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Positionen und Begriffe

im Kampf m it W e im a r -G e n f—V ersailles


1 9 2 3 -1 9 3 9

Von

C a rl S c h m i t t

Hanseatische Verlagsanstalt Hamburg


G e d r u c k t in der H anseatischen Verlagsanstalt A k tie n g e se lls ch a ft, Hamburg -Wandsbek
Copyright 1940 by Hanseatische Verlagsanstalt Aktiengesellschaft, Hamburg 36 / Printed in Germany
Vorwort
Man kann, sagt H eraklit, nickt zweim al durch denselben F luß gehen.
So kann man auch nicht zweimal dieselbe Rede halten oder denselben A uf­
satz schreiben. Die folgenden Reden und Aufsätze aus den Jahren 1923 bis
1939 sind dieser W ahrheit in vollem Maße unterw orfen und w ollen ihr in
keiner Weise entgehen. Sie sind in einem bestim m ten Augenblick in den
Fluß der Zeit eingegangen und heute längst nicht m ehr in m einer Hand.
Die Benennung „Reden und Auf sätze“ träfe freilich nicht ganz zu. Manches
ist w eder Rede noch Aufsatz, sondern Vorlesung; anderes n u r k urze Zu­
sammenfassung. Mancher Begriff wächst erst nach w iederholten Ansätzen
und U m kreisungen ans Licht. Die beiden Abschnitte über die innenpolitische
N eutralität (S. 157) und über das V erhältnis von K rieg und Feind (S. 244)
sind nicht m ehr als begriffsklärende Übersichten, wie sie sich bei Sem inar­
übungen ergeben. Sie um reißen einen Fragenbereich und dienen dazu, im
W irrw a rr der Schlagworte die F rage richtig zu stellen. Es ist zw ar längst
bekannt, daß jede A ntw ort von der Fragestellung abhängt, doch ist das für
viele wichtige Fragen des Verfassungs- und Völkerrechts praktisch kaum
beachtet. In den westlichen D em okratien w erden heute noch große P ro­
bleme des 20. Jahrhunderts un ter den Fragestellungen der T alleyrand-
und der Louis-Philipp-Zeit behandelt und entsprechend beantw ortet. In
Deutschland hat die rechtswissenschaftliche E rörterung solcher Problem e
dem gegenüber einen großen Vorsprung. W ir haben das durch E rfahrungen
erkauft, die oft h a rt und b itter w aren, aber der V orsprung ist unbestreitbar.
Alles w eitere ist auf den folgenden Seiten gedruckt zu lesen. Nach
langer A rbeit in meinem Fach kenne ich viele V orreden aller A rt. D a r­
u nter sind manche, in denen der A utor versucht, nahe- oder fernliegende
Bedenken vorw egzunehm en und allen möglichen törichten oder bös­
artigen U nterstellungen durch gute und ehrliche W orte zuvorzukommen.
Solche A utoren hoffen, einer spezifischen Berufsgefahr, den „Geschossen
der V erleum dung“, den „tela calum niae“, zu entgehen. A ber auch den
Besten und K lügsten u nter ihnen ist das nicht gelungen. D arum w ill ich
mich nicht dam it aufhalten. Doch grüße ich jeden echten Gegner, und vor
keinem weiche ich aus, der sich m ir auf dem Wege der wissenschaftlichen
W ahrheit stellt. Möge also jed er nach seinem Sinn sich dieses bequemen
Zugangs zu m einen Reden und Aufsätzen bedienen. „W illkommen, gut
und bös!“

20. August 1939 Carl Schmitt


Inhaltsverzeichnis
Seite
1. Die politische Theorie des Mythus (1923) ................................................. 9
2. Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staats­
begriff (1924) .................................................................................................................. 19
3. Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik (1925) ................................... 26
4. Der Status quo und der Friede (1925) .................................................................. 33
5. Das Doppelgesicht des Genfer Völkerbundes (1926) ........................................... 43
6. Zu Friedrich Meineckes „Idee der Staatsräson“ (1926) ....................................... 45
7 . Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie (1926) 52
8. Der Begriff des Politischen (1927) .......................................................................... 67
9. Donoso Cortes in Berlin, 1849 (1927) ...................................................................... 75
10. Demokratie und Finanz (1927) .................................................................................. 85
11. Der Völkerbund und Europa (1928) ..................'.................................................... 88
12. Völkerrechtliche Probleme im Rheingebiet (1928) ............................................... 97
13. Wesen und Werden des faschistischen Staates (1929) ....................................... 109
14. Der unbekannte Donoso Cortés (1929) ................................................................ 115
15. Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen (1929) .............. 120
16. Staatsethik und pluralistischer Staat (1930) ........................................................ 133
17. Die Wendung zum totalen Staat (1931) ................................................................ 146
18. Übersicht über die verschiedenen Bedeutungen und Funktionen der inner­
politischen Neutralität des Staates (1931) .............................................................. 158
19. Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus (1932) ......................... 162
20. Schlußrede vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig in dem Prozeß Preußen
contra Reich (1932) ....................................................................................................... 180
21. Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland (1933) ........................... 185
22. Reich - Staat - Bund (1933) ..................................................................................... 190
23. Der Führer schützt das Recht (1934) ...................................................................... 199
24. Über die innere Logik der Allgemeinpakte auf gegenseitigen Beistand (1935) 204
25. Die siebente Wandlung des Genfer Völkerbundes (1936) ............................... 210
26. Vergleichender Überblick über die neueste Entwicklung des Problems der
gesetzgeberischen Ermächtigungen; „Legislative Delegationen“ (1936) .......... 214
27. Über die neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte (1936) ........................... 229
28. Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat (1937) .............................................. 235
29. Der Begriff der Piraterie (1937) ............................................................................. 240
30. Über das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind (1938) ........................... 244
31. Das neue Vae Neutris! (1938) ................................................................................... 251
6 Inhaltsverzeichnis

Seile
32. Völkerrechtliche Neutralität und völkischeTotalität (1938) .............................. 255
33. Uber die zwei großen „Dualismen“ desheutigen Rechtssystems (1939) .. 261
34. Neutralität und Neutralisierungen (1939) ........................................................... 271
35. Großraum gegen Universalismus (1939) ........................................................... 295
36. Der Reichsbegriff im Völkerrecht (1939) ........................................................... 303
Hinweise ....................................................................................................................... 313
Sachregister .................................................................................................. 318
Namenregister .............................................................................................................. 320

*
l. Die politische Theorie des Mythus (1923)
Es darf hier wiederholt werden, daß unsere Betrachtung ihr Interesse
konsequent auf die ideelle G rundlage politischer und staatsphilosophischer
Tendenzen richtet, um die geistesgeschichtliche Situation des heutigen
Parlam entarism us und die K raft der parlam entarischen Idee zu erkennen.
Lag in der Marxistischen D ik tatu r des Proletariats immer noch die Möglich­
keit einer rationalistischenD iktatur, so beruhen die Lehren von der direkten
Aktion alle m ehr oder weniger bew ußt auf einer Irrationalitätsphilosophie.
In der W irklichkeit, wie sie in der bolschewistischen Herrschaft auftrat,
zeigte sich, daß im politischen Leben sehr verschiedene Ström ungen und
Tendenzen nebeneinander w irksam sein können. Obwohl die bolsche­
wistische Regierung aus politischen G ründen die Anarchisten unterdrückte,
enthält der Komplex, in dem sich die bolschewistische A rgum entation ta t­
sächlich bewegt, ausgesprochen anarcho-syndikalistische Gedankengänge,
und daß die Bolschewisten ihre politische Macht gebrauchen, um den
Anarchismus auszurotten, vernichtet die geistesgeschichtliche V erw andt­
schaft ebensowenig, wie die U nterdrückung der Levellers durch Crom well
seinen Zusammenhang mit ihnen auf hebt. Vielleicht ist der M arxismus auf
russischem Boden gerade so hemmungslos aufgetreten, weil hier das prole­
tarische D enken von allen Bindungen w esteuropäischer T radition und allen
den moralischen und Bildungsvorstellungen, in denen M arx und Engels noch
ganz selbstverständlich lebten, endgültig gelöst w ar. Die Theorie von der
D ik tatu r des Proletariats, wie sie heute offiziell ist, w äre zwar ein schönes
Beispiel dafür, wie ein der geschichtlichen Entwicklung sich bew ußter
Rationalism us zur G ew altanw endung schreitet; auch lassen sich in der G e­
sinnung, in der A rgum entation, in der organisatorischen und adm inistrativen
D urchführung zahllose P arallelen zur jakobinischen D ik tatu r von 1793
zeigen, und die ganze Unterrichts- und Bildungsorganisation, die von der
Sow jetregierung im sogenannten „P roletkult“ geschaffen w urde, ist ein
herrlicher F all einer radikalen E rziehungsdiktatur. A ber damit ist noch
nicht erklärt, w arum gerade auf russischem Boden die Ideen des Industrie­
proletariats m oderner G roßstädte zu solcher Herrschaft gelangen konnten.
D er G rund liegt darin, daß neue, irrationalistische Motive der G ew alt­
anwendung mit w irksam gewesen sind. Nicht der aus einer extrem en Über­
treibung in sein Gegenteil umschlagende Rationalism us, der in Utopien
phantasiert, sondern eine neue Bew ertung rationalen Denkens überhaupt,
ein neuer Glaube an Instinkt und Intuition, der jeden G lauben an die Dis­
kussion beseitigt und es auch ablehnen w ürde, durch eine Erziehungs­
diktatu r die Menschheit reif zur Diskussion zu machen.
10 Die politische Theorie des Mythus

Von den Schriften der Theorie einer direkten A ktion ist in Deutschland
eigentlich nur Enrico F erris „revolutionäre M ethode“ dank der Übersetzung
von Robert Michels (in der Grünbergschen Sammlung der H auptw erke des
Sozialismus) bekanntgew orden. D ie D arlegung im folgenden h ält sich an
die „Réflexions sur la violence“ von Georges Sorel1, die den geistesgeschicht­
lichen Zusammenhang am deutlichsten erkennen lassen. Dies Buch hat
außerdem den Vorzug zahlreicher origineller historischer und philosophi­
scher Aperçus und bekennt sich offen zu seinen geistigen Ahnen, zu P ro u ­
dhon, B akunin und Bergson. Sein Einfluß ist bedeutend größer, als m an auf
den ersten Blick erkennen könnte, und ist sicher noch nicht erledigt. Bene­
detto Croce m einte zwar von Sorel, er habe dem m arxistischen Traum eine
neue Form gegeben, doch habe bei der A rbeiterschaft der demokratische
G edanke endgültig gesiegt. Nach den Ereignissen in R ußland und in Italien
w ird man das nicht m ehr so endgültig annehm en können. Die G rundlage
jen e r Reflexionen über die G ew alt ist eine Theorie unm ittelbaren kon­
k reten Lebens, die von Bergson übernom m en und u n ter dem Einfluß von
zwei Anarchisten, Proudhon und Bakunin, auf Problem e des sozialen Lebens
übertragen wird.
F ü r Proudhon und für B akunin bedeutet Anarchismus einen Kam pf
gegen jede A rt systematischer Einheit, gegen die zentralisierende U ni­
form ität des m odernen Staates, gegen die parlam entarischen Berufs­
politiker, gegen B ürokratie, M ilitär und Polizei, gegen den als m etaphysi­
schen Zentralismus empfundenen Gottesglauben. Die Analogie der beiden
Vorstellungen von Gott und Staat drängte sich Proudhon unter dem Einfluß
der Restaurationsphilosophie auf. E r gab ih r eine revolutionäre, an ti­
staatliche und antitheologische W endung, die B akunin zur letzten Konse­
quenz geführt h a t*23*. Die konkrete Individualität, die soziale W irklichkeit
des Lebens w ird in jedem um fassenden System vergew altigt. D er E inheits­
fanatism us der A ufklärung ist nicht w eniger despotisch wie die Einheit und
Identität der m odernen D em okratie. Einheit ist Sklaverei; auf Z entralis­
mus und A utorität beruhen alle tyrannischen Institutionen, mögen sie nun,
wie in der m odernen D em okratie, durch das allgem eine W ahlrecht sanktio­
n iert sein oder nicht8. B akunin gibt diesem Kam pf gegen G ott und Staat
den C h arak ter eines Kampfes gegen Intellektualism us und gegen die über­
lieferte Form der Bildung überhaupt. E r sieht — m it gutem G rund — in der
Berufung auf den V erstand eine Prätention, das H aupt, der Kopf, das
G ehirn einer Bewegung zu sein, also w ieder eine neue A utorität. Auch die
Wissenschaft hat nicht das Recht, zu herrschen. Sie ist nicht das Leben, sie
schafft nichts, sie konstruiert und erhält, aber sie versteht nu r das A llge­
meine, das A bstrakte und opfert die individuelle F ülle des Lebens auf dem
A ltar ih rer A bstraktion. Die K unst ist für das Leben der Menschheit
! nack ^er ^ Auflage, Paris 1919; erste Publikation 1906 im „Mouvement
socialiste .
2 Politisdie Theologie, S. 45.
3 B a k u n i n , Oeuvres t. IV, Paris 1910, p. 428 (in der Auseinandersetzung mit
Marx aus dem Jahre 1872), II p. 34, 42 (das Referendum als neue Lüge).
Die politische Theorie des Mythus 11

wichtiger als die Wissenschaft. D erartige Ä ußerungen Bakunins stimmen


mit G edanken von Bergson überraschend überein und sind mit Recht h er­
vorgehoben w orden1. Aus dem unm ittelbaren, imm anenten Leben der
A rbeiterschaft selbst hat man die Bedeutung der Gewerkschaften und ihrer
spezifischen Kampfmittel, besonders des Streikes, erkannt. So w urden
Proudhon und Bakunin die Väter des Syndikalismus. Aus dieser Tradition,
gestützt auf Argumente, die er der Philosophie Bergsons entnahm , ent­
standen die Gedanken von Sorel. In ihrem M ittelpunkt steht die Theorie
vom M ythus. Sie bedeutet den stärksten Gegensatz zum absoluten R ationa­
lismus und seiner D iktatur, aber auch, weil sie eine Lehre unm ittelbarer
aktiver Entscheidung ist, zu dem relativen Rationalism us des ganzen Kom­
plexes, der sich um Vorstellungen wie Balancierung, öffentliche Diskussion
und Parlam entarism us gruppiert.
Die K raft zum H andeln und zu einem großen Heroismus, alle große
geschichtliche A ktivität, liegt in der Fähigkeit zum M ythus. Beispiele solcher
M ythen sind für Sorel: die Vorstellung von Ruhm und großem Namen bei
den Griechen, oder die E rw artung des Jüngsten Gerichts im alten C hristen­
tum, der G laube an die „v ertu“ und an die revolutionäre F reiheit w ährend
der großen Französischen Revolution, die nationale Begeisterung der deut­
schen Freiheitskriege von 1813. In der K raft zum M ythus liegt das K rite­
rium dafür, ob ein Volk oder eine andere soziale G ruppe eine historische
Mission hat und sein historischer Moment gekommen ist. Aus der Tiefe
echter Lebensinstinkte, nicht aus einem Räsonnement oder einer Zweck­
m äßigkeitserw ägung, entspringen der große Enthusiasmus, die große
moralische Dezision und der große Mythus. In unm ittelbarer Intuition
schafft eine begeisterte Masse das mythische Bild, das ihre Energie vorw ärts­
treib t und ih r die K raft zum M artyrium wie den Mut zur Gew altanw endung
gibt. N ur so w ird ein Volk oder eine Klasse zum Motor der Weltgeschichte.
Wo das fehlt, läßt sich keine soziale und politische Macht m ehr halten, und
kein mechanischer A pparat kann einen Damm bilden, wenn ein neuer
Strom geschichtlichen Lebens losbricht. Demnach kommt alles darauf an, wo
heute diese F ähigkeit zum M ythus und diese vitale K raft wirklich lebt.
Bei der m odernen Bourgeoisie, dieser in Angst um Geld und Besitz ver­
kommenen, durch Skeptizismus, Relativism us und Parlam entarism us
moralisch zerrütteten Gesellschaftsschicht, ist sie gewiß nicht zu finden. Die
Herrschaftsform dieser Klasse, die m oderne D em okratie, ist nur eine
„demagogische P lu to k ratie“. W er ist also heute der T räger des großen
Mythus? Sorel sucht zu beweisen, daß nu r noch die sozialistischen Massen
des Industrieproletariats einen M ythus haben, und zw ar im G eneralstreik,
an den sie glauben. Es ist viel w eniger wichtig, was der G eneralstreik heute
wirklich bedeutet, als welchen G lauben das P ro letariat mit ihm verbindet,
zu welchen T aten und O pfern er es begeistert, und ob er eine neue Moral
zu produzieren verm ag. D er G laube an den G eneralstreik und an eine
1 Fritz B r u p b a c h e r , Marx und Bakunin, ein Beitrag zur Gesdiidite der inter­
nationalen Arbeiterassoziation (ohne Jahreszahl), S. 74 ff.
12 Die politische Theorie des Mythus

durch ihn herheizuführende ungeheure K atastrophe des ganzen sozialen


und wirtschaftlichen Lebens gehört daher zum Leben des Sozialismus. Aus
den Massen selbst, aus der U nm ittelbarkeit industrieproletarischen Lebens,
ist er entstanden, nicht als eine Erfindung von Intellektuellen und L iteraten,
nicht als eine Utopie; denn die Utopie ist nach Sorel ein P ro d u k t ratio n a­
listischen Geistes und will nach einem mechanischen Schema von außen das
Leben meistern.
Das bürgerliche Ideal friedlicher V erständigung, bei der alle ihren V or­
teil finden und jeder ein gutes Geschäft macht, w ird unter den Gesichts­
punkten dieser Philosophie zu einer A usgeburt feigen Intellektualism us;
die diskutierende, transigierende, parlam entierende V erhandlung erscheint
als ein V errat am Mythus und an der großen Begeisterung, auf die alles an ­
kommt. Dem m erkantilen Bild von der Balance tritt ein anderes entgegen,
die kriegerische Vorstellung einer blutigen, definitiven, vernichtenden E nt­
scheidungsschlacht. Gegen den parlam entarischen K onstitutionalism us tra t
dieses Bild 1848 von beiden Seiten auf: von der Seite der überlieferten O rd ­
nung im konservativen Sinne, rep räsen tiert durch einen katholischen
Spanier, Donoso Cortes, und im radikalen A narchosyndikalism us bei
Proudhon. Beide verlangen eine Entscheidung. Alle G edanken des Spaniers
bewegen sich um den großen Kam pf (la gran contienda), um die furchtbare
K atastrophe, die bevorsteht und die n u r von der m etaphysischen F eigheit
eines diskutierenden Liberalism us v erkannt w erden kann; und Proudhon,
für dessen Denken hier die Schrift „La G uerre et la P a ix “ charakteristisch
ist, spricht von der den Gegner vernichtenden Napoleonischen Schlacht, der
„Bataille Napoléonienne“. Alle G ew altsam keiten und Rechtsverletzungen,
die zu dem blutigen Kampf gehören, erhalten, nach Proudhon, ihre geschicht­
liche Sanktion. Statt der relativen, einer parlam entarischen B ehandlung
zugänglichen Gegensätze erscheinen jetz t absolute A ntithesen. „Es kom m t
der Tag der radikalen V erneinungen und der souveränen B ejahungen“ ;
keine parlam entarische Diskussion k ann ihn aufhalten; das von seinen
Instinkten getriebene Volk w ird die K atheder der Sophisten zerschlagen1
— alles Äußerungen von Donoso, die wörtlich von Sorel stam m en könnten,
nur daß der Anarchist auf der Seite der Instin kte des Volkes steht. F ü r
Donoso ist der radikale Sozialismus etw as G roßartigeres als die liberale
Transigenz, weil er auf die letzten Problem e zurückgeht und auf rad ik ale
Fragen eine entscheidende A ntw ort gibt, weil er eine Theologie hat. G erade
Proudhon ist hier der Gegner, nicht w eil er der 1848 am m eisten genannte
Sozialist w ar, gegen den M ontalem bert eine berühm te P arlam entsrede ge­
halten hatte, sondern weil er ein radikales P rinzip rad ik al v e rtritt. D er große
Spanier verzw eifelte angesichts der dummen A hnungslosigkeit der Legiti-
misten und der feigen Schlauheit der Bourgeoisie. N ur beim Sozialismus
sah er noch das, was er Instinkt (el instinto) nannte, w oraus er den Schluß
zog, daß auf die D auer alle P arteien fü r ihn arbeiten. So gew innen die
1 „Llegua el dia de las negationes radicales o de las afirmaciones soberanas"
Obras IV p. 155 (in dem Lssay über Katholizismus, Liberalismus und Sozialismus)
Die politische Theorie des Mythus 13

Gegensätze w ieder geistige Dimensionen und oft eine geradezu eschato-


logisdie Spannung. Anders als bei der dialektisch konstruierten Spannung
des Hegelischen M arxismus handelt es sich hier um unm ittelbare, intuitive
G ew alt und um mythische Bilder. M arx konnte von der Höhe seiner Hege-
lischen Schulung Proudhon als einen philosophischen D ilettanten behandeln
und ihm zeigen, wie arg er Hegel m ißverstanden hatte. H eute w ürde ein
rad ik aler Sozialist mit Hilfe einer heute m odernen Philosophie M arx
zeigen können, daß er hier n u r ein Schulmeister w ar und noch ganz in der
intellektualistischen Überschätzung westeuropäisch-bürgerlicher Bildung
stedcte, w ährend der arm e, abgekanzelte Proudhon jedenfalls den Instinkt
für das wirkliche Leben arbeitender Massen besaß. In den Augen von
Donoso w ar der sozialistische Anarchist ein böser Dämon, ein Teufel, und für
Proudhon ist der K atholik ein fanatischer G roßinquisitor, über den er zu
lachen versucht. Daß hier die beiden eigentlichen G egner w aren und alles
andere provisorische H albheit, ist heute leicht zu erkennen.
Alle die kriegerischen und heroischen Vorstellungen, die sich mit Kampf
und Schlacht verbinden, w erden von Sorel w ieder ernst genommen. Sie sind
die großen Impulse intensiven Lebens. Das P ro letariat muß den Klassen­
kam pf ernst nehmen, als einen w irklichen Kampf, nicht als ein Stichwort
für Parlam entsreden und demokratische W ahlagitation. Es versteht ihn aus
einem Lebensinstinkt, nicht wissenschaftlich konstruierend, sondern eine
große M ythe schaffend, die ihm den Mut zur Entscheidungsschlacht gibt. F ü r
den Sozialismus und seinen Klassenkam pfgedanken besteht daher keine
größere G efahr als B erufspolitiker und Beteiligung am parlam entarischen
Betrieb. Sie zerm ürbt den großen Enthusiasm us in Geschwätz und Intrige
und tötet alle echten Instinkte und Intuitionen, aus denen die moralische
Dezision entspringt. Was das menschliche Leben an W ert hat, kommt nicht
aus einem Räsonnement; es entsteht im Kriegszustände bei Menschen, die,
von großen mythischen B ildern beseelt, am Kampfe teilnehm en. Es hängt
ab „d’un état de guerre auquel les hommes acceptent de participer et qui se
trad u it en m ythes précis“ (Réflexions p. 319). Kriegerische, revolutionäre
Begeisterung und die E rw artung ungeheurer K atastrophen gehören zur
Intensität des Lebens und bewegen die Geschichte. A ber der Schwung muß
aus den Massen selbst kommen; Ideologen und Intellektuelle können ihn
nicht erfinden. So sind die Revolutionskriege von 1792 entstanden; so die
Epoche, die Sorel m it R enan als die größte Epopöe des 19. Jahrhunderts
feiert, nämlich die deutschen F reiheitskriege von 1813. Aus der irrationalen
Lebensenergie einer anonymen Masse entspringt aller Heroismus.
Jede rationalistische D eutung w ürde die U nm ittelbarkeit des Lebens
fälschen. D er M ythus ist, wie erw ähnt, keine Utopie; denn diese, ein P ro­
dukt räsonnierenden Denkens, fü h rt höchstens zu Reformen; den kriege­
rischen Elan darf man nicht mit einem M ilitarismus verwechseln; und vor
allem will die G ew altanw endung dieser Irrationalitätsphilosophie etwas
anderes sein als D iktatur. Sorel haßt, wie Proudhon, allen Intellektualis­
mus, alle Zentralisierung, Uniform ierung und verlangt doch auch, wie
14 Die politische Theorie des Mythus

Proudhon, strengste Disziplin und Moral. Die große Schlacht w ird kein
W erk wissenschaftlidier Strategie sein, sondern eine „accum ulation d’ex­
ploits héroïques“ und eine Entfesselung der „force individualiste dans les
masses soulevées“ (Réflexions p. 376). Die schöpferische Gewalt, wie sie
aus der Spontaneität enthusiasm ierter Massen bricht, ist infolgedessen
etw as anderes als D iktatur. Rationalism us und alle Monismen, die ihm
folgen, Zentralisation und U niform ität, ferner die bürgerlichen Illusionen
von dem großen Mann, gehören nach Sorel zur D iktatur. Ihr praktisches
R esultat ist systematische Unterjochung, justizförm ige G rausam keit und
ein mechanischer A pparat. Die D ik tatu r ist nichts als eine aus rationalisti­
schem Geist geborene m ilitärisch-bürokratisch-polizeiliche Maschine. Die
revolutionäre G ew altanw endung der Massen dagegen entspringt dem un­
m ittelbaren Leben, oft w ild und barbarisch, aber niem als systematisch
grausam und unmenschlich.
D ik tatu r des Proletariats bedeutet auch für Sorel, wie für jeden, der den
geistesgeschichtlichen Zusammenhang sieht, eine W iederholung von 1793.
W enn der Revisionist Bernstein die Meinung ausgesprochen hat, diese
D ik tatu r w erde verm utlich die eines Klubs von Rednern und L iteraten sein,
so dachte er eben an die Im itation von 1793, und Sorel erw idert ihm
(Réflexions, p. 251): die Vorstellung einer D ik tatu r des Proletariats ist ein
E rbteil aus dem ancien régime. Sie hat zur Folge, daß man, wie die Jako­
biner es getan haben, einen neuen bürokratischen und m ilitärischen A pparat
an die Stelle des alten setzt. Das w äre eine neue H errschaft von Intellek­
tuellen und Ideologen, aber keine proletarische Freiheit. Auch Engels, von
dem das W ort stammt, daß es bei der D ik tatu r des Proletariats zugehen
w erde wie 1793, ist in den Augen von Sorel ein typischer R ationalist1. A ber
daraus folgt nicht, daß es bei der proletarischen Revolution revisionistisch-
friedlich-parlam entarisch zugehen müßte. Vielm ehr tritt an die Stelle der
mechanisch-konzentrierten Macht des bürgerlichen Staates die schöpferische
proletarische Gewalt, an die Stelle der „force“ die „violence“. Diese ist nur
ein kriegerischer Akt, keine juristisch und adm inistrativ form ierte Maß­
nahme. M arx hat die Unterscheidung noch nicht gekannt, weil er noch in
den überlieferten politischen V orstellungen lebte. Die proletarischen, nicht­
politischen Syndikate und der proletarische G eneralstreik sind spezifisch
neue Kampfmethoden, die eine W iederholung der alten politischen und
m ilitärischen M ittel ganz unmöglich machen. F ü r das P ro letariat gibt es daher
n u r eine G efahr, daß es sich seine K am pfm ittel durch die parlam entarische
D em okratie aus der H and nehmen und p aralysieren läßt (Réflexions p. 268).
W enn m an einer so entschieden irrationalistischen Theorie mit A rgu­
m enten entgegentreten darf12, so w ird man auf m ehrere Unstim m igkeiten
1 Matériaux d’une théorie du prolétariat, Paris 1919, p. 53.
2 Daraus, daß er sich auf Bergson stützt, wird man keinen Einwand gegen Sorel
entnehmen können. Er legt eine Philosophie konkreten Lebens seinen politischen
Theorien des Antipolitisdien, d. h. des Antiintellektuellen, zugrunde, und eine soldie
Philosophie hat, wie der Hegelianismus, im konkreten Leben viele versdiiedene
Seiten. In Frankreich hat Bergsons Philosophie gleichzeitig einer Rückkehr zur kon-
Die politische Theorie des Mythus 15

hinw eisen müssen, nicht also auf Fehler im Sinne einer abstrakten Logik,
sondern auf unorganische W idersprüche. Zunächst versucht Sorel die rein
ökonomische Basis des proletarischen Standpunktes beizubehalten und geht,
trotz m ancher Einwände, immer entschieden von M arx aus. Er hofft, das
P ro le ta riat w erde eine Moral ökonomischer Produzenten schaffen. D er
K lassenkam pf ist ein Kampf, der sich auf ökonomischer Basis mit ökonomi­
schen M itteln abspielt. Im vorigen K apitel w urde gezeigt, daß M arx aus
einer systematischen und logischen Notw endigkeit seinem Gegner, dem
Bourgeois, auf das ökonomische G ebiet gefolgt ist. H ier hat also der Feind
das T e rra in bestimmt, auf dem m an käm pft, und auch die Waffen, d. h. die
S tru k tu r der Argum entation. W enn m an dem Bourgeois auf das ökono­
mische Gebiet folgt, w ird man ihm auch in D em okratie und Parlam entaris­
mus folgen müssen. A ußerdem w ird man ohne den wirtschaftlich-technischen
Rationalism us der bürgerlichen Ökonomie sich vorläufig wenigstens auf
ökonomischem Gebiete nicht bewegen können. D er vom kapitalistischen
Z eitalter geschaffene Mechanismus der Produktion hat eine rationalistische
Gesetzm äßigkeit in sich. Aus einer M ythe kann m an wohl den Mut schöpfen,
ihn zu zerschlagen; soll er aber w eitergeführt w erden, soll die Produktion
sich noch w eiter steigern, was auch Sorel selbstverständlich will, so w ird
das P ro letariat auf seinen M ythus verzichten müssen. Ebenso wie die
Bourgeoisie w ird es durch die Übermacht des Produktionsmechanism us in
eine rationalistische und mechanistische M ythenlosigkeit hineingeraten.
H ier w ar M arx auch im vitalen Sinne konsequenter, weil er rationalistischer
w ar. A ber vom Irratio n alen aus gesehen, w ar es ein V errat, noch ökono­
mischer und noch rationalistischer sein zu wollen als die Bourgeoisie.
B akunin h at das durchaus richtig empfunden. Die Bildung und Denkweise
von M arx blieben noch im Ü berlieferten, das hieß damals im Bürgerlichen,
so daß er in eine geistige A bhängigkeit von seinem G egner geriet. Trotzdem
h at er gerade durch seine K onstruktion des Bourgeois eine für den M ythus
im Sinne von Sorel unentbehrliche A rbeit geleistet.
Die große psychologische und geschichtliche Bedeutung der M ythen­
theorie kann gar nicht geleugnet werden. Audi die mit den M itteln Hege-
lischer D ialektik unternom m ene K onstruktion des Bourgeois hat dazu ge­
dient, ein Bild von einem G egner zu schaffen, auf das alle Affekte von Haß
und Verachtung sich häufen konnten. Ich glaube, die Geschichte dieses
Bildes vom Bourgeois ist ebenso wichtig wie die Geschichte des Bourgeois
servativen Tradition, zum Katholizismus und einem radikalen, atheistischen An­
archismus gedient. Das ist keineswegs ein Zeichen innerer Falschheit. In dem Gegen­
satz der Rechts- und Links-Hegelianer hat dies Phänomen eine interessante Analogie.
Man könnte sagen, daß eine Philosophie selber aktuelles Leben hat, wenn sie leben­
dige Gegensätze belebt und die kämpfenden Gegner als lebendige Feinde gruppiert.
Unter diesem Gesichtspunkt ist es beachtenswert, daß nur Gegner des Parlamentaris­
mus aus Bergsons Philosophie diese Belebung geschöpft haben. Der deutsche Libera­
lismus der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte, im Gegensatz dazu, den Begriff des
Lebens gerade für das parlamentarisch-konstitutionelle System verwertet und im
Parlament den lebendigen Träger der Gegensätze des sozialen Lebens gesehen;
vgl. oben Kap. II.
16 Die politische Theorie des Mythus

selbst. Eine zuerst von A ristokraten geschaffene Spottfigur w ird im 19. J a h r­


hundert von romantischen K ünstlern und D ichtern w eitergeführt. Seitdem
die W irkung von Stendhal sich v erbreitet, verachten alle L iteraten den
Bourgeois, auch w enn sie von ihm leben oder w enn sie zur L ieblingslektüre
eines bürgerlichen Publikum s w erden, w ie M urger m it seiner Bohème.
W ichtiger als solche K arik atu ren ist der H aß sozial deklassierter Genies,
wie B audelaire, der dem Bild im m er neues Leben gibt. Diese in Frankreich
von französischen A utoren angesichts des französischen Bourgeois ge­
schaffene Figur stellen M arx und Engels in die Dim ensionen einer w elt­
geschichtlichen K onstruktion. Sie geben ih r die B edeutung des letzten
R epräsentanten einer in Klassen zerteilten Menschheit, des letzten Feindes
der Menschheit überhaupt, des letzten odium generis hum ani. So w urde das
Bild unendlich erw eitert und m it einem großartigen, nicht nu r weltgeschicht-
lidien, sondern auch m etaphysischen H in terg ru n d nach dem Osten w eiter-
getragen. H ier konnte es dem russischen H aß gegen die K om pliziertheit,
K ünstlichkeit und den Intellektualism us w esteuropäischer Zivilisation
neues Leben geben und von ihm selber neues Leben empfangen. Auf
russischem Boden vereinigten sich alle Energien, die dieses Bild geschaffen
hatten. Beide, der Russe w ie der P ro letarier, sahen je tz t im Bourgeois die
Inkarnation alles dessen, was wie ein tödlicher Mechanismus ihre A rt Leben
zu knechten suchte.
Das Bild w ar von W esten nach O sten gew andert. H ier aber bemächtigte
sich seiner ein M ythus, der nicht m ehr rein aus K lassenkam pfinstinkten
wächst, sondern starke nationale Elem ente enthält. Sorel hat, als eine A rt
Testam ent, der letzten A uflage seiner Reflexionen über die G ew alt 1919
eine Apologie für Lenin beigefügt. E r nennt ihn den größten T heoretiker,
den der Sozialismus seit M arx gehabt hat, und vergleicht ihn als Staatsm ann
m it P eter dem Großen, n u r daß heute um gekehrt nicht m ehr ein w esteuro­
päischer Intellektualism us R ußland sich assim iliert, vielm ehr um gekehrt
die proletarische G ew altanw endung hier m indestens eines erreicht hat,
nämlich, daß R ußland w ieder russisch gew orden ist, M oskau w ieder die
H auptstadt, und daß die europäisierte, ih r eigenes Land verachtende
russische Oberschicht vernichtet w urde. D ie proletarische G ew altanw en­
dung h at R ußland w ieder moskowitisch gemacht. Im Munde eines in te r­
nationalen M arxisten ist das ein m erkw ürdiges Lob, denn es zeigt, daß die
Energie des N ationalen größer ist als die des K lassenkam pfm ythus. Auch
die anderen Beispiele von M ythen, die Sorel erw ähnt, beweisen, soweit sie
in die neuere Zeit fallen, die Ü berlegenheit des N ationalen. D ie revolutio­
nären K riege des französischen Volkes, die spanischen und deutschen F re i­
heitskäm pfe gegen Napoleon sind Sym ptom e einer nationalen Energie. Im
N ationalgefühl sind verschiedene Elem ente auf höchst verschiedenartige
W eise bei den verschiedenen V ölkern w irksam : die m ehr n atu rh aften Vor­
stellungen von Rasse und Abstamm ung, ein anscheinend m ehr fü r kelto-
romanische Stämme typischer „terrism e“; dann Sprache, T radition, Bew ußt­
sein gemeinsam er K ultur und Bildung, Bew ußtsein einer Schicksalsgemein-
Die politische Theorie des Mythus 17

schaft, eine Empfindlichkeit für das Verschiedensein an sich — alles das


bewegt sich heute eher in der Richtung zu nationalen als zu Klassengegen­
sätzen. Beides kann sich verbinden, w ofür als Beispiel die Freundschaft
zwischen dem M ärtyrer des neuen irischen Nationalbew ußtseins, Padraic
Pearse, und dem irischen Syndikalisten Connolly genannt sei, die beide als
O pfer des D ubliner Aufstandes 1916 starben. Auch kann ein gemeinsamer
ideeller G egner eine m erkw ürdige Übereinstim mung bew irken; so trifft
die A blehnung der Freim aurerei durch den Faschismus zusammen m it dem
H aß von Bolschewisten gegen diesen „perfidesten Betrug der A rbeiterklasse
durch eine radikalisierende Bourgeoisie“1. A ber wo es zu einem offenen
Gegensatz der beiden M ythen gekommen ist, hat bis heute der nationale
M ythus gesiegt. Von seinem kommunistischen Feind hat der italienische
Faschismus ein grausiges Bild entw orfen: das mongolische Gesicht des
Bolschewismus; es hat sich als w irkungsvoller erw iesen als das sozialistische
Bild vom Bourgeois. Bisher gibt es n u r ein einziges Beispiel dafür, daß unter
bew ußter Berufung auf den M ythus D em okratie und Parlam entarism us
verächtlich beiseitegeschafft w urden, und das w ar ein Beispiel für die
irrationale K raft des nationalen Mythus. In seiner berühm ten Rede vom
O ktober 1922 in Neapel, vor dem Marsch auf Rom, sagte Mussolini: „W ir
haben einen M ythus geschaffen, der M ythus ist ein Glaube, ein edler
Enthusiasmus, er braucht keine R ealität zu sein, er ist ein A ntrieb und eine
Hoffnung, G laube und Mut. U nser M ythus ist die Nation, die große Nation,
die w ir zu einer konkreten R ealität machen wollen.“ In derselben Rede
nennt er den Sozialismus eine inferiore Mythologie. D ie geistesgeschicht­
liche Bedeutung dieses Beispiels ist deshalb so groß, weil der nationale
Enthusiasm us auf italienischem Boden eine demokratische und parlam en­
tarisch-konstitutionelle T radition hatte und die nationale Einigung Italiens
u nter demokratischen Ideen zustande gekommen ist. —
D ie Theorie vom M ythus ist der stärkste Ausdruck dafür, wie sehr der
relative Rationalism us des parlam entarischen Denkens an Evidenz verloren
hat. D aß anarchistische A utoren aus Feindschaft gegen A utorität und Ein­
heit die Irratio n alität des Mythischen entdeckt haben, konnte nicht hindern,
daß sie an der G rundlage einer neuen A utorität, eines neuen Gefühls für
O rdnung, D isziplin und H ierarchie m itgearbeitet haben. Die ideelle G efahr
dieser Irratio n alitäten ist groß. Letzte, wenigstens in einigen Resten noch
bestehende Zusam m engehörigkeiten w erden aufgehoben in dem P luralis­
mus einer unabsehbaren Zahl von Mythen. F ü r die politische Theologie ist
das Polytheism us, wie jed e r M ythus polytheistisch ist. A ber als gegen­
w ärtige ideelle Tendenz kann man ihn nicht ignorieren. Vielleicht hat der
parlam entarische Optimismus die Hoffnung, auch diese Bewegung zu rela­
tivieren und, wie im faschistischen Italien, alles über sich ergehen zu
lassen, bis w ieder diskutiert w ird, vielleicht auch die Diskussion selbst zur
Diskussion zu stellen, sofern n u r eben diskutiert wird. Doch w ird es nicht12
1 Äußerung Trotzkis über die Freimaurerei auf dem 4. Weltkongreß der dritten
Internationale (l.D ez. 1922).

2 1682
18 Die politische Theorie des Mythus

ausreichen, wenn er nach solchen Angriffen auf seine Fundam ente n u r d a r­


auf hinweisen kann, daß es für ihn immer noch keinen Ersatz gibt, w enn er
also den antiparlam entarischen Ideen n u r sein „Parlam entarism us — was
sonst“? entgegenzusetzen vermag.
2. Der Begriff der modernen Demokratie
in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff (1924)
D en Begriff der modernen D em okratie bestimm t T h o m a 1 nach dem,
„was heute nun einmal herrschender Sprachgebrauch ist“. Danach ist
je d e r Staat demokratisch, der auf „dem Fundam ent des allgemeinen und
gleichen W ahlrechts“ beruht. Das demokratische Ideal von Freiheit und
Gleichheit läßt zwar im Bereich des Demokratischen eine Unterscheidung
von radikalem ( = egalitärem ) und liberalem ( = antiegalitärem ) Demo­
kratism us zu; der egalitäre D em okratism us führt konsequent zu Volks­
entscheiden über alle wichtigen Fragen, wirtschaftlich zum Kommunismus,
w ährend der liberale die rechtliche Gleichheit nur als die Grundlage eines
die natürliche Ungleichheit cler Menschen frei entfaltenden sozialen Lebens
ansieht; verfassungstechnisch äußert sich der Gegensatz der beiden Ideale
von F reiheit und Gleichheit in den beiden A rten der m odernen Dem okratie,
der repräsentativen und der gemischten (die letzte ist eine mit radikal-
demokratischen Einbauten, wie Referendum , Volksinitiative, Recall usw.
versehene repräsentative D em okratie, da es praktisch keine reine unm ittel­
bare D em okratie geben kann). Imm er aber bleibt für den Begriff das all­
gemeine und gleiche W ahlrecht aller erwachsenen Staatsangehörigen (nicht
notwendig auch der Frauen) das Wesentliche. Sobald verfassungsmäßig
dieses „Fundam ent“ feststeht, h at die rechtliche und überhaupt die wissen­
schaftliche Behandlung der Angelegenheit eine D em okratie anzunehmen,
ohne w eitere Fragen nach dem wirklichen Herrscher zu stellen. Denn
D em okratie ist ein Rechtsbegriff. Doch bedeutet moderne D em okratie mehr
als eine bloße Staatsform (wie z. B. parlam entarische Monarchie oder die
verschiedenartigen republikanischen Staatsform en); sie kann verschiedene
Form en haben, denn auch in einer Monarchie kann das allgemeine, gleiche
W ahlrecht „Fundam ent des G anzen“ sein. D er einzige ausschließliche
Gegensatz der D em okratie ist jede A rt von Privilegienstaat. Mit der alten
aristotelischen D reiteilung — Monarchie, A ristokratie und D em okratie —
ist die m oderne D em okratie nicht m ehr zu erfassen.
Soweit die teils terminologischen, teils methodologischen K larstellungen
des ersten Kapitels.
Das zweite K apitel unternim m t in ähnlicher Weise eine Begriffsbestim­
mung des m odernen Staates und stellt einen doppelten Staatsbegriff fest.*&
1 Richard T h o m a , Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis
zum Staatsbegriff. Prolegomena zu einer Analyse des demokratischen Staates der
Gegenwart. Erinnerungsgabe für Max Weber, ÎI. Bd., S. 37—64. München, Duncker
& Humblot, 1923.

2*
20 Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff

Die alte, ursprüngliche A uffassung verstand unter „S taat“ den wirklichen,


konkreten „Status“ von H errschaftsm itteln in der H and individueller
M achtfaktoren, regierende H erren und ihre O rganisationen, also eine
„Macht prästierende H errschaftsgruppe“ innerhalb des Volkes. Im G egen­
satz dazu sieht eine m odernere V orstellung im Staat das „Ganze der gegen­
seitigen Bezogenheiten einer H errschaftsorganisation, eines Volkes und
eines Landes“, und macht aus dem Staat eine Körperschaft. Beide Staats­
begriffe haben Recht, zwischen ihnen „ist nicht zu rechten“, m an m uß sie
nur richtig unterscheiden. Als zweckmäßigeren Sprachgebrauch empfiehlt
Thom a „allein dasjenige O b je k t Staat zu nennen, das der allgem eine
Sprachgebrauch und die M ehrzahl der Ju risten so bezeichnen, d. h. den
sinnlich nicht w ahrnehm baren, im vollen Um fang seines Soll-Inhaltes nie­
mals realisierbaren, als E inheit auf gefaßten V erband eines Volkes auf
einem Gebiet unter einer V erbandsorganisation“. D er Staat ist eine Ein­
heit, die nach juristischen und ethischen N orm en sein soll, allerdings kom mt
eine „Kom plikation“ hinzu: die G eltung dieser N orm en kann n u r dann b e­
hauptet werden, wenn sie fü r eine hinreichende Zahl von Menschen rea lite r
Motiv des V erhaltens ist, so daß erst das „Zusammenspiel der ideellen
norm ativen Einheit m it der R ealität einer gewissen tatsächlichen A nerken­
nung“ den Staat ergibt. E rst innerhalb dieses gemeinsam en W ertbegriffes
scheiden sich die D eutungsbegriffe nach ihren Erkenntniszw ecken:
politische H istorie (Staat als historisch-politische Macht), politische Ökono­
m ik (Staat als R egulator und als F a k to r des W irtschaftslebens) und E thik
(Staat als ideale Einheit, welcher Pflichten geschuldet w erden und welche
Pflichten hat). F ü r die Soziologie im Sinne Max W ebers ist der Staat ein
Zusammenspiel von verschieden m otivierten Individualhandlungen, -Unter­
lassungen und -bereitschaften, dessen Ergebnis eine H errschaft einer Viel­
zahl von (in verschiedenen G raden) A nordnenden über eine sehr viel
größere Zahl von Gehorchenden ist; hier ist also das individuelle V erhalten
das im sozialen Geschehen allein Reale, w ährend der juristische Staats­
begriff, indem er eine E inheit über der V ielheit herstellt, synthetisch ist.
D er Staat h at demnach nicht etw a eine juristische und eine soziologische
„Seite“, auch nicht eine „D oppelnatur“, er ist überh au p t kein soziales,
sondern ein „G edankengebilde“. D er juristische Staatsbegriff (Staat =
Körperschaft) ist der äußerste Pol der synthetischen, der soziologische
(Staat == herrschafterzeugender Kom plex von m annigfaltigen sozialen
Verhaltungsweisen) der äußerste Pol einer analytischen Betrachtungsweise.
Die Frage, was der Staat an und fü r sich sei, w ird als eine m etaphysische
Frage unbeantw ortet gelassen (S. 56).
Nachdem das erste K apitel den Begriff der D em okratie, das zweite den
des Staates bestimm t hat, w ird im d ritten das V erhältnis von Staat und
D em okratie behandelt. Ist die m oderne D em okratie eine H errschafts­
organisation und ein dem okratisch geordneter V erband somit ein Staat?
Nach den Ergebnissen der beiden vorangehenden K apitel w ird m an nicht
ein einfaches Ja oder Nein erw arten. Ein Staat im Sinne von V olksverband
Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff 21

und juristischer Person, in der alle H errschaft n u r übertragene O rgan­


kom petenz ist und n u r die Staatspersönlichkeit als Ganzes herrscht, ein
Staat in solchem Sinne ist die D em okratie sogar „verhältnism äßig weniger
fiktiv“ als jede andere Staatsform. Staat im Sinne von herrschender G ruppe
ist sie nicht, doch bilden sich auch in der D em okratie herrschende Gruppen,
nu r sind sie, w enn sie legitim bleiben wollen, gezwungen, durch M ehrheits­
entscheidungen zu herrschen, „die sie m ittels ih rer Argumente, Suggestio­
nen und Vorteilsgew ährungen hinter sich bringen“. Legitime Herrschaft
ist in der D em okratie „Eroberung der staatlichen B etriebsdirektion mit
den gesetzlich erlaubten M itteln des Zusammenschlusses und der Stimmen­
w erbung“. D er V erw altungsapparat, die militärische und soziale Büro­
k ratie regiert zwar den Staat, aber u n ter der Leitung einer anderen H e rr­
schaftsgruppe, nämlich der politischen Parteien, denen es gelang, die Macht
zu erobern. So ist in der D em okratie der einheitliche Status der Macht
zerschlagen, „um einer fluktuierenden Vielheit frei gebildeter G ruppen
den Platz zu räum en“. H errscher in der m odernen D em okratie sind die
H äupter der politischen Parteien. P artei und Presse fordern die Ent­
scheidungen, in denen sich der Volkswille zu betätigen scheint. Homogene
Gesellschaften (z. B. heute noch die Vereinigten Staaten von Amerika)
bilden zw ar unabhängig von Parteisuggestionen eine öffentliche Meinung
(„das Produkt der W echselw irkung zwischen Zeitung und Zeitungsleser“),
das kann m an als eine A rt Volkswillen betrachten. In weniger homogenen
Ländern, namentlich da, wo der Sozialismus oder konfessionelle Gegen­
sätze eine einheitliche Durchschnittsmeinung in allen wichtigen Fragen
ausschließen, ist der Begriff des Volkswillens „um so fiktiver“ (S. 63).
Volkswille ist dann eben der herrschende Parteiw ille, den das Volk duldet.
P arteien sind in jed e r D em okratie notwendig, weil diese nicht in einer
Gesinnungs-, sondern in einer Kampfgemeinschaft ihr eigentliches Lebens­
elem ent hat, in der jede P artei die Macht erobern will. W enn die U nter­
suchung über die Rechtsformen hinaus zu den R ealitäten Vordringen soll,
muß sie zu einer Untersuchung der politischen P arteien und ih rer Beziehun­
gen zu den wirtschaftlichen M achtfaktoren übergehen, die den Parteikam pf
finanzieren.
Mit diesem Ausblick schließt die in ihrem gedanklichen M aterial wie
in präzisierenden Form en außerordentlich reichhaltige Abhandlung. Doch
w erden gerade infolge der etwas zu sehr punktierenden Präzision mancher
W endungen die Stellen sofort sichtbar, an denen die Problem atik im
Interesse einer terminologischen Einigung offengelassen w ird und an denen
Fragen unbeantw ortet bleiben, die man stellen darf, auch wenn die Ab­
handlung n u r Prolegom ena enthalten soll. Die Frage nach dem Begriff der
m odernen D em okratie w ird beantw ortet m it einem Hinweis auf den „heute
nun einm al herrschenden Sprachgebrauch“, auf den „weitläufigen und von
der W issenschaft zu übernehm enden Sprachgebrauch“. Nichts ist weniger
k lar als dieser, das allgem eine und gleiche W ahlrecht zum „Fundam ent
des G anzen“ machende Sprachgebrauch; er unterscheidet ja nicht einmal
22 Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff

zwischen einem W ahlrecht, d. h. einem Recht, periodisch die leitenden


Persönlichkeiten zu bestimm en, und einem Entscheidungsrecht, d. h. dem
Recht, selber, etw a durch Ja oder Nein, sachliche Entscheidungen zu treffen.
W enn W ahlrecht die Benennung persönlicher „R epräsentanten“ bedeutet,
so ist es geschichtlich, psychologisch, begrifflich und in der Idee etw as
anderes als die sachliche Entscheidung. D afür ist die E igenart des Begriffes
der R epräsentation zu stark und seine Bedeutung zu sehr zentral für das
öffentliche Recht. D er heutige Sprachgebrauch b eru h t in W ahrheit darauf,
daß seit dem 19. Jah rh u n d ert das „Volk“ imm er größer w urde und die von
der alten klassischen D em okratie ganz selbstverständlich ausgeschlossene
M a s s e aufnahm . Q uantitativ dehnte sich die Beteiligung am politischen
Leben immer m ehr aus; das w ar der dem okratische Fortschritt. Die Forde­
rung des W ahlrechts der Frauen, die F orderung einer H erabsetzung des
W ahlalters, alles, was die Zahl der W ahlberechtigten verm ehrte, hieß
infolgedessen „dem okratisch“. Es w ar konsequent, die w eitere Ausdehnung
auf sachliche Entscheidungen, R eferenden usw. ebenfalls demokratisch zu
nennen. M ehr läßt sich über den allgem einen Sprachgebrauch nicht sagen;
er m üßte dazu führen, n u r die „egalitären“ Tendenzen als demokratisch
zu bezeichnen. Eine so un k lare W endung w ie „Fundam ent des G anzen“
reicht ebenfalls für eine Begriffsbestim mung nicht aus. D er Sprachgebrauch
kann auch die wichtige Unterscheidung der beiden A rten der D em okratie,
der repräsentativen und der unm ittelbaren, nicht sachlich begründen, er
könnte die repräsentative höchstens als inkonsequentes Residuum und als
Konzession an praktische N otw endigkeiten gelten lassen, welche Konse­
quenz er wohl nur deshalb nicht ziehen darf, weil nun einm al die V er­
einigten Staaten von A m erika den Anspruch erheben, V orkäm pfer der
dem okratischen F reiheit zu sein und ihre politischen W erturteile den
w eitläufigen Sprachgebrauch, d. h. die W eltpresse beherrschen. Aus dem
Sprachgebrauch ist auch nicht die entfernteste A ndeutung dafür zu ent­
nehmen, daß im Kam pf fluktuierender P arteien das Lebenselem ent der
D em okratie liege; der P arteikam pf w ird im G egenteil als ein Übel
betrachtet, und auch D em okraten sehen vielfach gerade in der L abilität
des heutigen Parteiw esens einen G rund fü r die K risis der D em okratie.
W as Thom a von der öffentlichen M einung sagt, daß sie „das P rodukt einer
W echselw irkung zwischen Zeitung und Zeitungsleser“ sei, gilt ebensosehr
von der Bedeutung politisch ak tu eller W orte, und die Bedeutung des
W ortes D em okratie h at sich nicht etw a erst einm al seit A ristoteles, sondern
im letzten Jah rh u n d ert oft geändert, m it den politischen Zielen und
Affekten von Freunden und Feinden. Schon diese ganz naheliegenden
Bedenken machen es unmöglich, den täglich wechselnden Sprachgebrauch
als letzte Instanz zu behandeln. Bei allem R espekt vor der Macht und
U nw iderstehlichkeit dem okratischer V orstellungen braucht man doch auf
dem G ebiet der Begriffsbestimmung die Entscheidung nicht der öffentlichen
M einung zu überlassen.
Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff 23

E rst in der D em okratie soll der Satz, daß der Staat eine Körperschaft
ist, „vollkomm ene W ahrheit“ geworden sein (S. 48). D er Staat als volks-
verbindende juristische Person, die Staatspersönlichkeit, die als solche
selber herrscht (im Gegensatz zu den in concreto herrschenden Menschen
oder G ruppen), ist „in der D em okratie sogar verhältnism äßig w eniger
fiktiv als in jed e r andern Staatsform “ (S. 57). Diese Ä ußerung fällt um so
m ehr auf, als in der soziologischen Betrachtung vom Volkswillen gesagt
w ird, er sei eine „Illusion“, wenn d aru n ter eine bewußte, positive Initiative
verstanden w erden solle; das Volk w ird, nach Hegel, als der Teil der
N ation bezeichnet, der nicht weiß, was er w ill oder, fügt Thoma hinzu,
bestenfalls in einigen A ngelegenheiten weiß, was er (verschiedene G ruppen
aus verschiedenen Motiven) nicht will. In A m erika gebe es noch eine öffent­
liche Meinung, in den europäischen D em okratien sei sie längst proble­
matisch. „U m so f i k t i v e r “, heißt es w eiter (S. 63), „ist der Begriff
des Volkswillens gew orden.“ W ir dürfen in Parenthese bem erken: und
um so bedenklicher die einfache Ü bernahm e des „weitläufigen“ Sprach­
gebrauchs. In der Sache aber erhebt sich ein anderes Bedenken. In
W irklichkeit ist „der ideelle Staatsw ille der D em okratie der auf Volks­
bew illigung oder D uldung beruhende W ille der jew eils herrschenden
Parteiorganisation“ (S. 63). W enn nun der W ille des Staates eine n u r
gedachte Größe ist, dann ist es juristisch gleichgültig, ob man ihn in dem
R esultat der zufällig am W ahl- oder Abstim m ungstag sich ergebenden
M ehrheitsentscheidung findet, oder in der Entscheidung periodisch gewähl­
te r R epräsentanten, oder in der eines dauernden „R epräsentanten der
N ation“, als welcher in der Verfassung von 1791 auch der König auftritt.
J u r i s t i s c h k ann also, wie Thom a seine Begriffe bestimmt, die Demo­
k ratie als Staat nicht in einem besondern Sinne „vollkommene W ahrheit“
sein. D er S taat w ird als ein „G edankending“ definiert und „herrscht“
„als solcher“ in der absolutesten Monarchie oder B ürokratie nicht m ehr
und nicht w eniger fiktiv wie in Rousseaus Korsika.
W eder die B erufung auf den Sprachgebrauch noch eine „form ale“
Betrachtungsw eise können die F rage nach dem V erhältnis von D em okratie
und Staat beantw orten. D afür dürfte m indestens ein w eiterer Schritt
unumgänglich sein, der über die Feststellung, daß D em okratie auf dem
allgem einen, gleichen W ahlrecht beruhe, hinausgeht und der ideellen
S tru k tu r des Begriffes näherkom m t. In W ahrheit hat Thoma diesen Schritt
getan, indem er die D em okratie als „Selbstregierung“ bezeichnet (S. 63).
A llerdings fließt das bedeutungsvolle W ort anders als mit der sonst
beobachteten Sorgfalt, ja B ehutsam keit der Ausdrucksweise, nu r beiläufig
und unversehens ein, aber doch imm er an entscheidender Stelle. Die
„vollkommene W ah rh eit“ der D em okratie im Sinne des „juristischen“
Staatsbegriffs kan n nämlich n u r d arin liegen, daß sie eine „sich selbst
regierende Genossenschaft aller erwachsenen Staatsangehörigen“ ist (S. 46);
ihr ausschließlicher G egensatz ist daher der „Privilegienstaat“, die
prinzipielle V erneinung aller P rivilegien ist ihr wesentlich (S. 44); sie erhält
24 Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff

auf diese W eise eine universale, über den Rang einer einfachen Staatsform
hinausgehende Bedeutung (S. 45). Das alles beweist, daß auch das a ll­
gemeine gleiche W ahlrecht n u r den Sinn hat, die S e l b s t r e g i e r u n g ,
d. h. eine bestimm te A rt Id en tität zu verw irklichen. Eine Definition der
D em okratie muß daher ausgehen von den Identitätsvorstellungen, die
allem demokratischen D enken typisch sind (Identität von H errscher und
Beherrschten, Regierenden und Regierten, Staat und Volk, S ubjekt und
O b je k t politischer A utorität), w orauf ich mehrfach hingew iesen habe1.
Thoma lehnt es ab, seinen Begriff anders als nach dem Sprachgebrauch
zu bestimm en und verzichtet insbesondere ausdrücklich darauf, die Demo­
k ratie nach einem Zusamm enhang m it einer W eltanschauung zu u n ter­
scheiden. „Innere und notw endige V erknüpfungen irgendeiner W elt­
anschauung m it irgendeiner A rt D em okratism us bestehen nicht“ (S. 42
Anm.). Zur W iderlegung von Kelsens Satz, daß der demokratische G edanke
den Relativism us als W eltanschauung voraussetze, w ird bem erkt, angel­
sächsische Independenten, R ationalisten des linken N aturrechts und K atho­
liken seien D em okraten, aber keine R elativisten gewesen. Mit diesem
geschichtlichen Hinweis dürfte kaum w iderlegt sein, daß ein Zusammen­
hang mit einer W eltanschauung möglich ist. N atürlich können demokratische
Forderungen und Institutionen, ebenso wie religiöse, zu politischen M itteln
relativ iert werden. In der T ak tik des außen- und innerpolitischen Kampfes
wie in der konkreten geistesgeschichtlichen Situation kommt es oft zu
m erkw ürdigen Allianzen. Das schließt begriffliche und wesentliche Zu­
samm enhänge mit W eltanschauungen keineswegs aus. Es scheint, als w ollte
der A utor gerade in dieser wichtigen F rage den Leser einer U nklarheit
überlassen. D enn w ährend er zunächst jede H eranziehung einer W elt­
anschauung für die Begriffsbestimmung der D em okratie ablehnt, definiert
er einige Seiten später (S.46) innerhalb der D em okratie ihre beiden A rten
(repräsentative und gemischte D em okratie) nach dem Gegensatz von
„G eistesrichtungen“ innerhalb des „gemeinsamen Ideals der F reiheit und
Gleichheit“. W oher haben Ideale und Geistesrichtungen die K raft, inner­
halb eines Begriffes eine differentia specifica zu konstituieren, w enn sie
nicht mit dem Begriff selbst wesentlich Zusammenhängen? Und w enn die
D em okratie wirklich nichts m it W eltanschauung zu tu n hat, so kann sie
niem als in irgendeinem Sinne die „vollkomm ene W ahrheit“ einer Staats­
persönlichkeit realisieren und niem als m ehr sein, als in der politischen
und verfassungsrechtlichen Technik eine Staatsform neben andern. Alles
was darü b er hinausgeht, macht es notwendig, in die Bestimmung des
Begriffs jen e Identität — auf der auch seine ganze Idealität b eru h t —
aufzunehm en. Aus den verschiedenen Identitätsvorstellungen e rk lären sich
alle spezifisch dem okratischen Phänom ene: die Unterscheidung von
rep räsen tativ er und unm ittelbarer D em okratie b eru h t darauf, daß der
Begriff der R epräsentation noch personalistische Elem ente beibehält,
1 Politische Theologie, S. 44, 45. Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Par­
lamentarismus, S. 13 ff.
Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff 25

w ährend die unm ittelbare D em okratie eine s a c h l i c h e Identität zu


realisieren sudiit, so daß die beiden A rten der D em okratie auf zwei A rten
von Identitätsvorstellungen zurückzuführen sind; ferner: die soziologische
E igenart des Parteikam pfes in der D em okratie besteht darin, daß jede
P a rte i nicht n u r m it dem „w ahren“ W illen des Volkes sich identifiziert,
sondern vor allem um die M ittel käm pft, mit deren H ilfe m an dem W illen
des Volkes seine Richtung geben und ihn bilden kann; und schließlich
entspringt jedes in der Geschichte bisher auftretende Ethos dem okratischer
Überzeugung solchen Identitätsvorstellungen, das der Jakobiner sowohl
w ie das verborgenere Pathos d er M onroedoktrin, die Thesen W ilsons und
der Versuch, durch eine wirtschaftliche D em okratie der Iden tität ihre ganz
reale W irklichkeit zu geben.
3· Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik (1925)
Rede gehalten zur Jahrtausendfeier der Rheinlande
in Köln am 14. April 1925
Ihs ist schmerzlich, von den R heinlanden als einem O b j e k t in ter­
nationaler P olitik zu sprechen. A ber die G efahr, daß rheinisches Land
in einen solchen Zustand hineingerät und das rheinische Volk zum bloßen
A nnex eines O bjektes erniedrigt wird, besteht immer noch, und oft in
unserer tausendjährigen Geschichte ist der Schatten dieser G efahr auf uns
gefallen. D ie furchtbare Separatistenzeit und die Krise des Herbstes 1923
sind noch in aller E rinnerung. D am als zeigte sich nicht nu r die Möglichkeit
einer T rennung von Deutschland, sondern auch die tiefe Unsittlichkeit
eines Zustandes, der eintritt, w enn die staatliche A utorität sich auflöst und
ein Volk in politische V erzw eiflung hineingetrieben wird. H eute scheint
vielen das Schlimmste glücklich überw unden. A ndere Pläne und Kombi­
nationen, deren Verw irklichung nicht w eniger aus dem Rheinland ein
O b je k t frem der Politik machen w ürde, halten w ir heute im Vergleich mit
jen en schlimmen M onaten vielleicht für unbedenklich, für leere Projekte,
w ie sie in bew egten Zeiten zu D utzenden auftreten. A ber w ir dürfen unsere
Vorsicht nicht auf geben und müssen auch diese Pläne und Absichten im
Auge behalten. W ir hören von Bestrebungen, das durch den V ertrag von
V ersailles dem ilitarisierte Gebiet, also im wesentlichen die Rheinlande,
von dem übrigen D eutschland durch besondere Einrichtungen und Kon­
trollen zu tren n en und zwischen beiden eine völkerrechtliche Verschieden­
heit herbeizuführen; m it H ilfe eines Systems ständiger internationaler
Kommissionen, durch w eitgehende Einw irkungs- und Kontrollbefugnisse
ein besonderes Regime zu errichten und auf diese Weise die deutsche
Staatsgew alt m ehr oder w eniger zu beseitigen; aus den R heinlanden eine
A rt v erlängerten Saargebietes zu machen oder schließlich einfach durch
eine grenzenlose D auer der Besetzung Land und Volk in ein M aterial für
Sicherheitsm aßnahm en zu verw andeln. W ieviel von diesen Plänen sich
verw irklicht, w erden die kom m enden M onate und J a h re zeigen. H ier muß
an solche schwebenden P ro je k te erin n ert werden, weil sie alle e i n
Kennzeichen tragen: aus den R heinlanden ein O b jek t internationaler
P olitik zu machen und den O bjektcharakter zu organisieren und zu
legalisieren, nachdem diese L änder infolge der Besetzung schon zu einer
A rt P fandobjekt gew orden sind.
Es gehört zu dem politischen Bewußtsein, zu welchem eine Geschichte
von tausend Jah ren uns verpflichtet und berechtigt, daß w ir uns die
besondere, neue, w enn ich so sagen darf, m oderne A rt dieser G efahr deut-
Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik 27

lieh machen. Die Form en und Methoden, mit denen ein Land und ein Volk
zum O b jek t internationaler Politik gemacht wird, haben sich nämlich
gew andelt und sind nicht m ehr dieselben wie noch im 19. Jahrhundert.
Alte W orte und Denkgewohnheiten w erden w eitergetragen und können
leicht dazu führen, die politische W irklichkeit zu verbergen. Ein gutm ütiger
Mensch könnte heute glauben, daß sich niem als ein europäisches Land
sicherer fühlen dürfte als gerade jetzt. D enn die lange Geschichte des
Kampfes um den Rhein w ar eine Geschichte des Kampfes um die politische
A n n e x i o n rheinischer Gebiete, ebenso wie der Kampf um Elsaß-
Lothringen ein Kampf um Annexionen w ar. H eute aber spricht niemand
m ehr von Annexion. Im Namen der F reiheit und des Selbstbestimmungs­
rechtes auch der kleinen Völker und Nationen hat die W elt vier Jahre Krieg
geführt. Zahlreiche neue Staaten sind auf G rund des Selbstbestimmungs­
rechtes und des N ationalitätenprinzips entstanden. Seltsame Zerreißungen
und Verschiebungen natürlicher G renzen und Zusamm engehörigkeiten hat
man durch dieses Prinzip gerechtfertigt. W ilson e rk lärte am 11. F ebruar
1918 als A ntw ort auf die deutsche E rklärung über den Frieden, „daß
Völker und Provinzen nicht von einer Staatshoheit zur anderen ver­
schachert w erden dürfen, als w ären sie bloß Sachen oder Steine in einem
Spiel“, und ferner, „daß jede durch diesen Krieg aufgeworfene Gebiets­
frage im Interesse und zugunsten der beteiligten Bevölkerungen gelöst
w erden muß und nicht als Gegenstand eines bloßen Ausgleichs oder
Kompromisses zwischen verschiedenen Staaten“. In den Vorschlägen und
Entw ürfen der französischen D elegierten auf der Pariser Friedens­
konferenz w ird im F rü h ja h r 1919 zw ar immer w ieder verlangt, daß die
W estgrenze Deutschlands mit dem Rhein zusam m enfallen müsse, es w ird
aber gleichzeitig immer betont, daß keineswegs das linke R heinufer
annektiert w erden solle. Die öffentliche Meinung der ganzen Erde scheint
sich zu em pören bei dem G edanken, daß ein Volk zum Gegenstand einer
Annexion gemacht w ird. W enn m an soviel vom Selbstbestimmungsrecht
der Völker hört, könnte man leicht glauben, daß heute überhaupt kein
Volk m ehr O b je k t internationaler Politik w erden kann, denn Selbst­
bestimmung heißt doch wohl, daß ein Volk als Subjekt seine eigene
politische und staatliche Existenz bestimmt, also das Gegenteil davon,
daß es O b jek t wird.
A ber bleiben w ir bei dem, was unsere tausendjährige Geschichte uns
so eindringlich lehrt, bei unserer Vorsicht. W enn heute ein politisch
gebildeter Mensch hört, daß die großen Seemächte eine Abrüstungs­
konferenz veranstaltet und beschlossen haben, den Bau der Riesenkriegs­
schiffe, der sogenannten capital ships, zu beschränken, so verm utet er leicht,
daß diese Abrüstung, die gewiß sehr zu begrüßen ist, wohl nur veraltete
Typen trifft, aber leider gerade nicht die wirklich modernen Waffen, auf
die es ankommt, nämlich Luftflotte und Unterseeboote. Ähnlich w ird dieser
vorsichtige Mensch, w enn er sieht, mit welcher Freigebigkeit ideale P rin­
zipien zugebilligt w erden, den Verdacht nicht unterdrücken können, daß
28 Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik

es sich bei dem Verzicht auf Annexionen vielleicht um den Verzicht auf
eine Methode handelt, auf die es nicht m ehr ankommt, weil m an andere,
w irksam ere und vorteilhaftere M ethoden gefunden hat. In der T at ist die
alte kontinental-europäische Methode der politischen Annexion, wie sie
sich zum Beispiel an dem Kam pf um Elsaß-Lothringen zeigt, von der
m odernen W eltpolitik aus betrachtet eine ziemlich unm oderne Sache. Im
Zeitalter des Im perialism us haben sich andere Form en der Beherrschung
herausgebildet, die gerade eine offene politische U nterw erfung verm eiden
und das Land, das beherrscht w erden soll, als Staat bestehen lassen, ja,
wenn es notwendig ist, einen neuen unabhängigen Staat schaffen, dessen
F reiheit und Souveränität ausdrücklich proklam iert w ird, so daß scheinbar
das Gegenteil dessen geschieht, was m an als H erabw ürdigung eines Volkes
zum O b jek t frem der Politik bezeichnen könnte.
An einigen Beispielen läßt sich diese Entwicklung erkennen. Zunächst
gaben die Großmächte im 19. Ja h rh u n d ert dem sogenannten P r o t e k t o ­
r a t einen neuen Inhalt und beherrschten hauptsächlich halbzivilisierte
Staaten, deren Bevölkerung sie keine Staatsbürgerrechte verleihen konnten,
in der Weise, daß sie die außenpolitische V ertretung des Staates ü b er­
nahmen, eine A rt Vormundschaft einrichteten, dem „beschützten“ Staate
aber eine gewisse selbständige innerpolitische Existenz beließen. Diese
Methode braucht hier n u r erw ähnt zu werden. Es handelt sich dabei um
Staaten, die nicht im europäischen Sinne zivilisierte Staaten sind, z. B.
Tunis, M arokko und die malaiischen Protektorate. D as könnte einen
Europäer sehr beruhigen. Es kom mt hinzu, daß die Entwicklung auf dem
B alkan insbesondere seit 1878 auf dem W ege über sogenannte P rotektorate
zur nationalen Selbständigkeit geführt hat. Rum änien, B ulgarien und
Serbien sind auf diese W eise freie Staaten geworden. In dem Falle Bosnien
und Herzegowina, die seit 1878 unter österreichisch-ungarischer V er­
w altung standen, kam es 1908 zu einer offenen Annexion. Vielleicht könnte
m an also aus dieser Entwicklung auf dem B alkan entnehm en, daß ein
europäisches Volk entw eder nationale Selbständigkeit erhalten oder offen
annektiert w erden muß. W iew eit dieser Optim ism us gegenüber der Form
des P rotektorats berechtigt ist, kan n aber leider dahingestellt bleiben,
nicht nur deshalb, weil m an politisch. die ausw ärtige V ertretung Danzigs
an Polen übertragen hat, — das kann m an n u r auf G rund oberflächlicher
Analogien als wirkliches P ro tek to rat bezeichnen, sondern vor allem aus
einem anderen G runde: die Form des P rotektorats ist selbst schon w ieder
veraltet und durch ein neues V erfahren ersetzt, welches darin besteht, dem
zu beherrschenden Staate auch außenpolitisch seine Handlungsbefugnis zu
belassen, ihn ausdrücklich als frei und unabhängig anzuerkennen, ihm
sogar die E tikette der Souveränität zu verleihen, die H errschaft aber u n ter
dem Namen „K ontrolle“ durch die Besetzung entscheidender Punkte, durch
wirtschaftliche A usbeutung oder durch eigenartige Interventionsrechte zu
sichern. H eute herrscht England über Ä gypten, obwohl das englische
P ro tek to rat 1922 feierlich aufgehoben und Ä gypten als freier souveräner
Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik 29

Staat anerkannt ist. Die Herrschaft Englands beruht rechtlich auf vier
Vorbehalten, die bei der Anerkennung gemacht w urden und England zur
Intervention berechtigen: Verteidigung und Schutz des Suezkanals durch
England; Schutz der frem den Interessen in Ä gypten durch England; Schutz
Ä gyptens gegen fremde Angriffe durch England; Verwaltung des Sudans,
d. h. des oberen Nillaufes durch England. Das genügt als rechtliche G rund­
lage, um im Ernstfälle einen englisch-ägyptischen Konflikt als interne
A ngelegenheit Englands erscheinen zu lassen, wie das (anläßlich der
Erm ordung eines englischen Offiziers) im November 1924 geschah. Es
genügte ferner, um es zu erreichen, daß im März 1925 ein den Engländern
nicht genehmes Parlam ent binnen 12 Stunden nach seinem Zusam m entritt
aufgelöst war. Ein Begriff wie „Schutz frem der Interessen“ ist wegen seiner
Unbestimmtheit besonders geeignet, einem auf ihm aufgebauten In ter­
ventionsrecht den C h arak ter einer wirklichen H errschaft zu geben.
Auch die sogenannte K ontrolle der Vereinigten Staaten von Am erika
über Kuba, H aiti, San Domingo und Panam a ist hier zu erw ähnen. D er
„kontrollierte“ Staat w ird als frei, unabhängig und souverän bezeichnet,
obwohl seine gesamte politische Existenz in entscheidenden Fällen durch
die V ereinigten Staaten bestimm t wird. Die vier Fälle dieser Herrschaft
der V ereinigten Staaten sind in sich wiederum sehr verschieden. Das
Charakteristische daran ist, daß sich eine rechtliche Form der Herrschaft
entw ickelt hat, welche darin besteht, ein Besetzungsrecht mit einem Inter­
ventionsrecht zu verbinden. Das Interventionsrecht hat den Sinn, daß der
eingreifende Staat über gewisse unbestimmte, jedoch für die politische
Existenz des andern Staates wesentliche Begriffe, wie Schutz frem der
Interessen, Schutz der U nabhängigkeit, öffentliche O rdnung und Sicherheit,
E inhaltung internationaler V erträge usw., entscheidet. Bei allen diesen
Interventionsrechten ist immer zu beachten, daß infolge der Unbestimmt­
heit solcher Begriffe die herrschende M ä h t n a h ihrem Ermessen e n tsh e id et '
und d a d u rh die p o litish e Existenz des kontrollierten Staates in der Hand
behält.
Schließlich sei n o h mit einem W ort daran erinnert, daß durch den
V ertrag von Versailles die d e u tsh e n Kolonien nicht etw a von den alliierten
H a u p tm ä h ten annek tiert oder als Kolonien übernommen wurden, sondern
die Form von sogenannten M andaten erhielten, die im Namen des Völker­
bundes ausgeübt werden. Bei den sogenannten A-M andaten (Syrien,
Palästina, Irak) ist sogar gesagt, diese Gemeinwesen hätten eine so lh e
Entwicklungsstufe erreicht, „daß sie in ihrem Dasein als unabhängige
Nation vorläufig anerkannt w erden können u nter der Bedingung, daß die
R a tsh lä g e und die U nterstützung eines M andatars ihre Verwaltung bis
zu dem Zeitpunkt leiten, wo sie im stande sein werden, s i h selbst zu leiten“
(A rtikel 22 des V ersailler Vertrages). Trotzdem muß man sagen, daß Eng­
land über Palästina und Ira k und F ra n k re ih über Syrien wirklich h e rrs h t,
weil der M andatar selbst darüber en tsh eid et, worin die S ih e rh e it und
30 Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik

O rdnung in diesen G ebieten besteht, wie w eit ihre U nabhängigkeit geht,


w iew eit sie im stande sind, sich selbst zu leiten usw.
Um den Sinn dieser neuen, die offene politische Annexion oder A n­
gliederung verm eidenden M ethoden zu verstehen, müssen w ir zunächst
nach dem I n t e r e s s e fragen, welches die herrschende Macht von der
Annexion abhält. Das nächstliegende Interesse ist überaus k la r und einfach:
es soll verhindert werden, daß die B evölkerung des beherrschten Gebietes
die Staatsangehörigkeit des beherrschenden Staates erw irbt. Dieses
Interesse an der F ernhaltung unerw ünschter neuer Staatsbürger zeigt, wie
sehr sich die Verhältnisse im Laufe des 19. Jahrhunderts geändert haben.
In der alten europäischen Politik herrschte die Vorstellung, daß Bevölke­
rungszuwachs gleich Machtzuwachs ist. D as w ar im Z eitalter der K abinetts­
politik und der absoluten Regierungen möglich. Eine demokratische V er­
fassung aber zwingt die Staaten, gegenüber einem Bevölkerungszuwachs
vorsichtig zu sein, weil m an natürlich nicht jed e r beliebigen Bevölkerung
gleiche Staatsbürgerrechte verleihen kann. In den Staaten, welche dem
N ationalitätsprinzip entsprechen und reine N ationalstaaten sind, w erden
Bevölkerungsteile von frem der N ationalität meistens sehr unerw ünscht
sein. In noch viel höherem G rade ist die Tendenz, Frem de fernzuhalten,
bei einem im perialistischen Staate selbstverständlich. Denn ein solcher
Staat w ill die W elt wirtschaftlich beherrschen, aber natürlich nicht an den
V orteilen dieser H errschaft beteiligen. Es kommen noch w eitere G ründe
hinzu, um eine offene politische Annexion als nachteilig erscheinen zu
lassen. Nach der völkerrechtlichen L ehre von der sogenannten Staaten­
sukzession, d. h. den G rundsätzen, die beim Wechsel der staatlichen H e rr­
schaft über ein Gebiet zu beobachten sind, m üßte nämlich bei einem G ebiets­
erw erb nicht n u r die B evölkerung des erw orbenen Gebietes die Staats­
angehörigkeit des erw erbenden Staates erhalten, sondern dieser Staat
m üßte auch in manche Verbindlichkeiten des Vorgänger Staates eintreten,
Staatsschulden ganz oder zum Teil übernehm en usw. Auch hier hat die
Umgehung der politischen Annexion den Vorteil, daß, juristisch gesprochen,
die rechtlichen Folgen einer Staatensukzession verm ieden werden. Statt
einer derartigen Sukzession w ird ein System von Interventionsrechten
geschaffen.
Die F o l g e dieser M ethode ist, daß W orte wie U nabhängigkeit, F re i­
heit, Selbstbestimmung, Souveränität ihren alten Sinn verlieren. Die
politische G ew alt des kontrollierten Staates w ird m ehr oder w eniger aus­
gehöhlt. E r hat nicht m ehr die Möglichkeit, in einem entscheidenden
Konfliktsfall über sein politisches Schicksal selbst zu entscheiden. E r kann
über seine wirtschaftlichen Reichtüm er nicht m ehr verfügen. Es kommt
nicht d arauf an, daß das Interventionsrecht des Frem den, wenn alles gut
geht, n u r ausnahm sweise ausgeübt w ird. Entscheidend ist, daß der
beherrschte oder kontrollierte Staat nicht m ehr in seiner eigenen Existenz
die m aßgebende Norm seines politischen H andelns findet, sondern in den
Interessen und in der Entscheidung eines Frem den. Ein Frem der inter-
Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik 31

veniert, wenn es ihm in seinem eigenen politischen Interesse erscheint,


zur A ufrechterhaltung dessen, was er als Sicherheit und Ordnung, als
Schutz frem der Interessen und des Privateigentum s (d. h. seines Finanz­
kapitals), als E inhaltung internationaler V erträge usw. bezeichnet. Er
entscheidet über jene unbestim m ten Begriffe, auf denen sein Interventions­
recht beruht, und infolge ih rer Unbestim m theit hat er eine grenzenlose
Macht. Das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes v erliert dadurch seine
Substanz. Ein Frem der verfügt über das, was ihn interessiert und bestimmt,
was „O rdnung“ ist; den ihn nicht interessierenden Rest überläßt er gerne
dem beherrschten Volk u nter Namen wie Souveränität und Freiheit. W ir
dürfen niemals vergessen, was ein Sachverständiger der Vereinigten Staaten
auf der Pariser Friedenskonferenz im Jahre 1919 anläßlich der Beratungen
über das Saargebiet gesagt hat — D r. H askins ist sein Name, den w ir auch
nicht vergessen wollen — : daß ein Volk die Bodenschätze seines eigenen
Landes kontrolliert, m eint er mit größter Selbstverständlichkeit, gehört
nicht zu seinem Selbstbestimmungsrecht. So kann einem Volke buchstäblich
der Boden unter den Füßen weggezogen werden, obwohl es immer noch
den Namen eines freien und sogar souveränen Volkes trägt.
Diese m odernen Methoden, die das W ort H errschaft verm eiden und
Kontrolle vorziehen, unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkte von
der politischen Annexion alten Stils. Durch die politische Annexion w urde
der A nnektierte inkorporiert. Das soll hier keineswegs als Ideal verteidigt
werden, aber es h atte doch wenigstens den Vorzug der Offenheit und der
Sichtbarkeit. D er Sieger übernahm m it dem Land und seiner Bevölkerung
auch eine politische V erantw ortlichkeit und eine R epräsentation. Das
annektierte Gebiet h atte sogar die Möglichkeit, ein Teil des neuen Staates
zu werden, mit ihm zusammenzuwachsen und dadurch der entw ürdigenden
Situation eines bloßen O b jekts zu entgehen. Alles das fehlt bei den moder­
nen Methoden. D er kontrollierende Staat sichert sich alle militärischen
und wirtschaftlichen V orteile einer Annexion ohne deren Lasten. Ein
englischer Jurist, Baty, form uliert eine besonders interessante Konsequenz
m oderner M ethoden folgenderm aßen: die Bevölkerung derartiger Gebiete
hat w eder wirkliche Staatsbürgerrechte noch den Schutz, den A usländer
und Frem de genießen. W as innerhalb des kontrollierten Landes als staat­
liche A utorität au ftritt, ist m ehr oder weniger abhängig von der E nt­
scheidung des Frem den und nur eine Fassade vor dessen Herrschaft, die
in einem System von V erträgen unsichtbar gemacht ist.
In den bisherigen Beispielen w ar nicht von europäischen Völkern die
Rede. P rotektorate und M andate gelten sogar offiziell als Form en der
H errschaft über halb- oder nichtzivilisierte Völker. Mit erbaulichen W orten
spricht der eben erw ähnte A rtikel 22 der V ölkerbundssatzung von den
Völkern, „die noch nicht im stande sind, sich unter den besonders
schwierigen Bedingungen der heutigen W elt selbst zu leiten“ und daher
„der Vormundschaft eines M andatars unterstellt w erden müssen“. Aber
die Erde ist klein und, was das wichtigste ist, die alte überlieferte Vor-
32 Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik

Stellung, die m ehr als m an weiß die völkerrechtliche P rax is noch im


19. Jah rh u n d ert beherrscht hat, nämlich die Einteilung der Menschheit in
christliche und nichtchristliche V ölker, die G leichstellung von C hristentum
und Zivilisation und dam it die G rundlage des R espekts vor den euro­
päischen V ölkern, alles das ist entfallen. Ein A bgrund tre n n t uns von der
Zeit, da m an in völkerrechtlichen L ehrbüchern noch vom christlichen V ölker­
recht und vom Recht der christlichen N ationen sprach. D er größte Schritt
auf dem W ege zu dieser E ntthronung Europas w ar der V ertrag von V er­
sailles. Ich möchte nicht sagen, daß er die S ouveränität Deutschlands auf­
gehoben hat. A ber w enn das nicht der F all ist, w enn Deutschland in einem
bescheidenen Rahm en im m er noch die M öglichkeit einer deutschen P olitik
hat, so liegt das einm al an der Zahl der G egner, denen es sich in diesem
V ertrag unterw irft, und fern e r an der Entw icklung der letzten Jahre, aber
nicht an dem V ertrage selbst. H ier soll nicht in eine K ritik dieses In stru ­
m ents eingetreten w erden. Es ist n u r notwendig, d arau f hinzuw eisen, daß
der V ertrag m ehrere je n e r gefährlichen, unbestim m ten Begriffe enthält,
welche die G rundlage ständiger Interventionen w erden können, wenn sie
nicht in ih re r ganzen T ragw eite sofort erk a n n t w erden. Sie können ganz
Deutschland in ein politisches O b je k t verw andeln. Sie betreffen ins­
besondere die Rheinlande, die ja fü r alle d erartigen B estrebungen das
nächstliegende O b je k t und der gegebene Schauplatz sind.
H ierhin gehören folgende Begriffe, die viel genannt w erden und deren
je d e r für Deutschland ein Schicksal enthalten kann: R eparation, Sanktion,
Investigation und O kkupation. D er Umfang der R e p a r a t i o n e n w ar
nach dem V ersailler V ertrag so grenzenlos, daß d arin eine ewige U nter­
w erfung Deutschlands lag. E rst nach langen, quälenden Bem ühungen kam
es zu der heute geltenden Regelung des D aw esplanes, der wenigstens einen
Überblick über das Maß der Leistungspflicht gestattet. Das S a n k t i o n s ­
recht k ann bei einer einseitigen und w illkürlichen Auslegung ebenfalls
eine imm er erneute völlige U nterw erfung D eutschlands enthalten, w enn
jede alliierte Macht, sei es u n ter B erufung auf den § 18 der Anlage 2 zum
Abschnitt 1 Teil VIII des V ersailler V ertrages, sei es u n ter B erufung auf
ein allgem eines grenzenloses R epressalienrecht, deutsches G ebiet m ilitärisch
besetzen und die deutsche Industrie beschlagnahm en kann. Das Nach­
forschungsrecht, das der V ölkerbund nach A rtik el 213 über Deutschland
erhält, solange der V ertrag von V ersailles gilt, das sogenannte I n v e s t i ­
g a t i o n s recht, welches durch M ehrheitsbeschluß des V ölkerbundsrates
ausgeübt w erden kann, legt ebenfalls unabsehbare Auslegungen nahe,
w enn m an bedenkt, daß ein m oderner K rieg nicht n u r mit m ilitärischen
M itteln im engeren Sinne g eführt w ird, sondern die ganze Industrie und
W irtschaft eines Landes erfaßt. W as die O k k u p a t i o n , die Besetzung
deutschen G ebietes angeht, deren eigentlicher Schauplatz ja die R heinlande
sind, so ist sowohl die S tärke der B esatzungstruppen unbestim m t als auch
die Befugnis der B esatzungsbehörden außerordentlich groß. D enn w enn sie
zu allem berechtigt sind, was sie für die „Sicherheit und W ürde der
Der Status quo und der Friede 33

B esatzungstruppen“ für notwendig erklären, so liegt hier w iederum einer


jen e r unbestim m ten Begriffe vor, wie Schutz frem der Interessen usw.,
welche die staatliche A utorität des besetzten Gebietes gefährden und in
kritischen Zeiten, wie im H erbst 1923, überhaupt beseitigen können. Die
Besetzungsfristen sind ebenfalls so umschrieben, daß die Möglichkeit einer
einseitigen Auslegung nahegelegt w ird. W enn z. B. die Kölner Zone nach
Ablauf von fünf Jahren geräum t w erden soll unter der Bedingung, daß
der V ertrag „getreulich erfüllt ist“ (A rtikel 429), so erhebt sich natürlich
w iederum als erste Frage, w er über die getreuliche Erfüllung entscheidet
und ob die zahllosen V orwände und U nklarheiten, zu welchen derartige
W endungen Anlaß geben, in das politische Ermessen einer V ertragspartei
gestellt sind. D ie bekannte These Poincares endlich, daß die Besetzungs­
fristen, auch diejenige von 15 Jahren, überhaupt noch nicht zu laufen
begonnen hätten, sei hier n u r mit einem W orte erw ähnt. Sie zeigt den
ganzen A bgrund von Unbestim m theit, dessen O pfer Deutschland nach
diesem V ertrag w erden kann. Die Folge aber aller dieser systematischen
Unbestim m theiten ist furchtbar. D enn ein F riedensvertrag hat doch wohl
den Sinn und den Zweck, den Krieg zu beendigen und den Zustand des
Friedens zu begründen. Durch solche Unbestim m theiten aber w ird die
Grenze zwischen K rieg und Frieden selbst unbestimm t gelassen, und
elem entare Begriffe, wie Krieg und Frieden, ohne deren k lare U nter­
scheidung ein Zusammenleben der Völker überhaupt unmöglich ist, ver­
lieren ihren einfachen Sinn und lösen sich auf in einen quälenden
Zwischenzustand.

4. Der Status quo und der Friede (1925)


Das große W ort der politischen E rörterungen ist heute status quo.
Alle R edensarten, m it denen m an die gegenseitigen Forderungen zu kenn­
zeichnen sucht, alle politischen Vorschläge und Gegenvorschläge, V orstellun­
gen wie: Sicherheit, G arantie, U nverletzlichkeit der Verträge, H eiligkeit
der Grenzen, bew egen sich um diesen Begriff. Man hat für die O rganisierung
des Friedens drei V erfahren vorgeschlagen, von deren D urchführung man
den Frieden der E rde erhofft, über deren Reihenfolge man allerdings streitet
und besonders auf der V ölkerbundsversam m lung vom Septem ber 1924 dis­
k u tie rt hat: Sicherheit, Schiedsgericht und Abrüstung. Auf diese Reihenfolge
scheint m an sich vorläufig geeinigt zu haben; ob sie bestehen bleibt oder
nicht, ob es vielleicht besser w äre, m it der A brüstung oder mit einem all­
gemeinen Schiedsgericht zu beginnen: jedes dieser W orte besagt schließlich
Status quo. Ausdrücklich h at die deutsche Regierung in ihrem Memoran-3

3 1682
34 Der Status quo und der Friede

dum vom 9. F eb ru ar 1925 eine G arantie des gegenw ärtigen status quo am
Rhein vorgeschlagen und dam it eine Reihe von V erhandlungen und Be­
sprechungen eröffnet, in deren V erlauf imm er vom status quo die Rede ist.
Bezeichnenderweise spricht m an heute vom status quo und nicht von
dem status quo ante, der zur Zeit der alten D iplom atie eine beliebte F ormel
w ar. Man nimmt also den heute bestehenden Zustand. W orin er besteht, ist
anscheinend leicht zu erkennen, denn w ir haben ihn ja vor Augen. W as zu­
nächst den status quo am R hein betrifft, von welchem am m eisten die Rede
ist, so w ird er offenbar in erster Linie dadurch gekennzeichnet, daß die
Rheinlande b e s e t z t e s G e b i e t sind. D er V ertrag von V ersailles, das
Rheinlandabkom m en m it allen seinen K onsequenzen und seiner Praxis,
Verordnungsrecht der in teralliierten Rheinlandkom m ission, Q u a rtie r­
anspruch und Beschlagnahme von W ohnungen, Ausw eisung von Deutschen
usw., alles gehört zu dem heute noch bestehenden Zustand. G erade die
F rage der Besetzung w ird aber heute offiziell von der F rage der G arantie
des status quo getrennt, obwohl sie in der Sache nicht davon zu trennen ist.
Man begnügt sich auf deutscher Seite m it A ndeutungen darüber, daß der
Abschluß eines „Sicherheitspaktes“ auf die Zustände im besetzten G ebiet
„nicht ohne Einfluß“ bleiben könne, möchte also bei der Regelung des status
quo am Rhein von dem absehen, was als status quo unm ittelbar in die
Augen springt. Auch die Frage, ob Deutschland in den V ölkerbund eintritt,
soll von der F rage der G arantie des status quo getrennt w erden, obwohl
der E in tritt Deutschlands entw eder dem status quo eine neue G arantie
hinzufügt oder eine Möglichkeit seiner Ä nderung herbeiführt, jedenfalls
also für den status quo nicht gut ignoriert w erden kann. Offiziell w ird heute
die Besetzung der R heinlande m it etw as anderem verbunden, m it der E n t­
waffnung Deutschlands. Die Entw affnungsnoten der alliierten R egierungen
vom 5. Januar 1925 und vom 6. Juni 1925 machen die Räum ung der K ölner
Zone davon abhängig, daß die deutsche R egierung eine Reihe w eitgehender
Entwaffnungsvorschriften erfüllt. D ie Räum ung der folgenden Zonen bleibt
deshalb ebenfalls von der Entwaffnung Deutschlands abhängig, setzt also
eine w eitergehende m ilitärische K ontrolle Deutschlands voraus, d. h. ein
Investigationsrecht, welches französischen Ansprüchen genügen muß, auch
wenn es nach A rt. 213 des V ersailler V ertrages vom V ölkerbundsrat aus­
geübt w ird. Auf diese W eise bleibt die Besetzung eine m ilitärische Frage,
weil sie mit dem verbunden bleibt, was Frankreich u n ter seiner m ilitäri­
schen Sicherheit versteht; eine folgenreiche V erbindung, wenn m an sich an
das erinnert, was G eneral M organ in seinem berühm ten Aufsatz über die
Entwaffnung Deutschlands ausgeführt hat. „W ie die Sache steht, liegt die
wirkliche Sicherheit des europäischen Friedens nicht in den Ergebnissen,
welche die Kontrollkommission oder ein vom V ölkerbund organisierter
Ausschuß erreicht oder zu erreichen hofft, sondern in der Besetzung der
R heinlande und der Brückenköpfe am Rhein, besonders des M ainzer
Brückenkopfes. D er letztere ist das historische E infallstor nach Deutschland,
Der Status quo und der Friede 35

und w er ihn beherrscht, k ann Deutschland ins H erz treffen, die Verbindung
vom N orden und Süden trennen und die Mobilmachung lähm en1.“
D er status quo am R hein ist w eiterhin dadurch gekennzeichnet, daß die
Rheinlande noch über die G renzen des besetzten Gebietes hinaus e n t ­
m i l i t a r i s i e r t e s G e b i e t sind. Es ist Deutschland untersagt, auf dem
linken R heinufer und auf dem rechten Ufer innerhalb einer 50 Kilometer
östlich des Stromes verlaufenden Linie Befestigungen anzulegen; in dieser
Zone ist die ständige oder zeitweise U nterhaltung oder Sammlung von
Streitkräften untersagt; jede m ilitärische Übung, jede Maßnahme, die als
V orkehrung einer Mobilmachung gelten kann, ist verboten. Durch eine
solche Bestimmung w erden die R heinlande vom übrigen Deutschland
völkerrechtlich unterschieden. Sie sind zw ar noch nicht neutralisiert, wo­
durch ih r außenpolitisches Schicksal von dem des übrigen Deutschland ge­
trennt w ürde, doch darf m an die Folgen der bestehenden Unterscheidung
nicht verkennen. Kein deutscher Soldat darf jem als w ieder rheinischen
Boden betreten, auch dann nicht, w enn es sich um die Niederschlagung von
A ufruhr und U nruhen handelt; jed e r Eisenbahnbau, jed er Straßenbau, alle
denkbaren V erkehrseinrichtungen und industriellen Anlagen können bei
einer einseitigen Auslegung unter den grenzenlosen Begriff der „Vor­
kehrung einer Mobilmachung“ gebracht werden. Eine alliierte Note vom
25. Mai 1922 hat den Bau irgendeiner harm losen Eisenbahnstrecke auf dem
linken R heinufer als eine solche V orkehrung bezeichnet und auf diese Weise
mit den grenzenlosen Auslegungen bereits begonnen. Auch hier enthält der
vorhin erw ähnte Aufsatz des G enerals Morgan eine interessante Prognose:
„Die einzige A rt, das R heinland endgültig zu dem ilitarisieren“, sagt er
wörtlich, „ist entw eder, daß m an es annektiert oder, was im großen und
ganzen auf dasselbe hinausläuft, daß man es dauernd besetzt hält.“ Selbst
wenn m an es räum t, m eint er, und w enn die Deutschen wirklich keine
Truppengarnisonen in dieses G ebiet legen, w äre es immer noch ein
„A rsenal“, und zw ar deshalb, weil fast alle großen chemischen F abriken in
der entm ilitarisierten Zone liegen und w ährend des W eltkrieges die
gesamte deutsche H erstellung von Explosivstoffen zu 78 v. H., von G ift­
gasen zu 94 v. H., auf diesem G ebiete stattfand.
Inhaltlich gehen die Entm ilitarisierungsbestim m ungen sehr weit, und
das R heinland könnte dadurch einer Sonclerbehandlung unterw orfen
werden, wie sie eine große Provinz eines großen Staates bisher noch niemals
erfahren hat. Trotzdem enthalten jene A rtikel 42—44 nach französischer
Auffassung einen Mangel. W enn Deutschland die Entm ilitarisierungs­
bestimm ungen verletzt, so gilt das zw ar als eine feindselige H andlung gegen
jeden alliierten Staat, es gilt als eine beabsichtigte Störung des W elt­
friedens12, aber es bleibt den einzelnen alliierten Staaten, insbesondere Eng-
1 Quarterly Review, Oktober 1924. In Morgans V o r t r a g über das Sidierheits-
problem vom 4. Mai 1925 (abgedruckt: Revue des deux mondes vom 15.6.1925) wird
die Bedeutung von Köln hervorgehoben und Köln als Clé de la Sécurité bezeichnet.
2 Art. 44 lautet in der offiziellen deutsdien Übersetzung: „Jeder etwaige Verstoß
Deutschlands gegen die Bestimmungen der Art. 42 und 43 gilt als eine feindselige
36 Der Status quo und der Friede

land, überlassen, welche praktischen Folgerungen sie aus der feindlichen


Handlung ziehen wollen. Nach allgem einen völkerrechtlichen G rundsätzen
besteht nämlich keine Verpflichtung, auf eine feindliche H andlung
m it militärischen Aktionen zu reagieren. Infolgedessen ist die Bestim­
mung des G enfer Protokolls vom 2. O ktober 1924, Art. 10, besonders
wichtig, durch welche die V erletzung einer entm ilitarisierten Zone einem
A n g r i f f im Sinne dieses Protokolls gleichgestellt w ird, w oraus fü r die
Unterzeichner des Protokolls die Pflicht entsteht, gegen den A ngreifer
militärisch vorzugehen. Nun ist das G enfer Protokoll vorläufig noch nicht
verbindlich und hat anscheinend keine Aussichten, es zu w erden. Ein
G arantiepakt über die entm ilitarisierte Zone w ird also praktisch bedeuten,
daß eine Pflicht der Beteiligten entsteht, gegen D eutschland vorzugehen,
wenn etwas geschieht, was u nter die w eiten Bestim mungen der A rt. 42—44
subsum iert w erden kann.
D ieser aus O kkupation und E ntm ilitarisierung zusammengesetzte
status quo am Rhein ist n u r ein Teil des großen Systems von Belastungen
und Einschränkungen der staatlichen A utorität Deutschlands, wie sie sich
aus dem V ertrag von V ersailles und seiner D urchführung ergeben. D ahin
gehören das Investigationsrecht des V ölkerbundsrates nach Art. 213 des
Vertrages, die territo rialen Zerreißungen der deutschen G renzen im Osten,
die A btrennung deutscher Stämme vom Deutschen Reich, die Last der
Reparationen, die ausländische K ontrolle der Deutschen Reichsbank und
vor allem der deutschen Eisenbahnen, über welche der frem de Eisenbahn­
kommissar Befugnisse ausüben kann, die zw ar ausdrücklich als „Ausnahm e­
befugnisse** bezeichnet w erden*1, aber gerade darin den Zusamm enhang mit
der Frage der Souveränität beweisen; es gehören ferner hierhin die Be­
schränkungen des Baues von Luftfahrzeugen und alle die H underte von
Vertragsbestim mungen, die heute D eutschland bedrücken. D ie R heinlande
sind in dieser Hinsicht nu r ein besonders belasteter Teil des Deutschen
Reiches.
Das w äre also der status quo am R hein und der status quo Deutschlands.
Wer hat ein Interesse daran, ihn zu garantieren? W er h at insbesondere ein
Interesse an den Rheinlanden? Im allgem einen kann ein Land aus sehr v e r­
schiedenen G ründen so viel internationales Interesse finden, wie es heute
mit den R heinlanden der Fall ist. Ein Land k ann wegen seines Reichtums,
wegen seiner Rohstoffe, insbesondere seiner Erdölquellen und Erzlager, das
Handlung gegen die Signatarmächte des gegenwärtigen Vertrages und als Versuch
einer Storung des Weltfriedens.“ Es handelt sich aber weniger darum, daß ein V e r ­
s u c h einer Störung des Weltfriedens vorliegt, als daß die böse Absicht vermutet und
eine flagrante Sdiuld Deutsdilands fingiert wird. Der französische Text sagt, Deutsch­
land werde betrachtet „comme cherchant à troubler la paix du monde“ und der
englisdie Text „as c a l c u l a t e d to disturb the peace of the world“. Für das
geplante System einer Definition des „Angreifers“ ist das von großer Bedeutung.
1 Satzung der Deutschen Reichsbahngesellschaft (Anlage zu § 1, Absatz des Ge­
setzes über die Deutsche Reidisbahngesellschaft vom 30. August 1924); § 24; zu den
„Ausnahmebefugnissen“ des Eisenbahnkommissars gehört das Redit, den Betrieb der
Reichsbahnen selbst zu übernehmen, oder „letzten Endes“ zu verpachten.
Der Status quo und der Friede 37

verhängnisvolle Interesse der Großmächte erregen. F ü r die Rheinlande


kommt das heute wohl nicht in Betracht; vorläufig sollen sie, ebensowenig
wie Deutschland, nicht erobert und annektiert werden; solange die Gegner
mit den R eparationsleistungen zufrieden sind, besteht vielm ehr ein gegen­
teiliges Interesse. Ein Land kann ferner durch seine geographische Lage
politisch interessant w erden; es k ann für eine oder m ehrere Großmächte
als V erbindungsstraße wichtig sein, wie Ä gypten für das britische Weltreich.
F ür diese A rt politischen Interesses ist der Ausspruch eines hervorragenden
englischen Sachverständigen, Sir W illiam H ayter, bem erkensw ert: „In
Griechenland und B ulgarien“, m eint er, „können w ir Revolutionen zulassen;
in Ä gypten dagegen muß Ruhe und O rdnung herrschen, damit die große
V erbindungsstraße des britischen W eltreiches, insbesondere der Weg nach
Indien, nicht gestört w ird.“ Ein Land kann außerdem als Glacis oder als
Aufmarschgebiet in Betracht kommen, wie das heute die Situation der R hein­
lande gegenüber Frankreich ist. Endlich kann das internationale politische
Interesse zum Schutze eines anderen Landes und zur Vermeidung von
Kollisionen einen Pufferstaat oder ein anderes Zwischengebilde als zweck­
mäßig erscheinen lassen. H eute braucht diese A rt Interesse nicht m ehr zu
der alten Form des E tat-tam pon zu führen, für welche Belgien das berühm te
Beispiel ist; der gleiche Zweck k ann auch durch E ntm ilitarisierung oder
durch N eutralisierung gewisser Zonen erreicht werden.
Die m odernere M ethode h at in dem G enfer Protokoll vom 2. O ktober
1924 bereits eine A rt offizieller A nerkennung gefunden. D em ilitarisierte
Zonen, heißt es in A rt. 9 dieses Protokolls, dienen dazu, einem Angriff vor­
zubeugen; die Einrichtung solcher Zonen zwischen Staaten ist deshalb ge­
eignet, die V erletzung des Protokolls (d. h. die Verletzung des im Protokoll
garantierten status quo) zu verhindern; solche Zonen sollen unter ein zeit­
weiliges und dauerndes System von Revisionen gestellt werden, welche der
V ölkerbund organisiert. D er englische G eneral Spears h at neulich den Vor­
schlag gemacht, an den G renzen aller Staaten, die nicht an R ußland an­
grenzen, dem ilitarisierte Zonen einzurichten, dam it „der G rund ihrer
Rüstungen, nämlich die Wache gegen Rußland, k la r w äre“1. Ein holländi­
scher Pazifist hat unlängst eine 50-Kilometer-Zone vorgeschlagen, um den
Haag und die Rheinm ündung zu dem ilitarisieren12. Es versteht sich von
selbst, daß der Staat, dem eine solche entm ilitarisierte oder neutralisierte
Zone auferlegt w ird, dadurch degradiert ist. Daß eine wirkliche Großmacht
sich solche Einschränkungen ih re r Souveränität zumuten läßt, ist nicht w ahr­
scheinlich, und niem and dürfte ernstlich auf den G edanken kommen, die
englische Küste zu entm ilitarisieren. Es zeigt sich auch hier, daß bei allen
Friedensbestrebungen die schwierige F rage gar nicht den Frieden betrifft
— denn alle sind selbstverständlich darü b er einig, daß sie den Frieden
wollen —, sondern es frag t sich, w er darüber entscheidet, was in concreto
Friede ist, was in concreto eine Störung oder G efährdung des Friedens
1 Europäische Revue, 15. Juli 1925.
2 Foreign affairs, Juli 1925.
38 Der Status quo und der Friede

enthält und durch welche konkreten M ittel der gefährdete Friede geschützt
und der gestörte Friede w iederhergestellt w ird. Im m er bleibt die Frage die
gleiche: Quis iudicabit?
Allgemein gesprochen, b eru h t also das internationale politische Interesse
an den R heinlanden als einem besetzten und einem dem ilitarisierten G ebiet
auf seiner geographischen Lage, nach welcher es im Schnittpunkt englischer,
französischer und deutscher Interessen liegt. N ur u n ter diesem A spekt läßt
sich erkennen, was der status quo am R hein bedeutet. Die einzelnen Mächte
haben für ihre Betrachtung sehr verschiedene Gesichtspunkte. Infolgedessen
bedeutet das W ort status quo fü r jeden etw as anderes. Das e n g l i s c h e
Interesse geht vorläufig wohl dahin, daß der F riede auf dem europäischen
K ontinent nicht gestört w ird; die E rhaltung des Friedens entspricht sowohl
den ökonomischen Interessen englischen H andels und englischer Industrie,
als auch dem politischen Interesse am Bestände des englischen W eltreiches.
Was diesem W eltreich an G efahren drohen könnte, liegt heute anscheinend
nicht auf dem europäischen K ontinent, sondern in R ußland und Asien und
beruht auf dem Bündnis, welches der proletarische Sozialismus der Sow jet­
republik mit dem N ationalgefühl u nterdrückter V ölker Asiens und A frikas
geschlossen hat. F ür Deutschland scheint eine Vereinigung von N ationalis­
mus und Kommunismus nicht in Betracht zu kommen, obwohl sie gelegent­
lich gefordert w urde. Im m erhin darf man die Möglichkeit nicht ignorieren,
zumal die Parteien, welche bisher in D eutschland den N ationalism us für
sich in Anspruch nahmen, mit den wachsenden Schwierigkeiten der w irt­
schaftlichen und politischen Lage vor ganz neue Problem e gestellt w erden,
u nter deren Einw irkung sich die überlieferten Ideenverbindungen leicht
auflösen können.
N ur dieser eine Gegner, das Bündnis von Bolschewismus und N ationalis­
mus, könnte eine auf Kampf und K rieg gerichtete P olitik Englands herbei­
führen und die W elt nach dem Kreuzzug gegen Deutschland möglicherweise
noch einen w eiteren Kreuzzug erleben lassen. Im übrigen geht das politische
Interesse Englands durchaus auf den F rieden und die A ufrechterhaltung des
heutigen status quo der Erde, d. h. die A ufrechterhaltung der englischen
W eltherrschaft. Das W ort status quo h at also für England einen großen, ein­
fachen Sinn. In den V erhandlungen über den sog. G aran tiep ak t kom m t es
für England darauf an, keine neuen Verpflichtungen zu übernehm en und
darauf hinzuweisen, daß in der V ölkerbundssatzung bereits das Höchst­
maß englischer Verbindlichkeiten enthalten sei.
Das f r a n z ö s i s c h e Interesse am status quo richtet sich darauf, keines
von den Rechten aufzugeben, welche der V ertrag von V ersailles fü r F ra n k ­
reich und seine V erbündeten enthält. D ieser V ertrag h at ja die wesentliche
Eigenschaft, ein Interventionsvertrag in dem spezifischen Sinne des W ortes
zu sein, d. h. durch absichtlich unbestim m te Begriffe dem politisch und
militärisch überlegenen V ertragsgegner ständige Interventionen zu erm ög­
lichen. Das berühm te Recht auf Sanktionen ist n u r ein A nw endungsfall
dieser systematischen Interventionstechnik. Es kom m t fü r Frankreich dar-
Der Status quo und der Friede 39

auf an, für die sehr weitgehenden, bestehenden Möglichkeiten zusätzliche


„Sicherheiten“, d. h. hier insbesondere eine Bindung der englischen Regie­
rung zu schaffen. F ü r Frankreich heißt status quo unveränderte Beibehal­
tung des V ersailler V ertrages m it allen östlichen und westlichen Grenzen,
mit einem vom Deutschen Reich getrennten Österreich, m it allen Einschrän­
kungen der Souveränität Deutschlands, mit O kkupation, E ntm ilitarisierung,
Sanktionen und Investigationen, vor allem aber mit der eigenartigen Ver­
bindung, in welche die französische Politik die Besetzung der R heinlande
mit der m ilitärischen Sicherheit Frankreichs gebracht hat. Es w urde schon
erw ähnt, daß die V erbindung der Besetzungsfrage mit der Entwaffnung
Deutschlands von besonderer Tragw eite ist, nicht nur militärisch, sondern
für das ganze System der V erhandlungen über den status quo am Rhein.
Die eigentliche R äum ungsfrage ist, kon k ret gesprochen, immer die Frage
der Räum ung von Mainz. E rst w enn diese Frage aktuell wird, zeigt sich,
was die bekannte A rgum entation Frankreichs eigentlich bedeutet, welche
O kkupation und Sicherheit und um gekehrt Sicherheit und O kkupation des
linken R heinufers m iteinander identifiziert und imm er w ieder geltend
macht, daß Frankreich auf die A btrennung der R heinlande nu r deshalb
verzichtet habe, w eil ihm ein G arantievertrag mit den V ereinigten Staaten
und mit England in Aussicht gestellt w urde, daß diese Voraussetzung nicht
eingetreten und deshalb die F rage der Räum ung der besetzten Gebiete mit
den R äum ungsfristen des V ersailler V ertrages nicht erledigt sei1.
F ü r F rankreich ist also status quo = V ersailler V ertrag. Politisch be­
deutet das: A ufrechterhaltung der m ilitärischen und politischen Hegemonie
Frankreichs auf dem europäischen K ontinent; A ufrechterhaltung der m ili­
tärischen und politischen Ü berlegenheit eines bewaffneten Volkes von
vierzig M illionen Menschen über ein unbewaffnetes von sechzig Millionen;
eines bew affneten Volkes m it abnehm ender G eburtenzahl über ein unbe­
waffnetes sta rk wachsendes Volk, dessen Industrie vergebens einen Ausweg
sucht.
Das d e u t s c h e Interesse am status quo ist im Vergleich sowohl zu dem
englischen w ie zu dem französischen etw as sehr Bescheidenes, ja geradezu
Erbärmliches. Es ist das Interesse, wenigstens zu verhindern, daß keine
neuen Verpflichtungen eintreten und nicht durch die einseitige Auslegung
1 Eine juristische Unterscheidung aus der völkerrechtlichen Lehre vom Garantie­
vertrag könnte hier aufklärend wirken und manche Mißverständnisse der Tages­
presse beseitigen. Das Wort „Garantievertrag“ hat eine doppelte Bedeutung; es be­
zeichnet entweder den sogenannten Garantievertrag im eigentlichen Sinne, bei welchem
die Garantie eines bestimmten Zustandes der wesentliche Inhalt des Vertrages ist imd
die Garantie unabhängig von andern Verträgen eine s e l b s t ä n d i g e Bedeutung
hat; oder aber den sogenannten a k z e s s o r i s c h e n Garantievertrag, bei welchem
die Garantie nur als Sicherungsmittel zur Erzwingung vertraglicher Pflichten einem
Vertrage h i n z u g e f ü g t wird. Offenbar geht das Bestreben Frankreichs dahin,
aus dem von Deutschland vorgeschlagenen Garantievertrag ein bloßes Akzessorium
der Friedensverträge zu machen, während der deutsche Vorschlag eine selbständige
Garantie im Auge hat. Für diese wichtige, in den schwebenden Erörterungen über
den „Garantiepakt“ leider kaum beachtete Unterscheidung ist die Pariser Doktor­
these von M. Milovanovitch, 1888, die eingehendste völkerrechtliche Behandlung der
Garantieverträge, heute noch von großem Interesse und geschichtlich sehr lehrreich.
40 Der Status quo und der Friede

der unbestim m ten Begriffe des V ersailler V ertrages im m er neue L asten und
Erschütterungen entstehen. Es ist das Interesse, w enigstens die W ährung
stabil zu halten und vor neuen Sanktionen, R epressalien und anderen Be­
lastungen zu schützen. Es ist ein Interesse, das nicht, wie der englische G e­
sichtspunkt, die ganze E rde oder, wie der französische, w enigstens E uropa
überschaut, sondern ein auf den nächsten Augenblick und die nächste A tem ­
pause gerichtetes Interesse eines vor allem an seiner Industrie interessierten
Volkes.
Im Schnittpunkt des W eltinteresses von E ngland und des kontinentalen
europäischen Interesses von F rankreich stehen D eutschland und insbeson­
dere die R heinlande. In dieser Lage k ann ganz D eutschland und können
insbesondere die R heinlande herabsinken zum bloßen A usgleichsobjekt
zwischen jenem englischen und diesem französischen Interesse. D as ist der
politische status quo Deutschlands und der status quo am Rhein. Jede
Legalisierung dieses Zustandes w ürde den O b je k tc h a ra k te r verew igen.
* *
*

Bei der großen V erschiedenheit der V orstellungen vom status quo ist
es eigentlich erstaunlich, daß m an sich auf diesen Status zu einigen sucht
und glauben kann, in einem solchen Begriff eine gemeinsame, einigende
G rundlage zu haben. W ie konnte gerade dieser Begriff heute zu solcher Be­
deutung gelangen? Das W ort bezeichnet doch zunächst n u r ein F aktum ,
einen bloß tatsächlichen Zustand, w enn sich auch bei n ä h e re r B etrachtung
herausstellt, daß man hier die Sachlage nicht von der Rechtslage trennen
kann. Als die Koalition der europäischen Mächte N apoleon I. besiegt hatte,
sprach m an von L egitim ität und m einte dam it fü r die außenpolitische
Situation ebenfalls eine G arantie des status quo. D ie berühm ten D iplom aten
der Heiligen Allianz w aren nicht edler gesinnt als die Staatsm änner der
heutigen D em okratien. A ber sie sprachen w enigstens von L egitim ität und
g arantierten nicht ein bloßes F aktum , eine bloß tatsächliche politische
Situation, sondern einen Zustand, den m an fü r n o r m a l hielt. Man garan ­
tierte sich gegenseitig eine außenpolitische O rdnung und w ar klug genug
zu wissen, daß die \ roraussetzung je d e r außenpolitischen O rdnung eine
homogene innerpolitische O rdnung ist. D er dynastische Legitim itätsbegriff,
auf welchem die innerpolitische O rdnung der H eiligen A llianz beruhte, ging
in den demokratischen R evolutionen der folgenden G eneration zugrunde.
A ber selbstverständlich versucht jed e r Sieger, dem durch den Sieg erreichten
politischen Zustand die G arantie der Legitim ität zu geben. D er V ertrag von
V ersailles bestätigt diese E rfahrung. In dem B estreben, die politische A us­
nutzung der N iederlage des G egners zu legitim ieren, geht er sogar w eiter
als jem als ein V ertrag der Weltgeschichte. E r benutzt die Idee des V ölker­
bundes und die in allen L ändern v erb reiteten pazifistischen G efühle und
Ideen, um eine besonders rad ik ale A rt von L egitim ierung zu erreichen. Die
pazifistischen Bem ühungen, die sich an diesen V ertrag anschließen, insbeson­
dere der Versuch einer Beilegung alle r Konflikte durch ein Schiedsrichter-
Der Status quo und der Friede 41

liches V erfahren, die m erkw ürdige Juridifizierung der Politik und ähnliche
als große Fortschritte auf dem Wege von der Macht zum Recht gefeierten E r­
scheinungen können ja n u r ein Ergebnis haben: den Zustand, den der Ver­
trag von V ersailles geschaffen hat, zu legitim ieren. D er R uf nach der H e rr­
schaft des Rechts, der etwas sehr Sympathisches und Ideales hat, bekommt
hier einen höchst gefährlichen politischen Sinn, nämlich den der Legiti­
m ierung eines sehr problem atischen Zustandes. D aß alle internationalen
M einungsverschiedenheiten künftig im W ege eines justizförm igen Ver­
fahrens beigelegt w erden sollen, bedeutet nur, daß diejenigen, welche nach
den bestehenden V erträgen im Recht sind, dauernd im Recht bleiben. Die
G arantie, welche sich die Mächte der Heiligen Allianz gegenseitig gaben,
w ar eine bescheidene und vernünftige Sache im Vergleich zu der phan­
tastischen Juridifizierung, die heute den Sieger legitim ieren soll. Gelingt
es wirklich, auf diese W eise jeden K rieg zu beseitigen, so hat der Stärkere
nicht n u r die Macht und den Besitz, sondern auch das Redit, und es w ird
etw as Schlimmeres geben als Kriege: die justizförm ige Beseitigung des
politischen oder w irtschaftlidien Gegners der nicht in einem Kriege besiegt,
sondern in einem Prozeß zum Tode veru rteilt und exekutiert w ird.
Es ist sehr m erkw ürdig, daß gerade in einer Zeit rapider V eränderungen
und technischer Fortschritte der status quo g arantiert w erden soll. Es ist
seltsam, daß ein Zeitalter, dessen D enken von den Vorstellungen ewigen
W erdens, ewigen Fließens und substanzlosen Funktionierens ganz be­
herrscht ist, gerade auf politischem Gebiete einen bestehenden Zustand
stabilisieren möchte. Das ist schon an sich etwas W iderspruchsvolles, aber der
eigentliche W iderspruch liegt noch tiefer.. W oher entsteht — um diese Frage
zu w iederholen — das Bedürfnis nach einer G arantie des status quo? D a r­
aus, daß der Wunsch nach Ruhe, F rieden und Gerechtigkeit sich mit der Un­
fähigkeit verbindet, ein rechtliches Prinzip, ein Legitim itätsprinzip, zu
finden. Man k ann n u r einen Rechtszustand garantieren, nicht etwas bloß
Faktisches, und auch den Rechtszustand nur, w enn er als n o r m a l em pfun­
den w ird. Ist dem aber so — m an kann es vernünftigerw eise nicht be­
streiten —, so erscheint der innere W iderspruch in dem moralischen Zu­
stand des heutigen E uropa als etw as Schreckliches. Die faktisch bestehenden
Zustände sind so unbefriedigend, so abnorm und infolgedessen so wenig
stabil, daß die Sehnsucht nach Stabilität täglich stärker wird. Aus der Sehn­
sucht nach F rieden und Stabilität entsteht die Forderung einer G arantie
des status quo, d. h. einer Stabilisierung. A ber die Stabilisierung des gegen­
w ärtigen Zustandes w ürde gerade diesen unbefriedigenden, jed er Stabili­
tä t erm angelnden Zustand stabilisieren, und das Ergebnis wäre, daß man
durch eine künstliche Verewigung und Legalisierung nicht etw a Ruhe und
Frieden, sondern neue Konflikte, neue Verschärfung der Gegensätze und
eine Verewigung der m angelnden Stabilität erreichte. Ein gefährlicher, für
ganze V ölker vielleicht tödlicher Zirkel! Das ist das Fatale dieses ganzen
Systems der Legalisierung und Juridifizierung des status quo. Man sagt uns :
Die G arantie des status quo ist der Friede. Gewiß, der Friede, sogar d e r
42 Der Status quo und der Friede

Friede, nämlich der Friede von Versailles. Ein auf dieser Basis stabilisierter
status quo ist ebenso problematisch wie jen e r Friede selbst problematisch
ist. Audi hier zeigt sich die Fülle von inneren W idersprüchen, von denen
die politische und moralische Lage Europas heute beherrscht ist. W enn der
status quo nicht der Friede i s t , wie kann seine G arantierung den Frieden
herbeiführen? Die Sehnsucht nach dem Frieden entspringt doch gerade der
Friedlosigkeit des bestehenden Zustandes. Den müden und gequälten Men­
schen, die vor allem Ruhe und Frieden suchen, w ird eine G arantie ver­
sprochen, die nichts g arantiert als die Ursache aller U nruhe und F ried­
losigkeit.
Die europäischen Völker haben im Laufe des letzten Jahrhunderts von
mancherlei gehört, daß es der F riede sein soll: die Heilige Allianz w ar der
Friede; das französische Kaiserreich unter Napoleon III. w ar der Friede:
dann hörten w ir w ährend des Krieges: die D em okratie ist der Friede; w ir
hörten: der Völkerbund ist der Friede, und hören jetzt: die G arantie des
status quo ist der Friede. A ber wenn der status quo nicht selbst schon der
Friede ist, so ist seine G arantie etw as Schlimmeres als ein Krieg, nämlich
die Legalisierung eines unerträglichen Zwischenzustandes von Krieg und
Frieden, in welchem der politisch Mächtige dem politisch Schwachen nicht
nur das Leben, sondern auch sein R edit und seine Ehre nimmt.
5- Das Doppelgesicht des Genfer Völkerbundes (1926)
Die K ernfrage des G enfer Bundes ist, ob er den status quo von Ver­
sailles legitim iert, und das ist w iederum davon abhängig, ob diese Ver­
einigung zahlreicher Staaten als ein w irklicher Bund betraditet werden
muß. F ragt m an nach dem Kennzeichen des wirklichen Bundes, nach
G arantie und Hom ogenität und nach den konkreten Prinzipien für diese
G arantie und für das M indestmaß von Gleichartigkeit, so erhält man keine
Antwort. D er berühm te deutsche Kom m entar zur Völkerbundssatzung von
Schücking und W ehberg spricht davon, daß der Genfer Völkerbund einen
„Januskopf“ habe, dessen eines A ntlitz die Züge des „im perialistischen“
Zeitalters trage, aus dem der W eltkrieg geboren sei, dessen anderes Antlitz
aber beherrscht w erde von den Zügen des Solidarismus, von dem allein die
Rettung der Zukunft kommen könne. „Gelingt es nicht, ihn in K ardinal­
punkten aus- und um zugestalten, so w ird er allerdings dem Schicksal der
Heiligen A llianz verfallen“. A ber von der Heiligen Allianz könnte der
Völkerbund lernen, daß kein Bund ohne Legitim itätsprinzip bestehen kann,
und einen „Januskopf“ h at er nicht nur in seiner Mischung von Vorkriegs­
und Nachkriegsideen, sondern in etwas vielleicht viel Gefährlicherem, näm ­
lich darin, daß er es absichtlich im unklaren läßt, wieweit er ein echter
Bund ist oder nicht und w iew eit infolgedessen die unvermeidlichen Konse­
quenzen des Bundescharakters zur Anwendung kommen. Auf diese Weise
ist es möglich, daß französische Juristen den A rtikel 10 der Völkerbund-
satzung so auslegen, als seien darin alle grundlegenden G arantien des
echten Bundes gegeben, w ährend sie den A rtikel 19, der Änderungsmög­
lichkeiten vorsieht, so behandeln, als habe das Genfer Gebilde mit einem
wirklichen Bunde nichts zu schaffen; deutsche Pazifisten dagegen versuchen
die in A rtikel 10 enthaltene G arantie zu beschränken und dafür dem
A rtikel 19 eine große Anwendungsmöglichkeit zu geben. Es besteht nun die
große G efahr, daß der G enfer V ölkerbund von F all zu Fall verschiedenen
Staaten ein verschiedenes Gesicht zeigt und sich absichtlich nicht entscheidet,
sondern bald die H altung eines wirklichen Bundes annimmt, mit allen dazu
gehörigen Ansprüchen auf G arantie und Gleichartigkeit und mit allen
lnterventionsm öglichkeiten, bald aber nur als Büro, als praktisch brauch­
bare Konferenz- und Verm ittlungsgelegenheit gelten will. So kann er aller­
dings zwei Gesichter haben, eines nach W esten und ein anderes nach Osten.
Er kann den westlichen Großmächten gegenüber als dienstbereites, be­
scheidenes Zweckgebilde vorsichtig und unverbindlich auftreten, w ährend
er einem schwachen und entw affneten Staat das hoheitsvolle Antlitz
strengen Rechtes zeigt und ihn, wenn er den politischen Interessen einer
44 Das Doppel gesicht des Genfer Völkerbundes

Großmacht im Wege steht, justizförm ig exekutiert. Die w eitere G efahr


liegt darin, daß in dieser U nklarheit der Schein des Rechts und der Rechts-
förm igkeit auf politische Gegensätze ausgedehnt w ird, die sich einem
form alen V erfahren entziehen. Nach schlimmen E rfahrungen fürchten alle
Freunde des Rechtes nichts m ehr als politische Prozesse und die Politisie­
rung der Justiz. Man hat nicht nu r aus praktischen und theoretischen G rün­
den der G ew altenteilung die politische G ew alt von der richterlichen unab­
hängig gemacht1, sondern hält auch gerade im Interesse der Rechtspflege
den Richter von der Politik fern und sucht die schwere G efährdung, die dem
Ansehen des Rechts durch solche Prozesse droht, sorgfältig zu verm eiden.
W ürde nun die Beilegung aller internationalen Gegensätze dadurch organi­
siert, daß man die Staaten einem justizförm igen oder wenigstens einem
form alisierten V erfahren unterw irft, so w äre, w enn wirklich alle sich u n te r­
w erfen, dem Völkerrecht die Aufgabe zugem utet, ohne k lare Prinzipien
und ohne feste Regeln die furchtbarsten Konflikte im Nam en des Rechts zu
entscheiden. Die Behandlung der M ossulfrage ist hier ein bedenklicher
Präzedenzfall. Die politische Justiz w ürde ein neues Gebiet von großer,
phantastischer Ausdehnung erhalten, und es gäbe politische Prozesse, die
das Unrecht solcher Justiz zu den ungeheuren Dim ensionen w eltpolitischer
Gegensätze steigerten. W er dürfte es wagen, diese schlimmste G efährdung
des Rechts im Namen des Rechts zu versuchen?
Das ist die Lage, in der Deutschland dem G enfer V ölkerbunde b eitritt.
Es begibt sich damit in eine internationale V erbindung, von der einige
vieles Nützliche erw arten, andere Schädliches befürchten. A ber niem and
d arf sich darüber täuschen, daß bis heute die K ernfrage des V ölkerbundes
absichtlich noch offengelassen und der B undescharakter dieser Einrichtung
noch nicht bestimm t ist. Das lose Gefüge m ancherlei internationaler Be­
ziehungen, das heute noch als ein vieldeutiges, jed e r beruhigenden Aus­
legung zugängliches Kompositum erscheint, kan n m orgen vielleicht ein
straffes System w erden und alle Konsequenzen eines echten Bundes und
echter Solidarität entfalten. Es w ird gut sein, sich d arüber klarzuw erden,
denn wenn Deutschland M itglied des V ölkerbundes ist, muß es auch in der
Lage sein, bei solchen fundam entalen V eränderungen oder Festlegungen
gleichberechtigt m itzuw irken. Sonst bedeutet seine M itgliedschaft im
V ölkerbund die Verewigung seiner N iederlage, und sein E in tritt in den
Bund w äre nur die Ergänzung zu der horrenden und beispiellosen A b­
lieferung seiner Waffen: die w eniger sinnfällige, aber nicht w eniger folgen­
reiche A blieferung seiner Rechte.

1 Rudolf Smend, Die politische Gewalt im Verfassungsstaat und das Problem


der Staatsform, Festgabe der Berliner juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl,
Tübingen 1923.
Zu Friedrich Meineckes „Idee der Staatsräson' 45

6. Zu Friedrich Meineckes „Idee der Staatsräson“ (1926)


Die Eigenschaften und Vorzüge, auf denen der Ruhm dieses W erkes1
beruht, halten in einer ganz besonderen W eise die K ritik von ihm fern.
Nicht nur w eil die große Leistung, der Reichtum an historischen Einsichten
und Erkenntnissen und der Überblick über vier Jahrhunderte politischen
Denkens eher die höchste B ew underung als eine K ritik nahelegen, sondern
auch deshalb, weil gerade die charakteristischen Eigenschaften des Buches:
psychologische Feinheit, vorsichtig abwägendes Verständnis für gegen­
teilige und w idersprechende Ansichten und vor allem die Ablehnung einer
begrifflichen F ixierung — jedem Versuch einer K ritik zuvorkommen. Was
könnte man Neues zum Them a des Buches sagen, was dieser grenzenlos
vielseitige K enner der Jah rh u n d erte nicht bereits vorweggenommen hätte
und was nicht sofort seinen Platz fände in dem Mosaik der tausend
Nuancen, in denen seine „Idee der Staatsräson“ lebt?
„D er reiche Inhalt der Idee der Staatsräson läßt sich nicht in die engen
Fesseln einer begrifflichen Definition schlagen“ (S. 259). Natürlich w ird
w iederholt gesagt, was u n ter dem W ort verstanden sein soll: Staatsräson
ist bald dasselbe wie M achiavellismus, bald Machtpolitik, oder Macht-
und Lebenswille der Staaten oder sogar „Zwangsläufigkeit im politischen
H andeln“ (vgl. S. 369) ; M achtproblem und M achtpolitik sind nur die m oder­
nen Ausdrücke für Staatsräson (S. 511); im 19. Jah rh u n d ert w ird Staats­
räson das innere Bewegungsgesetz des Staates als einer Individualität
(S. 489) usw. A ber jede begriffliche Festlegung ist sorgfältig vermieden.
Dadurch w ird die Möglichkeit gewonnen, eine Vorstellung durch vier Ja h r­
hunderte hindurch zu v erw erten und an ih r ein großes M aterial zu orien­
tieren. A ndererseits w ird allerdings auch auf die Intensität eines entschei­
denden und deshalb ordnenden und gruppierenden Begriffes verzichtet und
damit auf einen A ufbau im eigentlichen Sinne. Eine geistesgeschichtliche
D arstellung k ann ihre S tru k tu r n u r durch Begriffe erhalten. Es mag
„Rationalism us“ sein, mit Begriffsschablonen zu arbeiten; es ist ein auf dem­
selben N iveau verbleibender Irrationalism us, jede Begrifflichkeit zu v er­
meiden. D er Verzicht auf den Begriff enthält nicht nur einen Verzicht auf
jede Spannung dialektischer Entwicklung, wie sie bei Hegel und den be­
deutenderen H egelianern einen oft gew altigen A ufbau ermöglicht, sondern
auf eine strenge A rchitektur überhaupt. Die Folge ist, daß die S tru k tu r
des W erkes sich lockert und schließlich in einer Reihe von Essays und P or­
träts eine Reihe von A utoren geschildert w ird, die vom 16. bis 19. Ja h r­
hundert das Them a Staatsräson und M achtpolitik in mancherlei V ariatio­
nen behandelt haben.
D er Verzicht auf Begrifflichkeit und A rchitektur ist aber w iederum nicht
so entschieden, daß jede innere Linie fehlte, die zahlreichen, um die „Idee
der Staatsräson“ sich bewegenden M einungen und Ansichten in einem
1 Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Gesdiidite. München
und Berlin (Oldenbourg) 1924.
46 Zu Friedrich Meinedees „Idee der Staatsräson'

chaotischen Gewimmel durcheinanderliefen und höchstens durch die R eihen­


folge der Jahrhunderte eine gewisse Übersichtlichkeit entstände. Es läßt
sich vielm ehr eine einfache Linie erkennen, die vom 16. zum 19. Jah rh u n d ert
geht, von M achiavelli zu R anke und Treitschke, vom Absolutism us zum
N ationalstaat, wobei M achiavelli, Friedrich der G roße und H egel „als die
drei m arkantesten G ipfel“ hervorragen (S. 456). Es w ird sogar von einem
„Fortschritt“ in der Lehre von der Staatsräson gesprochen“ (S. 481). W äh­
rend im 16. Jah rh u n d ert n u r ein erster Hauch historischen D enkens, n u r die
erste Ahnung der geistigen Persönlichkeit des Staates zu verspüren ist, sieht
der „neue“ Historism us, die „neue“ Staatsräson die großen und mächtigen
Individualitäten der Geschichte. D ie Idee der Staatsräson w ird dadurch
„nichts anderes als die individuelle Idee des Staates, die das Individuum des
einzelnen Staatsm annes beherrscht“ (S. 482). D ie alte Staatsräson dachte
abstrakt, rationalistisch, generell, mechanisch; sie setzte eine im m er gleiche
menschliche N atur voraus. D ie neue entdeckt das konkrete, individuelle
Leben der einzelnen Staaten. D en W endepunkt bezeichnet die Philosophie
des deutschen Idealism us; sie h at die wesentlichen Ideen der Iden tität von
N atur und Geist, Politik und Moral, und die Individualität der Staaten
und Völker gefunden. H ier ist also eine Linie, eine Entwicklung, sogar ein
Fortschritt. Doch kann m an nicht sagen, daß das W erk auf dieser Linie be­
ruhe. Es ist nicht so, als steigere sich in Hegelischer W eise der A ufbau, je
m ehr es zur G egenw art hingeht und als gipfele die Entwicklung in der
G egenw art oder wenigstens in der Staatsidee des 19. Jahrhunderts. Gew iß
ist R anke m it besonderer Feinheit, ja Innigkeit behandelt; er ist die F igur
des W erkes, welcher der A utor als H isto rik er offenbar am nächsten v e r­
w andt ist. A ber das begründet noch keine Steigerung oder K ulm ination
des W erkes selbst. Die Linie, die vom alten M achiavellism us zum neuen
historischen Wissen um die Individualität des Staates gezogen w ird, be­
zeichnet, wenn ich so sagen darf, n u r das Minimum von Entwicklung, ohne
das es nun einmal in einer geschichtlichen D arstellung nicht geht. Im
übrigen liegt der G rundgedanke des W erkes in etw as anderem . E r schließt
die Vorstellung einer fortlaufenden Entw icklungslinie ebenso wie die einer
dialektischen Steigerung aus und enthält einen in G egensätzen b a la n ­
cierenden moralischen Dualism us.
D ieser Dualism us erscheint bald als der G egensatz von Sein und Sollen,
bald von Macht und Sittlichkeit, bald in anderen G estalten. Jedenfalls w ird
die Idee der Staatsräson von ihm beherrscht. Doch handelt es sich nicht um
den Gegensatz von Regel und Ausnahm e in dem Sinne, daß eine geltende
Regel, etw a das jus commune oder ein allgem eines M oralgebot aus Rück­
sichten einer „Staatsräson“ durchbrochen und diese A usnahm e dann im H in­
blick auf die besonders geartete Situation oder den N otfall gerechtfertigt
würde. Solche K onstruktionen sind in der Geschichte der L ehre von der
Staatsräson sehr häufig. Sie beruhen auf dem G egensatz von norm alen und
abnorm en Fällen. Wo sie auftauchen — besonders in der L ite ratu r des 16.
und 17. Jahrhunderts —, w erden sie als „logisch-juristisch“ bezeichnet (z. B.
Zu Friedrich Meineckes „Idee der Staatsräson“ 47

S. 151, 165, 382) und die A bneigung des A utors gegen das Logisch-Juristische
ist offenbar so groß, daß dieses P rä d ik a t genügt, um derartige K onstruk­
tionen und die Bücher, die sich m it ihnen beschäftigen, anscheinend grund­
sätzlich zu ignorieren. A ber die K onstruktion der „Ausnahm e“ h ätte ihm
die ganze Problem atik seines „individuellen Lebensgesetzes“ und seiner
„individuellen Staatsräson“ zeigen können, w eil ein solches individuelles
Gesetz natürlich keine Ausnahm e kennt, wie das „allgem eine M oralgebot“,
zu welchem das Buch sich ebenfalls schließlich bekennt. Mir scheint die
Frage nach der N orm alität oder A bnorm ität der konkreten Situation von
grundlegender Bedeutung zu sein. W er davon ausgeht, daß ein abnorm er
Zustand vorliegt — sei es nun, daß er die W elt in einer radikalen Ab­
norm ität erblickt, sei es, daß er n u r eine besondere Situation fü r abnorm
hält — w ird das Problem von Politik, M oral und R edit anders lösen, als
w er von ih re r prinzipiellen, n u r durch kleine Störungen getrübten N orm a­
lität überzeugt ist. O b m an den Menschen fü r von N atur gut oder von N atur
böse hält, ist in der staatstheoretischen L ite ratu r m eistens n u r eine Um­
schreibung oder eine besondere A nw endung dieses fundam entalen Gegen­
satzes. Aus der A nnahm e der abnorm en Situation ergeben sich besonders
geartete, dezisionistische Konsequenzen, ergibt sich ein Sinn fü r Durch­
brechungen, fü r eine, oberflächlicherweise sogenannte „ Irratio n a litä t“ (im
Religiösen z. B. fü r die Lehre von der Prädestination), A nerkennung außer­
ordentlichen H andelns und Eingreifens, wie des a deo excitatus, ferner D ik­
tatu r, aber auch Begriffe w ie Souveränität und Absolutismus, also Vor­
stellungen, die Meiriecke m it seiner schlagw ortartig erw eiterten Staatsräson
in V erbindung bringen w ill, die er aber in ih re r Besonderheit nicht beachtet.
Sein D ualism us verm eidet sowohl diese metaphysisch-logische, wie die
juristische Seite des Problem s und bleibt im Moralischen, d. h. in der libe­
ralen T radition des 18. und 19. Jahrhunderts, die zw ar durch das große
historische V erständnis fü r die Individualität jedes staatlichen Lebens
m odifiziert w ird, aber d afür auch ihre w iderspruchslose Einfachheit verliert.
Zum Staat gehört, w ie im m er w ieder betont w ird, Macht. A ber die Macht
soll sich in die Sphäre des Ethischen erheben und dort mit etw as ih re r
N atur Frem dem , sogar Gegensätzlichem verbinden. „K ratos und Ethos zu­
sammen bauen den S taat und machen Geschichte“ (S. 5). D er Gegensatz von
Macht und E thik ru ft nun fast von selbst zahlreiche andere G egensatzpaare
hervor, geht in sie über, verbindet sich m it ihnen in den verschiedensten
Kom binationen, und so spiegelt sich der in der Idee der Staatsräson liegende
Dualism us in vielen A ntithesen, von denen folgende zu erw ähnen sind:

I. D e r m o r a l i s c h e D u a l i s m u s
Kratos — Ethos
Staatsräson — Sittliches Gebot
Handeln — Denken
Realität — Sittliche Forderung
Politik — Moral
Machtpolitik — Sittlichkeit
Egoistisches Interesse — Ethische Norm
48 Zu Friedrich Meineckes „Idee der Staatsräson

II. D i e r e c h t l i c h e S e i t e d e s D u a l i s m u s
Egoismus — Vertragstreue
Macht — Redit
( De r G e g e n s a t z v o n S t a a t s r ä s o n
und V ö l k e r r e c h t ist nur ein A n ­
w e n d u n g s f a l l , vgl. S. 260 u. 520)
Empirisdie Wirklichkeit — Naturredit
III. D i e m e t a p h y s i s c h e Seite des D u a l i s m u s
Natur — Sittlichkeit
Naturhafte Notwendigkeit — Sittengesetz
Natur — Geist
Natur — Kultur
Schicksal — Vernunft
Das Dunkle
Dämonische,
Vulkanische, ► — Das Rationale
Irrationale,
Leben
Böse Gut
Teufel Gott
Diese kurze Übersicht soll nicht etw a den Reichtum des Buches erschöpfen
und die Fülle der Nuancen in Fesseln schlagen, sondern nu r zeigen, daß die
Grundanschauung des W erkes vieler verschiedener Erscheinungsformen
fähig ist, aber doch immer auf der Spannung eines moralischen Dualism us
beruht. Ausdrücklich w ird der Versuch des deutschen Idealismus, die Gegen­
sätze in einer Identitätsphilosophie aufzuheben, als etwas heute nicht m ehr
Mögliches behandelt. „W ir sagen heute, daß das Vernünftige wohl sein soll,
aber nicht schlechthin ist. Die K luft zwischen Sein und Sollen erscheint uns
größer, die tragische Schuld der M achtkämpfe deshalb schwerer als dem
älteren deutschen Idealismus, der die O ffenbarung G ottes in der Geschichte
nicht groß, gewaltig und um fassend genug sich vorstellen konnte
und auch die Abgründe des Lebens von ih r beglänzt sah“ (S. 506). Es bleibt
also beim Dualismus. Jene kurze Übersicht zeigt allerdings schon, daß eine
große Zahl von Kombinationen, V erbindungen, Vertauschungen und Über­
gängen möglich ist, zumal wenn jede begriffliche Abgrenzung prinzipiell
verm ieden wird. Auch sind Um stellungen aus einer Reihe in die andere
möglich. Es gibt z. B. einen vernünftigen Egoismus, eine rationalistische
Staatsräson (hier w ird das W ort Rationalism us zur Kennzeichnung einer
historischen Epoche), und innerhalb der Staatsräson kann selbst w ieder ein
Dualism us gefunden werden, weil sie i n s i c h eine N atur- (und Nacht-) und
eine V ernunftseite hat (vgl. S. 459). D aß gerade solche Verschlingungen und
Verwicklungen einen H istoriker wie Meinecke besonders interessieren, ist
begreiflich. Nun liegt es für manche m oderne H istoriker sehr nahe, gegen­
über den prim itiven Gegensätzlichkeiten von M achiavellismus und A nti­
machiavellismus, M acchtpolitik und Moral, die Gesichtspunkte der deut­
schen Identitätsphilosophie, gegenüber dieser deutschen Identität w iederum
die Berechtigung des Gegensatzes geltend zu machen, und so aus einem
beständigen Wechsel des Standpunkts, einem ewigen H in und H er, eine A rt
von Ü berlegenheit zu machen. F ü r Meineckes Buch trifft das aber nicht zu.
Zu Friedrich Meineckes „Idee der Staatsräson“ 49

Es nimmt vielm ehr am Schluß ausdrücklich Stellung, allerdings — wie hier


bereits gesagt w erden muß — nicht so, daß diese Stellung als ein notwen­
diges Ergebnis des G esam tw erkes, als eine conclusio erscheint. Die Lehre
von einer besonderen Staatsm oral, „die selbst Troeltsch 1916 noch tiefsinnig
nannte“, w ird als irrefü h ren d bezeichnet (S. 533). Die R ettung der staat­
lichen Individualität ist ein sittliches Recht, aber wenn sie „auf Kosten des
allgem einen M oralgebotes“ erfolgt, so ist das „tragische Schuld“ und „mit
strenger W ahrung des allgem einen M oralgebots“ zu beurteilen (S. 534).
Gegenüber den deutschen Identitäts- und Individualitätsvorstellungen, ins­
besondere gegenüber Hegel, der M achiavelli w ieder zu E hren brachte und
den M achtgedanken zu stark sanktionierte, kommen w ir also w ieder „zu
einem neuen Dualism us, der aber vollkom m ener und organischer sich zu
sein bem üht, als der frü h e re “ (S. 536). —
Das letzte W ort des Buches ist eine „gereinigte und w ahrhaft weise
Staatsräson“ (S. 537). Bei jedem D enker läßt sich ein G rundbild feststellen,
das für seine geistige Eigenart charakteristisch ist. Beispiele solcher Bilder
sind die W aage (die Balance), der O rganism us (der w ieder ein Baum, ein
Tier oder ein menschlicher O rganism us sein kann) oder mechanische Bilder,
wie die Maschine; B ilder von der A rchitektur; die w iederum ganz anders
gearteten V orstellungen von Kam pf und Schlacht usw. Die Lehre von diesen
Bildern ist noch wenig entw ickelt und leicht der G efahr ausgesetzt, sich im
Psychologischen oder einfach in p lattester Rom antik aufzulösen1. Aber den
W ert eines charakterisierenden Moments w ird man ihnen zubilligen müssen,
besonders da, wo ein W erk auf einer dualistischen Spannung beruht.
Lösungen wie Bestehenlassen des D ualism us brauchen notwendigerweise
ein charakteristisches Bild. F ü r Meinecke dürfte das Bild von der Pendel­
schwingung seine G rundeinstellung am besten verdeutlichen. Nach ihm
stehen w ir heute in einer Zeit, in welcher der Pendel von dem Macht­
gedanken und dem Monismus der deutschen Identitäts- und Individuali­
tätsauffassung weg zu einem starken Dualism us von Politik und Moral
schwingt. „Spätere Geschlechter mögen vielleicht w ieder zu einer neuen
Identitätsphilosophie zu gelangen suchen, und so mag sich die Pendel­
schwingung zwischen dualistischer und monistischer W eltansicht immer
w iederholen“ (S. 536). Zu diesem Dualism us — denn auch der Gegensatz
von Monismus und D ualism us w ird zu einem balancierenden Dualism us —
gelangt der A utor aber n u r deshalb, weil er durch die Betonung des D ualis­
mus eine Schranke fü r die überm äßige Staatsräson zu finden hofft — ein
etwas pädagogisch-moralischer G rund, der jedoch keineswegs gering zu
schätzen oder unheroisch zu nennen ist, sondern an die H altung der großen
Zeit des Liberalism us erinnert. Am besten h at Gentz sie einmal zum Aus­
druck gebracht, als er sagte, daß er sich immer auf die Seite stelle, die je ­
weils verkannt und mißachtet w erde. Trotzdem bedeutet diese H altung 1*4
1 Insbesondere scheint es mir gefährlich, die organischen Bilder als Ausdruck
„agrarischen“, die mechanisdien als Ausdruck „industriellen“ Denkens zu behandeln;
vgl. darüber die hübsche Auseinandersetzung bei Wyndham Lewis, The art of being
ruled. London 1926, S. 32 ff.
4 1682
50 Zu Friedrich Meineckes „Idee der Staatsräson“

einen sehr auffälligen Verzicht auf die rein historische K ontem plation, die
sonst gerade die Stärke und den Reichtum des Buches ausmacht.
Das „allgem eine M oralgebot“ und das Völkerrecht, dessen Norm en die
Staatsräson unterw orfen w erden soll, sind nun leider keine unproblem ati­
schen Größen, die am Ende eines von solchem historischem W issen erfüllten
W erkes als Schluß erscheinen könnten. O bw ohl der V erfasser den „ver­
hüllten und schwebenden D ualism us“ bei R anke ablehnt, w eil er „nicht die
letzte mögliche Lösung des Problem s bedeuten k onnte“ (S. 487), und obwohl
er sich mit persönlicher Entschiedenheit zum allgem einen M oralgebot be­
kennt, ergibt sich aus dem W erk keine Entscheidung. Das Problem liegt
nämlich gar nicht in der inhaltlichen N orm ativität eines M oral- oder Rechts­
gebotes, sondern in der Frage: W er entscheidet? D ie große staatsphilo­
sophische L iteratu r des 17. Jahrhunderts, insbesondere Hobbes und Pufen-
dorff, haben dieses q u i s j u d i c a b i t ? im m er betont. Meinecke spricht wohl da­
von, daß es über den Staaten keinen Richter gibt (S. 505, vgl. auch S. 371,
262), aber das Problem als solches ignoriert er, vielleicht aus A ntipathie
gegen alles, was an etw as Juristisches erinnert. In der Sache läßt es sich
nicht ignorieren. N atürlich w ollen alle n u r Recht, Moral, E thik und Frieden;
keiner w ill Unrecht tun; aber die in concreto allein interessante Frage ist
immer, w er im konkreten F all darü b er entscheidet, was rechtens ist; w orin
der Friede besteht; was eine Störung oder G efährdung des Friedens ist,
m it welchen M itteln sie beseitigt w ird, w ann eine Situation norm al und
„befriedet“ ist usw. Dieses quis ju d icab it zeigt, daß innerhalb des Rechts
und des allgem einen M oralgebots w iederum ein D ualism us steckt, der
diesen Begriffen die Fähigkeit nimmt, als einfache Gegensätze der „Macht“
entgegenzutreten und zu ih r in einer Pendelschwingung sich zu bewegen.
Das Recht, insbesondere das V ölkerrecht, ist nämlich entw eder einfach
Legitim ität des status quo und sanktioniert den bestehenden Besitzstand;
dann dient es der Macht der Besitzenden. O der es begründet Ansprüche der
Nichtbesitzenden und erscheint dann als ruhestörendes, revolutionäres
Prinzip. Dieses Problem der L egitim ität des status quo und der norm alen
Situation, das ich öfters, zuletzt in m einer Schrift über „Die K ernfrage des
V ölkerbundes“ behandelt habe, sei hier n u r angedeutet. Es muß den A spekt
des grundlegenden Dualism us von K ratos und Ethos völlig ändern.
Ist so das allgemeine M oralgebot in sich nicht ohne w eiteres überzeugend,
so hat auch die Sanktionierung, die es bei Meinecke erhält, etw as U nent­
schiedenes. Ein aus G ründen der M achtpolitik vorgenom m ener Verstoß
gegen dieses Gebot w ird als „tragische“ Schuld angesehen. Das mag sie sein;
aber das ist keine Sanktion, sondern ein Übergang ins Ästhetische. „T ra­
gisch“ ist keine Kategorie, die, w enn m an einm al ein moralisches Gebot
ernst nimmt, die letzte A ntw ort auf einen Konflikt geben könnte. Das W ort
ist höchstens ein Ausdruck, der inneren Problem atik dieses moralischen G e­
botes selbst, eine Umschreibung tiefen B edauerns und der Erschütterung,
die aus der historischen Einsicht in die Ohnm acht des Gebotes oder in die
Unverm eidlichkeit der Durchbrechung entsteht, aber es kann nicht der
Zu Friedrich Meinedees „Idee der Staatsräson“ 51

überzeugende Schluß eines W erkes sein, in welchem das Problem der


Staatsräson von der moralischen Seite gestellt wird. Ein solches W ort be­
deutet, daß das Buch kein letztes W ort hat. Eine nu r historische Schilde­
rung braucht allerdings auch kein letztes W ort zu haben. Anders aber ein
W erk, das nun einm al den Standpunkt des M oralgebotes anerkannt hat.
Vom historischen Interesse aus erhebt sich dann ein w eiterer Zweifel.
Ist die „Idee der Staatsräson“ wirklich ein geeigneter G rundgedanke, um
eine umfassende D arstellung des Staats- und Machtproblems der letzten
Jahrhunderte zu tragen? Ist sie nicht in ihrem spezifischen Sinn an eine be­
stimmte Epoche, an den Absolutismus des 16. und 17. Jahrhunderts, gebun­
den und für die folgenden Jahrhunderte zu wenig charakteristisch und
zentral, als daß eine historische D arlegung sich an diesem Begriff orien­
tieren könnte? D er Gesam teindruck von Meineckes Buch macht diesen
Zweifel noch stärker, obwohl die F rage an sich dem H istoriker natürlich
nicht unbekannt geblieben ist. Fast die H älfte des Buches behandelt das
Zeitalter des w erdenden Absolutismus, besonders Machiavelli, Botero,
Boccalini, C am panella, Richelieu, den Herzog Heinrich von Rohan, G.
Naudet. Im zweiten Buch beherrscht Friedrich der Große das Interesse; das
dritte enthält Essays über Hegel, Fichte, R anke und Treitschke, von denen
Fichte auf n u r acht Seiten behandelt w ird. Das Schwergewicht des W erkes
ruht unverhältnism äßig stark auf der ersten H älfte und dem Kapitel über
Friedrich den Großen. Dem 19. Jah rh u n d ert w ird der Begriff der Staats­
räson fremd, obwohl das M achtproblem in neuen Formen, insbesondere als
„Im perialism us“ bestehen blieb und sich noch ungeheuer verschärfte. Eine
Ideenverbindung wie Ratio Status ist eben doch zu fest an bestimm te Be­
griffe gebunden, als daß sie sich fü r ganz verschiedene Jahrhunderte politi­
schen Denkens zum gemeinsamen O rientierungspunkt eignete. Im Zeitalter
der K abinettspolitik hat die Politik eine andere „V ernunft“, einen anderen
Sinn und einen anderen Stil als in einer demokratischen Zeit, deren A rt
Politik m indestens zur H älfte Technik der öffentlichen Meinung ist. Und
ebenso wie die Ratio ändert sich der Begriff des Staates. Die Wortgeschichte
von Staat ist noch nicht geschrieben. Sie beginnt jedenfalls nicht erst m it
Machiavelli. Lange vor dem 16. Jah rh u n d ert w ar es der Sprache veneziani­
scher Politik möglich, sogar schon vom „Leben unseres Staates“, von der vita
nostri status zu sprechen. Aus den vielen „status“, die es gab, konnte sich
e i n status als d e r status hervorheben, ein Begriff, der von res publica
und civitas, erst recht aber von Gemeinwesen oder Commonwealth zu u n ter­
scheiden ist, und wesentlich einer Sphäre angehört, deren Besonderheit in
Meineckes Buch kaum h erv o rtritt, der Sphäre der P u b l i z i t ä t im Gegen­
satz zu allem P rivaten und allem ökonomischen. In die gleiche Sphäre ge­
hören Begriffe wie R epräsentation, Person (zum großen Unterschied von
Persönlichkeit oder gar Individualität), D ignitas und Ehre. D ieser status
bedeutet die grundlegende und um fassende Einheit einer substantiellen,
seinsmäßigen, wesentlich öffentlichen O rdnung, er hat die innere R ationali­
tät eines Seins und w ill deshalb „in suo esse perseverare“. Dadurch bleibt
4*
52 Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie

er immer im Zusammenhang m it einem (man sagt heute in falscher A nti­


these) statischen Ordnungsbegriff. Sobald sog. dynamische V orstellungen
irgendwelcher A rt1 herrschend werden, v e rliert der Begriff seinen Sinn.
Dem ökonomisch-technischen D enken der G egenw art erscheint er über­
haupt unverständlich und „unsachlich“. D aher k ann heute sogar sein An­
spruch, in eminentem Sinne die soziale E i n h e i t darzustellen, b estritten
werden, wie das in der „pluralistischen“ S taatstheorie von L a s k i ge­
schieht. Ich halte das zw ar nicht fü r eine Staatstheorie, sondern fü r die N e­
gation einer solchen und für ein Sym ptom der Auflösung, aber ich darf ge­
stehen, daß es m ir interessanter und ak tu eller scheint als die Klischees der
staatsrechtlichen Kom pendien oder gar die P rodukte der methodologischen
Inflation.
So sind w ir von ratio und status heute w eit entfernt. F ü r einen H isto­
rik e r wie Meinecke konnte das nicht unbem erkt bleiben. W enn er tro tz­
dem versuchte, die Idee der Staatsräson auch noch im 19. und sogar noch im
20. Jah rh u n d ert als M ittelpunkt seiner D arstellung beizubehalten, so w ar
ihm das n u r möglich, weil er den Begriff zu einer ganz allgem einen Vor­
stellung von M achtstreben, M achtpolitik und dergleichen erw eiterte und
ihn einem ebenso allgem einen M oralgebot gegenüberstellte. Höchst auf­
fällig, ja widerspruchsvoll. D enn nicht n u r das Spezifische des Begriffes geht
verloren — das hat den V erfasser ex professo niem als interessiert — son­
dern auch die historische Individualität der V orstellung. Es entfällt also
gerade das, was der H istoriker gegenüber dem generellen M oralismus
frü h erer Jahrhunderte sonst im m er betont und was die Ü berlegenheit der
neueren deutschen Geschichtsschreibung ausmacht. So rächt sich der m iß­
achtete Begriff. W enn w ir ins Allgem eine gehen und von den historischen
Besonderheiten absehen, dann ist nämlich die „gereinigte“ oder „w ahrhaft
w eise“ Staatsräson schließlich nichts anderes, als die „gute“ Staatsräson,
die schon im 16. und 17. Ja h rh u n d e rt einer schlechten, cattiva ragione di
stato entgegengesetzt w urde.

