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Buchstein [Hrsg.]
Otto Kirchheimer –
Gesammelte Schriften
Band 1:
Recht und Politik in der Weimarer Republik
Nomos
https://doi.org/10.5771/9783845282534
Generiert durch Universität Potsdam, am 17.12.2022, 23:17:52.
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Otto Kirchheimer –
Gesammelte Schriften
Herausgegeben von Prof. Dr. Hubertus Buchstein,
Universität Greifswald
https://doi.org/10.5771/9783845282534
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Otto Kirchheimer, ca. 1928
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Kirchheimer-Edition
Otto Kirchheimer –
Gesammelte Schriften
Band 1:
Recht und Politik in der Weimarer Republik
Nomos
https://doi.org/10.5771/9783845282534
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Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG; BU 1035/8-1).
1. Auflage 2017
© Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2017. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte,
auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der
Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt
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7
Abkürzungen 559
Personenregister 561
Sachregister 567
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10 Vorwort des Herausgebers
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Vorwort des Herausgebers 11
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12 Vorwort des Herausgebers
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Vorwort des Herausgebers 13
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14 Vorwort des Herausgebers
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15
von
Hubertus Buchstein
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16 Einleitung zu diesem Band
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Einleitung zu diesem Band 17
tion der State University of New York in Albany befinden. In Kirchheimers Nach-
lass findet sich allerdings kaum Material aus der Zeit vor seiner Ankunft in den
USA im November 1937. Weitere biografische Detailangaben beruhen auf Noti-
zen des Verfassers aus Gesprächen, von denen einige schon längere Zeit zurück-
liegen: mit John H. Herz (am 15. November 1985), mit Ossip K. Flechtheim (am
13. Februar 1988), mit Henry W. Ehrmann (am 7. Juni 1988), mit Leo Löwenthal
(am 5. Oktober 1988) und mit Wilhelm Hennis (am 26. September 2009). Beson-
derer Dank gebührt Peter Kirchheimer (am 12. März 2015 und am 16. März 2016)
und Hanna Kirchheimer-Grossman (am 11. März 2016) für ihre Bereitschaft, ihre
Familiengeschichte und die Erinnerungen an ihren Vater mit mir zu teilen.
3 Zum Folgenden vgl. Kirchheimer-Grossman (2010).
4 Zum prekären Status der tributpflichtigen Schutzjuden in der Region Heilbronn
vgl. Angerbauer/Frank (1986).
5 Das Haus ist 1944 bei Bombardements restlos zerstört worden.
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18 Einleitung zu diesem Band
6 Damals begann ein neues Schuljahr nicht nach den Sommerferien, sondern
gemäß christlicher Tradition nach dem Osterfest.
7 Die nachfolgenden Angaben zur Schulkarriere Kirchheimers basieren auf den
Rechercheergebnissen von Reinhard Mehring (vgl. Mehring 2014: 39-41).
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Einleitung zu diesem Band 19
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20 Einleitung zu diesem Band
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Einleitung zu diesem Band 21
den Führungsfiguren des linken Parteiflügels der SPD. Sie war die
Tochter von Kurt Rosenfeld, von November 1918 bis Januar 1919 preu-
ßischer Justizminister und seit 1920 Mitglied in der sozialdemokrati-
schen Fraktion des Reichstages. Rosenfeld hatte eine schillernde politi-
sche Vergangenheit und war eine Berühmtheit in der linkssozialisti-
schen Szene.11 Zusammen mit Paul Levi war er der langjährige Rechts-
anwalt von Rosa Luxemburg und einer ihrer engsten Vertrauten gewe-
sen. Als erfolgreicher Verteidiger für die Rote Hilfe und für Autoren
der ›Weltbühne‹ wie Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky genoss
Rosenfeld einen legendären Ruf.
Auf Empfehlung von Max Scheler wechselte Kirchheimer zum Winter-
semester 1925/26 für das vierte und fünfte Semester nach Berlin, wo
ihm die Rosenfelds eine Wohnung im Westen der Stadt vermittelten.
An der Berliner Universität schrieb er sich für Rechtswissenschaften ein
und besuchte dort Vorlesungen und Seminare bei den beiden Öffent-
lichrechtlern Rudolf Smend und Heinrich Triepel sowie beim Straf-
rechtler Eduard Kohlrausch.12 Er nutzte Berlin auch zum Besuch von
Vorträgen und Diskussionsabenden an der direkt gegenüber der Uni-
versität gelegenen Deutschen Hochschule für Politik (DHfP). Zu Smend
entwickelte sich während seiner Berliner Zeit ein engeres Verhältnis.13
Smend arbeitete damals am Abschluss seines Hauptwerkes Verfassung
und Verfassungsrecht, das 1928 erscheinen konnte und in dem er die bis
heute mit seinem Namen verbundene ›Integrationslehre‹ darlegte.
Smend war es auch, der dem aufstrebenden jungen Studenten den Tipp
gab, seinen staatstheoretischen Interessen in Bonn bei Carl Schmitt
nachzugehen und verband dies mit einer persönlichen Empfehlung bei
Schmitt,14 mit dem Smend zu dieser Zeit auf fast freundschaftlichem
Fuße zu stehen glaubte.15 Zum Wintersemester 1926/27 wechselte
Kirchheimer an die Universität Bonn. Dieser erneute Studienortwechsel
kam ihm auch aus privaten Gründen zupass, denn Hilde Rosenfeld,
mit der sich eine feste Beziehung entwickelt hatte, wollte ihr Studium
ebenfalls in Bonn beenden.
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22 Einleitung zu diesem Band
Carl Schmitt war nach seinem Wechsel aus Greifswald seit dem Som-
mersemester 1922 an der Bonner Universität. Schmitts insgesamt fast
sechs Bonner Jahre gelten als eine besonders produktive Phase seines
Schaffens. Zum einen fällt in diese Zeit die Publikation mehrerer seiner
bis heute als am wichtigsten angesehenen kleineren Schriften sowie die
Fertigstellung seiner Verfassungslehre. Des Weiteren gelang es Schmitt in
dieser Phase seines Lebens, ein umfangreiches Netzwerk zu wissen-
schaftlich und politisch wichtigen und zu kulturell interessanten Perso-
nen aufzubauen. Drittens schließlich konnte er in Bonn einen Kreis von
Schülern um sich scharen, zu denen Ernst Forsthoff, Ernst Rudolf
Huber, Werner Weber und Ernst Friesenhahn gehörten.16
Kirchheimer kam im September 1926 in Bonn an. Er hatte in der Zwi-
schenzeit den Rat von Smend befolgt und Schmitts Schriften gelesen
und nahm bald nach seiner Ankunft Kontakt zu Schmitt auf. Für den
11. Oktober erwähnt Schmitt den Antrittsbesuch des neuen Studenten:
»Der Student Kirchheimer kam und meldete sich fürs Seminar an«.17
Kirchheimer studierte in Bonn zwei Semester. Schmitt hielt im Winter-
semester 1926/27 ein Seminar mit dem Titel »Staatstheorien« ab, las
über »Völkerrecht« und führte zudem »Verwaltungsrechtliche Übun-
gen« durch. Der Teilnehmerkreis an Schmitts Seminaren war eng
begrenzt, in der Regel waren es nicht mehr als zehn Studierende. Den
Kern dieser kleinen Gruppe bildeten seine Doktoranden. Kirchheimer
war in diesem Kreis der einzige politisch deutlich auf der Linken Ste-
hende. Schnell wusste der neu aus Berlin hinzugekommene Kirchhei-
mer in der Gruppe durch kluge und zugespitzte Redebeiträge zu impo-
nieren und wurde zu einem der unbestrittenen »Sterne des Seminars«
(Mehring 2009: 203). Schmitt führte zu dieser Zeit regelmäßig Tagebuch
und Kirchheimer findet darin mehrere Male lobende Erwähnung. Am
2. Februar 1927 hielt Schmitt dort beispielsweise fest: »Schönes Seminar
[...], Oberheid und Kirchheimer sprechen sehr gut«.18 Im Sommerse-
mester 1927 bot Schmitt ein Seminar über »Einheit und Undurchdring-
lichkeit des Staates« an und las über »Politik (Allgemeine Staatslehre)«
und »Deutsches Rechts- und Landesstaatsrecht«. Im Wintersemester
1927/28, seinem letzten Bonner Semester vor seinem Wechsel an die
16 Zur Bonner Zeit von Schmitt, den erwähnten Lehrveranstaltungen und zu sei-
ner Schülerschaft vgl. Mehring (2009: 140-185).
17 Carl Schmitt, Tagebucheintrag vom 11. Oktober 1926. Ich danke Gerd Giesler,
dem Mitherausgeber der für 2017 zur Veröffentlichung geplanten Tagebücher
von Carl Schmitt aus den Jahren 1925-1929 dafür, dass er mir die Transkriptio-
nen der von Schmitt notierten Einträge zur Verfügung gestellt hat.
18 Carl Schmitt, Tagebucheintrag vom 2. Februar 1927.
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Einleitung zu diesem Band 23
Bei Carl Schmitt war es Usus, dass er seinen Doktoranden das Thema
ihrer Promotionsschrift vorgab. Die anregenden Gespräche während
der ambulanten Sprechstunden bei den Spaziergängen veranlassten
Schmitt, als Thema der Dissertation Kirchheimers einen Vergleich zwi-
schen den Staatstheorien des russischen Kommunismus und des Sozia-
lismus auszugeben. Schmitts Themenwahl stieß beim Promovenden auf
begeisterte Zustimmung.19 Kirchheimer sah darin eine Chance, seine
eigene politiktheoretische Position zwischen Kommunisten, Sozialde-
mokraten und Linkssozialisten genauer zu finden; Schmitt wiederum
erhoffte sich von der Arbeit eine Kritik des Bolschewismus (vgl. Meh-
ring 2014: 38).
Kirchheimer begann mit der Niederschrift der Dissertation in den Som-
mersemesterferien 1927. Sechs Monate später reichte er die Arbeit am
19 So der Bericht von Ossip K. Flechtheim in einem Gespräch am 13. Februar 1988.
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24 Einleitung zu diesem Band
27. Dezember 1927 ein. Der genaue Titel der Schrift lautete Zur Staats-
lehre des Sozialismus und Bolschewismus.20 Auch nach seinem Wechsel
nach Berlin blieb Schmitt in das Bonner Prüfungsgeschehen involviert
und nahm die Prüfungen der von ihm zuvor in Bonn betreuten Studie-
renden im Rahmen von Staatsexamina und Promotionsverfahren ab.
Als Prüfungsgebiete seiner mündlichen Staatsexamensprüfung hatte
Kirchheimer die Allgemeine Staatslehre im Hauptfach sowie das Völ-
kerrecht und das Strafprozessrecht als Nebenfächer ausgewählt. Für
den 14. Februar 1928 findet sich in Schmitts Tagebuch der Hinweis,
dass er Kirchheimer im Ersten Juristischen Staatsexamen geprüft und
mit der Prädikatsnote »gut« bewertet habe (vgl. Mehring 2014: 38). Die
Dissertation von Kirchheimer las er am 19. Februar 1928 und gab sein
Gutachten am folgenden Tag bei der Bonner Fakultät ab. Schmitt for-
mulierte an diesem Tag noch zwei weitere Promotionsgutachten. Für
heutige Verhältnisse ist das Gutachten vergleichsweise knapp. Schmitt
lobte darin die »ausgezeichnete[n] begriffliche[n] Ausführungen« der
Arbeit. Kritisch notierte er, dass die Arbeit »zu viele Thesen und unaus-
geführte Gedanken« enthalte, die jede für sich Stoff einer genaueren
Betrachtung gewesen wären. Er sah darin aber kein Manko, sondern
einen »typische[n] Fall jugendlicher Produktivität«. Schmitt attestiert
Kirchheimer eine »zweifellos sehr große wissenschaftliche Bega-
bung«.21 Ein Zweitgutachten findet sich in den Akten nicht; häufig
zeichneten die Zweitgutachter in dieser Zeit die vom Erstgutachter vor-
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Einleitung zu diesem Band 25
22 Schreiben Otto Kirchheimer an den Dekan der Juristischen Fakultät der Univer-
sität Bonn, Heinrich Göppert, vom 2. März 1928. In: Universität Bonn, Archiv
der Juristischen Fakultät, Prüfungsakte Otto Kirchheimer, Promotionen 1927/28,
Nr. 500-524.
23 Schreiben Carl Schmitt an den Dekan der Juristischen Fakultät der Universität
Bonn vom 1. März 1928. In: Universität Bonn, Archiv der Juristischen Fakultät,
Prüfungsakte Otto Kirchheimer, Promotionen 1927/28, Nr. 500-524.
24 Abweichend von den Schriftwechseln, dem Gutachten und der als Aufsatz
publizierten Fassung nennt die Promotionsurkunde als Titel der Arbeit »Zur
Staatstheorie […]« und nicht »Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewis-
mus«. Als Benotung ist »sehr gut« eingetragen. (Promotionsurkunde Otto
Kirchheimer; Original im Besitz von Hanna Kirchheimer-Grossman).
25 Reinhard Mehring hat in seinem erstmals 2011 publizierten Artikel über Kirch-
heimers Promotionsakte zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass Kirchhei-
mers Schrift Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus von allen bisheri-
gen Interpreten in der Fassung zur Kenntnis genommen worden ist, wie sie sich
in der ›Zeitschrift für Politik‹ findet (vgl. Mehring 2014: 43). Bei den Vorberei-
tungen dieser Ausgabe der Gesammelten Schriften von Otto Kirchheimer
wurde intensiv nach dieser Originalfassung der Promotionsschrift Kirchheimers
gesucht. Doch bislang ohne Erfolg. Die Schrift findet sich weder in seiner Pro-
motionsakte in Bonn noch in irgendeinem der von uns durchsuchten Nachlässe
und auch in keinem anderen der von uns durchsuchten Archiv- oder Biblio-
theksbestände. Reinhard Mehring erinnert sich daran, sie in den Altbeständen
der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin vor dem Umzug der
Bestände in andere Gebäude in der Hand gehabt zu haben. Doch auch hier blie-
ben alle Recherchen und alles Suchen ohne positives Ergebnis. Möglicherweise
trügt Reinhard Mehring die Erinnerung. Denn der von ihm nach seinen Anga-
ben in der Abgabefassung zu findende Danksagungsvermerk ist zwar nicht in
der im regulären Heft der ›Zeitschrift für Politik‹ gedruckten Fassung der
Schrift zu lesen, er findet sich jedoch als ein vom Verlag besorgter Aufdruck auf
der Rückseite der Sonderdrucke. Die den Lebenslauf ergänzende gedruckte
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26 Einleitung zu diesem Band
Danksagung lautet: »Insbesondere aber bin ich meinem verehrten Lehrer Herrn
Professor Dr. Schmitt in Bonn für die vielfältigen Anregungen, die ich von ihm
empfing, zu Dank verpflichtet.« (Otto Kirchheimer, Sonderdruck von Zur Staats-
lehre des Sozialismus und Bolschewismus der ›Zeitschrift für Politik‹ unter dem
Titel Zur Staatstheorie des Sozialismus und Bolschewismus. In: Staatsbibliothek
Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Mappensignatur Fi 566-1928,2). Sollte die
Abgabefassung der Dissertation im Zuge der weiteren Arbeit an dieser Edition
doch noch irgendwo entdeckt werden, und sollte sie tatsächlich von dem in der
›Zeitschrift für Politik‹ erschienen Text abweichen, wird sie in den sechsten und
letzten Band der Schriften von Otto Kirchheimer aufgenommen werden. – Ich
danke Reinhard Mehring für seine unterstützenden Hinweise bei der Fahndung
nach der Abgabefassung und Lisa Klingsporn für ihre unermüdliche Hilfe bei
der Suche in Archiven.
26 Vgl. Adler (1922: 116-132) und Adler (1926).
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Einleitung zu diesem Band 27
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28 Einleitung zu diesem Band
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Einleitung zu diesem Band 29
heimer auf die (soweit sie damals bekannt waren) einschlägigen Bemer-
kungen von Marx und Engels über Russland, auf Aussagen von Lenin
und Stalin sowie auf ältere und übersetzte menschewistische Literatur.
Für die Darstellung der sozialistischen Staatstheorie der Zweiten Inter-
nationale zieht er vor allem die Schriften des russischen Sozialdemo-
kraten Plechanow, des französischen Sozialisten Jean Jaurès und des zu
seiner Zeit wichtigsten Theoretikers der deutschen Sozialdemokratie,
Karl Kautsky, heran.
Kirchheimer wirft den Sozialisten vor, einer naiven »Theorie vom Dop-
pelten Fortschritt« (S. 139) zu huldigen, wonach mit dem Fortschritt der
kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung quasi automatisch auch ein
Fortschritt zum Humanismus in der Entwicklung der Menschheit ein-
hergehe, weswegen die politische Konfliktaustragung zivilisierter erfol-
gen könne. Kirchheimer zufolge schürt diese Theorie die Illusion einer
friedlichen Mehrheit der sozialistischen Kräfte in der bestehenden
Formaldemokratie und münde konsequenterweise in der Preisgabe des
Diktaturbegriffs für die sozialistische Sache. Marx, so Kirchheimer,
habe eine solche humanistische Theorie nie verfochten und in Russland
sei es Lenin gewesen, der solche Ideen wirkungsvoll verworfen und sie
mit einer Lehre vom rücksichtslosen Klassenkampf ersetzt habe, welche
keine über den Klassen stehende Moral anerkenne. Kirchheimer sieht
in diesen Thesen von Lenin Parallelen sowohl zu Nikolai Berdjajews
russisch-orthodoxer Religionsphilosophie mit ihrer Zuspitzung des
unerbittlichen Kampfes zwischen Christ und Antichrist wie auch zu
Georges Sorels Zelebrierung der politischen Gewalt und des Mythos.30
Ähnlich wie Carl Schmitt in seinem Kapitel über die irrationalistischen
Theorien unmittelbarer Gewaltanwendung in seiner Schrift über die
Geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (vgl. Schmitt
1926: 77-90) referiert Kirchheimer die Thesen von Sorel und Lenin in
einer Art und Weise, die seine Faszination für diese beiden Propagan-
disten eines rücksichtslosen politischen Handelns erkennen lassen.
Besondere Aufmerksamkeit widmet Kirchheimer dem bolschewisti-
schen Diktaturbegriff. In Anlehnung an die terminologische Unter-
scheidung seines Doktorvaters zwischen kommissarischer und souve-
räner Diktatur (vgl. Schmitt 1921: 130-152) rechnet er Lenins Diktatur-
verständnis der zweitgenannten Variante zu, da sie mit allen sich bie-
tenden Mitteln zielgerichtet den Boden für den Aufbau eines sozialisti-
schen Staates der sozialen Gleichheit schaffen will. Auffällig ist, wie
kreativ Kirchheimer in diesem Zusammenhang auch auf Überlegungen
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30 Einleitung zu diesem Band
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Einleitung zu diesem Band 31
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32 Einleitung zu diesem Band
Schriften Kirchheimers aus den Jahren 1927 bis 1933 zu denen seines
Doktorvaters auf. In der Sekundärliteratur hat es unterschiedliche Ant-
worten darauf gegeben, die Gegenstand von zum Teil polemisch
geführten Kontroversen geworden sind. Unbestritten ist geblieben,
dass Kirchheimer und Schmitt ihre Analysen zur Weimarer Republik
mit konträren politischen Stoßrichtungen verfassten. Umso umstritte-
ner aber ist, inwieweit es in wichtigen Punkten Übereinstimmungen
und damit einen prägenden Einfluss von Denkmotiven Schmitts auf
das Werk von Otto Kirchheimer gegeben hat. Die Skala der Kirchhei-
mer-Interpretationen reicht von der vorwurfsvoll vorgetragenen Lesart
eines ›Links-Schmittianismus‹ bis zur Einzeichnung von klaren Tren-
nungslinien.35 Zu Recht hat Volker Neumann bereits zu Beginn dieser
Debatte darauf hingewiesen, dass es zwischen den Schriften der beiden
auf der formalen Ebene einige Ähnlichkeiten gibt (vgl. Neumann 1981:
237). Beide bevorzugten die Form kleinteiligerer Abhandlungen, die
von aktuellen politischen Ereignissen angeregt sind und eine politisch
intervenierende Intention verraten; beide hinterließen vielleicht auch
aus diesem Grund kein Werk im Sinne einer systematisch entfalteten
Theorie; beide betonten in ihren Arbeiten den Aspekt des Stils und der
Rhetorik; beide schätzten zuspitzende Begriffsbildungen und fanden
starke Worte; und beide argumentierten zuweilen offen agitatorisch.
An Kirchheimers Dissertation lässt sich besonders gut erkennen, wie
sich für ihn Theoreme und Formulierungen Schmitts auf eine geradezu
ideale Weise in seinen bislang vom Linkssozialismus Max Adler‘scher
Provenienz geprägten Denkhorizont einfügen ließen. Diesen Einbauten
war sein marxistischer Ansatz allerdings vorgelagert und aus diesem
Grund blieb in seinem Denken auch Platz für weitere Einbauten. Das
gilt im Hinblick auf die Dissertation insbesondere für Gedankengänge
aus der Integrationslehre von Rudolf Smend. Vor diesem Hintergrund
hat das Etikett des ›Links-Schmittianismus‹ nicht mehr und auch nicht
weniger Berechtigung wie Etikettierungen als ›Links-Smendianismus‹
oder ›staatsrechtlicher Adlerismus‹.
Gleichzeitig sollte bei dieser Diskussion nicht unterschlagen werden,
wie sehr auch Schmitt von seinem jungen Promovenden profitiert hat.
Über Kirchheimer erhielt er Einblick in marxistische Diskussionen und
35 Die Literatur über dieses Thema ist mittlerweile Legion. Vgl. Neumann (1981),
Neumann (1983), Söllner (1983), Kennedy (1986), Söllner (1986), Jay (1987), Ken-
nedy (1987), Preuß (1987), Tribe (1987), Schäffer (1987), Perels (1989), Kohlmann
(1992), Scheuerman (1994), Scheuerman (1996), Scheuerman/Caldwell (2000),
Schale (2006), Mehring (2007), Bavaj (2007), Kemmerer (2008), Llanque (2011),
Breuer (2012), Mehring (2014) und Neumann (2015).
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Einleitung zu diesem Band 33
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34 Einleitung zu diesem Band
3. Journalistische Interventionen
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Einleitung zu diesem Band 35
Berlin blieb dennoch die Stadt, zu der beide die stärksten Bezüge
behielten. Waren es bei Kirchheimers Frau die familiären Bindungen, so
wollte Otto Kirchheimer seine Kontakte zum akademischen Betrieb in
der Hauptstadt nicht abbrechen lassen.45 In Erfurt begann Kirchheimer
sein Referendariat46 am 14. April 1928 bei der Staatsanwaltschaft,
wechselte nach drei Monaten an das Arbeitsgericht Erfurt und arbeitete
dann vom 14. Dezember 1928 bis zum 3. September 1929 am Landge-
richt Erfurt. Im September 1929 zogen er und seine Frau wieder nach
Berlin, von wo aus er zunächst vom 17. September 1929 bis zum
16. April 1930 seinen Dienst am Arbeitsgericht Spandau versah, um
vom 17. April bis zum 16. Mai 1930 für vier Wochen zum Arbeitsge-
richt Berlin eingeteilt zu werden, dessen Vorsitz seit 1929 Otto Kahn-
Freund führte. Kahn-Freund hatte wie Fraenkel und Neumann zum
Schülerkreis Hugo Sinzheimers in Frankfurt gehört und zählte auch in
Berlin wieder zum engen Freundeskreis der beiden.47 Kirchheimers
Wechsel nach Berlin war weit im Voraus geplant. Kirchheimers fanden
Aufnahme für die bei Rechtsanwälten zu absolvierenden Stationen im
politischen Milieu des linken Sozialismus. Nach der Station in Spandau
bei Kahn-Freund setzte Otto Kirchheimer seine Ausbildung vom
18. Mai 1930 an zunächst bei Rechtsanwalt und Notar Heinrich Riegner
fort, der in der Joachimsthaler Straße 41 in Berlin-Charlottenburg48
zusammen mit Kurt Rosenfeld seine Kanzlei betrieb. Vom 17. Oktober
1930 an arbeitete er dann in der Kanzlei von Wilhelm Liebknecht, dem
drittältesten Sohn des Londoner Marx-Vertrauten und Parteigründers
der SPD.49 Die letzten Stationen seiner Referendarzeit absolvierte Otto
Kirchheimer am Berliner Kammergericht (15. Zivilsenat sowie 4. Straf-
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Einleitung zu diesem Band 37
53 Die Anklage hatte die Todesstrafe für das Morddelikt verlangt, das Gericht
erkannte aber auf Totschlag und verurteilte Heines im Mai 1928 zu 15 Jahren
Zuchthaus. Mit der Begründung, dass ein Verfahrensfehler vorgelegen habe,
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38 Einleitung zu diesem Band
wurde der Prozess im März 1929 wiederholt. Diesmal erhielt Heines eine Verur-
teilung zu fünf Jahren Zuchthaus. Aufgrund der Bewertung des Stettiner
Gerichts, dass Heine bei seiner Tat »von der vaterländischen Wichtigkeit seiner
Aufgabe durchdrungen gewesen« sei, wurde er im Mai 1929 gegen die Zahlung
einer Kaution von 5.000 Reichsmark aus der Haft entlassen, für die Hitler das
Geld einsammelte. Nach den Wahlen 1930 wurde Heines Abgeordneter der
NSDAP im Reichstag und gehörte zu den Rädelsführern von mehreren Prügel-
attacken auf Abgeordnete anderer Parteien im Parlament (vgl. Nagel 2004:
276 f.).
54 Auch für diesen Artikel findet sich im Nachlass von Kirchheimer ein undatier-
tes, von ihm namentlich gezeichnetes Typoskript mit Ergänzungen und Korrek-
turen in seiner Handschrift (Otto Kirchheimer Papers, Series 4: Writings 1937 -
1964, Box 2, Folder 86, Special Collections & Archives, University at Albany,
State University of New York).
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Einleitung zu diesem Band 39
gehören, hätten tatsächlich aber mit dem Begriff der Strafe schlechter-
dings nichts zu tun, denn bei ihrer Bestrafung handele es sich, genau-
genommen, um nichts anderes als »ein[en] Akt der Unschädlichma-
chung des politischen Feindes« (S. 130).
Ebenfalls in der Erfurter ›Tribüne‹ erschien am 15. Dezember 1928 der
Artikel Wehrhaftigkeit und Sozialdemokratie, den Kirchheimer namentlich
zeichnete. Unter gleicher Überschrift war einige Wochen zuvor eine
Broschüre von Paul Levi, der 1922 den Weg zurück in die SPD gefun-
den hatte und zu den wichtigsten Persönlichkeiten des linken und mar-
xistischen Flügels zählte, zum Thema Militärpolitik erschienen. Auf
knappen 28 Seiten hatte er darin seine scharfe Kritik an dem Kurs der
Fraktionsführung formuliert (vgl. Levi 1928). Levi hatte zu den aktiv-
sten Abgeordneten im Reichstag gehört, die ihre Regierungsvertreter
im Herbst 1928 in der heftig diskutierten Frage über den Bau des Pan-
zerkreuzers A wieder auf Parteikurs bringen wollten, nachdem sie sich
im Wahlkampf vehement für einen Stopp des Baus ausgesprochen hat-
ten, sich nun aber aus Koalitionsräson dafür ausgesprochen hatten (vgl.
Beradt 1969: 132-144). Der Pazifist Levi hatte in seiner Broschüre nicht
nur erneut seine Argumente gegen den Bau des Panzerkreuzers ver-
sammelt, sondern auch grundlegende Überlegungen über die verän-
derten Anforderungen, dessen sich eine sozialistische Militärpolitik
ausgesetzt sah, angestellt.
Kirchheimers Zeitungskommentar erschien während des Höhepunktes
der innerparteilichen Debatte über den Panzerkreuzerbau. Er leitete ihn
mit der Bemerkung ein, dass sich ein ernsthafter politischer Wille von
politischen Lippenbekenntnissen dadurch unterscheide, dass man
bereit ist, auch der »kundgetanen Meinung entsprechend in den kriti-
schen Momenten zu handeln« (S. 163). Kirchheimer folgt Levis grund-
legender Diagnose, dass der Krieg der Jahre 1914-18 einen »Struktur-
wandel […] in der Wehrform« (S. 163) erkennen lassen habe. Die Größe
der stehenden Heere habe sich für den Ausgang des Krieges als ebenso
unwichtig erwiesen wie die Menge an zuvor angehäuften Kriegs- und
Nahrungsmitteln. Nicht die alte Vorratswirtschaft, sondern das »poten-
tiel de guerre« (S. 164), also die Fähigkeit, den gesamten gesellschaftli-
chen Produktionsprozess schnell und reibungslos für den Krieg mobili-
sieren zu können, habe den Krieg entschieden. Aus diesem Grund sei
ein großes stehendes Heer unnötig für die Zwecke der Landesverteidi-
gung geworden. Kirchheimer widerspricht Levi dann aber, wenn es um
die politischen Folgerungen aus dieser Diagnose geht. Levi zufolge ste-
hen die Sozialisten in den industriell am weitesten fortgeschrittenen
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Einleitung zu diesem Band 41
gäbe es auch kein perfektes Wahlrecht. Die Güte eines Wahlrechts lasse
sich nur nach dem damit zu erreichenden klassenpolitischen Ziel
bewerten. Das habe in der Vergangenheit für das Zensuswahlrecht und
für das Dreiklassenwahlrecht als Herrschaftsinstrumente des Bürger-
tums gegolten und gelte in industriell zurückgebliebenen Ländern wie
Italien auch für den Faschismus. Mit dem »Einmarsch« (S. 168) des Pro-
letariats in die »Kampfbahn der Demokratie« (S. 168) habe sich die
Situation insofern grundlegend verändert, als dass der Ausgang von
Wahlen nun nicht mehr nur das Mittel zur Bestimmung des jeweiligen
Regierungs- und Oppositionsspielers innerhalb einer Klasse bedeute,
sondern sich in einen »Kräftemaßstab der Klassenverhältnisse« (S. 169)
verwandelt habe. Diese Klassenfronten möglichst genau wiederzuge-
ben sei die Ratio des gegenwärtigen listengebundenen Verhältniswahl-
rechts. Dadurch habe sich auch die Funktion von Parlamenten grundle-
gend geändert. Waren sie Mitte des 19. Jahrhunderts Orte der politi-
schen Diskussion ohne tatsächliche Entscheidungskompetenz, so sind
sie heute zu Stätten zum Austragen des Klassenkampfes geworden.
Kirchheimer lehnt jede Änderung im Sinne Stresemanns ab. Das gegen-
wärtige listengebundene Verhältniswahlrecht habe den Vorteil, dass es
die »nackten Tatsachen des Klassenkampfes« (S. 169) offen darlege,
anstatt sie zu verschleiern. Momentan herrsche im Deutschen Reich ein
»labile[s] Gleichgewichtsverhältnis der Klassenkräfte« (S. 168), was ein
weiterer Grund dafür sei, an dem bestehenden Wahlrecht nicht rütteln
zu lassen.
Ebenfalls im ›Mühlhäuser Volksblatt‹ erschien am 25. Juni 1929 ein
Kommentar Otto Kirchheimers zum Magdeburger Parteitag der SPD,
dessen kritischer Tenor bereits die Überschrift Die Demokratie der
Bequemlichkeit verrät. Der Parteitag, der vom 25. bis zum 31. Mai unter
großer öffentlicher Beachtung in der Magdeburger Stadthalle abgehal-
ten wurde, war als eine Art sozialdemokratische Heerschau nach der
Wiedererlangung der Regierungsmacht im Reich inszeniert. Er war
einerseits geprägt vom Stolz der SPD, den Reichskanzler und wichtige
Ministerien zu stellen sowie andererseits von der durch Reichsfinanz-
minister Rudolf Hilferding genährten Zuversicht, vom derzeitigen
›Organisierten Kapitalismus‹ allmählich in den Sozialismus hinüberzu-
wachsen. Andererseits war der Parteitag überschattet von innerparteili-
chen Auseinandersetzungen über die Militär-, Außen-, Wirtschafts-
und Finanzpolitik der Partei sowie über die nächsten Schritte, die in
Richtung Sozialismus führen sollten und in Verbindung damit auch die
Bündnispolitik der SPD. Von den Vertretern des linken Parteiflügels
und den Jungsozialisten, die zusammen ein Drittel der Delegierten
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42 Einleitung zu diesem Band
55 Zur Kritik an Hilferdings Thesen aus jungsozialistischer Sicht vgl. Lüpke (1985:
188-201).
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Einleitung zu diesem Band 43
ebenso gut den seines Schwiegervaters Kurt Rosenfeld oder die von
Heinrich Riegner und Wilhelm Liebknecht jun. nennen können, in
deren Rechtsanwaltskanzleien er als Referendar vorgesehen war. Den
Vorwurf des Jakobinertums seitens des Parteiestablishments an die
Adresse von Levi kontert Kirchheimer mit dem Hinweis, dass es nicht
die Gironde, sondern die Jakobiner gewesen seien, die Frankreich im
Jahre 1793 im ersten Koalitionskrieg mit ihren Maßnahmen gerettet hät-
ten.
Der sechste in diese Ausgabe aufgenommene journalistische Beitrag
Kirchheimers stammt aus der Zeit nach seiner Rückkehr nach Berlin
und der Aufnahme seiner Tätigkeit am Arbeitsgericht in Spandau. Der
namentlich gezeichnete Artikel mit der Überschrift 50 Jahre Deutsches
Reichsgericht erschien am 1. Oktober 1929 sowohl in der Erfurter ›Tri-
büne‹ als auch im ›Mühlhäuser Volksblatt‹. Das runde Jubiläum des
Reichstagsbeschlusses von 1879, in Leipzig ein Reichsgericht zu errich-
ten, war bereits zuvor in der juristischen Fachpresse vielfältig gefeiert
und gewürdigt worden. Kirchheimer nutzte seinen Jubiläumsbeitrag zu
einer ebenso knappen wie vehementen Kritik an der Tätigkeit der Rich-
ter des Reichsgerichts.
Kirchheimer zufolge liefere die Rechtsprechung des Reichsgerichts »ein
getreues Spiegelbild der Anschauungen und Vorstellungen der in
Deutschland herrschenden Klassen« (S. 187). Das Reichsgericht hätte
nie versucht, aus dieser Vorstellungswelt auszubrechen und hätte es
auch niemals für seine Aufgabe erachtet, zu einer Weiterentwicklung
des Rechts in Richtung eines Sozialrechts beizutragen. Als besonders
verlogen erachtet Kirchheimer die Positionierung des Leipziger
Gerichtshofs im Hinblick auf die Frage der richterlichen Nachprüfbar-
keit von Gesetzen. Während der Kaiserzeit habe sich das Gericht strikt
geweigert, unsoziale Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen
zu wollen. Auch habe es tätig dabei geholfen, mit seiner Strafrechtspre-
chung das Koalitionsrecht der Arbeiterbewegung zu unterdrücken,
und habe die verfassungswidrigen Sozialistengesetze passieren lassen.
Unter der Ordnung der Weimarer Verfassung hingegen torpediere das
Reichsgericht soziale Gesetzgebungsvorhaben, indem es nun auf ein-
mal das Recht auf die richterliche Nachprüfbarkeit von Gesetzen für
sich in Anspruch nehme und sich damit zu einem »höchst zweifelhaf-
ten Hüter der Verfassung« (S. 187) aufwerte.56
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Einleitung zu diesem Band 45
58 Die folgenden Zitate stammen aus dem Schreiben des Präsidenten des Oberlan-
desgerichts an den Preußischen Justizminister vom 14. Oktober 1929. In. Bun-
desarchiv Berlin, R 3001/6322, Akte des Justizministeriums betreffend Dr. Otto
Kirchheimer, Bl. 3.
59 Die folgenden Zitate stammen aus dem Gutachten des Preußischen Kammerge-
richtspräsidenten für den Preußischen Justizminister vom 24. Oktober 1929. In:
Bundesarchiv Berlin, R 3001/6322 Akte des Justizministeriums betreffend Dr.
Otto Kirchheimer, Bl. 5.
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46 Einleitung zu diesem Band
60 »Vermerk. Ich habe mit dem Rfar. [Referendar] über die Sache Rücksprache
genommen. Er erklärte sofort, daß er bei dem – eilig abgesonderten – Artikel in
der Eile wohl in der Form zu weit gegangen sei. Ich habe ihm vorgehalten, daß
der Referendar auch bei der Ausübung allgemein staatsbürgerl. Befugnisse in
der Form seiner Äußerungen Rücksicht darauf zu nehmen habe, daß er Justiz-
beamter sei u. ihm in dieser Beziehung größere Zurückhaltung empfohlen«.
Schreiben des Preußischen Justizministers an den Präsidenten des Kammerge-
richts vom 2. Dezember 1929. Bundesarchiv Berlin, R 3001/6322, Akte des Justiz-
ministeriums betreffend Dr. Otto Kirchheimer, Bl. 4.
61 Vom 26. Juni 1928 bis zum 12. April 1929 wurde das Reichsjustizministerium
von einem Politiker der DDP (Erich Koch-Weser) geleitet, danach bis zum Ende
der Koalition im März 1930 von einem Zentrumspolitiker (Theodor von
Guérard).
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48 Einleitung zu diesem Band
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Einleitung zu diesem Band 49
bringen. Die SPD hatte diese Pläne im Wahlkampf mit dem Slogan »Für
Kinderspeisung – gegen den Panzerkreuzer!« heftig attackiert und
dabei immer wieder die militaristischen und unsozialen politischen
Ziele des Bürgerblocks angeprangert. Nun, nachdem die SPD am
20. Mai 1928 mit 29,8 Prozent als Hauptgewinner der Reichstagswahl
galt, sah sich die Parteiführung vor einer schwierigen Situation. Denn
ihre Koalitionspartner aus dem bürgerlichen Parteilager bestanden auf
der Weiterführung des einmal beschlossenen Kriegsflottenplans. Ange-
sichts dieser Lage entschlossen sich der neue sozialdemokratische
Kanzler Hermann Müller und seine drei SPD-Minister, ein Signal für
eine kompromissbereite Zusammenarbeit in der Großen Koalition zu
geben und zusammen mit ihren bürgerlichen Kabinettskollegen für den
Bau des Panzerkreuzers zu stimmen. Die Empörung in der SPD und in
der linken Öffentlichkeit zu dieser Zustimmung war groß und elektri-
sierte die Jungsozialisten in der SPD und den linken Flügel der Partei
im Sommer 1928 geradezu (vgl. Lüpke 1985: 201-207). Gleichzeitig
begann die KPD im Zuge ihrer neuerlichen Linkswendung ab Mitte
August 1928, die Gegner des Panzerkreuzerbaus für ein Volksbegehren
zu mobilisieren.
Kirchheimers Beitrag zu diesem Thema erschien unter der Überschrift
Panzerkreuzer und Staatsrecht im ersten Septemberheft im Jahr 1928 in
der Zeitschrift ›Klassenkampf – Sozialistische Politik und Wirtschaft‹.
Die Zeitschrift hatte seit 1928 einem zweiwöchentlichen Erscheinungs-
rhythmus. Sie war aus einer Fusion der seit 1923 von Paul Levi heraus-
gegebenen Korrespondenz ›Sozialistische Politik und Wirtschaft‹ und
der 1927 von Max Seydewitz ins Leben gerufenen Zeitschrift ›Klassen-
kampf‹ entstanden. Zu ihren Autoren gehörte neben Paul Levi, Max
Seydewitz, Max Adler und Kurt Rosenfeld die gesamte Riege der links-
sozialistischen Opposition. Mit dem ›Klassenkampf‹ verfügte die sozi-
aldemokratische Linke trotz der geringen Auflage von knapp über
1.000 Exemplaren über ein wirkungsvolles publizistisches Mittel und
sofort etablierte sich die neue Zeitschrift auch parteiübergreifend als
anerkanntes Theorieorgan für die nichtkommunistische Linke. Auch
von vielen Jungsozialisten in der SPD wurde der ›Klassenkampf‹ als
›ihre‹ Zeitschrift angesehen (vgl. Rengstorf 1976).
Kirchheimer machte in seinem Artikel von vornherein deutlich, dass
auch er den Stopp der Panzerkreuzerbaupläne für richtig hielt. Ihm
ging es in seinem Beitrag allerdings nicht um ein neuerliches Pro und
Contra zu dieser militärpolitischen Frage, sondern um verfassungs-
theoretische Aspekte des Vorgehens der SPD-Minister in der Großen
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52 Einleitung zu diesem Band
im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts die drei Komponenten des klassi-
schen Parlamentarismus sukzessive auflösten. Der politische Zugang
zum Parlament ist mit den Wahlrechtsreformen allen gesellschaftlichen
Schichten ermöglicht worden; die schöpferische öffentliche Diskussion
im Parlament ist abgelöst worden von der Repräsentation von Klassen-
interessen und das Parlament hat zudem gegenüber der Exekutive an
politischer Macht verloren; und das Rechtsstaatsprinzip diene nicht
mehr allein den Interessen des Bürgertums, sondern stehe heute »zwi-
schen Proletariat und Bürgertum« (S. 161). Dem Rechtsstaat in der
modernen parlamentarischen Demokratie weist er die aktive Funktion
zu, zwischen Proletariat und Bürgertum einen »Gleichgewichtszustand
zu schaffen« (S. 162) und auf diese Weise die sozialen Kämpfe zwischen
den Klassen auf rechtlichem Wege auszutragen, mithin »soziale Macht-
fragen in Probleme der Rechtsfindung zu neutralisieren« (S. 162).
Kirchheimers Ausführungen in diesem Artikel lassen sich als eine Art
materialistisch begründete historische Semantik von politischen Schlüs-
selbegriffen charakterisieren. Seine Überlegungen sind erneut deutlich
von Max Adlers Schriften geprägt, suchen nach Anleihen in Werken
von Marx und Engels, weisen in ihrer Wortwahl zuweilen aber auch
Parallelen zu Carl Schmitts Theorie des Parlamentarismus auf. Doch
anders als Schmitt, der in dem von ihm beschriebenen Bedeutungswan-
del des Parlamentarismus einen Abfall von einem einstmals heroischen
Urbild sah (vgl. Schmitt 1926), begrüßte Kirchheimer den von ihm
beschriebenen Wandel als einen gesellschaftspolitischen Emanzipati-
onsschub und räumt – ebenfalls im Gegensatz zu Schmitt und dessen
1927 erstmals formulierten neuen Politikbegriff (vgl. Schmitt 1927) –
der rechtlichen Neutralisierung sozialer Konflikte grundsätzlich durch-
aus Erfolgschancen ein.
Im August 1929 erschien ein dritter Beitrag von Kirchheimer in ›Klas-
senkampf‹. Er ist Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbei-
terklasse betitelt und nimmt den öffentlichen »Tanz um die Verfassung«
(S. 185) anlässlich des 10-jährigen Jubiläums der Verabschiedung der
Weimarer Verfassung am 11. August 1919 zum Anlass für einen verfas-
sungspolitischen Rückblick und eine Gegenwartdiagnose. Kirchheimer
zufolge habe die Masse der kriegsmüden Soldaten nach der November-
revolution 1918 die ihnen zugefallene politische Macht ohne große
Umstände den Mehrheitssozialdemokraten anvertraut. Als diese dann
darangehen wollten, die den Arbeitern gegebenen sozialen Verspre-
chungen umzusetzen, »war das Bürgertum bereits wieder aus seinen
Löchern hervorgekommen« (S. 180). Beide Seiten schlossen einen Ver-
nunftfrieden miteinander und schufen im folgenden Jahr die Verfas-
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Einleitung zu diesem Band 53
sung für einen neuen Staat, die durch »kein Prinzip, das […] das Volk
dauerhaft zu einer politischen Willensgemeinschaft formiert hätte«
(S. 180), zusammengehalten wurde. Kirchheimer meint damit, dass die
Weimarer Verfassung keine Entscheidung im Hinblick auf die Frage, ob
die zukünftige deutsche Republik eine kapitalistische oder eine sozia-
listische Demokratie sein sollte, getroffen habe. Die Aufgabe einer Ver-
fassung aber sei es idealerweise, »eine einmal gefallene Entscheidung
kundzutun und in ihrer ganzen Bedeutung herauszustellen« (S. 181).
Das Fehlen dieser grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Entschei-
dung sieht Kirchheimer als Ursache dafür an, dass sich im zweiten Teil
der Verfassung ein derart umfangreicher und facettenreicher Katalog
an Grundrechten und Grundpflichten findet.
Als Gegenbeispiele zum Weimarer Verfassungswerk führte er die fran-
zösische Konventsverfassung von 1793 und die sowjetische Verfassung
von 1918 an, welche ihre Prinzipien »förmlich in die Welt hinausschrien
und beide damit große propagandistische Erfolge erzielten« (S. 180).
Kirchheimer bemängelte die Entscheidungslosigkeit der Weimarer Ver-
fassung nicht aus einer Vorliebe für den Dezisionismus, sondern er
erklärte sie zunächst in den Termini einer materialistischen Gesell-
schaftsanalyse: Die Grundfrage Sozialismus oder Kapitalismus sei zum
Zeitpunkt der Verfassungsgebung angesichts der ausgeglichenen
gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse auf der Ebene des Klassenkampfes
nicht entschieden gewesen. Die gesellschaftspolitische Offenheit der
Weimarer Verfassung sah Kirchheimer als Manko, denn sie macht sie
angreifbar und verletzlich. Der zum Zeitpunkt der Verfassungsgebung
nicht bis zur Entscheidung ausgetragene Konflikt zwischen pro-kapita-
listischen und pro-sozialistischen Kräften mutet dem Weimarer Verfas-
sungswerk etwas zu, das über das, was eine Verfassung leisten kann,
hinausgeht.
Kirchheimer legte dann dar, wie sich aus seiner Sicht in den zehn Jah-
ren seit Verabschiedung der Verfassung das Bild der gesellschaftspoliti-
schen Kräfteverhältnisse erneut gewandelt hat. Die Sorgen des Bürger-
tums vor einer Ausbreitung des Sozialismus in den westlichen Indus-
triegesellschaften sind verschwunden. Somit ist nun auch die »Bour-
geoisie Europas der Notwendigkeit enthoben, ihr wahres Gesicht hinter
einer sozialen und demokratischen Maske zu verbergen« (S. 182). In
Deutschland ist die Bourgeoisie sehr bald nach Verabschiedung der
Verfassung zum Gegenangriff übergegangen und hat damit begonnen,
die sozialen Errungenschaften der Weimarer Verfassung schrittweise
zu demontieren. Kirchheimer nannte in diesem Zusammenhang als
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Einleitung zu diesem Band 55
64 Vermutlich handelt es sich um diesen »Aufsatz von Kirchheimer über die Ver-
fassung«, dessen Lektüre Schmitt in seinem Tagebuch festhielt (Carl Schmitt:
Tagebucheintrag vom 3. August 1929).
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Einleitung zu diesem Band 57
tung der englischen Arbeiterschaft mit ihren Sympathien für die Libe-
rale Partei und ihrer primär gewerkschaftlichen Orientierung geprägt
hätten. An der Darstellung Wertheimers hebt er positiv hervor, dass sie
den Unterschied zwischen der deutschen und der englischen Arbeiter-
bewegung auch noch in einer anderen Hinsicht deutlich werden lasse:
Während die deutsche und auch die österreichische Organisationsform
der Arbeiterklasse von einer politischen und geistigen Elite ausgeht
und die Massen um ihr Parteiprogramm sammelt, ist die englische
Labour Party ein geistig und kulturell heterogenes Gebilde, das keinen
Exklusivitätsanspruch stellt und vielfach dem Liberalismus verhaftet
bleibt. Kirchheimer beschließt seine Lektüreeindrücke mit der ernüch-
terten Feststellung, dass die englische Arbeiterbewegung in ihrer »jetzi-
gen Gestalt kaum zu besonderen Erwartungen berechtigt« (S. 195).
Im Januarheft des Jahres 1930 publizierte Kirchheimer in der Zeitschrift
›Die Gesellschaft‹ eine Auseinandersetzung mit einer Broschüre des
Preußischen Regierungsrats Carl Tannert zur Reform des Volksent-
scheids (vgl. Tannert 1929). Tannert kritisierte mehrere rechtliche
Bestimmungen für die Durchführung von Volksentscheiden als Fehl-
konstruktionen. Seine Kritik entzündete sich vor allem an der während
der Weimarer Republik wiederholt geäußerten Klage, dass die beste-
henden Regelungen gegen das Stimmengeheimnis verstießen, weil Bür-
ger auch durch das bloße Fernbleiben das Ergebnis der Abstimmung
mitentschieden. Dem hielt Kirchheimer entgegen, dass es abwegig sei,
das Wahlgeheimnis und das Stimmengeheimnis beim Volksentscheid
gleichzustellen; von Carl Schmitt ließe sich lernen, dass »technisch
gleichartige Institutionen […] oft von sehr verschiedenen verfassungs-
theoretischen Prinzipen beherrscht sein können« (S. 198). Er stimmte
Tannert jedoch in einem anderen Kritikpunkt zu: Die gegenwärtigen
Regelungen machten keinen Unterschied zwischen einem etwaigen
Zustandekommen von einfachen und verfassungsändernden Gesetzen.
Aus diesem Grund konnte Kirchheimer sich auch Tannerts Reformvor-
schlag anschließen, nach Art der Gesetze gestufte und gegenüber dem
geltenden Zustand erheblich herabgesetzte Beteiligungsquoren festzu-
setzen.
Im Verlauf des Jahres 1929 war die Große Koalition immer stärker ins
Trudeln geraten. Die Regierungsmitglieder hatten aufgrund der not-
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66 Zu den Weimarer Debatten über Artikel 153 vgl. im Überblick mit weiteren Lite-
raturhinweisen Perels (1973: 39-45), Huber (1993: 113-116) und Gusy (1997:
343-352).
67 Zu Kirchheimers eigentumstheoretischen Positionen im Kontext der Weimarer
Debatten vgl. Bumke (2002: 189-203) und Meinel (2011: 196-200).
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60 Einleitung zu diesem Band
68 Vgl. Schmitt (1928: 166 f.) und Schmitt (1929). Zu den Ähnlichkeiten und den
Differenzen der eigentumstheoretischen Argumentationen von Schmitt und
Kirchheimer vgl. Neumann (2015: 146-149).
69 Vgl. Heller (1924: 310-316) und Heller (1926: 375-409). Zu Hellers Konzeption
eines demokratischen Sozialismus vgl. Henkel (2012: 454-482).
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64 Einleitung zu diesem Band
70 Ich danke Detlef Lehnert für den Hinweis auf diesen Artikel.
71 Laut einem Bericht des ›Vorwärts‹ vom 25. März 1931 trug Kirchheimer diese
Thesen 1931 auch auf der März-Versammlung der Vereinigung Sozialdemokra-
tischer Juristen in Berlin vor.
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Einleitung zu diesem Band 65
weis auf Karl Renners in Kreisen der Leserschaft von ›Die Gesellschaft‹
wohlbekanntem Buch über den Funktionswandel der Rechtsinstitute
des Privatrechts ein, dessen erweiterte Neuauflage gerade erschienen
war.72 Inhaltlich ergänzt der Artikel seine bisherigen Ausführungen mit
einer Zusammenstellung von eigentumskritischen Stimmen aus dem
Katholizismus und einer Diskussion über die eigentumsrechtliche
Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs in den USA. Erneut wieder-
holt er seinen Vorwurf an Schmitt, dieser übersähe den »demokrati-
schen Ursprung« (S. 343) der Enteignungsgesetzgebung und mache aus
diesem Grund fälschlicherweise zu große Konzessionen an die liberale
Theorie.
Eine zeitgenössische Reaktion auf Kirchheimers Arbeiten zum Eigen-
tumsbegriff stammte aus der Feder von Ernst Rudolf Huber, der eben-
falls in Bonn bei Schmitt promoviert hatte. Huber schrieb unter dem
Pseudonym Friedrich Schreyer regelmäßig Artikel in der Zeitschrift des
Deutschen Herrenklubs ›Der Ring‹, in der Autoren der Konservativen
Revolution die politische Lage sondierten. Huber warf Kirchheimer
vor, mit seinen Überlegungen die Begleitideologie für eine »schlei-
chende und kalte Sozialisierung«73 zu liefern.
Kirchheimer kam auf das Thema Eigentumsrecht ein Jahr später in
einer Rezension für ›Die Gesellschaft‹ erneut zu sprechen. In seiner Kri-
tik an dem Buch Die Fortschritte des Zivilrechtsrechts im 19. Jahrhundert
von Justus W. Hedemann warf er dem Verfasser vor, zwar wichtige
rechtshistorische Detailarbeit über die Wandelungen des Eigentums-
verständnisses geleistet, in methodischer Hinsicht dabei jedoch voll-
ständig versagt zu haben. Hedemann war ein in Jena lehrender Wirt-
schaftsjurist, der aus seiner konservativen Ablehnung der Weimarer
Republik keinen Hehl machte und sich in seinem rechtshistorischen
Werk gegen erwerbswirtschaftliche Betätigungen der öffentlichen
Hand und gegen den Sozialisierungsartikel der Verfassung aus-
sprach.74 Kirchheimer hielt Hedemann vor allem vor, dass er die
Zusammenhänge zwischen juristischen Bestimmungen mit ökonomi-
schen Faktoren ausblende.
72 Vgl. Renner (1929); die erste Auflage des Buches erschien 1904.
73 Huber (1931:163). Der Hinweis auf Huber findet sich in Breuer (2012: 182 f.).
74 Vgl. Hedemann (1930). Zu seinen rechtshistorischen Arbeiten und seiner späte-
ren Karriere im Nationalsozialismus in Zusammenarbeit mit seinem Schüler
Roland Freisler vgl. Wegerich (2004).
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66 Einleitung zu diesem Band
75 Dies geht aus einem Briefwechsel Kirchheimers mit Dora Fabian aus dem
Januar 1930 hervor. (Otto Kirchheimer Papers, Series 2: Letters, Box 1, Folder 52,
Special Collections & Archives, University at Albany, State University of New
York).
76 Zum Folgenden vgl. Inselmann (1964) und Fraenkel (1968: 655-657).
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Einleitung zu diesem Band 73
von links und rechts« (Heller 1930: 376), die »in merkwürdiger Über-
einstimmung« die Verfassung in Grund und Boden kritisierten, anstatt
sie – »wenn es sein muss mit der Waffe in der Hand« (Heller 1930: 377)
– gegen alle Gewaltideologien zu verteidigen. Noch ablehnender fiel
die Kritik von Arkadij Gurland aus. In seiner Rezension für die linksso-
zialistische ›Bücherwarte‹ lobte er zwar Kirchheimers Hinweis darauf,
dass es sich bei allen Verfassungsfragen letztlich um Machtfragen han-
dele, bemängelte dann aber umso schärfer, dass Kirchheimer seine
Überlegungen »leider mehr auf summarische Feststellungen«
beschränke, statt solche rechtssoziologischen Zusammenhänge konkret
aufzuzeigen. Gurland identifizierte Schmitt als den schlechten Lehr-
meister Kirchheimers für derartige Abstraktionen, die im Ergebnis
dazu führten, den Weimarer Parlamentarismus für die Arbeiterbewe-
gung zu sehr geringzuschätzen. In dieser politischen Konsequenz sah
Gurland auch das »Bedenkliche dieser Schrift«, die seiner Meinung
nach »nicht in eine Schulungsbibliothek hineingehört, wie es die Jung-
sozialistische Schriftenreihe sein soll« (Gurland 1930 b: 136). Weitaus
positiver fiel demgegenüber das Urteil über die Schrift von Carl
Schmitt aus. Er lobte die Abhandlung als eine »hochinteressante
Schrift« und bezog sich dabei vor allem auf Kirchheimers These einer
Verfassung ohne Entscheidung (vgl. Schmitt 1932 b: 195). Dieses
Schmitt’sche Lob griff wiederum der ansonsten so zurückhaltende
Rudolf Smend in seiner öffentlichen Kritik an Schmitt bei einem Fest-
vortrag am 18. Januar 1933 auf. Er attestierte Kirchheimer eine »folgen-
richtige Durchführung« (Smend 1933: 319) des Schmitt’schen Dezisio-
nismus. Gegen beide gerichtet fuhr er dann aber fort: »Es ist aber nicht
Sinn einer Verfassung, ›Entscheidung‹ im Sinne irgendeines sachlich
folgerichtigen politischen Denksystems zu sein, sondern lebendige
Menschen zu einem politischen Gemeinwesen zusammenzuordnen«
(Smend 1933: 320).
In einer Fußnote von Weimar ... und was dann? hatte Kirchheimer
erklärt, dass er gern auch noch einen Abschnitt über Parteien und
Abgeordnete in die Abhandlung aufgenommen hätte, dass dieser
Abschnitt jedoch zu seinem Bedauern »dem Raumzwang zum Opfer«
(S. 223) gefallen sei. Einen gewissen Ersatz dafür bietet der Text Die Pro-
blematik der Parteidemokratie. Kirchheimer befasst sich in diesem Beitrag
mit den Thesen des deutsch-russischen Journalisten und SPD-Partei-
funktionärs Alexander Schifrin über den Parteiapparat der SPD und die
Parteidemokratie, die im Juni-Heft der ›Gesellschaft‹ erschienen waren
(vgl. Schifrin 1930). Kirchheimer verfasste eine umfassende Erwiderung
für die ›Gesellschaft‹ zu Schifrins Aufsatz, die dort allerdings nicht
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76 Einleitung zu diesem Band
gertum auf dem Weg zur vollen Bürgerherrschaft« (S. 332) können sie
sich entweder von ihren putschistischen Wurzeln aus den ersten Nach-
kriegsjahren lösen und loyale republikanische Parteien werden. Die
andere Option ist, dass sie dem strategischen Kurs von Alfred Hugen-
berg folgen und das Bündnis mit den zunehmend erstarkenden Natio-
nalsozialisten suchen, verbunden mit der Hoffnung, anstelle der anti-
kapitalistischen Programmteile dieser Partei das einigende Moment
eines militanten Nationalismus in den Vordergrund schieben zu kön-
nen. Kirchheimer beurteilte Hugenbergs bisheriges Vorgehen als
ebenso erfolgreich wie gefährlich. Ihm sei es mit seinem in der DNVP
verfolgten rigiden Obstruktionskurs gelungen, die Partei von der parla-
mentarischen Zusammenarbeit mit Brüning abzuhalten und damit
»den entscheidenden Stoß gegen den Parlamentarismus« (S. 331)
geführt zu haben. Von den anstehenden Wahlen am 14. September
erwartete Kirchheimer keine Besserung der Situation, sondern eine
Stärkung des extrem rechten Lagers. Für die Arbeiterbewegung werde
es unter solchen Umständen um das schiere politische Überleben gehen
und er prophezeite: »Siegt Hugenberg im Bürgerlager, so geht es um
Leben und Existenz der proletarischen Partei selbst« (S. 332).
Im August 1930 veröffentlichte Kirchheimer im ›Klassenkampf‹ unter
der Überschrift Artikel 48 und die Wandlungen des Verfassungssystems
einen weiteren, kürzeren Beitrag zu den aktuellen politischen Gescheh-
nissen. Viele sozialdemokratische Parteigenossen stünden auch jetzt
noch ratlos vor der Veränderung, die mit der Amtsübernahme Brü-
nings eingetreten sei. »Sie wollen nicht glauben, dass das liebgewor-
dene Bündnis der Weimarer Verfassungsparteien auf immer gelöst«
(S. 349) sei und hoffen auf eine Wiederherstellung der proletarisch-bür-
gerlichen Arbeitsgemeinschaft. Kirchheimer zufolge hätten sich jedoch
aufgrund der veränderten weltwirtschaftlichen Interessen des Bürger-
tums die sozialen Grundlagen des bisherigen Verfassungssystems
grundlegend verändert. Die Regierung sei zu einer selbständigen Ver-
tretung des Bürgertums avanciert, ohne dass es aus dessen Sicht noch
eines Parlaments bedürfe. Bei sämtlichen vorherigen Anwendungsfäl-
len des Artikels 48 habe es eine unausgesprochene Akzeptanz der Not-
verordnungen durch die Sozialdemokratie und die bürgerlichen Par-
teien gegeben und damit eine stillschweigende Mehrheit unter den im
Reichstag vertretenen Parteien. Jetzt geschahen die Anwendungen
jedoch erstmals explizit gegen den Willen der Sozialdemokratie und
auch einer breiten protestierenden Mehrheit im Parlament. Kirchhei-
mer sieht in den Anwendungen des Artikels 48 durch Brünings Regie-
rung eine neue Qualität in der stufenweisen Auflösung des Weimarer
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Einleitung zu diesem Band 77
85 Innerhalb der SPD stellte Kirchheimer seine Überlegungen über »Die politi-
schen Parteien und die Wahlen« am 12. August 1930 im Bezirk Neukölln und
am 4. September bei den Berliner Jungsozialisten zur Diskussion (vgl. Veran-
staltungshinweise in: ›Vorwärts‹ vom 12. August und vom 4. September 1930).
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86 Vgl. Korovine (1930). Zur Bedeutung dieses Buches für die zeitgenössische Völ-
kerrechtsdebatte vgl. Flechtheim (1936).
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87 Vgl. Malaparte (1932). Zu seiner Biographie und seinem Werk vgl. Liesegang
(2011).
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Einleitung zu diesem Band 81
men gibt es ein Bündel von persönlichen Gründen. Zum einen waren
Hilde und Otto Kirchheimer am 16. Dezember 1930 Eltern einer Toch-
ter Hanna geworden und Otto Kirchheimer hatte große Probleme, sich
auf die dadurch entstandene Lebenssituation und Verantwortung ein-
zustellen. Auch politisch gab es zwischen den Eheleuten immer häufi-
ger Streit. Hilde Kirchheimer-Rosenfeld wendete sich von der SPD ab
und der KPD zu. Die heftigen politischen Debatten zwischen den Ehe-
partnern trugen erheblich dazu bei, dass sie sich im Laufe des Jahres
1931 trennten, aber aus Sorgerechtsgründen keine Scheidung einreich-
ten. Hilde Kirchheimer zog mit der Tochter zurück zu ihrem Vater, um
die nötige Ruhe für die Vorbereitungen auf ihr Assessorexamen zu
haben. Nachdem sie es bestanden hatte, trat sie 1932 als Rechtsanwältin
in die Kanzlei ihres Vaters ein. Sie arbeitete für die Rote Hilfe und ver-
teidigte unter anderem Georgi Dimitroff und Ernst Thälmann (vgl.
Ladwig-Winters 2007: 195). Otto Kirchheimer legte am 2. Juni 1931 zum
Abschluss des Referendariats die Große Staatsprüfung erfolgreich ab;
der erste Prüfungstag ergab die Bewertung »ausreichend«, der zweite
die Note »gut« und die Gesamtnote lautete »voll befriedigend«.91 Nach
dem Bestehen des Examens wusste Kirchheimer nicht so recht, welchen
beruflichen Weg er einschlagen sollte. Seine Leidenschaft schlug für
eine wissenschaftliche Karriere, er sah dafür in der gegenwärtigen
Situation an den deutschen Universitäten aber kaum realistische Chan-
cen. Gewisse Erfahrungen in der Lehre erwarb er in seiner gelegentli-
chen Dozententätigkeit an der Gewerkschaftsschule Berlin. Sie war eine
Gründung der Rätebewegung von 1919 und hatte sich von einem revo-
lutionären Bildungsinstitut zu einer Einrichtung fachbezogener Funk-
tionärsausbildung für Betriebsräte entwickelt.92 Kirchheimer gab an der
Berliner Gewerkschaftsschule Kurse über Arbeitsrecht und über
moderne europäische Geschichte.93 Eine im Dezember 1930 bei der
Rockefeller-Foundation eingereichte Bewerbung für ein einjähriges For-
schungsstipendium in den USA, die von Schmitt gutachterlich unter-
stützt worden war,94 hatte anders als die ebenfalls von Schmitt prote-
gierte Bewerbung von Leo Strauss keinen Erfolg. Auch seine der puren
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84 Einleitung zu diesem Band
Erfolg bei den Wählermassen blieb aber aus; die beiden Reichstagswah-
len 1932 endeten für sie katastrophal. Aufgrund dieser Niederlagen
brach die SAP Anfang 1933 in inneren Kämpfen auseinander. Otto
Kirchheimer hatte es abgelehnt, sich dem neuen Parteiprojekt seines
Schwiegervaters anzuschließen. Die SPD besaß aus seiner Sicht zumin-
dest den Vorzug einer tatsächlichen Verankerung in der Arbeiterschaft.
Kirchheimers Artikel Legalität und Legitimität war seine erste längere
Abhandlung nach nahezu zwei Jahren Pause. Der Text erschien im Juli-
Heft 1932 von ›Die Gesellschaft‹. Kirchheimer hatte seit Ende 1931 an
diesem Artikel gearbeitet. Die Anregung dazu stammte aus Seminar-
diskussionen bei Carl Schmitt. Schmitt hatte im Januar 1932 in seinem
Seminar die Begriffe ›Legalität und Illegalität‹ behandelt (vgl. Mehring
2009: 283) und hielt im Februar den Rundfunkvortrag Was ist legal?,
ohne darin aber schon auf den Gegenbegriff ›Legitimität‹ zu rekurrie-
ren.96 Aus dem Kreis um Schmitt beschäftigte sich auch Ernst Forsthoff
mit der Thematik. In einem Brief an Schmitt vom Januar nahm er des-
sen verfassungspolitisches Credo vorweg »Es kommt demnach für
mich nicht auf die Legalität, sondern nur auf die Legitimität, die politi-
sche Einstellung zur Fundamentalverfassung an«.97 An dieser auch von
Schmitt verfochtenen Idee einer Art Superlegalität bestimmter Ele-
mente der Verfassung arbeitete sich auch Kirchheimers Artikel ab,
wenngleich mit einem soziologischen Ansatz und mit einer anderen
politischen Stoßrichtung. Eine erste Textfassung hatte Kirchheimer
Anfang April 1932 fertiggestellt und auch Schmitt zur Verfügung
gestellt, der das Manuskript einige Tage darauf an Forsthoff weiterlei-
tete. Die veröffentlichte Fassung des Artikels nimmt noch einige Detail-
informationen und Literaturhinweise auf, die darauf schließen lassen,
dass das Manuskript der Redaktion von ›Die Gesellschaft‹ Ende Mai
1932 abgeschlossen vorlag.98
96 Vgl. Schmitt (1932 d) und Brief Ernst Forsthoff an Carl Schmitt vom 8. April
1932. In: Briefwechsel Schmitt/Forsthoff (2007: 41).
97 Vgl. Brief Ernst Forsthoff an Carl Schmitt vom 23. Januar 1932, In: Briefwechsel
Schmitt/Forsthoff (2007: 40).
