 Eine wichtige Quelle, die offiziellen Berich!e, welche Donoso seiner Regierung
nach Madrid schickte, ist noch nicht zugänglich. Die folgende Darstellung ist daher
auf die veröffentliditen Briefe angewiesen, wie sie die spanische Ausgabe der Werke
(im folgenden mit O b r a s zitiert), die französische Ausgabe von 1838 (zitiert
V e u i 11 o t) und die Veröffentlichung des Grafen Adhémar d'Antiodie, Paris 18 8 0
(zitiert: A n t i o c h e ) , enthalten. Die spanische Ausgabe ist nach meinen Erfahrungen
in Deutschland selten; ich habe daher im allgemeinen auf Veuillot verwiesen.
* Vgl. Otto Hoetzsch, Peter von Meyendorff, Bd. II S. 285, Berlin 1925, über den
zitierten Ausspruch vgl. unten.
76 D on oso C ortes in B erlin, 1849
wäre, so hätte er den König von Preußen im Parlam ent angegriffen. „Denn
ich bin kein F reund w eder von Preußen, noch von seiner Politik, noch von
seiner V ergrößerung, nicht einmal von seiner Existenz; ich glaube, daß es
von seiner G eburt an dem Dämon geweiht w ar, und bleibe überzeugt, daß
es ihm durch ein Geheimnis seiner Geschichte für immer geweiht ist1.4*Diese
erstaunliche Ä ußerung w ird dadurch noch auffälliger, daß sie an einen
preußischen G esandten gerichtet ist.
Trotz dieser Abneigung und trotz aller psychischen Depressionen folgte
Donoso den A ktualitäten der Tagespolitik und dem Kampf der politischen
Prinzipien auch in Berlin mit großer K larheit. Sein Blick fü r revolutionäre
Vorgänge w ar durch die E rfahrungen der zahlreichen spanischen Revo
lutionen geschärft. Schon im März 1849, kurz nach seiner Ankunft, entw irft
er ein sehr frappantes Bild von der dam aligen Lage Preußens und Deutsch
lands. Er staunt über die lächerliche Unbeholfenheit, mit der eine so gut
fundierte R egierung wie die preußische einer so harm losen Sache wie einem
deutschen P arlam ent gegenübersteht. Den König Friedrich W ilhelm IV,
der sich ähnlich wie Radow itz12 die Revolution aus einer A rt prim itiver
Klassentheorie erk lärte, indem er einfach die Städte für revolutionär, das
Land aber fü r königstreu hielt, w arnte er in seiner ersten Audienz vor
einem blinden V ertrauen auf die monarchische Gesinnung der Land
bevölkerung; die Regierung müsse sich selbst retten und dürfe nicht auf
die B auern w arten 3. D er König selbst erschien ihm als ein trauriges Bei
spiel romantischer V erw irrung, der sich in einer A rt religiösen W ahns für
den A userw ählten Gottes hielt und deshalb keiner Belehrung m ehr zu
gänglich w ar, der durch widerspruchsvolle Stimmungen und Tendenzen
die K raft der gegenrevolutionären P arteien lähm te, die Revolution ver
abscheute und sich doch verpflichtet fühlte, eine Verfassung zu geben, dann
aber w ieder eine V erfasung oktroyierte, die kein Produkt der Furcht,
sondern ein w ohlkalkuliertes System w ar, um den Liberalism us mit der
Dem okratie zu schlagen und trotzdem , mit Hilfe des M ilitärs und des
Belagerungszustandes, ein absolutistisches Königtum zu retten. F ü r den
religiösen G lauben des Königs, seinen aufrichtig christlichen Sinn, seinen
ehrlichen H aß gegen Revolution und Liberalism us hat der spanische K atho
lik interessanterw eise kaum ein W ort übrig. Die besonderen Gesichts
punkte der preußischen Politik interessieren ihn ebensowenig, wie um
gekehrt die preußische Politik für seine katholischen Ideen irgendwelches
Interesse zeigt. D aß die H andlungsw eise des Königs von Preußen vom
preußisch-deutschen Standpunkte aus vielleicht einheitlich und konsequent
erscheinen könnte, h at er aber bem erkt, und manche Ä ußerungen lassen
erkennen, daß er m it bloßen V orw ürfen gegen die persönliche Schwäche
1 Brief aus Paris v. 24. Mai 1852, Antioche S. 306.
2 Gesammelte Schriften IV S. 145.
3 Brief vom 15. März 1849, Antioche S. 71. In einem andern Zusammenhang hat
er die auffällige These aufgestellt, daß eine sozialistisdie Revolution um so radikaler
sozialistisch werde, je weniger gewerbliche Arbeiter es in dem Lande gebe. (Brief
aus Berlin v. 30. Mai 1849, Veuillot II S. 26.)
80 D o n o so C ortes in B erlin, 1849
bejubelt und angebetet und ein Ja h r später habe dieses selbe Volk die
Versammlung verenden lassen wie eine P rostituierte in einer Schenke»
como una p ro stitu ta en un caberna1.
Das G esam tbild der eigentlichen politischen K räfte faßte Donoso dahin
zusammen, daß in P reußen drei Richtungen zu unterscheiden sind: eine
intransigente konservative A delspartei, das liberale w ohlsituierte B ürger
tum, das h ier wie überall ein j u s t e m i l i e u sucht, und endlich die
starke demagogische Ström ung, in der das P ro letariat sich mit polnischen
und jüdischen A u frü h rern und ehrgeizigen Intellektuellen zusammen
findet, deren G ehirne durch den H egelianism us — causa principalisim a
del giro radical — desorganisiert und verw üstet sind. B em erkensw ert und
für die Betrachtungsw eise von Donoso typisch ist sein U rteil über den
preußischen K onservativism us. Diese politische Richtung, die ihm wegen
ihrer monarchischen und gegenrevolutionären Ü berzeugungen doch am
meisten sympathisch sein m ußte, b eu rteilt er sehr kühl. E r sieht sie in
einer gefährlichen Lage: als reak tio n äre P artei entfernt sie sich von der
liberalen Bourgeoisie, welche dadurch in eine V erbindung m it den Demo
kraten getrieben w ird; w äre sie w eniger reak tio n är und etw as toleranter,
so konnte sie in P reußen eine m ehr oder w eniger dauerhafte, jedenfalls
geordnete R egierung begründen, indem sie mit den besitzenden Klassen
des B ürgertum s zusam m engeht; w äre sie offen reak tio n är und w eniger
abhängig von ihrem unsicher lavierenden König (der im m er als das Unheil
des preußischen K onservativism us erscheint), w äre sie freier und aktiver, so
könnte sie eine R estauration herbeiführen, die ebenfalls m ehr oder w eniger
dauerhaft w äre, aber doch sicher die verrückten Hoffnungen der Revolutio
näre vernichten müßte. So wie sie ist, bedeutet sie n u r einen V orw and für
die Revolution, ohne deren Ausbrüche hemm en zu können12. Dieses U rteil
ist sowohl fü r die konstruierende A rt der politischen U rteile Donosos
charakteristisch als auch darin, daß es eine viel spätere Situation vorw eg
nimmt. Es w ar unrichtig fü r das P reußen von 1849, in welchem die Mon
archie noch sta rk w ar; es w ird richtig für eine Zeit, in welcher die Mon
archie einen entscheidenden Schlag e rlitten hat.
D araus e rk lä rt es sich wohl auch, w arum Donoso in B erlin noch nicht
zu der letzten verzw eifelten A ntithese gelangte, die sein Bild in der
Geschichte eigentlich bestim m t: die V orstellung von dem unm ittelbar
bevorstehenden, k atastro p h alen Endkam pf zwischen Katholizism us und
atheistischem Sozialismus. W ohl zeigen sich seit 1848 starke Antithesen,
oft als A usdruck des Dezisionism us seiner N atur, oft n u r als Zeichen
seines rhetorisch-epigram m atischen Stils, den B arbey d’A urevilly mit
sicherem kritischem U rteil als W esenszug bei ihm festgestellt hat. Doch
sind die G egensätze noch nicht bei der letzten Eschatologie angelangt;
1 Dieser Satz aus der Rede über die allgemeine Lage Europas vom 30. Januar
1850 (Veuillot II S. 406) hat auf Friedrich Wilhelm IV. Eindruck gemacht. Der König
zitiert ihn vor Meyendorff in der Audienz vom 24. März 1850 (Hoetzsch a. a. Ch
I I S. 283).
2 Veuillot II S. 11.
6 1682
82 D on oso C ortes in B erlin, 1849
die englische \ 7erfassung für das Vorbild aller Verfassungen. A ber die
Revolution von 1848 belehrte ihn darüber, daß der europäische Kontinent
in eine Epoche sozialer Revolutionen ein trat und infolgedessen die
englische Politik vor einem neuen Problem stand. E r kannte England als
den A nstifter der Revolutionen auf dem K ontinent — l’A ngleterre, cette
éternelle instigatrice des révolutions1; aus den E rfahrungen der spanischen
Geschichte kennt er auch die vollendete Technik, mit der es Revolutionen
zu erregen und zu unterstützen weiß. A ber unter dem Eindruck des Jahres
1848 hofft er, w iederum in einer typischen Vorwegnahme einer viel
späteren Situation, daß England sein w ahres Interesse, die Bekäm pfung
der europäischen Revolution, und seinen ihm natürlichen konservativen
Sinn endlich begreife. Vor der Abreise nach Berlin, in der Rede über die
D iktatur am 9. Jan u ar 1849, hält er es noch für möglich, daß England sich
im Gegensatz zum revolutionären Frankreich auf seine antirevolutionäre
Tradition besinnen und seinen Konservativism us auch auf dem Kontinent
betätigen werde.
Die prachtvolle, auch von R anke und Schelling bew underte Rede über
die allgemeine Lage Europas, die er dann am 30. Jan u ar 1850 nach der
Rückkehr von Berlin auf dem Kongreß in M adrid hielt, zeigte eine bedeu
tende Ä nderung und das eigentliche Ergebnis des B erliner Aufenthalts.
Das Ergebnis betrifft allerdings nicht Preußen und Deutschland, sondern
Rußland. Jetzt erscheint ein neuer Feind der europäischen Zivilisation: die
Möglichkeit einer Verbindung von revolutionärem Sozialismus und rus
sischer Politik12. Jetzt feiert er England als letzte Hoffnung Europas, als
letzten Schutz vor der erdrückenden Macht Rußlands und vor der Revo
lution, gegen die kein europäisches Volk, auch R ußland nicht, irgend
welche W iderstandskraft m ehr habe. W ährend er am 3. A pril 1849 aus
Berlin geschrieben hatte, daß nu r ein Bündnis mit R ußland Spanien aus den
Klauen Englands retten könne, rühm t er jetzt England als die R ettung
Europas vor der russischen G efahr. Das Bild, das er in dieser Rede ent
wirft, ist wohl die auffälligste seiner konstruktiven Vorwegnahm en: E rst
w ird die Revolution die bestehenden H eere auflösen; dann beseitigt der
Sozialismus alle G efühle der V aterlandsliebe und reduziert alle Gegen
sätze auf den von Besitzern und Nichtbesitzern; dann, wenn es der sozia
listischen Revolution gelungen ist, alle nationalen Regungen zu ertöten
und wenn u n ter russischer Führung die slawischen V ölker sich vereinigen,
wenn es in E uropa n u r noch den Gegensatz von A usbeutern und Aus
gebeuteten gibt, dann kommt Rußlands große Stunde und mit ihr die große
Züchtigung Europas, die vor allem England trifft, den Koloß, der mit einer
Hand Europa, m it der anderen Indien hält. Das w ird aber keineswegs
das Ende der Züchtigung sein. D enn diese Russen sind nicht ein Volk wie
die G erm anen, die in der V ölkerw anderung die europäische Zivilisation
erneuerten; R ußland ist in seiner A ristokratie und seiner V erw altung
1 Antioche S. 79.
2 Veuillot I S. 384.
6*
84 D o n o so C ortes in B erlin, 1849
ebenso k o rru p t wie das übrige E uropa; es w ird nach seinem Siege das
G ift des alten Europa in seinen A dern trag en und d a ra n sterben und ver
wesen. Diese Rede enthalt auch die seltsam e Prophezeiung, daß eine Revo
lution eher in St. P etersburg als in London ausbrechen w ürde. D ie R ettung
Europas vor der revolutionär-kom m unistisch-russischen Überschwemmung
könnte nur England sein, aber ein monarchisches und konservatives Eng
land, d. h. für Donoso ein katholisches E ngland1.
Um diese Linie zu Ende zu führen, nicht um ein vollständiges Bild der
wechselnden außenpolitischen Anschauungen Donosos zu geben, sei noch
erw ähnt, daß er zwei Jah re später, im Jan u ar und F e b ru a r 1852, England
w ieder als das Unheil Europas betrachtet und m eint, es gebe fü r F ra n k
reich nu r eine Politik, den europäischen K ontinent gegen E ngland zu
einigen und diesen ewigen U nruhestifter m itsam t der D em okratie vom
K ontinent zu vertreiben2. Das einzige, was im Wechsel der Anschauungen
bleibt, ist das Interesse am K irchenstaat und der päpstlichen Souveränität.
Im übrigen folgt er der täglich sich ändernden Situation und denkt keines
wegs daran, sich in einem außenpolitischen System dauern zu fixieren.
W eder ist England imm er der Feind, noch ist R ußland als konservative
Macht der unbedingte V erbündete. Man h at allerdings oft den Eindruck,
als habe Donoso in seinem B edürfnis nach k la re n G ru p pierungen auch hier
einen außenpolitischen Gegensatz gesucht, in welchem zwei Mächte, die eine
als T räger der überlieferten O rdnung, die andere als revolutionäre V or
macht, einander gegenüberstehen, w ie das revolutionäre F rankreich 1793
gegen England oder das bolschewistische R ußland seit 1918 gegen England
steht. Eine solche G ruppierung tra t aber 1848 nicht ein. Sie dam als schon
anzunehmen, entsprach einer im begrifflichen K ern der Sache richtigen V er
einfachung, aber die geschichtliche Entw icklung brauchte längere Zeit als
der konstruierend vorauseilende G eist des spanischen K atholiken. Noch
w ar in der politischen W irklichkeit der entscheidende P u n k t nicht erreicht.
Alle europäischen Mächte h at Donoso der R eihe nach als mögliche T räg er
des gegenrevolutionären Kam pfes in Betracht gezogen und w ieder v er
worfen: Rußland, England, Ö sterreich und Frankreich. N ur P reußen w ar
ihm zu frem d und unbegreiflich, obwohl gerade h ier die stärkste Reserve
überlieferter V orstellungen staatlich organisiert w ar und gerade P reußen
der Staat sein sollte, gegen den sich ein halbes Ja h rh u n d e rt später die
ganze W elt im Namen der D em okratie koalierte. D as h a t Donoso nicht
vorausgesehen. Bei Frankreich und der D ik ta tu r Napoleons III. blieb er
stehen. Es scheint m ir selbstverständlich, daß auch diese F ix ieru n g keine
endgültige w ar und daß er sie aufgeben m ußte, w enn e r die w eitere E nt
wicklung der napoleonischen P olitik erleb t hätte.
Dadurch, daß Donoso fü r N apoleon III. e in tra t und eine seiner wichtig
sten Bem ühungen auf dessen internationale A nerkennung gerichtet w ar,
ergab sich sofort w ieder ein G egensatz zu den konservativen M ächten des
1 Veuillot I S. 400.
2 Veuillot II S. 391 ff., 404 ff.
D em o k ra tie u nd F in an z 85
herrlidiung der unm ittelbaren D em okratie doch ein deutliches Gefühl für
ihre natürlichen Grenzen. Das Volk ist als Souverän auf die Gesetzgebung,
und zw ar Gesetzgebung im m ateriellen Sinne, beschränkt, die streng von
Regierung und Verwaltung unterschieden w ird und vor allem kein objet
individuel kennt (Buch II, Kap. 6). Finanzfragen insbesondere gehören
nicht in die Dem okratie. Die Finanz ist etwas der D em okratie Gefährliches:
„Ce mot de finance est un mot d’esclave1; il est inconnu dans la Cité.“
Deshalb darf es nach Rousseau in einem demokratischen S ta a t'n u r ein
fache, nur geradezu frugale V erhältnisse und vor allem keinen Reichtum
und keinen Gegensatz von arm und reich geben — ein typisch rousseau-
istisches Ausweichen in eine idyllische Prim itivität, das aber trotzdem einen
politischen Instinkt für die G efahr zeigt, welche der D em okratie vom
ökonom ischen und Finanziellen h er droht.
Sobald an die Stelle politischer Begriffe wirtschaftliche Kategorien
treten und ökonomische Gegensätze in Verbindung mit einem marxistischen
Klassenbegriff die demokratische Hom ogenität gefährden, ändern sich näm
lich auch alle Vorstellungen über die „Finanz“, d. h. das richtige Verhältnis
und die V erteilung der Einnahm en und Ausgaben des Staates. Es entspricht
der hergebrachten, in ihren historischen W urzeln teils ständischen, teils
liberal-bürgerlichen Überzeugung, daß derjenige, der die Abgaben leistet,
sie auch bewilligen und ihre Verwendung kontrollieren muß. Aus dieser
Überzeugung hat sich das m oderne Budgetrecht entwickelt. Die alte
„ V o lk sv ertre tu n g w ar eine V ertretung abgabenleistender oder steuer
zahlender Volksteile, und was sie an Abgaben bewilligte, w urde von ihren
A uftraggebern selbst geleistet. D am it w ar ein fester Zusammenhang von
Abgabenleistung und V olksvertretung gegeben, an den man glaubte. D er
berühm te liberale Satz „no taxation w ithout representation“ hat nur dann
einen Sinn, wenn er auch um gekehrt gilt. In der M assendemokratie
m oderner Industriestaaten lassen sich solche einfachen Zusammenhänge
und Zurechnungen nicht m ehr aufrechterhalten. Das „Volk“, d. h. die Ab
gabengesetze beschließende M ehrheit, schreibt auch der überstim mten
M inderheit Abgaben und soziale Lasten vor. Das ist jedenfalls etwas
wesentlich anderes als der alte Gedanke, daß Abgaben selbstverständlich
nur, banal gesprochen, „aus der eigenen Tasche“ bew illigt w erden können12.
1 Buch III Kap. 15. Carl Brinkmann hatte die Freundlichkeit, mich zu meinem
früheren Zitat dieses Wortes (Parlamentarismus S. 19) darauf aufmerksam zu
machen, daß in diesem Affekt gegen die Finanz audi der Haß gegen die Intendanten
des französischen 18. Jahrhunderts zum Ausdruck komme. Das ist wohl richtig; wie
meistens bei Rousseau schwingen viele Assoziationen mit. Aber der sachliche Inhalt
der Stelle bleibt erkennbar. Die demokratische Freiheit ist nach Rousseau zu Ende,
sobald das Geld ersdieint. „Donnez de l'argent, et bientôt vous aurez des fers“; dieser
Satz geht dem „mot d'esclave“ unmittelbar voraus.
2 Das gilt nicht nur für die Steuer„bewilligungen“ in kommunalen Vertretungs
körpern, für welche es in Deutschland (seit der Stabilisierung der deutsdien Wäh
rung im Zusammenhang mit dem Problem des Finanzausgleichs) allgemein bewußt
geworden ist; vgl. Popitz, Artikel Finanzausgleidi, Handwörterbuch der Staats
wissenschaft, Bd. Ill, S. 1013: „daß das allgemeine Wahlrecht die bewilligenden
Volksvertretungen nicht selten so zusammensetzt, daß es nicht gerade diejenigen
D em ok ratie und F in anz 87
Der heutige Zustand braucht deshalb nicht ungerecht zu sein und w ird vor
läufig kaum geändert w erden können, weil selbst der G laube an solche ein
leuchtenden wirtschaftlichen Zurechnungen zerstört ist und der Begriff der
„eigenen Tasche“ seine ständische oder individualistische Einfachheit ver
loren hat. Es ist nötig, sich dieser gew altigen Ä nderung bew ußt zu werden,
wenn m an über m oderne D em okratie spricht.
D enn auch h ier sind das „Volk“, d. h. die abstimm ende M ehrheit, welche
die Steuern und Abgaben „bew illigt“, und das „Volk“, d. h. die Steuer
zahler, die sie in der ökonomischen W irklichkeit tatsächlich leisten, nicht
m ehr eindeutig dieselben Größen. Auch hier offenbart das W ort „Volk“
seine abgründige V ieldeutigkeit. Die Folge ist eine auffällige Unsicherheit
gegenüber der Frage, w iew eit Finanzangelegenheiten sich für die Methoden
der unm ittelbaren D em okratie eignen. Das zeigte sich auch in den Be
ratungen des W eim arer Verfassungsausschusses (Prot. S. 312). D er Ab
geordnete D r. Q uarck z. B. fand es „mißlich“, bei großen Steueraktionen
einen Teil herauszureißen und der Volksabstimm ung zu unterstellen; dann
fügte er hinzu: „Ich gehe sogar so weit, anzunehm en, daß eine Volks
abstimm ung in F inanzfragen kaum rätlich ist. A ndererseits müssen w ir
beachten, daß das Budgetrecht das vornehm ste Recht der D em okratie ist.“
Dieses charakteristische „A ndererseits“ enthält die ganze V erw irrung von
Parlam entarism us und unm ittelbarer D em okratie. Es besteht kein Grund,
darüber zu spotten. D enn die Zw iespältigkeit ist nur der Schatten eiuer
großen V eränderung, die h in ter den überlieferten Form en und Einrichtun
gen vor sich geht und alle Staatsw esen der modernen, auf geheim er Einzel
abstimm ung beruhenden M assendem okratie vor ein völlig neues Problem
der „Finanz“ stellt. Rousseaus schicksalvolles Mot d’esclave erscheint jetzt
von neuem, und mit einem Lobe k lein er Verhältnisse w ird m an es heute
nicht m ehr beschwören.
sind, die in höheren Einkommensteuerstufen stehen und die Zuschläge hart fühlen
müssen, die in den Vertretungen von stärkerem Einfluß sind, sondern vielfach die
jenigen, die weniger bemittelte Volkskreise vertreten“. Popitz sieht darin eine
Schwächung des Gedankens der Selbstverwaltung und Selbstverantwortung. Ferner
A. Hensel, Gewerbesteuer und Finanzausgleidi (Gutachten in der Veröffentlichung
der Spitzenverbände der Wirtschaft, 1926), S. 71:.„Die Einführung des allgemeinen,
gleichen, direkten Wahlrechts unter Berücksichtigung der Grundsätze der Verhältnis
wahl (Art. 17 II RV.) hat zu einer wesentlichen Verschiebung der politischen Kräfte
in den Landes- und Gemeindeparlamenten geführt, die bewirkte, daß die Mehrheit
der Gemeindevertreter, welche die Neubewilligung von Ausgaben zu beschließen
hatte, zwar formell gleichzeitig für die Deckung dieser Ausgaben zu sorgen hatte,
m a t e r i e l l a b e r v o n der B e l a s t u n g , die d i e s e D e c k u n g mi t
sich b r a c h t e , in i hrer e i g e n e n T a s c h e n i c h t u n m i t t e l b a r b e
t r o f f e n w u r d e.“
11. Der Völkerbund und Europa (1928)
D as W ort „V ölkerbund" und das W ort „E uropa" bezeichnen beide
lebhaft um strittene und in hohem Maße problem atische Vorstellungen.
Sowohl das Interesse fü r jed en dieser Begriffe w ie auch ih re W ertschätzung
und B eurteilung in der öffentlichen M einung än dern sich oft und lassen
k ein k lares Bild erkennen.
A ber auch abgesehen von diesen Schw ankungen der öffentlichen Mei
nung ist je d e r der beiden Begriffe bei n ä h e re r B etrachtung in sich selbst
außerordentlich vieldeutig und unsicher. D er G edanke eines V ölkerbundes
h at allerdings die S phäre der bloßen Idee verlassen und im G enfer V ölker
bund eine organisatorische V erw irklichung gefunden. A ber w eder in der
O rganisation seiner beiden w ichtigsten Einrichtungen, V ölkerbundsver-
samm lung und V ölkerbundsrat, noch in der A rt seiner Zuständigkeiten und
Befugnisse läßt das G enfer G ebilde eine k la re Stellungnahm e erkennen.
Alle wichtigen politischen F ragen sind h ier noch offen, vor allem deshalb,
w eil fü r den G enfer V ölkerbund w eder die praktische Möglichkeit noch
ü berh au p t die anerk an n te Pflicht besteht, sich m it allen den F rieden der
E rde b erührenden A ngelegenheiten zu befassen. E r kann (nach dem W ort
lau t seiner Satzung) alles und braucht nichts zu tun. So ist der V ölkerbund
heute politisch nichts als ein System von K onferenzgelegenheiten, v er
bunden m it einem internationalen B ureau, dem G en eralsek retariat, und
seine H auptleistung besteht darin, eine A tm osphäre intern atio n aler V er
ständigung und V erhandlungsbereitschaft zu bew irken. Das kan n sehr
viel und sehr wenig sein. Jedenfalls ist ein endgültiges, sachliches U rteil
h ier noch nicht möglich.
Noch viel w eniger bezeichnet das W ort „E uropa" heute bereits eine
k lare und erkennbare V orstellung. Es ist schon schwierig, bei den v er
schiedenen P ro je k te n und Begriffen von E uropa eine überzeugende geo
graphische A bgrenzung zu erkennen. G ehört E ngland zu E uropa oder bildet
es nicht vielm ehr m it seinen Dom inions und Kolonien ein geschlossenes
Im perium , dessen V erbindung m it dem europäischen K ontinent unmöglich
und schädlich ist? G ehört Spanien dazu, oder ist es nicht enger m it den
lateinam erikanischen Staaten als m it D eutschland oder Skandinavien v e r
bunden? G ehört R ußland dazu, und ist es richtig, zwischen dem H auptland
d er slawischen V ölker und den westlichen Slaw en einen Unterschied zu
konstruieren? Soll Frankreich m it allen seinen K olonien und seiner ganzen
m ilitärischen R üstung eintreten, d. h. die m ilitärische und politische H e rr
schaft übernehm en? W ird nicht D eutschland durch seine wachsende V er
schuldung m ehr an die V ereinigten Staaten von A m erika als an irgendeinen
D er V ölkerbund und Europa 89
weisen darauf hin, daß der V ölkerbund sich fast ausschließlich m it euro
päischen A ngelegenheiten beschäftigt; die nichteuropäischen M itglieder
m üßten deshalb bald ih r Interesse an der O rganisation verlieren ; B rasilien
ist im H erbst 1926 ausgetreten, als D eutschland in den V ölkerbundsrat
aufgenom men w urde; vielleicht folgen andere außereuropäische M itglieder
nach, und so w äre das paneuropäische Problem durch einfache Subtraktion
gelöst, indem nämlich nach Abzug alle r übrigen S taaten der verbleibende
Rest als geeintes E uropa dasteht. A uf der anderen Seite aber bezeichnen
eifrige A nhänger des V ölkerbundsgedankens die K rise vom H erbst 1926
gerade als eine „E uropäisieruiigskrise“, w eil die E uropäisierung den
V ölkerbund als universales G ebilde gefährde. Ein b e k a n n te r Ju rist und
V orkäm pfer der Idee des Völkerbundes, G eorges Scelle, h at diesen Stand
punkt in einer um fangreichen Schrift, „Une crise de la Société des N ations“,
P aris 1927, vertreten.
O ffenbar sind die verschiedenen K ontinente am G enfer V ölkerbund ver
schieden beteiligt. Im ganzen kommen, von Japan abgesehen, hauptsächlich
europäische und am erikanische Staaten in B etracht1. D ie m eisten Staaten
sind europäisch. Doch sind 18 am erikanische Staaten M itglieder des G enfer
Völkerbundes; das sind rund ein D ritte l aller M itglieder. Es fehlen Mexiko
und vor allem die führende Macht des am erikanischen K ontinents, die Ver
einigten Staaten von Am erika.
Das Problem des V erhältnisses von V ölkerbund und E uropa ist aber,
wie die Dinge heute liegen, zunächst das Problem des V erhältnisses von
V ölkerbund und Am erika. Dieses w iederum ist bei der überw ältigenden
wirtschaftlichen und politischen Macht der V ereinigten Staaten in erster
Linie das Problem des V erhältnisses von V ölkerbund und V ereinigten
Staaten. Äußerlich betrachtet scheint hier kein Problem vorzuliegen. Die
V ereinigten Staaten haben es abgelehnt, den V ertrag von V ersailles zu
unterzeichnen; sie haben den Sonderfrieden mit D eutschland vom 25. August
1921 geschlossen und sind nicht M itglied des G enfer Völkerbundes ge
worden. Selbst die Bemühungen, sie an dem ständigen Internationalen
Gerichtshof im H aag zu beteiligen, blieben erfolglos. Die Vereinigten
Staaten sind also anscheinend in einer besonders entschiedenen Weise
a b w e s e n d . A ber es w ird sich zeigen, daß hier wie bei anderen euro
päischen F ragen die V ereinigten Staaten auf eine m ittelbare, aber darum
nicht w eniger effektive und intensive W eise doch w ieder a n w e s e n d
sind. Diese eigenartige Mischung von offizieller Abw esenheit und effektiver
Anwesenheit kennzeichnet das V erhältnis des Völkerbundes und Europas
zu den V ereinigten Staaten von Am erika.
Dem V ölkerbund gehört eine Reihe von am erikanischen Staaten an,
die man aus verschiedenen G ründen und Rücksichten als souveräne Staaten
bezeichnet, die aber von den V ereinigten Staaten abhängig sind und deren
außenpolitisches H andeln u n ter der „K ontrolle“ der Vereinigten Staaten
stellt. L änder wie Kuba, H aiti, San Domingo, Panam a und N ikaragua sind
M itglieder des G enfer Völkerbundes und gegebenenfalls auch des V ölker
b u n d s ra te s . Sie sind aber nicht n u r wirtschaftlich und nicht nur faktisch
von den V ereinigten Staaten abhängig, sondern auch durch förmliche, aus
drückliche V erträge gebunden. V erträge, wie sie die V ereinigten Staaten
mit Kuba u n ter dem 22. Mai 1903 oder mit Panam a unter dem 18. November
1903 abgeschlossen haben, sind typisch für die m oderne Form der Be
herrschung eines Staates. Es sind Interventionsverträge, weil die politische
Kontrolle und H errschaft auf dem Recht der Intervention beruht. D er
kontrollierende Staat d a rf nach seinem Ermessen zum Schutz der Un
abhängigkeit oder des Privateigentum s, zur A ufrechterhaltung der O rd
nung und Sicherheit oder aus andern G ründen, über deren Vorliegen er
selbst entscheidet, in die V erhältnisse des andern Staates eingreif en; sein
Eingriffsrecht ist durch Flotten- und Kohlenstationen, militärische Be
setzung, Landpachtungen oder in anderer Weise gesichert. Die Einzel
heiten dieser m odernen Herrschafts- und Kontrollm ethoden interessieren
hier nicht. Jedenfalls ist ein Staat, der in solcher Weise kontrolliert wird,
etwas anderes als ein unabhängiger Staat, der k raft eigener Bestimmung
über Begriffe w ie U nabhängigkeit und öffentliche O rdnung entscheidet.
Die genannten am erikanischen Staaten gehören nach den vorliegenden
völkerrechtlichen V erträgen zum politischen System der Vereinigten
Staaten von A m erika. W enn sie trotzdem M itglieder des G enfer V ölker
bundes sind, so ragt an dieser Stelle neben dem politischen System des eng
lischen W eltreiches ein zweites politisches System in das G enfer Gebilde
hinein, und zw ar in eigenartiger W eise: die kontrollierten Staaten sind
in Genf anwesend, der kontrollierende O berstaat ist abwesend.
Noch aus einem w eiteren G runde ist der Völkerbund von A m erika her
in seiner S tru k tu r bestimm t. In A rt. 21 seiner Satzung hat er sich der
M onroe-Doktrin ausdrücklich unterw orfen. Es heißt in diesem A rtikel,
daß die M onroe-Lehre m it der Satzung des G enfer V ölkerbundes „nicht
92 D er V ölk erb u nd und Europa
unvereinbar“ sei. Ob sie das w irklich ist, w äre eine F rage für sich. D er
praktische Sinn der E rklärung liegt darin, daß die M onroe-Lehre mit allen
ihren w eittragenden Auslegungen der V ölkerbundssatzung vorgeht. D a
mit hat der Genfer V ölkerbund auf jede ernsthafte Einwirkungsm öglich
keit gegenüber den am erikanischen Staaten verzichtet. D enn der erste
G rundsatz dieser „Lehre“ besagt, daß keinerlei Einmischung eines euro
päischen (das heißt nach der praktischen Bedeutung außeram erikanischen)
Staates oder Systems in A ngelegenheiten des am erikanischen Köntinents
stattfinden darf. Die Auslegung dieser vieldeutigen D oktrin und ihre An
wendung im konkreten Einzelfall ist ganz in der H and der V ereinigten
Staaten von Am erika. Soweit es sich um Beziehungen zwischen am eri
kanischen Staaten oder um Beziehungen eines außeram erikanischen Staates
zu amerikanischen Staaten handelt, ist daher eine Zuständigkeit oder Be
fugnis des G enfer V ölkerbundes ausgeschlossen. Man darf sagen, daß der
V ölkerbund auf dieser Seite gelähm t ist und auf diesem Bein hinkt. Trotz
dem aber sind selbstverständlich die Rechte der am erikanischen M itglied
staaten innerhalb des G enfer V ölkerbundes die gleichen wie die anderer
M itgliedstaaten. Mit andern W orten: D ie Entscheidungen des G enfer
Völkerbundes sind durch die Beteiligung der am erikanischen M itglieder
beeinflußt, w ährend um gekehrt ein Einfluß des V ölkerbundes auf am eri
kanische Verhältnisse infolge der M onroe-D oktrin ausgeschlossen ist. Die
Vereinigten Staaten sind in Genf nicht anwesend; aber wo die Monroe-
D oktrin anerkannt ist und andere am erikanische Staaten anw esend sind,
können sie tatsächlich auch nicht abw esend sein.
Diese Mischung von A bw esenheit und A nw esenheit ist nun alles andere
als ein kurioser Zufall. Sie ist nicht etw a durch die persönlichen E igenarten
des Präsidenten Wilson oder aus ähnlichen p eripheren G ründen zu er
klären. Sie liegt in der G esam tstruktur der heutigen europäischen V er
hältnisse tief begründet und w iederholt sich bei jed e r wichtigen Frage. Es
muß jedem aufm erksam en Betrachter auf fallen, wiei die V ereinigten
Staaten an der Regelung der deutschen R eparationsfragen entscheidend
beteiligt sind und dabei trotzdem form ell die äußerste Zurückhaltung
wahren. In der Reparationskom m ission saß kein am erikanisches Mitglied.
Die vier M itgliedstaaten sind: Frankreich, England, Italien und Belgien.
Das Londoner Protokoll vom 16. August 1924, in welchem die heutige Rege
lung der Reparationszahlungen auf G rund des sog. D aw esplanes enthalten
ist, beruht auf V erträgen zwischen dem Deutschen Reich und der R epa
rationskommission bzw. den in der Reparationskom m ission vertretenen
alliierten Mächten. Dazu kom men w eitere Interessenten, und das Londoner
Protokoll ist unterzeichnet von Belgien, G roßbritannien (mit Dominions
und Indien), Frankreich, Griechenland, Japan, Italien, Portugal, Rum änien
und dem serbo-kroatisch-slowenischen Königreich. In der Einleitungsform el
ist aber gesagt, daß die V ereinigten Staaten sich „durch V ertreter mit
genau um grenzter Vollmacht“ angeschlossen haben. Ebenso sind die Ver-
D er V ölk erb u nd u nd Europa 93
einigten S taaten an dem P ariser V ertrag vom 14. Jan u ar 1925 beteiligt,
durch w eldien England, Frankreich, Italien, Japan, Belgien, Brasilien,
Griechenland, Polen, Portugal, Rum änien, Tschecho-Slowakei und das serbo
kroatisch-slowenische Königreich sich über die V erteilung der A nnuitäten
einigen. Das E igenartige und A uffällige liegt nun darin, daß in allen ent
scheidenden, d. h. politischen Augenblicken der D urchführung des Dawes-
planes ein „am erikanischer B ürger“ erscheint. Nach § 2 a des A rtikels I der
Anlage IV w ird, w enn die R eparationskom m ission über eine F rage des
D aw esplanes zu entscheiden hat, ein B ürger der V ereinigten Staaten von
Am erika, „a citizen of the U nited States of A m erica“ m it Stimmrecht an
den B eratungen teilnehm en; er ist „B ürger der V ereinigten Staaten“, aber
nicht deren offizieller V ertreter; er w ird durch einstim migen Beschluß der
Reparationskom m ission, gegebenenfalls durch den Präsidenten des Stän
digen Gerichtshofes im H aag, aber nicht von der am erikanischen Regierung
ernannt. Bei d er Feststellung einer V erfehlung gegen die R eparationsver
pflichtungen, dem eigentlich politischen A kt des Reparationsvollzugs, also
bei der Entscheidung über die Voraussetzung der Zulässigkeit von Sank
tionen, erscheint w iederum ein „B ürger der V ereinigten S taaten“. Die durch
die R uhrbesetzung berühm t gew ordene Anlage II >zu Teil VIII des V er
sailler V ertrages, die das Sanktionsrecht behandelt, ist im Londoner Proto
koll m odifiziert, aber keinesw egs aufgehoben. Nach § 16 a dieser Anlage II,
in der Fassung des A rtikels I der Anlage IV des Londoner Protokolles, ist
es Sache der Reparationskom m ission, über jeden A ntrag auf Feststellung
einer N ichterfüllung Deutschlands zu befinden; bei A blehnung des A ntrags
oder M ehrheitsbeschluß kann jedes M itglied der Reparationskom m ission
eine Schiedskommission anrufen; der Vorsitzende der Schiedskommission
ist imm er ein am erikanischer B ürger. Auch Streitigkeiten desU bertragungs-
(Transfer-) Kom itees über die Frage, ob deutscherseits „verabredete finan
zielle M anöver“ vorliegen, entscheidet ein Schiedsgericht und muß der Vor
sitzende des Schiedsgerichts ein am erikanischer B ürger sein. Diese eigen
artige Rolle eines nichtoffiziellen und doch auch w ieder nicht bloß privaten
am erikanischen B ürgers ist ein Symptom und ein Symbol. Vom deutschen
Standpunkt aus ist zu sagen, daß in der H eranziehung des „am erikanischen
B ürgers“ die W ahrscheinlichkeit einer gerechteren Entscheidung liegt, als
sie von den europäischen M itgliedern der Reparationskom m ission, d. h.
von den europäischen R egierungen, e rw a rte t w ird.
Daß die w ichtigsten N achkriegsfragen — R eparation und in teralliierte
Schulden — nicht ohne die V ereinigten Staaten von A m erika geregelt
w erden können, versteht sich, von selbst. D aß die V ereinigten Staaten auf
G rund der M onroe-Lehre jede Einmischung in politische V erhältnisse
Europas zu verm eiden suchen, ist bei der prinzipiellen Bedeutung dieser
Lehre erklärlich. A ber jen e wirtschaftlichen F ragen haben eine unverm eid
lich politische Bedeutung, und so w ird eine wirkliche Abw esenheit doch
w ieder undurchführbar. D as E rgebnis ist jene Mischung von Abw esenheit
94 D er V ölk erb u n d u nd E uropa
7 lß82
98 V ölkerrechtliche P rob lem e im R h ein geb iet
entscheiden, ob das Saargebiet ganz oder teilw eise unter die deutsche
Staatshoheit zurückkehrt, zu Frankreich kommt oder der gegenwärtige
Zustand dauernd wird. H ierbei sind m ehrere Besonderheiten der vertrag
lichen Regelung wohl zu beachten, die ein ungerechtfertigter Optimismus
oft übersieht: erstens ist die F ortdauer des heutigen Zustandes als eine
Möglichkeit vorgesehen; zweitens ist es form ell nicht die Volksabstimmung,
sondern der V ölkerbund, der unter Berücksichtigung des W u n s c h e s
(voeu) der B evölkerung entscheidet; und drittens ist eine T e i l u n g des
Saargebietes möglich, so daß sich hier die Ä hnlichkeit m it der für O ber
schlesien getroffenen Regelung und die E rinnerung an die Teilung O ber
schlesiens sofort aufdrängt. D ie K o rrek tu r jenes unmoralischen und uner
träglichen Zustandes, welche darin liegt, daß die Frem dherrschaft im Saar
gebiet eben n u r 15 Jah re dauern soll, w irk t also leider nicht so eindeutig und
beruhigend, wie es auf den ersten Blick selbstverständlich sein sollte.
Was die D auer der R heinlandbesetzung angeht, so ist sie ebenfalls für
eine beispiellos lange Zeit (nämlich 15 Jah re für die dritte Zone, also
besonders auch für den m ilitärisch und politisch besonders wichtigen P unkt
Mainz) vorgesehen, aber im m erhin befristet. Auch hier sind zahlreiche
Auslegungsfragen entstanden, welche den deutschen Anspruch auf eine
vorzeitige Räum ung, ja, selbst den Anspruch auf Räum ung nach A blauf
jener F risten gefährden und enttäuschen. Die Verbindung der Räum ungs
frage mit der F rage der Sicherheit Frankreichs einerseits und mit der
Reparationsfrage andererseits läßt hier so viele M einungsverschiedenheiten
und Differenzen entstehen, daß fast jedes W ort der vertraglichen Regelung
(Art. 428f VV) problem atisch w ird. H ier zeigt sich dann in k la re r Weise,
wie sehr die W orte einer rechtlichen N orm ierung ihren Inhalt ändern,
sobald sie in den Kam pf politischer Gegner hineingezogen werden. An
Begriffen wie A brüstung, Angriffskrieg, Sicherheit, M inderheit, haben w ir
diese E rfahrung handgreiflich machen müssen und gesehen, daß eine rechte
liehe N orm ierung als bloße N orm ierung hilflos und unsicher und die
Behauptung eines entpolitisierten Völkerrechts ein offenbarer, höchst poli
tischer Betrug ist.
W ährend die beiden ersten Teile des rheinischen Komplexes, Saar
regierung und R heinlandbesetzung, als wenigstens grundsätzlich vorüber
gehende Erscheinungen gekennzeichnet sind, sollen die beiden anderen,
E ntm ilitarisierung und Investigation, von unbegrenzter Zeitdauer sein. Im
Vergleich zu den sichtbaren und fühlbaren Einw irkungen, wie sie die
Saarregierung und die R heinlandbesetzung mit sich bringen, besonders im
Vergleich zur A nw esenheit einer großen feindlichen Armee, können diese
beiden anderen Teile vielleicht unbedeutend und nebensächlich erscheinen.
