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Kirchheimer-Edition 

Herausgegeben von Hubertus Buchstein 1

Buchstein [Hrsg.]

Otto Kirchheimer –
Gesammelte Schriften
Band 1:
Recht und Politik in der Weimarer Republik

Nomos
https://doi.org/10.5771/9783845282534
Generiert durch Universität Potsdam, am 17.12.2022, 23:17:52.
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Otto Kirchheimer –
Gesammelte Schriften
Herausgegeben von Prof. Dr. Hubertus Buchstein,
Universität Greifswald

https://doi.org/10.5771/9783845282534
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Otto Kirchheimer, ca. 1928

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Kirchheimer-Edition

Otto Kirchheimer –
Gesammelte Schriften

Band 1:
Recht und Politik in der Weimarer Republik

Herausgegeben von Hubertus Buchstein


unter Mitarbeit von Henning Hochstein, Lisa Klingsporn,
Moritz Langfeldt, Merete Peetz und Eike Christian Schmieder

Nomos

https://doi.org/10.5771/9783845282534
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Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG; BU 1035/8-1).

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in


der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-8487-3928-8 (Print)
ISBN 978-3-8452-8253-4 (ePDF)

1. Auflage 2017
© Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2017. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte,
auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der
Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort des Herausgebers zur Edition der Gesammelten


Schriften von Otto Kirchheimer 9
Einleitung zu diesem Band 15

 [1.] Die Lehre von Stettin [1928] 127


 [2.] Zuchthaus Untermaßfeld und moderne
Preßberichterstattung [1928] 129
 [3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928] 132
 [4.] Panzerkreuzer und Staatsrecht [1928] 152
 [5.] Bedeutungswandel des Parlamentarismus [1928] 157
 [6.] Wehrhaftigkeit und Sozialdemokratie Bemerkungen zu der
Schrift Paul Levis [1928] 163
 [7.] Wahlrechtsreform [1929] 167
 [8.] Die Demokratie der Bequemlichkeit. Ein Nachwort zum
Parteitag [1929] 171
 [9.] Das Problem der Verfassung [1929] 175
[10.] Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der
Arbeiterklasse. Zum Verfassungstag [1929] 179
[11.] 50 Jahre Deutsches Reichsgericht [1929] 187
[12.] Die Englische Arbeiterbewegung [1929] 192
[13.] [Rezension:] Carl Tannert: Die Fehlgestalt des Volksentscheids
[1930] 196
[14.] Das neue Strafrecht. Nach der ersten Lesung [1930] 199
[15.] Artikel 48 – der falsche Weg [1930] 202
[16.] Privatbesitz gegen Volksinteresse! Wann kommt das neue
Bauland-Gesetz? Reichsgericht und Artikel 155 der
Weimarer Verfassung [1930] 206
[17.] Weimar … und was dann? Entstehung und Gegenwart der
Weimarer Verfassung [1930] 209
[18.] Reichsgericht und Enteignung.
Reichsverfassungswidrigkeit des Preußischen
Fluchtliniengesetzes? [1930] 251

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 264


[20.] [Rezension:] Eugene A. Korovine: Das Völkerrecht der
Übergangszeit [1930] 323
[21.] Bürgertum am Scheideweg [1930] 328
[22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und
Rechtsprechung [1930] 333
[23.] Artikel 48 und die Wandlungen des Verfassungssystems.
Auch ein Beitrag zum Verfassungstag [1930] 349
[24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930] 354
[25.] [Rezension:] Justus W. Hedemann: Die Fortschritte des
Zivilrechts im 19. Jahrhundert [1931] 365
[26.] [Rezension:] Curzio Malaparte: Der Staatsstreich [1932] 369
[27.] [Rezension:] Georg Schwarzenberger: Die Kreuger-Anleihen
[1932] 373
[28.] Legalität und Legitimität [1932] 376
[29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung
[1932] 396
[30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932] 408
[31.] Nazis, Auslandsdeutsche und Proleten [1932] 425
[32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932] 429
[33.] Die Verfassungsreform [1932] 443
[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität«
[1933] 458
[35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933] 495
[36.] [Rezension:] Adolf Grabowsky: Politik [1933] 511
[37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des
Proletariats [1933] 515
[38.] The Growth and the Decay of the Weimar Constitution
[1933] 527
[39.] [Rezension:] Otto Geßler: Reichswehrpolitik in der Weimarer
Zeit [1959] 535
[40.] [Rezension:] Friedrich Karl Fromme: Von der Weimarer
Verfassung zum Bonner Grundgesetz Ein staatsrechtlich-
politischer Vergleich [1960] 539

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[41.] [Rezension:] Walter Z. Laqueur: Young Germany [1963] 542


[42.] [Rezension:] Gotthard Jasper: Der Schutz der Republik Die
Sicherung der Demokratie in der Weimarer Republik [1963] 543
[43.] [Rezension:] Gerhard Schulz: Zwischen Demokratie und
Diktatur [1965] 547
[44.] Die Justiz in der Weimarer Republik [1968] 549

Abkürzungen 559
Personenregister 561
Sachregister 567

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Vorwort des Herausgebers


zur Edition der Gesammelten Schriften
von Otto Kirchheimer

1. Otto Kirchheimer (1905-1965) gehört zu einer Gruppe junger


deutsch-jüdischer Juristen, die aufgrund ihrer politischen Erlebnisse
während der Weimarer Republik in der Emigration zu Politikwissen-
schaftlern wurden und nach 1945 die amerikanische wie auch die west-
deutsche Politikwissenschaft prägten. In Kirchheimers facettenreichem
wissenschaftlichen Werk spiegeln sich in nahezu einzigartiger Weise
die politischen und wissenschaftlichen Erfahrungen und Konflikte der
Weimarer Republik, des Nationalsozialismus, des französischen und
amerikanischen Exils sowie der Gründungs- und Etablierungsphase
der beiden nach 1945 neu entstehenden deutschen Teilstaaten wider.
Das Werk von Kirchheimer erweist sich bis heute als Bezugsrahmen
und Anregung für vielfältige aktuelle Fragestellungen – besonders in
Hinblick auf die Begründung und Ausgestaltung von Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit. Einige der Untersuchungen Kirchheimers, wie die
Beschreibung der sozialen Kompromissstruktur des nationalsozialisti-
schen Regimes, die Untersuchungen zur Krise der Weimarer Republik,
seine Analysen der Politischen Justiz oder seine Thesen zur Entwick-
lung des Parteiensystems in modernen westlichen Demokratien sind
mittlerweile selbst zu zeitgeschichtlichen Dokumenten geworden.
2. Otto Kirchheimer wurde am 11. November 1905 in Heilbronn gebo-
ren. Er stammte aus einem wohlhabenden Elternhaus und war das mit
großem Abstand jüngste von sechs Kindern. Nach dem frühen Tod sei-
ner Eltern verbrachte er den größten Teil seiner Schulzeit in Internaten
in Heidelberg. Schon als Jugendlicher wurde Kirchheimer zum Anhän-
ger sozialistischer Ideen und engagierte sich in der jüdisch-deutschen
Wandervogelbewegung. Nach dem Abitur begann er im Sommerse-
mester 1924 sein Studium in den Fächern Philosophie, Geschichte und
Soziologie in Münster. Zum Wintersemester 1924/25 wechselte Kirch-
heimer für das Studium der Staats- und Rechtswissenschaften an die
Universität Köln. Sein rechtswissenschaftliches Studium setzte er auf
Empfehlung von Max Scheler ein Jahr später an der Berliner Universi-
tät fort. Rudolf Smend empfahl Kirchheimer zu Carl Schmitt in Bonn,
wo er im Wintersemester 1926/27 in den Kreis der Doktoranden
Schmitts aufgenommen wurde. In diesen Jahren war er in der SPD und

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10 Vorwort des Herausgebers

bei den Jungsozialisten politisch aktiv. Mit dem Ersten Juristischen


Staatsexamen und der Promotion beendete Kirchheimer sein Jurastu-
dium im Frühjahr 1928 bei Carl Schmitt. Von 1928 bis 1931 absolvierte
er in Erfurt und Berlin das Referendariat und machte sich in verschie-
denen sozialistischen Publikationen einen Namen als scharfzüngiger
Autor des linken Flügels der SPD. Nachdem sein Versuch, beruflich in
der Wissenschaft Fuß zu fassen, zunächst fehlschlug, ließ Kirchheimer
sich 1932 als Rechtsanwalt in Berlin nieder.
Bereits kurz nach der Machtübergabe an die Hitlerregierung wurde
Kirchheimer die Anwaltszulassung entzogen. Im Mai 1933 wurde er
kurzzeitig inhaftiert. Nach seiner Freilassung flüchtete er nach Paris
und schlug sich dort unter anderem finanziell mit Arbeiten für Presse-
dienste der sozialistischen Emigration und kleineren Aufträgen für die
Pariser Zweigstelle des ehemaligen Frankfurter Instituts für Sozialfor-
schung durch. Im November 1937 reiste er in die USA ein, wo er eine
Anstellung am Institute for Social Research in New York fand. 1943
wurde er Mitarbeiter in der Forschungsabteilung des Office for Strate-
gic Services (OSS) in Washington D.C. und war hier noch während des
Krieges unter anderem an der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse
beteiligt. Die Forschungsabteilung des OSS wurde 1946 in das State
Department eingegliedert, wo Kirchheimer weitere acht Jahre die poli-
tische Entwicklung in Nachkriegseuropa analysierte. Zusätzlich lehrte
er als Lecturer an verschiedenen amerikanischen Universitäten. 1955
übernahm Kirchheimer dann eine Professur für Political Science an der
New School for Social Research in New York. Neben dieser Tätigkeit
hatte er ab 1960 einen Lehrauftrag als Visiting Professor an der New
Yorker Columbia University, wo er ein Jahr später die Professur für
Public Law and Government übernahm. Otto Kirchheimer starb am
22. Juli 1965 in Washington. Auf seinen Wunsch wurde er neben seinen
Eltern auf dem jüdischen Friedhof in Heilbronn beerdigt.
Kirchheimers Schriften sind zumeist aus konkreten Anlässen entstan-
den und stellten häufig Versuche dar, politische Entscheidungen oder
verfassungsrechtliche Weichenstellungen zu beeinflussen. Seiner betont
interdisziplinären Ausrichtung mit dem Einbezug soziologischer, juris-
tischer, philosophischer und historischer Argumente und Argumentati-
onsweisen liegt das Programm einer Politikwissenschaft zugrunde, die
immer wieder neu ihre Anschlussfähigkeit an ihre Nachbardisziplinen
und die dort diskutierten Probleme sucht.
Überblickt man die Rezeption von Kirchheimers Arbeiten, so ist vor
allem ihre Vielgestaltigkeit bemerkenswert. Denn die Aufnahme seiner

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Vorwort des Herausgebers 11

Schriften verläuft nicht nur quer zu bestimmten ›Schulen‹ und Richtun-


gen innerhalb der Politikwissenschaft, sondern beeinflusst empirisch
arbeitende Politikwissenschaftler, Vertreter einer normativen Politik-
wissenschaft, Rechtswissenschaftler, Soziologen und Zeithistoriker glei-
chermaßen.
3. Vor diesem Hintergrund entstand das Vorhaben, die mannigfaltigen
Arbeiten von Otto Kirchheimer zusammenzutragen und als Gesam-
melte Schriften herauszugeben. Auch wenn von Kirchheimer eigen-
ständige Bücher vorliegen, so bevorzugte er doch die ›kleine Form‹ des
Aufsatzes. Wesentliche Beiträge wurden an unterschiedlichen Stellen
(manchmal unter Pseudonym) veröffentlicht und sind oft nur noch
schwer zugänglich. Auch die weltweit verstreuten Nachlassmaterialien
und Dokumente zu seinem Leben und seinen Schriften waren bisher
noch nicht systematisch gesichtet und ausgewertet worden.
Als Ergebnis intensiver Recherchen wird in der vorliegenden Ausgabe
eine umfassende Auswahl von Abhandlungen aus allen Arbeitsgebie-
ten Kirchheimers – zusammen mit einem Wiederabdruck der mittler-
weile vergriffenen Hauptwerke – vorgelegt. Auf diese Weise ist es erst-
mals ohne größeren Aufwand möglich, die Entwicklung der theoreti-
schen Überlegungen Kirchheimers nachzuvollziehen und die Wandlun-
gen in seinen politischen Beurteilungen zu verfolgen.
Die Herausgabe der Texte erfolgt nicht streng chronologisch. Stattdes-
sen ist eine Aufteilung der Ausgabe in mehrere thematische Abteilun-
gen vorgenommen worden, denen in der Publikationsform jeweils ein
Band der Ausgabe entspricht. Die Gesammelten Schriften umfassen
voraussichtlich die folgenden sechs Bände.
Band 1, Recht und Politik in der Weimarer Republik, versammelt alle
Artikel Kirchheimers aus der Weimarer Republik sowie Beiträge aus
seinem späteren Werk, die sich primär auf die Jahre bis 1933 beziehen.
Band 2, Faschismus, Demokratie und Kapitalismus, hat die Schriften
zum Inhalt, die Kirchheimer während des französischen und amerika-
nischen Exils im Rahmen seiner Arbeit am Institut für Sozialforschung
über den Nationalsozialismus und über westliche Demokratien ver-
fasste.
Band 3, Kriminologische Schriften, beinhaltet ebenfalls Schriften, die
zu seiner Zeit am Institut für Sozialforschung entstanden sind. Dazu
gehören das gemeinsam mit Georg Rusche veröffentlichte Buch Sozial-

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12 Vorwort des Herausgebers

struktur und Strafvollzug sowie weitere Aufsätze zu zeitgenössischen


Straftheorien und Strafpraktiken.
Band 4, Politische Justiz und Wandel der Rechtsstaatlichkeit, setzt
sich zusammen aus rechtshistorischen und rechtsvergleichenden Auf-
sätzen Kirchheimers, konzeptionellen Beiträgen zum Begriff der politi-
schen Justiz sowie seiner Monographie Politische Justiz.
Band 5, Politische Systeme im Nachkriegseuropa, führt Kirchheimers
politikwissenschaftliche Studien zum Wandel von politischen Ordnun-
gen und speziell der Parteiensysteme in Westeuropa nach dem zweiten
Weltkrieg zusammen und beinhaltet zudem seine Studien zur Rechts-
wirklichkeit in der DDR. Der Band enthält zudem eine vollständige
Bibliografie der veröffentlichen Schriften von Otto Kirchheimer.
Band 6, Politische Analysen für das OSS und Department of State,
enthält Kirchheimers Analysen zum Nationalsozialismus, seine vorbe-
reitenden Arbeiten zur strafrechtlichen Ahndung nationalsozialisti-
scher Verbrechen sowie Pläne zum Neuaufbau der Demokratie in
Deutschland, die er zwischen 1943 und 1955 verfasste. Diesem Band ist
zudem eine Auflistung aller ermittelten Texte von Kirchheimer beige-
fügt, die im Rahmen seiner Arbeit beim OSS und State Department ent-
standen sind.
4. Die Ausgabe der Gesammelten Schriften Kirchheimers ist keine his-
torisch-kritische Gesamtausgabe. Sie wählt bewusst aus und verzichtet
auf Vollständigkeit. In die Gesammelten Schriften sind all jene veröf-
fentlichten und unveröffentlichten Texte aufgenommen, denen eine
eigenständige wissenschaftliche Bedeutung zukommt. Von den nachge-
lassenen Arbeiten sind nur solche Texte abgedruckt, die eine mit den
zu Lebzeiten Kirchheimers veröffentlichten Schriften vergleichbare
inhaltliche Relevanz aufweisen.
Schriften, die zu unterschiedlichen Anlässen in Forschung und Lehre,
im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit als Anwalt, als ameri-
kanischer Regierungsberater oder in der Instituts- und Universitätsver-
waltung entstanden sind, wurden nur bei besonderer politischer oder
biographischer Bedeutung aufgenommen. Nicht in die Ausgabe aufge-
nommen wurden insbesondere: Notizen für Seminare und Lehrveran-
staltungen; Notizen, die für Vorträge gemacht wurden und nicht als
abgeschlossene und ausformulierte Texte anzusehen sind; Exzerpte
und Materialsammlungen zu veröffentlichten Schriften; kleinere Gele-
genheitsarbeiten wie Danksagungen oder Begrüßungsansprachen;
abgeschlossene Texte, die in später veröffentlichten Arbeiten von ihm

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Vorwort des Herausgebers 13

aufgenommen wurden; sowie eine Vielzahl kleinerer und größerer


Rezensionen. Briefe Kirchheimers werden in dieser Edition nicht doku-
mentiert.
Um sämtliche Schriften Kirchheimers für die speziell interessierte For-
schung auffindbar zu machen, wird der fünfte Band eine vollständige
Bibliographie seiner publizierten Arbeiten enthalten.
5. Der Abdruck der Texte erfolgt nach der Fassung im Erstdruck,
soweit nicht eine von Otto Kirchheimer autorisierte spätere Version des
Textes vorliegt. Ausnahmen von dieser Regel wurden nur in Fällen
gemacht, in denen statt des französischen oder englischen Originals
eine deutsche Übersetzung in die Ausgabe aufgenommen wurde. Die
Rechtschreibung wurde den heute gültigen Regeln angepasst. Offen-
sichtliche Druckfehler in bisherigen Ausgaben wurden ohne Nachweis
korrigiert. Hervorhebungen und Zitationen in den Texten von Kirchhei-
mer wurden vereinheitlicht.
Die Präsentation der Texte geschieht mit nur einem Nachweisapparat.
Er dient dem Beleg der Zitate Kirchheimers und enthält seine Literatur-
hinweise; an diesen Stellen werden auch die bei Kirchheimer fehlenden
Zitatnachweise in eckigen Klammern ergänzt. Der Text Kirchheimers
und die Angaben des Nachweisapparats erscheinen auf derselben
Druckseite, um auch eine digitale Nutzung der Ausgabe zu erleichtern.
Die einzelnen Bände werden jeweils mit einem Abkürzungsverzeichnis
sowie Personen- und Sachregister versehen. Das Personenregister ver-
zeichnet sämtliche von Kirchheimer in dem jeweiligen Band erwähnten
Personen einschließlich der Autoren der zitierten Literatur. Das Sachre-
gister enthält wichtige Begriffe und Sachbezeichnungen. Ist ein Begriff
für einen ganzen Text thematisch, werden nur zentrale Stellen und
besondere Bedeutungen verzeichnet.
Jeder der sechs Bände wird mit einer Einleitung der jeweiligen Band-
herausgeber eröffnet. Diese Einleitungen enthalten ausführliche biogra-
phische und inhaltliche Erläuterungen zu allen in den jeweiligen Band
aufgenommenen Texten. Sie erläutern auch die Anordnung, die thema-
tischen Schwerpunkte sowie den wissenschaftsgeschichtlichen und
zeitgeschichtlichen Hintergrund der abgedruckten Schriften. Bemer-
kungen zur Rezeptionsgeschichte erfolgen lediglich in knapper Form.
Editorische Hinweise, welche einzelne Probleme der Textüberlieferung,
der Quellen, der Datierung oder der Textgestaltung betreffen, enthalten
die Anmerkungen des jeweiligen Herausgebers. Sie sind am Beginn

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14 Vorwort des Herausgebers

jedes Textes von Kircheimer abgedruckt. Alle von Herausgeberseite


stammenden Hinweise oder Zusätze sind in eckige Klammern gesetzt.
6. Die Erarbeitung dieser Edition ist in einem von der Deutschen For-
schungsgemeinschaft (DFG) von 2016 bis 2019 geförderten Forschungs-
projekt erfolgt (BU 1035/7-1). Wissenschaftliche Mitarbeiter im Projekt
sind Henning Hochstein und Lisa Klingsporn. Weitere inhaltliche Hil-
festellungen gaben Frank Schale, Alfons Söllner und Christiane Wilke.
Der Herausgeber dankt der DFG für die Finanzierung des Forschungs-
projekts und den Mitarbeitern für ihr großes Engagement.
Für die Abdruckgenehmigung und die umfassende Unterstützung bei
der Vorbereitung dieser Edition dankt der Herausgeber den Erben von
Otto Kirchheimer, Hanna Kirchheimer-Grossman und Peter Kirchhei-
mer.
Greifswald, im Herbst 2017
Hubertus Buchstein

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Einleitung zu diesem Band

von
Hubertus Buchstein

1. Kindheit, Jugend und Studium 16


2. Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus 23
3. Journalistische Interventionen 34
4. Arbeiterbewegung und Parlamentarismus 48
5. Die Eigentumsordnung der Weimarer Verfassung 57
6. Weimar … und was dann? 66
7. Legalität und Legitimität 80
8. Kampfaufrufe zur Verteidigung der Republik 93
9. Rückblicke auf die Weimarer Republik 110
10. Editorische Anmerkungen zu diesem Band 115

Der erste Band der Gesammelten Schriften von Otto Kirchheimer


(1905-1965) enthält seine Texte zum Thema Recht und Politik in der
Weimarer Republik. Dabei handelt es sich vornehmlich um selbstän-
dige Abhandlungen, Aufsätze, Diskussionsbeiträge und Rezensionen,
die zwischen 1927 und dem Beginn des nationalsozialistischen Terror-
regimes, das ihn zu Flucht und Exil zwang, entstanden sind. Ergänzt
werden diese Beiträge um spätere Rückblicke in Aufsätzen und Rezen-
sionen, soweit sie sich überwiegend auf das Thema Weimarer Republik
beziehen.
Otto Kirchheimer gilt als einer der originellsten politik- und rechtstheo-
retischen Autoren der jüngeren Generation in der Weimarer Republik.
Mit seinen gleichzeitigen Bezugnahmen auf Karl Marx und Carl
Schmitt, mit Begriffsprägungen wie ›Verfassung ohne Entscheidung‹,
›Verrechtlichung‹, ›Strukturwandel des politischen Kompromisses‹
oder ›Direktions- und Distributionssphäre‹ und mit seiner Sensibilität
für die tektonischen Veränderungen im Verfassungsgefüge der Weima-
rer Republik hat er mit seinen Texten immer wieder neue Generationen
von Leserinnen und Lesern fasziniert. Bis heute gibt es eine lebhafte

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16 Einleitung zu diesem Band

und über den deutschsprachigen Raum weit hinausgehende Rezeption


der Weimarer Schriften Kirchheimers.1
Das Themenspektrum dieser Arbeiten Kirchheimers aus den letzten
sechs Jahren der Weimarer Republik ist breit. Es umfasst Beiträge zur
Staats- und Verfassungstheorie, Studien zum Parlamentarismus, zu
politischen Parteien und Wahlrechtsfragen, Analysen zu konkreten ver-
fassungspolitischen Konstellationen der Weimarer Republik, Erörterun-
gen zur Eigentumstheorie, kritische Diagnosen über den schrittweisen
Verfall der demokratischen Ordnung, Analysen des aufkommenden
Faschismus, Appelle zur Verteidigung der Republik sowie einer Reihe
von kleineren Beiträgen zu Fragen der politischen Justiz, des Straf-
rechts, der Geschichte der Arbeiterbewegung, des Völkerrechts und
ersten Versuchen, in Deutschland eine neue wissenschaftliche Disziplin
mit dem Namen ›Politik als Wissenschaft‹ zu etablieren. Die meisten
dieser Themen hat Kirchheimer auch in späteren Phasen seines Lebens
weiterverfolgt, zum Teil in bemerkenswerter Kontinuität, zum Teil aber
auch mit deutlichen Revisionen früherer Ansichten (vgl. Söllner 1982
und Schale 2006).
Die in diesem Band versammelten 44 Texte von Kirchheimer werden
chronologisch in der Reihenfolge ihres Entstehens abgedruckt. Die fol-
genden Erläuterungen in der Einleitung des Herausgebers zu den biogra-
fischen, wissenschaftlichen und politischen Hintergründen der Texte
sind nach deren thematischen Schwerpunkten sortiert und folgen der
Chronologie nur in groben Zügen. Am Beginn findet sich eine biografi-
sche Skizze der Kindheits- und Jugendjahre Kirchheimers, über die bis-
lang trotz der vielfältigen wissenschaftlichen Literatur zu seinem Werk
kaum etwas bekannt war.

1. Kindheit, Jugend und Studium

Otto Kirchheimer2 wurde am 11. November 1905 in Heilbronn am


Neckar geboren. Die Genealogie der Familie Kirchheimer lässt sich bis

1 Überblicke über die vielfältigen Rezeptionen der Weimarer Schriften Kirchhei-


mers finden sich bei Ooyen/Schale (2011) und Buchstein/Klingsporn/Schale
(2018).
2 Zur Biografie von Otto Kirchheimer vgl. Herz (1989) und Herz/Hula (1969). Die
biografischen Angaben stützen sich des Weiteren auf zwei im Privatdruck
erschienene Familienerinnerungen (Anschel 1990; Kirchheimer-Grossman 2010)
sowie auf ungedruckte Quellen aus den Nachlässen von Otto Kirchheimer und
John H. Herz, die sich in der Sammlung der German Intellectual Émigré Collec-

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Einleitung zu diesem Band 17

ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen.3 Die männliche Linie lebte seit


1720 in Berwangen, einem badischen Dorf, das heute dem Kreis Heil-
bronn zugeschlagen ist, und verdingte sich im prekären Status als
›Schutzjuden‹4 mit der Fleischerei und dem Fleischhandel. Otto Kirch-
heimers Vater, Israel Emil Kirchheimer, kam 1856 in Berwangen als ers-
tes Kind des Fleischers Moses Kirchheimer und seiner Frau Fanny
Würzburger zur Welt. Er blieb zwar Mitglied der Jüdischen Gemeinde,
war aber nicht besonders religiös und bestand darauf, mit dem Rufna-
men Julius angeredet zu werden. Auch verweigerte er sich der berufli-
chen Familientradition und zog, anstatt die Fleischerei und den Fleisch-
handel seines Vaters zu übernehmen, gleich nach seiner Hochzeit im
Jahre 1881 mit seiner Frau in die Stadt nach Heilbronn, um dort einen
ihm lukrativ erscheinenden Getreidehandel zu eröffnen. Seine Frau,
Frederike Baer, geboren 1862, stammte aus dem nahe gelegenen
Neckarbischofsheim und war ebenfalls jüdischer Herkunft. Nach weni-
gen Jahren war Julius Kirchheimer mit seiner Firma geschäftlich so
erfolgreich, dass er es zu einem der wohlhabendsten Mitglieder der
jüdischen Gemeinde in Heilbronn gebracht hatte. In kurzer Folge wur-
den dem Paar zwischen 1882 und 1888 drei Söhne und zwei Töchter
geboren (Max 1882, Fanny 1883, Anna 1885, Leo 1887, Friedrich 1888)
und die Familie konnte es sich aufgrund des geschäftlichen Erfolgs leis-
ten, eines der größten Häuser der Innenstadt von Heilbronn zu bezie-
hen.5 Julius Kirchheimer gehörte zu den anerkannten Honoratioren der
Stadt und war stolz auf die von Otto von Bismarck trickreich und mit
starker Hand durchgesetzte politische Vereinigung der Separatstaaten
zum Deutschen Kaiserreich.
Otto Kirchheimer kam 1905 als sechstes Kind des Ehepaares zur Welt,
17 Jahre nach der Geburt seines nächstjüngsten Bruders. Über seine
Kindheit ist heute nur noch wenig bekannt, nur dass er als ›Spätling‹

tion der State University of New York in Albany befinden. In Kirchheimers Nach-
lass findet sich allerdings kaum Material aus der Zeit vor seiner Ankunft in den
USA im November 1937. Weitere biografische Detailangaben beruhen auf Noti-
zen des Verfassers aus Gesprächen, von denen einige schon längere Zeit zurück-
liegen: mit John H. Herz (am 15. November 1985), mit Ossip K. Flechtheim (am
13. Februar 1988), mit Henry W. Ehrmann (am 7. Juni 1988), mit Leo Löwenthal
(am 5. Oktober 1988) und mit Wilhelm Hennis (am 26. September 2009). Beson-
derer Dank gebührt Peter Kirchheimer (am 12. März 2015 und am 16. März 2016)
und Hanna Kirchheimer-Grossman (am 11. März 2016) für ihre Bereitschaft, ihre
Familiengeschichte und die Erinnerungen an ihren Vater mit mir zu teilen.
3 Zum Folgenden vgl. Kirchheimer-Grossman (2010).
4 Zum prekären Status der tributpflichtigen Schutzjuden in der Region Heilbronn
vgl. Angerbauer/Frank (1986).
5 Das Haus ist 1944 bei Bombardements restlos zerstört worden.

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18 Einleitung zu diesem Band

die volle Aufmerksamkeit seiner Eltern und Haushaltsangestellten


genoss. Doch diese glückliche Phase währte nur wenige Jahre. Noch
vor seiner Einschulung starb seine Mutter 1911 im Alter von 49 Jahren
und die Erziehung übernahmen seine nicht so geduldigen großen
Schwestern. Nach der Grundschule besuchte Otto Kirchheimer das
städtische Gymnasium in Heilbronn. Wegen der Erkrankung seines
Vaters wechselte er im April 1918 als 12-Jähriger auf die gymnasiale
Stufe einer Privatschule in Heidelberg, das Pädagogium Neuenheim-
Heidelberg.6 Sein Vater starb nur ein Jahr später und hinterließ den
sechs Kindern ein beträchtliches Vermögen. Während die älteren Brü-
der ihren Anteil für eigene Geschäfte und Unternehmen verwendeten,
wurde das Erbe Otto Kirchheimers treuhänderisch für die Kosten sei-
ner weiteren Ausbildung angelegt. Formal war Otto Kirchheimer der
Vormundschaft seines Onkels Ludwig Rosenthal aus Nürnberg unter-
stellt, tatsächlich aber übten seine älteren Brüder diese Rechte bis zu
seiner formellen Mündigkeit Ende 1926 aus. Vor allem sein 17 Jahre
älterer Bruder Friedrich (Fritz), der in Heilbronn bei der dortigen Filiale
der Dresdner Bank Karriere machte, sah sich diesbezüglich in der Ver-
antwortung. Otto Kirchheimer hat später rückblickend beklagt, wie
sehr er unter der Bevormundung und den Drangsalierungen seiner
Brüder gelitten habe und damit die wachsende Entfremdung von ihnen
erklärt.
Kirchheimer besuchte das Pädagogium Heidelberg-Neuenheim fünf
Jahre bis zum Sommer 1923.7 Er war als Untermieter in verschiedenen
Wohnungen untergebracht. Dort erfuhr er die Fürsorge der Zimmer
vermietenden Witwen, genoss im Alltag ansonsten aber viel Selbstän-
digkeit. Als Schüler begann er früh, sich vor allem für Politik, Literatur
und Geschichte zu interessieren. Nach der Revolution kam er 1919 als
Jugendlicher in Kontakt mit älteren Mitschülern, die mit den Kommu-
nisten und den linken Sozialisten sympathisierten. In diese Zeit fällt
auch der Beginn seiner Beteiligung bei ›Die Kameraden‹, dem deutsch-
jüdischen Ableger der Wandervogelbewegung. Der Wanderbund war
1919 als überregionale Organisation gegründet worden, weil viele der
anderen Wandervogelgruppierungen Juden diskriminierten oder gar
nicht erst in ihren Reihen haben wollten. Der Bund hatte über mehrere
Standorte in Deutschland verteilt einige Tausend aktive Mitglieder. Er
war offen für jüdische und nicht-jüdische Jugendliche und Studenten

6 Damals begann ein neues Schuljahr nicht nach den Sommerferien, sondern
gemäß christlicher Tradition nach dem Osterfest.
7 Die nachfolgenden Angaben zur Schulkarriere Kirchheimers basieren auf den
Rechercheergebnissen von Reinhard Mehring (vgl. Mehring 2014: 39-41).

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Einleitung zu diesem Band 19

und war strikt antizionistisch. Zu den Prinzipien der ›Kameraden‹


gehörten die Gleichberechtigung aller Mitglieder, die Koedukation, die
Förderung von besonderen Gemeinschaftserlebnissen und die Liebe
zur Natur (vgl. Trefz 1997). Kirchheimer nahm regelmäßig an Veran-
staltungen und Wandertouren der ›Kameraden‹ teil und wurde in
ihren Reihen zu einem beredten Fürsprecher sozialistischer Ideen. Um
das Abitur ablegen zu können, musste er 1923 erneut die Schule wech-
seln. Nach der bestandenen Aufnahmeprüfung verbrachte er das
Schuljahr 1923/24 am Städtischen Realgymnasium Ettenheim bei Lahr
(Baden). Dort legte er im März 1924 das Abitur ab. Das überlieferte
Notenstammbuch dokumentiert ein abwechslungsreiches Zensurenbild
mit Schwächen in den Naturwissenschaften und besonderen Stärken in
den literarischen Fächern.
Nachdem er von seinen Brüdern die Zustimmung zum Studium der
Rechtswissenschaften eingeholt hatte, nahm Otto Kirchheimer zum
Sommersemester 1924 das Studium an der Universität in Münster auf.8
Er studierte allerdings nicht die Rechtswissenschaft, sondern schrieb
sich in der Philosophischen Fakultät der Universität ein, denn er war
nach Münster gegangen, weil er die Vorlesungen des Neukantianers
und Professors für Philosophiegeschichte Karl Vorländer hören wollte,
dessen Schriften zum Sozialismus und Marxismus er als Schüler bereits
gelesen hatte. Seine Brüder ließ er über diese leichte Abweichung von
den vereinbarten Studienzielen im Unklaren, über Vorländer fand er
aber dann doch schnell den Weg zum Fach Rechtswissenschaft. Finan-
ziert wurde sein Studium aus dem ererbten Vermögen. Politisch betä-
tigte Kirchheimer sich im örtlichen Sozialistischen Studentenverband.
Er war zu diesem Zeitpunkt bereits Mitglied der SPD.9 Auch als Stu-
dent blieb er weiterhin bei den ›Kameraden‹ aktiv. Eugene Anschel,
sein engster Freund während der Studienjahre, berichtet in seinen
Memoiren, dass sich Kirchheimer zu Beginn seines Studiums als 18-
Jähriger stolz als Marxist bezeichnete, der seine Mitkameraden und
-kameradinnen auf den langen Wanderungen für die Erörterung von
philosophischen Problemen zu begeistern versuchte. Er schildert darin
auch, dass sich Kirchheimer in den politischen Diskussionen zum lin-
ken Flügel der SPD bekannte und sich mit diversen zeitgenössischen

8 Die Angaben zum Studium Kirchheimers basieren auf: Otto Kirchheimer,


Lebenslauf (27. Dezember 1927), in: Universität Bonn, Archiv der Juristischen
Fakultät, Prüfungsakte Otto Kirchheimer, Promotionen 521/28, Nr. 500-524, sowie
den Angaben bei Mehring (2014).
9 So die Auskunft seiner Tochter Hanna Kirchheimer-Grossman. Das genaue
Datum seines Parteieintritts ist nicht bekannt.

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20 Einleitung zu diesem Band

sozialistischen und kommunistischen Theorien wie denen von Max


Adler, Rosa Luxemburg, Paul Levi oder Lenin vertraut gab. Permanent
habe er Zeitung gelesen oder auf Zugfahrten aus philosophischen Tex-
ten von Platon und anderen Klassikern vorgelesen.10
In Münster blieb Kirchheimer nur ein Semester. Neben den Lehrveran-
staltungen von Vorländer belegte er auch Vorlesungen beim Althistori-
ker Friedrich Münzer. Vorländer arbeitete zu diesem Zeitpunkt an einer
umfassenden Ideengeschichte der Staatstheorie, die von der Renais-
sance bis Lenin reichte (vgl. Vorländer 1926), und las bereits darüber –
ein Thema, für das sich Kirchheimer brennend zu interessieren begann.
Zum Wintersemester 1924/25 wechselte er für das zweite und dritte
Semester nach Köln, wo er sich für das Studium der Staats- und Rechts-
wissenschaften einschrieb. Die Kölner Universität war eine katholische
Reformuniversität, an der Kirchheimer dann jedoch weniger juristische
Fachvorlesungen besuchte, sondern hauptsächlich beim Soziologen
Max Scheler studierte. Kirchheimer fand in Köln über seine Mitglied-
schaft in der Sozialistischen Studentenvereinigung schnell Anschluss
an gleichgesinnte Kommilitonen. Anschel berichtet, dass er bei einem
Besuch in Kirchheimers Kölner Wohnung ein kleines, im Bücherregal
aufgestelltes Bild von Lenin fand. Auf die Frage nach der politischen
Bedeutung dieses Bildes habe Kirchheimer geantwortet, dass er Lenin
als einen mit einem starken Willen beseelten Politiker bewundere, dass
er jedoch dessen Weltanschauung und die Ideologie der russischen
Kommunisten ablehne (vgl. Anschel 1990: 83).
In das Kölner Jahr fällt auch der Beginn der Beziehung mit seiner späte-
ren Ehefrau Hilde Rosenfeld. Kirchheimer hatte sie während einer
Reise mit Anschel zufällig im Zug kennengelernt. Hilde Rosenfeld stu-
dierte ebenfalls Jura an der nahen Universität Bonn. Doch das sofort
Verbindende war weniger die Rechtswissenschaft, sondern ihre politi-
schen Diskussionen. Hilde Rosenfeld hatte starke Sympathien für die
Kommunistische Partei und pendelte in ihren parteipolitischen Präfe-
renzen zwischen der SPD und der KPD. Otto Kirchheimer rechnete es
sich stolz an, sie nach nächtelangen Diskussionen für die politische
Arbeit in der SPD zurückgewonnen zu haben. Für Kirchheimer bedeu-
tete die Beziehung zu Hilde Rosenfeld auch den direkten Zugang zu

10 Anschel berichtet in seinen Memoiren auch Anekdotisches aus der gemeinsa-


men Zeit im deutsch-jüdischen Wanderbund: So schlug Kirchheimer 1924 bei
einer Wanderreise der ›Kameraden‹ vor, sämtliche privat mitgebrachten Nah-
rungsmittel auf einen großen Tisch zu legen und nach der kommunistischen
Formel »Jeder nach seinen Bedürfnissen« zu verteilen – was nach der Schilde-
rung von Anschel allerdings gründlich schief ging (vgl. Anschel 1990: 79 f.).

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Einleitung zu diesem Band 21

den Führungsfiguren des linken Parteiflügels der SPD. Sie war die
Tochter von Kurt Rosenfeld, von November 1918 bis Januar 1919 preu-
ßischer Justizminister und seit 1920 Mitglied in der sozialdemokrati-
schen Fraktion des Reichstages. Rosenfeld hatte eine schillernde politi-
sche Vergangenheit und war eine Berühmtheit in der linkssozialisti-
schen Szene.11 Zusammen mit Paul Levi war er der langjährige Rechts-
anwalt von Rosa Luxemburg und einer ihrer engsten Vertrauten gewe-
sen. Als erfolgreicher Verteidiger für die Rote Hilfe und für Autoren
der ›Weltbühne‹ wie Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky genoss
Rosenfeld einen legendären Ruf.
Auf Empfehlung von Max Scheler wechselte Kirchheimer zum Winter-
semester 1925/26 für das vierte und fünfte Semester nach Berlin, wo
ihm die Rosenfelds eine Wohnung im Westen der Stadt vermittelten.
An der Berliner Universität schrieb er sich für Rechtswissenschaften ein
und besuchte dort Vorlesungen und Seminare bei den beiden Öffent-
lichrechtlern Rudolf Smend und Heinrich Triepel sowie beim Straf-
rechtler Eduard Kohlrausch.12 Er nutzte Berlin auch zum Besuch von
Vorträgen und Diskussionsabenden an der direkt gegenüber der Uni-
versität gelegenen Deutschen Hochschule für Politik (DHfP). Zu Smend
entwickelte sich während seiner Berliner Zeit ein engeres Verhältnis.13
Smend arbeitete damals am Abschluss seines Hauptwerkes Verfassung
und Verfassungsrecht, das 1928 erscheinen konnte und in dem er die bis
heute mit seinem Namen verbundene ›Integrationslehre‹ darlegte.
Smend war es auch, der dem aufstrebenden jungen Studenten den Tipp
gab, seinen staatstheoretischen Interessen in Bonn bei Carl Schmitt
nachzugehen und verband dies mit einer persönlichen Empfehlung bei
Schmitt,14 mit dem Smend zu dieser Zeit auf fast freundschaftlichem
Fuße zu stehen glaubte.15 Zum Wintersemester 1926/27 wechselte
Kirchheimer an die Universität Bonn. Dieser erneute Studienortwechsel
kam ihm auch aus privaten Gründen zupass, denn Hilde Rosenfeld,
mit der sich eine feste Beziehung entwickelt hatte, wollte ihr Studium
ebenfalls in Bonn beenden.

11 Zur Biografie Kurt Rosenfelds vgl. Ladwig-Winters (2007: 247 f.).


12 Otto Kirchheimer, Lebenslauf (27. Dezember 1927). In: Universität Bonn, Archiv
der Juristischen Fakultät, Prüfungsakte Otto Kirchheimer, Promotion 1927/28,
Nr. 500-524.
13 So der Bericht von Wilhelm Hennis in einem Gespräch am 26. September 2009.
14 So der Bericht von Wilhelm Hennis in einem Gespräch am 26. September 2009.
15 Das wechselhafte persönliche Verhältnis zwischen Schmitt und Smend ist doku-
mentiert in ihrem Briefwechsel (vgl. Schmitt/Smend 2011).

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22 Einleitung zu diesem Band

Carl Schmitt war nach seinem Wechsel aus Greifswald seit dem Som-
mersemester 1922 an der Bonner Universität. Schmitts insgesamt fast
sechs Bonner Jahre gelten als eine besonders produktive Phase seines
Schaffens. Zum einen fällt in diese Zeit die Publikation mehrerer seiner
bis heute als am wichtigsten angesehenen kleineren Schriften sowie die
Fertigstellung seiner Verfassungslehre. Des Weiteren gelang es Schmitt in
dieser Phase seines Lebens, ein umfangreiches Netzwerk zu wissen-
schaftlich und politisch wichtigen und zu kulturell interessanten Perso-
nen aufzubauen. Drittens schließlich konnte er in Bonn einen Kreis von
Schülern um sich scharen, zu denen Ernst Forsthoff, Ernst Rudolf
Huber, Werner Weber und Ernst Friesenhahn gehörten.16
Kirchheimer kam im September 1926 in Bonn an. Er hatte in der Zwi-
schenzeit den Rat von Smend befolgt und Schmitts Schriften gelesen
und nahm bald nach seiner Ankunft Kontakt zu Schmitt auf. Für den
11. Oktober erwähnt Schmitt den Antrittsbesuch des neuen Studenten:
»Der Student Kirchheimer kam und meldete sich fürs Seminar an«.17
Kirchheimer studierte in Bonn zwei Semester. Schmitt hielt im Winter-
semester 1926/27 ein Seminar mit dem Titel »Staatstheorien« ab, las
über »Völkerrecht« und führte zudem »Verwaltungsrechtliche Übun-
gen« durch. Der Teilnehmerkreis an Schmitts Seminaren war eng
begrenzt, in der Regel waren es nicht mehr als zehn Studierende. Den
Kern dieser kleinen Gruppe bildeten seine Doktoranden. Kirchheimer
war in diesem Kreis der einzige politisch deutlich auf der Linken Ste-
hende. Schnell wusste der neu aus Berlin hinzugekommene Kirchhei-
mer in der Gruppe durch kluge und zugespitzte Redebeiträge zu impo-
nieren und wurde zu einem der unbestrittenen »Sterne des Seminars«
(Mehring 2009: 203). Schmitt führte zu dieser Zeit regelmäßig Tagebuch
und Kirchheimer findet darin mehrere Male lobende Erwähnung. Am
2. Februar 1927 hielt Schmitt dort beispielsweise fest: »Schönes Seminar
[...], Oberheid und Kirchheimer sprechen sehr gut«.18 Im Sommerse-
mester 1927 bot Schmitt ein Seminar über »Einheit und Undurchdring-
lichkeit des Staates« an und las über »Politik (Allgemeine Staatslehre)«
und »Deutsches Rechts- und Landesstaatsrecht«. Im Wintersemester
1927/28, seinem letzten Bonner Semester vor seinem Wechsel an die

16 Zur Bonner Zeit von Schmitt, den erwähnten Lehrveranstaltungen und zu sei-
ner Schülerschaft vgl. Mehring (2009: 140-185).
17 Carl Schmitt, Tagebucheintrag vom 11. Oktober 1926. Ich danke Gerd Giesler,
dem Mitherausgeber der für 2017 zur Veröffentlichung geplanten Tagebücher
von Carl Schmitt aus den Jahren 1925-1929 dafür, dass er mir die Transkriptio-
nen der von Schmitt notierten Einträge zur Verfügung gestellt hat.
18 Carl Schmitt, Tagebucheintrag vom 2. Februar 1927.

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Einleitung zu diesem Band 23

Handelshochschule in Berlin, bot er ein »Staatphilosophisches Semi-


nar« sowie erneut Vorlesungen zum Völkerrecht und zur Allgemeinen
Staatslehre an. Gern ließ er sich nach seinen Lehrveranstaltungen von
Seminarteilnehmern begleiten. In seinem Tagebuch äußert er sich wie-
derholt positiv über Kirchheimer: »nett, besonders Kirchheimer«
(23. Juni 1927), »Kirchheimer war klug und nett« (30. Juni 1927). Aus-
weislich dieser Notizen schätzte Schmitt ihn als jugendlich-anregenden
Gesprächspartner, wenn auch von der politischen Gegenseite. Aber
dies schien für Schmitt den Reiz und das Interesse, mit Kirchheimer zu
debattieren, eher noch zu erhöhen. Folgt man der Auswertung dieser
Tagebucheinträge von Reinhard Mehring, dann war kein anderer Dok-
torand am Ende der Bonner Phase bei Schmitt so präsent wie Otto
Kirchheimer (vgl. Mehring 2014: 34). Doch eine wirklich persönlichere
Verbindung zwischen Schmitt und Kirchheimer wollte nicht gelingen.
Mit Kirchheimer entwickelte Schmitt keinen solch ähnlich engen, fast
freundschaftlichen Umgang wie zu seinen anderen Doktoranden.
Schmitt verließ Bonn im Sommer 1927 in Richtung Berlin, um dort
seine Professur an der Handelshochschule anzutreten. Kirchheimer
blieb mit seiner Freundin in Bonn. Beide wollten so schnell wie möglich
ihr Studium mit dem Ersten Juristischen Staatsexamen abschließen und
Kirchheimer arbeitete zudem unter Hochdruck an der Fertigstellung
seiner Promotionsschrift.

2. Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus

Bei Carl Schmitt war es Usus, dass er seinen Doktoranden das Thema
ihrer Promotionsschrift vorgab. Die anregenden Gespräche während
der ambulanten Sprechstunden bei den Spaziergängen veranlassten
Schmitt, als Thema der Dissertation Kirchheimers einen Vergleich zwi-
schen den Staatstheorien des russischen Kommunismus und des Sozia-
lismus auszugeben. Schmitts Themenwahl stieß beim Promovenden auf
begeisterte Zustimmung.19 Kirchheimer sah darin eine Chance, seine
eigene politiktheoretische Position zwischen Kommunisten, Sozialde-
mokraten und Linkssozialisten genauer zu finden; Schmitt wiederum
erhoffte sich von der Arbeit eine Kritik des Bolschewismus (vgl. Meh-
ring 2014: 38).
Kirchheimer begann mit der Niederschrift der Dissertation in den Som-
mersemesterferien 1927. Sechs Monate später reichte er die Arbeit am

19 So der Bericht von Ossip K. Flechtheim in einem Gespräch am 13. Februar 1988.

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24 Einleitung zu diesem Band

27. Dezember 1927 ein. Der genaue Titel der Schrift lautete Zur Staats-
lehre des Sozialismus und Bolschewismus.20 Auch nach seinem Wechsel
nach Berlin blieb Schmitt in das Bonner Prüfungsgeschehen involviert
und nahm die Prüfungen der von ihm zuvor in Bonn betreuten Studie-
renden im Rahmen von Staatsexamina und Promotionsverfahren ab.
Als Prüfungsgebiete seiner mündlichen Staatsexamensprüfung hatte
Kirchheimer die Allgemeine Staatslehre im Hauptfach sowie das Völ-
kerrecht und das Strafprozessrecht als Nebenfächer ausgewählt. Für
den 14. Februar 1928 findet sich in Schmitts Tagebuch der Hinweis,
dass er Kirchheimer im Ersten Juristischen Staatsexamen geprüft und
mit der Prädikatsnote »gut« bewertet habe (vgl. Mehring 2014: 38). Die
Dissertation von Kirchheimer las er am 19. Februar 1928 und gab sein
Gutachten am folgenden Tag bei der Bonner Fakultät ab. Schmitt for-
mulierte an diesem Tag noch zwei weitere Promotionsgutachten. Für
heutige Verhältnisse ist das Gutachten vergleichsweise knapp. Schmitt
lobte darin die »ausgezeichnete[n] begriffliche[n] Ausführungen« der
Arbeit. Kritisch notierte er, dass die Arbeit »zu viele Thesen und unaus-
geführte Gedanken« enthalte, die jede für sich Stoff einer genaueren
Betrachtung gewesen wären. Er sah darin aber kein Manko, sondern
einen »typische[n] Fall jugendlicher Produktivität«. Schmitt attestiert
Kirchheimer eine »zweifellos sehr große wissenschaftliche Bega-
bung«.21 Ein Zweitgutachten findet sich in den Akten nicht; häufig
zeichneten die Zweitgutachter in dieser Zeit die vom Erstgutachter vor-

20 Schreiben Otto Kirchheimer an Dekan Heinrich Göppert vom 27. Dezember


1927. Universität Bonn, Archiv der Juristischen Fakultät, Prüfungsakte Otto
Kirchheimer, Promotionen 1927/28, Nr. 500-524.
21 Der vollständige Text des Gutachtens lautet: »Die Arbeit enthält zu viele Thesen
und unausgeführte Gedanken. Als besonders interessant und wissenschaft[lich]
wertvoll sind zu nennen: die Thesen von der sozialen Gleichgewichtstruktur
des modernen Industriestaates (S. 11 ff.) und die Feststellung, daß im heutigen
Sozialismus ein doppelter Fortschrittsbegriff enthalten ist (die »Lehre vom dop-
pelten Fortschritt« S. 35 ff.). Dazu kommen ausgezeichnete begriffliche Ausfüh-
rungen, wie die Unterscheidung von Utopie und Mythus, die Integrierungs-
funktion der Justiz usw. Fast jede einzelne dieser Thesen und Meinungen hätte –
in Ruhe systematisch ausgeführt und dargelegt – für eine Dissertation genügt,
während jetzt der Gesamteindruck unter dem Übermaß nicht ausgeführter Ein-
fälle leidet. Damit soll nicht gesagt sein, daß es sich um oberflächliche oder
dilettantische Apercus handle; vielmehr liegt hier nur ein typischer Fall jugend-
licher Produktivität vor. Ich möchte dem Verfasser die Menge seiner Ideen also
nicht zum Vorwurf machen und statt dessen die zweifellos sehr große wissen-
schaftliche Begabung und die selbständige und wertvolle Erörterung von
besonders aktuellen und wichtigen Begriffen (wie Demokratie, Liberalismus,
Parlamentarismus, Sozialismus) hervorheben, die es m. E. rechtfertigen, die
Arbeit als sehr gut zu bezeichnen.« Dissertationsgutachten Carl Schmitt vom
19. Februar 1928. Universität Bonn, Archiv der Juristischen Fakultät, Prüfungs-
akte Otto Kirchheimer, Promotionen 1927/28, Nr. 500-524.

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Einleitung zu diesem Band 25

genommene Bewertung mit »einverstanden« ab. Die zweistündige Dis-


putation erfolgte zusammen mit der Prüfung von Werner Weber, der
ebenfalls von Schmitt promoviert wurde.
Kirchheimer reiste als frisch gebackener Dr. des. nach Nürnberg zu sei-
nem ehemaligen Vormund Ludwig Rosenthal und dessen Familie. Von
dort aus stellte er den Antrag an die Fakultät, an Stelle der gedruckten
Fassung der vollständigen Dissertation 120 Exemplare eines Aufsatzes
einreichen zu dürfen, der in der ›Zeitschrift für Politik‹ erscheinen
werde. »Der Aufsatz«, so Kirchheimer in dem Schreiben, »stellt eine
Zusammenfassung der Ergebnisse meiner Dissertation dar«.22 Schmitt
hatte diesem Verfahren bereits vorab seine Zustimmung erteilt: »Der
beil.[iegende] Aufsatz enthält eine gedrängte Zusammenfassung der
Dissertation und ist von besonderem wissenschaftlichen Interesse«.23
Die Verleihung des Doktortitels erfolgte am 15. Mai 1928,24 nachdem
Kirchheimer wie angekündigt die 120 Sonderdrucke des Aufsatzes als
Belegexemplare an die Bonner Fakultät geschickt hatte.25

22 Schreiben Otto Kirchheimer an den Dekan der Juristischen Fakultät der Univer-
sität Bonn, Heinrich Göppert, vom 2. März 1928. In: Universität Bonn, Archiv
der Juristischen Fakultät, Prüfungsakte Otto Kirchheimer, Promotionen 1927/28,
Nr. 500-524.
23 Schreiben Carl Schmitt an den Dekan der Juristischen Fakultät der Universität
Bonn vom 1. März 1928. In: Universität Bonn, Archiv der Juristischen Fakultät,
Prüfungsakte Otto Kirchheimer, Promotionen 1927/28, Nr. 500-524.
24 Abweichend von den Schriftwechseln, dem Gutachten und der als Aufsatz
publizierten Fassung nennt die Promotionsurkunde als Titel der Arbeit »Zur
Staatstheorie […]« und nicht »Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewis-
mus«. Als Benotung ist »sehr gut« eingetragen. (Promotionsurkunde Otto
Kirchheimer; Original im Besitz von Hanna Kirchheimer-Grossman).
25 Reinhard Mehring hat in seinem erstmals 2011 publizierten Artikel über Kirch-
heimers Promotionsakte zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass Kirchhei-
mers Schrift Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus von allen bisheri-
gen Interpreten in der Fassung zur Kenntnis genommen worden ist, wie sie sich
in der ›Zeitschrift für Politik‹ findet (vgl. Mehring 2014: 43). Bei den Vorberei-
tungen dieser Ausgabe der Gesammelten Schriften von Otto Kirchheimer
wurde intensiv nach dieser Originalfassung der Promotionsschrift Kirchheimers
gesucht. Doch bislang ohne Erfolg. Die Schrift findet sich weder in seiner Pro-
motionsakte in Bonn noch in irgendeinem der von uns durchsuchten Nachlässe
und auch in keinem anderen der von uns durchsuchten Archiv- oder Biblio-
theksbestände. Reinhard Mehring erinnert sich daran, sie in den Altbeständen
der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin vor dem Umzug der
Bestände in andere Gebäude in der Hand gehabt zu haben. Doch auch hier blie-
ben alle Recherchen und alles Suchen ohne positives Ergebnis. Möglicherweise
trügt Reinhard Mehring die Erinnerung. Denn der von ihm nach seinen Anga-
ben in der Abgabefassung zu findende Danksagungsvermerk ist zwar nicht in
der im regulären Heft der ›Zeitschrift für Politik‹ gedruckten Fassung der
Schrift zu lesen, er findet sich jedoch als ein vom Verlag besorgter Aufdruck auf
der Rückseite der Sonderdrucke. Die den Lebenslauf ergänzende gedruckte

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26 Einleitung zu diesem Band

Kirchheimer beginnt seinen Aufsatz Zur Staatslehre des Sozialismus und


Bolschewismus mit einer Kritik am »geringe[n] politische[n] Eigengehalt
des Liberalismus« (S. 132). Er wirft dem Liberalismus vor, im Kampf
gegen die feudalen Mächte im frühen 19. Jahrhundert zu naiv auf den
Rechtsstaatsgedanken und den Konstitutionalismus vertraut zu haben.
Zwischenzeitlich habe sich die Arbeiterklasse zu einem relevanten poli-
tischen Faktor gemausert. Aufgrund ihrer »gemeinsame[n] Frontstel-
lung gegen den feudalen Halbabsolutismus« (S. 132) gerieten der bür-
gerliche Liberalismus und die Arbeiterklasse im letzten Drittel des 19.
Jahrhunderts in eine nähere Beziehung, was Kirchheimer zufolge bis
auf den heutigen Tag die politische Identität der westeuropäischen
Sozialisten geprägt habe. Dieses historische Bündnis sei erst von dem
Zeitpunkt an zerbrochen, an dem das allgemeine und gleiche Wahl-
recht durchgesetzt worden sei. Denn nun würden die demokratischen
Prinzipien gegen die sozialen Trägerschichten des Liberalismus selbst
angewendet. Prägnant würden diese Differenzen bei den unterschiedli-
chen begrifflichen Auslegungen des Demokratiebegriffs. Demokratie
bedeute zunächst ganz allgemein die politische »Teilnahme jedes Ein-
zelnen« (S. 133).
Für seine weiteren von Schmitt gelobten begrifflichen Unterscheidun-
gen nimmt Kirchheimer Anleihen an der Terminologie des linken Aus-
tromarxisten Max Adler. Solche Anleihen an Adler nimmt er auch in
methodischer Hinsicht. Adler hatte sein Buch Die Staatsauffassung des
Marxismus mit dem Untertitel versehen Ein Beitrag zum Unterschied von
juristischer und soziologischer Methode (Adler 1922). Auch für Kirchhei-
mer sind alle juristischen Formen Ausdruck gesellschaftlicher Klassen-
verhältnisse. Adler unterschied zwischen der »politischen« und der
»sozialen« Demokratie.26 Während die »bloß politische Demokratie«
allen Bürgern prinzipiell gleiche politische Beteiligungsrechte ein-

Danksagung lautet: »Insbesondere aber bin ich meinem verehrten Lehrer Herrn
Professor Dr. Schmitt in Bonn für die vielfältigen Anregungen, die ich von ihm
empfing, zu Dank verpflichtet.« (Otto Kirchheimer, Sonderdruck von Zur Staats-
lehre des Sozialismus und Bolschewismus der ›Zeitschrift für Politik‹ unter dem
Titel Zur Staatstheorie des Sozialismus und Bolschewismus. In: Staatsbibliothek
Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Mappensignatur Fi 566-1928,2). Sollte die
Abgabefassung der Dissertation im Zuge der weiteren Arbeit an dieser Edition
doch noch irgendwo entdeckt werden, und sollte sie tatsächlich von dem in der
›Zeitschrift für Politik‹ erschienen Text abweichen, wird sie in den sechsten und
letzten Band der Schriften von Otto Kirchheimer aufgenommen werden. – Ich
danke Reinhard Mehring für seine unterstützenden Hinweise bei der Fahndung
nach der Abgabefassung und Lisa Klingsporn für ihre unermüdliche Hilfe bei
der Suche in Archiven.
26 Vgl. Adler (1922: 116-132) und Adler (1926).

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Einleitung zu diesem Band 27

räume, aber ansonsten auf der sozialen Heterogenität einer kapitalisti-


schen Klassengesellschaft basiere, sei erst die »soziale Demokratie« der
solidarischen Vergesellschaftung im Sozialismus die »wirkliche Demo-
kratie«. Aus diesem Grund gehe man Adler zufolge nicht fehl, wenn
man die gegenwärtige bürgerliche Demokratie aufgrund ihres gesell-
schaftlichen Klassencharakters als eine Diktatur der Bourgeoisie
bezeichne. Adler plädierte für eine Wiederaufnahme der Marx‘schen
Formel von der »Diktatur des Proletariats« in die Theoriesprache der
österreichischen und deutschen Sozialdemokratie. Er berief sich dabei
neben Marx und Luxemburg auch auf Schmitts Buch über die Dikta-
tur.27 Max Adlers Schriften und insbesondere seine terminologische
Unterscheidung zwischen den beiden Formen der Demokratie stießen
in den linken Kreisen der Weimarer Jungsozialisten in den ›Jungsozia-
listischen Blättern‹ sowie im Umfeld der Zeitschrift ›Klassenkampf –
Sozialistische Politik und Wirtschaft‹ auf breite Resonanz und Zustim-
mung.28
Auch Kirchheimer greift diese Unterscheidung auf, findet für sie aber
auch die eigene Bezeichnung von »Formal- und Wertdemokratie«
(S. 133). Im Sinne Adlers versteht er unter der formalen Demokratie des
Liberalismus den Zustand einer allgemeinen politischen Gleichberech-
tigung, die in der »Freiheit von Werten selbst einen Wert« (S. 134)
erblickt. Die Formaldemokratie sei die politische Form, in der sich in
einer bestimmten Phase des Klassenkampfes die gegensätzlichen sozia-
len Kräfte solange gruppierten, bis eine historische Entscheidung zwi-
schen ihnen ausgetragen worden sei. Die Wertdemokratie hingegen
basiere auf der Anerkennung eines allen Bürgern »gemeinsamen
Wert[es] « (S. 133), auf »bestimmte[n] Vorstellungen sozialer Homoge-
nität« (S. 135), die über die bloße politische Gleichberechtigung hinaus-
gingen. Kirchheimer folgt Adler auch im Hinblick auf dessen unter
Rückgriff auf die Darlegungen von Marx in seiner Schrift Der 18. Bru-
maire des Louis Bonaparte entwickelte These, dass die formale Demokra-
tie nicht stabil sei (vgl. Adler 1926: 112-131). Sie funktioniere nur so
lange, wie ein annäherndes Gleichgewicht der sich bekämpfenden
sozialen Klassen herrscht und eine daraus resultierende »stillschwei-
gende Abmachung« (S. 135) zwischen ihnen existiert, dass durch Wah-
len und ihr »zufälliges Mehrheitsergebnis« (S. 135) entschieden wird,
wer jeweils die Regierung stellen soll. Da formale Demokratie auf

27 Vgl. Adler (1922: 193-197). Zu dieser Schmitt-Rezeption vgl. Ananiadis (1999).


28 Zu Adlers Demokratietheorie und seinem großen Einfluss auf die damalige
linkssozialistische Theoriebildung vgl. Walter (1980: 80-90), Pfabigan (1982) und
Bavaj (2005: 201-218).

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28 Einleitung zu diesem Band

einem Kompromiss basiert, versuchen alle sozialen Gruppen, ihre


gesellschaftspolitischen Vorstellungen in die Verfassung hineinzu-
schreiben, um sie dadurch abzusichern. Kirchheimer nimmt an dieser
Stelle Überlegungen der zeitgenössischen Reformsozialisten Heinrich
Cunow und Karl Renner auf, die für eng umschriebene rechtliche
Begrenzungen der Regierungsgewalt eintraten, um einer bürgerlichen
Regierung einen möglichst geringen Spielraum zu geben, gegen die
Interessen der Arbeiterklasse zu agieren. Aufgrund dieser Gefahr hat-
ten sich diese sozialistischen Theoretiker auch gegen die juristische
Freirechtschule und für eine strikte Bindung der Justiz an den Rechts-
positivismus ausgesprochen. Kirchheimer verwendet im Zusammen-
hang mit der rechtspolitischen Strategie von Cunow und Renner den
Ausdruck »Verrechtlichung« (S. 136), worunter er die Ausweitung der
rechtlichen Kodifizierung des staatlichen Verwaltungshandelns ver-
steht und die er als Versuch bewertet, »jeder Machtentscheidung […]
auszuweichen« (S. 136). Der Begriff ›Verrechtlichung‹ war 1919 von
Hugo Sinzheimer im Zusammenhang mit der Räteverfassung geprägt
worden und wird von Kirchheimer auf sämtliche Rechtsgebiete ausge-
weitet.29 Erst wenn es zu umfassenden Verrechtlichungen der sozialen
Beziehungen gekommen ist, sei die »wahre Epoche des Rechtsstaats«
(S. 136) angebrochen. Nun liege der Wert einer Entscheidung nicht
mehr in ihrer sachlichen Begründung, sondern sei ausschließlich darin
zu finden, dass sie eine rechtliche Entscheidung sei. Ein solcher Staat,
so wendet Kirchheimer diese Entwicklung kritisch, »lebt vom Recht,
aber es ist kein Recht mehr, es ist ein Rechtsmechanismus, und jeder,
der die Führung der Staatsgeschäfte zu bekommen glaubt, bekommt
stattdessen eine Rechtsmaschinerie in die Hand, die ihn in Anspruch
nimmt wie einen Maschinisten seine sechs Hebel, die er zu bedienen
hat« (S. 136).
Vor dem Hintergrund dieser generellen rechtspolitischen Charakteri-
sierung der zeitgenössischen rechtsstaatlichen Massendemokratie prä-
sentiert Kirchheimer die beiden Staatstheorien des Sozialismus und des
Bolschewismus. Deren Darstellung ist nicht systematisch organisiert,
sondern mäandert zwischen den beiden Theorien und verschiedenen
Topoi. Auch nimmt Kirchheimer keine Trennung zwischen Darstellung
und Kritik der jeweiligen Theorien vor, sondern rekonstruiert sie von
vornherein aus kritischer Perspektive. Zur Charakterisierung der russi-
schen und sowjetischen Doktrinen und Verhältnisse stützt sich Kirch-

29 Zur Rezeption des Begriffs ›Verrechtlichung‹ in Anschluss an Kirchheimer sei-


tens der rechtssoziologischen Justizkritik von Rüdiger Voigt, Spiros Simitis, Jür-
gen Habermas, Rudolf Wiethölter und weiteren Autoren vgl. Teubner (1998).

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Einleitung zu diesem Band 29

heimer auf die (soweit sie damals bekannt waren) einschlägigen Bemer-
kungen von Marx und Engels über Russland, auf Aussagen von Lenin
und Stalin sowie auf ältere und übersetzte menschewistische Literatur.
Für die Darstellung der sozialistischen Staatstheorie der Zweiten Inter-
nationale zieht er vor allem die Schriften des russischen Sozialdemo-
kraten Plechanow, des französischen Sozialisten Jean Jaurès und des zu
seiner Zeit wichtigsten Theoretikers der deutschen Sozialdemokratie,
Karl Kautsky, heran.
Kirchheimer wirft den Sozialisten vor, einer naiven »Theorie vom Dop-
pelten Fortschritt« (S. 139) zu huldigen, wonach mit dem Fortschritt der
kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung quasi automatisch auch ein
Fortschritt zum Humanismus in der Entwicklung der Menschheit ein-
hergehe, weswegen die politische Konfliktaustragung zivilisierter erfol-
gen könne. Kirchheimer zufolge schürt diese Theorie die Illusion einer
friedlichen Mehrheit der sozialistischen Kräfte in der bestehenden
Formaldemokratie und münde konsequenterweise in der Preisgabe des
Diktaturbegriffs für die sozialistische Sache. Marx, so Kirchheimer,
habe eine solche humanistische Theorie nie verfochten und in Russland
sei es Lenin gewesen, der solche Ideen wirkungsvoll verworfen und sie
mit einer Lehre vom rücksichtslosen Klassenkampf ersetzt habe, welche
keine über den Klassen stehende Moral anerkenne. Kirchheimer sieht
in diesen Thesen von Lenin Parallelen sowohl zu Nikolai Berdjajews
russisch-orthodoxer Religionsphilosophie mit ihrer Zuspitzung des
unerbittlichen Kampfes zwischen Christ und Antichrist wie auch zu
Georges Sorels Zelebrierung der politischen Gewalt und des Mythos.30
Ähnlich wie Carl Schmitt in seinem Kapitel über die irrationalistischen
Theorien unmittelbarer Gewaltanwendung in seiner Schrift über die
Geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (vgl. Schmitt
1926: 77-90) referiert Kirchheimer die Thesen von Sorel und Lenin in
einer Art und Weise, die seine Faszination für diese beiden Propagan-
disten eines rücksichtslosen politischen Handelns erkennen lassen.
Besondere Aufmerksamkeit widmet Kirchheimer dem bolschewisti-
schen Diktaturbegriff. In Anlehnung an die terminologische Unter-
scheidung seines Doktorvaters zwischen kommissarischer und souve-
räner Diktatur (vgl. Schmitt 1921: 130-152) rechnet er Lenins Diktatur-
verständnis der zweitgenannten Variante zu, da sie mit allen sich bie-
tenden Mitteln zielgerichtet den Boden für den Aufbau eines sozialisti-
schen Staates der sozialen Gleichheit schaffen will. Auffällig ist, wie
kreativ Kirchheimer in diesem Zusammenhang auch auf Überlegungen

30 Vgl. Berdjajew (1924) und Sorel (1906).

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30 Einleitung zu diesem Band

zurückgreift, die er aus Rudolf Smends »Integrationslehre« kennt.31 Mit


der souveränen Diktatur der Bolschewiki ändert sich der Status des
Rechts im Inneren des Staates, der mit der liberalen Auffassung der
Justiz als einem über den Streitenden stehenden neutralen Dritten
bricht, und stattdessen Urteile ausschließlich nach der Gebotenheit bol-
schewistischer Wertvorstellungen spricht und auf diese Weise die unte-
ren Bevölkerungsschichten in den neuen Staat zu integrieren versucht.
Mit dem neuen Staat ändert sich auch der Status von Wahlen, indem
mit der liberalen Geheimhaltung der Stimmabgabe gebrochen wird
und öffentliche Abstimmungen zu einem staatlichen Integrationsfaktor
umgeformt werden – die alltägliche Praxis des Rechtssystems und die
Abhaltung von Wahlen sind auch in der Verfassungslehre von Smend
zwei zentrale Mechanismen staatlicher Integration (vgl. Smend 1928:
154 ff. und 207 ff.). Die bolschewistische Theorie ändert auch die Völ-
kerrechtsdoktrin, mit der die souveräne Diktatur ihre Beziehungen zu
anderen Staaten definiert. Ausgehend von der Unversöhnlichkeit der
Klassengegensätze versteht die bolschewistische Machtelite das Völker-
recht nicht als ein Friedens-, sondern als ein Waffenstillstandsrecht und
ist aus diesem Grund ein prinzipieller Feind des Genfer Völkerbundes.
Das hat Implikationen für den Souveränitätsbegriff. Während Kirchhei-
mer zufolge in Westeuropa ein Abbau der Souveränitätsvorstellungen
betrieben werde – in der politischen Theorie von Autoren wie Harold
Laski (vgl. Laski 1917), in der politischen Praxis durch vielfältige inter-
nationale Vertragsbindungen –, hat »Sowjetrußland […] in einer für die
Verschleierungstendenzen der heutigen Zeit fast unfaßbaren Weise«
(S. 150) mit der proletarischen Klasse einen neuartigen Träger der Sou-
veränität bezeichnet. Mit der Inanspruchnahme des internationalen
Proletariats als offiziellem Träger der Souveränität nimmt die bolsche-
wistische Staatslehre »erstmalig [… die] bewußte […] Trennung von
Staat und Souveränität« (S. 150) vor. Diese Souveränität sei an keine
nationalstaatlichen Grenzen gebunden, sondern in ihrer politischen
Tendenz universal.
Abschließend wirft Kirchheimer noch einmal die Frage auf, ob Sowjet-
russland tatsächlich als ein Staat zu bezeichnen ist. Er bejaht die selbst-
gestellte Frage, denn anders als die bürgerliche Demokratie, von der
die Mehrheit der Sozialdemokraten hofft, eines Tages friedlich den

31 Auch wenn Smend seine umfassende Integrationslehre erst im Herbst 1928 in


seinem Buch Verfassung und Verfassungsrecht publizierte, so finden sich Vorüber-
legungen dazu bereits in früheren Publikationen (vgl. Smend 1923: 84 f.) und
kannte Kirchheimer die Grundzüge dieser Lehre aus dessen Lehrveranstaltun-
gen in Berlin.

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Einleitung zu diesem Band 31

Übergang in Richtung Sozialismus antreten zu können, habe das von


Lenin gegründete politische System »dem Recht und der Wahl ihren
integralen Charakter zurückgewonnen« (S. 150). Der Sowjetunion sei es
gelungen, mit dem politischen Mythos von der Weltrevolution die poli-
tischen Kräfte zu beleben. Anders ergehe es momentan den Formalde-
mokratien des Westens. In ihnen sei zwar noch die Form des Staates
vorhanden, aus dem Staat selbst sei aber »ein Weniger, ein Rechtsme-
chanismus« (S. 150) geworden, für den die Anteilnahme und Begeiste-
rung seiner Bürger gerade noch für die ›Theorie des Doppelten Fort-
schritts‹, die ihrerseits auch wieder eine Ausstiegsoption aus dem bür-
gerlichen Rechtssaat sei, reiche. Ein solcher Staat, »der keiner mehr ist«,
so Kirchheimer am Ende seines Aufsatzes, »kann auch keinen Feind
haben; denn er besitzt keine politische Ausdrucksform mehr« (S. 150).
In der Sekundärliteratur ist diese Abhandlung des jungen Kirchheimers
von einigen Interpreten als Plädoyer für den Bolschewismus oder
zumindest doch als Beleg für gewisse Sympathien mit der sowjetrussi-
schen Entwicklung gelesen worden.32 Doch wenn Kirchheimer die
Kraft und Stärke des Bolschewismus hervorhebt, so darf diese Bewer-
tung nicht mit einer Parteinahme für ihn verwechselt werden. Denn
dem Kommunismus sowjetrussischer Prägung räumt Kirchheimer
unter Berufung auf Briefe von Marx an seine russische Übersetzerin
Vera Sassulitsch aus dem Jahre 1881 über die Besonderheiten des russi-
schen Zarenreichs, die 1924 erstmals publiziert worden waren33 und
aufgeregte Diskussionen unter damaligen Linken auslösten, für
Deutschland keine realistische politische Chance ein. Auch macht er
keinen Hehl daraus, dass ihn die politische Kraft des von Sorel gepre-
digten Mythos vom Klassenkampf zwar beeindruckt, dass er im mythi-
schen Bewusstsein jedoch mit dem französischen Ethnologen Lucien
Lévy-Bruhl einen prä-logischen Irrationalismus aus der emotionalen
und geistigen Welt von »primitiven Völkern« (S. 4; vgl. Lévy-Bruhl
1922: 94 ff.) sieht und keine mit dem Marxismus in irgendeiner Art und
Weise vereinbare rationale Bewusstseinsform erkennen kann.
Nicht untypisch für die Sekundärliteratur zu Kirchheimer ist die in die
andere politische Richtung zielende Aussage, dass er in seiner Disserta-
tion »in enger Anlehnung an Schmitt‘sche Theoreme«34 argumentiert
habe. Das wirft die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis der

32 Vgl. Scheuerman (1994: 24-26) und Breuer (2012: 114).


33 Vgl. MEW, Bd. 19 (1979: 242-243 und 384-406).
34 Kohlmann (1992: 505 f.). Ähnliche Einschätzungen finden sich bei Kennedy
(1987), Scheuerman (1994), Jones (1999) und Scheuerman/Caldwell (2000).

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32 Einleitung zu diesem Band

Schriften Kirchheimers aus den Jahren 1927 bis 1933 zu denen seines
Doktorvaters auf. In der Sekundärliteratur hat es unterschiedliche Ant-
worten darauf gegeben, die Gegenstand von zum Teil polemisch
geführten Kontroversen geworden sind. Unbestritten ist geblieben,
dass Kirchheimer und Schmitt ihre Analysen zur Weimarer Republik
mit konträren politischen Stoßrichtungen verfassten. Umso umstritte-
ner aber ist, inwieweit es in wichtigen Punkten Übereinstimmungen
und damit einen prägenden Einfluss von Denkmotiven Schmitts auf
das Werk von Otto Kirchheimer gegeben hat. Die Skala der Kirchhei-
mer-Interpretationen reicht von der vorwurfsvoll vorgetragenen Lesart
eines ›Links-Schmittianismus‹ bis zur Einzeichnung von klaren Tren-
nungslinien.35 Zu Recht hat Volker Neumann bereits zu Beginn dieser
Debatte darauf hingewiesen, dass es zwischen den Schriften der beiden
auf der formalen Ebene einige Ähnlichkeiten gibt (vgl. Neumann 1981:
237). Beide bevorzugten die Form kleinteiligerer Abhandlungen, die
von aktuellen politischen Ereignissen angeregt sind und eine politisch
intervenierende Intention verraten; beide hinterließen vielleicht auch
aus diesem Grund kein Werk im Sinne einer systematisch entfalteten
Theorie; beide betonten in ihren Arbeiten den Aspekt des Stils und der
Rhetorik; beide schätzten zuspitzende Begriffsbildungen und fanden
starke Worte; und beide argumentierten zuweilen offen agitatorisch.
An Kirchheimers Dissertation lässt sich besonders gut erkennen, wie
sich für ihn Theoreme und Formulierungen Schmitts auf eine geradezu
ideale Weise in seinen bislang vom Linkssozialismus Max Adler‘scher
Provenienz geprägten Denkhorizont einfügen ließen. Diesen Einbauten
war sein marxistischer Ansatz allerdings vorgelagert und aus diesem
Grund blieb in seinem Denken auch Platz für weitere Einbauten. Das
gilt im Hinblick auf die Dissertation insbesondere für Gedankengänge
aus der Integrationslehre von Rudolf Smend. Vor diesem Hintergrund
hat das Etikett des ›Links-Schmittianismus‹ nicht mehr und auch nicht
weniger Berechtigung wie Etikettierungen als ›Links-Smendianismus‹
oder ›staatsrechtlicher Adlerismus‹.
Gleichzeitig sollte bei dieser Diskussion nicht unterschlagen werden,
wie sehr auch Schmitt von seinem jungen Promovenden profitiert hat.
Über Kirchheimer erhielt er Einblick in marxistische Diskussionen und

35 Die Literatur über dieses Thema ist mittlerweile Legion. Vgl. Neumann (1981),
Neumann (1983), Söllner (1983), Kennedy (1986), Söllner (1986), Jay (1987), Ken-
nedy (1987), Preuß (1987), Tribe (1987), Schäffer (1987), Perels (1989), Kohlmann
(1992), Scheuerman (1994), Scheuerman (1996), Scheuerman/Caldwell (2000),
Schale (2006), Mehring (2007), Bavaj (2007), Kemmerer (2008), Llanque (2011),
Breuer (2012), Mehring (2014) und Neumann (2015).

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Einleitung zu diesem Band 33

die Ideenwelt radikaler linker Gruppen, die ihm ansonsten verschlos-


sen geblieben wären.36 Kirchheimer vermittelte ihm nicht nur Wissens-
wertes aus den sozialistischen Debattierzirkeln, sondern auch den per-
sönlichen Kontakt zu Kurt Rosenfeld und den beiden linken Gewerk-
schaftsjuristen Franz L. Neumann und Ernst Fraenkel.37 Schmitt zitierte
Kirchheimer in mehreren seiner Schriften voller Respekt38 und hob
dabei auch die Dissertation als »beachtenswert[en]« (Schmitt
1931 a:142) Beitrag aus der marxistischen Staatsdiskussion hervor.39
Weitaus häufiger allerdings zitierte Kirchheimer aus Schriften Schmitts.
Auch ohne eine präzise quantitative Zitationsanalyse lässt sich bei der
Lektüre der Arbeiten Kirchheimers zwischen 1928 bis 1933 unschwer
erkennen, dass er keinen anderen Autor aus der Gruppe der Weimarer
Staatsrechtslehre so häufig zitiert wie Schmitt. Doch der nur quantita-
tive Blick kann optische Täuschungen erzeugen. Denn nicht selten hatte
die Zitation von Schmitt strategische Absichten. Dies geschah bis 1930
in erster Linie, um sich die Autorität des über alle politischen Lager
anerkannten Staatsrechtslehrers für die eigenen argumentativen Zwe-
cke auszuborgen. Je offener Schmitt sich dann aber ab 1930 für die Prä-
sidialdiktatur verwendete, desto häufiger wurden die Schmitt-Zitierun-
gen zu einer Art des direkten Ansprechens von Schmitt. Kirchheimer
legte es nun zunehmend darauf an, Schmitt anhand älterer Äußerun-
gen regelrecht vorzuführen. In den letzten Monaten der Republik und
nach der Machtübergabe an die Regierung Hitler erreichte diese Art
von Schmitt-Zitation einen Grad intensiver Anspannung, der sich ver-
mutlich ohne die emotionale Komponente seines Verhältnisses zu
Schmitt kaum erklären lässt.40

36 Vgl. Neumann (1981: 239) und Breuer (2012: 111-140).


37 So der Bericht von Henry (Heinrich) W. Ehrmann, der zusammen mit Kirchhei-
mer, Neumann und Fraenkel in Berlin Seminare bei Carl Schmitt besuchte
(Gespräch mit Henry W. Ehrmann am 7. Juni 1988).
38 Diese Zitationen sind zusammengestellt in Mehring (2007) und Breuer (2012:
112-141).
39 Schmitt schickte den Aufsatz von Kirchheimer auch an seinen liberalen Kolle-
gen Gerhard Anschütz. Der reagierte darauf allerdings eher ratlos und schrieb
nach der Lektüre an Schmitt: »Ich hatte, wie so oft bei solchen Schriften aus dem
Lager der jüngsten Generation den unbehaglichen Eindruck: alles wankt heut-
zutage, alles. Wohin geht die Reise?« Der Brief von Anschütz an Schmitt ist
zitiert in: Briefwechsel Schmitt/Smend (2011: 85).
40 John H. Herz sprach in diesem Zusammenhang davon, dass Schmitt für Kirch-
heimer eine Art »Vaterersatz« (Herz 1989: 12) gewesen sei. Die geradezu beses-
sene Art und Weise, mit der Kirchheimer ab 1930 die Auseinandersetzung mit
Schmitt betrieb, bezeichnete er mit der Freud‘schen Formulierung des »Vater-
mordes« (Gespräch mit John H. Herz am 15. November 1985).

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3. Journalistische Interventionen

Beim geselligen Beisammensein am Abend nach der Verteidigung der


Dissertation am 25. Februar 1928 war es zu politischen Unstimmigkei-
ten zwischen Schmitt und Kirchheimer gekommen, auf die Schmitt
nicht mehr verständnisvoll väterlich reagierte. Sei es, dass Kirchheimer
offener als zuvor seine Kritik an den zumeist rechten und rechtsradika-
len Kommilitonen aus dem Bonner Kreis um Schmitt äußerte, oder dass
er Schmitts politische Position direkter als zuvor angegriffen hatte. Für
Schmitt endete der gemeinsame Umtrunk jedenfalls verdrießlich und er
notierte am Abend in sein Tagebuch: »Kirchheimer mangelt jedes
Nationalgefühl, grauenhaft«.41
Kirchheimer seinerseits war nach dem erfolgreichen Abschluss seines
Jurastudiums in Bonn mit dem Ersten Staatsexamen und der Promo-
tion zunächst erst einmal fest entschlossen, sich beruflich zukünftig vor
allem politisch zu betätigen (vgl. Herz 1989: 13). Doch auch die akade-
mische Welt lockte ihn. Angesichts der schwierigen beruflichen Aus-
sichten auf dem akademischen Arbeitsmarkt entschied er sich, auf
jeden Fall das Zweite Juristische Staatsexamen zu absolvieren, um
danach bessere Chancen zu haben. Er bewarb sich um das juristische
Referendariat und wurde am 29. März 1928 zum Referendar im Kam-
mergerichtsbezirk des Landes Preußen ernannt.42 Er war damit für die
nächsten drei Jahre ein preußischer »Beamter auf Zeit« mit zwar gerin-
gen, aber erst einmal gesicherten Einkünften.43 Auch Hilde Rosenfeld
hatte ihr Jurastudium in Bonn erfolgreich abgeschlossen und sich um
das Referendariat beworben. Am 31. März 1928 heirateten beide in Ber-
lin,44 wo Kirchheimers Schwiegervater, der Reichstagsabgeordnete Kurt
Rosenfeld, mit seiner Familie ein Haus im Stadtteil Grunewald
bewohnte. Kurt Rosenfeld war es auch, der seiner Tochter und Otto
Kirchheimer den Einstieg in das Juristische Referendariat ermöglichte
und beiden die Kontakte zu den entsprechenden Stellen in seinem hei-
matlichen Wahlbezirk Erfurt (damals zur Provinz Sachsen in Preußen
gehörig, heute zu Thüringen) herstellte.

41 Carl Schmitt, Tagebucheintrag vom 25. Februar 1928.


42 Diese Angabe findet sich in einem Schreiben des Präsidenten des Oberlandesge-
richts an den Preußischen Justizminister vom 14. Oktober 1929. In: Bundesar-
chiv Berlin, R 3001/6322, Akte des Justizministeriums betreffend Dr. Otto Kirch-
heimer, Bl. 5.
43 Zur seit 1923 in Preußen geltenden neuen Ausbildungsordnung für Rechtsrefe-
rendare vgl. Jescheck (1939: 82-125).
44 Eine Kopie der Heiratsurkunde findet sich in Kirchheimer-Grossman (2010: 60).

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Einleitung zu diesem Band 35

Berlin blieb dennoch die Stadt, zu der beide die stärksten Bezüge
behielten. Waren es bei Kirchheimers Frau die familiären Bindungen, so
wollte Otto Kirchheimer seine Kontakte zum akademischen Betrieb in
der Hauptstadt nicht abbrechen lassen.45 In Erfurt begann Kirchheimer
sein Referendariat46 am 14. April 1928 bei der Staatsanwaltschaft,
wechselte nach drei Monaten an das Arbeitsgericht Erfurt und arbeitete
dann vom 14. Dezember 1928 bis zum 3. September 1929 am Landge-
richt Erfurt. Im September 1929 zogen er und seine Frau wieder nach
Berlin, von wo aus er zunächst vom 17. September 1929 bis zum
16. April 1930 seinen Dienst am Arbeitsgericht Spandau versah, um
vom 17. April bis zum 16. Mai 1930 für vier Wochen zum Arbeitsge-
richt Berlin eingeteilt zu werden, dessen Vorsitz seit 1929 Otto Kahn-
Freund führte. Kahn-Freund hatte wie Fraenkel und Neumann zum
Schülerkreis Hugo Sinzheimers in Frankfurt gehört und zählte auch in
Berlin wieder zum engen Freundeskreis der beiden.47 Kirchheimers
Wechsel nach Berlin war weit im Voraus geplant. Kirchheimers fanden
Aufnahme für die bei Rechtsanwälten zu absolvierenden Stationen im
politischen Milieu des linken Sozialismus. Nach der Station in Spandau
bei Kahn-Freund setzte Otto Kirchheimer seine Ausbildung vom
18. Mai 1930 an zunächst bei Rechtsanwalt und Notar Heinrich Riegner
fort, der in der Joachimsthaler Straße 41 in Berlin-Charlottenburg48
zusammen mit Kurt Rosenfeld seine Kanzlei betrieb. Vom 17. Oktober
1930 an arbeitete er dann in der Kanzlei von Wilhelm Liebknecht, dem
drittältesten Sohn des Londoner Marx-Vertrauten und Parteigründers
der SPD.49 Die letzten Stationen seiner Referendarzeit absolvierte Otto
Kirchheimer am Berliner Kammergericht (15. Zivilsenat sowie 4. Straf-

45 In Carl Schmitts Tagebüchern finden sich Einträge über Seminarbesuche Kirch-


heimers aus dessen Erfurter Zeit, sowie auch über einen gemeinsamen Sonntag-
nachmittag zusammen mit dessen Frau (»[…] traf Kirchheimer und seine Frau,
wir plauderten über eine Stunde zusammen im Café Venezia, über Sozialismus,
den Staat usw.« Carl Schmitt: Tagebucheintrag vom 14. April 1929).
46 Zu den Angaben über die einzelnen Stationen seines Referendariats vgl. die
Nachweise in den Akten des Bundesarchivs (Bundesarchiv Berlin, R 3001/63222,
Akte des Justizministeriums betreffend Dr. Otto Kirchheimer, Bl. 5, 10). – Ich
danke Simone Ladwig-Winters für den Hinweis auf diese Aktenbestände.
47 Vgl. Kahn-Freund (1981: 186). Zu Biografie und Werk Kahn-Freunds vgl.
Däubler (1988).
48 Zu biografischen Angaben über Heinrich Riegner vgl. Ladwig-Winters (2007:
245).
49 Wie sein Bruder Theodor hatte auch Wilhelm Liebknecht jun. erst nach der
Ermordung des Bruders Karl Liebknecht begonnen, sich politisch zu engagie-
ren: Beide Liebknecht-Brüder waren zentrale Figuren im Umfeld des linken Flü-
gels der SPD bzw. des verbliebenen Teils der USPD, als deren letzter Vorsitzen-
der Theodor Liebknecht fungierte, vgl. Trotnow (1980: 41-45).

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36 Einleitung zu diesem Band

senat). Am 2. Juni 1931 legte er die Große Staatsprüfung erfolgreich


ab.50
Bereits in Erfurt betätigte sich Kirchheimer neben seiner täglichen
Arbeit im Referendariat als gelegentlicher justizpolitischer Kommenta-
tor für die dortige sozialdemokratische Tagespresse. Es gab während
der Weimarer Republik knapp über 150 sozialistische bzw. sozialdemo-
kratische Tageszeitungen, die auf Artikelbeiträge von freien Mitarbei-
tern angewiesen waren. In der Kirchheimer-Forschung ist über diese
Seite seines Werkes bislang nichts bekannt gewesen.51 Im Zuge der
Recherchen bei der Vorbereitung dieser Ausgabe wurden insgesamt
neun von Kirchheimer verfasste Zeitungsartikel aus seiner Zeit als
Referendar gefunden.52 Der erste, mit seinem Pseudonym »A.Z.«
gezeichnete, Artikel erschien zwei Wochen nach seinem Umzug nach
Erfurt am 27. April 1928 in der Tageszeitung ›Die Tribüne‹, dem »sozi-
aldemokratische[n] Presseorgan für das Land Thüringen und den preu-
ßischen Regierungsbezirk Erfurt«. Der Artikel trägt die Überschrift Die
Lehre von Stettin und ist ein justizpolitischer Kommentar. Kirchheimer
bezieht sich darin auf einen im Frühjahr 1928 im gesamten Reich viel
beachteten Fememordprozess vor dem Stettiner Schwurgericht. Im Pro-
zess wurde ein acht Jahre zurückliegender Fememord verhandelt.
Angeklagt war Edmund Heines wegen der Ermordung des 20-jährigen
pommerschen Landarbeiters Willi Schmidt im Juli 1920, die aus Rache
dafür erfolgte, dass Schmidt Waffenverstecke eines in Vorpommern
getarnt untergebrachten Freikorps verraten haben soll, das sich zuvor
im März 1920 am Kapp-Putsch beteiligt hatte (vgl. Nagel 2004: 275 ff.).

50 Bundesarchiv Berlin, R 3001/6322, Akte des Justizministeriums betreffend Dr.


Otto Kirchheimer, Bl. 14.
51 Obwohl John H. Herz schon 1989 in seinem biografischen Abriss den Hinweis
darauf gegeben hatte, dass es lohnenswert sein könnte, die Erfurter sozialdemo-
kratische Presse systematisch nach Beiträgen von Kirchheimer zu durchsuchen
(vgl. Herz 1989: 13).
52 Die Recherchen blieben zunächst ergebnislos, bis es schließlich über Umwege
gelang, Kirchheimer zumindest ein Pseudonym zweifelsfrei zuzuordnen: Im
Nachlass Kirchheimers in Albany findet sich das Typoskript eines Textfragmen-
tes von einer ganzen und einer halben Seite, das mit »Die Lehre von Stettin«
überschrieben ist und in das Korrekturen in der Handschrift von Otto Kirchhei-
mer eingefügt sind (Otto Kirchheimer Papers, Series 4: Writings 1937 - 1964, Box
2, Folder 86, Special Collections & Archives, University at Albany, State Univer-
sity of New York). Dieser Beitrag konnte schließlich bei der weiteren Suche als
Kommentarartikel in einer der sozialdemokratischen Zeitungen aus der Erfurter
Region aufgefunden werden, gezeichnet mit dem Pseudonym »A.Z.«. Mit die-
ser Information ließen sich dann weitere von Kirchheimer verfasste Zeitungsar-
tikel auffinden bzw. identifizieren. – Ich danke Henning Hochstein für die
Durchsicht der Zeitungen.

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Einleitung zu diesem Band 37

Der Angeklagte Heines war kein unbeschriebenes Blatt. 1919 war er an


den Kämpfen der Freikorps im Baltikum und beim Kapp-Putsch betei-
ligt, hatte im November 1923 am Hitler-Putsch teilgenommen und war
zusammen mit Adolf Hitler in Landsberg inhaftiert gewesen, bis er
1924 vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden war. Seitdem übte
er verschiedene Funktionen in der NSDAP aus. Der Fememord an Willi
Schmidt war erst 1927 durch einen Erpressungsversuch bekannt gewor-
den, worauf der Prozess gegen Heines im April in Stettin eröffnet
wurde. Kirchheimer nahm den gerade eröffneten Strafprozess zum
Anlass, die in der Vergangenheit vor dem Leipziger Reichsgericht
geführten Hochverratsprozesse – diese Delikte fielen in die alleinige
Zuständigkeit des Reichgerichts – gegen putschende Freikorpsmitglie-
der und Reichswehrangehörige kritisch aufs Korn zu nehmen. Vor dem
Reichsgericht, so kritisiert er, sei in den bisherigen Hochverratsprozes-
sen ein »geheimnisvolle[r] Schleier […] sorgfältig über alle Arten und
Abarten der deutschen Reichswehr gebreitet« (S. 127) worden. Denn
die »geschickte Prozessleitung« der Richter am Reichsgericht habe es
bislang immer verstanden, »politische Geschehnisse zu Fragen juristi-
scher Tatsachenbestandsfeststellung zu vereinfachen« (S. 127). Kirch-
heimer hat keine große Hoffnung, dass in dem Prozess die politischen
Hintergründe der Freikorpsaktivitäten und ihre Verwicklungen mit der
Reichswehr sowie die konkreten politischen Motive des Fememörders
gerichtlich untersucht werden. Die Richter, so vermutete er noch vor
dem Prozessende, »werden von außergewöhnlichen Zeiten und
Umständen sprechen, die diese Tat bedingten und verstehen, wenn
auch verurteilen lassen« (S. 128). Geschützt von der Justiz, würden die
»leitenden Reichswehrkreise […] mit ihren natürlichen Verbündeten,
den ostelbischen Junkern« (S. 128) solange sie nicht daran gehindert
werden, nie damit aufhören, sei es heimlich oder offen, die Weimarer
Demokratie zu untergraben. Kirchheimer zufolge würden große Teile
der deutschen Bevölkerung diese Bedrohung verkennen und er schließt
seinen Kommentar mit der Forderung an die Reichstagsfraktion der
eigenen Partei, einen Untersuchungsausschuss einzurichten, der sich
mit den Fememorden und der Verwicklung der Reichswehr beschäftigt.
Kirchheimers Erwartung an die Stettiner Richter war richtig. Nach
einer ersten Verurteilung wurde Heines schließlich nach einem neu
aufgerollten Prozess vom Stettiner Gericht wegen seiner hehren vater-
ländischen Motive bei der Mordtat aus der Haft entlassen.53

53 Die Anklage hatte die Todesstrafe für das Morddelikt verlangt, das Gericht
erkannte aber auf Totschlag und verurteilte Heines im Mai 1928 zu 15 Jahren
Zuchthaus. Mit der Begründung, dass ein Verfahrensfehler vorgelegen habe,

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38 Einleitung zu diesem Band

Der zweite in diese Ausgabe aufgenommene Artikel befasst sich mit


dem Thema Strafvollzug. Er erschien unter der Überschrift Zuchthaus
Untermaßfeld und moderne Preßberichterstattung ebenfalls in der ›Tribüne‹
am 2. Juli desselben Jahres und war ebenfalls mit »A.Z.« gezeichnet.54
Kirchheimer reagiert mit seinem Artikel auf einen Bericht aus der zum
Hugenberg-Konzern gehörenden ›Mitteldeutschen Zeitung‹ über die
Haftbedingungen im Zuchthaus Untermaßfeld, das von den beiden
sozialdemokratischen Anstaltsdirektoren Alfred und Otto Krebs zu
einem im gesamten Reich viel beachteten Reformgefängnis umgewan-
delt worden war und das besonderen Wert auf die Vermittlung von
Selbstverwaltungsfähigkeiten an die Insassen legte (vgl. Krebs 1928). In
dem Artikel in der ›Mitteldeutschen Zeitung‹ waren die Haftbedingun-
gen im Zuchthaus als zu kommod und die Ernährung als luxuriös
bemängelt worden. Vor allem aber stieß sich ihr Verfasser an den in
Untermaßfeld durchgeführten Resozialisierungsmaßnahmen. Kirchhei-
mer hält dagegen. Er macht darauf aufmerksam, dass die Ernährung
aus gesundheitlicher Sicht immer noch zu wünschen übrig ließe und
macht sich vor allem für die in der Haftanstalt durchgeführten Resozia-
lisierungsprogramme stark. Es sei ein »Akt sozialer Gerechtigkeit größ-
ten Ausmaßes« (S. 130), wenn straffällig Gewordenen eine neue Chance
im Leben gegeben werde. Unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen
Verhältnissen würden vor allem Menschen aus den unteren sozialen
Schichten in die Strafgewalt des Staates gelangen. Demgegenüber wür-
den im modernen Kapitalismus viele soziale Missetaten der höheren
Schichten vom Strafrecht gar nicht erfasst. Auch aus diesem Grund sei
der Vergeltungsanspruch des Staates »zweifelhaft« (S. 131). Kirchhei-
mer sieht in der Reformhaftanstalt Untermaßfeld den erfolgreichen
Versuch einer »Wiederherstellung der menschlichen Würde« (S. 131).
Im Übrigen sieht er in diesem Zusammenhang von »politischen Delik-
ten« (S. 130) explizit ab. Diese würden nur nominell zur Strafjustiz

wurde der Prozess im März 1929 wiederholt. Diesmal erhielt Heines eine Verur-
teilung zu fünf Jahren Zuchthaus. Aufgrund der Bewertung des Stettiner
Gerichts, dass Heine bei seiner Tat »von der vaterländischen Wichtigkeit seiner
Aufgabe durchdrungen gewesen« sei, wurde er im Mai 1929 gegen die Zahlung
einer Kaution von 5.000 Reichsmark aus der Haft entlassen, für die Hitler das
Geld einsammelte. Nach den Wahlen 1930 wurde Heines Abgeordneter der
NSDAP im Reichstag und gehörte zu den Rädelsführern von mehreren Prügel-
attacken auf Abgeordnete anderer Parteien im Parlament (vgl. Nagel 2004:
276 f.).
54 Auch für diesen Artikel findet sich im Nachlass von Kirchheimer ein undatier-
tes, von ihm namentlich gezeichnetes Typoskript mit Ergänzungen und Korrek-
turen in seiner Handschrift (Otto Kirchheimer Papers, Series 4: Writings 1937 -
1964, Box 2, Folder 86, Special Collections & Archives, University at Albany,
State University of New York).

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Einleitung zu diesem Band 39

gehören, hätten tatsächlich aber mit dem Begriff der Strafe schlechter-
dings nichts zu tun, denn bei ihrer Bestrafung handele es sich, genau-
genommen, um nichts anderes als »ein[en] Akt der Unschädlichma-
chung des politischen Feindes« (S. 130).
Ebenfalls in der Erfurter ›Tribüne‹ erschien am 15. Dezember 1928 der
Artikel Wehrhaftigkeit und Sozialdemokratie, den Kirchheimer namentlich
zeichnete. Unter gleicher Überschrift war einige Wochen zuvor eine
Broschüre von Paul Levi, der 1922 den Weg zurück in die SPD gefun-
den hatte und zu den wichtigsten Persönlichkeiten des linken und mar-
xistischen Flügels zählte, zum Thema Militärpolitik erschienen. Auf
knappen 28 Seiten hatte er darin seine scharfe Kritik an dem Kurs der
Fraktionsführung formuliert (vgl. Levi 1928). Levi hatte zu den aktiv-
sten Abgeordneten im Reichstag gehört, die ihre Regierungsvertreter
im Herbst 1928 in der heftig diskutierten Frage über den Bau des Pan-
zerkreuzers A wieder auf Parteikurs bringen wollten, nachdem sie sich
im Wahlkampf vehement für einen Stopp des Baus ausgesprochen hat-
ten, sich nun aber aus Koalitionsräson dafür ausgesprochen hatten (vgl.
Beradt 1969: 132-144). Der Pazifist Levi hatte in seiner Broschüre nicht
nur erneut seine Argumente gegen den Bau des Panzerkreuzers ver-
sammelt, sondern auch grundlegende Überlegungen über die verän-
derten Anforderungen, dessen sich eine sozialistische Militärpolitik
ausgesetzt sah, angestellt.
Kirchheimers Zeitungskommentar erschien während des Höhepunktes
der innerparteilichen Debatte über den Panzerkreuzerbau. Er leitete ihn
mit der Bemerkung ein, dass sich ein ernsthafter politischer Wille von
politischen Lippenbekenntnissen dadurch unterscheide, dass man
bereit ist, auch der »kundgetanen Meinung entsprechend in den kriti-
schen Momenten zu handeln« (S. 163). Kirchheimer folgt Levis grund-
legender Diagnose, dass der Krieg der Jahre 1914-18 einen »Struktur-
wandel […] in der Wehrform« (S. 163) erkennen lassen habe. Die Größe
der stehenden Heere habe sich für den Ausgang des Krieges als ebenso
unwichtig erwiesen wie die Menge an zuvor angehäuften Kriegs- und
Nahrungsmitteln. Nicht die alte Vorratswirtschaft, sondern das »poten-
tiel de guerre« (S. 164), also die Fähigkeit, den gesamten gesellschaftli-
chen Produktionsprozess schnell und reibungslos für den Krieg mobili-
sieren zu können, habe den Krieg entschieden. Aus diesem Grund sei
ein großes stehendes Heer unnötig für die Zwecke der Landesverteidi-
gung geworden. Kirchheimer widerspricht Levi dann aber, wenn es um
die politischen Folgerungen aus dieser Diagnose geht. Levi zufolge ste-
hen die Sozialisten in den industriell am weitesten fortgeschrittenen

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40 Einleitung zu diesem Band

Ländern vor einer politischen Weggabelung. Entweder sie schließen


sich den Beschlüssen der Brüsseler Internationale an und verweigern in
ihren nationalen Parlamenten jeder neuen Rüstungsausgabe rigoros
ihre Zustimmung. Dies ist der Weg des Pazifismus, den Levi empfiehlt.
Auf ihm könne die SPD den Aufbau einer machtvollen Internationale
forcieren und auf diese Weise den Ausbruch eines neuen imperialisti-
schen Krieges schon im Ansatz verhindern. Nur für den Fall, dass sich
dieser Weg aufgrund mangelnder internationaler Kooperation als
unbegehbar erwiese, plädierte Levi für den zweiten Weg, der in einer
Art Übernahme des Heeres durch das Proletariat besteht. Anders als
Levi hält Kirchheimer beide Wege für durchaus gleichzeitig begehbar.
Vor allem aber lehnt er die These Levis ab, dass sozialistischen Politi-
kern beide Wege »gewissermaßen zur Wahl stehen« (S. 165). Tatsächlich
gäbe es eine solche freie Wahlmöglichkeit gar nicht. Wer, so fragt er,
möchte die Frage entscheiden, ob das Proletariat im Verein mit der
Internationale bereits stark genug sei, um einen imperialistischen Krieg
zu verhindern? Wer, so fragt er weiter, möchte im Falle eines neuen
Krieges entscheiden, ob es sich dabei um einen imperialistischen Krieg
handele oder ob er proletarischen Interessen diene? »Der August 1914«,
so Kirchheimer, »sollte uns über die Unzuverlässigkeit solcher Unter-
scheidungsmerkmale (Angriffs- und Verteidigungskrieg) hinreichend
belehrt haben« (S. 165). Angesichts solcher Entscheidungsunschärfen
plädiert Kirchheimer für einen »doppelte[n] Weg« (S. 166). Die SPD
solle sowohl ihre gesamte Kraft auf internationaler Ebene für den Frie-
den einsetzen als auch gleichzeitig die Reichswehr den Händen des
reaktionären Bürgertums entreißen.
Am 2. Februar 1929 erschien im ›Mühlhäuser Volksblatt‹, einer eben-
falls in der Region von Erfurt erscheinenden sozialdemokratischen Zei-
tung, ein weiterer namentlich gezeichneter Artikel Kirchheimers. Er
trägt den Titel Wahlrechtsreform und setzt sich mit der seit dem Sommer
1928 in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften begonnenen
Debatte über eine grundlegende Reform des Wahlrechts der Weimarer
Republik auseinander. Kirchheimer entzündet seine Kommentierung
dieser Debatte an dem damals geäußerten Wunsch des Vorsitzenden
der DVP, Reichsaußenminister Gustav Stresemann, das Verhältniswahl-
recht zugunsten eines reinen Persönlichkeitswahlrechts mit kleinen
Wahlkreisen zu ersetzen. Kirchheimer bezeichnet Stresemann als »her-
vorragende[n] Führer der deutschen Bourgeoisie« (S. 167) und hält des-
sen politischem Wunsch die Interessen der organisierten Arbeiterbewe-
gung entgegen. Jedes Wahlrecht sei das unmittelbare Produkt der kon-
kreten Klassenverhältnisse. Solange es eine Klassengesellschaft gäbe,

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Einleitung zu diesem Band 41

gäbe es auch kein perfektes Wahlrecht. Die Güte eines Wahlrechts lasse
sich nur nach dem damit zu erreichenden klassenpolitischen Ziel
bewerten. Das habe in der Vergangenheit für das Zensuswahlrecht und
für das Dreiklassenwahlrecht als Herrschaftsinstrumente des Bürger-
tums gegolten und gelte in industriell zurückgebliebenen Ländern wie
Italien auch für den Faschismus. Mit dem »Einmarsch« (S. 168) des Pro-
letariats in die »Kampfbahn der Demokratie« (S. 168) habe sich die
Situation insofern grundlegend verändert, als dass der Ausgang von
Wahlen nun nicht mehr nur das Mittel zur Bestimmung des jeweiligen
Regierungs- und Oppositionsspielers innerhalb einer Klasse bedeute,
sondern sich in einen »Kräftemaßstab der Klassenverhältnisse« (S. 169)
verwandelt habe. Diese Klassenfronten möglichst genau wiederzuge-
ben sei die Ratio des gegenwärtigen listengebundenen Verhältniswahl-
rechts. Dadurch habe sich auch die Funktion von Parlamenten grundle-
gend geändert. Waren sie Mitte des 19. Jahrhunderts Orte der politi-
schen Diskussion ohne tatsächliche Entscheidungskompetenz, so sind
sie heute zu Stätten zum Austragen des Klassenkampfes geworden.
Kirchheimer lehnt jede Änderung im Sinne Stresemanns ab. Das gegen-
wärtige listengebundene Verhältniswahlrecht habe den Vorteil, dass es
die »nackten Tatsachen des Klassenkampfes« (S. 169) offen darlege,
anstatt sie zu verschleiern. Momentan herrsche im Deutschen Reich ein
»labile[s] Gleichgewichtsverhältnis der Klassenkräfte« (S. 168), was ein
weiterer Grund dafür sei, an dem bestehenden Wahlrecht nicht rütteln
zu lassen.
Ebenfalls im ›Mühlhäuser Volksblatt‹ erschien am 25. Juni 1929 ein
Kommentar Otto Kirchheimers zum Magdeburger Parteitag der SPD,
dessen kritischer Tenor bereits die Überschrift Die Demokratie der
Bequemlichkeit verrät. Der Parteitag, der vom 25. bis zum 31. Mai unter
großer öffentlicher Beachtung in der Magdeburger Stadthalle abgehal-
ten wurde, war als eine Art sozialdemokratische Heerschau nach der
Wiedererlangung der Regierungsmacht im Reich inszeniert. Er war
einerseits geprägt vom Stolz der SPD, den Reichskanzler und wichtige
Ministerien zu stellen sowie andererseits von der durch Reichsfinanz-
minister Rudolf Hilferding genährten Zuversicht, vom derzeitigen
›Organisierten Kapitalismus‹ allmählich in den Sozialismus hinüberzu-
wachsen. Andererseits war der Parteitag überschattet von innerparteili-
chen Auseinandersetzungen über die Militär-, Außen-, Wirtschafts-
und Finanzpolitik der Partei sowie über die nächsten Schritte, die in
Richtung Sozialismus führen sollten und in Verbindung damit auch die
Bündnispolitik der SPD. Von den Vertretern des linken Parteiflügels
und den Jungsozialisten, die zusammen ein Drittel der Delegierten

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42 Einleitung zu diesem Band

stellten, wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, wie krisenfest


der Kapitalismus tatsächlich geworden sei.
Kirchheimer setzt sich in seiner Parteitagsnachlese von den Rednern
der »offiziellen Richtung« (S. 171) der SPD und ihrem »sozialdemokra-
tischen Ministerialismus« (S. 173) ab. Er diagnostiziert ein wider-
spruchsvolles Changieren der Parteiführung zwischen ihrem Willen
zur Demokratie und einer eher instinktiven Skepsis. Im Unterschied zu
Hilferding, der bereits auf dem Kieler Parteitag von 1927 verkündet
hatte, dass sich der ›Organisierte Kapitalismus‹ in Richtung Sozialis-
mus zu transformieren begonnen habe, schloss sich Kirchheimer der
Einschätzung von Hilferdings linken Kritikern aus Kreisen der Jungso-
zialisten an,55 wonach »der organisierte Kapitalismus heute kraft seiner
ökonomischen Machtposition in normalen Situationen die Arbeiter-
klasse vorläufig in die Defensive gedrängt hat« (S. 171). Auch deutet
Kirchheimer in dem Artikel an, dass er von der ökonomischen Stabilität
des Kapitalismus nicht wirklich überzeugt ist – der sogenannte
›Schwarze Freitag‹ an der New Yorker Börse nur vier Monate später,
am 24. Oktober 1929, und das Ausmaß der in der Folge daraus ausbre-
chenden Weltwirtschaftskrise sollten seine Skepsis und die anderer
Weimarer Linkssozialisten noch bei Weitem übertreffen.
Wenn die Partei in der gegenwärtigen Situation wieder in die politische
Offensive gelangen wolle, müsse sie sich Kirchheimer zufolge von der
»parteiamtlichen Dogmatisierung der Demokratie […] lösen« (S. 172)
und sich von ihrer »Opfertheorie der Demokratie« (S. 172) verabschie-
den. Die Linie der Parteiführung, den Erhalt der Koalition mit ihren
vielen Misserfolgen als das zu erbringende Opfer für die Demokratie
zu rechtfertigen, werde auf längere Sicht von der Arbeiterschaft nicht
goutiert. Der durchschnittlich abhängig Beschäftigte verteidige die
Demokratie nicht aus irgendwelchen ideellen Motiven, sondern nur,
wenn er sehe, dass sie ihm sozial auch nütze: »Er wird aufhören,
Anhänger demokratischer Staatsformen zu sein, wenn er sieht, dass in
der demokratischen Staatsform seine Wünsche nicht den notwendigen
Widerhall finden, und er wird sich auch mit der Diktatur abfinden«
(S. 172). Wenn man nicht in diese Falle geraten wolle, dann müsse sich
die Partei dem Kurs des linken Flügels anschließen und mit ihrem
sozialistischen Forderungskatalog gegebenenfalls auch den Bruch der
Koalition mit den bürgerlichen Parteien forcieren. Kirchheimer nennt in
diesem Zusammenhang den Namen von Paul Levi, doch er hätte

55 Zur Kritik an Hilferdings Thesen aus jungsozialistischer Sicht vgl. Lüpke (1985:
188-201).

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Einleitung zu diesem Band 43

ebenso gut den seines Schwiegervaters Kurt Rosenfeld oder die von
Heinrich Riegner und Wilhelm Liebknecht jun. nennen können, in
deren Rechtsanwaltskanzleien er als Referendar vorgesehen war. Den
Vorwurf des Jakobinertums seitens des Parteiestablishments an die
Adresse von Levi kontert Kirchheimer mit dem Hinweis, dass es nicht
die Gironde, sondern die Jakobiner gewesen seien, die Frankreich im
Jahre 1793 im ersten Koalitionskrieg mit ihren Maßnahmen gerettet hät-
ten.
Der sechste in diese Ausgabe aufgenommene journalistische Beitrag
Kirchheimers stammt aus der Zeit nach seiner Rückkehr nach Berlin
und der Aufnahme seiner Tätigkeit am Arbeitsgericht in Spandau. Der
namentlich gezeichnete Artikel mit der Überschrift 50 Jahre Deutsches
Reichsgericht erschien am 1. Oktober 1929 sowohl in der Erfurter ›Tri-
büne‹ als auch im ›Mühlhäuser Volksblatt‹. Das runde Jubiläum des
Reichstagsbeschlusses von 1879, in Leipzig ein Reichsgericht zu errich-
ten, war bereits zuvor in der juristischen Fachpresse vielfältig gefeiert
und gewürdigt worden. Kirchheimer nutzte seinen Jubiläumsbeitrag zu
einer ebenso knappen wie vehementen Kritik an der Tätigkeit der Rich-
ter des Reichsgerichts.
Kirchheimer zufolge liefere die Rechtsprechung des Reichsgerichts »ein
getreues Spiegelbild der Anschauungen und Vorstellungen der in
Deutschland herrschenden Klassen« (S. 187). Das Reichsgericht hätte
nie versucht, aus dieser Vorstellungswelt auszubrechen und hätte es
auch niemals für seine Aufgabe erachtet, zu einer Weiterentwicklung
des Rechts in Richtung eines Sozialrechts beizutragen. Als besonders
verlogen erachtet Kirchheimer die Positionierung des Leipziger
Gerichtshofs im Hinblick auf die Frage der richterlichen Nachprüfbar-
keit von Gesetzen. Während der Kaiserzeit habe sich das Gericht strikt
geweigert, unsoziale Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen
zu wollen. Auch habe es tätig dabei geholfen, mit seiner Strafrechtspre-
chung das Koalitionsrecht der Arbeiterbewegung zu unterdrücken,
und habe die verfassungswidrigen Sozialistengesetze passieren lassen.
Unter der Ordnung der Weimarer Verfassung hingegen torpediere das
Reichsgericht soziale Gesetzgebungsvorhaben, indem es nun auf ein-
mal das Recht auf die richterliche Nachprüfbarkeit von Gesetzen für
sich in Anspruch nehme und sich damit zu einem »höchst zweifelhaf-
ten Hüter der Verfassung« (S. 187) aufwerte.56

56 Auf einer Veranstaltung der Vereinigung Sozialdemokratischer Juristen in Ber-


lin erklärte Kirchheimer den Anspruch auf ein richterliches Prüfungsrecht mit
dem »Sicherheitsbedürfnis des Bürgertums« (Vorwärts vom 18. Oktober 1929).

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44 Einleitung zu diesem Band

Aus dieser Perspektive unterzieht Kirchheimer die Rechtsprechung des


Reichsgerichts einer scharfen Kritik. Zuständig für Hochverratsdelikte,
hat es eine große Zahl sozialistischer Aktivisten in den Arbeiter- und
Soldatenräten zu ausgedehnter zivil- und strafrechtlicher Haftung ver-
urteilt. Später seien Anhänger der KPD zu unverhältnismäßig hohen
Strafen verurteilt worden, während Angehörige von rechten Terror-
gruppen aus der ›Schwarzen Reichswehr‹ wie die ›Organisation Con-
sul‹57 von Richtern des Reichsgerichts geradezu hofiert worden seien.
»Der Staatsfeind von rechts«, so Kirchheimer, »wird vom Reichsgericht,
da er ja kein Feind der bürgerlichen Ordnung ist, […] als ein anständi-
ger Mensch angesehen« (S. 190). Kirchheimers zusammenfassendes
Urteil über diese Art der Rechtsprechung lässt an kritischer Schärfe
wenig vermissen: »Die am Reichsgericht in politischen Prozessen
geübte Technik ist derjenigen Sowjetrusslands in dieser Materie eben-
bürtig. Die Bestrafung auf Grund aktiver Zugehörigkeit zur kommunis-
tischen Partei, die mittelalterliche Bestrafung von Druckern für Zei-
tungsartikel, die Bestrafung des Vortragens revolutionärer Gedichte
stehen auf der selben Linie wie die dort mit so viel Erfolg vorgenom-
mene Hilfsarbeit zur Tarnung der Schwarzen Reichswehr« (S. 190).
Gleichzeitig sei es dem Reichsgericht »mit einem vom bürgerlichen
Standpunkt aus bewundernswerten Aufwand von Mut und Entschlos-
senheit« (S. 189) gelungen, die neuen Landesgesetze, die im Sinne des
Artikels 153 der Weimarer Verfassung das Privateigentum beschränken
wollten, kurzerhand für verfassungswidrig zu erklären. Das Gericht
habe das Privateigentum in seiner Rechtsprechung vor allen Eingriffen
der Gesetzgebung in einem Umfang geschützt, wie es dies in der Ära
des Kaiserreiches nie getan hatte. Als Resümee der vergangenen zehn
Jahre Rechtsprechung durch das Gericht formuliert Kirchheimer lako-
nisch: »Der ›Hüter der Verfassung‹ hütet nach eigenen Maßstäben«
(S. 190). Um Abhilfe zu schaffen, fordert Kirchheimer die sozialisti-
schen Politiker in den Ländern des Reiches auf, Personalreformen am
Reichsgericht vorzunehmen und bei der Neubestellung von Richtern
das Vorschlagsrecht des Reichsrates, in dem das sozialdemokratisch

57 Als ›Schwarze Reichswehr‹ wurden die illegalen paramilitärischen Verbände


bezeichnet, die unter Bruch des Versailler Friedensvertrages von der deutschen
Reichswehr gefördert wurden. Zu ihnen gehörte auch der antisemitische und
rechtsextremistische Geheimbund ›Organisation Consul‹, durch dessen
Anschläge unter anderem der frühere Reichsfinanzminister Matthias Erzberger
(1921) und der Reichsaußenminister Walther Rathenau (1922) ermordet wurden.
Vgl. Sabrow (1998).

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Einleitung zu diesem Band 45

regierte Preußen maßgeblichen Einfluss hat, mit klarem politischen


Blick wahrzunehmen.
Dieser Artikel hätte das Ende von Otto Kirchheimers beruflicher Kar-
riere als Jurist bedeuten können und es ist wohl nur der sozialdemokra-
tischen Dominanz im Preußischen Justizministerium zu verdanken,
dass er sein Referendariat fortsetzen konnte. Denn zwei Wochen nach
Veröffentlichung dieses Beitrages verlangte der Präsident des Preußi-
schen Oberlandesgerichts in Naumburg an der Saale in einem empör-
ten Schreiben an den Preußischen Justizminister, disziplinarische Maß-
nahmen gegen Kirchheimer zu ergreifen.58 Die »höchst befremdliche,
oberflächliche und einseitige Kritik des höchsten Gerichtshofs« Kirch-
heimers stehe »im Widerstreit mit seiner Beamtenpflicht« und sei
geeignet, »die Autorität innerhalb seines Berufskreises zu untergra-
ben«. Angesichts der Tragweite dieses Verstoßes gegen die gebotene
politische Zurückhaltung eines Referendars sei »ein Einschreiten gegen
den Verfasser« unabdingbar. Der am 22. Oktober vom Justizministe-
rium um eine gutachterliche Stellungnahme gebetene Präsident des
Preußischen Kammergerichts legte bereits zwei Tage später seine vier-
seitige Analyse des Zeitungsartikels vor.59 Das Gutachten ist in der
erkennbaren Absicht geschrieben, eine schützende Hand über Otto
Kirchheimer zu halten. So findet sein Verfasser ebenfalls eine Reihe an
zu beanstandenden Formulierungen in dem Artikel Kirchheimers und
stößt sich insbesondere an dem Vergleich der Rechtsprechung des
Reichsgerichts in politischen Prozessen mit der sowjetischen Gerichts-
barkeit. Diese und andere Wendungen würden einen »bedauerlichen
Mangel an Zurückhaltung und Sachlichkeit« beweisen. Aus pragmati-
schen Gründen rät das Gutachten aber dennoch von weitergehenden
disziplinarischen Maßnahmen gegen Otto Kirchheimer ab. Zum einen
sei er erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit Beamter und habe sich somit
noch nicht genügend in den Geist der Beamtenschaft einleben können.
Zum anderen sei der Artikel in einem entlegenen Presseorgan erschie-
nen und die Beamteneigenschaft des Verfassers darin nicht erkennbar.
Vor allem aber spreche gegen disziplinarische Maßnahmen, dass dann
zu befürchten sei, dass der belangte Referendar »sachlich auf seine

58 Die folgenden Zitate stammen aus dem Schreiben des Präsidenten des Oberlan-
desgerichts an den Preußischen Justizminister vom 14. Oktober 1929. In. Bun-
desarchiv Berlin, R 3001/6322, Akte des Justizministeriums betreffend Dr. Otto
Kirchheimer, Bl. 3.
59 Die folgenden Zitate stammen aus dem Gutachten des Preußischen Kammerge-
richtspräsidenten für den Preußischen Justizminister vom 24. Oktober 1929. In:
Bundesarchiv Berlin, R 3001/6322 Akte des Justizministeriums betreffend Dr.
Otto Kirchheimer, Bl. 5.

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46 Einleitung zu diesem Band

Ausführungen eingehen, Wahrheitsbeweise zu führen versuchen


würde, sich dadurch noch mehr in jene Anschauungen hineinsteigern
würde, und sich in der Rolle eines politischen Märtyrertums hinein-
spielen könnte.« Damit war der Fall für Kirchheimer allerdings noch
nicht gänzlich glimpflich überstanden. Für den 2. Dezember 1929
wurde er zu seinem vorgesetzten Richter am Arbeitsgericht Spandau
zitiert und musste sich zu dem Artikel erklären. Kirchheimer entschied
sich in dieser Situation, auf Distanz zu seinen polemischen Kommen-
tarformulierungen zu gehen. Laut Akten erhielt er von seinem Dienst-
vorgesetzen die Empfehlung, seine »allgemein staatsbürgerl.[lichen]
Befugnisse« zukünftig mit »größere[r] Zurückhaltung« auszuüben.60
Von weiteren disziplinarischen Maßnahmen wurde abgesehen und
Kirchheimer konnte sein Referendariat nach dieser Affäre in den fol-
genden 18 Monaten fortsetzen.
Den gut gemeinten Rat, als Beamter auf Zeit politische Zurückhaltung
zu üben, schlug Kirchheimer allerdings in den Wind. Am 6. März 1930
erschien ein namentlich gezeichneter Kommentar zur anstehenden
Reform des Strafgesetzbuches in der ›Tribüne‹. Er führte mit diesem
Kommentar eine Diskussion weiter, die zuvor auch von seiner Frau
publizistisch begleitet worden war (vgl. Kirchheimer-Rosenfeld 1929).
Eine grundlegende Novellierung des noch aus der Zeit des Norddeut-
schen Bundes stammenden Strafgesetzbuches stand seit Gründung der
Republik weit oben auf der Agenda liberaler und linker Reformpoliti-
ker, verzögerte sich aber immer wieder aufgrund des Widerstands der
rechten Parteien. Auch wenn die SPD in der Großen Koalition das Jus-
tizministerium der Leitung von Politikern von bürgerlichen Koalitions-
partnern überlassen musste,61 nahm die Partei über ihre Länderjustiz-
minister vielfach Einfluss auf die überfällige Novellierung des Strafge-
setzbuches. Nach den jahrelangen Vorarbeiten und Vorbereitungen
kam es Ende Februar 1930 zu einer ersten Lesung im Strafrechtsaus-

60 »Vermerk. Ich habe mit dem Rfar. [Referendar] über die Sache Rücksprache
genommen. Er erklärte sofort, daß er bei dem – eilig abgesonderten – Artikel in
der Eile wohl in der Form zu weit gegangen sei. Ich habe ihm vorgehalten, daß
der Referendar auch bei der Ausübung allgemein staatsbürgerl. Befugnisse in
der Form seiner Äußerungen Rücksicht darauf zu nehmen habe, daß er Justiz-
beamter sei u. ihm in dieser Beziehung größere Zurückhaltung empfohlen«.
Schreiben des Preußischen Justizministers an den Präsidenten des Kammerge-
richts vom 2. Dezember 1929. Bundesarchiv Berlin, R 3001/6322, Akte des Justiz-
ministeriums betreffend Dr. Otto Kirchheimer, Bl. 4.
61 Vom 26. Juni 1928 bis zum 12. April 1929 wurde das Reichsjustizministerium
von einem Politiker der DDP (Erich Koch-Weser) geleitet, danach bis zum Ende
der Koalition im März 1930 von einem Zentrumspolitiker (Theodor von
Guérard).

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Einleitung zu diesem Band 47

schuss des Reichtages. Kirchheimers Kommentar des vorgelegten Ent-


wurfes fällt moderat aus. Grundsätzlich begrüßt er die Reform, gibt
aber gleichzeitig zu bedenken, dass der Wert eines Strafgesetzbuches
von diversen Umständen abhängig sei, die nicht in der Hand des
Gesetzgebers liegen: »Richterpersonal, Strafvollzug, wirtschaftliche
Verhältnisse und öffentliche Meinung bestimmen das Bild der Strafjus-
tiz wesentlicher als das geschriebene Gesetz« (S. 199). Und in dieser
Hinsicht habe es in den vergangenen sechs Jahrzehnten ungeachtet der
Gültigkeit des alten Strafgesetzbuches durchaus positive Veränderun-
gen gegeben. Während in der Kaiserzeit jedes Delikt als Ausfluss einer
direkt gegen die Macht des Staates gerichteten verbrecherischen Gesin-
nung betrachtet wurde, habe die Rechtsprechung allmählich gelernt,
dass »auch das Verbrechen nichts Außergewöhnliches ist, dass ein
guter Teil seiner Ursachen, Voraussetzungen und Bekämpfungsmög-
lichkeiten im gesellschaftlichen Prozess selbst beschlossen sind«
(S. 199). Kirchheimer nennt diesen Wandel in der Betrachtungsweise
des Verbrechens den Übergang von der absoluten zur relativen Wer-
tung. Dem Entwurf für das neue Strafgesetzbuch hält er zugute, dass er
diesen Wandel vielfach konzediert. Als eine solche »relativistische Auf-
lockerung« (S. 200) rechnet er beispielsweise die im allgemeinen Teil
des Gesetzbuches neu geschaffene Möglichkeit, auch nichtjugendliche
Rechtsbrecher unter besonderen Umständen straffrei ausgehen zu las-
sen. Hingegen sei die von ihm als sinnlos erachtete Zweiteilung der
Freiheitsstrafe in Gefängnis- und Zuchthausstrafe weiterhin im Gesetz-
entwurf zu finden.
Negativ vermerkt Kirchheimer aus dem Strafregister im besonderen
Teil des Gesetzbuches, dass Abtreibung weiterhin unter Strafe stehe,
dass das Delikt der Gotteslästerung immer noch nicht verschwunden
sei und dass es den Sozialdemokraten nicht gelungen sei, die Koaliti-
onspartner zur Abschaffung der Todesstrafe zu bewegen. Für Kirchhei-
mer weist der unter der Ägide der bürgerlichen Parteien erarbeitete
Entwurf insgesamt eine klar erkennbare »Grenze jenes strafrechtlichen
Relativismus« (S. 200) auf, die im »Sicherungsstreben des kapitalisti-
schen Gesellschaftssystems« (S. 200) beschlossen liege. In einem von
kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung beherrschten Land müsse einem
jeden Rechtsbrecher zwangsläufig ein notwendiges Maß von gesell-
schaftlicher Disqualifikation zuteilwerden. Die Unterscheidung zwi-
schen denen, die im bestehenden System erfolgreich vorankommen,
und denen, die in diesem System unter die Räder geraten, müsse durch
das Mittel des Strafrechts gebührend gekennzeichnet werden: »Das

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48 Einleitung zu diesem Band

Strafrecht (Strafregister) ist ein Mittel von nicht zu unterschätzender


Bedeutung für die moralische Disqualifikation« (S. 200).
Es gehörte zur Tragik der Strafrechtsreformer und Strafrechtspolitiker
der Weimarer Republik, dass ihre aus heutiger Sicht modernen krimi-
nalpolitischen Forderungen zu dem Zeitpunkt nicht verwirklicht wer-
den konnten, als die politischen Mehrheiten dafür noch bestanden hat-
ten. Die Abfolge der Reformentwürfe seit dem ersten Entwurf von Gus-
tav Radbruch aus dem Jahre 1922 ließ über die Entwürfe von 1925, 1927
und 1930 mit der Zuchthausstrafe und der Wiederaufnahme der Todes-
strafe zentrale Reformpunkte aufgeben, bis jegliche Anstöße zur
Reform des Strafrechts bei den konservativen und rechten Justizpoliti-
kern in den letzten Jahren der Republik vollständig blockiert wurden.62
Alle Zeitungsartikel Kirchheimers waren im politischen Handgemenge
entstanden. Sie decken ein breites Spektrum an Themen ab und geben
einen näheren Einblick in die politischen Konstellationen in dieser
Phase seines Lebens. Zugleich geben sie einen Vorgeschmack auf die
großen Thematiken seines späteren Werkes – Verfassungstheorie, Parla-
mentarismus, Faschismus, Strafjustiz und Politische Justiz.

4. Arbeiterbewegung und Parlamentarismus

Die Zeitungsartikel waren die ersten Fingerübungen Kirchheimers als


politischer Autor nach seiner Promotion. Bald wagte der 24-Jährige sich
während seiner Referendarzeit auch an längere Artikel und Abhand-
lungen heran. Ihr Kontext ist die sozialdemokratische Theoriebildung
der Nachkriegszeit.63 Thematisch kreisen sie um das Verhältnis der
Arbeiterbewegung zum Parlamentarismus, zu den politischen Parteien
und zur Verfassung der Weimarer Republik. Geprägt sind sie von sei-
nen Wahrnehmungen der Politik der Großen Koalition aus SPD, Zen-
trum, BVP, DDP und DVP, die unter Führung des sozialdemokratischen
Reichskanzlers Hermann Müller von Juni 1928 bis Ende März 1930
regierte.
Die bis zum Mai 1928 amtierende Mitte-Rechts-Regierung hatte noch
kurz vor ihrem Ende beschlossen, mit dem Bau des Panzerkreuzers A
ein neues deutsches Rüstungsprogramm der Marine auf den Weg zu

62 Vgl. Radbruch (1932).


63 Zur Theoriediskussion der SPD während der Weimarer Republik vgl. im Über-
blick Fischer (1987).

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Einleitung zu diesem Band 49

bringen. Die SPD hatte diese Pläne im Wahlkampf mit dem Slogan »Für
Kinderspeisung – gegen den Panzerkreuzer!« heftig attackiert und
dabei immer wieder die militaristischen und unsozialen politischen
Ziele des Bürgerblocks angeprangert. Nun, nachdem die SPD am
20. Mai 1928 mit 29,8 Prozent als Hauptgewinner der Reichstagswahl
galt, sah sich die Parteiführung vor einer schwierigen Situation. Denn
ihre Koalitionspartner aus dem bürgerlichen Parteilager bestanden auf
der Weiterführung des einmal beschlossenen Kriegsflottenplans. Ange-
sichts dieser Lage entschlossen sich der neue sozialdemokratische
Kanzler Hermann Müller und seine drei SPD-Minister, ein Signal für
eine kompromissbereite Zusammenarbeit in der Großen Koalition zu
geben und zusammen mit ihren bürgerlichen Kabinettskollegen für den
Bau des Panzerkreuzers zu stimmen. Die Empörung in der SPD und in
der linken Öffentlichkeit zu dieser Zustimmung war groß und elektri-
sierte die Jungsozialisten in der SPD und den linken Flügel der Partei
im Sommer 1928 geradezu (vgl. Lüpke 1985: 201-207). Gleichzeitig
begann die KPD im Zuge ihrer neuerlichen Linkswendung ab Mitte
August 1928, die Gegner des Panzerkreuzerbaus für ein Volksbegehren
zu mobilisieren.
Kirchheimers Beitrag zu diesem Thema erschien unter der Überschrift
Panzerkreuzer und Staatsrecht im ersten Septemberheft im Jahr 1928 in
der Zeitschrift ›Klassenkampf – Sozialistische Politik und Wirtschaft‹.
Die Zeitschrift hatte seit 1928 einem zweiwöchentlichen Erscheinungs-
rhythmus. Sie war aus einer Fusion der seit 1923 von Paul Levi heraus-
gegebenen Korrespondenz ›Sozialistische Politik und Wirtschaft‹ und
der 1927 von Max Seydewitz ins Leben gerufenen Zeitschrift ›Klassen-
kampf‹ entstanden. Zu ihren Autoren gehörte neben Paul Levi, Max
Seydewitz, Max Adler und Kurt Rosenfeld die gesamte Riege der links-
sozialistischen Opposition. Mit dem ›Klassenkampf‹ verfügte die sozi-
aldemokratische Linke trotz der geringen Auflage von knapp über
1.000 Exemplaren über ein wirkungsvolles publizistisches Mittel und
sofort etablierte sich die neue Zeitschrift auch parteiübergreifend als
anerkanntes Theorieorgan für die nichtkommunistische Linke. Auch
von vielen Jungsozialisten in der SPD wurde der ›Klassenkampf‹ als
›ihre‹ Zeitschrift angesehen (vgl. Rengstorf 1976).
Kirchheimer machte in seinem Artikel von vornherein deutlich, dass
auch er den Stopp der Panzerkreuzerbaupläne für richtig hielt. Ihm
ging es in seinem Beitrag allerdings nicht um ein neuerliches Pro und
Contra zu dieser militärpolitischen Frage, sondern um verfassungs-
theoretische Aspekte des Vorgehens der SPD-Minister in der Großen

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50 Einleitung zu diesem Band

Koalition. Er unterschied dabei zwischen einer »liberal-konstitutio-


nelle[n]« (S. 155) und einer »demokratische[n]« (S. 156) Theorie des par-
lamentarischen Budgetrechts. Die liberal-konstitutionelle Theorie des
monarchischen Deutschlands verlangte eine Zustimmung des Parla-
ments für alle Mehrausgaben, sie unterwarf die Regierung aber keiner-
lei Beschränkung auf der Ersparnisseite. Kirchheimer erläuterte, wie
sich diese Theorie in Deutschland in der Konfliktzeit in den 1860er Jah-
ren durchsetzen konnte und warum ihre Befürworter die sich aus der
Möglichkeit, dass vom Parlament ausdrücklich ins Budget eingesetzte
Posten nicht der beabsichtigten Verwendung zugeführt werden, erge-
benden Probleme nicht im Blick hatten. Die »eminent[e] politische
Bedeutung« (S. 155) dieser Doktrin sah Kirchheimer darin, dass sie auf
der »anscheinend immer noch nicht vollständig veralteten Ansicht
[beruht], dass eine Regierung zwar auf das Vertrauen oder doch min-
destens auf die ›Billigung‹ des Parlaments angewiesen ist, im Übrigen
aber aus ebenso unabhängigen wie verantwortungsbewussten Män-
nern bestehen müsse« (S. 155). Kirchheimer warf den Regierungsmit-
gliedern seiner Partei vor, dass sie bei ihrem Beschluss für den Panzer-
kreuzerbau dieser veralteten Doktrin angehangen hätten.
Demgegenüber plädierte Kirchheimer für die »demokratische« (S. 156)
Theorie des parlamentarischen Budgetrechts. Ihr zufolge ist das Parla-
ment nichts weiter als ein Ausschuss des Volkes und die Regierung
nichts weiter als ein Ausschuss des Parlaments. In Anlehnung an For-
mulierungen bei Rousseau, Adler wie auch Schmitt schreibt Kirchhei-
mer: »Die in der Demokratie mit allen Mitteln erstrebte Identität von
Regierung und Regierten, ihre Deckungsgleichheit, wird am besten
durch intensive Erforschung des Volkswillens erreicht« (S. 156). Diesbe-
züglich sei das Wählervotum vom 20. Mai eindeutig und die sozialde-
mokratische Parteiführung habe die demokratische Pflicht, sich daran
zu orientieren.
Auch in den Folgemonaten setzte die Kritik am Panzerkreuzerbau die
SPD-Führung heftig unter Druck. Schließlich sah sich die sozialdemo-
kratische Fraktion im Reichstag veranlasst, gegen ihre eigenen Minister
einen Antrag einzubringen, dem zufolge auf den Bau des Panzerkreu-
zers verzichtet und die dafür vorgesehenen Gelder für die Speisung
von Kindern verwendet werden sollten. Die SPD-Fraktion zwang damit
am 16. November 1928 ihren Kanzler und ihre Minister, gegen den
zuvor einstimmig getroffenen Kabinettsbeschluss zu votieren, ohne
damit aber die Mehrheit der Abgeordnetenstimmen im Reichstag zu
erlangen. Die politische Glaubwürdigkeit der sozialdemokratischen

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Einleitung zu diesem Band 51

Regierungsmitglieder war mit diesen Manövern schon in der Anfangs-


phase der Großen Koalition beschädigt.
Im Theorieorgan des linken Flügels der Jungsozialisten in der SPD, den
›Jungsozialistischen Blättern‹, erschien einen Monat später im Oktober-
heft Kirchheimers Aufsatz Bedeutungswandel des Parlamentarismus. Die
Jungsozialisten waren in verschiedene Flügelgruppen, die sich mehr-
heitlich als links von der Parteiführung verorteten, aufgespalten. Kirch-
heimer lieferte in diesem Aufsatz auf wenigen Seiten eine historische
Stufenfolge der Entwicklung zur modernen parlamentarischen Demo-
kratie. Gleich eingangs verwehrte er sich gegen die verbreitete Lobrede,
erst die Verfassung der Weimarer Republik hätte die demokratische
Staatsform geschaffen und das parlamentarische System in Deutsch-
land eingeführt. In einer solchen Rede werden die Termini ›parlamen-
tarisch‹ und ›demokratisch‹ mit- und nebeneinander gebraucht, sodass
unwillkürlich der Eindruck erweckt werde, als würden die beiden
untrennbar zusammengehören und hätten die beiden Ausdrücke im
Verlauf der Geschichte immer dasselbe bedeutet. Das aber sei ein
»weittragender theoretischer Irrtum« (S. 157), über den sich nicht nur
bereits Karl Marx und Friedrich Engels in verschiedenen ihrer Schriften
mokiert hätten, sondern der auch in der politischen Praxis immer wie-
der zu verhängnisvollen Fehlern führe.
Kirchheimer beschreibt den Parlamentarismus als historisches Phäno-
men. In seiner klassischen Form war er eine politische Institution, mit
der das Bürgertum seine Herrschaft gegenüber anderen Gesellschafts-
klassen ausübte und intern regulierte. Der klassische Parlamentarismus
ist durch drei Komponenten gekennzeichnet: erstens der politische
Machtanspruch der bürgerlichen Schichten von Besitz und Bildung,
zweitens der Glaube daran, dass sich das für die Nation Sinnvolle
durch öffentliche Parlamentsdiskussionen finden lasse sowie drittens
das Festhalten am Prinzip des Rechtsstaates; wobei Kirchheimer
zusätzlich hervorhebt, dass sich mit den gesellschaftlichen Veränderun-
gen seit dem 19. Jahrhundert auch der Kerngehalt des Rechtsstaatsprin-
zips verändert habe. Dem klassischen Parlamentarismus stellt Kirchhei-
mer ein Verständnis von Demokratie, wie er es Marx und Engels
zuschreibt, gegenüber: »Unter ›Demokratie‹ verstanden sie die Herr-
schaft des gesamten, des arbeitenden Volkes, im Gegensatz zur Herr-
schaft eines durch ein Zensuswahlrecht zustande gekommenen Parla-
ments« (S. 159).
Kirchheimer skizzierte dann, wie sich im Verlauf der gesellschaftlichen
Veränderungen während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und

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52 Einleitung zu diesem Band

im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts die drei Komponenten des klassi-
schen Parlamentarismus sukzessive auflösten. Der politische Zugang
zum Parlament ist mit den Wahlrechtsreformen allen gesellschaftlichen
Schichten ermöglicht worden; die schöpferische öffentliche Diskussion
im Parlament ist abgelöst worden von der Repräsentation von Klassen-
interessen und das Parlament hat zudem gegenüber der Exekutive an
politischer Macht verloren; und das Rechtsstaatsprinzip diene nicht
mehr allein den Interessen des Bürgertums, sondern stehe heute »zwi-
schen Proletariat und Bürgertum« (S. 161). Dem Rechtsstaat in der
modernen parlamentarischen Demokratie weist er die aktive Funktion
zu, zwischen Proletariat und Bürgertum einen »Gleichgewichtszustand
zu schaffen« (S. 162) und auf diese Weise die sozialen Kämpfe zwischen
den Klassen auf rechtlichem Wege auszutragen, mithin »soziale Macht-
fragen in Probleme der Rechtsfindung zu neutralisieren« (S. 162).
Kirchheimers Ausführungen in diesem Artikel lassen sich als eine Art
materialistisch begründete historische Semantik von politischen Schlüs-
selbegriffen charakterisieren. Seine Überlegungen sind erneut deutlich
von Max Adlers Schriften geprägt, suchen nach Anleihen in Werken
von Marx und Engels, weisen in ihrer Wortwahl zuweilen aber auch
Parallelen zu Carl Schmitts Theorie des Parlamentarismus auf. Doch
anders als Schmitt, der in dem von ihm beschriebenen Bedeutungswan-
del des Parlamentarismus einen Abfall von einem einstmals heroischen
Urbild sah (vgl. Schmitt 1926), begrüßte Kirchheimer den von ihm
beschriebenen Wandel als einen gesellschaftspolitischen Emanzipati-
onsschub und räumt – ebenfalls im Gegensatz zu Schmitt und dessen
1927 erstmals formulierten neuen Politikbegriff (vgl. Schmitt 1927) –
der rechtlichen Neutralisierung sozialer Konflikte grundsätzlich durch-
aus Erfolgschancen ein.
Im August 1929 erschien ein dritter Beitrag von Kirchheimer in ›Klas-
senkampf‹. Er ist Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbei-
terklasse betitelt und nimmt den öffentlichen »Tanz um die Verfassung«
(S. 185) anlässlich des 10-jährigen Jubiläums der Verabschiedung der
Weimarer Verfassung am 11. August 1919 zum Anlass für einen verfas-
sungspolitischen Rückblick und eine Gegenwartdiagnose. Kirchheimer
zufolge habe die Masse der kriegsmüden Soldaten nach der November-
revolution 1918 die ihnen zugefallene politische Macht ohne große
Umstände den Mehrheitssozialdemokraten anvertraut. Als diese dann
darangehen wollten, die den Arbeitern gegebenen sozialen Verspre-
chungen umzusetzen, »war das Bürgertum bereits wieder aus seinen
Löchern hervorgekommen« (S. 180). Beide Seiten schlossen einen Ver-
nunftfrieden miteinander und schufen im folgenden Jahr die Verfas-

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Einleitung zu diesem Band 53

sung für einen neuen Staat, die durch »kein Prinzip, das […] das Volk
dauerhaft zu einer politischen Willensgemeinschaft formiert hätte«
(S. 180), zusammengehalten wurde. Kirchheimer meint damit, dass die
Weimarer Verfassung keine Entscheidung im Hinblick auf die Frage, ob
die zukünftige deutsche Republik eine kapitalistische oder eine sozia-
listische Demokratie sein sollte, getroffen habe. Die Aufgabe einer Ver-
fassung aber sei es idealerweise, »eine einmal gefallene Entscheidung
kundzutun und in ihrer ganzen Bedeutung herauszustellen« (S. 181).
Das Fehlen dieser grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Entschei-
dung sieht Kirchheimer als Ursache dafür an, dass sich im zweiten Teil
der Verfassung ein derart umfangreicher und facettenreicher Katalog
an Grundrechten und Grundpflichten findet.
Als Gegenbeispiele zum Weimarer Verfassungswerk führte er die fran-
zösische Konventsverfassung von 1793 und die sowjetische Verfassung
von 1918 an, welche ihre Prinzipien »förmlich in die Welt hinausschrien
und beide damit große propagandistische Erfolge erzielten« (S. 180).
Kirchheimer bemängelte die Entscheidungslosigkeit der Weimarer Ver-
fassung nicht aus einer Vorliebe für den Dezisionismus, sondern er
erklärte sie zunächst in den Termini einer materialistischen Gesell-
schaftsanalyse: Die Grundfrage Sozialismus oder Kapitalismus sei zum
Zeitpunkt der Verfassungsgebung angesichts der ausgeglichenen
gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse auf der Ebene des Klassenkampfes
nicht entschieden gewesen. Die gesellschaftspolitische Offenheit der
Weimarer Verfassung sah Kirchheimer als Manko, denn sie macht sie
angreifbar und verletzlich. Der zum Zeitpunkt der Verfassungsgebung
nicht bis zur Entscheidung ausgetragene Konflikt zwischen pro-kapita-
listischen und pro-sozialistischen Kräften mutet dem Weimarer Verfas-
sungswerk etwas zu, das über das, was eine Verfassung leisten kann,
hinausgeht.
Kirchheimer legte dann dar, wie sich aus seiner Sicht in den zehn Jah-
ren seit Verabschiedung der Verfassung das Bild der gesellschaftspoliti-
schen Kräfteverhältnisse erneut gewandelt hat. Die Sorgen des Bürger-
tums vor einer Ausbreitung des Sozialismus in den westlichen Indus-
triegesellschaften sind verschwunden. Somit ist nun auch die »Bour-
geoisie Europas der Notwendigkeit enthoben, ihr wahres Gesicht hinter
einer sozialen und demokratischen Maske zu verbergen« (S. 182). In
Deutschland ist die Bourgeoisie sehr bald nach Verabschiedung der
Verfassung zum Gegenangriff übergegangen und hat damit begonnen,
die sozialen Errungenschaften der Weimarer Verfassung schrittweise
zu demontieren. Kirchheimer nannte in diesem Zusammenhang als

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54 Einleitung zu diesem Band

Beispiele die Beseitigung des in der Verfassung garantierten Achtstun-


dentages, das Bildungswesen, das desolate Betriebsrätegesetz und die
Rechtsprechung des Leipziger Reichsgerichts zur Auslegung des Ent-
eignungsartikels. Nur »Traumsozialisten« (S. 183) könnten angesichts
dieser Entwicklungen die Hoffnung haben, dass sich der gegenwärtige
bürgerliche Staat legal aus den Angeln heben ließe.
Angesichts dieser generellen Entwicklungstendenzen bezeichnete
Kirchheimer die Regierungsbeteiligung von Sozialisten als »Anteil an
der Ämterpatronage« (S. 183), die politisch kaum etwas gegen die
gewachsene Macht der Staatsbürokratie ausrichten könne. Auch der
Eintritt von Sozialisten in diese Staatsbürokratie habe daran aufgrund
der dort herrschenden Anpassungszwänge nichts geändert. Das Expe-
riment der Eingliederung des Sozialismus in den Staatsapparat könne
»vom Standpunkt der Bourgeoisie aus als gelöst betrachtet« (S. 184)
werden. Große Teile des Bürgertums wollten sich selbst damit nicht
zufriedengeben. Sie wollten noch einen Schritt weiter gehen und den
gegenwärtigen Verfassungszustand zugunsten einer bürgerlichen Dik-
tatur nach dem Muster der faschistischen Herrschaft Mussolinis in Ita-
lien abschaffen. Das Bürgertum kämpfe momentan darum, dass die
1919 nicht getroffene Entscheidung nicht länger vertagt werde, wäh-
rend die Mehrheit der SPD dieser Entscheidung ausweichen möchte.
Ein solches Ausweichen sei jedoch unmöglich: »[E]s gibt nur ein Vor-
wärts oder ein Rückwärts« (S. 185).
Vor dem Hintergrund seiner insgesamt wenig hoffnungsvoll anmuten-
den Diagnose plädierte Kirchheimer für einen sozialistischen Politikan-
satz, bei dem »planmäßig von unten« (S. 184) für die »Ersetzung eines
alten Funktionärskörpers durch einen geistig neuen« (S. 184) in der Par-
tei gekämpft werden müsse. Die bisherige sozialdemokratische Realpo-
litik habe den Weg in den Sozialismus mehr verbaut als ermöglicht. Die
Verfassung bleibe weiterhin »das Buch der Möglichkeiten« (S. 186),
dafür müsse man aber den Mut zur Utopie haben. Kirchheimer appel-
liert an seine Leserschaft: »wir müssen wieder lernen wollen« (S. 185)
und »uns bereitfinden für das große Morgen, das wir in diesen Jahren
gewinnen oder auch unwiederbringlich verlieren können« (S. 186).
Der Artikel Kirchheimers ist mit merklicher Verve und polemischer
Kraft geschrieben. Inhaltlich und stilistisch passte er sich bruchlos in
die generelle publizistische Linie der Zeitschrift ›Klassenkampf‹ ein:
vorgetragen im Duktus einer nüchternen Klassenkampfanalyse, verse-
hen mit heftiger Kritik am sozialdemokratischen Parteiestablishment,
mit seiner Betonung des Sozialismus als einer umfassenden Kulturbe-

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Einleitung zu diesem Band 55

wegung sowie mit den abschließenden Appellen in einem zuspitzen-


den und voluntaristischen Vokabular im Stil von Rosa Luxemburg. Pas-
sagenweise lesen sich dieser und andere der bereits erwähnten Artikel
Kirchheimers wie Paraphrasen aus den zahlreichen Aufsätzen und Vor-
trägen, mit denen Max Adler und Paul Levi ihre Leser des ›Klassen-
kampfs‹ und auf ihren Vortragsreisen zu begeisterter Zustimmung ver-
anlassten.64
Ebenfalls im August 1929 publizierte Kirchheimer einen weiteren Bei-
trag zum Verfassungsjubiläum. Unter der Überschrift Das Problem der
Verfassung erschien dieser Artikel in den ›Jungsozialistischen Blättern‹.
Im Vergleich zu seinem Aufsatz im ›Klassenkampf‹ ist dieser Artikel
deutlich sachlicher gehalten und in einem Stil geschrieben, der mit sei-
nen seins-philosophischen Formulierungen passagenweise eher an
Rudolf Smend als an Max Adler oder Karl Marx erinnert. Auch in
inhaltlicher Hinsicht finden sich unterschiedliche Akzentsetzungen
zwischen den beiden Artikeln. Verfassungen geben Aufschluss, »ob
und in welchem Maße die Menschen die Seins-Struktur« (S. 175) ihrer
Gegenwart erkannt haben. Sofern Menschen diese Seinsstruktur erken-
nen, sind sie befähigt, den Formungsprozess ihres eigenen Bewusst-
seins zu durchleuchten und die Reife ihres Klassenbewusstseins zu
erkennen. Von dieser Erkenntnis ist es dann nur noch ein kleiner Schritt
zum politischen Wollen. Als Gruppe schlägt sich dieses Wollen in dem
Bemühen um eine in die Zukunft gerichtete Verfassung nieder, in wel-
cher dann die »objektive Bewusstseinslage und subjektive Bewertung
dieser Bewusstseinsstruktur« (S. 175) zusammentreffen.
Vor dem Hintergrund dieses Kriteriums nennt Kirchheimer die durch
die Erklärung der Menschenrechte von 1789 geprägten französischen
Revolutionsverfassungen »vollendete Verfassung[en]« (S. 176). Aber
auch am Text der sowjetischen Verfassung von 1918 imponiert ihm,
dass zum ersten Mal der Versuch unternommen wurde, sich von den
beiden Grundprinzipien bürgerlicher Verfassungen, dem Privateigen-
tum und der Vertragsfreiheit, loszusagen und sie klar und deutlich das
Bekenntnis eines sozialistischen Willens verkündet habe. Allerdings sei
dann eine tiefe »Kluft zwischen der wirklichen Verfassung des russi-
schen Bauernstaates und der Willensverfassung seiner politischen
Herrscher« (S. 176) aufgerissen, die den Text zu Makulatur werden ließ.
Vor dem Hintergrund des russischen Experiments sei die Weimarer

64 Vermutlich handelt es sich um diesen »Aufsatz von Kirchheimer über die Ver-
fassung«, dessen Lektüre Schmitt in seinem Tagebuch festhielt (Carl Schmitt:
Tagebucheintrag vom 3. August 1929).

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56 Einleitung zu diesem Band

Verfassung von führenden bürgerlichen Politikern wie Friedrich Nau-


mann als Konkurrenzunternehmen zur sowjetischen Verfassung
gedacht gewesen. Die im zweiten Teil der Verfassung aufgelisteten
Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen müssten verfassungsge-
schichtlich als das Gegenstück zu den Rechten des arbeitenden und ausge-
beuteten Volkes in der Sowjetunion verstanden werden.
Im letzten Teil seines Artikels wirft Kirchheimer die Frage auf, was aus
dem Weimarer Experiment der Vereinigung von bürgerlich-demokrati-
schen mit kollektivistisch-sozialistischen Verfassungsprinzipien gewor-
den sei. Seines Erachtens habe man mit dem Grundrechtsteil den
erfolglosen Versuch unternommen, »Unvereinbares zu vereinbaren«
(S. 177). In den Grundrechten fände sich ein Sammelbecken vieler Mög-
lichkeiten, denen kein politischer Wille verholfen habe, Wirklichkeit zu
werden. Kirchheimer wirft den sozialdemokratischen und sozialisti-
schen Beteiligten an der damaligen Verfassungsgebung vor, sträflich
unterschätzt zu haben, welch ungeheuren gesellschaftspolitischen Vor-
sprung jene sozialen Gruppen genossen hätten, die ihren bisherigen
sozialen Besitzstand 1919 garantiert bekommen hätten. Deshalb sei es
keine Überraschung, wenn man heute feststellen müsse, dass die Wei-
marer Verfassung, die eine Mittlerin zwischen Bürgertum und Sozialis-
mus werden sollte, sich in kurzer Zeit zum demokratischen Verfas-
sungstyp bürgerlicher Art zurückentwickelt habe. Aus dieser Entwick-
lung gelte es für Sozialisten eine Lehre für die Zukunft zu ziehen: »Wir
waren damals […] in den entgegengesetzten Fehler verfallen wie die
Russen. Sie haben die Bedeutung des Willens als verfassungsbildenden
Faktor überschätzt, wir aber haben ihn damals in Weimar unterschätzt«
(S. 178). Kirchheimer beschließt auch diesen Artikel mit einem Appell
an seine Leserschaft: Allein unser Wollen sei es, was zukünftig den
Raum schaffe für die Verfassung einer sozialistischen Wirklichkeit.
Im Dezemberheft der ›Jungsozialistischen Blätter‹ findet sich ein Bei-
trag von Kirchheimer über Die Englische Arbeiterbewegung. Kirchheimer
nimmt seine Lektüre der beiden Bücher von Theodor(e) Rothstein und
von Egon Wertheimer über die Geschichte der Arbeiterbewegung in
England65 zum Anlass für zwei vergleichende Blicke: zum einen zwi-
schen der englischen und der deutschen Arbeiterbewegung und zum
anderen zwischen einer bolschewistischen (Rothstein) und einer sozial-
demokratischen (Wertheim) Historiografie der Arbeiterbewegung. An
Rothsteins Darstellung lobt er, dass sie zu erklären vermag, wie die
besonderen ökonomischen Verhältnisse des Landes die politische Hal-

65 Vgl. Rothstein (1929) und Wertheimer (1929).

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Einleitung zu diesem Band 57

tung der englischen Arbeiterschaft mit ihren Sympathien für die Libe-
rale Partei und ihrer primär gewerkschaftlichen Orientierung geprägt
hätten. An der Darstellung Wertheimers hebt er positiv hervor, dass sie
den Unterschied zwischen der deutschen und der englischen Arbeiter-
bewegung auch noch in einer anderen Hinsicht deutlich werden lasse:
Während die deutsche und auch die österreichische Organisationsform
der Arbeiterklasse von einer politischen und geistigen Elite ausgeht
und die Massen um ihr Parteiprogramm sammelt, ist die englische
Labour Party ein geistig und kulturell heterogenes Gebilde, das keinen
Exklusivitätsanspruch stellt und vielfach dem Liberalismus verhaftet
bleibt. Kirchheimer beschließt seine Lektüreeindrücke mit der ernüch-
terten Feststellung, dass die englische Arbeiterbewegung in ihrer »jetzi-
gen Gestalt kaum zu besonderen Erwartungen berechtigt« (S. 195).
Im Januarheft des Jahres 1930 publizierte Kirchheimer in der Zeitschrift
›Die Gesellschaft‹ eine Auseinandersetzung mit einer Broschüre des
Preußischen Regierungsrats Carl Tannert zur Reform des Volksent-
scheids (vgl. Tannert 1929). Tannert kritisierte mehrere rechtliche
Bestimmungen für die Durchführung von Volksentscheiden als Fehl-
konstruktionen. Seine Kritik entzündete sich vor allem an der während
der Weimarer Republik wiederholt geäußerten Klage, dass die beste-
henden Regelungen gegen das Stimmengeheimnis verstießen, weil Bür-
ger auch durch das bloße Fernbleiben das Ergebnis der Abstimmung
mitentschieden. Dem hielt Kirchheimer entgegen, dass es abwegig sei,
das Wahlgeheimnis und das Stimmengeheimnis beim Volksentscheid
gleichzustellen; von Carl Schmitt ließe sich lernen, dass »technisch
gleichartige Institutionen […] oft von sehr verschiedenen verfassungs-
theoretischen Prinzipen beherrscht sein können« (S. 198). Er stimmte
Tannert jedoch in einem anderen Kritikpunkt zu: Die gegenwärtigen
Regelungen machten keinen Unterschied zwischen einem etwaigen
Zustandekommen von einfachen und verfassungsändernden Gesetzen.
Aus diesem Grund konnte Kirchheimer sich auch Tannerts Reformvor-
schlag anschließen, nach Art der Gesetze gestufte und gegenüber dem
geltenden Zustand erheblich herabgesetzte Beteiligungsquoren festzu-
setzen.

5. Die Eigentumsordnung der Weimarer Verfassung

Im Verlauf des Jahres 1929 war die Große Koalition immer stärker ins
Trudeln geraten. Die Regierungsmitglieder hatten aufgrund der not-

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58 Einleitung zu diesem Band

wendigen Rücksichtnahme auf ihre Parteien von vornherein nur gerin-


gen Spielraum für politische Kompromisse gehabt. Nun rückten die
bürgerlichen Parteien, inklusive der Zentrumspartei, immer weiter
nach rechts und machten Kompromisse mit der SPD noch schwieriger.
Als direkte Folge der nach dem New Yorker Börsencrash in der letzten
Oktoberwoche 1929 ausbrechenden Weltwirtschaftskrise spitzte sich im
Winter 1929/30 die Wirtschafts- und Finanzkrise in Deutschland im Eil-
tempo zu. Die zuvor regierenden bürgerlichen Regierungen hatten
bereits 1926/27 alle Finanzreserven verbraucht, ein nur notdürftig ver-
schleiertes Haushaltsdefizit hinterlassen und somit eine grundlegende
Sanierung des Reichsetats notwendig werden lassen. Bereits im Januar
1929 informierte Finanzminister Rudolf Hilferding seine Kabinettskol-
legen, dass in einigen Wochen das Geld für die Überweisungen an die
Länder und die fälligen Gehaltszahlungen nicht mehr aufzubringen sei.
Dennoch widersprach die DVP kategorisch jeder Erhöhung der Steu-
ern. Mit der Wirtschaftskrise verschärften sich diese Konflikte und Hil-
ferding musste am 20. Dezember 1929 nach dem Scheitern eines neuen
Finanzplans von seinem Amt zurücktreten. Sein Nachfolger wurde
Paul Moldenhauer von der DVP und der Konflikt zwischen den beiden
Flügelparteien in der Großen Koalition spitzte sich immer weiter zu.
Der zentrale Konflikt fokussierte sich auf die Frage der Finanzierung
der erst vor wenigen Jahren eingerichteten Arbeitslosenversicherung,
die noch keine Rücklagen hatte bilden können. Während die DVP unter
dem Einfluss industrieller und agrarischer Interessenverbände darauf
insistierte, keine höheren Kostenbelastungen der Betriebe zuzulassen,
forderte die SPD die Deckung des nötigen Finanzbedarfs durch Bei-
tragserhöhungen. Führende Politiker der DVP und des nach rechts
gerückten Zentrums wussten zu diesem Zeitpunkt bereits, dass Präsi-
dent Paul Hindenburg und seine Berater beabsichtigten, die SPD nach
der Annahme des Gesetzes zum Young-Plan im Reichstag am 12. März
1930 aus der Regierung zu entfernen. In dieser Situation gab es für die
SPD keine Möglichkeiten mehr bei der Suche nach weiteren Kompro-
missen für die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung. Die wäh-
rend ihrer Regierungszeit von den Linken in der SPD so scharf kriti-
sierte Große Koalition zerfiel am 27. März 1930 und wurde durch das
Präsidialkabinett von Heinrich Brüning ersetzt.
Die Themenbereiche, die zwischen den Flügelparteien der Großen
Koalition für immer heftigere Konflikte gesorgt hatten, waren die Wirt-
schafts- und die Sozialpolitik. Alle Kombattanten bezogen sich in ihren
Argumenten auf Bestimmungen der Verfassung. Aber dieser Bezug
schuf mehr Probleme als dadurch gelöst wurden. Zu den in diesem

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Einleitung zu diesem Band 59

Zusammenhang am heftigsten umstrittenen Bestimmungen gehörten


die Artikel 151 bis 155 im Fünften Abschnitt der Grundrechte und
Grundpflichten der Deutschen aus der Verfassung. In ihnen waren die
Eigentumsordnung der Republik – und damit auch die Möglichkeiten
und Grenzen der in Artikel 153 kodifizierten Möglichkeit der Enteig-
nung – festgelegt worden. Auf diese Weise hatte die Verfassung festge-
legt, dass Eigentum keine vor- oder überpositive Größe an sich ist, son-
dern nach Inhalt und Umfang zur Disposition des Gesetzgebers steht
(vgl. Ridder 1977: 477 f.). Gegen den sich daraus ergebenden Hand-
lungsspielraum des Gesetzgebers und den sozialstaatlichen Sinn der
Enteignungsformel wurde in der Staatsrechtslehre mit der erstmals
1923 von Martin Wolff vorgetragenen Ansicht argumentiert, dass es
sich beim Eigentum um eine ›Institution‹ handele, deren Garantie gege-
benenfalls auch gegen den Gesetzgeber Bestand haben müsste. Diese
Proklamation einer unantastbaren Institutsgarantie wurde in nur weni-
gen Monaten zur herrschenden Lehre der Weimarer Republik. Und
dies wurde der SPD von den bürgerlichen Koalitionspartnern genüss-
lich vorgehalten. Sie wurde auch von der Rechtsprechung extensiv auf-
gegriffen, die daraus ein materielles richterliches Prüfungsrecht für
sämtliche Eigentumsfragen berührenden Gesetze ableitete.66
Aus sozialistischer Sicht handelte es sich bei der Erhebung des Eigen-
tums zu einem Rechtsinstitut um eine Aushöhlung der sozialen Grund-
rechte und um eine Amputation der Kompetenzen des Gesetzgebers.
Otto Kirchheimer beteiligte sich an der juristischen Debatte über die
Enteignungsfrage mit insgesamt vier 1930 erschienenen Beiträgen, die
er während seiner Zeit als Gerichtsreferendar in Spandau und Berlin
verfasste. Die Beiträge richten sich an unterschiedliche Zielgruppen.
Ihnen gemeinsam ist die ideologiekritische Stoßrichtung. Juristische
Formeln wie Eigentum oder Enteignung waren in den Augen von
Kirchheimer keine neutralen Begriffe, sondern in Traditionen eingebet-
tet. Ein unkritischer juristischer Sprachgebrauch transportiert mit den
Begriffen auch die gesellschaftspolitischen Werte der Vergangenheit.
Kirchheimer zielt mit seinen drei Beiträgen zum Eigentum und zur Ent-
eignung darauf ab, die Beharrungskraft dieser Rechtsbegriffe aufzulö-
sen.67

66 Zu den Weimarer Debatten über Artikel 153 vgl. im Überblick mit weiteren Lite-
raturhinweisen Perels (1973: 39-45), Huber (1993: 113-116) und Gusy (1997:
343-352).
67 Zu Kirchheimers eigentumstheoretischen Positionen im Kontext der Weimarer
Debatten vgl. Bumke (2002: 189-203) und Meinel (2011: 196-200).

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60 Einleitung zu diesem Band

Die gewichtigste Publikation in dieser Reihe ist die im Frühjahr 1930


bei Walter de Gruyter & Co, einem damals bereits etablierten juristi-
schen Fachverlag, erschienene monografische Abhandlung im Umfang
von 75 Druckseiten mit dem Titel Die Grenzen der Enteignung. Ein Bei-
trag zur Entwicklungsgeschichte des Enteignungsinstituts und zur Ausle-
gung des Art. 153 der Weimarer Verfassung. Kirchheimer bedankt sich im
Vorwort bei zwei Mentoren seiner Schrift: bei Carl Schmitt »für die Fra-
gestellung selbst wie für die Einzelausgestaltung« (S. 254) und bei Her-
mann Heller für das »der Arbeit entgegengebrachte Interesse« (S. 264).
Die Positionen von Schmitt und Heller bilden auch die beiden Refe-
renzpunkte, von denen aus Kirchheimer den Aufbau und Argumentati-
onsgang seiner Abhandlung komponiert. Schmitt hatte sich mehrfach
und zuletzt 1929 in besonders scharfer Weise gegen die in der Staats-
rechtslehre herrschende Mehrheitsmeinung zu Artikel 153 geäußert.68
Heller, der prominenteste sozialdemokratische Staatsrechtslehrer in
Deutschland, war zum Oktober 1928 auf eine außerordentliche Profes-
sur für Öffentliches Recht an der Berliner Universität berufen worden;
in seiner Interpretation des Weimarer Grundrechtekatalogs hatte er die
dem Gesetzgeber gegebene Kompetenz von Enteignungen zur Schaf-
fung einer sozialen Demokratie ausdrücklich für notwendig erachtet.69
Kirchheimer argumentiert rechtshistorisch und rechtssoziologisch,
indem er zunächst im ersten Abschnitt seiner Abhandlung den Bedeu-
tungswandel des Eigentumsbegriffs von John Locke bis zum Ende des
Deutschen Kaiserreichs skizziert. Während Locke als erster Theoretiker
des bürgerlichen Rechtsstaates das Eigentum als unveräußerliches
Menschenrecht ausgerufen habe, habe die bürgerliche Überwindung
des Feudalismus in der Französischen Revolution nur durch eine
Eigentumstheorie erfolgen können, die dem Gesetzgeber unter
bestimmten Umständen Enteignungsmaßnahmen zugestehe. Ausführ-
lich referiert Kirchheimer drei Antworten, die im 19. Jahrhundert auf
die damit verbundene Entschädigungsfrage gegeben wurden: die libe-
rale Antwort Lorenz von Steins, der eine Unterscheidung zwischen ent-
schädigungslosen Enteignungen öffentlicher Rechtstitel und entschädi-
gungspflichtiger Enteignung privater Rechtstitel vornimmt; die erzkon-
servative Antwort von Friedrich Julius Stahl, der alle tradierten Eigen-
tumsrechte für voll entschädigungspflichtig erklärt; sowie die sozialisti-

68 Vgl. Schmitt (1928: 166 f.) und Schmitt (1929). Zu den Ähnlichkeiten und den
Differenzen der eigentumstheoretischen Argumentationen von Schmitt und
Kirchheimer vgl. Neumann (2015: 146-149).
69 Vgl. Heller (1924: 310-316) und Heller (1926: 375-409). Zu Hellers Konzeption
eines demokratischen Sozialismus vgl. Henkel (2012: 454-482).

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Einleitung zu diesem Band 61

sche Antwort Ferdinand Lassalles, demzufolge es dem jeweils gegen-


wärtigen Zeitbewusstsein vorbehalten bleiben müsse, darüber Gericht
zu halten und sein Urteil zu fällen, welche Rechte der Vergangenheit
auch unter veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen noch zu Recht
bestehen. Damit eröffnet er die Möglichkeit für entschädigungslose
Enteignungen auch von privaten Rechtstiteln. Kirchheimer bezeichnet
die Überlegungen von Lassalle als »richtig und zeitlos gültig« (S. 277),
denn sie basierten methodisch auf einer »rechtssoziologische[n] Formu-
lierung von Entwicklungstendenzen« (S. 279). Kirchheimer folgt dem
von Lassalle ausgelegten methodologischen Pfad in seiner detaillierten
Übersicht über die rechtliche Gestaltung des Enteignungsinstituts im
Kaiserreich und zeigt dabei auf, inwiefern die Bedürfnisse der Infra-
strukturentwicklung des deutschen Kapitalismus das Enteignungsrecht
prägten.
Im zweiten Abschnitt seiner Abhandlung präsentiert Kirchheimer seine
Interpretation der Eigentumsordnung der Weimarer Verfassung. Deut-
licher als alle anderen Nachkriegskonstitutionen habe das Weimarer
Verfassungswerk das ›laissez-faire, laissez-passer‹ der bürgerlichen
Verfassungen des 19. Jahrhunderts beseitigt. Die Verfassung habe den
Willen gezeigt, aktiv Verantwortung für die wirtschaftliche Lage ihrer
Bürger zu übernehmen. Die Stützen der kapitalistischen Wirtschafts-
ordnung, Privateigentum, Erbrecht und Vertragsfreiheit, hätten ihre
bisherige Unnahbarkeit aufgeben müssen. Die liberalen Grundrechte
seien zwar noch vorhanden, aber das Maß ihrer Wirkungskraft sei laut
Verfassung eingespannt in den Willen des Gesetzgebers. Zusätzlich
habe die Verfassung Satzungen aufgestellt, die der Gesetzgeber positiv
und ohne Ermessensklausel berücksichtigen müsse, wie beispielsweise
den Schutz der Arbeitskraft, die Koalitionsfreiheit oder die Räteorgani-
sation. Es fällt auf, dass Kirchheimer die von ihm zuvor in seinen Auf-
sätzen zum Verfassungstag herausgestellte Widersprüchlichkeit der
Weimarer Verfassungsbestimmungen an dieser Stelle nicht wiederholt.
Ganz im Gegenteil. Ohne sie namentlich zu nennen, schließt er sich der
auf sozialdemokratischer Seite unter anderem von Hermann Heller,
Hugo Sinzheimer, Franz L. Neumann und Ernst Fraenkel gewählten
Interpretationsstrategie der Weimarer Verfassung an, wonach die Ver-
fassungsurkunde das eindeutige Versprechen für weitreichende sozia-
listische Veränderungen beinhalte. Denn Kirchheimer postuliert, dass
alle von ihm aufgelisteten Bestimmungen »nicht als Stückwerk, son-
dern als Gesamtkomplex« (S. 288) verstanden werden müssten. »Das«,
so Kirchheimer weiter, »war der Wille der Reichsverfassung, und die-
sen Willen gilt es zu respektieren und zu erforschen« (S. 287). In seiner

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62 Einleitung zu diesem Band

weiteren Argumentation stellt er sich auf den Standpunkt einer Verfas-


sungsauslegungsdoktrin, wonach ein als originär erkannter Wille eines
Verfassungsgebers absolute Bindungskraft haben müsse. Den Einwand
von Günther Holstein und anderen Verfassungstheoretikern (vgl. Hol-
stein 1930), dass sich die Auslegung von Verfassungsbestimmungen
mit der Zeit ändern könne und müsse, weist er zurück: »Aufgabe der
Wissenschaft und Rechtsprechung muss es sein, diesem Willen zur Gel-
tung zu verhelfen, anstatt durch Berücksichtigung angeblicher Ent-
wicklungstendenzen den objektiven Willen der Verfassung zu durch-
kreuzen« (S. 187). Die weitere Kritik Kirchheimers entzündet sich
daran, dass sich im Verlauf der vergangenen zehn Jahre rückläufige
Tendenzen entwickelt hätten, die aus der Weimarer Verfassung wieder
ein Bollwerk des alten überkommenen bürgerlichen Rechtsstaates
gemacht hätten. Im Zentrum dieser Rückentwicklung stünden die
staatrechtliche Dogmatik und die Rechtsprechung zu den Artikeln 109
(Gleichheit vor dem Gesetz) und Artikel 153. Die Art, wie der Satz der
Gleichheit vor dem Gesetz materiell ausgelegt werde, bedeute in der
Konsequenz, dass jede Gesetzgebung zugunsten der arbeitenden Klasse
für unwirksam erklärt werden könne und somit der gegenwärtige öko-
nomische Status quo garantiert bliebe. Kirchheimer zufolge werde
damit »der Satz der Gleichheit in sein Gegenteil verkehrt« (S. 292).
Die weitere Aufmerksamkeit Kirchheimers gilt im dritten Abschnitt sei-
ner Abhandlung der Debatte über die Auslegung des Artikels 153. Er
räumt ein, dass man im Hinblick auf das Eigentum tatsächlich von
einer institutionellen Garantie sprechen könne. Unter Berufung auf
Ausführungen in Schmitts Verfassungslehre (vgl. Schmitt 1928: 171 f.)
argumentiert er dann, dass die Bedeutung einer solchen institutionellen
Garantie im Unterschied zur institutionellen Garantie des Beamten-
tums nur gering sei, da der mögliche Inhalt des Eigentums letztendlich
immer der Festlegung durch den Gesetzgeber unterliege. Auf dieser
Basis kritisiert Kirchheimer im Weiteren die von Wolff, Gerhard
Anschütz, Heinrich Triepel und Walter Schelcher vertretenen Lehren
als Versuche, die eigentumsrechtlichen Intentionen des Verfassungsge-
bers in ihr Gegenteil zu verwandeln. Diese Rechtswissenschaftler
erweiterten in ihrer Dogmatik den Enteignungsbereich und schafften
dadurch »die bequeme Möglichkeit, jeden Eingriff als Enteignung zu
bezeichnen« (S. 300). Ihre Umdeutung von Artikel 153 negiert den fun-
damentalen Wesenszug der Gesetzgebung im demokratischen Staat
und schwächt den Gesetzgeber mit der Einführung eines materiellen
richterlichen Prüfungsrechts zusätzlich. Angetrieben wird diese Dog-
matik von offen geäußerten antisozialistischen und antiparlamentari-

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Einleitung zu diesem Band 63

schen Ressentiments. Für Kirchheimer ist diese Dogmatik der Aus-


druck eines veränderten gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses. Da das
Bürgertum heute fürchten muss, dass im Parlament eine Eigentumsge-
setzgebung zustande kommt, die seinen Privatinteressen widerspricht,
soll die diesbezügliche Gesetzgebung einer neuen Instanz unterworfen
werden, die dem Bürgertum günstiger erscheint, den Gerichten. Erneut
führt Kirchheimer als Kronzeugen seiner Thesen Carl Schmitt an.
Schmitt hatte im Jahr zuvor eine aus seiner Sicht groteske Ausweitung
des Eigentumsbegriffs und die damit einhergehende faktische Auflö-
sung des Enteignungsbegriffs scharf kritisiert. Es gäbe in der Verfas-
sung keinen Anhaltspunkt dafür, dass in der Weimarer Nationalver-
sammlung beabsichtigt gewesen wäre, den Rechtsschutz für Eigentum
soweit auszudehnen, wie dies mittlerweile seitens der juristischen
Zunft und in der Zivilrechtsprechung betrieben werde (vgl. Schmitt
1929 a). Schmitt gesteht dem demokratischen Gesetzgeber ausdrücklich
zu, Enteignungen vorzunehmen; diese Gesetze müssten allerdings die
für liberale Rechtsstaaten charakteristische Beschränkung des Gesetzes
auf generelle Tatbestände einhalten. An diesem Punkt setzt Kirchhei-
mer seine weitergehende Kritik an Schmitt an. Die Auffassung von
Schmitt erkläre sich aus seiner generellen Betrachtungsweise, den
gegenwärtigen Verfassungszustand aus dem Zusammenspiel von bür-
gerlichem Rechtsstaat und Demokratie zu verstehen. Ein solches
Zusammenspiel hält Kirchheimer auf längere Sicht für problematisch
und stellt die rhetorische Frage, »wieweit die Massendemokratie des
20. Jahrhunderts bürgerlich rechtsstaatliche Elemente beibehalten kann,
ohne auf die Dauer entscheidende Einbuße an ihrem demokratischen
Grundcharakter zu erleiden« (S. 302).
Einen eigenen Abschnitt widmet Kirchheimer zum Abschluss seiner
Abhandlung der Enteignungsrechtsprechung des Leipziger Reichsge-
richts. Sie sei für die heutige Entwicklung des Enteignungsbegriffs von
entscheidendem Einfluss gewesen. Kirchheimer analysiert mehrere
Urteile des Reichsgerichts, unter anderem zur zwangsweisen Abliefe-
rung ausländischer Vermögensgegenstände, zum Denkmalschutz und
zum Bergrecht. Er lässt kein gutes Haar an den Urteilen des Reichsge-
richts, denn es weise die sich immer mehr verstärkende Tendenz auf,
den konkreten Enteignungsbegriff aufzulösen und jede Art der Entzie-
hung von Privatrechten als rechtswidrige Enteignung zu bewerten. Die
negativen Folgen dieser Rechtsprechung schildert er an Beispielen aus
der Stadt- und Regionalplanung, bei der kommunalen Instanzen immer
weiter die Möglichkeit der Einflussnahme auf die Entwicklung des
Städtebaus und der Infrastruktur genommen wird. Kirchheimers

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64 Einleitung zu diesem Band

zusammenfassendes Resümee zum Schicksal des Artikels 153 ist ein-


deutig: »Diese Entwicklung hat die Weimarer Verfassung nicht gewollt
und mindestens nicht bewusst gefördert« (S. 322).
In seinem Artikel Reichsgericht und Enteignung. Reichsverfassungswidrig-
keit des Preußischen Fluchtliniengesetzes? führt Kirchheimer seine kriti-
sche Auseinandersetzung mit den Leipziger Richtern anhand eines
konkreten Fallbeispiels fort. Der Artikel erschien in der Juni-Ausgabe
des Jahres 1930 in der Zeitschrift ›Die Justiz‹. Die Zeitschrift wurde seit
1925 vom Republikanischen Richterbund herausgegeben, einem über-
parteilichen Sammelbecken von Richtern, Anwälten, Beamten und Uni-
versitätsprofessoren, die sich im Gegensatz zur Mehrzahl der Weimarer
Juristen für die Stärkung der Weimarer Demokratie einsetzten. Die Mit-
gliederzahl des Republikanischen Richterbundes blieb mit knapp 400
allerdings im Vergleich zu den anderen Standesorganisationen sehr
bescheiden. Kirchheimer legt in dem Artikel anhand der Reichsge-
richtsentscheidung vom Februar 1930 bezüglich der Verfassungswid-
rigkeit des Preußischen Fluchtliniengesetzes zum einen noch einmal
dar, dass dem Rechtsinstitut der Enteignung von dem Gericht mittler-
weile ein ungleich umfassender Anwendungsbereich gegeben werde,
als es sogar noch vor der Entstehung der Weimarer Verfassung beses-
sen habe. Zum anderen skizziert er die politischen Folgen dieser Recht-
sprechung und prognostiziert, dass sie der notwendigen Vereinheitli-
chung des preußischen Städtebaurechts und der städtischen Baupolitik
immense Hürden in den Weg legt. An den Gesetzgeber appelliert er,
mittels eines Sondergesetzes diese Durchkreuzung von gesetzlichen
Bestimmungen durch die höchstrichterliche Rechtsprechung zu verhin-
dern. Parallel dazu war einige Tage vorher am 30. Mai 1930 ein kurzer
Artikel Kirchheimers in der Berliner Stadtbeilage der sozialdemokrati-
schen Tageszeitung ›Vorwärts‹ erschienen.70 Er trug die Überschrift Pri-
vatbesitz gegen Volksinteresse! und fasst Kirchheimers rechtliche und
rechtspolitische Argumentation in scharfen Worten zusammen, verbun-
den mit der Warnung vor »amerikanische[n] Zustände[n]« (S. 206).71
Einen vierten Artikel zu dieser Thematik veröffentlichte Kirchheimer in
der August-Ausgabe der Zeitschrift ›Die Gesellschaft‹. Der Titel des
Aufsatzes lautet Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtspre-
chung. Kirchheimer leitet seine Ausführungen diesmal mit einem Ver-

70 Ich danke Detlef Lehnert für den Hinweis auf diesen Artikel.
71 Laut einem Bericht des ›Vorwärts‹ vom 25. März 1931 trug Kirchheimer diese
Thesen 1931 auch auf der März-Versammlung der Vereinigung Sozialdemokra-
tischer Juristen in Berlin vor.

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Einleitung zu diesem Band 65

weis auf Karl Renners in Kreisen der Leserschaft von ›Die Gesellschaft‹
wohlbekanntem Buch über den Funktionswandel der Rechtsinstitute
des Privatrechts ein, dessen erweiterte Neuauflage gerade erschienen
war.72 Inhaltlich ergänzt der Artikel seine bisherigen Ausführungen mit
einer Zusammenstellung von eigentumskritischen Stimmen aus dem
Katholizismus und einer Diskussion über die eigentumsrechtliche
Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs in den USA. Erneut wieder-
holt er seinen Vorwurf an Schmitt, dieser übersähe den »demokrati-
schen Ursprung« (S. 343) der Enteignungsgesetzgebung und mache aus
diesem Grund fälschlicherweise zu große Konzessionen an die liberale
Theorie.
Eine zeitgenössische Reaktion auf Kirchheimers Arbeiten zum Eigen-
tumsbegriff stammte aus der Feder von Ernst Rudolf Huber, der eben-
falls in Bonn bei Schmitt promoviert hatte. Huber schrieb unter dem
Pseudonym Friedrich Schreyer regelmäßig Artikel in der Zeitschrift des
Deutschen Herrenklubs ›Der Ring‹, in der Autoren der Konservativen
Revolution die politische Lage sondierten. Huber warf Kirchheimer
vor, mit seinen Überlegungen die Begleitideologie für eine »schlei-
chende und kalte Sozialisierung«73 zu liefern.
Kirchheimer kam auf das Thema Eigentumsrecht ein Jahr später in
einer Rezension für ›Die Gesellschaft‹ erneut zu sprechen. In seiner Kri-
tik an dem Buch Die Fortschritte des Zivilrechtsrechts im 19. Jahrhundert
von Justus W. Hedemann warf er dem Verfasser vor, zwar wichtige
rechtshistorische Detailarbeit über die Wandelungen des Eigentums-
verständnisses geleistet, in methodischer Hinsicht dabei jedoch voll-
ständig versagt zu haben. Hedemann war ein in Jena lehrender Wirt-
schaftsjurist, der aus seiner konservativen Ablehnung der Weimarer
Republik keinen Hehl machte und sich in seinem rechtshistorischen
Werk gegen erwerbswirtschaftliche Betätigungen der öffentlichen
Hand und gegen den Sozialisierungsartikel der Verfassung aus-
sprach.74 Kirchheimer hielt Hedemann vor allem vor, dass er die
Zusammenhänge zwischen juristischen Bestimmungen mit ökonomi-
schen Faktoren ausblende.

72 Vgl. Renner (1929); die erste Auflage des Buches erschien 1904.
73 Huber (1931:163). Der Hinweis auf Huber findet sich in Breuer (2012: 182 f.).
74 Vgl. Hedemann (1930). Zu seinen rechtshistorischen Arbeiten und seiner späte-
ren Karriere im Nationalsozialismus in Zusammenarbeit mit seinem Schüler
Roland Freisler vgl. Wegerich (2004).

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66 Einleitung zu diesem Band

6. Weimar … und was dann?

In der zweiten Maihälfte 1930 war Kirchheimer vom Berliner Arbeitsge-


richt zu seiner ersten Rechtsanwaltsstation, der Kanzlei von Heinrich
Riegner und Kurt Rosenfeld in der Joachimsthaler Straße 41 in Berlin-
Charlottenburg, gewechselt. Ab Mitte Oktober 1930 arbeitete er in der
Rechtsanwaltskanzlei Liebknecht. Anschließend setzte er seinen Dienst
ab Juni 1931 in einem Zivilsenat und einem Strafsenat des Berliner
Kammergerichts fort. Kirchheimer fühlte sich wohl in Berlin. Er hatte
nach seiner Rückkehr nicht nur wieder schnellen Anschluss an seine
alten sozialistischen Freunde und Bekannten gefunden, sondern wurde
auch bald in neue politische Kreise hineingezogen. Parteipolitisch betei-
ligte er sich in Kreisverbänden der SPD in Spandau und Berlin und
organisierte Weiterbildungsvorträge.75 Von besonderer Bedeutung für
seinen weiteren beruflichen Weg wurde sein Kontakt zur Zeitschrift
›Die Gesellschaft‹. Sie war 1924 im Auftrage des Parteivorstandes der
SPD gegründet worden und wurde zunächst von Rudolf Hilferding
herausgegeben. Nach der Ernennung von Hilferding zum Finanzminis-
ter übernahm Albert Salomon 1928 die Chefredaktion. Er gab der Zeit-
schrift ein neues Gesicht, indem er eine Reihe junger, zumeist der SPD
angehörender oder ihr zumindest nahestehender Intellektueller für die
Mitarbeit gewann.76 Zu ihnen gehörten unter anderem Otto Kahn-
Freund, Hajo Holborn, Herbert Marcuse, Franz L. Neumann, Ernst
Fraenkel, Alfred Vagst, Hannah Arendt und Walter Benjamin. Einige
der Berliner Mitarbeiter der ›Gesellschaft‹ bildeten einen engeren Dis-
kussionskreis, der sich regelmäßig traf. Kirchheimer nahm seit dem
Herbst 1930 an den Treffen dieser Gruppe teil. In diesem Zirkel knüpfte
er auch seine engere Verbindung zu Franz L. Neumann und Ernst
Fraenkel.
Die politischen Diskussionen im Kreis der ›Gesellschaft‹ waren nach
dem Ende der Großen Koalition von wenig Optimismus geprägt. Es
sprach sich bald herum, dass Hermann Müllers Sturz von Hindenburgs
Kamarilla von langer Hand vorbereitet und der Zentrumspolitiker
Heinrich Brüning vorab als Nachfolger auserkoren worden war. Am
30. März 1930 übernahm Brüning sein Regierungsamt und die SPD sah
sich auf der Reichsebene zurück auf die Oppositionsbänke verbannt.

75 Dies geht aus einem Briefwechsel Kirchheimers mit Dora Fabian aus dem
Januar 1930 hervor. (Otto Kirchheimer Papers, Series 2: Letters, Box 1, Folder 52,
Special Collections & Archives, University at Albany, State University of New
York).
76 Zum Folgenden vgl. Inselmann (1964) und Fraenkel (1968: 655-657).

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Einleitung zu diesem Band 67

Nach Lage der parlamentarischen Dinge konnten Brüning und sein


Kabinett sich auf keine Mehrheit im Reichstag stützen, sondern waren
auf die Unterstützung des Reichspräsidenten angewiesen. Die findigen
Berater aus dem Umkreis von Hindenburg waren aber bereits zuvor
der Idee verfallen, die Gesetzesvorschläge der neuen Regierung bei
einer Ablehnung durch das Parlament als unabdingbare Notfallmaß-
nahmen zu deklarieren, um sie mit Hilfe des Artikels 48 der Reichsver-
fassung in Form von Notverordnungen in Kraft setzen zu können. Die
Aussicht auf ein solches Vorgehen war politisch nicht wenig umstritten
und auch Thema in der zeitgenössischen Staatsrechtslehre.77
Fünf Tage nach dem Amtsantritt Brünings reagierte Otto Kirchheimer
am 4. April in einem Zeitungskommentar auf den Regierungswechsel.
Brüning hatte in seiner Regierungeerklärung angekündigt, dass er dem
Parlament ein Maßnahmenpaket vorlegen werde und dies der einzige
Versuch von seiner Seite sein werde, gemeinsam mit dem Reichstag zu
einer Lösung der anstehenden Probleme zu gelangen. Das konnte als
öffentlich erklärte Drohung der Errichtung eines Präsidialkabinetts ver-
standen werden. Kirchheimers Kommentar erschien in der ›Tribüne‹
und trägt die Überschrift Artikel 48 – der falsche Weg. Im Fokus seiner
Kommentierung steht die Frage der Verfassungskonformität des von
Brüning angekündigten zukünftigen Weges der Gesetzgebung. Inhalt-
lich qualifizierte Kirchheimer die in der Regierungserklärung prokla-
mierten wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Maßnahmen als eine
konsequente Umsetzung von Programmen der Unternehmerverbände,
um im »Kampf um die innere Lastenverteilung« (S. 202) bei der Krisen-
bewältigung möglichst viele Kosten einseitig auf die Arbeiterschaft und
die Arbeitslosen abzuwälzen. Die Anwendung des Artikels 48 zu ihrer
Durchsetzung lehnt er auch aus prozeduralen Gründen vehement ab.
Wie bereits in der Eigentumsfrage insistiert Kirchheimer bei seiner
Argumentation auf dem Wortlaut des Verfassungstextes. Demzufolge
könne Artikel 48 nur in solchen Fällen Anwendung finden, in denen
eine »erhebliche Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit
und Ordnung« vorliege. Eine solche »unmittelbare Gefährdung« liege
aber ersichtlich nicht vor. Kirchheimer beruft sich hierbei gleicherma-
ßen auf liberale, konservative und auch deutschnationale Staatsrechts-
lehrer und stellt den Unterschied zwischen den zeitlich kurz befristeten
Anwendungen des Artikels 48 durch den vormaligen Reichspräsiden-
ten Friedrich Ebert und den dauerhaften Plänen des Brüning‘schen Prä-

77 Zur zeitgenössischen Debatte in der Weimarer Staatsrechtwissenschaft über die


Anwendbarkeit des Artikels 48 vor der Ära Brüning vgl. im Überblick Gusy
(1997: 107-109) und Stolleis (1999: 114-116).

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68 Einleitung zu diesem Band

sidialkabinetts dar. Auch weist er die sozialdemokratische Leserschaft


der Zeitung auf Ausführungen des »bekannte[n] deutsche[n] Staats-
rechtslehrer[s] Carl Schmitt« (S. 204) aus dem Jahre 1924 hin, in denen
er die wichtige Unterscheidung zwischen einer Maßnahme, die tempo-
rär bleibe und von Artikel 48 gedeckt sein kann, sowie einem Gesetzge-
bungsverfahren, für das dies nicht gelte, getroffen hatte. Schmitt sprach
in diesem Zusammenhang von einem »Missbrauch« des Artikels 48,
wenn er angewendet werde, um die Befugnis des Reichspräsidenten
auf die Inkraftsetzung eines Haushaltsplanes auszuweiten (vgl. Schmitt
1924: 248-250). Für Kirchheimer ist evident, dass sich Kanzler Brüning
und Reichpräsident Hindenburg mit dem angedrohten Vorgehen ein-
deutig außerhalb der Verfassung bewegten. Zugleich räumt er ein, dass
es kaum Chancen gäbe, ein solches verfassungswidriges Agieren des
Präsidialkabinetts zu verhindern. Es gäbe bis dato keine rechtliche
Handhabe, um in einem geordneten juristischen Verfahren überprüfen
zu lassen, ob die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Artikels
48 vorliegen oder nicht. Juristisch setzt er gewisse Hoffnungen auf Win-
kelzüge der Finanz- und Steuergerichtsbarkeit, die der Regierung Brü-
ning möglicherweise in die Parade fahren könnten. Grundsätzlich aber
bleibe nur der Protest und die politische Mobilisierung gegen die Dik-
tatur der Regierung und ihrer »Unternehmerideologie« (S. 202).
Einige Wochen nach diesem Zeitungsartikel und damit nahezu zeit-
gleich zum Veröffentlichungstermin seines Buches über die Enteig-
nungsproblematik erschien im Mai 1930 eine zweite selbständige
Schrift Kirchheimers auf dem Buchmarkt. Sie trug den Titel Weimar …
und was dann? Entstehung und Gegenwart der Weimarer Verfassung und
sollte Kirchheimer schlagartig über seine bisherigen Kreise hinaus
bekannt machen. Die Abhandlung erschien in der ›Jungsozialistischen
Schriftenreihe‹, die von Max Adler in Zusammenarbeit mit Engelbert
Graf und Anna Siemsen in der Laubschen Verlagsbuchhandlung in Ber-
lin herausgegeben wurde. Die Schriftenreihe hatte eine Auflage von
4.000 Startexemplaren; weitere in der Schriftenreihe publizierte Auto-
ren waren neben ihren drei Herausgebern so prominente Namen wie
Ernst Toller und Leo Trotzki als auch Autoren der jüngeren Generation
wie Ernst Fraenkel, Franz L. Neumann und Arkadij Gurland.
Kirchheimer leitete seine Abhandlung im Pathos kühler Nüchternheit
ein. Er werde sich »in der Hauptsache auf die Darstellung dessen
beschränken, was ist« (S. 209). Programmatisch bezeichnet er sein Vor-
haben im nächsten Satz als eine »sozialistische Verfassungsbetrach-
tung« (S. 209), die er strikt von den Fehlern einer liberalen Verfassungs-

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Einleitung zu diesem Band 69

betrachtung abgrenzt. Während die liberale Verfassungsbetrachtung,


die häufig auch unter einem demokratischen Deckmantel aufträte, eine
nicht vorhandene gesellschaftliche Einheit vortäusche, »muss eine
sozialistische Verfassungsbetrachtung all jene Widersprüche aufde-
cken, die der heutigen Gesellschaftsorganisation und ihrer politischen
Form anhaften« (S. 209). Als weiteres Präludium zu der Abhandlung
stellte er ihr ein längeres Zitat von Rosa Luxemburg aus ihrer Kampf-
schrift Sozialreform oder Revolution? aus dem Jahre 1899 voran, in dem es
apodiktisch heißt: »Und zwar ist die jeweilige gesetzliche Verfassung
bloß ein Produkt der Revolution. Während die Revolution der politi-
sche Schöpfungsakt der Klassengeschichte ist, ist die Gesetzgebung das
politische Fortvegetieren der Gesellschaft« (S. 209).
Die Schrift ist in neun Abschnitte unterteilt, in denen Kirchheimer
nacheinander die Entstehung der Republik, das Verhältnis von Demo-
kratie und Diktatur, das Wahlrecht, den Parlamentarismus, die Grund-
rechte, die Regierungsbildung und Regierungsführung, Rechtsstaat-
lichkeit und Beamtentum, die Stellung des Reichspräsidenten und
schließlich seine generelle Charakterisierung der Weimarer Verfassung
abhandelte. Seine Analyse gipfelte in der von ihm bereits zuvor in meh-
reren Artikeln geäußerten These, die Weimarer Verfassung sei eine
»Verfassung ohne Entscheidung« (S. 246). In der Sache spitzte er seine
bisherigen Äußerungen allerdings insofern noch einmal zu, als er im
Sinne des oben angeführten Zitats von Rosa Luxemburg kategorisch
erklärte, dass es der Sinn einer jeden Verfassung sein müsse, »ein
bestimmtes Aktionsprogramm zu verkünden, in dessen Namen die
Organisation einer neuen Gesellschaftsordnung stattfinden soll«
(S. 248). Mit diesem schöpferischen und gesellschaftsverändernden
Anspruch an eine neue Verfassung ging Kirchheimer sogar noch über
Carl Schmitts Verfassungsverständnis hinaus, der von einer Verfassung
verlangte, dass sie eine Gesamtentscheidung über die Art und Form
der politischen Einheit treffen soll (vgl. Schmitt 1928: 20-36). Dass im
Zuge der Revolution keine klare Entscheidung für eine sozialistische
Gesellschaft habe getroffen werden können, bezeichnete Kirchheimer
als den »prinzipielle[n] und nie wiedergutzumachende[n] Fehler dieser
Verfassung« (S. 248).
In seiner Genealogie der Weimarer Republik zeichnet die Schrift
zunächst die politischen Kompromisslinien nach, die schon vor dem
Beginn des Verfassungsgebungsprozesses zwischen den verschiedenen
sozialen Kräften vereinbart worden waren. Der Mehrheitssozialdemo-
kratie wirft er vor, in den letzten Wochen vor Ende des Krieges die

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70 Einleitung zu diesem Band

Lehre der französischen Revolutionszeit, insbesondere des Jahres 1793,


»dass gerade Zeiten der äußersten Not Zeiten der politischen Erneue-
rung zu sein berufen sind« (S. 210), vergessen zu haben. Kirchheimer
orientiert sich bei seiner Version der neueren deutschen Geschichte am
Narrativ aus dem zwei Jahre zuvor erschienenen Buch Die Entstehung
der deutschen Republik des linkssozialistischen Historikers Arthur Rosen-
berg (vgl. Rosenberg 1928). Demnach ist das Kaiserreich nicht durch
revolutionäre Kräfte der Arbeiterbewegung, sondern durch die Selbst-
aufgabe der Militärdiktatur Ludendorffs zerstört worden. Die Aus-
gangslage der Weimarer Republik kennzeichnet Kirchheimer durch die
Zusammenarbeit zwischen der Führung der Arbeiterbewegung, die
sich nach links gegen den Rätekommunismus, und dem Bürgertum,
das sich nach rechts gegen Monarchie und Adel abgrenzte. Dem Militär
und der Bürokratie kam in dieser Konstellation die Rolle von vermit-
telnden Ordnungsmächten zu, worin die Quelle zu ihrer späteren Ver-
selbstständigung lag. Die in Weimar erarbeitete Verfassung ist für
Kirchheimer bis ins Detail die rechtliche Widerspiegelung der Kräfte-
konstellation zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum.
Kirchheimer kritisiert im Folgenden erneut, dass der Begriff der
›Demokratie‹ jede konkrete Bedeutung verloren habe. Er wiederholt
sein Plädoyer für ein engeres Begriffsverständnis im Sinne der sozialen
Demokratie Max Adlers. Eine solche soziale Demokratie könne es in
einer klassengespaltenen Gesellschaft allerdings nicht geben. Zudem
trage die Demokratie im Kapitalismus ein »beträchtliches Stück bürger-
licher Diktatur« (S. 217) in sich. Kirchheimer sieht den Artikel 48 der
Reichsverfassung als das Instrument, mit dem es in Deutschland den
herrschen Klassen gelingen kann, »mit Mitteln der Diktatur das auszu-
führen, was auf legalem Wege der Wille großer Teile des Volks ver-
wehrt« (S. 218) habe. Er weist in diesem Zusammenhang erneut auf die
Unterscheidung zwischen kommissarischer und souveräner Diktatur
von Schmitt (vgl. Schmitt 1921) hin und wendet diese Terminologie auf
zwei unterschiedliche Formen der Ausübung bürgerlicher Diktaturen
an: auf die temporären Unterdrückungsmaßnahmen gegen die linke
Opposition in Sachsen und Thüringen 1923 sowie den dauerhaft eta-
blierten Faschismus in Italien. Den Punkt, an dem die politische Demo-
kratie des Bürgertums in eine der bürgerlichen Diktaturformen
umschlage, hält er im Voraus für nicht präzise bestimmbar, denn ein
solcher Regimewechsel werde vom Bürgertum als eine Frage der reinen
Zweckmäßigkeit und der dafür gegebenen Chancen betrachtet.

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Einleitung zu diesem Band 71

Vor dem Hintergrund seiner These einer von vornherein systematisch


angelegten Zerstörung der in der Verfassung niedergelegten Legalitäts-
ordnung präsentiert Kirchheimer im Folgenden eine Diagnose und
Strukturanalyse der politischen Institutionen der Republik. Dazu
gehört das mit der Republik eingeführte demokratische Wahlrecht,
wobei Kirchheimer an seine Leser appelliert, das auch das freieste
Wahlrecht einen intensiven politischen Willen immer nur unterstützen,
ihn aber nicht ersetzen könne. Dazu gehört mit dem Reichstag ein Par-
lament, das sich von einer Versammlung der gemeinsamen Diskussion
zu einer Stätte des Austragens von Klassenkämpfen gewandelt habe,
und des Weiteren der umfangreiche Katalog des Weimarer Grundrech-
tesystems. Kirchheimer spricht sich an dieser Stelle explizit dagegen
aus, diesen Katalog als einen »Kompromiss« zu bezeichnen; auch
Schmitts Rede vom »dilatorischen Formelkompromiss« (vgl. Schmitt
1928: 32) erklärt er aus Gründen der begrifflichen und politischen Klar-
heit für wenig hilfreich. Die Weimarer Grundrechte seien »in ihren ent-
scheidenden Punkten kein Kompromiss, sondern eine in der Verfas-
sungsgeschichte bisher unbekannte, einzigartige Nebeneinanderord-
nung und Anerkennung der verschiedensten Wertsysteme« (S. 230). Zu
den von Kirchheimer analysierten Institutionen zählen auch die Regie-
rung und der Prozess ihrer Bildung. Kirchheimer unterscheidet in die-
sem Zusammenhang zwischen einer »Direktionssphäre« und einer
»Verteilungssphäre« (S. 238) der Regierungstätigkeit in modernen kapi-
talistischen Gesellschaften.78 In der Direktionssphäre haben sich Regie-
rungen der Eigengesetzlichkeit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung
immer weiter anzupassen; als Aktivitätsbereich bleibt ihnen die Vertei-
lungssphäre, in der sie zu einem Clearing-House der verschiedenen an
sie herangetragenen Ansprüche werden. Selbst dieser Handlungsbe-
reich werde aber zunehmend eingeengt. Zu den von Kirchheimer in
den Blick genommenen Institutionen gehört auch das Beamtentum.
Erneut nutzt er für seine Diagnose seine Unterscheidung zwischen den
beiden Sphären. Soweit das Beamtentum in Aufgaben der Direktions-
sphäre involviert ist, befinde es sich »ausschließlich im Einflussbereich
des Bürgertums und seiner großen wirtschaftlichen Organisationen«
(S. 242). Soweit es Aufgaben in der Verteilungssphäre wahrnehme, fun-
giere es als ausgleichende Instanz zwischen den Ansprüchen der unter-
schiedlichen Sozialgruppen. Die politische Form, in der dieser Aus-
gleich vonstattengehe, sei der Rechtsstaat. Seit seinen ersten Tagen habe

78 Diese Unterscheidung stieß in der linken Theorie der Bundesrepublik Anfang


der 1970er Jahre auf reges Interesse. Vgl. als Überblick zu dieser Diskussion
Luthardt (1976: 8-19).

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72 Einleitung zu diesem Band

der Rechtsstaat einen »tiefgreifenden Funktionswechsel« (S. 235) erfah-


ren. Ursprünglich war er das Kampfmittel des Bürgertums gegen die
monarchistische Exekutive. Heute sei der Rechtsstaat die Form, in der
ein großer Teil der Verteilungssphäre »in einer scheinbar juristischen
Form, umgeben von einem Haufen prozesstechnischer Vorschriften,
getätigt werde[n]« (S. 241). Kirchheimer schließt seine Strukturanalyse
der politischen Institutionen mit dem Reichspräsidentenamt ab. Der
gesamte Abschnitt richtet sich gegen die – zu diesem Zeitpunkt auch
bereits von Schmitt prominent vertretene79 – »irrige Auffassung«
(S. 243), dass der Reichspräsident den Partei- und Sonderinteressen ent-
rückt und somit der einzige wahre Repräsentant der Nation sei. Auch
die Wahl des Reichspräsidenten werde von den politischen Parteien
beherrscht. Die Vorstellung der Klassenjenseitigkeit seines Amtes sei
eine in die politische Irre führende »Fiktion« (S. 246). Indirekt wendet
er sich in diesem Zusammenhang auch gegen Smends Auffassung vom
Präsidentenamt, wenn er erklärt, dass ein Präsident keinen integrieren-
den ideellen Gesamtwillen erzeugen könne, wenn die gesellschaftspoli-
tischen Voraussetzungen dafür nicht vorlägen.
Kirchheimers skeptisch-radikale Schrift Weimar ... und was dann? stieß
nach ihrem Erscheinen auf lebhafte Kritik und regen Zuspruch. Auch
in seinem engeren Umfeld fiel die Bewertung sehr unterschiedlich aus.
Bis heute gehört sie zu den am häufigsten zitierten Schriften von Kirch-
heimer.80 Die umgehende Replik von Franz L. Neumann auf Kirchhei-
mers im Buchtitel gestellte Frage war der Imperativ: »Erst einmal
Weimar!« (Neumann 1930: 582) Er hielt Kirchheimer vor, die Bedeu-
tung der Grundrechte zu bagatellisieren und dabei stehen zu bleiben,
sie als Sammelsurium unvereinbarer Wertentscheidungen zu denunzie-
ren, anstatt beherzt das Handwerk des Juristen zu ergreifen und sich
um eine vereinheitlichende rechtswissenschaftliche Systematisierung
zu bemühen. Die damit verbundene generelle Gegenthese zu Kirchhei-
mer lautete, dass die Verfassung nicht als widersprüchlich, sondern als
offen und damit für die Arbeiterbewegung in ihrem Sinne gestaltbar
verstanden werden müsse (vgl. Neumann 1930: 569-571).81 Auch Her-
mann Heller reagierte ablehnend auf die Schrift. Sie gehörte für ihn zur
billigen Kritik »unser[er] ästhetisch-heroischen Revolutionsromantiker

79 Vgl. Schmitt (1928: 350-352) und (1929 b).


80 Zu den späteren Rezeptionen und Debatten über diese Schrift vgl. Schale (2006:
42-46). Seitens des parteioffiziösen Marxismus der DDR wurde eine positiver
klingende Würdigung erst kurz vor dem Ende der DDR publiziert (vgl. Ste-
phani 1988).
81 Zur Kritik Neumanns an Kirchheimer vgl. Rückert (1993: 446 f.).