7. Der Gegensat} von Parlamentarismus


und moderner Massendemokratie (1926)
I. Parlamentarismus
In einer im Sommer 1923 erschienenen A bhandlung über den P a rla ­
m entarism us habe ich D i s k u s s i o n und Ö f f e n t l i c h k e i t als die
Prinzipien bezeichnet, in denen die Institution des Parlam ents ihre geistige
G rundlage hat. D ie vielerö rterte K risis des P arlam entarism us b e ru h t für
eine ideengeschichtliche B etrachtung darauf, daß m an heute, infolge der
1 Über den Gegensatz der statisdien und der dynamischen Staats- und Regie­
rungsformen: Rudolf Smend, Die politisdie Gewalt im Verfassungsstaat und das
Problem der Staatsform. Tübingen 1923, S. 22.
Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie 53

Entwicklung der m odernen M assendemokratie, den G lauben an jene P rin ­


zipien verliert. Die K lassiker des politischen Liberalismus und Vorkäm pfer
des kontinentalen Parlam entarism us sahen noch mit voller Überzeugung
in der öffentlichen Diskussion nicht n u r ein H eilm ittel gegen politische
Korruption, sondern auch den moralischen W ert und die Überlegenheit
des Parlam ents. D er typische V ertreter dieses Glaubens ist Guizot, ein
typischer L iberaler der Louis-Philipp-Zeit. Das Parlam ent ist für ihn der
Platz,' wo in öffentlicher Diskussion durch A rgum ent und Gegenargum ent
die W ahrheit und Richtigkeit am sichersten gefunden wird. Entfällt dieser
Glaube, w ird die öffentliche Diskussion zu einer nichtssagenden Form alität
und verlegt sich die Entscheidung aller wesentlichen Fragen in geheime
Sitzungen enger Komitees, so ist auch die geistige G rundlage des P a rla ­
m entarismus entfallen.
Soweit gegen diese Thesen ein sachlicher, nicht nur durch politische Be­
fürchtungen bestim m ter Einw and erhoben w urde — wie von Richard
T h o m a in einer ausführlichen, gedankenreichen K ritik im Archiv für
Sozialwissenschaften, 1925, Bd. 53, S. 212 ff. —, geht er dahin, daß ich die
geistige G rundlage des Parlam entarism us in ganz veralteten G edanken­
gängen finde, wenn ich Diskussion und Öffentlichkeit für die beiden w esent­
lichen Prinzipien des Parlam ents halte. D erartiges sei vielleicht vor einigen
G enerationen m aßgebende Vorstellung gewesen, heute aber stände das
P arlam ent längst auf einer ganz anderen Basis. D aß der Glaube an
Öffentlichkeit und Diskussion heute als etw as V eraltetes erscheint, ist
auch meine Befürchtung. Es fragt sich deshalb nur, welcher A rt denn die
neuen A rgum entationen oder Ü berzeugungen sind, die dem Parlam ent
seine neue geistige G rundlage geben. N atürlich ändern sich im Lauf der
Entwicklung sowohl die Institutionen als auch die Ideen der Menschen.
Ich sehe aber nicht, w orin der heutige Parlam entarism us, wenn die P rin ­
zipien der Diskussion und der Öffentlichkeit wirklich entfallen, eine neue
G rundlage finden könnte und w eshalb die W ahrheit und Richtigkeit des
Parlam ents dann noch einleuchtend w ären. Wie jede große Institution, so
hat auch das P arlam ent besondere, eigentümliche Ideen zur Voraussetzung.
W er sie kennenlernen will, w ird sich gezwungen sehen, auf Burke,
Bentham, Guizot und J. St. Mill zurüdkzugehen, und w ird dann feststellen
müssen, daß nach ihnen, ungefähr seit 1848, wohl zahlreiche praktische
Erwägungen, nicht aber neue prinzipielle Argum ente vorgebracht worden
sind. Im letzten Jah rh u n d ert hat man das freilich kaum bem erkt, weil der
Parlam entarism us m it der vordringenden D em okratie in enger Verbindung
gleichzeitig vordrang, ohne daß beides genau unterschieden w urde1. H eute
1 Ein ganz typisches Beispiel ist die Definition des Parlamentarismus in dem Buch
des Senators Prof. Gaetano Mosca, „Teorica dei Governi e Governo Parlamentäre'*,
2. Auflage, Mailand 1925 (1. Auflage 1883), S. 147; er versteht darunter eine Regie­
rung, in welcher die politische Überlegenheit (la preminenza politica) im Staate
Elementen zusteht, welche direkt oder indirekt aus einer Volkswahl hervorgehen.
Audi die beliebte Gleichstellung von Repräsentativverfassung und Parlamentarismus
enthält dieselbe Verwechslung.
54 Der Gegensatz yon Parlamentarismus und moderner Massendemokratie

aber, nach dem gemeinsamen Sieg, tritt der G egensatz zutage und kann
der Unterschied von liberal-parlam entarischen und m assendemokratischen
Ideen nicht länger unbeachtet bleiben. Man w ird sich also mit jenen, wie
Thoma sich ausdrückt, „verschim melten“ G rößen beschäftigen müssen, weil
n u r aus ihren G edankengängen heraus das Spezifische des P arlam entaris­
mus zu erkennen ist und n u r bei ihnen das P arlam ent den C h a ra k te r einer
eigenartig fundierten Institution erhält, die sowohl gegenüber den Konse­
quenzen der unm ittelbaren D em okratie als gegenüber Bolschewismus und
Fascismus eine geistige Ü berlegenheit w ahren kann. D aß der heutige
parlam entarische B etrieb das kleinere Übel ist, daß er imm er noch besser
sein w ird als Bolschewismus und D ik tatu r, daß es unabsehbare Folgen
haben w ürde, w enn m an ihn beseitigt, daß er „sozial-technisch“ eine ganz
praktische Sache ist, alles das sind interessante und zum Teil auch richtige
Erw ägungen. A ber es ist nicht die geistige G rundlage einer besonders
gearteten Institution. D er P arlam entarism us besteht heute als R egierungs­
m ethode und politisches System. W ie alles, was besteht und erträglich
funktioniert, ist er nützlich, nicht m ehr und nicht w eniger. Es läßt sich
vieles dafür geltend machen, daß es so wie heute imm er noch besser geht
als bei unerprobten andern M ethoden und daß ein Minimum von O rdnung,
wie es heute doch tatsächlich vorhanden ist, durch leichtsinnige E xperim ente
gefährdet w ürde. D erartige Überlegungen w ird jed e r verständige'M ensch
durchaus gelten lassen. A ber sie bew egen sich nicht in der Sphäre eines
prinzipiellen Interesses. So anspruchslos w ird doch wohl niem and sein,
daß er mit einem „Was sonst?“ eine geistige G rundlage oder eine moralische
W ahrheit fü r erw iesen hielte.
Alle spezifisch parlam entarischen Einrichtungen und Norm en erhalten
erst durch Diskussion und Öffentlichkeit ihren Sinn. Das gilt insbesondere
von dem verfassungsm äßig heute offiziell noch anerkannten, w enn auch
praktisch kaum noch geglaubten G rundsatz, daß der A bgeordnete von
seinen W ählern und seiner P artei unabhängig ist; es gilt von den Vor­
schriften über R edefreiheit und Im m unität der Abgeordneten, über die
Öffentlichkeit der Parlam entsverhandlungen usw. Diese Einrichtungen
w erden unverständlich, w enn das Prinzip der öffentlichen Diskussion
keinen G lauben m ehr findet. Es ist nicht so, als könnte man einer Insti­
tution nachträglich beliebige andere Prinzipien unterschieben, und wenn
ih re bisherige G rundlage entfällt, irgendwelche E rsatzargum ente ein-
fügen. Wohl kann dieselbe Institution verschiedenen praktischen Zwecken
dienen und deshalb verschiedene praktische Rechtfertigungen erfahren.
Es gibt eine „Heterogonie der Zwecke“, einen B edeutungsw andel der p ra k ­
tischen Gesichtspunkte und einen Funktionsw andel der praktischen M ittel,
aber es gibt keine H eterogonie der Prinzipien. W enn w ir zum Beispiel m it
M ontesquieu annehmen, daß das Prinzip der Monarchie die „E hre“ ist, so
läßt sich dieses Prinzip nicht einer dem okratischen R epublik unterschieben,
ebensowenig wie sich auf dem P rinzip der öffentlichen Diskussion eine
Monarchie fundieren läßt. Zw ar scheint das G efühl fü r die Besonderheit
Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie 55

der Prinzipien zu schwinden und eine grenzenlose U nterschiebbarkeit für


möglich gehalten zu w erden. In der eingangs erw ähnten Besprechung von
Thoma ist das eigentlich der G rundgedanke aller Einwände, die er gegen
meine A bhandlung erhebt. A ber leider v e rrä t er keineswegs, welches denn
die angeblich so zahlreichen, neuen Prinzipien des Parlam entarism us
eigentlich sind. E r begnügt sich damit, in einem kurzen Hinweis von
wenigen W orten „nur die Schriften und Reden von Max W eber, Hugo
Preuß und Friedrich N aum ann aus den Jahren 1917ff.“ zu erw ähnen. Was
bedeutete der Parlam entarism us für diese gegen das kaiserliche Regie­
rungssystem ankäm pfenden deutschen D em okraten? Im wesentlichen und
höchsten ein M ittel der politischen Führerauslese, einen sicheren Weg,
politischen D ilettantism us zu beseitigen und die Besten und Tüchtigsten
zur politischen Führerschaft gelangen zu lassen. Ob das Parlam ent ta t­
sächlich die F ähigkeit besitzt, ejne politische Elite zu bilden, ist sehr
zweifelhaft geworden. H eute w ird m an wohl nicht m ehr so hoffnungsvoll
über dieses A usleseinstrum ent denken; viele w erden derartige Hoffnungen
schon als veraltet ansehen, und das W ort „Illusionen“, das Thoma gegen
Guizot gebraucht, könnte leicht auch jene deutschen D em okraten treffen.
Was die zahlreichen Parlam ente der verschiedenen europäischen und
außereuropäischen Staaten an politischer Elite in H underten von M inistern
ununterbrochen hervorbringen, rechtfertigt keinen großen Optimismus.
A ber noch schlimmer und für jene Hoffnungen fast vernichtend: in manchen
Staaten hat es der Parlam entarism us schon dahin gebracht, daß sich alle
öffentlichen A ngelegenheiten in Beute- und Kom prom ißobjekte von
Parteien und Gefolgschaften verw andeln und die Politik, weit davon ent­
fernt, die A ngelegenheit einer Elite zu sein, zu dem ziemlich verachteten
Geschäft einer ziemlich verachteten Klasse von Menschen geworden ist.
F ür eine prinzipielle Betrachtung ist das jedoch nicht entscheidend. W er
glaubt, der Parlam entarism us g arantiere die beste politische Führerauslese,
hat diese Überzeugung heute allerdings meistens nicht m ehr als ideellen
Glauben, sondern als eine nach englischen V orbildern konstruierte, auf
dem K ontinent zu erprobende, praktisch-technische Hypothese, die man
vernünftigerw eise sofort aufgibt, wenn sie sich nicht bew ährt. Doch kann
sich seine Ü berzeugung auch mit dem G lauben an Diskussion und Öffent­
lichkeit verbinden, und dann gehört sie zur prinzipiellen Argum entation
des Parlam entarism us. Das P arlam ent ist jedenfalls nur so lange „w ahr“,
als die öffentliche Diskussion ernst genommen und durchgeführt wird.
„Diskussion“ h at hier aber einen besonderen Sinn und bedeutet nicht ein­
fach Verhandeln. W er alle möglichen A rten von V erhandeln und Ver­
ständigung als Parlam entarism us und alles andere als D ik tatu r oder
G ew altherrschaft bezeichnet — wie M. J. B o n n in seiner „Krisis der
europäischen D em okratie“ und auch R. T h o m a in seiner obengenannten
Besprechung —, um geht die eigentliche Frage. Auf jedem G esandten­
kongreß, jedem D elegiertentag, in jed er D irektorensitzung wird ver­
handelt; ebenso wie zwischen den K abinetten der absoluten Monarchen,
56 Der Gegensatz yon Parlamentarismus und moderner Massendemokratie

zwischen ständischen O rganisationen, zwischen C hristen und T ürken ver­


handelt w urde. D araus ergibt sich noch nicht die Institution des m odernen
Parlam ents. Man darf die Begriffe nicht auflösen und das Spezifische der
Diskussion nicht außer acht lassen. Diskussion bedeutet einen Meinungs­
austausch, der von dem Zweck beherrscht ist, den G egner mit rationalen
A rgum enten von einer W ahrheit und Richtigkeit zu überzeugen oder sich
von der W ahrheit und Richtigkeit überzeugen zu lassen. Gentz — hierin
noch von dem L iberalen B urke b elehrt — form uliert es treffend: Das
C harakteristische aller R epräsentativverfassungen (er m eint das moderne
Parlam ent zum Unterschied von ständischen V ertretungen) ist, daß die
Gesetze aus einem K a m p f d e r M e i n u n g e n (nicht aus einem Kampf
der Interessen) hervorgehen. Zur Diskussion gehören gemeinsame Über­
zeugung als Prämisse, B ereitw illigkeit, sich überzeugen zu lassen, Un­
abhängigkeit von parteim äßiger Bindung, U nbefangenheit von egoistischen
Interessen. H eute w erden die m eisten eine solche U ninteressiertheit kaum
für möglich halten. A ber auch diese Skepsis gehört zur Krise des P a rla ­
m entarismus. Die eben erw ähnten, offiziell noch geltenden Bestimmungen
der parlam entarischen Verfassungen lassen deutlich erkennen, daß alle
eigentüm lich-parlam entarischen Einrichtungen diesen besonderen Begriff
der Diskussion voraussetzen. D er überall w iederkehrende Satz zum Bei­
spiel, daß jed e r Abgeordnete V ertreter nicht einer Partei, sondern des
ganzen Volkes und an keinerlei Anw eisungen gebunden ist (auch die
W eim arer Verfassung hat ihn in A rtikel 21 aufgenommen), die typisch
w iederkehrenden G arantien der R edefreiheit und die Vorschriften über
die Öffentlichkeit der Sitzungen sind n u r bei richtig verstandener Dis­
kussion sinnvoll. V erhandlungen dagegen, bei denen es nicht darauf
ankommt, die rationale Richtigkeit zu finden, sondern Interessen und
Gewinnchancen zu berechnen und durchzusetzen und das eigene Inter­
esse nach Möglichkeit zur G eltung zu bringen, sind natürlich auch von
mancherlei Reden und E rörterungen begleitet, aber nicht im prägnanten
Sinne Diskussion. Zwei Kaufleute, die sich nach einem K onkurrenzkam pf
einigen, sprechen über die beiderseitigen wirtschaftlichen Möglichkeiten;
jed e r sucht selbstverständlich seinen Vorteil wahrzunehm en, und so
kommen sie zu einem geschäftlichen Kompromiß. D ie Öffentlichkeit ist bei
dieser A rt von Verhandlung ebenso unangebracht, wie sie bei einer w ahren
Diskussion vernünftig ist. V erhandlungen und Kompromisse hat es, wie
gesagt, überall in der Weltgeschichte gegeben. D ie Menschen wissen, daß
es meistens vorteilhafter ist, sich zu vertragen, als zu streiten, und ein
m agerer Vergleich besser als ein fetter Prozeß. Das ist zweifellos richtig,
aber nicht das Prinzip einer besonders gearteten Staats- oder Regierungs­
form.
Die Lage des Parlam entarism us ist heute so kritisch, weil die Ent­
wicklung der m odernen M assendemokratie die argum entierende öffent­
liche Diskussion zu einer leeren F orm alität gemacht hat. Manche Normen
des heutigen Parlam entsrechtes, vor allem die Vorschriften über die Un-
Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie 57

abhängigkeit der A bgeordneten und über die Öffentlichkeit der Sitzungen,


w irken infolgedessen wie eine überflüssige Dekoration, unnütz und sogar
peinlich, als hätte jem and die H eizkörper einer m odernen Zentralheizung
mit roten Flam m en angem alt, um die Illusion eines lodernden Feuers
hervorzurufen. Die P arteien (die es nach dem T ext der geschriebenen Ver­
fassung offiziell gar nicht gibt) treten heute nicht m ehr als diskutierende
Meinungen, sondern als soziale oder wirtschaftliche M achtgruppen ein­
ander gegenüber, berechnen die beiderseitigen Interessen und Machtmög­
lichkeiten und schließen auf dieser faktischen G rundlage Kompromisse
und Koalitionen. Die Massen w erden durch einen Propagandaapparat ge­
wonnen, dessen größte W irkungen auf einem Appell an nächstliegende
Interessen und Leidenschaften beruhen. Das Argum ent im eigentlichen
Sinne, das für die echte Diskussion charakteristisch ist, verschwindet. An
seine Stelle tritt in den V erhandlungen der P arteien die zielbewußte
Berechnung der Interessen und Machtchancen; in der Behandlung der
Massen die plakatm äßig eindringliche Suggestion oder — wie W alter Lipp-
mann in einem sehr klugen, aber zu sehr im Psychologischen verhafteten
amerikanischen Buche „Public O pinion“, London 1922, sagt — das „Sym­
bol1“. Die L ite ratu r zur Psychologie, Technik und K ritik der öffentlichen
Meinung ist heute sehr groß12. Man darf deshalb wohl als bekannt voraus­
setzen, daß es sich heute nicht m ehr darum handelt, den Gegner von einer
Richtigkeit oder W ahrheit zu überzeugen, sondern die M ehrheit zu ge­
winnen, um m it ih r zu herrschen. Was C avour als den großen Unterschied
zwischen Absolutismus und konstitutionellem Regime bezeichnet, daß der
absolute M inister befiehlt, der konstitutionelle denjenigen, der gehorchen
soll, überzeugt, muß heute seinen Sinn verlieren. C avour sagt ausdrücklich:
„Ich (als konstitutioneller M inister) überzeuge davon, daß ich r e c h t habe“,
und nur in diesem Zusammenhang tu t er den berühm ten Ausspruch: „La
plus m auvaise des C ham bres est encore préférable à la m eilleure des Anti­
cham bres.“ H eute erscheint das Parlam ent eher selbst als eine riesige
Antichambre vor den Bureaus oder Ausschüssen unsichtbarer Machthaber.
H eute w irk t es wie eine Satire, wenn man den Satz von Bentham zitiert:
„Im P arlam ent treffen sich die Ideen, die B erührung der Ideen schlägt
Funken und fü h rt zur Evidenz.“ W er erinnert sich noch der Zeit, da Pré-
1 Ein kürzlich erschienenes, interessantes und witziges, trotz aller literarisdien
und gedanklichen Sprünge sehr beachtenswertes Buch, Wyndham Lewis, „The art of
being ruled“, London (Chatto und Windus) 1926, erklärt diesen Übergang vom In­
tellektuellen zum Affektiven und Sensuellen dadurch, daß infolge der modernen
Demokratie der männliche Typus zurückgedrängt wird und eine allgemeine Femini­
sierung eintritt.
2 Doch trifft gerade hier eine Feststellung zu, die Robert Michels im Vorwort zur
2. Auflage seiner „Soziologie des Parteiwesens“ (S. XVIIÏ) macht, „daß auf dem
Gebiete sowohl der theoretischen, zumal aber dem der angewandten Massenpsycho­
logie . . . die deutsche Wissensdiaft hinter der französischen, italienischen, amerika­
nischen und englischen um einige Dezennien an Arbeitsleistung, aber auch an Inter­
esse zurücksteht“. Dem wäre nur hinzuzufügen, daß ein Buch wie das von Robert
Michels, mit seinem erstaunlichen Reichtum an Material und an Gedanken, doch wohl
geeignet ist, ein Dezennium des Rüdestandes zu kompensieren.
58 Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie

vost-Paradol gegenüber dem „persönlichen Regim e“ Napoleons III. den


W ert des Parlam entarism us d arin erblickte, daß dieser bei jed er Ver­
schiebung der wirklichen Macht den w irklichen Inhaber der Macht zwinge,
sofort offen hervorzutreten, und die R egierung infolgedessen, in einer
„w underbaren“ Übereinstim mung von Schein und Sein, im m er die stärkste
Macht bedeute? W er glaubt noch an diese A rt von Öffentlichkeit? U nd an
das Parlam ent als die große „T ribüne“?
Die Beweisgründe von B urke, Bentham, Guizot und J. St. Mill sind
also heute veraltet. Auch die zahlreichen Definitionen des P arlam entaris­
mus, die man heute noch in angelsächsischen und französischen Schriften
findet und die in Deutschland anscheinend wenig bekannt sind, Definitionen,
in denen der Parlam entarism us wesentlich als governm ent by discussion
erscheint, m üßten danach als „verschimmelt“ gelten. Gut. W enn m an dann
immer noch an den Parlam entarism us glaubt, w ird m an wenigstens neue
A rgum ente angeben müssen. Ein Hinweis auf Friedrich N aum ann, Hugo
Preuß und Max W eber genügt dann nicht m ehr. Bei allem R espekt vor
diesen M ännern w ird heute niem and ih re Hoffnung teilen, durch das
Parlam ent sei die Bildung einer politischen Elite ohne w eiteres garantiert.
Solche Überzeugungen sind heute tatsächlich erschüttert, und als ideeller
G laube können sie nu r bestehen, solange sie sich m it dem G lauben an D is­
kussion und Öffentlichkeit verbinden. Was in den letzten Jahrzehnten an
neuen Rechtfertigungen für den Parlam entarism us vorgebracht w orden
ist, besagt schließlich immer nur, daß heutzutage das Parlam ent als brauch­
bares, sogar unentbehrliches Instrum ent sozialer und politischer Technik
gut oder wenigstens leidlich funktioniert. Das ist, um es nochmals zu v er­
sichern, eine durchaus plausible A rt der Betrachtung. A ber man w ird
sich doch auch für die tiefere B egründung interessieren müssen, für das,
was M ontesquieu das Prinzip einer Staats- oder Regierungsform nennt,
fü r die spezifische Überzeugung, die zu dieser w ie zu jen e r großen Insti­
tution gehört, für den G lauben an das Parlam ent, den es tatsächlich ein­
mal gegeben hat und den m an heute nicht m ehr findet.
In der Geschichte der politischen Ideen gibt es Epochen großer Im pulse
und Zeiten der W indstille eines ideenlosen status quo. So ist die Epoche
der Monarchie zu Ende, wenn der Sinn für das Prinzip des Königtums,
fü r die Ehre, verlorengeht, w enn Bürgerkönige erscheinen, die statt ih rer
W eihe und ih rer Ehre ihre B rauchbarkeit und Nützlichkeit zu bew eisen
suchen. D er äußere A pparat monarchischer Einrichtungen k ann dann noch
lange stehenbleiben. Trotzdem h at die Stunde der M onarchie geschlagen.
Die Überzeugungen, die eigentlich zu dieser und keiner anderen Institution
gehören, erscheinen dann veraltet; an praktischen R echtfertigungen w ird
es nicht fehlen, aber es ist n u r Tatfrage, ob Menschen oder O rganisationen
auftreten, die sich als tatsächlich ebenso brauchbar oder noch brauchbarer
erw eisen wie die Könige und durch dieses einfache F aktum die Monarchie
beseitigen. Ähnlich v erhält es sich m it den „sozial-technischen“ Recht­
fertigungen des Parlam ents. W ird das Parlam ent aus einer Institution von
Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie 59

evidenter W ahrheit zu einem bloß praktisch-technischen Mittel, so braucht


nur in irgendeinem Verfahren, nicht einmal notwendigerweise durch eine
offen sich exponierende D iktatur, via facti gezeigt zu werden, daß es auch
anders geht, und das P arlam ent ist dann erledigt.

II. D e m o k r a t i e
D er G laube an den Parlam entarism us, an ein g o v e r n m e n t b y d i s c u s s i o n ,
gehört in die G edankenw elt des Liberalismus. Er gehört nicht zur Demo­
kratie. Beides, Liberalism us und D em okratie, muß voneinander getrennt
werden, dam it das heterogen zusammengesetzte Gebilde erkannt wird,
das die m oderne M assendem okratie ausmacht.
Jede w irkliche D em okratie beru h t darauf, daß nicht n u r Gleiches gleich,
sondern, mit unverm eidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nicht gleich
behandelt w ird. Zur D em okratie gehört also notwendig erstens Homogeni­
tä t und zweitens — nötigenfalls — die Ausscheidung oder Vernichtung
des Heterogenen. Als Illustrierung dieses Satzes sei mit einem W ort an
zwei verschiedene Beispiele m oderner D em okratien erinnert: an die heutige
T ürkei mit ih rer radikalen Aussiedlung der Griechen und ihrer rücksichts­
losen T ürkisierung des Landes — und an das australische Gemeinwesen,
das durch Einw anderungsgesetzgebung unerwünschten Zuzug fernhält. Die
politische K raft einer D em okratie zeigt sich darin, daß sie das Frem de und
Ungleiche, die Hom ogenität Bedrohende, zu beseitigen oder fernzuhalten
weiß. Bei der F rage der Gleichheit handelt es sich nämlich nicht um
abstrakte, logisch-arithmetische Spielereien, sondern um die Substanz der
Gleichheit. Sie kann in bestim m ten physisdien und moralischen Q uali­
täten gefunden werden, z. B. in der staatsbürgerlichen Tüchtigkeit, der
άρετή, die klassische D em okratie der virtus (vertu). In der D em okratie
englisdier Sektierer des 17. Jahrhunderts gründete sie sich auf die Über­
einstimmung religiöser Überzeugungen. Seit dem 19. Jahrhundert besteht
sie vor allem in der Zugehörigkeit zu einer bestimm ten Nation, in der
nationalen Hom ogenität1. Immer ist die Gleichheit nur so lange politisch
interessant und wertvoll, als sie eine Substanz hat und deshalb wenigstens
die M öglidikeit und das Risiko einer Ungleichheit besteht. Es gibt vielleicht
einzelne Beispiele fü r den idyllischen Fall, daß ein Gemeinwesen sich in
jeder Beziehung selbst genügt, daß gleichzeitig jed er seiner Bewohner
ebenfalls diese glückliche A utarkie besitzt und jed er jedem andern phy­
sisch, psychisch, moralisch und ökonomisch so ähnlich ist, daß eine Homo­
genität ohne H eterogenität vorliegt, was in prim itiven Bauerndem okratien
oder K olonistenstaaten eine Zeitlang möglich sein könnte. Im übrigen muß
man sagen, daß die D em okratie — weil zur Gleichheit immer auch eine

1 Die zur Demokratie gehörige politisdie Substanz kann m. E. nicht im bloß


Ökonomischen liegen. Aus der ökonomischen Gleichheit folgt nodi keine politisdie
Homogenität; wohl können — negativ — große ökonomische Ungleidiheiten eine
sonst bestehende politische Homogenität aufheben oder gefährden. Die weitere Aus­
führung dieser Thesen gehört in einen anderen Zusammenhang.
50 Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie

Ungleichheit gehört — einen Teil der vom Staate beherrschten Bevölkerung


ausschließen kann, ohne aufzuhören, D em okratie zu sein, daß sogar im
allgemeinen bisher zu einer D em okratie im m er auch Sklaven gehörten
oder Menschen, die in irgendeiner Form ganz oder halb entrechtet und
von der Ausübung der politischen G ew alt ferngehalten w aren, mögen sie
nun Barbaren, Unzivilisierte, Atheisten, A ristokraten oder G egenrevolutio­
näre heißen. W eder in der athenischen Stadtdem okratie noch im englischen
W eltreich sind alle Bewohner des Staatsgebietes politisch gleichberechtigt.
Von den über 400 Millionen Bew ohnern des englischen W eltreiches sind
über 300 Millionen nicht englische Bürger. W enn von englischer Demo­
kratie, „allgemeinem“ W ahl- oder Stimmrecht und „allgem einer“ Gleich­
heit die Rede ist, so werden diese H underte von M illionen in der englischen
D em okratie ebenso selbstverständlich ignoriert wie die Sklaven in der
athenischen Dem okratie. D er m oderne Im perialism us h at zahlreiche neue,
der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung entsprechende H e rr­
schaftsformen herausgebildet, die sich in demselben Maße ausdehnen, wie
sich innerhalb des M utterlandes die D em okratie entwickelt. Kolonien,
Protektorate, M andate, Interventionsverträge und ähnliche Form en der
Abhängigkeit ermöglichen es heute einer D em okratie, eine heterogene
Bevölkerung zu beherrschen, ohne sie zu S taatsbürgern zu machen; sie
von dem demokratischen Staate abhängig zu machen und doch gleichzeitig
von diesem Staate fernzuhalten. Das ist der politische und staatstheoretische
Sinn der schönen Form el: die Kolonien sind staatsrechtlich Ausland, völker­
rechtlich Inland. D er „weitläufige Sprachgebrauch“, d.h. der Sprachgebrauch
der angelsächsischen W eltpresse, dem R. Thom a sich u n terw irft und den
er sogar für eine staatstheoretische Definition als m aßgebend anerkennt,
läßt das alles unbeachtet. F ü r ihn ist angeblich jed e r Staat, in welchem
das allgemeine und gleiche W ahlrecht „zum Fundam ent des G anzen“
gemacht ist, eine D em okratie. B eruht etw a das englische W eltreich auf
dem allgemeinen und gleichen W ahlrecht aller seiner Bew ohner? Auf
diesem Fundam ent könnte es keine Woche bestehen; die Farbigen w ürden
mit ungeheurer M ehrheit die W eißen überstim m en. Trotzdem ist das eng­
lische W eltreich eine D em okratie. Ähnlich v erh ält es sich m it Frankreich
und anderen Mächten.
Das allgemeine und gleiche W ahl- und Stimmrecht ist vernünftigerw eise
n u r die Folge der substanziellen Gleichheit in nerhalb des K reise der
Gleichen und geht nicht w eiter als diese Gleichheit. Ein solches gleiches
Recht hat einen guten Sinn, wo Hom ogenität besteht. Diese A rt Allgem ein­
heit des W ahlrechts aber, die der „weitläufige Sprachgebrauch“ meint,
bedeutet etwas anderes: Jeder erwachsene Mensch, bloß als Mensch, soll
eo ipso jedem anderen Menschen politisch gleichberechtigt sein. Das ist ein
liberaler, kein dem okratischer G edanke; er setzt eine M enschheitsdem okra­
tie an die Stelle der bisher bestehenden, auf der V orstellung substantieller
Gleichheit und Hom ogenität beruhenden D em okratie. H eute herrscht auf
der Erde keineswegs diese allgem eine M enschheitsdemokratie. Von allem
Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie 61

andern abgesehen schon deshalb nicht, w eil die Erde in Staaten, und zw ar
meistens sogar national homogene Staaten, geteilt ist, die innerhalb ih rer
selbst auf der G rundlage nationaler Hom ogenität eine D em okratie zu
verw irklichen suchen, im übrigen aber keineswegs jeden Menschen als
gleichberechtigten B ürger behandeln1. Auch der demokratischste Staat,
sagen w ir die V ereinigten Staaten von Am erika, ist w eit davon entfernt.
Frem de an seiner Macht oder seinem Reichtum zu beteiligen. Bisher hat
es noch keine D em okratie gegeben, die den Begriff des Frem den nicht
gekannt und die Gleichheit aller Menschen verw irklicht hätte. W ollte m an
aber mit einer M enschheitsdem okratie E rnst machen und w irklich jeden
Menschen jedem andern Menschen politisch gleichstellen, so w äre das eine
Gleichheit, an der jed e r Mensch k ra ft G eburt oder Lebensalters ohne
w eiteres teilnähm e. Dadurch h ätte man die Gleichheit ihres W ertes und
ih rer Substanz beraubt, weil m an ih r den spezifischen Sinn genommen
hätte, den sie als politische Gleichheit, ökonomische Gleichheit usw., ku rz
als Gleichheit eines bestim m ten G ebietes hat. Jedes G ebiet h at nämlich
seine spezifischen G leichheiten und Ungleichheiten. So sehr es ein Unrecht
wäre, die menschliche W ürde jedes einzelnen Menschen zu mißachten, so w äre
es doch e in e ’unverantw ortliche, zu den schlimmsten Form losigkeiten und
daher zu noch schlimmerem Unrecht führende Torheit, die spezifischen Be­
sonderheiten der verschiedenen G ebiete zu verkennen. Im Bereich des Poli­
tischen stehen sich die Menschen nicht ab stra k t als Menschen, sondern als
politisch interessierte und politisch determ inierte Menschen gegenüber,
als Staatsbürger, R egierende oder Regierte, politische V erbündete oder
Gegner, also jedenfalls in politischen Kategorien. In der Sphäre des Poli­
tischen kann m an nicht vom Politischen ab strah ieren und n u r die allgem eine
Menschengleichheit übriglassen; ebenso wie im Bereich des ökonom ischen
nicht Menschen schlechthin, sondern Menschen als Produzenten, Konsu­
m enten usw., das heißt n u r in spezifisch ökonomischen K ategorien, be­
griffen w erden.
Eine absolute Menschengleichheit w äre also eine Gleichheit, die sich
ohne Risiko von selbst versteht, eine Gleichheit ohne das notw endige
K orrelat der U ngleichheit und infolgedessen eine begrifflich und praktisch
nichtssagende, gleichgültige Gleichheit. N un gibt es zw ar nirgends eine
solche absolute Gleichheit, solange, w ie eben erw ähnt, die verschiedenen
Staaten der E rde ihre S taatsbürger von an dern Menschen politisch u n ter­
scheiden und eine politisch abhängige, aber aus irgendwelchen G ründen
unerw ünschte B evölkerung von sich fernzuhalten wissen, indem sie eine
völkerrechtliche A bhängigkeit m it einer staatsrechtlichen F rem dheit v er­
binden. D agegen scheint w enigstens i n n e r h a l b der verschiedenen
m odernen dem okratischen Staaten eine allgem eine Menschengleichheit
1 Insofern besteht ein „Pluralismus“, und der soziale Pluralismus, in den nach
der Prognose von M. J. Bonn, Die Krisis der europäischen Demokratie, 1925, die
heutige, angebliche Menschheitsdemokratie sich auflösen wird, ist in anderer, wirk­
samerer Form längst vorhanden und immer vorhanden gewesen.
62 Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie

durchgeführt zu sein, zw ar keine absolute Gleichheit aller Menschen, weil


selbstverständlich die Frem den, die N ichtstaatsangehörigen, ausgeschlossen
bleiben, aber doch, innerhalb des Kreises der Staatsangehörigen, eine
relativ weitgehende Menschengleichheit. Es ist aber zu beachten, daß in
diesem Falle die nationale Hom ogenität meistens um so stärk er betont
und die relativ allgemeine Menschengleichkeit innerhalb des Staates durch
den entschiedenen Ausschluß aller nicht zum Staate gehörenden, außerhalb
des Staates verbleibenden Menschen w ieder aufgehoben wird. Wo das
nicht der Fall ist, wo ein Staat ohne Rücksicht auf die nationale oder andere
A rten der Homogenität die allgem eine Menschengleichheit auf politischem
Gebiete durchführen wollte, w ürde er der Konsequenz nicht entgehen
können, daß er die politische Gleichheit in demselben Maße entw ertet,
wie er sich der absoluten Menschengleichheit annähert. Und nicht n u r das.
Es w ürde auch, ebenfalls in demselben Maße wie vorhin, das Gebiet selbst,
also die Politik selbst, entw ertet und etw as Gleichgültiges werden. Man
hätte nicht nu r die politische Gleichheit ih re r Substanz beraubt und für
den einzelnen Gleichen w ertlos gemacht, auch die Politik w äre in dem
Maße wesenlos geworden, als für ih r G ebiet mit solchen wesenlosen Gleich­
heiten Ernst gemacht ist. Die Gleichgültigkeit erfaßt auch die Angelegen­
heiten, die mit den Methoden einer substanzlosen Gleichheit behandelt
werden. Die substantiellen Ungleichheiten w ürden keineswegs aus der
W elt und aus dem Staat verschwinden, sondern sich auf ein anderes
Gebiet, etwa vom Politischen ins W irtschaftliche, zurückziehen und diesem
Gebiet eine neue, unverhältnism äßig starke, überlegene Bedeutung geben.
Bei politischer Scheingleichheit muß ein anderes Gebiet, auf welchem die
substantiellen Ungleichheiten sich dann durchsetzen, heute also z. B. das
ökonomische, die Politik beherrschen. Das ist ganz unverm eidlich und für
eine staatstheoretische Betrachtung der w ahre G rund der vielbeklagten
Herrschaft des ökonom ischen über Staat und Politik. Wo eine gleichgültige,
ohne das K orrelat einer Ungleichheit gedachte Gleichheit ein Gebiet
menschlichen Lebens tatsächlich erfaßt, v erliert auch dieses G ebiet selbst
seine Substanz und tritt in den Schatten eines anderen Gebietes, auf
welchem dann die Ungleichheiten m it rücksichtsloser K raft zur G eltung
kommen.
Die Gleichheit aller Menschen als Menschen ist nicht D em okratie, sondern
eine bestimmte A rt Liberalismus, nicht Staatsform , sondern individua­
listisch-hum anitäre Moral und W eltanschauung1. A uf der u nklaren Ver­
bindung beider beruht die m oderne M assendemokratie. Trotz alle r Be­
schäftigung mit Rousseau und trotz der richtigen E rkenntnis, daß Rousseau
1 Diese Unterscheidung hat ein sehr beachtenswerter Aufsatz von Werner Becker
in der Zeitschrift „Sdiildgenossen“, September 1925, gut ausgeftihrt; die Arbeit be­
ruht auf einem in meinem politischen Seminar, Sommersemester 1925, gehaltenen
ausgezeidineten Referat. Der Aufsatz von H. Hefele, „Hodiland“, November 1924,
betont ebenfalls einen Gegensatz von Liberalismus und Demokratie. Dodi bleibe ich
sowohl Bedcer wie Hefele gegenüber bei der Definition der Demokratie als einer
Identität von Regierenden und Regierten.
Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie 63

am Anfang der m odernen D em okratie steht, scheint m an noch nicht be­


m erkt zu haben, daß schon die Staatskonstruktion des C ontrat social diese
beiden verschiedenen Elem ente inkohärent nebeneinander enthält. Die
Fassade ist liberal: B egründung der Rechtm äßigkeit des Staates auf freien
Vertrag. A ber im w eiteren V erlauf der D arstellung und bei der E nt­
wicklung des wesentlichen Begriffes, der volonté générale, zeigt sich, daß
der w ahre S taat nach Rousseau n u r existiert, wo das Volk so homogen ist,
daß im wesentlichen Einstim m igkeit herrscht. Es darf nach dem C ontrat
social im Staate keine P arteien geben, keine Sonderinteressen, keine reli­
giösen Verschiedenheiten, nichts, was die Menschen trennt, nicht einm al ein
Finanzwesen. D er von bedeutenden Nationalökonom en, wie A lfred W eber1
und C arl B rinkm ann12, bew underte Philosoph der m odernen D em okratie
sagt in allem Ernst: Finanz ist etw as fü r Sklaven: ein mot d’esclave
(Buch III, Kap. 15, Abs. 2), wobei zu beachten ist, daß für Rousseau das
W ort „Sklave“ die ganze folgenreiche Bedeutung hat, die ihm in der demo­
kratischen Staatskonstruktion zukomm t; es zeichnet den nicht zum Volk
Gehörigen, den Nicht-Gleichen, den Nicht-Citoyen, dem es nichts nützt,
daß er in abstracto „Mensch“ ist, den Heterogenen, der an der allgem einen
Hom ogenität nicht teilnim m t und deshalb m it Recht ausgeschlossen w ird.
Die Einm ütigkeit muß nach Rousseau so w eit gehen, daß die Gesetze s a n s
d i s c u s s i o n zustande kommen. Sogar Richter und P artei müssen dasselbe
wollen (Buch II, Kap. 4, Abs. 7), wobei nicht einm al gefragt w ird, welche
von den beiden P arteien, ob K läger oder Beklagte dasselbe wollen; kurz,
in der bis zur Iden tität gesteigerten Hom ogenität versteht sich alles von
selbst. W enn ab er E inm ütigkeit und Übereinstim m ung aller W illen mit
allen wirklich so groß sind, wozu braucht dann noch ein V ertrag geschlossen
oder auch n u r k o n stru iert zu w erden? D er V ertrag setzt doch Verschieden­
heit und G egensätzlichkeit voraus. D ie Einm ütigkeit ist, ebenso wie die
volonté générale, entw eder vorhanden oder nicht vorhanden, und zw ar,
wie A lfred W eber treffend gesehen hat, n a t u r h a f t vorhanden. Wo sie
besteht, ist w egen ih re r N atu rhaftigkeit der V ertrag sinnlos; wo sie nicht
besteht, nützt kein V ertrag. D er G edanke des freien V ertrages aller mit
allen kom mt aus einer ganz andern, gegensätzliche Interessen, Verschieden­
heiten und Egoismen voraussetzenden G edankenw elt, aus dem L iberalis­
mus. D ie volonté générale dagegen, w ie Rousseau sie k onstruiert, beru h t
auf der Hom ogenität. N ur das ist konsequente D em okratie. Nach dem
C ontrat social b e ru h t also der Staat trotz des Titels und trotz der einleiten­
den V ertragskonstruktion nicht auf K ontrakt, sondern wesentlich auf
Homogenität. Aus ih r ergibt sich die dem okratische Identität von R egieren­
den und R egierten.
Auch die Staatstheorie des C o n trat social enthält einen Beweis dafür,
daß man die D em okratie richtigerw eise als Identität von R egierenden und
R egierten definiert. Diese in m einer Schrift „Politische Theologie“ (1922)
1 Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Stuttgart 1925.
2 Archiv für Sozialwissenschaften, August 1925, Bd. 54, S. 533.
64 Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie

und in der A bhandlung über den P arlam entarism us vorgeschlagene Defi­


nition ist, soweit sie bem erkt w urde, teils abgelehnt, teils abgeschrieben
w orden. Ich möchte daher noch erw ähnen, daß sie zw ar in ih re r Anw endung
auf die heutigen Staatstheorien und in ih re r E rw eiterung zu einer Reihe
von Identitäten neu ist, im übrigen aber einer alten, m an k an n sagen
klassischen und aus diesem G runde wohl nicht m ehr bekannten Ü ber­
lieferung entspricht. W egen ihres Hinweises auf interessante, heute be­
sonders aktuelle staatsrechtliche K onsequenzen mag hier die Form ulierung
von Pufendorff (De Ju re N atu rae et Gentium , 1672, Buch VII, K apitel VI,
§ 8) zitiert w erden: in der D em okratie, wo derjenige, der befiehlt, und
derjenige, der gehorcht, derselbe ist, k an n der Souverän, d. h. die aus
allen B ürgern bestehende Versam m lung, beliebig Gesetze und Verfassung
ändern; in einer Monarchie oder A risto k ratie — ubi alii sunt qui im perant,
alii quibus im peratur — ist nach Pufendorffs M einung ein gegenseitiger
V ertrag und daher eine Beschränkung der Staatsgew alt möglich.
*

Eine populäre V orstellung sieht heute den P arlam entarism us in der


M itte zwischen Bolschewismus und Faschismus von zwei Seiten bedroht.
D as ist eine einfache, aber äußerliche G ruppierung. D ie Schwierigkeiten
des parlam entarischen B etriebes und der parlam entarischen Einrichtungen
erwachsen in W ahrheit aus den Z uständen der m odernen Massendemo­
kratie. Diese fü h rt zunächst zu einer K risis der D em okratie selbst, weil
m it der allgem einen Menschengleichheit das Problem der zu einer Demo­
k ra tie notw endigen substanziellen Gleichheit und H om ogenität nicht gelöst
w erden kann. Sie fü h rt fern er zu einer von der K risis der D em okratie
wohl zu unterscheidenden K risis des Parlam entarism us. Beide K risen sind
heute gleichzeitig aufgetreten und verschärfen sich gegenseitig, sind aber
begrifflich und tatsächlich verschieden. Als D em okratie sucht die m oderne
M assendem okratie eine Id en tität von R egierenden und R egierten zu ver­
w irklichen und begegnet auf diesem W ege dem P arlam ent als einer nicht
m ehr begreiflichen, veralteten Institution. W enn m it der dem okratischen
Iden tität E rnst gemacht w ird, kan n nämlich im E rnstfall keine andere
verfassungsm äßige Einrichtung vor der alleinigen M aßgeblichkeit des
irgendw ie geäußerten, unw idersprechlichen W illens des Volkes stand­
halten. Ihm gegenüber hat insbesondere eine auf der D iskussion von un­
abhängigen A bgeordneten beruhende Institution keine selbständige E xi­
stenzberechtigung, um so w eniger, als der G laube an die D iskussion nicht
demokratischen, sondern liberalen U rsprungs ist. M an k ann heute drei
K risen unterscheiden: die K risis der D em okratie — von ih r spricht
M. J. Bonn, ohne den Gegensatz von lib eraler M enschengleichheit und demo­
kratischer Hom ogenität zu beachten —; fern e r eine K risis des m odernen
Staates (Alfred W eber) und endlich eine K risis des Parlam entarism us.
Die hier in F rage stehende K risis des P arlam entarism us b e ru h t darauf,
daß D em okratie und Liberalism us w ohl eine Zeitlang m iteinander ver-
Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie 65

bunden sein können, wie auch Sozialismus und D em okratie sich verbunden
haben, daß aber diese L iberaldem okratie, sobald sie zur Macht gelangt,
sich ebenso zwischen ih ren Elem enten entscheiden muß wie die Sozial­
dem okratie, die übrigens, weil die m oderne M assendemokratie wesentlich
liberale Elem ente enthält, in W ahrheit eine Sozial-Liberal-D em okratie ist.
In der D em okratie gibt es n u r die Gleichheit der Gleichen und den W illen
derer, die zu den Gleichen gehören. Alle anderen Institutionen verw andeln
sich in wesenlose sozial-technische Behelfe, die nicht imstande sind, dem
irgendw ie geäußerten W illen des Volkes einen eigenen W ert und ein
eigenes Prinzip entgegenzusetzen. Die Krisis des m odernen Staates beruht
darauf, daß eine Massen- und M enschheitsdemokratie keine Staatsform,
auch keinen dem okratischen Staat zu realisieren vermag.
Bolschewismus und Faschismus dagegen sind wie jede D ik tatu r zw ar
antiliberal, aber nicht notw endig antidem okratisch. In der Geschichte der
D em okratie gibt es manche D iktaturen, Cäsarism en und andere Beispiele
auffälliger, fü r die liberalen Traditionen des letzten Jahrhunderts un­
gewöhnlicher Methoden, den W illen des Volkes zu bilden und eine
Hom ogenität zu schaffen. Es gehört zu den undemokratischen, im 19. Ja h r­
hundert aus der Verm engung m it liberalen G rundsätzen entstandenen
Vorstellungen, das Volk könne seinen W illen nur in der Weise äußern,
daß jed er einzelne Bürger, in tiefstem Geheimnis und völliger Isoliertheit,
also ohne aus der Sphäre des P rivaten und Unverantwortlichen herauszu­
treten, unter „Schutzvorrichtungen“ und „unbeobachtet“ — wie die deutsche
Reichsstimmordnung vorschreibt — seine Stimme abgibt, dann jede ein­
zelne Stimme reg istriert und eine arithm etische M ehrheit berechnet wird.
Ganz elem entare W ahrheiten sind dadurch in Vergessenheit geraten und
der heutigen S taatslehre anscheinend unbekannt. Volk ist ein Begriff des
öffentlichen Rechts. Volk existiert n u r in der Sphäre der Publizität. Die
einstimmige M einung von hundert M illionen P rivatleuten ist w eder W ille
des Volkes, noch öffentliche Meinung. D er W ille des Volkes kann durch
Zuruf, durch acclamatio, durch selbstverständliches, unwidersprochenes
Dasein ebensogut und noch besser demokratisch geäußert w erden als durch
den statistischen A pparat, den man seit einem halben Jahrhundert mit
einer so m inutiösen Sorgfalt ausgebildet hat. Je stärker die K raft des demo­
kratischen Gefühls, um so sicherer die Erkenntnis, daß D em okratie etwas
anderes ist als ein R egistriersystem geheim er Abstimmungen. Vor einer
nicht n u r im technischen, sondern auch im vitalen Sinne unm ittelbaren
D em okratie erscheint das aus liberalen G edankengängen entstandene
Parlam ent als eine künstliche Maschinerie, w ährend diktatorische und
cäsaristische M ethoden nicht n u r von der acclamatio des Volkes getragen,
sondern auch unm ittelbare Ä ußerungen demokratischer Substanz und
K raft sein können.
Auch wenn der Bolschewismus unterdrückt und der Faschismus fern­
gehalten w ird, ist deshalb die Krisis des heutigen Parlam entarism us nicht
im geringsten überw unden. D enn sie ist nicht als Folge des A uftretens 5

5 1682
66 Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie

dieser beiden Gegner entstanden; sie w ar vor ihnen da und w ürde nach
ihnen fortdauern. Sie entspringt den Konsequenzen der m odernen Massen­
dem okratie und im letzten G runde dem Gegensatz eines von moralischem
Pathos getragenen liberalen Individualism us und eines von wesentlich
politischen Idealen beherrschten dem okratischen Staatsgefühls. Ein Ja h r­
hundert geschichtlicher V erbindungen und gemeinsam en Kampfes gegen
den fürstlichen Absolutismus hat die E rkenntnis dieses Gegensatzes auf­
gehalten. H eute aber tritt seine E ntfaltung täglich stä rk e r hervor und läßt
sich durch keinen weitläufigen Sprachgebrauch m ehr verhindern. Es ist
der in seiner Tiefe unüberw indliche Gegensatz von liberalem Einzelmensch-
Bewußtsein und dem okratischer Hom ogenität.
8. Der Begriff des Politischen (1927)
Als man erkannte, welche große Bedeutung den wirtschaftlichen V er­
einigungen innerhalb des Staates zukommt, und insbesondere das A n­
wachsen der G ew erkschaften bem erkte, gegen deren wirtschaftliches Macht­
mittel, den Streik, die Gesetze des Staates ziemlich machtlos w aren, hat
man etwas voreilig den Tod und das Ende des Staates proklam iert. Das
geschah, soviel ich sehe, als eigentliche D oktrin erst seit 1906 und 1907
bei französischen Syndikalisten1. Von Staatstheoretikern, die in diesen
Zusammenhang gehören, ist D uguit der bekannteste; er hat seit 1901 den
Souveränitätsbegriff und die Vorstellung von der personalen Einheit des
Staates zu w iderlegen versucht, mit manchen treffenden A rgum enten gegen
eine unkritische Staatsm etaphysik, aber im wesentlichen doch den eben
dargelegten, eigentlichen Sinn des Souveränitätsgedankens verfehlend.
Dasselbe gilt von der w eitaus interessantesten Staatslehre, die im letzten
Jahrzehnt aufgestellt w orden ist, der sogenannten pluralistischen Staats­
theorie von H arold J. L aski12. Ih r Pluralism us besteht darin, die souveräne
Einheit des Staates, d. h. die politische Einheit zu leugnen und immer
wieder hervorzuheben, daß der einzelne Mensch in vielen verschiedenen
sozialen Verbindungen lebt: er ist M itglied einer Religionsgesellschaft,
einer Gewerkschaft, eines Sportklubs und vieler anderer „Assoziationen“,
die ihn von F all zu F all verschieden stark bestimmen, ohne daß man von
einer dieser Assoziationen sagen könnte, sie sei absolut m aßgebend und
souverän. V ielm ehr können sich die verschiedenen V erbindungen, jede
auf einem verschiedenen Gebiet, als die stärksten erweisen. Es w äre z. B.
denkbar, daß die M itglieder einer Gewerkschaft, wenn dieser Verband
die Parole ausgibt, keine Kirche m ehr zu besuchen, trotzdem zur Kirche
1 „Cette chose énorme. . . la mort de cet être fantastique, prodigieux, qui a tenu
dans Phistoire une place si colossale: l’Etat est mort.“ E. Berth, dessen Ideen von
Georges Sorel stammen, in Le Mouvement socialiste, Oktober 1907, p. 314. Léon
Duguit zitiert diese Stelle in seinen Vorträgen Le droit social, le droit individuel et
la transformation de l’Etat, 1. Aufl. 1908; er begnügt sich damit, zu sagen, daß der
souveräne und als Person gedachte Staat tot oder am Sterben sei (S. 150: L’Etat
personnel et souverain est mort ou sur le point de mourir). In Duguits Werk L’Etat,
Paris 1901, linden sich soldie Sätze noch nicht, obwohl die Kritik des Souveränitäts­
begriffes schon die gleiche ist. Interessante weitere Beispiele dieser syndikalistischen
Diagnose des heutigen Staates bei Esmein, Droit constitutionnel (7. Auflage von
Nézard) 1921,1 , S. 55 ff. Die syndikalistische Lehre ist auch hinsichtlich ihrer Diagnose
des Staates von der marxistischen Konstruktion zu unterscheiden. Für die Marxisten
ist der Staat nicht tot oder am Sterben, er ist vielmehr als Mittel zur Herbeiführung
der klassen- und erst damit staatlosen Gesellschaft notwendig und vorläufig noch
wirklich.
2 Studies in the Problem of Sovereignty 1917; Authority in the Modern State
1919, Foundation of Sovereignty 1921, A Grammar of Politics 1925.
5*
68 D er B egriff des P olitischen

gehen, aber gleichzeitig eine von der Kirche erlassene A ufforderung, aus
der Gewerkschaft auszutreten, ebenfalls nicht befolgen. D er geschichtliche
Vorgang, den Laski mit besonderer Vorliebe z itie rt und der auf ihn offen­
b ar einen großen Eindruck gemacht hat, ist Bismarcks „K ulturkam pf
gegen die römische Kirche. E r soll beweisen, daß selbst ein S taat von der
ungebrochenen K raft des Bismarckschen Reiches nicht souverän und a ll­
mächtig w ar. Ebensowenig ist der Staat auf wirtschaftlichem G ebiet all­
mächtig. Das alles trifft zweifellos zu, und die W endungen von der „A ll­
macht“ des Staates sind eben n u r oberflächliche R edensarten der Juristen.
A ber dam it ist die F rage noch nicht beantw ortet, welche „soziale E inheit“
(wenn ich einm al hier den ungenauen, liberalen Begriff des „Sozialen“ über­
nehm en darf) den Konfliktsfall entscheidet und die m aßgebende G ru p ­
pierung nach F reund und Feind bestim m t. W eder eine Kirche, noch eine
G ew erkschaft h ätte einen Krieg, den das Deutsche Reich u n ter Bismarck
beschloß, verboten oder verhindert. N atürlich konnte Bismarck dem Papst
nicht den K rieg erklären, aber n u r w eil der P apst selber k ein ju s belli
m ehr hatte. Es w äre jedenfalls keine Instanz denkbar gewesen, die einer
den Ernstfall betreffenden Entscheidung der dam aligen deutschen Regie­
rung hätte entgegentreten können, ohne dam it selber zum politischen
Feinde zu w erden und von allen Konsequenzen dieses Begriffes getroffen
zu werden. Das genügt, um einen vernünftigen Begriff von S ouveränität
und Einheit zu begründen. D ie politische E inheit ist eben ihrem W esen
nach die m aßgebende Einheit, gleichgültig aus welchen M otiven sie ihre
letzten psychischen K räfte zieht. Sie ex istiert oder sie ex istiert nicht. W enn
sie existiert, ist sie die höchste, d. h. im entscheidenden F all bestim m ende
Einheit.
Daß der Staat eine E inheit ist, und zw ar die m aßgebende E inheit,
b eru h t auf seinem politischen C h a ra k te r. Eine pluralistische Theorie,
welche diese E inheit b estreitet und eine politische Assoziation neben
andere, z. B. religiöse oder ökonomische Assoziationen stellt, verm ag auf
die Frage nach dem spezifischen. In h alt des Politischen keine A ntw ort zu
geben. In keinem der vielen Bücher von Laski w ird m an eine bestim m te
Definition des Politischen finden, obwohl im m er von Staat, P olitik, Souve­
rän ität und „G overnm ent“ die Rede ist. D er Staat verw andelt sich in eine
Assoziation, die mit andern Assoziationen k o n k u rrie rt. E r w ird eine
Gesellschaft neben und zwischen manchen andern Gesellschaften, die in n er­
halb oder außerhalb des Staates bestehen. D as ist eben d er „P luralism us“
dieser Staatstheorie. D ie frü h ere Ü berlegenheit des Staates, seine „H oheit“
gegenüber der Gesellschaft und sein „Monopol“ der höchsten Einheit, sind
dam it selbstverständlich entfallen. Es bleibt aber, genauer betrachtet, bei
Laski ganz unklar, was nunm ehr der „Staat“ ü b e rh a u p t noch sein soll.
Bald erscheint er in alter, lib eraler W eise als bloßer D iener der w esent­
lich ökonomisch bestim m ten Gesellschaft, bald aber pluralistisch als eine
besondere A rt Gesellschaft, d. h. eine Assoziation neben anderen Asso­
ziationen. Es m üßte nun doch vor allem k larg e ste llt w erden, aus welchem
D er B egriff des Politischen 69

Grunde die Menschen dazu kommen, neben den religiösen, ökonomischen


und anderen Assoziationen auch noch politische Assoziationen zu bilden,
und w orin der spezifisch politische Zweck dieser Assoziationen besteht.
Hier liegt eine fundam entale U nklarheit; eine k lare und einfache Linie
des G edankenganges ist nicht zu erkennen. Diese pluralistische Staats­
theorie ist eben vor allem selber pluralistisch, d. h. sie hat kein einheitliches
Zentrum, sondern zieht ihre gedanklichen Motive aus sehr verschiedenen
Ideenkreisen (Religion, W irtschaft, Liberalism us, Sozialismus usw.) und
ignoriert den zentralen Begriff jed e r Staatslehre, das Politische. In W ahr­
heit gibt es keine politische „Gesellschaft“ oder „Assoziation“, es gibt
nur eine politische Einheit, eine politische Gemeinschaft. Die reale Mög­
lichkeit der G ruppierung von F reund und Feind genügt, um über das
bloß Gesellschaftlich-Assoziative hinaus eine m aßgebende E inheit zu
schaffen, die etw as spezifisch A nderes und gegenüber den übrigen Asso­
ziationen etw as Entscheidendes ist1. E ntfällt diese Einheit, so entfällt
auch das Politische selbst. N ur solange das Wesen des Politischen nicht er­
kannt oder nicht beachtet w ird, ist es möglich, eine politische „Assoziation“
pluralistisch neben eine religiöse, ökonomische oder andere Assoziation
zu stellen und sie mit ihnen in K onkurrenz treten zu lassen. Aus dem
Begriff des Politischen ergeben sich allerdings, w ie unten gezeigt w erden
soll, pluralistische Konsequenzen, aber nicht in dem Sinne, daß i n n e r ­
h a l b der politischen E inheit an die Stelle der m aßgebenden Freund- und
F eindgruppierung ein Pluralism us tre ten könnte, ohne m it der Einheit
auch das Politische selbst zu zerstören.
Zum Staat als einer wesentlich politischen E inheit gehört das jus belli,
d. h. die reale Möglichkeit, im gegebenen Fall k ra ft eigener Entscheidung
den Feind zu bestim m en und ihn zu bekäm pfen. Mit welchen technischen
M itteln der K am pf geführt w ird, welche H eeresorganisation besteht, wie
groß die Aussichten sind, den K rieg zu gewinnen, ist hier gleichgültig,
solange das die politische E inheit bildende Volk bereit ist, für seine Exi­
stenz und seine U nabhängigkeit zu käm pfen, wobei es k ra ft eigener Ent­
scheidung bestim m t, w orin seine U nabhängigkeit und F reiheit besteht. Die
Entwicklung der m ilitärischen Technik scheint dahin zu führen, daß viel­
leicht n u r noch wenige V ölker übrig bleiben, denen ihre industrielle Macht
es erlaubt, einen aussichtsreichen K rieg zu führen, w ährend kleinere Völker
freiw illig oder notgedrungen auf das ju s belli verzichten, wenn es ihnen
nicht gelingt, durch eine richtige Bündnispolitik ihre Selbständigkeit zu
w ahren. Mit dieser Entw icklung ist nicht bewiesen, daß Krieg, Staat und
Politik überh au p t auf gehört haben. Jede Ä nderung und Um wälzung der
menschlichen Geschichte und Entw icklung hat neue Form en und neue
Dimensionen der politischen G ruppierung hervorgebracht und frü h er be­
stehende politische G ebilde vernichtet.
1 „Wir können sagen, daß sich am Tage der Mobilisierung die Gesellschaft, die
bis dahin bestand, in eine Gemeinschaft umformte“, Lederer, Archiv f. Soz.-Wiss. 39
(1915), S. 349.
70 D er B egriff des P olitischen

D er Staat als die m aßgebende politische E inheit h a t eine ungeheure


Befugnis bei sich konzentriert: die Möglichkeit, K rieg zu führen und damit
offen über das Leben von Menschen zu verfügen. D enn das ju s belli enthält
eine solche Verfügung; es bedeutet die doppelte Möglichkeit: von A n­
gehörigen des eigenen Volkes Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft
zu verlangen, und auf der Feindesseite stehende Menschen zu töten. Die
Befugnis, in der Form eines S trafurteils über Leben und Tod eines
Menschen zu verfügen, das ju s vitae ac necis, kan n auch einer anderen,
innerhalb der politischen E inheit bestehenden Verbindung, etw a der
Fam ilie oder dem Fam ilienhaupt zustehen, nicht aber das ju s belli, solange
die politische Einheit als solche vorhanden ist. Auch ein Recht der B lut­
rache zwischen den Fam ilien oder Sippen m üßte w ährend eines Krieges
suspendiert werden, wenn überhaupt eine politische E inheit bestehen soll.
Ein menschlicher Verband, der auf diese K onsequenzen des ju s belli v er­
zichten wollte, w äre kein politischer Verband, denn e r w ürde auf die
Möglichkeit verzichten, m aßgebend darü b er zu entscheiden, w en er als
Feind betrachtet und behandelt. Durch diese Macht über das physische
Leben der Menschen erhebt sich die politische Gem einschaft üb er jede
andere A rt von Gemeinschaft oder Gesellschaft. Innerhalb dieser Gem ein­
schaft können dann w ieder politische U ntergebilde bestehen m it eigenen
oder übertragenen Befugnissen, aber, solange die E inheit besteht, nicht
mit einem selbständigen jus belli.
Eine religiöse Gemeinschaft, eine Kirche, k an n von ih ren Angehörigen
vielleicht verlangen, daß sie für ihren G lauben sterben und den M ä rty re r­
tod erleiden, aber nur des eigenen Seelenheils wegen, nicht fü r die religiöse
Gemeinschaft als solche. In einer ökonomisch bestim m ten Gesellschaft,
deren O rdnung, d. h. berechenbares F unktionieren im Bereich w irtschaft­
licher Kategorien vor sich geht, kann u n ter keinem denkbaren Gesichts­
punkt verlangt werden, daß irgendein M itglied der Gesellschaft im
Interesse des ungestörten F unktionierens sein Leben opfere. Mit öko­
nomischen Zweckmäßigkeiten eine solche F orderung zu begründen, w äre
ein W iderspruch gegen die individualistischen Prinzipien der Gesellschaft
und aus ökonomischen Normen oder Idealen niem als zu rechtfertigen.
D er einzelne Mensch mag freiw illig sterben w ofür er w ill. D ie ökonomisch
funktionierende Gesellschaft w ird auch M ittel finden, einen S törer a u ß er­
halb ihres Kreislaufs zu stellen und ihn auf eine nicht gew altsam e, „fried­
liche A rt unschädlich zu machen, d. h. k o n k ret gesprochen, ihn nötigen­
falls verhungern zu lassen. A ber es gibt kein Program m , keine N orm und
keine Zweckhaftigkeit, aus deren Inhalt, mag er noch so richtig, vernünftig
oder erhaben sein, ein Verfügungsrecht über das physische Leben and erer
Menschen entstehen könnte. Von den Menschen im E rnst zu fordern, daß
sie Menschen töten und bereit sind, zu sterben, dam it H andel und Industrie
der Überlebenden blühe oder die K onsum kraft der E nkel gedeihe, ist
grauenhaft und verrückt. Den Krieg als Menschenmord verfluchen und
dann von den Menschen zu verlangen, daß sie K rieg führen und im K riege
D er Begriff des Politischen 71

töten und sich töten lassen, dam it es „nie w ieder K rieg“ gebe, ist ein
m anifester Betrug. D er Krieg, die Todesbereitschaft käm pfender Menschen,
die physische Tötung von anderen Menschen, die auf der Seite des Feindes
stehen, alles das hat keinen norm ativen, sondern nu r einen existenziellen
Sinn, und zw ar in der R ealität der Situationen des wirklichen Kampfes
gegen einen wirklichen Feind, nicht in irgendwelchen idealen Program men
oder N orm ativitäten. Es gibt keinen rationalen Zweck, keine noch so richtige
Norm, kein noch so ideales Program m , keine Legitim ität oder Legalität,
die es rechtfertigen könnte, daß Menschen sich gegenseitig dafür töten.
Wenn eine solche physische Vernichtung menschlichen Lebens nicht aus
der seinsmäßigen Behauptung der eigenen Existenzform gegenüber einer
ebenso seinsmäßigen V erneinung dieser Form geschieht, so läßt sie sich
eben nicht rechtfertigen. Auch mit ethischen und juristischen Normen kann
man keinen K rieg begründen. G ibt es wirklich Feinde in der seinsmäßigen
Bedeutung, wie es hier gemeint ist, so ist es sinnvoll, und zwar politisch
sinnvoll, sie nötigenfalls physisch abzuw ehren und m it ihnen zu kämpfen.
Das ist keine Legitim ierung oder Rechtfertigung, sondern hat einen rein
existenziellen Sinn.
Daß die G erechtigkeit nicht zum Begriff des Krieges gehört, ist seit
Grotius im allgem einen an erk an n t1. Die K onstruktionen, die einen ge­
rechten Krieg fordern, dienen gewöhnlich selbst w ieder einem politischen
Zweck. Von einem politisch geeinten Volk verlangen, daß es nur aus einem
gerechten G runde Krieg führe, ist nämlich entw eder etwas ganz Selbst­
verständliches, wenn es heißt, daß nur gegen einen wirklichen Feind Krieg
geführt w erden soll; oder aber es versteckt sich dahinter das politische
Bestreben, die Verfügung über das ju s belli in andere H ände zu spielen
und Gerechtigkeitsnorm en zu finden, über deren Inhalt und Anwendung
im Einzelfall nicht das Volk selbst entscheidet, sondern irgendeine andere
Instanz, welche auf diese Weise bestimmt, w er der Feind ist. Solange ein
Volk in der Sphäre des Politischen existiert, muß es, w enn auch nu r für
den extrem sten F all — über dessen Vorliegen es aber selber entscheidet —
die Unterscheidung von F reund und Feind selber bestimmen. D arin liegt
das W esen seiner politischen Existenz. H at es nicht m ehr die Fähigkeit
oder den W illen zu dieser Unterscheidung, so hört es auf, politisch zu
existieren. Läßt es sich von einem Frem den vorschreiben, w er sein Feind
ist und gegen w en es käm pfen darf oder nicht, so ist es kein politisch freies
Volk mehr. Ein Krieg hat seinen Sinn nicht darin, daß er für hohe Ideale
oder für Rechtsnormen, sondern darin, daß er gegen den eigenen Feind
geführt w ird. Alle T rübungen dieser K ategorie von Freund und Feind
erklären sich aus der Verm engung mit irgendwelchen A bstraktionen oder
Normen.
Ein politisch existierendes Volk kann also nicht d arau f verzichten,
gegebenenfalls F reu n d und Feind durch eigene Bestimmung auf eigene
1 De iure belli ac pacis, i. I, c. I, N. 2: „Justitiam in definitione (sc. belli) non
in clu d o /
72 D er Begriff des P olitischen

G efahr zu unterscheiden* E ntfällt diese Unterscheidung, so entfällt das


politische Leben überhaupt. Es steht einem Volk keineswegs frei, durch
irgendwelche Proklam ationen und Verzichte dieser schicksalvollen U nter­
scheidung zu entgehen. E rk lä rt ein Teil des Volkes, keinen Feind m ehr
zu kennen, so stellt er sich nach Lage der Sache auf die Seite der Feinde
und hilft ihnen, aber die Unterscheidung von F reund und Feind ist damit
nicht beseitigt. Behaupten die B ürger eines Staates von sich, daß sie persön­
lich keine Feinde haben, so hat das m it dieser F rage nichts zu tun, denn
ein Privatm ann hat keine politischen Feinde; er k ann m it solchen E r­
klärungen höchstens sagen wollen, daß er sich aus der politischen Gem ein­
schaft, zu welcher er seiner Existenz nach gehört, heraussteilen und nur
noch als Privatm ann leben will. Es w äre ferner ein Irrtum , zu glauben,
ein einzelnes Volk könnte durch eine Freundschaftserklärung an alle
W elt oder dadurch, daß es sich freiw illig entwaffnet, die Unterscheidung
von Freund und Feind beseitigen. A uf diese W eise w ird die W elt nicht
entpolitisiert und nicht in einen Zustand reiner M oralität oder W irtschaft­
lichkeit versetzt. W enn ein Volk die M ühen und das Risiko fürchtet, so
w ird sich schon ein anderes Volk finden, das ihm diese M ühen abnimmt,
indem es seinen „Schutz gegen äußere Feinde“ und dam it die politische
Herrschaft übernim mt. D er Schutzherr bestim m t dann den Feind, k ra ft des
ewigen Zusammenhangs von Schutz und G ehorsam 1. Es w äre tölpelhaft,
zu glauben, ein wehrloses Volk habe nu r noch Freunde, und eine krapulose
Berechnung, der Feind könnte vielleicht durch W iderstandslosigkeit ge­
rü h rt werden. So wenig ein Mensch durch den Verzicht auf eine ästhetische
oder wirtschaftliche Produktivität die W elt in den Zustand reiner M oralität
überführt, so wenig kann ein Volk durch den Verzicht auf die politische
Entscheidung einen rein moralischen oder ökonomischen Zustand der
Menschheit herbeiführen. Dadurch, daß ein Volk nicht m ehr die K raft oder
den Wollen hat, sich in der Sphäre des Politischen zu halten, verschwindet
das Politische nicht aus der W elt. Es verschwindet n u r ein schwaches Volk.
Aus dem Begriffsmerkmal des Politischen folgt der Pluralism us der
Staaten. Die politische Einheit setzt die reale Möglichkeit des Feindes und
dam it eine andere, koexistierende, politische E inheit voraus. Es gibt des­
halb auf der Erde, solange es überhaupt einen Staat gibt, im m er m ehrere
Staaten und kann keinen die ganze Erde und ganze Menschheit um fassen­
den WTelt„staat“ geben. D ie politische W elt ist ein Pluriversum , kein Uni­
versum. Insofern ist jede Staatstheorie pluralistisch, w enn auch in einem
anderen Sinne als dem der oben besprochenen pluralistischen T heorie von
Laski. Die politische Einheit kann ihrem W esen nach nicht universal sein.
Sind die verschiedenen V ölker und M enschengruppen der E rde alle so
geeint, daß ein Kampf zwischen ihnen real unmöglich w ird, hört also die
Unterscheidung von F reund und Feind auch der bloßen E ventualität nach
1 Diese „mutual relation between Protection and Obedience“ wollte Hobbes durch
den „Leviathan“ zum Bewußtsein bringen; vgl. die Schlußworte der englischen Aus­
gabe von 1651, S. 396.
D er Begriff des Politischen 73

auf, so gibt es n u r noch W irtschaft, Moral, Recht, Kunst usw., aber keine
Politik und keinen Staat m ehr. O b und wann dieser Zustand der Erde
und der Menschheit eintreten w ird, weiß ich nicht. Vorläufig ist er nicht
da. Es w äre eine unehrliche Fiktion, ihn als vorhanden anzunehmen, und
eine handgreifliche Verwechslung, zu meinen, weil heute jeder Krieg
zwischen Großm ächten leicht zu einem „W eltkrieg“ w ird, müßte die Be­
endigung dieses Krieges den „W eltfrieden“ und damit jenen idyllischen
Endzustand der Staatenlosigkeit bedeuten.
Die Menschheit als solche kann keinen Krieg führen, denn sie hat
keinen Feind, wenigstens nicht auf diesem Planeten. D er Begriff der
Menschheit schließt den Begriff des Feindes aus, weil auch der Feind nicht
aufhört, Mensch zu sein, und dam it die spezifische Unterscheidung entfällt.
Daß K riege im Namen der Menschheit geführt w erden, ist keine W ider­
legung dieser einfachen W ahrheit, sondern hat nur einen besonders inten­
siven politischen Sinn. W enn ein Staat im Namen der Menschheit seinen
politischen Feind bekäm pft, so ist das kein Krieg der Menschheit, sondern
ein Krieg, den ein bestim m ter Staat gegen einen andern führt. D er Name
der Menschheit könnte, weil m an nun einmal solche „Namen“ nicht ohne
gewisse Konsequenzen führen kann, nu r die schreckliche Bedeutung haben,
daß dem Feind die Q u a litä t des Menschen abgesprochen und dadurch der
Krieg besonders unmenschlich w ird. A ber abgesehen von diesem hoch­
politischen M ißbrauch des unpolitischen Namens „Menschheit“ gibt es keine
Kriege der Menschheit als solcher. Menschheit ist kein politischer Begriff,
ihm entspricht auch keine politische E inheit oder Gemeinschaft und kein
Status. Die Menschheit der naturrechtlichen und liberal-individualistischen
D oktrinen ist eine universale, d. h. alle Menschen der Erde umfassende
Gesellschaft, ein System von Beziehungen zwischen einzelnen Menschen,
das erst dann vorhanden ist, w enn die reale Möglichkeit des Kampfes aus­
geschlossen und jede Freund- und Feindgruppierung unmöglich geworden
ist. In dieser universalen Gesellschaft wrird es dann keine Völker als poli­
tische E inheiten und deshalb auch keinen Staat m ehr geben.
Die Idee eines V ölkerbundes entspricht bisher n u r einer sehr unklaren
Tendenz, den unpolitischen Zustand der Universal-Gesellschaft „Mensch­
heit“ zu verw irklichen. D eshalb w ird fast immer ziemlich kritiklos für
diesen V ölkerbund beansprucht, daß er universal sein müsse, d. h. alle
Staaten der ganzen E rde umfasse. U niversalität m üßte aber völlige Ent­
politisierung und dam it Staatenlosigkeit bedeuten. Um so widerspruchs­
voller erscheint die 1919 gegründete G enfer Einrichtung, die man als
„V ölkerbund“ oder, nach ihrem offiziellen Namen, besser als „Völkergesell­
schaft“ (Société des nations) bezeichnet. D ieser Völkerbund ist ein zwischen­
staatliches Gebilde, er setzt Staaten als solche voraus, regelt einige ihrer
gegenseitigen Beziehungen und garan tiert sogar ihre politische Existenz.
E r ist nicht n u r keine universale, sondern nicht einmal eine internationale
Organisation, wenn man das W ort „international“, wie es richtig und ehrlich
ist, von „zwischenstaatlich“ unterscheidet und nur fü r die wirklich internatio-
74 D er B egriff des P olitischen

nalen Bewegungen, d. h. fü r solche Vorbehalt, die, über die G renzen der


Staaten hinweg- und durch ihre M auern hindurchgehend, die bisherige
Im perm eabilität des Staates ignorieren, wie z. B. die d ritte Internationale.
H ier zeigen sich gleich die elem entaren Gegensätze von international und
zwischenstaatlich, von entpolitisierter U niversal-G esellschaft und zwischen­
staatlicher G arantie des status quo der staatlichen G renzen, und es ist im
G runde kaum begreiflich, w ie eine wissenschaftliche Behandlung des
„V ölkerbundes“ daran Vorbeigehen und die V erw irrung sogar noch u n ter­
stützen kann. D er Genfer V ölkerbund hebt die Möglichkeit von K riegen
nicht auf, so wenig wie er die Staaten aufhebt. E r fü h rt neue Möglichkeiten
von K riegen ein, erlaubt Kriege, fördert K oalitionskriege und beseitigt
eine Reihe von Hemmungen des Krieges dadurch, daß er gewisse Kriege
legitim iert. Wie er bis heute besteht, ist er ein System von D iplom aten­
konferenzen, kom biniert m it einem V erw altungsbüro, dem G eneral­
sekretariat. E r ist, wie ich an an d erer Stelle1 gezeigt habe, kein Bund, wohl
aber möglicherweise ein Bündnis. N ur insofern zeigt sich in ihm der echte
Begriff der Menschheit noch w irksam , als seine eigentliche T ätigkeit auf
hum anitärem , nicht - politischem G ebiete liegt und er wenigstens eine
„Tendenz“ zur U niversalität hat; angesichts seiner w irklichen Verfassung
und der selbst innerhalb dieses sogenannten „Bundes“ bestehen bleibenden
Möglichkeit eines Krieges ist diese „Tendenz“ allerdings n u r eine Phrase.
Ein nicht universaler V ölkerbund kann natürlich n u r dadurch politische
Bedeutung erhalten, daß er ein Bündnis, eine K oalition darstellt. Dam it
w äre das jus belli nicht beseitigt. Ein V ölkerbund als universale Menschheits­
organisation m üßte die schwierige Leistung vollbringen, erstens allen
bestehen bleibenden menschlichen G ruppierungen das ju s belli effektiv
wegzunehm en und zweitens trotzdem selber kein ju s belli zu übernehm en,
denn sonst w ären U niversalität, Menschheit, Gesellschaft, k u rz alle w esent­
lichen M erkm ale w ieder entfallen.
Um faßt ein „W eltstaat“ die ganze E rde und die ganze Menschheit, so
w äre er demnach keine politische Einheit und nu r m it einer R edensart ein
Staat zu nennen. W ürde tatsächlich auf der G rundlage einer w irtschaft­
lichen und verkehrstechnischen E inheit die ganze Menschheit und die ganze
E rde geeint, so w äre das eine „soziale“ Einheit, das heißt eine zwischen den
P o laritäten von Ethik und Ökonom ik den Indifferenzpunkt suchende
„Gesellschaft“. Es w äre auch kein „Im perium “, sondern m üßte jedeu poli­
tischen C h a ra k te r verlieren.

1 Die Kernfrage des Völkerbundes. Berlin 1926.


D o n o so C ortes in Berlin, 1849 75

9. Donoso Cortes in Berlin, 18491*V(1927)


D ie K reuzzeitung h atte in einer Notiz aus Paris vom 4. Mai 1853 Donoso
Cortes folgenden Nachruf gewidmet:
„Nidit nur Spanien, die gesamte Christenheit hat durch den gestern Abend nach
9 Uhr hier erfolgten Tod des spanischen Gesandten am Hofe Louis Napoleons einen
schweren Verlust erlitten. Don Joaquin José Maria Donoso Cortes, Marques "de
Valdegamas, war 1809 geboren, wenn ich nicht irre, also nodi im frischesten Mannes­
alter und gehörte zu jenen spezifisch katholischen Staatsmännern, die deshalb schon
die besten Vertreter der katholisdien Könige Spaniens sind, die aber eine weit über
die Grenzen ihres Vaterlandes hinausgehende Bedeutung erhalten, wenn sich die
tiefe katholisdie Überzeugung mit so aufierordentlidien diplomatisdien Talenten
paart, wie bei dem verewigten Donoso Cortes. Man hat diesen spanischen Staats­
mann einen spanischen Montalembert nennen wollen. Das ist fast eine Beleidigung
für ihn, denn Montalembert mag ein katholischer Parteiführer seyn, ein katholischer
Staatsmann ist er nicht, dazu ist er noch heute ein viel zu unverbesserlicher Orleanist.
Sie werden sidi nodi des tiefen Eindrucks erinnern, den die Kammerreden und
Schriften von Donoso Cortes zu madien pflegten, und wie dieselben auch von con-
servativen Nicht-Katholiken hochgeschätzt und als gewaltige Waffe gegen die Revo­
lution angesehen wurden! Sie haben Gelegenheit gehabt, diesen ausgezeichneten
Mann in Berlin kennen zu lernen; Spanien konnte durch Niemanden besser ver­
treten seyn als durch ihn. Seit dem 28. März 1831 war er hier accreditiert. Sein
Bruder, der durch eine telegraphische Depesche aus Madrid hierherberufen worden,
findet ihn nidit mehr am Leben.“
Man könnte nach solchen W orten glauben, Donoso habe in Deutschland
einen großen Erfolg gehabt, obwohl er sich noch nicht ein Jah r — von
F eb ru ar bis Novem ber 1849 — als spanischer Bevollmächtigter in Berlin
aufgehalten hat. In W ahrheit muß man sagen, daß sein politisches W irken,
soweit P reußen oder D eutschland in Frage steht, „auf einer W asserwelle
geschrieben“ w ar. Seine Reden w urden in Berlin bew undert, der König
selbst zitierte seinen Ausspruch über die F ra n k fu rte r Nationalversam m lung
aus der M adrider Rede vom 30. Januar 18502. A ber was an Erinnerung von
ihm zurückblieb, erscheint wie ein schwaches, getrübtes Bild. Die Persön­
lichkeit des Mannes, der ihn in Deutschland literarisch bekannt zu machen
suchte und übersetzte, F ranz Joseph Buß, konnte dem katholischen Spanier
wenig Interesse oder gar Sym pathien gewinnen. Buß w ar ein höchst pro­
blematischer, abstoßender Mensch, den K arl Biederm ann in seinen „Er­
innerungen aus der Paulskirche“ (Leipzig 1849) im Gegensatz zu den
„feinen“ — w ie K etteier und D öllinger — als Typus des „groben U ltra-
m ontanen“ hinstellt, den K arl F rey tag als den „W iderw ärtigsten von allen
U ltram ontanen“ bezeichnet und der in der Allgemeinen Deutschen Bio­
graphie wohl den schlimmsten biographischen A rtikel erhalten hat, den

1 Eine wichtige Quelle, die offiziellen Berich!e, welche Donoso seiner Regierung
nach Madrid schickte, ist noch nicht zugänglich. Die folgende Darstellung ist daher
auf die veröffentliditen Briefe angewiesen, wie sie die spanische Ausgabe der Werke
(im folgenden mit O b r a s zitiert), die französische Ausgabe von 1838 (zitiert
V e u i 11 o t) und die Veröffentlichung des Grafen Adhémar d'Antiodie, Paris 18 8 0
(zitiert: A n t i o c h e ) , enthalten. Die spanische Ausgabe ist nach meinen Erfahrungen
in Deutschland selten; ich habe daher im allgemeinen auf Veuillot verwiesen.
* Vgl. Otto Hoetzsch, Peter von Meyendorff, Bd. II S. 285, Berlin 1925, über den
zitierten Ausspruch vgl. unten.
76 D on oso C ortes in B erlin, 1849

man in einem akademischen W erke finden kann, wo er mit starken Aus­


drücken als ein zynisches und verlogenes, psychopathologisches Subjekt
erscheint1. Wie man nun immer über diesen Buß denken mag, es ist keine
gute Position, von einem solchen Mann in Deutschland präkonisiert zu
werden. Viel wichtiger aber und für das in Deutschland w eiterlebende
Bild von Donoso gefährlich ist eine Bem erkung Bismarcks, der in seinen
„Gedanken und E rinnerungen“ den Namen dieses Spaniers in eine der­
artig affekterfüllte Region versetzt, daß es für viele gute Deutsche 'eine A rt
Inferno bedeutet. Bismarck spricht davon, daß der Papst 1870 mit einem
Siege Frankreichs über Deutschland rechnete und eine N iederlage des
evangelischen Preußen für einen Gew inn des Katholizism us gehalten hätte.
Die päpstlichen Beziehungen zum kaiserlichen Frankreich, namentlich zur
K aiserin Eugenie, w aren freundschaftlichster A rt. „Es w ürden sich die gesta
Dei per Francos vielleicht um einige neue Fortschritte der päpstlichen
Macht bereichert haben, und die Entscheidung der konfessionellen Kämpfe,
die nach der Meinung katholischer Schriftsteller (Donoso C ortes de Val dé­
gainas) schließlich ,auf dem Sande der M ark Brandenburg* auszufechten
sind, w ürde durch eine Ubermachtstellung Frankreichs in Deutschland nach
verschiedenen Richtungen hin gefördert w orden seiij.“ Österreich und
Frankreich, m eint Bismarck, w ären auf dem gemeinsamen Boden des
Katholizismus einander näher gekommen und h ätten nach dem Kriege ihre
Revanche gesucht. Daß in diesem Zusammenhang der Name Donoso Cortes
auftaucht — den meisten Lesern der „G edanken und E rinnerungen“ sicher
frem d und seltsam — ist ein Zeichen von Bismarcks tiefsten Instinkten und
eine beachtenswerte Nachwirkung aus den Revolutionsjah ren .
Donoso w ar am 22. F eb ru ar 1849 in Berlin angekommen. Sein M ißtrauen
gegen Preußen, seine Abneigung gegen B erlin w aren schon vor der An­
kunft entschiedene Sache und w urden durch seinen A ufenthalt n u r v erstärkt,
als sich immer m ehr zeigte, daß der antirevolutionäre nordische Block
— Rußland, Preußen, Österreich — nicht zustande kam. D ie politische und
geistige Atm osphäre Berlins w ar dem katholischen Spanier unerträglich;
er w ar glücklich, als er vor einer in Berlin drohenden Epidemie nach
Dresden flüchten konnte. D er einzige, der ihm nahestand, w ar der rus­
sische Baron Meyendorff12, dessen p o litische Bem ühungen, soweit sie
Deutschland betrafen, dahin gingen, auf der G rundlage einer gegen­
revolutionären Politik den F rieden zwischen P reußen und Österreich und
dem deutschen Dualism us zu erhalten. M eyendorff hat die preußischen
Konservativen in einer interessanten W eise beeinflußt. Von Bismarck
spricht er als seinem Freund3, Leopold von Gerlach, der ihn in seinen D enk-
1 Artikel v. Schulte, Bd. 47 S. 407.
2 Tn dem von Otto Hoetzsdi herausgegebenen Briefwechsel Meyendorffs wird
Donoso Bd. II S. 274 und S. 283 erwähnt. Meyendorff nennt ihn den „Montalembert
espagnol , rühmt seine große Rede (vom 30. Januar 1850) und fügt hinzu: „crue
Metternich et Montalembert, que Ranke et Schelling en raffolent.44
8 Hoetzsch, a. a. O. S. 222: „Ennuyé de cette éternelle imitation de la Belgique,
un député de la droite, mon ami Bismarck, lui répondit44 etc.
D o n o so C ortes in B erlin, 1849 77

W ürdigkeiten oft erw ähnt, verschaffte er Nachrichten über die öster­


reichischen Pläne und Erfolge, um den König einzuschüchtern und die
Verfassungspläne von Radowitz, die Union und einen Bundesstaat unter
preußischer Hegemonie zu vereiteln1. Dadurch w ar auch ein Gegensatz
von Donoso und Radow itz gegeben. Zwar spricht Donoso anfangs (in einem
Brief vom 26. A pril 1849) von Radow itz als einem der bedeutendsten
M änner seiner Zeit2. Später aber sieht er den T rium ph der Revolution
gerade darin, daß auch Radow itz sich zum V ertreter des Konstitutionalis-
mus macht; jetz t nennt er ihn einen oberflächlichen Menschen und glaubt,
daß Radow itz wohl selber bem erkt habe, wie wenig der spanische V ertreter
sich aus ihm mache3. Donosos v e rtra u te r Freund, der preußische Gesandte
in Madrid, G raf Raczynski, h atte Radow itz immer m ißtraut und ihn mit
Bunsen, Vincke und G agera zusammen als Liberalen bezeichnet4. Radowitz
w ar überzeugter K atholik, aber kein F reund der Jesuiten; er beklagte die
W iederherstellung des Jesuitenordens und hielt eine katholische P artei für
das Unglück D eutschlands0. Die gemeinsame katholische Überzeugung und
der gemeinsame Kam pf gegen Liberalism us und U nitarism us reichten also
nicht aus, um eine Gemeinschaft oder gar Freundschaft zu begründen. Bei
den orthodoxen P rotestanten Berlins konnte ein spanischer K atholik wie
Donoso erst recht keinen A nklang finden. A udi w ar die außenpolitische
Bedeutung Spaniens für P reußen nicht groß genug und das politische Ziel,
das Donoso am H erzen lag, nämlich der Schutz des Papstes und des Kirchen­
staates, den Preußen viel zu frem d oder gar unsympathisch, als daß man
aus politischen G ründen an dem spanischen D iplom aten ein besonderes
Interesse hätte nehm en können. So blieb dieser in Berlin einsam und ohne
jeden äußeren Erfolg.
D er „nebulose R ationalism us“ der Hegelschen Philosophie erfüllte ihn mit
Entsetzen; die R eligiosität der from men Protestanten h at er niemals ver­
standen, die Staatsphilosophie von Friedrich Julius Stahl hat anscheinend
überhaupt keinen Eindruck auf ihn gemacht, die Gepflogenheiten des
preußischen Hofes w aren ihm inkom m ensurabel. E r glaubte in Berlin
ersticken zu müssen. D ie preußische P olitik mit ihrem Bestreben, von der
Revolution fü r die Hegem onie Preußens zu profitieren und doch die alten
__________ /

1 Charakteristisdi ist folgende Übereinstimmung: Leopold v. Gerlach notiert in


seinen Denkwürdigkeiten Bd. I S. 333 am 9. Juni 1849: „Statt daß man auf alle
Weise Österreich festhält, um die Einheit möglich zu machen, hilft man es nach der
elenden hegemonischen Politik aus Deutschland ausstoßen. Was wird also geschehen,
wenn diese gelungen ist? Österreich wird genötigt werden, sich eng an Rußland an-
zuschließen und die süddeutschen Staaten würden, da sie von Preußen keinen hin­
länglichen Schutz erhalten können, sich an Frankreich wenden müssen.44 Ähnlich
ein Brief von Donoso ebenfalls vom 9. Juni 1849, Antioche S. 90.
2 Veuillot II. S. 44.
3 Antioche S. 147.
4 eod. S. 101.
6 Meinçdce, Radowitz S. 164, 535; über die Abneigung der Kurie gegen Radowitz
S. 538. Zur Politik Meyendorffs S. 395, 428, 437 Anm. 474; Äußerungen Meyendorffs
über Radowitz („ein großer Komödiant44) vgl. Hoetzsch a. a. O. Bd. I S. XLIV, II
S. 176, 287, 306 usw.
78 D onoso C ortes in B erlin, 1849

Begriffe von Monarchie, A utorität und O rthodoxie zu konservieren, er­


schien ihm unmöglich und verhängnisvoll. D ie deutsche E inheit w ar für
ihn wesentlich eine Sache der revolutionären D em okratie, w ährend die
deutsche Monarchie n ur durch einen föderalistischen Staatenbund erhalten
bleiben konnte. W enn die preußische Regierung m it H ilfe der Revolution
Deutschland unter Preußens Führung zu einigen suchte, so schien ihm das
nicht nur wegen der V erbindung m it der Revolution, sondern am meisten
wegen der außenpolitischen W irkung gefährlich. D enn die deutsche Einheit,
um die sich damals, seiner M einung nach, die europäische Politik bewegte,
konnte vernünftigerw eise w eder von England, noch von Frankreich, noch
von R ußland zugelassen werden, von R ußland vor allem deshalb nicht,
weil ein starkes demokratisches Deutschland das russische Reich seines
europäischen Einflusses berauben und nach Asien zurückw erfen müßte.
W enn sich im Zentrum Europas ein mächtiger Staat bildete, so w äre das
ein Zeichen für einen europäischen Krieg. D aher ist ihm die Idee der
deutschen Einheit eine historisch unmögliche dem okratische Illusion, durch
V ernunft und geschichtliche E rfahrung in gleicher W eise verdam m t — „una
idea condemnada juntam ente p er la razon y per la histo ria1“. Deutschland
kann er sich nu r als eine föderalistische V ereinigung von zwei getrennten
Nationen denken, das süddeutsche katholische und das norddeutsche pro­
testantische Deutschland. Von dem Staate aber, bei dem er als diplom atischer
V ertreter ak k reditiert w ar, von Preußen, h atte er den G lauben, es sei mit
seiner regierenden Fam ilie ein prodigium in der Geschichte der Völker.
Sobald er hierauf zu sprechen kommt, hört m an eine seltsam e Mischung
von Staunen, Angst, Bew underung und Frem dheit. Preußen ist kein Staat,
der sich wie andere mit einer gewissen geschichtlichen Gleichm äßigkeit in
den Rhythm us der europäischen Entwicklung einfügte und seinen Weg
nahm; es hat aus elender, östlicher B arbarei im Laufe von w enigen Ja h r­
hunderten unerklärlich und unaufhaltsam seinen Aufstieg genommen, und
in einer höchst geheimnisvollen W eise m ußte ihm alles zur E xpansion und
Größe dienen: V ertragstreue und V ertragsbrüche, Siege wie N iederlagen,
großartige Tugenden und niedrige Perfidien, manchmal die G röße seiner
Könige und dann w ieder die G röße seines Volkes: w enn das eine fehlte,
w ar immer das andere vorhanden, um ihm vorw ärtszuhelfen. A ber das
Wesen seiner geschichtlichen Größe bleibt doch der Protestantism us. Mit
ihm w ird Preußen wachsen und vergehen. E r ist das G eheim nis von
Preußens Leben und w ird das Geheim nis von P reußens Tode sein12. D rei
Jahre nach seinem B erliner A ufenthalt macht Donoso seinem F reunde
Raczynski das Geständnis: wenn nicht die Rücksicht auf diesen F reund
1 Obras V S. 23; Veuillot II S. 19 (Brief vom 14. März 1849). Sehr merkwürdig
und diaraktenstisdi der Zusatz: gerade das Absurde der Idee der deutschen Einheit
macht sie iur die Demokratie anziehend, denn die Demokratie liebt das Absurde,
bolche Äußerungen müssen mit zahlreichen ähnlichen Äußerungen von Charles
Maurras verglidien werden, damit die typisdi romanisch-katholische Haltung gegen­
über der modernen Demokratie erkennbar wird.
2 Brief aus Berlin v. 23. Mai 1849, Veuillot II S. 82.
D o n o so C ortes in Berlin, 1849 79

wäre, so hätte er den König von Preußen im Parlam ent angegriffen. „Denn
ich bin kein F reund w eder von Preußen, noch von seiner Politik, noch von
seiner V ergrößerung, nicht einmal von seiner Existenz; ich glaube, daß es
von seiner G eburt an dem Dämon geweiht w ar, und bleibe überzeugt, daß
es ihm durch ein Geheimnis seiner Geschichte für immer geweiht ist1.4*Diese
erstaunliche Ä ußerung w ird dadurch noch auffälliger, daß sie an einen
preußischen G esandten gerichtet ist.
Trotz dieser Abneigung und trotz aller psychischen Depressionen folgte
Donoso den A ktualitäten der Tagespolitik und dem Kampf der politischen
Prinzipien auch in Berlin mit großer K larheit. Sein Blick fü r revolutionäre
Vorgänge w ar durch die E rfahrungen der zahlreichen spanischen Revo­
lutionen geschärft. Schon im März 1849, kurz nach seiner Ankunft, entw irft
er ein sehr frappantes Bild von der dam aligen Lage Preußens und Deutsch­
lands. Er staunt über die lächerliche Unbeholfenheit, mit der eine so gut
fundierte R egierung wie die preußische einer so harm losen Sache wie einem
deutschen P arlam ent gegenübersteht. Den König Friedrich W ilhelm IV,
der sich ähnlich wie Radow itz12 die Revolution aus einer A rt prim itiver
Klassentheorie erk lärte, indem er einfach die Städte für revolutionär, das
Land aber fü r königstreu hielt, w arnte er in seiner ersten Audienz vor
einem blinden V ertrauen auf die monarchische Gesinnung der Land­
bevölkerung; die Regierung müsse sich selbst retten und dürfe nicht auf
die B auern w arten 3. D er König selbst erschien ihm als ein trauriges Bei­
spiel romantischer V erw irrung, der sich in einer A rt religiösen W ahns für
den A userw ählten Gottes hielt und deshalb keiner Belehrung m ehr zu­
gänglich w ar, der durch widerspruchsvolle Stimmungen und Tendenzen
die K raft der gegenrevolutionären P arteien lähm te, die Revolution ver­
abscheute und sich doch verpflichtet fühlte, eine Verfassung zu geben, dann
aber w ieder eine V erfasung oktroyierte, die kein Produkt der Furcht,
sondern ein w ohlkalkuliertes System w ar, um den Liberalism us mit der
Dem okratie zu schlagen und trotzdem , mit Hilfe des M ilitärs und des
Belagerungszustandes, ein absolutistisches Königtum zu retten. F ü r den
religiösen G lauben des Königs, seinen aufrichtig christlichen Sinn, seinen
ehrlichen H aß gegen Revolution und Liberalism us hat der spanische K atho­
lik interessanterw eise kaum ein W ort übrig. Die besonderen Gesichts­
punkte der preußischen Politik interessieren ihn ebensowenig, wie um­
gekehrt die preußische Politik für seine katholischen Ideen irgendwelches
Interesse zeigt. D aß die H andlungsw eise des Königs von Preußen vom
preußisch-deutschen Standpunkte aus vielleicht einheitlich und konsequent
erscheinen könnte, h at er aber bem erkt, und manche Ä ußerungen lassen
erkennen, daß er m it bloßen V orw ürfen gegen die persönliche Schwäche
1 Brief aus Paris v. 24. Mai 1852, Antioche S. 306.
2 Gesammelte Schriften IV S. 145.
3 Brief vom 15. März 1849, Antioche S. 71. In einem andern Zusammenhang hat
er die auffällige These aufgestellt, daß eine sozialistisdie Revolution um so radikaler
sozialistisch werde, je weniger gewerbliche Arbeiter es in dem Lande gebe. (Brief
aus Berlin v. 30. Mai 1849, Veuillot II S. 26.)
80 D o n o so C ortes in B erlin, 1849

des Königs — „das T raurigste in dieser ganzen S ituation“ sagt Donoso —


doch nicht alles für e rk lä rt h ielt1. In der politischen Technik der Revolution
w ar der Spanier zu erfahren, um nicht gleich zu sehen, daß die oktroyierte
Verfassung vom 15. Dezem ber 1848 im entscheidenden Augenblick die
Macht bei der königlichen R egierung ließ. E r w eist sofort auf die Aus­
nahmebefugnisse hin und zählt die A rtik el 105, 108, 110 auf, nach welchen
mit Hilfe des N otverordnungsrechts, der U nabhängigkeit von der Budget­
bew illigung und vor allem des Belagerungszustandes die königliche
Regierung alle wichtigen Entscheidungen in d er H and behielt, und er
betont, daß die preußische Verfassung von 1848 das W erk einer tiefen
Berechnung ist12. Um so unbegreiflicher ist es dann w ieder fü r seinen klaren
politischen Sinn, daß der König eine so törichte romantische Auffassung
von der preußischen B ürokratie haben konnte. Ein so w underbares In stru ­
m ent wie die preußische V erw altung g a ra n tie rt nach der M einung von
Donoso die bürgerlichen F reiheiten besser als in andern L ändern die zum
Schutze dieser F reiheit eigens organisierten Institutionen. Man sollte die
preußische V erw altung in R uhe funktionieren lassen, der König dagegen
sieht in ihr etwas seinem K önigtum Feindliche^ und bildet sich ein,
irgendeine unm ittelbare Beziehung zu seinem Volke zu haben und doch
gleichzeitig die alte Monarchie aufrechterhalten zu können3.
Die F ra n k fu rte r N ationalversam m lung ist fü r Donoso eine A usgeburt
des revolutionären Prinzips. E r weiß, daß sie hervorragende P o litik er und
G elehrte zu ihren M itgliedern zählt, aber als politischen F a k to r k ann er
sie n u r verachten. E r bem erkt sofort ihren M angel an je d e r E xekutive,
ihre in einem großen Redenschwall gestikulierende H ilflosigkeit, aber auch
ihren heimlichen Ehrgeiz und das M achtbedürfnis, das sich n u r nicht aktiv
zu w erden getraut, obwohl es 1849 schon ungefährlich gew orden w ar. Mit
einem Hohn, den auch K arl M arx nicht überboten hat, sagt er von dieser
Versammlung, sie sei n u r deshalb noch nicht aufgelöst w orden, weil man
nicht wisse, w er für die Auflösung zuständig sei. Ih r Schicksal faß t er in
seiner großen rhetorischen A rt m it einem Satze zusam m en: das deutsche
Volk habe die N ationalversam m lung erst w ie eine G öttin der F reiheit
1 Durch die Untersuchungen von Lenz, Oncken, Radifahl, Meinecke und Branden­
burg ist die früher übliche und anscheinend audi von Donoso übernommene Be­
urteilung Friedrich Wilhelms IV. erschüttert worden. Danach ist es jedenfalls nicht
mehr möglidi, die verschiedenen Handlungen und Entschlüsse des Königs nur aus
wechselnden Stimmungen und Unentsdilossenheit zu erklären. Die Literatur zu
dieser Frage bei Elisabeth Schmitz, Uber Edwin von Manteuffel als Quelle zur
Geschichte Friedrich Wilhelms IV., Hist. Bibliothek Bd. 43, 1921, S. 7 ff.
2 Veuillot, H S. 36. Ranke bemerkt (Briefwedisel mit Bunsen S. 371/2) als wesent­
lich, daß es dem König gelungen ist, das finanzielle Bestehen des preußischen Staates
und die Verfügung über das Heer dem preußisdien Königtum zu retten. Edwin
V . Manteuffel bestätigt diese Auffassung (Dove, Ausgew. Sdiriften, Leipzig 1898
S. 243/4, und E. Schmitz a. a. O. S. 26/27). Audi Leopold v. Gerladi (I S. 359) spricht
davon, nennt aber den Belagerungszustand nidit. Vgl. ferner Meinecke, Weltbürger­
tum und Nationalstaat S 374 ff. In dem Kommentar von G. Ansdiütz, die Verfas-
sungsurkunde für den preußisdien Staat, Berlin 1912 I S. 44 ff. insbesondere S. 53,
tritt dieser Gesichtspunkt nicht hervor.
3 Veuillot II S. 33/34.
D o n o so C ortes in B erlin, 1849 81

bejubelt und angebetet und ein Ja h r später habe dieses selbe Volk die
Versammlung verenden lassen wie eine P rostituierte in einer Schenke»
como una p ro stitu ta en un caberna1.
Das G esam tbild der eigentlichen politischen K räfte faßte Donoso dahin
zusammen, daß in P reußen drei Richtungen zu unterscheiden sind: eine
intransigente konservative A delspartei, das liberale w ohlsituierte B ürger­
tum, das h ier wie überall ein j u s t e m i l i e u sucht, und endlich die
starke demagogische Ström ung, in der das P ro letariat sich mit polnischen
und jüdischen A u frü h rern und ehrgeizigen Intellektuellen zusammen­
findet, deren G ehirne durch den H egelianism us — causa principalisim a
del giro radical — desorganisiert und verw üstet sind. B em erkensw ert und
für die Betrachtungsw eise von Donoso typisch ist sein U rteil über den
preußischen K onservativism us. Diese politische Richtung, die ihm wegen
ihrer monarchischen und gegenrevolutionären Ü berzeugungen doch am
meisten sympathisch sein m ußte, b eu rteilt er sehr kühl. E r sieht sie in
einer gefährlichen Lage: als reak tio n äre P artei entfernt sie sich von der
liberalen Bourgeoisie, welche dadurch in eine V erbindung m it den Demo­
kraten getrieben w ird; w äre sie w eniger reak tio n är und etw as toleranter,
so konnte sie in P reußen eine m ehr oder w eniger dauerhafte, jedenfalls
geordnete R egierung begründen, indem sie mit den besitzenden Klassen
des B ürgertum s zusam m engeht; w äre sie offen reak tio n är und w eniger
abhängig von ihrem unsicher lavierenden König (der im m er als das Unheil
des preußischen K onservativism us erscheint), w äre sie freier und aktiver, so
könnte sie eine R estauration herbeiführen, die ebenfalls m ehr oder w eniger
dauerhaft w äre, aber doch sicher die verrückten Hoffnungen der Revolutio­
näre vernichten müßte. So wie sie ist, bedeutet sie n u r einen V orw and für
die Revolution, ohne deren Ausbrüche hemm en zu können12. Dieses U rteil
ist sowohl fü r die konstruierende A rt der politischen U rteile Donosos
charakteristisch als auch darin, daß es eine viel spätere Situation vorw eg­
nimmt. Es w ar unrichtig fü r das P reußen von 1849, in welchem die Mon­
archie noch sta rk w ar; es w ird richtig für eine Zeit, in welcher die Mon­
archie einen entscheidenden Schlag e rlitten hat.
D araus e rk lä rt es sich wohl auch, w arum Donoso in B erlin noch nicht
zu der letzten verzw eifelten A ntithese gelangte, die sein Bild in der
Geschichte eigentlich bestim m t: die V orstellung von dem unm ittelbar
bevorstehenden, k atastro p h alen Endkam pf zwischen Katholizism us und
atheistischem Sozialismus. W ohl zeigen sich seit 1848 starke Antithesen,
oft als A usdruck des Dezisionism us seiner N atur, oft n u r als Zeichen
seines rhetorisch-epigram m atischen Stils, den B arbey d’A urevilly mit
sicherem kritischem U rteil als W esenszug bei ihm festgestellt hat. Doch
sind die G egensätze noch nicht bei der letzten Eschatologie angelangt;
1 Dieser Satz aus der Rede über die allgemeine Lage Europas vom 30. Januar
1850 (Veuillot II S. 406) hat auf Friedrich Wilhelm IV. Eindruck gemacht. Der König
zitiert ihn vor Meyendorff in der Audienz vom 24. März 1850 (Hoetzsch a. a. Ch
I I S. 283).
2 Veuillot II S. 11.
6 1682
82 D on oso C ortes in B erlin, 1849

nodi häufen sich nicht die Lieblingsw orte: m aravilloso, misterioso,


tremendo, radical, soberano, suprem o, terrib ile, profundisim o, absoluto,
perentorio, sangre und decisivo. Wohl sagt er in den Briefen, die er aus
Berlin an M ontalembert schreibt1, daß die europäische Gesellschafts­
ordnung, endgültig zu Tode getroffen, stirbt, w eil sie nicht katholisch ist
und weil der Katholizismus das Leben bedeutet; auch macht er zu dem
berühm ten Ausspruch, daß E uropa moskowitisch oder repi^blikanisch
w erden müsse, den Zusatz: w enn es nicht katholisch w ird. A ber m an kann
nicht sagen, daß seine G edanken gerade in B erlin die äußerste Steigerung
erfahren hätten. Es scheint w irklich eine gewisse Erm üdung über ihm zu
liegen. D er Schauplatz großer ideeller und sozialer Entscheidungen w ar
eben Paris und nicht Berlin. Das preußische Königtum w ar noch stark
und hatte seine großartigste M achtentfaltung noch vor sich. D ie M itglieder
des königlichen Hauses w aren noch w eit en tfernt von der gespenster­
haften Bedeutungslosigkeit, die sich in F rankreich seit 1848 bei den Mit­
gliedern der früher regierenden Fam ilie offenbart hatte. Es w ar noch nicht
die Situation, daß (wie Bismarck es ausdrückt) die „Existenz der Mon­
archie und des V aterlandes auf dem Spiele“ stand, und erst recht fehlte in
Berlin ein Ausdruck des atheistischen Sozialismus der Zeit, der dem eigent­
lichen ideellen Gegner Donosos, Proudhon, entsprochen hätte. Mit einem
W ort: Berlin w ar im Jahre 1849 w eder politisch noch geistig der Platz, auf
dem eine D ik tatu r ihren großen geschichtlichen Sinn hatte. D er Eindruck
des Jahres 1848, die eigentliche Panik, w ar bereits überw unden. Die poli­
tischen und moralischen K räfte des Preußentum s w aren so stark, daß ein
angsterfülltes, prinzipienhaftes E ntw eder-O der h ier kein V erständnis
fand. Wenn Donoso auch jetzt, w ie seit 1848, vom Tod der europäischen
Freiheit spricht und von dem Gegensatz der katholischen und der „philo­
sophischen“ Gesellschaftsordnung, so ist das noch die W irkung des Jahres
1848 im allgemeinen, keine spezifische W irkung des B erliner A ufenthaltes
und seiner Erfahrungen. Es fehlt solchen D isjunktionen die fast apokalyp­
tische Fruchtbarkeit, die sie zwei Jahre später in P aris erhalten. E rst dort,
auf dem klassischen Schauplatz der politischen Ideen Europas, spricht er
den extrem sten Satz des 19. Jahrhunderts aus: es kommt der Tag der rad i­
kalen Verneinungen und der souveränen B ehauptungen; llegua el dia de
las negaciones radicales o de las afirmaciones soberanas.
Als bester Maßstab für die Entwicklung Donosos k ann in diesen Jahren
seine Beurteilung Englands dienen. Jedem, der an eine gemeinsame euro­
päische Politik denkt, muß sich das V erhältnis Englands zum K ontinent als
das unvermeidlichste und unlöslichste aller Problem e in den W eg stellen.
Bei Donoso hat die wechselnde Lage der außenpolitischen V erhältnisse
sein U rteil beständig verändert, denn er w ar alles andere als der Don
Q uijote eines abstrakten Prinzips. Sein Sinn für die R ealitäten der Außen­
politik ist außerordentlich, seine A npassungsfähigkeit trotz aller rhe-
torischen Thesen erstaunlich. D er junge Donoso w ar Progressist und hielt
1 Veuillot II S. 123 (Brief vom 21. Juli 1849).
D on oso C ortes in B erlin, 1849 83

die englische \ 7erfassung für das Vorbild aller Verfassungen. A ber die
Revolution von 1848 belehrte ihn darüber, daß der europäische Kontinent
in eine Epoche sozialer Revolutionen ein trat und infolgedessen die
englische Politik vor einem neuen Problem stand. E r kannte England als
den A nstifter der Revolutionen auf dem K ontinent — l’A ngleterre, cette
éternelle instigatrice des révolutions1; aus den E rfahrungen der spanischen
Geschichte kennt er auch die vollendete Technik, mit der es Revolutionen
zu erregen und zu unterstützen weiß. A ber unter dem Eindruck des Jahres
1848 hofft er, w iederum in einer typischen Vorwegnahme einer viel
späteren Situation, daß England sein w ahres Interesse, die Bekäm pfung
der europäischen Revolution, und seinen ihm natürlichen konservativen
Sinn endlich begreife. Vor der Abreise nach Berlin, in der Rede über die
D iktatur am 9. Jan u ar 1849, hält er es noch für möglich, daß England sich
im Gegensatz zum revolutionären Frankreich auf seine antirevolutionäre
Tradition besinnen und seinen Konservativism us auch auf dem Kontinent
betätigen werde.
Die prachtvolle, auch von R anke und Schelling bew underte Rede über
die allgemeine Lage Europas, die er dann am 30. Jan u ar 1850 nach der
Rückkehr von Berlin auf dem Kongreß in M adrid hielt, zeigte eine bedeu­
tende Ä nderung und das eigentliche Ergebnis des B erliner Aufenthalts.
Das Ergebnis betrifft allerdings nicht Preußen und Deutschland, sondern
Rußland. Jetzt erscheint ein neuer Feind der europäischen Zivilisation: die
Möglichkeit einer Verbindung von revolutionärem Sozialismus und rus­
sischer Politik12. Jetzt feiert er England als letzte Hoffnung Europas, als
letzten Schutz vor der erdrückenden Macht Rußlands und vor der Revo­
lution, gegen die kein europäisches Volk, auch R ußland nicht, irgend­
welche W iderstandskraft m ehr habe. W ährend er am 3. A pril 1849 aus
Berlin geschrieben hatte, daß nu r ein Bündnis mit R ußland Spanien aus den
Klauen Englands retten könne, rühm t er jetzt England als die R ettung
Europas vor der russischen G efahr. Das Bild, das er in dieser Rede ent­
wirft, ist wohl die auffälligste seiner konstruktiven Vorwegnahm en: E rst
w ird die Revolution die bestehenden H eere auflösen; dann beseitigt der
Sozialismus alle G efühle der V aterlandsliebe und reduziert alle Gegen­
sätze auf den von Besitzern und Nichtbesitzern; dann, wenn es der sozia­
listischen Revolution gelungen ist, alle nationalen Regungen zu ertöten
und wenn u n ter russischer Führung die slawischen V ölker sich vereinigen,
wenn es in E uropa n u r noch den Gegensatz von A usbeutern und Aus­
gebeuteten gibt, dann kommt Rußlands große Stunde und mit ihr die große
Züchtigung Europas, die vor allem England trifft, den Koloß, der mit einer
Hand Europa, m it der anderen Indien hält. Das w ird aber keineswegs
das Ende der Züchtigung sein. D enn diese Russen sind nicht ein Volk wie
die G erm anen, die in der V ölkerw anderung die europäische Zivilisation
erneuerten; R ußland ist in seiner A ristokratie und seiner V erw altung
1 Antioche S. 79.
2 Veuillot I S. 384.

