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Carl Schmitt

Der Schatten Gottes


Introspektionen, Tagebücher
und Briefe 1921 bis 1924

Herausgegeben von
Gerd Giesler, Ernst Hüsmert
und Wolfgang H. Spindler

Duncker & Humblot


https://doi.org/10.3790/978-3-428-54308-3
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Carl Schmitt

Der Schatten Gottes

Introspektionen, Tagebücher und Briefe 1921 bis 1924

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Carl Schmitt

Der Schatten Gottes


Introspektionen, Tagebücher
und Briefe 1921 bis 1924

Herausgegeben von
Gerd Giesler, Ernst Hüsmert und Wolfgang H. Spindler

Duncker & Humblot Berlin

https://doi.org/10.3790/978-3-428-54308-3
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Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf und der
Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten


© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Werksatz Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen
Druck: AZ Druck und Datentechnik, Berlin
Printed in Germany

ISBN 978-3-428-14308-5 (Print)


ISBN 978-3-428-54308-3 (E-Book)
ISBN 978-3-428-84308-4 (Print & E-Book)

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier


entsprechend ISO 9706 ∞

Internet: http://www.duncker-humblot.de

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Vorwort

Seitdem die Tagebücher aus der Zeit 1912 bis 1915, der Militärzeit 1915 bis 1919 und der bri-
santen Jahre 1930 bis 1934 gedruckt vorliegen, hat sich das öffentliche Bild von Carl Schmitt
gewandelt. Bis dahin war es fast ausschließlich von seinen Werken und einigen Briefwechseln
bestimmt. Sie bildeten die Grundlage der – mitunter äußerst – kritischen Auseinanderset-
zung. Mit Ausnahme des 1991 veröffentlichten „Glossarium“ waren private Äußerungen
Schmitts kaum bekannt. Jeder, der ihn aus der Nähe erlebt hatte, wusste, wie sehr er es in
Gesprächen vermied, Persönliches preiszugeben. Insofern war es eine richtungweisende, mit
dem Nachlassverwalter freilich abgesprochene Entscheidung von Ernst Hüsmert und Gerd
Giesler – beide über Jahrzehnte mit Schmitt bekannt und eng vertraut –, erste Tagebuchtexte
Schmitts trotz heikler, ja intimer Passagen von 2003 an zu veröffentlichen. Das jenseits aller
Kontroversen unbestreitbare Faktum, dass Schmitt einer der einflussreichsten deutschen
Gelehrten des 20. Jahrhunderts war, ist einer der tragenden Gründe, seinen Publikationen
autobiographisches Material an die Seite zu stellen. Dieses Material hilft, den Lebenskontext
seines Denkens und Schaffens besser zu verstehen und in die Interpretation miteinzubezie-
hen. Vor allem aber wird der Autor in einer Komplexität vor Augen geführt, die vorschnelle
Einordnungen fraglich oder obsolet werden lassen. Mögen auch „peinliche“ Seiten ans Licht
kommen – mit Voyeurismus hat dies nichts zu tun. Die Gestalt Schmitts ist neben ihrer
primär juristischen und politischen Bedeutung ein Fall der modernen Kulturgeschichte. Sie
steht für den nervösen, von Unrast getriebenen und gleichzeitig produktiven (Künstler-)
Typus nach 1900, der die unverbindlich gewordenen Grenzen, zumal in der Sexualität, durch
Selbstbeschränkungen zu ersetzen versucht. Noch im krisenhaften Scheitern zeigt sich das
Bemühen um politische und biographische Stabilität.
Schmitt hat fast alle Jahre seines Lebens Tagebuch geführt. Da mutet es paradox an, wenn
er in einer 1918 geschriebenen Parodie die zur Wissenschaft stilisierte Tagebuchschreiberei
als „Buribunkologie“ verhöhnt und noch 30 Jahre später sich gegen narzisstischen Privatis-
mus und „Pepysmus“ in Ernst Jüngers „Strahlungen“ wendet (vgl. Glossarium, Eintragung
vom 18. 4. 1948). Seine eigenen Tagebuchnotizen dienten ihm offenbar zur ständigen Selbst-
vergewisserung, wofür auch ihre häufige, mit Datum gekennzeichnete Relektüre spricht.
Das erinnert an den nur wenig jüngeren Tagebuchschreiber Heimito von Doderer, der täg-
lich Aufzeichnungen machte, um – wie er sagte – „mit sich selbst nicht zu intim“ zu wer-
den. Darüber hinaus schufen die Notizen einen Gedankenvorrat, der Schmitt jederzeit zur
Verfügung stand. Es mag dabei überraschen, dass Schmitt sich eher selten auf politische
oder kulturelle Ereignisse bezieht. Die Aufzeichnungen lassen vor allem seine Freundes-

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VI Vorwort

und Kollegenbeziehungen, seine Alltagserfahrung, seine Lektüre- und Gedankenwelten


und nicht zuletzt seine seelischen und erotischen Obsessionen hervortreten.
Die drei Teile des vorliegenden Bandes unterscheiden sich hinsichtlich Gattung, Träger-
material und literarischer Qualität. Teil I umfasst Notizen von August 1921 bis August
1922, die auf losen, ursprünglich ungeordneten Blättern festgehalten und zum Teil nicht
einem genauen Datum zuzuordnen sind; auch gibt es erhebliche Lücken in der Chronolo-
gie. Die Reihenfolge musste hier nach inhaltlichen Kriterien (re-)konstruiert werden. Die
Notizen bestehen teils aus Entwürfen von Briefen an Schmitts damalige Geliebte Kathleen
Murray, deren Originale nicht überkommen sind, teils aus Entwürfen von Korresponden-
zen mit anderen Adressaten wie zum Beispiel Ernst Robert Curtius. Im Übrigen handelt es
sich um Selbstbeobachtungen und Erwägungen zu den Obsessionen, die Schmitt bedrän-
gen. Ab Mitte März bis zweite Hälfte August 1922 führt er täglich Tagebuch, und zwar
zunächst über den Aufenthalt in Marburg bei Kathleen Murray, dann über die ersten Mo-
nate als neu installierter Ordinarius der Universität Bonn. In Teil II werden chronologisch
notierte Aufzeichnungen der Jahre 1923 und 1924 aus einer fest eingebundenen Kladde wie-
dergegeben, die außer den Tagesereignissen erneut dramatische Selbstaussagen enthalten.
Teil III mit dem markanten, von Schmitt selbst gewählten Titel „Der Schatten Gottes“
besteht aus einer durch Seitenzahlen festgelegten Abfolge von Aufzeichnungen, bei denen
jedoch eine Datumsangabe oft fehlt. Der Zeitraum der Notate reicht von August 1922 bis
April 1925. Inhaltlich wechseln Ideen zu Vorlesungen, Selbstcharakterisierungen, aphoris-
tisch zugespitzte Beobachtungen und Kommentare mit Entwürfen von Briefen, vor allem
an seine spätere zweite Frau Duška Todorović. „Der Schatten Gottes“ hebt sich mit seiner
freieren, assoziativen Anlage von dem teilweise parallel geführten „strengen“ Tagebuch ab.
Man wird ihn als eine Art modernes Hypomnema ansehen können. Auch in diesem Teil
kommt Schmitts innere Zerrissenheit zwischen tiefen Depressionen und hochfliegenden
Plänen und Phantasien zum Vorschein. Nicht die Finsternis, sondern der „noch schwärzer“
erscheinende Schatten bildet für Schmitt den Gegenbegriff zum Licht (s. Teil III, S. 405).
Dieser Schatten liegt „auf allen irdischen Dingen“ (ebd., S. 396) wie auf seinem Leben. Zur
Begründung liefert Schmitt einen substantialen Gottesbegriff. „Gott wirft einen Schatten,
weil er eine Substanz hat, weil er nicht nur eine Ikonostase, ein Funktionsbegriff, ein leerer
Fakt ist, sondern etwas Kompaktes“ (ebd., S. 456). Die Herausgeber sind davon überzeugt,
dass der Gedanke des Schatten Gottes über dem Gesamt der Introspektionen, der Tage-
bücher und der Brief(entwürf)e des gewählten Zeitraums steht. Weil die so betitelten Auf-
zeichnungen ohne die Lebensumstände Schmitts kaum zugänglich wären, sind sie an den
dritten und letzten Teil dieses Buches gerückt; sie bilden gewissermaßen das Achtergewicht.
Auf Motive, die im „Schatten Gottes“ wiederkehren, wird freilich bereits im Anmerkungs-
apparat der beiden voraufgehenden Teile verwiesen.
Die hier abgedruckten Tage- und Gedankenbücher sind der erste Teil der erhaltenen Auf-
zeichnungen Schmitts aus den 1920er Jahren. Der zweite Teil – ebenso mit Tag-für-Tag-
Notizen von etwa gleichem Umfang – umfasst die Jahre 1925 bis 1929. Aus dieser Zeit liegen
zudem etwa gleichumfängliche Aufzeichnungen eines sogenannten Denktagebuches vor.
Mit Ausnahme einiger Eigennamen und kürzerer, zum Beispiel englischsprachiger Sätze in
lateinischer Kurrentschrift sind alle hier präsentierten Notizen in enggeschriebener, teilweise
schwer lesbarer Gabelsberger Kurzschrift verfasst. Überschriebene Linien, Alter und man-
gelhafte Qualität des von Schmitt verwendeten Papiers, verblasste Stellen und ähnliche Pro-

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Vorwort VII

bleme haben die Transkribierung wieder vor große Herausforderungen gestellt. Unvermeid-
liche Fehllesungen, zumal bei Eigennamen von unbekannten oder nur einmal vorkommen-
den Personen oder Orten, konnten erst im Zuge der langen Phase der Annotierung korri-
giert werden, jedenfalls weitgehend. So mutierte beispielsweise ein seltsamer Herr „Astschlä-
ger“ allmählich zu dem bekannten Freikorpsangehörigen und Aktivisten Albert Leo Schla-
geter. Die vorliegenden Editionen erheben trotz akribischer Vorgehensweise und jahrelanger
Beschäftigung mit den Texten nicht den Anspruch historisch-kritischer Ausgaben. Sie sind
vielmehr als verlässliche Arbeitsfassungen zu betrachten, die durch erneute Beschäftigung
mit den Originalen verbessert werden können. Die editorische Arbeit an den einzelnen Tei-
len ist von der ersten Transkription durch den Stenographie-Sachverständigen Hans Geb-
hardt (†) bis zu den letzten Bearbeitungsschritten der Herausgeber im Nachlass Carl
Schmitts im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (Abteilung Rheinland, Standort Düsseldorf,
Dezernat R 2) dokumentiert. Nicht lesbare Stellen sind ausgelassen worden und mit Punkten
zwischen Kleiner- und Größerzeichen <…> gekennzeichnet, bei fraglich gebliebenen Stellen
steht ein Fragezeichen <?>. Sinngemäße Ergänzungen sind zwischen eckige Klammern [ ]
gesetzt. Vom linken Seitenrand zur Mitte hingezogene Linien markieren von Schmitt vorge-
nommene Trennungen einzelner Sinnabschnitte (vor allem in Teil III). Die Rechtschreibung
ist der seit August 2006 üblich gewordenen Rechtschreibung angepasst, im Zweifel und in
Fällen der Wahlmöglichkeit haben wir uns für traditionelle Schreibweisen entschieden.
Diese Edition wäre ohne die Hilfe engagierter Personen und Institutionen nicht möglich
gewesen. Zunächst muss an dieser Stelle erneut dem erwähnten Meister der Stenographiekun-
digen, Hans Gebhardt, für seine jahrelange unermüdliche Tätigkeit gedankt werden, der wie
kein anderer die Schmittsche Variante der Kurzschrift nach Franz Xaver Gabelsberger (1789–
1849) beherrschte. Wolfgang Fietkau hat aus seiner Kenntnis der französischen Literatur und
Kultur des 19. Jahrhunderts manche kryptische Stellen aufgehellt und fast alle Übersetzungen
aus dem Französischen beigetragen, Lorenz Jäger die astrologischen Konstellationen fachge-
recht beschrieben. Wolfgang Schuller und Martin Tielke haben in bewährter Weise den Her-
ausgebern in vielen Fragen klärend zur Seite gestanden; das gilt auch für Peter Heyl, Helge
Høibraaten, Milka Kličković, Günter Maschke, Florian Meinel, Reinhard Mehring, Matthias
Meusch, Angela Reinthal, Erich Ruff, Thomas Schuld und Christian Tilitzki. Den Stadtplan
im Vorsatz des Buches stellte uns Markus Ernzerhoff vom Bonner Stadtarchiv zur Verfügung.
Ohne die bedeutende finanzielle Förderung der Transkription durch die Gerda Henkel
Stiftung hätten diese Tagebücher das Licht der Welt nie erblickt. Das gilt ebenso für die
Unterstützung durch die Facoltà di Lettere e Filosofia der Università di Trento mit ihrem
Leiter Michele Nicoletti und dessen Mitarbeiter Francesco Ghia. Ihnen allen sind die Her-
ausgeber zu großem Dank verpflichtet. Gedankt sei last but not least dem Landesarchiv
Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf für die Bereitstellung der Archivalien, Florian Simon
für die Aufnahme der Edition in den Verlag Duncker & Humblot sowie Jürgen Becker, dem
Verwalter des Schmitt-Nachlasses, für die Erlaubnis, die Tagebucharchivalien zu verwen-
den und abzudrucken. Schließlich sind Verlag und Herausgeber der Gerda Henkel Stiftung
und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften für Druck-
kostenzuschüsse dankbar.
Berlin, Herscheid und München im Mai 2014
Gerd Giesler, Ernst Hüsmert, Wolfgang Hariolf Spindler

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Inhaltsverzeichnis

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI

CARL SCHMITT
DER SCHATTEN GOTTES
INTROSPEKTIONEN, TAGEBÜCHER UND BRIEFE
1921 BIS 1924

Teil I
Tagebuch August 1921 bis August 1922
Bearbeitet von Gerd Giesler und Ernst Hüsmert 3
1921 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1922 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

Teil II
Tagebuch 1923 und 1924
Bearbeitet von Wolfgang H. Spindler 133
1923 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
1924 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296

Teil III
Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924
Bearbeitet von Gerd Giesler, Ernst Hüsmert und Wolfgang H. Spindler 383

ANHANG
Briefe, Dokumente und Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553
Verzeichnis der mehrfach genannten Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581
Quellen und Nachschlagewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583
Abbildungs- und Quellennachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584
Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585

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Einführung

Carl Schmitt 1921/22 –


vom revolutionären bayerischen Süden
in den verschlafenen preußischen Norden

Die Zeitspanne von 1921 bis 1924 bedeutet für Schmitt eine Phase des Aufstiegs vom „Do-
zenten der Rechtslehre“ an einer existenzgefährdeten bayerischen Handelshochschule über
eine erste Universitätsprofessur am Rande Preußens, in Vorpommern, bis zum Ordinarius
an einer der renommiertesten Universitäten im Westen der noch jungen deutschen Repu-
blik. Seine „Politische Romantik“ (1919) hat Aufsehen erregt. Die im Sommer 1920 abge-
schlossene, stofflich teilweise auf die Münchener Vorlesungen zurückgreifende „Diktatur“
erscheint 1921. Bald darauf folgen „Politische Theologie“ (1922), „Römischer Katholizis-
mus und politische Form“(1923) und „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parla-
mentarismus“ (1923). Allesamt klangvolle Titel, die bis heute geläufig sind.
Das Ende des Krieges und den Zusammenbruch der Monarchie hatte Schmitt in Ober-
bayern erlebt.1 Neben seiner Tätigkeit im Stellvertretenden Generalkommando des I. baye-
rischen Armee-Korps in München – unter anderem zuständig für die Überwachung der
Friedensbewegung, der Ein- und Ausfuhr von politisch brisanten Druckschriften – hatte der
junge Privatdozent seit dem Sommersemester 1916 an der Reichsuniversität Straßburg Vor-
lesungen gehalten. Zuletzt war er dort für das Sommersemester 1918 mit einer Vorlesung
zum Strafrecht, dem Fach seiner Dissertation, angekündigt. Es gibt nur wenige Informatio-
nen über sein Leben während der Zeit des Umsturzes und unmittelbar danach. Da Schmitt
die linken und pazifistischen Kreise von seiner Zensurtätigkeit her kannte, dürfte ihn das
Agieren der Protagonisten wie Eisner, Mühsam, Toller, Leviné kaum überrascht haben.
Nach der Ermordung des von den Arbeiter- und Soldatenräten gewählten Ministerpräsi-
denten Kurt Eisner am 21. Februar 1919 eskaliert die Gewalt in Bayern. In München wird
am 7. April die Räterepublik ausgerufen. Es herrscht Bürgerkrieg, anarchistische Räte und
Freikorpsverbände entfachen ein Gemetzel. Wenige Tage vorher, am 1. April, wird der
Unteroffizier Schmitt zur Stadtkommandantur versetzt und gerät damit in das Zentrum des
Geschehens. Nach eigenem Bekunden erlebt er, wie ein Offizier in seiner unmittelbaren

1 Vgl. ausführlich TB II, Einführung, S. 12–18. Zu allen Abkürzungen und Kurztiteln im Anmer-
kungsapparat s. das Literaturverzeichnis im Anhang, S. 581 ff.

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XII Einführung

Nähe erschossen wird. Die revolutionären Ereignisse nehmen ihn mit. Zum 30. Juni wird
Schmitt „zur Wiederherstellung seiner Gesundheit … beurlaubt“ und „aus dem aktiven
Heeresdienst entlassen“.2 Sein alter Förderer Hugo am Zehnhoff, gerade zum preußischen
Justizminister ernannt, vermittelt ihm eine Anstellung im neu errichteten Volkswohlfahrts-
ministerium. Als ihm zur gleichen Zeit der Direktor der Handelshochschule München,
Moritz Julius Bonn, eine Dozentur für öffentliches Recht anträgt, entscheidet sich Schmitt
für die Lehrtätigkeit. Bis Ende September 1921 wird er in München unterrichten. Erhalten
sind seine Aufzeichnungen zu einer Vorlesung über die „Geschichte der politischen Ideen
seit der Reformation“3. Das Themenspektrum der Lehrveranstaltungen reicht jedoch bis in
das Verwaltungs-, das Arbeits- und das Sozialversicherungsrecht. Max Weber, den „Star“
der akademischen Szene Münchens, lernt er kennen, als er im Wintersemester 1919/20 des-
sen Dozentenseminar und Vorlesung besucht. Schmitt wird Zeuge des von Rechtsradikalen
angezettelten Tumultes, der entsteht, als der bekannte Nationalökonom zu erkennen gibt,
dass er das Todesurteil des (später begnadigten) Eisner-Mörders billigt.4
Schmitt pflegt wie in den Vorjahren ein geselliges Leben im südlichen Schwabing nahe
der Wohnung in der Schraudolphstraße 5. Das komplizierte Verhältnis zu seiner Frau Paula
Carita verschlechtert sich indessen. Alice Berend hat das ungleiche Paar in ihrem 1919
erschienenen Roman „Der Glückspilz“ literarisch verewigt.5 Ein 1920 gegen „Cari“ einge-
leitetes Verfahren wegen Raubverdachts wird eingestellt; in einem weiteren Verfahren
wegen des Verdachts der Urkundenfälschung beauftragt Schmitt den bekannten Münchener
Verteidiger Max Hirschberg.6 Schmitt beginnt, die Trugexistenz der falschen Adligen „von
Dorotić“ zu ahnen. Ende 1921 trennt er sich von ihr. Zu dieser Zeit hat er bereits seine erste
ordentliche Universitätsprofessur angenommen.
Den im September 1921 ergangenen Ruf nach Greifswald7, an die kleinste preußische
Universität, verdankt Schmitt vor allem der Empfehlung Rudolf Smends, der sich dabei
auch auf Erich Kaufmann beruft. Dort‚ „in den arktischen Fluren Pommeraniens“8, kommt
er freilich nie richtig an. Franz Blei, vermutlich seit 1916 mit Schmitt befreundet, spricht
von Greifswald als einer „Prüfung“, ja einer „Vorhölle“.9 Schmitt kompensiert sein Un-
behagen mit Reisen, sein Engagement reduziert er von Anfang an auf das Nötigste. Der
Dekan der Juristischen Fakultät muss ihn am 21. Oktober 1921 auffordern, seine Vor-
lesungstitel anzuzeigen.10 Das Desinteresse am Greifswalder Universitätsbetrieb hat damit
zu tun, dass Schmitt im August 1921 bei am Zehnhoff die Australierin Kathleen Murray
kennengelernt hat, mit der ihn rasch eine große Passion verbindet und an deren Dissertation

2 Schreiben des Generalkommandos vom 4. 6.1919, in: TB II, S. 511.


3 Nachlass Schmitt RW 265-29430.
4 Vgl. dazu Joseph Eduard Drexel, Geschichte und Geschichten. Ein Leben in Franken, Vortrag im
Bayer. Rundfunk, Studio Nürnberg, 27. März 1969, Nürnberg 1969, S. 14 f.
5 Vgl. den Auszug in TB II, S. 521–523.
6 Mehring, Aufstieg und Fall, S. 119.
7 Vgl. dazu Matthias Braun/Volker Pesch, Die Umstände der Berufung Carl Schmitts nach Greifs-
wald, in: Schmittiana VII 2001, S. 195–206.
8 Entwurf eines Briefes an Frl. Schneider vom 5. 10. 1921, Teil I, S. 9 ff.
9 Brief an Schmitt vom 17. 11.1921, in: Blei, Briefe an Carl Schmitt S. 26 f.
10 Mehring, Greifswalder Intermezzo, S. 323–347, hier S. 326.

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Einführung XIII

über Hippolyte „Taine und die englische Romantik“ (1924) er maßgeblichen Anteil haben
wird. Im Herbst unternehmen die beiden eine Reise an die Mosel und geloben vor dem
Altar der Pfarrkirche in Alf eine gemeinsame Zukunft. Gleichzeitig durchziehen Exaltatio-
nen und Selbstzweifel die Tagebuch-Aufzeichnungen. Schmitts Hamburger Freund Georg
Eisler warnt ihn davor, sich wieder Hals über Kopf an eine Frau zu ketten. Vergeblich. In
einem Brief an Kathleen vom Februar 1923 spricht Schmitt selbst von „Idolatrie“.11

Die irisch-australische Geliebte

Schon das Tagebuch 1912 bis 1915 zeigte Schmitt als von Erotomanie Getriebenen. In der
heftigen Liaison mit Cari, der späteren (ersten) Ehefrau, fand sie ihr Objekt, doch nur pha-
senweise Befriedigung. „Ich schleiche hinaus aus einer Konferenz und beiße mich vor
Brunst in die Finger“, schrieb Schmitt im Alter von 24 Jahren.12 Sexuelle Libertinage ver-
schaffte ihm keineswegs Freiheit, allenfalls Aufschub. „Mein Leib erscheint mir als mein
Feind (und weil ich als guter Christ meine Feinde liebe, deshalb tue ich ihm schon mal einen
besonderen Gefallen). Mein Leib ist der Kerker. Ich besteche den Kerkermeister, der mich
quält. Der gönnt mir ein schönes Mädchen. Dann wird der Kerker für einige Zeit ein ganz
angenehmer Aufenthalt.“13 Auch in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre ist das gnostische
Muster nicht durchbrochen. Immerhin sind Ansätze zu einem Aushalten der Dauerkrise
erkennbar. Dazu gehört auch, dass der aufstrebende Wissenschaftler an dem katholischen
Glauben, in dem er erzogen worden ist, festhält – allen nihilistischen Anfechtungen zum
Trotz. Zwar erweist er sich auch in diesen Tagebüchern als „schlechter“ Katholik, d. h. als
einer, der nur selten zur Heiligen Messe, noch seltener zur Beichte geht und zum Beten
meist nur dann findet, wenn er unglücklich oder verzweifelt ist. Dennoch bleibt der Katho-
lizismus eine Form, auf die Schmitt jederzeit zurückgreifen, die er rational analysieren und,
wo nötig, wissenschaftlich wie privat applizieren kann. „Der Glaube versetzt die Berge der
Wissenschaftlichkeit“, notiert er im „Schatten Gottes“.14 Mitte November 1921 schreibt er
an Kathleen, er lasse Donoso Cortés für sich beten, damit er wieder erlange, was er „als jun-
ger Mann jahrelang hatte und durch eine Frau“ – gemeint ist Cari – und seine „sinnlose
Güte verlor: die Haltung eines Stoikers mit der eines Christen zu verbinden“.15 Paradoxer-
weise ist es just die Adressatin, in deren Gegenwart er von stoischer Ruhe meilenweit ent-
fernt ist.
Wer war Kathleen Murray? Schmitts Freundin wird am 16. Januar 1895 in Sydney gebo-
ren.16 Ihre Eltern stammen aus Irland. Murray studiert sechs Semester neuere Philologie an
der Universität Sydney, schließt Ende 1914 mit dem B. A. ab und unterrichtet an ver-
schiedenen Gymnasien in Australien. Mit einem scholarship-Reisestipendium kommt sie im
August 1919 nach Europa und nimmt – nach einem Aufenthalt in Paris – im Wintersemes-

11 Siehe Teil III, S. 456.


12 TB I, Eintragung vom 28. 11.1912, S. 55.
13 TB I, Eintragung vom 17. Juli 1914, S. 168.
14 Siehe Teil III, S. 490.
15 Teil I, S. 17.
16 Vgl. Mehring, Greifswalder Intermezzo, S. 326–332; ders. Aufstieg und Fall, S. 131–137.

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XIV Einführung

ter 1919/20 in Bonn ein Promotionsstudium auf. Zwei Semester lang studiert sie an der
gerade eröffneten, nunmehr französischen Universität Straßburg. Das eigentliche Doktorat
führt sie im Wintersemester 1921/22 nach Marburg. Ihr ursprüngliches Vorhaben, in Bonn
abzuschließen, scheitert daran, dass der Bonner Anglist Wilhelm Dibelius sie wegen ihres
romanistischen Themas ablehnt. Doch verweist er sie an Ernst Robert Curtius, der seit 1920
Ordinarius für romanische und mittellateinische Philologie in Marburg ist. Dank der
gemeinsamen Studienzeit in Straßburg kann Schmitt den Kontakt mit Curtius leicht herstel-
len und sich im November 1921 brieflich für Murray verwenden. Wenn auch Schmitt man-
che Interessen mit Curtius teilt, so ist sein eigentliches Ziel doch die zügige Promotion sei-
ner Geliebten – was Curtius durchschaut. Kathleen Murray unterhält engen Kontakt mit
katholischen Geistlichen. Ihre Religiosität ist ausgeprägt und gefühlsbetont, ein Gegensatz
zu Schmitt, der ihn magisch anzieht. „Sie liebt den Katholizismus, sie sehnt sich nach ihm,
wie sich einer in einer steinigen Stadt nach einer grünen Oase sehnt“, hält Schmitt im
Februar 1922 fest.17
In Marburg schreibt sie mit Schmitts umfänglicher Fernhilfe an ihrer Dissertation.
Sowohl das Tagebuch als auch etliche in die Promotionsschrift übernommene Manuskript-
seiten von seiner Hand18 belegen Schmitts Rolle als Geburtshelfer. Als dieser Anfang
Dezember 1921 seine in Berlin weilende Geliebte der Untreue verdächtigt und ihr seinen
„Abschied“ verkündet, hält er lapidar fest: „Ich habe zum 2. Mal mit einer Frau zu tun und
sehe, dass sich alles wiederholt“.19 Gleichwohl fühlt er sich verpflichtet, Kathleen weiterhin
als ihr „Kampfgenosse“ und „braver Sekundant“20 zu dienen. Nach Abschluss der Arbeit
und einigen Schwierigkeiten bei der Zulassung der Ausländerin kann Murray am 15. März
1922 endlich zum Rigorosum im Hauptfach Französisch und in den Nebenfächern Deutsch
und Englisch antreten. In der Promotionsurkunde vom 26. Mai wird die Dissertation mit
der Note „ausgezeichnet“ bewertet, das Rigorosum mit „sehr gut“. Schmitt kommt am
Abend nach der mündlichen Doktorprüfung in Marburg an. Seit Mitte Februar ist klar, dass
er einen Ruf nach Bonn erhalten hat. Mit Greifswald hat er nichts mehr zu tun. Schmitt
bleibt bis 23. April in Marburg. Tage und Nächte verbringt er mit Kathleen. „Hingerissen
und berauscht“21 von ihrer erotischen Anziehungskraft einerseits, befürchtet er anderer-
seits, dass seine „geistige Produktivität ganz aufhört“22. Am 24. April in Bonn angekom-
men, bleiben dem Liebespaar nur noch wenige Tage. Der Augenblick des Abschieds naht –
wie sich herausstellen wird, des Abschieds für immer. Am 5. Mai 1922 geht Kathleen in
Toulon an Bord der Orient R. M. S. „Ormonde“ und landet am 10. Juni 1922 in Sydney, wo
sie zwei Tage später in einem Artikel des „Morning Herald“ als „Brillant Student“23 gefeiert
wird. Im Düsseldorfer Nachlass befindet sich ein ausführliches Reisetagebuch Kathleens
mit der Widmung „For Carl in remembrance of happy days and glorious hopes“.24 Erhalten

17 Siehe Teil I, S. 54.


18 Vgl. Mehring, Greifswalder Intermezzo, S. 344–347 (aus dem Nachlass Schmitt RW 265-21295).
19 Teil I, Eintragung vom 1. 12.1921.
20 Teil I, S. 25.
21 Teil I, Eintragung vom 16. 3. 1922.
22 Teil I, Eintragung vom 7. 4. 1922.
23 Kopie des Artikels vom 12. 6.1922 im Nachlass (RW 265-21295), s. Abbildung im Anhang, S. 561.
24 Nachlass Schmitt (RW 265-29420).

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Einführung XV

sind ferner eine Handvoll Briefe und Karten, die bis in die 1960er Jahre reichen.25 Jahr-
zehnte nach der Trennung beteuert Murray, in ihrer Einstellung zu ihm „unverändert
geblieben“ zu sein.26 In einem an den katholischen Pfarrer von Plettenberg gerichteten Brief
vom 13. Dezember 197127 erkundigt sie sich ein letztes Mal nach Schmitt, der offenbar nicht
mehr geantwortet hat. Schmitts Vetter und Freund André Steinlein, der Kathleen noch
zwei Tage vor ihrer Abreise „eine egoistische, anspruchsvolle dumme Person“ nannte, die
Schmitt unverschämt ausbeute28, tat ihr demnach unrecht. Schmitt war nicht bloß willfähri-
ger Ghostwriter; Kathleen Murray hat ihn allem Anschein nach wirklich geliebt.
In seinem 1922 in Marburg verfassten Satirefragment „Der treue Zigeuner“29 hat Schmitt
die Erfahrung seiner Abhängigkeit von Frauen verarbeitet. Ein Karpatenzigeuner muss
seine Frau, die mit einer Pilgerreise Buße tun will, wie ein Lastesel tragen. Beide sterben
schließlich. Am Ende der Geschichte, in einer Art von redaktionellem Nachtrag, nennt der
Autor Kathleen Murray beim Namen. Die habe versichert, „niemals eine schönere Apolo-
gie des römischen Katholizismus gehört“ zu haben – eine weitere „Illustration der Legen-
denbildung“ (Hans Schneider), die Schmitt zeitlebens betrieben hat, wenn es um seine Per-
son ging.

Der Wechsel an den Rhein und die ersten Bonner Jahre –


Der Anfang 1922/23

Das Greifswalder Vorlesungsverzeichnis vom Sommersemester 1922 kündigt Schmitt noch


mit acht Wochenstunden an. Doch das preußische „Exil“, in dem er auch verpflichtet war,
protestantisches Kirchenrecht zu lehren, ist durch die Berufung auf den Bonner Lehrstuhl
Rudolf Smends, der nach Berlin wechselt, zu diesem Zeitpunkt bereits beendet. In die über-
schaubare Bonner Gelehrtengesellschaft wird Schmitt anscheinend sofort aufgenommen.
Der Junggeselle erhält Abendeinladungen. Er geht ausgiebig spazieren, oft in Begleitung
von Karl Heinrich Vormfelde, einem Professor der Landwirtschaftlichen Hochschule Pop-
pelsdorf, den er im Mai 1922 kennenlernt. Sein Leben in Pensionszimmern, als ein zwischen
Vorlesungssaal, Fakultätssitzungen, Abendgesellschaften, Restaurants und Kaffeehäusern
hin und her Getriebener, deprimiert ihn jedoch. Wie ganz Bonn, leidet er unter den Restrik-
tionen der französischen Besatzungsmacht; er hat Angst, überwacht zu werden. Ausgangs-
sperren, Kontrollen, Schikanen bis hin zu der Forderung, dass die einheimischen Studenten
die französischen Offiziere grüßen müssten, bestimmen den Alltag. Nach Eisenbahnan-
schlägen am 30. April, am 5. Mai und in der Nacht vom 12. auf den 13. Juni 1923 wird von
den Franzosen der Belagerungszustand verhängt. Bis 18. Juni ist von 20.30 Uhr bis 5 Uhr

25 Abgedruckt in: Mehring, Greifswalder Intermezzo, S. 340–343.


26 Brief an Schmitt vom 26. 7. 1951, in: ebd., S. 342; ähnlich im Brief vom 20. 12.1960, in: ebd., S. 342 f.;
s. auch die Abbildung im Anhang S. 562 f.
27 Ebd., 343.
28 Teil I, Eintragung vom 3. 5. 1922.
29 Abgedruckt in: Schmittiana VII 2001, S. 19–27, erneut in diesem Band, S. 564–569. Zum satirischen
Aspekt vgl. auch Ernst Hüsmert, Zwei wenig bekannte Seiten von Carl Schmitt, in: Schmittiana VI
1998, S. 289–303.

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XVI Einführung

jeglicher Straßenverkehr verboten. Später gehen die Franzosen dazu über, Personen will-
kürlich ins unbesetzte Gebiet auszuweisen, darunter – nach fast einjähriger Haft – Ober-
bürgermeister Dr. Johannes Falk (13. März 1924).30 Infolge der Besatzung geht die Zahl der
Studenten an der Universität Bonn dramatisch zurück, manche Lehrstühle können nicht
wiederbesetzt werden. Auch die Hyperinflation macht zu schaffen und nährt Existenz-
ängste. Bei Schmitt häufen sich Verlassenheitsattacken und Arbeitsunlust. Seine Vorlesungen
– wie in Greifswald ein Pensum von acht Wochenstunden, verteilt auf Dienstag bis Freitag –,
hält er oft aus dem Stegreif. Monatelang leidet Schmitt unter der Trennung von Kathleen
Murray. Mit Hilfe von Wochenberichten und Briefen nach Australien, in denen er seine
Liebe idealisiert, versucht er Halt zu finden, bis im Herbst eine neue Affäre mit der Ärztin
Carola Sauer beginnt, die ihn allerdings kühl behandelt und leiden lässt.
Unter den neu gewonnen Bekannten auch außerhalb der eigenen Profession treten bald
zwei Persönlichkeiten hervor, mit denen Schmitt Freundschaft schließt und die er sowohl
einzeln als auch gemeinsam trifft. Der Musikwissenschaftler Arnold Schmitz spielt aben-
delang Chopin, Mozart und Opernauszüge auf dem Flügel vor und sorgt damit für einen
gewissen Ausgleich zur Nervenanspannung. Wie „Der Schatten Gottes“ zeigt, spricht
Schmitt mit seinem fachkundigen Freund über Musik und deutet, davon angeregt, einzelne
Werke. Umgekehrt zeigt Schmitz’ 1927 erschienenes Buch „Das romantische Beethoven-
bild“ deutliche Spuren von Schmitts Einfluss, auch da, wo dessen „Politische Romantik“
nicht direkt zitiert wird. Schmitz kehrt die antibürgerliche Haltung Beethovens hervor.
Und das im „Schatten Gottes“ festgehaltene Lachen der beiden Freunde über Rousseau31
findet seinen Widerhall in Schmitz’ These, dass der Anti-Rousseauist Beethoven nicht an
die bonté naturelle des Menschen geglaubt habe.32 Mit dem Kunsthistoriker und Priester
Wilhelm Neuß verbindet Schmitt die Liebe zur Kunst; naturgemäß spricht man auch über
Kirche, Politik, Universitätsinterna. In einem Brief an Neuß aus Berlin-Schlachtensee vom
20. Dezember 1946 bekennt Schmitt: „Wenn ich an die Gespräche denke, die wir 1921–1928
in Bonn geführt haben, so komme ich mir leichtsinnig vor. Wer weiß, ob wir die Früchte
unserer Forschungen und Erfahrungen noch einmal in einem schönen Gespräch ernten
können?“33 Beide Freunde, Schmitz wie Neuß, weiht er im Laufe des Jahres 1923 in sein
Eheproblem ein. Neuß’ Versuch, über einen Kölner Weihbischof die kirchliche Annullie-
rung der Ehe voranzutreiben, scheitert. Nichtsdestoweniger verdankt Schmitt dem interna-
tional vernetzten Priester interessante Bekanntschaften, etwa mit den spanischen Politikern

30 Vgl. dazu etwa Besatzungschronik der Stadt Bonn (1935), Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland
RW 0007 Nr. 71; Bonn während der Besatzungszeit (Vom 8. Dezember 1918 bis zum 31. Januar
1926.), in: Einwohner-Buch der Stadt Bonn 1927, Bonn 1927, S. XV–XXXV, XXVIII ff.
31 Vgl. Teil III, Eintragung vom 17. 4. 1925, S. 546.
32 Nachweise bei Georg Pepl, Apotheose des Marsches. Die Romantikkritik des Musikwissenschaft-
lers Arnold Schmitz und des Staatsrechtlers Carl Schmitt, in: Musik-Wissenschaft an ihren Gren-
zen. Manfred Angerer zum 50. Geburtstag, hrsg. von Dominik Schweiger, Michael Staudinger, Niko-
laus Urbanek, Frankfurt am Main u. a. 2004, 429–445, hier 433 f. Die Qualität des Aufsatzes leidet
freilich unter der auf Nicolaus Sombart (Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt – ein
deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos, Frankfurt am Main 1997)
zurückgehenden, nach den Tagebuchveröffentlichungen keinesfalls mehr haltbaren Prämisse von
Schmitts „Misogynie“.
33 Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Korrespondenznachlass Wilhelm Neuß.

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Einführung XVII

León Martín-Granizo Rodríguez und Gervasio de Artiñano, während er im Gegenzug


Neuß seinen alten Freunden in München vorstellt.
Besuche erhält Schmitt von Vetter André Steinlein und von Georg Eisler. Mit ihnen
unternimmt er Reisen und Ausflüge, etwa ins elterliche Plettenberg oder an die Mosel.
Unter dem Einfluss Murrays macht sich der Staatsrechtler mit irischer Dichtung und mit
englischen Romantikern vertraut, liest Bloy, Barrès, Gobineau und Maurras. Am meisten
beeindrucken ihn französischsprachige Symbolisten wie Villiers de L’Isle-Adam, Barbey
d’Aurevilly und Huysmans, in denen er die rätselhaften Seiten menschlicher Existenz
wiederfindet. Ein ständiger Begleiter ist Baudelaire mit seiner antibürgerlichen Auflehnung,
die ihm anverwandt ist. Für die Parlamentarismusschrift, die zunächst als Beitrag zur Fest-
gabe für seinen Kollegen Ernst Zitelmann erscheint, liest er im Frühjahr 1923 Sorel und
Mussolini.
Am 22. Januar 1923 begegnet Schmitt der fast 15 Jahre jüngeren Studentin Duška Todo-
rović, mit der ihn bald ein zarte und inniger werdende Liebe verbindet. Am selben Tag fin-
det er einen griffigen Titel für die Broschüre, die nun rasch abgeschlossen wird: „Römischer
Katholizismus und politische Form“. In den letzten Mai-Tagen wird auch die Parlamenta-
rismusschrift fertiggestellt sein. Ende Januar und Mitte Juni folgt Schmitt den Wochenend-
einladungen von Georg und Lilly von Schnitzler nach Frankfurt am Main – er ein weit-
gereister Industrieller, sie eine Kunstmäzenin, die außerdem Schmitts Hang zur Astrologie
teilt. Die Ostertage verbringt er im bayerischen Bad Tölz bei der befreundeten Familie
Krause; vor- und nachgeschaltet werden Gesprächen in München mit Bekannten aus der
Militärzeit wie dem Bibliothekar Hans Rupé, dem Hauptmann Christian Roth sowie mit
den Verlegern und Publizisten Carl Muth vom „Hochland“ und Ludwig Feuchtwanger von
Duncker & Humblot. Mit Letzterem fährt Schmitt weiter nach Berlin, trifft alte Freunde
wie Franz Blei und Hugo am Zehnhoff. Ende April zurück in Bonn, unternimmt er mit sei-
ner jungen Freundin Duška lange Spaziergänge in der Umgebung und übersetzt mit ihr auf
der Terrasse des „Königshofs“ Gedichte von Bojić. Musik spielt eine große Rolle, man
besucht Konzerte und die Kölner Oper, in der Otto Klemperer bis 1924 als Generalmusik-
direktor wirkt. Durch seinen Journalistenfreund Paul Scheffer macht Schmitt die Bekannt-
schaft mit der lettischen Ausdruckstänzerin Sent M’Ahesa, die damals in ganz Europa auf
der Bühne steht. Das alles ereignet sich neben den Vorlesungen und Seminaren und der
intensiven Betreuung von Doktoranden, die er mit in Cafés und Restaurants nimmt. Schon
hier deutet sich die Atmosphäre seiner „Bonner Schule“ an, die später oft beschworen wor-
den ist. Aus Australien kommt der Geistliche McKiernan für mehrere Wochen nach Bonn.
Mit ihm spricht Schmitt über Kathleen Murray, um sich am Ende von ihr frei zu machen.
Wegen Rippenschmerzen begibt sich Schmitt Mitte August für einige Tage in ärztliche
Behandlung bei den Barmherzigen Brüdern, was ihn nicht abhält, abends mit Bekannten in
den Lokalen der Stadt Wein zu trinken. Danach – Duschka weilt in ihrer Heimat Slawo-
nien – erholt sich Schmitt etwa sechs Wochen lang in Plettenberg, wo er zuletzt einen
schweren Fahrrad-Unfall erleidet. Auch wenn er die Ärmlichkeit des Elterhauses stark
empfindet und sich ihrer, etwa gegenüber Eisler, schämt, sind die Ferienaufenthalte in der
Heimatstadt mit den extensiven Wanderungen eine ständige Kraftquelle. Im Oktober tref-
fen sich Schmitt und Duška in München. Er zeigt ihr die Stadt, führt sie in Verdis „Othello“
und freut sich, dass sie bei den Freunden ankommt. „Sie macht überall den besten Ein-
druck, auch Haecker war sie sympathisch“, vermerkt Schmitt am 17. Oktober. Zu seinen

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XVIII Einführung

Stippvisiten nach Tölz nimmt er sie jedoch nicht mit. Der Monat klingt in Bonn aus, ihre
Liebe erstarkt. Schmitt fühlt sich so glücklich wie nie, als ihm Duška schließlich beteuert:
„Wenn ich von Ihnen gehe, gehe ich von der Erde.“34 Am 11. Dezember verloben sie sich
indirekt, Ostern 1925 wird die offiziöse Verlobung an der Mosel folgen. Die Tage von
Heiligabend bis zum 30. Dezember verbringen sie gemeinsam im Kloster Heisterbach. Es
sind glückliche Tage.

Die Bewahrung vor dem Schicksal des Othello:


Dušanka Todorović

Woher stammte Dušanka/Duška (auch Duschka) Todorović? Sie wurde am 13. Februar 1903
in Grosdanska (Grizanska) östlich von Agram (Zagreb) als Tochter des Vasilije Todorović
und seiner Frau Julijana, geb. Belajević, geboren. Vater und Großvater väterlichseits waren
nach ihren Angaben Bürgermeister und Notare.35 Die Eltern ließen sich 1910 scheiden.
Duška lebte zunächst bei ihrer Mutter in Daruvar an der kroatisch-ungarischen Grenze in
der Provinz Slawonien, das im k.u.k.-Reich zur ungarischen Krone und nach dem Ersten
Weltkrieg zum Königreich der Serben, der Kroaten und der Slowenen gehörte. Danach war
sie mit ihrem Vater in Agram. Duška wurde serbisch-orthodox getauft und blieb ihrer Kon-
fession zeitlebens treu. Einen wohl bis in die Kindheit zurückgehenden Antisemitismus
konnte sie nie ablegen; Zeitzeugen berichten, dass sie Schmitt darin übertroffen habe.36
In Bonn immatrikuliert sie sich am 4. November 1922 an der philosophischen Fakultät;
sie studiert Nationalökonomie. Auf Professor Schmitt trifft Duška, als dieser eine Überset-
zung für seine standesamtlichen Erkundigungen in Agram benötigt. Er lädt sie zum Essen
ein, und gleich beim anschließenden gemeinsamen Spaziergang in der Bonner Abenddäm-
merung findet er sie „elegant und graziös“37. Dabei ist Duška damals schon etwas füllig.
Den mit etwa 160 cm kleingewachsenen Schmitt überragt sie um mehr als einen halben
Kopf. Aufgrund des Altersunterschiedes wird sie nicht selten für seine Tochter oder eine
Assistentin gehalten. Das Tagebuch dokumentiert eine Liebesgeschichte, die – für Schmitts
Verhältnisse ungewöhnlich – von sexuellem Begehren und kurzschlüssiger Befriedigung
lange weitgehend frei bleibt. Schmitt ist vielmehr verliebt, bewundert Duškas Gang, ihre
Bewegungen, ihre Füße; mit ihr vertieft er sich in russische und slawische Literatur. Zwar
sehnt sich Schmitt bis in den Sommer 1923 hinein zugleich nach „Lola“ Sauer, steht mit ihr
und noch länger und intensiver mit Kathleen Murray in Briefkontakt. Zeitweise erwägt er
gar, nach Australien auszureisen. Doch in der zweiten Hälfte des Jahres kristallisiert sich
deutlich eine Entscheidung für Duška heraus. Er ist ihr ergeben, hat aber auch Angst vor
ihrer Weiblichkeit und bodenständigen Klugheit, die er zugleich als Basis neuen Vertrauens
braucht. Nach den traumatischen Erlebnissen des zurückliegenden Jahrzehnts bleibt eine

34 Teil II, Eintragung vom 31.10. 1923.


35 Vgl. Mehring, Aufstieg und Fall, S. 153 ff.
36 Vgl. nur etwa TB III, Eintragungen vom 15.12.1931 (S. 69) und 30. 5.1932 (S. 194) und im „Parallel-
tagebuch“, ebd. S. 360.
37 Teil II, Eintragung vom 22.1. 1923.

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Einführung XIX

Reserve, die Schmitt trotz seiner Liebe und der Fürsorge um die Erkrankte nicht ablegen
kann. Am 21. Juni 1924 wird er notieren: „Abends entsetzliche Traurigkeit, der Schatten des
Todes, die tödliche Liebe zu dieser Frau, Angst um sie, Sorge, Hingabe, Aufopferung. Ich
fühle trotz ihrer Krankheit, dass ich dieser Frau mehr Gesundheit verdanke als alle den
gesunden Weibsbildern, an die ich mich geklammert habe. Beglückende Dankbarkeit, töd-
liche Sorge.“38 Schließlich, am 8. Februar 1926, heiratet das Paar, das zeitlebens per Sie blei-
ben wird, auf dem Standesamt in Bonn; Vormfelde und der protestantische Theologe Erik
Peterson fungieren als Trauzeugen. Der damit vollzogene Selbstausschluss von den Sakra-
menten bleibt bis zum frühen Tod Duškas ein Problem39, und bildet anfangs, da Schmitts
Annullierungsprozess in zwei kirchlichen Instanzen erfolglos bleibt, zudem einen Vor-
wand, „von den Pfaffen los[zu]komme[n]“40. Was Schmitt am 22. März 1924 über Duška
schreibt, dürfte für sein Zusammenleben mit ihr insgesamt gelten: „Sie hat mich vor dem
Schicksal des Othello bewahrt; sie ist mein einziger Halt.“ Dass er ungeachtet dessen noch
im Jahr ihrer Trauung eine weitere, die gesamte Bonner Zeit anhaltende sexuelle Affäre mit
einer Verkäuferin eingehen wird, ist Teil einer Intellektuellenbiographie, die bekanntlich
nicht nur im privaten Bereich von moralischem Versagen gekennzeichnet ist.
Duška Schmitt gebar am 20. August 1931 in Berlin die gemeinsame Tochter Anima
Louise, die später einen spanischen Rechtshistoriker heiratete und in Spanien lebte (gest.
1983).41 Schmitts Frau starb am 3. Dezember 1950 im Alter von 47 Jahren in einem Heidel-
berger Krankenhaus. Der Kanonist Hans Barion hat die orthodoxe Christin unter Um-
gehung mancher interritueller Vorschriften katholisch beerdigt und ein Requiem gefeiert.42

Das Jahr 1924

Das Jahr 1924 beginnt mit einem Einschnitt. Duška verreist bis Anfang Mai in ihre Heimat
und kehrt mit offener Tuberkulose zurück. Schmitt hat viel zu tun, er übernimmt zusätzlich
die Vorlesungen seines Kollegen Erich Kaufmann, der vom Auswärtigen Amt zu Verhand-
lungen um Nachfolgeprobleme des Versailler Friedensschlusses als völkerrechtlicher Bera-
ter hinzugezogen wird. Er bespricht einen Aufsatz seines Kollegen Richard Thoma, den
dieser zur Erinnerungsgabe für Max Weber beigetragen hat; eine heikle Angelegenheit, da
auch Schmitt mit einem Beitrag in dem zweibändigen Werk vertreten ist. Nebenbei begibt
er sich auf Wohnungssuche. Offenkundig versucht er sich zu disziplinieren. Von Franz
Bleis „Bestiarium“ distanziert er sich: „eine Mode-Erzählung, die mich recht lächerlich
macht“, heißt es am 8. Januar. Im Mai verfasst Schmitt eine polemische Rezension einer von

38 Teil III, S. 536.


39 Vgl. dazu Wolfgang Spindler, Eine Art Vergangenheitsbewältigung: Carl Schmitts Beichte 1947, Die
Neue Ordnung 62 (2008), S. 309–318.
40 Mehring, Aufstieg und Fall, S. 195.
41 Vgl. Reinhard Mehring, „Eine Tochter ist das ganz andere“. Die junge Anima Schmitt (1931–1983),
hrsg. von Gerd Giesler und Ernst Hüsmert (= Plettenberger Miniaturen, 5), 2012.
42 Vgl. Bericht Hans Barions über die Beisetzung von Duška Schmitt am 7. 12.1950 in Plettenberg, in:
Thomas Marschler, Kirchenrecht im Bannkreis von Carl Schmitt. Hans Barion vor und nach 1945,
Bonn 2004, S. 491–493.

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XX Einführung

dem Kölner Staatsrechtler Stier-Somlo betreuten Übersetzung von Hobhouse’ „Metaphysi-


scher Staatstheorie“ – eine Retourkutsche für dessen Kritik an der Parlamentarismusschrift.
Zu Schmitts Ärger reagiert die „Frankfurter Zeitung“ auf den eingereichten Text nicht in
der erwarteten Geschwindigkeit; er weicht aus auf den weit weniger bekannten „Wirt-
schaftsdienst“ seines Freundes Kurt Singer. Als ihn der Vorsitzende der deutschen Staats-
rechtslehrervereinigung Heinrich Triepel im Februar auffordert, auf der zweiten Tagung in
Jena zu referieren, sagt er sofort zu. Auf den Termin Mitte April bereitet er sich jedoch nur
sporadisch vor; noch unmittelbar vor seinem ersten großen Auftritt vor Kollegen stürzt er
sich in Berlin in eine Affäre mit einer verheirateten Ärztin und Mutter. Bereits am 6. Februar
hat sich Schmitt gefragt: „Wie ich mein Referat in Jena halten soll, ist mir ein Rätsel. Irrsin-
nig. Ich kann nicht mehr arbeiten. Ich bin ein erbärmlicher Dilettant. Ich schäme mich ent-
setzlich. Ich habe keine Klauen, das Leben zu fassen.“ In Jena hält er einen der Hauptvor-
träge zu Art. 48 Absatz 2 WRV. Er sieht die sog. Diktaturgewalt des Reichspräsidenten als
verfassungsrechtlich beschränkt an; dessen „Maßnahmen“ könnten entgegen der herrschen-
den Meinung keine Gesetzeswirkung entfalten, weil der Reichspräsident sonst zusätzlicher
Gesetzgeber neben dem ordentlichen gemäß Art. 60 wäre. Die meisten Kollegen lehnen
seine Thesen ab, er fühlt sich wieder als Außenseiter. Immerhin knüpft er Kontakt zu sei-
nem Koreferenten und späteren Mitstreiter im Leipziger „Preußenschlag“-Prozess, Erwin
Jacobi. Auch Smend steht auf seiner Seite, sie besuchen gemeinsam die Dornburger Schlös-
ser und führen intensive Gespräche.
Mit seinen gerade erschienenen „katholischen“ Schriften findet Schmitt bei der rheini-
schen Zentrumspartei Anklang. Wilhelm Hamacher, der rheinländische Generalsekretär,
lädt ihn zu einem Vortrag im Mai nach Köln ein, Schmitt spricht über „Romantik und Poli-
tik“; die kulturkampferprobte „KV“ (Kölner Volkszeitung) berichtet. Vor allem die Nach-
wuchsorganisationen des Zentrums wollen ihn auf einen sicheren Listenplatz für den
Reichstag hieven. Schmitt lehnt zwar ab, der Kontakt zu Hamacher und anderen Zentrums-
politikern bleibt aber bestehen. Er fühlt sich dadurch „wichtig“43.
Nach dem ersten Bonner Wintersemester reist Schmitt zu „nette(n) gebildete(n) Men-
schen“44 nach Bremen, wo er bei seinem alten Bekannten, Konsul Neuenhofer, und dessen
Frau wohnt. In Hamburg ist er bei der Familie Eisler zu Gast. Dort lernt er Georg Eislers
Base Annie Kraus kennen, auch sie Jüdin. Sie hat für Edmund Husserl gearbeitet. 1928 wird
sie in Berlin für gut ein Jahr Schmitts Privatsekretärin sein.
Der Frühling 1924 beendet Schmitts Pensionszimmerexistenz. Während er in Jena auf der
Staatsrechtlehrertagung weilt, werden ihm die Möbel in die Endenicher Allee 20 gebracht.
Die Vermieterin ist eine verwitwete Jüdin. Das schon bei der Besichtigung entwickelte
Gefühl, „dass alles in Ordnung zu kommen scheint“45, mag auch auf den Eheprozess
gemünzt sein. Die Ehe mit Carita ist nämlich mit Wirkung vom 2. März rechtskräftig auf-
gehoben. Den Tatbestand der „arglistigen Täuschung“ gibt es indessen im kirchlichen
Rechtsbuch (CIC) von 1917 nicht; der am letzten Julitag in Köln gestellte Antrag auf
Nichtigkeitserklärung, aufgrund dessen Schmitt am 4. November im Generalvikariat aus-

43 Teil II, Eintragung vom 12.11. 1924.


44 Teil II, Eintragung vom 14. 3.1924.
45 Teil II, Eintragung vom 11. 3.1924.

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Einführung XXI

sagen muss, wird von den Ehegerichten der katholischen Kirche negativ beschieden wer-
den.
Nach Duškas Rückkehr aus der Heimat bringt Schmitt sie zur Erholung nach Heister-
bach. Offen bleibt, ob ihre Bemerkung, nicht heiraten zu wollen, „wenn die Leibesfrucht
beseitigt wird“46, nur theoretischer Natur ist. Durch das ständige Hin und Her zwischen
Bonn und Heisterbach erleidet Schmitt selbst einen Ruhr-Rückfall. Trost spenden die neue
Bekanntschaft mit Werner Becker, dem späteren Doktoranden und Oratorianer-Priester,
Schmitts Stier-Somlo-Verriss und die Druckfahnen von Hugo Balls – bis heute unerreich-
tem – Essay über „Carl Schmitts Politische Theologie“ im „Hochland“. Da Schmitts Arzt-
Bruder Jup bei Duška Tuberkulose diagnostiziert, bringt sie Schmitt nach Ruppichteroth
zur Kur. Im August reisen beide zunächst nach Oberstdorf und München zu erneuten
medizinischen Untersuchungen, um spontan weiter nach Lugano zu fahren. In einem Kur-
haus auf dem Monte Bré wird Duška sich monatelang kurieren. Von da aus besuchen beide
im nahegelegenen Agnuzzo den katholischen Schriftsteller und Ex-Dadaisten Hugo Ball
und dessen Frau Emmy Hennings, die ebenfalls publiziert. Es sind „wunderschöne glück-
liche Tage“47. Sie treffen dort auch Hermann Hesse. Schmitt will Ball davon abbringen, eine
umgearbeitete Neuauflage der „Kritik der deutschen Intelligenz“ unter dem Titel „Die Fol-
gen der Reformation“ zu veröffentlichen, da die antiprotestantische Polemik und die
ahistorische Beurteilung der Französischen Revolution Anlass zu einem Skandal werden
könnten – was bekanntlich auch eintraf. Über Stuttgart-Degerloch, wo er den Kollegen Bil-
finger besucht, und eine weitere Zwischenstation bei Schnitzlers in Frankfurt kehrt Schmitt
Mitte September nach Bonn zurück. Dort bildet sich ein Kreis von begabten Schülern und
Bekannten, der sich häufig in Kaffeehäusern und in der legendär werdenden Weinstube
Streng zu intensiven Gespräche trifft. Mit manchen wird Schmitt lebenslang befreundet
bleiben. Zu dem Kreis gehören die Theologen Erik Peterson und Karl Eschweiler, der
katholische Publizist und Frankreich-Kenner Waldemar Gurian, der Germanist und Jour-
nalist Paul Adams sowie die Doktoranden Ernst Forsthoff und Werner Becker. Wie geson-
derte Datumhervorhebungen belegen, ist Schmitt die neue Bekanntschaft mit Peterson, der
1930 zum katholischen Glauben konvertieren wird, besonders wichtig; die gegenseitige
Beeinflussung, etwa im Hinblick auf die Lehre von der repräsentativen Öffentlichkeit der
Kirche und der Bedeutung des Akklamationsbegriffs, ist offenkundig und Gegenstand
aktueller Forschungen.48 Schmitt bearbeitet seine „Politische Romantik“ für eine Neu-
auflage, steuert ein längeres, den Romantikbegriff präzisierendes Vorwort bei, das auch in
Carl Muths „Hochland“ erscheint. Zum Thema Völkerbund, das er im zurückliegenden
Jahr ausführlich in Vorlesungen behandelt hat, erarbeitet er einen größeren Beitrag für
„Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft“. Die Korrektur-
fahnen zu diesem Aufsatz hält er zum Jahreswechsel 1924/25 in Händen. Die vorlesungs-
freien Weihnachtsferien verbringt er in Lugano bei seiner geliebten Duška.

46 Teil II, Eintragung vom 11. 5. 1924.


47 Teil II, S. 364.
48 Vgl. Giancarlo Caronello (Hrsg.), Erik Peterson. Die theologische Präsenz eines Outsiders, Berlin
2012.

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XXII Einführung

Damit erlangt Schmitts Leben zum Ausklang des Jahres eine gewisse Festigkeit. Die –
zunehmend erwiderte – Liebe zu Duška Todorović, die ersten spürbaren Erfolge als Hoch-
schullehrer und Publizist, die Ausstrahlung seines Wirkens auf das Geistesleben und die
politische Vertretung des katholischen Rheinlands zeigen: Carl Schmitt ist in Bonn ange-
kommen. Fruchtbare Jahre liegen vor ihm.

Gerd Giesler und Wolfgang H. Spindler

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Carl Schmitt

Der Schatten Gottes


Introspektionen, Tagebücher und Briefe
1921 bis 1924

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Teil I

Tagebuch August 1921 bis August 1922

Bearbeitet von Gerd Giesler und Ernst Hüsmert

Dieses Tagebuch besteht aus drei Teilen in unterschiedlichen Papierformaten und variierender Papier-
qualität; es ist in Gabelsberger Stenographie verfasst.
Der erste Teil des Tagebuchs (Seiten 1–24, 25–27, 28–29, 62–75 – die Seiten 24, 25 und 27 über-
schneiden sich mit denen im zweiten Teil) besteht a) aus 24 losen Blättern, die Blattzählung ist im
Archiv bei der Nachlassbearbeitung eingefügt worden und entspricht oft nicht der zeitlichen Abfolge
der Eintragungen, Nachlass Schmitt RW 265-19585; b) hinzu kommen 1 Blatt aus dem zweiten Teil
mit der Blattzählung Nr. 8, Nachlass RW 265-19585 sowie 2 Blätter ohne Blattzählung, Nachlass
RW 265-19740. Alle Blätter im Format 7 × 12 cm haben eine Lochung am oberen Rand.
Der zweite Teil des Tagebuchs (Seiten 24–25, 27, 30–62) besteht aus 22 Blättern; davon sind die
mit der Blattzählung 1 bis 6 und 14 bis 22 im Format 10 × 16,2 cm in einer Rest-Kladde geheftet und
mit einer mittig angeordneten roten senkrechten Linie als zusammengehörig identifizierbar. Die Blät-
ter 7 sowie 9 bis 13 und eine Visitenkarte sind auf unterschiedlichen Papieren beschriftet, Blatt 8 ge-
hört zum ersten Teil des Tagebuches. Die Blattzählung ist ebenfalls im Archiv bei der Nachlassbearbei-
tung eingefügt worden und entspricht meist nicht der zeitlichen Abfolge der Eintragungen. Nachlass
RW 265-19585.
Der dritte Teil des Tagebuches (Seiten 76–131) besteht aus 17 losen Seiten im Format 16,5 ×
20,5 cm; teilweise ist eine Blattzählung eingefügt worden. Durch die konstante Angabe des Tagesda-
tums ist die chronologische Reihenfolge der Seiten gesichert. Nachlass Schmitt RW 265-19585.

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1921

[Montag] 8. 8. 21
Nach dem Abendessen bei am Zehnhoff 1 am Bett. Sehe, dass er nichts von meinem alten Rat
beachtet. Mein Leben verflucht, die elende Geschichte meiner Ehe. Um 12 müde fort; auf
Fräulein Schneider 2 gewartet in der kleinen Konditorei bei dem Hotel. Ein paar Kölner mit
ihrer lustigen Aussprache. Aber ich bin zu sehr desillusioniert. Heute Mittag habe ich ge-
sehen, wie einer von einem westfälisch sprechenden Mann hinausgeschmissen wurde. Welch
ein Leben. Traurig, müde, meine einzige Hoffnung ist Georg Eisler 3, aber könnte er mich
nicht leid werden?

Dienstag, 9. 8. 21
Müde auf, Fräulein Schneider war schon bei am Zehnhoff, wir tranken zusammen Tee, dann
begleitete ich am Zehnhoff zum Bad, half ihm beim An- und Ausziehen, dann für mich
etwas spazieren, Schinken gegessen, der 10 Mark kostete, aber gut war; im Restaurant
Hohenzollern etwas am Cortes 4 geschrieben. Müde, gegessen, nachher bis 1/2 5 Uhr schön

1 Hugo am Zehnhoff (1855–1930), langjähriger Förderer Schmitts seit dessen Referendarzeit, promi-
nenter Zentrumspolitiker, Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses (1898–1908) und des
Reichstags (1899–1918), von 1919 bis 1927 erster parlamentarischer Justizminister Preußens. Vgl.
TB I, S. 405–409 und Register. Schmitt logierte bei seinem Berliner Aufenthalt im preußischen
Justizministerium, Wilhelmstraße 65. In einem Brief v. 27. 12.1925 charakterisiert Schmitts Bekann-
ter Walter Fuchs (s. Anm. 418) am Zehnhoff: „… erinnere mich eines unvergesslichen Eindrucks:
plötzlich schlürfte ein mir massig erscheinendes, ungefüges, vielleicht asthmatisches Etwas, ein Alp
oder Nickelmann, ein großer gefüllter Schatten, vielleicht mit plieren Augen, vielleicht prustend auf
ausladenden Füßen stöhnend vorüber, im Treppenhaus, – ich fragte Sie und dachte dann: so der
Minister“. (RW 265-4594).
2 Nichte von am Zehnhoff, die in seinem Haus lebte.
3 Bernhard Georg Eisler (1892–1983), enger Freund Schmitts nach dem Tod seines Bruders, Fritz Eis-
ler (1887–1914), bis zur Emigration nach England 1934 kaufmännische Tätigkeit im Verlag seines
Vaters in Hamburg, ab 1940 in New York, 1963 wieder in Hamburg, 1983 zwei versöhnliche Tele-
phongespräche mit Schmitt. Im Sommer 1921 hatte Eisler Schmitt öfter um Rat in einer Versiche-
rungsangelegenheit der väterlichen Firma gefragt. Briefe von Georg Eisler an Schmitt befinden sich
im Schmitt-Nachlass RW 265-3121 ff. Vgl. das Kurzportrait in: TB I, S. 402 f., sowie Mehring, Ham-
burger Verlegerfamilie.
4 Donoso Cortés, Juan Maria de la Salud, Marqués de Valdegamas (1809–1853), span. Staatsphilosoph
und Politiker. Es handelt sich um erste Entwürfe für den Aufsatz „Die Staatsphilosophie der Gegen-

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August 1921 5

geschlafen. Dann mit Professor Leidig 5, dem Abgeordneten der Deutschen Volkspartei, und
dem Kammer-Gerichtspräsidenten Roth6 spazieren. In der <…> schön Kaffee getrunken.
Abends zusammen gegessen, Pilsener getrunken. Dann im „Ohrenstein“7 herrlicher Rot-
wein, gut unterhalten über die Revolution, von der Leidig erzählte. Am Zehnhoff rühmte
das gute Essen: Schnepfen mit Pommery‚ Austern <…> herrlich. Geil, aufgeregt ins Bett.

Mittwoch, 10. 8. 21
Meine Frau8 schreibt mir nicht, auch gut. Um 8 auf, um 9 für mich gefrühstückt. Dann
herumgesessen in den Zelten9‚ mit Entsetzen die Menschen besehen, traurig an meine Liebe
gedacht, dem Wahnsinn nahe. Nach dem Essen fuhren am Zehnhoff und Fräulein Schneider
nach <…>, ich fuhr nicht mit, schlief zu Hause, trank nachher Kaffee. Im Cafe Hohen-
zollern, notierte behaglich über Cortés, Angst wegen meiner Frau, weinte, weil sie nicht
schreibt. Abends mit Fräulein Schneider im Konzert.

Donnerstag, 11. 8. [1921]


Morgens am Zehnhoff zum Bad begleitet, angezogen. Nach dem Essen geschlafen, um 5
nach Hannover. Mit dem Bummelzug, etwas in der Stadt herumgelaufen, dann Georg Eisler
getroffen. Er sah schön aus, sehr gesund. Ich war unbeschreiblich erfreut, gerührt und
musste weinen. Wir übernachteten im Hotel Royal am Bahnhof, aßen bei Stekow zu
Abend, tranken Beaujolais, sprachen über den Vetter 10, den Georg in Kiel getroffen hat, war
stolz, solche Freunde zu haben. Sprachen noch bis 1/2 1. In dem wunderbaren Bett geschla-
fen, um 5 Uhr morgens fuhr Georg weiter, er hat mir 300 Mark gegeben. Großartiges
Hotel.

Freitag, 12. 8. 21
Müde, um 8.50 unternehmend im Bahnhof Hannover gefrühstückt, dann nach Oeynhausen
zurück. Am Zehnhoff nicht mehr getroffen. Mir gleichgültig, wäre beinahe weggereist.
Meine Frau schreibt nicht. Wütend. Nach dem Essen geschlafen. Abends tranken wir eine
Flasche Chablis. Ich ging nachher noch wütend und geil in die Operette, entsetzlich, elend,
wütend, aber es nützt nichts.

revolution“, dessen Manuskript Schmitt im Sommer 1922 abschließt, s. S. 107. Er ist der erste (von
vier) Aufsätzen zu dem spanischen Gegenrevolutionär; zuerst erschienen im Archiv für Rechts- und
Wirtschaftsphilosophie 14 (1922), S. 121–131, gleichzeitig bildet er das 4. Kapitel in Schmitt, Politi-
sche Theologie.
5 Eugen Leidig (1861–1935), Jurist u. Politiker, Syndikus verschiedenerer Industrieverbände, Grün-
dungsmitglied der DVP, Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses bis 1932.
6 Richard Roth (geb. 1856), seit 1910 Senatspräsident beim Kammergericht.
7 Cafe Ohrenstein, Kurfürstenstraße 75.
8 Cari/Charita (Carita) Dorotić (1883–1968), Schmitts erste Frau, von der er zwar getrennt lebte, die
aber weiterhin in der gemeinsamen Wohnung München, Schraudolphstraße 5, wohnte. Die Ehe
wurde 1924 für nichtig erklärt. Vgl. Mehring, Aufstieg und Fall, sowie Martin Tielke, Die Biblio-
thek Carl Schmitts, in: Schmittiana NF I 2011, S. 284, Anm. 50.
9 Promenade am Spreeufer am Rand des Tiergartens, Ausflugslokale seit dem 18. Jh. (Zelte).
10 André Steinlein (1891–1965), Rechtsanwalt und Notar in Lothringen, Vetter Schmitts aus der müt-
terlichen Linie (Sohn von André Steinlein sen. und Margarethe Steinlein).

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6 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Samstag, 13. 8. 21
Mit am Zehnhoff an die Salinen spazieren, nachmittags mit Fräulein Schneider und am
Zehnhoff zum Siel, über Frau Leidig unterhalten.

Sonntag, 14. 8. 21
Großer Ausflug mit Fräulein Schneider, Blank11, Leidig in den Teutoburger Wald, Her-
mannsdenkmal und Externsteine mit Kreuzabnahme. Sehr erholt, müde nach Hause.

Montag, 15. 8. 21
Abends mit Weinand11a und Leidigs im Rodensteiner.12 Nachher Pension. An Georg
geschrieben, wie Weinand von <…> erzählte.

Dienstag, 16. 8. 21
Morgens Fräulein Schneider an die Bahn gebracht, dann mit am Zehnhoff spazieren, im
Bahnhof gegessen, Weinand vergebens erwartet. Begleitete am Zehnhoff an den Zug nach
Osnabrück. Ging dann zu Weinand, trank mit ihm im Königshof Kaffee. Wir sprachen über
deutsche Universitäten usw. Vergaß, ihm das Zitat von Blei13 über Simmel-Literatur zu
geben. Dann zum Zug; erst musste ich stehen, nachher fand ich einen Platz, sprach aber mit
niemand, kam ziemlich frisch in Berlin an, ging zu Fuß nach Hause. Abends noch etwas
über die Straße, aß ein Schinkenbrot, aufgeregt und doch müde ins Bett.

Mittwoch, 17. 8. 21
Behaglich im Arbeitszimmer einiges erledigt. Briefe geschrieben an die Stadt Duisburg <? >
<…>. Mittags war eine Freundin von Fräulein Fuchs14, eine Australierin Kathleen
Murray15, da. Ich vermied aber, sie zu sehen und war wütend, gestört zu werden. Ruhte
etwas aus. Dann trank ich bei Godek16 Kaffee. Er war nicht gut. Darauf zu Hause sehr

11 Christian Blank (1879–1967), höherer Beamter und Zentrums-, später CDU-Politiker, 1919–1921
Mitglied der verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung, bis 1929 Mitglied des Preußi-
schen Landtages, ab 1922 in der inneren Verwaltung, 1923 Generalreferent für das Tarif- und Ver-
kehrswesen im Handelsministerium, 1927 Ministerialrat, 1933 entlassen, 1934–1945 Verwaltungs-
rechtsrat, 1946 Mitgründer der CDU in der Provinz Hannover, 1946–1947 Chefpräsident der
bizonalen Deutschen Post, 1947–1951 MdL Hannover bzw. Niedersachsen.
11a Vermutlich Eduard Weinand, Jurist, 1897 Promotion, Notar am OLG-Bezirk Köln.
12 Weinstube und Hotel Zum Rodensteiner, Bad Oeynhausen, Klosterstraße 8.
13 Franz Blei (1871–1942), österr. Schriftsteller, Schauspieler und Übersetzer mit teils kommunisti-

schen, teils radikalkatholischen Anwandlungen, seit 1917 mit Schmitt befreundet. Vgl. auch Franz
Blei, Erzählung eines Lebens, Leipzig 1930; ders., Briefe an Carl Schmitt 1917–1933; Mehring, Auf-
stieg und Fall, S. 94 ff. Vgl. auch Tommissen, In Sachen Carl Schmitt, S. 42.
14 Vermutlich enge Verwandte von Schmitts Bekanntem Dr. Walter Fuchs, s. Anm. 77 u. 418.
15 Kathleen Murray (1895–nach 1970), in Sydney (Australien) geborene Irin, Schmitts Geliebte seit

Herbst 1921; 1922 mit seiner Hilfe zum Dr. phil. bei Robert Ernst Curtius mit einer Arbeit über
Taine und die englische Romantik (Berlin 1924, Reprint Berlin 2013) promoviert. Vgl. Mehring,
Aufstieg und Fall, S. 131–137 und Einführung, S. XIII–XV.
16 Unter den Linden 21.

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August 1921 7

schön Cortes geschrieben, im Arbeitszimmer des Ministers an seinem Schreibtisch. Sehr


überheblich und unternehmend. Um 9 im Auto zum Bahnhof, mit am Zehnhoff zu Hause
gegessen. Brachte ihn ins Bett.

Donnerstag, 18. 8. 21
Erwartete, zum Kultusministerium gerufen zu werden, wurde aber auf morgen bestellt,
(zufrieden, weil es der <…>). Mittags nach dem Essen ausgeruht, dann herumgelaufen, aber
ziemlich überlegen und [konzentriert], in der Staatsbibliothek, Kaffee zu Hause. Eisler <? >
bestellt. Zum Kaffee waren der Geheimrat Schubart (der einen Kommentar zur preußischen
Verfassung geschrieben hat)17, Miss Murray. Wir unterhielten uns nett, aber ich langweilte
mich doch. Abends blieb Miss Murray zum Essen, erzählte schön von England. Sie gefiel
uns sehr gut, erinnerte mich manchmal an die Braut von André. Wir tranken bis 1/2 12 Uhr
Moselwein. Der Geheimrat war sehr guter Dinge und unterhielt sich vortrefflich, weil er
neue Menschen nötig hat.

Freitag, 19. 8. [1921]


Abends schlecht geschlafen, in der Bibliothek, Sorel18 exzerpiert, dann nach Hause. Um
12 Uhr mit am Zehnhoff zum <…>, gut gegessen, rührend, ob ich auch <… Geheimrat …>
Professor Dombois19 <…>. Ziemlich nervös. [Sie sind sich sicher:] Bis Oktober hat er
[bestimmt] einen Ruf. Ging noch zum Bahnhof, erzählte es ihm. Dann über die Straße. Oft
an Rosi [gedacht], Lächerlichkeit bewusst. Im Victoria-Café 20. Miserabel. Dann zu Hause
mit <…>; Murray gut mit Kisky 21 unterhalten; ist ein guter Kerl, möchte Gesandter in
Brüssel <?> werden. Abends aßen wir schön zu Abend. Es war noch ein Assessor Kreuz-
wald22 aus Köln da, ein dicker, selbstgefälliger Münsterländer, der es wohl zu einem wohl-
habenden Rechtsanwalt bringt. Ekelhaft und müde. Raserei der Dysästhesie.

Samstag, 20. 8. 21
Wartete lange auf Miss Murray, mit der ich mich dummerweise fürs [Kaiser-]Friedrich-
Museum verabredet hatte um 10 Uhr. Endlich kam sie um 11. Sie übernachtete also im Zim-
mer neben mir, doch war ich ganz gleichgültig.

17 Paul Schubart (1845 – ca. 1920), Jurist, Geh. Seehandlungsrat, Autor des in 26 Auflagen erschiene-
nen Buches Die Verfassung und Verwaltung des Deutschen Reiches und des Preußischen Staates,
Breslau 1880 bis 1918.
18 Georges Sorel (1847–1922), franz. Sozialphilosoph, auf den in Deutschland zuerst Schmitt hinge-
wiesen hat, vgl. Schmitt, Diktatur, S. 147 f., s. auch Anm. 460.
19 Friedrich Karl Dombois (1931 gest.), Senatspräsident am preußischen Oberverwaltungsgericht.
20 Unter den Linden 46.
21 Wilhelm Kisky (1881–1953), Dr. phil., Historiker und Archivar, mit am Zehnhoff befreundet, 1913
Direktor des Archivs der Fürsten von Salm in Anholt, nach Kriegsdienst 1920–1924 im Reichs-
archiv in Berlin, ab 1928 Leiter der Archivberatungsstelle der rheinischen Provinzialverwaltung.
22 Nicht ermittelt.