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Einleitung zu diesem Band 73

von links und rechts« (Heller 1930: 376), die »in merkwürdiger Über-
einstimmung« die Verfassung in Grund und Boden kritisierten, anstatt
sie – »wenn es sein muss mit der Waffe in der Hand« (Heller 1930: 377)
– gegen alle Gewaltideologien zu verteidigen. Noch ablehnender fiel
die Kritik von Arkadij Gurland aus. In seiner Rezension für die linksso-
zialistische ›Bücherwarte‹ lobte er zwar Kirchheimers Hinweis darauf,
dass es sich bei allen Verfassungsfragen letztlich um Machtfragen han-
dele, bemängelte dann aber umso schärfer, dass Kirchheimer seine
Überlegungen »leider mehr auf summarische Feststellungen«
beschränke, statt solche rechtssoziologischen Zusammenhänge konkret
aufzuzeigen. Gurland identifizierte Schmitt als den schlechten Lehr-
meister Kirchheimers für derartige Abstraktionen, die im Ergebnis
dazu führten, den Weimarer Parlamentarismus für die Arbeiterbewe-
gung zu sehr geringzuschätzen. In dieser politischen Konsequenz sah
Gurland auch das »Bedenkliche dieser Schrift«, die seiner Meinung
nach »nicht in eine Schulungsbibliothek hineingehört, wie es die Jung-
sozialistische Schriftenreihe sein soll« (Gurland 1930 b: 136). Weitaus
positiver fiel demgegenüber das Urteil über die Schrift von Carl
Schmitt aus. Er lobte die Abhandlung als eine »hochinteressante
Schrift« und bezog sich dabei vor allem auf Kirchheimers These einer
Verfassung ohne Entscheidung (vgl. Schmitt 1932 b: 195). Dieses
Schmitt’sche Lob griff wiederum der ansonsten so zurückhaltende
Rudolf Smend in seiner öffentlichen Kritik an Schmitt bei einem Fest-
vortrag am 18. Januar 1933 auf. Er attestierte Kirchheimer eine »folgen-
richtige Durchführung« (Smend 1933: 319) des Schmitt’schen Dezisio-
nismus. Gegen beide gerichtet fuhr er dann aber fort: »Es ist aber nicht
Sinn einer Verfassung, ›Entscheidung‹ im Sinne irgendeines sachlich
folgerichtigen politischen Denksystems zu sein, sondern lebendige
Menschen zu einem politischen Gemeinwesen zusammenzuordnen«
(Smend 1933: 320).
In einer Fußnote von Weimar ... und was dann? hatte Kirchheimer
erklärt, dass er gern auch noch einen Abschnitt über Parteien und
Abgeordnete in die Abhandlung aufgenommen hätte, dass dieser
Abschnitt jedoch zu seinem Bedauern »dem Raumzwang zum Opfer«
(S. 223) gefallen sei. Einen gewissen Ersatz dafür bietet der Text Die Pro-
blematik der Parteidemokratie. Kirchheimer befasst sich in diesem Beitrag
mit den Thesen des deutsch-russischen Journalisten und SPD-Partei-
funktionärs Alexander Schifrin über den Parteiapparat der SPD und die
Parteidemokratie, die im Juni-Heft der ›Gesellschaft‹ erschienen waren
(vgl. Schifrin 1930). Kirchheimer verfasste eine umfassende Erwiderung
für die ›Gesellschaft‹ zu Schifrins Aufsatz, die dort allerdings nicht

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74 Einleitung zu diesem Band

publiziert wurde. Warum sich der leitende Redakteur Albert Salomon


gegen den Abdruck entschied, ließ sich nicht in Erfahrung bringen;
bezüglich Form und Inhalt weist das Manuskript, das nach seinem
Auffinden im Bundesarchiv im Jahre 1994 von Karsten Linne erstmals
(in einer von unserer Edition nur geringfügig abweichenden Fassung)
publiziert wurde, keine gravierenden Qualitätsunterschiede zu ande-
ren Texten von Kirchheimer auf.82 Schifrin hatte in seinem Artikel gera-
dezu erbost auf die neuerliche breite Rezeption reagiert, die Robert
Michels mit seinem Gesetz der zwangsläufigen Oligarchiebildung auf
Seiten der Parteilinken erfuhr. Gegen deren Kritik verteidigte er die
bestehende Arbeiterbürokratie. Sie erfülle eine positive Funktion im
Klassenkampf und die Parteifunktionäre fungierten im Alltag als
»lebendige Ströme« zwischen Arbeiterschaft und Parteispitze. Kirchhei-
mer hält in seinem Artikel nicht viel von dieser Apologie des innerpar-
teilichen Status quo. Er schließt sich der Kritik der zu politischen Aktio-
nen drängenden Gruppen in seiner Partei am linken Flügel an, die
einen Mangel an innerparteilicher Demokratie beklagten und den Füh-
rungsstil in der SPD für die »Entpolitisierung« (S. 356) der Arbeiter-
schaft verantwortlich machen.83 Den von Michels verfochtenen partei-
soziologischen Ansatz verfolgt Kirchheimer insofern weiter, als er einen
generellen Konzentrationsprozess der ökonomischen und sozialen
Kräfte in hochkapitalistischen Gesellschaften als tiefere Ursache dieses
Verlustes an innerparteilicher Demokratie ausmacht. Wenn man die
Demokratie in der Partei wieder stärken wolle, sei mit entsprechenden
Appellen wenig auszurichten. Stattdessen bedürfe es institutioneller
Reformen, wobei sich Kirchheimer für Rotationsverfahren, Unverein-
barkeitsregelungen und offener gestaltete Wahlen zu den Führungsgre-
mien ausspricht. Als Maxime seiner Vorschläge formuliert er: »Oberster
Grundsatz für eine sozialistische Partei muss es sein, den Willen ihrer
Glieder zu erkunden und ihn entscheiden zu lassen« (S. 362).
Die von Kirchheimer Anfang April geäußerte Prognose, dass die neue
Regierung von Reichskanzler Brüning für die Durchsetzung ihrer Ziele
auf den Diktaturartikel der Verfassung zurückgreifen würde, erwies
sich ein Vierteljahr später als zutreffend. Brünings Kanzlerschaft war
von Beginn an von der weltweiten Wirtschaftskrise und deren katastro-
phalen sozialen Folgen, die sie speziell in Deutschland mit seiner finan-

82 Kirchheimers Manuskript wurde an die Zeitschrift ›Die Arbeit‹ weitergereicht,


in deren Archiv es aufgefunden wurde. Zur ersten Edition des Manuskripts vgl.
Linne (1994).
83 Zur zeitgenössischen Debatte über die innerparteiliche Demokratie in der SPD
vgl. Lösche (1982).

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Einleitung zu diesem Band 75

ziellen und wirtschaftlichen Abhängigkeit von den USA hatte, über-


schattet. Angesichts der immer weiter eskalierenden Krise erwies sich
Brünings im April verkündeter Haushaltskonsolidierungsplan bereits
nach wenigen Wochen als Makulatur. Nach mehreren vergeblichen
Konsolidierungsversuchen schlug er im Juni 1930 ein neues Maßnah-
menpaket vor, das die Einführung eines ›Notopfers‹ aller Festbesolde-
ten und eine ungestaffelte Kopfgeldabgabe (›Bürgersteuer‹ genannt) als
staatliche Einnahmequelle beinhaltete. Doch auch für diesen Vorschlag
ließ sich im Reichstag keine Mehrheit gewinnen, denn die SPD lehnte
die Kopfgeldabgabe als sozial ungerecht ab. Noch während der parla-
mentarischen Debatte über das Maßnahmenpaket im Reichstag am
16. Juli 1930 kündigte Hindenburg für den Fall ihrer Ablehnung die
Anwendung des Artikels 48 und die Auflösung des Reichstags an. Den-
noch erhielt die Regierungsvorlage keine Mehrheit im Parlament. Noch
am selben Tag wurden Teile des Maßnahmenpaketes als Notverord-
nung dekretiert und für den 14. September Neuwahlen angesetzt. Am
26. Juli wurde die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten für die Durch-
setzung eines noch umfangreicheren Maßnahmenpaketes genutzt, bei
dem das Budgetrecht aus den Händen des Parlaments in die der Regie-
rung gelegt wurde. Die SPD empörte sich nicht weniger über die
Inhalte dieser Notverordnungen als über das Vorgehen von Präsident
und Regierung. Aus ihrer Sicht handelte es sich bei diesem Rückgriff
auf Artikel 48 um einen offensichtlichen Verfassungsbruch.84
Vier Tage nach der Verkündung des großen Notverordnungspaketes
veröffentlichte Otto Kirchheimer am 30. Juli 1930 in der ›Tribüne‹ einen
Kommentar zur neuen politischen Lage. Unter der Überschrift Bürger-
tum am Scheideweg skizzierte er in groben Strichen seine Sicht der verän-
derten politischen Konstellationen im bürgerlichen Lager. Die Wirt-
schaftskrise habe die Parteienlandschaft des bürgerlichen Lagers voll-
ständig umgewühlt. Viele proletarisierte Angestellte und Kleinbeamte
würden nun die unsozialen Auswirkungen der Brüning‘schen Politik
am eigenen Leibe zu spüren bekommen, wollten aber ihr bürgerliches
Bewusstsein nicht aufgeben und wendeten sich den Nationalsozialisten
zu. Kirchheimer bezeichnete die NSDAP als eine neue »dritte Front«
(S. 330) neben den traditionellen bürgerlichen Parteien und denen der
Arbeiterbewegung. Die Rechtsparteien im bürgerlichen Lager, und hier
vor allem die DNVP, sah er vor die Entscheidung zwischen zwei politi-
schen Handlungsoptionen gestellt. In diesem »Methodenstreit im Bür-

84 Zur zeitgenössischen staatsrechtlichen Debatte über diese Notverordnungen


vgl. die zitierte Literatur in Huber (1984: 765-770).

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76 Einleitung zu diesem Band

gertum auf dem Weg zur vollen Bürgerherrschaft« (S. 332) können sie
sich entweder von ihren putschistischen Wurzeln aus den ersten Nach-
kriegsjahren lösen und loyale republikanische Parteien werden. Die
andere Option ist, dass sie dem strategischen Kurs von Alfred Hugen-
berg folgen und das Bündnis mit den zunehmend erstarkenden Natio-
nalsozialisten suchen, verbunden mit der Hoffnung, anstelle der anti-
kapitalistischen Programmteile dieser Partei das einigende Moment
eines militanten Nationalismus in den Vordergrund schieben zu kön-
nen. Kirchheimer beurteilte Hugenbergs bisheriges Vorgehen als
ebenso erfolgreich wie gefährlich. Ihm sei es mit seinem in der DNVP
verfolgten rigiden Obstruktionskurs gelungen, die Partei von der parla-
mentarischen Zusammenarbeit mit Brüning abzuhalten und damit
»den entscheidenden Stoß gegen den Parlamentarismus« (S. 331)
geführt zu haben. Von den anstehenden Wahlen am 14. September
erwartete Kirchheimer keine Besserung der Situation, sondern eine
Stärkung des extrem rechten Lagers. Für die Arbeiterbewegung werde
es unter solchen Umständen um das schiere politische Überleben gehen
und er prophezeite: »Siegt Hugenberg im Bürgerlager, so geht es um
Leben und Existenz der proletarischen Partei selbst« (S. 332).
Im August 1930 veröffentlichte Kirchheimer im ›Klassenkampf‹ unter
der Überschrift Artikel 48 und die Wandlungen des Verfassungssystems
einen weiteren, kürzeren Beitrag zu den aktuellen politischen Gescheh-
nissen. Viele sozialdemokratische Parteigenossen stünden auch jetzt
noch ratlos vor der Veränderung, die mit der Amtsübernahme Brü-
nings eingetreten sei. »Sie wollen nicht glauben, dass das liebgewor-
dene Bündnis der Weimarer Verfassungsparteien auf immer gelöst«
(S. 349) sei und hoffen auf eine Wiederherstellung der proletarisch-bür-
gerlichen Arbeitsgemeinschaft. Kirchheimer zufolge hätten sich jedoch
aufgrund der veränderten weltwirtschaftlichen Interessen des Bürger-
tums die sozialen Grundlagen des bisherigen Verfassungssystems
grundlegend verändert. Die Regierung sei zu einer selbständigen Ver-
tretung des Bürgertums avanciert, ohne dass es aus dessen Sicht noch
eines Parlaments bedürfe. Bei sämtlichen vorherigen Anwendungsfäl-
len des Artikels 48 habe es eine unausgesprochene Akzeptanz der Not-
verordnungen durch die Sozialdemokratie und die bürgerlichen Par-
teien gegeben und damit eine stillschweigende Mehrheit unter den im
Reichstag vertretenen Parteien. Jetzt geschahen die Anwendungen
jedoch erstmals explizit gegen den Willen der Sozialdemokratie und
auch einer breiten protestierenden Mehrheit im Parlament. Kirchhei-
mer sieht in den Anwendungen des Artikels 48 durch Brünings Regie-
rung eine neue Qualität in der stufenweisen Auflösung des Weimarer

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Einleitung zu diesem Band 77

Legalitätssystems. Für den begonnenen Wahlkampf gab er seiner Partei


den so kämpferischen wie hilflosen Appell auf den Weg, »ihren Anhän-
gern gegenüber keinen Zweifel darüber aufkommen [zu] lassen, dass
die Zeit der Kompromisse vorüber ist und die Zeit der staatserhalten-
den Selbsterhaltung begonnen hat« (S. 353).85
Bei den Wahlen am 14. September 1930 konnte die SPD ihren Stimmen-
anteil nicht erhöhen, sondern musste leichte Verluste hinnehmen. Einen
erdrutschartigen Stimmengewinn verzeichnete die NSDAP. Die politi-
schen Parteien, die Brünings Politik unterstützt hatten, mussten zum
Teil massive Verluste hinnehmen. Dennoch war es nach der Wahl rein
rechnerisch möglich, einer Großen Koalition im Reichstag die entspre-
chende Mehrheit zu verschaffen. Der sozialdemokratische Ministerprä-
sident von Preußen, Otto Braun, sprach sich unmittelbar nach der Wahl
für eine solche »Koalition der Vernünftigen« aus. Brüning berief sich
jedoch auf den »Auftrag« Hindenburgs, es zu keiner neuerlichen Regie-
rungsbeteiligung der SPD kommen zu lassen und lehnte den Vorschlag
ab. Obwohl der Partei dadurch eine vermutlich quälende innerparteili-
che Diskussion erspart blieb, geriet die SPD dadurch in eine prekäre
Situation. Zum einen wollte sie mit allen Mitteln die NSDAP von der
politischen Macht fernhalten und zum anderen war sie auf eine
gewisse Kooperation der Zentrumspartei Brünings angewiesen, um
ihre Regierung im ›Roten Preußen‹ politisch an der Macht zu halten.
Vor diesem Hintergrund verständigte sich die Parteiführung der SPD
Ende September 1930 in vertraulichen Gesprächen mit Brüning, seine
Regierung zu tolerieren, was bedeutete, dass die SPD im Reichstag kein
Misstrauensvotum gegen die Regierung unterstützen würde. Im
Gegenzug erwartete sie gewisse informelle Rücksichtsnahmen auf ihre
politischen Ziele. Brünings Präsidialkabinett konnte sich bis zum
30. Mai 1932 halten.
Aus der Zeit zwischen Juni 1930 und Februar 1932 stammen drei wei-
tere Buchbesprechungen, die Kirchheimer für ›Die Gesellschaft‹ ver-
fasste und in denen er sich mit völkerrechtlichen Fragen und dem
Thema Faschismus beschäftigte. Die erste Besprechung galt dem Buch
Das Völkerrecht der Übergangszeit des Moskauer Rechtswissenschaftlers
Eugene Korovine, das als offiziöse Darlegung der neuen sowjetischen

85 Innerhalb der SPD stellte Kirchheimer seine Überlegungen über »Die politi-
schen Parteien und die Wahlen« am 12. August 1930 im Bezirk Neukölln und
am 4. September bei den Berliner Jungsozialisten zur Diskussion (vgl. Veran-
staltungshinweise in: ›Vorwärts‹ vom 12. August und vom 4. September 1930).

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78 Einleitung zu diesem Band

Völkerrechtsdoktrin galt.86 Korovine verwarf die Auffassung eines uni-


versell gültigen Völkerrechts und begründete seine These eines Völker-
rechtspluralismus mit dem Argument, dass es zwischen der Sowjet-
union und der übrigen kapitalistischen Welt an dem für eine Völker-
rechtsgemeinschaft notwendigen Minimum an Homogenität fehle.
Kirchheimer kritisierte Korovines Position als »voluntaristische Völker-
rechtsauffassung« (S. 324) und warf ihm zudem vor, dass er angesichts
des Imperialismus der führenden Industriestaaten irre, wenn er die
kapitalistische Welt als wert- und interessenhomogen bezeichne. Kirch-
heimer sprach sich im Namen einer »Völkerrechtslehre, die wahrhaft
realistisch sein will« (S. 327), dennoch für die universelle Geltungsdok-
trin aus. Als Quelle eines solchen Rechts sah er aber keine geteilten
Wertüberzeugungen, sondern das Interesse in allen Staaten der Welt –
auch der Sowjetunion – an gemeinsamen wirtschaftlichen und techni-
schen Vereinbarungen. Korovines Buch wurde vier Jahre später auch
von Carl Schmitt rezipiert. Er versah seine an Kirchheimer angelehnte
Interpretation der Schrift jedoch mit einer diametral anderen politi-
schen Stoßrichtung: Für ihn diente es als ein weiterer Beleg eines unver-
einbaren völkerrechtlichen Rechtspluralismus und die Berechtigung
der neuen nationalsozialistischen Außenpolitik des Jahres 1934 (vgl.
Schmitt 1934: 399).
In einer weiteren völkerrechtlichen Miszelle setzte Kirchheimer sich mit
dem Buch von Georg Schwarzenberger Die Kreuger-Anleihen auseinan-
der (vgl. Schwarzenberger 1932). Wie Kirchheimer stammte Schwarzen-
berger aus Heilbronn. Als Schüler von Carlo Schmid und Gustav Rad-
bruch gehörte er zu einer Generation junger sozialdemokratischer
Juristen, die sich auf völkerrechtliche Fragen spezialisierten (vgl.
Steinle 2004). Der schwedische Konzern Ivar Kreuger hatte seit Mitte
der 1920er Jahre einer Reihe finanziell unter Druck stehenden Regie-
rungen in Europa Kredite gewährt und sich dafür im Gegenzug das
Zündholzmonopol garantieren lassen. Im Januar 1930 stimmte auch in
Deutschland der Reichstag mit den Stimmen der Großen Koalition
einer solchen Monopolgarantie zu, die bis 1983 Gültigkeit hatte. Der
Unmut über Kreugers Monopol und die auf sie folgenden Preiserhö-
hungen für Streichhölzer waren fortan ein ständiges Thema in der Wei-
marer Öffentlichkeit. Kirchheimer nimmt Schwarzenbergers Analyse
des Vertragswerks zum Anlass, das Augenmerk der Völkerrechtwis-
senschaft grundsätzlicher auf das Verhältnis von Vertragsbindung und

86 Vgl. Korovine (1930). Zur Bedeutung dieses Buches für die zeitgenössische Völ-
kerrechtsdebatte vgl. Flechtheim (1936).

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Einleitung zu diesem Band 79

staatlicher Souveränität zu lenken. Er spricht sich gegen Versuche ame-


rikanischer Organisationen aus, als »eine Art kapitalistisches Zivilisati-
onsminimum« (S. 374) die Eigentumsrechte von Ausländern im Namen
eines angeblich allgemeinen Völkerrechts dem Zugriff von National-
staaten zu entziehen. Zwar plädiert auch er erneut dafür, von einem all-
gemein gültigen Völkerrecht auszugehen. Er möchte aber in »weiser
Selbstbeschränkung der Grenzen jeder Jurisprudenz […] als Völker-
rechtsgrundsätze nur diejenigen [ansehen], die alle irgendwie in
Betracht kommenden Staaten der Erde ohne Gefährdung ihres sozialen
Status anzuerkennen in der Lage sind« (S. 375). Das unbeschränkte
Recht auf Privateigentum gehöre eindeutig nicht zu einem solchen
Minimalkatalog. In der Konsequenz spricht Kirchheimer damit die völ-
kerrechtliche Unbedenklichkeit für eine einseitige Auflösung des
Monopolvertrages der Reichsregierung mit dem Kreuger-Konzern aus.
Eine dritte Buchbesprechung erschien 1932 im Februar-Heft von ›Die
Gesellschaft‹. Kirchheimer rezensiert in ihr das Buch Der Staatsstreich
von Curzio Malaparte,87 einer in breiten Kreisen mehrerer Länder
Europas gelesenen Rechtfertigung des Staatsstreichs. Der deutschstäm-
mige Schriftsteller und ehemalige italienische Diplomat war ein Vete-
ran des italienischen Faschismus. Zur Zeit des Erscheinens seines
Buches auf dem deutschen Buchmarkt war er Chefredakteur der Turi-
ner Tageszeitung ›La Stampa‹. Kirchheimer empfahl aus dem aus sei-
ner Sicht fesselnd geschriebenen Buch zwei historische Kapitel der
besonderen Aufmerksamkeit. Einmal Malapartes Beschreibung des
faschistischen Staatsstreichs 1922 in Italien, in dem der Zeitzeuge schil-
dert, wie sang- und klanglos die Republik nach dem Marsch auf Rom
zusammenbrach. Zum anderen als Gegenbeispiel die Schilderung des
Endes des sowjetisch-polnischen Krieges 1920. Kirchheimer zufolge
hätte das Warschauer Proletariat im Frühjahr 1920 »lediglich einen klei-
nen Trupp entschlossener Männer« (S. 371) gebraucht, um die politi-
sche Macht zu ergreifen. Malapartes Vorwurf an die Nationalsozialis-
ten, dass sie wüste Hetzjagden auf Arbeiter veranstalten, erfuhr beson-
dere Hervorhebung. Noch mehr aber empfahl Kirchheimer seinen
Lesern das von Malaparte gezeichnete Bild Hitlers als einer bloßen
Mussolini-Karikatur, der in Deutschland niemals an die Macht gelan-
gen werde, weil er sich in seinem politischen Opportunismus auf parla-

87 Vgl. Malaparte (1932). Zu seiner Biographie und seinem Werk vgl. Liesegang
(2011).

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80 Einleitung zu diesem Band

mentarische Methoden festgelegt habe. Eine Einschätzung, die auch


von führenden Kreisen der Weimarer SPD geteilt wurde.88

7. Legalität und Legitimität

Kirchheimer hatte mit seiner Rückkehr nach Berlin die Verbindungen


zum akademischen Betrieb sogleich wieder aufgenommen und dabei
insbesondere den erneuten Kontakt zu Smend und Schmitt gesucht.
Sein Interesse war auf positive Resonanz gestoßen. Smend lud Kirch-
heimer ein und machte seinen Aufsatz über die Staatstheorien des
Sozialismus und Bolschewismus in Verbindung mit Texten von Schmitt
und Trotzki zur Seminarlektüre an der Berliner Universität (vgl. Brief-
wechsel Schmitt/Smend 2011: 80). Auch mit Schmitt verkehrte Kirchhei-
mer weiter regelmäßig und nahm als Externer an dessen semesterüber-
greifendem Seminar »Staatstheorien der Gegenwart« an der Handels-
hochschule teil. Kirchheimer brachte mit Franz L. Neumann und Ernst
Fraenkel zwei weitere Externe in das Seminar und weckte Schmitts
Interesse auch an deren Arbeiten.89 In den Tagebüchern von Schmitt
finden sich ab November 1930 insgesamt 18 Tagebucheintragungen
über Kirchheimer. Darin sind Notizen über Kirchheimers Anwesenheit
bei den regelmäßigen Gaststättenbesuchen im Anschluss an das Semi-
nar, gemeinsame Spaziergänge und Fahrten mit der S-Bahn, kurze
Besuche in Schmitts Haus sowie ein Gegenbesuch von Schmitt bei
Kirchheimer und seiner Frau und deren Baby festgehalten. Die Eintra-
gungen dieser Zeit lesen sich fast wortgleich mit denen aus der Bonner
Zeit. Die Gespräche mit Kirchheimer seien »ganz nett« (6. November
1930), er habe ihn »gern« (14. März 1931), seine Thesen im Seminar
seien »klug« (30. Juli 1931).90 Das sollte sich aber bald ändern.
Verglichen mit der ausgesprochen publikationsfreudigen Phase vom
Frühjahr 1928 bis zum Sommer 1930 ist die Zahl der Publikationen
Kirchheimers in den folgenden zwei Jahren bis zum Sommer 1932 auf-
fallend gering. Für dieses nahezu vollständige publizistische Verstum-

88 Im Rückblick hat Franz L. Neumann den Glauben führender SPD-Politiker an


die Voraussage Malapartes für deren Fehleinschätzungen in den letzten Mona-
ten der Weimarer Republik verantwortlich gemacht (vgl. Neumann 1944: 58
und 68 f.).
89 Zum Austausch zwischen Fraenkel, Neumann und Schmitt vgl. Breuer (2012:
111-142).
90 Die Zitate stammen aus den bereits veröffentlichten Tagebüchern von Schmitt
aus den Jahren 1930-34 (Schmitt 2010).

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Einleitung zu diesem Band 81

men gibt es ein Bündel von persönlichen Gründen. Zum einen waren
Hilde und Otto Kirchheimer am 16. Dezember 1930 Eltern einer Toch-
ter Hanna geworden und Otto Kirchheimer hatte große Probleme, sich
auf die dadurch entstandene Lebenssituation und Verantwortung ein-
zustellen. Auch politisch gab es zwischen den Eheleuten immer häufi-
ger Streit. Hilde Kirchheimer-Rosenfeld wendete sich von der SPD ab
und der KPD zu. Die heftigen politischen Debatten zwischen den Ehe-
partnern trugen erheblich dazu bei, dass sie sich im Laufe des Jahres
1931 trennten, aber aus Sorgerechtsgründen keine Scheidung einreich-
ten. Hilde Kirchheimer zog mit der Tochter zurück zu ihrem Vater, um
die nötige Ruhe für die Vorbereitungen auf ihr Assessorexamen zu
haben. Nachdem sie es bestanden hatte, trat sie 1932 als Rechtsanwältin
in die Kanzlei ihres Vaters ein. Sie arbeitete für die Rote Hilfe und ver-
teidigte unter anderem Georgi Dimitroff und Ernst Thälmann (vgl.
Ladwig-Winters 2007: 195). Otto Kirchheimer legte am 2. Juni 1931 zum
Abschluss des Referendariats die Große Staatsprüfung erfolgreich ab;
der erste Prüfungstag ergab die Bewertung »ausreichend«, der zweite
die Note »gut« und die Gesamtnote lautete »voll befriedigend«.91 Nach
dem Bestehen des Examens wusste Kirchheimer nicht so recht, welchen
beruflichen Weg er einschlagen sollte. Seine Leidenschaft schlug für
eine wissenschaftliche Karriere, er sah dafür in der gegenwärtigen
Situation an den deutschen Universitäten aber kaum realistische Chan-
cen. Gewisse Erfahrungen in der Lehre erwarb er in seiner gelegentli-
chen Dozententätigkeit an der Gewerkschaftsschule Berlin. Sie war eine
Gründung der Rätebewegung von 1919 und hatte sich von einem revo-
lutionären Bildungsinstitut zu einer Einrichtung fachbezogener Funk-
tionärsausbildung für Betriebsräte entwickelt.92 Kirchheimer gab an der
Berliner Gewerkschaftsschule Kurse über Arbeitsrecht und über
moderne europäische Geschichte.93 Eine im Dezember 1930 bei der
Rockefeller-Foundation eingereichte Bewerbung für ein einjähriges For-
schungsstipendium in den USA, die von Schmitt gutachterlich unter-
stützt worden war,94 hatte anders als die ebenfalls von Schmitt prote-
gierte Bewerbung von Leo Strauss keinen Erfolg. Auch seine der puren

91 Bundesarchiv Berlin, R 3001, 6322, Akte des Justizministeriums betreffend Dr.


Otto Kirchheimer, Bl. 9.
92 Zur Geschichte und Entwicklung der Berliner Gewerkschaftsschule vgl. Feidel-
Mertz (1972: 70-86) und Olbrich (2001: 185-192).
93 Otto Kirchheimer, Curriculum Vitae (undatiert, ca. 1939). Emergency Commit-
tee in Aid of Displaced German/Foreign Scholars, Public Library, New York. I, A
Grantees 1933-46, Box 18, Folder 13 (Kirchheimer, Otto).
94 Schmitt lobte in dem Gutachten folgende »besonderen Vorzüge von Kirchhei-
mers Arbeits- und Produktionsweise«: einen »guten Blick für die soziologischen
und geschichtlichen Verhältnisse und Entwicklungen, aus denen sowohl die

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82 Einleitung zu diesem Band

beruflichen Verzweiflung geschuldete Bewerbung für Tätigkeiten im


preußischen Verwaltungsdienst Ende 1931 blieb erfolglos.95 Es musste
Geld verdient werden. Von dem Ererbten war ihm nichts geblieben,
was auch einigen Fehlschlägen bei Spekulationen an der Börse geschul-
det war. Finanziell sah er sich der Erwartung ausgesetzt, einen Beitrag
zum Lebensunterhalt der Familie zu leisten. Carl Schmitt notierte dazu
in seinem Tagebuch: »Kirchheimer war bedrückt, weil er kein Geld ver-
dient« (Schmitt 2010: 146). Kurt Rosenfeld, zu dem Kirchheimer trotz
der Trennung von dessen Tochter weiterhin ein gutes Verhältnis hatte,
riet, eine Anwaltspraxis zu eröffnen. Kirchheimer folgte diesem Rat
und entschloss sich, sein berufliches Glück als einer von mehr als 3.000
Rechtsanwälten in Berlin zu versuchen. Seine gesamte persönliche
Situation und unklaren beruflichen Aussichten stürzten ihn nach dem
Bericht seines Jugendfreundes Eugene Anschel in eine tiefe persönliche
Krise, woraus sich erklären mag, warum es zu der beschriebenen Veröf-
fentlichungspause kam.
Kirchheimers Zulassung als Rechtsanwalt bei der Berliner Anwalts-
kammer erfolgte im Januar 1932. Er betrieb – wie viele Anwälte in der
damaligen Zeit – seine Rechtsanwaltspraxis in seiner Privatwohnung.
Nach der Trennung von seiner Frau war er in eine kleine Wohnung im
Zikadenweg 78, im Wohngebiet Eichkamp im Westen Berlins zwischen
Halensee und Westend gelegen, gezogen. Da er als rechtsanwaltlicher
Novize noch keine eigene Klientel hatte, übernahm er einige Fälle aus
der Anwaltspraxis seines Schwiegervaters. Auch von Ernst Fraenkel
und Franz Neumann, die sich im Sommer 1931 zu einer gemeinsamen
Praxis im neugebauten Haus des Metallarbeiterverbandes in der Alten
Jacobstraße in Berlin-Kreuzberg zusammengeschlossen hatten, konnte
er Fälle übernehmen und hielt sich häufiger in deren Kanzlei auf.
Zusätzlich wurde er von den beiden und von Otto Kahn-Freund als
Lehrer an Gewerkschaftsschulen auf Honorarbasis vermittelt. Auch
wenn er publizistisch eine Weile nicht in Erscheinung trat, beteiligte er
sich in verschiedenen Kreisen an den Gesprächen und Diskussionen
über aktuelle politische und staatsrechtliche Fragen. Er hielt den Aus-
tausch mit den zur SAP abgewanderten Genossen der Zeitschrift ›Klas-

juristischen Begriffe wie die theoretischen Argumente entstanden sind«. Kirch-


heimers Eigentumsschrift bezeichnet er als »eine der besten deutschen Arbeiten
über den Enteignungsbegriff«. Gutachten Carl Schmitt für die Rockefeller Foun-
dation über den Antrag von Otto Kirchheimer vom 4. Dezember 1930. In: Lan-
desarchiv Nordrhein-Westfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-13422/1-2.
95 Vgl. Bundesarchiv R 3001, 6322, Akte des Justizministeriums betreffend Dr. Otto
Kirchheimer, Bl. 14.

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Einleitung zu diesem Band 83

senkampf‹ aufrecht und beteiligte sich an Veranstaltungen des Republi-


kanischen Richterbundes in Berlin. Er hatte auch Kontakt zu Wolfgang
Abendroth, der in der KPD-Opposition aktiv war, einer Gruppe ehema-
liger KPD-Mitglieder, die sich dem Vorhaben einer Einheitsfront der
beiden Arbeiterparteien im Kampf gegen den Nationalsozialismus ver-
schrieben hatten (vgl. Abendroth 1976: 145 f.). Und weiterhin erschien
er regelmäßig zu den Treffen des Kreises der gemäßigten Sozialdemo-
kraten um ›Die Gesellschaft‹ im Café Dümichen in der Linkstraße in
Berlin-Mitte. Susanne Suhr, die über ihren Mann Anfang der dreißiger
Jahre zum engen Freundeskreis von Fraenkel und Neumann gehörte
und in deren Haus auch Kirchheimer häufiger zu Gast war, beschrieb
den diskussionsfreudigen Kirchheimer rückblickend in einem
Gespräch mit Alfons Söllner folgendermaßen: »Das war ein ganz bril-
lanter, aber letztlich an praktischer Politik desinteressierter junger Intel-
lektueller« (vgl. Erd 1985: 42).
Die Rückkehr von Kirchheimer auf die Publikationsbühne erfolgte fast
gleichzeitig mit dem schrittweisen Abgang Heinrich Brünings von der
politischen Bühne. Im Verlauf des Jahres 1931 hatte der Reichskanzler
zusehends an Unterstützung für seine Politik im Reichspräsidialamt
verloren. Von einer wirtschaftlichen Wende in Richtung Aufschwung
war nichts zu erkennen und die Bilanz seiner Politik waren Massen-
elend und das Erstarken der Rechtsextremisten. Ihre fortgesetzte Tole-
rierungspolitik wurde für die SPD zu einer immer größeren Zerreiß-
probe. Die Parteilinken hatten diesen Kurs von Beginn an mit dem
Argument abgelehnt, dass sich die Gefahr des Faschismus nicht durch
immer weitergehende Kompromisse mit den Exponenten des Kapitalis-
mus, sondern nur durch dessen Beseitigung bannen lasse. Der SPD-
Parteivorstand reagierte auf die zu jedem Anlass erneut vorgetragene
Kritik der Linken mit nervöser Härte. Die Jungsozialisten wurden vom
Parteivorstand als Organisation innerhalb der SPD für aufgelöst erklärt
und im Herbst 1931 schloss die SPD den Wortführer der linken Opposi-
tion Kurt Rosenfeld zusammen mit Max Seydewitz aus der Partei und
der Reichstagsfraktion aus. Zusammen mit Gesinnungsgenossen des
linken Parteiflügels, Jungsozialisten und anderen Linkssozialisten wie
Theodor Liebknecht gründeten die Ausgeschlossenen im Oktober 1931
eine neue Partei unter dem Namen Sozialistische Arbeiterpartei (SAP).
Rosenfeld erhob mit seiner neuen Partei vollmundig den Anspruch,
dass sich daraus die neue Einheitspartei von SPD und KPD entwickeln
werde. Das Vorhaben missglückte kläglich, die neue Partei kam über
den Status einer politischen Sekte nicht hinaus. Zwar hatte die SAP
vielfältigen Zuzug linkssozialistischer Intellektueller. Der erhoffte

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84 Einleitung zu diesem Band

Erfolg bei den Wählermassen blieb aber aus; die beiden Reichstagswah-
len 1932 endeten für sie katastrophal. Aufgrund dieser Niederlagen
brach die SAP Anfang 1933 in inneren Kämpfen auseinander. Otto
Kirchheimer hatte es abgelehnt, sich dem neuen Parteiprojekt seines
Schwiegervaters anzuschließen. Die SPD besaß aus seiner Sicht zumin-
dest den Vorzug einer tatsächlichen Verankerung in der Arbeiterschaft.
Kirchheimers Artikel Legalität und Legitimität war seine erste längere
Abhandlung nach nahezu zwei Jahren Pause. Der Text erschien im Juli-
Heft 1932 von ›Die Gesellschaft‹. Kirchheimer hatte seit Ende 1931 an
diesem Artikel gearbeitet. Die Anregung dazu stammte aus Seminar-
diskussionen bei Carl Schmitt. Schmitt hatte im Januar 1932 in seinem
Seminar die Begriffe ›Legalität und Illegalität‹ behandelt (vgl. Mehring
2009: 283) und hielt im Februar den Rundfunkvortrag Was ist legal?,
ohne darin aber schon auf den Gegenbegriff ›Legitimität‹ zu rekurrie-
ren.96 Aus dem Kreis um Schmitt beschäftigte sich auch Ernst Forsthoff
mit der Thematik. In einem Brief an Schmitt vom Januar nahm er des-
sen verfassungspolitisches Credo vorweg »Es kommt demnach für
mich nicht auf die Legalität, sondern nur auf die Legitimität, die politi-
sche Einstellung zur Fundamentalverfassung an«.97 An dieser auch von
Schmitt verfochtenen Idee einer Art Superlegalität bestimmter Ele-
mente der Verfassung arbeitete sich auch Kirchheimers Artikel ab,
wenngleich mit einem soziologischen Ansatz und mit einer anderen
politischen Stoßrichtung. Eine erste Textfassung hatte Kirchheimer
Anfang April 1932 fertiggestellt und auch Schmitt zur Verfügung
gestellt, der das Manuskript einige Tage darauf an Forsthoff weiterlei-
tete. Die veröffentlichte Fassung des Artikels nimmt noch einige Detail-
informationen und Literaturhinweise auf, die darauf schließen lassen,
dass das Manuskript der Redaktion von ›Die Gesellschaft‹ Ende Mai
1932 abgeschlossen vorlag.98

96 Vgl. Schmitt (1932 d) und Brief Ernst Forsthoff an Carl Schmitt vom 8. April
1932. In: Briefwechsel Schmitt/Forsthoff (2007: 41).
97 Vgl. Brief Ernst Forsthoff an Carl Schmitt vom 23. Januar 1932, In: Briefwechsel
Schmitt/Forsthoff (2007: 40).
98 Schmitt schickte das Typoskript am 14. April 1932 weiter nach Freiburg an
Forsthoff. Vgl. die Erläuterungen der Herausgeber in: Briefwechsel Schmitt/
Forsthoff (2007: 359). Ein Textvergleich zwischen dieser Manuskriptversion mit
seinen in der Handschrift von Kirchheimer eingetragenen Überarbeitungen und
der publizierten Druckfassung ergibt insgesamt 34 Formulierungsabweichun-
gen, die aber alle ohne größere inhaltliche Bedeutung sind. Die einzige signifi-
kante Veränderung findet sich in den Literaturverweisen in den Fußnoten. Von
den vier Literaturhinweisen, die auf Texte von Carl Schmitt verweisen, findet
sich im Typoskript der Erstfassung nur ein einziger (die Fußnote 5 im abge-
druckten Text). Ein weiterer Verweis auf Schmitt (Fußnote 3) ist von Kirchhei-

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Einleitung zu diesem Band 85

Kirchheimer wusste während der Abfassung seines Artikels noch


nichts von der klandestin vorbereiteten Ablösung Brünings, die am
30. Mai 1932 zu dessen Rücktritt führen sollte. Gleichwohl liest sich der
Artikel wie eine abschließende Bilanz der während der Ära Brüning
erfolgten Veränderungen in der Republik. Die zentrale These der ver-
fassungspolitischen Momentaufnahme Kirchheimers lautet, dass es in
Deutschland ohne formelle Änderungen der Verfassung zu einem
»Strukturwandel des Legalitätsbegriffs« (S. 381) und damit zu einem
tiefgreifenden Verfassungswandel gekommen ist. Die Periode der par-
lamentarisch-demokratischen Legalordnung der Republik ist von einer
neuen Legitimitätsordnung abgelöst worden. Die »neue legitime
Macht« (S. 377) im Staate ist das Berufsbeamtentum in Verbund mit der
sie stützenden Reichswehr und Justiz. Um seine Transformationsthese
zu belegen, zieht Kirchheimer Texte von drei Autoren heran, die er als
wichtige rechtswissenschaftliche Unterstützer dieses Wandels identifi-
ziert: Carl Schmitt, Ernst Rudolf Huber und den schon seit 1930 offen
mit der NSDAP sympathisierenden Otto Koellreutter.
Das zentrale Merkmal von rational gewordenen Rechtsordnungen
besteht darin, dass sie das Recht gleichermaßen ohne Ansehen der Per-
son anwenden. Auch den Gegnern des jeweils geltenden Sozialsystems
räumen sie die formale Gleichbehandlung ein. Und um diese Chance
praktisch zu gewährleisten, bedarf es der Trennung von legislativer
und exekutiver Gewalt. Wird diese Trennung von einer »gewaltenverei-
nende[n] Regierung« (S. 376), wie Kirchheimer es für das Notverord-
nungsregime Brünings konstatiert, aufgehoben, so schwindet die for-
male Gleichheitschance. Ein solches Regime muss sich dann darum
bemühen, die Einbuße der unzweifelhaften Rechtsgrundlage seines
Handelns durch Parlamentsbeschluss dadurch zu kompensieren, dass
es nach einer darüber hinausgehenden Legitimierungsinstanz sucht.
Dieser Ersatzfunktion dient die Berufung auf die Amtsautorität des
Reichspräsidenten. Faktisch aber, so führt Kirchheimer weiter aus, hat
die Vielzahl an präsidentiellen Ermächtigungen des Regierungshan-
delns unter Zuhilfenahme des Artikels 48 eine Situation erzeugt, in der
das Berufsbeamtentum in die Position der neuen legitimen Macht der
Republik schlüpfen konnte. Die Notverordnungspraxis der Regierung
Brüning ist durch Unbestimmtheit ihrer Normierungen, durch unklare

mer handschriftlich nachgetragen, zwei weitere Verweise auf ihn (Fußnoten 15


und 25) finden sich noch nicht, sondern müssen erst kurz vor der Drucklegung
von Kirchheimer nachträglich eingefügt worden sein. (Ich danke Jürgen Tröger
für die großzügige Überlassung einer Kopie dieses Typoskriptes aus dem Nach-
lass von Ernst Forsthoff).

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86 Einleitung zu diesem Band

Formulierungen, durch häufig wechselnde Regelungen und durch


Blankovollmachten an die Behörden geprägt. Dadurch hat die Bürokra-
tie die Möglichkeit erhalten, die Verordnungen in ihrem Sinne auszu-
führen und alle von ihr getroffenen Maßnahmen als legitimiert auszu-
weisen.
Kirchheimers analytischer Schlüsselbegriff für diese Konstellation ist
die »zweistufige Legalität« (S. 379).99 Die Idee zu dem Begriff geht
zurück auf den französischen Rechtstheoretiker Maurice Hauriou, der
in der französischen Verfassung eine »superlégalité constitutionelle«
eingeschrieben sah (vgl. Hauriou 1923: 297). In Deutschland käme diese
Problematik Kirchheimer zufolge deshalb besonders zum Tragen, weil
eine Vielzahl an materiell-rechtlichen Bestimmungen im zweiten Teil
der Verfassung geradezu als Einladung verstanden werden müsste, den
Gesetzgeber bei einer jeden nicht genehmen Entscheidung mit der
Behauptung zu konfrontieren, sie verstoße gegen die Verfassung. Doch
anders als Carl Schmitt in seinem Der Hüter der Verfassung behauptet
(vgl. Schmitt 1931: 91), sei in Deutschland aufgrund der Vielzahl der
Bestimmungen des zweiten Hauptteils die konsequente Formalisierung
und Technisierung des Gesetzesbegriffs zwar erschwert, aber nicht
prinzipiell unmöglich gemacht. Der von Schmitt zur Verteidigung des
Präsidialregimes behauptete Pluralismus der Legalitätsbegriffe habe in
Deutschland »noch nicht Platz gegriffen« (S. 379). Schon vor der Instal-
lierung des Brüning‘schen Notverordnungsregimes konnte die Büro-
kratie in Deutschland deshalb zwar gelegentlich zur »Siegelbewahre-
rin« (S. 379) dieser zweistufigen Legalität werden, wurde aber durch
den funktionierenden Parlamentarismus zumeist in Schach gehalten.
In seinem Artikel legt Kirchheimer für vier Bereiche dar, wie sich die
Legitimitätsbasis der Republik sukzessive verschoben hat: Bei der
Reichsregierung, bei den Länderregierungen, bei den politischen Par-
teien und bei der Arbeitsgerichtsbarkeit. Die Ausweitung der Handha-
bung des Artikels 48 für Notverordnungen mit unbestimmter oder
unbegrenzter Geltungsdauer hat die Möglichkeiten der Überprüfung
der Verwaltung an Maßstäben des Gesetzes zerstört. Jede Kritik an der
offensichtlichen Illegalität einer per Notverordnung dekretierten Maß-
nahme oder ihre Auslegung durch die Bürokratie prallt an der Beru-
fung auf die Legitimität der Regierung und der undiskutablen Richtig-
keit ihrer Ziele und Handlungen ab. Dadurch sind sämtliche legalen
Schranken für das Regierungshandeln verschwunden, die Regierung

99 Zur Rezeption dieser Argumentationsfigur in den rechtstheoretischen Debatten


der Bundesrepublik der 1970er Jahre vgl. Preuß (1973) und Blanke (1984).

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Einleitung zu diesem Band 87

legitimiert sich selbst. Einen parallel verlaufenden Wandel erkennt


Kirchheimer in der zahlenmäßig zunehmenden Einrichtung von
geschäftsführenden Regierungen auf Ebene der Länder. Sollte es zu der
von Ernst Rudolf Huber im Frühjahr 1932 empfohlenen Ersetzung der
Geschäftsregierungen durch Reichskommissare (vgl. Huber 1932) kom-
men, wäre dies ein weiterer Schritt in dem von ihm diagnostizierten
Transformationsprozess.
Eine gleichlaufende Entwicklung sieht Kirchheimer im Umgang mit
den politischen Parteien. Grundsätzlich müssen nach dem Wortlaut der
Weimarer Verfassung alle politischen Parteien gleich behandelt wer-
den. Zu Recht hat es der Reichstag auch immer abgelehnt, einzelne
politische Parteien und Gruppierungen unter besondere Strafgesetze zu
stellen. Die Sozialvorstellungen in der Zielsetzung einer Partei sind
ohne Belang für deren Legalitätsstatus; Einschränkungen ergeben sich
höchstens aus den beiden Republikschutzgesetzen von 1921 und 1930,
deren Bestimmungen sich jedoch auf konkrete strafbare Handlungen
beziehen, die mit dem Ziel begangen werden, die Republik zu unter-
graben. Die dadurch nicht berührte grundsätzliche politische Gleichbe-
handlung der politischen Parteien sieht Kirchheimer durch die Kon-
struktion des Rechtsbegriffs einer »revolutionären Partei« durch Otto
Koellreutter unterminiert. Kirchheimer erläutert den dadurch eintreten-
den legitimationspolitischen Wandel im Zuge einer Auseinander-
setzung mit einem aktuellen Aufsatz von Koellreutter, in dem dieser im
Ergebnis für ein Ende aller rechtlichen Beschränkungen der NSDAP
und ihrer Kampfverbände und ein Verbot der KPD argumentierte (vgl.
Koellreutter 1932). Kirchheimer führt gegen das Konstrukt des Rechts-
begriffs einer »revolutionären Partei« zum einen inhaltliche Einwände
gegen die positive Bewertung der NSDAP ins Feld und spricht die Ver-
mutung aus, dass es Koellreutter bei seinem Verdikt des Revolutionä-
ren »in erster Linie um die Umwandlung der Eigentumsordnung zu
tun« (S. 387) sei. Er erhebt zum anderen grundsätzliche Einwände
gegen eine solche Rechtsfortbildung, die zwischen legitimen und illegi-
timen Parteien unterscheidet. Die Weimarer Verfassung kenne keine
Superlegalität ausgewählter Elemente ihres Normensystems. Damit
aber sei es ausgeschlossen, dass es neben dem Begriff der Legalität ein
zusätzliches materielles Kriterium für die rechtliche Bewertung einer
politischen Partei geben kann. Genau dies aber sei in Deutschland
bereits geschehen. Als Beispiel für diese Praxis nennt er einen Erlass
des Reichswehrministers Wilhelm Groener aus dem Januar 1932, mit
dem Stellenbewerber für die Reichwehr aus den Reihen der Mitglieder

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88 Einleitung zu diesem Band

der NSDAP und ihrer Kampfverbände zugelassen wurden, die Einstel-


lung Anhängern der KPD aber weiterhin versagt blieb.
In einem kürzeren Abschnitt geht Kirchheimer auf Veränderungen im
Arbeitsrecht ein. Er folgt hier im Wesentlichen der Kritik von Otto
Kahn-Freund und Ernst Fraenkel an der jüngeren Rechtsprechung des
Reichsarbeitsgerichts.100 Zum einen hat sich das Reichsarbeitsgericht in
seinen Urteilen zur Nichtanerkennung von Betriebsräten und gewerk-
schaftlichen Organisationen angemaßt, die Legitimität von potentiellen
Tarifparteien einzuschränken. Zum anderen hat das Gericht die Freiheit
der gewerkschaftlichen Betätigung in inhaltlicher Hinsicht einge-
schränkt, als es für sich das Definitionsmonopol beanspruchte, was aus
seiner Sicht eine legitime wirtschaftliche Zielsetzung und illegitime
politische Zielsetzung eines Arbeitskampfes sei.
Im Ergebnis seiner vierteiligen Analyse gelangt Kirchheimer zu dem
Befund, dass der Begriff der Legalität in der Ära Brüning »einem sinn-
entleerenden Auflösungsprozess unterworfen« (S. 378) worden ist. Das
parlamentarisch-demokratische System der Republik von 1919 bis 1930
habe sich im Rückblick als ein Zwischenstadium auf dem Weg zur
Herrschaft des Berufsbeamtentums im Verbund mit Reichswehr und
Justiz erwiesen. Die Bürokratie legitimiert sich als Regierung selbst,
beschränkt mit der legitimen Partei die Freiheit ihrer Feinde und
beherrscht das Arbeitsrecht mit der legitimen Tarifpartei und dem legi-
timen Arbeitskampf.
Kirchheimer hatte mit dieser Diagnose Überlegungen aus den vorher-
gehenden drei Jahren weiterentwickelt und radikalisiert. 1929 hatte er
im Aufsatz Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbeiterklasse
die Verselbständigungstendenz der Bürokratie bemängelt und in
Weimar … und was dann? 1930 die legitimierende Funktion des Reichs-
präsidenten und der Justiz kritisiert. Mit seiner Formel der »zweistufi-
gen Legalität« fasst er diese Einzeltendenzen nun zu einer grundlegen-
den Transformationstendenz zusammen. So fundamental diese ange-
legt ist, so sehr bezweifelt er, dass sich die gegenwärtige Herrschaft der
bürokratischen Aristokratie auf lange Sicht halten kann. Er sieht auch
im gegenwärtigen Zustand nur ein weiteres verfassungspolitisches
»Zwischenstadium« (S. 378). In Abgrenzung zum Plädoyer von Huber
für einen autoritären Wirtschaftsstaat (vgl. Huber 1931) hält er die
»soziale Basis« der Bürokratie für »zu schwach, als dass sie als überle-
gener Dritter zwischen den sich befehdenden Wirtschaftsgruppen

100 Vgl. Fraenkel (1932) und Kahn-Freund (1932).

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Einleitung zu diesem Band 89

einen Ausgleich« (S. 394) zu schaffen vermöchte. Die Bürokratie wird


sich nur dann noch eine Weile an der Macht halten können, wenn sie
sich an extrem konservative gesellschaftliche Gruppen aus Kreisen der
Agrarier, im kleinen Unternehmertum und im Militär, die den gegen-
wärtigen kapitalistischen Entwicklungsprozess zurückzudrehen ver-
suchen, anlehnt. Noch aber gibt es eine gesellschaftliche Gegenkraft. Er
sieht sie in dem »vorwärtsstrebende[n] Wille[n] der demokratischen
Bevölkerungsmassen« (S. 394), ohne aber eine Prognose über den Aus-
gang dieser Konfliktlage zu geben.101
Der rechtsstaatliche Gesetzesbegriff stand auch im Zentrum der Aus-
einandersetzung Carl Schmitts mit dem bürgerlichen Rechtsstaat. Im
Hüter der Verfassung hatte er sich grundsätzlich noch für die Gewalten-
teilung zwischen Parlament, Regierung und Justiz ausgesprochen, sie
allerdings für die Praxis als bereits weitgehend erodiert angesehen. In
mehreren Vorträgen und kleineren schriftlichen Beiträgen aus der ers-
ten Hälfte des Jahres 1932 kündigte er dann seine grundsätzliche Befür-
wortung des Gewaltenteilungsprinzips auf. Mit dem Aufstieg des
Reichspräsidenten zu einem neuen Gesetzgeber und mit der Preisgabe
der Unterscheidung von Gesetz und Maßnahme sei eine grundsätzliche
Wandlung vom Gesetzgebungsstaat zum Verwaltungsstaat eingetreten.
Bereits wenige Tage nach dem Amtsantritt Papens konnte er seinem
Verleger das Manuskript einer aus den Vorträgen der vergangenen
Wochen kompilierten Abhandlung mit dem Titel Legalität und Legitimi-
tät anbieten. Für Schmitt sollte der Titel der Broschüre den Übergang
zu einer neuen politischen Ordnung signalisieren, den Übergang von
der Ordnung der bisherigen Legalität zu einer höheren Legitimität.
War für Kirchheimer die Verselbstständigung des Staates gegenüber
der Gesellschaft das Problem, so war für Schmitt genau umgekehrt das
Übergreifen der pluralistischen Gesellschaft auf den Staat die Ursache
der Krise. Schmitts Abhandlung erschien Mitte August. Der Autor legte
Wert auf den Eintrag in der Frontispiz-Seite, dass er die Abhandlung
bereits am 10. Juli, also vor dem Staatsstreich in Preußen, abgeschlos-
sen hatte. Schmitt bezog sich darin ausdrücklich auf Kirchheimers Ana-
lyse und erklärte zustimmend, dass er dessen zugespitzte Formulie-
rung, die Legitimität der parlamentarischen Demokratie bestehe nur
noch in ihrer Legalität, »für richtig« (Schmitt 1932 a: 14) erachte. Bei die-
ser Gelegenheit änderte Schmitt allerdings den Wortlaut von Kirchhei-
mers Befund für seine eigenen argumentativen Zwecke. Denn während

101 Laut Veranstaltungsnotiz des ›Vorwärts‹ stellte Kirchheimer seine Thesen über
Legalität und Legitimität am 2. Oktober 1932 bei der Zusammenkunft der Ver-
einigung Sozialdemokratischer Juristen in Berlin zur Diskussion.

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90 Einleitung zu diesem Band

es bei Kirchheimer hieß, dass die Legitimität des Gesetzgebungsstaates


»allein in ihrer Legalität« (S. 382) bestehe,102 so gab Schmitt das Zitat
wieder als »nur noch in ihrer Legalität« (vgl. Schmitt 1932 a: 14). Er rei-
cherte damit Kirchheimers noch korrigierbare Tendenzaussage mit
einer generellen verfallstheoretischen Diagnostik an, die sich bei Kirch-
heimer im Text nicht findet, sich aber gut in Schmitts eigene Rechts-
theorie einfügte.103
So eindeutig Schmitt in seiner Dekonstruktion des Weimarer Verfas-
sungssystems war, so vage blieb er in der von ihm präferierten Alterna-
tive. Rückblickend hat Schmitt seine Schrift als Teil seines geradezu ver-
zweifelten Versuchs bezeichnet, die Weimarer Verfassung zu retten. Es
gibt indes auch Anhaltspunkte in der Abhandlung, die dafür sprechen,
dass Schmitt bereits zu diesem Zeitpunkt im Namen der »Anerken-
nung der substanzhaften Inhalte und Kräfte des deutschen Volkes«104
auf eine grundlegende Systemalternative zur Weimarer Republik zielte.
Nach der Veröffentlichung der Broschüre von Schmitt, die von nicht
wenigen ihrer zeitgenössischen Leser als eine Rechtfertigung des
Staatsstreiches in Preußen und als Begründungfolie für die Einrichtung
einer dauerhaften Diktatur gelesen wurde (vgl. Fraenkel 1932 c: 489 f.),
kam es in den Gesprächen zwischen Schmitt und Kirchheimer zu hefti-
gen politischen Auseinandersetzungen. Schmitt, der auf Kritik beleidigt
zu reagieren pflegte, änderte nun auch seine persönliche Haltung zu
Kirchheimer. Statt ihn weiterhin »nett« und »klug« zu finden, heißt es
Ende August 1932 nach einem gemeinsamen Spaziergang im Tiergar-
ten, Kirchheimer sei ein »scheußlicher Kerl«.105
Für Kirchheimer wurde Schmitts Schrift zum Auslöser, seine bislang
nur verstreut öffentlich geäußerte Kritik an Schmitt ausführlicher und
zusammenhängender darzulegen. Er tat sich dafür mit dem erst 21-jäh-
rigen Nathan Leites zusammen, einem aus Sankt Petersburg stammen-
den Studenten der Soziologie an der Berliner Universität.106 Dem Text
ist anzumerken, dass der überwiegende Teil aus der Schreibmaschine
von Kirchheimer stammt. Nach zwei Wochen war das Manuskript fer-

102 Die Formulierung ist identisch mit der vorab von Kirchheimer an Schmitt
geschickten Manuskriptfassung seines Aufsatzes.
103 Zu diesem »zusätzlichen Dreh« (Andreas Anter) von Schmitt bei seiner Kirch-
heimer-Zitation vgl. Neumann (2015: 236-239) und Anter (2016: 106).
104 Vgl. Schmitt (1932 a: 97). Zur politischen Mehrdeutigkeit dieser Schrift vgl.
Hofmann (1995: 99 f.) und Mehring (2009: 285-288).
105 Tagebucheintrag Carl Schmitt vom 25. August 1932. In: Schmitt (2010: 210).
106 Zur Biografie von Leites vgl. die Erinnerungsessays in Rand-Corporation
(1988).

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Einleitung zu diesem Band 91

tig, von dem er Rudolf Smend schon Anfang September berichten


konnte, dass es im Januar 1933 in der Zeitschrift ›Archiv für Sozialwis-
senschaft und Sozialpolitik‹ erscheinen werde.107 Für Kirchheimer war
dies seit seinem Dissertations-Aufsatz die erste Veröffentlichung in
einer sozialwissenschaftlichen Fachzeitschrift. Alle vorherigen Publika-
tionsorte hatten deutlich ausgeprägte politische Zielrichtungen. Das
seinerzeit von Max Weber, Werner Sombart und Edgar Jaffé gegründete
›Archiv‹ wurde von Emil Lederer in Verbindung mit Joseph Schumpe-
ter und Alfred Weber herausgegeben. Es galt als prominentester Publi-
kationsort im damaligen sozialwissenschaftlichen Fächerspektrum.
Schmitts Begriff des Politischen war hier 1927 in einer ersten Version
erschienen; ebenfalls Leo Strauss‘ kritische Anmerkungen zu Schmitts
Politikbegriff (vgl. Strauss 1932).
Der Aufsatz trägt den Titel Bemerkungen zu Carl Schmitts ›Legalität und
Legitimität‹. Gleich zu Beginn benennen Kirchheimer und Leites den
Kern ihrer grundsätzlichen Einwände gegen Schmitt. Sein grundsätzli-
cher Irrtum liege in dem Gedanken, gesellschaftliche Homogenität
müsse ebenso sehr die Voraussetzung wie das Ergebnis der Demokratie
sein. Implizit vertrete Schmitt die Annahme, dass der Widerspruchs-
haftigkeit eines politischen Normensystems eine nicht funktionierende
Realität bei der Anwendung dieses Normensystems entsprechen
müsse. Dies sei das »begriffsrealistische […] Element seiner Theorie«
(S. 458) – ein methodologischer Vorwurf gegen Schmitt, den bereits
Smend im Zusammenhang mit seiner Kritik an dessen Parlamentaris-
musschrift einige Jahre zuvor erhoben hatte (vgl. Smend 1928: 152 f.).
Kirchheimer und Leites versuchen in ihrem Artikel im Detail nachzu-
weisen, wie Schmitts begriffsrealistischer Ansatz seine suggestive Kraft
aus der selektiven Verbindung von theoretischen Postulaten und empi-
rischen Beispielen gewinnt. Im Zentrum ihrer kritischen Auseinander-
setzung steht der Demokratiebegriff Schmitts. Erst aus der Übersteige-
rung des Gleichheitspostulats folge die von ihm behauptete völlige
Funktionsunfähigkeit in der politischen Praxis des modernen Verfas-
sungsstaates. Gegen Schmitts einseitige Ableitung der Demokratie aus
dem Gleichheitspostulat und der sich daraus ergebenden begrifflichen
Strategie, Demokratie und Freiheit gegeneinander auszuspielen, argu-
mentieren Kirchheimer und Leites mit der normativen Gleichursprüng-
lichkeit von politischen Gleichheits- und Freiheitsnormen. Gegen
Schmitts Homogenitätspostulat wenden sie ideengeschichtlich ein, dass

107 Brief Otto Kirchheimer an Rudolf Smend vom 7. November 1932. In: Staats-
und Universitätsbibliothek Göttingen, Nachlass Rudolf Smend, Cod. Ms. R.
Smend A 441.

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92 Einleitung zu diesem Band

selbst Rousseau erkannt habe, dass Sonderinteressen mit dem Tatbe-


stand der Gesellschaft immer gegeben sind. »Eine völlige Aufhebung
der Meinungsverschiedenheiten ist […] nur als Utopie denkbar, weil
hier die Aufhebung des Tatbestands der Individualität impliziert wäre«
(S. 462).
Vor allem aber verlangen Kirchheimer und Leites von Schmitt den Mut
zum empirischen Blick auf real existierende moderne Demokratien.
Seine These, dass die Demokratie in einer heterogenen Gesellschaft
nicht nur nicht zu rechtfertigen sei, sondern auch nicht funktionsfähig
sein könne, konfrontieren Kirchheimer und Leites mit einem verglei-
chenden Blick auf Frankreich, Belgien, Großbritannien und die USA. In
all diesen Ländern sei festzustellen, dass »der Trend zur Heterogenität
im Allgemeinen eine Tendenz zum Ansteigen hat« (S. 465), die Demo-
kratie dadurch aber keine Funktionsverluste erlitte. Schmitts Schwa-
nengesang auf die moderne Demokratie basiere somit auf einer viel zu
»schmalen Induktionsbasis« (S. 467), um wissenschaftlich ernst genom-
men werden zu können. Doch nicht nur ist Schmitts empirische Dia-
gnostik falsch, seine Sehnsucht nach der Autorität lässt ihn auch blind
für »die neue[n] Möglichkeiten in der Realität« (S. 467) werden, mit
denen moderne parlamentarische Demokratien auf gesellschaftliche
Veränderungen reagieren können. Kirchheimer und Leites kritisieren in
diesem Zusammenhang Schmitts kategorische Unterscheidung der
Staatsarten und weisen darauf hin, dass gerade die USA ein Beispiel für
die stabile Verbindung eines parlamentarischen Gesetzgebungsstaates
mit einem Jurisdiktionsstaat böten. Über weite Strecken liefert der Arti-
kel dann eine exegetische Auseinandersetzung zu juristischen Normty-
pen und der Auslegung von Grundrechten und einzelnen Artikeln der
Verfassung in Schmitts Buch. Die von ihm als unauflösbare Widersprü-
che der Weimarer Verfassungskonstruktion beschriebenen Elemente
deuten Kirchheimer und Leites als potentiell integrative Brückenprinzi-
pien, mit deren Hilfe sich die soziale Kompromissbildung und damit
die parlamentarische Demokratie stabilisieren lasse. Auch wenn in der
gegenwärtigen parlamentarischen Demokratie keine wirkliche Chan-
cengleichheit herrsche, so sei sie doch wenigstens »die einzige Staats-
form, die eine institutionelle Garantie eines noch so einschneidenden
Machtwechsels bei völliger Kontinuität der Rechtsordnung« (S. 485)
vorsehe, wie Kirchheimer und Leites unter Berufung auf Hermann Hel-
ler erklären.
Kirchheimer hatte das vom ›Archiv‹ bereits angenommene Manuskript
vor der Veröffentlichung nicht nur Smend, sondern auch Schmitt zur

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Einleitung zu diesem Band 93

Kenntnis gegeben. Die sich daraus entspinnende Diskussion mit Kirch-


heimer fiel allerdings nicht zur Zufriedenheit von Schmitt aus. In sei-
nem Tagebuch notierte er über das Gespräch mit Kirchheimer über
den Text am 6. November 1932 in seinem Hause: »es hat keinen Zweck
mit ihm zu sprechen, er will einfach nichts sehen.« Und fügte als nächs-
ten Eintrag hinzu: »Scheußlich, dieser Jude.«108

8. Kampfaufrufe zur Verteidigung der Republik

Otto Kirchheimer konnte nach Abschluss seiner Arbeiten am Aufsatz


Legalität und Legitimität in Berlin aus nächster Nähe beobachten, wie
sich die politischen Ereignisse immer schneller überschlugen. Brüning
bekam für seine Politik und für seine Abgrenzung gegen die NSDAP
zunehmend weniger Unterstützung aus dem Präsidialamt und musste
schließlich am 30. Mai 1932 seinen Rücktritt einreichen. Zuvor hatte im
Präsidialamt General Kurt von Schleicher vertrauliche Gespräche mit
Adolf Hitler geführt und ihn für die Tolerierung eines anderen Präsidi-
alkabinetts durch die NSDAP gewinnen können. Auf diese Weise war
das Präsidialkabinett nicht mehr auf die Tolerierung der SPD angewie-
sen, was eine ultimative Forderung von Hindenburg an seine Mitarbei-
ter gewesen war. Im Gegenzug für seinen Tolerierungskurs wurde Hit-
ler unter anderem zugesagt, dass der Reichspräsident nach der Ernen-
nung der neuen Regierung den Reichstag auflösen und damit Neuwah-
len herbeiführen werde. Das Kalkül Hitlers bei diesen vertraulichen
Abmachungen war, dass seine Partei nach diesen Wahlen auf legalem
Wege an die Regierung gelangen werde. Das neue Präsidialkabinett mit
Franz von Papen an der Spitze war in seiner personellen Zusammenset-
zung noch weiter nach rechts gerückt. Am 1. Juni 1932 übernahm der
neue Kanzler die Regierungsgeschäfte und am 4. Juni erfüllte der Präsi-
dent eine der Bedingungen, die Hitler an die Duldung der neuen Regie-
rung geknüpft hatte und löste den Reichstag auf. Als Termin für die
Neuwahlen setzte er den 31. Juli fest.
Kirchheimer reagierte auf diese Wendung der politischen Ereignisse
mit dem Artikel Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung im
August-Heft der ›Gesellschaft‹. Mit Papen und seinem Kabinett sei der
letzte Anschein einer formalen Neutralität des Reichspräsidenten
dahingegangen. Damit habe sich auch die verfassungspolitische Situa-
tion in Deutschland so weit geändert, dass Kirchheimer der Regierung

108 Tagebucheintrag von Schmitt am 6. November 1932. In: Schmitt (2010: 231).

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94 Einleitung zu diesem Band

grundsätzlich ihre politische Legitimation abspricht. In der neuen


Situation »muss jede Gruppe selbst unter ihrer eigenen Verantwortung
prüfen, welche Handlungen der Regierung den verfassungsmäßigen
Gehorsam verdienen« (S. 396). Solange das Parlament als Stätte der
politischen Entscheidung erhalten blieb, war die Gehorsamspflicht
gegeben. Für die »Bekenner des demokratischen Sozialismus« (S. 396)
erlischt sie aber dann, wenn von einer Regierung versucht wird, mit
Hilfe von verfassungswidrigen Auslegungen des Artikels 25 der
Reichsverfassung, der das Auflösungsrecht des Präsidenten regelt, die
Institution des Parlaments selbst »zu vernichten« (S. 397). Genau diesen
Fall sieht Kirchheimer mit dem Auflösungsbeschluss vom 4. Juni gege-
ben. Er unterscheidet in seinem Argumentationsgang zwischen dem
Auflösungsrecht in konstitutionellen Monarchien und dem in parla-
mentarischen Demokratien. In der englischen Verfassungspraxis habe
sich in kontinuierlicher Entwicklung die konstitutionelle Praxis der Par-
lamentsauflösung herausgebildet. Kirchheimer unterscheidet unter
Verweis auf Carl Schmitts Verfassungslehre verschiedene Formen und
Fälle, die das parlamentarische Auflösungsrecht bietet (vgl. Schmitt
1928: 353-359). Keinen dieser zulässigen Fälle sieht er in der Reichstags-
auflösung gegeben, die auf der Zusage von Hindenburg und Papen
gegenüber Hitler beruht. Sie sei weder in der Form noch mit der ange-
führten Begründung verfassungsrechtlich zulässig. Denn die Tatsache,
dass ein Reichspräsident bestimmte Parteien nicht an einer Regierungs-
koalition beteiligt wissen möchte und er bestimmten Parteien im Parla-
ment »zu einer besseren Stellung verhelfen« (S. 406) möchte, sei als
Auflösungsgrund nicht durch Artikel 25 der Verfassung gedeckt.
Noch vor den Neuwahlen am 31. Juli erfolgte durch die Präsidialregie-
rung ein weiterer Schlag gegen die demokratische Linke in der Repu-
blik. Bei den Wahlen Ende April 1932 hatte die in Preußen regierende
›Weimarer Koalition‹ von SPD, Zentrum und DDP ihre Regierungs-
mehrheit im Landtag verloren und blieb, wie einige andere Landesre-
gierungen auch, nur noch geschäftsführend im Amt. Das Kabinett
Papen bereitete seit Anfang Juli die in der Öffentlichkeit von verschie-
denen deutschnationalen Politikern und Publizisten geforderte Beseiti-
gung der preußischen Regierung konkret vor. Es fehlte lediglich an
einer ausreichenden Begründung für einen derartigen massiven Ein-
griff in die von der Verfassung garantierten Länderrechte. Eine solche
bot sich nach einer Straßenschlacht zwischen SA-Kolonnen und Kom-
munisten, bei der am ›Altonaer Blutsonntag‹ am 17. Juli 1932 eine völ-
lig überforderte Polizei für den Tod von mehreren unbeteiligten Zivilis-
ten verantwortlich war. Mit der Begründung, dass nach der Altonaer

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Einleitung zu diesem Band 95

Katastrophe eine Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und


Ordnung im Gebiet des Landes Preußen nur von der Reichsregierung
geleistet werden könne, wurde am 20. Juli 1932 die preußische Regie-
rung abgesetzt. Formaljuristisch unter Anwendung von Artikel 48 als
Reichsexekution tituliert, war diese Aktion ein »kaum getarnter Staats-
streich« (Karl Dietrich Bracher). An Stelle der preußischen Regierung
übernahm ein von der Reichsregierung installierter Reichskommissar
die politische Macht im größten und wichtigsten Land des Reiches. Die
SPD schätzte die Chancen für einen erfolgreichen Widerstand gegen
diesen Putsch vermutlich realistisch als nicht Erfolg versprechend ein.
Sie entschloss sich stattdessen für einen strikten Legalitätskurs und ver-
traute auf einen Sieg des Rechts bei einer Klage gegen den Verfassungs-
bruch vor der Staatsgerichtshofkammer des Leipziger Reichsgerichts.
Bei diesem Prozess, der vom 10. bis zum 17. Oktober stattfand, waren
die Exponenten der konträren Positionen Carl Schmitt als der von der
Reichsregierung und Hermann Heller als der vom preußischen Land-
tag beauftragte Prozessvertreter.
In seinem Artikel Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts, der in der
September-Ausgabe der ›Gesellschaft‹ erschien, mischte Kirchheimer
sich mit einer eindeutigen Stellungnahme in die vor dem Leipziger
Staatsgerichtshof anstehenden staatsrechtlichen Gefechtsvorbereitun-
gen ein. Er bezeichnete den ›Preußenschlag‹ als einen offensichtlichen
Verfassungsbruch von zugleich eminenter politischer Bedeutung.
Erneut bettete er seine Argumentation in ein historisches Verlaufs-
schema ein, dessen Entwicklungsdynamik auf sozialökonomischen
Veränderungen basiert. Die sukzessive Auflösung des parlamentari-
schen Gesetzgebungsstaates der Weimarer Republik lasse sich retro-
spektiv in drei Phasen unterteilen: In einer ersten Phase von 1919
bis 1922 basierte die deutsche Republik auf einem freien Bündnis zwi-
schen den gesellschaftlichen Kräften, die politisch von der Sozialdemo-
kratie, dem katholischen Zentrum und den liberalen bürgerlichen Par-
teien repräsentiert wurden. Die Ära Stresemanns hatte eine erste Redu-
zierung der bürgerlichen Bewusstseinshaltung auf ihre wirtschaftlichen
Kerninteressen gebracht, was sich politisch darin abbildete, dass an die
Stelle der rein parlamentarischen Regierung ein sich nach der jeweili-
gen sozialen Machtposition vollziehender Ausgleich der sozialen
Kräfte getreten war. Dadurch wurde es der staatlichen Bürokratie in
dieser zweiten Phase ermöglicht, in eine schiedsrichterliche Stellung
aufzusteigen. Seit der Ära Brüning sei die Republik zu einer autoritären
Regierungsform mutiert, die wesentliche materielle Bestimmungen aus
dem zweiten Teil der Verfassung außer Kraft gesetzt hat. Mit dem

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96 Einleitung zu diesem Band

»Staatsstreich des 20. Juli« (S. 423) sind nun auch Teile des ersten, orga-
nisatorischen Teils der Verfassung ins Visier der treibenden gesell-
schaftlichen Kräfte der schleichenden Verfassungserosion geraten.
Kirchheimer wirft den Unterstützern dieses »Schrumpfungsprozess[es]
der Weimarer Verfassung« (S. 410) aus der deutschen Staatsrechtswis-
senschaft vor, sich bei der Beantwortung positiver Rechtsfragen längst
nicht mehr an der Weimarer Verfassung zu orientieren, sondern eine
verfassungsjenseitige »Wissenschaft der konkreten Umstände« (S. 410)
zu betreiben. Die zitierte Formulierung macht deutlich, dass Kirchhei-
mer sich in seinem Artikel direkt an Schmitt wendet. Er beharrt darauf,
dass jede staatsrechtliche Frage ausschließlich auf Basis der Weimarer
Verfassung entschieden werden dürfe und erinnert Schmitt in diesem
Zusammenhang an ein Diktum aus dessen Verfassungslehre, demzufolge
es grundlegende Institutionen des geltenden Verfassungsrechts gibt,
die gegen verfassungsändernde Beschlüsse des Parlaments und damit
auch gegenüber Eingriffen des Reichspräsidenten immun sind (vgl.
Schmitt 1928: 25-27).
Zu diesen grundlegenden Institutionen zählt Kirchheimer den Födera-
lismus. Die hohe verfassungsrechtliche Bedeutung des Föderalismus
lasse sich nicht zuletzt daran erkennen, dass die Weimarer Verfassung
im Gegensatz zur kaiserlichen Reichsverfassung als Entscheidungsin-
stanz für Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern extra den Staats-
gerichtshof eingesetzt habe. Erneut richtet Kirchheimer sein Wort direkt
an Schmitt. Grundsätzlich habe er natürlich Recht, wenn er bei Ent-
scheidungen über Konflikte zwischen Reich und Ländern zur Zurück-
haltung gemahnt habe (vgl. Schmitt 1931: 4). In diesem besonderen Fall
jedoch ist das Gericht als Streit entscheidende Instanz »in vollem
Bewusstsein des hochpolitischen Charakters solcher Differenzen«
(S. 413) eingeschaltet worden. Deshalb ist es »nicht zulässig, hier von
ihm eine Abstinenz zu verlangen, die in Wirklichkeit die innere Organi-
sation des Reiches zur freien Disposition des Reichspräsidenten stellen
würde« (S. 413). Kirchheimer zeigte mit dieser Bemerkung ein feines
Gespür für die Strategie, mit der Schmitt im Oktober vor dem Staatsge-
richtshof für die Sache des Reiches argumentieren sollte. In seiner dann
im Einzelnen entfalteten verfassungsrechtlichen Argumentation hält
sich Kirchheimer eng an den Wortlaut des Verfassungstextes, zieht ein-
schlägige staatsrechtliche Kommentierungen heran und geht auf poli-
zeirechtliche Details ein, die bei der Beweisaufnahme vor dem Staatsge-
richtshof ebenfalls herangezogen werden müssten. Er führt Rudolf
Smend als Kronzeugen für den rechtsstaatlichen Grundsatz ins Feld,

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Einleitung zu diesem Band 97

wonach auch bei einzelnen Regierungsakten die Ermessensgrenzen


einer Überprüfung durch den Staatsgerichtshof unterliegen (vgl.
Smend 1931).
Kirchheimer gelangt abschließend zu dem Urteil, dass bei dem Vorge-
hen am 20. Juli »ein so schwerer Fall des Ermessensmissbrauchs
vor[liegt], dass demgegenüber eine Vermutung der subjektiven Gut-
gläubigkeit der Reichsregierung nicht mehr Platz greifen kann« (S. 421).
Der Konflikt zwischen Preußen und dem Reich zeige, dass die Reichs-
regierung gar keinen Wert mehr auf die Aufrechterhaltung der Rechts-
gemeinschaft in Deutschland legt. Nicht nur die wesentlichen sozialen
Grundrechtspositionen der Verfassung, sondern nun auch die grundle-
genden innerorganisatorischen Bestimmungen der Verfassung unterlie-
gen einem »planmäßigen Vernichtungsprozess durch die derzeitige
Reichsregierung« (S. 421). Der damit geschaffene »nachdemokratische
Staat« (S. 423) sei ein »autoritärer Staat« (S. 423). Für Kirchheimer resul-
tiert aus dieser Diagnose keine nur pessimistische Aussicht. Die neue
Situation hat zumindest den Vorzug unmissverständlicher Klarheit und
»zwingt der Arbeiterklasse neue Kampfformen auf« (S. 423). Mit dem
›Preußenschlag‹ haben sich die nun herrschenden Schichten auf einen
politischen Weg begeben, dessen Ausgang sie so wenig beeinflussen
können wie ein Kapitän auf dem offenen Meer den Bau seines Schiffes,
die Winde und die ihm entgegenstürmenden Wellen.
Im November 1932 meldete Kirchheimer sich erneut publizistisch zu
Wort. Mittlerweile waren seine schlimmsten Befürchtungen Realität
geworden. Bei den Wahlen am 31. Juli war die SPD weiter zurückgefal-
len, während die KPD Zugewinne verzeichnen konnte. Der große
Wahlsieger jedoch war die NSDAP, die ihren Stimmenanteil mit jetzt
über 37 Prozent mehr als verdoppelt hatte. Der Prozess vor dem Leipzi-
ger Staatsgerichtshof endete ebenfalls mit einer Niederlage der SPD,
indem er zwar beiden Seiten in einigen Punkten Recht gab, die abge-
setzte Regierung aber nicht wieder voll in ihre Rechte einsetzte. In
einem Feuilleton für die zweiwöchentlich erscheinende Zeitschrift ›Das
freie Wort‹ nahm Kirchheimer in dem Artikel Nazis, Auslandsdeutsche
und Proleten die Publikation des Buches Was wir vom Nationalsozialismus
erwarten zum Anlass einer Polemik gegen die nationalsozialistische
Ideologie. Das Buch war herausgegeben von Albrecht Erich Günther,
einem Publizisten aus dem Autorenkreis der Konservativen Revolution
(vgl. Günther 1932). Kirchheimer spießt in dem kurzen Beitrag zwei
Topoi des Buches auf, die widersprüchliche Haltung der Nationalsozia-
listen zu den Auslandsdeutschen sowie die biologistischen Grundlagen

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98 Einleitung zu diesem Band

der nationalsozialistischen Untermenschenlehre und ihre sozialpoliti-


schen und eugenischen Konsequenzen.
Franz von Papen hatte in seiner Regierungserklärung die Notwendig-
keit eines »Neuen Staates« proklamiert. Die politische Existenz seines
Präsidialkabinettes hing ab vom Gelingen einer Verfassungsreform.
Aber auch viele seiner politischen Gegner aus dem Lager der Repu-
bliktreuen erhofften sich von einer Verfassungsreform den Ausweg aus
der gegenwärtigen krisenhaften politischen Lage. Bereits Mitte der
1920er Jahre hatte es eine erste Verfassungsreformdebatte gegeben, die
dann aber bald wieder versandete. Bei den Zielen der Verfassungsre-
form bestand 1932 richtungsübergreifend eine prinzipielle Überein-
stimmung: Das gemeinsame primäre Anliegen war eine Stärkung der
Exekutive.109 Gravierende Differenzen brachen aber an der Stelle auf,
an der es um das grundsätzliche Verhältnis von Parlament und Exeku-
tive ging. Papen und die ihn unterstützenden Richtungen in der Staats-
rechtslehre wollte die Regierung durch eine Überwindung des parla-
mentarischen Regierungssystems stärken. Die Überlegungen der Refor-
mer von rechts gingen vom Aufbau eines Ständestaates über die Wie-
dereinrichtung der Monarchie bis zur Militärdiktatur. Vertreter anderer
Richtungen strebten eine Lösung innerhalb des parlamentarischen
Regierungssystems an und suchten nach einer besseren Austarierung
zwischen Reichstag und Reichsregierung. Ebenso umstritten wie das
Festhalten am Parlamentarismus waren die denkbaren Mittel zur Reali-
sierung einer Verfassungsrevision. Aufgrund der bestehenden politi-
schen Mehrheitsverhältnisse im Reichstag und im Bundesrat hatte eine
parlamentarisch zustande kommende Richtung von vornherein keine
Chance. Es bedurfte anderer Mittel, wobei in der Öffentlichkeit und in
der Staatsrechtslehre von einem Volksentscheid über eine neuerliche
Parlamentsauflösung bei gleichzeitiger Aussetzung des Neuwahlter-
mins bis hin zu einem offenen Bruch mit dem Weimarer Legalsystem
verschiedene Varianten im Gespräch waren.
Carl Schmitt hatte seit August 1932 im Zentrum der Staatsstreichvorbe-
reitungen gestanden, die mit dem Ziel einer Reichsreform von oben sei-
tens der Regierung Papen erwogen wurden.110 Kirchheimer wurde
wenig überraschend in derartige Pläne nicht eingeweiht. Ernst Rudolf
Huber, den Schmitt als Adlatus für die Formulierung der vorsorglichen
Notstandsdekrete mit heranzog, berichtet in seinen Erinnerungen von

109 Zur Verfassungsreformdebatte des Jahres 1932 vgl. im Überblick Huber (1984:
1005-1009) und Gusy (1997: 447-455).
110 Zu diesen Aktivitäten Schmitts vgl. Mehring (2009: 288-302).

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Einleitung zu diesem Band 99

einem abendlichen Spaziergang zu dritt: »Im Beisein von Kirchheimer


wurde vom Staatsnotstand nicht gesprochen« (Huber 1988: 46). In die-
ser Zeit äußerte sich Schmitt auch noch einmal öffentlich ablehnend zur
von Kirchheimer bereits in seiner Promotionsschrift behaupteten und
an Smend anknüpfenden »Integrationsfunktion der Justiz« (vgl.
Schmitt 1932 b: 192).
Die Debatten über den Sinn, die Richtung und die Möglichkeit einer
Verfassungsrevision und die Staatsstreichpläne wurden überlagert von
den Turbulenzen der politischen Ereignisse nach dem Amtsantritt
Franz von Papens. Für den 6. November 1932 waren erneut Reichstags-
wahlen angesetzt worden. Dabei konnten die Papens Präsidialkabinett
offen unterstützenden Parteien nur leicht zulegen. Aber auch für die
SPD hatte sich ihr Oppositionskurs gegen Papen nicht ausgezahlt, sie
verlor leicht an Stimmen, während die KPD erneut hinzugewann. Als
bemerkenswertestes Ergebnis der Wahl wurde wahrgenommen, dass
der scheinbar unaufhaltsame Siegeszug der NSDAP der vergangenen
beiden Jahre gebrochen zu sein schien, denn Hitlers Partei verlor mehr
als vier Prozentpunkte. Am 17. November trat Papen zurück. Seinen
Platz als Kanzler nahm am 3. Dezember Kurt von Schleicher ein, ohne
dass es ansonsten zu größeren personellen Änderungen im Präsidialka-
binett kam. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament und
des Unwillens des Präsidialamtes, wieder auf die SPD zuzugehen,
schien ein Staatsstreich von oben über den von Schmitt gegenüber
Papen vorgeschlagenen Weg einer unbefristeten Reichstagsauflösung
das aussichtsreichere Vorhaben zu sein. Schleicher wollte jedoch ver-
suchen, auf dem Kompromisswege eine Tolerierungsmehrheit für seine
Politik quer durch die Parteien zu suchen und setzte dabei auf eine
Spaltung der NSDAP.
Beruflich fuhr Kirchheimer in diesen politisch turbulenten Wochen wei-
terhin mehrgleisig. Zum einen bemühte er sich unverdrossen als
Rechtsanwalt Fuß zu fassen. Gewisse Einnahmen hatte er zudem aus
den – wenn auch geringen – Honoraren für seine Aufsätze in ›Die
Gesellschaft‹. Auch seine akademischen Ambitionen verfolgte er unbe-
irrt weiter. Sein Ziel war, an der juristischen Fakultät der Berliner Uni-
versität im Bereich des Verfassungsrechts zu habilitieren.111 Im Novem-
ber 1932 stellte er einen Antrag bei der Notgemeinschaft der deutschen

111 Aktenvermerk Academic Assistance Council (AAC) vom 4. März 1934. Die
Akte des AAC aus London findet sich in: Emergency Committee in Aid of Dis-
placed German/Foreign Scholars, Public Library, New York. I, A Grantees
1933-46, Box 18, Folder 13 (Kirchheimer, Otto).

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100 Einleitung zu diesem Band

Wissenschaft, der Vorgängerorganisation der Deutschen Forschungsge-


meinschaft (DFG), um, wie er an Rudolf Smend in seiner Bitte um eine
Referenz schrieb, die finanzielle Förderung für »eine Arbeit über einige
Fragenkomplexe der Demokratie«112 zu erhalten. Parallel wandte er
sich an gutachterliche Unterstützung von Carl Schmitt und benannte
ihm gegenüber sein Forschungsinteresse an der amerikanischen
Rechtstheorie und Rechtssoziologie von Oliver Wendell Holmes, Felix
Frankfurter und Charles Beard.113 Kirchheimers Antrag wurde von der
Notgemeinschaft nicht bewilligt. Zusammen mit Neumann nahm er
privat Stunden in englischer Konversation, um sich die Option offen zu
halten, im Ausland arbeiten zu können.114 Carl Schmitt versorgte er
währenddessen mit Literaturhinweisen aus dem linken amerikanischen
Schrifttum.115
An der zu den politischen Ereignissen zeitlich parallel stattfindenden
Verfassungsreformdebatte beteiligte sich Otto Kirchheimer mit drei Bei-
trägen.116 Im Novemberheft von ›Die Gesellschaft‹ publizierte er einen
Artikel mit der Überschrift Verfassungsreaktion 1932, aus dessen Titel
bereits hervorgeht, dass er sich darin in erster Linie mit Reformvor-
schlägen aus dem politischen Lager der Rechten auseinandersetzt. Dem
Präsidialamt und der zu diesem Zeitpunkt noch amtierenden Papen-
Regierung hält er vor, dass sie auf die Legalität bei der Einführung der
von ihnen präferierten Verfassungsreform vermutlich gar keinen Wert
mehr legen. Erneut nimmt er dann Schmitts Schrift Legalität und Legiti-
mität zur Hand, diesmal um die markante Veränderung der im Präsidi-
alamt und seinen Beraterkreisen kursierenden Reformpläne aufzuzei-
gen. Hatte es sich nach der Wahl Hindenburgs 1925 um Überlegungen

112 Brief Otto Kirchheimer an Rudolf Smend vom 7. November 1932. In: Staats-
und Universitätsbibliothek Göttingen, Nachlass Rudolf Smend, Cod. Ms. R.
Smend A 441.
113 Brief Otto Kirchheimer an Carl Schmitt vom 7. November 1932. In: Landesar-
chiv Nordrhein-Westfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-7595.
114 Vgl. den Bericht von Neumanns späterer Partnerin Helge Pross in Erd (1985:
59).
115 Vgl. Brief beziehungsweise Postkarte von Otto Kirchheimer an Carl Schmitt
vom 24. Dezember 1931 (mit der Leseempfehlung des Buches American Foreign
Policies des linken amerikanischen Politikwissenschaftlers James W. Garner aus
dem Jahr 1928) und vom 16. November 1932 (mit der Empfehlung des Buches
Government by Judiciary des amerikanischen Marxisten Louis Boudin von 1932).
In: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-7596
und RW 265-7597.
116 Außerdem trug er am 15. November 1932 bei der Sozialistischen Studenten-
schaft in Berlin zu diesem Thema vor (vgl. die Ankündigung im ›Vorwärts‹
vom 13. November 1932).

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Einleitung zu diesem Band 101

im Rahmen der Weimarer Verfassungsordnung gehandelt, so handele


es sich heute um eine »Verfassungsrevolution« (S. 431).
Kirchheimer nimmt in seiner Kritik zwei Autoren aus unterschiedli-
chen politischen Richtungen aufs Korn. Zunächst richtet er sich erneut
gegen Schmitt und dessen Sympathien für eine per Staatsstreich zu
errichtende Präsidialdiktatur. Schmitts Versuch, die plebiszitäre Legiti-
mität des Reichspräsidenten hervorzuheben, um ein verfassungsrevo-
lutionäres Vorgehen von seiner Seite mit dem Odium einer herausgeho-
benen demokratischen Legitimität auszustatten, weist er als wider-
sprüchlich zurück. Denn Schmitts Plädoyer für eine im Kern »nachde-
mokratische Verfassung« (S. 432) beruhe auf einer »vordemokrati-
schen« (S. 433) politischen Anthropologie; Kirchheimer spielt in diesem
Zusammenhang auf die von Schmitt wiederholt beschriebene passive
Rolle des Volkes bei der Abhaltung von Plebisziten an (vgl. Schmitt
1932 c: 93 f.). Der Option Schmitts für die Präsidialdiktatur hält Kirch-
heimer das politische Selbstverständnis der »westeuropäische[n]
Demokratie« (S. 432) entgegen. Sie war möglich, weil sich in einem lan-
gen und schmerzhaften Prozess im Zuge der Industrialisierung die
Masse der Bevölkerung von einem rein passiven Träger des politischen
Geschehens zu in Organisationen aktiv Beteiligten entwickelt hat. Die-
sen soziologischen Tatbestand gilt es bei allen Reformüberlegungen im
Auge zu behalten, weil er die von Schmitt verfolgte Option grundsätz-
lich in Frage stellt. Der autoritäre Staat verschiebt das Problem der poli-
tischen Willensvereinheitlichung in einer heterogenen Gesellschaft nur,
er bewältigt es nicht. Die Verfechter einer dauerhaften Präsidialdiktatur
müssen die Frage beantworten können, wie sie mit dem Problem der
»verfassungsrechtlichen Dynamik« (S. 433) umgehen wollen, das sich
aus der sich immer wieder verändernden sozialen Basis der Politik
zwangsläufig ergebe. Bei aller Kritik an der modernen Demokratie
könne man ihr eines nicht absprechen: Sie ist »die einzige Staatsform,
die in einer Zeit wachsender sozialer und mitunter auch nationaler
Heterogenität das Zusammenwirken bzw. den Wechsel verschiedener
Gruppen verfassungsmäßig ermöglicht« (S. 433). Kirchheimer zitiert
Argumente aus Smends Integrationslehre herbei, wenn er gegen
Schmitts Vorstellungen ins Feld führt, dass in der heutigen Zeit die
sozialen Bedingungen für eine fixierbare Institutionalisierung des per-
sönlichen Charismas einer politischen Führerfigur nicht mehr gegeben
sind.117 Eine neuerliche wirtschaftliche Krise, verlorene Schlachten oder
der plötzliche Tod des Amtsinhabers setzen ein solches Regime auf-

117 Vgl. Smend (1928: 142-148).

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102 Einleitung zu diesem Band

grund der permanenten sozialen Dynamik notorisch der Gefahr von


politischer Instabilität aus.
Das zweite Ziel seiner Kritik sind die Vorschläge für eine umfassende
Verfassungsreform von Eugen Schiffer (vgl. Schiffer 1932). Schiffer war
ein liberaler Politiker aus der DDP, der nach der Revolution den Kabi-
netten von Philipp Scheidemann und Gustav Bauer als Vizekanzler,
Finanz- und schließlich Justizminister angehört hatte. Er verstand sich
weniger als ein Theoretiker denn als ein Praktiker der Verfassungsrevi-
sion. Sein im Sommer 1932 veröffentlichtes, aus 38 Einzelpunkten
bestehendes Programm war der Versuch, eine mit den Grundprinzi-
pien des Parlamentarismus vereinbare Reform der Verfassung zu
bewerkstelligen. Es enthielt unter anderem Vorschläge zur Reform der
Länderkammer, zu den legislativen Kompetenzen von Präsident und
Parlament, zur Regierungsbildung und zu Unabänderlichkeitsklauseln.
Doch auch dieses Reformprogramm findet vor Kirchheimers Augen
keine Gnade. Er geht es in mehreren Punkten detailliert durch und
konzentriert sich dabei in erster Linie auf die Kompetenzen des Reichs-
präsidenten. Im Ergebnis hält er Schiffer vor, dass seine Vorschläge im
Wesentlichen »nur eine Kodifizierung des heutigen Verfassungszustan-
des« (S. 435) seien, woraus sich erklärt, warum er Schiffer ebenfalls
unter die Überschrift Verfassungsreaktion rubriziert. Kirchheimer wie-
derholt seine These, dass auch einem nach der Maßgabe von Schiffer
organisierten politischen System aufgrund der sozialen Dynamiken im
Kapitalismus keine Stabilität vergönnt sei und setzt zum Endpunkt ein
Zitat aus einer Marx‘schen Frühschrift, dem zufolge erst von einer klas-
senlosen Gesellschaft das Ende von politischen Revolutionen zu erwar-
ten sei.
Einen Monat später veröffentlichte Kirchheimer als zweiten Beitrag in
dieser Debatte den Artikel Die Verfassungsreform im Dezember-Heft der
Monatszeitschrift ›Die Arbeit‹, die vom Allgemeinen Deutschen
Gewerkschaftsverband herausgegeben wurde. Er wiederholt darin
zunächst seine Kritik an den Plänen zu einer »autoritäre[n] Verfas-
sungsreform« (S. 443) der Papen-Regierung und stellt sie in einen
Zusammenhang mit ähnlich gelagerten Plänen in Österreich. Und
erneut zielt sein Angriff auf Carl Schmitt. Diesmal, indem er sich der
von Hermann Heller an die Adresse Schmitts gerichteten Kritik
anschließt, wonach es unzutreffend sei, dass die Probleme der gegen-
wärtigen Staatsordnung ihren Ursprung allein oder auch nur in erster
Linie in den der Weimarer Verfassung eigentümlichen Verfassungsnor-
men hätten (vgl. Heller 1932: 413).

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Einleitung zu diesem Band 103

Größere Aufmerksamkeit widmet Kirchheimer in diesem Aufsatz den


Vorschlägen aus Kreisen der Sozialdemokratie. Deren möglichen Spiel-
raum hält er allerdings für sehr begrenzt, wenn man die großen Grund-
linien einer demokratischen Verfassung – er listet Volkssouveränität,
Parlament, persönliche Freiheitsrechte und soziale Grundrechte auf –
aufrechterhalten will. Es bleibt nur der Versuch übrig, mit Hilfe von
veränderten verfassungsrechtlichen Bestimmungen die Zusammenar-
beit der politischen Parteien und der sozialen Verbände untereinander
zu fördern. Kirchheimer diskutiert in diesem Zusammenhang verschie-
dene ins Spiel gebrachte Ideen: den Vorschlag, nur einmal jährlich im
Zuge der Budgetberatungen Misstrauensvoten mit einfacher Mehrheit
des Parlaments zuzulassen, die Einrichtung einer neuen Wirtschafts-
kammer, die Änderung des Wahlrechts zugunsten des in England
praktizierten Modells und eine Einschränkung der Möglichkeit von
Volksbegehren und Volksentscheiden.
Besonders ausführlich widmet er sich den Vorschlägen von Ernst
Fraenkel aus dessen Aufsatz Verfassungsreform und Sozialdemokratie (vgl.
Fraenkel 1932 b), der im selben Monat veröffentlicht wurde. Fraenkel
wollte mit seinem aus drei Teilen bestehenden Vorschlag ein neues
Gleichgewicht zwischen Reichstag, Reichsregierung und Reichspräsi-
dent schaffen. Dazu gehörte zum einen die Einführung eines konstruk-
tiven Misstrauensvotums, die Erschwernis der Reichstagsauflösung
durch den Reichspräsidenten sowie die Möglichkeit, dass der Reichs-
präsident bei einer Ablehnung einer Notverordnung durch das Parla-
ment sich über den Weg des Plebiszits direkt an die Bürger wenden
kann. Kirchheimer wägt die einzelnen Komponenten von Fraenkels
Vorschlägen nacheinander ab. Zu seiner letztlich ablehnenden Skepsis
gelangt er nicht, weil er die einzelnen Vorschläge für falsch erachtet,
sondern aus einer grundsätzlichen Erwägung. Die Vorschläge Fraen-
kels würden an den »politischen und sozialen Strukturverhältnissen«
(S. 452) der Republik nichts Entscheidendes ändern. Eine Verfassungs-
ordnung, die auf Schritt und Tritt Gefahr läuft, dass ihre jetzigen oder
zukünftigen organisatorischen Positionen dazu missbraucht werden,
die Demokratie selbst zu zerstören, leidet nicht an Problemen, die eine
Verfassungsreform beheben kann, sondern an strukturellen Problemen
im Bereich ihrer sozialen Basis. Bei dem von Fraenkel propagierten
Weg handelt es sich um einen »aussichtlosen Wettlauf« (S. 452) mit den
Befürwortern der Diktatur.
Am Ende seines Artikels wiederholte Kirchheimer sein Bekenntnis zur
Verteidigung der Grundinstitutionen der Weimarer Demokratie, der

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104 Einleitung zu diesem Band

Artikel wiederholt aber auch seine Ratlosigkeit und Skepsis. Um die


Gesellschaft wieder mit der Demokratie passförmig zu machen, bedarf
es keiner gut gemeinten Verfassungspolitik, sondern einer »Annähe-
rung der beiden Arbeiterparteien« (S. 454), einer »Neuordnung der
gesellschaftlichen Verhältnisse selbst« (S. 457), eines »Durchbruch[s] zu
neuen sozialen Formen« (S. 457). Offensichtlich war Kirchheimer der
Ansicht, als bestünde in dieser Situation der Weimarer Republik nur
die Wahl zwischen einer Präsidialdiktatur und einer sozialistischen
Demokratie.118
Für einen Beitrag im Januar-Heft 1933 von ›Die Gesellschaft‹ griff
Kirchheimer über die Weihnachtstage 1932 zum dritten Mal in die Tas-
tatur seiner Schreibmaschine, um sich zur Verfassungsreformdebatte zu
äußern. Mittlerweile hatte Kurt von Schleicher die Kanzlerschaft über-
nommen und die Gerüchte um eine bevorstehende Reichsreform mit-
tels Staatsstreich seitens der Regierung wollten in der Hauptstadt nicht
mehr verstummen. Kirchheimers Aufsatz trägt den gleichen Titel wie
derjenige Fraenkels aus dem Monat zuvor in derselben Zeitschrift, Ver-
fassungsreform und Sozialdemokratie. Kirchheimer erteilt darin allen Vor-
schlägen aus der Sozialdemokratie eine Abfuhr und setzt sich wieder
besonders ausführlich mit Fraenkels Vorschlägen auseinander. Diesmal
ist seine Kritik im Ton wie in der Sache aber deutlich schärfer. Zwar
nimmt er ihn gegenüber dem Vorwurf eines anonymen Autors im
Dezemberheft des KPD-Organs ›Roter Aufbau‹, der »theoretische
Querverbindungen« zwischen Fraenkel und dem »faschistischen
Staatstheoretiker« Carl Schmitt zu erkennen glaubte, in Schutz.119
Ansonsten jedoch fehlt seiner Auseinandersetzung mit dem Vor-
schlagsbündel von Fraenkel die wohlwollende Tonlage vom Dezember.
Kirchheimer wirft Fraenkel vor, den Frageansatz nicht richtig gewählt
zu haben, den Wert des Funktionierens einer Verfassung zum Fetisch
zu machen, die Verfassungsnormen an die Verfassungswirklichkeit
anzupassen und letztlich dadurch die Herrschaft des bürokratischen
und militärischen Machtapparates zu legalisieren. Fraenkel verbleibe in
der »staatsrechtliche[n] Deduktion« (S. 499), die zwar juristisch haltbar,
aber »soziologisch im entscheidenden Punkt irrelevant« (S. 500) sei. Er
lasse außer Acht, dass die heute zum eisernen Bestand des Staatsrechts

118 Am 18. Dezember trug Kirchheimer dazu auch im Arbeitskreis Abraham,


einem Arbeitskreis jüdischer Sozialdemokraten, in Berlin vor (vgl. ›Vorwärts‹
vom 17. Dezember 1932).
119 Im Februar 1933 wurde dann auch Kirchheimer in der kommunistischen Zei-
tung ›Unsere Zeit‹ mit dem Verdikt des »Schmittianismus« belegt, vgl. Schale
(2006: 71).

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Einleitung zu diesem Band 105

gehörende Notstands- oder Lückentheorie »soziologisch gesehen


durchaus eine Machtusurpation durch eine sonst nicht zum Zuge
gelangende gesellschaftliche Klasse darstellen kann« (S. 500). Kirchhei-
mer betont in diesem Zusammenhang, dass man den Staatsstreich vom
20. Juli gegen die preußische Regierung nur richtig verstehe, wenn man
darin nicht nur einseitig den Willen ihrer Initiatoren zur Abschüttlung
der SPD, sondern ebenso sehr den Willen zur Sicherung der Republik
gegen die Machtübernahme der NSDAP erkennt.
Das marxistische Vokabular der ins Methodische gewendeten Skepsis,
mit dem Kirchheimer gegen die ausschließlich staatsrechtlich argumen-
tierenden Positionen anschreibt, charakterisiert seinen gesamten Arti-
kel. Eingangs zitiert er aus der für damalige marxistische Juristen Klas-
sikerstatus genießenden Polemik von Friedrich Engels und Karl Kau-
tsky gegen den »Juristen-Sozialismus« (vgl. Engels/Kautsky 1887). Die
Möglichkeit einer Aufhebung der gegenwärtigen Spannungslage zwi-
schen der Weimarer Verfassung und den gesellschaftlichen Machtver-
hältnissen sieht er nicht durch eine Änderung der Staatsordnung, son-
dern nur durch eine »Neuordnung der ökonomischen Machtvertei-
lung« (S. 499) im Lande gegeben. In diesem Sinne handele es sich beim
gegenwärtigen Deutschland um einen Fall, in dem der ideologische
Überbau der Rechtsordnung den tatsächlichen gesellschaftlichen Ver-
hältnissen »vorhinkt« (S. 499). Kirchheimer zufolge muss bei der Erör-
terung von Vorschlägen zur Verfassungsrevision in erster Linie geprüft
werden, welche Wirkungen sie in der konkreten gesellschaftlichen
Situation auslösen werden. Und diesbezüglich spricht seiner Überzeu-
gung nach alles für eine Bewahrung des verfassungsrechtlichen Status
quo. Momentan würde jegliche durchsetzbare Reform, und sei sie noch
so gut gemeint, angesichts der gegenwärtig bestehenden gesellschaftli-
chen Machtverhältnisse gegen die Arbeiterbewegung instrumentalisiert
werden. Kirchheimer lieferte damit eine gleichsam materialistische
Begründung für einen Verfassungskonservatismus. Er sah es folgerich-
tig auch als müßig an, sich mit der Frage einer zukünftigen Verfassung
des demokratischen Sozialismus zu beschäftigen.
Kanzler Schleicher scheiterte mit seinem Versuch, eine Tolerierung sei-
ner Politik quer durch alle Reichstagsfraktionen zu erreichen und die
NSDAP zu spalten. Nachdem Hindenburg Schleichers Alternativvor-
schlag zur Errichtung einer befristeten Diktatur ablehnte, trat dieser am
28. Januar 1933 zurück. Hindenburg ließ sich von von Papen überzeu-
gen, Hitler als Kanzler einer Koalitionsregierung von NSDAP und
DNVP zu akzeptieren. Am 30. Januar 1933 wurde die neue Regierung

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106 Einleitung zu diesem Band

vom Reichspräsidenten berufen und vereidigt. Am 1. Februar folgte


eine neuerliche Reichstagsauflösung. Die Wahlen am 5. März waren
dann bereits durch vielfältige staatliche Repressionen und terroristische
Aktionen der NSDAP und ihrer Kampfverbände geprägt. Auch wenn
die Weimarer Verfassung formell weiter in Kraft blieb, besiegelte das
Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 die Absicherung des NS-
Regimes.
Eine Woche vor dem Inkrafttreten des Ermächtigungsgesetzes erschien
der letzte Artikel Kirchheimers vor seiner Flucht aus Deutschland. Es
handelt sich um den Aufsatz Marxismus, Diktatur und Organisationsform
des Proletariats im März-Heft von ›Die Gesellschaft‹. Formulierungen im
ersten Satz und in den Fußnoten lassen erkennen, dass er den Beitrag
erst nach dem Regierungsantritt des Kabinetts Hitler abgeschlossen hat.
Die Adressaten seines Artikels sind Leserinnen und Leser aus dem zeit-
genössischen linken Spektrum, die nach der Machtübergabe an Hitler
nach politischer Orientierung zwischen der reformistischen Sozialde-
mokratie und den Kommunisten suchen. Kirchheimers Text trägt weit-
gehend exegetische Züge und bettet die Argumentation in sozialisti-
sche und kommunistische Klassikerauslegungen ein.
Zu Beginn erläutert er den marxistischen Diktaturbegriff, wie er sich
auch bei Rosa Luxemburg und Paul Levi findet: Diktatur bedeute das
Moment der tatsächlichen sozialen Herrschaft einer Klasse oder
Gruppe über die anderen, unabhängig von den Rechtsformen, in denen
sie sich vollzieht. Kirchheimer diskutiert als Nächstes das Demokratie-
verständnis der marxistischen Tradition. An keiner Stelle in den Wer-
ken von Marx und Engels fänden sich Hinweise darauf, dass die Staats-
form der Demokratie die notwendige Vorform der proletarischen Dik-
tatur bilden müsse. Selbstredend ergebe sich dort, wo eine unter Mit-
wirkung des Proletariats erkämpfte Demokratie besteht, die maximale
Chance für die friedliche Umwandlung des bürgerlichen in einen prole-
tarischen Staat.
Solche Chancen sind jedoch mit dem Aufkommen von »Erscheinungen,
die wir gemeinhin unter dem Schlagwort Faschismus zusammenfas-
sen« (S. 517) außer Kraft gesetzt. Die Faschisten rekrutierten sich zu
großen Teilen aus dem »Lumpenproletariat« (S. 518), das Marx 80 Jahre
zuvor als soziale Trägergruppe des Bonapartismus identifiziert hatte.
Der gegenwärtige politische Zustand in Deutschland sei dadurch
gekennzeichnet, dass eine »selbständige bewaffnete politische Privatar-
mee, die [sich] nicht primär als Partei, sondern als bewaffnete Kampf-
truppe versteht« (S. 518), zu den sozialen Gruppen des Kapitals, des

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Einleitung zu diesem Band 107

Militärs, den Großagrariern und der Bürokratie mit dem Ziel des politi-
schen Machtgewinns hinzugestoßen ist. Eine solche Herrschaft wird
der Arbeiterbewegung aus Gründen der Selbstbehauptung keine politi-
schen Freiheiten mehr lassen: »Der Faschismus hat hierin keine Wahl.
Er muss diese Kräfte nach dem Gesetz, nach dem er angetreten, durch
den schärfsten bürokratischen Zwangsapparat niederhalten« (S. 519).
Kirchheimer plädiert für eine präzise soziologische Fassung des
Faschismusbegriffs und weist zustimmend auf Franz Borkenaus Unter-
scheidung zwischen einem »echte[n] Faschismus« (S. 519) als dem
gewaltsamen Übergang rückständiger Länder in einen industriellen
Kapitalismus und dem Nationalsozialismus als Herrschaftsform in
einem kapitalistisch voll entwickelten Land hin (vgl. Borkenau 1932).
Für die Arbeiterbewegung ist der demokratische Weg zum Sozialismus
durch die letztgenannte Form des Faschismus versperrt. Kirchheimer
sieht damit eine Konstellation heraufgezogen, wie sie das Linzer Partei-
programm der österreichischen Sozialdemokratie von 1926 erwähnte,
in der »die Arbeiterklasse die Staatsmacht nur noch in einem ihr aufge-
zwungenem Bürgerkrieg erobern kann« (S. 520).
Trotz dieser martialischen Sprache findet sich in Kirchheimers Artikel
keinerlei Hinweis darauf, dass er eine solche Aussicht für realistisch
hielt. Betont kritisch setzt er sich mit Lenins Parteikonzept und seinem
»primitiven« (S. 521) Demokratieverständnis auseinander, das in seiner
autoritären Ausrichtung vor dem Hintergrund des repressiven russi-
schen Absolutismus verständlich sei, sich im weiteren Fortgang der
russischen Revolution in ihrer Demokratie- und Freiheitsfeindlichkeit
aber bitter gerächt hätte. Demgegenüber erinnert er an Rosa Luxem-
burgs Lenin-Kritik und das demokratische Potential ihres Glaubens an
die Spontaneität der Massen, bemängelt aber auch ihre allzu geringe
Bewertung eines immer notwendigen Stücks hierarchischer Verselb-
ständigung. Angesichts des repressiven Nationalsozialismus an der
Macht ruft Kirchheimer seine Leserschaft auf, eine sinnvolle »Mitte«
(S. 526) aus diesen beiden Traditionen für die bevorstehenden politi-
schen Kämpfe zu finden.
Die vagen Formulierungen am Ende seines Artikels spiegeln die Orien-
tierungslosigkeit der gesamten Linken nach der Machtübergabe an Hit-
lers Koalitionsregierung wider. Die Übernahme der Kanzlerschaft
durch Hitler wurde nicht als historische Wasserscheide erlebt, sondern
als Episode eines Kontinuums. Weder die Spitze der SPD noch der KPD
hatten eine klare Vorstellung davon, dass mit dem Vorgehen der neuen
Regierung spätestens im März 1933 eine Zäsur eingetreten war. Die

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108 Einleitung zu diesem Band

meisten Linken hatten die Illusion, dass sie nur für einen Moment von
einer faschistischen Regierung zurückgedrängt waren, aber keine dau-
erhafte Niederlage erlitten hatten, da der wirkliche Kampf der Arbeiter-
bewegung noch gar nicht stattgefunden hatte.
Otto Kirchheimer verblieben in Deutschland nicht mehr viele Gelegen-
heiten, sich dem Nationalsozialismus entgegenzustellen. Nach dem
Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar setzte eine
erste Welle willkürlicher Verhaftungen und Misshandlungen von
Oppositionellen durch die Polizei und die mit polizeilichen Vollmach-
ten ausgestattete SA ein. Kirchheimer hatte den Abend des 27. Februar
in der Reichstagsbibliothek verbracht und als einer der letzten Nutzer
das Gebäude verlassen. Er fürchtete, deswegen als Verdächtiger ver-
folgt zu werden.120 In der Rechtsanwaltspraxis von Fraenkel und Neu-
mann wurden Protokolle über die Folterungen der Gefangenen durch
die SA in dieser Nacht aufgenommen. Eine Reihe aktiver linker Politi-
ker der Weimarer Republik flüchtete ins Ausland. Zu ihnen gehörte
Kurt Rosenfeld. Er wurde wegen »kommunistischer Betätigung« als
einer der ersten mit Berufsverbot belegt und von der SA verfolgt, wes-
halb er mit einer Gruppe politischer Freunde nach Prag flüchtete (vgl.
Ladwig-Winters 2007: 248). Die Verhaftungswellen und Misshandlun-
gen nahmen nach der Festnahme Dimitroffs und den anderen angeb-
lich für den Reichstagsbrand Verantwortlichen am 9. März ein immer
größeres Ausmaß an. Unter den circa 50.000 Verhafteten, die in zumeist
illegale Lager verbracht wurden, wo sie von SA und SS misshandelt
und in denen 500 bis 600 Gefangene ermordet wurden, war auch Franz
L. Neumann. Vor dieser Orgie der Gewalt flüchteten im ersten Jahr des
NS-Regimes etwa 65.000 Menschen auf legale oder illegale Weise ins
Ausland. Danach ging es Schlag auf Schlag weiter. Am 14. März verbot
die Regierung den Republikanischen Richterbund. Am 7. April 1933
wurde parallel zum »Gesetz über die Wiederherstellung des Berufsbe-
amtentums« ein Rechtsanwaltsgesetz verabschiedet, das »nicht arische«
oder sich »kommunistisch betätigende« Anwälte aus der Anwaltschaft
ausschloss. Von den in Berlin zugelassenen 3.400 Anwälten stufte die
Regierung allein über 1.800 als »jüdisch« ein. Dieses Gesetz bedeutete
für Otto Kirchheimer das Ende seiner anwaltlichen Existenz. Gleiches
widerfuhr Hilde Kirchheimer-Rosenfeld, die sich zunächst bemüht
hatte, die Kanzlei ihres geflüchteten Vaters aufrechtzuerhalten, zu der
unter anderem die anwaltliche Vertretung des wegen des Reichstags-
brandes angeklagten Ernst Torgler gehörte. Als Anwältin für die Rote

120 Information von Peter Kirchheimer am 7. März 2017.

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Einleitung zu diesem Band 109

Hilfe, die zuvor auch Thälmann und Dimitroff verteidigt hatte, war sie
zusätzlich bedroht und flüchtete Mitte April zusammen mit der zwei-
jährigen Tochter Hanna über die Schweiz nach Paris (vgl. Ladwig-Win-
ters 2007: 195).
Eindringlich beschwor Arkadij Gurland, dem im April die Flucht nach
Belgien gelungen war, seinen Freund Kirchheimer, das Land ebenfalls
zu verlassen.121 Doch Kirchheimer blieb zunächst. Er war noch in Ber-
lin, als am 2. Mai die Schergen der SA das Haus des Metallarbeiterver-
bandes in der Alten Jacobstraße, in dem Fraenkel und Neumann ihre
Kanzlei hatten, besetzten und deren Mitarbeiter terrorisierten.122 Am
4. Mai verlegte der Parteivorstand der SPD seinen Sitz nach Prag, am
9. Mai erging an Neumann die offizielle Mitteilung des anwaltlichen
Vertretungsverbots und am 10. Mai erfolgten die Bücherverbrennun-
gen. Für Neumann waren das die untrüglichen Zeichen dafür, dass es
für ihn an der Zeit war, das Land zu verlassen.123 Sein Kanzleikompa-
gnon Ernst Fraenkel entschied sich dafür, von einer für ihn geltenden
Ausnahmeregel für ausgezeichnete Soldaten im Weltkrieg in der
Rechtsanwaltsverordnung Gebrauch zu machen, um politisch Verfolg-
ten weiterhin rechtlich beistehen zu können.124 Für Kirchheimer gab es
eine solche Möglichkeit nicht. Dennoch hatte er noch keinen Plan zur
Emigration gefasst, sondern wollte erst einmal die weitere Entwicklung
abwarten und für eine Weile bei seinem Bruder Friedrich (Fritz) in Heil-
bronn untertauchen. Doch Friedrich Kirchheimer, der mittlerweile eine
führende Position bei der lokalen Dresdner Bank innehatte, warf den
Schutzflehenden mit der Begründung aus dem Haus, dass er sich die
politischen Scherereien selbst zuzuschreiben habe und er nicht hinein-
gezogen werden wolle.125 Am 19. Mai wurde Otto Kirchheimer »wegen
Verdachts politischer Umtriebe« festgenommen.126 Der Zufall wollte es,
dass er in der Untersuchungshaft die Zelle mit Paul Kecskemeti teilte.
Kecskemeti war ein aus Ungarn stammender junger Soziologe, der 1927

121 So der Bericht von Ossip K. Flechtheim in einem Gespräch am 13. Februar
1988.
122 Vgl. die Schilderung der damaligen Sekretärin Ella Müller in Erd (1985: 55-57).
123 Zu Neumanns Biografie vgl. Intelmann (1996).
124 Zu Fraenkels Motiven vgl. Ladwig-Winters (2009: 106-109).
125 So der Bericht von Hanna Kirchheimer-Grossman in einem Gespräch am
11. März 2016. Friedrich Kirchheimer gelang es 1937, mit seiner Familie nach
Argentinien zu emigrieren.
126 Die Datumsangabe findet sich in einem Schreiben der Geheimen Staatspolizei
(Staatspolizeileitstelle Berlin) an die Geheime Staatspolizei (Geheimes Staats-
polizeiamt) vom 1. Februar 1938. Auswärtiges Amt, Politisches Archiv, RZ 214,
R 99744 (69. Ausbürgerungsliste), Ausbürgerungsakte betreffend Otto Kirch-
heimer.

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110 Einleitung zu diesem Band

nach Deutschland gekommen war und gelegentlich für die amerikani-


sche Nachrichtenagentur United Press als Korrespondent arbeitete (vgl.
Frank 2009: 444). Beide kannten einander zuvor nicht, schlossen aber
nicht zuletzt aufgrund gemeinsamer Interessen an soziologischen Theo-
rien in der Haftzelle spontan Freundschaft.127 Nach der Intervention
der amerikanischen Botschaft bei deutschen Behörden wurde die Frei-
lassung von Kecskemeti veranlasst; dieser beharrte darauf, dass er nur,
wenn sein »friend Kirchheimer« ebenfalls aus der Haft entlassen
würde, das Verlangen der Behörden akzeptieren würde, keinen Zei-
tungsbericht über seine Erfahrungen in der Haft zu veröffentlichen
(vgl. Kirchheimer-Grossman 2010: 60 f.). Nachdem die Gestapo nichts
Weiteres gegen Kirchheimer vorbrachte, wurde er zusammen mit Kecs-
kemeti am 22. Mai 1933 aus der Haft entlassen. In den ersten Junitagen
flüchtete er als Wanderer getarnt nach einem Besuch der Porta Nigra in
Trier über die grüne Grenze von Deutschland nach Luxemburg und
von hier aus weiter nach Frankreich.128

9. Rückblicke auf die Weimarer Republik

Die weiteren biografischen Stationen Otto Kirchheimers im Exil und


seine verschiedenen beruflichen Tätigkeiten werden in den Einleitun-
gen der Folgebände dieser Ausgabe seiner Gesammelten Schriften aus-
führlicher geschildert. Für Kirchheimer spielten seine politischen Erfah-
rungen in der Weimarer Republik und die Analyse ihres Scheiterns
auch für sein späteres Werk eine nicht unbedeutende Rolle. Immer wie-
der kam er in seinen späteren Schriften auf Beispiele aus der Weimarer
Republik zurück, sei es in seinen Analysen zum Nationalsozialismus,
seinen Plänen für den demokratischen Neuaufbau Deutschlands nach
1945, seinen Überlegungen zur Politischen Justiz oder seinen Arbeiten
zur vergleichenden Regierungslehre und zur Parteienforschung.
Noch im Februar-Heft des Jahres 1933 von ›Die Gesellschaft‹ hatte
Kirchheimer eine Rezension des Buches Politik von Adolf Grabowsky
(vgl. Grabowsky 1932) publiziert. Grabowsky war seit 1921 Dozent an
der Deutschen Hochschule für Politik (DHfP) in Berlin und gehörte
dort zur nationalistisch-konservativen Gruppe im Lehrkörper, die auch

127 Zu Kecskemetis soziologischen Interessen, die sich später auch in Übersetzun-


gen von Schriften Karl Mannheims ins Englische dokumentierten vgl. Frank
(2008: 137 f.). Im Nachlass Kirchheimers finden sich Briefe, die die später
anhaltende Verbindung zwischen den beiden dokumentieren.
128 So der Bericht von Peter Kirchheimer in einem Gespräch am 16. März 2016.

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Einleitung zu diesem Band 111

nach der Zuordnung der DHfP an das Reichspropagandaministerium


versuchte, sich mit dem neuen Regime zu arrangieren und an der
Hochschule zu bleiben (vgl. Eisfeld 2013: 112-114, 149-151). Sein Buch
war der erste deutschsprachige Versuch, ein Lehrbuch für die im Ent-
stehen begriffene Disziplin ›Wissenschaft von der Politik‹ vorzulegen.
Kirchheimer sprach dieser neuen Wissenschaftsdisziplin die Existenz-
berechtigung ab. Er begründete es damit, dass »der Charakter des ›Poli-
tischen‹ sich bekanntlich einer eindeutigen Feststellung entzieht und in
verschiedenen Ländern hierüber recht verschiedene Meinungen beste-
hen« (S. 511). Im Einzelnen bemängelte er zudem die Überbetonung
eines außenpolitischen Blickwinkels bei der Beschreibung politischer
Systeme und die Überschätzung ideologischer Faktoren bei der Darstel-
lung politischer Vorgänge durch Grabowsky. Ein positives Verhältnis
zur Politikwissenschaft fand Kirchheimer erst in der Emigration.
Von den späteren Veröffentlichungen Kirchheimers beschäftigen sich
einige exklusiv mit der Weimarer Republik und sind deshalb ebenfalls
in diesen Band aufgenommen worden. Dazu gehört die erste wissen-
schaftliche Publikation, die Kirchheimer nach seiner Flucht aus
Deutschland vorlegen konnte, der Aufsatz The Growth and the Decay of
the Weimar Constitution. Der Artikel erschien im Novemberheft der in
London herausgegebenen ›Contemporary Review‹. Das 1866 gegrün-
dete Magazin war in der englischen Intellektuellenszene wohletabliert
und hatte in den 1920er und 1930er Jahren eine linksliberale Ausrich-
tung. Zu ihren gelegentlichen Autoren gehörte der an der London
School of Economics lehrende Harold Laski, bei dem Franz Neumann
nach seiner Flucht akademisch Unterschlupf gefunden hatte und der
vermutlich Kirchheimer die Verbindung zum langjährigen Herausge-
ber der Zeitschrift, George P. Gooch, vermitteln konnte. In seinem Bei-
trag liefert Kirchheimer einen Überblick über die gesamte Geschichte
der Weimarer Republik. Er wiederholt darin die schon in anderen
Schriften vorgenommene Einteilung in die drei Entwicklungsphasen
1919 bis 1924, 1924 bis 1930 und 1930 bis zur Machtübergabe an die
Regierung. Auch die Akzente und Bewertungen einzelner politischer
Akteure bleiben fast unverändert. Etwas stärker als in seinen vorheri-
gen Schriften betont er lediglich die Versäumnisse grundlegender polit-
scher Reformen in den ersten Nachkriegsjahren, das Stabilisierungspo-
tential der Republik in der mittleren Phase und die einschneidenden
Effekte der Weltwirtschaftskrise auf die deutsche Innenpolitik. Auch im
Rückblick wiederholt er seine These, dass das eigentliche Ende der
Weimarer Republik bereits mit der Regierung Brünings gekommen
war: »While political liberty was still alive, democracy had gone with

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112 Einleitung zu diesem Band

Brüning’s coming into power« (S. 533). Aus Brünings »liberal-minded


dictatorship« (S. 533) habe dann ein direkter Weg zum »totalitarian
State« (S. 533) geführt, für dessen juristische Legitimation er in heraus-
ragender Weise Carl Schmitt verantwortlich macht. Schmitt habe eine
Doktrin entwickelt, wonach es unumstößlich das Schicksal jedes demo-
kratischen Regierungssystems ist, sich solange in interne Gruppen-
kämpfe zu verlieren, bis sie soweit aufgerieben sind, dass sie von einer
Diktatur abgelöst werden. Kirchheimer fasst Schmitts Theorie für seine
englischsprachigen Leser folgendermaßen zusammen: »Professor Carl
Schmitt, who is the theorist of the Nazi Constitution just as Hugo Preuß
was the theorist of the Weimar constitution, developed a doctrine of the
totalitarian State amalgamating the ideas of its being the necessary and
the ideal goal of historical evolution« (S. 533). Der einzige substantielle
Beitrag des Nationalsozialismus zur Begründung des Regimes sei sein
Rassismus, dessen »primitivity of thought« (S. 534) direkt zurück in die
Überzeugungswelt frühhistorischer Stammesgesellschaften führe.
Der nächste in diesem Band aufgenommene Beitrag macht einen gro-
ßen Zeitsprung in das Jahr 1959, als Kirchheimer als Full Professor für
Political Science an der New School for Social Research in New York
tätig war. Es handelt sich um eine Rezension der Memoiren des lang-
jährigen Reichswehrministers Otto Geßler Reichswehrpolitik in der Wei-
marer Zeit, die Kirchheimer für die ›Gewerkschaftlichen Monatshefte‹
verfasste. Die Zeitschrift wurde von 1950 bis 2004 als theoretisches Zen-
tralorgan des Deutschen Gewerkschaftsbundes herausgegeben. Ihr
Chefredakteur war 1959 Walter Fabian, mit dem Kirchheimer seit der
gemeinsamen Zeit bei den Jungsozialisten in Berlin-Spandau verbun-
den war. Kirchheimer nutzt die Besprechung zu einer Erinnerung an
die fatale Rolle, die die Reichswehr während der Weimarer Republik
spielte und für eine neuerliche Abrechnung mit der von Geßler wieder-
holten offiziellen Reichswehrtheorie, wonach diese eine nur dem Staat
als solchem, nicht aber seinen wechselnden Regierungen dienende
Kraft sei. Diese Theorie sei in entscheidenden Situationen der Republik,
wie dem versuchten Hitler-Putsch 1923 oder bei der Abwehr der NS-
Diktatur, von der Realität dementiert worden. Tatsächlich seien die
Regierungen der Weimarer Republik immer vom Vertrauen oder Miss-
trauen der Militärs abhängig geblieben. Den Wert der Lektüre der Geß-
ler’schen Memoiren sieht Kirchheimer ausschließlich darin, dass sie
dem Leser Einblicke in die bizarre Gedankenwelt der damaligen Mili-
tärführung geben.

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Einleitung zu diesem Band 113

Ein Jahr später publizierte Kirchheimer in der 1956 gegründeten Rezen-


sionszeitschrift ›Neue Politische Literatur‹ eine Besprechung des 1960
in erster Auflage erschienenen Buches Von der Weimarer Verfassung zum
Grundgesetz von Friedrich Karl Fromme. Das Buch ist die überarbeitete
Fassung einer 1957 bei Theodor Eschenburg in Tübingen angefertigten
Dissertation. Kirchheimer ist mit den Kernaussagen des Buches durch-
aus einverstanden. Die Weimarer Verfassung hatte bei der Schaffung
des Bonner Grundgesetzes »schlechthin die Rolle einer Antiverfassung«
(S. 539) zugeschrieben bekommen. Kirchheimer warnt allerdings vor
allzu großer bundesdeutscher Selbstgefälligkeit. Noch sei es zu keiner
echten Bewährungsprobe des Grundgesetzes gekommen. Die Weimarer
Verfassung sei nicht an ihrem Normenbestand gescheitert, sondern an
den einander bekämpfenden sozialen Gruppen. Gegenüber der idylli-
schen Charakterisierung der frühen Präsidentschaftsjahre Hindenburgs
als eine Art parlamentarische Monarchie erinnert Kirchheimer an die
verfassungswidrige Einmischung des Präsidenten in den Volksent-
scheid über die Fürstenenteignung 1926. Und der Kritik Frommes an
der zwangsläufigen demagogischen Denaturierung der Volksgesetzge-
bung in der Weimarer Republik hält Kirchheimer entgegen, dass diese
Denaturierung nicht die Folge der Verfassungsgesetzgebung war, son-
dern das Resultat einer von der damaligen Staatsrechtslehre und büro-
kratischen Praxis befürworteten einschränkenden Verfassungsinterpre-
tation. Vor dem Hintergrund der Weimarer Erfahrungen legt er der
Bundesrepublik die Einführung von Sachplebisziten als Demokratisie-
rungsmaßnahme ans Herz.
Als regelmäßiger Rezensent für die ›Washington Post‹ lieferte Kirchhei-
mer 1963 eine kurze Notiz zu dem Buch Young Germany des aus Breslau
stammenden amerikanischen Publizisten und Historikers Walter Zeev
Laqueur über die deutsche Jugendbewegung. Die Besprechungsnotiz
ist trotz ihrer Kürze insofern instruktiv, als Kirchheimer darin auch
einige seiner eigenen Gefühlsmotive während seiner Jugendzeit in dem
jüdisch-deutschen Ableger ›Die Kameraden‹ der Wandervogelbewe-
gung preisgibt. In der deutschen Jugendbewegung sei eine klare
Grenze zu den Überzeugungen und Lebensweisen der Elterngenera-
tion gezogen worden. Es war »a world of protest against the conventio-
nalism of the older generation« (S. 542), erfüllt von Gemeinschaftserleb-
nissen, die aber bei den meisten Gruppen immer mehr zu geradezu
mythischen Führer-Verehrungen tendierten. So befriedigend diese
Erfahrungen auf der persönlichen Ebene für die damals Beteiligten
auch waren, insgesamt stehen sie für den »political failure of a genera-
tion« (S. 542).

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114 Einleitung zu diesem Band

Ebenfalls 1963 erschien in der ›Neuen Politischen Literatur‹ eine Aus-


einandersetzung Kirchheimers mit der Studie Der Schutz der Republik
von Gotthard Jasper, die auf einer bei Hans Rothfels in Tübingen
geschriebenen Promotionsschrift fußte. Kirchheimer lobte die detail-
lierte historische Aufarbeitung der Prozesse gegen die Erzberger- und
Rathenau-Mörder sowie der vergeblichen Versuche, die Drahtzieher
der Terrorgruppe ›Organisation Consul‹ strafrechtlich zu belangen.
Auch die Schilderung der Genese der beiden Republikschutzgesetze
sowie des Ineinandergreifens zwischen landespolitischen Belangen und
der Reichspolitik bei Maßnahmen zum Schutz der Republik hebt er
positiv hervor. Seine Kritik richtet sich daran, das spezifisch bundesre-
publikanische Reglement der streitbaren Demokratie zum Maßstab
dafür zu erheben, wie »der relativistischen Demokratie als solcher der
Prozess gemacht« (S. 546) wird. Das Übel der Weimarer Republik lag
nicht in mangelnden gesetzlichen Regelungen, sondern in der großen
Zahl und Stärke der Republikfeinde sowie dem weitgehenden Versa-
gen von Verwaltung und Justiz.
In der ›American Political Science Review‹ veröffentlichte Kirchheimer
1965 seine Überlegungen zu dem Buch Zwischen Demokratie und Dikta-
tur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik von Ger-
hard Schulz. Vor der Veröffentlichung dieses Buches hatte Schulz jahre-
lang eng mit Karl Dietrich Bracher am Berliner Institut für Politische
Wissenschaft zusammengearbeitet und teilte dessen von Kirchheimer
inspirierte These, dass die Weimarer Republik ihr eigentliches Ende
bereits mit dem Präsidialkabinett Brünings erfahren hatte.129 Die in
einem insgesamt sehr sachlichen und referierenden Ton verfasste
Besprechung macht deutlich, dass Kirchheimer seine Ende der 1920er
Jahre entwickelte These von der dominierenden politischen Rolle der
Bürokratie auch durch neuere zeitgeschichtliche Forschungen weitge-
hend bestätigt sieht. Hart ins Gericht geht er erneut mit der SPD. Deren
Führung habe nach der Revolution mit den alten Mächten das drän-
gende Bedürfnis geteilt, »to uphold and defend continuity and order
against all suspicious attempts to experiment with new forms of orga-
nization« (S. 547). Später habe der sozialdemokratische Ministerpräsi-
dent Braun, »without the burden of any intellectual baggage« (S. 547),
in Preußen eine ähnlich einfallslose Politik betrieben. Diese auf bloßen
Machterhalt abzielende Renitenz sei einer der Hauptgründe dafür
gewesen, dass eine dringend nötige Reichsreform, bei der die Reichsre-

129 Vgl. Bracher (1955) mit den entsprechenden Hinweisen auf Schriften Kirchhei-
mers.

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Einleitung zu diesem Band 115

gierung in ihren finanz- und sozialpolitischen Kompetenzen gegenüber


den Ländern hätte gestärkt werden müssen, auch in der weniger kri-
senhaften Phase der Republik keine Chance hatte.
Der letzte in diesen Band aufgenommene Beitrag von Otto Kirchheimer
ist seine Einführung: Die Justiz in der Weimarer Republik des gleichnami-
gen Buches. Dieser Beitrag ist einer der letzten von Kirchheimer vor sei-
nem Tod am 22. November 1965 fertiggestellten Texte. Es handelt sich
dabei um die Einleitung zu einer Sammlung von rechtspolitischen
Kolumnen der Jahre 1925 bis 1933, die unter dem Titel Chronik in der
Zeitschrift ›Die Justiz‹ erschienen waren. ›Die Justiz‹, in der Kirchhei-
mer 1929 seinen Aufsatz Reichsgericht und Enteignung veröffentlicht
hatte, wurde vom Republikanischen Richterbund herausgegeben, zu
deren Mitgliedern auch Kirchheimer gehört hatte. Die überwiegende
Zahl der Kolumnen stammte von Hugo Sinzheimer; in den letzten 14
Monaten der Republik wurden sie von Ernst Fraenkel verfasst. Der
Sammelband erschien in der von Wilhelm Hennis und Hans Maier her-
ausgegebenen Reihe ›Politica‹ im Kölner Luchterhand-Verlag. Die Ver-
öffentlichung des von Thilo Ramm betreuten Buches verzögerte sich
aufgrund diverser redaktioneller Quisquilien bis 1968.
In seiner Einführung erinnerte Kirchheimer an die minoritäre Position
der republiktreuen Juristen und die damaligen Motive für die Grün-
dung des Republikanischen Richterbundes. Er nannte zwei Gründe
dafür, diese Dokumente einer längst verklungenen Periode nicht zu
vergessen. Einmal, weil sie die Fehler und Unterlassungssünden der
staatlichen Justizpolitik der Weimarer Zeit aufzeigen, die für das »Hin-
einschlittern« (S. 551) in das NS-Regime Pate gestanden hatten. Zum
anderen, weil sie belegen, welch großen Anteil die justizielle Praxis der
Weimarer Richterschaft an der Zerstörung der Republik trug. In den
›Chroniken‹ sah er die »Fieberkurve der politischen Justiz« (S. 550) in
der Weimarer Republik aufgezeichnet. Kirchheimer nutzte die letzten
Seiten seines Beitrages für eine bewegende Würdigung von Hugo Sinz-
heimer, dem einflussreichen Co-Autor der Weimarer Verfassung, der
am 16. September 1945 als Folge der jahrelangen Entbehrungen in hol-
ländischen Verstecken an Entkräftung gestorben war.

10. Editorische Anmerkungen zu diesem Band

Im ersten Band der Gesammelten Schriften wurden alle wichtigen


Texte von Otto Kirchheimer zur Thematik Recht und Politik in der Wei-

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116 Einleitung zu diesem Band

marer Republik aufgenommen; berücksichtigt wurden auch Arbeiten,


die Kirchheimer später verfasste, die aber zentral auf Aspekte aus der
Zeit der Weimarer Republik bezogen sind. Darunter finden sich meh-
rere Titel, die bibliografisch bislang noch nicht erfasst worden waren,
sowie Beiträge, die erstmals und zweifelsfrei der Autorenschaft von
Otto Kirchheimer zugeordnet werden konnten. Eine vollständige Auf-
listung der Schriften Kirchheimers aus der Zeit der Weimarer Republik
findet sich in der Gesamtbibliografie im fünften Band dieser Ausgabe.
Diesem Band liegen die im Vorwort des Herausgebers angeführten Editi-
onsprinzipien für die Gesamtausgabe zugrunde. An dieser Stelle ist
noch einmal hervorzuheben: Die Texte folgen der jeweils letzten von
Otto Kirchheimer selbst gebilligten Fassung. Die Vorlagen für den
Abdruck sind am Anfang der Beiträge vermerkt. Zusätze des Heraus-
gebers in den Anmerkungen sind in eckige Klammern gesetzt. Die
Rechtschreibung wurde vorsichtig an die modernisierten Regeln des
Dudens angepasst; nur offensichtliche Druckfehler wurden ohne Nach-
weis berichtigt.
Die Forschungen für die Edition der Gesammelten Schriften von Otto
Kirchheimer wurden durch eine Projektfinanzierung der Deutschen
Forschungsgemeinschaft ermöglicht.
Für die umfassenden Recherchen und die Materialsammlung in der
Anfangsphase der Bandedition sowie für viele hilfreiche Hinweise ist
Frank Schale zu danken. Jodi Boyle und Brian Keough danke ich für
ihre unkomplizierte Hilfe bei der Sichtung des Nachlasses von Otto
Kirchheimer in der German Intellectual Émigré Collection der State
University of New York in Albany. Bei Recherchen und Materialsich-
tungen halfen Henning Hochstein und Lisa Klingsporn. Gerd Giesler
und Jürgen Tröger danke ich dafür, dass sie mir so großzügig Archiv-
material und Transkriptionen zur Verfügung gestellt haben und Detlef
Lehnert für den Hinweis auf den ›Vorwärts‹ als Quelle. [Darüber hinaus
danke ich Gerd Giesler und Jürgen Tröger dafür, dass sie mir so großzügig
Archivmaterial und Transkriptionen zur Verfügung gestellt haben und Detlef
Lehnert für den Hinweis auf den ›Vorwärts‹ als Quelle.] Bei der aufgrund
der Vorlagen nicht immer einfachen Texterfassung und -redaktion
sowie der Erstellung der Register leisteten Moritz Langfeldt, Eike
Christian Schmieder und Merete Peetz weit über ihre Verpflichtungen
hinausgehende Hilfe. In der Schlussphase halfen bei den Korrekturen
Steffi Krohn, Tobias Müller und Aaron Karl Jeuther. Für aufmunternde
Unterstützung, kritische Kommentare und hilfreiche Anregungen zur
Einleitung danke ich Andreas Anter, Jodi Dean, Gerd Giesler, Henning

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Einleitung zu diesem Band 117

Hochstein, Lisa Klingsporn, Moritz Langfeldt, Simone Ladwig-Winters,


Reinhard Mehring, Douglas Morris, Tobias Müller, Merete Peetz, Kers-
tin Pohl, Frank Schale, William Scheuerman, Eike Christian Schmieder,
Alfons Söllner, David Strecker und Rieke Trimҫev.
Die Recherchen und editorischen Arbeiten für diesen Band wurden von
der Deutschen Forschungsgemeinschaft ermöglicht. Die DFG gewährte
dankenswerterweise auch einen Druckkostenzuschuss für diesen Band
(BU 1035/8-1).
Mein ganz besonderer Dank gilt Peter Kirchheimer (New York) sowie
Hanna Kirchheimer-Grossman und ihrem Mann David Grossman
(Arlington) für die Erteilung der Abdruckgenehmigungen, für die
umfassende Unterstützung bei der Vorbereitung dieser Edition und vor
allem für die anregenden Gespräche mit ihnen über das Leben und
Werk ihres Vaters.
Greifswald, im Herbst 2017
Hubertus Buchstein

Zitierte Literatur

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127

[1.]
Die Lehre von Stettin*
[1928]

In Deutschland sind schon manche Fememordprozesse über die Bühne


gegangen, aber stets hat eine geschickte Prozessleitung es verstanden,
politische Geschehnisse zu Fragen juristischer Tatsachenbestandsfest-
stellung zu vereinfachen; aus Liebe zu ihrem deutschen Volk, aus
Angst für ihr Gewissen hat sie immer dort aufgehört zu forschen, wo
die Motivation der Einzelhandlung einmündete in den Strom des Zeit-
geschehens. Unterstützt wurde sie freilich in diesem edlen Bemühen
durch das Auftreten von Rechtsanwälten, die glaubten, nicht Anwälte
von Angeklagten, sondern Vertretern einer Geschichtsauffassung zu
sein, deren Aspekte freilich durch die Weisungen ihrer Auftraggeber
begrenzt waren.
In Stettin zum ersten Male geschah es, dass der geheimnisvolle Schleier,
den bisher die Leipziger Gerichtsherren so sorgfältig über alle Arten
und Abarten der deutschen Reichswehr gebreitet hatten, gelüftet
wurde.
Als die Kreise, die die eigentlichen Angeklagten im Stettiner Feme-
mordprozess sind, sich betroffen fühlten, suchten sie eine Position, um
den systematischen Standpunkt ihres Tuns aufzuzeigen. Aber der Hin-
weis auf Oberschlesien, wo in Wirklichkeit ein Selbstschutz notwendig
war, entbehrt der Berechtigung. Dort illegale Verbände der Reichswehr
bilden, das hieß nur, das Vorgehen der Polen mit gleichem beantwor-
ten, Deutschland ersparen, dass aus Oberschlesien ein zweites Wilna,
ein zweites Fiume wurde. Wo aber war in Pommern die Gefahr? Wer
bedrohte die friedlichen Ackerbürger Pommerns? Etwa die Siedlungs-
gesetzgebung? Nein und abermals nein! Die Zeit war gekommen, den
traditionellen Zusammenhang zwischen dem ersten und dem zweiten
Sohn des Landadels – Rittergutsbesitzer und Offizier – hervorzukehren.
Schnell schwand die republikanische Tünche der Reichswehr, die ja nie
politische Überzeugung, sondern nur Ausweispapier dem Brotgeber
gegenüber war, und Zeiten der Unruhe, in denen die Reichswehr

* [Erschienen in: Die Tribüne, Organ der Sozialdemokratischen Partei für das Land
Thüringen und den Regierungsbezirk Erfurt, Nr. 99, 27. April 1928, Erfurt.
Gezeichnet mit dem Pseudonym »A. Z.«. – Zu diesem Text vergleiche in der Ein-
leitung S. 36-37.]

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128 [1.] Die Lehre von Stettin [1928]

selbstständig im Namen republikanischer Politik handeln sollte, zeig-


ten und zeigen immer wieder, dass sie niemals darauf verzichtet, ihre
eigene Politik, die Politik der Reaktion, des Großgrundbesitzes und der
Junker zu treiben.
Wenn der Stettiner Prozess uns eine Lehre bietet, so wird sie nicht in
den Gründen zu suchen sein, welche die dortigen Richter dem Urteil
beigeben werden. Sie werden von außergewöhnlichen Zeiten und
Umständen sprechen, die diese Tat bedingten und verstehen, wenn
auch verurteilen lassen. Wir aber als Sozialisten dürfen nicht von
außergewöhnlichen Umständen sprechen, wir müssen die soziologi-
sche Bedingtheit der leitenden Reichswehrkreise erkennen und rück-
haltlos darüber klar sein, dass diese Kreise nie aufhören werden, mit
ihren natürlichen Verbündeten, den ostelbischen Junkern heimlich oder
offen – je nach den Umständen – die Demokratie zu untergraben und
ihre von keiner Kontrolle belästigte Herrschaft wieder aufzurichten.
Größere Teile des deutschen Volkes verkennen noch diesen Zusammen-
hang. Deshalb, um ihnen die Augen zu öffnen, fordern wir vom neuen
Reichstag die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, der sich
nicht mit den Fememorden irregeführter Unterführer und Soldaten
beschäftigt, sondern systematisch die selbstständige Politik der deut-
schen Reichswehr untersucht und die wahren Schuldigen, aktive und
scheinbar pensionierte zivile und militärische Reichswehrmänner dort-
hin stellt, wohin man bisher nur ihre armseligen Kreaturen zu stellen
gewagt hat.

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129

[2.]
Zuchthaus Untermaßfeld und moderne
Preßberichterstattung*
[1928]

Unter dem marktschreierischen Titel »Zuchthaus oder Erholungsheim«


brachte die »Mitteldeutsche Zeitung« vom 24. Juni einen Bericht über
den Besuch der Presse im Untermaßfelder Zuchthaus. Wir tragen es der
»Mitteldeutschen Zeitung« nicht nach, dass in ihrem ganzen Elaborat
kein Wort über den Mann zu finden ist, dem die Strafanstalt Untermaß-
feld ihre »Berühmtheit« verdankt – ein für andere Strafanstalten
beschämender »Ruhm«, dass im heutigen Deutschland das Zuchthaus
Untermaßfeld und das Jugendgefängnis in Wittlich (Rheinland) die ein-
zigen Anstalten sind, in denen der Gefangene Mensch und nicht büro-
kratisches Objekt ist.
Die Ausführungen der »Mitteldeutschen Zeitung« bewiesen jedenfalls,
wie recht Genosse Krebs, der Leiter des Zuchthauses Untermaßfeld,
mit seiner bisher verfolgten Taktik hatte, möglichst wenig von seinem
Werk in eine »solche Öffentlichkeit« dringen zu lassen.
Zunächst müssen wir uns wundern, dass der Herr Berichterstatter bei
seinem Rundgang es vergessen hat, zu bemerken, dass
sämtliche Zellen der zweiten Stufe im ältesten Teil der alten Festung
unbeheizbar und unbeleuchtbar
sind, also 40 Prozent aller Gefangenen jahrelang in eiskalten Räumen
schlafen, weil der Thüringer Ordnungsblock für solche Ausgaben keine
220.000 Mark übrig hat. Wenn auch, dank der Fürsorge der Anstaltslei-
tung, das Essen dort abwechslungsreicher ist als in anderen Strafanstal-
ten, so fehlt es doch, da der Thüringer Ordnungsblock pro Kopf nur
700 Mark jährlich auswirft, an dem durchaus notwendigen Fettgehalt.
Schon aus diesen kurzen Angaben ist zu ersehen, dass auch in diesem
besten aller deutschen Gefängnisse durchaus ohne die Schuld des

* [Erschienen in: Die Tribüne, Organ der Sozialdemokratischen Partei für das Land
Thüringen und den Regierungsbezirk Erfurt, Nr. 153, 2. Juli 1928, Erfurt.
Gezeichnet mit dem Pseudonym »A. Z.«. – Zu diesem Text vergleiche in der Ein-
leitung S. 38-39.]

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130 [2.] Zuchthaus Untermaßfeld und moderne Preßberichterstattung [1928]

Anstaltsleiters und seines vorbildlichen Personals noch sehr viel zu


wünschen übrig bleibt.
Wenn der Berichterstatter des deutschnationalen Blattes diese Mängel
verschweigt, so liegt das an seiner Tendenz, diese Art Strafanstalt
dadurch zu diskreditieren, dass man sie als eine Art Paradies auf Erden
hinstellt. Das Argument, dass sich mancher arme Teufel und Arbeitslo-
ser freuen würde, dort sein zu können, berührt sehr sonderbar; denn es
vergisst, dass Freiheitsbewusstsein und Selbstbestimmungsrecht das
wichtigste Gut sind, dessen Verlust allein ausreicht, um als schwere
Strafe empfunden zu werden.
Wie aus den Ausführungen der »Mitteldeutschen Zeitung« deutlich
wird, ist sie an einer durchgreifenden Reform des Strafvollzugs nicht
sehr interessiert; denn sie sieht in den Gefängnissen hauptsächlich einen
Schutz der bestehenden Gesellschaftsordnung, der, je straffer man ihn
durchführt, desto größere Erfolge zeitigt. Zu diesen Gedankengängen
steht freilich die
Erziehungsarbeit, die in Untermaßfeld geleistet wird,
im Gegensatz. Sie ist für uns insbesondere deshalb so bedeutend und
wertvoll, weil sie einen Akt sozialer Gerechtigkeit größten Ausmaßes
darstellt. Dies begreifen wir, wenn wir uns die Frage stellen, aus wel-
chen sozialen Gruppen sich hauptsächlich die Objekte der Strafjustiz
rekrutieren. Von den politischen Delikten soll hier grundsätzlich abge-
sehen werden, da diese nur nominell zur Strafjustiz gehören, in Wahr-
heit aber mit dem Begriff der Strafe schlechterdings nichts zu tun
haben,
sondern nur ein Akt der Unschädlichmachung des politischen Feindes sind.
Die Strafgesetze vermögen in ihren Maschen nur einen Teil der Perso-
nen festzuhalten, die der Gesellschaft oder einzelnen Individuen Scha-
den zufügen, die unendliche Kompliziertheit sowohl von personellen
Beziehungen als auch insbesondere des modernen Wirtschaftslebens
kann von dem Strafgesetz, das generalisierend verfahren muss, nicht
erfasst werden. Nur ein bestimmter Teil aller gesellschaftlichen Existen-
zen ist in die Systematik des Strafgesetzbuches mit seinen fest umrisse-
nen Begriffsmerkmalen hineinzubringen.
Die Menschen ohne irgendwelche größere Existenzmittel
sind es, vermöge der Einfachheit der Motivierungen und der Publizität
ihres Tuns, die die größte Anzahl der Straffälligen stellen, während das

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[2.] Zuchthaus Untermaßfeld und moderne Preßberichterstattung [1928] 131

Gebaren anderer Bevölkerungsschichten wegen der Undurchdringlich-


keit größerer wirtschaftlicher Transaktionen nur in den seltensten Fäl-
len zur Aburteilung kommt.
So ist es ein durch die Gesellschaftsverhältnisse bedingter Umstand, dass
gerade Individuen der unteren sozialen Schichten in die Strafgewalt
des Staates kommen. Und die Aufgabe des Staates kann nun nicht
darin bestehen, einen zweifelhaften Vergeltungsanspruch zu verwirkli-
chen, sondern er muss es als seine Aufgabe, als eine
Aufgabe sozialer Gerechtigkeit
ansehen, in diesen Menschen das Bewusstsein der menschlichen
Würde und des Wertes der menschlichen Persönlichkeit zu erwecken,
das sie vordem nie in diesem Ausmaße besaßen. Jeder Mensch, der
dem Staat anheimfällt, muss ihm Aufgabe, menschliche Pflicht und
nicht Verwaltungsobjekt sein. Diese Wiederherstellung der menschli-
chen Würde mit Erfolg in Angriff genommen zu haben, ist das Werk
von Untermaßfeld.

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132

[3.]
Zur Staatslehre des Sozialismus und
Bolschewismus*
[1928]

Der Liberalismus wollte die kulturellen Gebiete außerhalb des Staats


wissen, davon abgesehen aber begnügte er sich damit, anstatt ihn zu
vernichten, sich in ihm eine seiner ökonomischen Position äquivalente
Machtstellung zu erringen. In diesem Kampf, der immer voll von
Respekt und geheimer Bewunderung für die diesen Staat repräsentie-
renden Mächte blieb, war ihm seine Waffe die Konstitution. Der
geringe politische Eigengehalt des Liberalismus ließ ihn in Frankreich
zweimal dem Machtwillen eines Napoleon unterliegen, während er in
Deutschland in Vor- und Bismarck‘scher Zeit seine Selbständigkeit
gegenüber der Staatsmacht immer wieder preisgab. Die Konstitution
und der Rechtsstaatsgedanke überhaupt, in die der Liberalismus ein
ihre wahre Bedeutung weit übersteigendes Vertrauen setzte, sollten
ihm dazu verhelfen, die herrschenden Adelsschichten auf einen genau
geregelten Tätigkeitsbezirk festzulegen. Da sie außerdem nur noch ihre
ökonomische Position als Waffe hatte, dauerte dieser Prozess ziemlich
lange. Diese Verzögerung brachte es mit sich, dass der letzte Teil des
Kampfes schon unter dem Nachdrängen der inzwischen zu einem poli-
tischen Faktor gewordenen Arbeiterklasse geführt wurde.1 So kam die
Arbeiterklasse durch die gemeinsame Frontstellung gegen den feuda-
len Halbabsolutismus in nähere Beziehung zum Liberalismus. Bei der
Kluft, in die sie notwendigerweise ihre gegensätzlichen ökonomischen
Interessen bringen musste, war der Kampf um politische und weltan-
schauliche Freiheit, den der Liberalismus auch dort, wo er sich sonst
seiner politischen Handlungsfreiheit fast gänzlich begeben hatte, wie in
Deutschland, als traditionelles Erbstück weiterführte, ein willkomme-
nes Bindemittel, das bis auf den heutigen Tag in der westeuropäischen
Sozialdemokratie nachhaltig fortgewirkt hat. Der Kampf um politische
Freiheit, den die liberalen Staatsparteien zur Durchführung ihres Herr-

* [Erschienen in: Zeitschrift für Politik, Band 17, Berlin 1928, S. 593-611. – Zu die-
sem Text vergleiche in der Einleitung S. 23-33.]
1 Dieser Vorgang findet seine prägnante Beschreibung bei Friedrich Engels, Einlei-
tung zu Karl Marx‘ Klassenkämpfe in Frankreich, S. 5[, in: MEW Band 7, Berlin
1960, S. 515]; aber auch der Gegner urteilt ebenso: Lorenz von Stein, »Der Sozia-
lismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs«, [Leipzig 1842,] S. 145.

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[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928] 133

schaftsanspruchs auf politischem Gebiet führten, war so lange relativ


ungefährlich, als das Festhalten an einer gemeinsamen nationalen Basis
die politische Einheit des Staates gewährleistete. Als aber das tatkräf-
tige Nachdrängen der Arbeiterklasse diesen über die politischen Ziele
des Liberalismus hinausschießenden Kampf mit der Erringung der
sogenannten Demokratie, das heißt der vollkommenen, an keine Zen-
surqualifikation gebundenen, politischen Gleichberechtigung zu einem
vorläufigen Ende gebracht hatte, da war diese gemeinsame Basis nicht
mehr vorhanden. Damit war aber zugleich die für eine Demokratie –
möge sie einer wie auch immer gearteten Idee als Form dienen – noch
viel notwendigere Wertvoraussetzung verschwunden.2 Denn in dem
Augenblick, wo ein großer von der politischen Gleichberechtigung
nicht ausgeschlossener Volksteil den gemeinsamen Wert nicht mehr als
den seinigen anerkennt, mit ihm in Kollision gerät, hat die Demokratie
ihre ursprüngliche Bedeutung als in der Teilnahme jedes Einzelnen
bestehende Zusammenfassung aller einen gemeinsamen Wert Aner-
kennenden zum Volk seine Bedeutung verloren.
Die Geschichte des 19. Jahrhunderts, der Schauplatz des Kampfes und
endgültigen Sieges der Demokratie, hat aber unter dem Eindruck jenes
erbitterten Kampfes vergessen, danach zu fragen, was der mögliche
und stets veränderliche Inhalt der neuen Volksherrschaft sei,3 ein
Säumnis, das durch die absolute Gleichsetzung, die man bald darauf
zwischen Volk und Demokratie einerseits, Liberalismus und Bourgeoi-
sie andererseits vornahm, genugsam verständlich erscheint. Denn hier-
mit war der Gegensatz vom rein Politischen ins Soziale abgewandelt,
und von nun an verbergen sich hinter dem Terminus »Demokratie«
bestimmte Vorstellungen sozialer Homogenität. In diesem Sinn wird
die Demokratie auch von sozialistischen Schriftstellern anerkannt, eine
Anerkennung, die freilich durch die Allgemeinheit des Wertes
geschwächt wird, in dessen Namen der Sozialismus demokratisch sein
will; denn durch die soziale Gleichheitsforderung, die der Sozialismus
an die Demokratie stellt, wird diese schon als ein Übergang in den
Zustand des Nicht-Mehr-Staat-Seins, der klassenlosen Gesellschaft ver-
standen. Indessen gehört zu den konstituierenden Merkmalen der
Wertdemokratie keine a priori bestimmte, sondern lediglich eine über

2 Über die Strukturfragen der Demokratie W. Becker in den »Schildgenossen«,


September 1925. [Werner Becker: Demokratie und Massenstaat, in: Die Schildge-
nossen, Nr. 5, Burg Rothenfels am Main, S. 459 ff.]
3 Über die Wandelbarkeit der herrschenden Ideen im Bereich der Demokratie führt
schon höchst bewegliche Klage [Pierre-Joseph] Proudhon in: De la Justice dans la
Révolution et dans l‘Eglise, tome I, [Brüssel/Leipzig 1860,] S. 10.

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134 [3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928]

die rein politische Gleichberechtigung hinauszielende Werteinheit.


Hierzu tritt die »Demokratie«, die in Deutschland nach Ausgang des
Krieges, in andern Ländern teils schon früher errungen wurde, in einen
scharfen Gegensatz.4 Sie bezeichnet unter Absehen von jeder Wertvor-
aussetzung nur einen Zustand allgemeiner politischer Gleichberechti-
gung. Das Kennzeichen jener formalen5 Demokratie ist der Nichtbesitz
von Werten, gegen die bestimmte Gegenwerte gesetzt werden können,
es sei denn, dass man in dieser Freiheit von Werten selbst einen Wert
erblickt.6 Sie ist die Form, in der sich die Klassen und ihre Werte kreu-
zen und begegnen, genauer gesagt, sie ist die Form, in der zu einem
bestimmten Zeitpunkt des Klassenkampfes die gegensätzlichen Kräfte
sich gruppieren. Die Frage lautet nun: Wie ist unter solchen Umständen
Regierung überhaupt möglich, und wer entscheidet darüber, wer sie in
Händen haben soll. Bei einer durch eine gemeinsame Wertvorstellung
qualifizierten Demokratie bedeutet Stimmenmehrheit den Entscheid
über den besten Modus der Verwirklichung der gemeinsamen Wertvor-
stellungen.7 Wenn kein gemeinsamer Wert vorhanden ist, so ist es
durchaus nicht evident, warum die Mehrheit entscheiden soll, denn
dieser Mehrheitsbeschluss würde der kampflosen Unterwerfung der
Minderheit unter den politischen Feind gleichkommen, was man am
besten daraus ersieht, dass dieser Zustand einer kampflosen, auf lange
Dauer hinaus berechneten Unterwerfung in der sozialistischen Litera-
tur als Diktatur bezeichnet wird, wodurch weniger an die Bedeutung

4 Dieser Gegensatz zwischen, wie es hier genannt wird, Formal- und Wertdemo-
kratie durchzieht auch das ganze Buch von Max Adler, »Politische oder soziale
Demokratie«, [Berlin 1926,] die Bezeichnung politische und soziale Demokratie
ist die Verengerung des Gegensatzes zwischen Formal- und Wertdemokratie, nur
ist das Wort politische Demokratie unglücklich, da eben jede Demokratie als
Erscheinungsform staatlichen Lebens politisch ist. Hierin zeigt sich die notwen-
dige Zwiespältigkeit rein sozialistischer Begriffsbildungen, die, wenn sie in apoli-
tischen Kategorien denken will, dennoch dazu nicht die politischen Kategorien
selbst entbehren kann.
5 Nur die formale Demokratie hat im Auge Karl Renner bei seinen Erörterungen
im Dezemberheft 1926 der »Gesellschaft«. [Vgl.: Karl Renner: Der Streit um die
Demokratie, in: Die Gesellschaft, Jg. 4, Heft 1, Berlin 1927, S. 1-27.]
6 So [Hans] Kelsen in »Sozialismus und Staat«. [Eine Untersuchung der politischen
Theorie des Marxismus, Leipzig 1920.]
7 Siehe die klassische Stelle bei [Jean-Jacques] Rousseau, »Contrat social«, Livre IV,
Chap. 2, Des Suffrages. »Quand donc l’›avis contraire au mien l’›emporte, cela ne
prouve autre chose, sinon que je m’›étois trompé et que ce que j’›estimois être la
volonté générale, ne l’›étoit pas.« Völlig konform auch Max Adler »Politische
oder soziale Demokratie«, [Berlin 1926,] S. 85.

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[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928] 135

dieses eine Ausnahme8 kennzeichnenden Begriffes als an die Nichtevi-


denz eines solchen Unterwerfungsaktes gedacht wird. Die Existenzvor-
aussetzungen der formalen Demokratie sind nun folgende: Ein annä-
herndes Gleichgewicht der sich bekämpfenden Klassen und die daraus
resultierende stillschweigende Abmachung, solange diese Gleichge-
wichtslage andauere, durch die Wahlen und ihr zufälliges Mehrheitser-
gebnis entscheiden zu lassen, wer die Regierung übernehmen solle.9
Diese so entstandene Regierung ist nicht frei in ihren Entschließungen,
denn der jeweils bei diesem Additionsverfahren Unterlegene hat das
vom Liberalismus ererbte System der konstitutionellen Sicherungen bis
aufs kleinste ausgebaut. Hierbei spielt es naturgemäß eine gewisse
Rolle, welche Klasse oder Weltanschauungsgruppe es vermocht hat, in
das Prozessgesetz dieses konstitutionellen Sicherungssystems, die Ver-
fassung, Teile ihres Programms hineinzuschreiben und so durch das
Erfordernis der Zweidrittelmehrheit den jeweiligen Schwankungen der
Gleichgewichtslage und für die zeitliche Dauer des Systems jedem
Angriff zu entziehen. Eine Betrachtung der Weimarer Verfassung unter
diesem Gesichtspunkt würde lehrreiche Beispiele bieten. So hat der
Rechtsstaatsgedanke, aus dem Gedankenkreis und den Händen der
konstitutionellen Parteien heraustretend in die breite Kampfesebene
zwischen Volk und besitzenden Klassen, allmählich einen tiefgreifen-
den Funktionswechsel durchgemacht. Ursprünglich das zaghafte
Kampfmittel der Schichten von »Besitz und Bildung«, denen es insbe-
sondere darum zu tun war, die Ausschließlichkeit ihrer finanziellen

8 Hierzu Carl Schmitt: »Die Diktatur« [Von den Anfängen des modernen Souverä-
nitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, Berlin 1921] und »Politi-
sche Theologie«[, Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 1922].
9 Das Problem des Gleichgewichtszustandes ist zur Zeit der Monarchie als Prob-
lem der Ausbalancierung hervorgetreten. Interessant ist die Feststellung Aulards
(»Pol. Geschichte der franz. Revolution«, II, S. 44) [François-Alphonse Aulard:
Politische Geschichte der französischen Revolution, II, München 1924], dass das
Bürgertum durch die Person des Königs nach einer relativen Ausbalancierung
zwischen Volk und Bürgertum strebte, ohne jedoch auf seine tatsächliche Macht
verzichten zu wollen. Das Volk aber begriff seine günstige Position nicht und half
der Bourgeoisie gegen den König (S. 46). Die prinzipielle Bedeutung jenes Vor-
gangs als eines Vorspiels für die politische Geschichte des folgenden Jahrhun-
derts hat der Liberale Rotteck wohl begriffen, als er dem Königtum in der Fran-
zösischen Revolution den bitteren Vorwurf machte, die Bürgerlichen gezwungen
zu haben, an das Volk zu appellieren (Gesch. vom Anfang der hist. Kenntnis bis
auf unsere Zeit, Bd. IX, S. 83). [Karl von Rotteck: Allgemeine Geschichte vom
Anfang der historischen Kenntnis bis auf unsere Zeit, Band IX, Braunschweig
1846, S. 84 f.]

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136 [3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928]

Herrschaft zu befestigen10 und die Sicherheit ihrer privaten Aktionen


nicht den Gefahren einer unzuverlässigen Rechtsprechung auszuset-
zen, ist er zur Grenzscheide zweier kämpfender Gruppen geworden,
die beide weit entfernt sind, in ihm das endgültige Gesetz der inneren
Machtverteilung zu empfinden. Diese stillschweigende Abmachung,
die Existenzgrundlage der Formaldemokratie, war für die kämpfenden
Gruppen nur erträglich, wenn die Grenzen der Regierungsgewalt mög-
lichst eng umschrieben, ihr möglichst wenig tatsächliche Entschei-
dungsgewalt, dafür aber ein Haufen gesetzlich präzisierter Verwal-
tungsfunktionen übertragen wurden, Verwaltungsfunktionen, die in
Menge neu errichtet wurden, nachdem der Versuch des Liberalismus,
die Regelung wirtschaftlicher Verhältnisse dem Staat gänzlich zu ent-
ziehen, sich weder als durchsetzbar noch auch als wünschenswert
erwiesen hatte.11 Aber über jeder Verwaltungsfunktion erhoben sich die
Instanzen, die die Entscheidung der jeweiligen sozialen Kräftevertei-
lung entreißen und in die Sphäre des Rechts entrücken sollten. Man
schritt auf allen Gebieten zur Verrechtlichung, jeder tatsächlichen, jeder
Machtentscheidung wird auszuweichen versucht, ob es sich um die
Diktaturgewalt des Reichspräsidenten oder um die Beilegung von
Arbeitskonflikten handelt, alles wird neutralisiert dadurch, dass man es
juristisch formalisiert. Jetzt erst beginnt die wahre Epoche des Rechts-
staats. Denn dieser Staat beruht nur auf seinem Recht. Dadurch, dass
die Entscheidung, die gefällt wird, möglichst farblos und wenig autori-
tativ wirkt, dass durch sie der Glaube hervorgerufen wird, dass sie von
unabhängigen, nach freier Überzeugung entscheidenden Richtern12
gefällt sei, wird sie überhaupt erst tragbar. Das Paradoxe ist Tatsache
geworden, der Wert der Entscheidung liegt darin, dass sie eine rechtli-
che Entscheidung ist, dass sie von einer allgemein anerkannten Instanz
ausgesprochen wird, aber dass sie trotzdem möglichst wenig Sachent-
scheidung enthält. Der Staat lebt vom Recht, aber es ist kein Recht

10 Im formaldemokratischen Staat hat das Budgetrecht seine einstige Bedeutung


vollkommen eingebüßt, da mit der Möglichkeit abwechselnder Regierungen die
ständige Kontrolle einen höchst subsidiären Charakter erlangt hat.
11 Seine ausgeprägteste Vertretung findet die Idee des Verwaltungsstaats bei
Cunow, »Marxsche Staats- und Gesellschaftsheorie«, [Heinrich Cunow: Die
Marxsche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie: Grundzüge der Marx-
schen Soziologie, Berlin 1920] auch in [Karl] Renners Kriegsbuch: »Krieg, Mar-
xismus und Internationale«. [Kritische Studien über offene Probleme des wis-
senschaftlichen und des praktischen Sozialismus in und nach dem Weltkrieg,
Stuttgart 1917.]
12 Hierzu die Bemerkungen von E. Rosenstock, »Vom Industrierecht«, S. 167.
[Eugen Rosenstock-Huessy: Vom Industrierecht. Rechtssystematische Fragen,
Berlin 1926.]

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[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928] 137

mehr, es ist ein Rechtsmechanismus, und jeder, der die Führung der
Staatsgeschäfte zu bekommen glaubt, bekommt stattdessen eine
Rechtsmaschinerie in die Hand, die ihn in Anspruch nimmt wie einen
Maschinisten seine sechs Hebel, die er zu bedienen hat.13 Das rechts-
staatliche Element in seiner nach Überwindung des reinen Liberalis-
mus nunmehr angenommenen Gestalt, die spezifische Transponierung
der Dinge vom Tatsächlichen ins Rechtsmechanistische, ist das wesent-
liche Merkmal des Staates im Zeitalter des Gleichgewichts der Klassen-
kräfte. Nimmt man vorsichtig die Dinge heraus, die wegen ihrer Unbe-
dingtheit keine Verrechtlichung ertragen, wie etwa Religion und Mili-
tärdienst, so ist, was bleibt, ein reiner Rechtsmechanismus.
Die Frage nach der russischen Revolution, nach dem Sowjetstaat, ist die
Frage, ob es sich dort um die Zerstörung einer solchen Rechtsmaschine-
rie gehandelt hat, ob der russische Staat, der vernichtet wurde, eben-
falls nur eine Form zur Austragung von Klassengegensätzen gewesen
ist. Dies ist durchaus zu verneinen. Der offizielle russische Staat stand
in engster Verbindung mit der orthodoxen russischen Kirche; ihr Ober-
haupt, der Zar, war gleichzeitig das seine, ein Grund mehr, weshalb die
nach Westen orientierten Intellektuellen, das liberale Bürgertum, kei-
nen Einfluss gewinnen konnte, ihre historische Bedeutung, wie sie die
entsprechenden westeuropäischen Schichten noch heute nicht verloren
haben, aufgeht in der allgemeinen revolutionären Bewegung und dem
kurzen Zwischenspiel zwischen Zarenreich und Räterepublik.
Die prägnante Formulierung dessen, was der vorrevolutionäre russi-
sche Staat vorstellte, fand 1867 Danilewski in seinem »Rußland und
Europa«,14 der Bibel des Panslawismus. Hier wird der kulturell-politi-
schen Sendung Europas Russlands göttliche Sendung gegenüberge-
stellt und, daraus folgend, jede Revolution für unvereinbar mit dem
Charakter des russischen Volkes erklärt. Der russische Staat ist ein

13 Dem Verwaltungsstaat Cunows und Renners tritt im französischen und anglo-


amerikanischen Staatsrechtsdenken der Begriff des »service« zur Seite. Bei
[León] Duguit (»Traîté de droit constitutionel«, Bd. 2, [Paris 1925,] S. 52ff.) zeigt
sich dies in der Neigung, alles öffentliche Recht unter dem Gesichtspunkt einer
Hilfsleistung für den sozialen Prozess anzusehen. Am besten versteht es das
amerikanische Rechtsdenken, von politischen Gruppierungsbegriffen zu abstra-
hieren, wobei der Begriff service zu einem sozialen Zuordnungsbegriff gänzlich
liberaler Observanz wird, »öffentlicher Dienst für seine Majestät den Kunden«,
wie es Hirsch (Amer. Wirtschaftswunder, S. 277) nennt. [Julius Hirsch: Das
Amerikanische Wirtschaftswunder, Berlin 1926, S. 227 f.]
14 [Nikolai Jakowlewitsch Danilewski: Rußland und Europa, übersetzt und einge-
leitet von Karl Nötzel, Stuttgart 1920. Mit 1867 verweist Kirchheimer auf das
Jahr des Ersterscheinens.]

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138 [3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928]

Nichtstaat, er ist nur die irdische Ausdrucksform einer gottgesandten


Mission, ein Reich voller Werte, und je mehr wir an die Peripherie des
zwanzigsten Jahrhunderts kommen, desto unversöhnlicher wird der
Gegensatz zwischen Russlands wahrer Sendung und denen, die sie ver-
leugnen, bis sie sich bei Berdjajeff15 einem modernen russischen gegen-
revolutionären Denker zu der großartigen Konzeption des Reiches Got-
tes als das wahre, das heilige russische Reich und dem Reich des
Gegengottes, des bolschewistischen, des atheistischen Teufels, steigert.
Was an Berdjajeff besonders interessiert, ist nicht allein dieses Aufrei-
ßen des radikalen Gegensatzes zwischen Gut und Böse, diese durchaus
moralische Wertung, die er allen staatlichen Vorgängen des russischen
Reichs zuteilwerden lässt, als vielmehr das Aufsteigen der Erkenntnis,
dass der Bolschewismus nun durchaus mit aller Halbheit und Neutrali-
tät, dem humanistischen Reich der Mitte, gebrochen habe, dass es jetzt
die wirkliche, die echte, die letzte Entscheidung gelte. So war das Cha-
rakteristische des russischen Reiches seine prägnante Gegensatz-Struk-
tur mit seinen moralisch-theologischen Begriffen von Gut und Böse, die
seine ganze politische Vorstellungswelt beherrschten. Das wirtschaft-
lich brennendste Problem war, wie bekannt, die Bodenverteilungsfrage.
Diese gänzlich anders gelagerte Struktur der russischen Verhältnisse
hat schon Karl Marx in einem Brief an Wera Sassulitsch16 veranlasst,
auszusprechen, dass sich die Notwendigkeit des kapitalistischen Ent-
wicklungsprozesses auf Europa beschränke, und in der russischen Aus-
gabe seines Kommunistischen Manifestes hat er im Vorwort bemerkt,
dass die Niederwerfung des russischen Absolutismus das Signal einer
gesamteuropäischen Revolution werden könne. Die russische Sozialde-
mokratie ging freilich unter Plechanows Führung bis zu der im Jahre
1903 auf dem Londoner Kongress erfolgten Spaltung die gleichen Wege
wie die westeuropäischen Arbeiterparteien. Auch sie nahm einen all-
mählichen Übergang, eine »organische« Entwicklung vom Absolutis-
mus über die parlamentarische Demokratie bis zu dem Punkt an, wo
einstens die Arbeiterpartei die Parlamentsmehrheit im demokratischen
Staate haben werde. Dieses Verhalten führt mit Notwendigkeit dazu, in
dem Prozess vom Absolutismus bis zur vollendeten, der sozialistischen
Demokratie einen ständigen Fortschritt zu sehen und insbesondere die

15 [Nikolaus] Berdjajeff, Das neue Mittelalter, Betrachtungen über das Schicksal


Rußlands und Europas. Darmstadt 1927.
16 Dieser Briefwechsel ist erstmals 1924 vom Marx-Engels-Institut, Moskau, veröf-
fentlicht (I. Bd. 3. T. S. 263-86). [In: MEW Band 19, Berlin 1960, S. 242-244 und
S. 384-406.] Diesen wie viele andere Hinweise danke ich der ausgezeichneten
Schrift von [Karl] Stählin, Rußland und Europa. Berlin 1925.

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[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928] 139

in einer Formaldemokratie mit Gleichgewichtsstruktur notwendigen


Akzidentalia der Presse- und Versammlungsfreiheit und ähnlicher
Institutionen als eine dauernde Errungenschaft anzusehen, der – um
mit Marx zu sprechen – ein Fetischcharakter verliehen wurde. Die
Marx‘schen Epigonen, die nach ihm auf die Haltung der Arbeiterpar-
teien von maßgebendem Einfluss waren, bei ihnen allen hat sich eine
Theorie vom Doppelten Fortschritt gebildet.17 Dem Fortschritt der kapi-
talistischen Wirtschaftsentwicklung entspricht der Fortschritt in der
Entwicklung der Menschheit, der Fortschritt in ihrer Erziehung zur
Humanität, der sich in ihren jeweiligen Kampfmethoden Ausdruck
schafft. Der Friede, für den 1914 Jean Jaurès fiel, gemeinhin Friede der
zweiten Internationale, gehört ebenso in diese Reihe wie der Glaube an
eine friedliche Mehrheit in der Formaldemokratie, dieser Demokratie,
die nach Kautsky den Kampf organisierter, aufgeklärter Massen voll
Stetigkeit und Besonnenheit darstellt. Diese Theorie des Doppelten
Fortschritts stammt von Karl Marx‘ Epigonen, nicht von ihm selbst. Für
Karl Marx selbst war die politische Welt nie mehr als ein Reflex der
wirtschaftlichen Entwicklung. Nicht das Proletariat ist es, dessen Reife
den Tag der sozialen Revolution herbeiführt, sondern es ist der Ent-
wicklungsprozess des Kapitalismus, durch den das Proletariat organi-
siert und diszipliniert werden wird. Die Idee einer »continuité techno-
logique« beherrscht nach Georges Sorel18 das Marx‘sche Denken.
Lenin, der anerkannte Theoretiker der bolschewistischen Partei, hat der
Theorie vom Doppelten Fortschritt zeitlebens ferngestanden; aber die
besonderen russischen Verhältnisse ließen ihn schnell erkennen, dass
die unbedingte Abhängigkeit von der kapitalistischen Wirtschaftsent-
wicklung, in die Marx den politischen Reifeprozess des Proletariats
brachte, kaum geeignet war, seine Sache zum Siege zu führen. Zwar hat
er an dem Gedanken der unabänderlichen Notwendigkeit der kapitalis-
tischen Wirtschaftsentwicklung sowie an dem nach dem Siege des
Sozialismus zu verwirklichenden Fortschritt der Menschheit festgehal-
ten, letzteren nach der Erringung der Herrschaft in einem durchaus

17 Den gleichen Zusammenhang beobachtet [Carl] Schmitt, wenn er von der vor-
gestellten Identität von fortschrittlich-demokratischen Gedanken und sozialde-
mokratischer Organisation spricht. »Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen
Parlamentarismus« 2. Aufl.[, Berlin 1926,] S. 32. Als Beispiele statt vieler: Renner
in dem zitierten Aufsatz [Karl Renner: Der Streit um die Demokratie, in: Die
Gesellschaft, Jg. 4, Heft 1, Berlin 1927, S. 1-27]; [Karl] Kautsky, »Terrorismus und
Kommunismus, Ein Beitrag zur Naturgeschichte der Revolution«, Berlin 1919;
und höchst instruktiv [Karl] Kautsky, »Georgien, eine sozialdemokratische Räte-
republik, Eindrücke und Beobachtungen«, Wien 1921.
18 [Georges] Sorel: Réflexions sur la violence, 6. Aufl., Paris 1921, S. 199.

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rationalistischen und materialistischen, dem zwanzigsten Jahrhundert


zugewandten Sinne zu verwirklichen gesucht, aber der spezifische
Gehalt seiner Tat und Lehre gehört einem anderen Bereich an. Lenin
hat, um die Herrschaft des Proletariats zu verwirklichen, die Lehre
vom Doppelten Fortschritt, die Lehre von der wachsenden Humanisie-
rung der politischen Kampfmethoden durch eine Lehre vom rückhalt-
losen, allumfassenden Kampf ersetzt, an die Stelle der Humanität des
alle Klassen einbeziehenden Fortschritts die Moral selbst in diesen
Kampf einbezogen, sie seiner Sache dienstbar gemacht, anstatt ihr Die-
ner zu werden. Dieser Kampf ist es, der für ihn die eigentliche Grup-
pierung der Menschheit schafft. »Unserer Meinung nach«, sagt er,
»ist die Sittlichkeit ganz und gar der Frage des Klassenkampfes unter-
geordnet, sittlich ist alles, was der Vernichtung der alten und ausbeute-
rischen Gesellschaft und der Machtgewinnung des Proletariats förder-
lich ist. Unsere Sittlichkeit besteht also allein in der geschlossenen Dis-
ziplin und in dem bewussten Kampf gegen die Ausbeuterklasse. Die
ewigen Leitsätze der Moral glauben wir nicht, und wir werden diesen
Betrug entlarven, die kommunistische Moral ist gleichbedeutend mit
dem Kampf um die Befestigung der proletarischen Diktatur.«19
Diese Sätze sind, was ihre Zuspitzung angeht, das Gegenstück zu
Berdjajeffs These von Christ und Antichrist, nur freilich ist jede reli-
giöse Vorstellung ins politische Gebiet abgewandelt, an die Stelle des
Ungläubigen, des Antichristen, ist der politische Feind getreten. Ihrem
Inhalt nach gehören sie zu dem Sorel‘schen Gedankenkreis,20 mit dem
Lenin mehr denn den gemeinsamen Hass gegen den Fortschrittsaber-
glauben der Parlaments-Sozialisten teilt. Gemeinsam erkennen sie in
dem Glauben an eine friedliche Mehrheitserringung in der parlamenta-
rischen Demokratie eine dem Bereiche der Utopie angehörige Vorstel-
lung. Utopien aber sind rationale, in der Wirklichkeit nie ganz aufgeh-
bare, in die Zukunft tendierende Projizierungen menschlichen Den-
kens. Schon Pareto hat zwischen wirksamen und unwirksamen Uto-
pien unterschieden, wenn er den Liberalismus eine unwirksame, den
Sozialismus eine wirksame Utopie nannte.21 Das gibt den wahren Sach-
verhalt unter falscher Bezeichnung wieder. Der nationalökonomische
und der politische Liberalismus, die freie Konkurrenzlehre und die
Menschenrechte, der homo oeconomicus und der abstrakte Staatsbür-

19 [Siehe: Wladimir Iljitsch Lenin: Die Aufgaben der Jugendverbände, in: W.I.
Lenin, Werke, Berlin 1966, S. 272-290.]
20 Siehe insbesondere Kap. 4 des genannten Buches. [Georges Sorel: Réflexions sur
la violence, 6. Auflage, Paris 1921.]
21 W. Pareto, »Les systems socialistes« II 65. [Vilfredo Pareto: Les systèmes social-
istes, Paris 1926.]

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ger sind in der Tat eine zusammengehörige Reihe utopischer Vorstell-


ungen. Denn sie sind rationale Denkgebilde, die Zeitbedingtes mit ewig
Ersehntem mischend, Zukunftsbilder projizieren; was ihnen aber fehlt,
ist die unmittelbare Gegenwartswirkung. Dies aber ist die wahre
Scheide zwischen Utopie und Mythos; während die Utopie die ferne
Zukunft projizierend in ihrer Totalität machtlos bleibt gegenüber der
Gegenwart, wirkt der Mythos auf sie ein und formt sie selbsttätig nach
seinem Bilde.22 Der Mythos lebt in Vergangenheit und Gegenwart, die
Zukunft aber ist ihm nur so weit zugänglich, als sie sich erlebnismäßig
in einem Stück Gegenwart oder Vergangenheit verkörpert.
Der Mythos der Gegenwart; der Mythos des Proletariats, verkörpert
sich für Sorel im Generalstreik. Karl Marx hat nach Sorels Ansicht die
Organisation des kämpfenden Proletariats über der Untersuchung der
Entwicklung des Kapitalismus vergessen und ist dabei in einem ratio-
nalistischen Schema geblieben, das ihn in ziemliche Nähe zu der Utopie
gebracht hat. Der Syndikalismus aber müsse ergreifen und verwirkli-
chen, was der eigentliche Kerngehalt der Marx‘schen Lehre sei: die
Lehre vom Klassenkampf. Hiermit aber ist gerade das typisch
Marx‘sche Element, die funktionelle Abhängigkeit der proletarischen
Bewegung vom kapitalistischen Entwicklungsprozess in Frage gestellt,
und Sorel hat hierdurch die Lehre vom Klassenkampf verselbständigt,
ihr eine eigene Grundlage und Sinndeutung gegeben, denn was Sorel
mit »la force« bezeichnet, eignet im Grunde genau dem, was Marx
unter dem kapitalistischen Entwicklungsprozess verstand: rational
errechenbare Kräfteverhältnisse. Diesen rationalen Dingen, die nur
Geduld, Einsicht und Erkenntnis voraussetzen, stellt Sorel einen politi-
schen Gruppierungsbegriff wesentlich anderer Art gegenüber. »La vio-
lence«, das bedeutet die Wucht – Lenin hat dafür das Wort russischer
Elan gebraucht –, mit dem eine entschlossene Gruppe ihrem Sieg entge-
gengeht. Es ist die letzte Schlacht, die »bataille napoléonienne«, die, ein
wesentlicher Gehalt des Mythos, auch hier wiederkehrt. Damit aber ist
die Vorstellung eines Machtkampfes, in die die Unwirklichkeit eines
aus Erkenntnisnotwendigkeit kommenden Klassenbewusstseins und

22 Die Vorstellung einer unmittelbaren Einwirkung auf den Menschen ist dem
Mythos typisch. So heißt es bei Sorel: »II faut juger des mythes comme des moy-
ens d‘agir sur le présent« (»Refl.« S. 180). [Georges Sorel: Réflexions sur la vio-
lence, 6. Auflage, Paris 1921.] Ohne Zweifel findet der Gedanke des »Agir sur le
présent« sich in seiner Reinheit nur bei den primitiven Völkern ausgebildet, er
verkörpert eine bewusst prälogische Bewusstseinshaltung. Siehe Lévy-Bruehl,
»Mentalité primitive«, [Lucien Lévy-Bruhl: La Mentalité primitive, Paris 1922;]
insbesondere S. 94 über den emotionalen Charakter der primitiven Vorstel-
lungswelt.

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-kampfes sowie ihr notwendiges Reuekorrelat aus individualistischer


Ethik und Utopie gedrängt hatte, aufgehoben und durch eine Kampfes-
ethik ersetzt, die ihre Legitimierung an der Größe und Teilnahmefähig-
keit am Mythos selbst findet, so aber den Generalstreik aus seiner öko-
nomischen Sphäre entrückt; es sind keine lohnbegehrenden Arbeiter
mehr, die ihn führen, sondern die Helden einer neuen Sage, die den
Beginn einer neuen Geschichtsepoche heraufführen werden. Die Hel-
den des Mythos, die streikenden Arbeiter, sind die Reinen, die Besse-
ren, die zum letzten Siege Auserwählten, und deshalb ist dem um die
Fahne der »violence«, der schöpferischen Gewalt gruppierten Proleta-
riat der Sieg über »la force«, die rein technisch-ökonomische Gewalt
der Bourgeoisie sicher, wie es der ewige Vorsprung jedes Irrationalen
über das rationale Element, des Mythos über die Utopie ist, dass der
eine gläubig ist, wo der andere rechnet. Der politische Mythos besitzt
die Fähigkeit, eine politische Wertgruppierung entschiedenster Art her-
vorzurufen. Einmal ausgehend von der Notwendigkeit und Größe des
endgültigen Kampfes, hat er keine größere Besorgnis, als einen Feind
vorzufinden, der in Wirklichkeit keiner mehr ist, und er hofft zu errei-
chen, dass die Aussichtslosigkeit, einen Ausweg zu suchen, das Aufzei-
gen der Unvermeidlichkeit der letzten Entscheidung, die Bourgeoisie
dazu treibt, sich zu ermannen und den Kampf mit der Würde auszu-
fechten, die seine Bedeutung notwendig macht. Er will in dem Bild des
Bourgeois, darin einer alten Tradition folgend, den Feind schlechthin
erblicken.23 Die Lehre von der »action directe« bedeutet einen Versuch,
der Politik ihre Unmittelbarkeit wiederzugeben, indem sie jede vermit-
telnde Instanz, die Sphäre neutraler Humanität und des Fortschritts
ablehnend, ihre Kraft und Symbole aus der unmittelbaren Lebens-
sphäre der Gegenwart bezieht. Ihr ist die enge Verbindung von Politik
und Wirtschaft keine Gefahr, da der Mythos als politisches Formprin-
zip stark genug ist, alle Trägheitselemente zu überwinden. Um die
Stärke des politischen Formungswillens zu gewährleisten, bekennt er
sich zur Elitentheorie und anerkennt damit ein Organisationsprinzip

23 Während Eduard Bernstein, der typische Vertreter der Lehre vom Doppelten
Fortschritt, schon in den neunziger Jahren die moralische Integrität der Bour-
geoisie pries, versuchen Sorel und Pareto, über die Relativierungsversuche des
Parlamentarismus hinweg die wirkliche Kampfesfront ohne Illusionen aufzu-
zeigen. Den Versuch, dem Bilde des Proletariats ein Wertbild der Bourgeoisie
gegenüberzustellen, hat in geistiger Gefolgschaft Sorels [René] Johannet in sei-
nem »Eloge du bourgeois français«[, Paris 1924,] unternommen. Sie alle folgen
damit der Tradition Bakunins, »L‘honnêt homme, homme moral, c'est celui qui
soit acquérir, conserver et augmenter la propriété«, »Œuvres completes« III
127ff. Neuestens über das Bild des Bourgeois Franz Werfel, »Der Tod des Klein-
bürgers«[, Berlin 1927.]

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[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928] 143

eigener Prägung. Hierdurch aber setzt sich die Lehre Sorels und des
revolutionären Syndikalismus in Einklang mit der offiziellen Auffas-
sung des Leninismus, nach der die Kommunistische Partei die Führerin
des Proletariats, seine einzige und wahre Vertretung in dem großen
Kampf gegen die Weltherrschaft der Bourgeoisie sei, die nach der Auf-
fassung von Lenins »Staat und Revolution«24 die falsche, die böse, die
unmoralische Sache vertritt.25
Für jedes politische Prinzip ist es von grundlegender Wichtigkeit, wie
es sich zum Diktaturbegriff stellt, inwiefern es das Prinzip der Aus-
nahme in Rechnung stellt und ihm Einlass gewährt. Sehe ich richtig, so
stehen sich in der sozialistischen Literatur drei Diktaturbegriffe gegen-
über. Der Marx‘sche Diktaturbegriff, in einer Zeit geformt, in der zum
ersten Mal wirtschaftliche Machtfragen in unverhüllter und unverkenn-
barer Weise selbständig auf politische Vorstellungen einwirkten, hat
selbst wenig politischen Eigengehalt zurückbehalten. Frei von politi-
scher Wertung bezeichnet er den Augenblick, in dem der Prozess der
kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung an dem Punkte angelangt ist,
wo die Machtergreifung durch die Arbeiter Zweck und Sinn hat. Seine
Nachfolger, die Vertreter der Lehre vom Doppelten Fortschritt, ver-
suchten die Diktaturvorstellung in zwei parallellaufende Reihen von
wirtschaftlich technischem und politisch humanitärem Fortschritt auf-
zulösen. Um in einer sie beide umfassenden parlamentarischen Demo-
kratie das endgültige politische Formprinzip des kapitalistischen Zeit-
alters zu finden. So wurde für sie die Diktatur aus der Welt der politi-
schen Wirklichkeit in die der Utopie versetzt, die mit Marx‘schen
»Wirtschaftsgesetzen« verbunden die Gestalt eines »organischen Über-
gangs« erhielt. Diese Gemengelage von Wirtschaftsentwicklung und
Demokratie, Mehrheit und Humanität machte es den Bolschewiki
leicht, den Angriffen entgegenzutreten, die ihrer Diktaturvorstellung
gegenüber aus den Reihen der Anhänger der Lehre vom Doppelten
Fortschritt erhoben wurden. Aus Antworten wie dieser: »Die Revolu-
tion diskutiert nicht mit ihren Feinden, sie zerschmettert sie, die Gegen-
revolution tut dasselbe, und beide werden den Vorwurf zu ertragen
wissen, daß sie die Geschäftsordnung des deutschen Reichstages nicht

24 [Wladimir Iljitsch Lenin: Staat und Revolution; die Lehre des Marxismus vom
Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution. Berlin 1918.]
25 Die offizielle Auffassung der heute herrschenden Parteirichtung bei [Josef] Sta-
lin, »Probleme des Leninismus«[, in: Marxistische Bibliothek: Werke des Marxis-
mus – Leninismus, Band 5, Wien 1926].

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144 [3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928]

beachtet haben«,26 geht die ganze souveräne Verachtung der Bolsche-


wiki gegen diese liberalen Kampfesmethoden dritten Ranges hervor,
geht hervor, dass der politische Mythos von der Weltrevolution ein
wirksameres politisches Gruppierungsmittel und Formprinzip darstellt
als die Utopie von einer möglichen Mehrheit in der parlamentarischen
Demokratie. Die bolschewistische Diktatur ist im Gegensatz zu den bei-
den anderen sozialistischen Diktaturbegriffen, von dem der eine kaum
in das Gebiet der politischen Diktatur gehört, der andere unter dem
Begriff der Diktatur den politischen Fortschritt an dem Punkte bezeich-
net, an dem kein Fortschritt mehr nötig ist – als eine bequeme Utopie –
ist der bolschewistische Diktaturbegriff ein echter, denn er dient zur
Kennzeichnung eines Ausnahmezustandes. Die bolschewistische Dik-
tatur ist eine souveräne Diktatur, hieran muss festgehalten werden,
obgleich durch den Übergang vieler privatwirtschaftlicher Funktionen
auf den Staat auch der Typus einer kommissarischen27 Diktatur ent-
standen ist, einer, wie Lenin es ausdrückte, »Diktatur einzelner Perso-
nen für bestimmte Arbeitsprozesse bei rein ausübenden Funktionen«.28
Die bolschewistische Diktatur bedeutet keinen organischen Übergang,
ihr Ausnahmecharakter besteht darin, dass sie erst die Vorbedingungen
schaffen will, um den sozialistischen Staat der sozialen Gleichheit zu
verwirklichen. Hieraus ergibt sich eine Reihe politischer Maßnahmen,
die sie traf, das Merkmal jeder Diktatur, dass sie zur Realisation ihrer
Wertvorstellungen Maßnahmen trifft, die mit dem zu realisierenden
Werte selbst in Widerspruch stehen. Hierfür bedient sie sich der soge-
nannten Sowjetdemokratie, die zwar nicht die »höchstentwickelte
Form« der Demokratie ausmacht, dafür aber den zielbewussten Ver-
such bedeutet, einem als undiskutierbar richtig vorausgesetzten Vor-
stellungskreis Eingang in das Bewusstsein der Massen ländlicher
Bevölkerung zu verschaffen. Dieser Schaffung einer Teilhabe an staatli-
chen Dingen sollte der in seiner Gesamtheit allerdings missglückte
Durchführungsprozess der These der Ersetzung »des gouvernement
des hommes par l‘administration des choses« dienen, ihr aber dient vor
allem das ganze Rätesystem, das die Praxis der »Sowjetdemokratie«

26 Radek in dem Vorwort zu Bucharin »Programm« S. 23. [Nicolai Bucharin: Das


Programm der Kommunisten (Bolschewiki), Mit einem Vorwort von Karl
Radek, Übersetzung aus dem Russischen, Braunschweig 1918.]
27 Über den fundamentalen Unterschied zwischen kommissarischer und souverä-
ner Diktatur siehe Carl Schmitt, »Die Diktatur«[. Von den Anfängen des moder-
nen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, Berlin
1921].
28 [Wladimir Iljitsch] Lenin, »Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht«[, Leipzig
1920,] S. 39.

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[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928] 145

verkörpert und die Überführung des neuen beim Syndikalismus schon


vorhandenen Formprinzips in die Wirklichkeit bedeutet.29
Was die Wahl angeht, so liegt ihre Bedeutung auf keinen Fall in ihrem
Ergebnis. Ihr wohnt nicht einmal die bei uns übliche schon sehr schwa-
che Bedeutung inne, dass je nach ihrem Ergebnis die Bedienungsmann-
schaft der Staatsmaschinerie gewechselt wird. Wo ein Wert von den
Wertträgern selbst zur Diskussion gestellt wird, bedeutet das keines-
falls, dass über seine Richtigkeit, die als undiskutierbar vorausgesetzt
wird, abgestimmt werden soll. Der Wert der russischen Wahlen liegt
nicht in ihrem Ergebnis, sondern im Wahlprozess selbst. Das Kriterium
der russischen Wahlen ist, dass sie öffentlich sind. Dann kann man ent-
weder ja sagen oder überhaupt nichts oder so gut wie nichts = parteilos
sagen. Wer aber ja sagt, ja sagt vor aller Öffentlichkeit, der hebt sich
deutlich ab von allen, die nichts sagen; denn jenem Ja eignet der Wert,
um den die Sowjetregierung ringt, der Integrationswert, das Bewusst-
sein des Sich-Beteiligt-Fühlens, des Mit-Dabei-Sein-Wollens.30 So haben
die russischen Wahlen ohne einen sachlichen Entscheidungswert zu

29 Das Rätesystem erscheint hier in neuer Form. Ursprünglich die Form, in der
revolutionäre Gruppen unmittelbar auf der Grundlage klassen- und zugleich
berufsmäßiger Gliederung politisch selbsttätig handeln, hat es die Herrschaft
der Bolschewiki mitgründen helfen (zur Geschichte seiner gedanklichen Ent-
wicklung: »Über die Rolle des Agitators in Cromwells Heer«; Bernstein, »Sozia-
lismus und Demokratie in der englischen Evolution« [vgl.: Eduard Bernstein:
Sozialismus und Demokratie in der großen englischen Revolution, Stuttgart
1908, S. 77 ff.]; über die Rolle der Arbeiterräte der ersten russischen Revolution
Trotzki, N. Z. 1907 S. 76). [Leo Trotzki: Der Arbeiterdeputiertenrat und die Revo-
lution, in: Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Band 2, Berlin/Stuttgart.] In bewusster
Weiterentwicklung syndikalistischer Gedankengänge werden die unmittelbar
aus den Betrieben hervorgehenden Räte in Russland als Träger politischer
Funktionen (Verwaltung, Wahl) verwertet.
30 In der Verfassung selbst wird die Frage der Öffentlichkeit der Wahlen nicht ent-
schieden, doch entscheiden sich die Gubernialkommissionen, denen die Ent-
scheidung zusteht, ausnahmslos zugunsten der Öffentlichkeit. Über die Wahl-
prozedur, die in der offiziellen Wahlversammlung vor sich geht, näheres bei
Timaschef, [Nikolaj S. Timascheff: Grundzüge des sowjetrussischen Staats-
rechts, Mannheim 1925,] S. 83 (sowjetfeindlich), interessant aus der Praxis der
letzten Wahl R. Maltzew in »Komm. Internationale« 1927 Heft 19. [K. Malzew:
Was lehren die Neuwahlen zu den Sowjets? In: Kommunistische Internationale,
VIII. Jg., 1. Halbjahr, Januar-Juni 1927, Heft 19, Berlin/Hamburg, S. 934-941.] Der
Unterschied zwischen geheimer und öffentlicher Wahl bedeutet in Wirklichkeit
den denkbar schärfsten Bruch mit den Traditionen parlamentarisch-individua-
listisch-liberaler Vorstellungen. Er vernichtet jede Vorstellung, dass in der Wahl
das Schicksal der regierenden Gruppe irgendwie entschieden werden könne.
Öffentliche Wahl bedeutet Bestätigung, Zustimmung, aber keineswegs Entschei-
dung.

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besitzen, sich doch einen spezifischen politischen Wert errungen, indem


sie zu einem staatlichen Integrationsfaktor geworden sind.
Was das sowjetrussische Recht angeht, so gehört es seiner Bedeutung
für das Staatsleben nach nicht nur in dieselbe Reihe wie die Wahl.
Abgesehen von dem jedem Recht der Neuzeit, auch dem sowjetrussi-
schen eigenen Maß an Technizität, fanden wir weit darüber hinausge-
hend den spezifischen Charakter unseres Rechts in einem zu seiner
quantitativen Zunahme im umgekehrten Verhältnis stehenden Fehlen
sachlicher Entscheidungsmacht, in einem Verschwinden staatlicher
Wertsetzungen, in einem Mehr rechtstechnischer Förmlichkeit und Prä-
zision, kurzum in dem so charakteristischen Verschwinden des Staates
hinter seinem eigenen Rechtsmechanismus. Was sich nun Lenin unter
der Aufgabe des Rechts vorstellte, ist folgendes:
»Man merkt, daß die ererbte, von der Bourgeoisie beeinflusste Vorstel-
lung von der Justiz als etwas Offiziellem und Feindseligem noch nicht
endgültig gebrochen ist. Die Tatsache ist noch nicht genügend zum
Bewusstsein gekommen, daß gerade die Justiz das Verbindungsorgan
der ärmeren Bevölkerung mit der Staatsverwaltung ist. Denn die Justiz
ist das Organ der Arbeiter- und Kleinbauernmacht, sie ist ein Instru-
ment der Erziehung und Disziplinierung.«31
Gebrochen ist hier mit der Auffassung der Justiz als einer über den
Streitenden stehenden, unabhängigen Dritten, jener Auffassung des
Liberalismus, der in dieser Vorstellung seine Not zur Tugend machte.
Wiederhergestellt ist dafür die in Europa seit der Zeit des Liberalismus
immer mehr entschwindende, im Rechtsmechanismus der Formalde-
mokratie gänzlich untergegangene Vorstellung vom integralen Charak-
ter des Rechts. Wo ein Staat ist, sei es in inhaltlich demokratischer, sei
es in diktatorischer Form, wird Recht gesprochen im Namen bestimm-
ter Wertvorstellungen. Deshalb ist es durchaus folgerichtig, wenn die
Garantien des russischen Richtertums nicht in seiner Unabhängigkeit
und Unabsetzbarkeit, sondern in seiner befristeten Wahlperiode und
vorherigen Erprobung der Zuverlässigkeit im Parteidienste, nicht in

31 Ebendort [Wladimir Iljitsch Lenin: Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht,


Leipzig 1920,] S. 30. [In der zitierten Vorlage heißt es: »Man fühlt, daß die von
dem Drucke der Grundbesitzer und der Bourgeoisie her übernommene Volks-
ansicht über das Gericht als etwas staatlich-fremdes, endgültig noch nicht
gebrochen ist. Es ist nicht die hinreichende Erkenntnis vorhanden, daß das
Gericht ein Organ der Heranziehung eben der Armen ohne Ausnahme zur
Staatsverwaltung ist (denn die gerichtliche Tätigkeit ist eine der Funktionen der
staatlichen Verwaltung), – daß das Gericht das Organ der Macht des Proletariats
und der ärmsten Bauern ist, – daß das Gericht das Werkzeug der Erziehung zur
Disziplin ist.«]

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seiner Bindung an das Gesetz, sondern an sein revolutionäres Rechts-


empfinden beruhen. Jener Moskauer Richter, der den Anspruch trotz
Vorliegens aller Bejahungsgründe abwies, weil er die Interessen eines
Arbeiters verletzte, kennzeichnet in kleinem Maßstab das, was die
Sowjetregierung erreichen will, wenn sie nach ihrer Verfassung eine
Appellation gegen höchstinstanzliche Urteile bei dem Hauptvollzugs-
ausschuss, einer politischen Körperschaft, zulässt.32 Jene integrale
Funktion des Rechts, die man unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten
eher geringschätzig als »valeur instrumentale«33 bezeichnet hat,
bedingt zugleich, dass es seinem Charakter nach von dem jeweiligen
Maße staatlicher Zielsetzungen so abhängig ist, dass man sogar auf den
Gedanken kam, das neue russische bürgerliche Gesetzbuch nur zwei
Jahre in Gültigkeit zu lassen. Damit kommt zum Ausdruck, dass das
russische Recht kein Ewigkeitsrecht, sondern ein Zeitrecht im schärfs-
ten Ausmaße darstellt.34 Das russische Recht braucht keine besondere
clausula rebus sic stantibus, denn es ist selbst das Recht der clausula
rebus sic stantibus.35 Dieser Gedanke beherrscht ganz die russische
Völkerrechtsauffassung; die Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze
hat den Sowjetstaat ins Leben gerufen, ihr dient er, und durch sie hof-
fen die Bolschewiki einst die ganze Erde zu beherrschen. Deshalb ist
für ihn das Völkerrecht im hergebrachten Sinn des Wortes das fragwür-
digste aller Rechtsgebilde. Da Sowjetrussland eine mehr als technische
Gemeinschaftlichkeit der Interessen verschiedener Staaten nicht aner-
kennt, besitzt es für jede Bestrebung, die Völkerrechtsgemeinschaft
enger zu gestalten, die Friedenspropaganda zu unterstützen, keinerlei
Evidenz. Völkerrecht ist ihm nicht Friedens-, sondern Waffenstill-
standsrecht. Da nun Russland keine Möglichkeit sieht, dem Gesamtvöl-
kerrechtsverkehr, dessen Wesen es in der Stabilisierung der Gewohn-
heiten und Rechtssätze einer im Absterben begriffenen Zeit erblickt,
beizutreten, muss es sich in dieser Übergangszeit (époque transitoire)

32 Vergleiche die russische Verfassungsurkunde vom 6. Juli 1923 II. Teil 7. Kapitel.
33 Mirkine Guetzevitch in Revue nouv. de droit intern. public, 1925, II. Ser. tome 7
S. 314. [Boris Mirkine-Guetzevitch: La doctrine Soviétique du droit internatio-
nal, in: Revue générale de droit international public, II. serie, tome VII, Paris
1925, pp. 313-337.]
34 Hierüber siehe auch die Bemerkung bei Eugen Rosenstock, »Vom Industrie-
recht«, rechtssystematische Fragen, Berlin 1926, S. 122.
35 Siehe hierzu die interessanten Aufsätze von Korovine [Eugene A. Korovine: La
République des Soviets, in: Revue générale de droit international public, II.
serie, tome VII, Paris 1925, pp. 292-312;] und M. Guetzevitch [Boris Mirkine-
Guetzevitch: La doctrine Soviétique du droit international, in: Revue générale
de droit international public, II. serie, tome VII, Paris 1925, pp. 313-337;] in der
oben genannten Zeitschrift.

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durch genau präzisierte Sondervereinbarungen mit den einzelnen


Mächten helfen. Da die leiseste und schwächste Homogenität der Inter-
essen und Gesichtspunkte fehlt, welche die Voraussetzung der Ent-
scheidung im juristischen Sinne bilden könnte, muss Russland nicht
nur das Majoritätsprinzip im Völkerrechtsverkehr, sondern auch jede
Instanz, welche eine Entscheidungsbefugnis für sich beansprucht,
ablehnen.36 Solchermaßen musste Sowjetrussland notwendig der prin-
zipielle, nicht wie Deutschland der okkasionelle Feind des Genfer Völ-
kerbundes werden.37 Wenn auch die im ersten Wilson‘schen Entwurf
vorgesehene Präambel, nach welcher der Zweck des Völkerbundes eine
ordentliche Regierung der Staaten sein sollte, wegblieb, so ist der Völ-
kerbund als Schützer und Verteidiger formaldemokratischer Legitimi-
tätsprinzipien von der ersten Rede Vivianis bis zum heutigen Tag in
einer gleich scharfen Gegensatzstellung zu Sowjetrussland geblieben.
Die Einschätzung, die man in Sowjetrussland dem Völkerbund entge-
genbringt, geht deutlich aus einer Ansprache Rykows38 hervor. »Der
Völkerbund ist ein Kaufmann, der mit Völkern handelt und diese in
Form von Mandaten an die sog. Kulturstaaten verkauft.« Dieses for-
maldemokratische Legitimitätsprinzip hat den Mächten als Vorwand
für imperialistische Interventionszwecke in Russland gedient. Die
Berufung Englands auf Art. II der Völkerbundssatzung für seine Inter-
vention im Russisch-Polnischen Kriege hat jedoch durch eine äußerst
interessante Note Tschitscherins vom Mai 1921 eine scharfe Ablehnung
von einem von der Sowjetregierung bis heute beibehaltenen Stand-
punkt aus erfahren. Hier wird von einem »sogenannten Völkerbund«
gesprochen, »von dessen Bestehen man durch Zeitungsnachrichten
erfahren habe,« und die Unvereinbarkeit des Art. II der Völkerbunds-
satzung mit der Souveränität des werktätigen russischen Volkes nach-
drücklich hervorgehoben.39 Eigenartig erscheint die Berufung auf die
Souveränität. In einer Zeit, wo in Europa der Abbau der Souveränitäts-

36 Hierzu Carl Schmitt, »Kernfragen des Völkerbundes« Abschn. II, Berlin 1926.
37 Hieraus erklärt sich die sehr missverständliche Feststellung von Kunz, Z. f. Völ-
kerrecht XIII 4 S. 584, dass das sowjetrussische Völkerrecht »durch eine arg reak-
tionäre Tendenz« gekennzeichnet sei. Das Wort »reaktionär« gehört anderen
Vorstellungskreisen an und setzt eine gegebene politische Einheit voraus. Im
Kampf der Staaten und Klassen besagt es nichts und muss durch politische
Gruppierungsbegriffe umfassenderer Art ersetzt werden. [Josef Laurenz Kunz:
Sowjet-Russland und das Völkerrecht, in: Zeitschrift für Völkerrecht XIII, 4,
S. 580-586.]
38 Internationale Pressekorrespondenz[, Berlin] 1925 S. 2446.
39 Russische Korrespondenz Jahrg. I, Band 2[, Erlangen 1971], S. 559.

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vorstellungen40 praktisch und theoretisch vollzogen wird, findet sich


der Bolschewismus in der seltsamen Lage, dem Souveränitätsbegriff,
dem er theoretisch seine Anerkennung versagte, in der Praxis zu einem
neuen Siegeszug zu verhelfen. Das Argument eines russischen Schrift-
stellers,41 dass die Sowjetrepublik weniger durch die Schönheit einer
juristischen These als durch die »intérêts réels« der sozialistischen
Republik zu der Verwendung des Souveränitätsbegriffs gekommen sei,
mag für die Einschätzung juristischer Thesen in Sowjetrussland höchst
interessant sein, ohne jedoch bis zu dem eigentlichen Problem vorzu-
dringen.
In Europa tritt das Schwinden nationalstaatlicher Vorstellungen nir-
gend deutlicher hervor als in der Tatsache, dass die nach dem Versailler
Frieden vorgenommenen kolonialen und anderweitigen Annexionen
nicht in hergebrachter Weise in der nationalen Einheit des Volkes ihren
moralischen Rückhalt fanden, sondern man sich zur Fundierung des
gewünschten Ergebnisses der Völkerbunds-Treuhänder-Konstruktion
bedienen musste. Wie aus der Notwendigkeit der Versailler Hilfskon-
struktionen die praktische Schwäche des nationalstaatlichen Souveräni-
tätsbegriffs erhellt, so wird die theoretische Schwierigkeit deutlich in
der Unmöglichkeit, auf die Frage der Innehabung der Souveränität, die
die sachliche Entscheidung im Konfliktsfall bedeutet, im Zeitalter form-

40 Am prägnantesten bei Laski, »the problem of sovereignty«, »authority in


modern state«, [vergleiche: Harold J. Laski: Studies in the Problem of Sover-
eignty, New Haven 1917;] auch Kurt Wolzendorff, »Der reine Staat«. [Skizze
zum Problem einer neuen Staatsepoche, Tübingen 1920.] Die Frage nach der
Souveränität hängt eng mit der Frage nach der Stärke des politischen Formprin-
zips zusammen. Dort, wo ein starkes Formprinzip fehlt, der Staat als Rechtsme-
chanismus nur in der Form der jeweils sich in der Regierung abwechselnden
Klassen besteht, werden sich immer Denker finden, die die letzte Konsequenz
durch die Ausschaltung des Souveränitätsbegriffs zu ziehen versuchen. Dann
kann man wie Wolzendorff und Laski mit Hilfe genossenschaftlicher Gedan-
kengänge die völlige Autonomie der Wirtschaft auch rechtlich proklamieren
und dann zutreffend, wie dies bei Wolzendorff geschieht, von einem »reinen
Staat« sprechen, der aber in Wirklichkeit nichts weiter als das auf Polizei und
Schiedsfunktion beschränkte liberale Rechtsgebilde ist. Oder wie Laski von
einer »cooperative sovereignty«, welch letzterer Ausdruck jedoch nur eine Ver-
schleierung bedeutet. An einer anderen Stelle sagt er deutlicher: »The real rulers
of a society are undiscoverable, but with the real rulers must go sovereignty«.
[Vergleiche: Harold J. Laski: Studies in the Problem of Sovereignty, New Haven
1917, S. 17. Im zitierten Original erscheint: »I can not to greatly emphasise the
importance of a phrase used by John Chipman Gray: ›The real rulers of a soci-
ety‹, he says in a striking sentence, ›are undiscoverable.‹ But with the real rulers
must go sovereignty.«]
41 E. Korovine im zit. Aufsatz in »Revue …« S. 299. [Eugene A. Korovine: La
République des Soviets, in: Revue générale de droit international public, II.
serie, tome VII, Paris 1925, pp. 292-312.]