6*
84 D o n o so C ortes in B erlin, 1849

ebenso k o rru p t wie das übrige E uropa; es w ird nach seinem Siege das
G ift des alten Europa in seinen A dern trag en und d a ra n sterben und ver­
wesen. Diese Rede enthalt auch die seltsam e Prophezeiung, daß eine Revo­
lution eher in St. P etersburg als in London ausbrechen w ürde. D ie R ettung
Europas vor der revolutionär-kom m unistisch-russischen Überschwemmung
könnte nur England sein, aber ein monarchisches und konservatives Eng­
land, d. h. für Donoso ein katholisches E ngland1.
Um diese Linie zu Ende zu führen, nicht um ein vollständiges Bild der
wechselnden außenpolitischen Anschauungen Donosos zu geben, sei noch
erw ähnt, daß er zwei Jah re später, im Jan u ar und F e b ru a r 1852, England
w ieder als das Unheil Europas betrachtet und m eint, es gebe fü r F ra n k ­
reich nu r eine Politik, den europäischen K ontinent gegen E ngland zu
einigen und diesen ewigen U nruhestifter m itsam t der D em okratie vom
K ontinent zu vertreiben2. Das einzige, was im Wechsel der Anschauungen
bleibt, ist das Interesse am K irchenstaat und der päpstlichen Souveränität.
Im übrigen folgt er der täglich sich ändernden Situation und denkt keines­
wegs daran, sich in einem außenpolitischen System dauern zu fixieren.
W eder ist England imm er der Feind, noch ist R ußland als konservative
Macht der unbedingte V erbündete. Man h at allerdings oft den Eindruck,
als habe Donoso in seinem B edürfnis nach k la re n G ru p pierungen auch hier
einen außenpolitischen Gegensatz gesucht, in welchem zwei Mächte, die eine
als T räger der überlieferten O rdnung, die andere als revolutionäre V or­
macht, einander gegenüberstehen, w ie das revolutionäre F rankreich 1793
gegen England oder das bolschewistische R ußland seit 1918 gegen England
steht. Eine solche G ruppierung tra t aber 1848 nicht ein. Sie dam als schon
anzunehmen, entsprach einer im begrifflichen K ern der Sache richtigen V er­
einfachung, aber die geschichtliche Entw icklung brauchte längere Zeit als
der konstruierend vorauseilende G eist des spanischen K atholiken. Noch
w ar in der politischen W irklichkeit der entscheidende P u n k t nicht erreicht.
Alle europäischen Mächte h at Donoso der R eihe nach als mögliche T räg er
des gegenrevolutionären Kam pfes in Betracht gezogen und w ieder v er­
worfen: Rußland, England, Ö sterreich und Frankreich. N ur P reußen w ar
ihm zu frem d und unbegreiflich, obwohl gerade h ier die stärkste Reserve
überlieferter V orstellungen staatlich organisiert w ar und gerade P reußen
der Staat sein sollte, gegen den sich ein halbes Ja h rh u n d e rt später die
ganze W elt im Namen der D em okratie koalierte. D as h a t Donoso nicht
vorausgesehen. Bei Frankreich und der D ik ta tu r Napoleons III. blieb er
stehen. Es scheint m ir selbstverständlich, daß auch diese F ix ieru n g keine
endgültige w ar und daß er sie aufgeben m ußte, w enn e r die w eitere E nt­
wicklung der napoleonischen P olitik erleb t hätte.
Dadurch, daß Donoso fü r N apoleon III. e in tra t und eine seiner wichtig­
sten Bem ühungen auf dessen internationale A nerkennung gerichtet w ar,
ergab sich sofort w ieder ein G egensatz zu den konservativen M ächten des
1 Veuillot I S. 400.
2 Veuillot II S. 391 ff., 404 ff.
D em o k ra tie u nd F in an z 85

Nordens, zu R ußland und Preußen. Aus prinzipiellen G ründen, die als


solche nicht w eniger stichhaltig sind wie die des Spaniers, lehnten diese
beiden Mächte im ersten Augenblick die A nerkennung des „U surpators“
ab, und einige Zeit später, beim K rim kriege, erk lä rte Friedrich W ilhelm IV..
nie w erde er als A lliierter des Islams das Schwert gegen eine christliche
Macht ziehen1. Das w ar doch auch prinzipiell und christlich gedacht und
das G egenteil einer revolutionären Politik. Es' zeigte sich eben hier be­
sonders deutlich, welchen Schwierigkeiten eine konservative europäische
Politik begegnen mußte. D as K onservative ist seiner N atur nach mit den
geschichtlichen D ifferenzierungen verwachsen und in Europa an religiöse
und nationale Verschiedenheiten gebunden. Es gibt vorläufig noch keinen
europäischen K onservativism us, und 1848 w ar ein solcher Begriff beinahe
phantastisch. Alle w ertvollen und spezifisch konservativen Elemente, Reli­
gion, Sprache, T radition, Bildung, hatten sich in Europa in kirchlicher,
staatlicher und nationaler Verschiedenheit gestaltet. D er katholische R oya­
lismus romanischer A rt, das dynastische Gefühl evangelischer Preußen, die
Verbindung russischer O rthodoxie m it dem Zarismus w aren drei religiös
und national verschiedenartige konservative Mächte, welche niemals eine
so homogene E inheit bilden konnten wie die internationale Revolution,
deren Rationalism us die traditionellen Hem mungen mit mechanischer Ein­
fachheit vernichtete. Einem Manne, dessen Geist m it so erstaunlichen Vor­
wegnahm en der Entwicklung vorauseilte und dessen W esen und C h arak ter
doch ganz in der katholischen T radition ruhte, m ußte seit dem Jahre 1848
die gemeinsame G efahr ebenso heftig bew ußt w erden wie die verzw eifelte
Unmöglichkeit einer gemeinsam en konservativen A ktion Europas. Es ist
das wichtigste Ergebnis seines B erliner A ufenthaltes, daß Donoso hier
sein U rteil über R ußland änderte und erkannte (was damals kaum jem and
ahnte), daß R ußland keinesw egs das sichere B ollw erk des europäischen
Konservativism us w ar. Jetzt gab es fü r ihn nu r noch einen Weg zur Rettung:
die D ik tatur. D as w a r ein Begriff, dessen sich der romanische Geist des
Spaniers schnell bemächtigen konnte und der seinem Dezisionismus ent­
sprach, dessen eigentliche Energie aber in der Sphäre eines revolutionären
Dem okratism us liegt und der in ein System konservativer Ideen und Ge­
fühle n u r als frem des Elem ent von außen eintritt.

io. Demokratie und Finanz (1927)


Das G ebiet, auf welchem der folgenreiche Zwiespalt zwischen L ibera­
lismus und D em okratie sich am stärksten offenbart, ist das der Finanz.
D ieser Begriff h at schon den literarischen V ater der neueren D em okratie,
Rousseau, sehr beunruhigt. Im C ontrat social zeigt sich trotz aller Ver-
1 Dove a. a. O. S. 262/3.
86 D em ok ratie und F in anz

herrlidiung der unm ittelbaren D em okratie doch ein deutliches Gefühl für
ihre natürlichen Grenzen. Das Volk ist als Souverän auf die Gesetzgebung,
und zw ar Gesetzgebung im m ateriellen Sinne, beschränkt, die streng von
Regierung und Verwaltung unterschieden w ird und vor allem kein objet
individuel kennt (Buch II, Kap. 6). Finanzfragen insbesondere gehören
nicht in die Dem okratie. Die Finanz ist etwas der D em okratie Gefährliches:
„Ce mot de finance est un mot d’esclave1; il est inconnu dans la Cité.“
Deshalb darf es nach Rousseau in einem demokratischen S ta a t'n u r ein­
fache, nur geradezu frugale V erhältnisse und vor allem keinen Reichtum
und keinen Gegensatz von arm und reich geben — ein typisch rousseau-
istisches Ausweichen in eine idyllische Prim itivität, das aber trotzdem einen
politischen Instinkt für die G efahr zeigt, welche der D em okratie vom
ökonom ischen und Finanziellen h er droht.
Sobald an die Stelle politischer Begriffe wirtschaftliche Kategorien
treten und ökonomische Gegensätze in Verbindung mit einem marxistischen
Klassenbegriff die demokratische Hom ogenität gefährden, ändern sich näm­
lich auch alle Vorstellungen über die „Finanz“, d. h. das richtige Verhältnis
und die V erteilung der Einnahm en und Ausgaben des Staates. Es entspricht
der hergebrachten, in ihren historischen W urzeln teils ständischen, teils
liberal-bürgerlichen Überzeugung, daß derjenige, der die Abgaben leistet,
sie auch bewilligen und ihre Verwendung kontrollieren muß. Aus dieser
Überzeugung hat sich das m oderne Budgetrecht entwickelt. Die alte
„ V o lk sv ertre tu n g w ar eine V ertretung abgabenleistender oder steuer­
zahlender Volksteile, und was sie an Abgaben bewilligte, w urde von ihren
A uftraggebern selbst geleistet. D am it w ar ein fester Zusammenhang von
Abgabenleistung und V olksvertretung gegeben, an den man glaubte. D er
berühm te liberale Satz „no taxation w ithout representation“ hat nur dann
einen Sinn, wenn er auch um gekehrt gilt. In der M assendemokratie
m oderner Industriestaaten lassen sich solche einfachen Zusammenhänge
und Zurechnungen nicht m ehr aufrechterhalten. Das „Volk“, d. h. die Ab­
gabengesetze beschließende M ehrheit, schreibt auch der überstim mten
M inderheit Abgaben und soziale Lasten vor. Das ist jedenfalls etwas
wesentlich anderes als der alte Gedanke, daß Abgaben selbstverständlich
nur, banal gesprochen, „aus der eigenen Tasche“ bew illigt w erden können12.
1 Buch III Kap. 15. Carl Brinkmann hatte die Freundlichkeit, mich zu meinem
früheren Zitat dieses Wortes (Parlamentarismus S. 19) darauf aufmerksam zu
machen, daß in diesem Affekt gegen die Finanz audi der Haß gegen die Intendanten
des französischen 18. Jahrhunderts zum Ausdruck komme. Das ist wohl richtig; wie
meistens bei Rousseau schwingen viele Assoziationen mit. Aber der sachliche Inhalt
der Stelle bleibt erkennbar. Die demokratische Freiheit ist nach Rousseau zu Ende,
sobald das Geld ersdieint. „Donnez de l'argent, et bientôt vous aurez des fers“; dieser
Satz geht dem „mot d'esclave“ unmittelbar voraus.
2 Das gilt nicht nur für die Steuer„bewilligungen“ in kommunalen Vertretungs­
körpern, für welche es in Deutschland (seit der Stabilisierung der deutsdien Wäh­
rung im Zusammenhang mit dem Problem des Finanzausgleichs) allgemein bewußt
geworden ist; vgl. Popitz, Artikel Finanzausgleidi, Handwörterbuch der Staats­
wissenschaft, Bd. Ill, S. 1013: „daß das allgemeine Wahlrecht die bewilligenden
Volksvertretungen nicht selten so zusammensetzt, daß es nicht gerade diejenigen
D em ok ratie und F in anz 87

Der heutige Zustand braucht deshalb nicht ungerecht zu sein und w ird vor­
läufig kaum geändert w erden können, weil selbst der G laube an solche ein­
leuchtenden wirtschaftlichen Zurechnungen zerstört ist und der Begriff der
„eigenen Tasche“ seine ständische oder individualistische Einfachheit ver­
loren hat. Es ist nötig, sich dieser gew altigen Ä nderung bew ußt zu werden,
wenn m an über m oderne D em okratie spricht.
D enn auch h ier sind das „Volk“, d. h. die abstimm ende M ehrheit, welche
die Steuern und Abgaben „bew illigt“, und das „Volk“, d. h. die Steuer­
zahler, die sie in der ökonomischen W irklichkeit tatsächlich leisten, nicht
m ehr eindeutig dieselben Größen. Auch hier offenbart das W ort „Volk“
seine abgründige V ieldeutigkeit. Die Folge ist eine auffällige Unsicherheit
gegenüber der Frage, w iew eit Finanzangelegenheiten sich für die Methoden
der unm ittelbaren D em okratie eignen. Das zeigte sich auch in den Be­
ratungen des W eim arer Verfassungsausschusses (Prot. S. 312). D er Ab­
geordnete D r. Q uarck z. B. fand es „mißlich“, bei großen Steueraktionen
einen Teil herauszureißen und der Volksabstimm ung zu unterstellen; dann
fügte er hinzu: „Ich gehe sogar so weit, anzunehm en, daß eine Volks­
abstimm ung in F inanzfragen kaum rätlich ist. A ndererseits müssen w ir
beachten, daß das Budgetrecht das vornehm ste Recht der D em okratie ist.“
Dieses charakteristische „A ndererseits“ enthält die ganze V erw irrung von
Parlam entarism us und unm ittelbarer D em okratie. Es besteht kein Grund,
darüber zu spotten. D enn die Zw iespältigkeit ist nur der Schatten eiuer
großen V eränderung, die h in ter den überlieferten Form en und Einrichtun­
gen vor sich geht und alle Staatsw esen der modernen, auf geheim er Einzel­
abstimm ung beruhenden M assendem okratie vor ein völlig neues Problem
der „Finanz“ stellt. Rousseaus schicksalvolles Mot d’esclave erscheint jetzt
von neuem, und mit einem Lobe k lein er Verhältnisse w ird m an es heute
nicht m ehr beschwören.

sind, die in höheren Einkommensteuerstufen stehen und die Zuschläge hart fühlen
müssen, die in den Vertretungen von stärkerem Einfluß sind, sondern vielfach die­
jenigen, die weniger bemittelte Volkskreise vertreten“. Popitz sieht darin eine
Schwächung des Gedankens der Selbstverwaltung und Selbstverantwortung. Ferner
A. Hensel, Gewerbesteuer und Finanzausgleidi (Gutachten in der Veröffentlichung
der Spitzenverbände der Wirtschaft, 1926), S. 71:.„Die Einführung des allgemeinen,
gleichen, direkten Wahlrechts unter Berücksichtigung der Grundsätze der Verhältnis­
wahl (Art. 17 II RV.) hat zu einer wesentlichen Verschiebung der politischen Kräfte
in den Landes- und Gemeindeparlamenten geführt, die bewirkte, daß die Mehrheit
der Gemeindevertreter, welche die Neubewilligung von Ausgaben zu beschließen
hatte, zwar formell gleichzeitig für die Deckung dieser Ausgaben zu sorgen hatte,
m a t e r i e l l a b e r v o n der B e l a s t u n g , die d i e s e D e c k u n g mi t
sich b r a c h t e , in i hrer e i g e n e n T a s c h e n i c h t u n m i t t e l b a r b e ­
t r o f f e n w u r d e.“
11. Der Völkerbund und Europa (1928)
D as W ort „V ölkerbund" und das W ort „E uropa" bezeichnen beide
lebhaft um strittene und in hohem Maße problem atische Vorstellungen.
Sowohl das Interesse fü r jed en dieser Begriffe w ie auch ih re W ertschätzung
und B eurteilung in der öffentlichen M einung än dern sich oft und lassen
k ein k lares Bild erkennen.
A ber auch abgesehen von diesen Schw ankungen der öffentlichen Mei­
nung ist je d e r der beiden Begriffe bei n ä h e re r B etrachtung in sich selbst
außerordentlich vieldeutig und unsicher. D er G edanke eines V ölkerbundes
h at allerdings die S phäre der bloßen Idee verlassen und im G enfer V ölker­
bund eine organisatorische V erw irklichung gefunden. A ber w eder in der
O rganisation seiner beiden w ichtigsten Einrichtungen, V ölkerbundsver-
samm lung und V ölkerbundsrat, noch in der A rt seiner Zuständigkeiten und
Befugnisse läßt das G enfer G ebilde eine k la re Stellungnahm e erkennen.
Alle wichtigen politischen F ragen sind h ier noch offen, vor allem deshalb,
w eil fü r den G enfer V ölkerbund w eder die praktische Möglichkeit noch
ü berh au p t die anerk an n te Pflicht besteht, sich m it allen den F rieden der
E rde b erührenden A ngelegenheiten zu befassen. E r kann (nach dem W ort­
lau t seiner Satzung) alles und braucht nichts zu tun. So ist der V ölkerbund
heute politisch nichts als ein System von K onferenzgelegenheiten, v er­
bunden m it einem internationalen B ureau, dem G en eralsek retariat, und
seine H auptleistung besteht darin, eine A tm osphäre intern atio n aler V er­
ständigung und V erhandlungsbereitschaft zu bew irken. Das kan n sehr
viel und sehr wenig sein. Jedenfalls ist ein endgültiges, sachliches U rteil
h ier noch nicht möglich.
Noch viel w eniger bezeichnet das W ort „E uropa" heute bereits eine
k lare und erkennbare V orstellung. Es ist schon schwierig, bei den v er­
schiedenen P ro je k te n und Begriffen von E uropa eine überzeugende geo­
graphische A bgrenzung zu erkennen. G ehört E ngland zu E uropa oder bildet
es nicht vielm ehr m it seinen Dom inions und Kolonien ein geschlossenes
Im perium , dessen V erbindung m it dem europäischen K ontinent unmöglich
und schädlich ist? G ehört Spanien dazu, oder ist es nicht enger m it den
lateinam erikanischen Staaten als m it D eutschland oder Skandinavien v e r­
bunden? G ehört R ußland dazu, und ist es richtig, zwischen dem H auptland
d er slawischen V ölker und den westlichen Slaw en einen Unterschied zu
konstruieren? Soll Frankreich m it allen seinen K olonien und seiner ganzen
m ilitärischen R üstung eintreten, d. h. die m ilitärische und politische H e rr­
schaft übernehm en? W ird nicht D eutschland durch seine wachsende V er­
schuldung m ehr an die V ereinigten Staaten von A m erika als an irgendeinen
D er V ölkerbund und Europa 89

seiner feindlichen oder m ißtrauischen Nachbarn gewiesen? O der reduziert


sich das ganze Problem E uropa schließlich n u r auf eine deutsch-französische
Verständigung, vielleicht sogar n u r auf die Bildung eines W irtschafts­
komplexes, der W estdeutschland, Nord- und O stfrankreich, Belgien und
Luxem burg um faßt? Alle diese Fragen sind noch offen. Es w ird hier mit
einem W ort an sie erinnert, um die V ieldeutigkeit der Vorstellung „Europa“
zu zeigen.
So verbinden sich in der hier gestellten Frage zwei problematische Be­
griffe: „V ölkerbund“ und „E uropa“. Das bedeutet nicht etwa, daß der eine
unklare Begriff den andern k lä rt und aufhellt, sondern im Gegenteil, daß
die U nklarheit noch größer w ird und sich potenziert. Trotzdem müssen
beide Begriffe als Möglichkeiten und Problem e ernstgenomm en werden.
Denn jed er von ihnen bezeichnet eine Gesamtlage, zu der auch Deutsch­
land gehört, ob es w ill oder nicht. Man kann es als das Kennzeichen der
gegenwärtigen geschichtlichen Epoche betrachten, daß alle überlieferten
politischen G rößen sich vollständig um gruppieren und eine Neubildung
von Staaten und Staatensystem en in ungeheuer erw eiterten Dimensionen
eintritt. Das Interesse an den genannten Begriffen e rk lä rt sich eben daraus,
daß mit ihnen solche möglichen N eubildungen angedeutet sind. Ein Land
wie Deutschland, das im Schnittpunkt aller w iderstrebenden K räfte und
Strömungen liegt, ist geographisch, geschichtlich und ideologisch der p rä ­
destinierte Kriegsschauplatz einer solchen Umbildung. Daß es entwaffnet,
entm ilitarisiert und bis zu einem gewissen G rade sogar entpolitisiert ist,
bedeutet, politisch gesehen, daß diese geographische, geschichtliche und
moralische P rädestination garan tiert und gesichert w ird und seiner Be­
völkerung die Möglichkeit genommen w erden soll, sich ihrem Schicksal zu
entziehen.
W enn aber sowohl V ölkerbund wie E uropa zwei O rientierungspunkte
für die großen U m gruppierungen der G egenw art sind, so ist es notwendig,
die Frage zu stellen: W ie verhält sich das politische System des V ölker­
bundes zu einem denkbaren Gesam tsystem der europäischen Staaten? G ibt
es einen spezifischen Zusamm enhang zwischen dem G enfer V ölkerbund
und Europa? Viele begeisterte F reunde des W eltfriedens und der V ölker­
versöhnung scheinen den Zusammenhang für selbstverständlich zu halten.
Für sie ist der G enfer V ölkerbund ein M ittel des Friedens; die Einigung
Europas w äre ebenfalls ein M ittel des Friedens, und so kann beides, V ölker­
bund und Europa, zu einem einzigen Idealbild verschmelzen. A ber man
müßte wenigstens einen Augenblick das System des G enfer V ölkerbundes
und das System europäischer Staaten voneinander unterscheiden. D enn es
ist an sich unwahrscheinlich, daß zwei große politische Systeme und zwei
riesige O rganisationen nebeneinander genau demselben Zwecke dienen
sollten. G erade für dieses V erhältnis von Europa und V ölkerbund liegen
deshalb auch m erkw ürdig widersprechende Ansichten und Ä ußerungen
vor. Freunde der paneuropäischen Bestrebungen hoffen, der G enfer V ölker­
bund bedeute in W ahrheit heute schon eine europäische O rganisation. Sie
90 Der Völkerbund und Europa

weisen darauf hin, daß der V ölkerbund sich fast ausschließlich m it euro­
päischen A ngelegenheiten beschäftigt; die nichteuropäischen M itglieder
m üßten deshalb bald ih r Interesse an der O rganisation verlieren ; B rasilien
ist im H erbst 1926 ausgetreten, als D eutschland in den V ölkerbundsrat
aufgenom men w urde; vielleicht folgen andere außereuropäische M itglieder
nach, und so w äre das paneuropäische Problem durch einfache Subtraktion
gelöst, indem nämlich nach Abzug alle r übrigen S taaten der verbleibende
Rest als geeintes E uropa dasteht. A uf der anderen Seite aber bezeichnen
eifrige A nhänger des V ölkerbundsgedankens die K rise vom H erbst 1926
gerade als eine „E uropäisieruiigskrise“, w eil die E uropäisierung den
V ölkerbund als universales G ebilde gefährde. Ein b e k a n n te r Ju rist und
V orkäm pfer der Idee des Völkerbundes, G eorges Scelle, h at diesen Stand­
punkt in einer um fangreichen Schrift, „Une crise de la Société des N ations“,
P aris 1927, vertreten.
O ffenbar sind die verschiedenen K ontinente am G enfer V ölkerbund ver­
schieden beteiligt. Im ganzen kommen, von Japan abgesehen, hauptsächlich
europäische und am erikanische Staaten in B etracht1. D ie m eisten Staaten
sind europäisch. Doch sind 18 am erikanische Staaten M itglieder des G enfer
Völkerbundes; das sind rund ein D ritte l aller M itglieder. Es fehlen Mexiko
und vor allem die führende Macht des am erikanischen K ontinents, die Ver­
einigten Staaten von Am erika.
Das Problem des V erhältnisses von V ölkerbund und E uropa ist aber,
wie die Dinge heute liegen, zunächst das Problem des V erhältnisses von
V ölkerbund und Am erika. Dieses w iederum ist bei der überw ältigenden
wirtschaftlichen und politischen Macht der V ereinigten Staaten in erster
Linie das Problem des V erhältnisses von V ölkerbund und V ereinigten
Staaten. Äußerlich betrachtet scheint hier kein Problem vorzuliegen. Die
V ereinigten Staaten haben es abgelehnt, den V ertrag von V ersailles zu
unterzeichnen; sie haben den Sonderfrieden mit D eutschland vom 25. August

1 Außer Rußland sind alle europäischen Staaten Mitglieder des Völkerbundes.


Asien ist dadurch vertreten, daß die asiatische Großmacht, Japan, einen ständigen
Sitz im Völkerbundsrate hat; China ist Mitglied, wenn auch infolge seiner inner­
politischen Verhältnisse tatsädilich ohne wirksame Regierung; Siam ist wie die beiden
vorigen Mitglieder Signatarstaat des Versailler Vertrages; ebenso Indien, das als
selbständiger Teil des englisdien Imperiums gilt. Persien beansprucht als Mitglied
des Völkerbundes den besonderen JCulturkreis des Tslam zu vertreten. Es fehlen
außer Rußland die Türkei und Afghanistan. Der Völkerbund hat eine sehr wichtige
asiatische Angelegenheit, die Mossulfrage, behandelt. Im übrigen kann man nicht
sagen, daß er für die Probleme dieses Kontinentes in Betracht kommt, vor allem
scheint niemand daran zu denken, ihn ernsthaft mit den chinesischen Fragen in
Berührung zu bringen. Afrika ist durch ein englisches Dominion, die Südafrikanische
Union, durch Liberia und den einzigen autodithonen Staat Afrikas, Abessinien,
vertreten. Ägypten ist nicht Mitglied. Das übrige afrikanische Gebiet ist teils Pro­
tektorat, teils Mandat oder Kolonie. Tn der Südafrikanischen Union macht sidi
übrigens das Bestreben geltend, eine südafrikanische Monroedoktrin zu beanspruchen.
Was das für die Stellung im Völkerbund bedeuten könnte, wird sich aus der Bedeu­
tung der gleich zu erörternden amerikanischen Monroedoktrin ergeben. Australien
und Neuseeland sind als englische Dominions vertreten; doch ist auch schon eine
australische Monroedoktrin aufgestellt worden.
D er V ölkerbund und Europa 91

1921 geschlossen und sind nicht M itglied des G enfer Völkerbundes ge­
worden. Selbst die Bemühungen, sie an dem ständigen Internationalen
Gerichtshof im H aag zu beteiligen, blieben erfolglos. Die Vereinigten
Staaten sind also anscheinend in einer besonders entschiedenen Weise
a b w e s e n d . A ber es w ird sich zeigen, daß hier wie bei anderen euro­
päischen F ragen die V ereinigten Staaten auf eine m ittelbare, aber darum
nicht w eniger effektive und intensive W eise doch w ieder a n w e s e n d
sind. Diese eigenartige Mischung von offizieller Abw esenheit und effektiver
Anwesenheit kennzeichnet das V erhältnis des Völkerbundes und Europas
zu den V ereinigten Staaten von Am erika.
Dem V ölkerbund gehört eine Reihe von am erikanischen Staaten an,
die man aus verschiedenen G ründen und Rücksichten als souveräne Staaten
bezeichnet, die aber von den V ereinigten Staaten abhängig sind und deren
außenpolitisches H andeln u n ter der „K ontrolle“ der Vereinigten Staaten
stellt. L änder wie Kuba, H aiti, San Domingo, Panam a und N ikaragua sind
M itglieder des G enfer Völkerbundes und gegebenenfalls auch des V ölker­
b u n d s ra te s . Sie sind aber nicht n u r wirtschaftlich und nicht nur faktisch
von den V ereinigten Staaten abhängig, sondern auch durch förmliche, aus­
drückliche V erträge gebunden. V erträge, wie sie die V ereinigten Staaten
mit Kuba u n ter dem 22. Mai 1903 oder mit Panam a unter dem 18. November
1903 abgeschlossen haben, sind typisch für die m oderne Form der Be­
herrschung eines Staates. Es sind Interventionsverträge, weil die politische
Kontrolle und H errschaft auf dem Recht der Intervention beruht. D er
kontrollierende Staat d a rf nach seinem Ermessen zum Schutz der Un­
abhängigkeit oder des Privateigentum s, zur A ufrechterhaltung der O rd ­
nung und Sicherheit oder aus andern G ründen, über deren Vorliegen er
selbst entscheidet, in die V erhältnisse des andern Staates eingreif en; sein
Eingriffsrecht ist durch Flotten- und Kohlenstationen, militärische Be­
setzung, Landpachtungen oder in anderer Weise gesichert. Die Einzel­
heiten dieser m odernen Herrschafts- und Kontrollm ethoden interessieren
hier nicht. Jedenfalls ist ein Staat, der in solcher Weise kontrolliert wird,
etwas anderes als ein unabhängiger Staat, der k raft eigener Bestimmung
über Begriffe w ie U nabhängigkeit und öffentliche O rdnung entscheidet.
Die genannten am erikanischen Staaten gehören nach den vorliegenden
völkerrechtlichen V erträgen zum politischen System der Vereinigten
Staaten von A m erika. W enn sie trotzdem M itglieder des G enfer V ölker­
bundes sind, so ragt an dieser Stelle neben dem politischen System des eng­
lischen W eltreiches ein zweites politisches System in das G enfer Gebilde
hinein, und zw ar in eigenartiger W eise: die kontrollierten Staaten sind
in Genf anwesend, der kontrollierende O berstaat ist abwesend.
Noch aus einem w eiteren G runde ist der Völkerbund von A m erika her
in seiner S tru k tu r bestimm t. In A rt. 21 seiner Satzung hat er sich der
M onroe-Doktrin ausdrücklich unterw orfen. Es heißt in diesem A rtikel,
daß die M onroe-Lehre m it der Satzung des G enfer V ölkerbundes „nicht
92 D er V ölk erb u nd und Europa

unvereinbar“ sei. Ob sie das w irklich ist, w äre eine F rage für sich. D er
praktische Sinn der E rklärung liegt darin, daß die M onroe-Lehre mit allen
ihren w eittragenden Auslegungen der V ölkerbundssatzung vorgeht. D a­
mit hat der Genfer V ölkerbund auf jede ernsthafte Einwirkungsm öglich­
keit gegenüber den am erikanischen Staaten verzichtet. D enn der erste
G rundsatz dieser „Lehre“ besagt, daß keinerlei Einmischung eines euro­
päischen (das heißt nach der praktischen Bedeutung außeram erikanischen)
Staates oder Systems in A ngelegenheiten des am erikanischen Köntinents
stattfinden darf. Die Auslegung dieser vieldeutigen D oktrin und ihre An­
wendung im konkreten Einzelfall ist ganz in der H and der V ereinigten
Staaten von Am erika. Soweit es sich um Beziehungen zwischen am eri­
kanischen Staaten oder um Beziehungen eines außeram erikanischen Staates
zu amerikanischen Staaten handelt, ist daher eine Zuständigkeit oder Be­
fugnis des G enfer V ölkerbundes ausgeschlossen. Man darf sagen, daß der
V ölkerbund auf dieser Seite gelähm t ist und auf diesem Bein hinkt. Trotz­
dem aber sind selbstverständlich die Rechte der am erikanischen M itglied­
staaten innerhalb des G enfer V ölkerbundes die gleichen wie die anderer
M itgliedstaaten. Mit andern W orten: D ie Entscheidungen des G enfer
Völkerbundes sind durch die Beteiligung der am erikanischen M itglieder
beeinflußt, w ährend um gekehrt ein Einfluß des V ölkerbundes auf am eri­
kanische Verhältnisse infolge der M onroe-D oktrin ausgeschlossen ist. Die
Vereinigten Staaten sind in Genf nicht anwesend; aber wo die Monroe-
D oktrin anerkannt ist und andere am erikanische Staaten anw esend sind,
können sie tatsächlich auch nicht abw esend sein.
Diese Mischung von A bw esenheit und A nw esenheit ist nun alles andere
als ein kurioser Zufall. Sie ist nicht etw a durch die persönlichen E igenarten
des Präsidenten Wilson oder aus ähnlichen p eripheren G ründen zu er­
klären. Sie liegt in der G esam tstruktur der heutigen europäischen V er­
hältnisse tief begründet und w iederholt sich bei jed e r wichtigen Frage. Es
muß jedem aufm erksam en Betrachter auf fallen, wiei die V ereinigten
Staaten an der Regelung der deutschen R eparationsfragen entscheidend
beteiligt sind und dabei trotzdem form ell die äußerste Zurückhaltung
wahren. In der Reparationskom m ission saß kein am erikanisches Mitglied.
Die vier M itgliedstaaten sind: Frankreich, England, Italien und Belgien.
Das Londoner Protokoll vom 16. August 1924, in welchem die heutige Rege­
lung der Reparationszahlungen auf G rund des sog. D aw esplanes enthalten
ist, beruht auf V erträgen zwischen dem Deutschen Reich und der R epa­
rationskommission bzw. den in der Reparationskom m ission vertretenen
alliierten Mächten. Dazu kom men w eitere Interessenten, und das Londoner
Protokoll ist unterzeichnet von Belgien, G roßbritannien (mit Dominions
und Indien), Frankreich, Griechenland, Japan, Italien, Portugal, Rum änien
und dem serbo-kroatisch-slowenischen Königreich. In der Einleitungsform el
ist aber gesagt, daß die V ereinigten Staaten sich „durch V ertreter mit
genau um grenzter Vollmacht“ angeschlossen haben. Ebenso sind die Ver-
D er V ölk erb u nd u nd Europa 93

einigten S taaten an dem P ariser V ertrag vom 14. Jan u ar 1925 beteiligt,
durch w eldien England, Frankreich, Italien, Japan, Belgien, Brasilien,
Griechenland, Polen, Portugal, Rum änien, Tschecho-Slowakei und das serbo­
kroatisch-slowenische Königreich sich über die V erteilung der A nnuitäten
einigen. Das E igenartige und A uffällige liegt nun darin, daß in allen ent­
scheidenden, d. h. politischen Augenblicken der D urchführung des Dawes-
planes ein „am erikanischer B ürger“ erscheint. Nach § 2 a des A rtikels I der
Anlage IV w ird, w enn die R eparationskom m ission über eine F rage des
D aw esplanes zu entscheiden hat, ein B ürger der V ereinigten Staaten von
Am erika, „a citizen of the U nited States of A m erica“ m it Stimmrecht an
den B eratungen teilnehm en; er ist „B ürger der V ereinigten Staaten“, aber
nicht deren offizieller V ertreter; er w ird durch einstim migen Beschluß der
Reparationskom m ission, gegebenenfalls durch den Präsidenten des Stän­
digen Gerichtshofes im H aag, aber nicht von der am erikanischen Regierung
ernannt. Bei d er Feststellung einer V erfehlung gegen die R eparationsver­
pflichtungen, dem eigentlich politischen A kt des Reparationsvollzugs, also
bei der Entscheidung über die Voraussetzung der Zulässigkeit von Sank­
tionen, erscheint w iederum ein „B ürger der V ereinigten S taaten“. Die durch
die R uhrbesetzung berühm t gew ordene Anlage II >zu Teil VIII des V er­
sailler V ertrages, die das Sanktionsrecht behandelt, ist im Londoner Proto­
koll m odifiziert, aber keinesw egs aufgehoben. Nach § 16 a dieser Anlage II,
in der Fassung des A rtikels I der Anlage IV des Londoner Protokolles, ist
es Sache der Reparationskom m ission, über jeden A ntrag auf Feststellung
einer N ichterfüllung Deutschlands zu befinden; bei A blehnung des A ntrags
oder M ehrheitsbeschluß kann jedes M itglied der Reparationskom m ission
eine Schiedskommission anrufen; der Vorsitzende der Schiedskommission
ist imm er ein am erikanischer B ürger. Auch Streitigkeiten desU bertragungs-
(Transfer-) Kom itees über die Frage, ob deutscherseits „verabredete finan­
zielle M anöver“ vorliegen, entscheidet ein Schiedsgericht und muß der Vor­
sitzende des Schiedsgerichts ein am erikanischer B ürger sein. Diese eigen­
artige Rolle eines nichtoffiziellen und doch auch w ieder nicht bloß privaten
am erikanischen B ürgers ist ein Symptom und ein Symbol. Vom deutschen
Standpunkt aus ist zu sagen, daß in der H eranziehung des „am erikanischen
B ürgers“ die W ahrscheinlichkeit einer gerechteren Entscheidung liegt, als
sie von den europäischen M itgliedern der Reparationskom m ission, d. h.
von den europäischen R egierungen, e rw a rte t w ird.
Daß die w ichtigsten N achkriegsfragen — R eparation und in teralliierte
Schulden — nicht ohne die V ereinigten Staaten von A m erika geregelt
w erden können, versteht sich, von selbst. D aß die V ereinigten Staaten auf
G rund der M onroe-Lehre jede Einmischung in politische V erhältnisse
Europas zu verm eiden suchen, ist bei der prinzipiellen Bedeutung dieser
Lehre erklärlich. A ber jen e wirtschaftlichen F ragen haben eine unverm eid­
lich politische Bedeutung, und so w ird eine wirkliche Abw esenheit doch
w ieder undurchführbar. D as E rgebnis ist jene Mischung von Abw esenheit
94 D er V ölk erb u n d u nd E uropa

und A nw esenheit der V ereinigten Staaten, w ie sie das V erhältnis des


V ölkerbundes zu A m erika wie Europas zu A m erika kennzeichnet. Es liegt,
wie schon erw ähnt, tief in der gegenw ärtigen S tru k tu r E uropas begründet
und hat eine sehr k lare geschichtlich-politische Ursache. D enn es w aren
die Vereinigten Staaten von A m erika, die den W eltkrieg entschieden haben.
Sie haben auf der P ariser Friedenskonferenz m itgew irkt und dam als schon
eine Reihe von M ilderungen zugunsten D eutschlands durchgesetzt, also
dam als schon zwischen Siegern und Besiegten eine A rt schiedsrichterliche
Stellung eingenommen. Bis auf den heutigen Tag besteht diese schieds­
richterliche Stellung der V ereinigten Staaten tatsächlich w eiter. Sie äußert
sich in verschiedenartigen, aus m annigfachen G ründen form ell verschleier­
ten M ethoden der Beteiligung und E inw irkung, aus welchen dann jene
eigenartige V erbindung von A bw esenheit und A nw esenheit entsteht. Aber
die Beteiligung ist darum nicht w eniger effektiv und nicht w eniger inten­
siv. t ü r unsere Frage, fü r das V erhältnis von V ölkerbund und Europa,
liegt darin schon eine A ntw ort. Nicht der G enfer V ölkerbund ist der Schieds­
richter der fundam entalen europäischen Fragen, sondern die V ereinigten
Staaten, und was der Besiegte des W eltkrieges an G erechtigkeit und Billig­
keit noch zu erw arten hat, das e rw a rte t er nicht vom G enfer Völkerbund,
sondern von den Vereinigten Staaten. W enn der V ölkerbund nicht im stande
w ar, unparteiische Instanz zu sein und die T eilung E uropas in Sieger und
Besiegte zu überw inden, so kom m t er in keinem wesentlichen P u n k te für
das G esam tproblem Europas in Betracht. D enn die erste Aufgabe, die erste,
unum gänglichste Leistung einer europäischen Staatenvereinigung m üßte
d arin bestehen, dieser gefährlichen U nterscheidung ih r politisches Gift
zu nehmen.
D er G enfer V ölkerbund w ill kein spezifisch europäischer, sondern ein
universaler Bund sein. A ber das W ort „universal“ h at einen mehrfachen
Sinn. Es w ird meistens als eine bloß räumliche, te rrito ria le U niversalität
auf gef aßt in dem Sinne, daß der V ölkerbund alle Staaten der E rde um ­
fassen sollte. Mit einer solchen räum lichen U niversalität w äre selbstver­
ständlich nicht viel erreicht, w enn nicht eine sachliche U niversalität hinzu­
käme. D enn auch eine V erwaltungsgem einschaft, ein W eltpostverein, hat
diese räumliche U niversalität ohne entscheidende politische W irkung und
Bedeutung. Eine sachliche U niversalität aber besteht nicht n u r darin,
daß der V ölkerbund sich mit je d e r den F rieden der E rde berührenden
Angelegenheit befassen, also jed e wichtige politische F rage an sich ziehen
und zu ihr Stellung nehm en kann. D eshalb k an n er im m er noch das poli­
tische W erkzeug einer G ruppe von Staaten im K am pf gegen andere Staaten,
die O rganisation des status quo von Versailles, die L egitim ierung der
Beute sein. E rst w enn er sich über den politischen Egoismus einzelner
Mächte und G ruppen erhebt, w enn insbesondere die U nterscheidung von
Siegern und Besiegten in der Sache — nicht fü r Konferenzhöflichkeiten
und Festreden — so w eit beseitigt ist, daß d er Besiegte das G efühl haben
kann, gerecht behandelt zu w erden, w ird m an von einer echten U niversali-
D er V ölkerbund und Europa 95

tät sprechen dürfen. F ü r die europäischen Staaten und Angelegenheiten ist


diese echte U niversalität so wenig erreicht, daß im Gegenteil die Anwesen­
heit außereuropäischer, insbesondere am erikanischer Staaten im Völker­
bund als ein Elem ent der Gerechtigkeit und Billigkeit gelten kann. Soweit
es sich um die Vereinigten Staaten handelt, dient jene Verbindung von
Abwesenheit und A nw esenheit dem gleichen Ergebnis einer gewissen
N eutralität.
D er V ölkerbund ist also kein universaler Bund, w eder im räumlichen
noch in irgendeinem sachlichen Sinne. Weil er aber nicht universal ist,
braucht er nicht deshalb schon ein europäischer Bund zu sein. D afür ist
seine Verbindung mit den F riedensverträgen von Versailles, St. Germain,
Trianon unc^N euilly zu eng. Die Besiegten dieser vier Friedensverträge
sind zw ar sämtlich europäische, in der Hauptsache sogar mitteleuropäische
Staaten. D er Inhalt der F riedensverträge betrifft infolgedessen hauptsäch­
lich E uropa und um faßt keine Regelung des W eltfriedens, d. h. des Friedens
der ganzen Erde, keine universale politische O rdnung. D aran verm ag die
allen vier F riedensverträgen vorangestellte Völkerbundsatzung nichts zu
ändern. Die vier F rieden von 1919/20 sind kein W eltfrieden. Denn auch
der Krieg von 1914—18 w ar nicht in der vollen Bedeutung des W ortes
ein „W eltkrieg“. E r w ird gewöhnlich so bezeichnet, in einem gewissen
Sinne mit Recht, weil nämlich seit dem Eingreifen Am erikas die ganze
W elt gegen zwei m itteleuropäische, im wesentlichen kontinentale Staaten
Krieg führte und weil das Deutsche Reich mit einer unerw arteten, un­
glaublichen K raft diesen Kam pf gegen die W elt m ehrere Jahre ausgehalten
hat. A ber das w ar nicht in dem Sinne ein W eltkrieg, wie es z. B. heute
ein Krieg w äre, in welchem auf der einen Seite die angelsächsischen
Imperien, auf der andern Rußland, Japan und C hina einander gegenüber­
ständen. Das bedeutet: D er Krieg von 1914 bis 1918 w ar kein W eltkrieg in
dem Sinne, wie die napoleonisehen Kriege von 1799 bis 1815 europäische
Kriege waren. Die europäische Koalition gegen Napoleon I. um faßte ganz
Europa; die beiden P arteien w aren militärisch und wirtschaftlich einander
gewachsen; die Kriege erfaßten den ganzen europäischen Kontinent, ihre
Beendigung w ar infolgedessen ein e u r o p ä i s c h e r Friede. Auf dem
W iener Kongreß w urde eine G esam tregelung der europäischen V erhält­
nisse getroffen, die man als eine systematische O rdnung Europas bezeichnen
kann und deren politische G arantie, die heilige Allianz vom 14. Septem ber
1815, ein politisches Bündnis zwischen Rußland, Österreich und Preußen,
seit dem B eitritt Frankreichs (1818) in viel höherem Maße den G edanken
einer europäischen E inheit verw irklichte als der G enfer V ölkerbund vom
Jahre 1919.
Das Schicksal der heiligen Allianz, des einzigen europäischen Gesamt­
systems der letzten Jahrhunderte, zeigt besser als jede Konstruktion,
welche politischen Schwierigkeiten einer Einigung Europas entgegen­
stehen. D enn kaum tra t damals ein solches europäisches System auf, als
auch sofort von der anderen Seite die G egengruppierung auftrat. Die (unter
96 D er V ölk erb u nd u nd Europa

Billigung Englands) von den V ereinigten Staaten im Jah re 1823 prokla­


m ierte M onroe-Doktrin richtete sich eben gegen diese heilige A llianz und
stellte dem Versuch eines europäischen Bundes den einheitlichen am erika­
nischen Kontinent gegenüber, noch bevor dieser K ontinent vollständig
kolonisiert und besiedelt w ar. Eine politische Einigung E uropas w äre w elt­
politisch ein u n erhörter Vorgang. Sie w äre etw as viel Unwahrscheinlicheres
als die Einigung Deutschlands im 19. Jah rh u n d ert, von der m an doch sagen
muß, daß sie trotz einer generationenlangen V orbereitung, trotz natio­
naler Freiheitskriege und einer nationalen R evolution doch n u r durch die
G enialität eines einzigen Mannes und n u r m it H ilfe günstiger außenpoli­
tischer Konstellationen möglich w urde. Jedem Staatsm ann des 19. Ja h r­
hunderts, vor allem aber Bismarck selbst, w ar das Erstaunliche dieses
Gelingens bewußt, und keiner hat sich eingebildet, eine d erartige politische
Neubildung könnte ohne das Risiko gefährlicher Feindschaften, ohne
gefährliche K riege und unabsehbare außenpolitische W irkungen vor sich
gehen. D er W eltkrieg von 1914 bis 1918 ist n u r eine von den Folgen der
politischen Einigung Deutschlands. Eine politische Einigung Europas aber
w äre im Vergleich zu dieser nationalen Einigung Deutschlands ein w ahres
W under. W enn dieses Europa nicht bloß eine harm lose D ekoration, sondern
eine politische, d. h. von den wechselnden wirtschaftlichen Interessen und
K onjunkturen unabhängige, dauernde und aktionsfähige Einheit sein soll,
so w äre es nicht weniger als eine neue W eltmacht. Ih re bloße Existenz
w ürde neue Freund- und Feindgruppierungen bew irken, und m an m üßte
abw arten, ob die bestehenden W eltmächte, insbesondere die angelsäch­
sischen Staatensysteme, ein Interesse daran haben, neben sich ein politisches
Gebilde von einiger K raft und Selbständigkeit entstehen zu lassen. Wie
dem aber auch sei, der G enfer V ölkerbund w äre auf keinen F all das M ittel
einer solchen politischen Einheit. Sein politischer Zweck besteht nach fra n ­
zösischer Auffassung eher darin, den europäischen status quo von 1919
zu stabilisieren und dem Erfolg der A lliierten die W eihe der Legitim ität
zu geben. E r g aran tiert jedenfalls den bestehenden S taaten ih re politische
U nabhängigkeit und Selbständigkeit. Sollte es w irklich zu ernsthaften
Einigungsbestrebungen kommen, so w ürde er also wahrscheinlich fü r diese
Einigung ein noch w eit stärkeres H indernis bilden, als es der Deutsche
Bund von 1815 für die nationale Einigung Deutschlands gewesen ist. Auch
unter diesem Gesichtspunkt einer denkbaren politischen Einigung Europas
erscheint der G enfer V ölkerbund nicht in irgendeinem spezifischen Sinne
als eine europäische O rganisation.
Die Frage nach dem V erhältnis von V ölkerbund und E uropa fü h rt also
zu einem negativen Ergebnis. Nach seiner heutigen G estaltung und T ätig­
keit kann man wohl sagen, daß der G enfer V ölkerbund hauptsächlich euro­
päische A ngelegenheiten behandelt, er ist aber w eder der A usdruck einer
gesamteuropäischen Selbstbestimm ung noch in einer besonderen W eise der
Schiedsrichter der eigentlich entscheidenden europäischen Fragen, näm ­
lich der R eparationen und der in te ralliierte n Schulden, die er w eder regeln
V ölkerrechtliche P rob lem e im R hein geb iet 97

kann nodi auch n u r regeln will. Stimmungsmäßig und gefühlsmäßig w ird


der G edanke eines W eltfriedens m it dem G enfer V ölkerbund in Ver­
bindung gebracht, und abgesehen von den politischen Interessen einzelner
Großmächte ist es hauptsächlich diese V erbindung und das große Interesse
der zw eiten Internationale, das den V ölkerbund moralisch trägt. Das kann
dazu führen, daß der G enfer V ölkerbund vielleicht einm al einen euro­
päischen K rieg verh in d ert — gewiß etw as sehr W ertvolles. A ber dam it
sind die ungeheuren europäischen Problem e noch nicht gelöst. Die eigent­
liche B efriedung Europas — von seiner Einigung ganz zu schweigen — w ird
infolge d er eigenartigen V erbindung des V ölkerbundes m it den Friedens­
verträgen ebensosehr v erh in d ert w ie gefördert. Die Unterscheidung von
Siegern und Besiegten, Bewaffneten und Entwaffneten, von kontrollierten
und nichtkontrollierten, o kkupierten und freien, mit „Sanktionen“ be­
drohten und ih re „Sicherheit“ genießenden Staaten, diese fundam en­
talen Ungleichheiten sind durch den G enfer V ölkerbund nicht aufgehoben.
D aran h at auch die A ufnahm e Deutschlands in den V ölkerbundsrat nichts
geändert. Es ist notw endig, das m it aller K larheit zu sehen, dam it die
Begriffe „V ölkerbund“ und „E uropa“ auf hören, suggestive A nknüpfungs­
punkte fü r irgendw elche irrefü h ren d en K onstruktionen zu sein und der
w ahre Schiedsrichter E uropas erk en n b ar w ird. Man kann dieses Ergebnis
„negativ“ nennen, aber es ist sicher nicht w ertlos. F ü r das Interesse intellek­
tueller Redlichkeit ist jed e zerstörte Illusion ein großer Gewinn.

12. Völkerrechtliche Probleme im Rheingebiet (1928)


D ie deutschen G ebiete am R hein sind heute das O b jek t einer völker­
rechtlichen A usnahm ebehandlung, die sowohl in der W eite ihres Inhaltes,
wie in dem Maß ih re r D auer, wie endlich auch in der K om pliziertheit und
V ieldeutigkeit ih re r Regelung ganz beispiellos ist. Die Geschichte zivili­
sierter V ölker d ü rfte keinen zw eiten auch n u r ähnlichen F all einer derartig
vielgestaltigen, über ein national homogenes G ebiet verhängten Reihe von
A bnorm itäten kennen. Trotz der vielen E rörterungen über das R heinland­
problem kom m t der eigentliche C h a ra k te r dieses Zustandes nur allmählich
zum Bew ußtsein. D enn auf der einen Seite liegt es nahe, die Sonderbehand­
lung der R heinlande in dem großen Meer der Ungerechtigkeiten und
H ärten des V ersailler V ertrages auf gehen zu lassen, sich m it einem summa­
rischen G efühl heftiger Em pörung zu begnügen und dann n u r ganz auf­
dringliche Erscheinungen, wie die Besatzungsarm ee, zu sehen; auf der
anderen Seite beschränkt sich das Interesse juristischer und adm inistrativer
Fachleute gern auf technische Einzelfragen und v e rliert in der Fülle der
D etails, die ein solcher Zustand täglich m it sich bringt, leicht den Blick

7 lß82
98 V ölkerrechtliche P rob lem e im R h ein geb iet

für das prinzipiell Ungeheuerliche dieser geschichtlichen, politischen und


rechtlichen Abnormität.
Das bunte, eigentlich phantastische N ebeneinander der heutigen Be­
handlung rheinischen Landes läßt sich durch folgende Stichworte kenn­
zeichnen: Saargebiet, okkupiertes Gebiet, entm ilitarisiertes G ebiet und
endlich (nach A rt. 312 VV) i n v e s t ie r te s Gebiet. Jeder einzelne dieser vier
Komplexe enthält in sich w iederum so viele F ragen, daß es im Rahm en
dieses kurzen V ortrages n u r d arau f ankom m en kann, einigö G rundlinien
aufzuw eisen und dadurch jene gefährliche, aber vielleicht typisch-deutsche
P o larität zu verm eiden: ein starkes, aber unklares G efühl der E ntrüstung
in Verbindung m it einer technisch-fleißigen und sogar pedantischen, irgend­
einen Zustand als nun einm al gegeben hinnehm enden K leinarbeit. Immer
ist daher der vierteilige G esam tkom plex im Auge zu behalten, dieses Tier
mit vier Köpfen, von denen zwei, nämlich Saarregierungskom m ission und
Interalliierte Rheinlandkom m ission, schon seit langem funktionieren,
w ährend die beiden anderen noch erst im Wachsen begriffen sind: Ent­
m ilitarisierungskom m ission und Investigationskom m ission.
Die vier Kom plexe sind in sich w iederum sehr verschieden, und das
politische Schicksal der von ihnen erfaßten L änder kann infolgedessen eben­
falls verschieden sein. W as die beiden ersten, Saargebiet und besetztes
Rheinland, angeht, so braucht der In h alt der fü r sie geltenden völkerrecht­
lichen Bestimmungen, wie er sich aus dem V ersailler V ertrag und dem
Rheinlandabkom m en ergibt, hier nicht w iederholt und e rö rte rt zu werden.
Die Saarregierungskom m ission, d. h. die in ih r vereinigten, von ihren
R egierungen instruierten V ertreter frem der Mächte, üben die staatliche
H oheit im Saargebiet aus und regieren dort u n ter einer sehr proble­
matischen K ontrolle des V ölkerbundes. H ier ist die deutsche Staatshoheit
ganz verdrängt. D ie Rheinlandkom m ission fü h rt in dem noch besetzten
Teil der Rheinlande eine N ebenregierung, die in kritischen Zeiten, wie
bei der Ruhrbesetzung und in der Separatisten zeit, ebenfalls zu einer
völligen V erdrängung deutscher G ebietshoheit führen kann, in ruhigen
Zeiten dagegen zurücktritt, ohne jedoch auf ihre w eitgehenden und dehn­
baren Befugnisse grundsätzlich zu verzichten. Beide Kommissionen üben
Gesetzgebungs- und Regierungsbefugnisse aus und herrschen infolgedessen
im eigentlichen Sinne. Ihre Beschlüsse sind das Ergebnis des Kompromisses
der frem den Staaten, welche die Kommission beherrschen, hauptsächlich also
Frankreichs und Englands. D ie H errschaft solcher Kommissionen ist die
spezifische O rganisationsform , durch welche ein Land und seine Bevölke­
rung zum O b je k t frem der Kompromisse gemacht w ird, ein Zustand, der
in seiner ganzen Im m oralität n u r einm al bew ußt zu w erden braucht, um
unhaltb ar zu werden.
A ber wenigstens nach dem T ext der V erträge ist dieser Zustand nicht
dauernd und seine Beendigung vorgesehen. Im Saargebiet soll 1935 eine
Volksabstimmung stattfinden und danach „der V ölkerbund“ (V ölkerbunds­
versam m lung oder V ölkerbundsrat? wahrscheinlich der letzte) darüber
Völkerrechtliche P rob lem e im R heingebiet 99

entscheiden, ob das Saargebiet ganz oder teilw eise unter die deutsche
Staatshoheit zurückkehrt, zu Frankreich kommt oder der gegenwärtige
Zustand dauernd wird. H ierbei sind m ehrere Besonderheiten der vertrag­
lichen Regelung wohl zu beachten, die ein ungerechtfertigter Optimismus
oft übersieht: erstens ist die F ortdauer des heutigen Zustandes als eine
Möglichkeit vorgesehen; zweitens ist es form ell nicht die Volksabstimmung,
sondern der V ölkerbund, der unter Berücksichtigung des W u n s c h e s
(voeu) der B evölkerung entscheidet; und drittens ist eine T e i l u n g des
Saargebietes möglich, so daß sich hier die Ä hnlichkeit m it der für O ber­
schlesien getroffenen Regelung und die E rinnerung an die Teilung O ber­
schlesiens sofort aufdrängt. D ie K o rrek tu r jenes unmoralischen und uner­
träglichen Zustandes, welche darin liegt, daß die Frem dherrschaft im Saar­
gebiet eben n u r 15 Jah re dauern soll, w irk t also leider nicht so eindeutig und
beruhigend, wie es auf den ersten Blick selbstverständlich sein sollte.
Was die D auer der R heinlandbesetzung angeht, so ist sie ebenfalls für
eine beispiellos lange Zeit (nämlich 15 Jah re für die dritte Zone, also
besonders auch für den m ilitärisch und politisch besonders wichtigen P unkt
Mainz) vorgesehen, aber im m erhin befristet. Auch hier sind zahlreiche
Auslegungsfragen entstanden, welche den deutschen Anspruch auf eine
vorzeitige Räum ung, ja, selbst den Anspruch auf Räum ung nach A blauf
jener F risten gefährden und enttäuschen. Die Verbindung der Räum ungs­
frage mit der F rage der Sicherheit Frankreichs einerseits und mit der
Reparationsfrage andererseits läßt hier so viele M einungsverschiedenheiten
und Differenzen entstehen, daß fast jedes W ort der vertraglichen Regelung
(Art. 428f VV) problem atisch w ird. H ier zeigt sich dann in k la re r Weise,
wie sehr die W orte einer rechtlichen N orm ierung ihren Inhalt ändern,
sobald sie in den Kam pf politischer Gegner hineingezogen werden. An
Begriffen wie A brüstung, Angriffskrieg, Sicherheit, M inderheit, haben w ir
diese E rfahrung handgreiflich machen müssen und gesehen, daß eine rechte
liehe N orm ierung als bloße N orm ierung hilflos und unsicher und die
Behauptung eines entpolitisierten Völkerrechts ein offenbarer, höchst poli­
tischer Betrug ist.
W ährend die beiden ersten Teile des rheinischen Komplexes, Saar­
regierung und R heinlandbesetzung, als wenigstens grundsätzlich vorüber­
gehende Erscheinungen gekennzeichnet sind, sollen die beiden anderen,
E ntm ilitarisierung und Investigation, von unbegrenzter Zeitdauer sein. Im
Vergleich zu den sichtbaren und fühlbaren Einw irkungen, wie sie die
Saarregierung und die R heinlandbesetzung mit sich bringen, besonders im
Vergleich zur A nw esenheit einer großen feindlichen Armee, können diese
beiden anderen Teile vielleicht unbedeutend und nebensächlich erscheinen.
Aber dafür sind sie eben dauernd und auch im übrigen nichts weniger als
harmlos. Das Investigationsrecht, durch welches die Entwaffnung Deutsch­
lands k o n trolliert w ird, soll nach Art. 213 VV durch einen M ehrheits­
beschluß des V ölkerbundsrates ausgeübt werden. Es besteht für ganz
Deutschland. Seinen eigentlichen Inhalt und seine politische Bedeutung

7*
100 Völkerrechtliche P rob lem e im R hein geb iet

dürfte es erst durch die P raxis des V ölkerbundsrates erhalten, so daß sich
vorläufig hier noch nicht viel K onkretes aussagen läßt. D er V ölkerbundsrat
hatte am 27. Septem ber 1924 ein sogenanntes Investigationsprotokoll geneh­
migt, in welchem für die entm ilitarisierten G ebiete die Einrichtung „stän­
diger Elem ente“ (éléments stables) vorgesehen w ar. D ie deutsche Regierung
hat es erreicht, daß diese außerordentlich gefährlichen und unabsehbaren
ständigen Elemente zunächst auf gegeben w urden. Ein Beschluß des Völker­
bundrates vom 11. Dezem ber 1926, betreffend das Investigationsrecht, sagt
ausdrücklich: „Es besteht Einverständnis darüber, daß die Bestimmungen
des Art. 213 des F riedensvertrages mit D eutschland über die Investi­
gationen auf die entm ilitarisierte Rheinlandzone in gleicher W eise wie auf
die übrigen Teile Deutschlands anw endbar sind. Diese Bestimmungen
sehen für diese Zone ebensowenig w ie fü r andere G ebiete die Einrichtung
einer besonderen K ontrolle durch ständige oder dauernde lokale Elemente
vor. ln der entm ilitarisierten R heinlandzone können d erartige besondere,
nicht im A rtikel 213 vorgesehene Elem ente n u r durch ein Abkommen
zwischen den beteiligten R egierungen eingerichtet w erden.“ D as klingt
beruhigend, weil damit die ständigen lokalen Elem ente auch für die ent­
m ilitarisierte Zone zurückgewiesen sind, und w ir w ollen hoffen, daß nicht
eine schikanöse Silbenstecherei behauptet, dadurch seien n u r die ständigen
lokalen, nicht andere ständige Elem ente ausgeschlossen. Zugleich aber kann
in diesem Beschluß ein A nerkenntnis gefunden w erden, durch welches der
Inhalt der Investigation sich ausdehnt, indem nämlich der Zweck und Maß­
stab für die Untersuchung sich ausdehnen: A r t.213 sieht eine Investi­
gation nu r zur D urchführung der allgem einen Entw affnung vor, w ährend
der unter M itw irkung Deutschlands gefaßte Beschluß vom 11. D ezem ber
1926 Investigationen auch zur K ontrolle der D urchführung der speziellen
Entm ilitarisierungsbestim m ungen anerkennt. Mit Recht ist auf das Bedenk­
liche dieser Abmachung hingew iesen w orden1.
Es ist daher die E ntm ilitarisierung, die hier am m eisten interessiert.
Selbst wenn einm al wirklich das Problem der Besetzung und des Saar­
gebiets gelöst sein sollte, wenn die stark e französische A rm ee m it ihrem
großen K riegsm aterial aus Mainz abm arschiert ist und das deutsche Gebiet
vollständig geräum t hat, w enn auch im Saargebiet w ieder deutsche Be­
hörden tätig sind, so bleibt dieses Problem der E ntm ilitarisierung als das
eigentliche Problem der R heinlande und der französisch-deutschen Bezie­
hungen w eiter bestehen.
Umfang und Inhalt der E ntm ilitarisierung sind öfters dargestellt w orden
und vor allem in dem Buch von K. Linnebach12 m it gutem M aterial ein­
drucksvoll auseinandergesetzt. Es genügt hier, d aran zu erinnern, daß ein
geschlossenes deutsches G ebiet von insgesam t über 55 000 qkm, nämlich das
ganze deutsche linke R heinufer und ein G ebietsstreifen von 50 km B reite
1 Wolf V . Dewall, „Frankfurter Zeitung“, 23. September 1928, 1. Morgenblatt.
2 Die Entmilitarisierung der Rheinlande und der Vertrag von Locarno, eine
völkerreditliclie Untersuchung; Rheinisdie Schicksalsfragen, Sdirift 18/20, Berlin 1927.
V ölkerredltliche P roblem e im R heingebiet 101

auf der rechten Seite des Rheins von Basel bis zur holländischen Grenze
davon erfaßt ist, ein wirtschaftlich hochentwickeltes Gebiet mit großen und
wichtigen Städten, wie K arlsruhe, Mannheim, F ran k fu rt, Köln, Düsseldorf
und Essen, vielleicht der reichste Teil Deutschlands. Die Entm ilitarisierung
besteht nach A rt. 42 , 4 3 VV darin, daß es Deutschland untersagt ist, in
diesem Gebiet Befestigungen beizubehalten oder zu errichten, daß w eder
ständig noch zeitweilig deutsche T ruppen hier unterhalten oder angesam ­
melt w erden dürfen, daß m ilitärische Übungen jed e r A rt und schließlich
alle „m ateriellen“ (im englischen Text: „ständigen“) „V orkehrungen für
eine Mobilmachung“ verboten sind. Jede dieser Bestimmungen eröffnet
Möglichkeiten ausdehnender Auslegung, die bei einer politischen Zweck­
interpretation unverm eidlich ist. Insbesondere legt ein Begriff wie „Vor­
kehrungen fü r eine Mobilmachung“ grenzenlose Interpretationen nahe,
nach welchen schließlich jed er Straßenbau, jed er Bahnhof, jed er T u rn ­
verein, jed er Schutz der B evölkerung durch Gasm asken als V orkehrung
für eine Mobilmachung hingestellt w erden kann. Diese Entm ilitarisierung
bedeutet nach ihrem Inhalt, nach ihrem territo rialen Umfang, nach ih re r
D auer und vor allem auch wegen der Einseitigkeit, mit der sie nu r dem
Deutschen Reich auferlegt ist, etwas völlig anderes als die bisherigen, in
der Geschichte bekannten, älteren oder neueren F älle von Entm ilitarisie­
rung1. Es handelt sich nicht etw a um eine N eutralisierung des Gebietes, die
zur Folge hätte, daß das Gebiet nicht Kriegsschauplatz w erden darf. Im
Gegenteil, diese A rt der Regelung hat den Sinn, alle Möglichkeiten der
V erteidigung zu beseitigen und dadurch ein prädestiniertes Kriegsgebiet
zu schaffen, das in voller W ehrlosigkeit und H ilflosigkeit dem Einmarsch
französischer T ruppen und ih re r m ilitärischen A ktionen für alle Zeiten
öffen liegt, eine A rt Glacis zwischen Frankreich und Deutschland, aus­
schließlich auf Kosten Deutschlands eingerichtet und dazu bestimmt,
14 Millionen Deutsche zu O pfern etw aiger Kriegsm aßnahm en und einer
ungeheuerlichen A rt von Geiseln zu machen.
D ieser weitgehende Zustand der E ntm ilitarisierung w ar zunächst n u r
dadurch garantiert, daß jed e r Verstoß Deutschlands gegen diese dehnbaren
Bestimmungen als „eine Störung des W eltfriedens und eine feindselige
Handlung gegen jede Signatarm acht des V ersailler V ertrages gilt“ (Art. 44
VV). D er politische Sinn dieser W orte liegt darin, daß Deutschland wegen
irgendeiner Bagatelle als A ngreifer fingiert w erden kann und nun das
ganze System der völkerrechtlichen Scheinjurisprudenz, das echte und
falsche K riegsverhütungs- und Kriegsächtungsrecht mit voller Wucht zu­
ungunsten Deutschlands funktioniert. D er E ntm ilitarisierte w ird eo ipso
als A ngreifer fingiert und Deutschland erscheint gerade wegen seiner
W ehrlosigkeit und Entm ilitarisierung automatisch als Störer des W elt­
friedens — eine w underbare Illustration zu der berühm ten Fabel von dem
Wolf und dem Lamm oder zu der Geschichte von dem Kaninchen, dessen
hilfloses Mümmeln der Wolf, unter dem Beifall seiner Freunde, als freche
1 So mit Recht Linnebach, a. a. O. S. 76.
102 Völkerrechtliche P rob lem e im R h ein geb iet

H erausforderung und Angriff bezeichnet und ahndet. Durch den V ertrag


von Locarno vom 16. O ktober 1925 e rh ä lt nun diese G arantie des A rt. 44
teils eine neue Festigung, teils eine gewisse Einschränkung: eine Festigung,
insofern gerade diese Entm ilitarisierungsbestim m ungen von neuem bestä­
tigt und bekräftigt w erden; eine gewisse Einschränkung, w eil einseitiges
Vorgehen und Selbsthilfe gegen Deutschland n u r dann zulässig sind, wenn
ein flagranter Verstoß gegen die A rt. 42, 43 VV vorliegt, außerdem dieser
Verstoß eine nicht provozierte A ngriffshandlung darstellt und wegen der
Zusammenziehung von S treitk räften in der entm ilitarisierten Zone eine
sofortige A ktion notwendig w ird. U nter dieser dreifachen Voraussetzung
sind die Garantiem ächte von Locarno auch verpflichtet, dem verletzten
Staate (das ist praktisch Frankreich oder Belgien) gegen Deutschland bei­
zustehen, wobei sie aber über das Vorliegen dieser V oraussetzungen selbst
entscheiden. Abgesehen von jenem an drei V oraussetzungen gebundenen
F all eines „flagranten Verstoßes“ ist Selbsthilfe verboten und stellt der
V ölkerbundsrat fest, ob ein Verstoß oder eine V erletzung der E ntm ilitari­
sierungsbestim mungen vorliegt. D as bedeutet zweifellos gegenüber der
bisherigen P raxis Frankreichs einen Fortschritt zugunsten Deutschlands,
einen Schutz insbesondere gegen französische Invasionen, wie sie unter
verschiedenen juristischen E tiketten, w ie Sanktionen, friedliche Maß­
nahmen, Exekutionen des V ertrages vor sich gegangen w aren (Besetzung
F rankfurts im Mai 1920, rheinischer Städte 1921, R uhrgebiet 1923). D er
V ölkerbundsrat kann in solchen F ällen richtiger A uffassung nach eine
Verletzung nur einstimmig bejahen, wobei die streitenden Teile bei der
Abstimmung nicht m itgezählt w erden1. Bei der großen Zahl der M itglieder
des V ölkerbundsrates (gegenw ärtig 14) und der V erschiedenartigkeit seiner
Zusammensetzung liegt darin eine gewisse Sicherheit gegen ungerechte
Behauptungen eines Verstoßes. A ndererseits ist es politisch selbstverständ­
lich, daß Großmächte wie Frankreich oder E ngland ihre P olitik nicht von
der Ansicht irgendeines kleinen, zufällig im V ölkerbundsrat vertretenen
und ihm nicht gefügigen Staates abhängig machen w erden. D aher läßt sich
über die wirkliche Bedeutung dieser Regelung noch nicht viel sagen. D er
V ölkerbund (praktisch der V ölkerbundsrat) h at dann außer diesen beson­
deren Befugnissen auf G rund des Locarno-V ertrages auch noch die all­
gemeinen, aus der V ölkerbundssatzung sich ergebenden Befugnisse hin­
sichtlich der K riegsverhütung.
II.
Auf dieser Rechtsgrundlage spielen sich die V erhandlungen über die
R heinlandräum ung ab, die auf der V ölkerbundsversam m lung vom Sep­
tem ber 1928 in Aussicht genommen w urden und fü r welche m an sich vor­
läufig, nach dem sogenannten Schlußprotokoll vom 16. Septem ber 1928,
dahin geeinigt hat, daß amtliche V erhandlungen über die vorzeitige R hein­
landräum ung, ferner solche über die endgültige Regelung der R eparations-
1 K. Strupp, Das Werk von Locarno, Berlin 1926, S. 101.
Völkerrechtliche P rob lem e im R hein geb iet 103

frage stattfinden sollen und für das entm ilitarisierte G ebiet eine Fest-
stellungs- und Vergleidhskommission (commission de conciliation et de
constatation) eingesetzt w erden soll. Diese letzte Abmachung, die sich auf
das entm ilitarisierte G ebiet bezieht, ist fü r unseren Zusamm enhang von
besonderem Interesse. Welches Ergebnis die w eiteren V erhandlungen
haben w erden, läßt sich natürlich nicht Voraussagen. Bisher h at die deutsche
Regierung jede Bindung wenigstens über das Ja h r 1935 hinaus entschieden
abgelehnt. G egenüber den zahlreichen V erm utungen und Vorschlägen, die
hier auf tauchen, muß aber immer w ieder die grundsätzliche F rage im Auge
behalten w erden, ohne deren K lärung eine Einigung u n ter den deutschen
Meinungen nicht möglich ist. D enn es gibt Deutsche, die jene geplante
Vergleichskommission, sogar w enn sie über das Ja h r 1935 hinaus fungieren
soll, für etw as Harmloses und im Vergleich zu einer Besatzungsarm ee sehr
Vorteilhaftes halten, und außerdem in ihr eine brauchbare, die Entschei­
dung des V ölkerbundsrates vorbereitende, der V erständigung und dem
Frieden dienende Instanz erblicken.
Daß selbst sympathische und vertrauenerw eckende Nam en w ie V er­
gleich, Verständigung und Versöhnung und auch ein W ort w ie „con­
ciliation“ wenig über die Sache zum Ausdruck bringen, sollte nach den
bisherigen politischen E rfahrungen selbstverständlich sein. Die politische
W irklichkeit richtet sich leider wenig nach solchen A ushängeschildern und
wir wissen, daß schöne und sogar heilige W orte im politischen Kam pf
gebraucht werden, um den G egner durch moralische Suggestionen zu
lähmen, wie die persischen Soldaten im K rieg gegen die Ä gypter K atzen
unter den Arm nahmen, weil die Ä g ypter es nicht w agten, in der Richtung
dieser heiligen T iere zu schießen. Eine Vergleichs- und V erständigungs­
politik kann trotz ihres Namens sehr einseitigen politischen Zwecken
dienen. Es frag t sich deshalb, was eine eigens fü r das entm ilitarisierte
Gebiet eingesetzte, der Entscheidung des V ölkerbundsrates auf jed en Fall
vorgreifende Vergleichskommission in concreto bedeutet. Sie ist auf jeden
Fall zunächst eine internationale Instanz, die als solche fü r einen abgegrenz­
ten Teil des Deutschen Reiches zuständig ist. Sie brin g t dadurch in die
territoriale Einheit und Geschlossenheit des Deutschen Reiches von außen
her eine gefährliche Unterscheidung, indem sie die bisher n u r norm ative
Sonderbehandlung dieses Gebietes nun auch instanzenm äßig organisiert.
Mit andern W orten: das entm ilitarisierte G ebiet ist bei einer solchen
Kommission nicht n u r der im V ersailler V ertrag vorgesehenen Sonder­
r e g e l u n g , sondern auch einer Sonder o r g a n i s a t i ο n unterw orfen.
Das ist rechtlich und politisch ein fundam entaler Unterschied und fü h rt
weit über den V ersailler V ertrag hinaus. D enn dam it ist erreicht, daß
ein bestim m ter Teil des Deutschen Reiches, und zw ar gerade die R hein­
lande, geradezu eine besondere Verfassung erhalten. Wichtige staatliche
Funktionen, sowohl der Gesetzgebung als auch der R egierung und Ver­
waltung, unterstehen einer beständigen ausländischen, international­
gemischten K ontrolle und einem beständigen Vetorecht, und zw ar nicht wie
104 Völkerrechtliche P rob lem e im R hein geb iet

in den zahlreichen anderen Fällen internationaler K ontrolle (Reichsbahn-


kommissar, Reichsbankkommissar, T reuhänder usw.) für das Deutsche
Reich im ganzen, sondern nur hinsichtlich eines bestim m ten, geographisch
abgegrenzten Teiles. Vor allem w ird eine solche E ntm ilitarisierungs­
kommission über Fragen der A ufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit
und O rdnung im R heinland zu befinden haben, daher auch über die politisch
wichtigste Frage, die des A usnahm ezustandes und dam it über die Frage
der Souveränität. Vierzehn M illionen Deutsche haben dann nicht m ehr die
deutsche Regierung, sondern eine internationale Kommission als höchste
A utorität über sich, um über die Lebensfrage der „öffentlichen Sicherheit
und O rdnung“ zu entscheiden. D aß die Kommission n u r ausnahm sweise
eingreift, macht sie nicht harm loser, sondern bew eist gerade den Zusammen­
hang mit der Frage der Souveränität.
Es liegt nun nahe, zu erw idern, daß auch der V ölkerbundsrat, der ja
bereits nach dem V ertrag von Locarno über Streitfälle aus der E ntm ilitari­
sierung zu entscheiden hat, eine solche internationale Kommission darstellt.
Das ist gewiß richtig. D er \ rölkerbundsrat ist eine D iplom atenkonferenz,
deren D elegierte von ihren R egierungen instruiert, u n ter politischen Ge­
sichtspunkten entscheiden und daher ebenfalls zu Kompromissen kommen,
deren O bjekt und O pfer naturgem äß vor allem die deutschen Interessen
sind, wenn es sich um eine die R heinlande betreffende Entscheidung
handelt. Aber diese D iplom atenkonferenz dient doch, infolge der großen
Zahl ih rer M itglieder und der Beteiligung n eutraler, namentlich skandi­
navischer und am erikanischer Staaten, nicht in demselben Maße den spe­
ziellen Kom promißinteressen Englands und Frankreichs. Sie ist auch nicht
in der gleichen Weise eine speziell für das entm ilitarisierte deutsche Gebiet,
das heißt im wesentlichen für die R heinlande bestehende Instanz, sondern
h at noch zahlreiche andere Aufgaben. Sie muß ferner, w ie schon erw ähnt,
eine Verletzung oder einen Verstoß einstimmig bejahen, was bei ihrer
großen Zahl und Zusammensetzung nicht so leicht eintreten w ird wie bei
einer speziellen Vergleichskommission. Es ist also keinesw egs gleichgültig,
ob eine engere spezielle Entm ilitarisierungskom m ission u n ter irgendeinem
Namen und angeblich nur „vorbereitend“ fungiert, oder ob der V ölker­
bundsrat unm ittelbar entscheidet. Eine „bloß vorbereitende“ Tätigkeit, an
der zwei Großmächte wie Frankreich und England beteiligt sind, bedeutet
für den V ölkerbundsrat in W ahrheit ein sehr maßgebliches „fait accom pli“
oder eine „res ju d icata“. D am it w äre der einzige Fortschritt, den der Ver­
trag von Locarno zugunsten Deutschlands gebracht hat, im Interesse der
französisch-englischen Sonderinteressen w ieder beseitigt.
D erartige u nter harm losen Namen und justizförm igen Verschleierungen
politisch arbeitende Spezialkommissionen enthalten gerade fü r das deutsche
Volk mit seiner V ertrauensseligkeit und seinem „rührenden L egalitäts­
bedürfnis“1 und gerade in der heutigen Lage eine besondere G efahr. Sie
1 Ich entnehme diesen Ausdruck dem Buch von R. Smend, Das Reidiskammer-
gendit, 1911, S. 161.
Völkerrechtliche P roblem e im R heingebiet 105

verdecken eine h arte und grausam e A rt Politik und verschaffen einem


ruhe- und gerechtigkeitsbedürftigen Volk für kurze Zeit den Eindruck
einer Stabilisierung und Verrechtlichung der zwischenstaatlichen V erhält­
nisse. A ber die Stabilisierung ist gefährlich, wenn nichts anderes stabilisiert
w ird als eine in sich unstabile und unklare Situation, aus der immer neue
M einungsverschiedenheiten hervorgehen müssen; und die Verrechtlichung
ist in W irklichkeit n u r eine Methode justizförm iger Politik, die der Aus­
beutung und U nterdrückung legale Form en leiht. Die „form elle“ Gleichheit
Deutschlands m it den Großmächten täuscht dann über die Ungleichheiten
in der Sache hinweg, Ungleichheiten, wie sie am erstaunlichsten in der
einseitigen E ntm ilitarisierung der Rheinlande zum Ausdruck kommen.
Eine Rechtsgleichheit zwischen einem wehrlosen, kontrollierten und trib u t­
pflichtigen D eutschland und einem aufs äußerste bewaffneten, die Kon­
trolle ausübenden und die T ribute einkassierenden G egner ist nichts als die
Gleichheit jenes V ertrages zwischen den Störchen und den Fröschen, der
beiden Teilen gleiches Recht der Nahrungssuche gew ährleistete und dessen
Abschluß von einigen Fröschen als großer Fortschritt gefeiert wurde.

I
III.
Es m üßte auffallen, daß überhaupt von völkerrechtlichen Problem en
der R heinlande oder im R heinlande gesprochen w erden kann. Denn im
allgemeinen ist es doch heute noch so, daß nur Staaten oder staatenähnliche
Gebilde als solche eine völkerrechtliche Stellung haben und T räger selb­
ständiger völkerrechtlicher Problem e sind, nicht aber Gebietsteile unabhän­
giger Staaten. Niem and w ird es wagen, von einem völkerrechtlichen P ro­
blem des Elsasses oder Irlands zu sprechen. Selbst das völkerrechtliche
Problem Ä gyptens ist von der englischen Regierung mit restlosem Erfolg
als solches negiert w orden. Um so bedenklicher, daß eine Redewendung,
wie die vom „völkerrechtlichen Problem der R heinlande“ in ih rer poli­
tischen Tragw eite großen Teilen des deutschen Volkes kaum bew ußt wird.
Solange die E ntm ilitarisierung der R heinlande nur auf einer Sonder­
norm ierung b e ru h t und ih re D urchführung der L oyalität der deutschen
Regierung überlassen w ird, ist dieser Zustand vielleicht noch erträglich.
Sobald aber an die Stelle der Sondernorm ierung darüber hinaus noch eine
Sonderorganisation tritt und innerhalb des Deutschen Reiches eine te rri­
toriale A bgrenzung entsteht, liegt es allerdings nahe, eine Internationale
sierüng der R heinlande zu befürchten, durch welche die Rheinlande aus
einer staatsrechtlichen in eine völkerrechtliche Situation kommen.
Man muß diese U nterw erfung eines großen deutschen Gebietsteiles
unter eine internationale Sonderregelung oder sogar Sonderorganisation
im Zusamm enhang der m odernen M ethoden im perialistischer U nterw erfung
und A usbeutung frem der Staaten betrachten, um die ganze politische Trag­
weite eines solchen Zustandes richtig zu verstehen. D enn heute w ird nicht
m ehr mit den v eralteten M ethoden offener G ebietsannexion gearbeitet,
sondern m it „K ontrollen“ und m it einem System von V erträgen, und zwar
106 V ölkerrechtliche P rob lem e im R hein geb iet

Interventionsverträgen, zu denen der unterw orfene Staat gezwungen wird.


Das m oderne System — statt der A nnexion n u r K ontrolle und In te r­
vention — hat neben zahlreichen praktischen V orteilen politischer und
wirtschaftlicher A rt auch noch den moralischen Vorteil, daß es sich auf die
H eiligkeit der V erträge und den Satz pacta sunt servanda berufen und auf
diese Weise den U nterw orfenen moralisch p araly sieren kann. D er in ter­
venierende Staat entscheidet dann über die wesentlichen existenziellen
Fragen des „kontrollierten“ Staates, insbesondere über die konkrete
Bestimmung dessen, was „öffentliche O rdnung und Sicherheit“ heißt. Das
ist die Methode der V ereinigten Staaten von A m erika gegenüber den von
ihnen abhängigen lateinam erikanischen Staaten (wie K uba, Panam a, N ika­
ragua usw.); es ist die M ethode Englands gegenüber einem form ell
„souveränen“ Ä gypten; es kann, w enn nicht das ganze deutsche Volk sich
m it äußerster politischer B ew ußtheit w ehrt, die schließliche Konsequenz
der international organisierten E ntm ilitarisierung deutscher G ebiete sein.
Einer solchen m odernen, durch m ilitärisch und wirtschaftlich überlegene
Großmächte von außen bew irkten A uflösung schwacher Staaten entspricht
im Innern solcher Staaten eine T heorie vom P rim at des Völkerrechts, das
heißt die theoretische A nerkennung dieser A bhängigkeit und U nterw orfen­
heit. Das kann so w eit gehen, daß m an die Existenz des Staates überhaupt
auf die völkerrechtliche A nerkennung gründet und das eigene Land nur
noch als Bestandteil einer irgendw ie k o n stru ierten „V ölkerrechtsgem ein­
schaft“ behandelt; daß sogar der natürlichen und selbstverständlichen
Treue gegen das eigene Volk die T reue gegen das künstliche A rrangem ent
international gemischter Kommissionen und D iplom atenkonferenzen über­
geordnet w ird. F ü r alles das finden sich Beispiele im deutschsprachigen
Schrifttum der letzten Jahre. Uber die höchst problem atische theoretische
Richtigkeit solcher K onstruktionen und ihren sehr k o n k reten politisch­
praktischen Sinn braucht hier nicht d isk u tiert zu w erden. Es mag sein, daß
es Staaten gibt, die nichts sind als ein Kom promiß, und zw ar ein völker­
rechtlicher Kompromiß, das heißt ein Kom prom iß frem der Staaten. Ö ster­
reich zum Beispiel ist in dieser küm m erlichen Lage, und jen e Theorien
sind zweifellos der adäquate A usdruck eines derartig en politischen Seins
oder vielm ehr — da solche G ebilde kaum etw as sind — eines völkerrecht­
lichen „G ehens“. F ü r das Deutsche Reich aber ist es gerade die F rage, ob
und wie lange es noch zu den politisch existierenden Staaten gehört oder
ob es zu einem nur völkerrechtlichen und n u r „geltenden“ N orm enkom plex
degenerieren soll. Auch hier ist das Problem der entm ilitarisierten R hein­
lande der K ardinalpunkt, um den sich die existenzielle F r a g e . bewegen
wird.
Im H intergründe aller dieser, sei es rein theoretischen, sei es positiv-
praktischen völkerrechtlichen F ragen steht also nicht w eniger als die F rage
der politischen Existenz des deutschen Volkes. D aß w ir in einer Epoche
fundam entaler politischer U m gruppierungen leben, w ird heute wohl im
ganzen deutschen Volk em pfunden und gehört zu den G rundstim m ungen
V ölkerrechtliche P rob lem e im R heingebiet 107

unserer Zeit. D enn es drängt sich jedem auf, wie sehr die Entwicklung der
m odernen Technik manche politischen G ruppierungen und Grenzen der
früheren Zeit illusorisch macht und den überlieferten status quo beseitigt,
wie sehr „die E rde k lein e r“ w ird und infolgedessen die Staaten und
Staatensystem e größer w erden müssen. In diesem gewaltigen Umwand­
lungsprozeß gehen wahrscheinlich viele schwache Staaten unter. Einige
Riesenkom plexe w erden übrigbleiben und vielleicht die nach menschlicher
Berechnung zu erw artende Zeit eines ungeahnten, auf völlig neuen tech­
nischen M öglichkeiten beruhenden Menschenglücks genießen. Manche
kleineren G ebilde w erden sich im Schatten irgendeines wohlwollenden
Riesen in Sicherheit bringen. Soviel ich beobachten kann, gibt es Deutsche,
die glauben, das letzte sei auch für Deutschland die richtige Methode, um
der politischen Entscheidung zu entwischen und sich in ein problemloses,
wehrloses, geschichtsloses Glück hineinzulavieren, etw a mit Hilfe der „Poli­
tik des toten K äfers“, dessen Schutz in seiner W ehrlosigkeit liegt. Das
w äre allerdings eine bequem e und gem ütvolle Lösung und enthöbe uns
scheinbar alles w eiteren polnischen Nachdenkens und jedes Risikos. N ur
fürchte ich, daß dieser Weg, so wie die Dinge nun einm al liegen, hoffnungs­
los v e rsp e rrt ist und der sich tot stellende K äfer einfach zertreten wird.
Das Deutsche Reich m it seinem verhältnism äßig kleinen in der Mitte
Europas liegenden T errito riu m und seinen über 60 Millionen Menschen ist
nicht groß genug, um ohne w eiteres eine der überlebenden Weltmächte zu
sein, andrerseits aber nicht klein und p eripher genug, um wie ein kleines
Volk in dem politischen System eines andern unterzukom m en oder sich
einfach aus der W eltgeschichte zu verdrücken. Seine Dimensionen sind zu
klein, als daß es durch das bloße stabile Gewicht seiner Masse geschützt
w äre, w ie das bei R ußland der F all ist; und sein Gewicht ist doch w ieder
zu groß, als daß es in einer schnellen und beweglichen Politik wechselnder
Bündnisse einen labilen Bestand w ahren könnte. In dieser Zwischen­
stellung hängt alles am politischen Bewußtsein, an der Selbstbeherrschung
und der Entschlossenheit der deutschen Politik und kom mt es darauf an,
ob das deutsche Volk seinen W illen zur politischen Existenz bew ahrt oder
ob es sich psychisch und moralisch zerm ürben läßt, so daß es damit ein­
verstanden w äre, aus seinem eigenen Fleisch und Blut die frem den
L eviathane zu sättigen.
Das ist die furchtbare G esam tlage Deutschlands, in deren Zentrum die
Frage der E ntm ilitarisierung der R heinlande steht. Ein großes und ent­
schlossenes Volk braucht nicht zu verzw eifeln, und es w äre Feigheit, die
Hoffnung aufzugeben. A ber es w äre ein Verbrechen, sich der k laren poli­
tischen B ew ußtheit zu entziehen und vor den schlimmsten Möglichkeiten,
auch w enn sie hoffentlich n u r Möglichkeiten bleiben, die Augen zu ver­
schließen. Insbesondere w äre es eine unverantw ortliche Selbsttäuschung,
anzunehm en, daß heute die zwischenstaatlichen Beziehungen im wesent­
lichen bereits m oralisiert und verrechtlicht seien, und daß man theoretisch
und praktisch behaupten könne, das D enken und Fühlen der Völker sei
108 Völkerrechtliche P roblem e im R hein geb iet

schon entpolitisiert. Trotz aller propagandistischen A usnutzung m oralischer


und juristischer Begriffe ist die W elt immer noch in einem hochpolitischen
Zustand; sie gruppiert sich immer noch nach F reund und Feind und jene
M oralisierung und Juridifizierung, einschließlich der „E ntpolitisierung“,
dient ganz konkreten politischen G ruppierungen und Interessen. Die
Völker leben leider immer noch „untereinander im N aturzustand“. Das
haben die großen N aturrechtslehrer des 17. und 18. Jahrhunderts, und zw ar
gerade auch große V ölkerrechtslehrer behauptet, und auf diese Form el
möchte ich unter dem Eindruck der letztjährigen E rfahrungen nachdrück­
lich hinweisen. Die Formel vom „N aturzustand“ ist kein absolutes Dogma,
wohl aber eine sehr ernst zu nehm ende Umschreibung für bestim m te Seiten
und Eigenarten zwischenstaatlicher Beziehungen; sie bew eist m ehr intel­
lektuelle Redlichkeit als die meisten unterschiedslosen R edensarten von
der Herrschaft „des“ Rechts; sie läßt das, was es im V ölkerrecht an echtem
Recht gibt, in seiner spezifischen O rdnung erkennen und verm eidet dadurch
irreführende Ü bertragungen aus wesentlich anderen Rechtsgebieten, ins­
besondere aus dem innerstaatlichen Privatrecht; sie geht von dem P luralis­
mus der konkret existierenden Staaten aus und verm eidet die illusorische
Fiktion einer W elteinheit; und endlich gibt sie ein prägnantes, in zahl­
reichen Fällen der W irklichkeit entsprechendes Bild. W ie von selbst hat
sich im Lauf der vorliegenden kurzen A usführungen imm er w ieder eine
Tierfabel eingestellt, als treffende Illustration der völkerrechtlichen W irk­
lichkeit. W arum drängen sich jedem Deutschen, der über die Behandlung
seines Landes in diesen letzten zehn Jahren nachdenkt, jene T ierfabeln
auf? W arum könnte man an der H and irgendeines klassischen Fabel­
buches, Aesop oder Lafontaine, eine klare, einleuchtende Theorie der Poli­
tik und des Völkerrechts entwickeln und die bekannten Geschichten — vom
Wolf und dem Lamm, dem Storch und den Fröschen, von der Schuld an der
Pest, welche Schuld natürlich den Esel trifft — ohne w eiteres auf Deutsch­
land übertragen? H ier zeigt sich der Sinn jen e r lehrreichen und frucht­
baren Formel vom „N aturzustand zwischen den V ölkern“. In ihm geht
jedes Volk erbarmungslos zugrunde, das sich seiner konkreten Lage nicht
m ehr gewachsen zeigt und sich auch n u r einen Augenblick bereden läßt,
sein natürlichstes, selbstverständlichstes und allererstes Recht zu vergessen,
nämlich das Recht auf eine freie, unabhängige, einige und ungeteilte
Existenz.
13. Wesen und Werden des faschistischen Staates1 (1929)
Das Buch gibt in m usterhafter K larheit und Geschlossenheit ein Bild
der geschichtlichen Entwicklung, der Soziologie und Ideologie des Faschismus
bis zum Jah re 1927. In einem Aufsatz: „Idee und W irklichkeit im Faschis­
mus“ (Schmollers Jahrbuch, Band 52) hat der Verfasser das Thema w eiter­
geführt. Trotz mancher früheren guten und gründlichen deutschen A rbeiten
über den f aschismus dürfte erst mit diesem Buch das Niveau wissenschaft­
licher O b jek tiv ität und Deutlichkeit erreicht sein, mit welcher die Gewiß­
heit einer fruchtbaren E rörterung gegeben ist. Das Buch hat außerdem
eine Reihe von w eiteren Eigenschaften, die seinen W ert noch erhöhen. Es
nimmt ohne parteipolitisch-subalterne Beschränktheit in verständiger
Sachlichkeit Stellung und w agt sogar eine Prognose. Dadurch unterscheidet
es sich sehr vorteilhaft auf der einen Seite von den Ä ußerungen enthusi­
astischer B ew underer und blindw ütiger Beschimpfer, unter denen leider
auch bekannte deutsche G elehrte zu finden sind; andererseits mißbraucht
es nicht die Begriffe von O bjek tiv ität und Wissenschaftlichkeit, um in
abw artender Ängstlichkeit k laren Erkenntnissen und Form ulierungen
auszuweichen. D abei versteht es sich von selbst, daß die Prognosen des
Buches nicht etw a von der Art jen e r Prophezeiungen sind, die m an in den
Jahren 1923 bis 1925 nicht nur in Zeitungsartikeln lesen konnte und deren
schönstes Beispiel ein vorgeblich ganz unpolitischer Satz eines wissen­
schaftlichen V ortrages ist, der im F e b ru ar 1925 verkündete: „Mussolinis
Sturz ist n u r m ehr eine F rage der Zeit.“
Angesichts der k laren und geschlossenen D arstellung eines solchen
Buches kann es sich für eine kurze Besprechung nicht darum handeln, den
sehr kom prim ierten und konzisen Inhalt zu w iederholen, sondern nu r
einige G esichtspunkte geltend zu machen, die sich vom Standpunkt und
vom Fach des Besprechers aus ergeben. Ich möchte daher zunächst einige
staatstheoretische Hinweise Vorbringen. Soweit es sich dabei um Verfas­
sungsfragen handelt, kann ich auf die ausgezeichnete A bhandlung von
G erhard L e i b h o l z : „Zu dem Problem des faschistischen Verfassungs­
rechts“ (Berlin 1928) Bezug nehmen. W as die eigentlich staatstheoretische
K onstruktion angeht, so tritt m einer Meinung nach bei dem Verfasser nicht
deutlich genug das spezifisch staatliche Problem hervor, das sich in die
Frage zusammenfassen läßt: Ist es denkbar, daß heute ein Staat gegen­
über den wirtschaftlichen und sozialen Gegensätzen und Interessen die
Rolle des h ö h e r e n D ritten spielt (das ist der Anspruch des fasehisti-
1 E rw in von Beckerath: W esen und W erden des faschistischen Staates. Berlin
(Springer) 1927; 155 Seiten.
108 Völkerrechtliche P roblem e im R hein geb iet

schon entpolitisiert. Trotz aller propagandistischen A usnutzung m oralischer


und juristischer Begriffe ist die W elt immer noch in einem hochpolitischen
Zustand; sie gruppiert sich immer noch nach F reund und Feind und jene
M oralisierung und Juridifizierung, einschließlich der „E ntpolitisierung“,
dient ganz konkreten politischen G ruppierungen und Interessen. Die
Völker leben leider immer noch „untereinander im N aturzustand“. Das
haben die großen N aturrechtslehrer des 17. und 18. Jahrhunderts, und zwar
gerade auch große V ölkerrechtslehrer behauptet, und auf diese Form el
möchte ich unter dem Eindruck der letztjährigen E rfahrungen nachdrück­
lich hinweisen. Die Formel vom „N aturzustand“ ist kein absolutes Dogma,
wohl aber eine sehr ernst zu nehm ende Umschreibung fü r bestim m te Seiten
und Eigenarten zwischenstaatlicher Beziehungen; sie bew eist m ehr intel­
lektuelle Redlichkeit als die meisten unterschiedslosen R edensarten von
der Herrschaft „des“ Rechts; sie läßt das, was es im V ölkerrecht an echtem
Recht gibt, in seiner spezifischen O rdnung erkennen und verm eidet dadurch
irreführende Übertragungen aus wesentlich anderen Rechtsgebieten, ins­
besondere aus dem innerstaatlichen Privatrecht; sie geht von dem P luralis­
mus der konkret existierenden Staaten aus und verm eidet die illusorische
Fiktion einer W elteinheit; und endlich gibt sie ein prägnantes, in zahl­
reichen Fällen der W irklichkeit entsprechendes Bild. W ie von selbst hat
sich im Lauf der vorliegenden kurzen A usführungen imm er w ieder eine
Tierfabel eingestellt, als treffende Illustration der völkerrechtlichen W irk­
lichkeit. W arum drängen sich jedem Deutschen, der über die Behandlung
seines Landes in diesen letzten zehn Jahren nachdenkt, jene Tierfabeln
auf? W arum könnte man an der H and irgendeines klassischen F abel­
buches, Aesop oder Lafontaine, eine klare, einleuchtende Theorie der Poli­
tik und des Völkerrechts entwickeln und die bekannten Geschichten — vom
Wolf und dem Lamm, dem Storch und den Fröschen, von der Schuld an der
Pest, welche Schuld natürlich den Esel trifft — ohne w eiteres auf Deutsch­
land übertragen? H ier zeigt sich der Sinn je n e r lehrreichen und frucht­
baren Form el vom „N aturzustand zwischen den V ölkern“. In ihm geht
jedes Volk erbarm ungslos zugrunde, das sich seiner konkreten Lage nicht
m ehr gewachsen zeigt und sich auch n u r einen Augenblick bereden läßt,
sein natürlichstes, selbstverständlichstes und allererstes Recht zu vergessen,
nämlich das Recht auf eine freie, unabhängige, einige und ungeteilte
Existenz.
ig. Wesen und Werden des faschistischen Staates1 (1929)
Das Buch gibt in m usterhafter K larheit und Geschlossenheit ein Bild
der geschichtlichen Entwicklung, der Soziologie und Ideologie des Faschismus
bis zum Jah re 1927. In einem Aufsatz: „Idee und W irklichkeit im Faschis­
mus“ (Schmollers Jahrbuch, Band 52) hat der Verfasser das Them a w eiter­
geführt. Trotz mancher früheren guten und gründlichen deutschen A rbeiten
über den Faschismus dürfte erst m it diesem Buch das N iveau wissenschaft­
licher O b jek tiv ität und D eutlichkeit erreicht sein, mit welcher die G ew iß­
heit einer fruchtbaren E rörterung gegeben ist. Das Buch hat außerdem
eine Reihe von w eiteren Eigenschaften, die seinen W ert noch erhöhen. Es
nimmt ohne parteipolitisch-subalterne Beschränktheit in verständiger
Sachlichkeit Stellung und w agt sogar eine Prognose. D adurch unterscheidet
es sich sehr vorteilhaft auf der einen Seite von den Ä ußerungen enthusi­
astischer B ew underer und blindw ütiger Beschimpfer, u nter denen leider
auch bekannte deutsche G elehrte zu finden sind; andererseits m ißbraucht
es nicht die Begriffe von O b jek tiv ität und W issenschaftlichkeit, um in
abw artender Ängstlichkeit k laren Erkenntnissen und Form ulierungen
auszuweichen. D abei versteht es sich von selbst, daß die Prognosen des
Buches nicht etw a von der Art jen e r Prophezeiungen sind, die m an in den
Jahren 1923 bis 1925 nicht nur in Zeitungsartikeln lesen konnte und deren
schönstes Beispiel ein vorgeblich ganz unpolitischer Satz eines wissen­
schaftlichen V ortrages ist, der im F eb ru ar 1925 verkündete: „Mussolinis
Sturz ist nu r m ehr eine F rage der Zeit.“
Angesichts der k laren und geschlossenen D arstellung eines solchen
Buches kann es sich für eine kurze Besprechung nicht darum handeln, den
sehr kom prim ierten und konzisen Inhalt zu w iederholen, sondern nu r
einige Gesichtspunkte geltend zu machen, die sich vom Standpunkt und
vom Fach des Besprechers aus ergeben. Ich möchte daher zunächst einige
staatstheoretische Hinweise Vorbringen. Soweit es sich dabei um Verfas­
sungsfragen handelt, kann ich auf die ausgezeichnete Abhandlung von
G erhard L e i b h o l z : „Zu dem Problem des faschistischen Verfassungs­
rechts“ (Berlin 1928) Bezug nehmen. Was die eigentlich staatstheoretische
Konstruktion angeht, so tritt m einer Meinung nach bei dem V erfasser nicht
deutlich genug das spezifisch staatliche Problem hervor, das sich in die
Frage zusammenfassen läßt: Ist es denkbar, daß heute ein Staat gegen­
über den wirtschaftlichen und sozialen Gegensätzen und Interessen die
Rolle des h ö h e r e n D ritten spielt (das ist der Anspruch des faschisti-
1 E rw in von Beckerath: W esen und W erden des faschistischen Staates. Berlin
(Springer) 1927; 155 Seiten.
no W esen und W erden des faschistischen S taates

sehen Staates) ; oder ist er notw endigerw eise n u r der bew affnete D i e n e r
einer jen er wirtschaftlichen und sozialen Klassen (die bekannte m arxi­
stische These); oder ist er eine A rt von n e u t r a l e m D ritten, ein pouvoir
neutre et interm édiaire (was er bis zu einem gewissen G rade heute fak­
tisch in Deutschland ist, wobei die Reste des alten Beam tenstaates die
Rolle eines solchen pouvoir n eutre spielen)? Nicht als ob diese F rage H errn
von Beckerath entgangen w äre; gerade die Ü berlegenheit des Faschismus
über wirtschaftliche Interessen, sei es der A rbeitgeber, sei es der A rbeit­
nehm er, und der, m an kann sagen, heroische Versuch, die W ürde des
Staates und der nationalen E inheit gegenüber dem Pluralism us ökonomi­
scher Interessen zu halten und durchzusetzen, tr itt in Beckeraths D ar­
stellung eindrucksvoll hervor. A ber sein staatstheoretisches Interesse
richtet sich doch vor allem auf die Ideologie und auf den Gegensatz von
faschistischer Ideologie auf der einen, dem okratischer und p arlam entari­
scher Ideologie auf der anderen Seite. Infolgedessen ist die echte staats­
theoretische Unterscheidung zu sehr m it dem G egensatz bloß ideologischer
Stichworte verwechselt. D araus e rk lä rt es sich wohl, daß der Faschismus
in einen absoluten Gegensatz zur D em okratie gebracht w ird (wodurch er
sich vom Bolschewismus unterscheiden soll; S. 147, 149), daß er als etwas
absolut Antidem okratisches auf gefaßt w ird, w ährend er in W ahrheit nur
zu der liberalen Auflösung der echten D em okratie in einem d erartig abso­
luten Gegensatz steht. H ier hat der V erfasser m einer Ansicht nach die an
sich natürlich längst bekannte Verschiedenheit von D em okratie und L ibera­
lismus nicht nachdrücklich genug im Auge behalten. Diese Verschiedenheit
ist fundam ental; sie beruht nämlich auf dem G egensatz des politischen
und des wirtschaftlichen D enkens überhaupt. D ie höchst geistvolle und
elegante, aber doch schließlich unrichtige Form ulierung, daß der Faschis­
mus, wenigstens in „der ersten Stunde“, eine „A rt l’a rt pour Part auf poli­
tischem G ebiete“ w ar (S. 25), und das irrefü h ren d e P rä d ik a t „romantisch“
(S. 24) erk läre ich m ir aus einer U nklarh eit über das W esen des b ü rg er­
lichen Liberalism us und einer Vermengung, die noch nicht restlos auf die
Konfusion des 19. Jahrhunderts verzichtet. D er konsequente Liberalism us
h at seine H eim at teils im ökonom ischen, teils im Ethischen und ist im
übrigen ein kunstvolles System von M ethoden zur Schwächung des Staates.
E r löst vom Ethischen und Ökonomischen h er alles spezifisch Politische und
spezifisch Staatliche auf. D em okratie dagegen ist ein Begriff, der ebenso
spezifisch in die Sphäre des Politischen gehört. Echter Nationalism us, all­
gemeine W ehrpflicht und D em okratie sind nun einm al „dreieinig, nicht zu
trennen“, und der zäsaristisch gesinnte D em okrat ist ein a lte r geschicht­
licher Typus (Sallust!). Die große Steigerung des staatsbürgerlichen und
nationalen Selbsthewußtseins bei der Masse der Italiener, insbesondere bei
den Bauern, den „Ivolonen“, eine Steigerung, die d er Faschismus jedenfalls
erreicht hat und die von einem so guten und v orurteilsfreien Beobachter
wie Paul S c h e f f e r als eine H auptleistung des Faschismus bezeichnet
w ird, kann man nicht gut in einen Gegensatz zur D em okratie bringen. D aß
W esen u nd W erden des faschistischen S taates ili

der Faschismus auf W ahlen verzichtet und den ganzen „elezionismo“ haßt
und verachtet, ist nicht etw a undemokratisch, sondern antiliberal und ent­
springt der richtigen E rkenntnis, daß die heutigen Methoden geheim er
Einzelwahl alles Staatliche und Politische durch eine völlige Privatisierung
gefährden, das Volk als E inheit ganz atis der Öffentlichkeit verdrängen
(der Souverän verschwindet in der W ahlzelle) und die staatliche W illens­
bildung zu einer Sum mierung geheim er und p riv ater Einzelwillen, das
heißt in W ahrheit u n k o n trollierbarer Massenwünsche und -ressentim ents
herabw ürdigen. Gegen ihre tatsächlich desintegrierende W irkung kann
man sich n u r schützen, w enn m an im Sinne von Rudolf S m e n d s Inte­
grationslehre eine Rechtspflicht des einzelnen Staatsbürgers konstruierte,
bei der geheim en Stim mabgabe nicht sein privates Interesse, sondern das
Wohl des Ganzen im Auge zu haben — angesichts der W irklichkeit des
sozialen und politischen Lebens ein schwacher und sehr problem atischer
Schutz. Jene Gleichsetzung von D em okratie und geheim er Einzelw ahl aber
ist Liberalism us des 19. Jah rh u n d erts und nicht D em okratie. Auch das neue
faschistische Gesetz über die politische R epräsentation vom 17. Mai 1928,
das den Stim m berechtigten n u r die Möglichkeit gibt, zu einer von der
Regierung vorgelegten K andidatenliste Ja oder Nein zu sagen, ist nu r im
Sinne jen e r liberalen P rivatisierung undemokratisch. Es fü h rt in W ahr­
heit zum Plebiszit, wie auch Beckerath (Schmollers Jahrbuch, Band 52,
S. 213; ebenso Leibholz, S. 27) richtig erkennt. Ein Plebiszit ist aber nichts
Undemokratisches. D arüber kom mt auch die radikalste und unm ittelbarste
D em okratie nicht hinweg, daß das Volk n u r akklam ieren oder nu r Ja
oder Nein sagen kann; und angesichts der unentrinnbaren A bhängigkeit
von F ragestellung und Vorschlagslisten ist es eben politisch und infolge­
dessen auch dem okratisch gedacht, Fragestellung und Vorschlagslisten von
der R egierung ausgehen zu lassen und nicht anonym en C liquen und In te r­
essentengruppen anheim zugeben, die sie in tiefstem Geheimnis fabrizieren
und aus einem undurchsichtigen und unverantw ortlichen D unkel heraus
einer teils parteim äßig organisierten, teils hilflos schwankenden Masse von
geheim abstim m enden Einzelnen unterbreiten. Wie die Dinge heute liegen,
ist in keinem Land der Kam pf um den Staat und das Politische ein Kampf
gegen eine echte D em okratie, aber ebenso notwendig ist er ein Kampf
gegen die M ethoden, m it denen das liberale B ürgertum des 19. Ja h r­
hunderts den dam aligen, heute längst erledigten monarchischen Staat
geschwächt und gestürzt hat.
Es ist sehr auffällig, daß zwei Staaten wie das bolschewistische Rußland
und das faschistische Italien die einzigen sind, die den Versuch gemacht
haben, mit dem überlieferten Verfassungsklischee des 19. Jahrhunderts zu
brechen und die großen V eränderungen in der wirtschaftlichen und sozialen
S truktu r des Landes auch in der staatlichen O rganisation und in einer
geschriebenen Verfassung zum Ausdruck zu bringen. D ie großen und
führenden Industriestaaten (zu denen Italien im m erhin noch nicht gehört)
halten m erkw ürdigerw eise trotz aller Ä nderungen ih re r sozialen und
112 W esen u nd W erden des faschistischen S taates

wirtschaftlichen S tru k tu r an dem ü berlieferten Verfassungsschema von


1789 und 1848 fest. Auch die W eim arer V erfassung von 1919 entspricht im
wesentlichen dem alten T ypus und könnte, w ie R athenau richtig gesagt
hat, von 1848 sein. Dagegen sind in dieser Hinsicht, das heißt fü r die staats­
organisatorische A nerkennung der neuen w irtschaftlichen und sozialen
Problem e, die bolschewistische und die faschistische V erfassung überaus
m odern und eigentliche „W irtschafts-V erfassungen“. Ich e rk lä re m ir das vor­
läufig folgenderm aßen: G erade nicht intensiv in d u strialisierte L änder wie
R ußland und Italien können sich heute eine „W irtschafts-V erfassung“
geben. In hochentwickelten Industriestaaten dagegen ist die innerpolitische
Lage ganz beherrscht von dem Phänom en der „sozialen Gleichgewichts­
stru k tu r“ zwischen K apital und A rbeit, A rbeitgeber und A rbeitnehm er.
Dieses Phänom en, wohl von O tto B auer zuerst erk a n n t und benannt,
ist dann von O. K irchheim er in einem interessanten A ufsatz in der Zeit­
schrift für P olitik (Bd. 17, 1928, S. 596) staats- und verfassungstheoretisch
behandelt worden. W enn es heute zum hochentw ickelten m odernen Indu­
striestaat gehört, daß A rbeitgeber und A rbeitnehm er einander mit
ungefähr gleicher sozialer Macht gegenüberstehen und jedenfalls keine
dieser G ruppen ohne einen furchtbaren B ürgerkrieg der anderen eine
radikale Entscheidung auf drängen kann, so sind auf legalem W ege soziale
Entscheidungen und fundam entale V erfassungsänderungen nicht möglich,
und alles, was es an Staat und R egierung gibt, ist dann m ehr oder weniger
eben n u r der n eutrale (und nicht der höhere, aus eigener K raft und
A utorität entscheidende) D ritte. Eine Suprem atie des Staates gegenüber
der W irtschaft ist nur m it H ilfe einer geschlossenen, ordensm äßigen O rgani­
sation durchführbar. Sowohl der Faschismus als auch der kommunistische
Bolschewismus bedarf zu seiner Ü berlegenheit über die W irtschaft eines
solchen „A pparates“. D ie soziologischen B enennungen, die H e rr von
Beckerath hier gebraucht (S. 141), sind term inologisch nicht k lar, weil sie
P artei, O rden und K aste nicht scharf genug trennen. Doch ist es für eine
staatstheoretische B etrachtung wesentlich, auch im sprachlichen Ausdruck
zu unterscheiden. W ie soll der Staat der höhere und m ächtigere D ritte sein,
w enn er nicht eine starke, festform ierte, in sich geschlossene und daher
nicht wie die P artei auf fre ier W erbung beruhende, hierarchische O rgani­
sation zur V erfügung hat? D er ungeheuren neuen A ufgabe ist nur eine
solche neue O rganisation gewachsen. Es gehört zum Schicksal Deutschlands,
daß es bereits vor hun d ert Jah ren eine großartige philosophische Theorie
vom Staat als dem höheren D ritte n p roduziert hat, die von Hegel über
Lorenz von Stein zu den großen N ationalökonom en (wie Schmoller und
Knapp) geht, die dann einer ziemlich rohen Verflachung anheim fiel und
leicht als L ehre vom O brigkeitsstaat verschrien w erden konnte, weil ihr in
der soziologischen W irklichkeit keine neue, m it soziologischem Bewußtsein
der neuen Situation geschaffene O rganisation entsprach, sondern n u r ein
gut diszipliniertes und technisiertes Beam tentum in V erbindung m it einer
traclitionalistisch v erh ärteten , national v e rw irren d en P lu ra litä t von
W esen und W erden des faschistischen Staates 113

D ynastien, deren ideelle G rundlage der politisch lähm ende Begriff der
Legitim ität w a r1. D er Faschismus dagegen legt aus guten G ründen W ert
darauf, revolutionär zu sein.
A udi H e rr von Beckerath stellt fest, daß der faschistische stato cor­
porativo, m it seinem Versuch einer Einigung und H arm onisierung von
A rbeitgeber- und Arbeitnehm erschaft, bisher nicht gelungen ist. „Die
Spannungen lösen sich in einem Sieg der Regierung.“ D er faschistische
Staat entscheidet nicht als neutraler, sondern als höherer D ritter. Das ist
seine Suprem atie. W oher kom mt diese Energie und diese neue K raft? Aus
nationaler Begeisterung, aus der individuellen Energie Mussolinis, aus der
K riegsteilnehm erbew egung, vielleicht noch aus w eiteren G ründen — das
alles ist in Beckeraths Buch mit vorbildlicher K larheit beschrieben. A ber
die allgem eine Prognose, die er daraufhin stellt, scheint m ir in der F rage­
stellung nicht ganz den K ern der Sadie zu treffen. Die Prognose geht dahin,
daß die M ajoritätsideologie sich, m it steigender K onzentration der w irt­
schaftlichen und politischen Macht in wenigen Händen, zersetzen und daß
der au to ritä re Staat zugleich mit einer Umformung der politischen Ideo­
logie innerhalb der abendländischen Kulturgem einschaft T errain zurück­
gewinnen w erde (S. 154/155). Ich möchte die Frage, auf welche eine Prognose
zu antw orten hat, nicht so ideologisch stellen, sondern danach fragen, wem
nach menschlicher Berechnung der von Mussolini aufgebaute A pparat,
wenn er einm al ohne den jetzigen Motor w eiterlaufen soll, seinem Wesen
nach auf die D auer dienen muß, den kapitalistischen Interessen der A rbeit­
geber oder den sozialistischen Interessen der A rbeitnehm er? Ich verm ute,
daß er, und zw ar in demselben Maße, in dem er echter Staat ist, auf die
D auer den A rbeitnehm ern zugute kommt, und zw ar deshalb, weil diese
heute das Volk sind und der Staat nun einmal die politische Einheit des
Volkes ist. N ur ein schwacher Staat ist kapitalistischer D iener des P riv at­
eigentums. Jeder starke Staat — w enn er wirklich höherer D ritte r ist und
nicht einfach identisch mit den wirtschaftlich Starken — zeigt seine eigent­
liche Stärke nicht gegenüber den Schwachen, sondern gegenüber den sozial
und wirtschaftlich Starken. C asars Feinde w aren die O ptim aten, nicht das
Volk; der Staat des absoluten F ürsten m ußte sich gegen die Stände durch­
setzen, nicht gegen die B auern usw. D aher können die A rbeitgeber und
insbesondere die Industriellen einem faschistischen Staat niemals ganz
trauen, und müssen sie verm uten, daß er sich eines Tages im Ergebnis zu
einem A rbeiterstaat m it Planw irtschaft entwickeln werde. D ieser Ver­
mutung entsprechen manche A usführungen Beckeraths (zum Beispiel
S. 143), sie w erden neuerdings von Paul Scheffer in einem sehr inter­
essanten und bedeutenden Aufsatz offen ausgesprochen (Berliner Tage­
blatt Nr. 613 vom 29. D ezem ber 1928). D ann trä te — ein schönes Beispiel
1 Man kann als Deutscher nur hoffen, daß dem deutschen Volk ein weiteres
Schicksal erspart bleibe, das der junge Hegel angedeutet hat: „Es ist ein höheres
Gesetz, daß dasjenige Volk, von dem aus der Welt ein neuer universeller Anstoß
gegeben wird, selbst am Ende vor allen übrigen zugrunde geht, und sein Grundsatz,
aber es selbst nicht, bestehe“ (Schriften zur Politik, Ausgabe Lasson, S. 96).

8 1682
114 W esen und W erden des faschistischen S taates

für die List der weltgeschichtlichen Idee — der F all ein, daß, ähnlich wie
Bismarck unter dem W utgeschrei der L iberalen 1863 bis 1870 wesentliche
Teile eines echt liberalen Program m s verw irklicht hat, so Mussolini im
erbitterten Kampf gegen die offiziellen H üter des Sozialismus eine sozia­
listische A rm atur geschaffen hätte. D am it soll nicht ausgeschlossen sein, daß
möglicherweise auch einmal einige liberale Rückschläge eintreten können,
vrenn die Führung durch Mussolini aufhört. N ur w ürde ein solcher Rück­
schlag m einer Ansicht nach nichts anderes bedeuten als den Versuch, jener
immanenten, zur staatlichen Planw irtschaft führenden Konsequenz und
Richtung des heute aufgebauten faschistischen A pparates zu entgehen, und
der Versuch w äre nur möglich u nter völliger Z ertrüm m erung des ganzen
A pparates und blinder R estauration des alten Liberalism us, eine Restau­
ration, die Beckerath am Schluß seines Aufsatzes in Schmollers Jahrbuch
für unmöglich erklärt.
Endlich noch ein W ort zur Ergänzung der A usführungen über den stato
etieo und die Staatsethik des Faschismus. Man darf die faschistischen Ideen
über den Staat nicht, auch nicht im gegensätzlichen V erhältnis, an den
Maßstäben und W orten messen, die seit dem 18. Ja h rh u n d ert im europä­
ischen Bürgertum selbstverständlich geworden sind. Alle solchen Worte
gehören ja zu der A tm osphäre ideologischen Betruges, die heute von
Millionen empfunden und gehaßt w ird. Wie alle starken Bewegungen, sucht
auch der Faschismus sich von ideologischer A bstraktheit und Scheinformen
zu befreien und zum konkret E xistentiellen zu gelangen. Auch das faschi­
stische Ethos geht von jenem Gefühl des ßetrogenseins aus, das man seit
dem 19. j ahrhundert überall feststellen kann, das nicht n u r ein prole­
tarischer Affekt ist und das nach dem W eltkrieg in romanischen Ländern
einen stärkeren Ausdruck gefunden hat als in D eutschland1. D er faschi­
stische Staat will mit antiker Ehrlichkeit w ieder Staat sein, m it sichtbaren
M achtträgern und R epräsentanten, nicht aber Fassade und Antichambre
unsichtbarer und unverantw ortlicher M achthaber und G eldgeber. Das
starke Gefühl des Zusammenhangs mit der A ntike ist nicht n u r Dekoration,
was H err von Beckerath auch gewiß nicht annim mt. Man kann es aus jener
Reaktion gegen abstrakte Entpolitisierungen begreifen, in V erbindung mit
dem einfachen geschichtlichen Faktum , daß der große Staat des europä­
ischen Kontinents im eigentlichen Sinn imm er ein klassisches Gebilde w ar
und in der T radition klassischen D enkens bleiben muß. Das gilt für die
mit der Renaissance und dem Barock entstehenden Staaten und für die
großen Zeiten des französischen wie des preußischen Staates; es gilt auch
für die letzte große Staatsphilosophie Hegels, deren W urzel tief in die
A ntike reichen. W enn der Faschismus sich dem m arxistischen Sozialismus
überlegen fühlt, so trifft dieses U berlegenheitsgefühl vor allem den sozia­
listischen Menschheitsbegriff und seinen ideologisch-abstrakt-gespenstischen
Monismus, ein echt liberales Erbstück, das der proletarische Sozialismus
1 So in den furchtbaren Worten von G. Bernanos, die F. Lefèvre mitteilt (Docu­
ments bleus, Nr. 33, Paris 1927, S. 163/164).
D er u n b ek an n te D on oso Cortes 115

nur so lange w eiterschleppen w ird, als er nicht im Besitz der staatlichen


Macht ist, und das der Faschismus überw unden zu haben glaubt, weil er
den ko nkreten Pluralism us der Völker und Nationen, der vielen verschie­
denen Bourgeoisien und der vielen verschiedenen Proletariate, mit antiker
Sim plizität erkennt und weiß, daß das italienische Volk seine konkrete
A rt nationalen Seins nur m it einem Aufgebot politischen W illens bew ahren
kann.

14. Der unbekannte Donoso Cortes (1929)


W enn man versucht, m it wenigen Linien Donoso Cortes in die poli­
tische Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts einzureihen, kann man nur
mit einer Bitte um Entschuldigung und vielen V orbehalten beginnen. Denn
es handelt sich um einen Mann, von dem außerhalb Spaniens heute kaum
noch der Name bekannt ist und dessen Name in Spanien politische Miß­
verständnisse hervorruft, weil er in weitem Maße zum Parteisym bol wurde.
Zudem w ar Donoso in gewissem Sinne ein Konvertit, wenigstens insofern
er als lib eraler Staatsrechtslehrer begann und als theoretischer Herold
einer konservativen D ik tatu r endete, die er mit großer prophetenhafter
Geste einem liberalen Jah rh u n d ert verkündete. Alle A ntipathien, die sich
mit dem W orte D ik tatu r verbinden und die selbst den objektivsten Be­
trachter einer D ik tatu r in Verdacht bringen, müssen sich daher gegen
Donoso C ortes anhäufen, und sowohl ihn selber wie jeden, der ihm
gerecht zu w erden sucht, trifft der alte lateinische Satz: Rum or dictatoris
injucundus bonis.
Ich möchte in voller U nparteilichkeit über diesen m erkw ürdigen Mann
sprechen, soweit das im Rahm en einer kurzen E rörterung möglich und
einem N ichtspanier erlau b t ist. D abei soll nicht ein R eferat über seine
sämtlichen politischen Theorien und Meinungen, sondern nur eine E r­
klärung seines M ißerfolges versucht werden. Es w äre freilich nicht schwer,
einfach zu behaupten, daß Donoso kaum eine nennensw erte dauernde W ir­
kung gehabt habe, vielm ehr einem größeren europäischen Publikum heute
ganz unbekannt sei und auch nicht verdiene, der Vergessenheit entrissen
zu werden. A ber es w äre nicht nur zu bequem und einfach, sondern auch
töricht und ungerecht, einen zweifellos bedeutenden D enker in der Ver­
gessenheit zu lassen, in die er geraten ist. Die Vergessenheit Donosos selbst
ist in W ahrheit ein seltsames und keineswegs einfaches Phänomen. D er
politische und literarische Erfolg w ar zu seinen Lebzeiten, namentlich in
der Zeit von 1849 bis 1853, in ganz Europa außerordentlich groß. Manche
seiner Reden und seiner Schriften w irkten auf den ganzen europäischen
Kontinent geradezu faszinierend. An vielen Zeugnissen läßt sich die große
W irkung noch feststellen und belegen, fü r das protestantische Deutschland

8*
116 D er u n b ek a n n te D o n o so C ortes

insbesondere durch Ä ußerungen von Schelling, R anke und Friedrich W il­


helm IV. Alle em pfanden diesen Spanier als etw as Ungewöhnliches und
Großes. D azu kommen viele, im m er erneute Bem ühungen, seine Schriften
zu verbreiten; es sind Ü bersetzungen ins Deutsche, Französische und Ita­
lienische veranstaltet w orden; auch h at m an m ehrm als versucht, Stellen
seiner Schriften und Reden in einer A usw ahl zu sammeln. W enn m an ihn
trotzdem außerhalb Spaniens in E uropa nicht m ehr als bek an n t voraus­
setzen kann, so enthalten die verschiedenartigen G ründe, welche diesen
M ißerfolg und das Ausbleiben einer nachhaltigen W irkung erk lären, ein
interessantes Problem fü r sich.
Zunächst liegen sie im L iterarischen und Stilistischen. Viele D arlegungen
Donosos bleiben im sprachlichen und literarischen Stil frü h e rer, sta rk rhe­
torischer Jahrhunderte und bew egen sich in A ntithesen nach der A rt von
Bossuet oder de M aistre, die m an in einem rom antischen Z eitalter nicht
m ehr liebte. Das ständige Fortissim o sta rk e r W orte — schrecklich, blutig,
furchtbar, entsetzlich, gew altig — nutzt sich ab, es erm üdet und verfehlt
sein Ziel. B arbey d’A urevilly h at diese im Rhetorischen liegende Schwäche
gleich erkannt und kritisiert; Eugenio d’O rs spricht sehr treffend von dem
Barock einer Prozession gew altiger Bilder. D azu kom m t die theologi*
sierende A rt seines H auptw erkes, des Essays über K atholizism us, L ibera­
lismus und Sozialismus, der — m an d arf sagen unglücklicherweise — am
meisten verbreitet und übersetzt ist. In diesem W erk gehen die großartigen
und hinreißenden Stellen u n ter in langw ierigen theologischen D arleg u n g en
und Donoso erscheint hier als der T ypus des theologisierenden Laien, was
er w eder in seinen Reden und B riefen und noch w eniger in seinem W esen
ist. E r stellt ausführliche dogmatische E rörteru n g en an und gerät dadurch
in die gefährliche Situation, daß je d e r Berufstheologe ihn überlegen in
seine Schranken weisen kann. Das ist dem großen D iplom aten denn auch
in schlimmstem Maße w iderfahren. Ein französischer Theologe Gaduel,
der ihm in keiner Hinsicht auch n u r en tfernt gleichkommt, h a t ihm eine
Menge dogmatischer U ngenauigkeiten und Irrtü m e r nachgewiesen, und der
T heoretiker der D ik tatu r und des Dezisionismus, der gegen den letzten
und äußersten Feind, den atheistischen Sozialismus, ausgezögen w ar, sah
sich plötzlich in einem Dickicht unabsehbarer K ontroversen, die sich in
seinem eigenen Lager erhoben und den Boden u ntergruben, auf dem die
großartige A podiktizität seiner diktatorischen H altung stand. D ie Theo­
logie, die er als das einzige feste Fundam ent politischer T heorien hin­
stellte, enthielt m ehr Möglichkeiten von D isputationen und D istinktionen,
als er zugeben durfte, und die R olle des theologisierenden Laien er­
wies sich als inkom patibel m it der Rolle des T heoretikers der politischen
D iktatur.
Auch im Inhalt seines G edankenganges liegen hinreichende G ründe für
seine U npopularität und seinen M ißerfolg. D ie M enschenverachtung, die
’sich in seinen Schriften äußert, ist zu groß und tief, als daß sie, wie
bei manchen Pessim isten des 19. Jahrhunderts, romantisch interessant
D er u n b ek ann te D on oso Cortes 117

und anziehend w irken könnte. Sie ist ernst und furchtbar und scheint
namentlich in den letzten Jahren seines Lebens oft dem W ahnsinn nahe.
D er alte G oya hat kaum schlimmere und gräßlichere Szenen gemalt,
als sie bei Donoso erscheinen. F ü r ihn ist der Mensch ein widerliches,
lächerliches, von der Sünde völlig zerstörtes, dem Irrtu m anheim gefallenes
Wesen, das, wenn nicht Gott selbst es erlöst hätte, verächtlicher w äre als
das Reptil, das m ein Fuß zertritt. F ü r ihn ist die Weltgeschichte nur das
taum elnde D ahintreiben eines Schiffes, mit einer Mannschaft betrunkener
Matrosen, die gröhlen und tanzen, bis G ott das Schiff ins Meer stößt, damit
w ieder Schweigen herrscht. Das alles ist zu schrecklich, als daß es einen
A utor im 19. Ja h rh u n d ert angenehm und populär machen könnte; es w ird
außerdem nicht etw a als okkasionelle, romantisch-pessimistische Im pres­
sion vorgetragen, sondern als Dogma und System. Auch die politischen
Ansichten, die in den Briefen mit unbefangener Lebendigkeit ausgesprochen
werden, erscheinen im Essay in einen systematischen Rahm en gesperrt
und lassen ihren U rheber als einen System politiker und einen politischen
D oktrin är erscheinen, der an sich schon etwas Unsympathisches hat und
nun erst recht, w enn er m it solchem vernichtenden Pessimismus und solcher
Menschenverachtung au ftritt. D enn eine D ik tatu r ertragen die Menschen
des 19. Jahrhunderts nu r dann, w enn sie im Namen eines hum anitären
Optimismus au ftritt, so, wie sie den K rieg nu r als K rieg gegen den Krieg
und die Sklaverei n u r im Namen der F reiheit zulassen.
Aus dem eigenartigen Eindruck, den eine solche Verbindung von katho­
lischer Theologie und politischem System auf einen Protestanten hervor-
rufen muß, e rk lä re ich m ir auch Bismarcks starken Affekt gegen Donoso,
wie er an einer Stelle der „G edanken und E rinnerungen“ plötzlich hervor­
bricht. Bismarck hielt es für möglich, daß Österreich und Frankreich nach
dem K riege von 1870 auf dem gemeinsamen Boden des Katholizismus ein­
ander näherkom m en und auch B ayern in ihre Kom bination hineinziehen
w ürden. E r fürchtete ein katholisches System der Außenpolitik. In der
Politik der K aiserin Eugenie scheint das wirklich ein starkes Motiv gewesen
zu sein und dort zu phantastischen P länen geführt zu haben, die auf eine
Vereinigung alle r katholischen Mächte — Frankreich, Österreich, Bayern,
die R heinlande, Spanien, sogar L ateinam erika — gerichtet waren. D er
bloße G edanke an die Möglichkeit eines gewaltigen katholischen Kom­
plexes von großer außenpolitischer K raft m ußte für Bismarck aufregend
und beunruhigend sein. M einer Auffassung nach liegt in solchen Befürch­
tungen eine sehr wichtige, wenn auch noch nicht genügend beachtete W urzel
des deutschen K ulturkam pfes, denn Bismarck hat aus den Revolutions­
jah ren von 1848/49 von Donoso gewußt, er kannte als konservativer Preuße
den B erliner F reund Donosos, den russischen Gesandten von Meyendorff,
er kannte die K aiserin Eugenie und die H intergründe des Planes, Mexiko
unter einem habsburgischen Erzherzog zu einem K aisertum zu machen;
er w ußte insbesondere, wie tief alle diese P olitiker davon überzeugt w aren,
daß das protestantische und das katholische Deutschland zwei verschiedene
118 D er u n b ek an n te D o n o so C ortes

Staaten bilden müßten. H ier konnte Bismarcks Besorgnis einen gef ähr licken
außenpolitischen Feind der nationalen Einheit Deutschlands erblicken, wie
um gekehrt die Idee der nationalen E inheit Deutschlands in den Augen
Donosos und seiner Freunde ein gefährlicher und unnatürlicher, für
Deutschland und Europa unerträglicher Irrtu m w ar.
Seine theoretischen Ansichten m ußten dem spanischen K atholiken also
von vielen Seiten her Abneigung und M ißtrauen einbringen. Es nützte
ihm nichts, sondern w ar nu r ein w eiterer G run d seines Mißerfolges, daß
er als praktischer Politiker ein ausgezeichneter, k la re r und praktischer
Diplomat w ar und keineswegs ein apokalyptischer Schwärmer oder Phan­
tast. Vergleicht man seine politische Theorie mit seiner diplomatischen
Praxis, so ergibt sich eine kaum kom patible V erbindung eines eschato-
logischen Propheten mit einem zielbew ußten D iplom aten von Fach. Eugenio
d’O rs hat dafür eine unübertreffliche Form el geprägt: calido retorico, frio
politico. Theorie und P raxis m ußten sich in einer solchen Situation gegen­
seitig desavouieren. Die mit ungeheurer Wucht aufgestellten ideologischen
Thesen forderten ununterbrochen den Vergleich m it bekannten, leicht zu
durchschauenden Tatsachen heraus. Es ist nicht schwer, das heute zu wissen,
und allzu wohlfeil, sich daraufhin überlegen zu fühlen. W as seinen Kampf
gegen den atheistischen Sozialismus angeht, so w endet sich Donoso aus­
schließlich gegen Proudhon. D ieser anarchistische Sozialist w ar fü r ihn ein
Teufel und A bgesandter der Hölle. H eute sehen w ir, daß der Kam pf gegen
Proudhon mit falscher Front geführt w urde, und als der eigentliche F ü h rer
und H äresiarch des atheistischen Sozialismus erscheint heute K arl Marx.
E r ist der eigentliche K leriker des ökonomischen D enkens, w ährend
Proudhon eher als ein M oralist erscheint, der ganz in der lateinischen
T radition steht und dessen geistige Energie aus einer moralischen
Em pörung über die kapitalistische Zerstörung der Fam ilie entspringt.
G erade von Proudhon geht die stärkste und intensivste K ritik des P arla­
m entarism us und Liberalism us aus; von ihm fü h rt eine Linie über Georges
Sorel zum Faschismus, zum stato corporativo und zum Sow jetsystem , den
eigentlichen Gegnern des heutigen Parlam entarism us. A ber in den ersten
Jahren nach 1848 stand Proudhon im M ittelpunkt aller theoretischen E r­
örterungen über Sozialismus, und K arl M arx w ar in Frankreich außerhalb
der sozialistischen Kreise noch für lange Zeit ganz unbekannt. H eute sehen
w ir, was Donoso in seinem theologischen Kam pf gegen Proudhon nicht
bem erken konnte, daß er in gewissem Sinne gegen einen V erbündeten
und sogar Verwandten polem isierte, der mit ihm die Kom bination von
Liberalism us und D em okratie bekäm pfte, und zw ar aus einer moralischen
Strenge heraus, die ihm m it Recht den Nam en eines „Römers** ein­
gebracht hat.
Aber stärker und auffälliger als diese leicht erklärliche falsche F ro n t
ist der innere W iderspruch in der politischen Situation Donosos. Seine
große theoretische Bedeutung für die Geschichte der gegenrevolutionären
Theorie liegt darin, daß er die legitimistische A rgum entation aufgibt und
D er u n b ek a n n te D o n o so C ortes 119

nicht m ehr eine Staatsphilosophie der R estauration, sondern eine Theorie


der D ik ta tu r auf stellt. H ier steigert er seine A ntithetik zu einem Bild des
letzten Endkam pfes zwischen Atheism us und C hristentum , zwischen dem
ungläubigen Sozialismus und den Resten einer christlich-europäischen G e­
sellschaftsordnung. H ier w ird er in seinen Schriften apokalyptisch und
eschatologisch. A ber in der k onkreten W irklichkeit betrieb er als „frio
politico“ eine Politik, die m an unmöglich u n ter den großartigen A spekten
des Jüngsten Gerichtes sehen kann. D enn was er in W irklichkeit tat, w ar
nichts anderes als die U nterstützung des Staatsstreiches Napoleons III. Man
kann üb er die Innen- und A ußenpolitik dieses Neffen des großen Napoleon
und über den Versuch einer zäsaristischen und bonapartistischen R estau­
ration denken, w ie m an w ill; m an k ann den Staatsstreich von 1851 aus
m ancherlei G ründen billigen und für etw as sehr G utes halten, aber ihn
mit apokalyptischen Ideen ideologisch zu fundieren, ist ganz unmöglich.
Das M ißverhältnis von Pathos und R ealität ist hier allzu groß. In W irklich­
keit handelte es sich bei dem Staatsstreich Napoleons III. doch n u r um ein
typisches Staatsproblem des europäischen 19. Jahrhunderts, nämlich um
das V erhältnis von L egislative und E xekutive, um den Kam pf einer stärken
E xekutive gegen ein regierungsunfähiges Parlam ent, das w eder selbst
regieren konnte, noch zulassen w ollte, daß ein anderer regierte. N apo­
leon III., Bismarck und M ussolini haben die Frage einer regierungs­
fähigen E xekutive verschieden gelöst, jedenfalls bedurfte es dazu keiner
Eschatologie, und es k an n die echte, im m er vorhandene und notwendige
Eschatologie n u r gefährden, w enn m an sie m it derartigen politischen An­
gelegenheiten verbinden will.
Alle diese verschiedenen G ründe fü r seinen M ißerfolg lassen leicht den
Eindruck entstehen, als w äre Donoso selbst w iderlegt und die Vergessen­
heit, in die er geraten ist, gerechtfertigt. Das ist nicht der Fall. Eine falsche
Apologie w äre freilich aussichtslos, und es hätte keinen W ert, m it pole­
mischer Überschätzung auf die H erabsetzung und M ißachtung des bedeuten­
den Mannes zu antw orten. Seine literarische A rt ist nun einm al in weitem
Maße veraltet, seine M ethode überholt, und seine A rgum ente sind durch
die geschichtliche Entw icklung teils relativiert, teils desavouiert. Trotzdem
bleibt so viel an genialen A perçus und Intuitionen, daß m an in ihm einen
der größten politischen D enker des 19. Jah rh u n d erts erkennen muß. Ein
Mann, der im Jah re 1848 vorausgesehen hat, daß die kom mende sozia­
listische R evolution nicht in London, sondern in P etersburg ausbrechen
werde, der schon 1848 in der V erbindung von Sozialismus und Slaw entum
das eigentlich entscheidende Ereignis der kom m enden G eneration erblickte,
ist ein politischer D enker von seltener Fähigkeit, in kom binierender Kon­
struktion die ideellen M otive der Menschen in ih re r letzten politischen Kon­
sequenz zu erkennen, und er verdient auch dann gehört zu w erden, wenn
er sich m it einem unm odern gew ordenen Stil ins Theologische verliert. Dazu
kommt, daß er in der Geschichte der K ritik des m odernen P arlam entaris­
mus alle entscheidenden G esichtspunkte endgültig form uliert hat. E r hat
120 Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen

insbesondere die Problem atik der bürgerlichen Diskussion in ihrem letzten


K ern erkannt, indem er die Bourgeoisie als eine „diskutierende Klasse”
definiert und dem Versuch, einen Staat auf Diskussion aufzubauen, mit
großer K raft den Gedanken der Dezision entgegenstellt. Das bleibt eine
große theoretische und politische Leistung. Er hat darüber hinaus noch die
einzigartige Bedeutung, daß er in einer Zeit relativierender Auflösung der
politischen Begriffe und Gegensätze und in einer A tm osphäre ideologischen
Betruges den Zentralbegriff jed er großen Politik erkennt und durch alle
trügerischen und betrügerischen Verschleierungen hindurch festhält und
hinter den tagespolitischen die große geschichtliche und wesentliche U nter­
scheidung von Freund und Feind zu bestimm en sucht. E r h at das ganz aus
seiner Existenz heraus als spanischer K atholik getan, unter dem erschüttern­
den Eindruck des kapitalistisch w erdenden Europa, ohne jede persönliche
Herrschsucht und G rausam keit und, im Gegenteil, m it der ganzen un­
b erührten H um anität seines Wesens, die ihn als Menschen so liebenswert
macht. D ieser Philosoph einer radikalen D ik tatu r hat von sich selbst gesagt,
daß er nicht die H ärte habe, um ein D ik tato r sein zu können — ein Zeugnis
nicht gegen, sondern für seine Theorie, denn es beweist, daß seine Ideen
von Kampf und Entscheidung aus der Betrachtung der politischen Dinge
und der politischen Situation und nicht aus der p rivaten Bosheit eines
menschenfeindlichen Gemüts entstanden. In seinem privaten W esen hat
Donoso etwas im besten Sinne Liberales, ist er sogar besser und wesen-
hafter liberal als seine hum anitär m oralisierenden Gegner, und die eigent­
liche Heim at aller liberalen Q u alitäten ist doch die Sphäre des Individuell-
Persönlichen, nicht die staatlicher und politischer Ideen. Es w äre wohl an
der Zeit, diesen ungewöhnlichen und sympathischen Menschen als be­
deutende F igur der europäischen Geistesgeschichte in ih re r Reinheit und
Größe zu erkennen und sich nicht m ehr an die M ängel und Unzulänglich­
keiten seiner D em onstrationen zu halten, sondern an das seltene Phänomen
einer in säkularen H orizonten stehenden politischen Intuition.

15. Das Zeitalter


der Neutralisierungen und Entpolitisierungen (1929)
R e d e g e h a lte n a u f d e r T a g u n g d e s E u ro p ä isc h e n K u ltu rb u n d e s
in B a rc e lo n a am 12. O k to b e r 1929

W ir in M itteleuropa leben so u s l'œ il des R u s s e s . Seit einem Ja h r­


hundert h at ihr psychologischer Blick unsere großen W orte und unsere
Institutionen durchschaut; ihre V italität ist stark genug, sich unserer E r­
kenntnisse und Technik als Waffen zu bemächtigen; ihr Mut zum Ratio-
D a s Zeitalter der N eu tralisierun gen u nd E ntpolitisierun gen 121

nalismus und zum Gegenteil, ihre K raft zur O rthodoxie im G uten und
im Bösen sind überw ältigend. Sie haben die Verbindung von Sozialismus
und Slawentum realisiert, die Donoso Cortes schon im Jahre 1848 als das
entscheidende Ereignis des kommenden Jahrhunderts prophezeit hat.
Das ist unsere Lage. Man w ird kein nennensw ertes W ort über K ultur
und Geschichte sprechen können, ohne sich der eigenen k u ltu rellen und
geschichtlichen Situation bew ußt zu sein. D aß alle geschichtliche E rkenntnis
G egenw artserkenntnis ist, daß sie von der G egenw art ihr Licht und ihre
Intensität erhält und im tiefsten Sinne n u r der G egenw art dient, weil aller
Geist n u r gegenw ärtiger Geist ist, haben uns seit Hegel viele, am besten
Benedetto Croce, gesagt. An zahlreichen berühm ten H istorikern der letz­
ten G eneration haben w ir die einfache W ahrheit noch vor Augen, und es
gibt heute niem anden m ehr, der sich durch M aterialhaufen darüber täuschen
ließe, wie sehr alle geschichtliche D arstellung und K onstruktion von naiven
P rojektionen und Identifikationen erfüllt ist. Das erste also w äre Bew ußt­
sein der eigenen gegenw ärtigen Situation. D aran sollte mit jen er Be­
m erkung über die Russen erinnert w erden. Eine bew ußte Vergegen­
w ärtigung ist heute schwierig, aber auch um so notwendiger. Alle Zeichen
deuten darauf, daß w ir in E uropa 1929 noch in einer Periode der Erm üdung
und der Restaurationsversuche lebten, wie es nach großen K riegen gewöhn­
lich und begreiflich ist. F ast eine ganze G eneration der europäischen
Menschheit w ar im 19. Jahrhundert, nach dem zw anzigjährigen Koalitions­
krieg gegen Frankreich, seit 1815 in einer derartigen Geistesverfassung,
die sich auf die Form el reduzieren läßt: Legitim ität des status quo. Alle
Argum ente einer solchen Zeit enthalten in W irklichkeit w eniger die
W iederbelebung vergangener oder vergehender Dinge als ein k ram pf­
haftes, außen- und innenpolitisches: status quo, was sonst? W ährenddessen
dient die Ruhe der Restaurationsstim m ung einer rapiden und ungestörten
Entwicklung neuer Dinge und neuer Verhältnisse, deren Sinn und Richtung
durch die restaurierten Fassaden verdeckt sind. Ist dann der Augenblick
gekommen, so verschwindet der legitimistische V ordergrund wie ein leeres
Phantom.
Die Russen haben das europäische 19. Jah rhundert beim W ort ge­
nommen, in seinem K ern erkannt und aus seinen kulturellen Präm issen die
letzten Konsequenzen gezogen. Man lebt immer unter dem Blick des rad i­
kaleren Bruders, der einen zwingt, die praktische Konklusion zu Ende zu
führen. Ganz unabhängig von außen- und innenpolitischen Prognosen läßt
sich eines bestimm t sagen: daß auf russischem Boden m it der A ntireligion
der Technizität E rnst gemacht w urde und daß hier ein Staat entsteht, der
mehr und intensiver staatlich ist als jem als ein Staat des absolutesten
Fürsten, Philipps II., Ludwigs XIV. oder Friedrichs des Großen. Das alles
ist als Situation nu r aus der europäischen Entwicklung der letzten Ja h r­
hunderte zu verstehen; es vollendet und übertrum pft spezifisch europäische
Ideen und zeigt in einer enorm en Steigerung den K ern der m odernen
Geschichte Europas.
122 D as Zeitalter der N eu tra lisieru n g en u nd E n tp o litisieru n g en

Die Stufenfolge der wechselnden Zentralgebiete


Erinnern wir uns der Stufen, in denen sich der europäische Geist der
letzten vier Jahrhunderte bewegt hat, und der verschiedenen geistigen
Sphären, in denen er das Zentrum seines menschlichen Daseins fand. Es
sind vier große, einfache, säkulare Schritte. Sie entsprechen den vier Jahr­
hunderten und gehen vom Theologischen zum Metaphysischen, von dort
zum Humanitär-Moralischen und schließlich zum ökonomischen. Größe-
Deuter der Menschheitsgeschichte, Yico und Comte, haben diesen ein­
maligen europäischen Vorgang zu einem allgemeinen Gesetz der mensch­
lichen Entwicklung generalisiert, und in tausend Banalisierungen und
Vulgarisierungen ist dann das berühmte „Drei-Stadien-Gesetz“ — vom
Theologischen zum Metaphysischen, von dort zum „Wissenschaftlichen“
oder „Positivismus“ — propagiert worden. In Wahrheit kann man posi­
tiverweise nicht mehr sagen, als daß die europäische Menschheit seit dem
16 . Jahrhundert mehrere Schritte von einem Zentralgebiet zu einem andern
getan hat und daß alles, was den Inhalt unserer Kulturentwicklung aus­
macht, unter der Nachwirkung solcher Schritte steht. In den vergangenen
vier Jahrhunderten europäischer Geschichte hatte das geistige Leben vier
verschiedene Zentren, und das Denken der aktiven Elite, die den jeweili­
gen Vortrupp bildete, bewegte sich in den verschiedenen Jahrhunderten
um verschiedene Mittelpunkte.
N ur von diesen stets sich verlagernden Z entren aus sind die Begriffe
der verschiedenen G enerationen zu verstehen. D ie V erlagerung — vom
Theologischen ins M etaphysische, von dort ins H um anitär-M oralische und
schließlich zum ökonom ischen — ist, um es nachdrücklich zu w iederholen,
h ier n i c h t als ein geschichtsphilosophisches G e s e t z im Sinne des Drei-
Stadien-Gesetzes oder ähnlicher K onstruktionen gemeint. Ich spreche nicht
von der K ultur der Menschheit im ganzen, nicht vom R hythm us der W elt­
geschichte und verm ag w eder von C hinesen noch von Indern oder Ä gyp­
te rn etw as zu sagen. Die Stufenfolge der wechselnden Z entralgebiete ist
auch w eder als eine fortlaufende Linie eines Fortschritts nach oben, noch
als das G egenteil gedacht, und ob m an h ier einen Stufengang von oben
nach unten oder von unten nach oben, einen A ufstieg oder einen V erfall
annehm en will, ist eine F rage fü r sich. Endlich w äre es auch ein Miß­
verständnis, die Stufenfolge so auszulegen, als h ä tte es in jedem dieser
Jah rh u n d erte nichts anderes gegeben als gerade das Zentralgebiet. Viel­
m ehr besteht imm er ein pluralistisches N ebeneinander verschiedener
bereits durchlaufener Stufen; Menschen der gleichen Zeit und des gleichen
Landes, ja derselben Fam ilie leben nebeneinander auf verschiedenen
Stufen, und das heutige B erlin zum Beispiel liegt in der k u ltu re llen L uft­
linie näher bei N euyork und bei M oskau als bei München oder T rier. Die
wechselnden Z entralgebiete betreffen also n u r das k o n k rete Faktum , daß
in diesen vier Jah rh u n d erten europäischer Geschichte die führenden E liten
wechselten, daß die Evidenz ih re r Ü berzeugungen und A rgum ente sich
D a s Zeitalter der N eu tralisierun gen und E ntpolitisierun gen 123

fortw äh rend änderte, ebenso wie der Inhalt ih rer geistigen Interessen, das
Prinzip ihres Handelns, das Geheimnis ih re r politischen Erfolge und der
B ereitw illigkeit großer Massen, sich von bestim m ten Suggestionen beein­
drucken zu lassen.
K lar und besonders deutlich als einm alige geschichtliche W endung ist
der Ü bergang von der Theologie des 16. zum Metaphysischen des 17. Jah r­
hunderts, zu je n e r nicht n u r metaphysisch, sondern auch wissenschaftlich
größten Zeit Europas, dem eigentlichen H eroenzeitalter des okzidentalen
Rationalism us. Diese Epoche systematisch wissenschaftlichen Denkens um­
faßt gleichzeitig Suarez und Bacon, Galilei, K epler, Descartes, Grotius,
Hobbes, Spinoza, Pascal, Leibniz und Newton. Alle die erstaunlichen m athe­
matischen, astronomischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse dieser
Zeit w aren eingebaut in ein großes metaphysisches oder „natürliches“
System, alle D enker w aren M etaphysiker großen Stils, und selbst der
charakteristische A berglaube der Zeit w ar kosmisch-rationalistisch in der
Form der Astrologie. Das folgende 18. Jah rh u n d ert schob, mit H ilfe der
K onstruktionen einer deistischen Philosophie, die M etaphysik beiseite und
w ar eine V ulgarisation großen Stils, A ufklärung, schriftstellerische An­
eignung der großen Ereignisse des 17. Jahrhunderts, Hum anisierung und
R ationalisierung. Es läßt sich im einzelnen verfolgen, wie Suarez in zahl­
losen populären Schriften w eiter w irkt; für manche fundam entalen Begriffe
der M oral und der Staatstheorie ist Pufendorff nur ein Epigone von Suarez,
und schließlich der c o n tr a t social Rousseaus w ieder n u r eine V ulgarisation
Pufendorffs. A ber das spezifische Pathos des 18. Jahrhunderts ist das der
„Tugend“, und ih r mythisches W ort ist „vertu“. Auch der Romantizismus
von Rousseau sprengt noch nicht bew ußt den Rahm en der moralischen
Kategorien. Ein kennzeichnender Ausdruck dieses Jahrhunderts ist der
Gottesbegriff Kants, in dessen System Gott, wie man es etw as grob gesagt
hat, n u r noch als ein „Parasit der E th ik “ erscheint; jedes W ort in der W ort­
verbindung „K ritik der reinen V ernunft“ — K ritik, rein und V ernunft —
richtet sich polemisch gegen Dogma, M etaphysik und Ontologismus.
D ann folgt m it dem 19. Jah rh u n d ert ein Säkulum scheinbar hybrider
und unmöglicher V erbindung von ästhetisch-romantischen und ökonomisch­
technischen Tendenzen. In W irklichkeit bedeutet die Rom antik des 19. Ja h r­
hunderts — w enn w ir das ein wenig dadaistische W ort Rom antik nicht in
romantischer W eise zum V ehikel der V erw irrungen machen wollen — nur
die Zwischenstufe des Ä sthetischen zwischen dem Moralismus, des 18. und
dem Ökonom ism us des 19. Jahrhunderts, n u r einen Übergang, der v er­
m ittels der Ä sthetisierung aller geistigen G ebiete bew irkt w urde, und zwar
sehr leicht und erfolgreich. D enn der W eg vom M etaphysischen und Mora­
lischen zum ökonom ischen geht über das Ästhetische, und der Weg über
den noch so sublim en ästhetischen Konsum und Genuß ist der sicherste und
bequem ste W eg zur allgem einen Ö konom isierung des geistigen Lebens und
zu einer G eistesverfassung, die in P roduktion und Konsum die zentralen
K ategorien menschlicher Existenz findet. In der geistigen W eiterentw ick-
124 Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen

lung dient der romantische Ästhetizism us dem ökonom ischen und ist er
ein typisches Begleitphänomen. D as Technische aber erscheint im 19. Jahr­
hundert noch in engster V erbindung m it dem ökonom ischen, als „Indu­
strialism us“. H ierfür ist die bekannte Geschichte- und Gesellschafts­
konstruktion des m arxistischen Systems das kennzeichnende Beispiel. Sie
h ält das ökonom ische für Basis und Fundam ent, fü r den „U nterbau“ alles
Geistigen. Im K ern des ökonom ischen sieht sie freilich schon das Tech­
nische, und die wirtschaftlichen Epochen der Menschheit bestimm t sie nach
dem spezifischen technischen Mittel. Trotzdem ist das System als solches
ein ökonomisches System, und die technizistischen Elem ente treten erst in
späteren Vulgarisierungen hervor. Im ganzen w ill der M arxismus ökono­
misch denken, und damit bleibt er im 19. Jahrhundert, das wesentlich öko­
nomisch ist.
A llerdings w ird schon im 19. Jah rh u n d ert der technische Fortschritt
so erstaunlich und ändern sich infolgedessen die sozialen und wirtschaft­
lichen Situationen so schnell, daß alle moralischen, politischen, sozialen und
ökonomischen Problem e von der R apidität dieser technischen Entwicklung
ergriffen werden. U nter der ungeheuren Suggestion imm er neuer, über­
raschender Erfindungen und Leistungen entsteht eine Religion des tech­
nischen Fortschritts, für welche alle anderen Problem e sich eben durch den
technischen Fortschritt von selber lösen. D en großen Massen industriali­
sierter Länder w ar dieser G laube evident und selbstverständlich. Sie über­
springen alle Zwischenstufen, die für das D enken der führenden Eliten
charakteristisch sind, und bei ihnen w ird aus der Religion des W under­
und Jenseitsglaubens ohne M ittelglied gleich eine Religion der technischen
W under, menschlicher Leistungen und N aturbeherrschung. Eine magische
Religiosität geht in eine ebenso magische Technizität über. So erscheint das
20. Jah rh u n d ert bei seinem Beginn als das Z eitalter nicht n u r der Technik,
sondern auch eines religiösen G laubens an die Technik. Als Zeitalter der
Technik ist es oft bezeichnet w orden, aber die G esam tsituation ist damit
n u r vorläufig gekennzeichnet, und die F rage nach der Bedeutung der über­
w ältigenden Technizität soll zunächst offen bleiben. D enn in W ahrheit ist
der G laube an die Technik n u r das Ergebnis einer bestim m ten Richtung, in
welcher sich die V erlagerung der Zentralgebiete bewegt, und als Glaube
aus der Folgerichtigkeit der V erlagerungen entstanden.
Alle Begriffe der geistigen Sphäre, einschließlich des Begriffes Geist,
sind in sich pluralistisch und n u r aus der konkreten politischen Existenz
heraus zu verstehen. Wie jede N ation einen eigenen Begriff von Nation
h a t und die konstituierenden M erkm ale der N ationalität bei sich selber
und nicht bei den andern findet, so hat jede K ultur und jede K ultur­
epoche ihren eigenen Begriff von K ultur. Alle wesentlichen Vorstellungen
der geistigen Sphäre des Menschen sind existentiell und nicht normativ.
W enn das Zentrum des geistigen Lebens sich in den letzten vier Ja h r­
hunderten fortw ährend verlagert, so ändern sich infolgedessen auch fort­
w ährend alle Begriffe und W orte, und es ist notwendig, sich der Mehr-
Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen 125

deutigk eit jedes W ortes und Begriffes zu erinnern. Die m eisten und
gröbsten M ißverständnisse (von denen allerdings viele B etrüger leben)
e rk lä re n sieb aus der falschen Ü bertragung eines auf einem bestimm ten
G ebiet — etw a n u r im M etaphysischen oder n u r Moralischen oder n u r im
ökonom ischen — beheim ateten Begriffs auf die anderen, übrigen Gebiete
des geistigen Lebens. Es ist nicht n u r so, daß die Vorgänge und Ereignisse,
welche auf die Menschen innerlich Eindruck machen und zum Gegenstand
ihres N achdenkens und ih re r G espräche w erden, sich stets nach dem
Z entralgebiet richten — das E rdbeben von Lissabon zum Beispiel konnte
im 18 . J a h rh u n d e rt eine ganze F lu t m oralisierender L ite ratu r hervorrufen,
w äh re n d heute ein ähnliches Ereignis ohne tiefere intellektuelle Nach­
w irk u n g bleibt, dagegen eine K atastrophe in der ökonomischen Sphäre,
ein g ro ß er K urssturz oder Zusammenbruch, nicht n u r das praktische, son­
d ern auch das theoretische Interesse breitester Schichten intensiv beschäf­
tigt. Auch die spezifischen Begriffe der einzelnen Jah rh u n d erte erhalten
ih ren charakteristischen Sinn von dem jew eiligen Zentralgebiet des Ja h r­
hunderts. Ich d a rf das an einem Beispiel deutlich machen. D ie Vorstellung
eines F o r t s c h r i t t s zum Beispiel, einer Besserung und Vervollkomm­
nung, m odern gesprochen einer R ationalisierung, w urde im 18 . Jah rh u n d ert
herrschend, und zw ar in einer Zeit hum anitär-m oralischen Glaubens. F o rt­
schritt b ed eu tete infolgedessen vor allem Fortschritt in der A ufklärung,
F ortschritt in B ildung, Selbstbeherrschung und Erziehung, m o r a l i s c h e
V ervollkom m nung. In einer Zeit ökonomischen oder technischen Denkens
w ird der F ortschritt stillschweigend und selbstverständlich als ökonomi­
scher oder technischer Fortschritt gedacht, und der hum anitär-m oralische
F ortschritt erscheint, soweit er überh au p t noch interessiert, als Neben­
p ro d u k t des ökonomischen Fortschritts. Ist ein G ebiet einm al zum Z entral­
gebiet gew orden, so w erden die Problem e der anderen G ebiete von dort
aus gelöst und gelten n u r noch als Problem e zw eiten Ranges, deren Lösung
sich von selbst ergibt, w enn n u r die Problem e des Zentralgebiets gelöst
sind. So ergibt sich fü r ein theologisches Zeitalter alles von selbst, wenn
die theologischen F rag en in O rdnung gebracht sind; alles andere w ird den
Menschen dann „zugegeben w erd en “. Entsprechend für die anderen Zeit­
alter: fü r eine hum anitär-m oralischje Zeit handelt es sich nur darum , die
Menschen m oralisch zu erziehen und zu bilden, alle Problem e w erden zu
E rziehungsproblem en; fü r eine ökonomische Zeit braucht man n u r das
Problem der G ütererzeugung und G üterverteilu ng richtig zu lösen, und
alle m oralischen und sozialen F ragen machen keine Schwierigkeiten m ehr;
fü r das bloß technische D enken w ird durch neue technische Erfindungen
auch das ökonomische Problem gelöst und treten alle Fragen, einschließlich
der ökonomischen, vor dieser Aufgabe des technischen Fortschritts zurück.
Ein anderes, soziologisches Beispiel fü r den Pluralism us solcher Begriffe:
D ie typische Erscheinung des R epräsentanten der G eistigkeit und der
P ublizität, der C lerc, w ird in seiner spezifischen Besonderheit für jedes
Ja h rh u n d e rt vom Z entralgebiet aus bestim m t. Dem Theologen und Prädi-
126 D as Zeitalter der N eu tralisieru n gen u nd E n tp olitisieru n gen

kanten des 16. Jahrhunderts folgt der gelehrte System atiker des 17. Jahr­
hunderts, der in einer w ahren G elehrtenrepublik lebt und von den Massen
w eit entfernt ist; dann folgen die Schriftsteller der A ufklärung des immer
noch aristokratischen 18. Jahrhunderts. W as das 19. Jah rh u n d ert angeht,
so darf m an sich durch das Interm ezzo der romantischen Genies und die
vielen P riester einer P rivatreligion nicht b eirren lassen; der C lerc des
19. Jah rh u n d erts (das größte Beispiel ist K arl Marx) w ird zum ökonomi­
schen Sachverständigen, und die F rage ist nur, wie w eit das ökonomische
D enken überhaupt den soziologischen T yp des C lerc noch zuläßt und
N ationalökonom en und ökonomisch gebildete Syndici eine geistige F ü h rer­
schicht darstellen können. F ü r das technizistische D enken scheint ein Clerc
jedenfalls nicht m ehr möglich zu sein, w orüber unten bei der Behandlung
dieses Z eitalters der Technizität noch zu sprechen ist. Die P lu ralität des
C le rc -Typus ist aber schon nach diesen kurzen Hinw eisen deutlich genug.
W ie gesagt: alle Begriffe und V orstellungen der geistigen Sphäre: Gott,
F reiheit, Fortschritt, die anthropologischen V orstellungen von der mensch­
lichen N atur, was Öffentlichkeit ist, rational und R ationalisierung, schließ­
lich sowohl der Begriff der N atur wie der Begriff der K ultur selbst, alles
e rh ält seinen konkreten geschichtlichen Inhalt von der Lage des Zentral­
gebietes und ist n u r von dort aus zu begreifen.
Vor allem nimmt auch der S t a a t seine W irklichkeit und K raft aus
dem jew eiligen Zentralgebiet, w eil die m aßgebenden Streitthem en der
F reund-F eind-G ruppierungen sich ebenfalls nach dem m aßgebenden Sach­
gebiet bestimmen. Solange das Religiös-Theologische im Zentrum stand,
h atte der Satz cujus regio eju s religio einen politischen Sinn. Als das
Religiös-Theologische aufhörte, Z entralgebiet zu sein, verlo r auch dieser
Satz sein praktisches Interesse. E r ist inzwischen über das ku ltu relle Sta­
dium der N ation und des N ationalitätenprinzips (cujus regio ejus natio)
ins ökonom ische gew andert und besagt dann: In einem und demselben
Staat kann es nicht zwei w idersprechende W irtschaftssystem e geben; kapi­
talistische und kommunistische W irtschaftsordnung schließen einander aus.
D er Sow jetstaat hat den Satz: cujus regio ejus oeconomia in einem Umfang
verw irklicht, der beweist, daß der Zusam m enhang von kom paktem Gebiet
und kom pakter geistiger H om ogenität keinesw egs n u r fü r die Religions­
käm pfe des 16. Jahrhunderts und n u r fü r die Masse europäischer Klein-
und M ittelstaateu besteht, sondern sich imm er den wechselnden Z entral­
gebieten des geistigen Lebens und den wechselnden Dim ensionen a u ta rk er
W eltreiche anpaßt. Das W esentliche dieser Erscheinung liegt darin, daß ein
hom ogener W irtschaftsstaat dem ökonomischen D enken entspricht. Ein
d e rartig er Staat w ill ein m oderner, um die eigene Zeit- und K ulturlage
w i s s e n d e r Staat sein. E r muß den Anspruch erheben, die geschicht­
liche G esam tentw icklung richtig zu erkennen. D arau f b eru h t sein Recht,
zu herrschen. Ein Staat, der in einem ökonomischen Z eitalter darauf ver­
zichtet, die ökonomischen V erhältnisse von sich aus richtig zu erkennen
und zu leiten, muß sich gegenüber den sozialen F rag en und Entscheidungen
D a s Z eitalter der N eu tralisierun gen und Entpolitisierungen 127

für n e u tra l e rk lä re n und verzichtet dam it auf seinen Anspruch, zu


herrschen.
Es ist nun ein m erkw ürdiges Phänom en, daß der europäische liberale
Staat des 19. Jah rhunderts sich selbst als stato neutrale e agnostico hin­
stellen und seine Existenzberechtigung gerade in seiner N eutralität
erblicken konnte. Das hat verschiedene G ründe und läßt sich nicht mit
einem W ort und nicht aus einer einzigen Ursache erklären. H ier in ter­
essiert es als Symptom einer allgem einen kulturellen N eutralität über­
haupt; denn die L ehre vom neutralen Staat des 19. Jahrhunderts steht im
R ahm en einer allgem einen Tendenz zu einem geistigen Neutralism us, der
für die europäische Gesdiichte der letzten Jahrhunderte charakteristisch
ist. H ier liegt, glaube ich, die geschichtliche E rklärung für das, was man als
Z eitalter der Technik bezeichnet hat. Das bedarf noch wenigstens einer
kurzen D arlegung.