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8 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Sonntag, 21. 8. 21
Wir fuhren zusammen im Auto, am Zehnhoff war krank, Miss Murray und ich zur Hed-
wigskirche.23 Freute mich über die Andacht von Miss Murray. Dann zu Hause. Abends mit
Kisky gesungen, Prinz Eugen und Volkslieder, verschiedene Lieder mit Miss Murray, die
mich sehr ergriffen. My Dark Rosaleen.24

Montag, 22. 8. 21
Miss Murray möchte gern hier wohnen, sie fürchtet sich vor ihrer Hausfrau; ich bat am
Zehnhoff, ihr das zu gestatten; er tat es. Sie war sehr freundlich gegen mich, aber wohl nur
aus naivem Egoismus. Ich wollte jeden Tag abfahren, tat es aber nicht. Ich las die Gutachten
über die Auseinandersetzung mit dem Kaiser.24a Nachmittags <…>. Abends kam Georg
Eisler, holte ihn am Lehrter Bahnhof ab. Wir aßen zusammen bei Lutter und Wegener.25 Er
fuhr mit der Untergrundbahn nach Hause. Er will nach Pößneck in Sachsen wegen eines
Prokuristen. Wir sprachen sehr freundlich miteinander.

Dienstag, 23. 8. 21
Früh nach Dahlem. Zum Bildhauer wegen eines Steines für Lilli Eisler.26 Mit der Elektri-
schen zurück. Zu Hause (kamen zur [gleichen] Zeit) ein Eilbrief von meiner Frau; Ruf nach
Greifswald27; war sehr froh darüber, das erreicht zu haben, weiter aber nichts. Am Zehnhoff
gratulierte mir herzlich und ließ eine Flasche Wein kommen; nach dem Essen kam auch
Miss Murray, war außerordentlich froh, dass ich mich herzlich darüber freute und trank
mit. Fuhr nachmittags nicht nach Dahlem, telephonierte, dass ich nicht kommen könnte.
Nachmittags bei Kaffee mit Geheimrat Huber 28 und Kisky gefeiert, Miss Murray war nicht
da, worüber ich einen heftigen Schmerz empfand. Wie dumm. Abends nochmals eine Fla-
sche Wein. Dann ging am Zehnhoff ins Bett, ich lief über die Kurstraße, Anna Koch, Leip-
ziger Straße 90 IV, wunderschön, freundlich, lustig, sie verlangte, soll sie lieben. Dann nach
Hause, gleich ins Bett; abends zog Miss Murray bei uns ein.

Mittwoch, 24. 8. 21
Früh auf, um 8 Uhr, nach Dahlem, zu Georg Eisler. Freute sich unbeschreiblich, dass ich
Ordinarius in Greifwald wurde und machte gleich wieder Pläne. Wir fuhren zusammen in

23 Die St. Hedwigskirche in Berlin wurde von 1747 bis 1773 nach Plänen von Knobelsdorff und
Legeay vor allem für die neu zugewanderten Katholiken aus Schlesien gebaut. Seit Gründung des
Bistums Berlin 1930 Bischofskirche.
24 Berühmtes Gedicht des irischen Dichters James Clarence Mangan (1803–1849).
24a Vermutlich handelt es sich um die Forderung der alliierten Siegermächte, Kaiser Wilhelm II. auszu-

liefern und vor einem internationalen Tribunal anzuklagen, vgl. Gerd Hankel, Die Leipziger Pro-
zesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg,
Hamburg 2001, S. 74–87.
25 Charlottenstrasse 49, beim Gendarmenmarkt.
26 Julie (Lilly) Eisler, Schwester von Fritz und Georg Eisler, war nach der Geburt ihres zweiten Kin-

des im August 1920 in Berlin gestorben, vgl. Mehring, Hamburger Verlegerfamilie, S. 9.


27 Vgl. Matthias Miguel Braun u. Volker Pesch, Die Umstände der Berufung Carl Schmitts nach

Greifswald, in: Schmittiana VII 2001, S. 197–206; Mehring, Greifswalder Intermezzo.


28 Ministerialdirigent in der Justizverwaltung des Justizministeriums.

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August–Oktober 1921 9

die Stadt, er ging zum Essen. Ich wartete nach dem Essen auf ihn (spielte mit Miss Murray
schön 4-händig); um 3 Uhr kam Eisler, er ruhte sich in meinem Zimmer aus, ich unterhielt
mich schön mit Miss Murray und spielte Norma29 usw. Um 1/2 5 mit Georg zum Anhalter
Bahnhof gefahren, wir aßen etwas, schrieben Karten über meine Berufung. Brachte ihn an
den Zug; dann nach Hause zurückgefahren, mit Miss Murray gespielt.

Donnerstag, 25. 8. 21
Morgens mit Geheimrat Wende30 auf der Veranda des Justizministeriums, über meine Beru-
fung verhandelt. Er erinnert mich an den Freund von Heinrich Bahr31 aus Straßburg, einen
Husarenoffizier. Fröhlich, dass alles so glatt ging.

[Für die Zeit bis 11. September 1921 fehlen Tagebuch-Eintragungen]

An K. Sonntagmorgen (11. 9. 21)


Von jeder Messe, die ich höre, bin ich überwältigt. Ich gehe zur Messe und zu Gott, als
ginge ich zu Dir. Auf der Straße aber, sobald ich aus dem Hause Gottes heraustrete, bin ich
traurig wie ein verlassenes Kind. Wie schmerzt es mich, dass ich Dich morgen nicht sehe;
seit einer Woche lebte ich von der Hoffnung, Dich morgen zu sehen. O vous tous ma peine
est profonde.32 Wie viele Menschen sehen Dich in Köln33, hören Deine Stimme und dürfen
Dich etwas fragen. Ich beneide den Trambahn-Schaffner, der Dir das Billett gibt, den Brief-
träger, der Dir den Brief gibt, ich beneide jeden der kleinen Füchse, die Dich umgeben. O
die glücklichen Füchse. Sie werden mir zu indirekten Sündern. Ich glaube, dass die Füchse
eine privilegierte Rasse sind. Dem Menschensohn muss das schon aufgefallen sein, denn er
sagte: die Füchse haben ihren Hain, aber des Menschen Sohn [hat nichts, wo er sein Haupt
hinlege].34 Ich las die Gutachten über die Auseinandersetzung mit dem Kaiser. <…>. Die
Füchse sehen Kathleen Murray und spielen mit ihr. Aber meine Sehnsucht streckt ihre
Arme vergebens aus und verblutet in leerer Einsamkeit wie ein Kreuzfahrer im Sande der
syrischen Wüste. (Im gleichen Brief über Cortes, seine dämonische Kraft, die Gottesliebe,
[h]asta enloquecer por ti35).

5.1. 21 [nachträglich mit Tinte überschriebenes Datum, korrekt vermutlich Mittwoch, 5.10.21]
Sehr verehrtes liebes Fräulein Schneider, Ihr Brief mit seinen liebenswürdigen Glückwün-
schen erreichte mich in einer Zeit, da ich die Vorbereitungen überlegte, die notwendig sein

29 Oper von Vincenzo Bellini. Schmitt spielte seit seiner Jugendzeit Klavierauszüge von Opern.
30 Erich Wende (1884–1966), Dr. jur., seit 1917 im preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst
und Volksbildung tätig, 1921 Ministerialrat in Abtlg. UI, zuständig für Universitäten, enger Mitar-
beiter des Kultusministers Carl Heinrich Becker.
31 Nicht ermittelt.
32 Dt. Oh Ihr allesamt, mein Schmerz sitzt tief. Aus Paul Verlaine, Gaspar Hauser chante.
33 Von Köln aus, wo sie im Sommer 1921 wohnte, siehe Teil III, S. 402, versuchte Kathleen Murray
Kontakte wegen ihrer geplanten Promotion herzustellen, s. Anm. 50.
34 Nach Lk 9,57.
35 „Si quieres conocer al verdadero Dios, mira al que te ama hasta enloquecer por tí“. Juan Donoso
Cortés, Ensayo sobre el catolicismo, el liberalismo y el socialismo. In: Obras de Juan Donoso Cor-
tés, Tomo 4, Madrid 1854, S. 268. Dt. Wenn Du den wahrhaftigen Gott erkennen möchtest, be-
trachte denjenigen, der dich liebt, bis er verrückt wird nach dir.

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10 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

werden, um die Reise in die arktischen Fluren Pommeraniens36 anzutreten, um, mit anderen
Worten, aus dem südlichen, kaum 100 km von Italien entfernten Teil unseres Vaterlandes in
jenen anderen Teil zu wandern, dessen Entfernung vom Vater Rhein ebenso groß ist, wie
seine Nähe zu den Eisfeldern Skandinaviens-Spitzbergens würde ich sagen, wenn nicht
schon beim Klang dieses Namens Ihr zartes Blut vor Kälte in den Adern erstarrte. Dem-
nach bereits mit einem Fuß in der Ostsee stehend, wenn auch mit dem anderen noch dies-
seits des Limes zögernd, mit der einen Hälfte meiner Nase noch die warmen Lüfte Italiens
einatmend, während an die andere schon der Salzgeruch heringsreicher Meeresfluten dringt;
das eine Ohr erfüllt mit den Schalmeien Vergils, während in dem anderen bereits das Ge-
heul der Geister gefallener Schwedenkrieger tönt – in dieser zerspaltenen, wenig stabilen
Stellung trifft mich Ihr Brief, treibt mir in das eine Auge eine Träne der Freude, in das
andere dagegen eine solche Wehmut und vermehrt also noch die Zwiespältigkeit meiner
Existenz. Denn mit welcher anderen Empfindung als der freudiger Dankbarkeit könnte ich
Ihr liebenswürdiges Interesse an meinem argen Schicksal und die Erinnerung an Ihre fröh-
lichen Unterhaltungen am Fuße des Wasenberges in [den] Vogesen37 aufnehmen und wie
anders als in tiefster Melancholie bemerken, dass auch Ihr Gemüt von den Nebeln [darüber
geschrieben: Nebelschwaden] des Wasenberges nicht unberührt geblieben zu sein scheint?
Ist es schwierig, auf die [Blödheit] bewusster <? > Augen einen treffenderen Vers zu finden?
Er existiert schon im Potsdamer Liederbuch <? > und lautet wörtlich: Herr gib uns blöde
Augen, für Dinge die nicht taugen usw.38 Ist es ferner schwierig, auf die Ansicht <? > Ihrer
Beurteilung der Varusschlacht, in deren Auffassung mir alles richtig zu sein [scheint], ich
mich glücklich schätze, zu antworten? Genügt nicht der Hinweis darauf, dass der Schöpfer
des Ruhmes Hermanns, Hutten39, und eventuelle und ähnliche Vorkämpfer der Reforma-
tion sind, ja dass Hutten, der eigentliche Urheber der Gloriole des Arminius diesen als
Brutus und vindex a tyranno Roma40 – das heißt vom Papst feiert? Und kommt nicht die
Verdeutschung des Namens [wieder] nicht von Luther oder Spalatin41, so doch von Aventi-
nus42, der aus Arminius Herman machte, wie er in seiner Chronik aus Ariovist 43 den König
Ehrenfest, oder aus dem bei Cäsars [vorgeführten] Indutiomarus44 einen Typ Meier gemacht
hat? Weit entfernt demnach, dass der Schimmelgeruch sich in Rosenduft verwandelt hätte,
dürfte vielleicht das Mitleid Ihres freundlichen Herzens am Platz sein mit dem armen
Legionär, der in die unberechenbaren Nebel zieht, aber hier wie dort in Nebel und Sonnen-

36 Schmitt war Ende September 1921 als Dozent an der Handelshochschule München ausgeschieden;
er wurde zum 1.Oktober 1921 als ordentlicher Professor für Öffentliches Recht sowie als Direktor
des juristischen Seminars an die Universität Greifswald berufen, s. Anm. 27.
37 Westlich von dem kleinen Badeort Niederbronn im Elsass.
38 Großes Gesangbuch der Brüdergemeinde (1778) von Nikolaus von Zinzendorf (1700–1760), Grün-
der der Kolonie Herrnhut, aus der die protestantisch-pietistische Herrnhuter Bewegung entstand.
39 Ulrich von Hutten (1488–1523), Humanist und Papst-Kritiker, feierte in seiner posthum veröffent-
lichten Schrift „Arminius“ den Sieger der Varus-Schlacht als Vaterlandsbefreier.
40 Dt. Der Retter vom Tyrannen Rom.
41 Georg Spalatin (1484–1545), Humanist, Theologe und Reformator.
42 Johannes Aventius (1477–1534), Historiker und Hofhistoriograph.
43 Ariovist (gest. 54 v. Chr.), Fürst der germanischen Sueben und Gegner Caesars im gallischen Krieg.
44 Indutiomarus (gest. 53 v. Chr.), Fürst des Keltenstammes der Treverer und Gegner Caesars.

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Oktober 1921 11

schein [darüber geschrieben: diesseits und jenseits des Limes], am Nordpol wie am Südpol
stets und immer bleibt Ihr herzlich ergebener
Carl Schmitt

Greifswald, Samstag, 29. 10. [1921] abends 7 Uhr


K., ich bin so grauenhaft einsam in meinem Wesen, dass ich um meinen Verstand fürchte.
Meine Empfindlichkeit ist tödlich. Ein hässliches Wort, eine zynische Grimasse, ein rohes
Lachen, das ich zufällig sehe, wirft mich in einen Abgrund von Traurigkeit. Ich bin bei Pro-
fessor Pichler 45, dem Philosophen, ein kluger Österreicher, aber seine süffisante Immoralität
stieß mich ab. Er wollte mit mir Wein trinken, aber ich werde abends nicht mehr in den
Preußischen Hof 46 gehen, um ihn nicht zu treffen, ohne dass ich irgendeine Ranküne gegen
ihn hätte; aber ich kann nicht … Ich habe das toleriert, nur um etwas zu tun, was mir die
Illusion gibt, in einer Verbindung mit Dir zu sein, fühlst Du es? Ist nicht meine Einsamkeit
hässlicher als die von Pearse 47, der junge Freunde um sich hatte. Vielleicht weiß ich das
Geheimnis Deiner Liebe zu Mir. Du liebst mich nur deshalb, weil ich unglücklicher bin als
andere. Wie lange werde ich das noch ertragen können.
To me the meanest flower that
blows can give
Thought that do often lie too deep for tears 48
Leider auch jedes Wort und jede Bewegung eines Menschen [verletzt mich]. Das ist die
andere Seite des Glücks, das ich empfinde, wenn ich Dich sehe, deine gütige Schönheit, die
maidenliness Deines Wesens, und mehr davon verstehe als jeder andere.
Your beauty grows upon me‚ countess.

45 Hans Pichler (1882–1958), Philosoph, 1921 ao. Prof. in Graz, 1921–1948 o. Prof. in Greifswald, vgl.
Reinhard Mehring, Carl Schmitt im Gespräch mit Philosophen, in: Schmittiana NF II 2014, S. 119–
200, hier S. 123–130, sowie auch in: Schmittiana NF I 2011, S. 308, Anm. 108. Schmitts Klagen zu
seiner Greifswalder Existenz finden beredten Ausdruck in seinen Briefen an Franz Blei, so am
26. 9.1921 „Hier ruiniert mich das Klima. Inter Sauromatos [recte Sarmaticas] Romana vagabitur
umbras*. Bitte schreiben Sie mir einen Brief, bevor ich begraben bin. Denn diese Wahrscheinlich-
keit wird durch die Ärzte der renommierten medizinischen Fakultät nur unbedeutend verringert“;
am 17. 1.1922 „Es geht mir sehr schlecht. In diesem elenden pomeranischen Nebelwinkel verende
ich an einer ordinären Melancholie“. Briefe Schmitts an Blei, Auktionskatalog Stargardt 688, April
2008, Nr. 506.
* Ovid, Tristien 3,3,63; dt. unter sarmatischen Schatten wird der römische Schatten schweifen.
46 Baderstraße 3.
47 Patrick (Pádraig) Pearse (1879–1916), irischer Schriftsteller, führte den Osteraufstand 1916 an, nach
dessen Scheitern er hingerichtet wurde. Schmitt besaß den Band mit gesammelten Werken Collected
Works of Padraic Pearse, Plays, Stories, Poems, London 1917. In einem Notizheft, datiert Septem-
ber 1921, hat Schmitt daraus auf den nummerierten Seiten 1–11 die Gedichte „The Rebel“, „A Song
for Mary Magdalene“, „The Fool“ und „The Singer“ vollständig abgeschrieben, neben einigen wei-
teren Verszeilen aus anderen Gedichten. Quelle: Antiquariat Schuelke, Köln, 2013. Siehe auch
Anhang, S. 572.
48 William Wordsworth (1770–1850), engl. Dichter, konservativer Romantiker. Aus der 536. Ode Inti-
mations of Immortality from Recollections of Early Childhood in: Arthur Qiller-Couch (Hrsg.),
The Oxford Book of English Verse: 1250–1918, Oxford 1919.

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12 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

2. 11. 21 [Mittwoch]
An Erich Kaufmann49
Sehr verehrter Herr Professor, soeben erhielt ich eine Karte aus Bonn, aus der ich wegen
einer beiläufigen Bemerkung entnehme, dass man Fräulein Murray, die ich Ihnen vor eini-
ger Zeit empfohlen hatte, zum Vorwurf macht, in Frankreich gewesen zu sein. Da ein sol-
cher Vorwurf mich, als den Empfehlenden, mittreffen würde, möchte ich Ihnen mitteilen,
dass er mich in einige Affekte versetzt, weniger in ein Max Webersches gerichtetes Pathos
als in die Wut über die Macht der Dummheit, die ich aufrichtig fürchte. Denn in Wahrheit
ist es doch so, dass Charakter dazu gehört, seine Sympathie und sein Interesse für dasselbe
so zu zeigen, wie Fräulein Murray es getan hat, als sie die zwei Jahre ihrer scholarship statt
in England, Frankreich oder Italien neben Irland in Deutschland verbrachte. Ich weiß nicht,
ob Ihnen bekannt ist, was sie während des Krieges in Australien für deutsche Kriegsgefan-
gene getan hat. Es ist, wie ich von den Gefangenen selbst weiß, so großartig und mutig, dass
es beschämend ist, wenn sie jetzt in Deutschland als lästige Ausländerin behandelt würde.
Ich weiß endlich, wie sehr bei ihr alles abhängig ist von der Gewissheit, auf freundliche
Menschen zu treffen und ihre ideale Begabung sich in Hilflosigkeit verwandelt, wenn sie
Antipathien fühlt. Das alles und die Kenntnis der Missverständnisse, denen sie ausgesetzt ist
bei ihrer bodenlosen Harmlosigkeit, mögen Ihnen diesen Brief rechtfertigen und mich ent-
schuldigen, wenn ich Sie in Ihrer Arbeit störe und behellige. Wenn ich übrigens die Gebilde
des Max Weberschen Pathos für mich ablehne, so will ich damit nicht sagen, dass es nicht
etwas anders als gerecht wäre, Fräulein M. soviel wie möglich entgegenzukommen.
Ich versichere Sie, sehr verehrter Herr Professor, meiner treuen Verehrung und Dankbar-
keit und bleibe.50

An K. Mittwochabend, 1/2 11, Allerseelen (1921)


Countess, als ich heute Abend erfuhr, wie nachdrücklich Erich Kaufmann und Smend51 sich
für mich eingesetzt haben, als es sich um meine Berufung handelte, schrieb ich Deinetwegen
noch einmal an Kaufmann. Vielleicht bekommst Du doch eine Genugtuung. –

49 Erich Kaufmann (1880–1972), Staats- und Völkerrechtler, 1912 ao. Prof. in Kiel, 1913 o. Prof. in
Königsberg, 1917 in Berlin, 1920 in Bonn, 1927 Honorarprof. in Berlin, 1933 o. Prof. ebd., 1934 als
„Volljude“ entlassen, 1938 Exil in Holland, 1946 Rückkehr, 1947–1950 o. Prof. in München,
1950–1958 Berater des Bundeskanzleramtes und des Auswärtigen Amtes. Zum spannungsreichen
Verhältnis zwischen Kaufmann und Schmitt vgl. Helmut Quaritsch, Eine sonderbare Beziehung.
Carl Schmitt und Erich Kaufmann, in: Martin Dreher (Hrsg.), Bürgersinn und staatliche Macht in
Antike und Gegenwart. Festschrift für Wolfgang Schuller zum 65. Geburtstag. Konstanz 2000,
S. 71–87. Vgl. auch Frank Degenhardt, Zwischen Machstaat und Völkerbund. Erich Kaufmann
(1880–1972). Baden-Baden 2008.
50 In Bonn ebenso wie danach in Marburg gab es Probleme bei der Zulassung einer ausländischen Stu-
dentin zum Studium und zur Promotion, u. a. begründet mit dem Problem der Gleichwertigkeit
wissenschaftlicher Abschlüsse der Universität Sydney mit denen deutscher Universitäten und dem
Misstrauen gegenüber Ausländern, s. Mehring, Greifswalder Intermezzo, S. 329–331 und Ein-
führung, S. XIV.
51 Rudolf Smend (1882–1975), Staats-, Völker- und Kirchenrechtler, 1909 ao. Prof. in Greifswald, 1911
o. Prof. in Tübingen, 1914 in Bonn, 1922 in Berlin, 1935–1950 in Göttingen. Zu seinem Verhältnis
zu Schmitt vgl. Mehring (Hrsg.), BW Schmitt – Smend, S. 7–10. Smend hatte Schmitt nicht nur für

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November 1921 13

Ich las den Vers von Keats52, den Du in Hamburg bei Eislers53 zitiert hast
Heard melodies are sweet, but those unheard
Are sweeter54,
und hörte die Contessa, die ihnen aus dem 3. Akt von Figaros Hochzeit sang in unendli-
cher, unhörbarer Ferne
Dove sono i bei momenti
di dolcezza e di piacer.55
Von meinem Fenster aus sehe ich das Bild des Großen Bären und erinnere mich, wie wir
nach dem Rigoletto von der Arcadia nach Hause gingen. Wie traurig, dass Du nicht nach
Greifswald kommen kannst. Wie traurig, die arme Stadt.
Little town thy streets for evermore
will silent be.56
Schläfst Du schon, Countess? Ich küsse Deine weißen Arme, höre Deinen weichen Atem
und sehne mich nach dem Duft Deines Haares, schöne Kathleen.

[ohne Datum]
… in Köln, Trier. Auch der Nebel schadet mir. An sonnigen Tagen allerdings ist das Wetter
von einem brillanten Rationalismus, brillant, (nicht ensoleillé), hart wie Kristall. Ich denke
an die Eisblöcke, in denen der Lucifer die [Erzverräter]57 hereinsetzt. – An Gewicht habe
ich nicht zugenommen. Aber meine Augen sind so klar, mein Gesicht ist trotz der Schlank-
serei so frisch und meine Haltung so gut, dass es mir schwer wird, meiner Ausrede wegen
der [Ruhrrekonvaleszens]58 Glauben zu verschaffen. Die Professoren sind rührend gut. Die
Einladungen sehr rücksichtsvoll, dass es mir doch oft schwer geworden ist, sie abzulehnen.
Ich denke immer nur: Könnte ich diesen angenehmen, wunderbaren Strom von Freundlich-
keit auf meine geliebte Countess leiten; ihr wäre es eine große Freude und sie würde diesen
guten Menschen durch den lieblichen Schein ihres glücklichen Gesichts diese Freude reich-
lich vergelten. Ich dagegen bin im Wesen einsam und nur noch derivativer Freuden fähig;
ich freue mich, Menschenwesen, dass du Dich freuest. – In diesem Augenblick erscheint ein
Doktorand, ein Pommer, dick und strahlend, wie ein Wikinger. Er müsste Beowulf heißen.
Dabei aber gut und fleißig, trotz eines Einschlags von sauvagerie.59 Wer mag das Wort Pom-
mer erfunden haben: es ist phantastisch, der Sache großartig adäquat: rund, rotbärtig, kar-

die Greifswalder Professur für öffentliches Recht empfohlen, sondern auch 1922 für die Berufung
an die Universität Bonn, s. Anm. 173.
52 John Keats (1795–1821), englischer Dichter der Romantik. Siehe auch Anm. 73.
53 Zur Familie Eisler, vgl. Mehring, Hamburger Verlegerfamilie.
54 Ode on a Grecian Urn, The Poetical Works of John Keats, London 1884, Nr. 41, Verse 11–12.
55 Mozart, Hochzeit des Figaro, Arie der Gräfin im 3. Akt, „Wohin flohen die Wonnestunden …“
56 Keats ( wie Anm. 54), Zeile 38–39.
57 Dante, Göttliche Komödie, Die Hölle, 34. Gesang. Die Erzverräter Judas, Brutus und Cassius sind
im Eis der untersten Hölle eingeschlossen und werden von Luzifer fortwährend zermalmt.
58 In einem Schreiben vom 6. September 1921 hatte Georg Eisler Dr. med. Josef Schmitt mitgeteilt,
dass er von dessen Bruder Carl einen Brief mit dem Inhalt erhalten habe, die Ruhr habe wieder hef-
tig eingesetzt, er wolle aber nicht ins Krankenhaus gehen (Nachlass Schmitt RW 265-3168/3).
59 Dt. Wildheit.

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14 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

toffelig, stumpfig, knallig, fest, vital. Nun ja. Du hattest recht, Kaufmann zu sagen, dass ich
nicht daher gehöre. Nur sag nicht mehr, ich sei ein „netter“ Mensch. Das ist zu belanglos.
Sag klug oder was du sonst magst. Mit Curtius60 kannst Du ganz offen sprechen, wenn er
sich nach mir erkundigt, auch von meiner Liebe zur Mosel und zum Elsass.
Erzähle mir alles von Dir, Du schöne, geliebte K. Mein Herz bleibt erfüllt von Dir. In dem
Augenblick, in dem ich das Wort „Mosel“ schrieb, fühl[t]e ich, dass es für mich nichts mehr
gibt, das nicht Dein Zeichen trägt, du schöne Frau. Die Mosel, Trier, Alf, Bullay, alles bist
Du. Die Sonne der Mosel, das intensive Blau ihres Himmels, die Liebe ihrer Weinberge zur
Sonne. Alles bist Du. Selbst die Härte des von tausend Generationen durchklüfteten Nor-
dens, der Hauch des Romanischen, das immer <…> Gesicht des Legionärs, die Kraft zum
Staat, die längst verschwunden ist, alles beziehe ich auf Dich, wunderbare Frau. [Alle] Jahre
meines Lebens bleiben in mir diese paar Tage in Alf, keine Vormittagssonne ohne Erinne-
rung daran, wie ich morgens von der [Fähre kam] und an der Mosel spazieren ging, um auf
Dich zu warten, bis wir zusammen frühstückten, wie ich an einem Haus schellte, weil ich
mir nicht denken konnte, dass die schönen Rosen [nicht für Dich wären].

[ohne Datum]
Veni ex tribulatione et vidi te. Te vidi ex tribulatione veniens.61
Welchen Glanz gibst Du den Dingen, auf die Dein Schatten fällt. Von wem ist Dein Licht
und die Kraft selbst Deines Schattens? Wie könnte ich eine Sekunde leuchten und mein
Gesicht sich aus der Verzerrung lösen? Sehe ich denn nicht mehr die Grausamkeit des
Lebens. Durch die elendige Lüge seiner knallroten Schminke? Ich sehe die verzweifelte
Tiefe der Erbsünde, sehe das Gebiss des Teufels und schaudere vor der grinsenden Bereit-
willigkeit der Menschheit. Ich sehe das Wolfsgesicht der Politik, das kleinere Gesicht der
Wissenschaft, den Parasitenblick der Kunst und sehe die Molche von tausend Sünden um
mich kriechen.*)
*) Das Lächeln einer Frau, die es reizt, mit Gott in Konkurrenz zu treten, um einen Mann, der sich zu
Gott erhebt, wieder auf seine 4 Füße zu reißen.

Aber ein Schatten fiel in die Hölle und hob mich empor. Ist das schon der Abend meines
Lebens, die Mutter, die mich, den Sterbenden, küsst, das Ende der Schlacht? Die Erlösung
ex tribulatione, der Angelus am Abend des Sterbetages?

Fiat mihi secundum verbum tuum.62

60 Ernst Robert Curtius (1886–1956), einflussreicher Romanist, 1913 Habilitation in Bonn, 1919 ao.
Prof., 1920 o. Prof. in Marburg, 1924 in Heidelberg, 1929–1951 in Bonn. In Marburg war er einer
der Betreuer der Dissertation von Kathleen Murray, s. Mehring, Greifswalder Intermezzo, S. 327–
331 und Einführung, S. XIV. Curtius veröffentlichte Anfang der 1920er Jahre Bücher zu Barrès und
Balzac, vgl. Anm. 99 u. 282. Die Briefe von Curtius an Schmitt sind veröffentlicht, vgl. Nagel
(Hrsg.), BW Curtius – Schmitt.
61 Dt. Ich kam aus der Bedrückung und sah dich. Ich sah dich, wie ich aus der Bedrückung kam. In
Anlehnung an (lat.) Psalmverse formuliert.
62 Dt. Mir geschehe nach Deinem Wort. Aus dem Angelus-Gebet.

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November 1921 15

Höre nicht auf zu beten, Kathi.


Hörst Du den Angelus?
Der Gedanke an Deine Mutter, liebe K., gibt mir diesen Brief ein. Ich habe seit Tagen an
nichts anderes gedacht, das Bild Deiner Mutter gesehen und Deine Briefe gelesen, was du
von Deiner Mutter sagtest, was Du von den Deutschen sagtest.
Ich will Dir nichts nehmen, ich bleibe unbedingt und mit meiner ganzen Existenz zu Deiner
Verfügung; aber ich will Dir die Freiheit wiedergeben, die Dir zu nehmen ich nicht das
Recht hatte, weil mich Deine Mutter nicht kennt und es eine Illusion ist zu glauben, dass zu
diesem Entschluss mehr gehört als eine gewöhnliche Liebe.
Dass ich ein treuer Kamerad sein werde, wenn Du willst, und vor allem ein treuer Kampf-
genosse im Kampf um Deine Mission, an die ich Dich immer erinnert habe und die ich so
ernst nehme wie Du. Vielleicht ernster, als es Dir recht ist. Du bleibst für mich die schönste
Frau, die ich je gesehen habe, und es ist undenkbar, dass ich meine künftige Existenz [nicht
mit ihr verbinde]. Für die schönste Frau halte, die es gibt und wissen, dass ich niemals in
meinem Leben <…>. Aber ich bin tot. Meine Existenz ist Pessimismus. Ich bin krank.

[über dem Datum notiert] Dieser perfide Brief hatte den größten Erfolg von allen.
An K. – 6. 11. 21, abends 9 Uhr (Sonntag)
O liebe, schöne K. Wenn ich Dir von Deinem Examen schreibe und der Notwendigkeit zu
arbeiten, der dringenden Eile und Anspannung, die jetzt Deine Pflicht ist, so muss ich mich
zwingen und weil Du das [Ha]rte fühlst, glaubst Du, ich wäre kalt und lieblos. O weh mir.
Ich vergehe, weil ich Dich einsam und betrübt weiß. Wie schwach ist mein Trost. Was hilft
Dir ein Brief. Du bist nicht geboren, traurig zu sein, auch nicht, einsam zu sein. Ich häufe
auf Dich alle Liebe der Erde. Sei nicht traurig. Ich bettle jeden an, ich möchte dem Dienst-
mädchen von <…> schreiben, wenn ich Kaufmann und Curtius geschrieben habe. Jedes
freundliche Wort ist ein magisches Ereignis, wenn es Dich trifft, es holt Deinen unermess-
lichen Reichtum an Schönheit, Güte, Klugheit hervor. Wenn die Menschen wüssten, wie
leicht Du zu beglücken bist, so würden sie zu Dir wallfahren, um durch den Reflex Deiner
Freude selbst glücklich zu werden.
Wovon schreibe ich in meinen Briefen? Von Taine 63 und von Lafontaine 64, von der Arbeit‚
dem Examen, von Füchsen und Kluxen.65 Aber woran denkt mein Herz? Daran, wie schön
Du Deine Hände legst, wenn ich Dich küsse, diese weißen Arme mit den kleinen Händen,
die sich in der Liebe eines Kusses bewegen wie die Füße eines jungen Rehs. Wer außer mir
kennt an Dir diese beglückende Grazie, auch Deine Mutter nicht, sie weiß nicht, dass ich
Dich in einer Bewegung gesehen habe, so schön, wie die weiche Kraft der Hingabe in jener

63 Hippolyte Taine (1828–1893), franz. Publizist und Historiker. Zur Charakterisierung Taines im
Rahmen der Dissertation Murrays, die in Teilen von Schmitt stammt, siehe die Zusammenfassung
im Promotionsgutachten von Curtius als Erstgutachter bei Mehring, Greifswalder Intermezzo,
S. 339 f.
64 Jean de La Fontaine (1621–1695), franz. Fabeldichter.
65 Franz Kluxen (1887–1968), Schulfreund von Schmitt, dem er erste Kenntnisse von Richard Wagner
und Otto Weininger verdankte, Sammler moderner Kunst (Kandinsky, Marc, Picasso). Vgl. die
Kurzbiographie in TB I, S. 403 f.

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16 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Frau am Fuße des Kreuzes im Dom zu Trier. Nichts geht verloren. Eine solche unendlich
flüchtige Bewegung einer Sekunde fällt in meine Seele wie ein Blumensamen in einer neb-
ligen Stunde unerwartet auf den Rasen. Ich werde sie am jüngsten Tag in der Hand tragen
und der Mutter des Weltenrichters zu Füßen legen. Sie wird sie auf eine Schale der Waage
legen. Wie wird [sie] mir <…>, wenn er sie sieht? Aber Du bist einsam und leidest darunter.
Keiner hat es leicht, Dich durch ein großes Wort zu erfreuen. Ich bin arm und kann nur in
der furchtbaren Ferne hin beten. Ich küsse Deine Hände. Ich gehe unter in Dir.

[ohne Datum]
I called to you and your voice
And heard not
Ich küsse Deine Hände, ich gehe unter in Dir.
Thy heart was his grace.
O beauty of beauty. O
sweetness of sweetness. My
blessing on you, and thousands
of blessings.

An K. – 10. 11. 21 [Donnerstag] (bevor sie nach Marburg fuhr)


Ich habe Curtius und Kaufmann geschrieben, dass die Entfaltung Deiner erstaunlichen
Begabung davon abhängt, dass Du auf sympathische und entgegenkommende Empfindun-
gen triffst.
„Liebe K., wenn Du nur einige, 2 oder 3, Monate in strenger Konzentration arbeitest, so
müsstest Du in Marburg glänzend promovieren. Alles ist so vorbereitet, dass es nur noch
auf Deine Arbeit ankommt und darauf, dass Du den Eindruck machst, wissenschaftlicher
Disziplin fähig zu sein. Vergiss das nicht. Wenn nicht meinetwegen (weil ich doch eine
moralische Bürgschaft übernommen habe), so doch bitte Deiner Mutter wegen. Sie kann
von Dir erwarten, dass Du wenigstens diese letzte Möglichkeit nicht aus irgendwelchen
Motiven versäumst. Ich sage Dir das in einer Besorgnis, aus der auch Deine Mutter meine
Liebe erkennen würde.“

An K. 11. 11. [1921, Freitag]


(Nachdem sie mir geschrieben hatte, sie wolle nicht nach Marburg fahren, bis Curtius an
Dib.[elius] 66 geantwortet habe).
Du darfst mich nicht quälen. Warum fährst du nicht nach Marburg? Kann Curtius an
D[ibelius] etwas anderes Schreiben als an mich? Zweifelst Du denn, dass wir zusammen
eine gute Arbeit machen. Du willst mir nichts verdanken, denn Fath. Aug.67 Othello, tray
away. Du nimmst mir das Recht, Dir zu helfen. Es ist ein Segen, wenn andere an eine
schlimme Stelle gekommen. Ich muss Dich einen Augenblick bremsen, denn in diesen Din-

66 Wilhelm Dibelius (1876–1931), Prof. für Englische Philologie und Landeskunde von 1918 bis 1925
in Bonn, danach in Berlin. Siehe auch Einführung, S. XIV.
67 Father Augustin, irisch-austral. Priester.

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November 1921 17

gen bin ich doch stärker als Du. Aber Du empfindest es als Belustigung; so ist es. Inzwi-
schen sinkt der Boden unter meinen Füßen. Ich habe nichts Besonderes getan. Ich schreibe
Dir doch, dass ein freundliches Wort [übermittelt] aus Klugheit eher freut wie ein magisches
Wort.

An K. – Nacht Freitag/Samstag, 11./12. Nov. 21 – 1/2 3


Ich kann nicht schlafen, K. Jetzt arbeite ich [an] Cortes, die ganze Nacht, denn ich kann
nicht schlafen. Wenn ich müde bin, glaube ich Dich zu sehen. Gott, hilf mir. Wie schön
sprach der Father Augustin von Deiner Seele. Ich glaube an Deine Seele.
Aber sein Brief hat mich entwurzelt. Dazu kam noch etwas. Ein Spanier hat Folgendes
geschrieben (Ganivet68, über das Mysterium der spanischen Seele und das Dogma von der
unbefleckten Empfängnis). Der Spanier, der das geschrieben, nahm sich mit 35 Jahren an
der Küste der Ostsee, in Riga, selbst das Leben.
Jetzt kommt eine lange Nacht: die Angst, das Opfer eines Betruges zu werden. Christus, hilf
mir. Ich bin kein böser Mensch. Eben las ich, dass Cortes in Berlin in der Hedwigskirche
betete. Er wird für mich beten, dass ich eines wieder bekomme, was ich als junger Mann
jahrelang hatte und durch eine Frau und meine sinnlose Güte verlor: die Haltung eines Stoi-
kers mit der eines Christen zu verbinden, männlichen Stolz und barmherzige Demut.
Jetzt lese ich noch Pearse. Wie einsam er [ist] in der einsamen Nacht. Sei nicht gedankenlos
gegen mich, K. Ich glaube nicht, dass Du meine Briefe wirklich liest. Tue es bitte doch.
Gute Nacht, mein Kind.

An K. – Samstagnachmittag, 12. 11. 21 (Eilbrief/großer Erfolg)


Father Augustin kennt Dich gut, aber ich kenne Dich besser. Ich bin in das Heiligtum Dei-
nes Wesens gedrungen. Ich sehe nicht nur Deine Seele, sondern auch ihren Reflex in jeder
Deiner Bewegungen. Was andere als hilflos erkennen, ist für mich unbeschreiblich schön,
wenn ich Deine Seele sehe; auch Deine Mutter weiß es nicht. Bis zum Tode. Wenn ich die
Sterbesakramente empfange, werde ich daran denken; mit diesem Zeichen werde ich vor
Gott, meinen Richter, treten.
Du, ich muss nach München69 fahren. Wenn ich mich Dir nicht ganz restlos zur Verfügung
geben kann, dann muss auch ich schweigen. Du verdienst es mehr als jede andere Frau, dass
ich nur an Dich denke, an Dein Genie, an Deine Freude. Der Ruf nach Marburg.

An K. – Sonntagvormittag, 13. 11. 21, 9 1/2 Uhr


… wo warst Du heute in der Kirche, K.? Ich bete heute in der Greifswalder Kirche für den
Erfolg Deiner Reise. Du gütige Frau kannst nicht ahnen, welche Wohltat Du mir erwiesen
hast, als Du mit mir in diese Kirche gingst, dass ich Dich sehe, wenn ich die Kirche betrete.
Ich wollte heute Abend nach Stralsund fahren, um in den kleinen Betsaal (im Jungfernstieg)
zu gehen. Doch höre ich, dass kein Zug des Abends zurückfährt. Ich werde aber sicher

68 Ángel Ganivet García (1865–1898), span. Schriftsteller. 1921 erschien die Übersetzung seines
Hauptwerkes Spaniens Weltanschauung und Weltstellung, span. Idearium español (1898).
69 Zu seiner Frau Cari, s. Anm 8.

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18 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

noch öfters dorthin kommen. Die Erkenntnis des hidden God, des Deus absconditus, ver-
bindet sich mit diesem in der Hamburger Kapelle. Du müsstest über den Zaun <?> kom-
men, um sie hier für mich zu entdecken.
Erlaubst Du mir, dass ich noch einmal von Deiner Arbeit spreche? Du wirst Schwierigkei-
ten haben, eine analoge literaturwissenschaftliche Arbeit in wenigen Monaten zu machen.
Dein mémoire ist wirklich nur der Anfang der Materialsammlung, soweit es sich nicht um
einige Lyriker handelt. Das Thema Taine und die Romantik erfordert großes Interesse, vor
allem eine Lektüre von Byron70, Shelley 71, von anderen, z. B. Disraeli 72, nicht zu sprechen,
die man rein physisch, in einigen Monaten nicht absolvieren kann … (darum die politische
Tendenz von T.[aine] mit erwähnen, das verlangt Curtius; über ihre Undankbarkeit).
Ich schicke Dir noch eine Notiz über Keats73, vielleicht schreibst Du sie schnell ab und
fügst sie den anderen Notizen bei für den Fall, dass Curtius etwas sehen möchte. Es bedarf
keines Wortes, dass ich Dir nichts oktroyieren will. Alles bleibt Deinem Ermessen und
Gutdünken überlassen. Ich bin Dir nicht böse, wenn Du alle meine Notizen ins Feuer
wirfst, obwohl es schwer wäre, sie zu rekonstruieren. Denn wir haben einmal das Ziel, dass
du promovierst. Dazu gehört eine Arbeit. Lass Dich in Deinem guten Herzen nicht durch
Liebenswürdigkeit täuschen. Beim Tee sind alle Leute freundlich. Wenn aber ein Professor
eine Promotion vor der Fakultät verteidigen soll, ist das etwas anderes. Also mit einem ent-
zückenden Gespräch ist noch nicht viel getan, Du Kindlein. Lass Dir Dein liebes Haar
streicheln und sei mir nicht böse, dass ich so doziere, denk an Nicholson und die Blender in
così fan tutte. Du hattest vor einigen Tagen dich gütig nach meinem Befinden erkundigt und
ich bin dir die Antwort noch schuldig. Es geht mir gut, weil ich in meiner Arbeit und mei-
nen Gedanken an Dich nicht gestört werde. Der Erfolg meiner Vorlesungen ist sehr gut.
Gesundheitlich leide ich unter dem schlechten Essen, das, trotzdem es schlechter ist, viel
mehr kostet als in Köln, Trier …

(13. 11. 21)


… in seinem Garten für jemand anderes bestimmt sein konnten als für Dich. Das ist meine
einzige Möglichkeit zur Freude: Alles für Dich.
Ich verlange doch nicht von Dir, dass Du Dein Wesen änderst. Vielleicht muss ich Dich bald
schweigend verlassen. Wie Du willst. Du hast Deinen Anspruch auf meine Dankbarkeit
schon bei weitem verdient, die Dankbarkeit meines Lebens. Das ist mir puritanisch ernst.
And [recte as] time nor malice cannot wrong your right.74 So soll mein Abschiedsbrief nach
Köln aufhören. Nun reise schön. – Gottes Segen Dir, schönste Frau. Ich bleibe von ganzen
Herzen, Deine liebe Hand küssend, immer Dein Carl.

70 Lord Byron, George Noel Gordon (1788–1824), engl. Dichter der Romantik.
71 Percy Bysse Shelley (1792–1822), engl. Dichter der Romantik, s. auch Anm. 73.
72 Benjamin Disraeli (1804–1881), engl. Staatsmann und Romanautor, 1868 und 1874–80 Premier-
minister.
73 Im Nachlass sind handschriftliche Notizen Schmitts zu Keats, Burns, Tennyson, Shelley, Michelet,
Stendhal u. a. erhalten, die fast identisch in der Druckfassung der Dissertation zu lesen sind; teil-
weise abgebildet bei Mehring, Greifswalder Intermezzo, S. 344–352.
74 Samuel Daniel (1562–1619), engl. Dichter, To the Lady Margaret, Countess of Cumberland.

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November 1921 19

Donnerstagabend, 1/2 9, 17. 11. [1921]


Inzwischen weiß ich endlich, dass Du in Marburg angekommen bist, K. Es ist sehr seltsam
und betrübend, dass ich mit meinen Sorgen und Erwartungen um Dich immer um einen bis
zwei Tage den Geschehnissen nacheilen muss. Was sich gestern, Mittwoch, ereignet hat,
berechne ich heute den ganzen Tag mit großer Sorgfalt und dabei ist doch heute schon
Donnerstag und morgen erst kommt Dein Brief.
Du bist mit so schönen und guten Vorsätzen nach M. gereist, dass ich aufs tiefste gerührt
war, K. Lass Dich nicht [ablenken] und verliere Dein Ziel nicht aus den Augen. Nur einige
Wochen Geduld, schöne Countess. Ich las als Knabe den Satz eines Kabarettisten, der mir
sehr zu Herzen ging: Wer nicht warten kann, dem bläst Gott das Licht aus. Du musst jetzt
eine kleine Probe bestehen, nicht vor Professoren, das wäre zum Lachen, aber vor Gott. Er
wird Deine wunderbare Lampe nicht ausblasen. Er wird es auch meinetwegen nicht tun,
denn ich bleibe in der gräulichsten Finsternis das bloßliegende Licht Deiner Liebe. Du,
schöner Stern, hältst mich am Leben.
Am Zehnhoff hat mich eingeladen. Ich weiß nicht, ob ich gern das Justizministerium be-
trete. Die Erinnerung an die Tage vom August ist so lebhaft, dass ich wie ein Geist, wie ein
Revenant, umhergehen würde. Aber ich möchte ja mit dem Minister über Dich sprechen.
Doch müsste ich sehr gesund sein. Denn so, wie der gute Georg Eisler in Hamburg, würde
man meinen Zustand nicht respektieren, wenn ich wieder einmal so furchtbar überwältigt
werden sollte von meiner verzehrenden Liebe zu Dir, zu Dir, Du geliebte Frau.
Ich küsse Deine Schultern, Deine weißen, weißen Arme. Am Schluss nochmals beschwören,
sich nicht in der Arbeit aufhalten zu lassen. Ich küsse Dich – C.

Freitagmorgen 1/2 11. – 18. 11. [1921]


Kühle Antwort auf den Brief, in dem sie erzählte, dass sie in Marburg des Nachts einen
Brief[markensammler] angesprochen hat.
Ich habe keine Freude an der schönen Wärme meiner Zimmer, wenn ich weiß, dass Du in
einer unfreundlichen Umgebung bist. Mir nützt keine Annehmlichkeit, wenn sie nicht Dir
zugute kommt. Deine Briefe vom Dienstag und Mittwoch haben mir die Gewissheit gegeben,
dass Du nicht mehr ohne tägliche Geselligkeit und Unterhaltung auskommen kannst. Hof-
fentlich findest Du in Marburg die Möglichkeit, diesem Drange zu genügen. Es täte mir herz-
lich leid, wenn Du Dich weiter so einsam fühlen müsstest. Missverstehe es aber nicht, wenn
ich Dich bitte, wenigstens in kleinen Städten keinem Herrn des Abends Deine Begleitung
anzubieten wie jenem Briefmarkensammler, von dem Du mir erzähltest. Der Philatelismus ist
eine idyllische, so harmlose Beschäftigung, dass ich jedem, der diese Spinnerei treibt, ohne
weiteres das tiefste Vertrauen schenke. Darum handelt es sich aber nicht. Vielmehr um den
objektiven Effekt, den Du für Deine Person in der Beurteilung der Marburger Gesellschaft
erreichst. Auf dem Kontinent (übrigens in Frankreich, oder gar Italien, oder erst gar Spanien
noch viel mehr als in Deutschland) kann man sich durch solche Unbedenklichkeit kompro-
mittieren. Auch das würde ich Dir nicht verbieten. Aber in einer kleinen Universitätsstadt wie
Marburg kann es Dein Ziel zu promovieren gefährden. In allem Ernst. Außerdem ist es leicht
für eine junge Dame, auf dem gesellschaftlich approbierten Weg Unterhaltung zu finden. Es
werden sich, sobald Du diesen Wunsch zu erkennen gibst, gleich ganze Korporationen zur
Verfügung stellen, sodass Dir die Zeit nicht lange wird. Es tut mir leid, dass Curtius erst heute
oder morgen kommt. Ich hatte ihm übrigens einen Brief für Dich geschickt und hoffte, er

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20 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

würde ihn Dir mittags, wenn Du ihn besuchst, übergeben, dass Du in Marburg gleich Nach-
richt von mir hättest. Es würde mich glücklich machen, wenn Curtius freundlich zu Dir wäre
und Du gern bei ihm promoviertest. Ob es vorteilhaft ist, in Marburg zu arbeiten, weiß ich
nicht. Du setzt Dich leicht Missverständnissen aus, die in einer so kleinen [Stadt, die] Profes-
soren und ihre Töchter beherrschen, sonst lästig sind. Auch muss ich (jetzt aber wirklich zum
letzten Mal) Dich nochmals damit belästigen, dass viel auf Deine Promotion ankommt und
Curtius für Deutschland wohl die letzte Möglichkeit ist. – Aber ich darf diesen Brief, der
Dich sonntags antreffen wird, nicht mit Schulmeisterei verunstalten. Ich wünsche Dir einen
schönen Sonntag und eine fröhliche Unterhaltung. Auch hoffe ich, dass das Wetter so schön
bleibt wie bisher und besser als hier, wo es geradezu tödlich ist.
Dass Dir Marburg zusagt, ist erfreulich. Die Stadt ist bekannt als Beispiel einer beson-
ders schönen kleinen Universitätsstadt. Du kannst also einen reizenden Teil der deutschen
Landschaft kennenlernen mit einer typischen deutschen Staatsgeschichte der Landschaft
Hessen.
Ich küsse Dir in Dankbarkeit die Hände und [bin immer] Dein Carl (sie hat nichts gemerkt,
weil sie keine Zeit hat).

Samstag, 19. 11. 21 – abends 8 Uhr


[Ideal]istischer Brief über Irland. Bestätigung des Empfangs der 4 Bücher. Frage nach der
politischen Bewegung in Irland. Zitiert von O’Neill74a <?>: the palm is for the brave, the
patient, the serious, and the <…>.
[Du musst tapfer] sein, K. Ich liebe Dich in großer Begeisterung.
Vergiss nicht Dein Ziel. Es wäre eine Schande, auf Marburg sich einzulassen und dann eine
[Niederlage] zu erfahren. O nein, Du bist keine gewöhnliche Frau. Du bist die Tochter Dei-
ner Mutter. Ich winke Dir zu, ich grüße Dich und küsse Dein Herz.

Sonntagvormittag, 20. 11. [1921]


Liebenswürdig kühl. Mitteilung, dass ich kommuniziert habe und des Nachts Pearse las. Es
hat mich sehr beruhigt, aus Deinem Brief von Freitagabend zu erfahren, dass Du gute
Unterhaltung gefunden hast. Ich war über Deine ersten Briefe aus Marburg und Deine
Klagen über die unerfreuliche Einsamkeit beunruhigt. Aber es ist doch wirklich nicht zu
befürchten, dass man in einer Universitätsstadt einsam ist.

[ohne Datum]
… bleiben muss, wenn man nicht will. Noch mehr hat es mich gefreut zu hören, dass Cur-
tius so freundlich gegen Dich war, so besteht doch jetzt glücklicherweise die größte Wahr-
scheinlichkeit, dass du Deinen Doktorgrad in Deutschland bekommst.
Dann über Marburg; ich fürchte, dass [Du Interesse hast] an zu vielen Leuten, dann die
[Attraktion] der Studenten.
„Wenn ich mich noch einmal habe verleiten lassen, von dieser lästigen Examenssache zu
sprechen, so musst Du das daraus erkennen, K., dass ich Deinen Brief von Freitagabend
gelesen habe und Dir antwortete, Du bekommst die Antwort Montag oder Dienstag und
hast die Frage vielleicht längst aus Deinem Interesse verloren. Eine komische Situation.

74a Phelim O’Neill († 1652), irischer Rebell, von Cromwell hingerichtet.

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November 1921 21

Denn die Antwort fällt ins Leere. Oder noch schlimmer: sie muss missverstanden werden.
Am meisten aber würde es mich schmerzen, wenn dieser Brief Dich in Deiner Arbeit stört.
Vielleicht hast Du jetzt schon mit großem Fleiß begonnen. Dann sende mir nur eine kurze
Notiz, dass Du in der Arbeit steckst; ein Wort genügt: working hard.“
In the meantime, I want to appeal to you and I do so most earnestly to put all your heart
into the work that remains to be done during the short weeks that are left of the semester.
You have a reputation in Australia and must live up to that reputation. It would be dis-
graceful to have an undeserved reputation. God bless you. Dear K. I love you.

Dienstag, 22. 11. [1921] (Mittag Brief von Curtius 75)


Danke für den Brief, auch dass der Brief nicht in Gegenwart oder unter dem Eindruck eines
Fremden geschrieben ist, hat mir wohlgetan, vor allem Deine liebliche Schönheit und Dein
Ernst zu arbeiten. Curtius hat mir über Dich berichtet, wie ein Freund dem anderen; jetzt
zweifle ich nicht mehr daran, dass Du es leicht hast zu promovieren, wenn Deine Arbeit gut
wird. Die Zeit ist sehr knapp.
Bitte um Bericht über den Fortgang und die Verteilung ihrer Stunden in Marburg. Es geht
mir gesundheitlich nicht gut, aber das ist natürlich gleichgültig. Ich küsse Deine Hände und
bin in allem Dein Carl.
Nachmittags: Sie soll nicht mutlos werden, wenn im Seminar einige mehr wissen als sie.
Dein Examen steht freilich auf einer ganz anderen Basis. Aber Du darfst freilich keine
Stunde, keinen Augenblick verlieren.
An Deinem Namenstag, Freitag [25.11. 1921], werde ich in Berlin sein. Das ist ein seltsames
Zusammentreffen, in dem ich ein Wirken Gottes sehen möchte. Bleibe Dir gut, K., und
werde etwas stolz und Deiner Würde bewusst. Es ist durchaus nicht irisch‚ jedem, der aus
Langeweile oder einem sentimentalen Attachement Deine Zeit in Anspruch nimmt, zur
Verfügung zu stehen und sein eigenes Werk darüber im Stich zu lassen und zu verraten. Du
willst von mir, dass ich gesund und stark werde. Gut, ich will von Dir, dass Du dich distin-
guierst und Dich der Distanz zu den anderen Menschen bewusst wirst. Außer dem Curtius
und den anderen Examinatoren brauchst Du mit niemand in Marburg regelmäßigen Um-
gang zu haben. Du hast einfach keine Zeit.
Ich küsse Deinen Mund, schöne Frau, ich küsse Deinen Ring.
Dann noch mal, es ist unheimlich viel zu tun. Aber Gott hilft uns und Deine treue Hingabe
an Deine Sache. Wenn Du inzwischen die Zeit verplauderst, die Du Deiner Arbeit <…>, um
zu nützen oder zu schützen, mit fremden Leuten, die vielleicht sehr nett sind.

Dienstag, 24. [11. 1921, recte Donnerstag]


Erste Gratulation zum Namenstag.76 Ich sehe immer das Bild der schönen Frau am Fuße
des Kreuzes im Dom zu Trier und Deine schöne erhabene Patronin.

75 Curtius hatte am 19. 11.1921 an Schmitt geschrieben: „Miss Murray ist inzwischen eingetroffen und
schon zweimal bei mir gewesen. Heute habe ich sie mit unserem Germanisten, der sie prüfen wird,
bekannt gemacht und ihre Stimmung etwas zu heben versucht. Ich hoffe, noch weiter für sie sorgen
zu können, und bedaure nur, dass ich hier nicht wie in Bonn nette Häuser kenne, wohin ich sie
empfehlen könnte“, Nagel (Hrsg.), BW Curtius – Schmitt, S. 4.
76 Namenstag von Kathleen ist der 25. November.

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22 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Dann sehr sachlich alle ihre zahllosen Fragen wegen des Examens beantwortet. Es lief
eigentlich alles darauf hinaus, dass ich die Arbeit machen muss. Sie hat bisher nichts getan,
als meine kleine Notiz über Keats abgeschrieben – Kühl aufgehört und geschlossen: Ich
bleibe in allem Dein Carl.

Samstagabend, 26. 12. [recte 26. 11. 1921] Berlin


Dieser Aufenthalt macht mich leer und müde. Die Langeweile mit Kisky, die Geschichte
von Fräulein Fuchs77, alles ist grauenhaft gleichgültig. Wohin will ich eigentlich? Am lieb-
sten sitze ich im dunklen Zimmer und überlasse mich den Erinnerungen, die mich hier
überwältigen. Dabei ist eine Nervosität tätig in mir, wie seit langem nicht mehr. Aber ich
will nicht mehr unter mein Niveau mich drücken. Entsetzlich, wie kurz das Leben ist. Wie
sollte es da Zeit zu Kompromissen geben. Nur fort. Die abenteuerlichste Verschwendung
ist besser als dieses Geplauder von Enten und Gänsen. Sekunden mit Dir haben mehr Leben
als Tage der nettesten Gesellschaften und Unterhaltung in dieser Bürgerlichkeit.
(Ich habe die halbe Stunde Silent o moyle78 gespielt auf dem Flügel und bete aus ganzem
Herzen: When will heaven its sweet bell ringing call my spirit79)
Inzwischen sage ich den Menschen auch anderes als sonst.
Ich küsse Deinen Ring.
K., der Minister fragte mich: Was schreiben Sie eigentlich immer für Briefe? Ich antwortete:
für meine Vorlesung. Er spricht sehr sympathisch von Dir, aber er will nicht, dass Du noch
einmal zu Besuch da bist. Besserwisser <? >. Dann werden wir in Berlin für uns wohnen.
Ich fürchte aber eines: Du langweilst Dich, wenn ich mich der Arbeit [hingebe]. Du wirst
sehen, wie fürchterlich ich mich konzentrieren kann, wenn es sein muss (und es muss natür-
lich sein); ich kenne Deine Neigung zu Unterhaltungen und möchte nicht, dass wir die letz-
ten Wochen verlieren. Du wirst es für pedantisch und plebejisch halten. Das ist es auch, aber
wenn es nicht anders geht, so muss es eben von mir in Kauf genommen werden. Othello
verfolgt mich. Morgen gehe ich zu den Kiskys <? >. Ich küsse die Mutter, die Dich getragen
hat. Ich bin Dein Carl.
Heute kein Brief; [verzweifelt].

[ohne Datum]
Habe an Cortes gedacht; das Brautpaar. Der Weg zur Hedwigskirche: es sind Gerüste für
Maurerarbeiten. Die Bildhalterungen mit den Nummern stehen. Heute wieder die Nacht
von 27. auf 28.
O Du vielgeliebte Frau, durch einen seltsamen Zufall hörte ich von Erich Kaufmann. Er hat
von Dir erzählt. Ich habe mich gefreut, dass er Deine edle Schönheit und Güte versteht.
Physisch hat mir der Aufenthalt genützt. Aber ich hätte vielleicht doch die Reise nach Mün-

77 Schmitt hatte Franz Blei im Brief vom 16. Dezember geschrieben, dass er in Berlin W 50, Marburger
Straße 4 p. Adresse Attaché Dr. Fuchs wohne. Schmitt, Briefe an Blei (wie Anm. 45). Zu Fuchs
s. Anm. 418.
78 Das Lied gehört zur berühmten Sammlung Irish melodies des irischen Nationaldichters Thomas
Moore (1779–1852).
79 Letzte Zeilen aus der erwähnten Gedichtsammlung Moyle, The River. The Song of Fionnuala:
When will heaven its sweet bell ringing/Call my spirit to the fields above.

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November/Dezember 1921 23

chen machen sollen, um dort die Gelegenheit zu nehmen. Wahrscheinlich finde ich in
Greifswald Nachricht. Du darfst es nicht als Lieblosigkeit auffassen, wenn ich manchmal
einen kurzen Brief schreibe. [Ich habe] viel zu tun. Du kannst Dir sicher denken, liebe K.,
wie sehr ich oft von meiner Situation bedrückt bin. Ich küsse Dich von ganzem Herzen,
Deine Haare, die auf dem Kissen ausgebreitet waren, auf dem ich schlafe, Deine Augen,
Deinen Mund, Dein Herz. Ich spreche mit jedem Bild und jeder Sache, besonders mit
jedem Spiegel, der Dein Bild aufgenommen hat. Ich bin sehnsüchtig und voll Verlangen,
Dein Carl.

1. 12. 21 [Donnerstag]
Ich habe eine schlimme Erfahrung gemacht, aber Du hast nichts verloren. Sag zu mir: Lie-
ber Carl, denn ich bin ja wirklich Dein. Ich habe zum 2. Mal mit einer Frau zu tun und
sehe, dass sich alles wiederholt. Das geht so bis in alle Einzelheiten, dass ich oft glaube, nun
zum 2. Mal in demselben Examen zu sein. Doch ist das 2. schwerer, weil jetzt alles auf ein-
mal interessanter ist, gebildeter, eine schönere Frau, eine gebildetere Frau, eine Frau, die
mich mit interessanten Dingen bekannt gemacht hat. Aber für einen Christen ist es ver-
ständlich, wenn ich sage: Es handelt sich in jedem Examen darum, durchzufallen. Wer es
besteht, wer gar preisgekrönt wird, ist vor Gott erledigt. Es sind 2 Examen auf einmal, Gott
prüft in Verborgenem, nur göttlicher. Offiziell sitzt eine Frau da und muntert einen auf,
recht glänzende Antworten zu geben, einen großen Effekt zu machen, die Menschen in
Erstaunen zu versetzen und aus ihrer Hand ein Diplom entgegenzunehmen, ja sie selbst als
Lohn. So sehr unterscheidet sie sich [von] Gott. Man darf sich also nicht verblüffen lassen
und muss aufpassen, dass man vor Gott besteht und im Eheexamen durchfällt.

Niemand kann 2 Herren dienen. Man kann mehr 2 Herren dienen als 2 Damen.

[spätere Eintragung] Der Schatten Gottes (Schattenbuch)80

Die Versuchung der Maria liegt darin, dass sie den Mann nicht sieht und sich ihm hingibt.
Die Versuchung Christi: dass er den Teufel sieht und ihn wegjagt. Die Frau sieht den Teufel
nicht.

Der Schatten im Physiologen81

Der Schatten eines guten Baumes hält die bösen Geister ab.

Francis Thompson: The Hound of Heaven82: Shade of His Hand, outstrechted caressingly.

80 Von Schmitt so benanntes Notizbuch, s. Teil III.


81 Zum Physiologen s. Anm. 145.
82 Francis Thompson (1859–1907), neben dem Jesuiten Gerard Manley der bedeutendste unter den
katholischen Dichtern Englands des ausgehenden 19. Jahrhunderts. The Hound of Heaven, Port-
land Maine 1908. Dt. Ausgabe: Der Jagdhund des Himmels, s. Teil II, Anm. 1022.

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24 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Jeder geht einmal mit Christus nach Emmaus. Jawohl, aber die meisten wissen nicht: Jeder
geht auch einmal mit dem Teufel in die Wüste, auf die [Zinne] des Tempels und auf einen
hohen Berg, um versucht zu werden.

(21 Uhr) – Samstag, 3. 12. 21. Eilbrief für den Sonntag


(Sie hat geschrieben, ihre Mutter will nach Europa kommen, sie will nach Münster <? >
gehen, ihre Mutter soll dann bei mir wohnen!)
Deine Liebe zu Deiner Mutter und Deinen Geschwistern ist rührend und großartig. Es ist in
der Tat wunderbar, wenn Du ihnen die Freude eines Aufenthalts in Europa machen könn-
test. Ersehe aus Deinem Brief von Donnerstag, wie tief es in Deiner Natur liegt, anderen
Freude zu machen, und dass Du Dein Glück darin siehst, Menschen, die Du liebst, zu
beglücken. Das war mir an sich genug, denn ich kenne das gut, aber dieser prachtvolle,
unschätzbare Ausbruch Deiner Güte und Opferwilligkeit hat mich von neuem [bewegt]. Ich
werde Dir immer helfen, weil ich diese liebliche Güte gesehen habe. Ich möchte Dich durchs
Gewühl Deines Lebens tragen, dass Du nicht enttäuscht und verletzt wirst. Dass niemand
Dich stößt, dass kein Misstrauen und kein Missverständnis Dich in der wunderbaren Güte
Deines Wesens betrübt. Ich bin zufrieden, wenn Gott mich, uns, als eines der Instrumente,
die dazu dienen, so auswählt, den Weg zu ebnen, damit ihr Fuß nicht an einen Stein stößt.
Was muss ich tun, wenn ich jener erhabenen Frau, die im Dom zu Trier am Fuß des Kreu-
zes kniet, in der Wirklichkeit begegnete? Oder wenn ich zugegen wäre, wenn sie so kniet?
Ich müsste ihr fern bleiben, aber ich würde ihr folgen und jeden erschlagen, der ein unedles
Wort sagt, das an ihr Ohr dringen könnte, würde jeden, der uns begegnet, bitten, nicht zu
vergessen, dass hier eine Königin geht, die ein Recht auf jeden Dienst hat und [den
Anspruch], dass ein liebevoller Blick dieser Frau mehr Belohnung ist als alle Anstrengungen
jemals verdienen können.

Nachodstraße 31 – Uhland 7758


Was mir, Schlag auf Schlag, von Freitag bis Montag widerfuhr. Am Montag Abend sah ich
wieder einmal das Bild mit dem Schwan und dachte daran, wie ich im November (merk-
würdigerweise auch am 27./28.83) ahnungsvoll schrieb: when will heaven its sweet bell ring-
ing call my spirit! Die krankhafte Angst um Dich ist die Strafe fürs Unrecht, das darin liegt,
dass ich, ein zum Unglück Verdammter, Dich, einen zum Glück bestimmten Engel, bei der
Hand nahm.
Ich lebe inzwischen hier wie in einer Höhle. Aber auch hier wird mich the hound of hell
erreichen. Ich lese die Bibel und gehe oft in die Kirche. Oft denke ich, dass es richtig wäre,
mit Scheffer84 nach Russland zu gehen, in dieser größten Wüste menschlichen Leidens und
menschlicher Bosheit zu verschwinden. Die Gelegenheit präsentiert sich inzwischen so
schön, dass es entweder providenziell oder ein Trick des Berufes ist. Scheffer will in 8 Tagen
kommen, André mit meinem Bruder 85 auch. Wenn es für Dein Examen gut ist, komme ich
sofort zu Dir und lasse alles hier liegen. Lisbeth muss einpacken. Ich kann keine Hand

83 Siehe Eintragung v. 2. 3. 1922, Seite 61.


84 Paul Scheffer (s. Anm. 203) war seit Oktober 1921 Auslandskorrespondent in der Sowjetunion.
85 Carl Schmitts jüngerer Bruder Josef (1893–1970) wurde meist Jup genannt. Er war Arzt und lebte in
Köln-Kalk.

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Dezember 1921 25

rühren. Ich komme zu Dir nur für Dein Examen. Verstehe mich gut, comt., sonst dürfte ich
nicht kommen. Bei jedem anderen <…> wären die letzten Dinge schlimmer als die ersten.
Weißt Du, was das heißt, K.?
Wie gut kenne ich Deine Seele. Du kannst es nicht ertragen, wenn jemand kühl oder gar
unfreundlich gegen Dich ist. Wenn Du von mir wünschst, dass ich jetzt zu Dir komme, so
willst Du freilich nur wissen, ob ich nicht kühl bin. Nicht wahr, C.; deshalb wirst Du aber
diese Reise nicht von mir verlangen. Ich habe keine schlechten Nächte, ich bin nur sehr
unglücklich, und der Trost, Dich jetzt zu sehen, wäre mir bei meiner harschen <? > Liebe zu
Dir und Deinem Körper sehr gefährlich. Du musst mir in Ruhe, nicht in Eile, auf diesen
Brief genau antworten. Wir sind gegeneinander sehr ehrlich, K., glaube nicht, dass ich weni-
ger leide als Du. Mein Herz kannst Du leicht kennen, weil es Dein eigenes ist. Was noch
hässlich darin war, hast Du vertrieben. Jede Regung kennst Du. Aber der Rahmen ist bei
uns verschieden: Dein Herz ist ein Bild, in dem erleuchteten Goldrahmen der Fidestination
[sic!] zum Glück, und mein Herz ist beinahe [ein] Doppelbild nur in dem schwarzen Rah-
men Unheil, Schmerz und Verdammnis. Sei jetzt ruhig und gefasst, c. –

Sonntag, 4. 12. 21
Die Nachrichten, die ich aus München bekam, machen es mir unmöglich, K., daran weiter
so zu [denken und unsere] Korrespondenz wie bisher fortzusetzen. Es wird auf absehbare
Zeit keine Aussicht bestehen, dass wir so miteinander vereinigt werden können, wie es für
römisch-katholische Christen Pflicht wäre.
Unnötig zu sagen, dass ich trotz dieses Abschieds in allem zu Deiner Verfügung bleibe.
Namentlich bitte ich Dich herzlich, mir zu erlauben, dass ich Dir weiter bei Deiner wissen-
schaftlichen Arbeit helfe, und jede Art Mitwirkung unbedenklich von mir zu verlangen.
Denn ich fühle mich immer als Deinen Kampfgenossen und Sekundanten, wenn es sich um
Deine Mission handelt und bleibe durchaus für Dich bereit, in tiefster Treue. Nicht nur aus
Pflichtgefühl und weil es mir ernst ist, will ich Dir versichern, dass Du nur noch Rechte
gegen mich hast, ich gegen Dich nur noch Pflichten, sondern auch, weil es eine der wenigen
glücklichen Empfindungen ist, deren ich noch fähig bin, wenn Du mich für Deine Sache in
Anspruch nimmst.
Ich werde Ende nächster Woche in Berlin mit der Arbeit beginnen und die Weihnachts-
ferien hindurch arbeiten. Du kannst alles weitere bestimmen, K. An Curtius schreibe ich
heute, damit er über Dich eines Besseren belehrt wird.
[Diese beiden vorstehenden Absätze sind gestrichen und unten neu formuliert.]

Gottes Segen Dir, Du gütige, schöne Frau. Ich werde Dich belohnen und glücklich machen,
auch eines Tages offenbaren, was ich beitrage. Behalte mich in Deiner Erinnerung und Dei-
nem Gebet. Von ganzem Herzen Dein Carl.

Unnötig zu sagen, dass ich trotz dieses Abschieds in allem zu Deiner Verfügung bleibe und
immer durchaus für Dich bleiben werde, in tiefster Treue. Du darfst unbedenklich jede Art
Hilfe von mir verlangen, denn ich fühle mich immer als Dein Kampfgenosse und bei Deiner
Mission als braven Sekundanten. Daher bitte ich Dich auch unbedenklich, mir zu erlauben,
dass ich Dir weiter, wie bisher, bei Deiner Arbeit helfe, nicht nur aus Pflichtgefühl und weil
es mir ernst ist, wenn ich Dir versichere, dass Du nur noch Rechte gegen mich hast, ich

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26 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

gegen Dich nur noch Pflichten, sondern auch, weil es eine der seltenen, glücklichen Emp-
findungen ist, deren ich noch fähig bin, dass Du mich in Anspruch nimmst.
Wahrscheinlich beginne ich schon Samstag [10. 12. 1921] 8 Uhr in der Berliner Bibliothek
mit der Arbeit, bin aber natürlich, trotz seiner Einladung, nicht beim Justizminister. Ich
werde meinerseits bis Anfang Januar dort bleiben und hoffe nur, das Wesentliche erledigen
zu können. Alles weitere kannst Du bestimmen, K.

[Im hinteren Teil der Tagebuch-Aufzeichnungen ist ein weiterer Entwurf dieses Briefes fest-
gehalten; davor sind ebenfalls Zeilen mit Entwürfen für diesen wichtigen Brief notiert]

[am rechten Rand notiert] the highest thing anyone can do is to serve86

Die Nachrichten, die ich aus München bekomme, machen es mir unmöglich, unsere Korre-
spondenz fortzusetzen. Es ist unnötig zu sagen, dass ich trotz dieses Abschieds in allem zu
Deiner Verfügung bleibe. Namentlich bitte ich Dich herzlich, jede Art Hilfe unbedenklich
von mir zu erwarten, ja in wissenschaftlichen Arbeiten, bei Deiner Promotion, bei <…>
oder irgendwie sonst. Du darfst das unbedenklich verlangen, nicht nur, weil ich mich immer
als Deinen Kampfgenossen und Sekundanten fühle, wenn es Dir mit Deiner Mission ernst
ist, sondern ich bleibe durchaus für Dich bereit, in tiefster Treue, und Du gewährst mir eine
der wenigen glücklichen Empfindungen, deren ich noch fähig bin, wenn Du mich in
Anspruch nimmst. Gott segne Dich, K. Er wird Dich belohnen und glücklich machen, aber
auch eines Tages offenbaren, was Du mir bist. Behalte mich in Deiner Erinnerung und Dei-
nem Gebet. Von ganzem Herzen Dein Carl

6. 12. 21 [Dienstag]
An K. (auf den wunderbaren Brief vom Sonntag, der sich mit meinem Abschiedsbrief vom
4. kreuzte). Ich küsse Dir die Hände, Du weißt, dass ich Dein bin.
Die verschiedenen Bücher sind hinreißend, würde versuchen, Dir einen phantastischen
Dank zu sagen, wenn nicht jeder einzeln ausgesprochene Dank das Missverständnis er-
wecken könnte, als müsste ich Dir nicht auch für alles dankbar sein, was Du bist. Aber in
dem großen Garten meiner Dankbarkeit sind jene verschiedenen Bücher doch eine beson-
ders leuchtende, große Blume. Du weißt, ich bin Dein Carl.

8. 12. 21 [Donnerstag]
Die Antwort auf ihren langen Brief, in dem sie auf meinen Abschiedsbrief antwortet.
Zunächst sehr höfliche, sachliche Frage: wann sie nach Berlin komme usw. „Ich schrieb Dir
doch, dass ich selbstverständlich dort bin und dass ich glücklich bin, wenn ich Dich dort
sehen, Deinen Blick fühlen und Deine Stimme hören kann, müsstest Du doch wissen“

Über München in Berlin. Müde.

86 The Best of Pearse, Cork 1967, S. 62.

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Dezember 1921 27

„Dein Brief hat mir bestätigt, was mein Herz wusste. Dir muss Dein Herz sagen, was
unausgesprochen in jedem meiner Briefe enthalten ist. Wenn Du das Vertrauen hast, dass
wir uns Weihnachten sehen und mit der Offenheit einer treuen Liebe sprechen, brauche
ich dann jetzt noch viel zu schreiben? Ich würde es tun, aber wenn Du einen Augenblick
Dein Ziel aus den Augen verlierst, muss ich es umso fester im Auge behalten. Ich fühle
mich Deiner Mutter aufs Tiefste verbunden und verantwortlich. Darum vergib, wenn ich
jetzt Deine Aufmerksamkeit nicht von Deinen Examensvorbereitungen ablenken möchte.
Ich habe Dir, schöne Frau, geschrieben, dass jeder Examinator die Überzeugung gewinnen
muss, Du würdest Tag und Nacht für sein Examen arbeiten, hättest keinen anderen Gedan-
ken, und weder Hitze noch Kälte, Hunger oder Durst, Hass oder Liebe könnten Dich eine
Sekunde ablenken. So denken sich die Examinatoren Dich, schöne Frau. Jeder Professor,
nicht nur die deutschen, auch Nicholson <? > und <…>, [erwartet das]. Nur ich habe es nie
gewagt, Dich, unberührte Schönheit, Deine [Vorstellungen] zu schulmeistern. Tue, was Du
willst, K. Bleibe nur der Güte Deines Wesens treu. Ich bin, Du weißt es, immer nur Dein
Carl.“

Vom 9. 12. [1921, Freitag]


Die Antwort auf diesen Brief! Deine Briefe machen mich sehr traurig.87 Ich bin schon weg-
gelaufen, wenn hier nicht 2 little students [wären]. [One is particularly] kind <…> tried
to keep me up. Er will nicht nach Hause, nach Düsseldorf, fahren, sondern muss in Mar-
burg bleiben, weil sie ihm vor einigen Tagen gesagt hatte, sie führe nicht nach Berlin. Du
Narr!