98 Schmitt schickte das Typoskript am 14. April 1932 weiter nach Freiburg an
Forsthoff. Vgl. die Erläuterungen der Herausgeber in: Briefwechsel Schmitt/
Forsthoff (2007: 359). Ein Textvergleich zwischen dieser Manuskriptversion mit
seinen in der Handschrift von Kirchheimer eingetragenen Überarbeitungen und
der publizierten Druckfassung ergibt insgesamt 34 Formulierungsabweichun-
gen, die aber alle ohne größere inhaltliche Bedeutung sind. Die einzige signifi-
kante Veränderung findet sich in den Literaturverweisen in den Fußnoten. Von
den vier Literaturhinweisen, die auf Texte von Carl Schmitt verweisen, findet
sich im Typoskript der Erstfassung nur ein einziger (die Fußnote 5 im abge-
druckten Text). Ein weiterer Verweis auf Schmitt (Fußnote 3) ist von Kirchhei-
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101 Laut Veranstaltungsnotiz des ›Vorwärts‹ stellte Kirchheimer seine Thesen über
Legalität und Legitimität am 2. Oktober 1932 bei der Zusammenkunft der Ver-
einigung Sozialdemokratischer Juristen in Berlin zur Diskussion.
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90 Einleitung zu diesem Band
102 Die Formulierung ist identisch mit der vorab von Kirchheimer an Schmitt
geschickten Manuskriptfassung seines Aufsatzes.
103 Zu diesem »zusätzlichen Dreh« (Andreas Anter) von Schmitt bei seiner Kirch-
heimer-Zitation vgl. Neumann (2015: 236-239) und Anter (2016: 106).
104 Vgl. Schmitt (1932 a: 97). Zur politischen Mehrdeutigkeit dieser Schrift vgl.
Hofmann (1995: 99 f.) und Mehring (2009: 285-288).
105 Tagebucheintrag Carl Schmitt vom 25. August 1932. In: Schmitt (2010: 210).
106 Zur Biografie von Leites vgl. die Erinnerungsessays in Rand-Corporation
(1988).
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107 Brief Otto Kirchheimer an Rudolf Smend vom 7. November 1932. In: Staats-
und Universitätsbibliothek Göttingen, Nachlass Rudolf Smend, Cod. Ms. R.
Smend A 441.
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108 Tagebucheintrag von Schmitt am 6. November 1932. In: Schmitt (2010: 231).
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96 Einleitung zu diesem Band
»Staatsstreich des 20. Juli« (S. 423) sind nun auch Teile des ersten, orga-
nisatorischen Teils der Verfassung ins Visier der treibenden gesell-
schaftlichen Kräfte der schleichenden Verfassungserosion geraten.
Kirchheimer wirft den Unterstützern dieses »Schrumpfungsprozess[es]
der Weimarer Verfassung« (S. 410) aus der deutschen Staatsrechtswis-
senschaft vor, sich bei der Beantwortung positiver Rechtsfragen längst
nicht mehr an der Weimarer Verfassung zu orientieren, sondern eine
verfassungsjenseitige »Wissenschaft der konkreten Umstände« (S. 410)
zu betreiben. Die zitierte Formulierung macht deutlich, dass Kirchhei-
mer sich in seinem Artikel direkt an Schmitt wendet. Er beharrt darauf,
dass jede staatsrechtliche Frage ausschließlich auf Basis der Weimarer
Verfassung entschieden werden dürfe und erinnert Schmitt in diesem
Zusammenhang an ein Diktum aus dessen Verfassungslehre, demzufolge
es grundlegende Institutionen des geltenden Verfassungsrechts gibt,
die gegen verfassungsändernde Beschlüsse des Parlaments und damit
auch gegenüber Eingriffen des Reichspräsidenten immun sind (vgl.
Schmitt 1928: 25-27).
Zu diesen grundlegenden Institutionen zählt Kirchheimer den Födera-
lismus. Die hohe verfassungsrechtliche Bedeutung des Föderalismus
lasse sich nicht zuletzt daran erkennen, dass die Weimarer Verfassung
im Gegensatz zur kaiserlichen Reichsverfassung als Entscheidungsin-
stanz für Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern extra den Staats-
gerichtshof eingesetzt habe. Erneut richtet Kirchheimer sein Wort direkt
an Schmitt. Grundsätzlich habe er natürlich Recht, wenn er bei Ent-
scheidungen über Konflikte zwischen Reich und Ländern zur Zurück-
haltung gemahnt habe (vgl. Schmitt 1931: 4). In diesem besonderen Fall
jedoch ist das Gericht als Streit entscheidende Instanz »in vollem
Bewusstsein des hochpolitischen Charakters solcher Differenzen«
(S. 413) eingeschaltet worden. Deshalb ist es »nicht zulässig, hier von
ihm eine Abstinenz zu verlangen, die in Wirklichkeit die innere Organi-
sation des Reiches zur freien Disposition des Reichspräsidenten stellen
würde« (S. 413). Kirchheimer zeigte mit dieser Bemerkung ein feines
Gespür für die Strategie, mit der Schmitt im Oktober vor dem Staatsge-
richtshof für die Sache des Reiches argumentieren sollte. In seiner dann
im Einzelnen entfalteten verfassungsrechtlichen Argumentation hält
sich Kirchheimer eng an den Wortlaut des Verfassungstextes, zieht ein-
schlägige staatsrechtliche Kommentierungen heran und geht auf poli-
zeirechtliche Details ein, die bei der Beweisaufnahme vor dem Staatsge-
richtshof ebenfalls herangezogen werden müssten. Er führt Rudolf
Smend als Kronzeugen für den rechtsstaatlichen Grundsatz ins Feld,
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Einleitung zu diesem Band 97
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98 Einleitung zu diesem Band
109 Zur Verfassungsreformdebatte des Jahres 1932 vgl. im Überblick Huber (1984:
1005-1009) und Gusy (1997: 447-455).
110 Zu diesen Aktivitäten Schmitts vgl. Mehring (2009: 288-302).
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Einleitung zu diesem Band 99
111 Aktenvermerk Academic Assistance Council (AAC) vom 4. März 1934. Die
Akte des AAC aus London findet sich in: Emergency Committee in Aid of Dis-
placed German/Foreign Scholars, Public Library, New York. I, A Grantees
1933-46, Box 18, Folder 13 (Kirchheimer, Otto).
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100 Einleitung zu diesem Band
112 Brief Otto Kirchheimer an Rudolf Smend vom 7. November 1932. In: Staats-
und Universitätsbibliothek Göttingen, Nachlass Rudolf Smend, Cod. Ms. R.
Smend A 441.
113 Brief Otto Kirchheimer an Carl Schmitt vom 7. November 1932. In: Landesar-
chiv Nordrhein-Westfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-7595.
114 Vgl. den Bericht von Neumanns späterer Partnerin Helge Pross in Erd (1985:
59).
115 Vgl. Brief beziehungsweise Postkarte von Otto Kirchheimer an Carl Schmitt
vom 24. Dezember 1931 (mit der Leseempfehlung des Buches American Foreign
Policies des linken amerikanischen Politikwissenschaftlers James W. Garner aus
dem Jahr 1928) und vom 16. November 1932 (mit der Empfehlung des Buches
Government by Judiciary des amerikanischen Marxisten Louis Boudin von 1932).
In: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-7596
und RW 265-7597.
116 Außerdem trug er am 15. November 1932 bei der Sozialistischen Studenten-
schaft in Berlin zu diesem Thema vor (vgl. die Ankündigung im ›Vorwärts‹
vom 13. November 1932).
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Einleitung zu diesem Band 105
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Einleitung zu diesem Band 107
Militärs, den Großagrariern und der Bürokratie mit dem Ziel des politi-
schen Machtgewinns hinzugestoßen ist. Eine solche Herrschaft wird
der Arbeiterbewegung aus Gründen der Selbstbehauptung keine politi-
schen Freiheiten mehr lassen: »Der Faschismus hat hierin keine Wahl.
Er muss diese Kräfte nach dem Gesetz, nach dem er angetreten, durch
den schärfsten bürokratischen Zwangsapparat niederhalten« (S. 519).
Kirchheimer plädiert für eine präzise soziologische Fassung des
Faschismusbegriffs und weist zustimmend auf Franz Borkenaus Unter-
scheidung zwischen einem »echte[n] Faschismus« (S. 519) als dem
gewaltsamen Übergang rückständiger Länder in einen industriellen
Kapitalismus und dem Nationalsozialismus als Herrschaftsform in
einem kapitalistisch voll entwickelten Land hin (vgl. Borkenau 1932).
Für die Arbeiterbewegung ist der demokratische Weg zum Sozialismus
durch die letztgenannte Form des Faschismus versperrt. Kirchheimer
sieht damit eine Konstellation heraufgezogen, wie sie das Linzer Partei-
programm der österreichischen Sozialdemokratie von 1926 erwähnte,
in der »die Arbeiterklasse die Staatsmacht nur noch in einem ihr aufge-
zwungenem Bürgerkrieg erobern kann« (S. 520).
Trotz dieser martialischen Sprache findet sich in Kirchheimers Artikel
keinerlei Hinweis darauf, dass er eine solche Aussicht für realistisch
hielt. Betont kritisch setzt er sich mit Lenins Parteikonzept und seinem
»primitiven« (S. 521) Demokratieverständnis auseinander, das in seiner
autoritären Ausrichtung vor dem Hintergrund des repressiven russi-
schen Absolutismus verständlich sei, sich im weiteren Fortgang der
russischen Revolution in ihrer Demokratie- und Freiheitsfeindlichkeit
aber bitter gerächt hätte. Demgegenüber erinnert er an Rosa Luxem-
burgs Lenin-Kritik und das demokratische Potential ihres Glaubens an
die Spontaneität der Massen, bemängelt aber auch ihre allzu geringe
Bewertung eines immer notwendigen Stücks hierarchischer Verselb-
ständigung. Angesichts des repressiven Nationalsozialismus an der
Macht ruft Kirchheimer seine Leserschaft auf, eine sinnvolle »Mitte«
(S. 526) aus diesen beiden Traditionen für die bevorstehenden politi-
schen Kämpfe zu finden.
Die vagen Formulierungen am Ende seines Artikels spiegeln die Orien-
tierungslosigkeit der gesamten Linken nach der Machtübergabe an Hit-
lers Koalitionsregierung wider. Die Übernahme der Kanzlerschaft
durch Hitler wurde nicht als historische Wasserscheide erlebt, sondern
als Episode eines Kontinuums. Weder die Spitze der SPD noch der KPD
hatten eine klare Vorstellung davon, dass mit dem Vorgehen der neuen
Regierung spätestens im März 1933 eine Zäsur eingetreten war. Die
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108 Einleitung zu diesem Band
meisten Linken hatten die Illusion, dass sie nur für einen Moment von
einer faschistischen Regierung zurückgedrängt waren, aber keine dau-
erhafte Niederlage erlitten hatten, da der wirkliche Kampf der Arbeiter-
bewegung noch gar nicht stattgefunden hatte.
Otto Kirchheimer verblieben in Deutschland nicht mehr viele Gelegen-
heiten, sich dem Nationalsozialismus entgegenzustellen. Nach dem
Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar setzte eine
erste Welle willkürlicher Verhaftungen und Misshandlungen von
Oppositionellen durch die Polizei und die mit polizeilichen Vollmach-
ten ausgestattete SA ein. Kirchheimer hatte den Abend des 27. Februar
in der Reichstagsbibliothek verbracht und als einer der letzten Nutzer
das Gebäude verlassen. Er fürchtete, deswegen als Verdächtiger ver-
folgt zu werden.120 In der Rechtsanwaltspraxis von Fraenkel und Neu-
mann wurden Protokolle über die Folterungen der Gefangenen durch
die SA in dieser Nacht aufgenommen. Eine Reihe aktiver linker Politi-
ker der Weimarer Republik flüchtete ins Ausland. Zu ihnen gehörte
Kurt Rosenfeld. Er wurde wegen »kommunistischer Betätigung« als
einer der ersten mit Berufsverbot belegt und von der SA verfolgt, wes-
halb er mit einer Gruppe politischer Freunde nach Prag flüchtete (vgl.
Ladwig-Winters 2007: 248). Die Verhaftungswellen und Misshandlun-
gen nahmen nach der Festnahme Dimitroffs und den anderen angeb-
lich für den Reichstagsbrand Verantwortlichen am 9. März ein immer
größeres Ausmaß an. Unter den circa 50.000 Verhafteten, die in zumeist
illegale Lager verbracht wurden, wo sie von SA und SS misshandelt
und in denen 500 bis 600 Gefangene ermordet wurden, war auch Franz
L. Neumann. Vor dieser Orgie der Gewalt flüchteten im ersten Jahr des
NS-Regimes etwa 65.000 Menschen auf legale oder illegale Weise ins
Ausland. Danach ging es Schlag auf Schlag weiter. Am 14. März verbot
die Regierung den Republikanischen Richterbund. Am 7. April 1933
wurde parallel zum »Gesetz über die Wiederherstellung des Berufsbe-
amtentums« ein Rechtsanwaltsgesetz verabschiedet, das »nicht arische«
oder sich »kommunistisch betätigende« Anwälte aus der Anwaltschaft
ausschloss. Von den in Berlin zugelassenen 3.400 Anwälten stufte die
Regierung allein über 1.800 als »jüdisch« ein. Dieses Gesetz bedeutete
für Otto Kirchheimer das Ende seiner anwaltlichen Existenz. Gleiches
widerfuhr Hilde Kirchheimer-Rosenfeld, die sich zunächst bemüht
hatte, die Kanzlei ihres geflüchteten Vaters aufrechtzuerhalten, zu der
unter anderem die anwaltliche Vertretung des wegen des Reichstags-
brandes angeklagten Ernst Torgler gehörte. Als Anwältin für die Rote
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Einleitung zu diesem Band 109
Hilfe, die zuvor auch Thälmann und Dimitroff verteidigt hatte, war sie
zusätzlich bedroht und flüchtete Mitte April zusammen mit der zwei-
jährigen Tochter Hanna über die Schweiz nach Paris (vgl. Ladwig-Win-
ters 2007: 195).
Eindringlich beschwor Arkadij Gurland, dem im April die Flucht nach
Belgien gelungen war, seinen Freund Kirchheimer, das Land ebenfalls
zu verlassen.121 Doch Kirchheimer blieb zunächst. Er war noch in Ber-
lin, als am 2. Mai die Schergen der SA das Haus des Metallarbeiterver-
bandes in der Alten Jacobstraße, in dem Fraenkel und Neumann ihre
Kanzlei hatten, besetzten und deren Mitarbeiter terrorisierten.122 Am
4. Mai verlegte der Parteivorstand der SPD seinen Sitz nach Prag, am
9. Mai erging an Neumann die offizielle Mitteilung des anwaltlichen
Vertretungsverbots und am 10. Mai erfolgten die Bücherverbrennun-
gen. Für Neumann waren das die untrüglichen Zeichen dafür, dass es
für ihn an der Zeit war, das Land zu verlassen.123 Sein Kanzleikompa-
gnon Ernst Fraenkel entschied sich dafür, von einer für ihn geltenden
Ausnahmeregel für ausgezeichnete Soldaten im Weltkrieg in der
Rechtsanwaltsverordnung Gebrauch zu machen, um politisch Verfolg-
ten weiterhin rechtlich beistehen zu können.124 Für Kirchheimer gab es
eine solche Möglichkeit nicht. Dennoch hatte er noch keinen Plan zur
Emigration gefasst, sondern wollte erst einmal die weitere Entwicklung
abwarten und für eine Weile bei seinem Bruder Friedrich (Fritz) in Heil-
bronn untertauchen. Doch Friedrich Kirchheimer, der mittlerweile eine
führende Position bei der lokalen Dresdner Bank innehatte, warf den
Schutzflehenden mit der Begründung aus dem Haus, dass er sich die
politischen Scherereien selbst zuzuschreiben habe und er nicht hinein-
gezogen werden wolle.125 Am 19. Mai wurde Otto Kirchheimer »wegen
Verdachts politischer Umtriebe« festgenommen.126 Der Zufall wollte es,
dass er in der Untersuchungshaft die Zelle mit Paul Kecskemeti teilte.
Kecskemeti war ein aus Ungarn stammender junger Soziologe, der 1927
121 So der Bericht von Ossip K. Flechtheim in einem Gespräch am 13. Februar
1988.
122 Vgl. die Schilderung der damaligen Sekretärin Ella Müller in Erd (1985: 55-57).
123 Zu Neumanns Biografie vgl. Intelmann (1996).
124 Zu Fraenkels Motiven vgl. Ladwig-Winters (2009: 106-109).
125 So der Bericht von Hanna Kirchheimer-Grossman in einem Gespräch am
11. März 2016. Friedrich Kirchheimer gelang es 1937, mit seiner Familie nach
Argentinien zu emigrieren.
126 Die Datumsangabe findet sich in einem Schreiben der Geheimen Staatspolizei
(Staatspolizeileitstelle Berlin) an die Geheime Staatspolizei (Geheimes Staats-
polizeiamt) vom 1. Februar 1938. Auswärtiges Amt, Politisches Archiv, RZ 214,
R 99744 (69. Ausbürgerungsliste), Ausbürgerungsakte betreffend Otto Kirch-
heimer.
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110 Einleitung zu diesem Band
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Einleitung zu diesem Band 111
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112 Einleitung zu diesem Band
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Einleitung zu diesem Band 113
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114 Einleitung zu diesem Band
129 Vgl. Bracher (1955) mit den entsprechenden Hinweisen auf Schriften Kirchhei-
mers.
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116 Einleitung zu diesem Band
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Einleitung zu diesem Band 117
Zitierte Literatur
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118 Einleitung zu diesem Band
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Einleitung zu diesem Band 119
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120 Einleitung zu diesem Band
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Einleitung zu diesem Band 121
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122 Einleitung zu diesem Band
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Einleitung zu diesem Band 123
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124 Einleitung zu diesem Band
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Einleitung zu diesem Band 125
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127
[1.]
Die Lehre von Stettin*
[1928]
* [Erschienen in: Die Tribüne, Organ der Sozialdemokratischen Partei für das Land
Thüringen und den Regierungsbezirk Erfurt, Nr. 99, 27. April 1928, Erfurt.
Gezeichnet mit dem Pseudonym »A. Z.«. – Zu diesem Text vergleiche in der Ein-
leitung S. 36-37.]
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128 [1.] Die Lehre von Stettin [1928]
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129
[2.]
Zuchthaus Untermaßfeld und moderne
Preßberichterstattung*
[1928]
* [Erschienen in: Die Tribüne, Organ der Sozialdemokratischen Partei für das Land
Thüringen und den Regierungsbezirk Erfurt, Nr. 153, 2. Juli 1928, Erfurt.
Gezeichnet mit dem Pseudonym »A. Z.«. – Zu diesem Text vergleiche in der Ein-
leitung S. 38-39.]
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130 [2.] Zuchthaus Untermaßfeld und moderne Preßberichterstattung [1928]
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[2.] Zuchthaus Untermaßfeld und moderne Preßberichterstattung [1928] 131
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132
[3.]
Zur Staatslehre des Sozialismus und
Bolschewismus*
[1928]
* [Erschienen in: Zeitschrift für Politik, Band 17, Berlin 1928, S. 593-611. – Zu die-
sem Text vergleiche in der Einleitung S. 23-33.]
1 Dieser Vorgang findet seine prägnante Beschreibung bei Friedrich Engels, Einlei-
tung zu Karl Marx‘ Klassenkämpfe in Frankreich, S. 5[, in: MEW Band 7, Berlin
1960, S. 515]; aber auch der Gegner urteilt ebenso: Lorenz von Stein, »Der Sozia-
lismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs«, [Leipzig 1842,] S. 145.
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[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928] 133
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134 [3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928]
4 Dieser Gegensatz zwischen, wie es hier genannt wird, Formal- und Wertdemo-
kratie durchzieht auch das ganze Buch von Max Adler, »Politische oder soziale
Demokratie«, [Berlin 1926,] die Bezeichnung politische und soziale Demokratie
ist die Verengerung des Gegensatzes zwischen Formal- und Wertdemokratie, nur
ist das Wort politische Demokratie unglücklich, da eben jede Demokratie als
Erscheinungsform staatlichen Lebens politisch ist. Hierin zeigt sich die notwen-
dige Zwiespältigkeit rein sozialistischer Begriffsbildungen, die, wenn sie in apoli-
tischen Kategorien denken will, dennoch dazu nicht die politischen Kategorien
selbst entbehren kann.
5 Nur die formale Demokratie hat im Auge Karl Renner bei seinen Erörterungen
im Dezemberheft 1926 der »Gesellschaft«. [Vgl.: Karl Renner: Der Streit um die
Demokratie, in: Die Gesellschaft, Jg. 4, Heft 1, Berlin 1927, S. 1-27.]
6 So [Hans] Kelsen in »Sozialismus und Staat«. [Eine Untersuchung der politischen
Theorie des Marxismus, Leipzig 1920.]
7 Siehe die klassische Stelle bei [Jean-Jacques] Rousseau, »Contrat social«, Livre IV,
Chap. 2, Des Suffrages. »Quand donc l’›avis contraire au mien l’›emporte, cela ne
prouve autre chose, sinon que je m’›étois trompé et que ce que j’›estimois être la
volonté générale, ne l’›étoit pas.« Völlig konform auch Max Adler »Politische
oder soziale Demokratie«, [Berlin 1926,] S. 85.
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[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928] 135
8 Hierzu Carl Schmitt: »Die Diktatur« [Von den Anfängen des modernen Souverä-
nitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, Berlin 1921] und »Politi-
sche Theologie«[, Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 1922].
9 Das Problem des Gleichgewichtszustandes ist zur Zeit der Monarchie als Prob-
lem der Ausbalancierung hervorgetreten. Interessant ist die Feststellung Aulards
(»Pol. Geschichte der franz. Revolution«, II, S. 44) [François-Alphonse Aulard:
Politische Geschichte der französischen Revolution, II, München 1924], dass das
Bürgertum durch die Person des Königs nach einer relativen Ausbalancierung
zwischen Volk und Bürgertum strebte, ohne jedoch auf seine tatsächliche Macht
verzichten zu wollen. Das Volk aber begriff seine günstige Position nicht und half
der Bourgeoisie gegen den König (S. 46). Die prinzipielle Bedeutung jenes Vor-
gangs als eines Vorspiels für die politische Geschichte des folgenden Jahrhun-
derts hat der Liberale Rotteck wohl begriffen, als er dem Königtum in der Fran-
zösischen Revolution den bitteren Vorwurf machte, die Bürgerlichen gezwungen
zu haben, an das Volk zu appellieren (Gesch. vom Anfang der hist. Kenntnis bis
auf unsere Zeit, Bd. IX, S. 83). [Karl von Rotteck: Allgemeine Geschichte vom
Anfang der historischen Kenntnis bis auf unsere Zeit, Band IX, Braunschweig
1846, S. 84 f.]
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136 [3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928]
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[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928] 137
mehr, es ist ein Rechtsmechanismus, und jeder, der die Führung der
Staatsgeschäfte zu bekommen glaubt, bekommt stattdessen eine
Rechtsmaschinerie in die Hand, die ihn in Anspruch nimmt wie einen
Maschinisten seine sechs Hebel, die er zu bedienen hat.13 Das rechts-
staatliche Element in seiner nach Überwindung des reinen Liberalis-
mus nunmehr angenommenen Gestalt, die spezifische Transponierung
der Dinge vom Tatsächlichen ins Rechtsmechanistische, ist das wesent-
liche Merkmal des Staates im Zeitalter des Gleichgewichts der Klassen-
kräfte. Nimmt man vorsichtig die Dinge heraus, die wegen ihrer Unbe-
dingtheit keine Verrechtlichung ertragen, wie etwa Religion und Mili-
tärdienst, so ist, was bleibt, ein reiner Rechtsmechanismus.
Die Frage nach der russischen Revolution, nach dem Sowjetstaat, ist die
Frage, ob es sich dort um die Zerstörung einer solchen Rechtsmaschine-
rie gehandelt hat, ob der russische Staat, der vernichtet wurde, eben-
falls nur eine Form zur Austragung von Klassengegensätzen gewesen
ist. Dies ist durchaus zu verneinen. Der offizielle russische Staat stand
in engster Verbindung mit der orthodoxen russischen Kirche; ihr Ober-
haupt, der Zar, war gleichzeitig das seine, ein Grund mehr, weshalb die
nach Westen orientierten Intellektuellen, das liberale Bürgertum, kei-
nen Einfluss gewinnen konnte, ihre historische Bedeutung, wie sie die
entsprechenden westeuropäischen Schichten noch heute nicht verloren
haben, aufgeht in der allgemeinen revolutionären Bewegung und dem
kurzen Zwischenspiel zwischen Zarenreich und Räterepublik.
Die prägnante Formulierung dessen, was der vorrevolutionäre russi-
sche Staat vorstellte, fand 1867 Danilewski in seinem »Rußland und
Europa«,14 der Bibel des Panslawismus. Hier wird der kulturell-politi-
schen Sendung Europas Russlands göttliche Sendung gegenüberge-
stellt und, daraus folgend, jede Revolution für unvereinbar mit dem
Charakter des russischen Volkes erklärt. Der russische Staat ist ein
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138 [3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928]
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[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928] 139
17 Den gleichen Zusammenhang beobachtet [Carl] Schmitt, wenn er von der vor-
gestellten Identität von fortschrittlich-demokratischen Gedanken und sozialde-
mokratischer Organisation spricht. »Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen
Parlamentarismus« 2. Aufl.[, Berlin 1926,] S. 32. Als Beispiele statt vieler: Renner
in dem zitierten Aufsatz [Karl Renner: Der Streit um die Demokratie, in: Die
Gesellschaft, Jg. 4, Heft 1, Berlin 1927, S. 1-27]; [Karl] Kautsky, »Terrorismus und
Kommunismus, Ein Beitrag zur Naturgeschichte der Revolution«, Berlin 1919;
und höchst instruktiv [Karl] Kautsky, »Georgien, eine sozialdemokratische Räte-
republik, Eindrücke und Beobachtungen«, Wien 1921.
18 [Georges] Sorel: Réflexions sur la violence, 6. Aufl., Paris 1921, S. 199.
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140 [3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928]
19 [Siehe: Wladimir Iljitsch Lenin: Die Aufgaben der Jugendverbände, in: W.I.
Lenin, Werke, Berlin 1966, S. 272-290.]
20 Siehe insbesondere Kap. 4 des genannten Buches. [Georges Sorel: Réflexions sur
la violence, 6. Auflage, Paris 1921.]
21 W. Pareto, »Les systems socialistes« II 65. [Vilfredo Pareto: Les systèmes social-
istes, Paris 1926.]
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[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928] 141
22 Die Vorstellung einer unmittelbaren Einwirkung auf den Menschen ist dem
Mythos typisch. So heißt es bei Sorel: »II faut juger des mythes comme des moy-
ens d‘agir sur le présent« (»Refl.« S. 180). [Georges Sorel: Réflexions sur la vio-
lence, 6. Auflage, Paris 1921.] Ohne Zweifel findet der Gedanke des »Agir sur le
présent« sich in seiner Reinheit nur bei den primitiven Völkern ausgebildet, er
verkörpert eine bewusst prälogische Bewusstseinshaltung. Siehe Lévy-Bruehl,
»Mentalité primitive«, [Lucien Lévy-Bruhl: La Mentalité primitive, Paris 1922;]
insbesondere S. 94 über den emotionalen Charakter der primitiven Vorstel-
lungswelt.
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142 [3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928]
23 Während Eduard Bernstein, der typische Vertreter der Lehre vom Doppelten
Fortschritt, schon in den neunziger Jahren die moralische Integrität der Bour-
geoisie pries, versuchen Sorel und Pareto, über die Relativierungsversuche des
Parlamentarismus hinweg die wirkliche Kampfesfront ohne Illusionen aufzu-
zeigen. Den Versuch, dem Bilde des Proletariats ein Wertbild der Bourgeoisie
gegenüberzustellen, hat in geistiger Gefolgschaft Sorels [René] Johannet in sei-
nem »Eloge du bourgeois français«[, Paris 1924,] unternommen. Sie alle folgen
damit der Tradition Bakunins, »L‘honnêt homme, homme moral, c'est celui qui
soit acquérir, conserver et augmenter la propriété«, »Œuvres completes« III
127ff. Neuestens über das Bild des Bourgeois Franz Werfel, »Der Tod des Klein-
bürgers«[, Berlin 1927.]
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[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928] 143
eigener Prägung. Hierdurch aber setzt sich die Lehre Sorels und des
revolutionären Syndikalismus in Einklang mit der offiziellen Auffas-
sung des Leninismus, nach der die Kommunistische Partei die Führerin
des Proletariats, seine einzige und wahre Vertretung in dem großen
Kampf gegen die Weltherrschaft der Bourgeoisie sei, die nach der Auf-
fassung von Lenins »Staat und Revolution«24 die falsche, die böse, die
unmoralische Sache vertritt.25
Für jedes politische Prinzip ist es von grundlegender Wichtigkeit, wie
es sich zum Diktaturbegriff stellt, inwiefern es das Prinzip der Aus-
nahme in Rechnung stellt und ihm Einlass gewährt. Sehe ich richtig, so
stehen sich in der sozialistischen Literatur drei Diktaturbegriffe gegen-
über. Der Marx‘sche Diktaturbegriff, in einer Zeit geformt, in der zum
ersten Mal wirtschaftliche Machtfragen in unverhüllter und unverkenn-
barer Weise selbständig auf politische Vorstellungen einwirkten, hat
selbst wenig politischen Eigengehalt zurückbehalten. Frei von politi-
scher Wertung bezeichnet er den Augenblick, in dem der Prozess der
kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung an dem Punkte angelangt ist,
wo die Machtergreifung durch die Arbeiter Zweck und Sinn hat. Seine
Nachfolger, die Vertreter der Lehre vom Doppelten Fortschritt, ver-
suchten die Diktaturvorstellung in zwei parallellaufende Reihen von
wirtschaftlich technischem und politisch humanitärem Fortschritt auf-
zulösen. Um in einer sie beide umfassenden parlamentarischen Demo-
kratie das endgültige politische Formprinzip des kapitalistischen Zeit-
alters zu finden. So wurde für sie die Diktatur aus der Welt der politi-
schen Wirklichkeit in die der Utopie versetzt, die mit Marx‘schen
»Wirtschaftsgesetzen« verbunden die Gestalt eines »organischen Über-
gangs« erhielt. Diese Gemengelage von Wirtschaftsentwicklung und
Demokratie, Mehrheit und Humanität machte es den Bolschewiki
leicht, den Angriffen entgegenzutreten, die ihrer Diktaturvorstellung
gegenüber aus den Reihen der Anhänger der Lehre vom Doppelten
Fortschritt erhoben wurden. Aus Antworten wie dieser: »Die Revolu-
tion diskutiert nicht mit ihren Feinden, sie zerschmettert sie, die Gegen-
revolution tut dasselbe, und beide werden den Vorwurf zu ertragen
wissen, daß sie die Geschäftsordnung des deutschen Reichstages nicht
24 [Wladimir Iljitsch Lenin: Staat und Revolution; die Lehre des Marxismus vom
Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution. Berlin 1918.]
25 Die offizielle Auffassung der heute herrschenden Parteirichtung bei [Josef] Sta-
lin, »Probleme des Leninismus«[, in: Marxistische Bibliothek: Werke des Marxis-
mus – Leninismus, Band 5, Wien 1926].
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[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928] 145
29 Das Rätesystem erscheint hier in neuer Form. Ursprünglich die Form, in der
revolutionäre Gruppen unmittelbar auf der Grundlage klassen- und zugleich
berufsmäßiger Gliederung politisch selbsttätig handeln, hat es die Herrschaft
der Bolschewiki mitgründen helfen (zur Geschichte seiner gedanklichen Ent-
wicklung: »Über die Rolle des Agitators in Cromwells Heer«; Bernstein, »Sozia-
lismus und Demokratie in der englischen Evolution« [vgl.: Eduard Bernstein:
Sozialismus und Demokratie in der großen englischen Revolution, Stuttgart
1908, S. 77 ff.]; über die Rolle der Arbeiterräte der ersten russischen Revolution
Trotzki, N. Z. 1907 S. 76). [Leo Trotzki: Der Arbeiterdeputiertenrat und die Revo-
lution, in: Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Band 2, Berlin/Stuttgart.] In bewusster
Weiterentwicklung syndikalistischer Gedankengänge werden die unmittelbar
aus den Betrieben hervorgehenden Räte in Russland als Träger politischer
Funktionen (Verwaltung, Wahl) verwertet.
30 In der Verfassung selbst wird die Frage der Öffentlichkeit der Wahlen nicht ent-
schieden, doch entscheiden sich die Gubernialkommissionen, denen die Ent-
scheidung zusteht, ausnahmslos zugunsten der Öffentlichkeit. Über die Wahl-
prozedur, die in der offiziellen Wahlversammlung vor sich geht, näheres bei
Timaschef, [Nikolaj S. Timascheff: Grundzüge des sowjetrussischen Staats-
rechts, Mannheim 1925,] S. 83 (sowjetfeindlich), interessant aus der Praxis der
letzten Wahl R. Maltzew in »Komm. Internationale« 1927 Heft 19. [K. Malzew:
Was lehren die Neuwahlen zu den Sowjets? In: Kommunistische Internationale,
VIII. Jg., 1. Halbjahr, Januar-Juni 1927, Heft 19, Berlin/Hamburg, S. 934-941.] Der
Unterschied zwischen geheimer und öffentlicher Wahl bedeutet in Wirklichkeit
den denkbar schärfsten Bruch mit den Traditionen parlamentarisch-individua-
listisch-liberaler Vorstellungen. Er vernichtet jede Vorstellung, dass in der Wahl
das Schicksal der regierenden Gruppe irgendwie entschieden werden könne.
Öffentliche Wahl bedeutet Bestätigung, Zustimmung, aber keineswegs Entschei-
dung.
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146 [3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928]
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[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928] 147
32 Vergleiche die russische Verfassungsurkunde vom 6. Juli 1923 II. Teil 7. Kapitel.
33 Mirkine Guetzevitch in Revue nouv. de droit intern. public, 1925, II. Ser. tome 7
S. 314. [Boris Mirkine-Guetzevitch: La doctrine Soviétique du droit internatio-
nal, in: Revue générale de droit international public, II. serie, tome VII, Paris
1925, pp. 313-337.]
34 Hierüber siehe auch die Bemerkung bei Eugen Rosenstock, »Vom Industrie-
recht«, rechtssystematische Fragen, Berlin 1926, S. 122.
35 Siehe hierzu die interessanten Aufsätze von Korovine [Eugene A. Korovine: La
République des Soviets, in: Revue générale de droit international public, II.
serie, tome VII, Paris 1925, pp. 292-312;] und M. Guetzevitch [Boris Mirkine-
Guetzevitch: La doctrine Soviétique du droit international, in: Revue générale
de droit international public, II. serie, tome VII, Paris 1925, pp. 313-337;] in der
oben genannten Zeitschrift.
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148 [3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928]
36 Hierzu Carl Schmitt, »Kernfragen des Völkerbundes« Abschn. II, Berlin 1926.
37 Hieraus erklärt sich die sehr missverständliche Feststellung von Kunz, Z. f. Völ-
kerrecht XIII 4 S. 584, dass das sowjetrussische Völkerrecht »durch eine arg reak-
tionäre Tendenz« gekennzeichnet sei. Das Wort »reaktionär« gehört anderen
Vorstellungskreisen an und setzt eine gegebene politische Einheit voraus. Im
Kampf der Staaten und Klassen besagt es nichts und muss durch politische
Gruppierungsbegriffe umfassenderer Art ersetzt werden. [Josef Laurenz Kunz:
Sowjet-Russland und das Völkerrecht, in: Zeitschrift für Völkerrecht XIII, 4,
S. 580-586.]
38 Internationale Pressekorrespondenz[, Berlin] 1925 S. 2446.
39 Russische Korrespondenz Jahrg. I, Band 2[, Erlangen 1971], S. 559.
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[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928] 149
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150 [3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928]
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[3.] Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus [1928] 151
der einen Seite, die Träger der Theorie vom Doppelten Fortschritt, die
Erhalter des Rechtsmechanismus, Sozialdemokratie und Kleinbürger-
tum auf der anderen Seite, denen die absolute und unversöhnliche
Feindschaft des Bolschewismus gilt.
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152
[4.]
Panzerkreuzer und Staatsrecht*
[1928]
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[4.] Panzerkreuzer und Staatsrecht [1928] 153
gen, so daß die kommende neue Reichsregierung noch die Möglichkeit der
Entscheidung über den Bau selbst haben wird.«
Zunächst müssen wir also bemerken, dass sonderbarerweise die Quelle
der »richtigen« sowie der »falschen« Auffassung tatsächlich ein und
dieselbe ist. Nach dieser Feststellung sehen wir uns gezwungen, die
juristischen Unterlagen der »S.P.D.«-Behauptungen etwas näher anzu-
sehen, damit wir nicht nochmals in die peinliche Lage kommen, zuerst
4 ½ Monate etwas »Falsches« als offiziell »richtig« hinzunehmen, dann
offiziell aufgeklärt zu werden, dass das bisher »offiziell Richtige« von
heute ab »offiziell falsch« ist.
Befassen wir uns zunächst mit der staatsrechtlichen Bedeutung des
Reichsratsbeschlusses vom 31. März. Der Bürgerblockreichstag hatte in
das Budget von 1928 die erste Baurate für den Kreuzer mit 9,3 Millio-
nen Mark eingestellt. Der Reichsrat, der bei der Einbringung der Bud-
getvorlage diese Position gestrichen hatte, legte gegen den vom Reichs-
tag wiedereingesetzten Budgetposten unter Zustimmung der Preußen-
regierung keinen Einspruch ein, somit war der den Schiffsbau enthal-
tende Posten angenommen. Der weitere Beschluss des Reichsrats, den
Beginn des Baues hinauszuschieben, konnte staatsrechtlich nur den
Sinn einer Empfehlung an die Reichsregierung haben. Denn die verfas-
sungsrechtliche Disposition in Bezug auf den Bau des Schiffes lag,
nachdem der Reichsrat die Einspruchsfrist hatte verstreichen lassen,
nunmehr bei der Reichsregierung. Praktisch-politisch bedeutet jene
Empfehlung des Reichsrats ein vorläufiges Kompromiss, das, im Ein-
verständnis der preußischen Regierung und des Reichswehrministeri-
ums beschlossen, den Bauanfang hinausschiebt, um seine finanziellen
Voraussetzungen nochmals nachzuprüfen. Inhaltlich besagt das Kom-
promiss jedoch nichts, und jeder Zeitgenosse konnte sich da seine ja
unverbindliche Deutung zurechtmachen. Der Reichsrat hat sich zur
Frage des Baues selbst gar nicht mehr geäußert. Dass vor Baubeginn
nochmals ein Beschluss gefasst werden musste, war offensichtlich.
Denn es ist in der ganzen Welt so, dass, bevor etwas gebaut wird,
jemand da sein muss, der autoritativ beschließt, dass gebaut wird. Und
dass bei der Wichtigkeit der Materie das gesamte Kabinett darüber zu
befinden hatte, war ebenfalls für niemand zweifelhaft. Insofern kann
man ja den Ausdruck »Verwaltungsmaßnahme« gebrauchen. Dann gibt
es eben »Verwaltungsmaßnahmen«, die politische Akte sind und sol-
che, die rein technischer Natur sind. Durch solche terminologische
Spielereien kann man die hier auftauchende Frage, ob die Regierung
verpflichtet ist, von der im Budget erteilten Ermächtigung Gebrauch zu
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154 [4.] Panzerkreuzer und Staatsrecht [1928]
1 [Paul Laband: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Fünfte neubearbeitete Auf-
lage in vier Bänden, Band 4, Tübingen 1914, S. 543.]
2 [Gemeint ist: Otto Schwarz: Staatshaushalt. B. Verwaltungsrechtlich, in: Max
Fleischmann (Hg.): Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts.
Zweite, völlig neu gearbeitete und erweiterte Auflage, Tübingen 1914, S. 487.]
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[4.] Panzerkreuzer und Staatsrecht [1928] 155
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156 [4.] Panzerkreuzer und Staatsrecht [1928]
https://doi.org/10.5771/9783845282534
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157
[5.]
Bedeutungswandel des Parlamentarismus*
[1928]
* [Erschienen in: Jungsozialistische Blätter, Jg. 7, Heft 10, Berlin 1928, S. 305-308. –
Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 51-52.]
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158 [5.] Bedeutungswandel des Parlamentarismus [1928]
2. Der Glaube daran, dass das für die Nation Nützliche und Richtige in
und durch öffentliche Parlamentsdiskussion gefunden werden könne.
3. Das unentwegte Festhalten am Prinzip des Rechtsstaates.
Jener Satz von der ausschließlichen politischen Fähigkeit und Würdig-
keit der Schichten von Besitz und Bildung, der von seinen damaligen
Verfechtern mit dem Hinweis auf die höheren Steuern der besitzenden
Klasse begründet wurde, war die theoretische Grundlage jedes an eine
bestimmte Einkommens- oder Besitzgröße gebundenen Wahlrechts
(Zensuswahlrecht). Das Zensuswahlrecht war das technische Mittel des
Bürgertums im 19. Jahrhundert, das ja noch nicht über ein so uneinge-
schränktes und wirksames Pressemonopol verfügte wie seine Enkel im
20. Jahrhundert, um die großen Massen von der Einflussnahme auf ihre
politischen Geschicke fernzuhalten, dafür zu sorgen, dass die Staatsbe-
herrschung ausschließlich in seinen Händen blieb. Der Grundsatz des
Bürgertums im 19. Jahrhundert, das Rechtsstaatsprinzip, ist für uns
schwer verständlich, wenn auch bis in die Kreise der Partei hinein von
der heiligen Idee des Rechtsstaats geredet wird, wobei dann freilich nie
beachtet wird, dass die ideengeschichtliche Bedeutung des Rechtsstaats
im 19. Jahrhundert eine ganz andere war als seine Funktion im politi-
schen Leben des 20. Jahrhunderts. Damals hatte die Rechtsstaatsforde-
rung einen doppelten Sinn: einmal sollte dieser Begriff dazu dienen,
dem Bürgertum den endgültigen Sieg über die absolutistischen Rück-
stände des monarchistischen Systems zu verschaffen und zu sichern,
dafür zu sorgen, dass die Willkür einzelner Regierungs- und Verwal-
tungsorgane möglichst eingeengt wurde, dadurch dass man einen Hau-
fen präzisierter gesetzlicher Normen schuf. Ferner erforderten die
Bedürfnisse von Handel und Verkehr eine möglichst große Rechtssi-
cherheit; im Voraus sollte jeder Kaufmann und Industrielle wissen kön-
nen, welchen Erfolg er erzielen würde, wenn er sich zur Durchsetzung
eines Anspruchs – und er hatte deren viele – an die staatlichen Organe
wendete. Was wir meinen, wird an dem grotesken Bilde Max Webers,
des größten und weitschauendsten unter den deutschen bürgerlichen
Gelehrten, deutlich: Die Justiz sei eine Maschine, in die man oben den
konkreten Fall und die Gerichtsgebühren hineinwirft, woraufhin dann
unten die Lösung herausfällt.
Schon damals erkannten sowohl die Vertreter des Bürgertums als auch
die literarischen Wortführer des Proletariats die Rolle des parlamentari-
schen Systems, den Unterschied zwischen parlamentarischer Herr-
schaft und Demokratie. Durch alle politischen Schriften Karl Marx‘ und
Friedrich Engels‘, vom Kommunistischen Manifest über die »Klassen-
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[5.] Bedeutungswandel des Parlamentarismus [1928] 159
1 [Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW
Band 4, 6. Auflage, Berlin 1972, S. 464.]
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160 [5.] Bedeutungswandel des Parlamentarismus [1928]
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[5.] Bedeutungswandel des Parlamentarismus [1928] 161
esse der gesamten Nation identisch sei. Ein Parlament ist also keine
Stätte der schöpferischen Diskussion mehr, es ist der Ort der öffentli-
chen Deklarationen entgegengesetzter Klasseninteressen geworden,
während die wahren Entscheidungen über politische Fragen in Privat-
besprechungen und geheimen Ausschüssen und Zusammenkünften
fallen. Der Gedanke einer im Parlament als dem Hort des Fortschritts
zu gewinnenden vernünftigen Entscheidung hat der Tatsache weichen
müssen, dass Klasseninteressen Fragen der Macht sind, für die es keine
andere Vernunft als die Notwendigkeit gibt, für jede Klasse das Maxi-
mum des für sie Möglichen ohne ein ihre Machtverhältnisse über-
schreitendes Risiko zu erreichen. Im Zusammenhang hiermit mag
darauf hingewiesen werden, dass Mehrheit im Parlament und wirkli-
che politische Macht zusammenfallen können, nicht aber zusammenfal-
len müssen. Mehrheit und Macht sind zweierlei Dinge, und die Mehr-
heit im Parlament ist nur eine nicht absolut zuverlässige Erkenntnis-
möglichkeit der wahren Machtverhältnisse.
Das Bürgertum hat den Rechtsstaatsgedanken gegenüber dem Proleta-
riat in der Weise zu verwerten gesucht, dass es darauf hinwies, dass die
Gesetze für alle gleich seien und Geltung hätten und daher das Proleta-
riat eine besondere Behandlung nicht verlangen dürfe. Gegenüber die-
sem Argument genügt es, auf die treffenden Worte Anatole France‘s
hinzuweisen: »Das Gesetz in seiner majestätischen Gerechtigkeit
erlaubt Armen und Reichen unter Brücken zu schlafen.«2 In Wirklich-
keit hat der Rechtsstaatsgedanke heute einen ganz anderen Sinn
bekommen. Er ist nicht mehr eine Position, die dem Bürgertum aus-
schließlich gehört, weder eine Angriffsposition wie in seiner Frühzeit,
noch eine Verteidigungsposition wie in seiner Spätzeit. Der Rechts-
staatsgedanke steht heute zwischen Proletariat und Bürgertum. Er ist
die Grenzscheide zweier kämpfenden Gruppen geworden, die beide
weit entfernt sind, in ihm das endgültige Gesetz der Machtverteilung
zu empfinden. Dies soll an einem Beispiel erläutert werden. Weder
Arbeitgeber noch Arbeitnehmer wollen heute durch eine Einzelstreitig-
keit alles aufs Spiel setzen; denn jede ihrer Streitigkeiten greift heute
über den Kampf zweier isolierter Individuen hinaus, hinter jedem von
ihnen steht, bereit, in jedem wichtigen Fall ihrer Partei zu Hilfe zu kom-
men, ihre soziale Gruppe; deshalb hat der Staat ein ganzes Rechtssys-
tem errichtet, das dazu dient, diese sozialen Kämpfe auf rechtlichem
Wege zum Austrag zu bringen, sie der Sphäre der unmittelbar Beteilig-
ten zu entziehen, soziale Machtfragen in Probleme der Rechtsfindung
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162 [5.] Bedeutungswandel des Parlamentarismus [1928]
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163
[6.]
Wehrhaftigkeit und Sozialdemokratie*
Bemerkungen zu der Schrift1 Paul Levis
[1928]
* [Erschienen in: Die Tribüne, Organ der Sozialdemokratischen Partei für das Land
Thüringen und den Regierungsbezirk Erfurt, 15. Dezember 1928, Erfurt. – Zu
diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 39-40.]
1 [Paul Levi: Wehrhaftigkeit und Sozialdemokratie, Berlin 1925.]
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164 [6.] Wehrhaftigkeit und Sozialdemokratie [1928]
Erst in dem letzten Krieg ist erkannt worden, dass die alte »Vorratswirt-
schaft«, die man mit den Geld-, Kriegs- und Nahrungsmitteln noch zu
Anfang des Krieges trieb, völlig veraltet war. Man sah, dass es für künf-
tige Kriege nicht mehr auf den Vorrat ankommt, sondern auf jenes
berühmte und berüchtigte »potentiel de guerre«, auf die Möglichkeit,
schnell und reibungslos den Gesamtproduktionsprozess in die Wehr-
verfassung einzubeziehen. Damit hat sich aber auch die Rolle der Frie-
denszeit in ihrem Verhältnis zum Krieg geändert – nicht mehr die stati-
sche Machtstellung so und so großer fertiger Heere und Kanonen gilt
[es] jetzt, die Beziehung der Friedenszeit zum Krieg hat ihre starre Ein-
seitigkeit, ihr Gerichtet sein auf ganz bestimmte kriegspolitische Forde-
rungen verloren. Die Friedenszeit hat in dieser Beziehung eine weitge-
hende Dynamisierung, Verlebendigung erfahren. Alles und jedes, was
die Technik des Friedens hervorbringt, an Möglichkeiten schafft, ist mit
geringen schnellfertigen Änderungen im Krieg verwendbar. Es genügt
nur, auf das Beispiel der chemischen Industrie hinzuweisen. Hieraus
ergibt sich auch die relative Hoffnungslosigkeit aller Entwaffnungsvor-
schläge, gleichgültig von welcher Seite sie auch immer ausgehen
mögen, denn die Existenz der chemischen Industrie ist im Frieden not-
wendig und dass sie mit geringen Änderungen für den Krieg ebenso
verwendbar ist wie für die friedliche Arbeit unentbehrlich, kann nie-
mand hindern. Aus den fortwährenden technischen Änderungen ergibt
sich auch, wie Levi unter Bezugnahme auf die Erinnerungen des Gene-
rals von Seeckt ausführt, die Unnötigkeit eines stehenden großen Heeres,
das ja aus finanziellen Gründen nie technisch vollkommen auf dem
Laufenden gehalten werden könnte.
Damit hat sich aber auch die Stellung des Proletariats in diesem Kriegs-
system geändert. Die alte sozialdemokratische Forderung der Miliz ist
in furchtbarer Weise Wirklichkeit geworden. Nicht vom Volk von unten
aus ist die Einbeziehung des gesamten Volkes in den Krieg Wirklichkeit
geworden, sondern von oben herunter, von der Seite des behördlich
geleiteten technischen Apparates aus; ist das Volk in seiner Gesamtheit
in allen Altersschichten in den Krieg einbezogen. Denn dem Kriegspro-
zess dient alles und jedes und der Hinweis auf die Rolle Paul-Boncours
mag genügen, wie man in Frankreich diese Einbeziehung auch schon
praktisch betreibt. Welche Folgerungen zieht nun Levi aus diesem
Gesamtbild und der heutigen Situation, da er uns in seiner Schrift eine
noch kaum erreichte Intensität an Verlebendigung und Vergegenständ-
lichung dieser unserer heutigen Situation gegeben hat.
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[6.] Wehrhaftigkeit und Sozialdemokratie [1928] 165
Levi stellt zwei Vorschlagsgruppen auf: Die eine schließt sich an die Ent-
schließungen der Brüsseler Internationale zur Wehr- und Kriegsfrage
an, indem sie diese jedoch agitatorisch steigert und damit den positiven
Aktionssinn des Proletariats auch in seiner Abwehrfunktion gegen den
imperialistischen Krieg hervorhebt. In ihr wird es als die Aufgabe der
Partei bezeichnet – neben der wichtigen Kontrollfunktion, die den
Gewerkschaften bezüglich des Produktionsprozesses zukommt – in
ihrer gesamten politischen Haltung den Gegensatz zwischen den beste-
henden Klassen zu betonen und in der Militärpolitik den Gegensatz
zwischen Proletariat und Bürgertum dadurch entscheidend zu doku-
mentieren und in den Massen zu verlebendigen, dass sie jede Rüstungs-
ausgabe ablehnt. Durch diese Haltung soll die SPD eine kraft- und
machtvolle Internationale mitaufbauen und dadurch den imperialisti-
schen Krieg abwenden.
Falls dieses Mittel versagen sollte, weist Levi der SPD einen zweiten
Weg. Er besteht kurz gesagt in dem Bewusstsein des Proletariats von
der notwendigen Einbeziehung der Armee in das Proletariat, in der
Überwindung des Gegensatzes, der heute zwischen der Arbeiterschaft
und der ausschließlich dem Bürgertum hörigen Armee besteht. Dieses
neue, ideenmäßig und in Wirklichkeit mit dem Proletariat aufs Engste
verbundene Heer soll dann auch bereit und gerüstet sein, den Krieg
des proletarischen Staates zu führen.
Der Sinn beider Vorschläge geht nicht so weit auseinander, als man
meinen möchte; denn beide sehen in der Kriegs- und Wehrfrage nicht
nur eine Frage nach der bestmöglichen Aufrechterhaltung des gegen-
wärtigen Friedenszustandes, für beide, und das ist ihr Vorzug, ist diese
Frage unlöslich verbunden mit der Aktivierung sozialistischer Politik. Für
beide Vorschläge ist das Wehrproblem Angelpunkt, an dem die Macht
des Bürgertums endgültig zerschellen muss.
Was bei dieser Stellungnahme uns merkwürdig erscheint, ist die
Zuspitzung auf diese zwei Wege, die gewissermaßen zur Wahl stehen.
In Wirklichkeit gibt es keine Wahlmöglichkeit. Wer möchte die Frage
entscheiden, ob das Proletariat im Verein mit der Internationale stark
genug ist, einen imperialistischen Krieg zu verhindern? Und wer
möchte alles der Entscheidung anvertrauen, ob der nächste Krieg ein
imperialistischer Krieg ist, oder ob er wahrhaft proletarischen Interes-
sen dient. Der August 1914 sollte uns über die Unzuverlässigkeit sol-
cher Unterscheidungsmerkmale (Angriffs- und Verteidigungskrieg)
hinreichend belehrt haben. Meiner Meinung nach ist dieses Entweder-
Oder – selbst auf die Gefahr hin (und es ist, wie uns unser jetziges Par-
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166 [6.] Wehrhaftigkeit und Sozialdemokratie [1928]
teileben aufs Deutlichste zeigt, eine große Gefahr), dass wir in diesen
Fragen weniger aktiv und mehr von den Zeitereignissen bestimmt
erscheinen – unabwendbar. Die Sozialdemokratie wird sowohl ihre gesamte
Kraft für den Frieden einsetzen, als auch gleichzeitig die Eroberung der
Reichswehr einleiten müssen.
Gegenüber der Levi’schen Fassung mit ihrem allzu zugespitzten Entwe-
der-Oder muss betont werden, dass nur der doppelte Weg der machtvol-
len und ganz im Sinne Levis realistisch-proletarischen Friedenspolitik
und einer energischen und proletarischen Heerespolitik uns das ver-
bürgen kann, was wir alle zu erreichen wünschen, die politische Macht
des Proletariats.
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167
[7.]
Wahlrechtsreform*
[1929]
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168 [7.] Wahlrechtsreform [1929]
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[7.] Wahlrechtsreform [1929] 169
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170 [7.] Wahlrechtsreform [1929]
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171
[8.]
Die Demokratie der Bequemlichkeit. Ein Nachwort
zum Parteitag*
[1929]
In den Äußerungen der Redner der offiziellen Richtung auf dem Mag-
deburger Parteitag waren es zwei Dinge, die mehr oder minder deut-
lich herauszuhören waren. Ob Breitscheid oder Müller, ob Hilferding
oder Landsberg, die bedingungslose und opferbereite Hingabe an die
Demokratie reichte bei allen diesen Rednern nicht aus, um ein tüchtiges
Quantum Skepsis in die politische und ökonomische Entwicklung, in
die nahe Zukunft der deutschen Arbeiterklasse nicht doch ziemlich
deutlich hervortreten zu lassen.
Wille zur Demokratie und Skepsis, ein merkwürdiges und wider-
spruchsvolles Zusammentreffen.
Die Demokratie wurde auf dem Magdeburger Parteitag von der offizi-
ellen Richtung ausgiebig benutzt und unter der Perspektive des politi-
schen Fortschritts über alle Bitternisse der Koalitionsperiode hinweg als
wertvolles Gut gepriesen. Die die Debatte beherrschende Skepsis
beruhte – und das war ihr Fehler – nur auf einer instinktiven Erfassung
der vielen Widerstände, die sozialdemokratischem Wirken in der letz-
ten Zeit, wohin es sich auch immer wandte, begegneten. Sie war nicht
Ausdruck einer gleichsam experimentellen Feststellung, die man aus
der Kenntnis und richtigen Verwertung der ökonomischen Machtver-
hältnisse hätte ziehen können. Hätte die offizielle Richtung in der deut-
schen Sozialdemokratie, guten marxistischen Grundsätzen folgend,
auch heute noch die Gewohnheiten, die Tatsachen so zu sehen, wie sie
sind, anstatt sie so zu erschaffen, wie man sie zu sehen wünscht, dann
hätte sich die Linke mit ihr auf dem Magdeburger Parteitag leichter
verständigen können. Eine Verständigung, die die dauerhafteste aller
Grundlagen besessen hätte: den Sinn für das, was ist: Die Bestimmung
unseres politischen Handelns unter Berücksichtigung der Tatsache,
dass der organisierte Kapitalismus heute kraft seiner ökonomischen
Machtposition in normalen Situationen die Arbeiterklasse vorläufig in
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172 [8.] Die Demokratie der Bequemlichkeit. Ein Nachwort zum Parteitag [1929]
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[8.] Die Demokratie der Bequemlichkeit. Ein Nachwort zum Parteitag [1929] 173
Die Demokratie wird von denen, von denen ihr Schicksal abhängt, von
den werktätigen Massen, nicht nach der Richtung geprüft, wie dies der
Reichskanzler Müller gerne möchte; sie fragen nicht, ob dies die einzig
gegenwärtig mögliche Staatsform sei, sondern sie fragen: was hat die-
ser Staat für uns getan?
Und von der Beantwortung dieser Frage durch die Massen hängt das Schick-
sal der Demokratie ab. Aus diesem Grunde führt die Theorie des Opfers
für die Demokratie geradewegs weg von der Demokratie. Die Demo-
kratie lebt nur, sofern sie stark ist. Demokratie und Skepsis schließen
sich gegenseitig aus. Denn entweder vernichtet die Demokratie die
Skepsis oder die Skepsis vernichtet die Demokratie.
Und hier ist wiederum einer jener Gegensätze zu finden, die auf dem
sozialdemokratischen Parteitag hervorgetreten sind, insbesondere bei
der Beurteilung, die die Rede von Paul Levi durch die Redner der
Mehrheit, vornehmlich durch Leber, erfahren hat. Man hat Levi den
Vorwurf des Jakobinertums gemacht. Ich glaube nicht, dass dies ein
Vorwurf ist; denn schließlich sind es die Jakobiner, und ist es nicht die
Gironde gewesen, die Frankreich im Jahre 1793 gerettet hat? Jedenfalls
hat jene Partei, deren Nachfolge man Levi beschuldigt, gewusst und
bewiesen, dass die Demokratie ohne das Prinzip der Spannung, ohne
das Bewusstsein der großen Aufgabe, von deren Verwirklichung Sein
oder Nichtsein ihrer Existenz abhängt, nicht existieren kann. Und das
ist ein nicht gering einzuschätzender Strukturunterschied zwischen
dem Denker der sozialistischen Linken und der sozialistischen Rechten,
der prinzipiell schon zu der Zeit Rosa Luxemburgs bestanden hat und
uns nur heute in der Periode des sozialdemokratischen Ministerialis-
mus viel stärker zum Bewusstsein kommt. Wer die Macht besitzt, und
sei es auch nur in der bescheidenen Form des Anteils am Aufbau der
Bureaukratie, dem verschwindet sehr leicht das Bewusstsein von der
Rolle, die die Spannung in der Politik einnimmt. Die Demokratie aber
ist jene Form, in der das Prinzip der Spannung seinen höchsten Aus-
druck zu finden hat. Nicht mehr die Spannung zwischen dem imaginä-
ren Willen des Einzelmenschen und seiner Umwelt kommt hier in
Frage. Hier handelt es sich um die natürliche Spannung, die sich aus
dem sozialen Wollen der Menschen und dem tatsächlichen Zustand
ihrer Umwelt ergibt.
Deshalb beruht die Zukunft der Demokratie nicht darauf, dass man alle
sozialen Fragen durch Kompromisse auf dem Rücken der Mehrheit der
arbeitenden Bevölkerung ›erledigt‹, sondern darauf, dass man unter
Zuhilfenahme der Spannung von Wille und Wirklichkeit das Pro-
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174 [8.] Die Demokratie der Bequemlichkeit. Ein Nachwort zum Parteitag [1929]
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175
[9.]
Das Problem der Verfassung*
[1929]
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176 [9.] Das Problem der Verfassung [1929]
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[9.] Das Problem der Verfassung [1929] 177
Die Väter der Weimarer Verfassung hatten beides vor Augen, als sie im
Sommer 1919 unter schärfstem außenpolitischen Druck Deutschlands
neue Verfassung berieten. Sie sahen die alten demokratischen Verfas-
sungen des Westens, da sie fast ein Jahrhundert länger als diese Staaten
eine halbabsolute Regierung über sich hatten ergehen lassen müssen,
als den gerechten Lohn für ihr Ausharren an, welchen sie sich keines-
falls entgehen lassen wollten. Hierüber war sich die große Majorität der
Weimarer Nationalversammlung, von den Mehrheitssozialisten bis zu
dem früheren Nationalliberalen Stresemann, durchaus einig. Aber viele
und gerade die klügsten Köpfe der Mehrheit dieser Versammlung,
unter denen an erster Stelle Friedrich Naumann zu nennen ist, wussten,
dass die Zeit zu weit fortgeschritten war, als dass man dem neuen Staat
durch die einfache Übernahme der alten demokratischen und parla-
mentarischen Prinzipien eine dauernde Grundlage verschaffen konnte.
Friedrich Naumann hat es klar ausgesprochen, dass der Weimarer Ver-
fassung zweiter Teil, in dem sie bewusst hinausgeht über die alten bür-
gerlichen Verfassungen, ein Konkurrenzunternehmen gegen die russi-
sche Verfassung ist, dass die »Grundrechte und Grundpflichten der
Deutschen« das Gegenstück zu den »Rechten des arbeitenden und aus-
gebeuteten Volkes« darstellen. Es ist hier nicht der Ort, über Dinge zu
streiten, die vorläufig unwiderruflich entschieden sind. Es ist deshalb
also müßig, auf die Frage einzugehen, ob der ökonomischen Struktur
Deutschlands im Jahre 1919 nicht eine klare sozialistische Verfassung
entsprochen hätte. Wir wissen, dass einer solchen die mangelnde sub-
jektive Bewusstseinsstruktur großer Schichten des deutschen Proletari-
ats noch hemmender entgegengestanden hat als der äußere Widerstand
der bürgerlichen Entente-Mächte, den eine andere sozialistische Füh-
rergeneration als die damals vorhandene und maßgebende vielleicht
überwunden hätte.
Aber wir sind berechtigt und verpflichtet, danach zu fragen, was aus
dem Versuch der Vereinigung bürgerlich-demokratischer Verfassungs-
prinzipien mit kollektivistisch-sozialistischen geworden ist. Nach der
Meinung der damaligen Verfassungsgeber sollte diese Verbindung dem
Stand der gegenwärtigen gesellschaftlichen Struktur sowie der
Bewusstseinsstruktur der Mehrheit der deutschen Bevölkerung ent-
sprechen. So hat man in den Weimarer Grundrechten den Versuch
gemacht, Unvereinbares zu vereinen. Dort fand die bestehende Geistes-
und Sozialordnung der bisher herrschenden Klassen ihre friedliche
Stätte neben den Forderungen der Arbeiterklasse. Die Verfassungsbera-
tungen lassen freilich nicht erkennen, ob man sich allseitig bewusst
war, welch ungeheuren Vorsprung derjenige, der seinen bisherigen
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178 [9.] Das Problem der Verfassung [1929]
sozialen Besitzstand garantiert bekam, vor dem voraus hat, dem nur
die moralische Anerkennung und Berechtigung seiner Forderungen
bezeugt wird. Hier wurden Privateigentum und Sozialisierung, die
freie Schule und die kirchlichen Heilsgüter, Zulassung der weitesten
Schichten zum Beamtentum und weitherzige Garantie der bestehenden
akademischen Beamtenmonopole, der Schutz des selbständigen Mittel-
stands und zugleich die großen Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-Orga-
nisationen anerkannt. Wir wissen nicht, in welchem Maße die Möglich-
keit des Zusammenwirkens aller dieser Kräfte überhaupt bestanden
hat. Die Übergangszeit vom Kapitalismus zum Sozialismus ist eine im
Prinzip verfassungslose Zeit, deren Verfassung nur darin besteht, sie
sich erst zu erkämpfen. Aber auch in einer solchen Zeit und auf der
Grundlage einer vorläufigen »Notgemeinschaft«, – wie sie Deutschland
in den Jahren nach dem Versailler Vertrag tatsächlich dargestellt hat, –
war ein solch friedliches Beieinanderwohnen der entgegengesetzten
Prinzipien nur unter der Voraussetzung möglich, dass mit klarem Wil-
len für das politisch Mögliche und Notwendige die sofortige Verwirk-
lichung der Dinge, die man neu wollte, in Angriff genommen wurde.
Dies unterblieb, und so wurde aus den Grundrechten ein Sammelbe-
cken von Möglichkeiten, denen kein Wille dazu verhalf, zu Wirklich-
keiten zu werden. Die Wirklichkeit der Grundrechte aber veränderte
ihr bürgerliches Aussehen nicht.
So hat die Weimarer Verfassung, die eine Mittlerin werden wollte zwi-
schen West und Ost, zwischen Bürgertum und Sozialismus, sich sehr
schnell zu dem demokratischen Verfassungstypus bürgerlicher Art
zurückgefunden. An dieser Tatsache können Äußerlichkeiten nichts
ändern. Wir aber müssen daraus die Lehre ziehen. Denn wir waren
damals im Begriff, in den entgegengesetzten Fehler zu verfallen wie die
Russen. Sie haben die Bedeutung des Willens als verfassungsbildenden
Faktor überschätzt, wir aber haben ihn damals in Weimar unterschätzt.
Wir haben wohl gesehen, wohin die Entwicklung, sowohl die politische
als auch die ökonomische, ging: aber wir hatten vergessen, dass eine
Verfassung niemals aus dem Niedergang des Alten wie ein Phönix aus
der Asche so entsteht, wie es der Zeit entspricht. Wenn wir heute bei
dem zehnjährigen Jubiläum (kommt von iubilare = jubeln, in Freude
ausbrechen) der Weimarer Verfassung sehen, wie stückweise alles, was
uns an dieser Verfassung gut und schön erschien, in ein Nichts zerflos-
sen ist, so haben wir daraus die Lehre zu ziehen: Nur unser Wollen ist
es, was den Raum schafft für die Verfassung der sozialistischen Wirk-
lichkeit.
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179
[10.]
Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft
der Arbeiterklasse.
Zum Verfassungstag*
[1929]
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180 [10.] Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbeiterklasse [1929]
Geist und ihre Macht weit über die Grenzen ihres eigenen Landes hin-
auszutragen.
Als die Weimarer Verfassung entstand, war ebenfalls vorher ein System
gestürzt, aber schon der äußere Unterschied zu den geschilderten Ver-
hältnissen in Frankreich war tiefgreifend und bedeutend. Hier war kein
friedliches Land, dessen heroische Hauptstadtbevölkerung eine Revo-
lution wagte, die nur geistig, nicht aber physisch seit Jahrzehnten vor-
bereitet war; hier war eine Masse müder Soldaten eines durch einen
vierjährigen Vernichtungskrieg geschlagenen und bis aufs Mark ausge-
sogenen Landes. Mit einer ernsten und müden Handbewegung luden
sie eine überfaule, am allgemeinen Elend mitschuldige Herrschaftsord-
nung zum Weggehen ein. Sie vertrauten sich Gruppen an, die sie an
dem allgemeinen Unglück des Landes für unschuldig hielten; diese
boten ihnen Ideen dar, wie die Dinge neu zu gestalten wären. Sie aber
fragten nicht nach dem Gehalt der Ideen, sondern nahmen die
bequemste, die ihnen am zuverlässigsten Friede, Ordnung und Brot
verhieß. Dies wähnten sie am ehesten bei den Mehrheitssozialdemokra-
ten zu finden.