Die Stufen der Neutralisierung und Entpolitisierung


D ie oben dargelegte Stufenfolge — vom Theologischen über das Meta­
physische und das Moralische zum ökonom ischen — bedeutet gleichzeitig
eine Reihe fortschreitender N eutralisierungen der Gebiete, von welchen
das Zentrum w egverlegt w urde. F ü r die stärkste und folgenreichste aller
geistigen W endungen der europäischen Geschichte halte ich den Schritt,
den das 17. Ja h rh u n d e rt von der überlieferten christlichen Theologie zum
System einer „natürlichen“ W issenschaftlichkeit getan hat. Bis auf den
heutigen Tag ist dadurch die Richtung bestimm t worden, die alle w eitere
Entwicklung nehm en mußte. U nter dem großen Eindruck dieses Vor­
ganges stehen alle die verallgem einernden „Gesetze“ der Menschheits­
geschichte, wie Comtes D rei-Stadien-G esetz, Spencers K onstruktion der
Entwicklung vom m ilitärischen zum industriellen Zeitalter und ähnliche
geschichtsphilosophische K onstruktionen. Im K ern der erstaunlichen Wen­
dung liegt ein elem entar einfaches, für Jahrhunderte bestimmendes G rund­
motiv, nämlich das Streben nach einer neutralen Sphäre. Nach den
aussichtslosen theologischen D isputationen und Streitigkeiten des 16. Ja h r­
hunderts suchte die europäische Menschheit ein neutrales Gebiet, in
welchem der S treit aufhörte, und wo man sich verständigen, einigen und
gegenseitig überzeugen konnte. Man sah daher von den um strittenen Be­
griffen und A rgum entationen der überlieferten christlichen Theologie ab
und ko n stru ierte ein „natürliches“ System der Theologie, der M etaphysik,
der M oral und des Rechts. D er geistesgeschichtliche Vorgang ist von
D ilthey in einer mit Recht berühm ten D arlegung geschildert worden, in
der vor allem die große Bedeutung der stoischen T radition hervorgehoben
ist. Aber das W esentliche scheint m ir doch darin zu liegen, daß das bisherige
Zentralgebiet, die Theologie, verlassen w ird, weil es Streitgebiet ist, und
daß m an ein anderes neutrales Gebiet aufsucht. Das bisherige Zentral­
gebiet w ird dadurch neutralisiert, daß es aufhört, Zentralgebiet zu sein,
und auf dem Boden des neuen Zentralgebietes hofft man das Minimum an
128 D a s Z eitalter der N eu tralisieru n gen u nd E n tp olitisieru n gen

Übereinstim m ung und gemeinsam en Präm issen zu finden, das Sicherheit,


Evidenz, V erständigung und F rieden ermöglicht. D am it w ar die Richtung
zur N eutralisierung und M inim alisierung eingeschlagen und das Gesetz
akzeptiert, nach welchem die europäische Menschheit fü r die folgenden
Jah rh u n d e rte „angetreten“ ist.
D ie in vielen Jah rh u n d erten theologischen D enkens herausgearbeiteten
Begriffe w erden jetz t uninteressant und Privatsache. G ott selbst w ird in
der M etaphysik des Deismus im 18. Jah rh u n d e rt aus der W elt heraus­
gesetzt und gegenüber den K äm pfen und G egensätzen des wirklichen
Lebens zu einer n eutralen Instanz; er w ird, wie H am ann gegen K ant gesagt
hat, ein Begriff und hört auf, ein W esen zu sein. Im 19. Jah rh u n d ert w ird
erst der Monarch, dann der S taat zur n eu tralen G röße, und hier vollzieht
sich in der liberalen L ehre vom pouvoir neu tre und von dem stato neutrale
ein K apitel politischer Theologie, in welchem der Prozeß der N eutralisie­
rung seine klassischen Form eln findet, w eil e r je tz t auch das letzte, die
politische Macht, ergriffen hat. A ber es gehört zur D ialek tik einer solchen
Entwicklung, daß m an gerade durch die V erlagerung des Zentralgebietes
stets ein neues K am pfgebiet schafft. A uf dem neuen, zunächst für neutral
gehaltenen Felde entfaltet sich sofort m it neuer Intensität der Gegensatz
der Menschen und Interessen, und zw ar um so stärk er, je fester m an das
neue Sachgebiet in Besitz nimmt. Im m er w andert die europäische Mensch­
heit aus einem K am pfgebiet in n eutrales G ebiet, im m er w ird das neu
gewonnene n eu trale G ebiet sofort w ieder K am pfgebiet und w ird es not­
wendig, neue n eu trale Sphären zu suchen. Auch die Naturw issenschaft] ich-
k e it konnte den F rieden nicht herbeiführen. Aus den Religionskriegen
w urden die halb noch k u ltu re ll, halb bereits ökonomisch determ inierten
N ationalkriege des 19. Jah rh u n d erts und schließlich einfach W irtschafts­
kriege. D ie Evidenz des heute v erb reiteten G laubens an die Technik beruht
n u r darauf, daß m an glauben konnte, in der Technik den absolut und end­
gültig n eu tralen Boden gefunden zu haben. D enn scheinbar gibt es nichts
N eutraleres als die Technik. Sie dient jedem so, w ie der R undfunk für
Nachrichten aller A rt und jeden Inhalts zu gebrauchen ist, oder wie die
Post ihre Sendungen ohne Rücksicht auf den In h alt b efördert und sich aus
d er Technik des Postbetriebes kein K riterium fü r die Bew ertung und
B eurteilung der beförderten Sendung ergeben kann. G egenüber theo­
logischen, m etaphysischen, m oralischen und selbst ökonomischen Fragen,
üb er die m an ewig streiten kann, haben die rein technischen Problem e
etw as erquickend Sachliches; sie kennen einleuchtende Lösungen, und man
k an n es verstehen, daß m an sich aus der u n en tw irrb aren P roblem atik aller
anderen Sphären in die Technizität zu retten suchte. H ier scheinen alle
V ölker und N ationen, alle K lassen und Konfessionen, alle M enschenalter
und Geschlechter sich schnell einigen zu können, w eil sich alle mit gleicher
Selbstverständlichkeit der V orteile und Bequem lichkeiten des technischen
Kom forts bedienen. H ier scheint also der Boden eines allgem einen Aus­
gleichs zu sein, zu dessen P räk o n isato r sich M ax Scheler in einem V ortrag
Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen 129

des Jahres 1927 gemacht hat. A ller Streit und V erw irrung des konfessio­
nellen, nationalen und sozialen H aders w ird hier auf einem völlig neutralen
Gebiet nivelliert. Die Sphäre der Technik schien eine Sphäre des Friedens,
der Verständigung und der Versöhnung zu sein. D er sonst unerklärliche
Zusammenhang pazifistischen und technizistisehen G laubens e rk lä rt sich
aus jen e r Richtung zur N eutralisierung, zu welcher der europäische Geist
sich im 17. Jah rhundert entschlossen hat, und die er, wie unter einem
Schicksal, bis ins 20. Jahrhundert hinein w eiter verfolgte.
A ber die N eutralität der Technik ist etwas anderes als die N eutralität
aller bisherigen Gebiete. Die Technik ist immer n u r Instrum ent und Waffe,
und eben weil sie jedem dient, ist sie nicht neutral. Aus der Immanenz des
Technischen heraus ergibt sich keine einzige menschliche und geistige Ent­
scheidung, am wenigsten die zur N eutralität. Jede A rt von K ultur, jedes
Volk und jede Religion, jed er K rieg und jed er Friede kann sich der
Technik als Waffe bedienen. Daß die Instrum ente und Waffen immer
brauchbarer werden, macht die W ahrscheinlichkeit eines w irklichen G e­
brauchs nur um so größer. Ein technischer Fortschritt braucht w eder m eta­
physisch noch moralisch und nicht einm al ökonomisch ein Fortschritt zu
sein. W enn heute noch viele Menschen von der technischen Vervollkomm­
nung auch einen hum anitär-m oralischen Fortschritt erw arten, so v er­
knüpfen sie in einer ganz magischen Weise Technik und Moral und setzen
dabei außerdem in etwas naiver Weise immer nur voraus, daß man das
großartige Instrum entarium der heutigen Technik n u r in ihrem eigenen
Sinne gebrauchen werde, das heißt soziologisch, daß sie selber die H erren
dieser furchtbaren Waffen w erden und die ungeheure Macht beanspruchen
dürfen, die dam it verbunden ist. A ber die Technik selbst bleibt, wenn ich
so sagen darf, ku ltu rell blind. Aus der reinen Nichts-als-Technik läßt sich
infolgedessen keine einzige der Folgerungen ziehen, die sonst aus den
Zentralgebieten des geistigen Lebens abgeleitet w erden: w eder ein Begriff
von kulturellem Fortschritt, noch der Typus eines C lerc oder geistigen
Führers, noch eines bestimm ten politischen Systems. Die Hoffnung, daß sich
aus dem technischen Erfindertum eine sozial herrschende Schicht entwickeln
würde, ist bisher nicht in Erfüllung gegangen. Die K onstruktionen von
Saint-Simon und anderen Soziologen, die eine „industrielle“ Gesellschaft
erw arteten, sind entw eder nicht rein technizistisch, sondern teils m it
humanitär-moralischen, teils mit ökonomischen Elem enten gemischt oder
aber einfach phantastisch. Nicht einmal die ökonomische Führung und
Direktion der heutigen W irtschaft ist in den H änden der Techniker, und
bisher hat noch niem and eine von Technikern geführte Gesellschafts­
ordnung anders konstruieren können als in der Weise, daß er eine fü h re r­
und direktionslose Gesellschaft konstruierte. Auch Georges Sorel ist nicht
Ingenieur geblieben, sondern ein Clerc geworden. Aus keiner bedeutenden
technischen Erfindung läßt sich berechnen, welches ihre objektiven, poli­
tischen W irkungen sein werden. Die Erfindungen des 15. und 16. Ja h r­
hunderts w irkten freiheitlich, individualistisch und rebellisch; zur Er-
9 1682
130 Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen

findung der Buchdruckerkunst gehört die Pressefreiheit. H eute sind die


technischen Erfindungen M ittel einer ungeheuren M assenbeherrschung;
zum R undfunk gehört das Rundfunkm onopol, zum Film die Filmzensur.
D ie Entscheidung über F reiheit und Knechtschaft liegt nicht in der Technik
als Technik. Sie kann revolutionär und reaktio när sein, der F reiheit und
der U nterdrückung dienen, der Zentralisation und der Dezentralisation.
Aus ihren spezifischen Prinzipien und Gesichtspunkten ergibt sich weder
eine politische Fragestellung noch eine politische Antw ort.
D ie uns vorangehende deutsche G eneration w ar von einer K ultur­
untergangsstim m ung erfaßt, die sich schon vor dem W eltkrieg äußerte und
keineswegs auf den Zusammenbruch des Jahres 1918 und Spenglers U nter­
gang des Abendlandes zu w arten brauchte. Bei E rnst Troeltsch, Max Weber,
W alter R athenau finden sich zahlreiche Ä ußerungen einer solchen Stim­
mung. Die unw iderstehliche Macht der Technik erschien hier als Herrschaft
der Geistlosigkeit über den Geist, oder als vielleicht geistvolle, aber seelen­
lose Mechanik. An ein europäisches Jahrhundert, das über die „maladie
du siècle“ klagt und die H errschaft C alibans oder „A fter us the Savage
God“ erw artet, schließt sich eine deutsche G eneration, die über ein seelen­
loses Z eitalter der Technik klagt, in welchem die Seele hilflos und ohn­
mächtig ist. Noch in Max Schelers M etaphysik des ohnmächtigen Gottes
oder in Leopold Zieglers K onstruktion einer bloß beiläufigen, fluktuieren­
den und schließlich doch ohnmächtigen Elite dokum entiert sich die Hilf­
losigkeit, sei es der Seele oder des Geistes, vor dem Z eitalter der Technik.
Die Angst w ar berechtigt, weil sie aus einem dunklen G efühl für die
Konsequenz des nun zu Ende getriebenen N eutralisierungsprozesses ent­
sprang. D enn m it der Technik w ar die geistige N eutralität beim geistigen
Nichts angelangt. Nachdem man erst von der Religion und der Theologie,
dann von der M etaphysik und dem Staat a b strah iert hatte, schien jetzt von
allem K ulturellen überhaupt ab strah iert zu w erden und die N eutralität
des ku ltu rellen Todes erreicht. W ährend eine vulgäre M assenreligion von
der scheinbaren N eu tralität der Technik das menschliche Paradies erw ar­
tete, fühlten jen e großen Soziologen, daß die Tendenz, die alle Stufen­
folgen des m odernen europäischen Geistes beherrscht hat, nunm ehr die
K ultu r selbst bedrohte. D azu kam die Angst vor den neuen Klassen und
Massen, die auf der durch restlose Technisierung geschaffenen tabula rasa
entstanden. Aus dem A bgrund eines ku ltu rellen und sozialen Nichts w ur­
den imm er neue, der überlieferten Bildung und dem überlieferten Ge­
schmack frem de oder sogar feindliche Massen herausgew orfen. Aber die
Angst w ar doch schließlich nichts anderes als der Zweifel an der eigenen
K raft, das großartige Instrum entarium der neuen Technik in seinen Dienst
zu stellen, obwohl es n u r darauf w artet, daß m an sich seiner bedient. Auch
ist es nicht zulässig, ein Ergebnis menschlichen V erstandes und menschlicher
Disziplin, wie es jed e und insbesondere die m oderne Technik ist, einfach
als tot und seelenlos hinzustellen und die Religion der Technizität mit der
Technik selbst zu verwechseln. D er Geist der Technizität, der zu dem
Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen 131

M assenglauben eines antireligiösen Diesseits-Aktivism us geführt hat, ist


Geist, vielleicht böser und teuflischer Geist, aber nicht als mechanistisch
abzutun und nicht der Technik zuzurechnen. E r ist vielleicht etw as G rauen­
haftes, aber selber nichts Technisches und Maschinelles. E r ist die Ü ber­
zeugung einer aktivistischen M etaphysik, der G laube an eine grenzenlose
Macht und H errschaft des Menschen über die N atur, sogar über die mensch­
liche Physis, an das grenzenlose „Zurückweichen der N aturschranke“, an
grenzenlose Veränderungs- und Glücksmöglichkeiten des natürlichen dies­
seitigen Daseins der Menschen. Das kann m an phantastisch und satanisch
nennen, aber nicht einfach tot, geistlos oder m echanisierte Seelenlosigkeit.
Ebenso entsprang die Furcht vor dem k u ltu rellen und sozialen Nichts
eher einer panischen Sorge um den bedrohten status quo als einem ruhigen
W issen um die Eigenart geistiger Prozesse und ih rer D ynam ik. Alle neuen
und großen Anstöße, jede R evolution und jede Reform ation, jede neue
E lite kommt aus Askese und freiw illiger oder unfreiw illiger Arm ut, wobei
A rm ut vor allem den Verzicht auf die Sekurität des status quo bedeutet.
Das Urchristentum und alle starken Reform en innerhalb des C hristentum s,
die benediktinische, die cluniazensische und franziskanische Bewegung, das
Täufertum und das P uritanertum , aber auch jede echte W iedergeburt mit
ih re r Rückkehr zu dem einfachen Prinzip der eigenen Art, jedes echte
rito rn ar al principio, jede R ückkehr zur unversehrten, nicht korru p ten
N atur erscheint vor dem Kom fort und Behagen des bestehenden status quo
als kulturelles oder soziales Nichts. Es wächst schweigend und im D unkel,
und in seinen ersten A nfängen w ürde ein H istoriker und Soziologe w ieder­
um nur Nichts erkennen. D er Augenblick glanzvoller R epräsentation ist
auch schon der Augenblick, in welchem jen er Zusammenhang m it der
geheimen, unscheinbaren K raft gefährdet ist.
*

D er Prozeß fortw ährender N eutralisierung der verschiedenen Gebiete


des k u lturellen Lebens ist an seinem Ende angelangt, weil er bei der
Technik angelangt ist. D ie Technik ist nicht m ehr n eu traler Boden im Sinne
jenes N eutralisierungsprozesses, und jede starke P olitik w ird sich ih rer
bedienen. Es kann daher n u r ein Provisorium sein, das gegenw ärtige Ja h r­
hundert im k u ltu rellen Sinn als das technische Jahrhundert aufzufassen.
Der endgültige Sinn ergibt sich erst, w enn sich zeigt, welche A rt von Politik
stark genug ist, sich der neuen Technik zu bemächtigen, und welches die
eigentlichen Freund- und Feind-G ruppierungen sind, die auf dem neuen
Boden erwachsen. *
Große Massen industrialisierter V ölker hängen heute noch einer
dumpfen Religion der Technizität an, weil sie, wie alle Massen, die radikale
Konsequenz suchen und unbew ußt glauben, daß hier die absolute N eutrali­
tät gefunden ist, die m an seit Jahrhunderten sucht und mit welcher der
Krieg auf hört und der universale F riede beginnt. Doch die Technik kann
nichts tun, als den Frieden oder den K rieg steigern, sie ist zu beidem in
gleicher W eise bereit, und der Name und die Beschwörung des Friedens
9*
132 Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen

ändert nichts daran. W ir durchschauen heute den Nebel der Namen und
der W orte, mit denen die psycho-technische Maschinerie der Massen­
suggestion arbeitet. W ir kennen sogar das geheime Gesetz dieses Vokabu­
larism us und wissen, daß heute der schrecklichste K rieg n u r im Namen
des Friedens, die furchtbarste Sklaverei nur im Nam en der F reiheit und
die schrecklichste Unmenschlichkeit n u r im Nam en der Menschheit möglich
ist. W ir durchschauen endlich auch die Stimmung jen e r G eneration, die im
Zeitalter der Technizität nur den geistigen Tod oder seelenlose Mechanik
sah. W ir erkennen den Pluralism us des geistigen Lebens und wissen, daß
das Zentralgebiet des geistigen Daseins kein neutrales G ebiet sein kann
und daß es falsch ist, ein politisches Problem m it A ntithesen von mechanisch
und organisch, Tod und Leben zu lösen. Ein Leben, das gegenüber sich
selbst nichts m ehr sieht als den Tod, ist kein Leben m ehr, sondern Ohn­
macht und Hilflosigkeit. W er keinen anderen Feind m ehr h at als den Tod
und in seinem Feinde nichts erblickt als leere Mechanik, ist dem Tode näher
als dem Leben, und die bequeme A ntithese vom Organischen und Mecha­
nischen ist in sich selbst etw^s Roh-Mechanisches. Eine G ruppierung, die
auf der eigenen Seite nur Geist und Leben, auf der anderen nu r Tod und
Mechanik sieht, bedeutet nichts als einen Verzicht auf den Kam pf und hat
n u r den W ert einer romantischen Klage. D enn das Leben käm pft nicht mit
dem Tod und der Geist nicht m it der Geistlosigkeit. Geist käm pft gegen
Geist, Leben gegen Leben, und aus der K raft eines integren Wissens ent­
steht die O rdnung der menschlichen Dinge. A b i n t e g r o n a s c i t u r o r d o .
i6. Staatsethik und pluralistischer Staat (1930)
I.
D ie heute am meisten verbreitete und durchaus herrschende Bew ertung
des Staates w ird am besten durch die T itelüberschrift eines vielzitierten
am erikanischen Aufsatzes (von E rnest B arker aus dem Jahre 1915) gekenn­
zeichnet: „the discredited state“, der in M ißkredit geratene Staat. A udi in
sehr starken Staaten, deren außenpolitische Macht und innenpolitische
O rdnung nicht gefährdet ist, in den V ereinigten Staaten von A m erika und
in England, werden die überlieferten V orstellungen vom Staat seit dem
Kriege lebhaft k ritisiert und ist der alte Anspruch des Staates, die sou­
veräne Einheit und G anzheit zu sein, erschüttert. In Frankreich haben
syndikalistische T heoretiker schon im Jahre 1907 den Satz proklam iert:
D er Staat ist tot. H ier gibt es seit über zwanzig Jahren eine juristische
und soziologische L iteratur, die sowohl dem Staat als auch dem Gesetz
jede Überlegenheit bestreitet und beides der Gesellschaft unterordnet. Als
bedeutende und interessante Nam en seien hier von m odernen Juristen
L é o n D u g u i t und M a x i m e L e r o y genannt. In D eutschland offen­
b a rt sich die Krisis erst m it dem Zusammenbruch des Bismarckschen Reichs,
als die für unerschütterlich gehaltenen V orstellungen von Staat und Re­
gierung entfielen; h ier entsteht seit 1919 eine große K risenliteratur, für
die es genügt, an den Titel eines Buches von A l f r e d W e b e r zu
erinnern: Die Krisis des europäischen Staatsgedankens. D azu kom m t ein
umfangreiches staats- und völkerrechtstheoretisches Schrifttum, das den
Souveränitätsbegriff und m it diesem Begriff die überlieferte V orstellung
vom Staat als einer alle G ruppen überragenden Einheit zu zerstören sucht.
D ie E r s c h ü t t e r u n g d e s S t a a t e s i s t i m m e r a u c h e i n e
E r s c h ü t t e r u n g d e r S t a a t s e t h i k . D enn alle überlieferten staats­
ethischen V orstellungen teilen das Schicksal des konkreten Staates, den sie
stets voraussetzen, und geraten m it ihm in M ißkredit. W enn der „irdische
Gott“ von seinem T hrone stürzt und das Reich der objektiven V ernunft
und Sittlichkeit zu einem „magnum latrocinium “ w ird, dann schlachten die
Parteien den mächtigen L eviathan und schneiden sich aus seinem Leibe
jede ih r Stück Fleisch heraus. W as bedeutet dann noch „Staatsethik“ ? D er
Stoß trifft nicht etw a n u r die Staatsethik H e g e l s , die aus dem Staat den
T räger und Schöpfer einer eigenen E thik macht, nicht n u r die Idee des
stato etico im Sinne der faschistischen D oktrin; er trifft auch die Staats­
ethik K a n t s und des liberalen Individualism us. W enn diese auch den
Staat nicht als Subjekt und T räg er einer autonom en E thik ansieht, sondern
ihre Staatsethik vor allem darin besteht, den Staat an ethische Norm en zu
134 Staatsethik und pluralistischer Staat

binden, so geht sie doch — mit Ausnahm e einiger rad ik aler Anarchisten —
bisher imm er davon aus, daß der Staat eine oberste Instanz und der maß­
gebende Richter über das äußere „Mein und D ein“ ist, durch den der bloß
norm ative und daher richterlose N aturzustand — ein status justitia
(genauer judice) vacuus, in welchem jed e r Richter in eigener Sache ist - -
überw unden werde. O hne die V orstellung vom Staat als einer ü b e r ­
r a g e n d e n Einheit und Größe sind alle praktischen Ergebnisse Kanti-
scher Staatsethik widerspruchsvoll und hinfällig. Das gilt am deutlichsten
fü r die Lehre vom W iderstandsrecht. Trotz aller vernunftrechtlichen Rela­
tivierung des Staates hat K ant ein W iderstandsrecht gegen den Staat gerade
aus dem G edanken der E i n h e i t des Staates abgelehnt.

II.
N euere angelsächsische Theorien vom Staat (hier interessieren am
m eisten G. D. H. C o l e und H a r o l d I. L a s k i ) nennen sich selbst
„pluralistisch“. Sie wollen dam it nicht n u r den Staat als eine höchst um­
fassende Einheit, sondern vor allem auch seinen ethischen Anspruch
negieren, eine andere und höhere A rt sozialer V erbindung zu sein als
irgendeine der vielen anderen Assoziationen, in denen Menschen leben.
D er Staat w ird zu einer sozialen G ruppe oder Assoziation, die bestenfalls
n e b e n , keinesfalls über den andern Assoziationen steht. In seiner
ethischen Konsequenz fü h rt das zu dem Ergebnis, daß der einzelne Mensch
in einer M ehrheit von ungeordnet nebeneinander geltenden sozialen Ver­
pflichtungen und Loyalitätsbeziehungen lebt: in der religiösen Gemein­
schaft, in wirtschaftlichen V erbänden, wie Gew erkschaften, Konzernen
oder anderen O rganisationen, in einer politischen P artei, im Klub, in
k u ltu rellen oder geselligen Vereinen, in der Fam ilie und mancherlei
anderen sozialen G ruppen. Ü berall ist er zur L oyalität oder Treue ver­
pflichtet; überall ergibt sich eine E thik: Kirchenethik, Standesethik, G ew erk­
schaf tsethik, Fam ilienethik, V ereinsethik, Kontor- und Geschäftsethik usw.
F ü r alle diese Pflichtenkomplexe, für die „ P l u r a l i t ä t d e r L o y a l i ­
t ä t e n “, gibt es keine „Hierarchie der Pflichten“, kein unbedingt maß­
gebendes Prinzip der Uber- und U nterordnung. Insbesondere erscheint die
ethische Bindung an den Staat, die Pflicht zur T reue und Loyalität, nur als
ein F all neben vielen anderen Bindungen, neben der L oyalität gegen die
Kirche, die Gewerkschaft oder die Fam ilie; die L oyalität gegen den Staat
h at keinerlei Vorrang, und die Staatsethik ist eine Spezialethik neben
vielen anderen Spezialethiken. Ob es überhaupt noch eine soziale Total-
E thik gibt, w ird w eder bei Cole noch bei Laski k lar; der eine spricht
undeutlich von einer anscheinend allesum fassenden „society“, Laski von
der „Menschheit“.
III.
D er große Eindruck, den diese Theorie heute machen muß, erk lä rt sich
aus vielen guten Gründen, die auch philosophisch von Interesse sind. Wenn
pluralistische Sozialtheoretiker wie Cole und Laski sich vor allem an die
Staatsethik und pluralistischer Staat 135

Em pirie halten, so tu n sie das als Pragm atisten und bleiben dabei in der
Konsequenz ih re r pragm atischen Philosophie, auf* welche Laski sich aus­
drücklich b eruft. G erade er ist auch deshalb philosophisch interessant, w eil
er, w enigstens der Absicht nach und scheinbar auch im Ergebnis, das p lu ra ­
listische W eltbild der Philosophie von W illiam J a m e s auf den S taat über­
trä g t und aus der Auflösung der monistischen E inheit des U niversum s in ein
M ultiversum ein A rgum ent entnim m t, um auch die politische E inheit des
S taates pluralistisch aufzulösen. Insofern gehört seine Auffassung des Staates
in die geistesgeschichtliche Reihe der Phänom ene, die ich als „politische Theo­
logie“ bezeichnet habe. Die Ü bereinstim m ung des theologischen und m eta­
physischen W eltbildes m it dem Bild vom S taat läßt sich überall in der
Geschichte menschlichen D enkens feststellen; ihre einfachsten Beispiele
sind die ideellen Zusamm enhänge von Monarchie und Monotheismus, Kon-
stitutionalism us und Deismus. D er Zusam m enhang k an n w eder m ateria­
listisch als bloßer „ideologischer Ü berbau“, Reflex oder „Spiegelung“, noch
um gekehrt idealistisch oder spiritualistisch als „m aterieller U nterbau“ e r­
k lä rt werden.
Es kom m t als ein w eiteres, geistesgeschichtlich interessantes Moment
hinzu, daß die pluralistischen A rgum ente keineswegs absolut neu sind,
sondern sich m it alten staatsphilosophischen T heorien verbinden und in­
sofern einer großen T rad itio n angehören. D ie Sozialethik von Cole recht­
fertigt allerdings einen sehr m odernen gewerkschafts- oder einen gilden­
sozialistischen Staat, und die pluralistische Lehre von L aski verbindet sich
ebenfalls m it dem politischen Ziel und Ideal der G ew erkschaftsbew egung;
auch die französischen K ritik e r der staatlichen Souveränität haben einen
syndikalistischen Föderalism us vor Augen. Man h at daher auf den ersten
Blick den Eindruck, ganz neuen, höchst m odernen T heorien zu begegnen.
Das eigentlich Ü berraschende der theoretischen Situation liegt jedoch —
geistesgeschichtlich gesehen — darin, daß A rgum ente und Gesichtspunkte,
die sonst den Sozialphilosophen der römisch-katholischen Kirche oder
anderer K irchen oder auch religiöser Sekten dazu dienten, den Staat gegen­
über der Kirche zu relativieren, nunm ehr im Interesse eines gew erkschaft­
lichen oder syndikalistischen Sozialismus vorgebracht w erden. Eines der
L ieblingsargum ente von Laski ist der H inw eis auf Bismarcks K ulturkam pf,
in welchem das dam als so mächtige Deutsche Reich die römische Kirche nicht
besiegen konnte. Eines der wichtigsten Bücher, von denen die angelsäch­
sische pluralistische T heorie ausgeht, ist (neben G ierke und M aitland) John
Neville Figgis’ „Churches in th e m odern State“ (1913); und Laski beru ft
sich sogar auf einen Nam en, der bei uns in D eutschland durch die bekannte
Schrift von G örres zu einem Sym bol des Kam pfes der universalen Kirche
gegen den S taat gew orden ist, auf den heiligen A thanasius, und beschwört
für seinen Sozialism us der zw eiten Internationale den Schatten dieses m ili­
tantesten K irchenvaters.
Vor allem ab er entspricht die pluralistische Auffassung dem empirisch
w irklichen Zustand, w ie m an ihn heute in den m eisten industriellen Staaten
136 Staatsethik und pluralistischer Staat

beobadhten kann. Insofern ist die pluralistische T heorie sehr modern und
aktuell. D er Staat erscheint tatsächlich in w eitem Maße von den ver­
schiedenen sozialen G ruppen abhängig, bald als ein O pfer, bald als E r­
gebnis ih rer Abmachungen, ein Kom prom ißobjekt sozialer und wirtschaft­
licher Machtgruppen, ein Agglom erat heterogener Faktoren, Parteien,
Interessenverbände, Konzerne, Gewerkschaften, Kirchen usw., die sich
untereinander verständigen. Im Kompromiß der sozialen Mächte ist der
Staat geschwächt und relativiert* ja überhaupt problem atisch geworden,
weil schwer zu erkennen ist, was ihm noch an selbständiger Bedeutung
zukommt. Er scheint, wenn nicht geradezu der D iener oder das Instrum ent
einer herrschenden Klasse oder P artei, so doch ein bloßes P rodukt des
Ausgleichs m ehrerer käm pfender G ruppen geworden zu sein, bestenfalls
ein pouvoir neutre et interm édiaire, ein n eu traler V erm ittler, eine Aus­
gleichsinstanz zwischen den m iteinander käm pfenden G ruppen, eine Art
clearing office, ein Schlichter, der sich jed er au to ritären Entscheidung ent­
hält, der völlig darauf verzichtet, die sozialen, wirtschaftlichen, religiösen
Gegensätze zu beherrschen, der sie sogar ignoriert und offiziell nicht kennen
darf. E r w ird ein „agnostischer“ Staat, der s t a t o a g n o s t i c o , den die faschi­
stische K ritik verhöhnt. G egenüber einem solchen G ebilde muß die ethische
F rage der T reue und Loyalität anders beantw ortet w erden als gegenüber
einer eindeutigen, überragenden und um fassenden Einheit. Das einzelne
Individuum fühlt sich deshalb heute in vielen Staaten tatsächlich in einer
P lu ralität ethischer Bindungen und ist durch religiöse Gemeinschaften,
wirtschaftliche Verbände, k u ltu relle G ruppen und P arteien gebunden, ohne
daß es im Konfliktsfall eine anerkannte Entscheidung über die Reihenfolge
der vielen Bindungen gäbe.
Einen solchen Zustand der empirischen W irklichkeit des sozialen Lebens
darf die philosophische E rörterung nicht unbeachtet lassen. Denn bei einem
Gegenstände wie dem Staat ist der Hinweis auf den Zustand empirischer
W irklichkeit durchaus ein philosophisches und moralisches Argum ent. Der
W ert des Staates liegt für jede staatsphilosophische Betrachtung — gleich­
gültig, ob individualistischer oder kollektivistischer Richtung — doch jeden­
falls in seiner konkreten W irklichkeit, und ein nicht w irklicher Staat
kann nicht T räger oder A dressat k o n k reter staatsethischer Ansprüche,
Pflichten und G efühle sein. Ethische Beziehungen w ie T reue und Loyalität
sind in der W irklichkeit des konkreten Lebens n u r gegenüber konkret
existierenden Menschen oder Gebilden möglich, nicht gegenüber K onstruk­
tionen und Fiktionen. D eshalb ist es auch staatsphilosophisch und staats­
ethisch nicht gleichgültig, ob der frühere Anspruch des Staates, allen anderen
sozialen G ruppen im Konfliktsfall überlegen zu sein, jetzt entfällt. Auch für
eine individualistische Staatstheorie besteht die Leistung des Staates darin,
daß er die konkrete Situation bestimmt, in welcher ü b erhaupt erst m ora­
lische und rechtliche Normen gelten können. Jede Norm setzt nämlich eine
norm ale Situation voraus. Keine Norm gilt im Leeren, keine in einer (mit
Bezug auf die Norm) abnorm en Situation. W enn der Staat die „äußeren
Staatsethik und pluralistischer Staat 137

Bedingungen der Sittlichkeit“ setzt, so bedeutet das: er schafft die norm ale
Situation. N ur darum ist er (nach Locke wie nach Kant) der oberste Richter.
Bestimmt nicht m ehr der Staat, sondern die eine oder andere soziale
G ruppe von sich aus diese konkrete N orm alität der Situation des einzelnen,
die konkrete O rdnung, in welcher der einzelne lebt, so entfällt auch der
ethische Anspruch des Staates auf Treue und Loyalität.

IV.
Trotz seiner Übereinstim mung mit empirischen W ahrnehm ungen und
trotz seiner großen philosophischen Bëachtlichkeit kann ein derartiger
Pluralism us nicht das letzte W ort des heutigen staatsethischen Problem s
sein. Geistesgeschichtlich betrachtet sind jene pluralistischen, gegen den
in sich einheitlichen Staat gerichteten Argum ente keineswegs so außer­
ordentlich neu und modern, wie es zuerst den Anschein hat, w enn man,
unter dem großen Eindruck der rapiden U m gruppierungen des heutigen
sozialen Lebens, summarisch daran erinnert, daß Jahrtausende hindurch
alle Staatsphilosophen von Plato bis Hegel die E inheit des Staates als
höchsten W ert auffaßten. In W ahrheit gibt es bei allen diesen Philosophen
viele Abstufungen, sehr starke K ritik an monistischen Ü berspannungen
und sehr viele V orbehalte zugunsten selbständiger sozialer G ruppen der
verschiedensten Art. B ekannt sind die Aristotelischen Einwendungen gegen
Platos Ü bertreibung des politischen Monismus: D ie π ό λ ις , meint er, muß
eine Einheit sein, μ ί α ν ε ίν α ι , wie auch die o fa ia , aber nicht ganz und gar,
ά λ λ ' ού π ά ν τ ω ς (Politik I I 2, 19 und an vielen anderen Stellen des zweiten
Buches). Thomas von Aquin, dessen Monismus schon wegen seines Mono­
theismus sehr stark h erv o rtritt, der in der Einheit den W ert des Staates
erblickt und E inheit m it Frieden gleichsetzt (et ideo id ad quod tendit
intentio m ultitudinem gubernantis est unitas sive pax, Summa Theol.
Ia. Q. 103 A rt. 3), sagt doch im Anschluß an Aristoteles, daß die aufs
äußerste getriebene Einheit den Staat zerstöre (maxima unitas destruit
civitatem). A ußerdem steht bei ihm, wie bei allen Philosophen des K atholi­
zismus, die Kirche als selbständige societas perfecta neben dem Staat, der
ebenfalls societas perfecta sein soll. Das ist ein Dualism us, der, wie jede
Preisgabe der einfachen Einheit, einer E rw eiterung zum Pluralism us viele
Argum ente bietet. Aus dieser eigenartigen H altung gegen den Staat e rk lä rt
sich jene auf den ersten Blick etw as seltsame geistesgeschichtliche Allianz
von römisch-katholischer Kirche und gewerkschaftlichem Föderalism us,
die bei Laski zutage tritt. Gleichzeitig aber ist dam it bewiesen, daß Laskis
staatstheoretischer Pluralism us einer größeren philosophischen V ertiefung
bedarf, wenn er nicht von dem naheliegenden Einw and betroffen w erden
soll, daß die von ihm verw erteten A rgum ente der katholischen Staats­
philosophie doch gerade aus einem besonders entschiedenen U niversalis­
mus hervorgehen. Die römisch-katholische Kirche ist kein pluralistisches
Gebilde, und in ihrem Kam pf gegen den Staat ist der Pluralism us wenig­
stens seit dem 16. Jah rh u n d ert auf der Seite der nationalen Staaten. Eine
138 Staatsethik und pluralistischer Staat

pluralistische Sozialtheorie w iderspricht sich selbst, w enn sie den Monis­


mus und Universalism us der römisch-katholischen Kirche, zum U niversa­
lismus der zweiten oder d ritten Internationale säkularisiert, gegen den
Staat ausspielt und dabei immer noch pluralistisch bleiben will.
Schon in der Zw eideutigkeit einer solchen geistesgeschichtlichen Koa­
lition zeigt sich, daß der Pluralism us dieser m odernen Sozialtheorie un­
deutlich und in sich selbst problem atisch ist. E r ist polemisch gegen die
bestehende staatliche Einheit gerichtet und sucht sie zu relativieren. Gleich­
zeitig sprechen die pluralistischen T heoretiker an den entscheidenden
Punkten ih rer A rgum entation m eistens eine extrem individualistische
Sprache. Insbesondere w ird auf die naheliegende und entscheidende Frage,
w er den unverm eidlichen Konflikt der vielen verschiedenen Treue- und
Loyalitätsbeziehungen entscheidet, die A ntw ort gegeben: das einzelne
Individuum entscheidet selbst. Das bedeutet einen zweifachen W iderspruch.
Erstens handelt es sich doch um eine s o z i a l e Situation, die das Individuum
erfaßt, aber nicht beliebig von ihm geändert w erden kann; es handelt sich
um eine Angelegenheit der Sozialethik und nicht der innerlichen Autonomie
des einzelnen. Zwar entspricht es einer angelsächsischen Gesinnung, der­
artig individualistisch zu antw orten und die letzte Entscheidung dem
einzelnen anheimzugeben, aber eine pluralistische Sozialethik gibt damit
gerade das w ieder auf, was an ih r interessant und w ertvoll w ar, nämlich
die Berücksichtigung der konkreten empirischen Macht sozialer G ruppen
und der empirischen Situation, wie sie durch die Zugehörigkeit des Indi­
viduums zu m ehreren solcher sozialen G ruppen bestim m t wird. Es ist
überdies empirisch unrichtig, daß das Individuum und nicht eine soziale
G ruppe entscheide. Vielleicht gibt es einige gew andte und bewegliche
Individuen, denen das Kunststück gelingt, sich zwischen den vielen mäch­
tigen sozialen G ruppen frei zu halten, wie m an von einer Eisscholle zur
andern springt. A ber diese equilibristische A rt von F reih eit w ird man
nicht als norm ale ethische Pflicht von der Masse der norm alen Staatsbürger
verlangen können. Auch ist sie das G egenteil einer Entscheidung sozialer
Konflikte. Wahrscheinlich w erden in der Em pirie, w enn die Einheit des
Staates entfällt, die verschiedenen sozialen G ruppen als solche die Ent­
scheidung von sich aus, d. h. von ihren G ruppeninteressen aus, treffen. F ür
das empirische Individuum aber gibt es erfahrungsgem äß keinen anderen
Spielraum seiner F reiheit als denjenigen, den ein sta rk e r Staat ihm zu
g arantieren vermag. Sozialer Pluralism us im Gegensatz zu staatlicher Ein­
heit bedeutet w eiter nichts, als daß der Konflikt der sozialen Pflichten
der Entscheidung der einzelnen G ruppe überlassen bleibt. Das bedeutet
dann Souveränität der sozialen G ruppen, nicht aber F reih eit und Autono­
mie des einzelnen Individuums. D er zweite W iderspruch liegt darin, daß
der ethische Individualism us sein K orrelat im Begriff der Menschheit hat.
D er empirische einzelne kann sich nicht selbst genügen und nicht von seiner
Einzelheit aus ethische Konflikte des sozialen Lebens entscheiden. F ü r eine
Individualethik hat der einzelne seinen W ert n u r als Mensch; der maß-
Staatsethik und pluralistischer Staat 139

gebende Begriff ist demnach der der Menschheit. W irklich erscheint bei
Laski die Menschheit als höchste Instanz, und zw ar die Menschheit als
Ganzes; und Cole meint, w enn auch unklar, mit dem W ort „society“ wohl
etwas Ähnliches wie Menschheit. D as aber ist der denkbar w eiteste und
größte U niversalism us und Monismus und alles andere als eine p lu ra ­
listische Theorie.
Ebenso undeutlich wie der eigene Pluralism us bleibt der G egner jen er
Theorie, nämlich der Staat als die Einheit, die vom Pluralism us erfaßt
w erden soll. Schon aus den obigen philosophiegeschichtlichen A ndeutungen
läßt sich entnehm en, daß die politische E inheit niem als so absolut monistisch
und alle anderen sozialen G ruppen vernichtend aufgefaßt w erden kann
und auf gef aßt w orden ist, wie es die „P luralisten“ aus polemischen G ründen
manchmal hinstellen und wie es nach den sim plifizierenden Form en von
Juristen manchmal anzunehm en ist. W enn Juristen von der „Allmacht“
des Souveräns, des Königs oder des Parlam ents sprechen, so muß m an ihre
barock übertreibenden Form eln daraus verstehen, daß es sich im Staat
des 16. bis 18. Ja h rh u n d erts darum handelte, das pluralistische Chaos
der Kirchen und Stände zu überw inden. Man macht sich die Aufgabe zu
leicht, w enn m an sich an solche Redew endungen hält. Auch der absolute
Fürst des 17. und 18. Jah rh u n d erts w ar gezwungen, göttliches und n a tü r­
liches Recht, d. h. soziologisch gesprochen, Kirche und Fam ilie zu respek­
tieren und die m annigfachsten Rücksichten auf überlieferte Einrichtungen
und w ohlerw orbene Rechte zu nehmen. D ie E inheit des Staates ist stets
eine Einheit aus sozialen V ielheiten gewesen. Sie w ar zu verschiedenen
Zeiten und in verschiedenen Staaten sehr verschieden, imm er aber kom plex
und in gewissem Sinn in sich selbst pluralistisch. Mit dem Hinweis auf
diese selbstverständliche K om plexität ist vielleicht ein überspannter Monis­
mus w iderlegt, nicht aber das Problem der politischen Einheit gelöst. A ußer­
dem aber gibt es doch, auch abgesehen von jen e r K om plexität, viele ver-
sdiiêdenartige G estaltungsm öglichkeiten der politischen Einheit. Es gibt
Einheit von oben (durch Befehl und Macht) und E inheit von unten (aus
der substantiellen Hom ogenität eines Volkes); Einheit durch fortw ährende
V ereinbarungen und Kompromisse sozialer G ruppen oder durch ander­
weitige, irgendw ie b ew irkte A usbalanzierungen dieser G ruppen; eine Ein­
heit von innen her und eine, die n u r auf dem Druck von außen beruht;
eine m ehr statische und eine sich beständig funktionell integrierende dyna­
mische Einheit; es gibt endlich Einheit durch Macht und Einheit durch
Konsens. D ieser letzte einfache Gegensatz beherrscht die Staatsethik des
Pluralism us, deren ethischer Sinn offenbar darin liegt, daß sie nur die
Einheit durch Konsens ethisch gelten läßt. Mit Redit. A ber dam it beginnt
erst das aktuelle Problem . D enn jeder, auch der „freie“ Konsens, ist irgend­
wie m otiviert und herbeigeführt. Macht b ew irkt Konsens, und zw ar oft
einen vernünftigen und ethisch berechtigten Konsens; und um gekehrt:
Konsens bew irk t Macht, und zw ar oft eine unvernünftige und — trotz des
Konsenses — ethisch verw erfliche Macht. Pragm atisch und empirisch gesehen
140 Staatsethik und pluralistischer Staat

erhebt sich dann die Frage, w er über die M ittel verfügt, den „freien“
Konsens der Massen herbeizuführen, über die wirtschaftlichen, päd­
agogischen, psychotechnischen M ittel der verschiedensten A rt, mit deren
H ilfe erfahrungsgem äß ein Konsens herbeigeführt w erden kann. Sind die
M ittel in den H änden sozialer G ruppen oder einzelner Menschen und der
K ontrolle des Staates entzogen, so ist es allerdings m it dem, was offiziell
noch „Staat“ heißt, zu Ende, die politische Macht ist unsichtbar und un­
verantw ortlich geworden, aber das sozial-ethische Problem ist mit dieser
Feststellung nicht gelöst.
D er letzte und tiefste G rund aller solcher U n klarheiten und sogar
W idersprüche liegt darin, daß die V orstellung vom Staat bei den p lura­
listischen S taatstheoretikern u n k lar ist. Meistens denken sie, rein polemisch,
an die Reste des alten „absoluten“ Staates des 17. und 18. Jahrhunderts.
Staat bedeutet dann R egierungsapparat, Verwaltungsm aschine, kurz Dinge,
die selbstverständlich n u r instrum ental gew ertet w erden können, die jeden­
falls kein G egenstand von T reue und L oyalität sind und deren sich die
verschiedenen sozialen G ruppen m it Recht bemächtigen, indem sie die
Reste u n ter sich teilen. D aneben aber ist der Staat dann doch w ieder auch
bei jenen P lurali st en die imm er von neuem, und zw ar gerade auch aus
den Kompromissen der verschiedenen sozialen G ruppen sich integrierende
politische Einheit, die als solche gewisse ethische Ansprüche machen kann,
sei es auch n u r den Anspruch, daß die Abmachungen und Kompromisse
gehalten w erden. Das w äre eine, w enn auch sehr problem atische, Ethik
des „pacta sunt servanda“. Es ist natürlich möglich, das W ort „Staat“ ge­
schichtlich auf den absoluten Staat des 17. und 18. Jah rh u n d erts zu be­
schränken. D ann ist es leicht, ihn heute ethisch zu bekäm pfen. A ber es
kom mt nicht auf das W ort an, das seine Geschichte h at und unm odern
w erden kann, sondern auf die Sache, nämlich das Problem der politischen
E inheit eines Volkes. H ier nun herrscht, wie fast überall, so auch bei den
pluralistischen Sozialtheoretikern, der m eistens in k ritik lo ser Unbew ußt­
heit verbleibende Irrtum , daß das Politische eine eigene Substanz neben
anderen Substanzen „sozialer Assoziationen“ bedeute, daß es neben Reli­
gion, W irtschaft, Sprache, K ultur und Recht einen besonderen G ehalt dar­
stelle, und daß infolgedessen die politische G ruppe koordiniert neben die
anderen G ruppen gestellt w erden könne, neben Kirche, Konzern, G ew erk­
schaft, Nation, K ultur- oder Rechtsgemeinschaften der verschiedensten Art.
D ie politische E inheit w ird dann eine besondere, zu anderen Einheiten
hinzutretende, neue substantielle Einheit. Alle E rörterungen und Dis­
kussionen über das W esen des Staates und des Politischen müssen in Ver­
w irrung geraten, solange diese w eitverbreitete V orstellung herrscht, daß
es eine inhaltlich eigene politische neben anderen Sphären gäbe. Es ist dann
auch leicht, den Staat als politische E inheit ad absurdum zu führen und
in G rund und Boden zu w iderlegen. D enn w as bleibt vom Staat als der
politischen E inheit übrig, w enn m an alle anderen G ehalte, das Religiöse,
W irtschaftliche, K ulturelle usw. abzieht? Ist das Politische nichts als das
Staatsethik und pluralistischer Staat 141

Ergebnis einer solchen Subtraktion, so ist es in der T at gleich Null. A ber


darin liegt eben das M ißverständnis. Richtigerweise bezeichnet das Poli­
tische n u r den Intensitätsgrad einer Einheit. Die politische Einheit kann
daher verschiedene G ehalte haben und in sich umfassen. Sie bezeichnet
aber stets den intensivsten G rad der Einheit, von dem aus infolgedessen
auch die intensivste Unterscheidung, die G ruppierung nach F reu n d und
Feind, bestim m t w ird. Die politische E inheit ist höchste Einheit, nicht,
weil sie allmächtig d ik tiert oder alle anderen E inheiten nivelliert, sondern
weil sie entscheidet und innerhalb ih re r selbst alle anderen gegensätzlichen
G ruppierungen d aran hindern kann, sich bis zur extrem en Feindschaft
(d. h. bis zum B ürgerkrieg) zu dissoziieren. D a wo sie ist, können die
sozialen Konflikte der Individuen und sozialen G ruppen entschieden
werden, so daß eine O rdnung, d. h. eine norm ale Situation besteht. D ie
intensivste E inheit ist entw eder da oder nicht da; sie kan n sich auf lösen,
dann entfällt die norm ale O rdnung. A ber unen trin n b ar ist sie immer Ein­
heit, denn es gibt keine P lu ra litä t der norm alen Situatiönen, und un­
vermeidlich geht von ihr, solange sie ü b erhaup t da ist, die Entscheidung
aus. Jede soziale G ruppe, gleichgültig, welcher A rt und welchen Sach-
gehaltes, w ird in dem Maße politisch, in dem sie an der Entscheidung
beteiligt ist oder gar die Entscheidung bei sich konzentriert. W eil das Poli­
tische keine eigene Substanz hat, k an n der P u n k t des Politischen von
jedem G ebiet aus gewonnen w erden, und jed e soziale G ruppe, Kirche,
Gewerkschaft, Konzern, Nation, w ird politisch und dam it staatlich, w enn
sie sich in diesem P u n k t der höchsten Intensität nähert. Sie speist m it ihren
Sachgehalten und W erten die politische Einheit, die von den verschiedenen
Gebieten menschlichen Lebens und D enkens lebt und aus W issenschaft,
Kultur, Religion, Recht und Sprache ih re Energien zieht. Alles menschliche
Leben, auch das der höchsten geistigen Sphären, hat in seiner geschichtlichen
Realisierung w enigstens potentiell einen Staat über sich, der aus solchen
Inhalten und Substanzen stark und mächtig w ird, wie der mythische A dler
des Zeus, der sich aus den Eingew eiden des Prom etheus nährt.

y.
Die U nklarheiten und W idersprüche, die sich in den pluralistischen
Sozialtheorien nachweisen lassen, haben ih ren G rund nicht im P lu ralis­
mus, sondern n u r in der unrichtigen A nw endung eines an sich richtigen
und in allen Problem en des objektiven Geistes unum gänglichen P lu ralis­
mus. D enn die W elt des objektiven Geistes ist eine pluralistische W elt:
Pluralism us der Rassen und V ölker, der Religionen und K ulturen, der
Sprachen und der Rechtssysteme. Es kom m t nicht d arau f an, diesen ge­
gebenen P luralism us zu leugnen und m it U niversalism en und Monismen
zu vergew altigen, vielm ehr den Pluralism us richtig zu placieren.
Auch die politische W elt ist wesentlich pluralistisch. Doch sind T räger
dieses P luralism us die politischen E inheiten als solche, d. h. die Staaten.
Insbesondere sind die m odernen europäischen Staaten im 16. und 17. Jahr-
142 Staatsethik und pluralistischer Staat

h undert aus der Auflösung eines U niversalism us entstanden, und ihr


Souveränitätsbegriff richtet sich polemisch sowohl gegen den universalen
Anspruch einer W eltmonarchie des K aisertum s, w ie gegen die ebenfalls
universalen politischen Ansprüche des Papsttum s. Es ist ein geistesgeschicht­
liches M ißverständnis erstaunlicher A rt, diese p lu ralen politischen Ein­
heiten unter B erufung auf universale und monistische V orstellungen auf-
lösen zu w ollen und das als Pluralism us hinzustellen, und zw ar sogar noch,
wie Laski es tut, unter Berufung auf W illiam James. Im System der „Poli­
tischen Theologie“ entspricht dem Pluralism us des W eltbildes von James
das Z eitalter der heutigen dem okratischen N ationalstaaten mit ihrem
Pluralism us der auf nationaler G rundlage staatlich gesinnten Völker.
D ie Monarchie ist nach ih re r ideellen Tendenz und A rgum entation eher
universalistisch, weil sie von G ott sein muß, w enn sie sich nicht demo­
kratisch durch den W illen des Volkes rechtfertigt. D ie D em okratie
dagegen fü h rt zur A nerkennung jedes der vielen V ölker als einer poli­
tischen Einheit. Ein Philosoph des Pluralism us sagt daher m it Recht: „Ebenso
wie in dem sozialen Leben jetz t und fü r imm er der δ ή μ ο ς in den Vorder­
grund getreten ist, und es darum in der zivilisierten W elt nicht mehr
Könige geben kann, die nicht D iener des Volkes sind, so tritt auch auf
dem G ebiete der Philosophie das Seiende selbst in seinem G anzen und
in aller seiner M annigfaltigkeit, d. h. das β ά χ /ο ς der E rfahrung als gesetz­
gebend hervor, und die Zeit seiner verschiedenen Schem atisierungen und
A bplattungen ist unw iderruflich v o rü b er“ (Boris Jakow enko, Vom Wesen
des Pluralism us, Bonn 1928).
D ie P lu ra litä t der Staaten, d. h. der politischen E inheiten der ver­
schiedenen Völker, ist demnach der echte Ausdruck eines richtig ver­
standenen Pluralism us. Universalm onistische Begriffe wie Gott, W elt und
Menschheit sind höchste Begriffe und thronen hoch, sehr hoch über jener
P lu ra litä t der konkreten W irklichkeit. Sie b ehalten ih re D ignität als
höchste Begriffe nur, solange sie an ih re r höchsten Stelle bleiben. Sie ver­
ändern ih r W esen sofort und verfehlen ihren Sinn und ihre Aufgabe, wenn
sie sich ins Handgem enge des politischen Lebens mischen und eine falsche
Macht und eine falsche N ähe bekomm en. Ich möchte nicht so w eit gehen,
sie in eine P arallele m it Max Schelers Konzeption vom G eist zu stellen
und von ihnen zu sagen, daß sie gegenüber dem k o n k reten Leben der
V ölker und sozialen G ruppen so ohnmächtig sind, w ie es in Schelers
M etaphysik der Geist gegenüber dem Leben und den T rieben ist. Doch
sind sie n u r regulative Ideen ohne direk te oder in d irek te Gew alt. D arin
liegt ih r W ert und ihre U nentbehrlichkeit. Es gibt gewiß kein menschliches,
auch kein politisches Leben ohne die Idee der Menschlichkeit. A ber diese
Idee konstituiert nichts, jedenfalls keine unterscheidbare Gemeinschaft.
Alle Völker, alle Klassen, alle A ngehörigen aller Religionen, C hristen und
Sarazenen, K apitalisten und P ro letarier, G ute und Böse, Gerechte und
Ungerechte, D elinquent und Richter sind Menschen, und m it H ilfe eines
solchen universalen Begriffs läßt sich jede Unterscheidung negieren und
Staatsethik und pluralistischer Staat 143

jede konkrete Gemeinschaft sprengen. Solche höchsten Ideen können und


sollen tem perieren und modifizieren. Sobald aber bestimm te Völker und
soziale G ruppen oder auch einzelne Menschen sie benutzen, um sich mit
ihnen zu identifizieren, verw andelt sich die regulative Idee in ein furcht­
bares Instrum ent menschlicher Herrschsucht. Schon in dem engen und für
die Volksgenossen wenigstens auf längere Zeit übersichtlichen Rahm en
eines Staates ist es ein gefährlicher Betrug, wenn einzelne soziale G ruppen
ihre Sonderinteressen im Nam en des Ganzen verfolgen und sich un­
berechtigterweise mit dem Staat identifizieren. D ann dient der Name des
Staates nur politischer U nterdrückung und Entrechtung. W enn aber erst
höchste und universale Begriffe wie Menschheit politisch benutzt werden,
üm ein einzelnes Volk oder eine bestim m te soziale O rganisation mit ihnen
zu identifizieren, dann entsteht die Möglichkeit furchtbarster Expansion
und eines m örderischen Im perialism us. H ierfür läßt sich der Name der
Menschheit nicht w eniger m ißbrauchen als der Name Gottes, und es könnte
sein, daß sich bei vielen V ölkern und großen Massen ein G efühl verbreitet,
dessen authentischer Ausdruck in der A bw andlung eines schlimmen W ortes
von Proudhon enthalten ist: „W er Menschheit sagt, w ill betrügen.“
Gegenüber der politischen A bnutzung solcher expansiven Ganzheiten
ist es weniger anspruchsvoll, die P lu ra litä t der zu Staaten geeinten Völker
hinzunehmen und anzuerkennen. Im Vergleich zu jenen W elt und Mensch­
heit umfassenden U niversalism en ist das bescheiden, aber es rechtfertigt
sich durch das im m anente Maß der sozialen Größe. Jede der vielen poli­
tischen Einheiten ist freilich im Ganzen der W elt und der Menschheit nur
ein Stück O rdnung, n u r ein Fragm ent. Doch ist es das menschlicher T at
und Gemeinschaft zugängliche Stück. Soviel B etrug und Lüge auch im
Staat wie in allem Menschlichen noch möglich ist, die phantastischen Dim en­
sionen eines W elt und Menschheit um fassenden U niversalbetrugs sind hier
nicht möglich. In einer vom Gesetz des Pluralism us beherrschten geistigen
W elt ist ein Stüde k o n k reter O rdnung w ertvoller als die leeren Allgem ein­
heiten einer falschen Totalität. D enn es ist eine w irkliche O rdnung, nicht
eine konstruierte und fingierte A bstraktion, eine G esam tsituation des
norm alen Lebens, in der konkrete Menschen und soziale G ruppen ihre
konkrete Existenz haben können. Es w äre ein falscher Pluralism us, gegen
die konkrete W irklichkeit solcher p luralen O rdnungen weltum fassende
G anzheiten auszuspielen; es ist vernünftig und sinnvoll, das Nach- und
N ebeneinander der V ölker und Staaten gelten zu lassen, das den Inhalt
der menschlichen Geschichte darstellt.
Staaten und V ölker entstehen und vergehen, und es gibt stark e und
schwache V ölker, gesunde und k ran k e, im posante und erbärm liche
Staaten. Durch den H inw eis auf das Schwache, K ranke und Elende ist das
S tarke und K räftige nicht w iderlegt. H ier gilt der Satz des Aristoteles, den
Rousseau seiner A bhandlung über die Ungleichheit u n ter den Menschen
als Motto vorausgestellt hat: Non in depravatis sed in his quae bene
secundum n aturam se habent considerandum est quid sit naturale. Da-
144 Staatsethik und pluralistischer Staat

durch w ird aber auch klar, in welchem Maße gerade die politische Einheit
menschliche Tat und Aufgabe ist, w eil sie die im Rahm en des allgem einen
Pluralism us zu bew irkende m aßgebende E inheit ist, das Stüde k o n k reter
Ordnung, die normale Situation. H ierfü r b edarf es einer größeren An­
strengung und geistigen Leistung als zu anderen G em einsam keiten und
sozialen Einheiten. Insbesondere ist es leichter, eine ökonomische „Asso­
ziation“ zu realisieren als eine politische Einheit, und es ist verständlich,
sogar selbstverständlich, daß die Menschen in Zeiten der M üdigkeit und
Erschöpfung das Interesse an soldien A nstrengungen verlieren. Je höher
und intensiver die Gemeinschaft, um so höher das Bew ußtsein und die
Tat, durch welche sie sich verw irklidit. Um so größer auch das Risiko des
Mißerfolges. D er gelungene und vollendete Staat ist d ah er ebenso groß­
artig, wie der mißlungene Staat — moralisch und ästhetisch — w iderw ärtig
und miserabel. Man kann leicht auf die vielen m ißlungenen Versuche hin-
weisen und auf die elenden Z errbilder von Staaten, die es heute gibt. Aber
das ist offenbar weder theoretisch, noch ethisch, noch auch n u r empirisch
ein Argum ent und keine Lösung der gestellten Aufgabe.
*

In diesem V ortrag sollte nu r eine kurze Übersicht über eine geistes­


geschichtliche Lage gegeben w erden. Ich w ill mit einer ku rzen thesenhaften
Zusammenfassung schließen.
Staatsethik gibt es in m ancherlei verschiedenartigem und sogar w ider­
spruchsvollem Sinn. Staatsethik kann U nterw erfung des Staates unter
ethische Normen bedeuten und begründet dann vor allem Pflichten des
Staates. Das setzt, wie besonders in K ants staatsethischen D arlegungen zu
erkennen, einen bestehenden Staat voraus, den „ je tzt bestehenden Gesetz­
geber“, wie K ant sich ausdrückt, dessen Existenz unproblem atisch als
selbstverständlich hingenommen w ird. In soziologischer K onkretheit be­
deutet U nterw erfung des Staates un ter ethische N orm en natürlich nichts
anderes als Kontrolle und H errschaft derjenigen Menschen und sozialen
Gruppen, die in der konkreten W irklichkeit gegenüber dem konkreten
Staat im Namen jen er ethischen Norm en auf tre ten und sie zur G eltung
bringen. Staatsethik kann ferner eine vom Staat als autonom em ethischen
Subjekt gesetzte, von ihm ausgehende E thik bedeuten, durch welche spe­
zifische, über die non-resistance hinausgehende Pflichten gegenüber dem
Staat begründet werden. Auch das setzt einen bestehenden Staat voraus.
W ird nun der Staat zu einem pluralistischen P arteienstaat, so kann die
Einheit des Staates nur so lange bestehen, als die zwei oder m ehreren
Parteien sich einigen, indem sie gemeinsame Präm issen anerkennen. Die
Einheit beruht dann insbesondere auf der von allen P arteien anerkannten
Verfassung, die als gemeinsame G rundlage unbedingt resp ek tiert w erden
muß. Staatsethik w ird dann zur Verfassungsethik. Je nach der Substantiali-
tät, der Eindeutigkeit und der A utorität der V erfassung kann darin eine
sehr wirksam e Einheit liegen. Es kann aber auch sein, daß sich die Verfassung
zur bloßen Spielregel und ihre Ethik zur bloßen E thik des fair p lay ver-
Staatsethik und pluralistischer Staat 145

flüchtigt und daß es schließlich, bei pluralistischer Auflösung der Einheit


des politischen Ganzen, dahin kommt, daß die E inheit nur noch ein
Agglomerat von wechselnden V ereinbarungen heterogener G ruppen ist.
Die V erfassungsethik verflüchtigt sich dann noch w eiter, und zw ar in die
Ethik des Satzes pacta sunt servanda. In allen genannten Fällen von
Staatsethik ist der Staat noch eine Einheit, sei es, wie in den beiden ersten
Fällen — U nterw erfung des Staates u nter die E thik oder A ufstellung des
Staates als eines übergeordneten ethischen Subjekts — eine als konkret
bestehend vorausgesetzte Einheit, sei es eine in der gemeinsamen A n­
erkennung der Verfassungsgrundlage oder der Spielregel enthaltene, aber
ebenfalls vorausgesetzte Einheit. N ur auf den Satz pacta sunt servanda
läßt sich keine E inheit des Staates gründen, denn die einzelnen sozialen
Gruppen als vertragschließende Subjekte sind dann als solche die m aß­
gebenden Größen, die sich des V ertrages bedienen und untereinander nu r
noch durch ein vertragliches Band gebunden sind. Sie stehen als selbständige
politische G rößen einander gegenüber, und was es an E inheit gibt, ist nu r
das Resultat eines (wie alle Bündnisse und Verträge) kündbaren Bünd­
nisses. D er V ertrag h at dann nu r den Sinn eines Friedensschlusses zwischen
den paktierenden G ruppen, und ein Friedensschluß hat, ob die P arteien
wollen oder nicht, imm er einen Bezug auf die, w enn auch vielleicht ent­
fernte Möglichkeit eines Krieges. Im H intergru nd dieser A rt V ertrags­
ethik steht daher imm er eine E thik des B ürgerkrieges; im V ordergrund
steht die offenbare Unzulänglichkeit des Satzes pacta sunt servanda, der,
konkret gesprochen, nicht viel m ehr sein k ann als eine Legitim ierung des
jeweiligen status quo, ähnlich wie er im P rivatleben eine vortreffliche
Ethik von W ucherern abzugeben verm ag. W ird die staatliche E inheit in
der W irklichkeit des sozialen Lebens problematisch, so ergibt sich ein für
jeden Staatsbürger unerträglicher Zustand, denn dam it entfällt die nor­
male Situation und die Voraussetzung jed e r ethischen und jed er rechtlichen
Norm. D ann e rh ält der Begriff der Staatsethik einen neuen Inhalt, und
es ergibt sich eine neue Aufgabe, die A rbeit an der bew ußten H erbei­
führung jen er Einheit, die Pflicht, daran m itzuw irken, daß ein Stück kon­
kreter und realer O rdnung sich realisiert und die Situation w ieder norm al
wird. Dann tritt neben die Pflicht des Staates, die in seiner U nterw erfung
unter ethische N orm en liegt, und neben die Pflichten gegenüber dem Staat
eine w eitere ganz anders geartete staatsethische Pflicht, nämlich die Pflicht
zum Staat.

10 1682
17. Die Wendung zum totalen Staat (1931)
Die V erfassungssituation der G egenw art ist zunächst dadurch gekenn­
zeichnet, daß zahlreiche Einrichtungen und N orm ierungen des 19. Ja h r­
hundert unverändert beibehalten sind, die heutige Situation aber sich
gegenüber der früheren völlig geändert hat. D ie deutschen Verfassungen
des 19. Jahrhunderts stehen in einer Epoche, deren G ru n d stru k tu r von der
großen deutschen Staatslehre dieser Zeit auf eine k lare und brauchbare
G rundform el gebracht w orden ist: die Unterscheidung von Staat und Ge­
sellschaft. Es ist dabei eine zweite, hier nicht interessierende Frage, wie
m an den Staat und wie die Gesellschaft bew ertet, ob m an das eine dem
andern überordnet oder nicht, ob und wie das eine vom andern ab­
hängig ist usw. Das alles hebt die Unterscheidung nicht auf. F ern er ist
zu beachten, daß „Gesellschaft“ wesentlich ein polemischer Begriff w ar und
als Gegenvorstellung den konkreten, dam als bestehenden, monarchischen
M ilitär- und Beam tenstaat im Auge hatte, dem gegenüber das, was n i c h t
zu diesem Staat gehörte, eben Gesellschaft hieß. D er Staat w ar damals
unterscheidbar von der Gesellschaft. E r w ar stark genug, um sich den
übrigen sozialen K räften selbständig gegenüberzustellen und dadurch die
G ruppierung von sich aus zu bestimm en, so daß alle die zahlreichen Ver­
schiedenheiten innerhalb der „staatsfreien“ Gesellschaft — konfessionelle,
kulturelle, wirtschaftliche Gegensätze — von ihm aus, und nötigenfalls
durch den gemeinsamen Gegensatz gegen ihn, relativ iert w urden und die
Zusammenfassung zur „Gesellschaft“ nicht hinderten. A ndrerseits aber
hielt er sich in einer w eitgehenden N eu tralität und N ichtintervention gegen­
über Religion und W irtschaft und respektierte in weitem Maße die Auto­
nomie dieser Lebens- und Sachgebiete; er w ar also nicht in dem Sinne
absolut und nicht so stark, daß er alles Nichtstaatliche bedeutungslos ge­
macht hätte. Auf diese W eise w ar ein Gleichgewicht und ein Dualism us
möglich; insbesondere konnte m an einen religions- und weltanschauungs-
losen, sogar völlig agnostischen Staat für möglich halten und eine staatsfreie
W irtschaft wie einen w irtschaftsfreien Staat konstruieren. D er bestimmende
Beziehungspunkt blieb jedoch der Staat, weil dieser in ko n k reter Deutlich­
keit und U nterscheidbarkeit vor Augen stand. Noch heute soll das viel­
deutige W ort „Gesellschaft“, soweit es hier interessiert, vor allem etwas
bezeichnen, was n i c h t Staat, gelegentlich außerdem auch, was nicht Kirche
ist1. A llen wichtigen Einrichtungen und N orm ierungen des öffentlichen
1 Die einfadiste und klarste Zusammenfassung der oft unfaßbar vieldeutigen Vor­
stellungen von der „Gesellschaft“ findet sich bei Eduard Spranger, Das Wesen der
deutschen Universität (Akademisches Deutsdiland III, 1, S. 9): „lm deutsdien sozio­
logischen Sprachgebrauch ist es üblidi, die unendliche Fülle von freien und organi-
Die Wendung zum totalen Staat 147

Redits, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in Deutschland entwickelt


haben und die einen großen Teil unseres öffentlichen Rechts ausmachen,
liegt jene U ntersdieidung als Voraussetzung zugrunde. Daß man allgemein
den Staat der deutschen konstitutionellen Monarchie mit seinen Gegen­
überstellungen von F ü rst und Volk, Krone und Kammer, Regierung und
V olksvertretung als „dualistisch“ k onstruiert hat, ist n u r ein Ausdruck
des allgem eineren, fundam entalen Dualism us von Staat und Gesellschaft.
Die V olksvertretung, das Parlam ent, die gesetzgebende Körperschaft, w ar
als der Sdiauplatz gedacht, auf dem die Gesellschaft erschien und dem Staat
gegenübertrat. H ier sollte sie sich in den Staat (oder der Staat sich in sie)
hineinintegrieren1.
In allen wichtigen Begriffsbildungen äußert sich die dualistische G rund­
struktur. Die Verfassung gilt als V ertrag zwischen F ürst und Volk. D er
wesentliche Inhalt eines staatlichen Gesetzes w ird darin gefunden, daß es
„in Freiheit und Eigentum der B ürger eingreift“. Eine Rechtsverordnung
wendet sich, zum Unterschiede von einer Verw altungsverordnung, die nur
an die Behörden und Beam ten ergeht, an alle Staatsbürger. Das Budget-
recht b eruht auf der Vorstellung, daß zwischen den beiden P artnern regel­
mäßig eine B udgetvereinbarung zustande kommt, und noch in der letzten
Auflage des Lehrbuches M eyer-Anschütz (1919, S. 890,897) heißt das Budget­
gesetz „B udgetvereinbarung“. W enn man für einen V erw altungsakt wie
die Veranschlagung des Staatshaushalts ein sogenanntes formelles Gesetz
verlangt, so zeigt sich in dieser Form alisierung nichts anderes als die Politi­
sierung des Begriffs: die politische Macht des Parlam ents ist groß genug,*S .
sierten, gewachsenen und geschaffenen, flüchtigen und dauernden Formen mensch­
lichen Verbundenseins, d ie n i c h t S t a a t u n d n i c h t K i r c h e sind, kurzweg
als die „Gesellschaft“ zu bezeichnen. Das Gebilde ist so nebelhaft wie das ,Milieu*.“
Diese Bemerkung Sprangers trifft den negativen Charakter der Vorstellung „Gesell­
schaft“, sie wird aber, wie mir scheint, der weiteren geschichtlichen Tatsache nicht
gerecht, daß „Gesellschaft“ in der konkreten Situation des 19. Jahrhunderts nicht
nur einen negativen, sondern darüber hinaus audi noch einen spezifisch p o l i t i ­
s c h e n , also p o l e m i s c h e n Sinn hatte, wodurch das Wort auf hört, „nebelhaft“
zu sein und die konkrete Präzision gewinnt, die ein politischer Begriff durdi seinen
konkreten Gegenbegriff erhält. Infolgedessen haben auch die mit Hilfe des Wortes
societas gebildeten Begriffe dieser Situation, sobald sie zu gesdiichtlidier Bedeutung
kommen, meistens einen oppositionellen Sinn, nicht nur „Sozialismus“, sondern audi
die „Soziologie“, die, wie Carl Brinkmann sagt, als eine „Oppositionswissenschaft“
entstanden ist (Versuch einer Gesellschaftswissenschaft, München und Leipzig 1919).
Herr stud. jur. G. Wiebeck (Berlin) macht mich auf eine Stelle des Buches von
L. V. Hasner, Filosofie des Rechts und seiner Geschichte in Grundlinien, Prag 1851,
S. 82, aufmerksam, die folgenden, auch für die weiteren Ausführungen des oben­
stehenden Textes, namentlich für die Lage einer in „Selbstorganisation“ befindlichen
Gesellschaft interessanten Wortlaut hat: „Die Gesellschaft aber als schwirrende,
unorganisierte Masse ist keine ethische, sondern nur eine transitorische, historisdie
Gestalt. Organisiert ist sie eine ethische, aber eben der Staat selbst, wenn dieser
sonst etwas mehr sein soll, als ein abstractum.“
1 Zum Beispiel statt Vieler Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung
in Frankreich, Bd. 2 (Ausgabe von Gottfried Salomon, München 1921, II, S. 41): Die
Kammer ist das Organ, „durch welches die Gesellschaft den Staat beherrscht“, oder
die inhaltreiche Bemerkung von Rudolf Gneist, Die nationale Rechtsidee von den
Ständen, Berlin 1894, S. 269: das allgemeine Verlangen nach geheimer Abstimmung
ist „das untrügliche Zeichen der Überflutung des Staates durch die Gesellschaft“.

10*
148 Die Wendung zum totalen Staat

um es einerseits durchzusetzen, daß eine N orm ierung n u r dann als Gesetz


gilt, wenn das Parlam ent m itgew irkt hat, und gleichzeitig auf der andern
Seite einen formellen, d. h. von dem sachlichen In h alt des Vorganges ab ­
sehenden Gesetzesbegriff zu erobern; diese F orm alisierung b rin g t also
nur den politischen Erfolg der V olksvertretung gegenüber der Regierung,
der Gesellschaft gegenüber dem monarchischen B eam tenstaat, zum A us­
druck. Auch die Selbstverw altung setzt in allen ihren Einrichtungen die
U nter Scheidung von Staat und Gesellschaft voraus; Selbstverw altung ist
ein Teil der dem Staat und seinem B eam tentum gegenüberstehenden G e­
sellschaft; auf dieser G rundvoraussetzung haben sich ihre Begriffe und
Einrichtungen im 19. Jah rh u n d ert entw ickelt und form uliert.
Ein solcher „dualistischer“ Staat ist eine B alancierung von zwei v er­
schiedenen Staatsarten: er ist ein R egierungsstaat und ein Gesetzgebungs­
staat zu gleicher Zeit. E r entw ickelt sich um so m ehr zum Gesetzgebungs­
staat, je m ehr das Parlam ent, als die gesetzgebende K örperschaft, der
Regierung, d. h. je m ehr die dam alige Gesellschaft dem dam als bestehen­
den Staat sich überlegen zeigt. Man k ann alle S taaten nach dem G ebiet
staatlicher T ätigkeit einteilen, auf dem sie das Zentrum ih re r T ätigkeit
finden. Danach gibt es Justiz- oder besser: Jurisdiktionsstaaten, daneben
Staaten, die wesentlich Regierung und E xekutive sind, und endlich Gesetz­
gebungsstaaten. D er m ittelalterliche Staat, wie auch in w eitem Maße bis
in die G egenw art hinein das angelsächsische Staatsdenken, geht davon aus,
daß der K ern der Staatsgew alt in der G erichtsbarkeit liegt. Staatsgew alt
und Jurisdiktion w erden hier gleichgesetzt, wie das heute noch der A us­
drucksweise des Codex Juris Canonici (z. B. can. 196, 218) entspricht, wobei
allerdings zu beachten ist, daß die m aßgebende Um schreibung der A utori­
tät der römisch-katholischen Kirche und ih re r höchsten Ä m ter sich nicht
in dem Bild eines Richters, sondern dem eines H irte n üb er seiner H erde
äußert. D er seit dem 16. Jah rh u n d ert seine Form gew innende absolute
Staat ist gerade aus dem Zusammenbruch und der Auflösung des m ittel­
alterlichen, pluralistischen, feudal-ständischen Rechtsstaats und seiner
Jurisdiktion entstanden und stützt sich auf M ilitär und Beam tentum . E r
ist daher wesentlich ein Staat der E xekutive und der Regierung. Seine
ratio, die ratio status, die oft m ißdeutete Staatsräson, liegt nicht in inhalts­
vollen Normen, sondern in der Effektivität, m it der er eine Situation schafft,
in welcher überhaupt erst N orm en gelten können, w eil der S taat der U r­
sache aller Unordnung und B ürgerkriege, dem K am pf um das norm ativ
Richtige, ein Ende macht. D ieser S taat „stellt die öffentliche O rdnung und
Sicherheit her . E rst als das eingetreten w ar, konnte der Gesetzgebungs­
staat der bürgerlich-rechtsstaatlichen Verfassung in ihn eindringen. Im
sog, Ausnahm ezustand tritt dann das jew eilige Z entrum des Staates offen
zutage. D er Justizstaat bedient sich h ierfü r des Standrechts (genauer: der
Standgerichtsbarkeit), d. h. einer summarischen Justiz; der S taat als Exe­
kutive vor allem des, nötigenfalls m it der Suspension von G rundrechten
verbundenen, Übergangs der vollziehenden G ew alt; der Gesetzgebungs-
Die Wendung zum totalen Staat 149

Staat der Not- und A usnahm ezustandsverordnungen, d. h. eines summa­


rischen G esetzgebungsverfahrens1.
Bei solchen Einteilungen und Typisierungen der Staatsarten ist immer
zu beachten, daß es einen reinen Gesetzgebungsstaat ebensowenig geben
kann wie einen reinen Jurisdiktionsstaat oder einen Staat, der restlos nichts
anderes w äre als R egierung und V erw altung. Insofern ist jed er Staat eine
Verbindung und Mischung dieser A rten, ein status m ixtus. A ber m it diesem
Vorbehalt läßt sich eine brauchbare C harakterisierung der Staaten nach
dem Zentralgebiet der staatlichen T ätigkeit gewinnen. D aher ist es be­
rechtigt und für das Problem des H üters der Verfassung besonders auf­
schlußreich, den bürgerlichen Rechts- und Verfassungsstaat, wie er sich im
19. Jah rhundert entw ickelt hat, als einen Gesetzgebungsstaat zu kenn­
zeichnen. Es gehört, wie Richard Thom a treffend gesagt hat, zu den „ a rt­
bestimmenden Tendenzen des m odernen Staates“, die Dezision, „über deren
Vernünftigkeit und G erechtigkeit m an imm er streiten kann, dem Gesetz­
geber zu überlassen, dem Richter zu nehm en12“. Ein Jurisdiktionsstaat ist
möglich, solange inhaltlich bestim m te Norm en auch ohne die bew ußte und
geschriebene Norm setzung einer organisierten Z entralgew alt voraus­
gesetzt w erden können und unbestritten anerkannt sind. In einem Gesetz­
gebungsstaat dagegen kan n es keine V erfassungsjustiz oder Staatsgerichts­
barkeit als eigentlichen H ü ter der Verfassung geben. Das ist der letzte
Grund dafür, daß in einem solchen Staat die Justiz nicht von sich aus um ­
strittene Verfassungs- und G esetzgebungsfragen entscheidet. In diesem Zu­
sammenhang verdient eine Ä ußerung Bluntschlis ausführlich zitiert zu
werden, weil sie wegen ih re r sachlichen K larheit und in der W eisheit
ihres konkreten W issens als eine klassische Stelle der Staatslehre des
19. Jahrhunderts gelten kann. Bluntschli gibt zu, daß die Verfassung selbst­
verständlich auch fü r die Gesetzgebung gilt und diese keineswegs das Recht
hat, zu tun, w as ih r ausdrücklich verboten ist. E r weiß die G ründe und
Vorteile der am erikanischen P rax is richterlicher Gesetzesprüfung gut zu
würdigen. D ann fäh rt er fort: „W enn m an aber in Erw ägung zieht, daß der
Gesetzgeber in der Regel von der V erfassungsm äßigkeit des Gesetzes über­
zeugt ist und dieselbe w ill, und daß dennoch sehr leicht sich verschiedene
M einungen d arüber bilden, so daß, w enn sein Ausspruch Gegenstand des
Streites w erden kann, das Gericht vielleicht eine andere Ansicht darüber
hat als der Gesetzgeber; w enn m an bedenkt, daß in diesem F alle doch die
höhere A utorität des Gesetzgebers zw ar nicht im Prinzip, aber im Erfolg
1 Weiteres zum Ausnahmezustand vgl. Der Hüter der Verfassung, S. 115 f. Bei
Ludwig Waldecker,Die Grundlagen des militärischen Verordmingsredits in Zivilsachen
während des Kriegszustandes, AöR. XXXVI (1917) S. 389 f. ist der Zusammenhang
von Justizstaat und Standrecht wohl bemerkt, die Folgerichtigkeit der weiteren Ent­
wicklung aber verkannt.
2 Grundrechte und Polizeigewalt (Festgabe für das Preußische Oberverwaliungs-
geridit), Berlin 1925, S. 223; nicht ganz ebenso in der Aussprache auf dem deutschen
Staatsrechtslehrerta^ in Wien, 1928, Veröffentlichungen der Vereinigung der deut-
sdien Staatsrechtslehrer, Heft 5 S. 109; ferner in der Reichsgerichtslestsdirift 1929,
S. 200, und Handbuch des Staatsrechts, Bd. II S. 109, 136/37.
150 Die Wendung zum totalen Staat

der niedriger gestellten der G erichte weichen und der R epräsentant der
gesamten Nation im Konflikte m it einem einzelnen O rgane des Staats­
körpers hinter dasselbe zurückstehen m üßte; w enn m an die Störung und
den Zwiespalt, welche auf solche W eise in den einheitlichen G ang des
Staatslebens gebracht w erden, überlegt und sich erinnert, daß die Gerichte
ih rer jetzigen Beschaffenheit nach vorzugsw eise zur E rkenntnis p riv a t­
rechtlicher Normen und R echtsverhältnisse beru fen und vorzugsweise
geneigt sind, auf formell-logische Momente den Nachdruck zu legen, w äh­
rend es sich hier gerade häufig um die wichtigen staatsrechtlichen Interessen
und die allgemeine W ohlfahrt handelt, die zu erkennen und zu fördern
Aufgabe des Gesetzgebers ist: so w ird m an dennoch dem europäischen
System den Vorzug geben, obwohl dasselbe nicht vor allen Ü beln schützt
und an der Unvollkom m enheit der menschlichen Zustände auch seinen
Anteil hat. Auch gegen ungerechte U rteile der obersten G erichte gibt es
in der Regel keine äußeren H ilfsm ittel. D er gesetzgebende K örper aber
träg t in seiner Bildung die wichtigsten G arantien, daß er nicht seine Befug­
nisse in verfassungsw idrigem G eiste ausübe1“. — D er letzte Satz ist ent­
scheidend. E r zeigt, daß für die V orstellung des 19. Jah rh u n d erts das P a rla ­
ment seiner N atur und seinem W esen nach in sich selbst die eigentliche
G arantie der Verfassung trug. D as gehört zu dem G lauben an das P a rla ­
m ent und ist die Voraussetzung dafür, daß die gesetzgebende K örperschaft
der T räger des Staates, und der S taat selbst ein G esetzgebungsstaat ist.
A ber diese Stellung der gesetzgebenden K örperschaft w ar n u r in einer
bestimmten Situation möglich. Es ist dabei nämlich im m er vorausgesetzt,
daß das Parlam ent, die gesetzgebende Versam m lung, als V e rtre te r des
Volks oder der Gesellschaft — beides, Volk und Gesellschaft, kann so lange
identifiziert werden, als beides noch der R egierung und dem S taat ent­
gegengestellt w ird — einen von ihm unabhängigen, starken monarchischen
Beam tenstaat als P a rtn e r des V erfassungspakts vor sich sieht. D as P a rla ­
ment, soweit es V olksvertretung ist, w ird h ier zum w ah ren H ü te r und
G aranten der Verfassung, w eil der V ertragsgegner, die Regierung, nu r
w iderw illig denV ertrag geschlossen hat. D ie R egierung verdient daher Miß­
trauen; sie macht Ausgaben und verlangt Abgaben; sie w ird als ausgaben­
freudig, die V olksvertretungen als sparsam , ausgabenunw illig gedacht, was
im ganzen auch wirklich der F all w a r und sein konnte. D enn die Tendenz
des liberalen 19. Jahrhunderts geht dahin, den S taat womöglich auf ein
Minimum zu beschränken, ihn vor allem an Interventionen und Eingriffen
in die W irtschaft nach Möglichkeit zu hindern, ihn üb erh au p t gegen­
über der Gesellschaft und ihren Interessengegensätzen möglichst zu
neutralisieren, dam it Gesellschaft und W irtschaft n ach.ihren im m anenten
1 Allgemeines Staatsrecht, 4. Aufl. 1868, Bd. I S. 561/62. Es ist besonders lehrreich,
^ B l u n t s d i l i s die Argumentation von R. Gneist zu vergleidien: dieser
sieht dm Garantie in dem Zusammenwirken bei der Gesetzgebung, an der eine Erb­
monarchie, eine permanente erste und gewählte zweite Kammer beteiligt sind: Gut­
achten a. a. O. S. 23.
D ie Wendung zum totalen Staat 151

Prinzipien fü r ih r G ebiet die notw endigen Entscheidungen gew innen:


im freien Spiel der M einungen auf G rund fre ier W erbung entstehen P a r­
teien, deren D iskussion und M einungskam pf die öffentliche M einung ergibt
und dadurch den Inhalt des staatlichen W illens bestim m t; im freien Spiel
der sozialen und wirtschaftlichen K räfte herrscht V ertrags- und W irtschafts-
freiheit, wodurch die höchste wirtschaftliche P ro sp erität gesichert scheint,
weil der autom atische Mechanismus der freien W irtschaft und des freien
M arktes sich nach w irtschaftlichen G esetzen (durch Angebot und Nachfrage,
Leistungsaustausch, Preisgestaltung, Einkom m ensbildung in der Volks­
wirtschaft) selbst steuert und reguliert. D ie bürgerlichen G rund- und
Freiheitsrechte, insbesondere persönliche F reiheit, F reih eit der M einungs­
äußerung, V ertrags-, W irtschafts- und G ew erbefreiheit, Privateigentum ,
also die eigentlichen R ichtpunkte je n e r oben behandelten P rax is des
Höchsten Gerichtshofs der V ereinigten Staaten, setzen einen solchen grund­
sätzlich nicht intervenierenden, höchstens zum Zweck d er W iederherstel­
lung der gestörten Bedingungen d er freien K onkurrenz eingreifenden,
neutralen Staat voraus.
D ieser im liberalen, nicht-interventionistischen Sinne gegenüber der
Gesellschaft und der W irtschaft grundsätzlich neu trale Staat bleibt auch
dann die V oraussetzung der Verfassungen, w enn fü r Sozial- und K u ltu r­
politik A usnahm en zugelassen w erden. E r änd erte sich aber von G rund
auf, und zw ar in dem gleichen Maße, als jen e dualistische K onstruktion
von Staat* und Gesellschaft, R egierung und Volk, ih re Spannung verlo r und
der G esetzgebungsstaat sich vollendete. D enn je tz t w ird der S taat zur
„Selbstorganisation d er G esellschaft“. D am it entfällt, w ie erw ähnt, die bis­
her stets vorausgesetzte U nterscheidung von S taat und Gesellschaft, Regie­
rung und Volk, wodurch alle auf dieser V oraussetzung aufgebauten Begriffe
und Einrichtungen (Gesetz, Budget, Selbstverw altung) zu neuen Problem en
werden. Es tr itt aber gleichzeitig etw as noch W eiteres und T ieferes ein.
O rganisiert sich die Gesellschaft selbst zum Staat, sollen S taat und G esell­
schaft grundsätzlich identisch sein, so w erden alle sozialen und w irtschaft­
lichen Problem e unm ittelb ar staatliche Problem e und m an k an n nicht
m ehr zwischen staatlich-politischen und gesellschaftlich-unpolitischen Sach­
gebieten unterscheiden. A lle bisher üblichen, u n ter der V oraussetzung des
neutralen Staates stehenden G egenüberstellungen, die im Gefolge der
Unterscheidung von Staat und Gesellschaft au ftreten und n u r A nw endungs­
fälle und Um schreibungen dieser U nterscheidung sind, hören auf. A nti­
thetische T rennungen w ie: S taat und W irtschaft, Staat und K ultur, Staat
und Bildung, fern er: P o litik und W irtschaft, P olitik und Schule, P olitik
und Religion, S taat und Recht, P olitik und Recht, die einen Sinn haben,
wenn ihnen gegenständlich getrennte, k o n k rete G rößen oder Sachgebiete
entsprechen, v erlieren ih ren Sinn und w erden gegenstandslos. D ie zum
Staat gew ordene Gesellschaft w ird ein W irtschaftsstaat, K ulturstaat, F ü r­
sorgestaat, W ohlfahrtsstaat, V ersorgungsstaat; der zur Selbstorganisation
der Gesellschaft gew ordene, demnach von ih r in der Sache nicht m ehr zu
152 D ie Wendung zum totalen Staat

trennende Staat ergreift alles Gesellschaftliche, das heißt alles, was das
Zusammenleben der Menschen angeht. In ihm gibt es kein G ebiet m ehr,
demgegenüber der Staat unbedingte N e u tralität im Sinne der N ichtinter­
vention beobachten könnte. D ie P arteien, in denen die verschiedenen
gesellschaftlichen Interessen und Tendenzen sich organisieren, sind die zum
Parteienstaat gewordene Gesellschaft selbst, und w eil es wirtschaftlich,
konfessionell, ku ltu rell determ inierte P arteien gibt, ist es auch dem Staate
nicht m ehr möglich, gegenüber dem W irtschaftlichen, Konfessionellen, K ul­
turellen neutral zu bleiben. In dem zur Selbstorganisation der Gesellschaft
gewordenen Staat gibt es eben nichts, was nicht w enigstens potentiell staat­
lich und politisch wäre. W ie der von französischen Juristen und Soldaten
erfundene Begriff der potentiellen Rüstung eines Staates alles erfaßt,
nicht nur das Militärische im engern technischen Sinne, sondern auch
die industrielle und wirtschaftliche V orbereitung des Krieges, sogar die
intellektuelle und moralische A usbildung und V orbereitung der Staats­
bürger, so erfaßt dieser neue Staat alle Gebiete. E rnst Jünger h at für
diesen erstaunlichen Vorgang eine sehr prägnante Form el eingeführt: die
totale Mobilmachung. O hne Rücksicht auf den Inhalt und die Richtig­
keit, die jenen Form eln von potentieller Rüstung oder to taler Mobil­
machung im einzelnen zukommt, w ird m an die in ihnen enthaltene, sehr
bedeutende E rkenntnis beachten und verw erten müssen. D enn sie bringen
etwas Umfassendes zum Ausdruck und zeigen eine große und tiefe W and­
lung an: die im Staat sich selbst organisierende Gesellschaft ist auf dem
Wege, aus dem neutralen Staat des liberalen 19. Jah rh u n d erts in einen
potentiell totalen Staat überzugehen. Die gew altige W endung läßt sich als
Teil einer dialektischen Entwicklung konstruieren, die in drei Stadien v er­
läuft: vom absoluten Staat des 17. und 18. Jah rh u n d erts über den neutralen
Staat des liberalen 19. Jahrhunderts zum totalen Staat der Identität von
Staat und Gesellschaft.
Am auffälligsten tritt die W endung auf wirtschaftlichem G ebiete hervor.
H ier kann, als von einer anerkannten und unbestrittenen Tatsache, davon
ausgegangen werden, daß die öffentliche Finanzw irtschaft sowohl im Ver­
hältnis zu den früheren Vorkriegsdim ensionen als auch im heutigen Ver­
hältnis zur freien und privaten, das heißt nichtöffentlichen W irtschaft einen
solchen Umfang angenommen hat, daß nicht bloß eine quantitative Ver­
mehrung, sondern auch eine qualitative V eränderung, ein „S tru k tu r­
w andel“, vorliegt und alle Gebiete des öffentlichen Lebens, nicht etw a nu r
die unm ittelbar finanziellen und ökonomischen Angelegenheiten, davon
ergriffen werden. Mit welchen Ziffern die V eränderung angegeben w ird, ob
zum Beispiel die mehrfach zitierte, für das Jah r 1928 errechnete Angabe,
daß 53 V. H. des deutschen Volkseinkommens von der öffentlichen H and
kontrolliert w erden1, statistisch richtig ist, braucht hier nicht beantw ortet
1 Diese Ziffer ist in den Vierteljahrsheften für Konjunkturforschung, Bd. 5 (1930)
Heft 2 S. 72, berechnet; sie ist verwertet und geltend gemacht z. B. von J. Popitz
(vgl. folgende Anmerkung), G. Müller-Oerlinghausen, in seinem Vortrag über die
Die Wendung zum totalen Staat 153

zu werden, w eil das Gesam tphänom en unbestreitbar und unbestritten ist.


Ein Sachkenner von größter A utorität, Staatssekretär Prof. J. Popitz, geht
in einer zusam m enfassenden Rede über den Finanzausgleich1 davon aus,
daß in der T at fü r die V erteilung des größeren Teils des deutschen Volks­
einkommens der sich selbst regulierende Mechanismus der freien W irt­
schaft und des freien M arktes ausgeschaltet ist und an seine Stelle „der
bestimmende Einfluß eines an sich grundsätzlich außerwirtschaftlichen
Willens, nämlich des W illens des Staates“ getreten ist. Ein anderer Sach­
kenner von höchstem Rang, der Reichssparkommissar Staatsm inister Sae-
misch, sagte, daß es die öffentliche Finanzw irtschaft ist, welche die politische
Lage Deutschlands entscheidend beeinflußt*12. Von wirtschaftswissenschaft­
licher Seite ist eine, wie m ir scheint, überaus treffende Form ulierung für
den Gegensatz des bisherigen Systems gegenüber dem heutigen aufgestellt
worden: v o m A n t e i l s y s t e m (bei welchem dem Staat nur ein Anteil
des Volkseinkommens, eine A rt Dividende vom Reingewinn zusteht) z u m
K o n t r o l l s y s t e m , bei welchem der Staat, infolge der intensiven Be­
ziehungen von Finanzw irtschaft und Volkswirtschaft, infolge cler starken
Vergrößerung sowohl des Staatsbedarfs als auch des staatlichen Einkom­
mens, als T eilhaber und N euverteiler des Volkseinkommens, als Erzeuger,
Verbraucher und A rbeitgeber, die Volkswirtschaft m aßgebend mitbestimmt.
Diese von F ritz K arl M ann in einer interessanten und bedeutungsvollen
Abhandlung „Die Staats Wirtschaft unserer Zeit“ (Jena 1930) auf gestellte
Formel soll h ier ebenfalls n u r als Form el verw endet werden, ohne daß es
im übrigen auf eine nationalökonomische K ritik ankäme. Entscheidend ist
hier für die staats- und verfassungstheoretische Betrachtung, daß das Ver­
hältnis des Staates zur W irtschaft heute der eigentliche Gegenstand der
innerpolitischen Problem e ist und die überlieferten Form eln des früheren,
auf der T rennung von Staat und Gesellschaft aufgebauten Staates nur
geeignet sind, über diesen Sachverhalt hinwegzutäuschen.
In jedem m odernen Staat bildet das V erhältnis des Staates zur W irt­
schaft den eigentlichen G egenstand der unm ittelbar aktuellen inner­
politischen Fragen. Sie können nicht m ehr m it dem alten liberalen Prinzip
unbedingter Nichteinmischung, absoluter Nichtintervention, beantw ortet
werden. Von w enigen A usnahm en abgesehen, w ird das wohl auch all­
gemein anerkannt. Im heutigen Staat, und zw ar um so m ehr, je m ehr er
m oderner Industriestaat ist, machen die wirtschaftlichen Fragen den H aupt-
Wirtschaftskrise vom 4. November 1930, Mitteilungen des Langnamvereins, Jahrg.
1930, Neue Folge 19. Heft, S. 409; vgl. Otto Pileiderer, Die Staatswirtsdiaft und das
Sozialprodukt, Jena 1930 und Manuel Saitzew, Die öffentliche Unternehmung der
Gegenwart, Tübingen 1930, S. 6 f.
1 Der Finanzausgleich und seine Bedeutung für die Finanzlage des Reichs, der
Länder und Gemeinden; Veröffentlichungen des Reichsverbandes der deutschen In­
dustrie, Berlin 1930, S. 6; ferner: der öffentliche Finanzbedarf und der Reichsspar­
kommissar, Bankarchiv, XXX, Heft 2 (15. Oktober 1930) S. 21.
2 „Deutsche Juristenzeitung“, 1. Januar 1931, Sp. 17; ferner in Der Reichsspar­
kommissar und seine Aufgabe; Finanzrechtliche Zeitfragen Bd. 2, Berlin 1930, S. 12.
154 Die Wendung zum totalen Staat

Inhalt der innenpolitischen Schwierigkeiten aus und ist die Innen- und
Außenpolitik zum großen Teil W irtschaftspolitik, und zw ar nicht n u r als
Zoll- und H andelspolitik oder als Sozialpolitik. W enn ein staatliches Gesetz
„gegen den Mißbrauch w irtschaftlicher M achtstellungen“ ergeht (wie die
deutsche K artellverordnung vom 2. N ovem ber 1923), so sind eben m it dieser
Form ulierung Begriff und D asein einer „w irtschaftlichen Macht von
Staats und Gesetzes wegen anerkannt. D er heutige S taat h a t ein aus­
gedehntes Arbeitsrecht, T arifw esen und staatliche Schlichtung von Lohn­
streitigkeiten, durch welche er die Löhne m aßgebend beeinflußt; er gew ährt
riesige Subventionen an die verschiedenen W irtschaftszw eige; er ist ein
W ohlfahrts- und ein F ürsorgestaat und infolgedessen gleichzeitig in
ungeheurem Maße ein Steuer- und A bgabenstaat. In D eutschland kom mt
hinzu, daß er auch noch ein R eparationsstaat ist, der M illiardentribute für
frem de Staaten aufbringen muß. In einer solchen Lage w ird die F orderung
der N ichtintervention zu einer Utopie, ja, zu einem Selbstw iderspruch.
Denn N ichtintervention w ürde bedeuten, daß m an in den sozialen und
wirtschaftlichen Gegensätzen und Konflikten, die heute keinesw egs m it
rein wirtschaftlichen M itteln ausgekäm pft w erden, den verschiedenen
Machtgruppen freie Bahn läßt. N ichtintervention ist in einer solchen Lage
nichts anderes als Intervention zugunsten des jew eils Ü berlegenen und
Rücksichtslosen, und es zeigt sich w ieder einm al die einfache W ah rh eit des
scheinbar so paradoxen Satzes, den T alley ran d fü r die A ußenpolitik aus­
gesprochen hat: N ichtintervention ist ein schw ieriger Begriff, er bedeutet
ungefähr dasselbe wie Intervention.
In der W endung zum W irtschaftsstaat liegt die auffälligste V eränderung
gegenüber den Staatsvorstellungen des 19. Jah rh u n d erts. A uf an d ern Ge­
bieten ist die W endung ebenfalls zu beobachten, w enn sie auch infolge des
erdrückenden Übergewichts der wirtschaftlichen Schw ierigkeiten und P ro ­
bleme dort heute meistens als w eniger aktuell em pfunden w ird. Es ist nicht
verwunderlich, daß die A bw ehr gegen eine solche E xpansion des Staates
zunächst als A bw ehr gegen diejenige staatliche B etätigung erscheint, die
in einem solchen Augenblick gerade die A rt des Staates bestim m t, demnach
als Abw ehr gegen den G esetzesstaat. D eshalb w ird zunächst nach Siche­
rungen gegen den Gesetzgeber gerufen. So sind w ohl auch die ersten
unklaren A bhilf ever suche zu erk lären , die sida an die Justiz klam m erten,
um ein Gegengewicht gegen den im m er m ächtiger und im m er um fassender
w erdenden G esetzgeber zu gewinnen. Sie m ußten in leeren Ä ußerlichkeiten
enden, weil sie nicht aus einer ko n k reten E rkenntnis d er verfassungs­
rechtlichen Gesam tsituation, sondern n u r einer reflexartigen R eaktion ent­
standen w aren. Ih r eigentlicher Irrtu m lag darin, daß sie der Macht des
modernen Gesetzgebers n u r eine Justiz entgegensetzen konnten, die ent­
w eder durch bestimm te Norm en eben dieses G esetzgebers inhaltlich gebun­
den w ar, oder aber ihm n u r unbestim m te und u m stritten e P rinzipien ent-
gegenhalten konnte, mit deren H ilfe sich keine dem G esetzgeber überlegene
A utorität begründen ließ. D ie W endung zum W irtschafts- und W ohlfahrts-
Die Wendung zum totalen Staat 155

staat bedeutete zw ar einen kritischen Augenblick für den überlieferten


Gesetzgebungsstaat, brauchte und konnte deshalb aber doch noch nicht den
Gerichten ohne w eiteres neue K raft und politische Energien zuführen. In
einer d erartig veränderten Situation und angesichts einer solchen Aus­
dehnung der staatlichen Aufgaben und Problem e kann vielleicht die Regie­
rung, sicher aber nicht eine Justiz A bhilfe schaffen. H eute dürften wohl
in den m eisten Staaten des europäischen Kontinents der Justiz alle inhalt­
lichen Norm en fehlen, auf G rund deren sie die völlig neue Situation von
sich aus zu m eistern im stande w äre.
Das Parlam ent, die gesetzgebende Körperschaft, der T räger und M ittel­
punkt des Gesetzgebungsstaates, w urde in dem gleichen Augenblick, in
dem sein Sieg vollständig zu sein schien, ein in sich selbst widerspruchs­
volles, die eigenen V oraussetzungen und die Voraussetzungen seines Sieges
verleugnendes Gebilde. Seine bisherige Stellung und Überlegenheit, sein
Expansionsdrang gegenüber der Regierung, sein A uftreten im Namen des
Volkes, alles das setzte eine Unterscheidung von Staat und Gesellschaft
voraus, die nach dem Sieg des Parlam ents jedenfalls in dieser Form nicht
mehr W eiterbestand. Seine Einheit, sogar seine Identität mit sich selbst,
war bisher durch den innenpolitischen Gegenspieler, den früheren mon­
archischen M ilitär- und Beam tenstaat bestimmt. Als dieser entfiel, brach
das P arlam ent sozusagen in sich auseinander. D er Staat ist jetzt, wie man
sagt, Selbstorganisation der Gesellschaft, aber es fragt sich, wie die sich
selbst organisierende Gesellschaft zur E i n h e i t gelangt und ob die
Einheit w irklich als R esultat der „Selbstorganisation“ eintritt.
D er U nterschied zwischen einem parlam entarischen P arteienstaat mit
freien, das heißt nicht festorganisierten P arteien und einem pluralistischen
P arteienstaat m it festorganisierten G ebilden als den T rägern der staat­
lichen W illensbildung kann größer sein als der von Monarchie und Re­
publik oder irgendeiner andern Staatsform . Die festen sozialen Verbin­
dungen, die heute T räger des pluralistischen Staates sind, machen aus dem
Parlam ent, wo ihre Exponenten in G estalt von F raktionen erscheinen, ein
bloßes A bbild der pluralistischen A ufteilung des Staates selbst. W oher soll
bei dieser Sachlage die E inheit entstehen, in der die harten Partei- und
Interessentenbindungen aufgehoben und verschmolzen sind? Eine Diskussion
findet nicht m ehr statt; ja, mein bloßer Hinweis auf dieses ideelle Prinzip des
Parlam entarism us hat R.T hom a veranlaßt, von einer „gänzlich verschimmel­
ten“ G rundlage zu sprechen. Einige durch die politischen P arteien hindurch­
gehende sogenannte „Q uerverbindungen“ (landwirtschaftliche Interessen,
A rbeiterinteressen, Beamte, in einzelnen F ällen auch Frauen) können auf
bestim m ten Sachgebieten eine M ehrheit bew irken; da es sich aber bei dem
Pluralism us nicht n u r um die parlam entarischen P arteien und Fraktionen
handelt, und außerdem derartige Q uerverbindungen selbst Faktoren der
pluralistischen G ruppierung sein können, so bedeuten sie zw ar eine Kom­
plizierung, aber keine A ufhebung und Beseitigung, eher sogar eine Be-
156 Die Wendung zum totalen Staat

stätigung und V erstärkung dieses Zustandes. D ie berühm te „solidarité


parlem entaire“, die über die P arteigrenzen hinw eggehenden, gem ein­
samen egoistischen P rivatinteressen der parlam entarischen A bgeordneten,
namentlich der eigentlichen B erufspolitiker, können ein w irksam es Motiv
und ein nützlicher E inheitsfaktor sein, reichen aber begreiflicherw eise in
einer so schwierigen Lage, wie der des heutigen D eutschland, und bei der
starken Verfestigung der O rganisationen nicht m ehr aus. So w ird das
Parlam ent aus dem Schauplatz einer einheitsbildenden, freien V erhandlung
freier V olksvertreter, aus dem T ransform ator parteiischer Interessen in
einen überparteiischen W illen, zu einem Schauplatz pluralistischer Auf­
teilung der organisierten gesellschaftlichen Mächte. D ie Folge ist, daß es
entw eder durch seinen im m anenten Pluralism us m ehrheits- und handlungs­
unfähig w ird, oder aber, daß die jew eilige M ehrheit alle legalen Möglich­
keiten als W erkzeuge und Sicherungsm ittel ihres M achtbesitzes gebraucht,
die Zeit ih rer staatlichen Macht nach allen Richtungen ausnützt und vor
allem dem stärksten und gefährlichsten G egner nach M öglichkeit die
Chance zu beschränken sucht, das gleiche zu tun. Es w äre vielleicht naiv,
das nur aus der menschlichen Bosheit oder gar aus ein er speziellen, nu r
heutzutage möglichen N iedertracht zu erk lären . D ie deutsche Staats- und
Verfassungsgeschichte kennt in frü h eren Jah rh u n d e rte n analoge Vorgänge
in beunruhigender Zahl und Regelm äßigkeit. W as bei der A uflösung des
alten Römischen Reiches Deutscher N ation K aiser und F ü rsten zur Siche­
rung ih rer Hausmacht getan haben, w iederholt sich heute in zahlreichen
Parallelen.
Auch in dieser Hinsicht ist die V eränderung gegenüber dem 19. Ja h r­
hundert fundam ental. Auch hier w ird sie durch den Schleier u n v erän d ert
beibehaltener W orte und Form eln, durch alte D enk- und R edew eisen und
durch einen im Dienste dieser R esiduen stehenden Form alism us verhüllt.
A ber man darf sich d arüber nicht täuschen, daß die W irkung sowohl auf
die Staats- und Verfassungsgesinnung als auch unm ittelb ar auf den Staat
und die Verfassung selbst außerordentlich groß ist. Sie besteht h a u p t­
sächlich darin, daß in demselben Maße, in welchem der Staat sich in ein
pluralistisches Gebilde verw andelt, an die Stelle der T reue gegen den
Staat und seine Verfassung die T reue gegen die soziale O rganisation, gegen
das den staatlichen Pluralism us tragende G ebilde tritt, zumal, w ie vorhin
erw ähnt, der soziale Kom plex oft die Tendenz hat, total zu w erden, das
heißt die von ihm erfaßten S taatsbürger wirtschaftlich w ie w eltanschau­
ungsgemäß ganz an sich zu binden. So entsteht ein Pluralism us schließ­
lich auch moralischer Bindungen und Treueverpflichtungen, eine „ p lu ra lity
of loyalties , durch welche die pluralistische A ufteilung im m er stä rk e r
stabilisiert und die Bildung einer staatlichen E inheit im m er m ehr
gefährdet wird. In seinem folgerichtigen E rgebnis w ird dadurch ein dem
Staate verpflichtetes Beam tentum unmöglich, denn auch diese A rt B eam ten­
tum setzt einen von den organisierten Sozialkom plexen unterscheidbaren
Staat voraus. Außerdem aber entsteht ein Pluralism us der L egalitäts-
Die Wendung zum totalen Staat 157

begriffe, der den R espekt vor der Verfassung zerstört und den Boden
der Verfassung in ein unsicheres, von m ehreren Seiten um käm pf tes
T errain verw andelt, w ahrend es im Sinne jed e r Verfassung liegt, eine poli­
tische Entscheidung zu treffen, die außer Zweifel stellt, was die gemein­
same, mit der Verfassung gegebene Basis der staatlichen E inheit ist. Die
jeweils herrschende G ruppe oder K oalition nennt die A usnützung aller
legalen Möglichkeiten und die Sicherung ih re r jew eiligen Machtpositionen,
die V erw ertung aller staatlichen und verfassungsm äßigen Befugnisse in
Gesetzgebung, V erw altung, Personalpolitik, D isziplinarrecht und Selbst­
verwaltung, m it allerbestem Gewissen Legalität, w oraus sich dann von
selbst ergibt, daß jede ernste K ritik oder gar eine G efährdung ih re r Situ­
ation ihr als Illegalität erscheint, als U m sturz und als ein Verstoß gegen
den Geist der Verfassung; w ährend jede von solchen Regierungsm ethoden
betroffene G egenorganisation sich darauf beruft, daß die V erletzung der
verfassungsmäßig gleichen C hance den schlimmsten Verstoß gegen den
Geist und die G rundlagen einer dem okratischen Verfassung bedeutet,
womit sie den V orw urf der Illegalität und der V erfassungsw idrigkeit eben­
falls mit allerbestem Gewissen zurückgeben kann. Zwischen diesen beiden,
in der Situation eines staatlichen Pluralism us fast automatisch funktio­
nierenden, gegenseitigen N egationen w ird die Verfassung selbst zerrieben.
Diese Betrachtung der konkreten V erfassungszustände soll eine W irk ­
lichkeit zum Bew ußtsein bringen, deren Anblick sich viele aus verschieden­
artigen Motiven und u n ter m ancherlei V orw änden lieber entziehen, deren
deutliche E rkenntnis aber trotzdem fü r eine verfassungsrechtliche U nter­
suchung, die sich m it dem Problem der W ahrung und Sicherung der gelten­
den Reichsverfassung beschäftigt, ganz unumgänglich ist. Es genügt keines­
wegs, allgem ein von einer „K rise“ zu sprechen, oder die vorige Betrach­
tung dam it abzutun, daß m an sie in die „K risen literatu r“ verw eist. W enn
der heutige Staat ein G esetzgebungsstaat sein soll, w enn außerdem eine
solche Ausdehnung der G ebiete staatlichen Lebens und staatlicher B etäti­
gung ein tritt, daß m an schon von einer W endung zum totalen Staat sprechen
kann, w enn dann gleichzeitig aber die gesetzgebende K örperschaft zum
Schauplatz und M ittelpunkt der pluralistischen A ufteilung der staatlichen
Einheit in eine M ehrheit festorganisierter Sozialkom plexe w ird, so hilft es
nicht viel, m it Form eln und Gegenform eln, die für die Situation der konsti­
tutionellen Monarchie des 19. Jah rh u n d erts geprägt sind, von der „Sou­
veränität des P arlam ents“ zu sprechen, um die schwierigste Frage des
heutigen Verfassungsrechts zu beantw orten.
158 Bedeutung und Funktion der innerpolitisdien Neutralität des Staates

18. Übersicht über die verschiedenen Bedeutungen


und Funktionen des Begriffes der innerpolitischen
Neutralität des Staates (1931)
Angesichts der V ieldeutigkeit des W ortes „N eu tralität“ und der Ver­
w irrung, die einen unentbehrlichen Begriff unbrauchbar oder unanw endbar
zu machen droht, ist eine terminologische und sachliche K lärung zweck­
mäßig. H ier soll deshalb eine zusammenfassende A ufstellung versucht
werden, in der die verschiedenen Bedeutungen, Funktionen und polemi­
schen Richtungen dieses W ortes m it einiger System atik g ruppiert sind.

I. Negative, das heißt von der politischen Entscheidung wegführende


Bedeutungen des Wortes „Neutralität“.
1. N e u t r a l i t ä t i m S i n n e d e r N i c h t i n t e r v e n t i o n , der U ninter­
essiertheit, des laisser passer, der passiven Toleranz usw.
In dieser Bedeutung tritt die innerpolitisdie Neutralität des Staates zuerst in das
geschichtlidie Bewußtsein, und zwar als N e u t r a l i t ä t d e s S t a a t e s g e g e n ­
ü b e r d e n R e l i g i o n e n u n d K o n f e s s i o n e n . So sagt Friedrich der
Große in seinem politischen Testament: je suis neutre entre Rome et Genève —
übrigens eine alte Formel des 17. Jahrhunderts, die sich schon auf einem Porträt
von Hugo Grotius findet und für den in diesem Jahrhundert einsetzenden Neutrali­
sierungsprozeß von größter Bedeutung ist1. In letzter Konsequenz muß dieses Prinzip
zu einer allgemeinen Neutralität gegenüber allen denkbaren Anschauungen und Pro­
blemen und zu einer absoluten Gleidibehandlung führen, wobei z. B. der religiös
Denkende nicht mehr geschützt werden darf als der Atheist, der national Empfin­
dende nicht mehr als der Feind und Verächter der Nation. Daraus folgt ferner ab­
solute Freiheit jeder Art Propaganda, der religiösen wie der antireligiösen, der natio­
nalen wie der antinationalen; absolute „Rücksichtnahme“ auf den „Andersdenken­
den“ schlechthin, auch w^enn er Sitte und Moral verhöhnt, die Staatsform untergräbt
und im Dienst eines ausländischen Staates agitiert. Diese Art „neutraler Staat“ ist
der n i c h t s m e h r u n t e r s c h e i d e n d e , r e l a t i v i s t i s c h e stato neutrale
ed agnostico, der inhaltlose oder doch auf ein inhaltliches M i n i m u m beschränkte
Staat. Seine Verfassung ist v o r a l l e m a u c h g e g e n ü b e r d e r W i r t s c h a f t
n e u t r a l im Sinne der Nichteinmischung (Wirtschafts- und Vertragsfreiheit), mit
der »^Fiktion des wirtschaftsfreien Staates und der staatsfreien Wirtschaft“ (F. Lenz).
Dieser Staat kann immerhin noch politisch werden, weil er wenigstens denkbarer­
weise noch einen Feind kennt, nämlich denjenigen, der nicht an diese Art geistiger
Neutralität glaubt.
2. N e u t r a l i t ä t i m S i n n e i n s t r u m e n t a l e r S t a a t s a u f f a s s u n ­
gen, f ü r w e l c h e d e r S t a a t ein t e c h n i s c h e s M i t t e l ist, das mit
s a c h l i c h e r B e r e c h e n b a r k e i t f u n k t i o n i e r e n u n d j e d e m die
g l e i c h e B e n u t z u n g s c h a n c e g e b e n sol l .
Instrumentale Staatsvorstellungen liegen meistens folgenden Redewendungen
zugrunde: der staatliche Justiz- und Verwaltung^ a p p a r a t , die „Regierungs-
m a s c h i n e“, der Staat als bürokratischer B e t r i e b , die Gesetzgebungsmaschine,
die Klinke der Gesetzgebung usw. Die Neutralität des Staates als eines technischen
Instrumentes ist denkbar für das Gebiet der Exekutive, und man kann sich vielleicht
vorstellen, daß der Justizapparat oder der Verwaltungsapparat in der gleichen
Weise funktioniere und mit derselben Sachlichkeit und Technizität jedem Benutzer,

1 Über diesen Neutralisierungsprozeß und seine Stadien: Carl Schmitt, „Euro­


päische Revue“, November 1929. Vgl. oben Nr. 15 S. 120 ff.
Bedeutung und Funktion der innerpolitischen Neutralität des Staates 159

der sich seiner normgemäß bedient, zur Verfügung stehe, wie Telephon, Telegraph,
Post und ähnliche technische Einrichtungen, die ohne Rücksicht aut den Inhalt der
Mitteilung jedem zu Diensten sind, der sich an die Normen ihres Funktionierens
hält. Ein soldier Staat wäre restlos entpolitisiert und könnte von sidi aus Freund
und Feind nicht mehr unterscheiden.
5. N e u t r a l i t ä t i m S i n n e d e r g l e i c h e n C h a n c e b e i d e r s t a a t ­
lichen W illen sb ildung.
Hier bekommt das Wort eine Bedeutung, die gewissen liberalen Deutungen des
allgemeinen gleichen Wahl- und Stimmredits sowie der allgemeinen Gleidiheit vor
dem Gesetz zugrunde liegt, soweit diese Gleichheit vor dem Gesetz nicht bereits
(als Gleichheit vor der Gesetzesanwendung) unter die vorige Ziffer 2 fällt. Jeder hat
die Chance, die Mehrheit zu gewinnen; er wird, wenn er zur überstimmten Minder­
heit gehört, daran verwiesen, daß er ja die Chance hatte und noch habe, Mehrheit
zu werden. Auch das ist eine liberale Gereditigkeitsvorstellung. Solche Vorstellungen
von einer Neutralität der gleichen Chance bei der staatlichen Willensbildung liegen
auch, freilich meistens wenig bewußt, der herrschenden Auffassung des Art. 76 RV.
zugrunde. Nadx ihr enthält Art. 76 nicht nur eine Bestimmung über Verfassungs­
änderungen (wie man nach dem Wortlaut annehmen sollte), sondern er begründet
eine audi schranken- und grenzenlose, absolute Allmadit und eine verfassunggebende
Gewalt. So z. B. G. Ansdiütz in seinem Kommentar zu Art. 76 (10. Aufl. S. 349/350);
Fr. Giese, Kommentar, 8. Aufl. 1931, S. 190; und Thoma, Handbuch des deutschen
Staatsrechts, II S. 154, der sogar so weit geht, C. Bilfingers und meine abweichende
Meinung als „wunschreehtlidi“ hinzustellen, ein Beiwort, das eine im allgemeinen
nicht üblidie Art von banaler Insinuation zum Ausdruck bringt. Diese herrsdiende
Auffassung des Art. 76 nimmt der Weimarer Verfassung ihre politische Substanz und
ihren „Boden“ und macht sie zu einem g e g e n ü b e r j e d e m I n h a l t i n d i f ­
f e r e n t e n , n e u t r a l e n A b ä n d e r u n g s v e r f a h r e n , das namentlich a u c h
d e r j e w e i l s b e s t e h e n d e n S t a a t s f o r m g e g e n ü b e r n e u t r a l ist.
Allen Parteien muß dann gerechterweise die unbedingt gleiche Chance gegeben wer­
den, sich die Mehrheiten zu verschaffen, die notwendig sind, um mit Hilfe des für
Verfassungsänderungen geltenden Verfahrens ihr angestrebtes Ziel — Sowjet-
Republik. nationalsozialistisches Reich, wirtschaftsdemokratischer Gewerkschafts­
staat, berufsständischer Korporationsstaat, Monarchie alten Stils, Aristokratie irgend­
welcher Art — und eine andere Verfassung herbeizuführen. Jede Bevorzugung der
bestehenden Staatsform oder gar der jeweiligen Regierungsparteien, sei es durdi
Subventionen für Propaganda, Unterscheidungen bei der Benutzung der Rundfunk­
sender, Amtsblätter, Handhabung der Filmzertsur, Beeinträchtigung der partei­
politischen Betätigung oder der Parteizugehörigkeit der Beamten in dem Sinne, daß
die jeweilige Regierungspartei den Beamten nur die Zugehörigkeit zur eigenen oder
den von ihr parteipolitisch nicht zu weit entfernten Parteien gestattet, Versamm­
lungsverbote gegen extreme Parteien, die Unterscheidung von legalen und revolu­
tionären Parteien nadi ihrem Programm, alles das sind im Sinne der konsequent zu
Ende gedachten, herrschenden Auffassung des Art. 76 grobe und aufreizende Ver­
fassungswidrigkeiten. Bei der Erörterung der Frage, ob das Gesetz zum Schutz der
Republik vom 25. März 1930 (RGBl. I S. 91) verfassungswidrig ist oder nicht, wird
der systematische Zusammenhang dieser Frage mit Art. 76 meistens nicht beachtet.
4. N e u t r a l i t ä t i m S i n n e v o n P a r i t ä t , d a s h e i ß t g l e i c h e
Z u l a s s u n g a l l e r in B e t r a c h t k o m m e n d e n G r u p p e n u n d R i c h ­
tu ngen u n t e r gleichen B edingungen und mit gleicher Be­
r ü c k s ic h tig u n g bei der Zuw endung von V orteilen oder
sonstigen staatlichen Leistungen.
Diese Parität ist von geschiditlicher und praktisdier Bedeutung für Religions­
und Weltanschauungsgesellschaften in einem Staat, der sidi nidit streng von allen
religiösen und Weltanschauungsfragen getrennt hat, sondern mit einer Mehrzahl be­
stehender religiöser und ähnlidier Gruppen verbunden bleibt, sei es durch ver-
mögensrechtlicne Verpfliditungen irgendwelcher Art, sei es durch Zusammenarbeit
auf dem Gebiet der Schule, der öffentlichen Wohlfahrt usw. Bei dieser Parität erhebt
sich eine Frage, die nach Lage der Sache sehr sdiwierig und bedenklich werden kann,
160 Bedeutung und Funktion der innerpolitischen Neutralität des Staates

nämlich w e l c h e Gruppen für die Parität überhaupt in Betracht kommen. So fragt


es sich z. B.f wenn man die parteipolitische Neutralität des Rundfunks im Sinne der
Parität auffaßt, welche politischen Parteien paritätisch zugelassen werden müssen,
weil man nicht automatisch und mechanisch jede sich meldende Partei zulassen kann.
Eine ähnliche Frage erhebt sidi dann, wenn man die Freiheit der Wissensdiaft
(Art. 142 RV.) als Parität aller wissenschaftlidien Richtungen auffaßt und verlangt,
daß alle diese Riditungen in gleicher Weise bei der Besetzung der Lehrstühle ge-
redit und verhältnismäßig berücksichtigt werden sollen. Max Weber forderte, daß,
wenn einmal an den Hochsdiulen überhaupt Wertungen zugelassen würden, dann
auch a l l e Wertungen zugelassen werden müßten, was theoretisch sowohl mit der
Logik des relati vistisch-agnostischen Staates, wie mit der liberalen Forderung der
gleidien Chance begründet werden kann, praktisch aber (für Berufungen) im plura­
listischen Parteienstaat zur Parität der den Staat jeweils beherrsdienden Parteien
führt. Die Neutralität im Sinne von Parität ist aber nur gegenüber einer relativ ge­
ringen Zahl von berechtigten Gruppen und nur bei einer relativ unbestrittenen
Madit- und Einflußverteilung der paritätisch berechtigten Partner praktisch durch­
führbar. Eine zu große Anzahl der Gruppen, die Anspruch auf paritätische Behand­
lung erheben, oder gar eine zu große Unsicherheit in der Bewertung ihrer Macht und
Bedeutung, d. h. Unsicherheit in der Berechnung der Quote, auf die sie Anspruch
haben, verhindert sowohl die Durchführung des Grundsatzes der Parität wie auch
die Evidenz des ihm zugrunde liegenden Prinzips.
Das zweite Bedenken gegen eine konsequent durchgeführte Parität liegt darin,
daß sie notwendigerweise entweder zu einem entscheidungslosen Gleichgewicht führt
(so öfters bei der Parität von Arbeitgebern und Arbeitnehmern), oder aber, bei
starken und eindeutig bestimmten Gruppen, zu einer itio in partes, wie der von
Katholiken und Protestanten seit dem 16. Jahrhundert im alten Deutschen Reich.
Jede Partei bringt dann den Teil der staatlichen Substanz, der sie interessiert, für
sich in Sicherheit und ist im Wege des Kompromisses damit einverstanden, daß die
andere Partei mit einem andern Teil das gleiche tut. Beide Methoden — arithmetische
Gleichheit oder itio in partes — haben nicht den Sinn einer politischen Entscheidung,
sondern führen von der Entscheidung weg.I.