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150 [3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928]

aldemokratischer Gleichgewichtsstrukturen eine hinreichende Antwort


zu finden. Sowjetrussland hat in einer für die Verschleierungstenden-
zen der heutigen Zeit fast unfassbaren Weise einen bestimmten und
bekannten Träger der Souveränität bezeichnet. Hierdurch allein wäre
ihm in der Geschichte der Staatstheorie höchstens die Anerkennung,
einen großzügigen Restaurationsversuch unternommen zu haben,
zuteil geworden; das prinzipiell Neuartige des bolschewistischen Sou-
veränitätsbegriffs aber liegt in der erstmalig vorgenommenen bewuss-
ten Trennung von Staat und Souveränität. Der Bolschewismus hilft, die
historisch überkommene, unhaltbar gewordene Bindung der Souverä-
nität an den Staat zu lösen, indem er in die so entstandene Lücke ein-
springend, anstelle der Staatssouveränität die der Klasse proklamiert.
Diese Souveränität ist an keine staatlichen Grenzen gebunden, sie ist
ihrer Tendenz nach universal. Damit aber hat auch die Frage der Inter-
vention ein anderes Aussehen bekommen. Die Intervention der impe-
rialistischen Nationalstaaten fand ihre Grenze an dem Sättigungsgrad
ihrer Wirtschaft. Die Interventionspolitik der Sowjetrepublik kennt
keine Grenzen, sie ist prinzipiell unersättlich; denn potentiell erstreckt
sich die Herrschaft der Klasse über jeden Angehörigen der arbeitenden
Bevölkerung, und jeder Klassenangehörige gibt ihr Anlass zu Interven-
tionen, sei es, dass sie sich schützend vor ihn stellt, sei es, dass sie
durch ihn die Geschicke anderer Länder zu beeinflussen sucht. Damit
aber ist die Frage aufgeworfen, ob Sowjetrussland noch ein Staat ist.
Wer ein unbeschränktes Interventionsrecht in Anspruch nimmt oder
ausübt, dem fehlt das Spezifische des Staates: an irgendeinem Punkte
der Welt sich selbst zu beschränken. Damit aber ist nicht gesagt, dass
Sowjetrussland weniger als einen Staat darstellt, im Gegenteil, es hat
dem Recht und der Wahl ihren integralen Charakter zurückgewonnen,
aber um sie umfassenderen Gruppierungen als ehedem dienstbar zu
machen. Es hat mit ihrer und des politischen Mythos von der Weltrevo-
lution Hilfe die politischen Kräfte neu ausgerichtet, die Lücke aufgeris-
sen, an deren Stelle bis tief ins neunzehnte Jahrhundert hinein der Staat
gestanden hat. Vorhanden ist noch die Form des Staates, aus ihm selbst
aber ist ein Weniger, ein Rechtsmechanismus geworden, für den die
Begeisterung eben noch groß genug war, dass sie zu einer Theorie vom
Doppelten Fortschritt gelangt hat. Dieser Staat, der keiner mehr ist,
kann auch keinen Feind haben; denn er besitzt keine politische Aus-
drucksform mehr. Die Feindschaft der Träger des politischen Mythos
von der Weltrevolution, die in Russland nur ihren Ausgangspunkt
sieht, richtet sich gegen die hinter ihm stehenden Mächte. Es sind die
kapitalistischen Mächtegruppen mit ihrer imperialistischen Politik auf

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[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928] 151

der einen Seite, die Träger der Theorie vom Doppelten Fortschritt, die
Erhalter des Rechtsmechanismus, Sozialdemokratie und Kleinbürger-
tum auf der anderen Seite, denen die absolute und unversöhnliche
Feindschaft des Bolschewismus gilt.

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152

[4.]
Panzerkreuzer und Staatsrecht*
[1928]

In der Mitteilung des offiziellen sozialdemokratischen Pressedienstes


vom 14. August heißt es:
»In der Öffentlichkeit ist vielfach die Auffassung verbreitet, der Reichs-
rat habe beschlossen, daß über Bau oder Nichtbau vor dem 1. Septem-
ber noch einmal entschieden werden solle, und er habe damit die end-
gültige Entscheidung in die Hände des Reichskabinetts gelegt. Einen
solchen Beschluß hat der Reichsrat nicht gefaßt. Er konnte ihn gar nicht
fassen, weil es sich um eine Angelegenheit handelt, die nach der Ver-
fassung nur von den Faktoren der Gesetzgebung in Form eines Geset-
zes entschieden werden kann. In Wirklichkeit hat der Reichsrat am
31. März einen Beschluß gefaßt, der so gut wie nichts besagt, nämlich
nur folgendes: Die Arbeiten für das Panzerschiff, mit Ausnahme der
reinen Konstruktionsarbeit, nicht vor dem 1. September 1928 in Angriff
zu nehmen, insbesondere Verträge über Lieferung nicht eher abzu-
schließen, um zu verhindern, daß infolge einer etwa notwendig wer-
denden Einschränkung der Ausgaben der Weiterbau vorläufig einge-
stellt wird oder andere wichtige Ausgaben des Heereshaushalts dafür
beschnitten werden müssen.
Von einer nochmaligen und entscheidenden Beschlußfassung durch
das Reichskabinett ist, wie man sieht, hier gar nicht die Rede. Für das
Kabinett handelte es sich also nur noch um eine Verwaltungsmaßnahme
zur Ausführung eines rechtskräftigen Reichsgesetzes.«
Die Quelle dieser offiziell als irrig bezeichneten öffentlich verbreiteten
Auffassung, wonach das Reichskabinett vor dem 1. September noch
einmal endgültig über den Bau des Panzerschiffes zu entscheiden habe,
sollte eigentlich dem »S.P.D.« nicht ganz fremd sein. Denn wenn wir in
seinen Annalen blättern, so finden wir unter dem 2. April folgende an
die Parteipresse weitergegebene Notiz über den Verlauf der Reichsrats-
sitzung vom 31. März (nachdem vorher gesagt wurde, dass der Reichs-
rat keinen Einspruch gegen den Bau des Kreuzers eingelegt habe, heißt
es dort wörtlich weiter): »Es ist vielmehr eine Einigung zustande
gekommen, wonach bis zum September nur Bauvorbereitungen erfol-

* [Erschienen in: Der Klassenkampf. Sozialistische Politik und Wirtschaft, Jg. 2, 2.


Halbjahresband, Heft 17, Berlin 1928, S. 526-529. – Zu diesem Text vergleiche in
der Einleitung S. XXX-XXX.]

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[4.] Panzerkreuzer und Staatsrecht [1928] 153

gen, so daß die kommende neue Reichsregierung noch die Möglichkeit der
Entscheidung über den Bau selbst haben wird.«
Zunächst müssen wir also bemerken, dass sonderbarerweise die Quelle
der »richtigen« sowie der »falschen« Auffassung tatsächlich ein und
dieselbe ist. Nach dieser Feststellung sehen wir uns gezwungen, die
juristischen Unterlagen der »S.P.D.«-Behauptungen etwas näher anzu-
sehen, damit wir nicht nochmals in die peinliche Lage kommen, zuerst
4 ½ Monate etwas »Falsches« als offiziell »richtig« hinzunehmen, dann
offiziell aufgeklärt zu werden, dass das bisher »offiziell Richtige« von
heute ab »offiziell falsch« ist.
Befassen wir uns zunächst mit der staatsrechtlichen Bedeutung des
Reichsratsbeschlusses vom 31. März. Der Bürgerblockreichstag hatte in
das Budget von 1928 die erste Baurate für den Kreuzer mit 9,3 Millio-
nen Mark eingestellt. Der Reichsrat, der bei der Einbringung der Bud-
getvorlage diese Position gestrichen hatte, legte gegen den vom Reichs-
tag wiedereingesetzten Budgetposten unter Zustimmung der Preußen-
regierung keinen Einspruch ein, somit war der den Schiffsbau enthal-
tende Posten angenommen. Der weitere Beschluss des Reichsrats, den
Beginn des Baues hinauszuschieben, konnte staatsrechtlich nur den
Sinn einer Empfehlung an die Reichsregierung haben. Denn die verfas-
sungsrechtliche Disposition in Bezug auf den Bau des Schiffes lag,
nachdem der Reichsrat die Einspruchsfrist hatte verstreichen lassen,
nunmehr bei der Reichsregierung. Praktisch-politisch bedeutet jene
Empfehlung des Reichsrats ein vorläufiges Kompromiss, das, im Ein-
verständnis der preußischen Regierung und des Reichswehrministeri-
ums beschlossen, den Bauanfang hinausschiebt, um seine finanziellen
Voraussetzungen nochmals nachzuprüfen. Inhaltlich besagt das Kom-
promiss jedoch nichts, und jeder Zeitgenosse konnte sich da seine ja
unverbindliche Deutung zurechtmachen. Der Reichsrat hat sich zur
Frage des Baues selbst gar nicht mehr geäußert. Dass vor Baubeginn
nochmals ein Beschluss gefasst werden musste, war offensichtlich.
Denn es ist in der ganzen Welt so, dass, bevor etwas gebaut wird,
jemand da sein muss, der autoritativ beschließt, dass gebaut wird. Und
dass bei der Wichtigkeit der Materie das gesamte Kabinett darüber zu
befinden hatte, war ebenfalls für niemand zweifelhaft. Insofern kann
man ja den Ausdruck »Verwaltungsmaßnahme« gebrauchen. Dann gibt
es eben »Verwaltungsmaßnahmen«, die politische Akte sind und sol-
che, die rein technischer Natur sind. Durch solche terminologische
Spielereien kann man die hier auftauchende Frage, ob die Regierung
verpflichtet ist, von der im Budget erteilten Ermächtigung Gebrauch zu

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154 [4.] Panzerkreuzer und Staatsrecht [1928]

machen oder nicht, nicht umgehen. Dadurch, dass man in überzeugen-


dem Tone von einer Verwaltungsmaßnahme spricht, die zur Ausfüh-
rung eines rechtskräftigen Reichsgesetzes dient, lässt sich nicht darüber
hinweghelfen, dass das Budget nicht schlechthin ein Reichsgesetz ist
wie jedes andere. So einfach ist jedenfalls die Sachlage nicht, wie der
Pressedienst sie sich vorstellt.
Es soll hier gar nicht des Weiteren untersucht werden, ob das Budget
überhaupt ein Gesetz ist oder nur ein Rechtsgeschäft zwischen Regie-
rung und Parlament, wie Hatschek meint. Nicht bestritten wird jeden-
falls in der gesamten vor- und nachrevolutionären staatsrechtlichen
Literatur, dass das Budget keinen Befehl an die Regierung darstellt.
Sämtliche Ausgabepositionen des Finanzplans sind, wie Laband (»Das
Staatsrecht des Deutschen Reiches«, V. Auflage, Band 4, Seite 543)1 aus-
drücklich feststellt, staatsrechtlich nur Ermächtigungen der Regierung,
Ausgaben zu leisten. Die Aufnahme eines Ausgabepostens in den Etat
enthält keineswegs eine bindende Anweisung an die Staatsregierung,
die ihre bewilligten Mittel auch wirklich für den angesetzten Zweck zu
verwenden. Der Etat bedeutet lediglich eine Beschränkung der Regie-
rung nach der Ausgaben – nicht nach der Ersparnisseite hin. Selbständig
kann die Regierung – wenn auch natürlich unter politischer Verant-
wortlichkeit gegenüber dem Parlament – Etatposten absetzen. Im
Gegensatz zu der Überschreitung des Etats erzeugt die Tatsache, dass die
Regierung die im Etat angesetzten Mittel nicht voll erschöpft, keine wie
immer geartete straf- oder zivilrechtliche Verantwortlichkeit. Deutlich
geht dies aus dem Satze Arndts im Artikel »Staatshaushalt« (Stengel-
Fleischmanns Wörterbuch des deutschen Staats- und Verwaltungs-
rechts, II. Auflage, 1914) hervor: »Die Nichtleistung einer budgetmäßi-
gen Ausgabe macht die Regierung nur politisch verantwortlich.«2
Bemerkenswert ist, dass die hier angedeutete Auffassung im monarchi-
schen Deutschland einhellig vertreten wurde, obwohl ihr ein ganz
bestimmter politischer Sinn zukam: demnach lag es in der Hand der im
alten Preußen-Deutschland ja vom Reichstag unabhängigen Regierung,
vom Parlament im Etat vorgesehene Maßnahmen nicht auszuführen.
Die Einmütigkeit auch liberaler Staatsrechtsautoren wie Meyer-
Anschütz und von Roenne ist darauf zurückzuführen, dass sie alle etat-
rechtlichen Fragen nur in dem nach der Konfliktszeit durchaus herr-

1 [Paul Laband: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Fünfte neubearbeitete Auf-
lage in vier Bänden, Band 4, Tübingen 1914, S. 543.]
2 [Gemeint ist: Otto Schwarz: Staatshaushalt. B. Verwaltungsrechtlich, in: Max
Fleischmann (Hg.): Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts.
Zweite, völlig neu gearbeitete und erweiterte Auflage, Tübingen 1914, S. 487.]

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[4.] Panzerkreuzer und Staatsrecht [1928] 155

schenden Gesichtspunkt betrachteten, wie es etat- und verfassungs-


rechtlich möglich wäre, die Regierung an nicht genehmigten Ausgaben
zu verhindern. Möglichkeiten etwaiger Ersparnisse und Abstriche wur-
den als erwünscht begrüßt, für Verwicklungen, die dadurch entstehen
konnten, dass vom Parlament ausdrücklich ins Budget eingesetzte Pos-
ten nicht der beabsichtigten Verwendung zugeführt wurden, hatte man
keinen Blick.
Diese konstitutionelle Theorie wurde auch nach der Revolution mit
denselben, nur auf budgetpolitischen Erwägungen beruhenden Grün-
den verflochten, wie aus den Ausführungen Hatscheks hervorgeht:
»Eine Genehmigung der Minderausgaben ist nicht nötig, weil der Etat
der Regierung die Vollmacht erteilt, bis zum Höchstsatz der Etatposi-
tion Ausgaben zu machen. Bleibt sie darunter, so ist das ihre Sache und
nicht genehmigungspflichtig, aber erläutert muß sie werden, denn der
Reichstag muß wissen, ob er im nächsten Jahr wieder einen solch
hohen Etatansatz für die betreffende Ausgabe bewilligen wird.«
(Deutsches und Preußisches Staatsrecht II/352.)3 So auch die Ministeri-
alräte im Reichsfinanzministerium Schulze-Wagner unter Hinweis auf
die bisher übliche Praxis:
»Die Regierung kann selbst durch Einfügung von Zweckbestimmun-
gen mit Geldansätzen in den Haushaltsplan seitens der gesetzgebenden
Körperschaften nicht zur Vornahme von Maßnahmen, z. B. dem Bau
oder der Erweiterung einer Wasserstraße gezwungen werden.«
(Kommentar zur Reichshaushaltsordnung, § 25, Anm. 2.)4
Diese liberal-konstitutionelle Theorie verrät aber nicht nur Spuren rech-
nerischen Talents, ihr kommt auch eminent politische Bedeutung zu.
Sie beruht im Grunde auf der anscheinend immer noch nicht vollstän-
dig veralteten Ansicht, dass eine Regierung zwar auf das Vertrauen
oder doch mindestens auf die »Billigung« des Parlaments angewiesen
sei, im Übrigen aber aus ebenso unabhängigen wie verantwortungsbe-
wussten Männern bestehen müsse, Gedanken, die unter der Firma
»Regierung der Persönlichkeiten« selbst innerhalb der Sozialdemokratie
Anklang gefunden haben. Die Selbständigkeit der Regierung findet
dann auch darin ihren Ausdruck, dass das Budget für sie nur eine

3 [Julius Karl Hatschek: Deutsches und Preußisches Staatsrecht, Band 2, Berlin


1923.]
4 [Rudolf Schulze, Erich Wagner: Reichshaushaltsordnung vom 31. Dezember
1922, mit Erläuterungen von R. Schulze und Dr. jur. E. Wagner, 2. vollständig
durchgesehene und erweiterte Auflage, Berlin 1926, S. 151.]

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156 [4.] Panzerkreuzer und Staatsrecht [1928]

Grenze bedeutet, innerhalb deren sie unter eigener Verantwortung frei


zu schalten berechtigt ist.
Begnügen wir uns aber nicht damit, dass der Erklärungsversuch des
Sozialdemokratischen Pressedienstes bei der liberal-konstitutionellen
Staatsrechtstheorie keine Stütze findet, vom Boden rein demokratischer
Prinzipien aus ist er eine Ungeheuerlichkeit! Danach ist das Parlament
nichts weiter als ein Ausschuss des Volkes und die Regierung nichts
weiter als ein Ausschuss des Parlaments. Die Regierung ist eine reine
Exekutive des Parlaments, für deren Willensbildung Parlamentsbe-
schlüsse die Bahn vorzeichnen. Ideal der Demokratie ist Regierung
durch Parlamentsausschüsse, wie das Beispiel der französischen Kon-
ventszeit 1792/93 zeigt. Die in der Demokratie mit allen Mitteln
erstrebte Identität von Regierung und Regierten, ihre Deckungseinheit,
wird am besten durch intensive Erforschung des Volkswillens erreicht.
Hat diese Erforschung durch Parlamentswahlen stattgefunden, ist ein
neuer, vom bisherigen verschiedener »Volkswille« zutage getreten, wie
es am 20. Mai der Fall war, so kann innerpolitischen Akten des verflos-
senen Parlaments, die ja nicht wie außenpolitische Akte einen über das
eigene Volk hinausgehenden Wirkungsbereich haben, eine Bindung für
die nunmehrige Regierung keineswegs zukommen. Diese ist frei in
ihren politischen Maßnahmen, gebunden nur an den im neuen Parla-
ment zum Ausdruck gekommenen Volkswillen. Die Frage, ob der neue
Volkswille darauf hinauslief, Panzerkreuzer zu bauen, hätte für sozial-
demokratische Minister wichtig genug sein müssen, sich vor einer Ent-
scheidung durch Befragung des Parlaments darüber zu orientieren.
Am Schlusse unserer Ausführungen muss konstatiert werden, dass der
von partei-offizieller Seite mit ziemlicher Kühnheit als staatsrechtlich
notwendig hingestellte Kabinettsbeschluss vom liberal-konstitutionel-
len Standpunkt aus durchaus nicht »notwendig«, und vom demokrati-
schen Standpunkt aus gänzlich unzulässig gewesen ist.

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157

[5.]
Bedeutungswandel des Parlamentarismus*
[1928]

Von der gegenwärtig geltenden Weimarer Verfassung wird oft gesagt,


sie habe in Deutschland die demokratische Staatsform geschaffen und
das parlamentarische System eingeführt. Hierbei werden die Ausdrü-
cke »parlamentarisch« und »demokratisch« meist mit- oder nebenei-
nander gebraucht, so dass unwillkürlich der Eindruck entsteht, als hät-
ten sie im Lauf der Geschichte stets dasselbe bedeutet, als wäre das eine
ohne das andere nicht denkbar. Dies ist ein weittragender theoretischer
Irrtum, der – sonst wäre die Feststellung ja für uns nicht wichtig – in
der politischen Praxis zu verhängnisvollen Fehlern führen kann und
auch schon geführt hat.
Der Parlamentarismus in seiner überkommenen Gestalt ist die klassi-
sche Form, in der im 19. Jahrhundert das Bürgertum Staat und Gesell-
schaft beherrschte. Lange Zeit hindurch glaubte man, in der Betrach-
tung bloß innerdeutscher Verhältnisse befangen, dass die großen politi-
schen Gegensätze dieses Jahrhunderts in der von dem liberalen Profes-
sor Hugo Preuß formulierten Antithese »Obrigkeitsstaat und Volks-
staat« ihren Ausdruck fänden. Dabei übersah man, dass es sich hier nur
um ein letztes Rückzugsgefecht des fürstlichen Absolutismus handelte,
der in Deutschland später, in anderen Ländern früher der Herrschaft
der Bourgeoisie - zunächst in der verschleierten Übergangsform der
konstitutionellen Monarchie weichen musste.
Dem Parlamentarismus, dem politischen Herrschaftssystem des Bür-
gertums im 19. Jahrhundert, lagen drei bestimmt erkennbare und for-
mulierbare politische Grundsätze zugrunde.
1. Der Glaube, dass die »Schichten von Besitz und Bildung«, wie das
klassische, in seiner Zusammensetzung so aufschlussreiche Wortpaar
Rudolf von Gneists, der in den siebziger und achtziger Jahren des 19.
Jahrhunderts die gleiche Rolle spielte wie heute Herr Professor Kahl
von der Deutschen Volkspartei, ausschließlich zur Ausübung von poli-
tischen Funktionen und zur Innehabung von höheren Beamtenstellen
berufen seien.

* [Erschienen in: Jungsozialistische Blätter, Jg. 7, Heft 10, Berlin 1928, S. 305-308. –
Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 51-52.]

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158 [5.] Bedeutungswandel des Parlamentarismus [1928]

2. Der Glaube daran, dass das für die Nation Nützliche und Richtige in
und durch öffentliche Parlamentsdiskussion gefunden werden könne.
3. Das unentwegte Festhalten am Prinzip des Rechtsstaates.
Jener Satz von der ausschließlichen politischen Fähigkeit und Würdig-
keit der Schichten von Besitz und Bildung, der von seinen damaligen
Verfechtern mit dem Hinweis auf die höheren Steuern der besitzenden
Klasse begründet wurde, war die theoretische Grundlage jedes an eine
bestimmte Einkommens- oder Besitzgröße gebundenen Wahlrechts
(Zensuswahlrecht). Das Zensuswahlrecht war das technische Mittel des
Bürgertums im 19. Jahrhundert, das ja noch nicht über ein so uneinge-
schränktes und wirksames Pressemonopol verfügte wie seine Enkel im
20. Jahrhundert, um die großen Massen von der Einflussnahme auf ihre
politischen Geschicke fernzuhalten, dafür zu sorgen, dass die Staatsbe-
herrschung ausschließlich in seinen Händen blieb. Der Grundsatz des
Bürgertums im 19. Jahrhundert, das Rechtsstaatsprinzip, ist für uns
schwer verständlich, wenn auch bis in die Kreise der Partei hinein von
der heiligen Idee des Rechtsstaats geredet wird, wobei dann freilich nie
beachtet wird, dass die ideengeschichtliche Bedeutung des Rechtsstaats
im 19. Jahrhundert eine ganz andere war als seine Funktion im politi-
schen Leben des 20. Jahrhunderts. Damals hatte die Rechtsstaatsforde-
rung einen doppelten Sinn: einmal sollte dieser Begriff dazu dienen,
dem Bürgertum den endgültigen Sieg über die absolutistischen Rück-
stände des monarchistischen Systems zu verschaffen und zu sichern,
dafür zu sorgen, dass die Willkür einzelner Regierungs- und Verwal-
tungsorgane möglichst eingeengt wurde, dadurch dass man einen Hau-
fen präzisierter gesetzlicher Normen schuf. Ferner erforderten die
Bedürfnisse von Handel und Verkehr eine möglichst große Rechtssi-
cherheit; im Voraus sollte jeder Kaufmann und Industrielle wissen kön-
nen, welchen Erfolg er erzielen würde, wenn er sich zur Durchsetzung
eines Anspruchs – und er hatte deren viele – an die staatlichen Organe
wendete. Was wir meinen, wird an dem grotesken Bilde Max Webers,
des größten und weitschauendsten unter den deutschen bürgerlichen
Gelehrten, deutlich: Die Justiz sei eine Maschine, in die man oben den
konkreten Fall und die Gerichtsgebühren hineinwirft, woraufhin dann
unten die Lösung herausfällt.
Schon damals erkannten sowohl die Vertreter des Bürgertums als auch
die literarischen Wortführer des Proletariats die Rolle des parlamentari-
schen Systems, den Unterschied zwischen parlamentarischer Herr-
schaft und Demokratie. Durch alle politischen Schriften Karl Marx‘ und
Friedrich Engels‘, vom Kommunistischen Manifest über die »Klassen-

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[5.] Bedeutungswandel des Parlamentarismus [1928] 159

kämpfe in Frankreich« bis zum »Bürgerkrieg in Frankreich« und der


Engels‘schen Altersschrift »Internationales aus dem Volksstaat« zieht
sich jenes Argument: »Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss,
der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisie verwal-
tet« (Kommunistisches Manifest).1 Unter »Demokratie« verstanden sie
die Herrschaft des gesamten, des arbeitenden Volkes, im Gegensatz zur
Herrschaft eines durch ein Zensuswahlrecht zustande gekommenen
Parlaments. Und auch die Bourgeoisie hat in ihren vornehmsten Vertre-
tern erkannt, dass ihr damaliges parlamentarisches System durchaus
im Gegensatz zu einer demokratischen Volksherrschaft stand. Kurzum:
Demokratie bedeutete damals den oft unklaren, aber immer vorhande-
nen Drang der breiten Massen zur politischen Herrschaft, Parlamenta-
rismus war die Verkörperung der Herrschaft der Bourgeoisie.
Was ist aus jenen drei Hauptstützpunkten des parlamentarischen Sys-
tems des 19. Jahrhunderts geworden? Dies zu erforschen, unbeeinflusst
durch die Meinungen, die schon damals über Wert und Unwert des
Parlamentarismus geherrscht haben, ist jetzt unsere Pflicht.
Durch die Revolution von 1918 fielen die letzten Reste eines Klassen-
wahlrechts. Im Reich war schon durch die Bismarck‘sche Verfassung
das allgemeine gleiche Wahlrecht erreicht. Auch das langersehnte Prin-
zip des Verhältniswahlrechts kam zustande. Die parlamentarische Ver-
antwortlichkeit der Minister, ihre vollständige Abhängigkeit von den
Volksvertretern wurde Verfassungsgrundsatz. Hierin erblickten viele
die endgültige Abschaffung des alten Systems. Uns freilich scheint
diese Errungenschaft nicht allzu hoch anzuschlagen zu sein, da schon
in der konstitutionellen Monarchie die auch heute noch ausschlagge-
benden Schichten des Bürgertums einen zwar nicht staatsrechtlich fest-
gelegten, aber deshalb nicht geringeren Einfluss auf die Willensbildung
der höchsten Regierungsstellen ausübten. Es wird nun oft behauptet,
dass nach dem Fallen des Drei-Klassen-Wahlrechts, nach der Einfüh-
rung einer so allgemeinen Verhältniswahl, jene Gegensätze zwischen
dem politisch bevorrechteten Bürgertum und der minder berechtigten
Arbeiterschaft, wie sie das 19. Jahrhundert kennzeichneten, gefallen
seien, und dass wir heute in Deutschland nur gleichberechtigte Bürger
hätten, kurzum, ein System, das Demokratie und Parlamentarismus in
sich vereinigt.

1 [Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW
Band 4, 6. Auflage, Berlin 1972, S. 464.]

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160 [5.] Bedeutungswandel des Parlamentarismus [1928]

Was wir als erstes Prinzip des bürgerlich-parlamentarischen Staates


aufgezeigt haben, ist tatsächlich gefallen. Das Zensuswahlrecht war das
naivste Mittel, größere Wählerschichten fernzuhalten. Es wäre jedoch
eine zu oberflächliche Betrachtungsweise, wenn wir uns damit begnü-
gen würden, zu konstatieren, dass ein Mittel, die proletarischen Schich-
ten von der energischen Vertretung ihres Klasseninteresses fernzuhal-
ten, verschwunden ist, ohne uns darum zu bekümmern, ob das
erstrebte Ziel heute nicht durch andere Mittel erreicht wird. Das Bür-
gertum hat im 20. Jahrhundert gelernt, sich einer sehr wirksamen
Macht zu bedienen, die es früher nicht in diesem Umfang gekannt und
sich seiner organisatorisch zu bedienen nicht notwendig gehabt hat.
Mit Hilfe des Geldes hat es eine große Zahl von Einrichtungen geschaf-
fen, durch die es die Staatswillensbildung verfälscht. Sein wichtigstes
Mittel ist seine Presse. Um den ungeheuren Vorsprung anzudeuten,
den das Bürgertum vermöge des ihm zur Verfügung stehenden Kapi-
tals hat, genügt es, auf ein uns allen geläufiges Beispiel hinzuweisen. Es
gibt heute eine einflussreiche Organisation, genannt Demokratische
Partei – sie ist vermöge ihrer Ideologie der Arbeiterschaft weit gefährli-
cher als deren offene Feinde; nur ist leider leitenden Parteikreisen noch
nicht genügend klar geworden, dass Finanzkapital auf der einen Seite,
Industrielle und Agrarier auf der andern Seite, zwar in vielen Punkten
nicht übereinstimmen mögen, in dem entscheidenden Punkt, der Auf-
rechterhaltung des Privateigentums und der Vertragsfreiheit aber
durchaus einer Meinung sind. Diese politische Organisation, die Demo-
kratische Partei, verdankt ihre Existenz allein den drei Zeitungsfirmen
Ullstein, Mosse und Frankfurter Sozietätsdruckerei. Durch seine finan-
zielle Machtstellung hat das Bürgertum also anstelle der offenen eine
verschleierte Machtstellung bezogen. Es hat das allgemeine gleiche
Wahlrecht gewährt, um es gleichzeitig durch seine finanzielle Macht-
stellung der wichtigsten Wirkungen zu berauben.
Der zweite Grundsatz des parlamentarischen Bürgertums, der Glaube
an die öffentliche Diskussion im Parlament, die das richtige und ver-
nünftige Ergebnis für das Volkswohl hervorbringt, setzte eine gegebene
politische Einheit, wie sie das Bürgertum des 19. Jahrhunderts dar-
stellte, voraus. Als das Proletariat in das Parlament einzog, war dieser
Grundsatz sinnlos geworden. In der öffentlichen Diskussion konnte der
Vertreter des Proletariats dem Vertreter der Bourgeoisie nur sagen, dass
sein Interesse eine bestimmte Regelung erheische, während der Vertre-
ter der Bürgerlichen von dem ausging, was sein Interesse notwendig
machte, wobei allerdings die bürgerlichen Parlamentarier bis heute die
Eigenart gezeigt haben, zu verkünden, dass ihr Interesse mit dem Inter-

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[5.] Bedeutungswandel des Parlamentarismus [1928] 161

esse der gesamten Nation identisch sei. Ein Parlament ist also keine
Stätte der schöpferischen Diskussion mehr, es ist der Ort der öffentli-
chen Deklarationen entgegengesetzter Klasseninteressen geworden,
während die wahren Entscheidungen über politische Fragen in Privat-
besprechungen und geheimen Ausschüssen und Zusammenkünften
fallen. Der Gedanke einer im Parlament als dem Hort des Fortschritts
zu gewinnenden vernünftigen Entscheidung hat der Tatsache weichen
müssen, dass Klasseninteressen Fragen der Macht sind, für die es keine
andere Vernunft als die Notwendigkeit gibt, für jede Klasse das Maxi-
mum des für sie Möglichen ohne ein ihre Machtverhältnisse über-
schreitendes Risiko zu erreichen. Im Zusammenhang hiermit mag
darauf hingewiesen werden, dass Mehrheit im Parlament und wirkli-
che politische Macht zusammenfallen können, nicht aber zusammenfal-
len müssen. Mehrheit und Macht sind zweierlei Dinge, und die Mehr-
heit im Parlament ist nur eine nicht absolut zuverlässige Erkenntnis-
möglichkeit der wahren Machtverhältnisse.
Das Bürgertum hat den Rechtsstaatsgedanken gegenüber dem Proleta-
riat in der Weise zu verwerten gesucht, dass es darauf hinwies, dass die
Gesetze für alle gleich seien und Geltung hätten und daher das Proleta-
riat eine besondere Behandlung nicht verlangen dürfe. Gegenüber die-
sem Argument genügt es, auf die treffenden Worte Anatole France‘s
hinzuweisen: »Das Gesetz in seiner majestätischen Gerechtigkeit
erlaubt Armen und Reichen unter Brücken zu schlafen.«2 In Wirklich-
keit hat der Rechtsstaatsgedanke heute einen ganz anderen Sinn
bekommen. Er ist nicht mehr eine Position, die dem Bürgertum aus-
schließlich gehört, weder eine Angriffsposition wie in seiner Frühzeit,
noch eine Verteidigungsposition wie in seiner Spätzeit. Der Rechts-
staatsgedanke steht heute zwischen Proletariat und Bürgertum. Er ist
die Grenzscheide zweier kämpfenden Gruppen geworden, die beide
weit entfernt sind, in ihm das endgültige Gesetz der Machtverteilung
zu empfinden. Dies soll an einem Beispiel erläutert werden. Weder
Arbeitgeber noch Arbeitnehmer wollen heute durch eine Einzelstreitig-
keit alles aufs Spiel setzen; denn jede ihrer Streitigkeiten greift heute
über den Kampf zweier isolierter Individuen hinaus, hinter jedem von
ihnen steht, bereit, in jedem wichtigen Fall ihrer Partei zu Hilfe zu kom-
men, ihre soziale Gruppe; deshalb hat der Staat ein ganzes Rechtssys-
tem errichtet, das dazu dient, diese sozialen Kämpfe auf rechtlichem
Wege zum Austrag zu bringen, sie der Sphäre der unmittelbar Beteilig-
ten zu entziehen, soziale Machtfragen in Probleme der Rechtsfindung

2 [Anatole France: Die rote Lilie, München 1925, S. 116.]

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162 [5.] Bedeutungswandel des Parlamentarismus [1928]

zu neutralisieren. So hat das Rechtsstaatssystem heute die Funktion, in


den Beziehungen zwischen Bürgertum und Proletariat einen Gleichge-
wichtszustand zu schaffen. Der Rechtsstaat ist vielleicht eine der nach
außen hin bezeichnendsten Formen für den Übergangswert unseres
heutigen politischen Systems, für seine Vorläufigkeit, für einen
Zustand, in dem die eine Klasse nicht mehr stark genug, die andere noch
nicht stark genug ist, an der Ausschließlichkeit ihres politischen Sys-
tems festzuhalten.

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163

[6.]
Wehrhaftigkeit und Sozialdemokratie*
Bemerkungen zu der Schrift1 Paul Levis
[1928]

Gar zu gerne wird bis weit in unsere sozialdemokratischen Reihen hin-


ein die Frage des Wehrproblems und unsere Stellungnahme dazu
(wobei Stellungnahme nicht bloß etwas Literarisches bedeutet, sondern
den ernsthaften Willen der kundgetanen Meinung entsprechend in den
kritischen Momenten zu handeln, eine Folgerung, die gar zu oft und zu
leichtfertig bei sehr vielen ›Stellungnahmen‹ vergessen wird, ohne die
aber eine Stellungnahme jeden Wert verlieren würde) von ausschließ-
lich taktischen Gesichtspunkten aus erörtert. Die Frage der neuen stra-
tegischen Linie Karlsruhe-Eger und die damit im engsten Zusammen-
hang stehende Frage nach der Haltung Deutschlands in einem zukünf-
tigen Kriege [gegen] England, Frankreich, Polen-Russland, verleitet
viele Parteigenossen dazu, die Stellungnahme zur Wehrfrage zusam-
menzuwerfen mit der Frage nach dem bestmöglichen Verhalten in
einer ausgedachten politischen Situation. Keine treffendere Kritik hätte
Paul Levi an einer solchen Horizontverengerung üben können, als
durch den an Hand der Tirpitz‘schen Flottenpolitik erbrachten Nach-
weis, dass die völlige Einstellung einer Wehrpolitik und damit eines
Wehrplans auf eine ausgedachte militärische Operationsbasis deshalb
etwas höchst Sekundäres ist, weil es ja leider immer von der Macht und
dem Willen des Gegners abhängt, welche Operationsbasis er wählen
will.
An Stelle solcher militärpolitischen und taktischen Erwägungen gibt
Levi ein umfassendes und anschauliches Bild des Strukturwandels, der
sich in der Wehrform seit dem Beginn des Weltkrieges vollzogen hat.
Denn nur auf Grund solcher Untersuchungen besteht überhaupt Mög-
lichkeit, festzustellen, welchen Aufgaben das Proletariat in dieser Hin-
sicht gegenübersteht.

* [Erschienen in: Die Tribüne, Organ der Sozialdemokratischen Partei für das Land
Thüringen und den Regierungsbezirk Erfurt, 15. Dezember 1928, Erfurt. – Zu
diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 39-40.]
1 [Paul Levi: Wehrhaftigkeit und Sozialdemokratie, Berlin 1925.]

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164 [6.] Wehrhaftigkeit und Sozialdemokratie [1928]

Erst in dem letzten Krieg ist erkannt worden, dass die alte »Vorratswirt-
schaft«, die man mit den Geld-, Kriegs- und Nahrungsmitteln noch zu
Anfang des Krieges trieb, völlig veraltet war. Man sah, dass es für künf-
tige Kriege nicht mehr auf den Vorrat ankommt, sondern auf jenes
berühmte und berüchtigte »potentiel de guerre«, auf die Möglichkeit,
schnell und reibungslos den Gesamtproduktionsprozess in die Wehr-
verfassung einzubeziehen. Damit hat sich aber auch die Rolle der Frie-
denszeit in ihrem Verhältnis zum Krieg geändert – nicht mehr die stati-
sche Machtstellung so und so großer fertiger Heere und Kanonen gilt
[es] jetzt, die Beziehung der Friedenszeit zum Krieg hat ihre starre Ein-
seitigkeit, ihr Gerichtet sein auf ganz bestimmte kriegspolitische Forde-
rungen verloren. Die Friedenszeit hat in dieser Beziehung eine weitge-
hende Dynamisierung, Verlebendigung erfahren. Alles und jedes, was
die Technik des Friedens hervorbringt, an Möglichkeiten schafft, ist mit
geringen schnellfertigen Änderungen im Krieg verwendbar. Es genügt
nur, auf das Beispiel der chemischen Industrie hinzuweisen. Hieraus
ergibt sich auch die relative Hoffnungslosigkeit aller Entwaffnungsvor-
schläge, gleichgültig von welcher Seite sie auch immer ausgehen
mögen, denn die Existenz der chemischen Industrie ist im Frieden not-
wendig und dass sie mit geringen Änderungen für den Krieg ebenso
verwendbar ist wie für die friedliche Arbeit unentbehrlich, kann nie-
mand hindern. Aus den fortwährenden technischen Änderungen ergibt
sich auch, wie Levi unter Bezugnahme auf die Erinnerungen des Gene-
rals von Seeckt ausführt, die Unnötigkeit eines stehenden großen Heeres,
das ja aus finanziellen Gründen nie technisch vollkommen auf dem
Laufenden gehalten werden könnte.
Damit hat sich aber auch die Stellung des Proletariats in diesem Kriegs-
system geändert. Die alte sozialdemokratische Forderung der Miliz ist
in furchtbarer Weise Wirklichkeit geworden. Nicht vom Volk von unten
aus ist die Einbeziehung des gesamten Volkes in den Krieg Wirklichkeit
geworden, sondern von oben herunter, von der Seite des behördlich
geleiteten technischen Apparates aus; ist das Volk in seiner Gesamtheit
in allen Altersschichten in den Krieg einbezogen. Denn dem Kriegspro-
zess dient alles und jedes und der Hinweis auf die Rolle Paul-Boncours
mag genügen, wie man in Frankreich diese Einbeziehung auch schon
praktisch betreibt. Welche Folgerungen zieht nun Levi aus diesem
Gesamtbild und der heutigen Situation, da er uns in seiner Schrift eine
noch kaum erreichte Intensität an Verlebendigung und Vergegenständ-
lichung dieser unserer heutigen Situation gegeben hat.

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[6.] Wehrhaftigkeit und Sozialdemokratie [1928] 165

Levi stellt zwei Vorschlagsgruppen auf: Die eine schließt sich an die Ent-
schließungen der Brüsseler Internationale zur Wehr- und Kriegsfrage
an, indem sie diese jedoch agitatorisch steigert und damit den positiven
Aktionssinn des Proletariats auch in seiner Abwehrfunktion gegen den
imperialistischen Krieg hervorhebt. In ihr wird es als die Aufgabe der
Partei bezeichnet – neben der wichtigen Kontrollfunktion, die den
Gewerkschaften bezüglich des Produktionsprozesses zukommt – in
ihrer gesamten politischen Haltung den Gegensatz zwischen den beste-
henden Klassen zu betonen und in der Militärpolitik den Gegensatz
zwischen Proletariat und Bürgertum dadurch entscheidend zu doku-
mentieren und in den Massen zu verlebendigen, dass sie jede Rüstungs-
ausgabe ablehnt. Durch diese Haltung soll die SPD eine kraft- und
machtvolle Internationale mitaufbauen und dadurch den imperialisti-
schen Krieg abwenden.
Falls dieses Mittel versagen sollte, weist Levi der SPD einen zweiten
Weg. Er besteht kurz gesagt in dem Bewusstsein des Proletariats von
der notwendigen Einbeziehung der Armee in das Proletariat, in der
Überwindung des Gegensatzes, der heute zwischen der Arbeiterschaft
und der ausschließlich dem Bürgertum hörigen Armee besteht. Dieses
neue, ideenmäßig und in Wirklichkeit mit dem Proletariat aufs Engste
verbundene Heer soll dann auch bereit und gerüstet sein, den Krieg
des proletarischen Staates zu führen.
Der Sinn beider Vorschläge geht nicht so weit auseinander, als man
meinen möchte; denn beide sehen in der Kriegs- und Wehrfrage nicht
nur eine Frage nach der bestmöglichen Aufrechterhaltung des gegen-
wärtigen Friedenszustandes, für beide, und das ist ihr Vorzug, ist diese
Frage unlöslich verbunden mit der Aktivierung sozialistischer Politik. Für
beide Vorschläge ist das Wehrproblem Angelpunkt, an dem die Macht
des Bürgertums endgültig zerschellen muss.
Was bei dieser Stellungnahme uns merkwürdig erscheint, ist die
Zuspitzung auf diese zwei Wege, die gewissermaßen zur Wahl stehen.
In Wirklichkeit gibt es keine Wahlmöglichkeit. Wer möchte die Frage
entscheiden, ob das Proletariat im Verein mit der Internationale stark
genug ist, einen imperialistischen Krieg zu verhindern? Und wer
möchte alles der Entscheidung anvertrauen, ob der nächste Krieg ein
imperialistischer Krieg ist, oder ob er wahrhaft proletarischen Interes-
sen dient. Der August 1914 sollte uns über die Unzuverlässigkeit sol-
cher Unterscheidungsmerkmale (Angriffs- und Verteidigungskrieg)
hinreichend belehrt haben. Meiner Meinung nach ist dieses Entweder-
Oder – selbst auf die Gefahr hin (und es ist, wie uns unser jetziges Par-

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166 [6.] Wehrhaftigkeit und Sozialdemokratie [1928]

teileben aufs Deutlichste zeigt, eine große Gefahr), dass wir in diesen
Fragen weniger aktiv und mehr von den Zeitereignissen bestimmt
erscheinen – unabwendbar. Die Sozialdemokratie wird sowohl ihre gesamte
Kraft für den Frieden einsetzen, als auch gleichzeitig die Eroberung der
Reichswehr einleiten müssen.
Gegenüber der Levi’schen Fassung mit ihrem allzu zugespitzten Entwe-
der-Oder muss betont werden, dass nur der doppelte Weg der machtvol-
len und ganz im Sinne Levis realistisch-proletarischen Friedenspolitik
und einer energischen und proletarischen Heerespolitik uns das ver-
bürgen kann, was wir alle zu erreichen wünschen, die politische Macht
des Proletariats.

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167

[7.]
Wahlrechtsreform*
[1929]

Durch den bürgerlichen Blätterwald geht ein gewaltiges Rauschen; von


der demokratischen »Weltpresse« bis zum kleinsten Hugenbergableger
ist die Versumpfung unseres politischen Lebens und die Notwendig-
keit einer Erneuerung unseres Parteiwesens Tagesgespräch geworden.
Hauptschuld an diesen ›unhaltbaren Zuständen‹ soll nach der überein-
stimmenden Ansicht der bürgerlichen Presse unser heutiges Wahlsys-
tem tragen. Man spricht dort von dem unorganischen Charakter dieses
Wahlrechts, das der Parteibürokratie alle Macht gibt und das es den
Tüchtigen und geistig Hochstehenden unmöglich macht, sich im politi-
schen Leben durchzusetzen. Hat doch Dr. Stresemann, der hervorra-
gende Führer der deutschen Bourgeoisie, kürzlich in einem Aufsehen
erregenden Artikel seinen Missmut darüber ausgesprochen, dass in
unserem politischen Leben heute die Gewohnheit herrsche, einen Poli-
tiker nur danach zu beurteilen, wieviel Tausende oder Millionen von
Mitgliedern irgendeines Verbandes er zu vertreten berechtigt sei. Er
tadelt, dass solche Leute, die meist eine geringe politische Schulung
und Sachkenntnis besäßen, bei uns eine so große Rolle spielen, wäh-
rend die geistige Elite unseres Volkes von der Politik ferngehalten
würde. Das Bürgertum würde es am liebsten sehen, wenn das ganze
Proportionalwahlrecht abgeschafft werden könnte; da es aber weiß,
dass die Arbeiterklasse dafür nicht zu haben ist und sogar schon die
Deutsche Volkspartei erkennen musste, dass das Bedrucken von
Reichstagspapier mit Vorschlägen zur Verfassungsreform deren Durch-
setzung nicht garantiert, so setzt man jetzt im bürgerlichen Lager von
Koch bis Westarp seine ganze Kraft und sein ganzes Papier für die ver-
fassungsmäßig mögliche Errichtung kleinerer Wahlkreise ein.
Wie hat sich das Proletariat zu jenen Versuchen, das Wahlrecht zu
reformieren, einzustellen? Hat es auch ein Interesse daran, unsere heu-
tigen politischen Zustände durch eine Wahlrechtsänderung umzuge-
stalten? Hierzu ist zunächst zu sagen, dass das Proletariat gar nicht der
Utopie huldigt, es könne durch eine Wahlrechtsänderung eine Besse-

* [Erschienen in: Mühlhäuser Volksblatt: General-Anzeiger, Organ zur Wahrung


der Interessen des gesamten werktätigen Volkes, Nr. 28, 2. Februar 1929, Mühl-
hausen. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 40-41.]

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168 [7.] Wahlrechtsreform [1929]

rung der politischen Verhältnisse herbeigeführt werden. Es weiß, dass


unsere politischen Zustände heute nur ein Ausdruck der bestehenden
Klassenverhältnisse sein können, diese aber eine Änderung nur durch
politisch-ökonomische Verschiebungen erfahren, die sich in dem
gegenseitigen Machtverhältnis zwischen Bürgertum und Proletariat
ausdrücken. Nicht deshalb gehen in Deutschland die politischen
Geschäfte schlecht, weil ein schlechtes Wahlrecht unfähige Politiker an
die Spitze bringt; auch bei uns sind die Politiker nicht besser und nicht
schlechter als in anderen Ländern. Dass heute das Proletariat das Rad
der Geschichte nicht vorwärts-, das Bürgertum es nur in geringem Aus-
maße zurückdrehen kann, ist nur eine Folge des labilen Gleichgewichtsver-
hältnisses der Klassenkräfte in Deutschland. Das jeweils geltende Wahlrecht
ist ein unmittelbares Produkt der Klassenverhältnisse. Wahlrecht ist techni-
sches Recht, zweckbestimmtes Recht. Solange es eine Klassengesell-
schaft gibt, ist es vergebliches Bemühen, nach dem besten Wahlrecht zu
suchen; denn das Prinzip des Wahlrechts im Klassenstaat ist nicht die
Auswahl der Besten für die beste Regierung. Die Güte eines Wahlrechts
bestimmt sich, solange es in der Welt Klassengegensätze gibt, nur nach
dem Zweck, den man jeweils mit ihm erreichen will. So war das Zen-
suswahlrecht, das das Bürgertum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun-
derts so in sein Herz geschlossen hatte, und das in Preußen bis 1918 als
Dreiklassenwahlrecht in Geltung war, das geeignete Mittel, die Arbeiter-
schaft von dem ihm im politischen Leben gebührenden Einfluss fernzu-
halten. So ist das faschistische Wahlrecht des Jahres 1928, das nur die
faschistische Liste dem Volk zur Annahme oder Ablehnung vorlegt,
das geeignete Mittel, um auf eine gefahr- und risikolose Weise dem
Faschismus eine Generalübersicht über seine freiwilligen und unfrei-
willigen Anhänger zu ermöglichen. Das Wahlsystem, das in Frankreich,
England und den Vereinigten Staaten gilt, hat dort, abgesehen von Eng-
land, seit der Konstituierung der Labour Partei, heute noch den Zweck,
abwechselnd verschiedene Parteigruppen des Landes, deren Differen-
zen untereinander weniger sachlicher Natur sind, als einfach durch die
Partnerschaft jenes Wahlspiels bedingt werden, zur Herrschaft zu brin-
gen. Als das liberal-bürgerliche Zeitalter in der Weimarer Verfassung
zur Neige ging, wurde auch das alte Wahlrecht zu Grabe getragen und
ein listengebundenes, von der Parteiwillkür bestimmtes Proportionalwahl-
recht geschaffen. Dieses System ist ein Ausdruck dafür, dass die idylli-
sche Zeit des Bürgertums, in der das Wahlrecht nur ein Mittel zur
Bestimmung des jeweiligen Regierungs- und Oppositionsspielers
bedeutete, vorbei ist. Das Proletariat marschiert gleichberechtigt in die
Kampfbahn der Demokratie ein. Dieser Einmarsch, den es in Weimar

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[7.] Wahlrechtsreform [1929] 169

lediglich zu konstatieren galt, bedeutete eine Änderung des dem Wahl-


recht bisher innewohnenden Sinnes und Zweckes. War früher Regie-
rungsbildung zwischen rivalisierenden Bürgerparteien der Zweck des
Wahlrechts, so war es jetzt in erster Linie Kräftemaßstab der Klassenver-
hältnisse geworden, erst in zweiter Reihe ergab sich die Regierungsbil-
dung. Diese Klassenfront am getreuesten und mathematisch genaues-
ten widerzuspiegeln ist der Sinn des geltenden Proportionalwahlrechts.
Auch jene Anonymität des Wahlrechts, welche in dem Listenprinzip
und dem Grundsatz der großen Wahlkreise sich verkörpert und die
vom Bürgertum heute als Zielscheibe für seine Angriffe benutzt wird,
ist ebenfalls die Konsequenz davon, dass im heutigen Staat das Wahl-
recht dem Austrag der Klassengegensätze dient. Die Ideologie des Bür-
gertums, das glaubt, durch Rückkehr zu keinen Wahlkreisen den Per-
sönlichkeitsfaktor wieder mehr zur Geltung bringen zu können, ist
reaktionär.
Jene Professoren-Parlamente der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts, in
denen sich die Gebildeten über die Staatsdinge unterhielten, über die
andere entschieden, sind unwiederbringlich dahin; sie würden auch
mit anderer Wahlkreiseinteilung nicht wiederkehren. Die Parlamente
sind keine Orte, in denen sich die Gebildeten der Nation über gebildete
Dinge unterhalten, die Parlamente sind Stätten zum Austrag des Klassen-
kampfes, und die Parteien, die ihn draußen als Arbeitgeber- und Arbeit-
nehmervertreter miteinander kämpfen, sind auch keine berufenen
Wortführer im Parlament. Deshalb hat heute dort der eine Millionen
Menschen, der andere Millionen Mark zu vertreten. Diese Tatsachen
würden durch eine Verkleinerung der Wahlkreise nur verschleiert,
nicht geändert. Es ist ehrlicher, wenn jeder Wähler weiß, welches Klas-
seninteresse sein Abgeordneter vertritt, als wenn die einzelnen lokalen
Größen, die vielleicht eine andere Wahlkreiseinteilung ins Parlament
brächte, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, und das heißt ihrer Wäh-
ler, von irgendwelchen Verbandsinteressen ›erobert‹ würden.
So hat das Proletariat an einer Änderung des heutigen Wahlrechts in
dem vom Bürgertum angeregten Sinn kein Interesse; es weiß, dass das
heutige Wahlrecht den nackten Tatsachen des Klassenkampfes am bes-
ten entspricht, und bittere Erfahrungen haben die Arbeiterschaft
gelehrt, dass diejenigen Institutionen für sie die besten sind, welche,
statt die Tatsachen zu verschleiern, sie offen darlegen. Will das Bürger-
tum vom Proletariat eine Änderung des Wahlrechts erreichen, so wird
es sich mit der Abschaffung der Reichs- und Landeslisten begnügen müs-
sen, denn diese sind durchaus undemokratisch und erhalten nicht nur

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170 [7.] Wahlrechtsreform [1929]

das an Parteibürokratie, was notwendig ist, sondern was gerade vor-


handen ist; das aber ist vom Übel, und es ist Zeit, dass die Überschüsse,
die sich aus den einzelnen Bezirken ergeben, auf diese selbst nach
einem bestimmten Schlüssel vergeben werden. Weitere Wahlrechtsre-
formen müssen und werden an der Klassenfront der Arbeiterschaft
scheitern.

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171

[8.]
Die Demokratie der Bequemlichkeit. Ein Nachwort
zum Parteitag*
[1929]

In den Äußerungen der Redner der offiziellen Richtung auf dem Mag-
deburger Parteitag waren es zwei Dinge, die mehr oder minder deut-
lich herauszuhören waren. Ob Breitscheid oder Müller, ob Hilferding
oder Landsberg, die bedingungslose und opferbereite Hingabe an die
Demokratie reichte bei allen diesen Rednern nicht aus, um ein tüchtiges
Quantum Skepsis in die politische und ökonomische Entwicklung, in
die nahe Zukunft der deutschen Arbeiterklasse nicht doch ziemlich
deutlich hervortreten zu lassen.
Wille zur Demokratie und Skepsis, ein merkwürdiges und wider-
spruchsvolles Zusammentreffen.
Die Demokratie wurde auf dem Magdeburger Parteitag von der offizi-
ellen Richtung ausgiebig benutzt und unter der Perspektive des politi-
schen Fortschritts über alle Bitternisse der Koalitionsperiode hinweg als
wertvolles Gut gepriesen. Die die Debatte beherrschende Skepsis
beruhte – und das war ihr Fehler – nur auf einer instinktiven Erfassung
der vielen Widerstände, die sozialdemokratischem Wirken in der letz-
ten Zeit, wohin es sich auch immer wandte, begegneten. Sie war nicht
Ausdruck einer gleichsam experimentellen Feststellung, die man aus
der Kenntnis und richtigen Verwertung der ökonomischen Machtver-
hältnisse hätte ziehen können. Hätte die offizielle Richtung in der deut-
schen Sozialdemokratie, guten marxistischen Grundsätzen folgend,
auch heute noch die Gewohnheiten, die Tatsachen so zu sehen, wie sie
sind, anstatt sie so zu erschaffen, wie man sie zu sehen wünscht, dann
hätte sich die Linke mit ihr auf dem Magdeburger Parteitag leichter
verständigen können. Eine Verständigung, die die dauerhafteste aller
Grundlagen besessen hätte: den Sinn für das, was ist: Die Bestimmung
unseres politischen Handelns unter Berücksichtigung der Tatsache,
dass der organisierte Kapitalismus heute kraft seiner ökonomischen
Machtposition in normalen Situationen die Arbeiterklasse vorläufig in

* [Erschienen in: Mühlhäuser Volksblatt: General-Anzeiger, Organ zur Wahrung


der Interessen des gesamten werktätigen Volkes, Nr. 146, 25. Juni 1929, Mühlhau-
sen. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 41-43.]

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172 [8.] Die Demokratie der Bequemlichkeit. Ein Nachwort zum Parteitag [1929]

die Defensive gedrängt hat, aus der herauszukommen sie in allererster


Linie innere Klarheit und Einigkeit notwendig hat. Nur eine solche
Haltung kann auch das Problem der Demokratie aus der gefährlichen
Starrheit lösen, zu der es seit der parteiamtlichen Dogmatisierung der
Demokratie erstarrt ist. Jene Starrheit, die durch nichts besser gekenn-
zeichnet wird, als durch die eigenartige Haltung, die auch die offiziel-
len Redner des Magdeburger Parteitages gegenüber dem Fragenkom-
plex Demokratie-Diktatur einnahmen.
Indem sie sie nur von der Perspektive ihrer Bedrohung durch die Dik-
tatur aus betrachteten, wurden Demokratie und Diktatur zu abstrakten
politischen Größen, hinter denen die Frage nach der jeweilig zugrunde-
liegenden ökonomischen Struktur gar nicht mehr in den Bereich der
Erörterungen gezogen wurde.
So konnte auch die Theorie von der Koalition als Opfer für die Erhal-
tung der Demokratie zu einer Rechtfertigung des Misserfolges der
Koalition werden, und so dann die ›Opfertheorie‹ nicht nur zur Recht-
fertigung der bisherigen Misserfolge dienen, nein, sie kann auch eine
noch längere Koalitionspraxis entschuldigen, die dann, verbunden mit
dem mystischen Begriff der Staatsverantwortung, eine Koalition wie
die heutige bis in die Unendlichkeit rechtfertigen.
Damit hat man aber endgültig den Boden der politischen Wirklichkeit
verlassen; man hat dabei vergessen, dass Staatsformen als solche dem
größten Teil der Bevölkerung nicht die gewohnheitsmäßige Begeiste-
rung einflößen, über die der Berufspolitiker von Amts wegen verfügt.
Der gewöhnliche Durchschnittsmensch pflegt alle Regierungen nur nach den
Leistungen zu beurteilen, die für ihn am wichtigsten sind, und das sind die
sozialen Taten oder Untaten einer Regierung.
Er wählt sozialdemokratisch nicht aus irgendwelchen ideellen Erwä-
gungen heraus, sondern deshalb, weil er glaubt, dass diese Partei die
Forderungen der wirtschaftlich abhängigen Bevölkerungsschichten ver-
treten wird. Er wird so lange Demokrat sein, so lange er glaubt, dass in
der Demokratie seine wirtschaftlichen Forderungen die meiste Berück-
sichtigung und die beste Vertretung finden. Er wird aufhören, Anhän-
ger demokratischer Staatsformen zu sein, wenn er sieht, dass in der
demokratischen Staatsform seine Wünsche nicht den notwendigen
Widerhall finden, und er wird sich auch mit der Diktatur abfinden,
wenn sie seinen wirtschaftlichen Wünschen entgegenkommt oder zum
Mindesten in ihm den Anschein erweckt, als ob sie sie in erster Linie
vertrete. Hier sind die Grenzen jeder demokratischen ›Opfertheorie‹.

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[8.] Die Demokratie der Bequemlichkeit. Ein Nachwort zum Parteitag [1929] 173

Die Demokratie wird von denen, von denen ihr Schicksal abhängt, von
den werktätigen Massen, nicht nach der Richtung geprüft, wie dies der
Reichskanzler Müller gerne möchte; sie fragen nicht, ob dies die einzig
gegenwärtig mögliche Staatsform sei, sondern sie fragen: was hat die-
ser Staat für uns getan?
Und von der Beantwortung dieser Frage durch die Massen hängt das Schick-
sal der Demokratie ab. Aus diesem Grunde führt die Theorie des Opfers
für die Demokratie geradewegs weg von der Demokratie. Die Demo-
kratie lebt nur, sofern sie stark ist. Demokratie und Skepsis schließen
sich gegenseitig aus. Denn entweder vernichtet die Demokratie die
Skepsis oder die Skepsis vernichtet die Demokratie.
Und hier ist wiederum einer jener Gegensätze zu finden, die auf dem
sozialdemokratischen Parteitag hervorgetreten sind, insbesondere bei
der Beurteilung, die die Rede von Paul Levi durch die Redner der
Mehrheit, vornehmlich durch Leber, erfahren hat. Man hat Levi den
Vorwurf des Jakobinertums gemacht. Ich glaube nicht, dass dies ein
Vorwurf ist; denn schließlich sind es die Jakobiner, und ist es nicht die
Gironde gewesen, die Frankreich im Jahre 1793 gerettet hat? Jedenfalls
hat jene Partei, deren Nachfolge man Levi beschuldigt, gewusst und
bewiesen, dass die Demokratie ohne das Prinzip der Spannung, ohne
das Bewusstsein der großen Aufgabe, von deren Verwirklichung Sein
oder Nichtsein ihrer Existenz abhängt, nicht existieren kann. Und das
ist ein nicht gering einzuschätzender Strukturunterschied zwischen
dem Denker der sozialistischen Linken und der sozialistischen Rechten,
der prinzipiell schon zu der Zeit Rosa Luxemburgs bestanden hat und
uns nur heute in der Periode des sozialdemokratischen Ministerialis-
mus viel stärker zum Bewusstsein kommt. Wer die Macht besitzt, und
sei es auch nur in der bescheidenen Form des Anteils am Aufbau der
Bureaukratie, dem verschwindet sehr leicht das Bewusstsein von der
Rolle, die die Spannung in der Politik einnimmt. Die Demokratie aber
ist jene Form, in der das Prinzip der Spannung seinen höchsten Aus-
druck zu finden hat. Nicht mehr die Spannung zwischen dem imaginä-
ren Willen des Einzelmenschen und seiner Umwelt kommt hier in
Frage. Hier handelt es sich um die natürliche Spannung, die sich aus
dem sozialen Wollen der Menschen und dem tatsächlichen Zustand
ihrer Umwelt ergibt.
Deshalb beruht die Zukunft der Demokratie nicht darauf, dass man alle
sozialen Fragen durch Kompromisse auf dem Rücken der Mehrheit der
arbeitenden Bevölkerung ›erledigt‹, sondern darauf, dass man unter
Zuhilfenahme der Spannung von Wille und Wirklichkeit das Pro-

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174 [8.] Die Demokratie der Bequemlichkeit. Ein Nachwort zum Parteitag [1929]

gramm des Sozialismus verwirklicht. Damit gibt man der deutschen


Demokratie den Sinn und Inhalt, den sie in zehn Jahren ihres schmer-
zensreichen Bestehens nicht besessen hat.

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175

[9.]
Das Problem der Verfassung*
[1929]

Jede Verfassung birgt wesensmäßig einen stolzen Anspruch in sich,


durch den sie sich von anderen Verfügungen der Staatsgewalt unter-
scheidet: den Anspruch der Dauer. Jenen Anspruch kann und wird eine
Verfassung nur dann verwirklichen, wenn sie in der ewigen Auseinan-
dersetzung zwischen menschlichem Geist und der historischen Gege-
benheit, der konkreten Zeit, es versteht, den Menschen freizumachen
von der unfruchtbaren Starrheit und Verkapselung, in die sich das Indi-
viduum gerade heute nur allzu gern einhüllt, wenn sie ihn zum positi-
ven Gestalter seiner Zeit beruft. Damit ist jede Verfassung aufs Neue
vor das Problem gestellt, eine Form zu finden für jenen ewig kontinu-
ierlichen Prozess, in dem sich der Wille zum Herrn der Wirklichkeit
macht. Und deshalb setzen Verfassungen zwangsläufig voraus, dass sie
in Zeiten entstehen, in denen Wille und Wirklichkeit zueinander die
Brücke schlagen, in dem großen Augenblick der Erkenntnis. Denn die
Erkenntnis einer Situation ist das Bindeglied zwischen Wille und
gestaltungsreifer Realität. Die Erkenntnis einer konkreten politisch-
ökonomischen Situation ist es, die dem menschlichen Wollen erst die
konkrete Form und Gestalt verleiht. Je adäquater der Mensch die Reali-
tät in ihrer gegenwärtigen Gestalt als augenblickliche Aufgabe erkennt,
desto sicherer und kräftiger wird der Wille sein, sie aus dieser Erkennt-
nis heraus zu gestalten. So sind Verfassungen Kennzeichen dafür, ob
und in welchem Maße die Menschen die Seins-Struktur und damit
nach unserer Auffassung ihre eigene Bewusstseinsstruktur erkannt
haben. Denn wenn sie die Seins-Struktur der Gegenwart erkannt haben
und damit den Formungsprozess ihres eigenen Bewusstseins bis in
seine innersten Tiefen zu durchleuchten in der Lage sind, dann ist es
wesentlich eine Frage der Selbstverständigung, der Reife des Klassen-
bewusstseins, ob sie gewillt sind, die notwendigen Folgerungen daraus
zu ziehen. Und die Dauer einer Verfassung, die Frage, ob sie Verkünde-
rin eines den gegenwärtigen Zustand der menschlichen Gesellschaft
beherrschenden Gestaltungsprinzips ist, bemisst sich wesentlich
danach, wie und in welchem Maße in ihr Wille, Erkenntnis, objektive

* [Erschienen in: Jungsozialistische Blätter, Jg. 8, Heft 8, Berlin 1929, S. 232-234. –


Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 55-56.]

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176 [9.] Das Problem der Verfassung [1929]

Bewusstseinslage und subjektive Bewertung dieser Bewusstseinsstruk-


tur zusammengetroffen sind.
In diesem Sinne sind die Erklärung der Menschenrechte im Jahre 1789
und die von ihr beherrschten Revolutionsverfassungen Frankreichs
eine vollendete Verfassung, der wirkliche Niederschlag von ihre Zeit
erfüllenden Gestaltungsprinzipien gewesen; sie hat der geistigen Struk-
tur des französischen Bürgertums wie auch dem wirtschaftlichen
Standort Frankreichs voll und ganz entsprochen. Entsprochen freilich
mit der Einschränkung, die bei jeder bürgerlichen Verfassung zu
machen ist und die den ewigen Widerspruch jeder bürgerlichen Konsti-
tution ausmacht, den Widerspruch zwischen Individuum und demo-
kratischem Gemeinschaftsprinzip. Jener Widerspruch hat in unserer
Zeit die bürgerliche Verfassung diktiert. Man versuchte, ihn aufzuhe-
ben, indem man seine Voraussetzungen beseitigte: das Funktionieren
eines kapitalistischen Gesellschaftssystems. Es war die russische Verfas-
sung von 1918, die zum ersten Mal unternahm, sich von den Grund-
prinzipien der bürgerlichen Verfassungen: Privateigentum und Ver-
tragsfreiheit, loszusagen und klar und eindeutig das Bekenntnis eines
neuen, eines sozialistischen Willens zu verkünden. In ihr sah die Welt
das einzigartige Schauspiel einer Verfassung, in der nicht, wie bei den
klassischen Verfassungen des zu Ende gehenden 18. Jahrhunderts, eine
Bewusstseinsstruktur allmählich heranreifte und in den Stand gesetzt
wurde, einer schon vorhandenen Seins-Struktur Gestalt und Ausdruck
zu verleihen, sondern in der eine vorhandene Bewusstseinsstruktur
eine noch nicht vorhandene Seins-Struktur vorwegnahm. So baut die
russische Verfassung ihr gewaltiges Unterfangen auf dem Vorrang des
Wollens auf, von dem sie erwartet und erhofft, dass sie eine nicht vor-
handene Realität erschaffen könne. Daher kommt bei aller Größe und
Bewunderungswürdigkeit des russischen Unterfangens die Kluft zwi-
schen der wirklichen Verfassung des russischen Bauernstaates und der
Willensverfassung seiner politischen Herrscher, eine Kluft, für die frei-
lich auf der andern Seite bei den überlieferten Verfassungen der kapita-
listischen Westmächte ein vollkommenes Gegenstück besteht; denn
hier steht der Idee der nationalen Demokratie, mit der diese Verfassun-
gen einst entstanden, die Realität des internationalen Kapitalismus ent-
gegen, der aus diesen Verfassungen historische Schlösser gemacht hat,
aus denen die Wirklichkeit schon lange Jahrzehnte herausgewachsen
ist.
*

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[9.] Das Problem der Verfassung [1929] 177

Die Väter der Weimarer Verfassung hatten beides vor Augen, als sie im
Sommer 1919 unter schärfstem außenpolitischen Druck Deutschlands
neue Verfassung berieten. Sie sahen die alten demokratischen Verfas-
sungen des Westens, da sie fast ein Jahrhundert länger als diese Staaten
eine halbabsolute Regierung über sich hatten ergehen lassen müssen,
als den gerechten Lohn für ihr Ausharren an, welchen sie sich keines-
falls entgehen lassen wollten. Hierüber war sich die große Majorität der
Weimarer Nationalversammlung, von den Mehrheitssozialisten bis zu
dem früheren Nationalliberalen Stresemann, durchaus einig. Aber viele
und gerade die klügsten Köpfe der Mehrheit dieser Versammlung,
unter denen an erster Stelle Friedrich Naumann zu nennen ist, wussten,
dass die Zeit zu weit fortgeschritten war, als dass man dem neuen Staat
durch die einfache Übernahme der alten demokratischen und parla-
mentarischen Prinzipien eine dauernde Grundlage verschaffen konnte.
Friedrich Naumann hat es klar ausgesprochen, dass der Weimarer Ver-
fassung zweiter Teil, in dem sie bewusst hinausgeht über die alten bür-
gerlichen Verfassungen, ein Konkurrenzunternehmen gegen die russi-
sche Verfassung ist, dass die »Grundrechte und Grundpflichten der
Deutschen« das Gegenstück zu den »Rechten des arbeitenden und aus-
gebeuteten Volkes« darstellen. Es ist hier nicht der Ort, über Dinge zu
streiten, die vorläufig unwiderruflich entschieden sind. Es ist deshalb
also müßig, auf die Frage einzugehen, ob der ökonomischen Struktur
Deutschlands im Jahre 1919 nicht eine klare sozialistische Verfassung
entsprochen hätte. Wir wissen, dass einer solchen die mangelnde sub-
jektive Bewusstseinsstruktur großer Schichten des deutschen Proletari-
ats noch hemmender entgegengestanden hat als der äußere Widerstand
der bürgerlichen Entente-Mächte, den eine andere sozialistische Füh-
rergeneration als die damals vorhandene und maßgebende vielleicht
überwunden hätte.
Aber wir sind berechtigt und verpflichtet, danach zu fragen, was aus
dem Versuch der Vereinigung bürgerlich-demokratischer Verfassungs-
prinzipien mit kollektivistisch-sozialistischen geworden ist. Nach der
Meinung der damaligen Verfassungsgeber sollte diese Verbindung dem
Stand der gegenwärtigen gesellschaftlichen Struktur sowie der
Bewusstseinsstruktur der Mehrheit der deutschen Bevölkerung ent-
sprechen. So hat man in den Weimarer Grundrechten den Versuch
gemacht, Unvereinbares zu vereinen. Dort fand die bestehende Geistes-
und Sozialordnung der bisher herrschenden Klassen ihre friedliche
Stätte neben den Forderungen der Arbeiterklasse. Die Verfassungsbera-
tungen lassen freilich nicht erkennen, ob man sich allseitig bewusst
war, welch ungeheuren Vorsprung derjenige, der seinen bisherigen

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178 [9.] Das Problem der Verfassung [1929]

sozialen Besitzstand garantiert bekam, vor dem voraus hat, dem nur
die moralische Anerkennung und Berechtigung seiner Forderungen
bezeugt wird. Hier wurden Privateigentum und Sozialisierung, die
freie Schule und die kirchlichen Heilsgüter, Zulassung der weitesten
Schichten zum Beamtentum und weitherzige Garantie der bestehenden
akademischen Beamtenmonopole, der Schutz des selbständigen Mittel-
stands und zugleich die großen Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-Orga-
nisationen anerkannt. Wir wissen nicht, in welchem Maße die Möglich-
keit des Zusammenwirkens aller dieser Kräfte überhaupt bestanden
hat. Die Übergangszeit vom Kapitalismus zum Sozialismus ist eine im
Prinzip verfassungslose Zeit, deren Verfassung nur darin besteht, sie
sich erst zu erkämpfen. Aber auch in einer solchen Zeit und auf der
Grundlage einer vorläufigen »Notgemeinschaft«, – wie sie Deutschland
in den Jahren nach dem Versailler Vertrag tatsächlich dargestellt hat, –
war ein solch friedliches Beieinanderwohnen der entgegengesetzten
Prinzipien nur unter der Voraussetzung möglich, dass mit klarem Wil-
len für das politisch Mögliche und Notwendige die sofortige Verwirk-
lichung der Dinge, die man neu wollte, in Angriff genommen wurde.
Dies unterblieb, und so wurde aus den Grundrechten ein Sammelbe-
cken von Möglichkeiten, denen kein Wille dazu verhalf, zu Wirklich-
keiten zu werden. Die Wirklichkeit der Grundrechte aber veränderte
ihr bürgerliches Aussehen nicht.
So hat die Weimarer Verfassung, die eine Mittlerin werden wollte zwi-
schen West und Ost, zwischen Bürgertum und Sozialismus, sich sehr
schnell zu dem demokratischen Verfassungstypus bürgerlicher Art
zurückgefunden. An dieser Tatsache können Äußerlichkeiten nichts
ändern. Wir aber müssen daraus die Lehre ziehen. Denn wir waren
damals im Begriff, in den entgegengesetzten Fehler zu verfallen wie die
Russen. Sie haben die Bedeutung des Willens als verfassungsbildenden
Faktor überschätzt, wir aber haben ihn damals in Weimar unterschätzt.
Wir haben wohl gesehen, wohin die Entwicklung, sowohl die politische
als auch die ökonomische, ging: aber wir hatten vergessen, dass eine
Verfassung niemals aus dem Niedergang des Alten wie ein Phönix aus
der Asche so entsteht, wie es der Zeit entspricht. Wenn wir heute bei
dem zehnjährigen Jubiläum (kommt von iubilare = jubeln, in Freude
ausbrechen) der Weimarer Verfassung sehen, wie stückweise alles, was
uns an dieser Verfassung gut und schön erschien, in ein Nichts zerflos-
sen ist, so haben wir daraus die Lehre zu ziehen: Nur unser Wollen ist
es, was den Raum schafft für die Verfassung der sozialistischen Wirk-
lichkeit.

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179

[10.]
Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft
der Arbeiterklasse.
Zum Verfassungstag*
[1929]

»So sind die vorhandenen Rechtsverfassungen


Notverfassungen, die besten, die jetzt möglich
sind, nur vorläufige Stufen. Dabei soll es nun
nicht bleiben und wird es auch nicht.«
J. G. Fichte: Staatslehre1
Als Frankreich das absolute Königtum Ludwigs XVI. beseitigt hatte
und die konstitutionelle Regierung einführte, tat es dies durch die Ver-
fassung von 1791. Nachdem »der Berg« über die Gironde, die radikale
über die konstitutionelle Demokratie gesiegt hatte, gab sich Frankreich
eine neue Verfassung. Der Unterschied zwischen diesen beiden Verfas-
sungen, die so kurz aufeinanderfolgten, war geringer als etwa der
Unterschied zwischen dem Erfurter Programm der Sozialdemokrati-
schen Partei und ihrem Heidelberger Programm, obwohl das Heidel-
berger Programm bewusst die Kontinuität mit dem Erfurter Programm
sich herzustellen bemühte, während die 1793 zur Herrschaft gelangte
Bergpartei großen Wert darauf legte, das grundsätzlich Neue und
Andersartige ihrer Verfassung gegenüber der ihrer politischen Feinde
von 1791 zu betonen. Das Geheimnis des Erfolges der Verfassung von
1793 ist es gewesen, dass sie nicht deshalb gegeben wurde, um die Tat-
sache einer vergänglichen und kurzen politischen Herrschaftsperiode
zu bezeugen, sondern dass sie Ausdruck eines ganz bestimmten Wol-
lens, ja noch mehr als das: Ausdruck der Selbstbindung des Wollens
war. Jener radikal demokratische Wille der Konventsverfassung von
1793 war es, der die zerlumpten Heere Frankreichs erfasste und es
ihnen ermöglichte, nicht nur der gemeinsamen Aktion der Reaktion zu
widerstehen, sondern darüber hinaus in ungestümem Siegeslauf ihren

* [Erschienen in: Der Klassenkampf. Sozialistische Politik und Wirtschaft, Jg. 3, 2.


Halbjahresband, Heft 15, Berlin 1929, S. 455-459. – Zu diesem Text vergleiche in
der Einleitung S. 52-55.]
1 [In: Fritz Medicus (Hg.): Johann Gottlieb Fichte, Werke. Auswahl in sechs Bän-
den, sechster Band, Leipzig 1912, S. 444.]

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180 [10.] Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbeiterklasse [1929]

Geist und ihre Macht weit über die Grenzen ihres eigenen Landes hin-
auszutragen.
Als die Weimarer Verfassung entstand, war ebenfalls vorher ein System
gestürzt, aber schon der äußere Unterschied zu den geschilderten Ver-
hältnissen in Frankreich war tiefgreifend und bedeutend. Hier war kein
friedliches Land, dessen heroische Hauptstadtbevölkerung eine Revo-
lution wagte, die nur geistig, nicht aber physisch seit Jahrzehnten vor-
bereitet war; hier war eine Masse müder Soldaten eines durch einen
vierjährigen Vernichtungskrieg geschlagenen und bis aufs Mark ausge-
sogenen Landes. Mit einer ernsten und müden Handbewegung luden
sie eine überfaule, am allgemeinen Elend mitschuldige Herrschaftsord-
nung zum Weggehen ein. Sie vertrauten sich Gruppen an, die sie an
dem allgemeinen Unglück des Landes für unschuldig hielten; diese
boten ihnen Ideen dar, wie die Dinge neu zu gestalten wären. Sie aber
fragten nicht nach dem Gehalt der Ideen, sondern nahmen die
bequemste, die ihnen am zuverlässigsten Friede, Ordnung und Brot
verhieß. Dies wähnten sie am ehesten bei den Mehrheitssozialdemokra-
ten zu finden.
Als die Mehrheitssozialdemokraten ihre Versprechungen verwirklichen
sollten, war das Bürgertum bereits wieder aus seinen Löchern hervor-
gekommen und schloss mit denen, die das Vertrauen der Masse beru-
fen hatte, einen Vernunftfrieden. Als es Zeit war, jenem Zustand eine
feste Form zu geben, vereinbarte man eine Verfassung, deren Träger die
Mehrheitssozialdemokraten, die Demokraten und das Zentrum waren.
Über das Heute hatte man sich geeinigt, das Morgen war sehr fern und
der drohende Wetterschein von Versailles sehr nahe. So entstand die
deutsche Demokratie als Augenblickseinheit der Unterlegenen. Denn
dieser Augenblick der außenpolitischen Behauptungs- und Verteidi-
gungsnotwendigkeit stellte den für die Schaffung einer Verfassung
unerlässlichen Willen her. Darüber hinaus blieb aber alles im Unklaren.
Während die französischen Revolutionsverfassungen ebenso wie die
russische Sowjetverfassung von 1918 ihre Prinzipien förmlich in die
Welt hinausschrien und beide damit große propagandistische Erfolge
erzielten, hatte die Weimarer Verfassung kein Prinzip, das, über den
nationalen Selbsterhaltungswillen hinausgehend, das Volk dauerhaft
zu einer politischen Willensgemeinschaft formiert hätte. Ihr Schicksal
und zugleich ihre Begrenzung war es, nur eine Etappe in der geistigen
Auseinandersetzung zwischen dem Ethos der französischen Revoluti-
onsverfassungen mit ihrem Dreiklang von kapitalistischer Erwerbsfrei-
heit, abstrakter Menschengleichheit und weltferner Brüderlichkeit und

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[10.] Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbeiterklasse [1929] 181

jener unbedingten Demaskierung der bürgerlichen Welt im sowjetrussi-


schen Verfassungssystem zu sein.
Zu etwas geistig Neuem wurde jene Etappe trotz der anerkennenswer-
ten Bemühungen von Friedrich Naumann und Hugo Sinzheimer nicht.
Und an der Verfassung zerbrach zum ersten Male innerlich die Notge-
meinschaft der verfassunggebenden Parteien. Noch war die bürgerliche
Gesellschaft, deren organisatorische Fähigkeiten den Deutschen erst
wieder schmerzlich im Weltkrieg vor Augen geführt worden waren,
mächtig in den meisten Ländern der Welt, und die demokratischen For-
men, deren sie sich nach innen wie nach außen mit Erfolg bediente,
durften über ihren eigentlichen Charakter nicht hinwegtäuschen. Doch
drängten die Ideen des Sozialismus, dessen Anhänger durch die Nie-
derlage der veralteten Verfassungssysteme des mittleren Europa
emporgekommen waren, nach Verwirklichung oder doch mindestens
nach Anerkennung. Dem musste die Weimarer Verfassung Rechnung
tragen. Sie sollte, ohne dass schon eine endgültige Machtentscheidung
über die zukünftige innere Gestaltung des Staates gefallen war, über
die Prinzipien befinden, nach denen dieser Staat regiert werden sollte.
Damit hat man ihr aber etwas zugemutet, was über die Grenzen einer
Verfassung hinausgeht. Eine einmal gefallene Entscheidung kundzutun
und in ihrer ganzen Bedeutung herauszustellen, ist vorzüglich die Auf-
gabe einer Verfassung. Wenn aber eine klare Willensentscheidung noch
nicht gefallen ist, so ist es müßig, ein Kollegium mit Zweidrittelmehr-
heit darüber abstimmen zu lassen, in welche Richtung sich diese Ent-
scheidung wohl vollziehen könnte. Das aber tat die Weimarer National-
versammlung. Denn die Verfassung eines Volkes kann sich nicht allein
auf den äußeren Behauptungswillen beziehen, es muss etwas vorhan-
den sein, für das und in dessen Namen man sich behauptet. Da aber
zur Zeit der Weimarer Verfassungsschöpfung über die inneren Prinzi-
pien, die den deutschen Staat beherrschen sollten, kapitalistische oder
sozialistische Demokratie, noch nicht entschieden war, begnügte man
sich im Werk von Weimar damit, einen Katalog derjenigen Prinzipien
anzulegen, die möglicherweise die Grundlage des neuen Staates bilden
konnten. Die Entscheidung darüber, welches das wirklich herrschende
Prinzip werden sollte, überließ man der Zukunft.
So kam jener eigenartige Katalog von Grundrechten zustande, der in
der bisherigen Verfassungsgeschichte seinesgleichen sucht. In ihm fand
die bestehende Geistes- und Sozialordnung der bisher herrschenden
Klasse ihre friedliche Stätte neben den Forderungen der Arbeiterklasse.
Die Verfassungsberatungen lassen freilich nicht erkennen, ob man sich

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182 [10.] Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbeiterklasse [1929]

allseitig bewusst war, welch ungeheuren Vorsprung derjenige, der sei-


nen Status quo garantiert bekam, vor dem voraus hatte, dem nur die
moralische Anerkennung und Berechtigung seiner Forderungen testiert
wurde. Hier wurden Privateigentum und Sozialisierung von Unterneh-
mungen und Grund und Boden, die freie Schule und die kirchlichen
Heilsgüter, allgemeine Ämterbefähigung und weitherzige Garantie der
bestehenden Beamtenmonopole, der Schutz des selbständigen Mittel-
stands und zugleich die großen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorgani-
sationen anerkannt. Dieses Sammelbecken möglicher Verfassungsstruk-
turen entsprach den politischen Machtverhältnissen in der augenblick-
lichen Lage, wie sie im Sommer 1919 bestand. Die Entscheidung über
den inneren Aufbau der deutschen Verhältnisse war hinter der Frage
seiner äußeren Behauptung zurückgetreten. Ob dies notwendig war, ist
heute nicht mehr zu entscheiden; immerhin ist es Frankreich 1793 und
Russland 1917-1919 gelungen, beiden Problemen, sowohl der äußeren
Behauptung als auch der inneren Herrschaftsgewinnung, gerecht zu
werden.
Auch im außerdeutschen Bereich war die in Fluss gekommene Frage,
welche Stellung der Sozialismus in Zukunft einnehmen sollte, noch
nicht endgültig entschieden; so beließ man es einstweilen beim Alten,
ohne deshalb das Neue hindern zu wollen. Man dachte freilich kaum
daran, dass die auch nur vorübergehende Sanktionierung des Alten,
die Weiterbeschäftigung der alten Amtsträger auf der einen Seite, die
Durchsetzung des neuen Systems, falls es wirklich dazu kommen sollte,
hemmen musste, während es auf der anderen Seite die Rückkehr des
Alten ungebührlich zu erleichtern geeignet war, wie die Nachzeit aufs
Exakteste bewies. Im Übrigen ließ die entscheidende Wendung nicht
lange auf sich warten, wenn auch die Etappen ihrer äußeren Sichtbar-
machung vielen erst heute völlig klar werden. Seit dem Zeitpunkt, der
symptomatisch etwa durch die nach anfänglichen Siegen erfolgte voll-
kommene Niederlage Russlands im Polenkrieg im Frühjahr 1920
bezeichnet wird, war die vorläufige Niederlage des Sozialismus in der
ganzen Welt besiegelt; denn durch jenes Ereignis, durch das den westli-
chen Expansionsbestrebungen Sowjetrusslands mit einem Schlage ein
Ende gesetzt wurde, war die Bourgeoisie Europas der Notwendigkeit
enthoben, ihr wahres Gesicht hinter einer sozialen und demokratischen
Maske zu verbergen. Langsam setzte die Reaktion ein, auf deren Höhe-
punkt wir uns heute befinden. Noch einmal gelang es zu derselben Zeit
der vereinten Kraft der deutschen Arbeiterklasse, des ersten stürmi-
schen Ansturmes der Reaktion im Kapp-Putsch Herr zu werden; aber

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[10.] Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbeiterklasse [1929] 183

sie befand sich schon damals in der Defensive, und ihre innere Unei-
nigkeit ließ es zu einer Ausmünzung jenes Sieges nicht mehr kommen.
Hatte das Bürgertum es bis dahin als seine Aufgabe aufgefasst, seinen
Status quo vorläufig aufrechtzuerhalten, was ihm auch gelang, so ging
es jetzt zu jenem Gegenangriff über, der umso gefährlicher war, als er
sich nicht mehr in der von nun ab den Kommunisten vorbehaltenen
Taktik des Putsches, sondern in der friedlichen Form der republikani-
schen Zusammenarbeit oder mit der versteckten Drohung der nationa-
len Wiedergeburt vollzog. So wurde der Achtstundentag unter dem
Jubelgeschrei der Unternehmer beseitigt. In jener Zeit veränderte sich
auch die Stellung des Betriebsrätegesetzes im Gesamtaufbau der deut-
schen Sozialwirtschaft; aus dem hoffnungsvollen Beginnen eines wirt-
schaftsdemokratischen Zeitalters, als das es Hugo Sinzheimer in der
Weimarer Nationalversammlung feierte, wurde ein reines Abwehrmit-
tel der Arbeiterschaft gegen eine allzu rücksichtslose Herr-im-Hause-
Politik der Unternehmer. Weiterhin gestaltete das Deutsche Reichsge-
richt, das überhaupt am konsequentesten die Verteidigung und Wie-
derherstellung der bürgerlichen Herrschaft als aussichtsreiche Aufgabe
begriff, den Enteignungsartikel der Reichsverfassung, mit dem eben
noch Traumsozialisten den bürgerlichen Staat legal aus den Angeln
heben wollten, zu einem stärkeren Bollwerk des Privatkapitalismus
aus, als es im kaiserlichen Deutschland je bestanden hatte. – Und das
Bildungswesen des neuen Staates, von dem man, wenigstens was die
Volksmassen anbetrifft, viel Gutes erwartet hatte, verewigte anstatt des
realen Querschnittes der Klassenlage das Prinzip der konfessionellen
Gliederung.
Dem Sozialismus aber, der in der Phantasie seiner Feinde schon die
Verfassung beherrschte, wurde vom Bürgertum, auch nach Wiederher-
stellung seiner Vormachtstellung, großmütigst der Weg zur Staatsver-
antwortlichkeit freigegeben, einer Staatsverantwortlichkeit, deren posi-
tive Seite auf gut Deutsch Anteil an der Ämterpatronage bedeutete. Der
Sekretär war schon in Bismarcks Reich ein unsichtbarer Herrscher;
während seiner Amtszeit schrieb und schreibt er immer noch Kommen-
tare zu den Ordnungen, die er auf das Papier gebracht hat; nach dem
Ablauf seiner Amtszeit wird er Aufsichtsrat oder Angestellter im Pri-
vatdienstverhältnis. Der Politiker, der nur in der Sphäre des Öffentli-
chen lebt, glaubt, ihn zu benutzen, und wird in der Mehrzahl aller Fälle
von ihm benutzt. Solange Bismarck in Deutschland regierte und selbst
die Minister rechtlich und tatsächlich nichts anderes als seine Sekretäre
waren, bestand eine Konformität der Ziele; denn ihnen gemeinsam war

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184 [10.] Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbeiterklasse [1929]

das Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo. Nach der Revo-
lution traten die bürokratischen Minister ab, und an ihre Stelle traten
die parlamentarischen. Der bürokratische Minister besaß in manchen
Fällen noch den Vorzug der Sachkenntnis, von der der parlamentari-
sche durchschnittlich unbelastet ist. Die Macht der Bürokratie wuchs
unheimlich schnell, während ihr geistiges Leitmotiv intakt blieb; sie
selbst nannte es: Erhaltung der Kontinuität des Staatslebens, in Wirk-
lichkeit heißt es: Wahrung ihrer eigenen Unersetzlichkeit im bürgerli-
chen Staat. An diesen Tatsachen hat der Eintritt einiger Sozialisten in
die Reihen jener Bürokratie nichts geändert; teils brachten sie schon
von Anfang an ein prächtiges Anpassungsvermögen mit, teils entwi-
ckelte sich diese allgemeinmenschliche Fähigkeit bei ihnen unter dem
Druck ihrer Amtsumgebung so schnell, dass heute das Experiment der
Eingliederung des Sozialismus in den Staatsapparat vom Standpunkt
der Bourgeoisie aus als gelöst betrachtet werden kann.
Für den Sozialismus bleibt dieses Ergebnis unbefriedigend. Es hat aufs
Neue gezeigt, dass auch im demokratischen Staat die Eroberung einer
Staatsmacht im Verwaltungsweg nicht durch einen quotenmäßigen
Anteil an Amtsstellen erreicht wird. Nur die planmäßig von unten,
nicht von oben aus betriebene Ersetzung eines alten Funktionärkörpers
durch einen vollkommen geistig neuen gibt einer Politik, falls sie tat-
sächlich den Willen zum Sozialismus haben sollte, die Chance seiner
Durchsetzung.
So weist das Gesicht des neuen Deutschlands für uns wenig hoffnungs-
volle Züge auf, angesichts derer man sich ernsthaft die Frage vorlegen
muss, warum große Teile des deutschen Bürgertums den heutigen Ver-
fassungszustand verwerfen und nach der bürgerlichen Diktatur
schreien. Denn jedes Wahlergebnis zeigt ihnen doch aufs Neue, dass sie
eine Änderung der für sie günstigen Zustände nicht einmal willens-
mäßig von einem größeren Bevölkerungsteile zu befürchten haben. Sie
aber wollen den Umsturz; denn ihnen fehlt das Gefühl der letzten
Sicherheit und der Verlässlichkeit für den letzten, den entscheidenden
Augenblick. Gewiss, es ist sehr fraglich, ob sie den Sozialkörper
Deutschlands überhaupt grundlegend zu ändern versuchten, ob die
Scharfmacher den Einfluss behalten würden, den sie heute besitzen.
Entscheidend aber ist nicht das Maß dieser Sozialpolitik, sondern die
Gesichtspunkte, von denen aus sie gemacht wird. Und die Sozialpolitik
der bürgerlichen Diktatur wäre nur von den Interessen einer imperia-
listischen Außenpolitik bestimmt, zu deren innenpolitischem Handlan-
ger sie herabsinken würde. Nicht ob die Sozialdemokratie ein staatsbe-

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[10.] Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbeiterklasse [1929] 185

jahendes und den Verteidigungskrieg genehmigendes Wehrprogramm


besitzt, ist für sie wichtig; denn dieses sagt nichts darüber aus, was die
Massen der Sozialdemokratischen Partei im einzelnen Fall zu bewilli-
gen bereit sind. So bedeutet die bürgerliche Diktatur eine Änderung
nicht in den einzelnen Dingen; sie ist, wie das System Mussolinis zeigt,
nur eine absolut zuverlässige Zusammenfassung und Beherrschung
aller Kräfte im Lande im Sinne der bürgerlichen Politik. Um diese
Gesamtbeherrschung ringt das Bürgertum in Deutschland heute noch.
Gewiss, die Sozialdemokratie hat in allen einzelnen Forderungen dem
Bürgertum eine staunenswerte Nachgiebigkeit bezeigt; aber das ist es
nicht, worum es geht. Die deutsche Sozialdemokratie betreibt eine
aktive Wehrpolitik, aber um die letzte Entscheidung, wozu diese Wehr-
politik dienen soll, will sie nichts wissen und sie der nächsten Genera-
tion vorbehalten; das Bürgertum aber kämpft gerade darum, dass diese
Entscheidung nicht vertagt wird, da es die heutige Generation der Sozi-
aldemokratie kennt und geistig zu beherrschen gelernt hat, die Ent-
scheidung der zukünftigen aber noch in der Dunkelheit liegt. Die
Mehrheit der Sozialdemokratischen Partei will einer gesamtpolitischen
Entscheidung, wie sie wenigstens willensmäßig die heutige geistige
und tatsächliche Lage dringend verlangt, ausweichen. Da sie das
Gefühl hat, nicht vorwärtsstoßen zu können, will sie wenigstens den
Status quo aufrechterhalten – wenn es sein muss sogar mit den Mitteln
der Diktatur. Dieses Ausweichen aber ist unmöglich, es gibt nur ein
Vorwärts oder ein Rückwärts.
Und dieses Bewusstsein, dass es ein Vorwärts gibt, müssen wir erst
erkämpfen; denn bis jetzt haben wir noch nicht gelernt, uns über das
Heute zu erheben. Wie um das Goldene Kalb sind wir um die reine
Faktizität, das, was gerade ist, herumgetanzt und sind jene Realpoliti-
ker geworden, die mit jedem Stück des vergänglichen Heute immer
auswegloser die Zukunft sich verbauen. Man verspottet heute die Uto-
pie, weil sie nur etwas über das Morgen aussagt, man hat bisher nicht
begriffen, dass es zwischen heute und morgen keine Grenze gibt. Die
Utopie von heute, das ist die Wirklichkeit von morgen. Und das
Bewusstsein davon, dass in dieser Utopie von heute das Morgen ent-
halten ist, das ist die werbende Kraft der Utopie. So stehen auch wir
heute, genau wie vor vielen Jahren, wieder am Anfang, wir müssen
wieder wollen lernen.
Wenn am 11. August der Tanz um die Verfassung beginnt, wenn jeder
ihrer Verehrer ihr seine Wünsche in den Mund legt und voller freudi-
ger Genugtuung darauf verweist, dass sein Wunsch in ihr Erfüllung

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186 [10.] Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbeiterklasse [1929]

gefunden hat, so begeht jeder dieser Redner eine intellektuelle Unehr-


lichkeit. Die Verfassungsurkunde bleibt weiterhin das Buch der Mög-
lichkeiten; über die Wirklichkeit konnte sie deshalb nicht entscheiden,
weil der, der alle Möglichkeiten kennt, nicht mehr den Willen zur Wirk-
lichkeit besitzt. Wir aber müssen weiterdenken. Wenn die Sommerfreu-
den der Koalition verrauscht sind und der raue Herbst einzieht ins
Land, dann muss er uns bereitfinden für das große Morgen, das wir in
diesen Jahren gewinnen oder auch unwiederbringlich verlieren kön-
nen.

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187

[11.]
50 Jahre Deutsches Reichsgericht*
[1929]

Im Jahre 1879 beschloss der Reichstag des Bismarck’schen Reiches, dass


das im Oktober dieses Jahres zu errichtende Reichsgericht nicht in Ber-
lin, sondern in Leipzig seinen Sitz haben solle. Für diesen Beschluss des
gewiss damals nicht sehr fortschrittlich gesinnten Reichstags war aus-
schlaggebend die Rolle, die das preußische Obertribunal gespielt hatte,
vor dessen unrühmlichen Schicksal man das neue Gericht des geeinten
Reichs bewahren wollte. Man wollte verhüten, dass dieser höchste
Gerichtshof unter eine allzu starke Abhängigkeit des Herrschers Bis-
marck komme. Die Absicht des Reichstags war gut, doch er unter-
schätzte die Macht der mittelbaren Einflüsse, die oft ungleich wirksa-
mer sind als die starre Beziehung zwischen Vorgesetzten und Unterge-
benen. Die räumliche Entfernung wurde nicht zu einer geistigen.
Wenn wir die Entwicklung der Rechtsprechung des deutschen Reichs-
gerichts in den letzten 50 Jahren betrachten, so müssen wir feststellen,
dass sie ein getreues Spiegelbild der Anschauungen und Vorstellungen
der in Deutschland herrschenden Klassen liefert. Aus diesem Kreis her-
auszutreten, hat das Reichsgericht niemals versucht, und es hat es nie
für seine Aufgabe gehalten – was ja angesichts einer auf alle Bevölke-
rungskreise sich erstreckenden Tätigkeit sehr nahe gelegen hätte, – zur
Weiterentwicklung des Rechts der bürgerlichen Klasse zu einem Sozial-
recht die Hand zu bieten.
Und wenn wir heute aus dem Munde der höchsten Richter vernehmen,
dass das Reichsgericht die Gesetze nicht blindlings anzuwenden habe,
dass es sie auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundnormen der Verfassung
(worunter das Reichsgericht immer nur die bürgerlichen Bestandteile
der deutschen Reichsverfassung, niemals die sozialistischen versteht)
nachzuprüfen habe, so ist diese neue Einstellung des Reichsgerichts
nicht als eine Wandlung in seiner Gesinnung und Anschauung zu
betrachten. O nein, der dem bloßen Auge des Beschauers erstaunliche
Wandel, der kühne Sprung, mit dem sich das Reichsgericht zu einem
höchst zweifelhaften Hüter der Verfassung aufwirft, sein Respekt vor

* [Erschienen in: Mühlhäuser Volksblatt: General-Anzeiger, Organ zur Wahrung


der Interessen des gesamten werktätigen Volkes, Nr. 230, 1. Oktober 1929, Mühl-
hausen. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 43-46.]

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188 [11.] 50 Jahre Deutsches Reichsgericht [1929]

der Verfassung, der sich in seiner Neigung ausdrückt, der Arbeiter-


schaft günstige Gesetze nach dem Vorbild des höchsten Gerichtshofs
der Vereinigten Staaten auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu prüfen
und ihnen die Anwendbarkeit zu versagen, datiert merkwürdigerweise
erst seit dem November 1918. Sein Amt als Hüter der Verfassung ent-
deckte das Reichsgericht damals, als die Arbeiterschaft maßgebenden
Einfluss auf die Gesetzgebung gewann.
In der Vorkriegszeit fanden alle gegen die Arbeiterschaft gerichteten
Gesetze vor den Augen der höchsten Gerechtigkeit Gnade, und nie
hätte es dieser Gerichtshof gewagt, die unter der kaiserlichen Firma
entstandenen Gesetze nachprüfen zu wollen.
Im Grunde haben sich die im Reichsgericht herrschenden Tendenzen
seit 1919 nicht geändert. Die Monarchie fiel, es kam die Republik. Das
Reichsgericht blieb der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht, es
blieb der sicherste Hort bürgerlicher Lebens- und Weltauffassung. Wie
kann es auch anders sein? Kann ein Gericht Träger des sozialen Fort-
schritts sein, was stets mit Richtern besetzt ist, die aktiv Angehörige der
bürgerlichen Klasse sind, die – mögen sie auch teilweise in ihrer Jugend
noch nicht Angehörige der begüterten Klasse gewesen sein – in ihrer
langen Laufbahn Fleisch vom Fleisch der Bürokratie geworden sind? Es
war es selbstverständlich auch vor dem Kriege nicht. Damals war es
das Reichsgericht, das den traurigen Ruhm des Sozialistengesetzes mit-
begründen half, das das Koalitionsrecht der Arbeiterschaft mit straf-
und zivilrechtlichen Mitteln wacker mit zu unterdrücken sich bemühte
und das in jeder Zeile seiner dicken Entscheidungsbände den Geist
jener korrekten Bürgerlichkeit ausatmete, von dem sein Weg zur Arbei-
terschaft führte.
War es aber damals nur ein Glied, und nicht einmal ein sehr bedeuten-
des im Reich der bürgerlichen Autorität, so hat sich seine soziologische
Stellung seit 1918 grundlegend geändert. Heute ist das Reichsgericht zu
einer ganz anderen Macht geworden. Manche Stützen des Bürgertums
sind nicht mehr, das Reichsgericht blieb und erlangte durch seinen
Anspruch, Hüter der Verfassung sein zu wollen, eine Bedeutung, die
durch eine unglückliche Gesetzgebung auf dem Gebiet der politischen
Strafverfahren nur noch verstärkt wurde.
Schon im Jahre 1920 zeigte es sich, dass das Reichsgericht die festeste
und zuverlässigste Stütze des deutschen Bürgertums war. Die Gleich-
mütigkeit, mit der es den Wechsel der Staatsformen ertrug, zeitigte
sofort für viele aktive Mitkämpfer der Revolution ein trauriges Nach-

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[11.] 50 Jahre Deutsches Reichsgericht [1929] 189

spiel; denn als Quittung dafür belegte das Reichsgericht die Arbeiter-
und Soldatenräte mit einer ausgedehnten zivil- und strafrechtlichen
Haftung. Damals war es auch, als das Reichsgericht mit einem vom
bürgerlichen Standpunkt aus bewundernswerten Aufwand von Mut
und Entschlossenheit die ersten Landesgesetze, die das Privateigentum
beschränken wollten, für mit der Reichsverfassung nicht vereinbar
erklärte. Seit dieser Zeit hat das Reichsgericht, was in der breiten
Öffentlichkeit durchaus nicht genügend bekannt ist, einen zähen und
unerbittlichen Kampf zum Schutz des Privateigentums geführt. Es hat
mit Hilfe des Satzes von der Gleichheit vor dem Gesetz, der alles
andere bedeutet, als das, was bürgerliche Juristen heute mit ihm zu
beweisen suchen, das Privateigentum vor allen Eingriffen der Gesetzge-
bung in einem Umfang geschützt, wie es dies in der Zeit der konserva-
tiven Staatsherrschaft nie getan hat. Neben dieser Vorliebe für den
Eigentumsschutz hat das Reichsgericht bekanntlich in letzter Zeit eine
fast rührend zu nennende Anhänglichkeit an die Vorrechte des Adels
bewiesen, als es die Ehe eines deutschen Herzogs mit einer amerikani-
schen Botschafterstochter für eine »Missheirat« im Sinne, nach Ansicht
des Reichsgerichts, von immer noch gültigen Adelsgesetzen erklärte.
Diese Dinge sind nicht gering einzuschätzen und werfen ein grelles
Schlaglicht auf die Einstellung unseres höchsten Gerichtshofes, wenn
sie auch in der Öffentlichkeit viel weniger beachtet werden als die
eigentliche politische Tätigkeit des Reichsgerichts und die der Berufs-
richter im früheren Staatsgerichtshof. Hier hat es im Reichsgericht
immer nur eine Ansicht gegeben. Und diese Ansicht bestand darin,
dass man es für unbedingt notwendig hielt, alle nationalen Belange,
wie sie dem Gerichtshof durch Vermittlung einer rührigen Reichsan-
waltschaft von den Reichwehrkreisen schmackhaft gemacht wurden,
ein für alle Mal mit dem roten Mantel der reichsgerichtlichen Gerech-
tigkeit zu bedecken. Damit war naturgemäß von Anfang an ein Wertur-
teil darüber gefällt, wer in Deutschland als ein ehrlicher und anständi-
ger Mensch und wer als ein gemeingefährlicher Verbrecher zu gelten
habe. Klassisch wird dieses Werturteil in einer Entscheidung des vier-
ten Strafsenats von 1927 ausgedrückt. Dort heißt es: »Der Senat hat
immer den Standpunkt vertreten, dass die Zersetzungsarbeit der KPD
in der Reichswehr besonders staats- und gemeingefährlich ist und dass
derjenige, der die Reichswehr zersetzt, regelmäßig aus einer ehrlosen
Gesinnung handelt, weil er damit das Staatsgebäude unterhöhlt und es
unternimmt das deutsche Volk in ein neues, in seinen Folgen unabseh-
bares Unglück zu stürzen.« Mit dieser Feststellung war die verschie-
dene Auffassung und Beurteilung gegenüber radikalen Gruppen von

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190 [11.] 50 Jahre Deutsches Reichsgericht [1929]

links und rechts ein für alle Mal gegeben. Der Kommunist war der
Feind der bürgerlichen Ordnung schlechthin, der nach der Auffassung
des Reichsgerichts deshalb, weil er diese Ordnung umstoßen will, eine
ehrlose Gesinnung zeigt. Dass es auch außerhalb der bürgerlichen
Rechtsordnung eine anständige Gesinnung gibt, ist für das Reichsge-
richt also in der Regel ausgeschlossen. Der Staatsfeind von rechts aber
wird vom Reichsgericht, da er ja kein Feind der bürgerlichen Ordnung
ist, sondern nur ein Gegner der gegenwärtigen Form der bürgerlichen
Ordnung, der parlamentarischen Demokratie, als ein anständiger
Mensch angesehen. Bekannt in dieser Hinsicht ist die Anklageschrift
des Oberreichsanwalts a. D. Ebermayer, des Vorstandes der Behörde,
die Herrn Jörns zu ihrem rührigsten Mitglied zählte. Die Anklage-
schrift Ebermayers in Sachen der Organisation Consul wird für alle
Zeiten als Muster einer klassischen Verteidigungsschrift weiterleben.
Über die auf Grund der geschilderten Auffassung ausgeübte Tätigkeit
des Reichsgerichts in Hoch- und Landesverratssachen braucht hier
nicht näher gesprochen zu werden; sie ist nicht nur in der Arbeiter-
schaft bis weit hinein in bürgerliche Kreise auf erbitterte Ablehnung
gestoßen. Die am Reichsgericht in politischen Prozessen geübte Technik
ist derjenigen Sowjetrusslands in dieser Materie ebenbürtig. Die Bestra-
fung auf Grund aktiver Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei, die
mittelalterliche Bestrafung von Druckern für Zeitungsartikel, die
Bestrafung des Vortragens revolutionärer Gedichte stehen auf dersel-
ben Linie wie die dort mit so viel Erfolg vorgenommene Hilfsarbeit zur
Tarnung der Schwarzen Reichswehr. Niemand hat die mitleidlose Auf-
rechterhaltung der heutigen Gesellschaftsordnung ernster genommen
als das deutsche Reichsgericht. Es hat seine eigenen Maßstäbe. Mag
sogar manchmal die Reichsanwaltschaft heute die Verfehltheit dieser
Urteile einsehen und Freispruch oder milde Strafen beantragen, das
Reichsgericht hat bisher darauf nicht reagiert. Der ›Hüter der Verfas-
sung‹ hütet nach eigenen Maßstäben.
50 Jahre Reichsgericht und davon 10 Jahre in der Republik! Wenn wir
uns vorstellen wollen, was das bedeutet, müssten wir alle Tausende
proletarische Kämpfer an uns vorbeiziehen lassen, die in diesen 50 Jah-
ren der ach so fragwürdigen Gerechtigkeit dieses Gerichtshofes zum
Opfer gefallen sind. Gewiss, manche von ihnen, und namentlich in den
letzten 10 Jahren, sind Wege gewandelt, die wir nicht für gut heißen
können. Wir aber wollen heute darüber nicht rechten und uns dessen
bewusst sein, dass auch der Proletarier, der irregeleitet diesem Gericht
in die Hände fällt, uns angeht. Und wir glauben nicht, dass irgendeine

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[11.] 50 Jahre Deutsches Reichsgericht [1929] 191

andere Macht als die der Arbeiterschaft hier grundlegenden Wandel


schaffen wird. Freilich sind auch Personalreformen erwünscht, und
man fragt sich vergeblich, was in dieser Hinsicht doch das maßgeblich
sozialistisch beeinflusste Preußen getan hat; denn bekanntlich werden
die Richter am Reichsgericht auf Vorschlag des Reichsrats, und das
heißt unter maßgeblichem Einfluss Preußens, ernannt. Entscheidenden
Wandel wird aber auch hier erst die Herrschaft des Sozialismus brin-
gen. Nur sie kann bewirken, dass dieses Gericht nicht auch noch zum
Schaden der arbeitenden Klasse seinen hundertsten Geburtstag feiert!

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192

[12.]
Die Englische Arbeiterbewegung*
[1929]

Englands Labour Party steht nicht so lange in dem hellen Licht der
geschichtlichen Wirklichkeit wie die deutsche Sozialdemokratische Par-
tei. Trotzdem ist es gerade heute für uns von großer Wichtigkeit und in
Anbetracht der englischen Arbeiterregierung besonders aktuell, etwas
über die Entwicklung der heutigen Labour Party zu erfahren. Diesem
unleugbaren Bedürfnis, zu dessen Befriedigung uns bisher neben der
klassischen Schrift von Friedrich Engels über die Lage der arbeitenden
Klassen in England1 und dem etwas veralteten Werk von Max Beer2 nur
die dem deutschen Leser ob ihrer ganzen geistigen Einstellung immer
fremd gebliebenen Werke des Ehepaars Sydney und Beatrice Webb3 zur
Verfügung gestanden haben, kommt das gründliche und von marxisti-
schen Gesichtspunkten ausgehende Werk des heute in Moskau leben-
den Forschers Theodor Rothstein in jeder Weise entgegen. Die »Beiträge
zur Geschichte der Arbeiterpartei in England«4 (Marxistische Bibliothek Bd.
II, Verlag für Literatur und Politik 1929) geben ein auf streng marxisti-
schen Grundlegungen und auf genauen Kenntnissen der einschlägigen
Literatur, insbesondere der damaligen Zeitungsliteratur aufgebautes
Bild der Anfänge der englischen Arbeiterbewegung bis zur Mitte des
vorigen Jahrhunderts.
Die erbitterten Kämpfe, die der Chartismus in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts gegen das englische Bürgertum auszufechten hatte, sind
ganz anders einzuschätzen als die in der gleichen Periode stattfinden-
den Kämpfe des französischen Proletariats; denn obwohl die theoreti-
sche Einsicht in das Wesen der Klassenverhältnisse in Frankreich weiter
fortgeschritten war als in England, trug die Bewegung der englischen
Arbeiterschaft trotz ihrer mangelhaften theoretischen Fundierung einen
viel ausgesprocheneren Klassencharakter.

* [Erschienen in: Jungsozialistische Blätter, Jg. 8, Heft 12, Berlin 1929, S. 367-369. –
Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 56-57.]
1 [Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klassen in England, Leipzig 1845.]
2 [Geschichte des Sozialismus in England, Stuttgart 1913.]
3 [Siehe: Die Geschichte des britischen Trade Unionismus, Stuttgart 1906.]
4 [Theodor Rothstein: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterpartei in England, Ber-
lin 1929.]

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[12.] Die Englische Arbeiterbewegung [1929] 193

Es waren, wie der Verfasser eingehend nachweist, hauptsächlich wirt-


schaftliche Gründe, die dazu führten, dass um die Mitte des letzten
Jahrhunderts mit den Fraternal Democrats die selbständige politische
Bewegung der Arbeiterklasse auf längere Sicht zu Ende ging. Im
Gefolge der Prosperität Englands bekamen auch die Arbeiter eine,
wenn auch nur sehr geringe Quote des nationalen Reichtums; aber eine
Quote, die immerhin dazu ausreichte, dass die Trade Unions, die wirt-
schaftliche Vertretung der arbeitenden Bevölkerung, ihr Heil in einer
strengen Beschränkung auf die wirtschaftlichen Erfordernisse der
Arbeiterschaft suchte. Wir finden jenen Satz Rothsteins von unsern
deutschen Verhältnissen aus gesehen paradox: »Jeder einzelne Arbeiter
konnte in seinem Privatleben sich auch mit Politik befassen, sobald er
sich aber mit anderen Arbeitern zusammenschloss, hörte er im Rahmen
der Organisation auf, politisch zu sein.«5 Doch in England besaß dieser
Satz bis über die Jahrhundertwende hinaus Geltung und führte dazu,
dass die Arbeiter ihr politisches Vertrauen ihrem eigentlichen Klassen-
gegner, der Liberalen Partei, schenkten. Dass die Praxis der Trade Uni-
ons und ihrer Führer, die jeden Konflikt mit dem Bürgertum zu vermei-
den suchten, sich so lange in England halten konnte, führt der Verfasser
hauptsächlich darauf zurück, dass im letzten Viertel des 19. Jahrhun-
derts der englische Arbeiter trotz eines fast nie erhöhten Nominalloh-
nes als Nutznießer der damaligen Weltmarktlage tatsächlich im Ver-
gleich zu der Mitte des Jahrhunderts einen oft um 40 % höheren Real-
lohn erhielt.
Es war klar, dass die Arbeiterpartei in der damaligen Zeit schon wegen
des mangelnden Verständnisses der Gewerkschaften eine politische
Bedeutung überhaupt nicht besaß. Erst mit diesem Jahrhundert, mit
dem sprunghaften Anschnellen der Warenpreise, denen keine entspre-
chende Erhöhung der Nominallöhne folgte, konnte die alte Trade Unio-
nistische Politik nicht mehr beibehalten werden. Die Radikalisierung
und Politisierung der Gewerkschaften war es, die der Politik der engli-
schen Arbeiterpartei nach der Meinung des Verfassers erst ihren neuen
Sinn geben konnte. Am Vorabend des Weltkriegs hatte sich ein revolu-
tionäres Bewusstsein in der Arbeiterschaft herausgebildet, das freilich
im Kriege zurückgedrängt wurde, ein Bewusstsein aber, von dem der
Verfasser meint, dass es unaufhaltsam, wenn auch langsam die ganze
Masse ergreifen werde.
Nur eine tiefe Kenntnis der Geschichte der Labour Party bietet die
Grundlage zur Erfassung ihrer heutigen Gestalt. Deshalb ist es kein

5 [A. a. O., S. 257.]

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194 [12.] Die Englische Arbeiterbewegung [1929]

Zufall, dass Egon Wertheimer, der Verfasser der Schrift »Das Antlitz der
britischen Arbeiterpartei«,6 Dietz-Verlag 1929, im Wesentlichen in seinem
Bild der heutigen britischen Arbeiterpartei den Beweis dafür liefert,
dass Rothstein die Geschichte der Partei richtig dargestellt hat. Gewiss
verteilen Egon Wertheimer und Rothstein Licht und Schatten im entge-
gengesetzten Sinne; denn der eine ist ein bolschewistischer Schriftstel-
ler, während der andere im Dienste der sozialdemokratischen Presse-
korrespondenz steht. Das ändert nichts daran, dass Wertheimer in
gewisser Hinsicht das Rothstein‘sche Buch vervollkommnet und ver-
deutlicht.
Wertheimer stellt fest, dass die heutige Labour Party einerseits aus
einer rein praktisch orientierten Gewerkschaftsbewegung, deren höchst
zweifelhaften politischen Wert Rothstein uns glänzend enthüllt hat,
herausgewachsen und dass sie andererseits aus drei oder mehr bedeu-
tenden politischen Studiengesellschaften, die ihr das intellektuelle
Material lieferten, entstanden ist. Damit ist mit aller Deutlichkeit der
Unterschied zur deutschen Organisationsform hervorgehoben, die, von
einer politischen und geistigen Elite ausgehend, um ihr Programm die
Massen sammelt. Ein wenig zögernd dringt der Verfasser zur Erkennt-
nis vor, dass die englische Partei geistig und kulturell ein viel weniger
homogenes und umfassendes Gebilde ist als die deutsche oder österrei-
chische Partei. In ihr ist in jeder ihrer einzelnen Handlungen wie in
ihrem Gesamtgebaren die alte, der englischen Arbeiterschaft bereits
früher so verhängnisvolle Ideologie des Liberalismus zu bemerken, die
die Partei nur als eine Organisationsform für das Politisch-Staatliche
ansieht. Sie erhebt keinen Anspruch auf Ausschließlichkeit und duldet,
da sie weder organisationsmäßig noch geistig Lebensgemeinschaft ist,
die gleichzeitige Zugehörigkeit ihrer Mitglieder zu anderen Organisa-
tionen.
Der Verfasser hat diese Tatsachen gesehen. Er hat auch richtig die ganz
andere Einstellung der britischen Arbeiterpartei gegenüber dem Staat
erkannt. Es ist bedauerlich, dass die Frage nach dem proletarischen
Kampfwert der Labour Party überhaupt nicht in seinen Gesichtskreis
getreten ist. Er schweigt überhaupt dort, wo eine Fortsetzung des Roth-
stein‘schen Buches nötig wäre, dessen ökonomische Betrachtungsweise
auf noch viel breiterer Grundlage hätte fortgeführt werden müssen.
Wertheimers Buch fehlt, wie der Verfasser selbst im Vorwort zugibt, ein
Kapitel über die Außen- und die Kolonialpolitik. Der Verfasser irrt,

6 [Egon Ferdinand Ranshofen-Wertheimer: Das Antlitz der britischen Arbeiterpar-


tei, mit einer historischen Einleitung von G.D.H. Cole, Stuttgart 1929.]

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[12.] Die Englische Arbeiterbewegung [1929] 195

wenn er meint, dass ihm nur ein Kapitel fehle, es fehlt ihm leider mehr.
Denn Außen- und Kolonialpolitik ist für die britische Arbeiterpartei
nicht nur ein Kapitel, es ist ihr Schicksal. Schon der Historiker Rothstein
hätte die Frage nach dem Verhältnis der britischen Arbeiterschaft zum
British Commonwealth zweckmäßigerweise zur Beurteilung der Ver-
gangenheit herangezogen, derjenige, der die heutige Gestalt der briti-
schen Arbeiterpartei schildern wollte, musste diese Frage aufwerfen.
Wie man sie beantwortet, mag dahinstehen; mindestens aber muss man
verlangen, dass Klarheit über die willensmäßige Entscheidung der bri-
tischen Arbeiterschaft erstrebt und ein Versuch der Skizzierung des
Einflusses, den diese Verhältnisse auf die britische Labour Party ausge-
übt haben, gemacht wird. Von dieser Warte aus erhält die Frage des
Weiterbestehens der Independent Labour Party, die der Verfasser
ebenso mit den Augen der offiziellen Labour Party betrachtet, wie die
Frage des Kommunismus eine andere Beleuchtung. Auch die Bedeu-
tung der bürgerlichen Überläufer zur Labour Party und deren wach-
sender Einfluss in ihr, die der Verfasser so wichtig nimmt, ist dann,
wenn man die Politik der Labour Party als eine Fortführung der impe-
rialen Reichspolitik ansieht, jeden Interesses bar. Es ist dann eine Selbst-
verständlichkeit, dass die Berufspolitiker Anschluss an die neue und
aussichtsreiche Partei suchen, falls diese in den für England entschei-
denden Gebieten nur Fortsetzer der traditionellen Politik ist.
Beide Bücher aber haben ein großes Verdienst: das Rothstein‘sche,
indem es uns an der Geschichte der englischen Arbeiterpartei zeigt, wie
gerade dort die jeweiligen ökonomischen Verhältnisse die politische
Haltung der Arbeiterschaft geprägt haben, das Wertheimer‘sche, wie
aus der bisherigen Entwicklung heute ein Gebilde geworden ist, das
uns in seiner jetzigen Gestalt kaum zu besonderen Erwartungen
berechtigt. Offen und noch zu untersuchen bleibt die Frage, welche
Einflüsse die gegenwärtige Gesamtlage Englands auf die Arbeiterschaft
und damit auf die zukünftige Richtung ihrer heute so ausschlaggeben-
den Politik haben wird.

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[13.]
[Rezension:] Carl Tannert: Die Fehlgestalt des
Volksentscheids*
[1930]

Regierungsrat Dr. Carl Tannert. »Die Fehlgestalt des Volksentscheids.


Gesetzesvorschlag zur Änderung des Artikels 75 und 76 Abs. I Satz 4 der
Reichverfassung.« Breslau 1929. 52 S.
Der erfolgreichen Durchführung eines Volksentscheids stehen in
Deutschland verfassungsrechtlich ausdrücklich gesetzte oder doch
wenigstens zugelassene Hindernisse in großer Zahl entgegen. Schon
die Zulassung eines Volksentscheids hängt von der Auslegung ab, die
die dem Volksentscheid regelmäßig feindlich gegenüberstehende
Regierung dem Begriff des »Finanzgesetzes« gibt. Es hat in Deutsch-
land bisher keinen Volksentscheid gegeben, der nicht unter dem
Gesichtspunkt des Finanzgesetzes betrachtet werden konnte (verglei-
che für das »Freiheitsgesetz« die in dieser Beziehung nicht überzeugen-
den Ausführungen von Anschütz in der »Frankfurter Zeitung«).1 Eine
demokratische Massenpartei wird jedenfalls gegenüber dem Argument
des Finanzgesetzes größte Zurückhaltung üben müssen und eine
Abdrosselung der Volksgesetzgebung auf diesem Wege in den meisten
Fällen abzulehnen haben.
Aber wenn auch schließlich diese im status nascendi vorhandene
Schwierigkeit, deren gesamte verfassungstheoretische Problematik Carl
Schmitt in seinem »Volksentscheid und Volksbegehren«2 glänzend dar-
gelegt hat, überwunden ist, so ändert das nichts daran, dass der Volks-
entscheid heute praktisch mit einem im Sinne der Antragsteller befrie-
digenden Ergebnis nie durchgeführt werden kann. Dieser seltsamen
Situation ist das Buch des Verfassers gewidmet. Hier wird der Versuch
unternommen, losgelöst von der staatstheoretischen Problematik, die

* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 7, Heft 1, Berlin 1930, S. 90-92. – Zu diesem Text vergleiche in der Einlei-
tung S. 57-58.]
1 [Gerhard Anschütz: Staatsrechtliche Betrachtungen zum Volksbegehren, in:
Frankfurter Zeitung, Nr. 847, 13. November 1929.]
2 [Carl Schmitt: Volksentscheid und Volksbegehren: Ein Beitrag zur Auslegung der
Weimarer Verfassung und zur Lehre von der unmittelbaren Demokratie, Berlin
1927.]

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[13.] [Rezension:] Carl Tannert: Die Fehlgestalt des Volksentscheids [1930] 197

diesem Institut bei einem 60 Millionenvolk zukommt, die rein rechtli-


che Fehlkonstruktion des Volksentscheids aufzuzeigen und Vorschläge
für ihre Änderung zu unterbreiten.
Drei Verfassungsrechtsgüter werden nach der Meinung des Verfassers
durch die heutige verfassungsrechtliche Regelung des Volksentscheids
verletzt: die Abstimmungswahrheit, das Stimmgeheimnis und die Stu-
fung der Erschwernisse entsprechend dem Unterscheid von einfachem
und verfassungsänderndem Gesetz. Eingehend wird unter Anführung
wirklich überzeugender Beispiele aus der Verfassungspraxis (Fürsten-
enteignung) die bekannte Tatsache belegt, dass durch die Möglichkeit,
durch bloßes zu Hause bleiben den Gesetzentwurf zur Ablehnung zu
bringen, eine andere Wirkung erzielt werden kann, als durch eine ver-
neinende Abstimmungsbeteiligung der Ablehnenden. Sieg einer
bestimmten Art technischen Verhaltens gegenüber dem politischen
Gegner, wo durch ein anderes technisches Verhalten der Gegner gesiegt
hätte. Infolge des Erfordernisses der Beteiligung der Hälfte der Stimm-
berechtigten wird im Zusammenhang mit der bequemen Möglichkeit
des zu Hause Bleibens der Volksentscheid undurchführbar. Dadurch
wird die unmittelbare Volksgesetzgebung gegenüber der indirekten
Gesetzgebung benachteiligt. Eine solche Erschwerung war aber durch
den Verfassungsgesetzgeber, wenn er auch dem Institut nicht beson-
ders freundlich gegenüberstand, nicht beabsichtigt. Er wollte nichts
erleichtern, doch auch kein bloßes Schatteninstitut schaffen. Es liegt
hier zwar keine »Verletzung eines Verfassungsrechtsguts«, wie der Ver-
fasser meint, aber immerhin ein Widerspruch im Verfassungssystem
selbst vor, durch den ein Institut, das als mögliche Funktionsform der
Demokratie gedacht war, lahmgelegt wird.
Die beiden andern Gesichtspunkte, die der Verfasser heranzieht, sind
nur Konsequenzen des ersten Widerspruchs. Es ist sicher, dass das
Stimmgeheimnis dann, wenn nur eine Partei regelmäßig zur Stimmab-
gabe schreitet, nicht aufrechterhalten werden kann. Hier versagt aber
die rein rechtliche Betrachtungsweise des Verfassers; hier kommt man
mit der Methode, an Hand eines praktischen Falles die Fehlgestalt einer
Verfassungsrechtsnorm zu demonstrieren, nicht aus. Im Übrigen ist es
auch, wenn man innerhalb des Gesichtskreises des Verfassers bleibt,
interessant, sich die Auswahl seiner praktischen Beispiele anzusehen.
So erscheint zum Beispiel der Fall der Beeinflussung des Kaufmanns
durch seine proletarischen Wähler, nicht aber der ungleich bedeuten-
dere und einer Untersuchung mehr werte Fall der sehr handgreiflichen
»Beeinflussung« großer Landarbeiterschichten durch Gutsbesitzer.

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198 [13.] [Rezension:] Carl Tannert: Die Fehlgestalt des Volksentscheids [1930]

Prinzipiell ist hier zu sagen, dass dem Verfasser ganz die Frage entgan-
gen ist, ob nicht ein Zusammenhang zwischen einer weitgehenden
Öffentlichkeit und dem der Volksgesetzgebung zugrunde liegenden
Prinzip besteht. Diese Frage ist mindestens, wie Carl Schmitt gezeigt
hat, zu untersuchen, und daher ergibt es sich auch, dass es abwegig ist,
Wahlgeheimnis und Stimmgeheimnis beim Volksentscheid generell
gleichzustellen. Technisch gleichartige Institutionen können oft von
sehr verschiedenen verfassungstheoretischen Prinzipien beherrscht
sein.
Dagegen ist richtig vom Verfasser gesehen die sich aus der heutigen
Regelung ergebende Tatsache der Ununterschiedenheit zwischen
einem etwaigen Zustandekommen von einfachem und verfassungsän-
derndem Gesetz. Es fehlt hier die unserem Verfassungssystem
zugrunde liegende Unterscheidung zwischen einfachem und verfas-
sungsänderndem Gesetz. Die Vorschläge des Verfassers zur Abände-
rung der betreffenden Verfassungsartikel, die im Wesentlichen auf eine
nach der Art des Gesetzes gestufte notwendige, dem jetzigen Zustand
gegenüber erheblich herabgesetzte Beteiligungszahl hinauslaufen, sind
durchaus diskutabel, wenn es sich auch prinzipiell fragt, ob bei der not-
wendigen Verfassungsänderung überhaupt ein systematischer und
nicht besser ein mehr elastischer Beteiligungsquotient erfordert werden
soll. Ebenso richtig ist die Einsicht des Verfassers, dass die Möglichkeit
der Beibehaltung der jetzigen Regelung durch Einführung des Stimm-
zwangs technisch undurchführbar ist.
Das Buch bildet einen Beitrag zur notwendigen Reform des jetzigen
Zustandes, der unhaltbar ist. Es wäre noch besser geworden, wenn der
Verfasser es vermocht hätte, sich von seinem Irrtum loszusagen, dass
eine solche Arbeit nur ein »rechtswissenschaftliches Erkenntnisurteil«
enthalten könne. Die Beurteilung staatlicher Institutionen an Hand sol-
cher Maßstäbe ist unmöglich und, wie das Buch in seinen besten Teilen
durch Überschreitung dieser Grenzen zeigt, undurchführbar. Aber viel-
leicht sind gerade diese Irrtümer, die der Schrift den Weg zur letzten
Klarheit versperren, ebenso lehrreich, wie dessen positive Erkenntnisse.

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199

[14.]
Das neue Strafrecht.*
Nach der ersten Lesung
[1930]

Unter sichtlich abnehmendem Interesse der Öffentlichkeit hat der Straf-


rechtsausschuss endlich die erste Lesung des neuen Strafgesetzbuches
beendet. Zwar ist die Zeit zur endgültigen Stellungnahme verfrüht;
denn in einigen Hauptpunkten wird sich im Lauf der weiteren parla-
mentarischen Verhandlungen noch manche Änderung ergeben können.
Das ändert aber nichts daran, dass die Grundzüge des neuen Gesetzbu-
ches feststehen, und keine Koalitionsarithmetik irgendwelcher Art wird
wesentliche Neuerungen bringen.
Mehr als bei irgendeinem anderen Gesetz ist der Wert eines Strafgesetz-
buches von Umständen abhängig, die nicht in der Hand des Gesetzge-
bers liegen. Richterpersonal, Strafvollzug, wirtschaftliche Verhältnisse
und öffentliche Meinung bestimmen das Bild der Strafjustiz wesentli-
cher als das geschriebene Gesetz. Von 1871 bis zum heutigen Tage gilt
das alte Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes, das das Bis-
marck‘sche Kaiserreich übernommen hatte. Und doch wird niemand
behaupten wollen, dass die Rechtsprechung, die heute wie 1872 auf
Grund dieses Gesetzes geübt wurde, noch dieselbe ist. Während
damals jeder Diebstahl und jede Urkundenfälschung als der Ausfluss
einer direkt gegen die Macht und Herrlichkeit des Herrschers Staat
gerichteten abgrundtiefen, verbrecherischen Gesinnung betrachtet
wurde, ist man heute bis weit in die bürgerlichen Kreise hinein von sol-
chen angeblich absoluten, in Wirklichkeit naiv klassenpolitischen Wer-
tungen allmählich abgekommen. Die Menschen lernten aus unserem
Gesellschaftsprozess, dass auch das Verbrechen nichts Außergewöhnli-
ches ist, dass ein Gutteil seiner Ursachen, Voraussetzungen und
Bekämpfungsmöglichkeiten im gesellschaftlichen Prozess selbst
beschlossen sind. An Stelle der absoluten ist eine relative Wertung
getreten, die die Einwirkung der sozialen Verhältnisse nicht mehr mit
einer lässigen Geste und dem Hinweis auf die freie Willensbestimmung
des Einzelnen abtun kann.

* [Erschienen in: Die Tribüne, Organ der Sozialdemokratischen Partei für das Land
Thüringen und den Regierungsbezirk Erfurt, Nr. 55, 6. März 1930, Erfurt. – Zu
diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 46-48.]

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200 [14.] Das neue Strafrecht. Nach der ersten Lesung [1930]

Rechtsprechung und Strafvollzugspraxis haben sich erheblich gewandelt.


Soweit das alte Gesetz hierfür keinen Raum ließ, wurden einzelne
Bestimmungen durch Novellen geändert (Abtreibung, Kuppelei). Die
Grenze jenes strafrechtlichen Relativismus, dessen hervorragendster
Vertreter die bürgerliche Linke mit ihrer großen Presse ist, liegt im
Sicherungsstreben des kapitalistischen Gesellschaftssystems beschlos-
sen. Mag der Richter noch so milde sein, das Gesetz noch so sehr reines
Rahmengesetz – in einem von kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung
beherrschten Land muss dem Rechtsbrecher ein notwendiges Maß von
gesellschaftlicher Disqualifikation zuteil werden. Es muss die strenge
Scheidung zwischen jenen, die im System vorwärts kamen oder doch
wenigstens ihren Platz behielten, und jenen, die unter die Räder kamen,
gebührend gekennzeichnet werden. Das Strafrecht (Strafregister) ist ein
Mittel von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die moralische Dis-
qualifikation.
Der allgemeine Teil des Strafgesetzentwurfes trägt jener relativistischen
Auflockerung Rechnung. Der Strafanspruch des Staates bleibt aber
trotz Vorhandenseins klar erkennbarer sozialer Determination allge-
mein bestehen; die Möglichkeit einer Straffrei-Erklärung für nichtju-
gendliche Rechtsbrecher ist schamhaft in den besonderen Teil verwie-
sen. Das Prinzip der moralischen Abstempelung war es auch, das die
bürgerlichen Parteien veranlasste, die sinnlose gewordene Zweiteilung
der Freiheitsstrafe in Gefängnis- und Zuchthausstrafe aufrechtzuerhal-
ten. Rein kapitalistische Wirtschaftsgesinnung veranlasste die bürgerli-
chen Parteien ferner dazu, dem sozialdemokratischen Antrag auf
Nichtumwandlung von Geldstrafe in Ersatzfreiheitsstrafe bei Vorliegen
unverschuldeter Zahlungsunfähigkeit nicht zuzustimmen.
War so die Möglichkeit einer Auflockerung des allgemeinen Teils des
Strafgesetzentwurfes nach der sozialen Seite hin durch die Bedürfnisse
der kapitalistischen Wirtschaftsordnung eng begrenzt, so konnte dafür
in der psychologischen Frage der Beurteilung des Täters als Indivi-
duum ein Schritt nach Vorwärts gewagt werden. Denn hier liegt ein
unmittelbarer Gegensatz zu dem strafrechtlichen Schutzbedürfnis der
kapitalistischen Wirtschaftsordnung nicht vor; der Begriff der vermin-
derten Zurechnungsfähigkeit gehört in diesen Zusammenhang.
Der besondere Teil des neuen Strafgesetzbuches interessiert nicht so
sehr wegen der Höhe der Strafen, die durch den weitgespannten Rah-
men des allgemeinen Teils der praktischen Bedeutung entbehren, als
vielmehr durch die Delikte, die neu aufgenommen beziehungsweise
nicht mehr aufgenommen wurden. Härten, die unter der Herrschaft

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[14.] Das neue Strafrecht. Nach der ersten Lesung [1930] 201

des geltenden Strafgesetzbuches nur im Gnadenwege zu beseitigen


waren, wie die Mindeststrafe von zwei Jahren Gefängnis bei Kindestö-
tung und von einem Jahr Zuchthaus bei der kleinsten Amtsunterschla-
gung, sind schon durch die generelle Widerspruchsmöglichkeit im all-
gemeinen Teil des Entwurfs beseitigt. Den Verbesserungen im allgemei-
nen Teil stehen jedoch mehr Verschlechterungen als Verbesserungen im
besonderen Teil gegenüber. Auch wo wir in gemeinsamer Front mit
den liberalen Kreisen des Bürgertums, deren Einfluss innerhalb des
Bürgertums weit überschätzt wird, kämpften, haben wir nur Teilerfolge
zu verzeichnen. Die Bestrafung der Moralität ist gemildert, teilweise
aufgehoben; Bestrafung der Abtreibung bleibt jedoch bestehen; über die
Gotteslästerung und ihre Bestrafung ist noch keine Entscheidung
getroffen, und die so dringliche Frage der Abschaffung der Todesstrafe
hat sich das Bürgertum als teuer zu erkaufendes Kompensationsobjekt
vorbehalten, das sie nur gegen weitgehende Zugeständnisse von Seiten
der Sozialdemokraten preisgeben wird.

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202

[15.]
Artikel 48 – der falsche Weg*
[1930]

Was für Gesetze die reaktionäre Regierung Brüning dem Reichstag vor-
legen will, ist den Umrissen nach bekannt. In dem jetzt anhebenden
Kampf um die innere Lastenverteilung soll aus wirtschaftspolitischen
Erwägungen, die der Unternehmerideologie entstammen, die Arbeiter-
schaft auf Steuererleichterung und Sicherung und Ausbau der Sozial-
politik zugunsten einer einseitigen Interessenwahrnehmung der Unter-
nehmer und zugunsten einer ostelbischen Landwirtschafts-Subventio-
nierung in ungeahntem Ausmaße verzichten. Diesem wirtschaftspoliti-
schen Programm des Unternehmertums, das die reaktionäre Regierung zu
ihrem eigenen gemacht hat, stellt die Sozialdemokratie ihr eigenes
sozial- und wirtschaftspolitisches Programm entgegen. Erhält die
Regierung für die Durchführung ihres Programmes keine Mehrheit, so
steht ihr zu dessen Durchführung nicht der Artikel 48 zur Verfügung.
Die Voraussetzung der Anwendbarkeit das Artikels 48 ist die »erhebli-
che Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ord-
nung«. Der bekannte keineswegs linksstehende Kommentator der
Reichsverfassung, der sächsische Reichsratsbevollmächtigte Pötzsch-
Heffter hat in seinem Kommentar1 zur Reichsverfassung mit vollem
Recht darauf hingewiesen, dass eine Erheblichkeit dann vorliege, wenn
die Störung oder Gefährdung so groß ist, dass der gewöhnliche staatli-
che Apparat sie nicht meistern kann. Es muss sich also, wie der extrem
deutschnationale Freiherr von Freytagh-Loringhoven, der sicher nicht als
Freund der Demokratie anzusprechen ist, ausführt, um eine »unmittel-
bare Gefährdung« handeln. Es ist interessant, dass der Kanzler Brüning
die Brüchigkeit seiner Diktatur-Argumentation selbst erkannt hat und
die fehlende Unmittelbarkeit der Gefährdung durch einen Hinweis auf
die angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Notstände zu besonde-

* [Erschienen in: Die Tribüne, Organ der Sozialdemokratischen Partei für das Land
Thüringen und den Regierungsbezirk Erfurt, Nr. 80, 4. April 1930, Erfurt. – Zu
diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 67-68.]
1 [Fritz Poetzsch-Heffter: IV. Die einstweilige Diktatur der Landesregierungen
(Art. 48, Abs. 4). 19. Voraussetzungen der einstweiligen Landesdiktatur, in: Ders.:
Handkommentar der Reichsverfassung vom 11. August 1919: Ein Handbuch für
Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, 3., völlig neubearbeitete und stark ver-
mehrte Auflage, Berlin 1928, S. 243.]

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[15.] Artikel 48 – der falsche Weg [1930] 203

rer Wachsamkeit Anlass gebenden radikalen Strömungen herzustellen


versucht hat.
Es muss aber wohl als ausgeschlossen gelten, dass eine Gefährdung im
Sinn des Artikels 48 tatsächlich vorhanden ist. Von einer unmittelbaren
sozialen und wirtschaftlichen Gefährdung des Unternehmertums kann
man wohl nicht gut reden, und die soziale Not der Arbeiterschaft hat
Herr Brüning nicht einmal im Auge. Nur aber für solche Fälle der
unmittelbaren Gefahr kann der Artikel 48 angewandt werden. Die
Beratungen sowohl im Verfassungsausschuss als auch im Plenum der
Nationalversammlung lassen erkennen, dass die Gefährdung immer
vom militär- und polizeitechnischen Standpunkt aus beurteilt wurde.
Heute handelt es sich um etwas ganz anderes. Es handelt sich um die
Lösung der Frage der inneren Lastenverteilung. Die nicht vorhandene
Lösung ist keine politische Gefahr, da wohl niemand behaupten kann,
dass man die heutigen Steuern nicht noch ein paar Monate weiter erhe-
ben könnte. Eher könnte man von der anderen Seite aus die Behaup-
tung aufstellen, dass bei Durchführung der reaktionären Steuerpläne
bald eine unmittelbare Gefahr, eine akute Krisis eintreten könnte. Der
von bürgerlicher Seite gegenwärtig oft benutzte Hinweis auf den
Gebrauch des Artikels 48 durch den Reichspräsidenten Ebert vergisst
elementare Voraussetzungen. Einmal hat im Jahre 1923 die Inflation in
Deutschland tatsächlich eine akute Gefahr hervorgerufen, deren Besei-
tigung für die Gesamtheit lebensnotwendig war. Weiterhin aber war
doch das Entscheidende, dass Ebert keine klare Mehrheit gegen sich
hatte, dass er die Steuernotverordnungen und die anderen wirtschafts-
politischen Maßnahmen deshalb erlassen hat, weil tatsächlich keine
Zeit vorhanden war, sie auf dem regulären Weg durchzuführen. Wenn
aber heute Herr Brüning seine Pläne mit Hilfe des Artikels 48 durch-
führt, so muss er es deshalb tun, weil er eine Mehrheit gegen sich hat.
Außerdem handelte es sich damals um Notmaßnahmen, die zum großen
Teil zeitlich befristet waren, während Herr Brüning seine Gesetze zwar
Notmaßnahmen nennt, es sich aber in Wirklichkeit um die Durchfüh-
rung eines wirtschaftspolitischen Programms von grundsätzlicher und
richtunggebender Bedeutung handelt.
Wenn man verfassungsrechtlich das Vorgehen des Präsidenten Ebert
für nicht einwandfrei ansehen will, wie das zum Beispiel Herr von
Freytagh-Loringhoven getan hat, um wieviel weniger einwandfrei
müsste dann das Vorgehen des Reichskanzlers Brüning sein. Denn als
am 7. Dezember 23 die erste Steuernotverordnung auf Grund des Arti-
kels 48 vom Reichspräsidenten erlassen wurde, war dieser, da er eben-

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204 [15.] Artikel 48 – der falsche Weg [1930]

falls juristische Bedenken hegte, in der glücklichen Lage, bereits am


nächsten Tage sich von einer hinter ihm stehenden Reichstagsmehrheit
ein Ermächtigungsgesetz geben lassen zu können, auf Grund dessen er
die Notverordnung aufheben und durch eine gleichlautende zweite
Steuernotverordnung auf Grund eines Ermächtigungsgesetzes ersetzen
konnte. Dazu ist aber Herr Brüning wieder nicht in der Lage, wenn er
keine Mehrheit erhält. Endlich ist noch darauf hinzuweisen, dass Brü-
ning bei der Durchführung seines Programmes auf dem Wege des Arti-
kels 48 nicht nur die Voraussetzungen dieses Artikels nicht einhalten
würde, sondern auch über die durch ihn gegebenen Ermächtigungen
hinausgehen müsste. Der bekannte deutsche Staatsrechtslehrer Carl
Schmitt hat in einem Referat ausgeführt, dass es im Rahmen der erlaub-
ten Maßnahmen auf Grund des Artikels 48 nicht möglich wäre, den
Haushaltsplan festzustellen.2 Er hat dies ganz richtig mit dem Unter-
schied zwischen Gesetzgebungsverfahren und Maßnahmen begründet.
Was ist aber das Programm der Regierung anderes als die Inhaltsbe-
stimmung des neuen Budgets? Denn dieses Programm bestimmt die
Gestalt und das Aussehen des Budgets. Hierfür ist aber das Verfahren
des Artikels 48 unzulässig.
Die Definition Schmitts über das Wesen der Diktatur erhellt blitzartig,
wer die Verfassung hält und wer sie bricht: »Die Diktatur ist wie die
Notwehrhandlung immer nicht nur Aktion, sondern auch Gegenak-
tion. Sie setzt demnach voraus, dass der Gegner sich nicht an die
Rechtsnormen hält, die der Diktator als Rechtsgrund für maßgebend
anerkennt.«3 Der Rechtsgrund der Diktatur des Herrn Brüning kann
selbstverständlich nur in der Reichsverfassung beschlossen liegen. Dass
die Sozialdemokratie diese Verfassung gebrochen habe, kann Herr Brü-
ning nicht einmal behaupten. Wenn er also sein Programm gegen das
Parlament durchführt, so hat das nichts mehr mit dem Artikel 48 zu
tun; denn dieser bleibt im Bereich der Verfassung, aber er stellt sich
damit außerhalb des Gesetzes.
Nach stehender Rechtsprechung können die Gerichte zwar nicht nach-
prüfen, ob die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Artikels 48
vorgelegen haben, da dies im pflichtgemäßen Ermessen des Reichspräsi-

2 [Vergleiche: Carl Schmitt: Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der
Weimarer Verfassung (1924), in: Ders.: Die Diktatur: von den Anfängen des
modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf: 2.
Auflage, München/Leipzig 1928, S. 249.]
3 [Carl Schmitt: Die Diktatur: von den Anfängen des modernen Souveränitätsge-
dankens bis zum proletarischen Klassenkampf: 2. Auflage, München/Leipzig
1928, S. 136.]

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[15.] Artikel 48 – der falsche Weg [1930] 205

denten steht. Wohl aber sind die Gerichte, wie der Reichsfinanzhof in
München schon entschieden hat, berechtigt, nachzuprüfen, ob die
erlassenen Anordnungen sich in den durch Artikel 48 gezogenen Gren-
zen halten. Herr Brüning mag selbst bedenken, welche Aspekte sich
dadurch eröffnen, dass jeder durch sein Finanzprogramm mit Steuern
belastete Staatsbürger die Möglichkeit und das Recht hat, die Rechts-
gültigkeit seines Steuerbescheides nicht ohne Aussicht auf Erfolg zu
bekämpfen. Ob das dem von Herrn Brüning mit Engelszungen geprie-
senen organischen Staatsideal entspricht, wird er mit sich selbst ausma-
chen müssen.

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206

[16.]
Privatbesitz gegen Volksinteresse!*
Wann kommt das neue Bauland-Gesetz?
Reichsgericht und Artikel 155 der Weimarer
Verfassung
[1930]

Am 28. Februar 1930 hat der III. Zivilsenat des Reichsgerichts eine Ent-
scheidung gefällt, die wohl zu den merkwürdigsten Sprüchen dieses
hohen Gerichtshofs gehört. Bisher waren wir alle der Meinung, dass die
Weimarer Verfassung im Vergleich zu den Verfassungen des 19. Jahr-
hunderts einen gewaltigen sozialen Fortschritt darstelle. Die Entschei-
dung belehrt uns darüber, dass wir uns zum mindesten in Bezug auf
das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privateigentum in einem schweren
Irrtum befunden haben. Fünfundzwanzig Jahre lang, seit dem 2. Juli 1875,
ist in Preußen keinem Gericht und keiner Behörde je der Gedanke
gekommen, der § 13 des Fluchtliniengesetzes könne verfassungswidrig
sein. Dieser Paragraph bestimmt genau, unter welchen Voraussetzun-
gen dem Eigentümer eines Grundstücks bei der Festlegung der Flucht-
linie eine Entschädigung zu gewähren ist. Nicht steht in dieser Bestim-
mung, dass – sofern nicht vorhandene Gebäude von der Fluchtlinie
betroffen werden – die Gemeinde dann eine Entschädigung zahlen
müsse, wenn sie das betreffende Gelände als Freifläche ausweist, ohne
dem Eigentümer das Eigentum daran zu entziehen. Diese Bestimmung
war es, mit deren Hilfe es den Gemeinden nur möglich war, eine Baupo-
litik zu betreiben, die – wie der Stadtbaurat Genosse Dr. Martin Wagner
in seiner lesenswerten Schrift „Das Reichsgericht als Scherbengericht gegen
den deutschen Städtebau“ (siehe auch „Vorwärts“ Nr. 212 und 222) nach-
weist – amerikanische Zustände bei uns bisher verhindert hat. In Preußen
war es bisher üblich, dass die Gemeinden mit Hilfe jener Bestimmung
des Fluchtliniengesetzes selbst, ohne allzu erhebliche finanzielle Belas-
tung, eine planmäßige Städtebaupolitik betreiben konnten.
Dem hat das Reichsgericht ein Ende gemacht.

* [Erschienen in: Vorwärts, Berliner Volksblatt, Stadtbeilage, Nr. 226, 16. Mai 1930,
Berlin. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 64-65.]

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[16.] Privatbesitz gegen Volksinteresse! Wann kommt das neue Bauland-Gesetz? 207

Prüfen wir seine Gründe! Das Reichsgericht geht von dem Unterschied
zwischen § 12 und § 13 des Fluchtliniengesetzes aus. Es gesteht zu, dass
§ 12, der es Ortsstatuten freistellt, das Bauen von Bahngebäuden an für
den öffentlichen Verkehr noch nicht fertiggestellten Straßen zu untersa-
gen, den Inhalt des Eigentums in allen Grundstücken regelt; denn ein
solches Ortsstatut treffe sämtliche Grundstücke, die an einer unfertigen
Straße liegen. In Gegensatz hierzu stellt das Reichsgericht § 13, der
keine Inhaltsbezeichnung des Eigentums enthalte, sondern eine Enteig-
nung. Schon die preußische Abgeordnetenkammer 1875 stellt fest, dass
die Verpflichtung des Eigentümers, gewisse künftighin zu Straßen und
Plätzen bestimmte Flächen unbebaut zu lassen, eine gesetzliche Ein-
schränkung des Eigentums sei, die keinen Entschädigungsanspruch auslö-
sen dürfe. Das Reichsgericht hat diese Meinung des gewiss nicht sozia-
listisch verseuchten Gesetzgebers von 1875 überhört. Nach ihm ist das
Fluchtlinienfestsetzungsverfahren ein Enteignungsverfahren, weil hier
keine allgemeine, alle Eigentümer treffende Verpflichtung vorliege. Die
Tatsache, dass es ausschließlich von dem Willen der Gemeinde abhänge,
ob sie sich eine derartige Fläche vom Eigentümer für die öffentliche
Benutzung abtreten lassen wolle, kennzeichne den Enteignungscharak-
ter.
Gegen diese Entscheidung ist zunächst rein juristisch anzuführen, dass
sie das Merkmal der Allgemeinheit verkennt. Hausverbot und Fluchtlini-
enbesetzung unterscheiden sich nur graduell, aber nicht begrifflich
voneinander. Beide treffen einen personell unbegrenzten Kreis von
Eigentümern. Wenn das Fluchtliniengesetz von 1875 bis zur Revolution
immer als rechtsgültig und verfassungsmäßig betrachtet worden ist,
und wenn es nunmehr als im Widerspruch zur Reichsverfassung stehend
verfassungswidrig sein soll,
so muss der Artikel 9 der preußischen Verfassung von 1850 fortschrittlicher
und sozialer gewesen sein als die Weimarer Verfassung.
Wer aber nicht der Ansicht sein sollte, dass das Verhältnis von Eigentum
und öffentlichem Interesse von der Weimarer Verfassung mit unfreundli-
cheren Augen betrachtet wird als von der preußischen Verfassung von
1850, der wird sich nur der Auffassung des Berliner Haus- und Grundbe-
sitzervereins anschließen können, dass sich das Reichsgericht hier „wie-
der als Hüter des Privateigentums bewährt hat.“ Dass dieses merkwürdige
Urteil sich nicht auf den Artikel 153 stützen kann, zeigt auch das Urteil
des Staatsgerichtshofs über die Rechtsgültigkeit der preußischen Not-
verordnung vom 10. Oktober 1927, dessen klare und beweiskräftige
Sätze das Reichsgericht vergebens auszuräumen sucht. Dort ist aus-

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208 [16.] Privatbesitz gegen Volksinteresse! Wann kommt das neue Bauland-Gesetz?

drücklich ausgesprochen, dass solche Eingriffe in das Privateigentum


durchaus verfassungsgemäß sind.
Hätte das Reichsgericht den Artikel 155 der Reichsverfassung nur halb
so ausnehmend ausgelegt, wie es dies mit dem Artikel 153 tut, so hätte
die vorliegende städtefeindliche Entscheidung nicht herauskommen können.
Der Wortlaut der Verfassung: „Die Wertsteigerung des Bodens, die ohne
eine Arbeit oder Kapitalaufwendung auf das Grundstück entsteht, ist für die
Gesamtheit nutzbar zu machen“, hätte den 3. Senat des Reichsgerichts zu
der Erkenntnis führen müssen, dass die auf das Fluchtliniengesetz
gestützte Praxis der Städte nur die in der Verfassung liegenden Befug-
nisse ausnutzt, wenn sie so den öffentlichen Anteil an der arbeitslos
erworbenen Grundbesitzerbereicherung im Interesse aller, hauptsächlich
aber der Anwohner verwertet.
Die Folgen der wirtschaftlichen Auswirkung des Urteils sind unüberseh-
bar. In den Prozessen, die auf Grund dieses Urteils allein gegen die
Stadt Berlin bezüglich aller nach dem 14. August 1919 festgesetzten
Fluchtlinien angestrengt werden können, dürfte die Stadt Berlin allein
zur Zahlung von Hunderten von Millionen Mark verurteilt werden. Auf
Grund des bestehenden Rechtszustandes, wie er sich aus diesem Urteil
ergibt, wird eine städtische Baupolitik, insbesondere die für die ärmere
Großstadtbevölkerung so unendlich wichtige Ausweisung von Freiflächen
aus finanziellen Gründen überhaupt nicht mehr erfolgen können.
Auch das geplante preußische Städtebaugesetz ist als Landesgesetz
demgegenüber machtlos. Helfen kann hier nur ein Reichsgesetz, wie es
gegenwärtig im Arbeitsministerium in Form des Baulandgesetzes vorbe-
reitet wird. Die Fertigstellung eines solchen Reichsgesetzes, das Ent-
schädigungsforderungen ausschließt und dem Entschädigungsaus-
schluss rückwirkende Kraft beilegt, wird dringend zu beschleunigen
sein. Darüber hinaus wird der Reichsgesetzgeber in jedem einzelnen
Fall Vorsorge treffen müssen. Er wird in Gesetzen, die nur irgendwie
im Entferntesten von berufsmäßigen Hütern des Privateigentums als Ein-
griff in die Eigentumssphäre gedeutet werden könnten, durch eine
Klausel jede Entschädigungsforderung auszuschließen haben. Denn
sonst wird der Kampf, ob das Parlament oder das Reichsgericht die Grundla-
gen des Wirtschaftslebens und der öffentlichen Ordnung festlegt, bald zuguns-
ten jenes unverantwortlichen Gesetzgebers, der Millionen bewilligt, ohne für
ihre Deckung sorgen zu müssen, ausgefochten sein.

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209

[17.]
Weimar … und was dann?
Entstehung und Gegenwart der Weimarer
Verfassung*
[1930]

Vorbemerkung

Über zehn Jahre liegen hinter uns, seit in Weimar die Verfassung der
Republik entstand. Die politischen Kampffronten befinden sich in
einem Zustand zunehmender Erstarrung. Die eigentlichen Gegensätze
treten oft hinter Schlagworten zurück. Der Verfasser hielt es für seine
Pflicht, von der oft geübten Methode, politische Wünsche in politische
Entwicklungslinien umzudeuten, abzusehen und sich in der Hauptsa-
che auf die Darstellung dessen zu beschränken, was ist. Dabei bedarf es
freilich der grundsätzlichen Klarheit darüber, dass eine sozialistische
Verfassungsbetrachtung nicht in die Fehler einer liberalen verfallen
darf. Während die liberale Verfassungsbetrachtung, die oft auch unter
demokratischem Deckmantel auftritt, eine nicht vorhandene Einheit
vortäuscht, um mit ihr alle Zwiespältigkeiten der gegenwärtigen
Gesellschaftsorganisation zu verdecken, muss eine sozialistische Ver-
fassungsbetrachtung alle jene Widersprüche aufdecken, die der heuti-
gen Gesellschaftsorganisation und ihrer politischen Form anhaften.
***

Die Entstehung der Republik

»Und zwar ist die jeweilige gesetzliche Verfassung bloß ein Produkt
der Revolution. Während die Revolution der politische Schöpfungsakt
der Klassengeschichte ist, ist die Gesetzgebung das politische Fortvege-
tieren der Gesellschaft. Die gesetzliche Reformarbeit hat eben in sich
keine eigene, von der Revolution unabhängige Triebkraft. Sie bewegt
sich in jeder Geschichtsperiode nur auf der Linie und so lange, als in

* [Erschienen als selbstständige Schrift: Weimar … und was dann? Entstehung und
Gegenwart der Weimarer Verfassung, Berlin: De Gruyter, 1930. – Zu diesem Text
vergleiche in der Einleitung S. 68-73.]

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210 [17.] Weimar … und was dann? [1930]

ihr der durch die letzte Umwälzung gegebene Fußtritt nachwirkt oder,
konkret gesprochen, nur im Rahmen der durch die letzte Umwälzung
in die Welt gesetzten Gesellschaftsreform. Das ist eben der Kernpunkt
der Frage.«
Rosa Luxemburg: »Sozialreform oder Revolution?«1
Im Reiche Bismarcks regierten das Volk verbündete Fürsten mit ver-
bündeten Bürokratien. Das in der Hohenzollernmonarchie verkörperte
Preußen nahm staatsrechtlich und politisch die Vormachtstellung ein.
Herrschaft der Hohenzollernmonarchie aber bedeutete Herrschaft des
Adels und der mit ihm aufs Engste verbundenen Armee, die das Glück
hatten, dass ihre traditionelle, aus vorkapitalistischer Zeit überkom-
mene Stellung durch die machtpolitischen Tendenzen des modernen
Deutschlands mit seiner starken, politisch machtlosen proletarischen
Bevölkerung neue Zweck- und Sinngebung erhielt.
Neben dieser Grundlage des deutschen Verfassungslebens machte sich,
an der Jahrhundertwende immer stärker ansteigend, die Einflussnahme
einzelner Industriellengruppen bemerkbar, ohne dass diese von der
Öffentlichkeit völlig unkontrollierbare Einwirkung die Stetigkeit des
Adels und der Bürokratie erreicht hätte. Seit Ende August 1916 war
diese Regierung faktisch nicht mehr vorhanden, an ihre Stelle war die
Militärdiktatur des Generals Ludendorff getreten, der unter völliger
Ausschaltung der bisherigen Regierung das Schicksal Deutschlands in
die Hand genommen hatte. Sein Gegenspieler war die Reichstagsmehr-
heit, bestehend aus den Parteien der Mehrheitssozialdemokratie, des
Zentrums, der Fortschrittlichen Volkspartei Naumann‘scher Prägung
und dem linken Flügel der Nationalliberalen. Aber sie war auch gleich-
zeitig seine Gefangene. Hatten doch alle jene Gruppen sich dazu bereit-
gefunden, mit den herrschenden Gewalten einen Burgfrieden abzu-
schließen, wodurch sich die gewählten Vertreter der Mehrheit des deut-
schen Volkes der einzigen Möglichkeit, ihren Willen entscheidend zur
Geltung zu bringen, begaben. Auch die Sozialdemokratische Partei
Deutschlands trat jenem Burgfriedenspakte bei. Die Lehre der französi-
schen Revolutionszeit, insbesondere des Jahres 1793, dass gerade Zei-
ten der äußeren Not Zeiten der politischen Erneuerung zu sein berufen
sind, vergaß sie dabei.
Aber während die Arbeiter der Entente-Länder für ihre Kriegsbereit-
schaft im Dienste kapitalistischer Regierungen neben nominalen Lohn-
erhöhungen wenigstens noch eine nominale Vertretung in den Regie-

1 [Rosa Luxemburg. Sozialreform oder Revolution? Mit einem Anhang: Miliz und
Militarismus, Leipzig 1899, S. 32.]

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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 211

rungen erhielten (Munitionsminister Thomas, heutiger Vorsitzender


des Internationalen Arbeitsamts in Genf), hatte es in Deutschland bei
nominalen Lohnerhöhungen sein Bewenden. Diktator Ludendorff ver-
legte den Weg, den Bethmann-Hollweg wenigstens gern offengehalten
hätte. Als am 6. Juli 1917 der geistige Führer jener Reichstagsmehrheit,
der Abgeordnete Erzberger, in ihrem Namen die Friedensresolution
verlas, bestand jener Burgfrieden nicht mehr als zweiseitiger Pakt, er
war zu einem Diktat des Diktatorgenerals geworden. Der Wille zu
einem Verständigungsfrieden, den die Reichstagsmehrheit in Überein-
stimmung mit den werktätigen Wählermassen des Zentrums und der
Sozialdemokratie vertrat, zerbrach im Ringen zwischen Reichstag und
General, aus dem der General als Sieger hervorging. Die Herrschaft
Ludendorffs war ein zwar verfassungsrechtlich nicht sanktioniertes,
aber von Bürgertum und Adel geduldig ertragenes Zwischenspiel zwi-
schen der Hohenzollernmonarchie und der parlamentarischen Demo-
kratie. Die Monarchie in ihrer alten sozialen und politischen Bedeutung
war nicht durch eine Volkserhebung gestürzt, sie war durch die Macht-
ergreifung des Generals Ludendorff gegenstandslos geworden. Auch
bei einem glücklichen Ausgang des Ludendorff‘schen Wagnisses wäre
der Weg zur Wiederherstellung der Monarchie, so wie sie bis 1916
bestanden hatte, durch die schwerindustriellen Einflüsse, die der Herr-
schaft Ludendorffs ihr politisches Gepräge verliehen, versperrt gewe-
sen.2
Als das alte politische und militärische System Mitteleuropas zusam-
menbrach und der Diktator unterlegen war, da setzte er selbst noch sei-
nen alten Widerpart, die bürgerlich-sozialdemokratische Reichstags-
mehrheit, in ihr Erbe ein. Mit ihrer Herrschaftsübernahme ergab sich
die Notwendigkeit, Bismarcks Verfassung so zu ändern, dass sie dem
neuen Zustand der Herrschaft der Parlamentsmehrheit entsprach.
Durch die Einführung der Bestimmungen, dass der Reichskanzler zu
seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstags bedürfe, wurde im
Prinzip das parlamentarische System eingeführt. Diese Verfassungsän-
derung, die eine Änderung des gesamten Verfassungssystems bedeu-
tete, geschah auf gesetzlichem Wege unter Zustimmung des schon seit
1916 bedeutungslos gewordenen Monarchen. Es wurde eine Regierung
nach parlamentarischen Grundsätzen unter Teilnahme der Mehrheits-

2 Für diesen Teil dankt der Verfasser dem Buch Arthur Rosenbergs »Die Entste-
hung der deutschen Republik« [1871-1918, Berlin 1928] wertvolle Erkenntnisse.

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sozialdemokratie – die erste Koalitionsregierung – gebildet.3 Als dann


im November 1918 von Kiel aus sich die Revolution über Deutschland
verbreitete und die abgeänderte, dem Willen der Reichstagsmehrheit
entsprechende Verfassung außer Kraft setzte, konnte diese Revolution
einen zwiefachen Sinn haben. Entweder war sie nichts weiter als die
Reaktion der Massen, die glaubten, endlich sich von dem auf ihnen las-
tenden Druck befreien zu müssen, die noch nicht begriffen hatten, dass
die Abdankung des alten Systems durch jene Verfassungsänderung
sanktioniert und der Friede, in welcher Gestalt auch immer, im Heran-
nahen war. In diesem Falle musste sich die Reaktion der Massen haupt-
sächlich gegen jene bedeutungslosen Fassaden, die Bundesfürsten, rich-
ten und konnte sich darüber hinaus politisch höchstens im Sinne eines
elementaren Vorstoßes für den Einheitsstaat auswirken. Oder aber den
revoltierenden Massen war mit jener Demokratisierung der Verfassung
nicht genug geschehen, sie strebten darüber hinaus zur unmittelbaren
Verwirklichung des Sozialismus. Der Gang der Entwicklung hat
gezeigt, dass bis weit in die Reihen der Unabhängigen Sozialdemokra-
tie die Massen mit der Revolution nur den Sturz der Dynastien
bezweckten, im Übrigen ihre Forderungen zwar stark sozial betont
waren, aber im großen Ganzen doch nicht über den Rahmen der bür-
gerlichen Demokratie hinaus drängten. Ihr Ziel war so wenig einheit-
lich, dass die bürokratisch-partikularistischen Einflüsse, die auch nach
dem Sturz der Dynastien noch unvermindert fortbestanden, es ver-
mochten, die revolutionäre Bewegung in ihr Fahrwasser zu bringen.
Die Forderung nach dem Einheitsstaat, welche durchaus in der Ent-
wicklungslinie der bürgerlich-kapitalistischen Rationalisierungsbestre-
bungen lag, war schon aus diesen Gründen zum Scheitern verurteilt.4
So kann es angesichts der fehlenden Beteiligung der breiten Volks-

3 Es ist äußerst interessant, dass der gegenwärtige Reichsjustizminister Bredt in


einem Aufsatz in den »Preußischen Jahrbüchern« die Ansicht vertreten hat, dass
nach dem Gang der Ereignisse in den letzten zehn Jahren der Revolution eigent-
lich auf längere Sicht keine historische Funktion zukam. Der praktisch heute
herrschende Verfassungszustand ist seiner Meinung nach der Verfassungszu-
stand des Oktobers 1918 der geänderten Bismarck‘schen Verfassung. [Johann
Viktor Bredt: Volksbegehren, in: Preussische Jahrbücher, Nr. 220, Heft 1, Berlin
1930, S. 1-14.]
4 Wenn Friedrich Meinecke in seinem Buch über die Idee der Staatsraison [Die
Idee der Staatsraison in der neueren Geschichte, München/Berlin 1929.] schreibt,
wie tragikomisch die Wirkung der Staatsraison war, als Kurt Eisner in das gerade
leerstehende Gehäuse der bajuvarischen Staatsidee kroch, so dürfte diese
Behauptung gerade auf Kurt Eisner nicht zutreffen. Denn er und sein Mitarbeiter
Gustav Landauer wollten nicht das überlieferte Regierungshandwerk ausüben;
ihre Politik versuchte, einer föderalistischen Ideenwelt, die mit der »Staatsraison«
des alten Partikularismus nichts zu tun hatte, zum Durchbruch zu verhelfen. Auf

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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 213

schichten ganz dahingestellt bleiben, ob das von Rosa Luxemburg und


Karl Liebknecht angestrebte Weitertreiben der deutschen Revolution
unter den gegebenen Verhältnissen aussichtsreich gewesen wäre. Auf
der anderen Seite steht freilich fest, dass durch die Methoden der
Bekämpfung jener revolutionären Kreise die bewaffnete Macht unter
der Leitung der kaiserlichen Offiziere damals einen Einfluss erhielt, der
später oft genug zur Zurückdrängung der gesamten Arbeiterklasse
benutzt oder dessen Vorhandensein wenigstens gegen sie ausgespielt
wurde.
Im Übrigen aber waren von anderer Seite her, schon ehe über das end-
gültige Schicksal der Revolution entschieden war, Bindungen eingegan-
gen worden, die für das Entstehen der Weimarer Verfassung von größ-
ter Bedeutung werden sollten. Im Oktober 1918 traten unter der Füh-
rung von Hugo Stinnes auf der einen, von Karl Legien auf der anderen
Seite die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände zu Konferenzen
zusammen, aus denen dann am 15. November 1918 ein Abkommen
hervorging, zu dessen Durchführung eine Zentralarbeitsgemeinschaft
gegründet wurde. Für das Verhältnis von ökonomischer und politi-
scher Gewalt in der Revolution 1918 entbehrt es nicht der Bedeutung
festzustellen, dass die programmatische Regelung der künftigen Rolle
der Gewerkschaften durch den Rat der Volksbeauftragten in seinem
»Aufruf an das deutsche Volk« vom 12. November 1918 lediglich das
Ergebnis jener Stinnes-Legien-Vereinbarung war. So haben die Gewerk-
schaften ihre künftige Stellung im Wirtschaftsprozess und die Garantie
ihrer neuen Rechte lediglich formal durch einen Akt der revolutionären
Gewalten, in Wirklichkeit aber durch eine Vereinbarung mit den
Arbeitgeberverbänden erhalten. Durch diese Abmachung taten die
Gewerkschaften zwar kund, dass sie von nun an gleichberechtigte und
ebenbürtige Faktoren im Wirtschaftsleben sein wollten, und die Unter-
nehmer sahen sich genötigt, diesem Verlangen zuzustimmen; aber auf
der andern Seite konnte sich diese Vereinbarung sinnvoll auswirken
nur unter einer Staatsform, die Kapital und Arbeit Gleichberechtigung
verhieß, wofür in einem sozialistischen Staat kein Raum gewesen wäre.
Damit war das Schicksal der zukünftigen Verfassung, über das die poli-

die Mehrzahl von Eisners südwest- und norddeutschen sozialistischen Gegen-


spielern mögen allerdings die Beobachtungen Meineckes zutreffen. Der Satz, den
Remmele in seinem Buch über die Badische Revolution selbstgefällig zitiert: »Das
Bataillon hört auf den Landsturmmann Remmele« [Adam Remmele: Staatsum-
wälzung und Neuaufbau in Baden, Ein Beitrag zur politischen Geschichte
Badens 1914/24, Karlsruhe 1925, S. 168.] kennzeichnet jene Art von Revolution,
die sowohl ihren Auswirkungen als auch ihrer geistigen Grundlegung nach nur
ein »Elitenwechsel« war.

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214 [17.] Weimar … und was dann? [1930]

tisch maßgebenden Körperschaften, der Rat der Volksbeauftragten und


die Arbeiter- und Soldatenräte, noch nicht zur Klarheit gelangt waren,
vorweggenommen. In einer bestimmten Einschätzung der politischen
und ökonomischen Verhältnisse, die mit den Anschauungen der Mehr-
heit der deutschen Bevölkerung übereinstimmte und die hier nur fest-
zustellen, nicht aber auf ihre historische Berechtigung zu untersuchen
unsere Aufgabe ist, haben damals die Arbeitnehmerverbände den Weg
der Zusammenarbeit mit den Unternehmern beschritten. So wie von
jener Zeit an die eigentliche Grundlegung unseres heutigen Verfas-
sungszustandes datiert, setzte auch hiermit gleichzeitig ein erbitterter
Kampf zwischen den Vertragspartnern ein. Denn während die Unter-
nehmer diese Abmachung als das Maximum ihrer Zugeständnisse
betrachteten, die nachträglich möglichst einzuschränken sie sich zum
Ziel ihrer Politik setzten, sahen die Gewerkschaften das neu Errungene
als ein friedliches und risikoloses Beginnen für die Weiterverfolgung
ihres sozialistischen Endzieles an.
Mit der Abänderung der alten Verfassung im Oktober 1918 war der
politische Weg, der in Zukunft beschritten werden sollte, aufgezeigt.
Das Stinnes-Legien-Abkommen vom November 1918 gab den Willen
der in der Arbeiterbewegung maßgebenden Gewerkschaftskreise kund,
trotz der Veränderung der politischen Verhältnisse auf dem durch die
Verfassungsänderung vom Oktober 1918 angebahnten Wege zu verhar-
ren. Der formelle Beschluss, einer aus allgemeinen Wahlen hervorge-
henden Nationalversammlung das künftige Geschick Deutschlands in
die Hände zu legen, blieb der vom 16. bis 19. Dezember in Berlin tagen-
den Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte überlassen. Es
folgte die Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919. Mit dem
von ihr geschaffenen Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom
10. Februar 1919 wurde der Revolution der staatsrechtliche Schluss-
stein gesetzt, und die Bahn für die Weimarer Verfassung war frei!

Demokratie und Diktatur

Deutschland, Frankreich, England und die Vereinigten Staaten von


Amerika sind, wie noch andere mehr oder weniger wichtige Staaten
der Welt, nach geschriebenem oder, wie England, nach ungeschriebe-
nem Verfassungsrecht, demokratische Staaten. Je mehr Staaten sich zur
demokratischen Staatsform bekennen und sich, wie insbesondere die
Vereinigten Staaten von Amerika, bei jeder einzelnen ihrer politischen

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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 215

Handlungen auf demokratische Prinzipien zu berufen pflegen, desto


mehr gerät die Demokratie in Gefahr, jeder wirklichen Bedeutung ent-
kleidet zu werden und zu einer Form herabzusinken, unter der sich die
entgegengesetztesten politischen Grundsätze bergen. Die Unbegrenzt-
heit und damit wachsende Bedeutungslosigkeit des Begriffes Demokra-
tie zeigt sich deutlich darin, dass von maßgebender Seite die oben
genannten Staaten allein deshalb als Demokratien bezeichnet werden,
weil in ihnen der größtmöglichen Zahl von Bürgern das weitestge-
hende Wahlrecht gewährleistet sei (R. Thoma).5 Diese Auslegung des
Begriffes Demokratie scheint bedenklich, wenig zweckdienlich und his-
torisch unrichtig. Nach ihr ist die Ansicht Jean-Jacques Rousseaus,
eines der größten und tiefsten Denker, die je über das Problem der
Demokratie nachgedacht haben, und der zu dem Schluss kam, dass die
Demokratie eine so vollkommene Einrichtung sei, dass sie nur für die
Götter, nicht für die Menschen tauge, unverständlich. Das freie Wahl-
recht aller Bürger ist seit 1919 in sehr vielen Ländern eingeführt, ohne
dass darum jemand veranlasst wäre zu glauben, dass ein solcher Staat
deshalb schon etwas mit der »Vollkommenheit« zu tun habe. Und es
scheint, dass die Skepsis Rousseaus gegenüber den Verwirklichungs-
möglichkeiten der Demokratie dieser eine gerechtere Würdigung
zuteilwerden lässt als die Bereitwilligkeit derer, die glauben, dass das
Fallen aller Wahlrechtsschranken die Verwirklichung der Demokratie
bedeute.
Seit dem 19. Jahrhundert ist das entscheidende Problem der Demokra-
tie die soziale Demokratie geworden. In den ersten Jahrzehnten dieses
Jahrhunderts war die Frage der nationalen Einigkeit und Freiheit nicht
nur unlösbar mit der Demokratie verknüpft, sondern beide waren sich
gegenseitig Wegbereiter. In Deutschland und Italien, jenen beiden
damals noch nicht national geeinten Ländern, hat die Demokratie gera-
dezu im Namen der nationalen Einheit ihren Einzug gehalten. Bald
aber sollte es sich herausstellen, dass die Demokratie, die kein anderes
Prinzip zum Inhalt hatte als die nationale Einheit eines politisch freien
Volkes, nicht das letzte und entscheidende Stadium der Demokratie
sein kann. Die proletarischen Schichten, mit deren Blute die nationale
Einheit und Freiheit erkämpft wurde, mussten bald bemerken, dass sie
nur ihre Herren gewechselt hatten; sie wollten über die nationale
Demokratie hinaus die soziale Demokratie erkämpfen. Die Feinde der
Arbeiterklasse begriffen gar bald die eigentümliche Dialektik im Wesen

5 [Siehe: Richard Thoma: Sinn und Gestaltung des deutschen Parlamentarismus,


Berlin 1929.]

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216 [17.] Weimar … und was dann? [1930]

der Demokratie, die zu dem führt, was der Bürger am meisten fürchtet:
zu dem Verschwinden auch der bloßen Möglichkeit eines politischen
Ruhezustandes. Denn dieser kann erst wiederkehren, wenn der urei-
genste Grundgedanke jeder Demokratie erfüllt ist, wenn jeder kleinste
Teil nominellen Einflusses auch reale Macht geworden ist.
Von hier aus verstehen wir die bewegliche Klage Guizots, des typi-
schen Repräsentanten des französischen Bürgertums der 40er Jahre des
vorigen Jahrhunderts, wenn er voller Angst von der sozialen Demokra-
tie, von jenem Echo des alten sozialen Kriegsgeschreis spricht, das sich
in ihren Tagen in allen Staffeln der Gesellschaft erhebe und widerhalle.
Karl Marx war es, der damals mit einer Formulierung, die sich unmit-
telbar zwar auf die Verfassung Frankreichs vom 23. Oktober 1848
bezog, die aber in Wirklichkeit auch für die Reichsverfassung vom
11. August 1919 noch gilt, das wahre Wesen des demokratischen Staa-
tes im Zeitalter der Herrschaft der Bourgeoisie enthüllte:
»Der umfassende Widerspruch aber dieser Konstitution besteht darin:
Die Klassen, deren gesellschaftliche Sklaverei sie verewigen soll, Prole-
tariat, Bauern, Kleinbürger, setzt sie durch das allgemeine Stimmrecht
in den Besitz der politischen Macht. Und der Klasse, deren alte gesell-
schaftliche Macht sie sanktioniert, der Bourgeoisie, entzieht sie die poli-
tischen Garantien dieser Macht. Sie zwängt ihre politische Herrschaft
in demokratische Bedingungen, die jeden Augenblick den feindlichen
Klassen zum Sieg verhelfen und die Grundlagen der bürgerlichen
Gesellschaft selbst in Frage stellen. Von den einen verlangt sie, daß sie
von der politischen Emanzipation nicht zur sozialen fort-, von den
andern, daß sie von der sozialen Restauration nicht zur politischen
zurückgehen.«6
Diesem »umfassenden Widerspruch«, von dem Karl Marx spricht, sind
die heute geltenden Verfassungen ganz oder zum Teil unterworfen.
Entweder gibt es für sie, wie zum Beispiel für die Verfassung der Verei-
nigten Staaten und die Verfassungen des letzten Jahrhunderts, kein
Problem der sozialen Demokratie, oder sie sehen zwar die soziale
Demokratie, wie die Nachkriegsverfassungen von Deutschland und
Österreich, als Aufgabe, verhelfen aber ihren Prinzipien nicht voll zum
Durchbruch.
Die klare Unterscheidung zwischen politischer und sozialer Demokra-
tie, die allen großen politischen Denkern des letzten Jahrhunderts
gegenwärtig war, wiedererweckt und in ihrer ganzen Schärfe für unser

6 [Vergleiche: Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850, in: MEW


Band 7, Berlin 1960, S. 43.]

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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 217

heutiges politisches Leben aufgezeigt zu haben, ist das Verdienst Max


Adlers in seinem Werk über die Staatsauffassung des Marxismus 1922.7
»Politische Demokratie« ist eine charakteristische Verdoppelung.
Demokratie bedeutet dem Wortsinn nach politische Herrschaft des Vol-
kes (genauer: Herrschaft des Volkes in der Polis, im antiken Stadtstaat).
Die nochmalige Zusetzung des Wortes »politisch« zum Worte »Demo-
kratie« legt den Ton darauf, dass hierunter die nur politische Herr-
schaft des Volkes begriffen und damit nichts über die ökonomischen
Machtbeziehungen ausgesagt werden solle, die im 20. Jahrhundert die
ausschlaggebenden geworden sind. Die Unterscheidung zwischen
sozialer und politischer Demokratie ist keineswegs willkürlich, wie ihr
das ihre Gegner im sozialdemokratischen Lager mit der Begründung
vorwerfen, dass man niemals unterscheiden könne, wann die politische
Demokratie aufhöre und die soziale Demokratie anfinge. Gerade die
verfassungspolitische Entwicklung Deutschlands in der letzten Zeit
zeigt, dass diese Unterscheidung keine müßige Theorie ist, sondern
dass nur mit ihrer Hilfe der heutige Verfassungstypus genau erkannt
werden kann.
Nur wenn man die soziale Homogenität, die das Prinzip der sachlichen
Wertgemeinschaft der Demokratie in unserer heutigen Zeit darstellt,
berücksichtigt, ist das Majoritätsprinzip verständlich.8 Nur in einer
Gemeinschaft, deren soziale Struktur sozialistisch ist, bedeutet Ent-
scheidung durch Mehrheit keine Vergewaltigung der Überstimmten;
hier bedeutet Majoritätsentscheidung nur die Anwendung eines erprob-
ten Mittels, um Streitigkeiten über die technisch beste Verwirklichung
der allen gemeinsamen Grundsätze aus der Welt zu schaffen. Je weni-
ger Gemeinsamkeit und Einmütigkeit über die Voraussetzungen, die
sozialen Prinzipien der Gemeinschaft herrschen, in desto stärkerem
Maße wird die schonungslos ausgeübte Anwendung des Majoritäts-
prinzips zur Technik der Vergewaltigung, der Gemeinwille ein Phan-
tom.
Wenn das Majoritätsprinzip in der politischen Demokratie dazu
benutzt wird, die Erfüllung sozialer Forderungen der Arbeiterschaft zu
verhindern, wie es heute fast überall der Fall ist, dann bergen diese
Demokratien trotz aller Verhüllungen in sich ein beträchtliches Stück
bürgerlicher Diktatur. Denn das Wesen der bürgerlichen Diktatur

7 [Max Adler: Die Staatsauffassung des Marxismus. Ein Beitrag zur Unterschei-
dung von soziologischer und juristischer Methode, Wien 1922.]
8 Auch hier sei wieder ausdrücklich auf die Untersuchungen Max Adlers in »Poli-
tische oder soziale Demokratie«[, Berlin 1926], Kapitel 10, hingewiesen.

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218 [17.] Weimar … und was dann? [1930]

besteht in der Aufrechterhaltung der ökonomischen Vormachtstellung


des Bürgertums mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Der Kern-
punkt, in dem sich die proletarische Diktatur von der bürgerlichen
unterscheidet, ist der, dass diese nicht zur Aufrechterhaltung einer
bestehenden, sondern zur Verwirklichung einer neuen Gesellschafts-
ordnung dient. Diese Idee von der proletarischen Diktatur hat allen
Denkern des Proletariats vorgeschwebt, ob sie nun, wie Karl Marx, die
proletarische Diktatur mehr von der technisch-wirtschaftlichen Seite
oder, wie zum Beispiel Max Adler, von der politischen Seite her
betrachteten. Über den prinzipiell revolutionierenden und umstürzen-
den Charakter der proletarischen Diktatur waren und sind sie sich alle
einig. Ein deutliches Beispiel für die Unterscheidung von bürgerlicher
und proletarischer Diktatur bietet das faschistische Italien. Hat in sei-
nem Anfangsstadium der Faschismus durch seine mannigfachen syndi-
kalistischen Elemente sich den Anschein geben können, als ob er in die
Reihe der proletarischen Diktaturen insofern gehöre, als er eine grund-
sätzliche Änderung der gesamten sozialen und politischen Zustände
herbeiführen wolle, so ist im Laufe der Jahre immer klarer geworden,
dass es sich bei ihm um eine rein bürgerliche Diktatur handelt, die die
bestehende Sozialordnung zu erhalten bestrebt ist.9
Der Artikel 48 der Reichsverfassung soll die Ausnahme von der Regel
der Demokratie darstellen. Die herrschenden Klassen in einer sozial
nicht homogenen Demokratie sind oft nicht in der Lage, auf demokrati-
schem Wege eine einheitliche Staatswillensbildung herbeizuführen.
Deshalb sind sie gezwungen, von Zeit zu Zeit die demokratische Ver-
tretung auszuschließen und mit Mitteln der Diktatur das auszuführen,
was auf legalem Wege der Wille großer Teile des Volks verwehrt. Je
nach der gegebenen Situation geht die Demokratie vollkommen in eine
Dauerdiktatur (souveräne Diktatur10) über (Italien), oder sie stellt nach
Vergewaltigung der Opposition (Sachsen, Thüringen 1923) die Demo-

9 Der grundsätzlich bürgerliche Charakter der italienischen Diktatur steht nicht


mit der Tatsache in Widerspruch, dass der Faschismus mit Glück versucht hat,
sich selbst und anderen einzureden, dass er eine grundsätzliche Neuerung des
gesamten politischen Status des italienischen Volkes bedeute. Die politische
Ideologie eines Systems ist von dessen realer Erscheinungsform streng zu tren-
nen. Jedes politische System muss, wenn es sich an der Macht erhalten will, in
sich die Verwirklichung von etwas politisch Neuem sehen. Dass der offizielle
deutsche Republikanismus nicht einmal dies kann, zeigt die Schwäche und
Halbheit seiner Position.
10 Zur theoretischen Fundierung siehe Carl Schmitts grundlegende Arbeit »Die
Diktatur«, [von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum
proletarischen Massenkampf,] München und Leipzig 1927. Auch Max Adler hat
sich in seiner Staatsauffassung des Marxismus dieser Terminologie angeschlos-

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kratie wieder her. Nur einmal hat es sich in der modernen Welt ereig-
net, dass die Voraussetzungen der Demokratie zugleich die Vorausset-
zungen der Diktatur gewesen sind. Die Pariser Kommune von 1871 ist
das Beispiel dafür, dass eine von annähernd gleichen politischen und
sozialen Voraussetzungen ausgehende Bevölkerung in einem außeror-
dentlichen Fall eine Diktatur ausübte, ohne dass dabei die Grundlagen
der Demokratie verlassen worden wären. Sieht man aber von diesem
einen Fall ab, so ist das Verhältnis zwischen Demokratie und Diktatur
bislang nicht so gewesen, wie es bürgerliche Verfassungspolitiker gern
hinstellen. Da die Demokratie bislang immer nur eine politische Demo-
kratie gewesen ist, so hat in ihr die verfassungsmäßige Institution des
Ausnahmezustandes (kommissarische Diktatur) meistens nur den
einen Zweck erfüllt, das Proletariat, sofern es mit den geschäftsord-
nungsmäßigen Mitteln des Parlamentarismus nicht zum Schweigen zu
bringen war, auf gewaltsame Weise wieder in den bestehenden Staat
einzufügen. Dabei muss erwähnt werden, dass der häufige Gebrauch
des Artikels 48 in den Nachkriegsjahren zum Teil auch auf das Konto
mangelnden parlamentarischen Bewusstseins der bürgerlichen Parteien
zu setzen ist, die sich zu gerne noch als die unverantwortlichen Nörgler
am Handwerk einer ihrem Einfluss entzogenen Bürokratie ansahen.
Erst in einem langsamen Republikanisierungsprozess hat das deutsche
Bürgertum begriffen, dass ihm von nun an ein entscheidender Anteil
an der politischen Herrschaft zusteht.
Der Punkt, an dem die politische Demokratie des Bürgertums in die
bürgerliche Diktatur umschlägt, ist nicht absolut bestimmbar. Da jede
bürgerliche Demokratie ein Stück Diktatur zwangsmäßig in sich trägt,
ist es oft nur eine Frage der konkreten Zweckmäßigkeit, ob ein Regime
sich äußerlich als ein demokratisches oder als ein diktatorisches mas-
kiert. Und auch in den Ländern, in denen durch das Vorhandensein
einer gut organisierten Arbeiterbewegung der bürgerlichen Klassen-
herrschaft in der Demokratie gewisse Grenzen gesetzt sind, hat sich die
Herrschaft der ökonomisch mächtigen Kapitalistenklasse mindestens
bezüglich der großen Richtlinien der Außenpolitik, der Wirtschafts-
und Wehrpolitik durchgesetzt. Diese ökonomische Vorherrschaft des
Kapitalismus bildet den gemeinsamen Hintergrund aller bürgerlichen
Politik. Wie Mussolini einen führenden Bankier zum Finanzminister
ernennen musste, so hat auch die deutsche Koalitionsregierung 1929 als
ihre Sachverständigen für die Pariser Konferenz neben dem an sich

sen. [Max Adler: Die Staatsauffassung des Marxismus. Ein Beitrag zur Unter-
scheidung von soziologischer und juristischer Methode, Wien 1922.]

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220 [17.] Weimar … und was dann? [1930]

schon die Interessen der Privatwirtschaft vertretenden Reichsbankprä-


sidenten Schacht führende Mitglieder des Reichsverbands der deut-
schen Industrie ernannt, obwohl diese Sachverständigen tatsächlich
über die Lasten zu entscheiden hatten, die zum großen Teil das deut-
sche Proletariat zu tragen hat. So ist die Problemstellung jeder bürgerli-
chen Herrschaft, unter welcher politischen Form sie auch immer ausge-
übt werden möge, insofern einheitlich, als die bürgerlichen Schichten
überall um die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems ringen.
Ob politische Demokratie, zeitweilige (kommissarische) Diktatur
gemäß Art. 48 der Verfassung oder Dauerdiktatur unter Suspendierung
der Verfassung, gilt weitesten Kreisen des Bürgertums von seinem
Standpunkt aus mit Recht als Zweckmäßigkeitsfrage, die nur unter
dem einen Gesichtspunkt zu entscheiden ist: Was dient am besten der
Aufrechterhaltung des ökonomischen Status quo?
Eine proletarische Verfassungsbetrachtung hat demgegenüber alle Ver-
fassungsinstitutionen, auch die Demokratie und die Diktatur, im kon-
kreten Fall danach einzuschätzen: Wie verändern diese Institutionen
die Lage der arbeitenden Klasse? Denn Staats- und Regierungsformen
sind niemals an sich gut oder böse. Jede Klasse hat für sich unter ihrer
eigenen Verantwortung zu entscheiden, ob im konkreten Fall die eine
oder die andere Form für sie gut oder schlecht ist.

Das Wahlrecht

In Deutschland mehren sich die Stimmen, die mit dem heutigen Wahl-
recht nicht zufrieden sind. Sie werfen ihm vor, dass es unorganisch sei
und unfähig, ein wahres Spiegelbild des Bevölkerungswillens zu bil-
den. Sie meinen, in jeder neuen Wahl nicht eine politische Entschei-
dung des deutschen Volkes, sondern das monotone Antlitz gleichförmi-
ger Parteimaschinen zu erblicken. Der modernen Quantitätssucht soll
die Persönlichkeit des Abgeordneten zum Opfer gefallen, an Stelle
einer Repräsentation der Idee die Vertretung von Interessen getreten
sein. – Wir geben den Kritikern des geltenden Wahlrechts alle Tatsa-
chen zu, auf die sich ihre Kritik stützt, und treten doch für dieses Wahl-
recht ein; wir behaupten, dass sie den Sinn und die Bedeutung des
Wahlrechts überhaupt verkennen. Niemals in der Geschichte und auch
heute nicht ist es der Zweck eines Wahlrechts gewesen, von sich aus
soziale Zustände und deren politische Formen zu ändern. Nicht die
technische Waffe des Wahlrechts ist es, die die politische oder soziale

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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 221

Verfassung ändert; auf sozialen Umwälzungen beruhende politische


Schöpfungsakte ändern die Zustände der menschlichen Gesellschaft.
Keines der vielen möglichen Wahlsysteme ist von den jeweiligen
Machthabern deshalb durchgesetzt worden, um einer vorhandenen
Gesellschaftsordnung den Boden zu entziehen; sie sind alle in der
bewussten Absicht eingeführt worden, eine bestehende Gesellschafts-
ordnung zu erhalten.11 – Als Frankreich 1791 ein Wahlrecht einführte,
das die Wahlbefugnis an bestimmte Vermögensvoraussetzungen
knüpfte, hatte diese Erschwerung einen politischen Zweck. Sie sollte
dazu dienen, den vermögenden Bürgerschichten, die sich nach dem
Sturz der absoluten Monarchie mit der Regierung Frankreichs befass-
ten, die Macht zu erhalten und großen Teilen der ärmeren Bevölkerung,
hauptsächlich des radikalen Paris, politische Betätigung unmöglich zu
machen. Im Jahre 1793 gelangten mit Hilfe gerade jener Pariser Bevöl-
kerung, der man kurz zuvor das Wahlrecht versagt hatte, die zu
Unrecht als Schreckensregierung verschrienen Männer zur Herrschaft.
Diese hatten nichts Eiligeres zu tun, als alle Zensusqualifikationen
abzuschaffen und allen Bürgern das Wahlrecht zu verleihen. Nach
ihrem Sturz wurde wieder ein Zensuswahlrecht eingeführt, um den
wohlhabenden und im Sinne des Bürgertums besonneneren Schichten
die wiedererlangte Macht zu garantieren. Das Zensuswahlrecht, das
das Bürgertum der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so in sein Herz
geschlossen hatte und das in Preußen bis 1918 als Dreiklassenwahlrecht
in Geltung war, war ein bequemes Mittel, die Arbeiterschaft von dem
ihr gebührenden politischen Einfluss fernzuhalten. Aus diesen Beispie-
len geht hervor, dass jedes Wahlrecht nur gemessen werden kann an
dem Ziel, das man mit ihm erreichen will; kein Wahlrecht ist an sich
gut oder böse, richtig oder falsch; seine Eignung bestimmt sich, solange
es in der Welt Klassengegensätze gibt, nur nach dem jeweils mit ihm
verfolgten politischen Zweck.
Nur von diesem Standpunkt aus ist das Wahlrecht des bolschewisti-
schen Russland verständlich. Wenn es große Schichten der russischen
Bevölkerung von der Wahlberechtigung ausschließt und die Wahlen
indirekt oder stufenweise, dazu in den meisten Fällen öffentlich und
unter Überwachung seitens des Staatsapparates stattfinden lässt, so
kann dieser Wahlmethode sicherlich nicht der Sinn innewohnen, exakt
festzustellen, welche Meinung die russische Bevölkerung, insbesondere

11 Im Bismarck‘schen Reich kam freilich »die List der Idee« dem Proletariat
zugute. Das allgemeine Wahlrecht, eingeführt als konservative Regierungswaffe
gegen den Partikularismus und das Besitzbürgertum, wurde zur werbenden
Heerschau des selbstständig gewordenen Proletariats.

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der Bauer auf dem platten Land, vom Bolschewismus hat; dazu ist die-
ses System ungeeignet. Das Gleiche gilt vom Wahlrecht des faschisti-
schen Italien. Hier wird neuerdings, seit dem Wahlgesetz vom Mai
1928, die Kandidatenliste durch den Großrat der Faschistischen Partei
aus Vorschlägen der einzelnen faschistischen Organisationen zusam-
mengestellt, und den Wählern bleibt es nur überlassen, Kandidaten
dieser einzigen amtlichen Liste zu wählen oder mit Nein zu stimmen
oder sich der Stimme zu enthalten. Die Wahl bedeutet in beiden Län-
dern nichts weiter als ein für die Regierenden unverbindliches Zustim-
mungszeichen oder Warnungssignal. Sie ist nur eines der vielen Mittel,
mit denen die Herrschenden um die Gunst der Masse werben. Die
Öffentlichkeit der Wahlen bedeutet, abgesehen von dem regelmäßig
hiermit verbundenen Gesinnungsterror, ein Mittel zur Bewusstseins-
verbindung der herrschenden Schichten mit den breiten Volksmassen.
So hat das Wahlsystem Russlands und Italiens überhaupt nicht den
Zweck, die Grundlage politischer Entscheidungen zu sein; sein spezi-
fisch politischer Wert besteht allein in dem Versuch, die breiten Volks-
massen in das geltende Herrschaftssystem einzubeziehen, ohne ihnen
dafür Einfluss gewähren zu müssen.
Demgegenüber haben die Wahlsysteme der parlamentarisch-demokra-
tischen Länder eine andere Bedeutung. In England, Frankreich und den
Vereinigten Staaten bestimmt das Wahlergebnis selbst darüber, welche
Parteigruppen jeweils zur Herrschaft gelangen sollen. Entscheidend
aber ist dabei, dass die Differenzen zwischen den Parteien bis in die
jüngste Zeit weniger sachlicher Natur als eben durch die Partnerschaft
jenes Wahlspiels (Ämterpatronage) bedingt waren. Als das liberal-bür-
gerliche Zeitalter in Deutschland mit der Weimarer Verfassung zur
Neige ging, wurde das Bismarck‘sche Wahlrecht zu Grabe getragen
und ein listengebundenes, von der Parteiwillkür bestimmtes Proportio-
nalwahlrecht geschaffen. Dieses System ist ein Ausdruck dafür, dass
die idyllische Zeit des Bürgertums vorbei ist. Das Proletariat marschiert
gleichberechtigt in die Kampfbahn der Demokratie ein. Das mit dem
Einmarsch des Proletariats zugleich aufkommende Listenwahlrecht hat
eine deutliche Änderung des dem Wahlrecht in parlamentarisch-demo-
kratischen Staaten bisher innewohnenden Sinnes und Zweckes bewirkt.
Mit dem bolschewistischen und faschistischen Wahlrecht hat die deut-
sche Wahl insofern gewisse Ähnlichkeit, als auch sie keine bestim-
mende Einwirkung auf den Gang der politischen Ereignisse besitzt. Die
Erfahrungen der Nachkriegszeiten haben das deutsche Proletariat ein-
dringlich gelehrt, dass auch eine sehr hohe Mandatsziffer keine aus-
schlaggebende politische Macht bedeutet, und jener alte Traum der 51-

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prozentigen Mehrheit entpuppt sich endgültig als das, was er immer


gewesen ist, als grob mechanistische Spielerei. Auf der andern Seite
teilt das deutsche Wahlrecht mit dem französischen und angelsächsi-
schen dessen Freiheit und Allgemeinheit. Es ist der Sinn des bei uns
geltenden Proportionalwahlrechts, die Klassenfronten mathematisch
genau widerzuspiegeln, ohne dass freilich die jeweilige Feststellung
politisch voll ausgewertet werden könnte. Jene Anonymität des Wahl-
rechts, welche in dem Listenprinzip und in dem Grundsatz der großen
Wahlkreise sich verkörpert und die heute vielen Kreisen die Hauptziel-
scheibe für ihre Angriffe abgibt, ist nur die Konsequenz davon, dass im
heutigen Staat das Wahlrecht von der Austragung der Klassengegen-
sätze beherrscht wird. Das deutsche Professorenparlament des 19. Jahr-
hunderts, in dem sich die Gebildeten über Staatsdinge unterhielten,
über die andere entschieden, ist unwiederbringlich dahin. Es würde
auch durch eine Verkleinerung der Wahlkreise und durch größere Frei-
heit des Wählers bei der Auswahl des Abgeordneten nicht wiederkeh-
ren. Die Parlamente sind nicht die Orte, in denen sich die Gebildeten
der Nation über gebildete Dinge unterhalten. Parlamente sind Stätten
zum Aus- als Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter miteinander tra-
gen des Klassenkampfes, und die Parteien,12 die draußen kämpfen,
sind auch die berufenen Wortführer im Parlament.
Diese Tatsachen würden durch Reformen nur verschleiert, nicht geän-
dert; es ist ehrlicher, wenn jeder Wähler weiß, welches Klasseninteresse
sein Abgeordneter vertritt, als wenn die einzelnen lokalen Größen, die
vielleicht eine Wahlreform ins Parlament brächten, unter Ausschluss
der Öffentlichkeit und damit ihrer Wähler von irgendwelchen »Ver-
bandsinteressen« erobert würden.13
Wir müssen uns mit der Erkenntnis bescheiden, dass das allgemeine
Wahlrecht an sich im demokratischen Staat keine politischen Entschei-

12 Ein besonderer Abschnitt über »Partei und Abgeordneter« fiel leider dem
Raumzwang zum Opfer. Die Auffassung vom Wesen der Partei, wie sie der
Sozialliberale Radbruch durchgehend vertritt, ist für einen Sozialisten, für den
Marxismus zwar kein Dogmenformularbuch, aber doch immerhin die beste
Methode der Wirklichkeitsanalyse darstellt, unhaltbar. Es gibt in der Wirklich-
keit der Klassenparteien kein geheimes Zusammenwirken des Gegensätzlichen.
Die List der Idee, die Institutionen zu wandeln vermag, hat eben nur Platz im
Bereich des historisch Notwendigen.
13 Eine Änderung des Wahlrechts ist nur bezüglich der Reichs- und Landeslisten
erforderlich; diese müssen beseitigt und die sich dabei ergebenden Überschüsse
auf die einzelnen Bezirke verteilt werden. Denn die bestehende Reichsliste
bedeutet allein durch die bloße Tatsache ihrer Existenz eine gesetzliche Garantie
der Parteibürokratie und erhält nicht nur das an Parteibürokratie, was davon
notwendig, sondern das, was augenblicklich vorhanden ist.

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dungen fällen kann, die der Wille der einzelnen Gruppen nicht selbst in
die Wege leitet. Auch das freieste Wahlrecht kann nur einen vorhande-
nen politischen Willen unterstützen, dessen Intensitätsgrad sich in den
Wahlresultaten deutlich bemerkbar macht. Das allgemeine und gleiche
Wahlrecht ersetzt nicht den politischen Willen des Proletariats; es setzt
ihn, falls es überhaupt für die Arbeiterschaft einen Sinn haben soll, vor-
aus.

Das Parlament

Die Verwirklichung der Demokratie, ihre Umsetzung in die staatliche


Praxis übernimmt nach der überlieferten Auffassung der westlichen
Länder das Parlament. Dieser Tradition hat die Weimarer Verfassung
im Großen und Ganzen Gefolgschaft geleistet und deshalb alle Anträge
verworfen, die in Anlehnung an die Erfahrungen der russischen Revo-
lution damals in der Nationalversammlung von der USPD vorgelegt
wurden.
Die Macht, die der Wortlaut der Verfassung dem Parlament gegeben
hat, ist groß, gemessen an den anderen staatlichen Faktoren, denen ver-
fassungsgemäß politisches Einwirkungsrecht zusteht. Außer dem
Reichspräsidenten, dessen Stellung besonders zu behandeln sein wird,
gewährt die Verfassung in erster Linie dem Reichsrat einen gewissen
stetigen politischen Einfluss. Sein Charakter als Vertreter der verschie-
densten Länderinteressen lässt ihn aber zu einem ernst zu nehmenden
Gegenspieler des Reichstags nur werden, wo es sich um die Garantie
der spezifischen Finanz- und Verwaltungsbelange der Länder handelt.
Maßgebenden politischen Entscheidungen des Reichstags, die nicht auf
diesem Gebiet liegen, hat der Reichsrat bislang noch keine Schwierig-
keiten bereitet und wird es bei der Defensivrolle, in die die Länder
heute immer mehr gedrängt werden, auch weiterhin kaum tun.
Ferner kommt als staatsrechtliche Größe, die die Entscheidungen des
Reichstags hemmen oder ihnen eine andere Richtung geben kann, das
Volk in Betracht. Der Ausdruck »Volk« wird hier in dem Sinne verstan-
den, wie ihn die Bestimmungen der Reichsverfassung über die Volks-
gesetzgebung auffassen. Diese Bestimmungen durchbrechen theore-
tisch die Parlamentsherrschaft und waren konsequenterweise in dem in
dieser Beziehung streng liberalen Verfassungsentwurf von Hugo Preuß
nur insoweit enthalten, als sie der Überwindung von Meinungsver-
schiedenheiten zwischen höchsten Reichsinstanzen dienten. Die nun-

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mehr Verfassung gewordenen Bestimmungen geben dem Volk als sol-


chem über den Kopf des Parteienparlaments hinweg die Möglichkeit,
vom Reichstag beschlossene Gesetze zu verwerfen oder neue Gesetze
zu begehren und zu erwirken. Jedoch kann das Volk, das heißt die
gesamte in einem Staat wohnende wahlberechtigte Bevölkerung nur
auf ihm vorgelegte, formulierte Fragen mit Ja oder Nein antworten. Das
Volk ist also von der Art der Fragestellung abhängig, die ihm eine
Behörde oder eine Interessentengruppe vorlegt. Dazu kommt, dass sich
in der Praxis wesentliche Fehlerquellen in Bezug auf die konstruktive
Behandlung dieser Verfassungsmaterie herausgestellt haben. Nach
durchaus herrschender Ansicht ist Voraussetzung des Durchdringens
des Volksentscheides die Beteiligung der Hälfte aller Wahlberechtigten.
Dadurch wird praktisch die Entscheidung von der Zahl der zu Hause
Bleibenden abhängig gemacht. Während dieser Volksteil bei den Wah-
len unberücksichtigt bleibt, gibt er hier erfahrungsgemäß gegen die
Antragsteller (Fürstenenteignung) den Ausschlag. Hierzu kommt, dass
die Regierung unter Hinweis auf die Bestimmung der Reichsverfas-
sung, die den Volksentscheid über Abgabengesetze und Haushaltsplan
nur dem Reichspräsidenten vorbehält, fast jedem Volksbegehren die
Zulassung versagen kann. Aus einem realen Verfassungsinstitut ist hier
ein Propagandamittel geworden, das weder den verpflichtet, der es
benutzt, noch denjenigen ängstigt, gegen den es gerichtet ist.
Der geringe Widerstand, den das Parlament an den anderen, nach dem
geschriebenen Verfassungsrecht maßgebenden Faktoren findet, lässt
anscheinend seiner Betätigung weiten Spielraum. Die großen verfas-
sungsrechtlichen Möglichkeiten, die das Parlament besitzt, haben zu
Erörterungen über seine politische Führerrolle und über das Verhält-
niss von politischem Führer und Parlament zueinander Anlass gege-
ben. Auf sozialistischer Seite ist ein besonders typisches Beispiel hierfür
die Schrift von Geyer über »Führer und Masse in der Demokratie«.14
Meist verdanken solche Erörterungen ihre Entstehung der Unkenntnis
des Bedeutungswandels, den das Parlament seit dem Beginn des 19.
Jahrhunderts bis auf unsere heutige Zeit durchgemacht hat. Im Anfang
des vorigen Jahrhunderts bedeutete Herrschaft des Parlaments die
Parole des liberalen Bürgertums, mit der es gegen die halbfeudale Mon-
archie ankämpfte und unter der es zur Herrschaft gelangte. Das deut-
sche Bürgertum idealisierte diese Geschichtsperiode, die ihren Nieder-
schlag insbesondere in dem Frankreich der 40er Jahre des vergangenen
Jahrhunderts fand, das Karl Marx in seinen »Klassenkämpfen in Frank-

14 [Curt Geyer: Führer und Masse in der Demokratie, Berlin 1926.]

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reich«15 unübertrefflich wirklichkeitsnah geschildert hat. Von all dieser


Bourgeoisieherrlichkeit blieb in Deutschland nur der kurze Traum der
48er Zeit zurück. Traum und Hoffnung des gebildeten Bürgertums in
Deutschland bezogen sich in Wirklichkeit auf den Zwischenzustand,
der in Frankreich und England eingetreten war, als die Machtstellung
der feudalen Monarchie faktisch beseitigt war und das Proletariat erst
in den Anfängen seines politischen Aufstiegs sich befand. Die durch
das damalige Parlament ausgeübte Herrschaft der Schichten von
»Besitz und Bildung« war die Grundlage der Führerrolle des Parla-
ments, für deren Unantastbarkeit das Zensuswahlrecht Sorge trug. Jene
Herrschaft wurde teils durch Parlamentsfraktionen selbst, teils in Form
des noch heute bei uns so bewunderten englischen Premierminister-
Systems ausgeübt. – Die Bedeutung des Parlaments im geeinten Reich
der Bismarck’schen und Nachbismarck’schen Zeit war auf einem
Zusammengehörigkeitsgefühl in wesentlich negativem Sinn aufgebaut,
und negativ war auch sein praktisch wichtigstes Recht, das Budgetbe-
willigungsrecht, das die eifersüchtig gehütete Quelle seiner politischen
Bedeutung darstellte.16 Die Einheit des Parlaments war allenfalls die
Einheitsfront derer, die mit dem herrschenden System nicht zufrieden
waren. Diese Einheit zerbrach in dem Augenblick, als der gemeinsame
Gegner, die halbfeudale Monarchie, verschwand und die so heiß
ersehnte Macht mit mindestens einem halben Jahrhundert Verspätung
endlich erlangt wurde. Mit der Einheit des Parlaments ging auch seine
Macht dahin. Die spätliberale Auffassung lässt im Gefolge Max Webers
jene reale Grundlage des parlamentarischen Systems des 19. Jahrhun-
derts außer Acht und betrachtet dieses System nur als Mittel zur Füh-
rerauslese. Dabei vergisst sie, dass Führerauslese eine mehr technische
Funktion ist, die nur in der damaligen Zeit bei der vorhandenen Klas-
seneinheit des Bürgertums vom Parlament ausgeübt werden konnte.
Jener Parlamentarismus des 19. Jahrhunderts hat im dualistischen Klas-
senstaat des 20. Jahrhunderts seine Existenzgrundlage verloren. Die

15 [Karl Marx: Klassenkämpfe in Frankreich, in: MEW Band 7, Berlin 1960,


S. 9-107.]
16 Heute hat das Budgetrecht, das im Parlament der Zeit von 1870 bis zum Kriegs-
ausbruch eine so große Rolle einnahm, trotz aller entgegenstehenden Äußerun-
gen, die man gerade in der Gegenwart vernimmt, keine große Bedeutung mehr;
denn die Mehrheit der bewilligenden Parteien und die zu kontrollierende
Regierung gehören meist denselben oder befreundeten Interessentengruppen
an, die Opposition aber ist zur wirklichen Kontrolle als Minderheit nicht in der
Lage. Das »selbstbewusste Parlament«, von dem Hugo Heimann in seiner
Schrift »Der Reichshaushalt«[, Berlin 1928,] S. 27 spricht, gehört ebenfalls einer
vergangenen Geschichtsepoche an, und die »Praxis des politischen Alltagsle-
bens« mit ihren »Rücksichtnahmen« hat das Budgetrecht stark durchlöchert.

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Technik der Führerauslese findet nunmehr außerhalb des Parlaments,


innerhalb der einzelnen Klassenorganisationen statt, und das Parla-
ment ist nur die öffentliche, weithin sichtbare Stätte, auf der die vorher
erwählten Führer auftreten. Dort verkünden sie die Forderungen der
Klassen, die in der parlamentarischen Diskussion nur festgestellt, nicht
aber auf ihre Richtigkeit geprüft werden können.
Wohl hat die Weimarer Verfassung formell direkte ökonomische Ein-
flüsse der einzelnen Interessengruppen auf das Parlament ausgeschal-
tet. Sie hat auch von dem Versuch Abstand genommen, die Einfluss-
sphären von Kapital und Arbeit verfassungsmäßig festzulegen, wobei
es sich im Jahre 1919 nur um die Festlegung des Einflusses der Arbeit-
nehmer hätte handeln können. Nicht hat sie zu verhindern vermocht,
dass die ökonomischen Kräfte nach ihren jeweiligen Stärkeverhältnis-
sen politische Machtstellungen bezogen. Indem die ökonomischen
Mächte, in die Form politischer Parteien gekleidet, vom Parlament
Besitz ergriffen, handhabten sie zwar dessen Technik als vereinfachtes
und relativ friedliches Mittel des Klassenkampfes, falls sie ihnen Vorteil
gewährte, dachten aber keineswegs daran, sich ihr zu unterwerfen,
wenn sich diese Technik in der Form von Mehrheitsbeschlüssen gegen
sie zu wenden drohte.