Aber dafür sind sie eben dauernd und auch im übrigen nichts weniger als
harmlos. Das Investigationsrecht, durch welches die Entwaffnung Deutsch
lands k o n trolliert w ird, soll nach Art. 213 VV durch einen M ehrheits
beschluß des V ölkerbundsrates ausgeübt werden. Es besteht für ganz
Deutschland. Seinen eigentlichen Inhalt und seine politische Bedeutung
7*
100 Völkerrechtliche P rob lem e im R hein geb iet
dürfte es erst durch die P raxis des V ölkerbundsrates erhalten, so daß sich
vorläufig hier noch nicht viel K onkretes aussagen läßt. D er V ölkerbundsrat
hatte am 27. Septem ber 1924 ein sogenanntes Investigationsprotokoll geneh
migt, in welchem für die entm ilitarisierten G ebiete die Einrichtung „stän
diger Elem ente“ (éléments stables) vorgesehen w ar. D ie deutsche Regierung
hat es erreicht, daß diese außerordentlich gefährlichen und unabsehbaren
ständigen Elemente zunächst auf gegeben w urden. Ein Beschluß des Völker
bundrates vom 11. Dezem ber 1926, betreffend das Investigationsrecht, sagt
ausdrücklich: „Es besteht Einverständnis darüber, daß die Bestimmungen
des Art. 213 des F riedensvertrages mit D eutschland über die Investi
gationen auf die entm ilitarisierte Rheinlandzone in gleicher W eise wie auf
die übrigen Teile Deutschlands anw endbar sind. Diese Bestimmungen
sehen für diese Zone ebensowenig w ie fü r andere G ebiete die Einrichtung
einer besonderen K ontrolle durch ständige oder dauernde lokale Elemente
vor. ln der entm ilitarisierten R heinlandzone können d erartige besondere,
nicht im A rtikel 213 vorgesehene Elem ente n u r durch ein Abkommen
zwischen den beteiligten R egierungen eingerichtet w erden.“ D as klingt
beruhigend, weil damit die ständigen lokalen Elem ente auch für die ent
m ilitarisierte Zone zurückgewiesen sind, und w ir w ollen hoffen, daß nicht
eine schikanöse Silbenstecherei behauptet, dadurch seien n u r die ständigen
lokalen, nicht andere ständige Elem ente ausgeschlossen. Zugleich aber kann
in diesem Beschluß ein A nerkenntnis gefunden w erden, durch welches der
Inhalt der Investigation sich ausdehnt, indem nämlich der Zweck und Maß
stab für die Untersuchung sich ausdehnen: A r t.213 sieht eine Investi
gation nu r zur D urchführung der allgem einen Entw affnung vor, w ährend
der unter M itw irkung Deutschlands gefaßte Beschluß vom 11. D ezem ber
1926 Investigationen auch zur K ontrolle der D urchführung der speziellen
Entm ilitarisierungsbestim m ungen anerkennt. Mit Recht ist auf das Bedenk
liche dieser Abmachung hingew iesen w orden1.
Es ist daher die E ntm ilitarisierung, die hier am m eisten interessiert.
Selbst wenn einm al wirklich das Problem der Besetzung und des Saar
gebiets gelöst sein sollte, wenn die stark e französische A rm ee m it ihrem
großen K riegsm aterial aus Mainz abm arschiert ist und das deutsche Gebiet
vollständig geräum t hat, w enn auch im Saargebiet w ieder deutsche Be
hörden tätig sind, so bleibt dieses Problem der E ntm ilitarisierung als das
eigentliche Problem der R heinlande und der französisch-deutschen Bezie
hungen w eiter bestehen.
Umfang und Inhalt der E ntm ilitarisierung sind öfters dargestellt w orden
und vor allem in dem Buch von K. Linnebach12 m it gutem M aterial ein
drucksvoll auseinandergesetzt. Es genügt hier, d aran zu erinnern, daß ein
geschlossenes deutsches G ebiet von insgesam t über 55 000 qkm, nämlich das
ganze deutsche linke R heinufer und ein G ebietsstreifen von 50 km B reite
1 Wolf V . Dewall, „Frankfurter Zeitung“, 23. September 1928, 1. Morgenblatt.
2 Die Entmilitarisierung der Rheinlande und der Vertrag von Locarno, eine
völkerreditliclie Untersuchung; Rheinisdie Schicksalsfragen, Sdirift 18/20, Berlin 1927.
V ölkerredltliche P roblem e im R heingebiet 101
auf der rechten Seite des Rheins von Basel bis zur holländischen Grenze
davon erfaßt ist, ein wirtschaftlich hochentwickeltes Gebiet mit großen und
wichtigen Städten, wie K arlsruhe, Mannheim, F ran k fu rt, Köln, Düsseldorf
und Essen, vielleicht der reichste Teil Deutschlands. Die Entm ilitarisierung
besteht nach A rt. 42 , 4 3 VV darin, daß es Deutschland untersagt ist, in
diesem Gebiet Befestigungen beizubehalten oder zu errichten, daß w eder
ständig noch zeitweilig deutsche T ruppen hier unterhalten oder angesam
melt w erden dürfen, daß m ilitärische Übungen jed e r A rt und schließlich
alle „m ateriellen“ (im englischen Text: „ständigen“) „V orkehrungen für
eine Mobilmachung“ verboten sind. Jede dieser Bestimmungen eröffnet
Möglichkeiten ausdehnender Auslegung, die bei einer politischen Zweck
interpretation unverm eidlich ist. Insbesondere legt ein Begriff wie „Vor
kehrungen fü r eine Mobilmachung“ grenzenlose Interpretationen nahe,
nach welchen schließlich jed er Straßenbau, jed er Bahnhof, jed er T u rn
verein, jed er Schutz der B evölkerung durch Gasm asken als V orkehrung
für eine Mobilmachung hingestellt w erden kann. Diese Entm ilitarisierung
bedeutet nach ihrem Inhalt, nach ihrem territo rialen Umfang, nach ih re r
D auer und vor allem auch wegen der Einseitigkeit, mit der sie nu r dem
Deutschen Reich auferlegt ist, etwas völlig anderes als die bisherigen, in
der Geschichte bekannten, älteren oder neueren F älle von Entm ilitarisie
rung1. Es handelt sich nicht etw a um eine N eutralisierung des Gebietes, die
zur Folge hätte, daß das Gebiet nicht Kriegsschauplatz w erden darf. Im
Gegenteil, diese A rt der Regelung hat den Sinn, alle Möglichkeiten der
V erteidigung zu beseitigen und dadurch ein prädestiniertes Kriegsgebiet
zu schaffen, das in voller W ehrlosigkeit und H ilflosigkeit dem Einmarsch
französischer T ruppen und ih re r m ilitärischen A ktionen für alle Zeiten
öffen liegt, eine A rt Glacis zwischen Frankreich und Deutschland, aus
schließlich auf Kosten Deutschlands eingerichtet und dazu bestimmt,
14 Millionen Deutsche zu O pfern etw aiger Kriegsm aßnahm en und einer
ungeheuerlichen A rt von Geiseln zu machen.
D ieser weitgehende Zustand der E ntm ilitarisierung w ar zunächst n u r
dadurch garantiert, daß jed e r Verstoß Deutschlands gegen diese dehnbaren
Bestimmungen als „eine Störung des W eltfriedens und eine feindselige
Handlung gegen jede Signatarm acht des V ersailler V ertrages gilt“ (Art. 44
VV). D er politische Sinn dieser W orte liegt darin, daß Deutschland wegen
irgendeiner Bagatelle als A ngreifer fingiert w erden kann und nun das
ganze System der völkerrechtlichen Scheinjurisprudenz, das echte und
falsche K riegsverhütungs- und Kriegsächtungsrecht mit voller Wucht zu
ungunsten Deutschlands funktioniert. D er E ntm ilitarisierte w ird eo ipso
als A ngreifer fingiert und Deutschland erscheint gerade wegen seiner
W ehrlosigkeit und Entm ilitarisierung automatisch als Störer des W elt
friedens — eine w underbare Illustration zu der berühm ten Fabel von dem
Wolf und dem Lamm oder zu der Geschichte von dem Kaninchen, dessen
hilfloses Mümmeln der Wolf, unter dem Beifall seiner Freunde, als freche
1 So mit Recht Linnebach, a. a. O. S. 76.
102 Völkerrechtliche P rob lem e im R h ein geb iet
frage stattfinden sollen und für das entm ilitarisierte G ebiet eine Fest-
stellungs- und Vergleidhskommission (commission de conciliation et de
constatation) eingesetzt w erden soll. Diese letzte Abmachung, die sich auf
das entm ilitarisierte G ebiet bezieht, ist fü r unseren Zusamm enhang von
besonderem Interesse. Welches Ergebnis die w eiteren V erhandlungen
haben w erden, läßt sich natürlich nicht Voraussagen. Bisher h at die deutsche
Regierung jede Bindung wenigstens über das Ja h r 1935 hinaus entschieden
abgelehnt. G egenüber den zahlreichen V erm utungen und Vorschlägen, die
hier auf tauchen, muß aber immer w ieder die grundsätzliche F rage im Auge
behalten w erden, ohne deren K lärung eine Einigung u n ter den deutschen
Meinungen nicht möglich ist. D enn es gibt Deutsche, die jene geplante
Vergleichskommission, sogar w enn sie über das Ja h r 1935 hinaus fungieren
soll, für etw as Harmloses und im Vergleich zu einer Besatzungsarm ee sehr
Vorteilhaftes halten, und außerdem in ihr eine brauchbare, die Entschei
dung des V ölkerbundsrates vorbereitende, der V erständigung und dem
Frieden dienende Instanz erblicken.
Daß selbst sympathische und vertrauenerw eckende Nam en w ie V er
gleich, Verständigung und Versöhnung und auch ein W ort w ie „con
ciliation“ wenig über die Sache zum Ausdruck bringen, sollte nach den
bisherigen politischen E rfahrungen selbstverständlich sein. Die politische
W irklichkeit richtet sich leider wenig nach solchen A ushängeschildern und
wir wissen, daß schöne und sogar heilige W orte im politischen Kam pf
gebraucht werden, um den G egner durch moralische Suggestionen zu
lähmen, wie die persischen Soldaten im K rieg gegen die Ä gypter K atzen
unter den Arm nahmen, weil die Ä g ypter es nicht w agten, in der Richtung
dieser heiligen T iere zu schießen. Eine Vergleichs- und V erständigungs
politik kann trotz ihres Namens sehr einseitigen politischen Zwecken
dienen. Es frag t sich deshalb, was eine eigens fü r das entm ilitarisierte
Gebiet eingesetzte, der Entscheidung des V ölkerbundsrates auf jed en Fall
vorgreifende Vergleichskommission in concreto bedeutet. Sie ist auf jeden
Fall zunächst eine internationale Instanz, die als solche fü r einen abgegrenz
ten Teil des Deutschen Reiches zuständig ist. Sie brin g t dadurch in die
territoriale Einheit und Geschlossenheit des Deutschen Reiches von außen
her eine gefährliche Unterscheidung, indem sie die bisher n u r norm ative
Sonderbehandlung dieses Gebietes nun auch instanzenm äßig organisiert.
Mit andern W orten: das entm ilitarisierte G ebiet ist bei einer solchen
Kommission nicht n u r der im V ersailler V ertrag vorgesehenen Sonder
r e g e l u n g , sondern auch einer Sonder o r g a n i s a t i ο n unterw orfen.
Das ist rechtlich und politisch ein fundam entaler Unterschied und fü h rt
weit über den V ersailler V ertrag hinaus. D enn dam it ist erreicht, daß
ein bestim m ter Teil des Deutschen Reiches, und zw ar gerade die R hein
lande, geradezu eine besondere Verfassung erhalten. Wichtige staatliche
Funktionen, sowohl der Gesetzgebung als auch der R egierung und Ver
waltung, unterstehen einer beständigen ausländischen, international
gemischten K ontrolle und einem beständigen Vetorecht, und zw ar nicht wie
104 Völkerrechtliche P rob lem e im R hein geb iet
I
III.
Es m üßte auffallen, daß überhaupt von völkerrechtlichen Problem en
der R heinlande oder im R heinlande gesprochen w erden kann. Denn im
allgemeinen ist es doch heute noch so, daß nur Staaten oder staatenähnliche
Gebilde als solche eine völkerrechtliche Stellung haben und T räger selb
ständiger völkerrechtlicher Problem e sind, nicht aber Gebietsteile unabhän
giger Staaten. Niem and w ird es wagen, von einem völkerrechtlichen P ro
blem des Elsasses oder Irlands zu sprechen. Selbst das völkerrechtliche
Problem Ä gyptens ist von der englischen Regierung mit restlosem Erfolg
als solches negiert w orden. Um so bedenklicher, daß eine Redewendung,
wie die vom „völkerrechtlichen Problem der R heinlande“ in ih rer poli
tischen Tragw eite großen Teilen des deutschen Volkes kaum bew ußt wird.
Solange die E ntm ilitarisierung der R heinlande nur auf einer Sonder
norm ierung b e ru h t und ih re D urchführung der L oyalität der deutschen
Regierung überlassen w ird, ist dieser Zustand vielleicht noch erträglich.
Sobald aber an die Stelle der Sondernorm ierung darüber hinaus noch eine
Sonderorganisation tritt und innerhalb des Deutschen Reiches eine te rri
toriale A bgrenzung entsteht, liegt es allerdings nahe, eine Internationale
sierüng der R heinlande zu befürchten, durch welche die Rheinlande aus
einer staatsrechtlichen in eine völkerrechtliche Situation kommen.
Man muß diese U nterw erfung eines großen deutschen Gebietsteiles
unter eine internationale Sonderregelung oder sogar Sonderorganisation
im Zusamm enhang der m odernen M ethoden im perialistischer U nterw erfung
und A usbeutung frem der Staaten betrachten, um die ganze politische Trag
weite eines solchen Zustandes richtig zu verstehen. D enn heute w ird nicht
m ehr mit den v eralteten M ethoden offener G ebietsannexion gearbeitet,
sondern m it „K ontrollen“ und m it einem System von V erträgen, und zwar
106 V ölkerrechtliche P rob lem e im R hein geb iet
unserer Zeit. D enn es drängt sich jedem auf, wie sehr die Entwicklung der
m odernen Technik manche politischen G ruppierungen und Grenzen der
früheren Zeit illusorisch macht und den überlieferten status quo beseitigt,
wie sehr „die E rde k lein e r“ w ird und infolgedessen die Staaten und
Staatensystem e größer w erden müssen. In diesem gewaltigen Umwand
lungsprozeß gehen wahrscheinlich viele schwache Staaten unter. Einige
Riesenkom plexe w erden übrigbleiben und vielleicht die nach menschlicher
Berechnung zu erw artende Zeit eines ungeahnten, auf völlig neuen tech
nischen M öglichkeiten beruhenden Menschenglücks genießen. Manche
kleineren G ebilde w erden sich im Schatten irgendeines wohlwollenden
Riesen in Sicherheit bringen. Soviel ich beobachten kann, gibt es Deutsche,
die glauben, das letzte sei auch für Deutschland die richtige Methode, um
der politischen Entscheidung zu entwischen und sich in ein problemloses,
wehrloses, geschichtsloses Glück hineinzulavieren, etw a mit Hilfe der „Poli
tik des toten K äfers“, dessen Schutz in seiner W ehrlosigkeit liegt. Das
w äre allerdings eine bequem e und gem ütvolle Lösung und enthöbe uns
scheinbar alles w eiteren polnischen Nachdenkens und jedes Risikos. N ur
fürchte ich, daß dieser Weg, so wie die Dinge nun einm al liegen, hoffnungs
los v e rsp e rrt ist und der sich tot stellende K äfer einfach zertreten wird.
Das Deutsche Reich m it seinem verhältnism äßig kleinen in der Mitte
Europas liegenden T errito riu m und seinen über 60 Millionen Menschen ist
nicht groß genug, um ohne w eiteres eine der überlebenden Weltmächte zu
sein, andrerseits aber nicht klein und p eripher genug, um wie ein kleines
Volk in dem politischen System eines andern unterzukom m en oder sich
einfach aus der W eltgeschichte zu verdrücken. Seine Dimensionen sind zu
klein, als daß es durch das bloße stabile Gewicht seiner Masse geschützt
w äre, w ie das bei R ußland der F all ist; und sein Gewicht ist doch w ieder
zu groß, als daß es in einer schnellen und beweglichen Politik wechselnder
Bündnisse einen labilen Bestand w ahren könnte. In dieser Zwischen
stellung hängt alles am politischen Bewußtsein, an der Selbstbeherrschung
und der Entschlossenheit der deutschen Politik und kom mt es darauf an,
ob das deutsche Volk seinen W illen zur politischen Existenz bew ahrt oder
ob es sich psychisch und moralisch zerm ürben läßt, so daß es damit ein
verstanden w äre, aus seinem eigenen Fleisch und Blut die frem den
L eviathane zu sättigen.
Das ist die furchtbare G esam tlage Deutschlands, in deren Zentrum die
Frage der E ntm ilitarisierung der R heinlande steht. Ein großes und ent
schlossenes Volk braucht nicht zu verzw eifeln, und es w äre Feigheit, die
Hoffnung aufzugeben. A ber es w äre ein Verbrechen, sich der k laren poli
tischen B ew ußtheit zu entziehen und vor den schlimmsten Möglichkeiten,
auch w enn sie hoffentlich n u r Möglichkeiten bleiben, die Augen zu ver
schließen. Insbesondere w äre es eine unverantw ortliche Selbsttäuschung,
anzunehm en, daß heute die zwischenstaatlichen Beziehungen im wesent
lichen bereits m oralisiert und verrechtlicht seien, und daß man theoretisch
und praktisch behaupten könne, das D enken und Fühlen der Völker sei
108 Völkerrechtliche P roblem e im R hein geb iet
sehen Staates) ; oder ist er notw endigerw eise n u r der bew affnete D i e n e r
einer jen er wirtschaftlichen und sozialen Klassen (die bekannte m arxi
stische These); oder ist er eine A rt von n e u t r a l e m D ritten, ein pouvoir
neutre et interm édiaire (was er bis zu einem gewissen G rade heute fak
tisch in Deutschland ist, wobei die Reste des alten Beam tenstaates die
Rolle eines solchen pouvoir n eutre spielen)? Nicht als ob diese F rage H errn
von Beckerath entgangen w äre; gerade die Ü berlegenheit des Faschismus
über wirtschaftliche Interessen, sei es der A rbeitgeber, sei es der A rbeit
nehm er, und der, m an kann sagen, heroische Versuch, die W ürde des
Staates und der nationalen E inheit gegenüber dem Pluralism us ökonomi
scher Interessen zu halten und durchzusetzen, tr itt in Beckeraths D ar
stellung eindrucksvoll hervor. A ber sein staatstheoretisches Interesse
richtet sich doch vor allem auf die Ideologie und auf den Gegensatz von
faschistischer Ideologie auf der einen, dem okratischer und p arlam entari
scher Ideologie auf der anderen Seite. Infolgedessen ist die echte staats
theoretische Unterscheidung zu sehr m it dem G egensatz bloß ideologischer
Stichworte verwechselt. D araus e rk lä rt es sich wohl, daß der Faschismus
in einen absoluten Gegensatz zur D em okratie gebracht w ird (wodurch er
sich vom Bolschewismus unterscheiden soll; S. 147, 149), daß er als etwas
absolut Antidem okratisches auf gefaßt w ird, w ährend er in W ahrheit nur
zu der liberalen Auflösung der echten D em okratie in einem d erartig abso
luten Gegensatz steht. H ier hat der V erfasser m einer Ansicht nach die an
sich natürlich längst bekannte Verschiedenheit von D em okratie und L ibera
lismus nicht nachdrücklich genug im Auge behalten. Diese Verschiedenheit
ist fundam ental; sie beruht nämlich auf dem G egensatz des politischen
und des wirtschaftlichen D enkens überhaupt. D ie höchst geistvolle und
elegante, aber doch schließlich unrichtige Form ulierung, daß der Faschis
mus, wenigstens in „der ersten Stunde“, eine „A rt l’a rt pour Part auf poli
tischem G ebiete“ w ar (S. 25), und das irrefü h ren d e P rä d ik a t „romantisch“
(S. 24) erk läre ich m ir aus einer U nklarh eit über das W esen des b ü rg er
lichen Liberalism us und einer Vermengung, die noch nicht restlos auf die
Konfusion des 19. Jahrhunderts verzichtet. D er konsequente Liberalism us
h at seine H eim at teils im ökonom ischen, teils im Ethischen und ist im
übrigen ein kunstvolles System von M ethoden zur Schwächung des Staates.
E r löst vom Ethischen und Ökonomischen h er alles spezifisch Politische und
spezifisch Staatliche auf. D em okratie dagegen ist ein Begriff, der ebenso
spezifisch in die Sphäre des Politischen gehört. Echter Nationalism us, all
gemeine W ehrpflicht und D em okratie sind nun einm al „dreieinig, nicht zu
trennen“, und der zäsaristisch gesinnte D em okrat ist ein a lte r geschicht
licher Typus (Sallust!). Die große Steigerung des staatsbürgerlichen und
nationalen Selbsthewußtseins bei der Masse der Italiener, insbesondere bei
den Bauern, den „Ivolonen“, eine Steigerung, die d er Faschismus jedenfalls
erreicht hat und die von einem so guten und v orurteilsfreien Beobachter
wie Paul S c h e f f e r als eine H auptleistung des Faschismus bezeichnet
w ird, kann man nicht gut in einen Gegensatz zur D em okratie bringen. D aß
W esen u nd W erden des faschistischen S taates ili
der Faschismus auf W ahlen verzichtet und den ganzen „elezionismo“ haßt
und verachtet, ist nicht etw a undemokratisch, sondern antiliberal und ent
springt der richtigen E rkenntnis, daß die heutigen Methoden geheim er
Einzelwahl alles Staatliche und Politische durch eine völlige Privatisierung
gefährden, das Volk als E inheit ganz atis der Öffentlichkeit verdrängen
(der Souverän verschwindet in der W ahlzelle) und die staatliche W illens
bildung zu einer Sum mierung geheim er und p riv ater Einzelwillen, das
heißt in W ahrheit u n k o n trollierbarer Massenwünsche und -ressentim ents
herabw ürdigen. Gegen ihre tatsächlich desintegrierende W irkung kann
man sich n u r schützen, w enn m an im Sinne von Rudolf S m e n d s Inte
grationslehre eine Rechtspflicht des einzelnen Staatsbürgers konstruierte,
bei der geheim en Stim mabgabe nicht sein privates Interesse, sondern das
Wohl des Ganzen im Auge zu haben — angesichts der W irklichkeit des
sozialen und politischen Lebens ein schwacher und sehr problem atischer
Schutz. Jene Gleichsetzung von D em okratie und geheim er Einzelw ahl aber
ist Liberalism us des 19. Jah rh u n d erts und nicht D em okratie. Auch das neue
faschistische Gesetz über die politische R epräsentation vom 17. Mai 1928,
das den Stim m berechtigten n u r die Möglichkeit gibt, zu einer von der
Regierung vorgelegten K andidatenliste Ja oder Nein zu sagen, ist nu r im
Sinne jen e r liberalen P rivatisierung undemokratisch. Es fü h rt in W ahr
heit zum Plebiszit, wie auch Beckerath (Schmollers Jahrbuch, Band 52,
S. 213; ebenso Leibholz, S. 27) richtig erkennt. Ein Plebiszit ist aber nichts
Undemokratisches. D arüber kom mt auch die radikalste und unm ittelbarste
D em okratie nicht hinweg, daß das Volk n u r akklam ieren oder nu r Ja
oder Nein sagen kann; und angesichts der unentrinnbaren A bhängigkeit
von F ragestellung und Vorschlagslisten ist es eben politisch und infolge
dessen auch dem okratisch gedacht, Fragestellung und Vorschlagslisten von
der R egierung ausgehen zu lassen und nicht anonym en C liquen und In te r
essentengruppen anheim zugeben, die sie in tiefstem Geheimnis fabrizieren
und aus einem undurchsichtigen und unverantw ortlichen D unkel heraus
einer teils parteim äßig organisierten, teils hilflos schwankenden Masse von
geheim abstim m enden Einzelnen unterbreiten. Wie die Dinge heute liegen,
ist in keinem Land der Kam pf um den Staat und das Politische ein Kampf
gegen eine echte D em okratie, aber ebenso notwendig ist er ein Kampf
gegen die M ethoden, m it denen das liberale B ürgertum des 19. Ja h r
hunderts den dam aligen, heute längst erledigten monarchischen Staat
geschwächt und gestürzt hat.
Es ist sehr auffällig, daß zwei Staaten wie das bolschewistische Rußland
und das faschistische Italien die einzigen sind, die den Versuch gemacht
haben, mit dem überlieferten Verfassungsklischee des 19. Jahrhunderts zu
brechen und die großen V eränderungen in der wirtschaftlichen und sozialen
S truktu r des Landes auch in der staatlichen O rganisation und in einer
geschriebenen Verfassung zum Ausdruck zu bringen. D ie großen und
führenden Industriestaaten (zu denen Italien im m erhin noch nicht gehört)
halten m erkw ürdigerw eise trotz aller Ä nderungen ih re r sozialen und
112 W esen u nd W erden des faschistischen S taates
D ynastien, deren ideelle G rundlage der politisch lähm ende Begriff der
Legitim ität w a r1. D er Faschismus dagegen legt aus guten G ründen W ert
darauf, revolutionär zu sein.
A udi H e rr von Beckerath stellt fest, daß der faschistische stato cor
porativo, m it seinem Versuch einer Einigung und H arm onisierung von
A rbeitgeber- und Arbeitnehm erschaft, bisher nicht gelungen ist. „Die
Spannungen lösen sich in einem Sieg der Regierung.“ D er faschistische
Staat entscheidet nicht als neutraler, sondern als höherer D ritter. Das ist
seine Suprem atie. W oher kom mt diese Energie und diese neue K raft? Aus
nationaler Begeisterung, aus der individuellen Energie Mussolinis, aus der
K riegsteilnehm erbew egung, vielleicht noch aus w eiteren G ründen — das
alles ist in Beckeraths Buch mit vorbildlicher K larheit beschrieben. A ber
die allgem eine Prognose, die er daraufhin stellt, scheint m ir in der F rage
stellung nicht ganz den K ern der Sadie zu treffen. Die Prognose geht dahin,
daß die M ajoritätsideologie sich, m it steigender K onzentration der w irt
schaftlichen und politischen Macht in wenigen Händen, zersetzen und daß
der au to ritä re Staat zugleich mit einer Umformung der politischen Ideo
logie innerhalb der abendländischen Kulturgem einschaft T errain zurück
gewinnen w erde (S. 154/155). Ich möchte die Frage, auf welche eine Prognose
zu antw orten hat, nicht so ideologisch stellen, sondern danach fragen, wem
nach menschlicher Berechnung der von Mussolini aufgebaute A pparat,
wenn er einm al ohne den jetzigen Motor w eiterlaufen soll, seinem Wesen
nach auf die D auer dienen muß, den kapitalistischen Interessen der A rbeit
geber oder den sozialistischen Interessen der A rbeitnehm er? Ich verm ute,
daß er, und zw ar in demselben Maße, in dem er echter Staat ist, auf die
D auer den A rbeitnehm ern zugute kommt, und zw ar deshalb, weil diese
heute das Volk sind und der Staat nun einmal die politische Einheit des
Volkes ist. N ur ein schwacher Staat ist kapitalistischer D iener des P riv at
eigentums. Jeder starke Staat — w enn er wirklich höherer D ritte r ist und
nicht einfach identisch mit den wirtschaftlich Starken — zeigt seine eigent
liche Stärke nicht gegenüber den Schwachen, sondern gegenüber den sozial
und wirtschaftlich Starken. C asars Feinde w aren die O ptim aten, nicht das
Volk; der Staat des absoluten F ürsten m ußte sich gegen die Stände durch
setzen, nicht gegen die B auern usw. D aher können die A rbeitgeber und
insbesondere die Industriellen einem faschistischen Staat niemals ganz
trauen, und müssen sie verm uten, daß er sich eines Tages im Ergebnis zu
einem A rbeiterstaat m it Planw irtschaft entwickeln werde. D ieser Ver
mutung entsprechen manche A usführungen Beckeraths (zum Beispiel
S. 143), sie w erden neuerdings von Paul Scheffer in einem sehr inter
essanten und bedeutenden Aufsatz offen ausgesprochen (Berliner Tage
blatt Nr. 613 vom 29. D ezem ber 1928). D ann trä te — ein schönes Beispiel
1 Man kann als Deutscher nur hoffen, daß dem deutschen Volk ein weiteres
Schicksal erspart bleibe, das der junge Hegel angedeutet hat: „Es ist ein höheres
Gesetz, daß dasjenige Volk, von dem aus der Welt ein neuer universeller Anstoß
gegeben wird, selbst am Ende vor allen übrigen zugrunde geht, und sein Grundsatz,
aber es selbst nicht, bestehe“ (Schriften zur Politik, Ausgabe Lasson, S. 96).
8 1682
114 W esen und W erden des faschistischen S taates
für die List der weltgeschichtlichen Idee — der F all ein, daß, ähnlich wie
Bismarck unter dem W utgeschrei der L iberalen 1863 bis 1870 wesentliche
Teile eines echt liberalen Program m s verw irklicht hat, so Mussolini im
erbitterten Kampf gegen die offiziellen H üter des Sozialismus eine sozia
listische A rm atur geschaffen hätte. D am it soll nicht ausgeschlossen sein, daß
möglicherweise auch einmal einige liberale Rückschläge eintreten können,
vrenn die Führung durch Mussolini aufhört. N ur w ürde ein solcher Rück
schlag m einer Ansicht nach nichts anderes bedeuten als den Versuch, jener
immanenten, zur staatlichen Planw irtschaft führenden Konsequenz und
Richtung des heute aufgebauten faschistischen A pparates zu entgehen, und
der Versuch w äre nur möglich u nter völliger Z ertrüm m erung des ganzen
A pparates und blinder R estauration des alten Liberalism us, eine Restau
ration, die Beckerath am Schluß seines Aufsatzes in Schmollers Jahrbuch
für unmöglich erklärt.
Endlich noch ein W ort zur Ergänzung der A usführungen über den stato
etieo und die Staatsethik des Faschismus. Man darf die faschistischen Ideen
über den Staat nicht, auch nicht im gegensätzlichen V erhältnis, an den
Maßstäben und W orten messen, die seit dem 18. Ja h rh u n d ert im europä
ischen Bürgertum selbstverständlich geworden sind. Alle solchen Worte
gehören ja zu der A tm osphäre ideologischen Betruges, die heute von
Millionen empfunden und gehaßt w ird. Wie alle starken Bewegungen, sucht
auch der Faschismus sich von ideologischer A bstraktheit und Scheinformen
zu befreien und zum konkret E xistentiellen zu gelangen. Auch das faschi
stische Ethos geht von jenem Gefühl des ßetrogenseins aus, das man seit
dem 19. j ahrhundert überall feststellen kann, das nicht n u r ein prole
tarischer Affekt ist und das nach dem W eltkrieg in romanischen Ländern
einen stärkeren Ausdruck gefunden hat als in D eutschland1. D er faschi
stische Staat will mit antiker Ehrlichkeit w ieder Staat sein, m it sichtbaren
M achtträgern und R epräsentanten, nicht aber Fassade und Antichambre
unsichtbarer und unverantw ortlicher M achthaber und G eldgeber. Das
starke Gefühl des Zusammenhangs mit der A ntike ist nicht n u r Dekoration,
was H err von Beckerath auch gewiß nicht annim mt. Man kann es aus jener
Reaktion gegen abstrakte Entpolitisierungen begreifen, in V erbindung mit
dem einfachen geschichtlichen Faktum , daß der große Staat des europä
ischen Kontinents im eigentlichen Sinn imm er ein klassisches Gebilde w ar
und in der T radition klassischen D enkens bleiben muß. Das gilt für die
mit der Renaissance und dem Barock entstehenden Staaten und für die
großen Zeiten des französischen wie des preußischen Staates; es gilt auch
für die letzte große Staatsphilosophie Hegels, deren W urzel tief in die
A ntike reichen. W enn der Faschismus sich dem m arxistischen Sozialismus
überlegen fühlt, so trifft dieses U berlegenheitsgefühl vor allem den sozia
listischen Menschheitsbegriff und seinen ideologisch-abstrakt-gespenstischen
Monismus, ein echt liberales Erbstück, das der proletarische Sozialismus
1 So in den furchtbaren Worten von G. Bernanos, die F. Lefèvre mitteilt (Docu
ments bleus, Nr. 33, Paris 1927, S. 163/164).
D er u n b ek an n te D on oso Cortes 115
8*
116 D er u n b ek a n n te D o n o so C ortes
und anziehend w irken könnte. Sie ist ernst und furchtbar und scheint
namentlich in den letzten Jahren seines Lebens oft dem W ahnsinn nahe.
D er alte G oya hat kaum schlimmere und gräßlichere Szenen gemalt,
als sie bei Donoso erscheinen. F ü r ihn ist der Mensch ein widerliches,
lächerliches, von der Sünde völlig zerstörtes, dem Irrtu m anheim gefallenes
Wesen, das, wenn nicht Gott selbst es erlöst hätte, verächtlicher w äre als
das Reptil, das m ein Fuß zertritt. F ü r ihn ist die Weltgeschichte nur das
taum elnde D ahintreiben eines Schiffes, mit einer Mannschaft betrunkener
Matrosen, die gröhlen und tanzen, bis G ott das Schiff ins Meer stößt, damit
w ieder Schweigen herrscht. Das alles ist zu schrecklich, als daß es einen
A utor im 19. Ja h rh u n d ert angenehm und populär machen könnte; es w ird
außerdem nicht etw a als okkasionelle, romantisch-pessimistische Im pres
sion vorgetragen, sondern als Dogma und System. Auch die politischen
Ansichten, die in den Briefen mit unbefangener Lebendigkeit ausgesprochen
werden, erscheinen im Essay in einen systematischen Rahm en gesperrt
und lassen ihren U rheber als einen System politiker und einen politischen
D oktrin är erscheinen, der an sich schon etwas Unsympathisches hat und
nun erst recht, w enn er m it solchem vernichtenden Pessimismus und solcher
Menschenverachtung au ftritt. D enn eine D ik tatu r ertragen die Menschen
des 19. Jahrhunderts nu r dann, w enn sie im Namen eines hum anitären
Optimismus au ftritt, so, wie sie den K rieg nu r als K rieg gegen den Krieg
und die Sklaverei n u r im Namen der F reiheit zulassen.
Aus dem eigenartigen Eindruck, den eine solche Verbindung von katho
lischer Theologie und politischem System auf einen Protestanten hervor-
rufen muß, e rk lä re ich m ir auch Bismarcks starken Affekt gegen Donoso,
wie er an einer Stelle der „G edanken und E rinnerungen“ plötzlich hervor
bricht. Bismarck hielt es für möglich, daß Österreich und Frankreich nach
dem K riege von 1870 auf dem gemeinsamen Boden des Katholizismus ein
ander näherkom m en und auch B ayern in ihre Kom bination hineinziehen
w ürden. E r fürchtete ein katholisches System der Außenpolitik. In der
Politik der K aiserin Eugenie scheint das wirklich ein starkes Motiv gewesen
zu sein und dort zu phantastischen P länen geführt zu haben, die auf eine
Vereinigung alle r katholischen Mächte — Frankreich, Österreich, Bayern,
die R heinlande, Spanien, sogar L ateinam erika — gerichtet waren. D er
bloße G edanke an die Möglichkeit eines gewaltigen katholischen Kom
plexes von großer außenpolitischer K raft m ußte für Bismarck aufregend
und beunruhigend sein. M einer Auffassung nach liegt in solchen Befürch
tungen eine sehr wichtige, wenn auch noch nicht genügend beachtete W urzel
des deutschen K ulturkam pfes, denn Bismarck hat aus den Revolutions
jah ren von 1848/49 von Donoso gewußt, er kannte als konservativer Preuße
den B erliner F reund Donosos, den russischen Gesandten von Meyendorff,
er kannte die K aiserin Eugenie und die H intergründe des Planes, Mexiko
unter einem habsburgischen Erzherzog zu einem K aisertum zu machen;
er w ußte insbesondere, wie tief alle diese P olitiker davon überzeugt w aren,
daß das protestantische und das katholische Deutschland zwei verschiedene
118 D er u n b ek an n te D o n o so C ortes
Staaten bilden müßten. H ier konnte Bismarcks Besorgnis einen gef ähr licken
außenpolitischen Feind der nationalen Einheit Deutschlands erblicken, wie
um gekehrt die Idee der nationalen E inheit Deutschlands in den Augen
Donosos und seiner Freunde ein gefährlicher und unnatürlicher, für
Deutschland und Europa unerträglicher Irrtu m w ar.
Seine theoretischen Ansichten m ußten dem spanischen K atholiken also
von vielen Seiten her Abneigung und M ißtrauen einbringen. Es nützte
ihm nichts, sondern w ar nu r ein w eiterer G run d seines Mißerfolges, daß
er als praktischer Politiker ein ausgezeichneter, k la re r und praktischer
Diplomat w ar und keineswegs ein apokalyptischer Schwärmer oder Phan
tast. Vergleicht man seine politische Theorie mit seiner diplomatischen
Praxis, so ergibt sich eine kaum kom patible V erbindung eines eschato-
logischen Propheten mit einem zielbew ußten D iplom aten von Fach. Eugenio
d’O rs hat dafür eine unübertreffliche Form el geprägt: calido retorico, frio
politico. Theorie und P raxis m ußten sich in einer solchen Situation gegen
seitig desavouieren. Die mit ungeheurer Wucht aufgestellten ideologischen
Thesen forderten ununterbrochen den Vergleich m it bekannten, leicht zu
durchschauenden Tatsachen heraus. Es ist nicht schwer, das heute zu wissen,
und allzu wohlfeil, sich daraufhin überlegen zu fühlen. W as seinen Kampf
gegen den atheistischen Sozialismus angeht, so w endet sich Donoso aus
schließlich gegen Proudhon. D ieser anarchistische Sozialist w ar fü r ihn ein
Teufel und A bgesandter der Hölle. H eute sehen w ir, daß der Kam pf gegen
Proudhon mit falscher Front geführt w urde, und als der eigentliche F ü h rer
und H äresiarch des atheistischen Sozialismus erscheint heute K arl Marx.
E r ist der eigentliche K leriker des ökonomischen D enkens, w ährend
Proudhon eher als ein M oralist erscheint, der ganz in der lateinischen
T radition steht und dessen geistige Energie aus einer moralischen
Em pörung über die kapitalistische Zerstörung der Fam ilie entspringt.
G erade von Proudhon geht die stärkste und intensivste K ritik des P arla
m entarism us und Liberalism us aus; von ihm fü h rt eine Linie über Georges
Sorel zum Faschismus, zum stato corporativo und zum Sow jetsystem , den
eigentlichen Gegnern des heutigen Parlam entarism us. A ber in den ersten
Jahren nach 1848 stand Proudhon im M ittelpunkt aller theoretischen E r
örterungen über Sozialismus, und K arl M arx w ar in Frankreich außerhalb
der sozialistischen Kreise noch für lange Zeit ganz unbekannt. H eute sehen
w ir, was Donoso in seinem theologischen Kam pf gegen Proudhon nicht
bem erken konnte, daß er in gewissem Sinne gegen einen V erbündeten
und sogar Verwandten polem isierte, der mit ihm die Kom bination von
Liberalism us und D em okratie bekäm pfte, und zw ar aus einer moralischen
Strenge heraus, die ihm m it Recht den Nam en eines „Römers** ein
gebracht hat.
Aber stärker und auffälliger als diese leicht erklärliche falsche F ro n t
ist der innere W iderspruch in der politischen Situation Donosos. Seine
große theoretische Bedeutung für die Geschichte der gegenrevolutionären
Theorie liegt darin, daß er die legitimistische A rgum entation aufgibt und
D er u n b ek a n n te D o n o so C ortes 119
nalismus und zum Gegenteil, ihre K raft zur O rthodoxie im G uten und
im Bösen sind überw ältigend. Sie haben die Verbindung von Sozialismus
und Slawentum realisiert, die Donoso Cortes schon im Jahre 1848 als das
entscheidende Ereignis des kommenden Jahrhunderts prophezeit hat.
Das ist unsere Lage. Man w ird kein nennensw ertes W ort über K ultur
und Geschichte sprechen können, ohne sich der eigenen k u ltu rellen und
geschichtlichen Situation bew ußt zu sein. D aß alle geschichtliche E rkenntnis
G egenw artserkenntnis ist, daß sie von der G egenw art ihr Licht und ihre
Intensität erhält und im tiefsten Sinne n u r der G egenw art dient, weil aller
Geist n u r gegenw ärtiger Geist ist, haben uns seit Hegel viele, am besten
Benedetto Croce, gesagt. An zahlreichen berühm ten H istorikern der letz
ten G eneration haben w ir die einfache W ahrheit noch vor Augen, und es
gibt heute niem anden m ehr, der sich durch M aterialhaufen darüber täuschen
ließe, wie sehr alle geschichtliche D arstellung und K onstruktion von naiven
P rojektionen und Identifikationen erfüllt ist. Das erste also w äre Bew ußt
sein der eigenen gegenw ärtigen Situation. D aran sollte mit jen er Be
m erkung über die Russen erinnert w erden. Eine bew ußte Vergegen
w ärtigung ist heute schwierig, aber auch um so notwendiger. Alle Zeichen
deuten darauf, daß w ir in E uropa 1929 noch in einer Periode der Erm üdung
und der Restaurationsversuche lebten, wie es nach großen K riegen gewöhn
lich und begreiflich ist. F ast eine ganze G eneration der europäischen
Menschheit w ar im 19. Jahrhundert, nach dem zw anzigjährigen Koalitions
krieg gegen Frankreich, seit 1815 in einer derartigen Geistesverfassung,
die sich auf die Form el reduzieren läßt: Legitim ität des status quo. Alle
Argum ente einer solchen Zeit enthalten in W irklichkeit w eniger die
W iederbelebung vergangener oder vergehender Dinge als ein k ram pf
haftes, außen- und innenpolitisches: status quo, was sonst? W ährenddessen
dient die Ruhe der Restaurationsstim m ung einer rapiden und ungestörten
Entwicklung neuer Dinge und neuer Verhältnisse, deren Sinn und Richtung
durch die restaurierten Fassaden verdeckt sind. Ist dann der Augenblick
gekommen, so verschwindet der legitimistische V ordergrund wie ein leeres
Phantom.
Die Russen haben das europäische 19. Jah rhundert beim W ort ge
nommen, in seinem K ern erkannt und aus seinen kulturellen Präm issen die
letzten Konsequenzen gezogen. Man lebt immer unter dem Blick des rad i
kaleren Bruders, der einen zwingt, die praktische Konklusion zu Ende zu
führen. Ganz unabhängig von außen- und innenpolitischen Prognosen läßt
sich eines bestimm t sagen: daß auf russischem Boden m it der A ntireligion
der Technizität E rnst gemacht w urde und daß hier ein Staat entsteht, der
mehr und intensiver staatlich ist als jem als ein Staat des absolutesten
Fürsten, Philipps II., Ludwigs XIV. oder Friedrichs des Großen. Das alles
ist als Situation nu r aus der europäischen Entwicklung der letzten Ja h r
hunderte zu verstehen; es vollendet und übertrum pft spezifisch europäische
Ideen und zeigt in einer enorm en Steigerung den K ern der m odernen
Geschichte Europas.
122 D as Zeitalter der N eu tra lisieru n g en u nd E n tp o litisieru n g en
fortw äh rend änderte, ebenso wie der Inhalt ih rer geistigen Interessen, das
Prinzip ihres Handelns, das Geheimnis ih re r politischen Erfolge und der
B ereitw illigkeit großer Massen, sich von bestim m ten Suggestionen beein
drucken zu lassen.