Donnerstag [recte Freitag], 9. 12. [1921]


Erich Rosentreter
cand. iur.
Schönlanke, Greifswald88

11. 12. 21 [Sonntag]


Vorschlag wegen der Zimmer, wir tauschen Initialen. Es versteht sich von selbst, dass Du
mein Gast bist; nur dass Du mir keinen Vorwurf daraus machst, wenn ich mich mehr Taine
als Dir widme und deshalb als ein schlechter Gastgeber erscheine. Dieser Vorwurf liegt
umso näher, als ich gegenüber am Zehnhoff die Pflicht des Gastes zu ernst nahm. Aber hier

87 Curtius hatte am 6.12. 1921 geschrieben: „Miss Murray kam gestern abend weinend zu mir. Sie hatte
eine schlechte Nachricht (nicht von zu Hause) empfangen, über die sie sich nicht näher aussprechen
wollte. Sie schien vollkommen fassungslos und tat mir sehr leid. Aber ich konnte ihr natürlich nicht
helfen. Wenn sie jetzt innere Krisen durchzumachen hat, wird, wie ich fürchte, das rechtzeitige
Gelingen der Promotion immer zweifelhafter. Was ich dabei tun kann, ist leider sehr wenig.“, vgl.
Nagel (Hrsg.), BW Curtius – Schmitt, S. 6. Später war Curtius dann mit der Entwicklung von Kath-
leen Murray zufrieden. Er schrieb am 18.12. 1921: „Miss Murray brachte mir neulich Fragmente
ihrer Arbeit, die zu meiner freudigen Überraschung ganz vorzüglich sind. Ich erwarte sehr viel von
der Arbeit. Miss Murray fuhr gestern abend nach Berlin.“, ebd., S. 9.
88 Visitenkarte, von Schmitt mit Datum beschriftet. Rosentreter war 1922 mit der Dissertation Der
parlamentarische Ausschuß vom 20. August 1919 zur Untersuchung der Kriegsschuldfrage in
Greifswald promoviert worden. Gutachter war Günther Holstein.

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28 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

muss eben die daily necessity eine Entschuldigung rechtfertigen. Es wird Dir (sic) sehr
schwer werden. Natürlich. Wie heißt es in dem Volkslied von dem schönen jungen Mäd-
chen: Ich mag keinen Gelehrten, der immer streben tut, ich will einen Soldaten mit einem
Federhut. Das habe ich Dir früher einmal zitiert, ohne zu ahnen, dass ich es für Berlin noch
einmal zitieren könnte. Aber ohne Scherz, schöne Countess, ich habe genug Bekannte in
Berlin, sodass Dir die Zeit nicht lange wird, aber an den Feiertagen habe ich ja selbst auch
etwas Zeit.

Der Schluss Deines Briefes vom Freitag (sie hat mir geschrieben, wie schön zwei junge Stu-
denten, besonders einer von ihnen, sie trösten!) hat mich allerdings wieder in Zweifel ver-
setzt, ob Du überhaupt nach Berlin kommst und nicht mit den Studenten in Marburg blei-
ben willst. Ich respektiere jede Deiner Entscheidungen. Doch bitte ich Dich um baldige
Nachricht, damit ich Definitives weiß.
(Abgesagt, da sie Curtius nicht Unrecht tut).
Aber welche Situation für einen Mann einer edlen schönen Frau wie Dir gegenüber, jeden
Brief mit der Bitte um Entschuldigung wegen seiner Eile schließen zu müssen. Aber ich
muss es leider. Die innere Unruhe, das Übermaß der Arbeit, der Wunsch, für Dich etwas
Glänzenderes zu tun, alles das lässt meine Hände etwas zittern. Betrachte es bitte nicht als
Mangel an Aufmerksamkeit, sondern erweise mir die Güte, die Du gerne einem Menschen
erweisen würdest, übe Nachsicht. Ich kenne die Güte Deines Wesens und weiß, dass ich
nicht vergebens daran appelliere. (Wegen der [Reise nach Berlin]: Ich will Curtius lieber
jetzt nicht persönlich sprechen, sondern eine persönliche Besprechung auf einen entschei-
denden Augenblick in der [Nähe] Deines Examens aufsparen, nicht wahr, schöne K.)

Dienstag [recte Donnerstag], 15. 12. 21, 1/2 10


Liebe K., schöne K., gute K., freundliche K. Ich gehe jetzt noch einmal, zweimal, dreimal,
abends zu Bett. Dann ist der Tag gekommen, an dem ich Dich wiedersehe. Wirst Du mir
freundlich entgegenlaufen? Wirst Du nicht, wie in jenem Auftritt in Trier, warten, wer
zuerst spricht? Wirst Du gut zu mir sein? Liebe, schöne, freundliche K.
Der Stettiner Bahnhof wird für mich zu einem Raum von phantastischer Schönheit, jeder
Schaffner verklärt, wie Dein Platz‚ der Bahnsteig wird Teppich. [Auf den Straßen] wüchsen
Blumen, wenn ich mir vorstelle, dass Du erscheinst. Wirst Du wirklich da sein? Wenn ich
Dich sehe, werde ich das Gefühl eines Menschen haben, der stundenlang in einem Tunnel
gefahren ist und nun wieder das Tageslicht sieht.
Schöne, schöne count., kannst Du noch so schnell laufen wie in Trier? Immer denke ich an
die Mosel, an jede Einzelheit. Dass Du es warst, die mit mir in dem Land war, zu dem ich
gehöre wie ein Bub zu seiner Erde.

Das Zitat über die Mosel von Barrès: (Au pays de la Moselle je me connais comme un geste
du terroir, comme un instant de son éternité).89

89 Maurice Barrès (1862–1923), franz. Schriftsteller und nationaler, antiparlamentarischer und vor
allem antideutscher Politiker. Les amitiés françaises, Paris 1903. Dt. In der Moselgegend kenne ich
mich aus, wie ein Handzeichen der Gegend, wie ein Augenblick seiner Ewigkeit.

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Dezember 1921 29

Ne soyez pas fachée que je suis toujours en grande hâte, ce qui fait vilain. C’est pour vous
que je m’enterre dans un travail obstiné de bouquiniste et que je deviens laid, farouche –
malade jusqu’à ce que je vous dois, comtesse. Tout à vous, toujours votre Carl.90

1/2 12 (inzwischen hatte ich Stendhal, die Unterhaltung bis 2. Buch von Leuwen91 gelesen).
Ich suche Antwort auf die Frage ihres Briefes, bitte zu [deuten], was Curtius sagt. „Ich bitte
Dich herzlich um Entschuldigung, aber Du darfst nicht vergessen, dass es weniger darauf
ankommt, ob Curtius liebenswürdig war, als dass er sich im Examen für Dich einsetzt und
dass Du seinen „Offert“ bestehst. Für Deinen Brief innigen Dank. Er spricht alles auf
mündliche Beziehung <?>. Du bist so gütig, du erweist mir die Ehre, von mir zu sprechen.
<…>.“

[Am Beginn der Seite notiert]


Welches Interesse hat der Katholizismus heute eigentlich an der Verbindung von Thron und
Altar. <…>

15. 12. [1921] 1/2 12


von voriger Seite
Dieser Brief, schönste Countess, wird Dich Freitag erreichen, morgen schreibe ich noch
etwas und hoffe, Dir damit eine Freude zu machen. Es schmerzt mich oft, dass Du an mei-
nen letzten Briefen keine Freude gefunden hast, denn ich glaube, es wäre Dir möglich gewe-
sen, etwas an ihnen zu finden. Aber es ist durchaus meine Schuld, wenn es nicht so eingetre-
ten ist.
Du bleibst in allem die schönste, tüchtigste Frau und ich von Herzen immer Dein Carl

[Am Ende dieses Tagebuch-Teils ist auf zwei Seiten eine Tabelle der Mondstellungen vom
30. 10. bis zum 31.12. 1921 notiert, danach folgt auf einer weiteren Seite ein Horoskop mit
dem Hinweis „Würzburg, 30. 12. 22, 10 Uhr“. Da die letzte, nicht datierte Seite den Ent-
wurf eines Briefes an Lola [Sauer]91a enthält, handelt es sich vermutlich nicht um ein
Geburtshoroskop, sondern um eines für die Deutung des Zusammentreffens. In der Zeile
unter der Mondstellung vom 31.12. steht:]
Lo, ich glaube an den unvergänglichen [Kern, den] innersten deines Wesens; <…> An Lo.
Plötzlich mitten [in der Nacht?] von schöner Unruhe erfasst.

90 Dt. Seien Sie mir bitte nicht böse, daß ich immer in großer Eile bin, was unausstehlich macht. Für
Sie nämlich wühle ich mich in diese verbissene Arbeit eines Bücherwurms, und für Sie werde ich
häßlich, wild – krank, bis auf das, was ich Ihnen schulde, Gräfin. Ganz, für immer, der Ihre, Carl.
91 Schmitt hatte von Franz Blei den unvollendeten Roman Lucien Leuwen sowie die Bände Napoleon,

Amiel und Äbtissin von Castro Stendhals geschenkt bekommen, vgl. Schmitt, Briefe an Blei vom
16.12. 1921 (wie Anm. 45). Blei gab im Verlag Georg Müller, München, zusammen mit Wilhelm
Weigand, von 1921 bis 1923 die Werke Stendhals in 14 Bänden heraus.
91a Zu Lola Sauer vgl. S. XVI und Teil II, Anm. 1.

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1922

An K., Donnerstag, 19. 1. 21 [recte 22], abends


Kein Tag dieser Woche vergeht, ohne dass ich ihn mit dem gleichen Tag der vorigen Woche
vergleiche und ohne dass ich mich frage, wo Du bist, wie es Dir geht, ob Du fröhlich oder
traurig bist, ob Du liebevoll und freundlich an mich denkst. Jeden Tag gehe ich die Wege,
die Du gesehen hast, und sehe die beiden Fenster im Pfarrhaus, aus denen Du geschaut hast.
Mir geht die Melodie „Will der Herr Graf“92 vergebens durch den Kopf. Wie schrecklich
lange bin ich ohne Nachricht von Dir. Aber du bist sicher fleißig. Daran darf ich nicht zwei-
feln. Ist Deine Wohnung noch so kalt, arme comtesse, dass Deine empfindlichen Finger
frieren? Hast Du Deine Tante wieder getroffen? War Curtius freundlich? Ich will seinen
Brief doch lieber beifügen, damit Du auf etwaige Fragen über Romantik vorbereitet bist.93
Hoffe von Herzen, dass dieser Brief Dich in Ruhe und Zufriedenheit antrifft. Lies alles in
Ruhe, K., ich schreibe mit vollem Herzen. Heute geht es mir besonders schlimm, weil wir
vorigen Donnerstag Abend so ernst von Deiner Mutter sprachen. Ich glaube, mein Herz
bricht vor Sehnsucht, stundenlang liege ich in den Klauen schlimmster, schwärzester Melan-
cholie. Am ersten Tag wirkte noch die lebendige Erinnerung Deines Anblickes. In aller
Traurigkeit war etwas Süßes.
And she was gone my sole, my Fair; Ah sole my Fair, was gone! Me thinks throughout the
world ‘twere right I had been sad alone. And yet, such sweet in all things’ heart, And such
sweet in my own.94
Aber inzwischen kommt die Einsamkeit und spricht mit mir. Ich denke an Deine Mutter,
wie sie Deine Reise vorbereitete. Könnte ich nur etwas davon, was Deine Mutter tat, auf
mich lenken. Wie arm bin ich. Wie lächerlich von mir, an Deine Mutter zu denken, mich mit
ihr auch nur entfernt zu vergleichen, als ich des Nachts die Arbeit korrigierte. Jeder Nadel-
stich Deiner Mutter ist mehr wert als tausend Dissertationen. Hast Du Nachricht von Dei-
ner Mutter? Was schreibt Mr. Manaham? Mr. Denis in Marburg? Was hast Du am 18. Ja-
nuar getan? Weißt Du etwas über Dein Examen und den Termin? Erinnerst Du Dich an
unsere schönen Tage? O ja, die Keltin hat ein gutes Gedächtnis; ein gutes Gedächtnis haben
heißt aber treu sein.

92 Mozart, Figaros Hochzeit, Arie des Figaro im 1. Akt.


93 Brief von Curtius zur Romantik-Deutung Schmitts vom 13. 1.1922. Vgl. Nagel (Hrsg.), BW Cur-
tius – Schmitt, S. 13. Siehe Anhang, S. 553–556.
94 Francis Thompson, After Her Going, letzte Strophe.

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Januar 1922 31

Arbeiten. Nach der Vorlesung (in der ein Student saß, der mit mir im Coupé von Berlin
nach Greifswald gefahren ist) wusste ich mir nicht anders zu helfen, als dass ich Othello las.
Jedes Wort war noch lebendig, ohne dass ich zwischen dem englischen und dem deutschen
Text einen Unterschied empfunden hätte. Ich erschauerte, wie damals im Theater, und
glaubte neben Dir zu sitzen; ich griff nach Deiner Hand. Höre: That handkerchief did an
Egyptian to my mother give, She war a charmer. There’s magic in the web of it95 usw. und
die schreckliche Stelle: When I love thee not, Chaos is come again, where shall Othello
go?96 Alles ist noch lebendig. Was ist die Zeit. Schlimmer als Du habe ich keinen Zeitsinn.
Wer so einsam sein kann, hat keinen Zeitsinn. Die Zeit ist eine soziale Konvention. Ich bin
einsam ohne Dich. Die Einsamkeit war meine Freundin. Sie gab mir Intensität und ein kon-
zises Bewusstsein. Sie suchte mich jetzt auf, wie ein schwarzes Totenpferd behangen, und
sagte: Früher, als die Einsamkeit deine Freundin war, warst du nicht einsam, jetzt stirbst du
vor Sehnsucht. Wo ist deine neue Freundin? Ich war immer da, wenn du mich riefst. Deine
neue Freundin kommt und reist ab. Rufe mich nicht mehr, gehe zu deiner neuen Freundin!
Ich antwortete ihr: Du bist eine strenge Frau, aber ich bitte dich, nicht böse von meiner
Freundin zu sprechen; ich liebe sie mehr als alles, auch mehr als dich; aber bist du eine
gewöhnliche Frau, dass du beim bloßen Gedanken einer anderen Frau eiferst? Meine
Freundin (nicht neue Freundin, ewige Freundin, ich kann mir keine Zeit denken, da sie
nicht meine Freundin war, weder in der vergangenen noch zukünftigen Zeit. Ich habe kei-
nen Zeitsinn mehr, seit ich sie liebe). Meine Freundin ist schön und ist ein munteres Kind,
aber sie kennt dich auch und du bist ihr nicht fremd. Sie kann deine Freundin werden, wenn
du sie verstehst. Das besänftigte sie anscheinend. Sie wird freundlicher. Viele lustige und
bunte Leute kommen, der Schneider Zwirn, der ihrer Mutter erzählt: Ich habe immer
großen Erfolg bei Frauen gehabt, aber den größten am Montag, den 2. Januar 1922, im Jahre
unserer Glücksnummer; eine reizende Australierin, eine schöne Kandidatin zugleich, wollte
nicht nach Hause gehen, weil ich da war und war todtraurig, als die Leute sie zum Aufbre-
chen zwangen: ein Truffaldino lachte ihn aus. Leandro97 stilisiert ein hochromantisches
Garn und sagt: Sie liebt dich mehr als mich, weil du ein Schneider bist. Mich liebt sie nicht,
weil ich Romantiker bin und ohne Ironie! – Examensgegenstand. Der Schneider Zwirn
meckert: Das ist der Unterschied.98 Ihre königliche Hoheit sind Gegenstände des Examens,
ich bin Gegenstand der Begeisterung. Papageno lacht Tamino aus und sagt ihm: Prinz, du
bist nicht einmal Examensgegenstand und hast weniger Eindruck gemacht als ich mit mei-
ner [Flöte]. Plötzlich verstummt sie, Othello kommt und alles verschwindet. – Blauer
Dunst vor seinem großen Schmerz, vor seiner schwarzen Tragik.
Hörst du mich noch, countess? Bist Du noch da? Sag mir, dass Du mich liebst.
Ich küsse Deine Augen und Dein Herz. Mein Herz klopft vor Liebe und Sehnsucht nach
Dir, so heftig, wie du es hast klopfen hören. God bless you, K., a thousand blessings on
you, dear heart – Carl.

95 Shakespeare, Othello, III. Akt, 4. Szene.


96 Shakespeare, Othello, III. Akt, 3. Szene, s. auch Teil III, S. 455 u. 526.
97 Figuren aus der commedia dell’arte.
98 Johann Nestroy, Der böse Geist des Lumpazivagabundus, 3. Akt, 4. Scene, Schneider Zwirn: Sie
wissen, ein Unterschied der Stände muss sein.

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32 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Freitag, 20. 1. 22, vormittags 1/4 nach 10


Ein Wirbelwind von Liebe und Sehnsucht, er dachte, er müsste mich nach Marburg tragen.
Schrieb mir: Curtius weiß um meine Liebe. Er erzählte das. Schickte mir den Aufsatz über
den Barrès99, Korum100. Es hat mich gefreut, dass Curtius bei solchen Sätzen (über den
schweren Schlag von größerer Beweglichkeit und Festigkeit101) an mich denkt. Daher bin
ich ganz in der Stimmung, um schön zu antworten und nach Dir zu fragen. Es zeigt, wie
lieb Du bist, dass Du gleich daran dachtest, ihn mit nach Berlin zu nehmen. Mir wäre es
sehr interessant, dann ein paar Tage in Deiner Gegenwart mit ihm zusammen zu sein. Doch
glaube ich, dass er die Unruhe der Stadt nicht liebt und einen ruhigen Park vorzöge, um
Gespräche zu führen. Wir werden sehen, countess. Wenn er Dir durchs Examen hilft, ver-
dient er alle Ehren und Belohnungen, den Orden vom Goldenen Vlies und die Bürger-
krone102 (dann empfehle ich Petrarca statt Dante, weil Petrarca leichter ist).
Vielleicht reisen wir nach Würzburg. Ich denke wieder an Würzburg. Ich möchte mit Dir
ein Hochamt in den schönen Barockkirchen hören. Ich möchte Dir das Barock zeigen, wo
es gute Architektur ist. Der Schwung des Barock kommt aus dem Zusammenstoß romani-
scher Formen und slavischer oder etruskischer Weichheit, in Gegenden, wo unterirdisch
und geheim klandestin eine keltische Flamme brannte, die an diesem Zusammenstoß auf-
loderte. Die slavische Weichheit wurde zerflossen, die romanische Sinnlichkeit im Norden
zu harter Menschennatur <? > erstarrt; die Kraft des keltischen Schwunges ist die unsicht-
bare, aber sicher vorhandene Bewegung, um welche die aufgelösten Formen wehen wie
Kleider und Wolken, ohne ihre Form zu verlieren. Die violetten Farben, die Du an Barock-
bildern siehst, wehen wie eine Fahne an einer festen Linie. An der Architektur des Barock
sollst Du das erkennen. Dahin, countess, werden wir einmal reisen. In diesen Waldnebeln
erscheint mir das Phantasieren des Barock wie eine bunte Leuchtkugel. Ich werde krank vor
Sehnsucht.
Dann die Tagebuchnotiz vom 17. 8. 21: Ahnungslos vor dem Einschlafen hingeschrieben,
auf ein paar Zettel des Notizblockes stenographiert.
Liebe Countess, bleibe mein, wie ich Dein bleibe, küsse den Ring, K., grüße die grüne Farbe
Deines gestrickten Jacketts, in dessen Gewebe Magie steckt. Bete am Sonntag in der Messe
für mich. In allem, schönste Frau, bin ich Dein. Ich küsse Deine Augen und Dein Herz. In
Liebe, Dein Carl.

99 Ernst Robert Curtius, Maurice Barrès und die geistigen Grundlagen des französischen Nationalis-
mus, Bonn 1921. Der in Schmitts Briefen an Curtius genannte Plan einer Rezension des Werkes
wurde von ihm nicht weiter verfolgt. Curtius hatte in der Frankfurter Zeitung vom 18. 9.1921 den
Aufsatz „Um Maurice Barrès und den französischen Nationalismus“ veröffentlicht. Siehe auch die
Kritik Schmitts an der Auffassung von Curtius, Barrès Nationalismus sei ein irrationales Relikt,
der in einer neuen Humanität überwunden werde, Teil III, S. 420.
100 Michael Felix Korum (1840–1921), seit 1889 Bischof von Trier, ultrakonservativer Kirchenführer
seit dem Kulturkampf.
101 Curtius hatte in seinem Brief vom 6. 12.1921 Bezug genommen auf eine Charakterisierung der
Franzosen mit ihrem „Glauben an definitive Stabilitäten“, während die Deutschen eine „konstitu-
tionelle Unentschiedenheit“ hätten, vgl. Nagel (Hrsg.), BW Curtius – Schmitt, S. 17.
102 Als corona civica vornehmste Ehrenauszeichnung im Römischen Reich.

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Januar 1922 33

Brantl103: Die Faust der romanischen Form, in die slavische Formlosigkeit gestoßen bis nach
Wilna.

Im Katholizismus ist mehr Humanität als in der Freimaurerei, der Religion der Humanität
(die alten großen Freimaurer; denn die alte große Freimaurerei ist esoterisch). Die Zauber-
flöte beweist das. Die Grausamkeit gegen Papageno. Das Kloster, die Organisation der
Anarchie.

Die Musik dient allem, sie ist die Kupplerin von allem. Das heißt, <…> des Politischen.
Die Überlegenheit jeder großen Religiosität, Cromwell.104 So gut wie Innozenz III.105 Hat
auch der gute Katholik auf diese <…> von Intranszendenz und grenzenloser Transzendenz,
weil sie den Schwerpunkt im Transzendenten hat.

Ich weiß, dass es Esel gibt, deren Dummheit vor nichts zurückscheut und jeden Begriff see-
lenruhig ins Maul [be]komme und darauf herumkaue. Aber trotzdem misstraue ich der
Intelligenz eines jeden, der sich <…> unter <…> als <…> Gott.

[Demut] wenigstens vor der Mutter Gottes <…>. <…> ist lächerlich. In ihrem Schatten
wurde ich manch <…> fest, <….> verschwindet, <…> es nicht mit höchster Kraft halten;
die Menschheit wird dumm und ordinär.

Ich könnte mir einen Anarchismus vorstellen.

[Die letzten 3 Zeilen nicht deutbar]

Weil der Mann, der die Weiber versucht, gleichzeitig selbst versucht wird; und der Mann,
der versucht werden soll, sobald eine Frau dabei ist, schon ihrer Versuchung erlegen ist,
wenn die Frau für die Versuchung in Betracht kommen will. Die große Objektiva dieser
Versuchung, <…>, was Dostojewski 106 daraus machte, deshalb konnte er die Kirche nicht
verstehen

Produziere aus Liebe zur Frau, aber du bist der ersten Versuchung erlegen.
Vernichte dich aus Liebe zur Frau – die 2.Versuchung.

Der Mensch soll statt Gott eine Frau gewinnen. Was tut er? Das Natürlichste. Er wird pro-
duktiv.

103 Maximilian Brantl (1881–1951), Jurist, Schriftsteller.


104 Oliver Cromwell (1599–1658), englisch-puritanischer Bürgerkriegspolitiker, Feldherr und Diktator
(Lordprotector); vgl. zu Cromwell Schmitt, Diktatur, S. 131 f.
105 Innozenz III. (1160–1216), von 1198 bis 1216 Papst, der für die juristische Festigung des Papsttums
und dessen Etablierung als weltlicher Macht größte Bedeutung hat. Zur päpstlichen potestas pleni-
tudo seit Innozenz III. vgl. Schmitt, Diktatur, S. 43 f.
106 Fjodor Dostojewski (1821–1881), russ. Dichter, mit dem sich Schmitt in dieser Zeit ständig be-
schäftigte, siehe z.B. Teil III, S. 465 u. 492.

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34 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Und sagt zu einer Frau Erlöserin. Wovon soll die Frau einen erlösen! Eine Frau kann einen
doch höchstens von einer anderen Frau erlösen, bis man mit ihr selber soweit ist, dass man
eine Erlösung braucht.

Wenn die Frau dir dann gehorcht, so wirst Du sehen, es wird dir nichts nützen. Die Frau
hat den ersten Versuchen widerstanden, so wirst du der ersten Versuchung, deiner <…>.

Stürze dich hinab aufs Niveau dieser Frau.

Sie hat nicht recht, wenn sie sagt: Was hast du davon, wenn du dich von der Zinne des Tem-
pels stürzt? Wahrhaftig, was hat sie davon? Du bist der Narr. Kümmere dich nicht mehr um
dich selbst und mache den Lauscher. Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm.107 Das
weißt du.

Der Sturz von der Zinne des Tempels108 ist nur ein nüchternster Ausdruck, nichts, was sich
tatsächlich in jeder Liebe zur Frau ereignet. Nur soll es hier klarstens geschehen, damit die
Frau aufmerksam wird, damit sie liebt aus dem Bewusstsein dessen, was geschah, vielleicht
aus Mitleid, weil sie sieht, dass hier einer seine Seele wegwirft, für eine Frau; sie sieht den
Vorgang täglich

noch weniger wegzuwerfen, um einer Frau zu imponieren oder sie zu rühren

denn er hat mehr Mitleid als die Frau; deine Narrheit ist so komplett, dass sie zwar nicht
den Menschen, wohl aber den Engel Gottes rühren könnte. Wer kann darüber etwas wissen?

Bei Christus musste es sich steigern. Die Versuchung <…> wird immer dümmer.

Die Frau begleitet dich, wenn es sein muss, auf die Zinne des Tempels, [gestrichen: um dich
hinabzustürzen], aber auf der Zinne des Tempels lässt sich kein komfortabler Gang einrich-
ten.

Aber du wirst wieder betrogen, denn sie betet nicht dich an, sondern die Welt und das
Leben.

Die Versuchung.
[Die ersten zwei Zeilen sind nicht deutbar]
<…> Christi hat nichts mit einer Frau zu tun. Aber ihr innerer Gang ist typisch, wie alles,
was Christus tat. Nur geht es umgekehrt. Es steigert sich nicht, sondern die 2. Versuchung
kommt, als Folge der ersten, der man erlegen ist.*
* Als guter Junge fängst du bei dir selbst an. Du fühlst deinen Leib als einen Reichtum.

107 Goethe, Faust II, 5. Akt Mitternacht, Vers 11446.


108 Mt 4, 5; Lk 4, 9.

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Januar 1922 35

Sprich, dass dieser Stein tot wird. Mach ein totes Ding zu einem lebenden.109 Mach aus
irgend einer Frau ein Ideal, ein Objekt geistigen Genießens, einen Anlass deiner phantasti-
schen Produktivität. Überhäufe sie mit Geschenken, deiner Liebe, bekleide sie mit Illusio-
nen, pflege den gleichgültigen geilen Stock, bis eine wunderbar bunte Blume aus ihm
erblüht. Behänge sie mit Träumen, dann bist du der ersten Versuchung erlegen. Du wirst
dich dabei aufopfern, denn du wirfst alles ins Leere, du wirst vor Liebe vergehen und deine
Kraft aufbieten, um dich zu verschwenden. Steigere deine Phantasie immer höher, reiße
dich hinauf zu den Zinnen des Lebens und wisse, dass du nur selber empor steigst auf diese
Spitzen. Dann siehst du plötzlich, der du hoch gestiegen bist, dass du einsam bist, die Frau
ist dir nicht gefolgt. Du siehst sie mit einem gelangweilten Gesicht unten. Inzwischen mach
einen zweiten Versuch und unterliege der zweiten Versuchung. Stürze dich hinab von der
Zinne des Lebens vor deiner ge[waltigen] Verzweiflung mehr als <…>. Der Weltweg <…>
ist imposanter als der Weltbesitz. Hoffe, dadurch die Bewunderung der Frau zu erzwingen,
fehlt ihre Begeisterung, fehlt ihre Liebe. Vielleicht bist du bescheiden, ob ein gnädiges
Lächeln der Frau deinem Irrsinn genügt. Stürze dich hinab und glaube, der Engel Gottes sei
dazu da, um dich in solcher blasphemischen Narrheit auf ihre Hände zu tragen. Unter den
Männern der Parabel von den Talenten.109a Einer, der sein Talent vergraben hatte; der andere
hatte damit gewirtschaftet, mit dem Talent, das ihm der Herr gegeben hatte; [es] einer Frau
als Geschenk um den Hals zu schwingen, hat keiner gewagt. Du wirfst dich hinab. Aber du
wirst sehen, dass es dir nichts nützt; vielleicht schützt dich wirklich der Engel Gottes. Aber
das kannst du wissen, dass daraus dir keine Gnade zeugt, wenn du zerschmettert am Fuße
des Tempels liegst. Inzwischen mach den letzten Versuch und unterliege der dritten Ver-
suchung.

Es hat dir nichts geholfen, dass du lebendige Speise aus toten Dingen machst und diese
Gabe verschwendest für eine törichte Frau. Deinen Reichtum hat sie gar nicht gesehen. Es
hat dir nichts geholfen, dass du verzweifelt dich selbst hinabstürzt, um ihr vernichtet zu
Füßen zu fallen. Also musst du inzwischen deinen Verstand gebrauchen und einen besseren
Weg zur Frau finden. Aber ein böser Mensch verrichtet der Frau <…>. Such ihn nicht in
dir, weder in deinem Reichtum noch in deiner Verzweiflung, suche ihn draußen in der Welt,
im sichtbaren Äußeren und im Irdischen, erobere die Welt und sei du selbst in schöpferi-
schem Reichtum oder in selbstvernichtender Verzweiflung, [dich] ihr zu Füßen zu werfen,
lege ihr [hin] die schöne, reale, sichtbare Welt, wie man sie von einem Berge sehen kann, mit
Stadt und Flüssen <…> Eisenbahn und Motor-cars, große Opern und illustrierte Zeitungen,
fette Gänse und süßen Champagner, mit lustigen Spielen und interessanten Reisen und Par-
füms, mit dem großen Orchester irdischen Ruhms oder der Jazzband-Musik der Gesellig-
keit; mit tausend Liebhabern und Verehrern, Parlamentariern und Liftboys, berühmten
Männern, schicken Offizieren. Diese Welt ist groß und reich. Sie hat für jeden Geschmack
etwas bereit [dieser letzte Satz gestrichen]. Also das Leben zeig ihr und sage: dies habe ich
in der Hand und das will ich also dir geben. Aktion, Bewegung, Energie, mit einem Wort,
Leben geben. Sie wird dir zu Füßen fallen, sie wird dich anbeten, mit glühender Aufrichtig-

109 Vgl. Lk 4, 3.
109a Mt 25, 14–30; Lk 19, 12–27.

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36 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

keit. Du warst bisher der Betrogene. Inzwischen bist du nicht mehr betrogen. Aber dafür
bist du ein Betrüger.*
* Inzwischen bist du reif zur Verdammnis, denn du hast dich selbst zum Versuch gemacht und hast
den Satan gespielt mit einer armen Frau.

Brief an Curtius, 22. 1. 22 [Sonntag]


Sehr verehrter Herr Curtius, es ist eine Tat höchster Humanität, dass Sie mir einen Brief 110
schreiben, wie den über die politische Romantik. Ich war trotz eines Aufenthalts in Berlin,
fast immer krank von diesem individualisierenden Milieu, aeger in extremis.111 Kein
Gespräch, kein Mensch. Auf meine alten katholischen Tage werde ich humantitätsbedürftig
und gebrauche das Weiche<? > programmatisch. Die Zauberflöte kann mir Tränen ent-
locken. Welch ein Zustand. Ich fühle aus Ihrem Brief zahllose sachliche Gegensätze und
möchte und werde sie diskutieren. Trotzdem hörte ich vor allem die Stimme, die schöne
Stimme. Sie können es nicht unmittelbar wissen und sich nur konstruieren, was dieser
Nordosten für mich bedeutet. Eine Swedenborgsche 112 Verödung, kalte Gespenster, graue
Melancholie, Schlafen, Angst. Ich wage nicht mehr zu fragen: bist du ein Mensch. Denn ich
bin nicht „verinnerlicht“ genug. Ich kann Kierkeg[aard] 113 nicht dahin folgen, wenn seine
Ironie aufhört, d. h. wenn sein protestantisches, gar nicht mehr romantisches Christentum
beginnt und das Gefühl aufhört wie im höchsten Katholizismus. Ich staune, wenn auf die-
sem Weg einer Katholik wird, wie Haecker 114, und bin beglückt, dass mir aus dieser Höhle
ein Bruder entgegenkommt. Aber begreifen kann ich es nicht. Vor 2 Jahren sagte mir
Haecker, [an] solchen Erscheinungen wie Max Scheler 115 werde ich beweisen, dass der
Katholizismus zu Ende sei, wie mit Plato das Griechentum zu Ende war. Ich antwortete
ihm, das wäre Hegelianismus. Das ist doch richtig, nicht wahr. Aber wie ist er inzwischen
Katholik geworden? Er beruft sich darauf, dass der einzige Freund Kierkegaards auch
Katholik wurde. Das mag sein, aber durch Kierkegaard? Durch diese Verödung? Ich glaube
es nicht. Ich fühle mich nicht verpflichtet hindurchzugehen. Das ist keine Wüste, sondern
ein Gefrierhaus, die Polarität eines Treibhauses, eine fabelhafte Antinatur, das Eis der

110 Zum Brief von Curtius s. Anm. 93.


111 Ovid, Tristien 3,3, dt. auf das Äußerste leidend.
112 Emanuel Swedenborg (1688–1772), schwed. Naturforscher u. Theosoph. Schmitt war stark von
dessen Visionen beeinflusst, vgl. TB I, S. 159. Die swedenborgsche Hölle erwähnt Schmitt in Poli-
tische Romantik, S. 114.
113 Søren Kierkegaard (1813–1855), dän. Philosoph und Theologe. Zu den Belegen für dessen frühe
Einflüsse auf Schmitt vgl. TB I, Register.
114 Theodor Haecker (1879–1945), Essayist und Kulturkritiker, bedeutender katholischer (Konversion
1921) Schriftsteller der Zwischenkriegszeit, 1894–1898 Kaufmann, 1905 Abitur nachgeholt, ab 1914
Mitarbeiter bei den Zeitschriften „Der Brenner“ und „Hochland“, Übersetzer von Werken Vergils,
Kierkegaards und Kardinal Newmans, ab 1936 Rede- und ab 1938 Publikationsverbot, ab 1941
faktischer Hauptschriftleiter im Verlag (seines Schulkameraden) Ferdinand Schreiber. Seit Mitte der
1910er Jahre hatte Schmitt engere Kontakte zu Haecker; so schreibt er noch im Februar 1922 an
Max Stefl, dass er mit den Theologen der berühmten Greifswalder Fakultät über Haecker gespro-
chen habe; später wird Haecker ein entschiedener Kritiker Schmitts.
115 Max Scheler (1874–1928), Philosoph und Soziologe, ab WS 1921/22 Professor in Köln.

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Januar 1922 37

tiefsten Hölle Dantes116, aus dem das Däublerische Nordlicht117 zu erwarten ein teuflischer
Trotz wäre.
Ich bin noch Mensch genug, um inzwischen aufzuhören. Wie fremd muss Ihnen das sein.
Doch habe ich eine Entschuldigung, mehr, eine Rechtfertigung. Sie halten die Ironie für
etwas der Romantik Beiläufiges, ich halte Nov[alis]118 für einen Mystiker; soweit er roman-
tisch ist, ist er sehr romanisch <?>, der Wichtigste ist aber Kierkegaard. Sie haben recht und
es ist ein Einwand gegen mein Buch: die Romantik ist eine internationale Erscheinung.
Aber sie bleibt etwas Nordisches und ihre größte geistige Kapazität, ihr einziges Gehirn
war Kierk[egaard]. Er hat eine fabelhafte Dissertation über den Begriff der Ironie119 ge-
schrieben, die Ironie bei Sokrates, den sowohl Plato wie Hegel missverstehen musste (sonst
wäre es eben keine wahre Ironie gewesen); sie sind wichtiger als die Ap[horismen] von
Friedrich Schlegel120, auf die ich gar keinen Wert gelegt habe. (Meine Arbeit hat den Fehler
schlechter Fundamentierung: mit detektivischer Findigkeit in Nebensächlichkeiten belegt
und wichtige Dinge als selbstverständlich nebenbei erwähnt). Die Ironie gehört dazu wie
die innere Dialektik zur Bourgeoisie gehört. Diese hebt sich selbst auf, indem sie sagt: le
tiers état, c’est la nation121; das heißt, sie gab [wegen] den ihr im Wege stehenden Ständen,
die [sie vorhatte] zu beseitigen, die Idee des Standes überhaupt auf, aber sie meint es nicht
ernst oder polemisch gegen die anderen, und erhält also die verdiente Strafe: der Proletarier
entsteht als ––––––
Klasse, nicht als Stand, während die Bourgeoisie mit ihrer Identifikation „le
bien …“ in Wahrheit immer noch hofft, als solche, das heißt als état (nur inzwischen als pre-
mier état) bestehen zu bleiben. – [am Rand notiert:] Cortes – die materialistische Philoso-
phie als Herrenkampf. Da ich nicht davon abstrahieren kann, dass die Romantik bei aller
Hingabe an eine Totalität gerade resistent in concreto bleiben will, so halte ich ihre Ironie
für etwas Spezifisches, eben nur gleich mit der widerspruchsvollen Haltung der Bourgeoisie
zu sich selbst, [das] bitte ich nur als Analogie zu nehmen. Ich glaube zwar, dass es mehr ist
als eine Analogie, doch musste ich dann zeigen, dass die Romantik eine wesentliche bürger-
liche Angelegenheit ist, und ich habe mich schon weit genug verrannt, um Sie um Verge-
bung zu bitten, wenn ich konfus geworden bin.
Ich werde mich freuen, Ihnen das in einem Gespräch vorzulegen. Hier rede ich ins Leere,
vielleicht erscheine ich Ihnen sogar als Soziologe wie jener Taine, das Thema von Fräulein
M.[urray]. [Was macht Ihre] Arbeit, von der Sombart122 in Berlin erzählte.

116 S. Anm. 57.


117 Theodor Däubler (1876–1934), Lyriker, Essayist und Erzähler. Schmitt hatte seit seiner Düsseldor-
fer Referendarzeit ab 1912 jahrelang sehr intensiven Kontakt mit Däubler, dessen Versepos Das
Nordlicht er bis in das hohe Alter schätzte. 1916 verfasste er eine der ersten Deutungen mit seinem
Buch Theodor Däublers ‚Nordlicht‘. Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität
des Werkes, München 1916.
118 Novalis (1772–1801), Dichter der Frühromantik; Schmitt erwähnt dessen Mystik in Politische
Romantik, S. 85.
119 Über den Begriff der Ironie, 1841.
120 Friedrich Schlegel (1772–1829), Programmatiker u. Ästhetiker der Frühromantik.
121 „Der Dritte Stand, das ist die Nation“. Antwort auf die von Abbé Sieyès 1789 gestellte berühmte
Frage „Qu’est-ce que le Tiers État?“. Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 77–80, 243.
122 Werner Sombart (1863–1941), Soziologe und Wirtschaftshistoriker.

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38 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Ich habe ihr [d. i. Kathleen Murray] zu heftig über die Romantik geschimpft und mit dem
Satz, die Romantik habe alle großen kulturellen Leistungen zum Konsum [der] Deutschen
gemacht, irrationalistische Komplexe wach gerufen. Vielleicht. Ich hatte nicht viel Zeit, den
Eindruck zu berechnen. Jedenfalls bin ich sehr begierig auf ihre Arbeit, in der sie auch von
anderen Deutschen sprechen will. Aus der persönlichen Unterhaltung hatte ich den Ein-
druck nicht nur von Intelligenz, sondern auch von einer Fähigkeit zur Methode. Doch weiß
man bei Iren nie, was sie wirklich tun, so wie sie einen abwechselnd durch ihre Zuverlässig-
keit und ihre Unzuverlässigkeit überraschen.
Etwas, das mir besonders am Herzen liegt, möchte ich nicht vergessen: meinen Dank für
den Aufsatz über den Bischof Korum, einmal für den sympathischen Artikel selbst, dann
noch vielmehr dafür, dass Sie dabei an mich gedacht haben. Ich weiß, dass ich ein guter
Deutscher bin, das ist für mich ein Teil katholischer Treue und versteht sich von selbst. Die
Tradition ist eine konkrete Sache und lässt sich nicht halbieren. Ich liebe die deutsche
Sprache mehr als die meisten, die gut Deutsch schreiben, und glaube, dass sie eine lebende
Sprache ist, in mir und anderen lebt. So freue ich mich an Ihren Übersetzungen französi-
scher Wendungen und bewundere die Biegsamkeit der Sprache; ich höre, wenn Sie etwas
Tiefes von sich verarbeiten und weiß an der Bewegung der Worte, dass ich mich hier mit
allen auseinandersetzen muss. Ich bin froh, etwas zu lesen wie „Der musikalische Rausch
des deutschen Weltfühlens“ oder „Die Magie eines Künstlertums“; das beseitigt mir Müdig-
keit usw. Kurz, einen Schluss wie den Ihres Barrès-Buches‚ der in Rhythmus und Farbe den
so bedeutenden Malereien [vergleichbar] ein Triumph ist, den die deutsche Sprache gegen
die Orchestrierung der Thesen des Barrès ausspielt. Das alles werden Sie hoffentlich bald
zusammenhängender und nicht so nervös wie in diesem Brief, in meiner Besprechung lesen,
wenn dieses Klima mich bis zum März leben lässt.
Ich höre auf, ohne zu schließen. Bitte glauben Sie mir, dass ich Ihnen in größter Dankbar-
keit ergeben bleibe, und zählen Sie mich zu denen, die Sie in aufrichtiger Freundschaft ver-
ehren.
Ihr Carl Schmitt

22. 1. 22 [Sonntag]
Kath., mein Kind. Ich muss Dir doch schreiben, wie könnte ich sonst den Sonntag vorüber-
gehen lassen. Warst Du in der Kirche und hast Du gebetet für uns beide? Ich habe meine
Seele in Deine Hände gegeben. Du wirst freundlich mit mir umgehen, wie Du als Kind
freundlich warst mit Deiner kleinen Schwester, wenn sie Dir zur Bewachung und Pflege
übergeben war.
Ich bin in manchem Dein Kind, in manchem Dein Vater, in allem Dein Freund und wollte,
ich wäre [Dein] Lehrer. Ach liebe countess. Lass Dich nicht in Deiner Arbeit stören. Lass
Dir heute nur den beiliegenden Brief von Bonn123 schicken, der mich sehr überraschte, denn

123 Moritz Julius Bonn (1873–1955), Staats- und Wirtschaftwissenschaftler, förderte als Direktor der
Handelshochschule München Schmitt 1919 durch Anstellung als Dozent, vgl. TB II, S. 515. Bonn
hatte am 20.1. 1922 geschrieben, dass an der Handelshochschule Berlin – dort war er ordentlicher
Professor der Staatswissenschaft – vier neu einzurichtende Professuren geplant seien, darunter auch
eine für Geschichte der politischen Ideen und Verfassungsfragen, bei deren Besetzung in erster
Linie an ihn gedacht sei (RW 265-537); vgl. auch Mehring, Greifswalder Intermezzo, S. 329.

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Januar 1922 39

ich habe ja nur freundlich den Empfang eines Buches bestätigt, das er mir zugeschickt hatte.
Ich muss bald antworten, am besten wohl nach Berlin fahren. Schreibe mir Deine Meinung,
wenn Du mir Mittwoch schreibst. Ich könnte also inzwischen nach Berlin kommen, mit
dem Gehalt eines Ordinarius der Berliner Universität. Aber es ist eben doch nicht die Uni-
versität. Ich hätte nichts zu tun, als das Gebiet, das mich wirklich interessiert. Ich könnte
mich ungeheuer konzentrieren und hätte die lästigen Oberlehrerpflichten nicht mehr, die
mich hier langweilen.

Also es spricht dafür: 1) Berlin, 2) die interessante Tätigkeit, 3) dass das Einkommen das
gleiche ist.

Dagegen: 1) der nicht-staatliche Charakter der Anstalt,


2) unregelmäßiger <…>, 3) kein Seminar, kein Doktorand.

Ich möchte Deine Meinung hören und muss mich erkundigen, nach Einzelheiten, wie die
übrigen Professoren sind usw. Dass Meinecke (der Berliner [Historiker])124 mich vorschlägt,
ist besonders interessant. Ich habe ihn in meiner Politischen Romantik geringschätzig
behandelt. Aber er scheint sehr objektiv zu sein.

Die Besprechung mit Friedberger125 (einem bekannten Gegner <…>, Herausgeber einer
weltbekannten Zeitschrift für Immunitätsforschung126) über Haarausfall und Weißwuchs
der Haare hat mir gezeigt, dass die Ärzte bloß nichts wissen. Er hat selbst eine Riesenglatze,
Blaschke127, den er kennt, übrigens auch. Er sagt, wenn der Ausfall physiologisch begründet
ist, ist nichts zu machen. Gegen Schuppen die bekannten Mittel usw., was Dir jeder Friseur
sagt. Nur mir selbst hat er eine tröstliche Versicherung gegeben. Wahrscheinlich hört mein
Haarausfall auf, wenn die Nachwirkungen der Ruhr aufhören. Er glaubt nicht an den
Zusammenhang von <…> und Haarausfall. Vielmehr <…>. Das ist alles. Er kennt den Mar-
burger Dermatologen nicht. Die medizinische Fakultät Marburg ist nicht berühmt. Darauf
kommt es in unserer Sache auch nicht an. Schließlich bin ich mit ihm an die Ostsee gegan-
gen. Bei schönem Wetter, Freitag Nachmittag. Es hat mir immer wieder von [neuem] leid
getan, dass Du nicht einen solchen Spaziergang machen konntest. Wir sind heute Nachmit-
tag weit auf die Ostsee hinausgegangen. Sie ist ziemlich glatt zugefroren, wenn man den
Mantel ausbreitet, treibt einen der Wind von selbst über die Fläche. Dazu den kalten
Meereswind.

124 Friedrich Meinecke (1862–1954), Historiker, von 1914 bis zur Emeritierung 1932 Prof. an der
Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin. Schmitt hatte Meinecke u. a. vorgeworfen, dass er im
Gegensatz „zu seiner Differenziertheit in der Beurteilung anderer Tendenzen“ bei Gegenrevolu-
tionären wie Bonald und de Maistre „einen ganz zufälligen und schlagwortartigen Sprachgebrauch
übernimmt“, Politische Romantik, S. 48.
125 Ernst Friedberger (1875–1932), Immunologe und Hygieniker, 1915–1926 Prof. in Greifswald, 1927
bis 1932 Direktor des preußischen Forschungsinstituts für Hygiene und Immunitätslehre in Berlin.
126 Zeitschrift für Immunitätsforschung und experimentelle Therapie, gegr. 1904.
127 Wilhelm Blaschke (1885–1962), Mathematiker, hatte u. a. an der Universität Greifswald einen Lehr-
auftrag, bevor ab 1919 an der Universität Hamburg das mathematische Seminar leitete.

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40 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Baudelaire, Briefe 1841–1866128


(Paris 1906)

p. 12 (30/6 1845) Je me tue parceque je suis inutile aux autres et dangereux à moi-même. Je
me tue parceque je me crois immortel, et que j’espère … Montrez-lui mon épouvantable
exemple et comment désordre d’esprit et de vie mène à un désespoir sombre ou à un anéan-
tissement complet. – Raison et utilité! Je vous en supplie!

p. 16 (Dijon 1849) Er erzählt einem berühmten Advokaten, der als aigle démocratique gilt,
[über] socialisme de paysans – socialisme inevitable, féroce, stupide, bestial comme un
socialisme de la torche ou de la foule. Der Advokat bekam die Angst, er ist ein Dummkopf
[C’est un imbecile, ou plutôt] un très vulgaire ambitieux …

128 Charles Baudelaire, Lettres 1841–1866, Soc. du Mercure de France, Paris 1904.
Die Zitate sind wiedergegeben nach der Ausgabe: Œuvres Complètes de Charles Baudelaire. Cor-
respondance Générale. M. Jacques Crépet (Ed.), Tome 1, 1833–1856. Éditions Louis Conard, Paris
1947. Übersetzungen aus: Baudelaire, Briefe 1841–1866. Übersetzt von Auguste Förster. Minden
1909 (zu S. 8, 21, 39) und Baudelaire, Werke (zu S. 5, 23).
S. 5 (30. Juni 1845).
„… Ich töte mich, weil ich für die anderen unnütz bin – und gefährlich für mich selbst. Ich töte
mich, weil ich mich für unsterblich halte und weil ich hoffe …. Führen Sie ihr mein furchtbares
Beispiel vor Augen – und wie die Unordnung des Geistes und des Lebens zu einer düsteren Ver-
zweiflung führt, oder zu einer völligen Vernichtung. – Vernunft und Nützlichkeit! Ich bitte Sie
inständig darum!“.
S. 8 (Dijon 1849).
„Er ist ein demokratisches Genie. Er hat mich gedauert. Er spielte sich als Enthusiast und Revolu-
tionär auf. Ich habe ihm hierauf von dem Sozialismus der Bauern gesprochen – einem unausweich-
lichen, blutdürstigen, stupiden Sozialismus – tierisch wie ein Sozialismus mit Sicheln und Fackeln.
Er hatte Angst und wurde ganz abgekühlt. Er ist ein Dummkopf oder vielmehr ein ganz gewöhn-
licher Streber.“
S. 21 (5. 3.1852).
„Der 26. Dezember hat mich physisch entpolitisiert. Es gibt keine allgemeinen Ideen mehr. Dass
ganz Paris orleanistisch ist, ist eine Tatsache, aber das kümmert mich nicht. Wenn ich gestimmt
hätte, würde ich nur für mich haben stimmen können. Vielleicht gehört die Zukunft gar den
Deklassierten?“
S. 23 (20. 3.1852).
„Der napoleonische Sozialismus hat sich in der Rentenumwandlung bekundet … und entschlosse-
ner denn je, dem höheren Traum von der Anwendung der Metaphysik auf den Roman zu verfol-
gen.“
S. 39 (24. 9.1853).
„… Wronskysche Doktrinen … Bücher ‚Das Politische Geheimnis Napoleons‘ und ‚Der falsche
Napoleon‘.“
Es handelt sich um das Werk Secret politique de Napoléon comme base de l’avenir moral du
monde, Didot, Paris 1840 von Jozef Maria Hoëné-Wronski, (1776–1853), poln. Mathematiker und
Philosoph.

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Januar 1922 41

p. 31 (5. 3. 1852) Le 2 Décembre m’a physiquement dépolitiqué. Il n’y a plus des idées
générales. Que tout Paris soit orléaniste, c’est un fait, mais cela ne me regarde pas. Si j’avais
voté, (er teilt mit, dass er nicht die Stimme hat) je n’aurais pu voter que pour moi. Peut-être
––––––––
l’avenir appartient-il aux hommes déclassés?
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––

p. 33 (20. 3.1852) Le socialisme napoléonien s’est manifesté par la conversion de la Rente.


Hass gegen die Universitäten. Er sagt, er wolle sich aber von jeder Politik abwenden und er
sei entschlossen, […et plus décidé que jamais] à poursuivre le rêve supérieur de l’application
de la métaphysique au roman.

p. 49 (24. 9. 1853)
Er lehrt lang die Bücher von Wronski; z. B. Le secret politique de Napoléon, et le faux
Napoléonisme

Der Hass des Künstlers gegen einen bourgeois.


Huysmans, En route p 34129:
il faudrait vomir la civilisation qui a rendu l’existence intolérable aux âmes propres et non le
Seigneur qui ne nous a peut-être pas créés, pour être pilés à coups de canons, en temps de
guerre, pour être exploités, volés, dévalisés, en temps de paix, par les négriers du commerce
et les brigands des banques.

Die hilflose Angst vor dem Eindruck einer roten oder schönen Blume, einer Farbe. Das
malerische Nichts einer Farbe ängstigt mich. Die Sinnlosigkeit einer extremistischen Sensa-
tion.

Ich bin inzwischen in einem schlimmen Stadium: Ich sehe die malerischen Dinge als realiter
und die Realität als Umschreibungen und Verkleidungen des Malerischen. Ich empfinde die
Beethovenbegeisterung irgendeines innerlich trüben Mischlings wie das ordinäre Parfüm,
mit dem eine schwitzende Person ihren eigentümlichen Körpergeruch zu überdecken sucht.

129 Joris Karl Huysmans (1848–1907), franz. Schriftsteller.


Zitiert nach: J. K. Huysmans, En Route. Les Èditions G. Crès et Cie. Paris 1930, S. 42.
„Ehe wir den Himmel unsrer Übel wegen anklagen, sollten wir gefälligst erforschen, welche Zeit-
läufte die Kreatur einverständlich mitmachte, welche Sündenfälle sie vorsätzlich beging, ehe sie in
dem finsteren Verlies landetet, über das sie sich nun beklagt. Man sollte die Sünden seiner Vorfah-
ren und die eigenen Leidenschaften verfluchen, die die meisten der Krankheiten hervorriefen, unter
denen man leidet. Man sollte sich sagen, dass, wenn Gott uns das Exkrement auferlegte, der
Mensch durch seine Ausschweifungen den Eiter hinzugefügt hat; man sollte die Zivilisation aus-
speien, die den reinen Seelen das Dasein verleidet hat und nicht den HERRN, der uns vielleicht
nicht dazu schuf, dass wir in Kriegszeiten in Stücke gerissen und in Friedenszeiten durch Skla-
venauktionen des Handels und die Raubritter der Banken ausgebeutet, bestohlen und geplündert
werden.“ (Übersetzung Wolfgang Fietkau)

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42 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Ich empfinde da mit einer Animosität, stärker als den sensuellen Eindruck, stärker als den
Geruch des Parfüms, das man mir wirklich unter die Nase hält.

Es gibt keine Rebellion gegen die Mütter, also auch keine gegen die Kirche, die eine Mutter
ist. Kirche ist Matriarchat.

tacendo cresco130

Kant: Höchste Bewusstheit ist höchste Moral; wenigstens ohne diese Bewusstheit keine
Moral. Handle mit Bewusstsein, mit Überlegung, nicht im Affekt; kalkuliere.

Wind und Wetter ändern sich,


die Herzen der Menschen ändern sich,
was bleibt?

Die klassische Rückkehr zum Ursprung der Renaissance bleibt immerhin noch im Geraune,
Rückkehr zu einem menschlichen Vorgang, retornar al principio, d. h. zu meiner mensch-
lichen Geburt.
Die Rousseausche Rückkehr ist Untergehen in die Natur, eine Mischung, Aufhebung der
Unterschiede von Mensch und Übernatur, bildungs- und gesellschaftsfeindlich.

Ich höre alle Religionen und alle philosophischen Systeme der Welt auf einmal, in einer
ungeheuren, scheußlichen Kakophonie, zusammenhanglos und wie Meeresgewühl, jeder
Philosoph schreit wie ein Auktionator, ein billiger Jakob auf dem Jahrmarkt. Der eine singt,
der andere miaut, der Dritte vergießt Tränen, der 4. humpelt ganz theatralisch, die Ärmel
hoch, flucht, bellt wie ein Kettenhund. Was ist schlimmer als die Versuchungen des heiligen
Antonius (von dem Gedanken des bestiarium komme ich doch nicht los, anscheinend).

Ich fühle mein Schicksal, ich fühle die Hundekette, die mich an den Haaren schleift. Inzwi-
schen taucht er mich unter, unter die Erde, stößt mich in einen unterirdischen Strom, dessen
Rauschen ich höre, und wie in dem orientalischen Märchen, vielleicht komme ich verwan-
delt in einem Paradies wieder ans Tageslicht.

Ich erkenne: wenn ich ins Kloster gehe, werde ich vereinsamt sein, mich entwickeln, ver-
vollkommnen, aber ich habe kein Publikum mehr; keine Frau und keinen Mann, an dessen
Anerkennung und Bewunderung ich mich labe und stärke. Wer wirklich davon durchdrun-
gen ist, dass er eine unsterbliche Seele hat, für den ist das ja (theoretisch) nicht schön; die
meisten haben aber ihre Seele draußen, nicht in sich, sie nehmen ihre von den Menschen.

Der Protestantismus nimmt es mit der Einsamkeit des Einzelnen [genau]; der einzelne hat
eine Seele; aber er bleibt trotzdem in der Welt; das ist etwas Beruhigendes, dadurch zwingt
er die Welt in den Dienst des Weltlichen; er beherrscht die Welt für sich, nicht für Gott, und

130 Dt. Ich wachse durch Schweigen.

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Januar 1922 43

sich selbst. Die Kraft der Einsamkeit tritt in den Dienst des Sozialen, aber Irdisch-Sozialen.
Der Begriff Menschheit ist die Konsequenz dieses Zustandes.

Das Gefühl, betrogen zu sein, ist der Anfang der Weisheit; wir fühlen uns heute von der
Demokratie betrogen † 1920

Diese Kommunisten aus guter Familie, deren ganzes Irreligiöses sich darin erschöpft, dass
sie einmal in vollem Bewusstsein eine ungebügelte Hose tragen. Zu erwarten, dass sie ihr
Hab und Gut weg geben, wäre eine Lächerlichkeit. Sieh sie nur an, wie sie unter den Fitti-
chen ihrer wohlbesorgten Eltern bleiben.

Der Jude: Wenn ich mein Leben opfere, will ich auch was davon haben.

Marlowes Faust131: Wollt ihr nicht meine Seele haben? Wenn ich will, dass ich verdumme,
ist das meine Sache (Privatsache).
Bentham132: [„]Wenn ich mich durch Wucher zugrunde richte, wen geht das etwas an; es ist
meine Sache, das Risiko des Privaten, ganz auf sich gestellt.[“] Die individualistische Iso-
liertheit.

1848 ist Seneca gestorben


[nachträgliche Eintragung, erkennbar an der Schriftstärke]
16 Jahre später entdecke ich Bruno Bauer133, der Seneca für den Gründer des Christentums
hält; also ist 1848 das Christentum gestorben!
oder <…> fängt es wieder an? (1936 <…>) [späterer Eintragung]

Die Welt des Mechanistischen; die Vertreibung des Organischen. Das Auto, die Eisenbahn,
der Propeller.
Das Gummi ist der Spleen des Mechanischen im Organischen, der Verräter, mit seiner
Elastizität. Es ist der moderne Jude unter den organischen Stoffen.

Im Kern des lächerlichen Begriffs der Bewegung, des Pathos <? > der „Bewegung“, [ist] die
deutsche Weltanschauung, [die in der] Bewegung steckt: die nicht einem Ziel zustrebende,

131 Christopher Marlowe (1564–1593), engl. Dichter u. Dramatiker. Möglicherweise interpretiert


Schmitt folgende Stelle in The tragical History of Doctor Faustus: „What might the staying of my
bloud portend?/Is it vnwilling I should write this bill?/Why streames it not, that I may write
afresh?/Faustus giues to thee his soule: ah there it stayde,/Why shouldst thou not? is not thy soule
thine owne?/Then write againe, Faustus giues to thee his soule.“ Aus: Christopher Marlowe, Mar-
lowe’s Doctor Faustus, 1604–1616, Parallel Texts, Hrsg. W. W. Greg, Oxford 1950, A-1604, Scene
V, 504-9. Freundlicher Hinweis von Andreas Höfele.
132 Jeremy Bentham (1748–1832), engl. Jurist und Philosoph, Begründer des klassischen Utilitarismus.
Schmitt bezieht sich paraphrasierend auf dessen Schrift Defence of Usury (1787), dt. Ausgabe Ver-
teidigung des Wuchers, hrsg. v. Richard Seidenkranz, Saldenburg 2013.
133 Bruno Bauer (1809–1882), Philosoph, Schüler Hegels und Lehrer von Karl Marx. Aus: Christus
und die Caesaren. Der Ursprung des Christentums aus dem römischen Griechentum, Berlin 1877.

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44 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

sondern sich selbst genügende Umdrehung, der Wunsch, keinen Sprung aus dem Kreise zu
machen, indem man sich dreht, die ewige Wiederkunft, weil sie eine Entscheidung überflüs-
sig und sinnlos macht, die Karusselbetriebe des Nichts-als-Lebens, mit bunten Farben und
Musikbegleitung.

Dazu die Bemerkung B[audelaire]’s in der ersten Ausgabe [von „Les Fleurs du Mal“] (1857,
später weggelassen). Das alles ist nur le pastiche des raisonnements de l’ignorance et de la
fureur. Der Autor ist hier seinem Programm treu, en parfait comédien innere Sophismen
und Korrruptionen zu durchlaufen. Er protestiert also dagegen, unter die théologiens de la
populace gerechnet zu werden und et d’avoir regretté pour notre Sauveur Jesus-Christ,
pour la Victime éternelle et volontaire, le rôle d’un conquérant, d’un Attila égalitaire et
dévastateur134.

Barbey d’Aurevilly
Die fl.d.m. sind une justice, la justice de Dieu135
eine furchtbare Strafe.
c’est la comédie sanglante dont parle Pascal136

134 Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal, 1. Ausgabe, Poulet-Malassise de Brois, Paris 1857, p. 215,
Vorspann zur Abtl. „Révolte“.
„Parmi les morceaux suivants, le plus caracterisé a déjà paru dans un des principaux recueils lit-
téraires de Paris, où il n’a considéré, du moins par les gens d’esprit, que pour ce qu’il est véritable-
ment: le pastiche des raisonnements de l’ignorance et de la fureur. Fidèle à son douloureux pro-
gramme, l’auteur des Fleurs du Mal a dû, en parfait comédien, façonner son esprit à tous les
sophismes comme à toutes les corruptions. Cette déclaration candide n’empêchera pas sans doute
les critiques honnêtes de le ranger parmi les théologiens de la populace et de l’accuser d’avoir
regretté pour notre Sauveur Jesus-Christ, pour la victime éternelle et volontaire, le rôle d’un con-
quérant, d’un Attila égalitaire et dévastateur. Plus d’un adressera sans doute au ciel les actions de
grâces habituelles du Pharisien: ,Merci, mon Dieu, qui n’avez pas permis que je fusse semblable à ce
poète infâme!‘“
Unter den folgenden Stücken ist das typischste bereits in einer der wichtigsten literarischen Samm-
lungen von Paris erschienen, wo es zumindest von den hellsten Köpfen für das gehalten wurde,
was es tatsächlich ist: das Pastiche der aus Beschränktheit oder Wut entspringenden Gedanken. Sei-
nem schmerzvollen Programm getreu hat der Autor der „Fleurs du Mal“, insoweit ein vollkomme-
ner Komödiant, seinen Geist an allen Sophismen wie an allen Verderbtheiten schärfen müssen.
Diese offene und ehrliche Erklärung wird die ehrbaren Kritiker sicher nicht daran hindern, ihn den
Theologen des Pöbels zuzuordnen und anzuklagen, unserem Heiland Jesus Christus, dem ewigen
und freiwilligen Opfer, in der Rolle eines Eroberers, eines gleichmacherischen und verheerenden
Attila, nachzutrauern. Manch einer wird zweifellos nach üblicher Pharisäerart dem Himmel Dank
sagen: „ich danke Dir, o mein Gott, dass Du nicht zugelassen hast, dass ich diesem schändlichen
Dichter ähnlich bin!“ (Übersetzung Wolfgang Fietkau).
135 Jules Barbey d’Aurevilly (1808–1889), franz. Schriftsteller, Polemiker und Zeitkritiker, in: Apropos
des Fleurs du Mal, Ende Kap. I „On peut la prendre pour une justice – la justice de Dieu“, dt. Man
kann sie als [einen Akt] der Gerechtigkeit auffassen – der Gerechtigkeit Gottes.
136 Jules Barbey d’Aurevilly (wie vorstehende Anm.), Kap. II: „Il a joué une comédie c’est la comédie
sanglante dont parle Pascal.“, dt. Er hat eine Komödie aufgeführt, die blutige Komödie, von der
Pascal spricht.

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Januar 1922 45

Der umgekehrte Dante, der zur Hölle geht, nicht von der Hölle kommt. Für den Dichter
eines solchen Werkes blieb nichts anderes übrig: ou se brûler la cervelle … ou se faire chré-
tien.137

Mit Schmerz und Entsetzen habe ich gesehen, dass Dir meine Briefe nicht mehr gefallen, o
K. Ich habe sie in Eile geschrieben und [wie] alle törichten Männer [angenommen], dass ich
eilig sein durfte, weil ich viel Arbeit hatte [und] mir bewusst war, für [Dich] zu arbeiten.
Wie sehr entstellt die Arbeit jeden Menschen. Aber gerade deshalb will ich für Dich arbei-
ten und Du sollst nicht arbeiten. Du bist schön und sollst keine Sekunde arbeiten.

Das Zitat S. 83 Thibaudet138


C’est pour vous que je m’enterre dans ce travail, obstiné de bouquiniste, qui me fait laid,
farouche et malade.

Du isst gut und schläfst gut, ich schlafe nur ein paar Stunden des Nachts und arbeite fort-
während. Wozu machst Du mir Vorwürfe wegen meiner Briefe und Du selber gehst gleich
zu anderen, um Trost zu suchen, wenn irgendein Klient Dir nicht passt. Wie ist es möglich,
dass ich darüber nicht lache.

Die Welt ist ein Freudenhaus.


Es geht gerecht zu: vernünftig, kavaliersmäßig, gentlemenlike; aus der Mitte verschwindet
einer: wo ist er? Er ist gestorben. Ist das ein Grund dafür, immer auf den Erdboden zu star-
ren, in dem wir einmal verfaulen.

Besondere Kabinen für die Direktoren, Ärzte, Professoren und Dichter.

Einer frisst die faulenden Schuhe einer Hure und zittert vor Geilheit. Das ist das hic et
nunc; der Trottel spricht Latein.
Das ist das Proletariat, das ist das Diesseits.

137 „Apres les Fleur du Mal il n’y a plus que deux partis à prendre pour le poète qui les fit éclore: ou se
brûler la cervelle … ou se faire chrétien“, dt. Nach den Blumen des Bösen gibt es für den Dichter,
der sie hat sich öffnen lassen, nur zwischen zwei Entscheidungen zu wählen: entweder sich eine
Kugel durch den Kopf zu schießen … oder sich zum Christentum zu bekehren.
138 Albert Thibaudet (1874–1936), franz. Literaturkritiker. Ob die Angabe der Quelle Albert Thibau-
det zutrifft, ist unklar. Das Zitat klingt nach Flaubert, über den Thibaudet ein Buch geschrieben hat
(Gustave Flaubert, Paris 1935); dt. Ja, für Sie vergrabe ich verbissener Bücherwurm mich in diese
Arbeit, die mich häßlich, ungesellig und krank macht.
In einem Brief vom 19.12. 1921 an Franz Blei erwähnt Schmitt sowohl das Buch Maurice Barrès
und die geistigen Grundlagen des französischen Nationalismus, Cohen, Bonn 1921 von E. R. Cur-
tius als auch La Vie de Maurice Barrès von Albert Thibaudet, Verlag Nouv. Revue française, Paris
1921. Briefe Schmitts an Blei (wie Anm. 45).

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46 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

C’est la bascule
C’est le cul-bas139

Gärten, in denen alte und kranke Leute umgebracht werden; nette alte Herren, wohl
gepflegt, blasse Bärte, gewaschen, gute viele Seife. Nur mit ihrer Zustimmung werden sie
umgebracht; die Zustimmung kann durch die behördliche Erklärung ersetzt werden. Ein
alter freundlicher Wärter schlägt sie tot. Sie kämpfen. Einer sagt erlesen <? >: Lesen sie
Kapotkin [Kropotkin]140 Humanität; lesen Sie Binding141, das Recht auf den Tod. Ich will
nicht lesen, ich will leben.
Sehr witzig; aber ich habe ein Amt.
Seife, Klubsessel

Du hast deinen Überzieher vergessen – bei uns wird nicht gestohlen – schmeiß ihn raus

Ich rutsche die Treppe hinunter, auf dem Geländer. Es ist doch ein Traum – nein, leider
nicht.

Was machen Sie hier?


Was machen Sie denn hier?
Ich habe Sie zuerst gefragt.
Ich bin der Besitzer.
Was geht das mich an, die Weltgeschichte ist das Weltgericht.
Ich leite das Weltgericht.
Was heißt das.
Ich mache beim Weltgericht, was ich will.
Sie?
Jawohl.
Wie können Sie das denn?
Ich habe die Majorität.
Die Majorität der Weltenrichter? Sehr gut, es gibt doch nur einen?
Lächerlich. Der Weltenrichter bin ich allein, weil ich die Majorität habe.

139 Für dieses Wortspiel findet sich im Deutschen keine Entsprechung. La Bascule bedeutet im Fran-
zösischen die Schaukel, hier spezifisch: die Wippe (balançoire dont l’une des extrémités s’abaisse
quand l’autre s’élève.) Während ein Hinterteil sich senkt, wird das andere auf der Wippe gehoben.
Das Wort cul-bas bezeichnet ein sehr altes primitives Kartenspiel (Littré 1880). Im von Schmitt
genannten Zusammenhang käme eine Verbalbildung mit cul: avoir (oder porter) le cul bas infrage:
eine gallische Umschreibung für den Körperbau einer Person, die kurzbeinig ist bzw. sich auf
einem in Relation zum Oberkörper niedrig ausgefallenen Unterkörper bewegt.
140 Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842–1921), russ. Anarchist. Schmitt hatte u. a. von ihm das Werk
Die französische Revolution 1789–1793, übersetzt von Gustav Landauer, Leipzig 1909, gelesen;
vgl. auch Schmitt, Diktatur, S. 149, 185.
141 Karl Binding (1841–1920), Strafrechtler. Schmitt bezieht sich auf das Buch von Karl Binding und
Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, ihr Maß und ihre Form.
Leipzig 1920. Vgl. auch die Kritik an deren Wertelogik in: Schmitt, Tyrannei der Werte, Berlin
2011, S. 29.

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Januar 1922 47

Wo haben Sie denn die Majorität? Es wird abgestimmt, ein Referendum.


In der Tasche.
Des ist eine merkwürdige Majorität.
Die einfachste Sache von der Welt. Zu dumm.
Sie scheinen auch der Klügste nicht zu [sein].
Was haben Sie für eine Majorität?
Ich habe die Majorität der Aktien.

23. 11. 21 [Mittwoch], morgens 1/2 5 142


Alles Offizielle legt sich aufs Leben; aber nicht als Feind, sondern als Schutz des Lebens.
Alles Leben schafft aus sich heraus das Offizielle und die offiziellen Organisationen zur
Bekämpfung des Offiziellen, die Akademiker, welche die Akademie bekämpfen.
Immer bildet das Leben neue Bekleidungen seiner widerlichen Blöße, von denen die roman-
tischen und fatalistischen die schlimmsten sind.
Im Kern gepackt ist es nur vom Christentum, aber nur im einzelnen Falle beim <…>. Es
kommt als ein Komet aus dem Zentrum, durch schleimige [Hüllen] des Lebens hindurch,
unendlich vereinzelt, grauenhaft allein, und bleibt liegen auf der Straße des Lebens. Man
sieht meinen Leichnam, den Leichnam des Zeugen. Der Leichnam des Zeugen in der Apo-
kalypse.

Humanitarismus und Freimaurerei: Organisation zur gegenseitigen Hilfe und Verschlin-


gung <? > des Lebens. Dumm und pfäffisch-gemein.
Der Humanitarismus ist keiner Konsequenz fähig. Aber doch, manchmal, wenn die Intelli-
genz oder ein tief weiblicher Lebensinstinkt hinzukommt: immer der Unglücklichste wird
am meisten geliebt und findet das meiste Interesse, denn er ist gefährlich.
Du sollst bestochen werden durchs Mitleid. Lass dir dein Unglück nicht abkaufen durch
Mitleid.

Voraus. Was sie über meinen Namen sagt, tut mir nicht weh. Was deine Schwester <…>. Ich
brauche mich meines Namens nicht zu schämen.

An K., 27. 1. 22 [Freitag]


Lass es Dir tausendmal sagen, tausendmal ins Ohr beißen, tausendmal ins Herz küssen, Du
bist die Fülle meines Lebens. <…>. In dem Gesicht deines Vaters ist viel Güte und <…>.
Du hattest recht, mir das Bild Deines Vaters zu schicken. Ich liebe Dich immer mehr, ich
reise <…> erhöhen und frage Deinen Vater nach dem Weg zum Zentrum. Er antwortete,
dort wohnt ihre Mutter. Wo ist also der Weg zu ihrer Mutter? Er antwortet: Ein Mann kann
das nicht sagen, Sie dürfen inzwischen keine Fragen mehr stellen, sondern müssen zugehen.
Dann finden Sie einen Weg. Unerwartet kommen sie plötzlich an. Vielleicht an einem
Abend an der Mosel, vielleicht in einer kleinen Stube im kalten Winter; vielleicht in einem
Ministerialpalast; nur Gott weiß es. Achten Sie nur auf alle geheimen Stimmen, hören Sie

142 Trotz des Datums dieser Tagebuch-Eintragung wird der Text in diesem Umfeld verankert.

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48 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

aufs Heimliche und lassen Sie sich von dem Geräuschvollen nicht ablenken. Meine Tochter
hat eine liebenswürdige, allen Menschen zugängliche Freudigkeit, sie hat auch eine tiefe
Verschlossenheit, tiefer als ihre offene Zugänglichkeit ist ihre heimliche Verschlossenheit.
Sie ist im Tiefsten unnahbar, obwohl jeder ihr die Hand geben kann. Meine Tochter liegt
viel an Kinderliedern, aber in ihrem Herzen ist das Bewusstsein über Weisheit und Erkennt-
nis einer uralten Rasse. Sie selber hat eben einmal an Professor Curtius geschrieben, sie hat
die ganzen Kindereien ihrer Rasse. Ich will Ihnen in dieser Sache mit Parallelität nichts
hineinreden. Was jemand aus solcher Liebe tut, muss ich billigen, zumal es meine Tochter
ist. Sie liegen jetzt mit meiner Tochter in einem Hinterhalt und überfallen beide zusammen
einen Professor. Schön, meiner [ausgeprägten] Phantasie gefällt das Abenteuer der Situation.
Wenn die Sache gelungen ist, sprechen wir weiter darüber. Inzwischen wollte ich Ihnen nur
sagen: Hören Sie aufs Heimliche und nicht aufs Laute. Dann finden Sie den Weg zum Zen-
trum ihrer Seele. Im Rauschen eines alten Baumes ist mehr Weisheit als in einem Buch von
dreißig Professoren zusammen. Das Älteste ist das Weiseste. Vergessen Sie es nicht. Ich war
sehr nahe bei Ihnen, als Sie mit meiner Tochter in den Weihnachtsferien im Kloster der
Grauen Schwestern oben auf ihrem Zimmer im 2. Stock saßen und ihr beide den Ofen leise
singen hörtet und nachdachtet, was das sein könnte.
Liebe K., tausendmal küsse ich Dich und fasse nach Dir, Dich zu halten. Täglich erwarte ich
Dich [zurück]. Denk an mich, wie ich an Dich denke. Sei heiterer Dinge und fahre fort,
Dich fleißig auf Dein Examen vorzubereiten ohne Angst und Wut, ohne Leichtsinn. Ich
sehe Dir in allem liebevoll zu.

28. 1. 22 [Samstag]
Das treue Gedulden in dieser Kälte wird belohnt werden. Jeder Tag ist ein Bote, den Du zu
dem Engel schickst, der im Himmel Deine Sache verwaltet. Der Bote berichtet dem Engel
und wartet in einem schönen Zimmer mit den anderen Boten, die vor ihm kamen und die
nach ihm kommen. Jeder Tag ein Bote. Dort stehen bunte Boten, Boten mit Lauten und
grünen Büschen, andere mit weißen und roten Kleidern, in der letzten Zeit kamen, frierend
junge Männer mit Tintenkleksen und Büchern. Am 1. März sagte der Engel: So, meine lie-
ben Kinder, ihr seid alle gleich brav, aber nicht alle gleich brauchbar; die Letzten werden
jetzt einmal die Ersten sein. Die armen Kerls mit den Tintenkleksen müssen jetzt schneller
zur Erde zurück und ihrer Herrin helfen; die schön Geputzten kommen zwar auch in den
Garten, müssen aber zu Hause bleiben. Dann sausen die Tintenkleksigen auf die Erde, wie
wir oft in Berlin durch die Straßen gesaust sind, und tragen die durchs Examen; legen den
Professoren die Fragen und Dir die Antworten in den Mund und sind so eifrig und machen
ihre Sachen so gut, dass der Engel Gott bittet, ihre Tintenklekse in grüne Blumen zu ver-
wandeln. Das geschieht natürlich auch und nach dem 1. März ist alles lauter Freude und
[der Engel führt] schon in das Himmelsantichambre, das K. aber zu dienen bestimmt ist.