Die Grundrechte – das sachliche Arbeitsgebiet des Staates

Niemand hat den Gegensatz zwischen den Grundrechten in ihrer aus


dem 18. Jahrhundert überlieferten Form und dem demokratischen Ver-
fassungsprinzip besser und treffender gewürdigt als Karl Marx. In
einer seiner frühen Schriften, der »Heiligen Familie«, zeigt er in dem
Kapitel »Kritische Schlacht gegen die französische Revolution« die
weite Spannung auf, die zwischen einem einheitlichen demokratischen
Staatsbewusstsein und den liberalen Grund- und Menschenrechten
bestand. Diese Spannung war umso bedeutsamer, als gerade die fran-
zösische bürgerliche Revolution diese Menschen- und Grundrechte
zum inneren Gestaltungsprinzip ihres neuen antimonarchischen Staa-
tes machen wollte. Marx sagt dort:
»Robespierre, Saint-Just und ihre Partei gingen unter, weil sie das
antike realistisch-demokratische Gemeinwesen, welches auf der
Grundlage des wirklichen Sklaventums ruhte, mit dem modernen spi-
ritualistisch-demokratischen Repräsentativstaat, welcher auf dem
emanzipierten Sklaventum der bürgerlichen Gesellschaft beruht, ver-
wechselten. Welche kolossale Täuschung, die moderne bürgerliche

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Gesellschaft, die Gesellschaft der Industrie, der allgemeinen Konkur-


renz der freiere Ziele verfolgenden Privatinteressen, der Anarchie, der
sich selbst entfremdeten natürlichen und geistigen Individualität in
den Menschenrechten anerkennen und sanktionieren zu müssen und
zugleich die Lebensäußerung dieser Gesellschaft hinterher an einzel-
nen Individuen zu annullieren und zugleich den politischen Kopf die-
ser Gesellschaft in antiker Weise nachbilden zu wollen!«17
Die überlieferten Grundrechte sind in all ihren Freiheiten von Anfang
an gleichsam Garantien des bürgerlichen Einzelindividuums gegen sei-
nen eigenen Staat gewesen. Dennoch hat die feierliche Proklamierung
der Freiheit, des Eigentums, der Sicherheit und des Widerstandsrechts
nicht deshalb Bedeutung erlangt, weil hier Prinzipien ausgesprochen
wurden, die in ihrem Grundgehalt schon lange vorher zu dem geisti-
gen Rüstzeug des zur Neige gehenden 18. Jahrhunderts gehört haben;
vielmehr haben die von allen revolutionären Verfassungen Frankreichs
fort übernommenen Menschenrechte mit dazu beigetragen, Frankreich
vor den Augen der Mitwelt jene sittliche Größe zu verleihen und pro-
pagandistische Wirkung zu sichern, die einen großen Teil des Erfolgs
des revolutionären Frankreich ausmachte. Die Menschenrechte haben
an der Begründung des französischen bürgerlichen Staates einen nicht
zu unterschätzenden Anteil gehabt. Eine solche Bindekraft hat ihnen im
Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht mehr innegewohnt; damals, als es
galt, sich mit den Errungenschaften des bürgerlichen Staates einzurich-
ten, zeigte sich, dass ihre Kraft doch nicht ausreichte, deren prinzipiell
astaatlichen und asozialen Grundgehalt zu überwinden. Diese Kluft
wäre noch größer geworden, wenn im 19. Jahrhundert mit seinen zahl-
reichen absolutistischen Restbeständen das Bürgertum die Schutzfunk-
tion der Grundrechte nicht dringend zum Ausbau seiner Klassenstel-
lung gebraucht hätte.
Als im Jahre 1919 für die neue deutsche Republik eine Verfassung zu
schaffen war, kam eine Übernahme der Grundrechte in ihrer überliefer-
ten Form nicht in Frage; denn bei der damaligen Stärke sozialistischer
Bestrebungen konnten diese Grundrechte nicht als konstituierendes
Prinzip für den neuen Staat ausreichen. Der Abgeordnete Friedrich
Naumann war es, der es am deutlichsten von allen an den damaligen
Verfassungsberatungen Beteiligten empfand, dass die neue Grund-
rechtsschöpfung, falls sie nicht der Bedeutungslosigkeit anheimfallen
sollte, sich nicht mehr in den ausgefahrenen Bahnen des Liberalismus
bewegen durfte. Naumann sah, dass drüben in Russland ein neuer

17 [Friedrich Engels, Karl Marx: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kri-
tik gegen Bruno Bauer und Kunsorten, in: MEW Band 2, Berlin 1972, S. 129.]

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Staat entstanden war, der entschlossen war, den sozialistischen Prinzi-


pien zum Durchbruch zu verhelfen, und der diesem Willen in seinen
Grundrechten, den »Rechten des arbeitenden und ausgebeuteten Vol-
kes«, in propagandistisch höchst wirksamer Weise Ausdruck gab. Die
Idee des sozialen Staates war es, die Naumann dem Individualismus
der liberalen Grundrechte und dem sozialistischen Willen der Arbeiter-
schaft entgegenstellte. Naumann setzte bei den Vertretern der kapitalis-
tischen Wirtschaftsordnung so viel Einsichtsfähigkeit und Bereitwillig-
keit zur Selbstbegrenzung voraus, dass er glaubte, sie würden sich in
den Dienst eines humanen Nationalstaates, auch wenn er den Forde-
rungen der Arbeiterklasse weitgehend entgegenkäme, einordnen. Nau-
manns knappe Schlagzeiler wie auch die endgültige Fassung der
Grundrechte sind aus der Absicht heraus entstanden, der staatlichen
Betätigung eine Marschroute, ein verbindliches Programm zu geben.
Sie enthalten das sachliche Arbeitsgebiet des Staates. Die Verfassung
beantwortet nach der Frage: wie setzen sich die staatlichen Organe
zusammen? die Frage nach deren Wirkungskreis. Dabei versucht sie
diese Frage nicht, wie die liberalen Staatsverfassungen des Westens,
mit dürren Verbotstafeln, sondern mit positiven Bestimmungen zu
erwidern. Kultur und Wirtschaft zieht der Staat hierdurch in den
Bereich seiner Regelungen ein.
Es entsteht jedoch die Frage, ob die Gebiete, über die der Verfassungs-
gesetzgeber auf weite Sicht hinaus Bestimmungen treffen wollte, ihm so
zur Verfügung gestanden haben, wie es hierzu notwendig gewesen
wäre. Der äußerst lehrreiche Entstehungsvorgang der Weimarer
Grundrechte hat gezeigt, dass dies keineswegs der Fall war. Es hat sich
herausgestellt, dass dort, wo der Gesetzgeber im Namen des ganzen
Volkes bestimmen wollte, andere im Namen eines Volksteiles sich
bereits eingerichtet hatten, wie die Kirche in der Schule oder die Beam-
tenschaft in dem ureigensten Gebiet des Staates, der Verwaltung. So
blieb schließlich von dem ursprünglichen umfassenden Charakter der
Grundrechte, in denen die Idee des den Zeitströmungen weit entgegen-
kommenden Naumann‘schen Sozialstaats trotz Ablehnung seiner äuße-
ren Formulierung stark nachgewirkt hatte, am Ende der Verfassungsbe-
ratungen nicht mehr allzu viel übrig. In der Zwischenzeit hatte nämlich
die einzelnen Interessentengruppen die Furcht vor der Unersättlichkeit
des Sozialismus ergriffen. Sie hatten, dem Beispiel der deutschen Län-
derregierungen folgend, die Verankerung ihrer wohlerworbenen
Rechte, das heißt ihres Interessenkreises, gefordert. Allen Ansprüchen,
auch denjenigen des selbständigen Mittelstandes in Landwirtschaft,
Gewerbe und Handel auf Verankerung, wurde Rechnung getragen.

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Und da alle verankert werden wollten, blieb dem angeblich die Verfas-
sung beherrschenden Sozialismus nichts weiter übrig, als sich ebenfalls
mit verankern zu lassen. Aus dieser Ankerreihe ist das Weimarer
Grundrechtssystem zusammengesetzt, das man oft ungenau als Kom-
promiss bezeichnet. Die Bezeichnung Kompromiss kann zu Irrtümern
Anlass geben.18 Unter Kompromiss versteht man gemeinhin eine
Lösung, die durch Nachgeben beider Teile gewonnen wird und eine
bestimmte Sachlage für eine gewisse Zeitspanne endgültig, eindeutig
und abschließend regeln will. Ein solches Nachgeben ist in den Grund-
rechtsbestimmungen der Weimarer Verfassung nicht erfolgt. Man hat
dort vielmehr regelmäßig unter einem dem sozialstaatlichen Wörter-
vorrat Naumanns entnommenen zierenden Vorspruch oder einleiten-
den Artikel verschiedene, den entgegengesetztesten Kultur- und Sozial-
anschauungen entsprechende, Bestimmungen nebeneinandergestellt.
So sind die Weimarer Grundrechte in ihren entscheidenden Punkten
kein Kompromiss, sondern eine in der Verfassungsgeschichte bisher
unbekannte, einzigartige Nebeneinanderordnung und Anerkennung
der verschiedensten Wertsysteme; größere Bedeutung haben unter all
den mannigfachen Einflüssen, die an der Entstehung der Grundrechte
beteiligt waren, sozialistische, liberal-kapitalistische und durch den
politischen Katholizismus wirksam gewordene kirchliche Einflüsse
geübt. Damit war der Plan eines in den Grundrechten verkörperten,
eindeutigen und das Gesamtvolk zusammenfassenden und einenden
sozialen und kulturellen Programms, das über bloße Formulierung
hinaus die Möglichkeit der geschlossenen Verwirklichung in sich
schloss, gescheitert. Die Ausführung oder Nichtausführung der in den
Grundrechten niedergelegten und gleichsam angebotenen wirtschaftli-
chen und kulturellen Zukunftsgestaltung hing davon ab, welche Stärke
die einzelnen Interessengruppen bei der Durchsetzung ihres in den
Grundrechten enthaltenen Programmpunktes bewiesen.
Die erste Gruppe, betitelt »Die Einzelperson«, birgt am meisten von
dem »altliberalen Erbgut« des Bürgertums. Sie beschäftigt sich haupt-
sächlich mit dem Schutz der Einzelperson gegenüber staatlichen Ver-
waltungseingriffen. Im früheren monarchischen Staat, gegen den sich
diese bürgerlich-rechtsstaatlichen Formulierungen wenden, stand der

18 Man kann diesen Sachverhalt, wie es Carl Schmitt in seiner Verfassungslehre


tut, als »dilatorischen Formelkompromiß« [Carl Schmitt: Verfassungslehre,
München/Leipzig 1928, S. 32] bezeichnen, das heißt eine Einigung der streiten-
den Parteien auf eine Formel, die die wirkliche Entscheidung verschiebt. Der
Klarheit halber möchte ich vorziehen, einen solchen Sachverhalt überhaupt
nicht mit dem Begriff Kompromiss zusammenzubringen.

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Bürger als Einzelindividuum schutzlos der Willkür eines absolutisti-


schen Verwaltungsapparates gegenüber. Der im Verhältnis zum absolu-
tistischen ungleich rationellere bürgerliche Verwaltungsapparat lässt
keine Ausnahmebehandlung von Einzelpersonen zu. Überdies ist das
Gegenstück des Absolutismus, der einzelne angegriffene und schutz-
würdige Bürger, im Zeitalter der Verbände kaum mehr vorhanden, so
dass diese Bestimmungen in dem Maße, wie sie uns selbstverständlich
geworden sind, an Bedeutung verloren haben. Nur wenige von diesen
Formulierungen haben eine über den Schutz des einzelnen Staatsbür-
gers hinausgehende Bedeutung, wie zum Beispiel der den Verfassungs-
abschnitt einleitende Satz: »Alle Deutschen sind vor dem Gesetze
gleich.« Dessen Bedeutung ist jedoch mehr als problematisch. Histo-
risch ist er aus der berechtigten Furcht des Einzelbürgers vor unglei-
cher Gesetzesanwendung und Verwaltungswillkür entstanden. Heute
besteht jedoch lebhafter Streit darüber, ob ihm nicht die bedeutendere
Rolle zukommt, als Schutz gegen ungleiche Gesetzgebung zu dienen
und den gesetzgebenden Körper selbst zu binden. Diese Auslegung hat
dieser Grundsatz hauptsächlich in der Rechtsprechung der Vereinigten
Staaten erfahren. Der dortige Oberste Gerichtshof hat mit Hilfe des Sat-
zes von der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz sehr lange die
Anfänge einer bescheidenen Sozialgesetzgebung abgedrosselt, indem
er Arbeiterschutzgesetze als gegen die Freiheit menschlicher Betätigung
verstoßend für verfassungswidrig erklärte. Sowohl die alte Auslegung
als auch die neuere, die das Anwendungsgebiet des Satzes von der
Gleichheit aller Bürger ins Ungemessene steigert, sind nur höchst
unvollkommene Durchgangsstationen, die der wahren Bedeutung des
Satzes nicht gerecht werden. Wenn nach der neueren Auffassung die
Gleichheitsvoraussetzungen von Akten der gesetzgebenden Organe
nachprüfbar sind, so bedarf es dazu eigener Organe, wozu man die
angeblich unabhängigen Richter ausersehen hat; diese nehmen heute
schon das Recht, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen nachzuprü-
fen, für sich in Anspruch. An die Stelle der Subjektivität des Parlaments
setzt sich damit die Subjektivität einer geistig und sozial viel weniger
umfassenden Körperschaft, eines Richterkollegiums, dem so eine in
Wahrheit rein politische Aufgabe übertragen wird. Denn eine juridisch
messbare, abstrakte Gleichheit gibt es nicht; zeitbedingte Gleichheits-
maßstäbe anderer nach eigenen Maßstäben zu werten, ist nicht Richter-
aufgabe. Jener im Zeitalter der Monarchie an sich berechtigte, zur Will-
kürabwehr dienende Satz von der Gleichheit vor dem Gesetz wird so
lange eine Fiktion, ja noch etwas Schlimmeres, ein Instrument der
Reaktion bilden müssen, als aus der formalen, der politischen Gleich-

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heit der Rechte und Möglichkeiten nicht die substantielle, und das
bedeutet heute die wirtschaftliche Gleichheit geworden ist, solange
nicht die Schaffung einer ökonomischen Gleichheitsbasis aus bloßen
gleich großen gesetzlichen Möglichkeiten gleich große Chancen ihrer
Verwirklichung gemacht hat. Heute dient dieser Satz nur als Garant des
Bestehenden und erfreut sich bei allen kapitalistischen Interessenten-
gruppen steigender Beliebtheit, er wird als Sperrmaßnahme gegen jede
Veränderung des ökonomischen Status quo benutzt und unter dem
Deckmantel des Gleichheitsschutzes mit seiner Hilfe die größte
Ungleichheit, die gerade bestehende Güterverteilung, sanktioniert. An
der Übernahme dieses alten Verfassungsgrundsatzes von der Gleich-
heit vor dem Gesetz zeigt sich, wie mehrdeutig solche scheinbar so kla-
ren Verfassungsbestimmungen sind. In Wirklichkeit hat der Grundsatz
von der Gleichheit vor dem Gesetz dreimal in verschiedenen Zeiten
verschiedenen Bedeutungsinhalt. Der frühliberalen Zeit war er Abwehr
von Verwaltungswillkür, der hochkapitalistischen ist er Garant der
bestehenden Sozialordnung, der sozialistischen wird er zur Fundierung
der ökonomischen Gleichheitsbasis dienen. Nur durch die Aufzeigung
seiner Funktion innerhalb einer gegebenen sozialen Ordnung erhellt
die reale Bedeutung des Satzes von der Gleichheit vor dem Gesetz.19
Außerordentlich problematisch und doch für das Schicksal des Weima-
rer Verfassungswerks von ausschlaggebender Bedeutung ist der Ver-
such der Regelung des Wirtschaftslebens und sein Erfolg. Was die
Hauptfrage: Privateigentum oder Gemeinwirtschaft? betrifft, so bleibt
die Weimarer Verfassung ihrer oben gekennzeichneten Methode
getreu. Neben Gemeinplätze, die niemand verpflichten und auf die sich
niemand berufen kann, stellt sie die beiden möglichen Wirtschaftssys-
teme, privateigentumserhaltenden Kapitalismus und Gemeineigentum
voraussetzenden Sozialismus, gleichberechtigt nebeneinander. Sie
gewährleistet zwar das Privateigentum, sieht aber seine Überführung
in Gemeineigentum ausdrücklich vor. Auf Grund der Tatsache, dass
die Nebeneinandersetzung der Wirtschaftssysteme sich hier in der tech-
nischen Möglichkeit der Überführung von einem ins andere äußert, ist
die Meinung entstanden, dass der Artikel 153 der Reichsverfassung

19 Einen besonderen Anwendungsfall dieses Satzes stellt der Art. 134 dar: »Alle
Staatsbürger ohne Unterschied tragen im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffent-
lichen Lasten nach Maßgabe der Gesetze bei«, der sich in dem hier nicht näher
erörterten Abschnitt über das Gemeinschaftsleben befindet. Die wenig gemein-
schaftsfördernde Praxis der deutschen Steuergesetzgebung zeigt, wie sehr
gerade diese Bestimmung im Bannkreis eines hochkapitalistischen »Gleichheits-
begriffes« verblieben ist.

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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 233

nicht mehr starr am Eigentumsbegriff festhalte. Dies gehe aus seiner


Formulierung hervor, die ja schon die Möglichkeit der Enteignung vor-
sehe. Eine solche Ansicht kann nur auf Unkenntnis der Bestimmungen
über das Privateigentum, wie sie sich seit 1789 in allen bürgerlichen
Verfassungen finden, beruhen; denn die Weimarer Verfassung hat sich
gerade in dieser Hinsicht eng an die überlieferten Vorbilder der bürger-
lichen Verfassungen angeschlossen. Sie alle gewährleisten in mehr oder
weniger pathetischer Form das Privateigentum und sehen trotzdem
eine Enteignung als im öffentlichen Interesse liegenden Ausnahmefall
zur Befriedigung eines konkreten Einzelbedürfnisses gegen angemes-
sene Entschädigung vor. Diese herkömmliche Enteignung des Artikels
153 hebt das Privateigentum nicht auf. Gewiss kann man einwenden,
dass der Absatz 1 des Artikels 153, auch wenn er das Privateigentum
aufrechterhält, doch durch die Worte »sein Inhalt und seine Schranken
ergeben sich aus den Gesetzen« in viel stärkerem Maße, als es die
andern modernen europäischen Verfassungen tun, dem Gesetzgeber
freie Hand lässt, den Rahmen des Eigentums ungleich enger zu ziehen
als frühere Jahrhunderte. Die bürgerliche Rechtswissenschaft hat aber
diese durchaus mögliche und von einem Teil der Verfassungsgesetzge-
ber sicherlich begünstigte Ansicht nicht geteilt, sondern hat sich im
Gegenteil mit Erfolg darum bemüht, den Rahmen entschädigungsloser
staatlicher Eingriffe gegenüber dem Rechtszustand des 19. Jahrhun-
derts noch bedeutend einzuschränken. Wie sehr der Artikel 153 in der
Verfassungs- und Verwaltungspraxis ausschließlich privateigentums-
schützende Funktion bekommen hat, zeigt die Rechtsprechung des
Reichsgerichts. Sie hat dem Enteignungsbegriff eine grenzenlose Aus-
dehnung gegeben und so den Staat für jeden im öffentlichen Wohl-
fahrtsinteresse notwendigen Eingriff entschädigungspflichtig gemacht.
Gerade Artikel 153 in Verbindung mit dem hier schon erörterten Satz
von der Gleichheit vor dem Gesetz wird so zum juristischen Bollwerk,
hinter dem sich die kapitalistische Wirtschaftsordnung verschanzt.
Artikel 155 und 156 enthalten die Möglichkeiten der Sozialisierung und
des Zwangszusammenschlusses. Jede Sozialisierungsmaßnahme aber
wird von der Reichsverfassung von dem anderen möglichen Wirt-
schaftssystem, dem auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln
beruhenden Kapitalismus dadurch abhängig gemacht, dass die Bestim-
mungen über die Enteignung auch auf die Sozialisierung Anwendung
finden; jede Sozialisierungsmaßnahme wird also so behandelt, als ob es
sich um eine Enteignung handelte, und bedarf daher angemessener
Entschädigung. Das immer vorhandene Schwergewicht des Bestehen-
den, in diesem Fall des Privateigentums, wird dadurch, dass die Verfas-

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234 [17.] Weimar … und was dann? [1930]

sung über die Frage, welches Wirtschaftssystem herrschen soll, keine


Entscheidung trifft, sondern nur die Möglichkeit einer Sozialisierung
vorsieht, deren Durchführung aber etwa später zu erlassenden Einzel-
gesetzen überlässt, noch sehr verstärkt. Diese Regelung, in Verbindung
mit der rein privatwirtschaftlich gedachten Entschädigungsklausel, hat
die Entwicklung, die dahin führte, dass es zu Sozialisierungen von
Unternehmungen überhaupt nicht kam, zum mindesten begünstigt.
Auf dem Gebiet des Grund- und Bodeneigentums sind zur Ausführung
der Sozialisierungsbestimmung des Artikels 155 der Reichsverfassung
Siedlungs- und Heimstättengesetze erlassen worden. Auch wenn die-
sen Gesetzen eine intensivere Durchführung zuteilgeworden wäre, als
es in Wirklichkeit der Fall war, so würde das doch nichts an der Tatsa-
che ändern, dass hier schon die Bestimmungen der Verfassung in den
entscheidenden Punkten versagt, den wahren Gegner jedes demokrati-
schen Staatswesens nicht erkannt haben. Von den Tagen des Tiberius
Gracchus über den Schreckensruf des Agrargesetzes in der Französi-
schen Revolution bis zum heutigen Tage ist die Bodenverteilungsfrage
immer in erster Linie eine Frage der Begrenzung des größeren Grund-
besitzes auf einen Höchstumfang gewesen. Die Weimarer Verfassung
lässt diese Frage ganz außer Acht und sieht auch hier an Stelle der
sofortigen Vornahme einer Bodenaufteilung durch die Verfassung
selbst nur die Möglichkeit individueller Enteignungsakte für Siedler
und Wohnstätten vor. Dadurch erschwert sie nicht nur ökonomisch die
Lösung der selbstständigen Bauernfrage, sie belässt auch dem gefähr-
lichsten Feind jeder demokratischen Verfassung, dem Großgrundbesit-
zer, die ökonomischen Grundlagen seiner Machtstellung, die er,
solange er sie besitzt, dazu verwenden wird, die Landarbeiter in politi-
scher und ökonomischer Hörigkeit zu halten. Die Entwicklung der letz-
ten zehn Jahre hat klar und eindeutig zugunsten des Privateigentums
an den Produktionsmitteln entschieden; sie hat bestimmt, welche der
nach der Weimarer Verfassung möglichen Wirtschaftsformen die wirkli-
che Wirtschaftsform der gegenwärtigen Zeit sein soll.
Durch die Tatsache der vollen Aufrechterhaltung des kapitalistischen
Wirtschaftssystems ist auch die Rolle des sogenannten Räteartikels der
Weimarer Verfassung bestimmt. Er ist der verfassungsmäßige Nieder-
schlag der Stinnes-Legien-Vereinbarung vom November 1918 und ver-
kündet, dass »die Arbeiter und Angestellten dazu berufen seien, gleich-
berechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der
Lohn- und Arbeitsbedingungen, sowie an der gesamten wirtschaftli-
chen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken.« Während
wenige Verfassungsartikel vorher Sozialisierung und Privateigentum

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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 235

prinzipiell zur Auswahl gestellt werden, wird hier eine Zusammenfas-


sung der widersprechendsten Prinzipien versucht. Dabei wird die vor-
übergehende Arbeitsgemeinschaft, die hier zum Vorbild diente, und
die auf der Grundlage des Bestehenden zur gemeinsamen Überwin-
dung äußerer Schwierigkeiten (Liquidierung des verlorenen Krieges)
gebildet war, verwechselt mit einer dauernden Arbeitsgemeinschaft.
Diese kann freilich nur auf der Konformität sozialer Prinzipien beru-
hen. Der Gang der Entwicklung hat denn auch aus diesem Räteartikel
und seinem wichtigsten Durchführungsgesetz, dem Betriebsrätegesetz,
das gemacht, was nach der Lage der Dinge aus ihnen nur werden
konnte: ein System von Schutzmaßnahmen für Arbeiter und Ange-
stellte, das in Wirklichkeit nur einen Ausgleich gegenüber der durch
Konzentration und Rationalisierung gewaltig gesteigerten Macht der
Arbeitgeber bietet.20 Weitergehende Bedeutung, wie sie nach dem
Betriebsrätegesetz durch eine Unternehmensbeeinflussung und Kon-
trolle möglich gewesen wäre, haben diese Bestimmungen nicht erlangt.
Das heute herrschende Verhältnis von politischer Form und ökonomi-
scher Macht hat auch der Tätigkeit des Reichswirtschaftsrats die politi-
sche Bedeutung genommen. Gedacht war er als eine in ihrem Einfluss-
bereich freilich sehr beschränkte Vertretung aller wirtschaftlichen Inter-
essengruppen neben der rein politischen Vertretung. Dadurch, dass
aber das heutige Parlament nur die politische Form für den Austrag
ökonomischer Gegensätze ist, nimmt es der der Idee nach gleichgerich-
teten, staatsrechtlich ungleich schwächeren Tätigkeit des Reichswirt-
schaftsrats den Raum. Diesen Tatsachen trägt der Entwurf des Gesetzes
über den endgültigen Reichswirtschaftsrat, der den bisher nur im Sta-
dium der Vorläufigkeit gebliebenen Reichswirtschaftsrat ersetzen soll,
vollkommen Rechnung. Er verlegt die Haupttätigkeit des Reichswirt-
schaftsrats vom Plenum in die Kommissionen und führt einen besonde-
ren Ermittlungsausschuss ein; er ersetzt die frühere große Mitglieder-
zahl durch die Möglichkeit der Zuziehung sachverständiger und nicht
ständiger Mitglieder und gibt so der ganzen Institution eine andere
Richtung. Von den drei Tätigkeitsfeldern, die dem unserem Reichswirt-
schaftsrat analogen 1925 in Frankreich eingerichteten Wirtschaftsrat
gegeben wurden: zu studieren, Lösungen zu suchen und deren
Annahme zu empfehlen, dürfte wohl die Errichtung eines umfassen-
den, mit inquisitorischen Befugnissen ausgestatteten Studienapparates
die wichtigste sein; denn Lösungen zu suchen und deren Annahme zu

20 Vergleiche den Aufsatz E. Fränkels zum zehnjährigen Jubiläum des Betriebsrä-


tegesetzes in der Februarnummer der »Gesellschaft« 1930. [Ernst Fraenkel: Zehn
Jahre Betriebsrätegesetz, in: Die Gesellschaft, Heft 2, Berlin 1930, S. 117-129.]

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236 [17.] Weimar … und was dann? [1930]

»empfehlen«, lassen sich heute schon Organe, die durch die Macht der
Verhältnisse mit größerer Autorität ausgestattet sind, angelegen sein.
So haben die Grundrechte des deutschen Volkes im Ganzen gesehen
nicht die Funktion erfüllt, die Grundrechten zukommt. Es sind und
konnten nach Entstehung und Inhalt keine Werte sein, in deren Namen
das deutsche Volk einig sein kann.21 Wohl aber haben sie durch ihre
schillernde Mehrdeutigkeit jenen bedenklichen Mangel an politischer
Entscheidungsfähigkeit, der die Agonie unseres heutigen politischen
Lebens kennzeichnet, erheblich gefördert und dem demokratischen
Staatswesen nicht jenen eindeutigen programmatischen Rückhalt gege-
ben, dessen er und seine ausführenden Organe mehr denn je bedurft
hätten.

Regierung

Über Regierungsbildung und Regierungsführung enthält die Weimarer


Verfassung keine abschließenden und unbedingt zwingenden Vor-
schriften. Viererlei Gruppen von Bestimmungen kann man, der Darstel-
lung Carl Schmitts folgend, unterscheiden, die, ohne sich gegenseitig
auszuschließen, der Regierungsbildung und -führung eine staatsrecht-
liche Grundlage geben. Einmal ist es der Einfluss der Parlamentsmajo-
rität, deren Vertrauen in mehr oder minder ausgeprägter Form Exis-
tenzgrundlage jeder Regierung ist; weiteren Einfluss räumt die Reichs-
verfassung dem Reichskanzler ein, indem sie ihn die Richtlinien der
Politik bestimmen lässt und ihm den Vorsitz samt Stichentscheid im
Ministerkollegium gibt. Neben diesem Hinweis auf die Möglichkeit
eines Premierministersystems enthält die Verfassung unmittelbar und
mittelbar Andeutungen eines Kabinettsystems, beruhend auf der politi-
schen Kollegialität der Minister; hierfür spricht die nach der Reichsver-
fassung vorgeschriebene kollegiale Beschlussfassung im Kabinett,22
wirksam ergänzt durch Koalitionsabmachungen von Parteigruppen,
die in Wirklichkeit die Richtlinien der Politik im vornherein festlegen.
Als letztes ist die verfassungsmäßige Einflusssphäre des Reichspräsi-
denten zu erwähnen, die ausführlich im nächsten Abschnitt behandelt

21 Rudolf Smend: »Verfassung und Verfassungsrecht«, München 1928.


22 Diese Kollegialentscheidung ist für einen Fall durchbrochen; § 21 Abs. 3 der
Reichshaushaltsordnung ermöglicht es dem Reichsfinanzminister zusammen
mit dem Reichskanzler, die Einstellung einer Ausgabe oder eines Vermerks im
Entwurf des Haushaltsplans auch gegen die Mehrheit der übrigen Minister zu
verhindern.

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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 237

werden wird. – Im Bereich der politischen Praxis lassen sich aus den
vielfachen Regierungsbildungen der letzten Jahre drei Grundtypen her-
ausschälen, auf die die in diesem Punkte unendlich erfinderische Praxis
zurückgeführt werden kann:
1. Regierungsbildung durch Berufung eines Nichtparlamentariers,
Fachmann genannt, zum Reichskanzleramt unter Hinzuziehung
anderer sogenannter Fachmänner und einzelner Parteipolitiker als
Verbindungsmänner dieser »überparteiischen« Regierung zu den
Parteien, Typ Cuno 1923;
2. Regierungsbildung durch feste, auf bestimmte Aufgabenkreise
begrenzte Koalitionsvereinbarungen, Typ Marx-Keudell 1927/28;
3. Regierungsbildung durch Betrauung eines Parteiführers mit dem
Reichskanzleramt, mit größerer oder geringerer Bindung von Partei-
gruppen, ohne Zweckvereinbarung, Typ Müller 1928-1930.
Diese Einteilung trägt rein orientierenden Charakter23 über die Praxis
der Regierungsbildung. Prinzipiell gesehen, unterliegen alle diese Fälle
einer Gesetzlichkeit, die meistens schon die Regierungsbildung selbst,
immer jedoch die Art der Regierungsausübung bestimmt: im Wesentli-
chen Spiegelung vorhandener gesellschaftlicher Verhältnisse zu sein. In
dieser Hinsicht zeigen alle Regierungen seit langer Zeit eine große Ste-
tigkeit. So wie die gesamtpolitische Lage in den Jahren 1918-1920
bestimmt war durch die Tatsache der deutschen Niederlage, so ist sie es
heute wesentlich dadurch, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem in
Europa vorläufig alle seine Gegner zurückgedrängt hat. Zwar waren
diese Gegner 1917-1919 zahlreich, aber es fehlte ihnen der notwendige
gegenseitige Zusammenhang, und sie waren in ihrer Wirksamkeit ein-
geengt durch ihre konkrete nationale Sieges- oder Niederlagesituation.
Das kapitalistische System hat durch seine Selbstkonzentration und
durch Zurückdrängung der wirtschaftlichen Betätigung der öffentli-
chen Körperschaften seine Einflusssphäre in der letzten Zeit erheblich
vergrößert. Durch Vereinigung der gesamten Produktion und ihrer
Direktion in den Händen weniger Wirtschaftsführer bestimmen diese
heute die Richtung der Außen-, Handels- und Wirtschaftspolitik so
sehr, dass es nicht mehr nur bei den Vereinigten Staaten unklar bleibt,
ob zum Beispiel bei Handelsvertragsverhandlungen und Zollvereinba-
rungen privatkapitalistische Interessengruppen, die nur gewisse, mit

23 Paul Levi hat in einem seiner geistreichen Aufsätze, »Wieder einmal eine Krise«
(»Der Klassenkampf« Nr. 8, [Berlin] 1929), darauf hingewiesen, dass es einer
eigenen Doktorarbeit bedürfe, um die Unterschiede zwischen diesen verschie-
denen Arten von Regierungen zu ergründen.

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238 [17.] Weimar … und was dann? [1930]

dem Interesse der Gesamtbevölkerung eines Landes meistens nicht


identische Sonderinteressen vertreten, oder Staaten Vertragspartner
sind. Weiterhin brachte es die politische Entwicklung Deutschlands mit
sich, dass die Trägerin des Monopols der physischen Gewalt, die
Reichswehr, einen nicht zu unterschätzenden Faktor im Sinne der Auf-
rechterhaltung des kapitalistischen Wirtschaftssystems bildet. Das
Reichswehrministerium ist seit Gründung der Republik ein sogenann-
tes Fachministerium; damit entzog man es jeder möglichen Einwir-
kung, die sich aus einer innerpolitischen Veränderung ergeben konnte,
und stellte es dafür ein für alle Mal ausdrücklich in den Dienst einer als
vorhanden vorausgesetzten bürgerlichen Ordnung, die durch von
Regierung zu Regierung übernommene Fachmänner verkörpert wurde.
Diesen durch die Lagerung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf län-
gere Zeit festgelegten gesamtpolitischen Entscheidungen steht nun die
Sphäre gegenüber, die, innerhalb dieses vorbestimmten Rahmens blei-
bend, dem freien Spiel der politischen Kräfte vorbehalten ist. Sie wird
hier im Gegensatz zu der der Gesetzlichkeit der gegebenen kapitalisti-
schen Ordnung mehr oder minder starr unterworfenen »Direktions-
sphäre« »Verteilungssphäre« genannt. Sie umfasst den Anteil der vom
kapitalistischen Wirtschaftssystem in irgendeiner Form abhängigen
Bevölkerung am Sozialprodukt, der sich ausdrückt in Tarifverträgen,
Bestimmungen über Sozialversicherung, Arbeitslosigkeit, Wohnungs-
wesen, um nur die wichtigsten zu nennen. Hier wirken sich die jeweili-
gen innerpolitischen Machtverhältnisse zwischen Arbeiterschaft und
Kapital aus, die von vielerlei Faktoren abhängig sind und für die die
politischen Wahlen oft nur einen trügerischen Gradmesser darstellen.
Während innerhalb der »Direktionssphäre« die Regierung sich der
Eigengesetzlichkeit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung mit mehr
oder minder starker Bereitwilligkeit anzupassen hat, ist sie innerhalb
der »Verteilungssphäre« immer mehr zu einem Clearing-House (in die-
sem Fall am besten mit Kläranlage zu übersetzen) geworden. Ihre Auf-
gabe ist es, die widersprechenden Wünsche der durch ihre Spitzenver-
bände vertretenen wirtschaftlichen Organisationen unter steter Berück-
sichtigung des gerade vorhandenen Stärkeverhältnisses der einzelnen
Gruppen so auszugleichen, dass eine Gefährdung der vorgezeichneten
gesamtpolitischen Linie vermieden wird.
In der letzten Zeit werden im Zusammenhang mit den vielen langwie-
rigen Versuchen der Regierungsbildungen und Umbildungen die
Beziehungen zwischen Regierung und Parlament eingehend kritisch
erörtert und zur Abänderung empfohlen, um aus den ewigen Krisen

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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 239

herauszukommen. Diese Krise, die dazu geführt hat, dass das in


Deutschland immer schon, verglichen etwa mit den Regierungsbildun-
gen Frankreichs, sehr schwierige Geschäft der Regierungsbildung von
vielen für eine Zwangsliquidierung reif gehalten wird, hat einen sehr
berechtigten Grund. Die letzten Wahlen haben die Vertreter der Arbei-
terschaft in einer Stärke in das Parlament einziehen lassen, die ihnen
zwar nach den Gesetzen der politischen Mechanik einen maßgebenden
Einfluss auf die Regierungsbildung verhieß, die aber nicht der ökono-
mischen Machtverteilung zwischen Arbeiterschaft und Kapital, die sich
immer mehr zugunsten des Kapitals verschoben hat, entsprach. Alle
Versuche, eine Erneuerung des politischen Lebens Deutschlands durch
Ausschaltung des »verderblichen« Parlaments mit seinen starren Par-
teiprinzipien herbeizuführen, bezwecken in Wirklichkeit nichts ande-
res, als das Missverhältnis zwischen politischer Mechanik und ökono-
mischer Gewalt zu beseitigen, die Verteilungssphäre dem Einfluss poli-
tischer Machtverschiebung zu entziehen und auch sie in den Rahmen
der bürgerlichen Ordnung zurückzuführen. Diesen Versuchen ist prak-
tisch-politisch ein weitgehender Erfolg schon zuteil geworden. Durch
die Machtstellung des deutschen Reichsbankpräsidenten auf dem
Gebiet der Währungs- und Kreditpolitik ist der Bereich, der dem Spiel
der innerpolitischen Kräfte bisher freigegeben war, weitgehend einge-
engt worden. Es waren insbesondere die auf dem Gebiet der Sozialpoli-
tik besonders beteiligten Städte, die in der letzten Zeit die funktionelle
Abhängigkeit der Verteilungssphäre von der Direktionssphäre zu spü-
ren bekamen. Dazu kommt, dass jede angebliche Neutralisierung eines
bestimmten Sachgebietes (Reichsbahn, Reichsbank) dessen Ausschluss
von Zugriffsmöglichkeiten der Arbeiterschaft innerhalb des Rahmens
der Verteilungssphäre bedeutet.
Verfassungspolitisch wirkt sich diese Minderung parlamentarischer
Entschlussfreiheit in dem Bestreben aus, die Regierung weitgehend von
dem Parlament unabhängig zu machen, da dies immerhin den gegen-
sätzlichen Willen großer Volksteile zu deutlich widerspiegelt. Am radi-
kalsten und konsequentesten in der Trennung von Parlament und
Regierung war der vom Reichstag abgelehnte Verfassungsänderungs-
vorschlag der Deutschen Volkspartei, der für das Misstrauensvotum
eine Zweidrittelmehrheit des Reichstags verlangte, die nur bei der drit-
ten Haushaltslesung durch eine einfache Mehrheit ersetzt werden
konnte. Gekrönt werden diese Verfassungsreformbestrebungen durch
die von der Deutschen Volkspartei aufgenommenen Vorschläge des

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Reichsverbandes der Deutschen Industrie24 bezüglich der finanzpoliti-


schen Stellung des Parlaments. Ausgabenbewilligungen ohne Erlaubnis
der Reichsregierung, bei der der Reichskommissar eine maßgebende
Stellung erhalten soll, sollen in Zukunft nicht mehr stattfinden. Auf
diese Weise soll das Missverhältnis beseitigt werden, welches Popitz
einmal mit dankenswerter Offenheit dahingehend ausgesprochen hat,
»daß das allgemeine Wahlrecht die bewilligenden Volksvertretungen
nicht selten so zusammensetze, daß es nicht gerade diejenigen sind, die
in höheren Einkommenssteuerstufen stehen und die Zuschläge hart
fühlen müssen, die in den Vertretungen von stärkerem Einfluß sind,
sondern vielfach diejenigen, die weniger bemittelte Volkskreise vertre-
ten«.25
Diese Pläne sind durchaus konsequent vom Standpunkt derjenigen
aus, die den Gegensatz zwischen den Stellen realer ökonomischer
Macht und der äußeren politischen Form zugunsten der ökonomischen
Macht beseitigen wollen. Wer aber hinter jener Spannung all die Kräfte
sieht, die Gegner der heutigen ökonomischen Machtverteilung sind,
wird für die Aktivierung jener Kräfte Sorge tragen müssen. Denn die
Fortsetzung jenes Spannungsverhältnisses in die Unendlichkeit ist
unmöglich. Kein Staat kann eine solche Disproportionalität auf die
Dauer ertragen.

Rechtsstaat und Beamtentum

Die Aufgabe des Ausgleichs widerstreitender Interessen innerhalb der


Verteilungssphäre liegt nicht allein der Regierung ob; einmal weil sie
sich selbstverständlich nur den größeren Gebieten zuwenden kann und
die Kleinarbeit dabei untergeordneten Organen überlassen muss, ande-
rerseits aber auch, weil ihr das Element der Stetigkeit und Zwischen-
parteilichkeit, die oft mit Überparteilichkeit verwechselt wird, nicht in
dem Maße zukommt, wie es gerade diese Arbeit verlangt. Willkom-
mene Formen zur Bewältigung dieser Aufgabe sind die überlieferten
rechtsstaatlichen Einrichtungen. Einst diente die Idee des Rechtsstaates
der Austragung des Kampfes zwischen liberalem Bürgertum und Mon-

24 Ausgeführt in »Aufstieg oder Niedergang? Deutsche Wirtschafts- und Finanzre-


form 1929, eine Denkschrift des Präsidiums des Reichsverbandes der deutschen
Industrie«[, Berlin 1929].
25 In dem Artikel über Finanzausgleich im Handwörterbuch der Staatswissen-
schaften, Bd. III, S. 1013. [Johannes Popitz: Finanzausgleich, in: Handwörter-
buch der Staatswissenschaften, Band III, Jena 1926, S. 1016-1042.]

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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 241

archie; indem sie aus dem Gedankenkreis und dem politischen Arsenal
der konstitutionellen Parteien heraustrat, hat sie einen tiefgreifenden
Funktionswechsel erfahren. Ursprünglich war sie das zaghafte Kampf-
mittel der Schichten von Besitz und Bildung, denen es besonders
darum zu tun war, für alle Belange Kompetenzen zu schaffen, die der
monarchistischen Exekutive die Möglichkeit zur Erweiterung ihrer
Herrschaftsbefugnisse nahmen. Heute ist der Rechtsstaat die Form,26 in
der ein großer Teil der Entscheidungen der Verteilungssphäre in einer
scheinbar juristischen Form, umgeben von einem Haufen prozesstech-
nischer Vorschriften, getätigt werden. Schlichtungskammer, Arbeitsge-
richt und Mieteinigungsamt beruhen alle auf dem Prinzip der Verlage-
rung der Entscheidung von politischen zu scheinbar der politischen
Sphäre entrückten, an juristische Vorschriften gebundenen Stellen.
Diese haben in Wahrheit meistens einen Kompromiss als Zwangsaus-
gleich zu verkünden. So wird hier die rechtsstaatliche Form, in der die
sozialen Kämpfe im Wege eines Prozessverfahrens zum Austrag
gebracht werden, zur Grenzscheide der feindlichen Sozialgruppen, die
weit entfernt sind, in ihr das Gesetz der endgültigen Machtverteilung
zu erblicken. Für beide bedeutet jedoch ein in rechtsstaatliche Formen
gekleidetes Zwangsausgleichsverfahren die Garantie, zwar nur unter
Berücksichtigung der jeweils obwaltenden Kräfteverhältnisse zur Gel-
tung zu kommen, aber immerhin dabei auf jeden Fall berücksichtigt zu
werden. So kommt es, dass die Arbeitnehmer dort, wo ihnen bisher jeg-
licher Einfluss versagt war, die Einführung rechtsstaatlicher Formen als
Fortschritt begrüßen. Deshalb mündet der Versuch der Geltendma-
chung ihres Einflusses auf die bisher ihrer Einwirkung unzugängliche
Organisation der kapitalistischen Wirtschaft in die Forderung nach
einem unabhängigen, rechtsstaatlich organisierten Kartellaufsichtsamt.
Neben diesen rechtsstaatlichen Formen, bei denen sich der Ausgleich
hinter Prozessvorschriften verbirgt, gibt es noch die Form des Aus-
gleichs durch einen Schiedsrichter, dessen Wert gerade in der Unab-
hängigkeit von der Zufälligkeit, die nun jede Prozessvorschrift einmal
mit sich bringt, gerade in dem Gegenteil der rechtsstaatlichen Schein-
objektivität des Gesetzes liegt, den Schiedsrichter kraft Person oder
kraft Amtes, wie ihn der beauftragte Schlichter oder neuerdings die
eigenartige Form des Schiedsministers im Ruhrkonflikt darstellt. Der
mit der Institution des Schiedsrichters verfolgte Zweck ist jedoch der
gleiche wie der, zu dem die rechtsstaatliche Form benutzt wird. Beide

26 Für das Problem des Rechtsstaates sei auf die ebenso interessante wie allein
schon wegen der Art der Fragestellung sehr problematische Schrift Hermann
Hellers: »Rechtsstaat oder Diktatur?« Tübingen 1930, hingewiesen.

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wirken durch Recht, Amt oder Person als Ausgleichsorgane in der Ver-
teilungssphäre.
Das Funktionieren der rechtsstaatlichen und Schiedsorgane braucht
nicht durch eine formelle Unabhängigkeit gewährleistet zu werden. Die
Entwicklung der letzten zehn Jahre hat ergeben, dass die Amtsführung
aller dieser Beamten, soweit sie sich in der Verteilungssphäre bewegen,
nur möglich ist unter Berücksichtigung der gegebenen sozialen Verhält-
nisse; die Beamten haben selbst das Interesse, in ihrem Verhalten
gegenüber den Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine
Politik einzuschlagen, die möglichst allen Stellungnahmen gerecht
wird; denn zu ihrer Amtsführung bedürfen sie mindestens einer wohl-
wollenden Haltung dieser Organisationen, die durch Presse, Versamm-
lungen und so weiter größere Menschenmassen beeinflussen. – Anders
verhält es sich mit den Beamten der Direktionssphäre, obwohl diese
meistens sogenannte abhängige Beamte sind, Offiziere, Legationsräte
und so weiter. Sie sind nicht der Beeinflussung der verschiedensten
sozialen Organisationen ausgesetzt, sondern befinden sich – trotz aller
sogenannter Republikanisierungsversuche – zufolge der realen wirt-
schaftlichen Machtverhältnisse ausschließlich im Einflussbereich des
Bürgertums und seiner großen wirtschaftlichen Organisationen.
An dem Begriff der Unabhängigkeit der Justiz zeigt sich, wie sehr die
Welt der politisch-ökonomischen Tatsachen Begriffe heute gegen-
standslos machen kann, die vielleicht in einem früheren Jahrhundert
einen ganz bestimmten verfassungspolitischen Sinn besaßen. Keine
Unabhängigkeit27 der Richter hat zu hindern vermocht, dass im Bereich
der recht eigentlich zur Direktionssphäre gehörenden Hoch- und Lan-
desverratsmaterie die Tätigkeit des deutschen Reichsgerichts nur eine
Reflexerscheinung der herrschenden Machtverhältnisse geworden ist.
Und insoweit die anderen Gebiete des Strafrechts nur in ihren Garan-
tiefunktionen für die herrschende Wirtschaftsordnung in Betracht kom-
men, erfüllen die Gerichte auch heute noch in zwar humaner und ratio-
nalisierter Weise keine andere Aufgabe als die Aufrechterhaltung der
geltenden Eigentumsordnung. In der politisch irrelevanten Frage der
innerkapitalistischen Güterverteilung sind die Gerichte nicht deshalb

27 Zum Problem der richterlichen Unabhängigkeit besitzen wir die ausgezeich-


nete, in dieser Sammlung erschienene Schrift Ernst Fränkels »Zur Soziologie der
Klassenjustiz« [Ernst Fraenkel: Zur Soziologie der Klassenjustiz, Berlin 1927].
Reiches Erfahrungsmaterial für die hier aufgestellten Thesen liefert die Arbeit
Franz Neumanns: »Die politische und soziale Bedeutung der arbeitsgerichtli-
chen Rechtsprechung«, Berlin 1929, beide in der E. Laubschen Verlagsbuch-
handlung erschienen.

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unparteiisch, weil sie unabhängig sind, sondern weil es für diese Fra-
gen nur seit Jahrhunderten geltende formale Rechtsregeln und keine
wechselnden Maßstäbe politisch-ökonomischer Art gibt. So zeigt sich
an dem Beispiel der Justiz am besten, wie wenig verfassungsrechtliche
Grundsätze, ob sie sich Unabhängigkeit des Richters oder Pflicht zur
Wahrung der verfassungsmäßig festgestellten Staatsform der Republik
nennen, die Wirksamkeit des Beamtenkörpers beherrschen. Es sind
allein die tatsächlichen politisch-ökonomischen Machtverhältnisse, die
in Wirklichkeit Richtung und Art der Beamtentätigkeit bestimmen.

Der Reichspräsident

Die Weimarer Verfassung sieht, sich in dieser Hinsicht an die amerika-


nische Verfassung anschließend, die Wahl des Reichspräsidenten durch
das Volk vor. Aber im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten ist er nicht
unabhängiger Chef der Exekutive, sondern hinsichtlich aller seiner
Anordnungen und Verfügungen an die Gegenzeichnung des Reichs-
kanzlers oder eines Ministers gebunden, die damit dem Reichstag
gegenüber die politische Verantwortung übernehmen. Trotzdem hat
der Reichspräsident gegenüber der an das Vertrauensvotum des
Reichstags gefesselten Regierung eine freiere Stellung inne. Er wird
vom Volk, nicht vom Parlament gewählt; er beruft den Reichskanzler
und ernennt die Minister; er hat das Recht, den Reichstag aufzulösen,
und besitzt gegenüber wechselnden Parlamenten und Regierungen
dadurch ein Element der Stetigkeit, dass er regelmäßig sieben Jahre im
Amt ist. Diese Verfassungsbestimmungen mögen zu der irrigen Auffas-
sung beigetragen haben, dass der Reichspräsident der einzige wahre
Repräsentant der Nation sei, der, dem Parteiengezänk entrückt, keinem
Parlament und keinem Sonderinteresse verantwortlich, die gesamte
Nation verkörpere. In dieser Richtung bewegen sich die Ausführungen
Radbruchs in einem Aufsatz über die Goldbilanz der Reichsverfas-
sung,28 worin er von der Amtstätigkeit des ersten Reichspräsidenten
meint, dass man an sie nicht die Maßstäbe der Parteipolitik legen dürfe,
da sie nur die volonté générale, den ideellen Willen des Gesamtvolkes,
das wahre Interesse der Nation zum Ausdruck bringen dürfe. Diese
Auffassung hegte Radbruch bezüglich der Amtsführung des Reichsprä-
sidenten Ebert. Die gleiche Auffassung wird verschiedentlich auch für
die Amtsführung Herrn von Hindenburgs vertreten. Hier wird also,

28 [Gustav Radbruch: Goldbilanz der Reichsverfassung, in: Die Gesellschaft, Heft


1, Berlin 1924, S. 57-69.]

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gestützt auf die verfassungsmäßige Stellung des Reichspräsidenten und


auf jeweils als vorhanden erachtete persönliche Qualitäten, der Stand-
punkt vertreten, dass die Stellung des Reichspräsidenten eine klassen-
jenseitige sei. Dies ist eine Fiktion; zunächst haben die staatsrechtlichen
Voraussetzungen dieses Amtes nicht die Bedeutung, die man ihnen bei-
misst; der Reichspräsident wird zwar vom Volke gewählt, aber auch
diese Wahl wird von den Inhabern des politischen Organisationsmono-
pols, den Parteien, beherrscht, die allein über den hierfür notwendigen
technischen Apparat verfügen. Entweder stellen diese selbständig
einen Kandidaten auf oder einigen sich mit Nachbargruppen über den
Mann ihres Vertrauens. Weiterhin ist das Recht des Reichspräsidenten,
einen ihm genehmen Reichskanzler zu suchen und damit die politi-
schen Geschehnisse maßgebend zu beeinflussen, bisher durch die
gewohnheitsmäßige Berücksichtigung der durch Neuwahlen oder
sonstige politische Ereignisse (Ruhrkampf!) geschaffenen Situationen
erheblich eingeschränkt. Jedenfalls muss der Reichspräsident, damit
der von ihm erwählte Reichskanzler die Zustimmung der Mehrheit des
Reichstags erhält, darauf bedacht sein, einen solchen Mann zu ernen-
nen, dessen Politik dem jeweiligen Kräfteverhältnis der Klassen ent-
spricht. Nur in diesem beschränkten Rahmen kann sich die politische
Freiheit und der persönliche Wille des Reichspräsidenten auswirken,
kann er die Politik beeinflussen, sei es durch den in seine Hand gegebe-
nen Ernennungsakt, sei es durch ständige Einflussnahme auf die
schwebenden Kabinettsentscheidungen. Ein Reichspräsident kann
überhaupt nur dann sein Amt ausüben, wenn er in allen grundlegen-
den Fragen der Politik sich im Einklang mit der Regierung und damit
mit den konkreten Machtverhältnissen, deren Widerspiegelung eine
jede Regierung ist, befindet. Ein konkretes Beispiel soll dies verdeutli-
chen. Im Jahre 1923 wurden Thüringen und Sachsen von sozialistischen
Regierungen, die das Ziel einer rein sozialistischen Politik ohne Rück-
sichtnahme auf die im Reich herrschenden Verhältnisse verfolgten,
regiert. In Bayern hat zur gleichen Zeit eine extrem rechtsgerichtete
Regierung der Durchführung von Reichsgesetzen ihre Zustimmung
versagt. Sie hat die bayerischen Truppen zum Abfall von der Reichsre-
gierung bewogen, um mit ihrer Hilfe die Reichspolitik durchsetzen zu
können, die ihr als die richtige erschien. Die thüringischen und sächsi-
schen Regierungen wurden schleunigst unter Anwendung des Artikels
48 abgesetzt, diese Länder mit Reichswehrtruppen und Reichskommis-
saren überzogen und mit deren Hilfe in Thüringen eine Neuwahl

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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 245

durchgeführt, deren Ausgang nicht zweifelhaft sein konnte.29 In Bayern


wurde keine Regierung abgesetzt, keine fremde Reichswehr betrat den
Boden Bayerns, und keine Neuwahl beunruhigte die bayerische Regie-
rung. Es fand vielmehr ein »Gentlemen-Agreement« zwischen Reichs-
regierung und bayerischer Regierung statt, welches in der Verfassungs-
geschichte unter dem Namen »Homburger Vereinbarung« fortlebt. Sei-
nen freundlichen Charakter mag folgender Satz kennzeichnen: »Durch
vorstehende Vereinbarung wird der Behandlung weitergehender, in
der bayerischen Denkschrift enthaltener Wünsche nicht vorgegriffen.«
So wurde der Artikel 48 vom Reichspräsidenten, dem Chef der Exeku-
tive, in zwei mindestens juristisch gleichgelagerten Fällen doch nicht in
gleicher Weise zur Anwendung gebracht. Der politische Grund hierfür
liegt klar zutage. In dem mitteldeutschen Fall handelte es sich um ein
Abweichen von der im Jahre 1923 schon völlig hergestellten und unbe-
strittenen Maxime des bürgerlichen Staates, während im bayerischen
Fall es sich nicht um ein Abweichen vom bürgerlichen Staat überhaupt
handelte, sondern nur zwei verschiedene Auffassungen über die Art
seiner Verwirklichung sich gegenüberstanden.30 Diese freilich ließen
sich durch ein Abkommen beseitigen, was sozialistischen Prinzipien
gegenüber unmöglich war.31 Gerade das konkrete Verhalten des
Reichspräsidenten bei dieser Sachlage lässt erkennen, dass der ausglei-
chenden Tätigkeit des Reichspräsidenten, seinem »pouvoir neutre«
(neutrale Gewalt) enge Grenzen gezogen sind. Nur innerhalb der gege-
benen politischen Machtverhältnisse des bürgerlichen Staates kann sich
eine solche Ausgleichstätigkeit auswirken, darüber hinaus aber wird
auch der Schiedsrichter zur Partei. So lag es nur in der Logik der dama-
ligen politischen Verhältnisse, dass der Reichspräsident Ebert zwischen
Bayern und dem Reich Vermittler, in dem Streit zwischen Sachsen und
dem Reich aber Chef der Reichsexekutive war.

29 Der hier nur kurz erörterte Fall ist ausführlich geschildert bei Walter Fabian,
»Klassenkampf um Sachsen«, Löbau 1930.
30 Das jetzige schwankende Verhalten der bürgerlichen Regierung gegenüber dem
Minister Frick ist in dieser Hinsicht charakteristisch. Da es sich nur um eine
neue, den Zeitverhältnissen angepasstere Spielart bürgerlicher Politik handelt,
sollen dieser keineswegs von vornherein alle Möglichkeiten abgeschnitten wer-
den.
31 Trotz der Gegensätze, die zwischen Reich und Ländern über verwaltungs-
mäßige, finanzielle und sogenannte Hoheitsbelange bestehen, zeigt gerade die-
ses Beispiel, dass im Grunde alle möglichen Differenzen zwischen Reich und
Ländern sich als ziemlich belanglos gegenüber der einen Frage erweisen: Sind
Reich und Länder ihrer politischen Struktur nach homogen? Beruhen sie auf
den gleichen sozialen Ordnungsprinzipien?

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246 [17.] Weimar … und was dann? [1930]

Wie die politische Einwirkungsmöglichkeit des Reichspräsidenten, sei


es als Berater, Treuhänder oder als Schiedsrichter, immer im Rahmen
der gegebenen Herrschaftsordnung verbleibt, so muss erst recht seine
repräsentative Funktion, die auf jener beruht, sich innerhalb dieser
Sphäre vollziehen. Der Reichspräsident soll das Reich als Ganzes reprä-
sentieren, dessen Willen in einer für die Gesamtheit des Volkes und für
seine völkerrechtlichen Partner richtunggebenden Weise kundtun. Man
kann aber nur etwas Gegenwärtiges repräsentieren, etwas, was wirk-
lich existent ist. Mochten und mögen Friedrich Ebert und Herr von
Hindenburg an ihre repräsentative Funktion bestimmte, voneinander
verschiedene politische Wertvorstellungen geknüpft haben und knüp-
fen, ihren Charakter erhält diese Repräsentation weder durch die Vor-
stellung dessen, der repräsentiert, noch dessen, der die Repräsentation
entgegennimmt, das Volk, sondern durch die konkrete Gestalt des
wirklich Repräsentierten: der gegebenen Machtverhältnisse. In diesem
unvermeidlichen und ständig wiederkehrenden Prozess, der den
Repräsentierenden hinter den repräsentierten Sachgehalt zurücktreten
lässt und der weder vor der Person Stalins, MacDonalds noch Friedrich
Eberts Halt gemacht hat, wird offenbar, dass ein ideeller Gesamtwille,
wenn er, wie in der Klassengesellschaft, nicht vorhanden ist, auch nicht
durch die Person und die Vorstellung des Repräsentierenden geschaf-
fen werden kann. Wenn auch jeder Reichspräsident, wie dies in jeder
auf Über- und Unterordnung von Klassen beruhenden Gesellschafts-
ordnung üblich ist, verkündet, das ganze Volk zu repräsentieren, ein-
schließlich der den gegebenen Machtverhältnissen Widerstrebenden, so
ist doch die hieran anknüpfende antimarxistische Vorstellung einer
vorhandenen Klassenjenseitigkeit des Reichspräsidentenamts eine Fik-
tion. Damit fallen alle die besonderen Wertvorstellungen, die man mit
dem Amt des Reichspräsidenten zu verbinden pflegt, fort.

Die Verfassung ohne Entscheidung

Die großen und berühmten Verfassungen Frankreichs aus den 90er Jah-
ren des 18. Jahrhunderts stehen am Anfang einer bestimmten Ordnung
der menschlichen Dinge. Mit einem aus ihrer geschichtlichen Stellung
heraus verständlichen Pathos, das bis in die geglückten und missglück-
ten Verfassungsversuche der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein
nachgewirkt hat, verkünden sie den Sieg des neuen, des bürgerlichen
Zeitalters. Auf einem der ersten Höhepunkte des bürgerlichen Zeital-
ters, nach der blutigen Niederwerfung der Pariser Kommune, des ers-

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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 247

ten Wetterleuchtens einer neuen Geschichtsperiode, hat sich neben dem


Bismarck‘schen Deutschland auch das republikanische Frankreich neue
Verfassungsgesetze gegeben. Diese Verfassungsgesetze verschmähten
es, sich daran zu erinnern, dass das französische Bürgertum die feudale
Monarchie einstens im Namen der unveräußerlichen Menschenrechte
gestürzt und sich als deren Statthalter ausgegeben hatte. Die Verfas-
sung, sie war diesem Frankreich nicht mehr als sie Bismarck gewesen
ist, die organisatorische Grundlage dessen, was ist.
Die Entstehung der Weimarer Verfassung fällt in einen zweiten Höhe-
punkt des bürgerlichen Zeitalters. Mit der planmäßigen Durchdrin-
gung der ganzen Welt durch einen sich selbst organisierenden Kapita-
lismus fielen die letzten Überreste eines feudalen oder halbfeudalen
Systems. Über den bürgerlichen Staat hinaus drängten die Ideengänge
der im Gefolge des kapitalistischen Staates mächtig erstarkten Arbeiter-
schaft, die eben in Russland im ersten Ansturm den bürgerlichen Staat
selbst über den Haufen geworfen zu haben schien. Alle diese Tatsa-
chen, die in verhältnismäßig kurzer Zeit das kulturelle und ökonomi-
sche Antlitz von Völkern und Ländern verändert hatten, warfen ihren
Widerschein auf die Entstehung der Weimarer Verfassung, an deren
Wiege das Einzelschicksal des deutschen Bürgertums stand. So erhielt
in Deutschland, einem seiner geistigen Struktur nach schon in den 40er,
seiner ökonomischen Struktur nach spätestens in den 70er Jahren des
vergangenen Jahrhunderts bürgerlichen Land, das Bürgertum die sei-
ner ökonomischen Stellung entsprechende Machtstellung erst zu einer
Zeit, als viele schon voreilig wähnten, dass es mit der Macht des Bür-
gertums vorbei sei. Draußen in den österreichischen und russischen
Nachfolgestaaten versuchten Völker, die erst kürzlich ihre Freiheit als
Nation erlangt hatten, sich möglichst demokratische Verfassungen zu
geben. Ehrfurchtsvoll nach dem Westen und scheu nach dem Osten bli-
ckend, übernahmen sie die ererbten Verfassungsformen des 19. Jahr-
hunderts, ohne zu bedenken, dass der Nationalstaat des 19. Jahrhun-
derts, auf den diese Verfassungen zugeschnitten waren, nicht die Pro-
bleme des Klassenstaates des 20. Jahrhunderts zu lösen vermag.
Mochte das Bewusstsein der erst kürzlich erreichten Staatswerdung es
diesen Ländern gestatten, gedankenlos die bürgerlichen Verfassungen
Europas auszuschreiben — umso früher fielen sie dafür anarchischen
Verfassungszuständen anheim —, das Deutschland von 1919, in dem
man damals noch die stärkste Festung des kontinentalen Sozialismus
sah, wollte in seinen Grundrechten einen Schritt weiter nach vorwärts
tun. Den bürgerlichen Organisationsapparat übernahm es vollkommen
mit dem alten Funktionärkörper; in seinen Grundrechten ließ es einer

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248 [17.] Weimar … und was dann? [1930]

neuen Sozialordnung prinzipiell Raum. Man war bereit, der alten wie
der neuen Sozialordnung den Staatsapparat zur Verfügung zu stellen
und diese neue Ordnung, wie sie auch ausfallen mochte, mit dem
Schein der Legalität zu versehen. Die Weimarer Verfassung hat wie
Max Weber, der in dieser Hinsicht das Wesen einer Verfassung voll-
ständig verkannte, es für richtig angesehen, nur für alle denkbaren, an
die Verwaltung herantretenden Aufgaben freie Bahn zu schaffen. Hier
aber liegt der prinzipielle und nie wiedergutzumachende Fehler dieser
Verfassung: sie hat sich selbst nicht entschieden. Sie unterlag dem Irr-
tum, dass die Prinzipien der Demokratie allein schon die Prinzipien
einer bestimmten sozialen oder weltanschaulichen Ordnung seien. Sie
vergaß, dass die Demokratie nicht mehr ausdrücken kann als das, was
vorher schon vorhanden ist. Einer vorhandenen Sozialordnung nach
außen Ausdruck verleihen, sie sinnfällig repräsentieren, kann eine
Demokratie. Indem man die Formen der Demokratie mit ihrem Inhalt
verwechselte, unterließ man, dieser Verfassung ein politisches Pro-
gramm zu geben. Diese eines eigenen politischen Programms bare,
reine Form auf einzelne bürgerliche Bestandteile zurückzuführen, hat
das deutsche Bürgertum seit 1919 mit Glück und Geschick unternom-
men.
Der Sinn jeder Verfassung, die den Wendepunkt einer politischen Ent-
wicklung bezeichnen soll, ist es, ein bestimmtes Aktionsprogramm zu
verkünden, in dessen Namen die Organisation einer neuen Gesell-
schaftsordnung stattfinden soll. Diese Aktion wird umso eher durch-
führbar sein, je mehr sie mit den ökonomischen Verhältnissen überein-
stimmt, wie es der Fall war beim Programm der französischen Revolu-
tionsverfassung; sie wird umso weniger durchführbar sein, je weniger
sie den gegebenen ökonomischen Verhältnissen adäquat ist, wie dies
das Schicksal der russischen Revolutionsverfassung ist. Indem die Wei-
marer Verfassung unterließ, sich ein Aktionsprogramm zu geben und
sich mit der Zur-Wahl-Stellung der verschiedensten Wertsysteme
begnügte, glaubten ihre Väter, durch demokratische Verfassungsinsti-
tutionen ein politisches Aktionsprogramm ersetzen zu können, wäh-
rend es die Aufgabe der Demokratie gewesen wäre, selbst dieses Pro-
gramm erst zu schaffen. Doch »ihr Charakter war, daß sie nichts ver-
trat, sondern alles zuließ«.32 Ein halbes Jahrhundert früher hätte eine
liberal-demokratische Verfassung als nationales Organisationsprinzip

32 Lorenz von Stein über die französische Verfassung von 1795 in seiner sehr
lesenswerten Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, Ausgabe 1921,
Bd. I, S. 395. [Lorenz von Stein: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich
von 1789 bis auf unsere Tage, Band I: Der Begriff der Gesellschaft und die

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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 249

in einem Land mit einer relativ bedeutenden Anzahl politisch, nicht


rein geschäftspolitisch interessierter Bürger und einer ökonomisch rela-
tiv unabhängigen Presse noch große Wirkungskraft erlangen können.
Am Ende des bürgerlichen Zeitalters, als jene denkwürdigen Institutio-
nen wie Rechtsstaat, bürgerliche Bildung, richterliche Unabhängigkeit
und Meinungsfreiheit durch die spezifischen Lebensbedingungen des
kapitalistischen Wirtschaftssystems ihren eigentlichen Sinngehalt verlo-
ren, hätte die Demokratie nur noch ein eindeutiges Bekenntnis zu
einem neuen inhaltlichen Organisationsprinzip der Gesellschaft, dem
Sozialismus, neu zu beleben vermocht.
Es war das tragische Schicksal der Weimarer Verfassung, dass in ihrer
Geburtsstunde im deutschen Proletariat keine Willenskraft aufkommen
konnte, die jene Aufgabe der Schaffung einer sozialistischen Demokra-
tie, frei von allem phrasenhaften Radikalismus, aber doch mit der
Bereitschaft, das geschichtlich Notwendige zu tun, erfüllt hätte. Das
deutsche Bürgertum kam in den Besitz der politischen Gewalt mit fast
einem Jahrhundert Verspätung, als die geistigen und ökonomischen
Grundlagen seiner Herrschaft schon äußerst fragwürdig geworden
waren. Seine politische Zurückdrängung war nur unter der Vorausset-
zung möglich, dass seine wirtschaftlichen Forderungen auch von der
halbfeudalen Monarchie aufgenommen wurden. Niemand kann in der
heutigen Situation dem Bürgertum die Selbstaufopferung zumuten –
und das ist der wesentliche Unterschied zu der Stellung des Bürger-
tums gegenüber der halbfeudalen Monarchie im letzten Jahrhundert –,
die wirtschaftlichen Forderungen des Proletariats als Gegenleistung
dafür zu erfüllen, dass ihm die Sphäre des government und der Büro-
kratie vorbehalten bleibt. Durch die Untrennbarkeit des politischen
vom ökonomischen Bereich ist die selbständige Wirkungskraft der
demokratischen Verfassungsinstitutionen in Frage gestellt. Da es keine
Möglichkeit gibt, Politik und Ökonomie gegeneinander zugunsten
eines nicht vorhandenen Dritten auszuspielen, sank die Verfassung zu
einer formalen Spielregel herab, die der Mächtigere bei dem Fehlen
einer höheren Instanz beliebig aufzuheben in der Lage ist. Nur eine
sozialistische Politik, die die schicksalsgegebene Unüberbrückbarkeit
dieser doppelten Frontstellung in ihrer vollen Schwere kennt und ihr
nicht mit Scheinantworten ausweicht, kann und wird den Mut und die
Verantwortungsfreude besitzen, selbst etwas zu wollen, anstatt wie

soziale Geschichte der französischen Revolution bis zum Jahre 1830, München
1921.]

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250 [17.] Weimar … und was dann? [1930]

diese Verfassung der Auflösung des bürgerlichen Wertsystems nur


immer Diener des gerade Mächtigen zu sein.

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251

[18.]
Reichsgericht und Enteignung.
Reichsverfassungswidrigkeit des Preußischen
Fluchtliniengesetzes?*
[1930]

In der letzten Zeit haben verschiedene Reichsgerichtsentscheidungen


berechtigtes Aufsehen erregt, die den Begriff der Enteignung auf Tatbe-
stände anwendeten, die bislang nicht als Enteignung angesehen wor-
den sind, sondern in das Gebiet der entschädigungslosen öffentlich-
rechtlichen Beschränkungen gerechnet wurden. Die höchstrichterlichen
Entscheidungen wurden nicht mit Unrecht gerade bei den städtischen
Verwaltungen als gewaltige Belastungen empfunden, die geeignet sein
können, der gesamten städtischen Baupolitik wie auch den Versuchen
zu einer großzügigen gesetzlichen Vereinheitlichung des preußischen
Städtebaurechts entscheidende Hemmnisse in den Weg zu legen. Man
würde aber die Bedeutung dieser Entscheidungen verkennen, wollte
man in ihnen nicht den grundsätzlichen Versuch sehen, dem Rechtsin-
stitut der Enteignung einen ungleich umfassenderen Anwendungsbe-
reich zu sichern, als es in der Zeit vor der Entstehung der Weimarer
Verfassung besessen hat. Dieser Versuch ist umso bedeutsamer, als sich
ihm mit wenigen, allerdings sehr gewichtigen Ausnahmen1 fast die
gesamte deutsche Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft ange-
schlossen und es sich in der Praxis des deutschen Staatslebens schon
öfter ereignet hat, dass jeweils mächtige Interessentengruppen diese
Rechtsprechung dazu benutzen, um für jedwede Art notwendig gewor-
dener staatlicher Eingriffe Entschädigungsforderungen auch dann gel-
tend zu machen, wenn sie nicht als gerechtfertigt angesehen werden
können. Hat man doch unter diesen Gesichtspunkten sogar versucht,
das deutsch-polnische Liquidationsabkommen für verfassungswidrig

* [Erschienen in: Die Justiz. Monatsschrift für Erneuerungen des Deutschen


Rechtswesens. Zugleich Organ des Deutschen Richterbundes, Band 5, Heft 9,
Juni 1930, Berlin, S. 553-565. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung
S. 64-65.]
1 Carl Schmitt: Die Auflösung des Enteignungsbegriffes, JW. 1929, S. 495 ff. [Carl
Schmitt: Die Auflösung des Enteignungsbegriffs, in: Juristische Wochenschrift, Jg.
58, Band 1, Heft 8, Leipzig 1929, S. 495-497.]

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252 [18.] Reichsgericht und Enteignung [1930]

zu erklären, weil der Verzicht auf die Durchsetzung von Rechtsansprü-


chen als Enteignung anzusehen sei.2
Man wird den neueren Bestrebungen nach Ausdehnung des Enteig-
nungsbegriffs zu einem generellen Schutzbegriff für die erworbenen
Rechte3 überhaupt, wie sie theoretisch erstmals in einer bekannten
Schrift Martin Wolffs4 vorgenommen worden ist, nur dann gerecht,
wenn man sie als Kernstück der bürgerlich-rechtsstaatlichen Renais-
sance auffasst, die seit längerer Zeit in Deutschland eingesetzt hat. Wie
aber der Begriff der Renaissance immer unter dem Schutz geschichtlich
gewordener, jedoch einmaliger Vorgänge die Stilisierung und Rechtfer-
tigung neuer Ziele birgt, so auch hier. Das Wesen des Rechtsstaats des
19. Jahrhunderts, der bis in unsere Tage eine mit dem Grade seiner
Erfüllung zwar immer bedeutungslosere, aber auch unbestrittenere
Herrschaft davongetragen hat, lag in der Form beschlossen. War doch
die Form des Gesetzes gerade in Deutschland das staatsrechtliche Mit-
tel, mit dem das Bürgertum, die Konstitution, gegen die Waffe der Ver-
ordnung, die damals Alleinbesitz des Absolutismus war, siegte. Auf
unseren konkreten Fall angewandt: Nicht ob jemandem etwas im
öffentlichen Interesse weggenommen wurde, war die rechtsstaatliche
Sorge, sondern ob diese Wegnahme unter Wahrung der gesetzlichen
Formen und Garantien vor sich ging. Der Rechtsstaat war mehr Garant
einer bestehenden Gesellschaftsordnung und erfuhr seine Weiterbil-
dung nur darin, dass er das Netz dieser Garantien immer weiter auszu-
dehnen versuchte, als dass er selbstschöpferisch im politischen Wer-
dens- und Vergehensprozess Stellung nahm.
Das Expropriationsinstitut selbst hat die Existenz der bürgerlichen
Gesellschaftsordnung zur Voraussetzung. Der Satz der französischen
Revolutionserklärung der Menschenrechte vom September 1791, aus-

2 Drei Gutachten von Simons, Triepel, Kaufmann haben die Frage der Verfassungs-
widrigkeit des deutsch-polnischen Liquidationsabkommens auch unter Bezug-
nahme auf Art. 153 RV. bejaht [Heinrich Triepel, Erich Kaufmann, Walter Simons:
Rechtsgutachten über den verfassungsändernden Charakter des deutsch-polni-
schen Liquidationsabkommens, Berlin 1929], während sie von Anschütz und
Schmitt berechtigterweise verneint worden ist [Gerhard Anschütz, Carl Schmitt:
Rechtsgutachten, betreffend den Entwurf eines Gesetzes über die Abkommen zur
Regelung von Fragen des Teils X des Vertrages von Versailles, Berlin 1930].
3 Der Verfasser verweist zur Ergänzung insbesondere der historischen Darlegung
und der Interpretation des Art. 153 der RV. auf die ausführlicheren Darlegungen
in seiner demnächst erscheinenden Arbeit über die Grenzen der Enteignung.
4 Reichsverfassung und Eigentum, in: Festgabe der Berliner Juristenfakultät für
Kahl, 1923. [Martin Wolff: Reichsverfassung und Eigentum, in: Festgabe der Ber-
liner Juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl zum Doktorjubiläum am 19. April
1923, Tübingen 1923, S. 13-30.]

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[18.] Reichsgericht und Enteignung [1930] 253

giebig vorbereitet durch vornehmlich angelsächsisches Schrifttum, »la


propriété est inviolable et sacrée; nul ne peut en être privé, que lorsque
la nécessité publique, légalement constatée l’exige évidemment et sous
la condition d’une juste et préalable indemnité«,5 ist die gesellschaftli-
che und juristische Grundlage des Expropriationsinstituts, wie es sich
in der Geschichte des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Er ist aber
zugleich dessen Beschränkung, wie dies Lorenz von Stein schon richtig
gesehen hat. Nur in einem Lande wie Frankreich, in dem der Konflikt
zwischen Feudalismus und Bürgertum zugunsten des Bürgertums
seine Erledigung gefunden hatte, war die erstmalige Herausbildung
eines regulären Expropriationsinstituts möglich. Denn den Kampf
zweier Klassen kann man nicht durch ein Expropriationsinstitut austra-
gen. Das Expropriationsrecht des bürgerlichen Rechtsstaats ist nur das
Korrelat der verfassungsmäßig sanktionierten Herrschaft des Privatei-
gentums. Auf dieser sicheren Grundlage wird die Ausnahme festge-
stellt, die eben darin ihre Bedeutung und Umgrenzung, freilich auch
ihre Relativität findet, dass sie sich niemals auf ganze Eigentumskate-
gorien bezieht, sondern nur die Technik entwickelt, mit der es möglich
ist, Einzeleigentum unter Einhaltung aller Rechtsgarantien zu ganz
bestimmten technischen Zwecken zu entziehen. An der hieraus resul-
tierenden Unterscheidung zwischen dem auf individuellem Eigentum
beruhenden Institut der Expropriation und der im Deutschland des
Übergangszeitalters von Feudalismus zu Bürgerherrschaft brennend
gewordenen Frage der Behandlung der erworbenen Rechte haben drei
politisch so verschieden gerichtete Klassiker der deutschen Staatswis-
senschaft wie Lorenz von Stein, Julius Stahl und Ferdinand Lassalle
immer festgehalten. Für die spätere formalistisch gewordene deutsche
Staatsrechtslehre konnte hier überhaupt kein Problem liegen. Die
Frage, ob etwa auch unter der Form des Gesetzes sich eine Enteignung
verbergen könne, war für eine Staatsrechtslehre, die aus politischen
Gründen den Hauptnachdruck darauf legte, dass alles sich unter der
Form des Gesetzes vollzog, gegenstandslos. Denn das Gesetz war der
vornehmste Ausdruck bürgerlichen politischen Wollens. Auf der ande-
ren Seite aber hat der deutsche Verwaltungsrechtslehrer der Vorkriegs-
zeit Otto Mayer den Schlussstein hinter die Entwicklung des Enteig-
nungsinstituts gesetzt, indem er dessen einzelne Merkmale auf Grund
deutscher und französischer Verwaltungspraxis mit klassischer Schärfe

5 [In der vermutlich von Kirchheimer gemeinten Déclaration des Droits de


l'Homme et du Citoyen de 1789, Art. 17. heißt es: »La propriété étant un droit
inviolable et sacré, nul ne peut en être privé, si ce n'est lorsque la nécessité publi-
que, légalement constatée, l'exige évidemment, et sous la condition d'une juste et
préalable indemnité.«]

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254 [18.] Reichsgericht und Enteignung [1930]

herausarbeitete. Die Formulierung Mayers, dass die Enteignung ein


obrigkeitlicher Eingriff in das unbewegliche Eigentum des Untertans
sei, um es ihm für ein öffentliches Unternehmen zu entziehen, und die
weitere Definition, dass ein öffentliches Unternehmen als ein durch sei-
nen besonderen Zweck gekennzeichnetes und abgegrenztes Stück
öffentlicher Verwaltung anzusehen sei, auf welches das entzogene
Eigentum seinem konkreten Bestande nach zu übertragen sei, hat auch
über die Zeit hinaus, für die der bürgerliche Rechtsstaat richtungge-
bend war, Bedeutung zu beanspruchen. Die individuelle Enteignung
entzieht und überträgt Eigentum seinem körperlichen Bestande nach.
Sie entzieht und überträgt aber nicht planmäßig, um die frühere Ver-
wendungsform erneut und organisatorisch verbessert wiederaufzuneh-
men, sondern lässt die neue Daseinsform allein vom Willen des Expro-
prianten her bestimmen. Hier in dieser reinen Zufälligkeit liegt allein
die moralische Rechtfertigung der Entschädigungsforderung. Die Ent-
eignung geht von keinem bestimmten vorgefassten Gesamtplan aus,
und die Gesichtspunkte, unter denen sie betrieben wird, sind rein tech-
nischer Art. Darin liegt übrigens auch die Rechtfertigung des heute ver-
worfenen Ausdrucks Zwangskauf statt Expropriation, der wohl aus
konstruktiven Gründen nicht haltbar ist, aber den soziologischen Tatbe-
stand besser wiedergibt. Er weist auf die diffuse Ausübung der Expro-
priation hin.
Die Weimarer Verfassung hat die Form des bürgerlichen Rechtsstaats
erfüllt und entleert; sie hat sie erfüllt, indem sie etwa noch vorhandene
Lücken im öffentlichen Klagensystem auszufüllen bemüht war, und sie
hat sie entleert,6 indem sie der Grundvoraussetzung des bisherigen
Rechtsstaats, der alleinigen Herrschaft der bürgerlichen Gesellschafts-
ordnung, staatsrechtliche Gegengewichte gab. Die Form des Rechts-
staats war leer geworden. Indem man versuchte, die vergangenen bür-
gerlichen Voraussetzungen ihr aufs Neue zum Inhalt zu geben, hat man
ihr Gesicht rückwärtsgewandt. Bewusst hat diesen Versuch neuerdings
Friedrich Darmstädter in seinem Buch über die Grenzen der Wirksam-
keit des Rechtsstaats unternommen,7 in dem mit voller Deutlichkeit
nunmehr darauf abgezielt wird, die materielle Staatstätigkeit einer
Kontrolle zu unterstellen, die inhaltlich im Namen eines rein bürgerli-

6 Zur prinzipiellen Diskussion über den Rechtsstaat siehe Carl Schmitt: Verfas-
sungslehre[, München/Leipzig 1928]; Hermann Heller: Rechtsstaat oder Diktatur,
Tübingen 1930.
7 [Friedrich Darmstaedter: Die Grenzen der Wirksamkeit des Rechtsstaates: eine
Untersuchung zur gegenwärtigen Krise des liberalen Staatsgedankens, Heidel-
berg 1930.]

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[18.] Reichsgericht und Enteignung [1930] 255

chen Normensystems ausgeübt wird. Unter diesem Gesichtspunkt


wird – ein symptomatisches Zeichen – eine inhaltliche Kontrolle des
Enteignungsaktes nach seiner Zielsetzung hin durch richterliche Behör-
den gefordert. Hier ist der konsequente Schlusspunkt einer neuen bür-
gerlich rechtsstaatlichen Rückwärtsentwicklung, wie sie sich in erster
Linie auf dem Gebiet des Enteignungsrechts angebahnt hat. Was das
19. Jahrhundert streng schied, wird vom 20. Jahrhundert vermengt. Der
Schutz vor individuellen Expropriationsakten wandelt sich in einen
Schutz aller erworbenen Rechte überhaupt, in eine richterliche Sanktio-
nierung des Status quo. Hierin liegt die ungeheuer folgenschwere
Bedeutung der reichsgerichtlichen Rechtsprechung in den letzten zehn
Jahren.
Diese Rechtsprechung hat zuerst zögernd, dann immer sicherer und
eindeutiger werdend, dazu geführt, dass heute unter Enteignung nicht
mehr individuelle Eingriffe auf gesetzlicher Grundlage begriffen wer-
den, sondern dass Enteignung heute in jedem staatlichen Akt gesehen
werden kann, der in irgendeiner Weise in die private Rechtssphäre ein-
greift.8 Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass es heute kaum
mehr Gesetze gibt und geben kann, die nicht irgendwelche Individuen
in irgendwelchen Belangen9 stören. Nimmt man dazu, dass heute der
Unterschied zwischen einer objektiven Rechtslage und einem subjekti-
ven Recht nicht mehr die Schärfe besitzt und gar nicht besitzen kann
wie früher, so ist die Gefahr noch größer. Denn gerade formal-rechts-
staatliches Denken hat dazu geführt, überall Schutz durch Klagensys-
teme zu eröffnen; da aber der Klagschutz das wichtigste Kennzeichen
des subjektiven Rechts ist, so tun sich hier unerfreuliche Perspektiven
auf, deren soziale Gefahr darin besteht, dass für Monopolstellungen
jeder Art neue, bei unserer Reichsgerichtsjudikatur nicht aussichtslose
Verteidigungsmöglichkeiten geschaffen werden.
Die Gefahr dieser Judikatur wird sehr deutlich an einer Entscheidung,
die die Verordnung des Reichspräsidenten über die Ablieferung aus-

8 Das Urteil des Staatsgerichtshofs vom 23. März 1929, RGZ. Bd. 124 Anhang
S. 19 ff. (Ungültigkeit der preußischen Notverordnung vom 10. Oktober 1927
über einen erweiterten Staatsvorbehalt zur Aufsuchung und Gewinnung von
Steinkohle und Erdöl.) – Abschnitt B III der Urteilsgründe, S. 32/34 a. a. O. –
zitiert zwar jene herrschende Rechtsprechung des Reichsgerichts, enthält aber
sachlich eine Abkehr von ihr.
9 So haben die neuen Zollgesetze die Gefrierfleischimporteure dazu veranlasst,
Enteignungsentschädigungen dafür zu verlangen, dass sie ihre auf Grund der
früheren Gesetze in Kühlanlagen investierten Kapitalien durch die nunmehrige
Gesetzgebung verloren haben. Dass hier von Enteignung nicht die Rede sein
kann, braucht wohl nicht ausdrücklich betont zu werden.

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256 [18.] Reichsgericht und Enteignung [1930]

ländischer Vermögensgegenstände vom 25. August 192310 betrifft. Dort


ist bestimmt, dass diejenigen Rechtspersönlichkeiten, die im Besitz
gewisser ausländischer Zahlungsmittel und Wertpapiere sind, davon
eine bestimmte Anzahl abzuliefern haben, wofür sie als Gegenleistung
Goldanleihe, Reichsmark oder Gutschrift auf wertbeständiges Steuer-
konto erhalten. Das Reichsgericht sieht in der Tatsache, dass hier nicht
allen Staatsangehörigen eine gleichmäßige Ablieferungspflicht allge-
mein auferlegt, sondern nur die Ablieferung gewisser einzeln bezeich-
neter Wertgegenstände verfügt wird, eine starke begriffliche Annähe-
rung an die Enteignung, woraus sich die Anwendung des Art. 153
Abs. 2 rechtfertige. Hier mangelt es an allen Merkmalen, die die Ver-
waltungsrechtslehre als Kennzeichen der Enteignung herausgearbeitet
hat. Hier wird nicht auf Grund eines Gesetzes enteignet, sondern das
Gesetz bestimmt selbst die notwendig erscheinende Maßnahme. Damit
ist schon die wichtigste Schranke gefallen. Aus der richterlichen Kon-
trolle über den Verwaltungsakt ist eine generelle Kontrolle der staatli-
chen Tätigkeit geworden. Aber wenn man auch die wohl unrichtige
Ansicht vertritt, dass individuelle Akte des Gesetzgebers zur Enteig-
nungstheorie gerechnet werden können, so ist doch unerfindlich, worin
hier ein solch individueller Akt liegen soll. Die Einschränkung des
freien Eigentümerbeliebens ergibt sich zwingend aus dem Tatbestand
selbst; der Staat konnte zu dem finanzpolitisch notwendigen Zweck
einen Devisenvorrat anzulegen nur bestimmte Devisen hochvalutari-
scher Länder brauchen; soweit er diese brauchen konnte, ist eine gene-
relle Ablieferungspflicht verfügt. Dass der Kreis der hiervon Betroffe-
nen ein begrenzter war, ändert am generellen Charakter der Verord-
nung nichts. Deutlich erhellt hier die Gefahr, dass eine solche Recht-
sprechung unweigerlich zu einer Garantie des Status quo führen muss.
Jede staatliche Maßnahme kann sehr oft nur einen bestimmten Kreis
von Personen betreffen, da gerade dieser bestimmte Kreis zu den Din-
gen Zugang hat, auf die der Staat im öffentlichen Interesse einwirken
muss. Trotzdem ist hierin ein Individualisierungsvorgang nicht zu
erblicken. Im Gegenteil findet dadurch eine Generalisierung statt, dass
der Staat von allen Devisenbesitzern etwas verlangt und dass es ihm
ganz gleichgültig ist, wer diese Devisenbesitzer in concreto sind.
Außerdem fehlt es an einem öffentlichen Unternehmen, an einem abge-
grenzten Stück staatlicher Verwaltung, auf welches die Devisen über-
tragen werden sollten. Der Versuch der Währungsstabilisierung ist kein
Unternehmen im Sinne des Enteignungsrechts; denn unter Unterneh-
men ist ein konkreter Bestand sachlicher Mittel zu verstehen, nicht die

10 RGZ Bd. 110, S. 344, besonders S. 347.

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[18.] Reichsgericht und Enteignung [1930] 257

staatliche Tätigkeit überhaupt. Mit dieser uferlosen Ausdehnung des


Unternehmensbegriffs wird im Zusammenhang mit der Gleichsetzung
genereller und individueller Eingriffe die staatliche Tätigkeit einer
neuen Kontrollinstanz unterworfen. Es wird dem Staat generell verbo-
ten (und nur gegen ›angemessene‹ Entschädigungszahlung ein indivi-
dueller Erlaubnisvorbehalt gewährt), Zielsetzungen politischer Art
durchzuführen, sofern sie den gegenwärtigen Besitzstand der sozialen
Gruppen zugunsten der einen oder der anderen verändern könnten.
In der Richtung auf ein vollständiges Fallenlassen jeder konkreten
Überführung war diesem Urteil schon der bekannte Spruch über die
Anhaltische Kohlenrente vorangegangen.11 Von hier aus führt eine
gerade Linie zu den beiden letzten prinzipiell bedeutsamen Sprüchen.
Der Hamburger Denkmalfall und die jüngste Entscheidung des Reichsge-
richts über die Reichsverfassungswidrigkeit des Preußischen Fluchtlinienge-
setzes12 zeigen, dass durch die vom Reichsgericht, in Übereinstimmung
mit dem größten Teil der Literatur, vorgenommene Erweiterung des
Enteignungsbegriffes eine klare Grenzscheide gegenüber dem Begriff
der öffentlich-rechtlichen Beschränkung nicht mehr durchgeführt wer-
den kann. Sehr anschaulich wird dies an einem jüngst veröffentlichten
Urteil des Reichsgerichts klar,13 das die Enteignungsfrage zwar nur in
einem Nebenpunkt berührt, hier aber schon gar nicht mehr die Unter-
scheidung zwischen Enteignung und öffentlich-rechtlicher Beschrän-
kung macht, sondern einfach die öffentlich-rechtliche Beschränkung
durch Gesetz als Eingriff in Privatrechte für unzulässig erklärt, ohne
Absatz 1 und 2 des Art. 153 mehr zu unterscheiden. In dieser vollkom-
menen Begriffsvermengung liegt auch das Wesensmerkmal der hier
wegen ihrer ungeheuer folgenschweren Auswirkungen näher zu
behandelnden Reichsgerichtsentscheidung bezüglich der Verfassungs-
widrigkeit des Fluchtliniengesetzes.
Dem Urteil liegt folgender Tatbestand zugrunde: Der Kläger ist Eigen-
tümer eines Grundstücks in Berlin-Wannsee; der südliche Teil des
Grundstücks stößt mit seiner Westseite in einer Breite von 50 Metern an
eine Straße; im Südwesten wird es vom städtischen Dauerwald
begrenzt. Die Stadt will den südlichen Teil des klägerischen Grund-
stücks ihrem Wald Zuschlagen und betreibt deshalb dessen Erklärung

11 RGZ 109, S. 310.


12 RGZ 116, S. 268 (Hamburger Denkmal-Fall). – Die Fluchtlinien-Entscheidung vom
28. Februar 1930 ist in der Zeitschrift »Das Grundeigentum« 49. Jahrg. Nr. 16, [Ber-
lin 1930,] vollständig veröffentlicht.
13 JW. 1930, S. 1205. [Rechtsprechung 16., in: Juristische Wochenschrift, Jg. 59, Band
1, Heft 16/17, Leipzig 1930, S. 1202-1207.]

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258 [18.] Reichsgericht und Enteignung [1930]

zur Freifläche. Sie hat einen von den zuständigen Instanzen genehmig-
ten Fluchtlinienplan aufgestellt, dessen Offenlegung am 5. März 1928
erfolgt ist. Der Kläger beabsichtigte schon vor Aufstellung des Fluchtli-
nienplanes, auf seinem Grundstück mit der Front zur genannten Straße
ein Wohnhaus zu errichten. Mehrere von ihm eingereichte Baugesuche
wurden abgelehnt und ihm vom Oberpräsidenten eröffnet, dass die
Stadtverordnetenversammlung der Festsetzung des Fluchtlinienplanes
zugestimmt habe; da hierdurch der betreffende Geländeteil als Freiflä-
che ausgewiesen würde, vermöge die Gemeinde für das Bauvorhaben
des Klägers eine Ausnahme von dem ortsstatutarischen Bauverbot
nicht zuzulassen. Die vom Kläger gegen die Stadt Berlin erhobene
Schadensersatzklage, die auf die Gesichtspunkte der unerlaubten
Handlung und der Amtshaftung, hilfsweise auch auf Entschädigung
wegen Enteignungseingriffs gestützt wurde, ist von den Vorderinstan-
zen abgewiesen worden. Das Berufungsgericht hat die Annahme, dass
hier eine Enteignung vorliege, abgelehnt, da in der Feststellung der
Fluchtlinienpläne niemals eine Enteignung liege, weil merkantiles Bau-
land abgesehen von seinem landwirtschaftlichen oder sonstigen Nut-
zungswert keinen bestimmten wirtschaftlichen Wert, sondern nur eine
wirtschaftliche Chance darstelle. Es heißt dort, dass jeder Grundstücks-
spekulant wisse, dass er vor der Bekanntmachung des Fluchtlinien-
plans nur ein Spekulationsobjekt in Händen habe und dass er ein dop-
peltes Risiko eingehe: einmal hinsichtlich der Richtigkeit seiner Berech-
nungen über die zukünftige Entwicklung der Bebauung und dann über
die Bestätigung seiner an sich richtigen Berechnungen durch den
Fluchtlinienplan. Merkantiles Baugelände trage den Bauwert nicht in
sich, sondern erhalte ihn allein durch einen günstigen Fluchtlinienplan.
Wer sich an einer nicht geregelten Straße anbaue, habe keinen
Anspruch darauf, diese Wertsteigerung zu erhalten, vielmehr stelle die
eintretende Wertsteigerung einen ihm durch öffentlich-rechtliche Maß-
nahmen zufließenden Vermögensvorteil dar. Der ungünstige Fluchtlini-
enplan vermindere nicht den Wert der Grundstücke, der günstige
erhöhe ihn vielmehr. Alle Berechnungen des Klägers beruhen auf der
Annahme, dass das Grundstück einen Baustellenwert gehabt habe. Die
Nichtverwirklichung dieser Berechnungen beruhe auf den Beschrän-
kungen des Eigentums, denen auf Grund des Fluchtliniengesetzes alle
die Grundstücke unterworfen seien, die, ohne bebaut zu sein, an nicht
geregelten Straßen lägen.
Das Reichsgericht hat dieses Urteil aufgehoben und die Sache an die
Vorderinstanz zurückverwiesen.

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[18.] Reichsgericht und Enteignung [1930] 259

Es hat sich der Auffassung des Kammergerichts, die, ganz abgesehen


von den konkreten Vorschriften des Preußischen Fluchtliniengesetzes
vom 2. Juli 1875 (G. S. S. 561), die Sachlage nach der wirtschaftlichen
Seite hin erschöpfend und abschließend würdigt, nicht angeschlossen;
vielmehr versucht es, das Vorliegen der Enteignung dadurch zu
begründen, dass es zwischen § 12 und § 13 des Fluchtliniengesetzes
einen dem Gesetzgeber unbekannten Unterschied macht. Es räumt ein,
dass § 12, der Ortsstatuten freistellt, das Bauen von Wohngebäuden an
für den öffentlichen Verkehr noch nicht fertiggestellten Straßen zu
untersagen, eine im öffentlichen Interesse den Eigentümern auferlegte
Baubeschränkung ist, welche nicht unter den Begriff der Enteignung im
Sinne des Art. 153 der Reichsverfassung fällt. Denn – und dies ist der
wesentliche Satz – innerhalb eines bestimmten Bezirkes betreffe ein sol-
ches Ortsstatut sämtliche Grundstücke, die an einer unfertigen Straße
liegen, nicht einzelne Grundstücke oder einen engen Kreis von ihnen,
sondern eine unbeschränkte Zahl von nach Lage und Umfang völlig
unbestimmten Grundflächen. § 13 Abs. 1 des Fluchtliniengesetzes dage-
gen versage dem Eigentümer eine Entschädigung nicht bloß wegen der
nach § 12 eingetretenen Beschränkung der Baufreiheit, sondern auch
wegen der Beschränkung des von der Festsetzung neuer Fluchtlinien
betroffenen Grundeigentums, abgesehen von der Festsetzung bestimm-
ter, jedoch eng begrenzter Ausnahmefälle. Da mit der Offenlegung des
Fluchtlinienplans die Beschränkung des Grundeigentums eintrete, dass
Neubauten, Um- und Ausbauten über die Fluchtlinien hinaus versagt
werden könnten, so liege in der Auferlegung dieser Beschränkung
rechtlich eine Enteignung.
Dass gegen diese Auslegung der § 13 selbst spricht, hat auch das
Reichsgericht bemerkt; denn in Absatz 1 des § 13 werden die Fälle der
Baubeschränkung gemäß § 12 und der Beschränkung auf Grund einer
Fluchtlinienfestsetzung in einem Atemzug genannt, was immerhin
schon dagegen spricht, dass zwischen den beiden Bestimmungen eine
so tiefe Wesensverschiedenheit besteht, wie sie das Reichsgericht her-
auszudestillieren sucht. Würde die Fluchtlinienfestsetzung im Gegen-
satz zur Baubeschränkung nur einen individuell bestimmten Kreis von
Personen treffen, so wäre immerhin ein Begriffsmerkmal der Enteig-
nung vorhanden. Aber das ist nicht der Fall; denn auch der Fluchtlini-
enplan wird nach generellen Gesichtspunkten aufgestellt. Dass ein Teil
der Eigentümer von ihm betroffen wird, ein anderer Teil aber nicht,
liegt am Wesen des Fluchtlinienplans, nicht an einer bestimmten
Absicht der Behörden. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Zahl der
von ihm betroffenen Grundeigentümer ihrem personellen Bereich nach

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260 [18.] Reichsgericht und Enteignung [1930]

unbeschränkt ist, sondern darauf, ob diese Beschränkung nach gewis-


sen allgemeinen Grundsätzen stattfindet.
Wenn das Reichsgericht weiterhin meint, dass in der Belastung des
Grundstücks mit der Dienstbarkeit zugunsten der Gemeinde eine Teil-
enteignung liege, und dass diese Teilenteignung für das öffentliche
Unternehmen der Anlegung oder Änderung von Straßen und Plätzen
erfolge, so ist hier am deutlichsten sichtbar, dass der neue Enteignungs-
begriff eine Grenze gegenüber dem der öffentlich-rechtlichen Beschrän-
kung nicht mehr findet. Auch hier, wie in so vielen anderen Urteilen,
fehlt es an jedem Nachweis eines konkreten Übertragungsaktes. Gerade
der Fall, dass das Eigentum der Gemeinde übertragen werden muss, ist
in § 13 Ziffer 1 und Abs. 2 selbst als Enteignung aufgefasst und demge-
mäß entschädigungspflichtig. Im vorliegenden Fall hat aber weder eine
Enteignung noch eine ebenfalls entschädigungspflichtige Beschrän-
kung zugunsten eines bestimmten Unternehmens stattgefunden. Nur
durch die Erweiterung beider Begriffe war es möglich, hier eine Enteig-
nung zu konstruieren. Danach ist aber jede öffentlich-rechtliche
Beschränkung eine Enteignung, wenn man sich der hier in diesem
Urteil vertretenen Ansicht über den Begriff des Unternehmens
anschließt. Unternehmen bedeutet hier nicht mehr ein abgegrenztes
Stück öffentlicher Verwaltung, sondern jede Tätigkeit öffentlicher Kör-
perschaften schlechthin. Richtigerweise besteht aber der notwendige
Zusammenhang zwischen konkretem Übertragungsakt und öffentli-
chem Unternehmen darin, dass für einen öffentlichen Betrieb eine
bestimmte Sache nicht entbehrt werden kann und sie ihm deshalb als
Betriebsmittel oder Grundlage zugeführt werden muss, während es das
Charakteristikum der öffentlich-rechtlichen Beschränkung ist, dass sie
einer unbestimmten Vielzahl von Personen dient. Dagegen kann nicht
eingewendet werden, dass Abs. 2 des Art. 153 RV. sich selbst jener
unbestimmten Terminologie bediene. Es ist nachweisbar, dass unter
dieser Terminologie niemals öffentlich-rechtliche Beschränkungen mit-
gemeint waren. Weiterhin stellt hier der Begriff des »Wohls der Allge-
meinheit« nicht einen Gegensatz zu dem Terminus »bestimmtes öffent-
liches Unternehmen« dar, sondern bedeutet nur den Gegensatz zwi-
schen öffentlich und privat. Dieses Gegensatzpaar hat aber nichts mit
der Frage zu tun, welche Eigentumsbeschränkungen unter den Begriff
der Enteignung fallen. Das Reichsgericht hat auch vergeblich versucht,
seine Entscheidung mit der hier schon genannten Entscheidung des
Staatsgerichtshofs in Einklang zu bringen. Dort heißt es ausdrücklich,
dass den Inhalt und die Schranken des Eigentums allgemein zu regeln,
die zulässigen Rechte an Grundstücken und die Voraussetzungen ihrer

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[18.] Reichsgericht und Enteignung [1930] 261

Entstehung allgemein zu bestimmen, dem Gesetzgeber vorbehalten


bleiben muss, ohne dass er dabei durch eine Pflicht zur Entschädigung
gehindert werden könne. Es heißt dort weiter, dass dieses Recht ihm in
Art. 153 Abs. 1 RV. ausdrücklich vorbehalten ist; RGZ 124 Anhang S. 33
unten.
Die tiefere Ursache jenes reichsgerichtlichen Urteils, das allerdings an
praktischer Tragweite und Bedeutung alle bisherigen Urteile zu dieser
Frage bei weitem übertrifft, liegt darin, dass das Reichsgericht sowie
ein großer Teil der Literatur weder das Verhältnis des Eigentumsarti-
kels der Weimarer Verfassung zu den Eigentumsartikeln der früheren
Verfassungen noch das Verhältnis des Art. 153 Abs. 1 zum Abs. 2 aus-
reichend geklärt hat. In diesem besonderen Fall kommt noch hinzu,
dass das Reichsgericht es nicht für nötig befunden hat, sich mit dem
Abs. 3 des Art. 15514 auseinanderzusetzen, in dem es ausdrücklich
heißt: »Die Wertsteigerung des Bodens, die ohne eine Arbeits- oder
Kapitalaufwendung auf das Grundstück entsteht, ist für die Gesamt-
heit nutzbar zu machen.« Wir glauben, dass es der Mühe wert gewesen
wäre, das Fluchtliniengesetz und die daran anschließende Praxis der
Städte auch von diesem Gesichtspunkt aus zu prüfen und die wirt-
schaftlichen Zusammenhänge, wie dies in vorbildlicher Weise das
Berufungsgericht getan hat, ausgiebig zu berücksichtigen. Aber auch
wenn man hiervon absieht, erhellt an diesem Urteil sehr deutlich, dass
das Reichsgericht der Eigentumskategorie eine Bedeutung verleiht, die
ihr nach dem Sinn der Reichsverfassung kaum mehr zukommt. Dabei
geht dieses Urteil über die früheren Urteile noch weit hinaus. Aus
ihnen war nur herauszulesen, dass der Eigentumsartikel der Weimarer
Verfassung mit dem Art. 9 der Preußischen Verfassung von 1850 gleich-
zusetzen sei. Dieses Urteil macht aber bewusst noch einen weiteren
Schritt rückwärts. Das Fluchtliniengesetz ist von 1875 bis 1918 unter der
Herrschaft des Art. 9 der Preußischen Verfassung niemals als dieser
zuwiderlaufend angesehen worden, und das Reichsgericht muss in sei-
ner Entscheidung ausdrücklich feststellen, dass bei der Beratung des
Fluchtliniengesetzes im Jahre 1875 im preußischen Abgeordnetenhause
die Meinung geherrscht hat, dass die Verpflichtung des Eigentümers,
gewisse künftighin zu Straßen und Plätzen bestimmte Flächen unbe-
baut zu lassen, als eine gesetzliche Einschränkung des Eigentums anzu-
sehen sei, die deshalb keinen Entschädigungsanspruch auslösen dürfe.
Hieraus muss also der Schluss gezogen werden, dass der Eigentumsar-
tikel der Preußischen Verfassung von 1850 in Bezug auf den Eigen-

14 Zu Abs. 1 des Art. 155 RV.: RGZ 116, S. 273/274.

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262 [18.] Reichsgericht und Enteignung [1930]

tumsschutz weniger weit gegangen sei als die neue Reichsverfassung.


Eine solche Rechtsprechung kann vom Boden der geltenden Verfassung
aus nicht gerechtfertigt werden; sie kann ihre Begründung nur in
gewissen rechtspolitischen Zielsetzungen finden, die in der Weimarer
Verfassung keinen Ausdruck gefunden haben. Der Satz, dass der
Begriff der Enteignung nicht durch die Rechtslage des Jahres 1919
bestimmt wird, hat zwar in der Rechtsprechung des Reichsgerichts den
Sinn, dass die Gerichte nicht gehalten sind, vor dem Entstehen der Wei-
marer Verfassung als gültig angesehene Bestimmungen weiterhin als
rechtswirksam anzuerkennen; der tiefere Sinn dieses Satzes ist aber –
und dies hat Morstein Marx in einer Besprechung15 kürzlich mit erfreu-
licher Deutlichkeit dargelegt – der, dass nicht die Intentionen der Wei-
marer Verfassung das Maß und den Umfang des Eigentumsschutzes
bestimmen, sondern die jeweils herrschenden politisch-sozialen Zielset-
zungen. Hier mündet die Rechtsprechung des Reichsgerichts ein in die
allgemeine Renaissance des bürgerlichen Rechtsstaats, die aber sicher
ihr Ziel verfehlt, weil sie mit Hilfe einer grenzenlosen Erweiterung des
technischen Rechtsinstituts der Enteignung einer sozialen Weiterent-
wicklung Deutschlands sich hemmend in den Weg stellen zu können
glaubt.

15 Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 18 Heft 2, S. 276/282 [Fritz Morstein Marx:
Reise, Hans, Die Enteignung von Rechten nach preußischem, hamburgischem
und Reichsrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 18, Tübingen 1930,
S. 176-282]. Wenn Morstein Marx dort erwähnt, dass das Prinzip der Enteig-
nung gegen Entschädigung weder unbedingt kollektivistisch noch ureigenst
individualistisch, sondern vielmehr ein reines Gerechtigkeitsprinzip sei
(S. 270 a. a. O.), so kann dem bei der hier vertretenen Begrenzung des Enteig-
nungsbegriffs beigetreten werden. Ungeklärt aber bleibt bei Morstein Marx
gerade die Hauptfrage, wo die Grenzen des Enteignungsinstituts liegen. Diese
Abgrenzung ist angesichts der Judikatur und der Bestrebungen vieler Interes-
sentenkreise heute nicht zu entbehren. Dies gilt umso mehr, als aus der Erweite-
rung des Eigentumsmachtbereiches infolge der wirtschaftlichen und techni-
schen Strukturwandlungen falsche Schlüsse auf einen Wandel der Vorausset-
zungen des Enteignungsbegriffs gezogen werden. Dem Wandel des in der pri-
vaten Sphäre liegenden Eigentumsbegriffs entspricht aber in Deutschland kein
allgemeiner Wandel der einschlägigen öffentlichen Vorstellungen. Die eigen-
tümliche Parallelität der Entwicklung der deutschen Reichsgerichts-Rechtspre-
chung zu der des Obersten Bundesgerichts der Vereinigten Staaten legt die
Frage nahe, ob das Reichsgericht hier nicht grundlegende Unterschiede des Ver-
hältnisses Staat-Gesellschaft in deutscher und amerikanischer Ausprägung
übersieht (die nordamerikanische Auffassung wird angedeutet bei [Hermann]
Kröner: John R. Commons, Jena 1930, und in der noch der Ergänzung bedürfti-
gen Studie Vögelins über den Eigentumsbegriff in USA, in: Archiv für ange-
wandte Soziologie, Jahrg. 2 Heft 4 [Eric Voegelin: Die amerikanische Theorie
vom Eigentum, in: Archiv für angewandte Soziologie, Jg. 2, Heft 4, Berlin 1930,
S. 165-172]).

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[18.] Reichsgericht und Enteignung [1930] 263

Einstweilen hat aber der Gesetzgeber das Wort. Er wird sorgfältig zu


prüfen haben, durch welche Maßnahmen die Durchkreuzung gesetzli-
cher Bestimmungen durch die höchstrichterliche Rechtsprechung ver-
hindert werden kann. Was den vorliegenden Fall des Fluchtliniengeset-
zes angeht, so wird wohl ein Sondergesetz notwendig sein, das die Ent-
schädigungsansprüche, die rückwirkend seit dem Jahre 1919 in Höhe
von Hunderten von Millionen Mark gegen die Städte geltend gemacht
werden können, ausschließt. Darüber hinaus wird der Reichsgesetzge-
ber – eine andere Instanz kommt nach diesem Urteil nicht in Frage –
das im Reichsarbeitsministerium zur Zeit bearbeitete Baulandgesetz,
das diese Materie so, wie es das Interesse der Öffentlichkeit erfordert,
regelt, schleunigst zu erlassen haben. Prinzipiell muss erwogen wer-
den, ob eine reichsgesetzliche Definition des Unterschieds zwischen
Enteignung und öffentlich-rechtlicher Eigentumsbeschränkung, die in
dem aus anderen Gründen dringend erforderlichen Reichsenteignungs-
gesetz ihren Platz zu finden hätte, der bisherigen reichsgerichtlichen
Rechtsprechung ein Ende machen könnte. Freilich wäre eine einfache,
nicht verfassungsändernde, reichsgesetzliche Vorschrift dieses Inhalts
problematisch, da sich das Reichsgericht auf den Standpunkt stellen
könnte, dass eine solche Legaldefinition gegen Art. 153 RV. verstoße.
Vorläufig wird die beste Sicherung darin bestehen, in allen einzelnen
Gesetzen, die von irgendwelchen Interessentenkreisen möglicherweise
unter den Gesichtspunkt der Enteignung gebracht werden könnten,
von der Befugnis des Art. 153 Abs. 2 Satz 2 Gebrauch zu machen und
eine besondere Bestimmung anzufügen, des Inhalts: »Eine Entschädi-
gung ist, soweit sie in diesem Gesetz nicht ausdrücklich zugebilligt
wird, ausgeschlossen.«

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264

[19.]
Die Grenzen der Enteignung*
[1930]

Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Enteignungsinstituts und zur


Auslegung des Art. 153 der Weimarer Verfassung

Vorwort

Die allzu große praktische Bedeutung, die der Artikel 153 der Reichs-
verfassung heute besitzt oder mindestens besitzen soll, ist der rechts-
wissenschaftlichen Betrachtung bisher nicht förderlich gewesen. Es
scheint jedoch an der Zeit zu sein, diese für die geordnete Existenz
eines Staates bedeutungsvolle Frage sowohl in den geschichtlichen
Zusammenhang als auch in den Sinnzusammenhang der Weimarer
Verfassung einzuordnen. Dem Beginn dieses notwendigen Besinnungs-
prozesses dient diese Skizze.
Die Arbeit Schelchers »Gesetzliche Eigentumsbeschränkung und Ent-
eignung«, Archiv für öffentliches Recht Band 18 Heft 3, die die Argu-
mente der herrschenden Lehre nochmals in übersichtlicher Weise
zusammenfasst, konnte wenigstens noch anmerkungsweise verwertet
werden.
Für die Fragestellung selbst wie für die Einzelausgestaltung schulde ich
Herrn Professor Dr. Carl Schmitt reichen Dank. Ebenso bin ich Herrn
Professor Dr. Heller für das der Arbeit entgegengebrachte Interesse zu
Dank verpflichtet.
Berlin, im Juni 1930
***

* [Erschienen als selbständige Schrift, W. de Gruyter & Co., Berlin/Leipzig 1930. –


Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 60-64.]

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 265

Übersicht

I. Eigentumsschutzformel, Enteignung und erworbene Rechte im 19. Jahr-


hundert
Die Voraussetzungen des Enteignungsinstituts und die Behandlung
der erworbenen Rechte in der französischen Revolution. – Die
erworbenen Rechte bei Stahl, Stein und Lassalle. – Die preußische
Verfassung und die Behandlung des Enteignungsinstituts bei Otto
Mayer und Adolf Wagner.
II. Die Reichsverfassung
Reichsverfassung und Wirtschaftsordnung. – Der Rechtsstaatsge-
danke und die Interpretation des Art. 109 der Reichsverfassung.
III. Die Enteignung nach der Reichsverfassung
Der Wandel der verfassungsmäßigen Stellung des Eigentums. – Die
Interpretation des Art. 153 Abs. 2.
IV. Die Enteignungsrechtsprechung des Reichsgerichts
Devisenablieferung und Kohlenrente. – Der Hamburger Denkmal-
fall und seine Kritik. – Der Einfluss der Entwertung des Enteig-
nungsbegriffs auf die Gesetzgebung. – Die Unmöglichkeit der
Unterscheidung zwischen erworbenen Rechten und reiner Faktizi-
tät hat die Bedeutung einer allgemeinen Status-quo-Garantie
gegenüber dem Staat.
***

I. Eigentumsschutzformel, Enteignung und erworbene Rechte im


19. Jahrhundert

Wer heute die grundlegenden Sätze zur Auslegung des Art. 153 in dem
bekanntesten Kommentar zur Reichsverfassung, dem von Anschütz,1
liest, wird zu der Auffassung gelangen, dass es sich hierbei um klares
und übersichtliches Recht handelt. Zur entgegengesetzten Überzeu-
gung freilich muss der Leser kommen, wenn er eine Zeitung zur Hand
nimmt; denn dort erfährt er von Rechtsbeschwerden, Gerichtsurteilen,
Kongressreden, Reichs- und Landtagsdiskussionen, die die buntesten
Dinge der Erscheinungswelt unter die Enteignungskategorie rubrizie-
ren. Die Auflösung der Fideikommisse, die Abfindung der Standesher-
ren, die Entwürfe zum Städtebaugesetz und zu dem Schankstättenge-

1 [Gerhard Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919.
Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, 14. Auflage, Berlin 1933.]

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266 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

setz, der Ausschluss der Rechtsanwälte vom Arbeitsgericht, das Verbot


der Gefrierfleischeinfuhr, das deutsch-polnische Liquidationsabkom-
men bilden nur eine kleine Auswahl der uns von ernsthaften Juristen
präsentierten »Enteignungsfälle«, und man kann heute fast schon mit
Sicherheit damit rechnen, dass jeder neue Gesetzentwurf (Aktienrechts-
reform) von derjenigen Gruppe, die an der Aufrechterhaltung des alten
Zustands interessiert ist, als den Prinzipien des Art. 153 der Reichsver-
fassung widersprechend, bekämpft werden wird.2
Wenn Anschütz sagt, dass dieser Artikel altliberales Gedankengut,
innerlich bereichert durch eine in den letzten Jahrzehnten mehr und
mehr zur Geltung gelangte, im Vergleich mit früheren Epochen nicht
mehr so stark individualistische, sozialere Auffassung des Eigentums
enthalte, so mag es erscheinen, als ob die alte Funktion dieses Verfas-
sungsartikels im nachrevolutionären Verfassungssystem, wenn auch
mit sozialen Modifizierungen, aufrechterhalten worden sei. Dass aber
die Funktion des Art. 153 im heutigen Verfassungssystem eine andere
geworden sein muss, ergibt sich schon aus der Umwelt-Reaktion gegen
diese Bestimmung. Denn während beispielsweise Artikel 9 der alten
preußischen Verfassung von 18503 mehr ein theoretischer Bestandteil
einer praktisch nie angezweifelten Gesellschaftsordnung war, halten
sich bei Art. 153 der Reichsverfassung bisher geübte praktische Anwen-

2 Die einzige bisher bekannte prinzipielle kritische Auseinandersetzung mit dieser


Entwicklung ist der Aufsatz von Carl Schmitt: »Die Auflösung des Enteignungs-
begriffes«. Juristische Wochenschrift 1929, Heft 8, [Berlin 1929,] Sp. 495 f. Neuer-
dings auch sein Gutachten zum deutsch-polnischen Liquidationsabkommen.
Eine umfassende Materialwürdigung bietet die Arbeit [Paul] Krückmanns: Ent-
eignung, Einziehung, [Kontrahierungszwang,] Änderung der Rechtseinrichtung,
Rückwirkung und die Rechtsprechung des Reichsgerichts, Berlin 1930. Die Stu-
die befürwortet die Entwicklungsrichtung der Reichsgerichtsjudikatur. Die dort
gemachten Einwendungen sind lediglich terminologischer Natur.
3 Zum besseren Verständnis sei der Wortlaut der Reichsverfassung und der alten
preußischen Verfassung hier wiedergegeben. Art. 153 RV lautet: »Das Eigentum
wird von der Verfassung gewährleistet. Sein Inhalt und seine Schranken ergeben
sich aus den Gesetzen. Eine Enteignung kann nur zum Wohle der Allgemeinheit
und auf gesetzlicher Grundlage vorgenommen werden. Sie erfolgt gegen ange-
messene Entschädigung, soweit nicht ein Reichsgesetz etwas anderes bestimmt.
Wegen der Höhe der Entschädigung ist im Streitfalle der Rechtsweg bei den
ordentlichen Gerichten offenzuhalten, soweit Reichsgesetze nichts anderes
bestimmen. Enteignung durch das Reich gegenüber Ländern, Gemeinden und
gemeinnützigen Verbänden kann nur gegen Entschädigung erfolgen. Eigentum
verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste.«
Art. 9 der preußischen Verfassung vom 31. Januar 1850 lautet: »Das Eigentum ist
unverletzlich. Es kann nur aus Gründen des öffentlichen Wohles gegen vorgän-
gige, in dringenden Fällen wenigstens vorläufig festzustellende Entschädigung
nach Maßgabe des Gesetzes entzogen oder beschränkt werden.«

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 267

dung mit theoretisch noch nicht ausgetragener Bedeutungsfeststellung


das Gleichgewicht. Der seltsame Zustand, dass ein Verfassungsartikel
dauernd zu bestimmten sozialen und politischen Zwecken ausgenutzt
wird, ohne dass sein Einzelwert im Gesamtzusammenhang des Weima-
rer Verfassungssystems endgültig geklärt wäre, kann nur beseitigt wer-
den durch eine Untersuchung der verschiedenen Bedeutungen, die den
oft gebrauchten Eigentumsschutzformeln zukommen. Aus dem Hinein-
gestelltsein in den jeweiligen sozialen und politischen Zusammenhang
ist die Funktion des Eigentumsartikels zu erkennen. Nur das Aufrollen
des geschichtlichen Bildes kann den Bedeutungswandel einer Institu-
tion erklären, für die man seit 140 Jahren gleichbleibende Verfassungs-
formeln benützt.
Als John Locke 1680 seine »Two Treatises on Government« schrieb und
sich in hergebrachter Weise mit der Frage beschäftigte, warum die
Menschen aus dem Naturzustand heraustreten, um sich den Regeln
eines Staatsgefüges zu unterwerfen, gab er in dürren Worten seiner
Meinung Ausdruck, dass der Staat eine Veranstaltung zum Zweck des
besseren Eigentumsschutzes sei.4 Der besseren Erreichung dieses Zwe-
ckes, der größeren personellen und sachlichen Garantie der menschli-
chen Individualfreiheit, der Durchsetzung des theoretischen Anspruchs
auf Freiheit und Eigentum, den das damalige Zeitbewusstsein für die
Voraussetzung der menschlichen Entwicklung hielt, dient die Grün-
dung des Staates. Damit sind die Grenzen, die der Staat dem Einzelnen
gegenüber einzuhalten hat, durch dessen eigenen Zweck gekennzeich-
net. Deshalb hat Lockes System keinen Platz mehr für die doppelte
Staatsvertragskonstruktion seiner Vorgänger. Das Bürgertum erkämpft
seine Selbständigkeit. Das pactum subiectionis wird abgestreift; im
Sozialkontrakt schafft das frühkapitalistische Bürgertum seine eigene
Organisationsform. Die Einzelnen leihen ihre Macht dem Staat zum
Zweck der Erhöhung ihrer Sekurität. Der Staat ist deshalb eine Addi-
tion von einzelnen Schutzbedürfnissen. »The public good of the
society«, die Grenze für die materielle Tätigkeit der Legislative, ist nur
die Zusammenfassung dieser Schutzbedürfnisse ohne höhere gedankli-
che Einheit.5 John Locke ist der erste Denker des bürgerlichen Rechts-

4 So beginnt zum Beispiel auch Hegel seine Definition des Begriffes des Staates:
»Eine Menschenmenge kann sich nur einen Staat nennen, wenn sie zur gemein-
schaftlichen Verteidigung der Gesamtheit ihres Eigentums verbunden ist.« (Die
Verfassung Deutschlands, 1801/02.) [Georg W. F. Hegel: Die Verfassung Deutsch-
lands, Leipzig 1922, S. 26.]
5 Siehe neuestens [Siegfried] Landshut in »Freiheit und Gleichheit als Ursprungs-
probleme der Soziologie« [, München 1929], S. 144, sowie die treffenden Ausfüh-
rungen [Harold J.] Laskis in Grammar of Politics, [London] 1925, S. 182.

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268 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

staats, der mit bewusster Schärfe das Eigentum in den Mittelpunkt der
Staatsgründung stellt und ihm den Charakter eines unveräußerlichen
Menschenrechts gibt. So schützt er das Eigentum auf doppelte Weise;
seinen Schutz sieht er als die naturrechtliche Voraussetzung der Staats-
bildung an und gibt unmittelbar bindende Anweisungen für das Auf-
hören der gesetzgeberischen Macht an der Grenze, wo das individuelle
Eigentum anfängt. Berechenbares, bekanntes, allgemeingültiges Gesetz,
angewendet von »known authorized judges«, Schutz des Eigentums,
Verbot jeglicher Eingriffe in dieses ohne Einwilligung des Eigentümers,
das sind für das bürgerliche Denken Englands im Ausgang des 17.
Jahrhunderts die konkreten Rechtswohltaten, die der Staat bringen soll,
die man von ihm erwartet, wie aus den spezifisch englischen Überlei-
tungskonstruktionen vom Naturzustand zur staatlichen Herrschaftsge-
walt ersichtlich ist. Deutlicher und vernehmlicher als in den im Dualis-
tischen verbleibenden Konstruktionen der deutschen Naturrechtslehrer
des Jahrhunderts, Pufendorf und Thomasius, tritt der ausgesprochen
bürgerliche Charakter dieser englischen Staatsauffassung hervor.6
»Loi civile« und »loi politique« hat John Locke nicht unterschieden, da
seine Bestimmung vom Wesen des Staates eindeutig auf dessen bürger-
lichen Ursprung hinweist. Indem aber Montesquieu7 zwischen beiden
unterscheidet und der Freiheit die politische, dem Eigentum die bür-
gerliche Sphäre zuweist, gibt er aus der konkreten Situation des seinem
Ende entgegengehenden Absolutismus zu, dass hier verschiedene
Gesetzlichkeiten walten können. Indem er die Freiheit vom Bereich des
Einzelmenschen ablöst, setzt er zugleich die Konfliktmöglichkeit zwi-
schen dem Gesetz des privaten Vorteils und einem zu staatlicher Ord-
nung hingewandten Freiheitsbegriff. Es war ein frühliberaler Glaube,
der eine reinliche Trennung beider Sphären für möglich und notwendig
hielt. Nur kurze Zeit verging, bis es sich erwies, dass jene Trennung in
Wirklichkeit eine Illusion war. John Locke hat als Vollstrecker der
Naturrechtslehre die grundlegenden Sätze des bürgerlichen Staates
geprägt, deren Technik Montesquieu vervollkommnete. In der Franzö-
sischen Revolution erwies es sich, dass die Voraussetzungen der bür-
gerlichen Herrschaft, die Vernichtung der politischen Machtstellung
des Adels unter Aufrechterhaltung des Grundsatzes von der Heiligkeit
des Privateigentums, nicht durchgeführt werden konnte. Die politische
Stellung des Adels hing eng zusammen mit seiner ökonomischen Situa-

6 Siehe Erik Wolf: Grotius, Pufendorf, Thomasius[: drei Kapitel zur Gestaltge-
schichte der Rechtswissenschaft], Tübingen 1927, S. 70. Locke war schon ein
»standesbewusster« Vertreter des Bürgertums vor Montesquieu und Rousseau.
7 [Charles de Montesquieu:] L’esprit des lois, Buch 26, Kap. 15.

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 269

tion als feudaler Großgrundbesitzer. Zur endlichen Begründung der


bürgerlichen Herrschaft musste der Satz, dass keine Legislative Privat-
eigentum ohne den Willen des Eigentümers verletzen dürfe, verlassen
werden, die scheinbare Trennung von loi civile8 und loi politique auf-
gegeben und der Machtbereich der loi politique weit in das Gebiet der
loi civile, der »erworbenen Rechte« ausgedehnt werden. Dieser Wider-
spruch zwischen der politischen Notwendigkeit, feudales Eigentum zu
zerstören, und dem bürgerlichen Grundsatz der Unverletzlichkeit des
Eigentums ist dem Bürgertum in der Französischen Revolution durch-
aus bewusst geworden. Die Geschichtslegende von der Bartholomäus-
nacht des Feudaleigentums, die Auffassung, dass in der Nacht vom
4. August 1789 Bürgertum und Adel einmütig die Abschaffung der
Feudalrechte beschlossen hätten, ist eine Fabel;9 es hat noch keine
Klasse gegeben, die freiwillig ihre Rechte preisgegeben hätte. Die
schöne Ansprache des Herzogs von Aiguillon10 war ein abgekartetes
Spiel und gab nur preis, was nicht mehr zu retten war, und die Opfer-
bereitschaft des Adels erstreckte sich hauptsächlich auf die Rechte der
Geistlichkeit. In Wahrheit war die Notlösung der résolution Dupont
vom 6. August, die die feudalen Rechte öffentlich-rechtlicher Natur
ohne Entschädigung abschaffte und alle andern durch lästigen Vertrag
erworbenen Rechte nur für ablösbar erklärte, ebenso konsequent vom
Standpunkt eines das Privateigentum bejahenden Bürgertums,11 wie
verderblich für den Fortschritt der bürgerlichen Herrschaftsgewinnung;
denn hierdurch wären dem Adel große Summen zugeflossen. Im Laufe

8 Scheinbar deshalb, weil es eine gewollte Trennung von loi civile und loi politi-
que nicht gibt; im Idealfall, und der ist bei diesen Schriftstellern stets vorausge-
setzt, decken sich politische Form und ökonomische Wirklichkeit. Vergleiche
das als dualistisch gekennzeichnete Verhältnis zwischen dem rechtsstaatlichen
und dem politischen Bestandteil der modernen Verfassung in Carl Schmitt: Ver-
fassungslehre, [München/Leipzig] 1928, S. 125 ff.
9 Dies hat Oswald Spengler nicht gehindert, nochmals zu erzählen, dass es nichts
Edleres und Reineres als die Nachtsitzung vom 4. August 1789 gegeben habe,
Untergang des Abendlandes[: Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte,
Bd. 2, [München 1922,] S. 751. Als Legende nachgewiesen bei [Heinrich] Cunow:
Die revolutionäre Zeitungsliteratur Frankreichs, Berlin 1908, S. 571. Ausführlich
bei [Jean] Jaurès: Histoire socialiste de la Révolution Française, tome I, [Paris
1922,] p. 280 ff.
10 Moniteur 1789, Nr. 34. [Gazette Nationale ou Le Moniteur Universel, No 34,
Paris 1789.]
11 Diesen bürgerlichen Standpunkt nimmt Lorenz von Stein, Verwaltungslehre
VII. Teil, »Die Entwährung«, S. 148, ein. [Lorenz von Stein: Die Verwaltungs-
lehre, Band 7, Stuttgart 1868.]

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270 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

der Revolution musste der Adel ganz expropriiert werden.12 Wie


schwer aber dem französischen Bürgertum noch im Jahre 1792 dieser
Entschluss geworden ist, zeigt eine charakteristische Stelle aus einer im
Mai 1792 gehaltenen Rede des Abgeordneten Deney, der meinte, dass
die Repräsentanten des Volkes zwar das Recht hätten, die Formen ihrer
Regierung zu ändern und die politischen Regeln, die die Pflichten der
Körperschaften bestimmen, über den Haufen zu werfen, nicht aber die
Grundprinzipien des contrat social zu zerstören und die Gesetze auf
die bürgerlichen Rechtsverhältnisse auszudehnen, welche für das Ein-
zeleigentum maßgebend seien.
Vor die Wahl gestellt, die geheiligten Prinzipien des Privateigentums
nicht zu durchbrechen, oder seinem politischen Lebens- und Machtwil-
len Geltung zu verschaffen, musste sich das französische Bürgertum im
Selbsterhaltungsinteresse gegen den Fortbestand derjenigen Adels-
rechte, die reine Eigentumsrechte waren, entscheiden.13 Hier tritt als
vollgültiger Beweis gegen die Doktrin vom Eigentum als unveräußerli-
chem Menschenrecht die Geschichte derjenigen Klasse auf, die dieser
Lehre erst voll zum Siege verhelfen sollte. In dieser Beleuchtung erhält
der Artikel 17 der Erklärung der Menschenrechte vom September 1791
eine neuartige Bedeutung. Der Satz: »la propriété est inviolable et
sacrée; nul ne peut en etre privé que lorsque la nécessité publique,
légalement constatée l’exige évidemment et sous la condition d’une
juste et préalable indemnité«,14 mag in ähnlicher Form schon früher in
den Verfassungen der die nordamerikanische Union bildenden Einzel-
staaten enthalten gewesen sein, seine grundsätzliche Bedeutung
gewinnt er erst hier, auf dem grandiosen Hintergrund der großen
Expropriation einer ganzen Klasse. Er enthält die Proklamierung, dass
das nach der Abschaffung des Feudaleigentums gesicherte, Alleinherr-
scher gewordene Bürgertum seinen Staat auf dem Grundsatz des indi-
viduellen Eigentums aufbauen will. Von hier aus ist der Kampf zu ver-
stehen, den das revolutionäre bürgerliche Frankreich gegen die loi

12 Siehe Jaurès, Histoire socialiste II, S. 759. [Jean Jaurès: Histoire socialiste de la
Révolution Française, tome II, Paris 1922.] Dort schreibt er: »Die Expropriation
der Feudalität ist nur Stück für Stück, selbst in der Hoch-Zeit der Revolution
erfolgt«, und er setzt hinzu: »ein großes Beispiel für uns, das uns lehren wird,
auch die teilweisen und nacheinander erfolgenden Expropriationen nicht gering
zu schätzen.«
13 In Deutschland konnten sich die feudalen Reste durch die Verkoppelung des
Privateigentums mit der Ausübung politischer Herrschaft bis in unsere Zeit hin-
ein halten. Vergleiche hierzu Franz Neumann: Die politische und soziale Bedeu-
tung der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung, Berlin 1929. Siehe auch S. 60 f.
14 [Gemeint ist die Erklärung der Menschenrechte von 1789.]

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 271

agraire führte, ist zu verstehen, warum aus den Ausführungen Robes-


pierres über den grundsätzlich staatlichen Charakter der Eigentumsin-
stitution im Frankreich des 19. Jahrhunderts niemals die Konsequenzen
gezogen wurden.15 Jetzt ist auch zu verstehen, warum in diesem bür-
gerlichen Lande die Enteignungsinstitution am ehesten zur Ausprä-
gung gekommen ist. Nur in einem Lande, in dem der Konflikt zwi-
schen Feudalismus und Bürgertum zugunsten des Bürgertums seine
Austragung gefunden hat, kann sich ein reguläres Expropriationsinsti-
tut klar und deutlich abzeichnen. Denn den Kampf zweier Klassen
kann man nicht durch ein Expropriationsgesetz regeln. Man kann in
einem Expropriationsgesetz den Schutz der individuellen Rechte gegen
Enteignung festlegen, nicht aber kann ein Expropriationsgesetz darüber
bestimmen, was »erworbene Rechte« sind und ob und in welchem
Umfang, und ob ohne oder gegen Entschädigung erworbene Rechte
durch Gesetze aufgehoben werden können. Solche Entscheidungen fal-
len aus dem Rahmen des bürgerlichen Rechtsstaats16 heraus, der das
individuelle Eigentum als die gegebene Sozialordnung voraussetzt.
Von dieser Voraussetzung aus beschäftigt er sich mit dem Schutz des
individuellen Eigentums. Der Satz Lorenz von Steins: »Das ganze Ent-
währungsrecht Frankreichs ist durch diesen Gang der Dinge zum blo-
ßen Enteignungsrecht des Gesetzes von 1841 geworden«,17 ist richtig.
Die Geburt des Expropriationsrechts im bürgerlichen Frankreich
bedeutet zugleich die notwendige Beschränkung dieser Institution.
Denn das Expropriationsrecht des bürgerlichen Rechtsstaats ist nur das
Korrelat der verfassungsmäßig sanktionierten Herrschaft des Privatei-
gentums. Auf dieser sicheren Grundlage wird die Ausnahme festge-
stellt, die eben darin ihre Bedeutung und Umgrenzung findet, dass sie
sich niemals auf ganze Eigentumskategorien bezieht. Expropriation
bedeutet von nun ab in der juristischen Technik eine unter möglichster
Einhaltung aller Rechtsgarantien vor sich gehende Entziehung von
individuellem Einzeleigentum zu ganz bestimmten technischen Zwe-

15 Hier in der zwiespältigen Rolle der Französischen Revolution als Stürzerin des
Feudalzeitalters und der persönlichen Unfreiheit, als Begründerin des bürgerli-
chen Zeitalters der ökonomischen Unfreiheit ist auch der Ursprung jenes ewi-
gen Antagonismus zwischen Liberalismus und Demokratie zu suchen, der so
lange dauern wird, wie der politischen Freiheit nicht auch die ökonomische
Freiheit zur Seite steht. Siehe auch die charakteristische Bemerkung Duguits,
Traité de droit constitutionel 1911, tome III, p. 612. [Léon Duguit: Traité de droit
constitutionel , tome III, 2. édition, Paris 1921.]
16 Siehe die Ausführungen auf S. 31 f. [In diesem Band S. 192 f.]
17 Unter »Entwährung« fasst Lorenz von Stein Eingriffe in individuelle Privat-
rechte sowie Beseitigung wohlerworbener Rechte zusammen.

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272 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

cken. Ihre prinzipielle Bedeutung besteht darin, dass sie zum Prüfstein
bürgerlichen Rechtsstaatsdenkens geworden ist.18
Die technischen Daten der in Frankreich sich vollziehenden Entwick-
lung der Institution dienen als Bestätigung. Bis 1807 verblieb die Ent-
eignung mit allen daran anknüpfenden Fragen innerhalb der Kompe-
tenz der Verwaltungsbehörde. Der Versuch einer prinzipiellen Rege-
lung beginnt mit einem Enteignungsgesetz für ein bestimmtes Sachge-
biet im Jahre 1807. Napoleon19 krönte das rechtsstaatliche Werk des
bürgerlich-revolutionären Frankreich mit dem Gesetz von 1810, in dem
der Ausspruch der Enteignung in die Hand richterlicher Behörden
gelegt wurde. Die technischen Einzelheiten der Enteignung sind seither
noch oft überholt worden, auch in Frankreich hat das Gesetz vom Jahre
1841 vieles geändert. Wer die Enteignung im Einzelfall auszusprechen
hat, ob hierzu ein Spezialgesetz für den konkreten Fall, wie in England,
ob nur eine Erklärung der höchsten Staatsbehörde notwendig ist, ob
die Frage der Gemeinnützigkeit vom Gericht überprüft werden kann
oder nicht, sind Fragen technischer Natur, die die einmal festgelegten
Grundsätze nicht verändern. Die Pfeiler des individuellen Enteignungs-
rechts bleiben die Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage und die
gerechte, von unabhängigen Instanzen nachprüfbare Entschädigungs-
festsetzung. Das sind für das Zeitalter des bürgerlichen Rechtsstaats
keine technischen Notwendigkeiten, sondern Grundsätze, die aus dem
seinem Verfassungssystem innewohnenden Geist entspringen.
In Deutschland hat eine revolutionäre Auseinandersetzung zwischen
Bürgertum und Feudalismus nicht stattgefunden. An die Stelle einer
politischen Gewaltlösung, wie sie in Frankreich innerhalb einer verhält-
nismäßig kurzen Zeitspanne stattfand, trat ein langsamer, von rückläu-
figen Bewegungen nicht verschont gebliebener Auseinandersetzungs-
prozess. Dieser Prozess warf alle die Fragen auf, die das französische

18 Deshalb ist die sachliche Darstellung der Bedeutung der Enteignungsgarantie


für die Verfassungen des 19. Jahrhunderts bei Göppert-Eck, Gesetze haben keine
rückwirkende Kraft (Iher. Jahrb. 22, 49 ff., 1884), vollkommen richtig. [Heinrich
Göppert: Das Prinzip: »Gesetze haben keine rückwirkende Kraft« geschichtlich
und dogmatisch entwickelt. Aus dem Nachlass des Verfassers herausgegeben
von Dr. E. Eck, in: Rudolf von Jhering (Hg.): Jahrbücher für die Dogmatik des
heutigen römischen und deutschen Privatrechts, Band 22 N. F. Band 10, Jena
1884, S. 1-206.] Nur hatte dieser Schutz gegenüber Eingriffen der Verwaltung in
der konkreten historischen Situation des 19. Jahrhunderts eben eine über das
Rechtstechnische hinausgehende, eminent verfassungspolitische Bedeutung.
19 Eine nur aus der geschichtlichen Entfernung verständliche Glorifizierung dieser
Seite des Napoleonischen Wirkens hat Herman Hefele in seinem »Gesetz der
Form«, Nr. 11, »An Napoleon. Über die Bürgerliche Ordnung«, gegeben. [Her-
man Hefele: Gesetz der Form: Briefe an Tote, Jena 1919.]

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 273

Verfahren überflüssig machte. Die in Frankreich seit dem Ende des 18.
Jahrhunderts erfolgte Eingliederung der Enteignung in das Sicherungs-
system der Privatrechtsordnung beruhte auf der Auseinandersetzung
mit dem Feudalismus. In Deutschland gab es in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts keine klare Entscheidung zwischen bürgerlicher und
feudaler Eigentumsordnung. Der Prozess der Verwandlung feudalen
Eigentums in bürgerlichen Besitz, der notwendig mit der Beseitigung
der an das Feudaleigentum geknüpften politischen Rechte verbunden
war, konnte nach den Gesetzen der politischen Machtverteilung erst
dann seinem Ende zugehen, als das Bürgertum selbst die politische
Macht in Deutschland übernahm. Die Ereignisse von 1848, verbunden
mit dem raschen Gang der ökonomischen Entwicklung Deutschlands,
beschleunigten die lang verschleppte Auseinandersetzung, so dass die-
ser Ablösungsprozess in den 60er Jahren wenigstens sein vorläufiges
Ende fand. Bis zu diesem Zeitpunkt wäre die verfassungsmäßige Ver-
ankerung des Privateigentums in Preußen mindestens ein Akt gewe-
sen, der eher gegen als für das Bürgertum hätte ausgenutzt werden
können. Denn wer hätte verhindert, dass unter Berufung auf die Privat-
eigentumsgarantie nicht auch der Adel sich der teilweise doch entschä-
digungslosen Beseitigung des Feudalismus hätte entgegensetzen kön-
nen? Deshalb konnte in Preußen die verfassungsmäßige Garantie des
Privateigentums erst an jenem Ruhepunkt der Auseinandersetzung
erfolgen, die ökonomisch das Verhältnis zwischen Großgrundbesitz
und städtischem Bürgertum, politisch zwischen absoluter und konsti-
tutioneller Monarchie betraf.
Bevor aber auf die weitere Entwicklung des Enteignungsinstituts einge-
gangen werden kann, hat hier ein Hinweis auf diejenige literarische
Auseinandersetzung zu erfolgen, die den Kampf um die Abschaffung
des Feudalismus in Deutschland begleitete. Denn das Problem der
erworbenen Rechte (das heißt Rechte, deren Entstehungstatbestand in
einer überholten Sozialordnung begründet liegt) und ihrer gesetzgebe-
rischen Behandlung ist nicht an eine bestimmte Zeit, an bestimmte his-
torische Ereignisse gebunden. Immer dann, wenn ein Wirtschaftssys-
tem das andere ablöst, Institutionen im Gefolge ökonomischer Gestalt-
wandlungen ihren Sinngehalt ändern, gibt es das Problem der »erwor-
benen Rechte«. Revolutionen wird das Problem der erworbenen
Rechte, selbst wenn es bürgerliche Revolutionen sind, blitzartig nur im
Moment klar. Im nächsten Augenblick muss es gelöst werden. Es
bedeutet Sieg, wenn die erworbenen Rechte in den Orkus der histori-
schen Vergangenheit gebannt werden können, es bedeutet Niederlage,
wenn sie aufs Neue ihr Haupt erheben. Aber auch Zeiten, die ohne

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274 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

plötzliche soziale und politische Umwälzung das Problem des Überge-


hens von einem Gesellschaftssystem zum andern auf gesetzlichem
Wege zu erledigen haben, müssen diese Frage lösen. Das Problem
besteht im Deutschland von 1930 ebenso wie in dem Preußen von 1850.
Der Übergang von der ständischen Feudalordnung zur bürgerlichen
Individualordnung hat dieselben technischen und juristischen Fragen
aufgeworfen, wie sie die Übergangsordnung der Weimarer Verfassung
aufwirft.
Die Fragestellung nach der gesetzlichen Zulässigkeit der Aufhebung
erworbener Rechte beschäftigt sich nicht damit, welche Rechte aufzuhe-
ben sind. Öffentliche Meinung und soziale Notwendigkeit weisen hier
in jedem Jahrhundert den Weg, auf dem auch die konservativsten
Autoren notgedrungen zu folgen gezwungen sind. Die Fragestellung
lautet im Wesentlichen so: Welche Rechte sind gegen Entschädigung, wel-
che Rechte ohne Entschädigung aufzuheben? Hier teilen sich im 19. Jahr-
hundert, wie auch noch heute die Meinungen konservativer, liberaler
und sozialistischer Autoren. Der konservative Friedrich Julius Stahl
zieht keine Grenze hinsichtlich der Entschädigungspflichtigkeit zwi-
schen der Aufgabe von politischen und rein privaten Rechtstiteln.
Gewiss, er gibt zu, dass »in der großen weltgeschichtlichen Fortbildung
des öffentlichen Zustands die erworbenen Rechte einzelner Menschen
oder Klassen weichen müssen«; aber er meint, dass sie weichen müssen
als anerkannte Rechte. Deshalb haben sie nach seiner Auffassung auf
die schonendste Weise und gegen Entschädigung zu weichen.20 Der
konservative Staatsphilosoph widerlegt sich selbst, wenn er im Nach-
satz resigniert feststellt, dass die Aufhebung, die gewaltsame Absto-
ßung der erworbenen Rechte als Werk besonderer Zeitepochen mehr
eine weltgeschichtliche als eine juristische Rechtfertigung besitzt. Damit
gibt er zu, dass das konservative Verhalten gegenüber der Frage der
Entschädigungspflichtigkeit bei der Beseitigung erworbener Rechte
rein reaktiv ist und kein Beurteilungsprinzip abgeben kann.
Lorenz von Stein hat sich in seinen frühen Werken als ein Autor erwie-
sen, der die Relativität des bürgerlichen Daseins zusammen mit Karl
Marx am ehesten erkannt hat. Seine literarischen Versuche, die wach-
sende Antinomie dieses bürgerlichen Daseins aufzulösen, kamen aus
dem Bereich bürgerlichen Denkens nicht heraus, indem sie den ökono-
mischen Zwiespalt durch eine rein politische Lösung zu überbrücken
versuchten. Daher musste Lorenz von Stein auch in seinem zweiten

20 Friedrich Julius Stahl setzt seine Lehre in seiner »Rechts- und Staatslehre«, I.
Abteilung, 3. Buch, § 15 ff. (Heidelberg 1870) auseinander.

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 275

umfassenden Versuch, der Verwaltungslehre, in die Bahn des Liberalis-


mus zurückkehren. Immerhin bleibt ihr Teil über die »Entwährung«
neben den im rein juristisch-technischen bleibenden Büchern von
Georg Meyer21 und Grünhut22 in dieser Zeit das einzige Werk eines
bürgerlichen Autors, das den Zusammenhang zwischen Ökonomie,
Politik und juristischer Regelung erfasst und im liberalen Sinne verar-
beitet. Für Lorenz von Stein ist die Zweiteilung, wie sie das ursprüngli-
che Dekret der französischen Nationalversammlung vom 6. August
1789 vorgenommen hat, das Vorbild. Auch er möchte zwischen der
Aufhebung der feudalen Rechte rein politischer Natur (Patrimonialge-
richtsbarkeit und so weiter) und derjenigen, die nachweislich aus rei-
nen privatrechtlichen Vertragsverhältnissen entstammen, unterschei-
den. Die Aufhebung der öffentlichen Rechtstitel des Feudalismus soll
ohne Entschädigung erfolgen; denn hier fühlt der Liberale die Aufhe-
bung einer dem Bewusstsein der Zeitgenossen nicht mehr adäquaten
staatlichen Ordnung durch eine andere. Es fand hier, wie er es plastisch
ausdrückt, eine Aufhebung statt, die »ihrem Wesen nach nur ein
Zurücknehmen dieser Rechte von Seiten des Staates war«.23 Für die pri-
vaten Rechte aber, und seien sie auch dem Zeitbewusstsein noch so
wenig entsprechend, fordert von Stein die Entschädigung und erklärt
sich insofern mit der preußischen Agrargesetzgebung seiner Zeit ein-
verstanden. Sein Fehler liegt darin, dass er willkürlich hinter die gesell-
schaftliche Entwicklungsreihe den Punkt dort setzt, wo es ihm nach
den Perspektiven seiner späteren Lebensjahre für angemessen schien.
Seine Entwicklungsreihe heißt: Geschlechterordnung, Ständeordnung
und staatsbürgerliche Gesellschaft. Unter staatsbürgerlicher Gesell-
schaft versteht von Stein aber sein eigenes Zeitalter, die Zeit eines indi-
vidualistisch gesinnten Kapitalismus, jene Zeit, die in besserer Selbster-
kenntnis kürzlich die englische liberale Wirtschafts-Studienkommission
uns durchaus zutreffend als Übergangsstadium geschildert hat.24 Da
Lorenz von Stein glaubt, dass jene Stufe der kapitalistischen Wirt-

21 Georg Meyer: Das Recht der Expropriation, Leipzig 1868.


22 [Carl Samuel] C. S. Grünhut: Das Enteignungsrecht, Wien 1873.
23 [Lorenz von Stein: Die Verwaltungslehre, Band 7, Stuttgart 1868, S. 148.]
24 »The social foundations of progress were the liberation of the energies of the
middle classes, the scope offered to their enterprise, their talents, and their
thrift, and the honour paid to success in business life. It was the age of Samuel
Smiles and the self-made man, of the dominance of the bourgeoisie. Its political
foundations were the general abstention of the State from attempts to control
the course of industrial development and the reliance of the initiative and unre-
stricted competition of independent business concerns. It was the age of laissez-
faire.« Britains Industrial Future, being the Report of the Liberal Industrial
Inquiry, London 1928, S. 6.

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276 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

schaftsentwicklung die bestmögliche Wirtschaftsform bedeute, hält er


es für gerecht und richtig, die Überführung ständischer Wirtschaftsfor-
men in das individualistische, kapitalistische Wirtschaftssystem nur
gegen Entschädigung zuzulassen. Die kontraktliche Bindung, deren
Innehaltung dem Wirtschaftsdenken der staatsbürgerlichen Gesell-
schaft selbstverständliche Grundvoraussetzung war, muss schon des
Prinzips wegen auch bei Beurteilung der ständischen Ordnung
gewahrt bleiben. Lorenz von Stein hat damit seine gesellschaftswissen-
schaftlichen Betrachtungen und Ansätze mit einer Geschichtskonstruk-
tion belastet, die sich sehr bald als fehlerhaft herausgestellt hat. Die
Frage der erworbenen Rechte kann nicht mit Hinblick auf eine
Geschichtskonstruktion gelöst werden, die aus dem vermeintlichen Zu-
Ende-Gehen von Entwicklungsstadien Gerechtigkeitsforderungen her-
auskristallisiert, die nichts als Widerspiegelungen bestimmter Zeitauf-
fassungen sind.
Dem Vertreter der Hegel’schen Linken blieb es vorbehalten, die erwor-
benen Rechte auf eine Weise zu behandeln, die mehr als die konserva-
tive und liberale Anschauung von dem Bewusstsein getragen war, dass
nicht Aufgabe der Rechtslehre sein kann, in den Gang der historischen
ökonomischen Entwicklung künstliche Hindernisse einzuschalten. Fer-
dinand Lassalle hatte gegenüber Lorenz von Stein den Vorteil, dass er
den Durchgangscharakter des bürgerlichen Zeitalters erkannte und
demgemäß die Ablösung der erworbenen Rechte nicht mit den friedfer-
tigen und milden Blicken eines Bürgers ansah, der in dem Bewusstsein,
eine notwendig siegende Gesellschaftsordnung zu vertreten, alle
Rechtsansprüche einer untergehenden Gesellschaftsordnung rasch
noch befriedigt, um desto schneller und kampfloser zu seinem Siege zu
gelangen. Lassalle wusste, dass es einer allgemeingültigeren Formel
bedurfte, die dem Problem der erworbenen Rechte als einer Frage, die
bei der Ablösung jedes Gesellschaftssystems auftaucht, Rechnung trägt.
Jede Stellungnahme, die die Frage so lösen will, dass sie die Gebote
einer Willensmacht,25 die vergangenen Zeiten angehört, als für Gegen-
wart und Zukunft heilig und unabänderlich hinstellt, hat Lassalle mit
Recht zurückgewiesen. Das Individuum ist souverän im Erwerb von
Rechten, solange die Gesetzgebung den betreffenden Rechtsinhalt zu
erwerben gestattet. Dadurch erhält das Individuum aber keineswegs
das Recht, sich als Gesetzgeber für die Zukunft zu proklamieren und
jeder neuen Gesetzgebung den Schein seines Rechtes entgegenzusetzen.

25 Klassisch kommt die Anschauung einer notwendigen Fernwirkung der Willens-


macht bei Trendelenburg: Naturrecht, Berlin 1868, § 49 zum Ausdruck. [Adolf
Trendelenburg: Naturrecht auf dem Grunde der Ethik, Berlin 1868, § 49.]

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 277

Die Formulierung, mit der Lassalle diesem Gedankengang Ausdruck


gab, besteht auch heute noch zu Recht:
»Es läßt sich also vom Individuum kein Pflock in den Rechtsboden
schlagen und sich mittels desselben für selbstherrlich für alle Zeiten
und gegen alle künftig zwingenden oder prohibitiven Gesetze erklären.
Denn nichts anderes als diese verlangte Selbstsouveränität des Indivi-
duums liegt in der Forderung, daß ein erworbenes Recht auch für sol-
che Zeiten fortdauern soll, wo prohibitive Gesetze seine Zulässigkeit
ausschließen.«26
Dem gegenwärtigen Zeitbewusstsein muss es vorbehalten bleiben,
darüber zu Gericht zu sitzen und sein Urteil abzugeben, welche Rechte
der Vergangenheit auch unter veränderten wirtschaftlichen Verhältnis-
sen noch zu Recht bestehen, und jede Zeit muss das Recht haben, selbst
zu bestimmen, ob sie zulassen will, dass solche Rechte, die in ihren
Augen keinen Rechtscharakter mehr tragen, sofort und mit rückwir-
kender Kraft beseitigt werden. Sie allein ist Herrin darüber, ob solche
Rechte überhaupt nicht mehr existieren, oder ob nur ihre zukünftige
Entstehung an neu zu schaffende Bedingungen geknüpft werden soll.
Von diesem Standpunkt aus hat Lassalle mit Recht einen erbitterten
Kampf gegen die preußische Ablösungsgesetzgebung geführt, insoweit
sie Rechte, die vom Bewusstsein seiner Zeit als rechtmäßige Rechte
nicht mehr anerkannt werden konnten, dennoch für ablösbar erklärte.
Lassalle wies auf die Inkonsequenz hin, die darin liegt, dass der Gesetz-
geber anerkennt, dass das Rechtsbewusstsein einer Zeit eine Klasse von
Rechten als nicht mehr den heutigen Verhältnissen in Einklang stehend
bezeichnet, und dennoch zu ihrer Ablösung schreitet. Wer zuerst – wie
dies im Artikel 42 der preußischen Verfassung von 1850 geschah –
Rechtskategorien ohne Entschädigung aufhebt und späterhin dazu
übergeht, für die Ablösung dieser Rechte Entschädigungspflicht gesetz-
lich festzulegen, der lässt diese Rechte in Wirklichkeit weiterexistieren.
Die Konsequenz Lassalles, dass die Aufhebung von Rechten, deren
Weiterbestehen das Zeitbewusstsein verbietet, nur ohne Entschädigung
geschehen kann, ist richtig und zeitlos gültig. Was Lassalle vor den
andern Schriftstellern auszeichnet, ist sein Bewusstsein von der
geschichtlichen Wandelbarkeit der rechtlichen Institutionen und sein
grandioser Versuch, für diese Wandlung allgemeingültige Rechtskate-
gorien zu schaffen. Wie sehr seine Theorie der erworbenen Rechte
darauf eingestellt ist, nur eine Regel darüber aufzustellen, wie die Kol-

26 Das System der erworbenen Rechte, I. Teil, Leipzig 61, S. 197. [Ferdinand Las-
salle: Das System der erworbenen Rechte. Eine Versöhnung des positiven
Rechts und der Rechtsphilosophie, 1. Teil, Leipzig 1861.]

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278 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

lision zwischen Rechtsvergangenheit und Wirklichkeit zu beurteilen ist,


das zeigen folgende für den Schreiber charakteristische Zeilen:
»Die Frage, welchen Inhalt das heutige Zeitbewußtsein hat, welchen
Inhalt jedes spätere Zeitbewußtsein haben wird und mag, sind offenbar
Fragen, deren inhaltliche Beantwortung durch keine formale Regel –
das wäre ja ein reines Vademecum für die ganze Weltgeschichte – gege-
ben werden kann und die mit einer Rückwirkungstheorie gar nichts zu
tun haben. Was diese leisten soll, ist nur, die formale Rechtslogik fest-
zustellen, welche nachweist, was, welchen Inhalt auch das heutige Zeit-
bewußtsein habe oder ein späteres Zeitbewußtsein haben wird und
mag, in bezug auf die bereits bestehenden Rechtsverhältnisse gemäß
daraus folgert. Der Inhalt des Zeitbewußtseins muß für die Frage der
Rückwirkung als bekannt vorausgesetzt werden. Die Frage nach die-
sem Inhalt ist keine andere als die: wie soll der Gesetzgeber über alle
Materien überhaupt denken. Jene formale Rechtslogik habe ich
geschaffen, und mich dünkt, mit ehernen Klammern befestigt.«27
Wer der Träger des Rechtsbewusstseins sein soll, darüber hat sich Las-
salle im positiven Sinne nicht ausgesprochen. Wohl befindet sich in
dem eben zitierten Brief eine Stelle, die dem Parlament Recht und
Fähigkeit zu diesem Amt im Einklang mit Rodbertus abspricht. Sicher
hat hier die Abneigung des Konservativen und des Sozialisten gegen
die Zusammensetzung des damaligen Parlaments, das seine Zustim-
mung zu den nicht mehr zeitentsprechenden Ablösungsgesetzen
erteilte, mitgesprochen. Eine generelle Aversion Lassalles gegen die
Parlamente zur Feststellung der jeweilig durch das Volksbewusstsein
gebotenen notwendigen Beseitigung von Rechtskategorien lässt sich
daraus nicht folgern. Denn Lassalle spricht immer von Gesetzen, diese
sind aber Akte der Legislative, und dass die Legislative formell zur
Aufhebung erworbener Rechte berechtigt sei, hat nicht einmal der sonst
vollkommen in der liberalen Ideologie verbleibende Bluntschli geleug-
net, der folgerichtig trotz aufrichtigen Bedauerns für den Richter keine
Möglichkeit sieht, Gesetzen mit ausdrücklich ausgesprochener rückwir-
kender Kraft seine Anerkennung zu versagen.28
In der Theorie wie in der Praxis hebt sich aber deutlich der Wille ab,
Eingriff in erworbene Rechte und Enteignung voneinander getrennt zu
halten und zu unterscheiden. Für das bürgerliche Bewusstsein der
Mitte des vorigen Jahrhunderts, für das der private Besitz an Produkti-

27 [Adolf Wagner (Hg.):] Briefe von Ferdinand Lassalle an Carl Rodbertus, Berlin
1888, S. 33.
28 [Johann Kaspar] Bluntschli: Allgemeines Staatsrecht, [München] 1868, Bd. I,
S. 564; desgleichen [C.] Christiansen: Über erworbene Rechte, Kiel 1866.

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 279

ons- und an Existenzmitteln Grundlage des wirtschaftlichen und kultu-


rellen Daseins war, durfte die gleichzeitige Existenz beider Rechtsfor-
men nicht in einen Zusammenhang gebracht werden, der es ermög-
lichte, auch Formen für die Überwindung des bürgerlichen Privateigen-
tums zu schaffen. In dieser Hinsicht ist der Unterschied zwischen dem
Liberalen Stein auf der einen, dem Konservativen Stahl und dem Sozia-
listen Lassalle auf der anderen Seite entscheidend. Stein fasst Enteig-
nung und Ablösung29 von Rechten technisch zusammen, nimmt aber
dieser Zusammenfassung jede Bedeutung, wenn er die Aufhebung
erworbener Rechte mit dem Sieg der bürgerlichen Gesellschaft als erle-
digt ansieht. Der Gedanke, dass auch das Eigentum einmal nicht mehr
das Korrelat, sondern der Widerpart der menschlichen Freiheit sein
könne, taucht bei ihm nicht auf. Lassalle und Stahl sehen wohl den
technischen Unterschied beider Begriffe, die singuläre Natur der Ent-
eignung und die ganze Rechtskategorien umfassende Rechtsaufhe-
bung, beide bemerken aber, wie sich diese Institute in jeder Gesell-
schaftsordnung gegenseitig durchdringen. Mit Recht hat Lassalle dabei
darauf hingewiesen, dass die Aufhebung erworbener Rechte in der all-
gemeinen Tendenz liegt, die Eigentumssphäre des Privatindividuums
zu beschränken und immer mehr Objekte außerhalb des Privateigen-
tums zu setzen.30 Wie weit die konkrete Deutung Lassalles mehr sei-
nem Wunsche als der Wirklichkeit der kapitalistischen Eigentums-
rechtsordnung entsprach, kann hier dahingestellt bleiben. Wichtig an
ihr ist nur der Versuch rechtssoziologischer Formulierung von Ent-
wicklungstendenzen, die die Aufhebung von Rechtskategorien nicht
wie Stahl resignierend in das Gebiet des rein Faktischen verweist, son-
dern die Tendenz aufzeigt, eine Einschränkung des Eigentumsinhalts
rechtlich fortlaufend herbeizuführen.31

29 Stein bezeichnet den Sachverhalt der Aufhebung der erworbenen Rechte als
Ablösung, das heißt er hält die Entschädigung für ein begriffswesentliches
Merkmal.
30 System I, S. 259, Anm. 1. [Ferdinand Lassalle: Das System der erworbenen
Rechte. Eine Versöhnung des positiven Rechts und der Rechtsphilosophie, Band
1, Leipzig 1861.]
31 Die grundsätzliche Bedeutung Lassalles für die Rechtswissenschaft bleibt meis-
tens unberücksichtigt, eine Ausnahme macht Sinzheimer, der verschiedentlich
auf ihn Bezug nimmt. Es nimmt wunder, dass eine Abhandlung wie die von
Göppert-Eck, die aus einer positivistischen Grundlage heraus in den Resultaten
sich sehr stark Lassalle annähert und zudem die Resultate seiner historischen
Untersuchungen großen Teiles übernimmt, Lassalle trotzdem wegen der
Gesamttendenz, »einer sozialistischen Umgestaltung unseres ganzen Rechtsle-
bens die juristische Legitimität zu erstreiten«, ablehnt. [Vergleiche: Heinrich
Göppert: Das Prinzip: »Gesetze haben keine rückwirkende Kraft« geschichtlich
und dogmatisch entwickelt. Aus dem Nachlass des Verfassers herausgegeben

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280 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

Die preußische Verfassung von 1850 hatte genau wie die Verfassung
der Paulskirche die beiden Materien, Enteignung und Rechtsaufhebung
und -ablösung streng getrennt. Es mag dies vielleicht einer der Gründe
gewesen sein, warum die Kommentatoren der preußischen Verfassung
den Art. 9, der die Unverletzlichkeit des Eigentums und die Vorausset-
zungen der Enteignung festlegte, mehr nur vom jeweiligen Standpunkt
des liberalen oder des konservativen Kommentators aus gesehen
haben, anstatt seine prinzipielle Bedeutung aufzuzeigen. Die Doppel-
gleisigkeit der Behandlung von Enteignung und Rechtsaufhebung
ermöglichte immerhin, die Enteignung so zu betrachten, als ob schon
eine vollkommene bürgerliche Rechtsordnung vorhanden wäre, deren
Einheitlichkeit die Aufhebung von Rechtskategorien nicht kennen
kann; denn die notwendige Aufhebung von Rechtskategorien bezeugt
gerade, dass eine einheitliche bürgerliche Rechtsordnung noch nicht
gegeben ist. Durch die Trennung der Materien gewinnt die Enteignung
das gleiche Gesicht wie in den anderen konstitutionellen Verfassungen.
Unter der Voraussetzung der Herrschaft einer bürgerlichen Gesell-
schaftsordnung schreibt sie die notwendigen Verfahrensmaximen bei
Eingriffen in das individuelle Eigentum vor. Gerade aus dieser Sanktio-
nierung von Verfahrensvorschriften wird aber erst ihre Grundlage klar.
Die Enteignungsbestimmungen des bürgerlichen Rechtsstaats haben
das Prinzip der bürgerlichen Eigentumsordnung zur Voraussetzung.
Die Erklärung der Unverletzlichkeit des Eigentums ist wörtlich zu neh-
men. Man mag darüber streiten, ob der Staat dem Eigentum als etwas
außerhalb seiner selbst Stehendem eine Garantie verleiht oder ob hier
ein Schöpfungsakt des Staates vorliegt. Soziologisch wichtig ist nur,
dass der Staat das Prinzip des Privateigentums in die Grundlagen sei-
ner Verfassung mit hineingenommen hat und sich nach ihm zu richten
gewillt ist. Seine Behandlung der Enteignung bietet hierfür nur die
Bestätigung. Diese grundlegenden Tatsachen haben die Kommentato-
ren nicht genügend gewürdigt. Gewiss ergab sich aus der technischen
Fassung der Enteignungsformel, dass die Verfassung nur das Verfahren
bei Einzeleingriffen bekümmerte und sie gegen Eingriffe durch Gesetze
nicht schützte. Das hatte eine doppelte Bedeutung: Einmal, wie schon
erwähnt, wollte das Bürgertum nicht auf diese Weise dem Adel noch
eine Waffe gegen sich in die Hand geben, indem dieser hier einen
Grund für die gesetzliche Unzulässigkeit jeder Art von Eingriff in
erworbene Rechte hätte finden können. Deshalb wurde bei den Bera-

von Dr. E. Eck, in: Rudolf von Jhering (Hg.): Jahrbücher für die Dogmatik des
heutigen römischen und deutschen Privatrechts, Band 22 N. F. Band 10, Jena
1884, S. 1-206 und S. 94-100.]

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 281

tungen ausdrücklich festgestellt, dass der Art. 9 sich nur auf Entziehun-
gen und Beschränkungen, welche in einzelnen Fällen eintreten sollen,
nicht aber auf Beschränkungen, welche vermöge einer allgemeinen
gesetzlichen Disposition stattfinden, bezieht.32 Damit war klargestellt,
dass eine unentgeltliche Aufhebung von Grundlasten zulässig ist. Zum
zweiten aber war bei den damaligen politischen Machtverhältnissen die
Gesetzgebung in den Händen der besitzenden Bürgerschichten, so dass
gesetzliche Eingriffe in das Eigentum immer nur dann beschlossen wer-
den konnten, wenn das Bürgertum damit einverstanden war. So gese-
hen, bedeutet diese Formulierung unter den damaligen Verhältnissen
nur einen Erfolg des Bürgertums, das damit auch generellen Eingriffen
der Regierungsgewalt in das Eigentum auf dem Verordnungsweg einen
Riegel vorschob. Um diesen Punkt drehen sich die Erörterungen der
Verfassungskommentatoren, die hier je nach liberaler33 oder konserva-
tiver34 Färbung für Gesetz oder Verordnung, Parlament oder Regierung
kämpfen. In diesem Kampf, der aber von beiden Seiten unter voller
Anerkennung des Privateigentums als Gesellschaftsgrundlage ausge-
tragen wurde, verflüchtigte sich der eigentliche Sinngehalt der Enteig-
nungs-Bestimmung, der erst heute wieder in seinem historischen
Zusammenhang mit allen bürgerlich-rechtsstaatlichen Verfassungen
kenntlich wird.
Die Entwicklung des Enteignungsinstituts in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts hängt eng zusammen mit der technischen Entwicklung,
die der Kapitalismus in Deutschland genommen hat. Das schnelle
Anschwellen der Bevölkerungsziffer und die damit verbundenen Bin-
nenwanderungen waren es vor allem, die den mit den Mitteln der
neuen Technik geschaffenen Verkehrsmitteln zur raschesten Verbrei-
tung verhalfen. Hier war das große Anwendungsfeld für die Enteig-

32 Plastisch deutlich wird dies bei Bluntschli-Brater: Staatslexikon, Bd. 5, S. 210


[Johann Caspar Bluntschli, Karl Brater (Hg.): Deutsches Staats - Wörterbuch. In
Verbindung mit deutschen Gelehrten, 5. Band, Stuttgart/Leipzig 1860]. »Wenn
daher jetzt noch hin und wieder eine entgegengesetzte Ansicht laut wird, um
eine angebliche Ungerechtigkeit der Ablösung der gutsherrlichen Rechte und
Feudallasten wie des unentgeltlichen Wegfalls einzelner Beschränkungen des
bäuerlichen Besitzes zu behaupten, so beruhen dergleichen Behauptungen auf
Heuchelei und auf Verkennung des Sinnes und der Bedeutung des Art. 9.«
33 [Gerhard] Anschütz: Verfassungsurkunde für den preußischen Staat, Berlin
1912, und [Ludwig] von Roenne: Staatsrecht der preußischen Monarchie, 2. Bd.,
Leipzig 1882.
34 [Adolf] Arndt: Die Verfassungsurkunde für den preußischen Staat[: nebst
Ergänzungs- und Ausführungs-Gesetzen], Berlin 1897.

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282 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

nung gegeben.35 Daneben waren es industrielle Unternehmungen, die


sich der Enteignung, der Mithilfe des Staates bedienten, wenn sich
sonst ihrem Wachstum private Grenzen entgegensetzten, wie dies
hauptsächlich auf dem Gebiet des Bergwesens der Fall war. Solchen
Zwecken dienten die Enteignungsbestimmungen in den verschiedens-
ten Einzelgesetzen, grundlegend aber war regelmäßig in allen Einzel-
staaten ein Gesetz, das das Verfahren, das bei der Enteignung zu hand-
haben war, beschrieb. Preußen erließ ein solches Gesetz 1874. Hier tritt
uns neben dem seit der Französischen Revolution formell gleich geblie-
benen, aber inhaltlich nach der jeweiligen Wirtschaftsstruktur sich wan-
delnden Begriff des öffentlichen Wohls jener Unternehmensbegriff ent-
gegen, der durch die gestaltende Hand Otto Mayers zum Zentralpunkt
des modernen Enteignungsrechts gemacht worden ist.36 Die Formulie-
rung Mayers, dass die Enteignung ein obrigkeitlicher Eingriff in das
unbewegliche Eigentum des Untertanen sei, um es ihm zu entziehen
für ein öffentliches Unternehmen, und die weitere Definition, dass
öffentliches Unternehmen als ein durch seinen besonderen Zweck
gekennzeichnetes und abgegrenztes Stück öffentlicher Verwaltung
anzusehen sei, war nicht nur trefflich brauchbar für eine bestimmte
Zeitepoche, sie stellt zweifelsohne den bleibenden und eigentlichen
Sinn des Enteignungsinstituts klar. Denn hier ist negativ die dem indi-
viduellen Enteignungsakt innewohnende Zufälligkeit in Bezug auf das
Enteignungsobjekt gekennzeichnet. Die individuelle Enteignung ent-
zieht und überträgt Eigentum seinem körperlichen Bestand nach. Sie
entzieht und überträgt aber nicht planmäßig, um die frühere Verwen-
dungsform erneut und organisatorisch verbessert wiederaufzunehmen,
sondern lässt die neue Daseinsform allein von dem Willen des Expro-
prianten her bestimmen. Hier in dieser reinen Zufälligkeit liegt allein
die moralische Rechtfertigung der Entschädigungsforderung. Diese
Enteignung geht von keinem bestimmten vorgefassten Plan aus, und
die Gesichtspunkte, unter denen sie betrieben wird, sind rein techni-
scher Art. Darin liegt übrigens auch die Rechtfertigung des heute ver-
worfenen Ausdrucks »Zwangskauf« statt Expropriation, der wohl aus
konstruktiven Gründen nicht haltbar ist, aber den soziologischen Tatbe-
stand besser wiedergibt. Er weist auf die diffuse, okkasionelle Ausübung
der Expropriation hin. Aus seinem Enteignungsinstitut hat Otto Mayer
in vollkommenem Einklang mit der Verfassungsentwicklung des 19.

35 Siehe Wittmayer, Artikel: Enteignung, in: Handwörterbuch der Staatswissen-


schaften, 4. Aufl., Bd. III[, Jena 1926].
36 Otto Mayer: Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 2, zitiert nach der 3. Aufl. 1924,
S. 1, erstmalig erschienen 1883/85[, Leipzig 1895].

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 283

Jahrhunderts alle Bestandteile entfernt, die nicht dem individuellen,


nach bestimmten Verfahrensvorschriften sich richtenden Enteignungs-
bereich angehören. Aber die technische Entwicklung des Kapitalismus
brachte es mit sich, dass teils gesetzlich, teils durch reine Verwaltungs-
anordnung vielerlei Eingriffe in die Eigentumssphäre des Einzelnen
vorgenommen wurden. Dazu kamen im Zeitalter einer gesteigerten
nationalen Machtentfaltung Beschränkungen, die die militärische
Gewalt dem Eigentum des Einzelnen auferlegte. Wo sollte sie die
Rechtstheorie unterbringen? Soweit es sich um die Rechtspraxis han-
delte, gab es keine Sorgen. Eingriffe von Verwaltungsbehörden, die
zwar innerhalb ihrer Kompetenz, aber ohne besondere gesetzliche
Ermächtigung handelten, wurden nach dem alten Schema der erworbe-
nen Rechte behandelt. Es wurde eine Entschädigung gezahlt, soweit
dies durch Gesetz nicht ausdrücklich ausgeschlossen war.37 Immerhin
ist bemerkenswert, dass auch die Gerichte hier niemals den Begriff der
Enteignung anwendeten.
Otto Mayer versuchte, der Materie dadurch Herr zu werden, dass er
die Figur der öffentlich-rechtlichen Dienstbarkeiten und der öffentlich-
rechtlichen Eigentumsbeschränkung einführte. Dem individualisti-
schen Geist des Zeitalters entsprach es, in vielen Fällen für dauernde
Eingriffe in das Eigentum Entschädigungen zu zahlen. Hier ist der Ort
der öffentlich-rechtlichen Billigkeitsentschädigung. Sie ist jedoch nichts
weiter als eine Forderung an den Gesetzgeber, die er erfüllen kann oder
nicht. Eine Forderung gegen den Willen des Gesetzes hat das Rechts-
denken der deutschen Verwaltungsrechtslehre, solange das Gesetz
Ausfluss bürgerlichen Willens blieb, nicht erhoben. Möglich, dass alle
diese Beschränkungen, damals noch nicht unter einheitlichen sozialen
Prinzipien zusammengefasst, noch williger ertragen wurden. Die ein-
heitliche Behandlung aller Billigkeitsforderungen durch die Verwal-
tungsrechtslehre musste deshalb an dem Willen des Gesetzgebers
scheitern, und die begriffliche Zusammenfassung Otto Mayers38 verlor
dort an Überzeugungskraft, wo er selbst mit dem Hinweis auf die Ver-
schiedenheit der positiven Gesetzgebung sich begnügen musste. Die
Lehre von der öffentlich-rechtlichen Eigentumsbeschränkung im enge-

37 Siehe die Entscheidung des preußischen Obertribunals in dessen Sammlung


Band 72 Nr. 1 [Entscheidungen des königlichen Obertribunals, herausgegeben
von den Ober-Tribunals-Räthen Dr. Sonnenschmidt, Michels und Clauswitz, 72.
Band, Berlin 1874]; Reichsgericht [RGZ], Bd. 12, S. 3, Bd. 19, S. 355 f., die die rein
kapitalistische Begrenzung der Eigentumsinstitution klassisch vertritt; RGZ Bd.
41, S. 142 ff. und S. 191 ff., Bd. 72, S. 85 ff.
38 Besonders auffallend a. a. O., Bd 2, S. 115. [Otto Mayer: Deutsches Verwaltungs-
recht, Band 2, Leipzig 1895.]

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284 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

ren Sinn hat Otto Mayer zu dem Ergebnis geführt, dass dem Eigentum
gegenüber dem Staat eine allgemeine und im Voraus anhängende
Schwäche anhafte, dass die Macht des Eigentümers, andere von der
Einwirkung auf sein Eigentum auszuschließen, in bestimmter Bezie-
hung zu verneinen sei. Man mag diese Lehre auf der einen Seite viel-
leicht nur als einen Ausfluss des Agnostizismus ansehen, den Mayer
gegenüber den gesetzlichen Eingriffen des Staates immer gezeigt hat;
wichtiger und entscheidender ist jedoch dabei, dass hier, allerdings an
einer nicht sehr bedeutenden Stelle des Gesamtsystems, die Erkenntnis
aufdämmert von der Differenzierung des Eigentumsmachtbereichs, je
nachdem es sich um seine Stellung gegenüber einem anderen Privatei-
gentum oder gegenüber der öffentlichen Gewalt handelt.39
Während für die Juristen die Grenzen, die der bürgerliche Staat zwi-
schen den hier behandelten Rechtsinstituten errichtete, Ansätze einer
systematischen Behandlung sehr erschwerten, blieb es einem außerhalb
der juristischen Disziplin beheimateten Gelehrten vorbehalten, aufzu-
zeigen, dass das geltende Enteignungsinstitut nur der Reflex des Ent-
wicklungsgrades der gesamten Sozialordnung darstellt. Adolf Wag-
ner40 hat in Verfolgung der Entwicklung, die das Rechtsinstitut in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts genommen hat, dessen Zuordnung
zu einer Vervollkommnung des privatwirtschaftlichen Systems aufge-
zeigt. Er hat unseres Wissens als Erster darauf hingewiesen, dass bei
einer erforderlichen Umgestaltung des Wirtschaftslebens eine verän-
derte Verteilung und Gestaltung des Verfügungsrechts über bewegli-
ches und unbewegliches Kapital notwendig ein ebenfalls verändertes
Enteignungsrecht voraussetze. Dabei hat er eine auf legislatorischem
Wege vollzogene Umformung einer privatkapitalistischen Gesell-
schaftsordnung zu einer gemeinwirtschaftlichen für die Zukunft im
Auge. Freilich hält er für die nächste Zeit den faktischen Ausschluss
der meisten von ihm behandelten Enteignungsfälle für wahrscheinlich,
da er im Anschluss an Lassalle vom Volksbewusstsein ausgeht und
deshalb die damalige Existenz eines öffentlichen Interesses für eine sol-
che Ausdehnung der Gesetzgebung noch nicht oder nur erst selten für
gegeben hält. Wesentlich an seinen Ausführungen ist jedenfalls, dass er

39 Abgeschwächt übernommen von Walter Jellinek: Verwaltungsrecht, 2. Aufl.,


[ Berlin 1928,] S. 398. Die an dieser Lehre geübte Kritik Günther Holsteins in:
Die Lehre von der öffentlich-rechtlichen Eigentumsbeschränkung, Berlin 1921,
ist in technischen Einzelheiten richtig, siehe besonders S. 87-89; trifft aber das
Problem selbst nicht.
40 [Adolf Wagner:] Grundlegung der politischen Ökonomie, 3. Aufl., 2. Teil, Leip-
zig 1894, S. 527 ff.

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 285

den Begriff des öffentlichen Interesses aus der technischen Sphäre eines
Fortschritts innerhalb der privatkapitalistischen Wirtschaftsordnung
deutlich heraushebt und das öffentliche Interesse unter dem prinzipiel-
len Gesichtspunkt der Wandelbarkeit der öffentlichen Anschauungen
in Bezug auf das Wirtschaftssystem selbst betrachtet. Öffentliches Inter-
esse wird zum Urteil über Richtigkeit oder Verfehltheit des Wirtschafts-
systems selbst. Damit hat Wagner in der prinzipiellen Behandlung der
Materie den vom liberalen Rechtsstaat vorgezeichneten Rahmen
gesprengt, und seine »Enteignung« hat mit dem bisher geltenden
Rechtszustand nur noch den Namen gemein. Dies zeigt sich deutlich in
der Art, wie Wagner den Entschädigungspunkt behandelt. Ausdrück-
lich wird hier auf Lassalle hingewiesen, der diese Frage richtig ent-
schieden habe, und ganz in seinem Sinne wird die individuelle Enteig-
nung, die Zwangsabtretung, von der Aufhebung ganzer Rechtsgattun-
gen getrennt. Sehr gut wird hier die Berechtigung der Entschädigung
bei der Zwangsabtretung in der reinen Zufälligkeit des Konflikts des
privaten mit dem öffentlichen Interesse gefunden und die Entschädi-
gung dadurch gerechtfertigt, dass hier ein Opfer zugemutet wird, wel-
ches andere, dasselbe Recht besitzende Personen nicht trifft. Damit
wird am Ende des liberalen Rechtsstaats noch einmal ausdrücklich fest-
gestellt, dass die Enteignung sowie das öffentliche Interesse, in dessen
Namen sie vorgenommen wird, innerhalb der reinen Immanenzsphäre
des liberalen Staates beharrt und dass das, was Adolf Wagner etwas
verlegen ebenfalls als Enteignung bezeichnete, mit dem hier gemeinten
Rechtsinstitut nur technische, keine prinzipiellen Gemeinsamkeiten
mehr hat.
Nirgends wird die Problematik zwischen dem alten liberalen Rechts-
staat und der neuen Zeit deutlicher sichtbar als bei der Beratung des
Polengesetzes im Jahre 1907. Hier versuchte der vorrevolutionäre Staat,
unter Zubilligung aller nach liberal-rechtsstaatlichen Grundsätzen not-
wendigen Entschädigungsbeträge, seine nationale Ansiedlungspolitik
durchzuführen; er schuf die generelle Möglichkeit, polnischen Groß-
grundbesitz in Siedlungsland für deutsche Bauern zu verwandeln. Er
unternahm hier mit aus vielen Gründen unzureichenden Mitteln nur
das, was nach Beendigung des Weltkriegs überall rings um die deut-
schen Ostgrenzen mit größerer Intensität und ohne rechtsstaatliche
Skrupel in Wirklichkeit umgesetzt wurde. Doch hier zeigte sich im
alten Deutschland, obwohl es sich um nationale, nicht um soziale
Belange handelte, dass jedes planmäßige Unternehmen, auch wenn es
nicht nur die Privatrechtssphäre von einzelnen, sondern von einer

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286 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

generell bestimmten Mehrzahl von Menschen verletzt, mit dem Cha-


rakter des liberalen Rechtsstaats nicht vereinbar ist.
Klassisch wird dieser Sachverhalt aus der Rede klar, die damals der
Zentrumsabgeordnete Porsch41 hielt: »Bisher hat man«, so heißt es hier,
»das Objekt expropriiert, man hat das Grundstück genommen, ganz
ohne Rücksicht darauf, in wessen Händen es war, um es einer anderen
Bestimmung zu widmen, in der es dem öffentlichen Wohl zu dienen
geeignet ist. Hier will man das Objekt nicht einer anderen wirtschaftli-
chen Bestimmung widmen, auch nicht einem allgemeinen Zweck, son-
dern man will, dass andere Hände für ihre eigenen Privatzwecke dieses
Objekt künftig benutzen sollen.«
Und er fügt bitter hinzu: »Man müßte danach Artikel 9 der preußischen
Verfassung so ändern: Der Staat ist berechtigt, über das Privateigentum
frei zu verfügen, soweit ihm das notwendig erscheint.« Man hat sich
damals über diese Bedenken um der nationalen Sache willen hinweg-
gesetzt. Aber war es nicht ein Präjudiz? Gestern war es der nationale,
heute ist es der soziale Staat. Die Maxime des liberalen Rechtsstaats ist
verlassen, sofern überhaupt der Staat selbsttätig regelnd in das ein-
greift, was bisher unbestritten privater Herrschaftsbereich war. Sehen
wir, wie die Weimarer Verfassung den Versuch unternimmt, die Fülle
der nunmehr neu auftauchenden Probleme zu bewältigen, und wie die
Praxis den Intentionen dieser Verfassung gerecht zu werden versucht.
Als Ergebnis der hier angestellten Untersuchung ist festzuhalten: Die
Eigentumsschutzformeln der Verfassungsurkunden des 19. Jahrhun-
derts haben die Existenz der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zur
Voraussetzung. Sie besagen, dass das Eigentum jedes einzelnen Bürgers
nur durch einen Verwaltungsakt auf Grund eines gesetzlich geregelten
Verfahrens weggenommen werden kann. Bis zur Mitte des Jahrhun-
derts wurde insbesondere in Ländern mit noch rückständiger Agrar-
verfassung die Aufhebung erworbener Rechte als Abschaffung ganzer
Rechtskategorien stets vom Enteignungsprozess, der nur als Rechtsein-
richtung, nicht aber in jedem einzelnen Fall politisch-gesellschaftliche
Relevanz besitzt, streng getrennt. Seit 1870 etwa war diese Unterschei-
dung zwar immer fortlaufend noch vorhanden, praktische Bedeutung

41 Bei Gelegenheit der Beratung des Gesetzes über Maßnahmen zur Stärkung des
Deutschtums in den Provinzen Westpreußen und Posen, Stenographischer
Bericht des Abgeordnetenhauses 1908, S. 3117. Siehe auch die symptomatischen
Ausführungen von Ernst Havenstein in Schmollers Jahrbuch Bd. 41/3, 4, S. 108.
[Ernst Havenstein: Das Bergregal der Standesherren im Ruhrkohlebezirk, in:
Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im
Deutschen Reiche, Jg. 41, Heft 3, München 1917, S. 41-109.]

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 287

kam ihr jedoch nicht zu, da das bürgerliche Eigentum unantastbare,


herrschende Gesellschaftsgrundlage geworden war. Die Unterschei-
dung musste erneut ins Bewusstsein zurückkehren, als mit der Verän-
derung der gesellschaftlichen Verhältnisse das bürgerliche Eigentum
selbst seiner Bedeutung als unantastbare Gesellschaftsgrundlage ent-
kleidet wurde.

II. Die Reichsverfassung

Die Weimarer Reichsverfassung hat am deutlichsten von allen Nach-


kriegs-Verfassungen das laissez-faire, laissez-passer, das die bürgerli-
chen Verfassungen des 19. Jahrhunderts den Fragen der Wirtschaft
gegenüber bezeugten, endgültig beseitigt. Sie hat den Willen gezeigt,
damit aufzuräumen, die wirtschaftliche Betätigung des Menschen in
den Bereich einer sie nicht interessierenden Freiheit zu verweisen. Sie
garantiert nicht mehr nur, sie will selbst verantwortlich sein. Das war
der Wille der Reichsverfassung, und diesen Willen gilt es zu respektie-
ren und zu erforschen. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass
die gegenwärtige Situation sich von dieser Willensrichtung entfernt
habe, zu Unrecht führt Günther Holstein in einem Rechtsgutachten42
aus, dass die Interpretation des Art. 153 nicht dauernd durch die
Rechtslage des Jahres 1919 bestimmt werden könne, sondern dass die
folgende Epoche wissenschaftlicher Arbeit und verantwortungsbe-
wusster Rechtsprechung berücksichtigt werden müsse. Solange die
Weimarer Reichsverfassung besteht, muss ihr Wille, der allerdings
durch die Verhältnisse des Jahres 1919 maßgebend beeinflusst ist, die
Auslegung bestimmen. Aufgabe der Wissenschaft und Rechtsprechung
muss es sein, diesem Willen zur Geltung zu verhelfen, anstatt durch
Berücksichtigung angeblicher Entwicklungstendenzen den objektiven
Willen der Verfassung zu durchkreuzen. Für die Gesamttendenzen der
Verfassung auf dem Gebiete der Wirtschafts- und Sozialpolitik ist ein
wertvoller Fingerzeig allein schon die Tatsache, dass die Regelung der
Wirtschafts- und Sozialpolitik in einem besonderen Titel mit der Über-
schrift »Das Wirtschaftsleben« stattgefunden hat.43 Der liberale Rechts-
staat des 19. Jahrhunderts hätte den Gedanken, den Gesamtkomplex
des Wirtschaftslebens nach der aktiven Seite hin in den Bereich seiner

42 [Günther Holstein:] Fideikommißauflösung und Reichsverfassung, Berlin 1930,


S. 5.
43 Vergleiche auch die Verfassungen Litauens Abschnitt II und Jugoslawiens Titel
3.

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288 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

Erörterungen zu ziehen, weit von sich gewiesen; eine privatkapitalisti-


sche Wirtschaftsordnung hat keinen Platz für eine Regelung des
Gesamtablaufs des Wirtschaftsprozesses unter übergeordneten
Gesichtspunkten; die ihr höchstens gemäße Regelung, die sich mit
zunehmender Herausarbeitung hochkapitalistischer Formen als not-
wendig erweist, bleibt reine Verkehrsregelung zwischen Privatperso-
nen, etwa in der Art, wie sich die bisherige Praxis der Kartellverord-
nung ausgewirkt hat. Hier werden private Streitigkeiten entschieden,
aber der dabei waltende höhere Gesichtspunkt ist höchstens der, den
gesicherten Ablauf der vorhandenen Wirtschaftsordnung im Interesse
aller aufrechtzuerhalten. Diese liberale Rechtsstaatsordnung auch nur
mit den sich aus dem Hochkapitalismus ergebenden notwendigen
Modifikationen in die neue Verfassungsordnung zu übernehmen, ist in
Weimar abgelehnt worden. Die Stützen der kapitalistischen Wirt-
schaftsordnung: Vertragsfreiheit, Privateigentum und Erbrecht haben
ihre bisherige Unnahbarkeit aufgeben müssen. Von Rechten, die dem
Staat starr und unabänderlich gegenüberständen, kann keine Rede
mehr sein. Sie sind noch vorhanden, und ihre Abschaffung darf auch
nicht dekretiert werden; aber das Maß ihrer Wirkungskraft ist einge-
spannt in den Willen des Gesetzgebers.44 Auf der anderen Seite hat die
Verfassung aber Satzungen aufgestellt, die der Gesetzgeber in jeder
Situation nicht nur nicht vernichten darf, sondern die er positiv berück-
sichtigen muss: Koalitionsfreiheit, Schutz der Arbeitskraft und die
Räteorganisation des Artikels 165 sind im Verfassungssystem nicht
relativiert, ihre Existenz wird ohne Ermessensklausel für den Gesetzge-
ber als ein Stück Verfassungswirklichkeit betrachtet. Wie sehr die hierin
zum Ausdruck kommende Einschätzung der einzelnen Gestaltungs-
kräfte der Verfassung nicht als Stückwerk, sondern als Gesamtkomplex
zu betrachten ist, zeigen die Ausführungen Friedrich Naumanns45 im
Verfassungsausschuss der Nationalversammlung. Bei aller Skepsis, die
der juristischen Gestaltungskraft Naumanns entgegengebracht worden
ist und werden muss, zeigen seine Ausführungen doch deutlich, wie-
weit gerade die Wirtschaftsordnung sich von der Vergangenheit abhe-
ben sollte. Ausdrücklich hat Naumann die Fragestellung: »Was kann

44 Dass in der Rechtsprechung mancher Gerichte, so insbesondere des Reichsfi-


nanzhofs, dies nicht anerkannt wird, ist kein Gegenbeweis, sondern zeigt nur
die Stärke der über individualistische Beweisführung anerkannten kapitalisti-
schen Tendenzen.
45 Siehe Protokolle des Verfassungsausschusses, S. 177 ff. [Protokolle des Verfas-
sungsausschusses zur Reichsverfassung, 18. Sitzung, 31. März 1919, S. 9-18],
und über die Bedeutung Naumanns [Rudolf] Smend in »Verfassung und Ver-
fassungsrecht«, [München/Leipzig] 1928, S. 166.

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 289

der Staat oder darf der Staat dem Einzelnen nicht tun, und was tun wir
als Einzelne, weil der Staat aus uns, den Einzelnen, besteht?« verneint
und sich dazu bekannt, dass der »Verbandsmensch der Normalmensch
der Gegenwart«46 sei. Für diesen kollektivierten Menschen, der im Rah-
men fester ökonomischer Bindungen lebt und tätig ist, muss die neue
Verfassung nicht nur grundsätzlich Freiheiten im alten Sinn, wie etwa
Freiheit von Beschränkungen des Koalitionsrechts, enthalten, sie muss
auch positiv seiner Tätigkeit Raum geben, ihre Wirkkraft nicht nur
anerkennen, sondern fördern. Naumann hat erkannt, dass die Lösung
dieser Frage für die Verfassung selbst Tod oder Leben bedeutet. Über
die Frage, wieweit die in dem Wirtschaftsabschnitt der Grundrechte
zusammengefassten Bestimmungen miteinander harmonieren, wieweit
sie sich gegenseitig ergänzen oder aufheben, ist schon bei Abfassung
der Verfassung mit mehr Skepsis als Hoffnung diskutiert worden. Je
mehr die wirtschaftliche und politische Entwicklung der letzten 10
Jahre die schon im Verfassungswerk selbst widerstreitenden Interessen
auseinanderbrachte, desto mehr trat an Stelle der Betonung der
gemeinschaftsbindenden Faktoren der Überordnung der sozialen Moti-
vation das angeblich garantierte Einzelinteresse.
Es ist kein Zufall, dass gerade in diesem Zusammenhang der Begriff
des bürgerlichen Rechtsstaats zu neuem Leben erwachte, dass man ver-
suchte, ihm die alten Wege des vorigen Jahrhunderts mit unter ver-
schiedenem politischen Inhalt gleichgebliebenen und noch verstärkten
wirtschaftlichen Tendenzen zu weisen. Bis in den Anfang des Jahrhun-
derts hinein hat sich der Rechtsstaatsgedanke in Deutschland immer
mehr formalisiert und von jedem konkreten Inhalt entleert.47 Die for-
malen Bestandteile des rechtsstaatlichen Denkens, wie sie Montesquieu
formulierte, der Gewaltenteilungslehre deckten sich noch weit hinein
ins 19. Jahrhundert mit dem politischen Programm des Bürgertums. Je
mehr sich auch in der konstitutionellen Monarchie dieses politische
Programm erfüllte, desto geringer wurde die inhaltliche Bedeutung des
Rechtsstaatsgedankens. Schon bei Gneist erscheint er in abgeschwäch-
ter Form, und das bei ihm zu konkretem Ausdruck gelangende Verlan-
gen des Bürgertums48 nach Ämterbeteiligung und Selbstverwaltung
zeigte, wie wenig im Grunde dem Bürgertum zu fordern übrigblieb.
Kraftvolle Formen besitzt rechtsstaatliches Verlangen aber nur dann,

46 [Protokolle des Verfassungsausschusses zur Reichsverfassung, 18. Sitzung,


31. März 1919, S. 15.]
47 [Hermann] Heller, Rechtsstaat oder Diktatur [?], Tübingen 1930.
48 Siehe die Ausführungen Carl Schmitts in der Verfassungslehre, [München/Leip-
zig 1928,] S. 125 ff.

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290 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

wenn hinter dem formaljuristischen Programm Sicherungsforderungen


einer wirtschaftlich aufstrebenden Klasse sich bergen. Als im Anfang
des 20. Jahrhunderts das deutsche Bürgertum schon viel zu sehr die
aufstrebende Arbeiterklasse fürchtete, als dass es an die konstitutio-
nelle Monarchie noch große Forderungen stellen konnte, war demge-
mäß sein rechtsstaatliches Programm inhaltslos geworden. Dies wird
klar, wenn wir heute, rückblickend die Ausführungen Richard
Thomas49 aus dem Jahre 1910 betrachten. Damals stellte er als Pro-
grammpunkte des Rechtsstaats Folgendes auf:
»Erstens Omnipotenz des Gesetzes, aber nur des Gesetzes, Bindung der
Verwaltung an das Gesetz. Zweitens justizmäßige Haftung von Staat
und Beamten für schuldhafte Übertretung der gesetzlichen Schranken.
Drittens Sicherung gegen falsche und parteiische Handhabung von
Gesetzen durch Verwaltungsorgane und unabhängige Behörden. Vier-
tens Begründung eines Öffentlichen Rechts durch fortschreitende juris-
tische Formung der bisher allzusehr nur politisch und verwaltungs-
technisch geformten Gesetzgebung.«
Hier beruht das Kriterium des Rechtsstaats nur in der Form, in welcher
die Staatsmacht betätigt wird. Das heute so oft meistens unnütz aufge-
worfene Thema der Grenzen der Gesetzgebungsgewalt als rechtsstaatli-
ches Problem wird nur in einer Anmerkung behandelt und aus dem
Gebiet des Rechts in das der Moral verwiesen. Den formellen Erforder-
nissen des Rechtsstaats gegenüber ist die Weimarer Verfassung durch-
aus positiv eingestellt. Sie hat die justizmäßige Haftung des Staates,
soweit sie noch nicht vorhanden war, verwirklicht, den Rechtsschutz
gegen Verwaltungsmaßnahmen erweitert und nachdrücklich die Bahn
zu dessen voller Verwirklichung (Reichsverwaltungsgericht, General-
klausel) gewiesen. Bleibt die Frage, wieweit die Weimarer Reichsverfas-
sung ausdrücklich oder aus ihrem Gesamtzusammenhang heraus die

49 In »Rechtsstaatsidee und Verwaltungsrechtswissenschaft« Jahrb. f. öff. R. 1910


[Richard Thoma: Rechtsstaatsidee und Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Jahr-
buch für öffentliches Recht, Tübingen 1910, im Original: »Omnipotenz des
Gesetzes, aber nur des Gesetzes; Bindung der Verwaltung an das Gesetz, aber
nur eines Gesetzes, das der freien Initiative gebührenden Spielraum gewährt;
justizmäßige Haftung von Staat und Beamten für schuldhafte Überspringung
der gesetzlichen Schranken; Sicherung gegen falsche oder parteiische Handha-
bung der Gesetze durch Verwaltungsgerichte und unabhängige Behörden; end-
lich: Begründung eines ins einzelne entwickelten öffentlichen Rechts durch fort-
schreitende juristische Formung der bisher allzu sehr nur politisch und verwal-
tungstechnisch geformten Gesetzgebung.«]. Ein später Anhänger dieser rein for-
mal gedachten Rechtsstaatstheorie ist Mirkine Guetzewitsch in Zeitschr. f. öff.
Recht VIII, 1929, S. 187. [Boris Mirkine-Guetzevitch: Les nouvelles tendances du
Droit constitutioniel, in: Revue du droit public et de la science politique en
France et à l'étranger, Paris 1929, pp. 564-599.]

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 291

formal-rechtsstaatlichen Bedingungen für neue materielle politische


Zwecke zur Verfügung stellt. Augenscheinlich kann sie ihrer ganzen
politischen Tendenz nach dies nur für die aufsteigende Arbeiterklasse
wollen, indem sie den rechtsstaatlichen Apparat, den sie bisher den
Einzelnen zur Verfügung stellte, nunmehr zum Ausgleich der wider-
streitenden Sozialinteressen benutzt. Freilich mag hier fraglich sein,
wieweit überhaupt die Figur des Rechtsstaats als »sozialer Rechtsstaat«
in dem Emanzipationsprozess der Arbeiterschaft dieselbe Rolle einneh-
men kann, die er in dem Emanzipationsprozess des Bürgertums gegen-
über dem absoluten Staat gespielt hat, wieweit die Balancen, die dem
doch immer nur aus Einzelindividuen bestehenden Bürgertum zur Ver-
fügung standen, in das Zeitalter der großen Klassenorganisation über-
tragen werden können. Teilweise ist dies geschehen und haben die auf
Grund der dem Emanzipationskampf der Arbeiterschaft dienenden
Bestimmungen der Reichsverfassung eingesetzten Organe (Schlichter,
Arbeitsgerichte) solche Funktionen übernommen. Ein abschließendes
Urteil über diesen neuen Gestaltwandel des Rechtsstaats kann heute
noch nicht abgegeben werden.
Neben dieser nach vorwärts tendierenden Funktion des Rechtsstaats,
die zweifelsohne im Sinn der Verfassung liegt, haben sich aber im
Laufe der letzten 10 Jahre rückläufige Tendenzen entwickelt, die aus
der Weimarer Verfassung ein Bollwerk des alten bürgerlichen Rechts-
staats machen wollen. Mittelpunkt dieser neuen rückläufigen Tenden-
zen sind der Artikel 109 und 153 der Reichsverfassung geworden,
deren Verletzung von jeder in ihrem Status quo bedrohten Interessen-
tengruppe meistens gemeinsam vorgeschützt wird. Theoretischen Nie-
derschlag haben diese Tendenzen in zahllosen Schriften zum Aufwer-
tungsgesetz und überhaupt in der mittelständlerischen Beurteilung der
modernen Sozialgesetzgebung, neuerdings aber hauptsächlich in dem
Buch Hermann Isays: Rechtsnorm und Entscheidung50 und in dem für
diese Entwicklung symptomatischen Buch Darmstädters über die
Grenzen der Wirksamkeit des Rechtsstaats51 gefunden. Dabei müssen
dann gerade die Grundrechte notwendig aus der Ebene des vergange-
nen bürgerlichen Rechtsstaats betrachtet werden. Soweit die allzu späte
Renaissance des bürgerlichen Rechtsstaats, die allerdings keine
Angriffs-, sondern nur mehr eine Verteidigungsstellung bezieht, sich
auf den Artikel 109 beruft, hat sie ihre Position schlecht gewählt. Zwar
ist ihr insofern recht zu geben, als in einem so durchaus wertenden Ver-

50 [Hermann Isay: Rechtsnorm und Entscheidung,] Berlin 1929.


51 [Friedrich Darmstädter: Die Grenzen der Wirksamkeit des Rechtsstaats,] Hei-
delberg 1930.

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292 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

fassungssystem wie dem Weimarer der Satz: »Alle Deutschen sind vor
dem Gesetze gleich«, nicht nur die heute selbstverständliche Bedeutung
haben kann, dass Justiz und Verwaltung alle ohne Unterschied gleich
behandeln muss. Aber es liegt nicht im Sinn der Weimarer Verfassung,
wenn nunmehr im Namen der Gerechtigkeit Gesetze, die scheinbar
eine Belastung einer wirtschaftlich stärkeren Klasse sind, als Willkür
verworfen werden. Gerade diese scheinbare Ungerechtigkeit erfüllt die
Gerechtigkeitsforderung, die dem sozialen System der Weimarer Ver-
fassung innewohnt. Gerade dann, wenn Gleichheit als materialer Wert-
begriff zu fassen ist, muss erkannt werden, dass der Satz der Gleichheit
vor dem Gesetz so lange ein papiernes Recht sein wird, als nicht die
soziale Gleichheit erst die Voraussetzungen dafür schafft, dass die glei-
che Anwendung eines Gesetzes auf alle auch wirklich alle gleich
betrifft. Im Vollzug der Geschichte durchläuft der Gleichheitssatz ver-
schiedene Stadien. Der Bürger fasst Gleichheit im 17. und 18. Jahrhun-
dert als einfache Rechtsgleichheit. Wenn er dem Adel die Privilegien
und Vorrechte fortnimmt, dann ist er seinesgleichen, da er im ökonomi-
schen Kampf ihm sehr wohl standhalten kann. Dem Arbeiter im 20.
Jahrhundert kann diese Rechtsgleichheit nicht genügen, da er trotz
ihrer mit dem Bürger nicht in Wettbewerb treten kann und die Gleich-
heit vor dem Gesetz so lange für ihn unwirksam bleibt, wie die Gleich-
heit vor dem Gesetz nicht zur gleichen Chance vor dem Gesetz führt,
wie dies Laski52 an dem Beispiel der Vertretung des Nichtbesitzenden
vor Gericht ausführlich und anschaulich erläutert. Die Art aber, wie
heute mehrfach von der Theorie53 der Satz der Gleichheit vor dem
Gesetz materiell ausgelegt wird, bedeutet nichts als einen Versuch, den
gegenwärtigen ökonomischen Status quo zu garantieren, indem man
jede Gesetzgebung zugunsten der arbeitenden Klasse für unwirksam
erklären kann. Hier wird der Satz der Gleichheit in sein Gegenteil ver-
kehrt, weil man nicht verstehen will, dass die hiermit scheinbar

52 [Harold J. Laski:] A Grammar of Politics, [London 1925,] S. 565.


53 Hier sind hauptsächlich die Arbeiten von [Heinrich] Triepel: »Goldbilanzenver-
ordnung und Vorzugsaktien«[, Berlin 1924] und von [Gerhard] Leibholz: »Die
Gleichheit vor dem Gesetz«, [Berlin] 1925, zu erwähnen. Vorsichtig und ver-
nünftig abwägend Hippel, Archiv für öffentliches Recht N. F. 10 [Ernst von Hip-
pel: Zur Auslegung des Artikels 109 Absatz I der Reichsverfassung, in: Archiv
für öffentliches Recht, N. F. 10, Tübingen 1926, S. 124-152] und Max Rümelin:
»Die Gleichheit vor dem Gesetz«, Tübingen 1928. Auch das deutsche Reichsge-
richt sowie der Staatsgerichtshof haben sich, obwohl die Parteien sich unzählige
Male auf die Triepel-Leibholzschen Argumentationen berufen haben, sehr
zurückgehalten. Siehe hauptsächlich die unter anderen Gesichtspunkten noch
näher zu behandelnden Aufwertungsentscheidungen, RGZ Bd. III, S. 329. Neu-
erdings auch RGZ Bd. 128, S. 169.

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 293

geschaffene Ungleichheit nur der Durchgangspunkt zur endgültigen,


der sozialen Gleichheit ist. Im Namen des Rechtsstaates wird hier oft
aufgetreten, wobei man immer übersieht, dass der Rechtsstaat charak-
teristischerweise gerade hier seine Grenzen besitzt. Der Rechtsstaat
kann gewisse äußere Formen schaffen und sie Einzelnen oder einzel-
nen Bevölkerungsklassen zum Guten wie zum Bösen zur Verfügung
stellen, darüber hinaus vermag er nichts. Er kann zum Beispiel errei-
chen, dass dem Sohn des reichen Mannes, wenn er dreimal mit seinem
Kraftfahrzeug mit der Polizei und der öffentlichen Verkehrsordnung in
Konflikt geraten ist, das Führerzeugnis genauso entzogen wird wie
dem Chauffeur, der vier Kinder hat. Dass der eine sein Vergnügen, der
andere seinen Lebensunterhalt verliert, das ist dem Recht gegenüber
irrelevant. Der Rechtsstaat endet dort und lässt voraussetzungsgemäß
ewig unvollkommen dort, wo die soziale Gleichheit beginnen muss.
Indem man den Satz der Gleichheit zurücknimmt in die verflossene
Welt der bürgerlich-rechtsstaatlichen Ordnung, verbietet man im
Namen der Gleichheit sie selbst.

III. Die Enteignung nach der Reichsverfassung

Der Artikel 153 der Reichsverfassung verdankt seine Einzelausgestal-


tung ebenso sehr verfassungsrechtlichen Reminiszenzen aus dem ver-
gangenen Jahrhundert, wie den sozialen Bedürfnissen der Neuzeit.
Damit hat der Eigentumsartikel die Einheitlichkeit seiner Bedeutung,
die in der Zuordnung zu einem bestimmten Wirtschaftssystem besteht,
verloren. Der Artikel 153 der Reichsverfassung kann ebenso wenig wie
der Artikel 37 der Verfassung des Königreichs der Serben, Kroaten und
Slowenen und wie der Paragraph 109 der Verfassung der tschechoslo-
wakischen Republik eindeutig als Ausdruck und Manifestation einer
kapitalistischen Wirtschaftsordnung bezeichnet werden. In allen diesen
Verfassungen wird die reine Garantiefunktion des Staates gegenüber
dem Eigentum beseitigt und die Zulässigkeit einer gesetzlichen Einwir-
kung auf den Eigentumsbereich als Regel, nicht als Ausnahmefall sank-
tioniert. Wenn die deutsche Reichsverfassung im Absatz 1 des Art. 153
den Satz: »Das Eigentum wird von der Verfassung gewährleistet«
zusammenstellt mit der Feststellung, dass »sein Inhalt und seine
Schranken sich aus den Gesetzen ergeben«, so lässt dies den Schluss zu,
dass von einer Unverletzbarkeit des Eigentums – etwa im Sinn des Arti-
kels 9 der preußischen Verfassung von 1850 – nicht mehr die Rede sein
kann. Die Zusammenstellung von Gewährleistung und Gesetzesvorbe-

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294 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

halt schafft offenbar für das Privateigentum eine neue Abgrenzung, die
den früheren Verfassungen fremd war. Die Unverletzlichkeit des Eigen-
tums im 19. Jahrhundert bezog sich gleichmäßig auf Staat und Nach-
bar. Hieran änderte die theoretische Zulässigkeit von Gesetzeseingrif-
fen in das Eigentum nichts; sie war Ausdruck parlamentarisch-konsti-
tutioneller Vorstellungen, die ihre Front gegen die Verwaltung richte-
ten. Die Weimarer Verfassung hingegen unterscheidet die Position des
einen Eigentümers gegenüber dem anderen Eigentümer von der Posi-
tion des Eigentums überhaupt gegenüber dem Staat. Deutlich tritt dies
in einem Vorläufer der Reichsverfassung, dem Aufruf des Rates der
Volksbeauftragten an das deutsche Volk vom 12. November 1918 her-
vor. Dort heißt es: »Die Regierung wird die geordnete Produktion auf-
rechterhalten, das Eigentum gegen Eingriffe Privater sowie die Freiheit
und Sicherheit der Person schützen.«54 Hier ist der Ort, wo die Lehre
von der Schwäche des Eigentums gegenüber der öffentlichen Gewalt,
die Otto Mayer nur für ein begrenztes Gebiet gesetzesfreier Eingriffe
vertrat, ihren systematischen Platz hat. Die Verfassung garantiert das
Eigentum gegenüber dem Staat nur in ganz beschränktem Umfang. Sie
bestimmt, dass es immer eine Institution geben muss, die den Namen
Eigentum verdient, wie sich logischerweise aus dem Satz 2 des Abs. 1
ergibt; denn von Inhalt und Schranken kann nur dann gesprochen wer-
den, wenn etwas vorhanden ist, dem ein Inhalt gegeben und dem
Schranken gesetzt werden können. Insoweit kann man also von einer
institutionellen Garantie sprechen.55 Über den Umfang des Privateigen-
tums wird dadurch nichts weiter ausgesagt, als dass jedenfalls immer

54 Eigentumsschutz beschränkt auf Abgrenzung gegenüber dem anderen Privaten


vertritt ebenfalls Laros in »Eigentum und arbeitsloses Einkommen«, in: Hoch-
land, November 1929. [Matthias Laros: Eigentum und arbeitsloses Einkommen,
in: Hochland, Jg. 27, Heft 2 1929/30, München/Kempten 1929, S. 120-134.]
55 Carl Schmitt: Verfassungslehre, [München/Leipzig 1928,] S. 164, 172. Doch ist
gerade an dieser Stelle die Bedeutung der institutionellen Garantie äußerst
gering. Auch der Wortlaut des Satz 1: »Das Eigentum wird von der Verfassung
gewährleistet« sagt über eine etwaige besondere Schutzwürdigkeit des Eigen-
tums – etwa im Sinn der Formulierung des Art. 119 der Reichsverfassung, der
die Ehe unter den besonderen Schutz der Verfassung stellt – nichts aus. Dies
zeigt schon der nächste Satz des Art. 153, der, nachdem gerade erst von der Ver-
fassung die Rede war, den Inhalt des Eigentums dem Gesetz zur Regelung über-
lässt. Die institutionelle Garantie hat eben in jeder einzelnen Materie verschie-
denen Wirkungsgrad. Bei Art. 129 RV zum Beispiel bedeutet die Garantie des
Berufsbeamtentums als solche einen sehr wirksamen Schutz; denn hier war
Bestehen oder Nichtbestehen der Institution selbst das letztlich Entscheidende.
Dagegen bedeutet die institutionelle Garantie des Abs. 1 Satz 1 des Art. 153
äußerst wenig, weil es hier nicht auf die Garantie selbst, sondern auf ihren
Umfang ankommt. Der mögliche Inhalt des Eigentums aber unterliegt der
Bestimmung des Gesetzgebers.