K lar und besonders deutlich als einm alige geschichtliche W endung ist
der Ü bergang von der Theologie des 16. zum Metaphysischen des 17. Jah r
hunderts, zu je n e r nicht n u r metaphysisch, sondern auch wissenschaftlich
größten Zeit Europas, dem eigentlichen H eroenzeitalter des okzidentalen
Rationalism us. Diese Epoche systematisch wissenschaftlichen Denkens um
faßt gleichzeitig Suarez und Bacon, Galilei, K epler, Descartes, Grotius,
Hobbes, Spinoza, Pascal, Leibniz und Newton. Alle die erstaunlichen m athe
matischen, astronomischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse dieser
Zeit w aren eingebaut in ein großes metaphysisches oder „natürliches“
System, alle D enker w aren M etaphysiker großen Stils, und selbst der
charakteristische A berglaube der Zeit w ar kosmisch-rationalistisch in der
Form der Astrologie. Das folgende 18. Jah rh u n d ert schob, mit H ilfe der
K onstruktionen einer deistischen Philosophie, die M etaphysik beiseite und
w ar eine V ulgarisation großen Stils, A ufklärung, schriftstellerische An
eignung der großen Ereignisse des 17. Jahrhunderts, Hum anisierung und
R ationalisierung. Es läßt sich im einzelnen verfolgen, wie Suarez in zahl
losen populären Schriften w eiter w irkt; für manche fundam entalen Begriffe
der M oral und der Staatstheorie ist Pufendorff nur ein Epigone von Suarez,
und schließlich der c o n tr a t social Rousseaus w ieder n u r eine V ulgarisation
Pufendorffs. A ber das spezifische Pathos des 18. Jahrhunderts ist das der
„Tugend“, und ih r mythisches W ort ist „vertu“. Auch der Romantizismus
von Rousseau sprengt noch nicht bew ußt den Rahm en der moralischen
Kategorien. Ein kennzeichnender Ausdruck dieses Jahrhunderts ist der
Gottesbegriff Kants, in dessen System Gott, wie man es etw as grob gesagt
hat, n u r noch als ein „Parasit der E th ik “ erscheint; jedes W ort in der W ort
verbindung „K ritik der reinen V ernunft“ — K ritik, rein und V ernunft —
richtet sich polemisch gegen Dogma, M etaphysik und Ontologismus.
D ann folgt m it dem 19. Jah rh u n d ert ein Säkulum scheinbar hybrider
und unmöglicher V erbindung von ästhetisch-romantischen und ökonomisch
technischen Tendenzen. In W irklichkeit bedeutet die Rom antik des 19. Ja h r
hunderts — w enn w ir das ein wenig dadaistische W ort Rom antik nicht in
romantischer W eise zum V ehikel der V erw irrungen machen wollen — nur
die Zwischenstufe des Ä sthetischen zwischen dem Moralismus, des 18. und
dem Ökonom ism us des 19. Jahrhunderts, n u r einen Übergang, der v er
m ittels der Ä sthetisierung aller geistigen G ebiete bew irkt w urde, und zwar
sehr leicht und erfolgreich. D enn der W eg vom M etaphysischen und Mora
lischen zum ökonom ischen geht über das Ästhetische, und der Weg über
den noch so sublim en ästhetischen Konsum und Genuß ist der sicherste und
bequem ste W eg zur allgem einen Ö konom isierung des geistigen Lebens und
zu einer G eistesverfassung, die in P roduktion und Konsum die zentralen
K ategorien menschlicher Existenz findet. In der geistigen W eiterentw ick-
124 Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen
lung dient der romantische Ästhetizism us dem ökonom ischen und ist er
ein typisches Begleitphänomen. D as Technische aber erscheint im 19. Jahr
hundert noch in engster V erbindung m it dem ökonom ischen, als „Indu
strialism us“. H ierfür ist die bekannte Geschichte- und Gesellschafts
konstruktion des m arxistischen Systems das kennzeichnende Beispiel. Sie
h ält das ökonom ische für Basis und Fundam ent, fü r den „U nterbau“ alles
Geistigen. Im K ern des ökonom ischen sieht sie freilich schon das Tech
nische, und die wirtschaftlichen Epochen der Menschheit bestimm t sie nach
dem spezifischen technischen Mittel. Trotzdem ist das System als solches
ein ökonomisches System, und die technizistischen Elem ente treten erst in
späteren Vulgarisierungen hervor. Im ganzen w ill der M arxismus ökono
misch denken, und damit bleibt er im 19. Jahrhundert, das wesentlich öko
nomisch ist.
A llerdings w ird schon im 19. Jah rh u n d ert der technische Fortschritt
so erstaunlich und ändern sich infolgedessen die sozialen und wirtschaft
lichen Situationen so schnell, daß alle moralischen, politischen, sozialen und
ökonomischen Problem e von der R apidität dieser technischen Entwicklung
ergriffen werden. U nter der ungeheuren Suggestion imm er neuer, über
raschender Erfindungen und Leistungen entsteht eine Religion des tech
nischen Fortschritts, für welche alle anderen Problem e sich eben durch den
technischen Fortschritt von selber lösen. D en großen Massen industriali
sierter Länder w ar dieser G laube evident und selbstverständlich. Sie über
springen alle Zwischenstufen, die für das D enken der führenden Eliten
charakteristisch sind, und bei ihnen w ird aus der Religion des W under
und Jenseitsglaubens ohne M ittelglied gleich eine Religion der technischen
W under, menschlicher Leistungen und N aturbeherrschung. Eine magische
Religiosität geht in eine ebenso magische Technizität über. So erscheint das
20. Jah rh u n d ert bei seinem Beginn als das Z eitalter nicht n u r der Technik,
sondern auch eines religiösen G laubens an die Technik. Als Zeitalter der
Technik ist es oft bezeichnet w orden, aber die G esam tsituation ist damit
n u r vorläufig gekennzeichnet, und die F rage nach der Bedeutung der über
w ältigenden Technizität soll zunächst offen bleiben. D enn in W ahrheit ist
der G laube an die Technik n u r das Ergebnis einer bestim m ten Richtung, in
welcher sich die V erlagerung der Zentralgebiete bewegt, und als Glaube
aus der Folgerichtigkeit der V erlagerungen entstanden.
Alle Begriffe der geistigen Sphäre, einschließlich des Begriffes Geist,
sind in sich pluralistisch und n u r aus der konkreten politischen Existenz
heraus zu verstehen. Wie jede N ation einen eigenen Begriff von Nation
h a t und die konstituierenden M erkm ale der N ationalität bei sich selber
und nicht bei den andern findet, so hat jede K ultur und jede K ultur
epoche ihren eigenen Begriff von K ultur. Alle wesentlichen Vorstellungen
der geistigen Sphäre des Menschen sind existentiell und nicht normativ.
W enn das Zentrum des geistigen Lebens sich in den letzten vier Ja h r
hunderten fortw ährend verlagert, so ändern sich infolgedessen auch fort
w ährend alle Begriffe und W orte, und es ist notwendig, sich der Mehr-
Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen 125
deutigk eit jedes W ortes und Begriffes zu erinnern. Die m eisten und
gröbsten M ißverständnisse (von denen allerdings viele B etrüger leben)
e rk lä re n sieb aus der falschen Ü bertragung eines auf einem bestimm ten
G ebiet — etw a n u r im M etaphysischen oder n u r Moralischen oder n u r im
ökonom ischen — beheim ateten Begriffs auf die anderen, übrigen Gebiete
des geistigen Lebens. Es ist nicht n u r so, daß die Vorgänge und Ereignisse,
welche auf die Menschen innerlich Eindruck machen und zum Gegenstand
ihres N achdenkens und ih re r G espräche w erden, sich stets nach dem
Z entralgebiet richten — das E rdbeben von Lissabon zum Beispiel konnte
im 18 . J a h rh u n d e rt eine ganze F lu t m oralisierender L ite ratu r hervorrufen,
w äh re n d heute ein ähnliches Ereignis ohne tiefere intellektuelle Nach
w irk u n g bleibt, dagegen eine K atastrophe in der ökonomischen Sphäre,
ein g ro ß er K urssturz oder Zusammenbruch, nicht n u r das praktische, son
d ern auch das theoretische Interesse breitester Schichten intensiv beschäf
tigt. Auch die spezifischen Begriffe der einzelnen Jah rh u n d erte erhalten
ih ren charakteristischen Sinn von dem jew eiligen Zentralgebiet des Ja h r
hunderts. Ich d a rf das an einem Beispiel deutlich machen. D ie Vorstellung
eines F o r t s c h r i t t s zum Beispiel, einer Besserung und Vervollkomm
nung, m odern gesprochen einer R ationalisierung, w urde im 18 . Jah rh u n d ert
herrschend, und zw ar in einer Zeit hum anitär-m oralischen Glaubens. F o rt
schritt b ed eu tete infolgedessen vor allem Fortschritt in der A ufklärung,
F ortschritt in B ildung, Selbstbeherrschung und Erziehung, m o r a l i s c h e
V ervollkom m nung. In einer Zeit ökonomischen oder technischen Denkens
w ird der F ortschritt stillschweigend und selbstverständlich als ökonomi
scher oder technischer Fortschritt gedacht, und der hum anitär-m oralische
F ortschritt erscheint, soweit er überh au p t noch interessiert, als Neben
p ro d u k t des ökonomischen Fortschritts. Ist ein G ebiet einm al zum Z entral
gebiet gew orden, so w erden die Problem e der anderen G ebiete von dort
aus gelöst und gelten n u r noch als Problem e zw eiten Ranges, deren Lösung
sich von selbst ergibt, w enn n u r die Problem e des Zentralgebiets gelöst
sind. So ergibt sich fü r ein theologisches Zeitalter alles von selbst, wenn
die theologischen F rag en in O rdnung gebracht sind; alles andere w ird den
Menschen dann „zugegeben w erd en “. Entsprechend für die anderen Zeit
alter: fü r eine hum anitär-m oralischje Zeit handelt es sich nur darum , die
Menschen m oralisch zu erziehen und zu bilden, alle Problem e w erden zu
E rziehungsproblem en; fü r eine ökonomische Zeit braucht man n u r das
Problem der G ütererzeugung und G üterverteilu ng richtig zu lösen, und
alle m oralischen und sozialen F ragen machen keine Schwierigkeiten m ehr;
fü r das bloß technische D enken w ird durch neue technische Erfindungen
auch das ökonomische Problem gelöst und treten alle Fragen, einschließlich
der ökonomischen, vor dieser Aufgabe des technischen Fortschritts zurück.
Ein anderes, soziologisches Beispiel fü r den Pluralism us solcher Begriffe:
D ie typische Erscheinung des R epräsentanten der G eistigkeit und der
P ublizität, der C lerc, w ird in seiner spezifischen Besonderheit für jedes
Ja h rh u n d e rt vom Z entralgebiet aus bestim m t. Dem Theologen und Prädi-
126 D as Zeitalter der N eu tralisieru n gen u nd E n tp olitisieru n gen
kanten des 16. Jahrhunderts folgt der gelehrte System atiker des 17. Jahr
hunderts, der in einer w ahren G elehrtenrepublik lebt und von den Massen
w eit entfernt ist; dann folgen die Schriftsteller der A ufklärung des immer
noch aristokratischen 18. Jahrhunderts. W as das 19. Jah rh u n d ert angeht,
so darf m an sich durch das Interm ezzo der romantischen Genies und die
vielen P riester einer P rivatreligion nicht b eirren lassen; der C lerc des
19. Jah rh u n d erts (das größte Beispiel ist K arl Marx) w ird zum ökonomi
schen Sachverständigen, und die F rage ist nur, wie w eit das ökonomische
D enken überhaupt den soziologischen T yp des C lerc noch zuläßt und
N ationalökonom en und ökonomisch gebildete Syndici eine geistige F ü h rer
schicht darstellen können. F ü r das technizistische D enken scheint ein Clerc
jedenfalls nicht m ehr möglich zu sein, w orüber unten bei der Behandlung
dieses Z eitalters der Technizität noch zu sprechen ist. Die P lu ralität des
C le rc -Typus ist aber schon nach diesen kurzen Hinw eisen deutlich genug.
W ie gesagt: alle Begriffe und V orstellungen der geistigen Sphäre: Gott,
F reiheit, Fortschritt, die anthropologischen V orstellungen von der mensch
lichen N atur, was Öffentlichkeit ist, rational und R ationalisierung, schließ
lich sowohl der Begriff der N atur wie der Begriff der K ultur selbst, alles
e rh ält seinen konkreten geschichtlichen Inhalt von der Lage des Zentral
gebietes und ist n u r von dort aus zu begreifen.
Vor allem nimmt auch der S t a a t seine W irklichkeit und K raft aus
dem jew eiligen Zentralgebiet, w eil die m aßgebenden Streitthem en der
F reund-F eind-G ruppierungen sich ebenfalls nach dem m aßgebenden Sach
gebiet bestimmen. Solange das Religiös-Theologische im Zentrum stand,
h atte der Satz cujus regio eju s religio einen politischen Sinn. Als das
Religiös-Theologische aufhörte, Z entralgebiet zu sein, verlo r auch dieser
Satz sein praktisches Interesse. E r ist inzwischen über das ku ltu relle Sta
dium der N ation und des N ationalitätenprinzips (cujus regio ejus natio)
ins ökonom ische gew andert und besagt dann: In einem und demselben
Staat kann es nicht zwei w idersprechende W irtschaftssystem e geben; kapi
talistische und kommunistische W irtschaftsordnung schließen einander aus.
D er Sow jetstaat hat den Satz: cujus regio ejus oeconomia in einem Umfang
verw irklicht, der beweist, daß der Zusam m enhang von kom paktem Gebiet
und kom pakter geistiger H om ogenität keinesw egs n u r fü r die Religions
käm pfe des 16. Jahrhunderts und n u r fü r die Masse europäischer Klein-
und M ittelstaateu besteht, sondern sich imm er den wechselnden Z entral
gebieten des geistigen Lebens und den wechselnden Dim ensionen a u ta rk er
W eltreiche anpaßt. Das W esentliche dieser Erscheinung liegt darin, daß ein
hom ogener W irtschaftsstaat dem ökonomischen D enken entspricht. Ein
d e rartig er Staat w ill ein m oderner, um die eigene Zeit- und K ulturlage
w i s s e n d e r Staat sein. E r muß den Anspruch erheben, die geschicht
liche G esam tentw icklung richtig zu erkennen. D arau f b eru h t sein Recht,
zu herrschen. Ein Staat, der in einem ökonomischen Z eitalter darauf ver
zichtet, die ökonomischen V erhältnisse von sich aus richtig zu erkennen
und zu leiten, muß sich gegenüber den sozialen F rag en und Entscheidungen
D a s Z eitalter der N eu tralisierun gen und Entpolitisierungen 127
des Jahres 1927 gemacht hat. A ller Streit und V erw irrung des konfessio
nellen, nationalen und sozialen H aders w ird hier auf einem völlig neutralen
Gebiet nivelliert. Die Sphäre der Technik schien eine Sphäre des Friedens,
der Verständigung und der Versöhnung zu sein. D er sonst unerklärliche
Zusammenhang pazifistischen und technizistisehen G laubens e rk lä rt sich
aus jen e r Richtung zur N eutralisierung, zu welcher der europäische Geist
sich im 17. Jah rhundert entschlossen hat, und die er, wie unter einem
Schicksal, bis ins 20. Jahrhundert hinein w eiter verfolgte.
A ber die N eutralität der Technik ist etwas anderes als die N eutralität
aller bisherigen Gebiete. Die Technik ist immer n u r Instrum ent und Waffe,
und eben weil sie jedem dient, ist sie nicht neutral. Aus der Immanenz des
Technischen heraus ergibt sich keine einzige menschliche und geistige Ent
scheidung, am wenigsten die zur N eutralität. Jede A rt von K ultur, jedes
Volk und jede Religion, jed er K rieg und jed er Friede kann sich der
Technik als Waffe bedienen. Daß die Instrum ente und Waffen immer
brauchbarer werden, macht die W ahrscheinlichkeit eines w irklichen G e
brauchs nur um so größer. Ein technischer Fortschritt braucht w eder m eta
physisch noch moralisch und nicht einm al ökonomisch ein Fortschritt zu
sein. W enn heute noch viele Menschen von der technischen Vervollkomm
nung auch einen hum anitär-m oralischen Fortschritt erw arten, so v er
knüpfen sie in einer ganz magischen Weise Technik und Moral und setzen
dabei außerdem in etwas naiver Weise immer nur voraus, daß man das
großartige Instrum entarium der heutigen Technik n u r in ihrem eigenen
Sinne gebrauchen werde, das heißt soziologisch, daß sie selber die H erren
dieser furchtbaren Waffen w erden und die ungeheure Macht beanspruchen
dürfen, die dam it verbunden ist. A ber die Technik selbst bleibt, wenn ich
so sagen darf, ku ltu rell blind. Aus der reinen Nichts-als-Technik läßt sich
infolgedessen keine einzige der Folgerungen ziehen, die sonst aus den
Zentralgebieten des geistigen Lebens abgeleitet w erden: w eder ein Begriff
von kulturellem Fortschritt, noch der Typus eines C lerc oder geistigen
Führers, noch eines bestimm ten politischen Systems. Die Hoffnung, daß sich
aus dem technischen Erfindertum eine sozial herrschende Schicht entwickeln
würde, ist bisher nicht in Erfüllung gegangen. Die K onstruktionen von
Saint-Simon und anderen Soziologen, die eine „industrielle“ Gesellschaft
erw arteten, sind entw eder nicht rein technizistisch, sondern teils m it
humanitär-moralischen, teils mit ökonomischen Elem enten gemischt oder
aber einfach phantastisch. Nicht einmal die ökonomische Führung und
Direktion der heutigen W irtschaft ist in den H änden der Techniker, und
bisher hat noch niem and eine von Technikern geführte Gesellschafts
ordnung anders konstruieren können als in der Weise, daß er eine fü h re r
und direktionslose Gesellschaft konstruierte. Auch Georges Sorel ist nicht
Ingenieur geblieben, sondern ein Clerc geworden. Aus keiner bedeutenden
technischen Erfindung läßt sich berechnen, welches ihre objektiven, poli
tischen W irkungen sein werden. Die Erfindungen des 15. und 16. Ja h r
hunderts w irkten freiheitlich, individualistisch und rebellisch; zur Er-
9 1682
130 Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen
ändert nichts daran. W ir durchschauen heute den Nebel der Namen und
der W orte, mit denen die psycho-technische Maschinerie der Massen
suggestion arbeitet. W ir kennen sogar das geheime Gesetz dieses Vokabu
larism us und wissen, daß heute der schrecklichste K rieg n u r im Namen
des Friedens, die furchtbarste Sklaverei nur im Nam en der F reiheit und
die schrecklichste Unmenschlichkeit n u r im Nam en der Menschheit möglich
ist. W ir durchschauen endlich auch die Stimmung jen e r G eneration, die im
Zeitalter der Technizität nur den geistigen Tod oder seelenlose Mechanik
sah. W ir erkennen den Pluralism us des geistigen Lebens und wissen, daß
das Zentralgebiet des geistigen Daseins kein neutrales G ebiet sein kann
und daß es falsch ist, ein politisches Problem m it A ntithesen von mechanisch
und organisch, Tod und Leben zu lösen. Ein Leben, das gegenüber sich
selbst nichts m ehr sieht als den Tod, ist kein Leben m ehr, sondern Ohn
macht und Hilflosigkeit. W er keinen anderen Feind m ehr h at als den Tod
und in seinem Feinde nichts erblickt als leere Mechanik, ist dem Tode näher
als dem Leben, und die bequeme A ntithese vom Organischen und Mecha
nischen ist in sich selbst etw^s Roh-Mechanisches. Eine G ruppierung, die
auf der eigenen Seite nur Geist und Leben, auf der anderen nu r Tod und
Mechanik sieht, bedeutet nichts als einen Verzicht auf den Kam pf und hat
n u r den W ert einer romantischen Klage. D enn das Leben käm pft nicht mit
dem Tod und der Geist nicht m it der Geistlosigkeit. Geist käm pft gegen
Geist, Leben gegen Leben, und aus der K raft eines integren Wissens ent
steht die O rdnung der menschlichen Dinge. A b i n t e g r o n a s c i t u r o r d o .
i6. Staatsethik und pluralistischer Staat (1930)
I.
D ie heute am meisten verbreitete und durchaus herrschende Bew ertung
des Staates w ird am besten durch die T itelüberschrift eines vielzitierten
am erikanischen Aufsatzes (von E rnest B arker aus dem Jahre 1915) gekenn
zeichnet: „the discredited state“, der in M ißkredit geratene Staat. A udi in
sehr starken Staaten, deren außenpolitische Macht und innenpolitische
O rdnung nicht gefährdet ist, in den V ereinigten Staaten von A m erika und
in England, werden die überlieferten V orstellungen vom Staat seit dem
Kriege lebhaft k ritisiert und ist der alte Anspruch des Staates, die sou
veräne Einheit und G anzheit zu sein, erschüttert. In Frankreich haben
syndikalistische T heoretiker schon im Jahre 1907 den Satz proklam iert:
D er Staat ist tot. H ier gibt es seit über zwanzig Jahren eine juristische
und soziologische L iteratur, die sowohl dem Staat als auch dem Gesetz
jede Überlegenheit bestreitet und beides der Gesellschaft unterordnet. Als
bedeutende und interessante Nam en seien hier von m odernen Juristen
L é o n D u g u i t und M a x i m e L e r o y genannt. In D eutschland offen
b a rt sich die Krisis erst m it dem Zusammenbruch des Bismarckschen Reichs,
als die für unerschütterlich gehaltenen V orstellungen von Staat und Re
gierung entfielen; h ier entsteht seit 1919 eine große K risenliteratur, für
die es genügt, an den Titel eines Buches von A l f r e d W e b e r zu
erinnern: Die Krisis des europäischen Staatsgedankens. D azu kom m t ein
umfangreiches staats- und völkerrechtstheoretisches Schrifttum, das den
Souveränitätsbegriff und m it diesem Begriff die überlieferte V orstellung
vom Staat als einer alle G ruppen überragenden Einheit zu zerstören sucht.
D ie E r s c h ü t t e r u n g d e s S t a a t e s i s t i m m e r a u c h e i n e
E r s c h ü t t e r u n g d e r S t a a t s e t h i k . D enn alle überlieferten staats
ethischen V orstellungen teilen das Schicksal des konkreten Staates, den sie
stets voraussetzen, und geraten m it ihm in M ißkredit. W enn der „irdische
Gott“ von seinem T hrone stürzt und das Reich der objektiven V ernunft
und Sittlichkeit zu einem „magnum latrocinium “ w ird, dann schlachten die
Parteien den mächtigen L eviathan und schneiden sich aus seinem Leibe
jede ih r Stück Fleisch heraus. W as bedeutet dann noch „Staatsethik“ ? D er
Stoß trifft nicht etw a n u r die Staatsethik H e g e l s , die aus dem Staat den
T räger und Schöpfer einer eigenen E thik macht, nicht n u r die Idee des
stato etico im Sinne der faschistischen D oktrin; er trifft auch die Staats
ethik K a n t s und des liberalen Individualism us. W enn diese auch den
Staat nicht als Subjekt und T räg er einer autonom en E thik ansieht, sondern
ihre Staatsethik vor allem darin besteht, den Staat an ethische Norm en zu
134 Staatsethik und pluralistischer Staat
binden, so geht sie doch — mit Ausnahm e einiger rad ik aler Anarchisten —
bisher imm er davon aus, daß der Staat eine oberste Instanz und der maß
gebende Richter über das äußere „Mein und D ein“ ist, durch den der bloß
norm ative und daher richterlose N aturzustand — ein status justitia
(genauer judice) vacuus, in welchem jed e r Richter in eigener Sache ist - -
überw unden werde. O hne die V orstellung vom Staat als einer ü b e r
r a g e n d e n Einheit und Größe sind alle praktischen Ergebnisse Kanti-
scher Staatsethik widerspruchsvoll und hinfällig. Das gilt am deutlichsten
fü r die Lehre vom W iderstandsrecht. Trotz aller vernunftrechtlichen Rela
tivierung des Staates hat K ant ein W iderstandsrecht gegen den Staat gerade
aus dem G edanken der E i n h e i t des Staates abgelehnt.
II.
N euere angelsächsische Theorien vom Staat (hier interessieren am
m eisten G. D. H. C o l e und H a r o l d I. L a s k i ) nennen sich selbst
„pluralistisch“. Sie wollen dam it nicht n u r den Staat als eine höchst um
fassende Einheit, sondern vor allem auch seinen ethischen Anspruch
negieren, eine andere und höhere A rt sozialer V erbindung zu sein als
irgendeine der vielen anderen Assoziationen, in denen Menschen leben.
D er Staat w ird zu einer sozialen G ruppe oder Assoziation, die bestenfalls
n e b e n , keinesfalls über den andern Assoziationen steht. In seiner
ethischen Konsequenz fü h rt das zu dem Ergebnis, daß der einzelne Mensch
in einer M ehrheit von ungeordnet nebeneinander geltenden sozialen Ver
pflichtungen und Loyalitätsbeziehungen lebt: in der religiösen Gemein
schaft, in wirtschaftlichen V erbänden, wie Gew erkschaften, Konzernen
oder anderen O rganisationen, in einer politischen P artei, im Klub, in
k u ltu rellen oder geselligen Vereinen, in der Fam ilie und mancherlei
anderen sozialen G ruppen. Ü berall ist er zur L oyalität oder Treue ver
pflichtet; überall ergibt sich eine E thik: Kirchenethik, Standesethik, G ew erk
schaf tsethik, Fam ilienethik, V ereinsethik, Kontor- und Geschäftsethik usw.
F ü r alle diese Pflichtenkomplexe, für die „ P l u r a l i t ä t d e r L o y a l i
t ä t e n “, gibt es keine „Hierarchie der Pflichten“, kein unbedingt maß
gebendes Prinzip der Uber- und U nterordnung. Insbesondere erscheint die
ethische Bindung an den Staat, die Pflicht zur T reue und Loyalität, nur als
ein F all neben vielen anderen Bindungen, neben der L oyalität gegen die
Kirche, die Gewerkschaft oder die Fam ilie; die L oyalität gegen den Staat
h at keinerlei Vorrang, und die Staatsethik ist eine Spezialethik neben
vielen anderen Spezialethiken. Ob es überhaupt noch eine soziale Total-
E thik gibt, w ird w eder bei Cole noch bei Laski k lar; der eine spricht
undeutlich von einer anscheinend allesum fassenden „society“, Laski von
der „Menschheit“.
III.
D er große Eindruck, den diese Theorie heute machen muß, erk lä rt sich
aus vielen guten Gründen, die auch philosophisch von Interesse sind. Wenn
pluralistische Sozialtheoretiker wie Cole und Laski sich vor allem an die
Staatsethik und pluralistischer Staat 135
Em pirie halten, so tu n sie das als Pragm atisten und bleiben dabei in der
Konsequenz ih re r pragm atischen Philosophie, auf* welche Laski sich aus
drücklich b eruft. G erade er ist auch deshalb philosophisch interessant, w eil
er, w enigstens der Absicht nach und scheinbar auch im Ergebnis, das p lu ra
listische W eltbild der Philosophie von W illiam J a m e s auf den S taat über
trä g t und aus der Auflösung der monistischen E inheit des U niversum s in ein
M ultiversum ein A rgum ent entnim m t, um auch die politische E inheit des
S taates pluralistisch aufzulösen. Insofern gehört seine Auffassung des Staates
in die geistesgeschichtliche Reihe der Phänom ene, die ich als „politische Theo
logie“ bezeichnet habe. Die Ü bereinstim m ung des theologischen und m eta
physischen W eltbildes m it dem Bild vom S taat läßt sich überall in der
Geschichte menschlichen D enkens feststellen; ihre einfachsten Beispiele
sind die ideellen Zusamm enhänge von Monarchie und Monotheismus, Kon-
stitutionalism us und Deismus. D er Zusam m enhang k an n w eder m ateria
listisch als bloßer „ideologischer Ü berbau“, Reflex oder „Spiegelung“, noch
um gekehrt idealistisch oder spiritualistisch als „m aterieller U nterbau“ e r
k lä rt werden.
Es kom m t als ein w eiteres, geistesgeschichtlich interessantes Moment
hinzu, daß die pluralistischen A rgum ente keineswegs absolut neu sind,
sondern sich m it alten staatsphilosophischen T heorien verbinden und in
sofern einer großen T rad itio n angehören. D ie Sozialethik von Cole recht
fertigt allerdings einen sehr m odernen gewerkschafts- oder einen gilden
sozialistischen Staat, und die pluralistische Lehre von L aski verbindet sich
ebenfalls m it dem politischen Ziel und Ideal der G ew erkschaftsbew egung;
auch die französischen K ritik e r der staatlichen Souveränität haben einen
syndikalistischen Föderalism us vor Augen. Man h at daher auf den ersten
Blick den Eindruck, ganz neuen, höchst m odernen T heorien zu begegnen.
Das eigentlich Ü berraschende der theoretischen Situation liegt jedoch —
geistesgeschichtlich gesehen — darin, daß A rgum ente und Gesichtspunkte,
die sonst den Sozialphilosophen der römisch-katholischen Kirche oder
anderer K irchen oder auch religiöser Sekten dazu dienten, den Staat gegen
über der Kirche zu relativieren, nunm ehr im Interesse eines gew erkschaft
lichen oder syndikalistischen Sozialismus vorgebracht w erden. Eines der
L ieblingsargum ente von Laski ist der H inw eis auf Bismarcks K ulturkam pf,
in welchem das dam als so mächtige Deutsche Reich die römische Kirche nicht
besiegen konnte. Eines der wichtigsten Bücher, von denen die angelsäch
sische pluralistische T heorie ausgeht, ist (neben G ierke und M aitland) John
Neville Figgis’ „Churches in th e m odern State“ (1913); und Laski beru ft
sich sogar auf einen Nam en, der bei uns in D eutschland durch die bekannte
Schrift von G örres zu einem Sym bol des Kam pfes der universalen Kirche
gegen den S taat gew orden ist, auf den heiligen A thanasius, und beschwört
für seinen Sozialism us der zw eiten Internationale den Schatten dieses m ili
tantesten K irchenvaters.
Vor allem ab er entspricht die pluralistische Auffassung dem empirisch
w irklichen Zustand, w ie m an ihn heute in den m eisten industriellen Staaten
136 Staatsethik und pluralistischer Staat
beobadhten kann. Insofern ist die pluralistische T heorie sehr modern und
aktuell. D er Staat erscheint tatsächlich in w eitem Maße von den ver
schiedenen sozialen G ruppen abhängig, bald als ein O pfer, bald als E r
gebnis ih rer Abmachungen, ein Kom prom ißobjekt sozialer und wirtschaft
licher Machtgruppen, ein Agglom erat heterogener Faktoren, Parteien,
Interessenverbände, Konzerne, Gewerkschaften, Kirchen usw., die sich
untereinander verständigen. Im Kompromiß der sozialen Mächte ist der
Staat geschwächt und relativiert* ja überhaupt problem atisch geworden,
weil schwer zu erkennen ist, was ihm noch an selbständiger Bedeutung
zukommt. Er scheint, wenn nicht geradezu der D iener oder das Instrum ent
einer herrschenden Klasse oder P artei, so doch ein bloßes P rodukt des
Ausgleichs m ehrerer käm pfender G ruppen geworden zu sein, bestenfalls
ein pouvoir neutre et interm édiaire, ein n eu traler V erm ittler, eine Aus
gleichsinstanz zwischen den m iteinander käm pfenden G ruppen, eine Art
clearing office, ein Schlichter, der sich jed er au to ritären Entscheidung ent
hält, der völlig darauf verzichtet, die sozialen, wirtschaftlichen, religiösen
Gegensätze zu beherrschen, der sie sogar ignoriert und offiziell nicht kennen
darf. E r w ird ein „agnostischer“ Staat, der s t a t o a g n o s t i c o , den die faschi
stische K ritik verhöhnt. G egenüber einem solchen G ebilde muß die ethische
F rage der T reue und Loyalität anders beantw ortet w erden als gegenüber
einer eindeutigen, überragenden und um fassenden Einheit. Das einzelne
Individuum fühlt sich deshalb heute in vielen Staaten tatsächlich in einer
P lu ralität ethischer Bindungen und ist durch religiöse Gemeinschaften,
wirtschaftliche Verbände, k u ltu relle G ruppen und P arteien gebunden, ohne
daß es im Konfliktsfall eine anerkannte Entscheidung über die Reihenfolge
der vielen Bindungen gäbe.
Einen solchen Zustand der empirischen W irklichkeit des sozialen Lebens
darf die philosophische E rörterung nicht unbeachtet lassen. Denn bei einem
Gegenstände wie dem Staat ist der Hinweis auf den Zustand empirischer
W irklichkeit durchaus ein philosophisches und moralisches Argum ent. Der
W ert des Staates liegt für jede staatsphilosophische Betrachtung — gleich
gültig, ob individualistischer oder kollektivistischer Richtung — doch jeden
falls in seiner konkreten W irklichkeit, und ein nicht w irklicher Staat
kann nicht T räger oder A dressat k o n k reter staatsethischer Ansprüche,
Pflichten und G efühle sein. Ethische Beziehungen w ie T reue und Loyalität
sind in der W irklichkeit des konkreten Lebens n u r gegenüber konkret
existierenden Menschen oder Gebilden möglich, nicht gegenüber K onstruk
tionen und Fiktionen. D eshalb ist es auch staatsphilosophisch und staats
ethisch nicht gleichgültig, ob der frühere Anspruch des Staates, allen anderen
sozialen G ruppen im Konfliktsfall überlegen zu sein, jetzt entfällt. Auch für
eine individualistische Staatstheorie besteht die Leistung des Staates darin,
daß er die konkrete Situation bestimmt, in welcher ü b erhaupt erst m ora
lische und rechtliche Normen gelten können. Jede Norm setzt nämlich eine
norm ale Situation voraus. Keine Norm gilt im Leeren, keine in einer (mit
Bezug auf die Norm) abnorm en Situation. W enn der Staat die „äußeren
Staatsethik und pluralistischer Staat 137
Bedingungen der Sittlichkeit“ setzt, so bedeutet das: er schafft die norm ale
Situation. N ur darum ist er (nach Locke wie nach Kant) der oberste Richter.
Bestimmt nicht m ehr der Staat, sondern die eine oder andere soziale
G ruppe von sich aus diese konkrete N orm alität der Situation des einzelnen,
die konkrete O rdnung, in welcher der einzelne lebt, so entfällt auch der
ethische Anspruch des Staates auf Treue und Loyalität.
IV.
Trotz seiner Übereinstim mung mit empirischen W ahrnehm ungen und
trotz seiner großen philosophischen Bëachtlichkeit kann ein derartiger
Pluralism us nicht das letzte W ort des heutigen staatsethischen Problem s
sein. Geistesgeschichtlich betrachtet sind jene pluralistischen, gegen den
in sich einheitlichen Staat gerichteten Argum ente keineswegs so außer
ordentlich neu und modern, wie es zuerst den Anschein hat, w enn man,
unter dem großen Eindruck der rapiden U m gruppierungen des heutigen
sozialen Lebens, summarisch daran erinnert, daß Jahrtausende hindurch
alle Staatsphilosophen von Plato bis Hegel die E inheit des Staates als
höchsten W ert auffaßten. In W ahrheit gibt es bei allen diesen Philosophen
viele Abstufungen, sehr starke K ritik an monistischen Ü berspannungen
und sehr viele V orbehalte zugunsten selbständiger sozialer G ruppen der
verschiedensten Art. B ekannt sind die Aristotelischen Einwendungen gegen
Platos Ü bertreibung des politischen Monismus: D ie π ό λ ις , meint er, muß
eine Einheit sein, μ ί α ν ε ίν α ι , wie auch die o fa ia , aber nicht ganz und gar,
ά λ λ ' ού π ά ν τ ω ς (Politik I I 2, 19 und an vielen anderen Stellen des zweiten
Buches). Thomas von Aquin, dessen Monismus schon wegen seines Mono
theismus sehr stark h erv o rtritt, der in der Einheit den W ert des Staates
erblickt und E inheit m it Frieden gleichsetzt (et ideo id ad quod tendit
intentio m ultitudinem gubernantis est unitas sive pax, Summa Theol.
Ia. Q. 103 A rt. 3), sagt doch im Anschluß an Aristoteles, daß die aufs
äußerste getriebene Einheit den Staat zerstöre (maxima unitas destruit
civitatem). A ußerdem steht bei ihm, wie bei allen Philosophen des K atholi
zismus, die Kirche als selbständige societas perfecta neben dem Staat, der
ebenfalls societas perfecta sein soll. Das ist ein Dualism us, der, wie jede
Preisgabe der einfachen Einheit, einer E rw eiterung zum Pluralism us viele
Argum ente bietet. Aus dieser eigenartigen H altung gegen den Staat e rk lä rt
sich jene auf den ersten Blick etw as seltsame geistesgeschichtliche Allianz
von römisch-katholischer Kirche und gewerkschaftlichem Föderalism us,
die bei Laski zutage tritt. Gleichzeitig aber ist dam it bewiesen, daß Laskis
staatstheoretischer Pluralism us einer größeren philosophischen V ertiefung
bedarf, wenn er nicht von dem naheliegenden Einw and betroffen w erden
soll, daß die von ihm verw erteten A rgum ente der katholischen Staats
philosophie doch gerade aus einem besonders entschiedenen U niversalis
mus hervorgehen. Die römisch-katholische Kirche ist kein pluralistisches
Gebilde, und in ihrem Kam pf gegen den Staat ist der Pluralism us wenig
stens seit dem 16. Jah rh u n d ert auf der Seite der nationalen Staaten. Eine
138 Staatsethik und pluralistischer Staat
gebende Begriff ist demnach der der Menschheit. W irklich erscheint bei
Laski die Menschheit als höchste Instanz, und zw ar die Menschheit als
Ganzes; und Cole meint, w enn auch unklar, mit dem W ort „society“ wohl
etwas Ähnliches wie Menschheit. D as aber ist der denkbar w eiteste und
größte U niversalism us und Monismus und alles andere als eine p lu ra
listische Theorie.
Ebenso undeutlich wie der eigene Pluralism us bleibt der G egner jen er
Theorie, nämlich der Staat als die Einheit, die vom Pluralism us erfaßt
w erden soll. Schon aus den obigen philosophiegeschichtlichen A ndeutungen
läßt sich entnehm en, daß die politische E inheit niem als so absolut monistisch
und alle anderen sozialen G ruppen vernichtend aufgefaßt w erden kann
und auf gef aßt w orden ist, wie es die „P luralisten“ aus polemischen G ründen
manchmal hinstellen und wie es nach den sim plifizierenden Form en von
Juristen manchmal anzunehm en ist. W enn Juristen von der „Allmacht“
des Souveräns, des Königs oder des Parlam ents sprechen, so muß m an ihre
barock übertreibenden Form eln daraus verstehen, daß es sich im Staat
des 16. bis 18. Ja h rh u n d erts darum handelte, das pluralistische Chaos
der Kirchen und Stände zu überw inden. Man macht sich die Aufgabe zu
leicht, w enn m an sich an solche Redew endungen hält. Auch der absolute
Fürst des 17. und 18. Jah rh u n d erts w ar gezwungen, göttliches und n a tü r
liches Recht, d. h. soziologisch gesprochen, Kirche und Fam ilie zu respek
tieren und die m annigfachsten Rücksichten auf überlieferte Einrichtungen
und w ohlerw orbene Rechte zu nehmen. D ie E inheit des Staates ist stets
eine Einheit aus sozialen V ielheiten gewesen. Sie w ar zu verschiedenen
Zeiten und in verschiedenen Staaten sehr verschieden, imm er aber kom plex
und in gewissem Sinn in sich selbst pluralistisch. Mit dem Hinweis auf
diese selbstverständliche K om plexität ist vielleicht ein überspannter Monis
mus w iderlegt, nicht aber das Problem der politischen Einheit gelöst. A ußer
dem aber gibt es doch, auch abgesehen von jen e r K om plexität, viele ver-
sdiiêdenartige G estaltungsm öglichkeiten der politischen Einheit. Es gibt
Einheit von oben (durch Befehl und Macht) und E inheit von unten (aus
der substantiellen Hom ogenität eines Volkes); Einheit durch fortw ährende
V ereinbarungen und Kompromisse sozialer G ruppen oder durch ander
weitige, irgendw ie b ew irkte A usbalanzierungen dieser G ruppen; eine Ein
heit von innen her und eine, die n u r auf dem Druck von außen beruht;
eine m ehr statische und eine sich beständig funktionell integrierende dyna
mische Einheit; es gibt endlich Einheit durch Macht und Einheit durch
Konsens. D ieser letzte einfache Gegensatz beherrscht die Staatsethik des
Pluralism us, deren ethischer Sinn offenbar darin liegt, daß sie nur die
Einheit durch Konsens ethisch gelten läßt. Mit Redit. A ber dam it beginnt
erst das aktuelle Problem . D enn jeder, auch der „freie“ Konsens, ist irgend
wie m otiviert und herbeigeführt. Macht b ew irkt Konsens, und zw ar oft
einen vernünftigen und ethisch berechtigten Konsens; und um gekehrt:
Konsens bew irk t Macht, und zw ar oft eine unvernünftige und — trotz des
Konsenses — ethisch verw erfliche Macht. Pragm atisch und empirisch gesehen
140 Staatsethik und pluralistischer Staat
erhebt sich dann die Frage, w er über die M ittel verfügt, den „freien“
Konsens der Massen herbeizuführen, über die wirtschaftlichen, päd
agogischen, psychotechnischen M ittel der verschiedensten A rt, mit deren
H ilfe erfahrungsgem äß ein Konsens herbeigeführt w erden kann. Sind die
M ittel in den H änden sozialer G ruppen oder einzelner Menschen und der
K ontrolle des Staates entzogen, so ist es allerdings m it dem, was offiziell
noch „Staat“ heißt, zu Ende, die politische Macht ist unsichtbar und un
verantw ortlich geworden, aber das sozial-ethische Problem ist mit dieser
Feststellung nicht gelöst.
D er letzte und tiefste G rund aller solcher U n klarheiten und sogar
W idersprüche liegt darin, daß die V orstellung vom Staat bei den p lura
listischen S taatstheoretikern u n k lar ist. Meistens denken sie, rein polemisch,
an die Reste des alten „absoluten“ Staates des 17. und 18. Jahrhunderts.
Staat bedeutet dann R egierungsapparat, Verwaltungsm aschine, kurz Dinge,
die selbstverständlich n u r instrum ental gew ertet w erden können, die jeden
falls kein G egenstand von T reue und L oyalität sind und deren sich die
verschiedenen sozialen G ruppen m it Recht bemächtigen, indem sie die
Reste u n ter sich teilen. D aneben aber ist der Staat dann doch w ieder auch
bei jenen P lurali st en die imm er von neuem, und zw ar gerade auch aus
den Kompromissen der verschiedenen sozialen G ruppen sich integrierende
politische Einheit, die als solche gewisse ethische Ansprüche machen kann,
sei es auch n u r den Anspruch, daß die Abmachungen und Kompromisse
gehalten w erden. Das w äre eine, w enn auch sehr problem atische, Ethik
des „pacta sunt servanda“. Es ist natürlich möglich, das W ort „Staat“ ge
schichtlich auf den absoluten Staat des 17. und 18. Jah rh u n d erts zu be
schränken. D ann ist es leicht, ihn heute ethisch zu bekäm pfen. A ber es
kom mt nicht auf das W ort an, das seine Geschichte h at und unm odern
w erden kann, sondern auf die Sache, nämlich das Problem der politischen
E inheit eines Volkes. H ier nun herrscht, wie fast überall, so auch bei den
pluralistischen Sozialtheoretikern, der m eistens in k ritik lo ser Unbew ußt
heit verbleibende Irrtum , daß das Politische eine eigene Substanz neben
anderen Substanzen „sozialer Assoziationen“ bedeute, daß es neben Reli
gion, W irtschaft, Sprache, K ultur und Recht einen besonderen G ehalt dar
stelle, und daß infolgedessen die politische G ruppe koordiniert neben die
anderen G ruppen gestellt w erden könne, neben Kirche, Konzern, G ew erk
schaft, Nation, K ultur- oder Rechtsgemeinschaften der verschiedensten Art.
D ie politische E inheit w ird dann eine besondere, zu anderen Einheiten
hinzutretende, neue substantielle Einheit. Alle E rörterungen und Dis
kussionen über das W esen des Staates und des Politischen müssen in Ver
w irrung geraten, solange diese w eitverbreitete V orstellung herrscht, daß
es eine inhaltlich eigene politische neben anderen Sphären gäbe. Es ist dann
auch leicht, den Staat als politische E inheit ad absurdum zu führen und
in G rund und Boden zu w iderlegen. D enn w as bleibt vom Staat als der
politischen E inheit übrig, w enn m an alle anderen G ehalte, das Religiöse,
W irtschaftliche, K ulturelle usw. abzieht? Ist das Politische nichts als das
Staatsethik und pluralistischer Staat 141
y.