II. Positive, das heißt zu einer Entscheidung h inführende Bedeutungen


des W ortes „N eu tralität“.
1. N e u t r a l i t ä t i m S i n n e d e r O b j e k t i v i t ä t u n d S a c h l i c h ­
keit auf der G ru n d la g e e in e r a n e r k a n n t e n Norm.
Das ist die Neutralität des Richters, solange er auf Grund eines anerkannten, in­
haltlich bestimmbaren Gesetzes entscheidet. Die Bindung an das (inhaltliche Bindun­
gen enthaltende) Gesetz ermöglidit erst die Objektivität und damit diese Art Neu­
tralität, ebenso auch die relative Selbständigkeit des Richters gegenüber dem son­
stigen k* anders als durdi eine gesetzliche Regelung geäußerten) staatlichen
Willen; diese Neutralität führt zwar zu einer Entscheidung, aber nicht zur politischen
Entscheidung.
2. N e u t r a l i t ä t a u f d e r G r u n d l a g e e i n e r n i c h t e g o i s t i s c h ­
interessierten Sachkunde.
Das ist die Neutralität des sachkundigen Gutachters und Beraters, des sachkun-
dmen Beisitzers, soweit er nidit Interessentenvertreter und Exponent des pluralisti-
scnen oystems ist; auf dieser Neutralität beruht auch die Autorität des Vermittlers
und Schlichters, soweit er nicht unter Ziffer 3 gehört.
3. N e u t r a l i t ä t a l s A u s d r u c k e i n e r d i e g e g e n s ä t z l i c h e n
G ruppierungen umfassenden, daher alle diese G eg en sätz­
l i c h k e i t e n in sich r e l a t i v i e r e n d e n E i n h e i t u n d G a n z h e i t .
Das ist die Neutralität der staatlichen Entscheidung innerstaatlidier Gegensätze,
gegenüber der Zersplitterung und Aufteilung des Staates in Parteien und Sonder-
lnteressen, wenn die Entscheidung das Interesse des staatlichen Ganzen zur Geltung
Bedeutung und Funktion der innerpolitischen Neutralität des Staates 161

4 N e u t r a l i t ä t des a u ß e n s t e h e n d e n F r e m d e n , der als


Dritter von a u ß e n he r n ö t i g e n f a l l s die E n t s c h e i d u n g und
dami t eine E i n h e i t b e w i r k t .
Das ist die Objektivität des Schutzherrn gegenüber dem unter Protektorat stehen­
den Staate und dessen innerpolitischen Gegensätzen, des Eroberers gegenüber den
verschiedenen Gruppen in einer Kolonie, der Engländer gegenüber Hindus und
Mohammedanern in Indien, des Pilatus (quid est veritas?) gegenüber den Religions­
streitigkeiten der Juden.1

11 1682
19-Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus
(1932 )
De r Im perialism us der V ereinigten S taaten von A m erika vor allem gilt
in der heute üblichen V orstellungss- und Redew eise als d er m odernste
Im perialism us, und zw ar deshalb, w eil er vor allem ein ökonomischer
Im perialism us ist und sich dadurch von an d eren A rten, insbesondere von
jedem m ilitärischen Im perialism us, zu unterscheiden scheint. D as ö k o n o ­
mische steht dabei d e ra rtig im V ordergrund, daß es manchm al sogar
benutzt w ird, um das F aktum eines Im perialism us ü b e rh a u p t zu leugnen,
indem m an auf G rund einer überlieferten A ntithese des 19. Jah rh u n d erts
W irtschaft und P olitik gegenüberstellt und das W irtschaftliche als etw as
wesensmäßig Unpolitisches, das Politische als etw as w esentlich n i c h t
W irtschaftliches hinstellt. A uf diese W eise konnte noch im Ja h re 1919 ein
berühm ter N ationalökonom und Soziologe, Joseph Schum peter, die A n­
sicht vertreten, das, was die Angelsachsen machen, sei im G egensatz zu
dem, was die Preußen und andere M ilitaristen machten, „begriffsnotw en­
dig’* niem als Im perialism us, sondern etw as w esentlich anderes, w eil es
nämlich n u r ökonomische und deshalb friedliche E xpansion bedeute.
Diese hochpolitische A bleugnung des politischen C h a ra k te rs ökonom i­
scher Vorgänge und Begriffe soll h ier auch w e ite r e rö rte rt w erden. Es
gehört jedenfalls zur E igenart des am erikanischen Im perialism us, daß er
von Anfang, von der ersten Sekunde seines D aseins an, m it der A ntithese
„wirtschaftlich gegen politisch“ g earbeitet hat. D ie Form el der berühm ten
Abschiedsrede W ashingtons aus dem Ja h re 1796, ist unendlich oft zitiert
w orden: möglichst viel H andel, möglichst w enig P olitik. H andel und „W irt­
schaft“ erscheinen auch h ier w ieder als das eo ipso Unpolitische. Bis gegen
Ende des 19. Jahrhunderts, also etw a bis zu der Zeit, in der m an anfängt,
auch in A m erika von Im perialism us zu sprechen und die ungeheure Macht­
ausdehnung der V ereinigten Staaten als „im perialistisch“ zu bezeichnen,
erscheint in den R egierungserklärungen fo rtw äh ren d diese G egenüber­
stellung von H andel und Politik. Es heißt zum Beispiel in den vielen
Ä ußerungen zur M onroedoktrin: ein europäischer S taat d a rf in A m erika
H andel treiben soviel er w ill, er d a rf n u r nichts Politisches tun. W ann der
Augenblick kommt, in dem das H andeltreiben politisch w ird, d a rü b e r ent­
scheiden natürlich die V ereinigten S taaten von A m erika. D er am erikanische
Im perialism us ist allerdings ein ökonom ischer Im perialism us, darum aber
nicht w eniger intensiv im perialistisch.
Es gehört zu den Residuen des 19. Jah rh u n d erts, daß m an die G egen­
überstellung von „wirtschaftlich“ und „politisch“ in dem Sinne auffaßt, als
Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus 163

seien wirtschaftliche Expansion und Ausbeutung von selber „unpolitisch“


und infolgedessen auch „friedlich“. Es gehört aber ferner zu jeder Macht­
ausdehnung — ob sie sich nun in der Hauptsache wirtschaftlich darstellt
oder nicht —, daß sie eine bestimm te R e c h t f e r t i g u n g vorbringt. Sie
braucht ein L e g i t i m i t ä t s p r i n z i p , ein ganzes Inventar von recht­
lichen Begriffen und Form eln, von Redensarten, von Schlagworten, das
sind nicht n u r „ideologische“ Vortäuschungen und dient nicht nur Propa­
gandazwecken, sondern ist n u r ein Anw endungsfall der einfachen W ahr­
heit, daß alle T ätigkeit des Menschen irgendeinen g e i s t i g e n C harakter
trägt und auch die Politik, eine imperialistische so gut wie irgendeine
andere geschichtlich bedeutungsvolle Politik, keinesfalls sozusagen ih rer
N atur nach etw as Ungeistiges ist. Es hat niemals in der Geschichte der
Menschheit an solchen Rechtfertigungen und Legitim itätsprinzipien gefehlt;
es hat auch ohne solche Rechtfertigungen niemals ein Völkerrecht gegeben.
Die internationalen L egitim itätsprinzipien und rechtlichen Form en des
modernen Im perialism us — wenn w ir die moderne Zeit etw a mit dem 16.
europäischen Jah rh u n d ert beginnen lassen — sind in ih rer Aufeinanderfolge
wenigstens m it einigen Sätzen darzustellen, damit das Charakteristische
gerade der am erikanischen Form en deutlicher hervortritt. Das Völkerrecht
hieß noch bis in das 19. Jah rh u n d ert hinein in Lehrbüchern und verbreite­
ten D arstellungen des Völkerrechts: das Völkerrecht der christlichen
Völker. Es galt als ein wichtiges Novum, als 1856 auf der P ariser Konferenz
die Türkei in die „Fam ilie der N ationen“ auf genommen w urde, obwohl
sie ein nichtchristlicher Staat w ar. Aus dem Gegensatz christlich-nicht-
christlich ergaben sich bestimm te, und zw ar sehr präzise, nicht bloß ideo­
logische Form en des völkerrechtlichen V erkehrs, etw a die Praxis der
„K apitulationen“ zwischen christlichen und nichtchristlichen Staaten, Exem ­
tionen von der frem den G erichtsbarkeit; E x territo rialität der E uropäer
in „exotischen“ L ändern usw. Im Laufe des 19. Jahrhunderts w ird die
Unterscheidung von christlichen und nichtchristlichen V ölkern zu der U nter­
scheidung von zivilisierten, nichtzivilisierten und halbzivilisierten Völkern
säkularisiert. D ieser Unterscheidung von zivilisierten, halbzivilisierten und
nichtzivilisierten V ölkern entsprechen die völkerrechtlichen Begriffe und
Methoden des europäischen Im perialism us des 19. Jahrhunderts, nam ent­
lich die H erausbildung von P rotektoraten und Kolonien: gegenüber halb­
zivilisierten V ölkern bedient man sich zur imperialistischen Herrschaft der
Form des Protektorats, w ährend U nzivilisierte als Kolonien behandelt
werden. Auf der Unterscheidung von P rotektorat und Kolonien baut sich
eine Reihe von w eiteren Form en des völkerrechtlichen V erkehrs auf, die
für das 19. Jah rh u n d ert charakteristisch sind. Einen höchst charakteristischen
Rest dieser Unterscheidung von zivilisierten, nichtzivilisierten und halb­
zivilisierten V ölkern findet m an noch in der Satzung des G enfer V ölker­
bundes von 1919, A rtikel 22, bei der Regelung der Mandate, d. h. dort, wo
die Sieger frü h er türkische Gebiete und die deutschen Kolonien als,B eute
an sich nehmen. D ort heißt es in einer auffällig pathetischen A rt und Weise,

11*
164 Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus

wie sie sonst die Völkerbundsatzung nicht kennt, daß es V ölker gibt, die
noch nicht imstande sind — das „noch ist dabei zu beachten , sich „unter
den besonders schwierigen Bedingungen der heutigen Zivilisation selbst
zu leiten, und daß es eine „heilige A ufgabe der Zivilisation sei, diese
Völker so zu erziehen, daß sie sich selbst leiten können. D ieser A rtikel 22
der Völkerbundsatzung ist vielleicht ü b erhaupt das kom prim ierteste Bei­
spiel der Legitim ierungsfunktion der U nterscheidung zivilisierter und nicht­
zivilisierter Völker, auf G rund deren die zivilisierten V ölker sich das Recht
zuschreiben, die weniger zivilisierten in der Form von M andaten, P rotekto­
raten und Kolonien zu „erziehen“, d. h. zu beherrschen. D er A rtikel ist
der letzte und, wie häufig in der Geschichte, zugleich der klassisch zu­
sammenfassende Ausdruck einer ganzen Epoche. D arau f b eru h te das, was
man den Im perialism us der europäischen V ölker im 19. Jah rh u n d ert
nennen kann. Die meisten w erden heute das G efühl haben, daß diese A rt
von Rechtfertigung einer H errschaft über andere V ölker m indestens sehr
problematisch geworden ist.
Das, w orauf es hier, angesichts des Im perialism us der V ereinigten
Staaten, ankommt, ist, daß diese V ereinigten Staaten über dieses Stadium
längst hinaus sind. Sie haben natürlich auch Kolonien w ie die Philippinen
und verschmähen es keineswegs, sich des V okabularium s der „Zivilisation“
und seiner Methoden zu bedienen, aber es haben sich daneben und darüber
hinaus ganz andere Begriffe und andere M ethoden der völkerrechtlichen
Herrschaft herausgebildet. W enn ich diese kurze, m it der Unterscheidung
zwischen christlichen und nichtchristlichen beginnende, zu der U nter­
scheidung zivilisierter und nichtzivilisierter V ölker führende Übersicht
schnell zu Ende führen darf, so ist zu sagen, daß die neue Unterscheidung,
die den amerikanischen Form en zugrunde liegt, auf die Unterscheidung
von G läubigern und Schuldnern hinausläuft. O b diese neue E inteilung der
Völker und Staaten friedlicher ist als die vergangener Jah rh u n d erte, w äre
eine Frage für sich. Jedenfalls geht die Entwicklung der im perialistischen
Argum entation dahin, daß nunm ehr G läubigervölker und Schuldnervölker
einander gegenüberstehen. F ü r diese Einteilung, die fü r uns Deutsche eine
schicksalsvolle A ktualität hat, bildet der Im perialism us der V ereinigten
Staaten seit über einem M enschenalter eine ganze W elt von Begriffen, Ein­
richtungen, Form eln und M ethoden heraus, von der w ir in Deutschland
vor dem Kriege nicht viel geahnt haben, obwohl sie bereits fertig Vorlagen
und die spezifische Redeweise dieses Im perialism us im Munde eines
Mannes wie Wilson auch schon vor dem Jah re 1918 häufig ertönt ist.
Im K ern aller A rgum entationen, welche die V ereinigten Staaten seit
hundert Jahren völkerrechtlich und außenpolitisch zu ih re r Rechtfertigung
defensiv und offensiv vorgebracht haben, steht die M onroedoktrin aus
dem Jahre 1825. Sie ist oft dargestellt w orden. Ich muß sie h ier erw ähnen,
obwohl sie m einer Meinung nach ihre F unktion im wesentlichen bereits
erfüllt hat. Sie ist charakteristisch für das erste große Stadium der E nt­
wicklung des amerikanischen Im perialism us. Die M onroedoktrin begleitet
Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus 165

die A ußenpolitik der V ereinigten Staaten seit 1823, in der Sadie wohl auch
schon früher, wenngleich das übliche D atum das der Botschaft des Präsi­
denten Monroe ist. Neben der Entwicklung des amerikanischen Staates
selber geht, wie ein Schatten, die immer w eiter getriebene Entw iddung
dieser M onroedoktrin einher. Sie beginnt, scheinbar wenigstens, rein defen­
siv. Sie w endet sich im Jahre 1823 gegen das damalige Europa und seinen
damaligen „V ölkerbund“, d. h. gegen die Heilige Allianz und deren In ter­
ventionen in Südam erika; außerdem gegen Rußland, das sich an der N ord­
küste von A laska festgesetzt hatte; sie w ar also die Defensive eines noch
sehr schwachen K olonialstaates in perip h erer Lage. Die Großmächte des
Jahres 1823 haben diese M onroedoktrin nicht sehr wichtig genommen. Die
englische R egierung ist an der Proklam ierung beteiligt gewesen, weil Eng­
lands Interesse jenem europäischen K ontinentalbund, der sich „Heilige
Allianz“ nannte, entgegengesetzt w ar. Aus diesem defensiven Pronunzia-
mento eines kleinen K olonialstaates im Jahre 1823 ist dann ein völker­
rechtliches Instrum ent der Hegemonie dieses Staates über den großen am eri­
kanischen K ontinent geworden.
Inzwischen sind die V ereinigten Staaten aber noch weit m ehr geworden
als eine auf den am erikanischen K ontinent beschränkte hegemonische
Macht. Zunächst freilich begnügte m an sich mit dem berühm ten Satz:
„Amerika den A m erikanern“ und mit der Ablehnung jed er europäischen
„Einmischung“. Die M onroedoktrin sagt auf den ersten Blick etwas sehr
Bescheidenes: kein europäischer Staat darf sich in amerikanische Ver­
hältnisse einmischen, um gekehrt mischen sich die Vereinigten Staaten nicht
in europäische V erhältnisse ein; im Jah re 1823 bestehende europäische Be­
sitzungen w erden anerkannt, dürfen aber nicht erw eitert werden. Diese
einfachen Sätze entfalten sich nun zur G rundlage einer großen „D oktrin“,
deren Inhalt sich fortw ährend verändert und anpaßt, und deren praktische
Bedeutung manchmal sehr groß ist, manchmal w ieder ganz zurücktritt. Es
gibt eine große L ite ratu r über die M onroedoktrin; auch die Entwicklung
von einem M ittel der Defensive zu einem Instrum ent der Hegemonie über
den am erikanischen K ontinent ist oft gezeigt worden. Man ging von der
prinzipiellen U nzulässigkeit einer Intervention, von dem feierlich betonten
„Grundsatz der N ichtintervention“ aus und endete damit, daß man in eben­
derselben D oktrin die Rechtfertigung für Interventionen der Vereinigten
Staaten in die A ngelegenheiten anderer am erikanischer Staaten fand. Eine
m erkw ürdige E ntw iddung ins Gegenteil. Diese dialektisdie Entfaltung
eines politischen Prinzips geht aber durch die ganze Gesdiichte der Monroe­
doktrin hindurch und liegt nicht nu r in der E ntw iddung von der Defensive
zur imperialistischen Expansion, sondern auch vom Prinzip der Nichtinter­
vention zum Instrum ent fortw ährender Interventionspolitik, vom Protest
gegen das Prinzip der L egitim ität der Heiligen Allianz zu dem heute
gehandhabten G rundsatz, daß die V ereinigten Staaten von A m erika —
auch W ilson hat das verkündet — keine amerikanische Regierung, die auf
revolutionäre W eise zur Macht gekommen ist, anerkennen und nu r legale
166 Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus

Regierungen auf dem am erikanischen K ontinent dulden. Ein neues völker­


rechtliches Legitim itätsprinzip entwickelt sich, beginnend m it dem Kampf
gegen das frühere Legitim itätsprinzip und m it der politischen Selbstisolie­
rung der Vereinigten Staaten von Am erika, und dam it endend, daß die
Vereinigten Staaten einen die ganze Menschheit um fassenden Einfluß auf
andere Mächte nehmen. Die einzelnen D aten dieser Entw icklung sollen
hier nicht dargestellt werden, es kom m t bei dieser k u rzen Übersicht auf
eins an: die M onroedoktrin, die dazu gedient hat, erst den am erikanischen
Kontinent den Vereinigten Staaten vor den europäischen Großm ächten zu
sichern, dann alle übrigen am erikanischen Staaten der Hegem onie der
Vereinigten Staaten zu unterw erfen, dann die Einmischung, die Kontrolle,
die internationale Polizei der V ereinigten Staaten auf dem am erikanischen
Kontinent zu rechtfertigen, diese M onroedoktrin h at anscheinend heute
ihren Dienst getan. Sie hat inzwischen eine R eihe von speziellen D ok­
trinen, z. B. die sog. karibische D oktrin, aus sich herausgesetzt, die nun
wieder eine spezielle Aufgabe haben. Es gibt, wie gesagt, abgesehen von
zahlreichen Büchern und Abhandlungen, zahlreiche E rk läru n g en der
Regierungen der V ereinigten Staaten, die sich auf die M onroedoktrin
beziehen. Dabei w ird immer deutlicher, daß diese M onroedoktrin eine sehr
allgemeine, sehr weite „D oktrin“ ist, welche die entgegengesetztesten
Handlungsweisen rechtfertigen kann. D ie V ereinigten Staaten haben
es z. B. unter Berufung auf diese M onroedoktrin abgelehnt, sich in irgend­
eine europäische Angelegenheit einzumischen; sie sind trotzdem 1917 in
den Krieg gegen Deutschland eingetreten, haben allerdings zugleich als
nur „assoziierte“ (nicht alliierte) Macht durch den vom V ersailler V ertrag
getrennten Frieden mit Deutschland doch w ieder ih re B esonderheit gegen­
über ihren europäischen Kampfgenossen zum Ausdruck gebracht. Sie haben
noch vor 25 Jahren unter B erufung auf die M onroedoktrin europäischen
Staaten, z. B. den europäischen G läubigerstaaten, die gegenüber Venezuela
und anderen südamerikanischen Staaten ihr Recht suchten, erlaubt, eine
amerikanische Küste zu blockieren; in anderen F ällen w iederum haben sie
unter Berufung auf dieselbe M onroedoktrin ein gleiches Vorgehen nicht
erlaubt. Sie haben erk lärt, es w iderspreche der M onroedoktrin nicht, daß
ein europäischer Staat sein Recht suche, und die M onroedoktrin stehe nicht
im Wege, wenn amerikanische Staaten, die ih re Schulden nicht bezahlen,
dazu gezwungen werden, andererseits aber nehm en sie den S tandpunkt
ein, daß darüber, ob ein am erikanischer Staat Unrecht tu e oder nicht und
ob die Rechtsverfolgung durch den in seinem Recht v erletzten nichtam eri­
kanischen Staat völkerrechtlich zulässig sei oder nicht, durch die V ereinig­
ten Staaten von Am erika entschieden w erde. W as also eigentlich der kon­
krete Inhalt dieser immer vieldeutiger w erdenden, höchst w andelbaren
M onroedoktrin ist, entscheiden die V ereinigten S taaten von sich aus. N ur
sie bestimmen, was die M onroedoktrin im k o n k reten F alle w irklich be­
deutet. Es kommt vor, daß Interventionen abgelehnt und daß sie gerecht­
fertigt werden; es kommt vor, daß die V ereinigten Staaten sich an irgend-
Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus 167

einem Vorgehen niditam erikanisdier Staaten gegen amerikanische Staaten


für desinteressiert erklären. Im m er aber halten sie an einem fest: daß
niemand einen Anspruch darauf hat, auf G rund der M onroedoktrin von
den V ereinigten Staaten irgendeine Aktion, ein Eingreifen, eine In te r­
vention, eine Hilfe, eine V erm ittlung oder irgend etwas zu verlangen,
w ährend um gekehrt die V ereinigten Staaten, w enn sie es in Anwendung
der M onroedoktrin fü r richtig halten, jederzeit von sich aus eingreifen,
intervenieren, verm itteln, oktroyieren, m it bew affneter H and einschreiten
können.
ich w ollte m it diesen A usführungen nicht die Entwicklung eines höchst
kom plizierten P rinzips m it Beispielen aus dem letzten Jah rhundert
geschichtlich schildern, sondern ein bestimm tes Prinzip des Im perialism us
auf weisen. W enn w ir die F rage stellen: W as ist eigentlich die Monroe­
doktrin m it ihren vielen U nklarheiten, W idersprüchen, ihren m erk­
würdigen A nsprüchen und Nichtansprüchen der V ereinigten Staaten, so
muß man zunächst beachten, daß die M onroedoktrin eine einseitige Re­
gierungserklärung der V ereinigten Staaten ist, eine Botschaft des P räsi­
denten aus dem Jah re 1823. Sie ist kein V ertrag: sie ist nicht mit anderen
Staaten vereinbart. Die V ereinigten Staaten haben sie, wie Wilson 1916
betont hat, auf G rund ih re r eigenen A utorität von sich aus verkündet und
legem großen W ert darauf, daß sie das getan haben. D enn daraus folgt,
daß die Definition und die In terp retatio n der M onroedoktrin ausschließlich
Sache der V ereinigten Staaten ist. D ie V ereinigten Staaten schließen aber
trotzdem keinen V ertrag und lassen sich auf keine völkerrechtlichen Be­
ziehungen ein, ohne den selbstverständlichen, w enn auch nicht immer aus­
gesprochenen V orbehalt der M onroedoktrin zu machen. W as dann aber die
M onroedoktrin in concreto bedeutet, das, wie gesagt, interpretieren, defi­
nieren und bestim m en sie selbst. D ie M onroedoktrin ist eben kein V ertrag,
sondern eine einseitige E rk läru n g der V ereinigten Staaten. Sie ist außer­
dem sogar n u r eine R egierungserklärung; es w ird W ert darauf gelegt, daß
die gesetzgebenden K örperschaften niem als ausdrücklich die Monroe­
doktrin beschlossen haben. Man könnte sie also nötigenfalls auch jed e r­
zeit desavouieren. Alles kom m t d arauf an, die E lastizität eines solchen
Prinzips richtig zu sehen und zu deuten.
Es fragt sich w eiter: Ist die M onroedoktrin überhaupt etwas, was mit
Völkerrecht zu tu n hat? Sie figuriert in jedem Lehrbuch des Völkerrechts,
es gibt über sie zahlreiche völkerrechtliche D issertationen, Abhandlungen,
Aufsätze, aber ist sie w irklich V ölkerrecht oder „n u r“ eine politische
Maxime? In offiziellen E rk läru n g en der am erikanischen Regierung und
der verschiedenen S taatssekretäre findet m an A nhaltspunkte sowohl für
das eine als auch fü r das andere. Auch hier sind offene W idersprüche. D er
S taatssekretär O lney sagt zum Beispiel 1895: Diese M onroedoktrin ist ein
l e i l des am erikanischen public law, sie ist auf allgem einen Rechts­
prinzipien (zum Beispiel der Selbstverteidigung) gut fundiert und durch
168 Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus

zahllose Präzedenzfälle überreichlich sanktioniert. Danach w äre sie also


R edit und nidit nur Politik. U m gekehrt sagt S taatssekretär Knox 1911: Die
M onroedoktrin hat überhaupt m it Recht im technischen Sinne nichts zu tun,
sie beruht nur auf Politik und Macht. D araus muß vor allem der Schluß
gezogen werden, daß niem and gegen die V ereinigten Staaten Rechts-
ansprüdie aus der M onroedoktrin geltend machen kann.
Aber die ganze Fragestellung: Ist die M onroedoktrin etwas Völker­
rechtliches oder etwas Politisches, ein Rechtsprinzip oder nu r ein poli­
tisches A ktionsprinzip der V ereinigten Staaten? leidet an einer A lter­
native von Recht und Politik, die sich im Völkerrecht nicht konsequent
durdiführen läßt. Es w äre falsch, zu meinen, daß es einfach ein machiavel-
listischer Trick der V ereinigten Staaten ist, wenn sie sich an eine so viel­
deutige und „elastische“ Maxime halten. Das Völkerrecht wie auch das
Verfassungsrecht ist eben politisches Recht. Man kann nicht sagen: die
M onroedoktrin sei „rein politisch“ und gehöre deshalb nicht ins Völker­
recht (so zum Beispiel K. Strupp in seinem „W örterbuch des Völkerrechts“).
Die V ölkerrechtslehrer behandeln sie trotzdem , auch wenn sie zu dem
Ergebnis kommen, sie sei „nicht Recht, sondern P olitik“. Sie ist eben doch
ein wesentlicher Teil des internationalen Rechts, einmal insofern, als sie
gewisse allgemeine Prinzipien, zum Beispiel das Recht auf Selbstverteidi­
gung, zur konkreten Anwendung bringen will, dann, weil sie in allen
V erträgen der Vereinigten Staaten wenigstens als V orbehalt anerkannt ist.
Mit der wachsenden Macht der Vereinigten Staaten haben sich alle Staaten
stillschweigend der M onroedoktrin unterw orfen. Ein sehr interessantes
Symptom dieser A nerkennung ist A rtikel 21 der G enfer Völkerbund­
satzung. D ort ist ausdrücklich gesagt, daß die M onroedoktrin nicht in
W iderspruch m it der V ölkerbundsatzung stehe. U ber diesen A rtikel 21
der V ölkerbundsatzung ist gleich noch w eiteres zu sagen. A ber wenn die
Völkerbundsatzung selber die M onroedoktrin als eine „V erabredung“
bezeichnet oder, wie man den A rtikel 21 auch deuten kann, als eine
„Entente“, so zeigt sich schon in solchen Ausdrücken, daß man mit der prim i­
tiven A lternative: Nicht Völkerrecht, sondern Politik an ein eigenartiges
Phänom en wie die M onroedoktrin nicht heran treten darf. Die Monroe­
doktrin ist natürlich ein politisches Instrum ent. A ber jed er Rechtsbegriff
des Völkerrechts ist ebenfalls ein solches politisches Instrum ent. Es ist ein
ungeheurer Erfolg der V ereinigten Staaten, daß es ihnen gelungen ist, eine
solche „D oktrin“ durchzusetzen und die gesamte übrige W elt, alle anderen
Staaten und \ rölker zu zwingen, ein höchst unklares, vieldeutiges, oft
widerspruchsvolles, jedenfalls aber n u r von den Vereinigten Staaten zu
interpretierendes und authentisch zu deutendes Prinzip anzuerkennen, mit
dem Ergebnis, daß man von den V ereinigten Staaten nichts verlangen
kann, was der M onroedoktrin nicht entspricht, w ährend die Vereinigten
Staaten jederzeit Respekt vor der M onroedoktrin verlangen können, wobei
gleichzeitig anerkannt ist, daß n u r die Vereinigten Staaten genau bestim­
men dürfen, was im Zweifelsfalle der Inhalt der M onroedoktrin ist.
Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus 169

Diese m erkw ürdige E lastizität und D ehnbarkeit, diese Offenhaltung


aller Möglichkeiten, diese O ffenhaltung vor allen Dingen auch der A lter­
native Recht oder Politik, ist m einer Meinung nach typisch für jeden echten
und großen Im perialism us. Es ist nicht denkbar, daß eine Großmacht und
noch weniger, daß eine im perialistische W eltmacht sich juristisch auf einen
Codex von festen Norm en und Begriffen festlegt, die ein außenstehender
Frem der gegen sie selber handhaben dürfte. Das Wesentliche hat Hughes
im Jahre 1925 so zusammengefaßt: Die Definition, Interpretation und An­
wendung der M onroedoktrin ist Sache der Vereinigten Staaten. Jeder, der
mit ihnen in völkerrechtliche Beziehungen tritt, muß wissen, daß die Ver­
einigten Staaten daran festhalten; jeder, der mit den Vereinigten Staaten
einen V ertrag schließt, weiß, daß der V ertrag unter diesem Vorbehalt steht.
Heute allerdings haben es die V ereinigten Staaten eigentlich kaum noch
nötig, sich auf die M onroedoktrin zu berufen. Sie sind aus einem Schuldner­
ein G läubigerstaat geworden. Die M onroedoktrin hat ihre Schuldigkeit
getan, sie hat den am erikanischen K ontinent der Hegemonie der Vereinig­
ten Staaten unterw orfen. Jetzt ergibt sich nach zwei Richtungen hin eine
Aufspaltung: einerseits müssen sich die Vereinigten Staaten in ih rer Hege­
monie innerhalb des am erikanischen Kontinents einrichten, und zwar
naturgem äß nach neuen Prinzipien. H ier kommt man mit der alten Monroe­
doktrin nicht m ehr aus, m an braucht intensivere und enger juristische
Formen; denn die w eite E lastizität der M onroedoktrin ist nu r so lange gut,
als die Entscheidung noch nicht zugunsten der V ereinigten Staaten gefallen
ist. Auf der anderen Seite haben die V ereinigten Staaten außerhalb
Amerikas m it der gesam ten übrigen W elt Beziehungen, sie sind nahe
daran, zum Schiedsrichter der W elt zu werden. Aus beidem — der Kon­
zentrierung innerhalb des am erikanischen Kontinents auf der einen, der
W eltexpansion auf der anderen Seite — ergibt sich w ieder eine Reihe von
charakteristischen völkerrechtlichen Vorgängen und Neubildungen. Die
Konzentration und Befestigung der Hegemonie hat zu charakteristischen
neuen M ethoden der H errschaft über die zentralam erikanischen Staaten
geführt, zu neuen völkerrechtlichen Form en des Imperialismus. W aren für
den Kolonialim perialism us der europäischen V ölker im 19. Jahrhundert
Gebilde wie P ro tek to rate und Kolonien charakteristisch, so ist es die
eigentliche Leistung der V ereinigten Staaten von Am erika, den In te r­
ventionsvertrag und verw andte Rechtstitel der Intervention erfunden
zu haben. D ie Entwicklung ging aus von dem Prinzip der N ichtinter­
vention, von dem als heilig hingestellten Prinzip der Nichtintervention
— das w ar die G rundlage der M onroedoktrin von 1823; sie endete bei einer
Praxis, welche die Intervention nicht nu r rechtfertigt, sondern sogar eine
spezielle und typische A rt von Interventionsverträgen schafft. In W ahrheit
gehört zu jedem Im perialism us, weil Im perialism us immer auch Hege­
monie bedeutet, eine Intervention in Angelegenheiten anderer abhängiger
Staaten. Die Form en und M ethoden der Intervention sind aber sehr ver­
schieden. Die Intervention F ran k reid is in die Angelegenheiten der Staaten
170 Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus

der Kleinen Entente bedient sich anderer Form en und M ittel als die In te r­
vention Englands in die A ngelegenheiten Ä gyptens. A ber den eigentlichen
Interventionsvertrag, das heißt eine juristisch form ulierte Abmachung, die
es dem einen Staat erlaubt, u nter typischen V oraussetzungen m it typischen
M itteln in die Angelegenheiten eines anderen Staates einzugreifen, haben
erst die Vereinigten Staaten gefunden. Sie haben das System der Inter-
ventionsverträge insbesondere auf die Staaten Z entralam erikas ausgedehnt,
auf Kuba, Haiti, San Domingo, Panam a, N ikaragua usw. A lle diese Staaten
sind mit den Vereinigten Staaten durch eine charakteristische A rt von V er­
trägen verbunden und ihnen unterw orfen, sie bleiben ab er offiziell „sou­
veräne“ Staaten. Von den alten Form en der P ro te k to ra te und K olonien ist
nicht viel übriggeblieben. Diese Staaten haben eine eigene R egierung,
eigene völkerrechtliche V ertretung, eigene G esandte usw., doch stehen sie
unter einer sehr effektiven „K ontrolle“ der V ereinigten Staaten. Ein
sehr klares Beispiel eines solchen Interventionsvertrages ist der V ertrag,
den Kuba als Entgelt dafür, daß es die U nabhängigkeit von Spanien aus
der H and der Vereinigten Staaten entgegennehm en m ußte, einzugehen
gezwungen w urde. Die V ereinigten Staaten haben 1898 Spanien den K rieg
erklärt, um K uba zu befreien und K uba zu einem souveränen, unabhän­
gigen und freien Staate zu machen. D ie W elt w ar zunächst e rsta u n t über
der Großm ut, mit dem ein großes Volk fü r die F reih eit eines anderen Volkes
in den Krieg zog und dabei feierlich die souveräne F re ih e it der kub an i­
schen R epublik garantierte. D ie neue kubanische R epublik sah sich aber
sofort, und zwar als amerikanische Soldaten auf der Insel w aren, genötigt,
einen V ertrag mit den V ereinigten Staaten zu schließen, dessen In h alt sich
aus dem sogenannten P latt Am endm ent ergab, wonach K uba der Regie­
rung der Vereinigten Staaten das Recht gab, zu interv en ieren — der Aus­
druck „intervenieren“ w ird dabei gebraucht —, u nd zw ar fü r die E rhaltung
der U nabhängigkeit Kubas, fern er zu der Sicherung einer kubanischen
Regierung, die imstande ist, Leben, Eigentum und persönliche F re ih e it zu
schützen und die öffentliche Sicherheit und O rdnung in K uba aufrechtzu­
erhalten, endlich zur Sicherung gew isser finanzieller F orderungen. Es
handelt sich vor allem darum , Leben, Eigentum und F re ih e it zu schützen.
Das bedeutet: das in K uba angelegte am erikanische K ap ital steht u n ter
dem Schutz der Vereinigten Staaten von A m erika, die V ereinigten Staaten
entscheiden von sich aus darüber, ob eine kubanische R egierung im stande
ist, ausreichenden Schutz zu gew ähren und öffentliche Sicherheit und
O rdnung in K uba aufrechtzuerhalten. K uba gibt d er R egierung der
Vereinigten Staaten ausdrücklich das Recht, u n ter diesen V oraussetzungen,
über deren E in tritt die V ereinigten S taaten entscheiden, in die in n erstaat­
lichen Verhältnisse Kubas einzugreifen. In dem V ertrag ist vorgesehen,
daß bestimmte Flottenstationen, Kohlen- und Ö lstationen auf K uba den
Vereinigten Staaten überlassen w erden, dam it d eren In terv en tio n sogleich
mit der nötigen m ilitärischen und m aritim en Nachdrücklichkeit erfolgen
kann. Die Vereinigten Staaten haben öfters T ru p p en auf K uba gelandet.
Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus 171

Nicht nu r 1900, 1901 und 1902, auch später sind regelmäßig w ieder am erika­
nische T ruppen auf K uba erschienen; eine Landung am erikanischer
M arinesoldaten erzw ang den R ücktritt eines kubanischen Präsidenten und
führte die Bildung einer kubanischen R egierung herbei, die bestimm ten
amerikanischen Gesellschaften neue Konzessionen zu verleihen bereit w ar,
oder um die finanzielle O rdnung w iederherzustellen. Bei der Landung im
Jahre 1912 w urde ausdrücklich e rk lärt, es handle sich nicht um eine
Intervention, w eil ja der V ertrag den V ereinigten Staaten das Recht zur
Intervention gebe. Im Jah re 1919 ergab sich der interessante F all einer
Landung zur Sicherung unabhängiger W ahlen.
D ieser Interventionsvertrag m it K uba ist — darin liegt das neue,
juristisch besonders Interessanteste — in einer doppelten Weise fundiert.
Der V ertrag ist nämlich einm al ein völkerrechtlicher V ertrag zwischen der
neuen, souveränen R epublik K uba und den V ereinigten Staaten; außer­
dem aber haben die V ereinigten Staaten die kubanische N ationalversam m ­
lung und die Pœgierung 1901 gezwungen, den Inhalt des Interventions­
vertrages in die kubanische Verfassung aufzunehm en, und zwar mit der
vollen K raft eines Verfassungsgesetzes, so daß der Inhalt des In te r­
ventionsvertrages sowohl völkerrechtlich als auch innerstaatlich-verfas­
sungsrechtlich als Teil der kubanischen Verfassung gesichert ist. Die ku b a­
nische verfassunggebende Nationalversam m lung, die sich dagegen zu
wehren suchte, h at dem Druck am erikanischer Kriegsschiffe und T ruppen
nachgeben müssen. Die Vollendung dieses Systems liegt dann in der
w eiteren Bestimmung, daß der souveräne Staat K uba sich verpflichtet,
keinen V ertrag zu schließen, der seine U nabhängigkeit gefährden könnte,
daß die V ereinigten Staaten das Monopol des Schutzes dieser U nabhängig­
keit haben und — ohne verpflichtet zu sein, die völkerrechtliche V ertretung
Kubas nach außen zu übernehm en — doch den gesamten außenpolitischen
V erkehr und alle völkerrechtlichen V ereinbarungen der K ubaner kon­
trollieren dürfen, w eil sie ja darauf zu achten haben, daß die K ubaner
gegenüber einem d ritten Staat, sei er am erikanisch oder nichtamerikanisch,
sich nicht in einer W eise binden, in welcher die V ereinigten Staaten eine
G efährdung der kubanischen U nabhängigkeit erblicken.
W ir erin n ern uns der E rörterungen aus dem Sommer 1931 über den
Begriff der „U nabhängigkeit“ anläßlich der Pläne einer Zollunion zwischen
Österreich und Deutschland. Dam als erhob sich die Frage, ob durch eine
solche Zollunion zwischen Ö sterreich und Deutschland die U nabhängigkeit
Österreichs gefährdet w ürde. Im F alle K uba w äre eine analoge Frage nicht
einmal ein juristisches Problem , sondern auch juristisch ohne w eiteres im
imperialistischen Sinne entschieden. So schnell kann in politischen Bezie­
hungen ein dialektischer Umschlag eintreten, und derjenige, der die
F reiheit und U nabhängigkeit eines andren Staates schützt, ist natürlicher-
und logischerweise selbst derjenige, dessen Schutz die F reiheit und
U nabhängigkeit des Beschützten aufhebt. Es w ird aber aus vielen guten
Gründen, von denen w ir noch einige kennenlernen w erden, daran fest-
172 Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus

gehalten, daß die Vereinigten Staaten nicht etw a ein „P ro tek to rat“ über
K uba in dem veralteten Sinne des 19. Jah rhunderts haben, das w äre ja eine
völkerrechtliche Form, die sich für die Beziehungen zwischen zivilisierten
und halbzivilisierten Völkern ergeben hat. Beide Staaten sollen viel­
m ehr hinsichtlich der Zivilisation auf der gleichen Stufe stehen. A ber der
eine ist nun einmal leider nicht imm er imstande, die öffentliche Sicherheit
und O rdnung bei sich aufrechtzuerhalten und das Privateigentum zu
schützen, unparteiische W ahlen durchzuführen, sich den richtigen Präsi­
denten zu w ählen usw., und so k o n tio llie rt und k o rrig ie rt ihn der andere
in der besten Absicht, ohne daß das offiziell eine Form der U nterw erfung
bedeutet. Auf der Basis form eller völkerrechtlicher Gleichberechtigung
entstehen hier m erkw ürdige, für unser kontinentaleuropäisches Denken
vielleicht allzu elastische Form en der H errschaft, der K ontrolle, der Inter­
vention, die der politischen W irklichkeit angehören und auch völkerrecht­
lich ihre spezifischen Besonderheiten haben.
Es gibt ein ganzes System solcher Interventionsverträge der Ver­
einigten Staaten mit anderen lateinam erikanischen Staaten. Insbesondere
ist der militärische Schutz des Panam akanals und dam it die politische H e rr­
schaft über diesen K anal Sache der V ereinigten Staaten. D ie R epublik
Panam a, die zu diesem Zwecke eigens gegründet w urde und den typischen
Interventionsvertrag abschließen mußte, hat den V ereinigten Staaten das
zur m ilitärischen und m aritim en Beherrschung notw endige Land ab­
getreten und ist w eitere V erträge eingegangen, die ebenfalls zu perio­
dischen T ruppenlandungen in Panam a führen, u nter denen aber ein Ver­
trag besonders auffällig ist, weil er im Zusamm enhang m it dem Kellogg-
p ak t Interesse verdient, nämlich der V ertrag vom 28. Juli 1926. Durch ihn
hat Panam a sich verpflichtet, für den Fall, daß die V ereinigten Staaten in
einen Krieg eintreten, gleichgültig auf welchem Teil der E rde der Krieg
sich abspielt, sich selbst, Panama, auf seiten der V ereinigten Staaten als
kriegführende P artei zu betrachten. Also unabhängig davon, ob es zu einem
Angriff auf Panam a gekommen ist, unabhängig davon, ob der K anal selber
angegriffen w ird, ist die R epublik Panam a verpflichtet, sich als krieg­
führende P artei zu betrachten, sobald die V ereinigten Staaten in irgend­
einem Teil der Erde Krieg führen.
Diese Methode der Interventionsverträge fü h rt zu einer im Effekt be­
sonders intensiven Form der U nterw erfung eines anderen Staates, aber die
juristische Form ist so „rechtlich“ und auf „K oordination“ beruhend, so un­
auffällig und elastisch, daß die abhängigen Staateçi in dem Spielraum , der
ihnen bleibt, überall ihren außenpolitischen V erkehr haben können, außen­
politische Beziehungen unterhalten wie je d e r andere souveräne Staat, und
daß sie vor allen Dingen M itglieder des G enfer V ölkerbundes sind, obwohl
nach der Völkerbundsatzung nu r freie und sich selbst regierende Staaten
M itglieder des Völkerbundes sein dürfen. Alle diese Staaten, die unter
Interventionsverträgen stehen und sich im m er w ieder Truppenlandungen
gefallen lassen müssen, selbst ein Staat wie Panam a, der jen en V ertrag
Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus 173

von 1926 m it den V ereinigten Staaten geschlossen hat, gelten als freie,
souveräne Staaten, sind vollberechtigte M itglieder des Völkerbundes.
Panam a ist gegenw ärtig (F ebruar 1932) sogar M itglied des V ölkerbundrates.
D ie am erikanische M ethode der Interventionsverträge ist nun bisher
im w esentlichen auf A m erika beschränkt geblieben. D ie Vereinigten
Staaten haben kein Interesse daran, vorläufig wenigstens nicht, eine solche
P raxis auf an d ere K ontinente auszudehnen. Sie haben außerdem noch ein
zweites, sehr w irksam es M ittel, ih re Hegem onie auf dem am erikanischen
K ontinent zu r D urchführung zu bringen: ih re P raxis der A nerkennung
neuer R egierungen. In den lateinam erikanischen Staaten, in denen es häufig
zu Revolutionen, Staatsstreichen und Putschen kommt, hängt für die je ­
weilige R egierung finanziell und politisch alles davon ab, von den Ver­
einigten Staaten a n e rk a n n t zu w erden. H ier haben die V ereinigten Staaten
ein sehr einfaches P rinzip: sie erkennen revolutionäre Regierungen nicht
an und lassen n u r legale R egierungen gelten. W ir wissen in Deutschland
leider aus E rfah ru n g , daß es u n ter U m ständen sehr schwierig ist, Legalität
und Illeg alität genau zu unterscheiden, nam entlich w enn es w irklich zum
bew affneten B ü rgerkrieg kom m en sollte. Solche F ragen w erden für die
am erikanischen Staaten in w eitem Maße durch die Vereinigten Staaten
entschieden. D iese sind infolgedessen heute imstande, über das Schicksal
der R egierung fast jedes am erikanischen Staates zu befinden. Außerdem
haben viele am erikanische S taaten u n ter sich V erträge geschlossen, in denen
sie sich verpflichten, keine anderen als „legale“ Regierungen anzuerkennen.
Das alles h a t bei den fortw ährenden Revolutionen und Putschen vor allem
die praktische Bedeutung, daß die V ereinigten Staaten bestimmen, welche
R egierung legal ist oder nicht.
D aneben bleiben natürlich auch allgem eine völkerrechtliche Prinzipien,
deren sich die V ereinigten S taaten bedienen, von großer Bedeutung. Zwar
nicht offiziell von den V ereinigten Staaten, wohl aber von V ölkerrechts­
theo retik ern und -p ra k tik e rn der V ereinigten Staaten ist z. B. der Satz
aufgestellt w orden, das P rivateigentum sei auch in dem Sinne „heilig“,
daß ein Staat, selbst w enn er eigene Staatsangehörige enteignet, A usländer
doch nicht, w enigstens nicht ohne volle Entschädigung, enteignen dürfe.
Es ist begreiflich, daß eine solche T heorie in einem Staate, der G läubiger
der ganzen W elt ist und dessen K apitalisten Riesensum men in anderen
Staaten in vestiert haben, ih re A nw älte findet. Seit etw a zwei Jahren w ird
sie allerdings auch in D eutschland von m ehreren A utoren vertreten. Ich
halte sie nicht fü r richtig* kan n ab er verstehen, daß man sie vom am eri­
kanischen S tandpunkt aus v e rtritt. Es ist eine typisch amerikanische
Theorie, eine Theorie, die zu einem Staat gehört, dessen imperialistische
Expansion in d er E xpansion seiner kapitalistischen Anlage- und Aus­
beutungsm öglichkeiten besteht.
In der P ra x is der Interventionsverträge und der A nerkennung neuer
R egierungen hebt sich schon die B esonderheit erkennbar ab, m it der die
V ereinigten Staaten sich als hegemonische Macht auf dem amerikanischen
174 Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus

K ontinent einriditen. A uf der andern Seite, gegenüber d er außeram eri­


kanischen W elt, ergibt sich eine Reihe von anderen M ethoden zur Sicherung
des Einflusses. Denn faktisch sind die V ereinigten S taaten in w eitem Maße
der Schiedsrichter der Erde. Sie allein haben dui*ch ih r E ingreifen 1917 den
W eltkrieg zuungunsten Deutschlands entschieden; sie haben den bis dahin
im wesentlichen europäischen K rieg dadurch ü b e rh a u p t erst zu einem W elt­
krieg gemacht; sie haben sich dann gleich nach dem K rieg auf eine m erk­
w ürdige Weise w ieder zurückgezogen. Man darf das nicht so auffassen,
als ob die Vereinigten Staaten sich aus irgendeinem im perialistischen Ü ber­
mut auf die ganze W elt stürzten; es ist vielm ehr interessant, zu sehen,
wie oft sie halb gegen ihren W illen gedrängt w erden, sich auch dort zu
beteiligen, wo sie sich nicht einmischen möchten. So sind sie in den W elt­
krieg eingetreten; so sind sie es gewesen, die eigentlich die europäischen
Mächte, insbesondere Frankreich, gezw ungen haben, den G enfer V ölker­
bund zu gründen; und so sind gerade sie dann w ieder diesem selben V ölker­
bund nicht beigetreten, haben jedoch den von ihnen abhängigen und
kontrollierten, an sie gebundenen am erikanischen Staaten, w ie Kuba,
Panam a usw., erlaubt, M itglieder des G enfer V ölkerbundes zu w erden.
Achtzehn amerikanische Staaten, ein D ritte l der M itglieder des V ölker­
bundes, entscheiden jetz t mit bei allen europäischen und asiatischen An­
gelegenheiten, aber die am erikanische M onroedoktrin, deren V orrang, wie
gesagt, in A rtikel 21 der V ölkerbundsatzung ausdrücklich a n e rk a n n t ist,
geht der Völkerbundsatzung vor und v e rh in d e rt es, daß der G enfer V ölker­
bund sich in am erikanische A ngelegenheiten einmischt. P anam a und G uate­
m ala sind M itglieder des V ölkerbundes. W enn zwischen Panam a und
G uatem ala eine Differenz entstände, so h ätte der G enfer V ölkerbund nicht
das Recht, sich einzumischen, obwohl beide S taaten M itglieder des V ölker­
bundes sind. O der w enn am erikanische T ru p p en dort m it großem m ili­
tärischen und m aritim en Aufgebot landen, und w enn sie in N ikaragua,
Panam a oder H aiti aktiv tätig w erden, so sind das D inge, die G enf nichts
angehen, w ährend um gekehrt diese am erikanischen Staaten, sämtlich voll­
berechtigte M itglieder des V ölkerbundes, an allen Entscheidungen in Genf,
die sich auf europäische A ngelegenheiten beziehen, beteiligt sind. Es ist
so, daß von den V ereinigten Staaten k o n tro llierte am erikanische Staaten
über europäische Angelegenheiten m it entscheiden, ab er um gekehrt jede
Einmischung des G enfer V ölkerbundes auf G ru n d der M onroedoktrin fü r
unzulässig e rk lä rt w erden kann.
D er V ölkerbund ist also, w enn ich so sagen darf, auf dem am eri­
kanischen Bein gelähm t, wohl aber haben die A m erikaner volle M itw irkung
bei der Entscheidung in europäischen A ngelegenheiten, etw a in M inder­
heitsfragen, Memelkonflikt, österreichisch-deutsche Zollunion usw. D as ist
ein sehr interessantes System. Es liegt in der T at System darin, nicht im
machiavellistischen Sinne bew ußte P lanm äßigkeit; sondern das C h a ra k te ­
ristische für diese eigenartige M ethode der am erikanischen P o litik b e ru h t
einfach darauf, daß die V ereinigten Staaten, w enn es sich um E uropa
Yölkerreditlidie Formen des modernen Imperialismus 175

handelt, offiziell abwesend, effektiv aber anwesend sein können. Sie sind
anwesend, denn w eder Kuba noch Panam a können nennensw erte politische
Schritte tun ohne die ausdrückliche oder stillschweigende Bewilligung der
Vereinigten Staaten; trotzdem sind diese offiziell abwesend. Aber auch
über die G enfer Völkerbundsangelegenheiten hinaus funktioniert diese
eigenartige und höchst elastische Verbindung von offizieller Abwesenheit
und effektiver Anwesenheit. Es genügt, den D aw esplan von 1924 zu nennen:
ein A m erikaner, ein „citizen of the U nited States“, macht die Sache, ent­
scheidet im wesentlichen, aber es ist offiziell nicht die Regierung, sondern
eben nu r ein citizen of the U nited States, der entscheidet. Wilson hat, wie
erw ähnt, die französische R egierung gezwungen, sich an der Gründung
des Völkerbundes zu beteiligen; als der Völkerbund gegründet war, haben
die Vereinigten Staaten sich zurückgezogen. Wilson hat den Art. 21 der
Völkerbundsatzung erzw ungen, gegen den der französische Jurist Larnaude
sehr verständige juristische Einwendungen gemacht hat. Als Wilson ver­
langte, daß die A nerkennung der M onroedoktrin in den T ext der Völker­
bundsatzung hineingeschrieben werde, daß die M onroedoktrin einer solchen
Völkerbundsatzung vorgehe, stellte L arnaude eine Reihe von Gegenfragen,
namentlich über den Inhalt der M onroedoktrin, der ja, wie oben ausgeführt,
nicht leicht zu bestimm en ist, sondern alles Wesentliche der Entscheidung
und Interpretation der V ereinigten Staaten überläßt. Danach hat Wilson
nach einigen allgem einen Redewendungen einfach apodiktisch verlangt,
daß die A nerkennung der M onroedoktrin in der Form, wie er es vorschlage,
in die V ölkerbundsatzung auf genommen werde, weil sonst die Vereinigten
Staaten ihre w eitere M itw irkung verw eigern müßten. So ist die U nter­
werfung denn auf genommen w orden und steht in A rt. 21 der Satzung
als deren vollgültiger Bestandteil, aber die Vereinigten Staaten sind dem
V ölkerbund nicht beigetreten und nicht Mitglied geworden. D er Genfer
Völkerbund hat sich also der M onroedoktrin unterw orfen und sogar im
Text seiner Satzung die Ü berlegenheit der anierikanischen Prinzipien
und der am erikanischen Politik m anifestiert. D er V olkerbundrat verm eidet
jede k lare Stellungnahm e und Interpretation dieses A rtikels 21. Es ist in
der Tat im D ezem ber 1928, anläßlich eines Streites zwischen Bolivien und
Paraguay, als der V ölkerbundrat versam m elt w ar, vorgekommen, daß der
Völkerbundrat drei Telegram m e an die Regierungen dieser Staaten ge­
schickt hat, in denen er die streitenden P arteien erm ahnte, ihre Diffe­
renzen auf friedliche W eise beizulegen. Als eine Woche später der damalige
‘R atsvorsitzende B riand gefragt w urde, wie sich die Angelegenheit w eiter-
entwickelt habe, stellte sich heraus, daß die beiden amerikanischen V ölker­
bundsm itglieder sich in W ashington geeinigt hatten. W eder von W ashington
aus, noch durch die bolivianische Regierung, noch durch die Regierung von
Paraguay ist der G enfer V ölkerbundrat über den w eiteren Gang der
Dinge inform iert w orden, obwohl das wenigstens aus Höflichkeit hätte
geschehen können.
176 Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus

Auf dem am erikanischen K ontinent ist der G enfer V ölkerbund n u r zu


solchen E inw irkungen imstande, welche die V ereinigten S taaten tolerieren.
Es kommt sehr häufig zur m ilitärischen Besetzung am erikanischer Staaten
durch die T ruppen der V ereinigten Staaten. H eute noch stehen sie in H aiti,
1921 standen sie in Paraguay, 1924 in Panam a, 1926 in N ikaragua zur
W iederherstellung der O rdnung usw. Alle diese S taaten sind M itglieder
des G enfer Völkerbundes. A ber der G enfer V ölkerbund sieht solche Vor­
gänge nicht und ignoriert sie. Man w ürde es in G enf w ohl als eine T ak t­
losigkeit empfinden, die Rede überh au p t auf diese F rag e zu bringen.
Die V ereinigten Staaten sind bisher auch die einzige Macht, die in der
Frage der A brüstung einen ratifizierten V ertrag herb eig efü h rt haben. Aus
den vielen Abrüstungsvorschlägen, die gemacht w orden sind, ist das
W ashingtoner Abkommen von 1921 als der bisher einzige p erfek t ge­
wordene A brüstungsvertrag hervor gegangen. E r ist nicht in Genf, sondern
in W ashington zustande gekommen.
D er K elloggpakt drückt sozusagen das Siegel auf diese Entwicklung.
E r w urde am 27. August 1928 in P aris unterzeichnet und trä g t den Namen
des am erikanischen Staatssekretärs Kellogg. Auch die feierliche „Ächtung
des K rieges“ ist also von W ashington und nicht von G enf ausgegangen.
Dieses wichtige Ereignis bedarf noch einer k urzen E rö rteru n g , denn hier
handelt es sich ja um die große F rage: w er stellt den F ried en auf der
Erde her? W ir alle wünschen den Frieden, aber die F rag e ist leider die:
w er entscheidet darüber, was F ried en ist, w er d arü b er, w as O rdnung und
Sicherheit ist, w er darüber, was ein erträglicher und w as ein unerträglicher
Zustand? Und diese Entscheidung üb er den F ried en auf E rden hat die
R egierung der V ereinigten Staaten der G enfer société des nations durch
den K elloggpakt aus der H and genommen. D er K elloggpakt von 1928 ent­
hält, wie bekannt, eine „Ächtung des K rieges“; ihm haben sich fast alle
Staaten der E rde angeschlossen, auch S ow jetrußland, die T ü rk e i und andere
Staaten, die nicht M itglieder des V ölkerbundes sind. D er K rieg ist, wenig­
stens „form al“, nicht durch den G enfer V ölkerbund, sondern durch den
K elloggpakt geächtet.
Sehen w ir etw as näher zu, was das bedeutet. Es heißt in dem sehr
kurzen Pakt, der K rieg w erde „verdam m t“ (to condemn). A ber er w ird
nicht schlechthin „v eru rteilt“ und keinesw egs „abgeschafft“. Im K elloggpakt
steht nicht: „nie w ieder K rieg“. Sondern n u r als „Instrum ent der nationalen
P olitik w ird der Krieg veru rteilt. N un m üßten w ir natürlich die F rage
stellen: w ann sind K riege ein Instrum ent d er nationalen P o litik und was
sind die andern Kriege? Es gibt Kriege, die als ein Instrum ent nationaler
P olitik „geächtet w erden und nie w ieder Vorkommen dürfen, und es gibt
andere Kriege, von denen nichts gesagt ist, die also, juristisch gesprochen,
e contrario erlau b t sind. B riand h at in seinem Notenwechsel m it Kellogg
folgende klassischen E rläuterungen gegeben: ein K rieg ist dann ein In stru ­
m ent nationaler Politik, wenn er aus W illkür, E igennutz und U ngerechtig­
keit geführt w ird. D abei w ird ausdrücklich betont, daß K riege, die ein
Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus 177

Instrum ent in tern atio n aler P olitik sind, eo ipso gerecht sind. Sie sehen
hier ganz typische Form en verschiedener Im perialism en. D er Im perialism us
führt keine nationalen K riege, diese w erden vielm ehr geächtet; er führt
höchstens K riege, die einer internationalen Politik dienen; er fü h rt keine
ungerechten, n u r gerechte K riege; ja, w ir w erden noch sehen, daß er über­
haupt nicht K rieg fü h rt, selbst w enn er m it bewaffneten Truppenm assen,
Tanks und P an zerk reu zern das tut, was bei einem andern selbstverständ­
lich K rieg w äre. Vom S tandpunkt des Deutschen könnte man jetzt die
w eitere F rage erheben, welche A rt von K riegen in W irklichkeit die ge­
rechtere ist, die im perialistisch-internationalen oder die nationalen, aber
es w äre nach dem k lare n W ortlaut des K elloggpaktes schon ein Irrtum ,
zu glauben, der K elloggpakt enthalte in seinem W ortlaut, wenigstens pro
forma, eine Ächtung a lle r denkbaren Kriege. Nach den E rfahrungen der
Nachkriegszeit m üssen w ir vielm ehr eine andere Frage stellen: wenn w irk­
lich der K rieg, sei es auch n u r der als „Instrum ent einer nationalen Politik
dienende K rieg“, geächtet und verdam m t w ird, was ist dann überhaupt
ein Krieg? Ich brauche nicht an die Vorgänge in C hina zu erinnern, um
Ihnen zu zeigen, daß eine solche Frage leider sehr nahe liegt. W ir haben
es erlebt, daß Ja h r fü r Ja h r große T ruppenlandungen stattfinden. W ir haben
große m ilitärische Zusamm enstöße erlebt, Beschießungen von Küsten, Lan­
dungen italienischer Schiffe in Korfu, Landungen am erikanischer M arine­
truppen in Panam a, N ikaragua usw., Invasion der Franzosen und Belgier
in das deutsche R uhrgebiet usw. Das alles galt nicht als Krieg und w ar
daher auch nicht „geächtet“. W as also ist eigentlich Krieg? W ir erhalten
eine kennzeichnende A ntw ort durch den Aufsatz eines bekannten Pazi­
fisten und Professors in Genf, H ans W ehberg, in der Zeitschrift „Die
F rieden sw arte“ (Janu ar 1932). D ort heißt es: „Nach geltendem Recht kann
man im F alle des chinesisch-japanischen Konflikts nu r von einer m ili­
tärischen Besetzung, nicht von einem Kriege sprechen. An diesem Ergebnis
kann auch die Tatsache nichts ändern, daß die sogenannte ,friedliche Be­
setzung* (occupatio pacifica), mag sie nun als bewaffnete Intervention zum
Schutz von Leben und Eigentum japanischer Staatsbürger oder als R epres­
salie gegenüber chinesischen V ölkerrechtsverletzungen begründet werden,
von Bom bardem ents, ja sogar von Schlachten größeren oder kleineren Um­
fanges begleitet w a r.“ Es liegt also n u r eine friedliche Besetzung vor, kein
Krieg. Wie ist eine Jurisprudenz möglich, die angesichts blutiger Kämpfe,
angesichts der Zehntausende von Toten immer noch von „friedlicher Be­
setzung“ zu sprechen w agt und dadurch das W ort und den Begriff des
„Friedens“ dem grausam sten H ohn und Spott ausliefert? D er G edanken­
gang ist folgender: entw eder ist etw as K rieg oder ist es Frieden. Was ist
Krieg? W as nicht ein friedliches M ittel ist. W as ist ein friedliches Mittel?
Was nicht K rieg ist. Ein Zwischending gibt es nicht. Nun ist aber eine fried­
liche Besetzung, w enn sie auch von Schlachten kleineren und größeren Um­
fanges begleitet ist, nicht K rieg, ergo ist sie ein friedliches M ittel, ergo hat
die A ngelegenheit auch m it dem K elloggpakt nichts zu tun. D er G enfer

12 1682
178 Völker rechtliche Formen des modernen Imperialismus

Völkerbund siebt anscheinend seine Leistung darin, die internationalen


Beziehungen zu juridifizieren, d. h. diese A rt von B egriffsbildung zu be­
wirken. F ür ihn ist die Sache juristisch in bester O rdnung, und sie w ird
es immer bleibçn. Es sind also grausam e R epressalien möglich, menschen­
mörderische Beschießungen, sogar blutige Käm pfe und Schlachten: das alles
ist nicht Krieg im juristischen Sinne, und der Friede, auf den die gequälte
Menschheit mit Sehnsucht w artete, ist ih r längst beschieden; sie h a t es nur,
mangels juristischen Scharfsinns, nicht bem erkt. D ie O b je k te solcher fried­
lichen M aßnahmen mögen sich also m erken: erstens ist der K rieg n u r als
Mittel nationaler Politik geächtet, und zweitens stellt sich heraus, daß
die verbreitete Vorstellung, daß „Schlachten größeren oder k lein eren Um­
fangs“ etwas mit Krieg zu tu n haben, falsch ist.
Es ist außerdem noch ein w eiteres zu beachten: D er K elloggpakt ent­
hält zahlreiche Vorbehalte, die in verschiedenen B egleitnoten von den
unterzeichnenden Mächten auf gestellt sind, z. B. den V orbehalt der Selbst­
verteidigung gegen einen Angriff, wobei je d e r Staat selber entscheidet,
ob er angegriffen ist; eine Resolution der japanischen V ölkerbundliga
vom 16. November 1931 hat z. B., wie H. W ehberg m itteilt, das gegenw ärtige
Vorgehen Japans gegen C hina als „M aßnahm e der Selbstverteidigung“
bezeichnet. England hat als einziger Staat interessanterw eise auch den Vor­
behalt der „nationalen E h re“ gemacht. D ie andern haben nicht den Mut
gefunden, diesen Vorbehalt offen, zu machen; die m eisten begnügen sich
damit, den Fall der Selbstverteidigung oder die V erletzung der bestehen­
den V erträge vorzubehalten und von der Ächtung des K rieges auszu­
nehmen. Was den V orbehalt der M onroedoktrin angeht, so dürfte er über
praktisch w irksam e Zweifel erhaben sein.
W ie die M onroedoktrin in der H and der V ereinigten S taaten liegt, so
können sie auch gegenüber dem K elloggpakt den S tandpunkt einnehm en,
der sich für eine W eltmacht von selbst versteht: daß sie selber es sind,
die definieren, in terp retieren und anw enden. Sie entscheiden, w ann etw as
Krieg ist oder ein friedliches M ittel intern atio n aler P olitik, ein friedliches
M ittel zur A ufrechterhaltung der O rdnung und Sicherheit in einem Staat,
der selber dazu nicht im stande ist, zum Schutze des Lebens und des P riv a t­
eigentums, überhaupt zur Pazifizierung der Erde. Sollte das w irklich ein-
treten, so könnte der K elloggpakt fü r die E rde eine ähnliche F unktion
haben, wie sie die M onroedoktrin für den am erikanischen K ontinent gehabt
hat. Alle Versuche, den K elloggpakt der V ölkerbundsatzung einzu­
verleiben, sind nicht gelungen und können nicht gelingen. In dem Kom­
m entar zur Völkerbundsatzung von Schücking-W ehberg (3. A uflage 1931,
S. lbO) ist zu lesen: die E inarbeitung des K elloggpaktes in die V ölkerbund­
satzung ist schwierig, denn der K elloggpakt ken n t „keine Sanktion, keine
O rganisation und keine D efinition“. D arum gerade h andelt es sich nämlich,
und immer w ieder zeigt sich die große Ü berlegenheit, die erstaunliche poli­
tische Leistung der V ereinigten Staaten darin, daß sie sich allgem einer,
offen bleibender Begriffe bedienen. Ich möchte davor w arnen, zu m einen.
Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus 179

es handele sich hier um eine inferiore A rt von Schlauheit und Machiavellis­


mus. Eine derartige Elastizität, eine derartige Fähigkeit, m it weiten Be­
griffen zu operieren und die V ölker der Erde zu zwingen, sie zu respek­
tieren, ist ein Phänom en von weltgeschichtlicher Bedeutung. Bei jenen
entscheidenden politischen Begriffen kom mt es eben darauf an, w er sie
interpretiert, definiert und an w endet; w er durch die konkrete Entschei­
dung sagt, was Frieden, was A brüstung, was Intervention, was öffentliche
O rdnung und Sicherheit ist. Es ist eine der wichtigsten Erscheinungen im
rechtlichen und geistigen Leben der Menschheit überhaupt, daß derjenige,
der w ahre Macht hat, auch von sich aus Begriffe und W orte zu bestimmen
vermag. C aesar dominus et supra gram m aticam : der K aiser ist H err auch
über die G ram m atik. D er Im perialism us schafft sich seine eigenen Begriffe,
und ein falscher N orm ativism us und Form alism us fü h rt nur dahin, daß am
Ende niem and weiß, was K rieg und was f rieden ist. Nochmals möchte ich
vor dem M ißverständnis w arnen, als handele es sich hier um Dinge, die man
beliebig machen könne. Es ist ein Ausdruck echter, politischer Macht, wenn
ein großes Volk die Redeweise und sogar die Denkw eise anderer Völker,
das V okabularium , die Term inologie und die Begriffe von sich aus be­
stimmt. W ir sind als Deutsche freilich in einer traurigen politischen O hn­
macht, nicht n u r in der W elt, auch innerhalb Europas, und als Deutscher
kann ich bei diesen A usführungen über den am erikanischen Imperialismus
nur das G efühl haben, wie ein B ettler in Lum pen über die Reichtümer und
Schätze von Frem den zu sprechen.
W ir müssen aber, w enn w ir zum Schluß an unser eigenes, deutsches
Schicksal denken dürfen, eine Folgerung aus der W esenserkenntnis im peria­
listischer M ethoden beachten. Bei einem geschichtlich bedeutungsvollen
Im perialism us ist nicht n u r die m ilitärische und m aritim e Rüstung wesent­
lich, nicht n u r der ökonomische und finanzielle Reichtum, sondern auch
diese Fähigkeit, von sich aus den Inhalt politischer und rechtlicher Begriffe
zu bestimmen. Diese Seite des Im perialism us — ich spreche hier nicht
speziell vom am erikanischen — ist für ein in der Defensive stehendes Volk
wie das deutsche sehr gefährlich, vielleicht noch gefährlicher als m ili­
tärische U nterdrückung und ökonomische Ausbeutung. Ein Volk ist erst
dann besiegt, w enn es sich dem frem den V okabularium , der frem den Vor­
stellung von dem, was Recht, insbesondere Völkerrecht ist, unterw irft.
Dann kom mt zu der A blieferung der Waffen noch die A blieferung des
eigenen Rechts hinzu. In der heutigen Lage Deutschlands hängt alles davon
ab, den Schleier der W orte und Begriffe, der Juridifizierungen und Morali-
sierungen zu durchschauen, nicht in hämischer K ritik, aber auch nicht in
dienstfertiger U nterw erfung unter frem de Begriffe und Forderungen
„moralischer A brüstung“, die nichts w eiter sind als Instrum ente frem der
Macht. Diese A rt von Bewußtsein, dieses G efühl dafür, daß auch Begriffe
und D enkw eisen A ngelegenheiten einer politischen Entscheidung sein
können, ist notw endig und muß imm er wach bleiben. D enn w ir u n ter­
werfen uns keinem Im perialism us, w eder dem amerikanischen, der uns

12*
180 Schlußrede vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig

nicht unm ittelbar benachbart und gefährlich ist, noch einem viel gefähr­
licheren und näheren Im perialism us, und w ir w ollen uns w eder rechtlich,
noch moralisch und geistig unterw erfen.

2o. Schlußrede vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig (1932)


G e h a lte n am 17. O k to b e r 1932 v o r d e m S ta a ts g e ric h ts h o f in
L e ip zig a ls V e rtre te r d e r R e ic h sre g ie ru n g in d e m P ro z eß , den
d ie am 20. J u li 1932 a m ts e n th o b e n e g e s c h ä fts fü h re n d e p reu ß isch e
R e g ie ru n g B ra u n -S e v e rin g - H ir ts ie f e r u n d ih r sich an sch lie­
ß e n d d ie L a n d e s fra k tio n des Z e n tru m s u n d d e r S o z ia ld e m o k ra tie
so w ie d ie L ä n d e r B a y e rn u n d B a d e n g e g e n d ie R e ic h sre g ie ru n g
g e fü h rt haben.

Die „F o r m a 1 i e n “, von denen h ier die Rede ist, sind in einem Pro­
zeß vor dem Staatsgerichtshof keine bloßen Form alitäten, sondern sehr
reale politische Dinge. Die Fragen: W er ist das Land Preußen? W er vertritt
das Land Preußen? Wo ist heute Preußen? sind reale und hochpolitische
Fragen. D ieser Prozeß ist infolgedessen gerade in den Fragen der P artei­
fähigkeit, der Prozeßführungsbefugnis, der A ktivlegitim ation eigentlich an
seinem K ernpunkt angekommen. D arum w ar es nicht böser W ille oder
etw as Ähnliches, sondern sozusagen die N atur der Sadie, daß sich gerade
bei der F rage der sogenannten Form alien plötzlich w ieder eine größere
Intensität der Gegensätze herausstellte.
Nach Art. 19 der Reichsverfassung gibt es unter den drei dort genannten
zulässigen A rten von Staatsgerichtshofprozessen n u r eine, bei der das
Reich erscheint; das ist der Prozeß eines Landes m it dem Reich. Ein Land
klagt gegen das Reich oder das Reich klagt gegen ein Land — zwei
„Staaten“, wie H err Kollege N aw iasky ganz richtig gesagt hat. D araus
folgt aber nicht, daß, wie er w eiter gesagt hat, der Staatsgerichtshof ein
„internationaler Gerichtshof“ sei. E r sprach sogar vom sogenannten W elt­
gerichtshof, eine etwas übertriebene Bezeichnung für die bekannte In sti­
tution im Haag. D ieser perm anente internationale Gerichtshof legt im m er­
hin besonderes Gewicht auf das, was in seinem S tatut anerkannt und in
einer Reihe von Entscheidungen ausgesprochen ist, daß nämlich vor ihm
n u r Staaten als solche erscheinen. H ier jedoch erscheinen sogar Landtags­
fraktionen, Arm in Arm mit dem Lande B ayern und dem Lande Baden
(von Jan: Schrecklich!) D arin liegt schon eine große V erw irrung und
Unstimmigkeit.
Die wichtigste Frage des Prozesses betrifft natürlich das Land Preußen.
Das Land Preußen ist nicht verschwunden; es besteht noch; es ist da; es hat
auch eine Regierung, eine kommissarische, vom Reichspräsidenten auf
Schlußrede vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig 181

G rund seiner verfassungsm äßigen Befugnis eingesetzte Landesregierung,


die die V ertretungsbefugnis für das Land Preußen hat. Ist sie eine ver­
fassungsmäßig eingesetzte Landesregierung, so ist damit die Frage der
V e r t r e t u n g s b e f u g n i s für das Land Preußen beantw ortet. Es ist
präzis juristisch, k o rre k t und einw andfrei, was H err Kollege Jacobi zum
Ausdruck gebracht hat: n u r auf G rund einer aus prozeßtechnischen
Gründen denkbaren und zulässigen F i k t i ο n erscheinen hier trotzdem
noch die am tsenthobenen M inister, auf G rund einer Fiktion ihrer Ver­
tretungsbefugnis ad hoc und fü r diesen Fall. Wogegen sich Kollege Bil-
finger w andte — m einer M einung nach m it Recht, und ich teile auch den
Affekt, der ihn dabei tru g — ist, daß in den Schriftsätzen und A usführungen
fortw ährend versucht w ird, aus jen e r Fiktion Schlüsse zur Hauptsache zu
ziehen und zu sagen: W enn ih r gelten laßt, daß w ir überhaupt hier einen
Prozeß führen, dann erkennt ih r an, daß w ir die V ertretungsbefugnis für
das Land Preußen haben, daß w ir auch noch dem Reichsrat angehören und
überhaupt alle möglichen w eiteren Befugnisse haben. N ur dagegen wandte
sich H e rr Kollege Bilfinger. Die F rage ist demgegenüber nur: ist diese
kommissarische L andesregierung verfassungsm äßig auf G rund von Art. 48
der Reichsverfassung vom Reichspräsidenten eingesetzt w orden oder nicht?
Ist sie es, so ist dam it jede V ertretungsbefugnis, die mit dem früheren
Amt der am tsenthobenen M inister verbunden w ar, erledigt. W ir wollen
hier nicht in eine E rörteru n g und V ertiefung der Frage eintreten, was nun
die frü heren geschäftsführenden M inister, nachdem ihnen ihre Geschäfts­
befugnis genommen ist, dann eigentlich noch sind, oder in die noch schwie­
rigere Frage, w ie m an einen solchen früheren geschäftsführenden Minister,
dem man seine G eschäftsführungsbefugnis genommen hat, zu titulieren
habe. Das Reich h a t von A nfang an betont, daß es sich hier um eine vor­
übergehende Suspension einer geschäftsführenden Landesregierung han­
delt, wobei im m er zu beachten bleibt: geschäftsführende Regierung höchst
eigener Art, denn diese geschäftsführende Preußische Regierung hat ja ihr
Dasein ü b erhaupt n u r dem bekannten Kunstgriff der Geschäftsordnungs­
änderung vom 12. A pril zu verdanken. Das erschwert noch die Konstruktion
dieses höchst eigenartigen Gebildes, als das die am 20. Juli 1932 vom Reichs­
präsidenten ihres Amtes enthobene preußische Landesregierung sich jetzt
darstellt. D ie F rage bleibt aber einfach die: Ist es verfassungsm äßig mög­
lich, einem Land von Reichs wegen eine kommissarische Landesregierung
zu geben?
H ier sind V orw ürfe gegen die Reichsregierung erhoben w orden und ist
von „sich verstecken“, „sich drücken“, „Deckung nehm en“ und ähnlichem
die Rede gewesen. Ich w ill das nicht aufnehm en und bleibe bei der Frage:
Kann sich eine am tsenthobene L andesregierung von der Eigenart der
preußischen geschäftsführenden R egierung gegenüber den verfassungs­
mäßigen Einw irkungsm öglichkeiten des Reichs auf die S e l b s t ä n d i g ­
k e i t des Landes P reußen berufen? Diese sogenannte Landesregierung
ist gar nicht m ehr das Land Preußen. Auf G rund der Reichsverfassung
182 Schlußrede vor dem Staatsgeriditshof in Leipzig

hat der Reichspräsident gewisse Einw irkungsm öglichkeiten, denen A rt. 17


als selbständige Zuständigkeitsnorm — wie je tz t auch W alter Jellinek
ausdrücklich festgestellt hat — nach dem Ü bergang der vollziehenden
G ew alt nicht entgegensteht. Zur vollziehenden G ew alt des Landes gehört
auch eine O rganisationsgew alt, frü h e r des Königs, je tz t des Staatsm ini­
steriums. W enn nun auf G rund reichsverfassungsm äßiger Einw irkungs­
möglichkeiten vom Reich h er die Einsetzung eines E rsatzorgans, einer
kommissarischen, die Geschäfte führenden L andesregierung zulässig ist, so
ist dieses, falls im übrigen die verfassungsm äßigen V oraussetzungen
gegeben sind, eben die geschäftsführende L andesregierung und niem and
anders. Sie ist vertretungsbefugt, und es ist ü b erh au p t k ein A rgum ent, hier
die Selbständigkeit des Landes, die ü b erh au p t niem als in F rag e gestellt
gewesen ist, geltend zu machen. W enn h ier jem and „Deckung nim m t“, so
ist es die frühere geschäftsführende, nun ihres Am tes enthobene Regierung,
die sich mit dem Lande P reußen identifiziert — m it welcher inneren Berech­
tigung, brauche ich nicht zu e rö rtern — und die nun fortw äh ren d m it der
Selbständigkeit des Landes Preußen, m it unveräußerlichen, unantastbaren
Rechten des Landes und dergleichen kommt.
Es scheint m ir bei den bundesstaatsrechtlichen E rö rteru n g en folgendes
Wichtige übersehen worden zu sein: der R eichspräsident, der auf G rund
des Art. 48 verschiedenartige Befugnisse hat, k ann und m uß nötigenfalls
diese Befugnisse auch im Interesse der S e l b s t ä n d i g k e i t des Landes
ausüben. D er Fall ist durchaus denkbar, daß n u r auf diese W eise die Selb­
ständigkeit des Landes überhaupt gerettet w erden kann. D enn eine der
größten und schlimmsten G efahren fü r unser bundesstaatliches System, für
den Föderalism us und für die Selbständigkeit der L änder liegt doch gerade
darin, daß über die Länder hinw eggehende, straff organisierte und zentrali­
sierte politische P arteien sich des Landes bemächtigen, ih re A genten, ihre
Bediensteten in eine Landesregierung hineinsetzen (Professor H eller: Das
ist unerhört!) und so die Selbständigkeit des Landes gefährden. Von dieser
Seite, von den P arteien her droht sogar eine ganz besondere G efahr fo rt­
w ährender Funktionsstörungen, fo rtw äh ren d er G efährdung der öffent­
lichen Sicherheit und O rdnung und auch N ichterfüllung von Pflichten des
Landes gegenüber dem Reich. W enn nun dieser F all e in tritt — ich spreche
ganz ab strak t — und der Reichspräsident sich gezw ungen sieht, vorzu­
gehn, so ist das überhaupt kein W iderspruch zur Selbständigkeit des Landes.
(Widerspruch.) Ich glaube, H e rr Kollege N aw iasky w ird m ir zugeben, daß
es P arteien gibt, die eine G efahr für die Selbständigkeit eines Landes
bedeuten. Die Bayerische V olkspartei ist h ier in der ganz singulären Lage,
daß sie das Gegenteil einer G efahr fü r die Selbständigkeit B ayerns
bedeutet. Es gibt aber auch andere P arteien, (von Jan: A ber w ir w ürden
m it den Parteien selbst fertig werden!) D as ist Ih r Vorzug, Ih re Besonder­
heit, und w ir wollen hoffen, daß Sie nicht eines Tages in die Lage kommen,
G ott dafür zu danken, daß es Einw irkungsm öglichkeiten des Reichspräsi­
denten nach A rt. 48 gibt.
Schlußrede vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig 183

Also ist die einzige F rage: K ann vom Reich her in der geschehenen
Weise auf ein Land eingew irkt w erden?
D er Gegensatz unitarisch und föderalistisch darf überhaupt nicht schlag­
w ortartig m it anderen G egensätzen in Verbindung gebracht werden. E nt­
scheidend scheint m ir zu sein: w enn der Reichspräsident von seiner
verfassungsm äßigen Befugnis gegenüber einem Lande Gebrauch gemacht,
eine solche kommissarische Landesregierung eingesetzt und die andere
Landesregierung suspendiert hat, dann ist die F rage der V ertretungsbefug­
nis erledigt, dann weiß man, w er die geschäftsführende aktive Landesregie­
rung ist. H ier die Selbständigkeit des Landes als solche geltend zu machen,
ist eine offenbare V erw irrung. Es sind hier verschiedentlich Bilder, Ver­
gleiche origineller A rt gebraucht w orden. Ich darf m ir vielleicht auch ein­
mal erlauben, anschaulich zu w erden, und ganz allgemein, nicht mit Bezug
auf diesen besonderen Fall, folgendes zur K lärung des, wie m ir scheint,
einfachen Sachverhalts festzustellen. W enn tatsächlich einm al der Bock zum
G ärtner gemacht w orden ist und es sich darum handelt, ihn zu beseitigen,
so kann m an alles mögliche geltend machen, aber nu r das eine nicht, die
Selbständigkeit und U nabhängigkeit des G artens! Das ist der Fall einer
vom Reichspräsidenten suspendierten Landesregierung. Sie kann sich nicht
auf die Selbständigkeit des Landes als solchen berufen. Eine vom Reich
eingesetzte kommissarische R egierung ist selbstverständlich keine norm ale
Regierung, ebensow enig w ie eine Geschäftsregierung oder gar eine G e­
schäftsregierung w ie die ihres Amtes enthobene Preußische Regierung, mit
dem O dium des 12. A pril belastet, eine norm ale R egierung ist.
Zwei Schlagworte oder Stichworte möchte ich noch ku rz abtun. Es ist
einmal das W ort vom „ H ü t e r d e r V e r f a s s u n g “ gefallen, und zw ar
ist mit besonderer Betonung und vielleicht auch polemischer W endung
vom H errn Kollegen N aw iasky gesagt w orden: der Staatsgerichtshof ist
der H ü ter der Verfassung. Niem and bestreitet das; er ist der H üter der
Verfassung. A ber er ist und bleibt ein G e r i c h t s h o f und ist auf die
vom H errn K ollegen Jacobi sehr eindringlich und, wie m ir scheint, üb er­
zeugend entw ickelten B esonderheiten dieser Justizförm igkeit und Gerichts-
förm igkeit angewiesen. D er Staatsgerichtshof h at n u r den gerichtlichen und
justizförm igen Schutz der Verfassung. D a eine Verfassung ein p o l i ­
t i s c h e s G ebilde ist, bedarf es außerdem noch wesentlicher politischer
Entscheidungen, und in dieser Hinsicht ist, glaube ich, der Reichspräsident
der H üter der V erfassung, und gerade seine Befugnisse aus Art. 48 haben
sowohl fü r die föderalistischen als auch fü r die anderen B estandteile der
Verfassung Λ-or allem den Sinn, einen echten politischen H üter der V er­
fassung zu konstituieren. W enn er in dieser Eigenschaft eine kommis­
sarische L andesregierung einsetzt, so handelt er ebenfalls als H üter der
Verfassung auf G rund d er seinem politischen Erm essen anheim gegebenen,
im wesentlichen p o l i t i s c h e n Entscheidung innerhalb gewisser Grenzen,
die w ir h ier festgestellt haben. A ber es bleibt s e i n e p o l i t i s c h e E n t ­
s c h e i d u n g , um die es sich dabei handelt. D am it ist gleichzeitig auch die
184 Schlußrede vor dem Staatsgeriditshof in Leipzig

für Art. 19 der Reichsverfassung wichtige F rage beantw ortet, w er das Land
in einem solchen Falle vertritt. Die V ertretung des Landes Preußen, die
auf G rund eines solchen Aktes des Reichspräsidenten von der kommis­
sarischen Regierung vorgenommen w ird, hat ihre gute, feste Rechtsgrund­
lage in der Reichsverfassung sowohl, als auch in der von ih r ergänzten
Landesverfassung.
Das zweite W ort, das öfters hier w iederkehrte, w ar das W ort von der
aus der Staatlichkeit folgenden E h r e und D ignität Preußens. Hierzu
möchte ich folgendes sagen: H err M inisterialdirektor Brecht h at es für gut
gehalten, heute morgen in seiner Schlußzusammenfassung daran zu
erinnern, daß der H err Reichspräsident im Jah re 1866 als preußischer
Offizier ins Feld gezogen ist. Was w ar 1866 los? Eine Bundesexekution
des Deutschen Bundes g e g e n P r e u ß e n . Und der H e rr Reichspräsident
stand als preußischer Offizier auf der preußischen Seite und verteidigte
Preußen gegen diese Bundesexekution. W enn derselbe Mann, der damals
Preußen gegen eine Exekution verteidigt hat, sich jetz t entschließen muß,
gegen dasselbe Preußen eine Reichsexekution anzuordnen, so ist das ein
bedeutungsvoller, erstaunlicher Vorgang, dessen m an sich doch einen
Augenblick bewußt w erden sollte. D enn hier zeigt sich, daß sich etwas
geändert hat. Die Exekution hat jetz t nicht den Sinn, das Land zu ver­
nichten und seine Existenz zu zerstören, sondern im G egenteil Preußen
vor Gefahren zu schützen, die gerade diesem Staat und diesem Lande
drohten. W enn hier so viel von der Staatlichkeit, der D ignität und der Ehre
Preußens gesprochen wird, so darf ich doch endlich m ir selber die Frage
stellen — ich stelle sie niem and anders, ich stelle sie aber hier in aller
Öffentlichkeit m ir selbst: Wo ist denn dieses alles, die D ignität und die
Ehre Preußens, besser aufgehoben: bei den am 20. Juli ihres Amtes ent­
hobenen, geschäftsführenden M inistern, die n u r noch dank dem Kunstgriff
vom 12. A pril geschäftsführende M inister w aren (Zuruf: Situations Juris­
prudenz!) oder bei dem Reichspräsidenten von H indenburg? Diese Frage
ist für mich nicht schwer zu beantw orten. Es ist w ahr, P reußen hat seine
Ehre und seine D ignität, aber der T reuhänder und der H ü ter dieser Ehre
ist heute das Reich.
21. Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland
(Januar 1933)
Vor zehn Jah ren versicherten bew ährte A utoren und F ü h re r aller Art,
daß m an n u r die Politik und die P olitiker abzuschaffen brauche, um alle
schwierigen Problem e gelöst zu haben. Die radikale „Entpolitisierung“
sollte d arin bestehen, daß technische, wirtschaftliche, juristische oder andere
Sachverständige nach angeblich rein technischen, rein wirtschaftlichen, rein
juristischen, k u rz nach rein „sachlichen“ G esichtspunkten alle bisher poli­
tischen F ragen zu entscheiden hatten. Zahlreiche Aufsätze und Broschüren
haben das in den Jah ren 1919 bis 1924 als einzige Bedingung universaler
Glückseligkeit verkündet. Inzwischen haben w ir viele Sachverständigen-
und Technikerkonferenzen kennengelernt. Ganze G ebirge w ertvollsten
M aterials und sachkundigster G utachten lagern in Genf, in Berlin, in vielen
anderen Städten der Erde, und u n ter ih re r A rt von Sachlichkeit w urde die
Entscheidung der F ragen einfach verschüttet. Es hatte sich bald heraus­
gestellt, daß diese „E ntpolitisierung“ ein brauchbares politisches M aterial
ist, um unangenehm e Problem e und notwendige Ä nderungen zu vertagen,
einen w idersinnigen status quo zu konservieren und jeden entschiedenen
Ä nderungsw illen sich leerlaufen zu lassen.
Nach solchen E rfahrungen m it der gänzlichen „Nichtpolitik“ m ußte die
Erkenntnis durchdringen, daß a l l e Problem e potentiell politische Problem e
sind. W ir haben dann in D eutschland praktisch eine Politisierung aller
wirtschaftlichen, k u ltu rellen , religiösen und sonstigen Bereiche des mensch­
lichen Daseins erlebt, wie sie dem D enken des 19. Jahrhunderts unbegreif­
lich gewesen w äre. Insbesondere schien, nachdem m an einige Jahre versucht
hatte, den Staat zu ökonom isieren, jetz t um gekehrt die W irtschaft gänzlich
politisiert zu sein. Jetzt glaubte m an die w irksam e und einleuchtende Form el
vom totalen S taat zu begreifen, und heute sind manche sogar schon w ieder
darüber hinaus und haben den „totalen S taat“ bereits w iderlegt und geistig
überw unden. Sehen w ir uns aber statt der Propaganda und der L iteratu r
einmal die w irkliche Lage an.
I.
Es gibt einen totalen Staat. Man k ann den „totalen S taat“ mit irgend­
welchen Em pörungs- und Entrüstungsschreien als barbarisch, sklavisch, un­
deutsch oder unchristlich von sich weisen, die Sache selbst ist damit nicht
aus der W elt geschafft. Jeder Staat ist bestrebt, sich der Machtmittel zu
bemächtigen, die er zu seiner politischen H errschaft braucht. Es ist sogar
das sichere Kennzeichen des w irklichen Staates, daß er das tut. Auch stehen
w ir alle u n ter dem Eindruck der gew altigen Machtsteigerung, die heute
186 Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland

jed e r Staat durch die Steigerung der Technik, nam entlich der m ilitärtech­
nischen Machtmittel, erfährt. Selbst einem kleinen Staat und seiner Regie­
rung verleihen die m odernen technischen M ittel eine solche E inw irkungs­
möglichkeit, daß daneben die alten V orstellungen sowohl von staatlicher
Macht als auch vom W iderstand gegen sie verblassen. G egen den totalen
Staat hilft n u r eine ebenso totale Revolution. Ü berlieferte B ilder von
Straßenaufläufen und B arrikaden erscheinen angesichts dieser neuzeit­
lichen Machtmöglichkeiten als ein K inderspiel. Jede politische Macht ist
gezwungen, die neuen Waffen in die H and zu nehm en. H at sie dazu nicht die
K raft und den Mut, so w ird sich eine andere Macht oder O rganisation
finden, und das ist dann eben w ieder die politische Macht, d. h. der Staat.
Durch die Steigerung der technischen M ittel ist insbesondere die Mög­
lichkeit, ja N otw endigkeit einer M assenbeeinflussung gegeben, die um ­
fassender sein kann als alles, w as die Presse und andere ü b erlieferte M ittel
der M einungsbildung zu bew irken vermochten. H eute herrscht in Deutsch­
land noch eine w eite Preßfreiheit. T rotz aller N otverordnungen ist dieser
Spielraum der „freien M einungsäußerung“, in W irklichkeit der P a rte i­
agitation und der propagandistischen M assenbearbeitung, sehr groß und
denkt man nicht an Pressezensur. A uf die neuen technischen M ittel, Film
und Rundfunk, dagegen m uß jed e r S taat selbst die H and legen. Es gibt
keinen noch so liberalen Staat, der über das Film - und Lichtspielw esen und
den R undfunk nicht m indestens eine intensive Zensur und K ontrolle fü r
sich in Anspruch nimmt. Kein Staat k an n es sich leisten, diese neuen tech­
nischen M ittel der N achrichtenüberm ittlung, M assenbeeinflussung, Massen­
suggestion und Bildung einer „öffentlichen“, genauer: ko llek tiv en M einung
einem andern zu überlassen. H in ter der Form el vom to talen S taat steckt
also die richtige E rkenntnis, daß der heutige S taat neue M achtm ittel und
Möglichkeiten von ungeheurer Intensität hat, deren letzte T ragw eite und
Folgew irkung w ir kaum ahnen, w eil unser W ortschatz und unsere P h an ta­
sie noch tief im 19. Jah rh u n d ert stecken.
D er totale Staat in diesem Sinne ist gleichzeitig ein besonders sta rk e r
Staat. E r ist total im Sinne der Q u alität und der E nergie, so, w ie sich der
faschistische Staat einen „stato to ta litario “ nennt, w om it er zunächst sagen
will, daß die neuen M achtmittel ausschließlich dem S taat gehören und seiner
M achtsteigerung dienen. Ein solcher S taat läßt in seinem In n ern keinerlei
staatsfeindliche, staatshem m ende oder staatszerspaltende K räfte auf-
kommen. E r denkt nicht daran, die neuen M achtm ittel seinen eigenen
Feinden und Zerstörern zu ü berliefern und seine Macht u n te r irgend­
welchen Stichworten, Liberalism us, Rechtsstaat oder w ie m an es nennen
w ill, u ntergraben zu lassen. Ein solcher S taat k a n n F re u n d und F eind
unterscheiden. In diesem Sinne ist, w ie gesagt, je d e r echte S taat ein to taler
Staat; er ist es, als eine societas perfecta der diesseitigen W elt, zu allen
Zeiten gewesen; seit langem wissen die S taatstheoretiker, daß das Politische
das Totale ist, und das Neue sind n u r die neuen technischen M ittel, üb er
deren politische W irkungen m an sich k la r sein muß.
Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland 187

Nun gibt es aber noch eine andere Bedeutung des W ortes vom totalen
Staat, und das ist leider diejenige, die für die Zustände des heutigen
Deutschland zutrifft. Diese A rt totaler Staat ist ein Staat, der sich u nter­
schiedslos in alle Sachgebiete, in alle Sphären des menschlichen Daseins
hineinbegibt, der überhaupt keine staatsfreie Sphäre m ehr kennt, weil er
überhaupt nichts m ehr unterscheiden kann. E r ist total in einem rein
quantitativen Sinne, im Sinne des bloßen Volumens, nicht der Intensität
und der politischen Energie. D er heutige pluralistische Parteienstaat in
Deutschland hat diese A rt des totalen Staates entwickelt. Sein Volumen ist
ungeheuer ausgedehnt. E r interveniert in alle möglichen Angelegenheiten
und auf allen G ebieten des menschlichen Daseins, nicht nu r in die W irt­
schaft, für welche Erw in von Beckerath mit Recht sagt, daß der totale Staat
im Sinne einer Vermischung von Staat und W irtschaft „eine m it Händen
greifbare R e alität“ sei, sondern auch in ku ltu relle und gesellige Dinge,
die man sonst gern fü r „rein p riv a te “ Angelegenheiten ausgibt. W arum soll
der Staat nicht wirtschaftliche, ku ltu relle und andere U nternehm ungen
subventionieren, da w ir doch alle, auf dem Weg über die Partei, der Staat
selber sind, und w arum soll ein G esangverein nicht gute Beziehungen zum
Staate, d. h. zu gewissen P arteien und Fonds, un terhalten können? Dieses
kostbare W arum nicht? ist die ganze Staatstheorie des pluralistischen
Parteienstaates und die geistige G rundlage seiner Totalität. Das ist n a tü r­
lich eine T otalität n u r im Sinne des bloßen Volumens und das Gegenteil
von K raft oder Stärke. D er heutige deutsche Staat ist total aus Schwäche
und W iderstandslosigkeit, aus der U nfähigkeit heraus, dem A nsturm der
Parteien und der organisierten Interessenten standzuhalten. E r muß jedem
nachgeben, jeden zufriedenstellen, jeden subventionieren und den w ider­
sprechendsten Interessen gleichzeitig zu G efallen sein. Seine Expansion ist
die Folge, wie gesagt, nicht seiner Stärke, sondern seiner Schwäche.I.

II.
N äher gesehen, .haben w ir heute in Deutschland überhaupt keinen
totalen Staat, sondern eine M ehrzahl totaler Parteien, die jede in sich die
Totalität zu verw irklichen suchen, in sich ihre M itglieder total erfassen
möchte und die Menschen von der W iege bis zur Bahre, vom K leinkinder­
garten über den T urnverein und K egelklub bis zum Begräbnis- und Ver­
brennungsverein begleiten, ihren A nhängern die richtige W eltanschauung,
die richtige Staatsform , das richtige W irtschaftssystem, die richtige Gesellig­
keit von P a rte i w egen liefern und dadurch das ganze Leben des Volkes
total politisieren und die politische E inheit des deutschen Volkes p a r­
zellieren. P arteien alten liberalen Stils, die als bloße „M einungsparteien“
einer solchen O rganisation und T otalität nicht fähig sind, geraten in Gefahr,
zwischen den M ühlsteinen der m odernen, in sich totalen P arteien zerrieben
zu werden. D er Zwang zur totalen Politisierung scheint unentrinnbar. Keine
Parteiorganisation k ann sich ihm entziehen. Die rücksichtslos totaleü P a r­
teien bestimm en den Typus und treib en die andern viertel-, halb- oder
188 Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland

dreivierteltotalen Parteien zur Konsequenz des erfolgreichen Typus. Vor


jed er Dezision eines konsequenten Nationalism us oder Sozialismus oder
Atheismus erscheinen die lavierenden H albheiten als hilflose Kleinigkeiten.
Das Nebeneinander m ehrerer soldier to taler Gebilde, die auf dem Wege
über das Parlam ent den Staat beherrschen und ihn, solange es pluralistisch
zugeht, zum O b jekt ih rer Kompromisse machen, ist die Ursache jen er
m erkw ürdigen quantitativen Ausdehnung des Staates. Zwischen den Staat
und seine Regierung auf der einen und die Masse der Staatsbürger auf
der anderen Seite hat sich heute ein sehr festes durchorganisiertes, aber
pluralistisches Nebeneinander m ehrerer to taler P arteien eingeschoben und
handhabt das Monopol der Politik, das erstaunlichste alle r Monopole.
A ller politischer W ille, alle Umschaltung der Interessen, die es selbstver­
ständlich geben muß, in den Staatsw illen, ist auf den W eg über einen
Parteiw illen angewiesen. N ur ist die heutige P a rte i etw as anderes als
die alte liberale M einungspartei. Sie ist, w ie O tto K o ellreutter schon seit
langem festgestellt hat, eine aktivistische P artei, sie benutzt die der opinion
zugedachten liberalen Freiheiten und alle legalen Möglichkeiten, Ein­
richtungen und Befugnisse einer liberalen Verfassung kaltb lü tig als Instru­
ment ih rer Aktion und zwingt auch die bisher liberalen P arteien zu dieser
verfassungzerstörenden W andlung. D er Zwang, sich ihrem politischen
Monopol zu unterw erfen, unter dem heute jedes Lebensgebiet und jede
größere Menschengruppe in Deutschland steht, v erän d ert und verfälscht
alle Einrichtungen der W eim arer Verfassung. W ichtiger als jedes w irt­
schaftliche Monopol ist dieses politische Monopol einer R eihe von starken
politischen Organisationen, die eine R egierung n u r u n ter der Bedingung
tolerieren, daß der Staat ihr A usbeutungsobjekt bleibt.
Das eigentliche Instrum ent dieses politischen Monopols — oder, da es
sich um einen pluralistischen Staat handelt, dieses „Polypols“ — ist die
Aufstellung der Kandidatenliste. Das Ergebnis jed e r W ahl hängt von der
K andidatenliste ab. Die Masse der W ähler kann keinen K andidaten von
sich aus aufstellen, und der R egierung fehlt das selbstverständlichste und
natürlichste Recht einer Regierung, nämlich das ju s agendi cum populo.
Dam it ist die große Masse der angeblichen „W ähler“ und der Volkswille
selbst restlos durch etw a fünf P arteilisten p arzelliert. D ie W ahl ist ent­
gegen der Verfassung, die eine direkte W ahl verlangt, längst keine direkte
W ahl mehr. D er Abgeordnete w ird von der P a rte i ernannt, nicht vom
Volk gewählt. Die sogenannte W ahl ist eine durchaus m ittelbare Stellung­
nahme der „W ähler“ zu einer Parteiorganisation. D aß von unm ittelbarer
W ahl heute nicht m ehr die Rede sein kann, h at sich als eine unbestreitbare
E rkenntnis heute allgemein durchgesetzt. Ich behaupte aber, daß der Vor­
gang, wie er sich heute abspielt, überhaupt keine W ahl m ehr ist. D enn
was geht vor sich? Fünf Parteilisten, auf eine höchst geheime, okkulte
Weise entstanden, von fünf O rganisationen d iktiert, erscheinen. D ie Massen
begeben sich sozusagen in fünf bereitstehende H ürden, und die statistische
Aufnahme dieses Vorganges nennt m an „W ahl“. W as ist das in der Sache?
Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland 189

Man sollte sich diese Frage doch endlich einm al deutlich zum Bewußtsein
bringen, ehe Deutschland an derartigen Methoden politischer W illens­
bildung zugrunde gegangen ist. Es ist in der Sache eine geradezu phanta­
stische O ption zwischen fünf untereinander völlig unvereinbaren, völlig
entgegengesetzten, in ihrem N ebeneinander sinnlosen, aber jedes in sich
geschlossenen und in sich totalen Systemen mit fünf entgegengesetzten
W eltanschauungen, Staatsform en und W irtschaftssystemen. Zwischen fünf
organisierten Systemen, von denen jedes in sich total ist und jedes, kon­
sequent zu Ende gedacht, das andere auf hebt und vernichtet, also z. B.
zwischen Atheism us oder C hristentum , gleichzeitig zwischen Sozialismus
oder Kapitalism us, gleichzeitig etw a zwischen Monarchie oder Republik,
zwischen Moskau, Rom, W ittenberg, Genf und Braunem Haus und ähn­
lichen inkom patiblen Freund-Feind-A lternativen, hinter denen feste
O rganisationen stehen, soll ein Volk m ehrm als im Jahre optieren! W er
sich klarm acht, was das bedeutet, w ird nicht m ehr erw arten, daß aus einer
solchen Prozedur eine handlungs- und aktionsfähige, auch n u r lose zu­
sammenhaltende, fü r eine politische W illensbildung geeignete M ehrheit
hervorgehen könnte. Ein solcher Vorgang bedeutet nur, daß der Volkswille
sofort an seiner Q uelle in fünf K anäle und nach fünf verschiedenen Rich­
tungen abgeleitet w ird, so daß er niem als zu einem Strom zusammenfließen
kann. Das Ergebnis sind imm er n u r fünf verschiedene Volksteile mit fünf
verschiedenen politischen System en und O rganisationen, die sich in ihrem
zusammenhanglosen, ja, feindlichen N ebeneinander gegenseitig zu besiegen
oder zu betrügen suchen und, zu jed er positiven A rbeit unfähig, sich immer
nur im N egativen begegnen und höchstens einm al — wie bei M ißtrauens­
beschlüssen, A ufhebungsverlangen, Am nestieforderungen oder bei dem
verfassungsändernden Gesetz über die S tellvertretung des Reichspräsiden­
ten vom 17. D ezem ber 1932 — in einem N ullpunkt treffen.
Mit solchen M ethoden politischer W illensbildung sind w ir in den Zu­
stand eines quantitativ totalen Staates hineingeraten, der nichts m ehr un ter­
scheiden kann, w eder W irtschaft und Staat, noch Staat und sonstige Sphären
menschlichen und sozialen Daseins. Die W ahl ist keine W ahl m ehr, der
Abgeordnete kein A bgeordneter m ehr, wie ihn die Verfassung sich denkt.
Er ist nicht der unabhängige, gegenüber P arteiinteressen das Wohl des
Ganzen v ertretende freie Mann, sondern ein in Reih und G lied m ar­
schierender F unktionär, der seine Befehle außerhalb des Parlam ents e r­
hält und für den die B eratung in der Vollversamm lung des Parlam ents zur
leeren F arce w erden muß. W ie der Abgeordnete kein A bgeordneter, ist
das Parlam ent kein P arlam ent m ehr. Auf dem demokratischen System der
W eim arer Verfassung lastet ein solches P arlam ent mit seiner gleichzeitig
m achtunfähigen und m achtzerstörenden N egativität wie ein körperlich
und geistig k ra n k e r Monarch auf den Einrichtungen und dem Bestand einer
Monarchie. D er heutige deutsche Reichstag ist kein Reichstag im Sinne der
W eim arer Verfassung; der heutige deutsche Reichsrat, in dem sich m ehr
geschäftsführende als norm ale L andesregierungen treffen, in dem für das
190 Reich — Staat — Bund

Land Preußen, also zwei D rittel des Deutschen Reiches, am tsenthobene


M inister einer früher geschäftsführenden R egierung erscheinen, kein Reichs­
rat im Sinne der W eim arer Verfassung. Auch das M ißtrauensvotum ist kein
M ißtrauensvotum in Sinne eines parlam entarischen Regierungssystem s,
denn ihm entspricht heute w eder die F ähigkeit noch die Bereitschaft, eine
handlungsfähige und verantw ortungsbew ußte R egierung zu bilden. Alle
diese Verfassungseinrichtungen sind hinfällig gew orden und gänzlich
denaturiert, alle legalen Befugnisse, selbst alle Auslegungsmöglichkeiten
und Argum ente sind instrum entalisiert und w erden taktische M ittel des
Kampfes jed er P artei gegen jede andere und aller P arteien gegen Staat
und Regierung. H ätte nicht die eine letzte Säule der W eim arer Ver­
fassungsordnung, der Reichspräsident und seine aus vorpluralistischen
Zeiten stammende A utorität, bisher standgehalten, so w äre wahrscheinlich
das Chaos auch in aller Sichtbarkeit und in der äußerlichen Erscheinung
bereits vorhanden und selbst der Schein der O rdnung verschwunden.

22. Reich — Staat — Bund (1933)


A n tritts v o rle s u n g g e h a lte n a n d e r K ö ln e r U n iv e r s itä t
am 20. J u n i 1933

Das Lehrfach des öffentlichen Rechts nim m t m it b esonderer U nm ittelbar­


keit am Leben der V ölker und der Staaten teil. Es ist daher seit zwei Ja h r­
zehnten von der gleichen schnellen Entw icklung und Bew egung erfaßt, die
unsere ganze W elt ergriffen hat. Dieses Fach steht auch in seiner wissen­
schaftlichen Besonderheit in größter existentieller N ähe zum Schicksal der
Völker und Staaten. Gegensätze der L ehrm einungen erscheinen sofort
als politische Gegensätze. Es gibt kein wissenschaftliches R esultat der Lehre
des öffentlichen Rechts, das nicht sofort von der einen gegen die andre
Seite praktisch v erw ertet w erden könnte, und der K am pf der A rgum ente
geht unm ittelbar über in den politischen K am pf der V ölker und Parteien.
So hat dieses Fach auf eine oft sehr gefährliche, lebensgefährliche Weise
A ktualität und Interesse.
Jeder G elehrte eines solchen Fachs, der sich je n e r B esonderheit und
der darin liegenden wissenschaftlichen V erantw ortung bew ußt ist, kennt
auch diese G efahr. Manche haben eine Zeitlang gehofft, die gesicherten
Zustände der Vorkriegszeit w ürden bald zurückkehren, und die ungefähr­
liche Ruhe, die damals wenigstens scheinbar herrschte, lasse sich zurück­
gewinnen. feie verwechseln die S ekurität eines ganz bestim m ten politischen
Zustandes mit der O b jek tiv ität und Sachlichkeit des D enkens ^ b e r diesen
Zusiand. Es ist heute bereits so, daß alle Versuche, in eine problem lose
Sicherheit zu entweichen, uns als eine A bdankung, als ein Verzicht auf die
Reich — Staat — Bund 191

Wissenschaft des öffentlichen Rechts erscheinen. Die Flucht aus der Proble­
m atik der Zeit in eine unproblem atische V ergangenheit oder in eine be-
ziehungs- und gegenstandslose Reinheit, hat nicht einm al m ehr den Schein
der W issenschaftlichkeit für sich. D er Weg, der vom konkret gegenwärtigen
Leben w egführt, k ann n u r dorthin führen, wo Tote über Totes reden.
W enn ich hier über Reich, Staat und Bund spreche, so gebrauche ich drei
Worte, deren jedes in höchstem Maße gleichzeitig geschichtsmächtig und
gegenw artserfüllt ist, die ich aber vorsätzlich und ausdrücklich als B e ­
g r i f f e behandle. D araus könnte das M ißverständnis entstehen, als wollte
ich in falscher A bstraktion von leeren Form en reden und die traurige
Sache betreiben, die m an m it einem Schimpfwort als „B egriffsjurisprudenz“
bezeichnet. Es gibt allerdings viele solche in einem schlechten Sinne
abstrakte Begriffe. Es gibt aber auch andere lebensvolle und w esenhafte
Begriffe, und es gehört eben zur Aufgabe der Wissenschaft des öffentlichen
Rechts, echte Begriffe zu erkennen und auszuprägen. Im politischen Kampf
sind Begriffe und begrifflich gew ordene W orte alles andere als leerer
Schall. Sie sind Ausdruck scharf und präzis herausgearbeiteter Gegensätze
und Freund-Feind-K onstellationen. So verstanden, ist der unserm Bew ußt­
sein zugängliche Inhalt der Weltgeschichte zu allen Zeiten ein Kampf um
W orte und Begriffe gewesen. Das sind natürlich keine leeren, sondern
energiegeladene W orte und Begriffe und oft seh t scharfe Waffen. Leer
und im schlechten Sinne a b stra k t w erden sie erst, wenn die Kam pflage
und der Streitgegenstand entfallen und uninteressant geworden sind. Ich
erinnere Sie an den Kam pf um die Form el „von Gottes G naden“; oder z. B.
an die Überlegungen, die m an im W inter 1870/71 darüber angestellt hat,
ob man dem B undespräsidenten des Bismarckschen Reiches den Titel
„Kaiser der D eutschen“, „K aiser von D eutschland“ oder „Deutscher K aiser“
geben solle. Ich erinnere fern er an den unverm eidlichen Streit um die sog.
Form alien bei allen großen politischen Prozessen, um die Frage, w er vor
einem Staatsgerichtshof oder vor einem internationalen Gericht parteifähig
ist, w er aktiv legitim iert, interventionsberechtigt usw. Scheinbar kleine
Abweichungen in der begrifflichen Fassung können hier von unabsehbarer
praktischer T ragw eite w erden. In diesem ganz praktischen Sinne einer
konkret verstandenen Begrifflichkeit erscheint die ganze deutsche Leidens­
geschichte des letzten halben Jahrtausends als die Geschichte der drei
Begriffe „Reich, Staat, B und“.
D er Begriff des S t a a t e s h at das alte Reich zerstört. W enn Pufendorff
im 17. Ja h rh u n d e rt das Reich als ein M onstrum bezeichnet, so w ill er
damit sagen, daß es kein Staat ist. D er Begriff des Staates und der staat­
lichen Souveränität erscheint ihm juristisch begreiflich und ohne w eiteres
plausibel. Reich dagegen ist unbegreiflich und juristisch sinnlos geworden,
eben weil der Begriff des Staates gesiegt hat. Auf dem Boden des Deutschen
Reiches entwickeln sich Staaten, und die juristisch-dezisionistische Ü ber­
legenheit des Staatsbegriffs gegenüber dem Reichsbegriff erscheint der
rechtswissenschaftlichen Begriffsbildung so groß, daß der Staatsbegriff das
192 Reidi — Staat — Bund

R eidi von innen heraus sprengt. Seit dem 18. Ja h rh u n d e rt gibt es überhaupt
kein Reichsrecht m ehr, sondern n u r noch Staatsrecht. Das Reich w ird nur
noch als ein aus Staaten zusam m engesetzter S taat oder als ein „System
von Staaten“ begriffen. D ie Schrift des jungen H egel aus dem Jah re 1802
über „Die Verfassung des Deutschen Reiches“ beginnt m it dem lapidaren
Satz „Deutschland ist kein S taat m ehr.“ D aß es kein S taat m ehr ist, ist
der G rund, w arum es „nicht m ehr begriffen w erden k a n n “. D er deutsche
S taat hat das alte Deutsche Reich zerstört. D er Staatsbegriff w ar der eigent­
liche Feind des Reichsbegriffs. D as Recht w ird Staatsrecht und staatliches
Recht. Sogar die Philosophie w ird Staatsphilosophie, und der größte Philo­
soph, Hegel, flüchtet aus dem unbegreifbar gew ordenen Reich in einen um
so einleuchtender gew ordenen Begriff des Staates.
Es ist fü r die Geschichte des Reichsgedankens von großer Bedeutung,
daß dam als sofort auch zwei neue Reiche entstanden, das französische
Gegenreich Napoleons I. und das Ersatzreich der habsburgischen Monarchie;
jenes offensiv und expansiv, dieses defensiv und konservativ. Es ist aber
ebenso wichtig, daß um dieselbe Zeit nach 1806 die eigentliche Staatlichkeit
Preußens sich um so k la re r und intensiver entw ickelt, w ährend das übrige,
das sog. d ritte Deutschland, ein B und von Staaten w urde. Vergessen wir
nie, daß das ganze sog. föderalistische Staatsrecht des 19. Jahrhunderts
m it allen seinen A ntithesen von S taatenbund und Bundesstaat, Völkerrecht
und Staatsrecht, V ertrag und Verfassung in der Zeit des R h e i n b u n d e s
entstanden ist. Die deutschen Staaten, die als Staaten das Reich gesprengt
haben, e rk lä re n bei ihrem A u stritt am 1. A ugust 1806, daß sie einen
„den neuen Zuständen angem essenen B und“ gründen, zum Schutz der
staatlichen Souveränität und U nabhängigkeit der B undesm itglieder und
u n ter dem P ro tek to rat und der G arantie des K aisers der Franzosen. Die
staats- und verfassungsrechtliche L ite ra tu r der R heinbundzeit konstruiert
sofort ein Reichssystem. Und was fü r ein Reich! Von C arl Salomo Zachariä
(Das Staatsrecht der rheinischen B undesstaaten und der Bundesstaaten,
H eidelberg 1810, S. 129) w ird folgendes Bild ausgem alt: Sämtliche euro­
päische Staaten zerfallen in zwei Klassen, in solche, die „M itglieder des
großen europäischen Staatenvereins sind, an dessen Spitze der K aiser der
Franzosen, teils als vertragsm äßiger P ro tek to r des Bundes, teils als H aupt
der Kaiserlichen Fam ilie steht, und in Staaten, die diesem europäischen
S taatenverein nicht beigetreten sind“. U nter die Staaten der ersten Klasse,
also in den großen europäischen „Staatenverein“ des K aisers der Franzosen,
gehören Spanien, die italienischen Staaten, H olland, die Schweiz, das Herzog­
tum W arschau und die rheinischen B undesstaaten. D ie anderen europäi­
schen Staaten sind ihm entw eder a lliie rt und befreundet: Preußen, Öster­
reich und D änem ark; oder sie sind Feinde des europäische^ Bundes: Eng­
land und seine Bundesgenossen. D er rheinische Bund erscheint als Teil
eines französisch geführten Reichssystems, dem ein Bündnissystem (mit
R ußland, Österreich, Preußen) angegliedert ist. D ie Zeit der französischen
Hegem onie w ar zu kurz, als daß sich ein durchgebildetes Verfassungsrecht,
Reich — Staat — Bund 193

sei es des Reichs, sei es des Bundes, hätte entwickeln können. A ber selbst
dieses k u rze Zwischenspiel von sechs Jah ren offenbart das für die deutsche
Entwicklung des letzten Jah rh u n d erts kennzeichnende V erhältnis der
Begriffe R eich,. Staat und Bund. D er Bund deutscher Staaten ist immer
g e g e n das Deutsche Reich gerichtet gewesen. D er Bundesbegriff w ar
hier im m er der V erbündete des Staatsbegriffes gegen den Reichsbegriff.
D er Sinn des Bundes, nämlich Schutz, G arantie und F ührung der Bundes­
m itglieder w endet sich gegen das Deutsche Reich. D er hegemonische T räger
des Bundes steht im R heinbund außerhalb Deutschlands, und der für den
ganzen folgenden deutschen Föderalism us typische Dualism us ist hier der
Dualism us von F rankreich und Deutschland, die schlimmste und traurigste
Form eines D ualism us, w eil er die deutsche Einheit als solche leugnet und
aufhebt.
D er auf dem W iener K ongreß zustande gekommene Staatenbund
„ D e u t s c h e r B u n d “ w a r fü r ein halbes Jah rh u n d ert (1815 bis 1866) die
Form der politischen E inheit Deutschlands. Auch bei ihm h atte der Bundes­
gedanke den Sinn einer G aran tie der Staatlichkeit gegen das Reich. Staat
und Staatlichkeit sind auch h ier polemische Gegenbegriffe gegen das Reich.
Das Reich w ar d a ra n zugrunde gegangen, daß es nicht Staat w ar; der Bund
der deutschen Staaten m it seiner G arantie der Staatlichkeit w ill ebenfalls
kein Reich sein. E r w ill dem allgem einen Ruf des deutschen Volkes nach
einem Reich ein K om prom ißsurrogat liefern, aber in scharfer A lternative
von V ölkerrecht und Staatsrecht n u r als völkerrechtlicher Verein. Die
Trägerschaft des Bundes v erteilte sich auf ein N ebeneinander dreier
Größen: die beiden führenden Großm ächte Österreich und Preußen, deren
Gebiet aber zum Teil au ß erh alb des Bundes lag, und das sogenannte d ritte
Deutschland, dessen w ichtigster Staat, Bayern, fü r sich in Anspruch nehm en
konnte, daß e r ein rein deutscher, innerhalb des Bundesgebietes gelegener
Staat w ar, und dessen heute nicht m ehr recht begreiflicher Führungs-
1anspruch m it dieser Lage zusam m enhing; analog in einiger Hinsicht dem
unverhältnism äßigen Übergewicht U ngarns in der habsburgischen Mon­
archie, in der alle übrigen N ationen m it m indestens einem Fuße außerhalb
der M onarchie standen. D er typische D ualism us des Deutschen Bundes ist
ein D ualism us der Hegem onie, der die beiden Großmächte Österreich und
Preußen in einen Konflikt bringt.
D er preußische Sieg von 1866 h at diesen D ualism us beseitigt, das öster­
reichische Ersatzreich beiseite gedrängt und den B u n d e s s t a a t „ D e u t -
s c h e s R e i c h “ herbeigeführt. D ie V erfassung dieses „Zweiten Reiches“
spricht, um den treffenden Ausdruck C arl Bilfingers zu übernehm en, noch
„die Sprache des B undes“. Es nennt sich einen „ewigen Bund der Fürsten;
es macht einen „B undesrat“ zum H auptorgan, w ährend die demokratische
V ertretung des ganzen deutschen Volkes R e i c h s t a g heißt usw. D er
kennzeichnende D ualism us ist h ier doppelter A rt: ein D ualism us der V er­
fassungskonstruktion, die zwei gegensätzliche Prinzipien: Monarchie und
D em okratie zu verbinden sucht, und ein D ualism us von Preußen und Reich,

13 1682
194 Reich — Staat — Bund

hinter dem der Dualism us von E inzelstaat und G esam tstaat, K onservati­
vismus und D em okratie steht, mit einer ganz dualistischen Zuständigkeits­
verteilung (Reichsgesetzgebung und Staatsexekutive) und m it einem
Zwischenbegriff wie „Reich sauf sicht“ als dem K orrelat einer solchen Zu­
ständigkeitsverteilung. Die staatsrechtliche W issenschaft bem ühte sich, den
Dualism us zu überbrücken. Sie h at aber das eigentliche Unheil, nämlich
die Antithese von Staatenbund und B undesstaat, V ölkerrecht und Staats­
recht, V ertrag und \ erfassung, nicht zu überw inden vermocht. Übrigens
w ar in den ersten Jahren, nach 1867, die Scheu vor dem Begriff „Reich“
noch sehr verbreitet, weil man sich noch daran erinnerte, daß es zum Wesen
des Reichs gehörte, kein Staat zu sein. So sagte Georg M eyer 1868: „Der
Ausdruck Reich wird in so vielfachen A nw endungen gebraucht, daß man
eigentlich nur sagen kann, er bezeichnet einen großen L änderkom plex mit
verschiedenen und bis zu einem gewissen G rade selbständigen Teilen.“
Eine besonders interessante Definition gibt Bluntschli in seiner Staatslogik
1872. Ich möchte sie hier erw ähnen, weil sie Reich nicht einfach mit Bundes­
staat identifiziert und zu Unrecht ganz in V ergessenheit geraten ist.
Bluntschli spricht von einem „deutschen Bundes r e i c h “, einem „H aupt­
staat als dem Schöpfer des Bundes, ohne den das Reich nicht bestehen kan n “,
und definiert: „Das deutsche Bundesreich ist seinem W esen nach ein Ver­
band der m ittleren und kleineren deutschen Staaten im Anschluß an die
H aupt- und Vormacht Preußen, aber erhoben zu einer gem einsam en Ge­
sam tdarstellung des deutschen Volkes.“
Die W e i m a r e r V e r f a s s u n g von 1919 h at die Hegem onie Preußens
beseitigt und zugleich das Land P reußen in seinem G esam tum fang bestehen
lassen. Sie hat kein neues K onstruktionsprinzip als E rsatz fü r die bisherige
hegemonische K onstruktion gefunden und dam it den in den letzten Jahren
oft genug erö rterten katastrophalen K onstruktionsfehler gemacht. Sie be­
seitigt die hündische, auch die bundesstaatliche G rundlage; sie spricht auch
nicht m ehr „die Sprache des Bundes“, sondern verm eidet das W ort „Bund“
und sagt nicht m ehr „B undesrat“, sondern „Reichsrat“. D ie m erkw ürdige
A nregung Friedrich Naum anns im W eim arer Verfassungsausschuß, das
Deutsche Reich von jetzt ab „Deutscher B und“ zu nennen, w urde nicht
ernst genommen. D aher ging die Staatsrechtslehre der W eim arer Verfas­
sung in den ersten Jahren nach 1919 davon aus, daß nunm ehr die Staatlich­
keit der Länder beseitigt und D eutschland kein B undesstaat m ehr sei. Aber
der Konflikt zwischen dem Reich und B ayern vom Jah re 1923 entschied
die Frage zugunsten der anderen, von B ayern geführten bundesstaats­
rechtlichen Richtung, und so w urde es herrschende Lehre, daß auch die
W eim arer Verfassung eine bundesstaatliche V erfassung ß ei. Durch den
Preußenschlag vom 20. Juni 1932 hat das Reich versucht, P reußen zu „ver­
einnahm en und auf diese W eise den D ualism us von P reußen und Reich
zu überw inden. Diese Ereignisse sind noch in aller E rinnerung, so daß ich
mich darüber nicht zu verbreiten brauche. N ur auf eines möchte ich hin-
weisen, weil es die praktische Bedeutung .staatsrechtlicher K onstruktionen
Reich — Staat — Bund 195

zeigt: der Staatsgeriditshof hat in seinem berühm ten U rteil vom 25.O k­
tober 1952 seine Entscheidung ganz und gar auf die bundesstaatsrechtliche
Konstruktion gestützt. E r bestätigt die Begriffe der „eigenständigen
Landesregierung“, den Anspruch einer parlam entarischen Landesregierung
nach Art. 17 Abs. 2 als ein G rundrecht, das Recht auf eigene Politik; er
bestätigt die föderalistische K onstruktion einer unüberbrückbaren Kluft
zwischen Landesregierung und Reichsregierung, indem er davon ausgeht,
daß niemals von Reichs wegen eine Bundesregierung abgesetzt oder gar
eingesetzt w erden könne. Er lut das alles nicht etw a auf G rund des klaren
W ortlautes der W eim arer Verfassung, sondern nur unter dem Eindruck
einer bestimm ten Verfassungstheorie und bundesstaatsrechtlichen Begriffs­
bildung, die nichts ist als das Endergebnis einer gegen den Reichsbegriff
gerichteten Entwicklung des Staatsbegriffes und seines Verbündeten, eines
föderalistischen Begriffs von Bund, der, verfassungsrechtlich gesehen, der
eigentliche G arant der Staatlichkeit der Länder und der Nichtstaatlichkeit
des Reiches gewesen ist.
Das ist, in k u rzer Übersicht, die politische Bedeutung der Begriffe Reich,
Staat, Bund und der jahrhundertlangen Begriffszerrerei um die Definitionen
von Staatenbund und Bundesstaat. F ü r uns ist heute die entscheidende
Frage: Wie verhalten sich die drei Begriffe zueinander? Und vor allem:
Wie haben w ir uns in der gegenw ärtigen Situation zu ihnen zu verhalten?
Jeder der drei Begriffe hat für uns Deutsche seine eigentümliche K raft und
W irkung. Unsere Vorstellungen vom R e i c h w urzeln in einer tausend­
jährigen großen deutschen Geschichte, deren mythische K raft w ir alle
fühlen. D arüber brauche ich hier nicht w eiter zu sprechen. Es gibt aber bei
uns auch einen Staatsm ythus, und das W ort S t a a t hat ebenfalls eine
außerordentliche, über eine bloß sachliche Gegenstandsbedeutung weit
hinausgehende geschichtliche K raft und Tradition. Denn Preußen, der
Typus eines vollendeten Staates, hat gerade auf G rund seiner spezifisch
staatlichen Eigenschaften die K raft gehabt, die bundesstaatliche Einigung
des Zweiten Reiches herbeizuführen. Das W ort „Staat“ erregt unser deut­
sches Gefühl, seitdem der große preußische König in der äußersten Ver­
zweiflung des Siebenjährigen Krieges, nach der Schlacht bei Kolin, erwog,
„daß ein F ürst seinen Staat nicht überleben d arf“, und auf diese Weise in
dem G edanken an seinen Staat den seelischen H alt und die R ettung vor
dem Selbstmord fand. „Da erwachte meine Anhänglichkeit (attachement)
an den Staat“, schreibt er im Septem ber 1757 in einem ergreifenden, für die
Geschichte des Staatsbegrififs entscheidend wichtigen Brief an seine
Schwester, die M arkgräfin von B ayreuth. Uber das Gefühlsmäßige hinaus
haben dann W ort und Begriff des Staates eine Steigerung ins Metaphysische
erhalten, besonders seitdem unsere letzte große Philosophie in der Staats­
philosophie Hegels gipfelt. W iederum anders, aber mit nicht geringerer
Kraft ist dann schließlich auch das W ort B u n d ein T räger großer E rinne­
rungen und politischer Energien geworden. Von der m ittelalterlichen Ge­
schichte deutscher Städtebünde und R itterbünde und von Bünden aller A rt

13*
196 Reich — Staat — Bund

bis zu den A usprägungen des B undesgedankens in den hündischen Bewe­


gungen unserer deutschen Jugend ist es lebendig. Selbst in der m ißbräuch­
lichen V erw ertung der Bezeichnung „V ölkerbund“ h at die offizielle, aber
unrichtige deutsche Übersetzung der „Société des N ations“ dem traurigen
G enfer G ebild für deutsche O hren doch noch einen idealistischen Klang
verleihen können.
Aus diesem G runde aber — w eil nämlich je d e r u n serer drei Begriffe
für uns m ehr ist als ein abstraktes Gedankenschem a oder eine leere
Form el — hat die deutsche Rechtswissenschaft, w enn sie ih re r politischen
V erantw ortung und der W irklichkeit unserer gegenw ärtigen Lage bewußt
bleiben will, immer darauf zu achten, w ie leicht es ist, den einen Begriff in
gefährlicher Weise gegen den anderen auszuspielen. W ie oft hat sich in
unserer deutschen Geschichte dieser M ißbrauch bis zur jüngsten Geschichte
wiederholt! Sowohl die politisch-praktische W irkung und Tragw eite der
Verwendung jedes einzelnen dieser drei Begriffe, w ie auch ih r gegen­
seitiges V erhältnis haben sich oft geändert. U nter dem tiefen Eindruck der
E rfahrungen des unheilvollen Prozesses P reußen contra Reich vor dem
Leipziger Staatsgerichtshof lag m ir daran, gerade das gefährliche Bündnis,
das der Begriff „Staat“ in unserer Rechtsgeschichte m it dem Begriff „Bund“
eingegangen ist, in aller Schärfe herauszustellen. A uf diesem Bündnis von
staatlichem und hündischem D enken b e ru h t die große politische G efahr
eines Föderalism us, deren viele, die für das Reich und fü r den Bund und
gegen den Staat sprechen, sich nicht recht bew ußt zu sein scheinen. Auch
der Begriff „B undesstaat“ ist n u r ein heute längst ü b erh o lter Kom promiß­
begriff, der an dieser geschichtlichen H erk u n ft leidet. Ü ber die Verschieden­
heiten von Staatenbund und B undesstaat hinw eg ist es einer bestimm ten
A rt föderalistischen Denkens gelungen, zu verhindern, daß das Reich ein
w irklicher Staat w urde. Das ist das Entscheidende. Mit der verlockenden
Begründung, daß „Reich“ etw as unendlich E rhabeneres und H öheres ist als
„Staat“, sollte das Reich w e n i g e r sein und w eniger bleiben als ein
Staat. Das ist die politische G efahr, von der ich sprechen w ollte. Diesem
föderalistischen D enken ist es gelungen, das große Problem der nationalen
Einigung Deutschlands imm er w ieder in die Zw angsjacke der F rage­
stellung: Staatenbund oder Bundesstaat? zu bringen. Diesem selben Föde­
ralism us ist es gelungen, dem Reich seinen in der heutigen Zeit selbst­
verständlichen Anspruch auf Staat und volle Staatlichkeit abzusprechen,
obwohl es in der gegebenen geschichtlichen Lage und in der gegebenen
politischen W irklichkeit unserer Zeit kein Reich ohne stark en Staat geben
kann. Es ist diesem auf das „Reich“ sich berufenden Föderalisnpis gelungen,
gleichzeitig dem Reich gegenüber die eigenständige Staatlichkeit der Einzel­
staaten und der L änder als ein W esensm erkm al des Bundesstaates auf
Kosten einer sicheren, den Konfliktsfall entscheidenden Reichsgewalt durch­
zusetzen. Das meine ich, w enn ich sage, daß die Begriffe Staat und Bund
sich in unserer Geschichte gegen den Begriff des Reiches verbündet haben.
A lle die zahlreichen „bundesstaatsrechtlich“ k o n stru ierten Ansprüche,
Reich — Staat — Bund 197

A nträge und A rgum entationen der L änder und Landtagsfraktionen im


Prozeß vor dem Staatsgeriehtshof w ährend des H erbstes 1932 haben m ir die
G efährlichkeit dieses Föderalism us enthüllt. D ie Versuche des bayerischen
Föderalism us im letzten W inter gingen in der gleichen Richtung und
suchten einen föderalistisch-bündisch verfälschten Begriff des Reichs zu
benutzen, um den L ändern auf Kosten der Staatlichkeit des Reichs ihre
eigene Staatlichkeit zu erhalten.
D erartige Bem ühungen liegen trotz ih re r Verwendung des W ortes
„Reich“ praktisch ganz in der Richtung einer Entwicklung, die seit 1923 auch
im staatsrechtlichen D enken ausschlaggebend geworden ist. Sie haben in
Deutschland zu einem Verfassungssystem geführt, das treffend als „Parteien­
bundesstaat“ gekennzeichnet w erden kann. Das Reich w ar demgegenüber
in die D efensive gedrängt. Zur A ufrechterhaltung der notwendigsten poli­
tischen E inheit w ar es auf Ausnahm ebefugnisse, auf die Befugnisse des
Reichspräsidenten nach A rt. 48 der W eim arer Verfassung angewiesen. Wie
immer in unserer bisherigen Geschichte w ar es auch hier die-Verbindung
der Begriffe von Staat und Bund, die dem Deutschen Reiche schädlich
wurde, in Staatenbund, wie in Bundesstaat, in einem monarchisch-dynasti­
schen wie in einem parteienpluralistischen System. Zu Beginn unseres
Jahres 1933 aber w ar das Ergebnis, daß Deutschland ein Gebilde ohne
sichere politische F ührung gew orden w ar und immer noch an dem gefähr­
lichsten und innerlichsten Dualism us, dem von Reich und Preußen, krankte.
Der Preußenschlag vom 20. Juli 1932, der die R egierung B raun—Severing
beseitigte, h atte zw ar die Reichsregierung und die preußische Regierung in
einer H and vereinigt, aber die V erbindung von Reich und Preußen nicht
dauernd zu h alten vermocht.
Erst der u n ter der politischen F ührung Adolf H itlers entstandene neue
Staat der nationalen R evolution h at das jah rh u n d ertealte Problem durch
das R eichsstatthaltergesetz vom 7. A pril 1933 gelöst. Die Reichsstatthalter
sind U n terfü h rer des politischen F ü h rers Adolf H itler. Sie üben Landes­
gewalt im Nam en des Reiches aus. D er L änderparlam entarism us, die
schlimme W urzel des Parteienbundesstaates, ist abgeschafft. Mit einem lapi­
daren Satz ist er ins H erz getroffen: „M ißtrauensbeschlüsse des Landtags
gegen Vorsitzenden und M itglieder von Landesregierungen sind unzulässig.“
Auch das scheint uns heute schon überholt. So gründlich hat diese Lösung des
großen Problem s den alten Gegensatz von Reich, Staat und Bund beseitigt.
Sie ist kein bloßer glücklicher Handstreich, keine bloße Im provisation,
sondern eine w ohldurchdachte konstruktive Lösung, die n u r im engsten
Zusammenhang m it der G esam tkonstruktion der neuen E inheit steht. Diese
ruht auf drei Säulen: dem staatlichen B ehördenapparat, der staatstragen­
den Parteiorganisation und einer ständischen Sozialordnung. Eine k ra ft­
volle politische Führung, die aus der staatstragenden P artei hervorgeht,
bringt die m annigfaltigsten Teile und O rganisationen in ihr richtiges V er­
hältnis. D ie anonym e und getarnte A rt der politischen M achtausübung des
früheren Parteienbundesstaats ist überw unden. Politische V erantw ortung
198 Reich — Staat — Bund

und politische Ehrlichkeit sind jetzt w ieder möglich, nachdem sie im System
des liberalen Verfassungsstaates sinnlos und unmöglich geworden waren.
Unsere Vorlesung hat den Versuch gemacht, eine jah rhundertalte
Problem atik an der Hand von drei Begriffen in einer kurzen Stunde dar­
zulegen. Wenn die gegenseitigen Beziehungen von drei Begriffen erörtert
werden, muß notwendigerweise eine oberflächliche und leere Begriffs­
spielerei entstehen, wenn es eben nu r leere und ab strak te Begriffe werden,
die in solcher Weise m iteinander verbunden oder einander entgegengesetzt
werden. A ber die Begriffe von Reich, Staat und Bund sind auch als Begriffe
ein Teil der gewaltigen politischen W irklichkeit, von denen sie sprechen.
Sie sind keine nominalistischen Etiketten, keine norm ativistischen F ik­
tionen, keine bloß suggestiven Schlagworte. Sie sind unm ittelbare Träger
politischer Energien, und es gehört zu ih re r realen K raft, daß sie einer
überzeugenden juristischen Begriffsbildung fähig sind.
D aher ist auch der Kampf um sie kein Streit um leere W orte, sondern
ein Krieg von ungeheurer W irklichkeit und G egenw art. Es ist Sadie der
W issensdiaft, diese W irklichkeit sachlich zu erkennen und m it sicherem
Auge zu sehen. E rfüllt sie ihre Pflicht zur wissenschaftlichen W ahrheit, so
gilt auch für den wissenschaftlichen Kampf, was H erak lit vom Krieg gesagt
hat: daß er der Vater und König von allem ist. D ann gilt aber auch die
w eniger häufig zitierte, aber nicht w eniger bedeutungsvolle Fortsetzung
jenes viel zitierten Satzes vom K rieg als dem V ater aller Dinge. D ann wird
dieser wissenschaftliche Kampf seine innere W ahrheit und Gerechtigkeit
in sich haben und etwas bew irken, was auf andre W eise m it menschlichen
M itteln nidit zu bew irken ist. D ann nämlich erw eist er, wie H eraklit fort­
fährt: die einen als G ötter, die andern als Menschen, die einen macht er zu
Freien, die andern zu Sklaven. Das ist der höchste R uhm auch unsrer
Wissenschaft. Sie macht uns frei, w enn w ir den Kam pf bestehen. Diese
F reiheit ist keine fiktive F reiheit von Sklaven, die in ihren K etten räso­
nieren, es ist die F reiheit politisch freier M änner und eines freien Volkes.
Es gibt keine freie W issensdiaft in einem von Frem den beherrschten Volk
und keinen wissenschaftlichen Kam pf ohne diese politische Freiheit.
Bleiben w ir uns also auch hier bew ußt, daß w ir in der unm ittelbaren
G egenw art des politischen, das heißt des intensiven Lebens stehen! Setzen
w ir alles daran, den großen Kam pf auch wissenschaftlich zu bestehen,
damit w ir nicht zu Sklaven w erden, sondern zu freien Deutschen.
23- Der Führer schützt das Recht (1934)
Z u r R e ic h sta g s re d e A d o lf H itle rs v o m 13. J ul i 1934

I. Auf dem Deutschen Juristentag in Leipzig, am 3. O ktober 1933, hat der


F ührer über Staat und Recht gesprochen. E r zeigte den Gegensatz eines
substanzhaften, von Sittlichkeit und G erechtigkeit nicht abgetrennten
Rechts zu der leeren Gesetzlichkeit einer unw ahren N eutralität und ent­
wickelte die inneren W idersprüche des W eim arer Systems, das sich in dieser
neutralen L egalität selbst zerstörte und seinen eigenen Feinden auslieferte.
D aran schloß er den Satz: „Das muß uns eine W arnung sein.“
In seiner an das ganze deutsche Volk gerichteten Reichstagsrede vom
13. Juli 1934 h at der F ü h re r an eine andere geschichtliche W arnung e r­
innert. Das starke, von Bismarck gegründete Deutsche Reich ist w ährend
des W eltkriegs zusammengebrochen, weil es im entscheidenden Augen­
blick nicht die K raft hatte, „von seinen K riegsartikeln Gebrauch zu
machen“. Durch die D enkw eise eines liberalen „R editsstaats“ gelähmt,
fand eine politisch instinktlose Z ivilbürokratie nicht den Mut, M euterer
und Staatsfeinde nach verdientem Recht zu behandeln. W er heute im
Band 310 der Reichstagsdrucksachen den Bericht über die öffentliche Voll­
sitzung vom 9. O ktober 1917 liest, w ird erschüttert sein und die W arnung
des F ü h rers verstehen. Die M itteilung der dam aligen Reichsregierung,
daß R ädelsführer der m euternden M atrosen mit Reichstagsabgeordneten
der U nabhängigen Sozialistischen P artei verhandelt hatten, beantw ortete
der Deutsche Reichstag in lau te r E ntrüstung damit, daß man einer P artei
ihr verfassungsm äßiges R edit, im H eere Propaganda zu treiben, nicht v er­
kürzen dürfe und daß schlüssige Beweise des H ochverrates fehlten. Nun,
diese schlüssigen Beweise haben uns die U nabhängigen Sozialisten ein
Jahr später ins Gesicht gespien. In beispielloser T apferkeit und unter furcht­
baren O pfern h at das deutsche Volk vier Jah re lang einer ganzen W elt
standgehalten. A ber seine politische F ührung h at im Kampfe gegen die
V olksvergiftung und die U ntergrabung des deutschen Rechts und E hr­
gefühls auf eine tra u rig e W eise versagt. Bis zum heutigen Tage büßen
w ir die Hem m ungen und Lähm ungen der deutschen R egierungen des
W eltkrieges.
Alle sittlidie Em pörung über die Schande eines solchen Zusammenbruchs
hat sich in Adolf H itler angesam m elt und ist in ihm zur treibenden K raft
einer politischen T at geworden. Alle E rfahrungen und W arnungen der
Geschichte des deutschen Unglücks sind in ihm lebendig. Die m eisten
fürchten sich vor der H ä rte solcher W arnungen und flüchten lieber in eine
200 Der Führer schützt das Recht

ausweichende und ausgleichende Oberflächlichkeit. D er F ü h re r aber macht


Ernst mit den W arnungen der deutschen Geschichte. D as gibt ihm das Recht
und die K raft, einen neuen Staat und eine neue O rdnung zu begründen.
II. D er F ührer schützt das Recht vor dem schlimmsten Mißbrauch, wenn
er im Augenblick der G efahr k ra ft seines F ührertum s als oberster Gerichts-
her unm ittelbar Recht schafft. „In dieser Stunde w ar ich verantw ortlich
für das Schicksal der deutschen N ation und dam it des deutschen Volkes
oberster G erichtsherr.“ D er w ahre F ü h re r ist im m er auch Richter. Aus
dem Führertum fließt das Richtertum . W er beides voneinander trennen
oder gar entgegensetzen will, m acht den R ichter entw eder zum Gegen­
fü h rer oder zum W erkzeug eines G egenführers und sucht den Staat mit
Hilfe der Justiz aus den Angeln zu heben. Das ist eine oft erprobte Methode
nicht n u r der Staats-, sondern auch der Rechtszerstörung. F ü r die Rechts­
blindheit des liberalen Gesetzesdenkens w ar es kennzeichnend, daß man
aus dem Strafrecht den großen F reibrief, die „M agna C h a rta des Ver­
brechers“ (Fr. von Liszt) zu machen suchte. Das Verfassungsrecht m ußte dann
in gleicher Weise zur Magna C h arta der Hoch- und L andesverräter werden.
Die Justiz verw andelt sich dadurch in einen Zurechnungsbetrieb, auf dessen
von ihm voraussehbares und von ihm berechenbares Funktionieren der
Verbrecher ein w ohlerw orbenes subjektives Recht hat. Staat und Volk
aber sind in einer angeblich lückenlosen L egalität restlos gefesselt. F ür
den äußersten Notfall w erden ihm vielleicht un ter der H and apokryphe
Notausgänge zugebilligt, die von einigen liberalen R echtslehrern nach Lage
der Sache anerkannt, von anderen im Nam en des Rechtsstaates verneint
und als „juristisch nicht vorhanden“ angesehen w erden. Mit dieser A rt von
Jurisprudenz ist das W ort des F ührers, daß er als „des Volkes oberster
G erichtsherr“ gehandelt habe, allerdings nicht zu begreifen. Sie kann die
richterliche Tat des Führers nu r in eine nachträglich zu legalisierende und
indem nitätsbedürftige M aßnahme des Belagerungszustandes um deuten. Ein
fundam entaler Satz unseres gegenw ärtigen Verfassungsrechts, der G rund­
satz des Vorranges der politischen F ührung, w ird dadurch in eine juristisch
belanglose Floskel und der D ank, den der Reichstag im Nam en des deut­
schen Volkes dem F ü h rer ausgésprochen hat, in eine Indem nität oder gar
einen Freispruch verdreht.
In W ahrheit w ar die Tat des F ü h rers echte G erichtsbarkeit. Sie u n ter­
steht nicht der Justiz, sondern w ar selbst höchste Justiz. Es w ar nicht die
Aktion eines republikanischen D iktators, der in einem rechtsleeren Raum,
w ährend das Gesetz für einen Augenblick die Augen schließt, vollendete
Tatsachen schafft, damit dann, auf dem so geschaffenen Boden der neuen
Tatsachen, die Fiktionen der lückenlosen Legalität w ieder P litz greifen
können. Das Richtertum des F ü h rers entspringt derselben Rechtsquelle,
der alles Recht jedes \ olkes entspringt. In der höchsten Not bew ährt sich
das höchste Recht und erscheint der höchste G rad richterlich rächender
Verwirklichung dieses Rechts. Alles Recht stam mt aus dem Lebensrecht
des Volkes. Jedes staatliche Gesetz, jedes richterliche U rteil enthält nu r
Der Führer schützt das Recht 201

so viel Recht, als ihm aus dieser Q uelle zufließt. Das übrige ist kein Recht,
sondern ein „positives Zwangsnormengeflecht'*, dessen ein geschickter Ver­
brecher spottet.
III. In scharfer Entgegensetzung hat der F ü h re r den Unterschied seiner
Regierung und seines Staates gegen den Staat und die Regierungen des
W eim arer Systems betont: „Ich w ollte nicht das junge Reich dem Schicksal
des alten ausliefern.“ „Am 30. Jan u ar 1933 ist nicht zum soundso vielten
Male eine neue R egierung gebildet worden, sondern ein neues Regiment
hat ein altes und k rankes Zeitalter beseitigt.“ W enn der F ü h rer mit
solchen W orten die L iquidierung eines trüben Abschnittes der deutschen
Geschichte fordert, so ist das auch für unser Rechtsdenken, für Rechtspraxis
und Gesetzesauslegung, von juristischer Tragw eite. W ir haben unsere bis­
herigen M ethoden und G edankengänge, die bisher herrschenden L ehr­
meinungen und die Vorentscheidungen der höchsten Gerichte auf allen
Rechtsgebieten neu zu prüfen. W ir dürfen uns nicht blindlings an die ju ri­
stischen Begriffe, A rgum ente und P räjudizien halten, die ein altes und
krankes Z eitalter hervorgebracht hat. Mancher Satz in den Entscheidungs­
gründen unserer Gerichte ist freilich aus einem berechtigten W iderstand
gegen die K orruptheit des dam aligen Systems zu verstehen; aber auch das
würde, gedankenlos w eitergeführt, heute das Gegenteil bedeuten und die
Justiz zum Feind des heutigen Staates machen. W enn das Reichsgericht im
Juni 1932 (RGSt. 66, S. 386) den Sinn der richterlichen Unabhängigkeit darin
sah, „den Staatsbürger in seinen gesetzlich anerkannten Rechten gegen
mögliche W illkür einer ihm abgeneigten R egierung zu schützen“, so w ar
das aus einer liberal-individualistischen H altung gesprochen. „Das Richter-
tum w ird hineingedacht in eine Frontstellung nicht nu r gegenüber dem
Staatsoberhaupt und der Regierung, sondern auch gegenüber den V er­
w altungsorganen ü b erh au p t1.“ Das ist aus jen er Zeit heraus begreiflich.
Heute aber obliegt uns die Pflicht, den neuen Sinngehalt aller öffentlich-
rechtlichen Einrichtungen, auch der Justiz, m it größter Entschiedenheit
durchzusetzen.
Am Ende des 18. Jah rh u n d erts hat der alte H äberlin die Frage des
Staatsnotrechts m it der F rage der Abgrenzung von Justizsachen und
Regierungssachen in V erbindung gebracht und gelehrt, bei G efahr oder
großem Schaden für den Staat könne die R egierung jede Justizsache zur
Regierungssache erklären. Im 19. Ja h rh u n d ert h at Dufour, einer der V äter
des französischen V erwaltungsrechts, den jed e r gerichtlichen Nachprüfung
entzogenen R egierungsakt (acte de gouvernem ent) dahin definiert, daß sein
Ziel die V erteidigung der Gesellschaft, und zw ar die V erteidigung gegen
innere und äußere, offene oder versteckte, gegenw ärtige oder künftige
Feinde sei. W as m an auch imm er von solchen Bestimmungen halten mag,
sie weisen jedenfalls auf eine juristisch wesentliche Besonderheit der poli­
tischen „R egierungsakte“ hin, die sich sogar in liberalen Rechtsstaaten
1 Vgl. die soeben erschienene neue Schrift von H. Henkel, Die Unabhängigkeit
des Richters in ihrem neuen Sinngehalt, Hamburg 1934, S. 10 f.
202 Der Führer schützt das Recht

rechtliche A nerkennung verschafft hat. In einem F ü h re rstaa t aber, in dem


Gesetzgebung, Regierung und Justiz sich nicht, wie in einem liberalen
Rechtsstaat, gegenseitig mißtrauisch kontro llieren 1, muß das, was sonst
für einen „R egierungsakt“ Rechtens ist, in unvergleichlich höherem Maße
für eine T at gelten, durch die der F ü h re r sein höchstes F ü hrertum und
Richtertum bew ährt hat.
Inhalt und Umfang seines Vorgehens bestim m t d e rF ü h re r selbst. Daß seit
Sonntag,dem 1. Juli, nachts, der Zustand „norm aler Justiz“ w iederhergestellt
ist, hat die Rede nochmals sichergestellt. Das Gesetz über Maßnahmen
der Staatsnotw ehr vom 3. Juli 1934 (RGBl. I, S. 529) bezeichnet in der
Form eines Regierungsgesetzes den zeitlichen und sachlichen Umfang des
unm ittelbaren Führerhandelns. A ußerhalb oder innerhalb des zeitlichen
Bereiches der drei Tage fallende, mit der F ührerh an d lu n g in keinem Zu­
sammenhang stehende, vom F ü h re r nicht erm ächtigte „Sonderaktionen“
sind um so schlimmeres Unrecht, je höher und reiner das Recht des Führers
ist. Nach den E rklärungen des preußischen M inisterpräsidenten Göring
vom 12. Juli und des Reichsjustizm inisters G ü rtn er vom 20. Juli 1934123ist
eine besonders strenge Strafverfolgung solchen unzulässigen Sondervor­
gehens angeordnet. Daß die A bgrenzung erm ächtigten und nichtermächtig^
ten H andelns im Zweifelsfalle nicht Sadie der Gerichte sein kann, dürfte
sich nach den vorigen A ndeutungen über die B esonderheit von Regierungs­
a k t und F ührerhandlung von selbst verstehen.
IV. Innerhalb des Gesamtbereiches je n e r drei Tage tre ten diejenigen
richterlichen H andlungen des F ü h rers besonders vor, durch die er als
F ü h rer der Bewegung den besonderen, gegen ihn als den höchsten poli­
tischen F ü h re r der Bewegung begangenen T reubruch seiner U nterführer
gesühnt hat. D er F ü h re r der Bewegung h at als solcher eine richterliche
Aufgabe, deren inneres Recht von keinem anderen verw irklicht werden
kann. Daß es in unserem Staate n u r einen T räg er des politischen W illens
gibt, die Nationalsozialistische P artei, hat der F ü h re r in seiner Reichstags­
rede ausdrücklich hervorgehoben. Zu einem Gem einw esen aber, das in
solcher Weise in Staat, Bewegung, Volk gegliedert und geordnet ist, gehört
auch das eigene innere Recht derjenigen staatstragenden Lebens- und
G em einschaftsordnungen, die in einer besonderen W eise auf die eidlich
beschworene T reue zum F ü h rer begründet sind. D aran, daß die Partei
ihre Aufgabe erfüllt, hängt heute nicht w eniger als das Schicksal der poli­
tischen Einheit des deutschen Volkes selbst. „Diese gew altige Aufgabe, in
der sich auch die ganze G efahr des Politischen anhäuft, kann keine andere
Stelle, am wenigsten ein justizförm ig prozedierendes bürgerliches Gericht
der P artei oder der SA. abnehmen. H ier steht sie ganz auf sich selbst8.“
1 Vgl. den Aufsatz von E. R. Huber, Die Einheit der Staatsgewalt, unten S. 950
dieses Heftes.
2 „Völkischer Beobachter“ vom 13. Juli und vom 2 2 .123 . Juli 1934 und „Deutsche
Justiz“ S. 925; vgl. auch die Rundschau unten S. 983.
3 Staat, Bewegung, Volk. Hamburg 1933, S. 22.
Der Führer sdiützt das Recht 203

Hier ist deshalb der politische F ü h rer infolge der besonderen Qualifikation
des Verbrechens noch in einer spezifischen Weise zum höchsten Richter
geworden.
V. Im m er w ieder erin n ert der F ü h re r an den Zusammenbruch des
Jahres 1918. Von dort aus bestimm t sidi unsere heutige Lage. W er die
ernsten Vorgänge des 30. Juni richtig beurteilen will, darf die Ereignisse
dieses und der beiden folgenden Tage nicht, aus dem Zusammenhang
unserer politischen Gesam tlage herausnehm en und nach der A rt bestimm ter
strafprozessualer M ethoden so lange isolieren und abkapseln, bis ihnen
die politische Substanz ausgetrieben und nur noch eine „rein juristische
Tatbestands“- oder „N icht-Tatbestandsm äßigkeit“ übriggeblieben ist. Mit
solchen M ethoden kann man keinem hochpolitischen Vorgang gerecht
werden. Es gehört aber zur V olksvergiftung der letzten Jahrzehnte und
ist ein seit langem geübter Kunstgriff deutschfeindlicher Propaganda,
gerade dieses Isolierverfahren als allein „rechtsstaatlich“ hinzustellen. Im
Herbst 1917 haben alle in ihrem Rechtsdenken verw irrten deutschen P arla­
m entarier, und zw ar K apitalisten wie Kommunisten, K lerikale wie Athe­
isten, in m erkw ürdiger Einm ütigkeit verlangt, daß man das politische
Schicksal Deutschlands solchen prozessualen Fiktionen und V erzerrungen
ausliefere, und eine geistig hilflose B ürokratie hat damals den politischen
Sinn je n e r „juristischen“ Forderungen nicht einmal gefühlsmäßig emp­
funden. G egenüber der T at Adolf H itlers w erden manche Feinde Deutsch­
lands mit ähnlichen F orderungen kommen. Sie w erden es unerhört finden,
daß der heutige deutsche Staat die K raft und den W illen hat, Freund und
Feind zu unterscheiden. Sie w erden uns das Lob und den Beifall der ganzen
Welt versprechen, w enn w ir w iederum , wie damals im Jahre 1919, nieder­
fallen und unsere politische Existenz den Götzen des Liberalism us opfern.
Wer den gew altigen H intergrund unserer politischen Gesamtlage sieht,
w ird die M ahnungen und W arnungen des F ührers verstehen und sich
zu dem großen geistigen Kam pfe rüsten, in dem w ir unser gutes Recht zu
w ahren haben.
24· Über die innere Logik der Allgemeinpakte
auf gegenseitigen Beistand (1935)
I.
Beginnend mit den A rbeiten der im F e b ru ar 1921 eingerichteten Genfer
„Commission tem poraire m ixte“, insbesondere seit den P länen und Ent­
w ürfen, die sich m it den Nam en L ord R obert Cecil und O berst Requin
verbinden, läßt sich, über das G enfer Protokoll zur friedlichen Beilegung
von S taatenstreitigkeiten vom 2. O ktober 1924 bis zu den O stpaktplänen
der letzten Zeit, eine fortlaufende Reihe bestim m tgearteter Paktversuche
feststellen, die der YB.-Satzung, nam entlich deren Art. 10 und 16, größere
E ffektivität geben sollen und deren typisches Kennzeichen eine allgemeine
Verpflichtung zu gegenseitigem Beistand (assistance m utuelle) ist.
Es handelt sich dabei um eine M ethode der Friedenssicherung, die sich
im Gegensatz zu einer m ehr „politischen“ Methode, als besonders „juristisch“
und für eine bestimm te Auffassung von Recht und Gerechtigkeit, infolge­
dessen auch besonders „rechtlich“ und daher friedlich ausnim mt. Deshalb
ist es nützlich, sich einm al auf die innere juristische Logik d erartig er Pakte
zu besinnen und sie nach ihrem typischen Inhalt zu durchdenken, unabhän­
gig davon, welche aktuelle B edeutung ihnen im Augenblick gerade
zukommt.
Alle Bündnisse alten Stils, mögen sie aggressiv oder defensiv gewesen
sein, w aren natürlich ebenfalls V erträge auf gegenseitigen Beistand. Aber
die Allgem ein- oder G eneralpakte auf gegenseitigen B eistand sollen gerade
keine Bündnisse sein, weil m an sonst w ieder in die perhorreszierte Methode
der P olitik zurückfiele, die 1914 zum W eltkrieg geführt hat. W orin liegt
also die Verschiedenheit und auf G rund welcher spezifischen Merkmale
darf m an behaupten, daß derartige B eistandspakte w irklich keine Bünd­
nisse sind? Auf G rund des „allgem einen“ C h a ra k te rs solcher Pakte. Bei
einem Allgemein- oder G eneralpakt auf gegenseitigen Beistand ver­
sprechen sich viele verschiedenartige, benachbarte und entfernte, starke
und schwache Staaten gegenseitig Beistand und Hilfe, ohne daß ein in
sich geschlossener Kreis von Staaten gebildet w ird und ohne daß ein be­
stim m ter präsum tiver Feind ins Auge gefaßt oder gar genannt wäre.
N ur diese beiden Momente, Offenheit, das heißt eine größere, nicht ge­
schlossene Zahl verschiedenartiger V ertragspartner und das Fehlen eines
bestim m ten mutmaßlichen Gegners, gegen den der Beistand geleistet
w erden soll, begründen den „allgem einen“ C h a ra k te r dieser Beistands­
verträge. Das verlangt der auf die V erm eidung eines Bündnisses gerichtete
Typus solcher Pakte. D araus ergeben sich nun die W idersprüche und
Über die innere Logik der Allgemeinpakte auf gegenseitigen Beistand 205

Antinomien, die den G edanken soldier G eneralbeistandspakte in sidi


selbst zerstören.
II.
W enn der A llgem einpakt w irklich gegenseitig sein soll, muß vor allen
Dingen audi der Beistand, den die V ertragspartner sidi versprochen haben,
in einem echten und vollen Sinne gegenseitig und reziprok sein. Eine solche
A rt éditer G egenseitigkeit und R eziprozität können sich aber n u r solche
Staaten gegenseitig versprechen und leisten, deren Gewicht und S tärke
nicht allzu verschieden ist. D er Beistand, den eine W eltmacht einem
kleinen und schwachen Lande leistet, ist nicht n u r quantitativ, sondern auch
qualitativ etw as anderes als die um gekehrte „U nterstützung“, den ein
kleiner, vom Sdiauplatz der A ktion entfernter R andstaat einem Im perium
leisten kann. D as W ort „Beistand“ oder „U nterstützung“ zu einem All­
gemeinbegriff zu machen, und „Beistand gleich Beistand“ zu setzen, ähnlich
wie man w ährend der Inflation „M ark gleich M ark“ erk lärte, ist allerdings
typisch fü r einen abstrak ten N orm ativism us und dessen Allgemeinbegriff;
es ist aber w eder praktisch noch theoretisch, w eder politisch noch juristisch
sinnvoll. D ie G egenseitigkeit hört auf, sowohl w enn der Schwache
zugunsten des S tarken belastet w ird, w ie um gekehrt auch dann, w enn der
Schwache das Recht bekomm en soll, die stärk ere Macht in den D ienst seiner
Politik zu stellen. Eine schwere Belastung des Schwachen k ann vor allem
darin liegen, daß der . Starke einseitig von sich aus über die Voraus­
setzungen und den Inhalt der Beistandspflicht entscheidet, weil dann der
Starke seinen Schutz oder Beistand oktroyieren und den Schwächeren
seinem Schutz und dam it seiner Schutzherrschaft unterw erfen kann. Aus
einem K ollektivpakt zu gegenseitigem Beistand w ird bei allzu großer
Verschiedenheit des politischen Gewichts der V ertragsstaaten ein P rotek­
toratsvertrag auf Schutz und Gehorsam . D er „allgem eine“, alle verschieden­
artigen V ertrag sp artn er gleichmäßig um fassende P ak t zerfällt dann in
zwei Teile: den V ertrag der S tärkeren untereinander, der auf echter Gegen­
seitigkeit beruhen kann, und den V ertrag der S tarken mit den Schwächeren,
der kein „G egenseitigkeits“-, sondern ein Schutz- und U nterw erfungs­
vertrag ist.
Das ist unverm eidlich und keineswegs imm er ungerecht, aber es hebt
den G rundgedanken der G eneralpakte auf gegenseitigen Beistand
unweigerlich auf. D eshalb bestätigen*auch alle geschichtlichen E rfahrungen,
daß bei größeren G esam taktionen ein lebhafter, schließlich sogar zu neuem
Krieg oder G ew alttaten führender Streit darüber entsteht, wie die Leistung
der verschiedenen Staaten zu bew erten ist. Man braucht sich nur die Mög­
lichkeit des „Sonderfriedens“ deutlich zu machen, um diese Problem atik
zu erkennen. Es kom mt hinzu, daß die E inw irkung einer jeden Beistands­
leistung auf die politische G esam tlage diese fortw ährend verändert. W ürde
eine Macht wie Frankreich und England mit voller m ilitärischer Hilfe, zu
Lande, zu W asser und in der Luft, einem Staat wie Estland gegen einen
wirklichen oder angeblichen Angriff der Sow jetunion beistehen, so w äre
206 Über die innere Logik der Allgemeinpakte auf gegenseitigen Beistand

es kindisch, zu verlangen, daß das angegriffene Estland nun im „juristi­


schen“ Sinne als der „Geschäftsherr“ einer solchen politischen und mili­
tärischen Gesam taktion zu betrachten sei und als soldier bestimmen dürfe,
unter welchen Bedingungen er sidi m it dem A ngreifer einigt und die
englisdie und französische Armee nach H ause schickt, weil er sich nicht
m ehr angegriffen oder bedroht fühlt. Es ist gar nidit möglich, den
sdiw adien StaaL einseitig von sich aus über die Voraussetzungen, Inhalt
und politisches Gewicht der Beistandsleistung entscheiden zu lassen. Es
widerspricht aber ebenso dem Sinn eines „allgem einen“ auf Gleichheit und
Gegenseitigkeit beruhenden, von einem Bündnis oder P rotektorat ver­
schiedenen Beistandsvertrages, die Starken allein entscheiden zu lassen.
Das ist die erste auffälligste Antinomie, an der der G edanke allgemeiner
B eistandsverträge scheitert.
III.
Die Frage: W er entscheidet? das ewige und leidige: Q u i s j u d i c a b i t ?
bleibt der Prüfstein aller solcher V erträge. Auch vor dieser F rage führt
das System der A llgem einpakte zu inneren W idersprüchen, an denen es
scheitert, weil es ihm nicht gelingt, gegenüber einem gewöhnlichen Bünd­
nissystem seinen spezifischen Sinn zu bew ahren.
Man kann versuchen, die Frage: W er entscheidet? zu um gehen und den
Kopf in den Sand eines reinen Norm ativism us zu stecken, indem man eine
„automatische“ Bestimmung anstrebt, das heißt eine A rt Selbstanwendung
einer vorher getroffenen Norm ierung. Das ist der Sinn aller Bemühungen
um eine tatbestandsm äßige Umschreibung und „Definition“ des Angriffs
und des Angreifers. Ihre prim itivsten Beispiele lauten etw a: A ngreifer ist,
w er den Krieg e rk lärt; A ngreifer ist, w er die G renzen überschreitet usw.;
ihren H öhepunkt stellen die bekannten, von Politis form ulierten Defi­
nitionen dar, die von der Sow jetunion 1933 so eifrig aufgegriffen wurden.
Eine solche Methode entspricht der Logik eines folgerichtigen, norma­
tiv7]’st ischcn Denkens: nicht konkrete Menschen oder Mächte sollen die ent­
scheidende Frage beantw orten, sondern eine vorher getroffene generelle
unpersönliche Norm soll sich selbst anwenden. Im Strafrecht des letzten
Jahrhunderts hat eine ähnliche Denkw eise ihre vollkom menste Durch­
bildung erfahren. D aher führt diese Methode dazu, das Völkerrecht, oder
wenigstens das „K riegsverhütungsrecht“ in eine A rt Strafrecht zu ver­
wandeln. Und wie für diese A rt Strafrecht der Satz: nullum crimen sine
lege logisch zwingend ist, so w ürde für jenes K riegsverhütungsrecht der
automatischen Definitionen der Satz: nulla aggressio sine lego ebenso folge­
richtig sein. A ngreifer w äre also nur, w er den T atbestand des Angriffs
erfüllt, und A ngreifer w äre nicht, wem es gelingt, die genau umschriebenen
Tatbestände des Angriffs zu umgehen. Die „k alte“ Abdrosselung eines
sdiw adien Staates durch einen starken w äre kein „Angriff“, w ährend die
Zuckungen des getretenen W urm es sehr leicht die A utom atik der Angriffs­
definitionen, eine ganze Beistandslaw ine in Bewegung setzten. Ebenso wie
Uber die innere Logik der Allgemeinpakte auf gegenseitigen Beistand 207

jenes norm ati vistische Strafrechtsdenken das Strafgesetzbuch zu einer


„Magna C h a rta “ des Verbrechers machen muß, verw andeln solche Angriffs­
definitionen das Völkerrecht in eine Magna C harta der böswilligen und
raffinierten Staaten. Diese A rt juristischen Denkens muß im Völkerrecht
eben dorthin führen, wohin sie auch im Strafrecht geführt hat, nämlich zu
einer A useinanderreißung des konkreten Vorgangs in die getrennten Sub-
7 sumtionen unter die getrennten Begriffe von Schuld, Rechtswidrigkeit und
Tatbestandsm äßigkeit. G erade das ist aber im Völkerrecht nicht möglich.
Man kann hier nicht Schuld, Rechtsw idrigkeit und Tatbestandsm äßigkeit
als drei selbständige „Elem ente“ unterscheiden. Selbst für einen scheinbar
so einfachen T atbestand wie „Überschreitung der G renze“ w ird man stets
einen \ 7orbehalt zugunsten einer rechtmäßigen Überschreitung der Grenze
machen und drfmit steckt man bereits tief in der allgemeinen Problem atik
des Völkerrechts.
Versagt also diese autom atische Methode, so bleibt nur übrig, entw eder
jeden einzelnen Staat für sich entscheiden zu lassen, oder aber die Entschei­
dung der G esam theit der Verpflichteten in irgendeiner Weise zu über­
tragen. W enn nun jed e r einzelne für sich selbst entscheidet, wann, wie und
was er zu leisten hat, so gibt es natürlich n u r ein Recht, aber keine Pflicht
zum gegenseitigen Beistand. D ann sucht sich jed e r Staat die Kriege oder
Sanktionen aus, die er vornim m t oder an denen er sich beteiligt. Besteht
aber eine Pflicht zum Beistand, so muß jed e r von jedem die Erfüllung
dieser Pflicht verlangen können und die V erw eigerung der Beistands­
leistung ist dann eine V ertragsverletzung, die einer Sanktion bedarf. Diese
Möglichkeit der V erletzung der Sanktionspflicht fü h rt in das unlösbare
Problem der „Sanktion der Sanktion“, über das die interessante A bhand­
lung von J. M. Spaight, „Pseudo-Security“ besonders treffende Bem er­
kungen enthält.
Soll aber eine K ollektiventscheidung über Voraussetzung und Inhalt der
Leistung getroffen w erden, die eine echte Gesamtentscheidung, also nicht
nur ein „E invernehm en“ oder eine „K onsultation“ ist, so erhebt sich die
Frage, ob ein einstim m iger Beschluß aller V ertragspartner erforderlich ist,
oder ob die B eteiligten irgendw ie einem einstim migen Beschluß der Nicht-
beteiligten, oder ob sie endlich gar einem M ehrheitsbeschluß der Nicht­
beteiligten unterw orfen w erden sollen. W as das Erfordernis der Zustim­
mung alle r V ertragspartner u n ter Einschluß der beteiligten Staaten, das
heißt der A ngreifer und Angegriffenen bedeutet, braucht nicht n äher aus­
geführt zu w erden, das hieße einfach einen neuen V ertrag fü r notwendig
erk lären und dam it den bisherigen V ertrag zur bloßen V orbereitung des
neuen V ertrages juristisch zu degradieren, w enn nicht zu annullieren. In
dem anderen F alle aber, w enn die Beteiligten überstim m t w erden können,
entsteht der innere W iderspruch, daß über die Frage, ob jem and
angegriffen ist und sein Recht der Selbstverteidigung ausüben darf, ein
anderer als der Angegriffene und der Inhaber des Selbstverteidigungs­
rechtes entscheidet; das w äre m it anderen W orten die juristische Beseiti-
208 Über die innere Logik der Allgemeinpakte auf gegenseitigen Beistand

gang des Selbstverteidigungsrechts — eine ganz untragbare, aber in diesem


Falle wiederum logisdbt unverm eidliche Konsequenz derartiger all­
gemeiner Beistandspakte.
IV.
D er tiefste und tödlichste Selbstwiderspruch dieses Paktsystem s enthüllt
sich schließlich dann, wenn man die Frage nach dem mutmaßlichen Gegner
stellt. Irgendein Gegner ist natürlich immer vorausgesetzt, sonst brauchte
man sich keinen gegenseitigen Beistand zu versprechen; der Beistand soll
doch nicht gegen N aturgew alten, sondern gegen einen „A ngreifer“ geleistet
werden. Steht der A ngreifer außerhalb des gemeinsamen Paktsystem s, so
ist dieses von irgendeinem Bündnissystem auf keine W eise zu unter­
scheiden. Rechnet man aber m it der Möglichkeit, daß es auch innerhalb
der vertragsschließenden Gemeinschaft zu Angriffen und der zur Abwehr
solcher Angriffe notwendigen gegenseitigen Beistandsleistung kommen
kann, so bedeutet ein derartiger V ertrag nichts anderes, als daß jeder
V ertragsstaat davon ausgehen und dam it rechnen muß, daß jed er andere
V ertragsstaat sowohl sein potentieller A ngreifer und Feind als auch sein
potentieller Bundesgenosse ist. Und er muß nicht n u r m it dieser all­
gemeinen Möglichkeit rechnen, sondern sich auf diesen Fall, wenn er
vertragsm äßig k o rrek t handeln will, auch vorbereiten. H ier w ird die
A bsurdität d erartiger A llgem einverträge handgreiflich. Ein sinnvolles
Zusammenleben der Völker ist auf einer solchen G rundlage überhaupt
nicht denkbar.
V.
Die Antinomien dieses Paktsystem s sind unbestreitbar, und es handelt
sich bei ihnen nicht um abstrakte logische Spielereien, sondern um die
konkrete A usw irkung eines in sich widerspruchsvollen V ertragsinhalts.
G erade diese Methode der Friedenssicherung, die sich so viel auf ihren
juristischen C h arak ter zugute tut, ist nicht im stande die juristischen W ider­
sprüche, zu denen sie führt, aus sich selbst heraus zu überw inden. Die
Antinomien könnten nur in einem echten Bunde überbrückt werden, der
auf Homogenität, aus dieser H om ogenität ihren Sinn entnehm enden G aran­
tien und einem substanzhaften, nicht n u r legalistisch - formalistischen
Rechtsbegriff begründet wäre. Ein Bund ist kein Norm ensystem , sondern
eine konkrete Gemeinschaft k o nkreter Staaten. Diesen Problem en des
Bundes ist die bisher übliche V ölkerrechtslehre aus dem Wege gegangen.
Aber die konkrete Lage Europas zwingt zu einer Besinnung nicht nur auf
die Zweckmäßigkeit, sondern auch auf die juristische Richtigkeit der bis­
herigen Denkweise. Schließlich enden alle A llgem einpakte auf gegen­
seitigen Beistand in der Sackgasse eines einfachen Dilem mas: entw eder
Bund oder Bündnis. Kein menschlicher Scharfsinn, keine normativistische
Verschleierung vermag diesen toten Punkt, den die innere Logik der
G eneralpakte fortw ährend herbeiführt, praktisch oder auch n u r theoretisch
Über die innere Logik der Allgemeinpakte auf gegenseitigen Beistand 209

zu überw inden; keine noch so „allgem eine“ Umschreibung kann diesen


K ernpunkt um gehen, ohne den V ertrag selbst juristisch inhaltlos zu
machen. D er Ausweg liegt nicht in neuen, noch kom plizierteren oder noch
allgem eineren N orm ierungen und Begriffen, sondern in der Besinnung auf
die kon krete O rdnung und die Gemeinschaft bildenden K räfte der euro­
päischen Völker und Nationen.