K., Samstagabend, 28. 1. 22


In der Dämmerung habe ich eine Stunde im dunklen Zimmer gesessen und an Dich gedacht.
Mit Deinem Vater und Dir gesprochen, mit Deiner Mutter, die gesagt [hat], dass Du bald
kommen würdest, dass sie Dich holen soll. Dass wir nicht leichtsinnig sein sollen gegen sie.
Ich habe an Deine Liebe gedacht, an meine Dankbarkeit. Ich weiß, wie schön Deine Liebe
ist. Ich bin nicht blind und nicht dumm genug, um für ein solches Geschenk undankbar zu

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Januar 1922 49

sein; berauscht vor Dank. Gott muss mir vergeben, dass ich Dich so liebe. Jeder Tag, den er
mir als Boten schickt und den ich abends entlasse, erzählt nur von Dir. Noch schlimmer; ich
schicke ihn, statt zu Gott zurück, zu Dir. Jeden Abend kommt er an; jeden Morgen kommt
ein Bote der vergangenen Nacht, von mir zu Dir. Aber Gott vergibt es mir, denn ich war
doch seltsam treu gegen ihn. Durch welche Irrtümer bin ich hindurchgegangen, ich habe
doch in agraristischen und materialistischen Systemen gesessen wie Daniel in der Löwen-
grube. Sie haben mir zugelächelt und furchtbar gedroht, ich habe zurückgelächelt und war
oft bang, oft sehr mutig, aber ich bin durch alles hindurch gegangen wie Du durchs Leben.
Wie viele Menschen haben Dir die Hand gegeben und Dein Lächeln auf sich gefühlt. Aber
Du bist weitergegangen; wie vielen Ideen, Theorien, Philosophien, Systemen, Konstruktio-
nen habe ich die Hand gegeben, ihnen freundlich lächelnd zugehört und bin weitergegan-
gen. Von Gott hat mich keiner abtrünnig gemacht, doch wenn sie ganz gefährlich waren,
habe ich sie mit großen Augen angesehen wie ungeheuerlich oder mehr neugierig als furcht-
sam. Jetzt sage ich mir: Welche Dummheit wäre es gewesen, mich von [Dir zu trennen].
Gott hilft uns. Seit langem konnte ich wieder beten. Aber nur weil ich Deinen Rosenkranz
fühlte. Ich habe gebetet und war bei Dir, hörte tausend Stimmen und sah mit Tränen der
Freude, wie ich bei Gott und Dir zugleich sein kann.
Exspecto resurrectionem mortuorum et vitam venturi saeculi, vitam mihi cum Cathalena
communem.143

Du darfst nicht glauben, ich dächte nicht jeden Tag an Dich, wenn ich an der Wohnung des
Pfarrers vorbeigehe, oder wenn ich einen Augenblick in die Kirche gehe.

[Die auf der unteren Seitenhälfte mit Bleistift geschriebenen stenographischen Notizen sind
nicht deutbar.]

Hegel, für mich der summus deceptor144

Sonntagabend, 29. 1. 22
Die Stunde der Dämmerung, wo ich wieder von Dir geträumt, K., der Abend kam wie ein
Bote von Dir. Die Nebel erinnerten mich an die Nachmittage in Berlin, wenn wir zusam-
men [in] dieser Stunde ein paar Augenblicke spazierengehen konnten. Einmal begleitetest
Du mich um diese Zeit an die Untergrundbahn am Hausvogteiplatz. Ereignisvoll bist Du in
meinem Leben. Es ist aber schön und Gott möge es mir erhalten, dass ich bei aller Vertrau-
lichkeit mit Dir niemals aufhöre, Dich als ein tiefes Geheimnis zu verehren. In tiefster Liebe
schicke ich Dir jeden Abend als einen Boten, in tiefster Sehnsucht suche ich nach Worten,
die ich ihm mitgebe und finde sie plötzlich in mittelalterlichen Lauten. In Deinem Mund ist
Magie. Dass es Dir gefällt, wenn ich Dir vom Physiologen145 erzähle und dass Du mir das in

143 Von Schmitt variierter Schluss des Glaubensbekenntnisses von Nizäa-Konstantinopel.


144 Der große Betrüger.
145 Der Physiologus ist ein frühchristliches Kompendium der Symbolik von realen, aber auch fabelhaf-
ten Tieren, aus dem im Mittelalter die sog. Bestiarien entstehen. In München hatte Schmitt Anfang
der 1920er Jahre Kontakt zu der Buchkünstlerin und Übersetzerin Flora Klee-Palyi (1893–1961),

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50 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Deinem Brief schreibst, genügt, um meine mittelalterliche Gläubigkeit zu wecken; ich kann
inzwischen sprechen, als lebte ich im 12. Jahrhundert. So leicht ist es Dir, mich reich zu
machen. Der Bote soll Dich abends treffen, soll Dich ansehen, Dir die Hände auf die Schul-
ter legen und soll sagen: Carl me misit – valde te amat – Kathleen Contessam – Cor ejus cla-
mat – vidis ex magno – natum dolore – missum vidis, Contessa, amore.146 Du wirst ihn
erkennen und ihm sagen, dass Du mich liebst, K., liebe K., sag ihm, dass Du mich liebst.

Ein Buch schreiben: Nehmt euch in Acht vor den Deutschen. Sie sind das sachlichste Volk
der Welt. Unpathetisch. Ihr Pathos hat die Epoche zur Epoche des Unpathetischen ge-
macht. Sie wird alles überdauern, ihren eigenen Kitsch, alles dient zu ihrem Besten. Sie
haben intellektuelle Neugierde. Auch gegen sich selbst.

Die Zauberflöte:
––––––––––––––
Die verwirrende Gleichmäßigkeit der Linie von Papagenos Glöckchenspiel, mit dem er das
Säckchen zum Tanzen bringt; wie die Handbewegungen eines Zauberers; ein Spiel von ein-
fachen Läufen (Debussy [„Wagner“ ist durchgestrichen] hätte hier geheimnisvolle Akkorde
gebracht, bei Mozart Linie und Bewegungen.)

Papagena: Ist es ein Zufall, ist es nicht der Ausdruck einer tiefen Affinität, dass die Melodie
von Papageno „Ein Mädchen oder Weibchen“ der Ausdruck seiner Normalität und Bana-
lität, seiner Harmlosigkeit und seiner Durchschnittlichkeit [ist, wie] die Melodie des Liedes
von „Üb immer Treu und Redlichkeit“ und des Liedes „Der Kaiser ist ein lieber Mann, er
wohnet in Berlin“.
Welch grauenhafte Ironie Mozarts in dieser Musik.

An K. Freitag, 3. 2. 22, abends 1/2 10 Uhr


Teilte ihr mit, dass ich ihr telegraphierte wegen des Streiks, dass ich nicht nach Berlin fahren
konnte. Alles war vorbereitet für die Reise. Ich hatte im Charité-Hospiz ein Zimmer
bestellt, ich wollte nicht bei am Zehnhoff wohnen, weil er mir nicht geschrieben hatte. Als
ich heute Mittag von der Bahn nach Hause zurückkehrte, kam ein Telegramm von am
Zehnhoff, in welchem er mich einlädt, ihn bald zu besuchen. Wie sonderbar, K. Wenn die
Bahnen wieder fahren, will ich also nächste Woche nach Berlin reisen; dann werde ich am
11. Februar, seinem Geburtstag, bei am Zehnhoff sein und in den Räumen, in denen unsere
Liebe geboren wurde – und ich selber wiedergeboren wurde.
Wie geht es Dir denn jetzt, Du schönes, fleißiges Kind? Mit größter Rührung stelle ich mir
Deinen Fleiß vor, und freue mich, dass es Dir so ernst ist. Alles ist neue Nahrung meiner

die auf Schmitts Empfehlung 1921 im Musarionverlag eine Ausgabe des „Physiologus“ mit 174
Federzeichnungen illustriert hatte, vgl. ihren Brief vom 6. Oktober 1921 (RW 265-7657).
146 Die gleiche Abfolge der lateinischen Ausrufe schreibt Schmitt auf eine Postkarte vom 14. 2. 1922 an
Franz Blei. Siehe Briefe Schmitts an Blei (wie Anm. 45).
Dt. Carl hat mich geschickt – er liebt Dich sehr – Gräfin Kathleen – sein Herz ruft – Du siehst
einen aus großem Schmerz geborenen – siehst Du den Abgesandten.

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Januar/Februar 1922 51

Liebe, inzwischen bist Du das fleißige, geduldige Kind. In Berlin, als wir zusammen im
Theater waren, warst Du ein Kind, das sich an Lumpazivagabundus 147 erfreute, un enfant
avide du spectacle, Haïssant le rideau.148
Beide Kinder küsse ich von Herzen in heftigster Liebe. Mit Beiden gehe ich zu Bett und
freue mich ihrer Liebe.

An Georg Eisler, 3. 2. 22, abends 1/2 10 (am 5. 2. während des Streiks zur Post gegeben).
Dass ich am 11. Februar zu am Zehnhoff gehe, an seinem Geburtstag, in den Räumen sein
werde, in denen die unerklärliche Leidenschaft geboren wurde, deren Anblick Sie gequält
hat und deren Kenntnis Sie noch immer quält, wie ich aus den Briefen wohl herausfinde.
Ob ich nächsten Samstag oder Sonntag nach Dahlem gehen soll? So kurz vor der Hochzeit?
Ich will vormittags gehen, wenn Ihr Schwager149 sicher nicht zu Hause ist. Ich weiß, dass er
ein sehr vernünftiger und freundlicher Mensch ist und sich womöglich freut, wenn ich
komme. Auch will ich ja nichts von ihm. Aber ich bin kein vernünftiger Mensch und gegen-
wärtig auch nicht tolerant gegen Vernünftigkeit.
Die Ruhe und ungestörte Einsamkeit, in der ich hier leben kann, ist eine unschätzbare
Wohltat. Es wäre lächerlich, jetzt nach Berlin zu gehen, aber ich weiß nichts von dem, was
ich tun werde. Wer lenkt sein Schicksal? Oft lese ich stundenlang alte Tagebücher und feiere
Begegnungen mit denen, die Ihnen auch Freude machen würden. Aber schließlich muss
alles verstummen in der schwarzen Riesenhaftigkeit alles menschlichen Daseins. Oft kann
ich nicht beten, an anderen Tagen kann ich wieder beten, oft nur das Vater unser, oft nur das
Ave Maria.149a Oft gerate ich in eine fleißige, nüchterne Arbeit.
Von ganzem Herzen denke ich an Sie, Georg, jeden Tag. – Ihr Carl Schmitt

Mit der Demonstration der Gesellschaft ist [sie für] die psychisch [allein] stehenden Indivi-
duen maßgebend. Sie sind das [Heer] der Faulen, damit ein Händler wachsen kann.

Baudelaire
Mit dem Begriff der Klasse werden die Deklassierten maßgebend <…>150
<…> wird der Gegensatz der von wohl arrangiert und deklassiert

Einmal muss ich doch aufhören; was willst du denn werden; deutscher Professor? Litera-
turhistoriker? Der Gerichtsschreiber beim Weltgericht? Sie glauben wahrscheinlich, der
Verdammnis zu entgehen, wenn sie Geschichtsschreiber beim Weltgericht werden, so wie

147 Vgl. Anm. 98.


148 Baudelaire, Les Fleurs du Mal, Le Rêve d’un Curieux: „J’etais comme l’enfant avide du spectacle,
Haïssant le rideau comme on hait un obstacle“; dt. Der Traum eines Neugierigen. Ich war dem
Kinde gleich, das auf das Schauspiel lauert und den Vorhang haßt, wie uns ein Hindernis verhaßt ist
(Übersetzung Friedhelm Kemp).
149 Es handelt sich um Georg Eislers Schwager Hermann Isay, Podbielskiallee 38, vgl. Mehring, Ham-

burger Verlegerfamilie, S. 9. Schmitt bezieht sich auch auf den Brief von Georg Eisler vom
25.1. 1922 (RW 265-3128), in dem das Datum der Hochzeit genannt wird.
149a Siehe auch Teil III, S. 511.
150 Siehe Anm. 128, Brief v. 5. 3.1852.

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52 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

sie dem Schrecken des Krieges entgingen, wenn sie Kanzleischreiber wurden. Der Buch-
halter <…>.

Die Objektivität dieser Deklassierten, auch [von] Baudelaire nicht übersehen, immer sind
die Franzosen doch Stoiker
ne pas geindre151 von Taine, auch bei Baudelaire
Das Gedicht von Tristan Corbière152 (über Décourageux)
Vom Dichter mort, il aimait le jour et dédaigna de geindre

Wilde153 (wie André Gide154 mit Recht betont) hat als Grundsatz: „in art there is no first
person“ 155

Wie wichtig: Diese Poesie, die entdeckt hat, dass der Dichter vor allem nicht von sich spre-
chen darf, dass er obduzieren muss; daher geht er zu Grunde in der heutigen [Gesellschaft],
auch bei Francis Thompson

Für Adam Müller156: Ne fut quelqu’un, ni quelque chose


Son naturel était la pose157

151 Dt. nicht jammern.


152 Tristan Corbière (1845–1875), franz. Lyriker, von Paul Verlaine als erster poète maudit genannt.
Das Gedicht hat den Titel „Décourageux“ (dt. Entmutigend) innerhalb des Zyklus „Raccrocs“ [par
raccroc: franz. durch einen glücklichen Zufall] in dem einzigen Werk Les Amours jaunes (dt. Die
gelben Liebschaften) des jung gestorbenen Dichters. In der deutschen Auswahlausgabe, hrsg. u.
übersetzt von Georg Schneider, Hamburg 1948, fehlt dieses Gedicht.
Die ersten vier Zeilen des Gedichts lauten:
Ce fut un vrai poète : il n’avait pas de chant.
Mort, il aimait le jour et dédaigna de geindre.
Peintre : il aimait son art – Il oublia de peindre ….
Il voyait trop – Et voir est un aveuglement.
(Zitiert nach der Ausgabe: Tristan Corbiére. Les Amours jaunes. Suivis de Poèmes retrouvés et de
Œuvres en prose. Préface d’Henri Thomas. Paris [Éditions Gallimard] 1973, p. 97).
Er war ein wahrer Dichter – er hatte keine Lieder.
Als Toter liebte er das Leben und verschmähte es zu jammern.
Als Maler: liebte er seine Kunst – Er vergaß zu malen ….
Er sah zuviel – Und Sehen ist Erblinden.
(Übersetzung Wolfgang Fietkau)
153 Oscar Wilde (1856–1900), engl. Schriftsteller.
154 André Gide (1869–1951), franz. Schriftsteller.
155 Der Ausspruch Wildes gegenüber Gide ist dokumentiert in: Recollections of Oscar Wilde by Ernest
La Jeunesse, André Gide and Franz Blei, transl. by Percival Pollard, Boston and London 1906, S. 61.
156 Adam Müller (1779–1829), politischer u. philosophischer Schriftsteller, von Schmitt in seiner Poli-
tischen Romantik als Prototyp eines politischen Romantikers geschildert, der sich wechselnden
‚Lagen‘ jeweils mit hochgestimmter Ergriffenheit rhetorisch anpasst.
157 Tristan Corbière, Épitaphe, Œuvres complètes, 1970, S. 711 f.
Er war nicht was, er war nicht wer.
Hauptsache war: er macht was her.
(Übersetzung Wolfgang Fietkau)

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Februar 1922 53

Samstag, 4. 2. 22 – abends
Wie hätten wir uns über den Streik gefreut, wenn er uns in Berlin überrascht hätte, nicht
wahr, K.? Inzwischen bin ich in Sorge um Dich, liebes Kind, weil ich nicht jede Sekunde zu
Dir reisen kann. Hast Du mein Telegramm erhalten? Bist Du fleißig und fröhlich? Der
Streik fällt mir schwer aufs Herz. Noch mehr als sonst bin ich jetzt a lover bannished from
his Lady’s face.158 Aber die Stimmung, die mich inzwischen beherrscht, ist doch mi-carême,
mi-carême.159 Seit fast 3 Wochen habe ich Dich nicht mehr gesehen, in fast 3 Wochen werde
ich Dich sehen. Wüsste ich nur, dass es Dir gut geht, dass Du nicht frierst, dass Du munter
und fröhlich bist und dass Du an mich denkst.
Ich war heute fleißig. Ich esse nicht mehr im Preußischen Hof. Aber ich kann dem Preußi-
schen Hof nicht böse sein. Du hast dort gegessen und mir von Deiner Mutter erzählt. Ich
habe Dir von mir erzählt und Dir gesagt, ich möchte in Dein Herz eindringen, ganz tief, wo
die Träume wachsen. Dann über Tristan Corbière, Arthur O’Shaughnessy.160 Aber der
Größte bleibt doch Baudelaire, der war schrecklich, völliger Irrsinn und Paraesthesie<? >.
Nur seine Mutter hält es noch bei ihm aus. Er hatte wirklich Grund, gleichmütig zu sein,
aber von welcher Strafe, dass er es wurde. – Da empfehle ich ihr den Balzac161 von Taine162
für Curtius.
Wo magst Du jetzt sein, Du schöne countess. Ich liebe Dich über alle Maßen. Ich küsse
Dich in unsäglicher Liebe. Nimm mich in Deine Arme. Wie schön bist Du, küsse mich, ich
bin Dein Carl.

Sonntag, 5. 2. 22
Über den Brief von Curtius danke ich für ihr Telegramm. Froh, dass ihre Promotion ge-
sichert, welche Beruhigung, wenn ich an unsere Korrespondenz vom November denke.
Welche Freude Dein Telegramm. Ich danke Dir von Herzen. Als es ankam, ging es mir
schlecht. Ich hatte Herzkrämpfe, wie in meinen Nachmittagen in Berlin. Sofort ging es mir
besser. Du schöne Ärztin. Je baise tes mains adorées, je baise ton cœur idolâtré.163
Ich küsse, küsse Dich von ganzem Herzen und bleibe immer, nur, weißt Du es denn nicht,
immer Dein Carl

Donnerstagabend, 9. 2. 22
Komme mit mir, K. au confessionnal de mon cœur. Je te chuchote à l’oreille que je suis
ton<?> de corps et d’esprit et que je me suis jeté avoir une décision absolu dans une fidélité
qui m’écrasera si elle ne trouve pas d’abris dans ton âme.164

158 Paraphrase zu Shakespeares Romeo und Julia.


159 Dritter Donnerstag in der Fastenzeit, steht auch für das sog. Mitfasten.
160 Arthur O’Shaughnessy (1844–1881), engl. Lyriker (Music and Moonlight).
161 Honoré de Balzac (1799–1859), franz. Schriftsteller.
162 Hippolyte Taine, Balzac. Dt. Ausgabe Leipzig 1913.
163 Dt. Ich küsse Deine bewunderten Hände, ich küsse Dein abgöttisch geliebtes Herz.
164 Dt. Komm mit mir in den Beichtstuhl meines Herzens. Ich flüstere Dir ins Ohr, dass ich Dein bin
mit Fleisch und Geist und dass ich mich mit absoluter Entschiedenheit in eine Treue gestürzt habe,
die mich zerschmettern wird, wenn sie kein Obdach in Deiner Seele findet. (Übersetzung Wolf-
gang Fietkau)

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54 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

[kein Datum notiert]


Sie liebe den Katholizismus, sie sehne sich nach ihm, wie sich einer in einer steinigen Stadt
nach einer grünen Oase sehnt.

While I stand on the roadway,


or on the pavements gray
I hear it in the deep heart’s core165

Wir sind keine Deklassierten

Aber Baudelaire hat es verstanden, Stoizismus.


Die Menschheit reißt jeden Tag aus dem Chaos des Irrationalen ein Stück Bewusstsein
heraus, das sind die Leistungen der Kunst, die sich im tiefsten hineinwagen, kommen
betäubt heraus, aber sie halten ein Stück an der Hand, einen Fetzen gewonnenen Reichtums
und sterben. Einer springt ganz hinein und stirbt, ein zweiter Decius Mus.166 Die armen
Schwindsüchtigen, die armen Steinklopfer an der Straße des Lebens.

[Die untere Hälfte der Seite nur bruchstückhaft lesbar]


Wie ist das Alte p[erdu]: Wenn Stendhal167 es eindringlich u. ernster Feierlichkeit sagen will
<…>.
Triumph der Menschheit <…> gestehe vorher Bossuet168 <…> treffen

Das Leben ist nichts Unendliches, nichts Indefiniertes und infinites Sein, wenn nicht der
Tod [eine] Definition ist.

Die anarchistische Methode, der Begleiter des Sensualismus, der auch Anarchismus ist.

Wofür lebe ich? Um sterben zu lernen. Man lebt, um sterben zu lernen.169 Erst das Bewusst-
sein des Todes gibt dem Leben die Spannung. Wenn es temperiert <? > wird (Leichenver-
brennung), ist das Leben ein fideler Spaß.

Tambaro170, Das Recht, Krieg zu führen, 53 Etwas, was das Recht hat, sich selbst zu
regeln.

165 William Butler Yeats (1865–1939), irischer Dichter u. Dramatiker, The Lake Isle of Innisfree
(1888).
166 Publius Decius Mus, römischer Konsul, erwirkte durch seinen Opfertod den Sieg bei Sentinum 295
v. Chr.
167 Stendhal (eigtl. Henri Beyle) (1783–1842), franz. Romanschriftsteller, von Schmitt überaus
geschätzt, er identifizierte sich mit der Romanfigur Julien Sorel aus „Rot und Schwarz“, vgl. TB II,
S. 127.
168 Jacques-Bénigne Bossuet (1627–1704), franz. Theologe u. Kirchenpolitiker, emphatischer Hofpre-
diger u. Gegner reformkatholischer Bewegungen. Einer der Kronzeugen Schmitts für seine nega-
tive Anthropologie.
169 Montaigne, Essais, Chap. XX. Que philosopher, c’est apprendre à mourir.
170 Ignazio Tambaro, (geb. 1865) ital. Öffentlichrechtler.

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Februar 1922 55

Das Notrecht ruht auf dem Selbsterhaltungsrecht; das letzte Sein, die Persönlichkeit ist das
Gegebene, und hat ein Selbsterhaltungsrecht, d. h. sie hat ihr Recht an sich selbst. Sie ist das
Gegebene, aber nicht vom Recht gegeben, das Recht kann nur ein Recht geben. In einer
rechtlich relevanten Not, die ein Recht erhält, nur [für] den, der ein Recht der Selbsterhal-
tung hat; aber das Recht kann entscheiden, wem–––– es ein Recht gibt. Es konstruiert nicht den
jenigen, dem es ein Recht gibt, dem es etwas verleiht, sondern akzeptiert ihn als „gege-
ben.“ – Das Recht, das Recht zu suspendieren, im Interesse der Selbsterhaltung, kann vom
Recht[sträger], gerade aber nicht vom Recht ausgeübt werden. – Kann überhaupt ein Recht
vom Recht ausgeübt werden? Das Recht kann sich nicht selbst verwirklichen. Sein Selbst-
erhaltungsrecht ausüben heißt, darüber entscheiden, ob ein Fall gegeben ist, in dem das
Recht seine Schranken findet, <…> bloß tatsächlich <…> Existenz. Wer ist aber diese Exi-
stenz? Wenn der Ausnahmezustand rechtlich
–––––––– möglich sein soll, dann kann das nur heißen:
Souverän ist derjenige, der ein absolutes Selbsterhaltungsrecht hat, d. h. der Staat. Die Ant-
wort ist aber rechtlich richtig, aber <…>, innerhalb des Staates aber ist derjenige souverän,
der 1. bestimmt, dass ein solcher Fall gegeben ist und 2. was geschehen soll, damit der besei-
tigt wird. Das Recht richtet sich nach einem Modus [der Geltung], wer schafft den Modus?
Der Souverän. Die Ordnung ist kein Rechtsbegriff, sondern souverän ist derjenige, dem das
Recht konzediert, das Recht aufzuheben. [Einschiebung rechter Rand nicht deutbar].

Man sagt Rechtsordnung, das sind schon wieder 2 verschiedene Stimmen. Es gibt auch eine
andere als eine rechtliche Ordnung. Das Recht setzt eine Ordnung voraus, eine [Regelbar-
keit oder Beherrschbarkeit], einen Normalzustand. Derjenige, der diesen Normalzustand
schafft, ist Souverän (d. h. derjenige, der den Ausnahmezustand beherrscht, um den Nor-
malzustand zu schaffen).

Im Normalzustand der Ordnung ist niemand souverän! Dann [herrscht nur die] abstrakte
Rechtsordnung, das ist der Zustand, den Krabbe 171 im Auge hat. Es gibt [dann, in diesem
Zustand] wirklich nur Souverän[ität] des Rechtes. Aber im Ausnahmezustand …

An K. – 18. 2. 22 [Samstag], 1/2 10 vormittags (Eilbrief für den Sonntag)


Frage nochmals, wann sie im Justizministerium war. Ich weiß, ich habe Dich gestern in mei-
ner Verzweiflung gefragt, warum Du nicht schreibst, weil ich 2 Tage ohne Nachricht von
Dir war. Du darfst nicht böse sein über meine Ungeduld. Ich fühle aus Deinem Brief die
Eile und den Mangel an Ruhe. Schreibe lieber nicht. Wenn Du mir auf einer Postkarte sagst,
dass alles in Ordnung ist, oder was Dir fehlt, genügt es. Ich will Dich zu Deinem übrigen
Unglück nicht auch noch mit meiner Ungeduld quälen. Ich bin dumm und vergesse immer,
wie eng und unbequem Du wohnst. Schlimmer als dumm bin ich, egoistisch, weil ich es
vergesse und nur an mich denke, K., tu es ma superstition.172 Du musst mir alles verzeihen,

171 Hugo Krabbe (1857–1936), niederl. Jurist, mit dessen Lehre von der Rechtssouveränität – nicht der
Staat, sondern das Recht ist souverän – Schmitt sich in seiner Schrift Politische Theologie, II. Kapi-
tel, auseinandersetzt. Im Nachlass sind zwei Schreiben von Krabbe an Schmitt vom 20.11. 1920 und
17.11. 1921 vorhanden (RW 265-8188 u. -8189).
172 Dt. Du bist mein Aberglauben.

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56 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

auch wenn ich Dich quäle, ma superstition. Ich glaube, dass ich nur deshalb den schönen
Ruf nach Bonn bekommen habe, weil Du mir am 2. November geschrieben hast, dass Du in
Bonn warst, im Universitätssekretariat, als der Lehrstuhl von Smend frei wurde, auf den ich
jetzt berufen bin.173 Mit allen meinen Schicksalen bist [Du] verknüpft. Weißt Du, wie wir
uns in Bonn vor der Universität geküsst haben, unter den alten Bäumen? Du Zauberin, Du
Druidin, Du wunderbare Frau, ich bin in Deiner Hand, Deinen schönen, schönen Händen,
in der Magie Deines Wesens verstrickt. Ich weiß, dass Du Heimweh bekommst in solcher
Umgebung. Ich weiß, dass ich Dich bald zu Deiner Mutter schicken muss. Du liebst Deine
Mutter und bist doch gedankenlos in einer lutherischen Gesellschaft Monate lang von ihr
fern geblieben. Es ist seltsam. Du musst bald zu Deiner Mutter zurück. Es war nicht recht
von Dir, so viele Zeit zu vertrödeln. Wenn es in Irland gewesen wäre, in der Revolution
oder auch nur bei einem Examen oder irgend einer Sache. Du bist sehr in der Schuld Deiner
Mutter. Das bedrückt mich. Ich bin Dein Gewissen. In bin Dein Sohn (wie glücklich, als
Du mich in Deinem vorletzten Brief so nanntest, my son, das bin ich, K.). – Es schneit
inzwischen, aber es ist nicht mehr so kalt. Ich bin froh, aber ich weiß nicht, ob Du gute
Schuhe hast. Kauf Dir bitte Gummischuhe, bitte schreib mir, ob Du es getan hast. Ich weiß
die Nummer nicht, sonst schicke ich Dir welche. An der Wärme meines Zimmers habe ich
keine Freude mehr, der Ofen brennt lustig, man sieht die Flamme, weil die Tür auf ist; ich
sage zu dem Ofen, wie Othello zu seiner Lampe: thou flaming minister174, und möchte die
Flamme zu Dir schicken. Mein Herz klopft zum Zerspringen. A lover bannished from his
Lady’s face. – Ich küsse Deine Haare und bin ganz Dein Carl.

19. 2. 22 [Sonntag] – 1/2 12


Heute morgen träumte ich von Deiner Mutter, K. Diese letzten Tage denke ich fast immer
an sie. Aber sie sprach nicht mit mir und ich kann sie auch nicht zum Sprechen bringen. Mit
Deinem Vater kann ich mich gut unterhalten. Wenn er heute abend in der Dämmerung
kommt, werde ich ihm vorschlagen, dass wir zusammen fischen gehen. Deine Mutter
spricht nicht mit mir, auch im Traum sagt sie nichts. Ich spreche immer mehr, verzweifelt,
aber es nützt nichts. Das macht mich krank.

Dann klopfte Lisbeth und brachte die Post, viele Briefe, ich freute mich schon, weil ich
dachte, ein Brief von Dir. Nein. Also muss ich bis morgen warten. Der Erste, der mir zu
dem Rufe nach Bonn gratulierte, war der gute am Zehnhoff. Ich will vielleicht hinreisen,
weil ich auch ins Kultusministerium muss. Dann will ich für einige Tage nach Greifswald
zurück, um einzupacken. Hoffentlich erlebe ich den Sommer. Meine Produktivität ist groß;
wenn ich jetzt mit Dir zusammen wäre und Du wärest gut gegen mich, so könnte ich in
8 Tagen die beiden Arbeiten, die ich übernommen habe, schön erledigen. Oft schlafe ich
plötzlich ein, wie damals in Berlin in der Staatsbibliothek. Das ist traurig. I am defenceless
utterly. I slept, me thinks and woke, and, slowly gazing, find me stripped in sleep.175 Dann
die Angst, dass Du ungeduldig wirst, Dich langweilst, mir Vorwürfe machst, ich sei nicht

173 Zur Berufung auf den Bonner Lehrstuhl für Öffentliches Rechts vgl. Mehring, Aufstieg und Fall,
S. 134, sowie ders. (Hrsg), BW Schmitt – Smend, 19 f.
174 Shakespeare, Othello, V. Akt, 2. Szene.
175 Francis Thompson, The Hound of Heaven.

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Februar 1922 57

zuvorkommend, mit irgend einem Fremden Mitleid hast, während ich von Qualen zerrie-
ben werde. Oh.
Nächste Woche schlafe ich aus, dann geht es mir wieder besser. Bist Du fleißig, K.? Kannst
Du gut arbeiten? Möchtest Du mir bis Freitag Nachricht geben, was ich im Kultusministe-
rium und im Auswärtigen Amt in Deiner Sache tun könnte? Curtius habe ich gestern
geschrieben176 (dann die Geschichte über die Ironie der Fürstin Bismarck, die den Greifs-
walder Theologieprofessor176a geheiratet hat und von den Beziehungen zu der Gräfin <…>).

Dass ich mit Dir in Bonn war, geht mir nicht aus dem Kopf. Wie ist unser Schicksal ver-
wachsen. Du bedeutest mein Schicksal. Ich fand ein schönes Wort bei Platon, der von den
Ideen sagt: kínousin w™ ß e¬råmenon: Sie bewegen, indem sie geliebt werden, sie wirken,
indem sie Sehnsucht erregen.177
Störe ich Dich nicht mit meinen vielen Briefen? Wenn ich jetzt nach Berlin fahre, will ich
verständiger sein. Ich hatte noch viel mehr geschrieben, K. als ich Dir geschickt habe.
Armes Carlchen. Ich küsse Deine Hände. In Sehnsucht Dein Carl.

176 Handschriftl. Briefentwurf an Curtius vom 18. 2.1922 im Nachlass vorhanden (RW 265-12893):
Greifswald, 18. 2. 22.
Sehr verehrter Herr Curtius, der Zustand, in dem Sie sich Ihrem Balzac-Buch (gegenüber [gestri-
chen]) befinden, (kenne ich [gestrichen]) ist mir aus eigener Erfahrung zu gut bekannt (um Sie
darin zu stören [gestrichen]), als das ich daran denken könnte, Sie inzwischen zu stören; (übrigens
auch den Enthusiasmus für Balzac, der sich in periodischen Intervallen bei mir wiederholt und
zuletzt vor 2 Jahren akut war [gestrichen]). Darum begnüge ich mich damit, Ihnen für Ihren Brief
vom 1. Februar herzlich zu danken und Ihnen (ein größeres Interesse und meine gespannte Erwar-
tung wegen des neuen Buches, Arbeit mitzuteilen [gestrichen]) zu sagen, dass ich wegen Ihrer
neuen Arbeit in einer höchst interessanten Erwartung bin. Zumal [der Enthus]iasmus für Balzac
wiederholt sich auch bei mir in periodischem [Interv]all.
Der einzige Mensch in Greifswald, mit dem ich über Ihr Barrès-Buch sprechen konnte, war Prof.
Pichler, der Nachfolger von Rehmke, ein lebhafter und gebildeter Österreicher (der Sohn eines
berühmten Kirchenkomponisten, der in Rom lebte [gestrichen]). Er war in Straßburg mit
(Ernst[gestrichen]) Stadler bekannt und hat mich gebeten, Sie zu fragen, ob Sie die Adresse von
(seiner[gestrichen]) Stadlers Mutter kennen. Ich kenne wahrscheinlich Ihr Haus und dieses cachot
humide*, <…> Tage sind gezählt, ich möchte Sie nicht in Ihrer Art stören, wenn es erlaubt ist, aus
eigenen Analogien Erfahrungen zu bilden. Ich habe einen Ruf nach Bonn erhalten. (Nächste
Woche will ich deshalb[gestrichen]) <…>, Sie persönlich kennenlernen.
Ich reise bald nach Berlin; glauben Sie, dass ich wegen der Examensformalität, mit denen man
Fräulein M. schikaniert, etwas tun dort am Justizministerium <…>, im A. A. oder beim Justiz-
minister am Zehnhoff etwas ausrichten werde?
Herzliche Grüße Ihr
* Dt. feuchte Gefängnis.
176a Walther Glawe (1880–1967) protest. Theologe, Prof. f. Systematische Theologie u. Kirchenge-

schichte, 1914 in Münster, ab 1918 bis 1946 in Greifswald; heiratete 1909 Bismarcks älteste Enkel-
tochter Hertha v. Bismarck (1886–1954), Scheidung 1929.
177 Bei diesem Zitat handelt es sich um einen missverständlichen Hinweis auf Platon, bei dem eine der-

artige Aussage über Ideen nicht vorkommt, wohl aber bei Aristoteles in einem Wortlaut, der leicht
von dem von Schmitt zitierten abweicht: Metaphysik (1072 b 3): Kineî dè w™ ß e¬råmenon, dt. Subjekt
ist Gott als Bewegungsursache und Zweckursache alles Seienden.

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58 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Love me not, delightful child


My heart, by many snares beguiled
Has grown timorous and wild178

Sonntagabend, 19. 2. 22 – 1/2 9


Eines werde ich bedauern, wenn ich aus Greifswald weggehe: die arme katholische Kirche.179
Als ich heute Abend wieder dort betete und die Steine sah, an denen wir unsere Treue ver-
sprochen, tat es mir weh, in dieser Kirche nicht mehr Trost finden zu können, wenn ich von
der Traurigkeit überwältigt wurde. Ich habe zu Gott gefleht, dass er uns helfe, dass meine
unendliche Liebe zu Dir nicht verschwindet, dass ich nicht zum Spott werde mit meiner
furchtbaren Menschlichkeit, von den Menschen ausgelacht und von Gott verdammt, weil
ich eine Frau geliebt habe, mehr als einem Menschen erlaubt und fassbar ist. Die Kinder
sangen ein Manenlied: ganz einfach: „Du musst uns helfen“. Mit der schönen Einfachheit
mit der Du mir gesagt hast: ja, ich gehöre Dir. – Ich will Samstag oder Sonntag in St. Hed-
wig zu den Sakramenten gehen und dann gleich noch, den 1. März, in Greifswald an der
Stelle die Sakramente empfangen, an der ich mit Dir kniete. – Ich küsse Dich in grenzen-
loser Liebe als Dein Carl

[Nachträglich notiert] Sie sitzt da wie eine Registrierkasse; sie registriert meine naturalisti-
schen <? > Ergüsse als eine ordnungsgemäße Sache; und registriert nur, wenn sie ausbleiben.

Wirft man denn die Perlen vor die Säue?


Wo werden sie denn sonst noch hingeworfen?
Ich habe in meinem Leben die Erfahrung gemacht, dass die Säue eine gewisse Attraktions-
kraft für Perlen haben.

Was kannst Du erfahren


ohne Gefahren? } Der Schatten: Gott ist das Objekt unklar;
sein Schatten hüllt die Liebe ein.

Montag, 20. 2. 22
Da heute Morgen ein Brief an Dich gegangen, dachte ich erst, Du wärest schwer krank.
Aber dann hätte mir wenigstens Curtius Nachricht gegeben. Dann zwang ich mich zu glau-
ben, dass Du ganz auf die Examensvorbereitung konzentriert bist, die alles andere absor-
biert: Briefe, notes. Ich habe 2 schwere Nächte hinter mir und André gestern geschrieben,
er möchte kommen, über Köln fahren und meinen Bruder mitbringen. Sonderbarerweise
kreuzte sich dieser Brief mit einem Brief von André, der heute Morgen ankam und meine
Diagnose bestätigt, die ich Dir neulich schrieb. Er ist verzweifelt, weil er keinen Beruf hat.
Aber ich bin doch wieder stolz, dass er nicht so oberflächlich ist, sich in seinem scatter-

178 Francis Thompson, To Olivia, letzte Verse.


179 Die katholische Kirche war seinerzeit in der Bahnhofstraße/Ecke Rubenowstraße, ganz in der
Nähe von Schmitts Wohnung, Bahnhofstraße 63. Weder die Kirche noch das Wohnhaus sind er-
halten.

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Februar 1922 59

brained amusement wohlzufühlen. Doch sieht es gefährlich um ihn aus. Wie zu erwarten,
betäubt er sich mit einer Frau, von der Art Frauen, die von der Verzweiflung der Männer
leben. Der arme, liebe Junge schweigt wenigstens noch, sodass man hoffen kann, dass er
sich auf seinen Stolz besinnt. Ich bin sicher, dass er mich in Berlin trifft, wenn er sich von
seinen [Fesseln] losmachen kann. Seine Freundschaft zu mir hilft ihm vielleicht. Welch ein
elendes, zähes Leben; die Frauen als Surrogat dessen, was er eigentlich sucht: Ruhm, Erfolg,
Macht; der Erfolg bei einer Albernen als Ersatz für den Erfolg der Welt; der Ruhm, das
höchste irdische weggeworfen für ein ahnungslos lächelndes oder gähnendes Huhn. Der
Arme André. Er ist lächerlich, wenn er nicht rigoros moralisch ist. Er kann nicht, wie Du,
gütig sein. Dann wird er dumm. Er muss in bewusster Spannung leben, dann kann er, wenn
auch nicht viel, so doch etwas. Auf Wiedersehen, countess, ich küsse Deine Hände.
(Mittags kam der Brief, in dem sie mir Vorwürfe macht, dass mein Brief vom Donnerstag
kalt gewesen sei. Ich hatte einmal von meiner Schwester ein Wort gesagt, auch erwähnt, dass
Fräulein Schneider mich besuchen will. Ich schrieb im letzten Augenblick, ziemlich hal-
tungslos, dass meine Herzkrämpfe nur Sorge um –sie –– sind; dass ich Angst um sie habe, dass
ich ihr Sohn bin und überhaupt nicht weiß, ob sie gegen mich ist oder nicht; dass sie etwas
ver[schweigt], dass etwas Fremdes in ihrem Brief ist.)

Dienstag, 21. 2. 22
Wie ein Engel des Herrn kam heute Morgen Dein Brief vom Sonntag. Tausend Dank, schöne
Frau; es tut mir weh, dass Du Frostbeulen hast. Jede Belästigung Deines Wohlbefindens
quält mich; dass Du in Marburg in einem elenden Zimmer sitzen musstest, dessen schäme
ich mich, als ein Verbrecher. Aber bald bist Du erlöst, K. Höre nicht auf, für Dein Examen
zu arbeiten. Mache Dir auch keine Sorge wegen der Dissertation (ich habe Curtius gespro-
chen, aber auf Deutsch). Unser armes Kind hat sicher eine wichtige Eigenschaft von Dir
geerbt. Du hast mir einmal erzählt, Du bist als Kind sehr ruhig und still gewesen, Du hättest
nicht geschrien. So wird unser armes Kind ruhig werden und auffällig lieb bleiben und
durchs Examen gleiten wie Moses, in his basket through the Nile.
<…> soll ein großartiges Experiment mit mir machen. Ich hoffe, in den ersten Märztagen
gesund zu sein. Es ist sicher kein organischer Fehler. Es ist die Folge von 10 Jahren Unglück
und Betrogenseins, der Raserei meiner Liebe zu Dir, die Angst um Dich, alles das ist bei
meiner exzessiven Natur überschwänglich, dass jetzt wohl die physische Wirkung des Psy-
chischen eintritt. Das lässt sich schon durch eine Gewaltkur bestätigen. My heart by many
snares beguiled. Dass heute Morgen ein gütiger Brief von Dir kam, ist die beste Arznei. Du
antwortest mir auf meine vielen Briefe mit der ganzen Güte Deiner wunderbaren Natur,
aber the words do not flow easily from your pen. Alas. Pray for me. K.
Ich werde den Ruf nach Bonn annehmen. Über den Pfarrer <…>.
Sehr seltsam: Ich habe Dir am 19. geschrieben, dass ich von Deiner Mutter geträumt habe,
und Du schreibst mir das Gleiche vom gleichen Tag. Ich bringe den Brief um 12 zur Bahn;
vielleicht kommt er dann etwas eher an. Ich [in] tiefster Rührung erinnere ich mich einer
der vielen Stunden unbedenklichen Glückes, die wir zusammen verbracht haben, der uner-
hörten Seligkeit, von Dir mit zärtlicher Liebe beglückt zu werden. Bleibe bei mir, K. Ich
küsse Dein Herz.

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60 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

23. 2. 22 [Donnerstag]
Was ist alle Freude, die mir andere schon machen können, gegen die Freude, die Du mir
machst mit dem einen Satz: I wonder when we will be able to accept the Föhr’s invitation to
Minheim.180 Schönes, süßes Kind.
Dann erzähle ich von meinen Herzkrämpfen. Wie ich verzweifle, dass ich glaube, ihr Brief
[habe mich] gelangweilt. „Ich bin neugierig, was Curtius von Dir will.“ – Dann die Pläne
für die nächste Woche. Ich wollte nach Hamburg zu Frau Eisler, die sich einsam fühlt.181 Es
geht aber natürlich nicht. Soll Georg Eisler treffen. Bin nach Frankfurt eingeladen. Profes-
sor Bonn182 schrieb auch, er möchte nach Berlin kommen. Ich habe ihn gern, weil er nicht
so philosophisch ist wie die anderen und nicht so [berechnend], wie sie freundlich werden,
wenn man Erfolg hat und gleichgültig, wenn der Erfolg ausbleibt, auf sich warten lässt. An
einer solchen Begebenheit wie dem Ruf nach Bonn kann ich das jetzt sehen, wie <…> der
Mensch sich bleibt, weil sie einen Erfolg hatten. Ich habe keine hohe Meinung von der [Spe-
zies] homo r., der weise und ehrlichen sp[ezies]. Ich habe Fräulein Fuchs in Bonn nicht
gesehen, aber alles spricht von ihr mit Geringschätzung, weil sie den échec183 im Examen
hatte, während sie sonst so [überlegen ist], sodass sie mir leid tut wie auch Dir und Deinem
guten Herzen. Und wenn das [schon jetzt so ist], dann muss es in wichtigen Dingen noch
schlimmer sein.- Aber ich habe keine Zeit zu philosophieren und Du sicher auch nicht,
schönste Countess. Ich werfe die vielen Gratulationen in den Papierkorb und bin glücklich,
wenn unter der Korrespondenz ein Brief von Dir wäre. Ich küsse tes cheveux qui te font un
casque parfumé. Et dont, dont le souvenir pour l’amour me ravive184 – Mit Leib und Seele
Dein Carl

[Mittwoch] 1. 3. 22
Eingehender Bericht über 28. Februar. Schluss:
K., Lies diesen Brief in Ruhe. Überfliege ihn nicht bloß in der Eile, wenn möglich in der
Gegenwart eines Fremden. Ich habe erkannt, dass ich Dich quäle. Mit Entsetzen wird es
mir klar, dass ich krank bin und Du Dein schönes, junges Leben mit meiner qualvollen Pro-
blematik verdirbst. Sei gut, Du bist die Einzige, die mir keine Vorwürfe machen wird, und
die Einzige, auf die es ankommt. Denn Du weißt, dass auch meine Verzweiflung Liebe ist.
Liebe schöne, vielgeliebte Comtesse. Mache es mit mir wie jene Frau in dem Roman, von

180 Den Weinort Minheim an der Mosel wenige Kilometer flussabwärts von Piesport und das Weingut
Föhr kannte Schmitt, weil seine Familie mütterlicherseits aus der Nähe von Bernkastel-Kues
stammte und in Minheim sein Großonkel Peter Steinlein Pfarrer war. Minheimer Wein kommt in
den Aufzeichnungen Schmitts häufig vor.
181 Im Brief vom 29. 2. 1923 hatte Georg Eisler Schmitt eingeladen, nach Hamburg zu kommen, da
besonders seine Mutter sich einsam fühle und er ihr mit seinem Besuch eine große Freude machen
würde (RW 265-3129).
182 Siehe Anm. 123.
183 Dt. Niederlage.
184 Dt. Ich küsse Dein Haar, das als ein duftender Helm sich wölbt, und das, gedenk ich seiner, zur
Liebe mich erregt (Übersetzung nach Friedelm Kemp). Etwas abgewandelte Verse aus Baudelaire,
Blumen des Bösen, Une nuit, qe j’étais (wie Anm. 148).

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März 1922 61

dem Du mir erzähltest, die den Mönch ins Klosters [schickte]. Es gibt keine andere Lösung.
Schick mich in die Einsamkeit zurück. Ich bitte Dich darum mit dem Bewusstsein, dass
<…>. Nie habe ich [Dich] mehr bewundert als den letzten Tagen.
Wenn ich Fräulein Fuchs schwätzen hörte, so konnte ich mich kaum halten vor Verdruss
und Verachtung. Je me représentai ta majesté native185 und ballte meine Fäuste, du müsstest
nicht meinen, ich wollte mich entschuldigen. Bitte K., nicht wahr, Du ziehst diese Angele-
genheit nicht in die suprême einer polis, merci. Aber der Stoß, den mir diese letzten 7 Jahre
gaben und das Gift, das sie mir eingab, war ungeheuer. Es ist wahnsinnig, Dich damit zu
belasten, ein Verbrechen an Deiner Mutter und an Deiner Jugend. Fasse mich bei der Hand
und sage: Carl, lieber Carl, liebes Carlis, guter, lieber Carl, geh in dein Kloster zurück.
Liebe schöne K., willst Du die Güte haben, in Ruhe zu antworten. Ich warte hier in Greifs-
wald auf Deine Antwort. In einer Woche habe ich sie. Dein Examen wird nicht darunter
leiden.
Ich bin aus ganzer Seele Dein Carl.

Die Philosophie der Humanität, der scheußlichste Verrat an der Menschheit. War es Huma-
nität, als Jeanne d’Arc antwortete in amore <?> Jesu. Lächerlich. Ist es nicht menschlich, sie
deswegen auszulachen.

Donnerstag, 2. 3. 22
Gerade habe ich Deinen Brief vom Dienstag gelesen. Mein einziger Trost war, dass Du
heute meinen langen Brief erhältst. K., morgen werde ich vielleicht Antwort auf den Mon-
tagsbrief bekommen. Welche Qual. Du K., ich habe schreckliche Tage hinter mir und auch
vor mir. Aufs unerhörte Glück, Dich zu lieben, fällt immer wieder der Schatten einer beste-
henden Ehe. Ich sehe, wie die Faust des Satans nach mir greift. Jede Regung wird mir ver-
giftet. Als ich Dienstag Abend an dem Pfarrhaus vorbeiging, waren die beiden Fenster
erleuchtet in Deinem Zimmer; ich sah von der Straße aus im Zimmer einen Mann und war
eifersüchtig und krank! Welch ein Zustand. Viel schlimmer ist, dass Du unglücklich bist
und warst. Tu es nicht mehr, countess. Denke an Deine Mutter, an Dein Examen, an Deine
Schwestern und die vielen Menschen, die Dich lieben und glücklich gemacht haben. Vergiss
nicht, dass Du mich nicht verlässt. Du musst glücklich werden und wirst es auch. Dein
Leben soll schön werden, wie Du selbst, zweifle nicht daran, dass Du der Liebling Gottes
bist und dass den Auserwählten alle Dinge zum Besten dienen. Was bin ich? Ein von tau-
send Schlägen betäubtes, taumelndes Schlachttier. Ich fühle die Hand Gottes. In der Nacht
vom 27. auf 28. Februar saß ich weinend an der Stelle, an der [ich] 6 Monate vorher Dir
sagte, wie unglücklich ich bin. Du warst gut gegen mich, eine wunderbare Frau. Soll ich
Dich an mein Unglück binden? So viel Verstand habe ich noch, um das nicht zu tun.
Du bist keine gewöhnliche Frau. Für Deine Mutter wärst Du heroischer Dinge fähig. Wir
hätten mindestens 2 Jahre lang Deine Mutter belügen müssen. Ich weiß, dass Du das nicht
kannst und dass ich es nicht verlangen darf.

185 Baudelaire, Blumen des Bösen, wie vorstehende Anm., etwas abgewandelt.
Dt. Vor Augen wieder stand mir Deine angeborene Hoheit. (Übersetzung Friedhelm Kemp)

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62 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Am Montag war ich verzweifelt. Hätte ich am Montag den Brief bekommen, Dich Dienstag
in <…> [zu sehen]‚ so hätte ich mir von der Bank Geld kommen lassen und wäre nach Mar-
burg gereist. Aber aus krankhafter Angst, glaubte ich den Briefen der letzten Wochen eine
wachsende Kälte zu fühlen. Natürlich bleibst Du die gütige und liebevolle Frau. Aber wie
es Dir oft mit meinen Briefen ging‚ dass Du glaubst, es fehle etwas, so ging es mir fast mit
jedem Deiner letzten Briefe: Ich eile, in Gegenwart eines Fremden, hin wie Wölfe. Nur
musst Du Dir denken, was <…>.

[Die letzten beiden Seiten vom zweiten Teil des Tagebuches sind in französischer Sprache
beschrieben, stark verschmiert und nicht deutbar.]

14. 3. [1922, Dienstag] in Plettenberg

[Mittwoch] 15. 3. 22
Um 9.45 von Hagen abgefahren, im D.-Zug nach Arnsberg. Kassel gefrühstückt, durchs
Sauerland, etwas gearbeitet an der Besprechung für Curtius Barrès. In Cassel 2 Stunden
Aufenthalt, an K. geschrieben, mich gewaschen, schön zu Mittag gegessen, im Personenzug
2. Klasse weitergefahren, behaglich ausgeruht, aber leider Ejakulation. Dann Schmerzen im
Steißknochen und große Angst, Gefühl, mich zu retten durch einsame, fleißige Arbeit und
Sammlung. Es wurde langsam 7. 20. K. war am Bahnhof Marburg. Sie hatte einen grauen
Hut und sah prachtvoll aus. Ich war begeistert. Ihr jugendliches, rundes Gesicht. Sie erin-
nert mich an Tante Marie von Osslum <? >. Ich bin maßlos verliebt. Sie hat magna c.[um]
l.[aude]186 promoviert. Großartig. Wir gingen in meine Wohnung in der Haspelstraße, bei
Frau Maus. Dann noch etwas durch die Straßen. K. plauderte wie ein kleines Mädchen.
Unendlich schön und lieb. Dann tranken wir im Restaurant Kratz187 eine Flasche Wein und
gingen zusammen nach Hause, Rotenberg. Doch war die Hausfrau nicht zu Hause und nur
eine alte, taube Baltin, die Frau Geist in der Wohnung. Alles unglaublich eingerichtet, als
wäre es für uns berechnet. Ich schlief also bei <…>. Wir plauderten lange im Bett. Ein klei-
nes, enges Zimmer.

186 Curtius hatte am 31. 1.1922 geschrieben: „Miss Murray wird hoffentlich am 1. März promovieren.
Ich werde ihre Arbeit mit dem besten Prädikat zensieren. Unser recht beschränkter Germanist
macht ihr große Sorge und mit Recht. Aber ich werde sie durchbringen. Er wird kaum den Mut
haben, gegen die Promotion ein Veto einzulegen, wenn das Prädikat der Arbeit und das Mündliche
in romanischer und englischer Philologie gut ausfallen. Ich werde nötigenfalls eine Kabinettfrage
daraus machen.“, vgl. Nagel (Hrsg.), BW Curtius – Schmitt, S. 14. Am 20. 2.1922 schrieb Curtius:
„Schwierigkeiten der Promotion von Miss Murray beseitigt“, ebd., S. 15. Das Dissertationsgutach-
ten des Erstberichterstatters Curtius vom 14. 2. 1922 ist abgedruckt bei Mehring, Greifswalder
Intermezzo, S. 341 f. Das Rigorosum am 15. März bestand sie in Französisch (Hauptfach, Prüfer
Prof. Curtius) mit gut, in den Nebenfächern Deutsch und Englisch (Prüfer Prof. Ernst Elster bzw.
Prof. Max Deutschbein) mit sehr gut. Zu Einzelheiten vgl. Mehring, Greifswalder Intermezzo,
S. 330 und S. 338–340.
187 Marktgasse.

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März 1922 63

16. 3. 22 [Donnerstag]
Bis 10 im Bett. Hingerissen und berauscht von dem schönen weißen Leib und der unendlich
quellenden Gesundheit. Frau Geist kochte Kaffee. Nachher zu Curtius, Rotenberg 15a, für
den Abend mit ihm verabredet. Aßen nicht zu Mittag, weil es zu spät geworden war. Zur
Post. Gingen nach Bauerbach, dort etwas Wurst, durch den Wald zurück, oft geküsst, in
herzlicher Liebe. Abends um 7 zu Curtius, etwas mit ihm geplaudert, immer nur über ihn
selbst. Dann aßen wir im Ritter188 zu Abend, zu 3., K., Curtius und ich. Wir waren sehr
müde, ich sprach aber ziemlich viel, vor allem, weil ich sah, wie sich K. um Curtius be-
mühte, massenhaft Gefühl, der Dumme zu sein. Dann wollte ich erst nach Hause gehen, um
abzureisen. Sah aber, dass K. mich rief, ging also leise zurück. Wieder bei ihr im Bett die
ganze Nacht. Immer unbedenklich‚ gestreichelt, „weitermachen“.

[Freitag] 17. 3. [1922]


Bis 10 im Bett. Dann wieder schön Kaffee getrunken. Manchmal traurig. Wollten weggehen,
diese Nacht. K. die Geschichte von Cari erzählt, dass sie mich erschießen will; überlegt, wie
ich nach Australien komme. Abends bei Sippel189 gegessen; dann schön ins Bett, wunder-
bare Ejakulation.

[Samstag] 18. 3. 22
Samstag bis 10 im Bett. Schnell zu Curtius, um 11, bis 1 auf K. gewartet. Um 1/2 2 bei Sip-
pel zu Mittag gegessen. Nachmittags bei Markers <? > Kaffee, abends Frau Geist eingela-
den.

[Sonntag] 19. 3. 21 [recte 22]


Zu spät in die Kirche, nicht mehr zu Curtius, Spaziergang nach Römerhausen<? > Dann bei
Sippel spät gegessen. Dann noch gegen Abend zum Frauenberg. In der Dunkelheit über
Cappel nach Hause.

Montag, 20. 3. 22
Wieder lange im Bett. Dann Kaffee gekocht. Unbegreiflich, wie der Tag vergeht. Nachmit-
tags mit dem romantischen <? > <…> im Waffelhaus, abends bei Frau Geist mit 2 Studen-
ten. Gute Unterhaltung gemacht.

Dienstag, 21. 3. [1922]


Frau Finner kam, ging aber bald weg. Abends Ekstase mit der Hand. Die neugierige K.

Mittwoch, 22. 3. [1922]


Den ganzen Tag bis 6 Uhr zu Hause. Unglaublich. Gegen Abend hätte ich gerne mit Sten-
gel190 etwas geplaudert, ging zu ihm, aber er hatte Besuch; wir aßen also für uns bei Sippel.
Trank nachher schöne Schokolade. Dann nach Hause.

188 Ketzerbach 1.
189 Pension Sippel, Wilhelmstraße 8.
190 Edmund Stengel (1879–1968), Historiker, seit 1914 Prof. für neuere Geschichte an der Universität
Marburg.

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64 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Donnerstag, 23. 3. [1922]


Mit ihr zu Stengel und Curtius; nachmittags mit Stengel. Nachts unerhört, wie schön ist ihr
Leib (selbstverständlicher zeigt sie ihn).

Freitag, 24. 3. [1922]


Morgens zog K. sich wieder an, setzte sich auf meinen Schoß, während ich ein paar Notizen
zu meinem Aufsatz für Max Weber Gedenkschrift191 machte. Wunderbar. Dann kochte ich
Kaffee. Abends bei Curtius, angeregt nach Hause. K. wartete mit ruhiger, mütterlicher
Freundlichkeit auf mich. Wie schön und gut ist sie.

Samstag, 25. 3. [1922]


Wieder den ganzen Vormittag im Zimmer, zusammen gebadet, Ekstase; etwas notiert. Be-
rauscht von dem schönen Leib, ihren Schenkeln, ihren Hüften. Erst gegen 4 bei Sippel zu
Mittag gegessen. Dann etwas eingekauft, über Carita gesprochen. K. hält sie für eine Zigeu-
nerin, regte sich sehr auf. Abends wären wir beinahe nach Agram gereist.

Sonntag, 26. 3. [1922]


Morgens eine lange, schöne Ekstase von K. Wie prachtvoll ist sie. Dann zogen wir uns an in
dem kleinen Zimmer. K. sprach immer von Carita und ihren Vermutungen. Ich soll viele
Briefe schreiben. Fräulein Finner kam, als ich <…>. Wir gingen in die Kirche, dann etwas
spazieren, aßen bei Sippel, sprachen natürlich von der Dame.192 Dann Spaziergang nach
Spiegelslust193. Ich war müde, mit K. zur Ruine. Sie strebte aus dem Wald. Sie war schön.
Berauscht, wenn ich an ihren Leib denke. Wir lasen etwas Literatur, Frau Geist kam, sich
für die Blumen zu bedanken, die wir ihr geschenkt haben. Dann ging K. früh ins Bett und
war ein artiges Kind (sie erzählte von Sepp in Meiderich). Sie aß im Bett, kaute langsam,
schlief gleich ein. Ich arbeitete noch an meinem Aufsatz für Max Weber Gedenkschrift.
Welche Situation; in dem kleinen Zimmerchen.

Montag, 27. 3. [1922]


Eisler geschrieben, dass er komme. Ein Tag nach dem anderen vergeht. Nachts bald Bett.
Dann am Vormittag beim Frühstück geschwätzt usw.

Dienstag, 28. 3. [1922]


Abends wieder prachtvoll im Bett. K. sagte, ich sei noch niemals so lieb und schön gewesen.
Ich war glücklich. Diktiert.

191 Vermutlich erste Arbeiten am Manuskript „Soziologie des Souveränitätsbegriffs und politische
Theologie“, gedruckt in: Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber. In
Gemeinschaft mit Gerhart von Schulze-Gaevernitz u.a. hrsg. von Melchior Palyi, 2 Bde., Mün-
chen/Leipzig 1923, Bd. 2, S. 3–35; danach als Kap. 1, 2 und 3 aufgenommen in: Schmitt, Politische
Theologie, München/Leipzig 1922.
192 Schmitts erste Frau Cari.
193 Ausflugsgaststätte auf den Lahnbergen.

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März/April 1922 65

Mittwoch, 29. 3. [1922]


Die Tage vergingen wie nichts: des Nachts im Bett lange geschlafen.

Donnerstag, 30. 3. [1922]


Lange gefrühstückt, bei Sippel zu Mittag gegessen. Wie von der ganzen übrigen Welt ab-
geschnitten. Abends zu Hause gegessen.

Freitag, 1. 4. [1922]
Dann glücklich ins Bett. Geweckt nur durch den Vogel, der mit herzzerreißender [Inten-
sität] pfeift.

Samstag, 2. 4. [1922]
Abends holten wir Georg Eisler ab. Aßen mit bei Pfeiffer.194 Dann müde, K. weniger.

Sonntag, 3. 4. [1922]
Um 10 holte ich Eisler ab. Erzählte von Carita. Nach der Kirche trafen wir K. Wie aßen
schlecht bei Sippel. Um 1/2 7 kam Eisler. Er hat meinen Aufsatz [für die Max Weber Erin-
nerungsgabe] gelesen und rühmte ihn. Wir tranken Kaffee. Aßen bei Katzer, danach schön
bei Ritter.

Montag, 4. 4. [1922]
Morgens mit Eisler über meinen Aufsatz. Wunderschön. Christentum und Heidentum.
Dann zu K., wir aßen bei Pfeiffer, zumal zu spät [für] Ritter (vorher Karten gekauft),
gegenüber Frau Maus. Dann mit K. zur Klinik, zum Zahnarzt. Ich sitze als der Dumme
daneben. Nachher zu Eisler. (K. beleidigt, wollte auf einmal nach Hause gehen. Ein launi-
sches Kind, dann wieder war sie fröhlich). Wir tranken auf dem Zimmer von Eisler Kaffee,
ich erzählte den treuen Zigeuner195, dann besprachen wir meine Lage und entschlossen uns,
dass wir nach Wien reisen sollen. Aß abends viel zu Abend, um 1/2 1 fuhr Eisler ab; er hatte
Schlafwagen zugesichert bekommen, bekam ihn aber nicht. Ging mit K. nach Haus. Schlief
zum ersten Mal seit dem 15. Für mich allein geschlafen, bei Frau Maus. Müde. Bedürfnis
nach Konzentration. Kein Geld mehr.

194 Hotel Pfeiffer, Elisabethstraße 12.


195 Die satirische Erzählung „Der treue Zigeuner“ von Carl Schmitt ist mit einer Vorbemerkung ab-
gedruckt in: Schmittiana VII 2001, S. 19–27, s. Anhang S. 564–569. Darin stellt sich Schmitt in der
Rolle eines betrogenen Lastesels dar, der seine Frau auf einer Pilgerreise zur Absolution ihrer Sün-
den trägt. Die Erzählung ist teils als „Illustration der Legendenbildung“ (Hans Schneider; vgl. ebd.,
20), teils als Apologie des römischen Katholizismus (Kathleen Murray; vgl. Mehring, Aufstieg und
Fall, S. 138), teils als „autobiographische Reflexion“ (Mehring, ebd., S. 137) verstanden worden.
Schmitt hat dieses „Gerippe einer Geschichte“ (Franz Blei in einem Brief an Schmitt vom
19. 4.1922, in: Blei, Briefe an Carl Schmitt, S. 40 f.) trotz Drängen Bleis nie veröffentlicht, aber bei
mancher Gelegenheit im kleinen Kreis vorgetragen. Siehe auch Anm. 202.

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66 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Dienstag, 5. 4. [1922]
Bis 10 im Bett. Brief vom Kuratorium. Ich soll nach Bonn fahren, wie nach Frankfurt.
Sehnsucht nach Jup. Ließ mir die Haare schneiden. K. erwartete mich in großer Sehnsucht,
weil ich so spät kam. Wir machten Reisepläne, frühstückten, dann zur Klinik; junge [Patien-
ten]‚ saßen eine Stunde daneben. Abend trotz Frau Finner zu Hause geblieben. Todmüde
gleich eingeschlafen.

Mittwoch, 5. 4. [1922]
Morgens vorsichtig auf 1 Stunde. Es ging gut. Unglaubliche Situation. Gefrühstückt zusam-
men und kam natürlich zu spät zum Zahnarzt. Manchmal wird mir dieses Hausknechtsein
aber doch zu dumm und ich denke mit großem Mitleid an Curtius. Dazu pfeifen die Vögel.
Mittags im Bett gegessen, wenig und schlecht, sie wollte weg, dann gleich wieder zur Kli-
nik. Ich ging aber nach Hause, machte den Ofen an, bald kam K. zurück, ganz aufgelöst.
Ich musste sie trösten, machte ihr Kaffee, dann wurde sie wieder munter. Wir gingen nach
Wehrshausen, wegen der Kohlen. Ich komme keine Minute zur Sammlung und Ruhe. Sie
singt Bummelpetrus.196 Es ist unglaublich. Jetzt sehe ich aber doch, wie recht Georg Eisler
hat, wenn er sagt, dass sie mir zu ungeistig sei. Es ist wirklich schlimm. Ich spreche von
einem Buch über Deutschland, sie gähnt‚ sobald nur die Rede darauf kommt. Wie damals
bei der [Promotions]-Arbeit. Bin ich eigentlich ein Narr? Abends aßen wir zu Hause, spra-
chen etwas über das Deutschlandbuch, tranken Wein dazu, Burgunder, den wir bei Pfeiffer
gekauft hatten. Ich wurde munter von dem Wein, küsste sie, wurde verliebt, wir gingen zu
Frau Finner und schenkten ihrem Sohn, Justus Finner, etwas; eine anständige, würdige
Frau, die mit trank und außerdem von ihrem im Krieg gefallenen Mann erzählte. Aber viel
vornehmer als K. Natürlich kann K. sie nicht leiden. Im Bett wunderbar, verliebt, hingeris-
sen von der Schönheit der K., ihre Frisur, ihre schwarzen Haare, das volle Fleisch, die
prachtvollen Schenkel, streichle sie, bis sie eine Ekstase bekam, es ging ziemlich schnell. Sie
[ist] immer ganz nass, müde eingeschlafen, berauscht, sexueller Rausch.

Donnerstag, 6. 4. [1922]
Todmüde. Es ging wieder gut. Ich schellte an der Tür, als wäre ich von außen gekommen.
Dann kochte ich Kaffee (Hausknecht), begleitete K. zur Klinik, der Dr. Schwarzschurz ist
sehr höflich. Es ist eine neue Operation nötig. Ich schrieb etwas am Treuen Zigeuner, dann
ging ich Kohlen besorgen usw., ließ mich rasieren, dann in die Wohnung von K. Frau Fin-
ner zeigte mir die Bibliothek, die Ringe ihres Mannes. Geschmackvoll und schön. Nachher
kam K., sie hatte aber wenig Interesse. Sie kann von nichts erzählen als davon, dass Männer
gegen sie liebenswürdig sind. Es ist mir bald zu dumm. Der arme Vogel pfeift. Oft Flucht-
pläne. Mittags schlecht im Freidhof.197 Es ist mir widerlich, wie K. mit den Kellner spricht.
Manchmal kann ich mich darüber hinwegsetzen.
Begleitete sie zur Klinik. Dann kaufte ich ein, in meiner Wohnung bei Frau Maus war kein
Brief. Ging zu Frau Finner in die Wohnung und machte wieder den Ofen an. Erschrak vor

196 Beliebter Schlager vom Beginn der 1920er Jahre. 1. Strophe „Überall herrscht große Kohlenot,/
Selbst im Himmel ärgern sie sich tot,/Petrus steckt nur dann und wann/Hier und da ein Sternlein
an“.
197 Kasernenstraße 3.

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April 1922 67

mir selbst, wenn ich Tagebuch führe. Ich armer Hausknecht. Dabei ist K. gut. Sie hat an den
Generalagenten geschrieben, um es zu erreichen, dass ich nach Australien reisen kann. Sie
spricht von mir mit größter Selbstverständlichkeit. Mir zittern die Hände vor Wut, wenn
ich daran denke, dass ich in diesen 3 Wochen noch keine 3 Minuten über Dinge sprechen
konnte, die mich interessieren. Sie verlangt, dass ich bis zu ihrer Operation dableibe und
sagt, auch ein Fremder bliebe hier. Ich möchte weglaufen, ich könnte weinen, so fühle ich
mich betrogen. (Dies schreibe ich in ihrem Zimmer Rotenbergstraße 1b, während ich auf sie
warte). Dabei lasse ich meine arme Frau [sc. Cari] sitzen; aber um 6 hielt ich es nicht mehr
aus. Ging auf die Treppe, um zu sehen, ob K. noch nicht käme. Ohne Mantel lief ich immer
weiter (der Inder begegnete mir). Endlich traf ich sie, in der Stadt. Wir kauften noch ein,
gingen zusammen in ein elendes Haus, wegen der Kohlen, sie hatte mir Baudelaire gekauft
und war wieder lieb und freundlich. Wir aßen zu Abend, ich blieb des nachts da. Wieder
wunderbare Ekstase und Ejakulation.

Freitag, 7. 4. 22
Morgens angezogen, dann hinter dem Schrank versteckt, weil Putzfrau immer vor der Tür.
Um 1/2 10 kam Frau Finner herein, sie erschrak, als sie mich sah. Ich fasste sie um den Arm
(unglaublich), war der Situation gar nicht gewachsen. Zu dumm. Ging dann noch in die
Küche, bis K. Kaffee kochte. Alles regte mich auf. Trank mit dummem Gesicht Kaffee,
dann gingen wir zur Klinik. Der gute Dr. Wagner klagte mir sein Leid, wegen der Unpünkt-
lichkeit von K. Er fürchte, er verliere die Geduld. Ähnlich Dr. Schwarzschurz. Ich war ent-
schlossen, jetzt endlich Schluss zu machen. Wir gingen zum Zahnausziehen. Ich fand ihre
weichliche, kindische Angst lächerlich und widerwärtig. [Mir ist] sie leid. Wir aßen in der
Alten Post zu Mittag. Traurig. Schickte Frau F. Blumen mit der Bitte um Entschuldigung
für den verursachten Schreck. Dann zur Klinik. Ich musste Pyramidon holen, also wieder
zum Rotenberg, dann an der Haspelstraße vorbei, ein Brief von Jup und Geld aus Greifs-
wald. Ging zur Klinik zurück. K. war freundlich zu mir und sagte, sie habe mich sehr lieb.
Also war ich wieder versöhnt. Ich ging zur Post, nach Hause, zog neue Kleider an und sah
gut aus. Holte K. ab, wir gingen noch wegen des Holzes nach Wehrshausen. Dann tranken
wir Kaffee bei Vetter,197a ich war traurig, dass ich zu nichts komme, dass meine geistige Pro-
duktivität ganz aufhört. Aber ich werde Schluss machen. Dann noch Brötchen usw. gekauft.
Wir begegneten Dr. Wagner und Bier <?>, den beiden Zahnärzten, auf der Straße, K. mit
dem Holz im Arm. Zu Hause Ofen angemacht, mit Frau Geist freundlich gesprochen und
sie um Kohlen gebeten. Dann mit K. auf dem Bett gesessen und ihr gesagt, dass sie kein
Kind sein soll. Sie schien betroffen, weinte, aber es ist ja nichts zu wollen, doch war ich
gerührt und hatte sie unbeschreiblich lieb. Ich aß zu Abend, während sie ins Bett ging. Sie
saß im Bett, sie hatte mich wieder sehr lieb. Ich sagte ihr, dass ich sie besser kenne, als jeder
andere. Ging 1/4 nach 10 nach Hause, ziemlich aufgeregt; was soll ich tun. Aber K. sagt so
schön sweetheart. Bei Frau Maus (zum 2. Mal seit dem 15. März). Nebenan sangen Studen-
ten mehrstimmig. Rührend. Kindheits- und Konventserinnerungen. Wie fremd wäre hier K.
Aber sie liebt mich und ich liebe sie. Wer weiß, wie lange es noch dauert. Jup hat mir einen
rührenden Brief geschrieben.

197a Noch heute bestehendes Traditionscafé in der Reitgasse 4.

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68 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Samstag, 8. 4. 22.
Um 8 auf, Brief vom Oberpedell Bonn, Karte von Carita, sie ist über Beuel gefahren. Was
tat sie da. Angst, dass sie kommt. Skandal ausgemalt. Dann zu K., Kaffee gekocht in der
Küche von Finner, sie war müde, schläfrig, geschwollene Beine. Beim Kaffee aber sehr zärt-
lich, streichelt mein „Näschen“. Wir gingen zur Klinik. Ich war erfrischt davon, dass ich
einmal für mich alleine geschlafen hatte. Bei Schwarzschurz (sie hatte Angst und schickte
mich vor, um sich zu entschuldigen); dann hatte ich eine Stunde frei. Hochgefühl (<…> wie
komisch dieser Zustand ist). Auf der Post in Marburg Karte geschrieben an Lisbeth, an
Oberpedell in Bonn, Blei.198 Also endlich etwas erledigt. Am Montagmorgen den Treuen
Zigeuner diktiert. Dann holte ich K. ab, in guter Laune und überlegen. Wir kauften lange
Bücher. Ich war ungeduldig, aber sehr guter Laune. Kaufte noch etwas ein, dann nach
Hause, dort Kaffee getrunken, K. weinte, aber wir versöhnten uns schön, küsste sie un-
unterbrochen. Ruhten uns aus. Ging nicht mehr aus, überlegten zusammen den Treuen
Zigeuner, das war wunderschön. Hatte K. unbeschreiblich lieb und sah, wie klug und schön
sie war. Abends mit ihr noch 2 Flaschen Rotwein bei Pfeiffer. Dann zusammen etwas im
Bett; unendlich schön und süß war sie. Ihr Leib ist prachtvoll. Ich war wieder berauscht,
hingerissen. Sie sagte immer wieder Liebster, sweetheart. Um 12 1/4 berauscht nach Hause.
Dort eine Drucksache von Löwenstein199, über den Föderalismus. Erschrak erst, delikate
Sache. Dass ich von diesem Juden nichts zu fürchten hätte, [sah ich bald]. Nachmittags und
abends K. 2 Ekstasen mit der Hand.

Sonntag, 9. 4. [1922]
Brief von Eisler.200 Früh zu K. gegangen, ihr Frühstück gemacht, es wurde 11 Uhr, bis wir
zur Kirche kamen; sie war aus. Ich war traurig und schlechter Laune. Wir aßen bei Pfeiffer,
wurden nicht gut bedient, es war ziemlich teuer. Dann nach Hause, Kuchen bei Vetter
gekauft, aber keinen Kaffee getrunken; sie erzählte nur von sich, von ihren Zähnen, von den
Komplimenten, die Männer ihr gemacht haben. Aber wir sprachen dann schön vom Treuen
Zigeuner, ich habe nicht den Eindruck, als ob es großes Interesse gemacht hätte. Innerlich
allein, aber ich muss noch [warten], bis die Zahnreparatur fertig ist.

198 Auf der Postkarte vom 8. 4. 1922 an Franz Blei kündigte Schmitt an: „… Über die Tage bekom-
men Sie den treuen Zigeuner. Veröffentlichen Sie ihn unter meinem Namen Carl Schmitt, aber als
Buch …“, Briefe Schmitt an Blei (wie Anm. 45).
199 Das Problem des Föderalismus in Großbritannien, Annalen des Deutschen Reichs für Gesetz-
gebung, Verwaltung u. Volkswirtschaft 1921, S. 1–95, s. auch die Eintragung im Tagebuch v. 24.11.
1923. Karl Löwenstein (1891–1973), Staatsrechtler u. Politikwissenschaftler, 1919–1933 Rechtsan-
walt in München, 1931 ebd. habilitiert, Emigration in die USA, 1934–1936 Prof. an der Yale Uni-
versity in New Haven (Connecticut), ab 1937 am Amherst College (Massachusetts), im 2.Weltkrieg
Berater der US-Regierung in Staatsschutzfragen, 1956 Prof. für Politische Wissenschaften u.
Rechtspolitik in München, gleich darauf Emeritierung. Löwenstein hat als Legal Adviser nach dem
Krieg die Beschlagnahme von Schmitts Bibliothek und seine Verhaftung im Herbst angeregt; vgl.
Martin Tielke, Die Bibliothek Carl Schmitts, in: Schmittiana NF I 2011, S. 257–332, 292–315.
200 Brief vom 7. 4. 1922, in dem Eisler Schmitt beschwört, Kathleen Murray nicht mit nach Bonn zu
nehmen und dort mit ihr zu leben, sondern die Beziehung durch eine Trennungsphase zu prüfen;
sein augenblickliches Wohlbefinden sei eine Täuschung und er werde bei einem Zusammenleben
nicht dazu kommen, den neuen Aufsatz zu schreiben (RW 265-3130).