Als die Mehrheitssozialdemokraten ihre Versprechungen verwirklichen
sollten, war das Bürgertum bereits wieder aus seinen Löchern hervor-
gekommen und schloss mit denen, die das Vertrauen der Masse beru-
fen hatte, einen Vernunftfrieden. Als es Zeit war, jenem Zustand eine
feste Form zu geben, vereinbarte man eine Verfassung, deren Träger die
Mehrheitssozialdemokraten, die Demokraten und das Zentrum waren.
Über das Heute hatte man sich geeinigt, das Morgen war sehr fern und
der drohende Wetterschein von Versailles sehr nahe. So entstand die
deutsche Demokratie als Augenblickseinheit der Unterlegenen. Denn
dieser Augenblick der außenpolitischen Behauptungs- und Verteidi-
gungsnotwendigkeit stellte den für die Schaffung einer Verfassung
unerlässlichen Willen her. Darüber hinaus blieb aber alles im Unklaren.
Während die französischen Revolutionsverfassungen ebenso wie die
russische Sowjetverfassung von 1918 ihre Prinzipien förmlich in die
Welt hinausschrien und beide damit große propagandistische Erfolge
erzielten, hatte die Weimarer Verfassung kein Prinzip, das, über den
nationalen Selbsterhaltungswillen hinausgehend, das Volk dauerhaft
zu einer politischen Willensgemeinschaft formiert hätte. Ihr Schicksal
und zugleich ihre Begrenzung war es, nur eine Etappe in der geistigen
Auseinandersetzung zwischen dem Ethos der französischen Revoluti-
onsverfassungen mit ihrem Dreiklang von kapitalistischer Erwerbsfrei-
heit, abstrakter Menschengleichheit und weltferner Brüderlichkeit und
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[10.] Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbeiterklasse [1929] 181
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182 [10.] Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbeiterklasse [1929]
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[10.] Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbeiterklasse [1929] 183
sie befand sich schon damals in der Defensive, und ihre innere Unei-
nigkeit ließ es zu einer Ausmünzung jenes Sieges nicht mehr kommen.
Hatte das Bürgertum es bis dahin als seine Aufgabe aufgefasst, seinen
Status quo vorläufig aufrechtzuerhalten, was ihm auch gelang, so ging
es jetzt zu jenem Gegenangriff über, der umso gefährlicher war, als er
sich nicht mehr in der von nun ab den Kommunisten vorbehaltenen
Taktik des Putsches, sondern in der friedlichen Form der republikani-
schen Zusammenarbeit oder mit der versteckten Drohung der nationa-
len Wiedergeburt vollzog. So wurde der Achtstundentag unter dem
Jubelgeschrei der Unternehmer beseitigt. In jener Zeit veränderte sich
auch die Stellung des Betriebsrätegesetzes im Gesamtaufbau der deut-
schen Sozialwirtschaft; aus dem hoffnungsvollen Beginnen eines wirt-
schaftsdemokratischen Zeitalters, als das es Hugo Sinzheimer in der
Weimarer Nationalversammlung feierte, wurde ein reines Abwehrmit-
tel der Arbeiterschaft gegen eine allzu rücksichtslose Herr-im-Hause-
Politik der Unternehmer. Weiterhin gestaltete das Deutsche Reichsge-
richt, das überhaupt am konsequentesten die Verteidigung und Wie-
derherstellung der bürgerlichen Herrschaft als aussichtsreiche Aufgabe
begriff, den Enteignungsartikel der Reichsverfassung, mit dem eben
noch Traumsozialisten den bürgerlichen Staat legal aus den Angeln
heben wollten, zu einem stärkeren Bollwerk des Privatkapitalismus
aus, als es im kaiserlichen Deutschland je bestanden hatte. – Und das
Bildungswesen des neuen Staates, von dem man, wenigstens was die
Volksmassen anbetrifft, viel Gutes erwartet hatte, verewigte anstatt des
realen Querschnittes der Klassenlage das Prinzip der konfessionellen
Gliederung.
Dem Sozialismus aber, der in der Phantasie seiner Feinde schon die
Verfassung beherrschte, wurde vom Bürgertum, auch nach Wiederher-
stellung seiner Vormachtstellung, großmütigst der Weg zur Staatsver-
antwortlichkeit freigegeben, einer Staatsverantwortlichkeit, deren posi-
tive Seite auf gut Deutsch Anteil an der Ämterpatronage bedeutete. Der
Sekretär war schon in Bismarcks Reich ein unsichtbarer Herrscher;
während seiner Amtszeit schrieb und schreibt er immer noch Kommen-
tare zu den Ordnungen, die er auf das Papier gebracht hat; nach dem
Ablauf seiner Amtszeit wird er Aufsichtsrat oder Angestellter im Pri-
vatdienstverhältnis. Der Politiker, der nur in der Sphäre des Öffentli-
chen lebt, glaubt, ihn zu benutzen, und wird in der Mehrzahl aller Fälle
von ihm benutzt. Solange Bismarck in Deutschland regierte und selbst
die Minister rechtlich und tatsächlich nichts anderes als seine Sekretäre
waren, bestand eine Konformität der Ziele; denn ihnen gemeinsam war
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184 [10.] Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbeiterklasse [1929]
das Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo. Nach der Revo-
lution traten die bürokratischen Minister ab, und an ihre Stelle traten
die parlamentarischen. Der bürokratische Minister besaß in manchen
Fällen noch den Vorzug der Sachkenntnis, von der der parlamentari-
sche durchschnittlich unbelastet ist. Die Macht der Bürokratie wuchs
unheimlich schnell, während ihr geistiges Leitmotiv intakt blieb; sie
selbst nannte es: Erhaltung der Kontinuität des Staatslebens, in Wirk-
lichkeit heißt es: Wahrung ihrer eigenen Unersetzlichkeit im bürgerli-
chen Staat. An diesen Tatsachen hat der Eintritt einiger Sozialisten in
die Reihen jener Bürokratie nichts geändert; teils brachten sie schon
von Anfang an ein prächtiges Anpassungsvermögen mit, teils entwi-
ckelte sich diese allgemeinmenschliche Fähigkeit bei ihnen unter dem
Druck ihrer Amtsumgebung so schnell, dass heute das Experiment der
Eingliederung des Sozialismus in den Staatsapparat vom Standpunkt
der Bourgeoisie aus als gelöst betrachtet werden kann.
Für den Sozialismus bleibt dieses Ergebnis unbefriedigend. Es hat aufs
Neue gezeigt, dass auch im demokratischen Staat die Eroberung einer
Staatsmacht im Verwaltungsweg nicht durch einen quotenmäßigen
Anteil an Amtsstellen erreicht wird. Nur die planmäßig von unten,
nicht von oben aus betriebene Ersetzung eines alten Funktionärkörpers
durch einen vollkommen geistig neuen gibt einer Politik, falls sie tat-
sächlich den Willen zum Sozialismus haben sollte, die Chance seiner
Durchsetzung.
So weist das Gesicht des neuen Deutschlands für uns wenig hoffnungs-
volle Züge auf, angesichts derer man sich ernsthaft die Frage vorlegen
muss, warum große Teile des deutschen Bürgertums den heutigen Ver-
fassungszustand verwerfen und nach der bürgerlichen Diktatur
schreien. Denn jedes Wahlergebnis zeigt ihnen doch aufs Neue, dass sie
eine Änderung der für sie günstigen Zustände nicht einmal willens-
mäßig von einem größeren Bevölkerungsteile zu befürchten haben. Sie
aber wollen den Umsturz; denn ihnen fehlt das Gefühl der letzten
Sicherheit und der Verlässlichkeit für den letzten, den entscheidenden
Augenblick. Gewiss, es ist sehr fraglich, ob sie den Sozialkörper
Deutschlands überhaupt grundlegend zu ändern versuchten, ob die
Scharfmacher den Einfluss behalten würden, den sie heute besitzen.
Entscheidend aber ist nicht das Maß dieser Sozialpolitik, sondern die
Gesichtspunkte, von denen aus sie gemacht wird. Und die Sozialpolitik
der bürgerlichen Diktatur wäre nur von den Interessen einer imperia-
listischen Außenpolitik bestimmt, zu deren innenpolitischem Handlan-
ger sie herabsinken würde. Nicht ob die Sozialdemokratie ein staatsbe-
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[10.] Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbeiterklasse [1929] 185
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186 [10.] Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbeiterklasse [1929]
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187
[11.]
50 Jahre Deutsches Reichsgericht*
[1929]
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188 [11.] 50 Jahre Deutsches Reichsgericht [1929]
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[11.] 50 Jahre Deutsches Reichsgericht [1929] 189
spiel; denn als Quittung dafür belegte das Reichsgericht die Arbeiter-
und Soldatenräte mit einer ausgedehnten zivil- und strafrechtlichen
Haftung. Damals war es auch, als das Reichsgericht mit einem vom
bürgerlichen Standpunkt aus bewundernswerten Aufwand von Mut
und Entschlossenheit die ersten Landesgesetze, die das Privateigentum
beschränken wollten, für mit der Reichsverfassung nicht vereinbar
erklärte. Seit dieser Zeit hat das Reichsgericht, was in der breiten
Öffentlichkeit durchaus nicht genügend bekannt ist, einen zähen und
unerbittlichen Kampf zum Schutz des Privateigentums geführt. Es hat
mit Hilfe des Satzes von der Gleichheit vor dem Gesetz, der alles
andere bedeutet, als das, was bürgerliche Juristen heute mit ihm zu
beweisen suchen, das Privateigentum vor allen Eingriffen der Gesetzge-
bung in einem Umfang geschützt, wie es dies in der Zeit der konserva-
tiven Staatsherrschaft nie getan hat. Neben dieser Vorliebe für den
Eigentumsschutz hat das Reichsgericht bekanntlich in letzter Zeit eine
fast rührend zu nennende Anhänglichkeit an die Vorrechte des Adels
bewiesen, als es die Ehe eines deutschen Herzogs mit einer amerikani-
schen Botschafterstochter für eine »Missheirat« im Sinne, nach Ansicht
des Reichsgerichts, von immer noch gültigen Adelsgesetzen erklärte.
Diese Dinge sind nicht gering einzuschätzen und werfen ein grelles
Schlaglicht auf die Einstellung unseres höchsten Gerichtshofes, wenn
sie auch in der Öffentlichkeit viel weniger beachtet werden als die
eigentliche politische Tätigkeit des Reichsgerichts und die der Berufs-
richter im früheren Staatsgerichtshof. Hier hat es im Reichsgericht
immer nur eine Ansicht gegeben. Und diese Ansicht bestand darin,
dass man es für unbedingt notwendig hielt, alle nationalen Belange,
wie sie dem Gerichtshof durch Vermittlung einer rührigen Reichsan-
waltschaft von den Reichwehrkreisen schmackhaft gemacht wurden,
ein für alle Mal mit dem roten Mantel der reichsgerichtlichen Gerech-
tigkeit zu bedecken. Damit war naturgemäß von Anfang an ein Wertur-
teil darüber gefällt, wer in Deutschland als ein ehrlicher und anständi-
ger Mensch und wer als ein gemeingefährlicher Verbrecher zu gelten
habe. Klassisch wird dieses Werturteil in einer Entscheidung des vier-
ten Strafsenats von 1927 ausgedrückt. Dort heißt es: »Der Senat hat
immer den Standpunkt vertreten, dass die Zersetzungsarbeit der KPD
in der Reichswehr besonders staats- und gemeingefährlich ist und dass
derjenige, der die Reichswehr zersetzt, regelmäßig aus einer ehrlosen
Gesinnung handelt, weil er damit das Staatsgebäude unterhöhlt und es
unternimmt das deutsche Volk in ein neues, in seinen Folgen unabseh-
bares Unglück zu stürzen.« Mit dieser Feststellung war die verschie-
dene Auffassung und Beurteilung gegenüber radikalen Gruppen von
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190 [11.] 50 Jahre Deutsches Reichsgericht [1929]
links und rechts ein für alle Mal gegeben. Der Kommunist war der
Feind der bürgerlichen Ordnung schlechthin, der nach der Auffassung
des Reichsgerichts deshalb, weil er diese Ordnung umstoßen will, eine
ehrlose Gesinnung zeigt. Dass es auch außerhalb der bürgerlichen
Rechtsordnung eine anständige Gesinnung gibt, ist für das Reichsge-
richt also in der Regel ausgeschlossen. Der Staatsfeind von rechts aber
wird vom Reichsgericht, da er ja kein Feind der bürgerlichen Ordnung
ist, sondern nur ein Gegner der gegenwärtigen Form der bürgerlichen
Ordnung, der parlamentarischen Demokratie, als ein anständiger
Mensch angesehen. Bekannt in dieser Hinsicht ist die Anklageschrift
des Oberreichsanwalts a. D. Ebermayer, des Vorstandes der Behörde,
die Herrn Jörns zu ihrem rührigsten Mitglied zählte. Die Anklage-
schrift Ebermayers in Sachen der Organisation Consul wird für alle
Zeiten als Muster einer klassischen Verteidigungsschrift weiterleben.
Über die auf Grund der geschilderten Auffassung ausgeübte Tätigkeit
des Reichsgerichts in Hoch- und Landesverratssachen braucht hier
nicht näher gesprochen zu werden; sie ist nicht nur in der Arbeiter-
schaft bis weit hinein in bürgerliche Kreise auf erbitterte Ablehnung
gestoßen. Die am Reichsgericht in politischen Prozessen geübte Technik
ist derjenigen Sowjetrusslands in dieser Materie ebenbürtig. Die Bestra-
fung auf Grund aktiver Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei, die
mittelalterliche Bestrafung von Druckern für Zeitungsartikel, die
Bestrafung des Vortragens revolutionärer Gedichte stehen auf dersel-
ben Linie wie die dort mit so viel Erfolg vorgenommene Hilfsarbeit zur
Tarnung der Schwarzen Reichswehr. Niemand hat die mitleidlose Auf-
rechterhaltung der heutigen Gesellschaftsordnung ernster genommen
als das deutsche Reichsgericht. Es hat seine eigenen Maßstäbe. Mag
sogar manchmal die Reichsanwaltschaft heute die Verfehltheit dieser
Urteile einsehen und Freispruch oder milde Strafen beantragen, das
Reichsgericht hat bisher darauf nicht reagiert. Der ›Hüter der Verfas-
sung‹ hütet nach eigenen Maßstäben.
50 Jahre Reichsgericht und davon 10 Jahre in der Republik! Wenn wir
uns vorstellen wollen, was das bedeutet, müssten wir alle Tausende
proletarische Kämpfer an uns vorbeiziehen lassen, die in diesen 50 Jah-
ren der ach so fragwürdigen Gerechtigkeit dieses Gerichtshofes zum
Opfer gefallen sind. Gewiss, manche von ihnen, und namentlich in den
letzten 10 Jahren, sind Wege gewandelt, die wir nicht für gut heißen
können. Wir aber wollen heute darüber nicht rechten und uns dessen
bewusst sein, dass auch der Proletarier, der irregeleitet diesem Gericht
in die Hände fällt, uns angeht. Und wir glauben nicht, dass irgendeine
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[11.] 50 Jahre Deutsches Reichsgericht [1929] 191
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192
[12.]
Die Englische Arbeiterbewegung*
[1929]
Englands Labour Party steht nicht so lange in dem hellen Licht der
geschichtlichen Wirklichkeit wie die deutsche Sozialdemokratische Par-
tei. Trotzdem ist es gerade heute für uns von großer Wichtigkeit und in
Anbetracht der englischen Arbeiterregierung besonders aktuell, etwas
über die Entwicklung der heutigen Labour Party zu erfahren. Diesem
unleugbaren Bedürfnis, zu dessen Befriedigung uns bisher neben der
klassischen Schrift von Friedrich Engels über die Lage der arbeitenden
Klassen in England1 und dem etwas veralteten Werk von Max Beer2 nur
die dem deutschen Leser ob ihrer ganzen geistigen Einstellung immer
fremd gebliebenen Werke des Ehepaars Sydney und Beatrice Webb3 zur
Verfügung gestanden haben, kommt das gründliche und von marxisti-
schen Gesichtspunkten ausgehende Werk des heute in Moskau leben-
den Forschers Theodor Rothstein in jeder Weise entgegen. Die »Beiträge
zur Geschichte der Arbeiterpartei in England«4 (Marxistische Bibliothek Bd.
II, Verlag für Literatur und Politik 1929) geben ein auf streng marxisti-
schen Grundlegungen und auf genauen Kenntnissen der einschlägigen
Literatur, insbesondere der damaligen Zeitungsliteratur aufgebautes
Bild der Anfänge der englischen Arbeiterbewegung bis zur Mitte des
vorigen Jahrhunderts.
Die erbitterten Kämpfe, die der Chartismus in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts gegen das englische Bürgertum auszufechten hatte, sind
ganz anders einzuschätzen als die in der gleichen Periode stattfinden-
den Kämpfe des französischen Proletariats; denn obwohl die theoreti-
sche Einsicht in das Wesen der Klassenverhältnisse in Frankreich weiter
fortgeschritten war als in England, trug die Bewegung der englischen
Arbeiterschaft trotz ihrer mangelhaften theoretischen Fundierung einen
viel ausgesprocheneren Klassencharakter.
* [Erschienen in: Jungsozialistische Blätter, Jg. 8, Heft 12, Berlin 1929, S. 367-369. –
Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 56-57.]
1 [Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klassen in England, Leipzig 1845.]
2 [Geschichte des Sozialismus in England, Stuttgart 1913.]
3 [Siehe: Die Geschichte des britischen Trade Unionismus, Stuttgart 1906.]
4 [Theodor Rothstein: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterpartei in England, Ber-
lin 1929.]
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[12.] Die Englische Arbeiterbewegung [1929] 193
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194 [12.] Die Englische Arbeiterbewegung [1929]
Zufall, dass Egon Wertheimer, der Verfasser der Schrift »Das Antlitz der
britischen Arbeiterpartei«,6 Dietz-Verlag 1929, im Wesentlichen in seinem
Bild der heutigen britischen Arbeiterpartei den Beweis dafür liefert,
dass Rothstein die Geschichte der Partei richtig dargestellt hat. Gewiss
verteilen Egon Wertheimer und Rothstein Licht und Schatten im entge-
gengesetzten Sinne; denn der eine ist ein bolschewistischer Schriftstel-
ler, während der andere im Dienste der sozialdemokratischen Presse-
korrespondenz steht. Das ändert nichts daran, dass Wertheimer in
gewisser Hinsicht das Rothstein‘sche Buch vervollkommnet und ver-
deutlicht.
Wertheimer stellt fest, dass die heutige Labour Party einerseits aus
einer rein praktisch orientierten Gewerkschaftsbewegung, deren höchst
zweifelhaften politischen Wert Rothstein uns glänzend enthüllt hat,
herausgewachsen und dass sie andererseits aus drei oder mehr bedeu-
tenden politischen Studiengesellschaften, die ihr das intellektuelle
Material lieferten, entstanden ist. Damit ist mit aller Deutlichkeit der
Unterschied zur deutschen Organisationsform hervorgehoben, die, von
einer politischen und geistigen Elite ausgehend, um ihr Programm die
Massen sammelt. Ein wenig zögernd dringt der Verfasser zur Erkennt-
nis vor, dass die englische Partei geistig und kulturell ein viel weniger
homogenes und umfassendes Gebilde ist als die deutsche oder österrei-
chische Partei. In ihr ist in jeder ihrer einzelnen Handlungen wie in
ihrem Gesamtgebaren die alte, der englischen Arbeiterschaft bereits
früher so verhängnisvolle Ideologie des Liberalismus zu bemerken, die
die Partei nur als eine Organisationsform für das Politisch-Staatliche
ansieht. Sie erhebt keinen Anspruch auf Ausschließlichkeit und duldet,
da sie weder organisationsmäßig noch geistig Lebensgemeinschaft ist,
die gleichzeitige Zugehörigkeit ihrer Mitglieder zu anderen Organisa-
tionen.
Der Verfasser hat diese Tatsachen gesehen. Er hat auch richtig die ganz
andere Einstellung der britischen Arbeiterpartei gegenüber dem Staat
erkannt. Es ist bedauerlich, dass die Frage nach dem proletarischen
Kampfwert der Labour Party überhaupt nicht in seinen Gesichtskreis
getreten ist. Er schweigt überhaupt dort, wo eine Fortsetzung des Roth-
stein‘schen Buches nötig wäre, dessen ökonomische Betrachtungsweise
auf noch viel breiterer Grundlage hätte fortgeführt werden müssen.
Wertheimers Buch fehlt, wie der Verfasser selbst im Vorwort zugibt, ein
Kapitel über die Außen- und die Kolonialpolitik. Der Verfasser irrt,
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[12.] Die Englische Arbeiterbewegung [1929] 195
wenn er meint, dass ihm nur ein Kapitel fehle, es fehlt ihm leider mehr.
Denn Außen- und Kolonialpolitik ist für die britische Arbeiterpartei
nicht nur ein Kapitel, es ist ihr Schicksal. Schon der Historiker Rothstein
hätte die Frage nach dem Verhältnis der britischen Arbeiterschaft zum
British Commonwealth zweckmäßigerweise zur Beurteilung der Ver-
gangenheit herangezogen, derjenige, der die heutige Gestalt der briti-
schen Arbeiterpartei schildern wollte, musste diese Frage aufwerfen.
Wie man sie beantwortet, mag dahinstehen; mindestens aber muss man
verlangen, dass Klarheit über die willensmäßige Entscheidung der bri-
tischen Arbeiterschaft erstrebt und ein Versuch der Skizzierung des
Einflusses, den diese Verhältnisse auf die britische Labour Party ausge-
übt haben, gemacht wird. Von dieser Warte aus erhält die Frage des
Weiterbestehens der Independent Labour Party, die der Verfasser
ebenso mit den Augen der offiziellen Labour Party betrachtet, wie die
Frage des Kommunismus eine andere Beleuchtung. Auch die Bedeu-
tung der bürgerlichen Überläufer zur Labour Party und deren wach-
sender Einfluss in ihr, die der Verfasser so wichtig nimmt, ist dann,
wenn man die Politik der Labour Party als eine Fortführung der impe-
rialen Reichspolitik ansieht, jeden Interesses bar. Es ist dann eine Selbst-
verständlichkeit, dass die Berufspolitiker Anschluss an die neue und
aussichtsreiche Partei suchen, falls diese in den für England entschei-
denden Gebieten nur Fortsetzer der traditionellen Politik ist.
Beide Bücher aber haben ein großes Verdienst: das Rothstein‘sche,
indem es uns an der Geschichte der englischen Arbeiterpartei zeigt, wie
gerade dort die jeweiligen ökonomischen Verhältnisse die politische
Haltung der Arbeiterschaft geprägt haben, das Wertheimer‘sche, wie
aus der bisherigen Entwicklung heute ein Gebilde geworden ist, das
uns in seiner jetzigen Gestalt kaum zu besonderen Erwartungen
berechtigt. Offen und noch zu untersuchen bleibt die Frage, welche
Einflüsse die gegenwärtige Gesamtlage Englands auf die Arbeiterschaft
und damit auf die zukünftige Richtung ihrer heute so ausschlaggeben-
den Politik haben wird.
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196
[13.]
[Rezension:] Carl Tannert: Die Fehlgestalt des
Volksentscheids*
[1930]
* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 7, Heft 1, Berlin 1930, S. 90-92. – Zu diesem Text vergleiche in der Einlei-
tung S. 57-58.]
1 [Gerhard Anschütz: Staatsrechtliche Betrachtungen zum Volksbegehren, in:
Frankfurter Zeitung, Nr. 847, 13. November 1929.]
2 [Carl Schmitt: Volksentscheid und Volksbegehren: Ein Beitrag zur Auslegung der
Weimarer Verfassung und zur Lehre von der unmittelbaren Demokratie, Berlin
1927.]
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[13.] [Rezension:] Carl Tannert: Die Fehlgestalt des Volksentscheids [1930] 197
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198 [13.] [Rezension:] Carl Tannert: Die Fehlgestalt des Volksentscheids [1930]
Prinzipiell ist hier zu sagen, dass dem Verfasser ganz die Frage entgan-
gen ist, ob nicht ein Zusammenhang zwischen einer weitgehenden
Öffentlichkeit und dem der Volksgesetzgebung zugrunde liegenden
Prinzip besteht. Diese Frage ist mindestens, wie Carl Schmitt gezeigt
hat, zu untersuchen, und daher ergibt es sich auch, dass es abwegig ist,
Wahlgeheimnis und Stimmgeheimnis beim Volksentscheid generell
gleichzustellen. Technisch gleichartige Institutionen können oft von
sehr verschiedenen verfassungstheoretischen Prinzipien beherrscht
sein.
Dagegen ist richtig vom Verfasser gesehen die sich aus der heutigen
Regelung ergebende Tatsache der Ununterschiedenheit zwischen
einem etwaigen Zustandekommen von einfachem und verfassungsän-
derndem Gesetz. Es fehlt hier die unserem Verfassungssystem
zugrunde liegende Unterscheidung zwischen einfachem und verfas-
sungsänderndem Gesetz. Die Vorschläge des Verfassers zur Abände-
rung der betreffenden Verfassungsartikel, die im Wesentlichen auf eine
nach der Art des Gesetzes gestufte notwendige, dem jetzigen Zustand
gegenüber erheblich herabgesetzte Beteiligungszahl hinauslaufen, sind
durchaus diskutabel, wenn es sich auch prinzipiell fragt, ob bei der not-
wendigen Verfassungsänderung überhaupt ein systematischer und
nicht besser ein mehr elastischer Beteiligungsquotient erfordert werden
soll. Ebenso richtig ist die Einsicht des Verfassers, dass die Möglichkeit
der Beibehaltung der jetzigen Regelung durch Einführung des Stimm-
zwangs technisch undurchführbar ist.
Das Buch bildet einen Beitrag zur notwendigen Reform des jetzigen
Zustandes, der unhaltbar ist. Es wäre noch besser geworden, wenn der
Verfasser es vermocht hätte, sich von seinem Irrtum loszusagen, dass
eine solche Arbeit nur ein »rechtswissenschaftliches Erkenntnisurteil«
enthalten könne. Die Beurteilung staatlicher Institutionen an Hand sol-
cher Maßstäbe ist unmöglich und, wie das Buch in seinen besten Teilen
durch Überschreitung dieser Grenzen zeigt, undurchführbar. Aber viel-
leicht sind gerade diese Irrtümer, die der Schrift den Weg zur letzten
Klarheit versperren, ebenso lehrreich, wie dessen positive Erkenntnisse.
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199
[14.]
Das neue Strafrecht.*
Nach der ersten Lesung
[1930]
* [Erschienen in: Die Tribüne, Organ der Sozialdemokratischen Partei für das Land
Thüringen und den Regierungsbezirk Erfurt, Nr. 55, 6. März 1930, Erfurt. – Zu
diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 46-48.]
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200 [14.] Das neue Strafrecht. Nach der ersten Lesung [1930]
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[14.] Das neue Strafrecht. Nach der ersten Lesung [1930] 201
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202
[15.]
Artikel 48 – der falsche Weg*
[1930]
Was für Gesetze die reaktionäre Regierung Brüning dem Reichstag vor-
legen will, ist den Umrissen nach bekannt. In dem jetzt anhebenden
Kampf um die innere Lastenverteilung soll aus wirtschaftspolitischen
Erwägungen, die der Unternehmerideologie entstammen, die Arbeiter-
schaft auf Steuererleichterung und Sicherung und Ausbau der Sozial-
politik zugunsten einer einseitigen Interessenwahrnehmung der Unter-
nehmer und zugunsten einer ostelbischen Landwirtschafts-Subventio-
nierung in ungeahntem Ausmaße verzichten. Diesem wirtschaftspoliti-
schen Programm des Unternehmertums, das die reaktionäre Regierung zu
ihrem eigenen gemacht hat, stellt die Sozialdemokratie ihr eigenes
sozial- und wirtschaftspolitisches Programm entgegen. Erhält die
Regierung für die Durchführung ihres Programmes keine Mehrheit, so
steht ihr zu dessen Durchführung nicht der Artikel 48 zur Verfügung.
Die Voraussetzung der Anwendbarkeit das Artikels 48 ist die »erhebli-
che Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ord-
nung«. Der bekannte keineswegs linksstehende Kommentator der
Reichsverfassung, der sächsische Reichsratsbevollmächtigte Pötzsch-
Heffter hat in seinem Kommentar1 zur Reichsverfassung mit vollem
Recht darauf hingewiesen, dass eine Erheblichkeit dann vorliege, wenn
die Störung oder Gefährdung so groß ist, dass der gewöhnliche staatli-
che Apparat sie nicht meistern kann. Es muss sich also, wie der extrem
deutschnationale Freiherr von Freytagh-Loringhoven, der sicher nicht als
Freund der Demokratie anzusprechen ist, ausführt, um eine »unmittel-
bare Gefährdung« handeln. Es ist interessant, dass der Kanzler Brüning
die Brüchigkeit seiner Diktatur-Argumentation selbst erkannt hat und
die fehlende Unmittelbarkeit der Gefährdung durch einen Hinweis auf
die angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Notstände zu besonde-
* [Erschienen in: Die Tribüne, Organ der Sozialdemokratischen Partei für das Land
Thüringen und den Regierungsbezirk Erfurt, Nr. 80, 4. April 1930, Erfurt. – Zu
diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 67-68.]
1 [Fritz Poetzsch-Heffter: IV. Die einstweilige Diktatur der Landesregierungen
(Art. 48, Abs. 4). 19. Voraussetzungen der einstweiligen Landesdiktatur, in: Ders.:
Handkommentar der Reichsverfassung vom 11. August 1919: Ein Handbuch für
Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, 3., völlig neubearbeitete und stark ver-
mehrte Auflage, Berlin 1928, S. 243.]
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[15.] Artikel 48 – der falsche Weg [1930] 203
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204 [15.] Artikel 48 – der falsche Weg [1930]
2 [Vergleiche: Carl Schmitt: Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der
Weimarer Verfassung (1924), in: Ders.: Die Diktatur: von den Anfängen des
modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf: 2.
Auflage, München/Leipzig 1928, S. 249.]
3 [Carl Schmitt: Die Diktatur: von den Anfängen des modernen Souveränitätsge-
dankens bis zum proletarischen Klassenkampf: 2. Auflage, München/Leipzig
1928, S. 136.]
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[15.] Artikel 48 – der falsche Weg [1930] 205
denten steht. Wohl aber sind die Gerichte, wie der Reichsfinanzhof in
München schon entschieden hat, berechtigt, nachzuprüfen, ob die
erlassenen Anordnungen sich in den durch Artikel 48 gezogenen Gren-
zen halten. Herr Brüning mag selbst bedenken, welche Aspekte sich
dadurch eröffnen, dass jeder durch sein Finanzprogramm mit Steuern
belastete Staatsbürger die Möglichkeit und das Recht hat, die Rechts-
gültigkeit seines Steuerbescheides nicht ohne Aussicht auf Erfolg zu
bekämpfen. Ob das dem von Herrn Brüning mit Engelszungen geprie-
senen organischen Staatsideal entspricht, wird er mit sich selbst ausma-
chen müssen.
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206
[16.]
Privatbesitz gegen Volksinteresse!*
Wann kommt das neue Bauland-Gesetz?
Reichsgericht und Artikel 155 der Weimarer
Verfassung
[1930]
Am 28. Februar 1930 hat der III. Zivilsenat des Reichsgerichts eine Ent-
scheidung gefällt, die wohl zu den merkwürdigsten Sprüchen dieses
hohen Gerichtshofs gehört. Bisher waren wir alle der Meinung, dass die
Weimarer Verfassung im Vergleich zu den Verfassungen des 19. Jahr-
hunderts einen gewaltigen sozialen Fortschritt darstelle. Die Entschei-
dung belehrt uns darüber, dass wir uns zum mindesten in Bezug auf
das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privateigentum in einem schweren
Irrtum befunden haben. Fünfundzwanzig Jahre lang, seit dem 2. Juli 1875,
ist in Preußen keinem Gericht und keiner Behörde je der Gedanke
gekommen, der § 13 des Fluchtliniengesetzes könne verfassungswidrig
sein. Dieser Paragraph bestimmt genau, unter welchen Voraussetzun-
gen dem Eigentümer eines Grundstücks bei der Festlegung der Flucht-
linie eine Entschädigung zu gewähren ist. Nicht steht in dieser Bestim-
mung, dass – sofern nicht vorhandene Gebäude von der Fluchtlinie
betroffen werden – die Gemeinde dann eine Entschädigung zahlen
müsse, wenn sie das betreffende Gelände als Freifläche ausweist, ohne
dem Eigentümer das Eigentum daran zu entziehen. Diese Bestimmung
war es, mit deren Hilfe es den Gemeinden nur möglich war, eine Baupo-
litik zu betreiben, die – wie der Stadtbaurat Genosse Dr. Martin Wagner
in seiner lesenswerten Schrift „Das Reichsgericht als Scherbengericht gegen
den deutschen Städtebau“ (siehe auch „Vorwärts“ Nr. 212 und 222) nach-
weist – amerikanische Zustände bei uns bisher verhindert hat. In Preußen
war es bisher üblich, dass die Gemeinden mit Hilfe jener Bestimmung
des Fluchtliniengesetzes selbst, ohne allzu erhebliche finanzielle Belas-
tung, eine planmäßige Städtebaupolitik betreiben konnten.
Dem hat das Reichsgericht ein Ende gemacht.
* [Erschienen in: Vorwärts, Berliner Volksblatt, Stadtbeilage, Nr. 226, 16. Mai 1930,
Berlin. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 64-65.]
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[16.] Privatbesitz gegen Volksinteresse! Wann kommt das neue Bauland-Gesetz? 207
Prüfen wir seine Gründe! Das Reichsgericht geht von dem Unterschied
zwischen § 12 und § 13 des Fluchtliniengesetzes aus. Es gesteht zu, dass
§ 12, der es Ortsstatuten freistellt, das Bauen von Bahngebäuden an für
den öffentlichen Verkehr noch nicht fertiggestellten Straßen zu untersa-
gen, den Inhalt des Eigentums in allen Grundstücken regelt; denn ein
solches Ortsstatut treffe sämtliche Grundstücke, die an einer unfertigen
Straße liegen. In Gegensatz hierzu stellt das Reichsgericht § 13, der
keine Inhaltsbezeichnung des Eigentums enthalte, sondern eine Enteig-
nung. Schon die preußische Abgeordnetenkammer 1875 stellt fest, dass
die Verpflichtung des Eigentümers, gewisse künftighin zu Straßen und
Plätzen bestimmte Flächen unbebaut zu lassen, eine gesetzliche Ein-
schränkung des Eigentums sei, die keinen Entschädigungsanspruch auslö-
sen dürfe. Das Reichsgericht hat diese Meinung des gewiss nicht sozia-
listisch verseuchten Gesetzgebers von 1875 überhört. Nach ihm ist das
Fluchtlinienfestsetzungsverfahren ein Enteignungsverfahren, weil hier
keine allgemeine, alle Eigentümer treffende Verpflichtung vorliege. Die
Tatsache, dass es ausschließlich von dem Willen der Gemeinde abhänge,
ob sie sich eine derartige Fläche vom Eigentümer für die öffentliche
Benutzung abtreten lassen wolle, kennzeichne den Enteignungscharak-
ter.
Gegen diese Entscheidung ist zunächst rein juristisch anzuführen, dass
sie das Merkmal der Allgemeinheit verkennt. Hausverbot und Fluchtlini-
enbesetzung unterscheiden sich nur graduell, aber nicht begrifflich
voneinander. Beide treffen einen personell unbegrenzten Kreis von
Eigentümern. Wenn das Fluchtliniengesetz von 1875 bis zur Revolution
immer als rechtsgültig und verfassungsmäßig betrachtet worden ist,
und wenn es nunmehr als im Widerspruch zur Reichsverfassung stehend
verfassungswidrig sein soll,
so muss der Artikel 9 der preußischen Verfassung von 1850 fortschrittlicher
und sozialer gewesen sein als die Weimarer Verfassung.
Wer aber nicht der Ansicht sein sollte, dass das Verhältnis von Eigentum
und öffentlichem Interesse von der Weimarer Verfassung mit unfreundli-
cheren Augen betrachtet wird als von der preußischen Verfassung von
1850, der wird sich nur der Auffassung des Berliner Haus- und Grundbe-
sitzervereins anschließen können, dass sich das Reichsgericht hier „wie-
der als Hüter des Privateigentums bewährt hat.“ Dass dieses merkwürdige
Urteil sich nicht auf den Artikel 153 stützen kann, zeigt auch das Urteil
des Staatsgerichtshofs über die Rechtsgültigkeit der preußischen Not-
verordnung vom 10. Oktober 1927, dessen klare und beweiskräftige
Sätze das Reichsgericht vergebens auszuräumen sucht. Dort ist aus-
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208 [16.] Privatbesitz gegen Volksinteresse! Wann kommt das neue Bauland-Gesetz?
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209
[17.]
Weimar … und was dann?
Entstehung und Gegenwart der Weimarer
Verfassung*
[1930]
Vorbemerkung
Über zehn Jahre liegen hinter uns, seit in Weimar die Verfassung der
Republik entstand. Die politischen Kampffronten befinden sich in
einem Zustand zunehmender Erstarrung. Die eigentlichen Gegensätze
treten oft hinter Schlagworten zurück. Der Verfasser hielt es für seine
Pflicht, von der oft geübten Methode, politische Wünsche in politische
Entwicklungslinien umzudeuten, abzusehen und sich in der Hauptsa-
che auf die Darstellung dessen zu beschränken, was ist. Dabei bedarf es
freilich der grundsätzlichen Klarheit darüber, dass eine sozialistische
Verfassungsbetrachtung nicht in die Fehler einer liberalen verfallen
darf. Während die liberale Verfassungsbetrachtung, die oft auch unter
demokratischem Deckmantel auftritt, eine nicht vorhandene Einheit
vortäuscht, um mit ihr alle Zwiespältigkeiten der gegenwärtigen
Gesellschaftsorganisation zu verdecken, muss eine sozialistische Ver-
fassungsbetrachtung alle jene Widersprüche aufdecken, die der heuti-
gen Gesellschaftsorganisation und ihrer politischen Form anhaften.
***
»Und zwar ist die jeweilige gesetzliche Verfassung bloß ein Produkt
der Revolution. Während die Revolution der politische Schöpfungsakt
der Klassengeschichte ist, ist die Gesetzgebung das politische Fortvege-
tieren der Gesellschaft. Die gesetzliche Reformarbeit hat eben in sich
keine eigene, von der Revolution unabhängige Triebkraft. Sie bewegt
sich in jeder Geschichtsperiode nur auf der Linie und so lange, als in
* [Erschienen als selbstständige Schrift: Weimar … und was dann? Entstehung und
Gegenwart der Weimarer Verfassung, Berlin: De Gruyter, 1930. – Zu diesem Text
vergleiche in der Einleitung S. 68-73.]
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210 [17.] Weimar … und was dann? [1930]
ihr der durch die letzte Umwälzung gegebene Fußtritt nachwirkt oder,
konkret gesprochen, nur im Rahmen der durch die letzte Umwälzung
in die Welt gesetzten Gesellschaftsreform. Das ist eben der Kernpunkt
der Frage.«
Rosa Luxemburg: »Sozialreform oder Revolution?«1
Im Reiche Bismarcks regierten das Volk verbündete Fürsten mit ver-
bündeten Bürokratien. Das in der Hohenzollernmonarchie verkörperte
Preußen nahm staatsrechtlich und politisch die Vormachtstellung ein.
Herrschaft der Hohenzollernmonarchie aber bedeutete Herrschaft des
Adels und der mit ihm aufs Engste verbundenen Armee, die das Glück
hatten, dass ihre traditionelle, aus vorkapitalistischer Zeit überkom-
mene Stellung durch die machtpolitischen Tendenzen des modernen
Deutschlands mit seiner starken, politisch machtlosen proletarischen
Bevölkerung neue Zweck- und Sinngebung erhielt.
Neben dieser Grundlage des deutschen Verfassungslebens machte sich,
an der Jahrhundertwende immer stärker ansteigend, die Einflussnahme
einzelner Industriellengruppen bemerkbar, ohne dass diese von der
Öffentlichkeit völlig unkontrollierbare Einwirkung die Stetigkeit des
Adels und der Bürokratie erreicht hätte. Seit Ende August 1916 war
diese Regierung faktisch nicht mehr vorhanden, an ihre Stelle war die
Militärdiktatur des Generals Ludendorff getreten, der unter völliger
Ausschaltung der bisherigen Regierung das Schicksal Deutschlands in
die Hand genommen hatte. Sein Gegenspieler war die Reichstagsmehr-
heit, bestehend aus den Parteien der Mehrheitssozialdemokratie, des
Zentrums, der Fortschrittlichen Volkspartei Naumann‘scher Prägung
und dem linken Flügel der Nationalliberalen. Aber sie war auch gleich-
zeitig seine Gefangene. Hatten doch alle jene Gruppen sich dazu bereit-
gefunden, mit den herrschenden Gewalten einen Burgfrieden abzu-
schließen, wodurch sich die gewählten Vertreter der Mehrheit des deut-
schen Volkes der einzigen Möglichkeit, ihren Willen entscheidend zur
Geltung zu bringen, begaben. Auch die Sozialdemokratische Partei
Deutschlands trat jenem Burgfriedenspakte bei. Die Lehre der französi-
schen Revolutionszeit, insbesondere des Jahres 1793, dass gerade Zei-
ten der äußeren Not Zeiten der politischen Erneuerung zu sein berufen
sind, vergaß sie dabei.
Aber während die Arbeiter der Entente-Länder für ihre Kriegsbereit-
schaft im Dienste kapitalistischer Regierungen neben nominalen Lohn-
erhöhungen wenigstens noch eine nominale Vertretung in den Regie-
1 [Rosa Luxemburg. Sozialreform oder Revolution? Mit einem Anhang: Miliz und
Militarismus, Leipzig 1899, S. 32.]
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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 211
2 Für diesen Teil dankt der Verfasser dem Buch Arthur Rosenbergs »Die Entste-
hung der deutschen Republik« [1871-1918, Berlin 1928] wertvolle Erkenntnisse.
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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 213
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214 [17.] Weimar … und was dann? [1930]
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216 [17.] Weimar … und was dann? [1930]
der Demokratie, die zu dem führt, was der Bürger am meisten fürchtet:
zu dem Verschwinden auch der bloßen Möglichkeit eines politischen
Ruhezustandes. Denn dieser kann erst wiederkehren, wenn der urei-
genste Grundgedanke jeder Demokratie erfüllt ist, wenn jeder kleinste
Teil nominellen Einflusses auch reale Macht geworden ist.
Von hier aus verstehen wir die bewegliche Klage Guizots, des typi-
schen Repräsentanten des französischen Bürgertums der 40er Jahre des
vorigen Jahrhunderts, wenn er voller Angst von der sozialen Demokra-
tie, von jenem Echo des alten sozialen Kriegsgeschreis spricht, das sich
in ihren Tagen in allen Staffeln der Gesellschaft erhebe und widerhalle.
Karl Marx war es, der damals mit einer Formulierung, die sich unmit-
telbar zwar auf die Verfassung Frankreichs vom 23. Oktober 1848
bezog, die aber in Wirklichkeit auch für die Reichsverfassung vom
11. August 1919 noch gilt, das wahre Wesen des demokratischen Staa-
tes im Zeitalter der Herrschaft der Bourgeoisie enthüllte:
»Der umfassende Widerspruch aber dieser Konstitution besteht darin:
Die Klassen, deren gesellschaftliche Sklaverei sie verewigen soll, Prole-
tariat, Bauern, Kleinbürger, setzt sie durch das allgemeine Stimmrecht
in den Besitz der politischen Macht. Und der Klasse, deren alte gesell-
schaftliche Macht sie sanktioniert, der Bourgeoisie, entzieht sie die poli-
tischen Garantien dieser Macht. Sie zwängt ihre politische Herrschaft
in demokratische Bedingungen, die jeden Augenblick den feindlichen
Klassen zum Sieg verhelfen und die Grundlagen der bürgerlichen
Gesellschaft selbst in Frage stellen. Von den einen verlangt sie, daß sie
von der politischen Emanzipation nicht zur sozialen fort-, von den
andern, daß sie von der sozialen Restauration nicht zur politischen
zurückgehen.«6
Diesem »umfassenden Widerspruch«, von dem Karl Marx spricht, sind
die heute geltenden Verfassungen ganz oder zum Teil unterworfen.
Entweder gibt es für sie, wie zum Beispiel für die Verfassung der Verei-
nigten Staaten und die Verfassungen des letzten Jahrhunderts, kein
Problem der sozialen Demokratie, oder sie sehen zwar die soziale
Demokratie, wie die Nachkriegsverfassungen von Deutschland und
Österreich, als Aufgabe, verhelfen aber ihren Prinzipien nicht voll zum
Durchbruch.
Die klare Unterscheidung zwischen politischer und sozialer Demokra-
tie, die allen großen politischen Denkern des letzten Jahrhunderts
gegenwärtig war, wiedererweckt und in ihrer ganzen Schärfe für unser
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Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
[17.] Weimar … und was dann? [1930] 217
7 [Max Adler: Die Staatsauffassung des Marxismus. Ein Beitrag zur Unterschei-
dung von soziologischer und juristischer Methode, Wien 1922.]
8 Auch hier sei wieder ausdrücklich auf die Untersuchungen Max Adlers in »Poli-
tische oder soziale Demokratie«[, Berlin 1926], Kapitel 10, hingewiesen.
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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 219
kratie wieder her. Nur einmal hat es sich in der modernen Welt ereig-
net, dass die Voraussetzungen der Demokratie zugleich die Vorausset-
zungen der Diktatur gewesen sind. Die Pariser Kommune von 1871 ist
das Beispiel dafür, dass eine von annähernd gleichen politischen und
sozialen Voraussetzungen ausgehende Bevölkerung in einem außeror-
dentlichen Fall eine Diktatur ausübte, ohne dass dabei die Grundlagen
der Demokratie verlassen worden wären. Sieht man aber von diesem
einen Fall ab, so ist das Verhältnis zwischen Demokratie und Diktatur
bislang nicht so gewesen, wie es bürgerliche Verfassungspolitiker gern
hinstellen. Da die Demokratie bislang immer nur eine politische Demo-
kratie gewesen ist, so hat in ihr die verfassungsmäßige Institution des
Ausnahmezustandes (kommissarische Diktatur) meistens nur den
einen Zweck erfüllt, das Proletariat, sofern es mit den geschäftsord-
nungsmäßigen Mitteln des Parlamentarismus nicht zum Schweigen zu
bringen war, auf gewaltsame Weise wieder in den bestehenden Staat
einzufügen. Dabei muss erwähnt werden, dass der häufige Gebrauch
des Artikels 48 in den Nachkriegsjahren zum Teil auch auf das Konto
mangelnden parlamentarischen Bewusstseins der bürgerlichen Parteien
zu setzen ist, die sich zu gerne noch als die unverantwortlichen Nörgler
am Handwerk einer ihrem Einfluss entzogenen Bürokratie ansahen.
Erst in einem langsamen Republikanisierungsprozess hat das deutsche
Bürgertum begriffen, dass ihm von nun an ein entscheidender Anteil
an der politischen Herrschaft zusteht.
Der Punkt, an dem die politische Demokratie des Bürgertums in die
bürgerliche Diktatur umschlägt, ist nicht absolut bestimmbar. Da jede
bürgerliche Demokratie ein Stück Diktatur zwangsmäßig in sich trägt,
ist es oft nur eine Frage der konkreten Zweckmäßigkeit, ob ein Regime
sich äußerlich als ein demokratisches oder als ein diktatorisches mas-
kiert. Und auch in den Ländern, in denen durch das Vorhandensein
einer gut organisierten Arbeiterbewegung der bürgerlichen Klassen-
herrschaft in der Demokratie gewisse Grenzen gesetzt sind, hat sich die
Herrschaft der ökonomisch mächtigen Kapitalistenklasse mindestens
bezüglich der großen Richtlinien der Außenpolitik, der Wirtschafts-
und Wehrpolitik durchgesetzt. Diese ökonomische Vorherrschaft des
Kapitalismus bildet den gemeinsamen Hintergrund aller bürgerlichen
Politik. Wie Mussolini einen führenden Bankier zum Finanzminister
ernennen musste, so hat auch die deutsche Koalitionsregierung 1929 als
ihre Sachverständigen für die Pariser Konferenz neben dem an sich
sen. [Max Adler: Die Staatsauffassung des Marxismus. Ein Beitrag zur Unter-
scheidung von soziologischer und juristischer Methode, Wien 1922.]
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220 [17.] Weimar … und was dann? [1930]
Das Wahlrecht
In Deutschland mehren sich die Stimmen, die mit dem heutigen Wahl-
recht nicht zufrieden sind. Sie werfen ihm vor, dass es unorganisch sei
und unfähig, ein wahres Spiegelbild des Bevölkerungswillens zu bil-
den. Sie meinen, in jeder neuen Wahl nicht eine politische Entschei-
dung des deutschen Volkes, sondern das monotone Antlitz gleichförmi-
ger Parteimaschinen zu erblicken. Der modernen Quantitätssucht soll
die Persönlichkeit des Abgeordneten zum Opfer gefallen, an Stelle
einer Repräsentation der Idee die Vertretung von Interessen getreten
sein. – Wir geben den Kritikern des geltenden Wahlrechts alle Tatsa-
chen zu, auf die sich ihre Kritik stützt, und treten doch für dieses Wahl-
recht ein; wir behaupten, dass sie den Sinn und die Bedeutung des
Wahlrechts überhaupt verkennen. Niemals in der Geschichte und auch
heute nicht ist es der Zweck eines Wahlrechts gewesen, von sich aus
soziale Zustände und deren politische Formen zu ändern. Nicht die
technische Waffe des Wahlrechts ist es, die die politische oder soziale
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Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
[17.] Weimar … und was dann? [1930] 221
11 Im Bismarck‘schen Reich kam freilich »die List der Idee« dem Proletariat
zugute. Das allgemeine Wahlrecht, eingeführt als konservative Regierungswaffe
gegen den Partikularismus und das Besitzbürgertum, wurde zur werbenden
Heerschau des selbstständig gewordenen Proletariats.
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222 [17.] Weimar … und was dann? [1930]
der Bauer auf dem platten Land, vom Bolschewismus hat; dazu ist die-
ses System ungeeignet. Das Gleiche gilt vom Wahlrecht des faschisti-
schen Italien. Hier wird neuerdings, seit dem Wahlgesetz vom Mai
1928, die Kandidatenliste durch den Großrat der Faschistischen Partei
aus Vorschlägen der einzelnen faschistischen Organisationen zusam-
mengestellt, und den Wählern bleibt es nur überlassen, Kandidaten
dieser einzigen amtlichen Liste zu wählen oder mit Nein zu stimmen
oder sich der Stimme zu enthalten. Die Wahl bedeutet in beiden Län-
dern nichts weiter als ein für die Regierenden unverbindliches Zustim-
mungszeichen oder Warnungssignal. Sie ist nur eines der vielen Mittel,
mit denen die Herrschenden um die Gunst der Masse werben. Die
Öffentlichkeit der Wahlen bedeutet, abgesehen von dem regelmäßig
hiermit verbundenen Gesinnungsterror, ein Mittel zur Bewusstseins-
verbindung der herrschenden Schichten mit den breiten Volksmassen.
So hat das Wahlsystem Russlands und Italiens überhaupt nicht den
Zweck, die Grundlage politischer Entscheidungen zu sein; sein spezi-
fisch politischer Wert besteht allein in dem Versuch, die breiten Volks-
massen in das geltende Herrschaftssystem einzubeziehen, ohne ihnen
dafür Einfluss gewähren zu müssen.
Demgegenüber haben die Wahlsysteme der parlamentarisch-demokra-
tischen Länder eine andere Bedeutung. In England, Frankreich und den
Vereinigten Staaten bestimmt das Wahlergebnis selbst darüber, welche
Parteigruppen jeweils zur Herrschaft gelangen sollen. Entscheidend
aber ist dabei, dass die Differenzen zwischen den Parteien bis in die
jüngste Zeit weniger sachlicher Natur als eben durch die Partnerschaft
jenes Wahlspiels (Ämterpatronage) bedingt waren. Als das liberal-bür-
gerliche Zeitalter in Deutschland mit der Weimarer Verfassung zur
Neige ging, wurde das Bismarck‘sche Wahlrecht zu Grabe getragen
und ein listengebundenes, von der Parteiwillkür bestimmtes Proportio-
nalwahlrecht geschaffen. Dieses System ist ein Ausdruck dafür, dass
die idyllische Zeit des Bürgertums vorbei ist. Das Proletariat marschiert
gleichberechtigt in die Kampfbahn der Demokratie ein. Das mit dem
Einmarsch des Proletariats zugleich aufkommende Listenwahlrecht hat
eine deutliche Änderung des dem Wahlrecht in parlamentarisch-demo-
kratischen Staaten bisher innewohnenden Sinnes und Zweckes bewirkt.
Mit dem bolschewistischen und faschistischen Wahlrecht hat die deut-
sche Wahl insofern gewisse Ähnlichkeit, als auch sie keine bestim-
mende Einwirkung auf den Gang der politischen Ereignisse besitzt. Die
Erfahrungen der Nachkriegszeiten haben das deutsche Proletariat ein-
dringlich gelehrt, dass auch eine sehr hohe Mandatsziffer keine aus-
schlaggebende politische Macht bedeutet, und jener alte Traum der 51-
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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 223
12 Ein besonderer Abschnitt über »Partei und Abgeordneter« fiel leider dem
Raumzwang zum Opfer. Die Auffassung vom Wesen der Partei, wie sie der
Sozialliberale Radbruch durchgehend vertritt, ist für einen Sozialisten, für den
Marxismus zwar kein Dogmenformularbuch, aber doch immerhin die beste
Methode der Wirklichkeitsanalyse darstellt, unhaltbar. Es gibt in der Wirklich-
keit der Klassenparteien kein geheimes Zusammenwirken des Gegensätzlichen.
Die List der Idee, die Institutionen zu wandeln vermag, hat eben nur Platz im
Bereich des historisch Notwendigen.
13 Eine Änderung des Wahlrechts ist nur bezüglich der Reichs- und Landeslisten
erforderlich; diese müssen beseitigt und die sich dabei ergebenden Überschüsse
auf die einzelnen Bezirke verteilt werden. Denn die bestehende Reichsliste
bedeutet allein durch die bloße Tatsache ihrer Existenz eine gesetzliche Garantie
der Parteibürokratie und erhält nicht nur das an Parteibürokratie, was davon
notwendig, sondern das, was augenblicklich vorhanden ist.
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224 [17.] Weimar … und was dann? [1930]
dungen fällen kann, die der Wille der einzelnen Gruppen nicht selbst in
die Wege leitet. Auch das freieste Wahlrecht kann nur einen vorhande-
nen politischen Willen unterstützen, dessen Intensitätsgrad sich in den
Wahlresultaten deutlich bemerkbar macht. Das allgemeine und gleiche
Wahlrecht ersetzt nicht den politischen Willen des Proletariats; es setzt
ihn, falls es überhaupt für die Arbeiterschaft einen Sinn haben soll, vor-
aus.
Das Parlament
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226 [17.] Weimar … und was dann? [1930]
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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 227
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228 [17.] Weimar … und was dann? [1930]
17 [Friedrich Engels, Karl Marx: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kri-
tik gegen Bruno Bauer und Kunsorten, in: MEW Band 2, Berlin 1972, S. 129.]
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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 229
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230 [17.] Weimar … und was dann? [1930]
Und da alle verankert werden wollten, blieb dem angeblich die Verfas-
sung beherrschenden Sozialismus nichts weiter übrig, als sich ebenfalls
mit verankern zu lassen. Aus dieser Ankerreihe ist das Weimarer
Grundrechtssystem zusammengesetzt, das man oft ungenau als Kom-
promiss bezeichnet. Die Bezeichnung Kompromiss kann zu Irrtümern
Anlass geben.18 Unter Kompromiss versteht man gemeinhin eine
Lösung, die durch Nachgeben beider Teile gewonnen wird und eine
bestimmte Sachlage für eine gewisse Zeitspanne endgültig, eindeutig
und abschließend regeln will. Ein solches Nachgeben ist in den Grund-
rechtsbestimmungen der Weimarer Verfassung nicht erfolgt. Man hat
dort vielmehr regelmäßig unter einem dem sozialstaatlichen Wörter-
vorrat Naumanns entnommenen zierenden Vorspruch oder einleiten-
den Artikel verschiedene, den entgegengesetztesten Kultur- und Sozial-
anschauungen entsprechende, Bestimmungen nebeneinandergestellt.
So sind die Weimarer Grundrechte in ihren entscheidenden Punkten
kein Kompromiss, sondern eine in der Verfassungsgeschichte bisher
unbekannte, einzigartige Nebeneinanderordnung und Anerkennung
der verschiedensten Wertsysteme; größere Bedeutung haben unter all
den mannigfachen Einflüssen, die an der Entstehung der Grundrechte
beteiligt waren, sozialistische, liberal-kapitalistische und durch den
politischen Katholizismus wirksam gewordene kirchliche Einflüsse
geübt. Damit war der Plan eines in den Grundrechten verkörperten,
eindeutigen und das Gesamtvolk zusammenfassenden und einenden
sozialen und kulturellen Programms, das über bloße Formulierung
hinaus die Möglichkeit der geschlossenen Verwirklichung in sich
schloss, gescheitert. Die Ausführung oder Nichtausführung der in den
Grundrechten niedergelegten und gleichsam angebotenen wirtschaftli-
chen und kulturellen Zukunftsgestaltung hing davon ab, welche Stärke
die einzelnen Interessengruppen bei der Durchsetzung ihres in den
Grundrechten enthaltenen Programmpunktes bewiesen.
Die erste Gruppe, betitelt »Die Einzelperson«, birgt am meisten von
dem »altliberalen Erbgut« des Bürgertums. Sie beschäftigt sich haupt-
sächlich mit dem Schutz der Einzelperson gegenüber staatlichen Ver-
waltungseingriffen. Im früheren monarchischen Staat, gegen den sich
diese bürgerlich-rechtsstaatlichen Formulierungen wenden, stand der
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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 231
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232 [17.] Weimar … und was dann? [1930]
heit der Rechte und Möglichkeiten nicht die substantielle, und das
bedeutet heute die wirtschaftliche Gleichheit geworden ist, solange
nicht die Schaffung einer ökonomischen Gleichheitsbasis aus bloßen
gleich großen gesetzlichen Möglichkeiten gleich große Chancen ihrer
Verwirklichung gemacht hat. Heute dient dieser Satz nur als Garant des
Bestehenden und erfreut sich bei allen kapitalistischen Interessenten-
gruppen steigender Beliebtheit, er wird als Sperrmaßnahme gegen jede
Veränderung des ökonomischen Status quo benutzt und unter dem
Deckmantel des Gleichheitsschutzes mit seiner Hilfe die größte
Ungleichheit, die gerade bestehende Güterverteilung, sanktioniert. An
der Übernahme dieses alten Verfassungsgrundsatzes von der Gleich-
heit vor dem Gesetz zeigt sich, wie mehrdeutig solche scheinbar so kla-
ren Verfassungsbestimmungen sind. In Wirklichkeit hat der Grundsatz
von der Gleichheit vor dem Gesetz dreimal in verschiedenen Zeiten
verschiedenen Bedeutungsinhalt. Der frühliberalen Zeit war er Abwehr
von Verwaltungswillkür, der hochkapitalistischen ist er Garant der
bestehenden Sozialordnung, der sozialistischen wird er zur Fundierung
der ökonomischen Gleichheitsbasis dienen. Nur durch die Aufzeigung
seiner Funktion innerhalb einer gegebenen sozialen Ordnung erhellt
die reale Bedeutung des Satzes von der Gleichheit vor dem Gesetz.19
Außerordentlich problematisch und doch für das Schicksal des Weima-
rer Verfassungswerks von ausschlaggebender Bedeutung ist der Ver-
such der Regelung des Wirtschaftslebens und sein Erfolg. Was die
Hauptfrage: Privateigentum oder Gemeinwirtschaft? betrifft, so bleibt
die Weimarer Verfassung ihrer oben gekennzeichneten Methode
getreu. Neben Gemeinplätze, die niemand verpflichten und auf die sich
niemand berufen kann, stellt sie die beiden möglichen Wirtschaftssys-
teme, privateigentumserhaltenden Kapitalismus und Gemeineigentum
voraussetzenden Sozialismus, gleichberechtigt nebeneinander. Sie
gewährleistet zwar das Privateigentum, sieht aber seine Überführung
in Gemeineigentum ausdrücklich vor. Auf Grund der Tatsache, dass
die Nebeneinandersetzung der Wirtschaftssysteme sich hier in der tech-
nischen Möglichkeit der Überführung von einem ins andere äußert, ist
die Meinung entstanden, dass der Artikel 153 der Reichsverfassung
19 Einen besonderen Anwendungsfall dieses Satzes stellt der Art. 134 dar: »Alle
Staatsbürger ohne Unterschied tragen im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffent-
lichen Lasten nach Maßgabe der Gesetze bei«, der sich in dem hier nicht näher
erörterten Abschnitt über das Gemeinschaftsleben befindet. Die wenig gemein-
schaftsfördernde Praxis der deutschen Steuergesetzgebung zeigt, wie sehr
gerade diese Bestimmung im Bannkreis eines hochkapitalistischen »Gleichheits-
begriffes« verblieben ist.
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»empfehlen«, lassen sich heute schon Organe, die durch die Macht der
Verhältnisse mit größerer Autorität ausgestattet sind, angelegen sein.
So haben die Grundrechte des deutschen Volkes im Ganzen gesehen
nicht die Funktion erfüllt, die Grundrechten zukommt. Es sind und
konnten nach Entstehung und Inhalt keine Werte sein, in deren Namen
das deutsche Volk einig sein kann.21 Wohl aber haben sie durch ihre
schillernde Mehrdeutigkeit jenen bedenklichen Mangel an politischer
Entscheidungsfähigkeit, der die Agonie unseres heutigen politischen
Lebens kennzeichnet, erheblich gefördert und dem demokratischen
Staatswesen nicht jenen eindeutigen programmatischen Rückhalt gege-
ben, dessen er und seine ausführenden Organe mehr denn je bedurft
hätten.
Regierung
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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 237
werden wird. – Im Bereich der politischen Praxis lassen sich aus den
vielfachen Regierungsbildungen der letzten Jahre drei Grundtypen her-
ausschälen, auf die die in diesem Punkte unendlich erfinderische Praxis
zurückgeführt werden kann:
1. Regierungsbildung durch Berufung eines Nichtparlamentariers,
Fachmann genannt, zum Reichskanzleramt unter Hinzuziehung
anderer sogenannter Fachmänner und einzelner Parteipolitiker als
Verbindungsmänner dieser »überparteiischen« Regierung zu den
Parteien, Typ Cuno 1923;
2. Regierungsbildung durch feste, auf bestimmte Aufgabenkreise
begrenzte Koalitionsvereinbarungen, Typ Marx-Keudell 1927/28;
3. Regierungsbildung durch Betrauung eines Parteiführers mit dem
Reichskanzleramt, mit größerer oder geringerer Bindung von Partei-
gruppen, ohne Zweckvereinbarung, Typ Müller 1928-1930.
Diese Einteilung trägt rein orientierenden Charakter23 über die Praxis
der Regierungsbildung. Prinzipiell gesehen, unterliegen alle diese Fälle
einer Gesetzlichkeit, die meistens schon die Regierungsbildung selbst,
immer jedoch die Art der Regierungsausübung bestimmt: im Wesentli-
chen Spiegelung vorhandener gesellschaftlicher Verhältnisse zu sein. In
dieser Hinsicht zeigen alle Regierungen seit langer Zeit eine große Ste-
tigkeit. So wie die gesamtpolitische Lage in den Jahren 1918-1920
bestimmt war durch die Tatsache der deutschen Niederlage, so ist sie es
heute wesentlich dadurch, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem in
Europa vorläufig alle seine Gegner zurückgedrängt hat. Zwar waren
diese Gegner 1917-1919 zahlreich, aber es fehlte ihnen der notwendige
gegenseitige Zusammenhang, und sie waren in ihrer Wirksamkeit ein-
geengt durch ihre konkrete nationale Sieges- oder Niederlagesituation.
Das kapitalistische System hat durch seine Selbstkonzentration und
durch Zurückdrängung der wirtschaftlichen Betätigung der öffentli-
chen Körperschaften seine Einflusssphäre in der letzten Zeit erheblich
vergrößert. Durch Vereinigung der gesamten Produktion und ihrer
Direktion in den Händen weniger Wirtschaftsführer bestimmen diese
heute die Richtung der Außen-, Handels- und Wirtschaftspolitik so
sehr, dass es nicht mehr nur bei den Vereinigten Staaten unklar bleibt,
ob zum Beispiel bei Handelsvertragsverhandlungen und Zollvereinba-
rungen privatkapitalistische Interessengruppen, die nur gewisse, mit
23 Paul Levi hat in einem seiner geistreichen Aufsätze, »Wieder einmal eine Krise«
(»Der Klassenkampf« Nr. 8, [Berlin] 1929), darauf hingewiesen, dass es einer
eigenen Doktorarbeit bedürfe, um die Unterschiede zwischen diesen verschie-
denen Arten von Regierungen zu ergründen.
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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 241
archie; indem sie aus dem Gedankenkreis und dem politischen Arsenal
der konstitutionellen Parteien heraustrat, hat sie einen tiefgreifenden
Funktionswechsel erfahren. Ursprünglich war sie das zaghafte Kampf-
mittel der Schichten von Besitz und Bildung, denen es besonders
darum zu tun war, für alle Belange Kompetenzen zu schaffen, die der
monarchistischen Exekutive die Möglichkeit zur Erweiterung ihrer
Herrschaftsbefugnisse nahmen. Heute ist der Rechtsstaat die Form,26 in
der ein großer Teil der Entscheidungen der Verteilungssphäre in einer
scheinbar juristischen Form, umgeben von einem Haufen prozesstech-
nischer Vorschriften, getätigt werden. Schlichtungskammer, Arbeitsge-
richt und Mieteinigungsamt beruhen alle auf dem Prinzip der Verlage-
rung der Entscheidung von politischen zu scheinbar der politischen
Sphäre entrückten, an juristische Vorschriften gebundenen Stellen.