14 1682
25. Die siebente Wandlung des Genfer Völkerbundes
(1 9 3 6 )
Eine völkerrechtliche Folge der Vernichtung Abessiniens
I. Als Preußen im Jahre 1866 auf G rund einer „debellatio" die Staaten
H annover, Kurhessen, Nassau und die F reie Stadt F ra n k fu rt annektierte,
bestand der Deutsche Bund, dem der A nnektierende wie die Annektierten
angehört hatten, nicht mehr. Die Auflösung des Bundes w ar selbstverständ­
liche Voraussetzung dafür, daß eine solche Vernichtung der staatlichen Exi­
stenz völkerrechtlich möglich w ar. In keinem irgendw ie gearteten Bund und
in keiner auch nu r bundesähnlichen V erbindung w äre die kriegerische
A nnexion eines Bundesmitglieds durch ein anderes denkbar, solange der
Bund besteht. In dem Bundesstaat Deutsches Reich, den Bismarck 1867
und 1871 geschaffen hatte, w ar auch der kleinste M itgliedstaat seiner poli­
tischen Existenz sicher; er h ätte nicht gegen seinen W illen vernichtet
w erden können, ohne daß der Bund selbst vernichtet w orden wäre. Bis­
m arck ging in dieser G arantie der Existenz so weit, daß er selbst bei den
Versuchen einer Vereinigung von Waldeck mit Preußen überaus vorsichtig
und zurückhaltend war. In gleicher W eise w äre z. B. die Schweizer Eid­
genossenschaft nicht m ehr identisch m it sich selbst, wenn auch nur die
Möglichkeit anerkannt w ürde, daß der kleinste Kanton von einem anderen
durch eine debellatio vernichtet und annektiert w erden könnte. Die Exi­
stenzgarantie ist eben ein Lebensgesetz jedes echten Bundes, sei er Bundes­
staat, Staatenbund oder irgendeine bundesähnliche Verbindung. Eine solche
G arantie kann aber nicht beliebig gemacht werden, sondern setzt ein
M indestmaß von Artgleichheit, von Hom ogenität voraus. O hne das ist sie
eine leere Fiktion.
Das Schicksal Abessiniens hat diese K ernfrage jedes Bundes — Existenz­
garantie auf der G rundlage einer Hom ogenität — mit aller K larheit ent­
hüllt, nachdem 16 Jahre kram pfhaft festgehaltener Fiktionen den Blick
für* das völkerrechtlich W esentliche v e rw irrt hatten. Das Reich des Negus
w ur in aller Form Mitglied der G enfer Sozietät und im vollen Besitz aller
G arantien der Völkerbundsatzung. W enn nun ein Bundesmitglied durch
ein anderes vernichtet und annektiert w erden kann, so ist entw eder der
Bund gesprengt oder aber bewiesen, daß er niem als bestanden hat. In
W ahrheit hat die Genfer Kom bination den Namen eines Bundes, einer
Sozietät oder Liga im Sinne einer politischen Vereinigung nur insofern
verdient, als sie den Versuch machte, die W eltkriegskoalition fortzusetzen
und darin auch die im W eltkrieg neutralen Staaten einzubeziehen. Im
Die siebente Wandlung des Genfer Völkerbundes 211

übrigen fehlte je d e r konstruktive G edanke, jede Gemeinschaftssubstanz,


daher auch jede politische Folgerichtigkeit und jede Identität und Konti­
nuität im rechtlichen Sinne.
D er politische Inhalt des G enfer Völkerbundes hat oft gewechselt, und
die u n ter B eibehaltung derselben E tikette w eitergeführte Genfer Ver­
anstaltung hat sich in den letzten 16 Jahren mindestens sechsmal in ein poli­
tisches und daher auch völkerrechtliches aliud verw andelt. D enn es versteht
sich von selbst, daß ein Bund und jede andere völkerrechtlich-politische
Verbindung sich ändert, wenn Großmächte mit maßgebendem Einfluß hin­
zutreten oder skfi entfernen und dadurch die Substanz, der Geist und der
Sinn der politischen Gemeinschaft sich wesentlich wandelt. D er erste u r­
sprüngliche V ölkerbund, der den heute noch maßgebenden Form ulierungen
der Satzung zugrunde liegt, w ar aus Wilsons Geist geboren; zu ihm hätte
wesentlich gehört, daß die V ereinigten Staaten von A m erika eines der
führenden M itglieder geworden w ären. Dadurch, daß sie nicht beitraten,
entstand 1920 der zweite Völkerbund, der von den vier alliierten H aupt­
mächten, also der Fortsetzung der Entente, als ständigen R atsm itgliedern
geführt w urde. Mit dem E in tritt Deutschlands hätte der G enfer Völker­
bund zum drittenm al ein aliud w erden müssen. 1933 traten Japan und kurz
nachher das Deutsche Reich aus. D arin lag die vierte und die fünfte Ände­
rung der politischen Substanz. Als dann ein so heterogener riesiger neuer
P artner wie die Sow jetunion ein trat und ständiges Ratsmitglied w urde,
w ar der sechste G enfer Völkerbund entstanden. N unm ehr ist der V ölker­
bund durch die Vernichtung Abessiniens und durch die H altung Italiens
in eine völlig neue Lage gebracht, in der er, solange man überhaupt noch
von ihm sprechen kann, als der siebente G enfer V ölkerbund erscheint.
Keine wirkliche Gemeinschaft der W elt könnte bei einem solchen Aus-
und E intreten verschiedenartigster M itglieder bestehen. Dieses Kommen
und Gehen erin n ert eher an ein Hotel als an einen Bund oder an irgendeine
dauernde politische O rdnung oder Gemeinschaft. Wie soll dieser wechselnde
Kompromiß wechselnder Mächte im E rnst den Frieden Europas oder gar
der Erde gew ährleisten können? Was kann eine solche bloße Konferenz­
gelegenheit an politischem Inhalt tragen? Wie will sie H üter der Mandate,
G arant der D anziger Verfassung oder irgend etwas anderes politisch
Beachtliches sein? Eine m erkw ürdige „Gesellschaft“, in der man Mitglied
sein und doch einem anderen Mitglied in aller Form die A nerkennung ver­
sagen kann, wie das z. B. Jugoslawien und die Schweiz gegenüber der
Sowjetunion tun, die als ständiges Ratsm itglied sogar ein führendes Mit­
glied ist. ln keinem noch so unpolitischen Klub ist etwas D erartiges recht­
lich denkbar. Und jetzt hat ein Völkerbundsm itglied ein anderes vernichtet,
und der V ölkerbund soll w eitergehen, als sei er immer noch mit sich
identisch!
II. Die italienische Regierung hat von Anfang des abessinischen Kon­
fliktes an eine juristisch k lare Position bezogen, indem sie die Frage nach

14*
212 Die siebente Wandlung des Genfer Völkerbundes

der Hom ogenität Abessiniens stellte. Sie h a t dem Reich des Negus die zivili­
satorische Hom ogenität bestritten, sie hat den Negus nicht als ein Staats­
oberhaupt, sondern als einen H äuptling m it einer höchst problematischen
Feudalm acht über barbarische Stämme äufgefafit, der ü b erh au p t kein Mit­
glied der allgem einen Völkerrechtsgemeinschaft, viel w eniger Mitglied
eines V ölkerbundes sein könnte; seine M itgliedschaft w ar danach ein I rr ­
tum oder ein Betrug.
D as Problem der Hom ogenität des Bundes w a r dam it in aller Schärfe
gestellt. In der Sitzung des V ölkerbundsrates vom 5. Septem ber 1935 hat
Professor Jèze, als V ertreter des Negus, sich erlaubt, die Zivilisation des
Negusreiches der eines faschistischen Staates entgegenzustellen und die
Staaten m it m ilitärischer Jugenderziehung als unzivilisierte Staaten zu dis­
qualifizieren. Ein tiefer Gegensatz der W eltanschauungen tr a t hier zutage.
Die italienische These w ar rad ik al und folgerichtig; sie b e rü h rte die Kern­
frage jedes Völkerbundes, aber A bessinien w ar nun einm al in aller Form
M itglied des G enfer V ölkerbundes geworden. Die italienische Regierung
selbst hatte im Sommer 1923 gegen clen P rotest Englands m it Frankreich
fü r die Zulassung Abessiniens gestimmt. Diese form ale Schwierigkeit er­
möglichte es, solange Abessinien bestand, die F rage als eine „rein ju ri­
stische“ Angelegenheit zu behandeln und die K ernfrage, das Problem der
Hom ogenität, zu verm eiden. Nach d er V ernichtung Abessiniens ist das
nicht m ehr möglich. Jetzt erhebt sich unverm eidlich w ieder einm al die
F rage nach der politischen Substanz des V ölkerbundes und d er Homogeni­
tä t der in ihm vereinigten Völker.
III. Es liegt uns fern, uns in eine italienische A ngelegenheit ein­
zumischen, aber es ist sowohl für die völkerrechtliche B eurteilung der neuen
Lage, wie auch für die Entwicklung eines europäischen V ölkerrechts von
großer T ragw eite, wie die italienische Rechtswissenschaft den italienischen
Rechtstitel auf das K aisertum Ä thiopien ko n stru iert. Ein berühm ter Jurist
des italienischen öffentlichen Rechts, Santi Romano, d er P räsident des ita­
lienischen Staatsrates, stützt den E rw erb Abessiniens auf eine debellatio,
d. h. auf die vollständige und endgültige Vernichtung der gesam ten staat­
lichen Macht und Existenz des Gegners. D ie A nnexion H annovers durch
Preußen, die E ingliederung der italienischen S taaten in das Königreich
Sardinien, die Eroberung der B urenstaaten durch England im Jah re 1902
sind Beispiele solcher D ebellationen.
D ie debellatio ist also an sich ein a n e rk a n n te r R echtstitel des Völker­
rechts. Im M aiheft seiner Zeitschrift „Lo Stato“ ist ab er C arlo Costam agna
dieser K onstruktion entgegengetreten. E r nim m t einen ursprünglichen,
originären, nicht einen abgeleiteten, derivativen, Rechtstitel Italiens in
Anspruch. N un ist eine debellatio natürlich auch ein o rig in ärer Rechtstitel
in dem Sinne, daß der Rechtserw erb vom W illen des V orbesitzers abhängig
ist. Dagegen ist er abgeleitet, insofern d er neue M achthaber im W ege einer
„Staatensukzession“ in die völkerrechtliche Stellung des frü h eren Macht-
Die siebente Wandlung des Genfer Völkerbundes 213

habers eintritt. Costam agna kommt es aber darauf an, daß der italienische
Kaiser von Äthiopien etwas anderes ist als ein Nachfolger des „Löwen von
Juda“. E r protestiert dagegen, daß das bisherige Abessinien ein gleich­
berechtigtes Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft war, und macht in folge­
richtiger W eiterführung des bisherigen italienischen Standpunktes geltend,
daß der Besitz des Negus w eder das ethisch-rechtliche, noch das organisa­
torische Minimum aufwies, ohne das w ir nicht von einem Staat und daher
einem tauglichen Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft sprechen können.
Man kann verstehen, daß das für einen Faschisten eine entscheidende
Frage ist, und man w ird dem m utigen Aufsatz Costamagnas die juristische
Logik nicht absprechen.
Costamagna sagt, das faschistische Italien gehöre zw ar zum Genfer
Völkerbund, aber nu r „m aterialm ente e non spiritualm ente“. Die Frage
nach dem „Geist“ des G enfer Völkerbundes ist in der Tat praktisch und
politisch von größter Bedeutung. Sie gehört ebenfalls zu der Frage nach
der Substanz und der Hom ogenität der Gemeinschaft. W as aber ist heute
der Geist des G enfer Bundes? Sind es die Reste Wilsonscher Liberaldem o­
kratie in dem Sinne, wie noch auf der 13. G eneralversam m lung der
Schweizerischen Vereinigung für den V ölkerbund (7. Mai 1934) Professor
Rappard eine bew ußte V erbindung der V ölkerbundspropaganda mit der
Verteidigung liberaldem okratischer Ideen forderte? O der hat die Sow jet­
union dem Bund einen neuen, und zw ar den bolschewistischen Geist der
W eltrevolution eingeflößt? Auch hier fehlt der G enfer V eranstaltung jede
Identität und K ontinuität. Höchstens könnte man sagen, daß ein bodenloser
Relativism us aus der Abwesenheit jedes echten Geistes die Tugend des
Universalismus machen möchte. Aber eine von solchem Geist getragene
Gesellschaft ist, wie das Schicksal Abessiniens zeigt, schließlich nicht einmal
mehr imstande, M itglieder und Nichtmitglieder, viel weniger Freund und
Feind von sich aus zu unterscheiden. Ein solcher „Geist“ führt nu r zu poli­
tischen, moralischen und juristischen A bsurditäten.
Das bisherige substanzlose System innerer W idersprüche w ar keiner
Kontinuität und daher auch keiner juristischen Logik fähig. Ein echter
Bund europäischer Völker kann sich nur auf die A nerkennung der völ­
kischen Substanz gründen und von der nationalen und völkischen Ver­
wandtschaft dieser europäischen Völker ausgehen. W enn der F ü h re r und
Reichskanzler Adolf H itler noch in seiner großen Reichstagsrede vom
7. März 1936 die europäischen Nationen als eine „Fam ilie“ und Europa als
ein „Haus“ bezeichnet hat, so handelt es sich hier nicht um irgerideine der
auch früher vorkommmenden Redewendungen von der „fam ille des
nations“, sondern um die bew ußte Fundierung einer neuen europäischen
Ordnung auf den Geist der Gemeinschaft und Verwandtschaft der euro­
päischen Völker. N ur in einer solchen konkreten O rdnung finden die ein­
zelnen Nationen eine echte G arantie ih re r politischen Existenz.
214 Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberisdien Ermächtigungen

26. Vergleichender Überblick über die neueste


Entwicklung des Problems der gesetzgeberischen
Ermächtigungen ; „Legislative Delegationen“ (1936)
Seit dem W eltkriege sehen sich fast alle Staaten gezwungen, politische,
wirtschaftliche und finanzielle Anordnungen und M aßnahm en in „verein­
fachten“ Verfähren zu treffen, die eine schnelle Anpassung an die beson­
deren Schwierigkeiten der wechselnden Lage ermöglichen. Die Hoffnung,
daß man nach dem Ende des Krieges oder nach dem Abschluß der Demobil­
machung unverändert zu den früheren M ethoden der „norm alen“ Gesetz­
gebung zurückkehren könnte, hat sich nicht e rfü llt1. D as 1934 erschienene
Buch von H erbert Tingstén12 verm ittelt ein Bild dieses Zustandes. Nach Be­
endigung des Krieges haben zuerst Inflation und Deflation außerordentliche
M ethoden gesetzgeberischer Regelung notwendig gemacht. Außerdem sind
viele Staaten, und zwar auch solche, die nicht etw a sozialistisch sein wollen,
zu mancherlei A rten einer ökonomischen und finanziellen Planung über­
gegangen, mit Einrichtungen und N orm ierungen zur Steuerung oder Regu­
lierung der W irtschaft und mit Produktions- und M arktordnungen, die
ebenfalls neue Methoden der rechtlichen N orm ierung erforderlich machen.
Endlich kann auch der Zwang zur E rfüllung völkerrechtlicher Pflichten,
zum Beispiel der Sanktionsverpflichtungen für V ölkerbundstaaten3, bei
wachsender K ollektivierung des internationalen Lebens zu vereinfachten
Form en gesetzlicher Regelung führen.
Es genügt diese drei verschiedenen Ursachen anzudeuten, die sämtlich in
der gleichen Richtung w irken und zu dem gleichen Ergebnis führen, nämlich
zu einer neuen Praxis und zu neuen A uffassungen der Begriffe von Gesetz
und Gesetzgebung. H ier ist die P raxis der gesetzgeberischen Ermächti­
gungen (legislativen Delegationen) von besonderer theoretischer und p rak ­
tischer Bedeutung. Denn die M aßnahmen des offenen Ausnahm ezustandes
oder solche des offenen Staatsnotrechts trennen ih re r N atu r nach den
Norm alzustand von einer abnorm en Lage begrifflich scharf ab; sie können
mit einem gewissen Recht als „ D ik ta tu r“ bezeichnet w erden, w ährend es
ein oberflächliches und irreführendes Schlagwort ist, alle heutigen Metho-
1 Auf dem 32. Deutschen Juristeniag 1921 (Verhandlungen S. 3t) zitierte H. Tr i e -
pe l aus einem Brief, den ihm Karl B i n d i n g kurz vor dem Tode geschrieben hatte,
folgenden Satz: „Die nächste große Aufgabe ist die Bekämpfung der Verordnung in
ihrer Anmaßung gegen das Gesetz.“ Triepel stellt dabei fest, daß das „Unglück“ mit
dem Ermächtigungsgesetz vom 4. August 1914 begonnen habe. In der Tat begann
1914 mit dem Weltkrieg das Ende einer verfassungsgesdiiditlichen Epoche, nämlich
der des gewaltenteilenden Konstitutionalismus.
2 Herbert T i n g s t é n , Les Pleins Pouvoirs, l’expansion des pouvoirs gouverne­
mentaux pendant et après la grande guerre; traduit du Suédois par E. Soederlindh,
Publications du Fonds Descartes, Librairie Stock, Paris 1934.
3 Die englischen Verordnungen zur innerstaatlichen Durchführung der Sanktionen
(z. B. Statutory Bules and Orders 1935, Nr. 1038, 1090, 1121 und 1122, 1248) sind auf
Grund der Ermächtigungen der Treaty Peace Act vom 31. Juli 1919 (9 & 10 Geo 5 c. 33)
ergangen.
Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen 213

den einer „vereinfachten“ Gesetzgebung unterschiedslos als „D iktatur“ (im


Gegensatz zu D em okratie oder Rechtsstaat, oder andern vieldeutigen
Worten) zu disqualifizieren. Die gesetzgeberische Ermächtigung ist, soweit
sie verfassungsm äßig ist, imm er eine legale Brücke; aber sie kann sowohl
zur früheren verfassungsm äßigen Legalität zurück als auch von ihr hinweg
auf einen gänzlich neuen Verfassungsboden führen. D aher ist die P raxis
der Ermächtigungsgesetze sowohl ein Prüfstein für die wirkliche Verfas­
sungslage als auch ein wichtiges Symptom für die verfassungsrechtliche
Gesamtentwicklung, und es ist wohl verständlich, daß das Problem der
Verfassungsmäßigkeit von Ermächtigungsgesetzen in den letzten Jahren ein
H auptthem a aller verfassungsrechtlichen Streitfragen geworden ist.
Ob „vereinfachte“ M ethoden der gesetzlichen Regelung zulässig sind,
ist eine verfassungsrechtliche Frage, die in den verschiedenen Staaten
außerordentlich verschieden beantw ortet w erden muß. Selbst innerhalb
derjenigen Staaten, die als vorbildlich liberal-dem okratische Verfassungs­
staaten und in diesem Sinne als „Rechtsstaaten“ allgemein anerkannt sind,
in England, Frankreich und in den Vereinigten Staaten von Am erika, be­
steht hier keine Übereinstimmung. H ier liegen, trotz der scheinbaren Ver­
wandtschaft des V erfassungstypus, in W ahrheit ganz verschiedene
Gesetzesbegriffe zugrunde. Es ist schon aus diesem G runde nicht möglich,
im Hinblick auf diese Staaten einen Allgem einbegriff von „Rechtsstaat“
abzuleiten, um daraus die Frage der Verfassungsm äßigkeit von Ermächti­
gungsgesetzen für den rechtswissenschaftlich allein interessanten F all zu
beantw orten, daß keine geschriebene Verfassung vorliegt oder die geschrie­
bene Verfassung keine ausdrücklichen Bestimmungen über die Zulässigkeit
von Ermächtigungsgesetzen enthält. Auf der anderen Seite läßt sich beim
Schweigen der Verfassung die Zulässigkeit oder Nichtzulässigkeit von
Ermächtigungsgesetzen rechtswissenschaftlich n u r an der H and grundsätz­
licher Begriffe und V orstellungen beurteilen, deren K ern imm er w ieder
der Begriff des Gesetzes ist. D as Problem der gesetzgeberischen Ermächti­
gung ist daher für den Gesetzesbegriff und für den W andel grundlegender
Begriffe des bisherigen V erfassungsdenkens von entscheidender Bedeutung,
nicht etw a n u r im Sinne eines „form ellen“ Gesetzesbegriffs, sondern für
den gesam ten A ufbau der V erfassung und für die Frage des konkreten
Verhältnisses von G esetzgebung und Regierung. D enn die Frage der Zu­
lässigkeit oder Nichtzulässigkeit einer Ermächtigung enthält, praktisch
gesprochen, vor allem die Frage, ob der die Ermächtigung erteilende Ge­
setzgeber selbst oder eine andere Instanz, insbesondere ein nachprüfendes
Gericht, über die Erm ächtigung entscheidet. Das Problem betrifft also nicht
so sehr norm ativistische F ragen der Auslegung einzelner Verfassungsregeln
als vielm ehr die spezifische G esam tordnung eines Gemeinwesens. D er
Gegensatz der englischen, französischen und am erikanischen Verfassungs­
stru k tu r ist hier besonders wichtig1.
1 Die Entwicklung des Ermächtigungsproblems in anderen Staaten, insbesondere
in Italien, Belgien, Polen und der tschecho-slowakisdien Republik, bleibt hier beiseite.
216 Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen

I.
1. Die e n g l i s c h e P raxis geht von der politischen Übereinstim mung
zwischen dem Parlam ent und der von der Parlam entsm ehrheit getragenen
Regierung aus; sie hat keinen gew altenteilenden Gesetzesbegriff und kennt
daher w eder die grundsätzliche Verschiedenheit von Gesetzgebung und
Regierung noch grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen
„legislative Delegationen“. Mit dem W eltkrieg setzten unübersehbar weite
Ermächtigungen ein, zunächst hauptsächlich auf der G rundlage des großen
Ermächtigungsgesetzes vom 8. A ugust 1914, der „Defence of the Realm
Act 1914“ (4 5 Geo. 5 c. 29). Trotz aller Bedenken und Einw endungen gegen
den „Despotismus der M inisterialbürokratie“ ist die verfassungsm äßige
G ültigkeit dieser weitgehenden D elegationen nicht ern sth aft in Zweifel
gezogen worden. Die grundlegende Entscheidung des House of Lords vom
1. Mai 19171 hat das Recht des Parlam ents, d erartig w eitgehende Ermächti­
gungen zu erteilen, als selbstverständlich un terstellt und n u r die Frage
geprüft, ob eine auf G rund dieser Erm ächtigung ergangene Verordnung
(regulation) nicht etw a doch über die Absichten und Ziele des ermächtigen­
den Gesetzgebers hinausgehe und aus diesem G rund „ u ltra vires“ sei. Auch
der einzige dissentierende Richter dieser Entscheidung, L ord Shaw of
Dunferm line, beanstandet nicht etw a die V erfassungsm äßigkeit der E r­
mächtigung, sondern legt n u r die erteilte Erm ächtigung dahin aus, daß die
Regierung nur befugt sein solle, „regulations“ im Sinne genereller Rege­
lungen, zum Unterschied von konkreten Einzelm aßnahm en, zu erlassen.
Aus der D elegationspraxis der N achkriegszeit sind das G esetz zur Aus­
führung des Friedensvertrages vom 31. Juli 1919*12 und die Em ergency
Powers Act vom 29. O ktober 19203 die wichtigsten Beispiele w eiterer E r­
mächtigungen. An diesem Gesetz von 1920 ist von besonderem Interesse,
daß das ermächtigende Parlam ent fü r den Um fang der Erm ächtigung nega­
tiv bestimmte V orbehalte gemacht hat, indem es z. B. die E inführung der
zwangsweisen M ilitär- oder A rbeitsdienstpflicht oder V erordnungen gegen
das Streikrecht ausdrücklich ausnim mt. D ie großen Bedenken, die von
der Labour P a rty gegen dieses Gesetz vorgebracht w urden, betrafen nicht
die verfassungsmäßige Zulässigkeit einer solchen Erm ächtigung, sondern
nur Befürchtungen eines Mißbrauchs durch eine nicht m ehr arbeiterfreund­
liche Regierung4. Die verfassungsrechtliche K onstruktion der englischen
Ermächtigungspraxis, daß das Erm ächtigungsgesetz nicht eine neue Gesetz-.
Zu der italienischen Entwicklung sei nur bemerkt, daß auch die faschistische Revolu­
tion bisher nidit zu einer Aufhebung der Trennung von Legislative und Exekutive
geführt hat und der gewaltenteilende Gesetzesbegriff im faschistischen Verfassungs­
recht beibehalten wurde.
1 Rex V . Halliday, The Law Reports 1917, p. 260—308.
2 9 & 10 Geo. 5 c. 33; vgl. oben Anm. 3.
3 10 & 11 Geo. 5 c. 55.
4 T i n g s t é n , a.a. O. S. 207. Tingstén selbst nennt dieses englische Gesetz von
1920 „un^ écart flagrant de révolution démocratique de la constitution anglaise".
Darin zeigt sich, daß er von einem nichtenglischen Verfassungsbegriff ausgeht und
einen gewaltenteilenden Gesetzbegriff für allein demokratisch hält — typische Ver­
wechslung von Demokratie und liberalem Konstitutionalismus.
Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen 217

gebungsbefugnis schaffe, sondern nur einem auf der Prärogative der Krone
begründeten Verordnungsrecht freie Bahn gebe und demnach „eigentlich
und form al“ n u r deklaratorischen C h arak ter habe1, sei hier wenigstens mit
einem W ort erw ähnt, um auf den großen Gegensatz des englischen V er­
fassungsdenkens gegenüber französisch- oder am erikanisch-republi­
kanischen Verfassungs- und Gesetzesbegriffen hinzuweisen.
2. Die Entwicklung der französischen D elegationspraxis ist bei Tingstén
(S. 15—57) gut dargestellt. Sie ist hier von besonderem Interesse, weil die
überlieferte, m an darf sagen klassische Theorie des französischen Ver­
fassungsrechts in schärfstem Gegensatz gegen die englische P raxis jede
„legislative D elegation“ als verfassungsw idrig ansieht. Diese Auffassung
hat die Logik einer gew altenteilenden Verfassung, insbesondere der
Trennung von Legislative und E xekutive und des daraus entstehenden
Gesetzesbegriffs, außerdem die Logik des Satzes „delegata potestas non
delegatur“ ganz auf ih re r Seite. Sie steht in einer verfassungsrechtlichen
Tradition, deren berühm teste Kronzeugen Locke und Sieyès sind, und deren
klarster Ausdruck sich in A rt. 45 der Verfassung des Jahres III (1795) findet12.
Esmein, der große W ortführer dieser Theorie, hielt folgerichtig daran fest,
daß jede noch so begrenzte Delegation gesetzgeberischer Befugnisse begriff­
lich und juristisch unmöglich, „juridiquem ent impossible“ sei; der Gesetz­
geber soll eben Gesetze und nicht Gesetzgeber machen; seine Aufgabe ist,
wie schon Locke bem erkt hat, „to m ake laws and not legislators“. Die
Praxis fand Zwischenlösungen; die Theorie (Duguit, Rolland) suchte be­
stimmte begrenzte Delegationen zu rechtfertigen. A ber es zeigte sich, daß
die mit dem Postulat inhaltlich festgelegter Begrenzungen arbeitenden
Verm ittlungstheorien theoretische und praktische H albheiten sind und nur
dazu führen, daß die Gerichte auf G rund ihres Nachprüfungsrechts zu einer
übergesetzgeberischen Instanz gemacht w erden m üßten, was bei der
heutigen S tru k tu r des französischen Staates unmöglich w äre3. Selbst w äh­
rend des W eltkrieges w ar das französische Parlam ent sehr vorsichtig mit
gesetzgeberischen D elegationen; insbesondere w urde der Regierung Briand
die im Dezem ber 1916 nachgesuchte allgemeine Ermächtigung verw eigert4.
Dagegen erhielt die Regierung Poincaré die außerordentlich w eiten Er-
1 Vgl. den Aufsatz von S i d n e y W. C l a r k e Esq., The Rule of „Dora“, Journal
of the Society of Comparative Legislation, London 1919, S. 36 ff.
2 „En aucun cas, le corps législatif ne peut déléguer à un ou plusieurs de ses
membres, ni à qui que soit, aucune des fonctions qui lui sont attribuées par la
présente constitution.“
3 Weil die Befugnis des Delegierten mit der des Delegierenden wesensgleich sein
muß, können bei einer gewaltenteilenden Verfassung Akte der Exekutive niemals
legislativen Charakter haben, Regierungsverordnungen niemals Gesetze sein. Richard
Thoma, Handbuch des deutschen Staatsrechts Bd. TI (1932), S. 227, hat solche Argu­
mentationen der französischen Juristen als „unfruchtbare Begriffsjurisprudenz“
abzutun versucht, aber die Theorie Esmeins ist nicht nur vom Standpunkt einer
liberalen, das heißt gewaltenteilenden Verfassung juristisch folgerichtig, sondern hat
auch mit gutem politischen Instinkt erkannt, daß es hier um eine Lebensfrage des
parlamentarischen Gesetzgebungsstaates geht.
4 T i n g s t é n , S. 19f.
218 Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen

mächtigungen der Gesetze vom 22. März 1924 und vom 3. A ugust 1926, trotz
aller verfassungsrechtlichen Bedenken gegen solche „exorbitanten“ pleins
pouvoirs. Ein Teil der französischen Rechtslehre entspricht dieser Entwick­
lung und sucht die bisherige Auffassung von der juristischen Unmöglichkeit
einer legislativen Delegation durch neue K onstruktionen zu überwinden.
H ierfür ist C arré de Malberg zu nennen, der den spezifischen Gesetzes­
begriff eines parlam entarischen Gesetzgebungsstaates und den syste­
matischen Zusammenhang des Erm ächtigungsproblems mit dem Gesetzes­
begriff folgerichtig durchdacht h a t1. C arré de M alberg unterscheidet die
form ale Verleihung der G esetzeskraft scharf von dem Inhalt der zu treffen­
den Regelung, form alisiert dadurch den Gesetzesbegriff und faßt die durch
den Gesetzgeber der Regierung erteilte „Erm ächtigung“ nicht als eine délé­
gation, sondern als eine habilitation auf. Das W ort habilitation entspricht
dem deutschen W ort „Ermächtigung“ besser als das auch in Deutschland
noch übliche W ort „Delegation“. Ü berhaupt kommt die K onstruktion von
C arré de M alberg der vor dem W eltkrieg in der deutschen Staatslehre
herrschenden, von Seydel, Laband u. a. vertreten en 12 Ermächtigungslehre
nahe, die in ähnlicher Weise den Inhalt der Regelung von der formalen
G esetzeskraft trennte und es dem allmächtigen G esetzgeber überließ,
durch seine Ermächtigung in unbeschränktem Umfang einem von einer
anderen Stelle zu bestimmenden Inhalt die form ale G esetzeskraft zu liefern.
Anfang Juni 1935 erhob sich die F rage der legislativen Ermächtigungen
und der „pleins pouvoirs“ von neuem. D ie R egierung Flandin legte einen
G esetzentw urf vor, der sie ermächtigte, bis zum 31. O ktober 1935 mit
G esetzeskraft alle Anordnungen zu treffen, die „geeignet wären, eine
Gesundung der öffentlichen Finanzen, eine W iederbelebung der wirtschaft­
lichen A ktivität und eine U nterdrückung von G efährdungen des öffent­
lichen K redits zu bew irken“. Die Regierung Flandin ist über diese, ebenso
wie die folgende Regierung Bouisson über eine ähnliche Vorlage gestürzt.
Die am 8. Juni 1935 gebildete Regierung Laval erhielt aber eine immerhin
noch w eitgehende Ermächtigung3. Bei dieser A useinandersetzung zeigte
sich ein Doppeltes: erstens der unüberbrückbare Gegensatz zwischen dem
1 La Loi, expression de la volonté générale, Paris 1931 (von Tingst^n nicht berück­
sichtigt).
2 Erwähnt unten S. 260.
3 Entwurf F l a n d i n : „Le Sénat et la Chambre des députés délèguent au gou­
vernement le pouvoir de^ prendre jusqu’au 31 octobre 1935 toutes dispositions ayant
force cte loi propres à réaliser l’assainissement des finances publiques, la reprise de
l’activité économique, la défense du crédit public et le maintien de la monnaie. Ces
décrets, pris en conseil des ministres, seront soumis à la ratification des chambres
avant le 31 Juillet 1936.“ Entwurf B o u i s s o n : „En vue d’éviter la dévaluation de
la monnaie, le Sénat et la Chambre des députés autorisent le gouvernement à prendre
ar décret, jusqu’au 31 octobre 1935, toutes dispositions ayant force de loi pour
E attre contre la spéculation et défendre le franc. Ces décrets, etc. . . . “ Entwurf
L a v a l (der Gesetz wurde): „En vue d’éviter la dévaluation de la monnaie, le gou­
vernement est autorisé par le Sénat et la Chambre des Députés à prendre, jusqu’au
31 octobre 1935, toutes dispositions ayant force de loi propres à réaliser l’assainisse­
ment des finances publiques, à provoquer la reprise de l’activité économique, à
prévenir et à reprimer les atteintes au crédit public. Ces décrets, etc. . . . “
Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen 219

Gesetzesbegriff eines parlam entarischen Gesetzgebungsstaates und der


durch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte notwendig gewordenen und
trotz aller konstitutionellen Bedenken sich durchsetzenden Regierungs­
gesetzgebung; zweitens die für die konkrete Verfassungslage entscheidende
Tatsache, daß die eigentlichen Bedenken nicht m ehr die verfassungsrechtliche
Frage der grundsätzlichen Zulässigkeit von Ermächtigungsgesetzen be­
trafen (darüber w ar man in der Sache längst hinweggegangen), sondern
daß es sich n u r um die parteim äßige Zusammensetzung der Regierung
handelte, die solche w eitgehenden Ermächtigungen erhalten sollte.
3. D ie berühm te, folgenreiche Entscheidung des höchsten Gerichtshofs
der V ereinigten Staaten von Am erika, Sdiechter v. United States, vom
27. Mai 19351 präzisiert in einer für die D enk art des gew altenteilenden
Konstitutionalismus klassischen Weise den amerikanischen Standpunkt zu
dem Problem der gesetzgeberischen Ermächtigungen. Auf G rund der w eit­
gehenden D elegationen der National Industrial Recovery Act vom 16. Juni
1933 hatte der P räsident der Vereinigten Staaten, unter der M itwirkung
von wirtschaftlichen Verbänden, eine N euordnung und Regulierung des
sozialen und wirtschaftlichen Lebens der V ereinigten Staaten begonnen und
ein großes wirtschaftliches und soziales Gesetzgebungswerk in H underten
von verbindlich e rk lä rte n V ereinbarungen (sog. Codes) geschaffen12. Die
Ermächtigungen der National Recovery Act erstrecken sich in der Tat auf
das ganze W irtschaftsleben; nähere Richtlinien gibt der Gesetzgeber nicht
und hätte er in der gegebenen Sachlage auch nicht geben können, ohne sich
selbst in eine Regierung zu verw andeln. Die Recovery Act spricht daher
nur ganz allgem ein von der Politik (policy) des Kongresses, für das G e­
meinwohl durch die O rganisation von W irtschaftsgruppen zu sorgen, un­
anständige M ethoden des W ettbew erbs zu verhindern und die Produktions­
kraft der Industrie zu fördern3. D er höchste Gerichtshof, der vorher einige
kleinere und engere Ermächtigungen als zulässig hatte durchgehen lassen,
erklärte in seiner Entscheidung vom 7. Jan u ar 1935 (Panama Refining Co.
v. Ryan, 55 Suprem e C ourt S. 241) zuerst die Sektion 9 (Oilregulations) der
National Industrial R ecovery Act für verfassungsw idrig. In seiner E nt­
scheidung von 27. Mai 1935 (Schechter v. U nited States) e rk lärte er dann
die gesamten Erm ächtigungen der N ational Recovery Act für verfassungs­
widrig, mit der Begründung, daß der Gesetzgeber seine Gesetzgebungsbefug­
nis nicht W irtschaftsverbänden übertragen und auch dem Präsidenten nur
hinsichtlich ihres G egenstandes und ihres Zweckes bestimmte und begrenzte,
vom Gesetzgeber selbst bereits norm ierte Befugnisse übertragen dürfe,
1 55 S. Ct. 837; vgl. diese Zeitschrift Bd. V, S. 701 ff.
8 Zusammengestellt in: A Handbook of NRA, herausgegeben von Lewis
M a y e r s , mit Ergänzungsbänden, 2. Aufl. 1934.
3 „To provide for the general welfare by promoting the organization of industry
for the purpose of cooperative action among trade groups, to induce and maintain
united action of labour and management under adequate governmental sanctions
and supervision, to eliminate unfair competitive practices, to promote the fullest
possible utilization of the present productive capacity of industrie.“
220 Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen

w ährend es unzulässig sei, unter allgem einer Angabe irgendwelcher Ziele


den Präsidenten nach seinem Ermessen, nach seiner „unfettered discretion“,
zum Gesetzgeber zu machen. Ausdrücklich w ird in einer ganz allgemeinen,
grundsätzlichen Weise betont, daß eine außergewöhnliche Lage keine er­
w eiterten Befugnisse schaffe („extraordinary conditions do not create or
enlarge constitutional pow ers“). In der C oncurring O pinion eines besonders
berühm ten Mitgliedes des Gerichtshofes, des Mr. Justice Cardozo, in der
die Argum ente des Urteils grundsätzlich zugespitzt sind, w ird besonders
betont, daß die Ermächtigung des Gesetzes von 1933 nicht tatbestands-
mäfiig bestimmte, durch die Bezugnahme auf einen „standard“ zu identifi­
zierende H andlungen betreffe1. Diese Auffassung von den G renzen der
Ermächtigungsmöglichkeit kommt den unten behandelten, von T riepel und
Poetzsch-Heffter vertretenen deutschen Theorien der Nachkriegszeit nahe,
die gleichfalls jede nicht auf ein „bestim m tes“ Sachgebiet beschränkte, nicht
im wesentlichen vom Gesetzgeber selbst geregelte Erm ächtigung als ver­
fassungswidrige Einführung eines„vereinfachtenG esetzgebungsverfahrens1*
ansahen und dadurch in die Problem atik der „inhaltlichen Bestim m theit“
hineingerieten. Auch zu dem Begriff des „anständigen W ettbew erbs“, der
„fair competition“, betont der Gerichtshof, daß dies nicht etw a eine Vor­
stellung sei, die durch den der bisherigen Gesetzgebung und Rechtspraxis
geläufigen Begriff des „unlauteren W ettbew erbs“ (der „unfair compe­
tition“) präzisiert werde; es handle sich eben nicht um die Unterdrückung
unlauteren W ettbew erbs im Sinne des bisherigen Rechts, d. h. nicht um
einen nur negativ und repressiv gedachten Tatbestand, sondern die E r­
mächtigung habe positiv sowohl die Planung von V erbesserungen wie die
Unterdrückung von Mißbrauch (the planning of im provem ents as well as
the extirpation of abuses) im Auge. In der T at entspricht es der Logik
eines auf feste Tatbestände gerichteten positivistischen Rechtsdenkens, daß
es nur negativ den unlauteren, nicht aber positiv den lau teren W ettbew erb
als „präzisen Rechtsbegriff“ ansehen kann. D arum sagt die Begründung in
ihrem folgenden Satz, von ihrem Verfassungs- und Gesetzesbegriff aus mit
Recht: durch eine solche Ausdehnung (vom negativ-repressiven zu einem
positiven Begriff) w ürde fast der ganze Bereich einer industriellen Regu­
lierung erfaßt: the extension becomes as wide as the field of industrial
regulation, womit die verfassungsrechtliche U nzulässigkeit einer solchen
D elegation für den gew altenteilenden V erfassungsstaat und seinen Ge­
setzesbegriff erw iesen ist.
II.
Die deutsche Entwicklung verdient deshalb besondere Beachtung, weil
in ihr alle denkbaren A ntw orten auf unsere F rage gegeben w orden sind,
von der grundsätzlichen A blehnung je d e r gesetzgeberischen Delegation
und der entgegengesetzten, ebenso grundsätzlichen A nnahm e der Zulässig-
1 Here in the case before us, is an attempted delegation not confined to any single
act nor to any class or group of acts identified or described by reference to a
standard.
Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen 221

keit jeder, auch der unbegrenzten Ermächtigung, über das Zwischenstadium


der Zulässigkeit inhaltlich begrenzter Ermächtigungen, bis zu der v er­
fassungsrechtlichen Aufhebung der gew altenteilenden T rennung von Legis­
lative und Exekutive, d. h. bis zur P raxis der eigentlichen Regierungs­
gesetzgebung.
1. Das Verfassungsrecht der konstitutionellen Monarchie des 19. Ja h r­
hunderts ging auch in Deutschland von einem scharfen Gegensatz zwischen
Legislative und Exekutive aus. D aher w ar auch hier die Ansicht möglich,
daß jede legislative D elegation grundsätzlich verfassungsw idrig sei, eine
Theorie, die der Jurist des älteren preußischen Konstitutionalismus,
L. V. Rönne, vertreten hat. Die spätere Entwicklung hat sich ohne große
Argum entationen darüber hinweggesetzt. Die bis zur W eim arer Verfassung
herrschende Lehre des Bismarckschen Verfassungsrechts hielt gesetzgebe­
rische Ermächtigungen für grundsätzlich grenzenlos zulässig, weil es nach
ihrer Auffassung inhaltliche Schranken für den Gesetzgeber nicht gab1.
Sie trennte die form ale gesetzliche G rundlage, die das Ermächtigungsgesetz
liefert, von dem Inhalt der m ateriellrechtlichen Regelung, den die e r­
mächtigte Stelle bestimmt. Diese w ird also infolge der Ermächtigung nicht
zum Gesetzgeber, sondern bleibt ein im Bereich der „Exekutive“ tätiges
Hilfsorgan des gesetzgeberischen W illens, auch wenn sie einen noch so
weiten Spielraum für die Bestimmung des Inhaltes dieses W illens hat.
Nach dieser K onstruktion handelt es sich also bei einem Ermächtigungs­
gesetz überhaupt nicht um eine Ü bertragung gesetzgeberischer Befugnisse
und daher auch nicht um eine „D elegation“ im eigentlichen Sinne.
Diese Auffassung w urde von der w eitaus überw iegenden Zahl der an ­
gesehensten Staatsrechtslehrer — Seydel, Laband, G. Jellinek, Meyer-
Anschütz — vertreten. Die oben erw ähnte entgegengesetzte Ansicht von
Rönne, die aus den ersten Zeiten des monarchischen Konstitutionalism us
stammte, konnte von Meyer-Anschütz (Lehrbuch, S. 672, Anm. 7) mit
wenigen W orten als „völlig unbegründet“ abgetan werden. D er damals
führende Staatsrechtslehrer Laband sagte in seinem „Staatsrecht des D eut­
schen Reiches“ (5. Aufl. Bd. II, 1911, S. 96 u. 107):
„D er Gesetzgebung ist keine Schranke auferlegt, daß sie nicht auch
Anordnungen über die A ufstellung von Rechtsvorschriften treffen dürfte.
Art. 5 („Die Reichsgesetzgebung w ird ausgeübt durch den B undesrat und
den Reichstag“) enthält lediglich eine Bestimmung, in welcher Form die
Reichsgesetzgebung ausgeübt w ird, aber keine Vorschrift, w orin der
Inhalt eines Reichsgesetzes bestehen müsse oder nicht bestehen dürfe. Ein
Gesetz k ann demnach, anstatt unm ittelbar Rechtsregeln aufzustellen,
A nordnungen d a rü b er enthalten, wie gewisse Rechtsregeln erlassen
1 Für die Beurteilung der konkreten Bedeutung dieser Lehre ist dabei zu beachten,
daß die Teilung, die zum konstitutionellen Denken gehört, in den Gesetzgeber selbst
verlegt war, indem das Gesetz dieser konstitutionellen Monarchie in der Sache ein
Kompromiß zwisdien königlicher Regierung und Parlament als gleidiberedhtigten
Partnern war.
222 Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberisdien Ermächtigungen

werden sollen. Es liegt hierin keine Verletzung oder A ufhebung, sondern


eine besondere Anwendung der im A rt. 5 gegebenen Vorschrift. . . . D er
Kreis der durch Verordnungen zu regelnden Rechtsbeziehungen kann ein
sehr w eiter sein; ein Gesetz kann möglicherweise w eiter nichts enthalten
als die Anordnung, daß eine gewisse M aterie durch V erordnung norm iert
w erden soll.“
D er Ausdruck „gewisse M aterie“ bedeutet h ier nicht etw a die Forderung
einer „bestimmten M aterie“, im Sinne einer inhaltlichen Begrenzung,
sondern besagt nur, daß die Ermächtigung natürlich irgendw ie angeben
muß, w orauf sie sich bezieht1. Die F reih eit des Gesetzgebers, Ermächtigun­
gen zu RechtsA erordnungen zu erteilen, u nterlag keiner anderen ver­
fassungsrechtlichen Beschränkung als zwei „V orbehalten“ : erstens dem
Vorbehalt eines verfassungsändernden Gesetzes für solche Verordnungen,
die ihrem Inhalt nach verfassungsänderndes Recht schaffen sollten; zweitens
dem Vorbehalt eines Gesetzes im form ellen Sinne fü r diejenigen Fälle,
in welchen ein G esetzesvorbehalt der Verfassung als förmlich und
zwingend betrachtet wurde, z. B. nach dam als herrschender Auffassung
die in der Form eines Gesetzes erfolgende G enehm igung des jä h r­
lichen Reichshaushaltsplans.
Die Praxis stimmte mit dieser Auffassung überein. Bei Ausbruch des
Krieges w urden dem Bundesrat ohne A ufzählung bestim m ter Sachgebiete
weitgehende Ermächtigungen erteilt. In § 3 des Reichsgesetzes über die
Ermächtigung des Bundesrats zu wirtschaftlichen M aßnahm en vom 4. August
1914 (RGBJ. S. 327) heißt es:
„D er B undesrat w ird ermächtigt, w ährend der Zeit des Krieges die­
jenigen gesetzlichen M aßnahmen anzuordnen, welche sich zur Abhilfe
wirtschaftlicher Schädigungen als notw endig erw eisen. Diese Maßnahmen
sind dem Reichstag bei seinem nächsten Zusam m entritt zur Kenntnis zu
bringen und auf sein Verlangen aufzuheben.“
Auf G rund dieser Ermächtigungen sind zahllose V erordnungen ergangen.
Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer solchen Erm ächtigung ist nie­
mals in Zweifel gezogen wrorden. In der amtlichen B egründung zu dem
Gesetz heißt es allerdings: „Ä nderungen der sozialpolitischen und A rbeiter­
schutz-Gesetze kommen dabei nicht in Betracht.“ D as w ar aber nur zur
Beruhigung der A rbeiterparteien bestim m t und sollte die Versicherung
enthalten, daß keine antisozialen A nordnungen beabsichtigt w aren2. Auch
abgesehen davon, daß die zu einem verfassungsändernden Gesetz erforder­
liche M ehrheit (Art. 78 der RV. vom 18. Ja n u ar 1871) im B undesrat vor­
handen w ar und außerdem damals die P rax is der „nicht kenntlich ge­
machten V erfassungsänderungen herrschte, h at m an die Zulässigkeit einer
Dasselbe gilt für ähnliche Ausdrücke bei anderen Autoren dieser Zeit; die
schrankenlose Delegationsbefugnis des schrankenlosen Gesetzgebers stand außer
Zweifel; vgl. T r i e p e l , Verhandlungen des 32. deutschen Juristentages S. 19.
^e r ’ Die Diktatur des Bundesrates, Deutsche Juristenzeitung 1915
(Bd. XX), Sp. 1158-1163.
Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen 223

derartig weitgehenden, inhaltlich so gut wie grenzenlosen Ermächtigung


damals in Deutschland überhaupt nicht als ein verfassungsrechtliches P ro­
blem em pfunden und höchstens bei einzelnen V erordnungen in Zweifel
gezogen, ob sie wirklich wirtschaftlichen C h arak ter hatten, d. h. unter das
Ermächtigungsgesetz fielen1.
2. E n te r der W eim arer Verfassung w urde diese V erordnungspraxis
unter dem Druck der politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten
(Erfüllung des V ersailler V ertrages, Demobilmachung, Revolution, R epa­
rationen, Inflation und Deflation) w eitergeführt. Die W eim arer N ational­
versammlung. gab der Reichsregierung nicht nur Vollmachten zur Aus­
führung des Friedensvertrages (Gesetz vom 30. Juli 1919, RGBl. S. 1530),
sondern hatte auch bereits unter dem 17. A pril 1919 (RGBl. S. 394) ein
Gesetz „über die vereinfachte Form der Gesetzgebung für die Zwecke
der Übergangswirtschaft“ erlassen, in welchem die Reichsregierung e r­
mächtigt w urde, mit Zustimmung gewisser Ausschüsse „diejenigen gesetz­
lichen M aßnahmen anzuordnen, welche sich zur Regelung des Übergangs
von der Kriegsw irtschaft in die Friedensw irtschaft als notwendig und
dringend erw eisen“. Es folgten zahlreiche w eitere Ermächtigungsgesetze,
von denen allerdings die beiden wichtigsten, nämlich das Reichsgesetz vom
13. O ktober 1923 (RGBl. S. 945) und das vom 8. Dezember 1923 (RGB1.S. 1179),
als nicht kenntlich gemachte verfassungsändernde Reichsgesetze ergingen,
das erste, weil es die R egierung auch zu verfassungsändernden V erordnun­
gen ermächtigte, das zweite, weil sich inzwischen eine neue, n u r begrenzte
Ermächtigungen zulassende Theorie durchgesetzt hatte.
Der vom Reichsgesetzgeber gebrauchte Ausdruck „vereinfachte Gesetz­
gebung“ sowie das W ort „gesetzliche“ M aßnahmen legten die Ansicht nahe,
daß es sich bei diesen Ermächtigungen um etwas qualitativ anderes als
um die bekannten Rechtsverordnungen zur „A usführung“ oder auch zur
„Ergänzung“ eins Gesetzes handle. Jene Ausdrücke schienen zu beweisen,
daß die erm ächtigte Regierung zum Gesetzgeber gemacht w erde und, ohne
verfassungsrechtliche Zuständigkeit, n u r auf G rund eines einfachen E r­
mächtigungsgesetzes, die Rolle des Gesetzgebers übernehm e. Das erschien
als ein „Einbruch in die Gesetzgebungszuständigkeit des Reichstags“.
Allerdings konnte man schon aus praktischen G ründen die Zulässig­
keit von Ermächtigungen nicht einfach verneinen, und die vereinzelten
Versuche, jedes Ermächtigungsgesetz für verfassungsändernd zu erklären,
blieben ohne Erfolg. A ndererseits aber hatte man rechtsstaatliche Besorg­
nisse wegen der kaum noch übersehbaren Ausdehnung des V erordnungs­
rechtes und der darin liegenden Macht der M inisterialbürokratie, deren
„Bäume in den Himmel zu wachsen“ schienen. Bereits Anfang 1921 w urde
der A ntrag gestellt, die Verfassung zu ändern und neben dem gewöhn­
lichen noch ein vereinfachtes G esetzgebungsverfahren ausdrücklich durch
die Verfassung für zulässig zu erk lären (Antrag Schiffer Nr. 1381/2 vom
1 S di m i d t , Zur Theorie der Kriegsnotgesetze, Zeitschrift für die gesamte Straf­
rechtswissenschaft, Bd. 37 (1915/16), S. 69.
224· Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen

27. Jan u ar 1921). x \ u f dem 32. D eutschen Ju risten tag in Bam berg (Sep­
tem ber 1921) bezeichnete der B erichterstatter Prof. H. T riepel die damalige
V erordnungspraxis als einen „Unfug ohnegleichen“ ; e r v e rtra t die These:
„Das Gesetz k an n Eim ächtigungen n u r im D ienst bestim m ter Zwecke für
ein bestim m tes L ebensverhältnis erteilen.“ Die w eitere Folgerung aus
dieser Ansicht ist typisch: es w ird strenge H andhabung des richterlichen
Nachprüfungsrechts verlangt, d. h. der Staat verw andelt sich in einen der
K ontrolle unabhängiger Richter unterliegenden Justizstaat. D er M itbericht­
e rsta tter dieses Juristentages, der bekannte K om m entator der W eim arer
Verfassung, F ritz Poetzsch-Heffter1, e rk lä rte jed e „vereinfachte Gesetz­
gebung“ fü r einen verfassungsw idrigen Einbruch in die Gesetzgebungs­
gew alt des Reichstages; er unterschied die im W ege der „vereinfachten
Gesetzgebung“ zustande gekomm enen gesetzlichen Bestim m ungen von den
Rechtsverordnungen, die er als bloße „A usführungs- oder Ergänzungs­
bestim m ungen zu einem durch Gesetz bereits geregelten Gegenstand*’ von
den V erordnungen der „vereinfachten G esetzgebung“ abzugrenzen suchte.
Die Unterscheidung zwischen abhängigem und selbständigem Verordnungs­
recht w ar sehr unsicher und u n klar, w urde aber in der R echtslehre vielfach
übernom m en12. D agegen hielt der führende K om m entar von Anschütz an
der „altrechtlichen“ L ehre von Seydel und L aband fest3.
D ie E inw irkung d er einschränkenden T heorie auf die innerpolitische
Entwicklung der Jah re 1922—1932 w ar außerordentlich bedeutungsvoll. Die
V erordnungspraxis des Reiches w urde von dem W eg parlam entarischer
Erm ächtigungen auf den W eg der sog. D ik tatu rg ew alt des Reichspräsi­
denten, d. h. der V erordnungspraxis nach A rt. 48 Abs. 2 gedrängt. Es darf
nicht übersehen w erden, daß die neue Lehre, die u n ter dem Eindruck der
deutschen Verfassungslage der Zeit von 1919 bis 1924 entstand, ihren Sieg
vor allem föderalistischen Interessen verdankte, deren O rgan der Reichsrat
w ar, dem eine w irksam e V erordnungspraxis der Reichsregierung uni­
tarisch und zentralistisch erschien. D ie L ehre von T riepel und Poetzsch-
Heffter, die einen großen Erfolg hatte, ist dadurch gekennzeichnet, daß sie
vor allem das „rechtsstaatliche“ E rfordernis einer A bgrenzung im Auge
hat. Sie lenkte darum die nach Lage der D inge nun einm al unvermeidliche
V erordnungspraxis aus der Scylla der Erm ächtigungsgesetze in die Cha­
rybdis der N otverordnungen. D er K am pf gegen die M inisterialbürokratie
w ar praktisch nicht zu gewinnen, und die auf gestellten Abgrenzungen
führten im Ergebnis n u r dazu, daß fü r jed e w irksam e Erm ächtigung eine
verfassungsändernde, d. h. bei der dam aligen parteipolitischen Zersplitte-
1 Kommentar 3. Aufl. S. 300, ferner Jahrbuch des öffentl. Rechts XIII, 1925, S. 206
und 227 ff.
2 z. B. von Gustav Adolf W a l z , Staatsrecht in der systematischen Darstellung
des gesamten deutschen Rechts, 1932, S. 392.
* Der Kommentar von G i e s e (8.Aufl., 1931, S. 195) lehnte die Unterscheidung
von „vereinfachten Gesetzen44 und „Rechtsverordnungen44 ebenfalls ab und ließ durch
ein einfaches Gesetz Ermächtigungen auch zu „weitgehenden“ Verordnungsbefug­
nissen zu, doch müsse der „Umfang der Maßnahmen eindeutig umschrieben“ sein.
Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen 225

rung des P arlam ents ganz utopische Zw eidrittelm ehrheit verlangt wurde.
D er theoretische Vorzug der „alten“ Lehre bestand darin, daß sie formale
und m aterielle Gesichtspunkte nicht verwechselte. Auch praktisch-politisch
gesehen, ist es vom S tandpunkt einer gew altenteilenden Verfassung aus
richtiger, die eigentliche A bgrenzung nicht in inhaltlichen Schranken, son­
dern n u r d arin zu suchen, daß die Rangverschiedenheit zwischen dem
erm ächtigenden Gesetzgeber und der erm ächtigten Regierung gew ahrt
bleibt, d. h., daß durch eine w irksam e Kontrolle, insbesondere durch das
Recht des Parlam ents, A ufhebung der getroffenen V erordnungen zu ver­
langen, die U nterordnung der erm ächtigtenR egierung unter den W illen des
erm ächtigenden P arlam ents sichergestellt w ird. Die neue Ermächtigungs­
theorie dagegen litt an dem Mangel, den alle K onstruktionen haben, die
auf einer inhaltlichen Abgrenzung, also auf dem E rfordernis eines be­
stimmten Sachgebietes oder Zweckes oder auf der Unterscheidung selb­
ständiger und abhängiger N orm ierungen auf gebaut sind. Sie geriet da­
durch in das Dilem ma, das oben (I, 2) bereits für die verm ittelnden Theorien
des französischen Verfassungsrechtes festgestellt und das aus folgenden
G ründen unverm eidlich ist.:
a) Die T rennung von unselbständigen A usführungs- oder Ergänzungs­
verordnungen, bei denen der Gesetzgeber selbst die gesetzliche Regelung
inhaltlich bereits getroffen hat, und selbständigen Verordnungen, bei denen
der G esetzgeber selbst die inhaltliche Regelung nicht getroffen hat, sondern
einer anderen Stelle überläßt, verw endet imm er den unbestimm ten
Zwischenbegriff der „E rgänzungsverordnung“ in einer Weise, die das Un­
klare und U ngenaue dieser A bgrenzung sofort sichtbar w erden läßt. W enn
es grundsätzlidi unzulässig sein soll, die inhaltliche gesetzliche Regelung
einer anderen Stelle zu überlassen, so muß diese U nzulässigkeit auch dann
gelten, w enn der erm ächtigende Gesetzgeber die Überlassung auf ein be­
stimmtes Sachgebiet oder L ebensverhältnis noch so eng beschränkt. Ist
aber, wie nach der alten Lehre, die Ü berlassung der inhaltlichen Regelung
grundsätzlich zulässig, so k ann es n u r Sache des Gesetzgebers selbst sein,
zu bestimmen, w iew eit er den Inhalt der Regelung, für die er die form al­
gesetzliche G rundlage liefert, der erm ächtigten R egierung überlassen will.
Jedenfalls ist, soweit der G esetzgeber die inhaltliche Regelung selber bereits
getroffen hat, ü b erh au p t kein Raum fü r Erm ächtigungen m ehr; soweit er
sie nicht selber getroffen hat, kann ohne Rücksicht auf den Umfang der
offen bleibenden inhaltlichen Regelung eine Ermächtigung entw eder nur
zulässig oder unzulässig, nicht aber etw a für eine halb oder viertel offen­
bleibende R egelung zulässig und für den Rest unzulässig sein.
b) Die A bgrenzung, die durch das E rfordernis eines bestim m ten Sach­
gebietes, L ebensverhältnisses oder Zweckes eintritt, ist n u r scheinbar be­
stimmt, in W irklichkeit überaus unbestim m t und relativ. Begriffe wie
„Sachgebiet“, „L ebensverhältnis“, „Zweck“ usw. sind imm er von, der Lage
der Sache abhängig; alle Sachgebiete und Lebensverhältnisse durchdringen
und bestimm en sich gegenseitig. Soweit der Gesetzgeber nicht selbst durch 15

15 1682
226 Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen

eine genaue Regelung das Sachgebiet im juristischen Sinne selber genau


um grenzt hat, kann man bei einer schwierigen und wechselnden Sachlage
theoretisch immer darüber streiten, ob das, was fü r die Regelung offen­
bleibt, wirklich ein „bestimmtes“ Sachgebiet usw. ist oder nicht. Das ge­
samte bürgerliche Recht z. B. ist im V erhältnis zum Staatsrecht, Prozeß­
recht, Verwaltungsrecht usw. ein „bestim m tes“ Sachgebiet; im Verhältnis
zum gesamten bürgerlichen Recht w iederum ist etw a n u r das Sachenrecht
ein bestimmtes Sachgebiet, in diesem nur das H ypothekenrecht usw. Manches
Sachgebiet w ird durch die Angabe eines bestim m ten Zweckes oder durch
den Hinweis auf eine Sachlage überhaupt erst geschaffen. „Reform “, „An­
passung“, „Angleichung“, „Beseitigung einer N otlage“ sind je nachdem
Sachgebiete, Lebensverhältnisse, Zwecke usw. D aß der ermächtigende
Gesetzgeber bei der Erteilung seiner Ermächtigung irgendein derartiges
Sachgebiet, einen Zweck oder dgl. angibt, versteht sich von selbst, weil
sonst seine Ermächtigung überhaupt unverständlich w äre. Dagegen enthält
das Erfordernis eines bestimm ten Sachgebietes, Lebensverhältnisses usw.,
näher betrachtet, überhaupt keine bestim m te Abgrenzung, sondern ist nur
eine leere Umschreibung und W iederholung der Forderung, daß eine be­
stimmte Abgrenzung vorliegen müsse.
c) Seinen eigentlichen Sinn hat das E rfordernis eines „bestim m ten Sach­
gebiets“ nur darin, daß es eine m ittlere Meinung darstellt, einen Kompro­
miß zwischen den beiden E xtrem en einer allzu eng erscheinenden grund­
sätzlichen Unzulässigkeit jed er Ermächtigung und einer grenzenlosen, die
G efahr der Auflösung der Unterscheidung von Legislative und Exekutive
mit sich bringenden grundsätzlichen Zulässigkeit jed e r Ermächtigung. Alle
Bestimmungen der Grenzen des zulässigen Umfangs einer gesetzgebe­
rischen Ermächtigung können nur von dem praktischen Zweck eben dieser
Ermächtigung her bestimmt w erden. Das Reichsgericht hat, ohne besondere
verfassungsgesetzliche Grundlage, n u r aus dem praktischen Zweck eines
Ermächtigungsgesetzes heraus, sogar die Zulässigkeit einer Untererm ächti­
gung des zuständigen Ressortm inisters durch die erm ächtigte Reichsregie­
rung abgeleitet. Die Begründung lau te t1:
„Die Reichsregierung als Ganzes w ar gar nicht in der Lage, die drin­
gend erforderlichen, um fassenden A nordnungen zur Behebung der auf
das äußerste gestiegenen Not des Reiches in allen rechtlichen Einzelheiten
selbst zu geben. Sie hätte von dem Ermächtigungsgesetz überhaupt nicht
den auch vom Reichstage gewollten Gebrauch machen können, wenn sie
nicht wenigstens den Erlaß von A usführungsbestim m ungen den einzelnen
M inistern hätte übertragen dürfen.“
Was hier für die Untererm ächtigung geltend gemacht w ird, muß mit noch
größerem Recht für die Zulässigkeit der Erm ächtigung selbst gelten: ihre
inhaltlichen G renzen dürfen nicht außerhalb der konkreten Notwendig­
keiten gesucht werden, die ein Ermächtigungsgesetz erforderlich machen.
1 Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Bd. 107, S. 318.
Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen 227

D aher kann, w enn eine gesetzgeberische Erm ächtigung überhaupt zulässig


ist, n u r d er die Erm ächtigung erteilende Gesetzgeber, nicht ein außen­
stehender D ritte r, zum Beispiel ein nachprüfendes Gericht, über ihren
inhaltlichen Um fang entscheiden.
3. Das V erfassungsrecht des n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n Deutschen
Reiches h at die gesam te, aus dem gew altenteilenden Gesetzesbegriff ent­
stehende Problem atik der gesetzgeberischen Erm ächtigungen h in ter sich
gelassen. Das Reichsgesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom
24. März 19331 gibt der Reichsregierung die Befugnis, Gesetze, und zw ar
auch Gesetze im form ellen Sinne, zu erlassen. D am it ist der entscheidende
Schritt zur A ufhebung der T rennung von Legislative und E xekutive getan.
Von den Begriffen des W eim arer Verfassungsrechts aus gesehen, w ar das
allerdings noch eine gesetzgeberische „Erm ächtigung“, ein sog. verfassungs­
änderndes, richtiger: verfassungsbeseitigendes Ermächtigungsgesetz. A ber
es w ar gleichzeitig der legale Hebel, m it dem das bisherige Verfassungs­
system und vor allem sein gew altenteilender Gesetzesbegriff aus den
Angeln gehoben und der Boden eines neuen Gesetzesbegriffs erreicht
werden konnte. D as Reichsgesetz über den N euaufbau des Reiches vom
30. Janu ar 1934 (RGBl. I, S. 75) hat diesen Boden befestigt und insbesondere
außer Zweifel gestellt (was fü r einen K enner der verfassungsrechtlichen
Geeamtentw ick lung niem als zw eifelhaft gewesen w ar), daß auch neue V er­
fassungsgesetze durch einen Beschluß der vom F ührer geleitetenReichsregie-
rung zustande kommen. D am it entfiel eine das gesam te frühere Verfassungs­
system beherrschende sog. form elle Unterscheidung von verfassungs­
ändernden, im Sinne von erschw ert abänderbaren, und einfachen Gesetzen
und w ar, m it einem neuen Gesetzesbegriff, auch ein neuer Verfassungs­
begriff gewonnen.
III.
Kein Staat der E rde k ann sich heute der N otw endigkeit einer „verein­
fachten“ Gesetzgebung entziehen. D ie kurze Übersicht über die Gesam t­
lage dieser Problem atik, die h ier versucht w urde, läßt sich aber, je nach
dem grundsätzlichen Standpunkt des Betrachters, sehr verschieden deuten.
W er in der D enkw eise eines gew altenteilenden K onstitutionalism us ver­
harrt, w ird geneigt sein, von einer bloßen Akzentverschiebung zu sprechen
und bloße „Tendenzen zur S tärkung der E xekutive gegenüber der Legis­
lative“ (renforcém ent oder redressém ent du pouvoir exécutif) festzustellen,
mit deren H ilfe sich der Gesetzesbegriff einer gew altenteilenden V er­
fassung außerordentlichen Lagen anpaßt12. Eine kühnere D eutung dagegen
sieht die T rennung von Legislative und Exekutive bereits überw unden.
Diese D eutung ist übrigens auch im Rahm en eines grundsätzlich liberalen
K onstitutionalism us möglich. René C apitant, der es sich zur Aufgabe ge­
macht hat, das parlam entarische System Frankreichs durch vernünftige
1 RGBl. 1933 I, S. 141.
2 Dafür ist der Untertitel des Buches von T i n g s t e n bezeidinend: Texpansion
des pouvoirs gouvernementaux pendant et après la grande guerre.

15*
228 Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen

Reform en zu retten, e rk lä rt in einer Schrift über die Reform des P arla­


m entarism us1 Montesquieus überlieferte T rennung von Legislative und
Regierung m it aller Entschiedenheit fü r geschichtlich überw unden und
grundsätzlich falsch („une idée fausse“); er sagt m it Recht, daß die sog.
décrets-lois wirkliche Gesetze sind; er sieht gerade in w eiten Ermäch­
tigungsgesetze u die R ettung des Parlam ents und des Parlam entarism us.
Gesetzgebung ist fü r ihn heute wesentlich Regierungssache. „G ouverner
c’est légiférer/' Diese Formel, die auf S tu art Mill zurückgeht, und die in
der Sache der englischen Auffassung entspricht, faßt den grundsätzlichen
W andel von der isolierten Legislative des gew altenteilenden Gesetz­
gebungsstaates zur heutigen P raxis der Regierungsgesetze am klarsten
zusammen. Ich halte diese Form el in ih re r überzeugenden Einfachheit für
ein bedeutendes Symptom, das erkennen läßt, wie sehr die Verfassungs­
begriffe Lockes und M ontesquieus überw unden sind und unser Rechts­
denken w ieder an Begriffe der vorkonstitutionalistischen Ü berlieferung der
europäischen Geistesgeschichte anknüpft. D enn ein Gesetzesbegriff, der die
Gesetzgebung als Sache der R egierung auffaßt, n äh ert sich dem Gesetzes­
begriff eines A ristoteles und eines Thomas von Aquin. Auch nach diesen
großen Philosophen ist das Gesetz wesentlich ein A kt der Regierung; es ist,
wie Thomas sagt, „nicht die ratio irgendw elcher Menschen, sondern in spezi­
fischer Weise die praktische V ernunft desjenigen, der die Gemeinschaft
'führt und regiert“, wesentlich „ratio gubernativa“ und ein „dictam en prac-
ticae rationis in principe qui gubernat aliquam com m unitatem perfectam “12.
Selbstverständlich ergeben sich dam it neue Form en und neue Fragen des
gesetzlichen Ermächtigungsrechts. A ber die spezifische Problem atik des
gew altenteilenden Verfassungs- und Gesetzesbegriffs ist überw unden.
Diese Problem atik beherrscht heute noch die verfassungsrechtliche Lage
in den Vereinigten Staaten von A m erika. In F rankreich ist sie, wie mir
scheint, in der Sache überholt und durch die anders gerichtete Frage ersetzt,
welcher Regierung w eite Erm ächtigungen erteilt w erden können. In Eng­
land hat es sie überhaupt nicht gegeben. Schon diese Verschiedenheit der
drei großen demokratischen L änder zeigt, daß der „Rechtsstaat*“ in diesen
drei Ländern etwas Grundverschiedenes ist: in E ngland ein common law-
Gemeinwesen mit souveränem P arlam ent; in den V ereinigten Staaten eine
Verfassungsunion mit einem das letzte W ort sprechenden höchsten Gerichts­
hof; in Frankreich ein G esetzesstaat m it einer die volonté générale
repräsentierenden V olksvertretung. D eshalb w äre es unrichtig, die Be­
sonderheiten der zugrunde liegenden Verfassungs- und Gesetzesbegriffe
über dem Allgemeinbegriff „D em okratie“ zu verkennen, ebenso wie es
unwissenschaftlich wäre, die m annigfaltigen Form en und M ethoden einer
„vereinfachten“ Gesetzgebung in den verschiedenen Staaten unter einem

1 La Réforme du Parlementarisme, Paris 1934.


2 Summa theologica 1 pars 2 quae. 90, 91 art. I; ebenso S u a r e z , Tractatus de
legibus I § 6/8, wo die Gesetzgebung als ein „actus gubernationis“ und ein Ausfluß
der „potestas gubernativa“ bezeichnet wird.
Über die neuen Aufgaben der Verfassungsgeschidite 229

Sammelbegriff von „ D ik ta tu r“ zusam m enzufassen und sie dadurch als vor­


übergehende A bnorm itäten zu disqualifizieren. D er rechtswissenschaft­
lichen Aufgabe, die inneren Entwicklungstendenzen des heutigen V er­
fassungslebens sachlich zu beurteilen, w ird m an mit solchen Schlagworten
nicht gerecht.

27. Uber die neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte


(1 9 3 6 )
Durch den rechtswissenschaftlichen Studienplan, den der Reichswissen­
schaftsminister R ust am 10. Jan u ar 1935 in K raft gesetzt hat, und durch die
„Richtlinien für das Studium der Rechtswissenschaft“, die am 18. Januar 1935
verkündet w urden, ist die „Verfassungsgeschichte der N euzeit“ zu einem
besonderen Lehrfach erhoben w orden. Das neue Fach ist nicht als eine aus
Teilstücken, zum Beispiel aus der früheren Rechtsgeschichte, der politischen
Geschichte, allgem einen S taatslehre usw. zusammengesetzte, bloße M aterien­
kombination, sondern als eine wissenschaftliche E inheit gedacht. Die Ü ber­
windung der T rennungen und Spezialisierungen, die den rechtswissen­
schaftlichen B etrieb der letzten G eneration kennzeichneten, aber auch die
Überwindung der T rennung einer „rein juristischen“ von einer „rein
geschichtlichen“ Betrachtungsw eise w ird durch diese neue Vorlesung zu
einer wichtigen und schwierigen Aufgabe des deutschen Rechtslehrers.
Es soll ja nicht etw a die Zahl der Spezialgebiete und D isziplinen um eine
weitere verm ehrt w erden, vielm ehr ein zusammenfassendes Geschichtsbild
entstehen, das die R ed itsentwicklung als eine Schöpfung deutschen Lebens
in ihrer volklichen E inheit erkennen läßt.

I.
Eine wirkliche „Verfassungsgeschichte der N euzeit“ ist daher nicht auf
die Geschichte der typischen N orm enkodifikationen beschränkt, die m an
im 19. Ja h rh u n d ert als „V erfassungen“ oder „K onstitutionen“ bezeichnete.
Das W ort „Verfassung“ w ar seit dem 18. und im ganzen 19. Ja h rh u n d ert zu
einer bloßen „Verdeutschung“ von „K onstitution“ geworden; der spezifische
Begriff von „K onstitution“ w iederum ist, wie sich aus den A rbeiten von
Augustin Cochin1 und Professor B ernard F ay vom Collège de F rance2
ergibt, in den F reim aurerlogen des 18. Jah rh u n d erts geboren. Sie hatten
alle eine „K onstitution“ und haben dadurch den Mythos der Menschenrechte,
der G ew altenteilung und des ganzen K onstitutionalism us geschaffen.
1 Augustin Codiin, Les sociétés de pensée et la démocratie, Paris 1921.
^2 Bernhard Fay, La Franc-Maçonnerie et la Révolution intellectuelle du XVIII.
siècle, Editions de Cluny, Paris 1935. Erst durch dieses Buch fällt auf die bekannte
Herkunft der „Erklärungen der Menschenrechte“ aus den Vereinigten Staaten von
Amerika das aufhellende Licht wahrer geschiditlidler Erkenntnis.
230 Uber die neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte

D ieser typisch „konstitutionalistische“ V erfassungsbegriff hat die bis­


herige Verfassungsgeschichte des letzten Jah rh u n d erts bestimm t. Es han­
delt sich also heute nicht nu r um „A uflockerungen“ der rein juristischen
D arstellung nach der geschichtlichen und der politischen Seite hin, auch
nicht um historisch-politische, rechtsphilosophische, soziologische oder son­
stige „A ufw ertungen“ eines bankerotten Gesetzesdenkens. In der neuen
Verfassungsgeschichte w ird sich der nationalsozialistische, nicht m ehr
liberale, auch nicht m ehr nationalliberale, und nicht m ehr freim aurerisch­
demokratische Verfassungsbegriff rechtswissenschaftlich bew ähren müssen,
indem er sich auf die Einheit und G anzheit der Lebensordnung des deut­
schen Volkes richtet.
Zur Verfassungsgeschichte gehört daher auch die Entw icklung des Eigen­
tumsbegriffs sowie der wesentlichen Methoden, Einrichtungen und Begriffe
des bürgerlichen Rechts. D ie T rennung von öffentlichem und privatem
Recht ist ein wichtiger Verfassungsbestandteil, weil sich in dieser Trennung
der fundam entale Gegensatz von Staat und bürgerlicher Gesellschaft
spiegelt, in mancher Hinsicht auch der von Albrecht W agner geschilderte
Kam pf zwischen V erw altung und Justiz1, sowie die Stellung des Richter-
tum s und der Gerichte. Auch die Entwicklung des Strafrechts ist selbst­
verständlich ein Teil der V erfassungsentwicklung und fü r das 19. Jah r­
hundert nur als ein Anw endungsfall des liberal-au to ritären Kompromisses
von Staat und Gesellschaft zu verstehen, der den Verfassungsbegriff der
konstitutionellen Monarchie in D eutschland kennzeichnet. Die „Konsti­
tutionen“ des 19. Jahrhunderts w aren, nach dem W ort des Führers, ein
„bürgerlich-legitim istischer Kom promiß“. In gleicher W eise wie das sog.
m aterielle R edit muß auch das Prozeß- und V erfahrensrecht in die neue
Disziplin einbezogen und im Lichte dieses Verfassungsbegriffs dargestellt
werden. Es ist noch nicht genügend zum Bew ußtsein gekommen, in welchem
Maße das bisherige deutsche Strafprozeßrecht das Beispiel einer Rezeption
darstellt, die an T otalität der Rezeption des römischen Rechts nicht nach­
steht. Im Strafverfahren spiegelt sich der bürgerlich - legitimistische und
''daher liberal-autoritäre Kompromiß in dem N ebeneinander von unabhän­
gigem Richter und weisungsgebundenem Staatsanw alt. D er Kampf um
den Strafprozeß ist also nicht nur deshalb ein Teil der Verfassungskäm pfe
des 19. Jahrhunderts, weil die bekannten F ragen des Geschworenen- und
Schöffengerichts und der sog. Prozeßm axim en von Öffentlichkeit, Mündlich­
keit und U nm ittelbarkeit auffällig im V ordergrund des innerpolitischen
Kampfes stehen, sonderp vor allem auch deshalb, weil die G estaltung des
Strafverfahrens stets ein A bbild oder noch besser: ein A nw endungsfall der
Gesam tgestaltung des politischen Gem einwesens ist und h ier der Volks­
genosse als A ngeklagter oder V erletzter, das Volksganze dagegen im
Richter, in der Polizei oder im öffentlichen A nkläger unm ittelbar sichtbar
wird. Die Figur des heutigen Staatsanw alts insbesondere ist in ihrer
1 Albrecht Wagner, Der Kampf zwischen Verwaltung und Justiz in Preußen,
Hamburg 1936.
Über die neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte 231

geschichtlichen Bedingtheit n u r im Zusammenhang m it der Verfassungs­


stru k tu r richtig zu erkennen, ebenso wie um gekehrt von dieser Figur
aus ein aufhellendes Licht auf die G esam tverfassung fällt. D aher ist die
Geschichte des Strafprozesses ein besonders wichtiger und unentbehrlicher
Prüfstein fü r die Verfassungsgeschichte jedes Entwicklungsabschnittes,
insbesondere auch des 19. Jahrhunderts. Man w ürde sich dem Verfassungs­
begriff des K onstitutionalism us ausliefern, w enn m an heute un ter Ver­
fassungsgeschichte n u r noch die Geschichte der vordergründigen S treit­
fragen, zum Beispiel des Kampfes um die M inisterverantw ortlichkeit,
um parlam entarische R egierung oder Schwurgerichte verstehen wollte.
Zwischen diesem Ziel einer neuen Rechtsdisziplin und seiner V erw irk­
lichung stehen aber die überkom m enen G ew ohnheiten und Überzeugungen,
die hart verkrusteten Begriffe eines vergangenen Jah rhunderts einer liberal-
autoritären W elt. D er rechtswissenschaftlich w eniger geübte und w eniger
gebildete „reine“ H istoriker der nahen V ergangenheit ist hier oft der G efahr
erlegen, solche überlieferten festen V orstellungen als unbestreitbare W irk­
lichkeiten hinzunehm en und seine O b jek tiv ität darin zu erblicken, daß er
sich ih rer ohne gründliche rechtswissenschaftliche K ritik bedient. Diese
G efahr ist für den Geschichtsschreiber der w eiter zurückliegenden Zeiten
nicht so groß, w eil h ier die Begriffsresiduen nicht m it derselben K raft
nachwirken, vielm ehr die andere G efahr einer m usealen N eu tralität nahe­
liegt. So e rk lä rt es sich, daß zum Beispiel die verfassungsgeschichtliche
Bedeutung der Unterscheidung von konstitutioneller und parlam en tari­
scher Regierung bisher fast nirgend erk an n t w orden ist; eine Zweck­
antithese, die aus diesen bloßen N uancen des lib eral-autoritären Kom­
promisses einen tiefen weltanschaulichen Unterschied zu machen suchte,
wurde unbesehen w eitergeschleppt, w eil sie in Preußen scheinbar Erfolg
hatte. In W ahrheit w ar dieser Erfolg eine schwere N iederlage des preußi­
schen Staatsgedankens. D er Sieg des liberalen K onstitutionalism us hatte
sich gerade darin gezeigt, daß der preußische Staat, als er 1848 nachgeben
mußte* sich, um dem P arlam entarism us zu entgehen, an diesen sekundären
Unterschied von konstitutioneller und parlam entarischer R egierung klam ­
m erte und eben dadurch den fü r ihn gefährlichen Boden des K onstitutio­
nalismus b etrat, denn die „konstitutionelle“ Regierung kann immer
höchstens ein V orstadium auf dem W ege zur parlam entarischen Regierung
sein. Die ganze Macht der konstitutionalistischen Fragestellung und Be­
griffsbildung tritt hier zutage. Ih r w ar der innerpolitische G egner geistig
verfallen. Die nationalliberale W eltanschauung — deren zeitlichen Beginn
mit der B egründung des N ationalvereins und einer national-liberalen
P artei zu datieren m ehr als naiv ist — konnte selbstverständlich am a lle r­
wenigsten aus dem Zirkel ihres konstitutionellen Verfassungsbegriffs h er­
austreten. F ü r die N ationalliberalen m ußte die Unterscheidung von kon­
stitutionell und parlam entarisch daher ebenfalls wesentlich sein; ihre
eigene K om prom ißhaftigkeit konnte n u r durch die Ü bertreibung solcher
sekundären D istinktionen den Schein tieferer Bedeutung erhalten. Solange
232 Uber die neuen Aufgaben der Verfassungsgesdiiehte

diese national-liberale W eltanschauung im Verfassungsrecht und in der


Verfassungsgeschichtsschreibung vorherrschte, m ußte auch diese U nter­
scheidung als eine „positive“ G rundw ahrheit ersten Ranges erscheinen und
die A ufm erksam keit von der allein wesentlichen K ernfrage nach dem poli­
tischen Sinn des Konstitutionalism us selbst ablenken. Jeder Versuch, die
innere institutioneile Folgerichtigkeit des konstitutionellen Systems und
seine weltanschauliche Tragw eite rechtswissenschaftlich aufzudecken, er­
schien solchen Positivisten als eine unhistorische oder reaktionäre, wissen­
schaftlich unzulässige Begriffsspielerei. D ie Folge w ar, daß, ebensosehr
wie die positivistischen Juristen, auch die nationalliberalen H istoriker dem
„konstitutionellen“ Verfassungsbegriff verfielen und sich schließlich über­
haupt kaum noch eine andere „m oderne“ Verfassung denken konnten, als
die des konstitutionellen 19. Jahrhunderts. D ie A useinanderreißung des
„rein Jurististischen“ vom „rein Historischen“ hat h ier schlimmes Unheil
angerichtet. Die „unjuristisch“ gewordene Verfassungsgeschichte hat da­
durch nicht weniger an W ert verloren als diese „unpolitisch“ gewordene
Wissenschaft des Verfassungsrechts. H eute kann die Spaltung überw unden
werden. Mit dem Lehrfach „Verfassungsgeschichte“ beginnt hoffentlich auch
ein neuer Abschnitt der Geschichtswissenschaft. D ie schwierige Aufgabe
des Umdenkens und Umpflügens der überlieferten Begriffe ru h t dabei vor
allem auf unserer neuen rechtswissenschaftlichen A rbeit.

II.
Das erste ist die Erkenntnis, daß alle W issenschaft des Verfassungs­
rechts ein lebendiger Teil der V erfassungsw irklichkeit ist, das heißt die
E rkenntnis des Zusammenhanges von politischer Entwicklung und ver­
fassungsrechtlicher Begriffsbildung. Ein echter S treit um politische W orte
und verfassungsrechtliche Begriffsbestimmungen ist m eistens alles andere
als ein leerer W ort- und Begriffsstreit; er kann vielm ehr ein sicheres
Zeichen der gesteigerten Intensität geistiger A useinandersetzungen sein.
D er letzte Abschnitt der deutschen Verfassungsgeschichte ist im Jahre
1933 zu Ende gegangen. E r hatte im Jah re 1890 begonnen. D as politische
Ereignis, das den Anfang des neuen Abschnitts bestimm te, w ar Bismarcks
Entlassung. „Jahrzehntelang“, sagt Theodor von der Pfordten in seinem
„A ufruf an die Gebildeten deutschen Blutes“, „habt Ih r untätig und gleich­
gültig zugesehen, wie seit Bismarcks Abgang die F lu t undeutscher Bestre­
bungen das Staatsgefüge lockerte und unsere W issenschaft m it ihrem töd­
lichen Gift durchdrang“1. Im Jahre 1890 w ar der Sieg des verfassungs­
rechtlichen Positivismus entschieden, dessen an erk an n ter F ü h re r der
jüdische Rechtsgelehrte Laband w ar. D er erste entscheidende Erfolg w ar
Labands 1871 erschienene Schrift über das Budgetrecht. Diese Schrift ver­
tritt einen „form ellen“ Gesetzesbegriff, dessen „Form “ bereits ganz „Form
ohne Prinzip“, das heißt neutralisierende G rundsatzlosigkeit ist, und
dessen Begriffsbildung den Sinn hat, den ungelösten Prinzipienkam pf des
1 Theodor von der Pfordten, An die Deutsche Nation, München 1933.
über die neuen Aufgaben der Verfassungsgesdiidite 235

preußischen Budgetkonflikts von 1862 bis 1866 auf sich beruhen zu lassen
und m it H ilfe angeblich rein juristischer, form eller Vorstellungen zu ent­
politisieren. D as h ä tte eine lehrreiche Veranschaulichung zu dem Satze sein
können, daß in der Geschichte „die Problem e nicht gelöst, sondern nur
abgelöst“ w erden; es w ar aber nicht nu r eine Ablösung, sondern eine
völlige, absichtliche Ignorierung des politischen Problems. Die erste Auflage
von Labands Reichsstaatsrecht erschien 1876; mit der zweiten Auflage, 1887,
begann der Siegeszug seiner Methode und die H errschaft des „juristischen
Positivism us“ im öffentlichen Recht. Was sich dieser juristischen Methode
entgegenstellte, blieb ohne jede W irkung, ja fast ohne Eindruck auf die
damals heranw achsende G eneration. G ierkes berühm ter Aufsatz in
Schmollers Jahrbuch aus dem Jah re 1883 und die W arnungen Lorenz von
Steins aus dem Jah re 1885/86 (im V orw ort zur 5. Auflage seines Lehrbuchs
der Finanzwissenschaft) konnten den Sieg Labands nicht auf halten. Albert
Haenels Deutsches Staatsrecht, dessen erster Band 1892 in Bindings H and­
buch herauskam , ist kein er der bedeutenden Leistung gerecht werdenden
juristischen Besprechung m ehr gew ürdigt worden. Ein zw eiter Band ist
nicht erschienen. Dieses Buch w ar zw ar durchaus nationalliberal, aber auch
darin noch zu sehr politisch substanzhaft für die als juristisch und posi­
tivistisch sich ausgebende Substanzlosigkeit des im Jahre 1890 einsetzen­
den Entwicklungsabschnittes. Die A rbeit der älteren G eneration der
wissenschaftlichen V ertreter des dam aligen öffentlichen Rechts behielt ihren
Schwerpunkt in den Einzelstaaten: Rudolf von Gneist in Berlin, Max von
Seydel in München, R obert von Mohl in Tübingen. D ort starb sie aus. Von
Straßburg, der H au ptstadt eines nicht zu den verbündeten Regierungen
gehörenden „Reichslandes“, aus beherrschte der Positivismus des Juden
Laband das Staatsrecht des zweiten Reiches.
In dieser Lage der Verfassungsrechtswissenschaft enthüllt sich, wie in
jeder verfassungsrechtswissenschaftlichen Entwicklung, mit untrüglicher
E xaktheit der K ern der politischen W irklichkeit. H ier w ird die entschei­
dende G rundlinie des Staatsgefüges zum G reifen sichtbar. Die „Exekutive“,
Heer und Finanzen, Polizei und V erw altung, mit einem W ort: die staat­
liche Substanz w a r den E inzelstaaten verblieben. Deshalb m ußte auch das,
was sinnvollerw eise „Staatsrecht“ genannt w erden kann, in den Einzel­
staaten verbleiben. A ber es konnte sich wegen der starken Entwicklung
zum deutschen N ationalstaat dort nicht halten. Auf der anderen Seite w ar
das Reich noch nicht zum sicheren T räger der staatlichen Substanz des ein­
heitlichen deutschen N ationalstaates geworden. Die einzelnen Staaten
w aren also nicht m ehr, das Reich w ar noch nicht Staat. Die einer solchen
Zwischenlage zugeordnete Staatsrechtswissenschaft konnte nu r solche
„form elle“ Begriffe anerkennen, die form ell im Sinn einer „Form ohne
Prinzip“ w aren.
Die W endung „Form ohne P rin zip “ ist überaus kennzeichnend für diesen
Abschnitt der Rechts- und Verfassungsgeschichte. Sie ist in dieser brutalen
Offenheit zuerst im Strafprozeßrecht aufgetaucht, als Kennzeichnung der
234 Über die neuen Aufgaben der Verfassungsgesdiidite

A nklage des sog. reform ierten gemeinen Strafprozesses, der eine „Anklage­
form ohne A nklageprinzip“ zu schaffen suchte, sie ist aber w eit über diesen
wichtigen Fall hinaus von typischer Bedeutung als treffende Formel für
eine bestimmte A rt juristischen Denkens. Ih re H errschaft setzt ein mit dem
„form alisierten“ Begriff des Rechtsstaats, den der jüdische Rechtslehrer
Stahl-Jolson geprägt und mit durchschlagendem Erfolge in der gesamten
Denkw eise der folgenden Zeit zur H errschaft gebracht hat. Ih r Sieg entschied
sich nach 1871; der „form elle“ Gesetzesbegriff Labands ist ih r größter
Trium ph, der bis zum Siege des Nationalsozialism us anhielt und erst 1933
überw unden w erden konnte. Zu den gegenw ärtigen A ufgaben einer deut­
schen Verfassungsgeschichte gehört daher vor allem die Überwindung
dieser Trennung von Form und Prinzip, und zw ar sowohl der „Form ohne
P rinzip“ als auch des „Prinzips ohne Form “, also die H erausarbeitung
echter, aus den G rundsätzen der nationalsozialistischen W eltanschauung
gestalteten Form en der Lebensordnungen des deutschen Volkes.
28. Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat (1937)
I.
In einem gewissen Sinne hat es zu allen Zeiten totale Kriege gegeben;
eine Lehre vom totalen K rieg gibt es aber wohl erst seit Clausewitz, der
von einem „ab strak ten “ und „absoluten“ Kriege spricht. U nter dem Ein­
druck der E rfahrungen des letzten großen Krieges hat dann die Form el
vom totalen K rieg einen spezifischen Sinn und eine besondere W irkungs­
kraft erhalten. Seit 1920 ist sie zum beherrschenden Schlagwort geworden.
Sie w urde zuerst im französischen Schrifttum, in Büchertiteln wie „La
guerre to tale“ scharf herausgestellt. D ann fand sie 1926—28 in den V er­
handlungen der Abrüstungsausschüsse in Genf A usprägungen in den Be­
griffen des „potentiel de g u e rre “, des „désarm em ent m oral“ und des „dés­
arm ement to ta l“. D ie faschistische L ehre vom „totalen Staat“ kam ih r von
der staatlichen Seite her entgegen; die V erbindung ergab das Begriffspaar:
totaler Staat — to taler Krieg. In Deutschland erw eitert die H erausarbeitung
des „Begriffs des Politischen“ seit 1927 den Zusammenhang dieser Totali­
täten zu der Reihe: to taler Feind, to taler Krieg, totaler Staat. E rnst Jüngers
Schrift „Totale M obilmachung“ (1930) bew irkte den Durchbruch der Form el
ins allgem eine Bewußtsein. A ber erst Ludendorffs Broschüre „Der totale
Krieg“ (1936) h at ihre K raft ins Unw iderstehliche und ihre V erbreitung ins
Unabsehbare gesteigert.
Die Form el ist überaus treffend; sie zwingt zum Anblick einer W irk­
lichkeit, von deren Schrecken sich das allgem eine Bewußtsein lieber ab­
wendet. Solche Form eln sind aber auch stets in G efahr, landläufig und
weitläufig zu werden und zu summarischen Schablonen, zu bloßen Schall­
platten des publizistischen B etriebes herabzusinken. Es ist daher gut, einige
K larstellungen vorzunehm en.
a) Ein K rieg k ann total sein im Sinne der äußersten K raftanspannung
und des äußersten Einsatzes aller, auch der letzten Reserven. Er kann aber
auch im Sinne der W irkung auf den G egner total genannt werden, also
im Sinne des rücksichtslosen Einsatzes vernichtender Kriegsm ittel. W enn
der bekannte englische A utor J. F. C. F u ller in einer kürzlich erschienenen
Schrift „The first of the League W ars, its lessons and omens“ sagt, daß
der italienische Feldzug in Abessinien ein m oderner „totaler“ Krieg war,
so spricht er n u r von dem Einsatz w irksam er Waffen (Flugzeuge und Gas),
w ährend, von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachtet, Abessinien
überhaupt keines m odernen totalen Krieges fähig w ar und auf der anderen
Seite w eder Italien beim äußersten Einsatz seiner Reserven angelangt w ar,
noch der durch die Sanktionen des V ölkerbundes ausgeübte Druck seinen
256 Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat

höchsten G rad erreicht hatte, da es w eder zu einer ö lsp e rre noch zur
Schließung des Suezkanals gekommen ist.
b) Ein Krieg kann auf beiden Seiten oder n u r auf einer Seite total sein.
E r kann auch durch die geographische Lage, durch die Kriegstechnik, aber
auch durch die herrschenden politischen G rundsätze auf beiden Seiten
bew ußt beschränkt, rationiert und dosiert w erden. D er typische Kabinetts­
krieg des 18. Jahrhunderts w ar ein bew ußt grundsätzlich p a rtielle r Krieg;
er beruhte auf der klaren Trennung des am Kam pf teilnehm enden Soldaten
vom unbeteiligten gew erbetreibenden Bürger, des K om battanten vom Nicht­
kom battanten. Auf der Seite Preußens aber w ar der Siebenjährige Krieg
Friedrichs des Großen trotzdem im Vergleich zu den K raftanspannungen
der anderen Mächte verhältnism äßig total. H ier zeigte sich auch bereits eine
fü r Deutschland typische Lage: daß ein deutscher Staat durch die Ungunst
der geographischen V erhältnisse und durch frem de K oalitionen gezwungen
wird, seine K räfte in höherem Maße anzuspannen als die G roßen unter
seinen wohlhabenderen und glücklicheren Nachbarn.
c) D er C h arak ter des Krieges kann sich im V erlauf der kriegerischen
Auseinandersetzung ändern. D er Kam pfw ille kann erschlaffen; er kann
sich aber auch steigern, wie das im W eltkriege 1914—18 geschehen ist, wo
die Entwicklung des Krieges auf deutscher Seite bald zum Einsatz aller
wirtschaftlichen und industriellen Reserven, auf englischer Seite zur Ein­
führung der allgemeinen W ehrpflicht zwang.
d) Endlich entwickeln sich mit der T otalität des K rieges gleichzeitig
immer auch besondere Methoden einer nicht totalen A useinandersetzung
und Kräftemessung. Denn zunächst sucht jed e r den totalen Krieg, der
naturgem äß ein totales Risiko mit sich bringt, zu verm eiden. So haben
sich in der Nachkriegszeit die sog. m ilitärischen Repressalien (Korfu-Kon­
flikt 1923, Japan-C hina 1932), ferner die Versuche nichtm ilitärischer W irt­
schaftssanktionen nach Art. 16 der V ölkerbundssatzung (H erbst 1935 gegen
Italien), endlich auch gewisse Methoden der K raftprobe auf frem dem Boden
(Spanien 1936/37) in einer Weise herausgebildet, die ihre richtige Deutung
nur im engsten Zusammenhang m it dem totalen C h a ra k te r des m odernen
Krieges finden. Sie sind Übergangs- und Zwischenbildungen zwischen
offenem Krieg und wirklichem Frieden; sie erhalten ihren Sinn dadurch,
daß der totale Krieg als Möglichkeit im H intergründe steht und eine be­
greifliche Vorsicht die Absteckung gewisser Zwischenräume nahegelegt. N ur
unter diesem Gesichtspunkt können sie auch völkerrechtswissenschaftlich
verstanden werden.
II.
Im Kriege steckt der Kern der Dinge. Von der A rt des totalen Krieges
her bestimmen sich A rt und G estalt der T otalität des Staates; von der
besonderen A rt der entscheidenden Waffen her bestim m t sich die besondere
A rt und G estalt der Totalität des Krieges. D er totale K rieg aber erhält
seinen Sinn durch den totalen Feind.
Die verschiedenen W affengattungen und K riegsarten, Landkrieg, See-
Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat 237

krieg, L uftkrieg, prägen die T otalität des Krieges in verschiedenartiger


Weise aus. Um jede dieser K riegsarten w ölbt sich eine ihr in besonderer
Weise zugehörige W elt von Vorstellungen und Begriffen. Die überlieferten
Vorstellungen von der „levée en masse“, der „nation arm ée“ und dem „Volk
in W affen“ gehören zum Landkrieg. Von diesen Vorstellungen her hat
sich die kontinentale T heorie des totalen Krieges, insbesondere durch
Clausewitz, wesentlich als eine Lehre vom L andkrieg entwickelt. D er See­
krieg hat nicht n u r seine besonderen strategischen und taktischen Methoden
und M aßstäbe; er w ar auch im ganzen bisher imm er in besonderem Maße
ein K rieg gegen H andel und W irtschaft des Gegners; daher ein Krieg
gegen N ichtkom battanten, ein W irtschaftskrieg, der durch sein Prisen-,
Konterbande- und Blockaderecht auch den neutralen Handel in den Krieg
einbezog. D er L uftkrieg h at bisher noch nicht in gleicher W eise ein voll­
ständiges und selbständiges System ausgebildet; es gibt noch kein W eltbild
des Luftkrieges, das den vom L andkrieg und vom Seekrieg her gewonnenen
Vorstellungswelten entspräche. Doch w ird auch heute schon durch den L uft­
krieg die G esam tgestalt eines dreidim ensional totalen Krieges wesentlich
beeinflußt.
Das O b des totalen K rieges steht heute außer Frage. Das W ie kann
sehr verschiedenartig sein. D ie T otalität läßt sich nämlich von ganz ent­
gegengesetzten A usgangspunkten her gewinnen. D aher ist auch der m aß­
gebende Typus, in dessen H änden die F ührung und Leitung des totalen
Krieges liegt, notw endig verschieden. Es w äre eine allzu einfache Gleichung
anzunehmen, daß in dem selben Maße, in dem der Krieg total w ird, der
Soldat als herrschender T ypus in den M ittelpunkt dieser T otalität tritt.
Wenn, wie m an gesagt hat, die totale Mobilmachung den Unterschied von
Soldat und Zivilist auf hebt, so k ann das ebensogut zur Folge haben, daß
der Soldat sich in einen Zivilisten, wie daß der Zivilist sich in einen Sol­
daten oder beide sich in etw as Neues, D rittes verw andeln. In W irklichkeit
kommt alles auf den G esam tcharakter des Krieges an. Ein echter Religions­
krieg macht den Soldaten zum W erkzeug des Priesters oder des Predigers.
Die A usprägung des totalen Krieges, die von der W irtschaft her gewonnen
wird, macht ihn zum W erkzeug wirtschaftlich leitender M achtgruppen. Es
gibt andere Form en, durch welche der Soldat selbst die vorbildlich typische
Gestalt und der gesteigerte Ausdruck völkischer W esensart w ird. Geo­
graphische Lage, rassische und soziale Besonderheiten aller. A rt bew irken
es, daß bei großen V ölkern die eine oder die andere bestim m te K riegsart
das Übergewicht hat. Auch heute ist es unwahrscheinlich, daß ein Volk
sich in allen drei K riegsarten in gleicher W eise auf den dreidim ensional
totalen K rieg einrichten könnte. V ielm ehr w ird der Schw erpunkt der
kriegerischen K raftentfaltung imm er in der einen oder der anderen K riegs­
a rt liegen und von d orther das W eltbild des totalen Krieges seine eigen­
tümliche G estalt gewinnen.
Bis auf den heutigen Tag ist die Geschichte der europäischen V ölker
von dem G egensatz des englischen Seekriegs und des kontinentalen Land-
238 Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat

kriegs beherrscht. Es handelt sich bei dieser Feststellung nicht etw a um


Betrachtungen des Gegensatzes von „H ändler und H elden“ oder dgl., son­
dern um die Erkenntnis, daß jede der verschiedenen K riegsarten in sich
total werden kann und aus ihren Eigentüm lichkeiten heraus eine besondere
W elt weltanschaulicher, völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Be­
griffe und Ideale entwickelt, die insbesondere für die Bew ertung des Sol­
daten und für seine Stellung im Gesam torganism us des Volkes von ent­
scheidender Bedeutung sind. Es w äre ein Irrtum , den englischen Seekrieg
der letzten dreihundert Jahre zum Unterschied von dem totalen Landkrieg
der Lehre von Clausew itz als einen wesentlich nichttotalen, bloßen Handels­
und W irtschaftskrieg anzusehen und die ihm eigentümliche, sehr aus­
geprägte A rt von T otalität zu verkennen. Auch der englische Seekrieg ist
der Kern eines totalen W eltbildes geworden.
D er englische Seekrieg ist nämlich total im Sinne der Fähigkeit zu
einer totalen Feindschaft. E r weiß religiöse und weltanschauliche, seelische
und moralische K räfte zu m obilisieren, wie n u r irgendeine der großen,
weltgeschichtlichen K riegsarten. D er englische Seekrieg gegen Spanien w ar
ein W eltkam pf germanischer und romanischer Völker, zwischen Protestan­
tismus und Katholizismus, Kalvinism us und Jesuitism us, und es gibt wenig
Beispiele für solche Ausbrüche tiefster und letzter Feindschaft, wie man sie
in Crom wells H altung gegenüber den Spaniern findet. D er englische Krieg
gegen Napoleon w urde ebenfalls vom Seekrieg h er zum „K reuzzug“. Im
Kriege gegen Deutschland 1914—18 h at es die englische W eltpropaganda
verstanden, im Namen der Zivilisation und der Menschheit, der Dem okratie
und der F reiheit ungeheure geistige und moralische Energien gegen den
preußisch-deutschen „M ilitarism us“ einzusetzen. D er englische Geist hat
auch die K raft bewiesen, den industriell-technischen Aufschwung des
19. Jahrhunderts im Sinne des englischen W eltbildes zu deuten; H erbert
Spencer hat ein überaus w irkungsvolles, in zahllosen Popularisierungen
über die ganze W elt verbreitetes Geschichtsbild entw orfen, dessen propa­
gandistische K raft sich im W eltkrieg 1914—18 b ew ährt hat, nämlich die
Philosophie vom Fortschritt der Menschheit als einer Entwicklung, die vom
Feudalism us weg zu H andel und W irtschaft, vom Politischen zum ö k o ­
nomischen, vom Soldaten zum Industriellen, vom K rieg zum F rieden geht.
Dadurch w ird der Soldat im preußisch-deutschen Sinne zu etw as eo ipso
„Feudal-R eaktionärem “, zu einer „m ittelalterlichen“ F igur, die dem F o rt­
schritt und dem Frieden im Wege steht.
D er englische Seekrieg hat fern er aus seiner Besonderheit heraus ein
vollständiges, in sich geschlossenes völkerrechtliches System entwickelt
und durchgesetzt, m it eigenen Begriffen, die sich gegenüber den ent­
sprechenden Begriffen des kontinentalen V ölkerrechts das ganze 19. Ja h r­
hundert hindurch behauptet haben; es gibt einen angelsächsischen Feind­
begriff, der eine kontinentale Unterscheidung von K om battanten und Nicht­
kom battanten grundsätzlich ablehnt, einen angelsächsischen Kriegsbegriff,
der den sog. W irtschaftskrieg einbezieht, kurz, die fundam entalen Begriffe
Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat 239

und Normen dieses englischen Völkerrechts sind ebenfalls in sich total und
das sichere Kennzeichen eines in sich totalen W eltbildes.
Das englische Verfassungsideal endlich hat die U nterordnung des Sol­
daten unter den B ürger zum weltanschaulichen Prinzip erhoben und im
Laufe des liberalen 19. Jahrhunderts auf dem europäischen Kontinent
durchgesetzt. Zivilisation im Sinne dieses Verfassungsideals ist H errschaft
der zivilen, bürgerlichen, wesentlich nichtsoldatischen Ideale; Verfassung
im Sinne dieser Vorstellung ist immer n u r ein zivil-bürgerliches System,
für welches, nach der bekannten Form ulierung Clemenceaus, der Soldat
nur deshalb Daseinsberechtigung hat, weil er die zivile bürgerliche G e­
sellschaft verteidigt und grundsätzlich der Führung von Zivilisten u n ter­
worfen ist. D er preußische Soldatenstaat hat einen hundertjährigen innen­
politischen Kam pf gegen diese bürgerlichen Verfassungsideale geführt. E r
ist ihnen im H erbst 1918 unterlegen. Die innenpolitische Geschichte Preußen-
Deutschlands von 1848 bis 1918 w ar ein fortw ährender Konflikt zwischen
Heer und Parlam ent, ein ununterbrochener Kampf, den die Regierung mit
dem Parlam ent um die G estaltung des Heeres, insbesondere um den H eeres­
haushalt führen m ußte und in welchem nicht außenpolitische Notwendig­
keiten, sondern innenpolitische Kompromisse die V orbereitung auf den
unvermeidlichen Krieg beherrschten. Dem V ersailler D iktat, das alle Einzel­
heiten der O rganisation und A usrüstung des H eeres durch einen außen­
politischen „V ertrag“ festlegte, sind fünfzig Jah re lang periodische innen­
politische V erträge zwischen dem preußisch-deutschen Soldatenstaat und
seinen innenpolitischen G egnern vorausgegangen, die alle Einzelheiten der
Organisation und A usrüstung des H eeres innenpolitisch bindend bestimm ­
ten. D er Zwiespalt von bürgerlicher Gesellschaft und preußischem Soldaten­
staat führte zu unnatürlichen A btrennungen des Kriegsm inisterium s von
der Kommandogewalt und zu vielen anderen A ufsplitterungen, deren
letzte W urzel imm er der Gegensatz eines von England d irekt oder über
Frankreich und Belgien im portierten, bürgerlichen und eines ursprünglich
deutschen, soldatischen Verfassungsideals gewesen ist.
Deutschland hat diesen Zwiespalt heute überw unden und entfaltet in
geschlossener Einheitlichkeit seine soldatische K raft. N atürlich w ird es nicht
an Versuchen fehlen, das nach der A rt frü h erer Propagandam ethoden als
M ilitarismus hinzustellen, um Deutschland die Schuld an der Entwicklung
zum totalen K rieg zu geben. Auch solche Schuldfragen gehören zur T otalität
der weltgeschichtlichen Auseinandersetzungen. Le combat spirituel est aussi
brutal que la bataille d’hommes. Bevor die V ölker jedoch w iederum in
einen totalen K rieg hineintaum eln, sollte m an die Frage stellen, ob heute
wirklich unter den europäischen Nationen eine totaleFeindschaft vorhanden
ist. Krieg und Feindschaft gehören zur Geschichte der Völker. Das schlimm­
ste Unheil aber tritt erst ein, wenn, wie im Kriege 1914—18, die Feind­
schaft sich aus dem K riege entwickelt, statt daß, wie es richtig und sinnvoll
ist, eine vorher bestehende, unabänderliche, echte und totale Feindschaft zu
dem G ottesurteil eines totalen Krieges führt.
240 Der Begriff der Piraterie

29. Der Begriff der Piraterie (1937)


D ie Konferenz von Nyon, die am 11. Septem ber 1937 zusam m engetreten
ist, heißt A ntipiraten- oder Piraterie-K onferenz (conference on piracy) und
spricht im amtlichen T ext des am 14. Septem ber Unterzeichneten Beschlusses
der neun Teilnehm erm ächte davon, daß bestim m te, gegen die Regeln von
Teil IV des Londoner Abkom m ens vom 22. A pril 1930 verstoßende Ver­
senkungen von Handelsschiffen durch U-Boote als „acts of p ira c y “ be­
handelt w erden sollen. Nach der alten, auch anläßlich dieser Konferenz
oft w iederholten Form el gilt der P ira t als „Feind des Menschengeschlechts“,
hostis generis hum ani. D as w urde frü h e r m it seiner „general hostility“
begründet, weil seine räuberischen Absichten unterschiedslos alle Staaten
treffen, w eshalb je d e r Staat ihn unschädlich machen darf. „D er solidarische
F eind“, sagt K arl Binding dazu, „muß den solidarischen W iderstand er­
zeugen.“
Nach der bisherigen Auffassung des kontin entalen V ölkerrechts w ar
es fü r den Begriff der P ira te rie wesentlich, daß sie sich in einem leeren
Raum völliger N ichtstaatlichkeit, abspielte. U nter diesem Gesichtspunkt
ist eine ganze Reihe negativer B egriffsm erkm ale scharf und folgerichtig
herausgearbeitet worden. Nicht nur, daß der Schauplatz der P iraterie das
freie M eer ist als ein kein er staatlichen G ebietshoheit unterw orfener
staatsfreier Raum. Als wesentlich galt auch, daß der T äter, sei es als Voraus­
setzung, sei es als Folge seiner Tat, „denationalisiert“, also wenn nicht
staatenlos, so doch jedenfalls von keinem Staat gehalten oder gar autori­
siert w ird. F e rn e r durfte die Angriffsrichtung der T at nicht gegen einen
bestim m ten Staat gehen, sie m ußte der E v entualität nach alle Staaten treffen,
das Motiv w ar priv ate Bereicherung, m an sprach vom „anim us fu ran d i“ usw.
Entsprechend der Gleichsetzung von staatlich und politisch galt die P iraterie
infolgedessen als eine typisch unpolitische A ktion. D ie bisher beste deutsche
monographische Behandlung von P aul Stiel (Der T atbestand der Piraterie,
1904, S. 80) schließt daraus in Ü bereinstim m ung m it H all, Rougier, Bishop:
„Ein U nternehm en, das politische Zwecke verfolgt, ist nicht P iraterie.“
D araus w ird sogar gefolgert, daß H andlungen rev olutionärer Parteien, auch
w enn sie gegenüber Mächten begangen w erden, von denen noch keine An­
erkennung als kriegführende P a rte i erfolgt ist, nicht als P ira te rie gelten
können, „solange n u r der politische Zweck der M aßnahm e in ihnen erkenn­
b ar ist“. Die A ktion gegen den P ira te n ist infolgedessen ebenfalls un­
politisch. Sie ist kein Krieg, sondern entw eder, nach der englischen Auf­
fassung, Straf justiz oder, nach der kontinentalen K onstruktion, eine Maß­
nahm e der internationalen Seepolizei.
In dieser ganzen, kontroversenreichen L ehre der P ira te rie mischen sich
antike, m ittelalterliche und neuzeitliche Begriffselem ente, und es besteht
die G efahr, daß die W irklichkeit der heutigen Sachlage u n ter irrefü h ren ­
den Form eln und Begriffsresiduen verborgen bleibt. W ir sprechen hier
Der Begriff der Piraterie 241

nicht von P iraten des A ltertum s oder des M ittelalters, sondern von der
G egenw art und dem M ittelmeer. Angesichts der wirklichen Organisation
der heutigen Staatenw elt w ird jen er wesentlich nichtstaatliche, unpolitische
C harak ter der P iraterie sofort problematisch. W er sich insbesondere die
staatlich-politische Lage des heutigen M ittelmeers vergegenw ärtigt, steht
sofort vor der Frage, wo denn jen er unpolitische Seeräuber den juristischen
Leerraum völliger Nichtstaatlichkeit finden soll, in dem er sein G ew erbe
betreibt. „R aubstaaten“ und „B arbaresken“ gibt es glücklicherweise nicht
mehr; sie sind seit der E roberung Algiers vor über 100 Jahren ver­
schwunden. R evolutionäre P arteien sollen, wie gesagt, wegen ihres poli­
tischen C h arak ters nicht P iraten sein. Die m oderne Technik der m aritim en
V erkehrsm ittel und Kriegswaffen hat zw ar neue Möglichkeiten der G ew alt­
anwendung auf hoher See geschaffen, gleichzeitig aber auch an die Stelle
schwerbeweglicher, feudalständischer Gebilde die straff zentralisierten
Organisationen eines m odernen Staates gesetzt und deren Kontrollmöglich-
keiten ungeheuer gesteigert. Man braucht n u r die technischen Machtmittel
einer m odernen Polizei m it denen des 18. und selbst noch des 19. Jah r­
hunderts zu vergleichen, um zu verstehen, was hier gemeint ist. Schon durch
diese technischen M ittel w ird der m oderne Staat immer geschlossener, in
diesem Sinne imm er „to taler“, und w ird der leere Raum der Nichtstaatlich­
keit, der fü r den Begriff der P iraterie verlangt w ird, immer kleiner und
bedeutungsloser. D ie K ehrseite dieser T otalität des Staates ist bekanntlich
eine entsprechend totale V erantw ortlichkeit für alles, was in seinem perso­
nalen oder territo ria le n Machtbereich vor sich geht. Wie soll sich aber
heute ein verw egenes Individuum oder eine R äuberbande unter V er­
meidung je d e r B erührung m it irgendeinem Staat m oderne Kriegsschiffe
und B etriebsm ittel beschaffen? W ie soll sie sich auf „unpolitische“ A kte
beschränken, w enn nicht eine romantische Räuberbande, sondern ein ernst­
haft interessantes O b je k t der internationalen A ktion von Großmächten in
Frage steht?
In den Lehrbüchern und systematischen A bhandlungen taucht die F igur
des P iraten meistens bei der Frage nach dem S ubjekt des Völkerrechts auf.
Hier hat der P ira t noch ein theoretisch ganz interessantes, im übrigen aber
bescheidenes Plätzchen. D enn meistens w ird ihm der Rang eines V ölker­
rechtssubjekts abgesprochen. Seine T at ist kein völkerrechtliches D elikt,
da nur Staaten als V ölkerrechtssubjekte solche „völkerrechtlichen D elikte“
begehen können, w ährend der P ira t gerade in voller Nichtstaatlichkeit
nur in den völkerrechtlich erw eiterten Machtbereich eines Staates hinein­
gerät. Demnach w äre er als solcher überhaupt kein eigentliches in ter­
nationales Problem . Das ist um so m erkw ürdiger, als andererseits gegen
ihn als „Feind des Menschengeschlechts“ plötzlich die ganze, sonst so zer­
rüttete Menschheit in einer E inheitsfront erscheint. D a dieser Feind der
Menschheit allerdings n u r eine unpolitische Größe ist und man sich in
mancher Hinsicht durch das klassifiziert, was m an als Feind anerkennt, so ist
eine Menschheit, die k einen anderen Feind m ehr als diesen unpolitischen out-

16 1682
242 Der Begriff der Piraterie

law hat, eben selber auch n u r eine unpolitische Größe. Inzwischen aber ist
das durch die A ntipiraten-K onferenz bezeichnete Problem der P iraterie
gerade ein echtes internationales Problem geworden, von dem niem and
behaupten kann, daß es sich in einem Raum e unpolitischer Nichtstaatlich-
keit bewege.
D er seit dem A uftreten der U-Boot-Waffe schwebende Streit um die
völkerrechtlichen Regeln des G ebrauchs dieser W affe h at m it einem be­
deutenden Sieg der englischen A uffassung geendet. A llerdings ist das
kriegsrechtliche Abkommen der W ashingtoner K onferenz vom 6. F ebruar
1922 (Strupp, Docum ents Y. 634) nicht ratifiziert. Es geht in A rt. 1 Abs. 2
von dem heute anerkannten G rundsatz aus, daß k riegführende U-Boote
den allgem einen Regeln des Seekriegsrechts über die W egnahm e von
Handelsschiffen unterliegen, e rk lä rt dann aber in A rt. 3 w eiter, daß jede
„im D ienst irgendeiner Macht stehende Person, welche diese R egeln ver­
letzt, „w hether or not such person is under orders of a governm ental
superior“, verantw ortlich gemacht w ird „as if for an act of p ira c y “. Art. 4
nimm t dann sogar noch ausdrücklich auf den K rieg von 1914—18 Bezug.
D er Teil IV des Londoner Abkom m ens vom 22. A pril 1930 dagegen spricht
nicht von P iraterie, sondern stellt in seinem A rt. 22 die Pflicht der U-Boote,
sich in ih re r A ktion an die fü r andere Kriegsschiffe geltenden Regeln zu
halten, fest, wobei er insbesondere die Pflicht vorh erig er W arnung und der
R ettung von Passagieren, Besatzung und Schiffspapieren erw ähnt. Das
Deutsche Reich ist dieser R egelung des A rt. 22 am 23. N ovem ber 1936 bei­
getreten und hat sie als von diesem Tage ab verbindlich angenommen. Im
T ext der deutschen Note, die den B eitritt e rk lä rt, ist der W ortlaut des
A rt. 22 nochmals w iederholt. D ie V ölkerrechtsw idrigkeit eines Verstoßes
gegen diese Regelung steht dam it fest. Selbstverständlich bleibt aber die
andere Frage, nämlich das Problem der „ P ira te rie “ und die Ü bertragung
eines d erartig folgenreichen Begriffes auf solche V ölkerrechtsw idrigkeiten,
durchaus offen. Nicht jed e r Verstoß gegen Regeln des Seekriegsrechts
ist „ P ira terie “ m it der Folge, daß ein Staat verpflichtet ist, die Staats­
angehörigen oder Staatsorgane, fü r die er verantw ortlich ist, gegenüber
anderen Staaten preiszugeben und auszuliefern, indem er sie in den leeren
Raum der Nichtstaatlichkeit hineinstößt, der bisher die rechtliche Voraus­
setzung der P ira te rie gewesen ist.
Angesichts der oben angedeuteten Entw icklung der m odernen m aritim en
Technik entstehen gewiß zahlreiche neue seerechtliche Problem e. Sie dürfen
aber w eder auf die Form eln des alten, inzwischen romantisch gewordenen
Seeräubertum s gebracht, noch als N eubelebung der bekannten Streitfragen
des W eltkrieges 1914—18 benutzt w erden. Sie gehören vielm ehr in das große
G ebiet der Versuche einer neuen und echten zwischenstaatlich-europäischen
O rdnung. Auf der einen Seite stehen sie in V erbindung m it den Bestrebungen,
den K rieg durch kollektives V orgehen verschiedener A rt (internationale
Polizei, B estrafung des Rechtsbrechers, Ächtungen und Sanktionen) zu e r­
setzen und eine aktionsfähige G röße zu schaffen, die „im Nam en der Mensch-
Der Begriff der Piraterie 243

heit“ handelt. A uf der anderen Seite ist h ier die völkerrechtliche Entwick­
lung zu beachten, auf die im Juniheft dieser Zeitschrift (S. 141)1 aufm erksam
gemacht w urde, daß nämlich heute, wo das unm ittelbare A ufeinander­
prallen to taler Staaten in einem totalen K riege verm ieden w erden soll,
Übergänge und Zwischenbegriffe zwischen offenem K rieg und wirklichem
Frieden auftreten, w eil schon die bloße M öglichkeit eines totalen K rieges
die Absteckung solcher Zwischenbildungen nahelegt. Sollte sich die eng­
lische Auffassung der U -B oot-Piraterie als ein allgem einer V ölkerrechts­
begriff durchsetzen, so h ätte der Begriff der P ira te rie seinen P latz im
System des V ölkerrechts gewechselt. E r w äre aus dem leeren Raum u n ­
politischer Nicht Staatlichkeit in jen en fü r das V ölkerrecht der Nachkriegs­
zeit typischen Raum der Zwischenbegriffe zwischen K rieg und F rieden v e r­
legt worden.

1 Es handelt sich um den Aufsatz „Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat“,
abgedruckt in unserer Sammlung Nr. 28, oben S. 235 f.
16*
30. Uber das Verhältnis der Begriffe Krieg undFeind (1938)
1. F e i n d i s t h e u t e d e r p r i m ä r e B e g r i f f . Das gilt aller­
dings nicht fü r T urnier-, K abinetts- und D uellkriege oder ähnliche nur
„agonale“ K riegsarten. Agonale Käm pfe rufen m ehr die Vorstellung einer
A ktion als eines Zustandes hervor. V erw endet m an nun die alte und
anscheinend unverm eidliche Unterscheidung von „Krieg als A ktion“ und
„K rieg als Zustand (status)“, so ist beim K rieg als A ktion bereits in
Schlachten und m ilitärischen O perationen, also in der A ktion selbst, in den
„Feindseligkeiten“, den h o s t i l i t é s , ein Feind als G egner (als Gegenüber)
so unm ittelbar gegenw ärtig und sichtbar gegeben, daß er nicht noch voraus­
gesetzt zu w erden braucht. A nders beim K rieg als Zustand (status). H ier ist
ein Feind vorhanden, auch w enn die unm ittelbaren und akuten Feindselig­
keiten und K am pfhandlungen aufgehört haben. B e l l u m m a n e t , p u g n a
c e s s a t . H ier ist die Feindschaft offenbar V o r a u s s e t z u n g des Kriegs­
zustandes. In der G esam tvorstellung „K rieg“ kann das eine oder das
andere, K rieg als A ktion oder K rieg als Zustand, überw iegen. Doch kann
kein Krieg restlos in der bloßen unm ittelbaren A ktion aufgehen, ebenso­
wenig wie er dauerd nur „Zustand“ ohne A ktionen sein kann.
D er sogenannte totale K rieg muß sowohl als A ktion wie auch als Zustand
total sein, w enn er w irklich total sein soll. E r h at daher seinen Sinn in
einer vorausgesetzten, begrifflich vorangehenden Feindschaft. Deshalb kann
e r auch n u r von der Feindschaft h er verstanden und definiert werden.
K rieg in diesem totalen Sinne ist alles, was (an H andlungen und Zuständen)
aus der Feindschaft entspringt. Nicht w äre es sinnvoll, daß die Feindschaft
erst aus dem K riege oder erst aus der T otalität des Krieges entsteht oder
gar zu einer bloßen Begleiterscheinung der T otalität des Krieges herab­
sinkt. Man sagt m it einer oft w iederholten Redewendung, daß die euro­
päischen V ölker im Sommer 1914 „in den K rieg hineingetaum elt“ sind. In
W irklichkeit sind sie allm ählich in die T otalität des Krieges hinein­
geglitten, und zw ar in der Weise, daß der kontinentale, m ilitärische Kom­
b attan ten k rieg und der englische, außerm ilitärische See-, Blockade- und
W irtschaftskrieg sich (auf dem W ege über Repressalien) gegenseitig
w eitertrieben und in die T otalität steigerten. H ier entstand also die Totali­
tä t des Krieges nicht aus einer vorangehenden, totalen Feindschaft, viel­
m ehr wuchs die T otalität der Feindschaft aus einem allmählich total w er­
denden Krieg. D ie Beendigung eines solchen Krieges w ar notw endiger­
weise kein „V ertrag“ und kein „F rieden“ und erst recht kein „Friedens­
v e rtrag “ im völkerrechtlichen Sinne, sondern ein V erdam m ungsurteil der
Über das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind 245

Sieger über den Besiegten. D ieser w ird um so m ehr nachträglich zum Feind
gestempelt, je m ehr er der Besiegte ist.
2. Im Paktsystem der G enfer Nachkriegspolitik w ird der A n g r e i f e r
als F e i n d bestimmt. A ngreifer und Angriff w erden tatbestandsm äßig
umschrieben: w er den K rieg erk lärt, w er eine Grenze überschreitet, w er
ein bestimm tes V erfahren und bestim m te Fristen nicht einhält usw., ist
Angreifer und Friedensbrecher. Die völkerrechtliche Begriffsbildung w ird
hier zusehends krim inalistisch - strafgesetzlich. D er A ngreifer w ird im
Völkerrecht das, was im heutigen Strafrecht der D elinquent, der „T äter“
ist, der ja auch eigentlich nicht ein „T äter“, sondern ein „U ntäter“ heißen
müßte, weil seine angebliche T at in W ahrheit eine U ntat ist1. Diese K rim i­
nalisierung und V ertatbestandlichung von Angriff und A ngreifer hielten
die Juristen der G enfer N achkriegspolitik für einen juristischen Fortschritt
des Völkerrechts. D er tiefere Sinn aller solcher Bem ühungen um die Defi­
nition des „A ngreifers“ und die Präzisierung des Tatbestandes des „An­
griffs“ liegt aber darin, einen F e i n d zu konstruieren und dadurch einem
sonst sinnlosen K rieg einen Sinn zu geben. Je autom atischer und mecha­
nischer der K rieg w ird, um so autom atischer und mechanischer w erden
solche Definitionen. Im Z eitalter des echten K om battantenkrieges brauchte
es keine Schande und keine politische Dum m heit, sondern konnte es E hren­
sache sein, den Krieg zu erklären, w enn man sich mit G rund bedroht oder
beleidigt fühlte (Beispiel: die K riegserklärung K aiser Franz Josefs an
Frankreich und Italien 1859). Jetzt, im G enfer N adikriegs-V ölkerrecht, soll
es ein krim ineller T atbestand w erden, weil der Feind zum Verbrecher
gemacht w erden soll.
5. F r e u n d und F e i n d haben in den verschiedenen Sprachen und
Sprachgruppen eine sprachlich und logisch verschiedene S truktur. Nach
deutschem Sprach sinn (wie in vielen anderen Sprachen) ist „F reund“
ursprünglich n u r der Sippengenosse. F reund ist also ursprünglich nur der
Blutsfreund, der B lutsverw andte, oder der durch H eirat, Schwurbrüder-
schaft, Annahm e an Kindes Statt oder durch entsprechende Einrichtungen
„verw andt Gemachte“. Vermutlich ist erst durch den Pietismus und ähn­
liche Bewegungen, die auf dem Weg zum „G ottesfreund“ den „Seelen­
freund“ fanden, die für das 19. Jah rh u n d ert typische, aber auch heute noch
verbreitete P rivatisierung und Psychologisierung des Freundbegriffes ein­
getreten. Freundschaft w urde dadurch eine Angelegenheit p riv ater
Sym pathiegefühle, schließlich gar m it erotischer Färbung in einer Mau-
passant-A tm osphäre.
Das deutsche W ort „Feind“ ist etymologisch w eniger k la r zu bestimmen.
Seine eigentliche W urzel liegt, wie es in Grimms W örterbuch heißt, „noch
unaufgehellt“. Nach den W örterbüchern von Paul, H eyne und W eigand soll
es (im Zusamm enhang m it f i j a n -hassen) den „Hassenden“ bedeuten. Ich
will mich nicht in einen Streit m it Sprachforschern einlassen, sondern möchte
1 Der Versuch, kriminelle „Tätertypen“ zu finden, würde zu der Paradoxie von
„Untäter-Typen“ führen.
246 Uber das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind

einfach dabei bleiben, daß Feind in seinem ursprünglichen Sprachsinn den­


jenigen bezeichnet, gegen den eine F e h d e geführt w ird. Fehde und Feind­
schaft gehören von Anfang an zusammen. Fehde bezeichnet, wie K arl von
A m ira (G rundriß des Germanischen Rechts, 3. Auflage, 1913, S. 238) sagt,
„zunächst nu r den Zustand eines der Todfeindschaft A usgesetzten“. Mit der
Entwicklung der verschiedenen A rten und Form en der Fehde w andelt sich
auch der Feind, das heißt der Fehdegegner. D ie m ittelalterliche U nter­
scheidung der nichtritterlichen von der ritterlichen Fehde (vgl. Claudius
F rh r. von Schwerin, Grundzüge der Deutschen Rechtsgeschichte, 1934, S. 195)
zeigt das am deutlichsten. Die ritterliche Fehde fü h rt zu festen Form en und
dam it auch zur agonalen Auffassung des Fehdegegners.
In anderen Sprachen ist der F e i n d sprachlich n u r negativ bestimm t als
der N i c h t - F r e u n d . So in den romanischen Sprachen, seitdem im universalen
F rieden der P ax Rom ana innerhalb des Im perium Rom anum der h o s t i s -
Begriff verblaßt oder zu einer innerpolitischen A ngelegenheit geworden
w ar: a m i c u s - i n i m i c u s ; a m i - e n n e m i ; a m i c o - n e m i c o usw. In slavischen
Sprachen ist der Feind ebenfalls der N icht-Freund: p r i j a t e l j - n e p r i j a t e l j
u s w .1. Im Englischen hat das W ort e n e m y das germ anische W ort f o e (das
ursprünglich nu r den Gegner im tödlichen Kampf, dann jeden Feind be­
deutete) ganz verdrängt.
4. Wo Krieg und Feindschaft sicher bestim m bare und einfach feststell­
b are Vorgänge oder Erscheinungen sind, k ann alles, was nicht K rieg ist,
eo ipso: Friede, was nicht Feind ist: eo ipso: F reu n d heißen. Um gekehrt:
wo Friede und Freundschaft selbstverständlich und norm al das Gegebene
sind, k ann alles, was nicht Friede ist: Krieg, und was nicht Freundschaft
ist: Feindschaft werden. Im ersten F all ist der Friede, im zw eiten Fall der
K rieg von dem bestimm t Gegebenen h er negativ bestimm t. Im ersten Fall
ist aus demselben G runde F reu n d der Nicht-Feind, im zw eiten Falle Feind
der Nicht-Freund. Vom F reund als bloßem Nicht-Feind ging zum Beispiel
die strafrechtliche Auffassung der „Feindlichen H andlungen gegen befreun­
dete Staaten“ (vgl. V ierter Abschnitt des Zweiten Teiles des Deutschen
Reichsstrafgesetzbuches, §§ 102—104) aus: befreundet ist danach jeder
Staat, m it dem der eigene Staat sich nicht im K riege befindet. D er tschecho­
slowakische Staat u nter dem Staatspräsidenten Benesch w äre danach im
Mai ,und Septem ber 1938 ein m it dem Deutschen Reich befreundeter
Staat gewesen!
Diese Fragestellung (welcher Begriff ist so bestim m t gegeben, daß
dadurch der andere Begriff negativ bestim m t w erden kann?) ist schon aus
dem G runde notwendig, weil wohl alle bisherigen völkerrechtlichen E r­
örterungen darüber, ob eine A ktion K rieg ist oder nicht, davon ausgehen,
daß die D isjunktion von K rieg und F rieden restlos und ausschließlich ist,
das heißt, daß von selbst und ohne d ritte M öglichkeit das eine von beiden *)
*) Nachträglich (Juli 1939) hat mir mein indologischer Kollege von der Berliner
Universität, Prof. Breioer, Beispiele aus dem Indischen, insbesondere den charakteri-
schen Ausdruck „a — m i t h r & (Nicht-Freund für Feind) mitgeteilt.
Über das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind 247

(entweder K rieg oder Frieden) anzunehm en ist, w enn das andere nidit vor­
liegt. I n te r p a c e m e t b e llu m n ih il e s t m e d iu m \ Anläßlich des Vorgehens
Japans gegen C hina 1931/32 zum Beispiel ist zur Abgrenzung der (noch
keinen K rieg darstellenden) m ilitärischen R epressalien vom Krieg stets
mit dieser Begriffsmechanik gearbeitet w orden. Dieses n ih il m e d iu m ist
aber gerade die Situationsfrage. Richtigerw eise muß die völkerrechtliche
Frage so gestellt w erden: Sind m ilitärische G ew altm aßnahm en, insbeson­
dere m ilitärische R epressalien, m it dem F rieden v ereinbar oder nicht, und
wenn sie es nicht sind, sind sie dann aus diesem G runde Krieg? D as w äre
eine Fragestellung, die vom F rieden als k o n k reter O rdnung ausgeht. Den
besten Ansatz zu ih r finde ich bei A rrigo C a v a g l i e r i i n einem Aufsatz aus
dem Jahre 191512. D ort sagt e r in der Sache: m ilitärische G ew altm aßnahm en
sind mit dem Friedenszustand unvereinbar, also sind sie Krieg. Das In te r­
essante an seiner G edankenführung ist die Auffassung des Friedens als
konkreter und geschlossener O rdnung und als des stärkeren, daher m aß­
gebenden Begriffes. D ie m eisten sonstigen E rörterungen sind w eniger k la r
in der Fragestellung und bew egen sich in dem leeren K lipp-K lapp einer
scheinpositivistischen B egriffsalternative.
Ob m an nun K rieg annim m t, weil kein F rieden ist, oder Frieden, w eil
kein K rieg ist, in beiden F ällen m üßte vorher gefragt w erden, ob es denn
wirklich kein drittes, keine Zwischenmöglichkeit, kein n ih il m e d iu m gibt.
Das w äre natürlich eine A bnorm ität, aber es gibt eben auch abnorm e
Situationen. Tatsächlich besteht heute eine solche abnorm e Zwischenlage
zwischen K rieg und F rieden, in der beides gemischt ist. Sie h a t drei
Ursachen: erstens die P ariser F riedensdiktate; zweitens das K riegs­
verhütungssystem der N achkriegszeit m it K elloggpakt und V ölkerbund3;
und drittens die A usdehnung der V orstellung vom K riege auch auf nichtmili­
tärische (wirtschaftliche, propagandistische usw.) B etätigungen der F eind­
schaft. Jene F riedensdikate w ollten ja aus dem F rieden eine „Fortsetzung
des Krieges m it anderen M itteln“ machen. Sie haben den Feindbegriff so
weit getrieben, daß dadurch nicht n u r die Unterscheidung von K om battan­
ten und N icht-K om battanten, sondern sogar die U nterscheidung von K rieg
und F rieden aufgehoben w urde. Gleichzeitig aber suchten sie diesen un­
bestim m ten und absichtlich offengehaltenen Zwischenzustand zwischen
1 Cicero in der 8. Philippika: zitiert bei Hugo Grotius, de jure belli ac pacis,
Buch III, Cap. 21 § 1.
2 Note critidie su la teoria dei mezzi coercitivi al difuori della guerra, Rivista
di diritto internazionale, Bd. IX (1915) S. 23 ff., 305 ff. Später hat Cavaglieri seine
Meinung unter dem Eindruck der Praxis geändert: Corso di diritto internazionale,
3. Auil. 1934 S. 555; Recueil des Cours de l’Académie Internationale de Droit Inter­
national (1929 I) S. 576 ff. Das für unsern Zusammenhang allein Entscheidende ist
seine von einem starken Begriff des Friedens ausgehende Fragestellung.
3 „Die Wirkung vom Völkerbundpakt und Kelloggpakt scheint die werden zu
wollen, daß in Zukunft zwar keine Kriege mehr geführt werden, aber militärische
Aktionen größten Stils sich als ,bloße Feindseligkeiten* ausgeben, was kein Fort­
schritt, sondern ein Rückschritt ist“, Josef L. Kunz, Kriegsrecht und Neutralitätsrecht,
1935, S. 8, Aum. 37. Vorzüglich: Frhr. von Freytagh-Loringhoven, Zeitschr. d. Akad.
f. Deutsches Recht, 1. März 1938, S. 146.
248 über das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind

Krieg und Frieden durch P akte zu legalisieren und juristisch als den
norm alen und endgültigen Status quo des F riedens zu fingieren. Die
typische Rechtslogik des Friedens, typische Rechtsverm utungen, von denen
der Jurist bei einer echt befriedeten Lage ausgehen kann und muß, w urden
dieser abnorm en Zwischenlage aufgepfropft. Zunächst schien das für die
Siegermächte vorteilhaft zu sein, w eil sie eine Zeitlang à d e u x mains
spielen konnten und, je nachdem sie K rieg oder F rieden annahm en, auf
jeden Fall die G enfer Legalität auf ih re r Seite hatten, w ährend sie deren
Begriffe, wie Paktbruch, Angriff, Sanktionen usw. ihrem G egner in den
Rücken stießen. In einem solchen Zwischenzustand zwischen K rieg und
Frieden entfällt der vernünftige Sinn, den die Bestim mung des einen
Begriffes durch den andern, des Krieges durch den F rieden oder des F rie­
dens durch den Krieg, sonst haben könnte. Nicht n u r die K riegserklärung
w ird gefährlich, weil sie den K riegerklärenden von selbst ins Unrecht setzt,
sondern jede abgrenzende Kennzeichnung m ilitärischer sowohl als auch
nichtmilitärischer Aktionen als „friedlich“ oder „kriegerisch“ w ird sinnlos,
weil nichtmilitärische Aktionen in w irksam ster, u nm ittelbarster und inten­
sivster Weise feindliche A ktionen sein können, w ährend um gekehrt mili­
tärische A ktionen unter feierlicher und energischer Inanspruchnahm e
freundschaftlicher Gesinnung vor sich gehen können.
Praktisch w ird die A lternative von K rieg und F rieden in einer solchen
Zwischenlage noch wichtiger, denn je tz t w ird alles Rechtsverm utung und
Fiktion, ob man nun annimmt, daß alles, was nicht F riede K rieg ist, oder
ob, um gekehrt, alles was nicht K rieg deshalb von selbst F riede ist. Das
ist der bekannte „Stock m it zwei E nden“. Jeder kann nach beiden Seiten
argum entieren und den Stock bald an dem einen oder dem andern Ende
anfassen. Alle Versuche, eine Definition des Krieges zu geben, müssen hier
bestenfalls in einem ganz subjektivistischen und voluntaristischen Dezisio­
nismus enden: Krieg liegt dann vor, w enn eine ak tiv w erdende P artei
K rieg w i 11. „Als einzig zuverlässiges U nterscheidungsm erkm al (heißt es
in einer neulich erschienenen, anerkennensw ert tüchtigen Monographie
zum völkerrechtlichen Kriegsbegriff) bleibt somit n u r der W ille der strei­
tenden Parteien. Ist er darauf gerichtet, die G ew altm aßnahm en als
kriegerische abzuwickeln, so herrscht K rieg, andernfalls F ried en “1. D i e s e s
„ a n d e r n f a l l s F r i e d e n “ i s t l e i d e r n i e ht w a h r . D abei soll der
W ille eines einzigen Staates zur Erfüllung des Kriegsbegriffs genügen,
gleichgültig, auf welcher Seite er vorliegt12. Ein solcher Dezisionismus ent­
spricht zw ar der Lage. E r äußert sich zum Beispiel in entsprechender
Weise darin, daß der politische C h a ra k te r einer völkerrechtlichen Streitig­
keit nur noch rein dezisionistisch durch den W illen jedes Streitenden
bestimmt wird, auch hier also der W ille das „unm ittelbare K riterium des
1 Georg K a p p u s , Der völkerrechtliche Kriegsbegriff in seiner Abgrenzung
gegenüber militärischen Repressalien, Breslau 1936, S. 57.
2 G. K a p p u s , a. a. O. S. 65.
über das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind 249

Politischen“ w ird1. Was bedeutet das aber für unsere F rage nach dem
Verhältnis von Krieg und Frieden? Es zeigt, daß die Feindschaft, der
a n i m u s h o s t i l i s , der prim äre Begriff geworden ist. Das hat in dem gegen­
w ärtigen Zwischenzustand zwischen Krieg und F rieden eine ganz andere
Tragweite als frühere „subjektive“ oder „W illenstheorien“ des K riegs­
begriffes. Zu allen Zeiten h at es „halbe“, „partielle“ und „unvollkom m ene“,
„beschränkte“ und „getarnte“ Kriege gegeben, und der vom Lytton-Bericht
für das Vorgehen der Japaner gebrauchte Ausdruck „w ar disguised“ w äre
insofern an sich nichts Neues. Das Neue ist der juristisch ausgebaute, durch
Kelloggpakt und V ölkerbund institutionalisierte Zwischenzustand zwischen
Krieg und Frieden, der alle jene negativen Feststellungen — mögen sie
vom Nichtfrieden auf den Krieg oder vom Nichtkrieg auf den Frieden
schließen — heute unrichtig macht.
D er Pazifist H ans W ehberg sagte im Januar 1932 zum M andschurei­
konflikt: Was nicht Krieg ist, ist im völkerrechtlich juristischen Sinne
Friede. Das bedeutete damals praktisch: Das Vorgehen der Jap an er in
China w ar nicht Krieg, sie w aren also nicht „zum K riege geschritten“ im
Sinne des G enfer V ölkerbundspaktes und die Voraussetzung für V ölker­
bundssanktionen (vrie sie im H erbst 1935 gegen Italien unternom m en w u r­
den) w ar nicht gegeben. W ehberg hat seine Meinung und seine Form u­
lierung später geändert2, aber die eigentliche Logik des begrifflichen Ver­
hältnisses solcher negativen Bestimmungen h at er bis heute nicht erkannt.
Es handelt sich w eder um „subjektive“, noch uni „objektive“ Theorien des
Kriegsbegriffes im allgemeinen, sondern um das Problem der besonderen
Zwischenlage zwischen K rieg und Frieden. F ü r die G enfer A rt von Pazifis­
mus ist es typisch, daß sie aus dem F rieden eine juristische Fiktion macht:
Friede ist alles, was nicht Krieg ist, K rieg aber soll dabei nur der m ili­
tärische Krieg alten Stiles m it a n i m u s b e l l i g e r a n d i sein. Ein arm seliger
Friede! F ü r diejenigen, die mit außerm ilitärischen, zum Beispiel w irtschaft­
lichen Zwangs- und Einwirkungsm öglichkeiten ihren W illen durchsetzen
und den W illen ihres G egners brechen können, ist es ein K inderspiel, den
m ilitari sehen K rieg alten Stils zu verm eiden, und diejenigen, die mit m ili­
tärischer A ktion Vorgehen, brauchen n u r energisch genug zu behaupten,
daß ihnen jed er Kriegsw ille, jed er anim us belligerandi fehlt.
5. D er sogenannte t o t a l e K r i e g hebt den Unterschied von Kom­
battanten und N ichtkom battanten auf und kennt neben dem m ilitärischen
auch einen nichtmilitärischen K rieg (W irtschaftskrieg, P ropagandakrieg
usw.) als Ausfluß der Feindschaft. Die A ufhebung der Unterscheidung von
K om battanten und N ichtkom battanten ist hier aber eine (im Hegelschen
Sinne) d i a l e k t i s c h e Aufhebung. Sie bedeutet infolgedessen nicht etwa,
daß diejenigen, die frü h er N ichtkom battanten w aren, sich nunm ehr einfach *
1 Onno Ο n c k e n , Die politischen Streitigkeiten im Völkerrecht; ein Beitrag zu
den Grenzen der Staatengerichtsbarkeit, Berlin 1936.
* Vgl. Die Friedenswarte, Januarheft 1932, S. 1—13, mit Heft 3/4 von 1938, S. 140:
ferner Nr. 19 unserer Sammlung oben S. 162.
250 Uber das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind

in K om battanten alten Stils verw andeln. Vielm ehr verändern sich b e i d e


Seiten, und der Krieg w ird auf einer ganz neuen, gesteigerten Ebene als
eine nicht m ehr rein m ilitärische B etätigung der Feindschaft w eitergeführt.
Die Totalisierung besteht hier darin, daß auch außerm ilitärische Sach­
gebiete (Wirtschaft, Propaganda, psychische und moralische Energien der
Nichtkom battanten) in die feindliche A useinandersetzung einbezogen w er­
den. D er Schritt über das rein M ilitärische hinaus brin g t nicht nu r eine
quantitative Ausweitung, sondern auch eine qualitative Steigerung. D aher
bedeutet er keine M ilderung, sondern eine Intensifizierung der Feindschaft.
Mit der bloßen Möglichkeit einer solchen Steigerung der Intensität w erden
dann auch die Begriffe F reund und Feind von selbst w ieder politisch und
befreien sich auch dort, wo ihr politischer C h a ra k te r völlig verblaßt war,
aus der Sphäre priv ater und psychologischer R edensarten1.
6. D er Begriff der N e u t r a l i t ä t im völkerrechtlichen Sinne ist eine
Funktion des Kriegsbegriffes. D ie N eu tralität w andelt sich daher mit dem
Krieg. Sie kann, praktisch gesehen, heute in vier verschiedenen Bedeutungen
unterschieden werden, denen vier verschiedene Situationen zugrunde liegen:
a) Gleichgewicht der Macht von N eutralen und K riegführenden: hier ist
die „klassische“ in „U nparteilichkeit“ und paritätischem V erhalten be­
stehende N eutralität sinnvoll, möglich und sogar wahrscheinlich; der Neu­
tra le bleibt F reund — amicus — jedes der K riegführenden: a m itié im­
partiale;
b) eindeutige M achtüberlegenheit der K riegführenden über die Neu­
tralen: hier w ird die N eu tralität ein stillschweigender Kom promiß zwischen
den K riegführenden, eine A rt N iem andsland oder stillschweigend verein­
b a rte r Ausklam m erung aus dem Kriegsbereich nach M aßgabe des Macht­
gleichgewichts der K riegführenden (W eltkrieg 1917/18);
c) eindeutige M achtüberlegenheit der N eutralen über die K riegführen­
den: hier können die starken N eutralen den schwachen K riegführenden
einen Spielraum für die K riegführung anweisen. Im reinsten Falle w äre
das der von Sir John Fisher W illiam s in die V ölkerrechtslehre eingeführte
Begriff des „dog-fight“12;
d) volle Beziehungslosigkeit (bei großer E ntfernung oder genügend
au tark er, isolierbarer Macht): hier zeigt sich, daß N e u tra litä t nicht Iso­
lation, und daß Isolation (das heißt völlige A bsonderung und Beziehungs­
losigkeit) etwas anderes als N eu tralität ist; der sich Isolierende w ill w eder
Feind noch F reund eines der K riegführenden sein.
In dem (oben u nter 4.) behandelten Zwischenzustand zwischen K rieg und
Frieden hängt die sachliche Entscheidung darüber, ob der F a l l der
N eu tralität mit allen N eutralitätsrechten und Pflichten gegeben ist, davon
ab, ob K rieg das ist, was nicht F ried en ist oder um gekehrt. W enn diese
Entscheidung rein dezisionistisch von jedem fü r sich getroffen w ird, ist
1 Als ihm der behandelnde Zahnarzt sagte: „Sie sind kein Held“, erwiderte
W. Gueydan de Roussel: „Sie sind ja auch nicht mein Feind“.
2 Vgl. in dieser Sammlung Nr. 31 „Das neue Vae Neutris!“, unten S. 251.
Das neue Vae Neutris! 251

nicht einzusehen, w arum n u r der K riegführende und nicht auch der N eu­
trale rein dezisionistisch entscheiden soll. D er I n h a l t der N eu tralitäts­
pflichten erw eitert sich m it der E rw eiterung des K riegsinhaltes. Wo m an
aber nicht m ehr unterscheiden kann, was K rieg und was F rieden ist, da
wird es noch schwerer zu sagen, was N eu tralität ist.