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April 1922 69

Montag, 10. 4. [1922]


Morgens holte ich K. ab und brachte sie zur Klinik (sie schickte mich vor, zu Schwarz-
schurz, um sie zu entschuldigen), dann den Treuen Zigeuner bei Fräulein Stiefel diktiert
(sah vom Zimmer aus Erich Jung 201 auf der Straße). Um 1/2 1 K. abgeholt, sie war aufgelöst,
wir aßen eine Omelette im Ritter (ich aß das schlechte Mittagessen). Dann brachte ich sie
nach Hause, pflegte sie, so gut es ging, um 3 wieder zum Zahnarzt. Ging unterdessen nach
Hause, ruhte mich einen Augenblick aus, dann holte ich sie wieder ab (plauderte mit dem
guten Wagner). Wir kauften ein, ermüdend, aßen zu Abend, tranken Beaujolais. Sie wurde
munter und guter Dinge und hatte alles vergessen. Sie wirkte auf mich wie ein kleines
Ladenmädchen, das jeder haben kann. Abends war sie todmüde, blieb bei ihr auf dem Zim-
mer. Schlief in meinem Unterzeug. Nachts wach; Aufregung, Angst vor meinem Zustand.
Es ist unglaublich.

Dienstag, 11. 4. 22
Morgens eine Komödie, um glauben zu machen, dass ich um 1/2 1 ins Haus kam. Dann
gefrühstückt (Angst vor der korrekten Frau Finner), dann zur Zahnklinik. Dann in der
Bibliothek in der Barfüßerstraße, <…>, aber welche Erholung, wieder einmal etwas Geisti-
ges nach diesen entsetzlichen Schwätzereien. Trank dann für mich allein bei Kratz ein Glas
Wein und rohe Brötchen dazu. Das tat mir gut. Holte K. ab, die anspruchsvoll und aufge-
löst war. Tranken bei Kratz Malaga, ich brachte ihr Brötchen und brachte sie nach Hause.
Dann schön bei Fräulein Stiefel den Treuen Zigeuner zu Ende diktiert. In Eile nach Hause,
kochte Eier und Kaffee. Dann wieder zurück zur Zahnklinik, wollte nach Hause gehen
(todmüde, von der Nacht und den Laufereien; wie halte ich das aus). Lief Erich Jung in die
Arme. Bis nach 5 geplaudert. Dann K. abgeholt. Wir aßen in der Alten Post gemütlich zu
Abend bei einer Flasche Burgunder. K. wurde schnell munter, hatte aber nicht viel Interesse
für den Treuen Zigeuner. Ich brachte sie schließlich um 10 nach Hause, sah ihre prachtvol-
len Schultern, ihre Frisur, ihre Brust, war hingerissen. Dann selig nach Hause.

12. 4. 22 [Mittwoch]
Todmüde, die Sache leid, um 1/2 vor 9 bei K. Es gab einen kleinen Krach zwischen Frau
Finner und K., ekelhaft; dann zum Zahnarzt, ich ging dann zur Bibliothek, schrieb an
Blei202 und Georg Eisler und schickte ihnen den Treuen Zigeuner. Sehr froh, das erledigt zu
haben. Dann wieder K. abgeholt. Sie quält und macht immer lange Ausreden und Anreden.

201 Erich Jung (1866–1950), Rechtsphilosoph, seit 1909 Professor an der Universität Straßburg, von
1921 bis 1934 in Marburg. Schmitt hatte bei ihm in seiner Straßburger Zeit Bürgerliches Recht
gehört.
202 Im Brief vom 12. 4. aus Marburg schrieb Schmitt an Blei: „Lieber Dr. Blei. Ihr Brief vom 10. traf
hier ein. Vielen Dank. Als Ostergruß sende ich Ihnen den treuen Zigeuner. Bitte ändern Sie nichts
daran. Ich weiß, dass er ungelenk ist, aber er soll so bleiben wie er ist. Eine kleine, Pichler bekannte
Zeitschrift würde ihn drucken; mir ist ein hübsches kleines Buch aber lieber. Schreiben Sie mir, was
Sie über ihn denken; wenn Sie sofort antworten (worum ich Sie bitte), trifft mich Ihre Empfangs-
bestätigung vielleicht noch in Marburg; sonst bitte Bonn, Universität …“. Nachdem Franz Blei das
Manuskript erhalten hatte, bat er um Überarbeitung und Erweiterung, die Schmitt aber ablehnte.
Daraufhin schickte Blei das Manuskript im Juli d. J. zurück. Schmitt, Briefe an Blei (wie Anm. 45).

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70 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Schrecklich. Dann Essen im Ritter, sehr gut, ich ging nach Hause, zog mich aus, müde,
erschöpft.

13. 4. 22, Gründonnerstag


Ich wartete auf den Briefträger und ging dann zu Wagner, zur Post, eine Nachnahme von
Liebmann <?>‚ traf <…> D. Meyer <?>, dann etwas eingekauft. K. zu Hause, es ging ihr
gut, sie hatte gar keine Schmerzen, las ausländische Zeitungen, den Familienteil, eine
grauenhafte [Mediokrität]. Wir tranken eine Flasche Saumur‚ aßen Brote dazu. Es wurde
Abend, ich war todmüde, brachte sie ins Bett (wäre beinahe weggegangen), wir beteten
zusammen (zum ersten Mal seit langer Zeit, aber es hat keinen Zweck), dann todmüde um
1/2 10 nach Hause. Noch eine Flasche Selterwasser in einer Wirtschaft an der Haspelstraße.
Dann ins Bett; ruhiger. Oft sehe ich einen Mann vorbeigehen. Ich bin frech. Ich will ruhig
sein. Ich habe mit K. wirklich nichts zu tun. Welch ein Irrtum.

Karfreitag, 14. 4. 22
Um 9 auf, müde, aber gut ausgeruht. Dachte mit größtem Mitleid an Carita, als ich eine
Katze sah. Um 1/2 10 bei K. Die Frau Finner war in ihr Zimmer gekommen, hatte mir das
Haus verboten, ihr gesagt, dass sie Samstag um 1 Uhr das Zimmer räumen müsse usw. Ekel-
haft. Wir frühstückten in schlechter Laune zusammen (die Frau Finner hatte mir das Haus
selbst geöffnet). Wir gingen zur Kirche, dann spazieren gegangen hinter das Dorf Wehrda.
Wir lagen im Wald und sprachen von Carita (plötzlich wieder Mitleid, K. hatte einen
Traum, dass Carita <…>), dann zu Frau Maus, ausgeruht, K. las mir etwas vor. Darauf
im Ritter zu Abend gegessen, wo ich das Buch über Deutschland schrieb, plötzliche
Wut auf K., weil sie mich unterbrochen und merken ließ, wie wenig Interesse sie hat. Infol-
gedessen Magenbeschwerden. Wein getrunken, ekelhaft, traurig nach Hause. Dort war
Licht. Wir hatten Angst vor Carita, wir kauften Kuchen, dann zu Hause, wieder berau-
schend. Um 10 brachte ich K. nach Hause, ging aber nicht mit ins Haus. Müde, erschöpft
nach Hause zurück, aber heftige Liebe zu K. Sie war klug, sie sagte mir: sei sicher, dass ich
dich liebe.

Karsamstag, 15. 4. 22
In Sorge auf den Geldbriefträger gewartet. Aber nicht die Idioten in Bonn, die mir mein
Gehalt nicht schicken. Ein eingeschriebener Brief von Georg Eisler, er schickt 1000 Mark;
ich war gerührt. Dann werde ich heute abreisen können; dann packte ich meine Bücher ein,
schrieb an Carita, wartete auf K., die statt um 9 um 10 Uhr kam, kochte Kaffee, gefrüh-
stückt, ein gutes Gefühl. Um 11 Uhr zu Dr. Fliegel, der so [gut] operiert. Dann an einer
Bank vorbei, sie war aber geschlossen. Wegen des Geldes herumgelaufen, mit Dr. Wagner
ausgemacht, dass er Pfand nimmt, ich schicke ihm dann das Geld; welche Geschäfte, so ein
armes, christliches Traktätchen<? >. Im Wartezimmer wurde ich gerührt. So ist das Leben.
Dachte an Dostojewski. Aber diese Menschen sind nicht gut, wenn sie grausam sein kön-
nen. Ich selber werde nur schrecklich. Wir waren müde. Nachmittags schlief K. bei mir zu
Hause, ich aß unterdessen bei Sippel, trank eine Flasche Zeltinger. Dann zur Post, Geld
geholt, 6000 Mark von Bonn. Dann tranken wir Kaffee, kauften Koffer, Schuhe, K. ließ ihre
Haare waschen, ging unterdessen zur Post, zu Fräulein Stiefel, im <…>café, ein Mädchen,
das mich an Friedchen Pan <?> erinnert; abends 9 Uhr zu Frau Finner, wartete bis 10, hin-

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April 1922 71

ter dem Haus am Rothenberg, Angst, Ekel, wir verfehlten uns, um 10 Uhr [bei] Sippel Wein
getrunken. Um 1/2 2 K. nach Hause begleitet, dann müde ins Bett.

Ostersonntag, 16. 4. 22
Um 8 wollte K. kommen. Ich stand erst um 8 auf, sie kam natürlich nicht, es war mir aber
recht. Es wurde 1/2 10. Las etwas in meinen Notizen über Cortes und sah, wie ich herun-
tergekommen bin. Dann mit K. gefrühstückt, dann zur Kirche, Predigt von dem Jesuiten
Duhr 202a, hohle Erinnerung. Um 1/2 12 Wohnung, Merkur<?> zu Mittag gegessen, wunder-
schön. Dann 2. Klasse im Personenzug nach Gießen, in bester Laune. K. hatte mich innig
lieb. Wir gingen durch Gießen, sahen die Universität, ein langweiliger, nichtssagender klas-
sizistischer Bau, traurige Langeweile, dann tranken wir im Kaffee Ernst-Ludwig Mokka.
Sah seit langem das Berliner Tageblatt und dass Scheffer203 in Genua ist; auch [von M. J.]
Bonn; wiederum Kontakt mit der Welt. Glücklich, dass K. mich frisch und jung fand und
sagte, ich hätte eine wunderbare Farbe. Fühle, dass sie mich wirklich liebt. Wir fuhren nach
Wetzlar, das Hotel Herzog204, nicht weit vom Bahnhof. Eine hässliche Stadt, ein schöner
Dom auf einem Berg. Wir gingen mit Angst ins Hotel. Erst ein kleines, hässliches Zimmer.
Ich verlangte ein besseres und bekam ein wunderschönes, Nr. 5, mit schönen Möbeln, sehr
groß. Wir waren sehr fröhlich, aßen in einer Weinstube zu Abend, sehr gut, gingen früh
nach Hause, ich wurde fröhlich, wartete aufs Gepäck, das erst um 1/2 11 kam, unterdessen
war K. eingeschlafen. Junger, prachtvoller Leib, Erlösung, Ejakulation.

Ostermontag, 17. 4. 22
Um 1/2 9 auf, wie schön ist K. Wir waren erst um 1/2 11 zum Frühstück auf dem schönen
Zimmer. Gingen zum Dom, besahen ihn, besonders einen kreuztragenden Heiland des
14. Jahrhundert mit [Adern] von Zorn. Unheimlich. Der Kopf, <…> mit dem Blick ins
Publikum. Dann zum Lottehaus, das aber geschlossen war. Es regnete. Wir aßen im Hotel,
sehr gut, dann schliefen wir. Vorher eine Ekstase mit der Hand, ejakuliert. Bis 5 Uhr
geschlafen. Erfrischt, ein paar Karten geschrieben, Mokka aufs Zimmer bestellt, um das
Buch über Deutschland zu schreiben. Ein Kapitel. Dann in die Andacht im Dom, ergriffen.
Schämte mich meiner [Bewegtheit]. Die offenbar naturalistische Pietà aus dem 14. Jahrhun-

202a Vermutlich Bernhard Duhr SJ (1852–1930), Historiker und Schriftsteller, Verfasser u. a. der vierbän-
digen „Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge“ (Freiburg i. Br. u. a. 1907–1928).
203 Paul Scheffer (1883–1963), Journalist, 1933–1937 Chefredakteur des „Berliner Tageblatts“, danach
Auslandskorrespondent der Wochenzeitung „Das Reich“, berichtete bereits von November 1921
bis September 1929 für das BT aus der Sowjetunion, später auch über den Holodomor in der
Ukraine und wurde einerseits von Stalin während der Moskauer Schauprozesse 1936–1938 gegen
Bucharin und Rykov als Spion gebrandmarkt, andererseits in den USA von John Edgar Hoovers
FBI und SIS der Spionage und des Kommunismus verdächtigt. Schmitt kannte ihn schon seit sei-
nen Münchner Jahren. Vgl. Margret Boveri, Wir lügen alle. Eine Hauptstadtzeitung unter Hitler.
Olten und Freiburg 1965, bes. S. 105–136. Während der Finanz- u. Wirtschaftskonferenz in Genua
schloss das Deutsche Reich mit der damaligen Sowjetrepublik am 26. April 1922 den Vertrag von
Rapallo.
204 Hotel Herzogliches Haus, am Bahnhof Wetzlar.

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72 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

dert. Weinte, als ich den mageren Christus sah, <…> dann abends der Oberlehrer Zehner.205
Der Oberlehrer erzählte von Wetzlar, versteht die Weltgeschichte von Wetzlar aus. Wir
lachten, als sogar die Schlacht im Teutoburger Wald hier stattgefunden haben soll. Bis
2 Uhr; Rheinwein getrunken. Ins Bett, in heftiger Glut <…> K. – Ekstase

18. 4. 22 [Dienstag]
Um 9 Uhr auf, gegen 1/2 10 gefrühstückt, dann mit dem Oberlehrer zum Stadtarchiv, wo
die Akten des Reichskammergerichts sind; am Dom vorbei. Dann zum Lottehaus. In der
Amtswohnung dieser Zeit. Dann gegessen, nachher bis 5 geschlafen. K. sagte mir: Du müss-
test Dich doch jetzt legen im sicheren [Besitz] einer Frau. Das rührte mich sehr. Wir gingen
abends noch etwas spazieren, aßen in der Weinstube, schrieb an dem Buch über Deutsch-
land, der Oberlehrer Zehner kam zu uns (der Urenkel der ev. Gräfin von Ahlefeldt206, also
eines dänischen Königs); wir lachten über seine Erzählungen (er macht Gedichte für eine
Metzgerinnung und bekommt dafür Würste). Schlechtes Schweinefleisch, Kaffee; aufgeregt
um 12 ins Bett, gestreichelt, aber keine Ekstase, sehr nass, große Menge Flüssigkeit. Wie
sonderbar.

19. 4. 22 [Mittwoch]
Schlecht geschlafen, nachts geschrien. K. träumte (zum 2. Mal), dass Carita sie mit einer
Pistole erschießt. Wir standen nicht um 6 auf, schliefen bis 1/2 10, um 11 gefrühstückt, um 12
abgefahren, in Marburg, jetzt geht die Lauferei wieder los. Ich ging nach Hause, schlief,
war todmüde. K. nahm von dem Aufsatz über die <…>, beklagte sich über die Schmerzen,
meine Interesselosigkeit. Abends herumgelaufen, gekauft, zum Dekan, Bücher geholt; du
dummer Esel. Immer suche ich mir eine solche Frau, die mich in aller Naivität reitet und
glaubt, meine Wohltäterin zu sein. K. findet es jetzt schon ganz natürlich und selbstver-
ständlich, dass ich ihr außer der Dissertation ein Buch über Deutschland schreibe. Sie sagt:
Du bist mein Mann und musst mir beistehen. Dabei bin ich psychisch erledigt, meine
Hände zittern. Jede schöne ruhige Stunde macht mich traurig. Ich selbst versaue mein
Leben durch lächerliche Arbeit, mich mit Faulen einzulassen. Wann werde ich endlich frei?
Es war heute ein Telegramm von André da, ich soll ihn morgen Nachmittag in Wiesbaden
treffen. Sie ging zu Elster207, der sehr liebenswürdig war, und zum Dekan, dann vergebens
zu Frau Geist, die nicht zu Hause war, zu mir, um Oklitz208 einen Brief zu schreiben, den
ich ihr diktierte. Ich war müde und total fertig; dann zu Fräulein Maurer, dann wieder zum
Rotenberg zu Frau Geist; schließlich um 11 Uhr brachte ich sie zum Philippushaus, wo sie
übernachtet. Sie war zuletzt sehr gut gegen mich, sagte mir, dass sie es immer als selbstver-
ständlich ansah, dass sie meine Frau sei, mit wunderbarer Selbstverständlichkeit; ich war
gerührt. Trank noch ein Glas Bier in der Wirtschaft an der Ecke der Haspelstraße und ging
glücklich nach Hause.

205 Im Adressbuch der Stadt- und Landkreises Wetzlar, des Dillkreises und der Stadt Weilburg, Siegen
1922, ist Emil Zehner, Seminarlehrer, eingetragen.
206 In Schleswig-Holstein ansässiges altes Adelsgeschlecht.
207 Ernst Elster (1860–1940), Germanist, seit 1892 Professor in Leipzig, seit 1903 in Marburg.
208 Arthur Oklitz, Universitätskasse.

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April 1922 73

20. 4. 22 [Donnerstag]
Morgens mit Fräulein Maurer und vollem Gepäck zur Bahn, Streit beim Revisor wegen des
Gepäckes, in Frankfurt zum Expedienten, viel Geld bezahlt. Schrecklich teuer. Schnitzler209
nicht getroffen, dann nach Wiesbaden, ins Hotel von André, er kam bald. Wir aßen zusam-
men bei Pohls, müde nach Hause. Mit André gesprochen und geschlafen. K. schlief auf
Zimmer 11 für sich allein.

21. 4. 22 [Freitag]
Durch die Läden, Gesellschaftskleid für K. anprobiert, aber nichts gekauft. Nachmittags
Kaffee, aufgeregt, weil K. weggelaufen war. Abends schöner Spaziergang zum Neroberg‚
englische Gedichte. In Hansahotel, Musik.

22. 4. 22, Samstag


K. wollte nach Marburg. Wieder durch die Läden. Vormittags Spaziergang an der Villa von
Konsak210<? > vorbei (wahrscheinlich war Konsak mit mir im Gymnasium in Attendorn).
Abends bei Mutter Engel gegessen.

23. 4. [1922], Sonntag


Um 1/2 10 in die Kirche. K. fuhr 3. Klasse nach Frankfurt, um das Gepäck zu holen. Ich
unterdessen mit André bei Mutter Engel schön unterhalten. Um 4 kommt K. zu Mutter
Engel, dann nach Bonn, André brachte uns zur Bahn. 2. Klasse, alleine im Coupé. K. schlief
ein. Ich war einsam und konzentriert. Wir wohnten in Beuel im Bahnhofshotel.

24. 4. [1922], Montag


Von Beuel um 11 nach Bonn, am Sekretariat der Universität erste Nachricht, Eilbrief vom
Rechtsanwalt, dass der Dr. Perdes211 <?>‚ dem Cari die Wohnung 212 angeboten hat, ohne
die Miete zu bezahlen ausgezogen ist, den Perserteppich mitgenommen [hat]. Wir aßen im
Krug zum Grünen Kranze.213 Wohnung gesucht. Müde und schlechter Laune. Abends
wieder im Krug zum Grünen Kranze. Streit wegen des Camembert. Entschlossen, wegzu-
laufen.

25. 4. 22, Dienstag


Nach Köln, Wohnung gesucht, Jup um 8 getroffen. K. über Nacht in der Engelbertstraße,
ich bei Jup. Abends Franziskaner, Jup bei K.

209 Georg von Schnitzler (1884–1962), Kollege Schmitts beim stellvertr. General-Kommando des
I. Bayer. Armeekorps in München, ab Mitte der 1920er Jahre Vorstandsmitglied der IG-Farben, ver-
heiratet mit Lilly, geb. von Mallinckrodt, siehe Teil II, Anm. 81.
210 Nicht ermittelt.
211 Nicht ermittelt.
212 Siehe Anm. 8.
213 Im Krug zum grünen Kranze, Bonner Studentenlokal, Koblenzer Straße 27.

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74 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

26. 4. [1922], Mittwoch


In Köln. Mit Jup zusammen zur Stadt. Trafen zufällig André, holte K. ab, frühstückten in
einer kleinen Bäckerei. Dann zum Passamt, wo André sich ein Visum für Deutschland
geben ließ, zum Reisebüro, mit Stutterheim214, Jup., André bei Deis215 zusammen gegessen,
bei Jansen Kaffee216, unterhalten. K. kaufte unterdessen Blusen, ich musste glauben <…>.
Sie war anspruchsvoll, ich war wütend darüber. Denn mit ihr nach Hause, unterwegs auf-
gehalten. Den Zug 5.55 Uhr verfehlt, sie schrieb dem Generalagenten, ich rannte zur Bahn,
traf André, der beleidigt war, fuhr mit Stutterheim, dann 1 Paar besorgt, in die Neupert-
straße zu K. Wir [haben] unterwegs Stutterheim den Treuen Zigeuner erzählt. Mit der
Rheinuferbahn nach Bonn. André nicht mehr getroffen, wir suchten in den Straßen, im
Evangelischen Hospiz gefragt, ein paar Wohnungen genannt bekommen. Mit K. im Café
Reitz216a gegessen. Dann brachte ich sie zur Hohenzollernstraße. Müde ins Bett. André
kommt nach 11. Wir sprachen noch etwas zusammen über K., er nannte mich einen hoff-
nungslosen Menschen, schimpfte über meine Sprache mit Frauen, meine sinnlose Art, Geld
auszugeben. Ich hatte Angst, Wut über K. Furchtbar teures Hotel.

Donnerstag, 27. 4. 22
Um 9 auf, schön mit André gesprochen. Um 1/2 10 kam K. Wir frühstückten zusammen im
Hotel, es kostete 150 M.! Ich musste Brötchen holen für K., weil sie nur Weißbrot essen
wollte. Wut. Ich verdarb mir den Vormittag, dann herumgelaufen mit André, brachte ihn
zur Bahn, war traurig, er schimpfte über mich, nannte mich ohne Haltung, ich weinte. Als
er wegfuhr, [traurig] auf dem Bahnhof. K. war rührend gut zu mir. Wir gingen zur Univer-
sität, trafen den Dekan Heimberger217, der freundlich war; ein Brief von Kaufmann; über-
nimmt alle Vorlesungen218, um 1/2 4 im Grünen Kranz zu Mittag gegessen; müde, in der
Wohnung von K., Hohenzollernstraße 14. Ausgeruht. Sie küsste mich, als ich schlief. War
aber müde, diktierte ihr einen Brief an Oklitz. Zum Café Hansa 219 um 1/2 6, schöner
Kaffee, schön gearbeitet, endlich den Schenk<? > gesprochen. Hat ein Zimmer bei den
Barmherzigen Brüdern. Ein wunderbarer Nachmittag und Abend mit K. Mit Entsetzen
gedacht, dass sie bald fährt. Ich liebe und bewundere sie unbeschreiblich.

Freitag, 28. 4. [1922]


Morgens um 1/2 8 Uhr geweckt durch den Bruder, der das Frühstück brachte, wie üblich
angezogen. Schön nachgedacht. Um 9 Uhr zur Stadt, um 1/2 10 im Münster, etwas später
kam K. Wir hörten die Messe, dann durch die Straßen der Stadt, zur Universität, Nachricht

214 Stutterheim, Freund von André Steinlein.


215 Weinhaus Deis, Köln-Altstadt.
216 Obermarspforten 7, eines der ältesten Cafés von Köln.
216a Bonn, Sternstraße 79.
217 Joseph Heimberger (1865–1933), Straf- und Kirchenrechtler, 1896 ao. Prof. in Straßburg, 1902

o. Prof. in Münster und Gießen, 1903 o. Prof. in Bonn, 1916 Geheimer Justizrat, 1924–1925 Uni-
versitätsrektor, 1925 o. Prof. in Frankfurt/Main und Emeritierung.
218 Kaufmann hatte wegen seiner Verhandlungen im Auftrag des Auswärtigen Amts die Vorlesungen

abgesagt.
219 Hansa-Café und Konditorei, Bonn, Münsterplatz.

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April 1922 75

von der Katharina v. Wandel220, Angst, es stimmte etwas nicht. Mit K. eingekauft, zur
Hohenzollernstraße. Sie ging in ein größeres Zimmer. Ich war entzückt von dieser [schö-
nen] vornehmen Frau. Mit K. im Gangolf 221 gegessen, dann nach Hause, 1/2 Stunde aus-
geruht. Dann zur Waschanstalt, dann ein Bügeleisen gekauft, schließlich im Café Hansa.
Etwas an dem Buch über Deutschland geschrieben, wütend, weil K. mich zur Post schickte
wegen des Telegramms an die Bahn, (sie machte sich übrigens nichts daraus, sondern blieb
bei der Sache, d. h. dem, was ihr Vorteil ist). Bis 1/2 9 Uhr im Café, dumme Musik, etwas
spazieren, im Bahnhofshotel Kieffer222 gut gegessen, freundlich unterhalten, über <…>,
dann zum Brüderhaus, wo ein Telegramm für K. war. Sie fährt wirklich am 5. von Toulon
ab.

Samstag, 29. 4. [1922]


Morgens schlecht ausgeschlafen. Um 1/2 9 begegnete mir K. auf der Poppelsdorfer Allee,
als ich gerade zu ihr gehen wollte. Sie wollte gleich nach Heidelberg fahren. Entsetzlich. Ich
frühstückte. Schließlich fuhr sie doch nach Köln, wie verabredet. Ich brachte unterdessen
meine Koffer zu ihr von André, packte aus. Dann nach Hause, Briefe geschrieben (der
Rechtsanwalt Hirschberg223 will meine Vollmacht), an André, Georg Eisler, die Mutter (um
Wäsche), Karin, Ännchen224, Jup. Froh, das erledigt zu haben und einen Augenblick einsam
zu sein. Dann zu Kaufmann, der erst am 10. zurückkommt; zur Universität, ein paar Briefe,
einer von Carita, sie will Geld; musterhafte Sache. Aß ein Stück Schokolade, dann nach
Hause, etwas ausgeruht. Zur Waschanstalt an den Rhein, Georg Eisler glücklich geschrie-
ben, berauscht, in einer schönen Stadt am Rhein zu sein. Um 4 an die Bahn, eine halbe
Stunde auf K. gewartet, die von Köln zurückkam. Sie hat ein Kleid gekauft und spricht nur
von Geld. Es ist grauenhaft. Sie sagte: sie habe Mitleid mit Cari, weil diese es so schwer
habe.

[Bis zum 2. Mai 1922 sind keine weiteren Eintragungen im Nachlass vorhanden]

220 Katharina von Wandel (1873–?), geb. Schulz, genannt „die Generalin“, Witwe des Generalleutnants
(1912, ab 1916 General) der Infanterie und Stellvertretenden preußischen Kriegsministers (1914–
1916) Franz Gustav v. Wandel (1858–1921). Schmitt logierte bei ihr in der Meckenheimer Allee 45
(entgegen Mehring, Aufstieg und Fall, S. 150); laut Adressbuch der Stadt Bonn 1927 ist Frau
v. Wandel später in die Poppelsdorfer Allee 64 umgezogen.
221 Café Gangolf, Bonn, Gangolfstraße 8.
222 Alexander Kieffer war der Inhaber des Bahn-Hotels in der Bahnhofstraße 28 in Bonn.
223 Dr. Max Hirschberg (1863–1964), Rechtsanwalt in München. Er hatte im April/Mai 1920 die
anwaltliche Vertretung von Schmitts erster Frau Cari vor der 2. Strafkammer des Landgerichts
München wegen zwei Vergehen in Sachen Urkundenfälschung übernommen, ein Verfahren wegen
§ 49a StGB war schon vorher eingestellt worden. Dazu sind zwei Briefe im Nachlass Schmitt vor-
handen (RWN 260-359).
Der seinerzeitige § 49a StGB entspricht heute in etwa § 30 StGB mit folgendem Wortlaut:
(1) Wer einen anderen zu bestimmen versucht, ein Verbrechen zu begehen oder zu ihm anzustif-
ten, wird nach den Vorschriften über den Versuch des Verbrechens bestraft ….
(2) Ebenso wird bestraft, wer sich bereit erklärt, wer das Erbieten eines anderen annimmt oder wer
mit einem anderen verabredet, ein Verbrechen zu begehen …
224 Anna Margarethe (1902–1954), Carl Schmitts jüngste Schwester, auch Ännchen genannt.

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76 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

[Mittwoch, 3. 5. 1922]
…‚ sich ganz anders benommen hat, er sei auf Beamte losgesprungen usw. Wie lächerlich.
Ich war einen Augenblick nahe daran, wegzugehen. Dann bat sie mich um Verzeihung.
Damit war natürlich alles gut. Wir fuhren nach Offenburg, mit einem Mitglied der Artille-
riekommission. Ich raste zum Bahnhof zurück, um Billetts zu kaufen. Dann von Offenburg
nach Kehl. Bei der Post war ein Brief von Eisler225, von Kiener226, der mich treffen will, die
Blusen für K. Plötzlich kam André und nahm uns mit in die „Blume“. Wir tranken schön
Kaffee, lasen die Briefe von Eisler, K. ging nach Straßburg, um Kiener zu holen. Ich sprach
mit André über K. Er nannte sie eine egoistische, anspruchsvolle dumme Person, die mich
unverschämt ausbeutet. Wir warteten lange auf sie, sie kam nicht, auch Kiener nicht.
Schließlich kam K., Kiener saß nebenan, mit einem Fräulein Schöngans<?> Wir kamen
dann zusammen, sprachen über Bolschewismus, Barrès usw. K. ganz unbedeutend, wie ein
kleines Ladenmädchen. Dann habe ich Blumen geholt. Abends um 11 Uhr ging Kiener fort,
wir suchten lange ein Hotelzimmer, schließlich, im letzten Hotel, Barbarossa, ein Zimmer
für K. gefunden. André war wütend, ich musste immer wieder mit. War schon darauf ge-
fasst, die Nacht nicht ins Bett zu gehen. Todmüde ins Bett, mit André, der immer über die
unerträgliche anspruchsvolle K. schimpft. Kiener will mir Erlaubnis verschaffen, nach
Straßburg zu gehen. K. verzichtet auf nichts.

Donnerstag, 4. 5. 22
Um 8 Uhr auf, zum Bahnhof, für K. Sachen geholt, brachte sie K. auf ihr Zimmer, sie gab
mir ihren Ring, wir beteten zusammen. Sie sagte, sie könne nicht schlafen, wenn ich nicht
bei ihr läge, sie fürchtet, dass wir „auseinanderwachsen“ würden, wir beteten 3 Vaterunser
auf den Knien. Dann frühstückten wir in dem Hotel, wo ich mit André wohnte, dann zum
Bahnhof, die Erlaubnis beim Kommandanten geholt, bekam für einen Tag ein sauf-
conduit.227 Dann am Zoll, wo alles unerwartet schnell ging. Fuhr mit dem Karren eines
Dienstmannes das Gepäck herein. Welch eine groteske Situation. Aber es freute mich doch.
Der französische Zoll dauerte länger. André verabschiedete sich, ich fuhr mit K. in der
Elektrischen zum Bahnhof. Wir kamen um 1/2 1 an. Also in Straßburg. Welche Sensation.
Die Stadt ist wie tot. Begleite K. auf den Bahnhof, suchte das Coupé, sie nahm ein Fräulein-
abteil, in einem direkten Wagen. Alles also in Ordnung. Ich bat sie, freundlich an mich zu
denken. Wir küssten uns. Dann fuhr 12.40 der Zug ab. Ich war traurig, dem Irrsinn nahe.
Dann zu Kiener, bei ihm gegessen. Mit seiner würdigen großartigen Mutter, seinen
2 Schwestern und einer französischen Cousine. Wir sprachen wieder über Bolschewismus.
Ich war etwas befangen, wunderte mich, wie freundlich ich aufgenommen werde. Dann zu
André nach Oberelsau228, er zeigte mir sein Haus, seine Bibliothek. Um 6 kam Onkel

225 Eisler bittet Schmitt im Brief vom 27. 4. 1923, den Entwurf eines Vertrages zu prüfen, den die väter-
liche Firma wegen der Zeitschrift „Küche und Keller“ mit dem Hotelbesitzerverein Deutschlands
abschließen möchte (RW 265-3131).
226 Friedrich Kiener (1874–1942), elsässischer Historiker, Professor an der Philologischen Fakultät der
Universität Straßburg, dort mit Schmitt seit dessen Habilitation und Lehrtätigkeit bekannt. Zwei
Briefe Kieners aus dem Anfang der 1920er Jahre sind abgedruckt in: TB II, S. 505 ff. Im Brief vom
21. 4. 1922 hatte Kiener ein Treffen in Mainz vorgeschlagen (RW 265-7539).
227 Passierschein.
228 Oberelsau, süd.-östl. Stadtteil von Straßburg.

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Mai 1922 77

Niklas. Unheimlich. (Alles schließlich doch nur durch K.!) Um 7 wunderschön zu Abend
gegessen, der Onkel kam plötzlich zurück, widerlich, ganz gleichgültig. Wir gingen um
1/2 9 weg. André traf seine Freundin, ein geniertes, dummes Frauenzimmer. Es regnete in
Strömen. Am Gutenbergplatz verabschiedeten wir uns. Ich fuhr nach Kehl. Holte mein
Gepäck im Hotel, dann 10.30 weiter. Todmüde, aber zäh. Nach Appenweier, Offenburg.

Freitag, 5. 5. 22
Nachts 2.15 von Offenburg, 2. Klasse im Luxuszug, todmüde. Aber es ging. 6.50 in Frank-
furt, Kaffee getrunken, 8.15 3. Klasse weiter. Am Rhein entlang. Allmählich gesammelt.
Gute Vorsätze. Sehnsucht nach K. Wie sehr hatte ich mich an sie gewöhnt. Endlich in Bonn.
Todmüde, in die Wohnung, traurig, denn keine Bedienung ist da; Angst, die Vorlesung 229 zu
halten, weil ich keine Manuskripte habe. Lief herum, ließ mir die Haare schneiden, las die
Briefe, die gekommen sind (von Eisler, Frau Kluxen usw.), Telegramm von Eisler, dass ich
mich nicht abmelden soll. Zur Universität gerannt, es war aber keine Fakultätssitzung.
Dann zum Spediteur. Die Bücherkisten über <…>! Gab ihm 2 Tausender und 2 Pfund.
Dann nach Hause, die Bücher kamen. Packte sie voller Angst aus, glücklicherweise fand ich
gleich die Vorlesungen. Dankte Gott. Abends ein Zettel, dass ein Telegramm an der Post ist.
Ging hin: von K. aus Toulon: sois courageux, je suis toujours ta Kathleen.230 Wie rührend,
ich war begeistert. Selig nach Hause, dann um 1/2 9 zu Thurneysen 231, ein freundlicher
Geheimrat; dann ins Bett. Glücklich, endlich schlafen zu können.

Samstag, 6. 5. 22
Schön gefrühstückt, behaglich Tardieu232 gelesen, wieder Pläne, aber schreckliche Sehnsucht
nach K.; alles erinnert mich an sie: die Hausschuhe, die Seife, die Wäsche. Darauf nach
Hause, ein paar Briefe.233 Zur Universität. Hensel234 getroffen. Mit ihm zu Isay235, beruhigt,

229 Schmitt war zum 1. April 1922 als ordentlicher Professor für Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht
an die Universität Bonn als Nachfolger von Rudolf Smend, der nach Berlin wechselte, berufen wor-
den, s. Anm. 173. Lt. Vorlesungsverzeichnis Sommersemester 1922 hielt er folgende Vorlesungen,
Seminare und Übungen: 1. Politik (Allgemeine Staatslehre) Mo.–Fr. 12 Uhr; 2. Deutsches Reichs-
und Landesstaatsrecht Mo.–Fr. 11 Uhr; 3. Staatsrechtlich-politisches Seminar, Di. 6–8 Uhr; 4. Staats-
rechtliche Übungen mit schriftl. Arbeiten, Do. 6–8 Uhr. Im Vorlesungsverzeichnis fehlt: Polit.
Ideen, Mo. 5 Uhr. Siehe auch die Aufstellung S. 218 vom 2. 7.1923.
230 Dt. Sei mutig, immer deine Kathleen.
231 Rudolf Thurneysen (1857–1940), Prof. für vergleichende Sprachwissenschaft, spez. indogermani-
sche Sprachen, seit 1912 o. Prof. in Bonn, 1923 emeritiert.
232 André Tardieu (1876–1945), franz. Politiker, Berater von Clémenceau auf der Pariser Friedenskon-
ferenz, danach mehrfach Minister und Ministerpräsident. Autor u. a. von „La Paix“, mit Vorwort
von G. Clémenceau, Paris 1921.
233 Brief vom 6. 5. 1922 an Ludwig Feuchtwanger, Verlagsleiter von Duncker & Humblot, München, in
dem Schmitt mitteilt, dass er in zwei Tagen mit den Vorlesungen beginnt, vgl. Rieß (Hrsg.), BW
Schmitt – Feuchtwanger, S. 26. Ludwig Feuchtwanger (1885–1947), Bruder des Schriftstellers Lion
Feuchtwanger, promovierter Jurist und Prokurist des Verlags, mit Schmitt geschäftlich und freund-
schaftlich von 1918 bis 1933 verbunden.
234 Albert Hensel (1895–1933), Staatsrechtler, Pionier des Steuerrechts, 1922 Habilitation in Bonn,
dort ab 1923 ao. Prof., 1929 o. Prof. in Königsberg. Das Gutachten vom Juli 1922, das Schmitt im
Auftrag der Bonner Fakultät verfasste und das zur Berufung führte, in: Mehring (Hrsg.), BW

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78 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

dass er kein bedeutender Mann ist, ein gemütlicher Jude. Verabredete mich mit Hensel, als
ich hörte, dass er Beethoven spielt, für den Abend. Dann bescheiden [zu Hause] gegessen.
Briefe geschrieben, etwas gearbeitet. Meine Frau236 will schon wieder Geld. Widerlich.
Abends 1/2 8 kam Hensel, wir aßen (ich lud ihn ein) bei Kieffer, tranken Wein dazu, ein
Jude <…>, ich war erlöst, dass es nicht mehr waren. Wir gingen noch ins Hansa-Café, spra-
chen ununterbrochen, hörte, dass Smend von seiner Vorlesung sagte, er hat nichts „so
durchgenommen“, fand Kaufmann‚ der sich selbst mit seinen Schriften gar nicht ernst
nimmt usw. Angst, Ekelei, Verachtung. Traurig ins Bett.

Sonntag, 7. 5. 22
Wieder schön gefrühstückt, dann zu Hause etwas gearbeitet, aber ich muss zu viele Briefe
schreiben. Um 11 bei Frau Kaufmann vorbei, sie war aber nicht zu Hause; in die Kirche,
(man sang wieder, wie in Wetzlar, das Lied: Du, der den Satan und den Tod überwand; und:
In deinem Blute gereinigt von Schuld237), dann zu Crome238, müde nach Hause, ein Butter-
brot, an K. geschrieben. Gerührt, aber mit dem Gefühl, ins Leere zu schreiben. Etwas aus-
geruht. Brachte um 3 den Brief zur Post. Zu Frau Kaufmann, traf sie zu Hause, schwere
Depressionen, die Kinder von Partsch239 waren da. Tranken Tee, kamen allmählich in ein
freundliches Gespräch. Aber Angst, weil ich überhaupt nichts weiß. Um 1/2 6 an den
Rhein, freute mich der Landschaft, war aber zu Tode betrübt. Angst, dass der Trost, den ich
bei K. suchte, [vergangen] ist. Gott wird mich strafen. Ging in die Kirche. Dann aß ich im
Café schön Abend. Müde nach Hause. Viele Briefe geschrieben, Tagebuch geführt, etwas
gesammelt. Aber ich kann nicht arbeiten, meine Vorlesungen kann ich nicht vorbereiten.
Müde ins Bett. Oft Sehnsucht nach K., oft glücklich, allein zu sein.

Montag, 8. 5. 22
Um 6 schon wach, etwas gelesen, dass wieder ausgeruht. Herrliches Wetter. Aber Angst vor
diesem Datum (am 8. Mai 1919 ging die Sache mit den Matrosen los 240), frühstückte schön

Schmitt – Smend, S. 154. Veröffentlicht wurde Hensels Habilitationsschrift erst kürzlich, vgl.
Ekkehart Reimer u. Christian Waldhoff (Hrsg.), System des Familienrechts und andere Schriften,
Köln 2000.
235 Ernst Isay (1880–1943), Privatdozent für öffentliches und internationales Recht in Bonn, ab 1925
in Münster. Oberverwaltungsgerichtsrat in Berlin bis 1934, 1940 Flucht nach Brasilien, starb in Sao
Paulo.
236 Schmitts erste Frau Cari.
237 Strophen aus „Wahrer Gott, wir glauben Dir“ von Christoph Bernhard Verspoell, 1810.
238 Carl Crome (1859–1931), Römischrechtler, 1895 ao. Prof. in Berlin, 1898–1923 o. Prof. für deut-
sches und ausländisches bürgerliches Recht in Bonn.
239 Josef Partsch (1882–1925), Prof. für Römisches und Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte in
Bonn, ab 1922 auf Veranlassung des Auswärtigen Amts an der Friedrich-Wilhelms-Universität
Berlin. Experte für die privatrechtlichen Bestimmungen des Versailler Vertrages.
240 Das Datum bezieht sich auf ein einschneidendes Ereignis mit Schmitts erster Ehefrau Cari. Lt.
Auskunft von Piet Tommissen hat er von Schmitt erfahren, dass bei dem (immer noch in Einzel-
heiten ungeklärten) Verbrechen, bei dem u. a. Schmitts Bibliothek zur Hälfte geraubt wurde, ein
Matrose eine Rolle spielte.

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Mai 1922 79

und behaglich, zu Hause ein Brief von K. aus Toulon! Langer, rührender Brief; sie ver-
sichert mir ihre Liebe, erwartet aber, dass ich bei der Ehe mit Carita [mich entschließe]. Fer-
ner eine Karte aus Toulon. Ich bereite meine Vorlesung vor, nicht besonders, traf dann vor
11 Uhr im Dozentenzimmer Hensel, der mit in die Vorlesung ging, und Geheimrat Thur-
neysen, ferner Dibelius; dann meine Vorlesung, ohne Brille, auswendig über die 3 Rechte.
Gut gesprochen, aber nicht gut genug, und etwas starr und befangen. Nachher sehe ich
Walzel241 und Geheimrat Landsberg242 (hörte von ihm, dass er für meine Berufung war, sein
Sohn243 hat ihm von meiner Politischen Romantik erzählt! Also solche Zusammenhänge).
Dann mit Hensel zu Mittag gegessen im Gangolf. Darauf etwas im juristischen Seminar.
Konnte wieder langsam arbeiten. Daraufhin nach Hause, aber keinen Kaffee getrunken,
sondern nur den Mund ausgespült, ausgeruht; dann kam der Schreiner und stellte die
Bücher auf. Die Frau von Wandel sehr freundlich. Karte von K. aus Toulon, gerührt. Aber
sie will, dass ich große Dinge für sie tue und mit München244 ernst mache. Also immer
„dynamisches Leben“ um sich. Ging abends spazieren an den Rhein, aß Brot und Wurst in
Beuel, 6 Mark für ein Glas Münchner Bier in einer elenden Kneipe. Traurig, aber beherrscht
nach Hause. Noch etwas gearbeitet, aber die Vorlesung nicht vorbereitet. War todmüde.
Um 1/2 10 ins Bett.

Dienstag, 9. 5. 22
Etwas müde aufgestanden, wunderschön gefrühstückt mit Kaffee, Vorlesungen vorbereitet.
Zu Hause kein Brief, allmählich in größere Behaglichkeit gekommen. Hielt meine Vor-
lesung über Staatsrecht sehr gut, dann schöner Kaffee und ein Stück Kuchen und Völker-
recht, ebenfalls in bester Laune. Es ging vortrefflich, wenn auch ohne éclat. Nachher zum
Rektor245, ein freundlicher tüchtiger Mann, dann im Gangolf gegessen, zu Hause ausgeruht,
kein Kaffee, beherrscht, entschlossen, religiös, Kierkegaard gelesen. Entsetzt über K. Ent-
schließe mich, von Carita zu trennen. Brief von Blei 246, den Haecker in der nächsten Num-
mer des Brenner247 angreift (was mir Angst macht, Widerwillen vor Blei, vor Haecker, vor

241 Oskar Walzel (1864–1944), Literaturhistoriker, Prof. für Neuere Deutsche Sprach- und Literatur-
geschichte in Bonn seit 1921. Herausgeber des Handbuchs der Literaturwissenschaft und einer der
einflussreichsten Vertreter der geistesgeschichtlich orientierten Literaturwissenschaft.
242 Ernst Landsberg (1860–1927), Römisch- und Strafrechtler, der „Geschichtsschreiber der deutschen
Rechtswissenschaft“ (Otto v. Gierke), 1887 ao. Prof. in Bonn, 1899–1927 o. Prof. ebd., 1914/15
Rektor der Universität.
243 Paul Ludwig Landsberg (1901–1944), Philosoph, Sohn von Ernst Landsberg, s. vorst. Anm., stu-
dierte bei Husserl und Scheler, bekannt geworden durch seine Schrift „Die Welt des Mittelalters
und wir. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über den Sinn des Zeitalters“ (1922), die seinen
Ruf als katholisch beeinflusster Denker begründete. 1928 Habilitation in Bonn, 1933 Entzug der
Lehrbefugnis, ab 1934–1937 Gastprofessuren und Vorträge in Barcelona, Santander und Paris (Sor-
bonne), 1943 Gestapo-Haft, Tod im KZ Oranienburg.
244 Trennung von seiner ersten Frau Cari.
245 Rektor der Bonner Universität für das akademische Jahr 1921/22 war Johannes Fitting, 1912–1946
Professor für Botanik, spez. Pflanzenphysiologie und -morphologie.
246 Der Brief vom 7. 5. 1922 ist abgedruckt in: Blei. Briefe an Carl Schmitt, S. 42–44.
247 Der Brenner, von 1910 bis 1954 existierende Kulturzeitschrift; am Beginn mehr der großen Lyrik
zugewandt (Trakl, Däubler), wurde ab Beginn der 1920er Jahre eine katholische Haltung vorwie-

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80 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

der ganzen Gesellschaft) und von Ficker. Dann große Sitzung im Senatssaal, angenehm
berührt von dem munteren rheinischen Leben, Gegensatz zu Greifswald, dann kam Hensel,
hielt Steuervortrag. Sprach mit Ehrhard 248, er ist aber kurz angebunden und hatte kein
Interesse an mir. Also war ich beleidigt. Mit Hensel zu seiner Wohnung, über Kommission,
Verwaltungsgerechtsame usw. gesprochen. Habe ihn gern. In einer kleinen Kneipe gegessen,
alleine, unruhig, neugierig auf meinen Tod. Zu Hause noch etwas herumgesessen, meine
Einsamkeit genossen, meine Flucht von den Frauen genossen, um 10 zu Tardieu ins Bett.
Welche Beruhigung.

Mittwoch, 10. 5. 22
Wunderbar gefrühstückt, großartig, gut vorbereitet. Brief vom Mieteinigungsamt, ein
schwerer Schlag! Und ein Brief von Eisler 249, schrieb gleich an Carita und das Mieteini-
gungsamt. Am 11 eine schöne Vorlesung gehalten. Dann zu Frau Kaufmann, für morgen
Abend verabredet, dummerweise auch mit Hensel für heute Abend. Aß im Krug zum Grü-
nen Kranze erst spät Mittag, aber teuer. Dann zu Hause geschlafen, fühlte mich nicht recht
wohl, immer in Angst vor der Vorlesung über politische Ideen. Um 5 zum Café Hansa, geil,
aber mühsam beherrscht, grauenhafter Sensualismus, las über Condorcet250, traf Han-
kamer251, endlich um 6 die Vorlesung; es waren nicht viele Leute da. Eine Stunde, der Geist
von 1789, Aufklärung, Rationalismus, Klassizismus, Diktatur. Aus dem Geist des Rationa-
lismus und des Klassizismus geboren. Allein glänzend, aber etwas starr und nicht genug
überlegen. Nachher sprach mich ein Student der Nationalökonomie, Kaiser aus Teindeln 252,
an; ich freute mich, in meiner dummen Gutmütigkeit, lud ihn zu einer Flasche Moselwein
ein, aß nochmals bei Kieffer. Dann nach Hause, schnell eingepackt, zu Hensel, sah seine
Frau, war entsetzlich traurig; was soll das alles. Wir schwätzten herum, ich plauderte viel,
der Privatdozent Gieseke 253 kam nachher noch: Um 11 nach Hause. Gleichgültig, müde.

gend, geprägt vor allem durch Theodor Haecker. Zur frühen Kontaktaufnahme Schmitts mit dem
Herausgeber Ludwig von Ficker (1880–1967), dem er 1912 vergeblich einen Beitrag für die Zeit-
schrift über Theodor Däubler angeboten hatte, vgl. Schmittiana I 1988, S. 22–39. Zu den Angriffen
Haeckers auf Blei vgl. Theodor Haecker, Satire und Polemik, München 1961, S. 98 ff., 176 ff.
248 Albert Ehrhard (1874–1950), Priester und Kirchenhistoriker, (ohne Habil.) 1892 o. Prof. in Würz-
burg, 1898 in Wien, 1902 in Freiburg i.Br., 1903 in Straßburg, 1919–1927 in Bonn.
249 Eisler erwähnt, das sein Schwager in Wien Erkundigungen (vermutlich wegen Cari) einholt (RW
265-3132).
250 Antoine Condorcet (1743–1794), franz. Politiker u. Staatstheoretiker, Mathematiker.
251 Paul Hankamer (1891–1945), Literaturhistoriker, 1920 Habilitation in Bonn, dort seit 1925 Profes-
sor, ab 1928 in Köln, von 1932 bis zur Entlassung 1936 in Königsberg.
252 Theodor Kaiser war ein junger Bekannter Schmitts aus dem Weiler Teindeln, lenneabwärts zwi-
schen Plettenberg-Eiringhausen und der nächsten Stadt Werdohl gelegen. Er war später Mitarbeiter
einer Versicherungsgesellschaft, die ihn wegen Unregelmäßigkeiten entließ.
253 Paul Gieseke (1888–1970), 1921 in Bonn habil., 1922 o. Prof. f. bürgerliches Recht, Handels- und
Wirtschaftsrecht in Rostock, 1929–1934 Kollege Schmitts an der Handelshochschule Berlin, 1934–
1939 in Marburg, 1948 Gastprof. in Bonn, 1950–1952 o. Prof. in Saarbrücken, 1952–1955 Honorar-
prof. in Bonn.

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Mai 1922 81

Donnerstag, 11. 5. 22
Sehr müde, nachts, wie fast jede Nacht, Traum von K. Aber bisher hat es in Bonn gut
gegangen. Frühstückte wieder sehr schön, Kaffee, Wurst, Kuchen. Aber meine Vorlesungen
kaum vorbereitet. Unglaublich. Es war wieder schönes Wetter (gestern hat es geregnet); zu
Hause eine Karte von Toulon von K. Sie sagte: I know that you will probably have a hard
time, but the price is secured to you. Unheimlich, ich dachte oft an die Geliebte von Julien
Sorel.254 Hielt meine 2 Vorlesungen, Staatsrecht und Völkerrecht, gut, aber ich schlage mich
so von Tag zu Tag durch und es geht gut. Nachher noch etwas am Rhein spazieren, sehr
beherrscht, dann zu Hause geschlafen, etwas für die Übungen heute Nachmittag, aber in
Wahrheit fast nichts getan. Es ist unglaublich. Doch fühle ich mich allmählich wohler.
Schrieb an Spangenberg 255, wegen der 1000 Mark. Dann an K., obwohl mir oft Angst wird
vor ihrem Egoismus. Aber ich bin stolz auf sie. Abends 6–8 sehr schöne Übungen, guter
Laune, Erfolg; dann zu Frau Kaufmann zum Essen, es gab Wurst und Tee, Frau Partsch war
dabei, ich dachte immer an K., war verzweifelt, was hat es für einen Zweck, sein Glück auf
eine Frau zu bauen. Müde, herumgesessen, die Bibliothek von Kaufmann gesehen, um
1/2 11 nach Hause, froh, in mein Zimmer [zu] Tardieu kriechen zu können.

Freitag, 12. 5. 22
Wieder bis nach 8 im Bett, stolz, dass es bisher in Bonn gut gegangen ist. Schön gefrüh-
stückt, schöner Kaffee, Wurst, ein Stück Kuchen. Meine Vorlesung innerlich vorbereitet, in
Wahrheit tue ich nichts. Morgens Brief von Curtius256: die Bibliothek reklamiert sehr belei-
digt die Bücher von K., für die Curtius Bürgschaft geleistet hat. Widerlich, diese Rück-
sichtslosigkeit. Hielt meine Vorlesung sehr gut. Dann nach Hause, aus Sparsamkeit nur
Brötchen gegessen, um 1/2 3 Fakultätssitzung; war traurig, bedrückt, ängstlich. Berufung
von <…> schnell verabschiedet. Um 1/2 5 traurig und müde nach Hause. Dem Tod nahe
vor Melancholie. Schrieb an K., schrieb eine Reihe Briefe, [auch] wegen der Bücher. Es ist
widerlich. Um 7 kam ein Junge, mir beim Bücherauspacken zu helfen. Sprach mit Frau
v. Wandel, die sehr freundlich und sympathisch ist. Starb beinahe vor Hunger. Um 8 zum
Essen bei Kieffer. Um 1/2 10 zu Haus. Todmüde. Kann überhaupt nichts arbeiten.

Samstag, 13. 5. 22
Frühstückte vergnügt und behaglich bei Tardieu, als ein Telegramm kam: 1000 Mark von
Eisler, ich soll 6.36 in Frankfurt sein. Nichts von Neapel. Ich eile zum Bahnhof, zur Uni-
versität, Vorlesungsankündigung erledigt, dann 3. Klasse Eilzug nach Frankfurt über Mainz,
wunderschön am Rhein entlang. Am Bahnhof K. geschrieben, in heftiger Sehnsucht. In
Frankfurt 4.20 im Café <…>, Kaffee, dann den Wochenbericht für K. geschrieben. Um 6.35
kam Georg Eisler; wir freuten uns sehr, gingen durch die Stadt, um eine Synagoge zu fin-
den, gingen aber nicht hinein, dann aßen wir zu Abend bei Hahn. Sehr gut. Um 12 Uhr
Hessischer Hof, wunderschönes Zimmer (wobei ich natürlich traurig an K. dachte), ins
Bett. Ich bin ein armer Teufel.

254 Siehe Anm. 167.


255 Vermutlich Bekannter von Kathleen Murray.
256 Brief vom 10. 5. 1922 (RW 265-2693), abgedruckt bei Mehring, Greifswalder Intermezzo, S. 340.

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82 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Sonntag, 14. 5. 22
Um 8 auf, gut ausgeschlafen, sah sehr gut aus. Schrieb an K., Eisler schrieb auch einen
Gruß. Eisler findet, dass ich bald schon gesund werde, während [ich] in Marburg todkrank
gewesen wäre. Wir frühstückten zusammen auf meinem Zimmer, sehr gemütlich, um 11
entschlossen wir uns, nach Homburg und zur Saalburg zu gehen, fuhren mit der Elektri-
schen, gingen ein Stück Weges, unterwegs zufällig, auf dem Weberpfad, im Wald Kluxen
begegnet. Erschrak. Er hat mich wahrscheinlich nicht erkannt! Aber welcher Zufall. Auf
der Saalburg ergriffen von den römischen Erinnerungen, leider entsetzlich verkitscht durch
Restauration Wilhelms II., gegen den ich einen wütenden Hass bekam infolge dieser
Geschmacklosigkeiten.257 Wir aßen zu Mittag, schliefen etwas auf der Veranda des Hauses,
dann nach Homburg, ein wunderschönes vornehmes Bad, im Parkhotel Kaffee, alles sehr
vornehm, dachte an K., die inzwischen auf dem Schiff ist (habe den Brief heute um 11 in
den Kasten getan). Um 7 waren wir wieder in Frankfurt. Aßen ein Butterbrot auf meinem
Zimmer, sprachen noch etwas, dann begleitete ich Eisler um 8.42 an den Zug und fuhr dann
einsam und traurig nach Mainz, um dort zu übernachten. Kam 1/2 11 an, fand kein Zimmer,
widerlich, traurig, aber beherrscht und entschlossen, endlich Geld zu verdienen. Übernach-
tete im Rheingauhotel zu 115 Mark! Ein elendes Doppelzimmer. Dachte immer an K.

Montag, 15. 5. 22
Um 5 auf, rasiert, beherrscht, in sonderbarem Atheismus, ganz atheistisch. Unerklärlich.
Ich will endlich arbeiten. Ich will fleißig werden. Ich habe ein Schmarotzerleben bisher
geführt. Das war meine Religiosität. Zur Bahn. Finanzausgleich von Hensel 258 gelesen. Um
1/2 10 Uhr in Bonn, eine herrliche Fahrt am Rhein entlang, bei prachtvollem Wetter. In
großer Sorge um einen Brief von K. Aufgeregt. Wahrhaftig, ein Brief aus Neapel! Groß-
artig! Gerührt, ergriffen von großer Liebe. Sie erzählt, wie sie an mich denkt, dass sie nie-
mand sehen kann, außer mir, wie sie sich erinnert, mir das Nachthemd angezogen zu haben.
Ich war hingerissen. Ein Brief von Schnitzler, der André nicht helfen kann. Dann von
Rechtsanwalt Hirschberg, wegen des Prozesses, ich soll doch Vollmacht geben, will es aber
nicht tun. Ruhte mich aus, frühstückte gut, hielt meine Vorlesung um 11, aber nicht so gut,
erschrak und fürchte, kein Referat mehr zu haben; dann mit Hensel, über seinen Finanzaus-
gleich, meine Einwendungen gesagt. Um 1 zu Frau Kaufmann, auf Freitag verabredet. Dann
bei Kieffer zu Mittag, nachher beherrscht und entschlossen nach Hause. Ausgeruht, dann
ziemlich gearbeitet, immer fester entschlossen, K. zu heiraten und Cari wegzupacken. Was
kann das geben! Abends kaufte ich mir etwas Brötchen und Wurst und trank am Rhein, in
Beuel, in P.[ension] Rheinlust 2 Glas Bier und aß meine Brötchen dazu. Hoffte, endlich ein-
mal aus meiner Misere herauszukommen. Große Sehnsucht, reich und unabhängig zu sein.
Dachte an die Menschen, die ein großes Schicksal gehabt haben. Wie arm und dumm bin
ich. Verlief mich, wunderschöner ruhiger Abend. Um 1/2 10 müde zu Hause. Schrieb sehr
fleißig ein und habe die besten Vorsätze. Innig an K. gedacht und ihren Ring geküsst.

257 Das Römerkastell Saalburg wurde 1898–1907 rekonstruiert.


258 Albert Hensel, Der Finanzausgleich im Bundesstaat in seiner staatsrechtlichen Bedeutung. Berlin
1922.

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Mai 1922 83

Dienstag, 16. 5. 22
Nachts gefroren, erkältet, um 1/2 8, trotzdem munter und frisch. Immer heftig von Liebe
zu K. Bereitete die Vorlesungen schlecht vor, Brief von Marburg, von Curtius259 (wieder
eifersüchtig) und Frau Geist. Trank sehr schön meinen Kaffee, behaglich gefrühstückt, Vor-
lesung über Staatsrecht gut gehalten (inhaltlich schlecht), dann Völkerrecht, sehr schlecht.
Aber es geht trotzdem vorwärts. Unerklärlich. Am Rhein spazieren, gesund, frisch, be-
herrscht, im Rebstock zu Mittag gegessen, reell und anständig. Zu Hause etwas ausgeruht,
um 1/2 4 kam ein Student wegen einer Dissertation, dann etwas gearbeitet, Juristenzeitung
gelesen, müde, Kopfschmerz, traurig, Angst, Beklommenheit, um 5 der Briefträger, Brief
von Blei260 und Karte von Georg Eisler. Ich arbeitete so herum, konnte nichts systematisch
tun, kam mir entsetzlich dumm vor. Traurig um 1/2 7 in die Kirche, dann ein paar Sachen
gekauft, schließlich auch eine Flasche Wein. Nach Hause, zu Abend gegessen. Unerklärlich,
dass ich das aushalte. Schleppe mich von Minute zu Minute, bin dumm, sehnsüchtig an K.
gedacht. Aber ob sie noch an mich denkt. Wie schön ist ihr Brief. Oft mit Gewissensbissen
an Cari [gedacht]. Aber wie ekelhaft ist sie. Ich bin dumm. Ich bin gleichwohl tot. – Der
Buchhalter meiner Verzweiflung. Arbeitete abends noch am Reichsanzeiger261 und wurde
dadurch besserer Stimmung. (Brief von Spangenberg).

Mittwoch, 17. 5. 22
Um 1/2 8 auf, Vorlesung vorbereitet, zum Glück heute Morgen nur eine Stunde. Über
Hoheitsrechte der Länder. Von der Post nur eine Mitteilung der Universität. Schön an-
gezogen, behaglich zur Universität, an der Darmstädter Bank vorbei, die Anweisung an
Dr. Wagner nach Marburg besorgt, dummerweise 3 Pfund gegeben. Schade. Hielt meine
Vorlesung. Ganz gut, aber ich fühlte mich unsicher. Nach der Vorlesung im Rebstock geges-
sen, gut. Nachher nach Hause, ausgeruht, müde, um 1/2 4 Doktorexamen. Ein armer Teu-
fel, wusste nichts. Er trat nachher zurück. Trank Kaffee im Hansacafé und bereitete meine
Vorlesung über politische Ideen vor. Um 1/2 6 wieder zur Universität, in das Prüfungszim-
mer, traf Dietzel262, Spiethoff263, Aloys Schulte264, mit Spiethoff etwas spazieren, er sprach
überlegen von Marx, [Max] Weber und allen Kollegen. Ich hielt meine Vorlesung, sprach
über politische Romantik, was mir geläufig war. Ohne jede Resonanz, vor ein paar Leuten.
Nachher etwas eingekauft, furchtbar teuer, dann nach Hause. Ein Brief von K. aus Port
Said. Wunderschön, sie versichert immer wieder ihre Liebe, sie denkt nur an mich, es ist

259 Brief vom 14. 5. 1922 (RW 265-2694) abgedruckt bei Mehring, Greifswalder Intermezzo, S. 340 f.
260 Vermutlich Brief Nr. 19, ohne Datum, in: Blei, Briefe an Carl Schmitt, S. 44–45.
261 Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, Berlin 1871–1945.
262 Heinrich Dietzel (1857–1935), Staats- und Wirtschaftswissenschaftler, 1885 ao. Prof. in Dorpat
(Rußland, Baltikum), 1886 (ohne Habil.) o. Prof. ebd., 1890–1925 in Bonn.
263 Arthur Spiethoff (1873–1957), Nationalökonom, 1908 o. Prof. in Prag, 1918–1939 in Bonn, Grün-
der und Direktor (1929–1939) des Bonner Institutes für Gesellschafts- und Wirtschaftswissen-
schaften. Mitbegründer der modernen Konjunkturforschung.
264 Aloys Schulte (1857–1941), Archivar und Historiker, 1892 (ohne Habilitation) o. Prof. in Freiburg
i. Br., 1896 in Breslau, 1901–1903 Direktor des Preuß. Histor. Instituts in Rom, 1903–1925 o. Prof.
in Bonn, bis 1928 Lehrstuhlverwaltung, 1913/14 Rektor. Da 1907 zum Geheimen Regierungsrat
ernannt, wird er in Schmitts Tagebüchern öfter auch als „Geheimrat Schulte“ tituliert.

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84 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

prachtvoll. Ich war hingerissen, gerührt, hätte weinen können, schrieb ihr gleich, will die
Anfechtungsklage beschleunigen usw. Dann noch etwas für morgen vorbereitet. Immer an
K. gedacht, großartig, stolz, enthusiastisch. Inzwischen bin ich wohl ein Mensch mit Selbst-
bewusstsein. Das reißt mich aus meinem trägen Nichtigkeitsgefühl. Wie wunderbar ist das.

Donnerstag, 18. 5. 22
Wenig geschlafen, sehr behaglich. Um 8 auf, schön gefrühstückt, Vorlesung (über Art. 18265
gut vorbereitet), Brief von Georg Eisler, von Wien noch keine Nachricht, angeblich ist seine
Anfrage nicht angekommen. Hielt meine Vorlesung sehr schön, müde, weitergeschleppt,
aber fertig geworden. Völkerrecht. Um 1 Uhr erleichtert weg, im Gangolf gegessen, nach-
mittags etwas ausgeruht, in großer Begeisterung Pearse gelesen, will über Irland arbeiten.
Hoffe, nach Irland zu kommen. Welche Omina, diese K. Manchmal traurig, eine schöne
Karte von K. aus Port Said, mit den Pyramiden. Eine Karte von Stefl266 aus München, über
Heidelberg. Freute mich, ging zur Post, den Brief nach Wien besorgen, Karte an das Cook’-
sche Reisebüro, ich muss doch K. nach Colombo telegraphieren. Dann zur Bibliothek, Heft
des AöR zurückgegeben, im Café, etwas meine Übungen vorbereitet, hielt sie sehr gut,
obwohl ich nichts mehr wusste. Um 1/2 8 bei schönem Wetter traurig nach Hause. Sehn-
süchtig an K. gedacht. Kaufte am Bahnhof eine Flasche Wein (ich gebe Geld aus, mir ist
alles gleich), Zeitung gelesen. Oft große Pläne, begeistert von dem Moselwein, aber dann
wieder traurig. Die Vorlesung für morgen vorbereitet.
Heute Morgen mit Göppert267 gesprochen: Er hat Spiethoff gesehen. Spiethoff hat ihn nach
mir gefragt! Wie nett.

Freitag, 19. 5. 22
Morgens kein Brief, seit langem zum erstenmal. Frühstückte schön und bereitete mich leid-
lich vor, bei der Bank vorbei, hielt zwei sehr gute Vorlesungen, hörte von Hensel, dass man
meine Vorlesung über Völkerrecht rühmt. Dann kaufte ich Blumen (für 80 Mark) und ging
zu Frau Kaufmann, wir aßen zusammen hübsch zu Mittag und tranken nachher Kaffee,
sehr nett und freundlich unterhalten. Ich war froh, dass ich schöne Blumen gekauft habe.
Dann noch etwas eingekauft, müde, Gefühl träge zu sein, traurig, bedrückt, auch ohne
Hoffnung wegen K. Zu Hause schnell eine Karte an Spangenberg, Empfangsbestätigung

265 Art. 18 WRV betraf die Gliederung des Reiches in Länder und die Verfahren bei Gebietsänderun-
gen und Neubildungen innerhalb des Deutschen Reichs.
266 Max Stefl (1888–1973), Dr. phil., Germanist und Bibliothekar der Bayerischen Staatsbibliothek,
Adalbert Stifter-Forscher und -Herausgeber, 1941–1943 zusammen mit seiner Frau inhaftiert wegen
angeblichen Hören eines „Feindsenders“, 1946 Gründer der dt. Adalbert-Stifter-Gesellschaft. Enger
Bekannter von Schmitt seit dessen Tätigkeit im stellvertr. Generalkommando 1915–1919, vgl. auch
TB II, S. 524 f.
267 Heinrich Göppert (1867–1937), Handels- und Börsenrechtler, 1906 Geh. Regierungsrat u. Vortrag.
Referent im Preuß. Handelsministerium, 1917 Unterstaatssekretär im Reichswirtschaftsamt,
1919–1935 Inhaber der von der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Rheinischen Wilhelms-
Universität zu Bonn errichteten „Jubiläumsprofessur“ für Industrie- und Handelsrecht.

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Mai 1922 85

und an Stefl268, zum Schreibbüro, wegen des Ausschusses, soll morgen um 1/2 3 diktieren,
dann zur Bibliothek, mit dem Direktor269 gesprochen, alles sehr nett, holte mir Witkop270,
über Heidelberg in der deutschen Version, um die Gedichte von Hölderlin und Brentano zu
lesen, und ein völkerrechtliches Lehrbuch. Müde nach Hause, Wein getrunken, wieder
lebendig. Butterbrot zu Abend gegessen. Traurig, in einem plötzlichen Einfall an Krause 271
in München geschrieben, dass er mir einen Anwalt nennt. Sonderbar, was mag daraus wer-
den. Abenteuerlichkeit. Brachte den Brief zur Bahn. Müde nach Hause zurück. Dann noch
den Auszug der Taine-Dissertation.272 Oft Wut, dass so viel schöne Arbeit vergeudet ist.
Dann las ich aber wieder Tagebuch und sah, welches Glück mir K. geschenkt hat, wie bisher
keine andere Frau.

Samstag, 20. 5. 22
Um 8 auf, gut ausgeschlafen, schön gefrühstückt, behaglich, heute keine Vorlesung, eine
Karte von Üssi273, sonst nichts, um 11 Besuche, erst bei Heimberger (wie schön ist er einge-
richtet!), dann zu Landsberg, wunderbar eingerichtet, herrlicher Garten, er ist freundlich,
erinnert mich immer an Lamberts274, eine manierierte Frau, schrecklich, erinnert mich an
Fräulein Herzfeld.275 Wir saßen im Garten, der Sohn war nicht da, ich fragte nach ihm. Um
1/2 1 nach Hause, aufgeregt, wie immer von Besuchen. Bei Kieffer gegessenen, dann zu
Hause müde etwas geschlafen, um 1/2 3 in das Schreibbüro, bis 4 diktiert an dem Auszug
der Dissertation von K.276 Brief an König277 in einen kleinen Café (Falkenberg), alle kouver-
tiert und zurechtgemacht, eingeschrieben und abgeschickt. Dann nach Hause, Karte von
der Dame, sie will wieder Geld, ging zur Post zurück. Schickte telegraphisch 1000 M. Oft

268 Karte im Nachlass Stefl, Bayerische Staatsbibliothek, vorhanden.


269 Erich von Rath (1881–1948), Dr. iur., 1917 Direktor der Reichsgerichtsbibliothek in Leipzig,
1921–1942 Direktor der Universitätsbibliothek Bonn, 1924 Honorarprof., 1941 Ehrensenator der
Universität zu Köln. Spezialist für Wiegendrucke.
270 Philip Witkop (1880–1942), Herausgeber deutscher Lyrik. Heidelberg und die deutsche Dichtung.
Band 1, Von Luther bis Hölderlin; Band 2, Von Novalis bis Nietzsche. Leipzig 1916.
271 Georg Alexander Ludwig Krause (1885–1955), auch „Trockenkrause“ genannt, Dr. phil. h.c., Inge-
nieur, Vorstand der G. A. Krause & Co. A. G., Erfinder und Inhaber zahlreicher Patente, ent-
wickelte die Methode, auf elektrolytischem Weg Silber-Ionen in verunreinigtes Wasser abzugeben,
um dieses bakteriologisch zu reinigen (Elektro-Katadyn-Prozess). Die Fabrikbesitzerfamilie Krause
war seit etwa 1919 mit Schmitt befreundet, 1921–1931 wohnte sie in München, erst in der Steins-
dorfstraße (an der Praterinsel), dann am Bavariaring 9, zuletzt in der Widenmayerstraße 16, hatte
aber auch in Bad Tölz in der Fröhlichgasse 19 eine Wohnung. Siehe auch den Brief vom 4. 5.1923
an Kathleen Murray, Teil III, S. 468.
272 Schmitt hatte zur Dissertation seiner Freundin Kathleen Murray seitenweise Formulierungen bei-
gesteuert, wie die Archivunterlagen belegen (RW 265-21295 und -21298); s. auch Anm. 73. Er
sorgte für die Drucklegung; das Buch erschien im November 1924 im Verlag Duncker & Humblot.
273 Üssi, Kosename für Auguste, älteste Schwester von Carl Schmitt.
274 Die Familien Arthur und Hugo Lamberts in Mönchengladbach hatten Schmitt in seiner Referan-
darzeit finanziell unterstützt, vgl. TB I, S. 5 ff.
275 Nicht ermittelt.
276 Siehe Anm. 272.
277 Nicht ermittelt.

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86 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

traurig. Dachte daran, dass K. eine gewöhnliche Frau ist. Wie lächerlich, komisch. Don
Quichote. Dann zu Hause etwas gelesen, nachgedacht, gehöre ich wirklich zu den [Betroge-
nen]. Mc. Swiney 278 begeisterte mich, an K. geschrieben, Karte an Eisler, sehr müde den
ganzen Nachmittag. Nichts getan. Um 1/2 11 gleichgültig ins Bett.

Sonntag, 21. 5. 22
Um 7 auf, um 1/2 8 gefrühstückt, behaglich herumgearbeitet, Brief an K. zu Ende geschrie-
ben. Von der Post weiter nichts als eine Karte von Cook, dass die Ormonde 279 am 22. in
Colombo ist, ich kann also nicht mehr telegraphieren. Gegen 1/2 12 ein paar Besuche,
Schreuer 280, Crome‚ Partsch, dummerweise zuletzt Greven281‚ der mich gleich belästigte mit
seinen victualibus, geschwiegen. Widerlich, ich kam nicht mehr zu Göppert. Habe den Brief
an K. abgeschickt, mit dem Auszug der Dissertation, einem Wochenbericht, und herzliche
Briefe (Du gehörst mir). Aß ein paar Brötchen zu Hause, regte mich auf, um 1/4 vor 4 kam
Jup mit der Rheinuferbahn. Wir tranken Kaffee im Hansacafé. Dann am Rhein spazieren.
Er bat mich um 700 Mark, wir sprachen über André, am Zehnhoff, K. Er ist ein netter Kerl.
Wir aßen bei Kieffer zu Abend, tranken Moselwein dazu. Ich phantasierte von der
Mitte<? > des gnostischen Zeitalters; dann bei mir. Er erzählte von der Medizin, die [er]
jetzt im Krankenhaus betreibt und durch „Anblinzeln“ der Männer<? > irritiert. Ich dachte
traurig an K. Ich armer Esel. Begleitete Jup zur Bahn um 10 Uhr. Wir gingen noch über die
Poppelsdorfer Allee, er sprach von dem Schwindel der Ärzte, sehr verständig. Um 1/2 11
müde, traurig, einsam, melancholisch nach Hause. Kein guter Tag. Telephonierte um 4 mit
Curtius aufgeregt <…>. Will ihn morgen treffen.

Montag, 22. 5. 22
Bis 8 im Bett, gut ausgeruht, aber durch Hitze etwas nervös und müde. Gefrühstückt und
arbeitete wenig in Erwartung der Zusammenkunft mit Curtius, dachte an K. War sehr auf-
geregt deshalb. Kein wichtiger Brief. Zur Bank, 150 Mark an Jup, alles in größter Eile, auch
das Referat über Hensel dem Dekan gegeben, meine Vorlesung ganz nett gehalten (mit
einem schönen Schnaps, den André mir in Wiesbaden gekauft hat). Um 12 Uhr Curtius, er
sah schön und munter aus, ich dachte ihn mir als Konkurrenten bei K., wie lächerlich. Die
Bücher, sagte er, sind aufgefunden, wir gingen am Rhein entlang, er sprach von Balzac 282,
von Occasionalismus, von der Diktatur, kurz, er suchte zu profitieren. Er war mir aber
nicht unsympathisch. Wir sprachen viel über Straßburg. Um 1 verabschiedete ich mich
schnell, ohne eine weitere Verabredung, aß in der Bürgergesellschaft und trank billigen,
herrlichen Moselwein, großartig („seit ich getrunken diesen Wein“). Dann ließ ich mir die

278 Terence MacSwiney (1879–1920), irischer Schriftsteller und Politiker, starb nach 74tägigem Hun-
gerstreik in brit. Gefangenschaft. Sein Vater war nach Australien ausgewandert.
279 Mit der R.M.S. „Ormonde“ fuhr Kathleen Murray von Toulon nach Sydney. Die Reise dauerte
vom 5. Mai bis 10. Juni 1922; sie hat über die Zeit ein Reisetagebuch im Umfang von 94 hand-
schriftlich beschriebenen Seiten verfasst und es Schmitt geschenkt (RW 265-29420); siehe auch
Abb. Seite 560 im Anhang.
280 Hans Schreuer (1886–1931), Rechtshistoriker, Zivil- und Handelsrechtler, 1898 ao. Prof. in Prag,
1902 o. Prof. in Münster, 1908–1931 in Bonn.
281 Josef Greven (1883–1934), Privatdozent für katholische Kirchengeschichte in Bonn.
282 Curtius veröffentlichte 1922 einen längeren Aufsatz über Balzac im „Hochland“; s. auch Anm. 389.