Diese haben in Wahrheit meistens einen Kompromiss als Zwangsaus-
gleich zu verkünden. So wird hier die rechtsstaatliche Form, in der die
sozialen Kämpfe im Wege eines Prozessverfahrens zum Austrag
gebracht werden, zur Grenzscheide der feindlichen Sozialgruppen, die
weit entfernt sind, in ihr das Gesetz der endgültigen Machtverteilung
zu erblicken. Für beide bedeutet jedoch ein in rechtsstaatliche Formen
gekleidetes Zwangsausgleichsverfahren die Garantie, zwar nur unter
Berücksichtigung der jeweils obwaltenden Kräfteverhältnisse zur Gel-
tung zu kommen, aber immerhin dabei auf jeden Fall berücksichtigt zu
werden. So kommt es, dass die Arbeitnehmer dort, wo ihnen bisher jeg-
licher Einfluss versagt war, die Einführung rechtsstaatlicher Formen als
Fortschritt begrüßen. Deshalb mündet der Versuch der Geltendma-
chung ihres Einflusses auf die bisher ihrer Einwirkung unzugängliche
Organisation der kapitalistischen Wirtschaft in die Forderung nach
einem unabhängigen, rechtsstaatlich organisierten Kartellaufsichtsamt.
Neben diesen rechtsstaatlichen Formen, bei denen sich der Ausgleich
hinter Prozessvorschriften verbirgt, gibt es noch die Form des Aus-
gleichs durch einen Schiedsrichter, dessen Wert gerade in der Unab-
hängigkeit von der Zufälligkeit, die nun jede Prozessvorschrift einmal
mit sich bringt, gerade in dem Gegenteil der rechtsstaatlichen Schein-
objektivität des Gesetzes liegt, den Schiedsrichter kraft Person oder
kraft Amtes, wie ihn der beauftragte Schlichter oder neuerdings die
eigenartige Form des Schiedsministers im Ruhrkonflikt darstellt. Der
mit der Institution des Schiedsrichters verfolgte Zweck ist jedoch der
gleiche wie der, zu dem die rechtsstaatliche Form benutzt wird. Beide
26 Für das Problem des Rechtsstaates sei auf die ebenso interessante wie allein
schon wegen der Art der Fragestellung sehr problematische Schrift Hermann
Hellers: »Rechtsstaat oder Diktatur?« Tübingen 1930, hingewiesen.
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wirken durch Recht, Amt oder Person als Ausgleichsorgane in der Ver-
teilungssphäre.
Das Funktionieren der rechtsstaatlichen und Schiedsorgane braucht
nicht durch eine formelle Unabhängigkeit gewährleistet zu werden. Die
Entwicklung der letzten zehn Jahre hat ergeben, dass die Amtsführung
aller dieser Beamten, soweit sie sich in der Verteilungssphäre bewegen,
nur möglich ist unter Berücksichtigung der gegebenen sozialen Verhält-
nisse; die Beamten haben selbst das Interesse, in ihrem Verhalten
gegenüber den Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine
Politik einzuschlagen, die möglichst allen Stellungnahmen gerecht
wird; denn zu ihrer Amtsführung bedürfen sie mindestens einer wohl-
wollenden Haltung dieser Organisationen, die durch Presse, Versamm-
lungen und so weiter größere Menschenmassen beeinflussen. – Anders
verhält es sich mit den Beamten der Direktionssphäre, obwohl diese
meistens sogenannte abhängige Beamte sind, Offiziere, Legationsräte
und so weiter. Sie sind nicht der Beeinflussung der verschiedensten
sozialen Organisationen ausgesetzt, sondern befinden sich – trotz aller
sogenannter Republikanisierungsversuche – zufolge der realen wirt-
schaftlichen Machtverhältnisse ausschließlich im Einflussbereich des
Bürgertums und seiner großen wirtschaftlichen Organisationen.
An dem Begriff der Unabhängigkeit der Justiz zeigt sich, wie sehr die
Welt der politisch-ökonomischen Tatsachen Begriffe heute gegen-
standslos machen kann, die vielleicht in einem früheren Jahrhundert
einen ganz bestimmten verfassungspolitischen Sinn besaßen. Keine
Unabhängigkeit27 der Richter hat zu hindern vermocht, dass im Bereich
der recht eigentlich zur Direktionssphäre gehörenden Hoch- und Lan-
desverratsmaterie die Tätigkeit des deutschen Reichsgerichts nur eine
Reflexerscheinung der herrschenden Machtverhältnisse geworden ist.
Und insoweit die anderen Gebiete des Strafrechts nur in ihren Garan-
tiefunktionen für die herrschende Wirtschaftsordnung in Betracht kom-
men, erfüllen die Gerichte auch heute noch in zwar humaner und ratio-
nalisierter Weise keine andere Aufgabe als die Aufrechterhaltung der
geltenden Eigentumsordnung. In der politisch irrelevanten Frage der
innerkapitalistischen Güterverteilung sind die Gerichte nicht deshalb
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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 243
unparteiisch, weil sie unabhängig sind, sondern weil es für diese Fra-
gen nur seit Jahrhunderten geltende formale Rechtsregeln und keine
wechselnden Maßstäbe politisch-ökonomischer Art gibt. So zeigt sich
an dem Beispiel der Justiz am besten, wie wenig verfassungsrechtliche
Grundsätze, ob sie sich Unabhängigkeit des Richters oder Pflicht zur
Wahrung der verfassungsmäßig festgestellten Staatsform der Republik
nennen, die Wirksamkeit des Beamtenkörpers beherrschen. Es sind
allein die tatsächlichen politisch-ökonomischen Machtverhältnisse, die
in Wirklichkeit Richtung und Art der Beamtentätigkeit bestimmen.
Der Reichspräsident
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29 Der hier nur kurz erörterte Fall ist ausführlich geschildert bei Walter Fabian,
»Klassenkampf um Sachsen«, Löbau 1930.
30 Das jetzige schwankende Verhalten der bürgerlichen Regierung gegenüber dem
Minister Frick ist in dieser Hinsicht charakteristisch. Da es sich nur um eine
neue, den Zeitverhältnissen angepasstere Spielart bürgerlicher Politik handelt,
sollen dieser keineswegs von vornherein alle Möglichkeiten abgeschnitten wer-
den.
31 Trotz der Gegensätze, die zwischen Reich und Ländern über verwaltungs-
mäßige, finanzielle und sogenannte Hoheitsbelange bestehen, zeigt gerade die-
ses Beispiel, dass im Grunde alle möglichen Differenzen zwischen Reich und
Ländern sich als ziemlich belanglos gegenüber der einen Frage erweisen: Sind
Reich und Länder ihrer politischen Struktur nach homogen? Beruhen sie auf
den gleichen sozialen Ordnungsprinzipien?
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246 [17.] Weimar … und was dann? [1930]
Die großen und berühmten Verfassungen Frankreichs aus den 90er Jah-
ren des 18. Jahrhunderts stehen am Anfang einer bestimmten Ordnung
der menschlichen Dinge. Mit einem aus ihrer geschichtlichen Stellung
heraus verständlichen Pathos, das bis in die geglückten und missglück-
ten Verfassungsversuche der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein
nachgewirkt hat, verkünden sie den Sieg des neuen, des bürgerlichen
Zeitalters. Auf einem der ersten Höhepunkte des bürgerlichen Zeital-
ters, nach der blutigen Niederwerfung der Pariser Kommune, des ers-
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248 [17.] Weimar … und was dann? [1930]
neuen Sozialordnung prinzipiell Raum. Man war bereit, der alten wie
der neuen Sozialordnung den Staatsapparat zur Verfügung zu stellen
und diese neue Ordnung, wie sie auch ausfallen mochte, mit dem
Schein der Legalität zu versehen. Die Weimarer Verfassung hat wie
Max Weber, der in dieser Hinsicht das Wesen einer Verfassung voll-
ständig verkannte, es für richtig angesehen, nur für alle denkbaren, an
die Verwaltung herantretenden Aufgaben freie Bahn zu schaffen. Hier
aber liegt der prinzipielle und nie wiedergutzumachende Fehler dieser
Verfassung: sie hat sich selbst nicht entschieden. Sie unterlag dem Irr-
tum, dass die Prinzipien der Demokratie allein schon die Prinzipien
einer bestimmten sozialen oder weltanschaulichen Ordnung seien. Sie
vergaß, dass die Demokratie nicht mehr ausdrücken kann als das, was
vorher schon vorhanden ist. Einer vorhandenen Sozialordnung nach
außen Ausdruck verleihen, sie sinnfällig repräsentieren, kann eine
Demokratie. Indem man die Formen der Demokratie mit ihrem Inhalt
verwechselte, unterließ man, dieser Verfassung ein politisches Pro-
gramm zu geben. Diese eines eigenen politischen Programms bare,
reine Form auf einzelne bürgerliche Bestandteile zurückzuführen, hat
das deutsche Bürgertum seit 1919 mit Glück und Geschick unternom-
men.
Der Sinn jeder Verfassung, die den Wendepunkt einer politischen Ent-
wicklung bezeichnen soll, ist es, ein bestimmtes Aktionsprogramm zu
verkünden, in dessen Namen die Organisation einer neuen Gesell-
schaftsordnung stattfinden soll. Diese Aktion wird umso eher durch-
führbar sein, je mehr sie mit den ökonomischen Verhältnissen überein-
stimmt, wie es der Fall war beim Programm der französischen Revolu-
tionsverfassung; sie wird umso weniger durchführbar sein, je weniger
sie den gegebenen ökonomischen Verhältnissen adäquat ist, wie dies
das Schicksal der russischen Revolutionsverfassung ist. Indem die Wei-
marer Verfassung unterließ, sich ein Aktionsprogramm zu geben und
sich mit der Zur-Wahl-Stellung der verschiedensten Wertsysteme
begnügte, glaubten ihre Väter, durch demokratische Verfassungsinsti-
tutionen ein politisches Aktionsprogramm ersetzen zu können, wäh-
rend es die Aufgabe der Demokratie gewesen wäre, selbst dieses Pro-
gramm erst zu schaffen. Doch »ihr Charakter war, daß sie nichts ver-
trat, sondern alles zuließ«.32 Ein halbes Jahrhundert früher hätte eine
liberal-demokratische Verfassung als nationales Organisationsprinzip
32 Lorenz von Stein über die französische Verfassung von 1795 in seiner sehr
lesenswerten Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, Ausgabe 1921,
Bd. I, S. 395. [Lorenz von Stein: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich
von 1789 bis auf unsere Tage, Band I: Der Begriff der Gesellschaft und die
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[17.] Weimar … und was dann? [1930] 249
soziale Geschichte der französischen Revolution bis zum Jahre 1830, München
1921.]
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251
[18.]
Reichsgericht und Enteignung.
Reichsverfassungswidrigkeit des Preußischen
Fluchtliniengesetzes?*
[1930]
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252 [18.] Reichsgericht und Enteignung [1930]
2 Drei Gutachten von Simons, Triepel, Kaufmann haben die Frage der Verfassungs-
widrigkeit des deutsch-polnischen Liquidationsabkommens auch unter Bezug-
nahme auf Art. 153 RV. bejaht [Heinrich Triepel, Erich Kaufmann, Walter Simons:
Rechtsgutachten über den verfassungsändernden Charakter des deutsch-polni-
schen Liquidationsabkommens, Berlin 1929], während sie von Anschütz und
Schmitt berechtigterweise verneint worden ist [Gerhard Anschütz, Carl Schmitt:
Rechtsgutachten, betreffend den Entwurf eines Gesetzes über die Abkommen zur
Regelung von Fragen des Teils X des Vertrages von Versailles, Berlin 1930].
3 Der Verfasser verweist zur Ergänzung insbesondere der historischen Darlegung
und der Interpretation des Art. 153 der RV. auf die ausführlicheren Darlegungen
in seiner demnächst erscheinenden Arbeit über die Grenzen der Enteignung.
4 Reichsverfassung und Eigentum, in: Festgabe der Berliner Juristenfakultät für
Kahl, 1923. [Martin Wolff: Reichsverfassung und Eigentum, in: Festgabe der Ber-
liner Juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl zum Doktorjubiläum am 19. April
1923, Tübingen 1923, S. 13-30.]
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[18.] Reichsgericht und Enteignung [1930] 253
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254 [18.] Reichsgericht und Enteignung [1930]
6 Zur prinzipiellen Diskussion über den Rechtsstaat siehe Carl Schmitt: Verfas-
sungslehre[, München/Leipzig 1928]; Hermann Heller: Rechtsstaat oder Diktatur,
Tübingen 1930.
7 [Friedrich Darmstaedter: Die Grenzen der Wirksamkeit des Rechtsstaates: eine
Untersuchung zur gegenwärtigen Krise des liberalen Staatsgedankens, Heidel-
berg 1930.]
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[18.] Reichsgericht und Enteignung [1930] 255
8 Das Urteil des Staatsgerichtshofs vom 23. März 1929, RGZ. Bd. 124 Anhang
S. 19 ff. (Ungültigkeit der preußischen Notverordnung vom 10. Oktober 1927
über einen erweiterten Staatsvorbehalt zur Aufsuchung und Gewinnung von
Steinkohle und Erdöl.) – Abschnitt B III der Urteilsgründe, S. 32/34 a. a. O. –
zitiert zwar jene herrschende Rechtsprechung des Reichsgerichts, enthält aber
sachlich eine Abkehr von ihr.
9 So haben die neuen Zollgesetze die Gefrierfleischimporteure dazu veranlasst,
Enteignungsentschädigungen dafür zu verlangen, dass sie ihre auf Grund der
früheren Gesetze in Kühlanlagen investierten Kapitalien durch die nunmehrige
Gesetzgebung verloren haben. Dass hier von Enteignung nicht die Rede sein
kann, braucht wohl nicht ausdrücklich betont zu werden.
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256 [18.] Reichsgericht und Enteignung [1930]
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[18.] Reichsgericht und Enteignung [1930] 257
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258 [18.] Reichsgericht und Enteignung [1930]
zur Freifläche. Sie hat einen von den zuständigen Instanzen genehmig-
ten Fluchtlinienplan aufgestellt, dessen Offenlegung am 5. März 1928
erfolgt ist. Der Kläger beabsichtigte schon vor Aufstellung des Fluchtli-
nienplanes, auf seinem Grundstück mit der Front zur genannten Straße
ein Wohnhaus zu errichten. Mehrere von ihm eingereichte Baugesuche
wurden abgelehnt und ihm vom Oberpräsidenten eröffnet, dass die
Stadtverordnetenversammlung der Festsetzung des Fluchtlinienplanes
zugestimmt habe; da hierdurch der betreffende Geländeteil als Freiflä-
che ausgewiesen würde, vermöge die Gemeinde für das Bauvorhaben
des Klägers eine Ausnahme von dem ortsstatutarischen Bauverbot
nicht zuzulassen. Die vom Kläger gegen die Stadt Berlin erhobene
Schadensersatzklage, die auf die Gesichtspunkte der unerlaubten
Handlung und der Amtshaftung, hilfsweise auch auf Entschädigung
wegen Enteignungseingriffs gestützt wurde, ist von den Vorderinstan-
zen abgewiesen worden. Das Berufungsgericht hat die Annahme, dass
hier eine Enteignung vorliege, abgelehnt, da in der Feststellung der
Fluchtlinienpläne niemals eine Enteignung liege, weil merkantiles Bau-
land abgesehen von seinem landwirtschaftlichen oder sonstigen Nut-
zungswert keinen bestimmten wirtschaftlichen Wert, sondern nur eine
wirtschaftliche Chance darstelle. Es heißt dort, dass jeder Grundstücks-
spekulant wisse, dass er vor der Bekanntmachung des Fluchtlinien-
plans nur ein Spekulationsobjekt in Händen habe und dass er ein dop-
peltes Risiko eingehe: einmal hinsichtlich der Richtigkeit seiner Berech-
nungen über die zukünftige Entwicklung der Bebauung und dann über
die Bestätigung seiner an sich richtigen Berechnungen durch den
Fluchtlinienplan. Merkantiles Baugelände trage den Bauwert nicht in
sich, sondern erhalte ihn allein durch einen günstigen Fluchtlinienplan.
Wer sich an einer nicht geregelten Straße anbaue, habe keinen
Anspruch darauf, diese Wertsteigerung zu erhalten, vielmehr stelle die
eintretende Wertsteigerung einen ihm durch öffentlich-rechtliche Maß-
nahmen zufließenden Vermögensvorteil dar. Der ungünstige Fluchtlini-
enplan vermindere nicht den Wert der Grundstücke, der günstige
erhöhe ihn vielmehr. Alle Berechnungen des Klägers beruhen auf der
Annahme, dass das Grundstück einen Baustellenwert gehabt habe. Die
Nichtverwirklichung dieser Berechnungen beruhe auf den Beschrän-
kungen des Eigentums, denen auf Grund des Fluchtliniengesetzes alle
die Grundstücke unterworfen seien, die, ohne bebaut zu sein, an nicht
geregelten Straßen lägen.
Das Reichsgericht hat dieses Urteil aufgehoben und die Sache an die
Vorderinstanz zurückverwiesen.
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[18.] Reichsgericht und Enteignung [1930] 259
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260 [18.] Reichsgericht und Enteignung [1930]
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[18.] Reichsgericht und Enteignung [1930] 261
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262 [18.] Reichsgericht und Enteignung [1930]
15 Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 18 Heft 2, S. 276/282 [Fritz Morstein Marx:
Reise, Hans, Die Enteignung von Rechten nach preußischem, hamburgischem
und Reichsrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 18, Tübingen 1930,
S. 176-282]. Wenn Morstein Marx dort erwähnt, dass das Prinzip der Enteig-
nung gegen Entschädigung weder unbedingt kollektivistisch noch ureigenst
individualistisch, sondern vielmehr ein reines Gerechtigkeitsprinzip sei
(S. 270 a. a. O.), so kann dem bei der hier vertretenen Begrenzung des Enteig-
nungsbegriffs beigetreten werden. Ungeklärt aber bleibt bei Morstein Marx
gerade die Hauptfrage, wo die Grenzen des Enteignungsinstituts liegen. Diese
Abgrenzung ist angesichts der Judikatur und der Bestrebungen vieler Interes-
sentenkreise heute nicht zu entbehren. Dies gilt umso mehr, als aus der Erweite-
rung des Eigentumsmachtbereiches infolge der wirtschaftlichen und techni-
schen Strukturwandlungen falsche Schlüsse auf einen Wandel der Vorausset-
zungen des Enteignungsbegriffs gezogen werden. Dem Wandel des in der pri-
vaten Sphäre liegenden Eigentumsbegriffs entspricht aber in Deutschland kein
allgemeiner Wandel der einschlägigen öffentlichen Vorstellungen. Die eigen-
tümliche Parallelität der Entwicklung der deutschen Reichsgerichts-Rechtspre-
chung zu der des Obersten Bundesgerichts der Vereinigten Staaten legt die
Frage nahe, ob das Reichsgericht hier nicht grundlegende Unterschiede des Ver-
hältnisses Staat-Gesellschaft in deutscher und amerikanischer Ausprägung
übersieht (die nordamerikanische Auffassung wird angedeutet bei [Hermann]
Kröner: John R. Commons, Jena 1930, und in der noch der Ergänzung bedürfti-
gen Studie Vögelins über den Eigentumsbegriff in USA, in: Archiv für ange-
wandte Soziologie, Jahrg. 2 Heft 4 [Eric Voegelin: Die amerikanische Theorie
vom Eigentum, in: Archiv für angewandte Soziologie, Jg. 2, Heft 4, Berlin 1930,
S. 165-172]).
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[18.] Reichsgericht und Enteignung [1930] 263
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264
[19.]
Die Grenzen der Enteignung*
[1930]
Vorwort
Die allzu große praktische Bedeutung, die der Artikel 153 der Reichs-
verfassung heute besitzt oder mindestens besitzen soll, ist der rechts-
wissenschaftlichen Betrachtung bisher nicht förderlich gewesen. Es
scheint jedoch an der Zeit zu sein, diese für die geordnete Existenz
eines Staates bedeutungsvolle Frage sowohl in den geschichtlichen
Zusammenhang als auch in den Sinnzusammenhang der Weimarer
Verfassung einzuordnen. Dem Beginn dieses notwendigen Besinnungs-
prozesses dient diese Skizze.
Die Arbeit Schelchers »Gesetzliche Eigentumsbeschränkung und Ent-
eignung«, Archiv für öffentliches Recht Band 18 Heft 3, die die Argu-
mente der herrschenden Lehre nochmals in übersichtlicher Weise
zusammenfasst, konnte wenigstens noch anmerkungsweise verwertet
werden.
Für die Fragestellung selbst wie für die Einzelausgestaltung schulde ich
Herrn Professor Dr. Carl Schmitt reichen Dank. Ebenso bin ich Herrn
Professor Dr. Heller für das der Arbeit entgegengebrachte Interesse zu
Dank verpflichtet.
Berlin, im Juni 1930
***
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 265
Übersicht
Wer heute die grundlegenden Sätze zur Auslegung des Art. 153 in dem
bekanntesten Kommentar zur Reichsverfassung, dem von Anschütz,1
liest, wird zu der Auffassung gelangen, dass es sich hierbei um klares
und übersichtliches Recht handelt. Zur entgegengesetzten Überzeu-
gung freilich muss der Leser kommen, wenn er eine Zeitung zur Hand
nimmt; denn dort erfährt er von Rechtsbeschwerden, Gerichtsurteilen,
Kongressreden, Reichs- und Landtagsdiskussionen, die die buntesten
Dinge der Erscheinungswelt unter die Enteignungskategorie rubrizie-
ren. Die Auflösung der Fideikommisse, die Abfindung der Standesher-
ren, die Entwürfe zum Städtebaugesetz und zu dem Schankstättenge-
1 [Gerhard Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919.
Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, 14. Auflage, Berlin 1933.]
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266 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 267
4 So beginnt zum Beispiel auch Hegel seine Definition des Begriffes des Staates:
»Eine Menschenmenge kann sich nur einen Staat nennen, wenn sie zur gemein-
schaftlichen Verteidigung der Gesamtheit ihres Eigentums verbunden ist.« (Die
Verfassung Deutschlands, 1801/02.) [Georg W. F. Hegel: Die Verfassung Deutsch-
lands, Leipzig 1922, S. 26.]
5 Siehe neuestens [Siegfried] Landshut in »Freiheit und Gleichheit als Ursprungs-
probleme der Soziologie« [, München 1929], S. 144, sowie die treffenden Ausfüh-
rungen [Harold J.] Laskis in Grammar of Politics, [London] 1925, S. 182.
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268 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
staats, der mit bewusster Schärfe das Eigentum in den Mittelpunkt der
Staatsgründung stellt und ihm den Charakter eines unveräußerlichen
Menschenrechts gibt. So schützt er das Eigentum auf doppelte Weise;
seinen Schutz sieht er als die naturrechtliche Voraussetzung der Staats-
bildung an und gibt unmittelbar bindende Anweisungen für das Auf-
hören der gesetzgeberischen Macht an der Grenze, wo das individuelle
Eigentum anfängt. Berechenbares, bekanntes, allgemeingültiges Gesetz,
angewendet von »known authorized judges«, Schutz des Eigentums,
Verbot jeglicher Eingriffe in dieses ohne Einwilligung des Eigentümers,
das sind für das bürgerliche Denken Englands im Ausgang des 17.
Jahrhunderts die konkreten Rechtswohltaten, die der Staat bringen soll,
die man von ihm erwartet, wie aus den spezifisch englischen Überlei-
tungskonstruktionen vom Naturzustand zur staatlichen Herrschaftsge-
walt ersichtlich ist. Deutlicher und vernehmlicher als in den im Dualis-
tischen verbleibenden Konstruktionen der deutschen Naturrechtslehrer
des Jahrhunderts, Pufendorf und Thomasius, tritt der ausgesprochen
bürgerliche Charakter dieser englischen Staatsauffassung hervor.6
»Loi civile« und »loi politique« hat John Locke nicht unterschieden, da
seine Bestimmung vom Wesen des Staates eindeutig auf dessen bürger-
lichen Ursprung hinweist. Indem aber Montesquieu7 zwischen beiden
unterscheidet und der Freiheit die politische, dem Eigentum die bür-
gerliche Sphäre zuweist, gibt er aus der konkreten Situation des seinem
Ende entgegengehenden Absolutismus zu, dass hier verschiedene
Gesetzlichkeiten walten können. Indem er die Freiheit vom Bereich des
Einzelmenschen ablöst, setzt er zugleich die Konfliktmöglichkeit zwi-
schen dem Gesetz des privaten Vorteils und einem zu staatlicher Ord-
nung hingewandten Freiheitsbegriff. Es war ein frühliberaler Glaube,
der eine reinliche Trennung beider Sphären für möglich und notwendig
hielt. Nur kurze Zeit verging, bis es sich erwies, dass jene Trennung in
Wirklichkeit eine Illusion war. John Locke hat als Vollstrecker der
Naturrechtslehre die grundlegenden Sätze des bürgerlichen Staates
geprägt, deren Technik Montesquieu vervollkommnete. In der Franzö-
sischen Revolution erwies es sich, dass die Voraussetzungen der bür-
gerlichen Herrschaft, die Vernichtung der politischen Machtstellung
des Adels unter Aufrechterhaltung des Grundsatzes von der Heiligkeit
des Privateigentums, nicht durchgeführt werden konnte. Die politische
Stellung des Adels hing eng zusammen mit seiner ökonomischen Situa-
6 Siehe Erik Wolf: Grotius, Pufendorf, Thomasius[: drei Kapitel zur Gestaltge-
schichte der Rechtswissenschaft], Tübingen 1927, S. 70. Locke war schon ein
»standesbewusster« Vertreter des Bürgertums vor Montesquieu und Rousseau.
7 [Charles de Montesquieu:] L’esprit des lois, Buch 26, Kap. 15.
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 269
8 Scheinbar deshalb, weil es eine gewollte Trennung von loi civile und loi politi-
que nicht gibt; im Idealfall, und der ist bei diesen Schriftstellern stets vorausge-
setzt, decken sich politische Form und ökonomische Wirklichkeit. Vergleiche
das als dualistisch gekennzeichnete Verhältnis zwischen dem rechtsstaatlichen
und dem politischen Bestandteil der modernen Verfassung in Carl Schmitt: Ver-
fassungslehre, [München/Leipzig] 1928, S. 125 ff.
9 Dies hat Oswald Spengler nicht gehindert, nochmals zu erzählen, dass es nichts
Edleres und Reineres als die Nachtsitzung vom 4. August 1789 gegeben habe,
Untergang des Abendlandes[: Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte,
Bd. 2, [München 1922,] S. 751. Als Legende nachgewiesen bei [Heinrich] Cunow:
Die revolutionäre Zeitungsliteratur Frankreichs, Berlin 1908, S. 571. Ausführlich
bei [Jean] Jaurès: Histoire socialiste de la Révolution Française, tome I, [Paris
1922,] p. 280 ff.
10 Moniteur 1789, Nr. 34. [Gazette Nationale ou Le Moniteur Universel, No 34,
Paris 1789.]
11 Diesen bürgerlichen Standpunkt nimmt Lorenz von Stein, Verwaltungslehre
VII. Teil, »Die Entwährung«, S. 148, ein. [Lorenz von Stein: Die Verwaltungs-
lehre, Band 7, Stuttgart 1868.]
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270 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
12 Siehe Jaurès, Histoire socialiste II, S. 759. [Jean Jaurès: Histoire socialiste de la
Révolution Française, tome II, Paris 1922.] Dort schreibt er: »Die Expropriation
der Feudalität ist nur Stück für Stück, selbst in der Hoch-Zeit der Revolution
erfolgt«, und er setzt hinzu: »ein großes Beispiel für uns, das uns lehren wird,
auch die teilweisen und nacheinander erfolgenden Expropriationen nicht gering
zu schätzen.«
13 In Deutschland konnten sich die feudalen Reste durch die Verkoppelung des
Privateigentums mit der Ausübung politischer Herrschaft bis in unsere Zeit hin-
ein halten. Vergleiche hierzu Franz Neumann: Die politische und soziale Bedeu-
tung der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung, Berlin 1929. Siehe auch S. 60 f.
14 [Gemeint ist die Erklärung der Menschenrechte von 1789.]
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 271
15 Hier in der zwiespältigen Rolle der Französischen Revolution als Stürzerin des
Feudalzeitalters und der persönlichen Unfreiheit, als Begründerin des bürgerli-
chen Zeitalters der ökonomischen Unfreiheit ist auch der Ursprung jenes ewi-
gen Antagonismus zwischen Liberalismus und Demokratie zu suchen, der so
lange dauern wird, wie der politischen Freiheit nicht auch die ökonomische
Freiheit zur Seite steht. Siehe auch die charakteristische Bemerkung Duguits,
Traité de droit constitutionel 1911, tome III, p. 612. [Léon Duguit: Traité de droit
constitutionel , tome III, 2. édition, Paris 1921.]
16 Siehe die Ausführungen auf S. 31 f. [In diesem Band S. 192 f.]
17 Unter »Entwährung« fasst Lorenz von Stein Eingriffe in individuelle Privat-
rechte sowie Beseitigung wohlerworbener Rechte zusammen.
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272 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
cken. Ihre prinzipielle Bedeutung besteht darin, dass sie zum Prüfstein
bürgerlichen Rechtsstaatsdenkens geworden ist.18
Die technischen Daten der in Frankreich sich vollziehenden Entwick-
lung der Institution dienen als Bestätigung. Bis 1807 verblieb die Ent-
eignung mit allen daran anknüpfenden Fragen innerhalb der Kompe-
tenz der Verwaltungsbehörde. Der Versuch einer prinzipiellen Rege-
lung beginnt mit einem Enteignungsgesetz für ein bestimmtes Sachge-
biet im Jahre 1807. Napoleon19 krönte das rechtsstaatliche Werk des
bürgerlich-revolutionären Frankreich mit dem Gesetz von 1810, in dem
der Ausspruch der Enteignung in die Hand richterlicher Behörden
gelegt wurde. Die technischen Einzelheiten der Enteignung sind seither
noch oft überholt worden, auch in Frankreich hat das Gesetz vom Jahre
1841 vieles geändert. Wer die Enteignung im Einzelfall auszusprechen
hat, ob hierzu ein Spezialgesetz für den konkreten Fall, wie in England,
ob nur eine Erklärung der höchsten Staatsbehörde notwendig ist, ob
die Frage der Gemeinnützigkeit vom Gericht überprüft werden kann
oder nicht, sind Fragen technischer Natur, die die einmal festgelegten
Grundsätze nicht verändern. Die Pfeiler des individuellen Enteignungs-
rechts bleiben die Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage und die
gerechte, von unabhängigen Instanzen nachprüfbare Entschädigungs-
festsetzung. Das sind für das Zeitalter des bürgerlichen Rechtsstaats
keine technischen Notwendigkeiten, sondern Grundsätze, die aus dem
seinem Verfassungssystem innewohnenden Geist entspringen.
In Deutschland hat eine revolutionäre Auseinandersetzung zwischen
Bürgertum und Feudalismus nicht stattgefunden. An die Stelle einer
politischen Gewaltlösung, wie sie in Frankreich innerhalb einer verhält-
nismäßig kurzen Zeitspanne stattfand, trat ein langsamer, von rückläu-
figen Bewegungen nicht verschont gebliebener Auseinandersetzungs-
prozess. Dieser Prozess warf alle die Fragen auf, die das französische
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 273
Verfahren überflüssig machte. Die in Frankreich seit dem Ende des 18.
Jahrhunderts erfolgte Eingliederung der Enteignung in das Sicherungs-
system der Privatrechtsordnung beruhte auf der Auseinandersetzung
mit dem Feudalismus. In Deutschland gab es in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts keine klare Entscheidung zwischen bürgerlicher und
feudaler Eigentumsordnung. Der Prozess der Verwandlung feudalen
Eigentums in bürgerlichen Besitz, der notwendig mit der Beseitigung
der an das Feudaleigentum geknüpften politischen Rechte verbunden
war, konnte nach den Gesetzen der politischen Machtverteilung erst
dann seinem Ende zugehen, als das Bürgertum selbst die politische
Macht in Deutschland übernahm. Die Ereignisse von 1848, verbunden
mit dem raschen Gang der ökonomischen Entwicklung Deutschlands,
beschleunigten die lang verschleppte Auseinandersetzung, so dass die-
ser Ablösungsprozess in den 60er Jahren wenigstens sein vorläufiges
Ende fand. Bis zu diesem Zeitpunkt wäre die verfassungsmäßige Ver-
ankerung des Privateigentums in Preußen mindestens ein Akt gewe-
sen, der eher gegen als für das Bürgertum hätte ausgenutzt werden
können. Denn wer hätte verhindert, dass unter Berufung auf die Privat-
eigentumsgarantie nicht auch der Adel sich der teilweise doch entschä-
digungslosen Beseitigung des Feudalismus hätte entgegensetzen kön-
nen? Deshalb konnte in Preußen die verfassungsmäßige Garantie des
Privateigentums erst an jenem Ruhepunkt der Auseinandersetzung
erfolgen, die ökonomisch das Verhältnis zwischen Großgrundbesitz
und städtischem Bürgertum, politisch zwischen absoluter und konsti-
tutioneller Monarchie betraf.
Bevor aber auf die weitere Entwicklung des Enteignungsinstituts einge-
gangen werden kann, hat hier ein Hinweis auf diejenige literarische
Auseinandersetzung zu erfolgen, die den Kampf um die Abschaffung
des Feudalismus in Deutschland begleitete. Denn das Problem der
erworbenen Rechte (das heißt Rechte, deren Entstehungstatbestand in
einer überholten Sozialordnung begründet liegt) und ihrer gesetzgebe-
rischen Behandlung ist nicht an eine bestimmte Zeit, an bestimmte his-
torische Ereignisse gebunden. Immer dann, wenn ein Wirtschaftssys-
tem das andere ablöst, Institutionen im Gefolge ökonomischer Gestalt-
wandlungen ihren Sinngehalt ändern, gibt es das Problem der »erwor-
benen Rechte«. Revolutionen wird das Problem der erworbenen
Rechte, selbst wenn es bürgerliche Revolutionen sind, blitzartig nur im
Moment klar. Im nächsten Augenblick muss es gelöst werden. Es
bedeutet Sieg, wenn die erworbenen Rechte in den Orkus der histori-
schen Vergangenheit gebannt werden können, es bedeutet Niederlage,
wenn sie aufs Neue ihr Haupt erheben. Aber auch Zeiten, die ohne
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274 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
20 Friedrich Julius Stahl setzt seine Lehre in seiner »Rechts- und Staatslehre«, I.
Abteilung, 3. Buch, § 15 ff. (Heidelberg 1870) auseinander.
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 275
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276 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 277
26 Das System der erworbenen Rechte, I. Teil, Leipzig 61, S. 197. [Ferdinand Las-
salle: Das System der erworbenen Rechte. Eine Versöhnung des positiven
Rechts und der Rechtsphilosophie, 1. Teil, Leipzig 1861.]
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278 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
27 [Adolf Wagner (Hg.):] Briefe von Ferdinand Lassalle an Carl Rodbertus, Berlin
1888, S. 33.
28 [Johann Kaspar] Bluntschli: Allgemeines Staatsrecht, [München] 1868, Bd. I,
S. 564; desgleichen [C.] Christiansen: Über erworbene Rechte, Kiel 1866.
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 279
29 Stein bezeichnet den Sachverhalt der Aufhebung der erworbenen Rechte als
Ablösung, das heißt er hält die Entschädigung für ein begriffswesentliches
Merkmal.
30 System I, S. 259, Anm. 1. [Ferdinand Lassalle: Das System der erworbenen
Rechte. Eine Versöhnung des positiven Rechts und der Rechtsphilosophie, Band
1, Leipzig 1861.]
31 Die grundsätzliche Bedeutung Lassalles für die Rechtswissenschaft bleibt meis-
tens unberücksichtigt, eine Ausnahme macht Sinzheimer, der verschiedentlich
auf ihn Bezug nimmt. Es nimmt wunder, dass eine Abhandlung wie die von
Göppert-Eck, die aus einer positivistischen Grundlage heraus in den Resultaten
sich sehr stark Lassalle annähert und zudem die Resultate seiner historischen
Untersuchungen großen Teiles übernimmt, Lassalle trotzdem wegen der
Gesamttendenz, »einer sozialistischen Umgestaltung unseres ganzen Rechtsle-
bens die juristische Legitimität zu erstreiten«, ablehnt. [Vergleiche: Heinrich
Göppert: Das Prinzip: »Gesetze haben keine rückwirkende Kraft« geschichtlich
und dogmatisch entwickelt. Aus dem Nachlass des Verfassers herausgegeben
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280 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
Die preußische Verfassung von 1850 hatte genau wie die Verfassung
der Paulskirche die beiden Materien, Enteignung und Rechtsaufhebung
und -ablösung streng getrennt. Es mag dies vielleicht einer der Gründe
gewesen sein, warum die Kommentatoren der preußischen Verfassung
den Art. 9, der die Unverletzlichkeit des Eigentums und die Vorausset-
zungen der Enteignung festlegte, mehr nur vom jeweiligen Standpunkt
des liberalen oder des konservativen Kommentators aus gesehen
haben, anstatt seine prinzipielle Bedeutung aufzuzeigen. Die Doppel-
gleisigkeit der Behandlung von Enteignung und Rechtsaufhebung
ermöglichte immerhin, die Enteignung so zu betrachten, als ob schon
eine vollkommene bürgerliche Rechtsordnung vorhanden wäre, deren
Einheitlichkeit die Aufhebung von Rechtskategorien nicht kennen
kann; denn die notwendige Aufhebung von Rechtskategorien bezeugt
gerade, dass eine einheitliche bürgerliche Rechtsordnung noch nicht
gegeben ist. Durch die Trennung der Materien gewinnt die Enteignung
das gleiche Gesicht wie in den anderen konstitutionellen Verfassungen.
Unter der Voraussetzung der Herrschaft einer bürgerlichen Gesell-
schaftsordnung schreibt sie die notwendigen Verfahrensmaximen bei
Eingriffen in das individuelle Eigentum vor. Gerade aus dieser Sanktio-
nierung von Verfahrensvorschriften wird aber erst ihre Grundlage klar.
Die Enteignungsbestimmungen des bürgerlichen Rechtsstaats haben
das Prinzip der bürgerlichen Eigentumsordnung zur Voraussetzung.
Die Erklärung der Unverletzlichkeit des Eigentums ist wörtlich zu neh-
men. Man mag darüber streiten, ob der Staat dem Eigentum als etwas
außerhalb seiner selbst Stehendem eine Garantie verleiht oder ob hier
ein Schöpfungsakt des Staates vorliegt. Soziologisch wichtig ist nur,
dass der Staat das Prinzip des Privateigentums in die Grundlagen sei-
ner Verfassung mit hineingenommen hat und sich nach ihm zu richten
gewillt ist. Seine Behandlung der Enteignung bietet hierfür nur die
Bestätigung. Diese grundlegenden Tatsachen haben die Kommentato-
ren nicht genügend gewürdigt. Gewiss ergab sich aus der technischen
Fassung der Enteignungsformel, dass die Verfassung nur das Verfahren
bei Einzeleingriffen bekümmerte und sie gegen Eingriffe durch Gesetze
nicht schützte. Das hatte eine doppelte Bedeutung: Einmal, wie schon
erwähnt, wollte das Bürgertum nicht auf diese Weise dem Adel noch
eine Waffe gegen sich in die Hand geben, indem dieser hier einen
Grund für die gesetzliche Unzulässigkeit jeder Art von Eingriff in
erworbene Rechte hätte finden können. Deshalb wurde bei den Bera-
von Dr. E. Eck, in: Rudolf von Jhering (Hg.): Jahrbücher für die Dogmatik des
heutigen römischen und deutschen Privatrechts, Band 22 N. F. Band 10, Jena
1884, S. 1-206 und S. 94-100.]
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 281
tungen ausdrücklich festgestellt, dass der Art. 9 sich nur auf Entziehun-
gen und Beschränkungen, welche in einzelnen Fällen eintreten sollen,
nicht aber auf Beschränkungen, welche vermöge einer allgemeinen
gesetzlichen Disposition stattfinden, bezieht.32 Damit war klargestellt,
dass eine unentgeltliche Aufhebung von Grundlasten zulässig ist. Zum
zweiten aber war bei den damaligen politischen Machtverhältnissen die
Gesetzgebung in den Händen der besitzenden Bürgerschichten, so dass
gesetzliche Eingriffe in das Eigentum immer nur dann beschlossen wer-
den konnten, wenn das Bürgertum damit einverstanden war. So gese-
hen, bedeutet diese Formulierung unter den damaligen Verhältnissen
nur einen Erfolg des Bürgertums, das damit auch generellen Eingriffen
der Regierungsgewalt in das Eigentum auf dem Verordnungsweg einen
Riegel vorschob. Um diesen Punkt drehen sich die Erörterungen der
Verfassungskommentatoren, die hier je nach liberaler33 oder konserva-
tiver34 Färbung für Gesetz oder Verordnung, Parlament oder Regierung
kämpfen. In diesem Kampf, der aber von beiden Seiten unter voller
Anerkennung des Privateigentums als Gesellschaftsgrundlage ausge-
tragen wurde, verflüchtigte sich der eigentliche Sinngehalt der Enteig-
nungs-Bestimmung, der erst heute wieder in seinem historischen
Zusammenhang mit allen bürgerlich-rechtsstaatlichen Verfassungen
kenntlich wird.
Die Entwicklung des Enteignungsinstituts in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts hängt eng zusammen mit der technischen Entwicklung,
die der Kapitalismus in Deutschland genommen hat. Das schnelle
Anschwellen der Bevölkerungsziffer und die damit verbundenen Bin-
nenwanderungen waren es vor allem, die den mit den Mitteln der
neuen Technik geschaffenen Verkehrsmitteln zur raschesten Verbrei-
tung verhalfen. Hier war das große Anwendungsfeld für die Enteig-
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282 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
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284 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
ren Sinn hat Otto Mayer zu dem Ergebnis geführt, dass dem Eigentum
gegenüber dem Staat eine allgemeine und im Voraus anhängende
Schwäche anhafte, dass die Macht des Eigentümers, andere von der
Einwirkung auf sein Eigentum auszuschließen, in bestimmter Bezie-
hung zu verneinen sei. Man mag diese Lehre auf der einen Seite viel-
leicht nur als einen Ausfluss des Agnostizismus ansehen, den Mayer
gegenüber den gesetzlichen Eingriffen des Staates immer gezeigt hat;
wichtiger und entscheidender ist jedoch dabei, dass hier, allerdings an
einer nicht sehr bedeutenden Stelle des Gesamtsystems, die Erkenntnis
aufdämmert von der Differenzierung des Eigentumsmachtbereichs, je
nachdem es sich um seine Stellung gegenüber einem anderen Privatei-
gentum oder gegenüber der öffentlichen Gewalt handelt.39
Während für die Juristen die Grenzen, die der bürgerliche Staat zwi-
schen den hier behandelten Rechtsinstituten errichtete, Ansätze einer
systematischen Behandlung sehr erschwerten, blieb es einem außerhalb
der juristischen Disziplin beheimateten Gelehrten vorbehalten, aufzu-
zeigen, dass das geltende Enteignungsinstitut nur der Reflex des Ent-
wicklungsgrades der gesamten Sozialordnung darstellt. Adolf Wag-
ner40 hat in Verfolgung der Entwicklung, die das Rechtsinstitut in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts genommen hat, dessen Zuordnung
zu einer Vervollkommnung des privatwirtschaftlichen Systems aufge-
zeigt. Er hat unseres Wissens als Erster darauf hingewiesen, dass bei
einer erforderlichen Umgestaltung des Wirtschaftslebens eine verän-
derte Verteilung und Gestaltung des Verfügungsrechts über bewegli-
ches und unbewegliches Kapital notwendig ein ebenfalls verändertes
Enteignungsrecht voraussetze. Dabei hat er eine auf legislatorischem
Wege vollzogene Umformung einer privatkapitalistischen Gesell-
schaftsordnung zu einer gemeinwirtschaftlichen für die Zukunft im
Auge. Freilich hält er für die nächste Zeit den faktischen Ausschluss
der meisten von ihm behandelten Enteignungsfälle für wahrscheinlich,
da er im Anschluss an Lassalle vom Volksbewusstsein ausgeht und
deshalb die damalige Existenz eines öffentlichen Interesses für eine sol-
che Ausdehnung der Gesetzgebung noch nicht oder nur erst selten für
gegeben hält. Wesentlich an seinen Ausführungen ist jedenfalls, dass er
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 285
den Begriff des öffentlichen Interesses aus der technischen Sphäre eines
Fortschritts innerhalb der privatkapitalistischen Wirtschaftsordnung
deutlich heraushebt und das öffentliche Interesse unter dem prinzipiel-
len Gesichtspunkt der Wandelbarkeit der öffentlichen Anschauungen
in Bezug auf das Wirtschaftssystem selbst betrachtet. Öffentliches Inter-
esse wird zum Urteil über Richtigkeit oder Verfehltheit des Wirtschafts-
systems selbst. Damit hat Wagner in der prinzipiellen Behandlung der
Materie den vom liberalen Rechtsstaat vorgezeichneten Rahmen
gesprengt, und seine »Enteignung« hat mit dem bisher geltenden
Rechtszustand nur noch den Namen gemein. Dies zeigt sich deutlich in
der Art, wie Wagner den Entschädigungspunkt behandelt. Ausdrück-
lich wird hier auf Lassalle hingewiesen, der diese Frage richtig ent-
schieden habe, und ganz in seinem Sinne wird die individuelle Enteig-
nung, die Zwangsabtretung, von der Aufhebung ganzer Rechtsgattun-
gen getrennt. Sehr gut wird hier die Berechtigung der Entschädigung
bei der Zwangsabtretung in der reinen Zufälligkeit des Konflikts des
privaten mit dem öffentlichen Interesse gefunden und die Entschädi-
gung dadurch gerechtfertigt, dass hier ein Opfer zugemutet wird, wel-
ches andere, dasselbe Recht besitzende Personen nicht trifft. Damit
wird am Ende des liberalen Rechtsstaats noch einmal ausdrücklich fest-
gestellt, dass die Enteignung sowie das öffentliche Interesse, in dessen
Namen sie vorgenommen wird, innerhalb der reinen Immanenzsphäre
des liberalen Staates beharrt und dass das, was Adolf Wagner etwas
verlegen ebenfalls als Enteignung bezeichnete, mit dem hier gemeinten
Rechtsinstitut nur technische, keine prinzipiellen Gemeinsamkeiten
mehr hat.
Nirgends wird die Problematik zwischen dem alten liberalen Rechts-
staat und der neuen Zeit deutlicher sichtbar als bei der Beratung des
Polengesetzes im Jahre 1907. Hier versuchte der vorrevolutionäre Staat,
unter Zubilligung aller nach liberal-rechtsstaatlichen Grundsätzen not-
wendigen Entschädigungsbeträge, seine nationale Ansiedlungspolitik
durchzuführen; er schuf die generelle Möglichkeit, polnischen Groß-
grundbesitz in Siedlungsland für deutsche Bauern zu verwandeln. Er
unternahm hier mit aus vielen Gründen unzureichenden Mitteln nur
das, was nach Beendigung des Weltkriegs überall rings um die deut-
schen Ostgrenzen mit größerer Intensität und ohne rechtsstaatliche
Skrupel in Wirklichkeit umgesetzt wurde. Doch hier zeigte sich im
alten Deutschland, obwohl es sich um nationale, nicht um soziale
Belange handelte, dass jedes planmäßige Unternehmen, auch wenn es
nicht nur die Privatrechtssphäre von einzelnen, sondern von einer
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286 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
41 Bei Gelegenheit der Beratung des Gesetzes über Maßnahmen zur Stärkung des
Deutschtums in den Provinzen Westpreußen und Posen, Stenographischer
Bericht des Abgeordnetenhauses 1908, S. 3117. Siehe auch die symptomatischen
Ausführungen von Ernst Havenstein in Schmollers Jahrbuch Bd. 41/3, 4, S. 108.
[Ernst Havenstein: Das Bergregal der Standesherren im Ruhrkohlebezirk, in:
Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im
Deutschen Reiche, Jg. 41, Heft 3, München 1917, S. 41-109.]
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 287
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288 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 289
der Staat oder darf der Staat dem Einzelnen nicht tun, und was tun wir
als Einzelne, weil der Staat aus uns, den Einzelnen, besteht?« verneint
und sich dazu bekannt, dass der »Verbandsmensch der Normalmensch
der Gegenwart«46 sei. Für diesen kollektivierten Menschen, der im Rah-
men fester ökonomischer Bindungen lebt und tätig ist, muss die neue
Verfassung nicht nur grundsätzlich Freiheiten im alten Sinn, wie etwa
Freiheit von Beschränkungen des Koalitionsrechts, enthalten, sie muss
auch positiv seiner Tätigkeit Raum geben, ihre Wirkkraft nicht nur
anerkennen, sondern fördern. Naumann hat erkannt, dass die Lösung
dieser Frage für die Verfassung selbst Tod oder Leben bedeutet. Über
die Frage, wieweit die in dem Wirtschaftsabschnitt der Grundrechte
zusammengefassten Bestimmungen miteinander harmonieren, wieweit
sie sich gegenseitig ergänzen oder aufheben, ist schon bei Abfassung
der Verfassung mit mehr Skepsis als Hoffnung diskutiert worden. Je
mehr die wirtschaftliche und politische Entwicklung der letzten 10
Jahre die schon im Verfassungswerk selbst widerstreitenden Interessen
auseinanderbrachte, desto mehr trat an Stelle der Betonung der
gemeinschaftsbindenden Faktoren der Überordnung der sozialen Moti-
vation das angeblich garantierte Einzelinteresse.
Es ist kein Zufall, dass gerade in diesem Zusammenhang der Begriff
des bürgerlichen Rechtsstaats zu neuem Leben erwachte, dass man ver-
suchte, ihm die alten Wege des vorigen Jahrhunderts mit unter ver-
schiedenem politischen Inhalt gleichgebliebenen und noch verstärkten
wirtschaftlichen Tendenzen zu weisen. Bis in den Anfang des Jahrhun-
derts hinein hat sich der Rechtsstaatsgedanke in Deutschland immer
mehr formalisiert und von jedem konkreten Inhalt entleert.47 Die for-
malen Bestandteile des rechtsstaatlichen Denkens, wie sie Montesquieu
formulierte, der Gewaltenteilungslehre deckten sich noch weit hinein
ins 19. Jahrhundert mit dem politischen Programm des Bürgertums. Je
mehr sich auch in der konstitutionellen Monarchie dieses politische
Programm erfüllte, desto geringer wurde die inhaltliche Bedeutung des
Rechtsstaatsgedankens. Schon bei Gneist erscheint er in abgeschwäch-
ter Form, und das bei ihm zu konkretem Ausdruck gelangende Verlan-
gen des Bürgertums48 nach Ämterbeteiligung und Selbstverwaltung
zeigte, wie wenig im Grunde dem Bürgertum zu fordern übrigblieb.
Kraftvolle Formen besitzt rechtsstaatliches Verlangen aber nur dann,
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290 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 291
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292 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
fassungssystem wie dem Weimarer der Satz: »Alle Deutschen sind vor
dem Gesetze gleich«, nicht nur die heute selbstverständliche Bedeutung
haben kann, dass Justiz und Verwaltung alle ohne Unterschied gleich
behandeln muss. Aber es liegt nicht im Sinn der Weimarer Verfassung,
wenn nunmehr im Namen der Gerechtigkeit Gesetze, die scheinbar
eine Belastung einer wirtschaftlich stärkeren Klasse sind, als Willkür
verworfen werden. Gerade diese scheinbare Ungerechtigkeit erfüllt die
Gerechtigkeitsforderung, die dem sozialen System der Weimarer Ver-
fassung innewohnt. Gerade dann, wenn Gleichheit als materialer Wert-
begriff zu fassen ist, muss erkannt werden, dass der Satz der Gleichheit
vor dem Gesetz so lange ein papiernes Recht sein wird, als nicht die
soziale Gleichheit erst die Voraussetzungen dafür schafft, dass die glei-
che Anwendung eines Gesetzes auf alle auch wirklich alle gleich
betrifft. Im Vollzug der Geschichte durchläuft der Gleichheitssatz ver-
schiedene Stadien. Der Bürger fasst Gleichheit im 17. und 18. Jahrhun-
dert als einfache Rechtsgleichheit. Wenn er dem Adel die Privilegien
und Vorrechte fortnimmt, dann ist er seinesgleichen, da er im ökonomi-
schen Kampf ihm sehr wohl standhalten kann. Dem Arbeiter im 20.
Jahrhundert kann diese Rechtsgleichheit nicht genügen, da er trotz
ihrer mit dem Bürger nicht in Wettbewerb treten kann und die Gleich-
heit vor dem Gesetz so lange für ihn unwirksam bleibt, wie die Gleich-
heit vor dem Gesetz nicht zur gleichen Chance vor dem Gesetz führt,
wie dies Laski52 an dem Beispiel der Vertretung des Nichtbesitzenden
vor Gericht ausführlich und anschaulich erläutert. Die Art aber, wie
heute mehrfach von der Theorie53 der Satz der Gleichheit vor dem
Gesetz materiell ausgelegt wird, bedeutet nichts als einen Versuch, den
gegenwärtigen ökonomischen Status quo zu garantieren, indem man
jede Gesetzgebung zugunsten der arbeitenden Klasse für unwirksam
erklären kann. Hier wird der Satz der Gleichheit in sein Gegenteil ver-
kehrt, weil man nicht verstehen will, dass die hiermit scheinbar
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 293
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294 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
halt schafft offenbar für das Privateigentum eine neue Abgrenzung, die
den früheren Verfassungen fremd war. Die Unverletzlichkeit des Eigen-
tums im 19. Jahrhundert bezog sich gleichmäßig auf Staat und Nach-
bar. Hieran änderte die theoretische Zulässigkeit von Gesetzeseingrif-
fen in das Eigentum nichts; sie war Ausdruck parlamentarisch-konsti-
tutioneller Vorstellungen, die ihre Front gegen die Verwaltung richte-
ten. Die Weimarer Verfassung hingegen unterscheidet die Position des
einen Eigentümers gegenüber dem anderen Eigentümer von der Posi-
tion des Eigentums überhaupt gegenüber dem Staat. Deutlich tritt dies
in einem Vorläufer der Reichsverfassung, dem Aufruf des Rates der
Volksbeauftragten an das deutsche Volk vom 12. November 1918 her-
vor. Dort heißt es: »Die Regierung wird die geordnete Produktion auf-
rechterhalten, das Eigentum gegen Eingriffe Privater sowie die Freiheit
und Sicherheit der Person schützen.«54 Hier ist der Ort, wo die Lehre
von der Schwäche des Eigentums gegenüber der öffentlichen Gewalt,
die Otto Mayer nur für ein begrenztes Gebiet gesetzesfreier Eingriffe
vertrat, ihren systematischen Platz hat. Die Verfassung garantiert das
Eigentum gegenüber dem Staat nur in ganz beschränktem Umfang. Sie
bestimmt, dass es immer eine Institution geben muss, die den Namen
Eigentum verdient, wie sich logischerweise aus dem Satz 2 des Abs. 1
ergibt; denn von Inhalt und Schranken kann nur dann gesprochen wer-
den, wenn etwas vorhanden ist, dem ein Inhalt gegeben und dem
Schranken gesetzt werden können. Insoweit kann man also von einer
institutionellen Garantie sprechen.55 Über den Umfang des Privateigen-
tums wird dadurch nichts weiter ausgesagt, als dass jedenfalls immer
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 295
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296 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 297
60 Die Heranziehung des Art. 156 zur Interpretation des Art. 153 kann man nicht
damit ablehnen (Furler im Verwaltungsarchiv Bd. 33, S. 399 [Hans Furler: Das
polizeiliche Notrecht und die Entschädigungspflicht des Staates, Verwaltungs-
archiv, Band 33, Köln 1928]), dass es sich dort um ganz spezielle, zur Zeit der
Entstehung der RV besonders aktuelle Fragen handelt. Wer so verfährt, ver-
sperrt sich selbst den Weg zum Begreifen des Funktionswandels der Eigentums-
schutzformeln. Denn gerade diese »aktuellen Fragen« versinnbildlichen diesen
Wandel.
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298 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
61 Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reichs, 12. Aufl., zu Art. 153 [Gerhard
Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Berlin
1921, S. 245-249]. Die gleiche Tendenz spricht unverhohlen trotz abweichender
Rechtskonstruktion aus [Wilhelm] Hofacker: Grundrechte und Grundpflichten
der Deutschen, Stuttgart 1926. Inzwischen hat Hofacker seine Ansichten teil-
weise geändert. Seine neuen Ausführungen in »Der Einzelne und die Gesamt-
heit«, Stuttgart 1930, enthalten viele richtige Feststellungen und Beobachtungen,
ohne doch prinzipiell von verwaltungspolitischen Gesichtspunkten zu den
staatsrechtlichen Grundfragen durchzudringen.
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 299
uns dünkt es aber sehr schwer, derartige Tendenzen aus der Verfassung
herauszulesen; denn wenn man die Weimarer Verfassung und die
gleichzeitig entstandenen europäischen Verfassungen betrachtet, wird
man überall ein vermindertes Maß von Eigentumsschutz, gemessen an den
Verfassungen des 19. Jahrhunderts, erblicken.62 Beweise für jene angeb-
lichen Verfassungstendenzen zugunsten einer möglichst weiten Aus-
dehnung des Begriffes der entschädigungspflichtigen Enteignung wer-
den deshalb auch kaum angeführt. Anschütz beruft sich für seine Ver-
fassungsauslegung auf die Reden des damaligen Abgeordneten
Heinze, die bewirkt hätten, dass der Artikel 153 seine endgültige Fas-
sung erhielt. Daran ist nur so viel richtig, dass auf Veranlassung des
Abgeordneten Heinze der Satz, dass wegen der Höhe der Entschädi-
gung der Rechtsweg bei den ordentlichen Gerichten offenzuhalten sei,
in die Verfassung aufgenommen wurde, freilich auch hier mit der ent-
scheidenden Klausel, »soweit Reichsgesetze nichts anderes bestim-
men«. Damit sagt die Verfassung nichts weiter, als was bei individuel-
len Eingriffen meist schon Übung war. Die Anschütz’schen Schlüsse aus
den Heinze’schen Reden sind insofern verfehlt, als Heinze sich nur
damit beschäftigte, welche Rechtsbehelfe dem Einzelnen gegeben sein
sollten, falls eine Enteignung vorliege. Damit ist aber gar nichts darüber
ausgesagt, in welchen Fällen eine Enteignung vorliegt. Bezeichnender-
weise hat Anschütz es unterlassen, in diesem Zusammenhang auf das
entscheidende Referat des Berichterstatters Sinzheimer im Verfassungs-
ausschuss der Nationalversammlung63 einzugehen, aus dem gerade
das Gegenteil zu schließen ist. Auch Martin Wolff:Reichsverfassung
und Eigentum, geht ganz unverhohlen von solchen Voraussetzungen
aus. Unübertrefflich klar wird diese Tendenz dort, wo sie sich den juris-
tischen Beweis spart und zur Notwendigkeit und Begründung
bestimmter Erweiterungen des Enteignungsbegriffes einfach die politi-
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300 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
schen Folgen anführt, die eintreten könnten, falls eine solche Erweite-
rung nicht stattfände.64
Hand in Hand mit dem Versuch, in den Eigentumsartikel der Weimarer
Verfassung die seinem Sinn entgegengesetzten politischen Zielsetzun-
gen hineinzuinterpretieren, läuft der Versuch, Eingriffen des Staates
angeblich in Art. 153 enthaltene Schranken entgegenzuhalten, die min-
destens zu einer Entschädigung für die Eingriffe führen sollen. Man
kann dabei verschiedene Wege einschlagen, um zu dem politisch
gewünschten Ergebnis zu gelangen; das Ergebnis ist aber immer die
Unzulässigkeit des Eingriffs oder dessen Entschädigungspflichtigkeit.
Dabei kann man es zunächst mit der meisten Aussicht auf Erfolg mit
der Erweiterung des Enteignungsbereiches versuchen. Zunächst kehrt
man das ganze Verhältnis um, aus dem die Enteignung hervorgeht.
War die Enteignung, wie wir im ersten Teil gezeigt haben, im ganzen
19. Jahrhundert der verwaltungsmäßige Eingriff in individuelle Rechte,
so wird jetzt behauptet, dass die Enteignung auch durch Gesetz erfol-
gen könne. Es ist bezeichnend, dass für diese Behauptung niemals eine
Rechtfertigung versucht, sondern dass sie immer als eine Tatsache
behandelt worden ist; in Wahrheit kehrt sie aber das ganze Bild des
Art. 153 um. Dort wird die gesetzliche Beschränkung des Eigentums
ausdrücklich verfassungsrechtlich anerkannt. Diese Anerkennung ver-
sucht man rückgängig zu machen, indem man sagt, die Eigentumsga-
rantie bestünde auch gegenüber der Gesetzgebung. Dadurch legt man
dem Gesetzgeber eine Pflicht zur Rechtfertigung auf, die ihm die Ver-
fassung nicht vorschreibt; damit verwischt man endlich die Grenzen
zwischen Abs. 1 und 2 des Art. 153 und schafft sich die bequeme Mög-
lichkeit, jeden Eingriff als Enteignung zu bezeichnen. So bagatellisiert
man den Satz 2 des Absatzes 1 und verwischt den Gegensatz zwischen
Gesetz und individuellem Enteignungsakt. Erst aus dieser Verwirrung
ist das Problem entstanden, wie sich die öffentlich-rechtliche Beschrän-
kung von der Enteignung unterscheide und wo hier die positiven Gren-
64 Dies tut Martin Wolff bei seiner Behauptung, dass die Begründung obligatori-
scher Pflichten zur Rechtsübertragung Enteignung sei. Zur Begründung dieser
Behauptung heißt es dort: »Wäre es anders, so würde ein kommunistisch
gerichteter Landesgesetzgeber in der Lage sein, auf einem Umweg durch ent-
schädigungslose »Anforderung« die Grundeigentümer zur rechtsgeschäftlichen
Übereignung an den Staat zu zwingen.« [Martin Wolff: Reichsverfassung und
Eigentum, in: Festgabe der Berliner Juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl zum
Doktorjubiläum am 19. April 1923, Tübingen 1923.] Über Schelchers frühere
zutreffende Stellungnahme gegen Martin Wolff siehe Fußnote 56. [Walter Schel-
cher: Eigentum und Enteignung nach der Reichsverfassung, in: Fischers Zeit-
schrift für Praxis und Gesetzgebung der Verwaltung, Band 60, Leipzig 1927,
S. 137-216.]
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 301
zen zu ziehen seien, wie es sich der deutsche Juristentag von 1930 zur
Aufgabe gestellt hat. Die Reichsverfassung kennt dieses Problem nicht;
sie unterscheidet im Verfassungstext selbst zwischen Inhalt und
Schranken des Eigentums, das heißt gesetzlichen Eigentumsbeschrän-
kungen und der Enteignung auf Grund individuellen Verwaltungsakts.
Die Enteignung wird hier klar als Unterfall der Beschränkung gekenn-
zeichnet.
In Wahrheit findet der Satz, dass Enteignung auch durch Gesetz statt-
finden könne, nur eine politische Rechtfertigung. Er ist der Ausdruck
der veränderten parlamentarischen Machtverhältnisse in der Nach-
kriegszeit.65 Da das Bürgertum fürchten muss, dass im Parlament heute
eine seinen Privatinteressen feindliche Eigentumsgesetzgebung
zustande kommt, wird die diesbezügliche Gesetzgebung einer neuen
Instanz unterworfen, die dem Bürgertum günstiger schien. Im 19. Jahr-
hundert hat das Bürgertum den entgegengesetzten Standpunkt vertre-
ten, da er ihm damals gegen den Absolutismus günstiger schien. Heute
wird der Richter angerufen und das Gesetz als verfassungswidrig
bezeichnet. Damit ist jeder Interessentengruppe der Weg freigegeben,
die gesetzliche Regelung sozialer Tatbestände nicht als abschließende
Willenskundgebung des Staates anzusehen. Man betrachtet das Gesetz
nicht anders als einen Verwaltungsakt, der der richterlichen Kognition
unterliegt. Man übersieht hierbei nur, dass dem Gesetz gegenüber nicht
wie bei dem Verwaltungsakt ein juristischer Maßstab der Nachprüfung
vorhanden ist. Die Behauptung der Verletzung erworbener Rechte
gehört in das Gebiet der Politik, und indem man von der politischen
Instanz, dem Reichstag, in einer politischen Frage die Berufung an ein
Gericht zulässt, macht man dieses selbst zu einer politischen Instanz.
Die Reichsverfassung hat aber die erworbenen Rechte und ihre Einglie-
derung in den Staat in das Gebiet der Gesetzgebung verwiesen. Da sie
65 Ganz klar wird dieser Sachverhalt aus den Ausführungen Furlers, a. a. O., S. 396
[Hans Furler: Das polizeiliche Notrecht und die Entschädigungspflicht des Staa-
tes, Verwaltungsarchiv, Band 33, Köln 1928]. Der Verfasser schreibt dort: »Die
ersten Vorkämpfer des rechtsstaatlichen Gedankens hatten eine liberal einge-
stellte, bei der Gesetzgebung entscheidend mitwirkende Volksvertretung vor-
ausgesetzt und geglaubt, willkürliche Maßnahmen des Staates durch eine Bin-
dung der Staatsgewalt an das Gesetz verhindern zu können.« Frappant ist nur,
wie der Verfasser aus der richtig erkannten, durch die Weimarer Verfassung
sanktionierten, diesen Voraussetzungen entgegengesetzten Entwicklung mit
einem kühnen Sprung die Folgerung zieht: »Von dieser Schutztendenz des
Art. 153 ausgehend, muß man zu dem Ergebnis gelangen, den Entschädigungs-
anspruch des Art. 153 überall da anzuerkennen, wo eine Entziehung oder Beein-
trächtigung privater Vermögensrechte stattfindet.« Den Versuch einer entwick-
lungsgeschichtlichen Beweisführung hat der Verfasser gar nicht unternommen.
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302 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
eine demokratische Verfassung ist, hat sie diese Verweisung nicht nur,
wie Carl Schmitt66 meint, für generelle Beschränkungen des Eigentums
vorgenommen, sie hat dem Gesetzgeber auch in der Setzung individu-
eller Enteignungsakte freie Hand gelassen. Wenn die verfassungsmä-
ßige Zulässigkeit individueller gesetzlicher Enteignungsakte damit
bekämpft wird, dass man den generellen Charakter des Gesetzes als
notwendiges rechtsstaatliches Postulat bezeichnet, so mag an dieser
Stelle dahingestellt bleiben, ob genereller Gesetzescharakter wirklich
die grundlegende Voraussetzung für den Rechtsstaat ist; entschieden
bestritten muss aber werden, dass für die Demokratie ebenfalls die
Lehre von der notwendigen Beschränkung des Gesetzes auf generelle
Tatbestände Gültigkeit haben kann. Diese Auffassung von Carl Schmitt
hängt eng mit seiner grundsätzlichen Betrachtungsweise zusammen,
die in erster Linie das den gegenwärtigen Verfassungszustand zweifel-
los stark beherrschende Zusammenspiel zwischen bürgerlichem
Rechtsstaat und Demokratie zum Ausgangspunkt nimmt. Aus diesem
tatsächlichen, in Deutschland herrschenden Zustand geht aber nicht
hervor, dass für die Demokratie dieses Zusammenspiel wesensnotwen-
dige Existenzvoraussetzung ist. Es muss insgesamt fraglich erscheinen,
wieweit die Massendemokratie des 20. Jahrhunderts bürgerlich rechts-
staatliche Elemente beibehalten kann, ohne auf die Dauer entschei-
dende Einbuße an ihrem demokratischen Grundcharakter zu erleiden.