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 295

ein Minimum von Eigentum bestehen muss; die nähere Bestimmung


behält Satz 2 dem Gesetzgeber vor.56 Es ist verfehlt, diese nähere
Bestimmung dadurch bagatellisieren zu wollen, dass man die Schran-
ken des Eigentums etwa im individualistischen Sinn des Allgemeinen
Landrechts auffasst. Wenn es dort heißt: »Jeder Gebrauch des Eigen-
tums ist daher erlaubt, durch welchen weder wohlerworbene Rechte
eines andern gekränkt, noch die in den Gesetzen des Staates vorge-
schriebenen Schranken überschritten werden«,57 so bedeutet dies dort
das notwendige Opfer einer äußeren Verkehrsregelung, das dem sonst
freien Eigentümer zugemutet wird. Im Systemzusammenhang der Wei-
marer Verfassung sind Schranken keine einem kapitalistischen Wirt-
schaftssystem immanente Grenze, es sind Wertsetzungen, die der Staat
auch aus nichtkapitalistischen Motivationen heraus dem Eigentum auf-
zuzwingen berechtigt ist, wie dies der Art. 155 und 156 der Reichsver-
fassung verdeutlicht. Auch die Bestimmung des Inhalts des Eigentums
hat hier keinen rein zivil- oder prozessrechtlichen Sinn. Die Selbstver-
ständlichkeit, dass für die technische Verkehrs- und Gebrauchsrege-
lung der Staat normgebend ist, war niemals bestritten. Inhaltsbestim-
mung des Eigentums heißt vielmehr Recht des Staates zur positiven
Normierung des Eigentums-Machtbereiches. Die Verfassung selbst
wollte noch weiter gehen. Im Absatz 3, wo es heißt: »Eigentum ver-
pflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine
Beste«, ist der Versuch unternommen, auch die Sphäre, die das Gesetz
dem Eigentümer zur freien Verfügung überlässt, zu beeinflussen. Dem

56 Schelcher, a. a. O., S. 347 [, Walter Schelcher: Gesetzliche Eigentumsbeschrän-


kung und Enteignung, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 18, Tübingen
1930, S. 321-378] stützt sich für die nunmehr auch von ihm übernommene voll-
kommene Ausweitung des Enteignungsbegriffes (siehe insbesondere S. 325,
Anm. 4, S. 336, 348) darauf, dass die in den Umfang der Herrschaftsbefugnis des
Eigentümers eingreifenden Gesetze im Sinne des Art. 153 Abs. 1 Satz 2 gegen-
über der grundsätzlichen Gewährleistung des Eigentums durch Satz 1 immer
noch die Substanz der im Eigentum des Einzelnen stehenden Sachen unberührt
lassen müssen. Selbst wenn man darüber hinwegsieht, dass bei den hieraus
gezogenen Folgerungen, jeder Eingriff dürfe sich nur als eine Beschränkung der
Verfügungsfreiheit, nicht als eine Entziehung oder Verminderung des Objekts
selbst darstellen, ungeklärt bleibt, ob Objekt hier im körperlichen Sinn gemeint
ist oder auch den innewohnenden Wert mit umfasst, kann Schelcher für diese
Ansicht sich letztlich nur auf die angeblich rechtspolitische Notwendigkeit die-
ser Stellungnahme stützen. Beachtlich ist dabei, dass Schelcher damit selbst das
tut, was er früher in seinen Ausführungen in Zeitschr. f. Verwaltung Bd. 60 an
den Argumentationen Martin Wolffs scharf gerügt hat. [Walter Schelcher:
Eigentum und Enteignung nach der Reichsverfassung, in: Fischers Zeitschrift
für Praxis und Gesetzgebung der Verwaltung, Band 60, Leipzig 1927,
S. 137-216.]
57 Allgemeines Landrecht I. Teil, 8. Titel § 26.

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296 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

Eigentümer wird hier eine bestimmte Willensrichtung in Bezug auf den


Zweck, der mit dem Eigentumsgebrauch verbunden sein soll, nahege-
bracht; auffällig ist der Widerspruch, in dem dies zur gesamten libera-
len Wirtschaftsordnung und ihrer Eigentumsauffassung steht. Wenn
das liberale Wirtschaftssystem in der wirksamsten Ausnutzung des
Eigentums im privaten Einzelinteresse die Garantie für die Harmonie
der menschlichen Gesellschaft gesehen hat, so entsprach dem vollkom-
men die in den Gesetzbüchern des 19. Jahrhunderts niedergelegte
Eigentumsdefinition, die das Eigentum als absolutes und unum-
schränktes Herrschaftsrecht bezeichnet. Diese Auffassung gibt die Wei-
marer Verfassung auf, wenn sie den Eigentümer anleitet, bei der Eigen-
tumsbenutzung auf einen Enderfolg acht zu haben, der nicht nur
außerhalb seines persönlichen Interessenkreises liegt, sondern sogar
mit diesem in Widerspruch stehen kann. Es wäre falsch, aus dem
Absatz 3 abzuleiten, dass die Verfassung einen absoluten Eigentumsbe-
griff mit einem relativen vertauscht habe, aus dem Sinngehalt dieser
Bestimmung eine andere, etwa die soziale Eigentumsauffassung her-
auszudestillieren. Dies tun heißt, einen vorhandenen Gegensatz beseiti-
gen, anstatt ihn aufzuzeigen.58 Solange es eine Kategorie Eigentum gibt,
bedeutet Eigentum ein absolutes Herrschaftsrecht, absolut allerdings
nur in der Sphäre des Privatrechts und unterworfen der Souveränität
des Staates59 und damit der gesetzgebenden Körperschaft. Was heißt
soziale Eigentumsauffassung? Wenn der Staat der Privateigentumsin-
stitution Grenzen setzt, so dass die ökonomischen und politischen Wir-
kungen der Herrschaft des Privateigentums teilweise aufgehoben wer-
den, so hat das nichts mit einer sozialen Eigentumsauffassung zu tun;
die soziale Auffassung richtet sich vielmehr gegen das Eigentum.
Glaubt man aber, dass dem Eigentum selbst eine soziale Pflicht, eine
soziale Auffassung immanent sei, so steht dies im Widerspruch zum
juristischen Charakter der Eigentumsinstitution. Ihr Absolutheitscha-
rakter wird auch durch Absatz 3 des Artikels 153 nicht berührt, aufge-
zeigt wird aber dort, im Eigentumsartikel selbst, dass die Verfassung

58 Dagegen auch Laros, a. a. O. [Matthias Laros: Eigentum und arbeitsloses Ein-


kommen, in: Hochland, Jg. 27, Heft 2 1929/30, München/Kempten 1929,
S. 120-134.] Die verfehlte Argumentation mit Abs. 3 des Art. 153 scheint sich
jedoch in Rechtswissenschaft und Rechtsprechung einzubürgern. Den Anfang
damit gemacht hat wohl Martin Wolff: Reichsverfassung und Eigentum, in der
Festgabe der Berliner Juristenfakultät für Wilhelm Kahl, Berlin 23. [Martin
Wolff: Reichsverfassung und Eigentum, in: Festgabe der Berliner Juristischen
Fakultät für Wilhelm Kahl zum Doktorjubiläum am 19. April 1923, Tübingen
1923.]
59 Dazu siehe [Karl] Renner: Die Rechtsinstitute des Privatrechts, Tübingen 1929,
S. 8.

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 297

die liberale Eigentumsauffassung nicht mehr beibehält. Diese Verschie-


bung des Wertakzentes ist das Entscheidende. Der Absolutheit des
Eigentums als juristischer Institution trat im Zeitalter des Liberalismus
die ethische Rechtfertigung zur Seite, die bewirkte, dass die technische
Allmacht des Instituts mit dessen sozial beherrschender Funktion
zusammenwuchs. In der Beseitigung dieser Verknüpfung, wie sie in
der Weimarer Verfassung mit bewusster Deutlichkeit vorgenommen
und ihr nicht nur in Absatz 1 und 3 des Art. 153 Ausdruck verliehen
wurde, liegt das grundsätzliche Anderssein des Eigentumsartikels von
1919 gegenüber dem vom 1791 beschlossen.
Die Enteignungsbestimmung des Absatzes 2 des Artikels 153 hat ihre
frühere Bedeutung, Garant der Unverletzlichkeit des Eigentums zu
sein, aus doppeltem Grund eingebüßt. Einmal ist es das Verhältnis von
Eigentumsgarantie und Enteignung selbst, das sich geändert hat.
Absatz 1 des Art. 153 hat die absolute und generelle Eigentumsgarantie
aufgehoben. Nach ihrer Beseitigung kann der Enteignung als Normie-
rung des individuellen Eigentumseingriffes keine prinzipielle Bedeu-
tung mehr innewohnen. Aus ihrem früheren Charakter als Eigentums-
garant wird sie verdrängt und sinkt zu einer technisch-organisatori-
schen Bedeutung herab. Sie wird damit eine bloße Ausführungsbestim-
mung zu Absatz 1, indem sie Inhalt und Schranken des Eigentums für
ein bestimmtes Gebiet genau bezeichnet. Enteignung ist ein Unterfall
der nach Absatz 1 zulässigen Eigentumsbeschränkung. Ihre relative
Selbständigkeit verdankt die Enteignung nicht prinzipiellen Erwägun-
gen, sondern der engen Anlehnung an historische Vorbilder. Da man
unter Enteignung in der alten Terminologie diffuse, okkasionelle Ein-
griffe ungleichmäßiger Art in das Privateigentum verstand, wurde
auch in der Weimarer Verfassung an dieser Stelle die Entschädigungs-
frage ausdrücklich geregelt. Im Artikel 156 wird der planmäßige Ein-
griff in Privateigentum als Überführung in Gemeineigentum bezeichnet
und die Enteignungsbestimmungen nur als sinngemäß anwendbar
erklärt;60 als Enteignung werden diese Akte also nicht betrachtet. Dass
die Enteignung als juristischer Begriff von der Reichsverfassung als
gegeben vorausgesetzt wurde, zeigt auch der Artikel 7 Nummer 12, in

60 Die Heranziehung des Art. 156 zur Interpretation des Art. 153 kann man nicht
damit ablehnen (Furler im Verwaltungsarchiv Bd. 33, S. 399 [Hans Furler: Das
polizeiliche Notrecht und die Entschädigungspflicht des Staates, Verwaltungs-
archiv, Band 33, Köln 1928]), dass es sich dort um ganz spezielle, zur Zeit der
Entstehung der RV besonders aktuelle Fragen handelt. Wer so verfährt, ver-
sperrt sich selbst den Weg zum Begreifen des Funktionswandels der Eigentums-
schutzformeln. Denn gerade diese »aktuellen Fragen« versinnbildlichen diesen
Wandel.

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298 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

dem dem Reich die konkurrierende Gesetzgebung über das Enteig-


nungsrecht zugesprochen wird. Aber auch die individuelle Eigentums-
garantie des Absatz 2 wurde noch in sich abgeschwächt dadurch, dass
man die angemessene Entschädigung durch ein Reichsgesetz für aus-
schließbar erklärte. Damit durchbricht die Verfassung auch die indivi-
duelle Eigentumsgarantie und betont nochmals, dass der Enteignung
nicht mehr ihr früherer Ergänzungscharakter im Verhältnis zur Eigen-
tumsgarantie zukommt, sondern dass sie lediglich ein Unterfall des all-
gemein ausgesprochenen Grundsatzes ist: Dem Gesetzgeber gegenüber
kann sich der Eigentümer nicht auf die Eigentumsgarantie berufen.
Die Weimarer Verfassung hat somit in ihrem Eigentumsartikel ebenso
wie in den anderen wirtschaftlichen Bestimmungen die Kategorien des
bürgerlichen Verfassungsschemas aufgelöst. Sie hat nicht ganz auf sie
Verzicht geleistet und sich auch nicht positiv zu einer anderen Wirt-
schaftsverfassung bekannt; aber selbst diejenigen unter den Verfas-
sungsgesetzgebern, die den Sozialismus als System ablehnten, dachten
zum Teil, dass eine andere Wertung und Gesinnung – wie sie etwa der
hier besprochene Absatz 3 des Art. 153 zum Ausdruck bringt – die ver-
gangenen Zielsetzungen des 19. Jahrhunderts mit den neuen Tenden-
zen zu einer sinnvollen Einheit verbinden könnte. Die Zeit, die der
Errichtung der Weimarer Verfassung folgte, brachte Veränderungen im
politischen Kräfteverhältnis mit sich. Die Auflockerung des Eigentums-
artikels, der wie überhaupt die wirtschaftlichen Bestimmungen der
Weimarer Verfassung bereitwillig neuem Sozialdenken Raum gab,
begegnete bei ihrer praktischen Durchführung in Rechtslehre und
Rechtsprechung erheblichem Widerstand. Mit zunehmender Schärfe
tritt uns die Tendenz entgegen, aus Art. 153 einen Sinn herauszukristal-
lisieren, der den dort ausgesprochenen Tendenzen entgegengesetzt ist.
Dabei ist man nicht nur davon ausgegangen, das Privateigentum fak-
tisch schützen zu wollen, sondern man hat sogar die Behauptung
gewagt, eine intensiv privateigentumsschützende Auslegung dieser
Bestimmung entspreche dem Willen des Verfassungsgesetzgebers.61
Dass Interessentenkreise ein solches Bedürfnis empfinden, ist sicher;

61 Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reichs, 12. Aufl., zu Art. 153 [Gerhard
Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Berlin
1921, S. 245-249]. Die gleiche Tendenz spricht unverhohlen trotz abweichender
Rechtskonstruktion aus [Wilhelm] Hofacker: Grundrechte und Grundpflichten
der Deutschen, Stuttgart 1926. Inzwischen hat Hofacker seine Ansichten teil-
weise geändert. Seine neuen Ausführungen in »Der Einzelne und die Gesamt-
heit«, Stuttgart 1930, enthalten viele richtige Feststellungen und Beobachtungen,
ohne doch prinzipiell von verwaltungspolitischen Gesichtspunkten zu den
staatsrechtlichen Grundfragen durchzudringen.

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 299

uns dünkt es aber sehr schwer, derartige Tendenzen aus der Verfassung
herauszulesen; denn wenn man die Weimarer Verfassung und die
gleichzeitig entstandenen europäischen Verfassungen betrachtet, wird
man überall ein vermindertes Maß von Eigentumsschutz, gemessen an den
Verfassungen des 19. Jahrhunderts, erblicken.62 Beweise für jene angeb-
lichen Verfassungstendenzen zugunsten einer möglichst weiten Aus-
dehnung des Begriffes der entschädigungspflichtigen Enteignung wer-
den deshalb auch kaum angeführt. Anschütz beruft sich für seine Ver-
fassungsauslegung auf die Reden des damaligen Abgeordneten
Heinze, die bewirkt hätten, dass der Artikel 153 seine endgültige Fas-
sung erhielt. Daran ist nur so viel richtig, dass auf Veranlassung des
Abgeordneten Heinze der Satz, dass wegen der Höhe der Entschädi-
gung der Rechtsweg bei den ordentlichen Gerichten offenzuhalten sei,
in die Verfassung aufgenommen wurde, freilich auch hier mit der ent-
scheidenden Klausel, »soweit Reichsgesetze nichts anderes bestim-
men«. Damit sagt die Verfassung nichts weiter, als was bei individuel-
len Eingriffen meist schon Übung war. Die Anschütz’schen Schlüsse aus
den Heinze’schen Reden sind insofern verfehlt, als Heinze sich nur
damit beschäftigte, welche Rechtsbehelfe dem Einzelnen gegeben sein
sollten, falls eine Enteignung vorliege. Damit ist aber gar nichts darüber
ausgesagt, in welchen Fällen eine Enteignung vorliegt. Bezeichnender-
weise hat Anschütz es unterlassen, in diesem Zusammenhang auf das
entscheidende Referat des Berichterstatters Sinzheimer im Verfassungs-
ausschuss der Nationalversammlung63 einzugehen, aus dem gerade
das Gegenteil zu schließen ist. Auch Martin Wolff:Reichsverfassung
und Eigentum, geht ganz unverhohlen von solchen Voraussetzungen
aus. Unübertrefflich klar wird diese Tendenz dort, wo sie sich den juris-
tischen Beweis spart und zur Notwendigkeit und Begründung
bestimmter Erweiterungen des Enteignungsbegriffes einfach die politi-

62 Sehr bezeichnend in dieser Hinsicht ist die tschechoslowakische Verfassung, die


sich überhaupt nicht über Eigentumsgarantien ausspricht, sondern in ihrem
§ 109 mit dem Satz beginnt: »Das Gesetz allein kann das Privateigentum
beschränken.«
63 Dort heißt es: »Dieser Gedanke besagt, daß die wirtschaftliche Freiheit des Ein-
zelnen nicht Selbstzweck, kein selbständiges Gut für sich ist, sondern daß die
wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen nur insoweit im Wirtschaftsleben gelten
soll, als diese Freiheit eine soziale Funktion erfüllt. Von diesem Grundgedanken
aus ist der gesamte Rechtsstoff [den der Verfassungsausschuß in der Vorlage
bearbeitet hat] behandelt.« S. 1784 des Berichts des Verfassungsausschusses.
[Verhandlungen des Deutschen Reichstages, Band 328. 1919/20, Nationalver-
sammlung, 62. Sitzung, Montag den 21. Juli 1919, Berlin 1920, S. 1748 c. Die Pas-
sage in eckigen Klammern wurde von Otto Kirchheimer ausgelassen.]

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300 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

schen Folgen anführt, die eintreten könnten, falls eine solche Erweite-
rung nicht stattfände.64
Hand in Hand mit dem Versuch, in den Eigentumsartikel der Weimarer
Verfassung die seinem Sinn entgegengesetzten politischen Zielsetzun-
gen hineinzuinterpretieren, läuft der Versuch, Eingriffen des Staates
angeblich in Art. 153 enthaltene Schranken entgegenzuhalten, die min-
destens zu einer Entschädigung für die Eingriffe führen sollen. Man
kann dabei verschiedene Wege einschlagen, um zu dem politisch
gewünschten Ergebnis zu gelangen; das Ergebnis ist aber immer die
Unzulässigkeit des Eingriffs oder dessen Entschädigungspflichtigkeit.
Dabei kann man es zunächst mit der meisten Aussicht auf Erfolg mit
der Erweiterung des Enteignungsbereiches versuchen. Zunächst kehrt
man das ganze Verhältnis um, aus dem die Enteignung hervorgeht.
War die Enteignung, wie wir im ersten Teil gezeigt haben, im ganzen
19. Jahrhundert der verwaltungsmäßige Eingriff in individuelle Rechte,
so wird jetzt behauptet, dass die Enteignung auch durch Gesetz erfol-
gen könne. Es ist bezeichnend, dass für diese Behauptung niemals eine
Rechtfertigung versucht, sondern dass sie immer als eine Tatsache
behandelt worden ist; in Wahrheit kehrt sie aber das ganze Bild des
Art. 153 um. Dort wird die gesetzliche Beschränkung des Eigentums
ausdrücklich verfassungsrechtlich anerkannt. Diese Anerkennung ver-
sucht man rückgängig zu machen, indem man sagt, die Eigentumsga-
rantie bestünde auch gegenüber der Gesetzgebung. Dadurch legt man
dem Gesetzgeber eine Pflicht zur Rechtfertigung auf, die ihm die Ver-
fassung nicht vorschreibt; damit verwischt man endlich die Grenzen
zwischen Abs. 1 und 2 des Art. 153 und schafft sich die bequeme Mög-
lichkeit, jeden Eingriff als Enteignung zu bezeichnen. So bagatellisiert
man den Satz 2 des Absatzes 1 und verwischt den Gegensatz zwischen
Gesetz und individuellem Enteignungsakt. Erst aus dieser Verwirrung
ist das Problem entstanden, wie sich die öffentlich-rechtliche Beschrän-
kung von der Enteignung unterscheide und wo hier die positiven Gren-

64 Dies tut Martin Wolff bei seiner Behauptung, dass die Begründung obligatori-
scher Pflichten zur Rechtsübertragung Enteignung sei. Zur Begründung dieser
Behauptung heißt es dort: »Wäre es anders, so würde ein kommunistisch
gerichteter Landesgesetzgeber in der Lage sein, auf einem Umweg durch ent-
schädigungslose »Anforderung« die Grundeigentümer zur rechtsgeschäftlichen
Übereignung an den Staat zu zwingen.« [Martin Wolff: Reichsverfassung und
Eigentum, in: Festgabe der Berliner Juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl zum
Doktorjubiläum am 19. April 1923, Tübingen 1923.] Über Schelchers frühere
zutreffende Stellungnahme gegen Martin Wolff siehe Fußnote 56. [Walter Schel-
cher: Eigentum und Enteignung nach der Reichsverfassung, in: Fischers Zeit-
schrift für Praxis und Gesetzgebung der Verwaltung, Band 60, Leipzig 1927,
S. 137-216.]

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 301

zen zu ziehen seien, wie es sich der deutsche Juristentag von 1930 zur
Aufgabe gestellt hat. Die Reichsverfassung kennt dieses Problem nicht;
sie unterscheidet im Verfassungstext selbst zwischen Inhalt und
Schranken des Eigentums, das heißt gesetzlichen Eigentumsbeschrän-
kungen und der Enteignung auf Grund individuellen Verwaltungsakts.
Die Enteignung wird hier klar als Unterfall der Beschränkung gekenn-
zeichnet.
In Wahrheit findet der Satz, dass Enteignung auch durch Gesetz statt-
finden könne, nur eine politische Rechtfertigung. Er ist der Ausdruck
der veränderten parlamentarischen Machtverhältnisse in der Nach-
kriegszeit.65 Da das Bürgertum fürchten muss, dass im Parlament heute
eine seinen Privatinteressen feindliche Eigentumsgesetzgebung
zustande kommt, wird die diesbezügliche Gesetzgebung einer neuen
Instanz unterworfen, die dem Bürgertum günstiger schien. Im 19. Jahr-
hundert hat das Bürgertum den entgegengesetzten Standpunkt vertre-
ten, da er ihm damals gegen den Absolutismus günstiger schien. Heute
wird der Richter angerufen und das Gesetz als verfassungswidrig
bezeichnet. Damit ist jeder Interessentengruppe der Weg freigegeben,
die gesetzliche Regelung sozialer Tatbestände nicht als abschließende
Willenskundgebung des Staates anzusehen. Man betrachtet das Gesetz
nicht anders als einen Verwaltungsakt, der der richterlichen Kognition
unterliegt. Man übersieht hierbei nur, dass dem Gesetz gegenüber nicht
wie bei dem Verwaltungsakt ein juristischer Maßstab der Nachprüfung
vorhanden ist. Die Behauptung der Verletzung erworbener Rechte
gehört in das Gebiet der Politik, und indem man von der politischen
Instanz, dem Reichstag, in einer politischen Frage die Berufung an ein
Gericht zulässt, macht man dieses selbst zu einer politischen Instanz.
Die Reichsverfassung hat aber die erworbenen Rechte und ihre Einglie-
derung in den Staat in das Gebiet der Gesetzgebung verwiesen. Da sie

65 Ganz klar wird dieser Sachverhalt aus den Ausführungen Furlers, a. a. O., S. 396
[Hans Furler: Das polizeiliche Notrecht und die Entschädigungspflicht des Staa-
tes, Verwaltungsarchiv, Band 33, Köln 1928]. Der Verfasser schreibt dort: »Die
ersten Vorkämpfer des rechtsstaatlichen Gedankens hatten eine liberal einge-
stellte, bei der Gesetzgebung entscheidend mitwirkende Volksvertretung vor-
ausgesetzt und geglaubt, willkürliche Maßnahmen des Staates durch eine Bin-
dung der Staatsgewalt an das Gesetz verhindern zu können.« Frappant ist nur,
wie der Verfasser aus der richtig erkannten, durch die Weimarer Verfassung
sanktionierten, diesen Voraussetzungen entgegengesetzten Entwicklung mit
einem kühnen Sprung die Folgerung zieht: »Von dieser Schutztendenz des
Art. 153 ausgehend, muß man zu dem Ergebnis gelangen, den Entschädigungs-
anspruch des Art. 153 überall da anzuerkennen, wo eine Entziehung oder Beein-
trächtigung privater Vermögensrechte stattfindet.« Den Versuch einer entwick-
lungsgeschichtlichen Beweisführung hat der Verfasser gar nicht unternommen.

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302 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

eine demokratische Verfassung ist, hat sie diese Verweisung nicht nur,
wie Carl Schmitt66 meint, für generelle Beschränkungen des Eigentums
vorgenommen, sie hat dem Gesetzgeber auch in der Setzung individu-
eller Enteignungsakte freie Hand gelassen. Wenn die verfassungsmä-
ßige Zulässigkeit individueller gesetzlicher Enteignungsakte damit
bekämpft wird, dass man den generellen Charakter des Gesetzes als
notwendiges rechtsstaatliches Postulat bezeichnet, so mag an dieser
Stelle dahingestellt bleiben, ob genereller Gesetzescharakter wirklich
die grundlegende Voraussetzung für den Rechtsstaat ist; entschieden
bestritten muss aber werden, dass für die Demokratie ebenfalls die
Lehre von der notwendigen Beschränkung des Gesetzes auf generelle
Tatbestände Gültigkeit haben kann. Diese Auffassung von Carl Schmitt
hängt eng mit seiner grundsätzlichen Betrachtungsweise zusammen,
die in erster Linie das den gegenwärtigen Verfassungszustand zweifel-
los stark beherrschende Zusammenspiel zwischen bürgerlichem
Rechtsstaat und Demokratie zum Ausgangspunkt nimmt. Aus diesem
tatsächlichen, in Deutschland herrschenden Zustand geht aber nicht
hervor, dass für die Demokratie dieses Zusammenspiel wesensnotwen-
dige Existenzvoraussetzung ist. Es muss insgesamt fraglich erscheinen,
wieweit die Massendemokratie des 20. Jahrhunderts bürgerlich rechts-
staatliche Elemente beibehalten kann, ohne auf die Dauer entschei-
dende Einbuße an ihrem demokratischen Grundcharakter zu erleiden.
Es ist mindestens dies sicher, dass die Demokratie nicht gehalten ist,
nur generelle Gesetze zu erlassen, dass für sie diese Sicherung nicht
notwendig ist, da hier die Zustimmung der Mehrheit des Volkes als
Sicherheitsfaktor vorhanden ist. Das generelle Moment des demokrati-
schen Gesetzes liegt in seinem Ursprung, nicht in seiner Tendenz
beschlossen. Wenn Schmitt sich auf Aristoteles beruft, so ist damit noch
nichts über die Praxis der attischen Demokratie ausgesagt. In den Feh-
ler, aus den Wünschen und Intentionen eines Schriftstellers auf eine
geübte Verfassungspraxis zu schließen, verfällt Kaerst,67 wenn er

66 Zuletzt im Gutachten zum deutsch-polnischen Liquidationsabkommen, dann in


JW 1929, 495 [Carl Schmitt: Die Auflösung des Enteignungsbegriffs, in: Juristi-
sche Wochenschrift, Jg. 58, Band 1, Heft 8, Leipzig 1929, S. 495-497]; grundsätz-
lich in der Verfassungslehre. [Carl Schmitt: Verfassungslehre, München/Leipzig
1928.] Carl Schmitt stellt die These auf, dass Enteignung begrifflich kein Verwal-
tungsakt, jedoch nur in dessen Form zulässig sei; es kann also auch durch
Gesetz enteignet werden, nur ist diese Enteignung unzulässig. Ihm folgend
auch [Ernst Rudolf] Huber: Die Garantie der kirchlichen Vermögensrechte in
der Weimarer Verfassung[. Zwei Abhandlungen zum Problem der Auseinan-
dersetzung von Staat und Kirche, Tübingen] 1927.
67 In seiner Geschichte des Hellenismus, 1917, Bd. 1, S. 40 f. [Julius Kaerst:
Geschichte des Hellenismus, Band 1, Leipzig 1917.]

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 303

behauptet, dass tatsächlich ein materieller Unterschied zwischen Gesetz


und Volksbeschluss, nomos und psephisma, bestanden habe. Dass dies
nicht der Fall war, wird eingehend von Keil68 nachgewiesen, der aus-
drücklich vermerkt, dass beide rücksichtlich der Materie ineinander
übergehen und dass es Volksbeschlüsse gegeben habe, welchen durch-
aus allgemeine und konstitutive Bedeutung zukam. Auch die Praxis
der französischen Demokratie hat sich niemals die theoretischen
Ansichten Duguits69 zu eigen gemacht und kennt bis auf den heutigen
Tag Gesetze, die individuelle Tatbestände regeln. Warum individuelle
Gesetze gegen Einzelpersonen keine Enteignung sind, hat schon Chris-
tiansen70 gesehen, wenn er von jenem Fall spricht, in dem der Staat des-
halb keine Entschädigungen zahlen muss, weil seine Absicht gerade
darauf gerichtet war, diesen bestimmten Wert sich zuzueignen. Der
Unterschied zur Enteignung liegt in dem fehlenden Moment der Zufäl-
ligkeit. Bei der Enteignung nimmt der Staat etwas weg, was er braucht,
gleichgültig, wem es gehört; in dem anderen Fall (Fürstenenteignung,
das Österreichische sogenannte Schlössergesetz) nimmt der Staat etwas
weg, weil es gerade diesen bestimmten Personen gehört. Dass er es
wegnehmen kann, ohne dass hieraus eine Rechtsanarchie entsteht, ist
das Verdienst der Demokratie, die hierfür eine Mehrheitsentscheidung
verlangt und voraussetzt.
Die Rechtspraxis hat bisher als Erfordernis der Enteignung das Vorlie-
gen eines öffentlichen Unternehmens, für das die Enteignung stattfin-
det, verlangt. Unter Unternehmen verstand sie einen konkreten Sachin-

68 Keil, Griechische Staatsaltertümer, in: Einleitung in die Altertumswissenschaft,


Bd. III, S. 380 ff. [Bruno Keil: Griechische Staatsaltertümer, in: Alfred Gercke
(Hg.): Einleitung in die Altertumswissenschaft, Band 3, Leipzig 1923.] Dort
heißt es: »Aristoteles stellt zwar den inhaltlichen Unterschied zwischen beiden
auf, daß das Gesetz die allgemeine Bestimmung regele, das Psephisma nichts
Allgemeines anordne (Pol. 1292 a), vielmehr nur dazu bestimmt sei, da ergän-
zend einzutreten, wo gesetzliche Ordnung unmöglich sei, allein die Praxis des
demokratischen Staates stimmt so wenig zu dieser Schilderung, daß man sie für
eine theoretische Forderung des Philosophen zu halten geneigt sein wird, auf
die er seine Ansicht von dem Grunde der Zerrüttung einer Demokratie wie die
Athens aufbaut.« Ebenso dem Sinne nach Georg Busolt: Griechische Staats-
kunde, [München] 1920, I. Hälfte, S. 458. Vergleiche dazu auch Jakob Burck-
hardt: Griechische Kulturgeschichte (Ausgabe Kröner), Bd. I, [Leipzig 1929,]
S. 221 ff.
69 Duguit, traité II, p. 146 ff., [Léon Duguit: Traité de Droit constitutionnel II, Paris
1928] und Révue de droit public 1907 p. 472. [De la dérogation aux lois par le
pouvoir legislatif – et plus spécialement du pouvoir pour le Parlement de faire
des lois pénales spéciales, applicables rétroactivement à certaines infractions
determinées, in: Révue du droit public et de la science politique en France et a
lètranger, tome 24, Paris 1907.]
70 A. a. O., S. 79. [C. Christiansen: Über erworbene Rechte, Kiel 1866.]

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304 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

begriff;71 sie verstand darunter »das Unternehmen« und begnügte sich


nicht mit dem vagen »etwas unternehmen«. Indem man das Subjekt
»Unternehmen« zu dem Verbum »unternehmen« umdeutete, ging jede
Begrenzung verloren. Nun ließen sich alle Akte einer vorausschauen-
den und planmäßigen Gesetzgebung als Enteignungsunternehmen
kennzeichnen. Aufwertung, Bauernbefreiung, Wohnungsnotbeseiti-
gung werden hier mit der städtischen Kanalisation und der Errichtung
einer Badeanstalt in eine Reihe gestellt.72 Der Unterschied tritt klar
zutage. Durch die Inflation sind die Hausbesitzer bereichert, die Hypo-
thekengläubiger entreichert, und durch die Aufwertungsgesetzgebung
ist diese generell eingetretene Tatsache mehr sanktioniert als geändert
worden. Bei der Aufwertungsgesetzgebung ebenso wie bei der Woh-
nungsmangelgesetzgebung und im gesamten Sozialisierungskomplex
wird planmäßig vorgegangen, während die Wegnahme eines Grund-
stücks zur Errichtung eines öffentlichen Sportplatzes nur zufällig
gerade dieses Grundstück betrifft. Die hierbei waltende Planmäßigkeit
hat mit dem Grundstück nichts zu tun. Wenn ein privates Schlachthaus
geschlossen wird, um ein öffentliches zu errichten, wie dies schon die
Reichsgewerbeordnung vorsah, so mag man dies vielleicht mit einer
rechtlich irrelevanten Terminologie als einen Eingriff in private Rechte
bezeichnen,73 man kann es niemals eine Enteignung nennen. Wenn die
Stadt den Acker eines Bauern braucht, weil sie dort ein öffentliches

71 Dass dem Terminus »Unternehmen« tatsächlich diese Bedeutung innewohnt,


weist bezüglich der Hauptmaterie des Enteignungsrechts, des Eisenbahnenteig-
nungsrechts, eingehend und überzeugend nach E.[Ernst] Durniok in »Die Ent-
stehung des heutigen Enteignungswesens aus den Bedürfnissen des Eisenbahn-
baues«, in: Archiv für Eisenbahnwesen, 1929, S. 1406 f.
72 Siehe Martin Wolff, a. a. O. [Martin Wolff: Reichsverfassung und Eigentum, in:
Festgabe der Berliner Juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl zum Doktorjubi-
läum am 19. April 1923, Tübingen 1923,] S. 14, und Triepel, Goldbilanzenver-
ordnung und Vorzugsaktien, 1924 [Heinrich Triepel: Goldbilanzenverordnung
und Vorzugsaktien: zur Frage der Rechtsgültigkeit der über sogenannte schuld-
verschreibungsähnliche Aktien in den Durchführungsbestimmungen zur Gold-
bilanzen-Verordnung enthaltenen Vorschriften. Ein Rechtsgutachten, Berlin
1924].
73 Energisch setzt sich Carl Schmitt gegen die Ausdehnung des Enteignungsbegrif-
fes auf gesetzliche Eingriffe in die Gewerbefreiheit zur Wehr. Er weist auf die
gänzlich anders gelagerte Frage, ob der eingerichtete Gewerbebetrieb als
Schutzobjekt im Sinne des § 823 BGB anzusehen sei, in einem unveröffentlichten
Gutachten über die Rechtsgültigkeit des Entwurfes des Gesetzes über Entschä-
digung von Betrieben und Arbeitnehmern auf Grund der Einführung des
Branntweinmonopols hin (S. 6). [Siehe: Gerhard Anschütz, Carl Schmitt: Rechts-
gutachten, betreffend den Entwurf eines Gesetzes über die Abkommen zur
Regelung von Fragen des Teils X des Vertrages von Versailles, Berlin 1930.] In
diesem Sinn wohl auch Hofacker, Der Einzelne und die Gesamtheit, S. 24 [Wil-
helm Hofacker: Der Einzelne und die Gesamtheit. Eine Untersuchung über

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 305

Schlachthaus errichten will, so muss sie diesen Acker, falls sie sich nicht
gütlich mit dem Bauern einigen kann, enteignen. Mit vollem Recht ist
anlässlich der Rechtsprechung des Reichsgerichts74 zur Wohnungsbe-
schlagnahme die Frage aufgeworfen worden, warum, falls man die
Wohnungsbeschlagnahme als Enteignungsunternehmen ansehe, man
nicht mit dem gleichen Recht auch die reichsgesetzlichen Einschrän-
kungen, die das Mietrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches in Kriegs-
und Nachkriegszeit erfahren habe, dem Enteignungsbegriff unter-
werfe? Ja, noch viel weitergehend wäre hiernach kein ersichtlicher
Grund vorhanden, warum nicht die meisten unserer modernen arbeits-
rechtlichen Bestimmungen unter diesem Gesichtspunkt rechtsungültig
sein sollten. Denn auch die Normen der Stillegungsverordnung, des
Gesetzes über die Beschäftigung Schwerbeschädigter und die Arbeits-
zeitverordnungen schränken das freie Verfügungsrecht des Arbeitge-
bers über sein Eigentum am Unternehmen tatsächlich und rechtlich ein.
So weit, hierin eine Enteignung zu erblicken, ist bisher noch kein deut-
scher Theoretiker und kein deutsches Gericht gegangen, obwohl über-
all ein Unternehmen im Sinn der modernen Enteignungstheorie vor-
liegt. Alle Sozialgesetzgebung geht auf die einheitliche Anschauung
zurück, die dem Staat das Recht zum gesetzlichen Eingriff in private
Interessen in einem vom Mehrheitswillen der Bevölkerung statuierten,
übergeordneten Gesamtinteresse zubilligt. Offenbar scheitert hieran die
weite Fassung des Unternehmensbegriffes, da sie nicht erklären kann,
warum in manchen Sachkategorien eine Enteignung vorliegt und in
anderen nicht. Eine Rechtfertigung durch Anerkennung einer Rechts-
fortbildung für die Aufhebung oder Beschränkung mancher Rechtska-
tegorien kann keinen Anspruch auf rechtssystematischen Wert erheben
und zeigt nur die Hilflosigkeit einer Theorie, die ihre eigenen Ergeb-
nisse nicht billigen kann.75

unerlaubte Handlungen, Beamtenhaftung, Eigentum, Rechtsaufblähung und


die Rechtsmethode, Stuttgart 1930], und RGZ 101, 289 f., und RGZ 126, 96.
74 Neuestens hat sich der VII. Senat wieder zu dieser Rechtsprechung bekannt in J.
W. 1930, S. 1180 [Rechtsprechung zu 3.: Art. 153 RVerf. Die fortdauernde
Beschlagnahme einer Wohnung berechtigt den Erwerber eines Grundstückes
oder seinen Pächter auch dann zu Entschädigungsansprüchen, wenn die
Beschlagnahme vor Erwerb des Grundstücks erfolgt ist, in: Juristische Wochen-
schrift, Jg. 59, Band 1, Heft 16/17, Leipzig 1930, S. 1186-1187]. Baak in Preuß. Ver-
waltungsblatt 49, S. 17. [B. Baak: Die Entschädigung für rechtmäßige Eingriffe
der Wohnungsämter, in: Preußisches Verwaltungsblatt, Band 49, Nr. 2, Berlin
1927, S. 17-21.]
75 Martin Wolff, a. a. O., S. 19[ Martin Wolff: Reichsverfassung und Eigentum, in:
Festgabe der Berliner Juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl zum Doktorjubi-
läum am 19. April 1923, Tübingen 1923]; am offensichtlichsten aber Mayer in Pr.
Vbl. 49, S. 130 [Otto Mayer: Enteignung und Städtebaugesetz, in: Preußisches

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306 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

Wenn die Enteignung nach bis zur Reichsverfassung geltender Rechts-


anschauung die Wegnahme eines Besitzes war, der einem anderen
Zweck dienstbar gemacht werden sollte, so war klar, dass diese Enteig-
nung sich in zwei Akten vollzog: einmal in der sichtbaren Wegnahme
des Gutes und zum anderen in der konkreten Übereignung an den
neuen Eigentümer. Auch dieser klare Rechtsvorgang musste aufgelöst
werden, um zu dem gewünschten Ergebnis zu gelangen. An die Stelle
der Übereignung trat eine Überführung, die den Vorteil bot, dass sie
juristisch nicht fassbar war, dafür aber gesetzliche Vermögensverschie-
bungen, die keine juristischen Übertragungsakte enthielten, mit
umfasste. Wenn ein bestehendes feudales Jagdrecht abgeschafft wird,
so ist es schwer zu behaupten, dass dem Eigentümer des betreffenden
Grundstücks etwas übereignet wird. Das gleiche gilt für den Fall der
Abschaffung von Eigenjagden,76 die die aus volkswirtschaftlichen und
sicherheitspolizeilichen Gründen neu vorgeschriebene Mindestgröße

Verwaltungsblatt, Band 49, Nr. 9, S. 130-132], der den Enteignungsbegriff nach


geltendem Recht so weit ausdehnt, dass er am Ende seiner Ausführungen die
sich aus seinen ausdehnenden Interpretationen ergebenden Folgen für das
preußische Städtebaugesetz selbst nicht billigt und eine Einschränkung der Ent-
schädigungspflicht für unerlässlich hält, ohne freilich von seinem Ausgangs-
punkt aus einen juristisch gangbaren Weg zu besitzen. Das gleiche gilt für die
Ausführungen desselben Autors im Reichs- und Preuß. Verw.-bl. Bd. 51,
S. 285 ff. [Otto Mayer, Rieß: Das Reichsgericht und das deutsche Fluchtlinienge-
setz, in: Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt, Band 51,
Nr. 18, Berlin 1930, S. 285-289.] Charakteristisch für die völlige Begriffsaufwei-
chung auch die Gutachten von Litten, Lobe und Brand (Können Beamtengehäl-
ter mit Wirkung für die planmäßig angestellten Beamten durch einfaches Gesetz
herabgemindert werden? Gutachtensammelband des Danziger Beamtenbundes,
1928, S. 80, 62, 124) [Adolf Lobe: Rechtsgutachten I und II des Senatspräsidenten
des Reichsgerichts i. R. Dr. Lobe, S. 57-72; Hans Litten: Rechtsgutachten I und II
des Universitätsprofessors Dr. Litten, S. 73-102; Arthur Brand: Rechtsgutachten
des Landesgerichtspräsidenten Dr. Brand, S. 103, alle Beiträge in: Beamtenbund
der freien Stadt Danzig (Hg.): Können Beamtengehälter mit Wirkung für die
planmäßig angestellten Beamten durch einfaches Gesetz herabgemindert wer-
den?, Gutachtensammelband des Danziger Beamtenbundes, Danzig 1928], die
die generelle Kürzung von Beamtengehältern als Enteignung bezeichnen; dabei
finden Lobe und Litten dies so selbstverständlich, dass sie sich jede Begründung
ersparen. Dagegen mit zutreffenden Gründen Ernst Friesenhahn in »Wirt-
schaftsdienst« vom 4. Juli 1930,[ Hamburg 1930,] S. 1143.
76 Für den Fall der gesetzlichen Beschränkung der Eigenjagdbezirke nimmt eine
entschädigungspflichtige Enteignung an Schelcher, a. a. O., S. 364 ff. [Walter
Schelcher: Gesetzliche Eigentumsbeschränkung und Enteignung, in: Archiv des
öffentlichen Rechts, N. F. 18, Tübingen 1930,S. 321-379], mit ausführlicher Stel-
lungnahme gegen die Urteile des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, Jahr-
buch 30, 101 [Urteil des III. Senats vom 15. Dezember 1926, 99 III: 101, in: Jahr-
bücher des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts: Entscheidungssammlung des
Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, Band 30, Stuttgart 1927, S. 309-312]
und 32, 163 [Urteil des III. Senats vom 15. April 1928, Nr. 163 II, in: Jahrbücher

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 307

nicht erreichen. Da es aber auch einen negativen Prozess der Überfüh-


rung gibt, der darin liegt, dass das Eigentum nun nach Befreiung von
fremden Rechten zu voller Machtfülle anschwillt, so lässt sich auch hier
eine Enteignung konstruieren. Denn das notwendige öffentliche Unter-
nehmen liegt in der Aufhebung von Jagdrechten. Die immanente Logik
dieses so erweiterten Enteignungsbegriffes führt zu ungeheuerlichen
Konsequenzen. Eine Neuverteilung der Steuerlasten wird für jeden
angeblich Geschädigten angreifbar, sofern er nur einen mittelbaren
Überführungsprozess behaupten kann, der immer dann vorliegt, wenn
die Steuergesetzgebung, und sei es aus den sorgsamsten wirtschaftspo-
litischen Erwägungen heraus, einer bestimmten Bevölkerungsschicht,
Produzenten- oder Konsumentengruppe, eine Steuerermäßigung
zuteilwerden lässt. Zollgesetzliche oder durch Monopolgesetz erfolgte
wirtschaftliche Schädigung bestimmter Wirtschaftsgruppen macht den
Staat entschädigungspflichtig; er ist zum Ausgleich verpflichtet, falls
sein »öffentliches Unternehmen« (genannt Regierung) durch solche
Maßnahmen Profitquoten mindert oder Betriebsstilllegungen herbei-
führt.77 Generelle Schadloshaltung in Form von Steuererleichterungen,
Subventionen und staatlichen Soziallastquoten werden nicht mehr
genügen, man wird dem Staat eine individuelle Rechnung aufmachen.
Im Endergebnis unterwirft der Ausdruck »Überführung« zusammen
mit dem neuen Unternehmensbegriff und der Ausdehnung der Enteig-
nung auf gesetzliche Akte weite Strecken der Staatstätigkeit einer pri-
vatrechtlichen, unter privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten arbeiten-
den Kontrolle. Die Staatstätigkeit löst sich in ein Bündel privatrechtli-
cher Beziehungen auf, wobei es jedem privaten Interessenten in die
Hand gegeben ist, seine Ansprüche nach dem Maßstab bürgerlich-
rechtlicher Bereicherungsgrundsätze geltend zu machen. In Wirklich-
keit führt diese Erweiterung des Enteignungsbegriffes im Endergebnis
zu einer Garantie des Status quo, des gegenwärtigen Bestandes an Pri-

des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts: Entscheidungssammlung des Sächsi-


schen Oberverwaltungsgerichts, Band 32, Stuttgart 1929, S. 206-217]; dagegen
ausführlich Pollwein in Leipz. Zschr. f. deutsches Recht, 1929, Nr. 17/18, S. 978 ff.
[Markus Pollwein: Steht eine entschädigungslose Aufhebung von Eigenjagden
durch Änderung der Jagdgesetze in Widerspruch mit Art. 153 der Reichsverfas-
sung?, in: Leipziger Zeitschrift für deutsches Recht, Jg. 23, Nr. 17/18, Berlin/
Leipzig/München 1929, Sp. 977-986.]
77 Siehe Wimpfheimer in: Juristische Wochenschrift, 58. Jahrg., Heft 8, S. 498
[Heinrich Wimpfheimer: Die Novelle zum Branntwein-Monopol-Gesetz. Ein
grundsätzlicher Beitrag zur Rechtsprechung des Reichsgerichts, in: Juristische
Wochenschrift, Jg. 58, Band 1, Heft 8, Leipzig 1929, S. 497-499]. Siehe auch die
Ausführungen Rudolf Goldscheids über Expropriierung und Repropriierung
des Staates in seinem Beitrag: »Staat, öffentlicher Haushalt und Gesellschaft« im
Handbuch der Finanzwissenschaft Bd. I.

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308 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

vateigentum gegenüber dem Staat, von der niemand wird behaupten


können, dass sie in der Reichsverfassung eine Stütze finde. Hätte die
Reichsverfassung jemals diese Auffassung vertreten, so wären manche
ihrer Bestimmungen heute unverständlich. Unerklärlich wäre das
Dasein des Artikels 156, mindestens die Einfügung »in sinngemäßer
Anwendung der für Enteignung geltenden Bestimmungen«, denn
unter einen solchen Enteignungsbegriff wäre die Sozialisierung an und
für sich schon gefallen; indem aber die Reichsverfassung sie erst aus-
drücklich für anwendbar erklärt, zeigt sie, dass sie diesen Enteignungs-
begriff nicht teilt. Auch ist nichts davon in der Verfassung zu finden,
dass die Verwirklichung des Artikels 151: Die Ordnung des Wirt-
schaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele
der Gewährung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen,
gerade unter Zuhilfenahme der Garantie des Status quo durchgeführt
werden sollte. Mindestens müssten die Anhänger der Garantieauffas-
sung den Beweis erbringen, dass ihre Methode dem Verfassungsziel
entgegenkommt. Ein solcher Versuch ist mir bisher nicht bekannt
geworden.78
Kurz muss hier auf die zweite Autorenreihe hingewiesen werden, die
auf entgegengesetztem Weg zu demselben Ergebnis kommt. Hier wird
der Begriff der Enteignung auf seinen wahren Umfang beschränkt und
nach dem ihm innewohnenden Sinne interpretiert. Es wird aber dann
nicht der Schluss aus Absatz 1 des Art. 153 gezogen, dass andere Eigen-
tumsbeschränkungen zulässig seien, sondern hier wird gerade gefol-
gert, dass alle anderen Eigentumsbeschränkungen ausgeschlossen sein
sollen.79 Dass bei dieser Konstruktion die Bedeutung des Absatzes 1
Satz 2 völlig verkannt wird, wurde oben schon ausgeführt. Er muss not-
wendigerweise in eine rein polizeirechtliche Beschränkung umgedeutet
und die Gesamtstellung des Absatzes 1 des Art. 153 in ihr Gegenteil
verkehrt werden. Immerhin ist interessant, dass die beiden Begrün-

78 Die gelegentlichen Bemerkungen Lutz Richters und Glums (Veröff. d. Ver.


deutsch. Staatsrechtslehrer, Heft 6, 1929, S. 82 f. und 146 [Friedrich Glums: Ver-
öffentlichung der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer, Heft 6, Berlin 1929])
betonen stark die Fragwürdigkeit der Bestimmung, wenn beide auch positiver
Sinngebung zugeneigt scheinen.
79 So [Alois] Zeiler in: »Die Rechtsgültigkeit der Aufwertungsgesetzgebung«,
Halle 1925; Krückmann in: »Enteignung und Einziehung nach alter und neuer
Reichsverfassung«, Leipzig 1925, und neuerdings in der in Fußnote 2 erwähnten
Schrift [Paul Krückmann: Enteignung, Einziehung, Kontrahierungszwang,
Änderung der Rechtseinrichtung, Rückwirkung und die Rechtsprechung des
Reichsgerichts, Berlin 1930]; sowie Mügel in seinem Kommentar zum Aufwer-
tungsgesetz, Einleitung [Oskar Mügel: Das gesamte Aufwertungsrecht, Berlin
1927].

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 309

dungsarten, die zum selben Ziel führen, sich juristisch gegenseitig auf-
heben.
Dass es sich hier nur um eine andere, allerdings wenig stichhaltige Art
der Begründung handelt, zeigt die neue Schrift Krückmanns. Hier wer-
den die vom Reichsgericht unter die Enteignungskategorie rubrizierten
Fälle fast ausnahmslos als »Einziehung (Konfiskation)« betrachtet.
Hierbei unterscheidet Krückmann eine erlaubte Einziehung und eine
unerlaubte Einziehung, die gegen Art. 153 Abs. 1 verstoßen soll.
Warum die gesetzliche Beseitigung von Monopolstellungen, die Schaf-
fung von Vorkaufsrechten und ähnliches eine Konfiskation darstellen
sollen, hat der Verfasser nicht ersichtlich gemacht. Ebenso wenig, wes-
halb in solchen Gesetzen ein Verstoß gegen Art. 153 Abs. 1 liegen soll.
Der rechtspolitische Zweck dieser neuen Unterscheidung ist allerdings
vollkommen klargelegt: Es soll durch diese Terminologie die Gefahr
vermieden werden, dass der Reichsgesetzgeber die richterliche Anwen-
dung der Enteignungskategorie durch ausdrücklichen gesetzlichen
Ausschluss der Entschädigung unschädlich macht. Der Ausdruck Kon-
fiskation, den der Verfasser hier ebenso verwendet wie Bredt80, ent-
behrt jedoch jeder juristischen Berechtigung. Einziehung bedeutet in
unserer heutigen Gesetzessprache nur eine auf Grund strafrechtlicher
und strafprozessualer Normen vom Richter ausgesprochene Weg-
nahme.
Zusammenfassend ist hier zu sagen: Die Weimarer Verfassung behält
das Rechtsinstitut der Enteignung bei, so wie es aus dem 19. Jahrhun-
dert übernommen wurde. Eine Erweiterung dieses Rechtsinstituts ist
nicht eingetreten, konnte nicht eintreten, da die Enteignung ihrem gan-
zen Aufbau nach gar nicht erweiterungsfähig ist. Es besaß früher eine
über seine technische Ausgestaltung hinausgehende, gerade in seiner
Ausnahmestellung liegende Bedeutung als Garant der bürgerlichen
Eigentumsordnung. Da die Weimarer Verfassung nur das Rechtsinsti-
tut des Eigentums beibehält, die bürgerliche Eigentumsordnung als
Ganzes nicht mehr garantiert, besitzt auch der Art. 153 Abs. 2 diese
Garantiefunktion nicht mehr. Art. 153 Abs. 1 hält das Eigentum auf-
recht, setzt aber der Einwirkung des Staates als Maximalgrenze nur die
Forderung entgegen, dass eine Rechtseinrichtung übrigbleiben müsse,
die den Namen Eigentum verdient; über deren Umfang sagt er nichts
aus. Deshalb ist die Beziehung Eigentümer – Staat eine grundsätzlich

80 Preußische Jahrbücher, Bd. 218, H. 3, S. 283/84. [Johann Viktor Bredt: Revision


der Reichsverfassung, in: Preußische Jahrbücher, Band 218, Heft 3, Berlin 1929,
S. 273-289.]

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310 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

andere als die Beziehung Eigentümer – Dritter. Aus diesem Grunde


wäre es auch verfehlt, aus den Wandlungen des Eigentumsbegriffs im
Gefolge der kapitalistischen Wirtschaftsordnung81 Schlüsse zu ziehen
auf einen größeren Schutzanspruch des Eigentums gegenüber staatli-
chen Eingriffen. Ein solcher ist nur vorhanden, falls es sich um eine
Enteignung im herkömmlichen, seit dem Napoleonischen Gesetz von
1807 darunter verstandenen Sinne handelt. Dabei und nur dabei ist
auch die Wandlung des Eigentumsbegriffes zu berücksichtigen.

IV. Die Enteignungsrechtsprechung des Reichsgerichts

Auf die heutige Entwicklung des Enteignungsbegriffes ist die Recht-


sprechung des Reichsgerichts von entscheidendem Einfluss gewesen.
Die ordentlichen Gerichte und damit in letzter Instanz das Reichsge-
richt sind, falls das Vorliegen einer Enteignung behauptet wird, unter

81 Die These von Reise in der Hamburger Dissertation: Die Enteignung von Rech-
ten, 1929 [Hans Reise: Die Enteignung von Rechten nach preußischem, hambur-
gischem und Reichsrecht, Hamburg 1929], über die Ausdehnung des Eigen-
tumsschutzes ist, soweit sie sich auf die möglichen Objekte der Enteignung
bezieht, richtig, ja auch ziemlich anerkannt, übrigens auch schon von Lassalle.
Dieses durch wirtschaftliche Strukturwandlungen bedingte Maß höheren Eigen-
tumsschutzes wird aber dort problematisch, wo es sich um mittelbare Einwir-
kungen der Staatsgewalt handelt. Deshalb hilft die von Morstein-Marx in der
Besprechung der Diss. von Reise (AöR. 18, 276 [Fritz Morstein Marx: Hans
Reise, Die Enteignung von Rechten nach preußischem, hamburgischem und
Reichsrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 18, Tübingen 1930])
gemachte Feststellung, dass das Prinzip der Enteignung gegen Entschädigung
weder unbedingt kollektivistisch noch ureigenst individualistisch, sondern viel-
mehr ein reines Gerechtigkeitsprinzip sei, nicht weiter. Sie ist bei der hier vertre-
tenen strengen Begrenzung des Enteignungsbegriffes unanfechtbar, aber nur bei
ihr; nicht bei einer so skeptischen Auffassung wie der von Morstein-Marx, der
diesen Fragenkomplex nicht aus dem Gesamtzusammenhang des Weimarer
Verfassungssystems heraus behandelt, sondern sich zugestandenermaßen von
augenblicklichen verfassungspolitischen Tendenzen treiben lässt. Die weiterge-
hende amerikanische Rechtsprechung (John R. Commons, Legal Foundations of
Capitalism, New York 1924) kommt für Deutschland nicht in Betracht. Über die
Wandlungen des Eigentumsbegriffs in der höchstrichterlichen Rechtsprechung
der U.S.A. jetzt auch John R. Commons: Das angloamerikanische Recht und die
Wirtschaftstheorie, in: Wirtschaftstheorie der Gegenwart Bd. III, [John R. Com-
mons: Das angloamerikanische Recht und die Wirtschaftstheorie, in: Hans
Mayer (Hg.): Wirtschaftstheorie der Gegenwart, Band III, Wien 1928] und Her-
mann Kröner: John R. Commons[: seine wirtschaftstheoretische Grundauffas-
sung und ihre Bedeutung für die sozialrechtliche Schule in Amerika], Jena 1930;
Vögelin in: Archiv f. angew. Soziologie II Heft 4 [Eric Voegelin: Die Amerikani-
sche Theorie vom Eigentum, in: Archiv für angewandte Soziologie, Jg. II, Heft 4,
Berlin 1930]; [Karl] Diehl, Die rechtlichen Grundlagen des Kapitalismus, Jena
1929.

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 311

zwei Gesichtspunkten zuständig: einmal falls die angebliche Enteig-


nung in einer landesgesetzlichen Bestimmung enthalten ist, weil ja der
Artikel 153 der Reichsverfassung den Ausschluss der Enteignungsent-
schädigung nur Reichsgesetzen vorbehält, und zum anderen falls ein
Enteignungsakt durch reichsgesetzliche Bestimmung behauptet wird,
unter der Voraussetzung, dass der Ausschluss einer Enteignungsent-
schädigung nicht ausgesprochen ist. Von einer konstanten Rechtspre-
chung des Reichsgerichts kann nicht gesprochen werden. Obwohl die
meisten reichsgerichtlichen Entscheidungen zu einer sehr extensiven
Interpretation des Enteignungsbegriffes gelangen, sind doch anderer-
seits bis in die letzte Zeit hinein Entscheidungen ergangen, die von der
richtigen Erkenntnis ausgehen, dass die Enteignung von der Reichsver-
fassung als technisch vorhandener Begriff vorausgesetzt wird.82 Über
die Fragen, ob der Ausschluss der Enteignungsentschädigung durch
ausdrückliche Bestimmung erfolgen muss oder ob dieser Ausschluss
als unausgesprochene logische Konsequenz aus anderen Bestimmun-
gen entnommen werden kann, ist ebenfalls eine einheitliche reichsge-
richtliche Rechtsprechung83 nicht vorhanden. Immerhin lässt sich die
Regel aufstellen, die durch vereinzelte Ausnahmen nur bestätigt wird,
dass die Rechtsprechung des Reichsgerichts seit dem 102. Bande die
sich mehr und mehr verstärkende Tendenz aufzeigt, den konkreten
Enteignungsbegriff aufzulösen und in das Gebiet der Enteignung ent-
eignungsähnliche Prozesse und Eingriffe, Entziehungen jeder Art von
Privatrechten einzubeziehen. In diesem Prozess werden dann jeweils
die von der Literatur aufgestellten Erweiterungsmerkmale herangezo-
gen und verwertet, und damit der Tendenz, allen privaten Rechten
einen möglichst weit ausgedehnten Schutz zu gewährleisten, zum
Durchbruch zu verhelfen. Dabei fällt besonders ins Auge, dass jedem
gesetzlichen Eingriff in private Rechte zunächst ruhig einmal die von
Partei wegen vorgebrachte Bezeichnung als Enteignung belassen wird,
um dann erst zu untersuchen, ob nicht gesetzliche Bestimmungen vor-

82 Siehe RGZ 107, S. 269 und 118, S. 26.


83 In Reichsgericht [RGZ] Bd. 102, S. 162, wird bei der Rechtsungültigkeitserklä-
rung der Bremer Wohnungsmängelverordnung ausdrücklich gesagt: »Der
Wortlaut des Art. 153 sowie die Bedeutung der Verfassungsbestimmungen, ins-
besondere der Grundrechte, die doch als Heiligtum des deutschen Volkes
gedacht sind, weisen auf die Notwendigkeit hin, daß die Rechtsnorm, die eine
Ausnahme schafft, sich deutlich dazu bekennt.« Bei der Frage der Rechtsgültig-
keit der Verordnung betreffend Vergütung für die an Abdeckereien abzuliefern-
den Tiere und so weiter vom 4. Mai 1920 (RGBl., S. 891) hat das Reichsgericht
sich auf den Standpunkt gestellt, dass die entschädigungslose Aufhebung eines
Privilegs schon dadurch ausgesprochen ist, dass den bisherigen Privilegberech-
tigten nunmehr eine Vergütungspflicht auferlegt wird.

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312 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

liegen, die den Ausschluss einer Entschädigung haltbar erscheinen las-


sen. Diese Verfahrensmaxime ist natürlich geeignet, jeden klaren Unter-
schied zu verwischen und dem Enteignungsbegriff jede Präzision zu
nehmen. Bei der Frage der Rechtsgültigkeit der dritten Steuernotver-
ordnung und später des Aufwertungsgesetzes84 hat das Reichsgericht
gegenüber dem Vorbringen, dass hier eine Entziehung wohlbegründe-
ter Rechte vorliege, sich richtig auf den Standpunkt gestellt, dass »es
sich nicht um eine Entziehung wohlbegründeter Rechte, sondern um
eine Festsetzung und Begrenzung des Inhalts der durch die Geldent-
wertung und den Wirtschaftsverfall in ihren Grundlagen völlig
erschütterten Rechtsverhältnisse im Sinne des Art. 153 Abs. 1 Satz 2 RV.
gehandelt hat«. Leider hat das Reichsgericht diese Stellungnahme nicht
zu seinem Leitprinzip erhoben; denn sonst hätte es dazu kommen müs-
sen, dass mindestens alle generellen Regelungen, die Eingriffe in Pri-
vatrechte enthalten, immer nur vom Gesetzgeber für notwendig erach-
tete Festsetzungen von Rechtsverhältnissen sind, bei denen es dahinge-
stellt bleiben kann, ob der Ausgangspunkt des Gesetzgebers richtigen
Erwägungen entsprach, sofern er nur damit im Rahmen vernünftiger
staatlicher Zielsetzungen bleibt.
In der Folge werden hier drei Entscheidungen besprochen. Das Gebiet
der sogenannten Fürstenenteignung, welches im Übrigen nach den hier
besprochenen Rechtsgrundsätzen weder als Enteignung noch als verbo-
tene Einziehung anzusehen ist, bleibt unberücksichtigt. Der erste Fall
behandelt die Frage, ob die Verordnung des Reichspräsidenten über die
Ablieferung ausländischer Vermögensgegenstände vom 25. August
1923 (RGBl. I, S. 833) eine Enteignung enthält.85 Dort ist bestimmt, dass
diejenigen Rechtspersönlichkeiten, die im Besitz gewisser ausländischer
Zahlungsmittel und Wertpapiere sind, davon eine bestimmte Anzahl
abzuliefern haben, wofür sie als Gegenleistung Goldanleihe, Reichs-
mark oder Gutschrift auf wertbeständiges Steuerkonto erhielten. Das
Reichsgericht sieht in der Tatsache, dass hier nicht allen Staatsangehöri-
gen eine gleichmäßige Ablieferungspflicht allgemein auferlegt, sondern
nur die Ablieferung gewisser einzeln bezeichneter Wertgegenstände
verfügt wird, eine starke begriffliche Anlehnung an die Enteignung,

84 RGZ Bd. 107, S. 375, und 111, S. 325. Zwischen Neuregelung und gesetzlichem
Einzeleingriff unterscheidet die Entscheidung über die Rechtsgültigkeit des
Reichsgesetzes betreffend die Aussetzung von Rechtsstreitigkeiten über ältere
staatliche Renten vom 6. 7. 29, RGBl. I, 131 in RGZ Bd. 128, 171.
85 RGZ Bd. 110, S. 344.

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 313

woraus sich die Anwendung des Art. 153 Abs. 2 rechtfertige.86 Selbst
wenn man die falsche Ansicht vertreten würde, dass individuelle Akte
des Gesetzgebers unter die Enteignungskategorie fallen müssten, so ist
doch unerfindlich, wo hier ein solcher individueller Akt liegen soll.87
Denn die Einschränkung ergibt sich doch zwingend aus dem Tatbe-
stand selbst; der Staat konnte zu dem finanzpolitisch notwendigen
Zweck der Anlegung eines Devisenvorrats nur bestimmte Devisen
hochvalutarischer Länder brauchen; soweit er diese brauchte, ist eine
generelle Ablieferungspflicht verfügt. Dass der Kreis der hiervon
Betroffenen ein begrenzter war, ändert am generellen Charakter der
Verordnung nichts.88
Der zweite Fall betrifft die oben bereits behandelte Erweiterung der
juristischen zur wirtschaftlichen Überführung. Für die allein in Betracht
kommende Enteignungsfrage handelt es sich um folgendes: Gemäß
§ 199 des Anhaltischen Berggesetzes vom 20. April 1906 werden vom

86 Ausdrückliche Billigung solcher Analogieschlüsse im Gutachten Triepels zum


deutsch-polnischen Liquidationsabkommen, S. 39. [Heinrich Triepel, Erich
Kaufmann, Walter Simons: Rechtsgutachten über den verfassungsändernden
Charakter des deutsch-polnischen Liquidationsabkommens, Berlin 1929.]
87 Nur wenn man Enteignung = Einzeleingriff so »erfreulich unpedantisch« aus-
legt, wie dies Ascher in JW 1930, S. 1958 [Bernhard Ascher: Kommentar B zu
Rechtsprechung 19., in: Juristische Wochenschrift, Jg. 59, Band 2, Heft 25,
S. 1957-1960], dem RGZ konzediert, kann man eine solche Rechtsprechung billi-
gen.
88 Dies ist auch der Standpunkt von Anschütz in seinem Gutachten zum deutsch-
polnischen Liquidationsabkommen. Er verneint deshalb mit Schmitt gegen
Kaufmann, Triepel und Simons, dass das Abkommen Enteignungscharakter
habe. [Gerhard Anschütz, Carl Schmitt: Rechtsgutachten, betreffend den Ent-
wurf eines Gesetzes über die Abkommen zur Regelung von Fragen des Teils X
des Vertrages von Versailles, Berlin 1930; Heinrich Triepel, Erich Kaufmann,
Walter Simons: Rechtsgutachten über den verfassungsändernden Charakter des
deutsch-polnischen Liquidationsabkommens, Berlin 1929.] Dass der generelle
Charakter der Eigentumsbeschränkung nicht dadurch geändert wird, dass der
Umkreis der Betroffenen durch die dem Eingriff immanente Richtung und
Zwecksetzung begrenzt wird, verkennt Schelcher, a. a. O. [ Walter Schelcher:
Gesetzliche Eigentumsbeschränkung und Enteignung, in: Archiv des öffentli-
chen Rechts, N. F. 18, Tübingen 1930, S. 321-378], S. 370 f.; ebenso anscheinend
die S. 369 angeführte Entscheidung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts
vom 15. 2. 29. Zu welcher Willkür diese Verkennung führt, zeigen die Ausfüh-
rungen Schelchers auf S. 378; während der Enteignungscharakter für die nach-
barrechtliche Duldungspflicht gegenüber Eisenbahnemissionen — richtiger-
weise — verneint wird, bleibt völlig unerfindlich, warum das Anbringen von
Rosetten nicht in dieselbe Kategorie gehört und alle Untertanen in bestimmter
Rechtslage betrifft. Die von Schelcher S. 350 vorgenommenen Definitionen für
öffentlich-rechtliche Eigentumsbeschränkung und Enteignung sind schon des-
halb unannehmbar, weil die in gleicher Rechtslage befindlichen Eigentümer der
Definition 1 für Eigentumsbeschränkung mit dem sachlich begrenzten Kreis
von Personen der Definition 2 für Enteignung identisch sind.

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314 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

Staat an Bergwerksabgaben erhoben: 1. eine Rohertragssteuer an den


Staat von allen vom Verfügungsrecht des Grundeigentümers ausge-
schlossenen Mineralien, wozu auch Braunkohle gehört, 2. eine Gruben-
feldabgabe an den Staat von jedem Grubenfeld, 3. eine Kohlenrente von
den Braunkohlengruben an den Grundeigentümer. Die Rohertrags-
steuer betrug 2%, die an den Grundeigentümer zu zahlende Kohlen-
rente 6% des Erlöses beziehungsweise des Wertes der Braunkohle zur
Zeit ihres Absatzes. Durch Gesetz vom 27. März 1920 trat eine Ände-
rung dahin ein, dass die Entschädigungsrente an den Grundeigentü-
mer nur noch von den Braunkohlengruben zu zahlen war, bei denen
die Förderung vor dem 1. April 1920 begonnen hatte, und zwar nur
noch in Höhe von 6% des den Betrag von 25 Pfennig je Hektoliter nicht
übersteigenden Erlöses. An den Staat war von den Braunkohlengruben,
bei denen die Förderung vor dem 1. April 1920 begonnen hatte, außer
der Rohertragssteuer von 2% weiter eine solche in Höhe von 6% des
den Betrag von 25 Pfennig je Hektoliter übersteigenden Erlöses zu zah-
len; von den Braunkohlengruben, in denen die Förderung nach dem
1. April 1920 begonnen hatte, waren nicht 2%, sondern 8% Rohertrags-
steuer zu zahlen. Hier lag offen zutage, dass der gesetzgeberische
Schwerpunkt der Regelung in der Steuermaßnahme lag und dass die
Minderung der an den Grundstückseigentümer abzuführenden Rente
dazu dienen sollte, den Bergbautreibenden steuerlich leistungsfähiger
zu machen. Das Reichsgericht hat angenommen, dass hier eine Enteig-
nung des Grundeigentümers zugunsten des Bergwerkbesitzers tatsäch-
lich stattgefunden habe.89 Eine Überführung kommt hier aber aus zwei
Gründen gar nicht in Betracht. Wenn man auch anerkennt, dass eine
Enteignung von Rechten möglich ist, so muss doch ein juristisch deutli-
cher Übertragungsprozess vorliegen; dies ist hier nicht der Fall. Durch
die Steuerermäßigung gegenüber dem Grundbesitzer hat der Berg-
werksbesitzer keine neuen Rechte gewonnen; selbst wenn man den
Begriff der Überführung fälschlicherweise rein wirtschaftlich auffasst,
liegt gerade hier eine solche Überführung gar nicht vor; der Bergwerks-
besitzer bedeutet ja für die Methoden der Steuererhebung nur eine
technische Durchgangsstation, und die Ermäßigung der Rente soll ihm
nach dem Willen des Gesetzgebers gar nicht zugutekommen. Interes-
sant ist in den reichsgerichtlichen Ausführungen weiterhin, dass hier
sogar so weit gegangen wird, festzustellen, dass im Jahre 1856 bereits
eine Enteignung stattgefunden habe, weil damals eine 1849 bei Aufhe-
bung des Bergregals gewährte Rente von 10% des Nettoertrags entschä-
digungslos beseitigt wurde. So entdeckt das Reichsgericht, dass nicht

89 RGZ Bd. 109, S. 310 ff.

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 315

nur unsere heutigen Gesetze nicht in Ordnung sind, sondern sogar die
Gesetze des letzten, des bürgerlichen Jahrhunderts den geheiligten
Grundsätzen des Privateigentums nicht immer entsprochen haben.90
In der Öffentlichkeit sehr viel Unruhe hat eine Entscheidung hervorge-
rufen, die sich mit folgendem Tatbestand befasst: Die Hamburger

90 Gegen diese Enteignungsentdeckungsfahrten in frühere Jahrhunderte sehr


scharf Carl Schmitt im oben zitierten unveröffentlichten Gutachten S. 9 [Gerhard
Anschütz, Carl Schmitt: Rechtsgutachten, betreffend den Entwurf eines Gesetzes
über die Abkommen zur Regelung von Fragen des Teils X des Vertrages von
Versailles, Berlin 1930]. Eine zugleich deutliche und erfreuliche Abkehr von der
herrschenden Begriffsvermengung bietet das Urteil des Staatsgerichtshofs in
RGZ Bd. 124, Anhang S. 32 ff., über die Rechtsgültigkeit der preuß. Notverord-
nung vom 10. Oktober 1927 über einen erweiterten Staatsvorbehalt zur Aufsu-
chung und Gewinnung von Steinkohle und Erdöl. Diese Notverordnung ent-
hielt eine notwendig gewordene Erweiterung der lex Gamp von 1907, indem sie
bestimmte, dass in der Provinz Brandenburg und im Gebiet der Stadtgemeinde
Berlin die Aufsuchung und Gewinnung von Steinkohle dem Staat zustehe und
dass diese Bestimmung auch auf diejenigen Teile der Provinz Sachsen und Nie-
derschlesien Anwendung finde, in welchen die Steinkohle bisher dem Verfü-
gungsrecht des Grundeigentümers unterlag. Nach Art. 3 dieser Verordnung soll
die Entschädigung für jeden Grundstückseigentümer regelmäßig in einem
Bruchteil des Erlöses oder Wertes der aus dem Grundstück gewonnenen Stoffe
festgesetzt werden. Der preußische Staatsrat bestritt die Rechtsgültigkeit dieser
Notverordnung neben anderen staatsrechtlichen Argumenten mit dem Hinweis
darauf, dass hier eine Enteignung ohne Zubilligung angemessener Entschädi-
gung vorliege. Der Staatsgerichtshof hat diese Argumentation ausdrücklich
abgelehnt, mit dem Bemerken, dass zwar zugegeben werde, dass das Recht des
Grundeigentümers durch die Entziehung jener Berechtigung gemindert werde;
dies bedeute aber keine Enteignung, sondern eine Neuregelung des Gesetzge-
bers über Inhalt und Schranken des Grundeigentums. Den Inhalt und die
Schranken des Eigentums allgemein zu regeln, die zulässigen Rechte an Grund-
stücken und die Voraussetzungen ihrer Entstehung allgemein zu bestimmen,
muss dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben, ohne dass er dabei durch eine
Pflicht zur Entschädigung gehindert werden kann. Dieses Recht ist ihm in
Art. 153 RV. ausdrücklich Vorbehalten. Ausdrücklich ist noch hinzugefügt, »daß
aber die Reichsgesetzgebung verfassungsmäßig befugt wäre, den Inhalt des Pri-
vateigentums durch allgemeine grundsätzliche Abzweigungen wichtiger Befug-
nisse ohne Entschädigung weitgehend herabzumindern, wird sich wohl nicht
bestreiten lassen«. Die entgegengesetzte Ansicht des Gutachters in diesem Pro-
zesse, des OLG.-Präsidenten Mayer, Celle, die dieser in JW 27, S. 2976 [Otto
Mayer: Die Entschädigungsfrage nach der Notverordnung über Steinkohle und
Erdöl für Berlin und Brandenburg, in: Juristische Wochenschrift, Jg. 56, Band 3,
Heft 51, Leipzig 1927, S. 2977], veröffentlichte, ist damit abgelehnt; ebenso Schel-
cher, a. a. O., S. 363 f. [Walter Schelcher: Gesetzliche Eigentumsbeschränkung
und Enteignung, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 18, Tübingen 1930,
S. 321-378] – Vollkommen konform mit der erfreulich klaren Entscheidung des
Staatsgerichtshofs ist das Urteil des 3. Senats, RGZ 127, 280 f., wo erstaunlicher-
weise auf einmal wieder der Enteignungsbegriff auf den Verwaltungsakt auf
Grund eines Gesetzes beschränkt wird. Wo bleibt die Entscheidung der verei-
nigten Zivilsenate? Ihre Notwendigkeit erkennt auch der VII. Senat im Prinzip
an (RGZ Bd. 128, S. 172).

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316 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

Denkmalschutzbehörde verbot dem Eigentümer einer bei Cuxhaven


gelegenen Sandgrube, die ebenso wie der angrenzende Galgenberg in
die Hamburger Denkmalliste eingetragen ist, die Ausschachtung dieser
Grube. Der Entschädigungsklage des Eigentümers ist vom Hanseati-
schen Oberlandesgericht und vom Reichsgericht stattgegeben worden.
Das Reichsgericht hat hier den Satz aufgestellt, dass eine Enteignung
im Sinne des Artikels 153 Absatz 2 schon dann anzunehmen sei, wenn
das Recht des Eigentümers, mit seiner Sache gemäß § 903 BGB. nach
Belieben zu verfahren, zugunsten eines Dritten beeinträchtigt werde,
und hat infolgedessen, da das Vorliegen einer solchen Beeinträchtigung
erwiesen sei, der Klage des Eigentümers gegen den Hamburgischen
Staat stattgegeben. In dieser Entscheidung wird der Begriff der Enteig-
nung auf den der öffentlich-rechtlichen Beschränkung zurückgeführt,
ohne dass er als selbständiger verwaltungsrechtlicher Tatbestand
bestimmte konkrete Merkmale beibehalten hätte. Es ist bei der Kritik
jener Entscheidung schon darauf hingewiesen worden,91 dass hier von
einer Überführung nicht einmal im entferntesten und vagesten Sinn der
neueren Lehre die Rede sein kann. Denn es ist gerade der hervorste-
chendste Charakter der öffentlich-rechtlichen Beschränkung, dass im
Allgemeininteresse Privateigentum beschränkt wird, ohne dass doch
bestimmte konkrete nutzbare Rechte auf den Sachwalter der Öffentlich-
keit übertragen werden. Zugunsten der Allgemeinheit werden hier
Beschränkungen vorgenommen, die dieser Allgemeinheit restlos zugu-
tekommen, was aber auf der anderen Seite gerade dazu führt, dass nie-
mandem ein errechenbarer Wert zugeführt wird. Aus diesen Gründen
kann auch der Auffassung Söllings,92 dass zwar nicht aus den Gründen
der Reichsgerichtsentscheidung, aber deshalb eine Enteignung als vor-
liegend zu erachten sei, weil hier der Eingriff sich als so weitreichend
darstelle, dass die in Artikel 153 Absatz 1 Satz 2 enthaltene Begriffsbe-
stimmung der Enteignung erfüllt sei, nicht zugestimmt werden. Sölling
meint, eine solche Enteignung liege dann vor, wenn, wie in diesem
Falle der schrankenlose Eingriff das Eigentum inhaltsleer (im wirt-
schaftlichen Sinn) gemacht habe. Abgesehen davon, dass in Absatz 1
des Artikels 153 keine Definition der Enteignung aufgestellt ist, wird
hier unzulässigerweise der rein juristische Begriff der Enteignung
durch eine metajuristische Terminologie erweitert. Nach der Auffas-

91 Hensel im Arch f. öff. R. N. F. 14, S. 23. [Albert Hensel: Art. 150 der Weimarer
Verfassung und seine Auswirkungen im preußischen Recht, in: Archiv des
öffentlichen Rechts, N. F. 14, Tübingen 1928, S. 321.]
92 In Juristische Rundschau 1928, Nr. 3, S. 40 ff. [Kurt Sölling: Eigentumsbeschrän-
kung und Enteignung nach der Reichsverfassung, in: Juristische Rundschau,
Band 1928, Heft 3, Berlin 1928, S. 40-44.]

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 317

sung des Verfassers müsste jede staatliche Monopolerrichtung, die eine


bisherige private Machtstellung unterhöhlt, als Enteignung anzusehen
sein. Dies würde schon deshalb zu unhaltbaren Konsequenzen führen,
weil bei dieser angeblich wirtschaftlichen (lies: privatwirtschaftlichen)
Betrachtungsweise auch der Unterschied zwischen unmittelbarem
gesetzlichen Eingriff und reiner Tatbestandswirkung (Reflex) eines
staatlichen Aktes jeden Sinn verlieren würde und daraus sehr leicht die
Folgerung gezogen und dementsprechend die Forderung an den
Gesetzgeber gestellt werden könnte, Billigkeitsentschädigungen im
weitesten Maße immer dann zu gewähren, wenn private Interessenten
indirekte Schädigungen durch staatliche Maßnahmen behaupten. Im
Übrigen kann auch die von Walter Jellinek neuerdings in seinem dem
Deutschen Städtetag erstatteten Gutachten über die Entschädigung für
baurechtliche Eigentumsbeschränkungen93 aufgestellte Schutzwürdig-
keitstheorie nicht als adäquate Interpretation des Art. 153 der RV ange-
sehen werden. Wer den Unterschied von entschädigungspflichtiger
Enteignung und entschädigungsloser öffentlich-rechtlicher Beschrän-
kung an dem Maßstab der Stärke und Intensität der Eigentumsbe-
schränkung bestimmt, vergisst, dass für den Maßstab der Schutzwür-
digkeit des Eigentums, für die Frage, wieweit man in der Skala entschä-
digungsloser Eingriffe gehen darf, nur die vom Gesetzgeber verfolgten
Zwecke maßgebend sind. Jede Schutzwürdigkeitstheorie nimmt etwas
zur Voraussetzung, was die Reichsverfassung nicht voraussetzt. Sie
lässt jedem konkreten Eigentum einen gewissen Wertkern94 immanent
sein, dessen Bestand ein Apriori für den zukünftigen Gesetzgeber bil-
det. Dies ist aber insofern falsch, als die Relation zwischen Eigentum
und Eingriff durch jedes Gesetz aufs Neue festgestellt wird und der
Gesetzgeber bei jedem Eingriff, je nach dem konkreten Fall und Bedürf-
nis den Rangvorzug bestimmt. Jellinek teilt trotz der größeren Beweg-
lichkeit seiner Konstruktion den weitverbreiteten Irrtum, dass die Ver-

93 Entschädigungen für baurechtliche Eigentumsbeschränkungen, Berlin 1929. Mit


ausführlicher Begründung wird die Schutzwürdigkeitstheorie abgelehnt bei
Schelcher, a. a. O., S. 340 f. [Walter Schelcher: Gesetzliche Eigentumsbeschrän-
kung und Enteignung, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 18, Tübingen
1930, S. 321-378.]
94 So ausdrücklich W. Jellinek in dem Gutachten zum Deutschen Juristentag (Ver-
handlungen des 36. Deutschen Juristentags Bd. I, Lieferung 2, S. 318). [Walter
Jellinek: Empfiehlt es sich, die dem Artikel 153 der Reichsverfassung zugrunde
liegende Unterscheidung zwischen dem Begriff der ohne Entschädigung zuläs-
sigen Eigentumsbeschränkung und der zur Entschädigung des Betroffenen ver-
pflichtenden Enteignung durch ein Reichsgesetz zu klären und für die Rechts-
anwendung maßgebend zu stellen?, in: Verhandlungen des sechsunddreißigs-
ten Deutschen Juristentags, Band I, Lieferung 2, Berlin/Leipzig 1931, S. 292-320.]

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318 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

fassung eine bestimmte Wertung des Eigentums mitbringe, welche bei


Gelegenheit jedes neuen Eingriffs ihren Ausdruck und ihre Bestätigung
zu finden habe. Er übersieht dabei, dass die Weimarer Verfassung bei
der herkömmlichen Fassung des Enteignungsbegriffs verbleibt und
Schutz nur gegen den reinen Verwaltungsakt gewährt, im Übrigen aber
staatlichen Zielsetzungen auch dann freien Raum lässt, wenn sie nicht
nur von einer sozial gebundenen Eigentumsauffassung ausgehen, son-
dern von einer sozialen Auffassung aus, die die der freien Eigentümer-
willkür vorbehaltene Sphäre noch weitergehend beschränkt.95
Auf die Folgerungen, die sich aus herrschender Lehre und Rechtspre-
chung ergeben, ist gerade anlässlich des Hamburger Denkmalfalls ver-
schiedentlich hingewiesen worden. Im Gebiet der öffentlich-rechtlichen
Beschränkung wurde insbesondere die Verfassungsmäßigkeit des preu-
ßischen Entwurfs zu einem Städtebaugesetz von den verschiedensten
Seiten bezweifelt. Gegen die dort vorgesehenen Flächenaufteilungs-
pläne und die damit verbundenen Baubeschränkungen wendet sich der
preußische Staatsrat in seinem Gutachten zu diesem Entwurf.96 Bei der
ausführlichen Behandlung, die dieser reine Fall einer öffentlich-rechtli-
chen Beschränkung in der Begründung des Gesetzentwurfs selbst und
in dem im Ergebnis richtigen Jellinek’schen Gutachten gefunden hat,
soll hier nur auf einen Einwand des Staatsrats hingewiesen werden. Es
wird behauptet, die Eigentümer von Nutzgrünflächen und von Freiflä-
chen würden, falls sie gezwungen würden, auf zukünftige Bebauungs-
möglichkeiten zu verzichten, hierdurch zu besonderen Opfern genötigt
und müssten dafür nach Maßgabe des § 75 der Einleitung zum Allge-
meinen Landrecht entschädigt werden. Diese Begründung geht in dop-
pelter Hinsicht fehl. Zunächst liegt kein besonderes Opfer im Sinne des
§ 75 vor, da von dieser Maßregel alle diejenigen Eigentümer erfasst
werden, die nach dem Flächenaufteilungsplan in Betracht kommen.
Weiterhin bezieht sich die Vorschrift des § 75 Einleitung zum Allgemei-
nen Landrecht, welche übrigens gar kein Verfassungsgrundsatz ist und
deshalb durch einfaches preußisches Gesetz abgeändert werden kann,

95 Es muss hier noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass die
aus deutschrechtlichen Gesichtspunkten (Gierke) vertretene Auffassung von der
Sozialpflichtigkeit des Eigentums, die auch Jellinek wieder aufnimmt, durchaus
im Bereich des Individualismus verbleibt und ihm nur diejenigen Schranken
setzt, die eine auf individualistischer Grundlage aufgebaute Gesellschaftsord-
nung verlangt.
96 Siehe Drucksache Nr. 3015 des preuß. Landtags, 3. Wahlperiode I. Tagung 28/29,
und dazu Rieß in Staats- und Selbstverwaltung, 8. Jahrg., Nr. 20, S. 475. [Dr.
Rieß: Entschädigung für Baubeschränkungen, in: Staats- und Selbstverwaltung,
Jg. 8, Nr. 20, Berlin 1927/28.]

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 319

nur auf verwaltungsmäßig, nicht auf gesetzlich auferlegte Opfer. Sollte


dies aber nicht aus dieser Bestimmung hervorgehen, so ergibt es sich
jedenfalls aus der Kabinettsorder vom 4. Dezember 1831;97 dort heißt
es: »Allein so wenig der Souverän in Ausübung seiner Hoheitsrechte
selbst von der Einwirkung irgendeiner Gerichtsbarkeit abhängt, so
wenig hat derselbe die Folgen dieses Gebrauchs seiner Rechte im
gerichtlichen Verfahren zu verantworten.« Dort wird ausdrücklich
davor gewarnt, diese Stelle des Allgemeinen Landrechts so auszulegen,
als ob der Landesherr verpflichtet wäre, diejenigen zu entschädigen,
deren Privatinteressen durch die Ausübung der Hoheitsrechte gefähr-
det würden. Inzwischen hat sich das Reichsgericht die vom preußi-
schen Staatsrat geäußerten Bedenken restlos zu Eigen gemacht. In sei-
ner am 28. Februar dieses Jahres ergangenen Entscheidung98 über die
Rechtsungültigkeit des § 13 des preußischen Fluchtliniengesetzes fin-
den sich die Merkmale, die für die Ausweitung der Enteignungskatego-
rie bezeichnend sind, alle wieder. Viel klarer als in den bisherigen
Urteilen zeigt sich hier anhand des reichsgerichtlichen Versuchs einen
vom Gesetzgeber ausdrücklich geleugneten Unterschied zwischen dem
Wesen der Beschränkungen in § 12 und denen in § 13 dieses Gesetzes
zu machen, die Unmöglichkeit eine Grenzlinie zwischen diesem ent-
werteten Enteignungsbegriff und der öffentlich-rechtlichen Beschrän-
kung überhaupt zu erkennen. Am deutlichsten zeigen sich die Konse-
quenzen dieser ungeheuer schwerwiegenden Entwicklung in einem

97 Vergleiche dazu Anschütz im Verw.-Archiv Bd. V, S. 12. [Gerhard Anschütz: Der


Ersatzanspruch aus Vermögensschädigung durch rechtmäßige Handhabung der
Staatsgewalt – Drei öffentlich-rechtliche Studien, in: Verwaltungsarchiv, Band V,
Köln 1897, S. 1-136.]
98 Die Entscheidung, die von ungeheurer praktischer Tragweite für die Städte ist,
ist abgedruckt in JW 1930, S. 1955 f. [Rechtsprechung 5. Rechte und Pflichten des
Straßenanliegers, in: Juristische Wochenschrift, Jg. 59, Band 2, Heft 25, Leipzig
1939, S. 1955-1096,] ausführlicher besprochen hat der Verfasser diese Entschei-
dung in einem Aufsatz in der Zeitschrift »Die Justiz«, Juni 1930 [Otto Kirchhei-
mer: Reichsgericht und Enteignung. Reichsverfassungswidrigkeit des Preußi-
schen Fluchtliniengesetzes?, in: Die Justiz, Band 5, Heft 9, Berlin 1930,
S. 553-565]. Wenn diese Entscheidung teilweise deshalb so viel Beifall gefunden
hat (vergleiche Rieß, VerwBl. 51, 285 ff.) [Otto Mayer, Rieß: Das Reichsgericht
und das deutsche Fluchtliniengesetz, in: Reichsverwaltungsblatt und Preußi-
sches Verwaltungsblatt, Band 51, Nr. 18, Berlin 1930, S. 285-289]. Weil die Stadt
Berlin zwischen Fluchtlinienfeststellungsbeschluss der Stadtverordnetenver-
sammlung und öffentlicher Planauslegung so sehr lange Zeit verstreichen ließ,
so muss man auf eine treffende Bemerkung des Supreme Court of USA im Fall
Munn von Illinois, 1876, hinweisen. Dort sagt das Gericht, dass in solchen Fällen
des angeblichen Missbrauches der öffentlichen Gewalt »the people must resort
to the polls, not to the courts« (zitiert bei Commons, Legal Foundations, S. 14
[John R. Commons: Legal Foundations of Capitalism, New York 1924] ).

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320 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

neueren Reichsgerichtsurteil, 99 das bezeichnenderweise schon gar nicht


mehr den Unterschied zwischen Enteignung und öffentlich-rechtlicher
Beschränkung macht und die öffentlich-rechtliche Beschränkung durch
Gesetz als Eingriff in Privatrechte für unzulässig erklärt, ohne Absatz 1
und 2 des Artikels 153 mehr zu unterscheiden.
Widerstände, die sich aus der herrschenden Auslegung des Enteig-
nungsbegriffes ergeben, haben sich weiterhin in bedeutendem Maße
bei der Beratung eines Gesetzes über Änderung der zur Auflösung der
Familiengüter und der Hausvermögen ergangenen Gesetze und Ver-
ordnungen im preußischen Landtag ergeben. Dieser Gesetzentwurf
bestimmt für die in der Reichsverfassung vorgesehene Gesamtauflö-
sung der Fideikommissgüter eine erhebliche Beschleunigung dadurch,
dass ein Stichtag (1. April 1935) für die Beendigung der Auflösung der
noch bestehenden Familiengüter eingeführt wird. Alle an diesem Tag
noch bestehenden Familiengüter erlöschen mit Beginn dieses Tages.
Weiterhin verbessert die Vorlage die Lage der Abfindungsberechtigten
durch die Erhöhung der Abfindung und Abschaffung des bisherigen
Rechts des Fideikommissbesitzers auf testamentarische Regelung und
Ausschluss der Abfindung. Im Prinzip handelt es sich bei der durch die
Reichsverfassung vorgesehenen Auflösung der Fideikommisse recht
eigentlich um die Beseitigung eines feudalen Restes innerhalb einer
kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Juristisch handelt es sich um
einen Grenzfall zwischen Abschaffung einer Kategorie von subjektiven
Rechten und Änderung des objektiven bürgerlichen Rechts in dem
schon von Lassalle ausführlich behandelten Sinne. Ein Grenzfall liegt
deshalb vor, weil die Fideikommissanwärter zwar bestimmte rechtlich
geschützte Anwartschaften besitzen, aber noch nicht Inhaber subjekti-
ver Rechte sind. Für beide Fälle wäre das staatliche Recht zur Neurege-
lung ohne jede besondere Entschädigung der einen oder der anderen
Kategorie auch ohne den ausdrücklichen Hinweis der Reichsverfas-
sung zweifelsfrei. Eine Verfassung wie die Weimarer, die nicht einmal
mehr eine bürgerliche im alten Sinne des Wortes sein will, kann feuda-
len Rechtsinstituten keinen Schutz mehr gewähren. Dass der Staat das
objektive bürgerliche Recht jederzeit ändern und neue Entstehungsnor-
men für zukünftiges bürgerliches Recht bestimmen kann, hat schon
Lassalle in seinem System der erworbenen Rechte ausführlich begrün-

99 Jur. W. 1930, S. 1205. [Rechtsprechung 16., in: Juristische Wochenschrift, Jg. 58,
Band 1, Heft 17, Leipzig 1929, S. 1204-1206.]

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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 321

det.100 Insofern hier Änderungen des objektiven Rechts getroffen wer-


den, ist die Beseitigung des Rechtsinstituts des Fideikommisses im voll-
kommenen Einklang mit der Bewusstseinslage der heutigen Zeit und
liegt zudem höchstens ein genereller, nicht ein individueller Eingriff in
erworbene Rechte vor.
Der charakteristische Tatbestand, dass Parteigruppen, die das politische
Programm des Bürgertums vertreten, einer restlosen Beseitigung vor-
bürgerlicher Rechtsformen und -institutionen deshalb widersprechen,
weil deren entschädigungslose Beseitigung als Angriff auf die Institu-
tion des Privateigentums als solche gewertet werden könnte, zeigt die
ungeheure Erstarrung, die die Idee des Privateigentums in den letzten
Jahren ganz im Gegensatz zu den Tendenzen der Weimarer Verfassung
erfahren hat. Charakteristischer als bei dem Fall der Fideikommissauf-
lösung tritt dies noch bei dem Gesetz zur Regelung älterer staatlicher
Renten in Erscheinung. Der im März 1928 dem Reichstag vorgelegte
Entwurf dieses Gesetzes sah vor, dass Renten, die für die Aufgabe oder
den Verlust von landesherrlichen oder standesherrlichen Rechten, sons-
tigen Hoheitsrechten oder Standesvorrechten jeder Art begründet
waren, ebenso entschädigungslos in Wegfall kommen sollten, wie Ren-
ten, die dem Ausgleich für die Aufgabe oder den Verlust von Leibei-
genschafts- oder ähnlichen nach dem heutigen Zeitempfinden als
unsittlich anzusehenden Rechten dienten. Merkwürdigerweise enthielt
der Entwurf den Passus, dass die Vorlage verfassungsändernd sei, was
tatsächlich gar nicht der Fall war. Aber die herrschende Lehre über
Begriff und Voraussetzungen der Enteignung war so sehr communis
opinio geworden, dass sich nicht nur das das Gesetz vorlegende Minis-
terium, sondern sogar der Reichstag von ihr beeindrucken ließ. Da
diese Vorlage wegen des in ihr enthaltenen Eingriffs in erworbene
Rechte nicht die fälschlicherweise als notwendig angesehene Zweidrit-
telmehrheit erreichen konnte, fielen entschädigungslos nur die Renten
für den Verlust von Leibeigenschaftsrechten oder ähnlichen Rechten
fort, während für die anderen Rechte eine Aufwertung beschlossen
wurde. Diese Regelung steht nicht nur hinter der Behandlung, die die
feudalen Rechtstitel 1848 in Deutschland erfahren sollten, zurück, son-

100 Die ohne Heranziehung dieser Gesichtspunkte aufgestellte Behauptung Hol-


steins, a. a. O., S. 10 [Günther Holstein, Fideikommissauflösung und Reichsver-
fassung, Berlin 1930], dass Änderungen des objektiven Rechts ebenfalls Enteig-
nungen darstellen könnten, ist ebenso wenig stichhaltig, wie die Behauptun-
gen [Fritz] Mielkes in »Die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den dem
preußischen Landtag vorliegenden Fideikommissgesetzentwurf«, Berlin 1922,
der sich bezeichnenderweise für seine Stellungnahme gegen den Entwurf in
der Hauptsache auf die Motive zum bürgerlichen Gesetzbuch beruft.

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322 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]

dern wird auch weit überholt durch die hier angeführte französische
Revolutionsgesetzgebung.
Wir sind in Deutschland dabei angelangt, alle erworbenen Rechte wahl-
los und ohne Beziehung zu den Notwendigkeiten und Bedürfnissen
der Gegenwart mit einer unverbrüchlichen Sanktion, mit einem Panzer
gegen den Gesetzgeber auszustatten. Diese Entwicklung hat die Wei-
marer Verfassung nicht gewollt und mindestens nicht bewusst geför-
dert. Die dadurch hervorgerufene Bindung des Gesetzgebers an den
Willen ihm fremd gewordener Jahrhunderte zwingt ihn auf Schritt und
Tritt, Rücksichten zu nehmen und notwendige Maßnahmen zu unter-
lassen. Das Schlimmste aber an dieser Bindung ist, dass man nie weiß,
wo ihre Grenzen verlaufen. In einem Staat, der im Wesentlichen noch
von hochkapitalistischen Tendenzen erfüllt ist, ist nichts notwendiger,
als feste Grenzen zu bestimmen, an denen die private Machtsphäre des
Einzelnen dem organisierten Willen der Gesamtnation gegenüber zu
weichen gezwungen ist. Indem er die erworbenen Rechte für sakro-
sankt erklärt, überlässt der Staat privaten Mächten auf weite Strecken
das Feld. Wenn private Macht dem Staat mit Erfolg das Recht, Interes-
sen der Gesamtheit zu vertreten, bestreitet, fällt auch die Grenze zwi-
schen erworbenem Recht und reiner Faktizität. Wenn hinter erworbe-
nem Recht sich immer die Aufrechterhaltung des Status quo verbirgt,
dann wird jeder Status quo selbst zu einem erworbenen Recht. Die Ver-
einigten Staaten haben anlässlich eines Notenwechsels darauf hinge-
wiesen, dass »the liquor business has not been a property right, but a
licensed occupation«.101 Wer aber möchte entscheiden, ob, wenn heute
Deutschland auch nur ein partielles Alkoholverbot entschädigungslos
durchführen wollte, bei uns eine mit der Autorität eines amerikani-
schen Staatssekretärs ausgestattete Stelle vorhanden wäre, die dem
Ansturm der Interessenten gegenüber eine solche Unterscheidung
durchzuführen in der Lage wäre?

101 Es handelt sich um eine Diskussion, die seit dem Jahre 1923 zwischen Mexiko
und den Vereinigten Staaten über die Frage der Rechtsgültigkeit der Ausfüh-
rungsgesetze zum Artikel 27 der mexikanischen Verfassung eingesetzt hat. Der
Staatssekretär Kellogg hat diese Formulierung in einer Antwort auf die Note
des mexikanischen Außenministers gebraucht. Dieser hatte ihn bei der Frage
der Behandlung der erworbenen Rechte der amerikanischen Staatsbürger und
der Rückwirkung der mexikanischen Petroleum- und Agrargesetze darauf auf-
merksam gemacht, dass auch die Vereinigten Staaten Eigentumsrechte aufge-
hoben hätten, als sie durch Verfassungsamendement die Prohibition einführ-
ten. Senate Documents 69. Congress I. Session Miscellaneous Bd. 2, Washing-
ton 1926. Dokument Nr. 96, insbesondere S. 31 und S. 37. Siehe auch die Aus-
führungen bei [Alfred] Vagts: Mexiko, Europa und Amerika, Berlin 1928.

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323

[20.]
[Rezension:] Eugene A. Korovine: Das Völkerrecht
der Übergangszeit*
[1930]

E.A. Korovine. »Das Völkerrecht der Übergangszeit. Grundlagen der völker-


rechtlichen Beziehungen der Union der Sowjetrepubliken.« (Aus der zweiten
russischen Auflage mit erheblichen Ergänzungen für die deutsche Ausgabe
übertragen von I. Robinson Kaunas.) Eingeleitet von Dr. Herrmann Kraus,
Professor der Rechte an der Universität Göttingen. 1929, Verlag Dr. Walther
Rothschild, Berlin-Grunewald.
In seinem Büchlein über die rechtspolitische Grundlegung der Völker-
rechtswissenschaft hat Theodor Niemeyer die Frage aufgeworfen, wie
sich ein Völkerrechtslehrer zu verhalten habe, wenn sein eigener Staat
nach seiner Meinung Unrecht hat.1 Darf er seinem Staat öffentlich
Unrecht geben oder muss er der einseitige Advokat seines Staates sein?
Niemeyer glaubte die Frage dahingehend beantworten zu können, dass
der Völkerrechtsgelehrte, der bewusstermaßen gegen seine Überzeu-
gung seinem Staat Recht gibt, um den politischen Interessen dieses
Staates zu dienen, lügt und den Gedanken des Rechts wie die Würde
der Wissenschaft schändet. Abgesehen davon, dass sich diese Fragestel-
lung aus den verschiedensten Gründen dem Völkerrechtslehrer nicht in
dieser Klarheit im konkreten Fall darstellt, ist die Lösung der Frage im
Sinne Niemeyers für die herkömmliche Völkerrechtswissenschaft
immer mindestens ein notwendiges, wenn auch nie voll verwirklichtes
Postulat gewesen. Denn die ratio des Völkerrechts und damit der Völ-
kerrechtswissenschaft ist es, dass die Menschheit, obwohl sie, wie der
Theologe Franz Suarez schreibt, in verschiedene Völker und Reiche
geteilt ist, dennoch eine bestimmte politische und moralische Einheit
besitzt.
Für die moderne russische Völkerrechtswissenschaft besteht jener Kon-
flikt, wie uns aus den Darlegungen Korovines deutlich wird, nicht.

* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 7, Heft 6, Berlin 1930, S. 575-578. – Zu diesem Text vergleiche in der Einlei-
tung S. 78-79.]
1 [Theodor Niemeyer: Rechtspolitische Grundlegung der Völkerrechtswissen-
schaft, Kiel 1923.]

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324 [20.] [Rezension:] Eugene A. Korovine: Das Völkerrecht der Übergangszeit [1930]

Zwischen Staatspflicht und Wissenschaftstreue kann kein Konflikt ent-


stehen, da beide identisch sind. Identisch können sie deshalb sein, weil
die völkerrechtliche Zielsetzung dort eine radikal andere geworden ist.
Die Völkerrechtsauffassung Sowjetrusslands verwirft die Auffassung
eines einheitlichen Völkerrechts und leugnet, dass zwischen Russland
und der übrigen kapitalistischen Welt jenes notwendige Minimum an
Homogenität vorhanden sei, das als Grundlage einer Völkerrechtsge-
meinschaft notwendig ist. Außerdem behauptet Korovine und macht
durch Hinweise auf andere Völkerrechtsautoren der Sowjetunion
glaubhaft, dass dies die »communis opinio« in Sowjetrussland ist, dass
die Theorie von einem einheitlichen Völkerrecht ein Mythos und nicht
einmal ein schöner sei. In Wirklichkeit sei das heutige Völkerrecht plu-
ralistisch, und das gegenseitige Verhältnis der Staaten sei abgestuft
nach ihrer politisch-ökonomischen Stellung, der alte Grundsatz von der
Gleichheit der Völkerrechtssubjekte sei tatsächlich abgeschafft. Das
sowjetistische Völkerrecht sei das »Völkerrecht der Übergangszeit«, es
sei das Recht, das nur in der Zeit des Nebeneinanderbestehens zweier
so verschiedener Staatenwelten wie der kapitalistischen und der
sowjetrussischen gelte und dessen Bestehen begrenzt sei auf die Zeit, in
der noch eine Brücke zwischen der bürgerlichen und der sozialisti-
schen Hälfte der Menschheit bestehen müsse. Diese Brücke werde aus-
einanderfallen, wenn das intersowjetistische Recht bis zur Größe eines
allweltlichen Rechts gewachsen sei.
Aus diesen für den Verfasser programmatischen Äußerungen ergibt
sich eine voluntaristische Völkerrechtsauffassung, von der das ganze
Buch beherrscht ist. Realistisch und marxistisch nennt der Verfasser
selbst seine Betrachtungsweise; aber um dieses Programm zu rechtferti-
gen, hätte er nicht nur die Völkerrechtswirklichkeit kritisch durchfor-
schen, er hätte vielmehr bei dem untrennbaren ideologischen Zusam-
menhang, bei dem ständigen Ineinanderübergehen von verwirklichtem
Völkerrecht und Entwicklungstendenzen des Völkerrechts sorgfältiger
den Ansätzen nachgehen müssen, aus denen bei gleicher Einschätzung
der heutigen Situation sich doch ein anderes Zukunftsbild ergeben
könnte. Anstatt dessen spitzt sich in diesem Buche alles auf eine vom
Verfasser gewünschte Entwicklung zu.
Die bisherige Völkerrechtslehre hat ihre Betrachtungen aufgebaut auf
der Hinnahme der gegebenen Machtverhältnisse und Staatsbeziehun-
gen, wenn sie diese auch prinzipiell als unendlich verbesserungsfähig
ansah. Für Korovine besitzt die heutige Völkerrechtsordnung nur einen
transitorischen Wert; das Völkerrecht dient wesentlich als Erkennungs-

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[20.] [Rezension:] Eugene A. Korovine: Das Völkerrecht der Übergangszeit [1930] 325

maßstab für die Unmöglichkeit unserer heutigen Sozialordnung über-


haupt.
Die Frage ist, ob sich die These des Verfassers von der besonderen
Struktur des russischen Völkerrechtssystems rechtfertigen lässt, wie
weit es sich hier um dauernde Änderungen, wie weit es sich um will-
kürliche Bewertungen historisch nicht einmaliger Situationen handelt.
Dabei muss gesagt werden, dass der Verfasser zur Durchsetzung seiner
Thesen von der Disparität russischen und europäischen Völkerrechts
ein Homogenitätsbild der Russland gegenüberstehenden Welt
annimmt, das er selbst an anderer Stelle leugnet. Es steht jedenfalls im
Widerspruch mit seiner durchaus diskutablen Behauptung, der Impe-
rialismus sei im Grund dem Völkerrecht feindlich. In Wirklichkeit
beruht die Homogenität der Völkerrechtsgemeinschaft nicht auf prinzi-
piellen Erwägungen und auch nicht auf dem vom Verfasser so miss-
trauisch betrachteten Gewohnheitsrecht. Sie beruht vielmehr auf einer
Unmenge ständig wachsender notwendiger technischer und wirtschaft-
licher Vereinbarungen, die ihrerseits erst gemeinschaftsbildend wirken
und einen Anwendungsbereich für Gewohnheitsrecht geben. Gerade
die Notwendigkeit solcher technischen und wirtschaftlichen Vereinba-
rungen hat der Verfasser aber für Russland gar nicht in Abrede gestellt,
er hat deren Notwendigkeit ausführlich zu begründen versucht und die
einzelnen Vertragstypen sorgfältig aufgezählt. Es ist ihm auch nicht
entgangen, dass das russische Außenhandelsmonopol diese Art von
Vereinbarungen noch viel notwendiger macht als sie es in anderen Län-
dern sind. Die Frage der technischen Klassifizierung dieser Verträge ist
dabei nicht entscheidend. Wichtiger aber ist, dass, wie Max Huber
schon im Jahre 1910 richtig bemerkt hat, aus dem intensiven Interesse
der Staaten an übereinstimmender Regelung von Angelegenheiten
unser modernes Völkerrecht hauptsächlich herausgewachsen ist;
Umschlag des quantitativen in das qualitative Element.
Wenn der Verfasser also den völkerrechtlichen Verträgen Sowjetruss-
lands sehr hohen Gegenwartswert für Russland beimisst, sie aber doch
nicht für entscheidend hält, so verschließt er sich durch diese rein wil-
lensmäßig bestimmte Wertung den Weg zu einer richtigen Erkenntnis
des Wertes des gegenwärtigen Völkerrechts, die zwischen dem her-
kömmlichen Optimismus und dem politisch bestimmten Pessimismus
des Verfassers den Weg zur Völkerrechtsrealität finden muss. Nichts
Neues bietet uns der Verfasser, wenn er das Prinzip der Souveränität
und der völkerrechtlichen Gleichheit aller Völker warm vertritt, beson-
ders da er offen bekennt, dass es nicht die theoretische Lehre ist, die ihn

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326 [20.] [Rezension:] Eugene A. Korovine: Das Völkerrecht der Übergangszeit [1930]

anzieht, sondern ihre für das heutige Russland praktisch günstigen


Konsequenzen. Es lässt sich leicht aufweisen, dass diese Argumente
auch von Staaten ganz anderer politischer Struktur gebraucht werden;
in Südamerika sind sie aus leicht begreiflichen Gründen ebenfalls hoch
im Kurs. Insoweit also sind die »Prinzipien des Völkerrechts der Über-
gangszeit« doch nicht so singulärer Natur und nicht Elemente eines
einheitlich geschlossenen Systems, wie der Verfasser meint. Und trotz-
dem hat das Werk des Verfassers gegenüber dem traditionellen Völker-
rechtssystem, das durch die vom Völkerbund belebte Problemstellung
einen neuen Auftrieb erhalten hat, manche bedeutenden Vorzüge. Der
Standort des Verfassers hat es ihm als einem der ersten erlaubt, die alte
Lehre von einem Interventionsrecht über den Haufen zu werfen und
mit allem Nachdruck den rein tatsächlichen Charakter des Interventi-
onsinstituts zu betonen. Wenn man die Erlaubtheit der Intervention
von Zweckmäßigkeitserwägungen abhängig macht, (nämlich davon, ob
Russland intervenieren will oder seine Feinde), so geht daraus ebenso
wie aus dem unendlich lehrreichen im entscheidenden Punkt, der von
den südamerikanischen Staaten begehrten Feststellung eines Interventi-
onsverbotes, negativen Ergebnis der Havanneser Panamerikanischen
Konferenz einleuchtend hervor, dass hier eine der schärfsten Bruchstel-
len der Völkerbeziehungen ist, die man in Zukunft besser sachlich
untersucht, als hinter Rechtsbegriffen verschleiert. Man braucht weiter-
hin nicht Korovines Hoffnungen zu teilen, aber man wird ihm doch
dankbar sein müssen, dass er als erster methodisch umfassend darauf
hingewiesen hat, dass de facto neben dem Staat und gegen den Staat
Faktoren aufgetaucht sind, die aktiv und reaktiv im Völkerrecht in
Zukunft anders gewertet werden müssen. Sie handeln nicht immer als
Völkerrechtssubjekte, aber die wirtschaftlichen Vereinbarungen von
Interessengruppen zweier Staaten können ebenso folgenschwer sein
wie die Tatsache, dass in künftigen Kriegen die nationale Einheit von
innen nicht gesichert und von außen, wie dies Sowjetrussland immer
getan hat, als eine zerstörungswürdige Fiktion angesehen wird. Dem
Politiker sind alle diese Fragen, die eng mit der Klassenstruktur in der
heutigen Staatenwelt Zusammenhängen, längst bekannt. Es ist leicht
begreiflich, dass die methodische völkerrechtliche Behandlung dieser
Zusammenhänge gerade in Russland zuerst stattgefunden hat, da die-
ses Land an einer bestimmten Ausdeutung dieser Zusammenhänge am
meisten Interesse hat. Auf ihnen ein ganzes System aufzubauen und
dieses System dem gegenwärtigen entgegenzusetzen, musste insofern
fehlschlagen, als einmal das hergebrachte Völkerrechtssystem gar kei-
nen solchen geschlossenen politischen Kreis darstellt, wie der Verfasser

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[20.] [Rezension:] Eugene A. Korovine: Das Völkerrecht der Übergangszeit [1930] 327

anzunehmen geneigt ist, und weiterhin auch Korovines System sehr


viele Elemente enthält, die nur bestimmte Ausdeutungen traditionell
vorhandener Begriffe und Problemstellungen sind. Man mag deshalb
das System als Ganzes ablehnen; eine Völkerrechtslehre, die wahrhaft
realistisch sein will, wird vielen Anstrengungen des Verfassers nachzu-
gehen haben, wenn sie sich auch weniger von Wunschbildern leiten las-
sen kann als das Völkerrechtsdenken eines isolierten Staates, der auch
in diesem Völkerrechtssystem seine allzu schmale soziale Basis ins
Unendliche projiziert.

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328

[21.]
Bürgertum am Scheideweg*
[1930]

Wer die jetzigen organisatorischen Änderungen im deutschen Bürger-


tum ihrem tieferen Sinngehalt nach erfassen will, wird genötigt sein,
sich auf den Grundcharakter der bürgerlichen Partei als solcher, der sie
von jedem proletarischen Parteigebilde unterscheidet, zu besinnen. Die
bürgerliche Partei ist keine Massenpartei, die mit und auf Grund ihrer
Massengrundlage ein Eigenleben führt und auch außerparlamentarisch
Stärke besitzt. Die bürgerliche Partei ist eine Fraktionspartei; ihren
eigentlichen Sinn erhält sie durch die Notwendigkeit, Wahlen vorzube-
reiten und durchzuführen. Der Bürger selbst hat eine konservative oder
liberale Gesinnung; aber im Durchschnitt bekennt er sich nicht zu einer
bestimmten Partei. Parteizugehörig sind außer dem Beamtenstand der
Partei und den Parteiführern in jedem einzelnen Ort meistens nur
Beamte aller Art, die von der Partei Amt und Beförderung erhoffen.
Im demokratischen Massenstaat ist eine solche Partei, die nicht nur
durch ihre Reichs- oder Landtagsfraktion repräsentiert wird, sondern
ihrem wesentlichen Teil nach aus diesen Fraktionen und ihren Anhäng-
seln besteht, den Massenorganisationen des Proletariats gegenüber ein
schwaches Gebilde. Gewiss, um die notwendigen Geldmittel braucht sich
keine bürgerliche Partei, von den Demokraten bis zu den Nationalso-
zialisten, auch nur einen Augenblick zu sorgen; sie sind im notwendi-
gen Zeitpunkt reichlich vorhanden. Auch ist die bürgerliche Fraktions-
partei kein in der Luft schwebendes Gebilde, das seinen Sinn und
Gehalt durch die zwei- bis vierjährig erfolgende Willensbekundung sei-
ner Wähler bezieht und sonst sich allein und seinem so oft in gegensei-
tigen Konkurrenzkampf gepriesenen Führungs- und Konzentrations-
willen überlassen bleibt. In der bisher sehr stark bemerkbaren Tönung
der Bürgerparteien von Hitler bis Koch besitzt jede dieser Gruppen ihre
Hausinteressenten, von denen sie mit besonderer Liebe und Sorgfalt
beschenkt und ausgerüstet werden, was nicht ausschließt, dass eine
bestimmte Interessengruppe sich mehrere Parteien als Durchsetzungs-
organ ihrer Interessen erwählt; doch sind in Deutschland dem persönli-

* [Erschienen in: Die Tribüne, Organ der Sozialdemokratischen Partei für das Land
Thüringen und den Regierungsbezirk Erfurt, Nr. 175, 30. Juli 1930, Erfurt. – Zu
diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 75-76.]

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[21.] Bürgertum am Scheideweg [1930] 329

chen Belieben der Unternehmergruppen, welcher der einzelnen Par-


teien sie sich bedienen wollen, engere Schranken gesetzt als in Frank-
reich, wo die Einflussnahme der Interessenten sich lockerer und mehr
in persönlicher Form vollzieht. Das mochte im konstitutionellen Staat
genügen, im massendemokratischen genügt es nicht. Auch das Bürger-
tum bedarf in diesem Staat des sichtbaren, organisierten Ausdrucks
eines politischen Wollens. Für dieses sind aber wirtschaftliche Interes-
senvertretungen ebenso wenig sichtbarer Ausdruck wie Fraktionen,
deren Hauptwirkungsfeld aufs Parlament beschränkt bleibt. Auch Krie-
gervereine, eine aus der alten, vorbürgerlichen Zeit stammende Organi-
sationsform, konnten trotz ihrer möglichen und ausgeführten Erweite-
rung in der Nachkriegszeit nicht zum Ersatz für Massenorganisationen
werden; dafür waren sie sowohl im Altersaufbau als auch wegen ihres
reinen Vereinstypus ungeeignet.
Die Form, die sich das Bürgertum schuf, um den proletarischen Mas-
senorganisationen gegenübertreten zu können, wuchs aus dem Krieg
heraus. Es waren Condottieri von Natur mit ihrem ihnen in militärischem
Kadavergehorsam ergebenen Anhang, wie sie uns aus der traurigen
Zeit der beginnenden Konterrevolution bekannt sind, die in der
Anfangszeit der deutschen Republik vom Bürgertum den proletari-
schen Massenorganisationen entgegengeworfen wurden. In den Jahren
bis 1923 bestanden diese Organisationen, die nicht einheitlich geleitet
waren und deren verschiedene Häuptlinge sich gegenseitig den Rang
abliefen, zum Teil als offene, zum Teil als geheime Femeorgansiationen
unter den verschiedensten Namen. Teile des deutschen Bürgertums
mögen sie nicht geliebt haben, größere Teile haben sie gebraucht, mit
der Hoffnung, sie weiter zu gebrauchen, wenn es notwendig wäre, und
sich mit Hilfe der Sozialdemokratie ihrer zu entledigen, wenn sie ihm
lästig würden. Noch genau in Erinnerung ist uns der Aufbau dieser
Organisationen zur Zeit des Kapp-Putschs, Rathenaumords und des
bayerischen Hochverrats im Jahre 23. In teils engerer, teils loserer
Anlehnung an die offizielle Reichswehr übten diese Verbände, deren
Hauptbestand immer noch Kriegsabenteurer bildeten, einen unheilvol-
len Einfluss auf die deutsche Politik aus. Wie war ihr Verhältnis zu den
offiziellen bürgerlichen Parteien? Demokraten und Zentrum hielten sich
von ihnen fern, die Rechtsparteien unterstützten sie heimlich, ohne es
wagen zu können, sich offen mit ihnen zu identifizieren. Entscheidend
aber war, dass beide Gruppen, die traditionellen Fraktionsparteien der
Rechten, wie diese staatsfeindlichen Organsiationen, sich gegenseitig
einen weiten Spielraum gewährten, dass der notwendige Kompromiss
und Zusammenhang der Rechtsparteien mit den übrigen Bürgerpar-

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330 [21.] Bürgertum am Scheideweg [1930]

teien durch ein im Innern unverbindliches Abrücken von diesen Orga-


nisationen nicht gestört wurde und dass bei den Organisationen selbst
der Zusammenhang mit den Rechtsparteien den einfachen Gefolgsleu-
ten so unbekannt blieb, dass ihre schon damals latent antikapitalisti-
sche Grundgesinnung keine neue Nahrung erhielt.
In den Jahren der Konsolidierung von 1924 bis 28 war der Stahlhelm die
überparteiliche Organisationsform für das Bürgertum. Er war den
Rechtsparteien bequemer als die früheren Organisationen, da die Füh-
rung es erreichen konnte, dass jede soziale Abweichung von der bür-
gerlichen Linie vermieden wurde und doch ein militärisch-organisato-
rischer Apparat von beachtlicher Bedeutung der bürgerlichen Politik,
wenn es notwendig war, den erwünschten Nachdruck gab. Der Zusam-
menhang mit der deutschnationalen Partei war eng, mit der Volkspartei
weniger eng, aber im Grunde stets vorhanden.
Die beginnende Krise brachte ein vollkommen verändertes Bild. Große
Massen der proletarisierten Angestellten- und Kleinbeamtenschichten
wollten zwar ihr bürgerliches Bewusstsein nicht aufgeben; aber sie hat-
ten die Wirkungen bürgerlicher Politik zu sehr am eigenen Leib erfah-
ren, als dass sie gewillt gewesen wären, weiter das Relief großkapitalis-
tischer Ansprüche abzugeben. Sie wandten sich dem dritten Reich zu.
Die Nationalsozialisten, die im Jahre 1923, wie ein Strohfeuer aufgegangen
und wieder erloschen waren, haben zwar mit dem dritten Reich nichts
gemein, aber sie bildeten am Anfang den nicht ungefährlichen Versuch
einer dritten Front. Eine nationalsozialistische, antikapitalistische Mas-
senbewegung, deren Argument, die äußere Versklavung Deutschlands
an das internationale Kapital, nicht so falsch und auch nicht so unge-
fährlich war, wie man es weithin bei der Sozialdemokratie angenom-
men hat. Der linken Flügelpartei des Bürgertums, den Demokraten,
ging es schon lange schlecht, da ihnen jene notwendige Anlehnung an
eine außerparlamentarische Organisation fehlte und sie selbst genau
wussten, dass für sie das Reichsbanner höchst problematisch sein
werde, das von der Zuspitzung der Klassengegensätze nicht unberührt
bleiben könne. Die Rechtsparteien standen vor der Wahl; sie konnten
der dritten Front auf zweierlei Weise begegnen. Sie konnten dazu über-
gehen, loyale republikanische Parteien ohne Putschgelüste zu werden
und dafür mit Subventionen, Agrarprogrammen und Regierungsstellen
belohnt zu werden. Große Teile von ihnen haben diesen Weg gewählt,
und bis in die deutschnationale Partei hinein hat der bürgerliche Sam-
melruf Hindenburgs Erfolg gehabt. Hierdurch musste konsequenter-
weise die Bedeutung der außerparlamentarischen Organisation weiter

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[21.] Bürgertum am Scheideweg [1930] 331

Bürgerkreise, des Stahlhelms, abgeschwächt werden; in dieser Rich-


tung liegt die Loyalitätserklärung Braun gegenüber. Man verblieb dabei
nicht nur im Bereich des Parlamentarismus, sondern man überließ
bedingungslos die letzte Entscheidung wer regieren sollte, dem Zen-
trum, das nun endlich seine geheimsten Wünsche erfüllt sah: eine
starke, nicht grundsätzlich antiparlamentarische Rechte, mit der man
ebenso gut, wenn nicht noch besser, ohne Risiko regieren konnte als
mit der Sozialdemokratie.
Oder aber man kalkulierte wie Hugenberg, der keineswegs so dumm
und borniert ist, wie man ihn oft bei uns hinzustellen beliebt. Hugen-
berg wusste, dass die Regierungswürdigkeit und Regierungsfähigkeit
der Rechten gleichzeitig die Aufrechterhaltung des parlamentarischen
Systems und mit ihr des Gegenspielers der Rechten in diesem System,
der Sozialdemokratie, bedeutete, während die drohende Gefahr des
Nationalsozialismus durch eine ungehemmt kapitalistische Regie-
rungspolitik im Stil Schiele-Brünings nur gefördert werden konnte.
Deshalb stellte er sich die Aufgabe, einmal die Nationalsozialisten zu
neutralisieren und zum andern mit ihnen und durch sie den Parlamenta-
rismus zu diskreditieren. Wie es scheint, hat er sich bisher mit Erfolg
um die Aufgabe bemüht, den Nationalsozialismus aus einer eignen
Partei, die im entscheidenden Unterschied zu den Bürgerparteien eine
starke Organisation besaß, auf die Stellung einer organisatorischen
Hilfstruppe herabzudrücken. Damit versuchte er, die in ihrem Wachs-
tum liegenden antikapitalistischen Gefahren zu bannen, und an Stelle
des antikapitalistischen Programms, das zurückgedrängt wird, schiebt
er das einigende Moment, den Nationalismus, in den Vordergrund. Er
hat aber vom Bürgertum auf weite Sicht hinaus nicht nur diese nicht
unbedeutende Gefahr abgewendet, er hat auch mit dieser Organisation
den entscheidenden Stoß gegen den Parlamentarismus geführt. Nach
der Abspaltung der deutschnationalen Sondergruppen besitzen wir
keinen normal funktionierenden Parlamentarismus mehr. Was in frühe-
ren Jahren nie der Fall gewesen ist, trat ein: die parlamentarische Ent-
scheidung ist irrational geworden. Ob sich heute diese oder die andere
Mehrheit, für oder gegen die Regierung ergibt, ist nicht mehr vorher-
sehbar. Es war es nicht mehr seit dem Sturz der Regierung Müller, und
es wird es nach aller Voraussicht auch im nächsten Reichstag nicht
mehr sein.
Ob diese Politik Hugenbergs, die aufs Ganze geht, so unklug war? Eine
Politik, die die Herrschaft dem nur im Bereich des Parlaments aus-

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332 [21.] Bürgertum am Scheideweg [1930]

schlaggebenden Zentrum entwinden will, bedeutet ein großes Wagnis;


der Einsatz ist groß, aber der lockende Gewinn noch größer.
Wenn das gesamte Bürgertum in das heutige System einbezogen wer-
den sollte, bleibt die Gesetzlichkeit aufrechterhalten, die Frontstellung
und die Kampfesnotwendigkeit der Sozialdemokratischen Partei wird
davon nicht berührt. Siegt Hugenberg im Bürgerlager, so geht es um
Leben und Existenz der proletarischen Partei selbst. Wie auch der Aus-
gang des Methodenstreits im Bürgertum auf dem Weg zur vollen Bür-
gerherrschaft sein mag, je besser die Partei gerüstet ist, desto sicherer
wird sie diesen Kampf, der um den proletarischen Lebensraum selbst
geht, bestehen.

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333

[22.]
Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und
Rechtsprechung*
[1930]

In seinem Buche über die Rechtsinstitute des Privatrechts hat Karl Ren-
ner1 den Wirklichkeitsgehalt des Eigentums durch die gesamte juristi-
sche Formenwelt hindurch verfolgt. Er hat dabei aufgezeigt, wie weit
die reale ökonomische Gestaltung in jedem einzelnen Sachgebiet sich
von dem ursprünglichen Sinngehalt, der mit den juristischen Formeln
verbunden wurde, entfernt, ja sich ins Gegenteil verwandelt hat und
welche Rolle hierbei die Konnexinstitute des öffentlichen Rechts
gespielt haben. In sehr wenigen Fällen ist bisher ein Normenwandel
eingetreten, der sichtbar den Verschiebungen der wirtschaftlichen
Grundlagen Rechnung getragen hätte; eher ist zu konstatieren, dass
auch neue wirtschaftliche Zielsetzungen sich lieber der alten gewohn-
ten Rechtsformeln bedienen, als dass sie sichtbar die eingetretenen
Wandlungen in neuen Normierungen kundtun. Dies ist eine Tatsache,
die nicht nur auf die gerade in der Gegenwart besonders akuten, mit
dem Komplex der Kapitalbeschaffung zusammenhängenden Fragen
zurückzuführen ist, sondern ihren tieferen Grund in dem Beharrungs-
vermögen der juristischen Formenwelt findet. Angesichts dieser Sach-
lage ist es kein Wunder, wenn gerade der Eigentumsartikel der Weima-
rer Verfassung problematischer ist, als sehr viele juristische Autoren
meinen, die ihn entweder mit seinen historischen Vorgängern des letz-
ten Jahrhunderts gleichsetzen oder auch einer bestimmten heute noch
herrschenden Wirtschaftsverfassung, der kapitalistischen, zurechnen
wollen. Der Begriff Eigentum bedeutet ja nicht nur den Kernpunkt aller
privatrechtlichen Institutionen, ihm wird mindestens seit der Zeit, seit
der das Privateigentum Einzelner an den Produktionsmitteln keine
Selbstverständlichkeit mehr ist, ein gewisser Kampfsinn beigelegt.
Auch die Interpretation, die die Weimarer Verfassung erfahren hat,
ginge meistens dahin, aus jener möglichen Mehrheit von Sinndeutun-
gen, die der Eigentumsgewährleistung innewohnen können, nur dieje-

* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 7, Heft 8, Berlin 1930, S. 166-179. – Zu diesem Text vergleiche in der Einlei-
tung S. 65-66. ]
1 [Karl] Renner, die Rechtsinstitute des Privatrechts, Tübingen 1929.

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334 [22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930]

nigen als selbstverständlich hinzustellen, die in ihr eine Garantie des


kapitalistischen Wirtschaftssystems selbst sehen. Dabei ist es an sich
schon gefährlich, überkommene juristische Terminologien allzu sehr
auf politisch-ökonomische Gegenwartsfragen festzulegen; mindestens
scheint dies in einem Lande, in dem nicht wie im angloamerikanischen
Rechtskreis relativ wenig Bestimmungen mit in der Tat mehr histo-
risch-politischem als juristischem Normengehalt vorhanden sind,
unangebracht. In diesem Rechtskreis ersetzt eine eng begrenzte Anzahl
von Normen ein ganzes Rechtssystem. Wo aber, wie bei uns, jeder Wirt-
schafts- und Sozialbereich seine besondere systematisch-juristische
Normierung erfährt, kann jeder einzelne Rechtsbegriff nur in seinem
»Herrschaftsbereich« ausgewertet werden; eine darüber hinausgehende
metajuristische Bedeutung muss notwendig höchst problematisch blei-
ben, da ein hieraus abgeleiteter Grundsatz in Gefahr geraten würde,
durch die konkrete juristische Regelung in vielen Fällen widerlegt zu
werden.
Eigentum selbst ist ein heute feststehender juristischer Begriff. Er
bedeutet – darüber besteht zwischen sozialistischen und nichtsozialisti-
schen Autoren keine Kontroverse – ein ausschließliches Herrschafts-
recht über Gegenstände.2 Dass die Verfassung nicht diesen Begriff des
Eigentums selbst gewährleistet, ist ebenfalls kaum bestritten, da sich
eine Verfassung überhaupt nicht mit rechtstechnischen Figuren
beschäftigt, diese vielmehr als vorhanden voraussetzt und hinnimmt.
Mit Recht ist daher bemerkt worden, dass für eine kommunistische
Gesellschaftsordnung diese Definition die gleiche Gültigkeit habe wie
für eine kapitalistische. Denn insoweit ist Eigentum ein rein formaler
Begriff, der über die möglichen und wirklichen Herrschaftsbeziehun-
gen nichts aussagt. Diese Erkenntnis wäre selbstverständlicher und
damit gegenstandsloser, wenn nicht Artikel 153 der Reichsverfassung
in seinem Absatz 3 mit der Wendung »Eigentum verpflichtet. Sein
Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das gemeine Beste« Einwendun-
gen gegen die gemeine Eigentumsdefinition Raum gegeben hätte. Diese
Fassung, die keine rechtliche Bindung des Eigentümers enthält, aber
immerhin eine moralische Mahnung an jeden Eigentümer, bei der kon-
kreten Eigentumsnutzung auf einen moralisch vertretbaren Enderfolg
abzusehen, weist auf deutschrechtliche und katholische Einflüsse hin.

2 Siehe neben dem Sozialisten Renner etwa Stammler in seinem Artikel »Eigentum
und Besitz« im Handw. d. Staatswiss. [Rudolf Stammler: Eigentum und Besitz, in:
Ludwig Elster, Adolf Weber, Friedrich Wieser (Hg.): Handwörterbuch der Staats-
wissenschaften, Band 3, Jena 1926] oder das vielbenutzte Lehrbuch Martin
Wolffs, Sachenrecht[. Ein Lehrbuch, Marburg 1926].

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[22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930] 335

Gerade in der jüngsten Zeit mehren sich im katholischen Lager die


Stimmen, die behaupten, dass es einen besonderen christlichen Eigen-
tumsbegriff gebe, den es gelte einem heidnisch-jüdischen gegenüberzu-
stellen. Die im Endeffekt gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem
gerichtete Tendenz dieser neueren, wie sie im katholischen Lager
genannt werden, reformistischen Autoren verdient Beachtung.3 Das
hindert nicht, dass diese Gegenüberstellung, wie sie hier vornehmlich
in der »Oeconomia perennis« von Orel (ein Buch, das als Zeitsymptom
sehr wertvoll ist, dessen Bekenntniswert aber seinen Erkenntniswert
wohl weit übersteigt) vorgenommen wird, nicht richtig ist. Sicherlich
hat der Eigentumsbegriff, wie wir ihn heute in voller Schärfe ausgebil-
det haben, im Mittelalter nicht existiert; aber er hat auch im alten Hellas
nicht existiert, das doch der Nährboden des Heidentums gewesen ist.
Darauf hat mit aller Schärfe Hasebroek in seinem Buch über »Staat und
Handel im alten Griechenland« hingewiesen, in dem er die durchgän-
gige politische Bestimmtheit und Ausgerichtetheit des wirtschaftlichen
Lebens nachdrücklich betont.4 Mittelalter und Altertum kannten sehr
wohl einzelne Privatrechtsinstitute; aber da ihnen eine einheitliche
Ausrichtung nach rein ökonomischen Gesichtspunkten fehlte, die poli-
tisch-ständische Stellung des Einzelnen ausschlaggebend war für
Erwerb, Besitz und Verlust aller irdischen Güter, so konnte auch hier
der moderne Eigentumsbegriff nicht entstehen. Denn dieser setzt ein
ziemlich hohes Maß an Verselbständigung und Gebrauchsrationalität

3 In erster Linie ist das Buch »Oeconomia perennis« von [Anton] Orel, Wiesbaden
1930, zu nennen. Daneben sei eindringlich auf den tapferen Aufsatz von Matthias
Laros über »Eigentum und arbeitsloses Einkommen« im Novemberheft 1929 des
Hochland hingewiesen. [Matthias Laros: Eigentum und arbeitsloses Einkommen.
Auseinandersetzung zwischen den christlichen Soziallehren und dem Sozialis-
mus, in: Hochland, 2. Heft 1929/30, Kempten/München 1929, S. 120-134.] Eine
ständige Diskussion über diesen Fragenkomplex findet in der katholischen Zeit-
schrift »Schönere Zukunft« [Wien] statt. Dabei kommen bei allem redlichen
Bemühen um die theoretische Fundierung einer neuen Sozialordnung zwei
Ordensgeistliche wie [Oswald von] Nell Breuning und [Alexander] Horvath
nicht viel über eine theoretische Disqualifizierung des liberalen Kapitalismus,
dem sie freilich den Sozialismus durchaus gleichstellen, hinaus, während den
täglichen Daseinsnöten näherstehende Pfarrgeistliche wie Laros schon eine viel
positivere Haltung zeigen.
4 Johannes Hasebroek »Staat und Handel im alten Griechenland«, Tübingen 1928.
Er sagt dort im Vorwort (S. VII) ausdrücklich: »Niemals ist eine nationale Pro-
duktion oder ein nationaler Produzentenstand mit seinen materiellen Interessen
für die Staatspolitik der autonomen Polis bestimmend gewesen, und kein Staat
hat je zur Zeit hellenischer Selbständigkeit an den Schutz oder die Förderung
einer von einem Staatsbürgertum getragenen nationalen Arbeit durch Erwer-
bung und Erhaltung fremder oder einheimischer Märkte gedacht. Denn wie alles
politische, so ruht im Altertum auch alles wirtschaftliche Leben und mit ihm alle
Arbeit auf Gewalt.«

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336 [22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930]

der Eigentumstitel voraus und ist in der Tat erst in dem Augenblick
entstanden, in dem römisch-rechtliches Abstraktionsvermögen mit den
Anfängen der modernen Warenproduktion zusammentraf. Dabei kann
dahingestellt bleiben, ob die Gebote des heiligen Thomas für die ständi-
sche Ordnung des Mittelalters, in der es eine ständige, nicht besitzende
Klasse nicht gab, mit Recht den Anspruch erheben konnten, eine
umfassende Regelung der sozialen Frage des Mittelalters zu bilden; sie
empfahlen dem Eigentümer nachdrücklich eine anständige, Gott wohl-
gefällige Benutzung seines ihm von Gott nach der kirchlichen Lehre
nur zur Verwaltung gegebenen Gutes. Die genannten reformistischen
Autoren erklären selbst, dass es heute gar nicht mehr auf die Frage, wie
das konkrete Gute verwendet wird, sondern auf die Frage der Eigen-
tumsverteilung selbst ankommt. Sie sehen die Unmöglichkeit der Über-
tragung der damaligen kirchlichen Grundsätze für die Eigentumsnut-
zung auf die heutige Zeit ein, sie erkennen selbst, dass das christliche
Liebes- und Rechtsgebot der Armenunterstützung, das die traditionelle
katholische Schule so gern als Beweis für die soziale Eigentumsauffas-
sung der katholischen Kirche anführt, mit seinem Anspruch, Zentral-
punkt einer christlichen Sozialordnung zu sein, standortsgebunden an
die soziale Welt des Mittelalters gewesen ist. Diese Einstellung bedeutet
immerhin einen Fortschritt von nicht zu unterschätzender Bedeutung,
der ganz von selbst zur prinzipiellen Kritik und Verneinung des Kapi-
talismus und zu dem Versuch der Mitarbeit bei der Ablösung dieses
Systems führt.5
Damit wird aber auf der andern Seite evident, dass die katholische
Lehre von der sozialen Bindung des Eigentums keinen Raum mehr bei

5 Freilich steht dem der Typ des konservativen Katholiken gegenüber, der uns in
dem Aufsatz von van Meer »Statischer oder dynamischer Eigentumsbegriff«,
Hochland März 1930 [Heinrich van Meer: Statischer oder dynamischer Eigen-
tumsbegriff, in: Hochland, Jg. 27, Heft 6, München 1930, S. 558-563], in seltener
Reinheit entgegentritt. Dort findet man den klassischen Satz: »Deshalb wider-
spricht ein korrekt erworbenes Eigentum niemals dem Willen Gottes.« Die Almo-
senpflicht bleibt ihm auch heute noch die Grundlage der katholischen Sozialord-
nung. Von diesem Standpunkt aus wäre es begreiflich, dass der Autor dazu
schreiten müsste, die tatsächlich in reichem Maß vorgenommenen Einschränkun-
gen des Eigentums zu verwerfen. Doch hier zieht er sich seltsamerweise auf das
Formaljuristische zurück und argumentiert mit dem Gegensatz von öffentlichem
und Privatrecht. Im Grunde beruht jene konservativ-katholische Haltung, die
nicht von der ökonomischen Fragestellung nach der Überlegenheit einer Wirt-
schaftsordnung über die andere ausgeht, auf einer pessimistischen Grundauffas-
sung von der Natur des Menschen, und die Lehre von der Sündhaftigkeit bleibt
auch bei diesem Autor das schlagendste Argument, wenn er sich ausdrücklich
auf das Erste Buch Moses für die Unabänderlichkeit unserer jetzigen Eigentums-
ordnung bezieht.

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[22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930] 337

der Deutung des Eigentumsbegriffes in der heutigen Zeit beanspru-


chen kann. Diese Lehre kann ebenso wenig wie die deutschrechtliche
Privatrechtsschule Otto von Gierkes,6 die das Ergebnis eines sich über
Jahrhunderte erstreckenden Entwicklungsprozesses zugunsten einer in
sich selbst begrenzten Privatrechtsordnung rückgängig machen will,
die Frage nach der realen Bedeutung des Eigentumsinstitutes und
damit der Eigentumsgarantie in der Verfassung beantworten. Jene
moralische Bindung des konkreten Eigentümerwillens bei der Eigen-
tumsnutzung ist objektlos. Die Empfehlung des Abs. 3 des Art. 153
kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Eigentumsbegriff, der
der Weimarer Verfassung zugrunde liegt, eine wenn auch noch so sym-
pathische Sozialgebundenheit des Eigentums selbst ausschließt. Merk-
würdig und symptomatisch für die geistige Entstehungssituation der
Weimarer Verfassung bleibt die Bestimmung immer. Denn dieser Satz
steht in einem immanenten Widerspruch zur gesamten liberalen Wirt-
schaftsordnung und ihrer Eigentumsauffassung; für diese muss ein sol-
cher Satz streng genommen widersinnig sein, da er dem Einzelnen eine
besondere Zielsetzung bei der Benutzung seiner Güter anempfiehlt. Da
diese Zielsetzung möglicherweise und in der heutigen Wirtschaftsord-
nung wahrscheinlicher Weise außerhalb seines persönlichen Interessen-
kreises liegen wird, bedeutet jene Formulierung zugleich die Vernei-
nung einer aus der Verfolgung privater Interessen selbständig sich
ergebenden Harmonievorstellung.
Wenn der Eigentumsbegriff selbst keine Schranken enthält, fragt es
sich, ob die konkrete Verfassung in ihrem Eigentumsartikel Schranken
aufgestellt hat, ob sie sich selbst von der Absolutheit der Eigentums-
herrschaft ausnimmt und ihr als eigene Macht entgegentritt. Ist das
Verhältnis von Eigentum und Verfassung derart, dass die Verfassung
mit der Gewährleistung des Eigentums eine bestimmte Wirtschaftsord-
nung selbst garantieren will, oder will die Verfassung dem Eigentum
gegenüber freies Spiel behalten und nur durch Verfahrensmaximen
einer etwaigen Verwaltungswillkür gegen den Einzelnen hemmend
entgegentreten? Oder verbindet sie gar das eine mit dem andern, will
sie auf dem Weg über eine Verfahrensgarantie doch eine bestimmte
Wirtschaftsordnung sanktionieren, indem sie in den Gerichten eine
eigene Nachprüfungsinstanz für alle Eingriffe in die private Sphäre
schafft? Die Auslegung, die in der Rechtsprechung des Obersten Bun-

6 Siehe insbesondere die Schrift Otto v. Gierkes zur Kritik des Entwurfs des Bür-
gerlichen Gesetzbuchs »Die soziale Aufgabe des Privatrechts«[. Vortrag gehalten
am 5. April 1889 in der juristischen Gesellschaft zu Wien von Dr. Otto Gierke],
Berlin 1889.

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338 [22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930]

desgerichts und der Staatengerichte das XIV. Amendement der Unions-


verfassung erfahren hat, hat in der Tat diese beiden Gedankengänge
miteinander verknüpft. Die Bedeutung des Wortes Eigentum in dem
Satz »Nor shall any state deprive any person of life, liberty or property,
without due process of law« hat in der Rechtsprechung der obersten
Gerichte seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts einen bedeutsamen
Wandel erfahren. Aus dem ausschließlichen Herrschaftsrecht des Fron-
tiers über seinen Landbesitz in der Kolonialzeit ist der Zentralbegriff
der kapitalistischen Wirtschaftsordnung geworden. Damit wurden aber
die Grenzen des juridisch Erfassbaren gesprengt, und an die Stelle
eines Rechtsbegriffes des Eigentums trat der Zentralbegriff der oppor-
tunity. Man ging dazu über, in den Eigentumsbegriff alle ökonomi-
schen Chancen und Möglichkeiten hineinzunehmen, neben den Gegen-
wartswerten auch die Zukunftswerte zu berücksichtigen, die der Staat
dann hinzunehmen, zu respektieren und zu schützen hatte. Faktizität
und Recht fließen in eins und mit ihnen Gegenwartswert und
Zukunftshoffnung. Wenn aber der Schutz auf alles ausgedehnt wird,
was Tauschwert besitzt, so musste hier die juristische Bestimmbarkeit
des Eigentumsrechts zugunsten der ökonomischen Brauchbarkeit
erheblichen Schaden leiden. Wenn Commons7 konstatiert, dass heute
bei der Befassung der Gerichte mit publizistischen Eigentumsfragen
sowohl der Zweck (purpose) des Gesetzes als auch die Prozedur selbst
vom Gericht nachzuprüfen seien, so setzt eine solche Judikatur eine
einheitliche Auffassung von der den zu treffenden Entscheidungen
zugrunde liegenden Wirtschaftsauffassung voraus. Hier ist in der Tat
das XIV. Amendement nicht nur juristische Grundlage einer bestimm-
ten Wirtschaftsauffassung, sondern weit darüber hinaus Mittel zu ihrer
Verwirklichung. Von nun ab kann natürlich due process of law nicht
mehr die Bedeutung haben, Appellationsmittel des durch Verwaltungs-
willkür ohne Gesetzesgrundlage geschädigten Einzelnen zu sein, da es
gar nicht darauf ankommt, ob das Eigentum eines Einzelnen oder die
opportunity von Bevölkerungsteilen betroffen werden; vielmehr bedeu-
tet es von nun ab, dass jede gesetzliche Festsetzung der Wirtschafts-
und Sozialbeziehungen von Bevölkerungskreisen (denn um das kon-
krete Eigentum handelt es sich nicht mehr) dem process of law unter-
liegt. Dieser aber ist kein rechtstechnisches Verfahren mehr, da die
Nachprüfung keine Rechtsfragen betrifft, sondern eben die Abgren-

7 Commons, John R.: Legal foundations of capitalism, New York 1924.

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[22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930] 339

zung von Machtsphären,8 bei der der Richter die gleiche Ermessensfrei-
heit (discretion) besitzt wie der Gesetzgeber und der Verwaltungsbe-
amte.9 Damit besteht in den Vereinigten Staaten auf dem gesamten
Gebiet der Sozial- und Wirtschaftspolitik neben den gesetzgebenden
Körperschaften noch eine autonome Instanz; die Voraussetzung ihres
Wirkens und damit der von ihr vorgenommenen Bestimmung des
Eigentumsbereichs liegt in dem bis heute in den Vereinigten Staaten
noch ziemlich ungebrochenen10 Gemeinbesitz an wirtschaftlichen
Erfolgsvorstellungen, die reale Klassengegensätze heute noch zu reinen
Interessenkonflikten zu bagatellisieren vermögen. Damit werden die
gesetzgebenden Instanzen und die in ihnen maßgebenden Parteien
selbst als Träger von jeweils verschieden gruppierten Interessen
gekennzeichnet, gegenüber denen erst der process of law die Errei-
chung des von der Gesamtnation als richtig erkannten Zieles gewähr-
leistet. Will man die Wandlung des Eigentumsbegriffs in der Rechtspre-
chung der Gerichte der Vereinigten Staaten verstehen und würdigen,
so muss man diese ihre Voraussetzungen erkennen; denn sie erst haben
es ermöglicht, dass die Gerichte unter Berufung auf Eigentumsschutz
distributorische Funktionen für die gesamte Sozialordnung auszuüben
in der Lage waren.
Es ist zwar heute in der Rechtsprechung des deutschen Reichsgerichts
üblich geworden zu behaupten, dass die dem Gesetzgeber in dem
Eigentumsartikel der Reichsverfassung gezogenen Schranken enger
seien als die der preußischen Verfassung von 1850, so dass gewisserma-
ßen das Bild entstehen konnte, als ob diese preußische Verfassung die
moderne und die Reichsverfassung die rückschrittliche sei. Die konsti-
tutionellen Verfassungen des letzten Jahrhunderts in Deutschland
glaubten an die Ratio des Gesetzes, weil das Gesetz das Parlament und
damit das Bürgertum war. Sie unterwarfen also auch das Eigentum
dem Gesetz, da dieser Unterwerfungsakt vorläufig höchstens gegen die
Restbestände des Feudalismus, nicht aber im Prinzip gegen das bürger-
liche Eigentum gerichtet war. Aus solchen Gesichtspunkten heraus
erkannten sie auch willig die Notwendigkeit weitreichender öffentlich-

8 So schreibt Charles Beard in seinem Buch »The rise of american civilization« Bd.
2[, New York 1927,] S. 343: »The question of the reasonableness of rates is ulti-
mately a judicial question requiring its determination due process of law and
due respect for the rights of property guaranteed by the XIV. amendment.«
9 Siehe über die Frage des richterlichen Ermessens die instruktiven Erörterungen
bei Commons, a. a. O. S. 357 ff. [John R. Commons: Legal foundations of capita-
lism, New York 1924.] Die dort verwendeten Kategorien und Abstufungen von
extortion bis confiscation sind freilich sämtlich privatwirtschaftlich gedacht.
10 Charlotte Lütkens: Staat und Gesellschaft in Amerika, Tübingen 1929, S. 52 ff.

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340 [22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930]

rechtlicher Beschränkungen an und gewährten zum Beispiel den


Gemeinden im Jahre 1875 ein Fluchtlinienrecht, dessen Kernpunkte das
deutsche Reichsgericht im Jahre 1930 zu zerstören unternahm. Man
darf dabei auch daran erinnern, dass es in Deutschland niemals ein
Gegenstück zum slaughter house case gegeben hat, jenem Rechtsfall,
anlässlich dessen im Jahre 1872 im Obersten Gerichtshof der Vereinig-
ten Staaten zum ersten Mal Meinungsverschiedenheiten darüber ent-
standen, ob Eigentum Sachherrschaft oder Tauschwert bedeute. Drei
Jahre vorher hat die damalige Gewerbeordnung für das Gebiet des
Norddeutschen Bundes diesen Fall, ohne dass jemals den nordamerika-
nischen ähnliche Argumente geäußert worden wären, endgültig dahin-
gehend entschieden, dass die Möglichkeit bestehen muss, im öffentli-
chen Interesse den privaten Schlachthausbetrieb zu unterbinden. Und
noch nach der Entstehung der Weimarer Verfassung hat das deutsche
Reichsgericht in freilich sehr vorsichtiger Weise und mit rein empiri-
scher Begründung ein Recht auf den Gewerbebetrieb in der Sphäre des
öffentlichen Rechts zutreffend verneint.11
So war es bei der Entstehung der Weimarer Verfassung unbestrittenes
Gedankengut einer positivistischen Rechtslehre, dass die Eigentumsga-
rantie nur eine Garantie für den Einzelnen gegen individuelle Enteig-
nungsakte bilden könne, dass aber darüber hinaus für den Staat, wenn
sein Wille in Gesetzesform erscheint, auch die Eigentumsgarantie kein
Hindernis darstelle. Die positivistische Staatsrechtslehre, die den Staat
lieber mit der Aktiengesellschaft als mit der menschlichen Gesellschaft
in Verbindung setzte, konnte die Staatsgewalt so lange der Eigentums-
sphäre überordnen, als die Inhaber beider Gewalten wesensgemäß das
gleiche Interesse verband. Mit der Weimarer Verfassung ging jene
Gleichgerichtetheit der Interessen unter, und es entstand die Notwen-
digkeit, inhaltlich zur Frage, ob der Eigentumsartikel das bestehende
Wirtschaftssystem sanktioniere, Stellung zu nehmen. Wir glauben, dass
die Stellungnahme der Verfassung in dieser Hinsicht eine Zweideutig-
keit nicht zulässt. Mag man sonst welcher Ansicht auch immer über die
Grundrechte der Weimarer Verfassung, über ihre verhängnisvolle Nei-
gung zu dilatorischen Formelkompromissen12 sein, niemand wird
bestreiten können, dass diese Verfassung keine Garantiefunktion für
das kapitalistische Wirtschaftssystem und damit auch keinen Raum für
diesbezügliche richterliche Funktionen enthält. Eine Verfassung, die
nicht nur den Arbeitern rechtliche Einflussnahme auf die Produktions-

11 Siehe Reichsgerichtsentscheidung in Zivilsachen [RGZ], Bd. 101, S. 289 ff.


12 Carl Schmitt, Verfassungslehre[, München/Leipzig] 1928, S. 31 ff.

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[22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930] 341

sphäre verheißt, sondern auch dem Staat die Möglichkeit gibt, selbst
die Produktion in die Hand zu nehmen, drückt mindestens aus, dass es
der Staat, konstituiert nach den demokratischen Aufbauprinzipien die-
ser Verfassung, sein soll, der nach eigenen Wertsetzungen die Rolle der
anderen Faktoren bestimmt. Soweit er nach dem Ausdruck parlamenta-
rischer Kräfteverhältnisse den einen oder den andern Faktoren mehr
Raum gibt, gibt er es aus eigenen Händen und nicht als von der Verfas-
sung vorausgesetzte und von ihr selbst gewährte Garantie eines als
richtig anerkannten Wirtschaftsprinzips. Mithin bedeutet der erste Satz
des Absatzes 1 des Art. 153 »Das Eigentum wird von der Verfassung
gewährleistet« oder, wie es im Aufruf des Rates der Volksbeauftragten
dem Sinn nach gleichbedeutend, aber plastischer ausgedrückt heißt:
»Die Regierung wird das Eigentum gegen Eingriffe Privater schützen«,
keine Garantie für eine bestimmte Wirtschaftsordnung, keine Garantie
des Eigentums als Tauschwert; vielmehr schützt die Verfassung in
Abs. 1 Satz 1 das konkrete Eigentum jedes Einzelnen ohne Beziehung
auf dessen Verankerung in einem bestimmten Wirtschaftssystem. Wenn
es dann in Art. 153 mit Bezug auf das Eigentum weiter heißt: »Sein
Inhalt und seine Schranken ergeben sich aus den Gesetzen«, so ist
damit nicht nur ausgedrückt, dass öffentlich-rechtliche Beschränkung
des Eigentums von Privaten entschädigungslos hingenommen werden
müsse, sondern auch der Tatsache Rechnung getragen, dass die staatli-
chen Gesetze generell den möglichen Umfang der Eigentumssphäre
überhaupt bestimmen. Wie weit der Staat die ausschließliche Herr-
schaft des Einzelnen beschränken oder gar ausschließen darf, geht
daraus nicht hervor und richtet sich nach dem Willen des Gesetzgebers,
dem gegenüber die Verfassung eine Garantie nicht vorsieht. Eine ausge-
sprochene Garantie enthält allerdings die Reichsverfassung in dieser
Hinsicht. In Übernahme und getreuer Anlehnung an die Eigentumsfor-
meln, die seit den französischen Revolutionsverfassungen üblich
geworden sind, schützt auch die Weimarer Verfassung den Einzelnen
gegen die Wegnahme seines konkreten Sachbesitzes. Hierfür erfordert
die Verfassung die Innehaltung bestimmter Verfahrensmaximen und
gewährt, falls ein Reichsgesetz nichts anderes bestimmt, angemessene
(nicht volle) Entschädigung. Ob mit Recht oder Unrecht, kann dahinge-
stellt bleiben, jedenfalls sieht die Weimarer Verfassung mit einer gewis-
sen inneren Logik auch die Wegnahme von Fabriken, die Verstaatli-
chung oder sogenannte expropriative Sozialisierung als Enteignung an
und wendet deshalb die entsprechenden Bestimmungen auf sie an.
Immer aber bleibt sie dabei, wie der Satz 2 des Abs. 1 des Art. 156 zeigt,
der Auffassung treu, dass Enteignung nur die konkrete Wegnahme von

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342 [22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930]

Sachgütern bedeutet; sie enthält folgerichtig für den Fall der Einflusssi-
cherung auf wirtschaftliche Unternehmungen und Verbände, die ja oft
ebenso viel bedeutet wie die expropriative Sozialisierung, keine Ent-
schädigungsbestimmung. Die Formeln sind die alten der Verfassungen
des letzten Jahrhunderts geblieben; aber die Bedeutung der Enteig-
nungsgarantie hat sich gewandelt.
Seit den französischen Revolutionsverfassungen bedeutet das Expro-
priationsrecht des bürgerlichen Rechtsstaats das Korrelat zu der Unver-
brüchlichkeit des Eigentums als Voraussetzung bürgerlicher Herr-
schaftsordnung. Auf dieser sicheren Grundlage wird die Ausnahme
festgestellt, die eben darin ihre Bedeutung und Begrenzung findet, dass
sie sich niemals auf ganze Eigentumskategorien bezieht. In der Weima-
rer Verfassung bedeutet die Enteignungsgarantie die Bindung des Staa-
tes bei der Behandlung des Einzelnen; dem Einzelnen gegenüber
bedeutet die formelle Rechtssicherheit zugleich materielle Gerechtig-
keit. Und die Verfassungsinterpretation ergibt heute schon jenes Ergeb-
nis, das Renner13 wohl als Endpunkt einer Entwicklung für den
Umkreis der Eigentumsherrschaft darstellt. Bereits heute gewährt die
Verfassung jedem Einzelnen sein »suum«, die Innehabung jener Güter,
die der Einzelne in einem höheren Stadium menschlicher Kulturent-
wicklung brauchen kann, ohne dass aus diesem Gebrauch Missbrauch,
aus Sachherrschaft Personenbeherrschung wird. Denn dies ist die
Bedeutung der Enteignungsgarantie der Verfassung, den generellen
Gesetzeseingriff des Staates in private Rechte, die übrigens bei genauer
Besichtigung mehr den Charakter von opportunities als von Rechten
tragen, diskussionslos zuzulassen und doch dem Individuum seine Pri-
vatsphäre zu garantieren. Gewiss ist jene Garantie keine absolute, sie
muss nicht nur dann weichen, wenn das Allgemeininteresse in die Not-
wendigkeit versetzt wird, gerade diese bestimmte Privatsphäre nicht
entbehren zu können, sondern sie gerät heute in immer größere Abhän-
gigkeit von der Allgemeinsphäre selbst, deren konstitutive Prinzipien
die im demokratischen Staat herrschenden Mächte bestimmen.
Die deutsche höchstrichterliche Rechtsprechung hätte es leicht gehabt,
in der Interpretation des Art. 153 Wege einzuschlagen, die, ohne dass
das Reichsgericht sich selbst untreu geworden wäre, dem Sinn des
Art. 153 nahegekommen wären. Weder taugt der Art. 153 zum Konzen-
trationspunkt einer neuen Epoche richterlicher Verfassungsinterpreta-
tion, da so viele andere Verfassungsbestimmungen schon die Abgren-

13 Renner, a. a. O., S. 178. [Karl Renner: Die Rechtsinstitute des Privatrechts, Tübin-
gen 1929.]

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[22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930] 343

zung sozialer und wirtschaftlicher Machtsphären vornehmen,14 noch


enthält die sozial nicht homogene Demokratie Deutschlands mit ihren
klassenmäßig zusammengesetzten Parteien die Möglichkeit einer neu-
tralen Instanz, die berechtigt wäre, das nicht aus zufälligen Interessen-
gegensätzen zustande gekommene Gesetz anhand eines übergeordne-
ten Maßstabes zu rektifizieren. Das deutsche Reichsgericht hätte die
agnostische Haltung gegenüber dem Gesetz wie im 19. Jahrhundert bei-
behalten können, wenn es sich dabei auf die demokratische Legitima-
tion jedes Gesetzes in der Weimarer Verfassung berufen hätte. Jene
agnostische Haltung gab es aber grundsätzlich mit dem scheinbar rein
empirischen Satze auf, dass eine Enteignung auch durch Gesetz erfol-
gen könne. Denn jener Satz hatte nicht nur den Sinn, eine Umgehung
der Garantie des Art. 153 Abs. 2 zu verhindern, falls der Gesetzgeber
einzelne Fälle betreffende Maßnahmen anstatt auf dem Wege eines
geordneten Verfahrens auf dem Wege des inappellablen Gesetzes erle-
digte.15 Er sollte den Weg dazu ebnen, die gesetzlichen Eingriffe in die
private Sphäre generell mit dem Ausnahmecharakter der Enteignung
belegen zu können. Der Eingriff in private Rechte wird als Enteignung
betrachtet und in einer ziemlich konstanten Rechtsprechung16 große
Gebiete der Staatstätigkeit in das Schema der individuellen Enteig-

14 Hierfür käme höchstens ein durch seine Farblosigkeit und inhaltliche Bedeu-
tungslosigkeit viel umfassenderer Artikel wie zum Beispiel Art. 151 der Reichs-
verfassung in Betracht. Siehe hierüber im Zusammenhang mit dem Problem des
richterlichen Prüfungsrechts Franz Neumann in der »Gesellschaft«[, Jg. 6, Heft
6, Berlin] 1929, S. 517 ff., und den Aufsatz von Carl Schmitt, »Das Reichsgericht
als Hüter der Verfassung« in der Festschrift zum 50jährigen Bestehen des
Reichsgerichts 1930, Bd. 1. [Carl Schmitt: Das Reichsgericht als Hüter der Ver-
fassung, in: Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben: Festgabe der
juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts (1. Okt.
1929). In 6 Bänden, Band 1, Öffentliches Recht, Berlin 1929, S. 154-178.]
15 Dass dies zulässig ist, wird auch von Carl Schmitt, der eine sehr strenge Begren-
zung des Anwendungsbereichs der Enteignung vornimmt, bestritten, ergibt sich
aber aus dem demokratischen Ursprung des Gesetzes, bei dem das Moment des
Generellen in seinem Ursprung, nicht in ihm selbst zu liegen braucht.
16 Doch ist die Entwicklung nur sehr allmählich gewesen und noch sehr lange
haben Entscheidungen die Enteignung als vorausgesetztes technisches Institut
angesehen. Noch im 127. Band S. 280 [RGZ, Band 127, Berlin 1930, S. 280-282],
findet sich eine durchaus zutreffende Entscheidung des 3. Senats, der die von
dem Gerichtshof sonst missachtete Wahrheit ausspricht, dass der Enteignungs-
begriff im Sinne des Art. 153 der Reichsverfassung einen Verwaltungsakt vor-
aussetzt, der auf Grund einer vom Gesetzgeber erteilten Ermächtigung auf Ent-
ziehung des Eigentums als solchen oder einer der aus ihm fließenden Verfü-
gungsbefugnisse gerichtet ist. Auch der Staatsgerichtshof für das Deutsche
Reich hat in einer im 123. Band veröffentlichten Entscheidung sich der herr-
schenden Reichsgerichtsrechtsprechung nicht angeschlossen, sondern sich viel-
mehr dem hier vertretenden Standpunkt über die Bedeutung des Satzes 2 Abs. 1
Art. 153 angenähert.

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nungsakte mit ihren sich aus Art. 153 Abs. 2 ergebenden Voraussetzun-
gen gepresst. Dies zeitigte zweierlei unmittelbare rechtstechnische Fol-
gen. Zwei Grenzen, die bisher unverrückbar feststanden, gerieten in
Fluss. Einmal die Frage nach der juristischen Abgrenzung der Eigen-
tummachtsphäre selbst, die bisher in Deutschland niemals eine Frage
war: Wo liegen die Grenzen zwischen Recht und opportunity? Zwi-
schen rechtlich geschützter Sphäre und vorläufig dem Einzelnen belas-
sener ökonomischer Freiheitssphäre? Wenn die in der Inflationszeit
notwendig gewordene Verpflichtung zur Devisenablieferung, wenn die
Aufhebung überholter Abdeckereiprivilegien, wenn die auf Grund all-
gemeiner Beschränkung erfolgende Zwangsvermietung, wenn die
gesetzliche Neufestsetzung von Kohlenrenten Enteignungen darstellen,
wo bleibt dann der Unterschied zwischen subjektivem Recht und
objektiver Rechtslage, die heute so und morgen so sein kann? Die Inter-
essenten haben gar bald die eigentümliche Entwicklungslogik jener
Rechtsprechung begriffen, und sehr früh sah sich das Reichsgericht
genötigt, selbst Grenzziehungsversuche zu machen. Als die Interessen-
ten vom Reichsgericht die Ungültigkeitserklärung der Dritten Steuer-
notverordnung, des Aufwertungsgesetzes und der Goldbilanzverord-
nung verlangten, musste dasselbe Reichsgericht in berühmt geworde-
nen Entscheidungen allgemeine Regelungen und Neufestsetzungen
von unbedingt lebensnotwendig gewordenen Fragekomplexen in ihrer
Verfassungsmäßigkeit gegen den Ansturm der Interessenten verteidi-
gen, die nicht mehr nur Enteignung, sondern Entziehung und Konfis-
kation behaupteten.17 Damit ist aber schon der erste Schritt in der Rich-
tung der Rechtsprechung der Vereinigten Staaten getan, indem der
Richter darüber befindet, was eine allgemeine Festsetzung erlaubter Art
und was ein mindestens entschädigungspflichtiger Eingriff in wohler-
worbene Rechte ist. In Wirklichkeit sind solche Unterscheidungen

17 Besonders enragierte Freunde des Privateigentums wie Herr Reichsgerichtsrat


[Alois] Zeiler und Herr Professor [Paul] Krückmann in Münster haben in ihren
Schriften die terminologische Verwendung des Begriffes Enteignung durch das
Reichsgericht deshalb bekämpft, weil hierdurch die Gefahr heraufbeschworen
werde, dass der Gesetzgeber in zukünftigen Fällen immer von der Befugnis des
Abs. 2 des Art. 153, die angemessene Entschädigung durch Reichsgesetz auszu-
schließen, Gebrauch machen könne. Sie schlagen daher dem Reichsgericht, mit
dessen Privateigentum schützenden Tendenzen sie sich glauben einig zu wis-
sen, vor, in Zukunft lieber auf die vom Reichsgericht als Enteignung rubrizier-
ten Fälle den Begriff der Konfiskation oder der unberechtigten Einziehung
anzuwenden. Diese sei durch Art. 153 Abs. 1 verboten und durch einfaches
Reichsgesetz könne nicht die Entschädigungslosigkeit des Eingriffs bestimmt
werden. Dass diese Argumentation unrichtig ist, bedarf hier keiner näheren
Erörterung mehr; sie zeigt immerhin die erstaunliche Zielstrebigkeit der Privat-
eigentum schützenden Tendenzen.

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[22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930] 345

höchstens gradueller Natur. Vom Standpunkt des Gesetzgebers aus


handelt es sich stets um allgemeine Festsetzungen, während jeder ein-
zelne Interessent, auch wenn es sich wie bei der Aufwertung um Hun-
derttausende von gleichgelagerten Fällen handelt, in diesen Maßnah-
men Verletzungen seiner Rechte sehen wird.
Zum andern aber konnte bei dieser Rechtsprechung die bisher unbe-
strittene Kategorie der auf jeden Fall entschädigungslosen öffentlich-
rechtlichen Eigentumsbeschränkungen nicht mehr bestehen bleiben.
Denn wenn jeder Eingriff in private Rechte durch Gesetz Enteignungs-
charakter trägt, so ist im Grunde auch die öffentlich-rechtliche
Beschränkung eine entschädigungspflichtige Enteignung. Diese Konse-
quenz hat dann das Reichsgericht alsbald auch zum Leidwesen der von
einer solchen Rechtsprechung in erster Linie betroffenen Gemeinden
gezogen und in zwei bekannten Entscheidungen, dem Hamburger
Denkmalfall und dem Berliner Fluchtlinienfall, die Grundlagen unseres
bisherigen Städtebauwesens in Frage gestellt. Die Fernwirkungen jener
Rechtsprechung, von der das Hausbesitzerorgan »Das Grundeigen-
tum« gesagt hat, dass das Reichsgericht sich hier wieder als Hüter der
Verfassung und damit auch des Privateigentums bewährt hat, gehen
weit über die eigentliche unmittelbare Einflusssphäre dieser Entschei-
dungen hinaus. Man kann seit Jahren beobachten, wie im steten
Zusammenhang und unter ausdrücklicher Bezugnahme auf diese
Rechtsprechung Gesetzentwürfen auf den verschiedensten Gebieten
nicht nur von Interessentenkreisen,18 sondern auch aus der Mitte der
gesetzgebenden Körperschaften heraus selbst große Schwierigkeiten
bereitet und sie nicht selten unter Berufung auf diese Gesichtspunkte
erheblich verschlechtert werden. Es sei hier nur erinnert an den jetzt
durch die Reichsgerichtsrechtsprechung gegenstandslos gewordenen
Entwurf zum preußischen Städtebaugesetz, den die Gutachten des
preußischen Staatsrats mit den Reichsgerichtsargumenten aufs
schärfste bekämpft haben.19 Die Verhandlungen im Preußischen Land-
tag über die endgültige Fideikommissauflösung sowie die zu dieser
Materie erstatteten Gutachten des für den Deutschen Juristentag 1930

18 Letzthin ging durch die Presse die Nachricht, dass die deutschen Gefrierfleisch-
importeure wegen des in der Zollgesetzgebung enthaltenen Einfuhrverbots für
Gefrierfleisch Enteignungsentschädigung im ordentlichen Gerichtsverfahren
fordern. Es ist kein Grund ersichtlich, warum sich solche mit Rechtsgutachten
bewaffneten Interessentenforderungen auf das Gefrierfleisch beschränken soll-
ten. Hier kann man schon nicht mehr von Ständestaat, hier muss man von Privi-
legienstaat sprechen.
19 Siehe Drucksache 3015 des Preußischen Landtags, 3. Wahlperiode, 1. Tagung,
1928/29.

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346 [22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930]

zum Gutachter auserkorenen Professors Günther Holstein20 weisen


Argumente auf, die im Jahre 1848 kaum möglich gewesen wären. Noch
viel deutlicher sind die Folgen jener verfehlten Anschauung über die
Stellung des Privateigentumschutzes in der Weimarer Verfassung bei
den Verhandlungen über das Gesetz zur Regelung älterer staatlicher
Renten gewesen; der im März 1928 dem Reichstag vorgelegte Entwurf
dieses Gesetzes sah vor, dass Renten, die für die Aufgabe oder den Ver-
lust von landesherrlichen oder standesherrlichen Rechten, sonstigen
Hoheitsrechten oder Standesvorrechten jeder Art begründet waren,
ebenso entschädigungslos in Wegfall kommen sollten wie Renten, die
dem Ausgleich für die Aufgabe oder den Verlust von Leibeigenschaften
oder ähnlichen nach dem heutigen Zeitempfinden als unsittlich anzuse-
henden Rechten dienten. Merkwürdigerweise enthielt der Entwurf den
Passus, dass die Vorlage verfassungsändernd sei, was tatsächlich nicht
der Fall war. Aber die herrschende Lehre über Begriff und Vorausset-
zung der Enteignung war so sehr communis opinio geworden, dass
sich nicht nur das das Gesetz vorlegende Ministerium, sondern auch
der Reichstag von ihr beeindrucken ließen. Da diese Vorlage nicht die
wegen des angeblich in ihr enthaltenen Eingriffs in erworbene Rechte
fälschlich für notwendig erachtete Zwei-Drittel-Mehrheit erhielt, so fie-
len entschädigungslos nur die Renten für den Verlust von Leibeigen-
schaftsrechten oder ähnlichen Renten fort, während für die anderen
Rechte eine Aufwertung beschlossen wurde. Diese Regelung steht nicht
nur hinter der Behandlung, die die feudalen Rechtstitel 1848 in
Deutschland erfahren sollten, zurück, sondern wird auch weit überholt
von der französischen Revolutionsgesetzgebung. Auch soweit solche
Argumente den eigentlichen Gang der Gesetzgebung nicht zu hemmen
vermochten, haben sie allen Arten von privaten Interessentengruppen
doch erheblich den Rücken gesteift, was letzthin wieder bei dem Fall
des deutsch-polnischen Liquidationsabkommens augenfällig in
Erscheinung trat. Und die ganz im Gegensatz zu den Tendenzen der
Reichsverfassung stehende Sanktionierung des gegenwärtigen Status
quo an Privateigentum ist eine der ernstesten Folgen, die jene Recht-
sprechung des Reichsgerichts hervorgerufen hat. Wenn auch eine
erfolgreiche Heranziehung dieser Bestimmung zur teilweisen Verhin-
derung sozialpolitischer Gesetzgebung wie in anderen Staaten nicht

20 [Günther] Holstein: Fideikommißauflösung und Reichsverfassung[, Berlin]


1929. Herr Professor Holstein soll dem Juristentag darüber berichten, ob sich
eine Notwendigkeit herausgestellt hat, den Unterschied zwischen öffentlich-
rechtlicher Eigentumsbeschränkung und Enteignung gesetzlich festzulegen und
wie diese Unterscheidung zu bewerkstelligen sei. Dieses angebliche »Problem«
ist nur in der Rechtsprechung entstanden, die Verfassung kennt es nicht.

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[22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930] 347

erfolgt ist und wohl auch kaum erfolgen kann, so hindert das doch
nicht, dass im Verfassungsleben der letzten zehn Jahre der Art. 153 in
relativ sehr starkem Maße als Garant privatwirtschaftlicher Institutio-
nen gegenüber staatlichen Neuregelungen aller Art benutzt wurde.
Es entsteht die Frage, ob durch gesetzgeberische Maßnahmen ein dem
Sinn des Art. 153 besser entsprechender Zustand herbeigeführt werden
kann. Innerhalb beschränkter Grenzen wird dies wohl möglich sein.
Der unmöglichen, die Städte aufs schwerste belastenden Rechtspre-
chung des Reichsgerichts auf dem Gebiet des Baurechts tritt teilweise
der vorläufige Referentenentwurf über ein Reichsbaulandgesetz entge-
gen, in dem für eine bestimmte Gruppe von Fällen ein Anspruch auf
Entschädigung ausdrücklich ausgeschlossen ist. Doch lässt dieser Ent-
wurf nach mehr als einer Richtung hin unbefriedigt.21 Einmal trifft er
nicht alle Fälle der öffentlich-rechtlichen Beschränkung, zum andern
Mal sind seine Vorschriften über das Entschädigungsverfahren wie
auch die Bestimmungen über die zu gewährende Entschädigung selbst
nicht ausreichend und stehen zudem am falschen Ort. Die Abgrenzung
zwischen Enteignung und öffentlich-rechtlicher Beschränkung, die an
sich aus der Verfassung hervorgeht, deren Konkretisierung aber die
Rechtsprechung des Reichsgerichts dringend notwendig gemacht hat,
gehört ebenso in ein Reichsrahmengesetz über das Enteignungsverfah-
ren wie die Bestimmungen über das Enteignungsverfahren und die
Enteignungsentschädigung. Denn es gibt auch außerhalb des Baurechts
viele Fälle landesrechtlicher öffentlicher Beschränkungen. Jenes durch-
aus notwendige Reichsrahmengesetz über das Enteignungsverfahren
wird den Begriff der Enteignung so festzulegen haben, wie ihn bis zum
heutigen Tage alle Landesgesetze verwenden, als Übertragung von
Eigentum auf ein bestimmtes zum Wohl der Allgemeinheit dienendes
Unternehmen auf dem Wege eines auf gesetzlicher Grundlage beruhen-
den Verfahrens. Ausdrücklich wird weiter darin die öffentlich-rechtli-
che Beschränkung als eine im öffentlichen Interesse das Eigentum einer
nicht individuell bestimmten Zahl von Eigentümern durch allgemeine
Vorschriften beschränkende Anordnung zu definieren sein. Weiterhin
wird der Entschädigungsbeschluss nicht, wie der Entwurf des Bauland-
gesetzes es vorsieht, bei einer dem Zivilgericht angegliederten Behörde
angefochten werden können, sondern ausschließlich bei dem Verwal-
tungsgericht. Die bedauerliche Versteifung eines das verfassungsmäßig

21 Siehe die ausführliche Besprechung dieses Entwurfes in dem Aufsatz von


Robert Sachs, öffentliche Bodenpolitik gegen private Bodenspekulation, in »Die
Arbeit«, Mai 1930. [Robert Sachs: Öffentliche Bodenpolitik gegen private Boden-
spekulation, in: Die Arbeit, Jg. 6, Heft 5, Berlin 1930, S. 306-312.]

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348 [22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930]

vorgeschriebene Maß weit übersteigenden Eigentumsschutzes hat in


Verbindung mit der bisherigen durch das preußische Enteignungsge-
setz vorgesehenen vollen Entschädigungspflicht die Städte gezwungen,
ungeheure unangemessene Entschädigungssummen zu zahlen. Ent-
schädigungsgrundsätze wie der, dass bei der Enteignung der individu-
elle Wert zu berücksichtigen ist, den ein Grundstück nicht für einen
Eigentümer selbst, sondern für einen dritten Kauflustigen hatte, wenn
dieser zur Zahlung eines höheren Kaufpreises bereit war, bilden ein
Eldorado für großzügige Schiebungen und dabri auch die Erklärung
für manche sonst nicht verstandene Pfade städtischer Grundstückspoli-
tik.
Darüber wird man sich allerdings keinen Täuschungen hingeben dür-
fen, dass ein solches sehr notwendiges Reichsrahmengesetz für das Ent-
eignungsverfahren auf der ganzen Linie den eigentlichen Sinngehalt
des Art. 153 nicht allein wird wiederherstellen können. Ein solches
Gesetz wird eine durchaus notwendige Verbesserung unseres reform-
bedürftigen Enteignungsverfahrens bringen, es wird im Zusammen-
hang mit dem Baulandgesetz die durch die Reichsgerichtsrechtspre-
chung fragwürdig gewordenen Grundlagen der städtischen Bodenpoli-
tik wiederherstellen können und darüber hinaus auch die Gerichte ver-
anlassen, den Begriff der öffentlich-rechtlichen Eigentumsbeschrän-
kung nicht nach ihrer privaten Meinung, sondern nach dem Willen des
Gesetzgebers, der in dieser Sache in Deutschland auf alte Traditionen
baut, zu verwenden. Aber höchst fraglich ist es, ob eine gesetzliche Ent-
eignungsdefinition, so notwendig sie auch ist, das Reichsgericht veran-
lassen wird, seine dem Art. 153 nicht entsprechende Anschauung über
den Enteignungscharakter von gesetzlichen Eingriffen in private Rechte
aufzugeben, oder ob das Reichsgericht sich nicht dem dadurch entzie-
hen wird, dass es die Begriffe wechselt und statt Enteignung das Wort
Konfiskation benutzt.
Die Weimarer Verfassung legt in ihrem Gesamtzusammenhang Zeugnis
dafür ab, dass die Beschränkung des Eigentums auf den individuellen
Bereich nicht gegen ihren Sinn verstößt. Nur aber wenn der Staat tätig
Gebrauch macht von dieser neuen Sinngebung, wird er all jene Mächte
in ihre Schranken weisen können, die auch hier wirksam daran arbei-
ten, die Gegenwart ewig an die Vergangenheit zu schmieden und
gegen das Recht des Heute das Ewiggestrige, das erworbene Recht aus-
zuspielen.

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349

[23.]
Artikel 48 und die Wandlungen des
Verfassungssystems.
Auch ein Beitrag zum Verfassungstag*
[1930]

Vor einem Jahre wurde mit einem beträchtlichen Aufwand an materiel-


len, mit einem viel geringeren Aufwand an geistigen Mitteln1 die zehnte
Wiederkehr des Verfassungstages gefeiert. Schon damals wurde an dieser
Stelle ausgeführt, dass die Grundlagen der Weimarer Verfassung kaum
mehr in dem Maße vorhanden sein dürften, als man bis weit in die Rei-
hen der Sozialdemokratischen Partei hinein anzunehmen geneigt sei.
Viele Sozialdemokraten stehen heute noch ratlos vor jener, dem an der
Oberfläche Haftenden fast unerklärlichen Veränderung, die sich binnen
eines halben Jahres bei den Mitträgern des Weimarer Verfassungsge-
dankens, den bürgerlichen Mittelparteien, vollzogen hat. Sie wollen
nicht glauben, dass das liebgewordene Bündnis der Weimarer Verfas-
sungsparteien auf immer gelöst sei. Man behilft sich damit, die organi-
satorischen Wandlungen im Aufbau des Bürgertums, die eine völlige
Verwischung der früher dort als trennend empfundenen Momente her-
beigeführt haben, damit zu erklären, dass man hier ein Augenblicks-
bündnis des gesamten Bürgertums zur Überwindung einer einmaligen
Wirtschaftskrise auf dem Rücken der Arbeiterschaft sieht; man hofft,
dass die Überwindung der Krise auch die Wiederherstellung der bür-
gerlich-proletarischen Arbeitsgemeinschaft zur Folge haben werde.
Sieht man davon ab, dass die Überwindung der Krise ein in sich selbst
schon höchst problematischer Begriff ist, so hat man daneben noch
übersehen, dass die bürgerlich-proletarische Verfassungsgemeinschaft

* [Erschienen in: Der Klassenkampf, Sozialistische Politik und Wirtschaft, Jg. 4, 2.


Halbjahresband, Heft 15, Berlin 1930, S. 456-458. – Zu diesem Text vergleiche in
der Einleitung S. 79-78.]
1 Wir weisen an dieser Stelle gern darauf hin, dass Hugo Sinzheimer in seiner
lesenswerten Chronik in der Justiz schon im Jahre 1929 nach der inhaltslosen
Verfassungsrede Severings die Problematik des republikanischen Lippenbe-
kenntnisses mit erstaunlicher Offenheit aufgezeigt hat. [Hugo Sinzheimer: Chro-
nik vom Juni 1930, in: Die Justiz in der Weimarer Republik. Eine Chronik, mit
einer Einführung von Otto Kirchheimer, herausgegeben von Thilo Ramm, in:
Wilhelm Hennis, Hans Maier (Hg.): Politica, Band 29, Neuwied/Berlin 1968,
S. 249-256.]

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350 [23.] Artikel 48 und die Wandlungen des Verfassungssystems [1930]

von 1919 in erster Linie einem konkreten Zweck gedient hat, der äuße-
ren Befreiung Deutschlands mit den Mitteln friedlicher Verständi-
gungspolitik. Wir glauben, dass es kein Zufall ist, dass die Umorganisa-
tion im bürgerlichen Lager in dem Augenblick vollendet war, als jener
Zweck erreicht war.
Bis zur Haager Konferenz, äußerlich gesehen sogar bis zur Rheinland-
räumung, hat in Deutschland immer eine heimliche Koalition regiert.
Es war die Koalition der außenpolitischen Verständigung, die auch
beim Dasein eines Rechtskabinetts hemmend auf den Chauvinismus
der Deutschnationalen und durch die Unterstützung der Sozialdemo-
kratie hemmend auf die innerpolitische Linie dieser Partei eingewirkt
hat. Knapp ein halbes Jahr, nachdem der Vorhof der deutschen Außen-
politik von den Resten lästigen Zwanges befreit ist, hat sich die
Gemeinschaft der Weimarer Parteien aufgelöst. Es würde eine müßige,
um nicht zu sagen verfehlte Spekulation bedeuten, wollte man eine
Erneuerung proletarisch-bürgerlicher Arbeitsgemeinschaft auf neue
gemeinsame, gegen die Nationalisten zu verteidigende außenpolitische
Aufgaben aufbauen. Auch auf dem Gebiet der Außenpolitik herrscht
ein dialektisches Gesetz; indem die Sozialdemokratie Verständigungs-
politik um des Friedens und um Deutschlands Wiederaufbau willen
trieb, hat sie mit vollem Bewusstsein die Einreihung Deutschlands in
die Reihe der großen kapitalistischen Mächte betrieben. Als Deutsch-
land seine Handlungsfreiheit wiedergewonnen hatte, waren die Ziele
seiner Außenpolitik nicht die gleichen geblieben. Der Sozialdemokratie
mag die Verständigung heiliger Zweck gewesen sein, dem Bürgertum
konnte sie nur Mittel sein.
Die Tatsache, dass 1930 zum ersten Mal offensichtlich der weitaus
größte Teil des Bürgertums sich nicht nur auf der innen-, sondern auch
auf der außenpolitischen Linie mit einer allerdings aus der Krise
begreiflichen Intensität zusammenfand, hat – so seltsam das klingen
mag – die Grundlagen unseres Verfassungssystems vollständig verän-
dert. Dass die immer mehr wachsende innerpolitische Machtstellung
des Bürgertums an den verschiedensten Stellen des Verfassungsrechts
charakteristische Rückbildungen bewirkte, ist uns allen bekannt. Es soll
hier nur an den bedeutsamen Wandel in der Machtposition des Richter-
tums erinnert werden, das dem Parlament in immer steigendem Maße
seine Waffe, das Gesetz, aus der Hand schlägt und sein eigenes Recht,
das Recht des deutschen Bürgertums, setzt. Auch dies ist ein lange
beachteter Vorgang, dass das Parlament, da es gleichsam nie als »unum
corpus christianum« aufgetreten ist, sondern immer ein sich befehden-

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[23.] Artikel 48 und die Wandlungen des Verfassungssystems [1930] 351

des Heerlager verschiedener Gruppen war, einen großen Teil seiner


Machtbefugnisse an die Bürokratie abgeben musste und auf dem
Gebiet der Gesetzgebung – es sei hier nur an das Schmerzenskind der
Strafrechtsreform erinnert – von rein sachlichem, nicht politischem
Standpunkt aus betrachtet, nicht das leistete, was man von ihm erwar-
tete. Aber dies war nicht das Entscheidende. Solange sich auf dem
Boden des Parlaments Sozialdemokratie und Bürgertum doch immer
wieder zu gemeinsamer Arbeit zusammenfanden, bestand wenigstens
ein Stück Demokratie. Teilweise gemeinschaftliche Aufgaben führten
zu jener Reihe ständig sich erneuernder Kompromisse, welche man
dann fälschlicherweise als das eigentliche Charakteristikum der Demo-
kratie in unserm Zeitalter ansah; indessen waren doch die Kompro-
misse nur die logische Konsequenz dieser gemeinschaftlichen Aufga-
ben, mit deren Wegfall sie gegenstandslos wurden. Diese Kompromisse
führten in einer ideellen Fortsetzung des Weimarer Verfassungswerks
dazu, dass man peinlichst darauf achtete, nie den politischen Gegner
zu vergewaltigen, und in jeder parlamentarischen Arbeit von vornhe-
rein soweit Spielraum ließ, dass auch dem Gegner – gleichgültig, ob er
formeller Koalitionspartner war oder nicht – etwas zugebilligt werden
konnte.
Das grundlegend Andersartige besteht nun seit einem halben Jahr
darin, dass die Methode des gegenseitigen Nachgebens endgültig auf-
gegeben wird. Das Bürgertum konstituiert sich auch im Parlament als
einheitliche Klasse. Damit entfällt aber gleichzeitig eine der wichtigsten
Funktionen des Parlaments, der Prozess, die unendlich schwierige und
mühselige Herbeiführung dieser Kompromisse; denn von nun ab wird
die Funktion der Regierung eine andere. Bisher waren Regierung und
Parlament eng verbunden, beide in der gemeinschaftlichen, auf dem
Boden des Parlaments sich vollziehenden Arbeit am Kompromiss. Nun
aber wird die Regierung zu einer selbständigen Vertretung des Bürger-
tums neben dessen Parlamentsfraktionen. Die Worte, die der Finanzmi-
nister Dietrich in der letzten Sitzung des Reichstags ausrief und die die
gesamte bürgerliche Presse als so ungeheuer eindrucksvoll wiedergibt:
»Die Frage ist jetzt, ob die Deutschen ein Haufen von Interessenten
oder ein Staat sind«, kennzeichnen diese Situation. Das Bürgertum geht
dazu über, sich und seine Interessen mit dem Staat zu identifizieren,
wozu es des Parlaments nicht mehr bedarf. Auf diesem Wege ist es aber
allzu schwierig, sich des Gesetzes als Hilfsmittel zu bedienen, denn
dazu wäre nötig, dass sich nicht nur das Bürgertum, sondern auch die
bürgerlichen Parlamentsfraktionen bereits als Einheit konstituiert hät-
ten. Die Entwicklung bürgerlicher Herrschaft kann aber nicht so lange

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352 [23.] Artikel 48 und die Wandlungen des Verfassungssystems [1930]

warten, bis sich die bürgerliche Herrschaftstechnik auf dem Boden des
Parlaments den veränderten Verhältnissen angepasst hat.
In dieser Situation bot sich dem deutschen Bürgertum der Artikel 48
dar. Es ist von sozialdemokratischer Seite, von dem Sprecher der
Reichstagsfraktion bei der letzten Reichstagssitzung, dem Abgeordne-
ten Landsberg, schon darauf hingewiesen worden, dass die Steuerver-
ordnungen der Regierung Brüning sich von den bisherigen Anwen-
dungsfällen des Artikels 48 ihrem Wesen nach unterscheiden. Die
staatsrechtliche Begründung hierfür hat Landsberg gegeben; er hat
darauf hingewiesen, dass sowohl die Voraussetzungen – Not von Volk
und Reich –, als auch die Billigung dieser Verordnungen nach den Aus-
schussabstimmungen fehlten, und dass die Verordnungen ferner den
Charakter von Dauergesetzen, nicht von Notmaßnahmen trügen. Das
ist richtig, aber wir glauben, es kommt noch ein Weiteres hinzu, das die
Situation vollständig verändert. Die bisherigen Anwendungsfälle des
Artikels 48 verblieben im Bereich jener Reihe offener oder stillschwei-
gender Kompromisse zwischen Sozialdemokratie und Bürgertum.
Gleichgültig, ob die Sozialdemokratie in allen einzelnen Fällen vom
Standpunkt einer proletarischen Betrachtungsweise aus richtig gehan-
delt hat, entscheidend war doch, dass keiner dieser Anwendungsfälle
des Artikels 48 in den Nachkriegs- und Inflationsjahren gegen den
erklärten Willen der deutschen Sozialdemokratie erfolgte. Die diesma-
lige Anwendung des Artikels 48 geschah nicht nur gegen die Sozialde-
mokratie, sondern, wie die letzte Reichstagsabstimmung gezeigt hat,
gegen eine freilich unhomogene, von den verschiedenartigsten Moti-
ven, von dem Willen zur Aufrechterhaltung der Demokratie und dem
Willen zu ihrer endgültigen Vernichtung, ausgehenden Mehrheit. Über
den Kopf des Parlaments hinweg, unter Außerachtlassung der darge-
botenen Verständigungsmöglichkeit mit der Sozialdemokratie, die
immer noch daran glaubte, dass die Zeit jener Kompromisse noch
bestehe, identifizierte sich die Regierung, unabhängig vom Parlament
und gleichgültig gegen dessen Mehrheitsbeschlüsse, mit den besitzen-
den Bürgerschichten. Den erneuten Beweis jener Identifizierung wer-
den wir in diesen Tagen erleben, wenn die Notverordnungen, die die
Mehrheit des Volkes abgelehnt hat, eine fröhliche Wiederauferstehung
feiern werden.
Die Weimarer Verfassung nahm zum Ausgangspunkt jenen »staatser-
haltenden« Kompromiss zwischen Bürgertum und Sozialdemokratie.
Das Bürgertum hielt diesen Kompromiss nur so lange für notwendig,
als es glaubte, der Sozialdemokratie zur Erhaltung seines Staates nicht

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[23.] Artikel 48 und die Wandlungen des Verfassungssystems [1930] 353

entbehren zu können. Die Demokratie des Kompromisses hat sich in


die Demokratie der feindlichen Heerlager verwandelt. Die Sozialdemo-
kratie, die – wie wir aus der einstimmigen Meinung des Parteitages von
Magdeburg wissen – den kommenden Wahlkampf nicht auf dem
Boden der Versprechungen, sondern auf dem Boden der Wirklichkeit
führen will, wird ihren Anhängern gegenüber auch keinen Zweifel
darüber aufkommen lassen dürfen, dass die Zeit der Kompromisse vor-
über ist und die Zeit der staatserhaltenden Selbsterhaltung begonnen
hat.

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354

[24.]
Die Problematik der Parteidemokratie*
[1930]

Wir sind Genossen Schifrin zum Dank dafür verpflichtet, dass er in sei-
nem Aufsatz über Parteiapparat und Parteidemokratie in Nummer 6, 1930,
dieser Zeitschrift1 eine Frage, die viele von uns tagtäglich bewegt, aus-
führlich behandelt hat. Das Wohl der Gesamtpartei kann nur gefördert
werden, wenn die Zweckmäßigkeit jeder einzelnen Gegenwartsinstitu-
tion in der Partei überprüft und die organisatorische Einwirkung allge-
meiner Entwicklungstendenzen auf unsere Partei ebenso sehr gewür-
digt wird wie die Auswirkung dieser Tendenzen auf den Vertrauens-
träger unseres Parteikörpers: die große Masse der organisierten Arbei-
terschaft. Mit Recht hat Genosse Schifrin als seinen Ausgangspunkt
eine Kritik des Michels‘schen Buches »Zur Soziologie des Parteiwe-
sens«2 gewählt; denn bis heute macht sich der unheilvolle Einfluss die-
ses ebenso interessanten wie in seiner Grundkonzeption verfehlten
Buches bei allen Versuchen, innerparteiliche Strukturprobleme zu
erfassen, lähmend bemerkbar. Die Begriffe Demokratie und Oligarchie
nehmen in der Sphäre des Staatlichen eine traditionelle Bedeutung ein,
die sich freilich bei uns heute mehr und mehr auflöst. Überträgt man
diese Begriffe in die Sphäre des Innerparteilichen, so tritt eine Sinnver-
schiebung ein. Diese Verschiebung mag ohne weiteres zulässig sein
innerhalb des Gedankengebäudes einer analytischen Soziologie wie der
Vilfredo Paretos, die in eifriger Mosaikarbeit jeden sozialen Tatbestand
in einen psychologischen Zurechnungsprozess auflöst. Das psychologi-
sche und eben nur psychologische Residuum führt am Ende zu einer
Sozialtheorie, die keine ist: zur Elitentheorie. Als das Werk eines syste-
matischen und konsequenten Denkers behält die methodische Leistung

* [Typoskript, 11 Seiten. Bundesarchiv, NS 26/940 (alphabetisch geordnete Korre-


spondenz der wissenschaftlichen Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen
Gewerkschaftsbundes, »Die Arbeit«). Die handschriftlichen Bearbeitungen im
Typoskript konnten Otto Kirchheimer zugeordnet werden. Das Manuskript ist
erstmals in anderer Form erschienen in: Internationale wissenschaftliche Korre-
spondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Jg. 30, Heft 2, Berlin
1994, S. 227-234. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 73-74.]
1 [Alexander Schifrin: Parteiapparat und Parteidemokratie, in: Die Gesellschaft, Jg.
7, Heft 6, Berlin 1930, S. 505-524.]
2 [Robert Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie.
Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Leipzig
1925.]

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[24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930] 355

Paretos ihren dauernden Wert, als Forschungsmethode auf einem Ein-


zelgebiet hat Paretos Buch über »Les Systèmes socialistes«3 ebenso ver-
sagt wie die Arbeit von Michels, die in methodischer Hinsicht großen-
teils unter dem Banne Paretos steht. In dem Eifer, die Allgemeingültig-
keit der Elitentheorie auch in der Sphäre der Arbeiterbewegung zu
beweisen, hat Michels es unterlassen, Technik und Idee in das richtige
Verhältnis zu setzen, und so gewinnt es den Anschein, als ob mit der
mehr oder minder geglückten Beweisführung, dass auch die Arbeiter-
bewegung sich dem Gesetz der Elite nicht entziehen könne, die geistige
und organisatorische Selbständigkeit der Arbeiterbewegung in Frage
gestellt sei. Auch in dem neuesten Beitrag Michels’ zu diesem Fragen-
komplex, der »Psychologie der antikapitalistischen Massenbewegung«4
bricht diese grundsätzliche Einstellung allenthalben durch. Mit Recht
hat Schifrin gegen Michels die Frage der Parteidemokratie in erster
Linie als eine Frage der Parteiproduktivität betont. Selbst wenn Michels
der Nachweis gelungen wäre, dass die oligarchischen Tendenzen inner-
halb der Arbeiterbewegung gesiegt hätten, so wäre dadurch noch
nichts über die politische und geistige Orientierung der Arbeiterbewe-
gung ausgesagt. Denn hier liegt das grundsätzliche Anderssein der
Funktion der Demokratie innerhalb des Staates gegenüber ihrer Funk-
tion innerhalb der proletarischen Organisation. Die Idee der Demokra-
tie im Bereich des Staates hat ihren Nährboden in Vorstellungen politi-
scher Gerechtigkeit. Jedes Stück verwirklichte Demokratie ist ein Stück
verwirklichte Gerechtigkeit; hieraus ergibt sich schon rein bewusst-
seinsmäßig, welche Gefahren das Abgleiten vom Boden der Demokra-
tie mit sich bringt. Die Idee der Partei setzt das Vorhandensein
bestimmter Gerechtigkeitsvorstellungen in der Mitgliedschaft schon
voraus. Wer in die Partei eintritt, gibt damit kund, dass er ihr Pro-
gramm für gerecht hält, und die Diskussion in der Partei sollte eigent-
lich dem Entstehungsprozess der volonté générale, wie sie Rousseau im
Contrat social schildert, sehr nahe kommen. Denn hier tritt einmal
wirklich der Fall ein, dass ein annäherndes Bild von dem zu erstreben-
den Ziel die Grundlage für die Diskussion über die beste technische
Methode der Durchführung abgibt. Gerade aber weil es sich um ein
prinzipiell technisches Problem handelt, steht die Idee der Demokratie
innerhalb der Partei unter dem Gesichtspunkt der innerparteilichen
Produktivität. Von diesem Boden aus gewinnt das Problem der Oligar-

3 [Vilfredo Pareto: Les systèmes socialistes, Paris 1926.]


4 Grundriss der Sozialökonomik, IX, I 1926. [Robert Michels: Die Psychologie der
antikapitalistischen Massenbewegung, in: Grundriß der Sozialökonomik, 9.
Abteilung, 1. Teil, Tübingen 1926, S. 241-259.]

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356 [24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930]

chie innerhalb der Partei ein neues Gesicht. Die Oligarchie ist nicht des-
halb bekämpfenswert, weil sie die Idee der Partei verrät, sondern weil
sie der Aktivierung der Arbeitermassen nachteilig ist. Nur für eine psy-
chologisierende Soziologie kann die Behauptung des Verrats, den die
Elitentheorie implizite immer enthält, solche entscheidende Bedeutung
erlangen. Die Fragestellung, inwieweit der Spitzenapparat einer Mas-
senpartei entpersönlicht ist, inwieweit seiner Bewegungsfreiheit durch
das Schwergewicht der sozialen Tatbestände, denen er seine Entste-
hung verdankt, Grenzen gesetzt sind, enthüllt den Charakter der Olig-
archie in der proletarischen Bewegung als reine Organisationsoligar-
chie.
Bezüglich der überragenden Bedeutung, die heute unbestrittenermaßen
der Organisationsoligarchie zukommt, meint Schifrin, dass das Über-
maß der Oligarchie auf einmalige Ursachen, nicht auf konstante Ent-
wicklungsgesetze zurückzuführen sei. Er sieht die Parteioligarchie im
wesentlichen Zusammenhang mit dem Gesamtcharakter der Stabilisie-
rungsperiode. Die Entpolitisierung, die geringere Aktivität der Massen
innerhalb der Parteiorganisation ist für ihn die Ursache der organi-
schen Verengung der innerparteilichen Demokratie. Im Zusammen-
hang damit weist er auf die Stagnation der Massengrundlage hin, auf
die Tatsache, dass die Partei bis heute noch nicht wieder den Mitglie-
derstand von 1914 erreicht hat, wodurch ebenfalls eine Expansion des
Apparats, sein unverhältnismäßiges Hervortreten gegenüber der Masse
der Parteianhänger verursacht ist. Abgelehnt wird von Schifrin der Ver-
gleich der Entwicklung der oligarchischen Organisation der Partei mit
der Entwicklung der schwerindustriellen »Industrokratie«. Zur Ein-
dämmung der oligarchischen Tendenzen, zur Wiedererstarkung der
Parteidemokratie zum überragenden Faktor der innerparteilichen Pro-
duktivität nennt er als die drei wichtigsten Gesichtspunkte 1.) die Mei-
nungsfreiheit als die elementarste und lebensnotwendigste unter den
Voraussetzungen der innerparteilichen Demokratie, 2.) das starke
Eigenleben, die Autonomie der lokalen Organisationen und 3.) die
demokratische Parteiverfassung. Ich bin nicht der Überzeugung, dass
die Stabilisierungsperiode die Ursache des Anwachsens der Parteiolig-
archie ist. Die Änderung im Verhältnis zwischen der Zahl der Staats-,
Gemeinde-, Gewerkschafts- und Parteifunktionäre, die alle – vielleicht
nicht formell, aber doch materiell – im Rahmen der Partei eine andere
Stellung einnehmen als die gewöhnlichen Parteimitglieder, und der
Zahl der nicht beamteten Parteigenossen hat mit der Stabilisierungspe-
riode kaum etwas zu tun. Auch ein beträchtlicher Mitgliederzuwachs
wird an der Tatsache nichts ändern, dass der rein numerische Einfluss

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[24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930] 357

des Funktionärskörpers gewaltig gewachsen ist. Außerdem ist es sehr


fraglich, inwieweit die Mitgliederzunahme eine Verbreiterung der Par-
teidemokratie hervorrufen würde. Hierfür wäre nicht ausschlaggebend
die Zahl, sondern der soziale Standort der neugewonnenen Mitglieder.
Zehntausend neugewonnene mittlere Beamte dürften in dieser Hinsicht
etwas ganz anderes bedeuten als dieselbe Zahl Arbeiter.5 Bei der heuti-
gen Position der Partei erscheint die Gefahr, dass sie zu einem Orden
herabsinken könne, sehr klein, größer aber die Gefahr, dass man die
Grenzen übersieht, die der Ausdehnung der Partei gesetzt sind. Der
innere Wert der erworbenen Parteimitgliedschaft, die Frage, bis zu wel-
chem Grade die Partei es vermag, dauernde Bindungen zu erzeugen,
entscheidet über Produktivität und Lebendigkeit der Partei. Die Partei-
demokratie leidet und hat schon beträchtlich gelitten durch Inaktivität
und Scheinaktivität von Konjunkturmitgliedern, deren innere Anteil-
nahme an dem Schicksal der Partei zu einer eigenen Stellungnahme
nicht ausreicht und sie kritiklos in die Arme der jeweils vorhandenen
Parteiobrigkeit führt. Die Parteidemokratie gewinnt durch den Zuzug
von Menschen, die das Schicksal der Partei als ihr eigenes Schicksal
erleben und mit der Verantwortung eigener Entscheidung selbst jedes
Mal Stellung zu nehmen in der Lage sind. Die Oligarchie innerhalb der
Partei ist durch diese Konjunkturmitglieder ebenso gefordert worden
[wie] durch die unverhältnismäßige Zunahme des Funktionärsapparats
in der Nachkriegszeit, der eine Folge der nunmehr beginnenden Ver-
bindung mit dem Staatsapparat bildet. Die wesentliche Ursache dürfte
aber viel allgemeinerer Natur sein. Der Konzentrationsprozess der poli-
tischen und ökonomischen Kräfte, der in der Nachkriegszeit eingesetzt
und heute wohl seinen Höhepunkt bald erreicht hat, erfasste das Prole-
tariat ebenso wie seine Gegner. Ob die Oligarchie des Kapitals eine
geordnete oder eine ungezügelte ist, wie Schifrin meint, kann hier
außer Acht bleiben; es handelt sich hier um die organisatorische Bedeu-
tung der Oligarchie, nicht um eine moralische Wertung. Organisato-
risch aber hat sich die Tendenz zur Zusammenfassung der Kräfte, zur
Vermehrung der Übersichtlichkeit und Schlagfertigkeit der Organisa-
tion, zur einheitlichen Bewirtschaftung der Finanzquellen bei den pro-
letarischen Organisationen ebenso durchgesetzt wie bei den bürgerli-
chen. Ja, wegen der im Verhältnis zu den großen Wirtschaftsorganisa-
tionen des Bürgertums geringeren finanziellen Leistungsfähigkeit der
Arbeiterschaft musste sie sich innerhalb des Proletariats noch viel stär-

5 Es wäre ein verdienstvolles Werk, wenn sich der Parteivorstand der sozialdemo-
kratischen Partei dazu entschließen könnte, eine genaue Aufstellung der sozialen
Gliederung der Parteimitgliedschaft fertigen zu lassen.

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358 [24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930]

ker durchsetzen und hat es auch getan. Der Entwicklungsgang der


sozialistischen Presse mag als Beispiel dienen. Für eine Presse wie die
sozialdemokratische, die in erster Linie rein politischen Gesichtspunk-
ten zu folgen hat und deren Inseratenaufträge zu mäßig sind, um die
eigene unabhängige Existenz der auch in der kleinsten Stadt notwendi-
gen Tageszeitung zu gewährleisten, war die »Konzentration« eine drin-
gende Notwendigkeit. Aber die Konsequenz dieses Konzentrationspro-
zesses war eine politische Uniformierung der Parteipresse und ein
ungeheurer Zuwachs an Einflussnahmemöglichkeiten der Berliner Zen-
tralstelle. Die damit gegebene Verengerung der Parteidemokratie war
absolut unvermeidbar. Die Verlagerung des politischen Schwerge-
wichts von den Ländern auf das Reich hat in ähnlicher Richtung
gewirkt. Die Autonomie der Bezirksorganisationen blieb formell unan-
getastet; aber der Kreis ihrer Entscheidungsmöglichkeiten ist zuguns-
ten der Zentrale zusammengeschrumpft. In der gleichen Richtung
haben die koalitionspolitischen Bindungen gewirkt. Zur Zeit August
Bebels konnte die süddeutsche Rebellion ohne Gefahr für die Gesamtli-
nie der Partei ruhig ihren Duodezmonarchen das Budget bewilligen.
Wenn heute ein sozialdemokratischer Bezirksparteitag beschließen
würde, dass die Bezirksabgeordneten in corpore gegen die Koalitions-
regierung im Reichstag zu stimmen hätten und der Wehretat unter kei-
nen Umständen von ihnen bewilligt werden dürfe, würde ein koaliti-
onspolitisch gebundener Reichsparteivorstand sich wahrscheinlich
nicht nur mit papierenen Parteitags- oder Vorstandsresolutionen
begnügen können wie zu Bebels Zeit. Die Interdependenz hat sich
gewaltig vergrößert, die Bindungen sind stärker geworden; mit wach-
sendem Betätigungsgebiet war eine Abnahme der Bewegungsfreiheit
verbunden. Die zum großen Teil zwangsläufige Vergrößerung der
Machtbefugnisse des Parteiapparats hat sich nicht nur auf die Berliner
Zentralstelle beschränkt. Jede örtliche Parteiverwaltung bietet uns das-
selbe Bild. Mit der wachsenden Notwendigkeit, die Kräfte der örtlichen
Partei, der verschiedenen andern Organisationen sowie der Gewerk-
schaften einheitlich zusammenzufassen, wurde auch hier der Raum der
Spontaneität eingeschränkt und der Aufgabenkreis der Organisations-
spitzen erweitert. Eine wesentliche Stärkung des Apparates war durch
die Spaltung der Arbeiterschaft bedingt. Nie war der Klassengegner
der Partei so verfänglich nahe gerückt wie die Kommunisten. Die Lei-
tung des Abwehrkampfes verstärkte ebenfalls den Einfluss des Partei-
apparates. Bei allen diesen Dingen, vielleicht die letzten ausgenommen,
handelt es sich nicht um vorübergehende Erscheinungen, sondern um
bleibende Wandlungen der Parteistruktur.