Die U nklarheiten und W idersprüche, die sich in den pluralistischen
Sozialtheorien nachweisen lassen, haben ih ren G rund nicht im P lu ralis
mus, sondern n u r in der unrichtigen A nw endung eines an sich richtigen
und in allen Problem en des objektiven Geistes unum gänglichen P lu ralis
mus. D enn die W elt des objektiven Geistes ist eine pluralistische W elt:
Pluralism us der Rassen und V ölker, der Religionen und K ulturen, der
Sprachen und der Rechtssysteme. Es kom m t nicht d arau f an, diesen ge
gebenen P luralism us zu leugnen und m it U niversalism en und Monismen
zu vergew altigen, vielm ehr den Pluralism us richtig zu placieren.
Auch die politische W elt ist wesentlich pluralistisch. Doch sind T räger
dieses P luralism us die politischen E inheiten als solche, d. h. die Staaten.
Insbesondere sind die m odernen europäischen Staaten im 16. und 17. Jahr-
142 Staatsethik und pluralistischer Staat
durch w ird aber auch klar, in welchem Maße gerade die politische Einheit
menschliche Tat und Aufgabe ist, w eil sie die im Rahm en des allgem einen
Pluralism us zu bew irkende m aßgebende E inheit ist, das Stüde k o n k reter
Ordnung, die normale Situation. H ierfü r b edarf es einer größeren An
strengung und geistigen Leistung als zu anderen G em einsam keiten und
sozialen Einheiten. Insbesondere ist es leichter, eine ökonomische „Asso
ziation“ zu realisieren als eine politische Einheit, und es ist verständlich,
sogar selbstverständlich, daß die Menschen in Zeiten der M üdigkeit und
Erschöpfung das Interesse an soldien A nstrengungen verlieren. Je höher
und intensiver die Gemeinschaft, um so höher das Bew ußtsein und die
Tat, durch welche sie sich verw irklidit. Um so größer auch das Risiko des
Mißerfolges. D er gelungene und vollendete Staat ist d ah er ebenso groß
artig, wie der mißlungene Staat — moralisch und ästhetisch — w iderw ärtig
und miserabel. Man kann leicht auf die vielen m ißlungenen Versuche hin-
weisen und auf die elenden Z errbilder von Staaten, die es heute gibt. Aber
das ist offenbar weder theoretisch, noch ethisch, noch auch n u r empirisch
ein Argum ent und keine Lösung der gestellten Aufgabe.
*
10 1682
17. Die Wendung zum totalen Staat (1931)
Die V erfassungssituation der G egenw art ist zunächst dadurch gekenn
zeichnet, daß zahlreiche Einrichtungen und N orm ierungen des 19. Ja h r
hundert unverändert beibehalten sind, die heutige Situation aber sich
gegenüber der früheren völlig geändert hat. D ie deutschen Verfassungen
des 19. Jahrhunderts stehen in einer Epoche, deren G ru n d stru k tu r von der
großen deutschen Staatslehre dieser Zeit auf eine k lare und brauchbare
G rundform el gebracht w orden ist: die Unterscheidung von Staat und Ge
sellschaft. Es ist dabei eine zweite, hier nicht interessierende Frage, wie
m an den Staat und wie die Gesellschaft bew ertet, ob m an das eine dem
andern überordnet oder nicht, ob und wie das eine vom andern ab
hängig ist usw. Das alles hebt die Unterscheidung nicht auf. F ern er ist
zu beachten, daß „Gesellschaft“ wesentlich ein polemischer Begriff w ar und
als Gegenvorstellung den konkreten, dam als bestehenden, monarchischen
M ilitär- und Beam tenstaat im Auge hatte, dem gegenüber das, was n i c h t
zu diesem Staat gehörte, eben Gesellschaft hieß. D er Staat w ar damals
unterscheidbar von der Gesellschaft. E r w ar stark genug, um sich den
übrigen sozialen K räften selbständig gegenüberzustellen und dadurch die
G ruppierung von sich aus zu bestimm en, so daß alle die zahlreichen Ver
schiedenheiten innerhalb der „staatsfreien“ Gesellschaft — konfessionelle,
kulturelle, wirtschaftliche Gegensätze — von ihm aus, und nötigenfalls
durch den gemeinsamen Gegensatz gegen ihn, relativ iert w urden und die
Zusammenfassung zur „Gesellschaft“ nicht hinderten. A ndrerseits aber
hielt er sich in einer w eitgehenden N eu tralität und N ichtintervention gegen
über Religion und W irtschaft und respektierte in weitem Maße die Auto
nomie dieser Lebens- und Sachgebiete; er w ar also nicht in dem Sinne
absolut und nicht so stark, daß er alles Nichtstaatliche bedeutungslos ge
macht hätte. Auf diese W eise w ar ein Gleichgewicht und ein Dualism us
möglich; insbesondere konnte m an einen religions- und weltanschauungs-
losen, sogar völlig agnostischen Staat für möglich halten und eine staatsfreie
W irtschaft wie einen w irtschaftsfreien Staat konstruieren. D er bestimmende
Beziehungspunkt blieb jedoch der Staat, weil dieser in ko n k reter Deutlich
keit und U nterscheidbarkeit vor Augen stand. Noch heute soll das viel
deutige W ort „Gesellschaft“, soweit es hier interessiert, vor allem etwas
bezeichnen, was n i c h t Staat, gelegentlich außerdem auch, was nicht Kirche
ist1. A llen wichtigen Einrichtungen und N orm ierungen des öffentlichen
1 Die einfadiste und klarste Zusammenfassung der oft unfaßbar vieldeutigen Vor
stellungen von der „Gesellschaft“ findet sich bei Eduard Spranger, Das Wesen der
deutschen Universität (Akademisches Deutsdiland III, 1, S. 9): „lm deutsdien sozio
logischen Sprachgebrauch ist es üblidi, die unendliche Fülle von freien und organi-
Die Wendung zum totalen Staat 147
10*
148 Die Wendung zum totalen Staat
der niedriger gestellten der G erichte weichen und der R epräsentant der
gesamten Nation im Konflikte m it einem einzelnen O rgane des Staats
körpers hinter dasselbe zurückstehen m üßte; w enn m an die Störung und
den Zwiespalt, welche auf solche W eise in den einheitlichen G ang des
Staatslebens gebracht w erden, überlegt und sich erinnert, daß die Gerichte
ih rer jetzigen Beschaffenheit nach vorzugsw eise zur E rkenntnis p riv a t
rechtlicher Normen und R echtsverhältnisse beru fen und vorzugsweise
geneigt sind, auf formell-logische Momente den Nachdruck zu legen, w äh
rend es sich hier gerade häufig um die wichtigen staatsrechtlichen Interessen
und die allgemeine W ohlfahrt handelt, die zu erkennen und zu fördern
Aufgabe des Gesetzgebers ist: so w ird m an dennoch dem europäischen
System den Vorzug geben, obwohl dasselbe nicht vor allen Ü beln schützt
und an der Unvollkom m enheit der menschlichen Zustände auch seinen
Anteil hat. Auch gegen ungerechte U rteile der obersten G erichte gibt es
in der Regel keine äußeren H ilfsm ittel. D er gesetzgebende K örper aber
träg t in seiner Bildung die wichtigsten G arantien, daß er nicht seine Befug
nisse in verfassungsw idrigem G eiste ausübe1“. — D er letzte Satz ist ent
scheidend. E r zeigt, daß für die V orstellung des 19. Jah rh u n d erts das P a rla
ment seiner N atur und seinem W esen nach in sich selbst die eigentliche
G arantie der Verfassung trug. D as gehört zu dem G lauben an das P a rla
m ent und ist die Voraussetzung dafür, daß die gesetzgebende K örperschaft
der T räger des Staates, und der S taat selbst ein G esetzgebungsstaat ist.
A ber diese Stellung der gesetzgebenden K örperschaft w ar n u r in einer
bestimmten Situation möglich. Es ist dabei nämlich im m er vorausgesetzt,
daß das Parlam ent, die gesetzgebende Versam m lung, als V e rtre te r des
Volks oder der Gesellschaft — beides, Volk und Gesellschaft, kann so lange
identifiziert werden, als beides noch der R egierung und dem S taat ent
gegengestellt w ird — einen von ihm unabhängigen, starken monarchischen
Beam tenstaat als P a rtn e r des V erfassungspakts vor sich sieht. D as P a rla
ment, soweit es V olksvertretung ist, w ird h ier zum w ah ren H ü te r und
G aranten der Verfassung, w eil der V ertragsgegner, die Regierung, nu r
w iderw illig denV ertrag geschlossen hat. D ie R egierung verdient daher Miß
trauen; sie macht Ausgaben und verlangt Abgaben; sie w ird als ausgaben
freudig, die V olksvertretungen als sparsam , ausgabenunw illig gedacht, was
im ganzen auch wirklich der F all w a r und sein konnte. D enn die Tendenz
des liberalen 19. Jahrhunderts geht dahin, den S taat womöglich auf ein
Minimum zu beschränken, ihn vor allem an Interventionen und Eingriffen
in die W irtschaft nach Möglichkeit zu hindern, ihn üb erh au p t gegen
über der Gesellschaft und ihren Interessengegensätzen möglichst zu
neutralisieren, dam it Gesellschaft und W irtschaft n ach.ihren im m anenten
1 Allgemeines Staatsrecht, 4. Aufl. 1868, Bd. I S. 561/62. Es ist besonders lehrreich,
^ B l u n t s d i l i s die Argumentation von R. Gneist zu vergleidien: dieser
sieht dm Garantie in dem Zusammenwirken bei der Gesetzgebung, an der eine Erb
monarchie, eine permanente erste und gewählte zweite Kammer beteiligt sind: Gut
achten a. a. O. S. 23.
D ie Wendung zum totalen Staat 151
trennende Staat ergreift alles Gesellschaftliche, das heißt alles, was das
Zusammenleben der Menschen angeht. In ihm gibt es kein G ebiet m ehr,
demgegenüber der Staat unbedingte N e u tralität im Sinne der N ichtinter
vention beobachten könnte. D ie P arteien, in denen die verschiedenen
gesellschaftlichen Interessen und Tendenzen sich organisieren, sind die zum
Parteienstaat gewordene Gesellschaft selbst, und w eil es wirtschaftlich,
konfessionell, ku ltu rell determ inierte P arteien gibt, ist es auch dem Staate
nicht m ehr möglich, gegenüber dem W irtschaftlichen, Konfessionellen, K ul
turellen neutral zu bleiben. In dem zur Selbstorganisation der Gesellschaft
gewordenen Staat gibt es eben nichts, was nicht w enigstens potentiell staat
lich und politisch wäre. W ie der von französischen Juristen und Soldaten
erfundene Begriff der potentiellen Rüstung eines Staates alles erfaßt,
nicht nur das Militärische im engern technischen Sinne, sondern auch
die industrielle und wirtschaftliche V orbereitung des Krieges, sogar die
intellektuelle und moralische A usbildung und V orbereitung der Staats
bürger, so erfaßt dieser neue Staat alle Gebiete. E rnst Jünger h at für
diesen erstaunlichen Vorgang eine sehr prägnante Form el eingeführt: die
totale Mobilmachung. O hne Rücksicht auf den Inhalt und die Richtig
keit, die jenen Form eln von potentieller Rüstung oder to taler Mobil
machung im einzelnen zukommt, w ird m an die in ihnen enthaltene, sehr
bedeutende E rkenntnis beachten und verw erten müssen. D enn sie bringen
etwas Umfassendes zum Ausdruck und zeigen eine große und tiefe W and
lung an: die im Staat sich selbst organisierende Gesellschaft ist auf dem
Wege, aus dem neutralen Staat des liberalen 19. Jah rh u n d erts in einen
potentiell totalen Staat überzugehen. Die gew altige W endung läßt sich als
Teil einer dialektischen Entwicklung konstruieren, die in drei Stadien v er
läuft: vom absoluten Staat des 17. und 18. Jah rh u n d erts über den neutralen
Staat des liberalen 19. Jahrhunderts zum totalen Staat der Identität von
Staat und Gesellschaft.
Am auffälligsten tritt die W endung auf wirtschaftlichem G ebiete hervor.
H ier kann, als von einer anerkannten und unbestrittenen Tatsache, davon
ausgegangen werden, daß die öffentliche Finanzw irtschaft sowohl im Ver
hältnis zu den früheren Vorkriegsdim ensionen als auch im heutigen Ver
hältnis zur freien und privaten, das heißt nichtöffentlichen W irtschaft einen
solchen Umfang angenommen hat, daß nicht bloß eine quantitative Ver
mehrung, sondern auch eine qualitative V eränderung, ein „S tru k tu r
w andel“, vorliegt und alle Gebiete des öffentlichen Lebens, nicht etw a nu r
die unm ittelbar finanziellen und ökonomischen Angelegenheiten, davon
ergriffen werden. Mit welchen Ziffern die V eränderung angegeben w ird, ob
zum Beispiel die mehrfach zitierte, für das Jah r 1928 errechnete Angabe,
daß 53 V. H. des deutschen Volkseinkommens von der öffentlichen H and
kontrolliert w erden1, statistisch richtig ist, braucht hier nicht beantw ortet
1 Diese Ziffer ist in den Vierteljahrsheften für Konjunkturforschung, Bd. 5 (1930)
Heft 2 S. 72, berechnet; sie ist verwertet und geltend gemacht z. B. von J. Popitz
(vgl. folgende Anmerkung), G. Müller-Oerlinghausen, in seinem Vortrag über die
Die Wendung zum totalen Staat 153
Inhalt der innenpolitischen Schwierigkeiten aus und ist die Innen- und
Außenpolitik zum großen Teil W irtschaftspolitik, und zw ar nicht n u r als
Zoll- und H andelspolitik oder als Sozialpolitik. W enn ein staatliches Gesetz
„gegen den Mißbrauch w irtschaftlicher M achtstellungen“ ergeht (wie die
deutsche K artellverordnung vom 2. N ovem ber 1923), so sind eben m it dieser
Form ulierung Begriff und D asein einer „w irtschaftlichen Macht von
Staats und Gesetzes wegen anerkannt. D er heutige S taat h a t ein aus
gedehntes Arbeitsrecht, T arifw esen und staatliche Schlichtung von Lohn
streitigkeiten, durch welche er die Löhne m aßgebend beeinflußt; er gew ährt
riesige Subventionen an die verschiedenen W irtschaftszw eige; er ist ein
W ohlfahrts- und ein F ürsorgestaat und infolgedessen gleichzeitig in
ungeheurem Maße ein Steuer- und A bgabenstaat. In D eutschland kom mt
hinzu, daß er auch noch ein R eparationsstaat ist, der M illiardentribute für
frem de Staaten aufbringen muß. In einer solchen Lage w ird die F orderung
der N ichtintervention zu einer Utopie, ja, zu einem Selbstw iderspruch.
Denn N ichtintervention w ürde bedeuten, daß m an in den sozialen und
wirtschaftlichen Gegensätzen und Konflikten, die heute keinesw egs m it
rein wirtschaftlichen M itteln ausgekäm pft w erden, den verschiedenen
Machtgruppen freie Bahn läßt. N ichtintervention ist in einer solchen Lage
nichts anderes als Intervention zugunsten des jew eils Ü berlegenen und
Rücksichtslosen, und es zeigt sich w ieder einm al die einfache W ah rh eit des
scheinbar so paradoxen Satzes, den T alley ran d fü r die A ußenpolitik aus
gesprochen hat: N ichtintervention ist ein schw ieriger Begriff, er bedeutet
ungefähr dasselbe wie Intervention.
In der W endung zum W irtschaftsstaat liegt die auffälligste V eränderung
gegenüber den Staatsvorstellungen des 19. Jah rh u n d erts. A uf an d ern Ge
bieten ist die W endung ebenfalls zu beobachten, w enn sie auch infolge des
erdrückenden Übergewichts der wirtschaftlichen Schw ierigkeiten und P ro
bleme dort heute meistens als w eniger aktuell em pfunden w ird. Es ist nicht
verwunderlich, daß die A bw ehr gegen eine solche E xpansion des Staates
zunächst als A bw ehr gegen diejenige staatliche B etätigung erscheint, die
in einem solchen Augenblick gerade die A rt des Staates bestim m t, demnach
als Abw ehr gegen den G esetzesstaat. D eshalb w ird zunächst nach Siche
rungen gegen den Gesetzgeber gerufen. So sind w ohl auch die ersten
unklaren A bhilf ever suche zu erk lären , die sida an die Justiz klam m erten,
um ein Gegengewicht gegen den im m er m ächtiger und im m er um fassender
w erdenden G esetzgeber zu gewinnen. Sie m ußten in leeren Ä ußerlichkeiten
enden, weil sie nicht aus einer ko n k reten E rkenntnis d er verfassungs
rechtlichen Gesam tsituation, sondern n u r einer reflexartigen R eaktion ent
standen w aren. Ih r eigentlicher Irrtu m lag darin, daß sie der Macht des
modernen Gesetzgebers n u r eine Justiz entgegensetzen konnten, die ent
w eder durch bestimm te Norm en eben dieses G esetzgebers inhaltlich gebun
den w ar, oder aber ihm n u r unbestim m te und u m stritten e P rinzipien ent-
gegenhalten konnte, mit deren H ilfe sich keine dem G esetzgeber überlegene
A utorität begründen ließ. D ie W endung zum W irtschafts- und W ohlfahrts-
Die Wendung zum totalen Staat 155
begriffe, der den R espekt vor der Verfassung zerstört und den Boden
der Verfassung in ein unsicheres, von m ehreren Seiten um käm pf tes
T errain verw andelt, w ahrend es im Sinne jed e r Verfassung liegt, eine poli
tische Entscheidung zu treffen, die außer Zweifel stellt, was die gemein
same, mit der Verfassung gegebene Basis der staatlichen E inheit ist. Die
jeweils herrschende G ruppe oder K oalition nennt die A usnützung aller
legalen Möglichkeiten und die Sicherung ih re r jew eiligen Machtpositionen,
die V erw ertung aller staatlichen und verfassungsm äßigen Befugnisse in
Gesetzgebung, V erw altung, Personalpolitik, D isziplinarrecht und Selbst
verwaltung, m it allerbestem Gewissen Legalität, w oraus sich dann von
selbst ergibt, daß jede ernste K ritik oder gar eine G efährdung ih re r Situ
ation ihr als Illegalität erscheint, als U m sturz und als ein Verstoß gegen
den Geist der Verfassung; w ährend jede von solchen Regierungsm ethoden
betroffene G egenorganisation sich darauf beruft, daß die V erletzung der
verfassungsmäßig gleichen C hance den schlimmsten Verstoß gegen den
Geist und die G rundlagen einer dem okratischen Verfassung bedeutet,
womit sie den V orw urf der Illegalität und der V erfassungsw idrigkeit eben
falls mit allerbestem Gewissen zurückgeben kann. Zwischen diesen beiden,
in der Situation eines staatlichen Pluralism us fast automatisch funktio
nierenden, gegenseitigen N egationen w ird die Verfassung selbst zerrieben.
Diese Betrachtung der konkreten V erfassungszustände soll eine W irk
lichkeit zum Bew ußtsein bringen, deren Anblick sich viele aus verschieden
artigen Motiven und u n ter m ancherlei V orw änden lieber entziehen, deren
deutliche E rkenntnis aber trotzdem fü r eine verfassungsrechtliche U nter
suchung, die sich m it dem Problem der W ahrung und Sicherung der gelten
den Reichsverfassung beschäftigt, ganz unumgänglich ist. Es genügt keines
wegs, allgem ein von einer „K rise“ zu sprechen, oder die vorige Betrach
tung dam it abzutun, daß m an sie in die „K risen literatu r“ verw eist. W enn
der heutige Staat ein G esetzgebungsstaat sein soll, w enn außerdem eine
solche Ausdehnung der G ebiete staatlichen Lebens und staatlicher B etäti
gung ein tritt, daß m an schon von einer W endung zum totalen Staat sprechen
kann, w enn dann gleichzeitig aber die gesetzgebende K örperschaft zum
Schauplatz und M ittelpunkt der pluralistischen A ufteilung der staatlichen
Einheit in eine M ehrheit festorganisierter Sozialkom plexe w ird, so hilft es
nicht viel, m it Form eln und Gegenform eln, die für die Situation der konsti
tutionellen Monarchie des 19. Jah rh u n d erts geprägt sind, von der „Sou
veränität des P arlam ents“ zu sprechen, um die schwierigste Frage des
heutigen Verfassungsrechts zu beantw orten.
158 Bedeutung und Funktion der innerpolitisdien Neutralität des Staates
der sich seiner normgemäß bedient, zur Verfügung stehe, wie Telephon, Telegraph,
Post und ähnliche technische Einrichtungen, die ohne Rücksicht aut den Inhalt der
Mitteilung jedem zu Diensten sind, der sich an die Normen ihres Funktionierens
hält. Ein soldier Staat wäre restlos entpolitisiert und könnte von sidi aus Freund
und Feind nicht mehr unterscheiden.
5. N e u t r a l i t ä t i m S i n n e d e r g l e i c h e n C h a n c e b e i d e r s t a a t
lichen W illen sb ildung.
Hier bekommt das Wort eine Bedeutung, die gewissen liberalen Deutungen des
allgemeinen gleichen Wahl- und Stimmredits sowie der allgemeinen Gleidiheit vor
dem Gesetz zugrunde liegt, soweit diese Gleichheit vor dem Gesetz nicht bereits
(als Gleichheit vor der Gesetzesanwendung) unter die vorige Ziffer 2 fällt. Jeder hat
die Chance, die Mehrheit zu gewinnen; er wird, wenn er zur überstimmten Minder
heit gehört, daran verwiesen, daß er ja die Chance hatte und noch habe, Mehrheit
zu werden. Auch das ist eine liberale Gereditigkeitsvorstellung. Solche Vorstellungen
von einer Neutralität der gleichen Chance bei der staatlichen Willensbildung liegen
auch, freilich meistens wenig bewußt, der herrschenden Auffassung des Art. 76 RV.
zugrunde. Nadx ihr enthält Art. 76 nicht nur eine Bestimmung über Verfassungs
änderungen (wie man nach dem Wortlaut annehmen sollte), sondern er begründet
eine audi schranken- und grenzenlose, absolute Allmadit und eine verfassunggebende
Gewalt. So z. B. G. Ansdiütz in seinem Kommentar zu Art. 76 (10. Aufl. S. 349/350);
Fr. Giese, Kommentar, 8. Aufl. 1931, S. 190; und Thoma, Handbuch des deutschen
Staatsrechts, II S. 154, der sogar so weit geht, C. Bilfingers und meine abweichende
Meinung als „wunschreehtlidi“ hinzustellen, ein Beiwort, das eine im allgemeinen
nicht üblidie Art von banaler Insinuation zum Ausdruck bringt. Diese herrsdiende
Auffassung des Art. 76 nimmt der Weimarer Verfassung ihre politische Substanz und
ihren „Boden“ und macht sie zu einem g e g e n ü b e r j e d e m I n h a l t i n d i f
f e r e n t e n , n e u t r a l e n A b ä n d e r u n g s v e r f a h r e n , das namentlich a u c h
d e r j e w e i l s b e s t e h e n d e n S t a a t s f o r m g e g e n ü b e r n e u t r a l ist.
Allen Parteien muß dann gerechterweise die unbedingt gleiche Chance gegeben wer
den, sich die Mehrheiten zu verschaffen, die notwendig sind, um mit Hilfe des für
Verfassungsänderungen geltenden Verfahrens ihr angestrebtes Ziel — Sowjet-
Republik. nationalsozialistisches Reich, wirtschaftsdemokratischer Gewerkschafts
staat, berufsständischer Korporationsstaat, Monarchie alten Stils, Aristokratie irgend
welcher Art — und eine andere Verfassung herbeizuführen. Jede Bevorzugung der
bestehenden Staatsform oder gar der jeweiligen Regierungsparteien, sei es durdi
Subventionen für Propaganda, Unterscheidungen bei der Benutzung der Rundfunk
sender, Amtsblätter, Handhabung der Filmzertsur, Beeinträchtigung der partei
politischen Betätigung oder der Parteizugehörigkeit der Beamten in dem Sinne, daß
die jeweilige Regierungspartei den Beamten nur die Zugehörigkeit zur eigenen oder
den von ihr parteipolitisch nicht zu weit entfernten Parteien gestattet, Versamm
lungsverbote gegen extreme Parteien, die Unterscheidung von legalen und revolu
tionären Parteien nadi ihrem Programm, alles das sind im Sinne der konsequent zu
Ende gedachten, herrschenden Auffassung des Art. 76 grobe und aufreizende Ver
fassungswidrigkeiten. Bei der Erörterung der Frage, ob das Gesetz zum Schutz der
Republik vom 25. März 1930 (RGBl. I S. 91) verfassungswidrig ist oder nicht, wird
der systematische Zusammenhang dieser Frage mit Art. 76 meistens nicht beachtet.
4. N e u t r a l i t ä t i m S i n n e v o n P a r i t ä t , d a s h e i ß t g l e i c h e
Z u l a s s u n g a l l e r in B e t r a c h t k o m m e n d e n G r u p p e n u n d R i c h
tu ngen u n t e r gleichen B edingungen und mit gleicher Be
r ü c k s ic h tig u n g bei der Zuw endung von V orteilen oder
sonstigen staatlichen Leistungen.
Diese Parität ist von geschiditlicher und praktisdier Bedeutung für Religions
und Weltanschauungsgesellschaften in einem Staat, der sidi nidit streng von allen
religiösen und Weltanschauungsfragen getrennt hat, sondern mit einer Mehrzahl be
stehender religiöser und ähnlidier Gruppen verbunden bleibt, sei es durch ver-
mögensrechtlicne Verpfliditungen irgendwelcher Art, sei es durch Zusammenarbeit
auf dem Gebiet der Schule, der öffentlichen Wohlfahrt usw. Bei dieser Parität erhebt
sich eine Frage, die nach Lage der Sache sehr sdiwierig und bedenklich werden kann,
160 Bedeutung und Funktion der innerpolitischen Neutralität des Staates
11 1682
19-Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus
(1932 )
De r Im perialism us der V ereinigten S taaten von A m erika vor allem gilt
in der heute üblichen V orstellungss- und Redew eise als d er m odernste
Im perialism us, und zw ar deshalb, w eil er vor allem ein ökonomischer
Im perialism us ist und sich dadurch von an d eren A rten, insbesondere von
jedem m ilitärischen Im perialism us, zu unterscheiden scheint. D as ö k o n o
mische steht dabei d e ra rtig im V ordergrund, daß es manchm al sogar
benutzt w ird, um das F aktum eines Im perialism us ü b e rh a u p t zu leugnen,
indem m an auf G rund einer überlieferten A ntithese des 19. Jah rh u n d erts
W irtschaft und P olitik gegenüberstellt und das W irtschaftliche als etw as
wesensmäßig Unpolitisches, das Politische als etw as w esentlich n i c h t
W irtschaftliches hinstellt. A uf diese W eise konnte noch im Ja h re 1919 ein
berühm ter N ationalökonom und Soziologe, Joseph Schum peter, die A n
sicht vertreten, das, was die Angelsachsen machen, sei im G egensatz zu
dem, was die Preußen und andere M ilitaristen machten, „begriffsnotw en
dig’* niem als Im perialism us, sondern etw as w esentlich anderes, w eil es
nämlich n u r ökonomische und deshalb friedliche E xpansion bedeute.
Diese hochpolitische A bleugnung des politischen C h a ra k te rs ökonom i
scher Vorgänge und Begriffe soll h ier auch w e ite r e rö rte rt w erden. Es
gehört jedenfalls zur E igenart des am erikanischen Im perialism us, daß er
von Anfang, von der ersten Sekunde seines D aseins an, m it der A ntithese
„wirtschaftlich gegen politisch“ g earbeitet hat. D ie Form el der berühm ten
Abschiedsrede W ashingtons aus dem Ja h re 1796, ist unendlich oft zitiert
w orden: möglichst viel H andel, möglichst w enig P olitik. H andel und „W irt
schaft“ erscheinen auch h ier w ieder als das eo ipso Unpolitische. Bis gegen
Ende des 19. Jahrhunderts, also etw a bis zu der Zeit, in der m an anfängt,
auch in A m erika von Im perialism us zu sprechen und die ungeheure Macht
ausdehnung der V ereinigten Staaten als „im perialistisch“ zu bezeichnen,
erscheint in den R egierungserklärungen fo rtw äh ren d diese G egenüber
stellung von H andel und Politik. Es heißt zum Beispiel in den vielen
Ä ußerungen zur M onroedoktrin: ein europäischer S taat d a rf in A m erika
H andel treiben soviel er w ill, er d a rf n u r nichts Politisches tun. W ann der
Augenblick kommt, in dem das H andeltreiben politisch w ird, d a rü b e r ent
scheiden natürlich die V ereinigten S taaten von A m erika. D er am erikanische
Im perialism us ist allerdings ein ökonom ischer Im perialism us, darum aber
nicht w eniger intensiv im perialistisch.
Es gehört zu den Residuen des 19. Jah rh u n d erts, daß m an die G egen
überstellung von „wirtschaftlich“ und „politisch“ in dem Sinne auffaßt, als
Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus 163
11*
164 Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus
wie sie sonst die Völkerbundsatzung nicht kennt, daß es V ölker gibt, die
noch nicht imstande sind — das „noch ist dabei zu beachten , sich „unter
den besonders schwierigen Bedingungen der heutigen Zivilisation selbst
zu leiten, und daß es eine „heilige A ufgabe der Zivilisation sei, diese
Völker so zu erziehen, daß sie sich selbst leiten können. D ieser A rtikel 22
der Völkerbundsatzung ist vielleicht ü b erhaupt das kom prim ierteste Bei
spiel der Legitim ierungsfunktion der U nterscheidung zivilisierter und nicht
zivilisierter Völker, auf G rund deren die zivilisierten V ölker sich das Recht
zuschreiben, die weniger zivilisierten in der Form von M andaten, P rotekto
raten und Kolonien zu „erziehen“, d. h. zu beherrschen. D er A rtikel ist
der letzte und, wie häufig in der Geschichte, zugleich der klassisch zu
sammenfassende Ausdruck einer ganzen Epoche. D arau f b eru h te das, was
man den Im perialism us der europäischen V ölker im 19. Jah rh u n d ert
nennen kann. Die meisten w erden heute das G efühl haben, daß diese A rt
von Rechtfertigung einer H errschaft über andere V ölker m indestens sehr
problematisch geworden ist.
Das, w orauf es hier, angesichts des Im perialism us der V ereinigten
Staaten, ankommt, ist, daß diese V ereinigten Staaten über dieses Stadium
längst hinaus sind. Sie haben natürlich auch Kolonien w ie die Philippinen
und verschmähen es keineswegs, sich des V okabularium s der „Zivilisation“
und seiner Methoden zu bedienen, aber es haben sich daneben und darüber
hinaus ganz andere Begriffe und andere M ethoden der völkerrechtlichen
Herrschaft herausgebildet. W enn ich diese kurze, m it der Unterscheidung
zwischen christlichen und nichtchristlichen beginnende, zu der U nter
scheidung zivilisierter und nichtzivilisierter V ölker führende Übersicht
schnell zu Ende führen darf, so ist zu sagen, daß die neue Unterscheidung,
die den amerikanischen Form en zugrunde liegt, auf die Unterscheidung
von G läubigern und Schuldnern hinausläuft. O b diese neue E inteilung der
Völker und Staaten friedlicher ist als die vergangener Jah rh u n d erte, w äre
eine Frage für sich. Jedenfalls geht die Entwicklung der im perialistischen
Argum entation dahin, daß nunm ehr G läubigervölker und Schuldnervölker
einander gegenüberstehen. F ü r diese Einteilung, die fü r uns Deutsche eine
schicksalsvolle A ktualität hat, bildet der Im perialism us der V ereinigten
Staaten seit über einem M enschenalter eine ganze W elt von Begriffen, Ein
richtungen, Form eln und M ethoden heraus, von der w ir in Deutschland
vor dem Kriege nicht viel geahnt haben, obwohl sie bereits fertig Vorlagen
und die spezifische Redeweise dieses Im perialism us im Munde eines
Mannes wie Wilson auch schon vor dem Jah re 1918 häufig ertönt ist.
Im K ern aller A rgum entationen, welche die V ereinigten Staaten seit
hundert Jahren völkerrechtlich und außenpolitisch zu ih re r Rechtfertigung
defensiv und offensiv vorgebracht haben, steht die M onroedoktrin aus
dem Jahre 1825. Sie ist oft dargestellt w orden. Ich muß sie h ier erw ähnen,
obwohl sie m einer Meinung nach ihre F unktion im wesentlichen bereits
erfüllt hat. Sie ist charakteristisch für das erste große Stadium der E nt
wicklung des amerikanischen Im perialism us. Die M onroedoktrin begleitet
Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus 165
die A ußenpolitik der V ereinigten Staaten seit 1823, in der Sadie wohl auch
schon früher, wenngleich das übliche D atum das der Botschaft des Präsi
denten Monroe ist. Neben der Entwicklung des amerikanischen Staates
selber geht, wie ein Schatten, die immer w eiter getriebene Entw iddung
dieser M onroedoktrin einher. Sie beginnt, scheinbar wenigstens, rein defen
siv. Sie w endet sich im Jahre 1823 gegen das damalige Europa und seinen
damaligen „V ölkerbund“, d. h. gegen die Heilige Allianz und deren In ter
ventionen in Südam erika; außerdem gegen Rußland, das sich an der N ord
küste von A laska festgesetzt hatte; sie w ar also die Defensive eines noch
sehr schwachen K olonialstaates in perip h erer Lage. Die Großmächte des
Jahres 1823 haben diese M onroedoktrin nicht sehr wichtig genommen. Die
englische R egierung ist an der Proklam ierung beteiligt gewesen, weil Eng
lands Interesse jenem europäischen K ontinentalbund, der sich „Heilige
Allianz“ nannte, entgegengesetzt w ar. Aus diesem defensiven Pronunzia-
mento eines kleinen K olonialstaates im Jahre 1823 ist dann ein völker
rechtliches Instrum ent der Hegemonie dieses Staates über den großen am eri
kanischen K ontinent geworden.
Inzwischen sind die V ereinigten Staaten aber noch weit m ehr geworden
als eine auf den am erikanischen K ontinent beschränkte hegemonische
Macht. Zunächst freilich begnügte m an sich mit dem berühm ten Satz:
„Amerika den A m erikanern“ und mit der Ablehnung jed er europäischen
„Einmischung“. Die M onroedoktrin sagt auf den ersten Blick etwas sehr
Bescheidenes: kein europäischer Staat darf sich in amerikanische Ver
hältnisse einmischen, um gekehrt mischen sich die Vereinigten Staaten nicht
in europäische V erhältnisse ein; im Jah re 1823 bestehende europäische Be
sitzungen w erden anerkannt, dürfen aber nicht erw eitert werden. Diese
einfachen Sätze entfalten sich nun zur G rundlage einer großen „D oktrin“,
deren Inhalt sich fortw ährend verändert und anpaßt, und deren praktische
Bedeutung manchmal sehr groß ist, manchmal w ieder ganz zurücktritt. Es
gibt eine große L ite ratu r über die M onroedoktrin; auch die Entwicklung
von einem M ittel der Defensive zu einem Instrum ent der Hegemonie über
den am erikanischen K ontinent ist oft gezeigt worden. Man ging von der
prinzipiellen U nzulässigkeit einer Intervention, von dem feierlich betonten
„Grundsatz der N ichtintervention“ aus und endete damit, daß man in eben
derselben D oktrin die Rechtfertigung für Interventionen der Vereinigten
Staaten in die A ngelegenheiten anderer am erikanischer Staaten fand. Eine
m erkw ürdige E ntw iddung ins Gegenteil. Diese dialektisdie Entfaltung
eines politischen Prinzips geht aber durch die ganze Gesdiichte der Monroe
doktrin hindurch und liegt nicht nu r in der E ntw iddung von der Defensive
zur imperialistischen Expansion, sondern auch vom Prinzip der Nichtinter
vention zum Instrum ent fortw ährender Interventionspolitik, vom Protest
gegen das Prinzip der L egitim ität der Heiligen Allianz zu dem heute
gehandhabten G rundsatz, daß die V ereinigten Staaten von A m erika —
auch W ilson hat das verkündet — keine amerikanische Regierung, die auf
revolutionäre W eise zur Macht gekommen ist, anerkennen und nu r legale
166 Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus
der Kleinen Entente bedient sich anderer Form en und M ittel als die In te r
vention Englands in die A ngelegenheiten Ä gyptens. A ber den eigentlichen
Interventionsvertrag, das heißt eine juristisch form ulierte Abmachung, die
es dem einen Staat erlaubt, u nter typischen V oraussetzungen m it typischen
M itteln in die Angelegenheiten eines anderen Staates einzugreifen, haben
erst die Vereinigten Staaten gefunden. Sie haben das System der Inter-
ventionsverträge insbesondere auf die Staaten Z entralam erikas ausgedehnt,
auf Kuba, Haiti, San Domingo, Panam a, N ikaragua usw. A lle diese Staaten
sind mit den Vereinigten Staaten durch eine charakteristische A rt von V er
trägen verbunden und ihnen unterw orfen, sie bleiben ab er offiziell „sou
veräne“ Staaten. Von den alten Form en der P ro te k to ra te und K olonien ist
nicht viel übriggeblieben. Diese Staaten haben eine eigene R egierung,
eigene völkerrechtliche V ertretung, eigene G esandte usw., doch stehen sie
unter einer sehr effektiven „K ontrolle“ der V ereinigten Staaten. Ein
sehr klares Beispiel eines solchen Interventionsvertrages ist der V ertrag,
den Kuba als Entgelt dafür, daß es die U nabhängigkeit von Spanien aus
der H and der Vereinigten Staaten entgegennehm en m ußte, einzugehen
gezwungen w urde. Die V ereinigten Staaten haben 1898 Spanien den K rieg
erklärt, um K uba zu befreien und K uba zu einem souveränen, unabhän
gigen und freien Staate zu machen. D ie W elt w ar zunächst e rsta u n t über
der Großm ut, mit dem ein großes Volk fü r die F reih eit eines anderen Volkes
in den Krieg zog und dabei feierlich die souveräne F re ih e it der kub an i
schen R epublik garantierte. D ie neue kubanische R epublik sah sich aber
sofort, und zwar als amerikanische Soldaten auf der Insel w aren, genötigt,
einen V ertrag mit den V ereinigten Staaten zu schließen, dessen In h alt sich
aus dem sogenannten P latt Am endm ent ergab, wonach K uba der Regie
rung der Vereinigten Staaten das Recht gab, zu interv en ieren — der Aus
druck „intervenieren“ w ird dabei gebraucht —, u nd zw ar fü r die E rhaltung
der U nabhängigkeit Kubas, fern er zu der Sicherung einer kubanischen
Regierung, die imstande ist, Leben, Eigentum und persönliche F re ih e it zu
schützen und die öffentliche Sicherheit und O rdnung in K uba aufrechtzu
erhalten, endlich zur Sicherung gew isser finanzieller F orderungen. Es
handelt sich vor allem darum , Leben, Eigentum und F re ih e it zu schützen.
Das bedeutet: das in K uba angelegte am erikanische K ap ital steht u n ter
dem Schutz der Vereinigten Staaten von A m erika, die V ereinigten Staaten
entscheiden von sich aus darüber, ob eine kubanische R egierung im stande
ist, ausreichenden Schutz zu gew ähren und öffentliche Sicherheit und
O rdnung in K uba aufrechtzuerhalten. K uba gibt d er R egierung der
Vereinigten Staaten ausdrücklich das Recht, u n ter diesen V oraussetzungen,
über deren E in tritt die V ereinigten S taaten entscheiden, in die in n erstaat
lichen Verhältnisse Kubas einzugreifen. In dem V ertrag ist vorgesehen,
daß bestimmte Flottenstationen, Kohlen- und Ö lstationen auf K uba den
Vereinigten Staaten überlassen w erden, dam it d eren In terv en tio n sogleich
mit der nötigen m ilitärischen und m aritim en Nachdrücklichkeit erfolgen
kann. Die Vereinigten Staaten haben öfters T ru p p en auf K uba gelandet.
Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus 171
Nicht nu r 1900, 1901 und 1902, auch später sind regelmäßig w ieder am erika
nische T ruppen auf K uba erschienen; eine Landung am erikanischer
M arinesoldaten erzw ang den R ücktritt eines kubanischen Präsidenten und
führte die Bildung einer kubanischen R egierung herbei, die bestimm ten
amerikanischen Gesellschaften neue Konzessionen zu verleihen bereit w ar,
oder um die finanzielle O rdnung w iederherzustellen. Bei der Landung im
Jahre 1912 w urde ausdrücklich e rk lärt, es handle sich nicht um eine
Intervention, w eil ja der V ertrag den V ereinigten Staaten das Recht zur
Intervention gebe. Im Jah re 1919 ergab sich der interessante F all einer
Landung zur Sicherung unabhängiger W ahlen.
D ieser Interventionsvertrag m it K uba ist — darin liegt das neue,
juristisch besonders Interessanteste — in einer doppelten Weise fundiert.
Der V ertrag ist nämlich einm al ein völkerrechtlicher V ertrag zwischen der
neuen, souveränen R epublik K uba und den V ereinigten Staaten; außer
dem aber haben die V ereinigten Staaten die kubanische N ationalversam m
lung und die Pœgierung 1901 gezwungen, den Inhalt des Interventions
vertrages in die kubanische Verfassung aufzunehm en, und zwar mit der
vollen K raft eines Verfassungsgesetzes, so daß der Inhalt des In te r
ventionsvertrages sowohl völkerrechtlich als auch innerstaatlich-verfas
sungsrechtlich als Teil der kubanischen Verfassung gesichert ist. Die ku b a
nische verfassunggebende Nationalversam m lung, die sich dagegen zu
wehren suchte, h at dem Druck am erikanischer Kriegsschiffe und T ruppen
nachgeben müssen. Die Vollendung dieses Systems liegt dann in der
w eiteren Bestimmung, daß der souveräne Staat K uba sich verpflichtet,
keinen V ertrag zu schließen, der seine U nabhängigkeit gefährden könnte,
daß die V ereinigten Staaten das Monopol des Schutzes dieser U nabhängig
keit haben und — ohne verpflichtet zu sein, die völkerrechtliche V ertretung
Kubas nach außen zu übernehm en — doch den gesamten außenpolitischen
V erkehr und alle völkerrechtlichen V ereinbarungen der K ubaner kon
trollieren dürfen, w eil sie ja darauf zu achten haben, daß die K ubaner
gegenüber einem d ritten Staat, sei er am erikanisch oder nichtamerikanisch,
sich nicht in einer W eise binden, in welcher die V ereinigten Staaten eine
G efährdung der kubanischen U nabhängigkeit erblicken.