Es ist mindestens dies sicher, dass die Demokratie nicht gehalten ist,
nur generelle Gesetze zu erlassen, dass für sie diese Sicherung nicht
notwendig ist, da hier die Zustimmung der Mehrheit des Volkes als
Sicherheitsfaktor vorhanden ist. Das generelle Moment des demokrati-
schen Gesetzes liegt in seinem Ursprung, nicht in seiner Tendenz
beschlossen. Wenn Schmitt sich auf Aristoteles beruft, so ist damit noch
nichts über die Praxis der attischen Demokratie ausgesagt. In den Feh-
ler, aus den Wünschen und Intentionen eines Schriftstellers auf eine
geübte Verfassungspraxis zu schließen, verfällt Kaerst,67 wenn er
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 303
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304 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 305
Schlachthaus errichten will, so muss sie diesen Acker, falls sie sich nicht
gütlich mit dem Bauern einigen kann, enteignen. Mit vollem Recht ist
anlässlich der Rechtsprechung des Reichsgerichts74 zur Wohnungsbe-
schlagnahme die Frage aufgeworfen worden, warum, falls man die
Wohnungsbeschlagnahme als Enteignungsunternehmen ansehe, man
nicht mit dem gleichen Recht auch die reichsgesetzlichen Einschrän-
kungen, die das Mietrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches in Kriegs-
und Nachkriegszeit erfahren habe, dem Enteignungsbegriff unter-
werfe? Ja, noch viel weitergehend wäre hiernach kein ersichtlicher
Grund vorhanden, warum nicht die meisten unserer modernen arbeits-
rechtlichen Bestimmungen unter diesem Gesichtspunkt rechtsungültig
sein sollten. Denn auch die Normen der Stillegungsverordnung, des
Gesetzes über die Beschäftigung Schwerbeschädigter und die Arbeits-
zeitverordnungen schränken das freie Verfügungsrecht des Arbeitge-
bers über sein Eigentum am Unternehmen tatsächlich und rechtlich ein.
So weit, hierin eine Enteignung zu erblicken, ist bisher noch kein deut-
scher Theoretiker und kein deutsches Gericht gegangen, obwohl über-
all ein Unternehmen im Sinn der modernen Enteignungstheorie vor-
liegt. Alle Sozialgesetzgebung geht auf die einheitliche Anschauung
zurück, die dem Staat das Recht zum gesetzlichen Eingriff in private
Interessen in einem vom Mehrheitswillen der Bevölkerung statuierten,
übergeordneten Gesamtinteresse zubilligt. Offenbar scheitert hieran die
weite Fassung des Unternehmensbegriffes, da sie nicht erklären kann,
warum in manchen Sachkategorien eine Enteignung vorliegt und in
anderen nicht. Eine Rechtfertigung durch Anerkennung einer Rechts-
fortbildung für die Aufhebung oder Beschränkung mancher Rechtska-
tegorien kann keinen Anspruch auf rechtssystematischen Wert erheben
und zeigt nur die Hilflosigkeit einer Theorie, die ihre eigenen Ergeb-
nisse nicht billigen kann.75
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 307
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308 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 309
dungsarten, die zum selben Ziel führen, sich juristisch gegenseitig auf-
heben.
Dass es sich hier nur um eine andere, allerdings wenig stichhaltige Art
der Begründung handelt, zeigt die neue Schrift Krückmanns. Hier wer-
den die vom Reichsgericht unter die Enteignungskategorie rubrizierten
Fälle fast ausnahmslos als »Einziehung (Konfiskation)« betrachtet.
Hierbei unterscheidet Krückmann eine erlaubte Einziehung und eine
unerlaubte Einziehung, die gegen Art. 153 Abs. 1 verstoßen soll.
Warum die gesetzliche Beseitigung von Monopolstellungen, die Schaf-
fung von Vorkaufsrechten und ähnliches eine Konfiskation darstellen
sollen, hat der Verfasser nicht ersichtlich gemacht. Ebenso wenig, wes-
halb in solchen Gesetzen ein Verstoß gegen Art. 153 Abs. 1 liegen soll.
Der rechtspolitische Zweck dieser neuen Unterscheidung ist allerdings
vollkommen klargelegt: Es soll durch diese Terminologie die Gefahr
vermieden werden, dass der Reichsgesetzgeber die richterliche Anwen-
dung der Enteignungskategorie durch ausdrücklichen gesetzlichen
Ausschluss der Entschädigung unschädlich macht. Der Ausdruck Kon-
fiskation, den der Verfasser hier ebenso verwendet wie Bredt80, ent-
behrt jedoch jeder juristischen Berechtigung. Einziehung bedeutet in
unserer heutigen Gesetzessprache nur eine auf Grund strafrechtlicher
und strafprozessualer Normen vom Richter ausgesprochene Weg-
nahme.
Zusammenfassend ist hier zu sagen: Die Weimarer Verfassung behält
das Rechtsinstitut der Enteignung bei, so wie es aus dem 19. Jahrhun-
dert übernommen wurde. Eine Erweiterung dieses Rechtsinstituts ist
nicht eingetreten, konnte nicht eintreten, da die Enteignung ihrem gan-
zen Aufbau nach gar nicht erweiterungsfähig ist. Es besaß früher eine
über seine technische Ausgestaltung hinausgehende, gerade in seiner
Ausnahmestellung liegende Bedeutung als Garant der bürgerlichen
Eigentumsordnung. Da die Weimarer Verfassung nur das Rechtsinsti-
tut des Eigentums beibehält, die bürgerliche Eigentumsordnung als
Ganzes nicht mehr garantiert, besitzt auch der Art. 153 Abs. 2 diese
Garantiefunktion nicht mehr. Art. 153 Abs. 1 hält das Eigentum auf-
recht, setzt aber der Einwirkung des Staates als Maximalgrenze nur die
Forderung entgegen, dass eine Rechtseinrichtung übrigbleiben müsse,
die den Namen Eigentum verdient; über deren Umfang sagt er nichts
aus. Deshalb ist die Beziehung Eigentümer – Staat eine grundsätzlich
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310 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
81 Die These von Reise in der Hamburger Dissertation: Die Enteignung von Rech-
ten, 1929 [Hans Reise: Die Enteignung von Rechten nach preußischem, hambur-
gischem und Reichsrecht, Hamburg 1929], über die Ausdehnung des Eigen-
tumsschutzes ist, soweit sie sich auf die möglichen Objekte der Enteignung
bezieht, richtig, ja auch ziemlich anerkannt, übrigens auch schon von Lassalle.
Dieses durch wirtschaftliche Strukturwandlungen bedingte Maß höheren Eigen-
tumsschutzes wird aber dort problematisch, wo es sich um mittelbare Einwir-
kungen der Staatsgewalt handelt. Deshalb hilft die von Morstein-Marx in der
Besprechung der Diss. von Reise (AöR. 18, 276 [Fritz Morstein Marx: Hans
Reise, Die Enteignung von Rechten nach preußischem, hamburgischem und
Reichsrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 18, Tübingen 1930])
gemachte Feststellung, dass das Prinzip der Enteignung gegen Entschädigung
weder unbedingt kollektivistisch noch ureigenst individualistisch, sondern viel-
mehr ein reines Gerechtigkeitsprinzip sei, nicht weiter. Sie ist bei der hier vertre-
tenen strengen Begrenzung des Enteignungsbegriffes unanfechtbar, aber nur bei
ihr; nicht bei einer so skeptischen Auffassung wie der von Morstein-Marx, der
diesen Fragenkomplex nicht aus dem Gesamtzusammenhang des Weimarer
Verfassungssystems heraus behandelt, sondern sich zugestandenermaßen von
augenblicklichen verfassungspolitischen Tendenzen treiben lässt. Die weiterge-
hende amerikanische Rechtsprechung (John R. Commons, Legal Foundations of
Capitalism, New York 1924) kommt für Deutschland nicht in Betracht. Über die
Wandlungen des Eigentumsbegriffs in der höchstrichterlichen Rechtsprechung
der U.S.A. jetzt auch John R. Commons: Das angloamerikanische Recht und die
Wirtschaftstheorie, in: Wirtschaftstheorie der Gegenwart Bd. III, [John R. Com-
mons: Das angloamerikanische Recht und die Wirtschaftstheorie, in: Hans
Mayer (Hg.): Wirtschaftstheorie der Gegenwart, Band III, Wien 1928] und Her-
mann Kröner: John R. Commons[: seine wirtschaftstheoretische Grundauffas-
sung und ihre Bedeutung für die sozialrechtliche Schule in Amerika], Jena 1930;
Vögelin in: Archiv f. angew. Soziologie II Heft 4 [Eric Voegelin: Die Amerikani-
sche Theorie vom Eigentum, in: Archiv für angewandte Soziologie, Jg. II, Heft 4,
Berlin 1930]; [Karl] Diehl, Die rechtlichen Grundlagen des Kapitalismus, Jena
1929.
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 311
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312 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
84 RGZ Bd. 107, S. 375, und 111, S. 325. Zwischen Neuregelung und gesetzlichem
Einzeleingriff unterscheidet die Entscheidung über die Rechtsgültigkeit des
Reichsgesetzes betreffend die Aussetzung von Rechtsstreitigkeiten über ältere
staatliche Renten vom 6. 7. 29, RGBl. I, 131 in RGZ Bd. 128, 171.
85 RGZ Bd. 110, S. 344.
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 313
woraus sich die Anwendung des Art. 153 Abs. 2 rechtfertige.86 Selbst
wenn man die falsche Ansicht vertreten würde, dass individuelle Akte
des Gesetzgebers unter die Enteignungskategorie fallen müssten, so ist
doch unerfindlich, wo hier ein solcher individueller Akt liegen soll.87
Denn die Einschränkung ergibt sich doch zwingend aus dem Tatbe-
stand selbst; der Staat konnte zu dem finanzpolitisch notwendigen
Zweck der Anlegung eines Devisenvorrats nur bestimmte Devisen
hochvalutarischer Länder brauchen; soweit er diese brauchte, ist eine
generelle Ablieferungspflicht verfügt. Dass der Kreis der hiervon
Betroffenen ein begrenzter war, ändert am generellen Charakter der
Verordnung nichts.88
Der zweite Fall betrifft die oben bereits behandelte Erweiterung der
juristischen zur wirtschaftlichen Überführung. Für die allein in Betracht
kommende Enteignungsfrage handelt es sich um folgendes: Gemäß
§ 199 des Anhaltischen Berggesetzes vom 20. April 1906 werden vom
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314 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 315
nur unsere heutigen Gesetze nicht in Ordnung sind, sondern sogar die
Gesetze des letzten, des bürgerlichen Jahrhunderts den geheiligten
Grundsätzen des Privateigentums nicht immer entsprochen haben.90
In der Öffentlichkeit sehr viel Unruhe hat eine Entscheidung hervorge-
rufen, die sich mit folgendem Tatbestand befasst: Die Hamburger
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316 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
91 Hensel im Arch f. öff. R. N. F. 14, S. 23. [Albert Hensel: Art. 150 der Weimarer
Verfassung und seine Auswirkungen im preußischen Recht, in: Archiv des
öffentlichen Rechts, N. F. 14, Tübingen 1928, S. 321.]
92 In Juristische Rundschau 1928, Nr. 3, S. 40 ff. [Kurt Sölling: Eigentumsbeschrän-
kung und Enteignung nach der Reichsverfassung, in: Juristische Rundschau,
Band 1928, Heft 3, Berlin 1928, S. 40-44.]
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 317
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318 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
95 Es muss hier noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass die
aus deutschrechtlichen Gesichtspunkten (Gierke) vertretene Auffassung von der
Sozialpflichtigkeit des Eigentums, die auch Jellinek wieder aufnimmt, durchaus
im Bereich des Individualismus verbleibt und ihm nur diejenigen Schranken
setzt, die eine auf individualistischer Grundlage aufgebaute Gesellschaftsord-
nung verlangt.
96 Siehe Drucksache Nr. 3015 des preuß. Landtags, 3. Wahlperiode I. Tagung 28/29,
und dazu Rieß in Staats- und Selbstverwaltung, 8. Jahrg., Nr. 20, S. 475. [Dr.
Rieß: Entschädigung für Baubeschränkungen, in: Staats- und Selbstverwaltung,
Jg. 8, Nr. 20, Berlin 1927/28.]
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 319
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320 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
99 Jur. W. 1930, S. 1205. [Rechtsprechung 16., in: Juristische Wochenschrift, Jg. 58,
Band 1, Heft 17, Leipzig 1929, S. 1204-1206.]
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[19.] Die Grenzen der Enteignung [1930] 321
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322 [19.] Die Grenzen der Enteignung [1930]
dern wird auch weit überholt durch die hier angeführte französische
Revolutionsgesetzgebung.
Wir sind in Deutschland dabei angelangt, alle erworbenen Rechte wahl-
los und ohne Beziehung zu den Notwendigkeiten und Bedürfnissen
der Gegenwart mit einer unverbrüchlichen Sanktion, mit einem Panzer
gegen den Gesetzgeber auszustatten. Diese Entwicklung hat die Wei-
marer Verfassung nicht gewollt und mindestens nicht bewusst geför-
dert. Die dadurch hervorgerufene Bindung des Gesetzgebers an den
Willen ihm fremd gewordener Jahrhunderte zwingt ihn auf Schritt und
Tritt, Rücksichten zu nehmen und notwendige Maßnahmen zu unter-
lassen. Das Schlimmste aber an dieser Bindung ist, dass man nie weiß,
wo ihre Grenzen verlaufen. In einem Staat, der im Wesentlichen noch
von hochkapitalistischen Tendenzen erfüllt ist, ist nichts notwendiger,
als feste Grenzen zu bestimmen, an denen die private Machtsphäre des
Einzelnen dem organisierten Willen der Gesamtnation gegenüber zu
weichen gezwungen ist. Indem er die erworbenen Rechte für sakro-
sankt erklärt, überlässt der Staat privaten Mächten auf weite Strecken
das Feld. Wenn private Macht dem Staat mit Erfolg das Recht, Interes-
sen der Gesamtheit zu vertreten, bestreitet, fällt auch die Grenze zwi-
schen erworbenem Recht und reiner Faktizität. Wenn hinter erworbe-
nem Recht sich immer die Aufrechterhaltung des Status quo verbirgt,
dann wird jeder Status quo selbst zu einem erworbenen Recht. Die Ver-
einigten Staaten haben anlässlich eines Notenwechsels darauf hinge-
wiesen, dass »the liquor business has not been a property right, but a
licensed occupation«.101 Wer aber möchte entscheiden, ob, wenn heute
Deutschland auch nur ein partielles Alkoholverbot entschädigungslos
durchführen wollte, bei uns eine mit der Autorität eines amerikani-
schen Staatssekretärs ausgestattete Stelle vorhanden wäre, die dem
Ansturm der Interessenten gegenüber eine solche Unterscheidung
durchzuführen in der Lage wäre?
101 Es handelt sich um eine Diskussion, die seit dem Jahre 1923 zwischen Mexiko
und den Vereinigten Staaten über die Frage der Rechtsgültigkeit der Ausfüh-
rungsgesetze zum Artikel 27 der mexikanischen Verfassung eingesetzt hat. Der
Staatssekretär Kellogg hat diese Formulierung in einer Antwort auf die Note
des mexikanischen Außenministers gebraucht. Dieser hatte ihn bei der Frage
der Behandlung der erworbenen Rechte der amerikanischen Staatsbürger und
der Rückwirkung der mexikanischen Petroleum- und Agrargesetze darauf auf-
merksam gemacht, dass auch die Vereinigten Staaten Eigentumsrechte aufge-
hoben hätten, als sie durch Verfassungsamendement die Prohibition einführ-
ten. Senate Documents 69. Congress I. Session Miscellaneous Bd. 2, Washing-
ton 1926. Dokument Nr. 96, insbesondere S. 31 und S. 37. Siehe auch die Aus-
führungen bei [Alfred] Vagts: Mexiko, Europa und Amerika, Berlin 1928.
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323
[20.]
[Rezension:] Eugene A. Korovine: Das Völkerrecht
der Übergangszeit*
[1930]
* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 7, Heft 6, Berlin 1930, S. 575-578. – Zu diesem Text vergleiche in der Einlei-
tung S. 78-79.]
1 [Theodor Niemeyer: Rechtspolitische Grundlegung der Völkerrechtswissen-
schaft, Kiel 1923.]
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324 [20.] [Rezension:] Eugene A. Korovine: Das Völkerrecht der Übergangszeit [1930]
https://doi.org/10.5771/9783845282534
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[20.] [Rezension:] Eugene A. Korovine: Das Völkerrecht der Übergangszeit [1930] 325
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326 [20.] [Rezension:] Eugene A. Korovine: Das Völkerrecht der Übergangszeit [1930]
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[20.] [Rezension:] Eugene A. Korovine: Das Völkerrecht der Übergangszeit [1930] 327
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328
[21.]
Bürgertum am Scheideweg*
[1930]
* [Erschienen in: Die Tribüne, Organ der Sozialdemokratischen Partei für das Land
Thüringen und den Regierungsbezirk Erfurt, Nr. 175, 30. Juli 1930, Erfurt. – Zu
diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 75-76.]
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[21.] Bürgertum am Scheideweg [1930] 329
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330 [21.] Bürgertum am Scheideweg [1930]
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[21.] Bürgertum am Scheideweg [1930] 331
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332 [21.] Bürgertum am Scheideweg [1930]
https://doi.org/10.5771/9783845282534
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333
[22.]
Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und
Rechtsprechung*
[1930]
In seinem Buche über die Rechtsinstitute des Privatrechts hat Karl Ren-
ner1 den Wirklichkeitsgehalt des Eigentums durch die gesamte juristi-
sche Formenwelt hindurch verfolgt. Er hat dabei aufgezeigt, wie weit
die reale ökonomische Gestaltung in jedem einzelnen Sachgebiet sich
von dem ursprünglichen Sinngehalt, der mit den juristischen Formeln
verbunden wurde, entfernt, ja sich ins Gegenteil verwandelt hat und
welche Rolle hierbei die Konnexinstitute des öffentlichen Rechts
gespielt haben. In sehr wenigen Fällen ist bisher ein Normenwandel
eingetreten, der sichtbar den Verschiebungen der wirtschaftlichen
Grundlagen Rechnung getragen hätte; eher ist zu konstatieren, dass
auch neue wirtschaftliche Zielsetzungen sich lieber der alten gewohn-
ten Rechtsformeln bedienen, als dass sie sichtbar die eingetretenen
Wandlungen in neuen Normierungen kundtun. Dies ist eine Tatsache,
die nicht nur auf die gerade in der Gegenwart besonders akuten, mit
dem Komplex der Kapitalbeschaffung zusammenhängenden Fragen
zurückzuführen ist, sondern ihren tieferen Grund in dem Beharrungs-
vermögen der juristischen Formenwelt findet. Angesichts dieser Sach-
lage ist es kein Wunder, wenn gerade der Eigentumsartikel der Weima-
rer Verfassung problematischer ist, als sehr viele juristische Autoren
meinen, die ihn entweder mit seinen historischen Vorgängern des letz-
ten Jahrhunderts gleichsetzen oder auch einer bestimmten heute noch
herrschenden Wirtschaftsverfassung, der kapitalistischen, zurechnen
wollen. Der Begriff Eigentum bedeutet ja nicht nur den Kernpunkt aller
privatrechtlichen Institutionen, ihm wird mindestens seit der Zeit, seit
der das Privateigentum Einzelner an den Produktionsmitteln keine
Selbstverständlichkeit mehr ist, ein gewisser Kampfsinn beigelegt.
Auch die Interpretation, die die Weimarer Verfassung erfahren hat,
ginge meistens dahin, aus jener möglichen Mehrheit von Sinndeutun-
gen, die der Eigentumsgewährleistung innewohnen können, nur dieje-
* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 7, Heft 8, Berlin 1930, S. 166-179. – Zu diesem Text vergleiche in der Einlei-
tung S. 65-66. ]
1 [Karl] Renner, die Rechtsinstitute des Privatrechts, Tübingen 1929.
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334 [22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930]
2 Siehe neben dem Sozialisten Renner etwa Stammler in seinem Artikel »Eigentum
und Besitz« im Handw. d. Staatswiss. [Rudolf Stammler: Eigentum und Besitz, in:
Ludwig Elster, Adolf Weber, Friedrich Wieser (Hg.): Handwörterbuch der Staats-
wissenschaften, Band 3, Jena 1926] oder das vielbenutzte Lehrbuch Martin
Wolffs, Sachenrecht[. Ein Lehrbuch, Marburg 1926].
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[22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930] 335
3 In erster Linie ist das Buch »Oeconomia perennis« von [Anton] Orel, Wiesbaden
1930, zu nennen. Daneben sei eindringlich auf den tapferen Aufsatz von Matthias
Laros über »Eigentum und arbeitsloses Einkommen« im Novemberheft 1929 des
Hochland hingewiesen. [Matthias Laros: Eigentum und arbeitsloses Einkommen.
Auseinandersetzung zwischen den christlichen Soziallehren und dem Sozialis-
mus, in: Hochland, 2. Heft 1929/30, Kempten/München 1929, S. 120-134.] Eine
ständige Diskussion über diesen Fragenkomplex findet in der katholischen Zeit-
schrift »Schönere Zukunft« [Wien] statt. Dabei kommen bei allem redlichen
Bemühen um die theoretische Fundierung einer neuen Sozialordnung zwei
Ordensgeistliche wie [Oswald von] Nell Breuning und [Alexander] Horvath
nicht viel über eine theoretische Disqualifizierung des liberalen Kapitalismus,
dem sie freilich den Sozialismus durchaus gleichstellen, hinaus, während den
täglichen Daseinsnöten näherstehende Pfarrgeistliche wie Laros schon eine viel
positivere Haltung zeigen.
4 Johannes Hasebroek »Staat und Handel im alten Griechenland«, Tübingen 1928.
Er sagt dort im Vorwort (S. VII) ausdrücklich: »Niemals ist eine nationale Pro-
duktion oder ein nationaler Produzentenstand mit seinen materiellen Interessen
für die Staatspolitik der autonomen Polis bestimmend gewesen, und kein Staat
hat je zur Zeit hellenischer Selbständigkeit an den Schutz oder die Förderung
einer von einem Staatsbürgertum getragenen nationalen Arbeit durch Erwer-
bung und Erhaltung fremder oder einheimischer Märkte gedacht. Denn wie alles
politische, so ruht im Altertum auch alles wirtschaftliche Leben und mit ihm alle
Arbeit auf Gewalt.«
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336 [22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930]
der Eigentumstitel voraus und ist in der Tat erst in dem Augenblick
entstanden, in dem römisch-rechtliches Abstraktionsvermögen mit den
Anfängen der modernen Warenproduktion zusammentraf. Dabei kann
dahingestellt bleiben, ob die Gebote des heiligen Thomas für die ständi-
sche Ordnung des Mittelalters, in der es eine ständige, nicht besitzende
Klasse nicht gab, mit Recht den Anspruch erheben konnten, eine
umfassende Regelung der sozialen Frage des Mittelalters zu bilden; sie
empfahlen dem Eigentümer nachdrücklich eine anständige, Gott wohl-
gefällige Benutzung seines ihm von Gott nach der kirchlichen Lehre
nur zur Verwaltung gegebenen Gutes. Die genannten reformistischen
Autoren erklären selbst, dass es heute gar nicht mehr auf die Frage, wie
das konkrete Gute verwendet wird, sondern auf die Frage der Eigen-
tumsverteilung selbst ankommt. Sie sehen die Unmöglichkeit der Über-
tragung der damaligen kirchlichen Grundsätze für die Eigentumsnut-
zung auf die heutige Zeit ein, sie erkennen selbst, dass das christliche
Liebes- und Rechtsgebot der Armenunterstützung, das die traditionelle
katholische Schule so gern als Beweis für die soziale Eigentumsauffas-
sung der katholischen Kirche anführt, mit seinem Anspruch, Zentral-
punkt einer christlichen Sozialordnung zu sein, standortsgebunden an
die soziale Welt des Mittelalters gewesen ist. Diese Einstellung bedeutet
immerhin einen Fortschritt von nicht zu unterschätzender Bedeutung,
der ganz von selbst zur prinzipiellen Kritik und Verneinung des Kapi-
talismus und zu dem Versuch der Mitarbeit bei der Ablösung dieses
Systems führt.5
Damit wird aber auf der andern Seite evident, dass die katholische
Lehre von der sozialen Bindung des Eigentums keinen Raum mehr bei
5 Freilich steht dem der Typ des konservativen Katholiken gegenüber, der uns in
dem Aufsatz von van Meer »Statischer oder dynamischer Eigentumsbegriff«,
Hochland März 1930 [Heinrich van Meer: Statischer oder dynamischer Eigen-
tumsbegriff, in: Hochland, Jg. 27, Heft 6, München 1930, S. 558-563], in seltener
Reinheit entgegentritt. Dort findet man den klassischen Satz: »Deshalb wider-
spricht ein korrekt erworbenes Eigentum niemals dem Willen Gottes.« Die Almo-
senpflicht bleibt ihm auch heute noch die Grundlage der katholischen Sozialord-
nung. Von diesem Standpunkt aus wäre es begreiflich, dass der Autor dazu
schreiten müsste, die tatsächlich in reichem Maß vorgenommenen Einschränkun-
gen des Eigentums zu verwerfen. Doch hier zieht er sich seltsamerweise auf das
Formaljuristische zurück und argumentiert mit dem Gegensatz von öffentlichem
und Privatrecht. Im Grunde beruht jene konservativ-katholische Haltung, die
nicht von der ökonomischen Fragestellung nach der Überlegenheit einer Wirt-
schaftsordnung über die andere ausgeht, auf einer pessimistischen Grundauffas-
sung von der Natur des Menschen, und die Lehre von der Sündhaftigkeit bleibt
auch bei diesem Autor das schlagendste Argument, wenn er sich ausdrücklich
auf das Erste Buch Moses für die Unabänderlichkeit unserer jetzigen Eigentums-
ordnung bezieht.
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[22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930] 337
6 Siehe insbesondere die Schrift Otto v. Gierkes zur Kritik des Entwurfs des Bür-
gerlichen Gesetzbuchs »Die soziale Aufgabe des Privatrechts«[. Vortrag gehalten
am 5. April 1889 in der juristischen Gesellschaft zu Wien von Dr. Otto Gierke],
Berlin 1889.
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338 [22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930]
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[22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930] 339
zung von Machtsphären,8 bei der der Richter die gleiche Ermessensfrei-
heit (discretion) besitzt wie der Gesetzgeber und der Verwaltungsbe-
amte.9 Damit besteht in den Vereinigten Staaten auf dem gesamten
Gebiet der Sozial- und Wirtschaftspolitik neben den gesetzgebenden
Körperschaften noch eine autonome Instanz; die Voraussetzung ihres
Wirkens und damit der von ihr vorgenommenen Bestimmung des
Eigentumsbereichs liegt in dem bis heute in den Vereinigten Staaten
noch ziemlich ungebrochenen10 Gemeinbesitz an wirtschaftlichen
Erfolgsvorstellungen, die reale Klassengegensätze heute noch zu reinen
Interessenkonflikten zu bagatellisieren vermögen. Damit werden die
gesetzgebenden Instanzen und die in ihnen maßgebenden Parteien
selbst als Träger von jeweils verschieden gruppierten Interessen
gekennzeichnet, gegenüber denen erst der process of law die Errei-
chung des von der Gesamtnation als richtig erkannten Zieles gewähr-
leistet. Will man die Wandlung des Eigentumsbegriffs in der Rechtspre-
chung der Gerichte der Vereinigten Staaten verstehen und würdigen,
so muss man diese ihre Voraussetzungen erkennen; denn sie erst haben
es ermöglicht, dass die Gerichte unter Berufung auf Eigentumsschutz
distributorische Funktionen für die gesamte Sozialordnung auszuüben
in der Lage waren.
Es ist zwar heute in der Rechtsprechung des deutschen Reichsgerichts
üblich geworden zu behaupten, dass die dem Gesetzgeber in dem
Eigentumsartikel der Reichsverfassung gezogenen Schranken enger
seien als die der preußischen Verfassung von 1850, so dass gewisserma-
ßen das Bild entstehen konnte, als ob diese preußische Verfassung die
moderne und die Reichsverfassung die rückschrittliche sei. Die konsti-
tutionellen Verfassungen des letzten Jahrhunderts in Deutschland
glaubten an die Ratio des Gesetzes, weil das Gesetz das Parlament und
damit das Bürgertum war. Sie unterwarfen also auch das Eigentum
dem Gesetz, da dieser Unterwerfungsakt vorläufig höchstens gegen die
Restbestände des Feudalismus, nicht aber im Prinzip gegen das bürger-
liche Eigentum gerichtet war. Aus solchen Gesichtspunkten heraus
erkannten sie auch willig die Notwendigkeit weitreichender öffentlich-
8 So schreibt Charles Beard in seinem Buch »The rise of american civilization« Bd.
2[, New York 1927,] S. 343: »The question of the reasonableness of rates is ulti-
mately a judicial question requiring its determination due process of law and
due respect for the rights of property guaranteed by the XIV. amendment.«
9 Siehe über die Frage des richterlichen Ermessens die instruktiven Erörterungen
bei Commons, a. a. O. S. 357 ff. [John R. Commons: Legal foundations of capita-
lism, New York 1924.] Die dort verwendeten Kategorien und Abstufungen von
extortion bis confiscation sind freilich sämtlich privatwirtschaftlich gedacht.
10 Charlotte Lütkens: Staat und Gesellschaft in Amerika, Tübingen 1929, S. 52 ff.
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340 [22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930]
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[22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930] 341
sphäre verheißt, sondern auch dem Staat die Möglichkeit gibt, selbst
die Produktion in die Hand zu nehmen, drückt mindestens aus, dass es
der Staat, konstituiert nach den demokratischen Aufbauprinzipien die-
ser Verfassung, sein soll, der nach eigenen Wertsetzungen die Rolle der
anderen Faktoren bestimmt. Soweit er nach dem Ausdruck parlamenta-
rischer Kräfteverhältnisse den einen oder den andern Faktoren mehr
Raum gibt, gibt er es aus eigenen Händen und nicht als von der Verfas-
sung vorausgesetzte und von ihr selbst gewährte Garantie eines als
richtig anerkannten Wirtschaftsprinzips. Mithin bedeutet der erste Satz
des Absatzes 1 des Art. 153 »Das Eigentum wird von der Verfassung
gewährleistet« oder, wie es im Aufruf des Rates der Volksbeauftragten
dem Sinn nach gleichbedeutend, aber plastischer ausgedrückt heißt:
»Die Regierung wird das Eigentum gegen Eingriffe Privater schützen«,
keine Garantie für eine bestimmte Wirtschaftsordnung, keine Garantie
des Eigentums als Tauschwert; vielmehr schützt die Verfassung in
Abs. 1 Satz 1 das konkrete Eigentum jedes Einzelnen ohne Beziehung
auf dessen Verankerung in einem bestimmten Wirtschaftssystem. Wenn
es dann in Art. 153 mit Bezug auf das Eigentum weiter heißt: »Sein
Inhalt und seine Schranken ergeben sich aus den Gesetzen«, so ist
damit nicht nur ausgedrückt, dass öffentlich-rechtliche Beschränkung
des Eigentums von Privaten entschädigungslos hingenommen werden
müsse, sondern auch der Tatsache Rechnung getragen, dass die staatli-
chen Gesetze generell den möglichen Umfang der Eigentumssphäre
überhaupt bestimmen. Wie weit der Staat die ausschließliche Herr-
schaft des Einzelnen beschränken oder gar ausschließen darf, geht
daraus nicht hervor und richtet sich nach dem Willen des Gesetzgebers,
dem gegenüber die Verfassung eine Garantie nicht vorsieht. Eine ausge-
sprochene Garantie enthält allerdings die Reichsverfassung in dieser
Hinsicht. In Übernahme und getreuer Anlehnung an die Eigentumsfor-
meln, die seit den französischen Revolutionsverfassungen üblich
geworden sind, schützt auch die Weimarer Verfassung den Einzelnen
gegen die Wegnahme seines konkreten Sachbesitzes. Hierfür erfordert
die Verfassung die Innehaltung bestimmter Verfahrensmaximen und
gewährt, falls ein Reichsgesetz nichts anderes bestimmt, angemessene
(nicht volle) Entschädigung. Ob mit Recht oder Unrecht, kann dahinge-
stellt bleiben, jedenfalls sieht die Weimarer Verfassung mit einer gewis-
sen inneren Logik auch die Wegnahme von Fabriken, die Verstaatli-
chung oder sogenannte expropriative Sozialisierung als Enteignung an
und wendet deshalb die entsprechenden Bestimmungen auf sie an.
Immer aber bleibt sie dabei, wie der Satz 2 des Abs. 1 des Art. 156 zeigt,
der Auffassung treu, dass Enteignung nur die konkrete Wegnahme von
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342 [22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930]
Sachgütern bedeutet; sie enthält folgerichtig für den Fall der Einflusssi-
cherung auf wirtschaftliche Unternehmungen und Verbände, die ja oft
ebenso viel bedeutet wie die expropriative Sozialisierung, keine Ent-
schädigungsbestimmung. Die Formeln sind die alten der Verfassungen
des letzten Jahrhunderts geblieben; aber die Bedeutung der Enteig-
nungsgarantie hat sich gewandelt.
Seit den französischen Revolutionsverfassungen bedeutet das Expro-
priationsrecht des bürgerlichen Rechtsstaats das Korrelat zu der Unver-
brüchlichkeit des Eigentums als Voraussetzung bürgerlicher Herr-
schaftsordnung. Auf dieser sicheren Grundlage wird die Ausnahme
festgestellt, die eben darin ihre Bedeutung und Begrenzung findet, dass
sie sich niemals auf ganze Eigentumskategorien bezieht. In der Weima-
rer Verfassung bedeutet die Enteignungsgarantie die Bindung des Staa-
tes bei der Behandlung des Einzelnen; dem Einzelnen gegenüber
bedeutet die formelle Rechtssicherheit zugleich materielle Gerechtig-
keit. Und die Verfassungsinterpretation ergibt heute schon jenes Ergeb-
nis, das Renner13 wohl als Endpunkt einer Entwicklung für den
Umkreis der Eigentumsherrschaft darstellt. Bereits heute gewährt die
Verfassung jedem Einzelnen sein »suum«, die Innehabung jener Güter,
die der Einzelne in einem höheren Stadium menschlicher Kulturent-
wicklung brauchen kann, ohne dass aus diesem Gebrauch Missbrauch,
aus Sachherrschaft Personenbeherrschung wird. Denn dies ist die
Bedeutung der Enteignungsgarantie der Verfassung, den generellen
Gesetzeseingriff des Staates in private Rechte, die übrigens bei genauer
Besichtigung mehr den Charakter von opportunities als von Rechten
tragen, diskussionslos zuzulassen und doch dem Individuum seine Pri-
vatsphäre zu garantieren. Gewiss ist jene Garantie keine absolute, sie
muss nicht nur dann weichen, wenn das Allgemeininteresse in die Not-
wendigkeit versetzt wird, gerade diese bestimmte Privatsphäre nicht
entbehren zu können, sondern sie gerät heute in immer größere Abhän-
gigkeit von der Allgemeinsphäre selbst, deren konstitutive Prinzipien
die im demokratischen Staat herrschenden Mächte bestimmen.
Die deutsche höchstrichterliche Rechtsprechung hätte es leicht gehabt,
in der Interpretation des Art. 153 Wege einzuschlagen, die, ohne dass
das Reichsgericht sich selbst untreu geworden wäre, dem Sinn des
Art. 153 nahegekommen wären. Weder taugt der Art. 153 zum Konzen-
trationspunkt einer neuen Epoche richterlicher Verfassungsinterpreta-
tion, da so viele andere Verfassungsbestimmungen schon die Abgren-
13 Renner, a. a. O., S. 178. [Karl Renner: Die Rechtsinstitute des Privatrechts, Tübin-
gen 1929.]
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[22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930] 343
14 Hierfür käme höchstens ein durch seine Farblosigkeit und inhaltliche Bedeu-
tungslosigkeit viel umfassenderer Artikel wie zum Beispiel Art. 151 der Reichs-
verfassung in Betracht. Siehe hierüber im Zusammenhang mit dem Problem des
richterlichen Prüfungsrechts Franz Neumann in der »Gesellschaft«[, Jg. 6, Heft
6, Berlin] 1929, S. 517 ff., und den Aufsatz von Carl Schmitt, »Das Reichsgericht
als Hüter der Verfassung« in der Festschrift zum 50jährigen Bestehen des
Reichsgerichts 1930, Bd. 1. [Carl Schmitt: Das Reichsgericht als Hüter der Ver-
fassung, in: Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben: Festgabe der
juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts (1. Okt.
1929). In 6 Bänden, Band 1, Öffentliches Recht, Berlin 1929, S. 154-178.]
15 Dass dies zulässig ist, wird auch von Carl Schmitt, der eine sehr strenge Begren-
zung des Anwendungsbereichs der Enteignung vornimmt, bestritten, ergibt sich
aber aus dem demokratischen Ursprung des Gesetzes, bei dem das Moment des
Generellen in seinem Ursprung, nicht in ihm selbst zu liegen braucht.
16 Doch ist die Entwicklung nur sehr allmählich gewesen und noch sehr lange
haben Entscheidungen die Enteignung als vorausgesetztes technisches Institut
angesehen. Noch im 127. Band S. 280 [RGZ, Band 127, Berlin 1930, S. 280-282],
findet sich eine durchaus zutreffende Entscheidung des 3. Senats, der die von
dem Gerichtshof sonst missachtete Wahrheit ausspricht, dass der Enteignungs-
begriff im Sinne des Art. 153 der Reichsverfassung einen Verwaltungsakt vor-
aussetzt, der auf Grund einer vom Gesetzgeber erteilten Ermächtigung auf Ent-
ziehung des Eigentums als solchen oder einer der aus ihm fließenden Verfü-
gungsbefugnisse gerichtet ist. Auch der Staatsgerichtshof für das Deutsche
Reich hat in einer im 123. Band veröffentlichten Entscheidung sich der herr-
schenden Reichsgerichtsrechtsprechung nicht angeschlossen, sondern sich viel-
mehr dem hier vertretenden Standpunkt über die Bedeutung des Satzes 2 Abs. 1
Art. 153 angenähert.
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344 [22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930]
nungsakte mit ihren sich aus Art. 153 Abs. 2 ergebenden Voraussetzun-
gen gepresst. Dies zeitigte zweierlei unmittelbare rechtstechnische Fol-
gen. Zwei Grenzen, die bisher unverrückbar feststanden, gerieten in
Fluss. Einmal die Frage nach der juristischen Abgrenzung der Eigen-
tummachtsphäre selbst, die bisher in Deutschland niemals eine Frage
war: Wo liegen die Grenzen zwischen Recht und opportunity? Zwi-
schen rechtlich geschützter Sphäre und vorläufig dem Einzelnen belas-
sener ökonomischer Freiheitssphäre? Wenn die in der Inflationszeit
notwendig gewordene Verpflichtung zur Devisenablieferung, wenn die
Aufhebung überholter Abdeckereiprivilegien, wenn die auf Grund all-
gemeiner Beschränkung erfolgende Zwangsvermietung, wenn die
gesetzliche Neufestsetzung von Kohlenrenten Enteignungen darstellen,
wo bleibt dann der Unterschied zwischen subjektivem Recht und
objektiver Rechtslage, die heute so und morgen so sein kann? Die Inter-
essenten haben gar bald die eigentümliche Entwicklungslogik jener
Rechtsprechung begriffen, und sehr früh sah sich das Reichsgericht
genötigt, selbst Grenzziehungsversuche zu machen. Als die Interessen-
ten vom Reichsgericht die Ungültigkeitserklärung der Dritten Steuer-
notverordnung, des Aufwertungsgesetzes und der Goldbilanzverord-
nung verlangten, musste dasselbe Reichsgericht in berühmt geworde-
nen Entscheidungen allgemeine Regelungen und Neufestsetzungen
von unbedingt lebensnotwendig gewordenen Fragekomplexen in ihrer
Verfassungsmäßigkeit gegen den Ansturm der Interessenten verteidi-
gen, die nicht mehr nur Enteignung, sondern Entziehung und Konfis-
kation behaupteten.17 Damit ist aber schon der erste Schritt in der Rich-
tung der Rechtsprechung der Vereinigten Staaten getan, indem der
Richter darüber befindet, was eine allgemeine Festsetzung erlaubter Art
und was ein mindestens entschädigungspflichtiger Eingriff in wohler-
worbene Rechte ist. In Wirklichkeit sind solche Unterscheidungen
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[22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930] 345
18 Letzthin ging durch die Presse die Nachricht, dass die deutschen Gefrierfleisch-
importeure wegen des in der Zollgesetzgebung enthaltenen Einfuhrverbots für
Gefrierfleisch Enteignungsentschädigung im ordentlichen Gerichtsverfahren
fordern. Es ist kein Grund ersichtlich, warum sich solche mit Rechtsgutachten
bewaffneten Interessentenforderungen auf das Gefrierfleisch beschränken soll-
ten. Hier kann man schon nicht mehr von Ständestaat, hier muss man von Privi-
legienstaat sprechen.
19 Siehe Drucksache 3015 des Preußischen Landtags, 3. Wahlperiode, 1. Tagung,
1928/29.
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346 [22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930]
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[22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930] 347
erfolgt ist und wohl auch kaum erfolgen kann, so hindert das doch
nicht, dass im Verfassungsleben der letzten zehn Jahre der Art. 153 in
relativ sehr starkem Maße als Garant privatwirtschaftlicher Institutio-
nen gegenüber staatlichen Neuregelungen aller Art benutzt wurde.
Es entsteht die Frage, ob durch gesetzgeberische Maßnahmen ein dem
Sinn des Art. 153 besser entsprechender Zustand herbeigeführt werden
kann. Innerhalb beschränkter Grenzen wird dies wohl möglich sein.
Der unmöglichen, die Städte aufs schwerste belastenden Rechtspre-
chung des Reichsgerichts auf dem Gebiet des Baurechts tritt teilweise
der vorläufige Referentenentwurf über ein Reichsbaulandgesetz entge-
gen, in dem für eine bestimmte Gruppe von Fällen ein Anspruch auf
Entschädigung ausdrücklich ausgeschlossen ist. Doch lässt dieser Ent-
wurf nach mehr als einer Richtung hin unbefriedigt.21 Einmal trifft er
nicht alle Fälle der öffentlich-rechtlichen Beschränkung, zum andern
Mal sind seine Vorschriften über das Entschädigungsverfahren wie
auch die Bestimmungen über die zu gewährende Entschädigung selbst
nicht ausreichend und stehen zudem am falschen Ort. Die Abgrenzung
zwischen Enteignung und öffentlich-rechtlicher Beschränkung, die an
sich aus der Verfassung hervorgeht, deren Konkretisierung aber die
Rechtsprechung des Reichsgerichts dringend notwendig gemacht hat,
gehört ebenso in ein Reichsrahmengesetz über das Enteignungsverfah-
ren wie die Bestimmungen über das Enteignungsverfahren und die
Enteignungsentschädigung. Denn es gibt auch außerhalb des Baurechts
viele Fälle landesrechtlicher öffentlicher Beschränkungen. Jenes durch-
aus notwendige Reichsrahmengesetz über das Enteignungsverfahren
wird den Begriff der Enteignung so festzulegen haben, wie ihn bis zum
heutigen Tage alle Landesgesetze verwenden, als Übertragung von
Eigentum auf ein bestimmtes zum Wohl der Allgemeinheit dienendes
Unternehmen auf dem Wege eines auf gesetzlicher Grundlage beruhen-
den Verfahrens. Ausdrücklich wird weiter darin die öffentlich-rechtli-
che Beschränkung als eine im öffentlichen Interesse das Eigentum einer
nicht individuell bestimmten Zahl von Eigentümern durch allgemeine
Vorschriften beschränkende Anordnung zu definieren sein. Weiterhin
wird der Entschädigungsbeschluss nicht, wie der Entwurf des Bauland-
gesetzes es vorsieht, bei einer dem Zivilgericht angegliederten Behörde
angefochten werden können, sondern ausschließlich bei dem Verwal-
tungsgericht. Die bedauerliche Versteifung eines das verfassungsmäßig
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348 [22.] Eigentumsgarantie in Reichsverfassung und Rechtsprechung [1930]
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349
[23.]
Artikel 48 und die Wandlungen des
Verfassungssystems.
Auch ein Beitrag zum Verfassungstag*
[1930]
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350 [23.] Artikel 48 und die Wandlungen des Verfassungssystems [1930]
von 1919 in erster Linie einem konkreten Zweck gedient hat, der äuße-
ren Befreiung Deutschlands mit den Mitteln friedlicher Verständi-
gungspolitik. Wir glauben, dass es kein Zufall ist, dass die Umorganisa-
tion im bürgerlichen Lager in dem Augenblick vollendet war, als jener
Zweck erreicht war.
Bis zur Haager Konferenz, äußerlich gesehen sogar bis zur Rheinland-
räumung, hat in Deutschland immer eine heimliche Koalition regiert.
Es war die Koalition der außenpolitischen Verständigung, die auch
beim Dasein eines Rechtskabinetts hemmend auf den Chauvinismus
der Deutschnationalen und durch die Unterstützung der Sozialdemo-
kratie hemmend auf die innerpolitische Linie dieser Partei eingewirkt
hat. Knapp ein halbes Jahr, nachdem der Vorhof der deutschen Außen-
politik von den Resten lästigen Zwanges befreit ist, hat sich die
Gemeinschaft der Weimarer Parteien aufgelöst. Es würde eine müßige,
um nicht zu sagen verfehlte Spekulation bedeuten, wollte man eine
Erneuerung proletarisch-bürgerlicher Arbeitsgemeinschaft auf neue
gemeinsame, gegen die Nationalisten zu verteidigende außenpolitische
Aufgaben aufbauen. Auch auf dem Gebiet der Außenpolitik herrscht
ein dialektisches Gesetz; indem die Sozialdemokratie Verständigungs-
politik um des Friedens und um Deutschlands Wiederaufbau willen
trieb, hat sie mit vollem Bewusstsein die Einreihung Deutschlands in
die Reihe der großen kapitalistischen Mächte betrieben. Als Deutsch-
land seine Handlungsfreiheit wiedergewonnen hatte, waren die Ziele
seiner Außenpolitik nicht die gleichen geblieben. Der Sozialdemokratie
mag die Verständigung heiliger Zweck gewesen sein, dem Bürgertum
konnte sie nur Mittel sein.
Die Tatsache, dass 1930 zum ersten Mal offensichtlich der weitaus
größte Teil des Bürgertums sich nicht nur auf der innen-, sondern auch
auf der außenpolitischen Linie mit einer allerdings aus der Krise
begreiflichen Intensität zusammenfand, hat – so seltsam das klingen
mag – die Grundlagen unseres Verfassungssystems vollständig verän-
dert. Dass die immer mehr wachsende innerpolitische Machtstellung
des Bürgertums an den verschiedensten Stellen des Verfassungsrechts
charakteristische Rückbildungen bewirkte, ist uns allen bekannt. Es soll
hier nur an den bedeutsamen Wandel in der Machtposition des Richter-
tums erinnert werden, das dem Parlament in immer steigendem Maße
seine Waffe, das Gesetz, aus der Hand schlägt und sein eigenes Recht,
das Recht des deutschen Bürgertums, setzt. Auch dies ist ein lange
beachteter Vorgang, dass das Parlament, da es gleichsam nie als »unum
corpus christianum« aufgetreten ist, sondern immer ein sich befehden-
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[23.] Artikel 48 und die Wandlungen des Verfassungssystems [1930] 351
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352 [23.] Artikel 48 und die Wandlungen des Verfassungssystems [1930]
warten, bis sich die bürgerliche Herrschaftstechnik auf dem Boden des
Parlaments den veränderten Verhältnissen angepasst hat.
In dieser Situation bot sich dem deutschen Bürgertum der Artikel 48
dar. Es ist von sozialdemokratischer Seite, von dem Sprecher der
Reichstagsfraktion bei der letzten Reichstagssitzung, dem Abgeordne-
ten Landsberg, schon darauf hingewiesen worden, dass die Steuerver-
ordnungen der Regierung Brüning sich von den bisherigen Anwen-
dungsfällen des Artikels 48 ihrem Wesen nach unterscheiden. Die
staatsrechtliche Begründung hierfür hat Landsberg gegeben; er hat
darauf hingewiesen, dass sowohl die Voraussetzungen – Not von Volk
und Reich –, als auch die Billigung dieser Verordnungen nach den Aus-
schussabstimmungen fehlten, und dass die Verordnungen ferner den
Charakter von Dauergesetzen, nicht von Notmaßnahmen trügen. Das
ist richtig, aber wir glauben, es kommt noch ein Weiteres hinzu, das die
Situation vollständig verändert. Die bisherigen Anwendungsfälle des
Artikels 48 verblieben im Bereich jener Reihe offener oder stillschwei-
gender Kompromisse zwischen Sozialdemokratie und Bürgertum.
Gleichgültig, ob die Sozialdemokratie in allen einzelnen Fällen vom
Standpunkt einer proletarischen Betrachtungsweise aus richtig gehan-
delt hat, entscheidend war doch, dass keiner dieser Anwendungsfälle
des Artikels 48 in den Nachkriegs- und Inflationsjahren gegen den
erklärten Willen der deutschen Sozialdemokratie erfolgte. Die diesma-
lige Anwendung des Artikels 48 geschah nicht nur gegen die Sozialde-
mokratie, sondern, wie die letzte Reichstagsabstimmung gezeigt hat,
gegen eine freilich unhomogene, von den verschiedenartigsten Moti-
ven, von dem Willen zur Aufrechterhaltung der Demokratie und dem
Willen zu ihrer endgültigen Vernichtung, ausgehenden Mehrheit. Über
den Kopf des Parlaments hinweg, unter Außerachtlassung der darge-
botenen Verständigungsmöglichkeit mit der Sozialdemokratie, die
immer noch daran glaubte, dass die Zeit jener Kompromisse noch
bestehe, identifizierte sich die Regierung, unabhängig vom Parlament
und gleichgültig gegen dessen Mehrheitsbeschlüsse, mit den besitzen-
den Bürgerschichten. Den erneuten Beweis jener Identifizierung wer-
den wir in diesen Tagen erleben, wenn die Notverordnungen, die die
Mehrheit des Volkes abgelehnt hat, eine fröhliche Wiederauferstehung
feiern werden.
Die Weimarer Verfassung nahm zum Ausgangspunkt jenen »staatser-
haltenden« Kompromiss zwischen Bürgertum und Sozialdemokratie.
Das Bürgertum hielt diesen Kompromiss nur so lange für notwendig,
als es glaubte, der Sozialdemokratie zur Erhaltung seines Staates nicht
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[23.] Artikel 48 und die Wandlungen des Verfassungssystems [1930] 353
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354
[24.]
Die Problematik der Parteidemokratie*
[1930]
Wir sind Genossen Schifrin zum Dank dafür verpflichtet, dass er in sei-
nem Aufsatz über Parteiapparat und Parteidemokratie in Nummer 6, 1930,
dieser Zeitschrift1 eine Frage, die viele von uns tagtäglich bewegt, aus-
führlich behandelt hat. Das Wohl der Gesamtpartei kann nur gefördert
werden, wenn die Zweckmäßigkeit jeder einzelnen Gegenwartsinstitu-
tion in der Partei überprüft und die organisatorische Einwirkung allge-
meiner Entwicklungstendenzen auf unsere Partei ebenso sehr gewür-
digt wird wie die Auswirkung dieser Tendenzen auf den Vertrauens-
träger unseres Parteikörpers: die große Masse der organisierten Arbei-
terschaft. Mit Recht hat Genosse Schifrin als seinen Ausgangspunkt
eine Kritik des Michels‘schen Buches »Zur Soziologie des Parteiwe-
sens«2 gewählt; denn bis heute macht sich der unheilvolle Einfluss die-
ses ebenso interessanten wie in seiner Grundkonzeption verfehlten
Buches bei allen Versuchen, innerparteiliche Strukturprobleme zu
erfassen, lähmend bemerkbar. Die Begriffe Demokratie und Oligarchie
nehmen in der Sphäre des Staatlichen eine traditionelle Bedeutung ein,
die sich freilich bei uns heute mehr und mehr auflöst. Überträgt man
diese Begriffe in die Sphäre des Innerparteilichen, so tritt eine Sinnver-
schiebung ein. Diese Verschiebung mag ohne weiteres zulässig sein
innerhalb des Gedankengebäudes einer analytischen Soziologie wie der
Vilfredo Paretos, die in eifriger Mosaikarbeit jeden sozialen Tatbestand
in einen psychologischen Zurechnungsprozess auflöst. Das psychologi-
sche und eben nur psychologische Residuum führt am Ende zu einer
Sozialtheorie, die keine ist: zur Elitentheorie. Als das Werk eines syste-
matischen und konsequenten Denkers behält die methodische Leistung
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[24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930] 355
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356 [24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930]
chie innerhalb der Partei ein neues Gesicht. Die Oligarchie ist nicht des-
halb bekämpfenswert, weil sie die Idee der Partei verrät, sondern weil
sie der Aktivierung der Arbeitermassen nachteilig ist. Nur für eine psy-
chologisierende Soziologie kann die Behauptung des Verrats, den die
Elitentheorie implizite immer enthält, solche entscheidende Bedeutung
erlangen. Die Fragestellung, inwieweit der Spitzenapparat einer Mas-
senpartei entpersönlicht ist, inwieweit seiner Bewegungsfreiheit durch
das Schwergewicht der sozialen Tatbestände, denen er seine Entste-
hung verdankt, Grenzen gesetzt sind, enthüllt den Charakter der Olig-
archie in der proletarischen Bewegung als reine Organisationsoligar-
chie.
Bezüglich der überragenden Bedeutung, die heute unbestrittenermaßen
der Organisationsoligarchie zukommt, meint Schifrin, dass das Über-
maß der Oligarchie auf einmalige Ursachen, nicht auf konstante Ent-
wicklungsgesetze zurückzuführen sei. Er sieht die Parteioligarchie im
wesentlichen Zusammenhang mit dem Gesamtcharakter der Stabilisie-
rungsperiode. Die Entpolitisierung, die geringere Aktivität der Massen
innerhalb der Parteiorganisation ist für ihn die Ursache der organi-
schen Verengung der innerparteilichen Demokratie. Im Zusammen-
hang damit weist er auf die Stagnation der Massengrundlage hin, auf
die Tatsache, dass die Partei bis heute noch nicht wieder den Mitglie-
derstand von 1914 erreicht hat, wodurch ebenfalls eine Expansion des
Apparats, sein unverhältnismäßiges Hervortreten gegenüber der Masse
der Parteianhänger verursacht ist. Abgelehnt wird von Schifrin der Ver-
gleich der Entwicklung der oligarchischen Organisation der Partei mit
der Entwicklung der schwerindustriellen »Industrokratie«. Zur Ein-
dämmung der oligarchischen Tendenzen, zur Wiedererstarkung der
Parteidemokratie zum überragenden Faktor der innerparteilichen Pro-
duktivität nennt er als die drei wichtigsten Gesichtspunkte 1.) die Mei-
nungsfreiheit als die elementarste und lebensnotwendigste unter den
Voraussetzungen der innerparteilichen Demokratie, 2.) das starke
Eigenleben, die Autonomie der lokalen Organisationen und 3.) die
demokratische Parteiverfassung. Ich bin nicht der Überzeugung, dass
die Stabilisierungsperiode die Ursache des Anwachsens der Parteiolig-
archie ist. Die Änderung im Verhältnis zwischen der Zahl der Staats-,
Gemeinde-, Gewerkschafts- und Parteifunktionäre, die alle – vielleicht
nicht formell, aber doch materiell – im Rahmen der Partei eine andere
Stellung einnehmen als die gewöhnlichen Parteimitglieder, und der
Zahl der nicht beamteten Parteigenossen hat mit der Stabilisierungspe-
riode kaum etwas zu tun. Auch ein beträchtlicher Mitgliederzuwachs
wird an der Tatsache nichts ändern, dass der rein numerische Einfluss
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[24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930] 357
5 Es wäre ein verdienstvolles Werk, wenn sich der Parteivorstand der sozialdemo-
kratischen Partei dazu entschließen könnte, eine genaue Aufstellung der sozialen
Gliederung der Parteimitgliedschaft fertigen zu lassen.
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358 [24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930]
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[24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930] 359
Aus diesen Gründen ist auch das Zurückgehen auf die Palladien der
Parteidemokratie, wie es Schifrin vornimmt, teilweise fragwürdig. In
erster Linie beruft sich Schifrin auf die Meinungsfreiheit. Die Mei-
nungsfreiheit im innerparteilichen Bezirk steht, wie schon angedeutet,
im Dienst der Erzeugung der volonté générale; sie sollte eigentlich
dazu dienen, dass die Parteigenossenschaft in freier Abwägung von pro
und contra auf Grund selbstgebildeter Überzeugung in jedem Fall ihr
Votum in die Waagschale wirft. Die wesentlichen Vorbedingungen die-
ses Meinungsbildungsprozesses sind aber nicht mehr vorhanden. Wir
haben heute Meinungsäußerungsfreiheit, aber keine Meinungsfreiheit
mehr. Keinem Mitglied der sozialdemokratischen Partei ist es verwehrt,
seine Meinung zu äußern; seine Überzeugung ist frei, und die Partei ist
im Vergleich etwa zu den Nachbarn von links höchst liberal. Aber wer
über die Probleme keine eigene Meinung besitzt, wird sich auch kaum
eine in der Partei bilden können; denn gerade über die strittigen
Punkte, über die die eigentliche Parteimeinung erst gebildet werden
soll, wird der Leser täglich im »Vorwärts« oder der »Fränkischen
Tagespost« die gleiche einseitige Belehrung erhalten, wie er sie auf der
andern Seite etwa durch das »Sächsische Volksblatt« in Zwickau erhält.
Eine auf Meinungsfreiheit basierende Meinungsbildung wäre nur mög-
lich, wenn jede Zeitung verpflichtet wäre, ihren Lesern jedes Mal beide
Argumente vorzuführen. Das Fehlen der Meinungsfreiheit wird noch
dadurch vertieft, dass die oben angedeutete Entwicklung dazu geführt
hat, dass die herrschende Parteirichtung in mehr als vier Fünftel, die
Gegenseite jedoch nur in kaum einem Fünftel der Presse ihre Ansichten
vorzutragen in der Lage ist.
Dass das starke Eigenleben und die Autonomie der lokalen Organisa-
tionen heute kaum mehr in dem Maße bestehen kann wie früher,
wurde oben schon erörtert. Im Übrigen bezieht sich dieses Argument ja
nur auf die zentrale, nicht auf die örtliche Oligarchie.
Diese Entwicklung, die zum großen Teil zwangsläufig und unabwend-
bar war und nur zum geringeren Teil parteitaktischen Erwägungen ent-
sprang, hat überall dazu geführt, einem beschränkten Kreis von Funk-
tionären, der keineswegs mit dem Funktionärskörper überhaupt iden-
tisch ist, die maßgebenden Entscheidungen in die Hand zu legen. Dass
diese Entwicklung nur in einem höchst mäßigen Umfang die Tenden-
zen der Partei selbst zu ändern vermag, ist gegenüber den Ausführun-
gen von Michels festzuhalten. Denn diese Funktionäre haben ja nichts
mit dem gemein, was man bislang mit der Bezeichnung Arbeiteraristo-
kratie zu belegen pflegte, worunter man eine Schicht von Menschen
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360 [24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930]
verstand, die zum großen Teil eigene, von den übrigen Proletariern ver-
schiedene Interessen hatten. Selbst von kommunistischer Seite ist kürz-
lich anerkannt worden, dass es heute so etwas wie eine Arbeiteraristo-
kratie, jedenfalls in Deutschland, innerhalb der Reihen der Arbeiterbe-
wegung kaum mehr gibt, und in einem Aufsatz über »Die revolutio-
näre Gewerkschaftsbewegung und das Problem der Arbeiteraristokra-
tie«6 hat Smoljanski letzthin unter teilweiser Zitierung Lenins ausge-
führt:
»So gleitet der alte Typus der Arbeiteraristokratie ins Reich des Vergan-
genen. Der Buchhalteraristokrat und der Mechaniker-Aristokrat ster-
ben aus; aber an ihre Stelle tritt eine weniger zahlreiche, aber noch viel
engere, egoistischere, hartherzigere, selbstsüchtigere, kleinbürgerli-
chere, imperialistisch gestimmte, vom Imperialismus gekaufte, vom
Imperialismus korrumpierte Arbeiter-Aristokratie.«
Der Verfasser des Aufsatzes bemerkt aber in der Polemik gegen seinen
Parteifreund Merker selbst, dass diese neue Arbeiteraristokratie nichts
mit der in der Sozialdemokratie organisierten Arbeiterschaft zu schaf-
fen habe, sondern er versteht hierunter die Subjekte, die Herr Bata und
Herr Arnhold mit seiner Dinta »ausbilden«. Aber das schließt nicht aus,
dass versucht werden muss, Gegengewichte gegen den heutigen
Zustand zu schaffen, der dazu geführt hat, dass der weitaus größte Teil
der Parteimitglieder nicht nur in ihren Mitbestimmungsrechten, son-
dern auch in ihren Zustimmungsrechten faktisch sehr weitgehend
beschnitten sind und dass zwischen den Entscheidungen des Parteiap-
parats, der weitgehend auch über das Bestehen formeller Koalitionen
hinaus mit dem Staatsapparat verbunden ist, und den Massen der Par-
teianhänger eine Diskrepanz der politischen Auffassungen ent[standen
ist]. Die Gegengewichte müssen zum Teil neu geschaffen werden, da
die überlieferten Stützpfeiler der Parteidemokratie selbst in jenen orga-
nisatorischen Wandlungen ihre Tragfähigkeit mindestens teilweise ein-
gebüßt haben.
Der Kreis der leitenden Funktionäre muss überall erweitert werden.
Mit Recht hat Schifrin am Beispiel des sozialdemokratischen Parteivor-
standes gezeigt, dass für ein solches Maß der Stabilität, wie wir sie in
Deutschland bei unserem Funktionärskörper sehen, keinerlei Veranlas-
sung besteht. Wollen wir, dass bis zu der kleinsten Parteiorganisation
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[24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930] 361
7 Es ist hier nicht der Ort, ein Urteil über die literarischen Qualitäten des Buches
»Der Bonze« von Felix Riemkasten [Berlin 1930] abzugeben. Es mag sein, dass
die Menschen in diesem Buch erdacht, aber nicht erlebt sind; es ist sicher, dass
die Kumulation aller negativen Eigenschaften den Helden des Buches zu einer
absichtlichen und bösartigen Verzerrung des Funktionärbildes macht; aber nie-
mand wird leugnen können, dass mindestens ein Teil unserer gegenwärtigen
Parteimaschinerie in diesem Buch eine zutreffende Darstellung gefunden hat.
Dass diese Maschinerie bisher nicht mehr Schaden angerichtet hat, liegt daran,
dass es innerhalb der Partei höchst wenige Menschen gibt, die mit dem Hass auf
ihre eigene Vergangenheit den Hass gegen diejenigen verbinden, die selbst noch
Teil dieser Vergangenheit sind. Meist wird sich gerade das umgekehrte Bild erge-
ben, und die Expansion des eigenen Leids sich in verstärkter Aktivität gegen den
Klassengegner auswirken.
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362 [24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930]
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[24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930] 363
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364 [24.] Die Problematik der Parteidemokratie [1930]
ger Vergleich, das Bild August Bebels gegen den heutigen Parteivor-
stand auszuspielen. Aber es ist die geschichtliche Aufgabe der heutigen
Führergeneration, Gegenwartswollen und Endziel mit einer Klarheit
herauszuarbeiten, die auch heute wiederum der Parteianhängerschaft
jene Selbstverständlichkeit ihrer Zugehörigkeit verschafft, die sie ehe-
dem besaß. Aus diesen Gründen war nicht erst die Art des Ergebnisses
des letzten Parteitags, sondern bereits die Themenstellung ein kaum
wieder gut zu machender Fehler für die Partei. Wer die Einheit der Par-
tei als nicht hoch genug zu schätzendes Gut betrachtet, muss die Fragen
so stellen, dass die Antworten verbindlich sind; nichts aber ist schlim-
mer als eine Antwort, der die Geschichte der Partei selbst schon einmal
die verbindliche Kraft abgesprochen hat. Möge deshalb der Parteivor-
stand der Sozialdemokratie das Vertrauensverhältnis zwischen Partei-
spitze und Mitgliedschaft als jene heute mehr denn je Erfüllung hei-
schende Aufgabe betrachten, deren Lösung aus einem Parteivorstand
erst eine Parteiführung macht.
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365
[25.]
[Rezension:] Justus W. Hedemann: Die Fortschritte
des Zivilrechts im 19. Jahrhundert*
[1931]
* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Politik und Sozialis-
mus, Jg. 8, Heft 5, Berlin 1931, S. 476-478. – Zu diesem Text vergleiche in der Ein-
leitung S. 65-66.]
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366 [25.] Justus W. Hedemann: Die Fortschritte des Zivilrechts [1931]
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[25.] Justus W. Hedemann: Die Fortschritte des Zivilrechts [1931] 367
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368 [25.] Justus W. Hedemann: Die Fortschritte des Zivilrechts [1931]
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369
[26.]
[Rezension:] Curzio Malaparte: Der Staatsstreich*
[1932]
* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 9, Heft 1, Berlin 1932, S. 80-83. – Zu diesem Text vergleiche in der Einlei-
tung S. 79-80.]
1 Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert, Schriften III, S. 29. [Wilhelm
Dilthey: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und
Reformation: Abhandlungen zur Geschichte der Philosophie und Religion, Leip-
zig 1921, S. 29.]
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370 [26.] [Rezension:] Curzio Malaparte: Der Staatsstreich [1932]
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[26.] [Rezension:] Curzio Malaparte: Der Staatsstreich [1932] 371
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372 [26.] [Rezension:] Curzio Malaparte: Der Staatsstreich [1932]
https://doi.org/10.5771/9783845282534
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373
[27.]
[Rezension:] Georg Schwarzenberger: Die Kreuger-
Anleihen*
[1932]
* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 9, Heft 2, Berlin 1932, S. 175-177. – Zu diesem Text vergleiche in der Einlei-
tung S. 78-79.]
https://doi.org/10.5771/9783845282534
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374 [27.] [Rezension:] Georg Schwarzenberger: Die Kreuger-Anleihen [1932]
https://doi.org/10.5771/9783845282534
Generiert durch Universität Potsdam, am 17.12.2022, 23:17:52.
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[27.] [Rezension:] Georg Schwarzenberger: Die Kreuger-Anleihen [1932] 375
[Alfred Vagts: Der Krieg: Ursachen und Anlässe, Ziele und Folgen, in: Europäi-
sche Gespräche, Jg. 9, Heft 5, Berlin 1931, S. 234-252.]
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376
[28.]