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[24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930] 359

Aus diesen Gründen ist auch das Zurückgehen auf die Palladien der
Parteidemokratie, wie es Schifrin vornimmt, teilweise fragwürdig. In
erster Linie beruft sich Schifrin auf die Meinungsfreiheit. Die Mei-
nungsfreiheit im innerparteilichen Bezirk steht, wie schon angedeutet,
im Dienst der Erzeugung der volonté générale; sie sollte eigentlich
dazu dienen, dass die Parteigenossenschaft in freier Abwägung von pro
und contra auf Grund selbstgebildeter Überzeugung in jedem Fall ihr
Votum in die Waagschale wirft. Die wesentlichen Vorbedingungen die-
ses Meinungsbildungsprozesses sind aber nicht mehr vorhanden. Wir
haben heute Meinungsäußerungsfreiheit, aber keine Meinungsfreiheit
mehr. Keinem Mitglied der sozialdemokratischen Partei ist es verwehrt,
seine Meinung zu äußern; seine Überzeugung ist frei, und die Partei ist
im Vergleich etwa zu den Nachbarn von links höchst liberal. Aber wer
über die Probleme keine eigene Meinung besitzt, wird sich auch kaum
eine in der Partei bilden können; denn gerade über die strittigen
Punkte, über die die eigentliche Parteimeinung erst gebildet werden
soll, wird der Leser täglich im »Vorwärts« oder der »Fränkischen
Tagespost« die gleiche einseitige Belehrung erhalten, wie er sie auf der
andern Seite etwa durch das »Sächsische Volksblatt« in Zwickau erhält.
Eine auf Meinungsfreiheit basierende Meinungsbildung wäre nur mög-
lich, wenn jede Zeitung verpflichtet wäre, ihren Lesern jedes Mal beide
Argumente vorzuführen. Das Fehlen der Meinungsfreiheit wird noch
dadurch vertieft, dass die oben angedeutete Entwicklung dazu geführt
hat, dass die herrschende Parteirichtung in mehr als vier Fünftel, die
Gegenseite jedoch nur in kaum einem Fünftel der Presse ihre Ansichten
vorzutragen in der Lage ist.
Dass das starke Eigenleben und die Autonomie der lokalen Organisa-
tionen heute kaum mehr in dem Maße bestehen kann wie früher,
wurde oben schon erörtert. Im Übrigen bezieht sich dieses Argument ja
nur auf die zentrale, nicht auf die örtliche Oligarchie.
Diese Entwicklung, die zum großen Teil zwangsläufig und unabwend-
bar war und nur zum geringeren Teil parteitaktischen Erwägungen ent-
sprang, hat überall dazu geführt, einem beschränkten Kreis von Funk-
tionären, der keineswegs mit dem Funktionärskörper überhaupt iden-
tisch ist, die maßgebenden Entscheidungen in die Hand zu legen. Dass
diese Entwicklung nur in einem höchst mäßigen Umfang die Tenden-
zen der Partei selbst zu ändern vermag, ist gegenüber den Ausführun-
gen von Michels festzuhalten. Denn diese Funktionäre haben ja nichts
mit dem gemein, was man bislang mit der Bezeichnung Arbeiteraristo-
kratie zu belegen pflegte, worunter man eine Schicht von Menschen

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360 [24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930]

verstand, die zum großen Teil eigene, von den übrigen Proletariern ver-
schiedene Interessen hatten. Selbst von kommunistischer Seite ist kürz-
lich anerkannt worden, dass es heute so etwas wie eine Arbeiteraristo-
kratie, jedenfalls in Deutschland, innerhalb der Reihen der Arbeiterbe-
wegung kaum mehr gibt, und in einem Aufsatz über »Die revolutio-
näre Gewerkschaftsbewegung und das Problem der Arbeiteraristokra-
tie«6 hat Smoljanski letzthin unter teilweiser Zitierung Lenins ausge-
führt:
»So gleitet der alte Typus der Arbeiteraristokratie ins Reich des Vergan-
genen. Der Buchhalteraristokrat und der Mechaniker-Aristokrat ster-
ben aus; aber an ihre Stelle tritt eine weniger zahlreiche, aber noch viel
engere, egoistischere, hartherzigere, selbstsüchtigere, kleinbürgerli-
chere, imperialistisch gestimmte, vom Imperialismus gekaufte, vom
Imperialismus korrumpierte Arbeiter-Aristokratie.«
Der Verfasser des Aufsatzes bemerkt aber in der Polemik gegen seinen
Parteifreund Merker selbst, dass diese neue Arbeiteraristokratie nichts
mit der in der Sozialdemokratie organisierten Arbeiterschaft zu schaf-
fen habe, sondern er versteht hierunter die Subjekte, die Herr Bata und
Herr Arnhold mit seiner Dinta »ausbilden«. Aber das schließt nicht aus,
dass versucht werden muss, Gegengewichte gegen den heutigen
Zustand zu schaffen, der dazu geführt hat, dass der weitaus größte Teil
der Parteimitglieder nicht nur in ihren Mitbestimmungsrechten, son-
dern auch in ihren Zustimmungsrechten faktisch sehr weitgehend
beschnitten sind und dass zwischen den Entscheidungen des Parteiap-
parats, der weitgehend auch über das Bestehen formeller Koalitionen
hinaus mit dem Staatsapparat verbunden ist, und den Massen der Par-
teianhänger eine Diskrepanz der politischen Auffassungen ent[standen
ist]. Die Gegengewichte müssen zum Teil neu geschaffen werden, da
die überlieferten Stützpfeiler der Parteidemokratie selbst in jenen orga-
nisatorischen Wandlungen ihre Tragfähigkeit mindestens teilweise ein-
gebüßt haben.
Der Kreis der leitenden Funktionäre muss überall erweitert werden.
Mit Recht hat Schifrin am Beispiel des sozialdemokratischen Parteivor-
standes gezeigt, dass für ein solches Maß der Stabilität, wie wir sie in
Deutschland bei unserem Funktionärskörper sehen, keinerlei Veranlas-
sung besteht. Wollen wir, dass bis zu der kleinsten Parteiorganisation

6 In: Die kommunistische Internationale, Jg. 11 (1930), H. 29/30, S. 1613-1627. [Gri-


gorij Borisovič Smoljanski: Die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung und das
Problem der Arbeiteraristokratie, in: Die kommunistische Internationale, Jg. 11,
Heft 29/30, Leningrad 1930, S. 1613-1627.]

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[24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930] 361

die Parteimitgliedschaft aktiver wird, so müssen wir von der Tradition


abkommen, dass ein Amtswechsel grundsätzlich nur dann stattfindet,
wenn sich jemand etwas hat zuschulden kommen lassen.7 In den örtli-
chen Organisationen mindestens bezüglich der nicht besoldeten Ämter,
in den Bezirks- und Reichsorganisationen bezüglich aller Ämter muss
als Regel eingeführt werden, dass nach Ablauf einer zweimaligen
Wahlperiode eine Wiederwahl nur unter der Voraussetzung der Errei-
chung einer Zweidrittelmehrheit möglich ist. Dies wird innerhalb der
Reichsorganisation den Zwang zur Zusammenarbeit der verschiedenen
Parteirichtungen begründen und die für unsere Organisation beschä-
mende Tatsache, dass ein Drittel der Parteimitgliedschaft auf politische
Vertretung in den entscheidenden Körperschaften der Partei bisher ver-
zichten muss, für die Zukunft unmöglich machen. Bezüglich der örtli-
chen Organisationen, bei denen es sich meistens gar nicht um politi-
sche, sondern um mehr lokale Fragen handelt, wird diese Klausel dazu
führen, dass der Kreis der leitenden Funktionäre öfter wechselt und
dass die Parteimitgliedschaft das fast irreal gewordene Recht, ihre Ver-
trauensleute selbst zu wählen, wieder empfängt. Außerdem wird in
den lokalen Organisationen, für die Einheitlichkeit und Geschlossen-
heit der Partei das Allerwichtigste ist, häufiger vermieden werden, dass
ein Vorsitzender, der zuerst mit überwältigender Stimmenmehrheit
gewählt wurde, eine zwar immer kleiner werdende Zahl von Stimmen
erhält, aber kraft des Prinzips der absoluten Mehrheit solange wieder-
kehrt, bis er selbst den Vorsitz niederlegt. Dazu muss allerdings ein
zweiter, lang umkämpfter Grundsatz endlich eingeführt werden: Der,
über dessen Amtsführung beraten und beschlossen werden soll, darf
sich an der Beschlussfassung hierüber nicht beteiligen. Diesem Satz ist
der Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei auf dem Magdeburger
Parteitag mit dem Argument entgegengetreten, dass hierdurch zweier-
lei Recht geschaffen würde. Man wird diesen Vorwurf nicht zu tragisch

7 Es ist hier nicht der Ort, ein Urteil über die literarischen Qualitäten des Buches
»Der Bonze« von Felix Riemkasten [Berlin 1930] abzugeben. Es mag sein, dass
die Menschen in diesem Buch erdacht, aber nicht erlebt sind; es ist sicher, dass
die Kumulation aller negativen Eigenschaften den Helden des Buches zu einer
absichtlichen und bösartigen Verzerrung des Funktionärbildes macht; aber nie-
mand wird leugnen können, dass mindestens ein Teil unserer gegenwärtigen
Parteimaschinerie in diesem Buch eine zutreffende Darstellung gefunden hat.
Dass diese Maschinerie bisher nicht mehr Schaden angerichtet hat, liegt daran,
dass es innerhalb der Partei höchst wenige Menschen gibt, die mit dem Hass auf
ihre eigene Vergangenheit den Hass gegen diejenigen verbinden, die selbst noch
Teil dieser Vergangenheit sind. Meist wird sich gerade das umgekehrte Bild erge-
ben, und die Expansion des eigenen Leids sich in verstärkter Aktivität gegen den
Klassengegner auswirken.

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362 [24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930]

nehmen dürfen. Oberster Grundsatz für eine sozialistische Partei muss


sein, den Willen ihrer Glieder zu erkunden und ihn entscheiden zu las-
sen. Die Geltendmachung dieses Willens wird dadurch behindert, dass
diejenigen, über deren Amtsführung geurteilt werden soll, sich an dem
Votum über ihre eigene Amtsführung beteiligen. Man wird sich hüten
müssen, an die Organisationsgrundsätze einer Partei juristische Maß-
stäbe zu legen. Ein Parteitag dient nicht der Rechtsfindung, sondern
der Aufstellung politischer Grundsätze; mindestens so groß muss aber
die Objektivität des Verfahrens sein, dass die Verbindlichkeit des Resul-
tats für alle Parteimitglieder gleich stark ist. Der gern zitierte Satz, dass
ein einmal gefasster Parteitagsbeschluss von allen Parteimitgliedern in
gleicher Weise respektiert werden müsse, gleichgültig wie ihre Stel-
lungnahme vorher gewesen sein mag, hat das Vorhandensein eines
Minimums an Verfahrensobjektivität zur psychologischen Vorausset-
zung.
Die Aufstellung scharfer Unvereinbarkeitsprinzipien ist für die Partei
fürderhin nicht entbehrlich. Es hat sich hier psychologisch schon oft
äußerst schädlich ausgewirkt, dass innerhalb der Sphäre der Partei Par-
teifunktionen und Staatsfunktionen in einer Person sich vereinigt
haben. In einer Zeit, in der das Ergebnis der Staatstätigkeit doch höchs-
tens einen Kompromiss zwischen dem Willen der Arbeiterschaft und
dem Willen des Bürgertums darstellen kann, wobei die Arbeiterschaft
heute anerkanntermaßen der schwächere Teil ist, ist nichts verderbli-
cher, als wenn die Masse der werktätigen Bevölkerung den Willen der
Parteiführung mit der tatsächlichen Leistung der Staatsgewalt verwech-
selt. Wer Bürgermeister ist, kann nicht zugleich örtlicher Parteivorsit-
zender sein; wer Landtagsabgeordneter und Justizreferent in der Land-
tagsfraktion ist, kann nicht zugleich Abteilungsvorsteher bei der obers-
ten Justizbehörde sein. Es ist überhaupt erstaunlich, wie wenig in
Deutschland bis heute solche Unvereinbarkeitsgrundsätze, die die
stärkste Stütze der Demokratie bilden, durchgedrungen sind; ist doch
bis heute Herr von Siemens nicht nur der größte Lieferant der Reichs-
bahn, sondern auch der Vorsitzende ihres Verwaltungsrats. Vom Stand-
punkt der Beamten aus hat kürzlich Goslar festgestellt, dass es besser
sei, wenn ein Beamter nicht zugleich Parlamentsmitglied sei. Sieht man
von dem hier nicht interessierenden Beamtenstandpunkt ab, so bleibt
für unsere Problemstellung der folgende Satz Goslars höchst auf-
schlussreich:
»Es ist in der Regel nicht anzunehmen, daß Reichs- oder preußische
Beamte, die den regierungsoppositionellen Parteien angehören, jemals
so weit gehen werden, unter Verletzung ihres Diensteides und unter

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[24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930] 363

Ausnutzung ihrer internen Amtskenntnisse der Regierung Schwierig-


keiten im Parlament zu machen.«8
Meistens wird eine solche Vereinigung von Staats- und korrespondie-
render Parteifunktion dazu führen, dass der betreffende Würdenträger
in seiner Person schon einen Ausgleich zwischen den Forderungen sei-
ner Partei und den Verhältnissen seines Amtes vornimmt und beide
dann identifiziert. Sieht man von der, durch das parlamentarische Sys-
tem bedingten, politisch unvermeidlichen Verbindung von Minister-
posten und höchstem Parteiamt ab, so sollte in Zukunft eine Kumula-
tion von Beamtenstellungen und Parteifunktionen in einer Person ver-
mieden werden. Eine solche Abstinenz erhöht die Parteiaktivität und
befreit von falschen Rücksichtnahmen. Sie dient dadurch der für weite
Kreise unserer Mitgliedschaft notwendigen Herausarbeitung des Wil-
lens der Partei.
Die Zahl der Vorschläge lässt sich wahrscheinlich noch vermehren. Das
wichtige ist nur, dass die verantwortlichen Kreise innerhalb der Partei
einsehen lernen, dass die organisatorischen Veränderungen der Partei
eine Erneuerung der Institutionen notwendig machen, die die Parteide-
mokratie verbürgen. Wollen wir auch innerhalb unserer Partei den
Grundsatz durchführen, den wir immer betonen und den Charles
Beard kürzlich folgendermaßen formuliert hat: »History making in a
machine age is a mass process rather than an operation managed by a
small aristocracy«,9 so müssen wir in eine Reform unserer Parteiorgani-
sation eintreten. Es wäre im Interesse der Gesamtpartei, wenn der sozi-
aldemokratische Parteivorstand Schritte unternehmen würde, um
gegen die Stabilisierung des Kapitalismus durch eine Erhöhung der
inneren Produktivität unserer Partei anzukämpfen. Er möge eine Kom-
mission einsetzen, die dem nächsten Parteitag bestimmte Reformvor-
schläge zur Beschlussfassung unterbreitet.
Wichtiger als formale Institutionen ist die Erneuerung der Vertrauens-
basis, der Bewusstseinsverbindung zwischen Führung und Masse. Der
Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, dass der gegenwärtige
sozialdemokratische Parteivorstand mehr von Augenblicksakklamatio-
nen als von dieser ständigen Bewusstseinsverbindung lebt. Niemand
darf übersehen, dass die Aufgaben des Parteivorstands unendlich
schwieriger sind als in der Vorkriegszeit, und es wäre deshalb ein billi-

8 [Hans Goslar: Sollen Beamte Abgeordnete sein?, in: Sozialistische Monatshefte,


Jg. 36, Heft 4, Berlin 1930, S. 326-334, Zitat S. 328.]
9 [Vergleiche: Charles Beard: Government by Technologists, in: The New Republic,
18. Juni 1930, Washington D.C., S. 115-120.]

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364 [24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930]

ger Vergleich, das Bild August Bebels gegen den heutigen Parteivor-
stand auszuspielen. Aber es ist die geschichtliche Aufgabe der heutigen
Führergeneration, Gegenwartswollen und Endziel mit einer Klarheit
herauszuarbeiten, die auch heute wiederum der Parteianhängerschaft
jene Selbstverständlichkeit ihrer Zugehörigkeit verschafft, die sie ehe-
dem besaß. Aus diesen Gründen war nicht erst die Art des Ergebnisses
des letzten Parteitags, sondern bereits die Themenstellung ein kaum
wieder gut zu machender Fehler für die Partei. Wer die Einheit der Par-
tei als nicht hoch genug zu schätzendes Gut betrachtet, muss die Fragen
so stellen, dass die Antworten verbindlich sind; nichts aber ist schlim-
mer als eine Antwort, der die Geschichte der Partei selbst schon einmal
die verbindliche Kraft abgesprochen hat. Möge deshalb der Parteivor-
stand der Sozialdemokratie das Vertrauensverhältnis zwischen Partei-
spitze und Mitgliedschaft als jene heute mehr denn je Erfüllung hei-
schende Aufgabe betrachten, deren Lösung aus einem Parteivorstand
erst eine Parteiführung macht.

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[25.]
[Rezension:] Justus W. Hedemann: Die Fortschritte
des Zivilrechts im 19. Jahrhundert*
[1931]

Justus Wilhelm Hedemann, Ordentlicher Professor an der Universität Jena.


»Die Fortschritte des Zivilrechts im 19. Jahrhundert.« Ein Überblick über die
Entfaltung des Privatrechts in Deutschland, Österreich, Frankreich und der
Schweiz. II. Teil »Die Entwicklung des Bodenrechts von der Französischen
Revolution bis zur Gegenwart.« I. Hälfte: Das materielle Bodenrecht. 421 Sei-
ten. Carl Heymanns Verlag.
Der Verfasser hat sich das großartigste Thema der modernen Rechts-
entwicklung, dem die deutsche Rechtswissenschaft seit der Zeit Ferdi-
nand Lassalles und Lorenz von Steins niemals mehr nähergetreten ist,
die Entwicklung der Eigentumsverhältnisse im mittel- und westeuro-
päischen Kulturraum zu einer eingehenden Bearbeitung vorgenom-
men. Dem inneren gedanklichen Aufbau eines solchen Werkes, wie es
der Verfasser im Bewusstsein der bisherigen Vernachlässigung dieses
Gebietes unternommen hat, sind die Linien durch die Geschichte selbst
vorgeschrieben. Von der Auflösung des Feudalismus, von der Konstitu-
ierung des bürgerlichen Eigentums, der auf diesem Gebiet besonders
fragwürdigen Durchsetzung des Freiheits- und Gleichheitsprinzips der
bürgerlichen Revolution führt das Buch bis zu einer materialreichen
Schilderung der geglückten und der – wie der Verfasser meint – miss-
glückten Angriffe auf das Privateigentum in unserer Zeit.
Lorenz von Stein, dessen 7. Band seiner Verwaltungslehre freilich keine
so dankenswerte und bis in einzelne gehende Bearbeitung des Stoffes
darstellt, stand mit seinem Werk vollkommen auf dem Boden der bür-
gerlichen Gesellschaft. Sie erschien als die Krönung und Vollendung
eines langen und formenreichen Entwicklungsprozesses. Karl Renner,
dessen Buch »Die Rechtsinstitute des Privatrechts« mit Hedemanns
Thema viele Berührungspunkte aufweist, umreißt in seiner Einleitung
mit nicht misszuverstehender Deutlichkeit die Voraussetzungen jeder
Eigentumsuntersuchung: die Gleichzeitigkeit der juristischen und der

* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Politik und Sozialis-
mus, Jg. 8, Heft 5, Berlin 1931, S. 476-478. – Zu diesem Text vergleiche in der Ein-
leitung S. 65-66.]

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366 [25.] Justus W. Hedemann: Die Fortschritte des Zivilrechts [1931]

ökonomischen Betrachtungsweise. Die Begrenztheit der möglichen


Ergebnisse der Hedemann‘schen Betrachtungsweise ergeben die eige-
nen unendlich charakteristischen Sätze seines Vorworts:
»Trotz alledem ist es mir nicht gelungen, eine wirklich organische Ver-
schmelzung zwischen Rechtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft
in mir lebendig zu machen. Gewiss wird man in diesem Buch an vielen
Stellen das ernste Bemühen erkennen, mit einem Brückenbogen auf das
andere Ufer hinüber zu gelangen. Aber trotz der Brücke bleiben die
beiden Welten geschieden. Schon die Literatur zeigt es. Sehr vieles
nationalökonomisches Schrifttum habe ich durchwandert. Es ist immer
anders als das juristische, von dem ich herkomme, anders in seiner
Wesensart, auch wenn es sich juristische Daten mit Eifer einverleibt.«
Soweit das Buch die Ausprägung des Rechtsinstituts des Privateigen-
tums in der Französischen Revolution schildert, den geschichtlich not-
wendigen Zusammenhang zwischen der Zerstörung der feudalen
Rechtstitel und der Konstituierung des sakrosankten bürgerlichen
Eigentums auf dessen Trümmern, zeugt es von einem ausgezeichneten
Verständnis für diese rechtshistorischen Zusammenhänge und bietet
ein reiches, bisher nie mit solcher Sorgfalt zusammengestelltes Quellen-
material. Mit vollem Recht hat der Verfasser ausgiebigen Gebrauch von
den verschiedenen Arbeiten Aulard’s gemacht, und auch die oft nicht
genügend beachtete »Histoire socialiste de la révolution française« von
Jean Jaurès empfängt die gebührende Beachtung. Ebenso richtig wird
das Verbunden- und Entsprungensein des Enteignungsrechts aus der
Privateigentumsvorstellung der Französischen Revolution aufgezeigt,
weshalb man sich dann um so mehr wundern muss, dass sich der Ver-
fasser im Fortgang seiner Untersuchung niemals die Frage vorgelegt
hat, ob dieses Relationsverhältnis der Revolutionsverfassungen nicht
auch eine unübersteigbare Grenze für alle Übertragungsmöglichkeiten
des Enteignungsinstituts bildet. Über die Auswirkungen des bürgerli-
chen Eigentums, die der Verfasser freilich mit solchen unpräzisen, der
Gefahr von Missdeutungen ausgesetzten Wendungen wie »Bodenegois-
mus« bezeichnet, enthält das Buch in seinem erbrechtlichen Kapitel
wertvolle Beobachtungen und Zusammenstellungen. Nur vermisst
man hier wie im Fortgang der Erörterungen jede Erwähnung oder Aus-
einandersetzung mit Lassalles »System der erworbenen Rechte«, dessen
Name überhaupt nur einmal anmerkungsweise auftaucht. Hätte der
Verfasser, anstatt fragwürdige Unterscheidungen zwischen staatssozia-
listischen und marxistischen, genossenschaftlichen, bodenreformeri-
schen und gar noch rechtswissenschaftlichen Eigentumstheorien zu
versuchen, sich nur einmal die Frage vorgelegt, warum wohl Lassalle

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[25.] Justus W. Hedemann: Die Fortschritte des Zivilrechts [1931] 367

und Lorenz von Stein bei der Stoffbehandlung ein so entscheidendes


Gewicht auf die methodische Seite ihres Vorgehens gelegt haben, so
wäre der zeitgenössische Teil seines Buches sicher konzentrierter im
Aufbau und klarer in der eigenen gedanklichen Haltung geworden.
Zwar ist dem Verfasser zu konzedieren, dass die heutige Zeit nicht in
der Lage ist, ihm ein der gedanklichen Formkraft der Hegel‘schen
Geschichtsphilosophie nur annähernd entsprechendes System zur Ver-
fügung zu stellen. Das entbindet jedoch nicht von methodischer Besin-
nung, sondern verpflichtet umso stärker zu ihr.
Dass der Verfasser in der Geschichte des Bodeneigentums und den
damit zusammenhängenden Enteignungspartien überhaupt die
gesamte Sozialisierung ausführlich behandelt hat, erscheint mir sehr
bedenklich. Gewiss hat die Weimarer Verfassung in nicht ganz glückli-
cher Redaktion in ihrem Sozialisierungsartikel (156) auf den Enteig-
nungsartikel (153) Bezug genommen; das ändert aber nichts daran,
dass die Grundsätze und Voraussetzungen des Enteignungsinstituts
mit der Frage der Sozialisierung grundsätzlich nichts zu tun haben.
Deshalb sind auch die diesbezüglichen Bemerkungen des Verfassers,
seine Stellungnahme zur Entschädigungsfrage und zum ordentlichen
Rechtsweg verfehlt, weil sie die soziale Funktionsverschiedenheit des
Bodens und des Unternehmens, welche eine gemeinsame Behandlung
eigentlich ausschließt, übersehen. In der Linie dieser methodischen Irr-
tümer liegt auch die Behandlung der rechtswissenschaftlichen Eigen-
tumstheorie. Der Verfasser hat ein richtiges Gefühl für die Unterlas-
sungssünden der dogmatischen Privatrechtswissenschaft, wenn sich
dieses auch hinter Lobbezeugungen für ihren prominentesten Vertreter
verbirgt. Von diesem Standpunkt aus versucht der Verfasser eine
Ehrenrettung seines Wissenschaftszweiges unter Hinweis auf die
Eigentumstheorien Gierkes und Iherings. Er bemerkt dabei anschei-
nend nicht, dass die rechtswissenschaftlichen Eigentumstheorien sich,
mit der einen Ausnahme Anton Mengers, höchstens auf die juristische
Erklärung von immanenten Beschränkungsmöglichkeiten vorhandenen
Eigentums unter der schiefen Frontstellung germanistisch-romanistisch
beziehen, alle anderen Fragen aber bisher kaum je in den Kreis ihrer
Erörterungen gezogen haben.
Symptomatisch für den Verfasser und sein Bemühen, eine eigene Stel-
lungnahme, leider auch in den allerdringlichsten methodischen Fragen,
auszuschalten, ist der Ausklang des Buches. Er wendet sich nicht den
gewaltigen Transformationen des Jahrhunderts zu, sondern statuiert in
quietistischer Haltung unter einer anscheinend missverstehenden Beru-

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368 [25.] Justus W. Hedemann: Die Fortschritte des Zivilrechts [1931]

fung auf die moderne Staatstheorie die Abhängigkeit des vergängli-


chen Menschen von dem bleibenden Element der Erde.
Nur angemerkt sei die merkwürdige Gegenüberstellung auf Seite 331,
wo in einem Atemzug Otto Bauer der Beruf eines Politikers, Prälat Sei-
pel der eines Staatsmannes zugedacht wird. Meint der Verfasser, dass
es im 20. Jahrhundert einen berufstechnischen Unterschied zwischen
Politiker und Staatsmann gibt, so befindet er sich in einem soziologi-
schen Irrtum. Will er damit aber einer Wertung Ausdruck geben, so ist
diese, ebenso wie die völlig vom Zaun gebrochene Attacke auf die
erwerbswirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand (Seite 357)
nur dazu angetan, den wissenschaftlichen Charakter des Buches, die
wirklich entsagungsvolle historische Forschung auf einem Gebiet von
eminent sozialer Bedeutung herabzumindern.

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369

[26.]
[Rezension:] Curzio Malaparte: Der Staatsstreich*
[1932]

Curzio Malaparte. »Der Staatsstreich.« E. P. Tal u. Co, Wien-Leipzig. 1932.


245 S. 5,25 Mk.
Ein Buch über die Technik des Staatsstreichs, das sich zum Ziel setzt,
der Erhaltung der überkommenen europäischen Herrschaftsformen zu
dienen, hat unbestreitbar den Vorzug der Aktualität. Ein Verfasser, der
sich mit einer Technik dieser Art beschäftigen will, wird einer Stellung-
nahme zu dem Begründer dieser Technik, Niccolo Machiavelli, nicht
entraten können. Malaparte umgeht dies jedoch mit einer schmeichleri-
schen Verbeugung vor der westeuropäischen Demokratie; er bemerkt
lediglich, dass die Zeiten, denen die Argumente und Lehren des »Prin-
cipe« entstammen, eine ungleich größere Dekadenz der öffentlichen
und privaten Freiheit, der Würde und der menschlichen Achtung
gezeitigt hätten als die unserige. Im Übrigen folgt er aber den Spuren
des Machiavell, indem er sich tatsächlich auf eine reine Technik der
Herrschaftserhaltung und Herrschaftserringung beschränkt. Hierin
liegt der methodische Fehler dieses eleganten, geistreichen und an gut
getroffenen Beobachtungen reichen Buches.
Denn Ausgangspunkt der politischen Lehren und Betrachtungen des
Florentiners war, worauf Wilhelm Dilthey durchaus zutreffend hinge-
wiesen hat,1 die Annahme der Gleichförmigkeit der Menschennatur.
Für Machiavell entstand in der Tat das Zentralproblem der politischen
Wissenschaft in einer Methodenlehre der Herrschaftsgewinnung und
-erhaltung. Für ihn gilt nur die Aufgabe, wie er einmal in seiner Einlei-
tung zu den »Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio« selbst gesagt
hat, den Umkreis neu gewonnener historischer Erfahrung nutzbar zu
machen. Ein umwälzendes Ereignis war aber diese technische Betrach-
tung im beginnenden 16. Jahrhindert eben gerade auf Grund ihrer vor-

* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 9, Heft 1, Berlin 1932, S. 80-83. – Zu diesem Text vergleiche in der Einlei-
tung S. 79-80.]
1 Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert, Schriften III, S. 29. [Wilhelm
Dilthey: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und
Reformation: Abhandlungen zur Geschichte der Philosophie und Religion, Leip-
zig 1921, S. 29.]

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370 [26.] [Rezension:] Curzio Malaparte: Der Staatsstreich [1932]

aussetzungslosen Technizität, ihres bewussten Verzichtes auf eine am


summum bonum des Thomismus orientierte Ethisierung politischer
Vorgänge.
Die Machiavell‘sche Grundlage der Staatsgewinnung und -erhaltung
als technische Herrschaftslehre, gültig im Bereich der italienischen
Kunststaaten des 15. Jahrhunderts, hat der Verfasser voll und ganz bei-
behalten. Die Umstände, die zum Gelingen eines Staatsstreichs führen,
sind für ihn nicht notwendig sozialer und politischer Natur und hän-
gen nicht von der allgemeinen Lage des Landes ab. Hier erheben sich
entscheidende Bedenken. Gibt es für die Staatenwelt des 20. Jahrhun-
derts einen einheitlichen Begriff des Staatsstreichs, der auf die russische
Revolution ebenso anwendbar ist wie auf den Wechsel einer mittelame-
rikanischen Militärjunta? Kann die vom Verfasser mehrfach gestellte
und häufig unbeantwortet gelassene Frage: Warum ist dieser Staats-
streich geglückt? oder die ungleich instruktivere: Warum hat jener
Staatsstreich nicht stattgefunden, obwohl alle vom Verfasser ent-
wickelten technischen Voraussetzungen vorgelegen haben, ohne
genaue Kenntnis der besonderen historischen und politischen Voraus-
setzungen des einzelnen Landes hinreichend gelöst werden? Ist dies
nicht möglich, so gibt es keine allgemeine und überall anwendbare
Technik des Staatsstreichs. Die vom Verfasser richtig gesehenen Fehler
der Kapp-Putschisten zeigen ebenso wie die Generalstreikantwort der
Arbeiterschaft lediglich, welche Punkte für jedwede Herrschaft im
industriellen Massenstaat ausschlaggebend sind, ohne dass daraus für
die Richtigkeit genereller Staatsstreichtechnik etwas gewonnen wäre.
Kann man den Staatsstreich als Akt politischer Herrschaftsbeseitigung
und Herrschaftsgewinnung überhaupt als reine Technik von dem
sozialen Prozess der Revolution hinreichend ablösen? Kann man den
18. Brumaire ohne die réaction thermidorienne verstehen? Kann man,
worauf neuerdings Th. Geiger hingewiesen hat,2 den letzten Sturz der
Militärjunta in San Salvador, einen technischen Staatsstreich kat exo-
chen, vom Gesamtprozess der Umbildung der Kolonialgebiete ablösen?
In je geringerem Maße dies der Fall ist, desto mehr nimmt die Bedeu-
tung des Staatsstreichs als einmaligen historischen Aktes im Prozess
der Entwicklung und Selbstbehauptung der revolutionären Ordnung
ab (man denke an das Verhältnis des russischen Oktobers 1917 zu der
ungleich wichtigeren Behauptung und Konsolidierung der revolutionä-

2 Artikel: Revolution im Handwörterbuch der Soziologie S. 515. [Theodor Geiger:


Revolution, in: Alfred Vierkandt (Hg.): Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart
1931, S. 515.]

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[26.] [Rezension:] Curzio Malaparte: Der Staatsstreich [1932] 371

ren Ordnung in den Interventionskriegen), desto aussichtsloser ist aber


auch der Versuch, eine allgemeine Staatsstreichtechnik herauszustellen.
Wenn sich der Verfasser für die Möglichkeit eines in jedem Lande
durch einen kleinen entschlossenen Trupp durchführbaren Staats-
streichs auf Pius XI. und Leo Trotzki beruft, so erscheint dies nicht
durchschlagend. Die zitierten Äußerungen des ehemaligen Monsignore
Ratti, Gesandten des apostolischen Stuhls in Warschau, hatten keine
grundsätzliche Bedeutung; sie entsprangen lediglich dem Bedürfnis,
das für den Fall eines bolschewistischen Einmarsches in Warschau vor-
gesehene Verbleiben des Nuntius zwecks Anknüpfung diplomatischer
Beziehungen mit den Russen vor dem übrigen diplomatischen Korps
zu legitimieren. Leo Trotzki, dessen Taktik sowohl während des Okto-
berumsturzes als auch während seines Versuchs, Stalin im Jahre 1927
zu stürzen, der Verfasser eingehend untersucht, wird von ihm zu
Unrecht als Kronzeuge in Anspruch genommen. Trotzkis These von der
permanenten Revolution hat mit der des Verfassers nichts gemein, und
die nachdenklichen und lesenswerten Sätze, die dieser Praktiker des
Staatsstreichs dem Thema der Gewalt widmet,3 verdienen vor den Aus-
führungen des Theoretikers Malaparte den Vorzug.
Zu den besten Teilen des Buches gehören die Kapitel über den russisch-
polnischen Krieg und den faschistischen Staatsstreich, die der Verfasser
selbst, sei es als Zuschauer, sei es als Beteiligter miterlebt hat. In beiden
Fällen handelt es sich in diesem Zusammenhang um die Formulierung
eines negativen Staatsstreichproblems, das der Verfasser klar sieht, aber
von seinem den technischen Vorgängen zugewandten Denken aus
nicht beantworten kann. Dass im Frühjahr 1920 eine Erhebung der pro-
letarischen Bevölkerung Warschaus die äußerst bedrohte polnische
Stellung unhaltbar gemacht und damit den Geschicken dieses für die
gesamteuropäische Entwicklung ausschlaggebenden Krieges einen für
die Bolschewisten erfolgreichen Ausgang gesichert hätte, steht fest.
Ebenso haben wir keinen Grund zu zweifeln, dass, wie uns der Verfas-
ser aus eigener Kenntnis versichert, in den kritischen Tagen in War-
schau ein Staatsstreich durch einen kleinen Trupp entschlossener Män-
ner fast risikolos hätte ausgeführt werden können. Wenn man nicht die
Prozession, von der der Verfasser anschaulich berichtet, zu Hilfe rufen
will, wird man die erstaunliche Ruhe in Warschau wohl darauf zurück-
führen müssen, dass hier die nationale Bedeutung des russisch-polni-
schen Krieges kurz nach der endgültigen Befreiung Polens vom zaristi-
schen Regime auch im Denken der Arbeiterschichten eine erheblichere

3 Leo Trotzki, Mein Leben[, Berlin 1929,] S. 513.

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372 [26.] [Rezension:] Curzio Malaparte: Der Staatsstreich [1932]

Rolle einnahm als die ungewissen sozialen Möglichkeiten einer neuen


russischen Herrschaft.
Die sehr fesselnd geschriebene Geschichte des faschistischen Staats-
streichs beantwortet gleichfalls nicht die Frage, warum nicht die prole-
tarische Aktion zu einer Eroberung der Staatsmacht geführt hat.4
Seine besondere Bedeutung für die deutschen Leser erlangt das interes-
sante und auch dort, wo es zum Widerspruch herausfordert, lesens-
werte Buch durch sein Schlusskapitel: Hitler, un dictateur manqué. Die-
ses glänzend geschriebene Kapitel, dessen literarische und zeitge-
schichtliche Bedeutung man lediglich mit der »Apologie pour Lénine«
in der vierten Auflage von Georges Sorels »Réflexions sur la violence«5
vergleichen kann, ist die schärfste Abrechnung, die mit literarischen
Mitteln erfolgen konnte. Der Verfasser legt Wert darauf, jeden Vergleich
mit Mussolini zurückzuweisen. Ob seine These, dass Mussolini niemals
gegen den Arbeiter, sondern immer nur gegen die organisierte Arbei-
terschaft gekämpft hat, richtig ist, mag unerörtert bleiben. Dass aber
Hitlers Armee keinen Kampf gegen die organisierte Arbeiterschaft,
sondern eine sinnlose Hetzjagd gegen den einzelnen Arbeiter als sol-
chen betreibt, ist eine Feststellung, die für uns umso wichtiger ist, als
sie hier von einem völlig unbeteiligten Ausländer erfolgt. Die meister-
hafte Skizze über die Art des Hitler‘schen Legalitätsdenkens, der
Frucht der Furcht, nicht der Überzeugung, wird ebenso Zustimmung
finden wie die Ansicht des Verfassers, dass es gegenüber einer Diktatur
niemals ein bloßes Hinnehmen, sondern lediglich Unterwerfung gibt.
Dem Satze des unparteiischen Beobachters:
»Die Kräfte des Proletariats sind noch immer intakt. Diese ungeheure
Armee von Arbeitern, der einzige in Betracht kommende Feind der
Nationalsozialisten, ist stärker als jemals und ständig bereit, die Frei-
heit des deutschen Volkes zu verteidigen!«,6
haben wir nichts hinzuzufügen.

4 Hierzu findet man neuerdings einen plausiblen Erklärungsversuch bei von


Beckerath, Artikel: Faschismus im Handwörterbuch der Soziologie S. 132, der auf
die Bedeutung der breiten Bauern- und Pächterschichten Mittelitaliens hinweist,
die sich als trennender Keil zwischen die Fabrikproletarier Oberitaliens und die
Agrarproletarier des Südens schoben. [Erwin von Beckerath: Faschismus, in:
Alfred Vierkandt (Hg.): Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 132.]
5 [Georges Sorel: Réflexions sur la violence, 4. Auflage, Paris 1926.]
6 [Curzio Malaparte: Technique du coup d’état, Paris 1931, p. 280: »Les forces du
prolétariat sont encore intactes: cette formidable armée de travailleurs, le seul
ennemi redoutable de la révolution national-socialiste, est plus forte que jamais,
debout, intacte, prête à defendre jusqu’au bout la liberté du peuple allemand.«]

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373

[27.]
[Rezension:] Georg Schwarzenberger: Die Kreuger-
Anleihen*
[1932]

Georg Schwarzenberger. »Die Kreuger-Anleihen« Ein Beitrag zur Auslegung


der internationalen Anleihe- und Monopolverträge sowie zur Lehre vom
Staatsbankrott. Duncker und Humblot, München und Leipzig. 1931. 69 Sei-
ten.
Das Interesse der deutschen Völkerrechtswissenschaft hat sich bisher
nur in sehr geringem Maße der juristischen Qualifizierung von Bezie-
hungen zwischen Staaten und ausländischen Kapitalgesellschaften
zugewandt. Es schien eine Zeitlang, als ob die überreichen Fragenkom-
plexe, die sich aus dem Wandel der kapitalistischen Wirtschaftsform,
aus der internationalen Herrschaftsstellung mancher Unternehmungen
ergeben, für die Völkerrechtswissenschaft kein neues Durchdenken
ihrer Problemstellung erforderlich machen würden. Es ist deshalb das
Unternehmen an sich schon verdienstlich, dass hier einer der Verträge,
der als Typ der modernen Vereinbarungen zwischen kreditsuchenden
Staaten und ausländischen Gesellschaften anzusehen ist, einer genauen
völkerrechtlichen Betrachtung unterzogen wird. Bekanntlich verbinden
die verschiedenen Verträge Kreugers alle die Kreditgewährung mit
dem Erhalt des Zündholzmonopols in dem betreffenden Lande. Aus
der sorgfältigen Aufstellung des Verfassers in seinem Anfangskapitel
über die Typen der Kreuger-Verträge ergibt sich jedoch, dass die einzel-
nen Verträge voneinander stark in der Frage der Kreuger jeweils
gewährten Sicherheit differieren.
Der Schwerpunkt der Studie, der das deutsche Kreuger-Abkommen im
Wortlaut beigefügt ist, liegt nicht in der Aufhellung juristischer Zwei-
felsfragen, die sich an den Vertrag anknüpfen können, trotzdem auch
diese eingehend berücksichtigt werden. Denn wie man auch die Anlei-
hegewährung und Konzessionserteilung im Verhältnis von unabhängi-
gen Staaten und ausländischen Kapitalgesellschaften rechtlich qualifi-
zieren will, immer wieder wird man auf das Zentralproblem »Souverä-

* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 9, Heft 2, Berlin 1932, S. 175-177. – Zu diesem Text vergleiche in der Einlei-
tung S. 78-79.]

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374 [27.] [Rezension:] Georg Schwarzenberger: Die Kreuger-Anleihen [1932]

nität und Vertragsbindung« stoßen. Der Verfasser untersucht, ob es sich


hier um völker- oder landesrechtliche Verträge handelt, und gelangt zu
dem richtigen, auch von dem Haager Gericht vertretenen Ergebnis,
dass es sich hier nur um dem Landesrecht unterliegende Verträge han-
deln kann. Freilich unterlässt es der Verfasser, die praktisch entschei-
dende Folgerung aus dieser Feststellung zu ziehen, wenn er ausdrück-
lich gegenüber landesrechtlichen Gesetzesänderungen die Anwendbar-
keit von Enteignungsgrundsätzen annimmt und hieraus Entschädi-
gungsverpflichtungen ableitet. Die Frage, wieweit kann ein Staat sich
und, soweit sein Landesrecht zur Anwendung kommt, auch seine Bür-
ger von Vertragsverpflichtungen gegenüber ausländischen Gläubigern
durch gesetzliche Bestimmungen genereller Art befreien (Zinssenkung,
Moratorium), dürfte eine der wichtigsten Fragen sein, die gegenwärtig
der Völkerrechtswissenschaft zur Beantwortung aufgegeben sind. Es
gibt heute viele Propagandisten eines angeblich allgemeinen Völker-
rechtssatzes von dem unbedingten Schutze wohlerworbener Rechte von
Ausländern gegenüber dem Gesetzgeber. Die in dieser Hinsicht immer
rührige International Law Association will sich sogar nicht einmal
mehr mit der Verpflichtung der Gleichbehandlung von In- und Auslän-
dern begnügen. Sie will einen internationalen Standard von Recht und
Gerechtigkeit, eine Art kapitalistisches Zivilisationsminimum, als Ein-
trittskarte für die Völkerrechtsgemeinschaft festgelegt haben. Ein sol-
cher Völkerrechtssatz besteht aber, wie erst kürzlich wieder Cavaglieri,
eine anerkannte Autorität auf dem Gebiete des Völkerrechts, dargelegt
hat,1 keineswegs. Schwarzenberger, der die zentrale Bedeutung dieser
Fragen wohl kennt, will sie in dem interessantesten Kapitel seiner
Schrift »Rechtsverhältnisse bei Untergang des Schuldnerstaates« einer
neuartigen Lösung zuführen. Wohl im Anschluss an Korovine stellt er
eine Lehre von den verschiedenen Völkerrechtskreisen auf, von denen
nach seiner Meinung heute der bürgerlich rechtsstaatliche und der
sozialistische mit seinem russischen Prototyp in Betracht kommen.
Dass es – historisch gesehen – so viel Völkerrechtskreise gegeben hat,
als verschiedenartige Auffassungen von der Stellung des Staates in der
äußeren Welt tatsächlich sich durchzusetzen vermochten,2 ist nicht
bestreitbar. Eine andere Frage aber ist es, ob man den Besitz an einheit-

1 La notion des droits acquis et son application en droit international public in


Révue générale de droit international public 38. Jg. Nr. 3. [Arrigo Cavaglieri: La
notion des Droits acquis et son application en droit international public, in:
Révue générale de Droit international public, tome 38, série 3, Paris 1931, p.
257-296.]
2 Vergleiche hierzu die interessanten Bemerkungen von A. Vagts über die chinesi-
sche Umweltvorstellung in Europäische Gespräche, Jg. 9 Heft 5/6 Seite 4 ff.

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[27.] [Rezension:] Georg Schwarzenberger: Die Kreuger-Anleihen [1932] 375

lichen völkerrechtlichen Vorstellungen, soweit er im Laufe der Zeit All-


gemeingut aller politisch als Staaten existierenden Gebilde geworden
ist, aufgeben und je nach dem Maß des sozialen Wandels der inneren
Staatsstruktur – die herkömmlichen Unterscheidungen zwischen
»change de gouvernement« und »change de régime« reichen da nicht
aus – die Zurechnung zu einem bürgerlich-rechtsstaatlichen und einem
sozialistischen Völkerrechtskreis vornehmen soll. Die Schwierigkeiten
der Abgrenzung, die Schwarzenberger an Hand des ungarisch-rumäni-
schen Optantenstreites selbst aufzeigt, will er damit lösen, dass er dem
ausdrücklich erklärten Willen, weiter dem bürgerlich-rechtsstaatlichen
Völkerrechtskreis anzugehören, bei der Zurechnung zu einem Nor-
mensystem größere Bedeutung zumisst als der automatischen Dyna-
mik der Strukturveränderungen. Die Schwierigkeiten, die jedem Völ-
kerrechtssystem in der gegenwärtigen Periode anhaften und die man,
da es sich um die Schwierigkeiten der sozialen Ordnung der Welt und
ihres Gefälles von Staat zu Staat handelt, schwerlich mit den Mitteln
des Völkerrechts lösen kann, sind unverkennbar. Auch die neue Lehre
von den Völkerrechtskreisen, bei Schwarzenberger besonders ausge-
prägt durch einen unverkennbar voluntaristischen Zug, wird dieser
Schwierigkeiten nicht Herr werden. Eher wird man noch, falls man die
erworbenen Rechte weiter dem Gesetzgeber gegenüber als sakrosankt
ansieht, zwei neue, umfassendere Völkerrechtskreise bilden müssen,
den der Schuldner- und den der Gläubigerstaaten.
Demgegenüber scheint es vernünftiger, von dem für alle geltenden Völ-
kerrecht auszugehen und dabei in weiser Selbstbeschränkung der
Grenzen jeder Jurisprudenz, zumal aber des Völkerrechts, als Völker-
rechtssätze nur diejenigen anzusehen, die alle irgendwie in Betracht
kommenden Staaten der Erde ohne Gefährdung ihres sozialen Status
anzuerkennen in der Lage sind. Sicherlich nicht gehört zu diesen Sätzen
der der Unverletzlichkeit wohlerworbener Rechte gegenüber dem
Gesetzgeber.
Mag man in diesem Punkte auch anderer Meinung als der Verfasser
sein, so hat er doch das Verdienst, ein Kernproblem des Völkerrechts in
unserer Zeit in der notwendigen Schärfe herausgearbeitet und selbstän-
dig durchdacht zu haben.

[Alfred Vagts: Der Krieg: Ursachen und Anlässe, Ziele und Folgen, in: Europäi-
sche Gespräche, Jg. 9, Heft 5, Berlin 1931, S. 234-252.]

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376

[28.]
Legalität und Legitimität*
[1932]

Jedes soziale System besitzt ein Bedürfnis nach einer gewissen Legiti-
mierung und trachtet danach, wie dies Max Weber einmal ausgedrückt
hat,1 sich aus einem Bestand faktischer Machtverhältnisse in einen Kos-
mos erworbener Rechte zu verwandeln. Von diesem jeder Sozialord-
nung innewohnenden Drang zur rechtlichen Stabilisierung soll im Fol-
genden nicht die Rede sein. Denn der Legitimierungsanspruch der
Sozialordnung und die geltende Rechtsordnung treten dabei nicht in
Widerspruch, im Gegenteil, die Legitimierung der jeweiligen sozialen
Macht vollzieht sich in den Formen der vorhandenen Rechtsordnung.
Es gehört gerade zu dem spezifischen Wesen jeder nicht mehr feudalen,
nicht mehr traditionsgebundenen, rational gewordenen Rechtsord-
nung, dass sie dem Gegner des gerade geltenden Sozialsystems eine
gewisse Chance auf mindestens formale Gleichbehandlung einräumt
dadurch, dass sie das vorhandene Recht ohne Ansehen der Person
anwendet. Für die Gewährleistung dieser Chance ist aber eine notwen-
dige Voraussetzung die Trennung von gesetzgebender und regierender
Gewalt, wie sie in allen Ländern Europas in mehr oder minder voll-
kommener Weise im 19. Jahrhundert durchgeführt worden ist. In dem
Augenblick, in dem diese Trennung für eine ungewisse Zeit von unge-
wisser Dauer aufgehoben wird, wie es in Deutschland seit einiger Zeit
der Fall ist, schwindet jene formale Gleichheitschance. Nunmehr ver-
sucht die gewaltenvereinende Regierung, sich eine über den formalen
Parlamentskonsens hinausgehende Legitimierung zu verschaffen,
indem sie die Einbuße einer unzweifelhaften Rechtsgrundlage durch
stärkere Bindung und Verpflichtung des Volksganzen wettzumachen
sucht. Für diese Bindung beruft sie sich auf ihre, insbesondere aber auf
des Reichspräsidenten Autorität, der sie eine nach Ziel und Richtung
verpflichtende Wirkung auf alle Volksteile beimisst. Ein solches auf ein
Legitimitätsprinzip gestütztes Autoritätsverlangen ist schon einmal im
Anfang des letzten Jahrhunderts als Reaktion des Absolutismus gegen
das revolutionäre Bürgertum formuliert worden. Besser noch als Tal-

* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 9, Heft 7, Berlin 1932, S. 8-20. – Zu diesem Text vergleiche in der Einlei-
tung S. 84-91.]
1 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft II, [Tübingen 1925, S.] 648.

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[28.] Legalität und Legitimität [1932] 377

leyrand hat ein namenloser französischer Journalist im Jahre 1814, in


der Zeit des Wiener Kongresses, der Eigenart dieses Prinzips Ausdruck
verliehen: »Un général heureux, qui par hasard disposerait d’une
armée, n’est pour cela même avec la plus belle conduite une puissance,
tandis qu’un roi légitime reste puissance, même dans l’exil, même dans
les fers.«2 Die als undiskutabel hingenommene Macht sakralen
Ursprungs hat hier einen ewigen Rechtscharakter. Aber seit das monar-
chische Legitimitätsprinzip der parlamentarischen Monarchie Platz
gemacht hat, ist die Legitimität lediglich noch ein Symbol für die durch
die parlamentarische Regierung repräsentierte National- und Sozial-
ordnung.
Heute jedoch bahnt sich in Deutschland die Herrschaft einer neuen
legitimen Macht an. Die Schwierigkeiten einer klassengespaltenen
Demokratie haben die Machtstellung des Berufsbeamtentums im
gegenwärtigen Augenblick der Ohnmacht des Gesetzgebungsstaates zu
einer Schlüsselstellung schlechthin gemacht. Was ist natürlicher, als
dass die Bürokratie die Gunst des geschichtlichen Augenblicks zu nut-
zen versucht? Sie trachtet danach, ihre angeblich klassenjenseitige Stel-
lung von dem Wechselspiel der Klassenverhältnisse unabhängig zu
gestalten und sich als unmittelbarer, von jeder sozialen und politischen
Konstellation unabhängiger Repräsentant der nationalen Ordnung zu
etablieren. Die Legitimation ihrer Herrschaft wird in dem besonderen
Zusammenhang von Beamtentum und Staat gesucht; die Vermittlung
der demokratischen Volkssouveränität glaubt man dabei entbehren zu
können. Wir glauben nicht, dass jene einmalige Situation, das Zusam-
mentreffen der ungeahnten Zunahme und Übernahme staatlicher
Funktionen mit einer relativen Ohnmacht der sozialen Massenver-
bände, auf die Dauer der Herrschaft einer bürokratischen Aristokratie
den Weg ebnen kann. Denn ebenso wenig wie der legitimen Monarchie
die Wahl zwischen der Stellung als Haupt einer seigneuralen Aristokra-
tie und der herabgeminderten Funktion im bürgerlichen Konstitutiona-
lismus erspart blieb, wird die verselbständigte Bürokratie ihre neutrale
Klassenjenseitigkeit zwischen Bürgertum und Proletariat auf die Dauer
zu einer unabhängigen staatlichen Herrschaft ausbauen können. Die
Gewissheit, dass es sich hier nur um vorübergehende Erscheinungen
handelt, entbindet uns nicht von der Pflicht, zu verfolgen, wie sich der

2 Ein erfolgreicher General, der zufällig über eine Armee verfügt, ist selbst mit der
besten Haltung noch keine Macht, während ein legitimer König, selbst im Exil,
selbst im Kerker, die Macht bleibt.

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378 [28.] Legalität und Legitimität [1932]

Gesetzgebungsstaat auflöst3 und wie sich das Zwischenstadium der all-


umfassenden Herrschaft der verwaltenden Bürokratie vorläufig verfes-
tigt.

II

Die Staatstheorie des 19. Jahrhunderts kennt das Widerstandsrecht, das


noch die Diskussion der politischen Oppositionsgebilde im Absolutis-
mus beherrschte, nicht mehr. Die absorptive Gewalt der demokrati-
schen Ideologie hat gleichermaßen wie die konstitutionelle Praxis dazu
beigetragen, das Widerstandsrecht, das Produkt einer noch nicht ratio-
nalisierten Gesellschaftsordnung, auszuschalten; ja, man kann sogar so
weit gehen, den modernen Staat durch das Fehlen des Widerstands-
rechts, durch dessen Degradierung zu einem Katalog konstitutioneller
Freiheitsrechte zu kennzeichnen. An Stelle eines unbestimmbaren
Widerstandsrechts, dessen Stärke allein seine Verankerung im Volksbe-
wusstsein und das heißt gleichzeitig seine substantielle Grenzenlosig-
keit war, trat der rationalisierte Gesetzesbegriff.
Es ist keineswegs überflüssig, heute daran zu erinnern, dass der Begriff
der Legalität, der gegenwärtig einem sinnentleerenden Auflösungspro-
zess unterworfen scheint, seine Entstehung und Bedeutung nur seinem
engen Zusammenhang mit dem Gesetzesbegriff des 19. Jahrhunderts
verdankt. Dem Begriff der Legalität kommt eine bestimmte Sicherungs-
funktion zu, die das Widerstandsrecht zwar nicht fortsetzen, die es aber
überflüssig machen soll. Légalité constitutionelle in der Verfassungs-
sprache des Kontinents ebenso wie rule of law für den angelsächsi-
schen Rechtskreis bezeichnen die notwendige Übereinstimmung jegli-
chen Regierungs- oder Verwaltungsaktes mit den Gesetzen des jeweili-
gen Landes. Der Rationalisierung des Gesetzesbegriffes entspricht die
Formalisierung des Legalitätsbegriffes, mit dessen Hilfe dann auch eine
wirksamere Kontrolle der Verwaltung durchgeführt werden kann als
mit Hilfe der deutschen Rechtsstaatsvorstellung, die den historischen
Geschehensprozess immer wieder zu verarbeiten sucht.
Es ist kein Zufall, dass gerade in Frankreich der Begriff der Legalität
noch in allerjüngster Zeit unter scharfer Ablehnung eines selbständigen

3 Vergleiche dazu die Ausführungen von C. Schmitt in Reichsverwaltungsblatt


1932, S. 161. [Carl Schmitt: Grundsätzliches zur heutigen Notverordnungspraxis,
in: Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt, Jg. 53, Heft 9, Ber-
lin 1932, S. 161-165.]

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[28.] Legalität und Legitimität [1932] 379

»Imperiums« der Verwaltungsorgane durch die Zurückführung auf die


jeder Verwaltungsnorm zugrunde liegende und sie deckende Gesetzes-
norm bestimmt worden ist.4 Denn die Verfassungsgesetze von Frank-
reich, die sogenannten lois organiques von 1875, haben, da sie nur
Organisationsnormen und keine Gesetzesbestimmungen materieller
Art enthalten, den Formalisierungsprozess, der die Grundlage des
Legalitätsbegriffs bildet, weitgehend gefördert. Sie haben der Souverä-
nität des demokratischen Parlaments lediglich Kompetenzschranken
und keine materiellen Hindernisse gesetzt. Dort, wo man der Berufung
auf das Gesetz eine Berufung auf die Verfassung entgegenstellen kann,
und damit die Problematik einer »zweistufigen Legalität« vorliegt,
führt dies leicht dazu, dass die Bürokratie einen eigenen, an ihrer Ver-
fassungsvorstellung orientierten Legalitätsbegriff entwickelt. Hier aber
kommt neben dem Satz, dass die Verwaltung dem Gesetz entsprechen
müsse, dem weiteren Satz, dass das Gesetz der Verfassung entsprechen
müsse, wegen des rein formalen Charakters der Verfassungsgesetze
keine Bedeutung zu. Folgerichtig hat daher die französische Praxis die
Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze nie zugelassen und
damit den Begriff der Legalität in den Rahmen eines einfachen Gesetzes
eingespannt; sie hat ihm damit jene erhöhte Verwendungsfähigkeit
gesichert, die er bei uns bis zu einem gewissen Grade immer entbehrt.
Denn die reiche Fülle materiellrechtlicher Bestimmungen mit oft
unendlich deutungsfähigem Inhalt, die der zweite Hauptteil der Wei-
marer Verfassung in sich birgt, muss in einem Land mit so intensiver
geistiger Bewirtschaftung aller Interessen sehr oft zu dem Versuch füh-
ren, gegenüber dem Gesetzgeber an die Verfassung zu appellieren. Die
Präzision des technischen Einzelgesetzes gerät dabei unter der Hand
richterlicher Bürokratien gegenüber dem ausdeutungsfähigen Verfas-
sungsrahmen oft ins Hintertreffen, so dass in vielen Fällen die richterli-
che Bürokratie schon vor der Notverordnungspraxis zur Siegelbewah-
rerin jener zweistufigen Legalität wurde, die die Formalisierung und
Technisierung des Legalitätsbegriffs in Deutschland erschwerte.
Immerhin, ein »Pluralismus der Legalitätsbegriffe«, von dem Carl
Schmitt spricht,5 hat noch nicht Platz gegriffen, da auch hier die Aus-
richtung des Legalitätsbegriffs am Gesetz vorhanden ist, wenn auch
durch die Konfrontierung von Gesetz und Verfassung richterlichen
Usurpationsgelüsten ein weiter Spielraum gewährt wird.

4 Carré de Malberg, La Loi, expression de la volonté générale, Paris 1931.


5 Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931, S. 91.

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380 [28.] Legalität und Legitimität [1932]

Die Prüfung der Legalität der Handlungsweise eines Verwaltungsor-


gans hat aber jedenfalls zur Voraussetzung, dass der Maßstab dieser
Tätigkeit nicht unmittelbar oder mittelbar vom Belieben jenes Verwal-
tungsorgans geliefert wird. Gesetzliche Spezialermächtigungen an die
Verwaltung lassen die Frage der Legalität unberührt. Die gesetzge-
bende Körperschaft kann ihre Zuständigkeit übertragen, wenn sie hier-
bei die Grenzen und den Umfang der Übertragung genau bestimmt.
Eine solche Übertragung wird von der Verfassung selbst in Art. 48
angeordnet, genauer gesagt, die Verfassung ordnet sie nicht nur an, sie
nimmt sie für einen bestimmten Fall vorweg und schaltet das Parla-
ment dabei erst in einen späteren Verfahrensabschnitt ein. Im Falle
einer erheblichen Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung gibt die
Verfassung dem Reichspräsidenten eine solche Spezialermächtigung.
Nur der Charakter als Spezialermächtigung ist es, der das System der
Legalität nicht aufhebt, sondern nur in einzelnen, allerdings in das
pflichtmäßige Ermessen des Reichspräsidenten gestellten, Fällen teil-
weise außer Anwendung setzt. Die Legalität besteht hier in dem Vor-
handensein einer die Verwaltungspraxis deckenden Gesetzesnorm; die
Legalitätsprüfung beschränkt sich im Fall des Art. 48 auf die Feststel-
lung, dass bei der Ersetzung der gesetzlichen Norm durch das Verord-
nungsrecht des Reichspräsidenten die in Art. 48 gezogenen Grenzen
nicht überschritten worden sind. Die Notwendigkeit der einzelnen
Maßnahmen bleibt nach der Rechtsprechung dem Ermessen des
Reichspräsidenten überlassen. Um aber das Wesen der Spezialermäch-
tigung aufrechtzuerhalten, muss die Einstweiligkeit der Maßnahmen
streng gewahrt bleiben. In dem Augenblick, in dem das gesetzesvertre-
tende Notverordnungsrecht den Maßnahmencharakter überschreitet,
von der Einstweiligkeit zur »unbestimmten Zeit von voraussichtlich
längerer Dauer« übergeht,6 kann es mit dem herkömmlichen Begriff
der Legalität nicht mehr erfasst werden.
Man kann dem nicht entgegenhalten, dass zwischen jener »unbestimm-
ten Zeit von voraussichtlich längerer Dauer« und einer unbegrenzten
Zeitdauer ein für die Praxis ersichtlicher Unterschied bestehe. Denn
teilweise sind die durch das gesetzesvertretende Notverordnungsrecht
getroffenen Anordnungen, wie Bankbürgschaften, Haushaltssicherun-
gen, ihrem Wesen nach, nicht aber durch den Willen des Reichspräsi-
denten zeitlich begrenzt, teilweise, so zum Beispiel bei den Änderun-
gen des Instanzenzugs der Justizorgane und bei der ausführlichen

6 Vergleiche die Entscheidungen des Staatsgerichtshofs in »Juristische Wochen-


schrift«[, Jg. 61, Heft 7, Leipzig] 1932, S. 513.

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[28.] Legalität und Legitimität [1932] 381

Regelung des Zugabewesens, berechtigt nichts zu der Erwartung, dass


es sich hier um einstweilige Anordnungen handle. Die nachträgliche
Möglichkeit des Reichstags, die Verordnungen aufzuheben, bedeutet
nicht, wie man fälschlicherweise oft annimmt, dass die Nichtaufhebung
einer nachträglichen Legalisierung gleichkomme. Es kann hier dahin-
gestellt bleiben, inwieweit die Tatsache, dass der Reichstag es unter-
lässt, die Aufhebung der Verordnungen zu fordern, für die Verfas-
sungsmäßigkeit dieser Verordnungen von Bedeutung ist; es kann auch
weiter dahingestellt bleiben, ob nach der Reichsverfassung etwa das
Haushaltsgesetz überhaupt auf dem Wege des Art. 48 ersetzt werden
kann. Denn die Frage der Verfassungsmäßigkeit verliert deshalb an
Bedeutung, weil die dem Reichspräsidenten nachgeordneten Behörden
jedenfalls auf Grund ihres Unterordnungsverhältnisses diesen Verord-
nungen als Verwaltungsanordnungen vorgesetzter Behörden Folge leis-
ten und die Gerichte die Verfassungsmäßigkeit regelmäßig anerkennen.
Freilich vermag die Übung der Verwaltung und die Anerkennung der
Gerichte den Strukturwandel des Legalitätsbegriffs nicht zu verschlei-
ern. Denn mit der Ersetzung der Gesetzgebungsfunktionen des Parla-
ments durch das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten hat der
Legalitätsbegriff jedenfalls seine frühere Bedeutung verloren. Es han-
delt sich hier nicht mehr um einen vorübergehenden Vorgang, sondern
das Notverordnungsrecht und damit die Vereinigung von Gesetzge-
bung und Regierung hat einen ständigen Charakter angenommen, der
für das spezifische Wesen der Legalität, Überprüfung der Verwaltung
am Maßstab des Gesetzes, keinen Raum mehr lässt. Spricht man also
gegenwärtig von der Legalität der Regierung, der man dann etwa die
Illegalität der sie bekämpfenden Gruppen gegenüberstellt, so wohnt
hier dem Legalitätsbegriff augenscheinlich eine von der bisherigen
Begriffsbildung abweichende Bedeutung inne. Man stellt es dabei meis-
tens auf die sogenannte Legalität der Regierungsorgane ab, auf die Tat-
sache, dass sie ihre Machtstellung nicht im Gegensatz zur Verfassung,
sondern auf verfassungsmäßigem Wege erlangt haben. Man verweist
darauf, dass der Reichspräsident, der ja nach Art.l 48 Träger des Not-
verordnungsrechts ist, auf verfassungsmäßigem Wege durch das Volk
gewählt worden sei und auch das Reichskabinett keinerlei Misstrauens-
votum erhalten habe. Man zieht dann leicht die Parallele zu dem Ver-
hältnis von Volk und Parlament; denn da das Volk keinen Einfluss auf
den Inhalt der vom Parlament beschlossenen Gesetze habe, so bestehe
kein qualitativer Unterschied gegenüber der autoritären Notverord-
nungspraxis des Reichspräsidenten. Wer diese Parallele zieht, übersieht
nur einen gewaltigen Unterschied, den Unterschied zwischen Gesetzge-

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382 [28.] Legalität und Legitimität [1932]

bungsstaat und Diktatur. Der Gesetzgebungsstaat, die parlamentarische


Demokratie, kennt keine Form von Legitimität außer der ihres
Ursprungs. Da der jeweilige Beschluss der jeweiligen Mehrheit ihr und
des Volkes Gesetz ist, besteht die Legitimität ihrer Staatsordnung allein
in ihrer Legalität. Das Notverordnungsregime aber, das durch die ple-
biszitäre Person des Reichspräsidenten gedeckt und von der beamteten
Bürokratie geübt wird, wird nicht durch den Charakter der Legalität,
sondern den der Legitimität, die Berufung auf die undiskutable Rich-
tigkeit ihrer Handlungen und Ziele, gekennzeichnet. Zum Begriff der
Legalität gehört nicht nur die gesetzmäßige Entstehung, sondern in ers-
ter Linie die gesetzmäßige Übung der Macht. Durch nichts wird die
Akzentverschiebung von der Legalität zur Legitimität der Herrschafts-
ordnung klarer als durch den berühmt gewordenen Ausspruch des
Reichskanzlers Brüning: »Wenn man erklärt, daß man, auf legalem
Wege zur Macht gekommen, die legalen Schranken durchbrechen
werde, so ist das keine Legalität.«
Der legale Weg zur Macht bedeutet hier wiederum die gesetzmäßige
Entstehung; aber was heißt legale Schranken? Seit Gesetzgebungs- und
Verwaltungsfunktionen in der Hand der Regierung vereinigt sind,
besteht die legale Schranke – gemessen an dem juristischen Sinn des
Wortes Legalität – nur noch in den auch nach Art. 48 nicht suspendier-
baren Bestandteilen der Weimarer Verfassung. Es ist offensichtlich, dass
sich der Reichskanzler Brüning unter den legalen Schranken etwas
anderes vorgestellt hat als jenes Minimum der nicht suspendierbaren
Verfassungsbestandteile; denn diese bedeuten – man denke an die Auf-
hebbarkeit des Eigentumsartikels und der Vereinigungsfreiheit, an die
nach der Rechtsprechung zulässigen einschneidenden Eingriffe in Län-
derautonomie und Selbstverwaltung – gegenüber einer entschlossenen
Regierung nicht mehr viel. Offensichtlich werden die legalen Schran-
ken gleichgesetzt mit der Legitimität der Zwecke. Welche Zwecke aber
legitim sind, das entscheidet allein das amtierende Kabinett. Wenn des-
halb in einem insoweit aufschlussreichen Aufsatz in der »Tat«7 von
einem »Legalitätsbegriff des amtierenden Kabinetts« gesprochen wird,
das es nicht verantworten könne, die Regierung einer Katastrophen-
mehrheit zu überlassen, so ist dem Verfasser durchaus zuzustimmen,
wenn er hieraus den Schluss zieht, »es würde aber damit (d. h. durch
die Nichtauslieferung des Staatsapparats an diese Katastrophenmehr-
heit) ein innerpolitischer Kampf um die Legalität, d. h. um die Legiti-

7 Horst Grüneberg, Das neue Staatsbild [II, in: Die Tat, Jg. 23, Heft 10, Jena,] Januar
1932, S. 822.

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[28.] Legalität und Legitimität [1932] 383

mierung der Macht entfesselt«. Hierzu ist lediglich zu bemerken, dass


nicht erst die Ablehnung der Machtübergabe an die Katastrophenmehr-
heit den Kampf um die Legitimierung der Macht entfesselt. Der Über-
gang vom Gesetz der Parlamentsmehrheit, der sanktionierten Abkür-
zung des sozialen Machtkampfs, zum gesetzesverdrängenden Verord-
nungssystem bedeutet in Wirklichkeit schon das entscheidende Sta-
dium im Kampf um die Legitimierung der Macht, da jede von Geset-
zesbindung gelöste Regierung nur durch die Behauptung der allgemei-
nen Verbindlichkeit ihrer Ziele sich selbst gleichsam die fehlende
Zustimmung der andern erteilt.

III

Der gleiche Wandel, der innerhalb der Reichskompetenz auf Grund der
extensiven Anwendung des Art. 48 zu beobachten ist, hat sich inner-
halb der Länder teilweise mit Hilfe der Einrichtung der Geschäftsregie-
rung vollzogen. Der Reichsregierung hat bisher das Parlament das Ver-
trauen nicht entzogen, wohl aber ist dies in den Ländern Sachsen, Hes-
sen und in der Freien Stadt Hamburg geschehen. Die jeweiligen Lan-
desverfassungen sehen ein Weiteramtieren einer vom Parlament
gestürzten Regierung nur als Geschäftsregierung vor und weisen dieser
nur eine zeitliche Ersatzfunktion bis zur Neubestellung einer parlamen-
tarischen Regierung durch den Landtag zu. Auf den vorübergehenden
Charakter dieser Platzhalterschaft weisen die Verfassungen dadurch
ausdrücklich hin, dass sie der gestürzten Regierung als Geschäftsregie-
rung nur die Befugnis zur Führung der »laufenden Geschäfte« zuer-
kennen. In Preußen hat eine Erörterung dieses Begriffs bei früheren
Anlässen stattgefunden; es handelte sich dabei freilich um eine
Geschäftsregierung, die nach verhältnismäßig kurzer Zeit von einem
parlamentarischen Kabinett abgelöst wurde, so dass die Problematik
einer geschäftsführenden Dauerregierung nicht voll zum Austrag kam.
Immerhin besteht darin Übereinstimmung, dass »laufende Geschäfte«
nicht so viel bedeutet wie die Geschäfte, die gerade im Lauf sind. 8 Frag-
würdig bleibt jedoch die Unterscheidung zwischen laufenden Geschäf-
ten und politischen Entscheidungen. Sie mag praktisch durchführbar
sein, wenn es sich um eine Geschäftsregierung von absehbarer Dauer
handelt, theoretisch erfassbar ist sie überhaupt nicht, da der Begriff der
politischen Entscheidung keine gegenständliche Begrenzung besitzt,

8 So richtig der damalige preußische Ministerpräsident Marx in der Landtagsver-


handlung vom 27. März 1925.

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384 [28.] Legalität und Legitimität [1932]

sondern der politische Intensitätsgrad eines Regierungsaktes je nach


der verschiedenen historischen Situation unterschiedlich sein kann
(man denke an Hitlers Ernennung zum braunschweigischen Regie-
rungsrat). Da also eine sachliche Grenze für die Betätigung der
Geschäftsregierung nicht gesetzt werden kann, so kann diese alle
Handlungen einer ordentlichen Regierung vornehmen. Dadurch ergibt
sich ein eigenartiges Bild. Die Geschäftsregierung, die der Landtag
nicht stürzen kann, ist in ihren politischen Handlungen frei und dem
Landtag gegenüber nicht verantwortlich. Man führt zum Trost öfters
die Möglichkeit der Ministeranklage an. Abgesehen von der prakti-
schen Bedeutungslosigkeit dieses Überbleibsels des badischen Früh-
konstitutionalismus, das nicht zur Amtsentfernung, sondern höchstens
zu einer Feststellung der Nichtübereinstimmung bestimmter Hand-
lungsweisen mit dem geltenden Verfassungsrecht führen kann, ist es
noch sehr fraglich, ob die Ministeranklage auf Grund von Regierungs-
akten, die innerhalb der Amtsperiode des Geschäftsministeriums vor-
genommen worden sind, überhaupt erhoben werden kann.9
Die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit eines Dauergeschäftsministe-
riums kann man mit Rücksicht auf Art. 17 der Reichsverfassung, der
auch für die Länder eine parlamentarische Regierung vorschreibt, ver-
neinen und daraus den Schluss ziehen, dass die Reichsregierung befugt
sei, unter Hinweis auf Art. 48 Abs. 2 der RV die Geschäftsregierung
ihres Amtes zu entheben und sie durch einen Reichskommissar zu
ersetzen.10 Die Obskurität dieser Lösung bedarf keines weiteren Hin-
weises. Ist die Dauerfunktion eines verfassungsmäßig vorgesehenen
Behelfs immerhin noch als Verfassungswandlung anzusehen, so bedeu-
tet eine Dauerdurchbrechung der Länderkompetenz auf Grund des
Art. 48 eine diktatorische Verfassungsänderung. Wesentlich an dieser
Erörterung ist nur die Erkenntnis, dass tatsächlich eine Verschiebung
bezüglich der Existenzgrundlage der Landesregierung eingetreten ist.
Denn ist das Parlament durch die Unmöglichkeit einer weiteren Ein-
wirkung auf die Landesregierung auf ein totes Geleise geschoben, so
hat die Landesregierung lediglich ihren Herren getauscht. Sie besitzt

9 Vergleiche etwa die Ausführungen Stier-Somlos im Arch. öff. R. NF. 9, S. 219, der
dies wie die gesamte Literatur ohne nähere Begründung bejaht. [Fritz Stier-
Somlo: Geschäftsminiterium, laufende Geschäfte, ständiger Ausschuß und Not-
verordnungen nach preußischem Verfassungsrecht, in: Archiv des öffentlichen
Rechts, N. F. 9, Tübingen 1925, S. 211-224.]
10 Huber, Die Stellung der Geschäftsregierung in den deutschen Ländern, DJZ.
1932, Sp. 194 ff. [Ernst Rudolf Huber: Die Stellung der Geschäftsregierung in
den deutschen Ländern, in: Deutsche Juristen-Zeitung, Band 37, Berlin 1932, Sp.
194-199.]

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[28.] Legalität und Legitimität [1932] 385

zwar keine legale Grundlage für ihr Handeln mehr, aber ihre Existenz
ist so lange gesichert, wie ihre Tätigkeit von der Reichsregierung als
mit der ihrigen übereinstimmend und das heißt als legitim angesehen
wird.

IV

Das Problem der Legalität von Parteien, dem in erster Linie sich heute
das Interesse der Öffentlichkeit zugewandt hat, nimmt im Rahmen des
allgemeinen Legalitätsbegriffs keine besondere Stellung ein. Solange es
eine Unterscheidung zwischen rechtsetzenden und verwaltenden
Instanzen gegeben hat, war die sogenannte Legalität von Parteien iden-
tisch mit der Gesetzmäßigkeit ihres Handelns. Die Gesetzmäßigkeit des
Handelns aber bestimmte sich zunächst nach den allgemeinen, für alle
Bürger geltenden Gesetzen, wobei hauptsächlich die Grenzen des Straf-
gesetzes in Frage kamen. Daneben aber war es allzeit der souveränen
Entscheidung der demokratischen Parlamente überlassen, bestimmte
politische Gruppen in mehr oder minder scharfer Form zu befehden,
indem sie über den Rahmen des allgemeinen Strafgesetzes hinaus poli-
tische Handlungen oder Gesinnungen unter Strafe stellten. Es sei hier
nur an das berühmte Beispiel des französischen Nationalkonvents erin-
nert, der in den Gesetzen vom 23. Ventôse und vom 22. Prairial des Jah-
res II in sehr weitgehender Form die politischen Feinde der Konvents-
mehrheit zu Verrätern des Vaterlandes und Feinden des Volkes
erklärte.11 Nationalversammlung und Reichstag haben sich in den ver-
schiedenen Legislaturperioden niemals dazu entschlossen, bestimmte
politische Gruppen wegen des von ihnen verfolgten Zieles oder wegen
ihrer Gesinnung unter besondere Strafgesetze zu stellen. Einen schwa-
chen Ansatzpunkt hierzu könnte man höchstens in dem § 4 des Repu-
blikschutzgesetzes erblicken, der Gefängnis nicht unter drei Monaten
für diejenigen androht, die an geheimen oder staatsfeindlichen Verbin-
dungen teilnehmen, welche die Bestrebung verfolgen, die verfassungs-
mäßig festgestellte republikanische Staatsform des Reiches oder eines
Landes zu untergraben. Dem eigentlichen Sinne dieser Bestimmung
wird man nur dann gerecht, wenn man ihren doppelten Hinweis auf
die §§ 128, 129 des Strafgesetzbuches und auf die verfassungsgemäß
festgestellte Staatsform richtig würdigt. Beides sind Versuche zur For-

11 Der Gesetzestext ist abgedruckt bei Aulard, Histoire politique de la révolution


française, 5. Auflage 1921, S. 365 f. [Alphonse Aulard: Histoire politique de la
révolution française, 5. édition, Paris 1921.]

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386 [28.] Legalität und Legitimität [1932]

malisierung, die einen intensiveren juristischen Schutz der Verfassung


ermöglichen, ohne eine bestimmte politische Gruppe unter ein Ausnah-
merecht zu stellen. Denn der Begriff der staatsfeindlichen Partei war an
der Verfassung und an den allgemeinen Gesetzen orientiert, ohne dass
eine spezielle gesetzliche Diffamierung bestimmter Auffassungen und
Vorstellungen vorgenommen worden wäre. Wollte man also, was in
einem Staat mit so intensiven und unüberbrückbaren Parteigegensätzen
wie Deutschland immer der Fall war, bestimmte politische Gruppen
wegen ihrer Tätigkeit verfolgen, so musste man zu der Fiktion greifen,
dass man diese politische Gruppe nicht als Gesinnungsgemeinschaft
der Partei, sondern als staatsfeindliche Verbindung befehde. Man
musste also versuchen, konkrete Verstöße gegen Strafgesetzbestim-
mungen festzustellen. Die Grenze der Verfolgungsmöglichkeit lag dort,
wo sich der unantastbare Organisationskern befand, in der parlamenta-
rischen Vertretung der politischen Gruppe. Dieser Organisationskern
blieb unangreifbar, selbst wenn man, was zu Zeiten geschah, eine
ganze politische Partei als verbotene Verbindung deklarierte und damit
die Entfaltung ihrer Wirksamkeit in der Öffentlichkeit zu hindern ver-
suchte. Denn die Parlamente haben nie inhaltliche Differenzierungen
gesetzlicher Art zwischen den Parteien vorgenommen, und § 6 Abs. 2
des preußischen Gesetzes über die Regelung verschiedener Punkte des
Gemeindeverfassungsrechts vom 27. Dezember 1927 bestimmt zum
Beispiel ausdrücklich: »Wegen der Zugehörigkeit des Gewählten zu
einer politischen Partei darf die Bestätigung nicht versagt werden.«
Stets blieben auch die verfassungsmäßigen Rechte jeder Partei auf Teil-
nahme am Parlament mit allen Folgen dieser Rechte, als deren wich-
tigste wohl die Wahlagitation anzusehen ist, gewahrt. Damit war zu
Zeiten des regulären Funktionierens des Parlaments für die Frage der
Legalität einer Partei allein entscheidend, ob sich die Partei mit gesetz-
lich unzulässigen Mitteln in den Besitz der politischen Macht setzen
wollte. Dabei hatte die endgültige Zielsetzung einer Partei auszuschei-
den, da keine Verfassungsbestimmung oder sonstige Norm die Allge-
meinverbindlichkeit und Anerkennung bestimmter Sozialvorstellungen
als bindend erklärt hatte. Auch die Verwaltung war im Allgemeinen
gehalten, diese Grenzen bei der Verfolgung ihrer politischen Gegner zu
beachten. Kompetenzüberschreitungen glückten nur teilweise hinsicht-
lich der KPD, da hier die Rechtskontrolle des Reichsgerichts zum Teil
versagte, wenn es auch typischerweise bemüht blieb, die Prägung
neuer Rechtsprinzipien zu vermeiden und sich statt dessen lieber einer
höchst extensiven gesetzesüberschreitenden Interpretation der straf-
rechtlichen Hochverratsbestimmungen zuwandte.

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Solche Tendenzen mussten aber als Fremdkörper in einer sonst einheit-


lichen Legalordnung erscheinen, solange es keine Möglichkeit gab, den
allgemeinen Legalitätsbegriff durch einen Rechtsbegriff der »revolutio-
nären Partei« zu erweitern. Diesen Versuch hat neuerdings Koellreutter
unternommen.12 Er will die revolutionäre Partei prinzipiell auch für die
Rechtsordnung von den potentiell regierungsfähigen Parteien abson-
dern. Zu diesen sollen alle diejenigen Parteien gehören, die als Glied
des Volksganzen, als Repräsentant der bestehenden politischen Einheit
angesehen werden können, da sie den bewussten Willen des Volkes zur
politischen Existenz als Grundlage der nationalen Einheit besitzen.
Diese Parteien, die von der Sozialdemokratie bis zu der Nationalsozia-
listischen Arbeiterpartei reichen, genießen alle Vorzüge der behördli-
chen Legalitätsvermutung, womit aber nicht ausgeschlossen ist, dass in
einer konkreten Situation auch eine solche Partei sich einmal des Staats-
streiches bedienen könnte. Aber da für sie die Legalitätsvermutung
spricht, trifft die Beweislast den Gegner. Was den angeblichen nationa-
len Einheitswillen anbelangt, so scheint Koellreutter übersehen zu
haben, dass in der Geschichte gerade die revolutionären Parteien sich
als die zuverlässigsten Träger des nationalen Einheitswillens erwiesen
haben, und man hat ihm daher mit vollem Recht entgegengehalten,13
dass nur Anarchisten durch seine neue Begriffsbestimmung diskredi-
tiert werden könnten.
In Wirklichkeit steht aber hinter der nationalen Lebensordnung die
Frage der sozialen Struktur, und Koellreutter konkretisiert oder redu-
ziert vielmehr auch an anderer Stelle seine nationale Einheit auf Privat-
eigentum, Ehe und Verbindung mit der Religion. Sieht man einmal von
der Ehe ab, die unseres Wissens niemand abschaffen will, so dürfte es
Koellreutter bei seinem Begriff des Revolutionären in erster Linie um
die Umwandlung der Eigentumsordnung zu tun sein, die übrigens
ganz ohne Verfassungsänderung heute einem Funktionswandel unter-
liegt, der tiefer greift als manche revolutionäre Umgestaltung. Die Aus-
scheidung einer revolutionären Partei aus dem Rahmen der geltenden
Verfassungsordnung würde zur Voraussetzung haben, dass das deut-
sche Verfassungsrecht einen der französischen »superlégalité constituti-
onnelle« entsprechenden Begriff gebildet hätte. Superlégalité constituti-
onnelle bedeutet aber nichts weiter als die Anerkennung der Legitimi-

12 [Otto] Koellreutter: Parteien und Verfassung im heutigen Deutschland, in: Fest-


gabe für Richard Schmidt, Leipzig 1932, S. 107 ff.
13 Haentzschel in Arch. öff. R. NF. 20, S. 385. [Kurt Häntzschel: Der Konflikt Reich-
Thüringen in der Frage der Polizeikostenzuschüsse, in: Archiv des öffentlichen
Rechts, N. F. 20, Tübingen 1931, S. 385-411.]

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388 [28.] Legalität und Legitimität [1932]

tät eines bestimmten Kultursystems.14 Gleichgültig ob es für Frankreich


tatsächlich eine juristische Legitimität einer individualistischen Rechts-
ordnung gibt, die über allen Verfassungs- und Gesetzestexten steht, für
Deutschland besteht sie jedenfalls nicht. Denn die Weimarer Verfas-
sung hat in ihrem zweiten Hauptteil eine zu breite Grundlage für alle
Berufungsmöglichkeiten geschaffen, als dass sich einer ausschließlich
auf sie berufen könnte.15 Damit ist es aber auch ausgeschlossen, dass es
neben dem Begriff der Legalität ein materielles Kriterium für die Ver-
haltensweise einer Partei geben könnte. Da Koellreutter übrigens nicht
leugnet, dass eine nicht revolutionäre Partei ebenfalls illegal handeln
könne, ergibt sich schon hieraus, dass das Bedürfnis nach dem Begriff
einer revolutionären Partei fehlt. Denn wenn der Revolutionär legal
handelt, so ist das für die Rechtsordnung unerheblich, gleichgültig ob
seine augenblickliche Legalität auf revolutionären Zielsetzungen oder
einem »legalen Kretinismus« beruht. Handelt der Revolutionär aber
illegal, so gerät er in Konflikt mit der bestehenden Rechtsordnung,
gleichgültig ob seine illegale Handlungsweise auf revolutionären Erwä-
gungen oder nur auf der »Romantik der Illegalität« aufgebaut ist.16
Nicht dass der Revolutionär die Begriffe der Legalität und Illegalität
relativiert, wirft ihm die staatliche Rechtsordnung vor; nur dass das
Ergebnis dieses Denkprozesses unter Umständen zur Illegalität führt,
bringt ihn mit dieser in Konflikt. Nicht minder gleichgültig ist es aber
für die geltende Rechtsordnung, ob eine Partei zu dem Kreis der
»guten« Parteien gehört, falls sie sich einfallen lässt, auf dem Wege zur
politischen Macht das Strafgesetz zu missachten. Wer wollte übrigens
so anmaßend sein, vorwegzunehmen, was nur dem Historiker zusteht:
die höchst relative Unterscheidung zwischen revolutionären und
»guten« Parteien.
Es fragt sich, wie weit die Notverordnungs- und die mit ihr zusammen-
hängende Verwaltungs- und Justizpraxis der Gegenwart auch hier den
Formalcharakter des Legalitätsbegriffes aufgegeben und sich von

14 Eine solche Auffassung wird zum Beispiel von dem bekannten Staatstheoretiker
Hauriou vertreten; Hauriou, Précis de Droit constitutionnel, 2. Edition 1929,
S. 239. [Maurice Hauriou: Précis de Droit constitutionnel, 2. édition, Paris 1929.]
15 Vergleiche C. Schmitt im Handbuch des deutschen Staatsrechts, § 101 II. [Carl
Schmitt: Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, in:
Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg.): Handbuch des deutschen Staats-
rechts, Band 2, Tübingen 1932, § 101, S. 572-607.]
16 Zu dem Verhältnis von revolutionärem Denken und Legalordnung vergleiche
G. Lucacs, Legalität und Illegalität in Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin
1922. [Georg Lukács (Hg.): Legalität und Illegalität, in: Geschichte und Klassen-
bewußtsein, Berlin 1923, S. 217-227.]

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[28.] Legalität und Legitimität [1932] 389

einem Liberalismus abgewandt hat, der, wie seine Gegner leider gern
übersehen, weniger einer grundsätzlich liberalen Einstellung entsprach,
als sich nur als ein praktisches Ordnungsprinzip für ein klassengespal-
tenes Land erwiesen hatte. Die Notverordnungspraxis, die durch die
Unbestimmtheit ihrer oft wechselnden Regelungen jeder Partei Schwie-
rigkeiten bereitet (Uniform- und Abzeichenverbot), ging nicht dazu
über, bestimmte Parteien hors de la loi, außerhalb des Gesetzes, zu
erklären. Man ist schon deshalb nicht hierzu geschritten, weil dadurch
eine unerwünschte Diskrepanz zu dem noch in Geltung befindlichen
Parlamentsrecht mit seiner grundsätzlichen Gleichbehandlung aller
Parteien entstanden wäre. Aber fraglos hat die Notverordnungspraxis
durch die Unbestimmtheit ihrer Normierung (lebenswichtige Interes-
sen des § 6 der Notverordnung des Reichspräsidenten vom 10. August
1931, die vielen Blankovollmachten an die Verwaltungsbehörden in
Bezug auf Demonstrations-, Versammlungs- und Zeitungsverbote) den
Verwaltungsbehörden gestattet, die Grenzparteien mit bestrittenem
Legalitätscharakter gegenüber den andern Parteien zu benachteiligen.
Das Maß der Aktionsfreiheit der politischen Parteien bestimmt sich
jetzt nach der oft inappellablen, mindestens aber durch Zeitablauf einer
wirksamen Kontrolle entzogenen Entscheidung der Verwaltungsbe-
hörde. Für die Frage, ob eine bestimmte Versammlung oder ein
bestimmtes Plakat von der Behörde nicht beanstandet wird, sind an
Stelle der allgemeinen Gesetze spezifisch polizeiliche Ordnungsbegriffe
getreten. Wie die Behörde den Ermessensspielraum der Verordnungen
ausfüllt, entscheidet der allgemeine Charakter der Partei, mit anderen
Worten, der Beweis der Legalität im einzelnen Fall tritt hinter der gene-
rellen Legalitätsvermutung in den Hintergrund. Die Entscheidung über
die Legalitätsvermutung hängt wiederum in erster Linie von den
Anordnungen der Zentralverwaltungsbehörden, in schwächerem Maße
von den Entscheidungen der Gerichte ab. Bei solchen Entscheidungen
über die Legalitätsvermutung bezüglich einer bestimmten Partei ist es
aber für die oberste Verwaltungsinstanz sehr schwer, die Frage der
Legalität des Vorgehens von der der Legitimität der verfolgten Ziele zu
trennen. Die preußischen Erlasse17 verbürgen durch die Gleichstellung
der KPD und der NSDAP eine gewisse formale Betrachtungsweise, die
sich in erster Linie an der Gewaltsamkeit der angewandten Mittel ori-
entiert, wenn auch hier charakteristischerweise von dem gewaltsamen
Umsturz als Ziel, nicht als Mittel gesprochen wird. Der Erlass des

17 Vergleiche den Erlass vom 3. Juli 1930, abgedruckt im Justizministerialblatt


1930, S. 220. [Justiz-Ministerialblatt für die preußische Gesetzgebung und
Rechtspflege, Berlin 1930, S. 220.]

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390 [28.] Legalität und Legitimität [1932]

Reichswehrministers Groener enthält schon insofern eine Abweichung


von der üblichen Verwaltungspraxis, als er sich nicht mit der Frage der
Illegalität beschäftigt, sondern die Ausstellung eines für seinen
Geschäftsbereich allgemeinverbindlichen Führungszeugnisses für die
NSDAP bedeutet. Aus dem Gesamtzusammenhang des Erlasses wie
auch aus seiner politischen Zielsetzung ergibt sich, dass die Überzeu-
gung von der Legalität dieser Partei nicht in erster Linie auf dem Ver-
halten der Parteiangehörigen, sondern auf der Anerkennung der
»nationalen Zielsetzung« beruht.
Die Stellung der Gerichte (unter Gerichten soll hier jede über Einzel-
fälle abschließend entscheidende, mit der sogenannten Unabhängigkeit
ausgestattete Behörde verstanden werden) in einem Staat mit getrenn-
ter Exekutive und Legislative wird wesentlich mitbestimmt durch ihre
Kompetenz, Verwaltungsakte an der Hand von Gesetzen nachzuprü-
fen. Gibt es keine von der Verwaltung getrennte Gesetzgebung mehr, so
tritt in der Stellung der Gerichte ein Funktionswandel ein. Haben sie
früher die von ihnen usurpierte Befugnis, die Verfassungsmäßigkeit
der Gesetze nachzuprüfen, nur gelegentlich ausgenützt, so besitzen sie
jetzt jeder Notverordnung gegenüber das Recht, die Einhaltung der
durch Art. 48 gezogenen Grenzen zu kontrollieren. Erst die Nichtaus-
übung dieses Vetorechts gewährleistet das ungestörte Funktionieren
des Notverordnungssystems gegenüber nachgeordneten Behörden und
Bürgern. Die Gerichte haben die Notverordnungspraxis stets gedeckt
und sanktioniert, und die Zurückhaltung, die sie durch das Abstellen
auf den Einzelfall übten, entsprang dem Bestreben, die ihnen gewor-
dene Machtfülle nicht durch eine Präjudizierung aus der Hand zu
geben, sondern sich damit die stete Beteiligung an der Staatsmacht zu
erhalten. Waren sie an die Notverordnungen, hatten sie sie einmal
sanktioniert, inhaltlich doch gebunden, so bestand bei der Frage nach
der Legalität von Parteien für ihr Urteil keinerlei Bindung, da die
Anweisungen der Zentralbehörden keinen Rechtscharakter trugen. Im
Gegensatz zu den Verwaltungsinstanzen, für die die Legalitäts- und
Illegalitätsvermutungen, die die Anordnungen ihrer vorgesetzten
Behörden enthielten, bindend waren, konnte selbst das unterste Diszi-
plinargericht seine Entscheidung von Fall zu Fall treffen, ohne dabei
andere Normen als die §§ 128, 129 des Strafgesetzbuches, § 4 des Repu-
blikschutzgesetzes berücksichtigen zu müssen.18

18 Vergleiche Glockner in »Die politische Betätigung der Beamten«, Bühl 1930, ein
dem Badischen Lehrerverein erstattetes Gutachten. [Gerhard Anschütz, Karl
Glockner: Die politische Betätigung der Beamten. Zwei Rechtsgutachten, Bühl/
Baden 1930.]

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[28.] Legalität und Legitimität [1932] 391

Die Gerichte haben, soweit eine Einhelligkeit der Verwaltungsinstanzen


bestand, also in Bezug auf die KPD, ebenfalls die Illegalitätsvermutung
für ausschlaggebend erachtet. Man ist aber noch einen charakteristi-
schen Schritt weiter gegangen, indem man den Beweis des Gegenteils
ausschloss. Der von dem thüringischen Oberverwaltungsgericht getrof-
fenen Feststellung, dass die KPO gegenwärtig keinen bewaffneten
Umsturz erstrebe, misst dieses Gericht keine Bedeutung zu. Denn »von
der KPD unterscheidet sie sich nur in der Taktik des Parteikampfes und
in ihrer Einstellung zur gegenwärtigen politischen Lage. Im Gegensatz
zur KPD glaubt sie sich noch nicht unmittelbar vor der Übernahme der
Macht. An ihrer revolutionären Zielsetzung ändert dies aber nichts«.19
Gegenüber der Illegalitätsvermutung hilft auch der vom Gericht selbst
als geführt erachtete Nachweis der gegenwärtigen Legalität nichts;
denn es kommt eben lediglich auf das illegitime Ziel, die »revolutio-
näre Zielsetzung«, an. In Bezug auf die NSDAP besteht eine Einhellig-
keit der Rechtsprechung ebenso wenig wie bei den Verwaltungsbehör-
den. Die meisten Urteile, vornehmlich die der höheren preußischen
Disziplinargerichte,20 stellen es auf die Illegalität der gebrauchten Mit-
tel ab; es gibt aber auch hier Urteile, die ganz eindeutig in entsprechen-
der Weise wie das thüringische OVG sich von der Legalität der Zielset-
zung der Partei bestimmen lassen.21 Auch hier ist mindestens die Ten-
denz ersichtlich, von den gesetzlichen Normen, die die genaue Feststel-
lung der illegalen Mittel erfordern, zur Verwerfung des illegitimen
Zwecks, der behördlich nicht approbierten Sozialvorstellung, überzu-
gehen. Dabei macht es dann keinen großen Unterschied mehr, ob die
Verwaltung dieses Ziel durch für ihren Geschäftsbereich bindende
Legalitäts- oder Illegalitätsvermutungen erreicht oder ob die Justiz bei
Illegitimität des sozialen Zieles den Beweis der Legalität der ange-
wandten Mittel für wertlos erklärt.

19 Abgedruckt bei Koellreutter a. a. O., S. 122. [Otto Koellreutter: Parteien und Ver-
fassung im heutigen Deutschland, in: Festgabe für Richard Schmidt, Leipzig
1932, S. 122.]
20 Vergleiche das Urteil des Preußischen Disziplinarhofs für nicht richterliche
Beamte, abgedruckt in der Frankf. Zeitung vom 28. Februar 1932.
21 Vergleiche das Urteil des Lübeckischen Disziplinargerichts bei Koellreutter,
S. 128. [Otto Koellreutter: Parteien und Verfassung im heutigen Deutschland, in:
Festgabe für Richard Schmidt, Leipzig 1932, S. 128.]

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392 [28.] Legalität und Legitimität [1932]

Stehen dem Begriff der legitimen Partei im allgemeinen noch Hemm-


nisse entgegen, die sich aus der demokratischen und zugleich konstitu-
tionellen Struktur des Reiches ergeben, mit denen auch Notverord-
nungs- und Verwaltungspraxis noch zu rechnen haben, so ist doch auf
einem Spezialgebiet, dem des Arbeitsrechts, die legitime Partei schon
eine gewohnte Vorstellung. Der Theorie nach unterscheidet sich das
deutsche Arbeitsrecht vom faschistischen durch das Fehlen rechtlicher
Monopolstellungen. Das Tarifvertragswesen setzt lediglich Parteien
voraus, die fähig und gewillt sind, Arbeitskämpfe zu führen, Tarifver-
träge abzuschließen und einzuhalten. Niemand hätte es der Rechtspre-
chung verübeln können, wenn sie bei der Anerkennung der Tariffähig-
keit wirtschaftlich selbständiger, bisher auf diesem Gebiet noch uner-
probter Organisationen größte Vorsicht hätte walten lassen, eine Vor-
sicht, die umso größer sein konnte, je mehr der politische Charakter der
Organisation ernste Bedenken gegen ihren Willen, Tarifverträge zu hal-
ten, erregte. Solche Zweifel wären aber nur bis zum Beweis des Gegen-
teils zulässig gewesen. Wenn das Reichsarbeitsgericht der Allgemeinen
Arbeiterunion die Tariffähigkeit aberkannte,22 obwohl bewiesen war,
dass sie Tarifverträge nicht nur abgeschlossen, sondern auch Jahre hin-
durch eingehalten hatte, so liegt auch hier die charakteristische Vorstel-
lung zugrunde, dass die Illegitimität der sozialen Vorstellungen für
immer zu dem Verlust des Rechtes führt, gesetzliche Rechte gesetzlich
zu gebrauchen. Zu der legitimen Tarifpartei gesellt sich der legitime
Betriebsrat. Entspricht es dem Betriebsrätegesetz, dass jemand Betriebs-
rat wird, der zwar gewillt ist, seine Befugnisse im Rahmen des Betriebs-
rätegesetzes auszuüben, aber einer Vereinigung angehört, die im Prin-
zip im revolutionären Klassenkampf die Belange der Arbeiterklasse
durchsetzen will? Nach der bisherigen Legalordnung kommt es nur auf
die Übereinstimmung seiner Handlungsweise mit dem Gesetz an. Wer
vom Legitimitätsprinzip ausgeht, muss aber auch hier folgerichtig dazu
gelangen, die Fähigkeit, Betriebsrat zu sein, mit der Zugehörigkeit zur
RGO als inkompatibel zu erklären.23 Aber nicht nur die Legitimität der
Tarifparteien und die Legitimität der den Betriebsrat stellenden Vereini-
gung ist von der Rechtsprechung erfunden worden, sondern die
gefährlichste Legitimitätsvoraussetzung, die sie schuf und die zum

22 Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts, Bd. 6, [Berlin 1931,] S. 63.


23 Vergleiche den von Ernst Fraenkel in der Justiz, Band 7, Heft 4, S. 194, angeführ-
ten Beschluss des Landesarbeitsgerichts Ulm. [Ernst Fraenkel: Chronik, in: Die
Justiz, Band 7, Heft 4, Berlin 1932.]

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[28.] Legalität und Legitimität [1932] 393

Hemmschuh jedes Arbeitskampfes zu werden droht, ist die Legitimität


der Ziele eines Arbeitskampfes. Folgender charakteristische Satz des
Reichsarbeitsgerichts sei hier angeführt:
»Aus dem Abschluß eines Tarifvertrages folgt die Pflicht, grundlose
Störungen zu unterlassen und Kampfmaßnahmen nur dann zu veran-
lassen, wenn damit wirtschaftliche Ziele verfolgt werden oder begrün-
dete Veranlassung vorliegt. Erfolgen aber Maßnahmen, ohne daß
besondere wirtschaftliche Ziele oder begründete Veranlassung vorlie-
gen, so bedeutet dies, auch soweit tarifvertragliche Verpflichtungen
nicht bestehen, eine Verletzung der aus dem Tarifvertrag sich ergeben-
den allgemeinen Friedenspflicht.«24
Damit hat die Freiheit der gewerkschaftlichen Betätigung eine unüber-
sehbare Einschränkung erfahren. Die bloße Geltendmachung des
»gewerkschaftlichen Machtwillens« ohne erkennbares wirtschaftliches
Ziel ist unerlaubt. Das Arbeitsgericht entscheidet souverän darüber,
welche Zwecke wirtschaftlich, das heißt legitim, und welche politisch,25
das heißt illegitim, sind, ein typisches Beispiel dafür, wie eine im Orga-
nismus des Gewerkschaftslebens begründete einheitliche Reaktion
gegenüber dem wirtschaftlichen Gegenspieler behördlich eingehegt
und gewissermaßen konzessionspflichtig gemacht wird.

VI

Die Chance jeder legalen Herrschaftsordnung besteht in der Möglich-


keit, die Dialektik des geschichtlichen Geschehens sich reibungsloser
einzuordnen, als eine legitime Herrschaftsordnung es vermag; denn
dieser ist nur Dauer beschieden, solange es ihr gelingt, den politischen
und sozialen Status einer bestimmten historischen Zeitspanne mit dem
Anschein ewiger Gültigkeit zu umkleiden. Es war die unheroische Auf-
gabe der deutschen Legalordnung, des labilen Koalitionsparteienstaa-

24 Vergleiche Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts, Bd. 5, [Berlin 1930,] S. 252.


Eine genaue Würdigung dieser Tendenzen enthält der im Archiv für Sozialwis-
senschaft im April 1932 erschienene Aufsatz von Kahn-Freund: »Der Funktions-
wandel des Arbeitsrechts.« [Otto Kahn-Freund: Der Funktionswandel des
Arbeitsrechts, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 67,
Tübingen 1932, S. 146-174.]
25 Der Gegensatz politisch-wirtschaftlich entspringt dabei reinen Werturteilen
über soziale Verhaltensweisen. Da die entscheidenden Behörden meist eine
nähere Begründung der angewandten Maßstäbe unterlassen, lässt sich nicht
beurteilen, inwieweit sich die Gerichte der Problematik dieser Unterscheidung
im gegenwärtigen Zeitalter (vergleiche dazu Carl Schmitt: Der Begriff des Politi-
schen, München 1932) überhaupt bewusst geworden sind.

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394 [28.] Legalität und Legitimität [1932]

tes, die sozialen Gegensätze auf dem Niveau der jeweiligen Klassen-
und Gruppenstärke auszugleichen, ohne die gegebenen Spannungen
zu beseitigen. In dem Maß, wie jener autonome, von den großen
Machtgruppen in der Form des Parlamentsgesetzes vollzogene Aus-
gleich durch die wachsenden Schwierigkeiten der gesamtdeutschen
Verhältnisse unmöglich wurde, wuchs die Selbständigkeit der intakt
gebliebenen Bürokratie. Aus der neutralen Vermittlungsinstanz, die als
Treuhänder annähernd sich das Gleichgewicht haltender sozialer Grup-
pen verwaltete, war durch ihre Geschlossenheit und durch den Zusam-
menhang mit der ihr praktisch koordinierten bewaffneten Macht die
Macht im Reiche schlechthin geworden. Sie ist die Trägerin der neuen
Legitimität, die die Periode der parlamentarisch-demokratischen Legal-
ordnung ablöst. Mit der legitimen Regierung legitimiert sie sich selbst,
mit der legitimen Partei beschränkt sie die Freiheit ihrer unversöhnli-
chen Feinde, und mit der legitimen Tarifpartei und dem legitimen
Arbeitskampf schickt sie sich an, das Arbeitsrecht bürokratisch zu
beherrschen. Und trotzdem, ihre eigene soziale Basis ist zu schwach, als
dass sie als überlegener Dritter zwischen den sich befehdenden Wirt-
schaftsgruppen einen Ausgleich zu schaffen vermöchte und dadurch
die Grundlagen der politischen Einheit des Volkes bewahrte.26 Gewiss,
die Bürokratie »macht den formellen Staatsgeist oder die wirkliche
Geistlosigkeit des Staates zum kategorischen Imperativ«,27 und ihre
Unparteilichkeit und Neutralität sind nur die ideologische Verbrämung
dafür, dass sie sich selbst für den »letzten Endzweck des Staates« hält.
Aber dieses statische, auf Beharrung gerichtete Sozialideal kann sie nur
verwirklichen, wenn sie bei den Gesellschaftsgruppen Anlehnung
sucht, die ein Interesse daran haben, den kapitalistischen Entwick-
lungsprozess auf einem gewissen, dem rückschauenden Betrachter
relativ günstig erscheinenden Punkt zu stabilisieren. Der Reichskanzler
Brüning ist es, der hier mit der von ihm oft gebrauchten Wendung, wir
müssten zu den einfachen und sparsamen Grundsätzen der Vorkriegs-
zeit zurückkehren, der Auffassung von Bürgertum, Kleinbürgertum
und Bürokratie Ausdruck verleiht. Dem im Flusse des gesellschaftli-
chen Entwicklungsprozesses unwiederbringlich Entschwundenen wird
hier ein Ewigkeitswert zugesprochen. Gegenüber solchen Restaurati-
onsversuchen muss der vorwärtsstrebende Wille der demokratischen

26 Vergleiche [Ernst Rudolf] Huber, Das Deutsche Reich als Wirtschaftsstaat,


Tübingen 1931, S. 29.
27 Karl Marx, Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie in Der historische Materia-
lismus, Frühschriften I, S. 78. [Vergleiche: Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen
Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts, in: MEW Band 1, Berlin
1976, S. 247 f.]

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[28.] Legalität und Legitimität [1932] 395

Bevölkerungsmassen als ein gefährlicher Anachronismus erscheinen,


den auf immer einzudämmen die heutige Notzeit am besten geeignet
sei. Ein so hervorragender und für die gesamte Bürokratie so typischer
Vertreter wie Popitz hat die Beseitigung dieses Anachronismus zum
Ausgangspunkt seiner wohldurchdachten Finanzausgleichsvorschläge
gemacht.28 Es ist nur natürlich, dass das, was für uns als vielleicht erup-
tive Erscheinungsform des schnellen sozialen Formwandels der Nach-
kriegszeit erscheint, hier nur als parteipolitischer Missbrauch, Korrup-
tion, Verantwortungslosigkeit und unsachlicher Parteikompromiss fir-
miert, dem der Gemeinsinn und das Pflichtgefühl der Vorkriegszeit
leuchtend gegenüberstehen. Aber ist nicht eine Gesellschaftsordnung,
die ihre Legitimität nicht aus sich heraus bauen kann, sondern diese
mit dem erborgten Glanz einer idealisierten Vergangenheit bestreiten
muss, schon vor ihrer Vollendung zum Scheitern verurteilt?

28 Johannes Popitz, Der künftige Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und


Gemeinden, Berlin 1932. Vergleiche hierzu die Ausführungen von Rinner in der
April-Nummer dieser Zeitschrift. [Erich Rinner: Die Reform des Finanzaus-
gleichs, in: Die Gesellschaft, Jg. 9, Heft 4, Berlin 1932, S. 336-353.]

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396

[29.]
Die staatsrechtlichen Probleme der
Reichstagsauflösung*
[1932]

Solange das Kabinett Brüning und mit ihm der Reichspräsident gegen-
über allen politischen Gruppen für eine gewisse Neutralität bürgten,
war es möglich, die Unregelmäßigkeiten unserer verfassungsrechtli-
chen Zustände, in denen die Regel durch die Ausnahme, das Gesetz
durch die Maßnahme, die verantwortliche durch die geschäftsführende
Regierung abgelöst wurde, als ein vorübergehendes Stadium zu
betrachten, das den Rückweg zur verfassungsmäßigen demokratischen
Regierung offen ließ. Diese formale Neutralität, die das Brüning‘sche
Kabinett gegenüber Klassen und Parteien, gleichviel aus welchen Moti-
ven, gewahrt hat, ist mit diesem Kabinett dahingegangen. Die Befürch-
tungen, die Prévost-Paradol hinsichtlich der Unmöglichkeit eines unab-
hängigen republikanischen Präsidenten im Jahre 1869 ausgesprochen
hat,1 sind in Erfüllung gegangen. Damit hat sich auch die verfassungs-
politische Situation in Deutschland grundlegend geändert. Je geringer
mit zunehmender Verschärfung der politischen und sozialen Gegen-
sätze die personellen Garantien werden, die die verfassungsmäßig fest-
gelegte Unabhängigkeit des Reichspräsidenten bietet, umso größer
wird die politische Verantwortung der einzelnen sozialen Gruppen.
Wenn der Hüter der Verfassung der Übermacht einzelner Gruppen
gegenüber die verfassungsrechtlichen Grundsätze nicht mehr aufrecht-
erhalten kann, muss jede Gruppe selbst unter ihrer eigenen Verantwor-
tung prüfen, welche Handlungen der Regierung den verfassungsmäßi-
gen Gehorsam verdienen.
Solange das Parlament selbst erhalten blieb und damit zu rechnen war,
dass es seine Tätigkeit in einem für einen demokratischen Staat not-
wendigen Umfang wiederaufnehmen würde, konnte man sich mit
einer vorübergehenden Einschränkung seiner Funktionen abfinden.
Vor eine vollkommen neue Situation würden sich aber die Bekenner

* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 9, Heft 8, Berlin 1932, S. 125-135. – Zu diesem Text vergleiche in der Einlei-
tung S. 94-95. ]
1 La France nouvelle[, Paris 1869,] von [Lucien Anatole] Prévost-Paradol war ein
Werk von weittragender verfassungspolitischer Bedeutung.

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[29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932] 397

des demokratischen Sozialismus gestellt sehen, falls versucht werden


sollte, mit Hilfe einer irgendwie gearteten Auslegung des Art. 25 der
Reichsverfassung, der präsidentiellen Auflösungsbefugnis, die Institu-
tion selbst zu vernichten. In dieser Hinsicht knüpfen sich an die Reichs-
tagsauflösung vom 4. Juni verfassungsrechtliche Fragen von weittra-
gender Bedeutung. Zwei Fragen vor allem bedürfen dringend der Klä-
rung: 1. War diese Reichstagsauflösung in der Form und mit der
Begründung, mit der sie vorgenommen wurde, verfassungsrechtlich
zulässig? 2. Unter welchen Umständen ist die Möglichkeit einer noch-
maligen Reichstagsauflösung im Rahmen des Art. 25 der Reichsverfas-
sung gegeben, der die Auflösung des Reichstags dem Reichspräsiden-
ten gestattet, jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlass?
Die Anwendung und Interpretation von Verfassungssätzen erfolgt
nicht in der Form logischer Subsumtionsschlüsse; sie kann vielmehr
nur unter Beachtung, Vergleichung und Abwägung der geschichtlichen
Entwicklung des Verfassungsinstituts, unter gebührender Berücksichti-
gung der Präzedenzfälle geschehen. Daher kann eine Auslegung des
Art. 25 der Weimarer Verfassung nicht von der Erörterung der Begriffe
»Einmaligkeit« und »gleicher Anlass« ihren Ausgangspunkt nehmen.
Diese Begriffe sind nur als zusätzliche Schutzbestimmungen, die den
Anwendungsbereich des Auflösungsrechts genauer umgrenzen sollen,
zu verstehen.
Das Auflösungsrecht, das sich erstmalig in der Napoleonischen Verfas-
sung vom Thermidor des Jahres 10 (1802) findet und dort dem Senat
gegenüber dem corps législatif übertragen ist, hat einen anderen Wir-
kungsgrad im Recht der konstitutionellen Monarchie als in der parla-
mentarischen Demokratie. In der Monarchie Ludwigs XVIII. und Karls
X. in Frankreich, im vorrevolutionären Preußen wie im vorrevolutionä-
ren Reich ist es eine Waffe des konstitutionellen Fürsten gegen das Par-
lament. Er kann dessen Lebensdauer nach seinem Gutdünken abkür-
zen, ohne dass er gezwungen wäre, auf Grund der Wahlergebnisse ein
dem Parlament genehmes Ministerium zu berufen.2 Die ganze Rechts-
konstruktion der konstitutionellen Monarchie, die nur schwach den
Widerstreit zwischen fürstlich-bürokratischem Absolutismus und den
bürgerlichen Schichten von Besitz und Bildung verbergen konnte, war
eine Halbheit, bei der das aufstrebende Bürgertum im Ernstfalle nicht

2 Vergleiche etwa die diesbezüglichen Ausführungen bei [Joseph von] Held: Sys-
tem des Verfassungsrechts II, [Würzburg 1856,] S. 479, und v. Roenne: Preußisches
Staatsrecht I, § 66. [Ludwig von Rönne: Das Staatsrecht der Preussischen Monar-
chie, Band 1, Leipzig 1864.]

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398 [29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932]

stehenbleiben wollte. Diese Halbheit spiegelt sich auch in jenem eigen-


tümlichen Auflösungsrecht wider, das den unverantwortlichen Fürsten
zwar heißt, an das Volk zu appellieren, ihn aber nicht zwingt, dem
Wahlausfall Rechnung zu tragen. In der Praxis hat diese Konstruktion
auch nicht standgehalten; denn als im Jahre 1830 Karl X. versuchte, die
neugewählte Kammer, in der die liberalen Oppositionsparteien über
die Mehrheit verfügten, vor ihrem Zusammentritt aufzulösen, kam es
zur Revolution. Das Parlament siegte über den König, das Prinzip der
irdischen Verantwortlichkeit über die göttliche Verantwortungslosig-
keit. Bis zum heutigen Tage hat niemand den Versuch wiederholt, den
soeben kund getanen Willen des Volkes für einen Irrtum zu erklären.
Die immanente Tendenz zur Volksherrschaft, die die Übergabe der Ent-
scheidung über die politische Gestaltung aus der Hand der widerstrei-
tenden Exekutive und Legislative in die des Volkes mit sich bringt,
drängt schon in der konstitutionellen Monarchie dazu, dem Votum des
Volkes abschließende Bedeutung zuzuerkennen.
Seine rechtliche Ausgestaltung findet dieses Prinzip endgültig aber erst
in der parlamentarischen Demokratie. Dabei ist die Frage, ob das
Haupt der parlamentarischen Demokratie ein erblicher Monarch oder
ein gewählter Präsident ist, ohne Bedeutung. Es ist die englische Ver-
fassungspraxis, die hier in kontinuierlicher Entwicklung die konstitu-
tionelle Praxis der Auflösung herausgebildet hat. Man kann die mögli-
chen Fälle der Auflösung im Anschluss an Prévost-Paradol danach
bestimmen,3 ob die im Parlament bei einer Abstimmung in der Minder-
heit gebliebene Regierung vom Monarchen beziehungsweise Präsiden-
ten die Parlamentsauflösung erlangt (ministerielle Auflösung), oder ob
das Staatsoberhaupt das das Vertrauen des Kabinetts genießende Parla-
ment entlassen hat und mit einem Minderheitskabinett das Parlament
auflöst (königliche oder präsidentielle Auflösung).
Ein dritter Fall der Auflösung ist die Selbstauflösung des Parlaments.
Neben die verfassungsmäßig festgelegte Selbstauflösung4 tritt die ver-
schleierte Selbstauflösung durch eine von der Parlamentsmehrheit
gebilligte Auflösungsverfügung des Staatsoberhauptes, wie sie im
Frankreich Napoleons III. an der Tagesordnung war und wie sie etwa

3 A. a. O., S. 148/49[, Lucien Anatole Prévost-Paradol: La France Nouvelle, Paris


1868]; vergleiche dazu auch Carl Schmitt, Verfassungslehre, [München/Leipzig
1928,] S. 353 f.
4 Verfassungsgesetzlich geregelt ist die Selbstauflösung in der österreichischen
Bundesverfassung Art. 29 Abs. 2 und in mehreren deutschen Länderverfassun-
gen.

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[29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932] 399

bei uns in reiner Form die Verordnung des Reichspräsidenten über die
Auflösung des Reichstags vom 31. März 1928 darstellt. Dort heißt es:
»Nachdem der Reichstag mit den gestern verabschiedeten Gesetzen
das sogenannte Notprogramm erledigt hat und da nicht zu erwarten
ist, daß noch weitere größere gesetzgeberische Arbeiten in dieser Peri-
ode zum Abschluß gebracht werden können, löse ich auf Grund des
Art. 25 der Reichsverfassung den Reichstag auf.«
Mit Recht hat Carl Schmitt5 hervorgehoben, dass für die verschleierte
Selbstauflösung die Bestimmung über Einmaligkeit und gleichen
Anlass nicht anwendbar ist und jeder folgende Reichstag selbstver-
ständlich im Wege der verschleierten Selbstauflösung sein Ende finden
kann. Denn hier fehlt gerade das für die ministerielle oder präsidenti-
elle Auflösung typische Element: ein Streit zwischen Exekutivgewalt
und Parlamentsmehrheit, in dem das Volk als Richter fungieren soll.
Die Formen der ministeriellen oder präsidentiellen Auflösung sind
dann am Platze, wenn Parlament und Volk nicht mehr jenen politischen
Identitätsgrad besitzen, aus dem das Parlament die Legitimation zu sei-
nen Handlungen ableitet. Denn auf der nicht mehr vorhandenen Über-
einstimmung beruht letzten Endes das Recht zur Parlamentsauflösung
im parlamentarischen Staat.6 Da die Verfassung Exekutive und Legisla-
tive zu gemeinsamer Arbeit verpflichtet, kann und darf dieses Zusam-
menwirken nur dann vorzeitig aufgehoben werden, wenn Grund zu
der Annahme besteht, dass das Parlament nicht mehr Repräsentant der
Nation sei. Ob und unter welchen Voraussetzungen diese Annahme
berechtigt ist, bleibt dem pflichtgemäßen Ermessen des Staatsober-
hauptes und seiner für die verfassungsmäßig vorgeschriebene Gegen-
zeichnung verantwortlichen Minister Vorbehalten. Die Richtlinien, die
Queen Victoria in einem Brief an Lord Russell niedergelegt hat, zeigen
bei starker Betonung der gebotenen Zurückhaltung, dass mit Aus-
nahme des Verbots zweier noch zu behandelnder Fälle (Auflösung vor
Zusammentritt und Auflösung aus dem gleichen Anlass) dem diskre-

5 Arch. f. öff. R., N. F., Bd. 8, S. 170 bis 172. [Carl Schmitt: »Einmaligkeit« und »glei-
cher Anlaß« bei der Reichstagsauflösung nach Art. 25 der Reichsverfassung, in:
Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 8, Tübingen 1925, S. 162-173.]
6 Ein Ausfluss jener Identitätsforderung ist die in manchen Verfassungen vorgese-
hene Parlamentsauflösung bei Verfassungsänderung, vergleiche Belgische Verf.
Art. 131. Ebenfalls hierauf beruht die englische Verfassungspraxis, die bei Wahl-
rechtsänderungen eine Parlamentsauflösung für erforderlich hält.

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400 [29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932]

tionären Ermessen ein weiter Spielraum gesetzt ist.7 Daher kann auch
die Auflösungsverfügung des Reichspräsidenten vom 4. Juni nicht als
verfassungswidrig bezeichnet werden. Die Annahme, dass die Dauer
der Wahlperiode eine unwiderlegbare Vermutung für einen konstanten
Volkswillen darstelle, ist irrig. Wäre dies der Fall, so wäre das Institut
der Parlamentsauflösung hinfällig. Andererseits ist der der Auflösungs-
verfügung als Begründung beigefügte Satz, die statt gehabten Länder-
wahlen hätten ergeben, dass die Zusammensetzung des Reichstags
nicht mehr dem Volkswillen entspreche, keine Begründung im Sinne
des Art. 25 RV. Denn diese staatstheoretische Begründung für das Auf-
lösungsrecht des Staatsoberhaupts liegt, solange die Verfassungsge-
schichte dieses Rechtsinstitut kennt, jeder Auflösung zugrunde. Sie ist
die Basis für den der wechselnden politischen Situation entspringenden
Auflösungsgrund, macht aber diesen nicht entbehrlich. Die Reichstags-
auflösung vom 4. Juni 1932 ist daher als ohne Angabe von Gründen
erfolgt anzusehen, ein Verfahren, das zwar schon Lasker in der preußi-
schen Konfliktszeit anlässlich der Landtagsauflösung von 1863 gerügt
hat,8 das aber auch nach der Weimarer Verfassung nicht als unzulässig
angesehen werden kann. Freilich darf das Fehlen einer amtlichen
Begründung nicht zu der unhaltbaren Deduktion verführen, dass eine
spätere Auflösung deshalb niemals aus dem gleichen Anlass geschehen
könnte wie die vorangegangene, weil für diese ein Anlass nicht gege-
ben war. Die Möglichkeit, ein vom Parlament gestütztes oder wenig-
stens, wie im Fall Brüning, nicht gestürztes Ministerium zu entlassen
und es durch ein mit der Auflösungsorder ausgestattetes Minderheits-
kabinett zu ersetzen, verleitet leicht zu einer persönlichen Politik des
Staatsoberhaupts, die auszuschalten eben das Bemühen der parlamen-
tarisch-demokratischen Verfassung ist. Deshalb ist es nicht erstaunlich,
dass die Zulässigkeit einer solchen Offensivauflösung des Parlaments
lange Zeit streitig blieb. Mit den führenden englischen Autoren9 wird
man aber jenes Verfahren, nachdem es 1784 und 1834 in England zwar

7 Letters of Queen Victoria, S. 348. Dort heißt es: »Die Auflösungsbefugnis ist ein
sehr schätzbares und wertvolles Instrument in den Händen der Krone, welches
aber nur in den äußersten Fällen und mit Aussicht auf Erfolg angewendet wer-
den soll. Wird man aber bei Benutzung dieses Instruments geschlagen, so ist das
für Krone und Land gleichermaßen schädlich und betrübend.« [Victoria, Queen
of Great Britain, Arthur Christopher Benson, Reginald Baliol Brett Esher, Vis-
count: Letters of Queen Victoria, a selection from Her Majesty’s correspondence
between the years 1837 and 1861, published by authority of His Majesty the King,
London 1907.]
8 [Eduard] Lasker, Zur Verfassungsgeschichte Preußens, Leipzig 1874.
9 [William R.] Anson: Law and custom of the constitution, [Oxford] 1909, Bd. I,
S. 309. [Albert Venn] Dicey: Law of the constitution[, London] 1915, S. 432; ver-

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[29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932] 401

nicht widerspruchslos, aber immerhin ohne praktische Widerstände


durchgeführt worden ist, als verfassungsrechtlich zulässig ansehen
müssen. Auch die Mehrheit des Verfassungsausschusses der Weimarer
Nationalversammlung hat bei der Behandlung dieser Fragen die Zuläs-
sigkeit eines solchen Vorgehens bejaht.10 Diese Offensivauflösung des
Parlaments im parlamentarisch-demokratischen Staat unterscheidet
sich freilich von der Offensivauflösung der konstitutionellen Monar-
chie11 dadurch, dass nicht nur faktisch, sondern auch rechtlich die Ent-
scheidung des um seine Meinung angegangenen Volkes nunmehr der
zukünftigen Politik sowohl in personeller als auch in sachlicher Hin-
sicht zugrunde gelegt werden muss. Da es der Sinn der Auflösung ist,
eine Entscheidung des souveränen Volkes herbeizuführen, muss dieser
Entscheidung eine andere Bedeutung zukommen als den laufenden
Staatsakten der dem souveränen Volk untergeordneten Organe. Wenn
die Wählerschaft entscheiden soll, ob Staatsoberhaupt, Kabinett oder
Parlament die von der Mehrheit des Volkes als richtig empfundene
Politik getrieben haben, so wäre diese Entscheidung sinnlos, wenn sie
nicht die Fragenkomplexe, über die die Meinungsverschiedenheiten
entstanden sind, einer endgültigen Entscheidung zuführen würde. Aus
dem Bestreben, dieser Grundentscheidung ihre tragende Bedeutung zu
wahren und die Verteilung der Staatsgewalt zwischen Legislative und
Exekutive nicht durch das Auflösungsrecht des Staatsoberhauptes zu
erschüttern, sind die Sicherungsmaßnahmen, die verschiedene Verfas-
sungen gegen einen Missbrauch des Auflösungsrechts vorsehen, zu
erklären. Dabei ist der Schutz vor einer sofortigen Auflösung des neu-
gewählten Parlaments vor dessen Zusammentritt begrifflich von dem
Schutz vor einer allzu häufigen Auflösung überhaupt zu unterscheiden.
Es ist interessant, dass nur eine Verfassung (nämlich die portugiesi-
sche) es für notwendig befunden hat, ausdrücklich die Auflösung des
neugewählten Parlaments vor seinem Zusammentritt für unzulässig zu
erklären. In einer Verfassungsnovelle von 1885, die ihren Ursprung der
Furcht vor dem Experiment Karls X. und vor den in die gleiche Rich-

gleiche aber etwa die zurückhaltendere Stellungnahme bei Michael Mac Donagh:
The english king, [London] 1929, und die ablehnende Stellungnahme der Studie
von Paul Matter: La dissolution des assemblées parlementaires, Paris 1898, S. 191.
10 Protokolle des Verfassungsausschusses, S. 252/53 [Nationalversammlung, 46.
Sitzung, Freitag, den 4. Juli 1919, S. 1282].
11 Vergleiche Esmein Nézard: Droit constitutionel, 8. édition [Paris] 1927, tome I,
S. 176, und die Betrachtungen, die C. Schmitt, Arch. f. öff. R., Bd. 8, S. 166, daran
knüpft. [Carl Schmit: »Einmaligkeit« und »gleicher Anlaß« bei der Reichstags-
auflösung nach Art. 25 der Reichsverfassung, in: Archiv für öffentliches Recht,
N. F. 8, Tübingen 1925, S. 162-173.]

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402 [29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932]

tung weisenden, allerdings unverwirklicht gebliebenen Plänen Mac-


Mahons aus dem Jahre 1876 verdankt, wird hier eine nochmalige Auf-
lösung nach Neuwahl von einer vorangehenden dreimonatlichen Sit-
zungsperiode abhängig gemacht.12 Was in Portugal geschriebenes Ver-
fassungsrecht ist, besteht in jeder parlamentarisch-demokratischen Ver-
fassung als ungeschriebener Verfassungssatz. Da eine neue Auflösung
nur mit neuen politischen Fragen begründet werden kann, auf die eine
Antwort des souveränen Volkes bisher fehlt, die aber schon zu einem
erkennbaren Gegensatz zwischen Parlament und Exekutive geführt
haben, ist die Frage nach der Zulässigkeit einer sofortigen Auflösung
des Parlaments vor dessen Zusammentritt eindeutig beantwortet. Ein
Vorgehen in der Art Karls X. im Jahre 1830 ist ein Verfassungsbruch,
dem das neugewählte Parlament keine Beachtung zu schenken
braucht.13 Ausdrücklich sei erwähnt, dass die Unzulässigkeit einer sol-
chen Auflösung nicht von der Frage abhängt, ob man das Parlament
vor seinem ersten Zusammentritt als existent ansehen will oder nicht.
Diese Frage, die wohl die herrschende Auffassung in der Staatsrechts-
lehre14 mit Recht dahingehend beantwortet, dass das Parlament schon
vom Tag der Wahl an existiere, tritt hinter der grundsätzlichen Ant-
wort, die aus dem immanenten Sinn parlamentarisch-demokratischer
Institutionen heraus zu erteilen ist, zurück. In der parlamentarischen
Demokratie haben die Wahlen immer mehr plebiszitären Charakter
angenommen. Unmittelbar tritt dies in England zutage, wo man
gewohnt ist, für Wahlen konkrete Fragen zu formulieren. Aber auch in
Deutschland, wo die Partei, nicht die politische Entscheidung im Ein-
zelfall, im Vordergrund des Wahlkampfes steht, ist die plebiszitäre
Wendung seit langem sichtbar. Eine Wiederholung der Wahl ist daher
nur sinnvoll, falls ein neuer, durch die Tätigkeit der Exekutive oder der
Legislative geschaffener Gegenstand des Plebiszits existiert. Daher ist
in der parlamentarischen Demokratie noch viel weniger als in der kon-

12 [M.] David: Les Chambres portugaises, [in:] Bulletin de la société de Législation


comparée, [Paris] 1876, p. 273.
13 Vergleiche [Heinrich] Pohl: Die Auflösung des Reichstags, [Stuttgart] 1921, S. 28;
Giese: Komm. z. Art. 25 der RV. [Friedrich Giese: Die Verfassung des Deutschen
Reiches, Berlin 1919, S. 126-128.]
14 Anschütz 4 zu Art. 25; Poetzsch-Heffter 3 zu Art. 25; Giese 1 zu Art. 25. [Gerhard
Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Berlin
1921, S. 79; Fritz Poetzsch-Heffter: Handkommentar der Reichsverfassung vom
11. August 1919, Berlin 1928, S. 167 f.; Friedrich Giese: Die Verfassung des Deut-
schen Reiches, Berlin 1919, S. 126.]

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[29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932] 403

stitutionellen Monarchie15 Raum für eine Auflösung des Parlaments


vor dessen Zusammentritt. Versucht eine Regierung, deren Intentionen
mit der Wahl nicht in Erfüllung gegangen sind, dem Misstrauensvotum
des Parlaments durch eine nochmalige Auflösung, für die sie die
Zustimmung des Staatsoberhauptes erhalt, zuvorzukommen, so han-
delt sie verfassungswidrig. In diesem Fall kommt der Frage des glei-
chen Anlasses und der Einmaligkeit keine Bedeutung zu, da sie das
Vorhandensein von Unstimmigkeiten zwischen Exekutive und Legisla-
tive, die Möglichkeit einer vom Volkswillen verschiedenen Parlaments-
mehrheit zur Voraussetzung hat. Ein Parlament, das seine Tätigkeit
noch nicht begonnen hat, kann keine Differenzen mit einer Regierung
haben, deren Bestellung nach demokratischen Grundsätzen ihm erst
obliegt. Ein Volk, das am 31. Juli gewählt hat, kann am 4. August nicht
im Gegensatz zu einem Parlament stehen, dessen Amtsführung ihm
noch gar keinen Anlass zur Stellungnahme gegeben hat.16
Sieht man also von dem Fall der sofortigen Parlamentsauflösung vor
Zusammentritt ab, für den die Verfassungen als dem Gebiet des Hoch-
verrats angehörig eine besondere Regelung nicht für erforderlich hiel-
ten, so sind es zwei Mittel, mit denen die Verfassungen einer miss-
bräuchlichen Anwendung des Auflösungsrechts durch allzu häufigen
Gebrauch vorbeugen wollten. Als wirksamsten Schutz in dieser Rich-
tung hat man lange Zeit das Erfordernis der Gegenzeichnung durch
verantwortliche Minister angesehen, zu dem übrigens in der demokra-
tischen Republik noch die Möglichkeit der Anklage des Präsidenten

15 Schon die Schriftsteller der konstitutionellen Monarchie haben ein solches sofor-
tiges Wiederauflösungsrecht mit der Begründung verneint, dass die Kammer
durch ihre bisherige Tätigkeit den Beweis dafür geliefert haben müsse, dass bei
ihrer jetzigen Zusammensetzung eine für den Staat ersprießliche Wirksamkeit
nicht zu erwarten sei; vergleiche Roenne, Preußisches Staatsrecht I § 66 [Ludwig
von Rönne: Das Staatsrecht der Preussischen Monarchie, Band 1, Leipzig 1864],
und Max von Seydel, Komm. z. Verf.-Urkunde für das deutsche Reich, 1897,
S. 206. [Max von Seydel: Kommentar zur Verfassungsurkunde für das deutsche
Reich, Leipzig 1897.]
16 So in seltener Einmütigkeit die Literatur; Duguit: Droit constitutionnel II, p. 645
[Léon Duguit: Traité de Droit constitutionel, Paris 1923]; Esmein Nézard: a. a. O.,
I, p. 176 [Esmein Nézard: Éléments de Droit constitutionel, tome I, 8. édition,
Paris 1927 ]; [Antoine] Saint Girons: Essai sur la Séparation des Pouvoirs, Paris
1881, p. 348; Todd: Parlamentarische Regierung in England, 1871, Bd. 2, S. 350
[Alpheus Todd: Über die parlamentarische Regierung in England: ihre Entste-
hung, Entwickelung und praktische Gestaltung, zweiter Band, Berlin 1871];
Dicey: a. a. O., S. 428, 433/34 [Albert Venn Dicey: Law of the constitution, Lon-
don 1915]; Pohl: a. a. O., S. 27 [Heinrich Pohl: Die Auflösung des Reichstags,
Stuttgart 1921] und Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. 1, S. 487. [Ger-
hard Anschütz, Richard Thoma (Hg.): Handbuch des deutschen Staatsrechts,
Band 1, Tübingen 1930.]

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404 [29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932]

vor dem Staatsgerichtshof hinzutritt. Auch in den Beratungen des Wei-


marer Verfassungsausschusses war das Festhalten an der verantwortli-
chen Gegenzeichnung von ausschlaggebender Bedeutung für die Ein-
führung des präsidentiellen Auflösungsrechts überhaupt. Es sind
Reminiszenzen der bürgerlichen Anschauungsweise vom monarchisti-
schen Konstitutionalismus, Gedanken von der für alle ministrablen
Schichten gleich unverbrüchlichen Heiligkeit der Verfassung, die hier
die persönliche Ehre des gegenzeichnenden Ministers zu einem Garan-
ten der Verfassungsmäßigkeit der Auflösung erhoben. Da es aber heute
nicht nur an einer gemeinsamen Verfassungsüberzeugung bei uns fehlt,
sondern in einem Land solcher politischer und sozialer Gegensätzlich-
keiten ministrable Schichten, die von einer communis opinio getragen
würden, nicht vorhanden sind, dürfte die Schutzfunktion der Gegen-
zeichnung nicht allzu hoch mehr anzuschlagen sein.
Verschiedene europäische Verfassungen haben die Auflösungsberechti-
gung an die Zustimmung eines Oberhauses mit oder ohne föderalisti-
schen Einschlag geknüpft.17 Die neue spanische Verfassung vom
9. Dezember 1931 hat dem Präsidenten der Republik zwar ein Auflö-
sungsrecht gegeben, jedoch mit der Einschränkung, dass er es nur
zweimal während seiner Amtszeit ausüben darf und dass die Auflö-
sungsverordnung mit Gründen versehen sein muss. Die zweite Auflö-
sung stellt aber für den Präsidenten ein sehr hohes Risiko dar, da die
Verfassung ausdrücklich als erste Amtshandlung der neuen Cortes eine
Entscheidung über die Notwendigkeit der zweiten Auflösung vorsieht.
Verneint diese die Notwendigkeit, so liegt darin die Amtsenthebung
des Präsidenten. In der Sache selbst lässt also die spanische Verfassung
eine einmalige Auflösung der gesetzgebenden Versammlung zu und
gestattet dem Präsidenten außerdem nochmals in seiner Amtszeit ein
Plebiszit über seine Amtsführung zu veranstalten. Die Weimarer
Reichsverfassung hat an Stelle von formellen Beschränkungen der Auf-
lösungsbefugnis den Versuch gemacht, materielle Schranken zu errich-
ten. Maßgebend sind für diesen Versuch die Erfahrungen der preußi-

17 So knüpft Art. 5 des Gesetzes vom 25. Februar 1875 das Recht des Präsidenten
der französischen Republik zur Auflösung an die Einwilligung des Senats, die
österreichische Bundesverfassung in ihrem Art. 100 an eine qualifizierte Mehr-
heit des Länderrats, während die Bismarck‘sche Reichsverfassung in ihrem
Art. 24 das Auflösungsrecht dem Bundesrat unter Zustimmung des Kaisers
gibt. Einen schwachen Ansatzpunkt für die inhaltliche Begrenzung des Auflö-
sungsrechts kann man höchstens in der vorrevolutionären Kleinstaatsverfas-
sung von Reuß’ jüngerer Linie sehen, die in ihrem § 97 Abs. I das Auflösungs-
recht des Fürsten zwar unbeschränkt, aber nur unter Angabe von Gründen
zulässt.

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[29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932] 405

schen Konfliktszeit gewesen. Man wollte verhindern, dass, wie Hugo


Preuß es formulierte, »der Reichstag und die Wählerschaft allmählich
mürbe gemacht würden.«18 Carl Schmitt hat im Anschluss an diese
Preuß’sche Formulierung die Frage aufgeworfen, ob jene Bestimmung
in der demokratischen Republik die gleiche Funktion einnehmen könne
wie in der konstitutionellen Monarchie.19 Da aber die Stellung des Prä-
sidenten durch die Festlegung demokratisch-parlamentarischer Verfas-
sungsgrundsätze selbst weniger bestimmt wird als durch die geschicht-
liche Entwicklung, wird die Funktion des präsidentiellen Auflösungs-
rechts nicht theoretisch eindeutig fixiert werden können. Die Entwick-
lung der französischen Verhältnisse hat bekanntlich das Auflösungs-
recht gewohnheitsrechtlich beseitigt und damit zu einem weitgehenden
Ausscheiden des Präsidenten aus der aktiven Politik geführt. In
Deutschland hat der Präsident eine ungeahnte Machtfülle erlangt, die
der des konstitutionellen Monarchen nicht nur gleichkommt, sondern
sie sogar noch übersteigt. Die materiellen Einschränkungen, die der
Verfassungsgesetzgeber deshalb im Hinblick auf die Erfahrungen mit
der preußischen Monarchie in der Konfliktszeit gegeben hat, besitzen
also durchaus aktuelle Bedeutung. Wollte aber der Verfassungsgesetz-
geber verhindern, dass auf dem Wege des Auflösungsrechts die demo-
kratische Republik sich in eine Präsidialdiktatur verwandele, so dürfen
die Bestimmungen über »Einmaligkeit« und »gleichen Anlass« – sind
sie einmal als zusätzlicher Schutz gegen einen Missbrauch des Auflö-
sungsrechts erkannt – nur in einer Weise ausgelegt werden, die den
Absichten des Verfassungsgesetzgebers Rechnung trägt. Unzulässig ist
deshalb eine Auslegung, die das der Auflösung in Wahrheit zugrunde
liegende Motiv in Gegensatz zu den in der Auflösungsverfügung ange-
gebenen äußeren Anlass stellt und nur dem letzteren verfassungsrecht-
liche Bedeutung zumisst.20 Da dem Reichspräsidenten, falls er die Auf-
lösungsverfügung überhaupt begründet, die Art und Weise dieser
Begründung freisteht, könnte mit Hilfe der angegebenen Interpretation
der Zweck der Verfassungsbestimmung in sein Gegenteil verkehrt wer-
den. An Stelle einer materiellen Begrenzung des Auflösungsrechts

18 Protokolle des Verfassungsausschusses, S. 251. [Nationalversammlung, 46. Sit-


zung, Freitag, den 4. Juli 1919, S. 1281.]
19 Carl Schmitt in Arch. öff. R., Bd. 8, S. 169. [Carl Schmitt: »Einmaligkeit« und
»gleicher Anlaß« bei der Reichstagsauflösung nach Art. 25 der Reichsverfas-
sung, in: Archiv für öffentliches Recht, N. F. 8, Tübingen 1925, S. 162-173.]
20 Schelcher in Deutsche Juristenzeitung, 1924, Spalte 889. [Walter Schelcher: Ent-
spricht die wiederholte Auflösung des Reichstags der Verfassung?, in: Otto
Liebmann (Hg.): Deutsche Juristenzeitung, Jg. 29, Heft 21/22, Berlin 1924, Sp.
887-890.]

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406 [29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932]

würde eine in der Sache grenzenlose Auflösungsbefugnis treten, die


man durch das Vorschieben irgendwelcher jeweils nach Belieben aus-
wechselbarer äußerer Anlässe erreichen könnte. Jede abgelehnte Geset-
zesvorlage, jeder Bankzusammenbruch würde einen solchen äußeren
Anlass darstellen.
Auf der einen Seite ist das Auflösungsrecht also dadurch begrenzt, dass
nicht ein beliebiger für das politische Gesamtgeschehen irrelevanter
äußerer Anlass den bequemen Vorwand dafür liefern kann, eine
Gleichheit des Anlasses abzulehnen. Auf der anderen Seite weist
gerade die Erfahrung der preußischen Konfliktszeit darauf hin, dass ein
wiederholter Versuch, aus präsidentieller Machtvollkommenheit
heraus die grundlegende politische Struktur des Landes durch wieder-
holte Auflösungen zu ändern, unzulässig ist. Den demokratischen
Vätern der Weimarer Verfassung erschien der Versuch Wilhelms I., das
Verhältnis zwischen Besitzbürgertum auf der einen, Adel und Monar-
chie auf der andern Seite, durch wiederholte Auflösungen eigenmäch-
tig zu verschieben, obwohl mindestens in der Zeit zwischen 1860
und 1866 keinerlei grundlegende Veränderungen sozialer oder politi-
scher Art vorgegangen waren, als unzulässig. Betrachtet man unter die-
sem Gesichtspunkt, der offensichtlich der des Weimarer Verfassungsge-
setzgebers war, die These, dass auch allgemeine parlamentarische
Schwierigkeiten die Grundlage einer wiederholten Auflösung bilden
könnten, so kann man sie in dieser allgemeinen Form nicht als unbe-
denklich ansehen. Solange die Schwierigkeiten der Regierungsbildung
nur auf dem allgemeinen sozialen und politischen Kräfteverhältnis
sowie darauf beruhen, dass eine Mehrzahl von Weltanschauungs- und
Interessentengruppen zu Koalitionen gezwungen ist, besteht kein Auf-
lösungsgrund. Um einer dieser Gruppen zu einer besseren Stellung zu
verhelfen, darf das Auflösungsrecht nicht missbraucht werden. Erst
wenn erkennbare Anzeichen dafür vorhanden sind, dass die parlamen-
tarischen Schwierigkeiten auf einer Veränderung der politischen und
sozialen Verhältnisse beruhen, die die Unsicherheit der alten Machtfak-
toren verursacht, kann eine Auflösung stattfinden. Denn immer muss
ein gewisser Grad von Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass die Par-
lamentsmehrheit dem Volkswillen nicht mehr entspricht. Der Anlass
der Auflösung kann also nie formal bestimmt werden, vielmehr muss
er immer in ein vernünftiges Verhältnis zu einer wahrscheinlichen
Änderung des Volkswillens gebracht werden. Es ist die Idee der verfas-
sungsmäßigen Neutralität des Präsidenten, die letzten Endes Umfang
und Grenzen der Auflösungsbefugnis bestimmt. Nicht nur das Schick-
sal des gegenwärtigen Präsidenten, die Fortexistenz der demokrati-

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[29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932] 407

schen Republik überhaupt hängt davon ab, wie weit im gegenwärtigen


Stadium der politischen Entwicklung noch Raum für eine Neutralität
dieser Art ist.

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408

[30.]
Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts*
[1932]

Als 1919 in Weimar die Nationalversammlung, geboren aus dem freien


Entschluss der sozialistischen deutschen Arbeiterschaft, zusammentrat,
schien eine neue Glanzzeit des im 19. Jahrhundert so jäh abgebroche-
nen deutschen Konstitutionalismus heraufzuziehen. Die vertrauens-
volle Zusammenarbeit zwischen den Repräsentanten der Mehrheits-
partei der deutschen Arbeiterschaft und breiten Schichten des deut-
schen Bürgertums, das damals auch noch in der Auswahl seiner parla-
mentarischen Vertreter eine gewisse längst verlorengegangene Einheit
von Besitz und Bildung repräsentierte, schien die Grundlage für eine
neue parlamentarisch-demokratische Rechtsgemeinschaft zu liefern.
Das für eine solche Rechtsgemeinschaft notwendige Minimum an
gemeinsamen Grundeinsichten war an die Existenz eines liberalen, zu
einem selbständigen Ausgleich mit der Arbeiterschaft fähigen Bürger-
tums gebunden. Für das allmähliche Schwinden dieser Grundlage ist
der Unterschied der beiden politischen Epochen der deutschen Repu-
blik charakteristisch. Von 1919 bis 1922 beruhte die deutsche Republik
auf dem freien Bündnis, das die deutsche Sozialdemokratie in den letz-
ten Kriegsjahren mit der politischen Vertretung des katholischen Volks-
teils und den liberalen bürgerlichen Fraktionen eingegangen war. In
diesen Jahren besaß die Republik in etwa eine an westliche Organisati-
onsformen angenäherte Parlamentsregierung mit ihrem selbstverständ-
lichen Korrelat einer politischen Machtfülle des Parlaments. Die Zeit
von der Stabilisierung bis zum Heraufkommen der Präsidialdiktatur
trägt ein hiervon verschiedenes Gepräge, wenn dies auch nicht immer
nach außen in anschaulicher Weise in Erscheinung getreten ist. An
Stelle eines selbständigen Bürgertums, das die Differenzierung seiner
wirtschaftlichen Interessen durch ein einheitliches Kultur- und Macht-
bewusstsein überbrückt, trat der Verbandsabsolutismus von wirtschaft-
lichen Vereinigungen, die die großen Schichten des mittleren Bürger-
tums und der mittleren und Kleinbauern nur mehr äußerlich durch
eine vorgetäuschte wirtschaftliche Prosperität, nicht aber mehr durch
eine auch für diese Schichten verbindliche politische Grundhaltung an

* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 9, Heft 9, Berlin 1932, S. 194-209. – Zu diesem Text vergleiche in der Einlei-
tung S. 95-97. ]

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[30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932] 409

sich band. In der Ära Stresemanns, des letzten, gegenüber dem Typ
Naumann‘scher Prägung schon stark verblassenden Exponenten einer
repräsentativen »nationalliberalen Bürgergesinnung«, vollzieht sich die
restlose Reduzierung der bürgerlichen Bewusstseinshaltung auf ihr
wirtschaftliches Substrat. An die Stelle einer parlamentarischen Regie-
rung tritt der sich nach der jeweiligen sozialen Machtposition vollzie-
hende Ausgleich der sozialen Kräfte, wobei die staatliche Bürokratie
allmählich zur selbständigen schiedsrichterlichen Machtstellung auf-
steigt. Die Bedeutung der jeweiligen Regierung und damit auch des sie
tragenden Parlaments verringert sich zusehends. Bürokratie und Sozi-
alverbände bestimmen in der Zeit kapitalistischer Scheinblüte so maß-
gebend das staatliche Bild, dass die jeweilige Parlamentsregierung sich
oft umgekehrt proportional zu ihrer parteipolitischen Zusammenset-
zung auswirkt. Es sei nur daran erinnert, dass die deutsche Arbeitslo-
senversicherung in der Zeit des Kabinetts Marx-Keudell entstand. In
dieser Zeit, in der die Autorität parlamentarischer Regierungen hinter
dem märchenhaften Bild des Wirtschaftsführers verblasste, bildete sich
im Zusammenhang mit dem ständig wachsenden Tätigkeitsbereich des
Staates überhaupt die gesteigerte Bedeutung einer verselbständigten
Bürokratie heraus, die die innerdeutschen Ansatzpunkte zu der heute
grassierenden Ideologie des autoritären, oder in etwas abgeschwächter
Form, des schiedsrichterlichen Staates lieferte.
Die Rechtsgrundlage unseres konstitutionellen Systems bildet im posi-
tiven Sinne das Parlament. Seine funktionelle Ersetzung durch die
Autorität des Reichspräsidenten müsste schon in einem Land mit weni-
ger unversöhnlichen Gegensätzen als Deutschland die positiven
Grundlagen des Verfassungssystems in Frage stellen. Hier drückt die
Wahl des Präsidenten nicht die Einheitlichkeit eines Volkswillens, son-
dern, wie dies bei der Reichspräsidentenwahl im Frühjahr 1932 der Fall
war, nur die taktische Stellungnahme zu einer akuten politischen Situa-
tion aus.1 Umso mehr bedeutet die üblich gewordene Berufung auf die
Präsidialgewalt als Rechtsquelle eines immer umfassender werdenden
Staates den endgültigen Verzicht auf diejenigen Bestandteile der Wei-
marer Verfassung, die in der Rangordnung der Rechtsquellen dem Par-
lamentsgesetz des demokratischen Volkswillens den unbestreitbaren
Vorrang geben.

1 Diese Tatsache hebt der Leitartikel der Wiener »Arbeiterzeitung« vom 14. März
1932 klar hervor: »Millionen deutsche Arbeiter haben Hindenburg zum Reichs-
präsidenten gewählt, um die Wahl Hitlers zum Reichspräsidenten zu verhindern.
Es war ein politisches Manöver, Ausnutzung der Gegensätze, die im Lager der
Reaktion bestehen.«

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410 [30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932]

Es ist bezeichnend, dass bei dem Schrumpfungsprozess, dem der posi-


tive Sinngehalt der Weimarer Verfassung unterliegt, der Wissenschafts-
betrieb des Verfassungsrechts in Gefahr gerät, sich auch bei der Beant-
wortung positiver Rechtsfragen nicht mehr an der Weimarer Verfas-
sung zu orientieren. Dabei handelt es sich nicht etwa um die schon von
Hugo Preuß kräftig in Angriff genommene Einbeziehung historischer
und soziologischer Elemente in verfassungsrechtliche Erörterungen.
Denn auch diese seit der Überwindung des Laband‘schen Formalismus
in Deutschland wieder geläufig gewordene Betrachtungsweise muss
dem Richter die Mittel an die Hand geben, einen konkreten Fall der
staatlichen Praxis an Hand des Verfassungsrechts entscheiden zu kön-
nen. Sie zeichnet sich vornehmlich – von Seiten der Rechtspraxis aus
betrachtet – dadurch aus, dass die ideologische Grundlage auch in der
Entscheidung selbst, nicht nur in der im Dunkeln bleibenden Überle-
gung ihres Verfassers Platz zu finden hat. Die wissenschaftliche
Beschäftigung mit Verfassungsdingen, die heute, dem Gesetz von
Angebot und Nachfrage entsprechend, weit größere Ausmaße ange-
nommen hat als früher,2 nähert sich vielmehr einem Wissenschaftstyp,
den eine venezianische Gesandtenschrift aus dem Jahre 1740 sehr
zutreffend als »scienza delle circostance«, die Wissenschaft der konkre-
ten Umstände,3 bezeichnet hat. Dies bedingt aber eine Wendung vom
Verfassungsrecht zur technischen Herrschaftslehre, oder um es in den
Worten dieses Venezianers auszudrücken, die Wissenschaft der konkre-
ten Umstände »è il vero modo di governare ed avantaggiari i princi-
pati« (etwa: »sie ist die richtige Art zu regieren und den Herrschenden
zu dienen«). Gegenüber dieser Verschiebung der axiomatischen Grund-
lagen verfassungsrechtlichen Denkens muss mit aller Deutlichkeit
daran festgehalten werden, dass keiner der gegenwärtigen Machthaber
jemals gewagt hat, die Weimarer Verfassung als solche außer Kraft zu
setzen. Sie kann auch nicht außer Kraft gesetzt werden, weil noch die
letzte Reichstagswahl klar erwiesen hat, dass zwar die der Weimarer
Verfassung zugrunde liegende parlamentarische Demokratie keine
soziale Grundlage in der Struktur des deutschen Volkes mehr besitzt,
dass aber andererseits eine entschiedene Umgestaltung ihrer politi-
schen und organisatorischen Grundlagen im gegenwärtigen Augen-
blick von den gegenseitig sich aufhebenden Kräften der maßgebenden

2 So füllt etwa der geschäftige Tat-Konzern monatlich mindestens je einen Zeit-


schriftenartikel mit einem neuen, mit der Unterscheidung von auctoritas und
potestas spielenden »Verfassungsbegriff«.
3 Ranke, Französische Geschichte, V. Dunker und Humblodt 1924, Anm. 58 zu L.
17, Kap. 5. [Leopold von Ranke: Französische Geschichte, vornehmlich im sech-
zehnten und siebzehnten Jahrhundert, Band 5, München 1924.]

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[30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932] 411

massendemokratischen Parteien unmöglich gemacht wird. Daher hat


jede staatsrechtliche Streitfrage auf der Grundlage der Weimarer Ver-
fassung entschieden zu werden. Die verselbständigte Bürokratie, die im
Schatten des physischen Machtapparates des Staates unter der Firma
einer plebiszitären Präsidialgewalt vorläufig die Rechtsetzungsgewalt
des Parlaments ausübt, muss bei ihrer wesentlich negativen Herr-
schaftsbegründung zum Mindesten die Schranken einhalten, an die
auch der parlamentarische Gesetzgeber, falls er nicht eine verfassungs-
ändernde Mehrheit besitzt, gebunden ist. Die grundlegenden Institutio-
nen des geltenden Verfassungsrechts, die nach der Lehre Carl Schmitts
nicht einmal der verfassungsändernde Gesetzgeber auf dem Wege des
Art. 76 der Reichsverfassung ändern kann,4 sind also auch gegenüber
Eingriffen des Reichspräsidenten immun.
Zu diesen grundlegenden Institutionen, die der Präsidialgewalt gegen-
über immun sind, gehört der innerstaatliche Aufbau des Reichs, wie er
sich aus den Organisationsbestimmungen der Weimarer Verfassung im
Zusammenhang mit dem fortlaufenden Strukturwandel der innerdeut-
schen Organisationsformen selbst ergeben hat. In dieser Feststellung ist
kein Bekenntnis zum Föderalismus enthalten, wie dies die bayerische
Regierung mit ihren Anträgen an den Staatsgerichtshof im Preußen-
konflikt erstrebt. Denn gleichgültig, ob man 1919 den Ländern Staats-
qualität zuerkennen konnte oder nicht, so hat sich jedenfalls in der
Zwischenzeit herausgestellt, dass die nach der Verfassung den Ländern
offenstehenden Möglichkeiten gesetzgeberischer Betätigung sich heute
faktisch auf das Gebiet des Kirchen-, Schulwesens, der Landeskultur
und der Dienstpragmatik der Landesbeamten beschränken. Die Haupt-
tätigkeit der Länder liegt sichtbar heute auf jenen drei großen Verwal-
tungsgebieten der Polizei, der Justiz und des Kultus, in denen ihnen
selbständige Amtsgewalt verblieb. Durch die Innehabung jener drei
großen Herrschaftsrechte wurden die Länder in noch stärkerem Maße
als die Selbstverwaltungskörper zu ausgleichenden Faktoren der deut-
schen Innenpolitik. Sie konnten so mindestens zu einem gewissen
Grade verhindern, dass die notwendige Einheitlichkeit der Staatsfüh-
rung in einzelnen Territorien in allzu starken Gegensatz zu den dort
vorherrschenden politischen Tendenzen geriet. Die Länder wurden zu
den Hauptträgern jenes Systems der intermediären Gewalten, die jeder
in seinem Bereich und mit seinen Mitteln durch die Verbreiterung der
Amtsbasis auf jeweils politisch tragende Volksschichten eine gewisse
Stabilisierung und damit auch eine gegenseitige Neutralisierung erziel-

4 [Carl Schmitt:] Verfassungslehre[, München/Leipzig] 1928, S. 26.

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412 [30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932]

ten. So entstand zum Beispiel trotz aller hemmenden Gegentendenzen


ein gewisser Spielraum für den bayerischen Typ der konservativen
Agrardemokratie, und Preußens Bündnis zwischen Arbeiterschaft und
katholischem Volksteil hat mindestens dort solche Wirkungen erzielt,
wo diesen beiden Bevölkerungsschichten eine starke Bedeutung
zukam.
Dieser Rechtszustand, wie er sich unter der Herrschaft der Weimarer
Verfassung herausgebildet hat, ist durch die Verordnung des Reichs-
präsidenten, betreffend die Wiederherstellung der öffentlichen Sicher-
heit und Ordnung im Gebiet des Landes Preußen, vom 20. Juli 1932
und durch die auf dieser Grundlage erfolgten Maßnahmen beseitigt
worden. Es entsteht die Frage, ob Artikel 48 Absatz 1 und 2, auf die die
Reichsregierung unterschiedslos ihr Vorgehen gestützt hat, hierfür eine
geeignete Grundlage bilden. Trotz der weitverbreiteten Skepsis gegen-
über rechtlicher Untersuchung von präsidentiellen Maßnahmen wird,
um eine Beurteilungsgrundlage für dieses Vorgehen zu schaffen, eine
Erörterung anhand der konkreten Verfassungsbestimmungen erfolgen
müssen. Nicht ohne Grund hat die Weimarer Verfassung im Gegensatz
zur kaiserlichen Reichsverfassung als Instanz, die für Streitigkeiten
zwischen Reich und Ländern und damit auch für die Frage der juristi-
schen Voraussetzung der Reichsexekution zuständig ist, anstelle des
alten Bundesrats den Staatsgerichtshof eingesetzt. Dabei brauchen hier
wiederum keine Betrachtungen darüber angestellt zu werden, ob jene
Ersetzung des Bundesrats durch den Staatsgerichtshof der Tendenz
nach föderalistisch oder unitarisch gemeint war.5 Mindestens ist hier-
aus die Tendenz ersichtlich, Streitpunkte zwischen Reich und Ländern
von einer unabhängigen, weder der unmittelbaren Reichs- noch der
unmittelbaren Landesverwaltungsbürokratie angehörigen Stelle ent-
scheiden zu lassen. Aus diesen Gründen ist es auch kein haltbarer Ein-
wand gegen die Entscheidungsbefugnis des Staatsgerichtshofs über-
haupt, dass man den wesentlich politischen Charakter der zur Beurtei-
lung stehenden Fragen betont. Generell mag die Mahnung zur Zurück-
haltung an den Staatsgerichtshof bei der Beurteilung von Streitfragen
des staatlichen Lebens, die Carl Schmitt und mit besonderem Nach-
druck auch der frühere Präsident dieses Gerichtshofs, Simons,6 ausge-
sprochen hat, völlig berechtigt sein. In diesem besonderen Falle aber ist

5 [Heinrich] Triepel, Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern in Festgabe für


Kahl, Berlin 1923, insbesondere Kap. IX.
6 Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung[, Tübingen 1931,] I, 4 und Simons in Ein-
leitung zur Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs, herausgegeben von Lam-
mers-Simons, Bd. 2. [Walter Simons: Einleitung zur Rechtsprechung des Staatsge-

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[30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932] 413

der Staatsgerichtshof als Streit entscheidende Instanz zwischen Reich


und Ländern in vollem Bewusstsein des hochpolitischen Charakters
solcher Differenzen eingeschaltet worden, so dass es nicht zulässig ist,
hier von ihm eine Abstinenz zu verlangen, die in Wirklichkeit die
innere Organisation des Reiches zur freien Disposition des Reichspräsi-
denten stellen würde.
Der Staatsgerichtshof wird also zur Entscheidung darüber berufen sein,
ob die Voraussetzungen zur Anwendung des Artikel 48 vorgelegen
haben. Dabei hat sich die Reichsregierung unterschiedslos auf Absatz 1
und 2 berufen, obwohl in dieser Hinsicht der Vorwurf »einer gewissen
dilettantischen Fahrigkeit in der Anwendung der Reichsverfassung«,
den Hugo Preuß anlässlich eines früheren Vorkommnisses dieser Art
erhob,7 zu besonderer Zurückhaltung hätte mahnen müssen. Denn die
Voraussetzungen für die Anwendung der beiden Bestimmungen sind
gänzlich verschieden, und es muss deshalb für beide getrennt die
Rechtsgrundlage untersucht werden.8 Wenn Artikel 48 Absatz 1
bestimmt, dass der Reichspräsident ein Land im Falle der Nichterfül-
lung der ihm nach der Reichsverfassung und den Reichsgesetzen oblie-
genden Pflichten dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten kann,
so setzt diese Bestimmung als selbstverständlich voraus, dass den ver-
fassungsmäßigen Organen des Landes zunächst eine Mitteilung davon
zugegangen ist, welche Beanstandungen vom Reich erhoben werden.
Man braucht nicht so weit zu gehen wie Triepel, der eine Reichsexeku-
tion gemäß Absatz 1 des Artikel 48 erst nach einem vorausgegangenen
Spruch des Staatsgerichtshofs, der die Pflichtverletzung des Landes
feststellt, für zulässig hält. Die Pflicht zur Verständigung in bundes-
freundlicher Weise, die in der Anrufung des Staatsgerichtshofs und gar
in der Reichsexekution nur die ultima ratio sehen kann, setzt aber als
Minimum voraus, dass dem Land die Möglichkeit zur Abstellung der
gerügten Mängel gegeben wurde. Wenn man mit Recht bei dem engen
Verhältnis von Reich und Ländern schon in einer allzu häufigen Anru-
fung des Staatsgerichtshofs einen Formenmissbrauch sieht,9 so liegt in
dem Gebrauchmachen von der Exekutivgewalt des Artikel 48 Absatz 1

richtshofs, in: Hans Lammers, Walter Simons (Hg.): Die Rechtsprechung des
Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich und des Reichsgerichts auf Grund
Artikel 13 Absatz 2 der Reichsverfassung, Band 2, Berlin 1930.]
7 [Hugo] Preuß, Um die Reichsverfassung von Weimar, [Berlin 1924, ] S. 37.
8 Anschütz in Handbuch des deutschen Staatsrechts, I, § 33 [Gerhard Anschütz:
Handbuch des deutschen Staatsrechts, Band 1, Berlin 1930]; [Wolfgang] Flad,
Verfassungsgerichtsbarkeit und Reichsexekution, Heidelberg 1929, S. 108.
9 [Rudolf] Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, Berlin 1928, S. 172/73, und
darauf fußend Heller in »Frankfurter Zeitung« vom 7. August 1932. [Hermann

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414 [30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932]

ohne vorausgegangenen Verständigungsversuch oder auch nur


Abmahnung einer der gröbsten und offenkundigsten Fälle des Formen-
missbrauchs. Da nun der preußischen Regierung keinerlei Abmahnung
zuging und sie unbestrittenermaßen nur zur Entgegennahme ihrer
Amtsenthebung durch den Reichskommissar zum Reichskanzler zitiert
wurde, ist Nawiasky darin vollkommen zuzustimmen, dass die uner-
lässlichen rechtlichen Voraussetzungen für eine Reichsexekution gegen
den preußischen Staat nicht gegeben waren.10
Die Voraussetzung für die Anwendung des Artikel 48 Absatz 2 ist das
Vorhandensein einer erheblichen Störung der öffentlichen Sicherheit
und Ordnung. Ob diese Voraussetzung vorgelegen hat, unterliegt der
richterlichen Nachprüfung. In den bisherigen Sachentscheidungen des
Staatsgerichtshofs zur Frage der Voraussetzungen des Artikel 48 Absatz
2, die allerdings bisher noch nie einen Rechtsstreit zwischen dem Reich
und einem Land betrafen, hat der Staatsgerichtshof den Erlass von Not-
verordnungen als ungewöhnliche Notstandsmaßnahme nach dem
pflichtgemäßen Ermessen der Regierung so lange als berechtigt angese-
hen, als sich aus den Verhältnissen der Zeit nicht das Gegenteil ein-
wandfrei ergibt.11 Hieraus eine Vermutung für die Rechtmäßigkeit des
Vorgehens der Reichsregierung zu folgern, ist abwegig. Eine solche
Vermutung ist zwar im Verhältnis von Staat und Bürgern, nicht aber im
Verhältnis zwischen zwei Staatsorganen möglich. Denn da jedes Staats-
organ die Vermutung der Rechtmäßigkeit seines Handelns für sich in
Anspruch nimmt, heben sich die widerstreitenden Vermutungen
gegenseitig auf. Auch aus dem Polizeikostenstreit zwischen Thüringen
und dem Reich folgt nichts Gegenteiliges. Wenn dort Thüringen glaub-
haft machte, dass die Nichtzahlung der Polizeikostenzuschüsse selbst
nur bis zum Zeitpunkt der Entscheidung in der Hauptsache es in
schwere finanzielle Bedrängnis bringe, auf der andern Seite aber das
Reich glaubhaft machte, dass eine auch nur vorübergehende Zahlung
der Polizeikostenzuschüsse unter den damals dort herrschenden Ver-
hältnissen eine erhebliche Gefährdung der Sicherheit und Ordnung mit
sich bringen würde, so konnte der Staatsgerichtshof bei so widerspre-

Heller: Ist das Reich verfassungsmäßig vorgegangen? In: Frankfurter Zeitung, 77.
Jg., Nr. 591/592, 10. August 1932, S. 1-2.]
10 [Hans] Nawiasky in einer Aufsatzreihe im »Bayrischen Kurier« vom 26., 27.
und 29. Juli 1932. Ebenso Giese »Deutsche Juristenzeitung« (»DJZ.«), 1932, Sp.
1022. [Friedrich Giese: Zur Verfassungsmäßigkeit der vom Reich gegen und in
Preußen getroffenen Maßnahmen, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg. 37, Berlin
1932, Sp. 1021-1024.]
11 Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen, Bd. 134, Anhang S. 44. [RGZ,
Band 134, Anhang, Leipzig 1932.]

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[30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932] 415

chenden Glaubhaftmachungen eine einstweilige Verfügung ebenso


abweisen, wie er das im Rechtsstreit zwischen Preußen und dem Reich
getan hat. Eine Entscheidung in der Sache selbst ist damals nicht ergan-
gen,12 so dass das System der Vermutungen bei Sachentscheidungen
gemäß Artikel 19 der Reichsverfassung keineswegs als anwendbar
anzusehen ist.13 Zum Mindesten aber handelt es sich hier nicht um
unwiderlegbare Rechtsvermutungen, sondern um solche Vermutun-
gen, die im Beweisverfahren vor dem Staatsgerichtshof entkräftet wer-
den können.14 Freilich würde diese Beweisführung bei Heranziehung
der vom Staatsgerichtshof gewählten, oben erwähnten Formulierung
außerordentlich schwer sein. Sie würde lediglich dazu führen, den
Absatz 1 des Artikel 48 in der Praxis durch den Absatz 2 zu ersetzen,
während ganz offensichtlich Artikel 48 Absatz 1 die Möglichkeiten des
physischen Zwangs im Verhältnis zwischen Reich und Ländern regelt
und Absatz 2 hier nur von ganz subsidiärer Bedeutung sein kann. Ein
anschauliches Beispiel für den Missbrauch des Artikel 48 Absatz 2 in
dieser Hinsicht liefert die Verhängung des Ausnahmezustandes über
Berlin und die Provinz Brandenburg in der Verordnung des Reichsprä-
sidenten vom 20. Juli, die zugestandenermaßen lediglich zu dem
Zweck erfolgte, die preußische Regierung mit Militärgewalt aus ihren
Ämtern entfernen zu können. Die Störung der öffentlichen Ruhe und
Ordnung bestand also hier lediglich darin, dass das preußische Kabi-
nett sich erlaubte, in bundesfreundlicher Weise darauf hinzuweisen,
dass die rechtlichen Voraussetzungen des Artikel 48 Absatz 1 seiner
Meinung nach nicht gegeben seien. Es wird deshalb in der Frage der
Anwendbarkeit des Artikel 48 Absatz 2 eine rechtliche Prüfung dahin
notwendig sein, ob durch die preußische Regierung eine erhebliche
Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verursacht worden
ist. Gegen die preußische Regierung hätte man nur dann vorgehen kön-
nen, wenn sie selbst, nicht etwa eine objektive Bürgerkriegssituation,
mit der sie keinen größeren Zusammenhang hatte als etwa der Ham-
burgische Senat oder die sächsische Regierung – gleichfalls Regierun-

12 Vergleiche die Prozessdarstellung von Koellreutter in Arch. f. öff. Recht, N. F.


Bd. 20. [Otto Koellreutter: Der Konflikt Reich-Thüringen in der Frage der Poli-
zeikostenzuschüsse, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 20, Berlin 1931,
S. 68-102.]
13 Die entgegengesetzte Auffassung vertritt Carl Schmitt in »Deutsche Juristenzei-
tung« 1932, Spalte 958. [Carl Schmitt: Die Verfassungsmäßigkeit der Bestellung
eines Reichskommissars für das Land Preußen, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg.
37, Berlin 1932, Sp. 953-958.]
14 So Giese in »DJZ.«, 1932, Spalte 1022. [Friedrich Giese: Zur Verfassungsmäßig-
keit der vom Reich gegen und in Preußen getroffenen Maßnahmen, in: Deutsche
Juristenzeitung, Jg. 37, Berlin 1932, Sp. 1021-1024.]

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416 [30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932]

gen von Ländern mit starker Industriebevölkerung – die Störung von


Sicherheit und Ordnung verursacht hätte.
Für das Vorgehen der Reichsregierung hat man nun vorgebracht, dass
die preußische Geschäftsregierung mit einem schweren Makel behaftet
gewesen sei, der ihr gleichsam im Verhältnis zu den andern deutschen
Geschäftsregierungen die Stellung einer illegalen Geschäftsregierung
verliehen habe. Bekanntlich hat der Preußische Landtag am 12. April
1932 den § 20 seiner Geschäftsordnung dahin geändert, dass anstelle
der bisher vorgesehenen Stichwahl der Ministerpräsident nur mit der
Mehrheit der abgegebenen Stimmen gewählt werden kann. Man hat
dieser Änderung, die man als »staatsstreichähnlichen Vorgang«
bezeichnet hat, vorgeworfen, dass durch sie das grundlegende parla-
mentarische Prinzip der gleichen Chance, kurz bevor die Nationalso-
zialistische Partei zum ersten Male von ihr hätte Gebrauch machen kön-
nen, beseitigt worden sei.15 Diese Ansicht verkennt, dass die Änderung,
die übrigens für Preußen nur den Rechtszustand schuf, der in Bayern,
Sachsen, Hessen schon immer bestand, überhaupt erst das parlamenta-
rische Prinzip des Artikels 17 der Reichsverfassung voll zur Geltung
gebracht hat. Denn nach der früheren preußischen Regelung bestand
die Möglichkeit, dass die Minderheit des Landtags durch das Mittel
eines Stichentscheids einen Ministerpräsidenten wählte, der von der im
Voraus feststehenden Mehrheit des Landtags ein sofortiges Misstrau-
ensvotum erhielte; dieser Präsident würde, ohne je das Vertrauen der
Landtagsmehrheit gehabt zu haben, einem Geschäftsministerium vor-
stehen. Sieht aber das parlamentarische Prinzip den Behelf des
Geschäftsministeriums überhaupt vor, so wahrt es dessen Kontinuität
mit dem Parlament doch dadurch, dass es als unumstößliches Prinzip
für das Geschäftsministerium ein mindestens früher einmal gegebenes Ver-
trauen der Landtagsmehrheit voraussetzt. Es kann also keine Rede davon
sein, dass die preußische Geschäftsordnungsänderung mit der Reichs-
verfassung in Widerspruch stünde. Dass sie auch nicht mit der Landes-

15 Carl Schmitt in »Deutsche Juristenzeitung« 1932, Spalte 957[, Carl Schmitt: Die
Verfassungsmäßigkeit der Bestellung eines Reichskommissars für das Land
Preußen, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg. 37, Berlin 1932, Sp. 953-958]; andere
Autoren (Graf Westarp in »DJZ.« 1932, Spalte 574, Braatz in »DJZ.« 1932, Spalte
978 f.) unterscheiden zwischen der moralisch-verwerflichen und der verfas-
sungsrechtlich zulässigen Seite dieser Handlung. [Kuno von Westarp: Zur Wahl
des preuß. Ministerpräsidenten, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg. 37, Berlin 1932,
Sp. 574-576; Braatz: Das Geschäftsministerium in Preußen, in: Deutsche Juristen-
zeitung, Jg. 37, Berlin 1932, Sp. 978-981.] Für die Verfassungsmäßigkeit siehe
auch Giese, »DJZ.« 1932, Spalte 1021. [Friedrich Giese: Zur Verfassungsmäßig-
keit der vom Reich gegen und in Preußen getroffenen Maßnahmen, in: Deutsche
Juristenzeitung, Jg. 37, Berlin 1932, Sp. 1021-1024.]

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[30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932] 417

verfassung oder auch nur mit dem Willen der derzeitigen Landtags-
mehrheit konfrontiert werden kann, geht aus der oft übersehenen Tat-
sache hervor, dass die die Wiederherstellung des früheren Zustandes
betreffenden Anträge im neuen Landtag von den Antragstellern
zurückgezogen worden sind. Die preußische Geschäftsregierung Braun
besaß also den gleichen Legalitätsgrad wie alle andern deutschen
Geschäftsregierungen. Die Behauptung, dass die Geschäftsregierung
schlechthin eine Verletzung des Artikel 17 der Reichsverfassung dar-
stelle, die vereinzelt aufgestellt worden ist, wird sich die Reichsregie-
rung aus leicht verständlichen Gründen selbst nicht zu eigen machen
wollen. Im Übrigen schreibt Artikel 17 nur die Einhaltung des parla-
mentarischen Prinzips vor, das durch die Tatsache einer Geschäftsregie-
rung nicht verletzt wird.16 Die Sonderbehandlung der preußischen
Geschäftsregierung stellt somit eine schwere Verletzung des Satzes von
der notwendigen Gleichbehandlung aller Länder durch die Reichsge-
walt dar.
Nun ist aber die Reichsregierung keine unbedingte Anhängerin des
Prinzips der gleichen Chance, sondern will es auf die Parteien
beschränkt wissen, die nicht außerhalb der »nationalen Lebensgemein-
schaft« stehen. Es ist eine tragikomische Tatsache, dass es der preußi-
schen Regierung zum Verhängnis geworden ist, den Unterschied zwi-
schen der in der Idee des Parlamentarismus begründeten vorbehaltlo-
sen Chance und der Chance bei Wohlverhalten und auf Abruf aus
einem gewissen fundamentalen Gerechtigkeitssinn heraus anscheinend
nicht begriffen zu haben. Ihr von vielen kritisiertes Verhalten bestand
somit darin, aus dem Bewusstsein der Grundlagen parlamentarischer
und zugleich rechtsstaatlicher Institutionen heraus keine Diffamierung
der Kommunistischen Partei vorgenommen, sondern jede einzelne
Handlung nach dem für alle gleichermaßen geltenden Gesetz und nicht
nach einer der Verfassung unbekannten Unterscheidung zwischen
Staatsbürgern erster und solchen zweiter Klasse beurteilt zu haben. In
die Reihe der Einzelvorwürfe, die zur Rechtfertigung des Vorgehens
der Reichsregierung herangezogen worden sind, gehört auch der Emp-
fang kommunistischer Abgeordneter durch den Staatssekretär des

16 Vergleiche dazu die diesbezüglichen Ausführungen bei Gmelin, Arch. f. öff.


Recht, N. F., Bd. 22, S. 236, und Nawiasky in »Deutsche Juristenzeitung« 1932,
Spalte 194. [Hans Gmelin: Die Frage der Wirkung eines Misstrauensvotums
gegen ein zurückgetretenes Ministerium oder eines seiner Einzelmitglieder, in:
Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 22, Tübingen 1932, S. 224-238; Hans Nawi-
asky: Geschäftsregierungen in den Ländern und Reichsverfassung, in: Deutsche
Juristenzeitung, Jg. 37, Berlin 1932, Sp. 518-521.]

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Innenministeriums. Diese Episode verdient hier nur wegen einer


gewissen Parallelität der historischen Ereignisse festgehalten zu wer-
den. Bekanntlich war der äußere Anlass, mit dem die Abberufung Bis-
marcks mit inszeniert wurde, der Empfang Windthorsts. Die Antwort
des vorparlamentarischen Staatsmanns an den ihn interpellierenden
Kaiser, warum er Windthorst nicht die Tür gewiesen habe, sei hier
angeführt: »Ich habe ihn empfangen, wie ich es mit jedem Abgeordne-
ten, dessen Manieren ihn nicht unmöglich machten, als Minister stets
gehalten habe und zu tun verpflichtet bin, wenn ein solcher sich anmel-
det.«17 Ganz kurz sei darauf hingewiesen, dass in dem weiteren Vor-
wurf parteipolitischer Betätigung von Ministern und anderen höheren
Staatsbeamten jene grundsätzliche Verwerfung der demokratischen
Institutionen enthalten ist, die zum Aufbau einer Verfassungstheorie
der Präsidialdiktatur nun einmal gehört. Die Prätention, dass die Absti-
nenz von einer konkreten politischen Partei die Voraussetzung der star-
ken Überparteilichkeit schaffe, ist eine viel zu billige Kritik der Gesetz-
mäßigkeit massendemokratischer Erscheinungsformen, als dass sie
noch besondere Beachtung zu finden brauchte. Nur der Kuriosität hal-
ber sei erwähnt, dass im halbamtlichen Reichsverwaltungsblatt noch im
Juni dieses Jahres die Stellung der parlamentarischen Minister im
Wahlkampf folgendermaßen gekennzeichnet wurde:
»Ihre eigene Sache wird im Wahlkampf ausgefochten, und gerade
infolge ihrer Parteirichtung sind sie zum Ministeramt gelangt. So ist es
nicht unzulässig, sondern gerade die Regel, daß sie sich am Wahl-
kampf besonders stark beteiligen; ihre Stellung als Minister ist nicht
etwas, was sie hindert, dies zu tun, sondern was sie ganz besonders
dazu berufen macht.«18
Eine grundsätzliche Frage ist es, die sich hinter dem Konflikt zwischen
Preußen und dem Reich verbirgt und die in ähnlicher Weise schon im
Vorgehen des Reichs gegen Thüringen und Sachsen im Jahr 1923 aufge-
worfen wurde. Die große Frage der staatlichen Homogenität tritt hier
sichtbar hervor. Auch wenn man die föderalistische Haltung, die die
Nichtintervention des Reichs in die inneren Angelegenheiten der Län-
der als unumstößliche Grundthese aufstellt, als mit der tatsächlichen
Entwicklung Deutschlands in Widerspruch stehend ablehnt, so muss
doch darauf hingewiesen werden, dass eine gewisse verwaltungs-

17 Gedanken und Erinnerungen, Bd. 3, S. 81. [Otto von Bismarck: Gedanken und
Erinnerungen, Band 3, Stuttgart 1919.]
18 Ball in »Reichs- und preußisches Verwaltungsblatt 53«, S. 562. [Kurt Ball: Die
parlamentarischen Minister im Wahlkampf, in: Reichsverwaltungsblatt und
Preußisches Verwaltungsblatt, Jg. 53, Berlin 1932, S. 561-563.]

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[30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932] 419

mäßige Unabhängigkeit von dem politischen Kurs des Reiches erst die
organisatorische Selbständigkeit der Länder auf den ihnen verfassungs-
mäßig vorbehaltenen Verwaltungsgebieten gewährt. Es handelt sich
hier darum, ob es zulässig ist, von den Ländern mehr als nur die prinzi-
pielle Einhaltung der Verfassungsgrundlagen im Rahmen der in den
weitaus meisten Fällen vom Reich vorgezeichneten Gesetze zu verlan-
gen. Muss darüber hinaus auch der jeweilige verwaltungsmäßige
Regierungskurs im Reich von den Landesregierungen positiv unter-
stützt werden? Wer dies verlangt, beraubt die Bestimmungen der
Reichsverfassung, die nun einmal mit vorhandenen Ländern rechnet,
jedes Sinnes. Die Homogenität der politischen Grundhaltung, die jeder
Bundesstaat, und insbesondere eine so abgeschwächte Form des Bun-
desstaates, wie das Deutsche Reich sie darstellt, verlangt, setzt zwar im
20. Jahrhundert eine gewisse Gleichförmigkeit sozialer und kultureller
Institutionen voraus, aber das nordamerikanische Beispiel des La Fol-
lette-Staates Wisconsin in seinem Verhältnis zu den andern Bundesstaa-
ten der USA, das österreichische Beispiel des Verhältnisses der Stadt
Wien zu den übrigen Bundesmitgliedern zeigt, dass ein aus selbständi-
gen Gliedern bestehendes Staatengebilde solche heilsamen Diskrepan-
zen gerade im Interesse der Kontinuität seiner Zukunftsentwicklung zu
tragen verstehen muss. Sie liegen deshalb auch durchaus im Bereich
der »staatsrechtlichen Möglichkeit«.19 Die Aktion der Reichsregierung
hat es jedoch in Preußen unmöglich gemacht, den Willen großer Bevöl-
kerungsteile innerhalb der Verwaltung in gesetzmäßiger Weise zum
Ausdruck kommen zu lassen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass dazu
die Weimarer Verfassung weder in Absatz 1 noch in Absatz 2 des Arti-
kel 48 die Befugnis erteilt.
Das Ziel einer Reichsexekution kann nur sein, die konkrete Gesetzes-
oder Pflichtverletzung der Landesorgane abzustellen und so rasch wie
möglich den verfassungsmäßigen Zustand des selbständigen reichsver-
fassungsmäßigen Funktionierens der Landesorgane wiederherzustel-
len. Das Ziel des Ausnahmezustands kann nur sein, die gestörte Sicher-
heit und Ordnung in ihrem früheren verfassungsmäßigen Bestand wie-
der aufzurichten. Bei diesem Vorgehen muss das »organisatorische

19 Diese staatsrechtliche Möglichkeit, von der Giese, »DJZ.« 1932, Sp. 1022, spricht,
ist im Rahmen der geltenden Verfassung demgemäß keineswegs negativ zu
bewerten. [Friedrich Giese: Zur Verfassungsmäßigkeit der vom Reich gegen
und in Preußen getroffenen Maßnahmen, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg. 37,
Berlin 1932, Sp. 1021-1024.]

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420 [30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932]

Existenzminimum«20 des Landes, dessen Vorhandensein die Reichsver-


fassung in Artikel 17 zwingend vorschreibt, immer gewahrt bleiben.
Dazu gehört aber neben einem selbständigen Landtag auch die Exis-
tenz einer selbständigen Landesregierung. Es sind nicht nur »Landes-
belange«, die die Wahrung einer selbständigen Landesregierung erfor-
derlich machen; denn die Reichsverfassung, die den Reichsrat und
seine Zusammensetzung aus Vertretern selbständiger Länder zwingend
vorschreibt, beruft diese Körperschaft als notwendiges Organ zur Mit-
wirkung an Verwaltung und Gesetzgebung des Reiches. Damit macht
sie das Funktionieren des Reichsorganismus vom Vorhandensein selb-
ständiger Landesregierungen, die in der Lage sind, den Reichsrat zu
beschicken, abhängig. Demgegenüber kann man sich nicht auf die
Ansicht berufen, dass die Diktaturkompetenz des Reichspräsidenten
als eine selbständige Zuständigkeitsregelung sich auch über die Artikel
17 und 63 der Reichsverfassung hinwegsetzen könne.21 Die Ausübung
dieser selbständigen Kompetenz findet vielmehr ihre Schranke an dem
Inhalt der Reichsverfassung; sie gestattet dem Reich, sich innerhalb der
Kompetenz der Länder zu betätigen, muss aber dem Land eine selb-
ständige Landesgewalt belassen, womit die Ausübung der Vertretung
im Reichsrat durch die auf landesverfassungsmäßige Weise zustande
gekommenen Organe der Länder verbunden ist.22 Deshalb mag allen-
falls, die notwendigen Voraussetzungen einmal unterstellt, die preußi-
sche Polizei vorübergehend der Leitung eines Reichsorgans unterstellt
werden können. Der Innenminister selbst kann nicht vom Amt entfernt
werden, da er außer polizeiliche auch noch andere Funktionen ausübt,
in die sich einzumengen das Reich aus Artikel 48 keine Befugnis herlei-
ten kann. Im Übrigen ist schon auf Grund des Vorgehens der Reichsre-
gierung gegen Sachsen im Jahre 1923 festgestellt worden, dass die
Absetzung des Gesamtministeriums ebenso wie die Anstellung von
Ersatzfunktionären auf Rechnung des Landes in der Reichsverfassung

20 Vergleiche Löwenstein, Arch. f. öff. Recht, N. F. 20, S. 155, und Lympius,


»Reichsverwaltungsblatt« 1932, S. 582. [Karl Loewenstein: Zur Verfassungsmä-
ßigkeit der Notverordnungen vom Juli und August 1931, in: Archiv des öffentli-
chen Rechts, N. F. 21, Tübingen 1932, S. 124-158; Wilhelm von Lympius: Die
gegenseitigen Rechtsverhältnisse von Reich und Ländern bei der Handhabung
des Art. 48 der Reichsverfassung, in: Reichsverwaltungsblatt und Preußisches
Verwaltungsblatt, Jg. 53, Berlin 1932, S. 581-584.]
21 Dies behauptet Bilfinger, »DJZ.« 1932, Spalte 1020. [Carl Bilfinger: Die deutsch-
österreichische Zollunion vor dem Ständigen Internationalen Gerichtshof im
Haag, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg. 36, Berlin 1931, Sp. 1205-1212.]
22 So ausdrücklich Grau, Handbuch des Staatsrechts, § 80, S. 280/81. [Richard
Grau: Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten, in: Gerhard Anschütz, Richard
Thoma (Hg.): Handbuch des Staatsrechts, Band 2, Tübingen 1932, § 80.]

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[30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932] 421

keinen Stützpunkt finden.23 In Preußen sind aber nicht nur alle Minister
ihres Amtes entsetzt und eine Unzahl von Ersatzfunktionären angestellt
worden, sondern der Reichskommissar hat zweifellos durch weitge-
hende organisatorische Maßnahmen wie Zusammenlegung von
Gerichtsbehörden und Landkreisen bewusst organisatorische Ände-
rungen vorgenommen. Es ist unerfindlich, in welchem Zusammenhang
diese Änderungen mit der angeblichen Pflicht- und Rechtsverletzung
durch das preußische Staatsministerium stehen sollen. Es liegt hier ein
so schwerer Fall des Ermessensmissbrauchs vor, dass demgegenüber
eine Vermutung der subjektiven Gutgläubigkeit der Reichsregierung
nicht mehr Platz greifen kann.24
Jene verfassungsrechtliche Seite des Rechtsstreits Preußen contra Reich
zeigt – gleichgültig welche praktische Wirkung die Entscheidung des
Staatsgerichtshofs post festum noch zu erzeugen vermag –, dass die
Reichsregierung auf die Aufrechterhaltung jenes Teils der staatlichen
Rechtsgemeinschaft, der nach dem Versagen des Parlaments als Gesetz-
gebungsfaktor nicht zu bestehen aufhörte, keinen Wert legt. Denn die
über der Gesetzgebungsmacht eines Parlaments stehenden grundlegen-
den innerorganisatorischen Bestimmungen der Weimarer Verfassung,
die damit auch dem Zugriff der parlamentsvertretenden Präsidialdikta-
tur entzogen sind, unterliegen ebenso wie die wesentlichen sozialen
Grundrechtspositionen einem planmäßigen Vernichtungsprozess durch
die derzeitige Reichsregierung. Daraus ergibt sich notwendig eine ver-
änderte Stellung der Arbeiterklasse zu staatlichen Dingen. Denn dieser
Staat des 20. Juli ist weder ein parlamentarischer Gesetzgebungsstaat
mit potentiell gleicher Chance für alle Klassen, noch ein neutraler

23 Vergleiche Nawiasky in Arch. f. öff. Recht, N. F. 9, S. 52. Die hier erfolgte


Umgrenzung der Diktaturbefugnisse gegenüber den Landesregierungen ist
beachtlicherweise schon 1925 niedergeschrieben. [Hans Nawiasky: Die Ausle-
gung des Art. 48 der Reichsverfassung, in: Archiv für öffentliches Rechts, N. F.
9, Tübingen 1925, S1 -55.]
24 Dass auch bei reinen Regierungsakten die Ermessungsgrenzen vom Staatsge-
richtshof zu überprüfen sind, betont Smend, Annuaire de l'institut international
de droit public, 1931, vol. 3, p. 211. Mit besonderem Hinweis auf den Staatsge-
richtshof als dafür zuständige Instanz Grau, a. a. O., S. 295. Im Zusammenhang
mit dem vorliegenden Rechtsstreit ausdrücklich aufgezeigt bei Giese in »DJZ.«
1932, Spalte 1022. [Rudolf Smend: Les actes de gouvernement en Allemagne, in:
Annuaire de l'institut international de droit public, tome 2, Paris 1931; Richard
Grau: Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten, in: Gerhard Anschütz, Richard
Thoma (Hg.): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen 1932,
§ 80; Friedrich Giese: Zur Verfassungsmäßigkeit der vom Reich gegen und in
Preußen getroffenen Maßnahmen, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg. 37, Berlin
1932, Sp. 1021-1024.]

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422 [30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932]

schiedsrichterlicher Beamtenstaat unter der Herrschaft einer nur ver-


mittelnden Elite-Bürokratie.
Die Tatsachen zeigen, wie wenig die offizielle Doktrin von der überpar-
teilichen Präsidialgewalt der wirklichen Sachlage entspricht. Denn die
Fülle dieser in jeder Hinsicht verfassungswidrigen Maßnahmen, der
verwirklichten wie der geplanten, hat ein zentrales Ziel: die gesamte
politische Machtfülle an Stellen zu zentralisieren, bei denen eine auch
nur entfernte Einflussnahme der werktätigen Bevölkerung nicht mehr
vorhanden ist. Diesem Zweck dient die gewaltsame Ausschaltung der
einem gewissen Maß von Einfluss der Arbeiterschaft zugänglichen
preußischen Regierung. Diesem Zweck dient auch jede einzelne in sich
verfassungswidrige Maßnahme dieser verfassungswidrigen Ersatzre-
gierung, von der widerrechtlichen Entfernung nicht politischer Beamter
bis zu dem neuen Projekt der prinzipiellen Aufhebung der Selbstver-
waltung durch Einsetzung eines allmächtigen bürokratischen Organs
mit völlig willkürlichen Kompetenzen. Dem dient schließlich die große
angekündigte Verfassungsreform der Reichsregierung: Wahlreform
und Oberhaus. Die wirkliche Bedeutung der Abschaffung des Verhält-
niswahlrechts liegt nicht, wie auch in sozialistischen Kreisen leider
noch oft übersehen wird, in einer technischen Verbesserung der Führer-
auslese und in einer Intensivierung der Beziehungen zwischen Wäh-
lern und Gewählten. Hier handelt es sich vielmehr um den Versuch,
den massendemokratischen Parteienstaat seiner der Wirkung nach ple-
biszitären Ausdrucksform zu entkleiden.25 Durch die Wiederbelebung
repräsentativer Gedankengänge soll künstlich die politische Lebens-
form des 19. Jahrhunderts, die nicht zufälligerweise in dem Verschwin-
den der bürgerlichen Parteien sich als unserer Zeit inadäquat erwiesen
hat, fröhliche Urstände feiern. Es ist unendlich charakteristisch, dass
diese Art von Wahlreform in ideeller Einheit mit der Einführung eines
Oberhauses erscheint. Denn während das Parlament, wie Karl Marx es
nennt, die politische Existenz der bürgerlichen Gesellschaft verwirk-
licht, bedeutet die Einsetzung eines Oberhauses in Wahrheit den Schritt
von der politischen Existenz der Gesellschaft zurück zur Konstituie-
rung des »Privateigentums als Basis des Staats«.26 Die neue Totalität

25 Vergleiche die instruktiven Darlegungen von Leibholz über die Grundlagen der
Wahlrechtsreform, Veröffentlichung der Vereinigung deutscher Staatsrechtsleh-
rer, Heft 7, 1932. [Gerhard Leibholz: Die Wahlrechtsreform und ihre Grundla-
gen, in: Veröffentlichung der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer, Heft 7,
Berlin 1932, S. 159-190.]
26 [Karl] Marx: Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie, in Historischer Materia-
lismus I, [Wien 1926, ] S. 161 ff.

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[30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932] 423

dieses autoritären Staates hat nichts mehr mit der Totalität des souverä-
nen demokratischen Nationalstaats gemein. Dieser »nachdemokrati-
sche Staat« bringt in Wirklichkeit höchst vordemokratische Elemente
zum Vorschein. Seine Grundlage ist die Totalität des Vetorechts gegen
jede massendemokratische Erscheinungsform der politischen Gesell-
schaft. Hierzu dient das angemaßte Schiedsrichteramt ebenso wie
Oberhaus und wiedererstandene Pluralwahlrechtskünste. Dieser neue
Staat verkörpert daher nicht die »transpersonale Dauer und Einheit der
Nation«, sondern verdeckt nur dürftig die sehr reale Herrschaft seiner
privaten und amtlichen Monopolisten.
Es war lange Zeit eine der tragenden Ideen des deutschen demokrati-
schen Sozialismus, im organischen Umbau des bestehenden Staates die
Voraussetzungen für sozialistische Neugestaltung zu sehen. Die Mög-
lichkeiten der Selbstverwaltung, die Benutzung der historisch über-
kommenen Formen der selbständigen Landesverwaltung schienen hier-
für nicht ungünstige Voraussetzungen zu liefern. Aber die weitgehende
Notwendigkeit zentraler Regelung auf dem Gebiet der Wirtschafts-,
Sozial- und Finanzpolitik hat den materiellen Bereich selbständiger
Herrschaftsübung in Ländern und Selbstverwaltungskörpern auch
schon vor der derzeitigen Wirtschaftskrise stark eingeengt. Hierdurch
hat sich schon früh ein Zwiespalt zwischen der personellen Durchdrin-
gung des Verwaltungsapparats, dem Besitz politischer Stellungen und
der relativen Beschränktheit des verbleibenden sozialen Spielraums
ergeben. Der Staatsstreich des 20. Juli hat insoweit der gesamten Not-
verordnungspraxis einen ebenso gewaltsamen wie eindeutigen vorläu-
figen Abschluss gegeben, der mindestens den Vorzug unmissverständ-
licher Klarheit besitzt. Die Zentralisierung staatlicher Macht, unter wel-
chen äußeren Formen sie sich auch immer verbergen mag, nimmt dem
Teilbesitz staatlicher Macht praktische Bedeutsamkeit. Sie zwingt der
Arbeiterklasse neue Kampfformen auf. Es wäre aber eine irrige Bewer-
tung, im Verhältnis von Staat und Gesellschaft jedweden Staat schlecht-
hin als höhere Organisationsform anzusehen. Der Staat, der seine jeden
verfassungsmäßigen Rechtstitels bare Ordnung auf die Zwangsgewalt
weniger politischer und ökonomischer Monopolisten stellt, ist unfähig,
jene Einheit von Staat und Gesellschaft zu vollziehen, die heute als
greifbares Ergebnis eines sozialen Prozesses von gewaltigem Ausmaß
hergestellt werden muss. Hier liegt die aus der Dialektik des geschicht-
lichen Geschehens heraus begreifbare Leistung, die vor unseren Augen
der wiedererwachte Feudalismus vollbringt, der wider Willen dabei ist,
die Einheit zweier geschlossener Fronten – den feudalisierten Staat
gegen die proletarisierte Gesellschaft – zu konstituieren. Daher steht

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424 [30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932]

auch seine Preußenaktion unter dem Gesetz jenes inneren Zusammen-


hangs zwischen Freiheit und Notwendigkeit, wie es Tocqueville bei der
sorgfältigen Beobachtung bundesstaatlicher Entwicklungstendenzen
beschrieben hat: »Le législateur ressemble à l’homme qui trace sa route
au milieu des mers. Il peut [aussi] diriger le vaisseau qui le porte, mais
il ne saurait en changer la structure, créer les vents, ni empêcher l’océan
de se soulever sous ses pieds.«27

27 De la démocratie en Amerique t. l. »Der Gesetzgeber gleicht dem Mann, der das


Meer überquert. Er vermag sein Schiff zu steuern, kann aber weder den Bau des
Schiffes verändern, noch die Winde erzeugen, noch den Ozean hindern, sich zu
seinen Füßen zu erheben.« [Alexis de Tocqueville: De la Démocratie en Ameri-
que, Paris 1835, p. 257. Die Übersetzung stammt von Otto Kirchheimer.]

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425

[31.]
Nazis, Auslandsdeutsche und Proleten*
[1932]

Die Nationalsozialisten bilden heute für weite Teile rechtsbürgerlicher


Intellektueller die letzte Hoffnung, ihre Ideen und Ideologien einmal,
wenn auch nur teilweise, verwirklicht zu sehen. Deshalb ist es sehr
interessant, sich damit zu beschäftigen, was eigentlich diese in Deutsch-
land zwar zahlenmäßig kleine, aber politisch deshalb nicht bedeu-
tungslose Gruppe, die in fast allen akademischen Berufsständen über
einen großen Anhang verfügt, vom Nationalsozialismus erwartet.
Darüber haben wir jetzt durch den Sammelband, herausgegeben von
Albrecht Erich Günther unter dem Titel »Was wir vom Nationalsozialis-
mus erwarten«, der bei Eugen Salzer in Heilbronn 1932 verlegt worden
ist, Näheres erfahren.
Um es im vornherein zu sagen: Die in diesem Band zusammengefass-
ten Aufsätze sind keinesfalls einheitlich, und viele der darin behandel-
ten Themen haben aktuelle politische Bedeutung höchstens dadurch,
dass sie das alte Lied von der Ablösung des liberalen, demokratischen
Staates durch den Staat der nationalen Autorität mit einigen neuen
Phrasen versehen, ohne konkrete Angaben über die Art der Verwirk-
lichung zu machen. Aber zwei Aufsätze sind es vornehmlich, die die
Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in hohem Maße verdienen.
In einem Aufsatz, betitelt: »Was erwarten die Auslandsdeutschen vom
Nationalsozialismus«, unternimmt Wilhelm Mannhardt [es], dem Natio-
nalsozialismus einige Lehren zu geben, die es verdienen, auch der brei-
teren Öffentlichkeit bekanntzuwerden. Mannhardt sieht sich vor die
Aufgabe gestellt, zu untersuchen, wie die Nationalsozialisten nutzbare
Auslandsdeutschenpolitik betreiben könnten. Der Aufsatz wird – statt
sein Wegbereiter – zu der vernichtendsten Kritik des Nationalsozialis-
mus von fachkundiger Hand. Es wird dem Nationalsozialismus
bescheinigt, dass das Auftreten der nationalsozialistischen Studenten in
Siebenbürgen die begeisterte Zustimmung der rumänischen National-
sozialisten gefunden habe, und dass die Rumänen – frei nach Hitler –
den Standpunkt vertreten haben: »Wenn Brot da ist, das auch für die

* [Erschienen in: Das freie Wort, Jg. 4, Heft 21, Berlin 1932, S. 17-20. – Zu diesem
Text vergleiche in der Einleitung S. 97-98. ]

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426 [31.] Nazis, Auslandsdeutsche und Proleten [1932]

anderen reicht, mögen sie mitessen, wenn nicht, müssen sie fort. Der
Rumäne darf in seinem Lande nicht verhungern, denn er ist Schaffer,
Träger und Schützer des Staates.« Es ist wohl verständlich, dass die
rumänischen Nationalisten mit den Hitler‘schen Lehren sehr zufrieden
gewesen sind. Die Frage aber, ob die siebenbürgischen Gastfreunde der
nationalsozialistischen Studenten mit jenen Auslassungen zufrieden
gewesen sind, kann Mannhardt beim besten Willen nicht bejahen. Und
wir unterscheiden uns von Mannhardt nur dadurch, dass wir dieses
Auftreten der Nationalsozialisten in Siebenbürgen, das die Interessen
der dort ansässigen deutschen Bevölkerung schwer geschädigt hat,
nicht als Mangel an Fingerspitzengefühl, sondern als das bei den Natio-
nalsozialisten schon bekannte Zurücktreten nationaler Interessen hinter
ihren Parteiinteressen bezeichnen müssen. Die gleiche Verurteilung fin-
det Mannhardt für die Haltung der Nationalsozialisten gegenüber Süd-
tirol, und es ist sehr interessant, dass in einem Buche, das eigentlich der
geistigen Vorbereitung der nationalsozialistischen Machtergreifung
dient, den Beamten des Auswärtigen Amtes bescheinigt werden muss,
dass sie ihre Aufgabe auf diesem Gebiet gut gelöst haben.
Endlich weist Mannhardt noch sehr interessanterweise darauf hin, wel-
che unerwünschte außenpolitische Auswirkung die Stellung des Natio-
nalsozialismus zum Judentum haben kann; denn das Judentum kämpft
in den außerdeutschen Ländern Schulter an Schulter mit den Deut-
schen als nationale Minderheit gegen nationalistische Bedrückung, aber
noch weitergehend, das Judentum ist in den ostdeutschen Ländern geradezu
ein Träger deutscher Zivilisation. Und Mannhardt sagt unmissverständ-
lich, dass die Auslandsdeutschen im Osten erwarten, dass dieser
Zustand des vertrauensvollen Einvernehmens zwischen Judentum und
Deutschtum auch fernerhin nicht gestört wird. Nach diesen Betrach-
tungen kann man wirklich die Frage nicht unterdrücken, die der Ver-
fasser in dieser Präzision trotz seiner sichtbar schweren Sorgen über die
außenpolitische Wirkung des Nationalsozialismus leider zu stellen
unterlässt: Welchen Nutzen sollen die Auslandsdeutschen eigentlich
vom Nationalsozialismus haben? Oder vielmehr: Ist der Nationalsozia-
lismus nicht gerade geeignet, alles das, was die Auslandsdeutschen in
mühevollen Jahren aus eigener Kraft und mit Unterstützung der
Reichsregierung erreicht haben, durch seinen maß- und ziellosen
Nationalismus zu vernichten? Und die innenpolitischen Methoden des
Nationalsozialismus sind es doch, die einem nationalsozialistischen
deutschen Regime bei jeder deutschen Minderheitenbeschwerde entge-
gengesetzt werden. Denn darüber müssen sich auch rechte Politiker
klar sein: Es wird wenig Überzeugungskraft haben, wenn wir etwa von

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[31.] Nazis, Auslandsdeutsche und Proleten [1932] 427

den Polen und Litauern unter Hinweis auf allgemeine Grundsätze zivi-
lisierter Staaten eine liberale Behandlung der deutschen Minderheiten
verlangen, wenn wir im innerdeutschen Gebiet solche Grundsätze aufs
gröbste missachten.
Von anderem Charakter ist der Beitrag des bekannten nationalsozialis-
tischen Professor Ferdinand Plate, Jena, »Die Forderung der Biologie an
den Staat«. Dieser Aufsatz, der bei der Autorität Plates als Universitäts-
professor nicht als Darlegung eines Außenseiters, sondern als national-
sozialistischer Programmpunkt bewertet werden muss, verdiente in
Millionen von Exemplaren unter der deutschen Arbeiterschaft verteilt
zu werden. Werden sie doch erst durch diesen Aufsatz darüber aufge-
klärt, dass sie nicht nur einer sozial benachteiligten Schicht angehören,
sondern dass sie rassisch und eugenisch eine durchaus minderwertige
Angelegenheit darstellen. Für Herrn Plate sieht die Welt so aus: Oben
gibt es eine dünne geistige Führerschicht, dann kommt die Mittel-
schicht des Mittelstandes und des Bauerntums, deren hehre Aufgabe es
ist, dem deutschen Volk seine Oberschicht zu ergänzen. Damit ist es
aber aus. Die Unterschicht, von der Plate die qualifizierte Arbeiter-
schaft gnädigst in die Mittelschicht versetzt, »schwillt« – so heißt es
wörtlich –
»sehr schnell an, zumal ihre Zeugungskraft ungebrochen ist und
namentlich in ihren minderwertigen Teilen nicht in dem Maße, wie in
ihren anderen Schichten, durch verstandesmäßige Erwägungen
beschränkt ist. Überdies enthält die Unterschicht auch den ganzen
Haufen der irgendwie Anbrüchigen, der Psychopathen und des Ver-
brechertums. Sehr gering ist ihr Gehalt an wertvollen Kräften mit unausge-
formten Zukunftsmöglichkeiten.«1
Was soll man mit dieser Unterschicht machen? Dass sie nur Objekt der
Politik der Oberschicht ist, das ist für unseren Biologen so selbstver-
ständlich, dass es überhaupt nicht der Erwähnung wert ist. Verhungern
lassen kann man die nicht völlig, also muss man die Löhne so staffeln,
dass sich ein niedriges Lebenshaltungsniveau der Unterschicht ergibt.
Und wie niedrig muss nun dieses Lebenshaltungsniveau sein? Ganz
einfach: Es muss so niedrig sein, dass die Unterschicht keine Lust mehr
zur Fortpflanzung verspürt. Sollte sie aber dennoch so asozial sein, sich

1 [Ferdinand Plate: Die Forderung der Biologie an den Staat, in: Albrecht Erich
Günther (Hg.): Was wir vom Nationalsozialismus erwarten, Heilbronn 1932,
S. 134. – Die Hervorhebungen in diesem Zitat stammen von Otto Kirchheimer. Im
Originaltext heißt es »beschränkt wird«.]

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428 [31.] Nazis, Auslandsdeutsche und Proleten [1932]

fortpflanzen zu wollen, nun denn, so müssen sie eben sterilisiert wer-


den.
Wir sind Herrn Plate zu Dank verpflichtet. In manchen anderen Aufsät-
zen dieses Buches wird versucht, das Problem des Proletariats dadurch
zur Lösung zu bringen, dass man die industrielle Struktur Deutsch-
lands zerschlägt und so ein Reich von Kleinbauern schafft, das vom
Nationalsozialismus in Zucht gehalten werden kann. Aber das Rezept
von Herrn Plate ist viel einfacher. Die Arbeiter müssen eben verhun-
gern, sie müssen eben so niedrig entlohnt werden, dass eine neue
Generation von Arbeitern gar nicht mehr heranwachsen kann. Rever-
end Malthus war gegen Herrn Plate ein phantasieloser Intellektueller.
Er hat sich lediglich bemüht, ein ökonomisches Gesetz zu formulieren,
und niemals ist über seine Lippen gekommen, welche Politik zu treiben
wäre, wenn sein Gesetz etwa nicht stimmen sollte. Herr Plate hat nicht
so viel Interesse aufgebracht, sich für Zwangsläufigkeiten innerhalb
ökonomischer Erscheinungen zu interessieren. Für ihn handelt es sich
lediglich darum, wie man einen für seine Schicht, nämlich die Ober-
schicht, die er sich dediziert, unliebsamen Tatbestand am besten und
schnellsten aus der Welt schafft. Dabei verbindet er biologische Kennt-
nisse mit psychischen Einblicken. Da es sich die Untermenschen nicht
gefallen lassen würden, stillschweigend zu verhungern, macht man die
Sache mit dem folgenden Kniff: Man gibt ihnen gerade so viel zu fres-
sen, dass sie nicht verhungern, aber doch auch so wenig, dass es in der
nächsten Generation keine neuen Untermenschen gibt. Fürwahr, die
Frage der deutschen Politik ist damit trefflich gelöst. Nur schade, dass
die »Untermenschen« auch noch etwas zu sagen haben!

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429

[32.]
Verfassungsreaktion 1932*
[1932]

Die öffentliche Meinung wird gegenwärtig mit der Frage der Verfas-
sungsreform beschäftigt. Da sich im heutigen Deutschland die Organi-
sationen dieser öffentlichen Meinung unauffällig von ihren Produkten
zu distanzieren wissen, kann der außenstehende Beobachter über den
Mischungsgrad von Spontaneität und zentralem Plan nur recht vage
Vermutungen hegen. Vorläufig klingt das allgemeine Rufen nach Ver-
fassungsreform so dringlich, als ob die Umorganisierungsgeschwindig-
keit der parlamentarischen Demokratie die Voraussetzung für eine ent-
sprechende Zunahme des Beschäftigungsgrades bilde. Mindestens
könnte man dies meinen, wenn man nicht wüsste, dass dieser Regie-
rung die »Sanierung der Seelen« – um ein Wort Seipels zu gebrauchen
– ebenso wichtig erscheint, wie die Sanierung der Wirtschaft. Oder han-
delt es sich vielleicht um die Sanierung ihrer Herrschaft?
Jedenfalls naht die Zeit, wo die Regierung gezwungen ist, zur Konkre-
tisierung ihrer politischen Metaphysik zu schreiten. Bisher wusste man
nur, dass diese Regierung zum polemischen Instrument gegen die Wei-
marer Verfassung bestimmt war. Aber ihre institutionellen Konsequen-
zen waren deshalb schon problematisch, weil sie zu einem nicht gerin-
gen Teil auf die Person des gegenwärtigen Reichspräsidenten abgestellt
sind. Mag die Regierung der autoritären Staatsführung noch so stark
die Leerform der Demokratie, die Unmöglichkeit anonymer Parla-
mentsmehrheiten, heterogener Interessenparteien als Prinzip ablehnen
(so spiegelt sich hier die Demokratie wider) und ihre Legitimierung mit
dem hic et nunc der Person des gegenwärtigen Reichspräsidenten ver-
binden – schon die Prätention, »vier Jahre an der Macht zu bleiben«,
muss sie darauf führen, dass es eine zwar nicht hinreichende, vielleicht
aber notwendige Bedingung ihrer Existenz ist, dem deutschen Volk die
Illusion zu geben, als könne eine seinen politischen Bedürfnissen ent-
sprechende, auf Dauer berechnete Reform der politischen Seinsord-
nung unter Führung der durch sie repräsentierten Schichten und Ideen
stattfinden. Man geht dabei von dem richtigen Gedanken aus, dass

* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 9, Heft 11, Berlin 1932, S. 415-427. – Zu diesem Text vergleiche in der Ein-
leitung S. 100-102.]