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Mai 1922 87

Haare schneiden, trank, noch durstig, eine Flasche Wasser bei Kieffer, zu Hause geschlafen,
2 Stunden, kein Brief, müde. Traurig, bedrückt, komme mir lächerlich vor. Allmählich
Reichsanzeiger gelesen und ruhiger, ein paar Brötchen gegessen, dann abends an den Rhein
spazieren, ein Glas Bier bei Kieffer, plötzlich eine Karte an Hirschberg geschickt, dass ich
nicht will, dass man in meinem Namen prozessiert. Noch an Feuchtwanger, heute Vormit-
tag an Pichler. Ziemlich müde zu Bett. Manchmal beherrscht und entschlossen wie in der
Kindheit, Mc. Swiney. Was soll ich von K. halten? Monique 283 hat die Dissertation ge-
schickt. Las darin, wie schön und anständig ist sie, jedes Wort von mir. Unheimlich. K. wird
das längst vergessen haben. Heute ist sie in Colombo.

Dienstag, 23. 5. 22
Etwas mehr auf, 1/2 8, gemütlich angezogen, gefrühstückt, sehnsüchtig, bei wunderschönem
Sommermorgen, an K. geschrieben. Brief von Georg Eisler, herzlich, freundschaftlich. Ich
war glücklich darüber. Dann 2 Stunden Vorlesungen sehr gut erledigt, aber es war doch eine
Anstrengung bei der Hitze. Bei Kieffer zu Mittag gegessen, eine wunderschöne Frau. Aber
es ging gut; schwarz gekleidet, ein entschlossenes Gesicht, ein schöner Hals. Lächerlich. Zu
Hause etwas geschlafen, dann glücklich, wie trunken; Sitzung, ruhig, freute mich über den
tüchtigen Partsch, Berufungen von Schmidt-Rimpler284, Haymann285 usw. Nachher im Café
Müller mit Landsberg, Göppert, Partsch, gut unterhalten, freute mich, elegant auszusehen,
sehr angeregt, mit Selbstgefühl nach Hause, Brief an Eichmann286, <…> und Georg Eisler.
Brachte sie zur Bahn, ging noch etwas spazieren, trank ein Glas Bier. Heute Mittag in der
Pension Strassberger; werde morgen dort zum ersten Mal essen. Freue mich, endlich Geld zu
sparen. Abends müde. Es ist heiß und schwül, keine gute Luft in Bonn. Konnte des Nachts
nicht schlafen, stundenlang im Bett gewälzt, aber es ging gut, keine Ejakulation.

Mittwoch, 24. 5. 22
Um 8 müde auf, lange herumgewaschen, kein Brief. Gefrühstückt, um 11 eine gute Vor-
lesung, aber es war sehr heiß. In der Bibliothek, ein paar Bücher nach Hause, zum ersten
Mal in der Pension gegessen. Schweigsam, befangen, Depressionen. Schrecklich. Traurig
nach Hause, geschlafen bis 4, dann lange gewaschen (es ist schrecklich heiß), zum Café
Kaufmann, Mokka und Wasser, eine Vorlesung über Politische Idee gehalten, sehr gut, ich
dachte, Frau Kaufmann wäre da, aber nur eine alte Jungfer, die ich nachher ansprach und
die mir von Zitelmann287 erzählte, mit dem sie angeblich vertraulich bekannt ist. Lange-

283 Vermutlich die Schreiberin des Manuskriptes von Murrays Dissertation.


284 Berufungssitzung für Nachfolge Partsch; Walter Schmidt-Rimpler (1885–1975), Handels- u. Wirt-
schaftsrechtler, Prof. für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht ab 1920 in Rostock,
von 1922 bis 1937 in Breslau, danach Wirtschaftshochschule Berlin.
285 Franz Haymann (1874–1947), Rechtsphilosoph, 1914 Prof. in Rostock, 1923 in Köln, 1938 Emigra-
tion, Schwager von Albert Hensel.
286 Eduard Eichmann (1870–1946), Kirchenrechtler, seit 1918 Professor für Kirchenrecht und Rechts-
geschichte an der Universität München, s. auch Anm. 336.
287 Ernst Zitelmann (1852–1923), bedeutender Zivilrechtsdogmatiker, 1879 o. Prof. für Römisches und
Bürgerliches Recht in Rostock, 1881 Halle, 1884–1921 Bonn, 1902/03 und 1918/19 Universitäts-
rektor, auch als Dichter und Aphoristiker hervorgetreten (vgl. die Eintragung im Tagebuch v.
21. 2.1923).

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88 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

weile. Um 1/2 8 in die Pension Strassberger zu Abend, etwas munterer, trank Moselwein,
aber schon nach 8 müde nach Hause. Dachte immer an K., die sich auch im selben Milieu
bewegt hat. <…>. Wie bedauerlich ist das alles. Heftige Wut, herauszukommen. Endlich
etwas Großes und Durchgreifendes. Müde, aufgeregt, um 9 1/2 schweres Gewitter. Wäre
ich endlich so weit, dass ich Herr meiner Selbst wäre. Bin nahe daran, irrsinnig zu werden.

Donnerstag (Himmelfahrt), 25. 5. 22


Nachts gut geschlafen, aber zerschlagen von der Hitze, bis 8 Uhr, morgens von Gütersloh288
geträumt (wir gehen über die Straße, ein französischer Offizier kommt uns nach, drängt
uns, ich sage ruhig pardon, Gütersloh hat schon Angst. Ich frage ihn: Haben Sie die Franco-
phobie?) Ich dachte, als ich wach war, mit einer gewissen wachen Wollust an seine schöne
Frau, das süße Stück Fleisch. Frühstückte behaglich, las den Reichsanzeiger dabei, das ein-
zige, wozu ich noch imstande bin. Dabei kamen plötzlich ein paar Leute über die Straße,
die französisch sprachen, ein junger Franzose mit seiner Freundin, hellblond und weißes
Fleisch, wie die Frau von Gütersloh. Sie schaute mit großen Augen in mein Zimmer und sah
mich erstaunt an. Ich erschrak. Herumgelesen, Karte von Beyerle289, ich soll in der K. Z.290
über seine Wittelsbachbücher schreiben. Erschrak, aus Schwäche wollte ich es aber tun.
Dann eine Drucksache von Nadler291, sonst nichts. Um 11 Besuche, bei Göppert (gegen die
Franzosen sprach er), bei Schulz292, bei Feldmann.293 Es ist schrecklich heiß. Müde um 1
gegessen, unterhalten mit einem Polen. Natürlich. Nach Hause, geschlafen von 1/2 3–1/2 5,
müde, traurig, verzweifelt, kann überhaupt nicht arbeiten; langsam Reichsanzeiger gelesen,

288 Albert Paris Gütersloh (1887–1973), eigtl. Albert Conrad Kiehtreiber, Schriftsteller und Maler.
Schmitt lernte ihn in der 2. Hälfte der 1910er Jahre durch Franz Blei kennen und hatte bis nach
1960 Kontakt mit ihm.
289 Konrad Beyerle (1872–1933), Rechtshistoriker, 1900 ao. Prof. in Freiburg, 1902 o. Prof. in Breslau,
1906 Göttingen, 1917 Bonn, ab 1918 LMU München, Abgeordneter der Bayer. Volkspartei in der
Nationalversammlung und des Reichstages. In dem Buch Die Rechtsansprüche des Hauses Wittels-
bach, München 1922, wies er nach, dass die Wittelsbacher erst gegen einen Versorgungsanspruch
ihr Hausgut in das bayerische Staatsvermögen eingebracht hätten und deshalb in Bayern zunächst
eine Trennung von Staats- und Hausvermögen vollzogen werden müsse. Damit legte er die Grund-
lage für den Wittelsbacher Ausgleichsfonds.
290 K.Z. = Kölnische Volkszeitung. Wichtige katholisch ausgerichtete Tageszeitung im deutschen Kai-
serreich und der Weimarer Republik. In Nummer 436 vom 6. Juni 1922 veröffentlichte Schmitt den
Artikel „Die Auseinandersetzung zwischen dem Haus Wittelsbach und dem Freistaat Bayern“,
wiederabgedruckt in: Schmittiana NF I 2011, S. 11–12. In den Jahren bis 1930 folgten weitere Arti-
kel Schmitts zu aktuellen staats- und verfassungsrechtlichen Problemen.
291 Josef Nadler (1884–1963), Literaturhistoriker, Prof. in Königsberg und Wien, bekannt geworden
durch seine Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Nadler hatte einen nicht
umfangreichen Briefwechsel mit Schmitt wegen dessen Buch „Politische Romantik“; im Vorwort
von 1924 zur 2. Auflage (S. 14 f.) setzte sich Schmitt mit Nadlers Romantikdeutung auseinander.
292 Fritz Schulz (1879–1957), bedeutender Rechtshistoriker und Römischrechtler, 1909 ao. Prof. in
Innsbruck, 1910 o. Prof., 1912 in Kiel, 1916 in Göttingen, 1922 in Bonn Nachfolger von Partsch,
1931–1935 in Berlin, 1951 Honorarprof. in Bonn.
293 Franz Feldmann (1866–1944), von 1903 bis 1934 Professor für Kathol. Altestamentliche Theologie
und Exegese in Bonn.

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Mai 1922 89

das ist alles. Dann Brief nach Greifswald, sonst nichts. Angst vor K., von ihr lächerlich
betrogen zu werden, nachdem ich Kierkegaard gelesen hatte; in einer schrecklichen Krisis.
Wieder Gewissensbisse wegen Cari. Abends Gewitter. Um 1/2 8 zum Essen, Göppert,
anständig mit ihm [und] Vormfelde 294 von der Landwirtschaftlichen Hochschule unterhal-
ten. Dann einsam, müde, traurig, sehnsüchtig nach Hause. Noch Barrès gelesen, nichts
getan, oft angst, irrsinnig zu werden.

Freitag, 26. 5. 22
Geschlafen, wieder ging es gut diese Nacht, Gott sei Dank. Um 8 auf, lief vor dem Früh-
stück Butter und Kuchen holen, traf dabei, seltsamer Zufall, den P. Hammenstede 295 und
den P. Casel296 aus Maria Laach, begrüßte sie freundlich. Frühstückte, Vorlesung schlecht
vorbereitet, gleichgültig, Zweifel wegen K. Sprach mit Schulte, der mir sagte, dass Beyerle
eine Froschnatur sei; zum Lachen. Hielt meine 2 Stunden Vorlesung, es ging gut. Dann
erleichtert nach Hause, in der Pension gegessen, freundlich mit dem Mann gesprochen,
nachher Kaffee bei Müller, dann zur Bibliothek, in den Magazinen herumgegangen, einen
Augenblick meine Traurigkeit vergessen, mit 4 französischen Büchern nach Hause, Brief
von Bilfinger297, sonst nichts, las dann Horla von Maupassant298, Kaffee, aufgeregt, geschla-
fen. Moralisch zerrieben von meiner Bigamie.
––––––– Angst, dass K. für mich zu dumm ist, dann
wieder machte ich mir Vorwürfe, dass ich dieses unproblematische Mädchen aus der Welt,
in der sie sich fröhlich fühlt, in meine Einsamkeit reiße. Alles schrecklich. <…>. Kaufte
noch Butter, dann zu Hensel, wir gingen noch spazieren, weil wir mit dem Essen warten
mussten; sprachen über Teilung der Gewalt, ich sprach sehr gut, wir aßen zusammen zu
Abend. Bescheiden, Wasser. Dann noch mit Hensel über Beethoven299, ungarische, religiöse
Kunst usw. Ich war traurig und ernst. Um 1/2 11 nach Hause, verzweifelt. Es wird täglich
schlimmer. Wie lange noch?

Samstag, 27. 5. 22
Gut ausgeschlafen, aber trotzdem faul, kann nichts mehr arbeiten, Druck auf den Augen,
Angst zu erblinden. Träumte des Nachts: Ich bin in Australien, in einer kleinen Großstadt,
in einem Hotel, K. habe ich verloren, Deutsche sind um mich herum. Das Geld von Wagner

294 Karl Heinrich Vormfelde (1881–1944), Bonner Freund und späterer Trauzeuge, Professor für Phy-
sik, spez. der Landmaschinenlehre, an der Landwirtschaftlichen Hochschule Bonn-Poppelsdorf.
295 P. Albert Hammenstede OSB (1876–1955), 1895 Eintritt in der Benediktinerabtei Maria Laach,
1915–1938 Prior, 1902 Dr. theol., Dozent für scholast. Philosophie in Maria Laach.
296 P. Odo Casel OSB (1886–1948), 1905 Eintritt in der Benediktinerabtei Maria Laach, 1913–18 Stu-
dium der klass. Philologie in Bonn, 1918 Dr. phil., 1922 Spiritual der Benediktinerinnenabtei Her-
stelle, Führer der katholischen Liturgischen Bewegung.
297 Carl Bilfinger (1879–1958), Staatsrechtler, 1922 Habilitation in Tübingen, danach Lehrstuhlvertre-
tung in Bonn, 1924 o. Prof. in Halle, 1932 mit Schmitt und Jacobi Prozessvertreter des Reiches im
„Preußenschlag“-Verfahren, 1935 in Heidelberg, 1943 in Berlin, 1945 Entlassung, 1949–1954 wie-
der in Heidelberg, zugleich Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht
und Völkerrecht.
298 Guy de Maupassant (1850–1893), franz. Erzähler. Der Horla, Novellensammlung.
299 Albert Hensel, Beethoven. Versuch einer musik-philosophischen Darstellung, Berlin 1917.

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90 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

kam, die 4 Pfund. Schrieb an Beyerle, dass ich bis zum 31. 5. einen Aufsatz liefere. Also ich
will es tun (wegen K. und des Münchner Prozesses). Fröhlich etwas gearbeitet, aber nicht
viel, herumgelesen. Um 12 zur Stadt, die Arbeiten vom Pedell erhalten, an der Post vorbei,
Drucksache nach Greifswald (Wordsworth), Blumen für Frau Geheimrat Thurneysen.
Dann zu Hause, mit der Bahn nach Godesberg, mit Gieseke. Vorher mit Geheimrat Thur-
neysen in [Oberdollen]dorf‚ große <…> Minheimer 300 getrunken, neben einem sympathi-
schen jungen Italiener, Steinbüchel301, der meine Bücher gelesen hat. Dann mit Thurneysen
gesprochen über Irland. Ich war begeistert, er war in Westirland und erzählte davon, von
den Straßen, den Bussen, ohne Wald, meinen Interessen von Irland usw. Nachher noch vom
Sinn verschiedener Kennzeichen. Ein irischer Insurgent und eine Irländerin sind da. Die
Iren sind eine verschworene Nation. [Er ist] ein äußerlich kultivierter, liebenswürdiger
Mensch, er machte fast den Eindruck großer Lebhaftigkeit. Der Rhein war herrlich, das Sie-
bengebirge unbeschreiblich. Auf dem Heimweg mit dem [Buchhändler] Klostermann302
sehr freundlich gesprochen, erzählte, dass er französische Verwandte habe usw. Jeder hat
französische Verwandte, aber die französischen machen sie unbeliebt. Das belebte mich
etwas, aber ich ging aufgeregt nach Hause; nur eine Karte von Nadler303, sonst nichts. Dann
zum Café Fürstenhof, eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen, aufgeregt, zerrissen, müde
nach Hause, etwas herumgelesen, für meine verwaltungsrechtliche Arbeit. Barrès gelesen.
Das Pamphlet <?> reichlich merkwürdig <…>. Mehr als alles Deutsche.

Sonntag, 28. 5. 22
Morgens gegen 5 Pollution. Widerlich, ekelhaft, das Mädchen von <…> in Berlin. Um 8
auf, froh, dass es Tag ist, gefrühstückt, etwas Beyerle, fast nichts, kein Brief (von Nadler
eine dumme Karte 304). Bis 11 herumgelesen. Dann zu Thurneysen, äußerlich freundlich,
traurig, weil die Frau nach München fährt, Gewissensbisse wegen Cari. Dann zu Professor
Neuß305, er hatte gerade Namenstag, den ich mitfeierte. Freundlich, wir sprachen über
Kisky. Hörte, dass Lauscher306 hier Theologe ist, der Führer des rheinischen Zentrums.

300 Siehe Anm. 180.


301 Theodor Steinbüchel (1888–1949), Priester, Moraltheologe und Philosoph, 1922 philos. Habilita-
tion in Bonn, 1924 Lehrbeauftragter für kath. Weltanschauung in Frankfurt/Main, 1926 o. Prof. für
Philosophie „auf katholischer Grundlage“ in Gießen (ab 1929 ohne den Zusatz), 1935 in München,
1941 in Tübingen.
302 Vittorio Klostermann (1901–1977), Verleger und Buchhändler. Ab 1924 übernahm er in Bonn die
Leitung der Buchhandlung Friedrich Cohen, s. Anm. 373.
303 Die Karte Nadlers vom 22. 5.1922 ist im Nachlass vorhanden (RW 265-10129).
304 Diese Karte Nadlers vom 23. 5.1922 ist ebenfalls im Nachlass vorhanden (RW 265-10130).
305 Wilhelm Neuß (1880–1965), Priester, 1917 ao., 1920–1949 o. Prof. für Kirchengeschichte und Ge-
schichte der Christlichen Kunst und Archäologie in Bonn, 1936 nichtresidierender Domkapitular
der Erzdiözese Köln. Vgl. zu dem engen Kontakt zwischen Neuß und Schmitt Schmittiana VII
2001, S. 328 f. Siehe auch Einführung, S. XVI f.
306 Albert Lauscher (1872–1944), Priester, Moraltheologe und (bis 1933) Politiker des Zentrums, 1907–
1934 o. Prof. für katholische Pastoraltheologie in Bonn, 1919–1921 Abgeordneter der Preußischen
Verfassungsgebenden Landesversammlung, danach des Preußischen Landtags, zuletzt als Frak-
tionsvorsitzender, 1920–1924 Mitglied des Reichstags.

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Mai 1922 91

Dann zur Pension. Nett mit [Miss] Gordon307 unterhalten, Mittag Professor Wanner308,
müde nach Hause, bis nach 4 geschlafen, an K. geschrieben, noch ein paar Karten, brachte
sie um 7 zur Bahn, Zug Münster, in der Pension zu Abend gegessen, nachher noch im
Hansacafé, eine Tasse Schokolade. Dann müde nach Hause. Immer müde, kann keine
Stunde arbeiten, tauge in Wirklichkeit nichts. Las die DelaRivière309 <? >, wieder Angst vor
dem Leben; l’heure est venue de me déniaiser.310 Also beherrscht. Merkwürdig, wie weit ich
es immer gebracht habe.
Ich bin den ganzen Tag schrecklich traurig, verzweifelt, dass der Zustand Bigamie, in dem
ich lebe, mich vernichtet, auch physisch und sozial. Nachts zum ersten Mal seit langem.
–––––––––––––––––––––
Grauenhaft. Man spielte im Café „Sagt edle Frauen“, die [Kanzone] des Cherubino aus
Figaro. Wie schön. Eines Abends im Ganzen sehr traurig, weil ich K. nicht photographiert
habe und den kleinen Apparat von <…> auf der Moselreise nicht bei mir hatte.

Montag, 29. 5. 22
Um 8 auf, ziemlich frisch, kein einziger Brief, nichts den ganzen Tag. Frühstückte, bereitete
meine Vorlesung schlecht vor, hielt sie aber ganz gut. War traurig und müde den ganzen
Tag; dabei ist herrliches Wetter. Ich bin wie vom Lebensfaden abgeschnitten. Aß in der Pen-
sion zu Mittag, vorher in der Bibliothek, in Büchern Bakunin311 entdeckt. Nach dem Essen
etwas spazieren. Im Münster, traurig, auf der Straße, dachte an K. Bin ich nicht doch ein
armer, betrogener Hund; dann im Lesesaal die Biographie von Parnell312 gelesen, Trotz,
Mut, den ganzen Tag heimlich auf ein Telegramm von München gewartet, manchmal das
Gefühl, von dieser Frau erschossen zu werden. Müde ein paar Bücher nach Hause ge-
schleppt, dann noch behaglich Kaffee getrunken, aber ich habe an nichts mehr Freude,
keine Arbeitslust, alles ist vorbei, vielleicht ist es doch eine Dummheit, K. zu wählen.
Inzwischen sitze ich hier, Cari hat mir viel Kummer gemacht, aber ich hatte doch immer die
Illusion, arbeiten zu können, inzwischen bin ich wie gelähmt. Das war ein schwerer Schlag,
diese letzten 8 Monate. Wer weiß, ob ich ihn überlebe. Sehr traurig. Nach dem Abendessen
schön nach Hause, müde, etwas für Beyerle notiert, langsam, kann überhaupt nichts mehr
arbeiten. Welch ein Zustand.
Ich habe Sehnsucht. Um 7 Uhr an K. geschrieben; schließlich französisch: J’ai peur de
m’éloigner de ta présence, si je viens dans un endroit où tu n’as pas été. Et toi, countess, te
voilà maintenant dans un entourage tout étranger à moi, peut-être railleur ou hostile. Je te
conjure de rester constante.313

307 Pensionsmitbewohnerin.
308 Johannes Wanner (1878–1959), Geologe und Paläontologe, 1913 Titularprof. in Bonn, 1919 beamt.
ao. Prof., 1920–1946 o. Prof. für angewandte Geologie.
309 Marie de la Rivière Manley (1672–1724), engl. Schriftstellerin.
310 Dt. die Stunde ist gekommen, mich klüger zu machen.
311 Michael Bakunin (1814–1876), russischer Anarchist und Revolutionär; bereits erwähnt in Schmitt,
Diktatur, S. 147, 149.
312 Charles Stewart Parnell (1846–1891), britischer Politiker, der im 19. Jahrhundert zum politischen
Führer Irlands wurde.
313 Dt. Ich habe Angst, Deine Gegenwart nicht mehr zu verspüren, wenn ich irgendwohin komme, wo
Du nicht gewesen bist. Und Du, Gräfin, bist jetzt in einer mir ganz fremden Umgebung, die mich

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92 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Dienstag, 30. 5. 22
Wieder kein Brief, unerklärlich. Angst, von den Franzosen überwacht zu werden. Meine
Vorlesung schlecht vorbereitet, aber es ging doch, von 11–1. Glücklich, erleichtert zum
Essen, nachher etwas spazieren, traurig, einsam. Im Hansacafé um 5 Uhr, ein paar Weiber,
ekelhaft. Kann überhaupt nichts arbeiten. Vergehe manchmal vor Sehnsucht nach K., dann
wieder schreckliches Mitleid mit Carita; nicht zum Aushalten, dem Tode nahe. Abends im
Cut (wie dumm, obwohl ich daran gedacht hatte, Smoking anzuziehen) zu Partsch. Man-
cherlei interessante Leute, Partsch etwas renommistisch, tüchtig, Betrieb. Blieb bis 1/2 2;
der Assistent Kaden314, der mich an Feuchtwanger erinnert; der Landgerichtsrat Neuß315,
erzählte von der Nichte. Schließlich doch eine leere Geschichte. Traurig nach Hause, dachte
an K.; sie wird nicht treu sein können.

Mittwoch, 31. 5. 22
Wieder kein Brief, es ist zum Verzweifeln. Aber ich war ruhiger. Tat wieder fast nichts. Für
Beyerle nichts geschrieben. Müde, eine Stunde Vorlesung, Reichspräsident; es ging so. Dann
Bakunin geholt, mit Geheimrat Heimberger nach Hause (er erzählte, dass Laband316 sich
einmal in einem Bad eingetragen hat: Professor Laband und Frau), aß zu Mittag, dann zu
Hause todmüde etwas geschlafen, Dr.-Examen, dann Kaffee in der Konditorei Kaufmann,
sehr müde und gleichgültig; schlecht vorbereitet, dann nach Hause, wieder kein Brief,
schrecklich. Dachte mit Angst an Carita. Um 6 Vorlesung, Frau Partsch und Frau Erich
Kaufmann waren da, ich sprach gut über Liberalismus, aber was sollen diese Perlen vor den
Gänsen. Nachher mit den beiden Frauen nach Hause, Frau Kaufmann nahm mich mit zum
Abendessen, nett unterhalten, über Wolff317, der eine Engländerin zur Frau hat, die herum-
flirtet, über Dohna318 und seine tüchtige Frau usw. Um 1/2 10 nach Hause, müde, arbeitete
überhaupt nichts mehr

Donnerstag, 1. 6. 22
Erst um 8 auf, wieder kein Brief, unerklärlich; sollten die Franzosen meine Post über-
wachen? Bereite meine Vorlesungen schlecht vor, lasse 1.500 Mark an Carita überweisen.
11–1 Vorlesungen, müde, aber es war schließlich glücklich zu Ende. Nach dem Essen mit
dem Geologen Wanner eine Tasse Kaffee, er erzählte nett. Ich war aber traurig, einsam;

womöglich verhöhnt oder anfeindet. Ich bitte Dich inständig, nicht wankelmütig zu werden.
(Übersetzung Wolfgang Fietkau)
314 Vermutlich Erich-Hans Kaden (1889–?), Zivilrechtler.
315 Anton, Bruder von Wilhelm Neuß, siehe Teil II, Anm. 263.
316 Paul Laband (1838–1918), berühmter kaiserzeitlicher Professor an der Rechts- und Staatswissen-
schaftlichen Fakultät der Universität Straßburg, wo ihn der Privatdozent Carl Schmitt kennen-
lernte. Vgl. Labands Brief an Schmitt vom 6.1. 1917, abgedruckt in TB II, S. 501. Laband war
unverheiratet.
317 Martin Wolff (1872–1953), ab 1914 in Marburg, ab 1919 in Bonn und ab 1921 in Berlin Professor
für bürgerliches Recht, Handelsrecht und internationales Privatrecht, wo er 1935 wegen seiner
jüdischer Herkunft entpflichtet wurde; 1938 Emigration nach England.
318 Alexander Graf zu Dohna (1876–1944), Professor für Strafrecht in Königsberg, Heidelberg und ab
1926 in Bonn.

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Mai/Juni 1922 93

schrecklich. Toujours seul au milieu des hommes.319 Schlief etwas, schreckliche Geilheit,
bereitete die Übung vor, hielt sie ganz schön, mit großem Erfolg, gab die Arbeiten zurück.
Sah dabei einen armen, netten Studenten mit einem hübschen Mädchen, er tat mir leid, weil
er ihr offenbar die Arbeit gemacht hat. Brief vom Meyer & Jessen Verlag 320, ich soll ihm
offenbar die Arbeit schicken, er will etwas tun. Abends schrecklich traurig, einsam. [Brief]
für Beyerle an die K. V.321 geschrieben, an Georg Eisler und Jup, brachte alles zur Bahn. All-
mählich manchmal Rationalist, für einige Minuten. Im Ganzen schrecklich traurig. – Mor-
gen kommt der junge Landsberg.

Freitag, 2. 6. 22
Munter auf, aber schnell wieder gelähmt. Arbeitete etwas, habe fast nichts getan für meine
Vorlesung, es geht aber immer noch einmal gut. Ein Brief von Krause, Angst vor diesem
Wicht, Angst vor diesen Geldleuten mit den schrecklichen Klauen. Wie vom Schicksal
gesandt stand auch gleich einer vor meinem Fenster, grauenhaft. Er hatte Ähnlichkeit mit
Krause! Krause sagt, es ist ein „ungeheurer Entschluss“, sich nach 10 Jahren Ehe zu tren-
nen, aber er empfiehlt einen Anwalt. War aufgeregt, konnte nicht mehr viel arbeiten. Hielt
meine Vorlesung, unglaublich, aber schließlich ging es, wie [in] unserem Zustand oft [gut].
Dann im Regen zum Essen gelaufen (eine Engländerin war da, Miss Gordon). Nachher aus-
geruht, zurecht gemacht, um 4 kam der junge Landsberg, ein Schlacks, etwas Ähnlichkeit
mit Georg Eisler, aber nur im Benehmen, er sprach vom Mittelalter, ich hörte freundlich zu,
über Descartes, wir gingen Kaffeetrinken, in einer kleinen Teestube, sprachen über Kosmo-
politismus des europäischen Kulturkreises usw. Er machte keinen tieferen Eindruck, ich
war gleichgültig und desinteressiert. Müde, verzweifelt, melancholisch, traurig. Noch zur
Bibliothek, dann nach Hause, eingekauft, will morgen abreisen. Zu Hause war ein Brief von
Pfarrer Custodis <?>.322 Es ist alles gleich. Aß zu Abend in der Pension, Herr Kren<?>
erzählte, Miss Gordon passe schon auf mich auf. Wieder unruhig. Dann nach Hause, müde,
las noch Barrès, Mithridates von Reinach323, großartig, erstaunlich. [Vorsatz], im Leben
etwas zu sein, mich nicht dupieren zu lassen, oben zu sein. Grauenhaft.

Samstag, 3. 6. 22
Morgens den ganzen Vormittag herumgesessen, an K. geschriebene Briefe erledigt, nicht zu
Mittag, nachmittags im Wartesaal ein Glas Bier und ein paar Würstchen. Um 4 meinen Kof-
fer zur Bahn geschleppt, den Briefträger getroffen, Nachsendungsantrag, mit der Rheinufer-
bahn nach Köln, dort am Hauptbahnhof, als eine Unmenge Menschen am Billettschalter
standen, Isay, den Privatdozenten, getroffen. Er fuhr nach Barmen, wir gingen zusammen
zum Bahnsteig, trafen dort Jup, gemeinsam bis Barmen, dann mit Jup in Hagen ein paar

319 Dt. Immer allein unter den Menschen. Napoleon in einer Meditation vom 3. Mai 1787 über Selbst-
mord, überliefert von Chateaubriand in seinen Mémoires d’outre-tombe.
320 Verlag Meyer & Jessen, München, in dem Schmitt keine Werke veröffentlicht hat; sein Förderer
Moritz Julius Bonn publizierte dort mehrere Bücher in den 1920er Jahren.
321 K.V. Kölnische Volkszeitung, s. Anm. 290.
322 Bernhard Custodis, siehe Teil II, Anm. 637.
323 Théodore Reinach (1860–1928), franz. Archäologe und Politiker. Mithridates Eupator, König von
Pontos, Leipzig 1895; Originalausgabe Paris 1890.

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94 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Glas Bier, stehend nach Hagen (ein Mädchen mit schönem weißen Fleisch im Zug). In Plet-
tenberg von Anna abgeholt, Üssi war krank; müde, eng, ein lichtloses Haus, Angst vor K.
und ihrer Mutter und Wut wegen dieser Angst. Im Zimmer von Dr. Abegg324 geschlafen,
froh, zu Hause zu sein. – Reservoirs von Erinnerungen.

Pfingstsonntag, 4. 6. 22
Mit Jup zum Hochamt nach Plettenberg, Predigt von Pfarrer Stuhlmann325 über die
Moluckei<?>, habe den Rosenkranz von K. und ihr Gebetbuch bei mir. Wir gingen durch
den Saley326 zurück, schönes Mittagessen, nachher herumgeschlafen, nachmittags um 4 mit
Jup zu Otto Schmitt327, mit Bernhard Wüst328 hinter der Glinge329, ein schöner langer Spa-
ziergang über Ohle zurück. Freute mich meiner Heimatberge. Abends müde ins Bett.

Pfingstmontag, 5. 6. 22
In der Frühmesse, nachher mit Jup einen Spaziergang durch den Saley, Basaltgrube. Nach
dem schönen Essen wieder geschlafen, um 5 Uhr Jup zurück, die Mädchen hier auf Ohler
Kirmes, Üssi war krank. Ich ging allein in den Saley, fühlte mich wieder stark. Aber oft
große Sehnsucht nach K., oft ganz frei davon. Zauberflöte gespielt, Freimaurer.

Dienstag, 6. 6. 22
Wanderung nach Pungelscheid330, mit Fräulein Spanmeier 331<?> und Anna, bis Werdohl332
mit der Bahn, nachmittags wieder über Ohle und Böddinghausen zurück.

Mittwoch, 7. 6. 22
Um 1/2 8 mit der Bahn nach Plettenberg, mit Bernhard Wüst über Hülschotten nach Atten-
dorn333, dort Professor Ernst334 besucht, im Rauch335 gegessen, nachher zu Fuß über Sonne-

324 Dr. rer. pol. Hermann Abegg war von 1923 bis 1931 leitender Angestellter in der 1872 gegründeten
Schrauben- und Nietenfabrik Graewe & Kaiser in Plettenberg-Einringhausen, in der Carl Schmitts
Vater Johann (1853–1945) von 1878 bis 1928 als Buchhalter beschäftigt war.
325 Gerhard Stuhlmann (1870–1941), von 1915 bis 1925 Pfarrer der kathol. Kirchengemeinde St. Lau-
rentius, danach Pfarrer in Winterberg.
326 Saley, Berg am Taleinschnitt zum Plettenberger Stadtzentrum, bis ins Alter bevorzugte Schmitt die
Wanderwege an diesem Berg.
327 Stadtbaumeister.
328 Bernhard Wüst, Schulkamerad.
329 Glinge ist ein Tal und Ort östlich von Plettenberg, Ohle ein Dorf westlich von Plettenberg.
330 Pungelscheid, Ort nahe Werdohl, sei dem 14. Jahrhundert mit einer Burg befestigt, von der bis vor
einiger Zeit noch ein Torbogen zu sehen war. Aus einer Nebenlinie der Eigentümer der Burg, von
Neuhoff, stammt der dort geborene Theodor von Neuhoff, s. Anm. 367.
331 Nicht ermittelt.
332 Werdohl, Nachbarstadt Plettenbergs flussabwärts.
333 Als Gymnasiast war Schmitt häufig den Weg zum katholischen Gymnasium nach Attendorn über
den Weiler Hülschotten gegangen (15 km), der Weg über Sonneborn ist ein kleiner Umweg.
334 Wilhelm Anton Ernst (1854–1936), Lehrer am Attendorner Gymnasium, 1902–1904 stellvertr.
Direktor, 1901 erhielt er den Ehrentitel eines Professors. Freundliche Auskunft des Attendorner
Stadtarchivars Otto Höffer.
335 Hotel Rauch, ältestes Gasthaus der südsauerländischen Stadt Attendorn.

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Juni 1922 95

born zurück. Prachtvolles Wetter, schöner Weg, ich bin ganz braun, stark, gesund,
wünschte, dass K. mich so sähe. Zu Hause viele Briefe, die mich freuten, von Eichmann336,
Lamberts, auch <…> über Beyerle an die K.V. – Mit Üssi nach Plettenberg.

Donnerstag, 8. 6. 22
Morgens von selbst sehr früh auf, ich bin kerngesund. Wunderschön im Saley, mittags nach
dem Essen an die Lenne, bei der Eisenbahnbrücke, bis 1/2 4. Braun gebrannt, gebadet 337,
abends mit der Abegg nach Brockhausen338, begegnete Langenbach.339 Angst vor Carita,
Üssi ist überzeugt, dass sie mich erschießt.

Freitag, 9. 6. 22
Morgens schöner Spaziergang nach Plettenberg, Haare schneiden und bei Schuster, in
plötzlicher Anwandlung zum Pfarrer, der sich sehr über meinen Besuch freute und offenbar
glücklich war, Unterhaltung zu finden. Nach dem Essen wieder an der Lenne gelegen. Zau-
berflöte gespielt. Mit Üssi und Anna nach Plettenberg, bei Siepmann340 etwas gegessen,
durch den Saley zurück. [Mutmaßungen] über Cari. Abends kam Kaiser aus Teindeln.
Unglaublich, wie erbärmlich unsere häuslichen Zustände. Aber ich bewahrte eine vor-
nehme, freundliche Haltung.

Samstag, 10. 6. 22
Morgens plötzlich todmüde, wieder ins Bett, überzeugt, dass Carita schwarze Magie treibt.
War nahe daran, nicht zu fahren. Bis 11 im Bett, scheußlich. Schließlich doch. Mit dem
Vater (der unglaublich aussah, heruntergekommen, verschlissen, krumm, wie ein armer
Teufel) und den beiden Mädchen zur Bahn. Dachte immer an K. und schämte mich. Um
1/2 1 nach Hagen abgefahren, über Elberfeld, Opladen (bei schrecklichem Gewitter), nach
Köln, den Koffer zur Rheinuferbahn geschleppt, in Bonn eine Menge Briefe, aber nichts
von K. Brief von André, der kommen will, was mich sehr freute; von Carita, was mich wie-
der aufregte. Sie scheint wieder Annäherungen zu suchen.

Sonntag, 11. 6. 22
Mit großem Behagen, glücklich etwas gearbeitet, wenn auch nicht viel. Besuche bei Berg-
bohm341 (Walter, daher dachte ich wieder an Frau Pastor Geist), bei Entrop342<? >, bei dem

336 Der Brief Eichmanns, in dem er Schmitt zur Berufung nach Bonn gratuliert, Grüße von dem Verle-
ger Heinrich F. S. Bachmair bestellt und über den Druck seines Lehrbuches des Kirchenrechts
berichtet, ist im Nachlass vorhanden (RW 265-3086).
337 Die Lenne, die durch Plettenberg-Eiringhausen fließt, hatte Stauwehre, sodass in dem eher kleinen
Fluss baden möglich war.
338 Gutshaus mit Gastwirtschaft an der Lenne.
339 Emil Langenbach (1888–1979), Bekannter Schmitts seit Schulzeiten, vgl. Verortungen des Politi-
schen. Carl Schmitt in Plettenberg, bearbeitet von Ingeborg Villinger, Hagen 1990, S. 44.
340 Cafe Siepmann, auch „Kuchen-Siepmann“ genannt, war bis Anfang der 1970er Jahre ein bekanntes
Kaffeehaus in Plettenberg, Wilhelmstraße 26.
341 Karl Bergbohm (1849–1927), seit 1895 Professor für Öffentliches Recht in Bonn, strenger Rechts-
positivist.
342 Nicht ermittelt.

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96 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Freund von André, dem Privatdozenten der Kunstgeschichte Schmitz343; nach dem Essen
gleich zu Neuß, wo Kisky war, wir gingen zusammen spazieren, Kisky erzählte von am
Zehnhoff, von Ka[thleen]. Am Zehnhoff sagte: „Es ist doch eine Schande, wenn so ein Weib
einen Mann wie Schmitt von seinem geraden Weg abbringen könnte“. Ich war aber dum-
merweise doch immer heimlich stolz auf den Erfolg. Kisky war etwas bei <…>, dann gin-
gen wir bei Schulte vorbei. (Schulte sagte: Die Iren helfen den Franzosen gegen die Englän-
der. Ich beschloss heimlich, mein Buch über Irland zu schreiben). Dann etwas bei Neuß,
Angst vor dieser Art Bürgerlichkeit und Solidität, zumal sie noch aus Münster in Westfalen
kam. Mit dem Professor Neuß und Kisky spazieren, nach Glinsdorf, oft bereit [zum]
Selbstmord, weiß mir nicht mehr zu helfen, zerrissen, lächerliche Situation, ich kann durch
nichts hindurch. Aß bei Neuß zu Abend, trank noch Wein, nachher kam der geordete
Schreiber344, ein etwas wichtigtuerischer Kerl, mit dem Kisky natürlich gleich über seine
unglückliche P[ositionslo]sigkeit im Auswärtigen Amt sprach. Kisky erzählte von am
Zehnhoff, dass Fräulein Fuchs mich [wegen Kathleen bedauert], weil sie ihre Wäsche heim-
lich besorgen ließ. <…> abgereist. Hörte das alles und nahm mir vor, es K. im nächsten
Brief zu erzählen. – Ich gehöre wirklich nicht in dieses Zentrumsmilieu.

Montag, 12. 6. 22
Um 7 1/4 auf, Spaziergang zum Venusberg, mit guten Vorsätzen. Arbeitete etwas an meiner
Vorlesung, sehnsüchtig, kann ja in Wahrheit nichts mehr tun, ein paar Briefe geschrieben,
zur Post, Marken gekauft, in der Bank einiges besorgt, 500 Mark nach Hause geschickt,
50 Mark an Siepmann345<? >, 205 an Stenzel.346 Endlich nach Greifswald an die Prüfungs-
kommission wegen des praktischen Falles geschrieben, hatte Gewissensbisse, wegen K.
habe ich das in Marburg immer verbummelt, nicht einmal soviel Zeit hat sie mir gelassen.
Glücklich, für mich etwas arbeiten zu können, aber ohne jede Hoffnung, vernichtet, zer-
schlagen. Aß zu Mittag (wieder die Engländerin, aber sie ist lächerlich dumm und albern).
Nachher zu Hause geschlafen, Ejakulation. Widerlich. Nachher wieder Angstzustand, dem
Irrsinn nahe, Trost nur bei K. Ging zu Erich Kaufmann, traf ihn, wir tranken zusammen
Tee, schwätzten herum, Isay kam, ging um 7 wieder, ich blieb bis 8, über Bruno Kauf-
mann347 gesprochen usw. Ich war ziemlich belebt, aber ich bin doch verzweifelt, vielleicht
brauche ich immer von neuem eine Frau. Mit Cari gänzlich fertig. Aß in der Pension, die
Engländerin lag wie eine faule Schlange herum, was ist sie hässlich, aber natürlich, als Aus-
länderin fasziniert sie mich. Ging aber ruhig nach Hause, etwas spazieren, zu Hause Tage-
buch geführt. Verzweifelt, leer, schrecklich traurig. So schlimm war es doch noch nie, nachts
oft grauenhafte Gier.

343 Vermutlich Bekannter aus Straßburger Zeiten.


344 Georg Schreiber (1882–1963), Priester, Kirchenhistoriker und Politiker. Ab 1915 Prof. für mittlere
u. neuere Kirchengeschichte Universität Münster, Reichstagsabgeordneter für die Deutsche Zen-
trumspartei von 1920 bis 1933.
345 Möglicherweise eine Restschuld vom 9. 6.1922.
346 Nicht ermittelt.
347 Bruno Kaufmann, Bruder von Erich Kaufmann, der sich öfter Rat bei Schmitt holte, vgl. seine
Briefe im Nachlass (RW 265-7302 bis 7306).

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Juni 1922 97

Dienstag, 13. 6. 22
Beherrscht aufgestanden, eine Stunde schön an meiner Vorlesung gearbeitet und schön
gefrühstückt, um 1/2 10 ein Brief von K. aus Colombo. Herrlich, rührend, zärtlich, voller
Liebe mit tausend schönen Erinnerungen, ich war hingerissen und begeistert, ich war be-
rauscht, glücklich wie noch nie in meinem Leben; wie großartig ist diese Frau, ich war
bereit, alles für sie zu tun und mein Leben zu opfern. Wie lächerlich, jemals an Carita
gedacht zu haben. Hielt meine Vorlesung, zu schnell, 11–1, aber es ging gut. Der ganze Vor-
mittag war ein wunderbarer Rausch von Liebe und Glück. Nach dem Essen (das sehr gut
war, aber nachher wurde <…>), Spaziergang zum Venusberg. Dann ausgeruht, Einladung
von Heimberger für morgen Abend, dann zur Bibliothek, Bachofen348 geholt, dann zu
Erich Kaufmann in die Vorlesung, beruhigt, weil er nicht viel bringt, in schlechter Rhetorik,
nachher mit ihm und seiner Frau, die mir sehr leid tat. Begleitete sie nach Hause (sagte
unterwegs: man verheiratet sich doch nicht aufgrund einer Konstruktion<? >). Kaufmann
erzählte nur von sich, von Personalien, ging ruhig nach Hause, arbeitete etwas, aß zu
Abend, schweigsam, noch ein Spaziergang zum Venusberg, hatte an K. gedacht, Plan, sehe
aber, wie unberechenbar wieder alles ist, denn ich liebe sie. Keine Nachricht von André.
Abends müde, aber sehr ruhig und beherrscht – keinen Pfennig ausgegeben. War stolz
darauf.

Mittwoch, 14. 6. 22
Nachts einmal wach, gegen Morgen; schön gefrühstückt, keinen Brief den ganzen Tag.
Bereitete meine Vorlesung ziemlich gut vor, hielt sie von 11–12, sehr gut, mit auffälliger
Kraft. Dann zum Meldeamt, erst beleidigt, daher Anarchist, dann wieder zufrieden. Es ist
lächerlich. Nach dem Essen eine Stunde spazieren zum Venusberg, zu Hause ausgeruht, im
Café an der Bahn, aufgeregt von dem guten Mocca. Nachher mit Partsch dem Dozenten,
zusammen über das Mutterrecht (das er bei den Zigeunern festgestellt hat), dann meine
Vorlesung, erst etwas nervös, nachher sehr gut gehalten. Nach der Vorlesung stellte sich
Dr. Braubach349 vor und bat um Sorel, Reflexions350; ich nahm ihn mit nach Hause, erzählte
sehr nett, unterhielt mich gut; dann zur Pension, gegessen, nachher umgezogen und zu
Heimberger; ein Schauspieler war da, der mich etwas an Gütersloh erinnerte, mit lächer-
licher Theatralik sprach, aber zum Glück noch jung war, ein altes Fräulein, der Philosoph
Dyroff351, ein Geologe und seine Frau. Ich war ziemlich reserviert, sprach dann über Indo-
logie, verblüffte natürlich alle. Müde und gleichgültig nach Hause. Dachte innig an K.

348 Johann Jakob Bachofen (1815–1887), Schweizer Jurist und Altertumsforscher. 1922 war seine be-
rühmte Abhandlung „Das Mutterrecht“ in der 2. Aufl. von 1897 erhältlich, erst nach 1923 setzte
die Wiederentdeckung Bachofens ein.
349 Bernhard Braubach (1892–1930) aus Köln, erster Doktorand und Assistent Schmitts in Bonn, 1919
Dr. phil., 1923 Dr. rer. pol. bei Schmitt (mündliche Prüfung am 31. 7.) mit einer Arbeit „Zum
Begriff des Abgeordneten. Ein ideengeschichtlicher Versuch zum festländischen Staatsrecht“ (s. die
Eintragung im Tagebuch v. 6. 2.1923), 1928 phil. Habilitation in Bonn. Schmitts Dissertationsgut-
achten in: Mehring (Hrsg.), BW Schmitt – Smend, S. 162 f.
350 Georges Sorel, Refléxions sur la violence. Paris 1908, 5. Aufl. 1922; erste deutsche Übersetzung 1928.
351 Adolf Dyroff (1866–1943), Philosoph und Psychologe, 1901 ao. Prof. in Freiburg i.Br., 1903–1934
o. Prof. für kathol. Philosophie in Bonn, Rektor 1925/26, Lehrstuhlvertretung 1940–1941, ab 1916
Geheimer Regierungsrat.

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98 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Es war die Rede von Flemming352 in Rostock, Imelmann353, dessen Frau, [1 Wort ver-
kleckst] und dessen Kinder Irländer sind. Erst um 1/2 1 ins Bett.

Donnerstag, 15. 6. 22
Fronleichnam. Bis 8 Uhr im Bett, etwas müde, wunderbar gefrühstückt; ein schöner Vor-
mittag, habe behaglich herumgekramt und nachgedacht, de Maistre gelesen, manchmal ent-
zückt, oft enttäuscht.354 So kann man heute nicht mehr schreiben. Mittags dem jungen
Landsberg Haecker355 gebracht, traf aber nur seinen Vater, der gerade nach Hause kam, gab
ihm das Buch für seinen Sohn. In der Pension gegessen, nachher sehr müde, geschlafen, sehr
nervös, krankhafte Furcht (vielleicht wegen des schwülen Wetters?); dann Jup abgeholt. Wir
gingen nach Godesberg, tranken in Plittersdorf, im Schaumburger Hof, Kaffee, dann eine
Flasche Minheimer; sprach über meine Anfechtungsklage.356 Es ist verzweifelt. Aber ich
will durch. Wir blieben bis 1/2 7 sitzen, dann zu Fuß, am Rhein entlang, nach Bonn zurück.
Jup wartete in meinem Zimmer, während ich in der Pension aß. Dann gingen wir zum Café
und tranken Bier, sprachen sehr schön über die mathematische Wissenschaft, bewunderten
das 17. Jahrhundert, unterhielten uns nett bis 11 Uhr. Jup machte ein paar großartige Bemer-
kungen: Lehrfreiheit, das heißt das Recht, jeden Blödsinn als Weisheit zu verzapfen, oder er
sagte: Der ganze Fortschritt der Chirurgie bestehe darin, dass einer auf die Idee gekommen
ist, sich vor der Operation die Hände zu waschen. Um 11 Uhr fuhr er nach Köln zurück.
Ich war im Augenblick vom Anblick des Publikums geil. Dann beherrscht und entschlossen
nach Hause zurück. Ich muss aus dieser Enge heraus. Endlich einmal mit großer Energie
weggehen. Nicht sein, was mein Vater war.

Freitag, 16. 6. 22
Bis 8 Uhr geschlafen, schöner Kaffee, ein paar Briefe, 2 aus Greifswald (von Poy357; Angst,
weil er vom Kampf ums Dasein sprach, vom Mieteinigungsamt usw.) und von Holstein358,
dem ich gleich antwortete, ferner von Palyi 359, der Max [Weber] 360 wegschickte, was mich

352 Willi Flemming (1888–1980), Germanist, Privatdozent an der Universität Rostock.


353 Rudolf Imelmann (1879–1945), Anglist, Professor an der Universität Rostock.
354 Joseph Marie de Maistre (1754–1821), franz. Staatsphilosoph und konservativer Schriftsteller.
Schon vor der aktuellen Arbeit an seinem Aufsatz „Zur Staatsphilosophie der Gegenrevolution“,
s. Anm. 364, hatte sich Schmitt bei seinen Studien zur Politischen Romantik mit de Maistre,
Bonald, Bossuet u. a. beschäftigt, nicht jedoch mit Donoso Cortés. Im Gegensatz zu den gegen-
revolutionären Denkern hielt Schmitt an dem modernen Souveränitätsbegriff fest.
355 Vermutlich Theodor Haecker, Satire und Polemik 1914–1920, Innsbruck 1922.
356 Die Anfechtungsklage seiner Ehe mit Cari, die zu deren Nichtigkeitserklärung führen sollte.
357 Friedrich Poy (später hat Schmitt in einem Adressverzeichnis diesen Namen mit der Eintragung
„Berlin, Wilhelmstraße 25“ versehen), gemeldet ist F. Poy lt. Berliner Adressbuch 1930, als Beruf ist
Syndicus angegeben.
358 Günther Holstein (1892–1931), prot. Staats- und Kirchenrechtler, Schüler Erich Kaufmanns, für
öffentliches Recht habilitiert, ab 1922 zunächst als Vertretung für den vakanten Lehrstuhl Schmitts,
dann ab 1924 o. Professor für öffentliches Recht u. Kirchenrecht in Greifswald, ab 1929 in Kiel.
Brief im Nachlass (RW 265-6195).

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Juni 1922 99

sehr freute. Sprach mit Hensel (er ist mir widerwärtig), hielt meine Vorlesungen gut, aß viel
zu Mittag, ging nachher spazieren und gewann dadurch wieder das Gleichgewicht. Dann zu
Hause gewaschen und ausgeruht, plötzlich wahnsinnige Geilheit, Ejakulation. Um 1/2 5
(furchtbarer Regen) eine Menge Briefe und Drucksachen, aber nichts Wichtiges. War müde
und traurig, trank keinen Kaffee. Frau von Wandel hat mich für morgen zum Tee eingela-
den. Ich kaufte um 7 etwas Kuchen, dann zum Abendessen, aber schnell wieder nach
Hause, Brief an Bonn geschrieben, nach Dorotic gefragt, ebenso an das Konsulat in Düssel-
dorf 361; brachte sie zum Bahnhof. Dann zu Hause Macbeth gelesen. Schlechter Eindruck
von ihm, oberflächlich, unfähig, durchzudringen durchs Material, wüster Herrschaftsaffekt,
mit Redebedürfnis, ohne jede klare Gestaltung. Bin aber glücklich, allmählich wieder in die
geistige Arbeit hineinzukommen; das Hindernis war vielleicht doch K.? Müde ins Bett.
André hat noch nicht geschrieben, [Aschaffenburg]362 ist hier im Hospital; ich will ihn
Sonntag oder Montag besuchen.

Samstag, 17. 6. 22
Den Vormittag herumgearbeitet, zu Hause, mittags zum Rathaus wegen der Zuzugsgeneh-
migung, ziemlich munter, schön gegessen in der Pension, nachher etwas spazieren, zum
Venusberg hinauf, die Füße gewaschen, geschlafen bis nach 4 Uhr, um 1/2 5 zur Frau von
Wandel zum Tee. Es war noch der frühere Kommandierende General von Metz mit seiner
Frau da.363 Wir unterhielten uns freundlich, ich fühlte mich sehr wohl, blieb bis 6 1/4, dann
zu Kaufmann, der aber ein paar Studenten da hatte. Ich fühlte mich schlecht behandelt und

359 Melchior Palyi (1892–1970), Dr. rer. cam., Wirtschaftswissenschaftler ungarischer Herkunft, 1915
in München promoviert, 1918–1922 Lehrauftrag an der Handelshochschule ebd., 1921 Habilitation
in Göttingen, 1922 an der Handelshochschule Berlin umhabilitiert, Lehrauftrag an der Universität
Kiel, Gastprofessuren in den USA, 1929–1933 Honorarprof. und Kollege Schmitts an der Handels-
hochschule Berlin, Direktor des 1931 gegründeten Berliner „Instituts für Währungsforschung“,
1933 Emigration in die USA, Unternehmensberatung u. Lehraufträge. Seit der Münchner Zeit mit
Schmitt näher bekannt. Herausgeber der „Wirtschaftsgeschichte“ aus dem Nachlass Max Webers
und der Gedenkschrift für Max Weber „Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max
Weber“, München 1923, zu der Schmitt die ersten 3 Kapitel seiner „Politischen Theologie“ beisteu-
erte, s. Anm. 191. Bereits im Brief vom 21.11. 1921 hatte Palyi mitgeteilt, dass er sich auf Schmitts
Beitrag zur Gedenkschrift freue (RW 265-10806).
360 Nachricht zum Fahnenversand des Beitrags für die „Erinnerungsgabe Max Weber“, s. vorst. Anm.
361 Recherchen zum Personenstand seiner Frau Cari wegen der Anfechtungsklage, s. Anm. 356.
362 Gustav (nicht Ernst) Aschaffenburg (1866–1944), bedeutender forensischer Psychiater und Krimi-
nologe (Standardwerk „Das Verbrechen und seine Bekämpfung“, 3. Aufl. 1923), ab 1904 Professor
an der neu gegründeten Akademie für praktische Medizin (ab 1914 Teil der Universität) in Köln
und Herausgeber der „Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform“, ab 1906
auch medizinischer Leiter der städtischen Krankenanstalt Lindenthal-Coeln, 1933 Entlassung aus
dem Staatsdienst, 1939 Emigration in die USA (Baltimore). Schmitt bemüht sich später um eine
Anstellung seiner Geliebten Lola Sauer (s. Teil III, S. 432), vgl. auch Mehring, Aufstieg und Fall,
S. 153.
363 Frau von Wandels Ehemann (s. Anm. 220) war von 1905 bis 1907 Chef des Generalstabes des XV.
Armeekorps in Straßburg.

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100 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

ging wütend um 1/2 8 fort. Nach dem Abendessen bald nach Hause, kam ins Arbeiten, las
de Maistre. Spät ins Bett.

Sonntag, 18. 6. 22
Morgens behaglich gefrühstückt, angefangen am Aufsatz über die Gegenrevolutionäre364 zu
schreiben; um 1/1 12 Besuch von Göppert, der auffallend mild und freundlich war, erzählte,
dass der junge Landsberg Kommunist ist usw. Ich schlug ihm vor, dass Gieseke in das
Betriebsrecht einen Grundriß des Betriebsrätegesetzes schreibe, den Mahlberg365 mir ange-
boten hatte; er schien darüber erfreut. Ich schrieb Briefe an Georg Eisler und an Ka., sehr
herzlich und schön (der 7. Brief, Dank für den schönen Brief, den ich Dienstag bekommen
habe, erzählte, dass ich de Maistre lese, L’épouse est langoureuse366). Mittags zu Erich Kauf-
mann, kaufte vorher Blumen, aß zu Mittag, den ganzen Nachmittag da, von 6–1/2 8 mit
Kaufmann am Rhein spazieren, er erzählte fast nur von sich und nur von Persönlichem.
Blieb bis 12 Uhr abends. Es war zu lange. Ich war müde, degoutiert, voller Angst. Er sagte
von Isay, dass dieser einen schlechten Charakter habe. Dachte an K., traurig ins Bett. [Am
rechten Rand eingefügt] Las Huysmans, staunte über seine Sexualität, über seine Flimmerei,
seine schwachen Nerven, der Faun als Strafe.

Montag, 19. 6. 22
Müde, bis 8 geschlafen; diese Luft macht einen todmüde und faul. Arbeitete etwas für meine
Vorlesung über den Reichsrat, aber sehr wenig. Kein Brief, nur eine Karte von Ännchen,
traurig, bedrückt, sogar Angst. Es ist zum Lachen. Welch ein Dasein. Um 11 zur Univer-
sität. Kaufmann war kurz angebunden; wollte einen Mann, der bei Smend promovieren
wollte, haben; ich war beleidigt, Ekel und Wut vor Hensel. Hielt meine Vorlesung, zitternd
vor Nervosität, aber es ging schließlich doch gut. Dann etwas in der Bibliothek herumgele-
sen über Theodor Neuhoff 367 (in einem Buch über das Sauerland). Müde nach Hause. Nach
dem guten Essen mit Professor Wanner zu seiner Wohnung, ein paar Photographien be-
sehen, geplaudert über die Zustände in den holländischen Kolonien. Unheimliche Angst vor
den Menschen. Sehe mich als einzelnen für verloren. Gefressen von den Haifischen des
Lebens. Zu Hause ausgeruht. Des Mittags kein Brief. Dann zu Ernst [recte Gustav] Aschaf-
fenburg in die Klinik, eine Stunde geplaudert, über die Frauen gesprochen, er erzählte von
sich (er sei plötzlich erwacht, einmal als junger Mann, des Nacht und [wünschte, ein] Kind

364 „Die Staatsphilosophie der Gegenrevolution“, zuerst erschienen im Archiv für Rechts- und Wirt-
schaftsphilosophie, Band XVI, 1922, S. 121–131; danach als 4. Kapitel in „Politische Theologie“
aufgenommen.
365 Walter Mahlberg (1884–1935), Wirtschaftswissenschaftler, Kollege von Schmitt an der Handels-
hochschule München, von 1923 bis 1925 Professor in Göteburg, ab 1926 in Freiburg/Breisgau.
Schmitt hatte an der Handelshochschule München eine einstündige Vorlesung zum Betriebsrätege-
setz gehalten.
366 Dt. Die Ehefrau ist sehnsuchtsvoll.
367 Theodor von Neuhoff (1694–1756), aus einer Nebenlinie der Eigentümer der Burg Pungelscheid
(s. Anm. 330), war ein politischer Abenteurer, dem es gelang, sich Mitte des 18. Jahrhunderts an die
Spitze der korsischen Unabhängigkeitsbewegung gegen Genua zu stellen und 1736 für 100 Tage
erster und einziger König von Korsika zu werden.

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Juni 1922 101

zu haben). Ich sprach von Papageno. Traurig nach Hause, alles vergebens. Zum Verzwei-
feln. Wüste Sexualität. In die Pension zu Abend, wieder sehr reichlich, dann etwas herum-
gelaufen, Angst, wahnsinnig zu werden. Was soll ich tun; müde schließlich nach Hause.
Nichts gearbeitet den ganzen Tag. Es ist zum Lachen. André kommt nicht. Huysmans ge-
lesen. Als Wanner eine Geschichte erzählte, plötzlich den heftigen Wunsch, Erzählungen zu
schreiben, um K. eine Freude zu machen.

Dienstag, 20. 6. 22
Müde; die ganze Nacht geschlafen, schön gefrühstückt, sehr eilig vorbereitet für Reichs-
wirtschaftsamt. 3 Briefe, die merkwürdigerweise alle die Dame betrafen: von ihr eine kurze
Empfangsbestätigung, von Wien: dass nichts beim Zentralmeldeamt bekannt ist, von Düs-
seldorf vom Konsulat, dass natürlich ebenfalls nichts bekannt ist. Das machte mich munter.
Ich war ziemlich aufgeräumt, ging zur Universität, sah nach Kaufmann mit Hensel, dann
Sitzung, Kaufmann sich wichtig machend mit einer dummen Unverschämtheit und Eitel-
keit; ich hatte einen solchen Ekel, dass ich wegging und mich nicht um das Vorlesungsver-
zeichnis kümmerte. Nachher kam noch ein Mann namens Betz368, von dem Hensel mir
gesagt hatte, er wolle bei mir promovieren über die Ideengeschichte der Zentrumspartei; das
scheint Kaufmann plötzlich an sich gerissen zu haben; denn jedenfalls sagte H. mir auf ein-
mal, Kaufmann wollte die Sache behandeln. So bin ich blamiert. Es ist ekelhaft. Hielt meine
2 Stunden Vorlesung und ging traurig nach Hause, [wo ich] für mich allein blieb; es ist ja
lächerlich; wegen solcher Objekte zu intrigieren. Nach dem Essen einsamer Spaziergang,
dann gewaschen, dann im Bett geschlafen, dadurch frisch; um 1/2 5 begegnete ich dem
Briefträger, der mir zwei Bücher von Hegner369 brachte, Bücher von Gütersloh; glücklich
wieder im Zusammenhang mit der literarischen Welt zu sein; las sie etwas im Café am
Bahnhof; für den Mocca 20 M! Sehr angeregt in die Vorlesung von Erich Kaufmann, eine
dumme Plauderei, widerlich. Ging schnell weg, um ihn nicht zu sprechen. Etwas in der
Bibliothek herumgelaufen, traurig nach Hause. Gut gegessen, mit der Engländerin ein paar
Worte gesprochen, sie scheint entsetzlich dumm zu sein, sie hat aber bei Langenscheidt<?>
ein Buch über die Entstehung der Literatur aus dem Leben veröffentlicht. Erzählte ein paar
Kriminalgeschichten. Etwas spazieren, Gütersloh gelesen, sehr belebt davon. Dann zu
Hause noch <…> exzerpiert, dadurch etwas getan. Sonst nichts.
Für Vorlesung morgen nichts!

368 Anton Betz promovierte am 26. 7.1924 bei Schmitt mit der Arbeit „Beiträge zur Ideengeschichte
der Staats- und Finanzpolitik der der deutschen Zentrumspartei von 1870–1918“; siehe Teil II,
Anm. 753.
369 Jakob Hegner (1882–1962), österr. Verleger und Übersetzer (u. a. von Georges Bernanos), gründete
1912 in Dresden-Hellerau den nach ihm benannten Verlag, 1919 Taufe (ev.), 1935 Konversion zur
kath. Kirche, 1936 aus „rassischen“ Gründen aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen, über
Wien 1938 Flucht nach London, 1946 in Basel, später Köln und München. Schmitt hatte im Verlag
Jakob Hegner in der von Franz Blei herausgegebenen Zeitschrift „Summa“ 1917/18 drei Beiträge
veröffentlicht; 1923 publizierte er dort die erste Auflage von Römischer Katholizismus und poli-
tische Form. 1922 waren bei Hegner u. a. von A. P. Gütersloh die Titel Innozenz oder Sinn und
Fluch der Unschuld und Der Lügner unter Bürgern erschienen.

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102 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Mittwoch, 21. 6. 22
Um 8 auf. Früh meine Vorlesung vorbereitet; zum Glück nur eine Stunde. Angst und Wut
wegen Kaufmann. Es kam nur ein Brief von Georg Eisler370; er warnt mich, etwas zu tun,
bevor ich mit am Zehnhoff gesprochen habe. Das war mir natürlich unangenehm. Hielt
meine Vorlesung gut, nachdem ich im Dozentenzimmer mit Kaufmann nett gesprochen;
war beruhigt, erzählte ihm, dass ich mich über Hensel geärgert habe. Wir gingen zusammen
zum politischen Seminar; er sah, dass ich Guardini371 bestellt hatte (ich sagte ihm: diese Kle-
riker haben Hintergründe). Er begleitete mich zur Meckenheimer Allee, ich aß zu Mittag,
nachher mit Wanner Kaffee getrunken, ihn eingeladen, er erzählte schon von Neuseeland,
den Frauen, die sich dort so unglaublich bedienen lassen, dass es ein wissenschaftlich Arbei-
tender schon unmöglich aushalten kann; dann von seiner Tätigkeit als <…>. Hörte mit
großem Interesse zu. Müde nach Hause. Geschlafen. Etwas den Magen verdorben. Scheuß-
licher Zustand. Angst, Wut, Verzweiflung, Geilheit; schließlich müde auf. Kein Brief. Um
1/2 6 weggegangen. Nochmals Kaffee im Café Hansa. Ein Student, von der <…>-Vereini-
gung kam zu mir und sprach mit mir; ich wurde dadurch wieder munterer. Hielt um 6 Uhr
meine Vorlesung, vorher mit Partsch gesprochen. Es war Frau Partsch da, nicht aber von
Anfang. Sprach sehr gut über Hegel (die Eulen der Minerva). Begleitete die beiden Damen
nach Hause, freute mich meines Erfolges und war wieder auf der Höhe. Wie lächerlich.
Dann zum Essen, mit dem Zoologen Simon372; nett über Düsseldorf unterhalten, die vielen
Huren, die es da gibt, dann Herrn Cohen373 getroffen; er erzählte, der furchtbarste Schlag sei
gewesen, dass er eine Lebensfreundschaft, eine brüderliche Freundschaft aufgeben musste,
weil sein Freund eine hysterische Frau heiratete und ihm, der abriet, böse wurde. Erschrak.
Plauderte freundlich mit ihm, fühlte, dass er mich mag, blieb deshalb auch etwas mit ihm
auf der Straße; dann für mich spazieren, Gütersloh gelesen mit großem Genuß. Verhältnis-
mäßig munter nach Hause. Las die Tagebücher aus Marburg; es ist doch grauenhaft gewe-
sen, diese Sklaverei. War es nicht lächerlich?

Donnerstag, 22. 6. 22
Morgens eilig vorbereitet für meine 2 Stunden. Es ging gut, unerklärlicherweise; nach dem
Essen sehr müde herumgeschlafen, um 5 eilig etwas gelesen für meine Übungen, dann im
Bahnhof Kaffee getrunken, schnell etwas aus <…> usw. Dann zwei Stunden eine sehr schöne,
gute Vorlesung, über Einstand, cl. r. s. st.374 usw. daher wieder angeregt, nachdem ich vorher

370 Postkarte, nicht Brief, vom 17. 6. 1922 (RW 265-3134).


371 Romano Guardini (1885–1968), Priester und Religionsphilosoph, 1922 dogmatische Habilitation
bei Gerhard Esser in Bonn, 1922–1923 ebd. Dogmatik-Vorlesung, ab 1923 Erstinhaber des Lehr-
stuhls der Universität Breslau für Religionsphilosophie u. katholische Weltanschauung, anschlie-
ßend dauerhaft beurlaubt und Lehrtätigkeit an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, 1939
Lehrverbot, ab 1945 Prof. an der Philosophischen Fakultät Tübingen, 1948–1962 Lehrstuhl ad per-
sonam an der LMU München. Guardini ist in Verona geboren, wuchs aber in Mainz auf.
372 Siegfried Veit Simon, o. Professor für Botanik (nicht Zoologie) in Bonn.
373 Friedrich Cohen, Inhaber von Sortimentsbuchhandlung, Verlag und Antiquariat gleichen Namens
in Bonn, Am Hof 30.
374 cl.r.s.st. = clausula rebus sic stantibus, dt. Festlegung bei gleichbleibenden Umständen. Allgemeiner
Rechtsgrundsatz, dass Verträge geändert werden können, wenn sich die entscheidenden Umstände
ändern, die die Geschäftsgrundlage bildeten.

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Juni 1922 103

ziemlich Depressionen gehabt hatte. Nach Hause, umgezogen, dann zu Landsberg, um 1/2 9
gegessen, etwas im schönen Garten, geplaudert (der <…> Jüngster <…>). Der Junge erinnert
mich sehr stark an Georg Eisler, wir tranken noch etwas Wein (der gut war). Im Zimmer von
Frau Landsberg, die strickte; sprachen über Astrologie. Der Junge machte viele gute Erinne-
rungen; das Grauen <?>. Um 1/2 11 nach Hause, angeregt. Dachte daran, wie weich diese
Leute sind, und der Junge ist Kommunist. Er denkt nicht daran, auf seinen Reichtum zu ver-
zichten. Die einzige Konzession ist, dass er sich die Hose nicht bügelt. Großer Gott.

Freitag, 23. 6. 22
Brief von München, sehr nett, aber unangenehm, weil er von der Dame schrieb. Wieder eilig
vorbereitet, glücklich 1 Uhr zu Ende; aber es waren keine guten Vorlesungen. Erleichtert
nach Hause. Nach dem Essen Wanner begleitet, dann nach Casselsruh gegangen, allein, auf
dem Heimweg durch die Franzosen, die alte Angst erwachte, ich blieb aber sehr ruhig. Zu
Hause, wie üblich, nachmittags die Füße gewaschen. Um 1/2 4 kam Theodor Kaiser aus
Teindeln. Wir sprachen über sein Referat, Betriebsräte, dann tranken wir zusammen Kaffee
im Café am Bahnhof (ich bezahlte), sprach eifrig über Standortprobleme. Lernte zufällig auf
der Straße den Restaurator, Wilhelm Schmidt aus Plettenberg, kennen. Seltsam. Dann in der
Bibliothek herumgestöbert mit Gieseke, den ich zu Partsch begleitete. Nach Hause. Nach
dem Abendessen herumgelaufen, ins Bett, wieder auf. Sehr zur Erleichterung noch etwas
gearbeitet. Erhielt einen Brief von Janentzky375, ihm wiedergeschrieben. Er schickte sein
Buch über Nihilismus und Geister. Die Ermordung des Marschalls Wilson376 durch 2 Iren
machte mich stolz und unternehmend.

Samstag, 24. 6. 22
Müde, weil ich erst um 2 eingeschlafen bin. Herr Schwabach377 schickte mir sein Buch zu
über die Philosophie, Charakter der Deutschen; ich las es gleich. Etwas über Cortes378
geschrieben, für Wanner. So verging der Vormittag. Um 1 1/4 zum Essen; die Mutter von
Fräulein Spiegelberg379 war da, eine manikürte Jüdin; es sind doch alle dieselben. Begleitete
Wanner noch etwas, der mit mir auf mein Zimmer kam und dem ich Photographien der Blue
mountains380 zeigte. Ging dann in der Stadt herum, las um 3 Uhr, dass Walther Rathenau381

375 Christian Janentzky (1886–1968), Sprach- und Literaturwissenschaftler, 1922–1952 Professor in


Dresden. Schmitt hatte ihn in München im Umkreis von Victor Klemperer kennengelernt. Bei dem
Buch handelt es sich um die Schrift Mystik und Rationalismus, München 1922.
376 Henry Hugh Wilson (1864–1922), Feldmarschall, ehemal. Generalstabschef, wurde am 23. 6.1922
von Sinn Fein-Attentätern erschossen.
377 Erik-Ernst Schwabach (1891–1938), Mäzen, Schriftsteller und Verleger, gründete unter Beteiligung
von Franz Blei 1913 die literarische Zeitschrift „Die weißen Blätter“ und übersetzte „Die künstli-
chen Paradiese“ von Baudelaire, in: ders., Ausgewählte Werke, hrsg. von Franz Blei, Bd. 3, Mün-
chen 1925.
378 Siehe Anm. 4.
379 Nicht ermittelt.
380 Gebirge im australischen Bundesstaat New South Wales.
381 Walther Rathenau (1867–1922), Industrieller, Schriftsteller und Politiker, mit dem Schmitt sich schon
früh auseinandergesetzt und Briefe gewechselt hatte, vgl. A. Jaser, Cl. Picht u. E. Schulin (Hrsg.),
Walther Rathenau, Briefe, Teilband I: 1871–1913. Düsseldorf 2006, S. 1079–1081, 1083–1085.

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104 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

ermordet war. Entsetzlicher Schreck. Angst, das Gefühl fürs Schicksal. Also das war sein
Schicksal, so sollte er sterben, dieser gebildet, schöne, überlegen-schwache Mensch. Entsetz-
lich. Kaufte etwas ein, ging nach Hause; ein Brief von Bonn, der nach Agram schreiben will.
Dann wollte ich mir eine Zeitung kaufen (habe Echo de Paris und den Manch. Guardian
gekauft. Über die Ermordung des Marschalls Wilson). Traf zufällig Partsch, der von Köln
kam. Wir sprachen natürlich erregt über Rathenau, dann tranken wir zusammen Kaffee; ich
ließ ihn plaudern, über die Iren, über Persönliches, über Rathenau, über die Dummheiten,
die man während des Tages gemacht hat, Prinz von Baden382, den er kennt (er hat zu viel
Kinderstube), über Bonaparte. Dann angeregt noch etwas herumgelaufen, eingekauft, Seife
usw. Geil. Dachte an K., tiefe Sehnsucht. Ihr verwundbarer Schädel, ihre runde Stirn. Wie
kam sie mir entgegengelaufen in Berlin auf dem Stettiner Bahnhof und in Marburg. Etwas zu
Hause. Die Frau von Wandel erzählte mir die Geschichte von Rathenau. Ich war so müde.
Aß in der Pension zu Abend, sprach freundlich mit einem jungen Mann über Literatur und
<…>. Dann nach Hause, einsam. Sehr müde. Aber doch noch etwas Zeitung gelesen. Dachte
an den armen Rathenau. Wie schrecklich ist das. Tagebücher gelesen. Sehe, dass ich mit der
Dame nichts mehr zu tun habe.

Sonntag, 25. 6. 22
Müde auf, um 8 1/4. Behaglich angezogen und rasiert, gefrühstückt, etwas über Cortes
geschrieben für den Aufsatz, dann an K., schön, herzlich, über den Tod von Walther Rathe-
nau, einen weichen Bürger. Um 1/2 1 kam Professor Neuß, der Theologe; wir unterhielten
uns gut. Er bat mich, ihn mittags nach dem Essen zum Spaziergang abzuholen. Nach dem
Mittagessen etwas herumgelaufen, den Brief für K. (mit der Auswertung zu si j’etais roi383,
und 24 Mark Porto!) zum Kasten gebracht (Nr. 8), Gieseke begegnet, mit ihm etwas geplau-
dert, dann Kaffee getrunken im Gangolf-Café, müde. Unzufrieden, zu Hause erst müde
ausgeruht, allmählich an die Arbeit, Manchester Guardian fleißig exzerpiert. Wieder stolz
und zuversichtlich. Abends nach dem Essen ein paar Briefe, an Georg Eisler, Blei und
Däubler. Dann noch den Reichsanzeiger. Der Tag verging, es wurde 11 Uhr und ich hatte
für meine Vorlesung für morgen noch nichts getan.