Legalität und Legitimität*
[1932]
Jedes soziale System besitzt ein Bedürfnis nach einer gewissen Legiti-
mierung und trachtet danach, wie dies Max Weber einmal ausgedrückt
hat,1 sich aus einem Bestand faktischer Machtverhältnisse in einen Kos-
mos erworbener Rechte zu verwandeln. Von diesem jeder Sozialord-
nung innewohnenden Drang zur rechtlichen Stabilisierung soll im Fol-
genden nicht die Rede sein. Denn der Legitimierungsanspruch der
Sozialordnung und die geltende Rechtsordnung treten dabei nicht in
Widerspruch, im Gegenteil, die Legitimierung der jeweiligen sozialen
Macht vollzieht sich in den Formen der vorhandenen Rechtsordnung.
Es gehört gerade zu dem spezifischen Wesen jeder nicht mehr feudalen,
nicht mehr traditionsgebundenen, rational gewordenen Rechtsord-
nung, dass sie dem Gegner des gerade geltenden Sozialsystems eine
gewisse Chance auf mindestens formale Gleichbehandlung einräumt
dadurch, dass sie das vorhandene Recht ohne Ansehen der Person
anwendet. Für die Gewährleistung dieser Chance ist aber eine notwen-
dige Voraussetzung die Trennung von gesetzgebender und regierender
Gewalt, wie sie in allen Ländern Europas in mehr oder minder voll-
kommener Weise im 19. Jahrhundert durchgeführt worden ist. In dem
Augenblick, in dem diese Trennung für eine ungewisse Zeit von unge-
wisser Dauer aufgehoben wird, wie es in Deutschland seit einiger Zeit
der Fall ist, schwindet jene formale Gleichheitschance. Nunmehr ver-
sucht die gewaltenvereinende Regierung, sich eine über den formalen
Parlamentskonsens hinausgehende Legitimierung zu verschaffen,
indem sie die Einbuße einer unzweifelhaften Rechtsgrundlage durch
stärkere Bindung und Verpflichtung des Volksganzen wettzumachen
sucht. Für diese Bindung beruft sie sich auf ihre, insbesondere aber auf
des Reichspräsidenten Autorität, der sie eine nach Ziel und Richtung
verpflichtende Wirkung auf alle Volksteile beimisst. Ein solches auf ein
Legitimitätsprinzip gestütztes Autoritätsverlangen ist schon einmal im
Anfang des letzten Jahrhunderts als Reaktion des Absolutismus gegen
das revolutionäre Bürgertum formuliert worden. Besser noch als Tal-
* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 9, Heft 7, Berlin 1932, S. 8-20. – Zu diesem Text vergleiche in der Einlei-
tung S. 84-91.]
1 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft II, [Tübingen 1925, S.] 648.
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[28.] Legalität und Legitimität [1932] 377
2 Ein erfolgreicher General, der zufällig über eine Armee verfügt, ist selbst mit der
besten Haltung noch keine Macht, während ein legitimer König, selbst im Exil,
selbst im Kerker, die Macht bleibt.
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378 [28.] Legalität und Legitimität [1932]
II
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[28.] Legalität und Legitimität [1932] 379
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380 [28.] Legalität und Legitimität [1932]
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[28.] Legalität und Legitimität [1932] 381
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382 [28.] Legalität und Legitimität [1932]
7 Horst Grüneberg, Das neue Staatsbild [II, in: Die Tat, Jg. 23, Heft 10, Jena,] Januar
1932, S. 822.
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[28.] Legalität und Legitimität [1932] 383
III
Der gleiche Wandel, der innerhalb der Reichskompetenz auf Grund der
extensiven Anwendung des Art. 48 zu beobachten ist, hat sich inner-
halb der Länder teilweise mit Hilfe der Einrichtung der Geschäftsregie-
rung vollzogen. Der Reichsregierung hat bisher das Parlament das Ver-
trauen nicht entzogen, wohl aber ist dies in den Ländern Sachsen, Hes-
sen und in der Freien Stadt Hamburg geschehen. Die jeweiligen Lan-
desverfassungen sehen ein Weiteramtieren einer vom Parlament
gestürzten Regierung nur als Geschäftsregierung vor und weisen dieser
nur eine zeitliche Ersatzfunktion bis zur Neubestellung einer parlamen-
tarischen Regierung durch den Landtag zu. Auf den vorübergehenden
Charakter dieser Platzhalterschaft weisen die Verfassungen dadurch
ausdrücklich hin, dass sie der gestürzten Regierung als Geschäftsregie-
rung nur die Befugnis zur Führung der »laufenden Geschäfte« zuer-
kennen. In Preußen hat eine Erörterung dieses Begriffs bei früheren
Anlässen stattgefunden; es handelte sich dabei freilich um eine
Geschäftsregierung, die nach verhältnismäßig kurzer Zeit von einem
parlamentarischen Kabinett abgelöst wurde, so dass die Problematik
einer geschäftsführenden Dauerregierung nicht voll zum Austrag kam.
Immerhin besteht darin Übereinstimmung, dass »laufende Geschäfte«
nicht so viel bedeutet wie die Geschäfte, die gerade im Lauf sind. 8 Frag-
würdig bleibt jedoch die Unterscheidung zwischen laufenden Geschäf-
ten und politischen Entscheidungen. Sie mag praktisch durchführbar
sein, wenn es sich um eine Geschäftsregierung von absehbarer Dauer
handelt, theoretisch erfassbar ist sie überhaupt nicht, da der Begriff der
politischen Entscheidung keine gegenständliche Begrenzung besitzt,
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384 [28.] Legalität und Legitimität [1932]
9 Vergleiche etwa die Ausführungen Stier-Somlos im Arch. öff. R. NF. 9, S. 219, der
dies wie die gesamte Literatur ohne nähere Begründung bejaht. [Fritz Stier-
Somlo: Geschäftsminiterium, laufende Geschäfte, ständiger Ausschuß und Not-
verordnungen nach preußischem Verfassungsrecht, in: Archiv des öffentlichen
Rechts, N. F. 9, Tübingen 1925, S. 211-224.]
10 Huber, Die Stellung der Geschäftsregierung in den deutschen Ländern, DJZ.
1932, Sp. 194 ff. [Ernst Rudolf Huber: Die Stellung der Geschäftsregierung in
den deutschen Ländern, in: Deutsche Juristen-Zeitung, Band 37, Berlin 1932, Sp.
194-199.]
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[28.] Legalität und Legitimität [1932] 385
zwar keine legale Grundlage für ihr Handeln mehr, aber ihre Existenz
ist so lange gesichert, wie ihre Tätigkeit von der Reichsregierung als
mit der ihrigen übereinstimmend und das heißt als legitim angesehen
wird.
IV
Das Problem der Legalität von Parteien, dem in erster Linie sich heute
das Interesse der Öffentlichkeit zugewandt hat, nimmt im Rahmen des
allgemeinen Legalitätsbegriffs keine besondere Stellung ein. Solange es
eine Unterscheidung zwischen rechtsetzenden und verwaltenden
Instanzen gegeben hat, war die sogenannte Legalität von Parteien iden-
tisch mit der Gesetzmäßigkeit ihres Handelns. Die Gesetzmäßigkeit des
Handelns aber bestimmte sich zunächst nach den allgemeinen, für alle
Bürger geltenden Gesetzen, wobei hauptsächlich die Grenzen des Straf-
gesetzes in Frage kamen. Daneben aber war es allzeit der souveränen
Entscheidung der demokratischen Parlamente überlassen, bestimmte
politische Gruppen in mehr oder minder scharfer Form zu befehden,
indem sie über den Rahmen des allgemeinen Strafgesetzes hinaus poli-
tische Handlungen oder Gesinnungen unter Strafe stellten. Es sei hier
nur an das berühmte Beispiel des französischen Nationalkonvents erin-
nert, der in den Gesetzen vom 23. Ventôse und vom 22. Prairial des Jah-
res II in sehr weitgehender Form die politischen Feinde der Konvents-
mehrheit zu Verrätern des Vaterlandes und Feinden des Volkes
erklärte.11 Nationalversammlung und Reichstag haben sich in den ver-
schiedenen Legislaturperioden niemals dazu entschlossen, bestimmte
politische Gruppen wegen des von ihnen verfolgten Zieles oder wegen
ihrer Gesinnung unter besondere Strafgesetze zu stellen. Einen schwa-
chen Ansatzpunkt hierzu könnte man höchstens in dem § 4 des Repu-
blikschutzgesetzes erblicken, der Gefängnis nicht unter drei Monaten
für diejenigen androht, die an geheimen oder staatsfeindlichen Verbin-
dungen teilnehmen, welche die Bestrebung verfolgen, die verfassungs-
mäßig festgestellte republikanische Staatsform des Reiches oder eines
Landes zu untergraben. Dem eigentlichen Sinne dieser Bestimmung
wird man nur dann gerecht, wenn man ihren doppelten Hinweis auf
die §§ 128, 129 des Strafgesetzbuches und auf die verfassungsgemäß
festgestellte Staatsform richtig würdigt. Beides sind Versuche zur For-
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386 [28.] Legalität und Legitimität [1932]
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[28.] Legalität und Legitimität [1932] 387
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388 [28.] Legalität und Legitimität [1932]
14 Eine solche Auffassung wird zum Beispiel von dem bekannten Staatstheoretiker
Hauriou vertreten; Hauriou, Précis de Droit constitutionnel, 2. Edition 1929,
S. 239. [Maurice Hauriou: Précis de Droit constitutionnel, 2. édition, Paris 1929.]
15 Vergleiche C. Schmitt im Handbuch des deutschen Staatsrechts, § 101 II. [Carl
Schmitt: Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, in:
Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg.): Handbuch des deutschen Staats-
rechts, Band 2, Tübingen 1932, § 101, S. 572-607.]
16 Zu dem Verhältnis von revolutionärem Denken und Legalordnung vergleiche
G. Lucacs, Legalität und Illegalität in Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin
1922. [Georg Lukács (Hg.): Legalität und Illegalität, in: Geschichte und Klassen-
bewußtsein, Berlin 1923, S. 217-227.]
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[28.] Legalität und Legitimität [1932] 389
einem Liberalismus abgewandt hat, der, wie seine Gegner leider gern
übersehen, weniger einer grundsätzlich liberalen Einstellung entsprach,
als sich nur als ein praktisches Ordnungsprinzip für ein klassengespal-
tenes Land erwiesen hatte. Die Notverordnungspraxis, die durch die
Unbestimmtheit ihrer oft wechselnden Regelungen jeder Partei Schwie-
rigkeiten bereitet (Uniform- und Abzeichenverbot), ging nicht dazu
über, bestimmte Parteien hors de la loi, außerhalb des Gesetzes, zu
erklären. Man ist schon deshalb nicht hierzu geschritten, weil dadurch
eine unerwünschte Diskrepanz zu dem noch in Geltung befindlichen
Parlamentsrecht mit seiner grundsätzlichen Gleichbehandlung aller
Parteien entstanden wäre. Aber fraglos hat die Notverordnungspraxis
durch die Unbestimmtheit ihrer Normierung (lebenswichtige Interes-
sen des § 6 der Notverordnung des Reichspräsidenten vom 10. August
1931, die vielen Blankovollmachten an die Verwaltungsbehörden in
Bezug auf Demonstrations-, Versammlungs- und Zeitungsverbote) den
Verwaltungsbehörden gestattet, die Grenzparteien mit bestrittenem
Legalitätscharakter gegenüber den andern Parteien zu benachteiligen.
Das Maß der Aktionsfreiheit der politischen Parteien bestimmt sich
jetzt nach der oft inappellablen, mindestens aber durch Zeitablauf einer
wirksamen Kontrolle entzogenen Entscheidung der Verwaltungsbe-
hörde. Für die Frage, ob eine bestimmte Versammlung oder ein
bestimmtes Plakat von der Behörde nicht beanstandet wird, sind an
Stelle der allgemeinen Gesetze spezifisch polizeiliche Ordnungsbegriffe
getreten. Wie die Behörde den Ermessensspielraum der Verordnungen
ausfüllt, entscheidet der allgemeine Charakter der Partei, mit anderen
Worten, der Beweis der Legalität im einzelnen Fall tritt hinter der gene-
rellen Legalitätsvermutung in den Hintergrund. Die Entscheidung über
die Legalitätsvermutung hängt wiederum in erster Linie von den
Anordnungen der Zentralverwaltungsbehörden, in schwächerem Maße
von den Entscheidungen der Gerichte ab. Bei solchen Entscheidungen
über die Legalitätsvermutung bezüglich einer bestimmten Partei ist es
aber für die oberste Verwaltungsinstanz sehr schwer, die Frage der
Legalität des Vorgehens von der der Legitimität der verfolgten Ziele zu
trennen. Die preußischen Erlasse17 verbürgen durch die Gleichstellung
der KPD und der NSDAP eine gewisse formale Betrachtungsweise, die
sich in erster Linie an der Gewaltsamkeit der angewandten Mittel ori-
entiert, wenn auch hier charakteristischerweise von dem gewaltsamen
Umsturz als Ziel, nicht als Mittel gesprochen wird. Der Erlass des
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390 [28.] Legalität und Legitimität [1932]
18 Vergleiche Glockner in »Die politische Betätigung der Beamten«, Bühl 1930, ein
dem Badischen Lehrerverein erstattetes Gutachten. [Gerhard Anschütz, Karl
Glockner: Die politische Betätigung der Beamten. Zwei Rechtsgutachten, Bühl/
Baden 1930.]
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[28.] Legalität und Legitimität [1932] 391
19 Abgedruckt bei Koellreutter a. a. O., S. 122. [Otto Koellreutter: Parteien und Ver-
fassung im heutigen Deutschland, in: Festgabe für Richard Schmidt, Leipzig
1932, S. 122.]
20 Vergleiche das Urteil des Preußischen Disziplinarhofs für nicht richterliche
Beamte, abgedruckt in der Frankf. Zeitung vom 28. Februar 1932.
21 Vergleiche das Urteil des Lübeckischen Disziplinargerichts bei Koellreutter,
S. 128. [Otto Koellreutter: Parteien und Verfassung im heutigen Deutschland, in:
Festgabe für Richard Schmidt, Leipzig 1932, S. 128.]
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392 [28.] Legalität und Legitimität [1932]
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[28.] Legalität und Legitimität [1932] 393
VI
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394 [28.] Legalität und Legitimität [1932]
tes, die sozialen Gegensätze auf dem Niveau der jeweiligen Klassen-
und Gruppenstärke auszugleichen, ohne die gegebenen Spannungen
zu beseitigen. In dem Maß, wie jener autonome, von den großen
Machtgruppen in der Form des Parlamentsgesetzes vollzogene Aus-
gleich durch die wachsenden Schwierigkeiten der gesamtdeutschen
Verhältnisse unmöglich wurde, wuchs die Selbständigkeit der intakt
gebliebenen Bürokratie. Aus der neutralen Vermittlungsinstanz, die als
Treuhänder annähernd sich das Gleichgewicht haltender sozialer Grup-
pen verwaltete, war durch ihre Geschlossenheit und durch den Zusam-
menhang mit der ihr praktisch koordinierten bewaffneten Macht die
Macht im Reiche schlechthin geworden. Sie ist die Trägerin der neuen
Legitimität, die die Periode der parlamentarisch-demokratischen Legal-
ordnung ablöst. Mit der legitimen Regierung legitimiert sie sich selbst,
mit der legitimen Partei beschränkt sie die Freiheit ihrer unversöhnli-
chen Feinde, und mit der legitimen Tarifpartei und dem legitimen
Arbeitskampf schickt sie sich an, das Arbeitsrecht bürokratisch zu
beherrschen. Und trotzdem, ihre eigene soziale Basis ist zu schwach, als
dass sie als überlegener Dritter zwischen den sich befehdenden Wirt-
schaftsgruppen einen Ausgleich zu schaffen vermöchte und dadurch
die Grundlagen der politischen Einheit des Volkes bewahrte.26 Gewiss,
die Bürokratie »macht den formellen Staatsgeist oder die wirkliche
Geistlosigkeit des Staates zum kategorischen Imperativ«,27 und ihre
Unparteilichkeit und Neutralität sind nur die ideologische Verbrämung
dafür, dass sie sich selbst für den »letzten Endzweck des Staates« hält.
Aber dieses statische, auf Beharrung gerichtete Sozialideal kann sie nur
verwirklichen, wenn sie bei den Gesellschaftsgruppen Anlehnung
sucht, die ein Interesse daran haben, den kapitalistischen Entwick-
lungsprozess auf einem gewissen, dem rückschauenden Betrachter
relativ günstig erscheinenden Punkt zu stabilisieren. Der Reichskanzler
Brüning ist es, der hier mit der von ihm oft gebrauchten Wendung, wir
müssten zu den einfachen und sparsamen Grundsätzen der Vorkriegs-
zeit zurückkehren, der Auffassung von Bürgertum, Kleinbürgertum
und Bürokratie Ausdruck verleiht. Dem im Flusse des gesellschaftli-
chen Entwicklungsprozesses unwiederbringlich Entschwundenen wird
hier ein Ewigkeitswert zugesprochen. Gegenüber solchen Restaurati-
onsversuchen muss der vorwärtsstrebende Wille der demokratischen
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[28.] Legalität und Legitimität [1932] 395
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396
[29.]
Die staatsrechtlichen Probleme der
Reichstagsauflösung*
[1932]
Solange das Kabinett Brüning und mit ihm der Reichspräsident gegen-
über allen politischen Gruppen für eine gewisse Neutralität bürgten,
war es möglich, die Unregelmäßigkeiten unserer verfassungsrechtli-
chen Zustände, in denen die Regel durch die Ausnahme, das Gesetz
durch die Maßnahme, die verantwortliche durch die geschäftsführende
Regierung abgelöst wurde, als ein vorübergehendes Stadium zu
betrachten, das den Rückweg zur verfassungsmäßigen demokratischen
Regierung offen ließ. Diese formale Neutralität, die das Brüning‘sche
Kabinett gegenüber Klassen und Parteien, gleichviel aus welchen Moti-
ven, gewahrt hat, ist mit diesem Kabinett dahingegangen. Die Befürch-
tungen, die Prévost-Paradol hinsichtlich der Unmöglichkeit eines unab-
hängigen republikanischen Präsidenten im Jahre 1869 ausgesprochen
hat,1 sind in Erfüllung gegangen. Damit hat sich auch die verfassungs-
politische Situation in Deutschland grundlegend geändert. Je geringer
mit zunehmender Verschärfung der politischen und sozialen Gegen-
sätze die personellen Garantien werden, die die verfassungsmäßig fest-
gelegte Unabhängigkeit des Reichspräsidenten bietet, umso größer
wird die politische Verantwortung der einzelnen sozialen Gruppen.
Wenn der Hüter der Verfassung der Übermacht einzelner Gruppen
gegenüber die verfassungsrechtlichen Grundsätze nicht mehr aufrecht-
erhalten kann, muss jede Gruppe selbst unter ihrer eigenen Verantwor-
tung prüfen, welche Handlungen der Regierung den verfassungsmäßi-
gen Gehorsam verdienen.
Solange das Parlament selbst erhalten blieb und damit zu rechnen war,
dass es seine Tätigkeit in einem für einen demokratischen Staat not-
wendigen Umfang wiederaufnehmen würde, konnte man sich mit
einer vorübergehenden Einschränkung seiner Funktionen abfinden.
Vor eine vollkommen neue Situation würden sich aber die Bekenner
* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 9, Heft 8, Berlin 1932, S. 125-135. – Zu diesem Text vergleiche in der Einlei-
tung S. 94-95. ]
1 La France nouvelle[, Paris 1869,] von [Lucien Anatole] Prévost-Paradol war ein
Werk von weittragender verfassungspolitischer Bedeutung.
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[29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932] 397
2 Vergleiche etwa die diesbezüglichen Ausführungen bei [Joseph von] Held: Sys-
tem des Verfassungsrechts II, [Würzburg 1856,] S. 479, und v. Roenne: Preußisches
Staatsrecht I, § 66. [Ludwig von Rönne: Das Staatsrecht der Preussischen Monar-
chie, Band 1, Leipzig 1864.]
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398 [29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932]
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[29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932] 399
bei uns in reiner Form die Verordnung des Reichspräsidenten über die
Auflösung des Reichstags vom 31. März 1928 darstellt. Dort heißt es:
»Nachdem der Reichstag mit den gestern verabschiedeten Gesetzen
das sogenannte Notprogramm erledigt hat und da nicht zu erwarten
ist, daß noch weitere größere gesetzgeberische Arbeiten in dieser Peri-
ode zum Abschluß gebracht werden können, löse ich auf Grund des
Art. 25 der Reichsverfassung den Reichstag auf.«
Mit Recht hat Carl Schmitt5 hervorgehoben, dass für die verschleierte
Selbstauflösung die Bestimmung über Einmaligkeit und gleichen
Anlass nicht anwendbar ist und jeder folgende Reichstag selbstver-
ständlich im Wege der verschleierten Selbstauflösung sein Ende finden
kann. Denn hier fehlt gerade das für die ministerielle oder präsidenti-
elle Auflösung typische Element: ein Streit zwischen Exekutivgewalt
und Parlamentsmehrheit, in dem das Volk als Richter fungieren soll.
Die Formen der ministeriellen oder präsidentiellen Auflösung sind
dann am Platze, wenn Parlament und Volk nicht mehr jenen politischen
Identitätsgrad besitzen, aus dem das Parlament die Legitimation zu sei-
nen Handlungen ableitet. Denn auf der nicht mehr vorhandenen Über-
einstimmung beruht letzten Endes das Recht zur Parlamentsauflösung
im parlamentarischen Staat.6 Da die Verfassung Exekutive und Legisla-
tive zu gemeinsamer Arbeit verpflichtet, kann und darf dieses Zusam-
menwirken nur dann vorzeitig aufgehoben werden, wenn Grund zu
der Annahme besteht, dass das Parlament nicht mehr Repräsentant der
Nation sei. Ob und unter welchen Voraussetzungen diese Annahme
berechtigt ist, bleibt dem pflichtgemäßen Ermessen des Staatsober-
hauptes und seiner für die verfassungsmäßig vorgeschriebene Gegen-
zeichnung verantwortlichen Minister Vorbehalten. Die Richtlinien, die
Queen Victoria in einem Brief an Lord Russell niedergelegt hat, zeigen
bei starker Betonung der gebotenen Zurückhaltung, dass mit Aus-
nahme des Verbots zweier noch zu behandelnder Fälle (Auflösung vor
Zusammentritt und Auflösung aus dem gleichen Anlass) dem diskre-
5 Arch. f. öff. R., N. F., Bd. 8, S. 170 bis 172. [Carl Schmitt: »Einmaligkeit« und »glei-
cher Anlaß« bei der Reichstagsauflösung nach Art. 25 der Reichsverfassung, in:
Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 8, Tübingen 1925, S. 162-173.]
6 Ein Ausfluss jener Identitätsforderung ist die in manchen Verfassungen vorgese-
hene Parlamentsauflösung bei Verfassungsänderung, vergleiche Belgische Verf.
Art. 131. Ebenfalls hierauf beruht die englische Verfassungspraxis, die bei Wahl-
rechtsänderungen eine Parlamentsauflösung für erforderlich hält.
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400 [29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932]
tionären Ermessen ein weiter Spielraum gesetzt ist.7 Daher kann auch
die Auflösungsverfügung des Reichspräsidenten vom 4. Juni nicht als
verfassungswidrig bezeichnet werden. Die Annahme, dass die Dauer
der Wahlperiode eine unwiderlegbare Vermutung für einen konstanten
Volkswillen darstelle, ist irrig. Wäre dies der Fall, so wäre das Institut
der Parlamentsauflösung hinfällig. Andererseits ist der der Auflösungs-
verfügung als Begründung beigefügte Satz, die statt gehabten Länder-
wahlen hätten ergeben, dass die Zusammensetzung des Reichstags
nicht mehr dem Volkswillen entspreche, keine Begründung im Sinne
des Art. 25 RV. Denn diese staatstheoretische Begründung für das Auf-
lösungsrecht des Staatsoberhaupts liegt, solange die Verfassungsge-
schichte dieses Rechtsinstitut kennt, jeder Auflösung zugrunde. Sie ist
die Basis für den der wechselnden politischen Situation entspringenden
Auflösungsgrund, macht aber diesen nicht entbehrlich. Die Reichstags-
auflösung vom 4. Juni 1932 ist daher als ohne Angabe von Gründen
erfolgt anzusehen, ein Verfahren, das zwar schon Lasker in der preußi-
schen Konfliktszeit anlässlich der Landtagsauflösung von 1863 gerügt
hat,8 das aber auch nach der Weimarer Verfassung nicht als unzulässig
angesehen werden kann. Freilich darf das Fehlen einer amtlichen
Begründung nicht zu der unhaltbaren Deduktion verführen, dass eine
spätere Auflösung deshalb niemals aus dem gleichen Anlass geschehen
könnte wie die vorangegangene, weil für diese ein Anlass nicht gege-
ben war. Die Möglichkeit, ein vom Parlament gestütztes oder wenig-
stens, wie im Fall Brüning, nicht gestürztes Ministerium zu entlassen
und es durch ein mit der Auflösungsorder ausgestattetes Minderheits-
kabinett zu ersetzen, verleitet leicht zu einer persönlichen Politik des
Staatsoberhaupts, die auszuschalten eben das Bemühen der parlamen-
tarisch-demokratischen Verfassung ist. Deshalb ist es nicht erstaunlich,
dass die Zulässigkeit einer solchen Offensivauflösung des Parlaments
lange Zeit streitig blieb. Mit den führenden englischen Autoren9 wird
man aber jenes Verfahren, nachdem es 1784 und 1834 in England zwar
7 Letters of Queen Victoria, S. 348. Dort heißt es: »Die Auflösungsbefugnis ist ein
sehr schätzbares und wertvolles Instrument in den Händen der Krone, welches
aber nur in den äußersten Fällen und mit Aussicht auf Erfolg angewendet wer-
den soll. Wird man aber bei Benutzung dieses Instruments geschlagen, so ist das
für Krone und Land gleichermaßen schädlich und betrübend.« [Victoria, Queen
of Great Britain, Arthur Christopher Benson, Reginald Baliol Brett Esher, Vis-
count: Letters of Queen Victoria, a selection from Her Majesty’s correspondence
between the years 1837 and 1861, published by authority of His Majesty the King,
London 1907.]
8 [Eduard] Lasker, Zur Verfassungsgeschichte Preußens, Leipzig 1874.
9 [William R.] Anson: Law and custom of the constitution, [Oxford] 1909, Bd. I,
S. 309. [Albert Venn] Dicey: Law of the constitution[, London] 1915, S. 432; ver-
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[29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932] 401
gleiche aber etwa die zurückhaltendere Stellungnahme bei Michael Mac Donagh:
The english king, [London] 1929, und die ablehnende Stellungnahme der Studie
von Paul Matter: La dissolution des assemblées parlementaires, Paris 1898, S. 191.
10 Protokolle des Verfassungsausschusses, S. 252/53 [Nationalversammlung, 46.
Sitzung, Freitag, den 4. Juli 1919, S. 1282].
11 Vergleiche Esmein Nézard: Droit constitutionel, 8. édition [Paris] 1927, tome I,
S. 176, und die Betrachtungen, die C. Schmitt, Arch. f. öff. R., Bd. 8, S. 166, daran
knüpft. [Carl Schmit: »Einmaligkeit« und »gleicher Anlaß« bei der Reichstags-
auflösung nach Art. 25 der Reichsverfassung, in: Archiv für öffentliches Recht,
N. F. 8, Tübingen 1925, S. 162-173.]
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402 [29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932]
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[29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932] 403
15 Schon die Schriftsteller der konstitutionellen Monarchie haben ein solches sofor-
tiges Wiederauflösungsrecht mit der Begründung verneint, dass die Kammer
durch ihre bisherige Tätigkeit den Beweis dafür geliefert haben müsse, dass bei
ihrer jetzigen Zusammensetzung eine für den Staat ersprießliche Wirksamkeit
nicht zu erwarten sei; vergleiche Roenne, Preußisches Staatsrecht I § 66 [Ludwig
von Rönne: Das Staatsrecht der Preussischen Monarchie, Band 1, Leipzig 1864],
und Max von Seydel, Komm. z. Verf.-Urkunde für das deutsche Reich, 1897,
S. 206. [Max von Seydel: Kommentar zur Verfassungsurkunde für das deutsche
Reich, Leipzig 1897.]
16 So in seltener Einmütigkeit die Literatur; Duguit: Droit constitutionnel II, p. 645
[Léon Duguit: Traité de Droit constitutionel, Paris 1923]; Esmein Nézard: a. a. O.,
I, p. 176 [Esmein Nézard: Éléments de Droit constitutionel, tome I, 8. édition,
Paris 1927 ]; [Antoine] Saint Girons: Essai sur la Séparation des Pouvoirs, Paris
1881, p. 348; Todd: Parlamentarische Regierung in England, 1871, Bd. 2, S. 350
[Alpheus Todd: Über die parlamentarische Regierung in England: ihre Entste-
hung, Entwickelung und praktische Gestaltung, zweiter Band, Berlin 1871];
Dicey: a. a. O., S. 428, 433/34 [Albert Venn Dicey: Law of the constitution, Lon-
don 1915]; Pohl: a. a. O., S. 27 [Heinrich Pohl: Die Auflösung des Reichstags,
Stuttgart 1921] und Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. 1, S. 487. [Ger-
hard Anschütz, Richard Thoma (Hg.): Handbuch des deutschen Staatsrechts,
Band 1, Tübingen 1930.]
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404 [29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932]
17 So knüpft Art. 5 des Gesetzes vom 25. Februar 1875 das Recht des Präsidenten
der französischen Republik zur Auflösung an die Einwilligung des Senats, die
österreichische Bundesverfassung in ihrem Art. 100 an eine qualifizierte Mehr-
heit des Länderrats, während die Bismarck‘sche Reichsverfassung in ihrem
Art. 24 das Auflösungsrecht dem Bundesrat unter Zustimmung des Kaisers
gibt. Einen schwachen Ansatzpunkt für die inhaltliche Begrenzung des Auflö-
sungsrechts kann man höchstens in der vorrevolutionären Kleinstaatsverfas-
sung von Reuß’ jüngerer Linie sehen, die in ihrem § 97 Abs. I das Auflösungs-
recht des Fürsten zwar unbeschränkt, aber nur unter Angabe von Gründen
zulässt.
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[29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932] 405
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406 [29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932]
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[29.] Die staatsrechtlichen Probleme der Reichstagsauflösung [1932] 407
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408
[30.]
Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts*
[1932]
* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 9, Heft 9, Berlin 1932, S. 194-209. – Zu diesem Text vergleiche in der Einlei-
tung S. 95-97. ]
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[30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932] 409
sich band. In der Ära Stresemanns, des letzten, gegenüber dem Typ
Naumann‘scher Prägung schon stark verblassenden Exponenten einer
repräsentativen »nationalliberalen Bürgergesinnung«, vollzieht sich die
restlose Reduzierung der bürgerlichen Bewusstseinshaltung auf ihr
wirtschaftliches Substrat. An die Stelle einer parlamentarischen Regie-
rung tritt der sich nach der jeweiligen sozialen Machtposition vollzie-
hende Ausgleich der sozialen Kräfte, wobei die staatliche Bürokratie
allmählich zur selbständigen schiedsrichterlichen Machtstellung auf-
steigt. Die Bedeutung der jeweiligen Regierung und damit auch des sie
tragenden Parlaments verringert sich zusehends. Bürokratie und Sozi-
alverbände bestimmen in der Zeit kapitalistischer Scheinblüte so maß-
gebend das staatliche Bild, dass die jeweilige Parlamentsregierung sich
oft umgekehrt proportional zu ihrer parteipolitischen Zusammenset-
zung auswirkt. Es sei nur daran erinnert, dass die deutsche Arbeitslo-
senversicherung in der Zeit des Kabinetts Marx-Keudell entstand. In
dieser Zeit, in der die Autorität parlamentarischer Regierungen hinter
dem märchenhaften Bild des Wirtschaftsführers verblasste, bildete sich
im Zusammenhang mit dem ständig wachsenden Tätigkeitsbereich des
Staates überhaupt die gesteigerte Bedeutung einer verselbständigten
Bürokratie heraus, die die innerdeutschen Ansatzpunkte zu der heute
grassierenden Ideologie des autoritären, oder in etwas abgeschwächter
Form, des schiedsrichterlichen Staates lieferte.
Die Rechtsgrundlage unseres konstitutionellen Systems bildet im posi-
tiven Sinne das Parlament. Seine funktionelle Ersetzung durch die
Autorität des Reichspräsidenten müsste schon in einem Land mit weni-
ger unversöhnlichen Gegensätzen als Deutschland die positiven
Grundlagen des Verfassungssystems in Frage stellen. Hier drückt die
Wahl des Präsidenten nicht die Einheitlichkeit eines Volkswillens, son-
dern, wie dies bei der Reichspräsidentenwahl im Frühjahr 1932 der Fall
war, nur die taktische Stellungnahme zu einer akuten politischen Situa-
tion aus.1 Umso mehr bedeutet die üblich gewordene Berufung auf die
Präsidialgewalt als Rechtsquelle eines immer umfassender werdenden
Staates den endgültigen Verzicht auf diejenigen Bestandteile der Wei-
marer Verfassung, die in der Rangordnung der Rechtsquellen dem Par-
lamentsgesetz des demokratischen Volkswillens den unbestreitbaren
Vorrang geben.
1 Diese Tatsache hebt der Leitartikel der Wiener »Arbeiterzeitung« vom 14. März
1932 klar hervor: »Millionen deutsche Arbeiter haben Hindenburg zum Reichs-
präsidenten gewählt, um die Wahl Hitlers zum Reichspräsidenten zu verhindern.
Es war ein politisches Manöver, Ausnutzung der Gegensätze, die im Lager der
Reaktion bestehen.«
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410 [30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932]
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[30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932] 411
https://doi.org/10.5771/9783845282534
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412 [30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932]
https://doi.org/10.5771/9783845282534
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[30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932] 413
richtshofs, in: Hans Lammers, Walter Simons (Hg.): Die Rechtsprechung des
Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich und des Reichsgerichts auf Grund
Artikel 13 Absatz 2 der Reichsverfassung, Band 2, Berlin 1930.]
7 [Hugo] Preuß, Um die Reichsverfassung von Weimar, [Berlin 1924, ] S. 37.
8 Anschütz in Handbuch des deutschen Staatsrechts, I, § 33 [Gerhard Anschütz:
Handbuch des deutschen Staatsrechts, Band 1, Berlin 1930]; [Wolfgang] Flad,
Verfassungsgerichtsbarkeit und Reichsexekution, Heidelberg 1929, S. 108.
9 [Rudolf] Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, Berlin 1928, S. 172/73, und
darauf fußend Heller in »Frankfurter Zeitung« vom 7. August 1932. [Hermann
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414 [30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932]
Heller: Ist das Reich verfassungsmäßig vorgegangen? In: Frankfurter Zeitung, 77.
Jg., Nr. 591/592, 10. August 1932, S. 1-2.]
10 [Hans] Nawiasky in einer Aufsatzreihe im »Bayrischen Kurier« vom 26., 27.
und 29. Juli 1932. Ebenso Giese »Deutsche Juristenzeitung« (»DJZ.«), 1932, Sp.
1022. [Friedrich Giese: Zur Verfassungsmäßigkeit der vom Reich gegen und in
Preußen getroffenen Maßnahmen, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg. 37, Berlin
1932, Sp. 1021-1024.]
11 Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen, Bd. 134, Anhang S. 44. [RGZ,
Band 134, Anhang, Leipzig 1932.]
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[30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932] 415
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416 [30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932]
15 Carl Schmitt in »Deutsche Juristenzeitung« 1932, Spalte 957[, Carl Schmitt: Die
Verfassungsmäßigkeit der Bestellung eines Reichskommissars für das Land
Preußen, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg. 37, Berlin 1932, Sp. 953-958]; andere
Autoren (Graf Westarp in »DJZ.« 1932, Spalte 574, Braatz in »DJZ.« 1932, Spalte
978 f.) unterscheiden zwischen der moralisch-verwerflichen und der verfas-
sungsrechtlich zulässigen Seite dieser Handlung. [Kuno von Westarp: Zur Wahl
des preuß. Ministerpräsidenten, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg. 37, Berlin 1932,
Sp. 574-576; Braatz: Das Geschäftsministerium in Preußen, in: Deutsche Juristen-
zeitung, Jg. 37, Berlin 1932, Sp. 978-981.] Für die Verfassungsmäßigkeit siehe
auch Giese, »DJZ.« 1932, Spalte 1021. [Friedrich Giese: Zur Verfassungsmäßig-
keit der vom Reich gegen und in Preußen getroffenen Maßnahmen, in: Deutsche
Juristenzeitung, Jg. 37, Berlin 1932, Sp. 1021-1024.]
https://doi.org/10.5771/9783845282534
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[30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932] 417
verfassung oder auch nur mit dem Willen der derzeitigen Landtags-
mehrheit konfrontiert werden kann, geht aus der oft übersehenen Tat-
sache hervor, dass die die Wiederherstellung des früheren Zustandes
betreffenden Anträge im neuen Landtag von den Antragstellern
zurückgezogen worden sind. Die preußische Geschäftsregierung Braun
besaß also den gleichen Legalitätsgrad wie alle andern deutschen
Geschäftsregierungen. Die Behauptung, dass die Geschäftsregierung
schlechthin eine Verletzung des Artikel 17 der Reichsverfassung dar-
stelle, die vereinzelt aufgestellt worden ist, wird sich die Reichsregie-
rung aus leicht verständlichen Gründen selbst nicht zu eigen machen
wollen. Im Übrigen schreibt Artikel 17 nur die Einhaltung des parla-
mentarischen Prinzips vor, das durch die Tatsache einer Geschäftsregie-
rung nicht verletzt wird.16 Die Sonderbehandlung der preußischen
Geschäftsregierung stellt somit eine schwere Verletzung des Satzes von
der notwendigen Gleichbehandlung aller Länder durch die Reichsge-
walt dar.
Nun ist aber die Reichsregierung keine unbedingte Anhängerin des
Prinzips der gleichen Chance, sondern will es auf die Parteien
beschränkt wissen, die nicht außerhalb der »nationalen Lebensgemein-
schaft« stehen. Es ist eine tragikomische Tatsache, dass es der preußi-
schen Regierung zum Verhängnis geworden ist, den Unterschied zwi-
schen der in der Idee des Parlamentarismus begründeten vorbehaltlo-
sen Chance und der Chance bei Wohlverhalten und auf Abruf aus
einem gewissen fundamentalen Gerechtigkeitssinn heraus anscheinend
nicht begriffen zu haben. Ihr von vielen kritisiertes Verhalten bestand
somit darin, aus dem Bewusstsein der Grundlagen parlamentarischer
und zugleich rechtsstaatlicher Institutionen heraus keine Diffamierung
der Kommunistischen Partei vorgenommen, sondern jede einzelne
Handlung nach dem für alle gleichermaßen geltenden Gesetz und nicht
nach einer der Verfassung unbekannten Unterscheidung zwischen
Staatsbürgern erster und solchen zweiter Klasse beurteilt zu haben. In
die Reihe der Einzelvorwürfe, die zur Rechtfertigung des Vorgehens
der Reichsregierung herangezogen worden sind, gehört auch der Emp-
fang kommunistischer Abgeordneter durch den Staatssekretär des
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418 [30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932]
17 Gedanken und Erinnerungen, Bd. 3, S. 81. [Otto von Bismarck: Gedanken und
Erinnerungen, Band 3, Stuttgart 1919.]
18 Ball in »Reichs- und preußisches Verwaltungsblatt 53«, S. 562. [Kurt Ball: Die
parlamentarischen Minister im Wahlkampf, in: Reichsverwaltungsblatt und
Preußisches Verwaltungsblatt, Jg. 53, Berlin 1932, S. 561-563.]
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[30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932] 419
mäßige Unabhängigkeit von dem politischen Kurs des Reiches erst die
organisatorische Selbständigkeit der Länder auf den ihnen verfassungs-
mäßig vorbehaltenen Verwaltungsgebieten gewährt. Es handelt sich
hier darum, ob es zulässig ist, von den Ländern mehr als nur die prinzi-
pielle Einhaltung der Verfassungsgrundlagen im Rahmen der in den
weitaus meisten Fällen vom Reich vorgezeichneten Gesetze zu verlan-
gen. Muss darüber hinaus auch der jeweilige verwaltungsmäßige
Regierungskurs im Reich von den Landesregierungen positiv unter-
stützt werden? Wer dies verlangt, beraubt die Bestimmungen der
Reichsverfassung, die nun einmal mit vorhandenen Ländern rechnet,
jedes Sinnes. Die Homogenität der politischen Grundhaltung, die jeder
Bundesstaat, und insbesondere eine so abgeschwächte Form des Bun-
desstaates, wie das Deutsche Reich sie darstellt, verlangt, setzt zwar im
20. Jahrhundert eine gewisse Gleichförmigkeit sozialer und kultureller
Institutionen voraus, aber das nordamerikanische Beispiel des La Fol-
lette-Staates Wisconsin in seinem Verhältnis zu den andern Bundesstaa-
ten der USA, das österreichische Beispiel des Verhältnisses der Stadt
Wien zu den übrigen Bundesmitgliedern zeigt, dass ein aus selbständi-
gen Gliedern bestehendes Staatengebilde solche heilsamen Diskrepan-
zen gerade im Interesse der Kontinuität seiner Zukunftsentwicklung zu
tragen verstehen muss. Sie liegen deshalb auch durchaus im Bereich
der »staatsrechtlichen Möglichkeit«.19 Die Aktion der Reichsregierung
hat es jedoch in Preußen unmöglich gemacht, den Willen großer Bevöl-
kerungsteile innerhalb der Verwaltung in gesetzmäßiger Weise zum
Ausdruck kommen zu lassen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass dazu
die Weimarer Verfassung weder in Absatz 1 noch in Absatz 2 des Arti-
kel 48 die Befugnis erteilt.
Das Ziel einer Reichsexekution kann nur sein, die konkrete Gesetzes-
oder Pflichtverletzung der Landesorgane abzustellen und so rasch wie
möglich den verfassungsmäßigen Zustand des selbständigen reichsver-
fassungsmäßigen Funktionierens der Landesorgane wiederherzustel-
len. Das Ziel des Ausnahmezustands kann nur sein, die gestörte Sicher-
heit und Ordnung in ihrem früheren verfassungsmäßigen Bestand wie-
der aufzurichten. Bei diesem Vorgehen muss das »organisatorische
19 Diese staatsrechtliche Möglichkeit, von der Giese, »DJZ.« 1932, Sp. 1022, spricht,
ist im Rahmen der geltenden Verfassung demgemäß keineswegs negativ zu
bewerten. [Friedrich Giese: Zur Verfassungsmäßigkeit der vom Reich gegen
und in Preußen getroffenen Maßnahmen, in: Deutsche Juristenzeitung, Jg. 37,
Berlin 1932, Sp. 1021-1024.]
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420 [30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932]
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[30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932] 421
keinen Stützpunkt finden.23 In Preußen sind aber nicht nur alle Minister
ihres Amtes entsetzt und eine Unzahl von Ersatzfunktionären angestellt
worden, sondern der Reichskommissar hat zweifellos durch weitge-
hende organisatorische Maßnahmen wie Zusammenlegung von
Gerichtsbehörden und Landkreisen bewusst organisatorische Ände-
rungen vorgenommen. Es ist unerfindlich, in welchem Zusammenhang
diese Änderungen mit der angeblichen Pflicht- und Rechtsverletzung
durch das preußische Staatsministerium stehen sollen. Es liegt hier ein
so schwerer Fall des Ermessensmissbrauchs vor, dass demgegenüber
eine Vermutung der subjektiven Gutgläubigkeit der Reichsregierung
nicht mehr Platz greifen kann.24
Jene verfassungsrechtliche Seite des Rechtsstreits Preußen contra Reich
zeigt – gleichgültig welche praktische Wirkung die Entscheidung des
Staatsgerichtshofs post festum noch zu erzeugen vermag –, dass die
Reichsregierung auf die Aufrechterhaltung jenes Teils der staatlichen
Rechtsgemeinschaft, der nach dem Versagen des Parlaments als Gesetz-
gebungsfaktor nicht zu bestehen aufhörte, keinen Wert legt. Denn die
über der Gesetzgebungsmacht eines Parlaments stehenden grundlegen-
den innerorganisatorischen Bestimmungen der Weimarer Verfassung,
die damit auch dem Zugriff der parlamentsvertretenden Präsidialdikta-
tur entzogen sind, unterliegen ebenso wie die wesentlichen sozialen
Grundrechtspositionen einem planmäßigen Vernichtungsprozess durch
die derzeitige Reichsregierung. Daraus ergibt sich notwendig eine ver-
änderte Stellung der Arbeiterklasse zu staatlichen Dingen. Denn dieser
Staat des 20. Juli ist weder ein parlamentarischer Gesetzgebungsstaat
mit potentiell gleicher Chance für alle Klassen, noch ein neutraler
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422 [30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932]
25 Vergleiche die instruktiven Darlegungen von Leibholz über die Grundlagen der
Wahlrechtsreform, Veröffentlichung der Vereinigung deutscher Staatsrechtsleh-
rer, Heft 7, 1932. [Gerhard Leibholz: Die Wahlrechtsreform und ihre Grundla-
gen, in: Veröffentlichung der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer, Heft 7,
Berlin 1932, S. 159-190.]
26 [Karl] Marx: Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie, in Historischer Materia-
lismus I, [Wien 1926, ] S. 161 ff.
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[30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932] 423
dieses autoritären Staates hat nichts mehr mit der Totalität des souverä-
nen demokratischen Nationalstaats gemein. Dieser »nachdemokrati-
sche Staat« bringt in Wirklichkeit höchst vordemokratische Elemente
zum Vorschein. Seine Grundlage ist die Totalität des Vetorechts gegen
jede massendemokratische Erscheinungsform der politischen Gesell-
schaft. Hierzu dient das angemaßte Schiedsrichteramt ebenso wie
Oberhaus und wiedererstandene Pluralwahlrechtskünste. Dieser neue
Staat verkörpert daher nicht die »transpersonale Dauer und Einheit der
Nation«, sondern verdeckt nur dürftig die sehr reale Herrschaft seiner
privaten und amtlichen Monopolisten.
Es war lange Zeit eine der tragenden Ideen des deutschen demokrati-
schen Sozialismus, im organischen Umbau des bestehenden Staates die
Voraussetzungen für sozialistische Neugestaltung zu sehen. Die Mög-
lichkeiten der Selbstverwaltung, die Benutzung der historisch über-
kommenen Formen der selbständigen Landesverwaltung schienen hier-
für nicht ungünstige Voraussetzungen zu liefern. Aber die weitgehende
Notwendigkeit zentraler Regelung auf dem Gebiet der Wirtschafts-,
Sozial- und Finanzpolitik hat den materiellen Bereich selbständiger
Herrschaftsübung in Ländern und Selbstverwaltungskörpern auch
schon vor der derzeitigen Wirtschaftskrise stark eingeengt. Hierdurch
hat sich schon früh ein Zwiespalt zwischen der personellen Durchdrin-
gung des Verwaltungsapparats, dem Besitz politischer Stellungen und
der relativen Beschränktheit des verbleibenden sozialen Spielraums
ergeben. Der Staatsstreich des 20. Juli hat insoweit der gesamten Not-
verordnungspraxis einen ebenso gewaltsamen wie eindeutigen vorläu-
figen Abschluss gegeben, der mindestens den Vorzug unmissverständ-
licher Klarheit besitzt. Die Zentralisierung staatlicher Macht, unter wel-
chen äußeren Formen sie sich auch immer verbergen mag, nimmt dem
Teilbesitz staatlicher Macht praktische Bedeutsamkeit. Sie zwingt der
Arbeiterklasse neue Kampfformen auf. Es wäre aber eine irrige Bewer-
tung, im Verhältnis von Staat und Gesellschaft jedweden Staat schlecht-
hin als höhere Organisationsform anzusehen. Der Staat, der seine jeden
verfassungsmäßigen Rechtstitels bare Ordnung auf die Zwangsgewalt
weniger politischer und ökonomischer Monopolisten stellt, ist unfähig,
jene Einheit von Staat und Gesellschaft zu vollziehen, die heute als
greifbares Ergebnis eines sozialen Prozesses von gewaltigem Ausmaß
hergestellt werden muss. Hier liegt die aus der Dialektik des geschicht-
lichen Geschehens heraus begreifbare Leistung, die vor unseren Augen
der wiedererwachte Feudalismus vollbringt, der wider Willen dabei ist,
die Einheit zweier geschlossener Fronten – den feudalisierten Staat
gegen die proletarisierte Gesellschaft – zu konstituieren. Daher steht
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424 [30.] Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts [1932]
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425
[31.]
Nazis, Auslandsdeutsche und Proleten*
[1932]
* [Erschienen in: Das freie Wort, Jg. 4, Heft 21, Berlin 1932, S. 17-20. – Zu diesem
Text vergleiche in der Einleitung S. 97-98. ]
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426 [31.] Nazis, Auslandsdeutsche und Proleten [1932]
anderen reicht, mögen sie mitessen, wenn nicht, müssen sie fort. Der
Rumäne darf in seinem Lande nicht verhungern, denn er ist Schaffer,
Träger und Schützer des Staates.« Es ist wohl verständlich, dass die
rumänischen Nationalisten mit den Hitler‘schen Lehren sehr zufrieden
gewesen sind. Die Frage aber, ob die siebenbürgischen Gastfreunde der
nationalsozialistischen Studenten mit jenen Auslassungen zufrieden
gewesen sind, kann Mannhardt beim besten Willen nicht bejahen. Und
wir unterscheiden uns von Mannhardt nur dadurch, dass wir dieses
Auftreten der Nationalsozialisten in Siebenbürgen, das die Interessen
der dort ansässigen deutschen Bevölkerung schwer geschädigt hat,
nicht als Mangel an Fingerspitzengefühl, sondern als das bei den Natio-
nalsozialisten schon bekannte Zurücktreten nationaler Interessen hinter
ihren Parteiinteressen bezeichnen müssen. Die gleiche Verurteilung fin-
det Mannhardt für die Haltung der Nationalsozialisten gegenüber Süd-
tirol, und es ist sehr interessant, dass in einem Buche, das eigentlich der
geistigen Vorbereitung der nationalsozialistischen Machtergreifung
dient, den Beamten des Auswärtigen Amtes bescheinigt werden muss,
dass sie ihre Aufgabe auf diesem Gebiet gut gelöst haben.
Endlich weist Mannhardt noch sehr interessanterweise darauf hin, wel-
che unerwünschte außenpolitische Auswirkung die Stellung des Natio-
nalsozialismus zum Judentum haben kann; denn das Judentum kämpft
in den außerdeutschen Ländern Schulter an Schulter mit den Deut-
schen als nationale Minderheit gegen nationalistische Bedrückung, aber
noch weitergehend, das Judentum ist in den ostdeutschen Ländern geradezu
ein Träger deutscher Zivilisation. Und Mannhardt sagt unmissverständ-
lich, dass die Auslandsdeutschen im Osten erwarten, dass dieser
Zustand des vertrauensvollen Einvernehmens zwischen Judentum und
Deutschtum auch fernerhin nicht gestört wird. Nach diesen Betrach-
tungen kann man wirklich die Frage nicht unterdrücken, die der Ver-
fasser in dieser Präzision trotz seiner sichtbar schweren Sorgen über die
außenpolitische Wirkung des Nationalsozialismus leider zu stellen
unterlässt: Welchen Nutzen sollen die Auslandsdeutschen eigentlich
vom Nationalsozialismus haben? Oder vielmehr: Ist der Nationalsozia-
lismus nicht gerade geeignet, alles das, was die Auslandsdeutschen in
mühevollen Jahren aus eigener Kraft und mit Unterstützung der
Reichsregierung erreicht haben, durch seinen maß- und ziellosen
Nationalismus zu vernichten? Und die innenpolitischen Methoden des
Nationalsozialismus sind es doch, die einem nationalsozialistischen
deutschen Regime bei jeder deutschen Minderheitenbeschwerde entge-
gengesetzt werden. Denn darüber müssen sich auch rechte Politiker
klar sein: Es wird wenig Überzeugungskraft haben, wenn wir etwa von
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[31.] Nazis, Auslandsdeutsche und Proleten [1932] 427
den Polen und Litauern unter Hinweis auf allgemeine Grundsätze zivi-
lisierter Staaten eine liberale Behandlung der deutschen Minderheiten
verlangen, wenn wir im innerdeutschen Gebiet solche Grundsätze aufs
gröbste missachten.
Von anderem Charakter ist der Beitrag des bekannten nationalsozialis-
tischen Professor Ferdinand Plate, Jena, »Die Forderung der Biologie an
den Staat«. Dieser Aufsatz, der bei der Autorität Plates als Universitäts-
professor nicht als Darlegung eines Außenseiters, sondern als national-
sozialistischer Programmpunkt bewertet werden muss, verdiente in
Millionen von Exemplaren unter der deutschen Arbeiterschaft verteilt
zu werden. Werden sie doch erst durch diesen Aufsatz darüber aufge-
klärt, dass sie nicht nur einer sozial benachteiligten Schicht angehören,
sondern dass sie rassisch und eugenisch eine durchaus minderwertige
Angelegenheit darstellen. Für Herrn Plate sieht die Welt so aus: Oben
gibt es eine dünne geistige Führerschicht, dann kommt die Mittel-
schicht des Mittelstandes und des Bauerntums, deren hehre Aufgabe es
ist, dem deutschen Volk seine Oberschicht zu ergänzen. Damit ist es
aber aus. Die Unterschicht, von der Plate die qualifizierte Arbeiter-
schaft gnädigst in die Mittelschicht versetzt, »schwillt« – so heißt es
wörtlich –
»sehr schnell an, zumal ihre Zeugungskraft ungebrochen ist und
namentlich in ihren minderwertigen Teilen nicht in dem Maße, wie in
ihren anderen Schichten, durch verstandesmäßige Erwägungen
beschränkt ist. Überdies enthält die Unterschicht auch den ganzen
Haufen der irgendwie Anbrüchigen, der Psychopathen und des Ver-
brechertums. Sehr gering ist ihr Gehalt an wertvollen Kräften mit unausge-
formten Zukunftsmöglichkeiten.«1
Was soll man mit dieser Unterschicht machen? Dass sie nur Objekt der
Politik der Oberschicht ist, das ist für unseren Biologen so selbstver-
ständlich, dass es überhaupt nicht der Erwähnung wert ist. Verhungern
lassen kann man die nicht völlig, also muss man die Löhne so staffeln,
dass sich ein niedriges Lebenshaltungsniveau der Unterschicht ergibt.
Und wie niedrig muss nun dieses Lebenshaltungsniveau sein? Ganz
einfach: Es muss so niedrig sein, dass die Unterschicht keine Lust mehr
zur Fortpflanzung verspürt. Sollte sie aber dennoch so asozial sein, sich
1 [Ferdinand Plate: Die Forderung der Biologie an den Staat, in: Albrecht Erich
Günther (Hg.): Was wir vom Nationalsozialismus erwarten, Heilbronn 1932,
S. 134. – Die Hervorhebungen in diesem Zitat stammen von Otto Kirchheimer. Im
Originaltext heißt es »beschränkt wird«.]
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428 [31.] Nazis, Auslandsdeutsche und Proleten [1932]
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429
[32.]
Verfassungsreaktion 1932*
[1932]
Die öffentliche Meinung wird gegenwärtig mit der Frage der Verfas-
sungsreform beschäftigt. Da sich im heutigen Deutschland die Organi-
sationen dieser öffentlichen Meinung unauffällig von ihren Produkten
zu distanzieren wissen, kann der außenstehende Beobachter über den
Mischungsgrad von Spontaneität und zentralem Plan nur recht vage
Vermutungen hegen. Vorläufig klingt das allgemeine Rufen nach Ver-
fassungsreform so dringlich, als ob die Umorganisierungsgeschwindig-
keit der parlamentarischen Demokratie die Voraussetzung für eine ent-
sprechende Zunahme des Beschäftigungsgrades bilde. Mindestens
könnte man dies meinen, wenn man nicht wüsste, dass dieser Regie-
rung die »Sanierung der Seelen« – um ein Wort Seipels zu gebrauchen
– ebenso wichtig erscheint, wie die Sanierung der Wirtschaft. Oder han-
delt es sich vielleicht um die Sanierung ihrer Herrschaft?
Jedenfalls naht die Zeit, wo die Regierung gezwungen ist, zur Konkre-
tisierung ihrer politischen Metaphysik zu schreiten. Bisher wusste man
nur, dass diese Regierung zum polemischen Instrument gegen die Wei-
marer Verfassung bestimmt war. Aber ihre institutionellen Konsequen-
zen waren deshalb schon problematisch, weil sie zu einem nicht gerin-
gen Teil auf die Person des gegenwärtigen Reichspräsidenten abgestellt
sind. Mag die Regierung der autoritären Staatsführung noch so stark
die Leerform der Demokratie, die Unmöglichkeit anonymer Parla-
mentsmehrheiten, heterogener Interessenparteien als Prinzip ablehnen
(so spiegelt sich hier die Demokratie wider) und ihre Legitimierung mit
dem hic et nunc der Person des gegenwärtigen Reichspräsidenten ver-
binden – schon die Prätention, »vier Jahre an der Macht zu bleiben«,
muss sie darauf führen, dass es eine zwar nicht hinreichende, vielleicht
aber notwendige Bedingung ihrer Existenz ist, dem deutschen Volk die
Illusion zu geben, als könne eine seinen politischen Bedürfnissen ent-
sprechende, auf Dauer berechnete Reform der politischen Seinsord-
nung unter Führung der durch sie repräsentierten Schichten und Ideen
stattfinden. Man geht dabei von dem richtigen Gedanken aus, dass
* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 9, Heft 11, Berlin 1932, S. 415-427. – Zu diesem Text vergleiche in der Ein-
leitung S. 100-102.]
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430 [32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932]
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[32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932] 431
tät und Legitimität1 als eine Schrift darbieten, die sich aus diesem Kreis
sowohl durch ihr Zurückgehen auf die Grundlagen der Staatstheorie
als auch durch ihre Zurückhaltung in den Schlussfolgerungen aus-
zeichnet. Carl Schmitt teilte mit der Mehrheit der Verfassungsreformer
des Jahres 1932 die Aufnahme der Wahlparole des Jahres 1925: Mehr
Macht dem Reichspräsidenten! Allerdings ist aus der Differenz der
konkreten Intentionen von damals und heute die im demokratischen
Sinn rückläufige Bewegung des dazwischen liegenden Intervalls, der
ersten Amtsperiode des Herrn von Hindenburg, erkennbar. War der
erste Ruf an Hindenburg der nach einer Verfassungsreform innerhalb
der Weimarer Verfassung, so handelt es sich heute um Verfassungsre-
volution. Ging es damals deutlich um die Auseinandersetzung zweier
Legalitätsfaktoren im strittigen Grenzbereich, so wird heute die Forde-
rung laut, durch die präsidiale Legitimität die parlamentarische Legali-
tät aufzuheben. Darüber darf auch nicht hinwegtäuschen, dass demje-
nigen Organ, dem im Schmitt‘schen Verfassungsbild (das aus der
genannten Schrift sich freilich nur in großen Umrissen ergibt) eine
beherrschende Rolle zukommt, nämlich dem unmittelbar auftretenden
Volk auch in der Reichsverfassung eine maßgebende Stellung einge-
räumt ist. Handelt es sich doch nicht nur um unmittelbar verschiedene
Gehalte in der bestehenden und der geplanten Verfassung. Heute über-
trägt sich die herrschende Rolle der Parteien bei den Parlamentswahlen
auch auf das Plebiszit und prägt ihm, sowohl der Form als auch dem
Inhalt nach den Charakter einer Partei- oder Klassenaktion auf. Dass
die Parteien das Volk nicht nur intermittierend für die Wahlzeiten orga-
nisieren wie in den USA, wo sie den Charakter einer bloßen Wahlplatt-
form haben, zeigt sich auch darin, dass sie auch beim Volksbegehren
entweder selbst die Initiative übernehmen oder ein anderswie eingelei-
tetes Volksbegehren stützen und ihm damit überhaupt erst eine
Erfolgschance verschaffen. Bei Carl Schmitt dagegen besteht der demo-
kratische Charakter des Plebiszits lediglich in einer unorganisierten
Antwort, die das als Masse charakterisierte Volk auf eine Frage gibt, die
nur von einer als vorhanden gesetzten Autorität gestellt werden darf.
Konstruktion und Abhängigkeit dieser Autorität sind unbekannt, und
nur ihre Existenz selbst ist ein deutlicher Punkt in dem sonst in über-
wiegend ideologischer Kritik verharrenden Bild. Dem gegenüber kon-
trastiert das Volk. Wenn in dem einen Fall ohne den Nachweis einer
institutionellen Garantie angenommen wird, dass der Magistrat das
Gute will, so in dem andern Fall, dass das Volk dieses Gute, dessen
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Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
432 [32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932]
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[32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932] 433
keine Frage, in die er sich, taub oder blind wie er ist, nicht einmischte,
seine Absichten durchsetzend.«3
Wie immer man auch diesen von Ortega y Gasset als »Aufstand der
Massen« bezeichneten Vorgang bewerten mag, klar scheint zu sein,
dass der Tatbestand, den man je nach seiner weltanschaulichen Einstel-
lung als Selbstbescheidung oder Selbstunterwerfung der Masse
bezeichnen kann, der Vergangenheit angehört. Jener sozialpsychologi-
sche Habitus, unzweifelhaft ein Merkmal auch noch des Anfangsstadi-
ums der Massendemokratie, ist in der Zäsur des großen Krieges und
der mit ihm verbundenen Umwälzungen zurückgetreten. Die Krise der
Demokratie, gerade jene Tatsache also, auf deren historischem Hinter-
grund Schmitt die Theorie entwirft, die wir betrachten, hat die Ent-
wicklung nur beschleunigt. Nichts wäre falscher als, eine momentane
Ebbe der politischen Massenspannungen verabsolutierend, zu glauben,
dass etwa gleichlaufend zur Konzentration der Macht von Bürgertum,
Armee und Bürokratie im deutschen Staatsapparat eine Diffusion des
politischen Masseninteresses eingetreten sei. Es scheint deshalb, dass
die Geburtssituation der schwerste Fehler dieser neuen Verfassung
wäre. Es stößt sich die vordemokratische Grundlage dieser
Schmitt‘schen Theorie mit ihrer Intention, eine entfaltete Demokratie zu
liquidieren.
Aber selbst wenn man die Möglichkeit einer auf längere Zeit berechne-
ten Realisierung dieser neuen Machtverteilung einmal unterstellt, so
scheint, dass im Umriss der neuen Verfassungsordnung das Problem
der verfassungsrechtlichen Dynamik, der Normierung des Machtwech-
sels, ungelöst geblieben ist. Hat der Magistrat zurückzutreten, wenn er
sich bei einer wenn auch richtig gestellten plebiszitären Frage einen
Misserfolg holt? Oder würde hier nicht nach aller geschichtlichen
Erfahrung die von Schmitt früher einmal als Jakobinerlogik4 bezeich-
nete Ideologie, die dem subjektiven Meinen der Volksmasse ihr objekti-
ves Meinensollen substituiert, die Lücke der Verfassungstheorie auch
heute ausfüllen müssen? Wie viele Vorwürfe man der modernen
Demokratie auch machen kann, immerhin ist sie die einzige Staatsform,
die in einer Zeit wachsender sozialer und mitunter auch nationaler
Heterogenität das Zusammenwirken bzw. den Wechsel verschiedener
Gruppen verfassungsmäßig ermöglicht. Sie allein fasst durch ein allge-
meines, gleiches und geheimes Wahlrecht sowie durch die Garantie der
3 Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, [Stuttgart] 1932. S. 75, 76.
4 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Grundlage des heutigen Parlamentaris-
mus. 2. Aufl.[, Berlin 1926.]
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Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
434 [32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932]
https://doi.org/10.5771/9783845282534
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[32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932] 435
6 Eugen Schiffer, Die neue Verfassung des Deutschen Reiches[. Eine politische
Skizze], Berlin 1932.
7 Marx, Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie, in: »Der historische Materialis-
mus«, Frühschriften I., S. 105. [Karl Marx: Kritik der Hegelschen Staatsphiloso-
phie, in: Siegfried Landshut, Jacob-Peter Mayer (Hg.): Der historische Materialis-
mus. Die Frühschriften, Band 1, Leipzig 1932, S. 105.]
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436 [32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932]
8 Die gleiche Befürchtung spricht auch Meinecke in seinem Aufsatz »Ein Wort zur
Verfassungsreform« (Vossische Zeitung vom 12. Oktober 1932) aus. [Friedrich
Meinecke: Ein Wort zur Verfassungsreform, in: Vossische Zeitung, 12. Oktober
1932, Berlin, S. 1.]
9 Art. 14 Satz 2: »Er [der Reichspräsident] kann auch ohne einen Beschluß des
Reichstags ein Gesetz verkünden, wenn sein Erlaß unaufschiebbar ist und der
Reichstag sich außerstande erweist, es rechtzeitig zu beschließen.« Art. 15 Satz 2:
»Sie [die Gesetze und Maßnahmen des Reichspräsidenten] sind außer Kraft zu
setzen, wenn der Reichstag es verlangt und zugleich feststellt, daß sie des
begründeten Anlasses entbehren. Trifft der Reichstag diese Feststellung, so hat er
darüber abzustimmen, ob gegen den Reichspräsidenten, den Reichskanzler und
die verantwortlichen Reichsminister Anklage wegen schuldhafter Verletzung der
Reichsverfassung zu erheben ist. Trifft er sie nicht, so sind die beanstandeten
Maßnahmen nur dann außer Kraft zu setzen, wenn der Reichstag an ihrer Stelle
andere demselben Zweck dienende Maßnahmen beschließt.« [Die Einschübe
stammen von Otto Kirchheimer.]
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[32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932] 437
10 Art. 7: »Der Reichspräsident ist der Hüter der Verfassung. Er kann jede Verlet-
zung der Verfassung rügen und gegen ein verfassungswidriges Verhalten [...]
einschreiten.«
11 Art. 30: »Der Reichstag kann in einem mit einer Begründung versehenen
gemeinschaftlichen Ersuchen beider Häuser die Entlassung der Regierung ver-
langen. Lehnt der Reichspräsident die Entlassung ab, so kann der Reichstag die
Absetzung des Reichspräsidenten durch Volksabstimmung beantragen. Der
Beschluß des Reichstags erfordert Zweidrittelmehrheit jedes der beiden Häu-
ser.«
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438 [32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932]
lehre erstaunlich, wenn sich diese Vertauschung von Recht und Sitte
vollziehen würde, ohne dass dabei an den realen Prozessen des Gebens
und Nehmens, sei es in der ökonomischen, sei es in der politischen
Sphäre, eine wesentliche Veränderung eintritt.
Als rationale Begründung für eine solche Abdikation des parlamentari-
schen Gesetzgebers wird darauf hingewiesen,12 dass in der gegenwärti-
gen Epoche Individualität und Mangel an Dauer diejenigen Norm-
strukturen darstellen, die sich allein mit dem vorliegenden Substrat
decken und von ihm gefordert sind. Man könnte dieser These beistim-
men, dürfte dabei aber nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, dass es
zwei verschiedene Veränderungen des Substrats sind, die hier
zugrunde liegen:13 einerseits die Organisierung der Gesellschaft in
ihrer ökonomischen und sozialen Sphäre, die die infinitesimal geringe
Bedeutung des Individuellen aufhebt, andererseits die besondere
Schnelligkeit der sozialen Dynamik in bestimmten, aber durchaus nicht
allen Zeitabschnitten dieser Geschichtsepoche der »Organisierung«, die
ja sowohl »Spätkapitalismus« wie »Frühkapitalismus« umfassen dürfte.