W ir erin n ern uns der E rörterungen aus dem Sommer 1931 über den
Begriff der „U nabhängigkeit“ anläßlich der Pläne einer Zollunion zwischen
Österreich und Deutschland. Dam als erhob sich die Frage, ob durch eine
solche Zollunion zwischen Ö sterreich und Deutschland die U nabhängigkeit
Österreichs gefährdet w ürde. Im F alle K uba w äre eine analoge Frage nicht
einmal ein juristisches Problem , sondern auch juristisch ohne w eiteres im
imperialistischen Sinne entschieden. So schnell kann in politischen Bezie
hungen ein dialektischer Umschlag eintreten, und derjenige, der die
F reiheit und U nabhängigkeit eines andren Staates schützt, ist natürlicher-
und logischerweise selbst derjenige, dessen Schutz die F reiheit und
U nabhängigkeit des Beschützten aufhebt. Es w ird aber aus vielen guten
Gründen, von denen w ir noch einige kennenlernen w erden, daran fest-
172 Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus
gehalten, daß die Vereinigten Staaten nicht etw a ein „P ro tek to rat“ über
K uba in dem veralteten Sinne des 19. Jah rhunderts haben, das w äre ja eine
völkerrechtliche Form, die sich für die Beziehungen zwischen zivilisierten
und halbzivilisierten Völkern ergeben hat. Beide Staaten sollen viel
m ehr hinsichtlich der Zivilisation auf der gleichen Stufe stehen. A ber der
eine ist nun einmal leider nicht imm er imstande, die öffentliche Sicherheit
und O rdnung bei sich aufrechtzuerhalten und das Privateigentum zu
schützen, unparteiische W ahlen durchzuführen, sich den richtigen Präsi
denten zu w ählen usw., und so k o n tio llie rt und k o rrig ie rt ihn der andere
in der besten Absicht, ohne daß das offiziell eine Form der U nterw erfung
bedeutet. Auf der Basis form eller völkerrechtlicher Gleichberechtigung
entstehen hier m erkw ürdige, für unser kontinentaleuropäisches Denken
vielleicht allzu elastische Form en der H errschaft, der K ontrolle, der Inter
vention, die der politischen W irklichkeit angehören und auch völkerrecht
lich ihre spezifischen Besonderheiten haben.
Es gibt ein ganzes System solcher Interventionsverträge der Ver
einigten Staaten mit anderen lateinam erikanischen Staaten. Insbesondere
ist der militärische Schutz des Panam akanals und dam it die politische H e rr
schaft über diesen K anal Sache der V ereinigten Staaten. D ie R epublik
Panam a, die zu diesem Zwecke eigens gegründet w urde und den typischen
Interventionsvertrag abschließen mußte, hat den V ereinigten Staaten das
zur m ilitärischen und m aritim en Beherrschung notw endige Land ab
getreten und ist w eitere V erträge eingegangen, die ebenfalls zu perio
dischen T ruppenlandungen in Panam a führen, u nter denen aber ein Ver
trag besonders auffällig ist, weil er im Zusamm enhang m it dem Kellogg-
p ak t Interesse verdient, nämlich der V ertrag vom 28. Juli 1926. Durch ihn
hat Panam a sich verpflichtet, für den Fall, daß die V ereinigten Staaten in
einen Krieg eintreten, gleichgültig auf welchem Teil der E rde der Krieg
sich abspielt, sich selbst, Panama, auf seiten der V ereinigten Staaten als
kriegführende P artei zu betrachten. Also unabhängig davon, ob es zu einem
Angriff auf Panam a gekommen ist, unabhängig davon, ob der K anal selber
angegriffen w ird, ist die R epublik Panam a verpflichtet, sich als krieg
führende P artei zu betrachten, sobald die V ereinigten Staaten in irgend
einem Teil der Erde Krieg führen.
Diese Methode der Interventionsverträge fü h rt zu einer im Effekt be
sonders intensiven Form der U nterw erfung eines anderen Staates, aber die
juristische Form ist so „rechtlich“ und auf „K oordination“ beruhend, so un
auffällig und elastisch, daß die abhängigen Staateçi in dem Spielraum , der
ihnen bleibt, überall ihren außenpolitischen V erkehr haben können, außen
politische Beziehungen unterhalten wie je d e r andere souveräne Staat, und
daß sie vor allen Dingen M itglieder des G enfer V ölkerbundes sind, obwohl
nach der Völkerbundsatzung nu r freie und sich selbst regierende Staaten
M itglieder des Völkerbundes sein dürfen. Alle diese Staaten, die unter
Interventionsverträgen stehen und sich im m er w ieder Truppenlandungen
gefallen lassen müssen, selbst ein Staat wie Panam a, der jen en V ertrag
Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus 173
von 1926 m it den V ereinigten Staaten geschlossen hat, gelten als freie,
souveräne Staaten, sind vollberechtigte M itglieder des Völkerbundes.
Panam a ist gegenw ärtig (F ebruar 1932) sogar M itglied des V ölkerbundrates.
D ie am erikanische M ethode der Interventionsverträge ist nun bisher
im w esentlichen auf A m erika beschränkt geblieben. D ie Vereinigten
Staaten haben kein Interesse daran, vorläufig wenigstens nicht, eine solche
P raxis auf an d ere K ontinente auszudehnen. Sie haben außerdem noch ein
zweites, sehr w irksam es M ittel, ih re Hegem onie auf dem am erikanischen
K ontinent zu r D urchführung zu bringen: ih re P raxis der A nerkennung
neuer R egierungen. In den lateinam erikanischen Staaten, in denen es häufig
zu Revolutionen, Staatsstreichen und Putschen kommt, hängt für die je
weilige R egierung finanziell und politisch alles davon ab, von den Ver
einigten Staaten a n e rk a n n t zu w erden. H ier haben die V ereinigten Staaten
ein sehr einfaches P rinzip: sie erkennen revolutionäre Regierungen nicht
an und lassen n u r legale R egierungen gelten. W ir wissen in Deutschland
leider aus E rfah ru n g , daß es u n ter U m ständen sehr schwierig ist, Legalität
und Illeg alität genau zu unterscheiden, nam entlich w enn es w irklich zum
bew affneten B ü rgerkrieg kom m en sollte. Solche F ragen w erden für die
am erikanischen Staaten in w eitem Maße durch die Vereinigten Staaten
entschieden. D iese sind infolgedessen heute imstande, über das Schicksal
der R egierung fast jedes am erikanischen Staates zu befinden. Außerdem
haben viele am erikanische S taaten u n ter sich V erträge geschlossen, in denen
sie sich verpflichten, keine anderen als „legale“ Regierungen anzuerkennen.
Das alles h a t bei den fortw ährenden Revolutionen und Putschen vor allem
die praktische Bedeutung, daß die V ereinigten Staaten bestimmen, welche
R egierung legal ist oder nicht.
D aneben bleiben natürlich auch allgem eine völkerrechtliche Prinzipien,
deren sich die V ereinigten S taaten bedienen, von großer Bedeutung. Zwar
nicht offiziell von den V ereinigten Staaten, wohl aber von V ölkerrechts
theo retik ern und -p ra k tik e rn der V ereinigten Staaten ist z. B. der Satz
aufgestellt w orden, das P rivateigentum sei auch in dem Sinne „heilig“,
daß ein Staat, selbst w enn er eigene Staatsangehörige enteignet, A usländer
doch nicht, w enigstens nicht ohne volle Entschädigung, enteignen dürfe.
Es ist begreiflich, daß eine solche T heorie in einem Staate, der G läubiger
der ganzen W elt ist und dessen K apitalisten Riesensum men in anderen
Staaten in vestiert haben, ih re A nw älte findet. Seit etw a zwei Jahren w ird
sie allerdings auch in D eutschland von m ehreren A utoren vertreten. Ich
halte sie nicht fü r richtig* kan n ab er verstehen, daß man sie vom am eri
kanischen S tandpunkt aus v e rtritt. Es ist eine typisch amerikanische
Theorie, eine Theorie, die zu einem Staat gehört, dessen imperialistische
Expansion in d er E xpansion seiner kapitalistischen Anlage- und Aus
beutungsm öglichkeiten besteht.
In der P ra x is der Interventionsverträge und der A nerkennung neuer
R egierungen hebt sich schon die B esonderheit erkennbar ab, m it der die
V ereinigten Staaten sich als hegemonische Macht auf dem amerikanischen
174 Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus
handelt, offiziell abwesend, effektiv aber anwesend sein können. Sie sind
anwesend, denn w eder Kuba noch Panam a können nennensw erte politische
Schritte tun ohne die ausdrückliche oder stillschweigende Bewilligung der
Vereinigten Staaten; trotzdem sind diese offiziell abwesend. Aber auch
über die G enfer Völkerbundsangelegenheiten hinaus funktioniert diese
eigenartige und höchst elastische Verbindung von offizieller Abwesenheit
und effektiver Anwesenheit. Es genügt, den D aw esplan von 1924 zu nennen:
ein A m erikaner, ein „citizen of the U nited States“, macht die Sache, ent
scheidet im wesentlichen, aber es ist offiziell nicht die Regierung, sondern
eben nu r ein citizen of the U nited States, der entscheidet. Wilson hat, wie
erw ähnt, die französische R egierung gezwungen, sich an der Gründung
des Völkerbundes zu beteiligen; als der Völkerbund gegründet war, haben
die Vereinigten Staaten sich zurückgezogen. Wilson hat den Art. 21 der
Völkerbundsatzung erzw ungen, gegen den der französische Jurist Larnaude
sehr verständige juristische Einwendungen gemacht hat. Als Wilson ver
langte, daß die A nerkennung der M onroedoktrin in den T ext der Völker
bundsatzung hineingeschrieben werde, daß die M onroedoktrin einer solchen
Völkerbundsatzung vorgehe, stellte L arnaude eine Reihe von Gegenfragen,
namentlich über den Inhalt der M onroedoktrin, der ja, wie oben ausgeführt,
nicht leicht zu bestimm en ist, sondern alles Wesentliche der Entscheidung
und Interpretation der V ereinigten Staaten überläßt. Danach hat Wilson
nach einigen allgem einen Redewendungen einfach apodiktisch verlangt,
daß die A nerkennung der M onroedoktrin in der Form, wie er es vorschlage,
in die V ölkerbundsatzung auf genommen werde, weil sonst die Vereinigten
Staaten ihre w eitere M itw irkung verw eigern müßten. So ist die U nter
werfung denn auf genommen w orden und steht in A rt. 21 der Satzung
als deren vollgültiger Bestandteil, aber die Vereinigten Staaten sind dem
V ölkerbund nicht beigetreten und nicht Mitglied geworden. D er Genfer
Völkerbund hat sich also der M onroedoktrin unterw orfen und sogar im
Text seiner Satzung die Ü berlegenheit der anierikanischen Prinzipien
und der am erikanischen Politik m anifestiert. D er V olkerbundrat verm eidet
jede k lare Stellungnahm e und Interpretation dieses A rtikels 21. Es ist in
der Tat im D ezem ber 1928, anläßlich eines Streites zwischen Bolivien und
Paraguay, als der V ölkerbundrat versam m elt w ar, vorgekommen, daß der
Völkerbundrat drei Telegram m e an die Regierungen dieser Staaten ge
schickt hat, in denen er die streitenden P arteien erm ahnte, ihre Diffe
renzen auf friedliche W eise beizulegen. Als eine Woche später der damalige
‘R atsvorsitzende B riand gefragt w urde, wie sich die Angelegenheit w eiter-
entwickelt habe, stellte sich heraus, daß die beiden amerikanischen V ölker
bundsm itglieder sich in W ashington geeinigt hatten. W eder von W ashington
aus, noch durch die bolivianische Regierung, noch durch die Regierung von
Paraguay ist der G enfer V ölkerbundrat über den w eiteren Gang der
Dinge inform iert w orden, obwohl das wenigstens aus Höflichkeit hätte
geschehen können.
176 Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus
Instrum ent in tern atio n aler P olitik sind, eo ipso gerecht sind. Sie sehen
hier ganz typische Form en verschiedener Im perialism en. D er Im perialism us
führt keine nationalen K riege, diese w erden vielm ehr geächtet; er führt
höchstens K riege, die einer internationalen Politik dienen; er fü h rt keine
ungerechten, n u r gerechte K riege; ja, w ir w erden noch sehen, daß er über
haupt nicht K rieg fü h rt, selbst w enn er m it bewaffneten Truppenm assen,
Tanks und P an zerk reu zern das tut, was bei einem andern selbstverständ
lich K rieg w äre. Vom S tandpunkt des Deutschen könnte man jetzt die
w eitere F rage erheben, welche A rt von K riegen in W irklichkeit die ge
rechtere ist, die im perialistisch-internationalen oder die nationalen, aber
es w äre nach dem k lare n W ortlaut des K elloggpaktes schon ein Irrtum ,
zu glauben, der K elloggpakt enthalte in seinem W ortlaut, wenigstens pro
forma, eine Ächtung a lle r denkbaren Kriege. Nach den E rfahrungen der
Nachkriegszeit m üssen w ir vielm ehr eine andere Frage stellen: wenn w irk
lich der K rieg, sei es auch n u r der als „Instrum ent einer nationalen Politik
dienende K rieg“, geächtet und verdam m t w ird, was ist dann überhaupt
ein Krieg? Ich brauche nicht an die Vorgänge in C hina zu erinnern, um
Ihnen zu zeigen, daß eine solche Frage leider sehr nahe liegt. W ir haben
es erlebt, daß Ja h r fü r Ja h r große T ruppenlandungen stattfinden. W ir haben
große m ilitärische Zusamm enstöße erlebt, Beschießungen von Küsten, Lan
dungen italienischer Schiffe in Korfu, Landungen am erikanischer M arine
truppen in Panam a, N ikaragua usw., Invasion der Franzosen und Belgier
in das deutsche R uhrgebiet usw. Das alles galt nicht als Krieg und w ar
daher auch nicht „geächtet“. W as also ist eigentlich Krieg? W ir erhalten
eine kennzeichnende A ntw ort durch den Aufsatz eines bekannten Pazi
fisten und Professors in Genf, H ans W ehberg, in der Zeitschrift „Die
F rieden sw arte“ (Janu ar 1932). D ort heißt es: „Nach geltendem Recht kann
man im F alle des chinesisch-japanischen Konflikts nu r von einer m ili
tärischen Besetzung, nicht von einem Kriege sprechen. An diesem Ergebnis
kann auch die Tatsache nichts ändern, daß die sogenannte ,friedliche Be
setzung* (occupatio pacifica), mag sie nun als bewaffnete Intervention zum
Schutz von Leben und Eigentum japanischer Staatsbürger oder als R epres
salie gegenüber chinesischen V ölkerrechtsverletzungen begründet werden,
von Bom bardem ents, ja sogar von Schlachten größeren oder kleineren Um
fanges begleitet w a r.“ Es liegt also n u r eine friedliche Besetzung vor, kein
Krieg. Wie ist eine Jurisprudenz möglich, die angesichts blutiger Kämpfe,
angesichts der Zehntausende von Toten immer noch von „friedlicher Be
setzung“ zu sprechen w agt und dadurch das W ort und den Begriff des
„Friedens“ dem grausam sten H ohn und Spott ausliefert? D er G edanken
gang ist folgender: entw eder ist etw as K rieg oder ist es Frieden. Was ist
Krieg? W as nicht ein friedliches M ittel ist. W as ist ein friedliches Mittel?
Was nicht K rieg ist. Ein Zwischending gibt es nicht. Nun ist aber eine fried
liche Besetzung, w enn sie auch von Schlachten kleineren und größeren Um
fanges begleitet ist, nicht K rieg, ergo ist sie ein friedliches M ittel, ergo hat
die A ngelegenheit auch m it dem K elloggpakt nichts zu tun. D er G enfer
12 1682
178 Völker rechtliche Formen des modernen Imperialismus
12*
180 Schlußrede vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig
nicht unm ittelbar benachbart und gefährlich ist, noch einem viel gefähr
licheren und näheren Im perialism us, und w ir w ollen uns w eder rechtlich,
noch moralisch und geistig unterw erfen.
Die „F o r m a 1 i e n “, von denen h ier die Rede ist, sind in einem Pro
zeß vor dem Staatsgerichtshof keine bloßen Form alitäten, sondern sehr
reale politische Dinge. Die Fragen: W er ist das Land Preußen? W er vertritt
das Land Preußen? Wo ist heute Preußen? sind reale und hochpolitische
Fragen. D ieser Prozeß ist infolgedessen gerade in den Fragen der P artei
fähigkeit, der Prozeßführungsbefugnis, der A ktivlegitim ation eigentlich an
seinem K ernpunkt angekommen. D arum w ar es nicht böser W ille oder
etw as Ähnliches, sondern sozusagen die N atur der Sadie, daß sich gerade
bei der F rage der sogenannten Form alien plötzlich w ieder eine größere
Intensität der Gegensätze herausstellte.
Nach Art. 19 der Reichsverfassung gibt es unter den drei dort genannten
zulässigen A rten von Staatsgerichtshofprozessen n u r eine, bei der das
Reich erscheint; das ist der Prozeß eines Landes m it dem Reich. Ein Land
klagt gegen das Reich oder das Reich klagt gegen ein Land — zwei
„Staaten“, wie H err Kollege N aw iasky ganz richtig gesagt hat. D araus
folgt aber nicht, daß, wie er w eiter gesagt hat, der Staatsgerichtshof ein
„internationaler Gerichtshof“ sei. E r sprach sogar vom sogenannten W elt
gerichtshof, eine etwas übertriebene Bezeichnung für die bekannte In sti
tution im Haag. D ieser perm anente internationale Gerichtshof legt im m er
hin besonderes Gewicht auf das, was in seinem S tatut anerkannt und in
einer Reihe von Entscheidungen ausgesprochen ist, daß nämlich vor ihm
n u r Staaten als solche erscheinen. H ier jedoch erscheinen sogar Landtags
fraktionen, Arm in Arm mit dem Lande B ayern und dem Lande Baden
(von Jan: Schrecklich!) D arin liegt schon eine große V erw irrung und
Unstimmigkeit.
Die wichtigste Frage des Prozesses betrifft natürlich das Land Preußen.
Das Land Preußen ist nicht verschwunden; es besteht noch; es ist da; es hat
auch eine Regierung, eine kommissarische, vom Reichspräsidenten auf
Schlußrede vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig 181
Also ist die einzige F rage: K ann vom Reich her in der geschehenen
Weise auf ein Land eingew irkt w erden?
D er Gegensatz unitarisch und föderalistisch darf überhaupt nicht schlag
w ortartig m it anderen G egensätzen in Verbindung gebracht werden. E nt
scheidend scheint m ir zu sein: w enn der Reichspräsident von seiner
verfassungsm äßigen Befugnis gegenüber einem Lande Gebrauch gemacht,
eine solche kommissarische Landesregierung eingesetzt und die andere
Landesregierung suspendiert hat, dann ist die F rage der V ertretungsbefug
nis erledigt, dann weiß man, w er die geschäftsführende aktive Landesregie
rung ist. H ier die Selbständigkeit des Landes als solche geltend zu machen,
ist eine offenbare V erw irrung. Es sind hier verschiedentlich Bilder, Ver
gleiche origineller A rt gebraucht w orden. Ich darf m ir vielleicht auch ein
mal erlauben, anschaulich zu w erden, und ganz allgemein, nicht mit Bezug
auf diesen besonderen Fall, folgendes zur K lärung des, wie m ir scheint,
einfachen Sachverhalts festzustellen. W enn tatsächlich einm al der Bock zum
G ärtner gemacht w orden ist und es sich darum handelt, ihn zu beseitigen,
so kann m an alles mögliche geltend machen, aber nu r das eine nicht, die
Selbständigkeit und U nabhängigkeit des G artens! Das ist der Fall einer
vom Reichspräsidenten suspendierten Landesregierung. Sie kann sich nicht
auf die Selbständigkeit des Landes als solchen berufen. Eine vom Reich
eingesetzte kommissarische R egierung ist selbstverständlich keine norm ale
Regierung, ebensow enig w ie eine Geschäftsregierung oder gar eine G e
schäftsregierung w ie die ihres Amtes enthobene Preußische Regierung, mit
dem O dium des 12. A pril belastet, eine norm ale R egierung ist.
Zwei Schlagworte oder Stichworte möchte ich noch ku rz abtun. Es ist
einmal das W ort vom „ H ü t e r d e r V e r f a s s u n g “ gefallen, und zw ar
ist mit besonderer Betonung und vielleicht auch polemischer W endung
vom H errn Kollegen N aw iasky gesagt w orden: der Staatsgerichtshof ist
der H ü ter der Verfassung. Niem and bestreitet das; er ist der H üter der
Verfassung. A ber er ist und bleibt ein G e r i c h t s h o f und ist auf die
vom H errn K ollegen Jacobi sehr eindringlich und, wie m ir scheint, üb er
zeugend entw ickelten B esonderheiten dieser Justizförm igkeit und Gerichts-
förm igkeit angewiesen. D er Staatsgerichtshof h at n u r den gerichtlichen und
justizförm igen Schutz der Verfassung. D a eine Verfassung ein p o l i
t i s c h e s G ebilde ist, bedarf es außerdem noch wesentlicher politischer
Entscheidungen, und in dieser Hinsicht ist, glaube ich, der Reichspräsident
der H üter der V erfassung, und gerade seine Befugnisse aus Art. 48 haben
sowohl fü r die föderalistischen als auch fü r die anderen B estandteile der
Verfassung Λ-or allem den Sinn, einen echten politischen H üter der V er
fassung zu konstituieren. W enn er in dieser Eigenschaft eine kommis
sarische L andesregierung einsetzt, so handelt er ebenfalls als H üter der
Verfassung auf G rund d er seinem politischen Erm essen anheim gegebenen,
im wesentlichen p o l i t i s c h e n Entscheidung innerhalb gewisser Grenzen,
die w ir h ier festgestellt haben. A ber es bleibt s e i n e p o l i t i s c h e E n t
s c h e i d u n g , um die es sich dabei handelt. D am it ist gleichzeitig auch die
184 Schlußrede vor dem Staatsgeriditshof in Leipzig
für Art. 19 der Reichsverfassung wichtige F rage beantw ortet, w er das Land
in einem solchen Falle vertritt. Die V ertretung des Landes Preußen, die
auf G rund eines solchen Aktes des Reichspräsidenten von der kommis
sarischen Regierung vorgenommen w ird, hat ihre gute, feste Rechtsgrund
lage in der Reichsverfassung sowohl, als auch in der von ih r ergänzten
Landesverfassung.
Das zweite W ort, das öfters hier w iederkehrte, w ar das W ort von der
aus der Staatlichkeit folgenden E h r e und D ignität Preußens. Hierzu
möchte ich folgendes sagen: H err M inisterialdirektor Brecht h at es für gut
gehalten, heute morgen in seiner Schlußzusammenfassung daran zu
erinnern, daß der H err Reichspräsident im Jah re 1866 als preußischer
Offizier ins Feld gezogen ist. Was w ar 1866 los? Eine Bundesexekution
des Deutschen Bundes g e g e n P r e u ß e n . Und der H e rr Reichspräsident
stand als preußischer Offizier auf der preußischen Seite und verteidigte
Preußen gegen diese Bundesexekution. W enn derselbe Mann, der damals
Preußen gegen eine Exekution verteidigt hat, sich jetz t entschließen muß,
gegen dasselbe Preußen eine Reichsexekution anzuordnen, so ist das ein
bedeutungsvoller, erstaunlicher Vorgang, dessen m an sich doch einen
Augenblick bewußt w erden sollte. D enn hier zeigt sich, daß sich etwas
geändert hat. Die Exekution hat jetz t nicht den Sinn, das Land zu ver
nichten und seine Existenz zu zerstören, sondern im G egenteil Preußen
vor Gefahren zu schützen, die gerade diesem Staat und diesem Lande
drohten. W enn hier so viel von der Staatlichkeit, der D ignität und der Ehre
Preußens gesprochen wird, so darf ich doch endlich m ir selber die Frage
stellen — ich stelle sie niem and anders, ich stelle sie aber hier in aller
Öffentlichkeit m ir selbst: Wo ist denn dieses alles, die D ignität und die
Ehre Preußens, besser aufgehoben: bei den am 20. Juli ihres Amtes ent
hobenen, geschäftsführenden M inistern, die n u r noch dank dem Kunstgriff
vom 12. A pril geschäftsführende M inister w aren (Zuruf: Situations Juris
prudenz!) oder bei dem Reichspräsidenten von H indenburg? Diese Frage
ist für mich nicht schwer zu beantw orten. Es ist w ahr, P reußen hat seine
Ehre und seine D ignität, aber der T reuhänder und der H ü ter dieser Ehre
ist heute das Reich.
21. Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland
(Januar 1933)
Vor zehn Jah ren versicherten bew ährte A utoren und F ü h re r aller Art,
daß m an n u r die Politik und die P olitiker abzuschaffen brauche, um alle
schwierigen Problem e gelöst zu haben. Die radikale „Entpolitisierung“
sollte d arin bestehen, daß technische, wirtschaftliche, juristische oder andere
Sachverständige nach angeblich rein technischen, rein wirtschaftlichen, rein
juristischen, k u rz nach rein „sachlichen“ G esichtspunkten alle bisher poli
tischen F ragen zu entscheiden hatten. Zahlreiche Aufsätze und Broschüren
haben das in den Jah ren 1919 bis 1924 als einzige Bedingung universaler
Glückseligkeit verkündet. Inzwischen haben w ir viele Sachverständigen-
und Technikerkonferenzen kennengelernt. Ganze G ebirge w ertvollsten
M aterials und sachkundigster G utachten lagern in Genf, in Berlin, in vielen
anderen Städten der Erde, und u n ter ih re r A rt von Sachlichkeit w urde die
Entscheidung der F ragen einfach verschüttet. Es hatte sich bald heraus
gestellt, daß diese „E ntpolitisierung“ ein brauchbares politisches M aterial
ist, um unangenehm e Problem e und notwendige Ä nderungen zu vertagen,
einen w idersinnigen status quo zu konservieren und jeden entschiedenen
Ä nderungsw illen sich leerlaufen zu lassen.
Nach solchen E rfahrungen m it der gänzlichen „Nichtpolitik“ m ußte die
Erkenntnis durchdringen, daß a l l e Problem e potentiell politische Problem e
sind. W ir haben dann in D eutschland praktisch eine Politisierung aller
wirtschaftlichen, k u ltu rellen , religiösen und sonstigen Bereiche des mensch
lichen Daseins erlebt, wie sie dem D enken des 19. Jahrhunderts unbegreif
lich gewesen w äre. Insbesondere schien, nachdem m an einige Jahre versucht
hatte, den Staat zu ökonom isieren, jetz t um gekehrt die W irtschaft gänzlich
politisiert zu sein. Jetzt glaubte m an die w irksam e und einleuchtende Form el
vom totalen S taat zu begreifen, und heute sind manche sogar schon w ieder
darüber hinaus und haben den „totalen S taat“ bereits w iderlegt und geistig
überw unden. Sehen w ir uns aber statt der Propaganda und der L iteratu r
einmal die w irkliche Lage an.
I.
Es gibt einen totalen Staat. Man k ann den „totalen S taat“ mit irgend
welchen Em pörungs- und Entrüstungsschreien als barbarisch, sklavisch, un
deutsch oder unchristlich von sich weisen, die Sache selbst ist damit nicht
aus der W elt geschafft. Jeder Staat ist bestrebt, sich der Machtmittel zu
bemächtigen, die er zu seiner politischen H errschaft braucht. Es ist sogar
das sichere Kennzeichen des w irklichen Staates, daß er das tut. Auch stehen
w ir alle u n ter dem Eindruck der gew altigen Machtsteigerung, die heute
186 Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland
jed e r Staat durch die Steigerung der Technik, nam entlich der m ilitärtech
nischen Machtmittel, erfährt. Selbst einem kleinen Staat und seiner Regie
rung verleihen die m odernen technischen M ittel eine solche E inw irkungs
möglichkeit, daß daneben die alten V orstellungen sowohl von staatlicher
Macht als auch vom W iderstand gegen sie verblassen. G egen den totalen
Staat hilft n u r eine ebenso totale Revolution. Ü berlieferte B ilder von
Straßenaufläufen und B arrikaden erscheinen angesichts dieser neuzeit
lichen Machtmöglichkeiten als ein K inderspiel. Jede politische Macht ist
gezwungen, die neuen Waffen in die H and zu nehm en. H at sie dazu nicht die
K raft und den Mut, so w ird sich eine andere Macht oder O rganisation
finden, und das ist dann eben w ieder die politische Macht, d. h. der Staat.
Durch die Steigerung der technischen M ittel ist insbesondere die Mög
lichkeit, ja N otw endigkeit einer M assenbeeinflussung gegeben, die um
fassender sein kann als alles, w as die Presse und andere ü b erlieferte M ittel
der M einungsbildung zu bew irken vermochten. H eute herrscht in Deutsch
land noch eine w eite Preßfreiheit. T rotz aller N otverordnungen ist dieser
Spielraum der „freien M einungsäußerung“, in W irklichkeit der P a rte i
agitation und der propagandistischen M assenbearbeitung, sehr groß und
denkt man nicht an Pressezensur. A uf die neuen technischen M ittel, Film
und Rundfunk, dagegen m uß jed e r S taat selbst die H and legen. Es gibt
keinen noch so liberalen Staat, der über das Film - und Lichtspielw esen und
den R undfunk nicht m indestens eine intensive Zensur und K ontrolle fü r
sich in Anspruch nimmt. Kein Staat k an n es sich leisten, diese neuen tech
nischen M ittel der N achrichtenüberm ittlung, M assenbeeinflussung, Massen
suggestion und Bildung einer „öffentlichen“, genauer: ko llek tiv en M einung
einem andern zu überlassen. H in ter der Form el vom to talen S taat steckt
also die richtige E rkenntnis, daß der heutige S taat neue M achtm ittel und
Möglichkeiten von ungeheurer Intensität hat, deren letzte T ragw eite und
Folgew irkung w ir kaum ahnen, w eil unser W ortschatz und unsere P h an ta
sie noch tief im 19. Jah rh u n d ert stecken.
D er totale Staat in diesem Sinne ist gleichzeitig ein besonders sta rk e r
Staat. E r ist total im Sinne der Q u alität und der E nergie, so, w ie sich der
faschistische Staat einen „stato to ta litario “ nennt, w om it er zunächst sagen
will, daß die neuen M achtmittel ausschließlich dem S taat gehören und seiner
M achtsteigerung dienen. Ein solcher S taat läßt in seinem In n ern keinerlei
staatsfeindliche, staatshem m ende oder staatszerspaltende K räfte auf-
kommen. E r denkt nicht daran, die neuen M achtm ittel seinen eigenen
Feinden und Zerstörern zu ü berliefern und seine Macht u n te r irgend
welchen Stichworten, Liberalism us, Rechtsstaat oder w ie m an es nennen
w ill, u ntergraben zu lassen. Ein solcher S taat k a n n F re u n d und F eind
unterscheiden. In diesem Sinne ist, w ie gesagt, je d e r echte S taat ein to taler
Staat; er ist es, als eine societas perfecta der diesseitigen W elt, zu allen
Zeiten gewesen; seit langem wissen die S taatstheoretiker, daß das Politische
das Totale ist, und das Neue sind n u r die neuen technischen M ittel, üb er
deren politische W irkungen m an sich k la r sein muß.
Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland 187
Nun gibt es aber noch eine andere Bedeutung des W ortes vom totalen
Staat, und das ist leider diejenige, die für die Zustände des heutigen
Deutschland zutrifft. Diese A rt totaler Staat ist ein Staat, der sich u nter
schiedslos in alle Sachgebiete, in alle Sphären des menschlichen Daseins
hineinbegibt, der überhaupt keine staatsfreie Sphäre m ehr kennt, weil er
überhaupt nichts m ehr unterscheiden kann. E r ist total in einem rein
quantitativen Sinne, im Sinne des bloßen Volumens, nicht der Intensität
und der politischen Energie. D er heutige pluralistische Parteienstaat in
Deutschland hat diese A rt des totalen Staates entwickelt. Sein Volumen ist
ungeheuer ausgedehnt. E r interveniert in alle möglichen Angelegenheiten
und auf allen G ebieten des menschlichen Daseins, nicht nu r in die W irt
schaft, für welche Erw in von Beckerath mit Recht sagt, daß der totale Staat
im Sinne einer Vermischung von Staat und W irtschaft „eine m it Händen
greifbare R e alität“ sei, sondern auch in ku ltu relle und gesellige Dinge,
die man sonst gern fü r „rein p riv a te “ Angelegenheiten ausgibt. W arum soll
der Staat nicht wirtschaftliche, ku ltu relle und andere U nternehm ungen
subventionieren, da w ir doch alle, auf dem Weg über die Partei, der Staat
selber sind, und w arum soll ein G esangverein nicht gute Beziehungen zum
Staate, d. h. zu gewissen P arteien und Fonds, un terhalten können? Dieses
kostbare W arum nicht? ist die ganze Staatstheorie des pluralistischen
Parteienstaates und die geistige G rundlage seiner Totalität. Das ist n a tü r
lich eine T otalität n u r im Sinne des bloßen Volumens und das Gegenteil
von K raft oder Stärke. D er heutige deutsche Staat ist total aus Schwäche
und W iderstandslosigkeit, aus der U nfähigkeit heraus, dem A nsturm der
Parteien und der organisierten Interessenten standzuhalten. E r muß jedem
nachgeben, jeden zufriedenstellen, jeden subventionieren und den w ider
sprechendsten Interessen gleichzeitig zu G efallen sein. Seine Expansion ist
die Folge, wie gesagt, nicht seiner Stärke, sondern seiner Schwäche.I.
II.
N äher gesehen, .haben w ir heute in Deutschland überhaupt keinen
totalen Staat, sondern eine M ehrzahl totaler Parteien, die jede in sich die
Totalität zu verw irklichen suchen, in sich ihre M itglieder total erfassen
möchte und die Menschen von der W iege bis zur Bahre, vom K leinkinder
garten über den T urnverein und K egelklub bis zum Begräbnis- und Ver
brennungsverein begleiten, ihren A nhängern die richtige W eltanschauung,
die richtige Staatsform , das richtige W irtschaftssystem, die richtige Gesellig
keit von P a rte i w egen liefern und dadurch das ganze Leben des Volkes
total politisieren und die politische E inheit des deutschen Volkes p a r
zellieren. P arteien alten liberalen Stils, die als bloße „M einungsparteien“
einer solchen O rganisation und T otalität nicht fähig sind, geraten in Gefahr,
zwischen den M ühlsteinen der m odernen, in sich totalen P arteien zerrieben
zu werden. D er Zwang zur totalen Politisierung scheint unentrinnbar. Keine
Parteiorganisation k ann sich ihm entziehen. Die rücksichtslos totaleü P a r
teien bestimm en den Typus und treib en die andern viertel-, halb- oder
188 Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland
Man sollte sich diese Frage doch endlich einm al deutlich zum Bewußtsein
bringen, ehe Deutschland an derartigen Methoden politischer W illens
bildung zugrunde gegangen ist. Es ist in der Sache eine geradezu phanta
stische O ption zwischen fünf untereinander völlig unvereinbaren, völlig
entgegengesetzten, in ihrem N ebeneinander sinnlosen, aber jedes in sich
geschlossenen und in sich totalen Systemen mit fünf entgegengesetzten
W eltanschauungen, Staatsform en und W irtschaftssystemen. Zwischen fünf
organisierten Systemen, von denen jedes in sich total ist und jedes, kon
sequent zu Ende gedacht, das andere auf hebt und vernichtet, also z. B.
zwischen Atheism us oder C hristentum , gleichzeitig zwischen Sozialismus
oder Kapitalism us, gleichzeitig etw a zwischen Monarchie oder Republik,
zwischen Moskau, Rom, W ittenberg, Genf und Braunem Haus und ähn
lichen inkom patiblen Freund-Feind-A lternativen, hinter denen feste
O rganisationen stehen, soll ein Volk m ehrm als im Jahre optieren! W er
sich klarm acht, was das bedeutet, w ird nicht m ehr erw arten, daß aus einer
solchen Prozedur eine handlungs- und aktionsfähige, auch n u r lose zu
sammenhaltende, fü r eine politische W illensbildung geeignete M ehrheit
hervorgehen könnte. Ein solcher Vorgang bedeutet nur, daß der Volkswille
sofort an seiner Q uelle in fünf K anäle und nach fünf verschiedenen Rich
tungen abgeleitet w ird, so daß er niem als zu einem Strom zusammenfließen
kann. Das Ergebnis sind imm er n u r fünf verschiedene Volksteile mit fünf
verschiedenen politischen System en und O rganisationen, die sich in ihrem
zusammenhanglosen, ja, feindlichen N ebeneinander gegenseitig zu besiegen
oder zu betrügen suchen und, zu jed er positiven A rbeit unfähig, sich immer
nur im N egativen begegnen und höchstens einm al — wie bei M ißtrauens
beschlüssen, A ufhebungsverlangen, Am nestieforderungen oder bei dem
verfassungsändernden Gesetz über die S tellvertretung des Reichspräsiden
ten vom 17. D ezem ber 1932 — in einem N ullpunkt treffen.
Mit solchen M ethoden politischer W illensbildung sind w ir in den Zu
stand eines quantitativ totalen Staates hineingeraten, der nichts m ehr un ter
scheiden kann, w eder W irtschaft und Staat, noch Staat und sonstige Sphären
menschlichen und sozialen Daseins. Die W ahl ist keine W ahl m ehr, der
Abgeordnete kein A bgeordneter m ehr, wie ihn die Verfassung sich denkt.
Er ist nicht der unabhängige, gegenüber P arteiinteressen das Wohl des
Ganzen v ertretende freie Mann, sondern ein in Reih und G lied m ar
schierender F unktionär, der seine Befehle außerhalb des Parlam ents e r
hält und für den die B eratung in der Vollversamm lung des Parlam ents zur
leeren F arce w erden muß. W ie der Abgeordnete kein A bgeordneter, ist
das Parlam ent kein P arlam ent m ehr. Auf dem demokratischen System der
W eim arer Verfassung lastet ein solches P arlam ent mit seiner gleichzeitig
m achtunfähigen und m achtzerstörenden N egativität wie ein körperlich
und geistig k ra n k e r Monarch auf den Einrichtungen und dem Bestand einer
Monarchie. D er heutige deutsche Reichstag ist kein Reichstag im Sinne der
W eim arer Verfassung; der heutige deutsche Reichsrat, in dem sich m ehr
geschäftsführende als norm ale L andesregierungen treffen, in dem für das
190 Reich — Staat — Bund
Wissenschaft des öffentlichen Rechts erscheinen. Die Flucht aus der Proble
m atik der Zeit in eine unproblem atische V ergangenheit oder in eine be-
ziehungs- und gegenstandslose Reinheit, hat nicht einm al m ehr den Schein
der W issenschaftlichkeit für sich. D er Weg, der vom konkret gegenwärtigen
Leben w egführt, k ann n u r dorthin führen, wo Tote über Totes reden.
W enn ich hier über Reich, Staat und Bund spreche, so gebrauche ich drei
Worte, deren jedes in höchstem Maße gleichzeitig geschichtsmächtig und
gegenw artserfüllt ist, die ich aber vorsätzlich und ausdrücklich als B e
g r i f f e behandle. D araus könnte das M ißverständnis entstehen, als wollte
ich in falscher A bstraktion von leeren Form en reden und die traurige
Sache betreiben, die m an m it einem Schimpfwort als „B egriffsjurisprudenz“
bezeichnet. Es gibt allerdings viele solche in einem schlechten Sinne
abstrakte Begriffe. Es gibt aber auch andere lebensvolle und w esenhafte
Begriffe, und es gehört eben zur Aufgabe der Wissenschaft des öffentlichen
Rechts, echte Begriffe zu erkennen und auszuprägen. Im politischen Kampf
sind Begriffe und begrifflich gew ordene W orte alles andere als leerer
Schall. Sie sind Ausdruck scharf und präzis herausgearbeiteter Gegensätze
und Freund-Feind-K onstellationen. So verstanden, ist der unserm Bew ußt
sein zugängliche Inhalt der Weltgeschichte zu allen Zeiten ein Kampf um
W orte und Begriffe gewesen. Das sind natürlich keine leeren, sondern
energiegeladene W orte und Begriffe und oft seh t scharfe Waffen. Leer
und im schlechten Sinne a b stra k t w erden sie erst, wenn die Kam pflage
und der Streitgegenstand entfallen und uninteressant geworden sind. Ich
erinnere Sie an den Kam pf um die Form el „von Gottes G naden“; oder z. B.
an die Überlegungen, die m an im W inter 1870/71 darüber angestellt hat,
ob man dem B undespräsidenten des Bismarckschen Reiches den Titel
„Kaiser der D eutschen“, „K aiser von D eutschland“ oder „Deutscher K aiser“
geben solle. Ich erinnere fern er an den unverm eidlichen Streit um die sog.
Form alien bei allen großen politischen Prozessen, um die Frage, w er vor
einem Staatsgerichtshof oder vor einem internationalen Gericht parteifähig
ist, w er aktiv legitim iert, interventionsberechtigt usw. Scheinbar kleine
Abweichungen in der begrifflichen Fassung können hier von unabsehbarer
praktischer T ragw eite w erden. In diesem ganz praktischen Sinne einer
konkret verstandenen Begrifflichkeit erscheint die ganze deutsche Leidens
geschichte des letzten halben Jahrtausends als die Geschichte der drei
Begriffe „Reich, Staat, B und“.
D er Begriff des S t a a t e s h at das alte Reich zerstört. W enn Pufendorff
im 17. Ja h rh u n d e rt das Reich als ein M onstrum bezeichnet, so w ill er
damit sagen, daß es kein Staat ist. D er Begriff des Staates und der staat
lichen Souveränität erscheint ihm juristisch begreiflich und ohne w eiteres
plausibel. Reich dagegen ist unbegreiflich und juristisch sinnlos geworden,
eben weil der Begriff des Staates gesiegt hat. Auf dem Boden des Deutschen
Reiches entwickeln sich Staaten, und die juristisch-dezisionistische Ü ber
legenheit des Staatsbegriffs gegenüber dem Reichsbegriff erscheint der
rechtswissenschaftlichen Begriffsbildung so groß, daß der Staatsbegriff das
192 Reidi — Staat — Bund
R eidi von innen heraus sprengt. Seit dem 18. Ja h rh u n d e rt gibt es überhaupt
kein Reichsrecht m ehr, sondern n u r noch Staatsrecht. Das Reich w ird nur
noch als ein aus Staaten zusam m engesetzter S taat oder als ein „System
von Staaten“ begriffen. D ie Schrift des jungen H egel aus dem Jah re 1802
über „Die Verfassung des Deutschen Reiches“ beginnt m it dem lapidaren
Satz „Deutschland ist kein S taat m ehr.“ D aß es kein S taat m ehr ist, ist
der G rund, w arum es „nicht m ehr begriffen w erden k a n n “. D er deutsche
S taat hat das alte Deutsche Reich zerstört. D er Staatsbegriff w ar der eigent
liche Feind des Reichsbegriffs. D as Recht w ird Staatsrecht und staatliches
Recht. Sogar die Philosophie w ird Staatsphilosophie, und der größte Philo
soph, Hegel, flüchtet aus dem unbegreifbar gew ordenen Reich in einen um
so einleuchtender gew ordenen Begriff des Staates.