31. Das neue Vae Neutris! (1938)


Ein englischer A utor von hohem Rang und repräsentativer Bedeutung,
Sir John Fisher W illiams, h at am Schluß eines Aufsatzes in dem von ihm
mit herausgegebenen B ritish Yearbook of International Law (Bd. XYII
1936 148/9) eine Prognose gestellt, die die größte Beachtung verdient. D er
berühm te englische V ölkerbunds ju ris t gibt hier einen Ausblick in die
Zukunft, der den E rnst der Lage erkennen läßt und den K ernpunkt der
gegenwärtigen Entwicklung des V ölkerrechts k la re r und schärfer zum
Bewußtsein b rin g t als jede w eitere R ede oder A rgum entation. Sir John
Fisher, W illiam s sagt, die kommende G eneration w erde wahrscheinlich
eher die Pflichten als die Rechte der N eutralen in den V ordergrund
stellen. A ußerdem aber könnten K riege kommen, in denen — w enn nicht
durch eine Aktion, so doch in G edanken — n i d i t Stellung zu nehmen, für
jeden sittlich denkenden Menschen unmöglich w ürde. In einem solchen
W eltkriege, der kein bloßer „dog-fight“ w äre und m it allen m oralischen
Energien geführt w ürde, könnte die N eutralität, mag sie auch respektabel
sein, doch nicht sehr w eitgehend resp ek tiert w erden. D ante, so schließt der
englische Rechtsgelehrte, h at diejenigen Engel, die in dem großen Kam pf
zwischen G ott und dem Teufel n eu tral blieben, besonderer Verachtung und
Strafe überliefert, nicht n u r w eil sie ein Verbrechen begingen, indem sie
ihre Pflicht, für das Recht zu käm pfen, verletzt, sondern auch deshalb, w eil
sie ihr eigenstes, w ahrstes Interesse v erkannt haben; die N eutralen eines
solchen Kampfes träfe also ein Schicksal, dem nicht n u r D ante, sondern
auch Machiavelli zustimm en w ürde.
Dam it ist vor das Vae Victis! noch ein w arnendes Vae N eutris! gestellt.
Es bezieht sich natürlich nicht auf to lerierte K leinkriege oder Konflikte
von perip h erer Bedeutung — „dog-fights“ nim m t der E ngländer ausdrück­
lich aus — wohl aber auf die eigentliche, große A useinandersetzung. D aß
der Aufsatz die inzwischen längst gescheiterten Sanktionsversuche des
Genfer V ölkerbundes gegen Italien behandelt, macht diesen Teil seiner
Ausführungen nicht etw a zu einer überholten Angelegenheit. D ie tiefer
liegende F rage ist noch ungelöst, und jede neue K risis verschärft sie nur.
Es handelt sich nämlich um das Problem des gerechten K rieges im Sinne
der Beseitigung des bisherigen, nichtdiskrim inierenden völkerrechtlichen
Kriegsbegriffes. Das N eutralitätsrecht ist von jedem W andel des Kriegs-
252 Das neue Yae Neutris I

begriffes abhängig und der sicherste P rüfstein fü r eine grundsätzliche


Änderung. Bisher w ar die E igenart und die juristische S tru k tu r der
völkerrechtlichen N eutralität durch die Pflicht zu strengster Unparteilich­
keit, d. h. insbesondere zu einer N ichtparteinahm e zugunsten des Rechts
oder Unrechts eines der K riegführenden gekennzeichnet. Die kritischen
Ereignisse der letzten Jahre haben das Problem bereits zu der Frage zu­
gespitzt, wiew eit es überhaupt noch eine völkerrechtliche N eu tralität geben
kann, so daß sich hier, entsprediend dem begrifflichen Dilemma: Krieg
oder Nichtkrieg? die andere dam it zusam m enhängende, ebenso strikte
A lternative: N eutralität oder N ichtneutralität? erhebt und ih r gegenüber
alle Versuche einer verm ittelnden oder differenzierenden Abstufung und
Anpassung als bloß tolerierte Zwischenbildungen erscheinen. Die Lage
der einzelnen Staaten ist hier begreiflicherw eise sehr verschieden. Insofern
gibt es viele „Differenzierungen“. D aß aber im ganzen eine echte A lter­
native mit Zw angscharakter vorliegt, läßt sich an der H altung der Ver­
einigten Staaten von A m erika erkennen, in der seit dem Beginn des W elt­
krieges zwei extrem e gegensätzliche Auffassungen zutage treten: auf der
einen Seite eine überaus streng, geradezu rigoros aufgefaßte N eutralität
im Sinne des überlieferten, nichtdiskrim inierenden Kriegsbegriffs, mit
einer Unparteilichkeit, die jede Stellungnahm e zugunsten oder ungunsten
des Rechts einer kriegführenden P artei als eine Pflichtverletzung, ja
geradezu als eine völkerrechtliche Sünde ansieht, also eine, wenn ich so
sagen darf, fast den Atem anhaltende Passivität gegenüber jedem Konflikt
d ritte r Staaten; und auf der anderen Seite der extrem entgegengesetzte
Anspruch, im Namen der Menschheit, der D em okratie und des Völker­
rechts als Schiedsrichter über Recht und Unrecht des Krieges aufzutreten
und die Entscheidung an sich zu reißen. Jeder, der sich der H altung des
Präsidenten Wilson in der Zeit von 1914 bis 1919 erin n ert und insbesondere
seine E rklärungen vom 19. A ugust 1914 m it der vom 2. A pril 1917 ver­
gleicht, w ird die symptomatische Bedeutung dieses Übergangs von dem
einen zum andern Extrem ohne w eiteres verstehen.
Ich sehe in dem Zw angscharakter eines solchen Dilem mas ein sicheres
Anzeichen dafür, daß der Begriff der N eutralität zusammen mit dem Begriff
des Krieges in ein völlig neues Entwicklungsstadium eingetreten ist, mit
der Folge, daß er sich nicht teilen oder aufspalten läßt, obwohl die Völker­
bundssatzung, insbesondere mit ih re r Regelung des A rt. 16, gerade durch
solche H albierungen der harten Entscheidung zu entgehen sucht. Aber das
W esen der N eutralität ist U nparteilichkeit. Diese kann nuanciert und
in mancher Hinsicht vielleicht auch differenziert, sie kann aber nicht in
eine militärische, eine wirtschaftlich-finanzielle und eine juristische und
moralische Seite halbiert, gedrittelt oder geviertelt werden. D er Satz Ham-
m arskjölds: „on est neutre, ou on ne Test pas“ bleibt im wesentlichen
immer richtig. Ein d ritte r Staat, der einer kriegführenden P artei mit dem
Anspruch einer völkerrechtlich beachtlichen Stellungnahm e im eigentlichen
Sinne des W ortes „Recht“ gibt, ist nicht m ehr neutral, gleichgültig, welche
Das neue Vae Neutris! 253

praktischen Folgerungen er aus jen e r Stellungnahm e zieht. Folgert er


unter Berufung auf A rt. 16 oder m it irgendeiner anderen Begründung
daraus ein Recht, sich an juristischen und moralisch-propagandistischen
D iskrim inierungen oder wirtschaftlichen und finanziellen Zwangsmaß­
nahmen zu beteiligen, so kann er nicht daran festhalten, daß er „im
übrigen“ neutral sei. Das ist die wichtige und folgenreiche E rkenntnis,
deren E rnst in den oben zitierten Sätzen von Sir John Fisher W illiams
mit w arnender Eindringlichkeit zutage tritt.
Diese U nteilbarkeit des N eutralitätsbegriffs scheint m ir auch durch den
in der Zeitschrift „V ölkerbund und Völkerrecht“ (11524) veröffentlichten Auf­
satz von Prof. Dr. Dietrich Schindler „Die schweizerische N eu tralität und die
Sanktionen“ bestätigt zu werden, obwohl seine Bew eisgründe gerade auf die
V ereinbarkeit von N eu tralität und Sanktionsverpflichtungen gerichtet sind.
Es kommt hier nicht darauf an, den außerordentlich interessanten Aufsatz
des ausgezeichneten Schweizer V ölkerrechtslehrers zu w iderlegen; seine
Argum entation soll hier nu r dazu dienen, die grundsätzliche Frage, wie sie
sich in der heutigen Gesam tentw icklung präzisiert, deutlich herauszustellen.
Der Aufsatz unterscheidet zwischen m ilitärischer N eu tralität und w irtschaft­
licher U nparteilichkeit. Die letzte soll nicht zur völkerrechtlichen N eutralität
gehören. H ierfü r w ird geltend gemacht, daß das V. H aager Abkommen vom
18. O ktober 1907 die N eutralität als ein wesentlich m ilitärisches V erhältnis
behandelt, w ährend die wirtschaftlichen N eutralitätsbestim m ungen von
der Betätigung p riv a ter Personen sprechen. Das trifft zu. N ur h at sich das
Verhältnis von Staat und W irtschaft seit 1907 aber außerordentlich ver­
ändert und dazu geführt, daß diejenigen Staaten, deren Verfassung H andel
und Industrie grundsätzlich der priv aten F reiheitssphäre zuweist, durch
landesgesetzliche N eutralitäts- oder Nichteinmischungsgesetze die A uf­
spaltung ih re r wirtschaftlichen U nparteilichkeit in eine staatliche und eine
private Sphäre w ieder schließen müssen, w enn sie w irklich als Staaten, d. h.
als politische E inheiten neu tral bleiben und sich nicht einmischen wollen.
Die „differentielle“ N eutralität, für die sich Schindler einsetzt, soll eben
doch eine Parteinahm e im Sinne der rechtlichen D iskrim inierung e r­
möglichen. Sie ist daher nicht m ehr N eutralität. D abei sei ausdrücklich
anerkannt, daß die N eu tralität der Schweiz als ein Sonderproblem respek­
tiert w erden muß. A bgelehnt w ird hier nu r der verallgem einernde Ge­
dankengang, der das Sonderproblem der schweizerischen N eutralität im
V ölkerbund in das W eltproblem der N eutralität aufzulösen versucht. O hne
daß hier ein U rteil über schweizerische A ngelegenheiten gefällt w erden
soll, die n u r ein Schweizer aus seiner existentiellen V erbundenheit heraus
beurteilen kann, darf für die E rörterung der allgemeinen, neuen N eutrali­
tät doch vielleicht gesagt w erden, daß die „situation unique“ der Schweiz
nicht in das allgem eine W eltproblem hineingezogen w erden kann und daß
der „V orbehalt der N e u tra litä t“, u n ter dem die Schweiz in den G enfer
V ölkerbund eingetreten ist, ein existentieller V orbehalt und nicht etw a
eine Bindung an den Inhalt des N eutralitätsbegriffs des 19. Jahrhunderts ist.
254 Das neue Yae Neutris I

D er Aufsatz von Sir John Fisher W illiams dagegen sieht die F rage in
der umfassenden Perspektive eines W eltreiches. E r hat, über periphere
Sonderfälle und ephem ere Zwischenbestimmungen hinweg, den großen
Ernstfall im Auge, der die Frage einer neuen W eltordnung zur Entscheidung
stellt. E r spricht nicht vom totalen Kriege, obwohl er in der Sache deutlich
genug ist. Das an Umfang w adisende Schrifttum über den totalen Krieg
behandelt und betont zum großen Teil Erfahrungstatsachen, deren zwangs­
läufige W irklichkeit heute niem and m ehr verkennt und mit denen alle
wirklichen Großmächte längst rechnen, w enn sie auch gleichzeitig neue
Zwischenbestimmungen zur Verm eidung des totalen E rnstfalles oder neue
Methoden der Verschleierung in ihre Berechnung einbeziehen und es im
übrigen für richtiger halten, von der T otalität nicht zuviel Lärmens zu
machen und die moralischen R eserven nicht vor dem w irklichen Ernstfall
zu mobilisieren. Infolgedessen w ird bei der E rörterung dieses großen neuen
Problem s vielfach übersehen, daß die G erechtigkeit das erste und wichtigste
E rfordernis der T otalität jed e r A useinandersetzung ist. O hne Gerechtig­
keit ist jed e r Totalitätsanspruch hohl, ebenso wie um gekehrt ohne den Mut
und die K raft zur T otalität der gerechte K rieg n u r eine leere Phrase ist.
D aher ist auch die V orbereitung des gerechten Krieges ein wesentlicher
B estandteil der gewaltigen, alle G ebiete des menschlichen Lebens erfassen­
den Arbeit, die für die weltpolitische G egenw artslage kennzeichnend ist.
Es handelt sich also um den gerechten Krieg. Von der Möglichkeit eines
heiligen Krieges wollen w ir hier absehen, weil die europäischen Nationen
der heutigen agnozistisch-positivistischen Geistesverfassung einen heiligen
Krieg wohl m ehr als eine m ittelalterliche A ngelegenheit empfinden, wenn
sie auch — wie die Erfahrungen des W eltkrieges gegen Deutschland lehren
— auf die propagandistische M obilisierung der moralischen Reserven, die
n u r durch einen „Kreuzzug“ erfaßt w erden, wahrscheinlich nicht verzichten
mögen. Die Gerechtigkeit des Krieges aber w ird durch bestim m te völker­
rechtliche Verfahrensw eisen organisiert und „positiviert*“, die zw ar von
allgem einer A nerkennung noch w eit entfernt sind, ihre politische Bedeutung
aber doch unter diesem Gesichtspunkt erhalten. A lle Bem ühungen der
Nachkriegszeit um eine einleuchtende Definition des Angreifers, um die
Institutionalisierung des G enfer V ölkerbundes, um die sichere Bestimmung
des Friedensbrechers, haben ihren politischen Sinn darin, brauchbare K ri­
terien des gerechten Krieges zu finden. G egenüber dem völkerrechtlich
gerechten Kriege gibt es dann keine N eutralität m ehr. D er Aufsatz von Sir
John F isher W illiams hat diesen K ernpunkt richtig erkannt. Es kommt ihm
dabei nicht auf juristische Begriffe und Präzisierungen an; ob der Genfer
V ölkerbund ein Staatenbund oder ein Bundesstaat, eine Gemeinschaft oder
eine Gesellschaft ist, ob man die Satzung als V ertrag oder als Verfassung
ansehen soll, ist ihm uninteressant. Es kom mt ihm auch nicht darauf an,
daß sich jed er M itgliedstaat aktiv an den Sanktionsm aßnahm en beteiligt;
ausschlaggebend ist nur, daß das R e c h t derjenigen Staaten, die im Rahmen
der K ollektivaktion aktiv werden, auch von den nichtaktiven Staaten an-
Völker rechtliche Neutralität und völkische Totalität 255

erkannt w ird. N ennt m an dann die dieses System anerkennenden, aber


nicht oder nicht ganz aktiven Staaten „n eu tral“, so ist das offensichtlich ein
anderer Begriff von N eu tralität als derjenige, zu dessen W esen es gehört,
sich der völkerrechtlichen Stellungnahm e über Recht und Unrecht einer
kriegführenden P a rte i zu enthalten. Das ist das um wälzende, das A ntlitz
des Völkerrechts verändernde Ergebnis, zu dem sich der englische Jurist
in den oben zitierten eindrucksvollen Schlußsätzen seines Aufsatzes feier­
lich bekennt.

32. Völkerrechtliche Neutralität und völkische Totalität


(1 9 3 8 )
In seiner G enueser Rede vom 14. Mai 1938 h at der Duce die west­
lichen D em okratien vor einer „guerra di do ttrin a“ gew arnt. Die große
K am pfparole eines solchen Krieges der Ideologien lautet bekanntlich:
„Krieg der D em okratien gegen die to talitären Staaten.“ Es ist nicht der
Zweck der folgenden A usführungen, das viel m ißbrauchte Schlagwort von
der „T otalität“ noch einm al zu behandeln und die oft undurchdringliche
V erw irrung zu klären, die einen großen Teil der A useinandersetzung be­
herrscht. N u r um den G rad dieser V erw irrung anzudeuten, sei mit einem
W ort d aran erinnert, daß einer der interessantesten Publizisten der poli­
tischen Theorien, H einz O. Ziegler, im Jahre 1932 eine auch heute noch
lesenswerte Schrift „A uto ritärer oder totaler Staat?“ veröffentlicht hat,
die damals gerade bei L iberaldem okraten großen A nklang fand und den
Nachweis führte, daß die D em okratie notwendig zum totalen Staate gehört
und nur ein a u to ritä re r Staat im stande ist, der unaufhaltsam en dem okra­
tischen Tendenz zu dieser T otalität entgegenzutreten.
So schwierig aber eine V erständigung in diesem Fragenbereich auch
sein mag, ein P u n k t bedarf jedenfalls rascher K lärung, dam it ein besonders
unheilvolles M ißverständnis ferngehalten w ird. Das ist die D eutung, die
den verschiedenen, in allen L ändern festzustellenden T otalitätsbestrebun­
gen der G egenw art m it Bezug auf die F rage der völkerrechtlichen N eu trali­
tät gegeben w ird. Ein Schweizer Völkerrechts ju rist von hohem Rang und
großem Ansehen, Professor D r. D ietrich Schindler in Zürich, hat sich zu
dieser F rage in m ehreren Aufsätzen, zuletzt in der Zeitschrift „Völkerbund
und V ölkerrecht“ (IV. Jahrgang 1938, S. 689 „Die W iederherstellung der
umfassenden N eu tralität der Schweiz“) geäußert. Seine Auffassung steht
zu m einen Ansichten in offenem Gegensatz. A ber seine H altung und A rgu­
m entation ist so sehr von wissenschaftlicher Sachlichkeit bestimmt, daß an
diesem P u n k t eine K larstellung grundsätzlicher A rt nicht aussichtslos e r­
scheint und der Versuch gemacht w erden muß, durch die Beseitigung eines
besonders typischen und besonders schädlichen M ißverständnisses der Sache
256 Völkerrechtliche Neutralität und völkische Totalität

des europäischen Friedens zu dienen, soweit das in dem bescheidenen


Rahm en einer völkerrechtswissenschaftlichen E rörteru n g möglich ist.
Professor Schindler geht offenbar davon aus, daß die T otalität eines
staatlich organisierten Volkes die völkerrechtliche N e u tralität überhaupt
gefährdet oder sogar unmöglich macht. Die G efahr, die der völkerrecht­
lichen N eutralität überhaupt heute droht, scheint er in den Totalitäts­
vorstellungen zu erblicken. Das ist eine w eitverbreitete Auffassung. Ihre
große V erbreitung b eruht wohl auf der etw as summ arischen Vorstellung,
daß die T otalität des einen Volkes sozusagen alle anderen V ölker und
Staaten verschlinge, indem sie die anderen zu einer unbedingten und totalen
A nerkennung der eigenen Ansprüche zwinge. D adurch entstände aller­
dings beim Konflikt eines totalen Staates mit einem anderen Staat für un­
beteiligte dritte Staaten eine A lternative, die für diese S taaten die völker­
rechtliche N eu tralität ebenso ausschließt, wie sie bei dem in Konflikt stehen­
den totalen Staat den Respekt vor der N e u tralität D ritte r unmöglich macht.
A ber diese D eutung und A uffassung des T otalitätsanspruchs verkennt
gerade das W esen der völkischen T otalität, das in der Besinnung eines
Volkes auf sich selbst und auf das Ganze seiner eigenen politischen Exi­
stenz besteht.
U nter dem Schlagwort von der T o talität des Staates oder eines Volkes
k ann mancherlei verstanden w erden: verschiedene A rten einer Ein­
schränkung oder W andlung der aus dem 19. Ja h rh u n d e rt überkom m enen
individualistischen G ew ohnheiten und Freiheitsrechte; manche im G runde
n u r relativen Ä nderungen des Spielraum s, den fre ier H andel, freie W irt­
schaft, freie K onkurrenz der M einungen und der Presse in der V orkriegs­
zeit eingenommen haben; Z entralisierungen aller A rt; A usdehnung und
Steigerung der Macht der Exekutive gegenüber der Legislative; Beseitigung
frü h e rer T rennungen und Teilungen von E xekutive und Legislative usw.
Im V erhältnis zum M anchester-Liberalism us ist der New D eal des Präsi­
denten Roosevelt bereits finsterer „T otalitarianism us“. Im ganzen w ird
m an sagen, daß es ebenso viele A rten der T o talität gibt wie V ölker in
verschiedenen Situationen und daß jed e staatliche O rganisation im Notfall
ihre eigene A rt von T otalität schafft und ihre R eserven m obilisiert. Ein
ausgezeichneter Aufsatz eines jungen griechischen Rechtsgelehrten, Dr.
Georg D askalakis (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1938, S. 194),
h at treffend d arauf hingewiesen, daß der totale Staat keine eigene Staats­
form, sondern n u r ein Moment im Staatsleben ist, d. h. „ein durch eine in
einer bestim m ten Richtung erfolgende A nspannung gekennzeichneter
Augenblick in jedem S taatstyp“. Potentiell ist also jedes Staatsw esen total
und geht in bestim m ten gefährlichen Situationen durch die T otalität hin­
durch. So verschieden aber auch die un ter dem Schlag w ort der „T otalität“
zusam m engefaßten Entwicklungserscheinungen sein mögen, eines w ird bei
etw as gründlicher Betrachtung doch schnell erkennbar, daß nämlich die
T otalität eines Volkes oder eines völkischen Staates vor allem eine auf
ihn selbst bezogene Angelegenheit ist. Je m ehr sich ein Volk ganz auf sich
Völkerrechtliche Neutralität und völkische Totalität 257

selbst besinnt, erk en n t es m it seiner E igenart auch seine Grenzen, erwacht


sein R espekt vor der E igenart und den G renzen anderer V ölker und ent­
steht erst die sichere G rundlage für das Verständnis der völkerrechtlichen
N eutralität eines Volkes in den Konflikten d ritte r Völker. Eine Bedrohung
oder G efahr fü r die völkerrechtliche N eu tralität entsteht nicht aus der
in sich geschlossenen G anzheit eines einzelnen Staates, sondern im Gegen­
teil aus einem überstaatlichen und übervölkischen Anspruch, der im Namen
einer universalen oder sonstwie übervölkischen K ollektivität das Recht
oder Unrecht eines Volkes m it rechtlicher A utorität von sich aus be­
stimmen will.
Die E rfahrungen der Schweiz im G enfer V ölkerbund haben diese A rt
von G efährdung der völkerrechtlichen N eutralität in aller Schärfe heraus­
gestellt und fü r alle Staaten, denen die völkerrechtliche N eu tralität lebens­
wichtig ist, zum Bew ußtsein gebracht. Vor allem hat die Stellungnahm e
der Schweiz bewiesen, daß es nicht möglich ist, von dem rechtlichen W esens­
kern der völkerrechtlichen N eu tralität abzugehen, und daß unbedingte U n­
parteilichkeit, d.h. N ichtparteinahm e im Sinne der rechtlichen Nichtdiskrim i­
nierung, der entscheidende P u n k t ist. Das haben alle bedeutenden Völker-
rechtsjuristen selbstverständlich imm er gew ußt und auch oft genug aus­
gesprochen. A ber zahlreiche, ebenso scharfsinnige wie kom plizierte Kom­
promißform eln der G enfer V ölkerbunds jurisprudenz konnten diese einfache
W ahrheit eine Zeitlang verdunkeln. H eute ist wohl kein Zweifel m ehr
daran möglich, daß die strenge N ichtdiskrim inierung die G rundlage ist, m it
der alle w eiteren Rechte und Pflichten der N eutralen und das ganze Rechts­
institut der völkerrechtlichen N eu tralität stehen und fallen. Die Pflicht des
N eutralen, sich m ilitärischer Einmischungen zu enthalten, erh ält ihren Sinn
und In halt n u r aus je n e r Pflicht zur N ichtdiskrim inierung. Ebenso um ­
gekehrt: w enn ein Staat sich einem V erfahren anschließt, dessen Sinn und
Inhalt darin besteht, w ährend eines kriegerischen Konfliktes die eine P artei
zugunsten der anderen rechtlich und moralisch zu disqualifizieren, so hat er
damit bereits seine Pflicht zur N eu tralität verletzt, gleichgültig, welche
w eiteren Folgerungen er aus seiner Beteiligung an jenem V erfahren zieht,
ob er bei der rechtlichen oder moralischen Disqualifizierung stehen bleibt,
oder ob er sich zu w eiteren praktischen Schlußfolgerungen aus dieser D is­
qualifizierung, zu wirtschaftlichen und finanziellen Zwangsmaßnahmen und
schließlich zu m ilitärischen A ktionen entschließt oder nicht. Die Pflicht
zur N ichtparteinahm e k ann rechtlich nichts anderes bedeuten als die Pflicht,
von allen d erartigen M ethoden einer rechtlichen und moralischen D is­
krim inierung fernzubleiben.
Auf dieser praktischen und konkreten Erkenntnis, nicht auf theo­
retischen B egriffsüberspitzungen oder abstrakten Prinzipien, b eru h t die
Richtigkeit des Satzes, daß m an n u r n eu tral oder nicht neu tral sein kann,
und daß es keine halbierte oder p arzellierte N eutralität gibt. Selbstver­
ständlich kann die Verschiedenheit der politischen Lage den neutralen
Staat zu vielen D ifferenzierungen und N uancierungen zwingen und besteht

17 1682
258 Völkerrechtliche Neutralität und völkische Totalität

ein gewisser Spielraum seines praktisch-politischen Ermessens. D ie E r­


fahrungen des W eltkrieges 1914—18 haben gezeigt, in welche schwierige
und gefährliche Lage die kleineren neutralen Staaten hineingeraten können,
wenn sie wirklich neutral bleiben wollen. Zum Glück gab es dam als noch
keinen Genfer Völkerbund, der sie auf dem Wege über Sanktionen in den
Konflikt hineingezogen hätte. D er völkerrechtliche K ernpunkt bleibt trotz
allen Spielraum s und trotz aller Anpassungen an eine schwierige Lage
stets die einfache A lternative von N e u tra litä t oder N ichtneutralität. Das
w ird gelten, solange es überhaupt eine Völkerrecht liehe N eu tralität gibt.
Alle T rübungen und Verschleierungen dieser einfachen, rechtlichen W ahr­
heit enthalten die eigentliche G efahr sowohl fü r das R echtsinstitut der
N eutralität wie für die politische Existenz des zur N eu tralität ent­
schlossenen Staates.
Bei den auf Art. 16 der G enfer V ölkerbundssatzung sich stützenden ge­
meinsamen Aktionen w ird der „Satzungsbrecher“ ausdrücklich im völker­
rechtlichen Sinne ins Unrecht gesetzt. Das ist das Prim äre. Dem gegenüber
ist es eine völkerrechtliche F rage von abgeleiteter Bedeutung, ob sich der
in soldier Weise diskrim inierende M itgliedsstaat zu m ilitärischen Aktionen
gegen den Satzungsbrecher entschließt, oder n u r zu wirtschaftlichen und
finanziellen Maßnahmen, oder ob er sich m it der red it]ichen Disqualifi­
zierung und D iskrim inierung begnügt. D arin zeigt sich, daß es die universa-
listisdien A nsprüdie und die kollektiven M ethoden des G enfer V ölker­
bundes sind, die die völkerrechtliche N eu tralität zerstören. Es ist bekannt,
daß die U nvereinbarkeit von G enfer V ölkerbundsatzung und N eutralität
gerade von pazifistischer und völkerbundfreundlicher Seite öfters aus­
gesprochen w orden ist, wenn sie dann auch in der politisch-praktischen
W irklichkeit mit manchen Kompromissen v erhüllt w urde. Um so wichtiger
ist deshalb die im letzten halben Ja h r eingetretene Entwicklung der
Schweizer N eutralität geworden. Es liegt in der N atu r einer Rechtseinrich­
tung wie der N eutralität, daß ih r K ern, nämlich das einfache Dilemma:
N eutralität oder N ichtneutralität? in demselben Maße stä rk e r und ein­
deutiger hervortritt, wie der E rnst der Lage sich steigert. Ebenso zeigt sich
um gekehrt, daß Genfer V ölkerbund und N eu tralität um so w eniger verein­
b ar sind, je m ehr dieser Bund sich ak tiv iert und seinen A rtikel 16 zu
„effektivieren“ sucht. D ieser Logik und Folgerichtigkeit w ird man auf die
D auer nicht ausweichen können, weil sie im W esen der völkerrechtlichen
Institution liegt. Kein europäischer Staat, dessen Lebensinteresse in der
Möglichkeit, neutral zu bleiben, besteht, hat ein Interesse daran, vor diesem
Dilemma zu tergiv.ersieren.
Das Problem der T otalität hat sich in irgendeiner Form heute für jeden
Staat erhoben. Die neuen großen Planungen, Staatsverteidigungsgesetze,
Grenzsicherungsgesetze usw. sprechen in dieser Hinsicht deutlicher als
propagandistische Schlagworte. Daß ein ernsthafter Krieg zwischen
m odernen Großmächten zur totalen Mobilmachung zwingt, w ird wohl nie­
mand m ehr leugnen. Man sollte daher lieber, statt den G espensterkam pf
Völkerrechtliche Neutralität und völkische Totalität 259

der Schlagworte und der Ideologien zu führen, die Tatsachen im Auge


behalten, die den Form eln vom totalen Staat ihre Ü berzeugungskraft ver­
schafft haben. N ur um diese Tatsachen handelt es sich. N ur sie können in
einem wirklichen, unm ittelbaren Gespräch zwischen europäischen Völkern
sachlich erö rtert werden, w ährend der ideologisch-propagandistische Kampf,
die guerra di dottrina, sofort in die Frage hineingleitet, wen die Schuld
an dieser Entwicklung zur Totalität trifft oder w er mit ih r angefangen hat.
Aber eine sachlich offene und direkte M ethode der E rörterung w ider­
spricht den M ethoden und V erfahrensw eisen, die zum W esen des G enfer
Völkerbundes gehören. Die G enfer Einrichtung kann man sogar als ein
geradezu typisches Beispiel dessen bezeichnen, was mit einem viel um ­
käm pften Begriff eine „potestas indirecta“, eine indirekte G ew alt ge­
nannt wird.
Es ist bekannt, daß der Anspruch und die Lehre der „potestas indirecta“
in dieser Form ulierung von der römisch-katholischen Kirche seit der Gegen­
reform ation juristisch und politisch entwickelt worden ist. D ieser eigen­
artige Begriff, durch Bellarm in theologisch und juristisch herausgearbeitet,
diente dem universalistischen H errschaftsanspruch der römischen Kirche
gegenüber den dam als entstehenden souveränen Staaten. E r beginnt seine
W irkung in der zw eiten H älfte des 16. Jahrhunderts und gehört nicht nu r
zeitlich, sondern auch situationsm äßig in die Epoche der beginnenden Kon-
fessions-, Parteien- und B ürgerkriege, die erst 1648 endete. Das Jahr 1550
wird von manchen französischen Publizisten in dieser Hinsicht m it unserer
heutigen G egenw art in eine P arallele gesetzt. D er Jah rh u n d erte alte Streit
um die „indirekte G ew alt“ hat natürlich die gegenüberstehenden geistigen
und politischen F ronten nicht etw a gegenseitig überzeugt, aber doch wohl
eines sichtbar gemacht: daß die Ansprüche und M ethoden dieser A rt In­
direktheit die K riege nicht etw a verhindern, sondern nu r verschärfen, weil
sie eine echte N eu tralität unmöglich machen und die Kriege geschlossener
Staaten und staatlich organisierter Völker in internationale Konfessions-,
Parteien- und B ürgerkriege verw andeln. Es w äre gut, auch völkerrecht­
lich auf die E igenart und die W irkungsw eise der indirekten M ethoden zu
achten. U nter den vielen geschichtlichen Parallelen, die heute, wie in jedem
Zeitalter tiefgreifender V eränderungen, von allen Seiten auftauchen, scheint
mir diese, richtig angew andt, besonders aufschlußreich zu sein und echte
Erkenntnisse der heutigen W irklichkeit zu verm itteln.
D er indirekten G ew alt ist es wesentlich, daß sie, ohne selbst K rieg zu
führen, auf G rund einer übervölkischen, moralischen oder rechtlichen
A utorität die Entscheidung über die rechtliche und moralische Zulässigkeit
oder U nzulässigkeit staatlicher und völkischer A useinandersetzungen an
sich zieht und dadurch den C h a ra k te r zwischenstaatlicher und zwischen­
völkischer A useinandersetzungen verändert. Moralische und rechtliche D is­
krim inierungen und D isqualifizierungen, Ächtungen und Exkom m uni­
kationen oder, m oderner gesprochen, m oralischer, sozialer und w irtschaft­
licher B oykott sind typische M ethoden der „indirekten“ Gew alt. D er nicht-

17*
260 Völkerrechtliche Neutralität und völkische Totalität

diskrim inierende Staatenkrieg verw andelt sich dadurch in einen inter­


nationalen B ürgerkrieg und erreicht dam it eine A rt T otalität, die furcht­
b arer und vernichtender ist als alles, was eine oberflächliche Propaganda
der völkischen Totalität vorzuw erfen hat.
Vor dreihundert Jahren ist ein großer englischer Philosoph, ein Vor­
käm pfer und L ehrer des Kampfes gegen die „potestas indirecta“, Thomas
Hobbes, den juristischen K onstruktionen dieser Lehre und ihren M ethoden
der Ächtung und moralischen D isqualifizierung eutgegengetreten. E r hat
dam it eine H auptquelle der steigenden E rb itteru n g und Internationali­
sierung des innen- und außenpolitischen Kampfes richtig erkannt. Mit
Bezug auf die rechtliche und moralische D isqualifizierung ganzer Völker
stellt er die Frage: „Welche W irkung kann die D isqualifizierung undÄchtung
eines ganzen Volkes haben?“ Und er antw ortet: „W hen a Pope excommuni­
cates a whole Nation, m ethinks he ra th e r excom m unicates himself, than
them .“ W enn das für den Papst und die römische Kirche gilt, dann w ird
es wohl auch fü r den G enfer V ölkerbund zutreffen und über dessen
Methoden, eine zwischenstaatliche A useinandersetzung im W ege des Art. 16
durch D iskrim inierung eines beteiligten Staates auf n eu trale d ritte Staaten
auszudehnen, das richtige U rteil sprechen.
33· Über die zwei großen „Dualismen“
des heutigen Rechtssystems (1939)
Wie verhält sich die Unterscheidung von Völkerrecht und staatlichem Recht
zu der innerstaatlichen Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht?
B e i t r a g z u r F e s t s c h r i f t f ü r G e o r g i o s S t r e i t (Athen)
D er M eister, zu dessen Festschrift dieser kleine B eitrag bestim m t ist,
hat in einem A ufsatz der Festgabe zum 60. G eburtstag von F ritz F leiner
(1927, S. 318—351) die F rage nach der rechtlichen N a tu r des sog. in te r­
nationalen Privatrechts behandelt. E r kom m t dabei zu dem Ergebnis, daß
das ganze G ebiet der sogenannten Kollisions- oder A bgrenzungsnorm en
zum öffentlichen Recht gehört. D abei h at er die Frage, ob diese Kollisions­
normen des internationalen P rivatrechts öffentlich- oder privatrechtlicher
N atur sind, von der anderen Frage, ob sie zum Völkerrecht oder zum in n er­
staatlichen Recht gehören, scharf getrennt und m it großer K larheit die
A lternative auf gestellt: E ntw eder gilt die U nterscheidung von öffentlichem
und privatem Recht fü r das ganze Rechtssystem, dann k ann das V ölker­
recht jedenfalls nicht P rivatrecht sein, und die Norm en des internationalen
Privatrechts sind, w ofern m an sie m it Zitelm ann dem V ölkerrecht zurechnet,
jedenfalls nicht P rivatrecht; oder aber die Unterscheidung von öffentlichem
und privatem Recht gilt n u r fü r das interne staatliche Recht, dann entfällt
für die Zitelmannsche A uffassung überh au p t jede Frage. O b das in te r­
nationale Privatrecht zum öffentlichen oder zum priv aten Recht gehört, ist
also n u r so lange eine sinnvolle Frage, als die Kollisionsnorm en zum
internen staatlichen Recht gehören.
Die Frage: Ist das Internationale P rivatrecht Völkerrecht oder internes
Recht? und die andere Frage: Ist es öffentliches oder privates Recht? haben
in der T at einen völlig verschiedenen Sinn. Vom heutigen Stand der Rechts­
lehre und der Rechtspraxis gesehen, ist die Fragestellung in jedem der
beiden F älle logisch ganz verschieden. D ie Unterscheidung von öffentlichem
und privatem Recht kann, w enn sie gilt, n u r für das innerstaatliche Recht
gelten. G ierkes bekannte Lehre, daß das gesamte Völkerrecht als ein
typisches „Koordinationsrecht4“ den C h a ra k te r von Privatrecht habe, ist
zunächst n u r ein Anw endungsfall seiner V orstellung vom Staat. Seinem
Denken m üßte das V ölkerrecht folgerichtig sogar als das eigentliche und
w ahre „Privatrecht“ erscheinen, weil es das eigentliche und w ahre Ko­
ordinationsrecht ist. D enn im V ölkerrecht stehen sich die Staaten als freie
und ungebundene Individualitäten gegenüber, w ährend sich die freien
Individuen innerhalb des innerstaatlichen Privatrechts n u r in einer durch »
262 Über die zwei großen „Dualismen“ des heutigen Rechtssystems

die staatliche Gesetzgebung geregelten, w enn ich so sagen darf, in einer


gesetzlich „geschienten“ Freiheit bewegen. O der, um es in der anschaulichen
Sprache des Thomas Hobbes, des w ahren system atischen B egründers dieser
Vorstellungswelt, aiiszudrücken: Im V ölkerrecht stehen sich „große“ Men­
schen, „magni homines“ oder μά κροι άν& ρω ποι in voller Souveränität gleich­
berechtigt gegenüber; im innerstaatlichen öffentlichen Recht steht ein
magnus homo als persona potentior vielen kleinen Menschen gegenüber;
im innerstaatlichen Privatrecht stehen, im Schatten, sub tutela, des großen
Menschen, kleine Menschen kleinen Menschen gleichberechtigt gegenüber.
Vernachlässigt man den Unterschied von groß und klein, und setzt man in
ab strak ter Weise Mensch gleich Mensch und Rechtsperson gleich Rechts­
person, so w ird es allerdings möglich, V ölkerrecht und P rivatrecht als
gleichen C harakters aufzufassen1.
Die heute herrschenden dualistischen A uffassungen beruhen aber gerade
darauf, daß die qualitative Verschiedenheit von Staat und Individuum,
vom großen und kleinen Menschen folgerichtig durchgeführt wird. Je
schärfer sich die Vorstellungen des Staates als einer räum lich und personal
in sich geschlossenen Größe ausbilden, um so entschiedener bleibt nur der
Staat als mögliches S ubjekt des zwischenstaatlichen Rechts übrig, um so
selbstverständlicher scheidet das p rivate Individuum aus dem Bereich des
Völkerrechts aus, und um so größer w ird gleichzeitig die K luft, die Völker­
recht und Landesrecht, genauer: zwischenstaatliches und innerstaatliches
Recht voneinander trennt. Die R echtsqualität und S tru k tu r des auf Ge­
w ohnheit oder V ertrag beruhenden zwischenstaatlichen Rechts w ird dann
von der R echtsqualität und S tru k tu r des auf einem staatlichen Gesetzes­
befehl beruhenden innerstaatlichen Rechts so fundam ental verschieden, daß
man hier in der T at die dualistische oder, mit G. A. W alz, die pluralistische
Fragestellung einnehm en und nach der Möglichkeit einer „Überbrückung“
fragen muß. Das Problem der Transform ation, Inkorporation, auctoritatis
interpositio, erhebt sich in aller Schärfe. Es hat seine w eltberühm te, klas­
sische A usprägung und D arlegung durch zwei deutsche Rechtsgelehrte,
Heinrich T riepel und G. A. W alz, gefunden. D abei scheint m ir schon die
N uancierung der T itel ih rer beiden W erke — T riepel 1899: Völkerrecht
und Landesrecht; W alz 1933: V ölkerrecht und staatliches Recht — die Ent­
wicklung zur immer strafferen Staatlichkeit anzudeuten. Je m ehr das inner­
staatliche R edit zum Gesetz, und zw ar zum staatlidien Gesetz w ird, und
je m ehr die juristische Bildung und D enkw eise sich am staatlichen Gesetz
und an staatlichen Gesetzeskodifikationen ausrichtet, um so problem atischer
und „unvollkom m ener“ w ird alles zw ischenstaatlidie Recht, um so schärfer
auch das Problem der „T ransform ation“ des Inhaltes einer zwischenstaat-
1 Gierke, Deutsches Genossensdiaftsrecht, 1868, I S. 843; zu der Lehre von Thomas
Hobbes vgl. Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes,
Hamburg, 1938, S. 72 ff. R. Höhn, Otto von Gierkes Staatslehre und unsere Zeit, Ham­
burg 1936, erwähnt unser Problem nidit; doch wäre es aufschlußreich, audi dieses
Problem einmal im Lichte der Thesen Hohns zu erörtern.
Uber die zwei großen „Dualismen“ des heutigen Rechtssystems 263

liehen Verpflichtung in die innerstaatliche Gesetzgebung. Ziteim anns Form u­


lierung der F rag e ist h ier sehr anschaulich und typisch: E r fragt: w ie kann
etwas als Norm gelten, w enn es nicht einem bestim m ten einzelnen Staat,
und zw ar seiner G esetzgebung angehört? Das scheint ihm so einleuchtend
und zwingend, daß er darau fh in das internationale P rivatrecht dem fü r
alle S taaten geltenden V ölkerrecht zuw eist; freilich einem Völkerrecht,
dessen „U nvollkom m enheit“ er selbst in seiner berühm ten Bonner R ekto­
ratsrede von 1919 geschildert hat, und zw ar auf G rund von A rgum enten,
die sofort erkennen lassen, daß für ihn eigentlich doch n u r das in n erstaat­
liche G esetzesrecht »vollkommenes“ Recht ist.
Dem heutigen gesetzesstaatlichen D enken ist es selbstverständlich, daß
alles i n n e r s t a a t l i c h e R edit auch s t a a t l i c h e s , d. h. vom Staat gesetztes
oder doch erm ächtigtes Recht ist. Ist dem so, dann hat die innerstaatliche
Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht m it der U n ter­
scheidung von V ölkerrecht und L andesredit nichts zu tun. F ü r eine von der
heutigen Lage ausgehende statisdie Betrachtung — und eine solche Be­
trachtungsw eise ist nicht n u r berechtigt, sondern muß auch den Ausgangs­
punkt der E rö rteru n g bilden — ist das in der T at unbestreitbar. Doch
glaube ich nicht, daß dam it schon alle reditsw issensdiaftliehen Seiten dieses
wichtigen Problem s ersdiöpft sind. D enn der A spekt än dert sich sofort,
wenn w ir von der statischen B etrachtung des heutigen status zu einer
dynamischen Betrachtung der Rechtsentwicklung übergehen. D ann zeigt
sich, daß der in der Trennung von V ölker red it und Landesrecht, zwisdien-
staatlidiem und internationalem Recht liegende D ualism us m it dem in der
T rennung von öffentlichem und privatem Recht liegenden D ualism us doch
in einem hödist interessanten gesdiiditlichen Zusamm enhang steht, der
theoretisch w ie praktisch von B edeutung w erden kann. D ie beiden U n ter­
scheidungen, deren V erhältnis hier interessiert, bew egen sich nämlich
offensichtlich um den gleichen begrifflichen A ngelpunkt und um eine ge­
meinsame Begriffsadise, nämlich den Begriff des Staates; sie haben außer­
dem einen gem einsam en Gegenbegriff, und zw ar den des Common Law
oder Gem einrechts, im Sinne eines nicht spezifisch staatlichen und nicht nach
öffentlich und P riv a t aufgeteilten, einheitlichen Rechts1. Rechtsgeschichtlich
w ird m an dah er fragen müssen, w iew eit — infolge dieses gemeinsamen,
beide D ualism en tragenden Staatsbegriffes — der D ualism us von zwischen­
staatlichem und innerstaatlichem Recht dem innerstaatlichen D ualism us
von öffentlichem und privatem Recht p a ra lle l verläuft, und ob gieser dop-
1 Die Bedeutung des Wortes „Common Law“ ist großen Verschiedenheiten und
Veränderungen unterworfen. Für den rechtswissensdiaftlichen Zweck der folgenden
Darlegung genügt die Herausstellung der beiden für unseren Zusammenhang wesent­
lichen Merkmale: Nicht-Staatlidikeit und Nicht-Aufgespaltenheit. Im übrigen ver­
weise ich auf meinen Aufsatz zum Deutschen Juristentag 1936 „Aufgabe und Not­
wendigkeit des deutsdien Rechtsstandes“ (Deutsdies Recht, Jahrgang 6, Mai 1936,
S. 181 ff.), sowie aus dem umfangreidien angelsädisisdien Schrifttum, auf die inter­
essanten und, wie mir scheint, richtigen Klarstellungen von W. P. M. Kennedy in
Some Aspects of the Theories and Workings of Constitutional Law, New York 1932,
S. 34 ff.
264 Über die zwei großen „Dualismen“ des heutigen Reditssystems

pelte Dualism us nicht durch gegenw ärtige Tendenzen der Rechtsentwick-


lung in Frage gestellt wird.
Edwin D, Dickinson hat in einem außerordentlich interessanten Aufsatz
„Changing Concepts and the D octrine of Incorporation“ (American Jour­
nal of International Law 1932, S. 239—260) — ein Aufsatz, der in der um­
fangreichen L iteratu r über das Problem „Völkerrecht und Landesrecht“
doch wohl nicht genügend beachtet ist — an der H and anschaulicher Präze­
denzfälle aus der englischen P raxis gezeigt, daß das V erhältnis von Völker­
recht und Landesrecht nu r aus den fundam entalen Rechtsvorstellungen der
Zeit begriffen w erden kann. Im 18. Jah rh u n d ert w urde das Völkerrecht,
auf G rund naturrechtlicher Vorstellungen des Common Law, ohne weiteres
als ein T e i l des Landesrechts angesehen, es w ar „a p a rt of the Law of
the Land“. Die Staatlichkeit des Rechts ist hier infolge der herrschenden
gemeinrechtlichen Vorstellungen noch nicht entscheidendes Begriffsmerk­
mal. Common Law und N aturrecht können ineinander übergehen. Hier
gibt es daher auch kein Transform ations- oder Einverleibungsproblem ;
auch das „Q uellen“problem ist ein wesentlich anderes, w eil kein staatliches
Rechtssetzungsmonopol besteht. Je straffer die staatliche Zentralisation und
die staatliche Gesetzgebungsmacht sich vollenden, um so nachdrücklicher
erhebt sich für die staatliche Justiz und V erw altung und für das darauf sich
aufbauende positivistische Rechtsdenken das Problem der „Q uelle“ im
Sinne des f o r m a l e n G e l t u n g s g r u n d e s . Jetzt w ird die „Umschal­
tung“ aus dem einen Rechtskreis in den anderen die K ernfrage. W orte und
Begriffe, wie Umschaltung, Transform ation, Inkorporation, Einverleibung,
auctoritatis interpositio und am prägnantesten die von G. A. Walz geprägte
Form ulierung „G eltungserstreckung“ zeigen, wie sehr hier alles ganz auf
die form ale Frage der „G eltung“ abgestellt ist. In der praktischen W irk­
lichkeit kann die auctoritatis interpositio des staatlichen Gesetzgebers eine
sehr verschieden große Bedeutung haben und oft nicht m ehr als einen
bloß konstruierten, ja fingierten Vorgang darstellen. Theoretisch und
form al aber ist sie immer „konstitutiv“.
D ie dualistische Begriffsbildung ist ganz staatlich-dezisionistisch. Sie
b eruht nämlich erstens auf der Vorstellung, daß alles Recht staatlicher W ille
ist, und hat zweitens nu r den Konflikts- und Kollisionsfall, d. h. den Fall
eines W iderspruchs zwischen völkerrechtlicher und landesrechtlicher Norm
im Auge. Ih re Fragestellung ist daher, im Gegensatz zu allem echten
Common-Law-Denken, nicht inhaltlich und nicht darauf gerichtet, ob das
Völkerrecht ein Teil des Landesrechts ist, sondern geht nu r auf den for­
m alen „G eltungsgrund“, ungenau auf die „Q uelle“. Es ist keine Frage, daß
dieses staatlich-dezisionistische D enken über das gemeinrechtliche Common-
Law -D enken gesiegt hat. Auch die angelsächsischen Gerichte haben sich
dem angepaßt und wenden völkerrechtliche Normen auf G rund einer m ehr
oder w eniger deutlichen landesrechtlichen „G eltungserstreckung“ an. Aber
der Sieg dieses spezifisch staatlich-dezisionistischen D enkens ist m ehr der
Sieg einer Fragestellung als der Sieg einer inhaltlichen A ntwort. Das liegt
Über die zwei großen „Dualismen“ des heutigen Rechtssystems 265

in der Logik des Dezisionismus selbst begründet1. Die A ntw ort ergibt sich
hier eigentlich automatisch aus der dualistischen Fragestellung von selbst,
weil diese eben ganz auf den staatlichen W illen und auf den Kollisionsfall
bezogen ist. D aß ein nationaler staatlicher Richter im Kollisionsfall das
nationale staatliche Recht anzuwenden hat, ist ganz selbstverständlich und
liegt in der staatlichen Stellung und der staatlichen G ebundenheit des
Richters als eines vom Staat beauftragten staatlichen A m tsträgers be­
gründet. Ein kirchlicher Richter w ürde im analogen F all nichtkirchliches
Recht ebenfalls auf G rund einer Geltungserstreckung des kirchlichen Rechts
anwenden. Ebenso selbstverständlich w ürde, wenn es wirklich einen Über­
oder zwischenstaatlichen internationalen Richter gäbe, für diesen im Kolli­
sionsfalle das internationale Recht Vorgehen. N ur ist das Übergewicht und
die Selbstverständlichkeit staatlichen Rechtsdenkens so groß, daß es einen
solchen nichtstaatlichen, übernationalen Richter heute nirgendwo gibt. Die
Richter der C our Perm anente de Justice Internationale im Haag sind heute
noch Staatsangehörige ihres H eim atstaates und diesem zur Treue und zum
Gehorsam verpflichtet. Soweit ihr internationales Amt ihnen in dieser H in­
sicht eine größere F reiheit gibt, b eruht das nu r auf einer Zumessung durch
ihren nationalen H eim atstaat. Solange sie englische, amerikanische, fra n ­
zösische, italienische Staatsangehörige bleiben, müssen sie sich in einem
ernsthaften Konflikt oder Kollisionsfall zwischen nationalem und internatio­
nalem Recht fü r das nationale staatliche Recht entscheiden. Sonst geraten sie
in einen Raum der Internationalität und Zwischenstaatlichkeit, dessen Luft
für ein isoliertes Individuum heute doch wohl noch zu k a lt und zu dünn
ist. Eine dezisionistisch auf das H andeln eines staatlich erm ächtigten und
staatlich gebundenen Richters im Kollisionsfall gerichtete Fragestellung
kann n u r nach dem form alen G eltungsgrund fragen und muß von selbst
bei der form alen Staatlichkeit und bei der alleinigen M aßgeblichkeit des
staatlichen Gesetzesbefehls landen.
Das staatlich-dezisionistische D enken hat im 19. Jahrhundert über das
Common-Law-Denken gesiegt. D er Sieg des sog. „Positivismus“ ist nur
der Sieg dieser D enkw eise12. Das Völkerrecht w ird dadurch staatlicher
Wille, der sich in typischer W eise durch einen als V ertrag oder G ew ohnheit
entscheidenden Konsens äußert. Das innerstaatliche Recht w ird ebenfalls
staatlicher W ille, der sich hier in typischer Weise durch ein staatliches
Gesetz äußert. M erkw ürdig ist dabei, daß es in beiden Hinsichten zu einem
Dualism us kommen konnte. Man sollte meinen, die unwiderstehliche Macht
des staatlichen W illens m üßte nach außen wie nach innen, völkerrechtlich
wie innerstaatlich, zu einer unbedingten Einheitlichkeit führen. Es hat auch
nicht an Versuchen gefehlt, nach beiden Seiten hin diesen Monismus zu
1 Weiteres bei Carl Schmitt, Über die drei Arten des reditswissenschaftlichen
Denkens, Hamburg 1934 (Darlegung der Verschiedenheit von normativistischem,
dezisionistischem und konkretem Ordnungsdenken); dazu jetzt G.A.Walz, Artgleich­
heit gegen Gleichartigkeit, die beiden Grundprobleme des Rechts. Hamburg 1938
(Schriften der Akademie für Deutsches Recht), S. 19.
2 Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, a. a. O. S. 29 ff.
266 Über die zwei großen „Dualismen44 des heutigen Reditssystems

konstruieren. H ierzu sei als neueres Beispiel für den ersten D ualism us das
Buch von Ludwig S c h e c h e r , Deutsches A ußenstaatsrecht, B erlin 1931,
für den zweiten Dualism us K e l s e n s bekannte norm ativistische Theorie
von der juristischen Gleichheit des öffentlichen und p riv a ten Rechts
erw ähnt. Das G eltungsdenken ist eben im m er form al und fü h rt infolge­
dessen logisch imm er zu form alen, die B esonderheiten der konkreten
O rdnungen mißachtenden Identitäten. D ie P rax is aber h a t u n b e irrt an
beiden Dualism en festgehalten. G erade in einem Land, das den Staats­
gedanken zuerst in aller Schärfe entw ickelt hat, in F rankreich, w urde auch
die innerstaatliche Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht am
schärfsten und folgerichtigsten herausgebildet, m it einer dualistischen Auf­
spaltung der innerstaatlichen G erichtsbarkeit in Zivilgerichte und V erw al­
tungsgerichte. Nicht in allen Staaten des 19. Ja h rh u n d e rts ist diese saubere
A ufteilung so folgerichtig zu Ende gebildet w orden, aber sie ist doch
meistens ebenfalls vorhanden.
Ebenso m erkw ürdig ist es, daß bei dieser A usbildung des innerstaat­
lichen Dualism us die Frage nach der R angordnung von öffentlichem und
privatem Recht in der Sache sonderbar zw iespältig b eantw ortet w ird. F o r­
mal ist auch hier die Entscheidung sehr einfach : G eltungsgrund und „Q uelle“
allen Privatrechts liegen im staatlichen V erfassungsrecht, also im öffent­
lichen Recht. Jus privatum sub tu te la ju ris publici. A ber fü r einen folge­
richtigen K onstitutionalism us steht doch gerade das V erfassungsrecht in der
Sache w iederum im Dienst von „F reiheit und E igentum “, und zw ar von
F reiheit und Eigentum des einzelnen Privaten. D er form ale G eltungsgrund
hat hier, ebensowenig wie im V ölkerrecht, die inhaltliche F rage nicht ent­
scheiden können. Was die form- und begriffsbildende K raft angeht, hinsicht­
lich der juristischen A usbildung und hinsichtlich der wissenschaftlichen
W ertschätzung, w ird dem P rivatrecht und seiner W issenschaft in W irklichkeit
meistens der höhere Rang zugeschrieben. Es bestim m t die S tru k tu r des
rechtswissenschaftlichen Denkens. G. A. W alz h at recht, w enn er sagt: „Vor
dem Forum des Privatrechts m ußte sich der Publizist juristisch legiti­
m ieren1.“ Den m eisten Fachjuristen erscheint das öffentliche Recht als eine
wechselnde, schnell veränderliche A ngelegenheit, w äh ren d sie das Privat-
recht in seinen G rundzügen und G rundbegriffen fü r „ew ig“ halten.
Dieses handgreifliche M ißverhältnis von form aler G eltungsüberlegen­
heit des öffentlichen und fachlicher Ü berlegenheit des p riv aten Rechts
bedarf einer E rklärung. D er H au p tgrund scheint m ir d arin zu liegen, daß
das Privatrecht, hinter der Fassade der form alstaatlichen G eltungskonstruk­
tionen und unter dem Dualism us von öffentlich und P rivat, in W irklichkeit
eben doch als ein gemeines Recht, als latentes Common Law im Sinne der
alten Nichtstaatlichkeit und Einheitlichkeit w eiterlebt. D as mag sich in den
verschiedenen Ländern, die den D ualism us von öffentlichem und privatem
Recht kennen, außerordentlich verschieden äußern, ist aber in irgendeiner
1 Artgleichheit gegen Gleichartigkeit, a. a. O S. 21.
Uber die zwei großen „Dualismen“ des heutigen Rechtssystems 267

Weise doch erk en n b ar vorhanden. In Deutschland z. B. w ar die A ufteilung


in öffentliches und privates Recht stets m it der Vorstellung verbunden, daß
das p riv ate R edit und die private G erichtsbarkeit etw as vom gemeinen
Recht und von der gemeinrechtlichen G erichtsbarkeit behalten hat und der
Dualism us von Öffentlich und P riv at nicht bis in die letzten W urzeln des
Rechts hineinging. Die Gerichte der privatrechtlichen zivilen G erichtsbar­
keit sind imm er in einem besonderen Sinne als „ordentliche“ Gerichte em p­
funden worden; diese Gerichte haben auch, trotz des § 13 des deutschen
Gerichtsverfassungsgesetzes, der ihre Zuständigkeit auf privatrechtliche
Streitigkeiten besdiränkt, imm er in weitem Maße auch über öffentlich-
reditliche A nsprüdie und S treitigkeiten entschieden und trotz der T rennung
von öffentlichem und privatem Recht den G edanken einer zugrunde liegen­
den, latent gemeinrechtlichen Rechtseinheit niem als völlig preisgegeben. Die
rechtsgeschichtliche und positiv-rechtliche A usführung dieser wichtigen Be­
hauptung muß idi m ir hier versagen. Ich erw ähne n u r ein anschauliches
Beispiel: wenn das Deutsche Reichsgericht bis auf den heutigen Tag an seiner
Zuständigkeit fü r die zweifellos öffentlich-rechtlichen sog. A ufopferungs­
ansprüche aus §§ 74, 75 der Einleitung zum Allgem einen Landrecht fest­
hält1, so tu t es dam it im G runde nichts anderes, als daß es die auf Common-
Law-Vorstellungen vom Eigentum beruhende P raxis des preußischen O b er­
tribunals w eiterführt. Es geht m it „historischen“ oder m it Rechtsschutz­
argum entationen über die Unterscheidung von öffentlichem und privatem
Redit hinweg. A ber auch in anderen Ländern, in denen diese Unterschei­
dung logisdi folgerichtig gehandhabt w ird, gilt das Privatrecht wenigstens
als die eigentliche H eim at der Rechtswissenschaft und des Rechtsdenkens.
Der sogenannte „Allgem eine T eil“ der Rechtslehre w ird wesentlich vom
Privatrecht her bestimm t. Die Rechtswissenschaft ist, schon infolge ih rer
in der N atur der wissenschaftlichen T ätigkeit liegenden F reih eit und Un­
abhängigkeit, am besten im stande, den gemeinrechtlichen G edanken wach­
zuhalten, daß das Recht nicht n u r staatlicher Befehl, sondern auch „ratio"
und logos ist. D ie „principaux systèmes juridiques du m onde“, von denen
Art. 9 des S tatut de la C our Perm anente de Justice Internationale vom
16. Dezem ber 1920 spricht, und die dort neben den „grandes formes de la
civilisation“ genannt w erden, dürften ebenfalls in der Hauptsache von
privatrechtlichen Begriffen und deren W issenschaft her bestim m t sein. D er
Bericht des Com ité consultatif, der die Fassung dieses A rt. 9 form uliert
hat, sagt ausdrücklidi, daß m it diesen „hauptsächlichen juristischen Sy­
stemen der W elt“ nicht etw a die versdiiedenen Systeme des Völkerrechts
gemeint sind, sondern die Verschiedenheit der nationalen, innerstaatlichen
Ausbildung und Prägung, die „éducations juridiques distinctes“, die V er­
schiedenheit der Denkw eise, die in der M aßgeblichkeit von Präzedenzfällen,
wie in angelsächsischen L ändern, gegenüber den dem französischen Rechts-
1 Vgl den Beschluß des Großen Zivilsenats für Zivilsachen vom 16. November 1937
und dazu die Glosse von Werner W e b e r in der Zeitschrift der Akademie für Deut-
sdies Recht 1938, S. 133 ff.
268 Uber die zwei großen „Dualismen“ des heutigen Rechtssystems

denken charakteristischen „déducations logiques“ bestehen1. Schließlich sind


auch um gekehrt die „allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts“ zu
einem großen Teil das, was m an in unserem Sinne Gem einrecht nennen
kann. Wenn man daraufhin system atisierende Zusam m enstellungen dieser
allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts betrachtet12, w ird man zu­
mindest drei Viertel ihrer Begriffe, Sätze und Norm en als Teile einer all­
gemeinen Rechtslehre im Sinne eines von europäischen Juristen getragenen
Gemeinrechts ansehen können.
Diese „allgemein anerkannten Regeln des V ölkerrechts“ gelten inner­
staatlich und zwischenstaatlich in der Sache als Common Law unter dem
Vorbehalt, daß sie nicht durch eine positive Bestim mung des innerstaat­
lichen Rechts abgelehnt werden. D ie Betonung der auctoritatis interpositio
bedeutet hier nur die H erausarheitung eines fü r den Konfliktsfall gel­
tenden Vorbehalts. Im sogenannten Internationalen P rivatrecht finden w ir
entsprechende Vorbehalte und K onstruktionen. Ich meine dabei nicht so
sehr den inhaltlich bestimm ten V orbehalt des „O rdre P ublic“, sondern
den auch hier herrschenden Dualism us von Inh alt oder G egenstand auf
der einen, G eltungsgrund und Q uelle auf der anderen Seite. F r a g i s t a s
hat das am klarsten so form uliert: D as IPR. ist seinem G egenstand nach
internationales Recht, der Q uelle nach aber grundsätzlich staatliches Recht.
Uber diesen Satz ist auch das erschienene, sehr tüchtige Buch von Fritz
R e u 3 nicht hinausgekommen. Es w eiß aus seinem staatlichen Positivismus
heraus mit in der Sache gemeinrechtlichen Begriffen w ie „juge n atu rel“
nichts anzufangen und drängt Vorstellungen w ie die einer „K ulturgem ein­
schaft“ oder „Rechtsgemeinschaft“ ins U njuristische und bloß Gedankliche
ab. In dieser Weise spricht es vom „G edanken einer zwischenstaatlichen
Rechts- und Kulturgem einschaft“ (S. 20) oder davon, daß „sich in allen
K ulturstaaten ein im großen und ganzen ähnliches und gleichwertiges Ver­
fahren zur Lösung von P rivatrechtsstreitigkeiten herausgebildet“ hat
(S.30); von einer „im großen und ganzen in Friedenszeiten herausgebildeten
gemeinschaftlichen Zuständigkeitsordnung“ (S. 81); von den „annähernd
gleichgestalteten, den gleichen Rechtsschutz gew ährleistenden Einrich­
tungen in allen K ulturstaaten“ (S. 86); in § 606 der deutschen ZPO. (Zu­
ständigkeit der deutschen Gerichte für die Scheidung von Ausländerehen)
w ird ein „Bekenntnis zur zwischenvölkischen Rechtspflegegemeinschaft“
gefunden (S. 141) usw. A ber über allen diesen G em einsam keiten schwebt
das dezisionistische E ntw eder-O der von Staatlichkeit oder Nichtstaatlich-
keit und damit der Dualism us von G egenstand und G eltungsgrund, der
den Dualism us von Zwischenstaatlich und Innerstaatlich w iderspiegelt. Bei
1 Vgl. den Kommentar von Graf B. S c h e n k v o n S t a u f f e n b e r g , Statut et
Règlement de la Cour Permanente de Justice Internationale (Institut für Aus­
ländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Berlin 1934, S. 41).
o ,.2 ®· ^as von .V. B r u n s herausgegebene „Handbuch der Entsdieidungen des
Ständigen Internationalen Gerichtshofs“, Berlin 1931, oder die „Rechtsprechung des
Ständigen Internationalen Gerichtshofs von Karl S ch m i d , Berlin 1932.
3 Die staatliche Zuständigkeit im internationalen Privatrecht (Marburg 1938).
Über die zwei großen „Dualismen“ des heutigen Rechtssystems 269

der E igenart gerade des internationalen P riv a tredits w irk t dieser D ualis­
mus hier besonders äußerlich, weil hier die Substanz eines europäischen
Gemeinrechts w eit m ehr als im Völkerrecht ohne w eiteres sichtbar ist.
Auch da, wo bestehende Institutionen dieses Gem einrechts einen neuen
Inhalt bekommen, wie Ehe und Fam ilie durch die Rassengesetzgebung,
w ird diese europäische Gemeinschaft keineswegs verneint. Ich habe in
einem \ ortrag über „Die nationalsozialistische Gesetzgebung und der Vor-
behalt des ordre public im Internationalen Privatrecht1“ gezeigt, in welchem
Maße die deutsche Gesetzgebung hier durchaus „defensiven“ C h a ra k te r
hat, und w enn F ritz R e u in seinem Buche (S. 81) bem erkt, es gebe angriffs­
lustige und, wie er sagt, „bescheidene“ internationale P riv a tr echte, so hätte
er in jenem V ortrag einiges zu diesem Them a finden können. Sobald mit
der Vorstellung einer „Fam ilie der europäischen N ation“ als einer kon­
kreten O rdnung E rnst gemacht w erde, muß auch die lebendige Substanz
gemeinsamer, nicht ausschließlich staatlich gesetzter Rechtsbegriffe und Insti­
tutionen, m it anderen W orten ein Gem einrecht an erk an n t w erden. D ann zeigt
sich, daß der D ualism us von staatlich und nichtstaatlich auf den bloßen Kon­
fliktsfall beschränkt, also ein spezifisch dezisionistisch-form aler G edanke ist.
Diese W irklichkeit eines substanzhaft noch vorhandenen Gem einrechts
w ird allerdings im Internationalen P rivatrecht meistens als unpolitisch
empfunden, so daß bei einem inhaltlichen Gegensatz der in Betracht kom ­
menden N orm en im allgem einen der V orbehalt des „O rdre public“ als
Sicherheitsventil genügt. A nders liegt das Problem im V ölkerrecht, nam ent­
lich auf dem eigentlich politischen Gebiet, im Kriegs- und N eutralitätsrecht.
Vielleicht können h ier einige A ndeutungen, die nur als A nregungen ge­
meint sind, zum Bew ußtsein bringen, w ie sehr die V orstellung einer durch­
gängigen Sphäre des Privatrechts völkerrechtlich von Bedeutung ist.
Die sogenannte kontinentale A uffassung des Krieges, die grundsätzlich
zwischen K om battanten und Nicht-K om battanten unterscheidet, setzt diese
innerstaatliche Unterscheidung einer öffentlichen von einer p rivaten
Rechtssphäre voraus. Auch hier m üßte die dualistische K onstruktion die
Rechtslage dahin auffassen, daß sie den G egenstand je n e r Unterscheidung
als internationales, den G eltungsgrund aber als innerstaatliches Recht
behandelt, was offenbar den K ern der Sache nicht trifft. Entsprechendes
gilt im N eutralitätsrecht. D ie Regelung des 5. H aager Abkommens vom
18. O ktober 1907 (insbesondere A rt. 16—18) unterscheidet bekanntlich aus­
drücklich zwischen der N e u tra litä t des Staates als solchen und den H and­
lungen n e u tra le r Personen, d. h. der Staatsangehörigen n eu traler Staaten
und erblickt im p riv a t rechtlichen H andeln dieser Staatsangehörigen zum
Beispiel in der Ü bernahm e von K riegslieferungen oder der G ew ährung von
D arlehen an eine kriegführende Macht keine V erletzung der völkerrecht­
lichen N eutralitätspflicht des n eu tralen Staates. Ob sich das angesichts der
1 Gehalten am 28. November 1935 in Berlin in der Sitzung der International Law
Assoçiation, veröffentlicht in der Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht, 1936.
S .204 f .
270 Uber die zwei großen „Dualismen“ des heutigen Redrtssy stems

totalstaatlichen Gesamtentwicklung oder angesichts der Entwicklung zur


landesgesetzlichen Regelung der N eutralität, zum Beispiel durch das Neu­
tralitätsgesetz der Vereiiiigten Staaten von A m erika von 1937 halten läßt1,
ist eine w eitere Frage. Jedenfalls ist in jen e r Regelung des H aager Neu­
tralitätsabkom m ens vom 18. O ktober 1907 der innerstaatliche Dualism us
von öffentlichem und privatem Recht als ein Teil der Völkerrechtsordnung
vorausgesetzt. Im Seekriegsrecht, namentlich für Blockade- und Prisenrecht,
ist die gleiche Voraussetzung in noch w eit höherem Maße fundam ental. Das
bisherige Seekriegsrecht beruht in dieser Hinsicht auf dem Gedanken, daß
der Staat seinen Staatsangehörigen für Handel und Schiffahrt eine P rivat­
sphäre beläßt und daher für H andlungen seiner Staatsangehörigen, die
zu diesem privaten Handel gehören, nicht verantw ortlich ist. D er einem
neutralen Staat angehörende private U nternehm er handelt, w enn er eine
Blockade bricht oder Konterbande führt, ganz auf eigene G efahr; er han­
delt aber weder strafbar, noch völkerrechtsw idrig; er ist auch kein Pirat.
Die innerstaatliche Unterscheidung von Staatlich und P riv at erstreckt sich
hier, über den Kopf des staatlichen Rechts hinweg, in den völkerrechtlichen
Raum hinein und führt zu einem unm ittelbaren K ontakt der beiden
Sphären, nämlich der des blockierenden oder kriegführenden Staates mit
der des privaten Schiffseigners n eu traler Staatsangehörigkeit. So kommt es,
daß gerade im Prisenrecht die V orstellung eines nicht spezifisch staatlichen
Rechts unausrottbar ist und die staatlich dualistische L ehre hier auf ganz
besondere Hemmungen und Schwierigkeiten stößt. G. A. W a 1 z h at aller­
dings in seinem „Völkerrecht und staatliches Recht“ den Nachweis geführt,
daß auch die englischen Prisengcrichtshöfe das völkerrechtliche Prisenrecht
als nationales englisches Recht (in der Ausdrucksweise von W a l z : als
„englisches Völkerrecht im form ellen Sinne“) anw enden, daß also auch hier
das internationale Prisenrecht vom nationalen Prisengerichtshof nur auf
G rund einer nationalen „generellen E rstreckungsklausel“ angew andt wird.
Das ist aber nu r ein Anwendungsfall des mit der dualistischen oder, nach
W a l z , pluralistischen Fragestellung von selbst gegebenen Ergebnisses.
H inter allen solchen form alen G eltungserstreckungen bleibt doch dèr
G edanke lebendig, daß gerade hier, im Prisenrecht, der nationale Gerichts­
hof unm ittelbar Völkerrecht und nicht innerstaatliches Recht anw endet.
W a l z nennt die gerade hier herrschenden V orstellungen „reichlich ver­
w orren“ (S. 285). Das sind sie gewiß. Ich e rk lä re das daraus, daß die form ale
staatlidi-dezisionistische Fragestellung das W esen der Sache nicht erschöpft.
Die Begründung, die das englische Prisengericht seiner Entscheidung des
Zamora-l· alles (1916) gegeben hat, ist hierfür besonders lehrreich. Zwar
w ird der Gedanke, daß der Richter das internationale R edit auf G rund
einer nationalen Geltungserstredcung anw endet, k la r ausgesprochen. D arin
1 F r i e d e , Das amerikanische Neutralitätsgesetz von 1937 in B r u n s ’, Zeitsdirift
für ausländisdies öffentlidies Recht und Völkerrecht, VII (1937), S. 760 (betont, daß
ein innerstaatliches Gesetz das zwischenstaatliche Neutralitätsrecht nidit ändere) und
E c k h a r d t , Das Neutralitätsgesetz der Vereinigten Staaten von 1937, a. a. Ο. VIII
(1938), S. 231 f.
Neutralität und Neutralisierungen 271

liegt die A nerkennung der dualistischen (bzw. pluralistischen) Auffassung,


wie das von W a l z (a. a. O., S. 285) unwiderleglich dargetan w orden ist.
Dennoch bleibt ein stark er Rest einer ganz anders gearteten, gemeinrecht­
lichen V orstellung w irksam und lebendig. Das englische Prisengericht sagt
in dieser seiner Begründung nämlich, daß ein Prisengerichtshof als ein
„municipal co u rt“ das internationale Recht, das er anw endet, n u r „ in o n e
s e n s e “ als „a branch of m unicipal Law “ anw ende und fäh rt dann un­
m ittelbar nachher fort: „but a court which adm inisters international law
must ascertain and give effect to a law which is not laid down by any
p articular state, b ut originates in the practice and usage long observed
by civilized nations in th eir relations tow ards each other or in express
international agreem ent“. D er dualistische Gegensatz vom Gegenstand
und G eltungsgrund, Inhalt und Form , zeigt sich hier in seiner ganzen
ungelösten und unbefriedigenden Problem atik.
D er D ualism us von V ölkerrecht und Landesrecht ist gewiß nicht der­
selbe wie der von öffentlichem und privatem Recht. Trotzdem hängen beide
in der rechtsgeschichtlichen Entwicklung durch die Vorstellung einer spezi­
fischen Staatlichkeit des Rechts und durch den gemeinsamen Gegensatz
gegen den G edanken eines Gemeinrechts zusammen. Überall, wo eine starke
Bewegung gegen die Gleichsetzung des Rechts mit dem staatlichen Gesetz
auftritt, w erden daher b e i d e D ualism en gleichzeitig problematisch. Alle
Bemühungen, sei es das Gem einrecht eines einzelnen Volkes, sei es ein
inhaltlich substantielles Gem einrecht europäischer Völker, zu entwickeln,
müssen dam it beginnen, daß die solchen D ualism en zugrunde liegenden
Voraussetzungen und Fragestellungen kritisch geprüft w erden. Das ist
ein erster Schritt zu einem wirklichen, die dezisionistische A lternative von
Staatlichkeit und Nichtstaatlichkeit überw indenden Gemeinrecht. D arin
liegt auch der Sinn m einer A usführungen. Ich w ürde es für einen wichtigen
Erfolg halten, w enn es gelänge, die A ufm erksam keit m einer Fachgenossen
auf den rechtsgeschichtlichen Zusammenhang der beiden Dualism en und auf
ihren gemeinsamen Gegensatz, den G edanken eines Common Law, hin­
zulenken. D am it wiire das sachlich - wissenschaftliche Ziel dieses meines
Aufsatzes erreicht, dessen persönliches Motiv darin besteht, an der E hrung
eines führenden M eisters unserer W issenschaft des internationalen Rechts
mit diesen durch ihn angeregten juristischen D arlegungen teilzunehm en.

34. Neutralität und Neutralisierungen (1939)


Zu Christoph Steding „Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur“
Die K rankheit der europäischen K ultur, von der C hristoph Steding in
seinem Buche1 spricht, ist der reichsfeindliche Geist der N eutralisierung
und Entpolitisierung. D er G eist der N eutralität bedient sich der Begriffe
1 Hamburg 1939, Hanseatische Verlagsanstalt.
272 Neutralität und Neutralisierungen

K ultur, Fortschritt, Bildung, unpolitische W issenschaft und anderer, ähn­


licher Vorstellungen als w irksam er M ittel im Kam pf gegen ein starkes
Reich in der Mitte Europas. E r macht aus der Politik eine A ntithese gegen
alles Geistige und K ulturelle und aus einer schwachen, zum Kriegsschau­
platz vorausbestim mten Mitte Europas ein ethisches und ästhetisches Ideal.
In der Schweiz, den N iederlanden und Skandinavien, aber auch innerhalb
Deutschlands hat er zahllose Vorkäm pfer und V erbündete gefunden. Städte
wie Basel und Am sterdam sind seine Residenz. Nam en wie B urckhardt,
Nietzsche, Langbehn, Stefan George, Thomas Mann, Siegmund Freud,
Huizinga und K arl B arth erscheinen in dieser k u ltu re llen F ront, deren
letzter Sinn Entpolitisierung, N eutralisierung, Entscheidungslosigkeit, N ihi­
lismus und letztlich Bolschewismus ist. Ein starkes D eutschland in der
Mitte Europas, wie das nationalsozialistische D ritte Reich, ist in den Augen
dieser K ulturkäm pfer der eigentliche Feind. Gegen ihn richtet sich ein
mit einem großen Aufgebot von angeblich unpolitischen, rein geistigen
Waffen geführter säkularer Kampf, h in ter dessen angeblicher G eistig­
keit aber das ganz konkrete politische Interesse der westlichen Demo­
k ratien steht.
W alter F ran k hat dieses Buch m it einer W ürdigung des im Jah re 1938
im A lter von 35 Jah ren verstorbenen V erfassers eröffnet und ihm darin
ein D enkm al gesetzt, dessen großer W irkung sich w ohl niem and entziehen
kann. Steding w ar bisher n u r durch seine 1932 (bei K orn in B reslau) e r­
schienene Abhandlung „Politik und W issenschaft bei M ax W eber“ bekannt
geworden. E r hatte dam it große A ufm erksam keit h ervorgerufen und eine
ungewöhnliche F ähigkeit bewiesen, den politischen K ern wissenschaftlicher
und ab strak ter Thesen und H altungen sichtbar zu machen. M an braucht
seine hervorragende, packende, im m er k o n k rete und doch im m er durch­
dringend wissenschaftliche A nalyse M ax W ebers n u r einm al m it der vor
kurzem in P aris erschienenen A bhandlung über den gleichen G elehrten
von M. W einreich zu vergleichen, um die Ü berlegenheit Stedings sofort
zu sehen. Nach m eh rjäh rig er einsam er A rbeit liegt je tz t dieses nach­
gelassene W erk vor, dessen H orizont und D im ensionen, dessen Ent-
scheidungskraft und G edankenfülle Staunen erregen muß, dem ab er ebenso
sichtlich die strenge, tektonische D urcharbeitung fehlt. Infolgedessen ist
vieles fragm entarisch, unsystem atisch und subjektivistisch, sogar im pressio­
nistisch; Abschweifungen und W iederholungen, bloße E infälle u n d A usfälle,
Wichtiges und w eniger Wichtiges stehen nebeneinander, und das G anze
w irk t m ehr w ie der erste W urf zu einem zyklopischen B au als w ie eine
gut durchkonstruierte A rchitektur. D a Steding selbst m it großer Strenge
seinen neutralistischen G egnern M angel an K o n struktivität, an System und
an A rchitektur zum V orw urf macht, w ird es diesen sehr leicht w erden, das
ganze W erk ihres Feindes als eine höchstens psychologisch interessante
Skizze, im übrigen aber als eine maß- und uferlose B egriffszerdehnung h in ­
zustellen. Und da in dem Buch zahlreiche Em pfindlichkeiten a lle r A rt v e r­
letzt w erden und nicht n u r Thom as M ann und K arl B arth, sondern z. B.
Neutralität und Neutralisierungen 273

auch K ierkegaard, Bachofen, Nietzsche und Stefan George in der k u ltu ­


rellen Gegen-Reichsfront erscheinen, überdies nicht n u r Schweizer, H ol­
länder und Skandinavier, sondern auch Schwaben (z. B. S. 238), Schles-
wiger (S. 111, 242), B alten (242), H am burger (268) und F ra n k fu rte r (245)
sich g ek ränkt fühlen können, so ist das Buch geeignet, eine m erkw ürdig
zusammengesetzte G egenfront gegen sich auf den Plau zu rufen, die sich
an die offensichtlichen Schwächen und Blößen h ält und versuchen w ird,
den tapfern Steding m it einem em pörten „Richtet nicht, dam it ih r nicht
gerichtet w erd et“ zu erledigen. Lassen w ir uns dadurch nicht beirren und
suchen w ir vielm ehr den Reichtum seines nachgelassenen W erkes fü r uns
fruchtbar zu machen. Es sind bekanntlich nicht die Schlechtesten, gegen die
sich die heterogensten Koalitionen zusammenfinden.
Das Buch ist keine juristische A rbeit und will, trotz mancher rechts­
wissen schaf tlichen Hinweise, keine fachlich juristischen D arlegungen geben.
Es stellt aber einen unm ittelbar und sogar spezifisch verfassungs- und
völkerrechtlichen Begriff, nämlich den der N eutralität und der N eutrali­
sierung, in einer alle G ebiete um fassenden, echt politischen und daher
totalen Betrachtungsw eise in den M ittelpunkt und macht ihn durch viele
Beziehungsreiche D arlegungen und Beispiele überaus anschaulich. D adurch
ist es auch fü r den rechtswissenschaftlichen Forscher nicht n u r anregend,
sondern auch schöpferisch. U nseren frü h eren rechtswissenschaftlichen
Untersuchungen h atte sich die grundlegende Bedeutung und die Stufen­
folge der N eutralisierungen und E ntpolitisierungen bereits vor Jahren auf­
gedrängt1, und w er den deutschen Kam pf gegen den Geist des G enfer V ölker­
bundes und seine Jurisprudenz und das Problem der „Verschweizerung“
aus den Jah ren der H ochkonjunktur dieser Tendenzen und aus der
geistigen Situation des Jahres 1925, von der Steding ausgeht, auf G rund
eigener E rfahrung k e n n t123,w ird wohl auch von seinem Fache aus das Recht
haben, sich der großen B estätigungen und Steigerungen zu erfreuen, die
dieser geniale Torso enthält, ebenso wie er, auf der anderen Seite, aus der
besonderen Lage und V erantw ortung des Rechtsgelehrten, ergänzende H in­
weise und P räzisierungen anbringen darf. Beides dient ja n u r dem un­
aufhaltsam w eitergehenden Kampf, in dem das Buch Stedings eine große
Waffenschmiede ist. Niem and darf sich darü b er täuschen, in welchem Maße
dieser Kam pf einer angeblich unpolitischen W issenschaft sich heute täglich
steigert. Im allergrößten, totalsten Stil verm ehren die westlichen Demo-
1 Siehe meine Rede über „Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisie­
rungen“ vom Oktober 1929, veröffentlicht in der Europäischen Revue, Dezember 1929,
sowie als Anhang zur zweiten Ausgabe meines Begriffs des Politischen (München
1931) in unserer Sammlung oben Nr. 15, S. 120 f.; feiner die Ausführungen in Kap. 4
meines Buches „Der Leviathan“ (Hamburg 1938) S. 61 ff., 64. Uber die innerstaat­
liche Lehre von der neutralen Gewalt: Der Hüter der Verfassung (Tübingen 1931)
S. 78 ff. (Die innenpolitische Wendung vom neutralen zum totalen Staat) und S. 132 ff.
(Die verfassungsrechtliche Lehre von der neutralen Gewalt, dem sog. p o u v o i r n e u tr e )
in unserer Sammlung oben Nr. 17, S. 146.
3 Die Kernfrage des Völkerbundes, Berlin 1926, S. 64, dazu die Besprechung von
G. V. B e l o w , Schmollers Jahrbuch, Bd. 50 S. 866,

18 1682
274 Neutralität und Neutralisierungen

kratien die geistige Rüstung für ihren „gerechten K rieg“. H ier scheinen
sie noch zu glauben, in der Offensive zu sein. Auch das wissenschaftliche
Ansehen und die respectability berühm ter Juristen w eiden hier als Kampf­
m ittel eingesetzt. D iejenigen deutschen Rechtswahrer, denen der Sinn eines
solchen Kampfes noch verschlossen sein sollte, verw eise ich auf den Aufsatz
von J. W. G arner im Januar-H eft 1939 des „Am erican Journal of Inter­
national Law “ : „T heNazi proscription of germ an professors of international
law “, mit seineu Beschimpfungen Deutschlands und seinem unzweideutigen
Schluß. Vielleicht genügt das, um jedem von uns den Intensitätsgrad der
gegenw ärtigen weltpolitischen Auseinandersetzung zu dokum entieren und
ihm die eigene Situation zum Bew ußtsein zu bringen.

I.
Die innerstaatlich-verfassungsrechtliche Neutralisierung von Staat
und Regierung
Die Geschichte der europäischen Staatsw erdung ist eine Geschichte der
N eutralisierung konfessioneller, sozialer und anderer Gegensätze inner­
halb des Staates. D er Staat selbst, als eine machina machinarum, w ar
seinem Wesen nach neutral und konnte auf die D auer nichts anderes sein.
D er liberale Konstitutionalism us des 19. Jahrhunderts führte diesen Neu­
tralisierungsprozeß w eiter, indem er auch die staatliche Regierung erfaßte
und den absoluten Fürsten in ein neutrales, von der aktiven Regierung
abgetrenntes Staatsoberhaupt verw andelte. Es ist bezeichnend, daß die
Theorie und die Form el vom König als „neutraler G ew alt“, vom pouvoir
neutre, durch den aus Lausanne stam menden Rom antiker Benjam in Con­
s ta n t nach der N iederlage Napoleons I. im Jahre 1814 aufgestellt w urde1.
Die Spitze der Staatsgew alt w ird dadurch von der Regierung abgetrennt.
Aus dem mit dem Staate sich identifizierenden absoluten Monarchen w ird
eine innenpolitisch indifferente Größe, die nicht einm al in dem Gegensatz
von Regierungs- und O ppositionspartei Stellung nehmen darf. D er in der
Teilung steckende K ern einer W ahrheit, nämlich die Unterscheidung von
auctoritas und potestas, kommt nur gelegentlich zur A usw irkung.
Die verfassungsgeschichtliche Bedeutung dieser Lehre und die Praxis
des neutralen Staatsoberhaupts sind bisher noch nicht, wie sie es ver­
dienten, in einer erschöpfenden G esam tdarstellung in den großen Zu­
samm enhang der innerpolitischen Geschichte des 19. Jahrhunderts ein­
gefügt worden. Im Zwielicht ih rer innenpolitischen N eutralität haben die
verschiedenen konstitutionellen Könige und Staatspräsidenten im 19. und
20. Jah rhundert oft sehr verschiedene Rollen, gute und böse, gespielt, und
manche Methoden „indirekter G ew alt“ ausgebildet, die nach Lage der
innenpolitischen Verhältnisse nützlich und vorteilhaft sein konnten.
Institutionell aber tritt in diesem System dev neutralen G ew alt immer ein
n eu tralisierter „Staatschef“ einem politischen „Regierungschef“ gegenüber
1 Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 132/33.
Neutralität und Neutralisierungen 275

und darf dieser „Staatschef“, solange es konstitutionell k o rre k t zugehen


soll, nicht offen und direkt aktiv werden. E r darf, bei dieser Teilung der
Funktionen, nicht regieren, sondern nu r ausgleichend und verm ittelnd über
den Gegensätzen schweben. Il règne et ne gouverne pas. Alle europäischen
Verfassungen haben diese Teilung der Regierung auf einen passiven
Staatschef und einen aktiven Regierungschef in irgendeiner Form angenom­
men: England, Frankreich, Belgien, Italien, die deutschen konstitutionellen
Monarchien und die Monarchien des Balkans. Dieses dualistische Regie­
rungsschema steht, wenn auch nur als äußerlicher Rahm en und Fassade,
heute noch überall dort in Geltung, wo man nicht, wie im Deutschen Reich,
aus dem Führergedanken alle Folgerungen gezogen hat. Auch das V er­
fassungsrecht des heutigen faschistischen Italien behält die Teilung bei. Sie
ist ein Kernstück des K onstitutionalism us und entspricht seiner innersten
Folgerichtigkeit.
In Deutschland w ar die politische Theorie des 19. Jahrhunderts und die
mit ihr zusammengehende nationalliberale Geschichtsschreibung und
Verfassungsgeschichte bem üht, gerade an diesem Punkt der inneren Folge­
richtigkeit des Konstitutionalism us zu entgehen, indem sie die konstitutio­
nelle von einer parlam entarischen Monarchie scharf zu trennen suchte. Seit
dem Siege des K onstitutionalism us in Preußen, seit 1848, w urde immer
wieder betont, daß der König von Preußen, im Gegensatz zum englischen
oder belgischen König, trotz der konstitutionellen Verfassung und gerade
als konstitutioneller Monarch selber regiere und daß die deutsche konsti­
tutionelle Monarchie als Verfassungstypus sich von den parlam entarischen
Monarchien des liberalen W estens eben dadurch unterscheide, daß der
deutsche konstitutionelle Monarch selber aktiv die Politik bestimme. Diese
Antithese von konstitutionell - monarchischer und parlam entarisch -m on­
archischer R egierung w urde durch Stahl Jolson — dessen Erfolg hier nicht
anders und nicht geringer ist als auf anderen G ebieten zum Beispiel der
von Heinrich H eine oder von K arl M arx auch dem König selbst und
den preußischen K onservativen suggeriert, die darin den rettenden Damm
gegen die Überflutung durch den westlichen K onstitutionalism us gefunden
zu haben glaubten. Die A ntithese w ar, logisch betrachtet, Unsinn, weil auch,
und zw ar in höherem G rade, die parlam entarische Monarchie eine konsti­
tutionelle ist; in ih re r institutionellen D urchführung ist sie n u r ein Schritt­
macher auf dem Wege zur völligen Parlam entarisierung geworden; in ih re r
psychologischen und propagandistischen W irkung aber hatte sie die Bedeu­
tung einer beruhigenden Kom promißformel, h in ter der sich der m it dem
Konstitutionalism us notw endig verbundene Prozeß der N eutralisierung
des Monarchen ungehindert w eiter entw ickeln konnte, bis sein Ergebnis
im H erbst 1918 offen zutage tra t, um dann in der W eim arer Verfassung
eine etw as posthum e, dafür aber w irklich restlose Erfüllung zu finden.
D er innenpolitischen D enkw eise und der V orstellungsw elt des deutschen
19. Jah rhunderts allerdings leuchtete die Antithese ohne w eiteres ein. W er
außer dem König soll denn regieren, w enn nicht das P arlam ent, das heißt

lb*
276 Neutralität und Neutralisierungen

der P arteiführer der Parlam entsm ehrheit regiert? Die politischen Tages-
meinungen aller bürgerlichen Parteien, auch der konservativen und der
freikonservativen, konnten sich im G runde nichts anderes denken. Manche
Äußerungen Bismarcks bestätigten diese Auffassung, und der allerhöchste
Erlaß vom 4. Januar 1882 gab ihr eine A rt Sanktion1. D ie staatsrechtliche
Wissenschaft und die allgemeine Staatslehre bew egten sich in denselben
Begriffsgeleisen und standen, wie Rudolf Smend richtig bem erkt*2, den
eigentlichen a rca n a im p e r ii der überaus kom plizierten Verfassung des
Zweiten Reiches viel zu fern, als daß sie gegenüber einem offiziell gewor­
denen Begriffsschema etwas anderes hätten denken können. B efreien w ir
uns also einen Augenblick von der Suggestion dieser A ntithese und achten
w ir lieber auf das wirkliche V erhalten und die w irklichen V orstellungen
der regierenden Kaiser des Zweiten Reiches und einiger an d erer Persön­
lichkeiten, von denen man annehm en kann, daß sie die A rk an a des Reiches
und die innersten Bereiche seiner V erfassungsw irklichkeit aus näh erer
W ahrnehmung kannten als die P arlam en tarier und Professoren dieser
Epoche. Dann zeigt sich bald, daß jene L ehre vom nicht-neutralen, konsti­
tutionellen deutschen Monarchen vielleicht fü r den preußischen Staat
einen gewissen taktischen Sinn haben konnte, daß sie aber gegenüber der
Reichsregierung des Zweiten Reiches in jed e r Hinsicht versagt hat und
höchstens geeignet ist, die Tatsache zu verschleiern, daß durch die bundes­
staatliche Verteilung der Regierung auf Reich und P reußen und die un­
widerstehlich fortschreitende N eutralisierung der R eichsregierung auch der
Staat Preußen in diesen N eutralisierungsprozeß hineingezogen w urde.
1. Das deutsche Kaiserreich der Verfassung Bismarcks hatte nicht nur
kein „verantwortliches“ Staatsoberhaupt, sondern auch keinen wirklich
regierenden Kaiser. Wilhelm I. wollte schon für Preußen ein „konstitutionell
korrekter“ Monarch sein. Aber seine königliche Macht in Preußen war
stark, die Armee gehorchte nur ihm, und das Beamtentum war ihm treu.
Als König von Preußen hatte er nicht etwa einen wirklichen Regierungs­
chef, auch keinen Premierminister zur Seite, sondern ein Kollegium von
Ministern, unter denen jedenfalls der Kriegsminister und der Finanz­
minister ihren eigenen Standpunkt durchsetzen konnten und, was das in
einem solchen Verfassungsaufbau wichtigste Recht ist, den Zugang zum
König hatten. Der Ministerpräsident war bekanntlich nur Vorsitzender
des Ministerrates, nur primus inter pares. Die großen Monarchen haben zu
allen Zeiten gewußt, was das Premierministersystem für ihre königliche
Macht3 bedeutet. Trotz dieser starken Stellung des Königs mußte es in
Ablehnung der Trennung von régner und gouverner hat sich Bismarck
an?; n Januar 1882, bei der Erörterung des Erlasses vom 4. Januar 1882, ausführlich
geäußert.
2 Der Einfluß der deutschen Staats- und Verwaltungsrechtslehre des 19. Jahr-
Bd I Vr (lW9) ga| ^ e^en *n Verfassung und Verwaltung, Deutsche Rechtswissenschaft,
3 Die Mahnung Ludwigs XIV. an seinen Sohn und seine Nachfolger lautet: «Quant
aux personnes qui dévoient seconder mon travail, je résolus, sur toutes choses, de
ne prendre point de premier ministre; et, si vous m’en croyez, mon fils, et tous vos
Neutralität und Neutralisierungen 277

Preußen zu einem Verfassungskonflikt kommen, der im Jahre 1866, dank


glücklicher Ereignisse, siegreicher K riege und außenpolitischer Erfolge,
überbrückt und verdeckt w erden konnte1. Alles verfassungsrechtliche und
innenpolitische D enken der Jahrgänge und G enerationen, die diesen
preußischen Konflikt erlebt haben, hat von ihm seine Prägung erhalten.
Keiner, am wenigsten Bismarck, hat das G efühl dafür verloren, daß der
Konflikt in der Tiefe w eiterging. Die Reichsverfassung Bismarcks brachte
viele, nicht leicht zu durchschauende V erlagerungen und Balancierungen
der Macht und der Zuständigkeiten zwischen Preußen und dem Reich. Das
allgemeine W ahlrecht w urde, wie andere liberale Forderungen, im Reich,
aber nicht in Preußen W irklichkeit; der Liberalism us w urde sozusagen auf
das Reich abgeladen, w ährend Preußen seinen Staat, sein H eer und seine
V erwaltung vor dem Liberalism us in Sicherheit gebracht zu haben glaubte*12.
Der Zwiespalt von Liberalism us und Konservativism us w urde dadurch in
gefährlichster W eise zu einer innenpolitischen Verschiedenheit von Reich
und Preußen. D ie ungelöste F rage des preußischen Verfassungskonflikts:
W er entscheidet über die H eeresstärke und den Umfang der Rüstung? also
die Frage nach dem V erhältnis von W ehr wesen (nicht „W ehrordnung“ wie
E. R. H uber sagt) und parlam entarischem Budgetrecht, w urde auch jetz t
nicht beantw ortet, aber doch von Preußen weg verlagert, so daß sich der
Konflikt jedenfalls in Preußen nicht w iederholen konnte. Das H eer blieb
preußisch, aber das H eeresbudget w ar Sache des Reichstags; zugleich v er­
blieben die wichtigsten Einnahm equellen, die direkten Steuern, insbeson­
dere die Einkom m ensteuer, den Einzelstaaten, also auch Preußen. N ur
wenn dieses V erteilungssystem immer vor Augen steht, ist die Verfassungs­
geschichte des Zweiten Reiches verständlich und läßt es sich begreifen, daß
zum Beispiel Fragen wie die des Tabakm onopols eine so ungeheure innen­
pol itische Bedeutung erhalten konnten. A ber trotz dieser V erlagerungen
blieb jene ungelöste Konfliktsfrage nach der Entscheidung über die An­
passung der H eeresstärke an die wechselnden politischen V erhältnisse
successeurs après vous, le nom en sera pour jamais aboli en France, rien n'étant plus
indigne que de voir de Tun côté toute la fonction, et de l’autre le seul titre de roi.»
1 Die Auffassung, daß der preußisdie Verfassungskonflikt von 1862—1866 keine
Entscheidung gebracht hat, habe ich^ in meiner Abhandlung „Staatsgefüge und
Zusammenbruch des Zweiten Reiches“, Hamburg 1934, vertreten. Die inzwischen
erschienenen Behandlungen dieser wichtigen Frage durch K. K a m i n s k i , Ver­
fassung und Verfassungskonflikt in Preußen 1862—1866, Kieler Dissertation 1938,
und Ernst Rudolf H u b e r , Heer und Staat, Hamburg 1938, S. 208 f., scheinen mir
eher eine Bestätigung zu enthalten. Gegenüber den Einwendungen E. R. Hubers
verweise ich vorläufig auf die im Text folgenden Ausführungen, indem ich mir eine
ausführliche Darlegung meines Standpunktes Vorbehalte. Vgl. auch J. H e e k e l in
seinem soeben erschienenen systematischen Werk „Wehrverfassung und Wehrrecht
des Großdeutschen Reiches“ Bd. I Hamburg 1939 S. 40 Anm. 16, S. 52.
2 Die Einrichtung eines Gerichtshofes für Kompetenzkonflikte bestand daher nicht
im Reich, sondern nur in den Ländern, vgl. dazu Deutsche Juristen-Zeitung 1934
S. 777 und Werner W e b e r in der Zeitschrift der Akademie für Deutsches Redit 1937
S. 363 ff. Zum Problem der Erhebung des Konflikts im Zweiten Reich: Albrecht
W a g n e r , Der Kampf der Justiz gegen die Verwaltung in Preußen, Hamburg 1936
S. 174 f.
278 Neutralität und Neutralisierungen

offen; sie blieb im H intergrund immer das alles beherrschende Problem ,


das sich bei jeder H eeresvorlage drohend fühlbar machte. „Es entsteht
jedesm al“, sagte Bismarck am 11. Januar 18S7 im Reichstag, „aus der Dis­
kussion dieser F rage“ (nämlich der Friedenspräsenzstärke des Heeres)
„eine gewisse Krise, ich will nicht sagen ein Konflikt, aber die Besorgnis
vor einem Konflikt. Es entsteht jedesm al die F rage: W as ist denn rechtens,
wenn eine V ereinbarung nicht zustande kom m t?“
Bismarck ist es unter großen M ühen gelungen, m it wechselnden P a r­
teien eine das Budget bew illigende Reichstagsm ehrheit zustande zu
bringen. Was bedeutet diese m it Recht gerühm te Leistung fü r die verfas­
sungsgeschichtliche Lage und die K onstruktion des Zweiten Reiches? Sie
beweist, daß im Reich w eder das konstitutionelle Staatsoberhaupt, der
Kaiser, noch ein parlam entarischer P a rte ifü h rer der V olksvertretung
regierte, sondern ein D ritter, der allein verantw ortliche Reichskanzler und
Regierungschef Bismarck. Leider m ußte er die G rundlagen seiner Regie­
rungsmöglichkeit immer von neuem zusammensuchen: beim K aiser, beim
Bundesrat, in Preußen, bei den Landesfürsten, bei den verschiedenartigsten
Reichstagsparteien. W eil Bismarcks persönliche A utorität und diplom a­
tische G ew andtheit dieser eigentümlichen Zwischenlösung einer konsti­
tutionellen Regierung gewachsen w ar, kam die Tatsache nicht zum Bewußt­
sein, daß diese Zwischenlösung in W irklichkeit bereits eine besonders
kom plizierte, aber auch besonders w eit getriebene Form der innen­
politischen N eutralisierung bedeutete. Die bew underungsw ürdige Lei­
stung, mit fortw ährend wechselnder innenpolitischer G rundlage zu regie­
ren, ist Bismarck gelungen. E r konnte sich w eder auf eine feste und
zuverlässige von ihm geführte P artei, noch, auf einen Stand oder eine
Klasse, noch auf eine sonstige O rganisation stützen, auch nicht auf die
Größe, die später in typischer Weise die G rundlage und der T räger einer
neutralen Gew alt werden sollte, nämlich auf H eer und Beam tentum . An
das preußische H eer kam er, als eine zivile Größe, überh au p t nicht heran;
ein Reichsbeamtentum gab es kaum , ganz abgesehen davon, daß Bismarck
die B ürokratie verachtete; H eer und Beam tentum w aren staatlich-
preußisch, und eben dadurch der Reichsregierung als solcher entzogen.
Schließlich aber m ußte selbst ein genialer Staatsm ann wie Bismarck an
solchen Regierungsmöglichkeiten verzw eifeln. Das beweisen sowohl die
sogenannten Staatsstreichpläne von 1890 als auch seine parlam entsfreund­
lichen Äußerungen nach seiner Entlassung. Die Rolle eines ohne eigene
Macht ausgestatteten, zwischen einem unverantw ortlichen M onarchen und
einer heterogenen Parlam entsm ehrheit „verantw ortlich“ regierenden, selb­
ständigen D ritten w ar auf die D auer nicht zu halten.
D er K aiser W ilhelm I. hat Bismarck regieren lassen und keinen Versuch
gemacht, im Reich aktiv zu w erden und ein persönliches R egim ent durch­
zusetzen. W ilhelms II. Versuche aber, das unsichtbare G efängnis eines
neutralen Reichsoberhauptes zu sprengen und ein der offiziellen deutschen
Theorie entsprechender, wirklich selbst regierender, ak tiv er Monarch zu
Neutralität und Neutralisierungen 279

sein, sind so tra u rig und in einer so peinlichen W eise m ißlungen, daß sich
an diesem Mißerfolge die W irklichkeit der Verfassungslage in einer
geradezu erschütternden Weise enthüllt. Im W iderstand gegen solche w irk ­
lichen oder verm eintlichen Versuche eines persönlichen Regiments und in
dem Bestreben, den K aiser über seine konstitutionellen G renzen zu be­
lehren und ihn zu einer neutralen Größe zu erziehen, w aren sich in k riti­
schen Augenblicken alle P arteien von rechts bis links, K onservative und
Liberale, Föderalisten und U nitarier, plötzlich einig. W ährend der soge­
nannten N ovem berkrisis 1908, die aus A nlaß der Veröffentlichungen im
„D aily T elegraph“ vom 28. O ktober 1908 entstand, haben nicht etw a n u r
der B undesrat und die P arteien des Reichstags, einschließlich der Kon­
servativen Partei, gegen dieses A ktivw erden des Monarchen Stellung
genommen, sogar das Preußische Staatsm inisterium faßte am 10. November
1908 einstimmig einen Beschluß, in dem es den H e rrn Reichskanzler und
M inisterpräsidenten bat, „Seiner M ajestät auch namens des Staatsm iniste­
riums über den Ernst der Lage und die Notw endigkeit V ortrag zu halten,
daß Seine M ajestät alles verm eiden wollen, was eine ähnliche K ritik
herausfordern w ürde“1. D er K aiser persönlich wollte auch in W ahrheit
durchaus konstitutionell k o rre k t sein. „Habe ich jem als einen einzigen
Schritt getan, der als Eingriff in unsere Staatsverfassung aufgefaßt w erden
konnte?“ fragte er einmal den Fürsten Eulenburg12. Seine eigene Auffassung
von der verfassungsm äßigen Stellung eines deutschen K aisers hat er in
seinen „Ereignissen und G estalten aus den Jahren 1878 bis 1918“3 auf das
klarste form uliert. „G estützt darauf, daß der K anzler nach der Verfassung
allein die V erantw ortung für die ausw ärtige Politik zu tragen hat, schaltete
und w altete er (der Reichskanzler) frei nach Belieben. Das A usw ärtige Amt
durfte m ir n u r m itteilen, was dem K anzler paßte, so daß ich oft über wich­
tige A ngelegenheiten nicht inform iert w orden bin. D aß das überhaupt
möglich w ar, liegt an der Reichsverfassung.“ Im Anschluß an diese v er­
fassungsgeschichtliche Feststellung fügt der K aiser eine verfassungsrecht­
liche D arlegung über das V erhältnis von K aiser und K anzler nach der
Reichsverfassung von 1871 im allgem einen an, wobei er betont, daß er h ier
nicht über sein V erhältnis zu H errn von Bethm ann persönlich, „sondern
ganz unpersönlich über die Schwierigkeiten in dem V erhältnis des deut­
schen Kaisers zu den Reichskanzlern“ spreche, „die ihren G rund in der
Reichsverfassung h atten “. U nter den sechs Punkten, die er zu diesem
Thema aufstellt, kom men hier besonders vier in Betracht, die wörtlich
zitiert seien:
2. Der Kaiser hat auf die auswärtige Politik nur insoweit Einfluß, als der
Kanzler ihm einräumt.
3. Der Kaiser kann seinen Einfluß geltend machen im Wege der Diskussion,
Information, Anregung, durch Vorschläge und die Berichterstattung über seine auf
1 Vgl. die anschauliche und lehrreiche Darstellung dieser Krise bei H. E. F e i n e ,
Das Werden des deutschen Staates, Stuttgart 1936, S. 370 ff.
2 Johannes v. H a l l e r , Aus dem Leben des Fürsten Philipp zu Eulenburg-
Hertenfeld, 1924, S. 255/56.
3 Leipzig und Berlin 1922, S. 116—118.
280 Neutralität und Neutralisierungen

Reisen empfangenen Eindrücke, die dann als Ergänzung zu den politischen Berichten
der Botschafter oder Gesandten der Länder, die er persönlich besuchte, gilt.
5. Verfassungsmäßig hat der Kaiser kein Mittel, den Kanzler und das Auswärtige
Amt zur Annahme seiner Ansichten zu zwingen; er kann den Kanzler nidit zu einer
Politik veranlassen, die dieser nicht verantworten zu können glaubt; besteht der
Kaiser auf seiner Auffassung, so kann der Kanzler seinen Abschied anbieten oder
fordern.
6. Auf der anderen Seite besitzt der Kaiser kein verfassungsmäßiges Mittel, den
Kanzler und das Auswärtige Amt an einer Politik zu hindern, die er für bedenklich
oder falsch hält; es bleibt ihm, wenn der Kanzler auf seiner Auffassung besteht,
nur übrig, zum Kanzlerwedisel zu sdireiten; jeder Kanzlerwechsel ist aber eine
schwierige, in das Leben der Nation tief eingreifende Prozedur und deshalb in Zeiten
politischer Verwicklung und Hochspannung äußerst bedenklidi, eine ultima ratio,
die um so gewagter ist, als die Zahl der für diesen anormal ausgewachsenen Posten
geeigneten Männer sehr gering ist.
Soweit der K aiser selbst. D ieser verfassungsrechtlichen K larstellung
eines Staatsoberhauptes, das 30 Jahre regiert hat, w ird man einen gewissen
authentischen C h arak ter nicht absprechen können. D er K aiser versichert,
„es sein ein Beweis völliger U nkenntnis der früheren deutschen Reichs­
verfassung“, den Kaiser für alles allein verantw ortlich zu machen, wie das
„seitens kritischer Besserwisser und nörgelnder U m stürzler“ geschehen sei.
Ich glaube nicht, daß diese verfassungsrechtliche Auffassung des Kaisers
eine bloß nachträgliche K onstruktion ist, die n u r dazu dienen soll, die Ver­
antw ortlichkeit für das Unglück des W eltkrieges von ihm abzuwälzen. Sie
ist keine bloße Ausrede. Vielm ehr haben, wie eben erw ähnt, viele
b ittere persönliche E rfahrungen der V orkriegszeit den deutschen Kaiser
des Zweiten Reiches zu dieser, der konstitutionalistischen Folgerichtigkeit
entsprechenden N eutralität allmählich erzogen und über die w ahre Bedeu­
tung der Form el von den persönlich regierenden deutschen Monarchen
gründlich belehrt. D araus e rk lä rt sich auch die n eutrale H altung, die er
w ährend des W eltkrieges, insbesondere in den kritischen Jahren 1916 bis
1918, im wachsenden Maße angenommen hat, bis er schließlich, wie v. Moser
in seiner anschaulichen Schilderung sagt, zum bloßen „Allerhöchsten Zu­
hörer und Zuschauer der W eltbegebenheiten“ geworden w ar. Besser als mit
diesen W orten läßt sich das Ideal eines monarchischen pouvoir neutre nicht
umschreiben. D er deutsche K aiser des W eltkrieges übte nicht einmal die
Rolle eines höchsten, die M einungsverschiedenheiten und Gegensätze der
politischen und der m ilitärischen Führung entscheidenden Schiedsrichters
aus, so daß bereits damals, 1917/18, auf m ilitärischem G ebiet der G eneral­
feldm arschall v. H indenburg, der ,Chef des G eneralstabes, unter dem
O bersten K riegsherrn in eine A rt von konstitutioneller Position hinein­
wuchs, w ährend Erich Ludendorff, u n ter dem Nam en eines G eneral­
quartierm eisters, der aktive Befehlshaber Avar. Trotz der Stellung als
O berster K riegsherr, trotz des angeblichen Unterschiedes eines aktiven,
deutsch-konstitutionellen Monarchen von einem passiven, englisch- oder bel­
gisch-parlam entarischen Monarchen, hat der deutsche K aiser des Zweiten
Reiches nidit regiert, und zwar, wie er selbst sagt, deshalb nicht, weil ihm die
Reichsverfassung das nicht erlaubte.E s ist eine F rage für sich,ob es politisch
vernünftig w ar, so konstitutionell zu bleiben. A ber m an darf die damalige
Neutralität und Neutralisierungen 28t

Macht konstitutionalistischer Rechtsüberzeugung auch nicht unterschätzen,


und diejenigen, die sie haben bilden helfen, sind die letzten, die hier
Anklagen erheben dürfen. Man w ird auch das Risiko einer V erletzung
soldier Rechtsüberzeugungen nicht verkennen, an dem schließlich doch alle,
innenpolitisch vielleicht richtigen und sogar notwendigen sogenannten
„Staatsstreichpläne“ seit 1890 gescheitert sind. U nbestreitbar ist aber, daß
sich in allen entscheidenden Augenblicken des Zweiten Reiches die Form eln
und R edensarten von dem aktiv regierenden, konstitutionellen deutschen
Monarchen als unw ahr erw iesen haben.
Und was w ar der G edanke, der in der Seele des K aisers auftauchte, als
im Novem ber 1918 das Reich zusammenbrach, dessen T hron er seit 30
Jahren innehatte? Diese auf die Schrecksekunde gerichtete F ragestellung
scheint m ir verfassungsgeschichtlich richtiger und zu echteren E rk en n t­
nissen zu führen, als alles, was konservative oder liberale T heoretiker des
deutschen Staatsrechts uns vom deutschen Monarchen erzählen. „Den
B ürgerkrieg“, sagt der K aiser in seiner Schilderung des Novem ber 1918 in
den „Ereignissen und G estalten“ (S. 243), „wollte ich meinem Volk“ e r­
sparen. Falls meine A bdankung tatsächlich das einzige M ittel w ar, um
Blutvergießen zu verhindern, so w o l l t e i c h d e r K a i s e r w ü r d e
en tsagen, nicht aber als König von P re u ß e n a b d a n k e n ,
sondern als soldier bei m einen T ruppen bleiben.“ Auch w enn diese im
Text der „Ereignisse und G estalten“ gesperrte Stelle nicht bedeuten soll,
daß der K aiser es fü r möglich hielt, das R eidi im N otfall zu abandonnieren
und sich auf den Staat Preußen zurückzuziehen, ist eine solche im A ugen­
blick der höchsten G efahr auftauchende T rennung von deutschem K aiser­
tum und preußischem König- und H eerführertum doch erstaunlich und ein
wichtiges Symptom für den inneren Zw iespalt der V erfassungskonstruktion
des Zweiten Reiches.
2. Zu denjenigen, die die V erfassungs-A rcana des Zweiten Reiches
kannten, w ird m an Friedrich v. H olstein und den F ürsten Philipp zu
Eulenburg rechnen dürfen. Ich greife beide heraus, nicht w eil sie etw a
besonders sympathisch sind, sondern erstens weil sie zur Zeit ihres größten
Einflusses einen P unkt besetzt hielten, der ihnen vorzügliche Beobachtun­
gen aus nächster Nähe ermöglichte; zweitens weil man sie als gute Beob­
achter einschätzen darf, ohne Rücksicht darauf, ob sie im übrigen bedeu­
tende Politiker w aren oder nicht; und drittens, weil sie ihre Ä ußerungen,
auch w enn diese taktisch bestim m t w aren, untereinander im Schutze der
V ertraulichkeit und nicht in einer von Schlagworten und R edensarten
beherrschten Öffentlichkeit getan haben. Von H olstein möchte ich hier n u r
seine Ä ußerungen aus dem Jah re 1896 erw ähnen, in denen er von den
„Reichsstreichplänen“ spricht1. Diese Form ulierung ist vorzüglich; sie ist
treffender und, wenn ich so sagen darf, eingew eihter als die im allgem einen
übliche, auch in dem T itel des Buches von Egmont Zechlin übernom m ene
1 Johannes von H a 11 e r , a. a. O. S. 191, 193, 196.
282 Neutralität und Neutralisierungen

Ausdrucksweise „Staatsstreichpläne“1. D enn es handelte sich in der T at


um die Verfassung des Reiches in ihrem G egensatz zu d er des Staates
Preußen und um das Problem einer neu tralen oder nicht n eu tralen Reichs­
regierung. Die im H intergrund imm er gleiche Konfliktsmöglichkeit hat
H olstein ebenso bem erkt wie die innerlich schwankende H altung des
Kaisers, der durch h a rte B elehrungen zum K onstitutionalism us erzogen
w urde. „Schien der Reichstag nicht einig, so drohte m an m it dem Reichs­
streich, deuteten die F ürsten an, daß sie fü r einen solchen nicht zu haben
seiu w ürden, so sprach die Umgebung, inklusive K oller, von einer starken
R egierung, die lediglich durch eigene K raft auch ohne Reichstag w ürde
bestehen können.“ H olstein hat bekanntlich 1895/96 gegen die persönliche
und direkte Politik des Kaisers gearbeitet. E r sah dam als schon, 20 Jahre
vor ih re r Verwirklichung, keine andere Möglichkeit m ehr als die P a rla ­
m entarisierung der Reichsregierung. E r hielt es auch fü r sicher, daß der
K aiser gegenüber dem Reichstag keinerlei U nterstützung bei den übrigen
F ürsten finden w erde, daß aber, w enn er versuchen w ollte, gegen diese
mit G ew alt vorzugehen, „einfach R ußland und F rankreich sich einmischen
w ürden “12. F ürst Philipp zu E ulenburg h at in einem bei H aller (S. 382)
abgedruckten Brief vom 28. Septem ber 1919 auseinandergesetzt, w arum er
sich den Plänen Holsteins, die persönliche Regierungsw eise des Kaisers
unmöglich zu machen, entgegenstellte, nämlich deshalb, w eil der K aiser
wahrscheinlich nach k u rze r Zeit gegenüber dem P arlam ent die Rolle des
Volksbeglückers hätte übernehm en wollen, und zw ar diesesmal m it seinen
Kollegen, das heißt den anderen L andesherren, und w eil das dann ein
„Ende m it Schrecken“ geworden w äre.
D er F ü rst E ulenburg hat bereits im Jah re 1894? D arlegungen über die
innenpolitischen V erhältnisse des dam aligen Deutschen Reiches gemacht,
die als eine m eisterhafte Diagnose der w ahren V erfassungslage anzu­
sehen sind und die für unseren Zusamm enhang, die Entw icklung zu einer
neutralen Reichsregierung, besondere Bedeutung haben. Einm al w eil sie,
wie m ir scheint mit Recht, nachdrücklich hervorheben, daß das Geheim nis
von Bismarcks Regierungsm öglichkeiten n u r darin lag, daß es n i c h t
d e r K ö n i g w ar, der regierte, und dann, w eil in aller Schärfe gesehen
ist, daß „der König von Preußen nicht preußisch-reaktionärer K aiser“ sein
kann. „Ich glaube“, sagt der F ü rst E ulenburg in einem B rief an H olstein
vom 2. Dezem ber 1894? (Haller, S. 170 ff.), „daß sich die schwere Mißstim­
mung herangebildet hat, weil die lange R egierung eines Mannes, der
n i c h t d e r K ö n i g w ar, viel zu intensiv den liberalen, das heißt den
1 Egmont Z e c h l i n , Staatsstreichpläne Bismarcks und Wilhelm II. 1890, 1894,
Stuttgart und Berlin 1929. Unter dem Stichwort „Staatsstreich“ sind im Bismarck-
Lexikon von Albrecht G r a f z u S t o l b e r g - W e r n i g e r o d e , Berlin 1936, zahl­
reiche verstreute einschlägige Stellen des Bismarck-Schrifttums genannt. Eine wesent­
lich andersgeartete, aber originelle dritte Art von „Streichen* hat übrigens Hans
V. B ü l o w entdeckt, indem er eine von seinem Freunde Franz v. Liszt komponierte
(Graner) iMesse als einen „Kirdienstreich“ (coup d eglise) bezeidmete.
2 Friedrich v. Η ο 1 s t e i n , Lebensbekenntnis, herausgegeben von Helmuth Rogge,
Berlin 1932, S. 157 (Brief vom 5. August 1891).
Neutralität und Neutralisierungen 283

parlam entarischen G edanken — oder nennen w ir ihn auch nu r den konsti­


tutionellen — in Preußen gefördert hat, als daß die gebildeten Stände es
noch ohne innere A uflehnung ertragen könnten, wenn ein König selbst
regieren w ill . . . Im Reich begreift m an überhaupt nichts anderes m ehr
als den Parlam entarism us. Die Macht des Adels, der Stände ist dort (näm­
lich im Reich, das heißt außerhalb Preußens) bereits 300 Jahre eher
gebrochen als in Preußen. D er Liberalism us, ja der Dem okratism us steckt
dem gesamten Reich in den Knochen, und ein deutscher Kaiser, der selbst
regiert, ist dem Reich noch viel unverständlicher, als ein selbstregierender
König es in Preußen heutzutage ist. Im Reich ist daher der R egierer, der
k e i n K a i s e r w ar, w ährend nahezu 20 Jahren den Deutschen wirklich
das geworden, was ein dem okratischer H istoriograph in späteren Zeiten
einmal nennen w ird ,der vom Schicksal bestim m te F ü h re r der Deutschen
auf der Bahn des politischen Fortschritts*“. D er F ürst E ulenburg klagt
darüber, daß „die Kom bination des regierenden Staatsm annes und des
schlafenden H eldenkaisers“, die in der Aufrichtung des Bismarckschen
Reiches lag, das alte preußische Königtum ru in iert habe, und daß ein
Kaiser, der als Selbstregierer auf trete, die P artie nur gewinnen könne,
wenn ihm ein „glücklicher Krieg das nötige Prestige“ verleihe. In einem
Brief an Bülow vom 16. Jan u ar 1897 (Haller, S. 212) sieht er als Ausweg
„ein stark einheitliches M inisterium hervorragender Fachleute“. Deutlicher
konnte die neutrale G ew alt als einzige noch bleibende Regierungsmöglich­
keit nicht zum Ausdruck gebracht werden.
D er Sinn unserer Zitierungen Holsteins und Eulenburgs ist nicht etw a
der, zwei höchst problem atische G rößen des W ilhelminischen Zeitalters zum
Range verfassungsgeschichtlicher Kronzeugen zu erheben, sondern — gegen­
über den Kompromiß- und Trostform eln des deutschen Konstitutionalis-
mus — durch kennzeichnende Ä ußerungen w irklicher Eingew eihter die
Verfassungslage des Zweiten Reiches zum Bewußtsein zu bringen. In jed er
ernsten Lage stellt m an fest, daß die R egierungskonstruktion dieses Reiches
in W irklichkeit nu r noch die A lternative einer neutralen G ew alt oder einer
parlam entarischen Regierungsgew alt, nicht aber die W ahlm öglichkeit
zwischen einem aktiv regierenden Monarchen und einer parlam entarischen
R egierung in sich enthielt. Im übrigen ist jene Ä ußerung Eulenburgs über
das Fachm inisterium als Ausweg vereinzelt. Auch er hielt im E rnstfall
bereits 1894 den Parlam entarism us für die einzig noch denkbare Regie­
rungsform, wie das im H erbst 1918 die ausnahm slos herrschende Ansicht
geworden w ar. D ie W eim arer Verfassung von 1919 brachte dann den
konstitutionell vorschriftsmäßig neutralisierten Staatspräsidenten, der
aber doch, als es schließlich n u r noch „tolerierte“ parlam entarische Regie­
rungen gab, nach der Selbsterledigung des parlam entarischen R egierungs­
systems, gerade in seiner auf H eer und Beam tentum gestützten N eu tralität
die Möglichkeit fand, zu einer legalen Überleitung auf einen völlig neuen
Verfassungsboden, den des nationalsozialistischen Reiches, die H and zu
geben. Diese Entwicklung ist noch zu sehr in E rinnerung und auch ver-

I
284 Neutralität und Neutralisierungen

f assun gsgeschichtlich so bekannt, daß ich hier n u r daran zu erinnern


brauche1.
C hristoph Steding spricht nicht von dieser verfassungsrechtlichen Lehre
und Praxis der neutralen Gew alt. Das ist zu bedauern. K einer h ätte wie
er die großen gesamteuropäischen Zusam m enhänge der Entw icklung des
„pouvoir neu tre“ im 19. Jah rh u n d ert in ih re r geistes- und kulturgeschicht­
lichen Sym ptom atik und ihren w eitverzw eigten Einflüssen ans Tageslicht
der Wissenschaft fördern können. A ber fü r den verfassungsgeschichtlich
erfahrenen Leser ist sein W erk auch so, w ie es vorliegt, in dieser Hinsicht
bedeutungsvoll. Es faßt die geistigen und k u ltu re llen N eutralisierungen
nur als Ausw irkungen einer im K ern politischen Entscheidung und Stellung­
nahm e auf. Dadurch w ird erkennbar, wie tief der N eutralisierungsprozeß
seit dem 19. Jah rh u n d ert bis in das Innerste D eutschlands vorgedrungen
ist. D er Dualism us und Zwiespalt der \ 7erfassung des Zw eiten Reiches, die
„D ialektik“ des Kompromisses, auf dem die preußische und die Reichs­
verfassung beruhten, sind Steding bew ußt und von ihm, bei alle r Bew unde­
rung für Bismarck und sein W erk und ohne jem als in eine Reichsfeind­
schaft zu verfallen, in aller Bestim m theit offen ausgesprochen (S. 131). Das
„Zwischenreich“ datiert er infolgedessen von 1890 bis 1918 (S. 64, 89, 112, 131,
449 u.a.).D adurch nimmt er eine verfassungsgeschichtlich notw endigePerio-
disierung vor, die geeignet ist, viele konstitutionalistisch-konservative
und nationalliberale Irrtü m er und Illusionen über die w ah re Verfassungs­
lage des Zweiten Reiches zu beseitigen. Das K apitel „Die N eutralisierung
des Reiches von W ilhelm II. zu G ustav Stresem ann (1890 bis 1925)“ ist
leider nu r sehr kurz (S. 85 bis 94) und im Vergleich zu anderen D arlegungen
geistes- und kulturphilosophischer A rt ganz aphoristisch. Doch ist auch hier
die Gesamtschau treffend und zum Beispiel das Bündnis der n eu tralisieren ­
den mit den föderalistischen Tendenzen richtig gesehen. Vielleicht können
unsere obigen A usführungen über den verfassungsgeschichtlichen N eu trali­
sierungsprozeß im Kaiserreich zu der E rkenntnis beitragen, daß auch in
den skizzenhaften und n u r andeutenden Teilen des Stedingschen W erkes
ein bedeutender und fruchtbarer G rundgedanke enthalten ist, der dem
Sachkundigen einer rechtswissenschaftlichen D isziplin die Beschäftigung
mit diesem W erk in reichem Maße lohnt.