In jedem Fall aber erscheint das »bis hierher und nicht weiter«, das von
diesen Kritikern dem Parlament zugerufen wird, wenn es sich über die
Grenzen des generellen Gesetzesbegriffs hinauswagen will, nicht
schlüssig. Mit besonderer Emphase versucht man heute, den generellen
Charakter, der in einer bestimmten Epoche der kapitalistischen Ent-
wicklung aus sozialen, nicht aus unmittelbar politischen Gründen zu
einem (damals übrigens unbeachtet gebliebenen) Strukturbegriff des
parlamentarischen Gesetzes wurde, als ein begriffsnotwendiges Merk-
mal jedes Parlamentsgesetzes hinzustellen und daraus den Schluss her-
zuleiten, dass heute das Parlament, dem sein Korrelatbegriff des gene-
rellen Gesetzes verloren gegangen ist, natürlicherweise dem Diktator
des Verwaltungsstaates weichen müsse. Aus dieser Beweisführung
ergibt sich auf jeden Fall, dass eine auf ganz andere (sub specie dieser
Epoche zum großen Teil zufällige) Ursachen zurückführbare Funkti-
onsunfähigkeit des Parlaments dem Wandel des sozialen Substrats
selbst zugerechnet und damit eine hoffnungslose Prognose der maladie
parlementaire gestellt wird. In Wirklichkeit ist keineswegs erwiesen,
dass erstens die Allgemeinheit ein notwendiges Begriffsmerkmal des
Gesetzes überhaupt ist und zweitens die Bürokratie in der Lage ist, den
gegenwärtigen Zuständen entsprechendere Regelungen zu finden als
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[32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932] 439
das Parlament. Dass diese bei der Unbeschwertheit ihres Verfahrens die
Regelungen schneller und kaleidoskopartiger und ohne jenes parla-
mentarische Minimum an Schutz für den Betroffenen vornehmen kann,
dürfte bis in weite Kreise des Bürgertums hinein nicht mehr als Vorteil
angesehen werden.
Die Einschränkung der Parlamentsrechte erfolgt jedoch nicht nur durch
die Präsidialgewalt als durch einen deutlich vom Parlament unterschie-
denen Faktor, sondern dem Parlament sollen überdies ihm wesens-
fremde Elemente in der historisch bekannten Gestalt des Oberhauses
eng zugeordnet werden. Neben die hier antidemokratisch gewendete
plebiszitäre Legitimität des Reichspräsidenten tritt das uranfänglich
antidemokratische Element der Legitimation der sogenannten Sachbe-
rechtigten. Es ist eine eigenartige Mischung von Cäsarismus und Stän-
destaat, von Erwartung des Durchbruchs der persönlichen Integration
und der genauen Festlegung einer Ordnung der Lebensbereiche und
der in ihnen Berechtigten.14 Fragt man sich, welches von den bei
Schiffer in roher Form genommenen Elementen von der deutschen
Reaktion in Zukunft bevorzugt werden wird, die Institutionalisierung
des heutigen politischen Status quo oder der Ausbau des Ständeparla-
ments, so muss die Antwort zugunsten des Ständeparlaments lauten.
Denn während die Normen der Präsidentenwahl bei der sozialen
Struktur Deutschlands keine Gewähr dafür bieten, dass das Volk den
»Würdigen« trifft, bedeutet jene Abbildung der herrschenden sozialen
Machtverhältnisse, wie sie der Ständestaat in der politischen Ebene eo
ipso darstellt, eine Garantie für die Erreichung der eigentlichen materi-
ellen Ziele dieser Verfassungsreform. Wie bei einer Beibehaltung der
bisherigen plebiszitären Selbstlegitimierung dieser neuen Regierung
ihre Krise im Moment der früher oder später notwendig werdenden
Abhebung von dieser Basis fällig wird, so wird auch in diesem Moment
die zweite und im Sinne dieses Regimes wohl endgültige praktische
und verfassungstheoretische Fundierung erfolgen müssen. In diesem
Moment wird neben dem Oberhaus die von jeder Volkswahl unabhän-
gige Bürokratie das spezifische Gewicht ihres Legitimierungsbeitrags
steigern, aber auch ihre funktionelle Bedeutung im Rahmen des wiede-
rum veränderten Staatssystems erhöhen. Indem der Ständestaat das
Problem der Willensvereinheitlichung nicht löst, sondern nur ver-
schiebt, bedingt er als ein Korrelat eine als pouvoir neutre eingreifende
14 Art. 19: »Die Mitglieder des Länder- und Ständehauses werden von den Regie-
rungen der Länder, den Obrigkeiten der Gemeinden und Gemeindeverbänden
und den Organisationen des wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebens
bestimmt.«
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440 [32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932]
Bürokratie, die hier der wirkliche deus ex machina ist.15 Dann fällt auch
der legale Ansatzpunkt der Revolution, der in der Wahl eines unabhän-
gigen Präsidenten gegeben sein könnte, fort. Statt des fehlenden Mas-
senventils der Wahl tritt eine allseitige Korrumpierung ein. Das Wort
»Alles ist Pfründe und nichts lebt«, das Carl Schmitt auf den parlamen-
tarischen Gesetzgebungsstaat angewandt hat, würde in adäquaterer
Weise für eine Staatsordnung gelten, in der alle Dynamik zugunsten
einer illusionären Statisierung ausgelöscht wird. Wenn diese noch in
der Unabänderlichkeit der Verfassung selbst (außer durch ein pouvoir
constituant, dessen legale Herkunft allerdings nirgendwo angedeutet
wird) verankert ist, so wird damit die letzte Chance einer Kontinuität
der Rechtsordnung ausgeschlossen.16
Die Kritiker, sowohl Theoretiker wie Praktiker, glauben sich heute über
das Verfassungswerk von Weimar erhaben. Sie beweisen damit die
Wahrheit des Hegel‘schen Satzes, dass das einzige, was man aus der
Geschichte lernen kann, das ist, dass die Menschen nichts aus ihr ler-
nen. Was Weimar versagen ließ, scheint in erster Annäherung die durch
die Selbstverständlichkeit demokratischen Verhaltens nicht gemilderte
soziale Heterogenität, die einen bisher historisch unbekannten Grad
erreichte. Aber dieses Versagen beweist nicht, dass diese Heterogenität
durch den autoritären Staat das zweite wesentliche Instabilitätselement
der Weimarer Demokratie, ein ihr unverbundenes Heer und Beamten-
tum, an sich zu binden vermag. Freilich ist das in der plebiszitären
Spielart wiederum nur eine sehr unsichere Chance. In der ständischen
Gesellschaft wächst die instabilisierende Kraft der von jeder Reform-
möglichkeit des Status quo der sozialen Machtverteilung abgesperrten
und von der Suche nach einem eigenen Kompromiss entbundenen
15 Mit vollem Recht hat Thoma in seinem Artikel »Staat« im Handwörterbuch der
Staatswissenschaften, Bd. 6, S. 743, hervorgehoben, dass ein Berufsständeparla-
ment den Konstitutionalismus mit selbstregierender Bürokratie erfordere: »Man
muß beides wollen oder auf beides verzichten.« [Richard Thoma: Staat (Allge-
meine Staatslehre), in: Ludwig Elster, Johannes Conrad (Hg.): Handwörterbuch
der Staatswissenschaften, Band 7, Jena 1926, S. 724-756.]
16 Wenn Schiffer in Art. 38 seines Entwurfs die Unabänderlichkeit dieser seiner
Verfassung vorsieht und ihre Aufhebung oder Abänderung nur durch eine neue
Nationalversammlung zulassen will, so kann er sich hierfür übrigens nicht auf
Schmitt berufen. Denn Schmitt nimmt in seinem zitierten Buch gerade eine
bewusste Minderbewertung aller Organisationsformen vor und legt sich nur
auf die unabänderlichen materialen Werte des zweiten Hauptteils der Weimarer
Verfassung fest, während Schiffer es bewusst unterlässt, Grundrechte aufzuneh-
men, weil alles im Fluss sei und es schon mehr als gewagt sei, sich heute hin-
sichtlich der künftigen Gestaltung der Ehe, des Familienlebens oder gar der
Wirtschaft festzulegen. (S. 33.) [Eugen Schiffer: Die neue Verfassung des Deut-
schen Reiches, Berlin 1932, S. 33.]
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[32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932] 441
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442 [32.] Verfassungsreaktion 1932 [1932]
17 Marx, Das Elend der Philosophie. [Karl Marx: Das Elend der Philosophie. Ant-
wort auf Proudhons »Philosophie des Elends«, in: MEW Band 4, Berlin 1972,
S. 63-182.]
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443
[33.]
Die Verfassungsreform*
[1932]
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444 [33.] Die Verfassungsreform [1932]
Ist schon allein die Bindung des Reichstags an ein konservatives Ober-
haus geeignet, die demokratische Staatsstruktur zu zerstören, so
geschieht dies noch nachdrücklicher durch die Strukturänderung, die
sich im Reichstag selbst durch Änderungen der Wahlrechtsbestimmun-
gen vollzieht. Hinaufsetzung des Wahlalters auf 25 Jahre, Einführung
von Zusatzstimmen für Kriegsteilnehmer und Familienväter bedeuten
praktisch die Ausschaltung der männlichen Jugendlichen bis zu 30 Jah-
ren und die Herabdrückung des Frauenstimmrechts zu fast völliger
Bedeutungslosigkeit. Nimmt man dazu noch den Gedanken, die Exe-
kutivrechte des Reichspräsidenten in ihrem heute in Anspruch genom-
menen Umfang verfassungsrechtlich zu verankern, die Einführung des
Pluralwahlrechts für die Selbstverwaltungskörper und die Umrisse
einer Reichsreform, die lediglich den Handstreich vom 20. Juli verfas-
sungsmäßig sanktionieren soll, so rundet sich das Bild einer Verfas-
sungsreaktion. Sie trägt nichts dazu bei, die Problematik der gegenwär-
tigen Schwierigkeiten durch eine etwa mögliche Verbesserung der
demokratischen Methoden zu beheben. Sie ist vielmehr nur das getreue
Wunschbild einer sozialen Schicht, deren positiver Beitrag zur Verfas-
sungsreform allein darin bestehen könnte, dass sie den Vergangenheits-
charakter ihrer politischen und sozialen Position erkennt.
Da aber diese restaurierten Kräfte im heutigen Deutschland noch kei-
neswegs ihre politische Rolle ausgespielt haben, ist es vor weiteren
Erörterungen möglicher positiver Änderungen der Verfassungsord-
nung lehrreich, einen Blick auf die Verfassungsreform zu werfen, die
unser österreichisches Brudervolk im Jahre 1929 vorgenommen hat. Her-
vorgegangen ist diese Verfassungsreform bekanntlich aus dem Bestre-
ben der bürgerlichen Mehrheitsparteien, den Drang der damals mächti-
gen Heimwehrbewegung nach Abschaffung des Parlamentarismus
überhaupt in geordnete Bahnen zu lenken. Die Verfassungsreform ent-
stand aus einem Kompromiss der sozialdemokratischen Minderheits-
partei mit den parlamentarischen Mehrheitsparteien der Christlichso-
zialen und Großdeutschen.1 Für den hier behandelten Zusammenhang
sind folgende zwei Fragen von grundsätzlicher Bedeutung: Welche
Bestimmungen der österreichischen Bundesverfassung konnten im
Wege des Parteikompromisses ohne Antastung des grundsätzlich
demokratischen Charakters der Verfassungsordnung geändert werden?
Wie haben die vorgenommenen Änderungen auf die Funktionsfähig-
keit der Verfassung eingewirkt? Der Verfassungskompromiss enthält in
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[33.] Die Verfassungsreform [1932] 445
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446 [33.] Die Verfassungsreform [1932]
2 Neue Blätter für den Sozialismus 1932, Heft II, S. 576. [Hermann Heller: Ziele
und Grenzen einer deutschen Verfassungsreform, in: Neue Blätter für den Sozia-
lismus, Jg. 3, Heft 2, Potsdam 1932. Im Original lautet die Formulierung: »Der
Kurzschluß dieses Denkvorganges liegt auf der Hand.«]
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[33.] Die Verfassungsreform [1932] 447
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448 [33.] Die Verfassungsreform [1932]
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[33.] Die Verfassungsreform [1932] 449
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450 [33.] Die Verfassungsreform [1932]
8 Vergleiche [Eugen] Schiffer: Die neue Verfassung des Deutschen Reichs[. Eine
Politische Skizze], Berlin 1932, dessen Artikel 15 einen sehr weitgehenden Vor-
schlag in dieser Richtung enthält.
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[33.] Die Verfassungsreform [1932] 451
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452 [33.] Die Verfassungsreform [1932]
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[33.] Die Verfassungsreform [1932] 453
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454 [33.] Die Verfassungsreform [1932]
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[33.] Die Verfassungsreform [1932] 455
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456 [33.] Die Verfassungsreform [1932]
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[33.] Die Verfassungsreform [1932] 457
tät zwischen den großen sozialen Organisationen und den Inhabern der
wirtschaftlichen, polizeilichen und militärischen Kommandogewalt ist
es, die in Wahrheit auf die Demokratie zerstörend einwirken. Konkrete
Schäden einer bestehenden, von der überwiegenden Mehrzahl aller
Staatsbürger im Grunde bejahten Gesellschaftsordnung mag man
durch die Einführung neuer oder die Abschaffung veralteter Verfas-
sungsbestimmungen beseitigen. In Deutschland aber handelt es sich –
sieht man einmal von der Reichsreform ab, von der es im Übrigen noch
sehr fraglich ist, ob ihre endgültige rechtliche Gestalt nicht auch erst im
Gefolge der sozialen Neuordnung gefunden werden kann – im Grunde
um etwas anderes. Hier geht es nicht um Probleme, die primär eine
neue Verfassungsordnung zu lösen vermöchte. Hier liegt auch der tief-
greifende Unterschied zu der Situation, die dem deutschen Bürgertum
in dem zweiten Drittel des letzten Jahrhunderts gestellt und von ihm
nicht bewältigt wurde. Dort ging es darum, für eine an sich unproble-
matische Gesellschaftsordnung die zugehörigen politischen Formen zu
finden. Heute aber geht es um die Neuordnung der gesellschaftlichen Ver-
hältnisse selbst. An sich bietet hierfür die Demokratie eine durchaus
brauchbare Rechtsform, da hier der staatliche Wille dem souveränen
Volk entspringt und es keine andere Legitimitätsvoraussetzung außer-
halb dieses souveränen Volkswillens gibt. In dem Augenblick aber, in
dem einzelne Gruppen nicht mehr geneigt sind, sich diesem Volkswil-
len zu unterwerfen, und damit die Voraussetzungen der Demokratie
zerstören, wäre eine Reform der Demokratie ein unzulängliches Aus-
hilfsmittel. Dann eben muss der Durchbruch neuer sozialer Formen erst
wieder die Voraussetzung für die Demokratie überhaupt neu erschaf-
fen.
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[34.]
Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und
Legitimität«*
[1933]
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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 459
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460 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]
ten gerechnet werden, die die Freiheit des Einzelnen, als auch die, die
die Freiheit der Gruppenbildung garantieren, besitzt nun Wirkungen
von zweierlei Art. Einmal sichert die individuelle Freiheit die Ungehin-
dertheit der politischen Willensbildung. In dieser Funktion sei sie
staatsbürgerliche Freiheit genannt. Zu den staatsbürgerlichen Freihei-
ten gehören etwa die Pressefreiheit, die Freiheit der Meinungsäuße-
rung, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.7 Sie bilden die not-
wendige Ergänzung zu den sogenannten politischen Rechten, die als
Wahlrecht und Recht auf gleichen Zutritt zu den Ämtern selbstver-
ständliche Bestandteile der Freiheit im Staat, das heißt des politischen
Willensbildungsprozesses in der Demokratie sind.8 Zum andern aber
sind diese individuellen Freiheitsrechte die Voraussetzung der privaten
Freiheitssphäre des Einzelnen. Hierfür sind in erster Linie Eigentum
und Religionsfreiheit zu nennen, wobei aber auch die anderen Frei-
heitsrechte, soweit sie nicht politischen Zwecken dienen, hierher gehö-
ren.9 Eine Koexistenz aller drei Freiheiten, der politischen, staatsbürger-
lichen und privaten, ist historisch keineswegs immer gegeben.10 »Politi-
sche Freiheit« in der engen Bedeutung, die man mitunter mit dem
Begriff der demokratischen Grundrechte verbindet,11 ist auch in nicht-
demokratischen Staaten zum Teil vorhanden (Italien). Der Demokratie
7 Von der These aus, dass erst bei einer »menschenwürdigen« Existenz eine Aus-
übungsmöglichkeit der politischen Freiheit bestehen könne, erweitert sich der
Kreis der staatsbürgerlichen Freiheiten beträchtlich; vergleiche Luiz Jimenez de
Azua, Vorsitzender des Verfassungsausschusses der Cortes. Vergleiche Zeitschr.
für ausländisches öffentl. Recht III, 3, 377. [Luis Jiménez de Asúa: Die Verfas-
sung der Spanischen Republik, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches
Recht, Band 3, Teil 1, Berlin 1933.]
8 Ihre Beziehungen zur »Autonomie« und »Selbstverantwortlichkeit des Indivi-
duums« sind angedeutet bei Pribram, Verhandl. d. 5. deutschen Soziologenta-
ges, S. 100. [Karl Pribram: Verhandlung des 5. deutschen Soziologentages,
Tübingen 1927.]
9 Über die notwendige Organisation dieser Freiheit in der Demokratie vergleiche
[Heinz Otto] Ziegler, Die moderne Nation,[ Tübingen] 1931, S. 237. Freilich ist
die dort vertretene These, dass die Demokratie anstelle der Freiheit des Indivi-
duums die »Freiheit des Kollektivs« setze, nur sehr bedingt annehmbar, weil
eben jede notwendige Organisierung der Freiheit bestimmte Möglichkeiten
garantiert, dem Kollektiv der Majorität sich zu entziehen und ihm gegenüberzu-
treten.
10 Über die Verschiedenartigkeit der Freiheitsbegriffe und die Möglichkeit ihres
Auseinanderfallens vergleiche [James] Bryce, Modern Democracies, [New York]
1921, Band 1, S. 60 ff.; [Harold J.] Laski, Liberty in the modern State, London
1930, erkennt wohl die verschiedenartigen Funktionen der Freiheit, ohne von
seinem pluralistischen Ausgangspunkt aus scharfe Unterscheidungen vorzu-
nehmen; vergleiche auch seine Ausführungen in: »A grammar of politics«,
[London 1930,] S. 146 ff.
11 Vergleiche etwa die Aufzählung bei Schmitt, Verfassungslehre,[ München/Leip-
zig 1928,] S. 168/69, Hbd. DStR. Bd. 2 S. 594 [Carl Schmitt: § 101. Inhalt und
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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 461
eigen ist die spezifische Verbindung von voller politischer und staats-
bürgerlicher Freiheit, die erst die Voraussetzung für eine ungehinderte
Willensbildung schafft. Einen notwendigen Bestandteil der Demokratie
stellt dagegen die private Freiheit nicht dar, wie umgekehrt sowohl das
Gegebensein der privaten wie auch in einem gewissen Umfang der
staatsbürgerlichen Freiheit historisch unabhängig von dem Vorhanden-
sein der politischen Freiheit ist.12 Im Schmitt‘schen Freiheitsbegriff wird
vorwiegend auf die individuelle Freiheit abgestellt, wobei diese in die
Freiheitssphäre des isolierten Einzelnen und in die Freiheitssphäre des
Einzelnen mit anderen Einzelnen geschieden wird. Da Schmitt die Frei-
heitssphäre im Sinne der staatsfreien Sphäre13 des Individuums auf-
fasst und nicht nach ihrer Beziehung oder ihrer Beziehungslosigkeit
zur Meinungsbildung und damit – in der Demokratie – politischen Wil-
lensbildung fragt, tritt der Unterschied zwischen staatsbürgerlicher
und privater Freiheit nicht hervor, wobei ja in unserem Sinne private
Freiheit lediglich durch eine bestimmte Intention des individuellen Ver-
haltens bezeichnet wird, gleichgültig, ob diese Intention vom Einzelnen
allein oder im Zusammenhang mit andern Einzelnen verfolgt wird. Die
politische Freiheit wird bei Schmitt zwar ihrem Umfang nach gekenn-
zeichnet, erhält aber ihre Bedeutung erst durch die Beziehung auf die
Gleichheitsforderung, als deren Korrelat sie erscheint. Dabei wird also
die Doppelfunktion jenes in sich heterogenen Vorstellungskomplexes,
der mit dem Wort Freiheit bezeichnet wird, nicht gewürdigt, nämlich
einerseits Begründung der von der demokratischen Organisation erfor-
derten staatsbürgerlichen Freiheit, andererseits Begründung privater
Freiheit zu sein. Daraus ergibt sich in der Weise, wie dies Kelsen14 aus-
geführt hat, »Mehrheit entscheidet« als institutionelle Garantie eines
größeren Freiheitsmaßes, als es ein anderer Abstimmungsmodus erge-
ben würde. Dabei ist davon auszugehen, wie auch Rousseau es dar-
stellt,15 dass Sonderinteressen mit dem Tatbestand der Gesellschaft
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462 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]
16 Es handelt sich um die Rede vom 31. 7. 1919, 71. Sitzung, 2195 C. Die Präambel
wird heute bekanntlich in weiterem Umfang zur Verfassungsinterpretation her-
angezogen, wofür etwa die Äußerungen von [Hans] Liermann, Das deutsche
Volk als Rechtsbegriff,[ Berlin] 1927, S. 166 ff., ein Beispiel geben können. Ver-
gleiche vor allem [Rudolf] Smend, Verfassung und Verfassungsrecht,[ München
1928,] S. 8,9. Für die staatstheoretische Interpretation der demokratischen Prin-
zipien sei auf die Bedeutung hingewiesen, die Richard Thoma, Handbuch des
Deutschen Staatsrechts (HbdDStR.) Bd. 2, S. 190, Freiheit und Gleichheit im Sys-
tem der Demokratie zuweist. [Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg): Hand-
buch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen 1930/32.]
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Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 463
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464 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]
Instanz dieser Art nicht.19 Im Übrigen würde die Herstellung eines sol-
chen Zustandes nicht nur die Demokratie, sondern auch die in der
Schmitt‘schen Schrift erscheinende Möglichkeit neuer Mischformen
eines autoritären und zugleich plebiszitären Staats letztlich nur in inter-
mediäre Instanzen eines auch von Schmitt nicht wertbetonten20 Juris-
diktionsstaates verwandeln.
Es sind bisher nur solche Rechtfertigungsmöglichkeiten betrachtet wor-
den, die eine unmittelbare Bejahung um ihrer selbst willen verpflich-
tender Werte in sich schließen. Die Wertbeziehung der Demokratie
kann jedoch auch mittelbar »instrumental« sein, und zwar derart, dass
sich in der Demokratie eines bestimmten Zeitpunkts wohl nicht unmit-
telbar jene Werte realisieren, aber dass doch geglaubt wird, dass die
Wirkungen der Existenz dieser Demokratie einmal dahin führen müss-
ten, diese Werte zu verwirklichen. Hierbei kann für den Endzustand
dieser Wertverwirklichung entweder die Beibehaltung der Demokratie
oder ihre Abschaffung geplant sein. In beiden Fällen wird die aktuelle
Demokratie jedoch als Mittel gerechtfertigt, während sie für die erste
Gruppe von Rechtfertigungsmöglichkeiten als Zweck erscheint. Als
Beispiel für die erste Abart der Mittelposition kann die politische Theo-
rie des Marxismus, für die zweite die Theorie des Nationalsozialismus
genommen werden.
Schmitt behauptet jedoch nicht nur, die Demokratie sei für eine hetero-
gene Gesellschaft nicht zu rechtfertigen, sondern auch, sie sei in ihr
auch nicht funktionsfähig, das heißt es könne sich in ihr kein allseitig
legales Verhalten aller ergeben (S. 43, 90). Es scheinen jedoch eine ganze
Reihe von Phänomenen vorhanden zu sein, die mit dieser These kaum
in Einklang zu bringen sein dürften. Man wird nicht behaupten kön-
nen, dass das Frankreich vom Panamakonflikt bis zum Eisenbahner-
streik im Jahre 1910 in sozialer Hinsicht durch das erst einzuordnende
19 Für Frankreich vergleiche über das »lit de justice« als unanfechtbares Rechtsmit-
tel des königlichen Absolutismus Holtzmann, Französische Verfassungsge-
schichte 1910, S. 350. [Robert Holtzmann: Französische Verfassungsgeschichte
von der Mitte des 9. Jahrhunderts bis zur Revolution, München 1910.] Der engli-
schen Verfassungsgeschichte ist sogar die Problemstellung als solche nicht
geläufig; sowohl [Albert Venn] Dicey‘s, Introduction to the study of the law of
constitution, 8. Aufl.[, London] 1915, S. 224 ff., als [Frederic] Maitland, Constitu-
tional history of England,[ Cambridge] 1908, S. 266 ff., als [Julius] Hatschek,
Englische Verfassungsgeschichte,[ München] 1913, S. 499 ff., befassen sich
anlässlich des Streits zwischen Coke und der Krone lediglich mit der Frage des
direkten Einwirkungsrechts der Krone gegen richterliche Handlungen (aber
nicht umgekehrt) und der Frage der Gültigkeit administrativer Verhaftungsbe-
fehle.
20 Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung,[ Tübingen] 1931, Kap. I.
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21 Übrigens lässt das Dominieren der Problematik der Demokratie in den politi-
schen Ideologien aller Richtungen die Tatsache merkwürdig zurücktreten, dass
die demokratische Phase der Verfassungsentwicklung bisher – von U.S.A. abge-
sehen – im historischen Zeitablauf einen sehr geringen Raum einnahm. Ist doch
das gleiche Wahlrecht in Frankreich endgültig erst seit 1852, in Italien seit 1911,
in Großbritannien seit 1918 und in Belgien gar erst seit 1921 eingeführt. Die
stark gesteigerte psychische Dynamik unserer Zeit zeigt sich auch darin, dass
uns eine Institution bereits als antiquiert erscheint, deren reale historische
Bewährungsfrist erst überaus kurz ist. Vergleiche dazu die Ausführungen von
M. Jaffé über Demokratie und Partei in Arch.f. Sozw. Bd. 65, S. 106-108. [Moritz
Jaffé: Demokratie und Partei, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpoli-
tik, Band 65, Tübingen 1931, S. 101-127.]
22 Über den Begriff der Integrationspartei vergleiche Sigmund Neumann, Die
deutschen Parteien [; Wesen und Wandel nach dem Kriege, Berlin] 1932. Über
den Trend der Heterogenität in Belgien vergleiche Bourquin, Jahrb. d. öff. R.
1930, S. 187, der von einer Substitution der »ministères homogènes« durch
»ministères mixtes« spricht. [Maurice Bourquin: Les principales transformations
du droit public belge, depuis 1914, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Band
18, Tübingen 1930, S. 186-207.]
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zum Ansteigen hat, dürfte daraus hervorgehen, dass die Inhalte der
bewusstseinsmäßigen Gleichheiten, die heute noch existieren, in wei-
tem Umfang sich mit der Realität nicht decken, ja ihren Abstand zu ihr
verbreitern; es handelt sich also in weitem Maße um eine Fundierung
der Homogenität auf Ideologien in dem zum Beispiel von Karl Mann-
heim23 diesem Wort gegebenen Sinn. Ein solches »falsches Bewusst-
sein« kann erzeugt worden sein erstens durch das Nachhinken des
»Überbaus« gegenüber den Umwälzungen des sozialen Substrats. Eine
Konstanz von Inhalten eines Bewusstseins, das sich in einem bestimm-
ten Zeitpunkt in Deckung mit der Realität befand und deshalb »richtig«
war, erhält den Charakter der »Falschheit«, wenn sich inzwischen
Änderungen der Realität vollzogen haben. Bisher war zum Beispiel das
egoistische Kalkül der Interessensolidarität infolge des grenzenlosen
Vertrauens in seine Richtigkeit in den Vereinigten Staaten in selten rei-
ner Weise ein Integrationsfaktor, dessen Mächtigkeit man am Vergleich
des Assimilationsprozesses national heterogener Gruppen in Amerika
einerseits, in Europa andererseits ermessen kann. Sollte es sich erwei-
sen, dass mit der Krise des Jahres 1929 eine neue Epoche des nordame-
rikanischen Kapitalismus ihren Anfang nimmt, so müsste erst die
Bewährung dieses zu einem Glauben verfestigten Kalküls bei dem Ein-
setzen des Realitätswiderstands eintreten; eine Bewährung, deren
Chancen evidenterweise angesichts der pragmatischen Struktur dieses
Kalküls sehr fraglich erscheinen. Mit einer bemerkenswerten soziologi-
schen Folgerichtigkeit wird deshalb jetzt in den Vereinigten Staaten die
Hoffnung auf neue prosperity als sozialer Integrationsfaktor benutzt.
Was als eine jedem einzelnen Individuum sich aufdrängende Erwar-
tungschance den sozialen Zusammenhang einst begründete, soll jetzt in
ideologisch denaturierter Form diesen Zusammenhalt erhalten.24 Eine
demokratische Ideologie kann aber nicht nur deshalb den Charakter
der »Falschheit« tragen, weil sie hinter der gewandelten Wirklichkeit
einherhinkt, sondern auch weil sie eine existierende demokratische
Wirklichkeit nach dem Bild einer vorgefassten Utopie sieht, als deren
Verwirklichung diese Demokratie fälschlich angesehen wird. Dies ist
im ideologischen Entwicklungsgang zum Beispiel weiter Schichten der
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sung von Weimar, die Schmitt vor allem vor Augen hat, zu geben.30 Die
Normen, um die es sich hier handelt, sind einerseits solche, denen eine
unmittelbare Verpflichtung der Verwaltung und Rechtsprechung zur
Befolgung bzw. Konkretisierung entspricht (Fixierungsnormen,31 zum
Beispiel Art. 143 Abs. 3, 144, 149 RV.), andererseits solche, aus denen
sich eine solche Verpflichtung nicht ergibt. Diese können wiederum sol-
che sein, durch die eine nicht einklagbare Aufforderung an den Gesetz-
geber gerichtet wird (Programmnormen, zum Beispiel Art. 151, 161, 162
RV.), oder solche, in denen lediglich eine Ermächtigung an den Gesetz-
geber ausgesprochen wird (Ermächtigungsnormen, zum Beispiel
Art. 155 Abs. 2, 156 Abs. 1 und 2, 165 Abs. 5 RV.). Eine Ermächtigungs-
norm wird nur dann sinnvoll aufgestellt werden können, wenn ohne
sie die Zulässigkeit der in ihr gegebenen Ermächtigungen zum mindes-
ten zweifelhaft wäre; eine Programmnorm wird jedoch auch dann
einen Sinn haben – nämlich den »moralischen Druck« auf den Gesetz-
geber –, wenn die Verfassungszulässigkeit ihrer Inhalte auch ohne sie
unzweifelhaft ist. Indem die Fixierungsnormen im normgemäßen
Rechtshandeln des Staates realisiert werden, entspricht ihnen ein reales
Substrat. Den Programm- und Ermächtigungsnormen entspricht im
Falle der Nichtausführung des Programms und des Nichtgebrauchma-
chens von der Ermächtigung kein realisiertes Substrat.
Wie wirkt nun in bestimmten Verhältnissen die Existenz der einzelnen
Normtypen auf den Grad des Funktionierens der Demokratie ein? Bei
annähernd konstanter Machtverteilung erfüllen die Fixierungsnormen fol-
gende Funktion: Sie erschweren dadurch, dass sie bestimmte Sachge-
biete dem Zugriff der einfachen Mehrheit entziehen, deren Einbezie-
hung in den unmittelbar praktischen politischen Kampf. Sie vermin-
dern so die Größe der aktuellen Reibungsfläche und tendieren so zur
Erhöhung der Funktionsfähigkeit der Demokratie.32 Sie wirken, falls sie
»richtig«, das heißt den Machtverhältnissen entsprechend gewählt sind,
30 Vergleiche dazu die Typologie, die Carl Schmitt im HbdDStR, Bd. 2, § 101, gege-
ben hat. [Carl Schmitt: § 101. Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der
Reichsverfassung, in: Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg): Handbuch des
Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen 1930/32, S. 572-606.]
31 Der Begriff ist hier in weiterem Sinn gebraucht als innerhalb der Schmitt’schen
Terminologie, HbdDStR, Bd. 2, S. 604. [Carl Schmitt: § 101. Inhalt und Bedeu-
tung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, in: Gerhard Anschütz,
Richard Thoma (Hg): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen
1930/32, S. 572-606.]
32 Diese Eliminierung von Reibungsflächen kann als der Versuch, eine Sphäre
politischer Bewusstseinshomogenität freizulegen, gedeutet werden (vergleiche
den zitierten Ausspruch von Preuß) [Reichstagsprotokolle 1919, Verfassungsge-
bende Nationalversammlung, Aktenstück Nr. 391, S. 185]. Wenn man die These
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als die Antizipation der jeweils sonst erst im politischen Kampf erziel-
baren Resultante. Die Fixierung erscheint also als die Einführung des
Planprinzips in das Konkurrenzsystem der Demokratie. Andererseits
verweigern die Fixierungsnormen einer einfachen Mehrheit, die zu
dem von ihnen garantierten Besitzstand an Institutionen in Feindschaft
steht, das Ventil der Durchsetzung ihrer Wünsche. Sie bewirken es,
dass unbefriedigte Massenstrebungen an der hier besonders weit vor-
geschobenen Schranke der Rechtsordnung scheitern und eventuell in
antidemokratischen Tendenzen einen neuen Ausdruck finden; dies
wird besonders bei einer eingetretenen Variation der sozialen Machtver-
hältnisse der Fall sein. Es ist jedoch gegenüber der zuletzt geschilderten
Wirkung der Fixierungsnormen ein beachtenswertes Kompensations-
element vorhanden. Diejenige Gruppe, die den durch die Fixierungs-
normen garantierten Institutionen verbunden ist, wird tendenziell
dadurch auch zu einem positiven Verhältnis zur Demokratie im Gan-
zen geführt. Für beide Tendenzen, die der Erhöhung und die der
Schwächung der Stabilität, bietet die verfassungsrechtliche Garantie
der Stellung der Beamten ein Beispiel. Zunächst wird durch die beam-
tenrechtlichen Garantien des Art. 129 RV (ebenso übrigens durch den
Art. 41 der neuen spanischen Verfassung) die Beutegröße und damit
die Intensität des Parteikampfes infolge der verringerten Möglichkeiten
zur Ämterpatronage verringert. Dadurch aber wird auch die legale Ein-
stellung von Parteien, die die Durchführung ihrer Ziele an eine schnelle
personelle Umbesetzung des Staatsapparates gebunden glauben, auf
eine harte Probe gestellt.
Dieselbe Wirkung geht von den Programm- und Ermächtigungsnor-
men aus, solange sie bei konstanter Machtverteilung nicht realisiert wer-
den. Hier können die möglichen Nutznießer der durch diese Normen
gewährten realen Chancen durch eben diese Chancen und durch die in
diesen Verfassungsnormen implizierte Bejahung der betreffenden ide-
ellen Werte in ein positives Verhältnis zur Demokratie gebracht werden
(Art. 156, 165 Abs. 2). Wie ist die Frage der Funktionsfähigkeit zu beur-
teilen, wenn bei variabler Machtverteilung die Realisierung der in den
Ermächtigungsnormen gegebenen Chancen von einer bestimmten
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34 Vergleiche Charles Beard, American govemment and politics, New York 1931,
S. 49. Siehe auch die zwar sehr vorsichtige, aber im Endergebnis doch positive
Bewertung dieser Praxis in dem aufschlussreichen Aufsatz von Ernst Freund
über »constitutional law« in Encyclopaedia of the Social Sciences IV, S. 254.
[Edwin R. A. Seligman, Alvin S. Johnson (Hg.): Encyclopaedia of the Social Sci-
ences, Volume 4, New York 1931.]
35 Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung,[ Tübingen] 1931, S. 14.
36 Trotz verschiedener Bewertung wird der Tatbestand selbst nicht angezweifelt;
vergleiche Burgess in: Political Science Quarterly X, S. 420 [John W. Burgess: The
Ideal of the American Commonwealth, in: Political Science Quarterly vol. X, no.
3, New York 1895, S. 404-425]; Charles Warren in: Congress, the Constitution
and the supreme court,[ Boston] 1925, S. 176/177; kritisch Boudin, opere citato,
passim, insbesondere II, 474 ff. [Louis B. Boudin: Government by judiciary, New
York 1932.]
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37 Zu dem Ganzen vergleiche die Übersicht bei Hensel in: Die Reichsgerichtspra-
xis im deutschen Rechtsleben, Bd. I, S. 1 ff. Über Art. 109 [Albert Hensel: Grund-
rechte und Rechtsprechung, in: Otto Schreiber (Hg.): Die Reichsgerichtspraxis
im deutschen Rechtsleben. Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen
Bestehen des Reichsgerichts (1. Oktober 1929) in 6 Bänden, Berlin/Leipzig 1929,
S. 2-32,] und die Rechtsprechung vergleiche die Übersicht bei Leibholz in:
Arch. f. öff. R., N. F. 9, S. 428 [Gerhard Leibholz: Höchstrichterliche Rechtspre-
chung und Gleichheitssatz, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 19, Tübin-
gen 1930, S. 428-442] und die typische Behandlung des Art. 109 durch die
höchstrichterliche Rechtsprechung in: Entscheidungen des Reichsgerichts in
Zivilsachen [RGZ], Bd. 136, S. 221.
38 Vergleiche [Carl Schmitt:] Legalität und Legitimität[, München 1932], S. 71 ff.
Darüber, dass diese Notverordnungspraxis kein Provisorium in einer bestehen-
den demokratischen Verfassungspraxis ist, sondern eine »schwebende Verfas-
sungslage«, vergleichbar der staatsrechtlichen Situation 1848/49, darstellt, ver-
gleiche Heckel in: Arch. f. öff. R., N. F., 22, S. 309. [Johannes Heckel: Diktatur,
Notverordnungsrecht, Verfassungsnotstand, mit besonderer Rücksicht auf das
Budgetrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 22, Tübingen 1922,
S. 257-338.]
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rung suche, wette gewiss nicht, weder für noch wider. Entscheidend
aber ist: Es ist nicht einsichtig, warum es gestattet sein soll, totale Exem-
tionen, das heißt definitive Bereichseinschränkungen des Funktionalis-
mus, gegenüber jenem nach Schmitt eine Unbeschränktheit fordernden
Funktionalismus des ersten Teils vorzunehmen, nicht aber bloße
Erschwerungen in der von der Weimarer Verfassung gewählten
Gestalt. In beiden Fällen handelt es sich um Kompromisse zwischen
dem Formwert der Demokratie und bestimmten Sachwerten, wobei
sich die Weimarer Verfassung durch eine stärkere Bewertung des
demokratischen Formwerts auszeichnet. Die durchgehende Aufrechter-
haltung des demokratischen Formwerts wird ihrem Inhalt nach ledig-
lich dergestalt abgeschwächt, dass unter Beibehaltung des Abstim-
mungsverfahrens selbst dessen Modus für einen bestimmten Bereich
geändert wird. Man würde sich allerdings entschließen müssen, diesen
Einschränkungen eine Höchstgrenze zu setzen, bei deren Überschrei-
tung der erhalten gebliebene Demokratierest zu gering wäre, um sinn-
vollerweise, lediglich mit der Tatsache seiner verbliebenen Existenz, die
faktische Aufhebung der Demokratie rechtfertigen zu können.39 In
Bezug auf das System des zweiten Teils der Weimarer Verfassung wird
man wohl nicht behaupten können, dass diese Grenze erreicht sei.
Nach der hier gegebenen Begründung der Demokratie besteht somit
eine prinzipielle Vereinbarkeit der Existenz des Art. 76 mit dem zwei-
ten Teil der Verfassung unter Ausschluss des Komplexes der Freiheits-
rechte. Anders verhält es sich jedoch mit der Anwendbarkeit des
Art. 76 auf den Organisationsteil der Weimarer Verfassung. Schmitt hat
schon früher in seiner Verfassungslehre anlässlich der grundlegenden
Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz40 die Ansicht
vertreten, dass es unabänderliche Verfassungsnormen gebe, die er nach
ihrer Zugehörigkeit zu den grundlegenden Gesamtentscheidungen der
Verfassung festlegt. Wenn man die letzte Entscheidung der Demokratie
39 Wenn [Hans] Kelsen, Wesen und Wert der Demokratie[, Tübingen 1920], S. 55,
die qualifizierte Mehrheit als eine noch größere Annäherung an die Idee der
Freiheit bezeichnet, als das Majoritätsprinzip sie darstelle, so ist das wohl nur
deshalb möglich, weil Kelsen hier zugleich politische und private Freiheiten im
Auge hat. Über die Notwendigkeit dieser Unterscheidung siehe oben.
40 Carl Schmitt, Verfassungslehre[, München 1928], S. 26 ff. Vergleiche auch Bilfin-
ger in: Arch.f. öff R., N. F. 11, S. 118 [Carl Bilfinger: Verfassungsumgehung, in:
Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 11, Tübingen 1926, S. 164-191], und Natio-
nale Demokratie als Grundlage der Weimarer Verfassung,[ Halle] 1929, S. 12 ff.
Zur Literaturübersicht vergleiche Thoma in HbdDStR, Bd. 2, S. 154 [Gerhard
Anschütz, Richard Thoma (Hg): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2,
Tübingen 1930/32], und Walter Jellinek, Grenzen der Verfassungsgesetzgebung,
[Berlin] 1931.
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476 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]
41 Diese Ausdrücke sind hier im Sinn der von [Karl] Löwenstein, Erscheinungsfor-
men [der Verfassungsänderung. Verfassungsrechtsdogmatische Untersuchun-
gen zu Artikel 76 der Reichsverfassung, Tübingen 1931], S. 114 ff., verwandten
Terminologie zu verstehen.
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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 477
42 Von diesem Standort aus ist auch die Aufhebung des Volksgesetzgebungsver-
fahrens durch Zweidrittelmehrheit nicht zulässig; ähnlich Walter Jellinek in:
HbdDStR, Bd. 2, S. 185. [Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hg): Handbuch
des Deutschen Staatsrechts, Band 2, Tübingen 1930/32.] Die Meinung [Richard]
Thomas, ebenda S. 114, und Jacobis in: »Die Reichsgerichtspraxis im deutschen
Rechtsleben«, Bd. I, S. 257/58 [Erwin Jacobi: Reichsverfassungsänderung, in:
Otto Schreiber (Hg.): Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben. Fest-
gabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts
(1. Oktober 1929) in 6 Bänden, Band 1, Berlin/Leipzig 1929, S. 233-277], dass
Abänderung zwar zulässig sei, aber das Abänderungsgesetz selbst noch dem
Volksentscheid unterliege, verkennt, dass das Volk als Staatsorgan nicht die
Rechte hat, die dem Volk als »pouvoir constituant« zukommen.
43 Ähnlich Walter Jellinek in: HbdDStR, Bd. 3, S. 185 [Gerhard Anschütz, Richard
Thoma (Hg): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 3, Tübingen 1930/32],
jedoch mit einer Begründung, die sich auf den Willen des Verfassungsgesetzge-
bers beruft. Vergleiche hierzu auch die Ausführungen Gmelins in: Arch. f. öff.
R., N. F., Bd. 19, S. 270 ff. [Hans Gmelin: Die Verlängerung der Legislaturperiode
des hessischen Landtags in ihrer verfassungsrechtlichen Bedeutung, in: Archiv
des öffentlichen Rechts, N.F. 19, Tübingen 1930, S. 270-284.]
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478 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]
44 Weder Thoma noch Jellinek, die Schmitt, Legalität und Legitimität, zitieren
(S. 50), kommen aus prinzipiellen Erwägungen heraus zu Unabänderlichkeiten
von Organisations- und Freiheitsrechtsnormen. Thomas Äußerung über die
Prinzipien der Freiheit und Gerechtigkeit in »Die Grundrechte und Grund-
pflichten der Reichsverfassung«, 1929, Bd. 1, S. 47 [Hans Carl Nipperdey (Hg.):
Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Band 1, Frankfurt
am Main 1929], bezieht sich nur auf die Frage unzulässiger Einzelmaßnahmen,
wird doch ausdrücklich von einer »bill of attainder« gesprochen. Prinzipielle
Unabänderlichkeiten erkennt Thoma, wie aus HbdDStR, Bd. 2, S. 154 , klar her-
vorgeht, nicht an.
45 Zur Abänderungsfrage siehe auch Anschütz, Kommentar zur Reichsverfassung,
1932, S. 385 ff. [Gerhard Anschütz: Kommentar zur Reichsverfassung, Berlin
1932], der seine ablehnende Stellungnahme zu der »neuen« Lehre darauf stützt,
dass auf diese Weise ein obligatorisches Verfassungsreferendum in die Verfas-
sung hinein gedeutet werde. Dieses Argument ist deshalb nicht haltbar, weil
das Verfassungsreferendum »pouvoir constitué« wäre, es sich aber hier ersicht-
lich um den Vorbehalt des »pouvoir constituant« handelt.
46 Der ganze Problemkreis dient in erster Linie zur Herausarbeitung allgemeiner
Strukturen von Verfassungen überhaupt. Jene »inherent limitation upon legisla-
ture« besitzt dagegen nicht dieselbe politische Relevanz wie etwa die Formel
des »due process of law« für eine konkrete, als aufgegeben angesehene Wirt-
schaftsstruktur; vergleiche dazu E. Freund, a. a. O., S. 251. [Ernst Freund: Con-
stitutional Law, in: Edwin R. A. Seligman, Alvin S. Johnson (Hg.): Encyclopae-
dia of the Social Sciences, Volume 4, New York 1931.]
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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 479
Vereinbarkeit der Existenz dieser Tatbestände mit der Existenz und der
Funktionsfähigkeit der Demokratie Stellung genommen werden.
Das Wort »gleiche Chance« wird, wie es scheint, vor allem zur Bezeich-
nung von zwei Gruppen von Tatbeständen gebraucht.
Erstens kann es bedeuten die Gleichbehandlung aller Personen, bezie-
hungsweise Parteien und Normvorschläge in bestimmten Situationen
des demokratischen Normschöpfungsprozesses. Zunächst bei der
Wahl: die gleiche Chance wäre hier dann gegeben, wenn alle Einzel-
kandidaten beziehungsweise Listen – dem würden bei der Volksab-
stimmung die Normvorschläge entsprechen – unterschiedslos zugelas-
sen würden. Der zweite Anwendungsfall des Prinzips ist bei der Aus-
wertung der Stimmabgabe für die Bildung der Repräsentationskörper-
schaft – bei der Volksgesetzgebung würde dem der Entscheid entspre-
chen – gegeben. Die Realisierung der gleichen Chance verlangt hier
einerseits, dass die Stimmen untereinander gleich gewertet werden, das
heißt gleiches Wahlrecht besteht, andererseits, dass die Parteien gemäß
ihrer Gesamtstimmengröße gewertet werden, was ihre Vertretung in
der Repräsentationskörperschaft anbelangt, das heißt proportionales
Wahlrecht besteht. Endlich berührt das Prinzip der gleichen Chance
auch unmittelbar das parlamentarische Verfahren. Es verlangt hier
einerseits, dass für alle Normvorschläge die gleiche Majorität erfordert
ist und dass für jede Partei eine gleiche rechtliche Möglichkeit, sich an
der Mehrheit zu beteiligen, besteht. Dies ist offenbar dann der Fall,
wenn entweder ein absolutes Koalitionsverbot oder eine unbeschränkte
Koalitionserlaubtheit gilt. Diejenigen Vorschläge zur Parlamentsreform,
die darauf zielen, die Zulässigkeit eines gemeinsamen Vorgehens von
Parteien bei Misstrauensvoten von der inneren Einheit ihrer Begrün-
dungen abhängig zu machen, würden die Möglichkeiten jeder der bei-
den »Flügelparteien« – denn nur wo eine solche innere Gespaltenheit
der Opposition besteht, haben solche Vorschläge einen Sinn – zu einer
Mehrheit zu gehören, vermindern und diese Möglichkeiten für die
ihnen benachbarten Mittelparteien, soweit sie nach beiden Seiten optie-
ren können, erhöhen.
In der zweiten Hauptbedeutung ist die gleiche Chance, die Mehrheit zu
erreichen, dann gegeben, wenn für eine jede Partei die Wahrscheinlich-
keit, dieses Ziel zu realisieren, durch die Wirkungen der Existenz
gewisser Normen nicht berührt wird. Diese Normen sind erstens die
materiellen Normen der Reichsverfassung und zweitens die »politi-
schen Normen«. Als solche sollen hier alle diejenigen, gleichgültig wo
sie kodifiziert sind, bezeichnet werden, die unmittelbar die politischen
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480 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]
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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 481
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482 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]
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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 483
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484 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]
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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 485
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486 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]
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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 487
54 Dies würde jedoch nur dann gelten, wenn im Moment des jeweiligen Parla-
mentsbeschlusses sich keine wesentlichen neuen Erfahrungen gegenüber dem
Zeitpunkt des Volksentscheids ergeben hätten, die als bedeutsames Material für
die Urteilsbildung gelten könnten. Ist das der Fall, so erfordert gerade die
Repräsentativfunktion des Parlaments, sich diese Frage im Geiste des vorausge-
gangenen volksbeschlossenen Gesetzes noch einmal vorzulegen. Ein dem im
Volksgesetzgebungsverfahren beschlossenen Gesetz widersprechendes Parla-
mentsgesetz könnte dann zustande kommen, wenn eine neue Situation eine
auch in diesem Punkt geänderte Volksmeinung glaubhaft machen würde; ver-
gleiche die Ausführungen von Jellinek in: HbdDStR, Bd. 2, S. 181/82 [Gerhard
Anschütz, Richard Thoma (Hg): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2,
Tübingen 1930/32], dessen Beispiel aber nicht glücklich gewählt sein dürfte.
Denn es ist nicht evident, in welcher Weise eine veränderte Gesetzgebung des
Auslands in Bezug auf die Todesstrafe einen unmittelbaren Rückschluss auf die
veränderte Einstellung der Mehrheit des deutschen Volkes zulässt.
55 [Im Original bei Carl Schmitt heißt es auf S. 65: »Denkens« statt »Staates«.]
56 [Carl Schmitt: Legalität und Legitimität, München 1932, S. 65. Hervorhebungen
von Otto Kirchheimer.]
57 [Ebenda.]
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488 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]
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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 489
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490 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]
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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 491
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492 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]
schen Legalität ergibt sich aus der Aufzeigung der Nichtevidenz ihrer
Begründungsprinzipien in unserer Zeit. An ihre leer gewordene Stelle
tritt der Monolith der plebiszitären Legitimität. Wenn auch in einer sol-
chen Verfassung das höchste Staatsorgan auf demokratischem Wege
gewählt werden kann, so könnte sie, wenn man dem Sprachgebrauch
folgen will, doch nicht mehr als »demokratisch« bezeichnet werden. Es
kommt hierin zum Ausdruck, dass für diesen weitverbreiteten Sprach-
gebrauch Demokratie wenn schon nicht an die Existenz eines Parla-
ments, so doch an eine Vielheit von Repräsentanten gebunden ist. Die-
ser Terminologie liegt ein bestimmter Sinn zugrunde, dass nämlich der
Grad der Realisierung von Freiheit und Gleichheit sich umgekehrt ver-
hält wie der Konzentrationsgrad der Repräsentation. Die Herbeifüh-
rung der Wahl eines mir genehmen Reichstagsmitglieds setzt meine
Einigung mit 59 999 Bürgern voraus; die Beteiligung an der Wahl des
Reichspräsidenten setzt angesichts des faktischen Zwanges zur Redu-
zierung der Kandidaten (für den Fall, dass alle Wähler wirklich den
Erfolg ihres Kandidaten beabsichtigen, von Demonstrationskandidatu-
ren also abgesehen) meine Einigung mit einer weit größeren Zahl vor-
aus. Die Präsidentenwahl stellt deshalb gegenüber der Reichstagswahl
eine Willensvereinheitlichung auf weit breiterer Ebene dar; je größer
aber der Umfang der Willensvereinheitlichung, desto größer der durch-
schnittliche Abstand der eigentlichen Einzelwillen vom Kandidatenwil-
len, desto geringer infolge dieser Intensivierung des Kompromisses –
der Freiheitsgrad. Die gleiche Erscheinung der Verminderung der poli-
tischen Freiheit durch Hypertrophie der Willensvereinheitlichung zeigt
sich auch bei der zweiten politischen Chance, die Schmitt dem Volk
reservieren will, der Ja-Nein-Entscheidung über eine von den Staatsor-
ganen vorgelegte Frage (S. 93 f.). Nur ist hier die Zahl der Alternativen,
die bei unverändert bleibenden Normen für die Präsidentenwahl ledig-
lich auf zwei hinstrebt, starr auf zwei festgelegt. Ob man nun die rechtli-
che Beschränkung der politischen Aktivitäten des Volkes auf die ange-
gebenen Funktionen seinen anthropologischen Charakteren67 angemes-
sen und so durch sie gerechtfertigt hält oder nicht – in jedem Fall erge-
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[34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933] 493
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494 [34.] Bemerkungen zu Carl Schmitts »Legalität und Legitimität« [1933]
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495
[35.]
Verfassungsreform und Sozialdemokratie*
[1933]
* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 10, Heft 1, Berlin 1933, S. 20-35. – Zu diesem Text vergleiche in der Einlei-
tung S. 104-106.]
1 Juristensozialismus in »Neue Zeit«, 1883. [Friedrich Engels, Karl Kautsky: Juris-
ten-Sozialismus, in: Die neue Zeit, Jg. 5, Heft 2, Berlin/Stuttgart 1887, S. 49-62.]
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496 [35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933]
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[35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933] 497
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498 [35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933]
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[35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933] 499
6 Vergleiche des Verfassers »Weimar und was dann«, [Entstehung und Gegenwart
der Weimarer Verfassung, Berlin] 1930, S. 38, wo auf diese Disproportionalität
hingewiesen ist. Dort ist der Gesichtspunkt vertreten, dass diese Spannung nicht
durch eine Änderung der Staatsordnung, sondern durch eine Neuordnung der
ökonomischen Machtverteilung ihre Lösung zu finden habe. [In diesem Band
S. 239.]
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500 [35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933]
7 In Nr. 24, S. 1144, des »Roten Aufbau« [Bela Kuhn: Der Kommunismus im Kampfe
gegen die Sozialdemokratie, in: Unsere Zeit: Beiheft 1, aus: Der rote Aufbau, 5
(1932)22, Berlin 1932, S. 7-20] wird von »theoretischen Querverbindungen« zwi-
schen dem »faschistischen Staatstheoretiker« Carl Schmitt und dem offiziellen
theoretischen Organ der SPD, der »Gesellschaft«, gesprochen, die besonders
anschaulich im Fränkel‘schen Aufsatz zutage treten sollen. Sollte der neuartige
Begriff der »theoretischen Querverbindung« bedeuten, dass Ernst Fränkel Anlass
genommen hat, sich mit den staatstheoretischen Positionen Carl Schmitts zu
beschäftigen, so würde die Verwendung des Begriffs Querverbindung nur bewei-
sen, dass für kommunistische Schriftsteller schon die Beschäftigung und Prüfung
nicht-kommunistischer Gedankengänge unzulässig erscheint; sollte aber die
»theoretische Querverbindung« auf eine Einheitlichkeit der politischen Zielrich-
tung hinweisen, so handelt es sich um eine haltlose Behauptung. Die Behaup-
tung, dass aus den Fränkel‘schen Ausführungen mit logischer Konsequenz sich
die Aufforderung zum Staatsstreich ergebe, die Fränkel nur nicht offen auszu-
sprechen wage, stellt eine absichtliche Entstellung der Fränkel‘schen Ausführun-
gen dar; der ganze Artikel gibt in altgewohnter Weise aus der gesamten staats-
und verfassungstheoretischen Diskussion nur solche entstellte Bruchstücke wie-
der, die den Beweis für die »neurevisionistische Staatsauffassung« liefern sollen.
8 »Archiv für öffentliches Recht«, Neue Folge, Bd. XXII, S. 311. [Johannes Heckel:
Diktatur, Notverordnungsrecht, Verfassungsnotstand mit besonderer Rücksicht
auf das Budgetrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 22, Tübingen 1932,
S. 257-338.]
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[35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933] 501
die letzthin der zweite Strafsenat des Reichsgerichts für die ostpreußi-
schen Grundbesitzer unternahm. Sowohl die individuelle Notstandsak-
tion, die dieser Strafsenat für die Versteigerungsverhinderung durch
Grundbesitzer mit einer etwas neuartigen Schau ökonomischer Zusam-
menhänge begründete, wie auch die generelle Notstandsaktion, die
Herr von Papen für dieselben Schichten durchführte, kann sich wohl
schwerlich auf eine solche Verfassungsintention stützen. Aber selbst
wenn man einmal unterstellt, dass der Nachfolger des Herrn von Papen
wirklich gewillt wäre, eine Resultante aus den vorhandenen politischen
Richtungen zu bilden, wäre der eigentliche Sinn der Verfassung
geschwunden. Denn sie beruht auf dem Prinzip der Selbstregierung
des Volks, und es wird sich bald herausstellen, dass die Resultante, die
der bürokratische Staat zieht, mit der Verfassungsintention der Demo-
kratie nichts mehr gemein hat. Es handelt sich daher hier nicht um
Zuständigkeitsverschiebungen von schlechter zu besser funktionieren-
den Organen, sondern um die Feststellung, dass so, wie die Notstands-
aktion eine tatsächliche soziale Gewichtsverlagerung bedeutet, erst
recht die Kodifizierung dieser tatsächlichen Gewichtsverlagerung eine
Modifizierung der demokratischen Verfassung bedeuten würde.
Daher sollen die Fränkel‘schen Änderungsvorschläge daraufhin unter-
sucht werden, ob sie, die ein reibungsloses Funktionieren der Verfas-
sung gewährleisten wollen, zugleich ein Staatsgrundgesetz aufrechter-
halten, das Staatssouveränität, Parlament und Grundrechte zu Zentral-
punkten der Verfassungswirklichkeit macht. Fränkel setzt bei dem Arti-
kel 54 der Reichsverfassung ein, der unbestreitbar seinen Ausgangs-
punkt von der Vorstellung nimmt, dass bei Annahme eines Misstrau-
ensvotums durch das Parlament der Führer der siegreichen Opposition
mit der Leitung der Regierungsgeschäfte betraut wird und sodann ein
Kabinett mit einer sicheren Reichstagsmehrheit bildet. Im Deutschen
Reich hat diese einfache Handhabungsmöglichkeit des Artikel 54 aus
den verschiedensten Gründen nie stattgefunden, wie es auch bekannt-
lich zu offenen Misstrauensvoten in der gesamten Weimarer Parla-
mentsgeschichte nur zweimal gekommen ist. Mit der Entstehung einer
nationalsozialistisch-kommunistischen Mehrheit wuchsen die Schwie-
rigkeiten der Regierungsbildung noch mehr, so dass auf lange Sicht
hinaus die Bildung eines Mehrheitskabinetts überhaupt unmöglich
wurde und der Reichspräsident infolgedessen in die Lage kam, Min-
derheitskabinette bilden zu lassen, die gar nicht einmal die Absicht hat-
ten, eine Mehrheit des Reichstags zu erreichen, sondern den Reichstag,
schon bevor ihm Gelegenheit zum Sturz der Regierung gegeben war,
auflösten. Fränkel will nun dem Misstrauensvotum der Reichstags-
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502 [35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933]
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[35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933] 503
gegeben. Der künftige Herr warf seinen Schatten voraus. Wer möchte
aber glauben, dass ein Reichstag, der freiwillig auf seine Kompetenzen
Verzicht leistet, weil er nicht mehr in der Lage ist, sie ordnungsgemäß
zu erfüllen, im Volke auch nur einen Bruchteil jenes Widerhalls finden
könnte, der das bedeutsamste Moment in der Geschichte der Vorkriegs-
reichstage war. Wer möchte in einem solchen Reichstag, der aus Schwä-
che Verzicht leistet, die Ansatzpunkte zu einer künftigen verfassungs-
rechtlichen Entwicklung Deutschlands sehen? Die Vorstellung, dass ein
solcher Reichstag sowohl moralisch wie faktisch in der Lage wäre, den
ungeheuer komplizierten Verwaltungsapparat, der sich in der Hand
einer einheitlichen, fest geschlossenen Bürokratie befindet, zu beein-
flussen, ist irrig. Gerade weil die Innehabung des staatlichen Machtap-
parates im Zeitalter einer weitgehenden direkten Einflussnahme des
Staates auf die Gesamtgebiete sozialen Lebens wichtiger geworden ist
als der allgemeine moralische und kontrollierende Einfluss, den eine
parlamentarische Instanz auf dem Gebiete der Verwaltung auszuüben
vermag, hat sich die Funktion des Parlaments überhaupt in der Nach-
kriegszeit durchgehend gewandelt. In allen Ländern demokratischer
Verfassung, die einen ausgeprägten Klassencharakter tragen, liegt der
entscheidende Akzent der Demokratie vor der Tätigkeit des Parla-
ments. Das unmittelbare Ergebnis der Wahl und die in einer normal
funktionierenden Demokratie daraus resultierende Zusammensetzung
der Regierung ist es, die den entscheidenden Einfluss auf die laufende
Verwaltungsausübung garantiert. In Deutschland ist dies noch viel aus-
geprägter der Fall gewesen als in den anglo-amerikanischen Ländern;
denn im Deutschen Reich ist die Einrichtung ständiger, vom Parlament
eingesetzter, aber nicht lediglich aus dessen Mitgliedern bestehender
Kommissionen, die dem Parlament die Mühe der Fixierung der allge-
meinen Regeln für fast alle Gebiete der Sozialverwaltung abnehmen,
unbekannt geblieben.9 Will eine soziale Klasse in Deutschland auf die
laufende Verwaltung Einfluss nehmen, so muss sie selbst in den büro-
kratischen Körper einzudringen versuchen. Schaltet man aber diese
Möglichkeit praktisch aus, so hilft auch die Aufrechterhaltung eines
Reichstags, demgegenüber die Verwaltung nun auch formell unabhän-
gig ist, nichts. Ein Reichstag, der nicht in der Lage ist, eine Regierung
zu bestellen, kann auch eine ergiebige Gesetzgebungsarbeit, die durch
detaillierte Gesetzesbestimmungen den mangelnden Einfluss auf die
direkte Verwaltungsübung wieder wettmachen könnte, nicht leisten.
9 Vergleiche für die Vereinigten Staaten Charles Beard, American Government and
Politics,[ New York] 1931, S. 210 ff.
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504 [35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933]
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[35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933] 505
über die Aufhebung der Notverordnungen gefasst hat; auch hier kann
der Artikel 25 der Reichsverfassung dementsprechend geändert wer-
den, dass, falls der Reichstag die Aufhebung einer Notverordnung
begehrt, eine Reichstagsauflösung so lange nicht erfolgen kann, bis das
Volksentscheidsverfahren zur Durchführung gelangt ist. Bei der Mög-
lichkeit, durch Ausnutzung aller Fristen das Ergebnis des Volksent-
scheids zu verzögern, bliebe so der Bürokratie eine gewisse Zeit, die
lang genug ist, um ihre in der Zwischenzeit in Gültigkeit bleibenden
Notverordnungsmaßnahmen sich auswirken zu lassen. Kommt es aber
dann zur Abstimmung, so ist das Schicksal der Demokratie ungewisser
als jemals; denn die Verwerfung der Notverordnungen würde wieder
auf den Weg des offenen Staatsstreichs drängen, den Fränkel gerade
durch die Abschaffung der Letztinstanzlichkeit des Reichstagsvotums
hier vermieden sehen will.
So bedeuten die Fränkel‘schen Vorschläge zur Verfassungsänderung
lediglich eine Legalisierung der gegenwärtigen Herrschaftsverteilung,
wobei die Verfassung nur deshalb funktionieren kann, weil ihre demo-
kratischen Parlamentsrechte als gegenwärtig nicht anwendbar mit einer
Wiederauflebensklausel zur Disposition gestellt sind. Man wird des-
halb schwerlich der Sozialdemokratie Verfassungskonservativismus
vorwerfen können, wenn sie gegenüber Änderungsvorschlägen, die
lediglich eine ihr ungünstige Herrschaftsverteilung sanktionieren wol-
len, an der Weimarer Ordnung festhält. Aber darüber hinaus muss und
kann selbstverständlich diskutiert werden, ob es konkrete Möglichkei-
ten gibt, die Weimarer Normen so zu ändern, dass aus einem Bündel
isolierter Rechte, die durch den gegenseitigen Antagonismus der Par-
teien untereinander und der Parteien mit der Bürokratie jedweder
beteiligten Partei nur einen höchst geminderten, mehr zufälligen als
berechenbaren Nutzen bringen, wieder eine sinnvolle Verfassungsord-
nung entsteht.
Die Verfassungsreformpläne der verflossenen Reichsregierung haben,
wie heute allgemein anerkannt wird, dafür keinerlei Grundlage gebo-
ten. Sie hätten auch niemals die verfassungsmäßige Zustimmung des
Reichstags gefunden. Von dieser aber konnte die Reichsregierung nie-
mand entbinden. Für die verfassungsmäßige Zulässigkeit eines Pair-
schubs durch präsidentielle Verordnung, wobei nach dem Vorschlag
Walter Jellineks die Nichtwähler für eine Präsidialliste in Anspruch
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506 [35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933]
11 Jellinek: »Reich und Länder«, Band 6, S. 270 ff. Kritisch siehe dazu Leibholz in
»Reichsverwaltungsblatt«, Bd. 47, S. 930. [Walter Jellinek: Verfassungsreform im
Rahmen der Möglichkeiten, in: Reich und Länder, Jg. 6, Heft 11; Gerhard Leib-
holz: Die Wahlreform im Rahmen der Verfassungsreform, in: Reichsverwal-
tungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt, Band 53, Berlin 1932, S. 927-930.]
12 »Neue Blätter für den Sozialismus«, November 1932. [Hermann Heller: Ziele
und Grenzen einer deutschen Verfassungsreform, in: Neue Blätter für den
Sozialismus, Jg. 3, Heft 11, Potsdam 1932, S. 576-580; Hans Simons: Verfassungs-
reform? Wie soll sie aussehen?, in: Neue Blätter für den Sozialismus, Jg. 3, Heft
11, Potsdam 1932, S. 580-588.]
13 Hermens: Wahlrecht und Verfassungskrise, »Hochland«, November 1932, S. 110.
[Ferdinand Aloys Hermens: Wahlrecht und Verfassungskrise, in: Hochland, Jg.
30, Heft 2, Kempten 1932.]