Es ist fü r die Geschichte des Reichsgedankens von großer Bedeutung,
daß dam als sofort auch zwei neue Reiche entstanden, das französische
Gegenreich Napoleons I. und das Ersatzreich der habsburgischen Monarchie;
jenes offensiv und expansiv, dieses defensiv und konservativ. Es ist aber
ebenso wichtig, daß um dieselbe Zeit nach 1806 die eigentliche Staatlichkeit
Preußens sich um so k la re r und intensiver entw ickelt, w ährend das übrige,
das sog. d ritte Deutschland, ein B und von Staaten w urde. Vergessen wir
nie, daß das ganze sog. föderalistische Staatsrecht des 19. Jahrhunderts
m it allen seinen A ntithesen von S taatenbund und Bundesstaat, Völkerrecht
und Staatsrecht, V ertrag und Verfassung in der Zeit des R h e i n b u n d e s
entstanden ist. Die deutschen Staaten, die als Staaten das Reich gesprengt
haben, e rk lä re n bei ihrem A u stritt am 1. A ugust 1806, daß sie einen
„den neuen Zuständen angem essenen B und“ gründen, zum Schutz der
staatlichen Souveränität und U nabhängigkeit der B undesm itglieder und
u n ter dem P ro tek to rat und der G arantie des K aisers der Franzosen. Die
staats- und verfassungsrechtliche L ite ra tu r der R heinbundzeit konstruiert
sofort ein Reichssystem. Und was fü r ein Reich! Von C arl Salomo Zachariä
(Das Staatsrecht der rheinischen B undesstaaten und der Bundesstaaten,
H eidelberg 1810, S. 129) w ird folgendes Bild ausgem alt: Sämtliche euro
päische Staaten zerfallen in zwei Klassen, in solche, die „M itglieder des
großen europäischen Staatenvereins sind, an dessen Spitze der K aiser der
Franzosen, teils als vertragsm äßiger P ro tek to r des Bundes, teils als H aupt
der Kaiserlichen Fam ilie steht, und in Staaten, die diesem europäischen
S taatenverein nicht beigetreten sind“. U nter die Staaten der ersten Klasse,
also in den großen europäischen „Staatenverein“ des K aisers der Franzosen,
gehören Spanien, die italienischen Staaten, H olland, die Schweiz, das Herzog
tum W arschau und die rheinischen B undesstaaten. D ie anderen europäi
schen Staaten sind ihm entw eder a lliie rt und befreundet: Preußen, Öster
reich und D änem ark; oder sie sind Feinde des europäische^ Bundes: Eng
land und seine Bundesgenossen. D er rheinische Bund erscheint als Teil
eines französisch geführten Reichssystems, dem ein Bündnissystem (mit
R ußland, Österreich, Preußen) angegliedert ist. D ie Zeit der französischen
Hegem onie w ar zu kurz, als daß sich ein durchgebildetes Verfassungsrecht,
Reich — Staat — Bund 193
sei es des Reichs, sei es des Bundes, hätte entwickeln können. A ber selbst
dieses k u rze Zwischenspiel von sechs Jah ren offenbart das für die deutsche
Entwicklung des letzten Jah rh u n d erts kennzeichnende V erhältnis der
Begriffe R eich,. Staat und Bund. D er Bund deutscher Staaten ist immer
g e g e n das Deutsche Reich gerichtet gewesen. D er Bundesbegriff w ar
hier im m er der V erbündete des Staatsbegriffes gegen den Reichsbegriff.
D er Sinn des Bundes, nämlich Schutz, G arantie und F ührung der Bundes
m itglieder w endet sich gegen das Deutsche Reich. D er hegemonische T räger
des Bundes steht im R heinbund außerhalb Deutschlands, und der für den
ganzen folgenden deutschen Föderalism us typische Dualism us ist hier der
Dualism us von F rankreich und Deutschland, die schlimmste und traurigste
Form eines D ualism us, w eil er die deutsche Einheit als solche leugnet und
aufhebt.
D er auf dem W iener K ongreß zustande gekommene Staatenbund
„ D e u t s c h e r B u n d “ w a r fü r ein halbes Jah rh u n d ert (1815 bis 1866) die
Form der politischen E inheit Deutschlands. Auch bei ihm h atte der Bundes
gedanke den Sinn einer G aran tie der Staatlichkeit gegen das Reich. Staat
und Staatlichkeit sind auch h ier polemische Gegenbegriffe gegen das Reich.
Das Reich w ar d a ra n zugrunde gegangen, daß es nicht Staat w ar; der Bund
der deutschen Staaten m it seiner G arantie der Staatlichkeit w ill ebenfalls
kein Reich sein. E r w ill dem allgem einen Ruf des deutschen Volkes nach
einem Reich ein K om prom ißsurrogat liefern, aber in scharfer A lternative
von V ölkerrecht und Staatsrecht n u r als völkerrechtlicher Verein. Die
Trägerschaft des Bundes v erteilte sich auf ein N ebeneinander dreier
Größen: die beiden führenden Großm ächte Österreich und Preußen, deren
Gebiet aber zum Teil au ß erh alb des Bundes lag, und das sogenannte d ritte
Deutschland, dessen w ichtigster Staat, Bayern, fü r sich in Anspruch nehm en
konnte, daß e r ein rein deutscher, innerhalb des Bundesgebietes gelegener
Staat w ar, und dessen heute nicht m ehr recht begreiflicher Führungs-
1anspruch m it dieser Lage zusam m enhing; analog in einiger Hinsicht dem
unverhältnism äßigen Übergewicht U ngarns in der habsburgischen Mon
archie, in der alle übrigen N ationen m it m indestens einem Fuße außerhalb
der M onarchie standen. D er typische D ualism us des Deutschen Bundes ist
ein D ualism us der Hegem onie, der die beiden Großmächte Österreich und
Preußen in einen Konflikt bringt.
D er preußische Sieg von 1866 h at diesen D ualism us beseitigt, das öster
reichische Ersatzreich beiseite gedrängt und den B u n d e s s t a a t „ D e u t -
s c h e s R e i c h “ herbeigeführt. D ie V erfassung dieses „Zweiten Reiches“
spricht, um den treffenden Ausdruck C arl Bilfingers zu übernehm en, noch
„die Sprache des B undes“. Es nennt sich einen „ewigen Bund der Fürsten;
es macht einen „B undesrat“ zum H auptorgan, w ährend die demokratische
V ertretung des ganzen deutschen Volkes R e i c h s t a g heißt usw. D er
kennzeichnende D ualism us ist h ier doppelter A rt: ein D ualism us der V er
fassungskonstruktion, die zwei gegensätzliche Prinzipien: Monarchie und
D em okratie zu verbinden sucht, und ein D ualism us von Preußen und Reich,
13 1682
194 Reich — Staat — Bund
hinter dem der Dualism us von E inzelstaat und G esam tstaat, K onservati
vismus und D em okratie steht, mit einer ganz dualistischen Zuständigkeits
verteilung (Reichsgesetzgebung und Staatsexekutive) und m it einem
Zwischenbegriff wie „Reich sauf sicht“ als dem K orrelat einer solchen Zu
ständigkeitsverteilung. Die staatsrechtliche W issenschaft bem ühte sich, den
Dualism us zu überbrücken. Sie h at aber das eigentliche Unheil, nämlich
die Antithese von Staatenbund und B undesstaat, V ölkerrecht und Staats
recht, V ertrag und \ erfassung, nicht zu überw inden vermocht. Übrigens
w ar in den ersten Jahren, nach 1867, die Scheu vor dem Begriff „Reich“
noch sehr verbreitet, weil man sich noch daran erinnerte, daß es zum Wesen
des Reichs gehörte, kein Staat zu sein. So sagte Georg M eyer 1868: „Der
Ausdruck Reich wird in so vielfachen A nw endungen gebraucht, daß man
eigentlich nur sagen kann, er bezeichnet einen großen L änderkom plex mit
verschiedenen und bis zu einem gewissen G rade selbständigen Teilen.“
Eine besonders interessante Definition gibt Bluntschli in seiner Staatslogik
1872. Ich möchte sie hier erw ähnen, weil sie Reich nicht einfach mit Bundes
staat identifiziert und zu Unrecht ganz in V ergessenheit geraten ist.
Bluntschli spricht von einem „deutschen Bundes r e i c h “, einem „H aupt
staat als dem Schöpfer des Bundes, ohne den das Reich nicht bestehen kan n “,
und definiert: „Das deutsche Bundesreich ist seinem W esen nach ein Ver
band der m ittleren und kleineren deutschen Staaten im Anschluß an die
H aupt- und Vormacht Preußen, aber erhoben zu einer gem einsam en Ge
sam tdarstellung des deutschen Volkes.“
Die W e i m a r e r V e r f a s s u n g von 1919 h at die Hegem onie Preußens
beseitigt und zugleich das Land P reußen in seinem G esam tum fang bestehen
lassen. Sie hat kein neues K onstruktionsprinzip als E rsatz fü r die bisherige
hegemonische K onstruktion gefunden und dam it den in den letzten Jahren
oft genug erö rterten katastrophalen K onstruktionsfehler gemacht. Sie be
seitigt die hündische, auch die bundesstaatliche G rundlage; sie spricht auch
nicht m ehr „die Sprache des Bundes“, sondern verm eidet das W ort „Bund“
und sagt nicht m ehr „B undesrat“, sondern „Reichsrat“. D ie m erkw ürdige
A nregung Friedrich Naum anns im W eim arer Verfassungsausschuß, das
Deutsche Reich von jetzt ab „Deutscher B und“ zu nennen, w urde nicht
ernst genommen. D aher ging die Staatsrechtslehre der W eim arer Verfas
sung in den ersten Jahren nach 1919 davon aus, daß nunm ehr die Staatlich
keit der Länder beseitigt und D eutschland kein B undesstaat m ehr sei. Aber
der Konflikt zwischen dem Reich und B ayern vom Jah re 1923 entschied
die Frage zugunsten der anderen, von B ayern geführten bundesstaats
rechtlichen Richtung, und so w urde es herrschende Lehre, daß auch die
W eim arer Verfassung eine bundesstaatliche V erfassung ß ei. Durch den
Preußenschlag vom 20. Juni 1932 hat das Reich versucht, P reußen zu „ver
einnahm en und auf diese W eise den D ualism us von P reußen und Reich
zu überw inden. Diese Ereignisse sind noch in aller E rinnerung, so daß ich
mich darüber nicht zu verbreiten brauche. N ur auf eines möchte ich hin-
weisen, weil es die praktische Bedeutung .staatsrechtlicher K onstruktionen
Reich — Staat — Bund 195
zeigt: der Staatsgeriditshof hat in seinem berühm ten U rteil vom 25.O k
tober 1952 seine Entscheidung ganz und gar auf die bundesstaatsrechtliche
Konstruktion gestützt. E r bestätigt die Begriffe der „eigenständigen
Landesregierung“, den Anspruch einer parlam entarischen Landesregierung
nach Art. 17 Abs. 2 als ein G rundrecht, das Recht auf eigene Politik; er
bestätigt die föderalistische K onstruktion einer unüberbrückbaren Kluft
zwischen Landesregierung und Reichsregierung, indem er davon ausgeht,
daß niemals von Reichs wegen eine Bundesregierung abgesetzt oder gar
eingesetzt w erden könne. Er lut das alles nicht etw a auf G rund des klaren
W ortlautes der W eim arer Verfassung, sondern nur unter dem Eindruck
einer bestimm ten Verfassungstheorie und bundesstaatsrechtlichen Begriffs
bildung, die nichts ist als das Endergebnis einer gegen den Reichsbegriff
gerichteten Entwicklung des Staatsbegriffes und seines Verbündeten, eines
föderalistischen Begriffs von Bund, der, verfassungsrechtlich gesehen, der
eigentliche G arant der Staatlichkeit der Länder und der Nichtstaatlichkeit
des Reiches gewesen ist.
Das ist, in k u rzer Übersicht, die politische Bedeutung der Begriffe Reich,
Staat, Bund und der jahrhundertlangen Begriffszerrerei um die Definitionen
von Staatenbund und Bundesstaat. F ü r uns ist heute die entscheidende
Frage: Wie verhalten sich die drei Begriffe zueinander? Und vor allem:
Wie haben w ir uns in der gegenw ärtigen Situation zu ihnen zu verhalten?
Jeder der drei Begriffe hat für uns Deutsche seine eigentümliche K raft und
W irkung. Unsere Vorstellungen vom R e i c h w urzeln in einer tausend
jährigen großen deutschen Geschichte, deren mythische K raft w ir alle
fühlen. D arüber brauche ich hier nicht w eiter zu sprechen. Es gibt aber bei
uns auch einen Staatsm ythus, und das W ort S t a a t hat ebenfalls eine
außerordentliche, über eine bloß sachliche Gegenstandsbedeutung weit
hinausgehende geschichtliche K raft und Tradition. Denn Preußen, der
Typus eines vollendeten Staates, hat gerade auf G rund seiner spezifisch
staatlichen Eigenschaften die K raft gehabt, die bundesstaatliche Einigung
des Zweiten Reiches herbeizuführen. Das W ort „Staat“ erregt unser deut
sches Gefühl, seitdem der große preußische König in der äußersten Ver
zweiflung des Siebenjährigen Krieges, nach der Schlacht bei Kolin, erwog,
„daß ein F ürst seinen Staat nicht überleben d arf“, und auf diese Weise in
dem G edanken an seinen Staat den seelischen H alt und die R ettung vor
dem Selbstmord fand. „Da erwachte meine Anhänglichkeit (attachement)
an den Staat“, schreibt er im Septem ber 1757 in einem ergreifenden, für die
Geschichte des Staatsbegrififs entscheidend wichtigen Brief an seine
Schwester, die M arkgräfin von B ayreuth. Uber das Gefühlsmäßige hinaus
haben dann W ort und Begriff des Staates eine Steigerung ins Metaphysische
erhalten, besonders seitdem unsere letzte große Philosophie in der Staats
philosophie Hegels gipfelt. W iederum anders, aber mit nicht geringerer
Kraft ist dann schließlich auch das W ort B u n d ein T räger großer E rinne
rungen und politischer Energien geworden. Von der m ittelalterlichen Ge
schichte deutscher Städtebünde und R itterbünde und von Bünden aller A rt
13*
196 Reich — Staat — Bund
und politische Ehrlichkeit sind jetzt w ieder möglich, nachdem sie im System
des liberalen Verfassungsstaates sinnlos und unmöglich geworden waren.
Unsere Vorlesung hat den Versuch gemacht, eine jah rhundertalte
Problem atik an der Hand von drei Begriffen in einer kurzen Stunde dar
zulegen. Wenn die gegenseitigen Beziehungen von drei Begriffen erörtert
werden, muß notwendigerweise eine oberflächliche und leere Begriffs
spielerei entstehen, wenn es eben nu r leere und ab strak te Begriffe werden,
die in solcher Weise m iteinander verbunden oder einander entgegengesetzt
werden. A ber die Begriffe von Reich, Staat und Bund sind auch als Begriffe
ein Teil der gewaltigen politischen W irklichkeit, von denen sie sprechen.
Sie sind keine nominalistischen Etiketten, keine norm ativistischen F ik
tionen, keine bloß suggestiven Schlagworte. Sie sind unm ittelbare Träger
politischer Energien, und es gehört zu ih re r realen K raft, daß sie einer
überzeugenden juristischen Begriffsbildung fähig sind.
D aher ist auch der Kampf um sie kein Streit um leere W orte, sondern
ein Krieg von ungeheurer W irklichkeit und G egenw art. Es ist Sadie der
W issensdiaft, diese W irklichkeit sachlich zu erkennen und m it sicherem
Auge zu sehen. E rfüllt sie ihre Pflicht zur wissenschaftlichen W ahrheit, so
gilt auch für den wissenschaftlichen Kampf, was H erak lit vom Krieg gesagt
hat: daß er der Vater und König von allem ist. D ann gilt aber auch die
w eniger häufig zitierte, aber nicht w eniger bedeutungsvolle Fortsetzung
jenes viel zitierten Satzes vom K rieg als dem V ater aller Dinge. D ann wird
dieser wissenschaftliche Kampf seine innere W ahrheit und Gerechtigkeit
in sich haben und etwas bew irken, was auf andre W eise m it menschlichen
M itteln nidit zu bew irken ist. D ann nämlich erw eist er, wie H eraklit fort
fährt: die einen als G ötter, die andern als Menschen, die einen macht er zu
Freien, die andern zu Sklaven. Das ist der höchste R uhm auch unsrer
Wissenschaft. Sie macht uns frei, w enn w ir den Kam pf bestehen. Diese
F reiheit ist keine fiktive F reiheit von Sklaven, die in ihren K etten räso
nieren, es ist die F reiheit politisch freier M änner und eines freien Volkes.
Es gibt keine freie W issensdiaft in einem von Frem den beherrschten Volk
und keinen wissenschaftlichen Kam pf ohne diese politische Freiheit.
Bleiben w ir uns also auch hier bew ußt, daß w ir in der unm ittelbaren
G egenw art des politischen, das heißt des intensiven Lebens stehen! Setzen
w ir alles daran, den großen Kam pf auch wissenschaftlich zu bestehen,
damit w ir nicht zu Sklaven w erden, sondern zu freien Deutschen.
23- Der Führer schützt das Recht (1934)
Z u r R e ic h sta g s re d e A d o lf H itle rs v o m 13. J ul i 1934
so viel Recht, als ihm aus dieser Q uelle zufließt. Das übrige ist kein Recht,
sondern ein „positives Zwangsnormengeflecht'*, dessen ein geschickter Ver
brecher spottet.
III. In scharfer Entgegensetzung hat der F ü h re r den Unterschied seiner
Regierung und seines Staates gegen den Staat und die Regierungen des
W eim arer Systems betont: „Ich w ollte nicht das junge Reich dem Schicksal
des alten ausliefern.“ „Am 30. Jan u ar 1933 ist nicht zum soundso vielten
Male eine neue R egierung gebildet worden, sondern ein neues Regiment
hat ein altes und k rankes Zeitalter beseitigt.“ W enn der F ü h rer mit
solchen W orten die L iquidierung eines trüben Abschnittes der deutschen
Geschichte fordert, so ist das auch für unser Rechtsdenken, für Rechtspraxis
und Gesetzesauslegung, von juristischer Tragw eite. W ir haben unsere bis
herigen M ethoden und G edankengänge, die bisher herrschenden L ehr
meinungen und die Vorentscheidungen der höchsten Gerichte auf allen
Rechtsgebieten neu zu prüfen. W ir dürfen uns nicht blindlings an die ju ri
stischen Begriffe, A rgum ente und P räjudizien halten, die ein altes und
krankes Z eitalter hervorgebracht hat. Mancher Satz in den Entscheidungs
gründen unserer Gerichte ist freilich aus einem berechtigten W iderstand
gegen die K orruptheit des dam aligen Systems zu verstehen; aber auch das
würde, gedankenlos w eitergeführt, heute das Gegenteil bedeuten und die
Justiz zum Feind des heutigen Staates machen. W enn das Reichsgericht im
Juni 1932 (RGSt. 66, S. 386) den Sinn der richterlichen Unabhängigkeit darin
sah, „den Staatsbürger in seinen gesetzlich anerkannten Rechten gegen
mögliche W illkür einer ihm abgeneigten R egierung zu schützen“, so w ar
das aus einer liberal-individualistischen H altung gesprochen. „Das Richter-
tum w ird hineingedacht in eine Frontstellung nicht nu r gegenüber dem
Staatsoberhaupt und der Regierung, sondern auch gegenüber den V er
w altungsorganen ü b erh au p t1.“ Das ist aus jen er Zeit heraus begreiflich.
Heute aber obliegt uns die Pflicht, den neuen Sinngehalt aller öffentlich-
rechtlichen Einrichtungen, auch der Justiz, m it größter Entschiedenheit
durchzusetzen.
Am Ende des 18. Jah rh u n d erts hat der alte H äberlin die Frage des
Staatsnotrechts m it der F rage der Abgrenzung von Justizsachen und
Regierungssachen in V erbindung gebracht und gelehrt, bei G efahr oder
großem Schaden für den Staat könne die R egierung jede Justizsache zur
Regierungssache erklären. Im 19. Ja h rh u n d ert h at Dufour, einer der V äter
des französischen V erwaltungsrechts, den jed e r gerichtlichen Nachprüfung
entzogenen R egierungsakt (acte de gouvernem ent) dahin definiert, daß sein
Ziel die V erteidigung der Gesellschaft, und zw ar die V erteidigung gegen
innere und äußere, offene oder versteckte, gegenw ärtige oder künftige
Feinde sei. W as m an auch imm er von solchen Bestimmungen halten mag,
sie weisen jedenfalls auf eine juristisch wesentliche Besonderheit der poli
tischen „R egierungsakte“ hin, die sich sogar in liberalen Rechtsstaaten
1 Vgl. die soeben erschienene neue Schrift von H. Henkel, Die Unabhängigkeit
des Richters in ihrem neuen Sinngehalt, Hamburg 1934, S. 10 f.
202 Der Führer schützt das Recht
Hier ist deshalb der politische F ü h rer infolge der besonderen Qualifikation
des Verbrechens noch in einer spezifischen Weise zum höchsten Richter
geworden.
V. Im m er w ieder erin n ert der F ü h re r an den Zusammenbruch des
Jahres 1918. Von dort aus bestimm t sidi unsere heutige Lage. W er die
ernsten Vorgänge des 30. Juni richtig beurteilen will, darf die Ereignisse
dieses und der beiden folgenden Tage nicht, aus dem Zusammenhang
unserer politischen Gesam tlage herausnehm en und nach der A rt bestimm ter
strafprozessualer M ethoden so lange isolieren und abkapseln, bis ihnen
die politische Substanz ausgetrieben und nur noch eine „rein juristische
Tatbestands“- oder „N icht-Tatbestandsm äßigkeit“ übriggeblieben ist. Mit
solchen M ethoden kann man keinem hochpolitischen Vorgang gerecht
werden. Es gehört aber zur V olksvergiftung der letzten Jahrzehnte und
ist ein seit langem geübter Kunstgriff deutschfeindlicher Propaganda,
gerade dieses Isolierverfahren als allein „rechtsstaatlich“ hinzustellen. Im
Herbst 1917 haben alle in ihrem Rechtsdenken verw irrten deutschen P arla
m entarier, und zw ar K apitalisten wie Kommunisten, K lerikale wie Athe
isten, in m erkw ürdiger Einm ütigkeit verlangt, daß man das politische
Schicksal Deutschlands solchen prozessualen Fiktionen und V erzerrungen
ausliefere, und eine geistig hilflose B ürokratie hat damals den politischen
Sinn je n e r „juristischen“ Forderungen nicht einmal gefühlsmäßig emp
funden. G egenüber der T at Adolf H itlers w erden manche Feinde Deutsch
lands mit ähnlichen F orderungen kommen. Sie w erden es unerhört finden,
daß der heutige deutsche Staat die K raft und den W illen hat, Freund und
Feind zu unterscheiden. Sie w erden uns das Lob und den Beifall der ganzen
Welt versprechen, w enn w ir w iederum , wie damals im Jahre 1919, nieder
fallen und unsere politische Existenz den Götzen des Liberalism us opfern.
Wer den gew altigen H intergrund unserer politischen Gesamtlage sieht,
w ird die M ahnungen und W arnungen des F ührers verstehen und sich
zu dem großen geistigen Kam pfe rüsten, in dem w ir unser gutes Recht zu
w ahren haben.
24· Über die innere Logik der Allgemeinpakte
auf gegenseitigen Beistand (1935)
I.
Beginnend mit den A rbeiten der im F e b ru ar 1921 eingerichteten Genfer
„Commission tem poraire m ixte“, insbesondere seit den P länen und Ent
w ürfen, die sich m it den Nam en L ord R obert Cecil und O berst Requin
verbinden, läßt sich, über das G enfer Protokoll zur friedlichen Beilegung
von S taatenstreitigkeiten vom 2. O ktober 1924 bis zu den O stpaktplänen
der letzten Zeit, eine fortlaufende Reihe bestim m tgearteter Paktversuche
feststellen, die der YB.-Satzung, nam entlich deren Art. 10 und 16, größere
E ffektivität geben sollen und deren typisches Kennzeichen eine allgemeine
Verpflichtung zu gegenseitigem Beistand (assistance m utuelle) ist.
Es handelt sich dabei um eine M ethode der Friedenssicherung, die sich
im Gegensatz zu einer m ehr „politischen“ Methode, als besonders „juristisch“
und für eine bestimm te Auffassung von Recht und Gerechtigkeit, infolge
dessen auch besonders „rechtlich“ und daher friedlich ausnim mt. Deshalb
ist es nützlich, sich einm al auf die innere juristische Logik d erartig er Pakte
zu besinnen und sie nach ihrem typischen Inhalt zu durchdenken, unabhän
gig davon, welche aktuelle B edeutung ihnen im Augenblick gerade
zukommt.
Alle Bündnisse alten Stils, mögen sie aggressiv oder defensiv gewesen
sein, w aren natürlich ebenfalls V erträge auf gegenseitigen Beistand. Aber
die Allgem ein- oder G eneralpakte auf gegenseitigen B eistand sollen gerade
keine Bündnisse sein, weil m an sonst w ieder in die perhorreszierte Methode
der P olitik zurückfiele, die 1914 zum W eltkrieg geführt hat. W orin liegt
also die Verschiedenheit und auf G rund welcher spezifischen Merkmale
darf m an behaupten, daß derartige B eistandspakte w irklich keine Bünd
nisse sind? Auf G rund des „allgem einen“ C h a ra k te rs solcher Pakte. Bei
einem Allgemein- oder G eneralpakt auf gegenseitigen Beistand ver
sprechen sich viele verschiedenartige, benachbarte und entfernte, starke
und schwache Staaten gegenseitig Beistand und Hilfe, ohne daß ein in
sich geschlossener Kreis von Staaten gebildet w ird und ohne daß ein be
stim m ter präsum tiver Feind ins Auge gefaßt oder gar genannt wäre.
N ur diese beiden Momente, Offenheit, das heißt eine größere, nicht ge
schlossene Zahl verschiedenartiger V ertragspartner und das Fehlen eines
bestim m ten mutmaßlichen Gegners, gegen den der Beistand geleistet
w erden soll, begründen den „allgem einen“ C h a ra k te r dieser Beistands
verträge. Das verlangt der auf die V erm eidung eines Bündnisses gerichtete
Typus solcher Pakte. D araus ergeben sich nun die W idersprüche und
Über die innere Logik der Allgemeinpakte auf gegenseitigen Beistand 205
14 1682
25. Die siebente Wandlung des Genfer Völkerbundes
(1 9 3 6 )
Eine völkerrechtliche Folge der Vernichtung Abessiniens
I. Als Preußen im Jahre 1866 auf G rund einer „debellatio" die Staaten
H annover, Kurhessen, Nassau und die F reie Stadt F ra n k fu rt annektierte,
bestand der Deutsche Bund, dem der A nnektierende wie die Annektierten
angehört hatten, nicht mehr. Die Auflösung des Bundes w ar selbstverständ
liche Voraussetzung dafür, daß eine solche Vernichtung der staatlichen Exi
stenz völkerrechtlich möglich w ar. In keinem irgendw ie gearteten Bund und
in keiner auch nu r bundesähnlichen V erbindung w äre die kriegerische
A nnexion eines Bundesmitglieds durch ein anderes denkbar, solange der
Bund besteht. In dem Bundesstaat Deutsches Reich, den Bismarck 1867
und 1871 geschaffen hatte, w ar auch der kleinste M itgliedstaat seiner poli
tischen Existenz sicher; er h ätte nicht gegen seinen W illen vernichtet
w erden können, ohne daß der Bund selbst vernichtet w orden wäre. Bis
m arck ging in dieser G arantie der Existenz so weit, daß er selbst bei den
Versuchen einer Vereinigung von Waldeck mit Preußen überaus vorsichtig
und zurückhaltend war. In gleicher W eise w äre z. B. die Schweizer Eid
genossenschaft nicht m ehr identisch m it sich selbst, wenn auch nur die
Möglichkeit anerkannt w ürde, daß der kleinste Kanton von einem anderen
durch eine debellatio vernichtet und annektiert w erden könnte. Die Exi
stenzgarantie ist eben ein Lebensgesetz jedes echten Bundes, sei er Bundes
staat, Staatenbund oder irgendeine bundesähnliche Verbindung. Eine solche
G arantie kann aber nicht beliebig gemacht werden, sondern setzt ein
M indestmaß von Artgleichheit, von Hom ogenität voraus. O hne das ist sie
eine leere Fiktion.
Das Schicksal Abessiniens hat diese K ernfrage jedes Bundes — Existenz
garantie auf der G rundlage einer Hom ogenität — mit aller K larheit ent
hüllt, nachdem 16 Jahre kram pfhaft festgehaltener Fiktionen den Blick
für* das völkerrechtlich W esentliche v e rw irrt hatten. Das Reich des Negus
w ur in aller Form Mitglied der G enfer Sozietät und im vollen Besitz aller
G arantien der Völkerbundsatzung. W enn nun ein Bundesmitglied durch
ein anderes vernichtet und annektiert w erden kann, so ist entw eder der
Bund gesprengt oder aber bewiesen, daß er niem als bestanden hat. In
W ahrheit hat die Genfer Kom bination den Namen eines Bundes, einer
Sozietät oder Liga im Sinne einer politischen Vereinigung nur insofern
verdient, als sie den Versuch machte, die W eltkriegskoalition fortzusetzen
und darin auch die im W eltkrieg neutralen Staaten einzubeziehen. Im
Die siebente Wandlung des Genfer Völkerbundes 211
14*
212 Die siebente Wandlung des Genfer Völkerbundes
der Hom ogenität Abessiniens stellte. Sie h a t dem Reich des Negus die zivili
satorische Hom ogenität bestritten, sie hat den Negus nicht als ein Staats
oberhaupt, sondern als einen H äuptling m it einer höchst problematischen
Feudalm acht über barbarische Stämme äufgefafit, der ü b erh au p t kein Mit
glied der allgem einen Völkerrechtsgemeinschaft, viel w eniger Mitglied
eines V ölkerbundes sein könnte; seine M itgliedschaft w ar danach ein I rr
tum oder ein Betrug.
D as Problem der Hom ogenität des Bundes w a r dam it in aller Schärfe
gestellt. In der Sitzung des V ölkerbundsrates vom 5. Septem ber 1935 hat
Professor Jèze, als V ertreter des Negus, sich erlaubt, die Zivilisation des
Negusreiches der eines faschistischen Staates entgegenzustellen und die
Staaten m it m ilitärischer Jugenderziehung als unzivilisierte Staaten zu dis
qualifizieren. Ein tiefer Gegensatz der W eltanschauungen tr a t hier zutage.
Die italienische These w ar rad ik al und folgerichtig; sie b e rü h rte die Kern
frage jedes Völkerbundes, aber A bessinien w ar nun einm al in aller Form
M itglied des G enfer V ölkerbundes geworden. Die italienische Regierung
selbst hatte im Sommer 1923 gegen clen P rotest Englands m it Frankreich
fü r die Zulassung Abessiniens gestimmt. Diese form ale Schwierigkeit er
möglichte es, solange Abessinien bestand, die F rage als eine „rein ju ri
stische“ Angelegenheit zu behandeln und die K ernfrage, das Problem der
Hom ogenität, zu verm eiden. Nach d er V ernichtung Abessiniens ist das
nicht m ehr möglich. Jetzt erhebt sich unverm eidlich w ieder einm al die
F rage nach der politischen Substanz des V ölkerbundes und d er Homogeni
tä t der in ihm vereinigten Völker.
III. Es liegt uns fern, uns in eine italienische A ngelegenheit ein
zumischen, aber es ist sowohl für die völkerrechtliche B eurteilung der neuen
Lage, wie auch für die Entwicklung eines europäischen V ölkerrechts von
großer T ragw eite, wie die italienische Rechtswissenschaft den italienischen
Rechtstitel auf das K aisertum Ä thiopien ko n stru iert. Ein berühm ter Jurist
des italienischen öffentlichen Rechts, Santi Romano, d er P räsident des ita
lienischen Staatsrates, stützt den E rw erb Abessiniens auf eine debellatio,
d. h. auf die vollständige und endgültige Vernichtung der gesam ten staat
lichen Macht und Existenz des Gegners. D ie A nnexion H annovers durch
Preußen, die E ingliederung der italienischen S taaten in das Königreich
Sardinien, die Eroberung der B urenstaaten durch England im Jah re 1902
sind Beispiele solcher D ebellationen.
D ie debellatio ist also an sich ein a n e rk a n n te r R echtstitel des Völker
rechts. Im M aiheft seiner Zeitschrift „Lo Stato“ ist ab er C arlo Costam agna
dieser K onstruktion entgegengetreten. E r nim m t einen ursprünglichen,
originären, nicht einen abgeleiteten, derivativen, Rechtstitel Italiens in
Anspruch. N un ist eine debellatio natürlich auch ein o rig in ärer Rechtstitel
in dem Sinne, daß der Rechtserw erb vom W illen des V orbesitzers abhängig
ist. Dagegen ist er abgeleitet, insofern d er neue M achthaber im W ege einer
„Staatensukzession“ in die völkerrechtliche Stellung des frü h eren Macht-
Die siebente Wandlung des Genfer Völkerbundes 213
habers eintritt. Costam agna kommt es aber darauf an, daß der italienische
Kaiser von Äthiopien etwas anderes ist als ein Nachfolger des „Löwen von
Juda“. E r protestiert dagegen, daß das bisherige Abessinien ein gleich
berechtigtes Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft war, und macht in folge
richtiger W eiterführung des bisherigen italienischen Standpunktes geltend,
daß der Besitz des Negus w eder das ethisch-rechtliche, noch das organisa
torische Minimum aufwies, ohne das w ir nicht von einem Staat und daher
einem tauglichen Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft sprechen können.
Man kann verstehen, daß das für einen Faschisten eine entscheidende
Frage ist, und man w ird dem m utigen Aufsatz Costamagnas die juristische
Logik nicht absprechen.
Costamagna sagt, das faschistische Italien gehöre zw ar zum Genfer
Völkerbund, aber nu r „m aterialm ente e non spiritualm ente“. Die Frage
nach dem „Geist“ des G enfer Völkerbundes ist in der Tat praktisch und
politisch von größter Bedeutung. Sie gehört ebenfalls zu der Frage nach
der Substanz und der Hom ogenität der Gemeinschaft. W as aber ist heute
der Geist des G enfer Bundes? Sind es die Reste Wilsonscher Liberaldem o
kratie in dem Sinne, wie noch auf der 13. G eneralversam m lung der
Schweizerischen Vereinigung für den V ölkerbund (7. Mai 1934) Professor
Rappard eine bew ußte V erbindung der V ölkerbundspropaganda mit der
Verteidigung liberaldem okratischer Ideen forderte? O der hat die Sow jet
union dem Bund einen neuen, und zw ar den bolschewistischen Geist der
W eltrevolution eingeflößt? Auch hier fehlt der G enfer V eranstaltung jede
Identität und K ontinuität. Höchstens könnte man sagen, daß ein bodenloser
Relativism us aus der Abwesenheit jedes echten Geistes die Tugend des
Universalismus machen möchte. Aber eine von solchem Geist getragene
Gesellschaft ist, wie das Schicksal Abessiniens zeigt, schließlich nicht einmal
mehr imstande, M itglieder und Nichtmitglieder, viel weniger Freund und
Feind von sich aus zu unterscheiden. Ein solcher „Geist“ führt nu r zu poli
tischen, moralischen und juristischen A bsurditäten.
Das bisherige substanzlose System innerer W idersprüche w ar keiner
Kontinuität und daher auch keiner juristischen Logik fähig. Ein echter
Bund europäischer Völker kann sich nur auf die A nerkennung der völ
kischen Substanz gründen und von der nationalen und völkischen Ver
wandtschaft dieser europäischen Völker ausgehen. W enn der F ü h re r und
Reichskanzler Adolf H itler noch in seiner großen Reichstagsrede vom
7. März 1936 die europäischen Nationen als eine „Fam ilie“ und Europa als
ein „Haus“ bezeichnet hat, so handelt es sich hier nicht um irgerideine der
auch früher vorkommmenden Redewendungen von der „fam ille des
nations“, sondern um die bew ußte Fundierung einer neuen europäischen
Ordnung auf den Geist der Gemeinschaft und Verwandtschaft der euro
päischen Völker. N ur in einer solchen konkreten O rdnung finden die ein
zelnen Nationen eine echte G arantie ih re r politischen Existenz.
214 Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberisdien Ermächtigungen
I.
1. Die e n g l i s c h e P raxis geht von der politischen Übereinstim mung
zwischen dem Parlam ent und der von der Parlam entsm ehrheit getragenen
Regierung aus; sie hat keinen gew altenteilenden Gesetzesbegriff und kennt
daher w eder die grundsätzliche Verschiedenheit von Gesetzgebung und
Regierung noch grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen
„legislative Delegationen“. Mit dem W eltkrieg setzten unübersehbar weite
Ermächtigungen ein, zunächst hauptsächlich auf der G rundlage des großen
Ermächtigungsgesetzes vom 8. A ugust 1914, der „Defence of the Realm
Act 1914“ (4 5 Geo. 5 c. 29). Trotz aller Bedenken und Einw endungen gegen
den „Despotismus der M inisterialbürokratie“ ist die verfassungsm äßige
G ültigkeit dieser weitgehenden D elegationen nicht ern sth aft in Zweifel
gezogen worden. Die grundlegende Entscheidung des House of Lords vom
1. Mai 19171 hat das Recht des Parlam ents, d erartig w eitgehende Ermächti
gungen zu erteilen, als selbstverständlich un terstellt und n u r die Frage
geprüft, ob eine auf G rund dieser Erm ächtigung ergangene Verordnung
(regulation) nicht etw a doch über die Absichten und Ziele des ermächtigen
den Gesetzgebers hinausgehe und aus diesem G rund „ u ltra vires“ sei. Auch
der einzige dissentierende Richter dieser Entscheidung, L ord Shaw of
Dunferm line, beanstandet nicht etw a die V erfassungsm äßigkeit der E r
mächtigung, sondern legt n u r die erteilte Erm ächtigung dahin aus, daß die
Regierung nur befugt sein solle, „regulations“ im Sinne genereller Rege
lungen, zum Unterschied von konkreten Einzelm aßnahm en, zu erlassen.
Aus der D elegationspraxis der N achkriegszeit sind das G esetz zur Aus
führung des Friedensvertrages vom 31. Juli 1919*12 und die Em ergency
Powers Act vom 29. O ktober 19203 die wichtigsten Beispiele w eiterer E r
mächtigungen. An diesem Gesetz von 1920 ist von besonderem Interesse,
daß das ermächtigende Parlam ent fü r den Um fang der Erm ächtigung nega
tiv bestimmte V orbehalte gemacht hat, indem es z. B. die E inführung der
zwangsweisen M ilitär- oder A rbeitsdienstpflicht oder V erordnungen gegen
das Streikrecht ausdrücklich ausnim mt. D ie großen Bedenken, die von
der Labour P a rty gegen dieses Gesetz vorgebracht w urden, betrafen nicht
die verfassungsmäßige Zulässigkeit einer solchen Erm ächtigung, sondern
nur Befürchtungen eines Mißbrauchs durch eine nicht m ehr arbeiterfreund
liche Regierung4. Die verfassungsrechtliche K onstruktion der englischen
Ermächtigungspraxis, daß das Erm ächtigungsgesetz nicht eine neue Gesetz-.
Zu der italienischen Entwicklung sei nur bemerkt, daß auch die faschistische Revolu
tion bisher nidit zu einer Aufhebung der Trennung von Legislative und Exekutive
geführt hat und der gewaltenteilende Gesetzesbegriff im faschistischen Verfassungs
recht beibehalten wurde.
1 Rex V . Halliday, The Law Reports 1917, p. 260—308.
2 9 & 10 Geo. 5 c. 33; vgl. oben Anm. 3.
3 10 & 11 Geo. 5 c. 55.
4 T i n g s t é n , a.a. O. S. 207. Tingstén selbst nennt dieses englische Gesetz von
1920 „un^ écart flagrant de révolution démocratique de la constitution anglaise".
Darin zeigt sich, daß er von einem nichtenglischen Verfassungsbegriff ausgeht und
einen gewaltenteilenden Gesetzbegriff für allein demokratisch hält — typische Ver
wechslung von Demokratie und liberalem Konstitutionalismus.
Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen 217
gebungsbefugnis schaffe, sondern nur einem auf der Prärogative der Krone
begründeten Verordnungsrecht freie Bahn gebe und demnach „eigentlich
und form al“ n u r deklaratorischen C h arak ter habe1, sei hier wenigstens mit
einem W ort erw ähnt, um auf den großen Gegensatz des englischen V er
fassungsdenkens gegenüber französisch- oder am erikanisch-republi
kanischen Verfassungs- und Gesetzesbegriffen hinzuweisen.
2. Die Entwicklung der französischen D elegationspraxis ist bei Tingstén
(S. 15—57) gut dargestellt. Sie ist hier von besonderem Interesse, weil die
überlieferte, m an darf sagen klassische Theorie des französischen Ver
fassungsrechts in schärfstem Gegensatz gegen die englische P raxis jede
„legislative D elegation“ als verfassungsw idrig ansieht. Diese Auffassung
hat die Logik einer gew altenteilenden Verfassung, insbesondere der
Trennung von Legislative und E xekutive und des daraus entstehenden
Gesetzesbegriffs, außerdem die Logik des Satzes „delegata potestas non
delegatur“ ganz auf ih re r Seite. Sie steht in einer verfassungsrechtlichen
Tradition, deren berühm teste Kronzeugen Locke und Sieyès sind, und deren
klarster Ausdruck sich in A rt. 45 der Verfassung des Jahres III (1795) findet12.
Esmein, der große W ortführer dieser Theorie, hielt folgerichtig daran fest,
daß jede noch so begrenzte Delegation gesetzgeberischer Befugnisse begriff
lich und juristisch unmöglich, „juridiquem ent impossible“ sei; der Gesetz
geber soll eben Gesetze und nicht Gesetzgeber machen; seine Aufgabe ist,
wie schon Locke bem erkt hat, „to m ake laws and not legislators“. Die
Praxis fand Zwischenlösungen; die Theorie (Duguit, Rolland) suchte be
stimmte begrenzte Delegationen zu rechtfertigen. A ber es zeigte sich, daß
die mit dem Postulat inhaltlich festgelegter Begrenzungen arbeitenden
Verm ittlungstheorien theoretische und praktische H albheiten sind und nur
dazu führen, daß die Gerichte auf G rund ihres Nachprüfungsrechts zu einer
übergesetzgeberischen Instanz gemacht w erden m üßten, was bei der
heutigen S tru k tu r des französischen Staates unmöglich w äre3. Selbst w äh
rend des W eltkrieges w ar das französische Parlam ent sehr vorsichtig mit
gesetzgeberischen D elegationen; insbesondere w urde der Regierung Briand
die im Dezem ber 1916 nachgesuchte allgemeine Ermächtigung verw eigert4.
Dagegen erhielt die Regierung Poincaré die außerordentlich w eiten Er-
1 Vgl. den Aufsatz von S i d n e y W. C l a r k e Esq., The Rule of „Dora“, Journal
of the Society of Comparative Legislation, London 1919, S. 36 ff.
2 „En aucun cas, le corps législatif ne peut déléguer à un ou plusieurs de ses
membres, ni à qui que soit, aucune des fonctions qui lui sont attribuées par la
présente constitution.“
3 Weil die Befugnis des Delegierten mit der des Delegierenden wesensgleich sein
muß, können bei einer gewaltenteilenden Verfassung Akte der Exekutive niemals
legislativen Charakter haben, Regierungsverordnungen niemals Gesetze sein. Richard
Thoma, Handbuch des deutschen Staatsrechts Bd. TI (1932), S. 227, hat solche Argu
mentationen der französischen Juristen als „unfruchtbare Begriffsjurisprudenz“
abzutun versucht, aber die Theorie Esmeins ist nicht nur vom Standpunkt einer
liberalen, das heißt gewaltenteilenden Verfassung juristisch folgerichtig, sondern hat
auch mit gutem politischen Instinkt erkannt, daß es hier um eine Lebensfrage des
parlamentarischen Gesetzgebungsstaates geht.
4 T i n g s t é n , S. 19f.
218 Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen
mächtigungen der Gesetze vom 22. März 1924 und vom 3. A ugust 1926, trotz
aller verfassungsrechtlichen Bedenken gegen solche „exorbitanten“ pleins
pouvoirs. Ein Teil der französischen Rechtslehre entspricht dieser Entwick
lung und sucht die bisherige Auffassung von der juristischen Unmöglichkeit
einer legislativen Delegation durch neue K onstruktionen zu überwinden.
H ierfür ist C arré de Malberg zu nennen, der den spezifischen Gesetzes
begriff eines parlam entarischen Gesetzgebungsstaates und den syste
matischen Zusammenhang des Erm ächtigungsproblems mit dem Gesetzes
begriff folgerichtig durchdacht h a t1. C arré de M alberg unterscheidet die
form ale Verleihung der G esetzeskraft scharf von dem Inhalt der zu treffen
den Regelung, form alisiert dadurch den Gesetzesbegriff und faßt die durch
den Gesetzgeber der Regierung erteilte „Erm ächtigung“ nicht als eine délé
gation, sondern als eine habilitation auf. Das W ort habilitation entspricht
dem deutschen W ort „Ermächtigung“ besser als das auch in Deutschland
noch übliche W ort „Delegation“. Ü berhaupt kommt die K onstruktion von
C arré de M alberg der vor dem W eltkrieg in der deutschen Staatslehre
herrschenden, von Seydel, Laband u. a. vertreten en 12 Ermächtigungslehre
nahe, die in ähnlicher Weise den Inhalt der Regelung von der formalen
G esetzeskraft trennte und es dem allmächtigen G esetzgeber überließ,
durch seine Ermächtigung in unbeschränktem Umfang einem von einer
anderen Stelle zu bestimmenden Inhalt die form ale G esetzeskraft zu liefern.