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430 [32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932]

Dauer ein wesentliches Element jeder Verfassungsintention ist. Man


scheint aber zunächst über die Tatsache hinwegzusehen, dass sowohl
für den Moment der Einführung wie für die Dauer eine soziale Basis,
die die legale Introduktion und das legale Funktionieren einer solchen
Verfassung gewährleisten würde, nicht ersichtlich ist. Allerdings
scheint es nach der Münchner Rede des Reichskanzlers (jede Verfas-
sungsreform hat eben im heutigen Moment ihre gegenrevolutionäre
Logik) zweifelhaft, ob die Regierung auch nur auf die Legalität der Ein-
führung Wert legt. Scheint es doch für die Regierung bereits festzuste-
hen, dass zur Legitimierung des Reichstags seine Erwähltheit gar nicht,
seine »Arbeitsfähigkeit« im Sinne der Existenz irgendeiner Regierungs-
mehrheit (wie es im September hieß) auch nicht mehr ausreicht; gefor-
dert ist jetzt die Anpassung an den Willen der bestehenden Regierung.
Die angebotene Gegenleistung geht allerdings gegenüber dieser Institu-
tion der Demokratie nicht einmal so weit, wie sie der preußische Adel
früher dem Landesherrn gegenüber für notwendig erachtete: »Und der
König absolut, wenn er uns den Willen tut.« In Gestalt der Reform wird
die Aufhebung der Legalität als Bedingung der Legalität der Aufhe-
bung gesetzt.
Die Verdünnung des ideologischen Überbaus, die man als eines der
entscheidenden Strukturmerkmale Nachkriegsdeutschlands ansehen
kann, und die sich auch in der – auf die ideologische Ebene übertragen
– zeitweilig rein tagespolitischen Einstellung der Arbeiterschaft gezeigt
hat, ist in der hier interessierenden politischen Sphäre markant festzu-
stellen. Es herrscht hier eine erstaunliche Disproportionalität zwischen
der Massenhaftigkeit der Verbreitung faschistischer Ideologiesurrogate
und dem geringen Umfang der geistig selbständigen Produktion. Ver-
gleicht man die großen, über den eigentlichen Daseinsbereich der Bour-
geoisie weit hinauswirkenden Ideen, die die französische Periode der
Verfassungsbildungen am Ende des achtzehnten und im Anfang des
neunzehnten Jahrhunderts entscheidend beeinflusst haben, mit dem
Amalgam ständisch-konservativ-neumodisch-faschistischer Grund-
sätze von heute, so wäre man auch hier versucht, die objektive Größe
eines historischen Prozesses am Gehalt seiner ideologischen Manifesta-
tionen zu messen. Der Niveauunterschied, auf den wir hinweisen, zeigt
deutlich den fast postum anmutenden Charakter jener Episode, deren
Zeugen wir sind. Wenn eine spätere Zeit den geistigen Bestand dieser
Epoche sichtet, so wird sich ihr das Buch von Carl Schmitt über Legali-

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[32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932] 431

tät und Legitimität1 als eine Schrift darbieten, die sich aus diesem Kreis
sowohl durch ihr Zurückgehen auf die Grundlagen der Staatstheorie
als auch durch ihre Zurückhaltung in den Schlussfolgerungen aus-
zeichnet. Carl Schmitt teilte mit der Mehrheit der Verfassungsreformer
des Jahres 1932 die Aufnahme der Wahlparole des Jahres 1925: Mehr
Macht dem Reichspräsidenten! Allerdings ist aus der Differenz der
konkreten Intentionen von damals und heute die im demokratischen
Sinn rückläufige Bewegung des dazwischen liegenden Intervalls, der
ersten Amtsperiode des Herrn von Hindenburg, erkennbar. War der
erste Ruf an Hindenburg der nach einer Verfassungsreform innerhalb
der Weimarer Verfassung, so handelt es sich heute um Verfassungsre-
volution. Ging es damals deutlich um die Auseinandersetzung zweier
Legalitätsfaktoren im strittigen Grenzbereich, so wird heute die Forde-
rung laut, durch die präsidiale Legitimität die parlamentarische Legali-
tät aufzuheben. Darüber darf auch nicht hinwegtäuschen, dass demje-
nigen Organ, dem im Schmitt‘schen Verfassungsbild (das aus der
genannten Schrift sich freilich nur in großen Umrissen ergibt) eine
beherrschende Rolle zukommt, nämlich dem unmittelbar auftretenden
Volk auch in der Reichsverfassung eine maßgebende Stellung einge-
räumt ist. Handelt es sich doch nicht nur um unmittelbar verschiedene
Gehalte in der bestehenden und der geplanten Verfassung. Heute über-
trägt sich die herrschende Rolle der Parteien bei den Parlamentswahlen
auch auf das Plebiszit und prägt ihm, sowohl der Form als auch dem
Inhalt nach den Charakter einer Partei- oder Klassenaktion auf. Dass
die Parteien das Volk nicht nur intermittierend für die Wahlzeiten orga-
nisieren wie in den USA, wo sie den Charakter einer bloßen Wahlplatt-
form haben, zeigt sich auch darin, dass sie auch beim Volksbegehren
entweder selbst die Initiative übernehmen oder ein anderswie eingelei-
tetes Volksbegehren stützen und ihm damit überhaupt erst eine
Erfolgschance verschaffen. Bei Carl Schmitt dagegen besteht der demo-
kratische Charakter des Plebiszits lediglich in einer unorganisierten
Antwort, die das als Masse charakterisierte Volk auf eine Frage gibt, die
nur von einer als vorhanden gesetzten Autorität gestellt werden darf.
Konstruktion und Abhängigkeit dieser Autorität sind unbekannt, und
nur ihre Existenz selbst ist ein deutlicher Punkt in dem sonst in über-
wiegend ideologischer Kritik verharrenden Bild. Dem gegenüber kon-
trastiert das Volk. Wenn in dem einen Fall ohne den Nachweis einer
institutionellen Garantie angenommen wird, dass der Magistrat das
Gute will, so in dem andern Fall, dass das Volk dieses Gute, dessen

1 Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, Duncker u. Humblot[, München/Leipzig],


1932.

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432 [32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932]

Bestimmbarkeit in einer antagonistischen Klassengesellschaft als pro-


blemlos vorausgesetzt wird, nicht wollen, sondern nur billigen kann.
Die verfassungsrechtliche Position dieses Volkes ist in diesem neuen
Verfassungsbild genau auf seine anthropologischen Charaktere zuge-
schnitten:
»Das Volk kann nur ja oder nein sagen, es kann nicht beraten, delibe-
rieren oder diskutieren. Es kann nicht regieren und nicht verwalten, es
kann auch nicht normieren, sondern nur einen ihm vorgelegten Nor-
mierungsentwurf durch sein Ja sanktionieren. Es kann vor allem auch
keine Frage stellen, sondern nur auf eine ihm vorgelegte Frage mit ja
oder nein antworten.«2
Sofern diese Schmitt‘sche Beschreibung für das Deutschland der
Zukunft gelten soll, scheint sie an einem doppelten Anachronismus zu
leiden. Dieses Volk wäre das Volk einer nachdemokratischen Verfas-
sung – aber die westeuropäische Demokratie war nur möglich, indem
sich in einem langen und schmerzhaften Prozess, der mit der wachsen-
den Industrialisierung parallel ging, die Masse von einem rein passiven
Träger des geschichtlichen Geschehens zu aktiven Organisationsformen
entwickelte. Die Demokratie hat mit einer Geschwindigkeit, die allen
Thesen über die Unveränderlichkeit der Menschennatur widerspricht,
den strukturellen Charakter der Masse entscheidend verändert:
»In der europäischen Geschichte wenigstens hat sich bis zum heutigen
Tage das Volk noch niemals eingebildet, »Ideen« über irgend etwas zu
haben. Es hatte Glaubenslehren, Überlieferungen, Erfahrungen, Sprich-
wörter, Denkgewohnheiten. Aber es dünkte sich nicht im Besitz theore-
tischer Einsichten in das Sein oder Sollsein der Dinge – in Politik etwa
oder Literatur. Was der Politiker plante oder tat, erschien ihm gut oder
schlecht. Es stimmte für oder gegen. Aber es beschränkte sich darauf,
im einen oder anderen Sinn den Resonanzboden für die schöpferische
Tat anderer abzugeben. Den Ideen des Politikers seine eigenen gegen-
überzustellen, ja sie auch nur vor das Tribunal anderer »Ideen« zu zie-
hen, die es zu besitzen glaubte, wäre ihm niemals eingefallen. Die
selbstverständliche Folge war, dass das Volk auch nicht entfernt daran
dachte, auf irgendeinem Gebiet der öffentlichen Tätigkeiten Entschei-
dungen zu treffen. [...] Heute dagegen hat der Durchschnittsmensch
die deutlichsten Vorstellungen von allem, was in der Welt geschieht
und zu geschehen hat. Dadurch ist ihm der Gebrauch des Gehörs
abhanden gekommen. Wozu hören, wenn er schon alles, was nottut,
selber weiß? Es ist nicht mehr an der Zeit zu lauschen, sondern zu
urteilen, zu befinden, zu entscheiden. Im öffentlichen Leben gibt es

2 C. Schmitt, ebda., S. 93.

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[32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932] 433

keine Frage, in die er sich, taub oder blind wie er ist, nicht einmischte,
seine Absichten durchsetzend.«3
Wie immer man auch diesen von Ortega y Gasset als »Aufstand der
Massen« bezeichneten Vorgang bewerten mag, klar scheint zu sein,
dass der Tatbestand, den man je nach seiner weltanschaulichen Einstel-
lung als Selbstbescheidung oder Selbstunterwerfung der Masse
bezeichnen kann, der Vergangenheit angehört. Jener sozialpsychologi-
sche Habitus, unzweifelhaft ein Merkmal auch noch des Anfangsstadi-
ums der Massendemokratie, ist in der Zäsur des großen Krieges und
der mit ihm verbundenen Umwälzungen zurückgetreten. Die Krise der
Demokratie, gerade jene Tatsache also, auf deren historischem Hinter-
grund Schmitt die Theorie entwirft, die wir betrachten, hat die Ent-
wicklung nur beschleunigt. Nichts wäre falscher als, eine momentane
Ebbe der politischen Massenspannungen verabsolutierend, zu glauben,
dass etwa gleichlaufend zur Konzentration der Macht von Bürgertum,
Armee und Bürokratie im deutschen Staatsapparat eine Diffusion des
politischen Masseninteresses eingetreten sei. Es scheint deshalb, dass
die Geburtssituation der schwerste Fehler dieser neuen Verfassung
wäre. Es stößt sich die vordemokratische Grundlage dieser
Schmitt‘schen Theorie mit ihrer Intention, eine entfaltete Demokratie zu
liquidieren.
Aber selbst wenn man die Möglichkeit einer auf längere Zeit berechne-
ten Realisierung dieser neuen Machtverteilung einmal unterstellt, so
scheint, dass im Umriss der neuen Verfassungsordnung das Problem
der verfassungsrechtlichen Dynamik, der Normierung des Machtwech-
sels, ungelöst geblieben ist. Hat der Magistrat zurückzutreten, wenn er
sich bei einer wenn auch richtig gestellten plebiszitären Frage einen
Misserfolg holt? Oder würde hier nicht nach aller geschichtlichen
Erfahrung die von Schmitt früher einmal als Jakobinerlogik4 bezeich-
nete Ideologie, die dem subjektiven Meinen der Volksmasse ihr objekti-
ves Meinensollen substituiert, die Lücke der Verfassungstheorie auch
heute ausfüllen müssen? Wie viele Vorwürfe man der modernen
Demokratie auch machen kann, immerhin ist sie die einzige Staatsform,
die in einer Zeit wachsender sozialer und mitunter auch nationaler
Heterogenität das Zusammenwirken bzw. den Wechsel verschiedener
Gruppen verfassungsmäßig ermöglicht. Sie allein fasst durch ein allge-
meines, gleiches und geheimes Wahlrecht sowie durch die Garantie der

3 Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, [Stuttgart] 1932. S. 75, 76.
4 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Grundlage des heutigen Parlamentaris-
mus. 2. Aufl.[, Berlin 1926.]

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434 [32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932]

politischen Freiheitsrechte das Problem einer politischen Entsprechung


zu bestimmten sozialen Strukturveränderungen ins Auge. Für eine
»nachdemokratische« Verfassung jedoch entstehen hier die größten
Schwierigkeiten, die bisher keine der modernen cäsaristischen Spielar-
ten der Demokratie zu lösen vermocht hat. Denn für eine fixierbare
Institutionalisierung des persönlichen Charismas fehlt in einer von
allen Traditionsbindungen befreiten Zeit jede Bedingung. Eine verlo-
rene Schlacht, ein misslungener ökonomischer Plan oder der Tod des
bisherigen Amtsinhabers bringt einen nicht nur in der sozialen Dyna-
mik begründeten, sondern in erster Linie aus der veränderten politi-
schen Institution folgenden Umsturz, der bei dem gewaltigen Amtsap-
parat des 20. Jahrhunderts – anders als in früheren Jahrhunderten –
nicht nur politische, sondern unabsehbare soziale Folgen haben müsste.
Aber neben diesen allgemeinen Gründen, die die Unmöglichkeit einer
Normierung des Machtwechsels in einer cäsaristischen Herrschaftsord-
nung dartun,5 gibt es einen speziellen Umstand, der es im gegenwärti-
gen Deutschland verbietet, über allgemeine Antithesen hinauszukom-
men. Denn man kann den Versuch, ein persönliches Charisma zu insti-
tutionalisieren – die Geschichte Mussolinis hat dies ja gezeigt – erst
dann unternehmen, wenn eine gewisse sinnfällige Bewährung des Cha-
rismas eingetreten ist. Solange dies nicht der Fall ist – unter dem Hori-
zont des Übergangs zum nachdemokratischen Zeitalter in Deutschland
ist bekanntlich der Streit, wer der Träger des Charismas sein solle, noch
nicht einmal ausgetragen –, kann man lediglich das Bild einer zugleich
autoritären wie plebiszitären Gewalt entwerfen, ohne über deren
Daseinsbedingungen etwas Konkretes aussagen zu können. Denn es ist
einzig und allein die Leistung, die hier eine legitimierende Wirkung
erzeugen könnte. Zur Institutionalisierung einer neuen, vom Volke
unabhängigen Macht, deren Bewährung durch kein auch noch so
äußerliches geschichtliches Ereignis ersichtlich ist, würde selbst eine als
vorhanden vorausgesetzte antidemokratische Massenstimmung nicht
ausreichen können. Ist es doch nicht die Güte unpersönlicher Institutio-
nen, sondern gerade die unbezwingbare Macht persönlicher Faktoren,
die hier erst einmal vorhanden sein müsste, um gebilligt werden zu
können. Denn erst dann kann ja bei einem solchen System der Versuch
einer Institutionalisierung gewagt werden, dessen Erfolg allerdings jen-
seits aller möglichen Berechenbarkeit und Voraussicht liegt.

5 Vergleiche die Bemerkung von [Rudolf] Smend, Verfassung und Verfassungs-


recht[, München/Leipzig 1928], S. 111, Anm. 3, über die contradictio in adjecto
einer charismatischen Verfassung.

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[32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932] 435

Der festgestellten Unmöglichkeit, in der heutigen Situation das Bild


einer grundsätzlich neuen antidemokratischen Verfassung für Deutsch-
land zu entwerfen, widerspricht auch die Tatsache nicht, dass der juris-
tische Praktiker Schiffer ein 38 Punkte umfassendes Programm, das er
als Vorschlag einer neuen Verfassung bezeichnet, vorlegt.6 Stellt doch
dieser Entwurf im Wesentlichen nur eine Kodifizierung des heutigen
Verfassungszustandes dar. Seine beherrschende Gestalt ist nämlich der
Reichspräsident, der nicht nur Chef der Exekutive ist, nicht nur das
Recht zum Erlass von Maßnahmen besitzt, sondern dessen heutige
gesetzesvertretende Notverordnungspraxis im gesamten Umfang lega-
lisiert wird. Stellt man, wie Schiffer es tut, den Reichspräsidenten im
Abstand von vier Jahren einem Volke zur Wahl, dem außerhalb dieses
Prozesses in einer bis zur antidemokratischen Willkür gesteigerten Wil-
lensvereinheitlichung keinerlei Befugnis bleibt, so ergeben sich zwei
Möglichkeiten. Entweder korrumpiert die Armee zusammen mit der
Bürokratie, der der Autor folgerichtig in seinem Entwurf einzig und
allein eine unabhängige Stellung zuweist, auch noch diese Wahl und
schaltet dadurch das letzte Stück realen Volkseinflusses aus, oder aber
es gelingt dem Volk, einen von der Bürokratie unabhängigen und unbe-
einflussbaren Präsidenten zu wählen: das Verfassungssystem bricht im
Kampf zwischen Bürokratie, Armee, Inhabern antiquierter Eigentums-
titel einerseits, und dem lediglich vom Reichspräsidenten repräsentier-
ten Volk andererseits zusammen. Das lapidare »Umgekehrt«, das Marx
dem Hegel‘schen Satz: »Die Regierung ist keine Partei, die einer ande-
ren gegenübersteht«,7 entgegenstellt, würde auch für die Illusionisten
des autoritären Staates, die nicht sehen wollen, dass der Staat eine Ein-
richtung der Gesellschaft ist, handgreifliche Gestalt annehmen. Aber
auch wenn ein allseitig legales Vorgehen aller Beteiligten einmal vor-
ausgesetzt würde, wäre wahrscheinlich die inhaltliche Variabilität und
damit Instabilität größer als im parlamentarischen Gesetzgebungsstaat.
Denn eine derart weitgehende Willensvereinheitlichung des plebiszitä-
ren Faktors in der Person des Reichspräsidenten müsste dazu führen,
die Politik viel größeren Schwankungen zu unterwerfen, als diese

6 Eugen Schiffer, Die neue Verfassung des Deutschen Reiches[. Eine politische
Skizze], Berlin 1932.
7 Marx, Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie, in: »Der historische Materialis-
mus«, Frühschriften I., S. 105. [Karl Marx: Kritik der Hegelschen Staatsphiloso-
phie, in: Siegfried Landshut, Jacob-Peter Mayer (Hg.): Der historische Materialis-
mus. Die Frühschriften, Band 1, Leipzig 1932, S. 105.]

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436 [32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932]

durch die typischen Differenzen zwischen den Parlamentsparteien


erfahren könnte.8
Das Schiffer‘sche Parlament hat mit der Institution, die man vom 19.
Jahrhundert bis auf unsere Tage unter diesem Begriff verstand, unge-
fähr ebensoviel zu tun wie das Parlament des vorrevolutionären Frank-
reich, bloß dass das »lit de justice« im nachweimarischen Reich durch
das selbständige Gesetzgebungsrecht des Reichspräsidenten zur nor-
malen Funktion umgestaltet wird. Und der Fortgebrauch dieses Wortes
ist nur aus jener selben ideologischen Taktik zu erklären, aus der
heraus die nachdemokratischen Verfassungen sich selbst als »wahre
Demokratien« anpreisen. Denn wie auch immer das Parlament seit der
Begründung seiner Eigenständigkeit in der glorious revolution zusam-
mengesetzt gewesen sein mag, welche sozialen Strömungen in ihm pri-
vilegiert oder ausgeschlossen wurden, eine Eigenschaft wurde ihm seit
jener Zeit kaum mehr streitig gemacht: die seiner notwendigen Mitwir-
kung bei der Gesetzgebung. Wenn das neue Parlament nicht nur durch
das Recht des Diktatorpräsidenten, Maßnahmen zu erlassen, und
durch dessen selbständiges Gesetzgebungsrecht beschränkt wird, son-
dern ihm dazu auch noch die Möglichkeit, diese Präsidialgesetze auf-
zugeben, praktisch genommen wird,9 so wird damit die legislative
Funktion des Parlaments beseitigt. Dies aber tritt dadurch ein, dass bei
der juristisch noch möglichen eigenartigen Konkurrenz zwischen Präsi-
dent und Parlament dieser einzigartige Verfassungsentwurf auch noch
eine Personalunion zwischen neutralem Dritten und Präsidenten
schafft, insofern Verfassungskontrolle und Verfassungsanwendung bei

8 Die gleiche Befürchtung spricht auch Meinecke in seinem Aufsatz »Ein Wort zur
Verfassungsreform« (Vossische Zeitung vom 12. Oktober 1932) aus. [Friedrich
Meinecke: Ein Wort zur Verfassungsreform, in: Vossische Zeitung, 12. Oktober
1932, Berlin, S. 1.]
9 Art. 14 Satz 2: »Er [der Reichspräsident] kann auch ohne einen Beschluß des
Reichstags ein Gesetz verkünden, wenn sein Erlaß unaufschiebbar ist und der
Reichstag sich außerstande erweist, es rechtzeitig zu beschließen.« Art. 15 Satz 2:
»Sie [die Gesetze und Maßnahmen des Reichspräsidenten] sind außer Kraft zu
setzen, wenn der Reichstag es verlangt und zugleich feststellt, daß sie des
begründeten Anlasses entbehren. Trifft der Reichstag diese Feststellung, so hat er
darüber abzustimmen, ob gegen den Reichspräsidenten, den Reichskanzler und
die verantwortlichen Reichsminister Anklage wegen schuldhafter Verletzung der
Reichsverfassung zu erheben ist. Trifft er sie nicht, so sind die beanstandeten
Maßnahmen nur dann außer Kraft zu setzen, wenn der Reichstag an ihrer Stelle
andere demselben Zweck dienende Maßnahmen beschließt.« [Die Einschübe
stammen von Otto Kirchheimer.]

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[32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932] 437

ihm vereinigt sind. 10 Eine Faktizität des Gesetzgebungsrechts des Parla-


ments ist nur mehr als Gnadenakt des Präsidenten möglich. Da diesem
Parlament noch dazu die Möglichkeit, dem Ministerium ein Misstrau-
ensvotum zu erteilen, so beschnitten wird, dass es wohl im normalen
Betrieb dieses Staates nie zustande kommen kann,11 so liegt in Wirk-
lichkeit hier nur noch ein Parlament im Sinne des von Max Weber für
das zaristische Russland von 1905 bis 1917 geprägten Begriffs des
Scheinkonstitutionalismus vor. Aus der Theorie des 19. Jahrhunderts –
um im Sprachgebrauch unserer neuesten Soziologenschulen zu bleiben
–, dass die Regierung und nicht das Parlament die Exekutive handhabe,
wird bei Herrn von Papen die Theorie, dass »die Regierung und nicht
das Parlament die Staatsgewalt handhabe«. In den Begriff »Staatsge-
walt« müsste man doch eigentlich, wenn man nicht die faschistische
Theorie »l’atto procede la norma« (die Handlung geht dem Gesetz vor-
aus) zur äußersten Konsequenz der Eliminierung genereller Normen
überhaupt treiben will, die Gesetzgebung mit einbeziehen. Die Funk-
tion eines Parlaments vom Typ des Scheinkonstitutionalismus besteht
bekanntlich lediglich in einer allerdings im Erfolg sehr zweifelhaften
Konservierung des Glaubens an seine Funktion.
Die Existenz eines solchen Parlaments ohne Funktionsbereich wird
gnädigst gestattet. Diese Kategorie des seigneuralen gnädigen Gewäh-
rens, die in einer hier wirklich inadäquaten Denaturierung Kant‘scher
Begriffe als sittliche Pflicht erscheint, beherrscht nicht nur die Einrich-
tung dieses Parlaments. Sie ist durchgehend eine Grundkategorie nicht
nur des politischen, sondern auch des sozialen Aufbaus des neuen
Regimes. So wie der Versorgungsstaat nicht nur deshalb kritisiert wird,
weil er der Arbeiterklasse zu viel gab, sondern vor allem, weil er ihr ein
Recht auf dieses Viele gab, so wird die Demokratie nach außen hin
nicht vor allem deshalb kritisiert, weil sie dem Volk zu viel gab, son-
dern weil sie ihm Rechte und damit die Möglichkeit zu fordern gab, wo
es nur – und hier berührt sich diese Theorie mit der Schmitt‘schen
Anthropologie der Masse – die Qualitäten des Empfangens oder Ver-
werfens gibt. Es wäre aber nach allen Erkenntnissen der Ideologien-

10 Art. 7: »Der Reichspräsident ist der Hüter der Verfassung. Er kann jede Verlet-
zung der Verfassung rügen und gegen ein verfassungswidriges Verhalten [...]
einschreiten.«
11 Art. 30: »Der Reichstag kann in einem mit einer Begründung versehenen
gemeinschaftlichen Ersuchen beider Häuser die Entlassung der Regierung ver-
langen. Lehnt der Reichspräsident die Entlassung ab, so kann der Reichstag die
Absetzung des Reichspräsidenten durch Volksabstimmung beantragen. Der
Beschluß des Reichstags erfordert Zweidrittelmehrheit jedes der beiden Häu-
ser.«

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lehre erstaunlich, wenn sich diese Vertauschung von Recht und Sitte
vollziehen würde, ohne dass dabei an den realen Prozessen des Gebens
und Nehmens, sei es in der ökonomischen, sei es in der politischen
Sphäre, eine wesentliche Veränderung eintritt.
Als rationale Begründung für eine solche Abdikation des parlamentari-
schen Gesetzgebers wird darauf hingewiesen,12 dass in der gegenwärti-
gen Epoche Individualität und Mangel an Dauer diejenigen Norm-
strukturen darstellen, die sich allein mit dem vorliegenden Substrat
decken und von ihm gefordert sind. Man könnte dieser These beistim-
men, dürfte dabei aber nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, dass es
zwei verschiedene Veränderungen des Substrats sind, die hier
zugrunde liegen:13 einerseits die Organisierung der Gesellschaft in
ihrer ökonomischen und sozialen Sphäre, die die infinitesimal geringe
Bedeutung des Individuellen aufhebt, andererseits die besondere
Schnelligkeit der sozialen Dynamik in bestimmten, aber durchaus nicht
allen Zeitabschnitten dieser Geschichtsepoche der »Organisierung«, die
ja sowohl »Spätkapitalismus« wie »Frühkapitalismus« umfassen dürfte.
In jedem Fall aber erscheint das »bis hierher und nicht weiter«, das von
diesen Kritikern dem Parlament zugerufen wird, wenn es sich über die
Grenzen des generellen Gesetzesbegriffs hinauswagen will, nicht
schlüssig. Mit besonderer Emphase versucht man heute, den generellen
Charakter, der in einer bestimmten Epoche der kapitalistischen Ent-
wicklung aus sozialen, nicht aus unmittelbar politischen Gründen zu
einem (damals übrigens unbeachtet gebliebenen) Strukturbegriff des
parlamentarischen Gesetzes wurde, als ein begriffsnotwendiges Merk-
mal jedes Parlamentsgesetzes hinzustellen und daraus den Schluss her-
zuleiten, dass heute das Parlament, dem sein Korrelatbegriff des gene-
rellen Gesetzes verloren gegangen ist, natürlicherweise dem Diktator
des Verwaltungsstaates weichen müsse. Aus dieser Beweisführung
ergibt sich auf jeden Fall, dass eine auf ganz andere (sub specie dieser
Epoche zum großen Teil zufällige) Ursachen zurückführbare Funkti-
onsunfähigkeit des Parlaments dem Wandel des sozialen Substrats
selbst zugerechnet und damit eine hoffnungslose Prognose der maladie
parlementaire gestellt wird. In Wirklichkeit ist keineswegs erwiesen,
dass erstens die Allgemeinheit ein notwendiges Begriffsmerkmal des
Gesetzes überhaupt ist und zweitens die Bürokratie in der Lage ist, den
gegenwärtigen Zuständen entsprechendere Regelungen zu finden als

12 C. Schmitt, Legalität und Legitimität[, München/Leipzig 1932], passim.


13 Vergleiche hierzu die diesbezüglichen Ausführungen von Ernst Fränkel, in »Die
Gesellschaft«, Oktober 1931. [Ernst Fraenkel: Die Krise des Rechtsstaats und die
Justiz, in: Die Gesellschaft, Jg. 8, Heft 10, Berlin 1931, S. 327-341.]

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[32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932] 439

das Parlament. Dass diese bei der Unbeschwertheit ihres Verfahrens die
Regelungen schneller und kaleidoskopartiger und ohne jenes parla-
mentarische Minimum an Schutz für den Betroffenen vornehmen kann,
dürfte bis in weite Kreise des Bürgertums hinein nicht mehr als Vorteil
angesehen werden.
Die Einschränkung der Parlamentsrechte erfolgt jedoch nicht nur durch
die Präsidialgewalt als durch einen deutlich vom Parlament unterschie-
denen Faktor, sondern dem Parlament sollen überdies ihm wesens-
fremde Elemente in der historisch bekannten Gestalt des Oberhauses
eng zugeordnet werden. Neben die hier antidemokratisch gewendete
plebiszitäre Legitimität des Reichspräsidenten tritt das uranfänglich
antidemokratische Element der Legitimation der sogenannten Sachbe-
rechtigten. Es ist eine eigenartige Mischung von Cäsarismus und Stän-
destaat, von Erwartung des Durchbruchs der persönlichen Integration
und der genauen Festlegung einer Ordnung der Lebensbereiche und
der in ihnen Berechtigten.14 Fragt man sich, welches von den bei
Schiffer in roher Form genommenen Elementen von der deutschen
Reaktion in Zukunft bevorzugt werden wird, die Institutionalisierung
des heutigen politischen Status quo oder der Ausbau des Ständeparla-
ments, so muss die Antwort zugunsten des Ständeparlaments lauten.
Denn während die Normen der Präsidentenwahl bei der sozialen
Struktur Deutschlands keine Gewähr dafür bieten, dass das Volk den
»Würdigen« trifft, bedeutet jene Abbildung der herrschenden sozialen
Machtverhältnisse, wie sie der Ständestaat in der politischen Ebene eo
ipso darstellt, eine Garantie für die Erreichung der eigentlichen materi-
ellen Ziele dieser Verfassungsreform. Wie bei einer Beibehaltung der
bisherigen plebiszitären Selbstlegitimierung dieser neuen Regierung
ihre Krise im Moment der früher oder später notwendig werdenden
Abhebung von dieser Basis fällig wird, so wird auch in diesem Moment
die zweite und im Sinne dieses Regimes wohl endgültige praktische
und verfassungstheoretische Fundierung erfolgen müssen. In diesem
Moment wird neben dem Oberhaus die von jeder Volkswahl unabhän-
gige Bürokratie das spezifische Gewicht ihres Legitimierungsbeitrags
steigern, aber auch ihre funktionelle Bedeutung im Rahmen des wiede-
rum veränderten Staatssystems erhöhen. Indem der Ständestaat das
Problem der Willensvereinheitlichung nicht löst, sondern nur ver-
schiebt, bedingt er als ein Korrelat eine als pouvoir neutre eingreifende

14 Art. 19: »Die Mitglieder des Länder- und Ständehauses werden von den Regie-
rungen der Länder, den Obrigkeiten der Gemeinden und Gemeindeverbänden
und den Organisationen des wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebens
bestimmt.«

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440 [32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932]

Bürokratie, die hier der wirkliche deus ex machina ist.15 Dann fällt auch
der legale Ansatzpunkt der Revolution, der in der Wahl eines unabhän-
gigen Präsidenten gegeben sein könnte, fort. Statt des fehlenden Mas-
senventils der Wahl tritt eine allseitige Korrumpierung ein. Das Wort
»Alles ist Pfründe und nichts lebt«, das Carl Schmitt auf den parlamen-
tarischen Gesetzgebungsstaat angewandt hat, würde in adäquaterer
Weise für eine Staatsordnung gelten, in der alle Dynamik zugunsten
einer illusionären Statisierung ausgelöscht wird. Wenn diese noch in
der Unabänderlichkeit der Verfassung selbst (außer durch ein pouvoir
constituant, dessen legale Herkunft allerdings nirgendwo angedeutet
wird) verankert ist, so wird damit die letzte Chance einer Kontinuität
der Rechtsordnung ausgeschlossen.16
Die Kritiker, sowohl Theoretiker wie Praktiker, glauben sich heute über
das Verfassungswerk von Weimar erhaben. Sie beweisen damit die
Wahrheit des Hegel‘schen Satzes, dass das einzige, was man aus der
Geschichte lernen kann, das ist, dass die Menschen nichts aus ihr ler-
nen. Was Weimar versagen ließ, scheint in erster Annäherung die durch
die Selbstverständlichkeit demokratischen Verhaltens nicht gemilderte
soziale Heterogenität, die einen bisher historisch unbekannten Grad
erreichte. Aber dieses Versagen beweist nicht, dass diese Heterogenität
durch den autoritären Staat das zweite wesentliche Instabilitätselement
der Weimarer Demokratie, ein ihr unverbundenes Heer und Beamten-
tum, an sich zu binden vermag. Freilich ist das in der plebiszitären
Spielart wiederum nur eine sehr unsichere Chance. In der ständischen
Gesellschaft wächst die instabilisierende Kraft der von jeder Reform-
möglichkeit des Status quo der sozialen Machtverteilung abgesperrten
und von der Suche nach einem eigenen Kompromiss entbundenen

15 Mit vollem Recht hat Thoma in seinem Artikel »Staat« im Handwörterbuch der
Staatswissenschaften, Bd. 6, S. 743, hervorgehoben, dass ein Berufsständeparla-
ment den Konstitutionalismus mit selbstregierender Bürokratie erfordere: »Man
muß beides wollen oder auf beides verzichten.« [Richard Thoma: Staat (Allge-
meine Staatslehre), in: Ludwig Elster, Johannes Conrad (Hg.): Handwörterbuch
der Staatswissenschaften, Band 7, Jena 1926, S. 724-756.]
16 Wenn Schiffer in Art. 38 seines Entwurfs die Unabänderlichkeit dieser seiner
Verfassung vorsieht und ihre Aufhebung oder Abänderung nur durch eine neue
Nationalversammlung zulassen will, so kann er sich hierfür übrigens nicht auf
Schmitt berufen. Denn Schmitt nimmt in seinem zitierten Buch gerade eine
bewusste Minderbewertung aller Organisationsformen vor und legt sich nur
auf die unabänderlichen materialen Werte des zweiten Hauptteils der Weimarer
Verfassung fest, während Schiffer es bewusst unterlässt, Grundrechte aufzuneh-
men, weil alles im Fluss sei und es schon mehr als gewagt sei, sich heute hin-
sichtlich der künftigen Gestaltung der Ehe, des Familienlebens oder gar der
Wirtschaft festzulegen. (S. 33.) [Eugen Schiffer: Die neue Verfassung des Deut-
schen Reiches, Berlin 1932, S. 33.]

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[32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932] 441

widerstrebenden gesellschaftlichen Kräfte. Kann diese Verfassungsre-


form nicht einmal von dem subalternen Standpunkt der reinen Stabili-
tät aus als zureichend angesehen werden, so liegt das an der simplen
Tatsache, dass eine Lösung des politischen Stabilitätsproblems unter
Absehen vom sozialen Strukturproblem nicht unternommen werden
kann. Soll die Staatsgewalt nach den Münchner Worten des Herrn von
Papen wie ein rocher de bronce stabilisiert werden, wovon seit jeher
Militär, Bürokratie und ihre sozialen Annexe träumen, so darf sie nicht
unabhängig von den Parteien gestellt sein. Denn auch die Ideologen
des neuen Regimes werden sich darüber klar sein, dass die Kontrastie-
rung von Parteien und Volk nur eine Parole der »Präsidialpartei« ist,
nicht aber eine soziologische Realität darstellt. Versucht die Regierung
über die Parteien hinweg das Volk zu erreichen und zu repräsentieren,
so wird nach aller geschichtlichen Erfahrung diese »richtige Verbin-
dung der Regierung mit dem Volk« (Papen in München) nach der
Absicht der Regierung eine ewige Verbindung zwischen ihr und dem
Volk sein. Wieviel enger ist aber doch die Bindung von Massenpartei
und Volk, in der auch die widerstrebendste Parteibürokratie im politi-
schen Konkurrenzsystem der Demokratie bei Strafe des Untergangs
gezwungen wird, sich zum Transformator der Massenenergien zu
machen. Sie muss sich ihre Autorität täglich neu vom Volk bestätigen
lassen – eine Regierung betont aber im allgemeinen nur dann ihren
autoritären Charakter, wenn die freiwillige Anerkennung ihrer Autori-
tät prekär erscheint. Aber mag diese Ersetzung der Volkslegitimierung
durch die Selbstlegitimierung für antidemokratisches Denken befrei-
end wirken, zum Ziel, die »Aufgaben, die die Wirklichkeit stellt, in har-
ter positiver Arbeit zu lösen« (Papen in München), hat dieser Legitimie-
rungswechsel keine Beziehung. »Zum Besten des abendländischen Kul-
turkreises arbeiten« – bei dieser allgemeinsten Zielsetzung hört aller-
dings unsere Übereinstimmung mit Herrn von Papen bereits auf –
heißt, scheint uns, die Idee der Demokratie in der politischen und
sozialen Ebene als regulatives Prinzip des Handelns nehmen. Nicht nur
erhält von diesem Blickpunkt aus das Ziel der Stabilität, dem – in ihrer
Ideologie wenigstens – die Regierung vor allem nachstrebt, reinen
Fetischcharakter, man könnte darüber hinaus meinen, dass so wie der
soziale Konservativismus in Widerspruch zu diesem seinem Ziele die
soziale Instabilität in Permanenz setzt, ebenso die politische Stabilität
nur ein »bien de sucroît« – ein zusätzliches Gut – der sozialistischen
Revolution sein könnte. »Nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es

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442 [32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932]

keine Klassen und keine Klassengegensätze gibt, werden die gesell-


schaftlichen Evolutionen aufhören, politische Revolutionen zu sein.«17

17 Marx, Das Elend der Philosophie. [Karl Marx: Das Elend der Philosophie. Ant-
wort auf Proudhons »Philosophie des Elends«, in: MEW Band 4, Berlin 1972,
S. 63-182.]

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443

[33.]
Die Verfassungsreform*
[1932]

Im Ruf nach Verfassungsreform finden sich heute in Deutschland die


entgegengesetztesten Bestrebungen zusammen. Viele Wünsche, Hoff-
nungen vieler politischer und sozialer Gruppen verlangen die Reform
des Weimarer Werks. Bevor deshalb über Verfassungsreform diskutiert,
bevor die Frage der Erwünschtheit einer Verfassungsreform mit Ja oder
Nein beantwortet werden kann, muss zunächst das Ziel dieser Verfas-
sungsreform klargestellt werden.
Als Anhaltspunkt dieser Verfassungsdiskussion dienten in erster Linie
die Verlautbarungen des Ministeriums Papen-Gayl. Die Verfassungsre-
form dieses Ministeriums war der Versuch, eine bestimmte politische
Situation für die konkreten Ziele einer festumrissenen sozialen Schicht
auszunutzen. Diese – nennen wir sie einmal nach der Intention ihrer
Urheber autoritäre Verfassungsreform – hatte das primäre Ziel, die
gegenwärtige politische und soziale Machtstellung einer bestimmten
begrenzten Bevölkerungsschicht, nämlich der höheren Bürokratie, des
Großgrundbesitzes und der Industrie nebst ihrer sozialen Annexe, zu
einem ausschlaggebenden verfassungsrechtlichen Faktor zu erheben.
Diese verfassungsmäßige Sicherung sollte durch die Schaffung eines
Oberhauses, das gleichberechtigt dem Reichstag zur Seite treten und an
dessen Zustimmung die gesamte Tätigkeit des Reichstags geknüpft
werden sollte, gewährleistet werden. Seine Zusammensetzung sollte je
zu einem Drittel aus Vertretern der Landesregierungen (als Ersatz für
den Reichsrat), Vertretern der wirtschaftlichen Interessengruppen (als
Ersatz des Reichswirtschaftsrats) und aus vom Reichspräsidenten frei
nach dem Würdigkeitsprinzip ernannten Vertretern erfolgen. Es fällt in
die Augen, dass der ausgeprägt konservative Charakter dieses Ober-
hauses mindestens so lange gewährleistet ist, als für die sogenannten
Wirtschaftsvertreter an den Auswahlprinzipien, die für die Bestellung
des Reichswirtschaftsrats maßgebend waren, festgehalten wird.

* [Erschienen in: Die Arbeit. Zeitschrift für Gewerkschaftspolitik und Wirtschafts-


kunde, Jg. 9, Heft 12, Berlin 1932, S. 730-742. – Zu diesem Text vergleiche in der
Einleitung S. 102-104.]

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444 [33.] Die Verfassungsreform [1932]

Ist schon allein die Bindung des Reichstags an ein konservatives Ober-
haus geeignet, die demokratische Staatsstruktur zu zerstören, so
geschieht dies noch nachdrücklicher durch die Strukturänderung, die
sich im Reichstag selbst durch Änderungen der Wahlrechtsbestimmun-
gen vollzieht. Hinaufsetzung des Wahlalters auf 25 Jahre, Einführung
von Zusatzstimmen für Kriegsteilnehmer und Familienväter bedeuten
praktisch die Ausschaltung der männlichen Jugendlichen bis zu 30 Jah-
ren und die Herabdrückung des Frauenstimmrechts zu fast völliger
Bedeutungslosigkeit. Nimmt man dazu noch den Gedanken, die Exe-
kutivrechte des Reichspräsidenten in ihrem heute in Anspruch genom-
menen Umfang verfassungsrechtlich zu verankern, die Einführung des
Pluralwahlrechts für die Selbstverwaltungskörper und die Umrisse
einer Reichsreform, die lediglich den Handstreich vom 20. Juli verfas-
sungsmäßig sanktionieren soll, so rundet sich das Bild einer Verfas-
sungsreaktion. Sie trägt nichts dazu bei, die Problematik der gegenwär-
tigen Schwierigkeiten durch eine etwa mögliche Verbesserung der
demokratischen Methoden zu beheben. Sie ist vielmehr nur das getreue
Wunschbild einer sozialen Schicht, deren positiver Beitrag zur Verfas-
sungsreform allein darin bestehen könnte, dass sie den Vergangenheits-
charakter ihrer politischen und sozialen Position erkennt.
Da aber diese restaurierten Kräfte im heutigen Deutschland noch kei-
neswegs ihre politische Rolle ausgespielt haben, ist es vor weiteren
Erörterungen möglicher positiver Änderungen der Verfassungsord-
nung lehrreich, einen Blick auf die Verfassungsreform zu werfen, die
unser österreichisches Brudervolk im Jahre 1929 vorgenommen hat. Her-
vorgegangen ist diese Verfassungsreform bekanntlich aus dem Bestre-
ben der bürgerlichen Mehrheitsparteien, den Drang der damals mächti-
gen Heimwehrbewegung nach Abschaffung des Parlamentarismus
überhaupt in geordnete Bahnen zu lenken. Die Verfassungsreform ent-
stand aus einem Kompromiss der sozialdemokratischen Minderheits-
partei mit den parlamentarischen Mehrheitsparteien der Christlichso-
zialen und Großdeutschen.1 Für den hier behandelten Zusammenhang
sind folgende zwei Fragen von grundsätzlicher Bedeutung: Welche
Bestimmungen der österreichischen Bundesverfassung konnten im
Wege des Parteikompromisses ohne Antastung des grundsätzlich
demokratischen Charakters der Verfassungsordnung geändert werden?
Wie haben die vorgenommenen Änderungen auf die Funktionsfähig-
keit der Verfassung eingewirkt? Der Verfassungskompromiss enthält in

1 Vergleiche die ausführliche Schilderung Kelsens im Jahrbuch des öffentlichen


Rechts 1930, Band 18. [Hans Kelsen: Die Verfassung Österreichs, in: Jahrbuch des
öffentlichen Rechts, Band 18, Tübingen 1930, S. 130-160.]

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[33.] Die Verfassungsreform [1932] 445

seinen wichtigsten Bestimmungen neben einer Heraufsetzung des akti-


ven Wahlrechts von 20 auf 21 Jahre, des passiven von 24 auf 29 Jahre
durchgehend Kompetenzerweiterungen des Bundes gegenüber den
einzelnen Bundesgliedern. Dies bedeutet praktisch, da die übrigen Lan-
desregierungen insoweit politisch mit der Bundesregierung konform
gehen, die Ausschaltung der selbständigen Polizeigewalt der Gemeinde
Wien und mindestens eine starke Beschränkung ihrer Tätigkeit auf den
übrigen Vorbehaltsgebieten. Dazu kommt noch, dass der Präsident
nicht mehr vom Parlament, sondern vom Volk gewählt wird, wobei
übrigens eine interessante Bestimmung eingefügt wurde. Bei einem
notwendig werdenden zweiten Wahlgang können nur diejenigen Wäh-
lergruppen Kandidaten benennen, deren Wahlbewerber bei der ersten
Wahl die höchsten Stimmenzahlen erreicht haben. Schließlich ist noch
die Einführung eines bisher dort unbekannten Notverordnungsrechts
von Interesse. Es wird ausdrücklich nur für den Fall gewährt, dass das
Parlament nicht versammelt ist, und darf sich nicht auf Arbeiterrecht,
Angestelltenschutz, Sozialversicherung, Kammer für Arbeiter und
Angestellte, Koalitionsrecht und Mieterschutz beziehen. Außerdem
zieht jedes Gebrauchmachen vom Notverordnungsrecht verfassungs-
mäßig die sofortige Einberufung des Parlaments innerhalb einer Frist
von acht Tagen nach sich. Praktisch bedeutungslos ist die Teilung der
Wahlperioden in getrennte Sessionen, da der Minderheit das Recht zur
Einberufung außerordentlicher Sessionen gewährt ist. Überblickt man
die Grundzüge dieser Verfassungsreform, so ergibt sich, dass die Aus-
nahmestellung Wiens als eines selbständigen, politisch abweichend
strukturierten Bundesgliedes nicht ganz gewahrt bleiben konnte. Mit
Hinblick auf unsere deutschen Verhältnisse und auf die Rechtlosma-
chung Preußens durch den Staatsstreich vom 20. Juli ist aber wichtig zu
betonen, dass Wien nicht wie Preußen eine Entrechtung im Vergleich
zu den anderen Bundesländern erfahren hat, sondern dass sich alle
materiellen Änderungen und Einschränkungen der Landeskompeten-
zen auf sämtliche Bundesländer gleichmäßig beziehen. Insbesondere
der politisch bedeutungsvollste, neu eingeführte Absatz 2 des Artikels
15 der Bundesverfassung, der ein unmittelbares Anweisungsrecht der
Bundesregierung in den Angelegenheiten der örtlichen Sicherheitspoli-
zei statuiert, ist kein Wiener Ausnahmerecht, sondern bezieht sich auf
alle sicherheitspolizeilichen Organe des gesamten Bundes. Der demo-
kratische Charakter der österreichischen Verfassung ist grundsätzlich
nicht angetastet worden. Die Stellung des Präsidenten wird zwar, wie
die Geschichte lehrt, durch eine Volkswahl immer gehoben, und es
bestehen, wie die jüngsten deutschen Erfahrungen zeigen, theoretische

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446 [33.] Die Verfassungsreform [1932]

wie praktische Ansatzpunkte für den Übergang von der Demokratie


zum Cäsarismus; aber der in unseren Erfahrungen erprobte Satz, dass
immer erst das Versagen der legalen demokratischen Organe den Weg
zum Cäsarismus ebne, gilt noch mehr für die österreichische Verfas-
sung; diese beschränkt auch noch nach ihrer Änderung die selbstän-
dige Kompetenz des Präsidenten außerordentlich, wie das Beispiel des
Notverordnungsrechts zeigt. Was nun die Funktionsfähigkeit der so
geänderten Verfassung anbetrifft, so muss man bei einem Urteil die
Kürze der seither verflossenen Zeit, insbesondere aber auch die Tatsa-
che, dass bisher noch keine Volkswahl des Bundespräsidenten stattge-
funden hat, berücksichtigen. Dann ergibt sich, dass an den Grundzü-
gen des österreichischen Staatslebens kaum eine Änderung eingetreten
ist. Weder die Klassen- noch die Herrschaftsverhältnisse sind grundle-
gend verändert worden. Und auch das Ansehen der österreichischen
Sozialdemokratie in den breiten Volksmassen ist nicht dadurch
geschwächt worden, dass in vielen Fällen Maßnahmen der Wiener
Stadtverwaltung nicht nur wegen der durchgehenden finanziellen Not-
lage der Stadt, sondern auch deshalb unterbleiben mussten, weil die
verfassungsrechtlichen Kompetenzen inzwischen geschmälert worden
waren. An der Agonie der sozialen Verhältnisse Österreichs hat – fast
scheint es überflüssig, dies zu sagen – auch diese Verfassungsreform
nichts geändert.
Die Geschichte der österreichischen Verfassungsreform zeigt uns so
einerseits, dass es gewisse Reformen gibt, denen die politische Vertre-
tung der wirtschaftlich abhängigen Bevölkerungsschicht in konkreten
Fällen zustimmen kann, dass aber auf der anderen Seite nicht genug
vor Illusionen gewarnt werden kann, die sich an eine Änderung unse-
rer verfassungsrechtlichen Verhältnisse knüpfen. Hermann Heller hat in
einem Aufsatz in den »Neuen Blättern für den Sozialismus« mit Recht
auf den »Kurzschluß des Denkvermögens« derer hingewiesen, die die
schlechte außen- und innenpolitische Verfassung Deutschlands in einen
ursächlichen Zusammenhang mit den Mängeln der Weimarer Verfas-
sung bringen.2 Der Versuch, den insbesondere Carl Schmitt in seiner
Schrift über Legalität und Legitimität unternommen hat, die Fehler
unserer gegenwärtigen Staatsordnung konkreten Unstimmigkeiten
innerhalb der Weimarer Verfassung zuzurechnen, hat zwar eine Reihe
interessanter verfassungstheoretischer Gesichtspunkte ergeben; doch

2 Neue Blätter für den Sozialismus 1932, Heft II, S. 576. [Hermann Heller: Ziele
und Grenzen einer deutschen Verfassungsreform, in: Neue Blätter für den Sozia-
lismus, Jg. 3, Heft 2, Potsdam 1932. Im Original lautet die Formulierung: »Der
Kurzschluß dieses Denkvorganges liegt auf der Hand.«]

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[33.] Die Verfassungsreform [1932] 447

hat er den Beweis dafür, dass konkrete Fehlerquellen der deutschen


politischen Verhältnisse ihren Ursprung in nur der Weimarer Verfas-
sung eigentümlichen Verfassungsnormen hätten, kaum erbracht.3 Zwar
lässt sich das Erfordernis der Volkssouveränität aus dem Gang der
gesellschaftlichen Entwicklung ableiten, doch die Entwicklungsrich-
tung des staatlichen Lebens innerhalb des Rahmens einer demokrati-
schen Verfassung ist schwerlich im Voraus fixierbar. Hat nicht – um
hier ein konkretes Beispiel anzuführen – der oberste Bundesgerichtshof
der Vereinigten Staaten in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts
eine so ungeheure Machtfülle erlangt, obwohl ihm die Verfassung nicht
die Kompetenz zur Nachprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Bun-
desgesetzen gibt? Diese Rechtsprechung beruht auf der Tatsache, dass
die liberal-individualistischen Grundsätze einer von der Mehrzahl als
gültig anerkannten Gesellschaftsordnung hier ihren prägnantesten Nie-
derschlag finden konnten. Beruht nicht anderseits die Schwierigkeit der
deutschen Staatsführung auf der Tatsache, dass es sich hier um ein im
Zustand eines gesellschaftlichen Umbruchs befindliches Land handelt,
das nicht nur mit der Schwierigkeit seiner sozialen, sondern auch sei-
ner religiösen und regionalen Verhältnisse aufs äußerste belastet ist? Ist
es doch nicht die Böswilligkeit seiner Parteien, Konfessionen und Ver-
bände, sondern die objektive Schwierigkeit dieser bestimmten
geschichtlichen Epoche, die selbst eine demokratische Staatsführung
fast zum Erliegen zu bringen droht. Bis zur Unerträglichkeit gesteigert
werden diese Bedrängnisse durch das Dazwischentreten der Privilegi-
enträger, der Industrie und des Großgrundbesitzes, die wie jede zum
Untergang verurteilte Schicht ihre überkommene Stellung nicht freiwil-
lig zu räumen gedenken und durch die Verbindung mit anderen sozia-
len Gruppen auch heute noch über bedeutende, durch die allgemeine
Not gefestigte Positionen verfügen.
Ist man aber der Überzeugung, dass ein Abweichen vom demokrati-
schen Weg diese Schwierigkeiten nicht überwinden, sondern nur noch
steigern kann, will man also ehrlich die großen Grundlinien einer
demokratischen Verfassung, Volkssouveränität, Parlament, persönliche
Freiheitsrechte und soziale Grundrechte aufrechterhalten, so ist der
mögliche Spielraum einer Verfassungsreform sehr begrenzt. Es hat sich
in der Geschichte des letzten Jahres gezeigt, dass eine Kompetenzver-
schiebung zuungunsten des Parlaments und zugunsten der Exekutiv-
gewalt die demokratische Vertrauensbasis der Regierung aufs äußerste

3 Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, Duncker und Humblot[, München/Leip-


zig] 1932.

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448 [33.] Die Verfassungsreform [1932]

schmälert. Deshalb ist es nicht möglich, etwa wegen erwiesener Unfä-


higkeit des Parlaments eine Reform der Demokratie durch eine verfas-
sungsgesetzliche Sanktionierung der gegenwärtigen Machtstellung des
Präsidenten mit seinem gesetzesvertretenden Notverordnungsrecht
vorzunehmen. Die Errichtung einer plebiszitären Demokratie durch
weitestgehende Ausschaltung der interessengespaltenen Vertretungs-
körperschaft kommt daher nicht in Betracht. Eine Präsidialdemokratie
bleibt nur in einem sozial weitgehend homogenen Land Demokratie; in
den deutschen Verhältnissen würde sie zur Diktatur eines Mannes oder
einer Schicht über politische und soziale Gegner ausarten und so, wie
das Beispiel der Regierung Papen gezeigt hat, die demokratischen
Möglichkeiten der deutschen Entwicklung aufs äußerste gefährden.
Als Aufgabe der Verfassungsänderung bleibt also – vom Problem einer
vernünftigen Reichsreform einmal abgesehen – nur der Versuch übrig,
auf Grund verfassungsrechtlicher Bestimmungen alles zu tun, was den
Parteien und sozialen Verbänden ein weitgehendes Zusammenwirken
ermöglicht, und anderseits alles zu vermeiden, was die Parteien, sei es
aus eigenem Antrieb, sei es gezwungenermaßen, zu Agitationsverbän-
den herabdrückt. Von den ernsthaften Vorschlägen, die eine Wiederbe-
lebung der parlamentarischen Demokratie auf dem Wege der Verfas-
sungsreform erstreben, sind diejenigen, die dieses Ziel durch Ände-
rung des Art. 544 erreichen wollen, die gewichtigsten. Dabei geht man
von der Erwägung aus, dass eine Einschränkung der möglichen Miss-
trauensvoten gegenüber der Regierung zu einer Gesundung der parla-
mentarischen Verhältnisse führen könne und dadurch auch die Opposi-
tionsparteien veranlasst werden könnten, eine Regierung nur dann zu
stürzen, wenn sie in der Lage sind, eine neue zu bilden. Der erste in
verschiedenen Veröffentlichungen, zuletzt noch von Hans Simons5 in
den »Neuen Blättern für den Sozialismus« geäußerte Gedanke läuft
darauf hinaus, dass man das Misstrauensvotum mit einfacher Mehrheit
des Parlaments nur noch alljährlich einmal bei der Generaldebatte über
den Haushalt zulassen, im Übrigen aber sein Zustandekommen an die
Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit oder einer anderen Körper-
schaft knüpfen will. Dieser Vorschlag übersieht die Struktur des parla-
mentarischen Systems, deren wesentlichste Ausdrucksform auch heute

4 »Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des


Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muss zurücktreten, wenn ihm der
Reichstag durch ausdrücklichen Beschluss sein Vertrauen entzieht.«
5 Neue Blätter für den Sozialismus 1932, Heft II, S. 586. [Hans Simons: Verfas-
sungsreform! Wie soll sie aussehen? In: Neue Blätter für den Sozialismus, Jg. 3,
Heft 11, Potsdam 1932, S. 580-588.]

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[33.] Die Verfassungsreform [1932] 449

noch darin besteht, dass jede Regierungstätigkeit eine unmittelbare


Reaktion durch die Volksvertretung hervorrufen kann. Diese unmittel-
bare Reaktionsmöglichkeit, die ja der öffentlichen Meinung und den
Volksmassen einen sofortigen Einfluss auf jeden Regierungsakt ver-
schafft, ist eine Voraussetzung für die Existenz des Parlaments als
öffentliche Einrichtung. Ein Misstrauensvotum, das am 1. April eigent-
lich fällig ist, aber erst am 1. Januar, zu einem Zeitpunkt also, wo bei
dem kaleidoskopartigen Wandel aller unserer Institutionen der Vorfall
vom 1. April längst vergessen ist, erteilt werden könnte, entfernt das
Parlament und seine Parteien vom Volkswillen. Hierdurch würde die
Kontrolle des Parlaments über die Bürokratie – in einem Staat mit
immer weiter zunehmenden Verwaltungsaufgaben vielleicht der wich-
tigste Aufgabenkreis des Parlaments überhaupt – weitgehend
erschwert: das Parlament wäre ja genötigt, eine Blankovollmacht für
ein ganzes Jahr auszustellen.
In die gleiche Richtung, das Parlament durch eine Änderung des
Art. 54 wieder flottzumachen, zielt ein Vorschlag, den Ernst Fränkel
neuerdings in der »Gesellschaft«6 gemacht hat. Von dem Gedanken
ausgehend, dass ein Parlament nur dann das Recht zum Sturz einer
Regierung habe, wenn die Oppositionsmehrheit in der Lage sei, eine
neue Regierung zu bilden, will er eine Pflicht des Kabinetts zum Rück-
tritt nur dann festgelegt wissen, wenn die Oppositionsparteien dem
Präsidenten positive Vorschläge für die Bildung eines neuen Mehrheits-
kabinetts machen können. Dieser Gedanke, der von manchen schon
früher als geltendes Recht bezeichnet wurde,7 hat unbestreitbar den
technischen Vorteil, dass der Präsident nicht genötigt wäre, zur Auflö-
sung des Reichstags zu schreiten, sondern das nunmehrige Minder-
heitskabinett, ohne mit der Verfassung in Widerspruch zu geraten,
ruhig weiterregieren lassen könnte. Es würde also auch im Reich der
Zustand eintreten können, der in der Mehrzahl der deutschen Länder
schon lange Zeit besteht. Die Regierung besitzt zwar ein effektives
Misstrauensvotum der Volksvertretung, regiert aber als geschäftsfüh-
rende Regierung ruhig weiter. Dieser Vorschlag hat die Folge, dass das
Parlament, das zur neuen Regierungsbildung nicht fähig wäre, eine
Kontrolle über die Tätigkeit der Regierung nicht mehr ausüben könnte.
Denn dass ein Parlament, das nicht mehr die Regierung stürzen kann,

6 Verfassungsreform und Sozialdemokratie, »Gesellschaft«, Dezember 1932. [Ernst


Fraenkel: Verfassungsreform und Sozialdemokratie, in: Die Gesellschaft, Jg. 9,
Heft 8, Berlin 1932, S. 109-124.]
7 Vergleiche [Heinrich] Herrfahrdt: Die Kabinettsbildung nach der Weimarer Ver-
fassung [unter dem Einfluss der politischen Praxis, Berlin] 1927.

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450 [33.] Die Verfassungsreform [1932]

auch nicht mehr in der Lage ist, ihre Verwaltungstätigkeit maßgebend


zu beeinflussen, tritt in fast allen deutschen Ländern mehr und mehr
hervor. Theoretisch würde diesem Parlament freilich das ungeschmä-
lerte Recht der Gesetzgebung bleiben. Praktisch aber erscheint es ziem-
lich ausgeschlossen, dass ein zur Regierungsbildung unfähiges Parla-
ment seine Gesetzgebungsbefugnis auszuüben imstande wäre.
In die gleiche Richtung, trotz seiner Arbeitsunfähigkeit die Institution
des Parlaments und damit ein verfassungsmäßiges Funktionieren des
Staatsapparates aufrechtzuerhalten, zielt ein weiterer Vorschlag von
Fränkel. Bekanntlich war der Reichspräsident, wollte er seine Notver-
ordnungen nicht preisgeben, gezwungen, den Reichstag vor dessen
Eintritt in die sachliche Beratung aufzulösen. Man musste so zu einer
immer weitherzigeren Interpretation des die Auflösung enthaltenden
Artikels 25 der Reichsverfassung schreiten, um dem Recht des Reichs-
tages, gemäß Artikel 48, Absatz 3 RV die Aufhebung der Notverord-
nungen zu verlangen, zuvorzukommen. Fränkel lehnt nun zwar die
von manchen empfohlene8 Einschränkung dieses Rechtes ab. Er
bemerkt richtig, dass eine Bestimmung, die dem Reichstag das Recht
zur Aufhebung von Notverordnungen nur dann geben will, wenn die-
ser gleichzeitig die notwendigen Ersatzgesetze beschließt, nur eine
Quelle neuer endloser Verfassungsstreitigkeiten bilden würde. Stattdes-
sen schlägt er eine Erweiterung des Artikels 73 der Reichsverfassung
vor. Dort ist bestimmt, dass der Reichspräsident ein vom Reichstag
beschlossenes Gesetz vor seiner Verkündung binnen einem Monat zum
Volksentscheid stellen kann. Fränkel will nun diese Bestimmung dahin-
gehend erweitert wissen, dass der Reichspräsident auch bei einem
Reichstagsbeschluss, der darauf zielt, eine Notverordnung aufzuheben,
berechtigt sein solle, einen Volksentscheid herbeizuführen. Auch hier
entfällt dann die Notwendigkeit für den Reichspräsidenten, den
Reichstag aufzulösen, bevor dieser einen Beschluss über die Aufhe-
bung der Notverordnung fassen kann. Hierdurch würde zweifellos für
den Reichspräsidenten ein gewisser legaler Spielraum gewonnen, der
praktisch jeder Notverordnung eine verfassungsmäßige Unaufhebbar-
keit von mindestens 3 bis 4 Monaten sichern würde. Sieht man aber
von diesem Zeitgewinn einmal ab, so drängt gerade dieser Vorschlag
dazu, das verfassungsmäßige Verhältnis zwischen Exekutive und
Legislative zum Bruch zu bringen. Denn bei diesem Volksentscheid
bestehen zwei Möglichkeiten: entweder – und dies ist nach den reich-

8 Vergleiche [Eugen] Schiffer: Die neue Verfassung des Deutschen Reichs[. Eine
Politische Skizze], Berlin 1932, dessen Artikel 15 einen sehr weitgehenden Vor-
schlag in dieser Richtung enthält.

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[33.] Die Verfassungsreform [1932] 451

haltigen Erfahrungen, die wir mit den autoritären Reichstagsauflösun-


gen gemacht haben, der wahrscheinlichere Fall – finden sich über 22
Millionen der Bevölkerung, ihren insoweit einheitlichen Parteiparolen
folgend, zusammen, um gegen den Reichspräsidenten zu votieren;
oder aber die allgemeine Lethargie erreicht einen so hohen Grad, dass
die Wahlbeteiligung zur Aufhebung der Notverordnungen nicht
genügt. Im ersten Fall werden Reichspräsident und Bürokratie, solange
die Parteien nur in der Negation sich zusammenfinden, zur Aufrechter-
haltung ihrer Notverordnung und damit zur offenen Verfassungsver-
letzung getrieben. Im zweiten Fall aber birgt gerade die Offenkundig-
keit des geringen Widerstandes der Volksmassen den höchstmöglichen
Anreiz, die faktische Diktatur auch noch in rechtliche Formen zu brin-
gen. Daher scheint auch die rechtliche Konsequenz, die Fränkel aus sei-
nen beiden Vorschlägen zieht, mindestens in ihrer faktischen Auswir-
kungsmöglichkeit recht problematisch. Er meint, dass nunmehr durch
Misstrauensvoten und parlamentarische Notverordnungsaufhebung
für den verfassungsmäßigen Gang der Regierungsgeschäfte keine
Gefahr mehr bestünde und dass deshalb der Artikel 25 der Reichsver-
fassung abgeändert werden könne. Nunmehr soll dem Reichspräsiden-
ten nur noch gestattet sein, beim Sturz des Kabinetts das Parlament mit
Hilfe des neuen, von der Parlamentsmehrheit präsentierten Reichs-
kanzlers aufzulösen. Er soll weiterhin erst dann das Recht zur Reichs-
tagsauflösung erhalten, wenn er nicht mehr in der Lage ist, die Aufhe-
bung einer Notverordnung durch das Parlament mit den Mitteln des
Volksentscheids zu bekämpfen. Hiermit wären die Prinzipien der
Demokratie gerettet. Aber diese Rettung ist doch nur sehr theoretischer
Natur. Es wird eine Verfassungspraxis sanktioniert, in der Präsident
und Bürokratie verordnen und verwalten können, solange das Parla-
ment keine positiven Mehrheitsmöglichkeiten aufweist. Hierbei bleibt
dem Parlament theoretisch die Möglichkeit, seine Machtfülle wiederzu-
erlangen, wenn es arbeitsfähig ist. Der verfassungsmäßige Spielraum
von Reichspräsident und Bürokratie wäre groß genug, um theoretisch
die ungehinderte Weiterexistenz des Parlaments und der Parteien, auch
wenn diese zu positivem Tun nicht fähig wären, zu ermöglichen.
Gewiss, für eine zeitlich begrenzte Schwierigkeit der Mehrheitsbildung
würden solche Verfassungsänderungen Garantien gegen eine Kompe-
tenzüberschreitung der Exekutive bilden. Als Dauereinrichtung ist ein
solcher Zustand unmöglich. Das arbeitsunfähige Parlament, zu einem
gesetzlichen Schattendasein verurteilt, würde bei passender Gelegen-
heit, etwa beim ersten Volksentscheid über die Aufhebung einer Not-
verordnung, unter der politischen Resignation weiter Bevölkerungs-

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452 [33.] Die Verfassungsreform [1932]

schichten zu Grabe getragen. Hieran würde sich auch dann nichts


ändern, wenn der Präsident in Zukunft im Zuge gewisser Vorschläge
nicht mehr vom Volk, sondern vom Reichstag gewählt würde. Denn
hier handelt es sich, wie man nicht verkennen sollte, keineswegs in ers-
ter Linie um eine Personenfrage. In diesem Entwicklungsprozess
würde der Präsident, je nach persönlicher Stellung und Eignung, eine
mehr oder minder aktive Rolle spielen. Er könnte selbst mehr vorwärts-
treiben oder mehr der Getriebene sein, ohne dass hierdurch eine Ände-
rung des Gesamtbildes eintreten würde.
Diese Fragenkomplexe mussten hier anhand konkreter Änderungsvor-
schläge ausführlicher erörtert werden, denn dadurch ist die Beantwor-
tung der grundlegenden Frage möglich, ob durch die Änderung und
Verschiebung der organisatorischen Bestimmungen innerhalb einer
bestehenden demokratischen Verfassung an den politischen und sozia-
len Strukturverhältnissen etwas Entscheidendes geändert wird. Gewiss
ist es richtig, dass durch die Vorschläge, wie sie Fränkel macht, auf
einen flüchtigen Augenblick Verfassung und politische Wirklichkeit
zur Deckung gelangen. Aber im Ganzen gesehen handelt es sich um
einen aussichtslosen Wettlauf. Man kann der Diktatur nicht durch
einen demokratischen Rahmen den Drang nach einer sicheren Legiti-
mierung ihres Wirkens nehmen. Die Demokratie als Rechtsordnung,
die als Schatten der Wirklichkeit folgt, würde bei der nächsten Etappe
der Ineinssetzung von Recht und Wirklichkeit nur noch ein Schatten
der Demokratie sein. Organisatorische Änderungen der Verfassung
werden es deshalb kaum fertigbringen, die Schwierigkeit zu beheben,
die die Herstellung einer vom Mehrheitswillen getragenen Regierung
in einem Land mit in jeder Beziehung so zwiespältigen Interessen wie
Deutschland verursacht.
Es fragt sich, ob dieses Urteil auch gegenüber den Änderungsvorschlä-
gen gilt, die sich mit der Einführung einer neuen Art von Wirtschaftsver-
tretung und der Abkehr vom proportionalen Wahlrecht befassen. Die
Pläne, die auf die Einführung einer neuen Wirtschaftsvertretung hin-
zielen,9 sind nicht mit den offiziellen Plänen für die Errichtung einer
Ersten Kammer zu verwechseln. Sie unterscheiden sich von ihnen
durch den Versuch, eine den sozialen Verhältnissen Deutschlands ange-
passte Vertretung der wirtschaftlichen Interessen zu ermöglichen. Man
erhofft davon eine Auflockerung der politischen Fronten. Denn durch

9 Vergleiche etwa die insoweit charakteristischen Ausführungen von Simons, a. a.


O., S. 585. [Hans Simons: Verfassungsreform! Wie soll sie aussehen? In: Neue
Blätter für den Sozialismus, Jg. 3, Heft 11, Potsdam 1932, S. 580-588.]

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[33.] Die Verfassungsreform [1932] 453

eine Wirtschaftsvertretung, die alle Berufsgruppen in gerechter Weise


berücksichtigen könnte, wäre die Möglichkeit gegeben, einheitliche
Fronten auf bestimmten Wirtschaftsgebieten herzustellen, die im Par-
teienparlament nicht zu verwirklichen sind. Aber wer sollte ein solches
Wirtschaftsparlament errichten? Wenn die Mehrzahl der deutschen
Parteien sich zur Konstituierung eines solchen Wirtschaftsparlaments
zusammenfinden könnte, würde sie es nicht mehr benötigen; denn
dann könnten diejenigen sozialen Sachgebiete, über die ein solches
Wirtschaftsparlament in Übereinstimmung mit dem Reichstag Gesetze
erlassen könnte, von dem insoweit einigen Reichstag auch selbst
geschaffen werden. Wäre aber im Wirtschaftsparlament die politische
Bindung stärker als das sozial möglicherweise gleichgerichtete Inter-
esse der Volksvertretung, dann wäre es eine unnötige Widerspiegelung
der Volksvertretung und Komplizierung des Gesetzgebungsverfahrens.
Hinzu kommt übrigens noch, dass eine in diesem Wirtschaftsparlament
mögliche Front, nämlich die Konsumentenfront, kaum geeignet sein
dürfte, vorhandene Schwierigkeiten zu beheben. Die theoretische Spe-
kulation, als ob der Mensch in Staatsbürger und Wirtschaftswesen aus-
einanderfiele, mit der die Notwendigkeit einer besonderen Wirtschafts-
vertretung begründet werden soll, ist verfehlt. Denn es ist gerade die
spezifische Position der deutschen Parteien in der Ausgeprägtheit ihres
einheitlichen Weltbildes, ihren politischen Vorstellungskreis mit dem
konkreten Bild eines geforderten und erstrebten wirtschaftlichen
Zustands zu verbinden. Solange also die Demokratie in Deutschland
mit den ihr spezifischen Parteigebilden aufrechterhalten werden soll,
ist für eine von ihr getrennte, ihr wesensverschiedene Wirtschaftsver-
tretung kein Raum. Dass auch bei bestehender und funktionierender
Demokratie es sich als notwendig herausgestellt hat, Rechts- und Aus-
führungsverordnungen, die sich auf soziale Fragen beziehen, nicht
mehr dem Ermessen der Bürokratie anheimzustellen, sondern an die
Zustimmung einer solchen Wirtschaftskörperschaft zu knüpfen, sei nur
am Rande bemerkt, bedarf aber übrigens keiner Verfassungsänderung;
es handelt sich hier um ein Stück Einflussmöglichkeit, das durch ent-
sprechende Vorbehalte der einzelnen Gesetze der Bürokratie abgewon-
nen werden kann.
Eine Wahlrechtsreform, deren Hauptziel die Abschaffung des Proporz-
systems, die Wiedereinführung des Einmannwahlkreises mit Stichwahl
ist, mag sicher manche Vorteile bieten. Aber diese Vorteile weisen nicht
in die Richtung der Wiederherstellung einer aktionsfähigen Demokra-
tie. Die Möglichkeit, eine Regierung durch demokratische Mehrheit zu
bilden, wird in Deutschland durch die Abschaffung des Proportional-

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454 [33.] Die Verfassungsreform [1932]

wahlrechts nicht gefördert. Zwar würden hierdurch alle kleineren Par-


teien in Wegfall kommen, und lediglich die Deutschnationalen könnten
in einigen östlichen Agrarprovinzen einige nicht ins Gewicht fallende
Mandate gewinnen. Ein oder zwei Arbeiterparteien und die National-
sozialistische Partei würden weiterexistieren; die katholische Partei, die
bei der konfessionell bestimmten Geschlossenheit ihrer Rekrutierungs-
gebiete und bei der unüberbrückbaren Kluft zwischen den anderen
Parteien durch ein solches Wahlrecht begünstigt würde, würde wiede-
rum zum ausschlaggebenden parlamentarischen Faktor werden. Eine
grundsätzliche Änderung der gesamtpolitischen Situation würde aller
Wahrscheinlichkeit nach nicht eintreten, umso mehr, als durch die
geringere Zahl der Parteien die unüberbrückbaren Divergenzen der
weltanschaulich und sozial verschieden strukturierten Parteien hier
noch mehr in den Vordergrund rücken würden. Demgegenüber stehen
möglicherweise einige positive Wirkungen einer solchen Wahlrechtsän-
derung, die aber nicht auf eine Erleichterung der demokratischen
Regierungsbildung hinzielen. Auf Nachbarparteien von annähernd
gleicher sozialer Struktur mag so ein Zwang zur Verständigung ausge-
übt werden, wie dies der leidenschaftliche Bekämpfer des deutschen
Proportionalwahlsystems, der verstorbene Chefredakteur der »Wiener
Arbeiter-Zeitung«, Friedrich Austerlitz,10 mit Bezug auf die Sozialdemo-
kratische und Kommunistische Partei Deutschlands erwartete. Es wird
auch innerhalb der Parteikörperschaften selbst, durch die Verkleine-
rung der Wahlkreise und die dadurch den Wählern gegebene Möglich-
keit, individuelle Vergleiche zwischen den zwei oder drei in Betracht
kommenden Wahlbewerbern anzustellen, für eine Verbesserung des
Funktionärbestandes gesorgt. Man darf allerdings auch diese Auslese-
funktion nicht allzu sehr überschätzen; denn der Wähler wird auch
dann seine Auswahl regelmäßig mehr nach sozialen und weltanschau-
lichen, als nach persönlichen Gesichtspunkten vornehmen. Aber selbst
wenn man die Verbesserung der innerparteilichen Auswahlprinzipien
und die ungeheuer wichtige Möglichkeit einer Annäherung der beiden
Arbeiterparteien mit in Betracht zieht, eine Verlagerung der politischen
Kräfte wird auch hierdurch nicht stattfinden.11

10 Vergleiche den Aufsatz über Proportionalwahlrecht, in der »Gesellschaft«,


Oktober 1931. [Friedrich Austerlitz: Über und gegen das Proportionalwahlrecht,
in: Die Gesellschaft, Jg. 8, Heft 10, Berlin 1931, S. 298-310.]
11 Vergleiche die sehr vorsichtig abwägende Stellungnahme von Leibholz in der
Sondernummer des Reichsverwaltungsblattes zur Reform der Reichsversiche-
rung, Heft 47, S. 930 f. [Gerhard Leibholz: Die Wahlreform im Rahmen der Ver-
fassungsreform, in: Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt,
Band 53, Berlin 1932, S. 927-930.]

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[33.] Die Verfassungsreform [1932] 455

Als letzte bisher kaum erörterte Möglichkeit einer demokratischen Ver-


fassungsänderung bliebe der Versuch, die Bestimmungen über Volksbe-
gehren und Volksentscheid so zu ändern, dass durch das unmittelbare
Volksgesetzgebungsverfahren die Möglichkeit aktiven Eingreifens
organisierter Volksteile verwirklicht werden kann. Dies ist bekanntlich
heute aus verschiedenen, in den Verfahrensvorschriften der Reichsver-
fassung begründeten Ursachen nicht der Fall. Man müsste also die
heute einem wirksamen Volksentscheid praktisch entgegenstehenden
Hindernisse beseitigen. Ein solches Hindernis stellt der Ausschluss der
Haushalts- und Abgabengesetze vom Volksgesetzgebungsverfahren
dar. Bei der Ausdehnungsfähigkeit dieser Rechtsbegriffe werden so
viele Volksbegehren überhaupt unmöglich gemacht, zumal da der
Reichsregierung das Entscheidungsrecht über die Zulässigkeit eines
Volksbegehrens zusteht und hierdurch die Möglichkeit einer Zulas-
sungsverweigerung, mindestens aber – wie die Geschichte des jüngsten
von der Sozialdemokratischen Partei eingebrachten Volksbegehrens
zeigt – die Möglichkeit unbegrenzter Verschleppung besteht. Weiterhin
müsste das Verfahren dadurch abgekürzt werden, dass man davon
absieht, in allen Fällen erst ein Volksbegehren vorangehen zu lassen. Es
ist nicht einsichtig, warum Parteien, die bei der letzten Reichstagswahl
über 15 Prozent der Wählerstimmen aufgebracht haben, erst im Volks-
begehren den Nachweis der zehnprozentigen Beteiligungsquote erbrin-
gen müssen. Weiterhin müsste man bei verfassungsändernden Geset-
zen – und jede Regierung wird behaupten, dass eine ihr unbequeme
Volksvorlage verfassungswidrig sei – sich mit der Zustimmung der
Hälfte derer, die an der letzten Reichstagswahl teilgenommen haben,
begnügen und damit den Ballast der Nichtwähler auch für das Volks-
gesetzgebungsverfahren beiseiteschieben. Schließlich müsste man sich
entschließen, die bisher obligatorische Einschaltung des Reichstags in
das Volksgesetzgebungsverfahren in eine fakultative zu verwandeln
und ihm nur das Recht zu geben, bis zur Beendigung des Verfahrens
den Volksentscheid durch ein mit dessen Inhalt übereinstimmendes
Parlamentsgesetz überflüssig zu machen. Hiermit wäre der Umkreis
der Reformen beschrieben, durch die das Volksgesetzgebungsverfahren
faktisch realisiert werden könnte. Aber würde hierdurch wirklich das
Ziel erreicht, die divergierenden Parteien einander näher zu bringen?
Würde es einen Druck von unten geben können, der nicht nur im
Volksgesetzgebungsverfahren die Parteien zusammenzwingt, sondern
sie auch zu weiterem gemeinsamem Handeln bringt? Gewiss, die hem-
mungslose Ausnutzung des so erleichterten Verfahrens durch eine poli-
tische Partei könnte für diese einmal einen überraschenden Erfolg brin-

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456 [33.] Die Verfassungsreform [1932]

gen; eine geschickte Benutzung dieses Verfahrens könnte vielleicht


auch erreichen, dass eine andere Partei zur Vermeidung eines ihr
wegen seiner politischen Rückwirkungen unerwünschten positiven
Ausgangs eines solchen Entscheids ein inhaltgleiches parlamentari-
sches Gesetz einbringt. Aber das große Problem eines kontinuierlichen
Zusammenwirkens der politischen Kräfte zur planvollen Umgestaltung
der sozialen Verhältnisse wäre durch die Möglichkeit solcher Einzelak-
tionen seiner Lösung nicht viel näher gebracht.
Verfassungsprognosen leiden an der Schwierigkeit und Unlösbarkeit
des verfassungsrechtlichen Zurechnungsproblems. Zwar ist es möglich,
allgemeine Aussagen über die großen staatstheoretischen Prinzipien
der Demokratie, der absoluten Monarchie und der Feudalaristokratie
zu machen und sie bestimmten geschichtlichen Erscheinungen zuzu-
ordnen. Welche einzelnen Verfassungseinrichtungen aber vielleicht den
Anlass oder Ansatzpunkt größerer Umwälzungen bilden, welche Insti-
tution vielleicht blutige Auseinandersetzungen innerhalb eines Staates
hätte vermeiden können, ist für den rückwärtsschauenden Betrachter
schwer, für den verfassungspolitisch für die Zukunft bauenden unmög-
lich zu ergründen. Denn innerhalb einer gegebenen Rechtsordnung ist
es eine Frage des historischen Zufalls, welche Macht von einer einmal
gegebenen Verfassungsinstitution Gebrauch macht und sie nützt. Ob
zum Beispiel ein neues Wahlrecht nicht die legale Besitzergreifung
einer auch noch so geringfügigen faschistischen Mehrheit herbeiführen
und damit indirekt die Wirkung haben würde, die Grundlagen der
Demokratie endgültig zu zerstören, lässt sich ebenso wenig im Voraus
beantworten wie die Frage, welchen sozialen Mächten im Einzelfall
eine Änderung des Wahlmodus für das Reichspräsidentenamt zum
Vorteil gereichen würde. Nur so viel lässt sich mit Bestimmtheit sagen:
Eine Verfassung, die auf Schritt und Tritt Gefahr läuft, dass ihre jetzigen
oder zukünftigen organisatorischen Positionen dazu missbraucht wer-
den, die Demokratie selbst zu zerstören, leidet nicht an Fehlern, die
Verfassungsreformen zu ändern vermögen. Gewiss wird die Arbeiter-
klasse die Grundinstitutionen der Demokratie, als da sind geheimes
und gleiches Wahlrecht, das Vorhandensein einer darauf aufbauenden
Repräsentativkörperschaft, die persönlichen und die sozialen Freiheits-
rechte, jederzeit verteidigen. Der Grad der Ergiebigkeit, die weitere
Ausgestaltung und Verbesserung dieser Einrichtungen hängen aber,
wie uns die Erfahrung immer wieder zeigt, von der Richtung und
Schnelligkeit des sozialen Umformungsprozesses ab, in dem wir uns
gegenwärtig befinden. Die auseinandergehenden sozialen Auffassun-
gen und Interessen, mehr aber noch die gegenwärtige Disproportionali-

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[33.] Die Verfassungsreform [1932] 457

tät zwischen den großen sozialen Organisationen und den Inhabern der
wirtschaftlichen, polizeilichen und militärischen Kommandogewalt ist
es, die in Wahrheit auf die Demokratie zerstörend einwirken. Konkrete
Schäden einer bestehenden, von der überwiegenden Mehrzahl aller
Staatsbürger im Grunde bejahten Gesellschaftsordnung mag man
durch die Einführung neuer oder die Abschaffung veralteter Verfas-
sungsbestimmungen beseitigen. In Deutschland aber handelt es sich –
sieht man einmal von der Reichsreform ab, von der es im Übrigen noch
sehr fraglich ist, ob ihre endgültige rechtliche Gestalt nicht auch erst im
Gefolge der sozialen Neuordnung gefunden werden kann – im Grunde
um etwas anderes. Hier geht es nicht um Probleme, die primär eine
neue Verfassungsordnung zu lösen vermöchte. Hier liegt auch der tief-
greifende Unterschied zu der Situation, die dem deutschen Bürgertum
in dem zweiten Drittel des letzten Jahrhunderts gestellt und von ihm
nicht bewältigt wurde. Dort ging es darum, für eine an sich unproble-
matische Gesellschaftsordnung die zugehörigen politischen Formen zu
finden. Heute aber geht es um die Neuordnung der gesellschaftlichen Ver-
hältnisse selbst. An sich bietet hierfür die Demokratie eine durchaus
brauchbare Rechtsform, da hier der staatliche Wille dem souveränen
Volk entspringt und es keine andere Legitimitätsvoraussetzung außer-
halb dieses souveränen Volkswillens gibt. In dem Augenblick aber, in
dem einzelne Gruppen nicht mehr geneigt sind, sich diesem Volkswil-
len zu unterwerfen, und damit die Voraussetzungen der Demokratie
zerstören, wäre eine Reform der Demokratie ein unzulängliches Aus-
hilfsmittel. Dann eben muss der Durchbruch neuer sozialer Formen erst
wieder die Voraussetzung für die Demokratie überhaupt neu erschaf-
fen.

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458

[34.]
Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und
Legitimität«*
[1933]

Unter dem Titel »Legalität und Legitimität« behandelt Carl Schmitt


Konstruktionsprinzipien der Weimarer Verfassung sowie Gegenwart
und Zukunft der realen verfassungsrechtlichen deutschen Verhältnisse
überhaupt.1 In einem großen Teil seiner Ausführungen sucht Schmitt
zu beweisen, dass ein Widerspruch zwischen der Rechtfertigungsmög-
lichkeit der Demokratie einerseits und bestimmten in dieser Verfassung
enthaltenen oder aus ihrer Anwendung sich ergebenden Elementen
andererseits bestehe. Die Scheidung der Ebene der Rechtfertigung eines
bestimmten Normensystems und der Ebene der politischen Realität
wird dabei von Schmitt nicht unbedingt vollzogen. Die Sphäre der poli-
tischen Sollensideen mit den Kategorien der Folgerichtigkeit und des
Widerspruchs einerseits, die Sphäre des spezifischen politischen
menschlichen Verhaltens (das die Sollensideen intendieren kann), bei
dem sich ein bestimmter Grad des »Funktionierens« des betreffenden
Normsystems in seiner Anwendung ergibt, andererseits stehen bei
Schmitt mithin in naher Berührung. Daher wird implizit von Schmitt
die Annahme gemacht, dass der Widerspruchshaftigkeit eines politi-
schen Ideensystems, das einem bestimmten Normsystem zugrunde
liegt, eine »nichtfunktionierende« Wirklichkeit bei der Anwendung die-
ses Normsystems entspreche – ein begriffsrealistisches Element seiner
Theorie.2 Da fast allen Behauptungen Schmitts eine gewisse These über
die Begründung der Demokratie zugrunde liegt, scheint ein Eingehen
hierauf geboten. Schmitt führt aus, Demokratie, definiert als Grundsatz
der Entscheidung durch einfache Mehrheit, sei nur gerechtfertigt bei
ihrer Anwendung in einer homogenen Gesellschaft. So heißt es Seite 31:
»Die Methode der Willensbildung durch einfache Mehrheitsfeststel-

* [Co-Author Nathan Leites. Erschienen in: Archiv für Sozialwissenschaften und


Sozialpolitik, Band 68, Heft 4, Tübingen 1933, S. 457-487. – Zu diesem Text ver-
gleiche in der Einleitung S. 91-93.]
1 Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, Duncker & Humblot, [München] 1932.
2 Vergleiche Vögelin in »Zeitschrift für öffentliches Recht« XI, S. 108/109. [Eric Voe-
gelin: Die Verfassungslehre von Carl Schmitt: Versuch einer konstruktiven Ana-
lyse ihrer staatstheoretischen Prinzipien, in: Zeitschrift für öffentliches Recht,
Band 11, Wien 1931, S 89-109.]

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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 459

lung ist sinnvoll und erträglich, wenn eine substantielle Gleichartigkeit


des ganzen Volkes vorausgesetzt werden kann.« Es scheint jedoch, dass
die Homogenität, ein Seinstatbestand, in sich keine letzte Rechtferti-
gung darstellt, vielmehr das Postulat, die Demokratie solle nur in einer
homogenen Gesellschaft verwirklicht werden, nur eine Konsequenz
einer tiefer liegenden Rechtfertigung ist. Die Bedeutung dieser erfor-
derten Homogenität für die Demokratie begründet Schmitt des näheren
in seiner Verfassungslehre3 durch den Rückgriff auf die Gleichheitsfor-
derung, die die Voraussetzung jedweder Demokratie zu bilden habe.
Demgegenüber muss daran festgehalten werden, dass die Gleichheit
allein die Demokratie nicht rechtfertigen kann; aus der Gleichbewer-
tung und dem Willen der Gesellschaftsmitglieder geht noch nicht her-
vor, dass die Mehrheit dieser Willen entscheiden soll.4 Da Schmitt eine
solche Konstruktion versucht, muss notwendigerweise bei ihm der
Satz: »Mehrheit entscheidet«, sinnlos sein.5 Vielmehr wird dieses Prin-
zip erst einsichtig, wenn die Forderung der Gleichheit in der der Frei-
heit, definiert als jeweilige Übereinstimmung des ungehindert gebilde-
ten Subjektwillens mit dem Staatswillen, derart aufbewahrt wird, dass
die Freiheitsforderung die Gestalt annimmt, es sollen möglichst viele
frei sein.6
Des vieldeutigen Begriffs Freiheit bedient man sich in der Verfassungs-
theorie zur Bezeichnung zweier wohl historisch eine relativ lange
Dauer hindurch zusammen vorgefundener, darum aber nicht minder
voneinander verschiedener Bereiche. Zunächst kann sich der Begriff
der Freiheit auf den Prozess der Normkreation beziehen. Dann aber
auch auf das Verhältnis von Norminhalten zu individuellen Lebensbe-
reichen. In der bisher erörterten Bedeutung handelt es sich, wie ersicht-
lich, um die erste Sphäre. Freiheit sei in dieser Bedeutung »politische
Freiheit« (Freiheit im Staat), Freiheit, in Beziehung auf die zweite
Sphäre, individuelle Freiheit (Freiheit vom Staat) genannt. Diese indivi-
duelle Freiheit, zu der herkömmlicherweise sowohl diejenigen Freihei-

3 Carl Schmitt, Verfassungslehre, [München/Leipzig] 1928, S. 169 und 235.


4 [Hans] Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl.[, Tübingen] 1929,
S. 9.
5 [Carl Schmitt:] Verfassungslehre, [München/Leipzig 1928,] S. 278.
6 Über Freiheit und Gleichheit als Strukturprinzipien der Demokratie vergleiche
die ausführlichen Erörterungen bei [Vladomir] Starosolsky, Das Majoritätsprin-
zip, Wien und Leipzig 1916, S. 84 ff. Neuerdings etwa die Bemerkungen bei [Diet-
rich] Schindler, Verfassungsrecht und soziale Struktur, [Zürich] 1932, S. 133. Ver-
gleiche insbesondere G. Salomon, Verhandlung des deutschen Soziologentages,
S. 106-109. [Gottfried Salomon: Verhandlungen des 5. Deutschen Soziologentages
vom 26. bis 29. September 1926 in Wien, Tübingen 1927.]

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460 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]

ten gerechnet werden, die die Freiheit des Einzelnen, als auch die, die
die Freiheit der Gruppenbildung garantieren, besitzt nun Wirkungen
von zweierlei Art. Einmal sichert die individuelle Freiheit die Ungehin-
dertheit der politischen Willensbildung. In dieser Funktion sei sie
staatsbürgerliche Freiheit genannt. Zu den staatsbürgerlichen Freihei-
ten gehören etwa die Pressefreiheit, die Freiheit der Meinungsäuße-
rung, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.7 Sie bilden die not-
wendige Ergänzung zu den sogenannten politischen Rechten, die als
Wahlrecht und Recht auf gleichen Zutritt zu den Ämtern selbstver-
ständliche Bestandteile der Freiheit im Staat, das heißt des politischen
Willensbildungsprozesses in der Demokratie sind.8 Zum andern aber
sind diese individuellen Freiheitsrechte die Voraussetzung der privaten
Freiheitssphäre des Einzelnen. Hierfür sind in erster Linie Eigentum
und Religionsfreiheit zu nennen, wobei aber auch die anderen Frei-
heitsrechte, soweit sie nicht politischen Zwecken dienen, hierher gehö-
ren.9 Eine Koexistenz aller drei Freiheiten, der politischen, staatsbürger-
lichen und privaten, ist historisch keineswegs immer gegeben.10 »Politi-
sche Freiheit« in der engen Bedeutung, die man mitunter mit dem
Begriff der demokratischen Grundrechte verbindet,11 ist auch in nicht-
demokratischen Staaten zum Teil vorhanden (Italien). Der Demokratie

7 Von der These aus, dass erst bei einer »menschenwürdigen« Existenz eine Aus-
übungsmöglichkeit der politischen Freiheit bestehen könne, erweitert sich der
Kreis der staatsbürgerlichen Freiheiten beträchtlich; vergleiche Luiz Jimenez de
Azua, Vorsitzender des Verfassungsausschusses der Cortes. Vergleiche Zeitschr.
für ausländisches öffentl. Recht III, 3, 377. [Luis Jiménez de Asúa: Die Verfas-
sung der Spanischen Republik, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches
Recht, Band 3, Teil 1, Berlin 1933.]
8 Ihre Beziehungen zur »Autonomie« und »Selbstverantwortlichkeit des Indivi-
duums« sind angedeutet bei Pribram, Verhandl. d. 5. deutschen Soziologenta-
ges, S. 100. [Karl Pribram: Verhandlung des 5. deutschen Soziologentages,
Tübingen 1927.]
9 Über die notwendige Organisation dieser Freiheit in der Demokratie vergleiche
[Heinz Otto] Ziegler, Die moderne Nation,[ Tübingen] 1931, S. 237. Freilich ist
die dort vertretene These, dass die Demokratie anstelle der Freiheit des Indivi-
duums die »Freiheit des Kollektivs« setze, nur sehr bedingt annehmbar, weil
eben jede notwendige Organisierung der Freiheit bestimmte Möglichkeiten
garantiert, dem Kollektiv der Majorität sich zu entziehen und ihm gegenüberzu-
treten.
10 Über die Verschiedenartigkeit der Freiheitsbegriffe und die Möglichkeit ihres
Auseinanderfallens vergleiche [James] Bryce, Modern Democracies, [New York]
1921, Band 1, S. 60 ff.; [Harold J.] Laski, Liberty in the modern State, London
1930, erkennt wohl die verschiedenartigen Funktionen der Freiheit, ohne von
seinem pluralistischen Ausgangspunkt aus scharfe Unterscheidungen vorzu-
nehmen; vergleiche auch seine Ausführungen in: »A grammar of politics«,
[London 1930,] S. 146 ff.
11 Vergleiche etwa die Aufzählung bei Schmitt, Verfassungslehre,[ München/Leip-
zig 1928,] S. 168/69, Hbd. DStR. Bd. 2 S. 594 [Carl Schmitt: § 101. Inhalt und

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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 461

eigen ist die spezifische Verbindung von voller politischer und staats-
bürgerlicher Freiheit, die erst die Voraussetzung für eine ungehinderte
Willensbildung schafft. Einen notwendigen Bestandteil der Demokratie
stellt dagegen die private Freiheit nicht dar, wie umgekehrt sowohl das
Gegebensein der privaten wie auch in einem gewissen Umfang der
staatsbürgerlichen Freiheit historisch unabhängig von dem Vorhanden-
sein der politischen Freiheit ist.12 Im Schmitt‘schen Freiheitsbegriff wird
vorwiegend auf die individuelle Freiheit abgestellt, wobei diese in die
Freiheitssphäre des isolierten Einzelnen und in die Freiheitssphäre des
Einzelnen mit anderen Einzelnen geschieden wird. Da Schmitt die Frei-
heitssphäre im Sinne der staatsfreien Sphäre13 des Individuums auf-
fasst und nicht nach ihrer Beziehung oder ihrer Beziehungslosigkeit
zur Meinungsbildung und damit – in der Demokratie – politischen Wil-
lensbildung fragt, tritt der Unterschied zwischen staatsbürgerlicher
und privater Freiheit nicht hervor, wobei ja in unserem Sinne private
Freiheit lediglich durch eine bestimmte Intention des individuellen Ver-
haltens bezeichnet wird, gleichgültig, ob diese Intention vom Einzelnen
allein oder im Zusammenhang mit andern Einzelnen verfolgt wird. Die
politische Freiheit wird bei Schmitt zwar ihrem Umfang nach gekenn-
zeichnet, erhält aber ihre Bedeutung erst durch die Beziehung auf die
Gleichheitsforderung, als deren Korrelat sie erscheint. Dabei wird also
die Doppelfunktion jenes in sich heterogenen Vorstellungskomplexes,
der mit dem Wort Freiheit bezeichnet wird, nicht gewürdigt, nämlich
einerseits Begründung der von der demokratischen Organisation erfor-
derten staatsbürgerlichen Freiheit, andererseits Begründung privater
Freiheit zu sein. Daraus ergibt sich in der Weise, wie dies Kelsen14 aus-
geführt hat, »Mehrheit entscheidet« als institutionelle Garantie eines
größeren Freiheitsmaßes, als es ein anderer Abstimmungsmodus erge-
ben würde. Dabei ist davon auszugehen, wie auch Rousseau es dar-
stellt,15 dass Sonderinteressen mit dem Tatbestand der Gesellschaft

Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, in: Gerhard Anschütz,


Richard Thoma (Hg): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen
1930/32, S. 572-606]; neuestens [Franz L.] Neumann, Koalitionsfreiheit und
Rechtsverfassung,[ Berlin] 1932, S. 16.
12 Über die Koinzidenz von Absolutismus und individueller Freiheit vergleiche
die Bemerkung von Tönnies in »Demokratie und Parlamentarismus«, Schmol-
lers Jahrb. Bd. 51 S. 7. [Ferdinand Tönnies: Demokratie und Parlamentarismus,
in: Schmollers Jahrbuch, Band 51, Heft 2, München/Leipzig 1927, S. 173-216.]
13 Vergleiche dazu noch neustens Carl Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle
Garantien der Reichsverfassung, [in: Ders. (Hg.): Rechtswissenschaftliche Bei-
träge zum 25jährigen Bestehen der Handels-Hochschule Berlin, Berlin] 1931,
S. 27 ff.
14 [Hans] Kelsen, Wesen und Wert der Demokratie,[ Tübingen 1920,] S. 9-10.
15 Vergleiche: [Jean-Jacques Rousseau,] Contrat social II, 3.

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462 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]

immer gegeben sind. Es ist allerdings zuzugeben, dass, je geringer der


Bereich der Sonderinteressen ist – und nur um quantitative Verschie-
bungen kann es sich hier handeln –, desto geringer auch der Bereich
der möglichen Unfreiheit ist; denn dann sind die möglichen Meinungs-
verschiedenheiten und damit auch die Möglichkeit des Überstimmt-
werdens desto geringer. Eine völlige Aufhebung der Meinungsver-
schiedenheiten ist jedoch nur als Utopie denkbar, weil hier die Aufhe-
bung des Tatbestands der Individualität impliziert wäre. Nimmt man
den evidenten Satz an, dass die Anerkennung eines Wertes auch dann
zum Bemühen um den angesichts des Realitätswiderstandes und der
etwaigen Kollisionen mit anderen Werten höchstmöglichen Realisie-
rungsgrad verpflichtet, so folgt daraus für unseren Fall: Wenn ein belie-
big hoher Grad von Heterogenität der Gesellschaft feststeht, muss, falls
nur der Freiheits- und Gleichheitswert anerkannt ist, auch in einer sol-
chen Gesellschaft nach dem Modus seiner maximalen Verwirklichung
gestrebt werden. Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, den
Nachweis zu versuchen, dass diese Rechtfertigung der Demokratie die
historisch dominierende ist und demnach auch der Reichsverfassung
zugrunde gelegt werden muss: lag doch ihr Pathos in ihrer Selbstlegiti-
mierung als freiester Verfassung der Welt. Zum Nachweis soll nicht nur
auf die oft zitierte Rede eines zeitgenössischen, für die damalige Zeit
keineswegs radikalen Politikers, des damaligen Reichsinnenministers
David, hingewiesen werden, sondern auf die Präambel der Verfassung
selbst, die davon spricht, dass das deutsche Volk sein Reich in Freiheit
und Gerechtigkeit erneuern und festigen wolle.16
Die hier gegebene Rechtfertigung ist allerdings nur eine aus der Viel-
heit der möglichen. Diese lassen sich in zwei Gruppen teilen, von
denen die eine das demokratische Organisationsprinzip unabhängig
von dem sachlichen Charakter der durch es verwirklichten Entschei-
dungen aus bestimmten »formalen« Werten (Freiheit und Gleichheit)
rechtfertigt, die andere dieses Organisationsprinzip deshalb rechtfer-
tigt, weil es und nur es solche Sachcharaktere der Entscheidungen ver-

16 Es handelt sich um die Rede vom 31. 7. 1919, 71. Sitzung, 2195 C. Die Präambel
wird heute bekanntlich in weiterem Umfang zur Verfassungsinterpretation her-
angezogen, wofür etwa die Äußerungen von [Hans] Liermann, Das deutsche
Volk als Rechtsbegriff,[ Berlin] 1927, S. 166 ff., ein Beispiel geben können. Ver-
gleiche vor allem [Rudolf] Smend, Verfassung und Verfassungsrecht,[ München
1928,] S. 8,9. Für die staatstheoretische Interpretation der demokratischen Prin-
zipien sei auf die Bedeutung hingewiesen, die Richard Thoma, Handbuch des
Deutschen Staatsrechts (HbdDStR.) Bd. 2, S. 190, Freiheit und Gleichheit im Sys-
tem der Demokratie zuweist. [Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg): Hand-
buch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen 1930/32.]

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ursacht, die wegen ihrer Sachrichtigkeit gebilligt werden. Der Auffas-


sung Rousseaus und anscheinend auch Kelsens liegt neben der ersten
Begründung auch die zweite zugrunde.17
Schmitt lehnt die Demokratie unter anderem auch mit der Begründung
ab, dass »wer diese Mehrheit (nämlich die 51prozentige) hat, nicht
mehr Unrecht tun würde, sondern alles, was er tut, in Recht und Lega-
lität verwandeln würde. Mit solchen Konsequenzen führt das Prinzip
eines inhaltslosen funktionalistischen Legalitätsprinzips sich selbst ad
absurdum« (S. 33). Es scheint hier eine quaternio terminorum des Wor-
tes Unrecht vorzuliegen; zwar würde eine 51prozentige Mehrheit im
vorausgesetzten parlamentarischen Gesetzgebungsstaat dann keine
Rechtswidrigkeit begehen, wenn sie beliebige materielle Normen in
Übereinstimmung mit den im Augenblick existierenden Organisations-
normen schaffen würde, das verhindert aber natürlich nicht, dass diese
legalen Normen, von bestimmten Subjekten aus gesehen, den Charak-
ter der Ungerechtigkeit tragen können. Dies scheint auch der Tatbe-
stand zu sein, den Schmitt mit den wiedergegebenen Sätzen intendiert.
Die Subjekte, die die legalen Normen als ungerecht bewerten, werden
die der Minderheit sein. Für einen nichtdemokratischen Staat ist der
entsprechende Zustand dann gegeben, wenn die von dem Inhaber der
Staatsgewalt subjektiv als gerecht empfundenen18 Normen von einer
unbestimmten dissentierenden, aber hier möglicherweise über 49 Pro-
zent hinausgehenden Zahl der Untertanen als ungerecht empfunden
werden. Was also die von der Staatsgewalt selbst nicht als ungerecht
empfundenen Normen betrifft, so wäre hier zwischen demokratischem
und nichtdemokratischem Staat nur unter einer Bedingung eine Ver-
schiedenheit festzustellen, dann nämlich, wenn im nichtdemokrati-
schen Staat den dissentierenden Untertanen ein Appell an letztlich ent-
scheidende Instanzen mit der Berufung auf Ungerechtigkeit gegeben
wäre, obgleich hier natürlich das freilich unaufhebbare Problem: Quis
custodiet ipsos custodes? in unverminderter Schärfe fortbestehen
würde. Aber auch die Verfassungspraxis des Absolutismus kennt eine

17 [Jean-Jacques] Rousseau, Contrat social IV, 2; vergleiche dazu etwa Smend, a. a.


O., S. 114. [Rudolf Smend: Verfassung und Verfassungsrecht, München 1928.]
18 Über das hier nicht zu behandelnde Problem der von der Staatsgewalt selbst als
Unrecht empfundenen Normen vergleiche die Ausführungen bei [Gustav] Rad-
bruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl.,[ Leipzig] 1932, S. 82; im Rahmen eines sozio-
logisch wohl begründeten, erkenntnistheoretisch aber problematischen Wertre-
lativismus erörtert bei Thoma, HbdDStR., Bd. 2, S. 142. [Gerhard Anschütz,
Richard Thoma (Hg): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen
1930/32.]

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464 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]

Instanz dieser Art nicht.19 Im Übrigen würde die Herstellung eines sol-
chen Zustandes nicht nur die Demokratie, sondern auch die in der
Schmitt‘schen Schrift erscheinende Möglichkeit neuer Mischformen
eines autoritären und zugleich plebiszitären Staats letztlich nur in inter-
mediäre Instanzen eines auch von Schmitt nicht wertbetonten20 Juris-
diktionsstaates verwandeln.
Es sind bisher nur solche Rechtfertigungsmöglichkeiten betrachtet wor-
den, die eine unmittelbare Bejahung um ihrer selbst willen verpflich-
tender Werte in sich schließen. Die Wertbeziehung der Demokratie
kann jedoch auch mittelbar »instrumental« sein, und zwar derart, dass
sich in der Demokratie eines bestimmten Zeitpunkts wohl nicht unmit-
telbar jene Werte realisieren, aber dass doch geglaubt wird, dass die
Wirkungen der Existenz dieser Demokratie einmal dahin führen müss-
ten, diese Werte zu verwirklichen. Hierbei kann für den Endzustand
dieser Wertverwirklichung entweder die Beibehaltung der Demokratie
oder ihre Abschaffung geplant sein. In beiden Fällen wird die aktuelle
Demokratie jedoch als Mittel gerechtfertigt, während sie für die erste
Gruppe von Rechtfertigungsmöglichkeiten als Zweck erscheint. Als
Beispiel für die erste Abart der Mittelposition kann die politische Theo-
rie des Marxismus, für die zweite die Theorie des Nationalsozialismus
genommen werden.
Schmitt behauptet jedoch nicht nur, die Demokratie sei für eine hetero-
gene Gesellschaft nicht zu rechtfertigen, sondern auch, sie sei in ihr
auch nicht funktionsfähig, das heißt es könne sich in ihr kein allseitig
legales Verhalten aller ergeben (S. 43, 90). Es scheinen jedoch eine ganze
Reihe von Phänomenen vorhanden zu sein, die mit dieser These kaum
in Einklang zu bringen sein dürften. Man wird nicht behaupten kön-
nen, dass das Frankreich vom Panamakonflikt bis zum Eisenbahner-
streik im Jahre 1910 in sozialer Hinsicht durch das erst einzuordnende

19 Für Frankreich vergleiche über das »lit de justice« als unanfechtbares Rechtsmit-
tel des königlichen Absolutismus Holtzmann, Französische Verfassungsge-
schichte 1910, S. 350. [Robert Holtzmann: Französische Verfassungsgeschichte
von der Mitte des 9. Jahrhunderts bis zur Revolution, München 1910.] Der engli-
schen Verfassungsgeschichte ist sogar die Problemstellung als solche nicht
geläufig; sowohl [Albert Venn] Dicey‘s, Introduction to the study of the law of
constitution, 8. Aufl.[, London] 1915, S. 224 ff., als [Frederic] Maitland, Constitu-
tional history of England,[ Cambridge] 1908, S. 266 ff., als [Julius] Hatschek,
Englische Verfassungsgeschichte,[ München] 1913, S. 499 ff., befassen sich
anlässlich des Streits zwischen Coke und der Krone lediglich mit der Frage des
direkten Einwirkungsrechts der Krone gegen richterliche Handlungen (aber
nicht umgekehrt) und der Frage der Gültigkeit administrativer Verhaftungsbe-
fehle.
20 Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung,[ Tübingen] 1931, Kap. I.

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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 465

Proletariat und in den für das politische Bewusstsein dieser Nation


zentralen Fragen der »politique et idéologie pure« als homogene
Gesellschaft anzusehen sei. Teilten doch unablässig seit der großen
Revolution die Ideen von 1789 das Volk; wenn auch heute nach errun-
genem Siege diese Ideologien mehr die Funktion sachlicher Integration
in einer sich statisierenden Gesellschaft erfüllen, so besaßen sie doch
noch um die Jahrhundertwende in der kritischen Periode der Dritten
Republik eine große Macht. Sie hatten die Kraft tiefgreifender Spaltung,
und trotzdem wurde der demokratische Willensbildungsprozess nicht
gestört.21 In Großbritannien offenbart sich das Wachsen der Heteroge-
nität in der Transformationstendenz der Parteifronten zu Fronten aus-
gesprochener sozialer Schichtung, ein Prozess, der bekanntlich durch
die Konsolidierung der Labour Party eingeleitet wurde. Dass sich
Situationen ergeben, in denen die substantielle nationale Gleichheit als
sachliches Integrationsmittel reflexiv in Anspruch genommen wird,
könnte ebenfalls als Symptom einer Schwächung der selbstverständli-
chen Einigung durch nationale Homogenität gedeutet werden. Dieser
Vorgang ist umso bedeutsamer, als er mit der für die englische politi-
sche Geschichte beispiellosen Tatsache der »hors de la nation« Erklä-
rung einer großen Partei verbunden war und so die Ideologie der natio-
nalen Homogenität ihren Geltungsbereich nur auf einen Teil der politi-
schen Nation erstreckt wissen wollte. In Belgien scheint bisher trotz der
ausgeprägten subjektiven Heterogenität nationaler und sozialer Art,
die die belgischen Parteien zu typischen Integrationsparteien22 werden
ließ, eine ernsthafte Bedrohung der Demokratie nicht eingetreten zu
sein. Dass der Trend der Heterogenität im Allgemeinen eine Tendenz

21 Übrigens lässt das Dominieren der Problematik der Demokratie in den politi-
schen Ideologien aller Richtungen die Tatsache merkwürdig zurücktreten, dass
die demokratische Phase der Verfassungsentwicklung bisher – von U.S.A. abge-
sehen – im historischen Zeitablauf einen sehr geringen Raum einnahm. Ist doch
das gleiche Wahlrecht in Frankreich endgültig erst seit 1852, in Italien seit 1911,
in Großbritannien seit 1918 und in Belgien gar erst seit 1921 eingeführt. Die
stark gesteigerte psychische Dynamik unserer Zeit zeigt sich auch darin, dass
uns eine Institution bereits als antiquiert erscheint, deren reale historische
Bewährungsfrist erst überaus kurz ist. Vergleiche dazu die Ausführungen von
M. Jaffé über Demokratie und Partei in Arch.f. Sozw. Bd. 65, S. 106-108. [Moritz
Jaffé: Demokratie und Partei, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpoli-
tik, Band 65, Tübingen 1931, S. 101-127.]
22 Über den Begriff der Integrationspartei vergleiche Sigmund Neumann, Die
deutschen Parteien [; Wesen und Wandel nach dem Kriege, Berlin] 1932. Über
den Trend der Heterogenität in Belgien vergleiche Bourquin, Jahrb. d. öff. R.
1930, S. 187, der von einer Substitution der »ministères homogènes« durch
»ministères mixtes« spricht. [Maurice Bourquin: Les principales transformations
du droit public belge, depuis 1914, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Band
18, Tübingen 1930, S. 186-207.]

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466 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]

zum Ansteigen hat, dürfte daraus hervorgehen, dass die Inhalte der
bewusstseinsmäßigen Gleichheiten, die heute noch existieren, in wei-
tem Umfang sich mit der Realität nicht decken, ja ihren Abstand zu ihr
verbreitern; es handelt sich also in weitem Maße um eine Fundierung
der Homogenität auf Ideologien in dem zum Beispiel von Karl Mann-
heim23 diesem Wort gegebenen Sinn. Ein solches »falsches Bewusst-
sein« kann erzeugt worden sein erstens durch das Nachhinken des
»Überbaus« gegenüber den Umwälzungen des sozialen Substrats. Eine
Konstanz von Inhalten eines Bewusstseins, das sich in einem bestimm-
ten Zeitpunkt in Deckung mit der Realität befand und deshalb »richtig«
war, erhält den Charakter der »Falschheit«, wenn sich inzwischen
Änderungen der Realität vollzogen haben. Bisher war zum Beispiel das
egoistische Kalkül der Interessensolidarität infolge des grenzenlosen
Vertrauens in seine Richtigkeit in den Vereinigten Staaten in selten rei-
ner Weise ein Integrationsfaktor, dessen Mächtigkeit man am Vergleich
des Assimilationsprozesses national heterogener Gruppen in Amerika
einerseits, in Europa andererseits ermessen kann. Sollte es sich erwei-
sen, dass mit der Krise des Jahres 1929 eine neue Epoche des nordame-
rikanischen Kapitalismus ihren Anfang nimmt, so müsste erst die
Bewährung dieses zu einem Glauben verfestigten Kalküls bei dem Ein-
setzen des Realitätswiderstands eintreten; eine Bewährung, deren
Chancen evidenterweise angesichts der pragmatischen Struktur dieses
Kalküls sehr fraglich erscheinen. Mit einer bemerkenswerten soziologi-
schen Folgerichtigkeit wird deshalb jetzt in den Vereinigten Staaten die
Hoffnung auf neue prosperity als sozialer Integrationsfaktor benutzt.
Was als eine jedem einzelnen Individuum sich aufdrängende Erwar-
tungschance den sozialen Zusammenhang einst begründete, soll jetzt in
ideologisch denaturierter Form diesen Zusammenhalt erhalten.24 Eine
demokratische Ideologie kann aber nicht nur deshalb den Charakter
der »Falschheit« tragen, weil sie hinter der gewandelten Wirklichkeit
einherhinkt, sondern auch weil sie eine existierende demokratische
Wirklichkeit nach dem Bild einer vorgefassten Utopie sieht, als deren
Verwirklichung diese Demokratie fälschlich angesehen wird. Dies ist
im ideologischen Entwicklungsgang zum Beispiel weiter Schichten der

23 [Karl Mannheim:] Ideologie und Utopie,[ Bonn] 1929.


24 Über die Transformierung der ehemals realen Frontierstimmung in bewusste
Massenbeeinflussung vergleiche die instruktive Darstellung bei [Charlotte] Lüt-
kens, Staat und Gesellschaft in Amerika,[ Tübingen] 1929, S. 176 ff. Ob man nun
die »Leichenkondukte der Depression« von der Gesellschaft oder vom Staat
oder von beiden zugleich veranstaltet wissen will, in jedem Fall handelt es sich
um einen ideologischen Vorgang, bei dem die Anpassung an die Realität nur in
der Form der Maskerade vollzogen werden kann.

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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 467

europäischen Arbeiterklasse gegeben, deren eigentlich die soziale


Demokratie intendierende Bejahung sich auf die politische Demokratie
überträgt. Parallel zu der sich teilweise bereits vollziehenden, teilweise
noch zu erwartenden Schwächung der subjektiven Homogenität ist für
die Existenz der Demokratie das Problem eines Grundlagenwechsels
und damit auch einer »Grundlagenkrise« gestellt. Denn es wäre
unmöglich zu leugnen, dass die Situationen, in denen dieser Grundla-
genwechsel notwendig wird, kritische Situationen der Demokratie
sind. Aber angesichts der Schmalheit der Induktionsbasis und der
schon bei dem gegebenen Erfahrungsmaterial gegen die Behauptung
der Ausweglosigkeit der Demokratie in dieser Situation sprechenden
Phänomene erscheint die Behauptung Carl Schmitts über die Unmög-
lichkeit der Demokratie in einer heterogenen Gesellschaft nicht hinrei-
chend begründet. Denn es zeichnen sich neue Möglichkeiten in der
Realität ab, die auf ein Zunehmen der konsequenten »Mitteleinstel-
lung« zur Demokratie hinweisen. Der bewussten Mitteleinstellung der
verschiedenen sozialen Klassen zur Demokratie wurde, solange relativ
einheitliche Klasseninteressen ihren verfassungsrechtlichen Nieder-
schlag zu finden hatten, keine allzu große Beachtung geschenkt,
obwohl neuerdings Charles Beard für die Verfassungsbildung der Ver-
einigten Staaten das Zusammengehen von »money, public securities,
manufactures and trade and shipping« als Grundlage der amerikani-
schen Konstitution herausgestellt hat.25 Diese Mitteleinstellung mani-
festiert sich in den geschriebenen Normen der Verfassung heutzutage
in gewissen materiellrechtlichen Bestimmungen, etwa von der Art, wie
sie die im Wesentlichen auf der »Sozialkonvention« Legien-Stinnes
beruhende Weimarer Verfassung, neuerdings aber auch die spanische
Verfassung enthält, 26 besonders deutlich. In dieser Auffassung spiegeln
sich Einstellungen der die Verfassung tragenden Parteien zur Demo-
kratie wider, in denen diese lediglich als optimale politische Maschine-
rie einer notwendigen Willensvereinheitlichung in der heterogenen
Gesellschaft bejaht wird. Und zwar wird hier die politische Optimalität
dieser Staatsstruktur von den betreffenden Parteien darin gesehen, dass
die demokratischen Machtchancen für jede einzelne von ihnen größer

25 Charles A. Beard, An economic interpretation of the constitution of the United


States,[ New York] 1913, S. 324.
26 Vergleiche die Äußerung von Hugo Preuß im Verfassungsausschuss der Natio-
nalversammlung, Protokolle S. 185: »Bei uns herrscht eben nicht eine in sich ein-
heitliche Richtung, sondern das Zusammenwirken verschiedener Richtungen,
die aus ihren sonst auseinandergehenden Zielen einen Komplex herausnehmen
können, der eine Verbindung ermöglicht.« [Reichstagsprotokolle 1919, Verfas-
sungsgebende Nationalversammlung, Aktenstück Nr. 391, S. 185.]

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468 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]

erscheinen als die außerdemokratischen. Dieses Dominieren der Mittel-


einstellung zur Demokratie – ein stilidentisches Phänomen zur Ver-
drängung des Selbstzweck-Aspekts so vieler Dinge in der »Entzaube-
rung der Welt«27 – macht allerdings die Demokratie insofern instabil,
als bei einer Veränderung der Situation die Demokratie wesentlichen
Parteien oder sonstigen Machtgruppen nicht mehr als das zweckent-
sprechende Mittel erscheinen mag. Ein solcher Fall scheint in Deutsch-
land vorzuliegen; man könnte die Bedeutung dieser Ursache für die
jüngste deutsche Entwicklung sehr viel höher einschätzen als die von
Carl Schmitt angegebenen Krisenfaktoren.28 Eine allgemeine Aussage
über das intertemporale Häufigkeitsverhältnis von positiver und nega-
tiver Mittelbewertung der Demokratie seitens der verschiedenen
Gesellschaftsgruppen ist ersichtlich unmöglich. Die Erfahrung zeigt
jedoch, dass annähernde politische Stabilitäten sich aus der positiven
Mittelbewertung ergeben können (Deutschland 1925-1929, Belgien,
Tschechoslowakei, Australien, möglicherweise Spanien).
Wenn bis jetzt von dem Funktionieren der Demokratie in einer hetero-
genen Gesellschaft gesprochen wurde, so wurde dabei den Fragen, die
sich aus der Belastung der modernen Verfassung mit einer Anzahl
materiellrechtlicher, über den überlieferten Bestand29 von Organisati-
onsbestimmungen und Freiheitsgarantien hinausgehender Bestimmun-
gen ergeben, keine Beachtung geschenkt. Aber Schmitt behauptet über
die These von der Funktionsunfähigkeit eines rein parlamentarischen
Gesetzgebungsstaates mit den herkömmlichen Freiheitsrechten hinaus,
dass die Existenz materiellrechtlicher Bestimmungen (sei es nun, dass
sie völlig eximiert, sei es, dass sie nur durch das Erfordernis qualifizier-
ter Mehrheit bei Abänderung geschützt seien) noch einen weiteren Bei-
trag zu dieser Funktionsunfähigkeit leiste (S. 47). Bevor diese These
selbst erörtert wird, ist es am Platze, eine lediglich auf die Zwecke der
dann folgenden Ausführungen zugeschnittene Übersicht über die hier
relevanten Haupttypen der materiellrechtlichen Normen der Verfas-

27 Freilich wird diese Mitteleinstellung für diejenigen, die im Endzustand die


Demokratie bejahen, eben durch diese Tatsache der Bejahung gemildert, inso-
fern in psychologischer Unwillkürlichkeit auch hier der Mittelcharakter abge-
schwächt wird. Wesentlich ist hierbei, dass das oben behandelte Problem der
Zielrechtfertigung der Demokratie auch zum großen Teil für diejenigen besteht,
die die Demokratie in der gegenwärtigen Situation lediglich als Mittel bejahen.
28 Vergleiche die Ausführungen von Jovishoff in: Z. f. öff. R., Bd. 12, S. 625 ff.
[Albert Jovishoff: Kapitalismus und Demokratie, in: Zeitschrift für öffentliches
Recht, Band 12, Heft 4, Wien 1932, S. 609-628.]
29 Vergleiche die Ausführungen bei [Karl] Löwenstein, Erscheinungsformen der
Verfassungsänderung,[ Tübingen] 1931, S. 3.

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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 469

sung von Weimar, die Schmitt vor allem vor Augen hat, zu geben.30 Die
Normen, um die es sich hier handelt, sind einerseits solche, denen eine
unmittelbare Verpflichtung der Verwaltung und Rechtsprechung zur
Befolgung bzw. Konkretisierung entspricht (Fixierungsnormen,31 zum
Beispiel Art. 143 Abs. 3, 144, 149 RV.), andererseits solche, aus denen
sich eine solche Verpflichtung nicht ergibt. Diese können wiederum sol-
che sein, durch die eine nicht einklagbare Aufforderung an den Gesetz-
geber gerichtet wird (Programmnormen, zum Beispiel Art. 151, 161, 162
RV.), oder solche, in denen lediglich eine Ermächtigung an den Gesetz-
geber ausgesprochen wird (Ermächtigungsnormen, zum Beispiel
Art. 155 Abs. 2, 156 Abs. 1 und 2, 165 Abs. 5 RV.). Eine Ermächtigungs-
norm wird nur dann sinnvoll aufgestellt werden können, wenn ohne
sie die Zulässigkeit der in ihr gegebenen Ermächtigungen zum mindes-
ten zweifelhaft wäre; eine Programmnorm wird jedoch auch dann
einen Sinn haben – nämlich den »moralischen Druck« auf den Gesetz-
geber –, wenn die Verfassungszulässigkeit ihrer Inhalte auch ohne sie
unzweifelhaft ist. Indem die Fixierungsnormen im normgemäßen
Rechtshandeln des Staates realisiert werden, entspricht ihnen ein reales
Substrat. Den Programm- und Ermächtigungsnormen entspricht im
Falle der Nichtausführung des Programms und des Nichtgebrauchma-
chens von der Ermächtigung kein realisiertes Substrat.
Wie wirkt nun in bestimmten Verhältnissen die Existenz der einzelnen
Normtypen auf den Grad des Funktionierens der Demokratie ein? Bei
annähernd konstanter Machtverteilung erfüllen die Fixierungsnormen fol-
gende Funktion: Sie erschweren dadurch, dass sie bestimmte Sachge-
biete dem Zugriff der einfachen Mehrheit entziehen, deren Einbezie-
hung in den unmittelbar praktischen politischen Kampf. Sie vermin-
dern so die Größe der aktuellen Reibungsfläche und tendieren so zur
Erhöhung der Funktionsfähigkeit der Demokratie.32 Sie wirken, falls sie
»richtig«, das heißt den Machtverhältnissen entsprechend gewählt sind,

30 Vergleiche dazu die Typologie, die Carl Schmitt im HbdDStR, Bd. 2, § 101, gege-
ben hat. [Carl Schmitt: § 101. Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der
Reichsverfassung, in: Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg): Handbuch des
Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen 1930/32, S. 572-606.]
31 Der Begriff ist hier in weiterem Sinn gebraucht als innerhalb der Schmitt’schen
Terminologie, HbdDStR, Bd. 2, S. 604. [Carl Schmitt: § 101. Inhalt und Bedeu-
tung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, in: Gerhard Anschütz,
Richard Thoma (Hg): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen
1930/32, S. 572-606.]
32 Diese Eliminierung von Reibungsflächen kann als der Versuch, eine Sphäre
politischer Bewusstseinshomogenität freizulegen, gedeutet werden (vergleiche
den zitierten Ausspruch von Preuß) [Reichstagsprotokolle 1919, Verfassungsge-
bende Nationalversammlung, Aktenstück Nr. 391, S. 185]. Wenn man die These

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470 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]

als die Antizipation der jeweils sonst erst im politischen Kampf erziel-
baren Resultante. Die Fixierung erscheint also als die Einführung des
Planprinzips in das Konkurrenzsystem der Demokratie. Andererseits
verweigern die Fixierungsnormen einer einfachen Mehrheit, die zu
dem von ihnen garantierten Besitzstand an Institutionen in Feindschaft
steht, das Ventil der Durchsetzung ihrer Wünsche. Sie bewirken es,
dass unbefriedigte Massenstrebungen an der hier besonders weit vor-
geschobenen Schranke der Rechtsordnung scheitern und eventuell in
antidemokratischen Tendenzen einen neuen Ausdruck finden; dies
wird besonders bei einer eingetretenen Variation der sozialen Machtver-
hältnisse der Fall sein. Es ist jedoch gegenüber der zuletzt geschilderten
Wirkung der Fixierungsnormen ein beachtenswertes Kompensations-
element vorhanden. Diejenige Gruppe, die den durch die Fixierungs-
normen garantierten Institutionen verbunden ist, wird tendenziell
dadurch auch zu einem positiven Verhältnis zur Demokratie im Gan-
zen geführt. Für beide Tendenzen, die der Erhöhung und die der
Schwächung der Stabilität, bietet die verfassungsrechtliche Garantie
der Stellung der Beamten ein Beispiel. Zunächst wird durch die beam-
tenrechtlichen Garantien des Art. 129 RV (ebenso übrigens durch den
Art. 41 der neuen spanischen Verfassung) die Beutegröße und damit
die Intensität des Parteikampfes infolge der verringerten Möglichkeiten
zur Ämterpatronage verringert. Dadurch aber wird auch die legale Ein-
stellung von Parteien, die die Durchführung ihrer Ziele an eine schnelle
personelle Umbesetzung des Staatsapparates gebunden glauben, auf
eine harte Probe gestellt.
Dieselbe Wirkung geht von den Programm- und Ermächtigungsnor-
men aus, solange sie bei konstanter Machtverteilung nicht realisiert wer-
den. Hier können die möglichen Nutznießer der durch diese Normen
gewährten realen Chancen durch eben diese Chancen und durch die in
diesen Verfassungsnormen implizierte Bejahung der betreffenden ide-
ellen Werte in ein positives Verhältnis zur Demokratie gebracht werden
(Art. 156, 165 Abs. 2). Wie ist die Frage der Funktionsfähigkeit zu beur-
teilen, wenn bei variabler Machtverteilung die Realisierung der in den
Ermächtigungsnormen gegebenen Chancen von einer bestimmten

annimmt, wonach allein »Homogenität« ein Funktionieren der Demokratie


ermögliche, scheint jedoch diese Homogenität dafür nicht zu genügen. Insofern
ist die Ansicht Ernst Fränkels (Gesellschaft 1932, Heft 10, S. 308) [Ernst Fraenkel:
Um die Verfassung, in: Die Gesellschaft, Jg. 9, Heft 10, Berlin 1932, S. 297-312],
der zweite Teil der Reichsverfassung sei, was die hier betrachtete Funktion
angehe, eine conditio sine qua non ihres Funktionierens, ebenso zweifelhaft wie
die entgegengesetzte These von Carl Schmitt.

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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 471

Mehrheitsgruppe in Angriff genommen wird? Hier erhöht sich die


Funktionsfähigkeit insofern, als die gesteigerte Machtstellung der
betreffenden Gruppe in legaler Weise zustande kommt, das heißt die
Legalität der Machterweiterung gesichert ist. So wäre nach der Reichs-
verfassung ebenso wie nach der neuen spanischen Verfassung der
Übergang von einer Agrarverfassung, die noch weitgehend vom Groß-
grundbesitz bestimmt ist, zu einer solchen rein bäuerlicher Art als nor-
maler Gesetzgebungsakt möglich (Art. 155 RV., Art 44 der spanischen
Verfassung). Zusammenfassend muss gesagt werden, dass die materi-
ellrechtlichen Bestimmungen des zweiten Teils der Reichsverfassung
keine eindeutige Feststellung hinsichtlich ihrer Einwirkung auf die
Funktionsfähigkeit der Demokratie erlauben. Je nach Inhalt und sozia-
lem Milieu werden die integrierenden oder desintegrierenden Wirkun-
gen überwiegen. Mit einem »non liquet« muss man sich hier wohl auf
die Skizzierung der Möglichkeiten beschränken.
Schmitt behauptet weiter, dass durch die Einführung eines zweiten
Teils eine Veränderung der Organisationsstruktur des parlamentari-
schen Gesetzgebungsstaates eintrete, in der die Höchstinstanzlichkeit
des Parlaments zugunsten jurisdiktioneller Elemente aufgehoben
werde (S. 57, 58, 61). In der Wirklichkeit kommen – hierin ist Schmitt
beizupflichten – die geschilderten Entwicklungen vor, jedoch vor allem
dort – und das ist entscheidend –, wo die von Schmitt für sie angegebe-
nen Ursachen nicht gegeben sind. Nach Schmitt sind solche Struktur-
wandlungen gerade dann vorhanden, wenn Verfassungen mit »speziel-
len materiell-rechtlichen Verfassungsverankerungen, welche unter
[dem »]Vorbehalt[«] des verfassungsändernden Gesetzes stehen«
(S. 60), vorliegen. Der bedeutsamste Fall der Verwirklichung einer Art
von Jurisdiktionsstaat liegt jedoch in den Vereinigten Staaten vor. Sieht
man einmal vom 18. Amendment ab, so stellt diese Verfassung gerade
den Typus einer »auf die organisatorisch-verfahrensmäßige Regelung
und auf allgemeine Freiheitsrechte beschränkten Verfassung« (S. 60)
dar. Bekanntlich ist es die ihrem ursprünglichen Gehalt nach rein ver-
fahrensrechtlich ausgelegte Klausel33 des »due process of law« im 5.
und 14. Amendment, mit deren Hilfe der Supreme Court und ihm fol-

33 Vergleiche [John R.] Commons, Legal foundations of capitalism,[ New York]


1924, S. 333; neuerdings die polemische Darstellung bei Louis B. Boudin, Gov-
ernment by judiciary, New York 1932, Kapitel 33/34. Und die deutsche Darstel-
lung bei Rommen in Grundrechte, Gesetz und Richter in USA 1931, S. 89. [Hein-
rich Rommen: Grundrechte, Gesetz und Richter in den Vereinigten Staaten von
Nordamerika: ein Beitrag zur angelsächsisch-nordamerikanischen Staatsrechts-
kunde, in: Deutschtum und Ausland, Heft 42, Münster 1931.]

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472 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]

gend die Instanzgerichte eine umfassende Nachprüfungstätigkeit der


Parlamentsgesetze sowohl des Bundes als insbesondere der Staaten vor-
nehmen. Die interpretatorische Bewertung dieses jurisdiktionellen
Staatselements geht so weit, dass man nicht mit Unrecht von einer
»supremacy of the federal judiciary in matters involving persons and
property«34 spricht. In einem entsprechenden Grad wird hier die
Höchstinstanzlichkeit des Parlaments auf allen irgendwelche Eigen-
tumstitel und -chancen berührenden Gebieten faktisch beseitigt. Eine
Verminderung der Funktionsfähigkeit der so umgebildeten Organisati-
onsstruktur trat übrigens – und auch keiner der Gegner der »usurpa-
tion« des Supreme Court hat auf diesen Punkt Wert gelegt – nicht ein,
obwohl hier nicht, wie Carl Schmitt meint,35 die Gerichte »als Hüter
einer prinzipiell nicht bestrittenen Gesellschafts- und Wirtschaftsord-
nung dem Staat gegenübertreten«, sondern es sich hier um die
bewusste Schaffung eines konservativen Oberhauses36 zur Vertretung
von Eigentumsinteressen gegenüber dem aus allgemeinen Wahlen her-
vorgegangenen Parlament handelt. Während sich in den Vereinigten
Staaten so die Konturen einer jurisdiktionellen Suprematie herausgebil-
det haben, erscheint das Ausmaß, in dem in Deutschland eine Nach-
prüfung der Parlamentstätigkeit stattfindet, gering, obwohl doch hier
nach Schmitt im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten alle, aber auch
alle Bedingungen dafür gegeben wären. Hat doch in Deutschland eine
über das rein Interpretatorische hinausgehende Heranziehung von
Grundrechtsbestimmungen nur bei dem politisch nicht relevanten
Art. 131 und bei Art. 153 der Reichsverfassung stattgefunden. Die Aus-
legung des Eigentumsartikels weist allerdings gewisse Berührungs-
punkte mit der Rechtsprechung des Supreme Court auf, von der sie
sich jedoch durch die Verwendung eines viel engeren Eigentumsbe-
griffs grundlegend unterscheidet. Überdies – und das ist in diesem
Zusammenhang entscheidend – gehört gerade die Eigentumsgarantie

34 Vergleiche Charles Beard, American govemment and politics, New York 1931,
S. 49. Siehe auch die zwar sehr vorsichtige, aber im Endergebnis doch positive
Bewertung dieser Praxis in dem aufschlussreichen Aufsatz von Ernst Freund
über »constitutional law« in Encyclopaedia of the Social Sciences IV, S. 254.
[Edwin R. A. Seligman, Alvin S. Johnson (Hg.): Encyclopaedia of the Social Sci-
ences, Volume 4, New York 1931.]
35 Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung,[ Tübingen] 1931, S. 14.
36 Trotz verschiedener Bewertung wird der Tatbestand selbst nicht angezweifelt;
vergleiche Burgess in: Political Science Quarterly X, S. 420 [John W. Burgess: The
Ideal of the American Commonwealth, in: Political Science Quarterly vol. X, no.
3, New York 1895, S. 404-425]; Charles Warren in: Congress, the Constitution
and the supreme court,[ Boston] 1925, S. 176/177; kritisch Boudin, opere citato,
passim, insbesondere II, 474 ff. [Louis B. Boudin: Government by judiciary, New
York 1932.]

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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 473

nicht zu den neuen materiellrechtlichen Grundrechtsbestimmungen,


sondern zu den geläufigen Freiheitsrechten. Von der Möglichkeit, den
Art. 109 RV als den Ansatzpunkt einer jurisdiktionellen Suprematie zu
verwenden, haben das Reichsgericht und, ihm folgend, die Instanzge-
richte keinen Gebrauch gemacht.37 Gegenüber einem »Verwaltungs-
staat«, wie man mit Schmitt wohl das jüngste deutsche Notverord-
nungsregime bezeichnen kann, wird die jurisdiktionelle Nachprü-
fungsmöglichkeit ein weit höheres Ausmaß annehmen können. Es
eröffnet sich da die Perspektive einer spezifischen Verbindung von Ver-
waltungs- und Jurisdiktionsstaatselementen; aber das ist ein Prozess,
der über den Rahmen der hier behandelten Fragenkomplexe hinaus-
geht und der auch nach Schmitt zum großen Teil in einem nur durch
Gewohnheitsrecht legitimierten Widerspruch38 zu den positiven Verfas-
sungsnormen steht. Daher ist in diesem Zusammenhang auf den
gesamten Fragenkomplex, den Carl Schmitt unter dem Titel »Der
außerordentliche Gesetzgeber ratione necessitatis« (S. 70-87) behandelt,
nicht einzugehen.
Schmitt folgert nun, wie eingangs dargelegt, aus seiner Begründung
der Demokratie die Existenz einer Reihe von Widersprüchen zwischen
ihr einerseits und der Begründung einer Anzahl tragender Verfas-
sungselemente andererseits. Mit dem Aufweis, dass in einer heteroge-
nen Gesellschaft Demokratie wohl zu rechtfertigen ist, ist zugleich
erwiesen, dass für eine zu rechtfertigende Demokratie ein Anlass zur
Einführung materiellrechtlicher Bestimmungen mit der Begründung
des Schutzes spezieller Interessen am Platze sein kann. Denn Heteroge-

37 Zu dem Ganzen vergleiche die Übersicht bei Hensel in: Die Reichsgerichtspra-
xis im deutschen Rechtsleben, Bd. I, S. 1 ff. Über Art. 109 [Albert Hensel: Grund-
rechte und Rechtsprechung, in: Otto Schreiber (Hg.): Die Reichsgerichtspraxis
im deutschen Rechtsleben. Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen
Bestehen des Reichsgerichts (1. Oktober 1929) in 6 Bänden, Berlin/Leipzig 1929,
S. 2-32,] und die Rechtsprechung vergleiche die Übersicht bei Leibholz in:
Arch. f. öff. R., N. F. 9, S. 428 [Gerhard Leibholz: Höchstrichterliche Rechtspre-
chung und Gleichheitssatz, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 19, Tübin-
gen 1930, S. 428-442] und die typische Behandlung des Art. 109 durch die
höchstrichterliche Rechtsprechung in: Entscheidungen des Reichsgerichts in
Zivilsachen [RGZ], Bd. 136, S. 221.
38 Vergleiche [Carl Schmitt:] Legalität und Legitimität[, München 1932], S. 71 ff.
Darüber, dass diese Notverordnungspraxis kein Provisorium in einer bestehen-
den demokratischen Verfassungspraxis ist, sondern eine »schwebende Verfas-
sungslage«, vergleichbar der staatsrechtlichen Situation 1848/49, darstellt, ver-
gleiche Heckel in: Arch. f. öff. R., N. F., 22, S. 309. [Johannes Heckel: Diktatur,
Notverordnungsrecht, Verfassungsnotstand, mit besonderer Rücksicht auf das
Budgetrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 22, Tübingen 1922,
S. 257-338.]

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474 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]

nität schließt Schutzbedürftigkeit ein. Schmitt behauptet nun, wenn


auch in einer heterogenen Demokratie ein Anwendungsfall des Schutz-
motivs gegeben sei und die Schutzbedürftigkeit tatsächlich sehr groß
sein könne (S. 43), so schaffe die Einführung von Schutznormen doch
einen Widerspruch zwischen dem ersten Teil der Weimarer Verfassung
und seinen Begründungsprinzipien, abgesehen von Art. 76, einerseits
und ihrem zweiten Teil und dessen Begründungsprinzipien anderer-
seits. Die Begründung des ersten Teils verlange eine Unbeschränktheit
des Funktionalismus, also eine Reichsverfassung, die lediglich Organi-
sationsnormen mit Ausnahme der Garantie der Freiheitsrechte ent-
halte. Eine solche Demokratie nennt Schmitt, falls sie gesetzgebungs-
staatlichen Charakter trägt und ihren entscheidenden Ausdruck in vom
Parlament gegebenen Normierungen findet, einen parlamentarischen
Gesetzgebungsstaat (S. 7). Andererseits erfordere die dem zweiten Teil
zuzuordnende Begründung die Aufhebung des Art. 76 in Beziehung
auf ihn, und zwar so, dass er entweder völlig zu eximieren sei oder nur
durch die ständestaatlich kompetenten Organe abgeändert werden
könne.
»Folgerichtig zu Ende gedacht, müßte die Anerkennung solcher
Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit bestimmter, von der Mehr-
heit bedrohter Interessen oder Gruppen dahin führen, daß diese Inter-
essen oder Gruppen der Jeweiligkeit des Funktionalismus parlamenta-
rischer und demokratischer Abstimmungsmethoden überhaupt ganz
entzogen werden. Konsequent wäre demnach volle Exemtion mit itio in
partes oder Anerkennung des Rechts auf Exodus und Sezession« (S. 44).
Es ergibt sich also, dass Art. 76 im Widerspruch zu den Begründungs-
prinzipien nicht nur des ersten, sondern auch des zweiten Teils steht.
Schmitt schließt schlechthin die Möglichkeit eines Kompromisses zwi-
schen den Forderungen des Funktionalismus und den Forderungen des
Sachschutzes aus und verwirft insbesondere den Kompromiss von
Weimar als unvernünftig, indem er ihn als Versuch des Neutralbleibens
zwischen Neutralität und Nichtneutralität charakterisiert. Es handelt
sich hier aber nicht um eine Neutralstellung zwischen diesen Alternati-
ven schlechthin, sondern um eine Bereichsabgrenzung zwischen
erschwerter und nicht erschwerter Neutralität. Abgesehen hiervon
scheint die Folgerung, die Schmitt zieht, nämlich dass dieses Neutral-
bleiben eine Entscheidung für Neutralität, mithin ein Nichtneutralblei-
ben bedeute, nicht richtig. Schmitt fällt hier dem Pascal‘schen Irrtum
zum Opfer, den Voltaire schon korrigiert hat, »et ne point parier que
Dieu est, c’est parier qu’il n’est pas«. Voltaire bemerkt hierzu, es sei
offenbar falsch, dies zu sagen; denn der, welcher zweifle und Aufklä-

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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 475

rung suche, wette gewiss nicht, weder für noch wider. Entscheidend
aber ist: Es ist nicht einsichtig, warum es gestattet sein soll, totale Exem-
tionen, das heißt definitive Bereichseinschränkungen des Funktionalis-
mus, gegenüber jenem nach Schmitt eine Unbeschränktheit fordernden
Funktionalismus des ersten Teils vorzunehmen, nicht aber bloße
Erschwerungen in der von der Weimarer Verfassung gewählten
Gestalt. In beiden Fällen handelt es sich um Kompromisse zwischen
dem Formwert der Demokratie und bestimmten Sachwerten, wobei
sich die Weimarer Verfassung durch eine stärkere Bewertung des
demokratischen Formwerts auszeichnet. Die durchgehende Aufrechter-
haltung des demokratischen Formwerts wird ihrem Inhalt nach ledig-
lich dergestalt abgeschwächt, dass unter Beibehaltung des Abstim-
mungsverfahrens selbst dessen Modus für einen bestimmten Bereich
geändert wird. Man würde sich allerdings entschließen müssen, diesen
Einschränkungen eine Höchstgrenze zu setzen, bei deren Überschrei-
tung der erhalten gebliebene Demokratierest zu gering wäre, um sinn-
vollerweise, lediglich mit der Tatsache seiner verbliebenen Existenz, die
faktische Aufhebung der Demokratie rechtfertigen zu können.39 In
Bezug auf das System des zweiten Teils der Weimarer Verfassung wird
man wohl nicht behaupten können, dass diese Grenze erreicht sei.
Nach der hier gegebenen Begründung der Demokratie besteht somit
eine prinzipielle Vereinbarkeit der Existenz des Art. 76 mit dem zwei-
ten Teil der Verfassung unter Ausschluss des Komplexes der Freiheits-
rechte. Anders verhält es sich jedoch mit der Anwendbarkeit des
Art. 76 auf den Organisationsteil der Weimarer Verfassung. Schmitt hat
schon früher in seiner Verfassungslehre anlässlich der grundlegenden
Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz40 die Ansicht
vertreten, dass es unabänderliche Verfassungsnormen gebe, die er nach
ihrer Zugehörigkeit zu den grundlegenden Gesamtentscheidungen der
Verfassung festlegt. Wenn man die letzte Entscheidung der Demokratie

39 Wenn [Hans] Kelsen, Wesen und Wert der Demokratie[, Tübingen 1920], S. 55,
die qualifizierte Mehrheit als eine noch größere Annäherung an die Idee der
Freiheit bezeichnet, als das Majoritätsprinzip sie darstelle, so ist das wohl nur
deshalb möglich, weil Kelsen hier zugleich politische und private Freiheiten im
Auge hat. Über die Notwendigkeit dieser Unterscheidung siehe oben.
40 Carl Schmitt, Verfassungslehre[, München 1928], S. 26 ff. Vergleiche auch Bilfin-
ger in: Arch.f. öff R., N. F. 11, S. 118 [Carl Bilfinger: Verfassungsumgehung, in:
Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 11, Tübingen 1926, S. 164-191], und Natio-
nale Demokratie als Grundlage der Weimarer Verfassung,[ Halle] 1929, S. 12 ff.
Zur Literaturübersicht vergleiche Thoma in HbdDStR, Bd. 2, S. 154 [Gerhard
Anschütz, Richard Thoma (Hg): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2,
Tübingen 1930/32], und Walter Jellinek, Grenzen der Verfassungsgesetzgebung,
[Berlin] 1931.

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476 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]

in Freiheit und Gleichheit erblickt, so ergibt sich bei prinzipieller Beja-


hung der Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz aller-
dings eine andere konkrete Gestaltung der Unabänderlichkeiten, als sie
bei Carl Schmitt auftritt. Von der hier erörterten Rechtfertigung der
Demokratie ausgehend, kann man die Frage der Unabänderlichkeit
unter zwei konkurrierenden Gesichtspunkten betrachten. Das erste
Axiom könnte sein: Die Anwendung des Art. 76 darf nur zu solchen
Variationen des Normsystems führen, bei denen folgenden Bedingung-
en Genüge getan ist: Form- und Sachwertkompromisse erstrecken sich
weiterhin nur auf einen (durch Verfassungsaufhebung, Ergänzung oder
Erweiterung41 in seinem Umfang variierten) zweiten Teil (unter
Ausschluss der Freiheitsrechte). Variationen des organisatorischen Teils
und des zugehörigen Komplexes von Freiheitsrechten erfolgen nur
insoweit, als sie notwendig sind, um den größtmöglichen Freiheits-
und Gleichheitsgrad auch dann zu realisieren, wenn durch strukturelle
Veränderungen im Volksganzen neue organisatorische Formen not-
wendig werden. Dabei wird sich ergeben, dass es Normen oder Norm-
teile gibt, die unter allen Umständen conditiones sine qua non des
betrachteten Prinzips, mithin unabänderlich sind. Es sind das diejeni-
gen Normen, die einen bestimmten Grad der Identität von 51 Prozent
des Staatsbürgerwillens mit dem Staatswillen sichern, das heißt das all-
gemeine, gleiche, geheime, proportionale Wahlrecht für Repräsenta-
tionsorgane mit einem bestimmten Minimum an Personen und einem
bestimmten Maximum der Wahlperiode. Dagegen können unter
bestimmten Umständen Änderungen des aktiven und passiven Wahl-
rechts sich dann rechtfertigen lassen, wenn ein Fall der oben angeführ-
ten Strukturänderungen vorliegt. So könnte zum Beispiel eine durch-
schnittliche Verlangsamung oder Beschleunigung des persönlichen Rei-
feprozesses ein begründeter Anlass zur Änderung des Art. 22 der
Reichsverfassung sein, da das in ihm festgesetzte Wahlalter offenbar
nur als Ausdruck eines bestimmten erreichten Reifegrades gemeint ist.
Dagegen würde jede Durchbrechung der Gleichheit des Wahlrechts
eine Aufhebung und jede »unbegründete« Heraufsetzung des Wahlal-
ters eine Minderung der politischen Freiheit bedeuten. Unabänderlich
sind weiterhin alle diejenigen Normen, die die ungehinderte Willens-

41 Diese Ausdrücke sind hier im Sinn der von [Karl] Löwenstein, Erscheinungsfor-
men [der Verfassungsänderung. Verfassungsrechtsdogmatische Untersuchun-
gen zu Artikel 76 der Reichsverfassung, Tübingen 1931], S. 114 ff., verwandten
Terminologie zu verstehen.

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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 477

bildung sichern, das heißt die staatsbürgerlichen Freiheiten.42 Dagegen


sind alle »privaten« Freiheiten abänderbar. Dem Hobbes‘schen Theo-
rem, nach dem die Aufhebung der politischen Freiheit sich demokra-
tisch begründen lasse, widerspricht die oben gegebene Bestimmung
der Freiheit als einer unveräußerlichen institutionellen Chance für
jeden Staatsbürger, seinen Willen mit dem des Staates in Einklang zu
setzen – der Freiheit und Gleichheit also als jeweiliger Freiheit und
Gleichheit. Demnach kann eine Abdikation dieser Art nicht demokra-
tisch gerechtfertigt werden.
Anstelle der hier angegebenen Systematik der Unabänderlichkeiten
ließe sich möglicherweise aber noch eine andere Richtlinie für sie auf-
stellen. Nämlich: Die Anwendung des Art. 76 darf zu einem solchen
Normsystem führen, bei dem sich zwar die Form-Inhaltskompromisse
auf jeden beliebigen Teil der Verfassung beziehen können, also auch
auf den organisatorischen Teil und den Komplex der Freiheitsrechte,
bei dem jedoch ein solches Minimum der Realisierung des Freiheits-
und Gleichheitsprinzips gewahrt bleibt, dass die vollzogenen Kompro-
misse noch als »Kompromisse« und nicht als »Vergewaltigung« jener
Prinzipien erscheinen. Man könnte von diesem Standpunkt aus wohl
eine geringe Verlängerung der Wahlperiode des Reichstags rechtferti-
gen;43 die Einführung der Erbmonarchie erscheint jedoch auf legalem
Wege unmöglich. Und auch eine solche Variation der Verfassung, wie
Schmitt sie in dem letzten Kapitel seiner Schrift andeutet, würde wohl
nicht mehr das erforderliche Minimum an Freiheit und Gleichheit ent-
halten. Bei der Entscheidung zwischen den beiden Möglichkeiten, eine

42 Von diesem Standort aus ist auch die Aufhebung des Volksgesetzgebungsver-
fahrens durch Zweidrittelmehrheit nicht zulässig; ähnlich Walter Jellinek in:
HbdDStR, Bd. 2, S. 185. [Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg): Handbuch
des Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen 1930/32.] Die Meinung [Richard]
Thomas, ebenda S. 114, und Jacobis in: »Die Reichsgerichtspraxis im deutschen
Rechtsleben«, Bd. I, S. 257/58 [Erwin Jacobi: Reichsverfassungsänderung, in:
Otto Schreiber (Hg.): Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben. Fest-
gabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts
(1. Oktober 1929) in 6 Bänden, Band 1, Berlin/Leipzig 1929, S. 233-277], dass
Abänderung zwar zulässig sei, aber das Abänderungsgesetz selbst noch dem
Volksentscheid unterliege, verkennt, dass das Volk als Staatsorgan nicht die
Rechte hat, die dem Volk als »pouvoir constituant« zukommen.
43 Ähnlich Walter Jellinek in: HbdDStR, Bd. 3, S. 185 [Gerhard Anschütz, Richard
Thoma (Hg): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 3, Tübingen 1930/32],
jedoch mit einer Begründung, die sich auf den Willen des Verfassungsgesetzge-
bers beruft. Vergleiche hierzu auch die Ausführungen Gmelins in: Arch. f. öff.
R., N. F., Bd. 19, S. 270 ff. [Hans Gmelin: Die Verlängerung der Legislaturperiode
des hessischen Landtags in ihrer verfassungsrechtlichen Bedeutung, in: Archiv
des öffentlichen Rechts, N.F. 19, Tübingen 1930, S. 270-284.]

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478 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]

Zulässigkeit von Abänderungen zu begründen, scheint das erste Prin-


zip der Idee der Demokratie mehr zu entsprechen. Hier wird klarge-
stellt, dass bei allen Kompromissen, die die Demokratie zu schließen
hat, das Prinzip einer gleichen Beteiligung aller an der Willensbildung
gewahrt bleiben muss. Hieraus ergibt sich, was ja auch aus der Position
Schmitts mit aller Klarheit hervorgeht, dass vom Standpunkt der
Demokratie aus der Organisationsteil der Verfassung mit dem ihr
wesensmäßig zugehörenden Bestand an staatsbürgerlichen Freiheiten
im Allgemeinen ein »relativistisches Heiligtum« bildet, dessen Zerstö-
rung die Demokratie selbst vernichtet.44,45,46
Aus den Schmitt‘schen Ausführungen geht hervor, dass für ihn die
Gleichheit nicht hinreicht, die Demokratie zu rechtfertigen. Neben sie
muss die Offenhaltung der gleichen Chance, 51 Prozent zu erreichen,
als »Gerechtigkeitsprinzip dieser [nämlich der demokratisch-parlamen-
tarischen, d. Verf.] Art Legalität« (S. 36) treten.
Es sollen zunächst die verschiedenen Bedeutungen, die diesem viel-
leicht in dem erwähnten Zusammenhang noch nicht genügend geklär-
ten Worte »gleiche Chance« beigelegt werden können, erörtert werden.
Daraufhin soll geprüft werden, wieweit die ihnen entsprechenden Tat-
bestände zur Rechtfertigung der Demokratie erforderlich sind. Zuletzt
soll dann zu der von Carl Schmitt besonders akzentuierten Frage der

44 Weder Thoma noch Jellinek, die Schmitt, Legalität und Legitimität, zitieren
(S. 50), kommen aus prinzipiellen Erwägungen heraus zu Unabänderlichkeiten
von Organisations- und Freiheitsrechtsnormen. Thomas Äußerung über die
Prinzipien der Freiheit und Gerechtigkeit in »Die Grundrechte und Grund-
pflichten der Reichsverfassung«, 1929, Bd. 1, S. 47 [Hans Carl Nipperdey (Hg.):
Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Band 1, Frankfurt
am Main 1929], bezieht sich nur auf die Frage unzulässiger Einzelmaßnahmen,
wird doch ausdrücklich von einer »bill of attainder« gesprochen. Prinzipielle
Unabänderlichkeiten erkennt Thoma, wie aus HbdDStR, Bd. 2, S. 154 , klar her-
vorgeht, nicht an.
45 Zur Abänderungsfrage siehe auch Anschütz, Kommentar zur Reichsverfassung,
1932, S. 385 ff. [Gerhard Anschütz: Kommentar zur Reichsverfassung, Berlin
1932], der seine ablehnende Stellungnahme zu der »neuen« Lehre darauf stützt,
dass auf diese Weise ein obligatorisches Verfassungsreferendum in die Verfas-
sung hinein gedeutet werde. Dieses Argument ist deshalb nicht haltbar, weil
das Verfassungsreferendum »pouvoir constitué« wäre, es sich aber hier ersicht-
lich um den Vorbehalt des »pouvoir constituant« handelt.
46 Der ganze Problemkreis dient in erster Linie zur Herausarbeitung allgemeiner
Strukturen von Verfassungen überhaupt. Jene »inherent limitation upon legisla-
ture« besitzt dagegen nicht dieselbe politische Relevanz wie etwa die Formel
des »due process of law« für eine konkrete, als aufgegeben angesehene Wirt-
schaftsstruktur; vergleiche dazu E. Freund, a. a. O., S. 251. [Ernst Freund: Con-
stitutional Law, in: Edwin R. A. Seligman, Alvin S. Johnson (Hg.): Encyclopae-
dia of the Social Sciences, Volume 4, New York 1931.]

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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 479

Vereinbarkeit der Existenz dieser Tatbestände mit der Existenz und der
Funktionsfähigkeit der Demokratie Stellung genommen werden.
Das Wort »gleiche Chance« wird, wie es scheint, vor allem zur Bezeich-
nung von zwei Gruppen von Tatbeständen gebraucht.
Erstens kann es bedeuten die Gleichbehandlung aller Personen, bezie-
hungsweise Parteien und Normvorschläge in bestimmten Situationen
des demokratischen Normschöpfungsprozesses. Zunächst bei der
Wahl: die gleiche Chance wäre hier dann gegeben, wenn alle Einzel-
kandidaten beziehungsweise Listen – dem würden bei der Volksab-
stimmung die Normvorschläge entsprechen – unterschiedslos zugelas-
sen würden. Der zweite Anwendungsfall des Prinzips ist bei der Aus-
wertung der Stimmabgabe für die Bildung der Repräsentationskörper-
schaft – bei der Volksgesetzgebung würde dem der Entscheid entspre-
chen – gegeben. Die Realisierung der gleichen Chance verlangt hier
einerseits, dass die Stimmen untereinander gleich gewertet werden, das
heißt gleiches Wahlrecht besteht, andererseits, dass die Parteien gemäß
ihrer Gesamtstimmengröße gewertet werden, was ihre Vertretung in
der Repräsentationskörperschaft anbelangt, das heißt proportionales
Wahlrecht besteht. Endlich berührt das Prinzip der gleichen Chance
auch unmittelbar das parlamentarische Verfahren. Es verlangt hier
einerseits, dass für alle Normvorschläge die gleiche Majorität erfordert
ist und dass für jede Partei eine gleiche rechtliche Möglichkeit, sich an
der Mehrheit zu beteiligen, besteht. Dies ist offenbar dann der Fall,
wenn entweder ein absolutes Koalitionsverbot oder eine unbeschränkte
Koalitionserlaubtheit gilt. Diejenigen Vorschläge zur Parlamentsreform,
die darauf zielen, die Zulässigkeit eines gemeinsamen Vorgehens von
Parteien bei Misstrauensvoten von der inneren Einheit ihrer Begrün-
dungen abhängig zu machen, würden die Möglichkeiten jeder der bei-
den »Flügelparteien« – denn nur wo eine solche innere Gespaltenheit
der Opposition besteht, haben solche Vorschläge einen Sinn – zu einer
Mehrheit zu gehören, vermindern und diese Möglichkeiten für die
ihnen benachbarten Mittelparteien, soweit sie nach beiden Seiten optie-
ren können, erhöhen.
In der zweiten Hauptbedeutung ist die gleiche Chance, die Mehrheit zu
erreichen, dann gegeben, wenn für eine jede Partei die Wahrscheinlich-
keit, dieses Ziel zu realisieren, durch die Wirkungen der Existenz
gewisser Normen nicht berührt wird. Diese Normen sind erstens die
materiellen Normen der Reichsverfassung und zweitens die »politi-
schen Normen«. Als solche sollen hier alle diejenigen, gleichgültig wo
sie kodifiziert sind, bezeichnet werden, die unmittelbar die politischen

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480 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]

Organisationen und die Staatsbürger in ihrer Meinungsbildung betref-


fen. In Bezug auf sie soll anhand der Darlegungen Carl Schmitts vor
allem angedeutet werden, wieweit durch ihre Existenz die Wahrschein-
lichkeiten, die Mehrheit zu gewinnen, für die jeweiligen Regierungs-
und Oppositionsparteien gegeneinander verschoben werden. Eine sol-
che Verschiebung wird zugunsten der Regierungsparteien zunächst
immer dann eintreten können, wenn inhaltlich unbestimmte Normen
gegeben sind – und sie sind ja in jedem Rechtssystem vorhanden –, die
bei der für sie notwendig werdenden Ermessenshandhabung dazu die-
nen können, die Aktivität der Oppositionsparteien zu beschränken. Bei
diesem Tatbestand, aus dem Carl Schmitt im Verein mit noch zu kenn-
zeichnenden anderen Tatbeständen die Existenz dessen ableitet, was er
als »politische Prämie auf den legalen Machtbesitz« bezeichnet, weist er
besonders auf folgende Begriffe hin: »öffentliche Sicherheit und Ord-
nung, Gefahr, Notstand, nötige Maßnahmen, Staats- und Verfassungs-
feindlichkeit, friedliche Gesinnung, lebenswichtige Interessen« und
anderes mehr (S. 35). Eine zweite Ursache der oben gekennzeichneten
Begünstigung der Regierungsparteien ist dann gegeben, wenn gewisse
näher zu charakterisierende Normen bestimmten Inhalts fehlen. Es han-
delt sich hier zunächst um diejenigen Verfassungssätze, die oben als
staatsbürgerliche Freiheiten bezeichnet wurden, andererseits um solche
Normen, die geeignet wären, die Erzielung von »spoils« für die herr-
schenden Parteien zu verhindern. Als Beispiel sei der Versuch ange-
führt, auf gesetzlichem Wege eine Kontrolle über die Wahlfonds herbei-
zuführen.47 Endlich wird drittens eine »ungleiche Chance« zwischen
Regierungsparteien und Oppositionsparteien jeweils dann herbeige-
führt, wenn die herrschenden Gruppen Normwidrigkeiten vollziehen.
Es wird dann mit Hilfe der Legalitätsvermutung ein »fait accompli«
gesetzt, das auch bei jurisdiktioneller Revision nicht rückgängig
gemacht werden kann (siehe dazu Carl Schmitt, S. 36).
Nachdem versucht worden ist, die verschiedenen Bedeutungen des
hier behandelten Wortes zu unterscheiden, soll jetzt auf das von
Schmitt aufgeworfene Problem, welche Rolle der »gleichen Chance« in
der Rechtfertigung der Demokratie zukommt, eingegangen werden.
Schmitt behauptet hier, es handele sich um das »materielle Gerechtig-
keitsprinzip der Demokratie«. Es soll im Folgenden versucht werden,
soweit überhaupt die Notwendigkeit der »gleichen Chance« zur Recht-

47 Über die mögliche gesetzliche Beschränkung der Wahlausgaben vergleiche


[Edward Mc Chesney] Sait, American parties and elections,[ New York] 1927,
Kapitel »Corrupt practices acts«.

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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 481

fertigung der Demokratie behauptet wird, diese Notwendigkeit


»monistisch« aus den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit zu erwei-
sen.
Es erscheint ohne weiteres einsichtig, dass die unterschiedslose Zulas-
sung aller Einzelkandidaten beziehungsweise Parteien bei der Wahl
wie auch das gleiche Wahlrecht aus der oben gegebenen Begründung
der Demokratie gefordert werden. Aber dasselbe gilt auch vom Propor-
tionalwahlrecht; denn nur dieser Wahlmodus gibt eine institutionelle
Garantie dafür, dass, sowie bei ihm einer bestimmten Wählerquote eine
annähernd gleiche Repräsentantenquote entspricht, so auch 51 Prozent
der Repräsentanten von annähernd 51 Prozent der Wähler gewählt
werden. Das aber ist für das Parlament als »plebiszitäre Zwischenschal-
tung« erfordert.
Was nun die »gleiche Chance« in der zweiten Hauptbedeutung angeht,
so entspricht es der »Ungehindertheit« der Meinungsbildung, die oben
als Wesensmerkmal der Freiheit angesprochen wurde, dass die Opposi-
tionsparteien weder durch Ermessenshandhabung unbestimmter Nor-
men noch durch die Ausnutzung der oben besprochenen bestimmten
Normen benachteiligt werden. Es ist ferner evident, dass vom Stand-
punkt der Rechtfertigung eines Normsystems aus Normwidrigkeiten –
also die dritte Ursache der betreffenden Chancenungleichheit – nicht
gerechtfertigt sein können.
Was das zwischenparteiliche Chancenverhältnis anlangt, so verlangt
unmittelbar die oben gegebene Rechtfertigung der Demokratie keines-
wegs solche materiellrechtlichen Normen – weder innerhalb noch
außerhalb der Verfassung –, die eine diesbezügliche Chancengleichheit
realisieren. Das hindert natürlich nicht, dass solche Normen vom Pos-
tulat der »sozialen« Gleichheit und der »sozialen« Freiheit gefordert
werden. Gerade in der historischen Realität spielt das Zugleichgege-
bensein von politischem und sozialem Freiheits- und Gleichheitspostu-
lat die größte Rolle. Sowohl der Liberalismus48 als auch der Sozialismus
nennt es sein eigen. Von hier aus führt ein gerader Weg zu der These,
dass in der Gegenwart Freiheit und Gleichheit nur total, das heißt
sowohl in der politischen als in der sozialen Sphäre, oder gar nicht ver-
wirklicht werden können.
Es besteht jedoch ein unmittelbares Ursachverhältnis zwischen zwi-
schenparteilicher Chancengleichheit und Freiheits-Gleichheits-Realisie-
rung in der politischen Sphäre: insofern erst diese Chancengleichheit

48 [Richard Henry] Tawney, Equality, London 1929, S. 125.

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482 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]

zur »formalen« Unbehindertheit der Meinungsbildung, das heißt


Unmöglichkeit ihrer rechtlichen Behinderung, ihre »materielle« Unbe-
hindertheit hinzubringt. Es handelt sich hier um einen Tatbestand, der
in polemischer Form von allen Richtungen sozialistischen Denkens auf-
gegriffen wird und zum Beispiel bei Lenin in »Staat und Revolution«
die Hauptrolle spielt.
Erschien, wie oben angeführt, für Carl Schmitt die Existenz der »glei-
chen Chance« als notwendig für die Rechtfertigung der Demokratie, so
erscheint sie ihm andererseits als mit der realen Existenz der modernen
Demokratien unvereinbar. Demokratie hat so nur die Wahl, unverwirk-
licht oder ungerechtfertigt zu sein. Es soll im Folgenden diese These
Carl Schmitts an den verschiedenen von ihm aufgestellten Typen von
Demokratie erörtert werden.
Wie verhält es sich mit dem hier behandelten Gegenstand in einem par-
lamentarischen Gesetzgebungsstaat mit einer eximierten »Freiheits-
rechts«Sphäre? Es besteht in ihm kein Hindernis dafür, dass die »glei-
che Chance« im ersten Hauptsinn dieses Wortes verwirklicht ist, mit
Ausnahme der Differenzierung zugelassener und nicht zugelassener
Normen, die aus der Existenz der Exemtionssphäre hervorgeht.
In Bezug auf die Beeinflussung des Verhältnisses von Regierungspartei
und Oppositionspartei durch die Existenz »politischer Normen« ist zu
sagen, dass die Möglichkeit des Normenmissbrauchs zweifellos in die-
sem Staatstypus besteht; aber diese Möglichkeit für irgendeine Staats-
form ausschließen zu wollen, müsste wirklich als »normativistische
Illusion« bezeichnet werden. Dasselbe gilt – wie Carl Schmitt auch fest-
stellt (S. 35) – für einen bestimmten notwendigen Grad von Normunbe-
stimmtheit; aber gerade die typischen Normstrukturen der historischen
Verwirklichung dieses Staatssystems gingen ja darauf, diesen Unbe-
stimmtheitsgrad möglichst zu verringern.
Was jedoch das Fehlen gewisser bestimmter Normen als Ursache der
hier interessierenden Chancenungleichheit angeht, so ist die eine
Gruppe dieser Normen gerade in diesem Verfassungstypus – und das
macht eines seiner Unterscheidungsmerkmale gegenüber andern
Demokratietypen aus – unangreifbar gesichert. Die Verfassung enthält
das, was historisch als Freiheitsrechte bezeichnet wird und was oben in
der hier interessierenden Funktion der betreffenden Artikel als staats-
bürgerliche Freiheiten bezeichnet wurde. So kann hier Eigentum im
Verhältnis von Staat und Opposition die Funktion der Garantie des

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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 483

Besitzes der oppositionellen Organisation, das heißt die ihrer mei-


nungsbildenden Aktivität ausüben.
Gerade am Beispiel des Eigentums ist jedoch zu sehen, dass dasselbe
Freiheitsrecht, das die Chancenverhältnisse zwischen Staat und Oppo-
sition in der Richtung zur »gleichen Chance« hin beeinflusst, auch in
das zwischenparteiliche Verhältnis, und zwar hier in entgegengesetzter
Richtung, eingreift. Denn das Eigentum bewirkt ebenso wie die Freiheit
der Person auf dem Umweg über seine Wirkungen auf die Wirtschafts-
struktur eine Ungleichheit der demokratischen Machtchancenverhält-
nisse der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen. Wäre die Behauptung
des demokratischen Sozialismus gerechtfertigt – was hier nicht zu prü-
fen ist –, dass einerseits seine ja ebenfalls durch eine Rechtsordnung
sanktionierte Wirtschaftsstruktur eine »equality of opportunity« schaf-
fen, andererseits seine Staatsstruktur alle staatsbürgerlichen Freiheiten
enthalten könne, so wäre hier ein Typ mit einem konkretisierbaren
Norminhalt angegeben, in dem eine maximale Annäherung an die
»gleiche Chance« in allen Bedeutungen dieses Wortes gewährleistet
wäre. Wenn im parlamentarischen Gesetzgebungsstaate dagegen keine
gleiche Chance im Ganzen gesehen zu verwirklichen ist, wie Schmitt
mit Recht behauptet, so kann man dies vorzugsweise nicht mit Schmitt
auf die Organisationsstruktur des parlamentarischen Gesetzgebungs-
staates, sondern auf die konkreten Norminhalte der privaten Freiheiten
und etwa anderer materiellrechtlicher Bestimmungen zurückführen.
Der zweite hier zu untersuchende Typ ist ein parlamentarischer Gesetz-
gebungsstaat mit »Freiheitsrechten« und materiellrechtlichen Normen
noch zu definierenden Inhalts der oben bereits angeführten Typen, wel-
che mit einer qualifizierten Mehrheit aufhebbar sind. In diesem Staats-
typ gilt für die »gleiche Chance« im ersten Hauptsinn dasselbe, was
über sie bei dem vorher behandelten Staatstyp gesagt wurde, nämlich
dass sie mit Ausnahme der Bestimmungen über die qualifizierte Mehr-
heit realisiert werden kann.
Für das Verhältnis von Regierungsparteien und Oppositionsparteien
ergibt sich zunächst daraus eine größere Ungleichheit der Chancen als
beim oben erwähnten Typus, dass zu den unbestimmten Normen, die
dort schon gegeben waren, noch Unbestimmtheiten des materiellrecht-
lichen Teils im engeren Sinn hinzukommen können. Wenn zum Beispiel
Art. 137 Abs. 5 der Reichsverfassung bestimmt, dass Religionsgesell-
schaften, die noch nicht von früher her Körperschaften des öffentlichen
Rechtes sind, diese Qualität nur dann neu erwerben können, »wenn sie
durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder eine Gewähr für

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484 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]

Dauer geben«, so liegt in der Unbestimmtheit der hier verwandten


Worte die Notwendigkeit der Ermessenshandhabung mit ihren geschil-
derten Konsequenzen beschlossen. Andererseits wirken jedoch die
materiellrechtlichen Festlegungen der Verfassung im Bereich ihrer
Bestimmtheit zugunsten einer größeren Gleichheit der Chance zwischen
Regierungsparteien und Oppositionsparteien. Jede von ihnen beinhal-
tet einen Schutz vor Eingriffen in den durch sie garantierten Besitzstand
einer Institution, einen Schutz, der effektiv wird in einer Situation, in
der die betreffende Institution in Opposition zu den Regierungspar-
teien steht, das heißt einer Oppositionspartei (in hier nicht näher zu
schildernden Weisen) verbunden ist. Sofern die angeführte Verbindung
der betreffenden Institution mit einer Partei für die Wahlchancen dieser
Partei – und nur hierauf kommt es ja in diesem Zusammenhang an –
von Belang ist, werden diese Wahlchancen im Maße der Fixierung des
Besitzstandes jener Institutionen von der Oppositions- oder Regie-
rungsstellung jener Partei unabhängig. Es ergibt sich eine Tendenz zur
Gleichheit der Chance, indem sonst mögliche politische Normen ausge-
schlossen werden. Das gilt zum Beispiel in Bezug auf die Institutionali-
sierung der Gewerkschaften in den Artikeln 159 und 165 RV.
Zwischenparteilich wirken dieselben Fixierungsnormen zur Ungleich-
heit oder Gleichheit der betreffenden Chancen hin, je nachdem, ob sie
zwischen den Parteien beziehungsweise ihren institutionellen Annexen
»ungleichmäßig« oder »gleichmäßig« verteilt sind, so zum Beispiel das
Koalitionsrecht, das einerseits die Stellung politischer Arbeiterparteien
von ihrer jeweiligen Stellung zum Staat unabhängiger macht, anderer-
seits diese Stellung gegenüber anderen Parteien, die (sei es nun direkt
oder indirekt) »weniger« oder »mehr« in der Verfassung bedacht sind,
verschiebt.
Wie steht es demgemäß um Carl Schmitts Behauptung, die die Exis-
tenzmöglichkeit der »gleichen Chance« in der Demokratie schlechthin
verneint?
Im Verlaufe der angestellten Begriffsdistinktionen ergab sich, dass Carl
Schmitt mit dieser These in erster Linie die, um in der hier angeführten
Terminologie zu sprechen, »gleiche Chance zwischen Regierungspar-
teien und Oppositionsparteien gegenüber der Existenz politischer Nor-
men« meint. Bei zweien der möglichen Ursachen der Ungleichheit die-
ser Chance, nämlich dem Vorhandensein unbestimmter Normen einer-
seits und normwidrigem Handeln der Herrschenden andererseits,
ergab sich der auch von Schmitt anerkannte Satz, dass diese Phäno-
mene, weil ohne sie »kein Staatswesen auskommt« (S. 35), auch im

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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 485

Staatswesen der Demokratie nicht fehlen können.49 Darüber hinaus eli-


miniert aber die Demokratie, soweit in ihr die »Freiheitsrechte« Gel-
tung haben, einen der wesentlichsten Ursachenkomplexe dieser
Ungleichheit der Chancen, und es ist fernerhin nicht einsichtig, wes-
halb es ihr nicht möglich sein sollte, durch geeignete Spezialnormen in
gewissem Umfang sonstige illegitime Vorteile des Machtbesitzes auszu-
schalten.
Vergleicht man daher die »gleiche Chance«, 51 Prozent in der Demokratie
zu erreichen und damit den Besitz der politischen Macht zu erlangen,
mit den möglichen Chancen der Machterlangung oppositioneller Gruppen
im nichtdemokratischen Staat, so erscheint die Demokratie dem behan-
delten Prinzip angemessener. Obgleich sie die Utopie einer völligen Rea-
lisierung der »gleichen Chance« – die ja, wie oben im Anschluss an
Schmitt gezeigt wurde, wesentliche Eigenschaften jedweden Staates
aufheben würde; denn Legalitätsvermutung und sofortige Vollziehbar-
keit sind doch bekanntlich wesentliche differentia specifica des öffentli-
chen Rechts – nicht verwirklichen kann, ist sie die einzige Staatsform,
die eine institutionelle Garantie eines noch so einschneidenden Macht-
wechsels bei völliger Kontinuität der Rechtsordnung vorsieht. Darüber
hinaus vermag sie sich in der angegebenen Weise dem Ziel der »glei-
chen Chance« weitgehend anzunähern.50
Schmitt stellt die Behauptung auf, dass die Rechtfertigung der Parla-
mentsgesetzgebung und die der Volksgesetzgebung gemäß Art. 73
Abs. 3 der Reichsverfassung zueinander im Widerspruch stehen.

49 Vergleiche die Bemerkungen bei Lester Ward, Reine Soziologie I, [Innsbruck


1907 - 1909,] S. 305, die Roffenstein in: Schmollers Jahrbuch 1921, S. 109[, Gaston
Roffenstein: Das soziologische Problem der Gleichheit, in: Schmollers Jahrbuch
für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Jg. 45, Berlin 1921,
S. 67-119], dahingehend zusammenfasste: »Jedes erreichte Plus an Macht gibt
einen weiteren Vorsprung zum Erwerb einer weiteren Machtzunahme.«
50 »Der demokratische Rechtsstaat der Gegenwart beruht dem Rechte nach vor
allem auf der Freiheit und Gleichheit der politischen Werbung, auf der für alle
Gruppen und Parteien rechtlich gleichen Möglichkeit, ihre Ideen und Interessen
politisch durchzusetzen. Diese rechtlich gleiche Chance kann zwar durch tat-
sächliche Ungleichheit von Bildung und Besitz in einem Maße unglaubhaft wer-
den, daß eben dieser Gleichheitsforderung die proletarische Diktatur mehr zu
entsprechen scheint als der heutige Rechtsstaat. In wie hohem Maße aber trotz-
dem diese gleiche politische Betätigungsmöglichkeit auch gesellschaftliche
Wirklichkeit ist, zeigt im Nachkriegsitalien die Entstehung der katholischen
Popularipartei mit ihren sehr radikalen sozialen Forderungen.« Hermann Hel-
ler, Europa und der Faschismus, Berlin 1931, S. 100. Analoga hierzu werden sich
im Nachkriegsdeutschland unschwer finden lassen.

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486 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]

»Die Doppeltheit der beiden Arten von Gesetzgebung und Gesetzgeber


ist nämlich eine Doppeltheit von zwei verschiedenartigen Rechtferti-
gungssystemen, dem parlamentarisch-gesetzgebungsstaatlichen Lega-
litätssystem und der plebiszitär-demokratischen Legitimität; das zwi-
schen beiden mögliche Wettrennen ist nicht nur eine Konkurrenz von
Instanzen, sondern ein Kampf zwischen zwei Arten dessen, was Recht
ist « (S. 69; vergleiche auch S. 66).
Diese These basiert auf einer Auffassung des Parlaments, die seine
Existenz nicht durch die sozial-technische Notwendigkeit der Arbeits-
teilung, sondern durch spezifische materielle Charaktere der von ihm
typischerweise geschaffenen Normen gerechtfertigt sieht.51 Aus dieser
Begründung ergibt sich ein spezifischer Qualitätsunterschied zwischen
Parlamentsnormen und unmittelbaren Volksäußerungen sowie, wenn
man die angedeuteten Qualitäten52 der Parlamentsnormen anerkennt,
ein Ausschluss des Volkes von der unmittelbaren Gesetzgebung. Auf
der anderen Seite geht Schmitt nicht so weit, bei einem auf unmittelba-
rer Demokratie beruhenden Staat jegliche Repräsentation auszuschlie-
ßen, da es niemals einen Staat ohne Elemente der Repräsentation geben
könne.53 Auf die Weimarer Verfassung angewandt, ergibt sich für das
neuerdings weniger um seiner juristischen Eigenbedeutung als um des
zentralen Erkenntnisgehalts willen aufgeworfene Problem des Verhält-
nisses von volksbeschlossenem und parlamentarischem Gesetz aus der
Schmitt‘schen These Folgendes: Es kann im Rahmen der Weimarer Ver-
fassung eine nachträgliche Aufhebung eines im Wege des Volksent-
scheids ergangenen Gesetzes durch ein Parlamentsgesetz stattfinden, da
bei der vorausgesetzten Inkommensurabilität ihres Ranges und der
Gleichheit der Funktionen beider Gesetzgeber die Nichtexistenz einer
Norm, die die Aufhebung verbietet, von entscheidender Bedeutung ist
(S. 63, 69). Wie hieraus hervorgeht, steht und fällt diese These des
Widerspruchs der Rechtfertigungen von Parlamentsexistenz und Volks-
gesetzgebung mit einer bestimmten Rechtfertigung dieser Parlamentse-
xistenz. Wenn man im Sinn einer hergebrachten und jüngst noch von

51 Über den ganzen Problemkreis der Parlamentsrechtfertigung vergleiche Leib-


holz, Wesen der Repräsentation 1929, S. 67 ff., insbesondere S. 71. [Gerhard Leib-
holz: Das Wesen der Repräsentation unter besonderer Berücksichtigung des
Repräsentativsystems: ein Beitrag zur allgemeinen Staats- und Verfassungs-
lehre, Berlin 1929.]
52 Als Qualitäten, auf denen seine ganze Daseinsberechtigung als législateur
beruht, werden auf S. 68 Vernunft und Mäßigung bezeichnet; vergleiche auch
S. 13 und 15.
53 Vergleiche dazu Leibholz, a. a. O., S. 170, Anm. 3. [Gerhard Leibholz: Das Wesen
der Repräsentation unter besonderer Berücksichtigung des Repräsentativsys-
tems: ein Beitrag zur allgemeinen Staats- und Verfassungslehre, Berlin 1929.]

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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 487

Jacobi in Bezug auf die hier interessierende Rechtsfrage angewandten


Gedankens das Parlament als »plebiszitäre Zwischenschaltung« ansieht
– für Schmitt wäre das nur die »korrupte« Entartungsform des Parla-
ments –, so ergibt sich daraus erstens eine widerspruchslose Begrün-
dung sowohl der Volks- als auch der Parlamentsgesetzgebung in dem-
selben Verfassungssystem, zweitens die Entscheidung der aufgeworfe-
nen positiven Rechtsfrage dahingehend, dass der Vertreter, das heißt
das Parlament, nicht gegen den Willen des Volkes handeln darf,54 und
zwar nach dem Argument, dass der Vertreter zu schweigen hat, wenn
der Vertretene spricht. Bloß dass dieses Argument nicht wie bei Carl
Schmitt nur auf die unmittelbare Demokratie, das heißt aber auf die
Exekutive in ihr (eine andere Repräsentation gibt es ja dort nicht), son-
dern auch auf das Parlament angewandt werden kann und muss (S. 64).
Es erscheint demnach richtig, »die Einrichtungen der unmittelbaren
Demokratie als eine unvermeidliche Konsequenz des demokratischen
Staates55 den Einrichtungen der sogenannten ›mittelbaren‹ Demokratie
des parlamentarischen Staats überzuordnen«56 (wie Schmitt es formu-
liert, ohne dies für die Weimarer Verfassung anzunehmen). Schmitt
nämlich, der das »Legalitätssystem des parlamentarischen Gesetzgebungs-
staates als ein ideenmäßig und organisatorisch eigenartiges Gebilde, das
keineswegs aus der Demokratie und dem jeweiligen Volkswillen abge-
leitet ist«57, bezeichnet, lehnt diese Deduktion für die Reichsverfassung
mit der Begründung ab, diese ließe »neben den Fällen des außerordent-
lichen plebiszitären Entscheids in ihrer Gesamtorganisation den parla-
mentarischen Gesetzgebungsstaat bestehen« (S. 63). Diese Begründung
würde nur zutreffen, wenn die Weimarer Verfassung ein parlamentari-

54 Dies würde jedoch nur dann gelten, wenn im Moment des jeweiligen Parla-
mentsbeschlusses sich keine wesentlichen neuen Erfahrungen gegenüber dem
Zeitpunkt des Volksentscheids ergeben hätten, die als bedeutsames Material für
die Urteilsbildung gelten könnten. Ist das der Fall, so erfordert gerade die
Repräsentativfunktion des Parlaments, sich diese Frage im Geiste des vorausge-
gangenen volksbeschlossenen Gesetzes noch einmal vorzulegen. Ein dem im
Volksgesetzgebungsverfahren beschlossenen Gesetz widersprechendes Parla-
mentsgesetz könnte dann zustande kommen, wenn eine neue Situation eine
auch in diesem Punkt geänderte Volksmeinung glaubhaft machen würde; ver-
gleiche die Ausführungen von Jellinek in: HbdDStR, Bd. 2, S. 181/82 [Gerhard
Anschütz, Richard Thoma (Hg): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2,
Tübingen 1930/32], dessen Beispiel aber nicht glücklich gewählt sein dürfte.
Denn es ist nicht evident, in welcher Weise eine veränderte Gesetzgebung des
Auslands in Bezug auf die Todesstrafe einen unmittelbaren Rückschluss auf die
veränderte Einstellung der Mehrheit des deutschen Volkes zulässt.
55 [Im Original bei Carl Schmitt heißt es auf S. 65: »Denkens« statt »Staates«.]
56 [Carl Schmitt: Legalität und Legitimität, München 1932, S. 65. Hervorhebungen
von Otto Kirchheimer.]
57 [Ebenda.]

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488 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]

scher Gesetzgebungsstaat im Schmitt‘schen Sinne wäre, das heißt ein


Gesetzgebungsstaat, in dem die zentrale Rolle des législateur durch die
Schmitt‘sche Parlamentstheorie gerechtfertigt wäre, so dass seine völ-
lige Unabhängigkeit von irgendeiner demokratischen Grundlage beste-
hen würde. Was die Rechtfertigung des Parlaments angeht, so lässt sich
jedoch in neuerer Zeit ein Zurücktreten (entsprechend der Zurückdrän-
gung ursprünglich liberaler Theorien überhaupt) derjenigen Rechtferti-
gung des Parlamentarismus, die von Carl Schmitt in seiner Schrift über
»Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des heutigen Parlamentaris-
mus« klassisch dargelegt worden ist, feststellen. An ihre Stelle tritt
zunehmend jene Rechtfertigung, die die Legitimation des Parlamenta-
rismus in dessen Charakter als plebiszitäre Zwischenschaltung
erblickt.58 Für diese ideologische Entwicklung bildet den Hintergrund
die Tatsache, dass die Eigenbedeutung der Parlamentsherrschaft sich
ständig vermindert,59 wobei über dessen Eignung als demokratisches
Transformationsorgan nichts ausgesagt ist.60,61 Jene Anklagen gegen
das Chaos von »Machtklumpen«, die die Literatur der ganzen Welt
durchziehen, treffen insofern einen wirklichen Tatbestand, als sich im
Parlament nicht mehr die Meinungen bilden, sondern lediglich vorhan-

58 In der liberaldemokratisch ausgerichteten Literatur erscheint dieser Prozess als


»distrust to parliament«, wobei dann nicht die technische Funktion, sondern die
Eigenständigkeit der bezeichneten Institution gemeint wird. Für die Stellung
des Parlaments in der Demokratie gilt hier, dass »distrust« eine eminent demo-
kratische Tugend ist; vergleiche etwa [Harold J.] Laski, A grammar of politics[,
London 1925], S. 321, oder Agnes Headlam-Morley, The new democratic consti-
tutions of Europe, Oxford 1926, S. 32.
59 Darüber vergleiche die grundlegenden Darlegungen von Löwenstein in seiner
Soziologie der parlamentarischen Repräsentation nach der großen Reform, in:
Arch. F. Sozw. Bd. 51 [Karl Loewenstein: Soziologie der parlamentarischen
Repräsentation nach der großen Reform, in: Archiv für Sozialwissenschaft und
Sozialpolitik, Tübingen 1924, S. 614-708]; insbesondere aber Annalen des Deut-
schen Reichs 1923-25, S. 4. »Seit dem Beginn der Massendemokratie nach der
zweiten Wahlreform ist das jeweils amtierende Kabinett nur mehr formell dem
Unterhaus verantwortlich. Die ruling power liegt also bei der Wählerschaft. Das
Unterhaus ist nicht mehr die Herrin des Staates, sondern lediglich das Vollzugs-
und Kontrollorgan der Wählerschaft.« [Karl Loewenstein: Minderheitsregie-
rung in Großbritannien, in: Anton Dyroff (Hg.): Annalen des Deutschen Reichs
für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 1923/25, München 1925,
S. 1-71.]
60 Seine Ersetzbarkeit in einem weiterbestehenden demokratischen Staat wird dis-
kutiert bei Graham Wallas, The great society[, New York 1914], und bei Tönnies,
Parlamentarismus und Demokratie, in: Schmollers Jahrbuch Bd. 51. [Ferdinand
Tönnies: Parlamentarismus und Demokratie, in: Schmollers Jahrbuch für
Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Berlin 1927.]
61 Unter anderem erkennt James Bryce zum Beispiel bei aller Kritik die technisch
notwendige Funktion des Parlaments an: Modern democracies II[, New York
1921], S. 377.

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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 489

dene Meinungen dort registriert werden.62 Damit wird die im Zentrum


der Problematik stehende Institution nicht mehr das Parlament als
technische Apparatur, sondern die Parteien selbst als die unmittelbaren
Ausdrucksformen des massendemokratischen Staatslebens. Wenn
schon diese allgemeine ideologische Entwicklungsrichtung eine ent-
sprechende Interpretation63 der Nachkriegsverfassungen und damit
auch der Reichsverfassung nahelegt, so kommt noch bei der Reichsver-
fassung hinzu, dass der Verfassungsgesetzgeber zu mehreren Malen
seine Übereinstimmung mit einer unmittelbaren demokratischen
Rechtfertigung des Parlaments dargelegt hat. Anlässlich des behandel-
ten Rangproblems ist dies ausführlich von Jacobi unter besonderem
Hinweis auf Art. 1 Abs. 2 der Reichsverfassung dargelegt worden.
Eine solche Rechtfertigung des Parlaments würde es zwar nicht erfor-
dern, aber es würde ihr auch nicht widersprechen, dass zur Schaffung
einer Norm auf dem Weg der Parlamentsgesetzgebung mehr Stimmen
erfordert werden als zu ihrer Durchsetzung im Wege des Volksgesetz-
gebungsverfahrens. Insofern löst sich auch der Widerspruch, den
Schmitt in den jeweils erforderten Beteiligungsziffern beider Gesetzge-
bungsverfahren findet (S. 67), auf. Darüber hinaus scheint aber die
behauptete Tatsachengrundlage nicht erwiesen. Es handelt sich hier um
drei Fälle:
Für das verfassungsändernde Gesetz wird im Wege der Volksgesetzge-
bung gemäß Art. 76 der Reichsverfassung die Zustimmung der Mehr-
heit der Stimmberechtigten erfordert (mindestens 51 Prozent). Beim
parlamentsbeschlossenen Gesetz wird gemäß Art. 76 eine Zweidrittel-
mehrheit erfordert, wobei mindestens zwei Drittel der Mitglieder des
Reichstags anwesend sein müssen. Gegenüber Schmitts Behauptung,
dass »im Parlament für Verfassungsänderungen die Zustimmung einer
Zweidrittelmehrheit erforderlich ist, während beim verfassungsändern-
den Volksentscheid auf Volksbegehren die einfache Mehrheit

62 Diese Verschiebung von einer substantiellen Rechtfertigung der Parlamentsexis-


tenz zu einer sozialtechnischen beschreibt [Hans] Ziegler, Die moderne Nation,
[ Tübingen] 1931, S. 285 ff., ohne freilich diese sozialtechnische Wendung als
Rechtfertigungsmotiv anzuerkennen.
63 Vergleiche Jacobi, a. a. O., S. 244/45 [Erwin Jacobi: Reichsverfassungsänderung,
in: Otto Schreiber (Hg.): Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben.
Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsge-
richts (1. Oktober 1929) in 6 Bänden, Band I, Berlin/Leipzig 1929, S. 233-277];
vergleiche auch Thoma, HbdDStR, Bd. 2, S. 114. [Gerhard Anschütz, Richard
Thoma (Hg): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen 1930/32.]

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490 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]

genügt«,64 ist festzustellen, dass in gewissen Umständen die Zahl der


Mindeststimmen beim parlamentsbeschlossenen Gesetz geringer als die
Zahl der Mindeststimmen beim volksbeschlossenen Gesetz sein kann.
Erstens immer dann, wenn die Anwesenheitsquote eine bestimmte
Größe unterschreitet; denn wenn die gesetzliche Maximalgrenze ausge-
schöpft wird, genügen etwa 44 Prozent der Abgeordneten für ein ver-
fassungsänderndes Gesetz. Dabei wird von 100prozentiger Wahlbeteili-
gung ausgegangen und Stimmenverluste unberücksichtigt gelassen.
Zweitens genügen aber weniger als 51 Prozent der Stimmberechtigten
im Parlament immer dann, wenn bei 100prozentiger Anwesenheit der
Abgeordneten Wahlenthaltung und Stimmenverluste eine bestimmte
Größe überschreiten.65
Beim einfachen Gesetz erfordert im Fall eines Konflikts mit dem Reichs-
tag (wann dieser Konflikt als existierend angenommen werden muss,
braucht hier nicht erörtert zu werden; vergleiche Schmitt, Legalität und
Legitimität, S. 67, 69) ein Parlamentsbeschluss mindestens die Mehrheit
von mindestens 50 Prozent der Abgeordneten. Die Durchführung des
Volksentscheids gegen diesen Beschluss erfordert die Zustimmung der
Mehrheit der abgegebenen Stimmen, falls sich die Mehrheit der Stimm-
berechtigten an der Abstimmung beteiligt (Art. 75 RV). Die Mindestbe-
teiligung am Parlamentsbeschluss ist hier immer dann geringer als die
Mindestbeteiligung an dem ihm entgegentretenden volksbeschlossenen
Gesetz, wenn erstens die Wahlbeteiligung weniger als 100 Prozent
beträgt und zweitens Stimmen verloren gehen, das heißt auf einen Kan-
didaten abgegeben sind, der kein Mandat erhält. Allerdings wendet
Schmitt hiergegen ein, dass es faktisch nicht nur auf die Mehrheit der
Abstimmenden im Volksgesetzgebungsverfahren ankomme, weil alle,
die sich gemäß Art. 75 an einem erfolgreichen Volksentscheid beteili-
gen, auch diesem zustimmen würden (S. 67). Deshalb entfalle praktisch
jeder Unterschied zwischen einfachem und verfassungsänderndem
Volksentscheid. Dagegen ist auf die Möglichkeit – und Wirklichkeit –
des Terrors gegenüber Nichtzustimmenden hinzuweisen, welcher diese
zwingt, ihr an sich durch Stimmenthaltung am wirksamsten zum Aus-
druck kommendes materielles Nein in ein formelles Nein umzuwan-
deln. Dieses verwirklicht so lange das Gegenteil seiner Intention, als die
Zahl der Terrorisierten geringer ist als die Zahl der Terroristen und die
absolute Zahl der letzteren höher als 25 Prozent der Stimmberechtigten.

64 [Vergleiche: Carl Schmitt: Legalität und Legitimität, München/Leipzig 1932,


S. 67.]
65 Die Berücksichtigung der Abwesenden bei dieser Aufstellung mag damit
gerechtfertigt werden, dass sie auf politischen Gründen beruhen kann.

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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 491

Sind diese Bedingungen nicht gegeben, ist Terror sinnlos, allerdings


auch unschädlich.66
Beim einfachen Gesetz sind, wenn ein Konflikt mit dem Reichstag nicht
vorliegt, auf dem Weg des Parlamentsgesetzes mindestens 60 000, auf
dem Weg des volksbeschlossenen Gesetzes mindestens eine Stimme
notwendig. Von dieser ernsthaft nicht in Betracht kommenden Mini-
maldifferenz abgesehen, scheint für ein volksbeschlossenes Gesetz
keine bestimmbare Verschiedenheit des erforderlichen Stimmquantums
gegenüber dem parlamentsbeschlossenen Gesetz vorzuliegen. Denn
der Offenhaltung einer beliebigen Wahlbeteiligung und Anwesenheit
innerhalb bestimmter Grenzen bei der Reichstagswahl entspricht die
Offenhaltung der Volksentscheidsbeteiligung, da hier – im Unterschied
zum Fall 2 – das Wahlgeheimnis effektiv gewahrt ist.
Von der hier gegebenen Rechtfertigung aus hebt sich die für Carl
Schmitt so dezisive Differenz zwischen Legalität und Legitimität auf.
Es scheint, dass diese nicht ausdrücklich definierten Begriffe bei Carl
Schmitt dahin zu verstehen sind, dass unter »Legalität« das Rechtferti-
gungssystem des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens – eben
weil diese Rechtfertigung mit dem immanenten und behaupteten Cha-
rakter der »lex« des Parlaments zusammenhänge –, unter »Legitimität«
die Rechtfertigung des unmittelbaren Volksgesetzgebungsverfahrens
gemeint ist. Für die Rechtfertigung jedoch, die eben für die Reichsver-
fassung aufgezeigt wurde, liegt die Ratio der Existenz des Parlaments
nicht in der materialen, sich selbst tragenden Ratio seiner Tätigkeit,
sondern in denselben Gegebenheiten, die das Volksgesetzgebungsver-
fahren rechtfertigen. Es handelt sich somit um verschiedene Organisations-
formen derselben Legitimität. Über die schon behandelte Frage der Auf-
hebbarkeit hinaus besteht keine Strukturdifferenz zwischen dem im
Rahmen der Verfassung sich betätigenden Volk und dem Parlament;
denn beide sind »pouvoirs constitués«.
Anders verhält es sich freilich in dem Moment, in dem es sich nicht
mehr um die Interpretation der Weimarer Verfassung oder einer ähn-
lich strukturierten demokratischen Verfassung, sondern um die ideelle
Konstitution eines dem Wert- und Rechtfertigungssystem Carl Schmitts
entsprechenden Staatssystems handelt. Hier können Legalität und
Legitimität auseinandertreten; hier kann Legalität durch Legitimität
vollständig verdrängt werden. Die Ausschaltung der parlamentari-

66 Vergleiche zur Terrorfrage beim Volksentscheid [Carl] Tannert, Die Fehlgestalt


des Volksentscheids[: Gesetzesvorschlag zur Änderung der Art. 75 und 76
Abs. 1 Satz 4 der Reichsverfassung, Breslau] 1929.

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492 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]

schen Legalität ergibt sich aus der Aufzeigung der Nichtevidenz ihrer
Begründungsprinzipien in unserer Zeit. An ihre leer gewordene Stelle
tritt der Monolith der plebiszitären Legitimität. Wenn auch in einer sol-
chen Verfassung das höchste Staatsorgan auf demokratischem Wege
gewählt werden kann, so könnte sie, wenn man dem Sprachgebrauch
folgen will, doch nicht mehr als »demokratisch« bezeichnet werden. Es
kommt hierin zum Ausdruck, dass für diesen weitverbreiteten Sprach-
gebrauch Demokratie wenn schon nicht an die Existenz eines Parla-
ments, so doch an eine Vielheit von Repräsentanten gebunden ist. Die-
ser Terminologie liegt ein bestimmter Sinn zugrunde, dass nämlich der
Grad der Realisierung von Freiheit und Gleichheit sich umgekehrt ver-
hält wie der Konzentrationsgrad der Repräsentation. Die Herbeifüh-
rung der Wahl eines mir genehmen Reichstagsmitglieds setzt meine
Einigung mit 59 999 Bürgern voraus; die Beteiligung an der Wahl des
Reichspräsidenten setzt angesichts des faktischen Zwanges zur Redu-
zierung der Kandidaten (für den Fall, dass alle Wähler wirklich den
Erfolg ihres Kandidaten beabsichtigen, von Demonstrationskandidatu-
ren also abgesehen) meine Einigung mit einer weit größeren Zahl vor-
aus. Die Präsidentenwahl stellt deshalb gegenüber der Reichstagswahl
eine Willensvereinheitlichung auf weit breiterer Ebene dar; je größer
aber der Umfang der Willensvereinheitlichung, desto größer der durch-
schnittliche Abstand der eigentlichen Einzelwillen vom Kandidatenwil-
len, desto geringer infolge dieser Intensivierung des Kompromisses –
der Freiheitsgrad. Die gleiche Erscheinung der Verminderung der poli-
tischen Freiheit durch Hypertrophie der Willensvereinheitlichung zeigt
sich auch bei der zweiten politischen Chance, die Schmitt dem Volk
reservieren will, der Ja-Nein-Entscheidung über eine von den Staatsor-
ganen vorgelegte Frage (S. 93 f.). Nur ist hier die Zahl der Alternativen,
die bei unverändert bleibenden Normen für die Präsidentenwahl ledig-
lich auf zwei hinstrebt, starr auf zwei festgelegt. Ob man nun die rechtli-
che Beschränkung der politischen Aktivitäten des Volkes auf die ange-
gebenen Funktionen seinen anthropologischen Charakteren67 angemes-
sen und so durch sie gerechtfertigt hält oder nicht – in jedem Fall erge-

67 Es ist jedoch theoretisch für die Vielheit der Rechtfertigungsmöglichkeiten eines


identischen Normensystems bemerkenswert, dass die These von der rechtlichen
Vorrangstellung des Volkes innerhalb der Verfassung in der Theorie Jacobis, a. a.
O., S. 243, 247 Anm. 30 [Erwin Jacobi: Reichsverfassungsänderung, in: Otto
Schreiber (Hg.): Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben. Festgabe
der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts
(1. Oktober 1929) in 6 Bänden, Band I, Berlin/Leipzig 1929, S. 233-277], und einer
analogen Stellung außerhalb der Verfassung, wie sie sich bei Schmitt vorfindet,
sich mit konträren Thesen über die Charaktere des Volkes verbinden kann.

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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 493

ben sich die gekennzeichneten Wirkungen auf die Realisierung des


Freiheitsprinzips. Könnte aber nicht auch von der hier aufgezeigten
Rechtfertigung der Demokratie aus ein Übergang von dem Typ, den
die Weimarer Verfassung darstellt, zu einem Typ der eben angedeute-
ten Art sich begründen lassen, weil in ihm eine größere Stabilität des
staatlichen Lebens gewährleistet wäre? Hier werden eine Reihe von
Thesen Carl Schmitts berührt, in denen seine allgemeinen Theoreme
auf die verfassungsgeschichtliche Entwicklung im Nachkriegsdeutsch-
land angewandt werden. Als Kernthese ließe sich hier nennen: die
Zurechnung jener Entwicklung, die in der politischen Diskussion sum-
marisch als Zusammenbruch der Weimarer Verfassung bezeichnet zu
werden pflegt, zu den zahlreichen Widersprüchen, deren Prüfung den
Hauptinhalt dieser Arbeit bildete.
Dieser diagnostischen These schließt sich eine prognostische an, die
einer Verfassung der angedeuteten Art eine mutmaßlich größere Stabi-
lität zuspricht. Beide Verfassungstypen, die übliche parlamentarische
Verwirklichung der Demokratie wie auch ihre cäsaristische Abwand-
lung, ermöglichen in ihren Normensystemen innerhalb der Grenzen
der materiellrechtlichen Verfassungsbestimmungen als wertneutrale
Ordnungen eine weitgehende inhaltliche Variabilität. Die auf solchen
Verfassungen aufbauenden Gesetzessysteme zeichnen sich durch die
gemeinsame Teilhabe an dieser großen Erfindung der modernen
Demokratie scharf von älteren Ordnungen ab. Damit ist aber die Frage
ihrer faktischen Stabilität, das heißt die Frage, ob die historische Ent-
wicklung von den für sie bereitgestellten Leerformen Gebrauch macht,
noch offen gelassen. Freilich scheint uns – und da liegen wohl die Gren-
zen dieser Schrift, ohne damit sagen zu wollen, dass die Fülle der in ihr
aufgeworfenen Probleme auch nur im Entferntesten hier hätte ausge-
schöpft werden können – die Entscheidung über diese Frage von allen
aber auch allen Faktoren, die das politische Verhalten der Menschen
bestimmen, abzuhängen. Ihrer aller gegenseitige Abhängigkeit und die
unproportionale Gleichgewichtsstörung, die die Variation schon eines
von ihnen zuwege bringt, lassen Prognosen so überaus schwierig
erscheinen, sogar dann, wenn man jene Antinomie der Prognose außer
Acht lässt, die ihren Charakter als arcanum zur Bedingung ihrer Rich-
tigkeit macht. Würde man heute die üblichen Aussagen über die Stabi-
lität und Konstanz der französischen Demokratie machen können,
wenn nicht der Nachfolger Karls X. die Treue zum Lilienbanner einer

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494 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]

zweiten Restauration vorgezogen hätte,68 wenn nicht Boulanger der


Prototyp eines »dictateur manqué« gewesen wäre,69 wenn der intakte,
antidemokratische Fremdkörper der Armeeführung zur Dreyfuß-Zeit
die eigentliche Bedeutung dieses Justizfalls erkannt hätte?70 Würde
man nicht heute von den günstigen Bedingungen für die Konstanz
einer russischen Demokratie in der relativen Homogenität einer diesem
System durch die Agrarrevolution verbundenen Bauernmasse spre-
chen, wenn das Februarregime den Losungen der Bolschewiki zuvorge-
kommen wäre? Diese Fragen stellen, heißt durchaus nicht, sie bejahen.
Es heißt nur, die Fülle der verfassungsrechtlichen Entwicklungsmöglich-
keiten, die nicht der Verfassungssphäre selbst, sondern anderen Bereichen ent-
springen, einkalkulieren. Es scheint, dass die Verfassungstheorie solche
Probleme nur in einer engen Kooperation71 mit fast allen anderen Dis-
ziplinen, die sich um die Erforschung der sozialen Sphäre bemühen,
einer wohl auf lange Zeit nur bei generellen Aussagen bleibenden
Lösung wird zuführen können.

68 Vergleiche die charakteristische Bemerkung bei [Georges] Bernanos, La grande


peur des bien-pensants, Paris 1931, S. 104.
69 Vergleiche Histoire de la France contemporaine: l’évolution de la 3ième républi-
que par E. Seignobos, 1921, S. 139. [Charles Seignobos, Ernest Lavisse: Histoire
de la France contemporaine depuis la révolution jusqu'à la paix de 1919, Paris
1921.]
70 Seignobos, a. a. O., S. 202 ff. [Charles Seignobos, Ernest Lavisse: Histoire de la
France contemporaine depuis la révolution jusqu'à la paix de 1919, Paris 1921.]
71 Vergleiche dazu die Ausführungen bei [John] Dewey, The public and its pro-
blems, London [1927], S. 171.

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495

[35.]
Verfassungsreform und Sozialdemokratie*
[1933]

Friedrich Engels hat einmal die juristische Weltanschauung die klassi-


sche Weltanschauung der Bourgeoisie genannt, eine »Verweltlichung
der theologischen Weltanschauung«, in der »an Stelle des Dogmas des
göttlichen Rechts das menschliche Recht und an die Stelle der Kirche
der Staat trat«.1 Es kann nicht geleugnet werden, dass die halb spötti-
sche Warnung, die aus diesem Satze klingt, nicht immer genügend
Berücksichtigung gefunden hat. In allen Spielarten des Sozialismus, im
kommunistischen Russland wie auch im staatlichen Denken des mittel-
europäischen Reformismus, hat auf langen Strecken eine gewisse
Hypostasierung des Staates stattgefunden. Aber jede marxistische
Staatslehre muss, wie immer auch – taktisch und zeitlich bedingt – ihr
Aussehen sein mag, für alle Staatseinrichtungen der vorsozialistischen
Zeit die durchgehende Bewertung aller politischen Kategorien als Mit-
tel aufrechterhalten. Die marxistische Lehre der Demokratie wie die der
proletarischen Diktatur ist nicht verständlich, wenn man jene durchge-
hende Mediatisierung des Betrachtungsmaßstabs aller staatlichen
Dinge ungenügend berücksichtigt. Niemals konnte deshalb marxisti-
sche Staatstheorie mit einer Betrachtungsweise in Einklang gebracht
werden, die apriorische Erkenntnisse staatlicher und gesellschaftlicher
Dinge jenseits und unabhängig von der konkreten gesellschaftlichen
Erfahrung zum Ausgangspunkt staats- und verfassungstheoretischer
Diskussionen nahm. Mag es sich nun um Theorien der Repräsentation
oder der Autorität handeln, mag es um eine Theorie der Nation oder
des Volkes gehen, erst der konkrete soziologische Standort jeder dieser
Theorien erhellt ihren Geltungsbereich beim Aufbau einer konkreten
Staatsordnung. Stets hat die marxistische Betrachtungsweise staatlicher
Dinge die Möglichkeit und das Erfordertsein bestimmter staatlicher
Einrichtungen aus konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen gefolgert.
Mit Recht hat Hilferding in seinem Referat auf dem Kieler Parteitag
betont, dass sich die Sozialdemokratie immer gehütet habe, in die Kon-

* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 10, Heft 1, Berlin 1933, S. 20-35. – Zu diesem Text vergleiche in der Einlei-
tung S. 104-106.]
1 Juristensozialismus in »Neue Zeit«, 1883. [Friedrich Engels, Karl Kautsky: Juris-
ten-Sozialismus, in: Die neue Zeit, Jg. 5, Heft 2, Berlin/Stuttgart 1887, S. 49-62.]