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[35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933] 507
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508 [35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933]
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[35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933] 509
gigkeit der Exekutive, dürfte keine allzu große Bedeutung besitzen. Hat
eine Bürokratie in einem klassengespaltenen Land wie Deutschland
eine so starke Möglichkeit zur Verselbständigung, so wird ihr theoreti-
sches Rüstzeug durch die Berufung auf die zugleich »plebiszitäre und
autoritäre Rolle des Reichspräsidenten« (Carl Schmitt)16 zwar gestärkt,
praktisch aber wird in einer solchen Situation auch ein von einer Ver-
tretungskörperschaft gewählter Präsident auf die Dauer den Verselb-
ständigungstendenzen der Bürokratie keinen entscheidenden Wider-
stand entgegensetzen. Die deutsche Nachkriegsgeschichte kennt
genugsam Beispiele von Politikern, die, Minister geworden, als Chefs
ihrer Verwaltung, obwohl sie doch mehr unmittelbare Verbindung zu
Parlament und Partei bildeten als der Reichspräsident, lediglich das
parlamentarische Vertretungsorgan ihrer jeweiligen Bürokratie gewor-
den sind.
Die Einsetzung berufsständischer Körperschaften wird bekanntlich
auch in Sozialistischen Reihen verschieden beurteilt. Zu der Frage ob
für eine sozialistische Demokratie solche Körperschaften sinnvoll sind,
soll hier nicht Stellung genommen werden;17 hier ist lediglich zu fra-
gen: Können der Sache einer sozialistischen Demokratie unter den kon-
kreten deutschen Verhältnissen durch die Einführung einer solchen
Körperschaft Vorteile erwachsen? Es scheint utopisch zu glauben, dass
dort, wo politische, also der Intention nach doch immer auf das Ganze
gerichtete Parteien kaum einen Ausgleich finden können, eine Zusam-
mensetzung berufsständischer Interessenvertreter, die keine andere
Aufgabe haben können, als jeweils das Maximum des für ihre Gruppe
Erreichbaren zu erkämpfen, hier entscheidenden Wandel schaffen
könnten. Dazu kommt noch, dass, selbst wenn man den Arbeitnehmern
den Einfluss sichert, auf den sie ihrer Organisationsstärke nach
Anspruch erheben können,18 lediglich der Status quo unserer heutigen
Wirtschaftsverfassung sich dort widerspiegeln kann. Hieran dürfte die
organisierte Arbeitnehmerschaft am allerwenigsten ein Interesse haben.
Die Sozialdemokratie wird daher von einer Verfassungsreform, die sich
im Rahmen der gegenwärtigen Machtvertretung vollzieht, nicht viel zu
erwarten haben.
16 [Vergleiche: Carl Schmitt: Der Hüter der Verfassung, 3. Auflage, Tübingen 1931,
S. 156-159.]
17 Carl Landauer: Planwirtschaft und Verkehrswirtschaft,[ München/Leipzig] 1931,
S. 148 ff.
18 Vergleiche die dahin zielenden Erörterungen bei Simons in »Neue Blätter für
den Sozialismus«, 1932, S. 585. [Hans Simons: Verfassungsreform? Wie soll sie
aussehen?, in: Neue Blätter für den Sozialismus, Jg. 3, Heft 11, Potsdam 1932.]
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510 [35.] Verfassungsreform und Sozialdemokratie [1933]
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511
[36.]
[Rezension:] Adolf Grabowsky: Politik*
[1933]
* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 10, Heft 2, Berlin 1933, S. 173-175. – Zu diesem Text vergleiche in der Ein-
leitung S. 111.]
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512 [36.] [Rezension:] Adolf Grabowsky: Politik [1933]
biete nicht vermeiden. Es bietet sich deshalb auf weiten Strecken das
Bild einer bunten Fülle der behandelten Sachgebiete, die untereinander
nur in losem Zusammenhang stehen. Bei der unerschöpflichen Zahl der
behandelten Objekte kann so eine große Anzahl interessierender und
geistreicher Fragen aufgeworfen werden, ohne dass es auch nur mög-
lich wäre, den Objektzusammenhang der einzelnen Sachgebiete ausrei-
chend zu klären. Der Verfasser meint, dass die »Politikwissenschaft«
mehr sein solle als Kontemplation, nämlich »Aufruf zur Tat«. Er betont
deshalb durchweg den dynamischen Charakter dieser Wissenschaft. Im
Gefolge dieser Anschauung wird die Festlegung auf eine bestimmte
wissenschaftliche Methodik abgelehnt. Dafür wird versucht, durch Ein-
beziehung jeder weltanschaulichen, politischen und sozialen Problema-
tik ein möglichst seinsadäquates Bild zu liefern. Ob aber auch durch
den Methodensynkretismus, der durch dieses Vorgehen in einem
gewissen Maße bedingt ist, bei aller erfreulichen Offenheit gegenüber
jeglicher Zeitproblematik das vom Verfasser erstrebte »Führungswis-
sen« erreichbar ist, bleibt fraglich. Allen Erfahrungen zufolge war es
stets die Geschlossenheit von Welt- und Lebensanschauung auf allen
dem jeweiligen Autor zugänglichen Gebieten der Erfahrung, die immer
im höchsten und besten Sinne »bildend« gewirkt hat. Gerade die
Schriften des vom Verfasser so herb kritisierten Jakob Burckhardt mit
seinem durchgehenden kontemplativen Idealismus, der »Kontempla-
tion als Freiheit im Bewußtsein der Gebundenheit«, ist eine nicht zu
unterschätzende Quelle politischer Bildung, deren Bedeutung im heuti-
gen Deutschland noch immer im Anwachsen begriffen scheint.
Was nun die einzelnen behandelten Sachgebiete angeht, so kann hier
nur auf einen kleinen Teil der fast alle geisteswissenschaftlichen
Gebiete berührenden Ausführungen eingegangen werden. Der erste
Teil, zusammenfassend die »theoretische Politik« genannt, bringt eine
Auseinandersetzung mit den Hauptströmungen der modernen Staats-
lehre. Aus der besonderen Situation dieser dynamischen »Politikwis-
senschaft« heraus muss unter Ablehnung der reinen Rechtslehre eine
organizistische Staatstheorie vertreten werden, die aber offensichtlich
nur den Unterbau für die theoretische Behandlung der dem Verfasser
am meisten am Herzen liegenden außenpolitischen Probleme liefert.
Hier versucht der Verfasser, Staatstypen je nach ihrer mehr außen- oder
innenpolitischen Einstellung herauszuarbeiten. Dabei wird die Proble-
matik der klassengespaltenen Gesellschaft, das Verhältnis von Staat
und Gesellschaft in unserer Zeit, keineswegs übersehen. Die vielge-
brauchten Wendungen von Pluralismus und Polykratie werden mit vol-
lem Recht auf die dualistische Sozialgrundlage unseres Staates zurück-
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[36.] [Rezension:] Adolf Grabowsky: Politik [1933] 513
geführt. Aber diese ganze Problematik tritt für Grabowsky doch hinter
dem Gedanken des Staates als außenpolitischer Einheit zurück. Gerade
bei der Behandlung Sowjetrusslands und Italiens wird der Gesichts-
punkt der angeblichen Überwindung dieses Dualismus scharf hervor-
gekehrt. Im Zusammenhang mit dieser betont außenpolitischen Sicht
steht wohl eine gewisse Überschätzung aller intellektuellen Faktoren.
Insbesondere lässt das Kapitel über Religion, Fiktionen und Mythen
eine Auseinandersetzung oder auch nur Erwähnung des Mann-
heim‘schen Buches über »Ideologie und Utopie«1 vermissen, die zu
einer generellen Klärung des für den Verfasser so wichtigen Führungs-
problems sowie der Problematik der intellektuellen Elite sehr nützlich
gewesen wäre.
Die betont außenpolitische Einheitsvorstellung kehrt besonders deut-
lich im zweiten Teil »Weltpolitik« wieder. Auf eine sozialgeschichtliche
Darstellung der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung folgt ein Deu-
tungsversuch des Imperialismus, für den der Verfasser ein Dreistadien-
gesetz bereithält, das vom Feudal- über den Kommerzial- zu einem
durchaus nicht negativ wertbetonten Sozialimperialismus führt. Dieses
Kapitel, das zu den interessantesten und geistreichsten des ganzen
Buches zählt, beruht nicht auf einer Analyse ökonomischer Faktoren,
sondern auf einer rein subjektiven Sinndeutung des geschichtlichen
Geschehens. Umso mehr scheint der Verfasser gerade an dieser Stelle
bemüht, einen notwendigen Entwicklungszusammenhang aufzuzei-
gen. Die folgenden Kapitel über die deutsche Politik enthalten eine vor-
urteilsfreie Studie über die Sozialstruktur des Vor- und Nachkriegs-
deutschlands. Hieran schließen sich höchst problematische Erörterun-
gen über die Frage einer Zentralpartei und die Führerelite in einer
»nicht vulgärdemokratischen Demokratie« an. Wie in dem ganzen
Buch, so werden speziell in diesem Kapitel die innerpolitischen Pro-
bleme vom Einheitsdrang der nationalen Außenpolitik überschattet.
Nur von diesem Standpunkt aus ist die Weitherzigkeit der Bewertung
verständlich, die für Demokratie, bündische Gemeinschaft und den
»großen Heilbringer« im Grunde gleich offen ist. Es ist ersichtlich, dass
das Verhältnis von innerstaatlicher Struktur und Außenpolitik, obwohl
gerade hier eines der Hauptinteressengebiete des Verfassers liegt,
durch die Überbetonung eines Faktors nicht gelöst werden kann. Die
Position Stresemanns wird gut und keineswegs zu scharf im Gesamt-
bild des verflossenen Jahrzehnts gezeichnet. Die Möglichkeiten der
deutschen Außenpolitik, als deren ständiger und aufmerksamer Beob-
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514 [36.] [Rezension:] Adolf Grabowsky: Politik [1933]
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515
[37.]
Marxismus, Diktatur und Organisationsform des
Proletariats*
[1933]
* [Erschienen in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Poli-
tik, Jg. 10, Heft 3, S. 230-239. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung
S. 106-108. ]
1 Vergleiche die Erörterung über den Begriff der Diktatur des Proletariats, die
[Ernst] Troeltsch in »Der Historismus und seine Probleme« anstellt. [Tübingen]
1922, S. 333.
2 Dass der Marx‘sche Diktaturbegriff keineswegs formaljuristisch zu erfassen sei,
wird von [Arcadius Rudolf Lang] Gurland in seiner Polemik gegen Otto Bauer
und Max Adler »Marxismus und Diktatur«, Leipzig 1930, S. 66 ff betont.
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516 [37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933]
wandelt würden. Das dem Begriff eigene mit der Marx‘schen Gesamt-
konzeption in engstem Zusammenhang stehende Moment ist damit die
notwendige Verknüpfung der Aktion des Proletariats mit einem
bestimmten ökonomischen Reifezustand der Gesellschaft. Beides ist
untrennbar und bedingt sich gegenseitig. Darüber hinaus ergab sich für
Marx die Vorstellung der Diktatur aus dem Sprachgebrauch seiner Zeit,
der von ihm schon im Kommunistischen Manifest aufgenommen und
insbesondere in den historisch-politischen Schriften, in denen er sich
mit den französischen Verhältnissen beschäftigte, verwendet wurde.
Diktatur bedeutet hier das rein tatsächliche Moment der Herrschaft einer
Klasse oder einer Gruppe über die andere, unabhängig wiederum von
den Rechtsformen, in denen sich diese Herrschaft vollzieht. Diese letz-
tere Bedeutung des Wortes Diktatur kommt vorzüglich in der Einlei-
tung zum Ausdruck, die Paul Levi zu Rosa Luxemburgs nachgelasse-
nen Bemerkungen über die russische Revolution geschrieben hat. Dort
heißt es:
»Diktatur des Proletariats, jetzt können wir sehen, was sie ist. Sie ist
kein Zustand, der in den breiten Regionen der Sozialphilosophie sich
abspielt, sie ist keine patentierte Staatsform, die eine geheime Kraft in
sich birgt. Sie ist die eroberte Staatsgewalt dann und so lange, als der
Wille, die Kraft, die Begeisterung, die Siegeszuversicht der proletari-
schen Klasse hinter ihr steht.«3
Der Auffassung der Diktatur bei Marx ist jedoch im Widerstreit der
Interessen und Meinungen innerhalb der Arbeiterparteien der Welt
immer viel weniger Beachtung geschenkt worden als dem Fragenkom-
plex, der sich mit dem Verhältnis von Demokratie und Diktatur im for-
malpolitischen Sinne, mit der Möglichkeit der Demokratie als Rechts-
form, in der sich die proletarische Diktatur vollzieht, beschäftigt. Hier-
bei hat man auf die Engels‘sche Formulierung der Demokratie als der
spezifischen Form der Diktatur des Proletariats sehr oft Bezug genom-
men, ohne dass freilich immer mit erwähnt wurde, dass Engels an die-
ser Stelle der Kritik des Erfurter Programmentwurfs in erster Linie den
Begriff Demokratie als antithetischen Gegensatz zur halbfeudalen Mili-
tärmonarchie in Deutschland im Auge hatte. An keiner Stelle der Marx-
Engels‘schen Erörterungen findet sich aber ein Hinweis darauf, dass
die Staatsform der Demokratie mit den für sie typischen Einrichtungen
im Prozess der dialektischen Zuspitzung der Entwicklung zur Diktatur
des Proletariats eine notwendige Vorform der proletarischen Diktatur
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[37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933] 517
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518 [37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933]
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[37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933] 519
4 Es sei hier auf den Aufsatz von [Franz] Borkenau »Zur Soziologie des Faschis-
mus«, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 68, Heft 5,
[ Tübingen 1932, S. 513-547] hingewiesen. Dort finden sich eingehende Erörterun-
gen über das Verhältnis von Großbourgeoisie und Faschismus. Von der These
aus, dass der echte Faschismus wie jede Diktatur ein Übergangszustand zur
Schaffung des industriellen Kapitalismus ist, wird die Unvergleichbarkeit des
deutschen Nationalsozialismus mit den Diktaturen der kapitalistisch nicht voll-
entwickelten Länder aufgewiesen.
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520 [37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933]
5 Diese Neigung zur Identifizierung von Marx und Lenin kommt stark zum Aus-
druck in einer beachtenswerten Darstellung der marxistischen Staatstheorie
durch Shermann H. M. Chang: »The Marxian Theory of the State«, Philadelphia
1931. Interessanterweise betont sowohl [John Roger] Commons im Vorwort zu
dieser Arbeit wie der chinesische Verfasser selbst die ungeheure Wichtigkeit der
richtigen Erfassung der Marx‘schen Lehre für die konkreten chinesischen Ver-
hältnisse.
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[37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933] 521
6 [Wladimir Iljitsch Lenin: Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom
Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution, zweite unveränderte
Auflage, Berlin 1919, S. 35.]
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522 [37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933]
7 Vergleiche Lenins Aufsatz »Was tun?«, der 1902 erschien und in dem Sammel-
band »Ausgewählte Werke« wieder abgedruckt worden ist. [Wladimir Iljitsch
Lenin: Organisation der Arbeiter und Organisation der Revolutionäre (Aus:
»Was tun?«, 1902), in: Ausgewählte Werke, Band 1, Der Kampf um die soziale
Revolution, Berlin 1935, S. 64-79.]
8 Die Auseinandersetzung erschien in deutscher Sprache in der »Neuen Zeit«, 1904,
Band 22, 2. [Rosa Luxemburg: Organisationsfragen der russischen Sozialdemo-
kratie, in: Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/04, Band 2, Stuttgart 1904, S. 484-449 und
S. 529-535.] Vergleiche dazu auch [Julius] Martows »Geschichte der russischen
Sozialdemokratie«, Berlin 1926, S. 74 ff.
9 Vergleiche etwa Lenins Schrift über die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht,
1918, wo von der widerspruchslosen Unterordnung der Massen unter den ein-
heitlichen Willen der Leiter des Arbeitsprozesses gesprochen wird. [Wladimir
Iljitsch Lenin: Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, Berlin 1918.]
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[37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933] 523
sung des Willens der Arbeiterschaft. Je höher der Grad der Spontanei-
tät, desto vermeidbarer die doppelte Gefahr des Rückfalls in die Sekte
und des Umfalls in die bürgerliche Reformbewegung. Man mag hier
bei Rosa Luxemburg eine allzu geringe Bewertung des immer notwen-
digen Stücks hierarchischer Verselbständigung sehen. Die tiefe Kluft
jedenfalls, die in der Frage des Organisationsstreits klafft, kehrt wieder
in der Beurteilung des von Rosa Luxemburg noch miterlebten Teils der
russischen Revolution.
Der dialektische Sprung von dem Gewaltstaat der proletarischen Dikta-
tur zur Primitivität der proletarischen Demokratie, wie ihn Lenin unter
Berufung auf die Kommune10 theoretisch entwickelte, hat in der Wirk-
10 Wenn sich Lenin hier sehr oft auf die Erfahrungen der Kommune, wie sie Marx
im »Bürgerkrieg« beifällig beschrieben hat, beruft, so muss doch darauf hinge-
wiesen werden, dass seine Betrachtungsweise eine wesentliche Differenz gegen-
über Marx aufweist und Lenin übrigens auch von seinen eigenen früheren
Äußerungen über die Kommune hier abweicht. [Arthur] Rosenberg, »Geschichte
des Bolschewismus«,[ Berlin] 1932, S. 25, hat neuerdings wieder mit Recht auf
die wesentlichen Differenzen hingewiesen, die zwischen der Auffassung von
Marx und der der Kommune bestanden. Wenn Marx sich nach der Niederlage
der Kommune im Bürgerkrieg vor der Öffentlichkeit bedingungslos zu ihr
bekannt hat (was bekanntlich briefliche Kritik nicht ausgeschlossen hat) und
ihre einzelnen Taten für alle Zeiten dem Proletariat als leuchtendes Beispiel vor-
hielt, so besagt das nichts für sein Urteil über die Zweckmäßigkeit ihrer Hand-
lungen und darüber, ob er einen Erfolg unter den gegebenen Bedingungen
überhaupt für möglich gehalten hatte. Es liegt im »Bürgerkrieg in Frankreich«
in erster Linie eine moralische Wertung, die unmittelbaren politischen Charak-
ter durch die scharfe Abhebung jedes einzelnen Akts vom Horizont der bürger-
lichen Welt des 19. Jahrhunderts, der Welt der Herren Thiers und Bismarck,
erhält. In diesem Rahmen bewegen sich auch alle früheren Äußerungen Lenins
über die Kommune, die übersichtlich in der Kleinen Lenin-Bibliothek, Band 5,
unter dem Titel »Lenin: Über die Pariser Kommune« zusammengestellt sind.
[Wladimir Iljitsch Lenin: Über die Pariser Kommune, in: Kleine Lenin Biblio-
thek, Band 5, Wien/Berlin 1931.] In einem Aufsatz aus dem Jahre 1911 [Wladi-
mir Iljitsch Lenin: Dem Andenken der Kommune, in: Rabotschaja Gaseta,
Nr. 4/5, 28. (15.) April 1911, St. Petersburg,] hat Lenin ausdrücklich auseinander-
gesetzt, aus welchen Gründen die Kommune nicht zu einer siegreichen sozialen
Revolution werden konnte (a. a. O. A. 15 [Wladimir Iljitsch Lenin: Dem
Andenken der Kommune, in: Wladimir Iljitsch Lenin: Über die Pariser Kom-
mune, in: Kleine Lenin-Bibliothek, Band 5, Wien/Berlin 1931, S. 13-18]). Er weist
dort auf die fehlenden beiden Bedingungen der notwendigen Entwicklungs-
stufe der Produktivkräfte und damit zusammenhängend, der Reife des Proleta-
riats hin. Man kann aber selbst das heroischste geschichtliche Vorbild, dessen
ungeheure moralische Bedeutung für den Emanzipationskampf des Proletariats
man heute weniger denn je unterschätzen sollte, nur dann für die Fragen der
proletarischen Staatsstruktur heranziehen, wenn man die strukturellen Unter-
schiede und die ungeheure Verschiebung der sozialen Grundlagen, die seit
jener Zeit erfolgt sind, bei jedem konkreten Vergleichspunkt berücksichtigt.
Hiervon nimmt Lenin in »Staat und Revolution« kaum Notiz.
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524 [37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933]
lichkeit Russlands keine Bestätigung gefunden. Für die erste Zeit nach
der Revolution entsprachen allerdings die tatsächlichen russischen Ver-
hältnisse bis zu einem gewissen Punkt der Lenin‘schen Lehre von der
primitiven Demokratie, aber mit einer charakteristischen und wesentli-
chen Differenz. Während Lenin in dem Heimfall aller Funktionen an
die proletarische Masse den Anfang und den Übergang zum Aufbau
einer proletarischen Demokratie sah, bildeten die russischen Sowjets in
ihrer Blütezeit lediglich Organe zur Liquidierung des bisher Bestehen-
den und zur notdürftigen Regelung der nächsten Tagesbedürfnisse. Die
in ihnen erfassten Bevölkerungsschichten, organisierte wie unorgani-
sierte Arbeiter sowie Bauern bildeten zwar mit die wesentlichen Träger
der russischen Revolution, ohne die der Petrograder November-
Umsturz zur Isolierung und damit zum Scheitern verurteilt gewesen
wäre. Aber Ansatzpunkte für die proletarische Demokratie sind sie
doch nicht geworden. Als der Bürgerkrieg mit seiner unabweislichen
Notwendigkeit zur zentralen Zusammenfassung aller Kräfte beendet
war, war praktisch die Staatsstruktur in die Parteistruktur zurückge-
nommen. Die Sowjets waren zu leerlaufenden Attrappen geworden, die
Staatstheorie Lenins mit ihrem dialektischen Gegensatz zwischen der
autoritären Revolution und der primitiven Demokratie endgültig
zugunsten der eindeutig autoritären Parteilehre abgewandelt. Und die
autoritäre Partei hatte im faktischen Staatsaufbau ihre geradlinige Fort-
setzung gefunden.
Damit ist aber die entscheidende Bedeutung der vorrevolutionären
Organisationsform für die Ausgestaltung des proletarischen Staats
selbst außer Zweifel gestellt. Gewiss, viele Mächte und Kräfte wirken
auch hier auf die endgültige Gestaltung der Dinge ein. Neben der
Organisation der proletarischen Partei spielt die Art ihrer Verbindung
mit anderen Volksschichten und deren eigene Organisationsreife bei
der Machtergreifung eine entscheidende Rolle. Je schwächer organisiert
aber jene anderen Schichten sind, desto größer ist die Möglichkeit, sie
baldigst wieder auszuschalten, wie dies der immanenten Tendenz einer
hierarchischen Partei entspricht. Desto größer ist aber auch die Mög-
lichkeit für eine demokratisch organisierte Partei, vom ersten Augen-
blick ab die demokratische Grundlage des proletarischen Staates zu
erweitern. Das russische Beispiel, für das man nicht lediglich außen-
und militärpolitische, also zwangsläufige Tendenzen verantwortlich
machen soll, sondern ebenso die naturgegebene Entfaltung und Über-
tragung der Partei- auf die Staatsstruktur ist ein klassisches Beispiel für
jene Verengung der staatlichen Basis, die die schwerste Gefahr für die
Möglichkeit einer proletarischen Demokratie darstellt, wie dies Rosa
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[37.] Marxismus, Diktatur und Organisationsform des Proletariats [1933] 525
Luxemburg ebenso wie etwa Martow und Dan immer wieder ausge-
führt haben. Mit Recht bemerkt Rosa Luxemburg zu diesem Punkt,
dass die proletarische Diktatur in der Art der Verwendung der Demo-
kratie, nicht in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlossenen Ein-
griffen in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhält-
nisse der bürgerlichen Gesellschaft bestehe, ohne welche sich die sozia-
listische Umwälzung nicht verwirklichen lasse.11
Gewiss, die Verdrängung der Lenin‘schen Staatstheorie durch seine
Parteitheorie findet ihre tatsächliche Grundlage nicht nur in der Stärke
dieser autokratischen Parteiorganisation; der Primitivismus der
Lenin‘schen Demokratievorstellung selbst, die allzu sehr in den Ideen-
gängen der Kommune steckenblieb, trägt der technischen Kompliziert-
heit der Herrschaftsapparatur im 20. Jahrhundert kaum Rechnung.
Gerade das russische Beispiel hat gezeigt, dass die primitive Demokra-
tie bald von einer oligarchischen, Staat und Partei beherrschenden
Bürokratie verdrängt wird. Deshalb ist die Frage des Ausmaßes der
Bürokratie, ihrer notwendigen Beschränkung auf technische Funktio-
nen und die Verhinderung ihres Übergreifens auf politische Entschei-
dungen zugleich eine Frage nach der Möglichkeit und Verwirklichung
einer proletarischen Demokratie. So prägt die Parteiorganisation nicht
nur die Formen für den Gegenwartskampf des Proletariats; sie kann,
wie das russische Beispiel zeigt, auch für die Ausgestaltung des prole-
tarischen Staates selbst ausschlaggebend werden. Gerade an diesen rus-
sischen Organisationserfahrungen wird die mitteleuropäische Arbeiter-
schaft nicht achtlos vorbeigehen dürfen. Lenins Partei lehrt uns die
nicht zu unterschätzende Bedeutung einer fest gefügten, von einem
zentralen Willen beherrschten politischen Organisation für besonders
schwierige Kampfepochen der Arbeiterklasse. Sie lehrt uns aber auch,
dass der Mangel der demokratischen Grundstruktur nicht nur dauernd
innere Konflikte für die Partei heraufbeschwört, sie zeigt, dass dort, wo
die Vertrauensbasis zu schmal ist, die Verbindung und Heranziehung
weiter proletarischer Schichten unmöglich ist und durch einen desto
stärkeren Druck der staatlichen Repressivgewalt wettgemacht werden
muss.
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[38.]
The Growth and the Decay of the Weimar
Constitution*
[1933]
* [Erschienen in: The Contemporary Review, Volume 144, No. 815, London/New
York 1933, S. 559-567. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 111-112.]
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528 [38.] The Growth and the Decay of the Weimar Constitution [1933]
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[38.] The Growth and the Decay of the Weimar Constitution [1933] 529
roristic party dictatorship, there was nothing left but to choose the legal
shape for a development already completed in fact. The foresight of
Preuß is shown by his attempt to give democratic colour to a necessary
trend which now has to end with political measures of a dictatorial
nature, tending not to reconcile the many regional interests but to
increase anti-centralistic tendencies.
The fathers of the Weimar Constitution were fully conscious of the fun-
damental difference which existed between the traditional type of a
Liberal nineteenth-century Constitution based upon property and edu-
cation and a modern twentieth-century constitution entrusted with the
task of building a bridge between the two »nations« within the State.
The late Friedrich Naumann, a representative leader of middle-class
democracy, pointed out that it was one of the main purposes of the
Weimar Constitution to compete with the Bolshevist constitutional con-
struction. In order to carry through this »competitive effort« and to har-
monise a people of comparatively highly trained individuals with the
exigencies of a more and more collectively organised society, Naumann
was anxious to create a body of fundamental rights and duties, largely
different from the traditional type of rights of man. It was the aim of the
second part of the Weimar Constitution, as of many other Constitutions
since, to build up in daily life the ideal of a »Social State« as opposed
both to extreme liberal individualism and to radical communist collec-
tivism. For this reason individual liberty and property were guaran-
teed, but at the same time the protection of property had to yield to an
enlarged right of the State to eminent domain, and, moreover, the pro-
tection of the working class and a scheme of a new social organisation
were provided for. The part of the Constitution concerning workers
councils, which has been the object of serious struggles within and
without the Constituent Assembly, embodied the postulate of equal
participation of employers and employees in deciding conditions of
work and production. Socialisation of production and reform of landed
property were also provided for, but practical steps in this direction
were left for later legislation. The fact that the Reichstag, elected in 1920
and 1924, omitted to pass any legislation fulfilling the promise of social-
isation and land reform given in the Constitution, is to be regarded as
one of the most fatal mistakes made by the Republic. It must be borne
in mind, however, that during this period the Republic was burdened
with the triple weight of the Treaty of Versailles, the inflation which
ruined the middle class, and the embittered enmity of the ever-rebel-
lious Junkers. The Bavarian Government and the Hitler movement
were beginning their underhanded work. At the same time, increasing
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530 [38.] The Growth and the Decay of the Weimar Constitution [1933]
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[38.] The Growth and the Decay of the Weimar Constitution [1933] 531
1 Erik Reger's novel, Union der festen Hand, describes in a masterly way the various
social groups of the post-war period in the mining district of the Ruhr, their
views and actions, and forms one of the most important contributions to the his-
tory of post-war Germany. A translation would be welcomed by every student of
German political developments. [Erik Reger: Union der festen Hand. Roman
einer Entwicklung, Berlin 1931.]
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532 [38.] The Growth and the Decay of the Weimar Constitution [1933]
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[38.] The Growth and the Decay of the Weimar Constitution [1933] 533
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534 [38.] The Growth and the Decay of the Weimar Constitution [1933]
ernment. The fact that Carl Schmitt, when he was still nothing but a
political theorist and not a Nazi partisan and official framer of Nazi
constitutional laws, conceived the totalitarian idea in a way that would
justify even the fiercest enemies of his actual party, shows more clearly
than anything else that the totalitarian idea does not represent any sub-
stantial political conception at all. Every government which lays stress
upon its own power, and works for a preponderance of the State over
any other social force, may be regarded as totalitarian. That might even
be true of a democracy, leaving a reasonable sphere of political freedom
to the individual.
So far as the genuine contribution of National-Socialism to German
political theory is concerned, it is nothing but the attempt to base all
government institutions upon a theory of race. It is, in other words, the
attempt to retrace the history of our civilisation which led from the
tribal community of early times to the feudal and religious community
of the Middle Ages and finally to modern citizenship, founded upon
common participation in a national civilisation, national language and
a national destiny. According to the Nazi idea nothing but community
of blood is to be the basis of a State and of its Constitution. This vision
is connected with the idea of the leader, which is reduced to the primi-
tive conception of giving obedience and receiving protection, and
which ignores all the sociological assumptions connected with the phe-
nomenon of political leadership. If primitivity of thought in itself was
any guarantee for the constructive power of a political creed, all the
problems arising out of the necessity to reserve a sphere of creative lib-
erty to the individual in a powerful community would be solved. The
fallacy of this primitive idea has been clearly set out by Lord Acton,
who was not only very familiar with the special problems of Germany,
but also quite prepared to accept the factor of race as an important con-
tributory element of a nation. Lord Acton wrote sixty years ago:2
»Our connection with the race is merely natural or physical, whilst our
duties to the political nation are ethical. One is a community of affec-
tions and instincts infinitely important and powerful in savage life, but
pertaining more to the animal than to the civilised man. The other is an
authority governing by laws, imposing obligations and giving a moral
sanction and character to the natural relation of society.«
2 History of Freedom, and other Essays, pp. 292-3. [John Emerich Edward Dalberg-
Acton (Hg.): Nationality, in: History of Freedom, and other Essays, London 1907.]
https://doi.org/10.5771/9783845282534
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535
[39.]
[Rezension:] Otto Geßler: Reichswehrpolitik in der
Weimarer Zeit*
[1959]
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536 [39.] [Rezension:] Otto Geßler: Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit [1959]
Auf weiten Strecken ist das Buch der Auseinandersetzung mit Seeckt
gewidmet. Geßler besaß eine Art von Hassliebe für Seeckt und hat
zweifelsohne unter den fortwährenden Demütigungen, die Seeckt ihm
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[39.] [Rezension:] Otto Geßler: Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit [1959] 537
zufügte, schwer gelitten. Die Art, wie sich die weiterwirkende Faszina-
tion Geßlers durch seinen Quälgeist Seeckt mit gelegentlichen Seiten-
hieben und Entschleierungen paart, ist für die noch aus der Wilhelmi-
nischen Zeit stammende Einstellung des Amtsbürgers zum Berufsmili-
tär aufschlussreich.
Aber für die Nachwelt interessanter ist die Tatsache, dass Geßler die
offizielle Reichswehrtheorie, die ihn in eine oft peinliche Nebenrolle
abdrängte, auch rückschauend voll bejaht und sie mit einem histori-
schen und vergleichenden Mäntelchen zu bekleiden versucht: Die
Reichswehr als eine über den Parteien stehende unabhängige und nur
dem Staat als solchem, nicht seinen wechselnden Regierungen dienende
Kraft. Diese Theorie stellt nicht nur das Verhältnis von Zivilgewalt und
Militär im demokratischen Staat auf den Kopf und macht die demokra-
tische Regierung, wie Geßler oft selbst genug am eigenen Leib spüren
musste, vom jeweiligen Vertrauen oder Misstrauen der Militärs abhän-
gig. Diese Theorie hat weder beim, wenn auch gescheiterten, Hitler-
putsch 1923 in Bayern, noch bei der Abwehr der Nazidiktatur die Probe
aufs Exempel bestanden. Geßler hat zwar die Vorwürfe, die sich auf
den zuletzt genannten Punkt beziehen, mit einem Seitenhieb auf die
ebenso unrühmliche Resignation der preußischen Polizeigewaltigen
pariert, aber nicht widerlegt.
Geßler hat sein Ministeramt als eine Art Hilfsstellung für die Armee
betrachtet, mit dem Ziel, ihren jeweiligen Wünschen und Bedürfnissen
die Wege zu ebnen und sie gegen unwillkommene Kritik abzuschir-
men. Wie viele seiner Zeitgenossen hat sich der ehemalige bayerische
Beamte, der in der Tiefe seines Herzens stets Anhänger eines monar-
chistisch verbrämten Beamtenstaatsideals geblieben ist, über die Aus-
wirkungen einer solchen Politik auf die Geschicke der Demokratie
kaum den Kopf zerbrochen. Leitvorstellung bleibt das Reichswehrinter-
esse, das unbesehen mit dem Staatsinteresse gleichgesetzt wird. Das
erlaubte ihm zwar eine durchaus sachliche Beurteilung seiner Kollegen
und Konkurrenten wie etwa Stresemann, die mit ihm am selben politi-
schen Strang zogen. Aber gegenüber politischen Strömungen und Per-
sonen, die der Politik Geßlers mit ihren fast sprichwörtlich gewordenen
Beschönigungen, Verschleierungen und – zugestandenermaßen –
Unwahrheiten gegenüber dem Parlament ablehnend gegenüberstan-
den, bricht seine volle Gereiztheit durch. Die sozialdemokratischen
Führer werden daher nach einem abgegriffenen Schema in »verantwor-
tungsbewußte Mitarbeiter am Staatsaufbau« – solche die sich wie Ebert,
Bauer, Müller und Radbruch Reichswehranliegen gegenüber gefügig
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538 [39.] [Rezension:] Otto Geßler: Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit [1959]
zeigen, – solche, die wie Braun und Severing ohne viel öffentliches Auf-
heben der Reichswehr manchmal Schach bieten und die »verantwor-
tungslosen Agitatoren« eingeteilt.
Mit Vorsicht ausgewertet stellt das Buch eine Fundgrube für den Proto-
typ des Halb-Beamten, Halb-Politikers der bürgerlichen Welt der 20er
Jahre dar; persönliche Sauberkeit und Unbestechlichkeit, Fleiß, Hin-
gabe an das Amt, Patriotismus mit einem seltsam isolierten Verant-
wortlichkeitsbegriff und fehlende Einsicht in die moralischen und poli-
tischen Grundlagen eines demokratischen Staatswesens formen sich zu
einem unentwirrbaren Ganzen.
Für die Nachwelt bleibt die Frage des Verhältnisses von Reichswehrmi-
nister, Heeresführung und Parlament das wichtigste. Wie weit war
Geßlers Amtsführung als politischer Interessenvertreter einer von ihm
weitgehend unabhängigen Armeeführung in den Bedingungen der
damaligen Zeit begründet? Wie weit hat der zunehmende Schwund
einer genügend breiten demokratischen Grundlage die Rolle der Hee-
resführung als Behüterin und letztinstanzliches Auslegungsorgan von
nationalen Interessen, als Pflegestelle des offiziellen Patriotismus und
als Garant der Sozialordnung unvermeidlich in den Vordergrund
gerückt? Wie weit war Geßler dabei aktiv Mithandelnder, wie weit
Attrappe? Was auch immer die Antwort auf diese Fragen sein mag,
Geßlers Erinnerungen liefern das klassische Beispiel, an dem künftige
Generationen zu lernen haben, wie sich das Verhältnis von Parlament,
Minister und Militärgewalt in einer Demokratie nicht entwickeln darf.
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539
[40.]
[Rezension:] Friedrich Karl Fromme: Von der
Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz
Ein staatsrechtlich-politischer Vergleich*
[1960]
Friedrich Karl Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundge-
setz[: die verfassungspolitischen Folgerungen des Parlamentarischen Rates aus
Weimarer Republik und nationalsozialistischer Diktatur], Tübinger Studien
zur Geschichte und Politik, Bd. 12. XII, 243 S., J. C. B. Mohr (Paul Siebeck),
Tübingen 1960.
Aus der Ahnenreihe des Bonner Grundgesetzes sind weder der NS-
Staat noch die Weimarer Republik hinwegzudenken. Es war deshalb
ein glücklicher Gedanke, den Zusammenhang zwischen dem Werk des
Parlamentarischen Rates und den früheren Ordnungen oder Unord-
nungen einer näheren Prüfung zu unterziehen. Eine solche Prüfung
konnte naturgemäß für das NS-System kürzer und gedrungener ausfal-
len als im Bezug auf das Weimarer System. Gegenüber dem ersteren
hat das GG, wie die vorliegende Studie mit Recht bemerkt, schlechthin
die Rolle einer Antiverfassung. Die Auseinandersetzung mit dem Wei-
marer System ist vielschichtiger. Da es sich sowohl in der Weimarer
Verfassung als auch im GG um eine im Ansatz demokratische Ordnung
handelt, hat das letztere zunächst den Charakter einer Parallelverfas-
sung. Aber gleichzeitig liegt eine Absicht des Besserns und Korrigie-
rens auf der Hand. Solchermaßen, wie der Verfasser es nennt, histo-
risch bedingte Modifikationen erzeugend, kommt dem GG auch gegen-
über dem Weimarer Werk der Charakter einer besonderen Antiverfas-
sung zu.
Der weitaus größere Teil der wohldurchdachten, klar entwickelten, oft
einprägsam formulierten und durch ein beispielhaftes Einarbeiten der
zum Verständnis der politischen Diskussion notwendigen staatsrechtli-
chen Gesichtspunkte gekennzeichneten Studie beschäftigt sich mit den
Problemgebieten, auf denen der Abstand gegenüber Weimar und die
kritische Fort- und Gegenentwicklung im GG am klarsten zum Vor-
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540 [40.] F. K. Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz
schein kommt: das ist die Stellung des Präsidenten, die Organisation
der Regierungsgewalt, die Methodik des Regierungswechsels, Notge-
setzgebung und Verfassungsschutz. Die Themen Volksgesetzgebung,
Organisationsgewalt und Bundesexekutive sind in gedrungener Form
behandelt. Die kürzeren Ausführungen, die sich mit dem Verhältnis
von GG zu den vorhergehenden nationalsozialistischen Zuständen
beschäftigen, gruppieren sich naturgemäß um Grundgesetzschutz
gegen Verfassungsänderungen im Legalrahmen, Grundrechtsschutz
und Organisation der Rechtsstaatlichkeit.
Was verarbeitet wird, sind sowohl der Weimarer Normenbestand, die
institutionelle Entwicklung in der Weimarer Republik und die jeweili-
gen Konsequenzen, die der Parlamentarische Rat daraus – als auch aus
dem NS-System – für seine eigenen Arbeiten und Formulierungen
gezogen hat. Nun hat die Gunst der Verhältnisse, oder wie es der Ver-
fasser nennt, die Tatsache, dass die verfassungsrechtlichen Rollen stets
mit denselben Personen besetzt geblieben sind, dazu geführt, dass auf
keinem der Gebiete, mit denen sich der Verfasser am intensivsten
beschäftigt hat, es je zu einer Bewährungsprobe der unter dem GG
anders gestalteten verfassungsrechtlichen Mechanismen gekommen ist.
Die soziale und politische Ausgangsposition ist so verschieden, dass
die von F. aufgeworfene Frage nach den besseren Bewährungschancen
des Normenbestandes im Ernstfall mit Recht offen bleiben muss. Viel-
leicht hätte es sich bei dieser Sachlage empfohlen, in die Arbeit einige
Betrachtungsfelder etwas niederen Ranges einzuziehen, in denen
Erfahrungsvergleiche möglich gewesen wären, wie zum Beispiel Pro-
bleme des Föderalismus.
Für einige der von F. behandelten Komplexe kann man möglicherweise
zu etwas vorgeschobeneren Fragestellungen vordringen. Die Ausfüh-
rungen zum Verfassungsschutz sind durch die Ersetzung der aus der
Interpretation des Art. 48 stammenden Notbehelfe durch neue verfas-
sungskonforme Zwangsmittel bestimmt. Dabei ist sich F. sowohl der
praktisch-politischen Problematik des Verbots von Volksbewegungen
als auch der theoretischen Rechtfertigungschwierigkeiten im Rahmen
einer demokratischen Staatsordnung voll bewusst. Wenn schon das
Verbot von Volksbewegungen problematisch erscheint, wie verhält es
sich mit dem Verbot von Splittergruppen, denen höchstens ein nui-
sance-Wert zukommt? In einem anderen Zusammhang (S. 219) gibt der
Verfasser darauf eine Antwort, die sich für die radikale Rechte auf den
»Sog der selbstverschuldeten Niederlage« und für die radikale Linke
auf das »Verspielen der Teilhaberschaft am Verfassungsleben durch die
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[40.] F. K. Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz 541
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542
[41.]
[Rezension:] Walter Z. Laqueur: Young Germany*
[1963]
* [Erschienen in: The Washington Post, 30. Juni 1963, Washington. – Zu diesem
Text vergleiche in der Einleitung S. 113-114.]
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543
[42.]
[Rezension:] Gotthard Jasper: Der Schutz der
Republik
Die Sicherung der Demokratie in der Weimarer
Republik*
[1963]
Besprechung von Gotthard Jasper: Der Schutz der Republik, Studien zur staat-
lichen Sicherung der Demokratie in der Weimarer Republik 1922-1930,
Tübinger Studien zur Geschichte und Politik, Nr. 16. VIII, 337 S., J. C. B.
Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1963.
Allmählich mehren sich die Studien, die in die Details der Weimarer
Periode vordringen. Auf dem Gebiet der Gesetzgebungs-, Verwaltungs-
und Justizpolitik befindet man sich jedoch noch weithin auf einer terra
incognita. Umso verdienstvoller ist der Versuch von Gotthard Jasper, in
die Geschichte der Entstehung und praktischen Verwirklichung des im
Jahre 1922 erlassenen Republikschutzgesetzes hineinzuleuchten. Der
Verfasser hat dazu viele bislang nicht zugängliche Materialien benützen
können, die besonders für die vielfach verschlungenen Wege der Politik
der deutschen Länder in der Weimarer Zeit sehr aufschlussreich sind.
Wenn dabei die Berichte des Württembergischen Gesandten in Mün-
chen viele Schlaglichter auf die »bayrischen Zustände« der zwanziger
Jahre werfen, so bleibt doch zu bedauern, dass die Akten des bayri-
schen Staats- und Justizministeriums (noch?) nicht zugänglich sind.
Aber auch ohne die bayrischen »Kronstücke« und ohne die zurzeit
unzugänglichen, in Potsdam befindlichen Akten des Staatsgerichtsho-
fes bringt das Bild, das sich abzeichnet, selbst für den, der die zwanzi-
ger Jahre politisch miterlebt hat, sehr viel Interessantes.
Die Studie J.s gibt zunächst einen Überblick über die politischen und
parlamentarischen Entstehungsbedingungen des Republikschutzgeset-
zes. Sie tritt dann in eine hochinteressante Diskussion der Verwaltungs-
und Justizpraxis unter dem Gesetz in seiner Frühzeit ein. Dabei werden
besonders die Prozesse gegen die Erzberger- und Rathenau-Mörder
sowie die im ganzen vergeblichen Versuche, gegen die Drahtzieher der
* [Erschienen in: Neue Politische Literatur, Jg. 8, Heft 3, Frankfurt am Main 1963,
Sp. 609-613. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 114.]
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544 [42.] [Rezension:] Gotthard Jasper: Der Schutz der Republik
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[42.] [Rezension:] Gotthard Jasper: Der Schutz der Republik 545
https://doi.org/10.5771/9783845282534
Generiert durch Universität Potsdam, am 17.12.2022, 23:17:52.
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546 [42.] [Rezension:] Gotthard Jasper: Der Schutz der Republik
https://doi.org/10.5771/9783845282534
Generiert durch Universität Potsdam, am 17.12.2022, 23:17:52.
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547
[43.]
[Rezension:] Gerhard Schulz: Zwischen Demokratie
und Diktatur*
[1965]
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548 [43.] Gerhard Schulz: Zwischen Demokratie und Diktatur [1965]
the question of its adequacy for the political life of the new state arose.
To answer this question the author is compelled to describe in some
detail much of the history of the political conflicts of the early twenties.
His survey includes the occupation of Saxony and Thuringia by the
Reichswehr, the effective ejection of their deviant governments, and the
tortuous methods by which the military, political, and bureaucratic
leaderships of the Reich and of Bavaria were able to reach an accommo-
dation. His description frequently corrects previous more partisan and
partial accounts.
To this part belongs the story of the divisive and unitary tendencies
present in both the Rhein and the Ruhr, and described for the first time,
as having occurred in East Prussia as well. The author’s presentation
continues to emphasize both thrust and counterthrust tendencies affect-
ing the rights of various bureaucratic apparatuses, and making their
influence felt through constitutional formulae, ministers’, and civil ser-
vants’ memos, conferences and committees.
In evaluating Schulz’s first volume, it is important to differentiate
between the early period and the period of consolidation from 1924 to
1928. During the earlier years the history of federalism is so closely
interwoven with substantive problems of the period that constitutional
theorems and bureaucratic strategems appear simply as by-products of
major political and social struggles. But with the beginnings of consoli-
dation in 1924, those in power in the territorial governmental units
became actors in their own right. Therefore, if one considers the staying
power of the administrative structure, the later period is the more
revealing. For despite the impetus received from the financial plight of
the Länder, reform of the federal structure was frustrated by the resis-
tance of the Prussian S.P.D. leadership. The author shows convincingly
how at that late stage Prussian political leaders lost interest in a Prus-
sian-Reich merger which could not guarantee them a permanent share
of political power.
Whatever one might think of the author’s organization of his material,
his book will long remain indispensable for the analysis of two prob-
lems: 1) the relative weakness of federal structures in dealing with
major problems of a socially heterogeneous society; 2) the conditions
and chances of successful collaboration between higher bureaucracy
and the conservative leadership of various mass parties and protest
movements.
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549
[44.]
Die Justiz in der Weimarer Republik*
[1968]
»Die Justiz«, deren erste Nummer 1925 im Herbst und deren letzte
Nummer im April 1933 erschien, bezeichnet sich als die Zeitschrift des
Republikanischen Richterbundes. Schon ein Grund, um stutzig zu wer-
den: Richterbund, ja, aber warum republikanisch? Ist es nicht selbstver-
ständlich für jemanden, der in einer Republik ein Amt bekleidet, dass
er mit den republikanischen Institutionen auf genügend gutem Fuß
steht, um sie nicht gleichsam als Aushängeschild zu benützen oder sie
zum Gegenstand eines politischen Glaubensbekenntnisses zu machen?
Die Antwort lautet: keineswegs im Deutschland der Weimarer Repu-
blik. Die von der Republik 1918 unbesehen übernommenen Richter
waren in ihrer Mehrzahl Richter in der Republik, aber sie waren keine
republikanischen Richter. Viele von ihnen bezogen offen oder heimlich
Kampfstellung gegen die Republik, die überwiegende Mehrzahl hat
jedenfalls nie den Versuch unternommen, zu dieser Republik, die ihnen
Wirkungskreis und Besoldung gab, ein inneres Verhältnis zu finden.
Diejenigen, die mit dieser Mehrzahl in der Ablehnung und Feindschaft
zur Republik einer Meinung oder mindestens willens waren, über die
republikanischen Staatseinrichtungen als einer Belanglosigkeit zur
Tagesordnung überzugehen, fanden das völlig in Ordnung. Aber es
gab auch in weiten Bevölkerungskreisen andere Ansichten; sie sahen
ein Richtertum ohne Bindungen an die Republik als eine schwere
Bürde für das Staatswesen und als ein ständiges Ärgernis an. So tat sich
1925 eine Anzahl Richter, Anwälte, Beamte und Universitätsprofesso-
ren zusammen und gründete den Republikanischen Richterbund. Die-
ser Republikanische Richterbund war keine Standesvereinigung, die
die Verbesserung oder Verteidigung juristischer Standesinteressen auf
ihre Fahnen geschrieben hatte, es war eine lose Gesinnungsgemein-
schaft, die dem Übelstand einer Republik ohne republikanische Richter
abhelfen wollte. Ihre Mitgliederzahl konnte sich zahlenmäßig in keiner
Weise mit der der althergebrachten juristischen Organisationen messen,
und ihr Organ, »Die Justiz«, war nicht eine juristische Zeitschrift wie die
unzähligen anderen, die irgendein Spezialgebiet oder eine bis dahin
* [Erschienen in: Hugo Sinzheimer, Ernst Fraenkel: Die Justiz in der Weimarer
Republik. Eine Chronik, herausgegeben von Thilo Ramm, Neuwied/Berlin 1968,
S. 7-15. – Zu diesem Text vergleiche in der Einleitung S. 115-116.]
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550 [44.] Die Justiz in der Weimarer Republik [1968]
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[44.] Die Justiz in der Weimarer Republik [1968] 551
Warum, so lautet die nächste Frage, sollen wir uns heute Dokumente
dieser längst verklungenen Periode zu Gemüte führen? Wenn ihre
Jurisprudenz in politischen Dingen oftmals problematisch war, wurde
sie nicht in ihrem Unrechtsgehalt bei weitem von den juristischen
Amtsträgern des Dritten Reichs übertroffen? Warum uns nicht eher mit
dieser uns näherliegenden Zeit beschäftigen?
Einmal sind die Fehler und Unterlassungssünden der Justizpolitik der
Weimarer Zeit nicht ohne Einfluss auf die nachfolgende Periode geblie-
ben. Die Untergrabung des Rechtsbewusstseins durch die von den Jus-
tizorganen teils geförderte und sicher nicht gewehrte Verlotterung der
politischen Sitten hat bei dem Hineinschlittern von Bevölkerung und
Staatsapparat in die Periode der »legalen« Machtergreifung Pate
gestanden. Wer, wie die Mehrzahl der deutschen Richter dieser Jahre,
auf weite Strecken selbst ein Parteigänger war, fühlte weder Drang
noch Berufung, gegen eine Regierung zu frondieren, deren Ausgangs-
position im Winter 1933 nicht zu weit von seinen eigenen politischen
Vorstellungen und Einstellungen entfernt war.
Zum anderen liegt das im Dritten Reich verübte Unrecht auf der Hand.
Die meisten sind sich heute klar darüber, dass juristischer Hilfestellung
zu politisch und rassemäßig motivierten Verfolgungen keinerlei Ent-
schuldigung zur Seite steht. Was übrig bleibt, sind die Grenzfälle. Was
war normale Ausübung der Staatsgewalt? Wann geht die Ausübung
von Staatsgewalt in kriminelle Tätigkeit über? Wieviel Glauben verdie-
nen Schutzbehauptungen in Bezug auf Gefahren, die aus Nichtteil-
nahme entstehen konnten? Der Jurist im Dritten Reich war ein mehr
oder minder willkommener Handlanger, dessen man sich zur wir-
kungsvollen und zweckdienlichen Abfertigung bediente. Es wäre aber
– und ist es oft – auch ohne ihn gegangen, und sein Gruppenbeitrag
bleibt zweitrangig. Dies unterscheidet ihn von seinem Vorgänger oder
seiner eigenen Rolle in der Weimarer Republik. Im Gegensatz zum
Dritten Reich war die Weimarer Republik ein Verfassungsstaat, der auf
Gewaltenteilung beruhte. Staatliches Vorgehen gegen einzelne oder
Gruppen bedurfte der Sanktion der Gerichte; dieselben Gerichte stan-
den einzelnen und Gruppen zur Austragung ihrer Streitigkeiten unter-
einander unbehindert zur Verfügung. Mit Ausnahme der Befugnis,
neue Richter zu ernennen und in ganz wenigen Sonderfällen – wie
beim Staatsgericht zum Schutz der Republik – auch in bestimmte
Ämter einzuweisen, vollzog sich die Ausübung der Gerichtsbarkeit im
Rahmen einer sich selbst verwaltenden und nur ihrem eigenen Gewis-
sen unterworfenen Justizbürokratie. Diesem sich unabhängig im sozia-
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552 [44.] Die Justiz in der Weimarer Republik [1968]
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[44.] Die Justiz in der Weimarer Republik [1968] 553
wusstsein der Bevölkerung war von Anfang an durch die durch und
durch unkritische Form, mit der die Richterschaft ihr Verhältnis zur
Politik definierte, getrübt. Für die tonangebenden Richterschichten,
deren Äußerungen in den Artikeln der Richterverbandszeitungen und
der maßgebenden Juristenzeitungen Niederschlag fanden, ist das Ver-
hältnis von Justiz und Politik kein Problem gewesen. Der Richter im
Talar und in der Urteilsfindung stand demnach jenseits der Politik. Die
über den Einzelfall hinausgehenden Leitideen, die seinem Urteil
zugrunde liegen, ergeben sich – positivistische Lesart – aus einer geset-
zestreuen Textinterpretation oder – naturrechtliche Spielart – aus den
der Rechtsgemeinschaft vorgegebenen Rechtsgrundsätzen. Gegen die
Berücksichtigung von Elementen persönlicher Art, wie sie sich aus sei-
nem sozialen und politischen Milieu und seinen eigenen politischen
Anschauungen ergeben und sich sowohl bei seiner Beweiswürdigung
als auch bei seiner Auswahl von Subsumtionskategorien niederschla-
gen können, schützen ihn sein juristischer Werdegang und die Konven-
tionen seines Standes. Abweichungen kommen nur vereinzelt und
ohne typenbildende Wirkung vor – sie werden durch die Doppelkon-
trolle der oberen Gerichtsinstanzen und eine wirksame Standesdiszi-
plin ohne die Notwendigkeit des Dazwischentretens sachfremder Stel-
len bereinigt. Die Existenz eines schwierigen Problems wird auf diese
Weise geleugnet und jeder Versuch seiner Erhellung als Angriff aus der
parteipolitischen Sphäre gebrandmarkt. Wenn demgegenüber weite
Kreise der deutschen Bevölkerung die Richterschaft als eine zwar orga-
nisatorisch selbständige, aber in ihrer Politik mit den Rechtsparteien im
Gleichschritt gehende Kraft ansehen, so wird das als durchaus unbe-
rechtigter Angriff gegen die Integrität und Standesehre des unabhängi-
gen Richtertums hingestellt. Nicht der Mörder, der Ermordete ist schul-
dig! Diese fehlende richterliche Einsicht in die psychologischen, sozia-
len und politischen Grundlagen der Justizkrise bildet das verhängnis-
vollste Element in der schwelenden Vertrauenskrise der Weimarer Jus-
tiz.
Es ist diese Geistesverfassung und ihre konkrete Abwandlung in der
Gerichtspraxis der Weimarer Republik, gegen die sich ein guter Teil der
in der »Justiz« vorgetragenen Gedanken zur Wehr setzt. Die hier wie-
der abgedruckte Chronik dieser Zeitschrift spiegelt sowohl die objekti-
ven Voraussetzungen wider, unter denen sie ihre kritische Aufgabe
erfüllte, als auch die Persönlichkeit und Auffassung der Verfasser der
Chronik, die mit geringfügigen Ausnahmen in den ersten fünf Jahren
in den Händen des 1945 in der holländischen Emigration verstorbenen
Hugo Sinzheimer und in den letzten Jahrgängen in den Händen von
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554 [44.] Die Justiz in der Weimarer Republik [1968]
Ernst Fraenkel lag. Im Jahre 1925 war die Institution einer Chronik in
einer Juristenzeitschrift keine Seltenheit mehr. Insbesondere die vielver-
breitete wöchentlich erscheinende »Deutsche Juristenzeitung« hatte seit
dem Frühjahr 1912 dem Mannheimer Rechtsanwalt Max Hachenburg
eine juristische Rundschau anvertraut. Ein Vergleich zwischen den bei-
den Unternehmungen ist interessant und auch deshalb gerechtfertigt,
weil die beiden Zeitschriften in den zwanziger Jahren mehr als einmal
die Klingen kreuzten. Hachenburg war bis zu seiner eigenen Emigra-
tion ein angesehener Anwalt und eine Autorität als Kommentator auf
dem Gebiet des Handels- und Gesellschaftsrechts. Er gab seinem juris-
tischen Publikum, auf das er einen großen meinungsbildenden Einfluss
ausübte, zunächst immer eine Gesamtüberschau über die welt- und
außenpolitischen Geschehnisse der Berichtsperiode; daran schlossen
sich gesetzespolitische Gedanken, die Behandlung von Standesproble-
men aller Art, sowie eine Auswahl und Kommentierung der wichtigs-
ten Prozesse und Urteile, wie sie gerade die Öffentlichkeit beschäftig-
ten. Hachenburg hatte durch lange Übung eine große Meisterschaft
darin erlangt, strittige weltanschauliche und politische Probleme hinter
einem dreifachen Schutzwall von Sachkunde, Abgeklärtheit und
scheinbarer Objektivität zielsicher im Sinne der Wahrung traditioneller
juristischer Standesinteressen zu beantworten; dazu gehörte als eiser-
ner Bestandteil im Hachenburg’schen Vorstellungskreis die Lehre von
der Überparteilichkeit der Justiz. Da er jede Woche schrieb und vielen
Gegenständen sein Augenmerk zuwandte und außerdem mehr in der
Welt der umsichtigen und vielschichtigen kommerziellen Interessenab-
wägung als in der Welt der politischen und sozialen Ideen zu Hause
war, ging es bei der Behandlung mancher Fragen nicht ohne die Über-
nahme von konventionellen Klischees ab.
Hier zeigt sich der Unterschied zwischen der Sinzheimer’schen1 und
der Hachenburg’schen Chronik am prägnantesten. Nicht nur, dass Sinz-
heimer seine in größeren Abständen erscheinende Chronik auf weniger
Gegenstände konzentrierte und sich nicht lediglich dem gerade anfal-
lenden Material zuwandte; ihn fesselten in erster Linie Probleme der
Rechtsgestaltung. Tatsächliche Abläufe waren ihm mehr eine Durch-
gangsstation zur Entwicklung seiner eigenen Ideen. In der schönsten
und würdigsten Entgegnung, die der offiziellen NS- und teilweise Uni-
versitätspropaganda über die unheilvollen Einflüsse der Verjudung der
deutschen Rechtswissenschaft zuteil geworden ist, – Sinzheimers 1938
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[44.] Die Justiz in der Weimarer Republik [1968] 555
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556 [44.] Die Justiz in der Weimarer Republik [1968]
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[44.] Die Justiz in der Weimarer Republik [1968] 557
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558 [44.] Die Justiz in der Weimarer Republik [1968]
ren Akzente einer Epoche setzt, verdient sein Beitrag erhöhte Aufmerk-
samkeit. Diese zeitgenössischen Berichte, die acht schicksalsschwere
Jahre der jüngsten deutschen Geschichte an uns heranbringen, stellen
dafür eine einzigartige Fundgrube dar.
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559
Abkürzungen
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560 Abkürzungen
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Personenregister
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562 Personenregister
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Personenregister 563
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564 Personenregister
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Personenregister 565
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Sachregister
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568 Sachregister
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Sachregister 569
Liberalismus 24, 26, 27, 57, 132, 133, Notverordnungsrecht 380, 381, 445, 446,
135-137, 140, 146, 194, 228, 271, 275, 448
297, 389, 481 Oberhaus 404, 422, 423, 439, 443, 444, 472
Liquidationsabkommen, deutsch-polni- öffentliches Wohl 233, 282, 286, 347
sches 251, 252, 266, 302, 313, 346 Österreich, österreichisch 27, 57, 102, 107,
Lumpenproletariat 106, 518 194, 216, 365, 398, 404, 419, 444-446,
Majoritätsprinzip 148, 217, 475 496, 555
Marxismus 19, 26, 31, 72, 217, 218, 223, Panamerikanische Konferenz 326
464, 515-526 Panzerkreuzer 39, 48-50, 152-156
Masse 52, 57, 101, 107, 139, 144, 158, 159, Pariser Kommune 219, 246, 521, 523
165, 173, 180, 185, 193, 194, 212, 222, Parlament
225, 330, 354, 356, 360, 362, 363,
Parlamentsgesetz 394, 409, 439, 455,
431-433, 437, 522, 524, 526
472, 486, 487, 491
Maßnahme 43, 45, 46, 67, 68, 86, 87, 89,
Ständeparlament 439
114, 144, 154-156, 203, 204, 256, 258,
263, 286, 301, 307, 317, 322, 343, 345, Parlamentarismus 16, 24, 48, 51, 52, 69,
347, 380, 393, 396, 412, 421, 422, 435, 73, 76, 86, 98, 102, 142, 157-162, 219,
436, 446, 480, 508, 521, 544 226, 331, 417, 444, 488
Mehrheitssozialdemokratie 70, 210 parlamentarischer Gesetzgebungsstaat
92, 95, 421, 435, 440, 463, 468, 471, 474,
Mexiko 70, 210
482, 487
Militärdiktatur 70, 98, 210
Partei
Ministeranklage 384
bürgerliche 42, 47, 49, 58, 76, 95, 200,
Misstrauensvotum 77, 103, 239, 381, 403, 219, 328, 329, 442
416, 437, 448, 449, 501
demokratische 160, 536
Monarchie
Fraktionspartei 328, 329
konstitutionelle 94, 157, 159, 273, 289,
Massenpartei 196, 328, 356, 441
290, 397, 398, 401, 403, 405
revolutionäre 87, 387, 388
Nation 51, 72, 158, 161, 169, 223, 243, 247,
399, 423, 465, 495, 508, 529, 532, 534 Paulskirche/Verfassung der Paulskirche
280
Nationalkonvent, französischer 385
Plebiszit 101, 103, 402, 404, 431
Nationalliberal 177, 210, 409
Pluralismus 86, 379, 512
Nationalsozialisten 76, 79, 98, 328, 330,
331, 372, 425, 426, 507 Polengesetz 285
Nationalsozialistische Arbeiterpartei Politikwissenschaft 9-11, 111, 511, 512
Deutschlands (NSDAP) 37, 38, 76, 77, Polykratie 512
85, 87, 88, 93, 97, 99, 105, 106, 389-391 Pommern 127
Nationalversammlung 63, 177, 181, 183, Portugal 402
203, 214, 224, 275, 288, 299 pouvoir constituant 440, 477, 478
Verfassungsausschuss 203, 288, 289, pouvoir constitué 478, 491
299, 401, 404, 405
Presse 10, 36, 43, 45, 110, 129, 139, 148,
Naturzustand 267, 268 152, 154, 156, 158, 160, 167, 194, 200,
242, 249, 345, 351, 358-460, 527
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570 Sachregister
Preußen 34, 45, 77, 89, 90, 94, 95, 97, 115, Reichsverfassung (RV) 62, 65, 96, 183,
153, 154, 168, 191, 206, 210, 221, 273, 187, 189, 202, 204, 207, 216, 224, 225,
274, 282, 286, 383, 397, 400, 408, 411, 233, 236, 243, 252, 261, 262, 265, 266,
412, 414-416, 418, 419, 421, 424, 445 287-297, 299-301, 304, 306, 308, 309,
Preußen-Konflikt 95, 97, 408-424 311, 316, 317, 320, 321, 333-348, 381,
388, 402, 404, 408-424, 431, 436, 455,
Privatarmee 107, 518
461, 462, 469-471, 474, 478, 479, 487,
Programmnormen 469
489, 491, 500
Prohibition 322
Reichsverfassung, Artikel
Proletariat 27, 30, 40, 41, 52, 79, 106,
Art. 1 489
139-143, 146, 158, 160-169, 177, 192,
Art. 22 476
216, 218-222, 224, 226, 249, 328, 357,
372, 377, 428, 465, 496, 515-526 Art. 25 94, 397, 399-402, 405, 451, 502,
505
Rat der Volksbeauftragten 213, 214, 294,
341 Art. 48 67, 68, 70, 75, 76, 95, 202-205,
218, 220, 245, 349, 352, 380-384, 390,
Rechtsnormen 204, 478
412-415, 419-421, 450, 540
Rechtsstaat
Art. 54 448, 449, 501, 504
-sgedanke 26, 132, 135, 161, 255, 272,
Art. 73 450, 485, 504
289, 387
Art. 75 196, 318, 490, 491
Regierung
Art. 76 196, 411, 474-477, 489, 491
-sbildung 69, 102, 169, 236-239, 406,
449, 450, 454, 501, 507 Art. 109 62, 265, 291-293, 299, 473
-sführung 69, 236 Art. 131 399, 472
Reichsanwaltschaft 189, 190, 552 Art. 137 483
Reichsarbeitsgericht 88, 392, 393 Art. 153 44, 59, 60, 62-64, 207, 208, 232,
233, 251-322, 334, 337, 341-344, 347,
Reichsbankpräsident 220, 239
348, 367, 472
Reichsbanner 330, 545
Art. 155 59, 206-208, 233, 234, 261, 295,
Reichsfinanzhof 205, 288
469, 471
Reichsgericht 37, 43-45, 54, 63, 64, 95, 115,
Art. 156 233, 295, 297, 308, 341, 367,
183, 187-191, 206-208, 233, 242, 251-266,
469, 470, 506
283, 292, 305-307, 309-322, 339, 340,
Art. 159 484
342-348, 386, 413, 414, 473, 477, 489,
492, 501, 552 Art. 165 288, 469, 470, 484, 506
Reichspräsident 67-69, 72, 75, 85, 88, 89, Reichswehr 37, 40, 44, 85, 88, 112, 127,
93, 94, 96, 101-103, 106, 136, 203, 204, 128, 166, 189, 238, 244, 245, 329, 504,
224, 225, 236, 243-246, 255, 312, 376, 536-538, 548
380-382, 389, 396, 397, 399, 400, 405, (Schwarze) Reichswehr 44, 127, 190, 329
409-415, 420, 421, 429, 431, 435-437, Reichswehrminister 88, 112, 390, 535, 538
439, 443, 444, 450, 451, 456, 492, 501, Reichswirtschaftsrat 235, 443
502, 504, 506, 508, 509, 533
Repräsentation 52, 220, 246, 476, 479,
Reichstag 486-488, 492, 495
-sauflösung 75, 94, 99, 103, 106, Republikanischer Richterbund 64, 83,
396-407, 449, 451, 505, 108, 115, 549
https://doi.org/10.5771/9783845282534
Generiert durch Universität Potsdam, am 17.12.2022, 23:17:52.
Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Sachregister 571
https://doi.org/10.5771/9783845282534
Generiert durch Universität Potsdam, am 17.12.2022, 23:17:52.
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572 Sachregister
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