Anfang Juni 1935 erhob sich die F rage der legislativen Ermächtigungen
und der „pleins pouvoirs“ von neuem. D ie R egierung Flandin legte einen
G esetzentw urf vor, der sie ermächtigte, bis zum 31. O ktober 1935 mit
G esetzeskraft alle Anordnungen zu treffen, die „geeignet wären, eine
Gesundung der öffentlichen Finanzen, eine W iederbelebung der wirtschaft
lichen A ktivität und eine U nterdrückung von G efährdungen des öffent
lichen K redits zu bew irken“. Die Regierung Flandin ist über diese, ebenso
wie die folgende Regierung Bouisson über eine ähnliche Vorlage gestürzt.
Die am 8. Juni 1935 gebildete Regierung Laval erhielt aber eine immerhin
noch w eitgehende Ermächtigung3. Bei dieser A useinandersetzung zeigte
sich ein Doppeltes: erstens der unüberbrückbare Gegensatz zwischen dem
1 La Loi, expression de la volonté générale, Paris 1931 (von Tingst^n nicht berück
sichtigt).
2 Erwähnt unten S. 260.
3 Entwurf F l a n d i n : „Le Sénat et la Chambre des députés délèguent au gou
vernement le pouvoir de^ prendre jusqu’au 31 octobre 1935 toutes dispositions ayant
force cte loi propres à réaliser l’assainissement des finances publiques, la reprise de
l’activité économique, la défense du crédit public et le maintien de la monnaie. Ces
décrets, pris en conseil des ministres, seront soumis à la ratification des chambres
avant le 31 Juillet 1936.“ Entwurf B o u i s s o n : „En vue d’éviter la dévaluation de
la monnaie, le Sénat et la Chambre des députés autorisent le gouvernement à prendre
ar décret, jusqu’au 31 octobre 1935, toutes dispositions ayant force de loi pour
E attre contre la spéculation et défendre le franc. Ces décrets, etc. . . . “ Entwurf
L a v a l (der Gesetz wurde): „En vue d’éviter la dévaluation de la monnaie, le gou
vernement est autorisé par le Sénat et la Chambre des Députés à prendre, jusqu’au
31 octobre 1935, toutes dispositions ayant force de loi propres à réaliser l’assainisse
ment des finances publiques, à provoquer la reprise de l’activité économique, à
prévenir et à reprimer les atteintes au crédit public. Ces décrets, etc. . . . “
Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen 219
27. Jan u ar 1921). x \ u f dem 32. D eutschen Ju risten tag in Bam berg (Sep
tem ber 1921) bezeichnete der B erichterstatter Prof. H. T riepel die damalige
V erordnungspraxis als einen „Unfug ohnegleichen“ ; e r v e rtra t die These:
„Das Gesetz k an n Eim ächtigungen n u r im D ienst bestim m ter Zwecke für
ein bestim m tes L ebensverhältnis erteilen.“ Die w eitere Folgerung aus
dieser Ansicht ist typisch: es w ird strenge H andhabung des richterlichen
Nachprüfungsrechts verlangt, d. h. der Staat verw andelt sich in einen der
K ontrolle unabhängiger Richter unterliegenden Justizstaat. D er M itbericht
e rsta tter dieses Juristentages, der bekannte K om m entator der W eim arer
Verfassung, F ritz Poetzsch-Heffter1, e rk lä rte jed e „vereinfachte Gesetz
gebung“ fü r einen verfassungsw idrigen Einbruch in die Gesetzgebungs
gew alt des Reichstages; er unterschied die im W ege der „vereinfachten
Gesetzgebung“ zustande gekomm enen gesetzlichen Bestim m ungen von den
Rechtsverordnungen, die er als bloße „A usführungs- oder Ergänzungs
bestim m ungen zu einem durch Gesetz bereits geregelten Gegenstand*’ von
den V erordnungen der „vereinfachten G esetzgebung“ abzugrenzen suchte.
Die Unterscheidung zwischen abhängigem und selbständigem Verordnungs
recht w ar sehr unsicher und u n klar, w urde aber in der R echtslehre vielfach
übernom m en12. D agegen hielt der führende K om m entar von Anschütz an
der „altrechtlichen“ L ehre von Seydel und L aband fest3.
D ie E inw irkung d er einschränkenden T heorie auf die innerpolitische
Entwicklung der Jah re 1922—1932 w ar außerordentlich bedeutungsvoll. Die
V erordnungspraxis des Reiches w urde von dem W eg parlam entarischer
Erm ächtigungen auf den W eg der sog. D ik tatu rg ew alt des Reichspräsi
denten, d. h. der V erordnungspraxis nach A rt. 48 Abs. 2 gedrängt. Es darf
nicht übersehen w erden, daß die neue Lehre, die u n ter dem Eindruck der
deutschen Verfassungslage der Zeit von 1919 bis 1924 entstand, ihren Sieg
vor allem föderalistischen Interessen verdankte, deren O rgan der Reichsrat
w ar, dem eine w irksam e V erordnungspraxis der Reichsregierung uni
tarisch und zentralistisch erschien. D ie L ehre von T riepel und Poetzsch-
Heffter, die einen großen Erfolg hatte, ist dadurch gekennzeichnet, daß sie
vor allem das „rechtsstaatliche“ E rfordernis einer A bgrenzung im Auge
hat. Sie lenkte darum die nach Lage der D inge nun einm al unvermeidliche
V erordnungspraxis aus der Scylla der Erm ächtigungsgesetze in die Cha
rybdis der N otverordnungen. D er K am pf gegen die M inisterialbürokratie
w ar praktisch nicht zu gewinnen, und die auf gestellten Abgrenzungen
führten im Ergebnis n u r dazu, daß fü r jed e w irksam e Erm ächtigung eine
verfassungsändernde, d. h. bei der dam aligen parteipolitischen Zersplitte-
1 Kommentar 3. Aufl. S. 300, ferner Jahrbuch des öffentl. Rechts XIII, 1925, S. 206
und 227 ff.
2 z. B. von Gustav Adolf W a l z , Staatsrecht in der systematischen Darstellung
des gesamten deutschen Rechts, 1932, S. 392.
* Der Kommentar von G i e s e (8.Aufl., 1931, S. 195) lehnte die Unterscheidung
von „vereinfachten Gesetzen44 und „Rechtsverordnungen44 ebenfalls ab und ließ durch
ein einfaches Gesetz Ermächtigungen auch zu „weitgehenden“ Verordnungsbefug
nissen zu, doch müsse der „Umfang der Maßnahmen eindeutig umschrieben“ sein.
Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen 225
rung des P arlam ents ganz utopische Zw eidrittelm ehrheit verlangt wurde.
D er theoretische Vorzug der „alten“ Lehre bestand darin, daß sie formale
und m aterielle Gesichtspunkte nicht verwechselte. Auch praktisch-politisch
gesehen, ist es vom S tandpunkt einer gew altenteilenden Verfassung aus
richtiger, die eigentliche A bgrenzung nicht in inhaltlichen Schranken, son
dern n u r d arin zu suchen, daß die Rangverschiedenheit zwischen dem
erm ächtigenden Gesetzgeber und der erm ächtigten Regierung gew ahrt
bleibt, d. h., daß durch eine w irksam e Kontrolle, insbesondere durch das
Recht des Parlam ents, A ufhebung der getroffenen V erordnungen zu ver
langen, die U nterordnung der erm ächtigtenR egierung unter den W illen des
erm ächtigenden P arlam ents sichergestellt w ird. Die neue Ermächtigungs
theorie dagegen litt an dem Mangel, den alle K onstruktionen haben, die
auf einer inhaltlichen Abgrenzung, also auf dem E rfordernis eines be
stimmten Sachgebietes oder Zweckes oder auf der Unterscheidung selb
ständiger und abhängiger N orm ierungen auf gebaut sind. Sie geriet da
durch in das Dilem ma, das oben (I, 2) bereits für die verm ittelnden Theorien
des französischen Verfassungsrechtes festgestellt und das aus folgenden
G ründen unverm eidlich ist.:
a) Die T rennung von unselbständigen A usführungs- oder Ergänzungs
verordnungen, bei denen der Gesetzgeber selbst die gesetzliche Regelung
inhaltlich bereits getroffen hat, und selbständigen Verordnungen, bei denen
der G esetzgeber selbst die inhaltliche Regelung nicht getroffen hat, sondern
einer anderen Stelle überläßt, verw endet imm er den unbestimm ten
Zwischenbegriff der „E rgänzungsverordnung“ in einer Weise, die das Un
klare und U ngenaue dieser A bgrenzung sofort sichtbar w erden läßt. W enn
es grundsätzlidi unzulässig sein soll, die inhaltliche gesetzliche Regelung
einer anderen Stelle zu überlassen, so muß diese U nzulässigkeit auch dann
gelten, w enn der erm ächtigende Gesetzgeber die Überlassung auf ein be
stimmtes Sachgebiet oder L ebensverhältnis noch so eng beschränkt. Ist
aber, wie nach der alten Lehre, die Ü berlassung der inhaltlichen Regelung
grundsätzlich zulässig, so k ann es n u r Sache des Gesetzgebers selbst sein,
zu bestimmen, w iew eit er den Inhalt der Regelung, für die er die form al
gesetzliche G rundlage liefert, der erm ächtigten R egierung überlassen will.
Jedenfalls ist, soweit der G esetzgeber die inhaltliche Regelung selber bereits
getroffen hat, ü b erh au p t kein Raum fü r Erm ächtigungen m ehr; soweit er
sie nicht selber getroffen hat, kann ohne Rücksicht auf den Umfang der
offen bleibenden inhaltlichen Regelung eine Ermächtigung entw eder nur
zulässig oder unzulässig, nicht aber etw a für eine halb oder viertel offen
bleibende R egelung zulässig und für den Rest unzulässig sein.
b) Die A bgrenzung, die durch das E rfordernis eines bestim m ten Sach
gebietes, L ebensverhältnisses oder Zweckes eintritt, ist n u r scheinbar be
stimmt, in W irklichkeit überaus unbestim m t und relativ. Begriffe wie
„Sachgebiet“, „L ebensverhältnis“, „Zweck“ usw. sind imm er von, der Lage
der Sache abhängig; alle Sachgebiete und Lebensverhältnisse durchdringen
und bestimm en sich gegenseitig. Soweit der Gesetzgeber nicht selbst durch 15
15 1682
226 Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen
15*
228 Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen
I.
Eine wirkliche „Verfassungsgeschichte der N euzeit“ ist daher nicht auf
die Geschichte der typischen N orm enkodifikationen beschränkt, die m an
im 19. Ja h rh u n d ert als „V erfassungen“ oder „K onstitutionen“ bezeichnete.
Das W ort „Verfassung“ w ar seit dem 18. und im ganzen 19. Ja h rh u n d ert zu
einer bloßen „Verdeutschung“ von „K onstitution“ geworden; der spezifische
Begriff von „K onstitution“ w iederum ist, wie sich aus den A rbeiten von
Augustin Cochin1 und Professor B ernard F ay vom Collège de F rance2
ergibt, in den F reim aurerlogen des 18. Jah rh u n d erts geboren. Sie hatten
alle eine „K onstitution“ und haben dadurch den Mythos der Menschenrechte,
der G ew altenteilung und des ganzen K onstitutionalism us geschaffen.
1 Augustin Codiin, Les sociétés de pensée et la démocratie, Paris 1921.
^2 Bernhard Fay, La Franc-Maçonnerie et la Révolution intellectuelle du XVIII.
siècle, Editions de Cluny, Paris 1935. Erst durch dieses Buch fällt auf die bekannte
Herkunft der „Erklärungen der Menschenrechte“ aus den Vereinigten Staaten von
Amerika das aufhellende Licht wahrer geschiditlidler Erkenntnis.
230 Uber die neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte
II.
Das erste ist die Erkenntnis, daß alle W issenschaft des Verfassungs
rechts ein lebendiger Teil der V erfassungsw irklichkeit ist, das heißt die
E rkenntnis des Zusammenhanges von politischer Entwicklung und ver
fassungsrechtlicher Begriffsbildung. Ein echter S treit um politische W orte
und verfassungsrechtliche Begriffsbestimmungen ist m eistens alles andere
als ein leerer W ort- und Begriffsstreit; er kann vielm ehr ein sicheres
Zeichen der gesteigerten Intensität geistiger A useinandersetzungen sein.
D er letzte Abschnitt der deutschen Verfassungsgeschichte ist im Jahre
1933 zu Ende gegangen. E r hatte im Jah re 1890 begonnen. D as politische
Ereignis, das den Anfang des neuen Abschnitts bestimm te, w ar Bismarcks
Entlassung. „Jahrzehntelang“, sagt Theodor von der Pfordten in seinem
„A ufruf an die Gebildeten deutschen Blutes“, „habt Ih r untätig und gleich
gültig zugesehen, wie seit Bismarcks Abgang die F lu t undeutscher Bestre
bungen das Staatsgefüge lockerte und unsere W issenschaft m it ihrem töd
lichen Gift durchdrang“1. Im Jahre 1890 w ar der Sieg des verfassungs
rechtlichen Positivismus entschieden, dessen an erk an n ter F ü h re r der
jüdische Rechtsgelehrte Laband w ar. D er erste entscheidende Erfolg w ar
Labands 1871 erschienene Schrift über das Budgetrecht. Diese Schrift ver
tritt einen „form ellen“ Gesetzesbegriff, dessen „Form “ bereits ganz „Form
ohne Prinzip“, das heißt neutralisierende G rundsatzlosigkeit ist, und
dessen Begriffsbildung den Sinn hat, den ungelösten Prinzipienkam pf des
1 Theodor von der Pfordten, An die Deutsche Nation, München 1933.
über die neuen Aufgaben der Verfassungsgesdiidite 235
preußischen Budgetkonflikts von 1862 bis 1866 auf sich beruhen zu lassen
und m it H ilfe angeblich rein juristischer, form eller Vorstellungen zu ent
politisieren. D as h ä tte eine lehrreiche Veranschaulichung zu dem Satze sein
können, daß in der Geschichte „die Problem e nicht gelöst, sondern nur
abgelöst“ w erden; es w ar aber nicht nu r eine Ablösung, sondern eine
völlige, absichtliche Ignorierung des politischen Problems. Die erste Auflage
von Labands Reichsstaatsrecht erschien 1876; mit der zweiten Auflage, 1887,
begann der Siegeszug seiner Methode und die H errschaft des „juristischen
Positivism us“ im öffentlichen Recht. Was sich dieser juristischen Methode
entgegenstellte, blieb ohne jede W irkung, ja fast ohne Eindruck auf die
damals heranw achsende G eneration. G ierkes berühm ter Aufsatz in
Schmollers Jahrbuch aus dem Jah re 1883 und die W arnungen Lorenz von
Steins aus dem Jah re 1885/86 (im V orw ort zur 5. Auflage seines Lehrbuchs
der Finanzwissenschaft) konnten den Sieg Labands nicht auf halten. Albert
Haenels Deutsches Staatsrecht, dessen erster Band 1892 in Bindings H and
buch herauskam , ist kein er der bedeutenden Leistung gerecht werdenden
juristischen Besprechung m ehr gew ürdigt worden. Ein zw eiter Band ist
nicht erschienen. Dieses Buch w ar zw ar durchaus nationalliberal, aber auch
darin noch zu sehr politisch substanzhaft für die als juristisch und posi
tivistisch sich ausgebende Substanzlosigkeit des im Jahre 1890 einsetzen
den Entwicklungsabschnittes. Die A rbeit der älteren G eneration der
wissenschaftlichen V ertreter des dam aligen öffentlichen Rechts behielt ihren
Schwerpunkt in den Einzelstaaten: Rudolf von Gneist in Berlin, Max von
Seydel in München, R obert von Mohl in Tübingen. D ort starb sie aus. Von
Straßburg, der H au ptstadt eines nicht zu den verbündeten Regierungen
gehörenden „Reichslandes“, aus beherrschte der Positivismus des Juden
Laband das Staatsrecht des zweiten Reiches.
In dieser Lage der Verfassungsrechtswissenschaft enthüllt sich, wie in
jeder verfassungsrechtswissenschaftlichen Entwicklung, mit untrüglicher
E xaktheit der K ern der politischen W irklichkeit. H ier w ird die entschei
dende G rundlinie des Staatsgefüges zum G reifen sichtbar. Die „Exekutive“,
Heer und Finanzen, Polizei und V erw altung, mit einem W ort: die staat
liche Substanz w a r den E inzelstaaten verblieben. Deshalb m ußte auch das,
was sinnvollerw eise „Staatsrecht“ genannt w erden kann, in den Einzel
staaten verbleiben. A ber es konnte sich wegen der starken Entwicklung
zum deutschen N ationalstaat dort nicht halten. Auf der anderen Seite w ar
das Reich noch nicht zum sicheren T räger der staatlichen Substanz des ein
heitlichen deutschen N ationalstaates geworden. Die einzelnen Staaten
w aren also nicht m ehr, das Reich w ar noch nicht Staat. Die einer solchen
Zwischenlage zugeordnete Staatsrechtswissenschaft konnte nu r solche
„form elle“ Begriffe anerkennen, die form ell im Sinn einer „Form ohne
Prinzip“ w aren.
Die W endung „Form ohne P rin zip “ ist überaus kennzeichnend für diesen
Abschnitt der Rechts- und Verfassungsgeschichte. Sie ist in dieser brutalen
Offenheit zuerst im Strafprozeßrecht aufgetaucht, als Kennzeichnung der
234 Über die neuen Aufgaben der Verfassungsgesdiidite
A nklage des sog. reform ierten gemeinen Strafprozesses, der eine „Anklage
form ohne A nklageprinzip“ zu schaffen suchte, sie ist aber w eit über diesen
wichtigen Fall hinaus von typischer Bedeutung als treffende Formel für
eine bestimmte A rt juristischen Denkens. Ih re H errschaft setzt ein mit dem
„form alisierten“ Begriff des Rechtsstaats, den der jüdische Rechtslehrer
Stahl-Jolson geprägt und mit durchschlagendem Erfolge in der gesamten
Denkw eise der folgenden Zeit zur H errschaft gebracht hat. Ih r Sieg entschied
sich nach 1871; der „form elle“ Gesetzesbegriff Labands ist ih r größter
Trium ph, der bis zum Siege des Nationalsozialism us anhielt und erst 1933
überw unden w erden konnte. Zu den gegenw ärtigen A ufgaben einer deut
schen Verfassungsgeschichte gehört daher vor allem die Überwindung
dieser Trennung von Form und Prinzip, und zw ar sowohl der „Form ohne
P rinzip“ als auch des „Prinzips ohne Form “, also die H erausarbeitung
echter, aus den G rundsätzen der nationalsozialistischen W eltanschauung
gestalteten Form en der Lebensordnungen des deutschen Volkes.
28. Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat (1937)
I.
In einem gewissen Sinne hat es zu allen Zeiten totale Kriege gegeben;
eine Lehre vom totalen K rieg gibt es aber wohl erst seit Clausewitz, der
von einem „ab strak ten “ und „absoluten“ Kriege spricht. U nter dem Ein
druck der E rfahrungen des letzten großen Krieges hat dann die Form el
vom totalen K rieg einen spezifischen Sinn und eine besondere W irkungs
kraft erhalten. Seit 1920 ist sie zum beherrschenden Schlagwort geworden.
Sie w urde zuerst im französischen Schrifttum, in Büchertiteln wie „La
guerre to tale“ scharf herausgestellt. D ann fand sie 1926—28 in den V er
handlungen der Abrüstungsausschüsse in Genf A usprägungen in den Be
griffen des „potentiel de g u e rre “, des „désarm em ent m oral“ und des „dés
arm ement to ta l“. D ie faschistische L ehre vom „totalen Staat“ kam ih r von
der staatlichen Seite her entgegen; die V erbindung ergab das Begriffspaar:
totaler Staat — to taler Krieg. In Deutschland erw eitert die H erausarbeitung
des „Begriffs des Politischen“ seit 1927 den Zusammenhang dieser Totali
täten zu der Reihe: to taler Feind, to taler Krieg, totaler Staat. E rnst Jüngers
Schrift „Totale M obilmachung“ (1930) bew irkte den Durchbruch der Form el
ins allgem eine Bewußtsein. A ber erst Ludendorffs Broschüre „Der totale
Krieg“ (1936) h at ihre K raft ins Unw iderstehliche und ihre V erbreitung ins
Unabsehbare gesteigert.
Die Form el ist überaus treffend; sie zwingt zum Anblick einer W irk
lichkeit, von deren Schrecken sich das allgem eine Bewußtsein lieber ab
wendet. Solche Form eln sind aber auch stets in G efahr, landläufig und
weitläufig zu werden und zu summarischen Schablonen, zu bloßen Schall
platten des publizistischen B etriebes herabzusinken. Es ist daher gut, einige
K larstellungen vorzunehm en.
a) Ein K rieg k ann total sein im Sinne der äußersten K raftanspannung
und des äußersten Einsatzes aller, auch der letzten Reserven. Er kann aber
auch im Sinne der W irkung auf den G egner total genannt werden, also
im Sinne des rücksichtslosen Einsatzes vernichtender Kriegsm ittel. W enn
der bekannte englische A utor J. F. C. F u ller in einer kürzlich erschienenen
Schrift „The first of the League W ars, its lessons and omens“ sagt, daß
der italienische Feldzug in Abessinien ein m oderner „totaler“ Krieg war,
so spricht er n u r von dem Einsatz w irksam er Waffen (Flugzeuge und Gas),
w ährend, von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachtet, Abessinien
überhaupt keines m odernen totalen Krieges fähig w ar und auf der anderen
Seite w eder Italien beim äußersten Einsatz seiner Reserven angelangt w ar,
noch der durch die Sanktionen des V ölkerbundes ausgeübte Druck seinen
256 Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat
höchsten G rad erreicht hatte, da es w eder zu einer ö lsp e rre noch zur
Schließung des Suezkanals gekommen ist.
b) Ein Krieg kann auf beiden Seiten oder n u r auf einer Seite total sein.
E r kann auch durch die geographische Lage, durch die Kriegstechnik, aber
auch durch die herrschenden politischen G rundsätze auf beiden Seiten
bew ußt beschränkt, rationiert und dosiert w erden. D er typische Kabinetts
krieg des 18. Jahrhunderts w ar ein bew ußt grundsätzlich p a rtielle r Krieg;
er beruhte auf der klaren Trennung des am Kam pf teilnehm enden Soldaten
vom unbeteiligten gew erbetreibenden Bürger, des K om battanten vom Nicht
kom battanten. Auf der Seite Preußens aber w ar der Siebenjährige Krieg
Friedrichs des Großen trotzdem im Vergleich zu den K raftanspannungen
der anderen Mächte verhältnism äßig total. H ier zeigte sich auch bereits eine
fü r Deutschland typische Lage: daß ein deutscher Staat durch die Ungunst
der geographischen V erhältnisse und durch frem de K oalitionen gezwungen
wird, seine K räfte in höherem Maße anzuspannen als die G roßen unter
seinen wohlhabenderen und glücklicheren Nachbarn.
c) D er C h arak ter des Krieges kann sich im V erlauf der kriegerischen
Auseinandersetzung ändern. D er Kam pfw ille kann erschlaffen; er kann
sich aber auch steigern, wie das im W eltkriege 1914—18 geschehen ist, wo
die Entwicklung des Krieges auf deutscher Seite bald zum Einsatz aller
wirtschaftlichen und industriellen Reserven, auf englischer Seite zur Ein
führung der allgemeinen W ehrpflicht zwang.
d) Endlich entwickeln sich mit der T otalität des K rieges gleichzeitig
immer auch besondere Methoden einer nicht totalen A useinandersetzung
und Kräftemessung. Denn zunächst sucht jed e r den totalen Krieg, der
naturgem äß ein totales Risiko mit sich bringt, zu verm eiden. So haben
sich in der Nachkriegszeit die sog. m ilitärischen Repressalien (Korfu-Kon
flikt 1923, Japan-C hina 1932), ferner die Versuche nichtm ilitärischer W irt
schaftssanktionen nach Art. 16 der V ölkerbundssatzung (H erbst 1935 gegen
Italien), endlich auch gewisse Methoden der K raftprobe auf frem dem Boden
(Spanien 1936/37) in einer Weise herausgebildet, die ihre richtige Deutung
nur im engsten Zusammenhang m it dem totalen C h a ra k te r des m odernen
Krieges finden. Sie sind Übergangs- und Zwischenbildungen zwischen
offenem Krieg und wirklichem Frieden; sie erhalten ihren Sinn dadurch,
daß der totale Krieg als Möglichkeit im H intergründe steht und eine be
greifliche Vorsicht die Absteckung gewisser Zwischenräume nahegelegt. N ur
unter diesem Gesichtspunkt können sie auch völkerrechtswissenschaftlich
verstanden werden.
II.
Im Kriege steckt der Kern der Dinge. Von der A rt des totalen Krieges
her bestimmen sich A rt und G estalt der T otalität des Staates; von der
besonderen A rt der entscheidenden Waffen her bestim m t sich die besondere
A rt und G estalt der Totalität des Krieges. D er totale K rieg aber erhält
seinen Sinn durch den totalen Feind.
Die verschiedenen W affengattungen und K riegsarten, Landkrieg, See-
Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat 237
und Normen dieses englischen Völkerrechts sind ebenfalls in sich total und
das sichere Kennzeichen eines in sich totalen W eltbildes.
Das englische Verfassungsideal endlich hat die U nterordnung des Sol
daten unter den B ürger zum weltanschaulichen Prinzip erhoben und im
Laufe des liberalen 19. Jahrhunderts auf dem europäischen Kontinent
durchgesetzt. Zivilisation im Sinne dieses Verfassungsideals ist H errschaft
der zivilen, bürgerlichen, wesentlich nichtsoldatischen Ideale; Verfassung
im Sinne dieser Vorstellung ist immer n u r ein zivil-bürgerliches System,
für welches, nach der bekannten Form ulierung Clemenceaus, der Soldat
nur deshalb Daseinsberechtigung hat, weil er die zivile bürgerliche G e
sellschaft verteidigt und grundsätzlich der Führung von Zivilisten u n ter
worfen ist. D er preußische Soldatenstaat hat einen hundertjährigen innen
politischen Kam pf gegen diese bürgerlichen Verfassungsideale geführt. E r
ist ihnen im H erbst 1918 unterlegen. Die innenpolitische Geschichte Preußen-
Deutschlands von 1848 bis 1918 w ar ein fortw ährender Konflikt zwischen
Heer und Parlam ent, ein ununterbrochener Kampf, den die Regierung mit
dem Parlam ent um die G estaltung des Heeres, insbesondere um den H eeres
haushalt führen m ußte und in welchem nicht außenpolitische Notwendig
keiten, sondern innenpolitische Kompromisse die V orbereitung auf den
unvermeidlichen Krieg beherrschten. Dem V ersailler D iktat, das alle Einzel
heiten der O rganisation und A usrüstung des H eeres durch einen außen
politischen „V ertrag“ festlegte, sind fünfzig Jah re lang periodische innen
politische V erträge zwischen dem preußisch-deutschen Soldatenstaat und
seinen innenpolitischen G egnern vorausgegangen, die alle Einzelheiten der
Organisation und A usrüstung des H eeres innenpolitisch bindend bestimm
ten. D er Zwiespalt von bürgerlicher Gesellschaft und preußischem Soldaten
staat führte zu unnatürlichen A btrennungen des Kriegsm inisterium s von
der Kommandogewalt und zu vielen anderen A ufsplitterungen, deren
letzte W urzel imm er der Gegensatz eines von England d irekt oder über
Frankreich und Belgien im portierten, bürgerlichen und eines ursprünglich
deutschen, soldatischen Verfassungsideals gewesen ist.
Deutschland hat diesen Zwiespalt heute überw unden und entfaltet in
geschlossener Einheitlichkeit seine soldatische K raft. N atürlich w ird es nicht
an Versuchen fehlen, das nach der A rt frü h erer Propagandam ethoden als
M ilitarismus hinzustellen, um Deutschland die Schuld an der Entwicklung
zum totalen K rieg zu geben. Auch solche Schuldfragen gehören zur T otalität
der weltgeschichtlichen Auseinandersetzungen. Le combat spirituel est aussi
brutal que la bataille d’hommes. Bevor die V ölker jedoch w iederum in
einen totalen K rieg hineintaum eln, sollte m an die Frage stellen, ob heute
wirklich unter den europäischen Nationen eine totaleFeindschaft vorhanden
ist. Krieg und Feindschaft gehören zur Geschichte der Völker. Das schlimm
ste Unheil aber tritt erst ein, wenn, wie im Kriege 1914—18, die Feind
schaft sich aus dem K riege entwickelt, statt daß, wie es richtig und sinnvoll
ist, eine vorher bestehende, unabänderliche, echte und totale Feindschaft zu
dem G ottesurteil eines totalen Krieges führt.
240 Der Begriff der Piraterie
nicht von P iraten des A ltertum s oder des M ittelalters, sondern von der
G egenw art und dem M ittelmeer. Angesichts der wirklichen Organisation
der heutigen Staatenw elt w ird jen er wesentlich nichtstaatliche, unpolitische
C harak ter der P iraterie sofort problematisch. W er sich insbesondere die
staatlich-politische Lage des heutigen M ittelmeers vergegenw ärtigt, steht
sofort vor der Frage, wo denn jen er unpolitische Seeräuber den juristischen
Leerraum völliger Nichtstaatlichkeit finden soll, in dem er sein G ew erbe
betreibt. „R aubstaaten“ und „B arbaresken“ gibt es glücklicherweise nicht
mehr; sie sind seit der E roberung Algiers vor über 100 Jahren ver
schwunden. R evolutionäre P arteien sollen, wie gesagt, wegen ihres poli
tischen C h arak ters nicht P iraten sein. Die m oderne Technik der m aritim en
V erkehrsm ittel und Kriegswaffen hat zw ar neue Möglichkeiten der G ew alt
anwendung auf hoher See geschaffen, gleichzeitig aber auch an die Stelle
schwerbeweglicher, feudalständischer Gebilde die straff zentralisierten
Organisationen eines m odernen Staates gesetzt und deren Kontrollmöglich-
keiten ungeheuer gesteigert. Man braucht n u r die technischen Machtmittel
einer m odernen Polizei m it denen des 18. und selbst noch des 19. Jah r
hunderts zu vergleichen, um zu verstehen, was hier gemeint ist. Schon durch
diese technischen M ittel w ird der m oderne Staat immer geschlossener, in
diesem Sinne imm er „to taler“, und w ird der leere Raum der Nichtstaatlich
keit, der fü r den Begriff der P iraterie verlangt w ird, immer kleiner und
bedeutungsloser. D ie K ehrseite dieser T otalität des Staates ist bekanntlich
eine entsprechend totale V erantw ortlichkeit für alles, was in seinem perso
nalen oder territo ria le n Machtbereich vor sich geht. Wie soll sich aber
heute ein verw egenes Individuum oder eine R äuberbande unter V er
meidung je d e r B erührung m it irgendeinem Staat m oderne Kriegsschiffe
und B etriebsm ittel beschaffen? W ie soll sie sich auf „unpolitische“ A kte
beschränken, w enn nicht eine romantische Räuberbande, sondern ein ernst
haft interessantes O b je k t der internationalen A ktion von Großmächten in
Frage steht?
In den Lehrbüchern und systematischen A bhandlungen taucht die F igur
des P iraten meistens bei der Frage nach dem S ubjekt des Völkerrechts auf.
Hier hat der P ira t noch ein theoretisch ganz interessantes, im übrigen aber
bescheidenes Plätzchen. D enn meistens w ird ihm der Rang eines V ölker
rechtssubjekts abgesprochen. Seine T at ist kein völkerrechtliches D elikt,
da nur Staaten als V ölkerrechtssubjekte solche „völkerrechtlichen D elikte“
begehen können, w ährend der P ira t gerade in voller Nichtstaatlichkeit
nur in den völkerrechtlich erw eiterten Machtbereich eines Staates hinein
gerät. Demnach w äre er als solcher überhaupt kein eigentliches in ter
nationales Problem . Das ist um so m erkw ürdiger, als andererseits gegen
ihn als „Feind des Menschengeschlechts“ plötzlich die ganze, sonst so zer
rüttete Menschheit in einer E inheitsfront erscheint. D a dieser Feind der
Menschheit allerdings n u r eine unpolitische Größe ist und man sich in
mancher Hinsicht durch das klassifiziert, was m an als Feind anerkennt, so ist
eine Menschheit, die k einen anderen Feind m ehr als diesen unpolitischen out-
16 1682
242 Der Begriff der Piraterie
law hat, eben selber auch n u r eine unpolitische Größe. Inzwischen aber ist
das durch die A ntipiraten-K onferenz bezeichnete Problem der P iraterie
gerade ein echtes internationales Problem geworden, von dem niem and
behaupten kann, daß es sich in einem Raum e unpolitischer Nichtstaatlich-
keit bewege.
D er seit dem A uftreten der U-Boot-Waffe schwebende Streit um die
völkerrechtlichen Regeln des G ebrauchs dieser W affe h at m it einem be
deutenden Sieg der englischen A uffassung geendet. A llerdings ist das
kriegsrechtliche Abkommen der W ashingtoner K onferenz vom 6. F ebruar
1922 (Strupp, Docum ents Y. 634) nicht ratifiziert. Es geht in A rt. 1 Abs. 2
von dem heute anerkannten G rundsatz aus, daß k riegführende U-Boote
den allgem einen Regeln des Seekriegsrechts über die W egnahm e von
Handelsschiffen unterliegen, e rk lä rt dann aber in A rt. 3 w eiter, daß jede
„im D ienst irgendeiner Macht stehende Person, welche diese R egeln ver
letzt, „w hether or not such person is under orders of a governm ental
superior“, verantw ortlich gemacht w ird „as if for an act of p ira c y “. Art. 4
nimm t dann sogar noch ausdrücklich auf den K rieg von 1914—18 Bezug.
D er Teil IV des Londoner Abkom m ens vom 22. A pril 1930 dagegen spricht
nicht von P iraterie, sondern stellt in seinem A rt. 22 die Pflicht der U-Boote,
sich in ih re r A ktion an die fü r andere Kriegsschiffe geltenden Regeln zu
halten, fest, wobei er insbesondere die Pflicht vorh erig er W arnung und der
R ettung von Passagieren, Besatzung und Schiffspapieren erw ähnt. Das
Deutsche Reich ist dieser R egelung des A rt. 22 am 23. N ovem ber 1936 bei
getreten und hat sie als von diesem Tage ab verbindlich angenommen. Im
T ext der deutschen Note, die den B eitritt e rk lä rt, ist der W ortlaut des
A rt. 22 nochmals w iederholt. D ie V ölkerrechtsw idrigkeit eines Verstoßes
gegen diese Regelung steht dam it fest. Selbstverständlich bleibt aber die
andere Frage, nämlich das Problem der „ P ira te rie “ und die Ü bertragung
eines d erartig folgenreichen Begriffes auf solche V ölkerrechtsw idrigkeiten,
durchaus offen. Nicht jed e r Verstoß gegen Regeln des Seekriegsrechts
ist „ P ira terie “ m it der Folge, daß ein Staat verpflichtet ist, die Staats
angehörigen oder Staatsorgane, fü r die er verantw ortlich ist, gegenüber
anderen Staaten preiszugeben und auszuliefern, indem er sie in den leeren
Raum der Nichtstaatlichkeit hineinstößt, der bisher die rechtliche Voraus
setzung der P ira te rie gewesen ist.
Angesichts der oben angedeuteten Entw icklung der m odernen m aritim en
Technik entstehen gewiß zahlreiche neue seerechtliche Problem e. Sie dürfen
aber w eder auf die Form eln des alten, inzwischen romantisch gewordenen
Seeräubertum s gebracht, noch als N eubelebung der bekannten Streitfragen
des W eltkrieges 1914—18 benutzt w erden. Sie gehören vielm ehr in das große
G ebiet der Versuche einer neuen und echten zwischenstaatlich-europäischen
O rdnung. Auf der einen Seite stehen sie in V erbindung m it den Bestrebungen,
den K rieg durch kollektives V orgehen verschiedener A rt (internationale
Polizei, B estrafung des Rechtsbrechers, Ächtungen und Sanktionen) zu e r
setzen und eine aktionsfähige G röße zu schaffen, die „im Nam en der Mensch-
Der Begriff der Piraterie 243
heit“ handelt. A uf der anderen Seite ist h ier die völkerrechtliche Entwick
lung zu beachten, auf die im Juniheft dieser Zeitschrift (S. 141)1 aufm erksam
gemacht w urde, daß nämlich heute, wo das unm ittelbare A ufeinander
prallen to taler Staaten in einem totalen K riege verm ieden w erden soll,
Übergänge und Zwischenbegriffe zwischen offenem K rieg und wirklichem
Frieden auftreten, w eil schon die bloße M öglichkeit eines totalen K rieges
die Absteckung solcher Zwischenbildungen nahelegt. Sollte sich die eng
lische Auffassung der U -B oot-Piraterie als ein allgem einer V ölkerrechts
begriff durchsetzen, so h ätte der Begriff der P ira te rie seinen P latz im
System des V ölkerrechts gewechselt. E r w äre aus dem leeren Raum u n
politischer Nicht Staatlichkeit in jen en fü r das V ölkerrecht der Nachkriegs
zeit typischen Raum der Zwischenbegriffe zwischen K rieg und F rieden v e r
legt worden.
1 Es handelt sich um den Aufsatz „Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat“,
abgedruckt in unserer Sammlung Nr. 28, oben S. 235 f.
16*
30. Uber das Verhältnis der Begriffe Krieg undFeind (1938)
1. F e i n d i s t h e u t e d e r p r i m ä r e B e g r i f f . Das gilt aller
dings nicht fü r T urnier-, K abinetts- und D uellkriege oder ähnliche nur
„agonale“ K riegsarten. Agonale Käm pfe rufen m ehr die Vorstellung einer
A ktion als eines Zustandes hervor. V erw endet m an nun die alte und
anscheinend unverm eidliche Unterscheidung von „Krieg als A ktion“ und
„K rieg als Zustand (status)“, so ist beim K rieg als A ktion bereits in
Schlachten und m ilitärischen O perationen, also in der A ktion selbst, in den
„Feindseligkeiten“, den h o s t i l i t é s , ein Feind als G egner (als Gegenüber)
so unm ittelbar gegenw ärtig und sichtbar gegeben, daß er nicht noch voraus
gesetzt zu w erden braucht. A nders beim K rieg als Zustand (status). H ier ist
ein Feind vorhanden, auch w enn die unm ittelbaren und akuten Feindselig
keiten und K am pfhandlungen aufgehört haben. B e l l u m m a n e t , p u g n a
c e s s a t . H ier ist die Feindschaft offenbar V o r a u s s e t z u n g des Kriegs
zustandes. In der G esam tvorstellung „K rieg“ kann das eine oder das
andere, K rieg als A ktion oder K rieg als Zustand, überw iegen. Doch kann
kein Krieg restlos in der bloßen unm ittelbaren A ktion aufgehen, ebenso
wenig wie er dauerd nur „Zustand“ ohne A ktionen sein kann.
D er sogenannte totale K rieg muß sowohl als A ktion wie auch als Zustand
total sein, w enn er w irklich total sein soll. E r h at daher seinen Sinn in
einer vorausgesetzten, begrifflich vorangehenden Feindschaft. Deshalb kann
e r auch n u r von der Feindschaft h er verstanden und definiert werden.
K rieg in diesem totalen Sinne ist alles, was (an H andlungen und Zuständen)
aus der Feindschaft entspringt. Nicht w äre es sinnvoll, daß die Feindschaft
erst aus dem K riege oder erst aus der T otalität des Krieges entsteht oder
gar zu einer bloßen Begleiterscheinung der T otalität des Krieges herab
sinkt. Man sagt m it einer oft w iederholten Redewendung, daß die euro
päischen V ölker im Sommer 1914 „in den K rieg hineingetaum elt“ sind. In
W irklichkeit sind sie allm ählich in die T otalität des Krieges hinein
geglitten, und zw ar in der Weise, daß der kontinentale, m ilitärische Kom
b attan ten k rieg und der englische, außerm ilitärische See-, Blockade- und
W irtschaftskrieg sich (auf dem W ege über Repressalien) gegenseitig
w eitertrieben und in die T otalität steigerten. H ier entstand also die Totali
tä t des Krieges nicht aus einer vorangehenden, totalen Feindschaft, viel
m ehr wuchs die T otalität der Feindschaft aus einem allmählich total w er
denden Krieg. D ie Beendigung eines solchen Krieges w ar notw endiger
weise kein „V ertrag“ und kein „F rieden“ und erst recht kein „Friedens
v e rtrag “ im völkerrechtlichen Sinne, sondern ein V erdam m ungsurteil der
Über das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind 245
Sieger über den Besiegten. D ieser w ird um so m ehr nachträglich zum Feind
gestempelt, je m ehr er der Besiegte ist.
2. Im Paktsystem der G enfer Nachkriegspolitik w ird der A n g r e i f e r
als F e i n d bestimmt. A ngreifer und Angriff w erden tatbestandsm äßig
umschrieben: w er den K rieg erk lärt, w er eine Grenze überschreitet, w er
ein bestimm tes V erfahren und bestim m te Fristen nicht einhält usw., ist
Angreifer und Friedensbrecher. Die völkerrechtliche Begriffsbildung w ird
hier zusehends krim inalistisch - strafgesetzlich. D er A ngreifer w ird im
Völkerrecht das, was im heutigen Strafrecht der D elinquent, der „T äter“
ist, der ja auch eigentlich nicht ein „T äter“, sondern ein „U ntäter“ heißen
müßte, weil seine angebliche T at in W ahrheit eine U ntat ist1. Diese K rim i
nalisierung und V ertatbestandlichung von Angriff und A ngreifer hielten
die Juristen der G enfer N achkriegspolitik für einen juristischen Fortschritt
des Völkerrechts. D er tiefere Sinn aller solcher Bem ühungen um die Defi
nition des „A ngreifers“ und die Präzisierung des Tatbestandes des „An
griffs“ liegt aber darin, einen F e i n d zu konstruieren und dadurch einem
sonst sinnlosen K rieg einen Sinn zu geben. Je autom atischer und mecha
nischer der K rieg w ird, um so autom atischer und mechanischer w erden
solche Definitionen. Im Z eitalter des echten K om battantenkrieges brauchte
es keine Schande und keine politische Dum m heit, sondern konnte es E hren
sache sein, den Krieg zu erklären, w enn man sich mit G rund bedroht oder
beleidigt fühlte (Beispiel: die K riegserklärung K aiser Franz Josefs an
Frankreich und Italien 1859). Jetzt, im G enfer N adikriegs-V ölkerrecht, soll
es ein krim ineller T atbestand w erden, weil der Feind zum Verbrecher
gemacht w erden soll.