II.
Zwisdienstaatlich-völkerreditlidlie Neutralität und Neutralisierung
Daß ein zur Völkerrechtsgemeinschaft gehörender S taat in einem
Kriege zwischen anderen Staaten neu tral bleiben kann, gehört zu seiner
völkerrechtlichen Existenz. Die N eu tralität ist ein G rundbegriff der heu­
tigen Völkerrechtsordnung. Nicht nu r deshalb, weil, praktisch gesehen,
wirkliche und starke N eutrale die besten G aranten und H ü ter des V ölker-
TT 1 Xd- verfassungsgeschichtlidie Darstellung bei E. R. H u b e r , Verfassung,
Hamburg 1937, S. 15 ff.
Neutralität und Neutralisierungen 285

rechts sind1 und, wie der W eltkrieg in den Jah ren 1917/18 gezeigt hat,
ein V ölkerrecht des K rieges ohne stark e N eutrale w ertlos ist. Eine auf
unabhängige S taaten gegründete Völkerrechtsgem einschaft h a t vielm ehr
den K ern ih re r kon k reten O rdnung darin, daß es selbständige Staaten
sind, die diese Gem einschaft bilden, nicht andere G ebilde, seien es Kirchen,
Klassen, O rden, P arteien oder irgendwelche sonstigen, der S taatsqualität
entbehrenden O rganisationen. Das V ölkerrecht setzt bei jedem Staat ein
M indestmaß in n erer staatlicher O rganisation und äu ß erer W iderstands­
k raft voraus. Staatliche Selbständigkeit und U nabhängigkeit bew ähren sich
darin, daß der Staat aus eigener Entscheidung und auf eigene G efahr K rieg
fü h rt oder nicht führt, d. h. im K riege D ritte r n e u tra l bleibt. D er K rieg
aber h at seine völkerrechtliche O rdnung und G erechtigkeit darin, daß es
auf beiden Seiten Staaten sind, die ihn gegeneinander führen. D er Staaten-
lcrieg ist demnach ein von einer O rdnung gegen eine andere O rdnung ge­
fü h rter Krieg, nicht ein K rieg einer O rdnung gegen U nordnung. D ie K riege
sind daher auf beiden Seiten in gleichem Maße völkerrechtlich gerecht, aber
nur w eil und solange auf jed e r Seite ein S taat vorhanden ist. D er K rieg ist
in einem solchen völkerrechtlichen System nichts Außerrechtliches, sondern
eine echte R echtsinstitution. “In the eye of international law all w ars are
ju st” sagt, in Ü bereinstim m ung m it seiner ganzen Zeit, der gute alte F re e ­
man Snow in seinem Lehrbuch des Seekrieges (W ashington 1898). D ie
völkerrechtliche B eurteilung des S taatenkrieges ist h ier analog der eines
rechtlich an erk an n ten D uells, das als Institution seine innere O rdnung und
G erechtigkeit in erste r Linie darin findet, daß es auf beiden Seiten satis­
faktionsfähige Personen sind, die den Zw eikam pf u n ter sich ausmachen.
D aß dieser nichtdiskrim inierende Kriegsbegriff dem L andkrieg zugeordnet
ist und durch die englische, vom See- und H andelskrieg ausgehende V or­
stellung zerstört w ird, habe ich an an d erer Stelle gezeigt12.
Die grundlegende E rkenntnis der Bedeutung eines nichtdiskrim inieren­
den K riegsbegriffs und der n u r daraus abzuleitenden M öglichkeit einer
völkerrechtlichen N e u tra litä t h at sich in den letzten Jah ren von neuem
durchgesetzt, nachdem die Thesen des am erikanischen P räsidenten W ilson
und die K onstruktionen der G enfer V ölkerbundsjurisprudenz zwei J a h r­
zehnte hindurch eine große V erw irrung angerichtet h a tte n 3. Ich k ann mich
1 Peter Albert M a r t i n i , Reformvorschläge zum Seekriegsrecht, Berlin 1934
(Völkerrechtsfragen, Heft 39), hat das einfach und anschaulich ausgesprochen. Zu
demselben Ergebnis kommt W. P. J. A. v a n R o y e n , Analyse de revolution de
la neutralité au cours de l’évolution du droit des gens, Den Haag 1938.
2 Carl S c h m i t t , Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat, Völkerbund und
Völkerrecht, Bd. IV, 1937, S. 139 f o b e n Nr. 28, S. 235.
a Carl S c h m i t t , Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, Schriften
der Akademie für Deutsches Recht, herausgegeben von Reichsminister Dr. Hans
Frank, Gruppe Völkerrecht Nr. 5, München 1938; Der Leviathan in der Staatslehre
des Thomas Hobbes, Hamburg 1938, S. 72 ff. Gustav Adolf W a l z , Die Inflation des
Völkerrechts, Beilage zur Zeitschrift für Völkerrecht, 1939. Ulrich Sch e u n e r . Die
Neutralität im heutigen Völkerrecht, Festschrift anläßlich des 25jährigen Bestehens
der deutschen Landesgruppe der International Law Association, 1938. Weiteres um­
fangreiches Schrifttum ergibt sich aus diesen Abhandlungen.
286 Neutralität und Neutralisierungen

hier mit dieser kurzen Feststellung begnügen. Inter arm a silent leges, sed
non silet jus, nec silet fas. Dieses jus und dieses fas sind allerdings etwas
anderes als die in Versailles und Genf versuchten juristischen Legali­
sierungen und Legitim ierungen eines in sich ungerechten status quo.
D er im Staat seine O rdnung findende Kriegsbegriff ist heute durch
universalistische, auf indirekte G ew alten sich stützende K onstruktionen
bedroht, die den zwischenstaatlichen Krieg in einen internationalen Bürger­
krieg verw andeln. Sobald der Staat zum W erkzeug in d irek ter oder gar
geheimer Mächte w ird, ist diese Folgerung unvermeidlich. Ebenso hört
das Völkerrecht auf und beginnt der internationale W eltbürgerkrieg, so­
bald statt des Staates eine internationale Klasse zur tragenden politischen
O rganisation gemacht wird. Das hat E rnst Bockhoff in vielen Veröffent­
lichungen auf das nachdrücklichste gezeigt1. Dagegen heben der Prim at des
Volkes gegenüber dem Staat und die Auffassung des norm alen Staates als
einer Organisationsform eines Volkes die Möglichkeit einer Völkerrechts­
ordnung und einer echten N eutralität nicht nu r nicht auf, sondern geben
ihm überhaupt erst die Substanz, die seinen grundlegenden O rdnungs­
charakter auf die D auer zu erhalten und vor dem Mißbrauch indirekter
G ew alten zu w ahren vermag, dem die neutral-instrum entalen Elemente
des Staates immer ausgesetzt sind. Erst dadurch ist der Staatenkrieg vor
einer universalistischen V erwandlung in einen B ürgerkrieg w irksam ge­
schützt. D er Totalitätsanspruch vernichtet das Völkerrecht nu r dann, wenn
er universalistischen C h arak ter hat und sich mit den typisch indirekten
G ew alten verbindet, w ährend der G edanke der völkischen T otalität im
Gegenteil den pluralistischen C h arak ter der W elt des Politischen wie auch
der W elt des objektiven Geistes überhaupt zur Voraussetzung h a t12. Vor­
läufig allerdings w ird besonders in den angelsächsischen Ländern eine
summarische und geradezu panische Vorstellung von der T otalität propa­
gandistisch benutzt, um den sog. totalitären Staat als einen menschenfeind­
lichen und menschenverschlingenden L eviathan hinzustellen. A ber trotz der
ungeheuerlichen Suggestionen, die von solchen Vorstellungen ausgehen und
in allen Ländern der westlichen D em okratie die geistige A tm osphäre ver­
nebeln, ist die grundlegende Verschiedenheit leicht zu erkennen. Völkische
T otalität und völkerrechtliche N eutralität heben sich nicht auf. Sie bedingen
und stützen sich gegenseitig3.
Daß N eutralität und Zugehörigkeit zum G enfer Völkerbund unverein­
bar sind, ist durch die gründliche E rörterung des Problem s der Schweizer

1 Vor allem: Völkerrecht gegen Bolschewismus, Berlin-Leipzig 1937.


* Norbert G ü r k e , Volk und Völkerrecht, Tübingen 1935. S. 63 ff.; dazu Carl
S ch m i 1 1 , Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, S. 43.
3 Vgl. den Aufsatz: Völkerreditliche Neutralität und völkische Totalität, Monats­
hefte für auswärtige Politik, Jahrgang V, Juli 1938, S. 613 ff.; derselbe Aufsatz ist in
italienisdier Sprache in der von Carlo Costamagna herausgegebenen Zeitschrift
Lo Stato, November 1938, S. 605 ff., französisch in der Revue de droit international,
herausgegeben von A. de Gouffre de La Pradelle, Bd. 22, Juli-August 1938, S. 316 ff.,
erschienen.
Neutralität und Neutralisierungen 2S7

N eutralität1 im Laufe des letzten Jahres w eithin überall dort zum Bew ußt­
sein gekommen, wo man den totalen W eltkrieg zu verm eiden sucht. Einige
M ißverständnisse, die hier noch obwalten und die namentlich, in der Dis­
kussion zwischen dem Züricher Völkerrechtslehrer Professor Dietrich
Schindler und Ernst Bockhoff zutage tra te n 12, bedürfen allerdings noch der
wissenschaftlichen K lärung. Ich denke dabei nicht so sehr an die von
Dietrich Schindler in den V ordergrund gestellte Frage, ob und w ieweit es
völkerrechtliche Neutralitätspflichten im Frieden überhaupt geben kann;
diese Frage liegt für die Schweiz angesichts ih rer völkerrechtlichen situation
unique durchaus eigenartig, weil die Schweiz sich in einem Kriege der
anderen Staaten nicht nach freier Entscheidung von Fall zu Fall zur
N eutralität entschließen kann, sondern ein dauernd neutralisiertes Land
ist, dessen völkerrechtlicher G esam tstatus in Krieg und Frieden durch die
Pflicht zur N eutralität dauernd bestimm t w ird 3. Auch einen zweiten P unkt
möchte ich hier nicht behandeln, obgleich er schon deshalb nicht un­
erw ähnt bleiben kann, weil er bei Schindler zu Unrecht ganz unbeachtet
bleibt: daß nämlich die eigentliche G efahr für jede, nicht nu r die schweize­
rische völkerrechtliche N eutralität vom G enfer V ölkerbund ausging. Ich
darf H errn Professor Schindler daran erinnern, daß das eigentliche und
gefährlichste Vae Neutris! von englischer Seite zum Ausdruck gebracht
worden ist, und zw ar in dem Aufsatz, den Sir John Fischer W illiams zu
der völkerrechtlichen Frage der Sanktionen gegen Italien vom H erbst 1935
veröffentlicht h a t4. Im Rahm en unserer gegenw ärtigen Bem erkungen zu
dem allgem einen Problem der N eu tralität liegt m ir aber vor allem daran,
auf den praktisch und theoretisch überaus wichtigen grundsätzlichen Zu­
sammenhang von zwischenstaatlicher un<^ innerstaatlicher N eutralitäts­
stru k tu r aufm erksam zu machen. Die in unserem vorigen K apitel (unter I)
behandelte innerstaatliche N eutralität des Staates hat nämlich im Laufe
des 19. Jahrhunderts eine große zwischenstaatlich-völkerrechtliche Aus­
w irkung gehabt und die gesamte konkrete Ausprägung der zwischenstaat­
lichen und außenpolitischen N eu tralität von G rund auf bestimmt. Sie w irkt,
wie fast jedes A rgum ent von Professor Schindler beweist, trotz vollständig
veränderter Lage auch heute noch w eiter, und jede U nklarheit in diesem
P unkt ist geeignet, eine Verständigung unmöglich zu machen.
Die im Z eitalter des europäischen Konstitutionalism us erfolgte inner-
1 Die einzelnen Daten sind in dem Aufsatz von Prof. Dr. Dietrich S c h i n d l e r ,
Die schweizerisdie Neutralität 1920—1938, Zeitsdirift für ausländisdies öffentlidies
Recht und Völkerrecht, Bd. VIII (1938) S. 413 ff., mitgeteilt.
2 Nationalsozialistische Monatshefte, Januar 1939, und Neue Schweizer Rund­
schau, Januar 1939, S. 1 f. (Neutralität und Presse).
a Darauf weist auch die treffende Bemerkung „Echte und falsche Neutralität“
in den von Fritz B e r b e r herausgegebenen Monatsheften für auswärtige Politik,
Jahrgang 6, Februar 1939, S. 158, hin.
4 The British Yearbook of International Law XVII, 1936, S. 130—149: dazu
Carl S c h m i t t , Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, 1938, S. 26 ff.;
und Das neue Vae Neutris!. Völkerbund und Völkerredit IV (1938) S. 633 ff.. oben
Nr. 31, S. 251 f.
288 Neutralität und Neutralisierungen

staatliche N eutralisierung der Stellung des Staatsoberhauptes h at sich n a tü r­


lich bei solchen völkerrechtlichen Einrichtungen ausgew irkt, die, w ie die
R atifikation der völkerrechtlichen V erträge, m it einer in der innerstaat­
lichen Verfassungslage w urzelnden, völkerrechtlichen V ertretungsbefugnis
nach außen Zusammenhängen. W enn der nach innen und außen frei ent­
scheidende, absolute F ürst sich in ein n u r m it n e u tra le r G ew alt versehenes,
konstitutionell gehemmtes Staatsoberhaupt verw andelt und innerstaatlich
einen allein verantw ortlichen Regierungschef neben sich hat, dem aber die
eigentliche völkerrechtliche V ertretungsbefugnis nach außen fehlt, so
ändern sich selbstverständlich der rechtliche Inhalt w ie auch das V erfahren
der Ratifikation. Diese w ird aus einer bloßen, ex tune w irkenden Be­
stätigung der E inhaltung völkerrechtlicher Vollmachten (wie sie das nach
der sog. M andatstheorie des Hugo G rotius ist) zu einer B estätigung der
Einhaltung innerstaatlicher konstitutioneller Vorschriften1. D er hier zur
E rörterung stehende Strukturzusam m enhang von innerstaatlicher und
zwischenstaatlicher N eu tralität geht aber noch viel w eiter und tiefer, als
sich in dem Bedeutungsw andel solcher Einrichtungen und Begriffe wie der
Ratifikation äußert. Er betrifft die M aßstäbe und Kennzeichen, nach denen
es sich bestimmt, ob ein der Völkerrechtsgem einschaft angehörender Staat
norm al und in Hinsicht dieser Gemeinschaft homogen ist. E r h at daher für
die Völkerrechtswissenschaft die ganze T ragw eite, die den M aßstäben und
V orstellungen von N orm alität, G leichartigkeit oder A rtgleichheit12 inner­
halb jed e r Gemeinschaft zukommt.
Nach der im 19. Jah rh u n d ert durch den liberalen K onstitutionalism us
entw ickelten Auffassung ist n u r der innenpolitisch n eu trale S taat völker­
rechtlich norm al und homogen. N ur er h at eine „V erfassung“ im Sinne des
K onstitutionalism us, wozu vor allem Freiheitsrechte, d. h. staatsfreie
Sphären des P rivaten und grundsätzliche innerstaatliche N ichtintervention
in diese Sphären gehören. Auf G rund dieser V orstellung, daß n u r ein libe­
ral-konstitutioneller Staat völkerrechtlich norm al und homogen ist, w urde
auf dem B erliner Kongreß 1878, u n ter der F ü h ru n g D israelis, den neuen
B alkanstaaten die Pflicht zum Schutz religiöser M inderheiten auferlegt.
H erm ann Raschhofer3 h at das V erdienst, auf diese grundsätzliche Be­
deutung des M inderheitenschutzes hingew iesen zu haben. E r erin n e rt
daran, daß die Note Clem enceaus vom 24. Juni 1919 den Zusam m enhang
mit der P raxis des B erliner Kongresses herstellt, der die R eligionsfreiheit
und dam it auch die anderen liberalen F reiheiten als „base de l’organisation
sociale dans tous les états de l’E urope“ behandelte. D adurch w ird der in n er­
staatlich neutrale, liberal-konstitutionelle Staatstyp zu einer A rt S tandard
1 Fernand D e h o u s s e , La Ratification des Traités, Essai sur les Rapports des
Traités et du Droit interne, Lütticher These, 1935 Paris, Recueil Sirey 1935, S. 82 ff.
3 Uber die Unterscheidung von (liberal-demokratischer) Gleichartigkeit und
(nationalsozialistischer) Artgleichheit der Vortrag von Gustav Adolf W a l z , Art­
gleichheit gegen Gleichartigkeit, Schriften der Akademie für Deutsches Recht,
Hamburg 1938.
3 Zeitsdirift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. VI (1939) S.239.
Neutralität und Neutralisierungen 289

der M itglieder der Völkerrechtsgem einschaft erhoben. D er diese völker­


rechtlichen Regelungen beherrschende G edanke w ar, daß ein vollkom m en
liberal-konstitutioneller Staat, wie es die westlichen D em okratien selbst­
verständlich sind, in dieser Hinsicht k einer völkerrechtlichen K ontrolle
bedarf, ja, daß er jede d erartige K ontrolle als eine völkerrechtsw idrige
Intervention von sich zurückw eisen muß, w ährend die in liberal-konsti­
tutioneller Hinsicht noch rückständigen und unentw ickelten Staaten und
V ölker des O stens sich eine K ontrolle und B etreuung durch die führenden
W estmächte gefallen lassen müssen. D er sog. M inderheitenschutz des V er­
sailler Systems b eru h te ganz auf dieser G rundlage1. D ie innerstaatliche
N eu tralität des liberalen K onstitutionalism us w ird dadurch zur Basis
des völkerrechtlich vorausgesetzten N orm alzustandes der M itglieder der
Völkerrechtsgemeinschaft. F ü r diese A uffassung ist alles, was sich in der
innenpolitisch staatsfreien Sphäre abspielt, z. B. der gesam te Bereich der
F reih eit der M einungsäußerungen, der Presse-, Vereins- und V ersam m lungs­
freiheit, infolgedessen eine A ngelegenheit, der gegenüber die grundsätz­
lich innerstaatliche N e u tralität des Staates auch völkerrechtlich an erk an n t
ist. D as h at die völkerrechtliche Bedeutung, daß der innenpolitisch neu trale
Staat fü r Vorgänge in dieser Sphäre völkerrechtlich nicht verantw ortlich
gemacht w erden kann. Die als selbstverständlich vorausgesetzte in n erstaat­
liche N e u tra litä t bestim m t dann insbesondere auch In h alt und Umfang der
völkerrechtlichen N eutralitätspflichten.
In dem N eutralitätsabkom m en der H a a g e r Friedenskonferenzen von 1907
h at diese G edankenw elt des liberal-konstitutionellen 19. Jah rh u n d erts
ihren Niederschlag gefunden. Ih re R egelung der völkerrechtlichen N eu trali­
tätspflichten eines Staates b e ru h t auf der liberal-konstitutionellen in n er­
staatlichen T rennung des Staates als solchen von der F reiheitssphäre p riv a ter
Staatsangehöriger. In die grundsätzlich staatsfreie, p riv ate F reiheitssphäre
der Staatsangehörigen gehören nach dieser V orstellung vor allem W irt­
schaft, H andel und Finanz. W as in der freien P rivatsphäre, der gegenüber
der Staat als solcher innerstaatlich n e u tra l ist, w ährend eines K rieges
d ritte r S taaten durch P riv ate vorgenom m en w ird, k ann daher die völker­
rechtliche N eutralitätspflicht des innenpolitisch n eu tralen Staates nicht v er­
letzen. Völkerrechtliche Pflichten h a t in diesem System nicht der private
Staatsangehörige, sondern n u r der Staat als solcher, der aber seinerseits
w iederum innerstaatlich n e u tra l ist. W enn priv ate Staatsangehörige des
n eu tralen Staates einen der beiden k riegführenden Staaten ökonomisch,
kom m erziell oder finanziell unterstützen, so ist das völkerrechtlich
irrelev an t in Hinsicht auf den n eu tralen Staat, dem sie angehören. So e r­
k lä rt sich z. B. die heute längst nicht m ehr der allgem einen R echtsüber­
zeugung entsprechende Bestim mung des 5. Abkom m ens d er H aager
F riedenskonferenz A rt. 18. Danach sind als H andlungen zugunsten eines
K riegführenden nicht anzusehen „die Ü bernahm e von L ieferungen oder
1 G. A. W a lz , Artgleichheit gegen Gleichartigkeit a. a. O.
19 1682
290 Neutralität und Neutralisierungen

die Bewilligung von D arlehen an einen K riegführenden, vorausgesetzt,


daß der L ieferant oder D arleiher w eder im Gebiet der anderen P artei
noch in dem von ihr besetzten Gebiete w ohnt“. D er Strukturzusam m enhang
der innerstaatlichen, liberal-konstitutionellen N eutralität mit der Auf­
fassung von Inhalt und Umfang der völkerrechtlichen N eutralität ist hier
ebenso handgreiflich, wie es zweifellos ist, daß die wirkliche Lage der
heutigen W elt diesen Voraussetzungen in keinem Lande m ehr entspricht.
Das überkom m ene Seekriegsrecht ist das Gebiet des Völkerrechts, auf
dem sich die innerstaatliche Trennung von staatlicher und p riv ater Sphäre
als völkerrechtliche Voraussetzung am stärksten und unm ittelbarsten aus­
w irkt. Nach den in unseren Lehrbüchern und in vielen diplomatischen
Noten angeführten Regeln des Blockade-, K onterbande- und Prisenrechts
w ird ein p riv ater Seehandel vorausgesetzt, der in einer staatsfreien Sphäre
vor sich geht. H ält man an dem zwischenstaatlichen C h arak ter des Völker­
rechts fest, so können der Blockadebrecher und der K onterbandeführer
natürlich kein völkerrechtliches D elikt begehen, weil sie nicht Subjekte des
Völkerrechts sind. D aher entsteht hier ein m erkw ürdiger Leerraum , ein
juristisches Niem andsland zwischen Völkerrecht und innerstaatlichem Recht.
D er neutrale Staat kann seine Staatsangehörigen, die Blockadebrecher oder
K onterbandeführer sind und die er sonst völkerrechtlich vor dem Zugriff
anderer Staaten schützen würde, ihrem eigenen, privaten Risiko und pri­
vaten Schicksal überlassen, weil ihre T ätigkeit sich in dem Bereich abspielt,
in dem ein völkerrechtlich n eu traler Staat sich auch innerstaatlich neutral
verhält. D er Blockadebrecher oder der K onterbandeführer verstößt (wenn
nicht besondere landesgesetzliche Bestimmungen vorliegen, von denen hier
aber abgesehen w erden muß) w eder gegen eine innerstaatliche, noch gegen
eine völkerrechtliche Norm. E r handelt eigentlich überhaupt nicht rechts­
widrig. Innerstaatlich deshalb nicht, weil er im Bereich seiner privaten F rei­
heitssphäre bleibt; völkerrechtlich nicht, weil er als P riv ater nicht Völker­
rechtssubjekt und nicht völkerrechtlich handlungsfähig ist. Er begibt sich in
den rechtlichen Zwischenraum, in dem er sich einem völkerrechtlich zu­
lässigen, daher auch von seinem eigenen Staat als zulässig anerkannten Zu­
griff eines kriegführenden Staates auf eigene, private G efahr aussetzt. Auch
hier ist es die innerstaatliche N eutralität gegenüber Handel, AVirtschaft und
Finanz, die einen solchen Zwischenraum ermöglicht und gerade das Prisen­
recht zur eigentlichen C rux aller Theorien über das V erhältnis von Völker­
recht und Landesrecht macht1.
Alle diese Hinweise auf die völkerrechtlichen Problem e der Ratifikation,
des M inderheitenschutzes und des Kriegsrechts, insbesondere des Prisen­
rechts, erw ähne ich hier n u r als Beispiele für den bisher unbeachtet ge-
1 Vgl. G. A. W a l z , Völkerredit und staatliches Redit, Stuttgart 1933, S. 28t.
Dazu Carl S c h m i t t in der demnächst ersdieinenden Festschrift für Georgios Streit
(Athen) über die zwei großen Dualismen des heutigen Rechtssystems (Wie verhalt
sich die Untersdieidung von Völkerrecht und staatlichem Recht zu der innerstaat­
lichen Unterscheidung von öffentlidiem und privatem Redite), oben INr. 33, o. Jol .
Neutralität und Neutralisierungen 29t

bliebenen system atischen S trukturzusam m enhang, den die liberal-konsti­


tu tionelle Entw icklung des 19. Ja h rh u n d e rts zwischen der innerstaatlichen
N e u tra litä t und dem Völkerrecht, insbesondere auch dem völkerrechtlichen
N eutralitätsrecht h ergestellt hat. E rst w enn dieser Zusamm enhang im
ganzen und im einzelnen k la r e rk a n n t ist, kan n er geschichtlich und poli­
tisch überw unden w erden. Sonst besteht die W ahrscheinlichkeit, daß die
A rgum ente und G egenargum ente aneinander Vorbeigehen, wie das die vor­
hin erw äh n te A useinandersetzung zwischen D ietrich Schindler und E rnst
Bockhoff oft genug zeigt. D ie F rage ist nicht, was auf G rund ab strak ter,
aus dem 19. Ja h rh u n d e rt überkom m ener N orm en Inhalt der völkerrecht­
lichen N eutralitätspflichten sein soll, sondern es fragt sich, ob die W eiter­
führung jenes S trukturzusam m enhanges von innenpolitisch-konstitutio­
n eller und völkerrechtlich-außenpolitischer N eu tralität heute noch an­
e rk a n n t w erden muß oder nicht. Solange diese F rage nicht in aller Schärfe
gestellt und in a lle r Ehrlichkeit b eantw ortet ist, fü h rt jede K ontroverse
n u r zu neuen M ißverständnissen und zu w eiterer V ergiftung der Aussprache
zwischen den V ölkern.
Stedings E rö rte ru n g des Problem s der N eutralisierungen und E ntpoliti­
sierungen w ill keine völkerrechtliche D arlegung sein. A ber sein G edanke
geht in solche philosophischen Tiefen, daß auch von ihm aus ein Licht auf
die G rundlagen des überkom m enen Völkerrechts fällt. Man sieht die Ver­
bindung einer reichsfeindlichen, neutralisierenden G eisteshaltung mit den
Begriffen und den stillschweigend als selbstverständlich vorausgesetzten
G rundsätzen einer bestim m ten, angeblich unpolitischen A rt von Völker-
recht&wissenschaft. D ie Ü berw indung eines von G enf und vom Haag her
bestim m te^äölkerrechtsdenkens, vor allem auch die Erledigung derjenigen
B estrebungen, die das G enfer V ölkerbundsrecht an die Stelle eines w irk ­
lichen V ölkerrechts zu setfcen suchte, ist heute im besten G ang1. Es handelt
sich dabei im letzten G runde um die von Steding mit großer K larheit in den
M ittelpunkt gestellte Frage, ob das Deutsche Reich eine neutralisierte, ent­
politisierte, den Interventionen seiner Nachbarn ausgesetzte, schwache, oder
aber die freie, ihre schöpferische Eigenschaft bew ährende, starke Mitte
E uropas sein soll.
III.
Der Reidisbegriff als Überwindung eines Zeitalters der Neutralisierungen
D ie stärk ste W irkung, die Stedings W erk für unsere rechtswissenschaft-
lid ie E rkenntnis haben kann, sehe ich darin, daß er in den Begriff des
Reiches gerade die Ü berw indung eines Zeitalters der N eutralisierungen
und E ntpolitisierungen aufnim m t. Dadurch w ird eine w eitere K lärung des
" Stäätsbegriffs und die Ü berw indung a lte r und eingew urzelter staats-
1 Carl B i] f i n g e r , Völkerbundsrecht gegen Völkerrecht; Schriften der Akademie
für Deutsches Redit, herausgegeben von Reichsminister Dr. Hans Frank, Gruppe
Völkerrecht, Nr. 6 (Mündien 1938) ; dazu die Besprediung, die B a r a n d ο n dieser
sowie meiner Schrift über dieWendung zum diskriminierenden Kriegsbegrift, 1938, m
der Zeitschrift „Deutsche Rechtswissenschaft“, Bd. IN (1939) S. 190f. veröffentlicht hat.

19*
292 Neutralität und Neutralisierungen

m ythischer V orstellungen möglich. Ein in Deutschland w eitverbreiteter


Staatsm ythos und die Begriffe der Staatsphilosophie Hegels haben es nicht
hindern können, daß auch der deutsche Staat, wie der europäische Staat als
die machina machinarum, in einer spezifischen W eise zum rIrä g e r und
Instrum ent eines N eutralisierungsprozesses gew orden ist. Vom Staat spricht
Steding allerdings oft in der gleichen W eise w ie vom Reich, ohne beides
deutlich zu unterscheiden. H ier sind seine A usführungen noch der K lärung
bedürftig, womit nicht gesagt sein soll, daß m an ihn h ier m it dogmatistischen
Begriffsklopfereien schulmeistern soll. D ie U nklarheit liegt hauptsächlich
darin, daß Steding in Hegel den großen politischen D enker D eutschlands
und des preußischen Staates sieht, im Vergleich zu dem auch K ant und
sogar Fichte noch allzusehr den Einflüssen westlicher N eutralisierungen
verfallen sind. Hegels Staat w ar imstande, in echter geschichtlicher D ialektik
— diese D ialektik im Sinne Hegels und nicht etw a der von K ierkegaard
stam menden dialektischen Theologie verstanden — der W egbereiter des
Reiches zu w erden. F ü r Hegel aber ist schon dieser preußische Staat ein
Reich, und zw ar ein Reich der objektiven V ernunft und der Sittlichkeit, und
es ist selbstverständlich, daß m it diesem Staat nicht ein beliebiges Gem ein­
wesen im Sinne des n eutralen Staatsbegriffs einer allgem einen Staatslehre,
sondern der politisch-geschichtlich k onkrete preußische Staat der ersten
H älfte des 19. Jahrhu nderts gem eint ist.
D er preußische Staat hatte gerade in dem dam aligen Abschnitt seiner
Geschichte — in der Zeit n a c h dem fürstlichen Absolutism us des 18. und
v o r dem liberalen K onstitutionalism us des 19. Ja h rh u n d erts — eine spe­
zifisch staatliche A rt von Vollkom m enheit und K lassizität ■■■■. Die
Staatsphilosophie Hegels gehört, k o n k ret geschichtlich-p* Ö nock gegen
ebenso zu diesem preußischen Staat und seinem preußi. > rechts­
dam alige G eneralstab mit Scharnhorst und Gneise ' privaten F rei-
Finanzverw altung u n ter Motz und M aaßen und die kle Völker-
tu r Schinkels. Man darf freilich nicht vergessen, d a r !j.?r begibt sich in
Sophie Hegels, auch w enn man von ihrem philosop \ , errechtlich zu-
„N eutralen, aber unendlich B efruchteten“ (RechtsphiT ykannten Zu-
§ 12) absieht, geschichtlich-politisch gesehen doch schon . .jhussetzt. Auch
einer konstitutionellen N eutralisierung des Monarchen zu irtschafl und
Benjam in Constants L ehre von einer besonderen neu tra das Prisen-
Königs, wie Hegels Unterscheidung der „fürstlichen G ew ann Völker-
„Regierungsgew alt“ (Rechtsphilosophie § 275) zeigt, nicht ohne
geblieben ist. D er W iderstand gegen die fortw ährenden N eutralisierungen
des liberalen Konstitutionalism us konnte n u r in einem starken, die volle
und ungeteilte R egierungsaktivität konzentrierenden Staate erfolgreich
sein, der dem eindringenden westlichen G edankengut auch geistig üb er­
legen w ar. Das vom Staat zerstörte Reich konnte n u r durch einen Staat
w iedergew onnen werden, in analoger Weise, wie sich im pluralistischen
Parteiensystem die Überwindung der P arteiungen n u r durch eine stark e
und überlegene P a rte i vollzog. Hegels Philosophie enthielt bereits die im
Neutralität und Neutralisierungen 29·*

späteren Linkshegelianism us entfalteten Keime einer Revolutionierung


im Sinne der westlichen Entwicklung. A ber diese w aren noch im Gesamt­
system gebunden, und dieses w ar jedenfalls noch ein Ausdruck der un­
bestreitbaren geistigen Überlegenheit des preußischen Staates.
Im Jah re 1840 setzte jedoch eine andere W endung ein, die im schlimm­
sten Sinne des W ortes „reaktionär“ genannt w erden kann. Sie hat den
preußischen Staat angesichts der herannahenden liberalen Revolution
innerlich gelähm t und in die bloße Defensive gedrängt. König Friedrich
W ilhelm IV., der in jenem Jahre zur Regierung kam, versuchte die rom an­
tischen Ideale seiner kronprinzlichen Jugend mit Hilfe von Freunden und
M itarbeitern einer vergangenen G eneration zu verwirklichen. Die U n­
glücksfiguren des Gesetzgebungsm inisters Savigny und des zur Über­
windung des Hegelianism us nach Berlin berufenen alten Schelling gehören
ebenso typisch in diese Zeit wie die Unheilsfigur eines Stahl-Jolson. Welch
ein Absturz! D er preußische Staat, der im 17. Jahrhundert einen Pufen-
dorff nach Berlin zog, der im 18. Jah rh u n d ert Voltaire als Gast in Potsdam
sah, holte jetz t einen frisch assim ilierten Juden aus dem süddeutschen
Ghetto als B ekäm pfer der Staatsphilosophie Hegels an die U niversität
Berlin! G egenüber der Revolution von 1848/49 konnte dann das preußische
H eer zw ar die Lage retten und die O rdnung w iederherstellen, aber nicht
d arüber hinweghelfeffi, daß der preußische Staat eben doch mit dem libe­
ralen K onstitutionalism us p aktieren m ußte und der fortschreitenden Neu­
tralisierung zw ar großartige adm inistrative, militärische und außenpoli­
tische Leistungen und Erfolge, aber keine eigene W eltanschauung und
k°.‘ ? eigene Philosophie entgegenzusetzen vermochte. E r w ar und blieb
der Defensive, und die Defensive ist im geistigen Kampf der
W ährem . üsierung. Bruno B auer hat mit dem kritischen Scharf­
punkt e n th e e des preußischen Staates verzw eifelnden H egelianers
d er universal) treffend gekennzeichnet: „Die E roberung der auf-
grenzung un :waltsame U nterw erfung und Umbildung durch das
sierungen füll Jas H eer in seiner alten O rganisation ist nicht m ehr
spielen gezei^ü L jKratie seiner F ü h re r keine vorschreitende geschicht-
Osterreich e. < cnn erobern kann nu r der jenige, der seine Beute besser
. selbst und sie durch diese Überlegenheit der Bildung
t ändi gen. n s ich u n terw irft1.“
n jn n te auch der preußische Staat dem Schicksal der innerstaatlichen
mderh-erung meh r entgehen. Die Elem ente eines Reichsgedankens,
ung ^ej noch einen solchen Staat hineinlegen konnte, m ußten im Laufe
c -Î^Zeit entfallen, und die V erlagerungskonstruktionen der Verfassung des
Zweiten Reiches haben (wie oben u n ter I gezeigt) w eder ein neues, w irk ­
liches Reich, noch eine dauernde E rhaltung der Q ualitäten des hegelisdi-
preußischen Staates bew irken können. Ein Reich ist eben etwas anderes
als eine nationalliberal gestützte, verm ittelnde D achkonstruktion über *
* Die bürgerliche Revolution in Deutschland seit dem Anfang der deutsch-
katholischen Bewegung bis zur Gegenwart. Berlin 1849, S. 294.
294 Neutralität und Neutralisierungen

partikularistischen, föderalistischen, konfessionellen und sozialen Gegen­


sätzen; es ist w eder ein Staatenbund, noch ein Bundesstaat; es ist auch kein
Rechtsstaat, sondern die politische Form konkret entschiedener Sittlichkeit
und objektiver Vernunft. Dadurch ist es die Überwindung der N eutrali­
sierungen, auch die Überwindung des Staatsm ythos, der einen geschichtlich
bereits der N eutralisierung verfallenden Staat immer noch als ein Reich
erscheinen ließ. H ier liegt, verfassungsgeschichtlich gesehen, der Sinn von
Stedings Reichsbegriff. Reichwerdung bedeutet bei ihm den Sieg über das
Zeitalter der N eutralisierung und zugleich eine R ettung alles dessen, was
an dem deutschen Staat des 19. Jahrhunderts stark und lebenskräftig war.
Im Reich ist, mit dem berühm ten Doppelsinn des Hegelischen Begriffs, der
Staat „aufgehoben“. Jeder Sachkundige, der den verfassungs- und völker­
rechtlichen Einfluß des N eutralisierungsdenkens kennt, w ird gerade diese
Leistung Stedings anerkennen und bew undern. In den letzten Jahren ist
auch von rechtswissenschaftlicher Seite, z. B. von H ugelm ann1 und von
K eller12, vieles Neue und Treffende zum Reichsbegriff gesagt worden. Aber
der G edanke Stedings scheint m ir ebenfalls sehr wichtig zu sein. Denn
er stellt den Reichsbegriff in den M ittelpunkt einer weltbewegenden Aus­
einandersetzung, in den konkreten politischen W eltkam pf.
A uf dem H öhepunkt des preußischen Verfassungskonflikts hat ein
jüdischer A bgeordneter, D r. E duard Simson — 1848/49 P räsident der F ran k ­
fu rte r Verfassunggebenden N ationalversam m lung und F ü h re r der die
K aiserkrone anbietenden D eputation; 1850 P räsident des Volkshauses des
E rfu rter Parlam ents; 1868 bis 1870 Präsident des Zoll Parlam ents; 1867 bis
1874 Präsident des Deutschen Reichstages und als D eputationsfüh’-r
der K aiserproklam ation in Versailles 1871 zugegen; 1879 P r ä s e n t des
höchsten deutschen Gerichtshofes des neugegründeten Reiches cctit rr Jude
Simson also hat unter dem „langanhaltenden B eifall“ des ^ privaten p re u ­
ßischen Landtag am 10. F eb ru ar 1866 dem preußischen M jnrsnidit Volant en
Bismarck zugerufen: „Sie stehen im Kam pf mit den geis begibt sil sitt­
lichen Mächten der G egenw art; Sie w erden diesen M açkerrechtlich °der
später weichen müssen, deren Gewicht und Bedeutung Sie irkannten TA ·
D en deutschen Liberalen, die diesen hintergründigen W o rte n -sgt ahnungs­
loser Begeisterung ihren Beifall spendeten, w aren damals Augen und
O hren gebunden. So ging der Kampf je n e r „geistigen und sittlichen Mächte“
für sie unsichtbar und unhörbar w eiter, bis die N iederlage Deutschlands
im Jahre 1918 vollendet schien. Heute, nach der E rneuerung der deutschen
V olkskraft durch Adolf H itler, w ird derselbe Kam pf in demselben Maße
offen, in dem er weltpolitische Ausmaße erreicht. D er Reichsbegriff Stedings
aber steht in dem großen Horizont eben dieses Kampfes so, wie sein ganzes
W erk m itten in diesem schwierigsten, härtestens und undankbarsten aller
Kämpfe steht und n u r darin zu verstehen ist. Wem Augen und O hren nicht
1 Zeitschrift für öffentliches Recht Bd. XVI (1936) S.444 (das Reich durch den
Sendungsauftrag gekennzeichnet).
2 Zeitsdirift für öffentliches Recht Bd. XVIII (1938) S. 438 (Reich und Recht).
Großraum gegen Universalismus 295

m ehr gebunden sind, w ird dieses Buch vom Reich auch in seinem un­
vollendeten und unvollkom menen Zustand richtig zu lesen wissen. E r w ird
es für die eigene A rbeit fruchtbar machen, dem tapferen V orkäm pfer dank­
b a r sein und den Namen C hristoph Stedings in Ehren halten.

35. Großraum gegen Universalismus (1939)


Der völkerrechtliche Kampf um die Monroedoktrin
Die echte, ursprüngliche M onroedoktrin, wie sie dem Geist John Q uincy
Adams* entsprungen und in der Botschaft des Präsidenten Monroe vom
2. Dezember 1823 ausgesprochen ist, enthält drei einfache G edanken: Un­
abhängigkeit der am erikanischen Staaten; Nichtkolonisation in diesem
Raum; Nichteinmischung außeram erikanischer Mächte in diesen Raum, ver­
bunden mit Nichteinmischung A m erikas in den außeram erikanischen Raum.
Im Laufe der Zeit sind natürlich viele Anpassungen an die sich entwickelnde
politische Lage, viele Auslegungen und Ausw eitungen eingetreten. D ie
Einzelheiten dieser Entwicklung interessieren hier nicht1. W esentlich ist,
daß die M onroedoktrin echt und unverfälscht bleibt, solange der G edanke
eines konkret bestimm ten Großraum es festgehalten w ird, in welchen raum -
frem de Mächte sich nicht einmischen dürfen.
Das Gegenteil eines solchen, vom konkreten Raum her gedachten G rund­
satzes ist ein die ganze Erde und Menschheit umfassendes, universalistisches
W eltprinzip. Dieses fü h rt naturgem äß zu Einmischungen aller in alles.
W ährend der Raum gedanke einen Abgrenzungs- und Verteilungsgesichts­
punkt enthält und daher ein ordnendes Rechtsprinzip aufstellt, zerstört
der universalistische W elt-Einmischungsanspruch jede vernünftige Ab­
grenzung und Unterscheidung. Wohin solche raum m ißachtenden U niversali-
sierungen führen, hat die P raxis des G enfer Völkerbundes an vielen Bei­
spielen gezeigt. Ich erinnere nur daran, daß in der Frage, ob das dam alige
Österreich eine Zollunion mit dem Deutschen Reich eingehen dürfe (1931),
schließlich die Stimme eines Kubaners, Bustamente, für das Gutachten des
Ständigen Internationalen Gerichtshofs ausschlaggebend w erden konnte12.
In allen wichtigen europäischen Angelegenheiten, nicht zuletzt im sog.
M inderheitenschutzrecht, läßt sich die verw irrende und zerstörende W ir­
kung universalistischer Methoden feststellen, deren eigentliches Unheil
darin besteht, daß sie fortw ährend für die Einmischungen raum frem der
1 Von den zahlreichen geschichtlichen Arbeiten zur Monroedoktrin sei hier das
letzte, in drei Bänden vorliegende Werk von Dexter P e r k i n s , The Monroe Doc­
trine, genannt, dessen Band 3 (1867—1907) 1937 in Baltimore erschienen ist.
2 Eine vorzügliche, für den Zusammenhang unseres Textes lehrreiche Darstellung
der bei diesem Gutachten offenkundig gewordenen Sinnwidrigkeit solcher „inter­
nationalen“ Streitbeilegungsmethoden enthält der Aufsatz von Carl B i I f i n g e r ,
Die deutsch-österreichische Zollunion vor dem Ständigen Internationalen Gerichtshof
im Haag, Deutsche Juristen-Zeitung 1931, S. 1205 ff.
296 Großraum gegen Universalismus

Mächte Vorwand und Anlaß liefern. Man darf ohne Ü bertreibung sagen,
daß der Genfer V ölkerbund an dem M ißverhältnis zugrunde gegangen ist,
das zwischen seiner universalistischen K onstruktion und den sachlichen
Notwendigkeiten der inneren Eigenordnung des europäischen G roßraum es
besteht. Alle Hinweise auf dieses M ißverhältnis sind nutzlos gewesen1.
Die U niversalisten w aren unbelehrbar, weil sie sich von der Ideologie der
liberaldem okratischen Westmächte nicht freimachen konnten.
In der Geschichte der amerikanischen M onroedoktrin bedeutet die gegen
Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende ökonomisch-imperialistische Politik
des Präsidenten Theodore Roosevelt einen W endepunkt. Th. Roosevelt hat
die M onroedoktrin als Vorwand für besonders rücksichtslose M ethoden
einer liberal-kapitalistischen „D ollar-D iplom acy" m ißbraucht. Diese
Methoden haben eine eingehende K ritik gefunden, deren Berechtigung
durch die einschränkenden und m ildernden E rklärungen, die seit 1928 e r­
gangen sind, im G rundsatz anerkannt ist. Eine starke ibero-am erikanische
Richtung bem üht sich, gegenüber solchen im perialistischen M ißbräuchen
den spezifisch kontinental-am erikanischen und defensiven C h a ra k te r der
M onroedoktrin durchzusetzen und dadurch ihren ursprünglichen Sinn zu
retten 2.
1 In der T at hat die ursprüngliche am erikanische M onroedoktrin
mit den G rundsätzen und Methoden des m odernen liberalkapitalistischen
Im perialism us nichts zu tun. Als echte R aum doktrin steht sie sogar in aus­
gesprochenem Gegensatz zu einer raum m ißachtenden V erw andlung der
Erde in einen abstrakten W elt- und K apitalm arkt. D ieser ganze, von
Th. Roosevelt inaugurierte Entwicklungsabschnitt läßt sich daher geradezu
mit der Form el Monroe contra Roosevelt kennzeichnen. D aß eine derartige
Umfälschung der M onroedoktrin in ein imperialistisches W elthandels­
prinzip möglich w ar, w ird für alle Zeiten ein erschütterndes Beispiel der
betäubenden W irkung leerer Schlagworte bleiben. D ie Fälschung erreichte
ihren H öhepunkt, als der Präsident W oodrow W ilson am 22. Jan u ar 1917
in aller Form verkündete, die M onroedoktrin müsse eine W eltdoktrin
werden. D aru n ter verstand er nicht etw a eine sinngem äße Ü bertragung
des in der echten M onroedoktrin enthaltenen, nichtinterventionistischen
Raum gedankens auf andere Räume, sondern im G egenteil eine raum - und
grenzenlose Ausdehnung liberaldem okratischer Prinzipien auf die ganze
E rde und die ganze Menschheit3. A uf diese W eise suchte er eine Recht-

1 Vgl. Carl S c h m i t t , Die Kernfrage des Völkerbundes, Berlin 1926, S. 19 ff.


* Hans R ö me r , Strukturwandel der Nordamerikanischen Ibero-Amerika-Politik
1928—1934 in Ibero-Amerikanisdies Archiv Bd. 8 S. 231 ff.; Gaston Nerval (Pseudo­
nym für Raùl Diez de Media), Autopsy of the Monroe Doctrine: the strange story
of Inter-american relations, New York 1934. Auch die Bemühungen von Alejandro
Alvarez, auf der Grundlage der Monroedoktrin ein amerikanisches Völkerredit zu
sdiaffen, gehen in scharfer Unterscheidung auf die ursprüngliche Monroedoktrin
zurück. Vgl. audi die Bemerkung von Jessup zu dem mexikanischen Memorandum
vom Oktober 1933 „The Generalisation of the Monroe Doctrine“ in American Journal
of International Law, Bd. 29 (1935) S. 105 ff.
3 Carl S c h m i t t , Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot
für raumfremde Mächte, Berlin-Wien 1939, S. 57, 54.
Grofiraum gegen Universal ismus 297

fertigung für seine ungeheuer!idle Einmischung in den ihm völlig frem den
außereuropäisdien Raum und in die kriegerische A useinandersetzung
zwischen den europäischen Mächten.
F ü r jeden, der an k lare Begriffe gewöhnt ist, w ird der Satz, daß die
M onroedoktrin eine W eltdoktrin w erden müsse, in der Bedeutung, die
Wilson ihm 1917 gegeben hat, zunächst ganz unverständlich sein. Wie kann
ein G rundsatz, dessen spezifisdier Sinn und Rechtsgedanke in seiner Be­
schränkung auf einen bestim m ten K ontinent liegt und dessen K ern der
G rundsatz der N ichtintervention raum frem der Mächte ist, zu einer all­
gemeinen raum - und grenzenlosen W eltdoktrin und zur Rechtfertigung
einer Einmischung in einen auf einem fernen K ontinent geführten K rieg
werden? Was hat der Protest Monroes aus dem Jahre 1823, der gegen die
Einmischung Rußlands und der Heiligen A llianz in am erikanische V er­
hältnisse gerichtet w ar, mit den kapitalistischen W eltm arktinteressen in
Europa oder Asien zu tun? D ie M ethoden und Interessen dieses W elt­
kapitalism us heben doch gerade die räum lichen G renzen und U nter­
scheidungen auf, durch welche alle Begriffe und Vorstellungen von Ein­
mischung und Nichteinmischung überhaupt erst einen faßbaren Inhalt be­
kommen.
Die Um wandlung eines raum haft gedachten Nichteinmischungsprinzips
in ein raum los allgemeines Einmischungssystem ist dadurch möglich ge­
worden, daß W oodrow W ilson den ideologischen G edanken der liberalen
D em okratie und der mit ih r zusam m enhängenden Vorstellungen, insbeson­
dere des „freien“ W elthandels und „freien“ W eltm arktes, an die Stelle
des ursprünglichen und echten M onroeprinzips setzte. D am it beginnt ein
e rb itte rte r geistiger Kam pf um die M onroedoktrin. Indem Th. Roosevelt,
W oodrow W ilson und der gegenw ärtige Präsident F ran k lin D. Roosevelt
aus einem spezifisch am erikanischen R aum gedanken eine überstaatliche
und übervölkische W eltideologie machten, haben sie versucht, die Monroe­
doktrin als ein Instrum ent der H errschaft des angelsächsischen K apitals auf
dem W eltm arkt zu benutzen. Nach dem W eltkrieg w urde die Monroe­
doktrin auf C hina in der W eise angew andt, daß sie vor allem den G rund­
satz der „offenen T ü r“ und des freien kapitalistischen W ettbew erbs gegen­
über den politischen Ansprüchen Japans zum Inhalt haben sollte. G erade
dem positivistisch gerichteten Juristen w ird es schwer, die eigentümliche
Um deutung, die hier vorliegt, sofort zu durchschauen. D er Positivist w endet
sich, angew idert von dem Lärm der Schlagworte, lieber von solchen Vor­
gängen ab, um dann freilich, wenn die Schlagworte ih r Ziel erreicht haben,
um so eifriger in ihrem Dienst zu funktionieren. W erfen w ir daher einen
Blick auf den geistigen Kampf, der seit vielen Jahren wegen der sog. „ost­
asiatischen“ oder „japanischen M onroedoktrin“ geführt w ird.
E r verdient unsere besondere A ufm erksam keit schon deshalb, weil fast
alle rechtlichen Beweisgründe, die von am erikanischer und englischer Seite
gegen das japanische V ordringen geltend gemacht w orden sind, in gleicher
oder ähnlicher Weise auch gegen berechtigte Ansprüche Deutschlands ins
298 Großraum gegen Universalismus

Feld geführt werden. D er englisch-amerikanische Anspruch auf die Rolle


eines W eltenrichters äußert sich z. B. in der Stim sondoktrin1, die sich
die „A nerkennung“ oder „N ichtanerkennung“ von G ebietsänderungen vor­
behält. Das Buch desselben Staatssekretärs Stimson über die Krisis im
Fernen O sten12läßt sowohl die weltanschaulich liberaldem okratische G rund­
haltung wie auch die selbstverständliche Identifizierung angelsächsischer
Interessen mit dem Völkerrecht selbst erkennen. Beides richtet sich in ent­
sprechender Weise auch gegen das Deutsche Reich und Italien. Die Be­
rufungen auf politisches und wirtschaftliches Lebensrecht und Lebens­
raum , die von deutscher, italienischer und japanischer Seite in verschiedenen
Form ulierungen vorgebracht w orden sind, stoßen imm er auf dieselben
Einmischungsansprüche der westlichen D em okratien. Über die asiatische
oder japanische M onroelehre, den „Asia M onroe-shugi“, ist bereits
ein großes Schrifttum entstanden. Zwar liegen eigentliche R egierungs­
erklärungen, die das W ort und die Form el „M onroedoktrin“ amtlich für
Japan in Anspruch nehmen, soviel ich sehe, noch nicht vor. Doch h at schon
die in zahlreichen Äußerungen nichtamtlicher A rt gebrauchte Form el und
ihre Verwendung in der Publizistik genügt, um eine Reihe von kritischen
Veröffentlichungen auf den Plan zu rufen. Sie v ertreten m it großem Eifer
die Tendenz, daß die M onroedoktrin ein Monopol der V ereinigten Staaten
von A m erika ist und daß sie auf andere politische und geopolitische
Situationen nicht oder jedenfalls nur mit Billigung und A pprobation der
Regierung der Vereinigten Staaten übertragen w erden kann. Dieses Schrift­
tum ist heute, nach den E rklärungen der F üh rerred e vom 28. A pril 1939,
fü r den deutschen Rechtsw ahrer von besonderem Interesse. Es soll hier
kurz behandelt w erden,nicht, um alle seine vielen einzelnen Bew eisgründe3
erschöpfend wiederzugeben, sondern um ihre völkerrechtliche K ern­
argum entation herauszusteüen. Sie beruht auf einer eigentümlichen Ver­
bindung bloßer Besitzargum entationen des status quo der heutigen Ver­
tragslage (pacta sunt servanda), also eines bloßen Vertragspositivism us,
1 Die Note des amerikanisdien Staatssekretärs Stimson an die Regierungen von
China und Japan vom 7. Januar 1932 enthält die Erklärung, daß die Regierung der
Vereinigten Staaten weder die Legalität irgendeiner d e /ac/o-Situation zugeben, noch
zwischen Japan und China abgeschlossene Verträge anerkennen werde, die die Ver­
tragsrechte der Vereinigten Staaten oder ihrer Staatsbürger in China verletzen, ein­
schließlich solcher Verträge, die sich auf die Souveränität, die Unabhängigkeit oder
die territoriale und administrative Unverletzlichkeit der chinesisdien Republik oder
diejenige internationale Politik hinsichtlich Chinas, die als die „Politik der offenen
Tür“ bekannt sei, beziehen. Eine Entschließung der Genfer Völkerbundsversammlung
vom 11. März 1932 stellt in entsprediender Weise den Grundsatz der Nicht-
Anerkennung aller Situationen oder Verträge auf, die im Widerspruch mit dem
Genfer Völkerbundspakt oder dem Kelloggpakt zustande gekommen sind.
2 The Far Eastern Crisis, New York und London 1936.
3 Ein solches Einzelargument ohne grundsätzlichen Charakter ist z. B. der Hin­
weis von Parker Thomas M o o n , Imperialism and World Politics, New York 1927,
S. 363, darauf, daß die Vereinigten Staaten von Amerika fast die Hälfte der Bevölke­
rung der westlichen Hemisphäre einnehmen, während Japan nur 6 bis 7 v. H. der
Bevölkerung Asiens habe.
Großraum gegen Universalismus 299

m it den ideologischen G rundsätzen einer liberaldem okratischen und liberal-


kapitalistischen W eltanschauung.
Solange R ußland der Feind Englands w ar, h atte man allerdings gegen
die Verwendung einer asiatischen M onroedoktrin durch Japan nichts ein­
zuwenden. Schon im Jahre 1905 soll der dam alige P räsident Theodore
Roosevelt dem japanischen Vicomte Kaneko die Anregung gegeben haben,
die M onroedoktrin auf Asien zu übertragen. D abei ging Roosevelt offenbar
von der Vorstellung aus, daß diese Ü bertragung der M onroedoktrin nichts
anderes bedeute als die wirtschaftliche Erschließung Ostasiens fü r das
am erikanische K apital, also eine Ü bertragung der weltw irtschaftlichen
Methoden des angelsächsischen Im perialism us auf Ostasien, insbesondere
auf China. Eine ostasiatische M onroedoktrin m it diesem Sinn und Inhalt
w äre demnach nichts anderes gewesen als die Öffnung Chinas für seine
A usbeutung durch das angelsächsische K apital, d. h. eine V erw andlung
Chinas in eine amerikanisch-englische Kolonie. Dam it w ar m an natürlich
einverstanden. Kaum zeigte sich aber, daß zwischen diesen angelsächsisch-
kapitalistischen Interessen in C hina auf der einen und Japans politischen
Ansprüchen auf die Mandschurei und auf eine Reform und R eorganisation
C hinas auf der anderen Seite ein wesentlicher Unterschied bestand, so
setzte auch gleich das oben erw ähnte Schrifttum ein und suchte mit v er­
schiedenartigen Argum enten die Ü bertragbarkeit der M onroedoktrin und
die Zulässigkeit einer „japanischen M onroedoktrin“ in Zweifel zu ziehen.
Ein bekannter Professor der Political Science an der Johns-Hopkins-
U niversität, W estei W. W illoughby, der 1916/17 legal adviser der chine­
sischen R epublik gewesen w ar und als ein besonderer K enner Chinas gilt,
hat 1927 ein Buch über die frem den Rechte und Interessen in C hina ver­
öffentlicht und darin der Frage, ob Japan ein wirkliches Recht habe, mit
Bezug auf C hina eine Monroe D octrine zu verkünden, ein besonderes
K apitel gewidm et1. D aß Japan schon wegen seiner geographischen und
politischen Lage gegenüber C hina eine „special position“ hat, kann er
natürlich nicht bestreiten. Die F rage ist für ihn nur, welche Rechte, die
durch anerkannte G rundsätze des Völkerrechts und der „Com ity“ be­
gründet sind, Japan für sich in Anspruch nehmen dürfe. Zu dem „Recht
auf wirtschaftliche Existenz und nationale Sicherheit“ m eint der am erika­
nische G elehrte, daß auch eine Wirtschaft liehe oder sonstige Notlage kein
Recht auf Verletzung der vertraglichen R edite anderer Staaten gebe. D er­
artige Forderungen e rk lä rt er für „Ansprüche von der A rt des deutschen
Anspruchs auf den Platz an der Sonne“. Statt dessen gibt er Japan den
guten Rat, in freier K onkurrenz den diinesischen M arkt zu erobern. D er
Sinn der A rgum entation ist k lar: ein Recht auf Rohstoffe w ird n u r bei
gleichzeitiger U nterw erfung unter das liberal kapitalistische W eltsystem
zugebilligt. Ausdrücklich w ird die in gleicher Richtung gehende A ntw ort *S.
1 Foreign rights and interests in China, Baltimore (The John Hopkins Press) 1927,
S. 402 ff.: Has Japan an Valid Right to Assent a Monroe Doctrine with Reference
to China?
300 Großraum gegen Universalismus

der alliierten Mächte auf den deutschen P rotest gegen die V ersailler
Friedensbedingungen aus dem Jah re 1919 zitiert. Ein In dustrieland soll
sich seine Rohstoffe auf dem W eltm arkt kaufen. Alle anderen Ansprüche
erscheinen dem am erikanischen Professor der Political Science als recht­
lich unbegründet. Die A rgum entation des bloßen status quo, verbunden
m it dem H inw eis auf die bestehenden V erträge und das bekannte pacta
sunt servanda, beherrscht diesen Teil der A usführungen W illoughby’s.
Neben dieser B erufung auf die L egalität des status quo der V erträge
sind aber, ebenso deutlich und ebenso entscheidend, die P rinzipien der
liberaldem okratischen W eltanschauung als die eigentliche G rundlage der
G edanken- und B ew eisführung erkennbar. W ie tief der weltanschauliche
G egensatz liegt, zeigt sich bei der E rörterung der Frage, ob die M onroe­
d o k trin Japan vielleicht einen „precedent“ liefern könne. D ie F rag e w ird
selbstverständlich verneint. Die B egründung der V erneinung ist überaus
kennzeichnend. D ie M onroedoktrin, sagt W illoughby, h at den V ereinigten
Staaten niem als A rgum ente für te rrito ria le A nnexionen geliefert, und
w enn die V ereinigten Staaten in Z entralam erika und W estindien eine
finanzielle und adm inistrative K ontrolle ausüben, so im m er n u r und aus­
schließlich im Interesse eigener Staatsangehöriger, die dort H andel treiben,
und n u r zum W ohl der B evölkerung dieser G ebiete. Mit anderen W orten:
n u r der ökonom isch-kapitalistische Im perialism us am erikanischen Stils soll
das Recht haben, sich auf die M onroedoktrin zu berufen. Ein a n d erer A utor,
Professor G. H. B lakeslee1, h at ein ähnliches A rgum ent in der Form vor­
gebracht, daß er sagt, m an dürfe die M andschurei und Z entralam erika
nicht vergleichen, denn die V ereinigten Staaten, betont Blakeslee, hätten
M exiko nicht m ilitärisch besetzt, nicht seine V erw altung an sich gerissen,
keine U nabhängigkeitsbew egungen organisiert und keine neue R egierung
eingesetzt. Angesichts der Vorgänge, die zur E ntstehung der R epubliken
K uba und Panam a geführt haben, ist das k ein gutes A rgum ent.
Ein an d erer A m erikaner, C. W alter Young, h at der „besonderen Lage
Japans in der M andschurei“ eine im Ja h re 1931 erschienene eingehende
U ntersuchung gew idm et12. D er G rundsatz des Lebens rechts, „the R ight to
live D octrine“, sagt er (S. 298ff.) ist keine Lehre der Zusam m enarbeit und
Versöhnung, sondern n u r die einseitige Inanspruchnahm e des einstigen
Rechts, gegen einen Staat, der Rohstoffe besitzt, vorzugehen. Eine asiatische
M onroedoktrin ist zw ar von Japan niem als form ell nach am erikanischem
P ro to ty p für Asien oder auch n u r O stasien in Anspruch genommen w orden,
aber Japan w ill die führende Rolle m it Bezug auf C hina spielen. Young
betont allerdings, daß m an die sog. Karibische D o k trin und die W estindien-,
1 Die im übrigen oberflächliche Abhandlung von Georges K l é v a n s k i , Le
„Monroisme" Japonais, Paris 1935, ist im wesentlichen Gedankengang von Blakeslee
abhängig, dessen Buch Conflicts of Politics in the Far East 1934 in Boston er­
schienen ist. Blakeslee war Sachverständiger der amerikanischen Regierung in der
Lytton-Kommission.
2 Japan’s special position in Manchuria, its assertion, legal interpretation and
present meaning; Baltimore-London-Oxford 1931.
Großraum gegen Universalismus 301

Panam akanal- und M exiko-Politik'der V ereinigten Staaten nicht mit der


M onroedoktrin verwechseln dürfe, wie das auch C harles Evan Hughes
m it Recht betont habe. Von der „Karibischen“ D oktrin w ird die Monroe-
doktrin also ausdrücklich abgerückt. Auch das Recht, die eigenen Staats­
angehörigen zu beschützen, sei etwas ganz anderes als die M onroedoktrin
(S. 344/45). Das ist zweifellos richtig. Wo liegt nun, nach Young, der w ahre
und eigentliche G rund dafür, daß die Japaner kein Recht haben sollen,
sich auf eine asiatische M onroedoktrin zu berufen? D arin, daß die Ü ber­
legenheit Japans keine „natürliche“, d. h. für den A m erikaner: keine w irt­
schaftliche oder finanzielle Überlegenheit ist, sondern m ilitärischen C ha­
ra k te r hat (S. 343). Dieses A rgum ent spielt auch in dem oben genannten
Buch des Staatssekretärs Stimson über die Krisis im Fernen O sten eine
große Rolle. H ier w ird sogar (S. 73) eine große weltgeschichtliche Freund-
Feind-G ruppierung unter dem Aspekt des Gegensatzes von Recht und
Unrecht, angelsächsischem Rechtsgefühl und japanischem M ilitarism us an
die W and gemalt. H ier zeigt sich, mit welcher Selbstverständlichkeit das
liberalkapitalistische D enken des ökonomischen Im perialism us seine spe­
zifischen Expansions- und Beherrschungsm ethoden für wesentlich „fried­
lich“ und „natürlich“ e rk lärt, nicht nur, um die M onroedoktrin dem poli­
tischen Gegner aus der H and zu nehm en und fü r sich zu beschlagnahmen,
sondern auch als geistige Rüstung für den gerechten Krieg.
Aus dem Schrifttum zur asiatischen M onroedoktrin sei schließlich noch
die Abhandlung eines Chinesen, Johnson Long, genannt, die 1933 in fra n ­
zösischer Sprache erschienen und von de La Pradelle mit einer einleitenden
Vorrede versehen ist1. D er französische Völkerrechts ju rist bleibt in seiner
Einleitung bei dem typischen vertragspositivistischen A rgum ent der Legali­
tä t des status quo. Die w ahre „D oktrin“, um die es sich handelt, gründet
sich nach ihm auf die internationalen V erträge, insbesondere den Neun-
M ächte-Pakt vom 6. Dezem ber 1922 und auf zwei Prinzipien: die Gleich­
heit der wirtschaftlichen und industriellen Chancen fü r alle Nationen, ohne
Bevorzugung Japans, und den Respekt vor der Souveränität und der te rri­
torialen Integrität Chinas. Johnson Long selbst spricht von einer asiatischen
M onroedoktrin als einer bloßen „Pseudodoktrin“ (S. 176). E r faßt seine An­
sicht von der großen Verschiedenheit der japanischen gegenüber den am eri-
panischen Prinzipien in drei Punkte (S. 182) zusammen: 1. die am erikanische
M onroedoktrin g aran tiert die U nabhängigkeit der am erikanischen Staaten
und schützt sie vor Kolonisation; Japan dagegen will aus C hina eine
japanische Kolonie machen; 2. die am erikanische M onroedoktrin ent­
hält das Prinzip der N ichtintervention auf der G rundlage des dem okra­
tischen Regimes und der demokratischen F reiheit; das Reich des Mikado
dagegen ist ein feudalistischer M ilitärstaat und schon deshalb ein ungeeig­
neter V orkäm pfer der M onroedoktrin; 3. die am erikanische M onroedoktrin
ist ein Prinzip der Isolierung und als solches im Z eitalter des V erkehrs
1 La Mandchourie et la doctrine de la porte ouverte, Paris 1933.
302 Großraum gegen Universalismus

überholt, und das Asien des Jahres 1933 ist etw as anderes als das A m erika
des Jahres 1823.
Die drei P unkte w idersprechen sich. P u n k t 3 e rk lä rt eigentlich die
ganze M onroedoktrin für obsolet und scheint vorauszusetzen, daß die
m oderne Verkehrstechnik die Erde bereits in einen einzigen, allen angel­
sächsischen Interventionen offenstehenden Raum verw andelt habe. Doch
sind auch solche in sich widerspruchsvollen D arlegungen von sym pto­
matischer Bedeutung. Sie lassen nämlich erkennen, wie zäh und w eit ver­
breitet die V erbindung ist, die die am erikanische P olitik zwischen der
M onroedoktrin und der Ideologie eines liberaldem okratischen Im perialis­
mus hergestellt hat.
D ieser ganzen V erw irrung haben die E rkläru ngen der F ü h rerred e vom
28. A pril 1939 mit einem Schlag ein Ende gemacht. Sie haben die Bahn zur
W iederherstellung des echten und ursprünglichen G edankens der M onroe­
doktrin gebrochen. „H err Roosevelt w ird sich in diesem F alle (nämlich
einer von unserer Seite an ihn gestellten Frage, welche Ziele er in seiner
A ußenpolitik gegenüber den m ittel- und südam erikanischen Staaten ver­
folge) sicherlich auf die M onroedoktrin berufen und eine solche F orderung
als eine Einmischung in die inneren A ngelegenheiten des am erikanischen
K ontinents ablehnen. G enau die gleiche D oktrin v ertreten w ir Deutsche
nun für Europa, auf alle Fälle aber für den Bereich und die Belange des
Großdeutschen Reiches.“ D am it ist der G edanke einer schiedlich-friedlichen
Abgrenzung der G roßräum e in einfachster Sachlichkeit ausgesprochen und
die V erw irrung beseitigt, mit der ein ökonomischer Im perialism us die
M onroedoktrin um nebelt hatte, indem er ihren vernünftigen R aum ­
abgrenzungsgedanken in einen ideologischen W elteinm ischungsanspruch
umbog. Es w äre ein Streit um W orte, w enn m an jetzt fragen wollte, ob
dam it eine „deutsche M onroedoktrin“ verkündet ist, oder w enn man —
wie das frü h er bereits einmal geschehen ist — eine w eitere E rörterung
d arüber begänne, ob und wiew eit m an überhaupt von einer deutschen,
einer japanischen oder einer sonstigen M onroedoktrin sprechen dürfe. Ein
Blick auf den seit über zwei Jahrzehnten geführten Kam pf um den völker­
rechtlichen Sinn der M onroedoktrin zeigt, daß es hier nicht um leere und
beliebig austauschbare Schlagworte geht, sondern um die elem entarste
F rage eines völkerrechtlichen Zusammenlebens der V ölker und Staaten,
nämlich um den Gegensatz einer klaren, auf dem G rundsatz der Nicht­
intervention raum frem der Mächte beruhenden R aum ordnung gegen eine
universalistische Ideologie, die die ganze Erde in das Schlachtfeld ih rer
Interventionen verw andelt und sich jedem natürlichen W achstum leben­
diger Völker in den Weg stellt. W ir ahm en also nicht einfach ein am eri­
kanisches Vorbild nach, w enn w ir uns auf die M onroedoktrin beziehen; w ir
legen nu r den gesunden K ern eines völkerrechtlichen G roßraum prinzips
frei und bringen ihn für unseren europäischen G roßraum zu sinngem äßer
Entfaltung.
Der Reichsbegriff im Völkerrecht 303

36. Der Reichsbegriff im Völkerrecht (1939)


Eine G roßraum ordnung gehört zum Begriff des Reiches, der hier als
eine spezifisch völkerrechtliche Größe in die völkerrechtswissenschaftliche
E rörterung eingeführt w erden soll. Reiche in diesem Sinne sind die führen­
den und tragenden Mächte, deren politische Idee in einen bestimm ten G roß­
raum ausstrahlt und die für diesen G roßraum die Interventionen fremd-
räum iger Mächte grundsätzlich ausschließen. D er G roßraum ist natürlich
nicht identisch mit dem Reich in dem Sinne, daß das Reich der von ihm vor
Interventionen bew ahrte G roßraum selber w äre; und nicht jed er Staat
oder jedes Volk innerhalb des Großraum es ist selber ein Stück Reich, so
wenig jem and bei der A nerkennung der M onroedoktrin daran denkt,
Brasilien oder A rgentinien zu einem Bestandteil der V ereinigten Staaten
von A m erika zu erklären. Wohl aber h a t jedes Reich einen Großraum ,
in den seine politische Idee ausstrahlt und der frem den Interventionen nicht
ausgesetzt sein darf.
D er Zusammenhang von Reich, G roßraum und N ichtinterventions­
prinzip ist grundlegend. E rst durch ihn erhalten die Begriffe Intervention
und Nicht-Intervention, die für jedes auf dem Zusammenleben der ver­
schiedenen Völker beruhende Völkerrecht ganz unentbehrlich, heute aber
heillos v erw irrt sind, ihre theoretische und praktische Brauchbarkeit. Im
bisherigen, staatlich konstruierten Völkerrecht w ar das berühm te W itzwort
T alleyrands, Nichtintervention bedeute ungefähr dasselbe wie Intervention,
nicht etw a ein überspitztes Paradox, sondern eine alltägliche E rfahrungs­
tatsache. Sobald aber völkerrechtliche G roßräum e mit Interventionsverbot
für raum frem de Mächte anerkannt sind und die Sonne des Reichsbegriffes
aufgeht, w ird ein abgrenzbares N ebeneinander auf einer sinnvoll ein­
geteilten Erde denkbar und kann der G rundsatz der Nicht intervention seine
ordnende W irkung in einem neuen Völkerrecht entfalten.
W ir wissen, daß die Bezeichnung „Deutsches Reich“ in ih re r konkreten
Eigenart und H oheit nicht übersetzbar ist. Es gehört zu der Geschichts­
m ächtigkeit jed e r echten politischen Größe, daß sie ihre eigene, nicht
beliebig subsum ierbare Bezeichnung m itbringt und ihren eigentümlichen
Namen durchsetzt. Reich, Im perium , Em pire sind nicht dasselbe und, von
innen gesehen, untereinander nicht vergleichbar. W ährend „Im perium “ oft
die Bedeutung eines universalistischen, W elt und Menschheit umfassenden,
also übervölkischen Gebildes hat (wenn auch nicht haben muß, da es
m ehrere und verschiedenartige Im perien nebeneinander geben kann) ist
unser Deutsches Reich wesentlich volkhaft bestimm t und eine wesentlich
nichtuniversalistische, rechtliche O rdnung auf der G rundlage der Achtung
jedes Volkstums. W ährend „Im perialism us“ seit dem Ende des 19. Ja h r­
hunderts zu einer oft als bloßes Schlagwort m ißbrauchten Bezeichnung öko­
nomisch-kapitalistischer Kolonisierungs- und Expansionsm ethoden ge-
304 Der Reichsbegriff im Völkerrecht

w orden ist1, blieb das W ort „Reich“ von diesem M akel frei. A udi bringen
sowohl die E rinnerungen an die V ölkeranschauungen des untergehenden
römischen Im perium s wie die A ssim ilierungs- und Scbm elztiegelideale der
Im perien westlicher D em okratie den Begriff des Im perium s in den schärfsten
G egensatz zu einem volkhaft aufgefaßten, alles volkliche Leben achtenden
Reichsbegriff, D as w irk t um so stärk er, als das Deutsche Reich, in der
M itte Europas, zwischen dem U niversalism us der Mächte des liberaldem o­
kratischen, völkerassim ilierenden W estens und dem U niversalism us des
bolsdiew istisch-w eltrevolutionären O stens liegt und nach beiden F ronten
die H eiligkeit einer nichtuniversalistischen, volkhaften, völkerachtenden
L ebensordnung zu verteidigen hat.
Eine völkerrechtliche B etrachtung m uß ab er nicht n u r die innere Einzig­
artig k eit, sondern auch das Zusam m enleben und N ebeneinander der poli­
tischen G rößen sehen, die T räg er und G estalter der völkerrechtlichen
O rdnung sind. Aus praktischen w ie theoretischen G ründen ist es notwendig,
dieses Neben-, Mit- und G egeneinander w irklicher G rößen im Auge zu
behalten. Jede andere B etraditungsw eise leugnet entw eder das V ölker­
recht, indem sie jedes einzelne Volk isoliert, oder sie verfälscht, w ie es das
G enfer V ölkerbundsrecht getan hat, das Recht der V ölker in ein universa­
listisches W eltrecht. M öglichkeit und Zukunft des V ölkerrechts hängen also
davon ab, daß die w irklich tragenden und gestaltenden G rößen des Zu­
sam m enlebens der V ölker richtig erk a n n t und zum A usgangspunkt der
E rö rte ru n g und Begriffsbildung gemacht w erden. Diese tragenden und
gestaltenden G rößen sind heute nicht m ehr, wie im 18. und 19. Jah rh u n d ert,
Staaten, sondern Reiche.
D ie richtige B enennung ist dabei von großer Bedeutung. W ort und
N am e sind nirgends nebensächlich, am w enigsten bei politisch-geschicht­
lichen G rößen, die das V ölkerrecht zu tragen bestim m t sind. D er S treit um
W orte w ie „S taat“, „S ouveränität“, „U nabhängigkeit“ w a r das Zeichen
tieferliegender politischer A useinandersetzungen, und der Sieger schrieb
nicht n u r die Geschichte, sondern bestim m te auch das V okabularium und
die Term inologie. D ie Bezeichnung „Reiche“, die h ier vorgeschlagen w ird,
kennzeichnet am besten den völkerrechtlichen Sachverhalt der V erbindung
von G roßraum , Volk und politischer Idee, der unseren A usgangspunkt d a r­
stellt. D ie Bezeichnung „Reiche“ hebt die eigentüm liche Besonderheit des
einzelnen dieser Reiche in keiner Weise auf. Sie verm eidet die das V ölker­
recht gefährdende leere A llgem einheit, w ie sie in W orten wie „Großmacht­
sp h ä re “, „Block“, „Raum - und M achtkom plex“, „G em einw esen“, Common­
w ealth usw. oder gar in der inhaltlosen R aum angabe „Bereich“ liegen
1 Eine Auseinandersetzung mit diesem Begriff des Imperialismus und seiner
umfangreichen Literatur würde den Rahmen unserer Darlegung sprengen und muß
einer anderen Untersuchung Vorbehalten bleiben. Ich möchte aber wenigstens auf
die überaus klare Darlegung von Werner Sombart, Das Wirtschaftsleben im Zeitalter
des Hochkapitalismus (Der moderne Kapitalismus, Bd. Ill, 1) München und Leipzig
1927, S. 66 ff, den Aufsatz von Carl Brinkmann in der Festgabe für L. Brentano,
1925, und Heinrich Triepel, Hegemonie, Ein Buch von führenden Staaten, 1938, S. 185 f?
hin weisen.
Der Reichsbegriff im Völkerrecht 305

w ürde; sie ist also konkret und prägnant im Hinblick auf die W irklichkeit der
gegenw ärtigen W eltlage. Sie gibt andrerseits aber auch, eine gemeinsame
Benennung der vorhandenen m aßgebenden Größen, ohne welche gemein­
same Benennung jede völkerrechtliche E rörterung und Verständigung so­
fort aufhören m üßte; verm eidet also den andern, ebenfalls das Völkerrecht
gefährdenden Irrtum , der aus der K onkretisierung eine vereinsam ende,
jeden Zusammenhang aufhebende Isolierung der einzelnen politischen
Größe macht. Sie entspricht endlich dem deutschen Sprachgebrauch, der
das W ort „Reich“ in den m annigfaltigsten V erbindungen — Reich des
G uten und des Bösen, Reich des Lichtes und Reich der Finsternis, sogar
in „Pflanzen- und T ierreich“ — als Ausdruck, sei es eines Kosmos im Sinne
einer konkreten O rdnung, sei es einer krieg- und kam pffähigen, Gegen­
reichen gewachsenen geschichtlichen Macht, verw endet, der aber auch zu
allen Zeiten gerade die großen, geschichtsmäßigen Gebilde — das Reich der
B abylonier1, der Perser, der M akedoner und der Römer, die Reiche der
germanischen V ölker wie die ih rer G egner — in einem spezifischen Sinne
im m er „Reiche“ genannt hat. D arüber hinaus w ürde es uns von dem rein
völkerrechtlichen Sinn und Ziel unserer A rbeit ablenken und die G efahr
endloser Zerredungen heraufbeschw ören, w ollten w ir uns hier auf alle
denkbaren geschiditsphilosophischen, theologischen und ähnlichen D eu­
tungsm öglichkeiten einlassen, zu denen das W ort „Reich“ Veranlassung
geben kann. H ier kom mt es n u r darauf an, dem bisherigen Zentralbegriff
des Völkerrechts, dem Staat, einen einfachen, völkerrechtlich brauchbaren,
aber durch seine G egenw artsnähe überlegenen, höheren Begriff entgegen­
zusetzen.
Das bisherige, im 18. und 19. Jah rh u n d ert entwickelte und in unser
20. Ja h rh u n d e rt hinein w eitergeführte Völkerrecht ist allerdings ein reines
Staatenrecht. Trotz einzelner Besonderheiten und Auflockerungen erkennt
es grundsätzlich n u r Staaten als V ölkcrrechtssubjekte an. Von Reichen ist
nicht die Rede, obwohl noch jed er aufm erksam e Betrachter sich darüber
gew undert hat, wie sehr die politischen und wirtschaftlichen L ebensinter­
essen des englischen W eltreiches mit den Sätzen dieses Völkerrechts harm o­
nieren. Auch das englische W eltreich können sich die Lehrbücher des V ölker­
rechts n u r als eine „Staatenverbindung“ vorstellen. D abei ist der Reichs­
begriff des englischen Em pire durchaus besonderer A rt und als „Staaten­
verbindung“ niem als zu begreifen. E r ist, wie das an anderer Stelle g e z e i g t
w urde, schon durch seine geographisch zusammenhanglose Lage universa­
listisch bestimm t. D er diese A rt von W eltreichsgedanken zum Ausdruck
bringende K aisertitel des Königs von England ist an w eit entfernte, über­
seeische, fernasiatische Kolonialbesitzungen, an Indien angeknüpft. D er
Titel eines „Kaisers von Indien“, eine Erfindung Benjam in Disraelis, ist nicht
n u r ein persönliches D okum ent des „O rientalism us“ seines Erfinders,
sondern entspricht auch der Tatsache, die D israeli selbst in dem Ausspruch
1 „In Babylon erhob sich zuerst das Reich** (To babilonie irhuf sik irst dat rike),
Sadisenspiegel III, 44, § 1.

20 1682
306 Der Reichsbegriff im Völkerrecht

form uliert hat: “England is really more an Asiatic Pow er than a E uro­
pean.”
Zu einem solchen W eltreich gehört kein Völkerrecht, sondern ein all­
gemeines W elt- und Menschheitsrecht. Die systematische und begriffliche
A rbeit der Völkerrechtswissenschaft kannte aber, wie eben gesagt, bisher
überhaupt keine Reiche, sondern n u r Staaten. In der politisch-geschicht­
lichen W irklichkeit gab es selbstverständlich immer führende Großmächte;
es gab ein „Konzert der europäischen Mächte“ und im V ersailler System
die „alliierten H auptm ächte“. Die rechtliche Begriffsbildung hielt an einem
Allgemeinbegriff „Staat“ und an der rechtlichen Gleichheit aller un­
abhängigen und souveränen Staaten fest1. Eine echte R angordnung der
Völkerrechtssubjekte w urde von der Völkerrechtswissenschaft grundsätz­
lich ignoriert. Die sachliche und qualitative Verschiedenheit hat trotz
mancher naheliegenden E rörterungen auch in der G enfer V ölkerbunds­
jurisprudenz keine offene und folgerichtige A nerkennung gefunden, ob­
wohl die Fiktion der völkerrechtlichen Gleichheit angesichts der offen­
kundigen Hegemonie Englands und Frankreichs gerade im G enfer V ölker­
bund aller W ahrheit und W irklichkeit fortw ährend ins Gesicht schlug.
Daß dieser überkom m ene Staatsbegriff als Zentralbegriff des V ölker­
rechts der W ahrheit und W irklichkeit nicht m ehr entspricht, ist seit langem
zum Bewußtsein gekommen. Ein großer Teil der Völkerrechtswissenschaft
der westlichen Dem okratien, insbesondere auch der G enfer V ölkerbunds­
jurisprudenz, hat die E ntthronung des Staatsbegriffes auf dem Wege eines
Vorstoßes gegen den Souveränitätsbegriff in Angriff genommen. Das ge­
schah mit der Tendenz, der zweifellos fälligen Ü berw indung des Staats­
begriffs im Völkerrecht die W endung ins Pazifistisch-Hum anitäre, also in
ein universalistisches W eltrecht zu geben, dessen Stunde mit der N ieder­
lage Deutschlands und mit der G ründung des G enfer Völkerbundes ge­
kommen zu sein schien. Auch jetzt noch blieb jene oben erw ähnte prästabi-
lierte H arm onie von Völkerrecht und politischem Interesse des englischen
W eltreiches gew ahrt, ja, sie w ar eigentlich auf ihrem H öhepunkt angelangt.
Deutschland stand, solange es wehrlos und schwach w ar, gegenüber diesen
Tendenzen ganz in der Defensive und konnte, völkerrechtlich gesehen,
zufrieden sein, w enn es ihm gelang, seine staatliche U nabhängigkeit zu
verteidigen und seine Staatsqualität zu w ahren. Mit dem Sieg der national­
sozialistischen Bewegung ist aber auch in Deutschland — freilich von
ganz anderen Ausgangspunkten aus und m it ganz andern Zielen als jene
pazifistisch-universalistische Staatsentthronung — ein Vorstoß zur Über­
w indung des Staatsbegriffs im Völkerrecht erfolgreich geworden. Angesichts
der mächtigen D ynam ik unserer außenpolitischen Entwicklung soll die nun­
m ehr gegebene Lage des Völkerrechts im folgenden kurz e rö rtert und durch
1 Carl B i 1 f i n g e r , Zum Problem der Staatengleichheit im Völkerredit, Zeit­
schrift für ausländisches öffentliches Redit und Völkerrecht, Bd. IV (1934) S. 481 ff.
und Les bases fondamentales de la Communauté des Etats in Recueil des Cours de
l’Académie de droit international 1939 S. 95 f. (Egalité et Communauté des Etats).
Der Reichsbegriff im Völkerrecht 307

die Einführung unseres Reichsbegriffs völkerrechtlich geklärt w erden, nach­


dem die staats- und verfassungsrechtliche Bedeutung des Reichsbegriffs
durch D arlegungen von Reichsminister Lam mers und S taatssekretär
Stuckart1 bereits klargestellt w orden ist.
Das überkom m ene zwischenstaatliche Völkerrecht findet seine O rdnung
darin, daß es eine bestimm te konkrete O rdnung mit gewissen Eigenschaften,
eben einen „Staat“, bei allen M itgliedern der völkerrechtlichen Gem ein­
schaft in gleicher Weise voraussetzt. W enn die H errschaft des Staatsbegriffs
im Völkerrecht in den letzten Jahren in Deutschland vom Volksbegriff aus
erschüttert w orden ist, so liegt es m ir fern, das Verdienst dieser völker­
rechtswissenschaftlichen Leistung herabzusetzen. N ur darf nicht übersehen
werden, daß im bisherigen Staatsbegriff ein Mindestmaß von innerer,
berechenbarer O rganisation und innerer D isziplin enthalten ist und daß
dieses organisatorische Minimum die eigentliche G rundlage alles dessen
bildet, was m an als die konkrete O rdnung „Völkerrechtsgemeinschaft“
ansehen konnte. Insbesondere hat der Krieg, als eine anerkannte Ein­
richtung dieser zwischenstaatlichen O rdnung, sein Recht und seine O rdnung
wesentlich darin, daß er ein Staatenkrieg ist, d. h. daß Staaten als konkrete
O rdnungen ihn gegen Staaten als konkrete O rdnungen gleicher Ebene
führen. Ähnlich wie ein Duell, w enn es einm al rediilich anerkannt ist, seine
innere O rdnung und Gerechtigkeit darin findet, daß auf beiden Seiten
satisfaktionsfähige E hrenm änner (wenn auch vielleicht von sehr v er­
schiedener körperlicher K raft und W affenübung) einander gegenüber­
stehen. D er Krieg ist in diesem völkerrechtlichen System eine Beziehung
von O rdnung zu O rdnung und nicht etw a von O rdnung zu Unordnung.
Diese letzte Beziehung, von O rdnung zu Unordnung, ist „B ürgerkrieg“ und
ist etwas, womit das heutige Staatenvölkerrecht wenig anzufangen weiß.
D ie unparteiischen Zeugen, die zu einem solchen Staatenkriegsduell
gehören, können in einem zwischenstaatlichen Völkerrecht n u r die N eu­
tralen sein. Das bisherige zwischenstaatliche Völkerrecht fand seine w irk ­
liche G arantie nicht in irgendeinem inhaltlichen G erechtigkeitsgedanken
oder einem sachlichen Verteilungsprinzip, auch nicht in einem internatio­
nalen Rechtsbewußtsein, das sich w ährend des W eltkrieges und in V er­
sailles als nicht vorhanden erw iesen hat, sondern — w iederum in voller
H arm onie mit dem außenpolitischen Interesse des britischen Reiches12 — in
einem Gleichgewicht der Staaten. Die m aßgebende Vorstellung ist, daß die
M achtverhältnisse der zahlreichen großen und kleinen Staaten sich fort-
1 H. H. L a m m e r s , „Staatsführung im Dritten Reidi“, in der Vortragsreihe der
österreichischen Verwaltungs-Akademie, Berlin 1938, S. 16: „Staatsidee und Volksidee
in sich vereinend, scheint mir das Wort vom Dritten Reich der Deutschen aber auch
von tiefer staatsrechtlicher Bedeutung und zum ersten Male die richtige Bezeichnung
für den deutsdien Staat zu sein.“ Ebenso im Völkischen Beobachter vom 2., 3. und
4. September 1958. Wilhelm S t u c k a r t , zuerst in dem Vortrag „Partei und Staat“:
Deutscher Juristentag 1936, 271/73 über „Das Reich als völkische Lebensform und
Lebensordnung“.
2 Fritz B e r b e r , „Prinzipien der britischen Außenpolitik“; Sdiriften des Deut­
schen Instituts für außenpolitische Forschung, Berlin 1939, S. 20 f.

20 *
308 Der Reichsbegriff im Völkerrecht

w ährend ausbalancieren und daß gegen den jew eils überm ächtigen und
daher dem Völkerrecht gefährlichen S tärkeren automatisch eine Koalition
der Schwächeren zustande kommt. Dieses schwankende, von F all zu Fall
sich bildende, fortw ährend sich verlagernde, daher äußerst labile Gleich­
gewicht k ann nach Lage der Sache gelegentlich w irklich eine G arantie des
Völkerrechts bedeuten, nämlich dann, w enn genügend starke neutrale
Mächte vorhanden sind. D ie N eutralen w erden auf diese W eise nicht nu r
die unparteiischen Zeugen des Kriegsduells, sondern auch die eigentlichen
G aranten und H üter des Völkerrechts. Es gibt in einem solchen völkerrecht­
lichen System so viel wirkliches V ölkerrecht, wie es w irkliche N eutralität
gibt. D er G enfer V ölkerbund hat nicht zufällig seinen Sitz in Genf, und
der Internationale Ständige Gerichtshof residiert aus gutem G rund im
H aag1. A ber w eder die Schweiz noch die N iederlande sind stark e N eutrale,
die das V ölkerrecht im E rnstfall allein und aus eigener K raft verteidigen
könnten. G ibt es, wie w ährend der letzten Jah re des W eltkrieges, 1917/18,
keine starken N eutralen m ehr, so gibt es, w ie w ir e rfah ren haben, auch kein
Völkerrecht m ehr.
Das bisherige V ölkerrecht beruhte fern er auf der unausgesprochenen,
aber ihm wesentlichen und jah rh u n d e rte la n g auch w irklichen V oraus­
setzung, daß jenes, das V ölkerrecht garantierende Gleichgewicht sich um
eine schwache M itte Europas bewegte. Es konnte eigentlich n u r funktio­
nieren, w enn hier viele m ittlere und k leinere Staaten gegeneinander aus­
gespielt w erden konnten. Die zahlreichen deutschen und italienischen
Staaten des 18. und 19. Jahrhunderts w urden, wie C lausew itz anschaulich
sagt, als die kleinen und m ittleren Gewichtssteine zur A usbalancierung
zwischen den Großm ächten bald auf dieser, bald auf je n e r Seite in die
W aagschale geworfen. Eine starke politische Macht in der M itte Europas
m ußte ein d erartig durchkonstruiertes V ölkerrecht zerstören. D ie Juristen
eines solchen Völkerrechts konnten daher behaupten, und auch in vielen
F ällen w irklich glauben, daß der gegen ein starkes D eutschland gerichtete
W eltkrieg 1914—18 ein Krieg des V ölkerrechts selbst, und die scheinbare
Vernichtung der politischen Macht Deutschlands im Jah re 1918 „der Sieg
des V ölkerrechts über die b ru tale G ew alt“ w ar. Nicht n u r fü r eine gèschicht-
lich-politische, sondern auch für eine rechtswissenschaftliche Betrachtung
und F orderung ist es notw endig und keinesw egs un juristisch, sich auf
diesen Sachverhalt zu besinnen, um den gegenw ärtigen W endepunkt der
völkerrechtlichen Entwicklung richtig zu erfassen. D enn heute, angesichts
eines neuen und starken Reiches, w ird jen e gegen ein starkes Deutsches
Reich gerichtete völkerrechtliche Begriffsw elt in den westlichen Demo­
k ra tie n und in allen von ihnen beeinflußten L ändern m it großer Wucht
aufs neue m obilisiert. Angeblich streng wissenschaftliche Zeitschriften des
1 Christoph S t e d i n g , Das Reidi und die Krankheit der europäischen Kultur,
Hamburg 1939; dazu Carl S c h m i t t , Neutralität und Neutralisierung, in der Zeit­
schrift Deutsche Reditswissenschaft Bd. IV (1939) Heft 2; vgl. den Aufsatz Nr. 34
oben S. 271 f. unserer Sammlung.
Der Reichsbegriff im Völkerrecht 309

Völkerrechts stellen sich in den D ienst dieser Politik und arbeiten an der
moralischen und juristischen V orbereitung eines „gerechten K rieges“ gegen
das Deutsche Reich. D er im Januarheft 1939 des Am erican Journal of
International Law erschienene Aufsatz von J. W. G arner „The Nazi pro ­
scription of G erm an professors of international law “ ist in dieser Hinsicht
ein geradezu erstaunliches Dokum ent.
Die deutsche Völkerrechtswissenschaft hat, wie gesagt, in den letzten
Jahren einen sehr bedeutenden Vorstoß unternom m en, um das V ölker­
recht aus einer bloß zwischenstaatlichen O rdnung zu einem wirklichen
R edit der Völker zu machen. U nter den Veröffentlichungen dieser Richtung
verdient der erste systematische Entw urf eines neuen, auf dem Volksbegriff
auf gebauten V ölkerredits von N orbert G ürke, Volk und Völkerrecht
(Tübingen 1935), als positive wissenschaftliche Leistung in erster Linie
genannt zu werden. A ber es ist selbstverständlich nicht möglich und liegt
auch nicht im Sinne G ürkes, nun einfach aus der bisherigen zwischen­
staatlichen eine zwischenvolklidie O rdnung zu machen. D ann w ürde näm ­
lich n u r der alten zwischenstaatlichen O rdnung durch den Begriff des
Volkes neue Substanz und neues Leben zugeführt. An die Stelle eines inner­
lich neutralen, abstrakten Staatsbegriffs w äre ein substanzhafler Volks­
begriff getreten, im übrigen aber die systematische S tru k tu r der über­
kom menen Völkerrechtsordnung beibehalten. Das w äre dann schließlich
n u r eine B luttransfusion in die alten Adern, n u r eine A ufw ertung oder
A uffüllung des alten Staatenrechts zu einem Völkerrecht. So richtig und
verdienstvoll dieser Vorstoß ist, zwei Gesichtspunkte dürfen, glaube ich,
dabei nicht außer acht bleiben:
D er erste betrifft die völkerrechtlichen Ordnungselem ente, die im bis­
herigen Staatsbegriff als einer organisatorisch bestim m ten Größe liegen.
„Staat“ im Sinne der Völkerrechtsordnung setzt jedenfalls ein Mindestmaß
von O rganisation, berechenbarem Funktionieren und D isziplin voraus. Ich
w ill hier nicht auf die K ontroverse eingehen, die auf der einen Seite von
R einhard Höhn geführt w ird, der den Staat entschieden und folgerichtig
als „A pparat“ bestimmt, w ährend auf der anderen Seite verschiedenartige
V orstellungen, w ie Staat als Form oder als Gestalt, verw endet werden.
Begnügen w ir uns h ier m it der Form ulierung G ottfried Neeßes, daß der
Staat wesentlich O rganisation und das Volk wesentlich O rganism us ist.
A pparat und O rganisation sind aber, w ie auch H öhn selbstverständlich
weiß, durchaus keine „ungeistigen“ Dinge. Das m oderne Zusammenleben
der verschiedenen V ölker und besonders der großen oder gar der bedrohten
V ölker erfordert eben eine straffe O rganisation im eigentlichen Sinne des
W ortes; es verlangt ein M indestmaß von innerer Konsistenz und sicherer
B erechenbarkeit. Dazu gehören hohe geistige und sittliche Q ualitäten, und
bei w eitem nicht jedes Volk ist schon als solches „von N a tu r“ diesem
M indestmaß an O rganisation und D isziplin gewachsen. D er völkerrechts­
wissenschaftliche Kam pf gegen den Staatsbegriff m üßte sein Ziel verfehlen,
wenn er der echten O rdnungsleistung nicht gerecht w ürde, die — in der
310 Der Reichsbegriff im Völkerrecht

W irklichkeit oft sehr problematisch, aber im G rundsatz dodb imm er v er­


langt — dem bisherigen Staatsbegriff wesentlich w ar. Ein zum Staat auch
in diesem n u r organisatorischen Sinne unfähiges Volk kann gar nicht
V ölkerrechtssubjekt sein. Im F rü h ja h r 1936 z. B. h at sich gezeigt, daß
Abessinien kein Staat w ar. Nicht alle V ölker sind im stande, die Leistungs­
probe zu bestehen, die in der Schaffung eines guten m odernen S taatsappa­
rates liegt, und sehr wenige sind einem m odernen M atériallcrieg aus
eigener organisatorischer, industrieller und technischer L eistungskraft ge­
wachsen. Zu einer neuen O rdnung der Erde und dam it zu der Fähigkeit,
heute Y ölkerrechtssubjekt ersten Ranges zu sein, gehört ein gewaltiges
Maß nicht n u r „natürlicher“, im Sinne n a tu rh a ft ohne w eiteres gegebener
Eigenschaften, dazu gehört auch bew ußte Disziplin, gesteigerte O rgani­
sation und die Fähigkeit, den n u r mit einem großen Aufgebot menschlicher
V erstandeskraft zu bew ältigenden A pparat eines m odernen Gemeinwesens
aus eigener K raft zu schaffen und ihn sicher in der H and zu haben.
D er zweite Gesichtspunkt betrifft die völkerrechtlichen O rdnungs­
elem ente des bisherigen Staatsbegriffs, die im Staat als einer R aum ordnung
liegen. Jede völkerrechtlich brauchbare V orstellung eines T rägers oder
S ubjekts der V ölkerrechtsordnung muß außer einer personalen Bestimmung
(der Staats- und Volkszugehörigkeit) auch eine territo ria le A bgrenzungs­
möglichkeit in sich enthalten. Diese Seite des Staatsbegriffes w ird sogar von
den extrem sten englischen P luralisten anerkannt. G. D. H. Cole, dessen
Ansichten in dieser Hinsicht vielleicht authentischer sind als die des sonst
fü r den englischen Pluralism us meistens zitierten Juden Laski, sagt z. B.,
der Staat als „political body“ sei „an essentially geographical grouping1“.
Statt w eiterer A usführungen möchte ich hier auf ein Symptom von größter
Bedeutung aufm erksam machen: die m oderne technische Ü berw indung des
Raum es durch Flugzeug und Radio h at nicht etwa, wie man zuerst v er­
m utet hatte, und wie m an nach manchen sonstigen, zum Teil sehr wichtigen
Analogien erw arten sollte, Völkerrecht!ich dazu geführt, daß der L uftraum
im Völkerrecht nach der Analogie des freien Meeres behandelt w urde, viel­
m ehr ist, im Gegenteil, der G edanke der territo ria le n Souveränität des
Staates im atm osphärischen Raum in besonders betonter W eise die G rund­
lage aller bisherigen vertraglichen und sonstigen Regelungen des in ter­
nationalen Flug- und Funkw esens geworden. Vom technischen Standpunkt
aus ist das sonderbar und geradezu grotesk, besonders bei territo rial
kleinen Staaten, w enn m an bedenkt, wie vielen „Souveränitäten“ ein
m odernes Flugzeug unterstehen soll, w enn es in wenigen Stunden über viele
kleine Staaten hinwegfliegt, oder gar was aus den vielen Staatshoheiten
über alle die elektrischen W ellen w ird, die ununterbrochen m it Sekunden­
schnelle durch den atm osphärischen Raum über den E rdball kreisen. Die
völkerrechtswissenschaftliche Überw indung des alten, zentralen Staats­
begriffs ist hier situationsm äßig zweifellos fällig. Es gibt auch schon
1 Conflicting Social Obligations, in Proceedings of the Aristotelian Society, Neue
Reihe XV (1915), S. 151.
Der Reichsbegriff im Völkerrecht 311

wichtige A nsätze dazu. Man h at in D eutschland nicht genügend darauf


geachtet, in welchem Maße eine in E ngland vertreten e T heorie gerade diese
m oderne technische Entw icklung benutzt, um durch die Ü berw indung des
Staates unm ittelbar in ein universalistisches, sei es vom G enfer V ölker­
bund, sei es von anderen O rganisationen getragenes W eltrecht vorzustoßen
und dadurch die Staatsüberw indung im universalistischen Sinne plausibel
zu machen. Insbesondere h at J. M. Spaight in m ehreren Schriften1 solche
Erw ägungen zu dem G edanken benutzt, daß die m oderne technische E nt­
wicklung, insbesondere der Luftwaffe, den Staatenkrieg überholen w erde,
daß die Luftw affe genüge, um die E rde in R uhe und O rdnung zu halten, so
daß die Staatenkriege von selbst aufhören und schließlich n u r noch
B ürgerkriege, Polizeiaktionen oder Sanktionen übrigbleiben. Solche Kon­
struktionen, die oft großen Eindrude machen, zeigen, daß das Problem einer
neuen R aum ordnung völkerrechtsw issenschaftlich nicht länger außer acht
bleiben kann. Im Volksbegriff an sich ist aber ein völlig neues, den bloßen
N ationalstaatsgedanken des 19. Ja h rh u n d e rts überw indendes R aum ­
ordnungselem ent noch nicht so deutlich, daß dam it allein die bisherige
zwischenstaatliche O rdnung in einer überzeugenden W eise rechts wissen­
schaftlich aus den A ngeln gehoben w äre.
D ie Maße und M aßstäbe unserer R aum vorstellungen haben sich in der
T at wesentlich geändert. Das ist auch fü r die völkerrechtliche Entw icklung
von entscheidender Bedeutung. D as europäische V ölkerrecht des 19. J a h r­
hunderts, m it seiner schwachen M itte E uropas und den westlichen W elt­
mächten im H intergründe, erscheint uns heute als eine von Riesen ü b e r­
schattete K leinw elt. D ieser H orizont ist fü r ein m odern gedachtes V ölkerrecht
nicht m ehr möglich. W ir denken heute planetarisch und in G roßräum en. W ir
erkennen die U nabw endbarkeit kom m ender R aum planungen, von denen
M inisterialdirektor H. W ohlthat w ie auch Reichsleiter G eneral R itte r von
Epp gesprochen haben12. In dieser Lage besteht die A ufgabe der deutschen
Völkerrechtswissenschaft darin, zwischen einer n u r konservativen Bei­
behaltung des bisherigen zwischenstaatlichen D enkens und einem von den
westlichen D em okratien h er betriebenen, unstaatlichen und unvölkischen
U bergreifen in ein universalistisches W eltrecht, den Begriff einer kon k reten
G rofiraum ordnung zu finden, der beiden entgeht und sowohl den räum lichen
M aßen unseres heutigen Erdbildes als auch unseren neuen Begriffen von
S taat und Volk gerecht w ird. D as k an n fü r uns n u r der völkerrechtliche
Begriff des Reiches sein als einer von bestim m ten weltanschaulichen Ideen
und P rinzipien beherrschten G roßraum ordnung, die Interventionen raum -
1 Air power and Cities, London 1930 (die Fortführung von Air power and War
Rights, 1924). Kennzeichnend besonders der^Satz: „Air power will clear the way
of the acceptance of the new order of ideas“ aus International Air Force, London
1932.
2 H. W o h l t h a t , Großraum und Meistbegünstigung, im Deutschen Volkswirt
vom 23. Dezember 1938; R i t t e r v o n E p p , Rede vom 24. Februar 1939, vgl. den
Beridit im „Hakenkreuzbanner“ vom 25. Februar 1939, Nr. 56, S. 2.
312 Der Reidisbegriff im Völkerrecht

frem der Mächte ausschließt und deren G aran t und H üter ein Volk ist, das
sich dieser Aufgabe gewachsen zeigt.
Soviel wissenschaftliche A rbeit auch noch erforderlich sein w ird, um
unseren Begriff des Reiches im einzelnen sicherzustellen, seine grund­
legende Stellung für ein neues V ölkerrecht ist ebensowenig bestreitbar, wie
seine spezifische, zwischen der alten Staatenordnung des 19. Jahrhunderts
und dem universalistischen Ziel eines W eltreiches stehende E igenart
erkennb ar und unterscheidbar ist. Als ich im H erbst 1937 m einen Bericht
über „Die W endung zum diskrim inierenden K riegsbegriff“ der A bteilung
für Rechtsforschung der Akadem ie für Deutsches Recht zu deren 4. Jahres­
tagung vorlegte, w ar die politische G esam tlage von der heutigen noch
wesentlich verschieden. Dam als hätte der Reichsbegriff nicht, wie das jetzt
h ier geschieht, zum A ngelpunkt des neuen Völkerrechts erhoben w erden
können. Im Anschluß an jenen Bericht w urde die F rage gestellt, was ich
denn eigentlich Neues an die Stelle der alten Staatenordnung zu setzen
hätte, da ich w eder einfach beim alten bleiben, noch mich den Begriffen der
westlichen D em okratien unterw erfen wOllte. H eute kann ich die A ntw ort
geben. D er neue O rdnungsbegriff eines neuen Völkerrechts ist unser
Begriff des Reiches, der auf einer volkhaften, von einem Volk getragenen
G roßraum ordnung beruht. In ihm haben w ir den K ern einer neuen völker­
rechtlichen Denkw eise, die vom Volksbegriff ausgeht und die im Staats­
begriff enthaltenen O rdnungselem ente durchaus bestehen läßt, die aber
zugleich den heutigen Raum vorstellungen und den w irklichen politischen
Lebenskräften gerecht zu w erden verm ag; die „planetarisch“, das heißt
erdraum haft sein kann, ohne die V ölker und die Staaten zu vernichten und
ohne, wie das imperialistische Völkerrecht der westlichen D em okratien, aus
der unverm eidlichen Überwindung des alten Staatsbegriffs in ein universa­
listisch-imperialistisches W eltrecht zu steuern.
D er G edanke eines zu den T rägern und G estaltern eines neuen V ölker­
rechts gehörenden Deutschen Reiches w äre frü h er ein utopischer Traum
und das auf ihm auf gebaute Völkerrecht n u r ein leeres Wunschrecht
gewesen. H eute aber ist ein machtvolles Deutsches Reich entstanden. Aus
einer schwachen und ohnmächtigen ist eine starke und unangreifbare Mitte
Europas geworden, die im stande ist, ih re r großen politischen Idee, der
Achtung jedes V olkes als einer durch A rt und U rsprung, Blut und Boden
bestim m ten Lebenswirklichkeit, eine A usstrahlung in den m ittel- und ost­
europäischen Raum hinein zu verschaffen und Einmischungen raum frem der
und unvölkischer Mächte zurückzuweisen. D ie T at des F ü h rers hat dem
G edanken unseres Reiches politische W irklichkeit, geschichtliche W ahrheit
und eine große völkerrechtliche Zukunft verliehen.
A b in teg ro n a sc itu r o r d o .
Hinweise
Zu Nr. 1, Seite 9 ff. Der Aufsatz ist ein Teil meines Beitrages zur Bonner Fest­
gabe für Ernst Zitelmann, die dem Jubilar zu seinem 50jährigen Doktorjubiläum
am 1. August 1925 in Bonn überreicht wurde und als „Bonner Festgabe für Ernst
Zitelmann“ 1923 bei Duncker & Humblot München und Berlin erschienen ist. Der
Beitrag „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“ ist als
Sonderveröffentlichung in 1. Auflage 1923, in 2. Auflage 1926 am gleichen Ort
erschienen (vgl. auch unten Nr. 7). D iese Ausführungen „Zur politischen Theorie
des Mythus“ sind Öfters als die erste Einführung der politischen Theorien von
Georges Sorel in Deutschland bezeichnet worden. Das ist insofern nicht ganz richtig,
als der erste verfassungstheoretische Hinweis auf Sorel sich in meinem Buch „Die
Diktatur“ 1921, S. 147, Anmerkung, befindet.
Zu Nr. 2, S. 19 ff. Zuerst veröffentlicht im Heidelberger „Archiv für Sozialwissen­
schaft und Sozialpolitik“ Band 51, Heft 3 (1924), S. 817—823. Dieser Aufsatz ist
der erste fachwissenschaftliche Vorstoß gegen die juristische Rezeption „weit­
läufiger“, das heißt in Wahrheit nur der weltdemokratischen, insbesondere der
angelsächsischen Presse geläufiger Begriffe,
Zu Nr. 3, S. 26 ff. Veröffentlicht in der Schriftenreihe „Flugschriften zum Rhein­
problem“ Heft Nr. 4, 1925. Der zweite Teil dieses Vortrages betraf die moralische
Bedeutung des Begriffes der „Obrigkeit“ unter der Herrschaft internationaler
Regierungskommissionen. Ich habe ihn hier nicht mit abgedruckt, weil das poli­
tische Regime solcher Kommissionen heute nicht mehr von praktischer Bedeutung
ist, doch hat auch dieser zweite Teil meines Vortrags seine Wirkung noch bei der
Vorbereitung der Abstimmung im Saargebiet Anfang 1935 ausgetibt.
Zu Nr. 4, S. 33 ff. Zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift „Hochland“, Oktober­
heft 1925, S. 1—9.
Zu Nr. 5, S. 43 ff. Diese Ausführungen bilden den Schluß der im Jahre 1926 als
Heft 18 der „Völkerrechtsfragen“ (Herausgeber Heinrich Pohl und Max Wenzel)
erschienenen Abhandlung „Die Kernfrage des Völkerbundes“, S. 80—82. Erste
Veröffentlichung in „Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und
Volkswirtschaft im Deutschen Reiche“, Band 48/49 (1925), S. 1—27. Die Wendung
von der „Verschweizerung“ Europas steht Seite 64 in: „Die Kernfrage des Völker­
bundes“ vgl. den Aufsatz über Steding, Das Reich und die Krankheit der euro­
päischen Kultur. Nr. 34 unserer Sammlung, S. 273.
Zu Nr. 6, S. 45 ff. Veröffentlicht im Heidelberger „Archiv für Sozialwissenschaft
und Sozialpolitik“, Band 56, Heft 1 (1926), S. 226—254.
Zu Nr. 7, S.52ff. Der Aufsatz bildet die Einleitung zu der 1926 erschienenen 2. Auf­
lage der „Geistesgesehichtlichen Lage des Parlamentarismus“. Vgl. oben Nr. 1. Ein
Vorabdruck ist im „Hochland“, 23. Jahrgang, Juni 1926, S. 257—270, erschienen.
In der Reihe der Namen S. 38 fehlt Benjamin Constant, dessen Bedeutung mir erst
durch spätere Arbeiten zum Bewußtsein gekommen ist (vgl. unten Nr. 17 und 34).
Zu Nr. 8, S. 67 ff. Aus dem zuerst im Heidelberger „Archiv für Sozialwissenschaft
und Sozialpolitik“, Band 58, Heft 1 (1927), S. 1—33, veröffentlichten Aufsatz „Der
Begriff des Politischen“. Die Thesen dieser Abhandlung sind in meinen Seminaren
in Bonn 1925 und 1926 entstanden; in größerer Öffentlichkeit vorgetragen wurden
sie zuerst am 10. Mai 1927 in der Berliner Hochschule für Politik, und zwar an der­
selben Stelle, an der kurz vorher Max Scheler seine aufsehenerregenden Thesen
über den unwiderstehlichen, Völker, Rassen, Konfessionen und sogar den Unter­
schied der Geschlechter neutralisierenden „Ausgleich“ vorgetragen hatte, den er für
die Wirkung und die Folge der modernen Demokratie und der modernen Technik
hielt. Die 2. Auflage des „Begriffs des Politischen“ ist 1931 bei Duncker & Humblot,
die 3. und folgende Auflagen sind seit 1933 im Verlag der Hanseatisdien Verlags-
314* Hinweise

anstalt, Hamburg, erschienen. Der vorliegende Abdruck ist wörtlich nach der
Veröffentlichung des Jahres 1927 erfolgt, zur besseren Beurteilung der von Emi-
grantcn-Zeitschriften gemachten Versuche, einige Verbesserungen, die ich später
vorgenommen habe, als unanständige Gesinnungsänderungen hinzustellen.
Zu Nr. 9, S. 75 ff. D iese Abhandlung ist in W eiterführung der Auseinander­
setzung mit Donoso Cortés („Die Diktatur“, 1921, S. 139, 147, 195; „Politische Theo­
logie“ in der „Erinnerungsgabe für Max Weber“, 1922, Bd. II, S. 35, „Politische
Theologie“ 1922, S. 46—56, 2. Ausgabe 1934, S. 66—84) und in der „Festschrift für
Karl Muth zu dessen 60. Geburtstag“, München 1927, erschienen. Von ausführ­
licheren und eingehenderen deutschen Spezialarbeiten über Donoso Cortes sind
hier die Veröffentlichungen von Edmund Schramm zu nennen: „Donoso Cortés.
Leben und Werk eines spanischen Antiliberalen.“ (Ibero-amerikanisehe Studien.
Hrsg, von^ Harri Meier. 7.) Hamburg, lbero-Amerikanisches Institut 1935, und
„Donoso Cortés, su vida y su pensamiento“, Madrid 1936; dazu die Besprechung
von Eugen Wohlkaupter, „Deutsche Literatur-Zeitung“ 1936, S. 1114 ff., vgl. ferner
unten Nr. 14.
Zu Nr. 10, S. 85 ff. Aus einem Vortrag in der Juristischen Gesellschaft zu Berlin,
vom 11. Dezember 1926, abgedruckt in der Abhandlung „Volksentscheid und Volks­
begehren. Ein Beitrag zur Auslegung der Weimarer Verfassung und zur Lehre
von der unmittelbaren Demokratie“ („Beiträge zum ausländischen öffentlichen
Recht und Völkerrecht“, herausgegeben vom Institut für ausländisches öffentliches
Recht und Völkerrecht in Berlin, Heft 2) Berlin und Leipzig, 1927, S. 51—53.
Zu Nr. 11, S. 88 ff. Vortrag vom 29. Oktober 1927 vor der Gesellschaft der Freunde
und Förderer der Universität Bonn, veröffentlicht im „Hochland“, Januar 1928.
S. 345—354.
Zu Nr. 12, S. 97 ff. Vortrag auf der Tagung des Verbandes Deutscher Geschichts­
lehrer vom Oktober 1928 in Heppenheim an der Bergstraße, veröffentlicht in der
Sammlung „Rheinische Schicksalsfragen. Eine Schriftenfolge“, herausgegeben von
Paul Rühlmann, Schrift 27/28: „Probleme des deutschen W estens“. Berlin 1929.
S. 76—89. Sondervordruck im „Rheinischen Beobachter“ VII, 1928, S. 340 ff.
Zu Nr. 13, S. 109 ff. Diese Besprechung des Buches von Erwin von Beckerath über
„Wesen und Werden des faschistischen Staates“ (1927) ist in „Schmollers Jahrbuch
für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche“, Jahr­
gang 53, Heft 1 (1929), S. 107—113, erschienen. D ie mit der Anmaßung der
„Wissenschaftlichkeit“ gemachte Prophezeiung aus dem Jahre 1925 „Mussolinis
Sturz ist nurmehr eine Frage der Zeit“, stammt von dem damaligen Münchener
Rechtslehrer H. Nawiasky „Die Stellung der Regierung im modernen Staat“, 1925,
S. 23, vgl. dazu auch mein Vorwort zur 2. Auflage meines Buches: „Die Diktatur“,
München und Leipzig 1926.
Zu Nr. 14, S. 115 ff. Aus der Zeitschrift „Hochland“, Jahrgang 1929, S. 491—496.
Ein Vortrag vom 23. Oktober 1929 im Centro de Intercambio Intelectual Germano-
Espanol in Madrid, faßt diese und die unter Nr. 9 genannte Arbeit zusammen. Er
ist als Heft 17 der Veröffentlichungen des Centro de Intercambio Intelectual
Germano-Espanol 1930 in spanischer Sprache in Madrid erschienen. Die Zeitschrift
„Hochland“ hat sich später in einem Aufsatz vom Juni 1934, S. 277, von meiner
Auffassung Donoso Cortés’ ausdrücklich distanziert.
Zu Nr. 15, S. 120 ff. Der in Barcelona gehaltene Vortrag ist zuerst im November-
Heft der „Europäischen Revue“, Band 5, 1929, S. 517 ff., erschienen. Er ist außer­
dem in der 2. Auflage des „Begriffs des Politischen“, 1931, S. 70 ff., abgedruckt. Eine
französische Ausgabe hat William Gueydan de Roussell in „L’Année Politique
française et étrangère“, 11. Jahrgang (Dezember 1936), S. 274—289, in Paris
veröffentlieht. D ie Veröffentlichung in der „Europäischen Revue“, 1929,^trägt den
Titel „Die europäische Kultur im Zwischenstadium der Neutralisierung“.
Zu Nr. 16, S. 133 ff. Vortrag gehalten in Halle auf einer Tagung der Kant-Gesell­
schaft vom 22. Mai 1929. Eine rumänische Übersetzung von Corinna Sombart ist in
der Zeitschrift „Minerva“, Bukarest 1930, S. 1—15, erschienen. Der Vortrag gehört
mit Nr. 8, 10, 17, 21 in den Zusammenhang der Auseinandersetzung mit dem poli­
tischen System des Parteienpluralismus, mit seinen Ausführungen zu dem Satz
„pacta sunt servanda“ in den Kampf gegen die Legalität und Legitimität des
status quo; vgl. dazu meine „Verfassungslehre“, 1928, S. 69—71.
Hinweise 315

Zu Nr. 17, S. 146 ff. Zuerst in der „Europäischen Revue“, Dezemberheft 1931, ver­
öffentlicht und in die Abhandlung „Der Hüter der Verfassung“, Tübingen 1931,
S. 73—91 aufgenommen; in der spanischen Ausgabe „La Defensa de la Constitucion,
Esludio aeerca de las diversas Especies y Posibilidades des Salvaguardia de la
Constitucion“, Barcelona 1931, S. 98—115. Der eigentlich verfassungskonstruktive
Teil des „Hüter der Verfassung“ ist unter dem gleichen Titel bereits im Jahre 1929
im „Archiv des öffentlichen Rechts“, Neue Folge, Band 16, S. 161 bis 237, erschienen.
Zu Nr. 18, S. 158 ff. Diese Übersicht lag mehreren Vorträgen zugrunde, die ich 1930
und 1931 gehalten habe, vgl. zum Beispiel „Mitteilungen der Industrie- und
Handelskammer Berlin“, Band 28 (1938), S. 471—477. Der vorliegende Abdruck
entspricht S. 111 bis 115 aus dem „Hüter der Verfassung“ (1931); spanische Ausgabe
S. 139 bis 143.
Zu Nr. 19, S. 162 ff. Der Vortrag ist in den Königsberger „Auslandsstudien“ Band 8,
1933, erschienen. Zu dem Thema vgl. oben Nr. 3 und unter Nr. 35.
Zu Nr. 20, S. 180. Das vollständige Rubrum des Prozesses lautet:
In den verbundenen verfassungsrechtlichen Streitsachen
I. 1. des Landes Preußen, vertreten durch das Preußische Staatsministerium;
2. der Zentrumsfraktion im Preußischen Landtage;
3. der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Preußischen
Landtage;
Antragsteller, gegen das Deutsche Reich, Antragsgegner,
IL 1. des Preußischen Ministerpräsidenten Dr. h. c. Otto Braun;
2. des Preußischen Ministers des Innern Dr. h. c. Karl Severing;
3. des Preußischen Ministers für Volkswohlfahrt Dr. h. c. Hirtsief er;
4. des Preußischen Ministers für Landwirtschaft, Domänen und Forsten Dr. h. c.
Steiger;
5. des Preußischen Ministers für Handel und Gewerbe Dr. Schreiber;
6. des Preußischen Justizministers Dr. Schmidt;
7. des Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Grimme;
8. des Preußischen Finanzministers Klepper;
Antragsteller gegen
1. das Deutsche Reich;
2. den Reichskanzler als Reichskommissar für Preußen;
Antragsgegner;
III. des Landes Bayern;
Antragstellers;
gegen das Deutsche Reich;
Antragsgegner;
IV. des Landes Baden;
Antragstellers;
gegen das Deutsche Reich;
Antragsgegner;
wegen Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Einsetzung eines Reichskommis­
sars für das Land Preußen u. a.
Das Urteil des Staatsgerichtshofes vom 25. Oktober 1932 ist abgedruckt in der
Sammlung der Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Bd. 138, Anhang
i —43, und in der Sammlung Lammers-Simons Bd. V (1933), S. 24, 30 ff. Ein Steno­
grammbericht der Verhandlungen vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig vom 10. bis 14.
und vom 17. Oktober 1932 ist unter dem Titel „Preußen contra Reich vor dem
Staatsgerichtshof“ 1933 in dem Verlag J. H. W. Dietz, Berlin, veröffentlicht worden.
In diesem Stenogrammbericht ist meine Schlußrede S. 466—469 abgedruckt. Es
ist dabei zu beachten, daß ich, ebenso wie die anderen Vertreter und Mitarbeiter
der Reichsregierung in diesem Prozeß, im Einvernehmen mit der Reichsregierung
die Korrekturdurchsicht dieses Stenogrammberichtes abgelehnt habe, so daß die
bei solchen stenographischen Aufnahmen unvermeidlichen Ungenauigkeiten und
Unebenheiten nicht verbesert sind. Doch enthält der Stenogrammbericht im wesent­
lichen eine richtige Wiedergabe meiner Schlußrede. Auf diese Schlußrede bezieht
sich die Bemerkung, die Ernst Rudolf Huber in seiner ausgezeichneten und mit
Redit berühmt gewordenen Abhandlung „Reichsgewalt und Staatsgerichtshof“,
Oldenburg (bei Stalling), 1932, S. 71/72 gemacht hat. Zu dem Problem des „Preußen­
schlags“ vom 20. Juli 1932 habe ich mich noch in folgenden Aufsätzen geäußert:
316 Hinweise

„Deutsche Juristen-Zeitung“, „Die Verfassungsmäßigkeit der Einsetzung eines


Reichskommissars für das Land Preußen“, 1932, Heft 15, Seite 953—958; „Münch­
ner Neueste Nachrichten“ Nr. 205 vom 29. Juli 1932, „Staat, Bewegung, Volk“, Ham­
burg 1933, S. 31; „Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reichs“, Hamburg
1934, S. 47—49. Im übrigen vgl. in der vorliegenden Sammlung Nr. 21, S. 185 ff.
Zu Nr. 21, S. 185 ff. Diese Darlegungen — in dieser Form im Februarheft 1933 der
„Europäischen Revue“ erschienen — bilden den Inhalt mehrerer Vorträge vom
Herbst und Winter 1932/33.
Zu Nr. 22. Die Kernfrage dieser Vorlesung, das Verhältnis der Begriffe Reich,
Staat und Bund in der deutschen Verfassungsgeschichte, habe ich unter dem Ein­
druck der Erfahrungen des Prozesses Preußen — Reich vor dem Leipziger Staats­
gerichtshof (20. Juli bis 25. Oktober 1932) im Wintersemester 1932/33 und im Früh­
jahr 1933 mehrfach in Vorträgen behandelt, insbesondere in meiner Rede zur
Reichsgründungsfeier vom 18. Januar 1933 in der Handelshochschule Berlin. Die
Kölner Antrittsvorlesung gibt die endgültige, durch die Erfahrungen meiner Mit­
arbeit am Reichsstatthaltergesetz vom 7. April 1933 bestimmte Fassung. Vgl, den
Bericht im „Westdeutschen Beobachter“, Köln, vom 21. Juni 1933.
Zu Nr. 23. „Deutsche Juristen-Zeitung“ vom 1. August 1934. Band 39, Heft 15,
S. 945—950.
Zu Nr. 24. Aus der von Freiherrn von Freytagh-Loringhoven herausgegebenen
Zeitschrift „Völkerbund und Völkerrecht“, 2. Jahrgang 1935/36. S. 92—98.
Zu Nr. 25. „Deutsche Juristen-Zeitung“ vom 1. Juli 1936, Bd. 41 S. 785—789.
Zu Nr. 26. „Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht“,
Bd. VI, 1936, S. 252—268. Eine französische Übersetzung ist in den „Mélanges
Edouard Lambert“ unter dem Titel „L’évolution récente du problème des délé­
gations législatives“, Lyon 1938, erschienen.
Zu Nr. 27. Jahrbuch der Akademie für Deutsches Recht, 3. Jahrgang 1936,
S. 10—15. Die Erkenntnis des politischen Sinnes der Redewendung „Form ohne
Prinzip“ verdanke ich der Arbeit am Entwurf einer Strafverfahrensordnung in der
Wissenschaftlichen Abteilung des NS. Rechts Wahrerbundes im Sommer 1936; vgl.
die Denkschrift des NS. Rechtswahrerbundes, Neuordnung des Strafverfahrens­
rechts, Deutscher Rechtsverlag, Berlin 1937, S. 81—111. Diejenigen, die eine offene
und sachliche Erörterung des staats- und verfassungsrechtlichen Problems und des
jüdischen Einflusses im Zweiten Reich mit der Begründung ablehnen, dadurch
werde jüdischen Gelehrten wie Laband zuviel Bedeutung beigelegt und zuviel
Ehre angetan, erinnere ich daran, daß folgender Ausspruch Bismarcks kolportiert
wird, der die geradezu ungeheuerliche Autorität Labands erklärt (ich zitiere ihn
nach Friedrich List-Kormann, Einführung in die Praxis des Verwaltungsrechts,
Tübingen 1930, S. 177): „Und da wir doch gerade bei den Gründern des Deutschen
Reiches sind, mögen Sie aus einer kleinen Erzählung Labands, des berühmten
Straßburger Staatsrechtlers ersehen, wie viele Persönlichkeiten bei der Reichs­
gründ ung eigentlich beteiligt gewesen sind. Bismarck hat nämlich Laband, den
Schöpfer des ,Staatsrechts des Deutschen Reiches* dadurch einmal ausgezeichnet,
daß er ihm sagte: ,Ich habe das Reich politisch. Sie staatsrechtlich auf gebaut/ In
der Tat kann das feinziselierte vierbändige Werk Labands mit einem architek­
tonischen Begriffe gut belobt werden.“
Zu Nr. 28. Vortrag vom 5. Februar 1937; veröffentlicht in „Völkerbund und
Völkerrecht“, 4. Jahrgang, S. 139—145. Das französische Zitat am Schluß stammt
aus A. Rimbauds „Saison en Enfer“.
Zu Nr. 29. „Völkerbund und Völkerrecht*4, 4. Jahrgang, S. 351—354. Die spätere
Veröffentlichung von George A. Finch, der in einer Bemerkung zu dem Anti­
piratenabkommen von Nyon vom 14. September 1937, „American Journal of
International Law“ 31 (1937) p. 665, an den Zusammenhang der Argumentation
Wilsons mit der Definition der Piraterie erinnert, bestätigt die Grundthese meines
Aufsatzes.
Zu Nr. 30. Diese Übersicht lag meinen Seminarübungen 1937/1938 zugrunde.
In ausgearbeiteter Form ist Teil III als Aufsatz unter dem Titel „Inter pacem
et bellum nihil medium“ in der „Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht“,
VI. Jahrgang, Heft 18, 1. Oktober 1939, S. 594/595 veröffentlicht. Das Ganze ist
der Versuch einer Weiterführung des „Begriffs des Politischen“.
Hinweise 317

Zu Nr. 31 und 32. Der Aufsatz „Das neue Yae Neutris“ ist in „Völkerbund und
Völkerrecht“, 4. Jahrgang, S. 633—638, „Völkerrechtliche Neutralität und völ­
kische Totalität“ in den von Fritz Berber herausgegebenen „Monatsheften für Aus­
wärtige Politik“, 5. Jahrgang, Juli 1938, S. 613—618, erschienen. Beide Aufsätze
führen einzelne Gedanken und Stellungnahmen weiter, die in systematischem
Zusammenhang in meinem Bericht „Die Wendung zum diskriminierenden Kriegs­
begriff“ enthalten sind (zur vierten Jahrestagung der Akademie für Deutsches
Recht in München am 29. Oktober 1937 vorgelegt; in den „Schriften der Akademie
für Deutsches Recht, Gruppe Völkerrecht“ Nr. 5, München 1938, veröffentlicht).
Zu Nr. 33. Im Herbst 1938 für die „Mélanges Georges Streit“, Athen, überreicht.
Zu Nr. 34. Veröffentlicht in der „Deutschen Rechtswissenschaft, Vierteljahres­
schrift der Akademie für Deutsches Recht“, Bd. IV, 2. Heft, April 1939, S. 97—118.
Der verfassungsrechtliche Teil ist eine Weiterführung der Thesen und Gesichts-
unkte der Abhandlung „Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches“,
g’amburg, Hanseatische Verlagsanstalt, 1934.
Zu Nr. 33. „Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht“, Jahrgang VI, Heft 7,
Mai 1939, S. 333—337. Der Aufsatz enthält die weitere Ausarbeitung einer Stelle
aus der Abhandlung „Völkerrechtliche Großraumordnung“, S. 23 ff., vgl. Nr. 36.
Zu Nr. 36. Schlußteil des Vortrages „Völkerrechtliche Großraumprinzipien“;
gehalten am 1. April 1939 in Kiel anläßlich der zum 25jährigen Bestehen ver­
anstalteten wissenschaftlichen Arbeitstagung des Instituts für Politik und Inter­
nationales Recht in Kiel. Der ganze Vortrag ist unter dem Titel „Völkerrechtliche
Großraumordnung mit Interventionsverbot für ausländische Mächte. Ein Beitrag
zum Reichsbegrirf“ 1939 im Deutschen Rechtsverlag erschienen. Der Aufsatz
„Der Reichsbegriff im Völkerrecht“ ist abgedruckt in der Zeitschrift „Deutsches
Recht“ Heft 11 vom 29. April 1939, S. 341—344.
Namenverzeichnis
Adams, John Quincey 295 Dufour 201
Amira, Karl von 246 Duguit 66, 217
Antioche, Adhémar Graf 75
Engels, Fr. 9, 14
Bakunin 10 f. Epp, Ritter von 311
Barandon 291 Esmein 67, 217
Barbey d’Aurevilly 81, 116 Eugenie, Kaiserin von Frankreich 76,117
Barker, E. 133 Eulenburg, Ph. Fürst zu 279, 281 f.
Baty 31
Bauer, Bruno 293 Fay, B. 229
Baudelaire 16 Feine, IL E. 279
Becker, Werner 62 Ferri, E. 10
Beckerath, E. von 109, 187 Figgis, J. N. 135
Bellannin 259 Finch, G. A. 316
Bentham, J. 53, 58 Fischer, Williams Sir John 251, 253,
Bernanos, G. 1.14 254, 287
Berber, Fritz 287, 307, 317 Fragistas 268
Bergson 10, 15 Frank, Walter 272
Berth, E. 67 Friedrich Wilhelm IY, 79 f., 80, 81, 85
Biedermann, K. 75 Frey tag, K. 75
Bilfinger, Carl 159, 181, 291, 295, 306 Freytagh-Loringhoven, Frhr. von 247,
Binding, K. 214, 233 316
Bismarck 68, 76, 82, 117, 135, 276, 316 Fuller, J. F. C. 235
Blakeslee, G. II. 300 Garner, J. W. 274, 309
Bluntschli, 149, 194 Gentz 49
Boccalini 51 Gerlach, L. v. 77, 80
Bockhoff, Ernst 286 f. Gierke, O. von 135, 233, 262
Bonn 55, 64 Gneist, R. von 147, 150, 233
Brinkmann, Carl 63, 86, 147, 304 Görres 135
Buß, F. J. 75 Goya i 17
Grotius 71, 158, 247, 288
Campanella 51 Gürke, Norbert 286, 309
Capitant, R. 227 Gueydan de Roussel, W. 250, 314
Cardozo 220 Guizot 53, 58
Carré de Malberg 218
Cavaglieri, A. 247 Haberlin 201
Cavour 57 Hamann, Joh. G. 128
Clausewitz 235, 237/8, 308 Haenel, A. 233
Clemenceau 239 Hammarskjöld 252
Cochin, A. 229 Haskins 31
Cole, G. D. H. 134 f., 310 Hayter, Sir William 37
Comte, A. 122, 127 Heckei, Joh. 277
Connolly 17 Hefe Je, H. 62
Constant, Benjamin 274, 292, 313 Hegel 13, 15, 45, 49, 77, 112, 113, 114,
Costamagna, C. 212 f. 133, 137, 192, 292
Croce, B. 10 Henkel, H. 201
Cromwell 9, 238 Hensel, A. 87
Hindenburg 184, 280
Daskalakis, G. 256 Hobbes, Th. 50, 72, 123, 260, 262
Dickinson, E. D. 264 Höhn, R. 262, 309
Dilthey, W. 127 Holstein, F. von 281
Disraeli 305 Rüber, E. R. 277, 284, 315
Donoso Cortes 12 f., 75 f., 121 f„ 314 Hugelmann 294
Namenverzeichnis 319

Jakowenko, Boris 142 Proudhon 10, 82, 118, 143


James, W. 135, 142 Pufendorff 50, 64, 123, 191
Jèze, G. 212
Jünger, Ernst 235 Rachfahl 80
Raczynski, Graf 76/77
Kaminski, K. 277. Radowitz 77
Kant 125, 133 Ranke 80, 83, 116
Keller 294 Rappard 213
Kelsen 24, 266 Raschhofer, H. 288
Kennedy, W. P. M. 263 Rathenau 112, 130
Kierkegaard 273, 292 Renan 13
Knapp, G. F. 112 Reu, Fritz 268/9
Koellreutter, O. 188 Romano, Santi 212
Roosevelt, Th. 296/7, 299
Laband 221, 252 f., 316 Roosevelt, Fr. 256, 296, 302
Lammers, H. H. 307 Rousseau 62/62, 85, 123
Lapradelle 301
Larnande 175 Saemisch 153
Laski, H. J. 52, 67, 134 f., 310 Saint-Simon 129
Leibholz 109 Savigny 293
Lenin 10 Scelle, G. 90
Lenz 80 Scheffer, Paul 110, 113
Lenz, F. 158 Scheler, Max 128, 130, 142, 313
Leroy, Maxime 133 Schelling 83, 116, 293
Linnebach, K. 100 Schindler, Dietrich 253, 255/6, 287
Lippmann, W. 57 Schmoller 112
Locke 217, 228 Schramm, Edm. 314
Long, Johnson 301 Schücking, W. 43, 178
Ludendorff 235 Schumpeter, J. 162
Ludwig XIY. 121, 276 Seydel, Max von 218, 233
Sieyès 217
Mann, F. K. 153 Simson, E. 294
Marx, Karl 9, 80, 118, 126, 275 Smend, Rudolf 44, 52, 104, 111, 276
Maurras, Ch. 78 Sombart, Corinna 314
Meinecke, Fr. 45 f. Sombart, Werner 304
Meyendorff, von 75, 76, 117 Sorel, G. 10 f., 67, 118, 129, 313
Michels, R. 10, 57 Spaight, J. M. 207, 311
Mill, J. St. 53, 58, 228 Spencer, H. 127, 238
Milovanovic 39 Spengler 130
Mohl, R. von 233 Spinoza 123
Montalembert 75/6 Spranger, E. 146
Montesquieu 54, 288 Stahl, Jolson 77, 234, 275, 293
Morgan, General 34 Steding, Chr. 271 f., 308 f.
Mosca, G. 53 Stein, L. von 112, 147
Mussolini 17, 109, 113, 114, 119 Stiel, P. 240
Napoleon I. 192, 274 Streit, G. 261, 317
Napoleon III. 58, 84, 119 Stuckart, W. 307
Nawiasky 180, 183, 314 Suarez 123, 228
Naumann, Fr. 38, 194 Talleyrand 5, 154, 303
Neeße, G. 309 Thoma, R. 19 f., 53, 149, 155, 217
Oncken, H. 80 Thomas von Aquin 228
Oncken, O. 249 Tingsten, H. 214, 216, 227
d’Ors, Eugenio 116, 118 Triepel, Heinrich 214, 220, 224, 262
Troeltsch, E. 49, 130
Pearse, P. 17
Perkins, Dexter 295 Veuillot 75 f.
Pfordten, Th. v. d. 232 Vico 122
Platon 137 Voltaire 293
Poetzsch-Heffter 220, 224 Wagner, Albrecht 230, 277
Popitz, Joh. 86/7, 152, 153 Waldecker, L. 149
Preuß, H. 38 Walz, G. A. 262, 266 f., 270/1, 288
Prevost-Paradol 57/8 Washington 162
320 Sachverzeichnis

Weber, Alfred 63, 133 Wohlthat, H. 311


Weber, Max 20, 55, 58, 130, 160, 272 Wyndham, Lewis 49, 57
Weber, Werner 267, 277
Wehberg, Hans 43, 177, 249 Young, Walter C. 300
Weinreich, M. 272
Wilhelm I. 276 f. Zachariae, C. S. 192
Wilhelm II. 278 f. Ziegler, II. O. 255
Willoughby, W. W. 299 Ziegler, Leopold 130
Wilson, W. 165, 175, 211, 252, 285, 297 Zitelmann, E. 263, 313

Sachverzeichnis
Abessinien 210 f., 235 60, 82 f., 88, 106, 305
Ägypten 29 Englischer Seekrieg 237 f.
Allianz, Heilige 40, 95, 165 Entmilitarisierung 35 f., 99 f.
Anarchismus 9f. Entpolitisierungen 120 f.
Amerika, Vereinigte Staaten von 29, 90, Ermächtigungsgesetze 214 f.
106; — und Genfer Völkerbund 174f. Europa 88 f.
siehe Monroedoktrin, Panama
Angreifer 36, 101, 206, 245, 251, 254 Faschismus 17 f., 64 f., 109, 118, 275
Arcana 45 f. ; Verfassungs— des Zweiten Feind 71 f., 204, 208; totaler — 235 f.,
Reiches 276 f. 244 f., Krieg und — 235 f.; — als
Apparat Staat und — 112, 113, 114, 140, Nicht-Freund 246, siehe F reund, Krieg
158, 309 Filmzensur im neutralen Staat 159, 186
Assistance mutuelle 204 f. Finanz und Demokratie 85 f.
Föderalismus 192 f.; siehe Bund
Beistand 49; Allgemeinpakte auf gegen­ Form ohne Prinzip 232 f.
seitigen — 204 f. Fortschrittsmythos 125 f.
Bolschewismus 64 f., 112 Frankfurter Nationalversammlung 75,
Bourgeois 11, 16, 120 80 f.
Budget und Heer 147, 151, 233, 277 Freimaurerei 17
Bund 190 f., 208, 210; —esstaat 192 f.; Freund 71 f., 245 f., siehe Feind
—esexekution 184; Parteienbundes­ Frieden 33, 37 f., 42; Krieg und — 95, 247;
staat 197 Status quo und — 33 f.
Bürgerkrieg 259/60, 307
Gemeinrecht 271
Cäsarismus 65, 110, 113, 115 Gerichtsherr, oberster — des deutschen
Chance, gleiche 159 Volkes 200 f.
Common Law 263 f., siehe auch Gemein­ Gesetz 227/8
recht Gleichheit und Demokratie 59; A ll­
gemeine Menschen— 61; formale —
Debellatio 210 f. 105; siehe Homogenität
Delegation, legislative 213 f. Gesetzesstaat 154
Demokratie 19 f., 24; 59 f., 115; — und Großraum gegen Universalismus 295,
Finanz 85 311 f., 317
Diktatur 10, 14, 64, 85, 115; — und
Rechtsstaat 215 f., 228/9 Pleer und Budget 277
Diskussion 52, 56, 120 Hegemonie 169, 173, 304, 306
Dollar Diplomacy 162 f., 296 Homogenität in der Demokratie 59, 61,
Drei-Stadien-Gesetz 122, 127 139; — des Bundes 208, 210 f.
Dualismus von Staat und Gesellschaft Plüter der Verfassung 149,183, 315; — des
147; — von Völkerrecht und Staats­ Völkerrechts 308
recht 261 f. ; — von öffentlichem und Humanität s. Menschheit
privatem Recht 261 f. Imperialismus, Völker rechtliche Formen
Elite 55, 125, 131/1 des modernen — 28, 162 f., 179, 296 f.,
England und Englisches Weltreich 38, 303, 312
Sachverzeichnis 321

Industrielle Gesellschaft 129 2. Völkerrechtlich 250 f. ; Zusammen­


Intervention, Niclit-Intervention 29, 60, hang innerstaatlicher und zwischen­
91, 154, 172, 305 staatlicher — 288 f.; Neutrale als
Investigation 32, 99 Garanten des Völkerrechts 308; diffe­
Japan 177, 247 rentielle — 253;
Japanische Monroedoktrin 297 f. 3. — und Totalität 255;
Juden 81, 161, 232, 294 4 . — und Reichsbegriff 271;
Juridifizierung der Politik 41,105,178,183 5. Allgemeiner Neutralisierungsprozeß
Juristisches und historisches Denken
120 f. ’
45 f., 234
6. — der Schweiz 253;
Justiz 154/5; — und Verwaltung 230 7. Übersicht der verschiedenen Bedeu­
tungen des Wortes — 159 f., 250 f.
Karibische Doktrin 166, 300 Nicht-Intervention, siehe Intervention
Kelloggpakt 176, 247, 298 Nyon-Konferenz September 1937 240
Kirdie im pluralistischen System 67, 135
Kolonien 60, 163 Ordnung 137,144; konkretes Ordnungs­
Konservativismus 85 denken 265, 269
Kombattanten, Unterscheidung von — Ordre public 269
und Nicht-Kombattanten 249, 269 Österreich 106
Konstitutionalismus 230 f., 274 f.; kon- Pacta sunt servanda 106, 140, 145, 298,
stitutionalistische Monarchie 217,275; 300, 314; siehe Status quo
konstitutionalistische Korrektheit 275 Panama 30, 91, 106, 172
Krieg 70, 71, 90, 177; Staaten— 307 f.;
Kombattanten— 236,238; — und Feind Parität und Neutralität 159, 310
235, 259, 244 f.; — und Repressalie Parlamentarismus 12, 17 f., 150, 155, 157,
177, 236; — und Frieden 151/2, 248; 189, 228; — im Zweiten Reich 283;
— gegen den — 117; totaler — 235 f., Parlamentarische und konstitutio­
244; dreidimensional totaler — 254; nelle Regierung 231, 275
Zwischenzustand zwischen — und Parteien 21 f., Meinungs— 187; akti-
Frieden 34, 43, 236, 247 f. vistische — 188; — Bundesstaat 197;
Kuba 29, 91, 106, 170 f. siehe Pluralismus
Kulturkampf 68, 76, 117, 135 Pilatusfrage 161
Piraterie 240 f., 270
Legalität 156/7, 173, 200; —sbedürfnis Plebiszit 111
104; — des status quo 50 f., 121, 300; Pluralismus 52, 61, 67, 110, 132 f.; — und
Neutralität der — 199 Staatsethik 133 f. ; — der Loyalitäten
Legitimität 12, 40, 163; — des status 134, 156; — der Legalitätsbegriffe
quo 50 f., 121, 300, 314; bürgerlich- 156/7; — der Staatenwelt 72 f. ; —
legitimistisdier Kompromiß 230 der Welt des objektiven Geistes 132,
Legislative und Exekutive 227 f ; — D ele­ 141 f.
gationen 214 f. Politisch, Begriff des — 67 f. ; siehe Juri-
Liberalismus 19 f., 110, 203, 231, 277, 283 difizierungen
Positivismus, juristischer 233
Mandate 29 L, 163 Potestas indirecta 259, 274
Marxismus 9f. Preußen 78; preußischer Verfassungs­
Mensch und Menschheit 73 f„ 145, 229, konflikt 233, 277; — Soldatenstaat
252, 306; Feind des Menschen­ 239; — und Konstitutionalismus 231,
geschlechts 73, 240; Mythos der Men­ 275; — und Hegelsche Philosophie
schenrechte 229; magnus homo 262; 292; — und Reich ISO f.; 193 f., 277;
siehe Gleichheit, Homogenität — —schlag vom 20. Juli 1932 180 f.,
Mittelalter 238 197
Monarchie 19, 23, 54, 58, 64; konstitutio­ Prisenrecht 270, 290
nelle — 274 f. Privatrecht 267 f.
Monroedoktrin 25, 90 f., 164 f., 295 L Protektorate 19 f., 28, 60, 163, 172
Japanische — 217
Mythus, politischer 9f.; — der Menschen­ Quis judicabit? 30, 32, 176, 206
rechte 229; — der Tugend 11, 123
Rechtsstaat 203, 215 f.; feudal-städtischer
Nationalliberale 231, 277 — 148; Reich, Staat, Bund, — 190 f;
Naturzustand 108 Zerstörung des —s durch den Staat
Neutralität. 1. Innerstaatlich, neutrale 191; — und Preußen 180 f, 193 f, 277;
Gewalt, pouvoir neutre HO, 128, 158 f., — und Neutralität bei Steding 271 f.;
274 f., 283; —sbegriff im Völkerrecht 303 f.

21 1Π82
322 Sachverzeichnis

Reich 190 f., 303 f., siehe Staat, Bund Stato etico 114
Reichspräsident 184, 189 Stato neutrale e agnostico 127, 136
Reichsstatthaltergesetz vom 7. April 1933 Staatsstreichpläne 281 f.
197, 316 Status quo 34 f., 107,121,131, 240, 248,286,
Religion: cujus regio ejus — 126; — und 298, 314; — von Versailles 94 f.; —
Politik 70 f. ; — der Technizität 124, und Friede 33 f. ; England und der
130 f. — 38, 39; Legitimität des — 50, 121,
Reparationen 32, 92 f. 140, 145, 298, 300, 314; siehe Pacta
Repräsentation 51, 131 sunt servanda
Repressalien 177, 236, 247 Strafprozeß 230, 316
Rheinbund 192 Suezkanal 29, 37, 256
Rheinlande 26 f., 97 f. Technik und Neutralisierungen 124,
Richter und Führer 200 128 f. ; Neutralität der — 158/9
Richterliches Prüfungsrecht 149, 183, 201 Totalität; totaler Staat 148 f., 185 f., 256;
Romantik 123 totaler Krieg 235 f. ; totaler Feind
Rundfunk, Neutralität des — 159, 186 235 f; — aus Schwäche 187
Rußland 83, 88, 111, 120, 211
Saargebiet 98 f. Universalismus 73, 142 f. ; — des Genfer
Sanktionen 32, 258 Völkerbundes 74, 90, 94, 295 f.; Groß­
Selbstverwaltung 148 raum gegen — 295 f. ; — und eng­
Soldat und Zivilist 237, 239; siehe Kom­ lisches Weltreich 306; siehe Mensch
battant und Menschheit
Stimson-Doktrin 298, 301 Verfassung, Begriff und Geschichte
Syndikalismus 67 229 f. ; preußischer —skonflikt 277;
Staat 19 f.; —sräson 45 f; totaler — 146, Hüter der — 183; —s Arcana 276 f.
152, 185 f., 235, 141, 243; neutraler — Völkerbund, Genfer 38, 41, 44, 73 f.,
146 f., 152; Gesetzes— 146, 148; Wirt­ 88 f., 104, 174 f., 176 f., 210 f., 253,
schafts— 152 f., 158; preußischer — 257, 295; — und Europa 88 f.; Ame­
195, 292; —seinheit und Pluralismus rika und — 174 ff.; — und Kellogg-
133, 137; pluralistischer Parteien— pakt 176 f. ; — und Neutralität 253,
155; — als Selbstorganisation der 257, 308; Schweiz und — 253, 257;
liberalen Gesellschaft 152; — als Die siebente Wandlung des — 210 f.
Raumordnung310; siehe Bund, Reich, Völkerrecht und staatliches Recht 261 f.;
Völkerrecht — und Neutralität 308
Staatsanwalt 230 Volonté générale bei Rousseau 63
Staatschef 274 f.
Staatsgerichtshof, Urteil vom 25. Okto­ Wahl im pluralischen Staat 111, 189
ber 1932 180 f„ 194 f., 315 Washingtoner Konferenz 1922, 242
V o m g l e i c h e n V e r f a s s e r e r s c h i e n e n :

Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines
politischen Symbols. Leinen RM. 5,80 / Schmitt hat das Problem der staatlichen Souveränität
aus seiner politischen Substanz erfaßt und in allen Konsequenzen durchdacht. Er geht an seine
Aufgabe geschichtlich beschreibend heran, um, wie der Untertitel seiner Untersuchung sagt,
„Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols“ zu zeigen. Die Geschichte dieser Entwick­
lung wird mit dramatischer Spannung geschildert. Es ist ein interessantes und vielfach ver­
blüffendes Buch, in dem Schmitt seine Untersuchungen über Hobbes zusammenfaßt. Histo­
riker und Juristen werden sich in erster Linie damit zu befassen haben, weiterhin aber auch
jeder geistesgeschichtlich und politisch Teilnehmende. (Frankfurter Zeitung)

Der Begriff des Politischen. 5. Auflage. Kartoniert RM. 1,—. Italienische Ausgabe von
Professor Delio Cantimori (Florenz 1935). Spanische Ausgabe durch Professor F. J. Condé,
Burgos, in Vorbereitung / Carl Schmitt, der bekannte Staatsrechtler, war es, der schon zu einer
Zeit, als die deutsche Versöhnungs- und Erfüllungspolitik noch in ihrer Sünden Maienblüte
stand, „das Politische“ als „die Unterscheidung von Freund und Feind“ im Sinne der „äußer­
sten Intensität einer Verbindung oder Trennung“ umschrieb. Heute ist Schmitts Formel zum
Allgemeingut nicht nur der politischen Publizistik, sondern des politischen Sprachgebrauchs
überhaupt geworden. Sie ist von einer großartigen Unerbittlichkeit, beschließt ihre Definition
des Politischen doch wenigstens die Möglichkeit einer kriegerischen Auseinandersetzung in sich.
(Berliner Börsenzcitung)

Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit. 3. Auflage. Karto­
niert RM. 1,—. Italienische Ausgabe durch Professor Delio Cantimori (Florenz 1935). Japa­
nische Ausgabe von K. Ozaki (Tokio 1936). Spanische Ausgabe durch Professor F. J. Condé,
Burgos, in Vorbereitung / Zur Klärung und Unterrichtung der staatsrechtlichen Lage, des
Werdens und Wachsens der politischen Form des Deutschen Reiches wird diese Broschüre viel
beitragen können, da sie besonders in der Abgrenzung und Gegenüberstellung der zweiteiligen
Staatskonstruktion der Liberaldemokratie und der Einheit des nationalsozialistischen Staates
sowie in der Gründung des nationalsozialistischen Rechts durch Führertum und Artgleichheit
in der Haltung des politischen Denkens und der Ziele unserer Tage geschrieben wurde. (Ham­
burger Universitäts-Zeitung)

Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über
den Soldaten. Kartoniert RM. 1,—. (Spanische Ausgabe in Vorbereitung / Rumänische Ausgabe
von Μ. I. Goruneanu, Constantza. 1939 / Die Schrift von Carl Schmitt reiht sich würdig den
bisherigen an, durch die er an der staatsrechtlichen Ausprägung der neuen deutschen Haltung
entscheidend mitgearbeitet hat; sie stellt zu jenen gewissermaßen eine glänzende Abrechnung
mit der Vergangenheit dar, deren klare Erkenntnis eine Voraussetzung für den Neubau ist.
Was Schmitt bei seiner Betrachtung des Staatsgefüges des zweiten Reiches bringt, ist nichts
weniger als die Tragödie des preußisch-deutschen Staates von 1848-1918, die er eindrucksvoll
deutet. (Zeitungsvcrlag Berlin)

Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens. Kartoniert RM. 1,— /
In anregenden Darlegungen zeigt der Verfasser, wie alle Wandlungen eines juristischen Denk­
typus in dem großen geschichtlichen und systematischen Zusammenhang stehen, der sie der
jeweiligen Lage des politischen Gemeinschaftslebens cinordnet. Die Schrift eröffnet den Rechts­
studenten und Referendaren einen tiefschürfenden Einblick in das rechtswissenschaftliche Ge­
schehen der Vergangenheit und der Gegenwart. (Der junge Rechtsgelehrte, Berlin)

H A N S E A T I S C H E V E R LA G SA N ST ALT H A M B U R G
Vom gleich en V erfasser erschienen in a n d e r e n V e r l a g e n :

Politische Romantik
Zweite Auflage (1925)
Französische Ausgabe von Pierre Linn (Paris 1928)

Die Diktatur
Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf.
Mit einem Anhang: Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Weimarer Verfassung
Zweite Auflage (1928)

Politische Theologie
Zweite Auflage (1934)

Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus


Zweite Auflage (1926)

V erfassungslehre
(1928)
Spanische Ausgabe von Professor F. Ayala (Barcelona 1933)

Legalität und Legitimität


(1932)
Französische Ausgabe von W. Gueydan de Roussel (Paris 1936)

Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff


(1938)

Verl ag Du n c k e r & H u m b l o t , Münc he n und Le i pz i g

Der Hüter der Verfassung


(1931)
Spanische Ausgabe von Manuel Sanchez Sarto (Barcelona 1931)

V e r l a g J. C. B. M o h r ( P a u l S i e b e c k ) i n T ü b i n g e n

Völkerrechtliche Großraumordnung
mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht
(1939)

D e u t s c h e r R e c h t s v e r l a g , B e r l i n - W i e n

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