Montag, 26. 6. 22
Wunderschön rasiert (Erasmic-Rasierseife), nicht viel gearbeitet, über Staatshaushalt; es ist
schrecklich mit mir. Brief von Blei384, der um Strichs Buch385 bittet, vom Verlag Meyer &
Jessen, eine Karte von der Rivista di Roma, die um Rezensionsexemplare meiner Bücher
Politische Romantik und Diktatur bittet (es tut mir wieder leid um den schönen Namen
Dorotic386). Dann behaglich herumgelegen, von 11 bis 12 meine Vorlesung, vorher Zeitun-

382 Max von Baden, letzter Reichskanzler des deutschen Kaiserreiches.


383 Anspielung auf „Wenn ich König wär’“, Oper von Adolphe Adam (1852).
384 Der Brief von Franz Blei ist nicht abgedruckt bei Blei, Briefe an Carl Schmitt.
385 Fritz Strich, Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit. Ein Vergleich,
München 1922.
386 Die Erstauflagen beider Bücher trugen den Autorenamen Carl Schmitt-Dorotić. Ab Ende 1921
unterschrieb Schmitt in Briefen u. a. mit dem seit 1915 gebrauchten, aber nie formalisierten Doppel-
namen nicht mehr, vgl. Mehring, Aufstieg und Fall, S. 151.

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Juni 1922 105

gen gekauft. Tod Rathenaus, die Ausnahme-Verordnungen nach Art. 48 [WRV]. Die Fran-
zosen machen große Parade in den Straßen, es sieht unheimlich aus. Nach der Vorlesung
mit Erich Kaufmann schön über Inflation‚ die Psychologie des politischen Englands ge-
sprochen (es muss eine mythologische Figur da sein: die Juden, die Schieber; Ludendorff387
ist es nicht, der Marxismus ist eine Konstruktion, er kann solche Figuren nicht schaffen).
Kaufmann begleitete mich zu meiner Wohnung, ich erzählte von meinem Max-Weber-Auf-
satz und die Definition der [Souveränität], die er sofort [als] sehr intelligent billigte.388 Dann
sprachen wir noch über ein paar Dissertationen, Holstein usw. Nach dem Essen herumge-
laufen, Zeitungen gekauft. Zu Hause ausgeruht, dann Kaffee im Café Hansa, dann photo-
graphieren lassen, zu dumm benommen dabei. In der Bibliothek, herumgelesen, Zeitungen,
Hochland, Curtius über Balzac389, über den Präsidenten von Ekuador, Garcia, der 1875
ermordet wurde390, dachte an Cortes, war erstaunt und hingerissen; stolz, [bald] nach
Hause. Unruhig, sprang fast vor [Aufregung]. Schrieb nach dem Essen noch an Feuchtwan-
ger391, schickte Blei den Strich. Aufgeregt, aber es gibt zum Glück nichts von Bonn. Dann
noch herumgelesen bis 1/2 12. Ziemlich fleißig, aber nichts für die Vorlesung.

Dienstag, 27. 6. 22
Brief von Georg Eisler392, den ich gleich beantwortete. Mühselig, mit schlechter Stimme
meine 2 Stunden gelesen. Erleichtert nach Hause. Nach dem Essen mit Professor Neuß,
dem Kunst- und Kirchenhistoriker, spazieren, er erzählte Geschichten von Mädchen, die er
seelsorgerisch berät, die von ihren Freunden verlassen werden usw. Ich dachte an K., aber
ein sympathischer, anständiger Mensch. Zu Hause traf ich den Studenten Engels393 aus Düs-
seldorf, der eine Doktorarbeit haben wollte. Ich gab ihm die Einsetzung des Ausnahme-
zustandes, trank mit ihm Kaffee, bei Frings am Bahnhof, dann zu Kaufmann und die Vor-
lesung. Nachher auf dem Beethovenplatz die Demonstration zum Schutze der Republik394;

387 Erich Ludendorff (1865–1937), Heerführer im 1. Weltkrieg, danach völkisch-nationaler Politiker


mit geringem Einfluss.
388 Zum Aufsatz s. Anm. 360, mit dem berühmt gewordenen Eingangssatz „Souverän ist, wer über
den Ausnahmezustand entscheidet“ im I. Kapitel: Definition der Souveränität.
389 E.R. Curtius, Balzac und die Religion. Hochland, XIX. Jg., II. Hbd. 1922, S. 268–295 und S. 450–
477. Wiederabgedruckt als Kapitel 10 in der Monographie Curtius, Balzac, Bonn 1923.
390 Gabriel García Moreno (1821–1875), konservativ-katholischer Politiker, Präsident von Ecuador,
autoritärer Modernisierer von Bildungswesen und Infrastruktur.
391 Der Brief ist nicht abgedruckt bei Rieß, BW Schmitt – Feuchtwanger.
392 Brief vom 25. 6.1922 (RW 265-3135), in dem Eisler auf das neue Buch von Kelsen hinweist und
dessen Beschäftigung mit Bakunin; er bittet auch um den Artikel aus der (Köln.) Volkszeitung,
s. dazu Anm. 290.
393 Joseph Engels (1901–1982), 1923 in Bonn promoviert mit einer Arbeit über „Die Zuständigkeit des
Reichspräsidenten zur Verhängung und Aufhebung des Ausnahmezustands“, Schmitt bewertete
die Arbeit mit dem von ihm sehr selten vergebenen Prädikat ausgezeichnet. 1930–1939 Richter am
Deutsch-Britischen gemischten Schiedsgerichtshof, 1939–1945 am Landgericht Berlin, 1946 Direk-
tor des Landgerichts Düsseldorf, 1949 Hilfsrichter am Obersten Gerichtshof für die Britische Zone
(1948–1950), 1950 Bundesrichter, 1959 Senatspräsident am BGH, ab 1969 Ruhestand.
394 Nach dem Mord an Rathenau fanden landesweit Demonstrationen statt.

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106 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

lächerlich, eine Strohpuppe wurde als Helfferich395 verbrannt. Betrübender Eindruck. Las
Daily News, abends nach dem Essen noch traurig herumgelaufen, geil, betrübt, widerlich.
Dann früh ins Bett. Bin eingeschlafen.

Mittwoch, 28. 6. 22
Nachts um 4 Uhr wach, grauenhafte Sehnsucht nach K., nach ihren Haaren, ihren Brüsten,
ihren Händen, ihrer Stirn. Zersprang fast vor Sehnsucht und Liebe. Von Mücken gestochen.
Las etwas Friedensvertrag, dann wieder eingeschlafen, todmüde. Das Klima bedrückt mich.
Um 8 auf, behaglich rasiert, extensiv vorbereitet, eine Stunde Vorlesung, nachher mit Kauf-
mann geplaudert (die Fakultät ist zu geizig, einen Dr. Tilly396 einzuladen, der hier Gastvor-
lesungen hält über internationales Arbeitsrecht und der uns eingeladen hat!), nach dem
Essen wieder mit Neuß, zum Kreuzberg, im Franziskanerkloster, dachte immer an K. in
dieser Barockkirche. Wir sprachen über Max Scheler, Velazquez397 usw. Dann zu Hause
gewaschen, wie üblich, und etwas ausgeruht. Es wäre besser, ich ginge alleine, dabei habe
ich mehr Kraft. Dann Kaffee im Hansa-Café und sah, dass die Buffetdame der Venustyp
von Aileen398 ist. Dachte sehnsüchtig an den Vetter, der nicht kommt. Kein Brief den
ganzen Tag. Von 6–7 sehr schön über Humanismus, es war viel zu gut für diese Bande. Frau
Partsch und Frau Kaufmann waren da. Begleitete sie nach Hause. Dann zum Essen, nervös,
unternehmend, aufgeregt. Durch die Straßen gelaufen, ein seltsames, komisches Frauenzim-
mer lief mir nach und sagte schließlich: die einen lieben die Einsamkeit, die anderen das
Schöne. War froh, als ich sie nicht mehr sah. Müde, traurig, sehnsüchtig nach Hause. Betro-
gen. Käme ich nur endlich zur Vernunft‚ diese lächerliche, feige unentschlossene Affaire.
Wie widerwärtig ist das alles. Einen Augenblick erschüttert, dann ist alles vorbei.

Donnerstag, 29. 6. 22 (Peter und Paul)


Morgens an dem Aufsatz über Cortes. Behaglich gearbeitet, beinahe fertig geworden. Ein
dummer, kurzer Besuch von Nottarp.399 Nach dem Essen zu Neuß, traf unterwegs den jun-
gen Landsberg, sprach mit ihm über Cortes, er fragte mich, ob ich in einem Seminar eine
Aufgabe über Cortes machen wolle. Wir sprachen über Luther (er sagte: Luther habe
Rathenau ermordet). Dann mit Neuß spazieren, über das Dogma von der Erbsünde gespro-
chen, traurig, weil ich die Nutzlosigkeit solcher Diskussionen sehe, entsetzlich verzweifelt,
als Neuß sich nach dem Preis von einem Ofen in einem Geschäft erkundigte. Voller Angst,

395 Karl Helfferich (1972–1924), Politiker. Als Führer der Deutschnationalen Volkspartei polemisierte
er gegen die sog. Erfüllungspolitik und vor allem gegen deren Protagonisten Rathenau und Erz-
berger.
396 Helmuth Tczerclas von Tilly hatte in Greifswald 1919 mit einer Arbeit über verbotene Kriegsmittel
im modernen Land- und Seekrieg promoviert und 1924 das Buch Internationales Arbeitsrecht
unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Arbeitsorganisation, Berlin & Leipzig, ver-
öffentlicht.
397 Diego Velàzquez (1599–1660), spanischer Maler des Barock.
398 Schwester von Kathleen Murray.
399 Hermann Nottarp (1886–1974), Kirchenhistoriker, 1918 Habilitation in Bonn, 1923 Landrichter,
seit 1925 Prof. für Rechtsgeschichte sowie bürgerl. Handels- und Kirchenrecht in Königsberg, seit
1933 in Würzburg.

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Juni/Juli 1922 107

verzweifelt. Was soll ich tun. Eine grauenhafte Situation. Habe ich Schuld gegen Carita? Ist
es nicht lächerlich, auf K. zu vertrauen. Betrogener Hund. – Um 4 Uhr nach Hause, etwas
ausgeruht, dann kamen die Kinder von Partsch, war einen Augenblick sehr glücklich, mit
diesen frischen, gesunden Kindern spazieren zu gehen, während die kleine Marianne sich an
mich drückte. Hätte ich solche Kinder, vielleicht wäre es besser (sagte nicht Stinnes400 von
Rathenau, wenn dieser einen Hausfreund gehabt hätte, so wäre er ein anderer Mensch
gewesen?). Wir gingen zum Hansacafé, die Kinder aßen Eis, die ganze Geschichte kostete
mich 140 Mark. Dann kaufte ich ihnen noch in einem Spielwarengeschäft jedem eine kleine
Pistole, Marianne eine Puppe; sie waren glücklich, für ihre Mutter Blumen und brachte sie
um 1/2 7 wieder nach Hause. Traurig, verzweifelt, bedrückt nach Hause zurück. Etwas
gearbeitet. Ein schwacher Trost. Nach dem Abendessen einen Augenblick mit Miss Gor-
don. Fand sie sympathisch und sehr bescheiden. Wir sprachen über englische Literatur, über
die Frauen, ich erzählte: wenn ich in teuren Hotels eine der großartig gekleideten Frauen
sehe, so frage ich mich immer: Wo sitzt der Mann, der arbeitet und schuftet, damit diese
Frau so leben kann. Müde, traurig, melancholisch nach Hause. Käme nur endlich eine Ent-
scheidung. – Man hat die Mörder von Rathenau401, der Mörder tut mir heimlich leid. Behag-
lich ins Bett, mich innerlich gereckt und gestreckt und gesammelt.

Freitag, 30. 6. 22
Ein paar Minuten eher auf, behaglich angezogen, gefrühstückt, Brief von Neuwiem402, sonst
nichts. Die Vorlesung überhaupt nicht vorbereitet, Besuch von Crome, Angst vor ihm, an
dem Aufsatz über Cortes fürs Archiv für Recht- und Wirtschaftsphilosophie geschrieben.
Der Dame 3000 Mark geschickt. Hielt meine Vorlesungen, 2 Stunden, sehr schlecht. Mit
Hensel gesprochen, er ist mir aber widerlich. Für Freitagabend verabredet. Nach dem Essen
bei Neuß vorbei, er hat aber heute keine Zeit; zu Hause etwas gearbeitet, ausgeruht,
geschlafen, sehr müde und deprimiert, apathisch gegen K. Ein Brief von Georg Eisler,
freundlich, aber auch der ärgerte mich. Holte die Photographien ab, die lächerlich sind,
kaufte ein Paar Strümpfe. Kaffee in der Konditorei Kaufmann, Zeitung gelesen. Zu Hause
angefangen zu schreiben. Anscheinend wird es schön und sauber. Nach dem Essen gleich
nach Hause, obwohl ich sehr aufgeregt und unternehmend war. Große Sehnsucht nach
einer schönen Frau. Papageno-Instinkt. Abends ziemlich lange gearbeitet, aber entsetzlich
müde.

Samstag, 1. 7. 22
Vormittags an dem Aufsatz, ziemlich fertig geworden. Wollte es erst abschreiben, nachher
aber doch beim Schreibbüro. Um 11 zu Guardini, aber er las nicht. Es schellte einmal nach
mir, gegen 11, ich konnte aber nicht öffnen und das Mädchen war anscheinend nicht zu
Hause. Wer mag es gewesen sein? Ich dachte immer an André, das ist aber eine große Ent-
täuschung. Oft gekränkt wegen der beleidigenden Behandlungen. Oft Angst, es wäre die

400 Hugo Stinnes (1870–1924), einflußreicher Industrieller und Politiker.


401 Siehe Anm. 438.
402 Erhard Neuwiem (1889–1943), Prof. für öffentliches Recht, spez. Verwaltungsrecht in Greifswald,
danach in Münster.

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108 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Dame. Holte mir den Manch. Guardian. Nach dem Essen mit Neuß etwas spazieren, ihn
zur Rheinuferbahn begleitet. Er erzählt immer noch solche Geschichten von jungen Mäd-
chen, die sich opfern. Müde und traurig. Ein auffälliges Mädchen. Grauenhaft. Meine Ein-
geweide scheinen aus dem Leib zu treten. Aber doch nach Hause. Es ging gut. Ging nicht
zum Café, um 6 Rektoratswahl. Kaufte vorher Briefmarken, um Kathleen morgen schrei-
ben zu können. Bei der Rektoratswahl neben Kaufmann gesessen. Gleichgültig, aber eine
Zerstreuung. Dann begleitete mich Kaufmann nach Hause, holte ein paar Bücher, ich aß zu
Abend und holte ihn dann ab. Wir brachten seine Frau zur Lese[gesellschaft], dann tranken
wir 2 Flaschen Piesporter in der Bürgergesellschaft, er erzählte nur erst Personalien, dann
über die Engländer, die clasa discutidora403, das Angelsächsische Reich als das Reich des
Antichristen. Leider sprach ich von Irland und leider sagte ich, dass ich ein Haus in Bonn
kaufen will. Wie dumm bin ich. Traurig um 12 die Beiden nach Hause begleitet. Einsam, es
ist kaum noch zum Aushalten.

Sonntag, 2. 7. 22
Etwas Kopfschmerzen, von dem Wein. Müde den Vormittag, erst etwas an dem Aufsatz,
gut ausgefeilt, dann an K. geschrieben. Meine heftige Sehnsucht, sehr schön, so nach 1 mun-
ter gefrühstückt, das Passbild geschickt (Brief Nr. 9). Nach dem Essen etwas mit Wanner,
der mir seine Staatsphilosophie erklärt: die Menschen werden immer vernünftiger; dann zu
Neuß, nach Lengsdorf, in die alte Kirche.404 Müde zu Hause, geschlafen, verzweifelt, es ist
nicht mehr zum Aushalten. An K. weitergeschrieben. Brachte den Brief um 7 zur Bahn,
gleichzeitig an Fräulein Baumeister 405 und an Georg Eisler. Nach dem Essen zu Hause, sehr
früh ins Bett. Todmüde. Von Schnaken gebissen, oder sollten es Wanzen sein?

Montag, 3. 7. 22
Etwas eher auf, fühlte mich sehr wohl und frisch, wahrscheinlich weil ich viel geschlafen
habe; aber zerstochen. Arbeitete etwas an dem Aufsatz, sehr gut, schrieb ihn ab, die Vor-
lesung überhaupt nicht vorbereitet. Dann zum Schreibbüro, in der gemeinnützigen Schreib-
stube wollte man ihn nicht mehr schreiben, in dem Schreibbüro „Blotz“ ein dummer Stu-
dent, der sich wichtig machte; ärgerte mich, wütend, aber in die Kirche‚ dann meine
Vorlesung sehr gut gehalten (Hensel gesehen, er ist mir widerlich und ekelhaft), nach der
Vorlesung mit Kaufmann geplaudert, über politische Ideen, Naturrecht usw. Bis 1 Uhr, mit
Landsberg, der mich zur Pension begleitete, nach Hause, nach dem Essen bei Neuß vorbei,
gesagt, dass er heute kommen kann, dann Schreibbüro, von 1/2 3 bis nach 6 diktiert, um 4
etwas Pause, im Hansacafé, den Aufsatz über die Staatsphilosophie der Gegenrevolution;
aber nur mit dem 1. Teil zufrieden. Aber es stärkte mich und gab mir Selbstgefühl; zu
Hause kein Brief. Sehnsüchtig, Angst. Nach dem Abendessen wieder einsam zu Hause,
etwas geordnet, Frau von Wandel brachte mir Kirschen aus dem Garten. Ich beruhigte mich

403 Eine durch Schmitt in seinem Aufsatz „Zur Staatsphilosophie der Gegenrevolution“ zitierte For-
mulierung von Donoso Cortés, mit der er das Wesen des liberalen Parlamentarismus charakteri-
siert.
404 Kreuzbergkirche im südlichen Bonner Vorort Lengsdorf.
405 Eine Studentin, siehe Teil II, Anm. 191.

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Juli 1922 109

etwas. Aber oft Angst, wahnsinnig zu werden vor Verzweiflung. Fluchtplan, beim Gedan-
ken an die Flaute (das Pfund inzwischen schon 1900 in Berlin!). Sehnsucht nach wirklichem
Leben, Geld zu verdienen, nach wirklicher Macht. Es ist zum Verzweifeln. Mit Grauen und
Neid an ein Land wie Amerika gedacht. Habe heute Morgen den Brief an Wenger406 an die
Bahn gebracht, gelaufen, mit einer Bahnsteigkarte in der letzten Sekunde den Zug noch
erwischt. Sehnsucht nach einer großen Stadt, dabei zu sein, Reisen zu machen, in Betrieb zu
sein. Alles wohl nur ein lächerlicher Machtdünkel. Plötzlich Schuldbewusstsein gegen die
Dame. Dann wieder Sorge um K. Las von irischen Missionaren in Bayern und dem Kampf
des heiligen Bonifatius gegen sie. Herr Simmerus 407<?> war in Düsseldorf beim Konsulat,
es gibt zahllose Dorotic in Agram, der Name ist sehr verbreitet, wie hier Müller. Welcher
Reinfall. Allmählich wird mir die Sache zu dumm.

Dienstag, 4. 7. 22
Ziemlich gut ausgeschlafen, Wohlgefühl (weil meine Sexualität verhältnismäßig gebändigt).
Etwas vorbereitet, aber nicht viel, ich spreche über Staatsgerichtshof nach der Ausnahme-
verordnung, sehr frei; etwas Völkerrecht. Es ist unglaublich. Kein richtiger Brief; Offerten
von Geschäftsleuten. Nichts von André, was mir weh tut. Schickte an Georg Eisler den
Aufsatz über die Staatsphilosophie der Gegenrevolution. Dann meine 2 Stunden gut ge-
lesen. Mit Kaufmann sehr freundlich unterhalten. Mittags erleichtert nach Hause. Nach
dem Essen mit Professor Neuß über Ippendorf, von Däubler erzählt, den Hellenen, wie sie
kolportiert werden. Erst um 4 zu Hause, müde, etwas ausgeruht, kommunistische Demon-
stration mit sowjetischen [Fahnen], mein ganzes Auflehnungsgefühl erwachte, furchtbare
Wut über das Gesindel. Dann Erich Kaufmann, interessante Vorlesung, nachher mit ihm
und seiner Frau [im] Café Hansa, über die Rationalität des heutigen Konsums gesprochen,
über Hensel und dessen ehrgeizige Frau usw. Erst gegen 8 nach Hause. Nach dem Essen
nett diskutiert, über Syndikalismus 408 usw., aber schnell nach Hause, etwas spazieren. Ziem-
lich gesammelt und ruhig. War an dem Kloster der Barmherzigen Brüder und an K.s Woh-
nung vorbeigegangen, in schrecklicher Sehnsucht nach Kathleen. Große Liebe und großer
Verlust. Ich werde es erreichen.

406 Leopold Wenger (1874–1953), Rechtshistoriker, Professor in Wien, Heidelberg und München, be-
deutender Papyrusforscher. Auf einer Postkarte vom 8. 4.1922 bittet Wenger um einen Aufsatz zur
Auseinandersetzung bedeutender katholischer Publizisten mit dem Thema Revolution (RW 0579-
420), mit einer weiteren Postkarte vom 4. 7.1922 bedankt er sich für die Zusendung des Manu-
skripts und kündigt baldige Korrekturfahnen an (RW 265-17930). Es handelt sich um den Artikel
„Carl Schmitt, Zur Staatsphilosophie der Gegenrevolution (de Maistre, Bonald, Donoso Cortes)“,
Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. XVI (1922/23), S. 121–131.
407 Nicht ermittelt.
408 Schmitt hatte sich mit dem Thema auseinandergesetzt, da er u. a. von E. R. Curtius dessen Schrift
über den Syndikalismus der Geistesarbeiter in Frankreich (Bonn 1921) erhalten hatte, vgl. Nagel
(Hrsg.), BW Curtius – Schmitt, S. 3, und Postkarte Schmitts an Franz Blei vom 14.11. 1921 „…
Curtius schickte mir seinen Vortrag über den Syndikalismus der intellektuellen Arbeiter in Frank-
reich. Er wird Sie interessieren, da Sie sich doch schon 1916 über den französischen Syndikalismus
geäußert haben …“, Schmitt, Briefe an Blei (wie Anm. 45).

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110 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Mittwoch, 5. 7. 22
Des Nachts gestochen von Schnaken, konnte stundenlang nicht schlafen. Aber trotzdem
gut beherrscht. Müde auf. Kein Brief, traurig, eine Karte von Jup, der Sonntag kommen
will, um einen Ausflug zu machen. Hielt meine Vorlesung, ziemlich gut, aber gleichgültig.
Ein schwüler Tag. Nachher etwas mit Kaufmann geplaudert, in der Bibliothek. Mit Kaiser
zusammen nach Hause. Sagte ihm, dass die Gewerkschaften inzwischen wahrscheinlich
sagen werden, dass sie allein imstande seien, die Ordnung aufrecht zu erhalten. Nach dem
Essen müde nach Hause, bis 1/2 4 geschlafen, dann die Broschüre von Trotzki409 gelesen.
Nichts vorbereitet. Im Café Hansa Kaffee getrunken, das Mädchen war förmlich, sie hat
Ähnlichkeit mit K.s Schwester Aileen. Dann zu Tietz410, Handtücher und Krawatte gekauft,
belebt, durch dieses widerliche Milieu, also [das] der lieben K. So [ist] das [mit dem]
Lebensgefühl des Onkels André.411 Mit Beschämung daran gedacht, wie André mich sitzen
lässt. Dann zur Universität, mit Kaufmann, den ich im Dozentenzimmer traf, freundlich
gesprochen, er gab mir seinen Aufsatz über Konservatismus, hielt meine Vorlesung sehr
schlecht, Frau Partsch war nicht da, wohl aber Braubach. Dann mit Kaufmann, seiner Frau
und Hensel in der Konditorei Kaufmann, Kuchen gegessen, schön unterhalten über den
Art. 48, erzählte die Geschichte vom Leviathan, der am jüngsten Tag geschlachtet wird412,
und von Tigges413, was er mir über den Art. 48 gesagt hat. Dann angeregt und aufgeregt
nach Hause. In der Pension gegessen, nachher geschwätzt mit Cohen, ekelhaft, sich schö-
nen Eindruck machen zu müssen, Raserei des Machttriebes. Müde zu Hause. Was soll ich
tun, habe noch Arbeiten für morgen zu korrigieren. Elende Vorbereitungsarbeit. Die Mark
stürzt, es ist grausam, das Pfund = 1920 M! Briefe aus Bochum von Kiener, von der Dame,
<…>.

Donnerstag, 6. 7. 22
Diesmal gut vorbereitet, hielt meine 2 Vorlesungen sehr nett. Kein Brief daher traurig. Nach
dem Essen im Bett schnell die Arbeiten korrigiert, dann auf den Briefträger gewartet; als ich
wegging, war etwas im Kasten, ein Brief von K. aus Freemantle, rührend, voller Liebe und
Sehnsucht, wunderschön, „du herzallerliebster Mann“, the message that I send you from
the Australian coast is this dear Carl: Du sollst wissen, dass ich dich von ganzem Herzen
liebe, dass ich nur da bin, nur bei dir kann ich glücklich sein, du musst Mut haben und Ver-
trauen, weil ich dich liebe und weil ich weiß, dass du mich liebst, bitte ich dich, meine bal-
dige Rückkehr zu ermöglichen. Ergriffen von dieser Schönheit und Güte, wie berauscht,
konnte kaum noch nachdenken. Trank bei Müller Mokka, bereitete mich schnell auf die
Übung vor. Eine Französin setzte sich mir gegenüber; seltsam, sie hatte im Gesicht Ähn-
lichkeit mit Hensel. Hielt meine Übungen sehr schön, in großartiger Stimmung, daher fröh-
lich nach Hause. Immer noch glücklich von dem prachtvollen Brief von K. und der Ver-

409 Leo Trotzki (1879–1940), marxistischer Revolutionär.


410 Kaufhaus Tietz.
411 André Steinlein sen. (1865–nach 1950), Vater von André Steinlein, ein Bruder von Schmitts Mutter.
412 Sehr frühe Erwähnung des Schmittschen Themas vom geschlachteten Leviathan.
413 Eduard Tigges (1874–1945), Jurist, seit 1911 als Geheimer Justizrat und Vortragender Rat im
preuß. Justizministerium, ab 1921 als Oberlandesgerichtsrat in Düsseldorf tätig, von 1922 bis 1933
Präsident des Kammergerichts in Berlin.

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Juli 1922 111

sicherung ihrer Liebe. Inzwischen glaube ich ihr. Alles ist mir gleichgültig. Sehnsucht, voll
Liebe ins Bett, nachdem ich abends nach dem Essen noch einmal den Weg durch die
Hohenzollernstraße gegangen bin. Abends noch eine Stunde fleißig über Völkerrecht ge-
arbeitet. Schrieb abends an K. in heftiger Sehnsucht; von meiner Liebe, dass ich nicht mehr
um André weinen würde, wohl aber um sie; von den Kindern Partschs. Es sieht so schreck-
lich aus in Deutschland, immer Fluchtpläne, der Bürgerkrieg steht bevor, das Land ist
unrettbar verloren. Das Pfund schon über 2000.

Freitag, 7. 7. 22
Bescheiden gefrühstückt, wieder ein Brief von K. aus Adelaide, rechtzeitig zum Geburtstag,
Vorlesung vorbereitet und ganz gut gehalten. Aber benommen, obwohl ich gut gesprochen
habe. Nach dem Essen zu Hause geschlafen, dann zur Fakultätssitzung, über den 70. Ge-
burtstag von Zitelmann, gleichgültig, beneidete die Menschen wie Kaufmann und Partsch,
die so herumreden können und sich immer gleich wichtig fühlen. Ich bin wohl zu schwach
dazu. Dachte immer an K. und ihre Flucht aus Deutschland. Dann bei Müller Kaffee
getrunken. Über die Zustände in Deutschland unterhalten, dass eine Besetzung des Ruhr-
gebietes Deutschland vernichten würde (darin gab mir Partsch Recht, während Göppert
und Kaufmann merkwürdig kleinlaut waren, sodass ich den Eindruck hatte, entweder sind
sie reine Gefühlspraktiker oder aber sie haben ein geheimes [Guthaben], wie etwa Stinnes).
Man sprach über Gothein414 als einen Homosexuellen, der zum George-Kreis gehört. So
gestimmt dann zum Hansacafé, wohin ich den Studenten Nicodem bestellt hatte, 2 deutsche
Nationalstudenten, im Grunde doch langweilig und widerlich, wenn auch ihr Pathos etwas
Sympathisches hat und ihr Autoritätsgefühl. Aufgeräumt nach Hause, Sehnsucht nach K.,
Selbstvertrauen, große Liebe. Zu Hause, nach dem Essen, etwas spazieren, wieder durch die
Hohenzollernstraße, dann zu Hause aufgeräumt, an K. geschrieben (wenn Du Gute meine
Stimme hörtest, wärest Du gerührt. Niemand kennt doch Deine Schönheit wie ich. Ich habe
wieder Hoffnung und Selbstvertrauen). Ich habe ihr gestern auch geschrieben, dass sie
Geduld haben soll, ich habe eine seltsame, schweigende, abwartende Art, alles zu erreichen.
Abends, als ich nach Hause kam, ein Brief von André da, er will am 1. August bestimmt
kommen; ich war sehr froh darüber. Ferner eine Aufforderung, im November in Berlin in
der Universität Vorträge415 zu halten. Schrieb gleich, dass ich annehme. Dann an Jup, dass er
Sonntagnachmittag kommen soll. Das Dienstmädchen weigerte sich, die Karten zum

414 Percy Gothein (1896–1944), Renaissanceforscher. Vgl. Stephan Schlak, Percy Gothein, in: Stefan
George und sein Kreis. Ein Handbuch. Hrsg. von Achim Aurnhammer et al., Berlin 2012, S. 1387–
1389.
415 Aufgrund eines Briefes von Schmitt an Franz Blei vom 1. 11.1922, in dem es u. a. heisst „… Meinen
Dank für die Tage in Berlin …“ (wie Anm. 45), muss der Aufenthalt vor diesem Datum gewesen
sein, siehe auch die folgende Anm. Am Ende dieser Berliner Tage hatte Schmitt ein von ihm als
„außergewöhnlich“ bezeichnetes Gespräch mit dem Verleger Jakob Hegner, dem er gleich danach
einen Brief geschrieben und das Manuskript des „Römischen Katholizismus und politische Form“
zur Publikation angeboten haben muss. Das geht aus dem Antwortbrief vom 22.11. 1922 hervor, in
dem Hegner mitteilt, er verlege „das Büchlein mit Freuden, und so schön ich kann, will ich [es]
drucken. Anbei die Satzprobe. Es ist ein großartiges Werkchen, voll Geist und Ehrlichkeit und
klarstem Ebenmaß“ (RW 265-5833).

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112 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Kasten zu bringen. Ich war aber ganz gleichgültig und freute mich meines Rationalismus.
Noch lange herumgesessen, nicht viel getan, aber die Sammlung tut mir wohl. Sehr voll
Selbstvertrauen, Sicherheit, Stolz, Selbstbewusstsein und bester Hoffnung.

Samstag, 8. 7. 22
Behaglich angezogen, ich fühlte mich sehr wohl. Frau von Wandel 823 M bezahlt. Aber kein
Brief, arbeitete an der Vorlesung, was mich beruhigte; stolz und frei, Gefühl großer Sicherheit.
Dann einiges erledigt, an die Post, Auskunft über die Visitenkarten an K., Briefmarken
gekauft, bei Cohen die Bücher zurückgebracht. Im Kuratorium, wegen des Protestes gegen
die Einziehung der Besatz[ungs]zulage. Dann den Personalausweis (siehe Abb. S. 574 im An-
hang) geholt, alles ging nett ab, 500 Mark an den Vater schicken lassen, 1000 Mark für mich
abgehoben. Das Pfund heute 2300! Nach dem Essen bei Neuß und Professor Wanner, der von
Südamerika erzählt. Zu Hause müde, ausgeruht. Bis 1/2 5, 2 Briefe von der Dame, das Woh-
nungsamt macht schon wieder Schwierigkeiten. Angst und Sorge, dass sie kommen möchte,
daher ist meine ganze schöne und ruhige Stimmung hin; und von Fräulein Käthchen Bau-
meister, sie will bald kommen. Sehr eifrig und gerührt, ich war glücklich, dass sie kommt, weil
ich K. in ihr liebe. Im Café Hansa, von diesem Mal enttäuscht, nachher herumgelaufen, Zeit
vergeudet, zum Essen, nachher schnell an Fräulein Baumeister geschrieben, ebenso an Trie-
pel416, dass ich im Oktober zu der Zusammenkunft der Staatsrechtslehrer nach Berlin komme.
Dann durch die Hohenzollernstraße und am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder vorbei.
Geweint vor Sehnsucht nach K. Zu Hause den Wochenbericht an sie geschrieben.

Sonntag, 9. 7. 22
Bis 9 geschlafen, zum ersten Mal seit Monaten, schön Kaffee getrunken, den Tisch aufge-
räumt, an K. geschrieben, den Wochenbericht, in herzlicher Liebe. Dann noch an Georg
Eisler. Mittags nach dem Essen mit Wanner, den ich nach Hause begleitete. Er erzählte die
Geschichte von Celebes, wie die Eingeborenen einen Napf bringen müssen, wenn ihr Vater
gestorben ist. Also der Mensch von Natur gut ist. Dann zu Hause. Holte Jup ab, trank mit
ihm Kaffee bei Frings, wir gingen zu Wanner, mit ihm nach Casselsruh spazieren, er erzähl-
te sehr schön von dem Leben eines Kuli, dem Markt in Singapur, also der Mensch von
Natur gut, erschrak und nahm mir vor, beherrscht und mit dem Bewusstsein der Schreck-
lichkeit des menschlichen Daseins zu leben. – Um 1/2 7 waren wir wieder zu Hause. Ich
ging zum Essen, während Jup in meinem Zimmer blieb und herumlas. Er nahm Stendhal,
Lucien Leuwen mit. Wir gingen dann zum Bürgerverein und tranken Rheinwein, sprachen
zuletzt nur über den Prozess der Dame. Ekelhaft. Jup warnte mich vor der Heirat mit K.
Wäre nur endlich der Prozess vorbei. Alles andere ist mir gleich. Große Liebe zu K. Heute
Abend aß ein Mann Wackenroder in der Pension, ein Verwandter des Dichters.417 Es ist
Vollmond. Natürlich dachte ich an K.

416 Heinrich Triepel (1868–1946), Staats- und Völkerrechtler, 1900 Prof. in Tübingen, 1909 in Kiel und
ab 1913 an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin; auf ihn gehen die jährlichen Tagungen der
Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer zurück. Die erste Tagung, an der auch Schmitt teil-
nahm, war am 13.und 14. Oktober 1922 in Berlin.
417 Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773–1798), Jurist und Schriftsteller, Mitbegründer der deutschen
Romantik.

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Juli 1922 113

Montag, 10. 7. 22
3 Briefe, von Walter Fuchs418, von den Eltern, auch von der Dame, die zum 11. 7. eine New-
man-Auswahl419 schickt. Das tat mir weh. Hielt meine Vorlesung, eingekauft, dann Woh-
nungsamt, ausgeruht, nachmittags um 4 ein Brief von Kiener, ich soll ihm Empfehlungs-
briefe für seinen Freund Pozzi420 geben, den Stellvertreter des französischen Gesandten in
München. Sehr überrascht, überlegte, trank bei Rittershaus421 Kaffee, behaglich, Briefe ent-
worfen, für Beyerle und Rupé.422 Dann zu Hause gleich an Kiener geantwortet. Nach dem
Abendessen kam Hensel vorbei, wir tranken zusammen eine Flasche Moselwein in der Bür-
gergesellschaft. Ich sprach moralistisch, über die Emanzipation der Musik, die Saturnalien,
der <…>, den Sklavenaufstand. Müde und zufrieden um 1/2 12 nach Hause. Furchtbare
Geilheit, Zittern.

Dienstag, 11. 7. 22
Behaglich, geil, schickte den Brief an Kiener ab, dann noch an Seewald423, freute mich mei-
ner Gesundheit, werde dick und fett. Hielt 2 Stunden Vorlesung, ganz schön, nachher etwas
ausgeruht, Professor Neuß ist verreist, trank bei Frings Kaffee, in die Vorlesung zu Kauf-
mann. Nachher ihn mit seiner Frau begleitet, Einkäufe. Dachte natürlich immer an K. Gut
unterhalten, über die Großindustriellen, die plötzlich an Polen eine Loyalitätserklärung

418 Walter Fuchs (1888–1966), Dr. iur., Dr. rer. pol., Diplomat, jurist. Fachautor und Schriftsteller,
1919 Hilfsrichter in Ratibor, ab 1920 Attaché in Addis Abeba, Athen, Singapur, Surubaja (Java),
1929–1934 Konsul in Schanghai, 1934–1952 freier Anwalt ebd., 1952 Vortragender Legationsrat in
Bonn, 1953–1954 Generalkonsul an der Deutschen Botschaft in Paris. Freund aus Münchner Zei-
ten, bis zum Lebensende in brieflichem Kontakt mit Schmitt. Siehe u. a. Piet Tommissen, Bausteine
zu einer wissenschaftlichen Biographie (Periode 1888–1933), in: Quaritsch (Hrsg.), Complexio
Oppositorum, S. 79. Der Brief vom 8. 7.1922 ist im Nachlass vorhanden (RW 265-4588).
419 John Henry Kardinal Newman (1801–1890), anglikanischer Theologe u. Schriftsteller, Konversion
zur kathol. Kirche. Geschenk von Schmitts erster Frau Cari zu seinem 34. Geburtstag. Auf einer
Postkarte vom 17. 2. 1922 hatte Schmitt Max Stefl gebeten, ihm Newman’s Schrift Grammar of
Assent zu besorgen, die er dem katholischen Pfarrer in Greifwald schenken möchte (Nachlass Stefl,
Bayerische Staatsbibliothek).
420 Henri Pozzi (1879–1946), franz. Politiker und Diplomat, Mitarbeiter franz. und brit. Geheim-
dienste. Später bedankt sich Kiener für die inzwischen eingegangene Empfehlung, verbunden mit
einem Dank für den auf lateinisch geschriebenen Gruß aus Helgoland – Brief vom 12. 10.1922
(RW 265-7545).
421 Hof-Conditorei und Café Carl Rittershaus Nachfahren (Inhaber: Heinrich Schneider), Kaiser-
straße 1d, Ecke (frühere) Kirchstraße, in Bonn.
422 Hans Rupé (1886–1947), Dr. phil., Kunsthistoriker und Übersetzer griechischer Werke (vgl. auch
TB II, S. 150, 525 u. ö.), wohnhaft in der Widenmayerstraße 39. Im Brief vom 28. 8.1922 (RW 265-
11977) bedankt sich Rupé für eine Karte, die Schmitt zusammen mit Dr. Lassar geschickt hat und
teilt mit, dass er seit 1. 5. d. J. Konservator am Nationalmuseum in München ist. Von Schmitts Frau
[Cari] habe er erfahren, dass er sich in Bonn wohlfühle.
423 Richard Seewald (1889–1976), Maler, Illustrator und Schriftsteller, Mitglied der Neuen Sezession,
mit Schmitt seit dessen Münchner Militärzeit bekannt (vgl. TB II, S. 524–527), ab 1924 Prof. an den
Kölner Werkschulen, 1929 unter dem Einfluss Theodor Haeckers Konversion zum kath. Glauben,
1939 Emigration nach Ronco sopra Ascona, 1948 Rückkehr nach Deutschland, 1954–1958 Prof. an
der Akademie der Bildenden Künste in München.

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114 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

schickten. Ekelhaft. Erschrak vor Göppert. Zu Hause etwas gearbeitet, ein paar Minuten.
Nach dem Essen zu Schmitz424, dem Musikhistoriker, mit ihm ein paar Stunden spazieren.
Schön unterhalten, zuletzt für Mozart geschwärmt. Müde und traurig nach Hause. Immer
an K. gedacht. Von Ännchen ein Paket Praliné, die ich aß.

Mittwoch, 12. 7. 22
Frisch und kräftig; um 10 gegangen. Wunderbares regnerisches Nebelwetter. Am Woh-
nungsamt vorbei, es waren mir aber zu viele Menschen. Nach der Vorlesung mit Kaufmann
unterhalten, ihn zur Bibliothek begleitet. Wäre nur endlich die Sache mit der Dame aus der
Welt. Ich muss ihr heute endlich schreiben. Nachmittags viel gegessen und Kaffee getrun-
ken im Café <…> meine Vorlesung ziemlich gut, weil extensiv vorbereitet, hielt sie sehr gut
(über die nationale Idee), großer Eindruck. Nachher traurig nach Hause. Was nützt das
alles. Bei Schmitz vorbei, mit seiner Frau gesprochen und dann munter, bürgerlich. Müde,
verzweifelt. Früh ins Bett. Nachts wieder von den Schnaken gestochen.

Donnerstag, 13. 7. 22
Um 1/2 5 auf und Arbeiten korrigiert, dann wieder ins Bett. Nerven zerrüttet, aufregender
Traum: Ich gehe sehr steil an eine Unterführung (wie in der Berliner Untergrundbahn), ein
kleiner, sehr frecher Bruder von K.425 war da, ich schlage den schließlich um die Ohren, weil
mir seine völlige Immoralität unausstehlich geworden ist. Angst, Entsetzen, Verzweiflung.
Stand schnell auf. Beim Waschen wurde es besser. Holte mir selbst Brot, kein Brief, traurig.
Vielleicht überwachen die Franzosen die Post. Schmitz kam, begleitete mich zur Univer-
sität. Hielt meine 2 Stunden Vorlesung, ganz nett, aber doch ziemlich müde. Nach dem
Essen geschlafen, bis 1/2 5, Brief von der Dame, die mir vorrechnet, was sie an Geld ausge-
geben hat. Immer wieder Selbstmordgedanken. Scheußlicher Parasit. Müde, verzweifelt,
aufgelöst. Die Frau Generalin brachte mir Kuchen, das tat mir gut. Dann in der Teestube
am Hof mehrere [Tassen] getrunken, aber sehr nervös. Hielt trotzdem eine schöne Übung.
Mit dem Studenten Engels nach Hause. Er scheint sehr nett zu sein, ist mir aber nicht recht
sympathisch. Nach dem Essen etwas spazieren, wieder Hohenzollernstraße (der Privat-
dozent Hankamer ist übrigens ausgezogen; was mag das bedeuten). Müde nach Hause.
Kann fast nichts arbeiten. Traurig, kindisch, verweichlicht. Albern.

Freitag, 14. 7. 22
Wieder kein Brief, also doch die Franzosen. Traurig, deprimiert, denn ich fühle mich nur
wohl, wenn alles funktioniert. Meine 2 Stunden erledigt, gut, und dann erleichtert nach
Hause. Nach dem Essen zu Hause (weil Neuß keine Zeit hat), Kaffee getrunken, in der
kleinen Konditorei in der Poststraße, in der Bibliothek, traurig, verzweifelt, dem Tode nahe.
Bei dem P. Ryan426 vorbei, er war aber nicht zu Hause. Abends nach dem Essen zu Schmitz,

424 Arnold Schmitz (1893–1980), Dr. phil., Musikwissenschaftler, Mitbegründer der musikalischen
Figurenlehre, 1927 PD in Bonn, 1928 ao. Prof., 1929–1945 o. Prof. in Breslau, 1946–1961 in Mainz.
Langjähriger enger Freund Schmitts, siehe auch Einführung, S. XVI.
425 Gemeint ist Katharina von Wandel, vgl. Anm. 220.
426 Irischer Geistlicher, Näheres bisher nicht bekannt.

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Juli 1922 115

er war erkältet (wie schön sind seine Augen<? >, wie sympathisch ist die Frau, er hat eine
schöne Schildpattbrille, ich armer Prolet), spielte erst Don Juan, dann Zauberflöte, schließ-
lich Monteverdi427, Pergolesi428. Wie schön, ergriffen, stolz, besonders von Don Juan.

Samstag, 15. 7. 22
Behaglich gefrühstückt, aber kein Brief. Karte von Georg Eisler.429 Übungsstunde, gab eine
Klausurarbeit. Sah die Freundin des armen Kehnstein, sie ist klüger als ihr Freund. Dann
mit Salomon430 gesprochen, bei P. Ryan vergebens vorbei, meine Karte hinterlassen; nach
dem Essen mit Professor Neuß, Vortrag über Maria Laach, müde nach Hause, etwas aus-
geruht, nichts vom Briefträger. Im Café Hansa. Manchester Guardian gelesen, auf dem
Heimweg (den Wunsch, zu Schmitz oder zu Kaufmann zu gehen, gut überwunden). Dr.
Braubach getroffen; gut unterhalten, über Sorel, bis 1/2 8. Dann nach dem Essen wieder
müde nach Hause. An K. geschrieben, bald ins Bett. Sehr müde, kann nichts arbeiten.

Sonntag, 16. 7. 22
Schöner Brief an K. über meinen Geburtstag und den Geburtstag unserer Liebe. Erinnerte
sie daran, dass ich ihr des Nachts vor dem Geburtstag gesagt habe, sie habe mich glücklich
gemacht, da ich weiß, dass du an mich denkst, heute, dass du diesen Tag nicht vergessen
hast. „Nimm Dein Kind, ich bin Dein. Ewig.“ Schickte ihr Zeitungsausschnitte aus dem
M[anchester] Guard[ian] über Shelley usw. (Brief Nr. 11). So verging der Vormittag. Dann
schrieb ich an Georg Eisler. Mittags bei Tisch sprach man von der Postkontrolle der Fran-
zosen; ich war unruhig wegen des Briefes an K. Wollte erst nach Königswinter fahren,
rannte ziellos eine Stunde durch die Straßen, dann plötzlich gegen 4 nach Köln gefahren.
Den Brief an K. am dortigen Bahnhof in den Kasten, die Straßen sind überfüllt. Sonntags-
publikum, widerlich; lief etwas herum, dann im Fürstenhof eine Tasse Kaffee, Angst und
Eifersucht wegen K. Müde wieder zurück. Verzweifelt zu Hause, an Pichler geschrieben,
dann zum Essen und zu Schmitz, er spielte mir etwas Schumann vor, die Ouvertüre zu
Genoveva431, die sehr schön ist, wieder Monteverdi (e se ben luce)432, Euryanthe433, dann
gingen wir zum Bürgerverein und tranken 2 Flaschen Piesporter, sprachen über Beethoven
(Hensels Beethoven ist ein dummes, miserables Buch434), ich erzählte Schmitz, dass mit
Beethoven die Vervollkommnung der Tendenz zu deutscher Einsamkeit beginne. Seitdem

427 Claudio Monteverdi (1567–1643), ital. Komponist.


428 Giovanni Battista Pergolesi (1710–1736), ital. Komponist.
429 Im Nachlass Schmitt ist keine Karte, sondern ein Brief vom 8. Juli mit Geburtstagsgrüßen vorhan-
den (RW 265-3136).
430 Möglicherweise handelt es sich um Albert Salomon (1891–1966), Soziologe, 1921 mit der Studie
Der Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts in Deutschland von G. Anschütz, E. Gothein,
E. Lederer u. H. Rickert in Heidelberg promoviert, als Dozent an der Deutschen Hochschule für
Politik in Berlin tätig und ab 1928 Leitung der Zeitschrift „Die Gesellschaft. Internationale Revue
für Sozialismus und Politik“; 1935 Emigration in die USA.
431 Robert Schumann (1810–1856), dt. Komponist, Genoveva ist seine einzige Oper.
432 Monteverdi, L’Incoronazione di Poppea, Arie des Ottone „E pure io torno …“.
433 Romantische Oper von Carl Maria von Weber.
434 Siehe Anm. 299.

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116 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

die Instrumente reden, können die Menschen nicht mehr reden; ein stummes, musikalisches
Volk. Er sah das ein und schien sehr ergriffen davon. Ein schöner Abend, ich habe ihn sehr
gern, am liebsten von allen meinen Bekannten. Abends noch sehnsüchtig ein paar Worte
an K.

Montag, 17. 7. 22
Ziemlich spät auf, müde, aber plötzlich wieder frisch und unternehmend. Kein Brief. Die
Kontrolle der Franzosen. 2000 M. an die Dame. Habe K. mein Vorlesungsverzeichnis
schicken lassen, auch die <…> endlich bestellt. Ekelhaft. Schlechte Vorlesung. Müde und
traurig nach Hause, dupiert von Kaufmann und Göppert. Nach dem Essen mit Neuß im
Regen spazieren. Wir besahen noch einmal das Denkmal. Wie überflüssig ist das alles, sah
den Maler Menser435, was geht das mich an. Neuß erzählte von Blondel436, mit dem er
befreundet ist, einem französischen Nationalökonomen, der Berichte für Clemenceau
macht. Der kleinliche, bürokratische Geist der Franzosen. Zu Hause ausgeruht. Nachmit-
tags wieder kein Brief, es ist zum verzweifeln. Trank Kaffee bei Müller, viel Kuchen, etwas
in der Bibliothek, dann zu Hause. Verzweifelt, dem Selbstmord nahe, wenn ich an die Dame
in München denke. Plötzlich um 6 1/2 eine große Erschütterung. Las Kierkegaard. Ergrif-
fen, Versuchung. Gleichzeitig ging auf der Straße ein betrunkener Mensch vorbei und grölte
Bummelpetrus 437, mit einem schmutzigen, ekelhaften, ordinären Text (erst kommt das
Höschen und dann das Hemd und dann das Schönste usw. Dann: Eine Flasche Rotwein,
eine Flasche Sekt, und ein schönes Mädchen, wie das schmeckt); mir standen die Tränen in
den Augen. – Nach dem Essen brachte ich Hensel sein Beethovenbuch zurück, ging aber
nicht zu ihm, traf zufällig Wanner und ging mit ihm ein Stück Weges, dann einsam noch
einmal durch die Hohenzollernstraße und Bonner Talweg nach Hause. Etwas gearbeitet,
gelesen, nicht viel getan, aber wenigstens etwas gesammelt.

Dienstag, 18. 7. 22
Gut geschlafen, beherrscht und moralisch. Gut vorbereitet, aber doch keine sehr gute Vor-
lesung, 2 Stunden; sehr müde davon. Kein Brief den ganzen Tag. Ob die Franzosen nicht
doch kontrollieren? Aber sehr ruhig und gleichgültig. Nach dem Essen ausgeruht, dann zur
Fakultätssitzung, ziemlich ruhig und gleichgültig (über das Nachstudium), um 5 schnell
eine Tasse Kaffee bei Müller, 2 Kokotten setzten sich mir gegenüber. Ich lief schnell zu Kauf-
mann in die Vorlesung, bis 6, begleitete seine Frau, ging nicht in die Plenarversammlung der
Universität. Zu Hause etwas Bakunin, gegessen, immer beherrscht und ergriffen, die Mör-
der Rathenaus haben Selbstmord begangen, sie haben vorher gerufen: Hoch Ehrhardt.438 Es

435 Karl Menser (1872–1929), Dr. med. h.c. (1918), expressionistischer Bildhauer und Maler, ab 1907 in
Bonn, 1921 Lektor für Zeichnen und Modellieren an der Philosophischen Fakultät. Es handelt sich
um den Entwurf des 1926 eingeweihten Kriegerdenkmals „Flamme empor“ im Arkadenhof der
Universität, für das er zum Ehrenbürger der Stadt Bonn ernannt wurde.
436 Georges Blondel (1856–1948), franz. Jurist und Historiker, Spezialist für Deutschland.
437 Siehe Anm. 196.
438 Die beiden Mörder, der 23jährige Jurastudent und ehemalige Marineoffizier Fritz Kern und der
26jährige Maschinenbauingenieur Hermann Fischer wurden am 17. 7.1922 auf der Burg Saaleck bei
Bad Kösen gestellt, bei dem Schusswechsel wurde Kern tödlich getroffen, Fischer nahm sich darauf

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Juli 1922 117

hat doch Stil und Größe. Inzwischen bin ich ganz auf ihrer Seite, die armen Kerls, die
monatelang von der Polizei gehetzt wurden. Ging spazieren, zum Venusberg, dann bei
Neuß vorbei, um ihm zu sagen, dass ich morgen nicht komme. Begleitete ihn zur Hum-
boldtstraße, wir sprachen über das Denkmal von Menser (Menser erinnert mich an Max
Anton439 und <…>. Er war früher übrigens Schauspieler). Müde nach Hause, aber sehr
energisch <? >. Dachte den ganzen Tag an K. Mein Leben ist beherrscht von diesem Zwie-
spalt. Oft große Sehnsucht, dass Fräulein Baumeister kommt, als ob damit das Geringste
erledigt oder gelöst wäre.

Mittwoch, 19. 7. 22
Morgens wieder kein Brief, aber ziemlich beherrscht. Hielt meine Vorlesung, schwätzte mit
Kaufmann, nach dem Essen etwas geschlafen, gar nichts vorbereitet, etwas Sorel gelesen,
um 1/2 5 ein Brief von Feuchtwanger440, der in 8 Tagen kommen will; war sehr fröhlich dar-
über. Dann Kaffee getrunken, im Hansacafé, geil, Schlemmerei, etwas herumgegangen,
meine Vorlesung über den Mythos als politische Idee 441 sehr schön gehalten. Frau Partsch
war ergriffen, das freute mich, schnell zu Abend gegessen, dann zum Auditorium Maxi-
mum, wo Kaufmann einen Vortrag hielt „Staat und Volk“; neben guter Rhetorik sonst
nichts, saß neben Spiethoff, der mir ekelhaft ist. Nachher noch im Kaiserhof, Bier getrun-
ken, geschwätzt mit Kaufmann, seiner Frau, Göppert (der einen geheimnisvollen Eindruck
auf mich machte). Stolz, ekelhaft. Müde nach Hause. Gleichgültig, <…>; geil, erschlafft.
Erschüttert von dem Selbstmord der Mörder Rathenaus. Nachher Traum: Eine Frau mit
einem roten Fleck.

Donnerstag, 20. 7. 22
Brief von Bonn, nichts in Kroatien zu erfahren! Unglaublich. Froh, überhaupt wieder einen
Brief zu haben. Meine Vorlesung schlecht und recht vorbereitet, nicht gut gehalten, ich habe
keine Stimme mehr. 2 Stunden vergingen, Gott sei Dank, nach dem Essen ausgeruht, um 3
kam Salm442, widerlich, brachte aber einige dicke Bücher. Ich lieh ihm Gesetz und Urteil443
und den Aufsatz von Fritz Eisler.444 Dann Kaffee getrunken im Hansa, wieder geil, einem
Mädchen mit einem weißen Fleisch gegenüber, kokett, einen Augenblick erschüttert, dann

das Leben. Sie gehörten der nationalistischen Geheimorganisation Consul (O.C.) des Kapitäns
H. Ehrhardt an, die gegen die Weimarer Republik kämpfte.
439 Max Anton (1887–1939), Dirigent und Komponist, ab 1922 Städtischer Musikdirektor, 1923–1930
Generalmusikdirektor des Städtischen Orchesters Bonn.
440 Brief vom 18. 7. 1922 abgedruckt in: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 26.
441 Schmitt veröffentlichte 1923 „Die politische Theorie des Mythos“ als Teil seines Beitrags für die
Bonner Festgabe für Ernst Zitelmann zum 50jährigen Doktorjubiläum, (Bonn 1923, S. 413–473),
der dann erweitert als selbständige Publikation erschien, siehe Schmitt, Parlamentarismus.
442 Vermutlich ein Student, siehe auch Teil II, Anm. 141.
443 Carl Schmitt, Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zur Rechtspraxis. 1. Aufl., Berlin 1912.
444 Schmitts Studienfreund Fritz Eisler war im Oktober 1914 gefallen. Es handelt sich um dessen Auf-
satz: Fritz Eisler, Einführung zu einer Untersuchung der Bedeutung des Gewohnheitsrechtes im
Strafrecht, aus dem Nachlass hrsg. von Carl Schmitt. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissen-
schaft, 36. Jg., 1914–15, S. 361–369.

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118 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

meine Übungen (vorher mit Hensel, einem süffisanten, widerlichen Kerl, der sich über
Erich Kaufmann erhebt). Die Übung verlief ganz nett, erleichtert nach Hause, ausgeruht,
rasende Geilheit, Ejakulation. Dann gut gearbeitet.
Habe heute mit großer Erschütterung [über] die Gerichtsverhandlung der beiden Iren ge-
lesen, die den Marschall Wilson getötet haben.

Freitag, 21. 7. 22
Bereitete meine Vorlesung schnell vor, erledigte sie, glücklich um 1 nach Hause. Nachmit-
tags vergebens auf Kaufmann gewartet, er kam erst gegen 3 mit seiner Frau, wir gingen zu
Neuß, dann zu Menser, besahen das Denkmal, kritisierten etwas, fanden es brutal und roh,
dann noch bei Krüger <?>445 im Hause, Angst vor diesem Reichtum, ekelhaft. Müde nach
Hause, mit Frau Kaufmann bei Rittershaus Kaffee getrunken, begleitete sie nach Hause,
dann in meine Wohnung zurück, wo Braubach schon auf mich wartete. Wir sprachen über
Hellenismus und Christentum, er nannte den Faschismus den 2. Sündenfall, dass die Kleri-
ker die lateinische Sprache gerettet haben, sehr interessant; dann bei Schmitz vorbei, zum
Konzert, Max Anton dirigierte, ein ordinärer Kerl, langweilig Dilettant. Sah mich nach den
Bernsteins446 um, sie waren aber nicht da. Mit Schmitz und Braubach nach Hause, bei
Schmitz gegessen, sehr nett und sauber, um 11 begleitete er mich nach Hause. Wir machten
einen Umweg durch die Poppelsdorfer Allee (Dort wurde gerade ein 16-jähriges Mädchen
von einem 21-jährigen Studenten aus Eifersucht ermordet.) Müde ins Bett. Gleichgültig.

Samstag, 22. 7. 22
Viele Briefe: Karte von Schnitzler, er will in der 2. Hälfte August kommen, Brief von Pich-
ler, der mir viel Freude machte, endlich von Däubler aus Athen. Sehr belebt dadurch. Hielt
meine Vorlesung, 2 Stunden, dann mit Theodor Kaiser nach Hause; wir sprachen über die
Rathenaumörder, die beiden Iren vor den englischen Geschworenen, wurde mir so sympa-
thischer, als er sagte, es sei etwas Schönes, dass die beiden Deutschen so ohne weitere Reden
gestorben sind. Er begleitete mich zur Pension, nachher ging ich bei Neuß vorbei, ein paar
Bilder besehen, zu Hause ausgeruht, etwas geschlafen, scheußlich bedrückt, beinahe explo-
diert vor sehnsüchtiger Geilheit. Ein Brief von André, der am Samstag kommt. Freute mich,
schrieb ihm gleich, schickte eine Bescheinigung des Wohnungsamtes nach München, brachte
die Briefe zum Bahnkasten, dann Kaffee bei Müller, ohne weitere Aufregung, noch etwas
herumgelaufen, ziellos zu Hause, Lassar447 hatte mich telephonisch gebeten, ihn bei Erich
Kaufmann anzurufen, ging also hin, holte ihn ab, wir tranken im Bürgerverein Moselwein,
dann nachher noch mit Kaufmanns, Partsch usw. in die Lese[halle], nett unterhalten, freute

445 Paul Krüger (1840–1926), Rechtshistoriker, Prof. für Römisches Recht 1871 in Marburg. 1873 in
Königsberg, von 1888 bis 1919 in Bonn.
446 Die Zwillingsschwestern Helene und Marta Bernstein waren Freundinnen Schmitts in seiner Düs-
seldorfer Referendarzeit, mit Helene war er im April 2012 kurzzeitig verlobt, die Heirat scheiterte
nach eigenem Bekunden am Geld, siehe Schmitt, Jugendbriefe, S. 141–144; Mehring, Aufstieg und
Fall, S. 38, 58 f.
447 Gerhard Lassar (1888–1936), 1920 bei Triepel habilitiert, 1925–1933 Prof. für öffentliches Recht in
Hamburg.

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Juli 1922 119

mich, in Gesellschaft zu sein, kam den politischen Dingen schon näher, sehe den Fami-
lienklüngel im Rheinland. Aber sehr angeregt nach Hause.

Sonntag, 23. 7. 22
Den Vormittag K. gewidmet, ihr einen schönen langen Brief (Nr. 12) geschrieben, mit Aus-
schnitten über die Rathenaumörder und die Iren, langer Wochenbericht. Häufige Versiche-
rung meiner Liebe, eindringlich ermahnt, dass ich auf sie vertraue und mein einziges Gebet
wäre: dass Gott meine Liebe und mein Vertrauen nicht zum Spott werden lassen solle. Ein-
ladung von Thurneysen für heute Abend. Vielleicht sind die Iren da. (Habe Kathleen auch
die Karte von Schnitzler und den Brief von Pichler geschickt). Geil, nervös, erregt. Jedes
schöne Bein erregt meine erotischen Sensationen. Mittags nach dem Essen brachte ich den
Brief für K. zur Bahn, dann mit Vormfelde durch den Regen gelaufen, im Königshof Kaffee
getrunken, dann zu Hause. Etwas gearbeitet, nicht viel, der Nachmittag verging schnell, an
Eisler geschrieben, Zeitungen aufgeräumt, etwas Luft. Gegen 1/2 9, nach dem Essen, zur
Thurneysen, Partsch kam auch noch, wir unterhielten uns sehr schön, ich erzählte von den
armen Iren vor den englischen Geschworenen, begleitete nachts gegen 12 Partsch noch nach
Hause. Der alte Thurneysen ist ein großartiger Mann, fein und gebildet. Es gab Kaffee,
Kuchen und guten Markgräfler Wein. Von Iren war übrigens nicht die Rede, auch keine
Iren eingeladen.

Montag, 24. 7. 22
Müde auf, nicht ausgeschlafen. Brief von Feuchtwanger 448, er will Freitag kommen. Ich
schrieb ihm gleich; dann meine Vorlesung gehalten, sehr schön, preußisches Staatsrecht,
Übersicht. Nachher etwas mit Kaufmann geplaudert, zur Bibliothek. Otto Groß449 geholt,
nach dem Essen etwas darin gelesen. Nachmittags zum Café Hansa. Konnte nichts arbeiten,
aufgeregt, geil, zu Hause, dann plötzlich Ekel vor dieser Geilheit, gearbeitet, beherrscht,
aber nicht lange. Abends vor dem Essen traf ich zufällig Schmitz, ging nach dem Essen zu
ihm, mit den irischen Liedern, er erzählte schön, in heftiger Begeisterung plötzlich den Ent-
schluss, mit ihm zusammen die Lieder exakt herauszugeben. Begeistert. Schrieb nachts noch
K. Nachts. 2 Ejakulationen. Geil, süß.

Dienstag, 25. 7. 22
Morgens etwas später auf, um 9 kam der Briefträger, mit 3 Briefen von K.! Sie schrieb herz-
lich aus Melbourne und Sydney, aber der erste Brief über ihre Mutter ist doch etwas
zurückhaltend, enttäuscht, unzufrieden. Die Mutter weint viel. Sie versichert mich ihrer
Liebe, verschweigt aber der Mutter, dass ich verheiratet bin und wartet aufs Telegramm.
Scheußlich. Unruhig, zerrüttet. Wieder die ganze Aufregung dieser schrecklichen, aus-
sichtslosen Geschichte. Aber mit der Dame fertig. Bereitete mich nicht vor, hielt meine Vor-
lesung. In ihr saß der junge Courth!450 Welch ein Zusammensein, mit 3 Briefen von K. in

448 Brief vom 23. 7. 1922 abgedruckt in: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 27.
449 Otto Gross (1877–1920), antibürgerlicher Psychoanalytiker, Psychiater und Philosoph, für dessen
Werk und turbulentes Leben sich Schmitt seit seiner Münchner Militärzeit interessierte. Siehe dazu
Hansjörg Viesel, Jawohl, der Schmitt. Zehn Briefe aus Plettenberg. Berlin 1988.
450 Vermutlich ein Jugendfreund, s. auch Teil II, Eintragung vom 15. 6.1923.

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120 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

der Tasche! Mit dem Brief und dem Zeitungsausschnitt mit ihrem Bild451, das mich sehr auf-
regte. Ich war aufgeregt, hielt keine gute Vorlesung, sprach nachher freundlich mit Courth
und lud ihn zum Kaffee ein. Dann meine Vorlesung über Völkerrecht ganz gut, nach dem
Essen mit Herold452 und Wanner bei Rittershaus Kaffee getrunken, zu Hause, schön an-
gezogen, um 1/2 4 kam Courth, wir gingen zum Königshof und tranken Kaffee, erzählten
nett, von am Zehnhoff, ich gewann ihn lieb, er mich anscheinend auch. Um 6 begleitete ich
ihn an die Rheinuferbahn, zuletzt sprachen wir über individuelle und Kollektivschuld. Ich
glaube, er hat geistige Interessen. Das freute mich. Zu Hause eine Karte von Georg Eisler.
Bin benommen von der vielen Arbeit, habe noch 5 Referendararbeiten zu lesen, schrieb
aber doch an Fräulein Baumeister, die 3 Briefe von K. und <…> machen. Wäre nur alles in
Ordnung. Feuchtwanger muss die Klage erheben. Abends nach dem Essen zu Schmitz,
begeistert Cosi fan tutte, das schöne Können, und das wunderbare Duetto con choro. Wir
gingen noch mit seiner Frau spazieren, erzählte vom Treuen Zigeuner 453, unruhig, voller
Angst nach Hause. Bald will K. mit ihrer ganzen Familie kommen! Habe heute Fräulein
Baumeister geschrieben, dass sie kommen soll.

Mittwoch, 26. 7. 22
Schnell auf, von 9–10 (bei gutem Besuch) Staatsrecht gelesen, über den preußischen Staats-
rat, dann im Café Kaufmann, etwas vorbereitet, Pastetchen gegessen und Kaffee getrunken.
In großartiger, unternehmender Stimmung, etwas nebliges Rheinwetter. Prachtvoll, all die-
sen Unternehmungsgeist widme ich Kathleen. Tausendmal rufe ich ihren Namen. Dann die
Vorlesung zu Ende, nachher mit Kaufmann, der mich nach Hause begleitete, nach dem
Essen mit Neuß spazieren, er erzählte von dem Partikularismus der katholischen Studenten.
Über den Kreuzberg. Ruhte etwas aus, trank Kaffee, hielt meine letzte Vorlesung politische
Idee, Kaufmann war da. Ich sprach über die natürliche Koalition zwischen Politik und
Gesellschaft, den beiden Traditionalismen, verabredete mich mit Braubach für heute Abend,
begleitete Kaufmann und Frau Partsch nach Hause, noch einen Augenblick mit Kaufmann
geschwätzt, Frau Kaufmann flickte meinen Mantel, dann nach dem Essen kam Braubach,
wir gingen zum Bürgerverein, tranken Moselwein, unterhielten uns sehr gut. Ich sah, was er
für ein feiner und vornehmer junger Mann ist, freute mich über tausend Übereinstimmun-
gen, die Freude an heroischen <?> Witzen, das Misstrauen gegen die <…> usw. Wir
schwätzten noch bis 1 Uhr auf der Straße! Heute Brief von Feuchtwanger 454, aufgeregt und
fröhlich, dass er kommt.

Donnerstag, 27. 7. 22
2 Stunden Vorlesung, froh, fertig zu sein. Nach dem Essen mit Wanner etwas spazieren,
dann zu Hause geschlafen, meine Übung Verwaltungsrecht, ich weiß wirklich nicht, was ich

451 In der ältesten, noch existierenden Zeitung „Sydney Morning Herald“ erschien am Montag,
12. Juni 1922, ein Bericht über die Rückkehr Kathleen Murrays „Brilliant Student. Dr. Kathleen
Murray“ mit Foto (siehe Abb. S. 561 im Anhang).
452 Nicht ermittelt.
453 Siehe Anm. 195.
454 Brief vom 25. 7. 1922 abgedruckt in: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 28.

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Juli 1922 121

sagen soll. Im Café Hansa. Der junge <…> hielt eine glänzende Übung, Einstandsrecht der
Polizei. Nachher, nach dem Essen, zu Hause, ins Bett, die Referendararbeiten gelesen. Geil.
Noch Frau Kaufmann Blumen geschickt, für den Mantel.

Freitag, 28. 7. 22
Nachts Traum: Ich bei <…> mit Bernhard Wüst, im Bett plötzlich Fräulein Fuchs, süß.
Wütend, geil. Um 8 schellte es, Spiethoff, ich stand auf, er ging aber schon weg. Ich rasierte
mich, behaglich, schrieb etwas an K., herrliches Wetter, schönster Morgennebel. Große
Sehnsucht. Wonach? <…>. Seltsam. Was mag das werden? Freue mich auf Feuchtwanger.
Erledigte, leider flüchtig, die Referendararbeiten. Um 11.12 kam Feuchtwanger, ich brachte
seinen Koffer ins Hotel Adler, gingen dann durch Bonn spazieren, ich freute mich, ihm die
schöne Stadt zu zeigen, die er bewunderte, wir tranken eine halbe Flasche Rheinwein im
Bürgerverein, dann aßen wir bei Strassberger zu Mittag, nachher ruhte ich aus (der Wein
machte mir Herzklopfen). Um 1/2 4 holte ich ihn wieder ab, wir gingen in meine Wohnung,
die Kinder von Partsch kamen, ich schenkte Marianne die irischen Märchen. Wir gingen
zusammen in den Königshof, setzten uns an den Rhein, die Kinder waren entzückend,
Marianne schmeichlerisch und schlau, aber es gefiel mir, weil es mir und ihr gefiel. Das
ganze kostete 139 Mark. War traurig, dachte an K., als ich die schönen Frauen sah und ihre
dummen Ambitionen. Ich bin ein Narr. Um 1/2 7 brachte ich die Kinder nach Hause, traf
Feuchtwanger zufällig auf der Straße vor dem Bahnhof, ging mit ihm Kaffee trinken im
Königshof, dann um 8 zu Strassberger. Nachher waren wir beide etwas müde, tranken noch
im Bürgerverein eine Flasche Bernkasteler Doktor; müde nach Hause. Auf der Terrasse im
Königshof habe ich Feuchtwanger die Geschichte meiner Ehe erzählt, als er mir erzählte,
dass die Dame bei ihm war, wegen des Pfandes. Es ist ekelhaft, was er von ihr erzählte, der
Serbo-Kroatin. Er hatte großes Interesse, versprach seine Hilfe, einen Anwalt zu besorgen,
sagte mir, ich müsste frei werden. Es tat mir sehr wohl, mit ihm zu sprechen. Das Manu-
skript von K.455 habe ich ihm gegeben. Las des Nachts das Manuskript Ball über die Ana-
choreten.456

Samstag, 29. 7. 22
Müde von dem Wein, ich kann nichts mehr vertragen und muss sehr hygienisch leben. Kein
Brief, kein Telegramm von André, es ist schrecklich. Arbeitete morgens sehr schön etwas
für mich, schrieb Zeugnisse, froh, etwas reinen Tisch zu machen. In Erwartung Andrés. Um
1/2 11 kam Marianne Partsch und brachte eine Einladung ihrer Eltern für morgen Mittag. Sie

455 Das Manuskript der von Schmitt bearbeiteten Dissertation von Kathleen Murray.
456 Hugo Ball (1886–1927), Schriftsteller u. Schauspieler. Schmitt hatte ihn 1919 durch eine Bekannte
Eduard Bernsteins kennengelernt und mit ihm ein Gespräch über Neukatholiken (Hello, Bloy,
d’Aurevilly) geführt. Es handelte sich um Manuskripte, die Ball, der sich seit 1921 mit biographi-
schen Skizzen christlicher Heiliger befasste, als ausgearbeitete hagiographische Studien zu Johan-
nes Klimax, Dionysius Aeropagita und Simeon den Styliten in seinem Buch Byzantinisches
Christentum. Drei Heiligenleben, München u. Leipzig 1923, publiziert hat. Schmitt empfahl
Feuchtwanger, das Manuskript zu veröffentlichen, was Feuchtwanger auch tat. Siehe Ball, Briefe
1904–1927, Bd. 1, S. 433; Hugo Ball, Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben. Hrsg. u.
komm. v. Bernd Wacker, Göttingen 2011, Nachwort, S. 522–523.

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122 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

ging noch in die Beethovenstraße, dann begleitete sie mich zur Bibliothek, wohin ich Bücher
zurückbrachte. Wir trafen dort ihren Vater, der sich bedankte für die reizende Fürsorge, die
ich den Kindern zuteil werden ließe. Ging müde nach Hause, aß bei Strassberger, dann etwas
geschlafen, um 3 zu Feuchtwanger. Kein Telegramm von André, es ist zum Verzweifeln.
Dabei habe ich die Zimmer bestellt. Mit Feuchtwanger zu Partsch. Wir gingen zum Königs-
hof, Partsch erzählte von der Notgemeinschaft457, Feuchtwanger saß klein und bescheiden
daneben, ich dachte immer, ich könnte allein so dasitzen und musste etwas lachen. Es war
aber gut, dass Feuchtwanger Partsch gesehen hat. Um 1/2 6 gingen wir nach Hause. André
kam nicht; kein Telegramm. Dagegen waren zu Hause Briefe, von der Hand seiner Freundin.
Es war zum Verzweifeln. Ich ärgerte mich sehr. Mit Feuchtwanger gut unterhalten, er war
sehr freundlich, wir sprachen über die Dame in München, über meine „Politische Theo-
logie“458, über Ball, gingen noch ins Hansacafé, dann an meiner Wohnung vorbei, aber nichts
von André. Dann sprachen wir noch in meinem Zimmer, ich zeigte ihm ein paar Bücher,
schenkte ihm Suarès über Dostojewski459, wir aßen dann bei Kieffer zu Abend, unterhielten
uns schön, ich erzählte ihm den Treuen Zigeuner zu Ende, er gefiel ihm sehr gut, er will mit
Blei darüber sprechen. Das freute mich. Noch im Café Hansa, wo er von seiner Frau er-
zählte, der Bosheit und Gemeinheit von Fräulein Herzfeld. Abends müde nach Hause, ohne
jede Geilheit, die Gespräche mit Feuchtwanger haben mich vollständig rationalisiert.

Sonntag, 30. 7. 22
Um 1/2 8 aufgestanden, wieder kein Telegramm von André. Diese Rücksichtslosigkeit
ärgerte mich sehr. Ging zum Hotel Adler, wo Feuchtwanger frühstückte (die Rechnung für
2 Tage 800 Mark!). Dann sprachen wir sehr herzlich miteinander, über meine Sache, für die
er rührend interessiert ist, brachte ihn zum Zug, er fuhr 2. Klasse, der Zug war sehr voll. Es
ist sehr warmes Wetter. Wir verabschiedeten uns herzlich, ich ging ruhig nach Hause.
Kuriert, nüchtern, mit dem Gefühl, mich selbst zu besitzen. Trank schön Kaffee, las einen
Aufsatz von Bergson460, führte Tagebuch, Gefühl großer Freiheit. Dann aber musste ich K.
einen Brief schreiben. Ging eine Stunde, dann telephonierte ich an Frau Wolzendorff 461,

457 Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, Vorgängerorganisation der Deutschen Forschungs-


gemeinschaft, 1920 auf Anregung Fritz Habers und Friedrich Schmitt-Otts gegründet.
458 Aus dem Briefwechsel Schmitt-Feuchtwanger geht hervor, dass diese Schrift Schmitts in den letz-
ten Monaten des Jahres 1922 erschienen ist.
459 André Suarès (1866–1948), französischer Schriftsteller, mit Claudel, Gide und Valéry Begründer
und einer der wichtigsten Mitarbeiter der Nouvelle Revue Française. Sein Buch „Dostojewski“,
übersetzt von Franz Blei, erschien 1921 im Verlag Kurt Wolff, München.
460 Henri Bergson (1859–1941), franz. Philosoph. Schmitt hatte sich bei seiner Beschäftigung mit
Georges Sorel auch mit Bergsons Philosophie des ‚élan vital‘ befasst, siehe Schmitt, Parlamentaris-
mus, S. 85–86.
461 Kurt Wolzendorff (1882–1921), seit 1919 Prof. für öffentliches Recht in Halle, mit dem Schmitt
1920–21 korrespondiert hatte, vgl. Martin Otto (Hrsg), „Mein Fachkollege Koellreutter ist zwar
gewiß kein Genie“, Briefe von Kurt Wolzendorff an Carl Schmitt 1921/22, in: Schmittiana NF II
2014, S. 53–86. Wolzendorff las auch die Korrekturfahnen von Schmitts Buch Die Diktatur und
empfahl ihn seinem Hallenser Kollegen Otto Koellreutter. Im Nachlass ist ein Brief des Wolzen-
dorff-Schülers Wilhelm Kottler vom 10. 4.1921, der auf die letzten Tage seines Lehrers eingeht,
ebd. S. 84–86.