5. F r e u n d und F e i n d haben in den verschiedenen Sprachen und
Sprachgruppen eine sprachlich und logisch verschiedene S truktur. Nach
deutschem Sprach sinn (wie in vielen anderen Sprachen) ist „F reund“
ursprünglich n u r der Sippengenosse. F reund ist also ursprünglich nur der
Blutsfreund, der B lutsverw andte, oder der durch H eirat, Schwurbrüder-
schaft, Annahm e an Kindes Statt oder durch entsprechende Einrichtungen
„verw andt Gemachte“. Vermutlich ist erst durch den Pietismus und ähn
liche Bewegungen, die auf dem Weg zum „G ottesfreund“ den „Seelen
freund“ fanden, die für das 19. Jah rh u n d ert typische, aber auch heute noch
verbreitete P rivatisierung und Psychologisierung des Freundbegriffes ein
getreten. Freundschaft w urde dadurch eine Angelegenheit p riv ater
Sym pathiegefühle, schließlich gar m it erotischer Färbung in einer Mau-
passant-A tm osphäre.
Das deutsche W ort „Feind“ ist etymologisch w eniger k la r zu bestimmen.
Seine eigentliche W urzel liegt, wie es in Grimms W örterbuch heißt, „noch
unaufgehellt“. Nach den W örterbüchern von Paul, H eyne und W eigand soll
es (im Zusamm enhang m it f i j a n -hassen) den „Hassenden“ bedeuten. Ich
will mich nicht in einen Streit m it Sprachforschern einlassen, sondern möchte
1 Der Versuch, kriminelle „Tätertypen“ zu finden, würde zu der Paradoxie von
„Untäter-Typen“ führen.
246 Uber das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind
(entweder K rieg oder Frieden) anzunehm en ist, w enn das andere nidit vor
liegt. I n te r p a c e m e t b e llu m n ih il e s t m e d iu m \ Anläßlich des Vorgehens
Japans gegen C hina 1931/32 zum Beispiel ist zur Abgrenzung der (noch
keinen K rieg darstellenden) m ilitärischen R epressalien vom Krieg stets
mit dieser Begriffsmechanik gearbeitet w orden. Dieses n ih il m e d iu m ist
aber gerade die Situationsfrage. Richtigerw eise muß die völkerrechtliche
Frage so gestellt w erden: Sind m ilitärische G ew altm aßnahm en, insbeson
dere m ilitärische R epressalien, m it dem F rieden v ereinbar oder nicht, und
wenn sie es nicht sind, sind sie dann aus diesem G runde Krieg? D as w äre
eine Fragestellung, die vom F rieden als k o n k reter O rdnung ausgeht. Den
besten Ansatz zu ih r finde ich bei A rrigo C a v a g l i e r i i n einem Aufsatz aus
dem Jahre 191512. D ort sagt e r in der Sache: m ilitärische G ew altm aßnahm en
sind mit dem Friedenszustand unvereinbar, also sind sie Krieg. Das In te r
essante an seiner G edankenführung ist die Auffassung des Friedens als
konkreter und geschlossener O rdnung und als des stärkeren, daher m aß
gebenden Begriffes. D ie m eisten sonstigen E rörterungen sind w eniger k la r
in der Fragestellung und bew egen sich in dem leeren K lipp-K lapp einer
scheinpositivistischen B egriffsalternative.
Ob m an nun K rieg annim m t, weil kein F rieden ist, oder Frieden, w eil
kein K rieg ist, in beiden F ällen m üßte vorher gefragt w erden, ob es denn
wirklich kein drittes, keine Zwischenmöglichkeit, kein n ih il m e d iu m gibt.
Das w äre natürlich eine A bnorm ität, aber es gibt eben auch abnorm e
Situationen. Tatsächlich besteht heute eine solche abnorm e Zwischenlage
zwischen K rieg und F rieden, in der beides gemischt ist. Sie h a t drei
Ursachen: erstens die P ariser F riedensdiktate; zweitens das K riegs
verhütungssystem der N achkriegszeit m it K elloggpakt und V ölkerbund3;
und drittens die A usdehnung der V orstellung vom K riege auch auf nichtmili
tärische (wirtschaftliche, propagandistische usw.) B etätigungen der F eind
schaft. Jene F riedensdikate w ollten ja aus dem F rieden eine „Fortsetzung
des Krieges m it anderen M itteln“ machen. Sie haben den Feindbegriff so
weit getrieben, daß dadurch nicht n u r die Unterscheidung von K om battan
ten und N icht-K om battanten, sondern sogar die U nterscheidung von K rieg
und F rieden aufgehoben w urde. Gleichzeitig aber suchten sie diesen un
bestim m ten und absichtlich offengehaltenen Zwischenzustand zwischen
1 Cicero in der 8. Philippika: zitiert bei Hugo Grotius, de jure belli ac pacis,
Buch III, Cap. 21 § 1.
2 Note critidie su la teoria dei mezzi coercitivi al difuori della guerra, Rivista
di diritto internazionale, Bd. IX (1915) S. 23 ff., 305 ff. Später hat Cavaglieri seine
Meinung unter dem Eindruck der Praxis geändert: Corso di diritto internazionale,
3. Auil. 1934 S. 555; Recueil des Cours de l’Académie Internationale de Droit Inter
national (1929 I) S. 576 ff. Das für unsern Zusammenhang allein Entscheidende ist
seine von einem starken Begriff des Friedens ausgehende Fragestellung.
3 „Die Wirkung vom Völkerbundpakt und Kelloggpakt scheint die werden zu
wollen, daß in Zukunft zwar keine Kriege mehr geführt werden, aber militärische
Aktionen größten Stils sich als ,bloße Feindseligkeiten* ausgeben, was kein Fort
schritt, sondern ein Rückschritt ist“, Josef L. Kunz, Kriegsrecht und Neutralitätsrecht,
1935, S. 8, Aum. 37. Vorzüglich: Frhr. von Freytagh-Loringhoven, Zeitschr. d. Akad.
f. Deutsches Recht, 1. März 1938, S. 146.
248 über das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind
Krieg und Frieden durch P akte zu legalisieren und juristisch als den
norm alen und endgültigen Status quo des F riedens zu fingieren. Die
typische Rechtslogik des Friedens, typische Rechtsverm utungen, von denen
der Jurist bei einer echt befriedeten Lage ausgehen kann und muß, w urden
dieser abnorm en Zwischenlage aufgepfropft. Zunächst schien das für die
Siegermächte vorteilhaft zu sein, w eil sie eine Zeitlang à d e u x mains
spielen konnten und, je nachdem sie K rieg oder F rieden annahm en, auf
jeden Fall die G enfer Legalität auf ih re r Seite hatten, w ährend sie deren
Begriffe, wie Paktbruch, Angriff, Sanktionen usw. ihrem G egner in den
Rücken stießen. In einem solchen Zwischenzustand zwischen K rieg und
Frieden entfällt der vernünftige Sinn, den die Bestim mung des einen
Begriffes durch den andern, des Krieges durch den F rieden oder des F rie
dens durch den Krieg, sonst haben könnte. Nicht n u r die K riegserklärung
w ird gefährlich, weil sie den K riegerklärenden von selbst ins Unrecht setzt,
sondern jede abgrenzende Kennzeichnung m ilitärischer sowohl als auch
nichtmilitärischer Aktionen als „friedlich“ oder „kriegerisch“ w ird sinnlos,
weil nichtmilitärische Aktionen in w irksam ster, u nm ittelbarster und inten
sivster Weise feindliche A ktionen sein können, w ährend um gekehrt mili
tärische A ktionen unter feierlicher und energischer Inanspruchnahm e
freundschaftlicher Gesinnung vor sich gehen können.
Praktisch w ird die A lternative von K rieg und F rieden in einer solchen
Zwischenlage noch wichtiger, denn je tz t w ird alles Rechtsverm utung und
Fiktion, ob man nun annimmt, daß alles, was nicht F riede K rieg ist, oder
ob, um gekehrt, alles was nicht K rieg deshalb von selbst F riede ist. Das
ist der bekannte „Stock m it zwei E nden“. Jeder kann nach beiden Seiten
argum entieren und den Stock bald an dem einen oder dem andern Ende
anfassen. Alle Versuche, eine Definition des Krieges zu geben, müssen hier
bestenfalls in einem ganz subjektivistischen und voluntaristischen Dezisio
nismus enden: Krieg liegt dann vor, w enn eine ak tiv w erdende P artei
K rieg w i 11. „Als einzig zuverlässiges U nterscheidungsm erkm al (heißt es
in einer neulich erschienenen, anerkennensw ert tüchtigen Monographie
zum völkerrechtlichen Kriegsbegriff) bleibt somit n u r der W ille der strei
tenden Parteien. Ist er darauf gerichtet, die G ew altm aßnahm en als
kriegerische abzuwickeln, so herrscht K rieg, andernfalls F ried en “1. D i e s e s
„ a n d e r n f a l l s F r i e d e n “ i s t l e i d e r n i e ht w a h r . D abei soll der
W ille eines einzigen Staates zur Erfüllung des Kriegsbegriffs genügen,
gleichgültig, auf welcher Seite er vorliegt12. Ein solcher Dezisionismus ent
spricht zw ar der Lage. E r äußert sich zum Beispiel in entsprechender
Weise darin, daß der politische C h a ra k te r einer völkerrechtlichen Streitig
keit nur noch rein dezisionistisch durch den W illen jedes Streitenden
bestimmt wird, auch hier also der W ille das „unm ittelbare K riterium des
1 Georg K a p p u s , Der völkerrechtliche Kriegsbegriff in seiner Abgrenzung
gegenüber militärischen Repressalien, Breslau 1936, S. 57.
2 G. K a p p u s , a. a. O. S. 65.
über das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind 249
Politischen“ w ird1. Was bedeutet das aber für unsere F rage nach dem
Verhältnis von Krieg und Frieden? Es zeigt, daß die Feindschaft, der
a n i m u s h o s t i l i s , der prim äre Begriff geworden ist. Das hat in dem gegen
w ärtigen Zwischenzustand zwischen Krieg und F rieden eine ganz andere
Tragweite als frühere „subjektive“ oder „W illenstheorien“ des K riegs
begriffes. Zu allen Zeiten h at es „halbe“, „partielle“ und „unvollkom m ene“,
„beschränkte“ und „getarnte“ Kriege gegeben, und der vom Lytton-Bericht
für das Vorgehen der Japaner gebrauchte Ausdruck „w ar disguised“ w äre
insofern an sich nichts Neues. Das Neue ist der juristisch ausgebaute, durch
Kelloggpakt und V ölkerbund institutionalisierte Zwischenzustand zwischen
Krieg und Frieden, der alle jene negativen Feststellungen — mögen sie
vom Nichtfrieden auf den Krieg oder vom Nichtkrieg auf den Frieden
schließen — heute unrichtig macht.
D er Pazifist H ans W ehberg sagte im Januar 1932 zum M andschurei
konflikt: Was nicht Krieg ist, ist im völkerrechtlich juristischen Sinne
Friede. Das bedeutete damals praktisch: Das Vorgehen der Jap an er in
China w ar nicht Krieg, sie w aren also nicht „zum K riege geschritten“ im
Sinne des G enfer V ölkerbundspaktes und die Voraussetzung für V ölker
bundssanktionen (vrie sie im H erbst 1935 gegen Italien unternom m en w u r
den) w ar nicht gegeben. W ehberg hat seine Meinung und seine Form u
lierung später geändert2, aber die eigentliche Logik des begrifflichen Ver
hältnisses solcher negativen Bestimmungen h at er bis heute nicht erkannt.
Es handelt sich w eder um „subjektive“, noch uni „objektive“ Theorien des
Kriegsbegriffes im allgemeinen, sondern um das Problem der besonderen
Zwischenlage zwischen K rieg und Frieden. F ü r die G enfer A rt von Pazifis
mus ist es typisch, daß sie aus dem F rieden eine juristische Fiktion macht:
Friede ist alles, was nicht Krieg ist, K rieg aber soll dabei nur der m ili
tärische Krieg alten Stiles m it a n i m u s b e l l i g e r a n d i sein. Ein arm seliger
Friede! F ü r diejenigen, die mit außerm ilitärischen, zum Beispiel w irtschaft
lichen Zwangs- und Einwirkungsm öglichkeiten ihren W illen durchsetzen
und den W illen ihres G egners brechen können, ist es ein K inderspiel, den
m ilitari sehen K rieg alten Stils zu verm eiden, und diejenigen, die mit m ili
tärischer A ktion Vorgehen, brauchen n u r energisch genug zu behaupten,
daß ihnen jed er Kriegsw ille, jed er anim us belligerandi fehlt.
5. D er sogenannte t o t a l e K r i e g hebt den Unterschied von Kom
battanten und N ichtkom battanten auf und kennt neben dem m ilitärischen
auch einen nichtmilitärischen K rieg (W irtschaftskrieg, P ropagandakrieg
usw.) als Ausfluß der Feindschaft. Die A ufhebung der Unterscheidung von
K om battanten und N ichtkom battanten ist hier aber eine (im Hegelschen
Sinne) d i a l e k t i s c h e Aufhebung. Sie bedeutet infolgedessen nicht etwa,
daß diejenigen, die frü h er N ichtkom battanten w aren, sich nunm ehr einfach *
1 Onno Ο n c k e n , Die politischen Streitigkeiten im Völkerrecht; ein Beitrag zu
den Grenzen der Staatengerichtsbarkeit, Berlin 1936.
* Vgl. Die Friedenswarte, Januarheft 1932, S. 1—13, mit Heft 3/4 von 1938, S. 140:
ferner Nr. 19 unserer Sammlung oben S. 162.
250 Uber das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind
nicht einzusehen, w arum n u r der K riegführende und nicht auch der N eu
trale rein dezisionistisch entscheiden soll. D er I n h a l t der N eu tralitäts
pflichten erw eitert sich m it der E rw eiterung des K riegsinhaltes. Wo m an
aber nicht m ehr unterscheiden kann, was K rieg und was F rieden ist, da
wird es noch schwerer zu sagen, was N eu tralität ist.
D er Aufsatz von Sir John Fisher W illiams dagegen sieht die F rage in
der umfassenden Perspektive eines W eltreiches. E r hat, über periphere
Sonderfälle und ephem ere Zwischenbestimmungen hinweg, den großen
Ernstfall im Auge, der die Frage einer neuen W eltordnung zur Entscheidung
stellt. E r spricht nicht vom totalen Kriege, obwohl er in der Sache deutlich
genug ist. Das an Umfang w adisende Schrifttum über den totalen Krieg
behandelt und betont zum großen Teil Erfahrungstatsachen, deren zwangs
läufige W irklichkeit heute niem and m ehr verkennt und mit denen alle
wirklichen Großmächte längst rechnen, w enn sie auch gleichzeitig neue
Zwischenbestimmungen zur Verm eidung des totalen E rnstfalles oder neue
Methoden der Verschleierung in ihre Berechnung einbeziehen und es im
übrigen für richtiger halten, von der T otalität nicht zuviel Lärmens zu
machen und die moralischen R eserven nicht vor dem w irklichen Ernstfall
zu mobilisieren. Infolgedessen w ird bei der E rörterung dieses großen neuen
Problem s vielfach übersehen, daß die G erechtigkeit das erste und wichtigste
E rfordernis der T otalität jed e r A useinandersetzung ist. O hne Gerechtig
keit ist jed e r Totalitätsanspruch hohl, ebenso wie um gekehrt ohne den Mut
und die K raft zur T otalität der gerechte K rieg n u r eine leere Phrase ist.
D aher ist auch die V orbereitung des gerechten Krieges ein wesentlicher
B estandteil der gewaltigen, alle G ebiete des menschlichen Lebens erfassen
den Arbeit, die für die weltpolitische G egenw artslage kennzeichnend ist.
Es handelt sich also um den gerechten Krieg. Von der Möglichkeit eines
heiligen Krieges wollen w ir hier absehen, weil die europäischen Nationen
der heutigen agnozistisch-positivistischen Geistesverfassung einen heiligen
Krieg wohl m ehr als eine m ittelalterliche A ngelegenheit empfinden, wenn
sie auch — wie die Erfahrungen des W eltkrieges gegen Deutschland lehren
— auf die propagandistische M obilisierung der moralischen Reserven, die
n u r durch einen „Kreuzzug“ erfaßt w erden, wahrscheinlich nicht verzichten
mögen. Die Gerechtigkeit des Krieges aber w ird durch bestim m te völker
rechtliche Verfahrensw eisen organisiert und „positiviert*“, die zw ar von
allgem einer A nerkennung noch w eit entfernt sind, ihre politische Bedeutung
aber doch unter diesem Gesichtspunkt erhalten. A lle Bem ühungen der
Nachkriegszeit um eine einleuchtende Definition des Angreifers, um die
Institutionalisierung des G enfer V ölkerbundes, um die sichere Bestimmung
des Friedensbrechers, haben ihren politischen Sinn darin, brauchbare K ri
terien des gerechten Krieges zu finden. G egenüber dem völkerrechtlich
gerechten Kriege gibt es dann keine N eutralität m ehr. D er Aufsatz von Sir
John F isher W illiams hat diesen K ernpunkt richtig erkannt. Es kommt ihm
dabei nicht auf juristische Begriffe und Präzisierungen an; ob der Genfer
V ölkerbund ein Staatenbund oder ein Bundesstaat, eine Gemeinschaft oder
eine Gesellschaft ist, ob man die Satzung als V ertrag oder als Verfassung
ansehen soll, ist ihm uninteressant. Es kom mt ihm auch nicht darauf an,
daß sich jed er M itgliedstaat aktiv an den Sanktionsm aßnahm en beteiligt;
ausschlaggebend ist nur, daß das R e c h t derjenigen Staaten, die im Rahmen
der K ollektivaktion aktiv werden, auch von den nichtaktiven Staaten an-
Völker rechtliche Neutralität und völkische Totalität 255
17 1682
258 Völkerrechtliche Neutralität und völkische Totalität
17*
260 Völkerrechtliche Neutralität und völkische Totalität
in der Logik des Dezisionismus selbst begründet1. Die A ntw ort ergibt sich
hier eigentlich automatisch aus der dualistischen Fragestellung von selbst,
weil diese eben ganz auf den staatlichen W illen und auf den Kollisionsfall
bezogen ist. D aß ein nationaler staatlicher Richter im Kollisionsfall das
nationale staatliche Recht anzuwenden hat, ist ganz selbstverständlich und
liegt in der staatlichen Stellung und der staatlichen G ebundenheit des
Richters als eines vom Staat beauftragten staatlichen A m tsträgers be
gründet. Ein kirchlicher Richter w ürde im analogen F all nichtkirchliches
Recht ebenfalls auf G rund einer Geltungserstreckung des kirchlichen Rechts
anwenden. Ebenso selbstverständlich w ürde, wenn es wirklich einen Über
oder zwischenstaatlichen internationalen Richter gäbe, für diesen im Kolli
sionsfalle das internationale Recht Vorgehen. N ur ist das Übergewicht und
die Selbstverständlichkeit staatlichen Rechtsdenkens so groß, daß es einen
solchen nichtstaatlichen, übernationalen Richter heute nirgendwo gibt. Die
Richter der C our Perm anente de Justice Internationale im Haag sind heute
noch Staatsangehörige ihres H eim atstaates und diesem zur Treue und zum
Gehorsam verpflichtet. Soweit ihr internationales Amt ihnen in dieser H in
sicht eine größere F reiheit gibt, b eruht das nu r auf einer Zumessung durch
ihren nationalen H eim atstaat. Solange sie englische, amerikanische, fra n
zösische, italienische Staatsangehörige bleiben, müssen sie sich in einem
ernsthaften Konflikt oder Kollisionsfall zwischen nationalem und internatio
nalem Recht fü r das nationale staatliche Recht entscheiden. Sonst geraten sie
in einen Raum der Internationalität und Zwischenstaatlichkeit, dessen Luft
für ein isoliertes Individuum heute doch wohl noch zu k a lt und zu dünn
ist. Eine dezisionistisch auf das H andeln eines staatlich erm ächtigten und
staatlich gebundenen Richters im Kollisionsfall gerichtete Fragestellung
kann n u r nach dem form alen G eltungsgrund fragen und muß von selbst
bei der form alen Staatlichkeit und bei der alleinigen M aßgeblichkeit des
staatlichen Gesetzesbefehls landen.
Das staatlich-dezisionistische D enken hat im 19. Jahrhundert über das
Common-Law-Denken gesiegt. D er Sieg des sog. „Positivismus“ ist nur
der Sieg dieser D enkw eise12. Das Völkerrecht w ird dadurch staatlicher
Wille, der sich in typischer W eise durch einen als V ertrag oder G ew ohnheit
entscheidenden Konsens äußert. Das innerstaatliche Recht w ird ebenfalls
staatlicher W ille, der sich hier in typischer Weise durch ein staatliches
Gesetz äußert. M erkw ürdig ist dabei, daß es in beiden Hinsichten zu einem
Dualism us kommen konnte. Man sollte meinen, die unwiderstehliche Macht
des staatlichen W illens m üßte nach außen wie nach innen, völkerrechtlich
wie innerstaatlich, zu einer unbedingten Einheitlichkeit führen. Es hat auch
nicht an Versuchen gefehlt, nach beiden Seiten hin diesen Monismus zu
1 Weiteres bei Carl Schmitt, Über die drei Arten des reditswissenschaftlichen
Denkens, Hamburg 1934 (Darlegung der Verschiedenheit von normativistischem,
dezisionistischem und konkretem Ordnungsdenken); dazu jetzt G.A.Walz, Artgleich
heit gegen Gleichartigkeit, die beiden Grundprobleme des Rechts. Hamburg 1938
(Schriften der Akademie für Deutsches Recht), S. 19.
2 Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, a. a. O. S. 29 ff.
266 Über die zwei großen „Dualismen44 des heutigen Reditssystems
konstruieren. H ierzu sei als neueres Beispiel für den ersten D ualism us das
Buch von Ludwig S c h e c h e r , Deutsches A ußenstaatsrecht, B erlin 1931,
für den zweiten Dualism us K e l s e n s bekannte norm ativistische Theorie
von der juristischen Gleichheit des öffentlichen und p riv a ten Rechts
erw ähnt. Das G eltungsdenken ist eben im m er form al und fü h rt infolge
dessen logisch imm er zu form alen, die B esonderheiten der konkreten
O rdnungen mißachtenden Identitäten. D ie P rax is aber h a t u n b e irrt an
beiden Dualism en festgehalten. G erade in einem Land, das den Staats
gedanken zuerst in aller Schärfe entw ickelt hat, in F rankreich, w urde auch
die innerstaatliche Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht am
schärfsten und folgerichtigsten herausgebildet, m it einer dualistischen Auf
spaltung der innerstaatlichen G erichtsbarkeit in Zivilgerichte und V erw al
tungsgerichte. Nicht in allen Staaten des 19. Ja h rh u n d e rts ist diese saubere
A ufteilung so folgerichtig zu Ende gebildet w orden, aber sie ist doch
meistens ebenfalls vorhanden.
Ebenso m erkw ürdig ist es, daß bei dieser A usbildung des innerstaat
lichen Dualism us die Frage nach der R angordnung von öffentlichem und
privatem Recht in der Sache sonderbar zw iespältig b eantw ortet w ird. F o r
mal ist auch hier die Entscheidung sehr einfach : G eltungsgrund und „Q uelle“
allen Privatrechts liegen im staatlichen V erfassungsrecht, also im öffent
lichen Recht. Jus privatum sub tu te la ju ris publici. A ber fü r einen folge
richtigen K onstitutionalism us steht doch gerade das V erfassungsrecht in der
Sache w iederum im Dienst von „F reiheit und E igentum “, und zw ar von
F reiheit und Eigentum des einzelnen Privaten. D er form ale G eltungsgrund
hat hier, ebensowenig wie im V ölkerrecht, die inhaltliche F rage nicht ent
scheiden können. Was die form- und begriffsbildende K raft angeht, hinsicht
lich der juristischen A usbildung und hinsichtlich der wissenschaftlichen
W ertschätzung, w ird dem P rivatrecht und seiner W issenschaft in W irklichkeit
meistens der höhere Rang zugeschrieben. Es bestim m t die S tru k tu r des
rechtswissenschaftlichen Denkens. G. A. W alz h at recht, w enn er sagt: „Vor
dem Forum des Privatrechts m ußte sich der Publizist juristisch legiti
m ieren1.“ Den m eisten Fachjuristen erscheint das öffentliche Recht als eine
wechselnde, schnell veränderliche A ngelegenheit, w äh ren d sie das Privat-
recht in seinen G rundzügen und G rundbegriffen fü r „ew ig“ halten.
Dieses handgreifliche M ißverhältnis von form aler G eltungsüberlegen
heit des öffentlichen und fachlicher Ü berlegenheit des p riv aten Rechts
bedarf einer E rklärung. D er H au p tgrund scheint m ir d arin zu liegen, daß
das Privatrecht, hinter der Fassade der form alstaatlichen G eltungskonstruk
tionen und unter dem Dualism us von öffentlich und P rivat, in W irklichkeit
eben doch als ein gemeines Recht, als latentes Common Law im Sinne der
alten Nichtstaatlichkeit und Einheitlichkeit w eiterlebt. D as mag sich in den
verschiedenen Ländern, die den D ualism us von öffentlichem und privatem
Recht kennen, außerordentlich verschieden äußern, ist aber in irgendeiner
1 Artgleichheit gegen Gleichartigkeit, a. a. O S. 21.
Uber die zwei großen „Dualismen“ des heutigen Rechtssystems 267
der E igenart gerade des internationalen P riv a tredits w irk t dieser D ualis
mus hier besonders äußerlich, weil hier die Substanz eines europäischen
Gemeinrechts w eit m ehr als im Völkerrecht ohne w eiteres sichtbar ist.
Auch da, wo bestehende Institutionen dieses Gem einrechts einen neuen
Inhalt bekommen, wie Ehe und Fam ilie durch die Rassengesetzgebung,
w ird diese europäische Gemeinschaft keineswegs verneint. Ich habe in
einem \ ortrag über „Die nationalsozialistische Gesetzgebung und der Vor-
behalt des ordre public im Internationalen Privatrecht1“ gezeigt, in welchem
Maße die deutsche Gesetzgebung hier durchaus „defensiven“ C h a ra k te r
hat, und w enn F ritz R e u in seinem Buche (S. 81) bem erkt, es gebe angriffs
lustige und, wie er sagt, „bescheidene“ internationale P riv a tr echte, so hätte
er in jenem V ortrag einiges zu diesem Them a finden können. Sobald mit
der Vorstellung einer „Fam ilie der europäischen N ation“ als einer kon
kreten O rdnung E rnst gemacht w erde, muß auch die lebendige Substanz
gemeinsamer, nicht ausschließlich staatlich gesetzter Rechtsbegriffe und Insti
tutionen, m it anderen W orten ein Gem einrecht an erk an n t w erden. D ann zeigt
sich, daß der D ualism us von staatlich und nichtstaatlich auf den bloßen Kon
fliktsfall beschränkt, also ein spezifisch dezisionistisch-form aler G edanke ist.
Diese W irklichkeit eines substanzhaft noch vorhandenen Gem einrechts
w ird allerdings im Internationalen P rivatrecht meistens als unpolitisch
empfunden, so daß bei einem inhaltlichen Gegensatz der in Betracht kom
menden N orm en im allgem einen der V orbehalt des „O rdre public“ als
Sicherheitsventil genügt. A nders liegt das Problem im V ölkerrecht, nam ent
lich auf dem eigentlich politischen Gebiet, im Kriegs- und N eutralitätsrecht.
Vielleicht können h ier einige A ndeutungen, die nur als A nregungen ge
meint sind, zum Bew ußtsein bringen, w ie sehr die V orstellung einer durch
gängigen Sphäre des Privatrechts völkerrechtlich von Bedeutung ist.
Die sogenannte kontinentale A uffassung des Krieges, die grundsätzlich
zwischen K om battanten und Nicht-K om battanten unterscheidet, setzt diese
innerstaatliche Unterscheidung einer öffentlichen von einer p rivaten
Rechtssphäre voraus. Auch hier m üßte die dualistische K onstruktion die
Rechtslage dahin auffassen, daß sie den G egenstand je n e r Unterscheidung
als internationales, den G eltungsgrund aber als innerstaatliches Recht
behandelt, was offenbar den K ern der Sache nicht trifft. Entsprechendes
gilt im N eutralitätsrecht. D ie Regelung des 5. H aager Abkommens vom
18. O ktober 1907 (insbesondere A rt. 16—18) unterscheidet bekanntlich aus
drücklich zwischen der N e u tra litä t des Staates als solchen und den H and
lungen n e u tra le r Personen, d. h. der Staatsangehörigen n eu traler Staaten
und erblickt im p riv a t rechtlichen H andeln dieser Staatsangehörigen zum
Beispiel in der Ü bernahm e von K riegslieferungen oder der G ew ährung von
D arlehen an eine kriegführende Macht keine V erletzung der völkerrecht
lichen N eutralitätspflicht des n eu tralen Staates. Ob sich das angesichts der
1 Gehalten am 28. November 1935 in Berlin in der Sitzung der International Law
Assoçiation, veröffentlicht in der Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht, 1936.
S .204 f .
270 Uber die zwei großen „Dualismen“ des heutigen Redrtssy stems
18 1682
274 Neutralität und Neutralisierungen
kratien die geistige Rüstung für ihren „gerechten K rieg“. H ier scheinen
sie noch zu glauben, in der Offensive zu sein. Auch das wissenschaftliche
Ansehen und die respectability berühm ter Juristen w eiden hier als Kampf
m ittel eingesetzt. D iejenigen deutschen Rechtswahrer, denen der Sinn eines
solchen Kampfes noch verschlossen sein sollte, verw eise ich auf den Aufsatz
von J. W. G arner im Januar-H eft 1939 des „Am erican Journal of Inter
national Law “ : „T heNazi proscription of germ an professors of international
law “, mit seineu Beschimpfungen Deutschlands und seinem unzweideutigen
Schluß. Vielleicht genügt das, um jedem von uns den Intensitätsgrad der
gegenw ärtigen weltpolitischen Auseinandersetzung zu dokum entieren und
ihm die eigene Situation zum Bew ußtsein zu bringen.
I.
Die innerstaatlich-verfassungsrechtliche Neutralisierung von Staat
und Regierung
Die Geschichte der europäischen Staatsw erdung ist eine Geschichte der
N eutralisierung konfessioneller, sozialer und anderer Gegensätze inner
halb des Staates. D er Staat selbst, als eine machina machinarum, w ar
seinem Wesen nach neutral und konnte auf die D auer nichts anderes sein.
D er liberale Konstitutionalism us des 19. Jahrhunderts führte diesen Neu
tralisierungsprozeß w eiter, indem er auch die staatliche Regierung erfaßte
und den absoluten Fürsten in ein neutrales, von der aktiven Regierung
abgetrenntes Staatsoberhaupt verw andelte. Es ist bezeichnend, daß die
Theorie und die Form el vom König als „neutraler G ew alt“, vom pouvoir
neutre, durch den aus Lausanne stam menden Rom antiker Benjam in Con
s ta n t nach der N iederlage Napoleons I. im Jahre 1814 aufgestellt w urde1.
Die Spitze der Staatsgew alt w ird dadurch von der Regierung abgetrennt.
Aus dem mit dem Staate sich identifizierenden absoluten Monarchen w ird
eine innenpolitisch indifferente Größe, die nicht einm al in dem Gegensatz
von Regierungs- und O ppositionspartei Stellung nehmen darf. D er in der
Teilung steckende K ern einer W ahrheit, nämlich die Unterscheidung von
auctoritas und potestas, kommt nur gelegentlich zur A usw irkung.
Die verfassungsgeschichtliche Bedeutung dieser Lehre und die Praxis
des neutralen Staatsoberhaupts sind bisher noch nicht, wie sie es ver
dienten, in einer erschöpfenden G esam tdarstellung in den großen Zu
samm enhang der innerpolitischen Geschichte des 19. Jahrhunderts ein
gefügt worden. Im Zwielicht ih rer innenpolitischen N eutralität haben die
verschiedenen konstitutionellen Könige und Staatspräsidenten im 19. und
20. Jah rhundert oft sehr verschiedene Rollen, gute und böse, gespielt, und
manche Methoden „indirekter G ew alt“ ausgebildet, die nach Lage der
innenpolitischen Verhältnisse nützlich und vorteilhaft sein konnten.
Institutionell aber tritt in diesem System dev neutralen G ew alt immer ein
n eu tralisierter „Staatschef“ einem politischen „Regierungschef“ gegenüber
1 Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 132/33.
Neutralität und Neutralisierungen 275
lb*
276 Neutralität und Neutralisierungen
der P arteiführer der Parlam entsm ehrheit regiert? Die politischen Tages-
meinungen aller bürgerlichen Parteien, auch der konservativen und der
freikonservativen, konnten sich im G runde nichts anderes denken. Manche
Äußerungen Bismarcks bestätigten diese Auffassung, und der allerhöchste
Erlaß vom 4. Januar 1882 gab ihr eine A rt Sanktion1. D ie staatsrechtliche
Wissenschaft und die allgemeine Staatslehre bew egten sich in denselben
Begriffsgeleisen und standen, wie Rudolf Smend richtig bem erkt*2, den
eigentlichen a rca n a im p e r ii der überaus kom plizierten Verfassung des
Zweiten Reiches viel zu fern, als daß sie gegenüber einem offiziell gewor
denen Begriffsschema etwas anderes hätten denken können. B efreien w ir
uns also einen Augenblick von der Suggestion dieser A ntithese und achten
w ir lieber auf das wirkliche V erhalten und die w irklichen V orstellungen
der regierenden Kaiser des Zweiten Reiches und einiger an d erer Persön
lichkeiten, von denen man annehm en kann, daß sie die A rk an a des Reiches
und die innersten Bereiche seiner V erfassungsw irklichkeit aus näh erer
W ahrnehmung kannten als die P arlam en tarier und Professoren dieser
Epoche. Dann zeigt sich bald, daß jene L ehre vom nicht-neutralen, konsti
tutionellen deutschen Monarchen vielleicht fü r den preußischen Staat
einen gewissen taktischen Sinn haben konnte, daß sie aber gegenüber der
Reichsregierung des Zweiten Reiches in jed e r Hinsicht versagt hat und
höchstens geeignet ist, die Tatsache zu verschleiern, daß durch die bundes
staatliche Verteilung der Regierung auf Reich und P reußen und die un
widerstehlich fortschreitende N eutralisierung der R eichsregierung auch der
Staat Preußen in diesen N eutralisierungsprozeß hineingezogen w urde.
1. Das deutsche Kaiserreich der Verfassung Bismarcks hatte nicht nur
kein „verantwortliches“ Staatsoberhaupt, sondern auch keinen wirklich
regierenden Kaiser. Wilhelm I. wollte schon für Preußen ein „konstitutionell
korrekter“ Monarch sein. Aber seine königliche Macht in Preußen war
stark, die Armee gehorchte nur ihm, und das Beamtentum war ihm treu.
Als König von Preußen hatte er nicht etwa einen wirklichen Regierungs
chef, auch keinen Premierminister zur Seite, sondern ein Kollegium von
Ministern, unter denen jedenfalls der Kriegsminister und der Finanz
minister ihren eigenen Standpunkt durchsetzen konnten und, was das in
einem solchen Verfassungsaufbau wichtigste Recht ist, den Zugang zum
König hatten. Der Ministerpräsident war bekanntlich nur Vorsitzender
des Ministerrates, nur primus inter pares. Die großen Monarchen haben zu
allen Zeiten gewußt, was das Premierministersystem für ihre königliche
Macht3 bedeutet. Trotz dieser starken Stellung des Königs mußte es in
Ablehnung der Trennung von régner und gouverner hat sich Bismarck
an?; n Januar 1882, bei der Erörterung des Erlasses vom 4. Januar 1882, ausführlich
geäußert.
2 Der Einfluß der deutschen Staats- und Verwaltungsrechtslehre des 19. Jahr-
Bd I Vr (lW9) ga| ^ e^en *n Verfassung und Verwaltung, Deutsche Rechtswissenschaft,
3 Die Mahnung Ludwigs XIV. an seinen Sohn und seine Nachfolger lautet: «Quant
aux personnes qui dévoient seconder mon travail, je résolus, sur toutes choses, de
ne prendre point de premier ministre; et, si vous m’en croyez, mon fils, et tous vos
Neutralität und Neutralisierungen 277
sein, sind so tra u rig und in einer so peinlichen W eise m ißlungen, daß sich
an diesem Mißerfolge die W irklichkeit der Verfassungslage in einer
geradezu erschütternden Weise enthüllt. Im W iderstand gegen solche w irk
lichen oder verm eintlichen Versuche eines persönlichen Regiments und in
dem Bestreben, den K aiser über seine konstitutionellen G renzen zu be
lehren und ihn zu einer neutralen Größe zu erziehen, w aren sich in k riti
schen Augenblicken alle P arteien von rechts bis links, K onservative und
Liberale, Föderalisten und U nitarier, plötzlich einig. W ährend der soge
nannten N ovem berkrisis 1908, die aus A nlaß der Veröffentlichungen im
„D aily T elegraph“ vom 28. O ktober 1908 entstand, haben nicht etw a n u r
der B undesrat und die P arteien des Reichstags, einschließlich der Kon
servativen Partei, gegen dieses A ktivw erden des Monarchen Stellung
genommen, sogar das Preußische Staatsm inisterium faßte am 10. November
1908 einstimmig einen Beschluß, in dem es den H e rrn Reichskanzler und
M inisterpräsidenten bat, „Seiner M ajestät auch namens des Staatsm iniste
riums über den Ernst der Lage und die Notw endigkeit V ortrag zu halten,
daß Seine M ajestät alles verm eiden wollen, was eine ähnliche K ritik
herausfordern w ürde“1. D er K aiser persönlich wollte auch in W ahrheit
durchaus konstitutionell k o rre k t sein. „Habe ich jem als einen einzigen
Schritt getan, der als Eingriff in unsere Staatsverfassung aufgefaßt w erden
konnte?“ fragte er einmal den Fürsten Eulenburg12. Seine eigene Auffassung
von der verfassungsm äßigen Stellung eines deutschen K aisers hat er in
seinen „Ereignissen und G estalten aus den Jahren 1878 bis 1918“3 auf das
klarste form uliert. „G estützt darauf, daß der K anzler nach der Verfassung
allein die V erantw ortung für die ausw ärtige Politik zu tragen hat, schaltete
und w altete er (der Reichskanzler) frei nach Belieben. Das A usw ärtige Amt
durfte m ir n u r m itteilen, was dem K anzler paßte, so daß ich oft über wich
tige A ngelegenheiten nicht inform iert w orden bin. D aß das überhaupt
möglich w ar, liegt an der Reichsverfassung.“ Im Anschluß an diese v er
fassungsgeschichtliche Feststellung fügt der K aiser eine verfassungsrecht
liche D arlegung über das V erhältnis von K aiser und K anzler nach der
Reichsverfassung von 1871 im allgem einen an, wobei er betont, daß er h ier
nicht über sein V erhältnis zu H errn von Bethm ann persönlich, „sondern
ganz unpersönlich über die Schwierigkeiten in dem V erhältnis des deut
schen Kaisers zu den Reichskanzlern“ spreche, „die ihren G rund in der
Reichsverfassung h atten “. U nter den sechs Punkten, die er zu diesem
Thema aufstellt, kom men hier besonders vier in Betracht, die wörtlich
zitiert seien:
2. Der Kaiser hat auf die auswärtige Politik nur insoweit Einfluß, als der
Kanzler ihm einräumt.
3. Der Kaiser kann seinen Einfluß geltend machen im Wege der Diskussion,
Information, Anregung, durch Vorschläge und die Berichterstattung über seine auf
1 Vgl. die anschauliche und lehrreiche Darstellung dieser Krise bei H. E. F e i n e ,
Das Werden des deutschen Staates, Stuttgart 1936, S. 370 ff.
2 Johannes v. H a l l e r , Aus dem Leben des Fürsten Philipp zu Eulenburg-
Hertenfeld, 1924, S. 255/56.
3 Leipzig und Berlin 1922, S. 116—118.
280 Neutralität und Neutralisierungen
Reisen empfangenen Eindrücke, die dann als Ergänzung zu den politischen Berichten
der Botschafter oder Gesandten der Länder, die er persönlich besuchte, gilt.
5. Verfassungsmäßig hat der Kaiser kein Mittel, den Kanzler und das Auswärtige
Amt zur Annahme seiner Ansichten zu zwingen; er kann den Kanzler nidit zu einer
Politik veranlassen, die dieser nicht verantworten zu können glaubt; besteht der
Kaiser auf seiner Auffassung, so kann der Kanzler seinen Abschied anbieten oder
fordern.
6. Auf der anderen Seite besitzt der Kaiser kein verfassungsmäßiges Mittel, den
Kanzler und das Auswärtige Amt an einer Politik zu hindern, die er für bedenklich
oder falsch hält; es bleibt ihm, wenn der Kanzler auf seiner Auffassung besteht,
nur übrig, zum Kanzlerwedisel zu sdireiten; jeder Kanzlerwechsel ist aber eine
schwierige, in das Leben der Nation tief eingreifende Prozedur und deshalb in Zeiten
politischer Verwicklung und Hochspannung äußerst bedenklidi, eine ultima ratio,
die um so gewagter ist, als die Zahl der für diesen anormal ausgewachsenen Posten
geeigneten Männer sehr gering ist.
Soweit der K aiser selbst. D ieser verfassungsrechtlichen K larstellung
eines Staatsoberhauptes, das 30 Jahre regiert hat, w ird man einen gewissen
authentischen C h arak ter nicht absprechen können. D er K aiser versichert,
„es sein ein Beweis völliger U nkenntnis der früheren deutschen Reichs
verfassung“, den Kaiser für alles allein verantw ortlich zu machen, wie das
„seitens kritischer Besserwisser und nörgelnder U m stürzler“ geschehen sei.
Ich glaube nicht, daß diese verfassungsrechtliche Auffassung des Kaisers
eine bloß nachträgliche K onstruktion ist, die n u r dazu dienen soll, die Ver
antw ortlichkeit für das Unglück des W eltkrieges von ihm abzuwälzen. Sie
ist keine bloße Ausrede. Vielm ehr haben, wie eben erw ähnt, viele
b ittere persönliche E rfahrungen der V orkriegszeit den deutschen Kaiser
des Zweiten Reiches zu dieser, der konstitutionalistischen Folgerichtigkeit
entsprechenden N eutralität allmählich erzogen und über die w ahre Bedeu
tung der Form el von den persönlich regierenden deutschen Monarchen
gründlich belehrt. D araus e rk lä rt sich auch die n eutrale H altung, die er
w ährend des W eltkrieges, insbesondere in den kritischen Jahren 1916 bis
1918, im wachsenden Maße angenommen hat, bis er schließlich, wie v. Moser
in seiner anschaulichen Schilderung sagt, zum bloßen „Allerhöchsten Zu
hörer und Zuschauer der W eltbegebenheiten“ geworden w ar. Besser als mit
diesen W orten läßt sich das Ideal eines monarchischen pouvoir neutre nicht
umschreiben. D er deutsche K aiser des W eltkrieges übte nicht einmal die
Rolle eines höchsten, die M einungsverschiedenheiten und Gegensätze der
politischen und der m ilitärischen Führung entscheidenden Schiedsrichters
aus, so daß bereits damals, 1917/18, auf m ilitärischem G ebiet der G eneral
feldm arschall v. H indenburg, der ,Chef des G eneralstabes, unter dem
O bersten K riegsherrn in eine A rt von konstitutioneller Position hinein
wuchs, w ährend Erich Ludendorff, u n ter dem Nam en eines G eneral
quartierm eisters, der aktive Befehlshaber Avar. Trotz der Stellung als
O berster K riegsherr, trotz des angeblichen Unterschiedes eines aktiven,
deutsch-konstitutionellen Monarchen von einem passiven, englisch- oder bel
gisch-parlam entarischen Monarchen, hat der deutsche K aiser des Zweiten
Reiches nidit regiert, und zwar, wie er selbst sagt, deshalb nicht, weil ihm die
Reichsverfassung das nicht erlaubte.E s ist eine F rage für sich,ob es politisch
vernünftig w ar, so konstitutionell zu bleiben. A ber m an darf die damalige
Neutralität und Neutralisierungen 28t
I
284 Neutralität und Neutralisierungen