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496 [35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933]

struktionen der bürgerlichen und namentlich der deutschen Staatsphi-


losophie zu verfallen. Die marxistische Methode verlangt, so heißt es
dort, dass wir bei all den gesellschaftlichen Erscheinungen den Feti-
schismus dieser Erscheinungen auflösen durch die Analyse der Reali-
tät. Demnach stellt sich auch das hier angezogene Referat des Kieler
Parteitags,2 das sich ausführlich mit den Fragen der Staatsmacht
beschäftigt, als eine konkrete politische Schlussfolgerung, hervorgegan-
gen aus einer Analyse der politischen und sozialen Kräfteverhältnisse
in den Jahren der Stabilisierung dar. Dieses Referat behandelt die Frage
der Diktatur vom Hintergrund einer Bedrohung der Demokratie aus,
da ihm die Vorstellung einer funktionierenden Demokratie zugrunde
liegt. Es geht von einer allseitigen Befolgung der verfassungsmäßig nie-
dergelegten politischen Spielregeln aus, und nur am Rande erscheint
die Frage: »Was aber, wenn die Herrschenden die Demokratie nicht
respektieren?« Diese Frage hat dort dieselbe Beantwortung gefunden
wie in dem bekannten Referat Otto Bauers, das er dem Linzer Parteitag
erstattete.3 In dem Augenblick, in dem versucht wird, die Grundlagen
der Demokratie zu zerstören, bleibt nur das Mittel der Gewalt. Diese
Ausführungen sind von der Überzeugung getragen, dass für die Sozial-
demokratie aus den Bedingungen unserer mitteleuropäischen Zivilisa-
tion heraus eine Unterwerfung des politischen Gegners, der sich im
Rahmen der Legalordnung hält, im Wege eines Offensivbürgerkriegs
nicht sinnvoll erscheint. Hierbei steht die Erwägung im Vordergrund,
dass ein mit den heutigen Mitteln einer hochqualifizierten Rüstungsin-
dustrie durchgeführter Bürgerkrieg nicht etwa deshalb vermieden wer-
den solle, weil am endgültigen Sieg des Proletariats irgendein Zweifel
bestünde,4 sondern weil ein solcher Sieg mit all seinen sozialen Wir-
kungen zu teuer für eine Partei erkauft sei, die im Sozialismus nicht
lediglich eine neue Machtordnung, sondern vornehmlich das Herauf-
kommen einer neuen Lebensordnung sieht. Hierbei wird also nicht von
einer abstrakten Idee der Demokratie ausgegangen, sondern es wird
die konkrete Frage gestellt: Was bringt der Sache des Sozialismus im
Endergebnis die größten Chancen, was verbürgt am ehesten das Her-
aufkommen einer sozialistischen Staatsordnung, die nicht nur die wirt-
schaftlich notwendige Neuordnung vornimmt, sondern auch die per-

2 Protokoll des Kieler Parteitages, S. 170 ff. [Sozialdemokratischer Parteitag 1927 in


Kiel, Berlin 1927.]
3 Protokoll des Parteitags der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs[,
Wien 1926], S. 255 ff.
4 Vergleiche Karl Renner, »Kampf«, Oktober 1932, S. 402. [Karl Renner: Versagt
oder bewährt sich die Demokratie? Bemerkungen zur politischen Krise in
Deutschland, in: Der Kampf, Wien 1932.]

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[35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933] 497

sönliche Freiheit des Individuums als einen unvergänglichen Bestand-


teil unserer europäischen Kulturordnung aufrechtzuerhalten imstande
ist? Eine sozialistische Wertung der Demokratie stellt es deshalb nicht
in erster Linie auf den juristischen Normenbestand einer demokrati-
schen Verfassung ab, sondern sie muss ihre Stellungnahme zur Demo-
kratie davon abhängig machen, ob sie mit einem allseitig legalen Ver-
halten der anderen politischen Machtfaktoren rechnen kann, ob die
anderen Parteien und sozialen Machtgruppen bereit sind, die grundle-
genden demokratischen Institutionen auch dann anzuerkennen, wenn
sie dazu angetan sind, ihre Herrschaftsaspirationen zu begrenzen und
ihren politischen Gegnern Spielraum zu gewähren. Wenn deshalb
heute bis zu einem gewissen Grad durch die Veränderung der gesam-
ten sozialen und politischen Situation keine sichere Verbürgung mehr
für ein allseitig legales Verhalten gegeben ist, muss sich auch die Stel-
lung der Sozialdemokratie zur konkreten Verfassungsordnung wan-
deln. Eine Verfassung, deren »demokratisches« Funktionieren nicht
mehr gewährleistet ist, zerfällt für jeden einzelnen Partner in ein Bün-
del möglicher Positionen. Je nach der Einstellung des jeweiligen Part-
ners zur Demokratie überhaupt mag die Gewinnung einer überragen-
den Position wieder den Weg zu einer funktionsfähigen Demokratie
öffnen oder aber für ihn den Ansatzpunkt für eine faschistische Dikta-
tur begründen. Vorläufig jedenfalls wird die Sozialdemokratie mit die-
sem Zerfall einer zentralen Verfassungsvorstellung zu rechnen haben.
Deshalb ist die Feststellung Ernst Fränkels,5 dass Weimarer Verfassung
und Sozialdemokratie keine siamesischen Zwillinge seien, durchaus
richtig, ja darüber hinaus muss ganz allgemein betont werden, dass die
Sozialdemokratie auf die Dauer mit keiner Verfassung der vorsozialisti-
schen Gesellschaft ein ewiges Bündnis wird eingehen können. Denn
auch die bestmögliche dieser Verfassungen kann, wie die Erfahrung
lehrt, durch Deformationsprozesse, die ein verändertes soziales Sub-
strat in der Staatsordnung auslöst, ihren demokratischen Charakter
verlieren.
Fränkel entfernt sich aber von seiner eingangs eingenommenen Posi-
tion erheblich, wenn er an die Stelle der Garantie einer allseitigen Lega-
lität und damit des möglichen Nutzeffekts der Verfassungsordnung für
die Sozialdemokratie die ganz allgemeine, am Staat schlechthin orien-
tierte Frage stellt: Ist diese Verfassung überhaupt noch Verfassung? Da
er diese Frage verneint und deshalb den immanenten Zweck der Ver-

5 Verfassungsreform und Sozialdemokratie, »Gesellschaft«, Dezember 1932. [Ernst


Fraenkel: Verfassungsreform und Sozialdemokratie, in: Die Gesellschaft, Jg. 9,
Heft 12, Berlin 1932, S. 486-500.]

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498 [35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933]

fassung, eine Ordnung des staatlichen Daseins darzustellen, für


bedroht ansieht, rät er uns, unsere liebgewordenen Vorstellungen über
die Schönheit der Verfassung abzulegen und uns um solche Änderun-
gen der Verfassungsordnung zu bemühen, die ein Funktionieren der
Verfassung erst ermöglichen. Wenn Fränkel nun, um die gefährliche
Spannung zwischen Legalordnung und tatsächlicher Machtausübung
zu überwinden, eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, die die Mög-
lichkeit eines funktionierenden Staatssystems auf Kosten der Schönheit
unseres Verfassungssystems herstellen wollen, so liegt dieser Vorstel-
lungsweise – gleichgültig wie man zu der Stichhaltigkeit seiner einzel-
nen Vorschläge stehen mag – ein prinzipieller Fehler zugrunde. Der
Formwert des Funktionierens wird durchgehend verselbständigt, und
es wird – wenn wir die freilich nicht ganz adäquate Vorstellung von der
Schönheit der Verfassung einmal beibehalten wollen – übersehen, dass
eine sozialistische Partei nicht am Funktionieren einer Verfassung
schlechthin interessiert ist, sondern nur dann, wenn die Verfassung
selbst »schön« ist. Fränkel selbst wird sicherlich mit der Banalität über-
einstimmen, dass zum Beispiel die Arbeiterschaft kein Interesse daran
hat, dass ein faschistisches, also ein nach den Intentionen der Arbeiter-
schaft »hässliches« Verfassungssystem reibungslos funktioniert. Frän-
kel selbst wird mit uns jede Zersetzungserscheinung des faschistischen
Staatsapparates freudig begrüßen, gerade weil das reibungslose Funk-
tionieren des faschistischen Verfassungssystems dadurch in Frage
gestellt wird. Wenn dies aber der Fall ist, scheint der Frageansatz von
Fränkel nicht richtig gewählt. Gewiss, die Frage der bestmöglichen
Organisierung der proletarischen Demokratie nach der Überwindung
der spezifischen Erscheinungsformen unserer anarchisch-kapitalisti-
schen Sozialverfassung ist eine Frage der technischen Zweckmäßigkeit;
hier kann jede Institution unter dem Gesichtspunkt des optimalen Nut-
zens für das Funktionieren der Demokratie betrachtet werden. In einer
Verfassung aber, die nicht auf einer relativ einheitlichen Sozialstruktur
beruht, sondern in der jede Gewichtsverschiebung innerhalb der Staats-
organe eine Verlagerung der Herrschaft von einer sozialen Schicht zur
anderen bedeuten kann, kann es ein allgemeines Interesse am Funktio-
nieren schlechthin nicht geben.
Aus diesem Grunde erscheint die Tendenz Fränkels, durch Änderun-
gen der Verfassungsordnung um des Staats und der Verfassung willen
alles zu tun, was die Spannung zwischen Legalordnung und den kon-
kreten Machtverhältnissen auf ein erträgliches Maß zurückführen
könnte, bedenklich. Es ist selbstverständlich richtig und bedarf keines
weiteren Beweises, dass es der Sinn jeder Politik ist, solche Spannungs-

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[35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933] 499

verhältnisse aufzulösen. Aber diese Auflösung kann bekanntlich auf


zweierlei Weise erfolgen; man kann die Legalordnung jeweils den tat-
sächlichen Machtverhältnissen anpassen, man kann aber die Machtver-
hältnisse auch so umzugestalten versuchen, dass eine sinnvolle Ausfül-
lung der Legalordnung möglich ist.6 Entscheidend ist doch dabei, dass
in Wirklichkeit die Lösung dieses Spannungsverhältnisses durch
Anpassung, das heißt im konkreten Fall Zurückschiebung der Legal-
ordnung nicht erreicht wird und die Verengerung der Legalordnung
auf Bahnen drängt, die außerhalb der Rechtsordnung liegen. So besteht
zum Beispiel im faschistischen Verfassungssystem durchaus ein
Deckungsverhältnis zwischen Legalordnung und tatsächlichen Macht-
verhältnissen. Die Verfassungsordnung ist eben den tatsächlichen
Machtverhältnissen auf den Leib zugeschnitten, indem sie den faschis-
tischen Großrat mit der beherrschenden Person des Duce zum aus-
schlaggebenden Faktor erhebt. Niemand wird behaupten, dass in die-
ser Deckungseinheit eine Lösung der sozialen Problematik unserer Zeit
enthalten sei. Es ist der große Unterschied einer solchen autokratischen
zu einer demokratischen Verfassungsordnung, dass nur in dieser eine
legale Entwicklung, bis zu einem gewissen Grad allerdings um den
Kaufpreis einer unvermeidbaren Spannung zwischen Legalordnung
und Machtordnung, garantiert wird. Daher kann es in einem demokra-
tischen Staatssystem sehr leicht der Fall sein, dass – um einmal diese
Terminologie zu gebrauchen – der ideologische Überbau der Rechts-
ordnung den tatsächlichen Machtverhältnissen »vorhinkt«. Die tatsäch-
liche Macht kann in den Händen einer mit feudalen Schichten durch-
setzten Bürokratie sein, obwohl nach der Verfassungsordnung durch-
aus die Möglichkeit besteht, dass eine »Volkspartei« die politische
Macht übernimmt. Formal, juristisch gesehen kann dann ein Konflikt
zwischen der Exekutive und dem Parlament bestehen, wobei man auf
beiden Seiten selbstverständlich mit dem Vorwurf der Pflichtverletzung
operiert und die Stelle der tatsächlichen Macht, das heißt der Exekutive
unter dem Motto »Regiert muss werden« die Gesamtentwicklung im
Sinne ihrer sozialen und ökonomischen Interessen zu beeinflussen
sucht. Dabei ist die staatsrechtliche Deduktion, die Fränkel, insoweit

6 Vergleiche des Verfassers »Weimar und was dann«, [Entstehung und Gegenwart
der Weimarer Verfassung, Berlin] 1930, S. 38, wo auf diese Disproportionalität
hingewiesen ist. Dort ist der Gesichtspunkt vertreten, dass diese Spannung nicht
durch eine Änderung der Staatsordnung, sondern durch eine Neuordnung der
ökonomischen Machtverteilung ihre Lösung zu finden habe. [In diesem Band
S. 239.]

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500 [35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933]

Carl Schmitt7 folgend, vornimmt, ebenso unbestreitbar juristisch halt-


bar wie soziologisch im entscheidenden Punkt irrelevant. Es ist voll-
kommen richtig, dass die geltende Reichsverfassung einem mehrheits-
und handlungsfähigen Reichstag alle Rechte und Möglichkeiten gibt,
um sich als den maßgebenden Faktor der staatlichen Willensbildung
durchzusetzen, dass aber auf der andern Seite das Parlament, falls es
dazu nicht imstande ist, nicht das Recht hat zu verlangen, dass auch
alle anderen verantwortlichen Stellen handlungsunfähig werden. Dabei
wird nicht berücksichtigt, dass, was staatsrechtlich Ausfüllung einer
Leerstelle mit Hilfe einer ja zum eisernen Bestand des Staatsrechts
gehörenden Notstands- oder Lückentheorie heißt, soziologisch gesehen
durchaus eine Machtusurpation durch eine sonst nicht zum Zuge
gelangende gesellschaftliche Klasse darstellen kann. Von der juristi-
schen Seite aus ist der auch von Fränkel angeführte Aufsatz von Heckel
am weitesten zu jener Bruchstelle vorgedrungen. Dort heißt es: »Das
Recht zur Notstandsaktion folgt aus der Treuepflicht gegenüber der
Verfassung als einer Totalität. Durch ihre Verfassungsintention unter-
scheidet sich die Notstandsaktion von dem Verfassungsbruch und ins-
besondere vom Staatsstreich.«8
Für die Frage, ob und wann ein Rettungsbedürfnis besteht, haben aber
augenscheinlich in der Sphäre des politischen Notstands bisher diesel-
ben Maßstäbe obgewaltet wie bei der strafrechtlichen Notstandsaktion,

7 In Nr. 24, S. 1144, des »Roten Aufbau« [Bela Kuhn: Der Kommunismus im Kampfe
gegen die Sozialdemokratie, in: Unsere Zeit: Beiheft 1, aus: Der rote Aufbau, 5
(1932)22, Berlin 1932, S. 7-20] wird von »theoretischen Querverbindungen« zwi-
schen dem »faschistischen Staatstheoretiker« Carl Schmitt und dem offiziellen
theoretischen Organ der SPD, der »Gesellschaft«, gesprochen, die besonders
anschaulich im Fränkel‘schen Aufsatz zutage treten sollen. Sollte der neuartige
Begriff der »theoretischen Querverbindung« bedeuten, dass Ernst Fränkel Anlass
genommen hat, sich mit den staatstheoretischen Positionen Carl Schmitts zu
beschäftigen, so würde die Verwendung des Begriffs Querverbindung nur bewei-
sen, dass für kommunistische Schriftsteller schon die Beschäftigung und Prüfung
nicht-kommunistischer Gedankengänge unzulässig erscheint; sollte aber die
»theoretische Querverbindung« auf eine Einheitlichkeit der politischen Zielrich-
tung hinweisen, so handelt es sich um eine haltlose Behauptung. Die Behaup-
tung, dass aus den Fränkel‘schen Ausführungen mit logischer Konsequenz sich
die Aufforderung zum Staatsstreich ergebe, die Fränkel nur nicht offen auszu-
sprechen wage, stellt eine absichtliche Entstellung der Fränkel‘schen Ausführun-
gen dar; der ganze Artikel gibt in altgewohnter Weise aus der gesamten staats-
und verfassungstheoretischen Diskussion nur solche entstellte Bruchstücke wie-
der, die den Beweis für die »neurevisionistische Staatsauffassung« liefern sollen.
8 »Archiv für öffentliches Recht«, Neue Folge, Bd. XXII, S. 311. [Johannes Heckel:
Diktatur, Notverordnungsrecht, Verfassungsnotstand mit besonderer Rücksicht
auf das Budgetrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 22, Tübingen 1932,
S. 257-338.]

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[35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933] 501

die letzthin der zweite Strafsenat des Reichsgerichts für die ostpreußi-
schen Grundbesitzer unternahm. Sowohl die individuelle Notstandsak-
tion, die dieser Strafsenat für die Versteigerungsverhinderung durch
Grundbesitzer mit einer etwas neuartigen Schau ökonomischer Zusam-
menhänge begründete, wie auch die generelle Notstandsaktion, die
Herr von Papen für dieselben Schichten durchführte, kann sich wohl
schwerlich auf eine solche Verfassungsintention stützen. Aber selbst
wenn man einmal unterstellt, dass der Nachfolger des Herrn von Papen
wirklich gewillt wäre, eine Resultante aus den vorhandenen politischen
Richtungen zu bilden, wäre der eigentliche Sinn der Verfassung
geschwunden. Denn sie beruht auf dem Prinzip der Selbstregierung
des Volks, und es wird sich bald herausstellen, dass die Resultante, die
der bürokratische Staat zieht, mit der Verfassungsintention der Demo-
kratie nichts mehr gemein hat. Es handelt sich daher hier nicht um
Zuständigkeitsverschiebungen von schlechter zu besser funktionieren-
den Organen, sondern um die Feststellung, dass so, wie die Notstands-
aktion eine tatsächliche soziale Gewichtsverlagerung bedeutet, erst
recht die Kodifizierung dieser tatsächlichen Gewichtsverlagerung eine
Modifizierung der demokratischen Verfassung bedeuten würde.
Daher sollen die Fränkel‘schen Änderungsvorschläge daraufhin unter-
sucht werden, ob sie, die ein reibungsloses Funktionieren der Verfas-
sung gewährleisten wollen, zugleich ein Staatsgrundgesetz aufrechter-
halten, das Staatssouveränität, Parlament und Grundrechte zu Zentral-
punkten der Verfassungswirklichkeit macht. Fränkel setzt bei dem Arti-
kel 54 der Reichsverfassung ein, der unbestreitbar seinen Ausgangs-
punkt von der Vorstellung nimmt, dass bei Annahme eines Misstrau-
ensvotums durch das Parlament der Führer der siegreichen Opposition
mit der Leitung der Regierungsgeschäfte betraut wird und sodann ein
Kabinett mit einer sicheren Reichstagsmehrheit bildet. Im Deutschen
Reich hat diese einfache Handhabungsmöglichkeit des Artikel 54 aus
den verschiedensten Gründen nie stattgefunden, wie es auch bekannt-
lich zu offenen Misstrauensvoten in der gesamten Weimarer Parla-
mentsgeschichte nur zweimal gekommen ist. Mit der Entstehung einer
nationalsozialistisch-kommunistischen Mehrheit wuchsen die Schwie-
rigkeiten der Regierungsbildung noch mehr, so dass auf lange Sicht
hinaus die Bildung eines Mehrheitskabinetts überhaupt unmöglich
wurde und der Reichspräsident infolgedessen in die Lage kam, Min-
derheitskabinette bilden zu lassen, die gar nicht einmal die Absicht hat-
ten, eine Mehrheit des Reichstags zu erreichen, sondern den Reichstag,
schon bevor ihm Gelegenheit zum Sturz der Regierung gegeben war,
auflösten. Fränkel will nun dem Misstrauensvotum der Reichstags-

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502 [35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933]

mehrheit nur dann die Wirkung der Kabinettsdemission beilegen,


wenn die Oppositionsparteien in der Lage sind, dem Reichspräsidenten
einen positiven Vorschlag für die Person eines über eine Mehrheit ver-
fügbaren Reichskanzlers zu machen. Würde diese Fassung Gesetz, so
würde damit der Reichspräsident in der Lage sein, das alte Kabinett
weiterregieren zu lassen, bis sich eine solche Mehrheit findet, und er
wäre nicht genötigt, den Reichstag so häufig aufzulösen. Dann kann
der Artikel 25 der Reichsverfassung auch dahin abgeändert werden,
dass der Präsident das Parlament nur mit Gegenzeichnung des vom
Parlament präsentierten neuen Kanzlers auflösen dürfe. Auf diese
Weise will Fränkel auch für die Zeit, in der der Reichstag nicht in der
Lage ist, aus sich heraus ein neues Mehrheitskabinett zu bilden, ihm
seine Existenz und damit die Möglichkeit der Gesetzgebung und der
Verwaltungskontrolle sichern. Der Vorschlag führt also für die Zeit
einer nach Motiv, sozialer Herkunft und politischem Ziel uneinheitli-
chen Opposition zu einer Legalisierung bürokratischer Herrschaftsme-
thoden: einer nicht nur de facto, sondern nunmehr auch de jure vom
Parlament unabhängigen Regierung, der auf der Gegenseite ein hand-
lungsunfähiger Reichstag gegenübersteht. Bei diesem Vorschlag mögen
Reminiszenzen der Verfassungsentwicklung des Vorkriegsdeutsch-
lands mitgewirkt haben; was dort von den Mehrheitsparteien nur
widerwillig bis zur vollen Errichtung der parlamentarisch-demokrati-
schen Verantwortung ertragen wurde, soll jetzt in weiser Selbstbeschei-
dung von den divergierenden Mehrheitsparteien so lange geübt wer-
den, bis sie selbst über die aktive Herrschaftsausübung übereinkom-
men können. Als Lohn für diese Selbstbescheidung bleibt der morali-
sche Einfluss des Reichstags und das Recht zur Verwaltungskontrolle
erhalten.
Vergleicht man aber einmal die heutige mit der damaligen politischen
Entwicklung, so wird sich zeigen, dass es in der Verfassungsgeschichte
eine »organische Rückentwicklung« nicht geben kann. Der Reichstag
der Vorkriegszeit hatte trotz fehlender Einwirkungskompetenzen auf
die laufende Regierungshandhabung deshalb eine seine juristischen
Machtbefugnisse weit übersteigende Autorität, weil in ihm der Träger
einer von der Mehrheit des Volkes ersehnten und erwünschten Ent-
wicklung der innerpolitischen Verhältnisse Deutschlands gesehen
wurde. Deshalb hatten Reden eines oppositionellen Politikers eine
starke Resonanz und eine gewisse Wirkung. Da jeder Fehlgriff das
monarchische System selbst unmittelbar belastete und die sozialen Trä-
ger dieses Systems bloßstellte, war in gewissen Grenzen eine laufende
Verwaltungskontrolle durch die politische Instanz, den Reichstag,

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[35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933] 503

gegeben. Der künftige Herr warf seinen Schatten voraus. Wer möchte
aber glauben, dass ein Reichstag, der freiwillig auf seine Kompetenzen
Verzicht leistet, weil er nicht mehr in der Lage ist, sie ordnungsgemäß
zu erfüllen, im Volke auch nur einen Bruchteil jenes Widerhalls finden
könnte, der das bedeutsamste Moment in der Geschichte der Vorkriegs-
reichstage war. Wer möchte in einem solchen Reichstag, der aus Schwä-
che Verzicht leistet, die Ansatzpunkte zu einer künftigen verfassungs-
rechtlichen Entwicklung Deutschlands sehen? Die Vorstellung, dass ein
solcher Reichstag sowohl moralisch wie faktisch in der Lage wäre, den
ungeheuer komplizierten Verwaltungsapparat, der sich in der Hand
einer einheitlichen, fest geschlossenen Bürokratie befindet, zu beein-
flussen, ist irrig. Gerade weil die Innehabung des staatlichen Machtap-
parates im Zeitalter einer weitgehenden direkten Einflussnahme des
Staates auf die Gesamtgebiete sozialen Lebens wichtiger geworden ist
als der allgemeine moralische und kontrollierende Einfluss, den eine
parlamentarische Instanz auf dem Gebiete der Verwaltung auszuüben
vermag, hat sich die Funktion des Parlaments überhaupt in der Nach-
kriegszeit durchgehend gewandelt. In allen Ländern demokratischer
Verfassung, die einen ausgeprägten Klassencharakter tragen, liegt der
entscheidende Akzent der Demokratie vor der Tätigkeit des Parla-
ments. Das unmittelbare Ergebnis der Wahl und die in einer normal
funktionierenden Demokratie daraus resultierende Zusammensetzung
der Regierung ist es, die den entscheidenden Einfluss auf die laufende
Verwaltungsausübung garantiert. In Deutschland ist dies noch viel aus-
geprägter der Fall gewesen als in den anglo-amerikanischen Ländern;
denn im Deutschen Reich ist die Einrichtung ständiger, vom Parlament
eingesetzter, aber nicht lediglich aus dessen Mitgliedern bestehender
Kommissionen, die dem Parlament die Mühe der Fixierung der allge-
meinen Regeln für fast alle Gebiete der Sozialverwaltung abnehmen,
unbekannt geblieben.9 Will eine soziale Klasse in Deutschland auf die
laufende Verwaltung Einfluss nehmen, so muss sie selbst in den büro-
kratischen Körper einzudringen versuchen. Schaltet man aber diese
Möglichkeit praktisch aus, so hilft auch die Aufrechterhaltung eines
Reichstags, demgegenüber die Verwaltung nun auch formell unabhän-
gig ist, nichts. Ein Reichstag, der nicht in der Lage ist, eine Regierung
zu bestellen, kann auch eine ergiebige Gesetzgebungsarbeit, die durch
detaillierte Gesetzesbestimmungen den mangelnden Einfluss auf die
direkte Verwaltungsübung wieder wettmachen könnte, nicht leisten.

9 Vergleiche für die Vereinigten Staaten Charles Beard, American Government and
Politics,[ New York] 1931, S. 210 ff.

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Passt man aber die Verfassungsnormen der Verfassungswirklichkeit so


an, wie dies Fränkel vorschlägt, und legalisiert man die Herrschaft des
bürokratischen und militärischen Machtapparats, so wird nach aller
geschichtlichen Erfahrung eine solche Teilung der Staatsgewalt nicht
lange andauern. Das preußische Beispiel sollte uns darüber belehren,
dass es in der politischen Geschichte eine Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand nicht gibt. Denn diese würde keinesfalls lediglich vom
Willen der Reichstagsmehrheit abhängen. Die Behandlung, die Herr
Hitler durch den Reichspräsidenten erfahren hat, die Begründung, mit
der man Herrn Hitler Reichsaußen- und Reichswehrministerium vor-
enthalten wollte, zeigt, dass Bürokratie und Reichswehr selbst unter
der gegenwärtigen Verfassung zu einer Restituierung des Parlamenta-
rismus nicht bereit sind. Was sollte aber aus der parlamentarischen
Demokratie erst werden, wenn man den Artikel 54 RV so umgestaltete,
dass der Reichspräsident jederzeit in der Lage wäre, eine Nachprüfung
darüber zu veranstalten, ob eine im Sinne der Bürokratie arbeitsfähige
Mehrheit vorhanden sei.10 Es ist kein Anlass dafür sichtbar, warum die
Sozialdemokratie einer Verfassungsänderung zustimmen sollte, die die
Existenz der Demokratie bis zu einem gewissen Grade rechtlich, min-
destens aber faktisch in das Belieben der Bürokratie stellt und dieser
die Möglichkeit gibt, auf so billige Weise eine demokratische Attrappe
zu erwerben.
Der weitere von Fränkel gemachte Vorschlag ist in diesem Zusammen-
hang besonders deshalb bemerkenswert, weil er zeigt, dass selbst die
vorgeschlagene Beschränkung der Reichstagsrechte nicht ausreicht, um
den drohenden Konflikt zwischen Reichstagsmehrheit und verselbstän-
digter Exekutivbürokratie zu vermeiden. Denn immer noch bleibt dem
Reichstag die Möglichkeit, präsidentielle Notverordnungen aufzuhe-
ben, und immer noch hat der Präsident zwar nicht im Rahmen des gel-
tenden Verfassungsrechts, aber – wie sich doch gezeigt hat – faktisch
die Möglichkeit, den Reichstag vor der Aufhebung der Notverordnun-
gen aufzulösen. Um auch das zu verhindern, will Fränkel dem Reichs-
präsidenten das Recht geben, in Erweiterung des Artikels 73 der
Reichsverfassung einen Volksentscheid darüber zu veranstalten, ob die
Notverordnung gemäß dem Beschluss des Reichstags aufgehoben wer-
den soll. Auch hier entfällt dann die Notwendigkeit für den Reichsprä-
sidenten, den Reichstag aufzulösen, bevor noch dieser einen Beschluss

10 Über anderweitige Konstruktionen zur Einschränkung des Art. 54 vergleiche


die Ausführungen des Verfassers in »Die Arbeit«, 1932, Heft 12. [Otto Kirchhei-
mer: Die Verfassungsreform, in: Die Arbeit, Jg. 9, Heft 12, Berlin 1932, S. 730-742.
In diesem Band S. 443-457.]

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über die Aufhebung der Notverordnungen gefasst hat; auch hier kann
der Artikel 25 der Reichsverfassung dementsprechend geändert wer-
den, dass, falls der Reichstag die Aufhebung einer Notverordnung
begehrt, eine Reichstagsauflösung so lange nicht erfolgen kann, bis das
Volksentscheidsverfahren zur Durchführung gelangt ist. Bei der Mög-
lichkeit, durch Ausnutzung aller Fristen das Ergebnis des Volksent-
scheids zu verzögern, bliebe so der Bürokratie eine gewisse Zeit, die
lang genug ist, um ihre in der Zwischenzeit in Gültigkeit bleibenden
Notverordnungsmaßnahmen sich auswirken zu lassen. Kommt es aber
dann zur Abstimmung, so ist das Schicksal der Demokratie ungewisser
als jemals; denn die Verwerfung der Notverordnungen würde wieder
auf den Weg des offenen Staatsstreichs drängen, den Fränkel gerade
durch die Abschaffung der Letztinstanzlichkeit des Reichstagsvotums
hier vermieden sehen will.
So bedeuten die Fränkel‘schen Vorschläge zur Verfassungsänderung
lediglich eine Legalisierung der gegenwärtigen Herrschaftsverteilung,
wobei die Verfassung nur deshalb funktionieren kann, weil ihre demo-
kratischen Parlamentsrechte als gegenwärtig nicht anwendbar mit einer
Wiederauflebensklausel zur Disposition gestellt sind. Man wird des-
halb schwerlich der Sozialdemokratie Verfassungskonservativismus
vorwerfen können, wenn sie gegenüber Änderungsvorschlägen, die
lediglich eine ihr ungünstige Herrschaftsverteilung sanktionieren wol-
len, an der Weimarer Ordnung festhält. Aber darüber hinaus muss und
kann selbstverständlich diskutiert werden, ob es konkrete Möglichkei-
ten gibt, die Weimarer Normen so zu ändern, dass aus einem Bündel
isolierter Rechte, die durch den gegenseitigen Antagonismus der Par-
teien untereinander und der Parteien mit der Bürokratie jedweder
beteiligten Partei nur einen höchst geminderten, mehr zufälligen als
berechenbaren Nutzen bringen, wieder eine sinnvolle Verfassungsord-
nung entsteht.
Die Verfassungsreformpläne der verflossenen Reichsregierung haben,
wie heute allgemein anerkannt wird, dafür keinerlei Grundlage gebo-
ten. Sie hätten auch niemals die verfassungsmäßige Zustimmung des
Reichstags gefunden. Von dieser aber konnte die Reichsregierung nie-
mand entbinden. Für die verfassungsmäßige Zulässigkeit eines Pair-
schubs durch präsidentielle Verordnung, wobei nach dem Vorschlag
Walter Jellineks die Nichtwähler für eine Präsidialliste in Anspruch

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genommen werden sollten,11 hat sich keine Stimme erhoben. In der


sozialistischen Literatur sind bisher verschiedene Einrichtungen als
Gegenstände für eine erwünschte Verfassungsänderung bezeichnet
worden. Heller und Simons12 haben den Gedanken eines Rechts des
Reichspräsidenten, von sich aus durch Volksentscheid gegen das Parla-
ment an das Volk zu appellieren, ebenso wie die Frage einer berufsstän-
dischen Vertretung und einer Wahl des Reichspräsidenten durch den
Reichstag in die Debatte geworfen. Von anderer Seite wird uns die Wie-
dereinführung des Mehrheitswahlrechts als Ausweg aus unseren politi-
schen Schwierigkeiten warm empfohlen. Freilich ist dieser Autor, der
bekannte katholische Schriftsteller Hermens,13 so vorsichtig, die Heil-
wirkung dieser Wahlrechtsänderung davon abhängig zu machen, »daß
eine gewisse Beruhigung eintritt«. Formulieren wir aber einmal diese
Voraussetzung der »Beruhigung« positiv, so ist damit die prinzipielle
Frage angeschnitten: Ist eine isolierte Verfassungsreform, auch wenn
ihre Intentionen noch so richtig und billigenswert wären, sinnvoll? Lie-
fern nicht gerade die verheißungsvollsten Artikel der Weimarer Verfas-
sung, die Artikel 156 und 165 den Beweis dafür, dass ideologische
Ansatzpunkte eines neuen Wirtschaftssystems zwar unendlich wertvoll
sind, aber die Verfassung doch im Wesentlichen ein Monument der
unausgeglichenen sozialen Spannungen bleibt, wenn ihr die soziale
Wirklichkeit die Ansatzpunkte zu ihrer Umgestaltung verwehrt. Des-
halb gilt es, sorgfältig abzuwägen, welche Verfassungsänderungen
heute, ohne dass die von uns als dringlich empfundenen sozialen
Umgestaltungen stattgefunden haben, die Demokratie in unserem Sinn
auszugestalten vermögen.
Die Zahl der Normen, die durch eine bloße Änderung der politischen
Mechanik solche Vorteile bringen könnten, ist nicht allzu groß. Als
Hauptproblem bleibt hier die Wahlrechtsreform. Hier scheint bisher die
Ansicht, dass das Proportionalwahlrecht das dem Zeitalter der Massen-

11 Jellinek: »Reich und Länder«, Band 6, S. 270 ff. Kritisch siehe dazu Leibholz in
»Reichsverwaltungsblatt«, Bd. 47, S. 930. [Walter Jellinek: Verfassungsreform im
Rahmen der Möglichkeiten, in: Reich und Länder, Jg. 6, Heft 11; Gerhard Leib-
holz: Die Wahlreform im Rahmen der Verfassungsreform, in: Reichsverwal-
tungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt, Band 53, Berlin 1932, S. 927-930.]
12 »Neue Blätter für den Sozialismus«, November 1932. [Hermann Heller: Ziele
und Grenzen einer deutschen Verfassungsreform, in: Neue Blätter für den
Sozialismus, Jg. 3, Heft 11, Potsdam 1932, S. 576-580; Hans Simons: Verfassungs-
reform? Wie soll sie aussehen?, in: Neue Blätter für den Sozialismus, Jg. 3, Heft
11, Potsdam 1932, S. 580-588.]
13 Hermens: Wahlrecht und Verfassungskrise, »Hochland«, November 1932, S. 110.
[Ferdinand Aloys Hermens: Wahlrecht und Verfassungskrise, in: Hochland, Jg.
30, Heft 2, Kempten 1932.]

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demokratie zugehörige Wahlrecht sei, noch nicht widerlegt, und es


muss bis auf weiteres noch als offene Frage gelten, ob an den sozialen
Klassen- und Schichtungsverhältnissen Deutschlands durch ein geän-
dertes Wahlrecht solche Umordnungen entstehen könnten, dass die
Schwierigkeiten der Regierungsbildung dadurch irgendwie gemildert
würden. Es scheint, dass man, ohne die Argumente zu übersehen, die
zum Beispiel in unseren Reihen Austerlitz gegen das deutsche Wahlver-
fahren erhoben hat, vielfach die Wirkungen solcher staatsrechtlichen
Eingriffe überschätzt.
Was nun die weiteren auch in sozialistischen Reihen erörterten Vor-
schläge zur Verfassungsänderung betrifft, so muss in erster Linie
geprüft werden, welche Wirkungen diese Vorschläge, wenn sie Verfas-
sungsbestandteile werden sollten, in der konkreten Situation, in der wir
uns heute befinden, auslösen würden. Dabei wird zu berücksichtigen
sein, dass die deutsche Arbeiterklasse heute nicht nur mit dem in sich
nicht stabilisierten Organisationsgebilde der Nationalsozialistischen
Partei zu rechnen hat, sondern dass von mindestens derselben Bedeut-
samkeit die steigende Tendenz zur Verselbständigung des bürokrati-
schen Staats- und Heeresapparats ist. Man würde die Aktion des
20. Juli unterschätzen, wenn man in ihr nur den Willen zur Abschütte-
lung der Sozialdemokratischen Partei und nicht auch den Willen zum
Ausbau einer selbständigen bürokratischen Macht zur Sicherung gegen
die Nationalsozialisten erblicken würde. Die Ausschaltung der SPD,
die erfolgreiche Gegenwehr gegen die Nationalsozialisten bedeuten
einen gewaltigen Schritt vorwärts in dem Verselbständigungsprozess
des Staatsapparats, der nun seinerseits die einzelnen Bevölkerungs-
gruppen an sich binden und nach Bedarf gegeneinander ausspielen
will. Dabei ist die Einheitlichkeit der Bürokratie gewachsen. Hatten frü-
her die Gerichte versucht, durch Betonung ihrer rechtsstaatlichen Kon-
trollbefugnisse, sich einen selbständigen, sowohl von der Verwaltungs-
bürokratie als auch von der Legislative unabhängigen Einfluss zu
sichern, so hat sich das in der letzten Zeit geändert. Durch die Zutei-
lung eines weitgehenden Ermessensspielraums an die Justiz auf dem
heute besonders wichtigen Gebiete des Liegenschaftszwangsvollstre-
ckungsrechts ebenso wie durch den Abbau der rechtsstaatlichen Garan-
tien im Strafrecht – beides Folgen der Notverordnungspraxis – sind Jus-
tiz und Verwaltung im Aufgabenkreis wie in der gemeinschaftlichen
Einschätzung ihrer Funktionen im Staatsganzen einander erheblich
nähergekommen. Die Feststellung, dass ein »verringerter Druck der
parlamentarischen Gewalten auf die Regierungsgewalt für das freund-
nachbarliche Verhältnis zwischen Regierungsgewalt und Rechtspre-

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508 [35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933]

chung und für die Achtung der gegenseitigen Grenzen erforderlich


ist«,14 drückt allzu bescheiden die wachsende Vereinheitlichung und
Zusammenfassung der bürokratischen Staatsmacht aus. Auf ideologi-
schem Gebiet spiegelt sich dieser Prozess in den theoretischen Ver-
suchen wider, das Beamtentum als unmittelbaren selbständigen Träger
der Nation hinzustellen, dessen politische, aber natürlich nicht partei-
politische Haltung ihm eine höhere Rangstufe als den politischen Par-
teien verschafft.15 Wie schwach diese ideologische Stellung freilich ist,
zeigt sich in dem ebenso krampfhaften wie vergeblichen Bemühen, den
Begriff des Hoheitsbeamten von dem Zufallsbeamten der Wirtschafts-
verwaltung abzugrenzen. Mit dieser Macht, deren für die Entwicklung
eines demokratischen Sozialismus gefährliche Rolle heute klar zutage
tritt, müssen auch die Verfassungsreformpläne rechnen. Es ist nicht
sinnvoll, heute Institutionen zu empfehlen, die im gegenwärtigen
Augenblick die Vormachtstellung dieser Bürokratie nur zu unterbauen
imstande sind, wie dies etwa dann der Fall ist, wenn man dem Reichs-
präsidenten die Befugnis, einen selbständigen Volksentscheid gegen
das Parlament durchzuführen, geben will. Was in einer sozialistischen
Staatsordnung mindestens theoretisch sinnvoll ist, da hier zwei nicht
vorwiegend von divergierenden Interessen beseelte Körperschaften die
Entscheidung des Volkes anrufen, sondern tatsächlich um die sachliche
Richtigkeit einer Maßnahme gekämpft würde, bedeutet im heutigen
Staat eine durch nichts gerechtfertigte Machtsteigerung der selbständi-
gen Bürokratie. Man liefert ihr damit die Ansatzpunkte zu einer plebis-
zitären Diktatur, die ja nach bekannten geschichtlichen Erfahrungen am
Volksentscheid nur so weit Interesse hat, als sie dadurch ihre usurpierte
Machtstellung sich vom Volk nachträglich legitimieren lässt. Die Frage
der Ersetzung der Volkswahl des Präsidenten durch eine Vertretungs-
körperschaft, quasi als Gegengewicht gegen die durch die Verleihung
eines selbständigen Rechts zum Volksentscheid vermehrte Unabhän-

14 Gebhard: »Der Vorrang der Regierungsgewalt« in »Zeitschrift für Politik«,


November 1932. [Ludwig Gebhard: Der Vorrang der Regierungsgewalt, in: Zeit-
schrift für Politik, Jg. 22, Köln 1933, S. 497-509.]
15 Diese Tendenzen treten klar hervor in dem Referat Köttgens über die 8. Tagung
der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer, »Archiv für öffentliches Recht«,
Neue Folge 21. Band, 3. Heft. Über die Rolle des Beamtentums, insbesondere
über die Versuche, seine Institutionalisierung in den althergebrachten Formen
1918 zu verhindern, vergleiche die aufschlussreichen Bemerkungen bei Holborn,
»Historische Zeitschrift«, Bd. 147, Heft 1. [Arnold Köttgens: Die achte Tagung
der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer, in: Archiv des öffentlichen Rechts,
N. F. 21, Tübingen 1932, S. 404-431; Hajo Holborn: Verfassung und Verwaltung
der deutschen Republik, in: Historische Zeitschrift, Band 147, Heft 1, München/
Berlin 1933, S. 115-128.]

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gigkeit der Exekutive, dürfte keine allzu große Bedeutung besitzen. Hat
eine Bürokratie in einem klassengespaltenen Land wie Deutschland
eine so starke Möglichkeit zur Verselbständigung, so wird ihr theoreti-
sches Rüstzeug durch die Berufung auf die zugleich »plebiszitäre und
autoritäre Rolle des Reichspräsidenten« (Carl Schmitt)16 zwar gestärkt,
praktisch aber wird in einer solchen Situation auch ein von einer Ver-
tretungskörperschaft gewählter Präsident auf die Dauer den Verselb-
ständigungstendenzen der Bürokratie keinen entscheidenden Wider-
stand entgegensetzen. Die deutsche Nachkriegsgeschichte kennt
genugsam Beispiele von Politikern, die, Minister geworden, als Chefs
ihrer Verwaltung, obwohl sie doch mehr unmittelbare Verbindung zu
Parlament und Partei bildeten als der Reichspräsident, lediglich das
parlamentarische Vertretungsorgan ihrer jeweiligen Bürokratie gewor-
den sind.
Die Einsetzung berufsständischer Körperschaften wird bekanntlich
auch in Sozialistischen Reihen verschieden beurteilt. Zu der Frage ob
für eine sozialistische Demokratie solche Körperschaften sinnvoll sind,
soll hier nicht Stellung genommen werden;17 hier ist lediglich zu fra-
gen: Können der Sache einer sozialistischen Demokratie unter den kon-
kreten deutschen Verhältnissen durch die Einführung einer solchen
Körperschaft Vorteile erwachsen? Es scheint utopisch zu glauben, dass
dort, wo politische, also der Intention nach doch immer auf das Ganze
gerichtete Parteien kaum einen Ausgleich finden können, eine Zusam-
mensetzung berufsständischer Interessenvertreter, die keine andere
Aufgabe haben können, als jeweils das Maximum des für ihre Gruppe
Erreichbaren zu erkämpfen, hier entscheidenden Wandel schaffen
könnten. Dazu kommt noch, dass, selbst wenn man den Arbeitnehmern
den Einfluss sichert, auf den sie ihrer Organisationsstärke nach
Anspruch erheben können,18 lediglich der Status quo unserer heutigen
Wirtschaftsverfassung sich dort widerspiegeln kann. Hieran dürfte die
organisierte Arbeitnehmerschaft am allerwenigsten ein Interesse haben.
Die Sozialdemokratie wird daher von einer Verfassungsreform, die sich
im Rahmen der gegenwärtigen Machtvertretung vollzieht, nicht viel zu
erwarten haben.

16 [Vergleiche: Carl Schmitt: Der Hüter der Verfassung, 3. Auflage, Tübingen 1931,
S. 156-159.]
17 Carl Landauer: Planwirtschaft und Verkehrswirtschaft,[ München/Leipzig] 1931,
S. 148 ff.
18 Vergleiche die dahin zielenden Erörterungen bei Simons in »Neue Blätter für
den Sozialismus«, 1932, S. 585. [Hans Simons: Verfassungsreform? Wie soll sie
aussehen?, in: Neue Blätter für den Sozialismus, Jg. 3, Heft 11, Potsdam 1932.]

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510 [35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933]

Der programmatischen Forderung, dass wir in den neuen politischen


Kampf mit einem Gesamtprogramm des Staats- und Wirtschaftsum-
baus eintreten müssten (Simons), wird man der Tendenz nach jedoch
durchaus zustimmen können. Nur wird man dabei nicht vergessen
dürfen, dass das Bild eines zukünftigen sozialistischen Staatsaufbaus
nicht heute schon die konkreten Formen wird annehmen können wie
ein sozialistisches Wirtschaftsprogramm. Dass eine sozialistische Ver-
fassung die Herrschaft der Gesamtheit über die Wirtschaft, die Vertre-
tung der Arbeiter und Angestellten in der Leitung ihrer Betriebe, die
Ersetzung der höheren Bürokratie durch verantwortliche Funktionäre
der breiten Bevölkerungsschichten, für die Zukunft gesichert durch die
Vernichtung des bürgerlichen Bildungsmonopols, mit der Erhaltung
der persönlichen Freiheit des Individuums verbinden muss, steht außer
Streit. Dieses, unser Programm des demokratischen Sozialismus sollen
und wollen wir überall verkünden. Aber die Erfahrungen aller großen
Revolutionen haben uns gelehrt, dass, wie unwandelbar auch heute
schon diese große Linie einer zukünftigen Staatsgestaltung feststeht, es
ein unmögliches Unterfangen darstellen würde, die konkrete Ausge-
staltung der sozialistischen Staatsführung heute schon programmatisch
feststellen zu wollen. Hängt doch jegliche konkrete Staatsgestaltung
entscheidend davon ab, unter welchen außen- und innenpolitischen
Umständen solche Umformungsprozesse sich vollziehen. Bisher war
die Überzeugung vorherrschend, dass eine kontinuierliche Entwick-
lung unserer politischen Institutionen in dem weiten Rahmen der Wei-
marer Verfassung möglich sei. Die Geschwindigkeit des bürgerlichen
Zerfallsprozesses hat in unserer gegenwärtigen Krisensituation das
Werk von Weimar erschüttert. Denn wir müssen feststellen, dass das
wirkliche Legalitätsinteresse großer politischer Schichten sehr Not
gelitten hat. Da die soziale Entwicklungstendenz sich in der letzten Zeit
zu deutlich nach der sozialistischen Richtung hin abgezeichnet hat,
glaubten manche soziale Gruppen, die geordnete Rückzugsstellung,
die ihnen die Weimarer Verfassung gewährt, verlassen und die Mög-
lichkeit zu einer letzten Offensive nicht verstreichen lassen zu dürfen.
Es wäre falsch zu verkennen, dass die konkrete Verfassungsentwick-
lung nur das Produkt eines solchen Kampfes sein kann. Denn letztlich
sind nicht die Revolutionen Geschöpfe der Verfassung, sondern die
Verfassungen meistens das Denkmal einer gelungenen Revolution.

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[36.]
[Rezension:] Adolf Grabowsky: Politik*
[1933]

Dr. Adolf Grabowsky. »Politik.« Industrieverlag Spaeth & Linde. [Wien]


1932. 342 S.
Der Bereich dessen, was man herkömmlich »Politik« nennt, wird von
der Wissenschaft in einer Vielzahl von Disziplinen behandelt;
Geschichte und Staatslehre, Wirtschaftspolitik und Soziologie – um hier
nur die wichtigsten Sachgebiete zu nennen – vermitteln Erkenntnisse,
die für den Politiker die Grundlage seines Handelns abgeben können.
Ist es deshalb zweckmäßig, in einer Zeit, in der die Fülle neu andrän-
genden Tatsachenstoffes allen Wissenschaftszweigen fast allzu viel
Rohmaterial zuführt, eine gesonderte »Politikwissenschaft« aufzustel-
len? Über diese methodische Frage kann man umso mehr geteilter Mei-
nung sein, als man hört, dass die Aufgabe dieser Wissenschaft nicht
über das Sachgebiet der bisherigen Disziplinen hinausgehen soll, son-
dern nur ihre Zusammenfassung für einen unmittelbar praktischen
Zweck darstellt, nämlich den: Gestaltungsprinzip zu sein für die Bil-
dung der Führerschicht. Man kann diese methodischen Zweifel nicht
mit dem Hinweis auf die Tatsache zum Schweigen bringen, dass es
Hochschulen und Zeitschriften für Politik gibt. Dies sind sicherlich sehr
verdienstvolle und notwendige Institutionen; aber sie erfordern keine
neue Wissenschaft, sondern beschäftigen sich mit ausgewählten Stü-
cken aus den verschiedenartigsten Wissenschaftsdisziplinen. Hierbei
kommt sicher der in Deutschland lange Zeit nicht genügend gewürdig-
ten deskriptiven Erfassung außenpolitischer wie auch allgemein staats-
politischer Vorgänge eine große Bedeutung zu. Schon das Auswahl-
prinzip der behandelten Gegenstände lässt sich aber nicht einmal allge-
mein als politisch definieren, da der Charakter des Politischen sich
bekanntlich einer eindeutigen Feststellung entzieht und in verschiede-
nen Ländern hierüber recht verschiedene Meinungen bestehen.
Auch das vorliegende Werk konnte bei dem Charakter dieser »Wissen-
schaft« eine gewisse Willkür in der Auswahl der behandelten Sachge-

* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 10, Heft 2, Berlin 1933, S. 173-175. – Zu diesem Text vergleiche in der Ein-
leitung S. 111.]

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512 [36.] [Rezension:] Adolf Grabowsky: Politik [1933]

biete nicht vermeiden. Es bietet sich deshalb auf weiten Strecken das
Bild einer bunten Fülle der behandelten Sachgebiete, die untereinander
nur in losem Zusammenhang stehen. Bei der unerschöpflichen Zahl der
behandelten Objekte kann so eine große Anzahl interessierender und
geistreicher Fragen aufgeworfen werden, ohne dass es auch nur mög-
lich wäre, den Objektzusammenhang der einzelnen Sachgebiete ausrei-
chend zu klären. Der Verfasser meint, dass die »Politikwissenschaft«
mehr sein solle als Kontemplation, nämlich »Aufruf zur Tat«. Er betont
deshalb durchweg den dynamischen Charakter dieser Wissenschaft. Im
Gefolge dieser Anschauung wird die Festlegung auf eine bestimmte
wissenschaftliche Methodik abgelehnt. Dafür wird versucht, durch Ein-
beziehung jeder weltanschaulichen, politischen und sozialen Problema-
tik ein möglichst seinsadäquates Bild zu liefern. Ob aber auch durch
den Methodensynkretismus, der durch dieses Vorgehen in einem
gewissen Maße bedingt ist, bei aller erfreulichen Offenheit gegenüber
jeglicher Zeitproblematik das vom Verfasser erstrebte »Führungswis-
sen« erreichbar ist, bleibt fraglich. Allen Erfahrungen zufolge war es
stets die Geschlossenheit von Welt- und Lebensanschauung auf allen
dem jeweiligen Autor zugänglichen Gebieten der Erfahrung, die immer
im höchsten und besten Sinne »bildend« gewirkt hat. Gerade die
Schriften des vom Verfasser so herb kritisierten Jakob Burckhardt mit
seinem durchgehenden kontemplativen Idealismus, der »Kontempla-
tion als Freiheit im Bewußtsein der Gebundenheit«, ist eine nicht zu
unterschätzende Quelle politischer Bildung, deren Bedeutung im heuti-
gen Deutschland noch immer im Anwachsen begriffen scheint.
Was nun die einzelnen behandelten Sachgebiete angeht, so kann hier
nur auf einen kleinen Teil der fast alle geisteswissenschaftlichen
Gebiete berührenden Ausführungen eingegangen werden. Der erste
Teil, zusammenfassend die »theoretische Politik« genannt, bringt eine
Auseinandersetzung mit den Hauptströmungen der modernen Staats-
lehre. Aus der besonderen Situation dieser dynamischen »Politikwis-
senschaft« heraus muss unter Ablehnung der reinen Rechtslehre eine
organizistische Staatstheorie vertreten werden, die aber offensichtlich
nur den Unterbau für die theoretische Behandlung der dem Verfasser
am meisten am Herzen liegenden außenpolitischen Probleme liefert.
Hier versucht der Verfasser, Staatstypen je nach ihrer mehr außen- oder
innenpolitischen Einstellung herauszuarbeiten. Dabei wird die Proble-
matik der klassengespaltenen Gesellschaft, das Verhältnis von Staat
und Gesellschaft in unserer Zeit, keineswegs übersehen. Die vielge-
brauchten Wendungen von Pluralismus und Polykratie werden mit vol-
lem Recht auf die dualistische Sozialgrundlage unseres Staates zurück-

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[36.] [Rezension:] Adolf Grabowsky: Politik [1933] 513

geführt. Aber diese ganze Problematik tritt für Grabowsky doch hinter
dem Gedanken des Staates als außenpolitischer Einheit zurück. Gerade
bei der Behandlung Sowjetrusslands und Italiens wird der Gesichts-
punkt der angeblichen Überwindung dieses Dualismus scharf hervor-
gekehrt. Im Zusammenhang mit dieser betont außenpolitischen Sicht
steht wohl eine gewisse Überschätzung aller intellektuellen Faktoren.
Insbesondere lässt das Kapitel über Religion, Fiktionen und Mythen
eine Auseinandersetzung oder auch nur Erwähnung des Mann-
heim‘schen Buches über »Ideologie und Utopie«1 vermissen, die zu
einer generellen Klärung des für den Verfasser so wichtigen Führungs-
problems sowie der Problematik der intellektuellen Elite sehr nützlich
gewesen wäre.
Die betont außenpolitische Einheitsvorstellung kehrt besonders deut-
lich im zweiten Teil »Weltpolitik« wieder. Auf eine sozialgeschichtliche
Darstellung der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung folgt ein Deu-
tungsversuch des Imperialismus, für den der Verfasser ein Dreistadien-
gesetz bereithält, das vom Feudal- über den Kommerzial- zu einem
durchaus nicht negativ wertbetonten Sozialimperialismus führt. Dieses
Kapitel, das zu den interessantesten und geistreichsten des ganzen
Buches zählt, beruht nicht auf einer Analyse ökonomischer Faktoren,
sondern auf einer rein subjektiven Sinndeutung des geschichtlichen
Geschehens. Umso mehr scheint der Verfasser gerade an dieser Stelle
bemüht, einen notwendigen Entwicklungszusammenhang aufzuzei-
gen. Die folgenden Kapitel über die deutsche Politik enthalten eine vor-
urteilsfreie Studie über die Sozialstruktur des Vor- und Nachkriegs-
deutschlands. Hieran schließen sich höchst problematische Erörterun-
gen über die Frage einer Zentralpartei und die Führerelite in einer
»nicht vulgärdemokratischen Demokratie« an. Wie in dem ganzen
Buch, so werden speziell in diesem Kapitel die innerpolitischen Pro-
bleme vom Einheitsdrang der nationalen Außenpolitik überschattet.
Nur von diesem Standpunkt aus ist die Weitherzigkeit der Bewertung
verständlich, die für Demokratie, bündische Gemeinschaft und den
»großen Heilbringer« im Grunde gleich offen ist. Es ist ersichtlich, dass
das Verhältnis von innerstaatlicher Struktur und Außenpolitik, obwohl
gerade hier eines der Hauptinteressengebiete des Verfassers liegt,
durch die Überbetonung eines Faktors nicht gelöst werden kann. Die
Position Stresemanns wird gut und keineswegs zu scharf im Gesamt-
bild des verflossenen Jahrzehnts gezeichnet. Die Möglichkeiten der
deutschen Außenpolitik, als deren ständiger und aufmerksamer Beob-

1 [Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, Bonn 1929.]

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514 [36.] [Rezension:] Adolf Grabowsky: Politik [1933]

achter der Verfasser längst bekannt ist, sind sorgfältig abgewogen,


wobei besonders die Warnung vor einer Überschätzung der italieni-
schen Freundschaft ins Auge fällt. Nur ungern sieht man in diesem
außenpolitischen Rahmen eine eigenartige Behandlung des Kolonial-
problems. Obwohl der Verfasser klar sieht und betont, dass eine Rück-
gabe sowohl der asiatischen als auch der Südseekolonien und auch der
Gebiete Deutsch-Ostafrikas und Deutsch-Südwestafrikas aus politi-
schen Gründen nicht in Betracht kommen kann, wertet er die Möglich-
keit, eventuell Teile von Kamerun oder Togo zurückzuerlangen, positiv.
Dabei ist der Verfasser so ehrlich, die Unmöglichkeit von Massensied-
lungen dort zuzugeben und kommt in Verfolg der »seelischen Behand-
lung« des Kolonialproblems auf den Gedanken, dort die überschüssige
Intelligenz unterzubringen. Wie man auch zum Kolonialproblem ste-
hen mag, man sieht an diesem Beispiel, dass es selbst einem hervorra-
genden außenpolitischen Schriftsteller manchmal schwer fällt, offizielle
außenpolitische deutsche Thesen mit rationalen Erwägungen zu
begründen. Hingewiesen sei noch auf das interessante Bild der angel-
sächsischen Weltmächte, das der Verfasser am Schluss des Buches ent-
wirft und das ein gelungenes Gegenstück zu dem im Handwörterbuch
der Soziologie vom Verfasser gegebenen Russlandbild2 darstellt

2 [Adolf Grabowsky: Bolschewismus, in: Alfred Vierkandt (Hg.): Handwörterbuch


der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 81-90.]

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515

[37.]
Marxismus, Diktatur und Organisationsform des
Proletariats*
[1933]

In einer Zeit, in der das Bekenntnis zu dem Marxismus als Zeichen


nationaler und menschlicher Minderwertigkeit angesehen wird, über-
nimmt die öffentliche Diskussion in weitem Maße den Begriff der Dik-
tatur, der seine entscheidende Prägung im marxistischen Denken emp-
fangen hat. Der Begriff der »Diktatur des Proletariats« im Marxismus
bezeichnet einen bestimmten Punkt der gesamten Entwicklung der
ökonomischen Verhältnisse. Die proletarische Diktatur stellt nur die
äußere Sichtbarmachung und endgültige Durchsetzung eines unter der
Decke der bisherigen Verhältnisse schon vollendeten Prozesses dar.1
Bei einer solchen Fassung des Marx‘schen Diktaturbegriffs wird das
Schwergewicht mit Recht von einer formalen Begriffsbestimmung hin-
weg zur Kennzeichnung eines bestimmten sozialen Entwicklungsstadi-
ums verlegt. Diese Rolle der Diktatur im Aufbau der Marx‘schen Dia-
lektik2 und die spezifische Stellung der Arbeiterklasse in ihr ergibt sich
unmissverständlich aus jener Schrift von Karl Marx, die die Frage der
Diktatur des Proletariats am konkretesten angefasst und durch eine
manchmal ungenügende Berücksichtigung ihres besonderen Zwecks
zu weittragenden Missverständnissen Anlass gegeben hat. In der
Adresse des Generalrats über den Bürgerkrieg in Frankreich wird darauf hin-
gewiesen, dass die Arbeiterklasse kein Wunder von der Kommune ver-
langte, dass sie nur, um ihre eigene Befreiung und mit ihr jene höhere
Lebensform herauszuarbeiten, der die gegenwärtige Gesellschaft durch
ihre eigene ökonomische Entwicklung unwiderstehlich entgegenstrebt,
lange Kämpfe, eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse durchzuma-
chen habe, durch die die Menschen wie die Umstände gänzlich umge-

* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 10, Heft 3, S. 230-239. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung
S. 106-108. ]
1 Vergleiche die Erörterung über den Begriff der Diktatur des Proletariats, die
[Ernst] Troeltsch in »Der Historismus und seine Probleme« anstellt. [Tübingen]
1922, S. 333.
2 Dass der Marx‘sche Diktaturbegriff keineswegs formaljuristisch zu erfassen sei,
wird von [Arcadius Rudolf Lang] Gurland in seiner Polemik gegen Otto Bauer
und Max Adler »Marxismus und Diktatur«, Leipzig 1930, S. 66 ff betont.

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516 [37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933]

wandelt würden. Das dem Begriff eigene mit der Marx‘schen Gesamt-
konzeption in engstem Zusammenhang stehende Moment ist damit die
notwendige Verknüpfung der Aktion des Proletariats mit einem
bestimmten ökonomischen Reifezustand der Gesellschaft. Beides ist
untrennbar und bedingt sich gegenseitig. Darüber hinaus ergab sich für
Marx die Vorstellung der Diktatur aus dem Sprachgebrauch seiner Zeit,
der von ihm schon im Kommunistischen Manifest aufgenommen und
insbesondere in den historisch-politischen Schriften, in denen er sich
mit den französischen Verhältnissen beschäftigte, verwendet wurde.
Diktatur bedeutet hier das rein tatsächliche Moment der Herrschaft einer
Klasse oder einer Gruppe über die andere, unabhängig wiederum von
den Rechtsformen, in denen sich diese Herrschaft vollzieht. Diese letz-
tere Bedeutung des Wortes Diktatur kommt vorzüglich in der Einlei-
tung zum Ausdruck, die Paul Levi zu Rosa Luxemburgs nachgelasse-
nen Bemerkungen über die russische Revolution geschrieben hat. Dort
heißt es:
»Diktatur des Proletariats, jetzt können wir sehen, was sie ist. Sie ist
kein Zustand, der in den breiten Regionen der Sozialphilosophie sich
abspielt, sie ist keine patentierte Staatsform, die eine geheime Kraft in
sich birgt. Sie ist die eroberte Staatsgewalt dann und so lange, als der
Wille, die Kraft, die Begeisterung, die Siegeszuversicht der proletari-
schen Klasse hinter ihr steht.«3
Der Auffassung der Diktatur bei Marx ist jedoch im Widerstreit der
Interessen und Meinungen innerhalb der Arbeiterparteien der Welt
immer viel weniger Beachtung geschenkt worden als dem Fragenkom-
plex, der sich mit dem Verhältnis von Demokratie und Diktatur im for-
malpolitischen Sinne, mit der Möglichkeit der Demokratie als Rechts-
form, in der sich die proletarische Diktatur vollzieht, beschäftigt. Hier-
bei hat man auf die Engels‘sche Formulierung der Demokratie als der
spezifischen Form der Diktatur des Proletariats sehr oft Bezug genom-
men, ohne dass freilich immer mit erwähnt wurde, dass Engels an die-
ser Stelle der Kritik des Erfurter Programmentwurfs in erster Linie den
Begriff Demokratie als antithetischen Gegensatz zur halbfeudalen Mili-
tärmonarchie in Deutschland im Auge hatte. An keiner Stelle der Marx-
Engels‘schen Erörterungen findet sich aber ein Hinweis darauf, dass
die Staatsform der Demokratie mit den für sie typischen Einrichtungen
im Prozess der dialektischen Zuspitzung der Entwicklung zur Diktatur
des Proletariats eine notwendige Vorform der proletarischen Diktatur

3 Rosa Luxemburg, »Die russische Revolution«. Eine kritische Würdigung. Heraus-


gegeben und eingeleitet von Paul Levi. Berlin 1922. S. 59.

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[37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933] 517

gebildet hätte. Marx geht seit dem Kommunistischen Manifest ständig


von der Tatsache aus, dass die Herrschaft des Proletariats die Herr-
schaft der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehr-
zahl bilden müsse. Daraus ergibt sich, dass dort, wo eine historisch
meist unter entscheidender Mitwirkung des Proletariats erkämpfte
Demokratie besteht, eine maximale Chance für die friedliche Umwand-
lung des bürgerlichen in einen proletarischen Staat gegeben ist. Diese
Chance ist von Land zu Land, je nach der ökonomisch-politischen
Situation verschieden und ist zu verschiedenen Zeiten und für ver-
schiedene Länder von Marx und Engels unterschiedlich gewertet wor-
den.
Sicher ist für Marx lediglich, dass die Demokratie des 19. Jahrhunderts
die typisch letzte Staatsform ist, das heißt die, die nach ihren Entste-
hungsbedingungen – sowohl was die politisch bereits erreichte Organi-
sation des Proletariats, als auch die ökonomische Reife der Gesellschaft
anlangt – eine solche Form der bürgerlichen Gesellschaft darstellt, in
der der Klassenkampf – wie Marx in der Kritik des Gothaer Programm-
entwurfs bemerkt – definitiv ausgefochten werden muss.
Über die Möglichkeit, diese Umwandlung innerhalb einer bestehenden
Demokratie friedlich durchzuführen, haben selbstverständlich auch
Marx und Engels nur Vermutungen aufstellen können. Auch die
bekannte Engels‘sche Einleitung zu Marx’ »Klassenkämpfen in Frank-
reich« enthält auch bei Zugrundelegung des vollständigen
Engels‘schen Textes, nur Betrachtungen über die mögliche Entwick-
lung, die an konkrete Erfahrungen der letzten Lebensepoche Engels’
anknüpfen. Hierbei ist selbstverständlich, dass das Proletariat als Ver-
treter des Entwicklungsinteresses der Gesamtgesellschaft an einer
Gestalt des Übergangs interessiert ist, die die Konflikte auf ein Mini-
mum herabdrückt; ein Gedanke, den Marx einmal in die Form kleidet,
es wäre schön, wenn man die Landlords aufkaufen könnte.
Nicht nur die Frage nach der Form des Übergangs von der bürgerlich-
demokratischen Republik zur Diktatur des Proletariats bleibt eine dem
konkreten historischen Ablauf überlassene Frage. Die Erscheinungen,
die wir gemeinhin unter dem Schlagwort Faschismus zusammenfassen,
lassen es überhaupt fraglich erscheinen, inwieweit zunächst für rück-
ständigere Verhältnisse noch der bürgerlich-parlamentarisch-demokra-
tische Staat mit einem gewissen Anspruch auf Allgemeingültigkeit als
die der Diktatur des Proletariats vorhergehende Staatsform angesehen
werden kann und ob die Übergangsepoche vom Kapitalismus zum

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518 [37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933]

Sozialismus die Demokratie überhaupt als eine Konstante aufweisen


wird.
Jede marxistische Analyse enthält Aussagen über die Rolle des Mittel-
stands sowohl als auch des Lumpenproletariats im Prozess der Revolu-
tion. Schon im Kommunistischen Manifest haben Marx und Engels auf
die Möglichkeit der Wahl, die der Mittelstand im politischen Prozess
hat, hingewiesen. Mit einer fast prophetischen Gabe wird dort erkannt,
dass das Lumpenproletariat als passive Verfaulung der untersten
Schichten der alten Gesellschaft, einmal durch die proletarische Revo-
lution in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage
nach dazu bereit sein wird, sich zu reaktionären Umtrieben kaufen zu
lassen. Auch in den »Klassenkämpfen in Frankreich« und im »18. Bru-
maire des Louis Napoléon Bonaparte« wird die gesellschaftliche und
die politische Rolle jener Schichten eingehend beleuchtet und ihnen im
Ablauf der politischen Geschehnisse der ihnen gebührende Raum
angewiesen. So sehr also der Historiker Marx den Anteil jener Schichten
in Rechnung stellt – in der Gesamtkonzeption der dialektischen Ent-
wicklung erhalten sie keinen selbständigen Platz; sei es, dass sie im
geschichtlich entscheidenden Moment, wie dies Marx in der »Adresse
des Generalrats über den Bürgerkrieg in Frankreich« für das Pariser
Kleinbürgertum feststellt, sich der Klasse unterordnen, die als einzige
noch einer gesellschaftlichen Initiative fähig ist; sei es deshalb, weil die
Gestalten der Verwirklichung bei Marx überhaupt nur nebenbei und
skizzenhaft, meist mit polemischer Absicht erscheinen, wie dies etwa in
der Gothaer Programmkritik von 1875 zum Ausdruck kommt. Hier ste-
hen von der Realität immer wieder erneut aufgegebene Fragen im Vor-
dergrund, die auch Marx nur jeweils von den konkreten Ansatzpunk-
ten, die ihm seine Zeit bot, beantworten konnte und wollte. Hier weiter
zu gehen, wäre ihm als utopische Phantastik erschienen; denn bekannt-
lich übernahm er es keinesfalls, die politischen Formen der Zukunft zu
entdecken.
Heute ist jedoch nicht nur eine objektive Verschärfung der Klassenge-
gensätze zu beobachten. Es bilden sich vielmehr selbständige bewaff-
nete politische Privatarmeen, die nicht primär als Partei, sondern als
bewaffnete Kampftruppe entstehen. Sie stoßen zu dem ausschließlichen
Zweck politischer Machtgewinnung zu bestimmten sozialen Gruppen
hinzu, um mit ihrer Hilfe und Unterstützung die Staatsmacht in ihren
ausschließlichen Besitz zu nehmen. Die Tendenz ihrer Führerschichten
geht dabei zunehmend nicht auf soziale Veränderung; vielmehr
geschieht die Unterstützung bestimmter sozialer Gruppen lediglich mit

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[37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933] 519

der Berechnung, dadurch ihre politische Herrschaft zwecks der Aus-


beutung des staatlichen Machtapparates zu stabilisieren.
Damit ist aber der Mechanismus der parlamentarischen Demokratie,
der auf der Balancierung sozialer Kräfte unter Berücksichtigung ihrer
Veränderungen durch die jeweiligen Wahlentscheidungen beruht, zer-
stört. Nunmehr vollzieht sich die politische Entscheidung nicht nur
außerhalb des Parlaments, wie dies durch selbständige Vereinbarung
der sozialen Gegenspieler unter entscheidender Mitwirkung der Büro-
kratie an sich möglich wäre; sie enthält überhaupt nicht mehr die Ten-
denz zur jeweiligen Ausgleichung der sozialen Kräfte, die offenbar
heute kein anderes technisches Mittel zur Verfügung haben als das Par-
lament. Denn jene Gewalt, die jetzt nach der Herrschaft greift, kann aus
ihrem eigensten Lebensinteresse heraus der Arbeiterschaft nicht mehr
den Freiheitsraum gewähren, den diese zur Organisierung ihrer Kräfte
gebraucht und den ihr auch ihr schärfster Gegenspieler, das Großbür-
gertum, aus eigener Kraft bisher niemals entziehen konnte. Der Faschis-
mus hat hierin keine Wahl. Er muss diese Kräfte nach dem Gesetz, nach
dem er angetreten, durch den schärfsten bürokratischen Zwangsappa-
rat niederhalten. Damit ist aber für die Länder, die in der Perspektive
der faschistischen Herrschaft stehen, der offene Antagonismus zwi-
schen der sich hier durchsetzenden politischen Form und dem ökono-
mischen Reifegrad in den Fällen ausgebrochen, in denen jene Länder
(wie Deutschland) sich nicht mehr im Stadium eines erst zu schaffen-
den, sondern eines bereits entfalteten Kapitalismus befinden.4 Die Mög-
lichkeit eines doppelten Fortschritts, eines Schritthaltens der politischen
mit der ökonomischen Entwicklung, wie er sich in der Vorstellung des
Übergangs von einer inhaltlich von bürgerlichen zu einer inhaltlich von
proletarischen Kräften beherrschten Demokratie ausdrückt, ist damit in
Frage gestellt. Dort, wo eine bewaffnete Gewalt selbsttätig in die soziale
Entwicklung eingreift und die erlangte Macht für und gegen gewisse
soziale Schichten in die Waagschale wirft, wird dem Proletariat unter
Umständen der demokratische Weg versperrt. Mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit zeichnet sich dann die Konstellation ab, die das Lin-
zer Parteiprogramm der deutsch-österreichischen Sozialdemokratie

4 Es sei hier auf den Aufsatz von [Franz] Borkenau »Zur Soziologie des Faschis-
mus«, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 68, Heft 5,
[ Tübingen 1932, S. 513-547] hingewiesen. Dort finden sich eingehende Erörterun-
gen über das Verhältnis von Großbourgeoisie und Faschismus. Von der These
aus, dass der echte Faschismus wie jede Diktatur ein Übergangszustand zur
Schaffung des industriellen Kapitalismus ist, wird die Unvergleichbarkeit des
deutschen Nationalsozialismus mit den Diktaturen der kapitalistisch nicht voll-
entwickelten Länder aufgewiesen.

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520 [37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933]

ausdrücklich als möglich vorsieht, dass die Arbeiterklasse die Staats-


macht nur noch in einem ihr aufgezwungenen Bürgerkrieg erobern
kann.
Damit aber verlegt sich das Schwergewicht der Diskussion von der
Frage des demokratischen Übergangs, wie sie die Auseinandersetzung
des letzten Jahrzehnts beherrschte, wiederum zur die Frage der proleta-
rischen Diktatur. Der Ort der Auseinandersetzung zwischen west- und
mitteleuropäischem Sozialismus und russischem Bolschewismus erlei-
det damit eine Verschiebung. Die Diskussion selbst wird sich aber
umso intensiver gestalten müssen, als im Bolschewismus eine
geschichtlich wirksam gewordene Ideologie sich vorfindet, bei der
sowohl theoretische Aussagen wie praktische Erfahrungen zu berück-
sichtigen sein werden. Ihre theoretische Gestalt findet die Lehre von
der Diktatur des Proletariats in Lenins »Staat und Revolution«. Diese
Schrift stammt aus dem Sommer 1917, jener kurzen, aber geschichtlich
entscheidenden Zeitspanne, die den Raum zwischen der bürgerlichen
und der kommunistischen Revolution Russlands umfasst. Sie kann des-
halb noch nichts von den praktischen Erfahrungen der zweiten russi-
schen Revolution enthalten und ist gerade deshalb besonders interes-
sant, weil in ihr die Lenin‘sche Konzeption des proletarischen Staates
unabhängig von ihrer Realisierung in den russischen Verhältnissen sich
ausprägt. Von ihr auszugehen ist auch deshalb gerechtfertigt, weil sie
in der sowjetrussischen Literatur, übrigens nicht nur in ihr,5 bekannt-
lich als geradlinige Fortsetzung der Marx‘schen Lehre von der Diktatur
des Proletariats immer wieder angesehen wird und in Russland der
Ausgangspunkt der offiziellen Staatstheorie geworden ist.
Ihre Eigenart liegt in dem antithetischen Verhältnis zwischen dem Ele-
ment der Gewalt nach außen im sozialen Raum und dem Element der
Herrschaftslosigkeit nach innen, das sich in der ganzen Beweisführung
offenbart. Mit Wohlgefallen und besonderer Betonung zitiert Lenin den
Engels‘schen Satz von der Revolution als der autoritärsten Sache, die es
gibt, als einem Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung seinen Willen
dem andern Teil durch Flinten, Bajonette und Kanonen aufzwingt. Und
er überschüttet die parlamentarisch-demokratische Ideologie, die

5 Diese Neigung zur Identifizierung von Marx und Lenin kommt stark zum Aus-
druck in einer beachtenswerten Darstellung der marxistischen Staatstheorie
durch Shermann H. M. Chang: »The Marxian Theory of the State«, Philadelphia
1931. Interessanterweise betont sowohl [John Roger] Commons im Vorwort zu
dieser Arbeit wie der chinesische Verfasser selbst die ungeheure Wichtigkeit der
richtigen Erfassung der Marx‘schen Lehre für die konkreten chinesischen Ver-
hältnisse.

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[37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933] 521

damals in West- und Mitteleuropa wie auch in den entsprechenden Par-


teien Russlands in Blüte stand, mit dem Hohn des Politikers, dem die
Zeitgeschichte den Beweis des Gegenteils bündig geliefert zu haben
scheint. Dabei erweist sich Lenin, den revolutionären französischen
Traditionen folgend, als Anhänger des Zentralismus und bezeichnet
den Hang zur föderativen Republik als »kleinbürgerliches Vorurteil«.
Demgegenüber steht aber die Vorstellung, dass, wenn die Mehrheit des
Volkes selbst die eigenen Bedrücker unterdrückt, hierfür eine beson-
dere Gewalt nicht mehr nötig sei. Unter ständiger Bezugnahme auf die
Marx‘sche Schilderung der Pariser Kommune von 1871 wird auf die
notwendigen Veränderungen in der Struktur des Beamtentums durch
Wählbarkeit und Absetzbarkeit, auf die generelle Gleichstellung der
Beamten mit den Angestellten und Arbeitern und auf die unermessli-
che Bedeutung der Abschaffung des stehenden Heeres hingewiesen.
Durch diese mit der Expropriation der Expropriateure zu verbinden-
den Maßnahmen wird nach der Anschauung Lenins selbst wieder der
Zustand einer primitiven Demokratie, einer – wie er mit Hinblick auf
die Interessen der Bauern sagt – »billigen Regierung« herbeigeführt.
Diesen naiven Demokratismus sieht Lenin durch die Umwandlung
vom Kapitalismus zum Sozialismus als realisierbar an. Diese »primitive
Demokratie«, wie er sie selbst nennt, ist die einzige seinem theoreti-
schen Horizont eigene Vorstellung von der Verwirklichung der proleta-
rischen Demokratie. Er stellt an seine Kritiker ausdrücklich die Frage:
»Wie anders soll denn sonst der Übergang zur Ausübung der staatli-
chen Funktionen durch die Mehrheit der Bevölkerung, durch das Volk
selbst erfolgen?«6 Diese Primitivität der proletarischen Demokratie im
Rahmen der Diktatur des Proletariats ist ihm nicht Übergangsmaß-
nahme für die Zeit der proletarischen Machteroberung; seine Ausfüh-
rungen lassen vielmehr keinen Zweifel daran, dass er damit sofort mit
einem dialektischen Sprung jenes Stadium erreicht zu haben glaubt, wo
aus der Herrschaft über Personen Verwaltung der Sachen wird. Denn
durch den geschilderten Wegfall jener Attribute des bürgerlichen Staa-
tes sollen die Staatsfunktionen auf ihre technischen, jedermann zugäng-
lichen Bestandteile zurückgeführt werden. Es ist das ausdrücklich her-
angezogene Vorbild der Post als eines Apparates von höchster techni-
scher Vollkommenheit, nach dem nunmehr alle Arbeitenden je nach
den ihnen gemäßen Funktionen Verwaltung ausüben werden.

6 [Wladimir Iljitsch Lenin: Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom
Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution, zweite unveränderte
Auflage, Berlin 1919, S. 35.]

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522 [37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933]

In diese demokratische Schilderung des politischen Objekts der Revo-


lution bringt nun die vorausgesetzte Struktur ihres Subjekts, der prole-
tarischen Partei, eine gegensätzliche Note hinein. Denn in der Partei-
theorie Lenins wird jeder Gedanke an unmittelbare Demokratie ausge-
schlossen. Die bekannte Auffassung von der Notwendigkeit der kon-
spirativen Natur einer hierarchischen Gruppe von Berufsrevolutionä-
ren, jener »mit der Organisation der klassenbewussten Arbeiter ver-
bundenen Jakobiner«, beherrscht die Lenin‘sche Parteitheorie. Es ist die
Lehre von der Notwendigkeit einer heteronomen Disziplin, die nicht
auf einem vorhandenen Massenbewusstsein aufbaut. Es ist jene
berühmte Lehre, die zur Spaltung der russischen Arbeiterbewegung
mit all den schwerwiegenden Folgen, die uns heute die Geschichte
zeigt, führte,7 wie sie Lenin aus den besonderen Erfordernissen des rus-
sischen Absolutismus ableitet.
Gegen diese Lenin‘sche Parteitheorie hat Rosa Luxemburg, damit den
Standpunkt des west- und mitteleuropäischen Proletariats aufgreifend,
schon im Jahre 1904 Front gemacht. Die schroffe Abgrenzung des orga-
nisierten Kerns der Partei von dem ihn umgebenden revolutionären
Milieu erschien ihr als Versuch der Übertragung Blanquistischer Orga-
nisationsprinzipien auf die sozialdemokratische Bewegung der Arbei-
termassen.8 Ihr ist die Sozialdemokratie nicht mit der Organisation der
Arbeiterklasse nur verbunden, sondern sie ist die eigene Bewegung der
Arbeiterklasse. Mit großer Schärfe kritisiert Rosa Luxemburg die
mechanische Übertragung der Prinzipien kapitalistischer Fabrikdiszi-
plin auf die autonome Disziplin der Arbeiterklasse, wie sie bei Lenin
übrigens nach der Revolution noch viel plastischeren Ausdruck
gewinnt als in dem theoretischen Bekenntnis des Jahres 1902.9 Für Rosa
Luxemburg gewinnt das Moment der Spontaneität einen alles überra-
genden Einfluss. Die Partei beschränkt sich hier auf die Zusammenfas-

7 Vergleiche Lenins Aufsatz »Was tun?«, der 1902 erschien und in dem Sammel-
band »Ausgewählte Werke« wieder abgedruckt worden ist. [Wladimir Iljitsch
Lenin: Organisation der Arbeiter und Organisation der Revolutionäre (Aus:
»Was tun?«, 1902), in: Ausgewählte Werke, Band 1, Der Kampf um die soziale
Revolution, Berlin 1935, S. 64-79.]
8 Die Auseinandersetzung erschien in deutscher Sprache in der »Neuen Zeit«, 1904,
Band 22, 2. [Rosa Luxemburg: Organisationsfragen der russischen Sozialdemo-
kratie, in: Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/04, Band 2, Stuttgart 1904, S. 484-449 und
S. 529-535.] Vergleiche dazu auch [Julius] Martows »Geschichte der russischen
Sozialdemokratie«, Berlin 1926, S. 74 ff.
9 Vergleiche etwa Lenins Schrift über die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht,
1918, wo von der widerspruchslosen Unterordnung der Massen unter den ein-
heitlichen Willen der Leiter des Arbeitsprozesses gesprochen wird. [Wladimir
Iljitsch Lenin: Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, Berlin 1918.]

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[37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933] 523

sung des Willens der Arbeiterschaft. Je höher der Grad der Spontanei-
tät, desto vermeidbarer die doppelte Gefahr des Rückfalls in die Sekte
und des Umfalls in die bürgerliche Reformbewegung. Man mag hier
bei Rosa Luxemburg eine allzu geringe Bewertung des immer notwen-
digen Stücks hierarchischer Verselbständigung sehen. Die tiefe Kluft
jedenfalls, die in der Frage des Organisationsstreits klafft, kehrt wieder
in der Beurteilung des von Rosa Luxemburg noch miterlebten Teils der
russischen Revolution.
Der dialektische Sprung von dem Gewaltstaat der proletarischen Dikta-
tur zur Primitivität der proletarischen Demokratie, wie ihn Lenin unter
Berufung auf die Kommune10 theoretisch entwickelte, hat in der Wirk-

10 Wenn sich Lenin hier sehr oft auf die Erfahrungen der Kommune, wie sie Marx
im »Bürgerkrieg« beifällig beschrieben hat, beruft, so muss doch darauf hinge-
wiesen werden, dass seine Betrachtungsweise eine wesentliche Differenz gegen-
über Marx aufweist und Lenin übrigens auch von seinen eigenen früheren
Äußerungen über die Kommune hier abweicht. [Arthur] Rosenberg, »Geschichte
des Bolschewismus«,[ Berlin] 1932, S. 25, hat neuerdings wieder mit Recht auf
die wesentlichen Differenzen hingewiesen, die zwischen der Auffassung von
Marx und der der Kommune bestanden. Wenn Marx sich nach der Niederlage
der Kommune im Bürgerkrieg vor der Öffentlichkeit bedingungslos zu ihr
bekannt hat (was bekanntlich briefliche Kritik nicht ausgeschlossen hat) und
ihre einzelnen Taten für alle Zeiten dem Proletariat als leuchtendes Beispiel vor-
hielt, so besagt das nichts für sein Urteil über die Zweckmäßigkeit ihrer Hand-
lungen und darüber, ob er einen Erfolg unter den gegebenen Bedingungen
überhaupt für möglich gehalten hatte. Es liegt im »Bürgerkrieg in Frankreich«
in erster Linie eine moralische Wertung, die unmittelbaren politischen Charak-
ter durch die scharfe Abhebung jedes einzelnen Akts vom Horizont der bürger-
lichen Welt des 19. Jahrhunderts, der Welt der Herren Thiers und Bismarck,
erhält. In diesem Rahmen bewegen sich auch alle früheren Äußerungen Lenins
über die Kommune, die übersichtlich in der Kleinen Lenin-Bibliothek, Band 5,
unter dem Titel »Lenin: Über die Pariser Kommune« zusammengestellt sind.
[Wladimir Iljitsch Lenin: Über die Pariser Kommune, in: Kleine Lenin Biblio-
thek, Band 5, Wien/Berlin 1931.] In einem Aufsatz aus dem Jahre 1911 [Wladi-
mir Iljitsch Lenin: Dem Andenken der Kommune, in: Rabotschaja Gaseta,
Nr. 4/5, 28. (15.) April 1911, St. Petersburg,] hat Lenin ausdrücklich auseinander-
gesetzt, aus welchen Gründen die Kommune nicht zu einer siegreichen sozialen
Revolution werden konnte (a. a. O. A. 15 [Wladimir Iljitsch Lenin: Dem
Andenken der Kommune, in: Wladimir Iljitsch Lenin: Über die Pariser Kom-
mune, in: Kleine Lenin-Bibliothek, Band 5, Wien/Berlin 1931, S. 13-18]). Er weist
dort auf die fehlenden beiden Bedingungen der notwendigen Entwicklungs-
stufe der Produktivkräfte und damit zusammenhängend, der Reife des Proleta-
riats hin. Man kann aber selbst das heroischste geschichtliche Vorbild, dessen
ungeheure moralische Bedeutung für den Emanzipationskampf des Proletariats
man heute weniger denn je unterschätzen sollte, nur dann für die Fragen der
proletarischen Staatsstruktur heranziehen, wenn man die strukturellen Unter-
schiede und die ungeheure Verschiebung der sozialen Grundlagen, die seit
jener Zeit erfolgt sind, bei jedem konkreten Vergleichspunkt berücksichtigt.
Hiervon nimmt Lenin in »Staat und Revolution« kaum Notiz.

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524 [37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933]

lichkeit Russlands keine Bestätigung gefunden. Für die erste Zeit nach
der Revolution entsprachen allerdings die tatsächlichen russischen Ver-
hältnisse bis zu einem gewissen Punkt der Lenin‘schen Lehre von der
primitiven Demokratie, aber mit einer charakteristischen und wesentli-
chen Differenz. Während Lenin in dem Heimfall aller Funktionen an
die proletarische Masse den Anfang und den Übergang zum Aufbau
einer proletarischen Demokratie sah, bildeten die russischen Sowjets in
ihrer Blütezeit lediglich Organe zur Liquidierung des bisher Bestehen-
den und zur notdürftigen Regelung der nächsten Tagesbedürfnisse. Die
in ihnen erfassten Bevölkerungsschichten, organisierte wie unorgani-
sierte Arbeiter sowie Bauern bildeten zwar mit die wesentlichen Träger
der russischen Revolution, ohne die der Petrograder November-
Umsturz zur Isolierung und damit zum Scheitern verurteilt gewesen
wäre. Aber Ansatzpunkte für die proletarische Demokratie sind sie
doch nicht geworden. Als der Bürgerkrieg mit seiner unabweislichen
Notwendigkeit zur zentralen Zusammenfassung aller Kräfte beendet
war, war praktisch die Staatsstruktur in die Parteistruktur zurückge-
nommen. Die Sowjets waren zu leerlaufenden Attrappen geworden, die
Staatstheorie Lenins mit ihrem dialektischen Gegensatz zwischen der
autoritären Revolution und der primitiven Demokratie endgültig
zugunsten der eindeutig autoritären Parteilehre abgewandelt. Und die
autoritäre Partei hatte im faktischen Staatsaufbau ihre geradlinige Fort-
setzung gefunden.
Damit ist aber die entscheidende Bedeutung der vorrevolutionären
Organisationsform für die Ausgestaltung des proletarischen Staats
selbst außer Zweifel gestellt. Gewiss, viele Mächte und Kräfte wirken
auch hier auf die endgültige Gestaltung der Dinge ein. Neben der
Organisation der proletarischen Partei spielt die Art ihrer Verbindung
mit anderen Volksschichten und deren eigene Organisationsreife bei
der Machtergreifung eine entscheidende Rolle. Je schwächer organisiert
aber jene anderen Schichten sind, desto größer ist die Möglichkeit, sie
baldigst wieder auszuschalten, wie dies der immanenten Tendenz einer
hierarchischen Partei entspricht. Desto größer ist aber auch die Mög-
lichkeit für eine demokratisch organisierte Partei, vom ersten Augen-
blick ab die demokratische Grundlage des proletarischen Staates zu
erweitern. Das russische Beispiel, für das man nicht lediglich außen-
und militärpolitische, also zwangsläufige Tendenzen verantwortlich
machen soll, sondern ebenso die naturgegebene Entfaltung und Über-
tragung der Partei- auf die Staatsstruktur ist ein klassisches Beispiel für
jene Verengung der staatlichen Basis, die die schwerste Gefahr für die
Möglichkeit einer proletarischen Demokratie darstellt, wie dies Rosa

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[37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933] 525

Luxemburg ebenso wie etwa Martow und Dan immer wieder ausge-
führt haben. Mit Recht bemerkt Rosa Luxemburg zu diesem Punkt,
dass die proletarische Diktatur in der Art der Verwendung der Demo-
kratie, nicht in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlossenen Ein-
griffen in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhält-
nisse der bürgerlichen Gesellschaft bestehe, ohne welche sich die sozia-
listische Umwälzung nicht verwirklichen lasse.11
Gewiss, die Verdrängung der Lenin‘schen Staatstheorie durch seine
Parteitheorie findet ihre tatsächliche Grundlage nicht nur in der Stärke
dieser autokratischen Parteiorganisation; der Primitivismus der
Lenin‘schen Demokratievorstellung selbst, die allzu sehr in den Ideen-
gängen der Kommune steckenblieb, trägt der technischen Kompliziert-
heit der Herrschaftsapparatur im 20. Jahrhundert kaum Rechnung.
Gerade das russische Beispiel hat gezeigt, dass die primitive Demokra-
tie bald von einer oligarchischen, Staat und Partei beherrschenden
Bürokratie verdrängt wird. Deshalb ist die Frage des Ausmaßes der
Bürokratie, ihrer notwendigen Beschränkung auf technische Funktio-
nen und die Verhinderung ihres Übergreifens auf politische Entschei-
dungen zugleich eine Frage nach der Möglichkeit und Verwirklichung
einer proletarischen Demokratie. So prägt die Parteiorganisation nicht
nur die Formen für den Gegenwartskampf des Proletariats; sie kann,
wie das russische Beispiel zeigt, auch für die Ausgestaltung des prole-
tarischen Staates selbst ausschlaggebend werden. Gerade an diesen rus-
sischen Organisationserfahrungen wird die mitteleuropäische Arbeiter-
schaft nicht achtlos vorbeigehen dürfen. Lenins Partei lehrt uns die
nicht zu unterschätzende Bedeutung einer fest gefügten, von einem
zentralen Willen beherrschten politischen Organisation für besonders
schwierige Kampfepochen der Arbeiterklasse. Sie lehrt uns aber auch,
dass der Mangel der demokratischen Grundstruktur nicht nur dauernd
innere Konflikte für die Partei heraufbeschwört, sie zeigt, dass dort, wo
die Vertrauensbasis zu schmal ist, die Verbindung und Heranziehung
weiter proletarischer Schichten unmöglich ist und durch einen desto
stärkeren Druck der staatlichen Repressivgewalt wettgemacht werden
muss.

11 Vergleiche a. a. O., S. 116 [Rosa Luxemburg: Die russische Revolution, Berlin


1922, S. 59], und Martows »Thesen über die soziale Weltrevolution und die Auf-
gaben der Sozialdemokratie«, in: »Der Kampf«, Jahrgang 20, S. 237. [Julius Mar-
tow: Über soziale Revolution, Demokratie, Diktatur, in: Der Kampf, Jg. 20, Nr. 5,
Wien 1927, S. 236-242.]

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526 [37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933]

Damit wird aber die proletarische Demokratie innerhalb der Partei


ebenso in Frage gestellt wie die Übergangsmöglichkeit zu demokrati-
schen Institutionen für die großen Massen des arbeitenden Volkes
innerhalb des Staatsgefüges selbst. Es wird die große geschichtliche Auf-
gabe der europäischen Arbeiterklasse sein, hier jene »Mitte« zu finden,
die ebenso Gewähr bietet für die ausschlaggebende Rolle einer festge-
fügten proletarischen Organisation im Endstadium des Kampfes um
die Macht wie für die so notwendige Bewahrung der breitesten Ver-
trauensbasis des ganzen arbeitenden Volkes. Denn nur beides zusam-
men verbürgt nach den reichen Erfahrungen des letzten Jahrzehnts den
Endsieg einer proletarischen Demokratie, die das Ausgangsmotiv aller
Marx‘schen Betrachtung, die Herrschaft des Proletariats als die Herr-
schaft der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehr-
zahl Wirklichkeit werden lässt.

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527

[38.]
The Growth and the Decay of the Weimar
Constitution*
[1933]

German democracy evolved from the Reichstag of the World War, in


the characteristic form to which it adhered until its end, a number of
parties of equal standing, representing the different social and political
strata of the population. Already at that time the Catholic, Social-
Democrat and Liberal parties of the Reichstag performed the functions
of a shadow cabinet. In 1917, when the military situation of Germany
did not yet seem hopeless, Erzberger’s peace resolution, which unfortu-
nately met with no response abroad, expressed the real opinion of the
majority of the population. The organisational basis of this majority,
which under the Ludendorff military dictatorship remained without
influence, was formed by the mass of the Social-Democrat workers in
the trade union, the working class, peasant and middle-class followers
of political Catholicism, and the less numerous but culturally important
Liberals and intellectuals. The political aims of this majority converged
in some ways, and diverged in others. What united them was the
mutual enmity against a régime which even towards the end of the war
disregarded their political ambitions. They were the natural heirs of the
defeated military dictatorship, and it was Ludendorff himself who,
after recognising the unavoidable loss of the war, called his former
opponents into power. In October 1918 these majority parties trans-
formed the old imperial Constitution into a parliamentary one. They
created responsible government but left in his place the Kaiser, who
during the war had voluntarily ceased to be an effective factor in politi-
cal life. Economic understanding between the most important social
factors went parallel to the progress of parliamentary democracy. In
October 1918, before the outbreak of the November Revolution, Karl
Legien, then leader of the German trade unions, concluded the general
co-operation agreement with Hugo Stinnes, leader of the employers.
This became of paramount importance for the future development of
Germany; for while the employers gave way to the inevitable recogni-
tion of the power of the trade unions, they obtained from the trade

* [Erschienen in: The Contemporary Review, Volume 144, No. 815, London/New
York 1933, S. 559-567. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 111-112.]

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528 [38.] The Growth and the Decay of the Weimar Constitution [1933]

unions the withdrawal of their demand for immediate socialisation.


This constituted a concession of immeasurable import and resulted in
grave dangers for the future of German democracy.
The November Revolution, which trailed behind the actual coming into
power of the majority parties, had no considerable influence upon the
Weimar Constitution. For the fundamentals of parliamentary demo-
cratic government were laid down in October, without the question of
Monarchy or Republic figuring elsewhere than in popular discussions.
The later constitutional development, however, was strongly influenced
by the last phase of the revolution, in which workers took up weapons
against workers. After this fight the entire working class was split and
internally weakened for the next decade. On the other hand, the
responsible leaders of that period laid the basis for the perpetuation of
military power. Preferential treatment of the military bodies is a well-
known feature of German history. A comparison of the experiences of
the Third French Republic and of the First German Republic shows
conclusively that at a certain point the alternative arises either of safe-
guarding the Republic and subordinating the army, or of maintaining
the privileged position of the army at the risk of the Republic.
The Weimar Constitution itself embodied the traditional philosophy of
democratic Liberalism. It was indebted to the system of thought, at
once liberal, national, and democratic, to the great tradition of 1789,
which in France displayed such extraordinary efficiency during the
World War. Hugo Preuß, entrusted by President Ebert with the task of
drafting the Constitution, was the dignified representative of a liberal
mind, conscious of the social exigencies of the period. He was also fully
conscious of the fact that a steady and progressive democratic develop-
ment in so great a country demands a unified system of government
instead of numerous bureaucratic regional entities. Preuß, however,
being a disciple of that great theorist of German Genossenschafts (co-
operative) law, Otto von Gierke, and a passionate partisan of municipal
self-government, was anxious to endow the single member states with
a certain amount of responsible autonomous administration. But the
regional obstacles he had to face were so strong that he did not even
succeed in relaxing the clumsy machinery of Prussian administration.
The necessary powers of legislation and to a certain extent also of
administration were, however, conceded to the central government.
Based upon these powers legislation and the leading principles of
administration were progressively unified. When much later the
enlightened civil service despotism of Brüning gave way to Hitler’s ter-

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[38.] The Growth and the Decay of the Weimar Constitution [1933] 529

roristic party dictatorship, there was nothing left but to choose the legal
shape for a development already completed in fact. The foresight of
Preuß is shown by his attempt to give democratic colour to a necessary
trend which now has to end with political measures of a dictatorial
nature, tending not to reconcile the many regional interests but to
increase anti-centralistic tendencies.
The fathers of the Weimar Constitution were fully conscious of the fun-
damental difference which existed between the traditional type of a
Liberal nineteenth-century Constitution based upon property and edu-
cation and a modern twentieth-century constitution entrusted with the
task of building a bridge between the two »nations« within the State.
The late Friedrich Naumann, a representative leader of middle-class
democracy, pointed out that it was one of the main purposes of the
Weimar Constitution to compete with the Bolshevist constitutional con-
struction. In order to carry through this »competitive effort« and to har-
monise a people of comparatively highly trained individuals with the
exigencies of a more and more collectively organised society, Naumann
was anxious to create a body of fundamental rights and duties, largely
different from the traditional type of rights of man. It was the aim of the
second part of the Weimar Constitution, as of many other Constitutions
since, to build up in daily life the ideal of a »Social State« as opposed
both to extreme liberal individualism and to radical communist collec-
tivism. For this reason individual liberty and property were guaran-
teed, but at the same time the protection of property had to yield to an
enlarged right of the State to eminent domain, and, moreover, the pro-
tection of the working class and a scheme of a new social organisation
were provided for. The part of the Constitution concerning workers
councils, which has been the object of serious struggles within and
without the Constituent Assembly, embodied the postulate of equal
participation of employers and employees in deciding conditions of
work and production. Socialisation of production and reform of landed
property were also provided for, but practical steps in this direction
were left for later legislation. The fact that the Reichstag, elected in 1920
and 1924, omitted to pass any legislation fulfilling the promise of social-
isation and land reform given in the Constitution, is to be regarded as
one of the most fatal mistakes made by the Republic. It must be borne
in mind, however, that during this period the Republic was burdened
with the triple weight of the Treaty of Versailles, the inflation which
ruined the middle class, and the embittered enmity of the ever-rebel-
lious Junkers. The Bavarian Government and the Hitler movement
were beginning their underhanded work. At the same time, increasing

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530 [38.] The Growth and the Decay of the Weimar Constitution [1933]

masses of the working class became disappointed with the Republic


and strengthened the communist ranks. The typical parliamentary
politicians of this period confined themselves to making it possible for
the Government to do its daily routine work.
When at the end of 1924 economic and political conditions became sta-
bilised, the State had undergone a thoroughgoing alteration of struc-
ture. The decisive steps which had to be taken by the coalition of Social-
ists, Centre and the progressively vanishing group of middle-class
democrats, had compelled the members of the coalition to an ever-
growing amount of responsibility and sacrifice. Thus, every political
decision could only be arrived at after increasingly difficult negotia-
tions. It happened quite often during this period that President Ebert
anticipated parliamentary action by his own presidential measures,
which, however, always received the final sanction of Parliament. At
one of the most critical moments in 1923, Parliament availed itself for
the first time of the legal means called the Empowering Act. By this Act
important parts of legislation were left to administrative bodies, which
were, for instance, enabled to alter fundamentally the constitution of
the Courts, and to replace the traditional jury by a tribunal composed
of professional and lay judges, virtually led by the professional mem-
bers of the Bench. It is significant for this period that all the legislative
alterations initiated by the bureaucracy were strictly within the frame
of the Constitution, and therefore quite different from the measures
taken after 1930. Psychologically, however, the passivity of Parliament
contributed to the increasing disappointment of the population with
the Reichstag. This growing disappointment was shared not only by
the middle class, but also by the communist and even by a large num-
ber of socialist workers. The rigidity of the German party system, com-
bined with the increasing concentration of economic power in mighty
associations like the Federation of German Industries and the German
Trades Union Federation, brought about a system of government by
agreement between parties and federations representing economic
interests. Under this system of government by economic and social
agreements and party compromises behind the scenes, the public sig-
nificance of Parliament was bound to diminish. The material provisions
of these agreements were decisively influenced by the distribution of
social and economic power as it had been effected by the profound
changes during the period 1920 - 4. The relationship between organised
capital and organised labour, once fixed by the Legien-Stinnes agree-
ment mentioned above, had been thoroughly modified. State regulation
of conditions of production, as far as it had been applied immediately

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[38.] The Growth and the Decay of the Weimar Constitution [1933] 531

after the revolution, had disappeared in the chaotic post-war period.


Inflation had tended to weaken organised labour and to strengthen the
owners of industrial plant and big landed properties as they got rid of
their mortgages and other debts. When the wave of prosperity started
in 1926 organised labour succeeded in securing significant advantages
in the field of labour conditions, but no attention was paid to the
question of altering the conditions of ownership in big industrial and
agricultural enterprises. It was typical that the Workmen’s Councils cre-
ated by a law of 1920, which had to fulfil economic and social functions
at the same time, proved a failure as far as their economic tasks were
concerned, but worked efficiently in the social field.1 They had the sup-
port of judicial and administrative bureaucracy, especially in their
activities with regard to prevention of arbitrary dismissals. Bureaucracy
in this case, as in most other questions, became more and more adapted
to the task of reconciling divergent interests, and so fulfilled one of the
original functions of Parliament.
Government action had become the product of various collective eco-
nomic and social forces struggling one against another; but this strug-
gle could not have yielded any creative action without the powerful
intervention of a bureaucracy becoming all the more vigorous as the
vitality of Parliament vanished. By and by the central administration of
the Reich was able to control the member states’ (Länder) administra-
tions by issuing executive orders, and by disposing of the necessary
funds accumulated with the central government. The army and navy
had an even more independent position than any other branch of
administration, as from the first days of the Republic they had suc-
ceeded in evading substantial parliamentary control and in increasing
their political influence, which developed to the same extent as parlia-
mentary action failed. The spirit of bureaucracy was essentially identi-
cal with the attitude of the middle class, as they still enjoyed the
monopoly of higher education, and as members of the civil service
taken (by request of Parliament) from other classes of the population
nearly always underwent a process of adaptation to the dominating
atmosphere.

1 Erik Reger's novel, Union der festen Hand, describes in a masterly way the various
social groups of the post-war period in the mining district of the Ruhr, their
views and actions, and forms one of the most important contributions to the his-
tory of post-war Germany. A translation would be welcomed by every student of
German political developments. [Erik Reger: Union der festen Hand. Roman
einer Entwicklung, Berlin 1931.]

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532 [38.] The Growth and the Decay of the Weimar Constitution [1933]

Whereas in the economic and social fields bureaucracy sincerely tried


to reconcile opposing interests and to extend the influence of the gov-
ernment into new spheres of action, they remained in all political ques-
tions the faithful allies of the middle class. The judiciary, before the war
the most liberal, after the war the most reactionary branch of the
administration, had become a stronghold of middle-class tendencies, as
their members had to a large extent come from small civil-service fami-
lies. Judges in general viewed with suspicion the growing power of
organised labour and of concentrated industrial capital, and with
antipathy the political adherents of the Weimar Constitution. Protected
by the weapon of judicial independence they falsified honest political
strife into the contrast of nationally minded and anti-national citizens,
thus preparing the idea of national and social exclusiveness which was
to be prevalent in the Nazi régime.
In spite of all these factors, which to a certain extent are not genuine
German features but may be found in many responsible governments
of our time, until 1928 the majority of the German people were in
favour of political and religious liberty and of democratic civilisation as
a whole. This is proved by the fact that at the 1928 elections more
socialist members were returned than before. But at this moment,
before the beginning of the depression, the crucial antagonism between
the nation’s political wishes and the powerful collective bodies became
clear. If elections in Germany had had any decisive effect at all, the
influence of the agrarian and industrial federations could have been
overcome and the burning question of landed property could have
been solved at this moment. But according to the political practice of
government by coalition, which had been followed since 1919, it was
regarded as the government’s task to maintain the existing distribution
of power between the members of the coalition, whatever the number
of members of Parliament belonging to the various coalition groups.
The existence of numerous parties, and the States being split up not
only into social classes but also into various religious denominations,
made it difficult to achieve any far-reaching political decisions by popu-
lar consent. These facts prevented the loss of prestige incurred by Par-
liament in almost all countries from being balanced by a clear popular
vote for homogeneous democratic government. But for the economic
depression it would not have been at all impossible for German democ-
racy to overcome all the checks and the original misconstructions of its
party system, and to fulfil a popular demand for clear decisions in the
social and economic fields. The economic crisis, however, and the mid-
dle-class faith in National-Socialist leadership and its capacity to

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[38.] The Growth and the Decay of the Weimar Constitution [1933] 533

restore the pre-war middle-class position, brought about the National-


Socialist upheaval of 1930. After the elections of 1930, the only possible
form of government was the bureaucratic system of Brüning, keeping
up such an amount of political liberty as there is in every community
which is looking for its master, who is yet to come. But while political
liberty was still alive, democracy had gone with Brüning’s coming into
power. Unable to go on with parliamentary legislation and unable to
form any coalition for any positive goal, he availed himself for legis-
lative purposes exclusively of that famous Article 48 of the Constitution
which had played its part in the early days of the Republic. But
whereas in those days presidential orders had always been made under
parliamentary control, Brüning developed Article 48 into a dictatorial
system of legislation leaving Parliament entirely out of the game. His
government, by its mere existence and by its practice of violating the
spirit and the wording of the Constitution, was no longer dependent on
Parliament but only on the President. The extent of this dependence
became clear when he attempted to tackle the crucial problem of
landed property, a measure which would have encroached upon the
power of the big landowners, but which would have commanded
almost unanimous popular consent. This led to his dismissal by the
Reichspräsident. The very presidential power, by which not only
Brüning himself but also jurists had tried to justify the unconstitutional
practice of government by orders of emergency, put an end to his lib-
eral-minded dictatorship. The occasion and the form of his dismissal in
May 1932 were symptomatic of the transition from democracy to dicta-
torship, and what followed was only the final struggle of the various
competitors for dictatorship.
Political doctrine followed the course of events by constructing a sys-
tem of political thought, according to which it was the destiny of demo-
cratic government to be split up into a number of independent social
powers struggling one against another, until finally all those anti-gov-
ernmental and quasi-governmental forces would be crushed by dicta-
torship and by the erection of a totalitarian State, which would leave no
sphere of human life outside the scope of a central and powerful gov-
ernmental will. Professor Carl Schmitt, who is the theorist of the Nazi
Constitution just as Hugo Preuß was the theorist of the Weimar Consti-
tution, developed the doctrine of the totalitarian State amalgamating
the ideas of its being the necessary and the ideal goal of historical evo-
lution. Before the trend of German politics had become quite clear yet,
his sympathy with the totalitarian idea was of so formal and general a
nature that it equally favoured the Bolshevist and Fascist forms of gov-

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534 [38.] The Growth and the Decay of the Weimar Constitution [1933]

ernment. The fact that Carl Schmitt, when he was still nothing but a
political theorist and not a Nazi partisan and official framer of Nazi
constitutional laws, conceived the totalitarian idea in a way that would
justify even the fiercest enemies of his actual party, shows more clearly
than anything else that the totalitarian idea does not represent any sub-
stantial political conception at all. Every government which lays stress
upon its own power, and works for a preponderance of the State over
any other social force, may be regarded as totalitarian. That might even
be true of a democracy, leaving a reasonable sphere of political freedom
to the individual.
So far as the genuine contribution of National-Socialism to German
political theory is concerned, it is nothing but the attempt to base all
government institutions upon a theory of race. It is, in other words, the
attempt to retrace the history of our civilisation which led from the
tribal community of early times to the feudal and religious community
of the Middle Ages and finally to modern citizenship, founded upon
common participation in a national civilisation, national language and
a national destiny. According to the Nazi idea nothing but community
of blood is to be the basis of a State and of its Constitution. This vision
is connected with the idea of the leader, which is reduced to the primi-
tive conception of giving obedience and receiving protection, and
which ignores all the sociological assumptions connected with the phe-
nomenon of political leadership. If primitivity of thought in itself was
any guarantee for the constructive power of a political creed, all the
problems arising out of the necessity to reserve a sphere of creative lib-
erty to the individual in a powerful community would be solved. The
fallacy of this primitive idea has been clearly set out by Lord Acton,
who was not only very familiar with the special problems of Germany,
but also quite prepared to accept the factor of race as an important con-
tributory element of a nation. Lord Acton wrote sixty years ago:2
»Our connection with the race is merely natural or physical, whilst our
duties to the political nation are ethical. One is a community of affec-
tions and instincts infinitely important and powerful in savage life, but
pertaining more to the animal than to the civilised man. The other is an
authority governing by laws, imposing obligations and giving a moral
sanction and character to the natural relation of society.«

2 History of Freedom, and other Essays, pp. 292-3. [John Emerich Edward Dalberg-
Acton (Hg.): Nationality, in: History of Freedom, and other Essays, London 1907.]

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[39.]
[Rezension:] Otto Geßler: Reichswehrpolitik in der
Weimarer Zeit*
[1959]

Das Hauptinteresse an führenden Regierungspolitikern der Weimarer


Zeit (1919 - 1933) hat sich bisher auf Stresemann (1923 Reichskanzler,
1923 - 1929 dann Reichsaußenminister; wesentliches Ziel seiner Politik
war die Verständigung mit Frankreich) gerichtet. Ihm gegenüber ist
eine andere Hauptfigur des damaligen Regierungsapparates, der lang-
jährige Reichswehrminister Otto Geßler, 1920 bis Anfang 1928, bisher
etwas in den Hintergrund geraten. Sein kürzlich erschienenes Memoi-
renwerk1 kann umso mehr Beachtung beanspruchen als es in einer Zeit
erscheint, in der das Verhältnis der bewaffneten Gewalt zu den Regie-
rungsträgern in einer ganzen Reihe von Ländern aufs Neue im Schein-
werfer des politischen Gegenwartsinteresses steht.
Geßlers Memoiren mögen vom Standpunkt des Historikers viel zu
wünschen übrig lassen. Der süddeutsche Verwaltungsfachmann, der
1919 den Oberbürgermeisterposten Nürnbergs mit der politischen
Bühne in Berlin vertauschte, ist kein Mann der Feder und allzu tief
gehender Selbstreflektion gewesen. Weite Partien des Buches verdan-
ken daher ihre endgültige Gestalt der Arbeit des Herausgebers. Aber in
entscheidenden Punkten spiegelt das Buch trotzdem getreulich die
Geisteshaltung und Amtsführung des Verfassers wider. Geßler, der der
Naziverfolgung nicht entging und der sein Ministeramt 27 Jahre über-
lebte, hat sein Weltbild und seine politischen Ansichten niemals berich-
tigt. Was er an Erklärungsmotiven und Selbstrechtfertigung vorbringt,
bleibt dem Bann und Gesichtskreis der zwanziger Jahre verhaftet. In
einer glücklicheren Gesellschaftsordnung wäre er ein konzilianter und
sprachgewaltiger Torypolitiker geworden. Im Weimarer Deutschland
ist er, wie sein von ihm verehrter Weggenosse Friedrich Ebert (Sozialde-
mokrat, erster Präsident der Weimarer Republik von 1919 bis 1925) ein

* [Erschienen in: Der Gewerkschafter. Monatsschrift der Funktionäre der IG


Metall, Jg. 7, Heft 8, Frankfurt am Main 1959, S. 39. – Zu diesem Text vergleiche
in der Einleitung S. 112-113.]
1 Otto Geßler: »Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit«. Herausgegeben von Kurt
Sendtner. Mit einer Vorbemerkung von Theodor Heuss. Deutsche Verlagsanstalt,
Stuttgart, 1959, 582 S., 29,50 DM.

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536 [39.] [Rezension:] Otto Geßler: Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit [1959]

rastloser und nicht überall willkommener Wanderer zwischen den Rän-


gen der schnell wieder etablierten Vorkriegsgewalten der Bürokratie,
der Militärführung und der Industrie und der Schattenwelt der Berufs-
politiker geblieben.

Geßler hatte nur geringen Einfluss auf die Militärpolitik

Geßler übernahm 1920 das Reichswehrministerium. Von Anfang an hat


er seine Aufgabe in der Perspektive eines aufgeklärten Selbstverwal-
tungsfachmannes gesehen. Regieren kann nur, wer sich des Vertrauens
seiner Schutzbefohlenen erfreut. Geßlers Schutzbefohlene waren das
Offizierskorps der Reichswehr, die er mit aller Energie sowohl gegen-
über ihren Untergebenen, die nach den gemachten Erfahrungen ihren
Offizieren nicht trauten, als auch gegen Versuche, die Offiziere für ihr
politisch zweideutiges Verhalten zur Rechenschaft zu ziehen, abschirmte.
Diese Auffassung von seinem Amt musste Geßler von Anfang an in
Widerspruch zu weiten Teilen der Bevölkerung und ihrer Parlaments-
vertreter bis hinein in die Reihen der Demokratischen Partei, der Geßler
formell angehörte, bringen.
Auf der anderen Seite hat Geßler niemals mehr als nur am Rande Ein-
fluss auf die Heeresorganisation und Militärpolitik gewonnen. General
von Seeckt (von 1920 bis 1926 Chef der Heeresleitung) ließ es sich gefal-
len, dass Geßler als eine Art Unterstaatssekretär mit dem Amtsbereich
der Parlamentsvertretung fungierte und die Reichswehrinteressen,
soweit sie ihm mitgeteilt wurden, im Parlament vertrat. Bei Fragen von
größter politischer und militärischer Bedeutung – zum Beispiel der
militärischen Zusammenarbeit mit Russland – wurde er kaum gehört
oder informiert. Dabei mag dahingestellt bleiben, ob dieses Verhalten
einfacher Willkür Seeckts entsprang oder ob darin ein Stück Berech-
nung lag: Ein nichtinformierter Minister kann das Parlament mit größe-
rer Seelenruhe an der Nase herumführen als ein Minister, der genau
weiß, dass seine Behauptungen nicht stimmen.

Von Seeckt, der tatsächliche Herrscher

Auf weiten Strecken ist das Buch der Auseinandersetzung mit Seeckt
gewidmet. Geßler besaß eine Art von Hassliebe für Seeckt und hat
zweifelsohne unter den fortwährenden Demütigungen, die Seeckt ihm

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[39.] [Rezension:] Otto Geßler: Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit [1959] 537

zufügte, schwer gelitten. Die Art, wie sich die weiterwirkende Faszina-
tion Geßlers durch seinen Quälgeist Seeckt mit gelegentlichen Seiten-
hieben und Entschleierungen paart, ist für die noch aus der Wilhelmi-
nischen Zeit stammende Einstellung des Amtsbürgers zum Berufsmili-
tär aufschlussreich.
Aber für die Nachwelt interessanter ist die Tatsache, dass Geßler die
offizielle Reichswehrtheorie, die ihn in eine oft peinliche Nebenrolle
abdrängte, auch rückschauend voll bejaht und sie mit einem histori-
schen und vergleichenden Mäntelchen zu bekleiden versucht: Die
Reichswehr als eine über den Parteien stehende unabhängige und nur
dem Staat als solchem, nicht seinen wechselnden Regierungen dienende
Kraft. Diese Theorie stellt nicht nur das Verhältnis von Zivilgewalt und
Militär im demokratischen Staat auf den Kopf und macht die demokra-
tische Regierung, wie Geßler oft selbst genug am eigenen Leib spüren
musste, vom jeweiligen Vertrauen oder Misstrauen der Militärs abhän-
gig. Diese Theorie hat weder beim, wenn auch gescheiterten, Hitler-
putsch 1923 in Bayern, noch bei der Abwehr der Nazidiktatur die Probe
aufs Exempel bestanden. Geßler hat zwar die Vorwürfe, die sich auf
den zuletzt genannten Punkt beziehen, mit einem Seitenhieb auf die
ebenso unrühmliche Resignation der preußischen Polizeigewaltigen
pariert, aber nicht widerlegt.
Geßler hat sein Ministeramt als eine Art Hilfsstellung für die Armee
betrachtet, mit dem Ziel, ihren jeweiligen Wünschen und Bedürfnissen
die Wege zu ebnen und sie gegen unwillkommene Kritik abzuschir-
men. Wie viele seiner Zeitgenossen hat sich der ehemalige bayerische
Beamte, der in der Tiefe seines Herzens stets Anhänger eines monar-
chistisch verbrämten Beamtenstaatsideals geblieben ist, über die Aus-
wirkungen einer solchen Politik auf die Geschicke der Demokratie
kaum den Kopf zerbrochen. Leitvorstellung bleibt das Reichswehrinter-
esse, das unbesehen mit dem Staatsinteresse gleichgesetzt wird. Das
erlaubte ihm zwar eine durchaus sachliche Beurteilung seiner Kollegen
und Konkurrenten wie etwa Stresemann, die mit ihm am selben politi-
schen Strang zogen. Aber gegenüber politischen Strömungen und Per-
sonen, die der Politik Geßlers mit ihren fast sprichwörtlich gewordenen
Beschönigungen, Verschleierungen und – zugestandenermaßen –
Unwahrheiten gegenüber dem Parlament ablehnend gegenüberstan-
den, bricht seine volle Gereiztheit durch. Die sozialdemokratischen
Führer werden daher nach einem abgegriffenen Schema in »verantwor-
tungsbewußte Mitarbeiter am Staatsaufbau« – solche die sich wie Ebert,
Bauer, Müller und Radbruch Reichswehranliegen gegenüber gefügig

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538 [39.] [Rezension:] Otto Geßler: Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit [1959]

zeigen, – solche, die wie Braun und Severing ohne viel öffentliches Auf-
heben der Reichswehr manchmal Schach bieten und die »verantwor-
tungslosen Agitatoren« eingeteilt.
Mit Vorsicht ausgewertet stellt das Buch eine Fundgrube für den Proto-
typ des Halb-Beamten, Halb-Politikers der bürgerlichen Welt der 20er
Jahre dar; persönliche Sauberkeit und Unbestechlichkeit, Fleiß, Hin-
gabe an das Amt, Patriotismus mit einem seltsam isolierten Verant-
wortlichkeitsbegriff und fehlende Einsicht in die moralischen und poli-
tischen Grundlagen eines demokratischen Staatswesens formen sich zu
einem unentwirrbaren Ganzen.

Aktuelle Lehren für heute

Für die Nachwelt bleibt die Frage des Verhältnisses von Reichswehrmi-
nister, Heeresführung und Parlament das wichtigste. Wie weit war
Geßlers Amtsführung als politischer Interessenvertreter einer von ihm
weitgehend unabhängigen Armeeführung in den Bedingungen der
damaligen Zeit begründet? Wie weit hat der zunehmende Schwund
einer genügend breiten demokratischen Grundlage die Rolle der Hee-
resführung als Behüterin und letztinstanzliches Auslegungsorgan von
nationalen Interessen, als Pflegestelle des offiziellen Patriotismus und
als Garant der Sozialordnung unvermeidlich in den Vordergrund
gerückt? Wie weit war Geßler dabei aktiv Mithandelnder, wie weit
Attrappe? Was auch immer die Antwort auf diese Fragen sein mag,
Geßlers Erinnerungen liefern das klassische Beispiel, an dem künftige
Generationen zu lernen haben, wie sich das Verhältnis von Parlament,
Minister und Militärgewalt in einer Demokratie nicht entwickeln darf.

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539

[40.]
[Rezension:] Friedrich Karl Fromme: Von der
Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz
Ein staatsrechtlich-politischer Vergleich*
[1960]

Friedrich Karl Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundge-
setz[: die verfassungspolitischen Folgerungen des Parlamentarischen Rates aus
Weimarer Republik und nationalsozialistischer Diktatur], Tübinger Studien
zur Geschichte und Politik, Bd. 12. XII, 243 S., J. C. B. Mohr (Paul Siebeck),
Tübingen 1960.
Aus der Ahnenreihe des Bonner Grundgesetzes sind weder der NS-
Staat noch die Weimarer Republik hinwegzudenken. Es war deshalb
ein glücklicher Gedanke, den Zusammenhang zwischen dem Werk des
Parlamentarischen Rates und den früheren Ordnungen oder Unord-
nungen einer näheren Prüfung zu unterziehen. Eine solche Prüfung
konnte naturgemäß für das NS-System kürzer und gedrungener ausfal-
len als im Bezug auf das Weimarer System. Gegenüber dem ersteren
hat das GG, wie die vorliegende Studie mit Recht bemerkt, schlechthin
die Rolle einer Antiverfassung. Die Auseinandersetzung mit dem Wei-
marer System ist vielschichtiger. Da es sich sowohl in der Weimarer
Verfassung als auch im GG um eine im Ansatz demokratische Ordnung
handelt, hat das letztere zunächst den Charakter einer Parallelverfas-
sung. Aber gleichzeitig liegt eine Absicht des Besserns und Korrigie-
rens auf der Hand. Solchermaßen, wie der Verfasser es nennt, histo-
risch bedingte Modifikationen erzeugend, kommt dem GG auch gegen-
über dem Weimarer Werk der Charakter einer besonderen Antiverfas-
sung zu.
Der weitaus größere Teil der wohldurchdachten, klar entwickelten, oft
einprägsam formulierten und durch ein beispielhaftes Einarbeiten der
zum Verständnis der politischen Diskussion notwendigen staatsrechtli-
chen Gesichtspunkte gekennzeichneten Studie beschäftigt sich mit den
Problemgebieten, auf denen der Abstand gegenüber Weimar und die
kritische Fort- und Gegenentwicklung im GG am klarsten zum Vor-

* [Erschienen in: Neue Politische Literatur, Jg. 5, Frankfurt am Main, S. 1100-1104. –


Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 113.]

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540 [40.] F. K. Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz

schein kommt: das ist die Stellung des Präsidenten, die Organisation
der Regierungsgewalt, die Methodik des Regierungswechsels, Notge-
setzgebung und Verfassungsschutz. Die Themen Volksgesetzgebung,
Organisationsgewalt und Bundesexekutive sind in gedrungener Form
behandelt. Die kürzeren Ausführungen, die sich mit dem Verhältnis
von GG zu den vorhergehenden nationalsozialistischen Zuständen
beschäftigen, gruppieren sich naturgemäß um Grundgesetzschutz
gegen Verfassungsänderungen im Legalrahmen, Grundrechtsschutz
und Organisation der Rechtsstaatlichkeit.
Was verarbeitet wird, sind sowohl der Weimarer Normenbestand, die
institutionelle Entwicklung in der Weimarer Republik und die jeweili-
gen Konsequenzen, die der Parlamentarische Rat daraus – als auch aus
dem NS-System – für seine eigenen Arbeiten und Formulierungen
gezogen hat. Nun hat die Gunst der Verhältnisse, oder wie es der Ver-
fasser nennt, die Tatsache, dass die verfassungsrechtlichen Rollen stets
mit denselben Personen besetzt geblieben sind, dazu geführt, dass auf
keinem der Gebiete, mit denen sich der Verfasser am intensivsten
beschäftigt hat, es je zu einer Bewährungsprobe der unter dem GG
anders gestalteten verfassungsrechtlichen Mechanismen gekommen ist.
Die soziale und politische Ausgangsposition ist so verschieden, dass
die von F. aufgeworfene Frage nach den besseren Bewährungschancen
des Normenbestandes im Ernstfall mit Recht offen bleiben muss. Viel-
leicht hätte es sich bei dieser Sachlage empfohlen, in die Arbeit einige
Betrachtungsfelder etwas niederen Ranges einzuziehen, in denen
Erfahrungsvergleiche möglich gewesen wären, wie zum Beispiel Pro-
bleme des Föderalismus.
Für einige der von F. behandelten Komplexe kann man möglicherweise
zu etwas vorgeschobeneren Fragestellungen vordringen. Die Ausfüh-
rungen zum Verfassungsschutz sind durch die Ersetzung der aus der
Interpretation des Art. 48 stammenden Notbehelfe durch neue verfas-
sungskonforme Zwangsmittel bestimmt. Dabei ist sich F. sowohl der
praktisch-politischen Problematik des Verbots von Volksbewegungen
als auch der theoretischen Rechtfertigungschwierigkeiten im Rahmen
einer demokratischen Staatsordnung voll bewusst. Wenn schon das
Verbot von Volksbewegungen problematisch erscheint, wie verhält es
sich mit dem Verbot von Splittergruppen, denen höchstens ein nui-
sance-Wert zukommt? In einem anderen Zusammhang (S. 219) gibt der
Verfasser darauf eine Antwort, die sich für die radikale Rechte auf den
»Sog der selbstverschuldeten Niederlage« und für die radikale Linke
auf das »Verspielen der Teilhaberschaft am Verfassungsleben durch die

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[40.] F. K. Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz 541

Errichtung einer Diktatur in einem Teile Deutschlands« beruft. Aber


die moralische Rechtfertigung einer Politik hebt deren institutionelle
Fragwürdigkeit nicht notwendigerweise auf. Das andere Gebiet betrifft
den Volksentscheid, zu dem der Parlamentarische Rat eine Art negative
Entscheidung getroffen hat, die dann durch das im Juni 1958 gefällte
Urteil des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts, wenn auch mit ein-
schränkender und das Hauptproblem nicht berührender Begründung,
noch unterstrichen worden ist. Unter dem Einfluss weit verbreiteter
Darstellungen und Lehrmeinungen scheint F. der Ansicht zuzuneigen,
als ob die Weimarer Regelung der Volksgesetzgebung mit einer gewis-
sen Zwangsläufigkeit zur demagogischen Denaturierung der Institu-
tion führen musste. Aber diese Denaturierung war nicht eine Folge der
Verfassungsgesetzgebung selbst, sondern Ausfluss einer von Lehre und
bürokratischer Praxis befürworteten einschränkenden Verfassungsin-
terpretation. Dadurch, dass diese Lehre, die keineswegs den Intentio-
nen des Verfassungsgesetzgebers entsprach, die Beteiligung der Mehr-
heit der Stimmberechtigten als notwendig erachtete, gab sie nicht nur
den jeweiligen Gegnern der Volksbefragung mit der bequemen Parole
des Zuhausebleibens einen illegitimen Vorsprung, sondern verwan-
delte damit auch den Volksentscheid in einen Akt der öffentlichen
Stimmabgabe. Erst diese, einer praktischen Unmöglichkeit des Obsie-
gens gleichkommende Erschwerung hat dann den Volksentscheid mit
Notwendigkeit von einem legitimen Mittel der Politik in ein Werkzeug
der Demagogie verwandelt.
In der gleichen Abdrängungslinie liegt die vom Verfasser bei seiner
Charakterisierung der frühen Präsidentschaftsjahre Hindenburgs als
»parlamentarischen Monarchen« (S. 40) übersehene verfassungswidrige
Einmischung in den Volksentscheid über die Fürstenenteignung. Nun
deutet F. zwar an, dass sich die Bundestagswahl faktisch zu einer
unmittelbaren Volkswahl des Bundeskanzlers entwickeln kann. Aber
ein solches, notwendigerweise ganz im Vagen bleibendes Personalple-
biszit ist kein Ersatz für Sachplebiszite, die möglicherweise den offiziö-
sen Betriebscharakter der deutschen Politik etwas auflockern und zu
einer größeren Intensität der Beteiligung des Volkes an der politischen
Willensbildung auch außerhalb des Weges über die Interessenverbände
führen könnte. Aber das sind Einzelheiten, die das Verdienst einer bei
aller Beschränkung, oder vielmehr gerade wegen der Beschränkung der
Themenstellung vollgelungenen Schrift in keiner Weise schmälern sol-
len.

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542

[41.]
[Rezension:] Walter Z. Laqueur: Young Germany*
[1963]

Young Germany. By Walter Z. Laqueur. Basic Books. 253pp. 6$.


Yesterday’s Germany was not only the Germany of Wilhelm II, Hinden-
burg and Krupp; it was, strangely enough, also the world of the youth
movement. Unlike the present day younger generation, which does not
form a world apart from its elders, youth of the German middle class
through the first three decades of the century often lived in a world of
their own.
It was a world of protest against the conventionalism of the older gen-
eration. It was full of dream images, of unique and non-repetitive com-
munal experience, of ephemeral groupings, and of almost mythical
leaders who could count on an intensely personalized following.
How can a member of a later generation, measuring with the yardstick
of a harsher and more practical-minded world convey the meaning of
this irretrievably lost generation? Laqueur, in analyzing the most sig-
nificant of these youth groups, inquires how they measured up to the
political and social responsibilities of their own times.
Yet, while commenting incisively on their obvious shortcomings, he
does not commit an act of injustice toward their memory. He search-
ingly describes their sufferings from meeting social reality without
being able to participate meaningfully in its transformation.
In the complexity of German history this book throws light on one of its
less well known, but most revealing aspects. It is a tragic aspect, if visu-
alized as the political failure of a generation; it had a most satisfactory
aspect if measured by the yardstick of personalized experience.

* [Erschienen in: The Washington Post, 30. Juni 1963, Washington. – Zu diesem
Text vergleiche in der Einleitung S. 113-114.]

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543

[42.]
[Rezension:] Gotthard Jasper: Der Schutz der
Republik
Die Sicherung der Demokratie in der Weimarer
Republik*
[1963]

Besprechung von Gotthard Jasper: Der Schutz der Republik, Studien zur staat-
lichen Sicherung der Demokratie in der Weimarer Republik 1922-1930,
Tübinger Studien zur Geschichte und Politik, Nr. 16. VIII, 337 S., J. C. B.
Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1963.
Allmählich mehren sich die Studien, die in die Details der Weimarer
Periode vordringen. Auf dem Gebiet der Gesetzgebungs-, Verwaltungs-
und Justizpolitik befindet man sich jedoch noch weithin auf einer terra
incognita. Umso verdienstvoller ist der Versuch von Gotthard Jasper, in
die Geschichte der Entstehung und praktischen Verwirklichung des im
Jahre 1922 erlassenen Republikschutzgesetzes hineinzuleuchten. Der
Verfasser hat dazu viele bislang nicht zugängliche Materialien benützen
können, die besonders für die vielfach verschlungenen Wege der Politik
der deutschen Länder in der Weimarer Zeit sehr aufschlussreich sind.
Wenn dabei die Berichte des Württembergischen Gesandten in Mün-
chen viele Schlaglichter auf die »bayrischen Zustände« der zwanziger
Jahre werfen, so bleibt doch zu bedauern, dass die Akten des bayri-
schen Staats- und Justizministeriums (noch?) nicht zugänglich sind.
Aber auch ohne die bayrischen »Kronstücke« und ohne die zurzeit
unzugänglichen, in Potsdam befindlichen Akten des Staatsgerichtsho-
fes bringt das Bild, das sich abzeichnet, selbst für den, der die zwanzi-
ger Jahre politisch miterlebt hat, sehr viel Interessantes.
Die Studie J.s gibt zunächst einen Überblick über die politischen und
parlamentarischen Entstehungsbedingungen des Republikschutzgeset-
zes. Sie tritt dann in eine hochinteressante Diskussion der Verwaltungs-
und Justizpraxis unter dem Gesetz in seiner Frühzeit ein. Dabei werden
besonders die Prozesse gegen die Erzberger- und Rathenau-Mörder
sowie die im ganzen vergeblichen Versuche, gegen die Drahtzieher der

* [Erschienen in: Neue Politische Literatur, Jg. 8, Heft 3, Frankfurt am Main 1963,
Sp. 609-613. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 114.]

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544 [42.] [Rezension:] Gotthard Jasper: Der Schutz der Republik

»Organisation Consul« strafrechtlich vorzugehen, eindringlich beleuch-


tet. Liegt in diesem Teil der Hauptakzent auf der Darstellung des Pro-
zessverlaufs, so wendet sich das 6. Kapitel mehr dem Zusammenspiel
zwischen Reich, Ländern und den parteipolitischen Instanzen auf dem
Felde des Kampfes gegen republikfeindliche Organisationen zu. Nach
einem kurzen Überblick über die sattsam bekannten Vorgänge in
Sachen politischer Ehrenschutzverweigerung durch die Gerichte ist der
Verf. auf die gute Idee gekommen, sich mit dem, was er »positive Maß-
nahmen zum Schutz der Republik« nennt, zu befassen. Dazu gehören
Beamtenpolitik, Verfassungsfeiern, Flaggenpolitik, Schulpolitik und
Verwendung von Mitteln aus dem Etat zum Schutz der Republik.
Das eigentlich Neue an den Ergebnissen des Buches liegt in der sorgfäl-
tigen Darlegung des Ineinandergreifens zwischen landespolitischen
»Belangen« und der Reichspolitik. Beide waren immer kräftig beein-
flusst von den wechselnden politischen Interessen der Koalitionskabi-
nette bei der Durchführung, aber ebenso oft auch bei der Verhinderung
von Schutzmaßnahmen. Die preußische Politik weist eine nur geringfü-
gig von parteipolitischen Erwägungen beeinträchtigte klare Linie auf:
Gleichmäßige und wirkungsvolle Ausführung von verfassungsmäßig
vertretbaren Maßnahmen gegen Rechts- und Linksradikalismus. In
einigen anderen Ländern verbinden sich partikularistische Belange der
Länderbürokratie mit den politischen Interessen maßgebender Politiker
und Parteien oder, wie in Bayern, politisierender Beamter, um der radi-
kalen Rechten nicht wehe tun zu müssen. Dabei handelt es sich in der
Entstehungs- und ersten Anwendungsperiode des Gesetzes mehr um
Fragen der Gesetzesvorbereitung, der Personalpolitik und des Anlau-
fens größerer Prozesse, während in der Spätzeit der Nachdruck mehr
auf der Frage der Verbotspolitik gegenüber republikfeindlichen Orga-
nisationen liegt.
Gleichzeitig beschäftigt sich der Verfasser mit den Gründen für die Ver-
hinderung wirksamen Eingreifens gegen rechtsradikale Putschisten
und Mörder. Behutsam, aber im Allgemeinen mit Eindeutigkeit und
Entschiedenheit zeigt J. dabei das Maß der Schuld sowohl der Reichs-
wehrpolitik wie der damit teils direkt zusammenhängenden, teils auf
der ideologischen Basis der ja im Wesentlichen unverändert übernom-
menen deutschen Vorkriegsbürokratie und des Vorkriegsrichtertums
beruhenden offenen Parteilichkeit nicht nur der Verfolgungsbehörden,
sondern auch der maßgebenden Elemente unter der Richterschaft.
Allerdings dürfte die Lektüre der Memoiren wie auch der Prozessakten
den Oberreichsanwalt Ebermayer mit größerer Eindeutigkeit, als dies

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[42.] [Rezension:] Gotthard Jasper: Der Schutz der Republik 545

durch den Verfasser geschieht, als einen der Verantwortlichen an den


Fehlleistungen der damaligen Justizpolitik ausweisen.
Wenn ich mir einige kritische Bemerkungen zu diesem in vieler Hin-
sicht so verdienstvollen Buch erlauben darf, so ist wohl vor allem dies
auffällig: J. legt seinen Urteilen meist unbesehen die Maßstäbe der heu-
tigen Bundesrepublik Deutschland zu Grunde. Dabei fällt dann nicht
nur mit Recht ein kritisches Schlaglicht auf die zahlreichen Unterlas-
sungssünden des Justiz- und Beamtenpersonals sowie — mit sorgfältig
vorgenommenen Abstufungen und Ausnahmen — des politischen Per-
sonals der Weimarer Zeit, sondern es wird der relativistischen Demo-
kratie als solcher der Prozess gemacht. Insbesondere wird ihr zur Last
gelegt, dass einzelne politische Organisationen zwar wegen konkreter
Verstöße verboten werden konnten, dass aber Verwaltung, Justiz und
Politik die Aufrechterhaltung der mit ihnen koordinierten parlamenta-
rischen Apparate — einschließlich Wahlbeteiligung und Agitation —
duldeten und daher die republikfeindliche Tätigkeit dieser Gruppen
nie völlig lahmgelegt werden konnte.
Wenn die Differenzierung zwischen konkreten Verstößen gegen die
Strafgesetze und allgemeiner politischer Agitation gegen die beste-
hende Ordnung eine relativistische Angelegenheit ist, dann fällt aber
nicht nur die Praxis der Weimarer Zeit, sondern auch die fast sämtli-
cher heutigen europäischen Demokratien — de Gaulles Frankreich ein-
geschlossen — mit alleiniger Ausnahme der Bundesrepublik unter das-
selbe Verdammungsurteil. Die Weimarer Republik wäre wohl über-
haupt ohne die auf der Länderebene unterschiedlich durchgeführten
und daher praktisch nicht eben sehr wirkungsvollen Organisationsver-
bote ausgekommen, wenn sie sich, wie der Verfasser mit Recht betont,
dazu verstanden hätte, alle paramilitärischen Verbände ihres militäri-
schen Charakters zu entkleiden. Solche Radikalkur, die freilich auch
das verfassungstreue Reichsbanner betroffen hätte, wäre aber nur dann
gerechtfertigt gewesen, wenn die Polizei- und Justizorgane in allen
Ländern unparteiisch geschützt und bestraft hätten. Davon konnte
jedoch, wie J. im Einzelnen nachweist, damals keine Rede sein.
Das Übel lag also nicht eigentlich in der von J. beklagten mangelnden
Koordinierung zwischen Straf- und Verfassungsrecht, die eine umfas-
sendere Verbotspolitik ermöglicht hätte. Denn in einer Demokratie
kann man zwar kleine, wirkungslose Gruppen unterdrücken, nicht
aber solche, die für ein Viertel, ja für die Hälfte der Bevölkerung maß-
gebende Leitbilder aufzustellen vermögen. Diese unglückliche Demo-
kratie litt vielmehr daran, dass in ihr zu viele Leute und Bewegungen

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546 [42.] [Rezension:] Gotthard Jasper: Der Schutz der Republik

ihr Interesse daran sahen, die Kluft zwischen breiten Bevölkerungs-


schichten mehr aufzureißen denn zuzuschütten. Dass alle Versuche,
gemeinsame Grundlagen zu betonen, in den offiziellen Anläufen ste-
ckenbleiben mussten — denen der Verfasser im letzten Teil seiner Stu-
die so liebevoll nachgeht —, daran trägt die für jeden Staatsbürger
weitgehend sichtbare Verwaltungs- und Justizpolitik der Weimarer
Zeit, die verschiedenes politisches Recht für verschiedene Bevölke-
rungsgruppen austeilte, ihr gerüttelt Maß an Schuld.

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547

[43.]
[Rezension:] Gerhard Schulz: Zwischen Demokratie
und Diktatur*
[1965]

Zwischen Demokratie und Diktatur: Verfassungspolitik und Reichsreform in


der Weimarer Republic. Vol. 1 Die Periode der Konsolidierung und der Revi-
sion des Bismarck‘schen Reichsaufbaus 1919-1930. By Gerhard Schulz.
(Berlin: Walter de Gruyter, 1963. Pp. 678.)
The profusion of subtitles of this book indicates that Schulz had diffi-
culties in determining exactly its subject matter. Did the author want to
write the political or the administrative history of the Weimar Repub-
lic? Or was he mainly concerned with one particular aspect of both: the
practice of German federalism under the Weimar Republic? At any
rate, using very profitably the mass of hitherto unknown official docu-
ments and autobiographical material, Schulz begins by presenting vari-
ous plans and projects for the future constitutional and administrative
organization of the Weimar Republic, as seen from the vantage point of
the closing days of 1918 and the first half of 1919. In this period the
bureaucracy, which had remained intact from before the war, and its
new social democratic rulers found an easy meeting ground in their
common desire to uphold and defend continuity and order against all
suspicious attempts to experiment with new forms of organization. It
was not only Kurt Eisner who – to quote a famous dictum of Meinecke
– slipped into the temporarily empty mansion of the Bavarian state.1 In
his later chapters the author demonstrates convincingly how Eisner’s
more skillful Prussian colleague, Otto Braun, without the burden of any
intellectual baggage, and more favored by circumstances of time and
place, performed successfully a similar feat.
Once the framework of the Reich-Länder organization had been re-
established, even without Bismarck’s effective linkage of the Reich and
Prussian political and administrative machinery at the command level,

* [Erschienen in: American Political Science Review, Volume 59, Washington


D.C./New York 1965, S. 503-504. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung
S. 114.]
1 [Friedrich Meinecke: Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, Mün-
chen 1957.]

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548 [43.] Gerhard Schulz: Zwischen Demokratie und Diktatur [1965]

the question of its adequacy for the political life of the new state arose.
To answer this question the author is compelled to describe in some
detail much of the history of the political conflicts of the early twenties.
His survey includes the occupation of Saxony and Thuringia by the
Reichswehr, the effective ejection of their deviant governments, and the
tortuous methods by which the military, political, and bureaucratic
leaderships of the Reich and of Bavaria were able to reach an accommo-
dation. His description frequently corrects previous more partisan and
partial accounts.
To this part belongs the story of the divisive and unitary tendencies
present in both the Rhein and the Ruhr, and described for the first time,
as having occurred in East Prussia as well. The author’s presentation
continues to emphasize both thrust and counterthrust tendencies affect-
ing the rights of various bureaucratic apparatuses, and making their
influence felt through constitutional formulae, ministers’, and civil ser-
vants’ memos, conferences and committees.
In evaluating Schulz’s first volume, it is important to differentiate
between the early period and the period of consolidation from 1924 to
1928. During the earlier years the history of federalism is so closely
interwoven with substantive problems of the period that constitutional
theorems and bureaucratic strategems appear simply as by-products of
major political and social struggles. But with the beginnings of consoli-
dation in 1924, those in power in the territorial governmental units
became actors in their own right. Therefore, if one considers the staying
power of the administrative structure, the later period is the more
revealing. For despite the impetus received from the financial plight of
the Länder, reform of the federal structure was frustrated by the resis-
tance of the Prussian S.P.D. leadership. The author shows convincingly
how at that late stage Prussian political leaders lost interest in a Prus-
sian-Reich merger which could not guarantee them a permanent share
of political power.
Whatever one might think of the author’s organization of his material,
his book will long remain indispensable for the analysis of two prob-
lems: 1) the relative weakness of federal structures in dealing with
major problems of a socially heterogeneous society; 2) the conditions
and chances of successful collaboration between higher bureaucracy
and the conservative leadership of various mass parties and protest
movements.

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549

[44.]
Die Justiz in der Weimarer Republik*
[1968]

»Die Justiz«, deren erste Nummer 1925 im Herbst und deren letzte
Nummer im April 1933 erschien, bezeichnet sich als die Zeitschrift des
Republikanischen Richterbundes. Schon ein Grund, um stutzig zu wer-
den: Richterbund, ja, aber warum republikanisch? Ist es nicht selbstver-
ständlich für jemanden, der in einer Republik ein Amt bekleidet, dass
er mit den republikanischen Institutionen auf genügend gutem Fuß
steht, um sie nicht gleichsam als Aushängeschild zu benützen oder sie
zum Gegenstand eines politischen Glaubensbekenntnisses zu machen?
Die Antwort lautet: keineswegs im Deutschland der Weimarer Repu-
blik. Die von der Republik 1918 unbesehen übernommenen Richter
waren in ihrer Mehrzahl Richter in der Republik, aber sie waren keine
republikanischen Richter. Viele von ihnen bezogen offen oder heimlich
Kampfstellung gegen die Republik, die überwiegende Mehrzahl hat
jedenfalls nie den Versuch unternommen, zu dieser Republik, die ihnen
Wirkungskreis und Besoldung gab, ein inneres Verhältnis zu finden.
Diejenigen, die mit dieser Mehrzahl in der Ablehnung und Feindschaft
zur Republik einer Meinung oder mindestens willens waren, über die
republikanischen Staatseinrichtungen als einer Belanglosigkeit zur
Tagesordnung überzugehen, fanden das völlig in Ordnung. Aber es
gab auch in weiten Bevölkerungskreisen andere Ansichten; sie sahen
ein Richtertum ohne Bindungen an die Republik als eine schwere
Bürde für das Staatswesen und als ein ständiges Ärgernis an. So tat sich
1925 eine Anzahl Richter, Anwälte, Beamte und Universitätsprofesso-
ren zusammen und gründete den Republikanischen Richterbund. Die-
ser Republikanische Richterbund war keine Standesvereinigung, die
die Verbesserung oder Verteidigung juristischer Standesinteressen auf
ihre Fahnen geschrieben hatte, es war eine lose Gesinnungsgemein-
schaft, die dem Übelstand einer Republik ohne republikanische Richter
abhelfen wollte. Ihre Mitgliederzahl konnte sich zahlenmäßig in keiner
Weise mit der der althergebrachten juristischen Organisationen messen,
und ihr Organ, »Die Justiz«, war nicht eine juristische Zeitschrift wie die
unzähligen anderen, die irgendein Spezialgebiet oder eine bis dahin

* [Erschienen in: Hugo Sinzheimer, Ernst Fraenkel: Die Justiz in der Weimarer
Republik. Eine Chronik, herausgegeben von Thilo Ramm, Neuwied/Berlin 1968,
S. 7-15. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 115-116.]

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550 [44.] Die Justiz in der Weimarer Republik [1968]

nicht genügend berücksichtigte juristische Strömung oder Lehrmei-


nung vertraten. Ihr Schwerpunkt lag vielmehr, obschon sie gegenüber
allen juristischen und geistigen Strömungen aufgeschlossen war,
hauptsächlich auf rechtspolitischem Gebiet. Mit größerer Energie und
Hingabe als jede andere Stelle hat sie sich zwei Aufgaben gewidmet:
der Neugestaltung gesellschaftlicher Institutionen und der dazu gehö-
renden juristischen Formwelt. Ihr Repertoire war umfassend; es
befasste sich gleichermaßen mit Reichs-, Staats- und Verwaltungsre-
form; mit Strafrecht, Strafprozess und Strafvollstreckung, mit Arbeits-
gerichtsbarkeit, Tarifvertrag und Schlichtungsreform, mit Eheschei-
dung und Zivilprozessreform, mit Agrarpolitik und Sozialversiche-
rung, mit Enteignungsrecht und Wohnungsbaupolitik. Die kritische
Durchleuchtung von Gesetzgebungsversuchen auf allen diesen Gebie-
ten setzt eine eindringliche Beschäftigung mit den politischen, sozialen
und wirtschaftlichen Tendenzen der diesbezüglichen Rechtsprechung
als selbstverständlich voraus. Wir finden daher auch folgerichtig einen
großen Teil der zivilistischen und arbeitsrechtlichen Entscheidungskri-
tik von Rechtssoziologen wie Ludwig Bendix und dem nimmermüden
Haupt der Freirechtsschule, Ernst Fuchs, in den Spalten der Justiz. Im
Strafrecht und Strafprozess und insbesondere im politischen Strafrecht
weitet sich die kritische Arbeit notgedrungen von der einer allgemei-
nen Gesetzgebungs- und Entscheidungskritik zur umfassenden Kritik
der Tätigkeit aller an ihren Ergebnissen beteiligten Stellen, der Ministe-
rien, Staatsanwaltschaften und Richtergremien, aus. Die Fieberkurve
der politischen Justiz ist hier von Monat zu Monat aufgezeichnet. Hier
finden sich die vergeblichen Versuche von Theoretikern wie Gustav
Radbruch, Hermann Kantorowicz und E. Gumbel und von Praktikern wie
Oborniker, Otto Landsberg und Wilhelm Kroner, diesem Krebsübel der
Republik sowohl durch schonungslose Veröffentlichung der relevanten
Dokumente wie durch ihre kritische Durchleuchtung zu wehren.
Andere Zeitschriften, seien es solche von Interessenverbänden, seien es
juristische Fachzeitschriften, haben die Rechtsprechungstendenzen
unter den ihnen eigenen Vorzeichen von interessenpolitischen, rechts-
dogmatischen oder rein persönlichen rechts-politischen Vorstellungen
verfolgt, gelobt oder kritisiert. Keiner hat sich in systematischer Weise
die Frage gestellt: was bedeutet diese oder jene Rechtsprechungsten-
denz, diese oder jene richterliche Stellungnahme in und außerhalb des
Gerichtssaales für das Staatsgefüge der Weimarer Staatsgewalt und für
das Verhältnis von maßgebenden Bevölkerungsschichten zum Weima-
rer Staat?

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[44.] Die Justiz in der Weimarer Republik [1968] 551

Warum, so lautet die nächste Frage, sollen wir uns heute Dokumente
dieser längst verklungenen Periode zu Gemüte führen? Wenn ihre
Jurisprudenz in politischen Dingen oftmals problematisch war, wurde
sie nicht in ihrem Unrechtsgehalt bei weitem von den juristischen
Amtsträgern des Dritten Reichs übertroffen? Warum uns nicht eher mit
dieser uns näherliegenden Zeit beschäftigen?
Einmal sind die Fehler und Unterlassungssünden der Justizpolitik der
Weimarer Zeit nicht ohne Einfluss auf die nachfolgende Periode geblie-
ben. Die Untergrabung des Rechtsbewusstseins durch die von den Jus-
tizorganen teils geförderte und sicher nicht gewehrte Verlotterung der
politischen Sitten hat bei dem Hineinschlittern von Bevölkerung und
Staatsapparat in die Periode der »legalen« Machtergreifung Pate
gestanden. Wer, wie die Mehrzahl der deutschen Richter dieser Jahre,
auf weite Strecken selbst ein Parteigänger war, fühlte weder Drang
noch Berufung, gegen eine Regierung zu frondieren, deren Ausgangs-
position im Winter 1933 nicht zu weit von seinen eigenen politischen
Vorstellungen und Einstellungen entfernt war.
Zum anderen liegt das im Dritten Reich verübte Unrecht auf der Hand.
Die meisten sind sich heute klar darüber, dass juristischer Hilfestellung
zu politisch und rassemäßig motivierten Verfolgungen keinerlei Ent-
schuldigung zur Seite steht. Was übrig bleibt, sind die Grenzfälle. Was
war normale Ausübung der Staatsgewalt? Wann geht die Ausübung
von Staatsgewalt in kriminelle Tätigkeit über? Wieviel Glauben verdie-
nen Schutzbehauptungen in Bezug auf Gefahren, die aus Nichtteil-
nahme entstehen konnten? Der Jurist im Dritten Reich war ein mehr
oder minder willkommener Handlanger, dessen man sich zur wir-
kungsvollen und zweckdienlichen Abfertigung bediente. Es wäre aber
– und ist es oft – auch ohne ihn gegangen, und sein Gruppenbeitrag
bleibt zweitrangig. Dies unterscheidet ihn von seinem Vorgänger oder
seiner eigenen Rolle in der Weimarer Republik. Im Gegensatz zum
Dritten Reich war die Weimarer Republik ein Verfassungsstaat, der auf
Gewaltenteilung beruhte. Staatliches Vorgehen gegen einzelne oder
Gruppen bedurfte der Sanktion der Gerichte; dieselben Gerichte stan-
den einzelnen und Gruppen zur Austragung ihrer Streitigkeiten unter-
einander unbehindert zur Verfügung. Mit Ausnahme der Befugnis,
neue Richter zu ernennen und in ganz wenigen Sonderfällen – wie
beim Staatsgericht zum Schutz der Republik – auch in bestimmte
Ämter einzuweisen, vollzog sich die Ausübung der Gerichtsbarkeit im
Rahmen einer sich selbst verwaltenden und nur ihrem eigenen Gewis-
sen unterworfenen Justizbürokratie. Diesem sich unabhängig im sozia-

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552 [44.] Die Justiz in der Weimarer Republik [1968]

len Raum bewegenden und amtierenden Richtertum wuchs durch die


Macht der Verhältnisse wegweisende und entscheidende Bedeutung
zu, weit über die Rolle hinaus, die es in der Wilhelminischen Epoche
auszuüben willens und in der Lage war.
Parlament und Regierung, die die berufenen Gegenspieler der Verwal-
tungsbürokratie und der Justizbehörden sein sollten, sind über lange
Strecken entweder ganz ausgefallen oder durch die Gegensätze zwi-
schen den Parteien, die relative Kurzlebigkeit und den Autoritäts-
schwund der Regierungen kein wirkliches Gegengewicht gewesen.
Unter der Weimarer Republik mehr als unter der ihr vorangegangenen
Monarchie, in der das Richtertum in seinem politischen Einfluss und
seiner gesellschaftlichen Stellung hinter der Verwaltung zurücktrat,
und sehr viel mehr als in dem nachfolgenden Dritten Reich hat die
Richterschaft einen in vieler Hinsicht durchaus selbständigen Beitrag
zur Entwicklung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse
geliefert. Aber nächster Einwand: Die Bedeutung der Richter einmal
zugegeben, kann man von der Richterschaft als einem Kollektiv spre-
chen? Handelt es sich dem Charakter der Rechtsprechung entspre-
chend nicht lediglich um Einzelentscheidungen in konkreten Rechtsfäl-
len, die immer nur dem einzelnen Richter oder einer ganz kleinen
Gruppe zugeschrieben und schwerlich auf einen gemeinsamen Nenner
gebracht werden können. Zugegeben, es gab Unterschiede. Richter und
Staatsanwälte in Baden oder in manchem Berliner Gericht haben auf
politische und soziale Probleme oft anders reagiert als ihre bayerischen,
schlesischen, mecklenburgischen oder ostpreußischen Kollegen oder
ihre Vorbilder im Leipziger Reichsgericht und in der Reichsanwalt-
schaft.
Aber die Notwendigkeit von Differenzierung und Schattierung hebt
weder die Tatsache auf, dass es sich um eine nach sozialer Herkunft
und Bildungsgang – übrigens heute noch – relativ einheitliche Schicht
handelt, noch, dass die Rechtsprechung maßgebend von der Führungs-
gruppe in der Reichsanwaltschaft und Reichsgericht geprägt worden
ist. Es waren die dort vorhandenen politischen und sozialen Vorstell-
ungen und die dort erarbeiteten Begriffe und die dort konzipierte Straf-
verfolgungs- oder Einstellungspraxis, die den juristischen Horizont der
Unterinstanzen gebildet und die Formen gegeben hat, mit denen das
politische und soziale Geschehen gemessen wurde.
Es sind diese Kreise, die den entscheidenden Beitrag zu der Fixierung
des Verhältnisses zwischen Richtertum und dem Rechtsbewusstsein
der Bevölkerung gegeben haben. Die Stellung der Justiz im Rechtsbe-

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[44.] Die Justiz in der Weimarer Republik [1968] 553

wusstsein der Bevölkerung war von Anfang an durch die durch und
durch unkritische Form, mit der die Richterschaft ihr Verhältnis zur
Politik definierte, getrübt. Für die tonangebenden Richterschichten,
deren Äußerungen in den Artikeln der Richterverbandszeitungen und
der maßgebenden Juristenzeitungen Niederschlag fanden, ist das Ver-
hältnis von Justiz und Politik kein Problem gewesen. Der Richter im
Talar und in der Urteilsfindung stand demnach jenseits der Politik. Die
über den Einzelfall hinausgehenden Leitideen, die seinem Urteil
zugrunde liegen, ergeben sich – positivistische Lesart – aus einer geset-
zestreuen Textinterpretation oder – naturrechtliche Spielart – aus den
der Rechtsgemeinschaft vorgegebenen Rechtsgrundsätzen. Gegen die
Berücksichtigung von Elementen persönlicher Art, wie sie sich aus sei-
nem sozialen und politischen Milieu und seinen eigenen politischen
Anschauungen ergeben und sich sowohl bei seiner Beweiswürdigung
als auch bei seiner Auswahl von Subsumtionskategorien niederschla-
gen können, schützen ihn sein juristischer Werdegang und die Konven-
tionen seines Standes. Abweichungen kommen nur vereinzelt und
ohne typenbildende Wirkung vor – sie werden durch die Doppelkon-
trolle der oberen Gerichtsinstanzen und eine wirksame Standesdiszi-
plin ohne die Notwendigkeit des Dazwischentretens sachfremder Stel-
len bereinigt. Die Existenz eines schwierigen Problems wird auf diese
Weise geleugnet und jeder Versuch seiner Erhellung als Angriff aus der
parteipolitischen Sphäre gebrandmarkt. Wenn demgegenüber weite
Kreise der deutschen Bevölkerung die Richterschaft als eine zwar orga-
nisatorisch selbständige, aber in ihrer Politik mit den Rechtsparteien im
Gleichschritt gehende Kraft ansehen, so wird das als durchaus unbe-
rechtigter Angriff gegen die Integrität und Standesehre des unabhängi-
gen Richtertums hingestellt. Nicht der Mörder, der Ermordete ist schul-
dig! Diese fehlende richterliche Einsicht in die psychologischen, sozia-
len und politischen Grundlagen der Justizkrise bildet das verhängnis-
vollste Element in der schwelenden Vertrauenskrise der Weimarer Jus-
tiz.
Es ist diese Geistesverfassung und ihre konkrete Abwandlung in der
Gerichtspraxis der Weimarer Republik, gegen die sich ein guter Teil der
in der »Justiz« vorgetragenen Gedanken zur Wehr setzt. Die hier wie-
der abgedruckte Chronik dieser Zeitschrift spiegelt sowohl die objekti-
ven Voraussetzungen wider, unter denen sie ihre kritische Aufgabe
erfüllte, als auch die Persönlichkeit und Auffassung der Verfasser der
Chronik, die mit geringfügigen Ausnahmen in den ersten fünf Jahren
in den Händen des 1945 in der holländischen Emigration verstorbenen
Hugo Sinzheimer und in den letzten Jahrgängen in den Händen von

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554 [44.] Die Justiz in der Weimarer Republik [1968]

Ernst Fraenkel lag. Im Jahre 1925 war die Institution einer Chronik in
einer Juristenzeitschrift keine Seltenheit mehr. Insbesondere die vielver-
breitete wöchentlich erscheinende »Deutsche Juristenzeitung« hatte seit
dem Frühjahr 1912 dem Mannheimer Rechtsanwalt Max Hachenburg
eine juristische Rundschau anvertraut. Ein Vergleich zwischen den bei-
den Unternehmungen ist interessant und auch deshalb gerechtfertigt,
weil die beiden Zeitschriften in den zwanziger Jahren mehr als einmal
die Klingen kreuzten. Hachenburg war bis zu seiner eigenen Emigra-
tion ein angesehener Anwalt und eine Autorität als Kommentator auf
dem Gebiet des Handels- und Gesellschaftsrechts. Er gab seinem juris-
tischen Publikum, auf das er einen großen meinungsbildenden Einfluss
ausübte, zunächst immer eine Gesamtüberschau über die welt- und
außenpolitischen Geschehnisse der Berichtsperiode; daran schlossen
sich gesetzespolitische Gedanken, die Behandlung von Standesproble-
men aller Art, sowie eine Auswahl und Kommentierung der wichtigs-
ten Prozesse und Urteile, wie sie gerade die Öffentlichkeit beschäftig-
ten. Hachenburg hatte durch lange Übung eine große Meisterschaft
darin erlangt, strittige weltanschauliche und politische Probleme hinter
einem dreifachen Schutzwall von Sachkunde, Abgeklärtheit und
scheinbarer Objektivität zielsicher im Sinne der Wahrung traditioneller
juristischer Standesinteressen zu beantworten; dazu gehörte als eiser-
ner Bestandteil im Hachenburg’schen Vorstellungskreis die Lehre von
der Überparteilichkeit der Justiz. Da er jede Woche schrieb und vielen
Gegenständen sein Augenmerk zuwandte und außerdem mehr in der
Welt der umsichtigen und vielschichtigen kommerziellen Interessenab-
wägung als in der Welt der politischen und sozialen Ideen zu Hause
war, ging es bei der Behandlung mancher Fragen nicht ohne die Über-
nahme von konventionellen Klischees ab.
Hier zeigt sich der Unterschied zwischen der Sinzheimer’schen1 und
der Hachenburg’schen Chronik am prägnantesten. Nicht nur, dass Sinz-
heimer seine in größeren Abständen erscheinende Chronik auf weniger
Gegenstände konzentrierte und sich nicht lediglich dem gerade anfal-
lenden Material zuwandte; ihn fesselten in erster Linie Probleme der
Rechtsgestaltung. Tatsächliche Abläufe waren ihm mehr eine Durch-
gangsstation zur Entwicklung seiner eigenen Ideen. In der schönsten
und würdigsten Entgegnung, die der offiziellen NS- und teilweise Uni-
versitätspropaganda über die unheilvollen Einflüsse der Verjudung der
deutschen Rechtswissenschaft zuteil geworden ist, – Sinzheimers 1938

1 Zur Persönlichkeit und Würdigung Sinzheimers siehe Ernst Fraenkels Berliner


Gedächtnisrede, abgedruckt in Juristenzeitung Band 13, [Heft 15, Tübingen]
1958, S. 451 bis 461.

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[44.] Die Justiz in der Weimarer Republik [1968] 555

in Holland erschienenen »Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswis-


senschaft« –, finden wir eine besonders eindringliche Schilderung der
geistigen Leistung des österreichischen Rechtssoziologen Eugen Ehrlich.
Hier nimmt ein verwandter Geist die bei Ehrlich klar vorgezeichnete
Ablehnung der Idee einer in sich geschlossenen Rechtsordnung auf:
»Die Gesellschaftsordnung in ihrer unerschöpflichen Fülle hat solche
Anschauungen mit dem ihnen innewohnenden Korrelat, daß der an
den Rechtssatz gebundene Richter nur aus diesem seine Entscheidung
finden könne, bis auf den Grund erschüttert«2. Und Sinzheimer fährt
dann fort:
»Wer begriffe nicht, daß der Gesetzgeber der Wächter sein soll, der
hoch auf dem Turm stehend, vor- und überschauend, zur rechten Zeit
das Kommende verkündet. Wer wüßte aber auch nicht, daß der Gesetz-
geber nur allzu oft diese Wacht nicht hält? Da tut eine Wissenschaft
not, die kraft ihres Berufes die Signale gibt, wenn drohende Flut im
Anzug ist«.
Sinzheimer hat ein solches Wächteramt ausgeübt, bis die Flut ihn selbst
überspülte. Seine Chronik in der »Justiz« erlaubt uns jedoch, ihre ein-
zelnen Etappen nachzuzeichnen.
Bei der Ausübung dieses Wächteramtes kamen ihm einerseits seine in
seinen arbeitsrechtlichen Arbeiten gefundenen Einsichten über den
direkten und unmittelbaren Zusammenhang von Rechtsentwicklung
und Lebensformen zustatten. Andererseits hat ihn aber seine praktische
Tätigkeit als Politiker und Anwalt den unzerreißbaren Zusammenhang
zwischen Staats- und Rechtsordnung mit all den darin liegenden Pro-
blemen erkennen lassen. So wenig der Staat eine nicht existierende
Rechtsordnung ersetzen kann, so sehr muss er sich bei Strafe seines
eigenen Verderbens an ihrer Gewährleistung und Durchsetzung beteili-
gen. Sinzheimer war Pluralist in seinem stets aufs Neue erprobten
Instinkt für die aus der Gesellschaftsordnung spontan erwachsenden
und vom Juristen zu bewältigenden, in rechtliche Form zu überführen-
den Sachzusammenhänge. Aber gleichzeitig hat der Rechtssoziologe
und Rechtspraktiker Sinzheimer viel zu oft und zu intensiv den fehlen-
den Einsatz der staatlichen Autorität erlebt – man denke nur an seine

2 [Hugo Sinzheimer: Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft, Frank-


furt am Main 1953, S. 204. Im von Kirchheimer zitierten Kapitel über Eugen Ehr-
lich heißt es im Original: »Wer begriffe nicht, daß der Gesetzgeber der Wächter
sein soll, der, hoch auf dem Turme stehend, vor- und überschauend zur rechten
Zeit Kommendes verkündet? Wer wüßte aber auch nicht, daß der Gesetzgeber
nur zu allzu oft diese Wacht nicht hält? Da tut eine Wissenschaft not, die kraft
ihres Berufs die Signale gibt, wenn drohende Flut im Anzuge ist«.]

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556 [44.] Die Justiz in der Weimarer Republik [1968]

bitteren Erfahrungen in dem Untersuchungsausschuss zur Erforschung


der Ursachen des Ersten Weltkrieges und an seine vergeblichen Bemü-
hungen um die Schlichtung des Eisenarbeitskonfliktes von 1929 –, um
nicht an dem zentralen Charakter des rechtsgewährenden Staates fest-
zuhalten. Oft treibt daher der Rechtspolitiker zur Eile, um die vordring-
lichsten Aufgaben, die die Integrierung der Bevölkerung in eine lebens-
werte Staatsordnung stellt, endlich zu bewerkstelligen. Von zweien sei-
ner mit gleicher Nachdrücklichkeit erhobenen Forderungen ist die eine,
die Einigung Europas, aus dem Stadium der Utopie inzwischen in das
der Teilverwirklichung getreten; die andere, die Reichsreform, auf die
er so große Erwartungen und Hoffnungen setzte, ist durch den Gang
der Geschichte überholt worden. Sie ist der Tatsache zum Opfer gefal-
len, dass eine der seherischen Mahnungen Sinzheimers aus dem Jahre
1929, Kriege entstünden nicht nur durch sogenannte geschichtliche
Notwendigkeiten, sondern auch durch ganz gemeine Handlungen ver-
brecherischer und unfähiger Individuen, zwischenzeitlich blutige
Wahrheit geworden ist. Anfang der zwanziger Jahre hatte sich der
Rechtspolitiker Sinzheimer mit aller Macht für die Verwandlung des
Arbeiters zu einem gleichberechtigten Mitglied der industriellen
Gemeinschaft als einer wichtigen Etappe der von ihm bejahten und als
notwendig erachteten Zusammenarbeit zwischen Arbeiterschaft und
Bürgertum eingesetzt. Der Chronist Sinzheimer wird in der zweiten
Hälfte der zwanziger Jahre niemals müde, die zwei Voraussetzungen
herauszustellen, an die solche erfolgreiche Einbeziehung geknüpft ist:
Erstens, dass die den Arbeiter aus der Unfreiheit und dem Druck erlö-
sende Sozial- und Arbeitsrechtspolitik durch eine korrespondierende
kollektive Wirtschaftspolitik ergänzt und gesichert werde und zwei-
tens, dass die parlamentarische Republik genug Willens- und Füh-
rungskräfte hervorbringen müsse, um diese Aufgaben zu meistern. Ein
großer Teil seiner Ausführungen ist der Kritik und den wachsenden
Zweifeln gewidmet, ob seine eigene Partei, die Sozialdemokratie der
Weimarer Zeit, dieser Aufgabe gewachsen sei. Diese Kritik ist umso
bemerkenswerter, als sie nicht von einem dissentierenden Splitterele-
ment kommt, sondern von einem der ursprünglichen Hauptträger des
Werkes der Weimarer Nationalversammlung.
Im Jahre 1931, als er daran verzweifelt, dass die politischen Kräfte noch
in der Lage sein könnten, diese Aufgabe im demokratischen Sinn zu
bewältigen, und daher bereit ist, seine Arbeit an der Chronik niederzu-
legen, ruft er folgerichtigerweise die Sozialpartner selbst auf, Unterneh-
mer und Gewerkschaften, an die Stelle der versagenden politischen

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[44.] Die Justiz in der Weimarer Republik [1968] 557

Organe zu treten und die notwendigen sozialen und ökonomischen


Reformen vorzunehmen.
Was den Rechtspolitiker Sinzheimer angeht, so sei hier nur ein kenn-
zeichnendes Beispiel aus seiner Chronik wiedergegeben; es betrifft
Sinzheimers Reaktion zu einigen neuen Veröffentlichungen zum Drey-
fuß-Prozess, aus denen hervorgeht, welche deutschen Stellen damals
die französische Öffentlichkeit über den wahren Sachverhalt aufklären
wollten und welche mächtigeren Personen, wie Sinzheimer es aus-
drückt, »bewußt und planvoll« die Unklarheiten im Interesse der
Schwächung Frankreichs aufrecht erhalten wollten und dadurch den
Durchbruch der Wahrheit verhinderten. Für Sinzheimer, insoweit der
Erbe einer liberalen Generation, war das ein verwerfenswertes Verhal-
ten. Der Drang zur Wahrheit, besonders zur wahren Sachdarstellung
im zwischenstaatlichen Bezirk, die Notwendigkeit, die Bevölkerung
über die wirklichen Vorgänge und Zusammenhänge aufzuklären, die
sich wie ein roter Leitfaden durch Sinzheimers Chroniken der letzten
Jahre zieht, ist inzwischen mehr und mehr abhandengekommen, bezie-
hungsweise in die Aktendeckel der Geheimnisträger oder im besten
Fall in die Klause der Spezialisten entschwunden.
Die zwei letzten Jahrgänge der Chronik werden unter der geübten
Feder Ernst Fraenkels, des damaligen Anwalts des deutschen Metallar-
beiter-Verbandes und jetzigen Senioren der politischen Wissenschaften
an der Freien Universität zu Berlin, gleichsam zu einer Art fortlaufen-
dem Kampfkommentar zu den Etappen der Auflösung des Rechtsstaa-
tes. Mit derselben Eindringlichkeit ficht Fraenkel gegen die Gedanken-
gänge der geistigen Wegbereiter des deutschen Faschismus wie gegen
die Herrschaftsgelüste einer von Gesetzes- und Parlamentsbildung
befreiten Bürokratie. Aber sein härtester Kampf gilt der sich mit
unheimlicher Geschwindigkeit ausbreitenden Totalverlotterung der
politischen Sitten- und Moralbegriffe. Vom Nationalsozialismus
bewusst in den politischen Körper injiziert, finden diese Übergriffe oft
kaum ernstlichen Widerstand, oft sogar Hilfestellung in den Amtsstu-
ben der Verwaltung und der Gerichte. Bis zum Ende geht der Chronist
Fraenkel mit ihnen unbarmherzig zu Gericht.
Wenn der Leser diese Blätter, die gelesen und nicht nur nachgeschlagen
zu werden verdienen, am Ende nachdenklich aus der Hand legt, dann
wird ihm der positive oder negative Beitrag, den der Jurist auf der Uni-
versität, in der Verwaltung und in der Rechtspflege zur Ausgestaltung
menschenwürdiger Verhältnisse leisten kann, voll zum Bewusstsein
kommen. Gerade weil des Juristen Tätigkeit so oft die weithin sichtba-

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ren Akzente einer Epoche setzt, verdient sein Beitrag erhöhte Aufmerk-
samkeit. Diese zeitgenössischen Berichte, die acht schicksalsschwere
Jahre der jüngsten deutschen Geschichte an uns heranbringen, stellen
dafür eine einzigartige Fundgrube dar.

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559

Abkürzungen

AAC Academic Assistance Council


Arch. F. öff. R. N.F. Archiv für öffentliches Recht, Neue Folge
BArch Bundesarchiv
BArch R Bundesarchiv, Abteilung Deutsches Reich
BGB Bürgerliches Gesetzbuch
DDP Deutsche Demokratische Partei
DDR Deutsche Demokratische Republik
ders./dies. Derselbe/dieselben
DHfP Deutsche Hochschule für Politik
DJZ Deutsche Juristen-Zeitung
DNVP Deutschnationale Volkspartei
DVP Deutsche Volkspartei
Dr. des. Doktor designatus
éd. Edition (französisch)
HbdDStR Handbuch des Deutschen Staatsrechts
JW Juristische Wochenschrift
Jg. Jahrgang
Jun. junior
KomIntern Kommunistische Internationale
KPD Kommunistische Partei Deutschlands
m. E. meines Erachtens
MEW Karl Marx – Friedrich Engels – Werke
NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
OVG Oberverwaltungsgericht
Rfar. Referendar
RGBl. Reichsgesetzblatt
RGO Revolutionäre Gewerkschafts-Opposition
RGZ Reichsgerichtsentscheidungen in Zivilsachen
RV Reichsverfassung
SA Sturmabteilung

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560 Abkürzungen

SAPD Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands


SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands
SS Schutzstaffel
USA United States of America
USPD Unabhängige Sozialdemokratische Partei
Deutschlands
usw. und so weiter
VerwBl. Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwal-
tungsblatt
Z.f.öff.R. Zeitschrift für öffentliches Recht
vgl. vergleiche

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Personenregister

Abendroth, Wolfgang 83 Brüning, Heinrich 58, 67, 68, 75-77, 83,


Adler, Max 20, 26, 27, 32, 49, 50, 52, 55, 85, 86, 88, 93, 96, 112, 114, 202-205, 331,
68, 70, 134, 217-219, 515 352, 382, 394, 396, 400, 528, 533
Ananiadis, Grigoris 27 Bryce, James 460, 488
Angerbauer, Wolfram 17 Bucharin, Nicolai 144
Anschel, Eugene 16, 19, 20, 82 Buchstein, Hubertus 16
Anschütz, Gerhard 33, 62, 154, 196, 252, Bumke, Christian 60
265, 266, 281, 298, 299, 304, 313, 315, Burckhardt, Jakob 303, 512
319, 388, 390, 402, 403, 413, 420, 421, Caldwell, Peter C. 31, 32
461-463, 469, 475, 477, 478, 487, 489 Cunow, Heinrich 28, 136, 137, 269
Anter, Andreas 90 Däubler, Wolfgang 35
Arendt, Hannah 66 Dilthey, Wilhelm 369
Aulard, Françios-Alphonse 135, 366, 385 Dimitroff, Georgi 81, 108, 109
Austerlitz, Friedrich 454, 507 Duguit, León 137, 271, 303, 403
Baer, Frederike 17 Ebert, Friedrich 68, 203, 243, 245, 246,
Bauer, Gustav 102 528, 530, 535, 537
Bauer, Otto 368, 496, 515 Ehrlich, Eugen 555
Bavaj, Riccardo 27, 32 Ehrmann, Heinrich W. 17, 33
Beard, Charles 100, 339, 363, 467, 472, 503 Eisfeld, Rainer 111
Bebel, August 358, 364 Eisner, Kurt 212, 213, 547
Beckerath, Erwin von 358, 364 Engels, Friedrich 29, 51, 52, 105, 106, 132,
Beer, Max 192 158, 159, 192, 228, 495, 516-518, 520
Bendix, Ludwig 550 Erd, Rainer 83, 109
Benjamin, Walter 66 Erzberger, Matthias 44, 114, 211, 527, 543
Beradt, Charlotte 39 Eschenburg, Theodor 113
Berdjajeff, Nikolaus 138, 140 Fabian, Dora 66
Bernstein, Eduard 142, 145 Fabian, Walter 112, 245
Bismarck, Otto von 17, 183, 187, 247, 418, Fischer, Benno 48
523, 547 Flechtheim, Ossip K. 17, 23, 78, 109
Blanke, Thomas 86 Forsthoff, Ernst 22, 84, 85
Borkenau, Franz 107, 519 Fraenkel, Ernst 33, 35, 61, 66, 68, 80, 82,
Boudin, Louis 100, 471, 472 83, 88, 90, 103-105, 108, 109, 115, 235,
Bourquin, Maurice 465 242, 392, 438, 449, 470, 497, 549, 554,
557
Bracher, Karl Dietrich 95, 114
France, Anatole 161
Braun, Otto 77, 115, 417, 538, 547
Frank, Hans Georg 17
Breuer, Stefan 31-33, 65, 80
Frank, Tibor 110

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562 Personenregister

Frankfurter, Felix 100 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 267, 276,


Freisler, Roland 65 367, 394, 422, 435, 440
Freytagh-Loringhoven, Axel August Heines, Edmund 36-38
Gustav Johann 202, 203 Heller, Hermann 60, 61, 73, 93, 95, 102,
Frick, Wilhelm 245 103, 241, 254, 264, 289, 413, 414, 446,
485, 506
Friedrich Wilhelm II. von Preußen 542
Henkel, Michael 60
Friesenhahn, Ernst 22, 306
Hennis, Wilhelm 17, 21, 115, 349
Fromme, Friedrich Karl 113, 539-541
Hermens, Ferdinand Aloys 506
Fuchs, Ernst 550
Herz, John H. 16, 17, 33, 34, 36
Garner, James W. 100
Heuss, Theodor 535
Gasset, Ortega y 433
Hilferding, Rudolf 41, 42, 58, 66, 171, 495
Gayl, Wilhelm von 443
Hindenburg, Paul von 58, 66-68, 75, 77,
Gebhard, Ludwig 508
93, 94, 101, 105, 106, 113, 243, 246, 330,
Geiger, Theodor 370
409, 431, 541, 542
Geßler, Otto 112, 113, 535-538
Hirsch, Julius 137
Gierke, Otto von 318, 337, 367, 528
Hitler, Adolf 10, 33, 37, 38, 80, 93, 94, 99,
Glockner, Karl Adolf 390 106-108, 112, 328, 372, 384, 409, 425,
Gneist, Rudolf von 157, 289 426, 504, 528, 529, 537
Gooch, George P. 111 Hofacker, Wilhelm 298, 304
Göppert, Heinrich 24, 25, 272, 279 Hofmann, Hasso 90
Goslar, Hans 362, 363 Holborn, Hajo 66, 508
Grabowsky, Adolf 111, 511-514 Holmes, Oliver Wendell 100
Graf, Engelbert 68 Holstein, Günther 62, 284, 287, 321, 346
Groener, Wilhelm 88, 390 Huber, Ernst Rudolf 22, 59, 65, 75, 85, 87,
Grüneberg, Horst 382 89, 98, 99, 302, 384, 394
Guérard, Theodor von 46 Huber, Max 325
Guizot, François 216 Hugenberg, Alfred 38, 76, 167, 331, 332
Gumbel, Emil Julius 550 Hula, Erich 16
Günther, Albrecht Erich 98, 425, 427 Inselmann, Claus 66
Gurland, Arkadij 68, 73, 109, 515 Intelmann, Peter 109
Gusy, Christoph 59, 67, 98 Jaffé, Edgar 91
Hachenburg, Max 554 Jaffé, Moritz 462
Haentzschel, Kurt 387 Jakowlewitsch Danilewski, Nikolai 137
Hatschek, Julius Karl 154, 155, 464 Jasper, Gotthard 114, 543-546
Hauriou, Maurice 86, 388 Jaurès, Jean 29, 139, 269, 270, 366
Havenstein, Ernst 286 Jay, Martin 32
Heckel, Johannes 473, 500 Jellinek, Walter 284, 317, 318, 475, 477,
Hedemann, Justus Wilhelm 65, 365-368 478, 487, 505, 506
Jescheck, Hans-Heinrich 34

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Personenregister 563

Jhering, Rudolf von 272, 280 Landauer, Gustav 212


Johannet, René 142 Landsberg, Otto 171, 352, 550
Kahl, Wilhelm 157, 252, 296, 300, 304, Landshut, Siegfried 267, 435
305, 412 Laqueur, Walter Zeev 113, 542
Kahn-Freund, Otto 35, 66, 82, 88, 393 Laski, Harold J. 30, 111, 149, 267, 292,
Kantorowicz, Hermann 550 460, 488
Karl X., Philipp 398, 401, 402 Lassalle, Ferdinand 61, 253, 265, 276-279,
Kautsky, Karl 29, 105, 139 284, 285, 310, 320, 365, 366
Kecskemeti, Paul 110 Lavisse, Ernest 494
Kellogg, Frank Billing 332 Lederer, Emil 91
Kemmerer, Alexandra 32 Legien, Karl 212, 214, 243, 467, 527, 530
Kennedy, Ellen 31, 32 Leibholz, Gerhard 292, 422, 454, 473, 486,
506
Kirchheimer, Anna 17
Leites, Nathan 90-93, 458
Kirchheimer, Fanny 17
Lenin, Wladimir Iljitsch 20, 29, 31, 107,
Kirchheimer, Friedrich 17
139-141, 143, 144, 146, 360, 372, 482,
Kirchheimer, Israel Emil 17
520-525
Kirchheimer, Leo 17
Levi, Paul 5, 20, 21, 39, 40, 42, 43, 49, 55,
Kirchheimer, Max 17 106, 163-166, 173, 237, 516
Kirchheimer, Moses 17 Lévy-Bruhl, Lucien 31, 141
Kirchheimer, Peter 10, 17, 108 Liebknecht, Karl 35, 213
Kirchheimer-Grossman, Hanna 10, 16, Liebknecht, Theodor 35, 83
17, 19, 25, 34, 109, 110
Liebknecht, Wilhelm 35, 43
Klingsporn, Lisa 14, 16, 26
Liesegang, Thorsten 79
Koch-Weser, Erich 46
Linne, Karsten 74
Koellreutter, Otto 85, 87, 387, 388, 391,
Livio, Tito 369
415
Llanque, Marcus 32
Kohlmann, Ulrich 31, 32
Locke, John 60, 267, 268
Kohlrausch, Eduard 21
Loewenstein, Karl 420, 468, 476, 488
Korovine, Eugene A. 78, 147, 149,
Lord Acton, John Emmerich Edward 534
323-327, 374
Lösche, Peter 74
Köttgen, Arnold 508
Löwenthal, Leo 17
Krebs, Alfred 38, 129
Ludendorff, Erich 70, 210, 211, 527
Krebs, Otto 38
Ludwig XVI., August 179
Kroner, Wilhelm 550
Ludwig XVIII., Stanislas Xavier 397
Krückmann, Paul 266, 308, 309, 344
Lüpke, Reinhard 42, 49
Kunz, Josef Laurenz 148
Luthardt, Wolfgang 71
Laband, Paul 154, 410
Lütkens, Charlotte 339, 466
Ladwig-Winters, Simone 21, 35, 81, 108,
109 Luxemburg, Rosa 20, 21, 27, 55, 69, 106,
107, 173, 210, 213, 516, 522, 523, 525
Landauer, Carl 509

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564 Personenregister

Lympius, Wilhelm von 420 Oborniker, Alfred 550


Machiavelli, Niccolo 369 Ooyen, Robert van 16
Mac-Mahon, Patrice de 402 Ossietzky, Carl von 21
Maier, Hans 115, 349 Papen, Franz von 89, 93, 94, 98-100, 102,
Malaparte, Curzio 79, 80, 369-372 106, 437, 441, 443, 448, 501
Malberg, Raymond Carré de 379 Pareto, Vilfredo 140, 142, 354, 355
Mannhardt, Wilhelm 425, 426 Paul-Boncour, Joseph 164
Mannheim, Karl 110, 446, 466, 513 Perels, Joachim 32, 59
Marcuse, Herbert 66 Pfabigan, Alfred 27
Marx, Karl 15, 27, 29, 31, 35, 51, 52, 55, Pius XI. 371
102, 106, 132, 138, 139, 141, 143, 158, Plate, Ferdinand 427, 428
159, 216, 218, 225-228, 237, 274, 394, Platon 20
422, 435, 442, 515-518, 520, 521, 523, Poetzsch-Heffter, Fritz 202, 402
526
Popitz, Johannes 240, 395
Mayer, Hans 310
Preuß, Hugo 112, 157, 224, 405, 410, 413,
Mayer, Jacob-Peter 435 467, 469, 528, 529, 533
Mayer, Otto 253, 254, 265, 282-284, 294, Preuß, Ulrich K. 32, 86
305, 306, 315, 319
Prévost-Paradol, Lucien Anatole 396, 398
Mehring, Reinhard 18, 19, 22-26, 32, 33,
Pross, Helge 100
84, 90, 99
Proudhon, Pierre-Joseph 133, 442
Meinecke, Friedrich 212, 213, 436, 547
Radbruch, Gustav 48, 78, 223, 243, 463,
Meinel, Florian 60
537, 550
Menger, Anton 367
Ramm, Thilo 115, 349, 549
Meyer, Georg Christian Wilhelm 154, 275
Rathenau, Walther 44, 114, 329, 543
Michels, Robert 74, 354, 355, 359
Reger, Erik 531
Mirkine-Guetzevitch, Boris 147, 290
Remmele, Adam 213
Moldenhauer, Paul 58
Rengstorf, Ernst 49
Montesquieu, Charles de 268, 289
Renner, Karl 28, 65, 134, 136, 137, 139,
Müller, Hermann 48, 49, 66, 171, 173, 237, 296, 333, 334, 342, 365, 496
331, 537
Ridder, Helmut 59
Münzer, Friedrich 20
Riegner, Heinrich 35, 43, 66
Mussolini, Benito 54, 80, 185, 219, 372,
Riemkasten, Felix 361
434
Rodbertus, Carl 278
Nagel, Irmela 36, 38
Roffenstein, Gaston 485
Naumann, Friedrich 55, 174, 179, 205,
223-225, 284, 406, 527 Rönne, Friedrich von 397, 403
Neumann, Franz L. 33, 35, 61, 66, 68, 72, Rosenberg, Arthur 70, 211, 523
73, 80, 82, 83, 100, 108, 109, 111, 242, Rosenfeld, Hilde 20, 21, 34, 46, 81, 109
270, 343, 461 Rosenfeld, Kurt 21, 33-35, 43, 49, 66, 82,
Neumann, Sigmund 465 83, 108
Neumann, Volker 32, 33, 60, 90 Rosenstock-Huessy, Eugen 136, 147

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Personenregister 565

Rosenthal, Ludwig 18, 25 Seipel, Ignaz 368, 429


Rothfels, Hans 114 Seydewitz, Max 49, 83
Rothstein, Theodor 56, 192-195 Siemens, Carl Friedrich von 362
Rotteck, Karl von 135 Siemsen, Anna 68
Rousseau, Jean-Jacques 50, 92, 134, 215, Simitis, Spiros 28
268, 355, 461, 463 Simons, Hans 448, 452, 506, 509, 510
Salomon, Albert 66, 74 Simons, Walter 252, 313, 412, 413
Salomon, Gottfried 459 Sinzheimer, Hugo 28, 35, 61, 115, 181,
Salzer, Eugen 425 183, 279, 299, 349, 549, 553-557
Sassulitsch, Vera 31, 138 Smend, Rudolf 9, 21, 22, 30, 32, 33, 55, 72,
Schacht, Hjalmar 220 73, 80, 91, 93, 97, 99-102, 236, 288, 413,
421, 434, 462, 463
Schäffer, Albert 32
Smoljanski, Grigorij Borisovič 360
Schale, Frank 14, 16, 32, 72, 104
Söllner, Alfons 14, 16, 32, 83
Scheidemann, Philipp 102
Sombart, Werner 91
Schelcher, Walter 62, 264, 295, 300, 306,
313, 315, 317, 405 Sorel, Georges 29, 31, 139-143, 372
Scheler, Max 9, 20, 21 Spengler, Oswald 269
Scheuerman, William E. 31, 32 Stahl, Friedrich Julius 61, 253, 265, 274,
279
Schiele, Martin 331
Stählin, Karl 138
Schiffer, Eugen 102, 435, 436, 439, 440,
450 Stalin, Josef Wissarionowitsch 29, 143,
246, 371
Schifrin, Alexander 74, 354-357, 359, 360
Stein, Lorenz von 61, 132, 248, 253, 265,
Schleicher, Kurt von 93, 99, 104, 105
269, 271, 274-276, 279, 365, 367
Schmid, Carlo 78
Steinle, Stephanie 78
Schmidt, Willi 36, 37
Stephani, Anka 72
Schmitt, Carl 9, 10, 15, 21-27, 29, 31-35,
Stinnes, Hugo 213, 214, 234, 467, 527, 530
50, 52, 55, 57, 60, 62, 63, 65, 68-73, 78,
80-82, 84-86, 89-96, 99-102, 104, 112, Stolleis, Michael 67
135, 139, 144, 148, 196, 198, 204, 218, Strauss, Leo 82, 91
230, 236, 251, 252, 254, 264, 266, 269, Stresemann, Gustav 40, 41, 95, 167, 177,
289, 294, 302, 304, 313, 315, 340, 343, 409, 513, 535, 537
378, 379, 388, 393, 398, 399, 401, 405, Suhr, Susanne 83
411, 412, 415, 416, 430-433, 437, 438,
Tannert, Carl 57, 196-198, 491
440, 446, 447, 458-494, 500, 509, 533,
534 Teubner, Gunther 28
Schulz, Gerhard 114, 547, 548 Thälmann, Ernst 81, 109
Schulze, Rudolf 155 Thoma, Richard 215, 290, 388, 403, 420,
421, 440, 461-463, 469, 475, 477, 478,
Schumpeter, Joseph 91
487, 489
Schwarzenberger, Georg 78, 79, 373-375
Thomas, Albert 211
Seeckt, Hans von 164, 536, 537
Thomasius, Christian 268
Seignobos, Charles 494

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566 Personenregister

Timascheff, Nikolaj S. 145 Wagner, Martin 206


Tirpitz, Alfred von 163 Warren, Charles 472
Toller, Ernst 68 Webb, Beatrice 192
Trefz, Bernhard 19 Webb, Sydney 192
Tribe, Keith 32 Weber, Adolf 334
Triepel, Heinrich 21, 62, 252, 292, 304, Weber, Alfred 91
313, 412, 413 Weber, Max 91, 158, 226, 248, 376, 437
Trotnow, Helmut 35 Weber, Werner 22, 25
Trotzki, Leo 68, 80, 145, 371 Wegerich, Christine 65
Tucholsky, Kurt 21 Wertheimer, Egon 56, 57, 194, 195
Vagst, Alfred 66 Wiethölter, Rudolf 28
Vignerot du Plessis, Louis François Windthorst, Ludwig 418
Armand de 269 Wolf, Erik 268
Voigt, Rüdiger 28 Wolff, Martin 59, 62, 252, 295, 296, 299,
Vorländer, Karl 19, 20 300, 304, 305, 334
Wagner, Adolf 265, 278, 284, 285 Wolzendorff, Kurt 149
Wagner, Erich 155 Würzburger, Fanny 17

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567

Sachregister

Abtreibung 47, 200, 201 Charisma 102, 434


Achtstundentag 57, 183 China, chinesisch 374, 520
Allgemeine Arbeiterunion (AAU) 392 Condottieri 329
Anhaltisches Berggesetz 313 Demokratie
Arbeiterklasse 26, 28, 42, 52, 57, 97, 107, formale 27, 29, 31, 134, 136, 139, 146
132, 133, 167, 171, 179-186, 193, 213, in Gefahr 215
215, 229, 290, 291, 392, 421, 423, 437, parlamentarische 92, 138, 382, 410
456, 467, 507, 515, 520, 522, 525, 526
soziale 27, 70, 134, 215, 216, 217, 467
Arbeiterräte (Arbeiter und Soldatenräte)
sozialistische 53,181, 509
44, 145, 189, 214
Denkmalschutz 63
Arbeitsrecht 81, 88, 392-394
Deutsche Juristenzeitung 405, 414-417,
Auflösungsrecht 94, 396-407
419-421, 554
Aufwertungsgesetz 291, 304, 308, 312,
Diktatur
344
bürgerliche 185, 218, 219
Baupolitik
des Proletariats 27, 515-526
städtische 64, 206, 208, 251
plebiszitäre 508
Baurecht 64, 347
Präsidialdiktatur 33, 101, 104, 405, 408,
Belgien 92, 109, 465, 468
418, 421
Berliner Fluchtlinienfall 345
proletarische 33, 101, 104, 405, 408, 418,
Berufsbeamtentum 85, 86, 88, 108, 294, 421
377
Direktionssphäre 71, 238, 239, 242
Betriebsrätegesetz 54, 183, 235, 392
due process of law 338, 339, 471, 478
Bolschewismus 23-33, 80, 132-151, 222,
Eigentum
520
Gemeineigentum 232, 297
Bürgertum 40, 41, 43, 51-54, 56, 63, 70-72,
75, 76, 135, 137, 157-162, 165, 167-169, Privateigentum 44, 55, 61, 79, 160, 176,
176, 178, 180, 183-185, 188, 192, 193, 178, 182, 189, 206-208, 232-234, 253,
201, 211, 216, 218-222, 225, 226, 228, 263, 268-271, 273, 279-281, 284, 286,
230, 240, 242, 247-249, 252, 253, 288, 294, 296-299, 315, 316, 321, 333,
267-273, 280, 281, 289-291, 301, 321, 344-346, 365, 366, 387, 422
328-332, 335, 339, 349-352, 357, 362, England/Großbritannien 56, 92, 103, 148,
376, 377, 394, 397, 406, 408, 433, 439, 163, 168, 192, 193, 195, 214, 222, 226,
457, 518, 556 268, 272, 400, 402, 403, 464, 465, 488
Bürokratie 70, 86-89, 96, 107, 114, 184, Enteignung
188, 210, 219, 249, 351, 377-379, 382, Enteignungsartikel 54, 183, 267
394, 395, 409, 411, 433, 435, 438-441, Fürstenenteignung 113, 197, 225, 303,
443, 449, 451, 453, 499, 503-505, 312, 541
507-510, 519, 525, 536, 557
Cäsarismus 439, 446

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568 Sachregister

Erklärung der Menschenrechte 55, 176, soziale Heterogenität 440


252, 270 Homogenität
Ermächtigungsnormen 469, 470 soziale Homogenität 217
Erworbene Rechte 265, 271, 278, 280, 295, staatliche Homogenität 418
303, 321, 344, 346 Hüter der Verfassung 43, 44, 187, 188,
Expropriationsinstitut 252, 253, 271 190, 345, 396, 437
Faschismus 11, 16, 41, 48, 70, 78, 79, 83, Imperialismus 78, 325, 360, 513
106, 107, 168, 218, 372, 485, 517, 519, Inflation 203, 304, 529, 531
557
Institutionelle Garantie 62, 92, 294, 431,
Fememordprozesse 36, 127 461, 481, 485
Fideikommiss 265, 320, 321 Integration 30, 439, 465
Fideikommissgüter 320 Interventionsrecht 150, 326
Fiume 127 Italien 41, 54, 70, 79, 215, 218, 222, 460,
Fixierungsnormen 469, 470, 484 465, 513
Fluchtliniengesetz 64, 206, 207, 208, Jurisdiktionsstaat 92, 464, 471, 473
251-263, 306, 319 Justiz
Fluchtlinienrecht 340 politische Justiz 48
Föderalismus 96, 411, 540, 547, 548 Kapitalismus
Formelkompromiss, dilatorischer 71, 340 liberaler 335
Frankreich 43, 92, 110, 132, 159, 161, 163, organisierter 41, 42, 171
164, 168, 173, 176, 179, 180, 182, 192,
Kapp-Putsch 36, 37, 182, 329, 370
214, 216, 221, 222, 225, 226, 228, 235,
239, 246-248, 253, 269-273, 329, 528 Katholisch 20, 95, 334-336, 408, 412, 454,
485, 506
Freiheit 27, 88, 92, 107, 132, 134, 215, 223,
228, 231, 244, 247, 267, 268, 279, 287, Kindestötung 201
289, 294, 299, 369, 372, 393, 394, 424, Kommunistische Partei Deutschlands –
459-462, 475-478, 480-483, 485, 492, 497, Opposition (KPO) 391
510, 521 Kommunistische Partei Deutschlands
Freirechtsschule 550 (KPD) 20, 44, 49, 81, 83, 84, 87, 88, 97,
Führerauslese 226, 227, 422 99, 104, 108, 189, 386, 389, 391, 454
Geschäftsregierung 87, 383, 384, 416, 417 Kompromiss 15, 27, 58, 71, 77, 83, 153,
173, 230, 241, 329, 351-353, 362, 440,
gleiche Chance 478, 479, 481-485
444, 474, 475, 477, 478, 492
Gotteslästerung 47, 201
Krieg 10, 39, 40, 70, 79, 134, 148, 163-165,
Grundrechte 53, 56, 59, 61, 69, 71, 72, 92, 188, 193, 235, 326, 329, 371, 433, 527,
103, 177, 178, 181, 227-230, 236, 247, 532, 556
289, 291, 298, 311, 340, 440, 447, 460,
Labour Party 57, 192-195, 465
471, 473, 478, 501
Legalität 80-93, 100, 101, 248, 376-395,
Haager Konferenz 350
417, 430, 431, 458-494, 497
Heer 39, 40, 164, 165, 179, 440, 521
Legitimität 80-93, 101, 376-395, 431, 439,
Heimwehrbewegung 444 458-494
Heterogenität

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Sachregister 569

Liberalismus 24, 26, 27, 57, 132, 133, Notverordnungsrecht 380, 381, 445, 446,
135-137, 140, 146, 194, 228, 271, 275, 448
297, 389, 481 Oberhaus 404, 422, 423, 439, 443, 444, 472
Liquidationsabkommen, deutsch-polni- öffentliches Wohl 233, 282, 286, 347
sches 251, 252, 266, 302, 313, 346 Österreich, österreichisch 27, 57, 102, 107,
Lumpenproletariat 106, 518 194, 216, 365, 398, 404, 419, 444-446,
Majoritätsprinzip 148, 217, 475 496, 555
Marxismus 19, 26, 31, 72, 217, 218, 223, Panamerikanische Konferenz 326
464, 515-526 Panzerkreuzer 39, 48-50, 152-156
Masse 52, 57, 101, 107, 139, 144, 158, 159, Pariser Kommune 219, 246, 521, 523
165, 173, 180, 185, 193, 194, 212, 222, Parlament
225, 330, 354, 356, 360, 362, 363,
Parlamentsgesetz 394, 409, 439, 455,
431-433, 437, 522, 524, 526
472, 486, 487, 491
Maßnahme 43, 45, 46, 67, 68, 86, 87, 89,
Ständeparlament 439
114, 144, 154-156, 203, 204, 256, 258,
263, 286, 301, 307, 317, 322, 343, 345, Parlamentarismus 16, 24, 48, 51, 52, 69,
347, 380, 393, 396, 412, 421, 422, 435, 73, 76, 86, 98, 102, 142, 157-162, 219,
436, 446, 480, 508, 521, 544 226, 331, 417, 444, 488
Mehrheitssozialdemokratie 70, 210 parlamentarischer Gesetzgebungsstaat
92, 95, 421, 435, 440, 463, 468, 471, 474,
Mexiko 70, 210
482, 487
Militärdiktatur 70, 98, 210
Partei
Ministeranklage 384
bürgerliche 42, 47, 49, 58, 76, 95, 200,
Misstrauensvotum 77, 103, 239, 381, 403, 219, 328, 329, 442
416, 437, 448, 449, 501
demokratische 160, 536
Monarchie
Fraktionspartei 328, 329
konstitutionelle 94, 157, 159, 273, 289,
Massenpartei 196, 328, 356, 441
290, 397, 398, 401, 403, 405
revolutionäre 87, 387, 388
Nation 51, 72, 158, 161, 169, 223, 243, 247,
399, 423, 465, 495, 508, 529, 532, 534 Paulskirche/Verfassung der Paulskirche
280
Nationalkonvent, französischer 385
Plebiszit 101, 103, 402, 404, 431
Nationalliberal 177, 210, 409
Pluralismus 86, 379, 512
Nationalsozialisten 76, 79, 98, 328, 330,
331, 372, 425, 426, 507 Polengesetz 285
Nationalsozialistische Arbeiterpartei Politikwissenschaft 9-11, 111, 511, 512
Deutschlands (NSDAP) 37, 38, 76, 77, Polykratie 512
85, 87, 88, 93, 97, 99, 105, 106, 389-391 Pommern 127
Nationalversammlung 63, 177, 181, 183, Portugal 402
203, 214, 224, 275, 288, 299 pouvoir constituant 440, 477, 478
Verfassungsausschuss 203, 288, 289, pouvoir constitué 478, 491
299, 401, 404, 405
Presse 10, 36, 43, 45, 110, 129, 139, 148,
Naturzustand 267, 268 152, 154, 156, 158, 160, 167, 194, 200,
242, 249, 345, 351, 358-460, 527

https://doi.org/10.5771/9783845282534
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570 Sachregister

Preußen 34, 45, 77, 89, 90, 94, 95, 97, 115, Reichsverfassung (RV) 62, 65, 96, 183,
153, 154, 168, 191, 206, 210, 221, 273, 187, 189, 202, 204, 207, 216, 224, 225,
274, 282, 286, 383, 397, 400, 408, 411, 233, 236, 243, 252, 261, 262, 265, 266,
412, 414-416, 418, 419, 421, 424, 445 287-297, 299-301, 304, 306, 308, 309,
Preußen-Konflikt 95, 97, 408-424 311, 316, 317, 320, 321, 333-348, 381,
388, 402, 404, 408-424, 431, 436, 455,
Privatarmee 107, 518
461, 462, 469-471, 474, 478, 479, 487,
Programmnormen 469
489, 491, 500
Prohibition 322
Reichsverfassung, Artikel
Proletariat 27, 30, 40, 41, 52, 79, 106,
Art. 1 489
139-143, 146, 158, 160-169, 177, 192,
Art. 22 476
216, 218-222, 224, 226, 249, 328, 357,
372, 377, 428, 465, 496, 515-526 Art. 25 94, 397, 399-402, 405, 451, 502,
505
Rat der Volksbeauftragten 213, 214, 294,
341 Art. 48 67, 68, 70, 75, 76, 95, 202-205,
218, 220, 245, 349, 352, 380-384, 390,
Rechtsnormen 204, 478
412-415, 419-421, 450, 540
Rechtsstaat
Art. 54 448, 449, 501, 504
-sgedanke 26, 132, 135, 161, 255, 272,
Art. 73 450, 485, 504
289, 387
Art. 75 196, 318, 490, 491
Regierung
Art. 76 196, 411, 474-477, 489, 491
-sbildung 69, 102, 169, 236-239, 406,
449, 450, 454, 501, 507 Art. 109 62, 265, 291-293, 299, 473
-sführung 69, 236 Art. 131 399, 472
Reichsanwaltschaft 189, 190, 552 Art. 137 483
Reichsarbeitsgericht 88, 392, 393 Art. 153 44, 59, 60, 62-64, 207, 208, 232,
233, 251-322, 334, 337, 341-344, 347,
Reichsbankpräsident 220, 239
348, 367, 472
Reichsbanner 330, 545
Art. 155 59, 206-208, 233, 234, 261, 295,
Reichsfinanzhof 205, 288
469, 471
Reichsgericht 37, 43-45, 54, 63, 64, 95, 115,
Art. 156 233, 295, 297, 308, 341, 367,
183, 187-191, 206-208, 233, 242, 251-266,
469, 470, 506
283, 292, 305-307, 309-322, 339, 340,
Art. 159 484
342-348, 386, 413, 414, 473, 477, 489,
492, 501, 552 Art. 165 288, 469, 470, 484, 506
Reichspräsident 67-69, 72, 75, 85, 88, 89, Reichswehr 37, 40, 44, 85, 88, 112, 127,
93, 94, 96, 101-103, 106, 136, 203, 204, 128, 166, 189, 238, 244, 245, 329, 504,
224, 225, 236, 243-246, 255, 312, 376, 536-538, 548
380-382, 389, 396, 397, 399, 400, 405, (Schwarze) Reichswehr 44, 127, 190, 329
409-415, 420, 421, 429, 431, 435-437, Reichswehrminister 88, 112, 390, 535, 538
439, 443, 444, 450, 451, 456, 492, 501, Reichswirtschaftsrat 235, 443
502, 504, 506, 508, 509, 533
Repräsentation 52, 220, 246, 476, 479,
Reichstag 486-488, 492, 495
-sauflösung 75, 94, 99, 103, 106, Republikanischer Richterbund 64, 83,
396-407, 449, 451, 505, 108, 115, 549

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Sachregister 571

Republikschutzgesetz 87, 114, 385, 390, Autoritärer 97


543 Staatsgerichtshof 95-97, 189, 207, 255,
Revolution 260, 292, 315, 343, 380, 404, 411-415,
französische 55, 60, 70, 133, 135, 176, 421, 543
180, 210, 227, 228, 234, 248, 249, 252, Staatslehre
265, 268-271, 282, 322, 342, 346, 365, marxistische 495
366, 385, 436, 464, 465 Staatsstreich 79, 89, 90, 95, 96, 99, 101,
russische 107, 137, 143, 145, 224, 248, 104, 105, 369-372, 387, 416, 423, 445,
360, 370, 516, 520, 522-525 500, 505
Revolutionäre Gewerkschaftsopposition Staatstheorie 20, 22, 23, 25, 26, 28, 29, 80,
(RGO) 392 136, 150, 290, 368, 378, 431, 495, 512,
Richterbund 251 520, 524, 525
rule of law 378 Städtebaugesetz 208, 265, 305, 306, 318,
Russland, Sowjetrussland 29, 30, 44, 137, 345
138, 145, 147-150, 163, 182, 190, 221, Stahlhelm 300, 331
222, 228, 247, 324-326, 437, 495, 513, Stettin 36-38, 127, 128
514, 520, 521, 524, 536 Steuernotverordnung 203, 204, 312, 344
Rüstungsausgabe 40, 165 Stimmgeheimnis 197, 198
Sachsen 34, 70, 218, 244, 245, 315, 383, Strafgesetzbuch 46, 47, 130, 199-201, 385,
416, 418, 420 390
Scheinkonstitutionalismus 437 Strafjustiz 39, 47, 48, 130, 199
Sicherheit und Ordnung, öffentliche 67, Strafrecht 16, 38, 43, 47, 48, 189, 199, 200,
95, 202, 412, 414-416, 419, 480 242, 309, 386, 500, 507, 544, 550
Sozialdemokratie 27, 29, 39, 76, 77, 95, Supreme Court 319, 471, 472
103, 104, 106, 107, 132, 138, 151, 155,
Thüringen 34, 36, 70, 127, 129, 163, 199,
163-166, 171, 184, 185, 202, 204, 211,
202, 218, 244, 328, 387, 414, 415, 418
212, 329-331, 350-353, 360, 364, 387,
408, 446, 495-510, 519, 522, 525, 556 Todesstrafe 37, 47, 48, 201, 487
Sozialdemokratische Partei Deutschlands Unternehmer 67, 68, 89, 183, 202, 203,
(SPD) 9, 10, 19-21, 35, 39-42, 46, 48-51, 213, 214, 234, 329, 556
54, 58, 59, 66, 67, 74, 75, 77, 80, 81, 83, Vereinigte Staaten (USA) 9-11, 17, 65, 75,
84, 93-95, 97, 99, 105, 108, 109, 114, 165, 79, 81, 92, 100, 110, 137, 206, 214, 243,
192, 210, 363, 500, 507 262, 270, 310, 319, 339, 419, 431, 466,
sozialer Rechtsstaat 291 467, 471
Sozialisierung 65, 178, 182, 233, 234, 304, Verfassung
308, 341, 342, 367 Französische von 1791 55, 180, 248, 252,
Sozialismus 322, 341, 342, 346, 364
demokratischer 60, 94, 105, 397, 423, Französische von 1793 53, 55, 180, 341,
483, 508, 510 342, 346, 364
Sozialistengesetz 43, 188 Mexikanische 322
Spanien 468 nachdemokratische 97, 101, 432, 434,
436
Staat
Paulskirche 280

https://doi.org/10.5771/9783845282534
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572 Sachregister

portugiesische 401 Wahlkreiseinteilung 40, 167, 169, 223,


preußische 207, 261, 265, 266, 277, 280, 453, 454
286, 293, 339 Wahlrecht
sowjetische 53, 55, 56 Dreiklassenwahlrecht 41, 159, 168, 169,
sozialistische 177, 510 221
spanische 404, 467, 470, 471 faschistisches Wahlrecht 222
Weimarer  Reichsverfassung Klassenwahlrecht 40
Verfassungsberatungen 177, 181, 228, 229 Proportionalwahlrecht 167-169, 222,
223, 452-454, 476, 479, 481, 506
Verfassungsnormen
Verhältniswahlrecht 40, 41, 159, 422
unabänderliche 102, 440, 475-478
Wahlrechtsbestimmung 26, 215,
Verfassungsreaktion 100, 102, 429-442,
220-224, 433, 444, 456, 465, 479, 481
444
Wahlrechtsreform 40, 52, 103, 167-170,
Verfassungsreform 98, 100-104, 167, 239,
422, 453, 506
422, 429-431, 436, 439, 441, 443-457,
495-510 Zensuswahlrecht 41, 51, 158-160, 168,
221, 226
Verfassungstag 61, 179-186, 349-353
Wahlreform 223, 422, 454, 488, 506
Verrechtlichung 15, 28, 136, 137
Wehrfrage 163, 165
Verteilungssphäre 71, 72, 238-242
Wehrpolitik 112, 163, 185, 219, 535-538,
Verwaltungsstaat 89, 136, 137, 438, 473
544
Völkerrecht 16, 22-24, 30, 78, 79, 147, 148,
Widerstandsrecht 228, 378
246, 323-327, 373-375
Wien 335, 337, 409, 419, 445, 446, 454
Volksbegehren 49, 103, 196, 212, 225, 431,
455, 489 Wilna 127
Volksentscheid 57, 98, 103, 113, 196-198, Wirtschaftsvertretung 452, 453
225, 450, 451, 455, 477, 486, 487, Wisconsin 419
489-491, 504-506, 508, 541 Zentralarbeitsgemeinschaft (ZAG) 213
Wahlen 27, 30, 38, 41, 74-77, 93, 94, 97, Zentrumspartei 46, 48, 58, 67, 77, 94, 95,
106, 135, 145, 156, 214, 221, 222, 225, 180, 210, 211, 286, 329, 331, 332
238, 239, 328, 402, 472 Zuchthaus Untermaßfeld 38, 129-131

https://doi.org/10.5771/9783845282534
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