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Juli/August 1922 123

ging bei der Frau Kebs462 vorbei, wegen der Wohnung für André und bat sie, das Zimmer
noch zu reservieren. Dann zur Frau Wolzendorff in der Joachimstraße. Eine gute, blonde,
stattliche Frau. Sie erzählte von ihrem Mann, weinte, der Abend, wie er von Berlin in Halle
ankam und von ihr nicht abgeholt wurde, sich beklagte, sich erbrach. Schrecklich alles.
Dann darüber, dass sein Name nicht mehr genannt werde von dem Handbuch der Staats-
wissenschaften usw. Nachher kam auch noch die Frau Maschke463, eine Berlinerin, alles
erkundigt sich teilnahmsvoll nach meiner Frau. Die Wohnung machte den Eindruck größter
Behaglichkeit und angenehmen Reichtums. Mir ist alles gleich. Ich lief von da (nachdem ich
mich lange aufgehalten hatte) nach Hause, zog mich um, dann zu Partsch zum Essen, eine
Holländerin war da, Göppert, Kaufmann, 2 Gemeinderichter und die Braut von [Anton]
Neuß. Nach dem Essen tranken wir im Garten Kaffee, unterhielten uns gut, ich sprach sehr
nett über die Rheinlande, hübsche, angeregte Debatte. Hohlbeck464<? > erzählte von den
großen Erfolgen der französischen Propaganda, es scheint sehr schlimm zu sein. Hoffent-
lich weist man mich nicht aus. Blieb bis 5. Dann zu Schmitz, dem Privatdozenten, wo ein
Tee war, mit mehreren Professoren. Langweilig, mit Thurneysen sehr nett unterhalten, über
irische Lieder. Wunderschöner Kuchen der guten Frau. Ich ging um 1/2 8 nach Hause. Kein
Telegramm von André, aß für mich in der Pension, dann zu Hause früher ins Bett. Warf den
Brief für K. abends in den Kasten (Brief 13).

Montag, 31. 7. 22
Morgens ein Telegramm von André, dass er heute Abend kommt. Froh darüber. Ging bei
der Frau vorbei, um das Zimmer für André zu sichern. Dann zu Hause behaglich gefrüh-
stückt, nach dem Essen geschlafen, den ganzen Nachmittag Examen, ein Regierungsreferen-
dar kam, der bei Kaufmann promoviert hat; nett geprüft, dann in Strafprozess noch in
Gegenwart von Partsch. Müde nach Hause. Um 1/2 9 zur Bahn, lange gewartet, weil der
Zug Verspätung hatte, Ganivet dazwischen gelesen, endlich kam André, ich brachte ihn in
seine Wohnung, Agrippinenstraße 8; dann gingen wir zum Bürgerverein, er aß zu Abend,
wir tranken eine Flasche Bernkastler Doktor, ich bezahlte, er erzählte von seiner Freundin,
es ist immer dieselbe Geschichte, er ist um nichts vorwärts gekommen.

Dienstag, 1. 8. 22
Wir frühstückten morgens um 9 Uhr zusammen, wunderschön, plauderten, fassten den
Plan, dass André ein Buch schreibt, dann bei Schmitz vorbei, ich war stolz, André diese
wunderschöne Stadt zeigen zu können. Wir aßen zusammen in der Pension zu Mittag,
nachher etwas zu Hause ausgeruht, im Hansacafé eine Tasse Mokka, dann ging ich zum
Rhein, um Fräulein Baumeister abzuholen, traf sie. Sie hat einen wunderschönen Mund und
feinen Teint, ist aber ein armes, unwissendes Huhn, wir tranken im Königshof Kaffee, die
Musik spielte die Ouvertüre zur Zauberflöte, saßen lange zusammen, bis 6 Uhr, dann mach-
ten wir einen Spaziergang nach Casselsruh, sie freute sich über den schönen Weg, die herr-
liche Aussicht, erzählte von ihrem homosexuellen Liebhaber <? >, Spangenbergs und Seif-

462 Vermieterin.
463 Nicht ermittelt.
464 Nicht ermittelt.

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124 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

ferts465, den Freunden von K.; Spangenberg war verhaftet, sie feierten große Feste, auf
denen es wüst zuging und die Herren die Damen belästigten, K. war dabei, es ist unglaub-
lich, wie sie gelebt hat. Ich erschrak. Wir aßen dann im Krug zum grünen Kranze zu Abend,
teuer, Wild und Chateaubriand, dann noch im Hansacafé, sie versäumte natürlich den Zug,
erzählte von Dr. Bourfeind466, ihrem Gönner. Es war im Grunde entsetzlich langweilig.
Trotzdem lud ich sie noch einmal für Freitag ein. Dumm, ich weiß nicht warum. Spät um
11 Uhr noch zu Schmitz; Bowle getrunken, nett erzählt, mit André gegen 1 nach Hause.
Todmüde ins Bett. Zu Hause ein Brief von Kathleen. Berückt, las ihre Versicherung ihrer
Liebe.

Mittwoch, 2. August 22
Früh auf, nicht ausgeschlafen, André auf der Beethovenstraße getroffen, wir frühstückten
und gingen zur Rheinuferbahn. Mit Exzellenz Göppert zusammen nach Köln gefahren,
schön über Rathenau unterhalten, mit dem er bekannt war. Die Soziologie <…>. Freute
mich, dass André gut und elegant aussah. Dann geprüft, 1 Kandidat war zurückgetreten, ein
Mädchen, ziemlich dumm, kam aber durch, einer fiel durch, ein armer, kränklicher Teufel;
ein Junge, namens Schlamm, wusste gut und fix Bescheid, sodass ich mich freute. Der Präsi-
dent Frenken467 (er erinnerte mich an den Rechtsanwalt Westhaus). Ich begleitete noch
Göppert zur Rheinuferbahn, dann auf André gewartet, wir trafen uns in der Stollwerckpas-
sage, plötzlich zum Schneider, zwei Anzüge für 17.000 Mark, die ich aber selbst bezahlen
muss; dann nach Bonn zurück. Todmüde. Nach dem Essen zu Erich Kaufmann, ihn ab-
geholt. Wir tranken auf der Terrasse des Königshofs eine Flasche Pommery, gut unterhalten,
André erzählte natürlich seine Geschichte, spät um 1/2 12 noch zu Kaufmann, philosophiert
über Reformation und Gegenreformation, um 1/2 2 nach Hause. Wieder todmüde, Herz-
krampf, Angst vor Geilheit, Wahnsinn. André hat mir eindringlich zugeredet wegen K.

Donnerstag, 3. 8. 22
Um 1/4 10 mit André gefrühstückt, entzückend, in dem schönen Zimmer. Dann arbeitete er
etwas für sein Buch, las meinen Aufsatz über die Gegenrevolution, ich ging zur Schumann-
straße, um eine Ausfuhrerlaubnis für Luminaltabletten zu besorgen, um die mich K. gebe-
ten hat (André hat die Wut darüber; er sieht, dass ich unverschämt ausgenützt werde), noch
in eine Apotheke, man verlangt ein Rezept. Es ist unheimlich. Traurig, deprimiert nach
Hause. Ein Student fragte wegen seines Referats zum Seminar. Müde, etwas geschlafen,
nach dem Essen (mit André zusammen) ausgeruht, eine Stunde geschlafen, dann holte mich
André ab, wir gingen bei Schmitz vorbei und tranken Kaffee im Fürstenhof auf der
Terrasse, unterhielten uns schwätzend, ganz gut, über den Rhein, dass er plötzlich rot wird,
zurückfließt, weil die Schwarzen kommen. Dann noch Bücher für André gekauft (er hat
natürlich kein Geld mehr) und zu Hause schön und gesammelt gearbeitet. Er las über Stin-

465 Vermutlich Bekannte von Kathleen Murray.


466 Paul Bourfeind (1886–1968), Schriftsteller und Studienrat in Köln.
467 Schmitt war Mitglied der Prüfungskommission beim Oberlandesgericht Köln, als dessen Präsident
von 1916 bis 1923 Josef Alois Frenken (1854–1943) fungierte. Frenken war 1925 kurzzeitig Reichs-
justizminister.

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August 1922 125

nes für sein Buch, über ökonomisches und politisches Denken. Ich räumte etwas auf und
war glücklich, etwas Luft zu haben. Um 7 holte ich ein Brot in der Bäckerei bei den Barm-
herzigen Brüdern. Dann zum Essen, froh, für mich alleine zu sein. Das Pfund steht auf
4.000. Es ist entsetzlich. Die Franzosen machen das Schlimmste daraus <?>, Stinnes will der
Verein beschlagnahmen beim <…> usw. Ruhig und gesammelt zu Hause, geschlafen bis 9,
dann an K. schön geschrieben, Tagebuch geführt. Dachte oft mit großer Sorge an sie. Halte
sie allmählich für ein berechnendes, schlaues, sentimentales Luischen.468 Wartete um 1/2 10
vergebens auf André. Es wurde 1/4 vor 11. Ich ging müde ins Bett; gleichgültig; froh, end-
lich ausschlafen zu können.

Freitag, 4. 8. 22
Schlief mich gut aus, fühlte mich so wohl, dass ich mir vornahm, immer so zu leben. Um
1/2 10 kam der Briefträger. Ein Brief von K. und eine eingeschriebene Sendung, ihr Tage-
buch.469 Ich war glücklich, hingerissen, erschüttert vor Liebe. Stolz gegenüber André. Ich
holte ihn ab in seiner Wohnung, wir frühstückten zusammen, arbeiteten etwas, las die
Dissertation über <…> für Kaufmann. Ich ging dann zur Bank, um fr[anc] zu wechseln, für
André, bekam aber nur 59,80 angeboten, sodass ich nicht wechselte, holte mir Geld,
4000 M., um die Rechnung für Fräulein Strassberger bezahlen zu können (Die Rechnung
macht über 2400 M aus!).470 Oft beim Apotheker, der ein Rezept für die Tabletten verlangt,
sprach mit Professor Koeniger 471, den ich etwas begleitete, über Kirchenrecht; angeregt
nach Hause, immer das angenehme Gefühl ausgeschlafen zu haben. Ließ mir die Haare
schneiden (der Friseur fragte mich: Sind Sie Engländer). Dann holte mich André an meiner
Wohnung ab, wir aßen bei Strassberger, wo eine Belgierin war, die mit mir Englisch sprach
und sagte, ich spreche sehr gut. Nachher mit André etwas spazieren. Plötzlich heftiger Dis-
put, er wollte das Tagebuch von K. haben (ich hatte davon geschwärmt, wie großartig ihre
Geste sei, als sie es schrieb für unser glorious hopes), er wollte es einsiegeln und aufbewah-
ren, damit ich nicht darin lese, immer heftiger und eigensinniger verlangte er es, schließlich
ging er weg und ließ mich allein. Ich war sehr erregt, besonders wieder Herzklopfen und
Magenbeschwerden. Ich suchte mich auszuruhen, um 1/2 4 zur Rheinuferbahn, Fräulein
Baumeister getroffen, sie hatte in Bonn eine Besorgung zu machen. Dann gingen wir nach
Godesberg, tranken dort im Schaumburger Hof Kaffee, angesichts des Siebengebirges, sie
erzählte wieder von Spangenbergs, was mir das Herz zerriss. Sie hat K. geschrieben. Ein
harmloses, bescheidenes Kind, anscheinend aber doch einiger Intrige und des natürlichen
weiblichen Egoismus wohl fähig. Um 1/2 7 mit der Elektrischen wieder nach Hause, sie
kaufte noch Fett und Zucker ein, ich kaufte ihr 3 schöne Nelken, dann fuhr sie ab. Müde
und traurig nach Hause. Wie kann mich eine solche Sache wie die mit André nur so
erschüttern. Ich sehe, dass er ein zynischer, egoistischer Mensch ist. Um 7 1/4 kam er schon

468 Anspielung auf Thomas Manns Erzählung „Luischen“, erschienen 1903 in der Novellensammlung
Tristan; vgl. Schmitt, Jugendbriefe, S. 110.
469 Zum (Reise)-Tagebuch siehe Anm. 279.
470 Schmitt ließ bei der Wirtin der gleichnamigen Pension seine laufenden Ausgaben anschreiben.
471 Albert Koeniger (1874–1950), von 1919 bis 1939 Prof. für katholisches Kirchenrecht und kirchliche
Rechtsgeschichte in Bonn.

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126 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

mit Schmitz, wir aßen bei Schmitz zusammen zu Abend, ich war munter und lebhaft, dann
in dem Konzert, Vortrag von P. Lasserre 472, Lieder von Lyrics from Eire<? >, sehr hübsch,
Lieder, die mir K. oft gesungen hat, von joli témoin ma blonde. Aber wieder Angst vor die-
sem Zentralismus der großen Gesellschaft, diesem cabotin473 Lasserre, der mich an Franz
Blei erinnerte. Immerhin war ich guter Dinge, machte eine gute Figur, trug mein Monokel
und freute mich, gut auszusehen. Innerlich überlegen über diese Gesellschaft von Fran-
zosen. Wir tranken noch im Bürgerverein eine Flasche Meursault, sehr gut, um 1/2 12 müde
ins Bett.

Samstag, 5. 8. 22
Träumte des Nachts von am Zehnhoff, er war außerordentlich freundlich gegen mich. Um
1/2 9 auf, behaglich angezogen. Um 9 mit André gefrühstückt, dann etwas gelesen, Disser-
tationen, aber müde von dem Wein vielleicht, wenn es auch nicht sehr schlimm war. Um 11
zur Handelskammer, den Antrag auf Ausfuhrgenehmigung der Luminaltabletten gestellt,
dann zur Bahn, 200 fr schlecht gewechselt (5400), Zeitungen gekauft, müde nach Hause,
etwas geschrieben, Tagebuch usw. Aber nichts getan, André stört mich natürlich schreck-
lich. Um 1 holte er mich zum Essen ab. Nach dem Essen etwas spazieren, Zeitung gekauft,
ich gab ihm schöne Idee zu seinem Buch (der politische Streik usw.). Dann schlief ich etwas
und ruhte mich sehr gut aus; wirkliches Wohlgefühl, wie <…>. Wir gingen dann gegen 4
Kaffeetrinken, Hansacafé, wieder die Junge, ihr Parfüm. Kauften Bücher, Manchester
Guardian, dann unternehmend nach Hause; ich erledigte ein paar Briefe, schrieb auch an K.
Abends begleitete ich André, brachte Briefe zum Kasten (an <…> und Lamberts), sah
zufällig Professor Ehrhard aus Straßburg, ging mit ihm (erst war ich vorbeigegangen, dann
ging er die <…> herunter), hatten ein langes Gespräch vor der Staatsbank, über das Elsass,
über das durch die Reformation zerrissene Deutschland. Er sagte, er bereue es nicht, dass er
weggegangen sei (im Dezember 18 ist er zu Fuß über die Kehler Brücke gegangen, ein alter
Elsässer!), er sei ein freier Mann; das ergriff mich sehr. Er sah aus wie ein richtiger elsässi-
scher Bauer, er schimpfte über die Keltoromanen, dabei ist er der typische Kelte, mit dem
runden Gesicht und den dunklen Augen. Ich fühlte mich ihm sehr verwandt. Aber wie
hässlich ist diese von der Politik zerrissene und geknechtete Welt. Es ist schauerlich. Ich
glaubte zu ertrinken. Entsetzliche Angst, belogen und betrogen. Ich aß zu Abend, dann
müde nach Hause. Dort war ein Telegramm von Georg Eisler 474, er kommt morgen um
4 Uhr, aber da kommt kein Zug. Vielleicht kommt er um 5. Ich schrieb das Tagebuch für K.
in großer Sehnsucht und Liebe, aber sie ist egoistisch, wie jede Frau, und denkt nicht daran,
etwas für mich zu opfern. Wie hässlich. Dachte dann an Cari, die im Grunde nicht besser
ist. Betrogen und belogen. Heftige Sehnsucht nach Hilfe, Liebe, Güte, Vertrauen, aber ich
bleibe einsam. Das Gespräch mit Ehrhard hat mich sehr ergriffen. Niemand kann dem
anderen helfen. Las nachts im Bett das Tagebuch von K. in großer Rührung. Sehr ergriffen.
Dann noch etwas die Dissertationen zu Kaufmann.

472 Pierre Lasserre, Le romantisme français, Paris 1908 – von Schmitt in Politische Romantik, S. 39,
Anm. zitiert.
473 Dt. Schmierenkomödiant.
474 Im Brief vom 1. August 1922 hatte Georg Eisler bereits sein Kommen angekündigt (RW 265-3137).

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August 1922 127

Sonntag, 6. 8. 22
Müde, nachts um 4 Uhr wach und gelesen. Etwas Augenschmerzen den ganzen Tag. Um
9 1/4 mit André gefrühstückt, dann arbeiteten wir beide zu Hause, ich schrieb wunder-
schön an K. (Brief 14)475, nachher noch etwas aufgeräumt, wir gingen um 1/2 1 spazieren, in
die Kirche am Münsterplatz, André kaufte unterdessen eine Temps. Dann in der Pension
gegessen, nachher am Bahnhof vorbei, zu Hause geschlafen, bis 1/2 5 auf André gewartet,
etwas gelesen, dann zum Bahnhof, um 5.10 kam Eisler, es regnete. Er war ziemlich müde.
Dann brachte ich ihn in die Agrippinenstraße, dann in mein Zimmer, wo André sehr fleißig
an seinem Buch schrieb. Es wurde 1/2 8, ich holte Eisler ab. Wir gingen dann bei mir vor-
bei, André abholen, durch Bonn, zeigte ihm die Universität, er bewunderte alles. Wir gin-
gen dann in den Bürgerverein, tranken Oberemmeler476, aßen, sprachen über K. Ich war der
Gegenstand des Gelächters. Das tat mir weh. Mein Stolz war sehr gekränkt. Ich sehe, dass
ich vollständig unfähig bin, mich in der Welt zur Geltung zu bringen. Ausgelacht von
2 Jungens. Georg Eisler sagte: Ich möchte wissen, was Miss Büro jetzt macht, mit welchen
Männern sie zieht und wie sie sie anlächelt. Wie weh tat mir das. André war natürlich der
überlegene Knülch und lachte. Um 1/2 11 gingen wir nach Hause. Ich war nahe daran,
Selbstmord zu begehen. Ohne Geld, ohne jedes Vertrauen auf mich selbst, ausgelacht und
nicht voll und nicht ernst genommen. Habe Lust, wegzulaufen. Es ist nicht mehr lange zum
Aushalten.
Die Sehnsucht wegzulaufen. Genau wie K., zu ihr zu laufen, K. (Sonntag 13.: Brief 15) 477.

Montag, 14. 8. 22478


Um 9 kam Neuß, wir gingen zu der Spanierin in der Koblenzer Straße, dort war eine
Marchesa und andere Spanier. Mit dem Minister Francos (liberaler Antistesmonster 479) und
noch 2 Spaniern nach Schwarzrheindorf 480; wir unterhielten uns französisch über das parla-
mentarische System im Frankreich. Es schien ihm Freude zu machen, mir davon zu er-
zählen. Besahen die romanische Kirche Schwarzrheindorf mit den Visionen des Ezechiel.
Ich war todmüde. Um 1/2 12 zur Bahn, 3000 Mark an Carita, 2000 abgehoben. Entsetzlich,
wieviel Geld man braucht. Manchester Guardian gekauft, gleichgültig nach Hause. Schnell
an Pestalozza481 geschrieben (die Belege für die Geldsendungen an Cari geschickt), an

475 Siehe Teil III, S. 387.


476 Berühmter Moselwein aus Oberemmel nahe Konz.
477 Siehe Teil III, S. 387.
478 Zwischen 6. und 14. August 1922 sind keine Tagebuch-Eintragungen vorhanden.
479 Antistes, im Altertum Vorsteher eines Tempels; in der christlichen Kirche Ehrentitel für Bischöfe,
Äbte etc., in einigen Kantonen der Schweiz Titel für das höchste Amt in der reformierten Kirche.
480 Schwarzrheindorf, Ort nahe Beuel auf der rechten Rheinseite, mit einer romanischen Doppel-
kirche, die bedeutende Deckenmalereien „Visionen des Ezechiel“ von 1151/1165 hat.
481 Anton Graf von Pestalozza (1877–1938), Dr. iur., Münchener Rechtsanwalt, bedeutender Strafver-
teidiger, etwa im Prozess gegen das Mitglied der Räteregierung, Eugen Leviné-Nissen (1883–1919),
auch in Schmitts Eheangelegenheit tätig. Sein Kollege Max Hirschberg schreibt über Graf Pesta-
lozza in seinen Erinnerungen (Jude und Demokrat. Erinnerungen eines Münchener Rechtsanwalts
1883 bis 1939. Bearbeitet von Reinhard Weber, München 1998, S. 254): „Er war gläubiger Katholik.
Mit seiner untersetzten Gestalt und seinem schwarzen Vollbart, seinen schönen und klugen dunk-
len Augen und seiner hohen Stirn machte er den Eindruck eines kraftvollen, klugen und gütigen

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128 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Carita, wegen des Geldes, an Eisler, gratuliert. Nach dem Essen geschlafen, bis 1/2 5! Dann
Brief an Feuchtwanger.482 Müde zum Café Hansa, mit großem Genuss Kaffee getrunken.
Wunderbarer, mystischer Nebel, wie ich ihn so liebe. Zu Hause noch etwas geordnet, nicht
viel. Morgen kommt wieder André und alles ist aus. Abends nach dem Essen noch mit Miss
Gordon gesprochen, über Schiller, das Christentum usw. Sie war mir ganz sympathisch, war
bescheiden und hörte zu. Aber es ist doch alles derselbe Schwindel bei den Frauen. Müde,
ruhig, gleichgültig zu Georg. Welche Illusion, diese paar Minuten Ruhe.
Heute oft mit Empörung an K. gedacht, dann kam ich mir lächerlich vor, dann war ich wie-
der eifersüchtig und suchte sie krampfhaft zu halten. Wenn ich im Manchester Guardian
über Literatur lese, denke ich an sie und möchte immer für sie ein Buch schreiben. Brief von
W. Fuchs.

Dienstag, 15. 8. 22
Morgens Telegramm von André, der um 11 1/4 kommt. Ich war schon ziemlich ruhig und
arbeitsam für mich gesammelt gewesen. Freute mich aber doch. Frühstückte behaglich, ord-
nete den Tisch, zum Bahnhof, mit André zum Bürgerverein. Pastetchen gegessen, er kam
ohne Mantel, im Regen, dann in die Pension zu Mittag und nachher gleich Kaffee im Café
Hansa. Um 1/2 4 fuhr er nach Köln, ich ging nach Hause, schlief, um 5 Uhr kam Stein-
büchel. Wir tranken Kaffee, unterhielten uns über den Sozialismus, er freute sich, etwas
Revolutionäres zu vertreten, den neuen Eigentumsbegriff, interessierte sich für Syndikalis-
mus usw. Der Kardinal ist heute bei ihm. Um 1/2 7 ging er fort, nahm Sorel mit. Ich ruhte
mich noch etwas aus, um 1/2 8 brachte ich einen Brief für Schnitzler an den Kasten, dann
kam André zufällig von Köln, wir aßen zusammen im Bürgerverein, tranken Oppenheimer,
schwerer, trüber Wein, schweres Schweinefleisch. Wir waren schnell müde. Um 1/2 11
schön nach Hause. Ich will morgen nach Trier fahren.

Mittwoch, 16. 8. 22
Frühstückten um 1/2 9 zusammen. Hatte einen schweren Traum: André zeigte mir K., sie
geht zu einem Friseur, um sich die Haare machen zu lassen, die vom Tanz aufgelöst sind. Sie
sagt mir, ich soll zurückbleiben, ich dürfe sie zum Tanzen begleiten. Das stach mir ins Herz.
André hatte übrigens einen Traum von seiner Freundin Jane, in Wiesbaden: er sieht mich,
abgerissen und schlecht aussehend, in schlechten Kleidern, kommt mit der Rheinuferbahn,
dann seine Freundin usw. Liefen zur Bahn, bekamen den Zug 9.16 nicht mehr, der folgende
hat große Verspätung, sprachen über den Traum, analysierten ihn, [leider] stehend nach
Koblenz, von dort im Speisewagen über Bullay nach Trier. Ich war am Weinen, als wir, bei
strahlend blauem Himmel, durch die Täler 483 fuhren und ich die Landschaft sah. Ich möchte
hier sterben. Es war der schönste Tag meines Lebens. Es gibt für mich kein anderes Glück.

Menschen. Er verteidigte im Gegensatz zu mir politische Sachen jeder Richtung. Im Stillen stand er
wohl mir politisch näher als seinen deutschnationalen Mandanten. Er war ein Mensch reinen Wol-
lens, aber nicht völlig klaren Denkens. Er war scharfer Gegner des Antisemitismus und besonders
der Hitlerbewegung.“
482 Brief nicht enthalten bei Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger.
483 Fahrt mit der alten, 1962 stillgelegten Moseltalbahn von Bullay nach Trier.

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August 1922 129

In Trier auf dem Zimmer von André ausgeruht. Dann zu Theis 484, um 3 Uhr, ein tüchtiger
rheinischer, äußerst frischer Industrieller. Ich war ziemlich schweigsam, dachte an den Vater
von Wülfing.485 Wir blieben eine Stunde, dann im Café Astoria auf André gewartet (hier
habe ich mit K. gesessen; hier hat sie sich darüber unterhalten, dass die Männer sie im Café
immer so ansehen, wie lächerlich). Las Zeitungen, dann mit André durch ein paar antiquari-
sche Läden, um 7 mit Theis zusammen in der Steipe486, Wein und schön zu Abend gegessen.
mit einem Neffen von Theis, Versen, gut unterhalten. Bis 1/2 11, dann noch mit André zur
Bahn. Müde zur Wohnung, wieviel mehr [Geld] hat André. Lust, Geld zu verdienen.

Donnerstag, 17. 8. 22
Um 8 auf, todmüde geschlafen, auf dem Lokus angezogen, kümmerlich, gefrühstückt, mit
André zu einem Buchhändler. Ein paar Karten geschrieben (auch an K.), um 10 Uhr
2. Klasse zurück, wieder über Bullay, wieder der herrlich blaue Himmel und die rebengrü-
nen Berge der Mosel. Geliebte Frau. Ich werde nur mit dir wieder hergehen. André fühlte
es und drängte in mich, dass wir aussteigen sollten. Ich tat es aber nicht. Um 12 in Koblenz,
er fuhr nach Wiesbaden, ich nach Bonn. (Im Zug ein Franzose, der in meinem Exemplar
über Barrès [las]). Um 1/2 3 zu Hause, traurig und verzweifelt, geschlafen, entsetzlich,
deprimiert, die Frau von Wandel (vor deren Egoismus ich zittere), sehr rührig und schickte
mir sogar Kuchen. Gerührt. Arbeitete also wieder fleißig, räumte auf und ziemlich fröhlich.
Bis 1/2 8. Dann zu Abend gegessen bei Strassberger. Hörte, dass 2 Irländerinnen da sind.
Aufgeregt. Sprach den ganzen Abend mit Herrn Cohen, über religiöse Dinge. Dann müde
nach Hause. Ziemlich gesammelt, innerlich unruhig, von Gott verlassen.

Freitag, 18. 8. 22
Um 8 Uhr auf, ziemlich gut ausgeschlafen. Die Regelmäßigkeit tut mir gut. Brief von
Schnitzler, der morgen Nachmittag kommt, und von K.! 5. Brief aus Sydney und aus New-
castle. Versicherte ihre Liebe, schrieb von schönen Berliner Erinnerungen. Von Alf und
Minheim. War ergriffen, stolz, wieder begeistert. Aber doch in etwas Unruhe und Krampf.
Arbeitete etwas herum, tat aber nichts, erschrak vor meiner völligen Zerrüttung; dann zur
Stadt, einiges erledigt, 16690 Mark an Erbe <? >, beim Kurator nicht mehr eingegangen,
schrecklich, wütend über meine lächerlichen Vermögensverhältnisse, nach dem Essen
freundlich mit den Irländerinnen geplaudert. Zu Hause geschlafen. Um 4 Kaffee, dann zu
Kaufmann, über meinen Aufsatz, er war beleidigt, dass er nicht richtig zitiert ist, Angstzu-
stände, Angst vor meiner Vermögenslage; aß dort zu Abend; es kam nachher noch ein Herr,
ein Chemiker bei Stinnes; um 11 müde nach Hause. Noch einen Brief an Frau Krause in
den Kasten geworfen. Den ganzen Nachmittag entsetzliche Angst, Vorwürfe wegen Carita.
Das Lächerliche meiner Situation, die Aussichtslosigkeit meiner Beziehung zu K., die
Hochstapelei meiner Existenz, die Hauslosigkeit, die Unfähigkeit zu jeder Arbeit, dabei

484 Nicht ermittelt.


485 Friedrich Wülfing war ein Freund Schmitts in Düsseldorfer Referendarzeiten, der im Sommer 1914
tödlich verunglückte; mit dessen Vater Friedrich Wülfing sen. stand Schmitt in Geschäftsbeziehun-
gen, siehe TB I, Register.
486 Die Steipe ist ein Gebäude am Trierer Hauptmarkt, früher Festhaus der Trierer Ratsherren.

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130 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

wütende Sehnsucht nach Wirklichem, praktischem Leben und Geldverdienen, Angst vor
den Menschen, Angst vor der Armut, panische Angst. Kein Geld. Einsam. Verloren.
Mein Darm rührt sich wieder. Selbstmordgedanken.
Ich sah den Christus hinter dem Kreuz. Gott hilf mir, hilf mir; ich zerre an meiner Kette.
Wie lange noch, wie lange noch. Gott hilf mir.

Samstag, 19. 8. 22.


Traurig aufgestanden. Meine Lage ist verzweifelt, gefrühstückt, Kaffee getrunken, einen
herzlichen Brief an K. geschrieben (16), zerrissen, aufgelöst, völlig erledigt. Beim Buch-
händler Cohen, nervöse Wut, beim Kurator nicht angekommen. Müde nach Hause. Die
Irländerinnen erklären beim Essen, dass sie gegen de Valera487 sind, suchte ein Zimmer für
Schnitzler, schließlich bei Frau Kebs. Dann geschlafen, sehr müde, ohne Fähigkeit zur
Arbeit. Um 4 Kaffee im Hansa, die Schritte Gottes, fürchte mich in dieser profanen Welt.
Dann zu Hause. Mit dem Studenten Schierenberg aus Düsseldorf, nahm ihn mit zum Café,
beim Rathaus, gab ihm Empfehlungen mit, dann um 7 Schnitzler abgeholt. Wir ließen sein
Gepäck nach Hause bringen, gingen einen Augenblick zu mir, etwas spazieren, dann auf die
Weinterrassen des Königshofs; gegessen und getrunken. Um 9 kam Kaufmann hinzu, gut
unterhalten (der Pater Familias muss heute leben wie ein leichtsinniger Student); welch eine
Welt, diese Musik, diese Frauen, wie lächerlich; das also ist die Lebensfreude für K. Um 12
angeregt nach Hause. Schnitzler in die Agrippinenstraße gebracht, gleichgültig, froh, dass
alles so gut verlaufen ist. Traurig, einsam, gleichgültig nach Hause. Konnte nicht einschla-
fen, schließlich götzendienerisch masturbiert; Einwände der Schönheit; Phalluskult, grauen-
haft.

Sonntag, 20. 8. 22
Um 9 müde auf. In der Pension Strassberger Butter geholt, dabei Schnitzler getroffen, der
von seiner Wohnung kam. Wir gingen zusammen nach Hause und frühstückten schön auf
meinem Zimmer. Unterhielten uns sehr gut, über die Abtrennung der Rheinlande488 usw.
Dann nach Casselsruh spazieren. Viel gesprochen, über Deutschland, über Frauen, über
Thaler 489 (der ihn bewundert); alles in höchstem Maße interessant, aber schließlich gleich-

487 Éamon (eigentlich George, seit 1910 Edward) de Valera (1882–1975), kubanisch-irischer Mathema-
tiklehrer und Politiker, 1908 Eintritt in die Gaelic League, nach der Teilnahme am Osteraufstand in
Dublin von 1916 zum Tode verurteilt, wegen amerik. Staatsbürgerschaft in lebenslangen Freiheits-
entzug umgewandelt, 1917 amnestiert, 1918 Vorsitz von Sinn Fein, neuerlich verhaftet, während
der Haft ins brit. Unterhaus gewählt, 1919 Regierungschef des von Großbritannien nicht aner-
kannten irischen Executive Council, dann Präsident der ebenfalls nicht anerkannten Republik
Irland, 1921 Rücktritt, im irischen Bürgerkrieg auf Seiten der „Rebellen“, schließlich Rückkehr
zum parlamentarischen Weg, 1932–1948 Premierminister, 1959–1973 Staatspräsident.
488 Im Nachlass Schmitts (RW 265-19249) befindet sich ein 11 Seiten umfassendes, mit Schreib-
maschine geschriebenes Manuskript mit dem Titel „Für eine Republik ‚Rheinland‘“ von Georg von
Schnitzler, von Schmitt handschriftlich mit dem Datum Dez. 1918 versehen. Schnitzler plädiert
darin nach einer Lagebeschreibung des Deutschen Reiches für die Bildung eines republikanisch
verfassten Staates „Rheinland“.
489 Nicht ermittelt.

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August 1922 131

gültig. Ich fragte viel nach seiner Frau. Sagte ihm, dass ich mich von meiner Frau trennen
werde. Müde zum Bürgerverein, schlecht gegessen, teurer Wein; ich bezahlte fast 500 Mark.
Dann holten wir seinen Koffer. Er fuhr nach Köln, 1/2 4. Vergaß, ihm den Tardieu zu
geben. Traurig nach Hause. Unterwegs begegneten mir die beiden Irländerinnen, ich be-
merkte sie aber zu spät; war auch zu müde. Zu Hause geschlafen, verzweifelt, aufgelöst,
dem Irrsinn nahe. Um 1/2 6 an K. geschrieben (Brief 16) 490, müde, traurig, verzweifelt.
Where should we go491. Dann zur Pension, gegessen, sehr nett mit den beiden Irländerinnen
gesprochen; sah sie nachher wieder auf der Straße. Sie sind aus Belfast, Töchter eines
Pastors, der bei den Engländern am Rhein war. Weiße Haut, verständig und freundlich. Ich
machte noch meine Tour zur Bahn (an Eisler, André und an K., Bericht über die Mosel-
reise), dann bei ruhigem Abend ruhig nach Hause.
Meine Verzweiflung von heute Nachmittag war nur die Folge des Weins. Ich darf mittags
keinen Wein mehr trinken. Ich werde Physiologist. Aber welche Verzweiflung, welche Ent-
fernung von Gott.

Montag, 21. 8. 22
Bis 9 geschlafen, also sehr wohl, großartig; wie ich sofort geheilt bin, wenn ich ausgeschla-
fen habe. Frühstückte behaglich, leider gestört durch den Gedanken an meine Frau in Mün-
chen. Um 11 Uhr zur Stadt. Tardieu an Schnitzler geschickt, die Luminaltabletten beim
Apotheker geholt (die Ausfuhrbewilligung ist gekommen), beim Kurator, der sehr freund-
lich war und mir Aussichten auf Geld machte.492 Alles machte mich sehr fröhlich. Großer

490 Siehe Teil III, S. 388.


491 Siehe Anm. 96.
492 Kurator Geh. Oberregierungsrat Johann Norrenberg (1864–1931) bezog sich auf Schmitts Eingabe
gegen die Einstellung der sog. Besetzungszulage, siehe Eintragung vom 8. Juli.
Anhand der überlieferten Ministerialakten hatte die Eingabe folgenden Wortlaut: „… Seit meiner
Ankunft wurde mir vom hiesigen Wohnungsamt bestätigt, daß ich auf absehbare Zeit keine Woh-
nung zugewiesen erhalten könne. Ich war daher gezwungen, meine Wohnung in München beizu-
behalten und einen doppelten Haushalt zu führen, d. h. hier in Bonn in 2 möblierten Zimmern und
in einer Pension zu leben, während meine Frau in München wohnte. Der Unterhalt in Bonn ist
nicht etwa billiger geworden dadurch, daß ich als Einzelner hier leben mußte, vielmehr sind gerade
mit dieser Art Lebensführung besonders hohe Ausgaben verbunden. Wenn ich versuchen wollte,
meine Möbel von München kommen zu lassen, so müßte ich sie hier bei einem Spediteur unterstel-
len und für das Lagergeld soviel bezahlen, wie für die Miete in München. Alle Gesichtspunkte, die
für eine Besatzungszulage in Betracht kommen, treffen daher für mich infolge der Notwendigkeit
eines getrennten Haushalts in erhöhtem Maße zu. Ich bin bereit, eine spezifische Rechung darüber
zu legen, wie teuer meine jetzige Lebensführung für mich ist und wieviele Sonderausgaben im Ver-
gleich mit den Ausgaben eines geregelten Haushaltes ich hier habe. Bei meiner Berufung nach Bonn
ist die Besatzungszulage als selbstverständlich vorausgesetzt worden. In Greifswald, wo ich im
vorigen Semester ebenfalls in getrenntem Haushalt lebte, betrugen die Kosten des Lebensunterhalts
noch nicht die Hälfte der Kosten im besetzten Gebiet. Ich möchte daher den ergebenen Antrag
stellen, mir mit Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse des vorliegenden Falles trotz der Ent-
schädigung für meine doppelte Haushaltsführung und neben dieser die Besatzungszulage weiterhin
zu gewähren.“

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132 Teil I. Tagebuch August 1921 bis August 1922

Umzug der katholischen Farben tragenden Verbindungen, was mich an K. erinnerte und in
Freude an solchen Dingen (mittags gingen die Irländerinnen früher vom Essen weg, was
mir leid tat). Ich sprach nach dem Essen einen Franzosen, der mit uns isst, Jean Beau, an
und zeigte ihm die Universität, lud ihn zum Kaffee ein auf der Terrasse des Fürstenhofes;
ein reizender, freundlicher, ruhiger Junge, der nach St. Cyr 493 gehen will. Begleitete ihn
dann nach Hause, um 4 Uhr; sehr nett auf französisch unterhalten. Dann unruhig zu
Schmitz gelaufen. Mit ihm wieder Kaffee bei Rittershaus. Die Kinder von Partsch getroffen,
mit ihnen dummerweise für morgen verabredet. Sie schmeichelten mir sehr, besonders
Marianne. Kaufte für Schmitz eine Schachtel Praliné für 100 Mark. Dann nach Hause. Beim
Essen sehr nett mit den Irländerinnen, für morgen Vormittag verabredet, dass ich ihnen die
Universität zeige, was ihnen gefiel und mir große Freude machte. Selig nach Hause. Zu
Kaufmann; dumm geschwätzt, den ganzen Abend. Er erzählte davon, wie er die Bekannt-
schaft seiner Frau gemacht hat. Um 1/2 12 gleichgültig und gelangweilt nach Hause. Heim-
liche Angst vor diesen Menschen, besonders den Frauen. Habe an Pichler‚ Fuchs, Jung, die
Mutter [von K. Murray], geschrieben.
Aber selig den ganzen Abend beim Gedanken, mit den beiden Irländerinnen morgen am
Vormittag zur Universität zu gehen. Das also ist mein Lebensglück. Die Erwartung macht
mich glücklich und überlegen; eine weiche, schmeichlerische, süße Stimmung.

Durch Erlass vom 31.8. 1922 wurde die Aufhebung zurückgenommen und bei der Gehaltszahlung
berücksichtigt. Akten des preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung,
GStA, I. HA, Rep. 76Va, Sek. 3, Tit. IV, Nr.38, Bd. IX, Bl. 476. Schmitt bekam anlässlich des Wech-
sels nach Bonn dasselbe Grundgehalt wie in Greifswald (52.000 M bei gleichem Ortszuschlag, zzgl.
Kolleggeldgarantie von 12.000 M); Smend erhielt beim Wechsel nach Berlin zur gleichen Zeit ein
Grundgehalt von 87.000 M.
493 St. Cyr, 1802 von Napoleon gegründete Offiziersschule des französischen Heeres.

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Teil II

Tagebuch 1923 und 1924

Bearbeitet von Wolfgang H. Spindler

Auch dieses Tagebuch ist in Gabelsberger Stenographie verfasst und liegt als Kladde mit fester Decke
im Umfang von insgesamt 90 Seiten vor, blattweise vom Autor paginiert, im Format 16,5 × 20,7 cm.
Die stenographischen Notate insgesamt umfassen die Zeit von Januar 1923 bis August 1929. Die in
diesem Teil abgedruckten Eintragungen von 1923 sind auf 22 Blättern geschrieben, die von 1924 auf
10 Blättern. Nachlass Schmitt RW 265-21638.

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1923

[Am oberen Rand] 7. 1. 23 Salin/Feuchtwanger

Montag, 1. 1. 1923 [in Bonn]


Die erste Nacht des Jahres bei Lo1, ich küsste ihren Leib, tierisch, spürte das Gegenglied,
wunderbar. Bis morgens um 7 Uhr, dann aufgestanden und in ihrem Zimmer angezogen.
Wir frühstückten zusammen, bezahlte die Rechnung. Um 9. 20 mit dem Zug nach Mün-
chen, der große Verspätung hatte, vorher noch vor dem Bahnhof zer[stritten]. Im Zug mit
einer Artistin, die mich an Carita2 erinnerte, las ihr etwas von meinem Aufsatz über
Katholizismus vor. Im Speisewagen schön gegessen, L. war lustig, mädchenhaft. Vor Mün-
chen schwere Depression. Um 1/2 4 am Bahnhof verabschiedet. Ich war vernichtet. In einer
Pferdedroschke zu Feuchtwanger 3. Etwas ausgeruht. Freundlich unterhalten, wieder befreit
(glücklich befreit zu sein). Mit <…> (glücklich, ihr etwas schenken zu können) zum Schau-
spielhaus. Teure Karten für Lumpazivagabundus 4, sie lachte ordinär. Ich bin sie leid, aber
ich klebe an ihr. Sie merkte, dass ich wegeilte. Schreckliche Szene auf der Straße. Ich beglei-
tete sie schweigend bis zum Stachus 5 und weiter, endlich sprach sie, es löste sich allmählich,
wir gingen noch zum Park-Hotel 6, dort wurde mir besser und die übliche Versöhnung.

1 Lo, auch L.: Ella Carola Sauer (1895–1979), Dr. med., genannt Lola, später verheiratete Braune (ver-
mutlich Ende der 1930er Jahre von dem Rechtsanwalt Erwin Braune geschieden), geb. 26.10. 1895 in
Hamburg, womöglich baltischer Herkunft (s. Eintragung vom 30.1. 1923), gest. 13. 1.1979 in Berlin,
Schwester von Max Sauer aus dem Umkreis Georg Eislers (vgl. Eintragung vom 15. 1.1923), 1922 in
München promoviert mit einer Arbeit „Über einen Fall von Rankenneurom des Oberlides“, Ärztin
in der Röntgenabteilung der Universitäts-Poliklinik München (s. Eintragung vom 4. 1.1923), bis
1929 wohnhaft in München, Landwehrstraße 16. Ab 1930 als Allgemeinärztin/Praktische Ärztin
niedergelassen in Berlin, zumindest bis 1943 wohnhaft in Schöneberg, Speyerer Straße 26, ab 1946
Sybelstraße 66, Charlottenburg 4. Es existiert eine Art Abschiedsbrief an Schmitt vom 11. 7. 1973
(RW 265-2002). Vgl. Mehring, Aufstieg und Fall, S. 620, Anm. 17.
2 Paulina Carita Maria Isabella Dorotić (1883–1968), genannt „Cari“, von 1915 bis 1924 Schmitts Ehe-
frau (s. auch Teil I, Anm. 8); vgl. TB I, S. VIII; TB II, S. 18 sowie Mehring, Aufstieg und Fall, S. 620,
Anm. 14), ab 1931 in Bremerhaven wiederverheiratet.
3 Die Münchener Geschäftsstelle, die Schmitt aufgesucht haben dürfte, lag in der Theresienhöhe 3c;
Feuchtwangers Privatadresse war Kurfürstenplatz 2.
4 Der böse Geist Lumpazivagabundus oder Das liederliche Kleeblatt, Posse von Johann Nestroy
(1801–1862), Uraufführung Wien 1833, siehe auch Teil I, Anm. 98.
5 Volkstümlicher Name für den Münchener Karlsplatz.
6 Park-Hotel Joseph Lex, Maximiliansplatz 21.

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Januar 1923 135

Dienstag, 2. 1. 1923
Morgens spät auf, Schraudolphstraße 7 vorbei, gerührt von der Frau 8, die mir in einem
armen Leinenkittelchen entgegentrat. Und ich Schuft schmeiße das Geld heraus für eine
Hure. Überbrachte Geibel das Diplom 9, dann Geld gewechselt, mit Feuchtwanger zu Mit-
tag gegessen, in Lackschuhen und Cut ihn begleitet, um 4. 20 auf Lo gewartet, die ihre
Schwägerin zum Hamburger Zug brachte. Ich freute mich, sie so einsam zu sehen, traf sie,
sie fror, wir kauften Zigaretten, gingen in die Excelsiordiele10, Horoskop von der Tochter
von Feuchtwanger. Immer nur von sich selbst kann sie sprechen. Dann ins Deutsche
Theater11. Eine russische Pantomime, die ihr gut gefiel, was mich nervös machte, aber im
ganzen freundlich miteinander. Sie ärgerte sich, dass ich romanische Frauen so rühme,
schimpfte herum, entrüstete sich, wir gingen noch in die Diele des Regina-Hotels12. Spät
nach Hause.

Mittwoch, 3. 1. 23
Morgens wieder Schraudolphstraße, die goldene Uhr 13 ist nicht da. Trotzdem gerührt von
Carita, die Zimmer vermietet, an eine Medizinerin! Traf nachher auf der Straße Dr. H.14,
begleitete ihn zur Staatsbibliothek, kaufte <…> Bücher, aß bei Geibel zu Mittag, sehr
schön, schöner Kaffee, nachher (sein Bruder, der Konsul aus Nizza15, war dabei); traf L.
um 5 in der Excelsiordiele, von da zu Benz16, aber wieder umgekehrt, in die Bar der Vier
Jahreszeiten17, sprachen über katholische Schwestern, ich war nahe daran, wieder einmal
einen Vorwand zu haben, um zu explodieren, doch ging es noch leidlich gut.

7 Schraudolphstraße 5, Schmitts Münchener Wohnung vom 1. Mai 1915 bis Herbst 1921; Cari blieb
dort bis Anfang 1923 – laut Adressbuch der Stadt München unangemeldet – wohnen.
8 Gemeint ist Cari (s. Anm. 2).
9 Carl Stephan Albert Geibel (1884–?), Dr. iur. h. c., 1910–1938 Alleininhaber des Verlags Duncker &
Humblot, griechischer Generalkonsul. Mit dem Diplom muss die Urkunde eines an dessen Vater,
Stephan Franz Carl Geibel (1842–1910), verliehenen Ehrendoktorats der Juristischen Fakultät Leip-
zig (1902) gemeint sein; vgl. Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 28.
10 Excelsior-Bahnhotel, Schützenstraße 5.
11 Das Deutsche Theater in der Schwanthalerstraße 13 entwickelte sich 1920–1935 unter der Leitung
des Sachsen Hans Gruß (1883–1959) zum Aufführungsort opulenter Ausstattungsrevuen und frivo-
ler Varieté-, Tanz- und Showauftritte.
12 Regina Palast Hotel, Maximiliansplatz 5.
13 Es handelt sich um jene Uhr, die Fritz Eisler vor seinem Kriegseinsatz in Frankreich 1914 bei
Schmitt deponiert hatte. In seinem Brief vom 13.1. 1923 (RW 265-3140) wird Georg Eisler vorschla-
gen, die Uhr seines gefallenen Bruders zurückzukaufen.
14 Otto Hartig (1876–1945), Dr. phil., Historiker und Bibliothekar, ab 1905 an der Staatsbibliothek
München, 1929 Oberbibliotheksrat, 1935 als überzeugter Katholik aus politischen Gründen an die
Staatliche Bibliothek nach Bamberg versetzt.
15 Otto Carl Alexander Geibel (1874–?), Konsul in San Remo.
16 Nicht ermittelt.
17 Hotel Vier Jahreszeiten, Maximilianstraße 4.

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136 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Donnerstag, 4. 1. 23
Wir trafen uns mittags mit dem Bild bei Fahrig 18, dann nahm mich L. mit in die Poliklinik,
beinahe wäre ich wieder weggelaufen. Sah sie in dem Röntgenzimmer, sie machte mir den
Eindruck einer sehr tüchtigen Frau. Sie sagte: Eine kluge Frau hätte dir das nicht gezeigt.
Dann versuchten wir vergebens Billetts für Rigoletto zu bekommen. Gingen abends zu
Fräulein Julie19, die B[ergner] 20 spielte großartig. Wir waren erschüttert, [wütend] weil L.
die eine junge Nutte <? > so reizend fand, beinahe wieder weggelaufen, nahe daran, aber
immer in letzter Sekunde geblieben. Seltsamer Zwang, Angst wegen des vielen Geldaus-
gebens. Schließlich im Parkhotel, erst große Szene, allmählich ruhig und versöhnt. Erzählte
ihr einen Ausspruch der Österreicherin21: Ein Mann, dem es gut geht, ist fad.

Freitag, 5. 1. 23
Wir frühstückten im Excelsiorhotel, wunderschön, sie fraß Rühreier, rauchte Zigaretten
usw. Um 9. 30 fuhr ich nach Tölz 2. Klasse. Fast immer geschlafen im Zug. Am Bahnhof
beinahe wieder umgekehrt, weil niemand mich abholte. Der Hauptmann Müller 22 kam mir
entgegen. Herzlich begrüßt bei Krause, Frau Krause 23, die Tochter 24, Dr. Lurz, ein lieber
Regierungsrat25; nachher kam Krause 26, der krank war. Wir aßen zu Mittag, schwätzten den
ganzen Nachmittag, tranken schön Kaffee. Ich war immer im Hause. Abends natürlich
Horoskop. Wunderschön über das Horoskop von Krause, bis 3 Uhr! Todmüde ins Bett,
will morgen [früh] aufstehen.

Samstag, 6. 1. 23
Todmüde um 1/2 8 auf, ganz allein, zur Bahn gegangen, Sehnsucht nach L. 2. Klasse geschla-
fen. Um 1/2 11 in München, meine Kragen von der Wäscherei geholt, dann zu Feuchtwan-
ger, Feuchtwanger gab mir 30.000 Mark, der gute Kerl. Etwas ausgeruht. Mittags um 2
L. im Hotel fertig, zu Mittag gegessen, beinahe wieder Krach, weil sie erzählte, dass der
Brand des Klinikums27 auf klerikale Brandstifter zurückgeführt wird. Dann zu Fräulein
May (es ist Feiertag), ein armes, aber offenbar von viel Begierde und Machtgelüsten gequäl-
tes Malweib. Wir bewunderten das Projekt von L., ich deutete das Horoskop von Fräulein
May, L. hatte mich lieb, sie küsste mich im Flur des Hauses plötzlich. Dann um 1/2 6 ins

18 Hotel Fahrig (nach dem Inhaber Franz Fahrig), Neuhauserstraße 40.


19 Trauerspiel von August Strindberg (1849–1912), 1889 uraufgeführt.
20 Elisabeth Bergner (1897–1986), Schauspielerin, gastierte in den frühen 1920er Jahren an den Mün-
chener Kammerspielen und am Staatstheater.
21 Gemeint ist Cari.
22 Nicht ermittelt.
23 Elise Krause, geb. Ramspeck.
24 Entgegen Piet Tommissen, Carl Schmitt. Eine Tischrede (1938), in: Schmittiana V 1996, S. 9–12, 9,
hatte das Ehepaar Krause sehr wohl eine Tochter, Liselotte, genannt Lisa.
25 Bezirksamtvorstand Dr. Raimund Lurz, Regierungsrat, vormals ständiger Vertreter des Amtsanwal-
tes beim Amtsgericht in Greding (Mittelfranken), 1925 Oberregierungsrat.
26 Georg Krause (s. Teil I, Anm. 271).
27 Die Münchener Neuesten Nachrichten, Jg. 76, Ausgaben 2.–10.1. 1923, berichten ebenso wenig von
diesem Vorfall wie die Jahrbücher der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Januar 1923 137

Continental28, wunderschön, sie war glücklich über die Vornehmheit des Hotels. Wir aßen
schön zu Abend, unterhielten uns schön, ich beschloss, noch einen Tag zu bleiben. Ich
Dummerjan. Aber ich war selig, dass diese Frau endlich zufrieden war. Dabei sprach sie
immer von sich oder ihrem Horoskop. Kein anderes Gespräch ist möglich.

Sonntag, 7. 1. 23
Morgens um 10 im Excelsiorhotel gut gefrühstückt, Mokka, Rühreier usw. Dann noch
geplaudert, sie wollte nicht in die Poliklinik, nicht in die Kirche, sie sagte mir, dass sie mich
nicht liebe, dass einmal [Ansätze] da waren, dass ich sie immer wieder zerrede. Es ist eigent-
lich zu dumm. Dann fuhr ich nach Hause, aß mit Feuchtwanger und Salin29 zu Mittag, plau-
derte nett, aber geistesabwesend, ruhte etwas aus, aber nicht genug, um 1/2 5 L. am Hofgar-
tentor, wir gingen einen Augenblick spazieren, ihr gefällt diese Stunde nicht (dass sie mir
gefällt, ist ihr ganz gleichgültig), dann in die Pyramide 30 Kaffeetrinken, sie sprach davon,
wie viele Männer sie zu Liebhabern haben kann, wenn sie will, immer nur von sich, von
sich, zum Verzweifeln, aber ich bin glücklich, wenn es keinen Krach gibt. Dann ins Conti-
nental, teuer gegessen, teurer Wein (Chambertin), nachher war ich erregt; als sie dann noch
davon sprach, dass sie den Fisch einfange 31 und sie sich auf den Ball freue, den Bauernball,
von bal paré sprach, wurde es mir zuviel. Wir gingen also, wieder war ich wütend. Ich sprach
nicht, sah sie schweigend an, schimpfte über mich, wir gingen über den Stachus (ihr Tritt
ist scheußlich), begleitete sie in die Landwehrstraße 32, dort sagte sie mir: Ich bin morgen um
7 Uhr am Bahnhof. In großer Aufregung fuhr ich nach Hause, konnte nicht schlafen, die
ganze Nacht nicht schlafen, entsetzlich. Überlegt, sie morgen nicht zu treffen, Wutanfall,
Trotz, welche Gemeinheit, welche Taktlosigkeit, mir so etwas in der Abschiedsstunde zu
sagen. So verging die Nacht. Furchtbar.

Montag, 8. 1. 23
Um 6 auf, Herzkrampf, nicht ausgeschlafen, dann zum Bahnhof, Billett geholt usw., L. kam
prompt um 7 Uhr, wir frühstückten zusammen, ich entschloss mich, erst 8. 55 zu fahren, um
noch eine Stunde bei ihr zu sein. Wir unterhielten uns, sie sagte, sie habe die Nacht nicht
geschlafen, den Teufel in meinen Augen gesehen, war freundlich, und als sie die Hand auf
meinen Arm legte, war ich wieder ganz beruhigt und ihr ausgeliefert. Kaufte ihr teure Ziga-
retten, sie qualmte, sie brachte mich an den Zug, war freundlich und gütig, sagte, sie schreibe
nicht soviel, damit ich nicht meine, sie wolle mich heiraten. Ich steckte alles ein. Die ganze
Reise stumpfsinnig im Zug, fast immer gelegen, in Frankfurt erzählten etliche Fleischindus-
trielle von München, den Bal parés usw., schließlich von ihrer Soldatenzeit, das Gefühl
schrecklicher Katastrophen. In Beuel ausgestiegen, glücklich beruhigt, den Rhein zu sehen,

28 Gasthof Continental, München, Ottostraße 6 und Max-Joseph-Str. 1a.


29 Edgar Salin (1892–1974), Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, bis Anfang der 1920er Jahre dem
Stefan-George-Kreis zugehörig, 1924 ao. Prof. am Institut für Sozial- und Staatswissenschaften der
Universität Heidelberg, 1927 o. Prof. in Basel. Salin hat sich 1964 äußerst abfällig über Schmitt
geäußert; vgl. dazu Tommissen, Bausteine zu einer wissenschaftlichen Biographie (Periode: 1888–
1933), in: Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum, S. 71–100, 82.
30 Weinrestaurant und Bar „Die Pyramide“, München.
31 Siehe Eintragung vom 9.1. 1923.
32 In der Landwehrstraße 16 befand sich Lolas Wohnung (s. Anm. 1).

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138 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

im Lande meiner Väter. Alles ist beruhigend. Kaufmann rief des Abends an, ich verabredete
mich für morgen Abend. Viele Briefe, rührender Brief von K. und ihren irischen Freunden.

Dienstag, 9. 1. 23
Gut ausgeschlafen, aber noch nicht genug. Anstrengende zwei Stunden. Zu meiner großen
Freude und Rührung war ein schöner Brief von L. da, den sie Montag morgens um 6 ge-
schrieben hat. „Mein armer lieber Fisch“ nennt sie mich. Ich telegraphierte vor Glück und
Dankbarkeit und schrieb ihr einen schönen Brief. Hielt meine Vorlesung, todmüde beim
Essen, wobei ich einen erschreckenden Eindruck machte. Mit Vormfelde nach Casselsruh33,
er erzählte von seinem Abenteuer im Harz mit Nina34, die in Marburg Medizin studiert hat,
unheimlich, und die er in der Silvesternacht nach gutem Glauben konfirmiert hat, wobei sie
nicht einmal seinen Namen weiß. Der Spaziergang tat mir gut, abends Seminar, schlechte
Vorbereitung von Klein35, dann zu Kaufmann, dessen entsetzlich hässliche Mutter. Wir
sprachen über dienstliche Dinge. Ich ging schon um 1/2 11, trank noch Bier bei Kieffer,
dann müde nach Hause.

Mittwoch, 10. 1. 23
Spät auf, wunderbarer Kaffee, den die Generalin kochte, schöne Vorlesung, Brief an Feucht-
wanger, an L. wegen des £, überwies ihr 30.000 Mark. Nachmittags wieder mit Vormfelde,
Atemübungen, ich erhole mich sehr schnell, besah Bild von K. und war gerührt. Sie ist edler
und schöner als L. Nachmittags sehr einsam für mich. Tief bedrückt von meiner unentrinn-
baren Einsamkeit. Abends Vorlesung „Politische Idee“36, über Diktatur, ergreifend. Mit
Braubach nach Hause, er aß bei mir in der Pension, todmüde um 11 zu Bett.

Dienstag, 11. 1. 23
Brief vom Konsulat Zagreb37. Schönes Frühstück, Schmitz38 kam und begleitete mich. Gute
Vorlesung, nachher mit Zitelmann über den Begriff der Sicherheit <?>. Nach dem Essen
wieder mit Vormfelde nach Casselsruh; eine großartige Erholung. Er erzählte von seinen
Erfolgen bei den Frauen, ich regte mich auf, im Seminar einiges erledigt. Abends große
Unruhe wegen der Besetzung Essens 39. Gefühl des Verderbens. Zu Kaufmann, der aber
nicht mitging. Honig 40 bei ihm. Gab ihm die Bogen des Aufsatzes über den Katholizismus.
Müde nach Hause, nichts getan.

33 Beliebter Ausflugsort auf dem Bonner Venusberg.


34 Nicht ermittelt.
35 Nicht ermittelter Student, der sich mit dem Gedanken trug, über das Staat-Kirche-Verhältnis
(Art. 137 WRV) eine Doktorarbeit zu schreiben; s. Eintragung vom 1. 6. 1923.
36 Siehe Teil III, S. 393–400, 495, 510.
37 Schmitt bemühte sich, Caris wahre Herkunft zu erkunden; s. Eintragung vom 3. 7. 1922.
38 (Franz) Arnold Schmitz (s. Teil I, Anm. 424).
39 Die französischen Truppen besetzten die Stadt Essen, um die im Versailler Friedensvertrag fest-
gelegten Reparationen und Sachlieferungen einzutreiben. Die Titelschlagzeile der Münchener Neues-
ten Nachrichten vom Tage lautet: „Frankreich rückt in das Ruhrgebiet ein“. Die Auswirkungen
erstreckten sich auf das ganze Reich; so vermeldet bereits die Ausgabe vom 12.1.1923 eine generell
angeordnete „Einschränkung der Lustbarkeiten“. Vgl. zum Ganzen Paul Wentzke, Ruhrkampf. Ein-
bruch und Abwehr im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, 2 Bände, Berlin 1930/1932.

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Januar 1923 139

[Am oberen Rand der Seite mit Pfeil von unten] Gurian

Freitag, 12. 1. 23
2 Stunden Vorlesung, müde heruntergeschleppt, mit Vormfelde bei Rittershaus, viel geges-
sen, zu Hause ausgeruht. Gurian41 kam um 3 Uhr, begleitete mich, traf Neuß, sprach tele-
phonisch mit Schneider 42 über das Buch von Schmitz 43. Abends nach dem Essen mit Vorm-
felde und Schmitz 44 bei Kieffer Bier getrunken, über Kurse, Politik usw. Eine seltsame
Unterhaltung. Es tat mir aber gut, Bier zu trinken.

Samstag, 13. 1. 23
Etwas früher auf, verabredet mit Vormfelde, Verkauf 45 <?>, zu Aschaffenburg 46 nach Köln,
herrliche Reise, traf ihn nicht in seiner Wohnung, nur die freundliche Frau, sein Kind
begleitete mich in die Klinik, er war liebenswürdig, zeigte mir die Klinik, lernte den
Dr. Schneider kennen, seinen Oberarzt 47, sprach von L. Es ist nicht aussichtslos.48 Blieb
Mittag zum Essen da, bis 1/2 3, müde und benommen schließlich nach Hause zurück 49. Was
soll das alles? Freundlicher Mensch, aber ohne jede Bodenständigkeit, ohne Wurzel, Juden,
gebildete Juden. Zu Hause müde. Konto Lo gerechnet, 333.000 Mark! Das wirkte aufregend
und ernüchternd. Abends sagte mir Frau v. Wandel, dass die Franzosen hier waren, um die

40 Richard Martin Honig (1890–1981), Straf- und Kirchenrechtler, Rechtsphilosoph, im WS 1922/23


Lehrbeauftragter für Kriminalistik in Bonn, 1925 nb. ao. Prof. in Göttingen, 1931 o. Prof. ebd.,
1933 in Istanbul, 1939 Emigration in die USA, 1952 emeritiert, ab 1954 mehrere Vorlesungen und
Seminare in Göttingen, 1974 endgültige Rückkehr. Vgl. auch David Christopher Weiglin, Richard
Martin Honig (1890–1981) – Leben und Frühwerk eines deutschen Juristen jüdischer Herkunft.
Zugleich ein Beitrag zur Entwicklung der modernen Lehre von der objektiven Zurechnung, Baden-
Baden u. a. 2011, S. 19–39.
41 Waldemar Gurian (1902–1954), Dr. phil., Politikwissenschaftler und Publizist jüdisch-armenischer
Herkunft, 1911 mit seiner Mutter nach Deutschland (Berlin) ausgewandert, 1914 katholisch getauft,
Schüler Max Schelers, Redakteur der Kölnischen Volkszeitung, 1934 Emigration in die Schweiz, von
da aus heftige Angriffe auf Schmitt („Kronjurist des Dritten Reiches“) im Wochenblatt „Deutsche
Briefe“, 1937 Auswanderung in die USA, ab 1943 Prof. an der katholischen Universität Indiana. Vgl.
Waldemar Gurian/Otto Michael Knab, Deutsche Briefe 1934–1938. Ein Blatt der katholischen Emi-
gration, bearbeitet von Heinz Hürten, Bd. 1: 1934–1935, Mainz 1969; Ellen Thümmler, Katholischer
Publizist und amerikanischer Politikwissenschaftler. Eine intellektuelle Biographie Waldemar Guri-
ans, Baden-Baden 2011; dies./Mehring (Hrsg.), BW Gurian – Schmitt, S. 59–111.
42 Möglicherweise Felix Schneider (1873–?), Chemiker (Dr. phil.), bei Schmitt 1925 zum Dr. iur. pro-
moviert mit einer Arbeit über „Die deutschen Kolonien unter den Mandatsbestimmungen des Ver-
sailler Friedensvertrages. Eine völkerrechtliche Rechtsdarstellung“; vgl. Mehring, Aufstieg und Fall,
S. 626 Anm. 106.
43 Vermutlich Oscar Adolf Hermann Schmitz, Der Geist der Astrologie, München 1922 (s. Anm. 127).
44 Gemeint ist Arnold Schmitz.
45 Vermutlich von Aktien.
46 Vgl. Brief an Lola Sauer vom 19. 1. 1923, in: Teil III, S. 432 f.
47 Kurt Schneider (1887–1967), Dr. med., Dr. phil. (bei Max Scheler), bedeutender Psychiater und Psy-
chopathologe.
48 Schmitt bemühte sich bei Aschaffenburg um eine Anstellung Lolas.
49 Siehe Anm. 46.

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140 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Wohnung zu beschlagnahmen. Sie habe gesagt, ich sei verheiratet. Große Angst.50 Sehn-
süchtig an K. gedacht, die mich retten würde. Kein Brief den ganzen Tag. Führte Tagebuch,
kroch in mich zurück.

Sonntag, 14. 1. 23
Wunderschönes Frühstück, herrlicher Kaffee. Was abhängt von solchen Dingen. Karte von
Pichler aus Greifswald, sonst nichts. Kleine Kuratssitzung wegen Crome bei Landsberg 51,
hörte, dass die Franzosen die Universität inzwischen schlecht behandeln und vielleicht
schließen. Also wäre ich dann der Nahrungssorgen enthoben. Mit Göppert und Kaufmann
etwas gegangen. Gleichgültig. Unentrinnbare Einsamkeit. Bei Schmitz vorbei, der gute
Kerl. Nach dem Essen nach Godesberg mit Vormfelde, durch den Kessenicher Forst zu-
rück, viel Kuchen zum Kaffee. Der Spaziergang tat mir gut. Kam nicht dazu, an L. zu
schreiben. Das war vielleicht gut. Zu Hause geschlafen, traurig, müde. Oft spüre ich den
Flügelschlag des Irrsinns. Nach dem Essen Brief an Lamberts 52 und Karte an Koellreutter 53
zur Bahn (morgen Porto-Erhöhung 54), dann etwas gelesen. Manchester Guardian; bei der
Lektüre der englischen Bücher wieder an K. gedacht. Welche Untreue habe ich gegen sie
begangen. Besah ihre Bilder. Wieviel schöner ist sie als L., wieviel gescheiter, klüger. Ich
schämte mich bis zur Vernichtung, ich bin ein elender Schurke.

Montag, 15. 1. 23
Gierig, munter und frisch, gesund. Eine Karte von Professor Giese55 aus Frankfurt, der mir
einen Sonderdruck zuschicken und von mir eine Empfehlung für Duncker & Humblot
haben will. Das stärkt mein Selbstbewusstsein. Frühstückte behaglich, las mit Selbstgefühl
meine Politische Theologie, um 11 tönt die Sirene für den Protest gegen die Besetzung des
Ruhrgebiets56, ich blieb bis etwas vor 1/2 12 zu Hause, hielt meine Vorlesung, sehr nett,

50 Bonn gehörte während der Rheinlandbesetzung nach dem Abzug der Briten zum französisch ver-
walteten Teil mit dem Recht der Truppen zur Einquartierung, zu Requisitionen usw.
51 Bonn, Humboldtstraße 14.
52 Vermutlich Arthur Lamberts (1852–?), Unternehmer aus München-Gladbach, Inhaber der Papier-
fabrik Westigerbach (s. auch Teil I, Anm. 274); vgl. auch Die Verortung des Politischen. Carl
Schmitt in Plettenberg. Hrsg. von der Stadt Plettenberg mit Unterstützung des Nordrhein-Westfäli-
schen Hauptstaatsarchivs Düsseldorf. Bearbeitet von Ingeborg Villinger, Hagen 1990, S. 9.
53 Otto Koellreutter (1883–1972), Staats- und Verwaltungsrechtler, „lebenslanger freund-feindlicher
Gefährte“ Schmitts (Mehring, Aufstieg und Fall, S. 119). 1918 ao. Prof. in Freiburg i. Br., 1920 in
Halle, 1921 o. Prof. in Jena, 1933 in München, von da an bis gegen Ende des 2. Weltkriegs entschie-
dener Befürworter des NS-Staates, 1938–1939 Japan-Aufenthalt, 1952 emeritiert. Vgl. Jörg Schmidt,
Otto Koellreutter 1883–1972. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit, Frankfurt am Main u. a. 1995.
54 Die Inflation im Deutschen Reich verdeutlicht Dieter Petzina, Die deutsche Wirtschaft in der Zwi-
schenkriegszeit, Wiesbaden 1977, S. 82, am Index der Großhandelspreise: 1913: 100, 1915: 145,
1918: 230, 1919: 493, 1920: 1498, 1921: 2067, 1922: 28700, 1923: 2,4 Mrd., 1924: 142.
55 Friedrich Giese (1882–1958), Staats- und Verwaltungsrechtler, 1911 Lehraufträge in Bonn und
Greifswald, 1912 ao. Prof. an der Königl. Akademie in Posen, 1914–1946 o. Prof. in Frank-
furt/Main, ab 1947 Gastprof.
56 Zur Besetzung des Ruhrgebietes s. Einführung; vgl. Klaus Schwabe (Hrsg.), Die Ruhrkrise 1923.
Wendepunkt der internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, Paderborn 1984; Gerd
Krumreich/Joachim Schröder (Hrsg.), Der Schatten des Weltkriegs: Die Ruhrbesetzung, Essen

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Januar 1923 141

nachher zur Bibliothek, viele Bücher, Hensel usw. Von Schmitz57 begleitet nach Hause.
Nach dem Essen mit Vormfelde bei Rittershaus, kaufte Niedersachsen Kali 58 und 3 Teich-
gr[äber]59. Zu Hause ausgeruht und geschlafen. Eine Tafel Schokolade gegessen, ziemlich
sicher und selbstbewusst, an L. nicht geschrieben, es ging gut vorüber. Ein Brief 60 von
Georg Eisler, er hat sich mit dem Bruder Max 61 von L. für Sonnabend verabredet. Dann hat
Frau Müller-Hartmann62 angefragt, ob L. meine Braut sei, und war beruhigt, als er es ver-
neinte. Das gefiel mir. Ich antwortete Georg gleich. Ein Student kam wegen des Doktor-
examens. Schrieb noch Brief an Pestalozza, dass er Berufung einlegen soll; 63 an Feuchtwan-
ger, Eisler und Pohl 64. Nach dem Essen brachte ich sie zur Bahn. Mit Vormfelde bei den
Kursen vorbei, unglaubliche Steigerungen, das £ 55.000 Mark. Etwas spazieren, selbst-
bewusst und stark. Zu Hause Vorlesung vorbereitet, es wurde ziemlich spät, Paket mit Rie-
manns Musikgeschichte 65, bezahlte an Georg Eisler, auch die Bücher von Rosenbaum 66 an
ihn geschickt. So wurde es 1/2 11. Allmählich regt sich wieder meine Sexualität. Dachte an
Freud67 <?>, freue mich meiner Gesundheit. Sah des Nachts <…> Geister, mit Regenschir-
men aufgespannt, dann einen Mann, der Fräulein Sauer eine Sektflasche gibt, sehr deutlich
<…>.

2004. Bemerkenswert auch die zeitgenössische Aufarbeitung der Ereignisse noch im Jahr 1923, etwa
Zum Ruhreinbruch. Tatsachen und Dokumente, Berlin 1923; Max Graf von Montgelas, Ursprung-
und Ziel des französischen Einbruchs in das Ruhrgebiet (Vortrag gehalten am 5. Februar 1923 in der
„Deutschen Gesellschaft“ in Berlin), Berlin 1923; Gerhardt Wächter, Französische Truppen am
Rhein, eine Gefahr für den Frieden Europas. Mit einem Aufsatz „La Justice militaire“ von G. E. R.
Gedye, Rhein- und Ruhrkorrespondent der Times London, Heidelberg 1926, Neudruck Nendeln
1976.
57 Arnold Schmitz besuchte gelegentlich die Vorlesungen Schmitts.
58 Im Kaliwerk Niedersachsen bei Celle-Wathlingen wurde von 1910 bis 1996 Kali gefördert.
59 Theodor Teichgraeber AG, Berlin. 1914–1932 Fabrikations- und Handelsgeschäft für Chemikalien
und damit zusammenhängende Geschäfte.
60 Brief Georg Eislers an Schmitt vom 13. 1.1923 (RW 265-3140).
61 Max Sauer, Lolas (s. Anm. 1) Bruder; s. Teil III, S. 434.
62 Elisabeth Müller-Hartmann (gest. 1981), geb. Asch, Ehefrau des Hamburger Komponisten und
Musikschriftstellers Robert Müller-Hartmann (1884–1950). Vgl. TB I, S. 281, und Teil III, S. 434.
63 Die „Berufung“ bezieht sich offenbar auf die Erklärung der (örtlichen) Nichtzuständigkeit des
Gerichts infolge des Umzugs Schmitts von München nach Bonn; s. Brief an Kathleen Murray vom
24. 2.1923, Teil III, S. 448 f.
64 Heinrich Pohl (1883–1931), Staats- und Völkerrechtler, nach dem Assessorexamen Febr.–Aug. 1909
für Rechtsanwalt Dr. Meyer in Bonn (s. Anm. 230) tätig, 1912 ao. Prof. in Greifswald, 1914–1919
Völkerrechtssachverständiger u. a. im Reichsmarineamt, 1919 o. Prof. in Rostock, 1920 in Tübingen,
1929 in Breslau.
65 Hugo Riemann, Handbuch der Musikgeschichte, 10. Aufl., Berlin 1922.
66 Eduard Rosenbaum (1887–1979), Dr. iur., Freund Schmitts aus der Referendarzeit, 1914 stellv. Syn-
dikus der Hamburger Handelskammer, 1919 Direktor der Hamburger Commerzbibliothek, 1928–
1933 Schriftleiter der Wochenschrift „Wochendienst“, 1934 Pensionierung und Emigration nach
England, Bibliothekar der London School of Economics and Political Science, nach Kriegsende
Rückkehr nach Deutschland und publizistische Tätigkeit. Zur äußerst wechselhaften Freundschaft
mit Schmitt vgl. Schmitt, Jugendbriefe, passim, sowie die Kurzportraits in: Tommissen, In Sachen
Carl Schmitt, S. 51 ff., und TB I, S. 404 f.
67 Sigmund Freud (1856–1939), österr. Neurologe, Begründer der Psychoanalyse.

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142 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Dienstag, 16. 1. 23
Die Nacht erkältet, gefrühstückt, etwas nervös, Brief von K., der rührend war. Ich hielt
meine 2 Stunden Vorlesung, die 2. über Streikrecht sehr gut. Mit Dr. Klein67a, der mir Dol-
lars anbot, nach Hause. Nach dem Essen mit Vormfelde bei Rittershaus, wir sprachen über
Kurse. Das £ 75.000! Ich ging noch etwas für mich allein, atmete, dann zu Hause ausgeruht,
es kam ein Student, dann Fräulein Esser 68 mit einem sehr schönen Briefpapier, ich ging mit
ihr, dann kaufte ich etwas Schokolade und Zigaretten (obwohl ich mit L. fertig zu sein
glaubte), dann Seminar, mit Vormfelde, über Devisenkurse. Schlechtes Referat, aber interes-
sante Diskussion. Mit Braubach etwas gesprochen, mit Vormfelde in die Pension. Nach
dem Essen allein zu Hause. Müde, etwas erkältet, die Nervosität der Zeit.

Mittwoch, 17. 1. 23
Behaglich, etwas erkältet auf, Frühstück, nette Vorlesung (im genau richtigen Augenblick
die Reichshaushaltsordnung), nachher mit Braubach usw. gesprochen, mit Dr. Klein zur
Darmstädter Bank 69. Kaufte ihm 2 Dollars ab, für 15.000 Mark und 10 Franken. Gab ihm
Palyi70. Nach dem Essen mit Vormfelde nach Casselsruh, wir sahen französische Soldaten
üben, rannte dann zum Examen, gab einem Kandidaten nicht ausreichend, dann zu Hause
ausgeruht, etwas gelesen, Pralinen gegessen, an L. gedacht, aber nicht geschrieben. Hielt
eine Vorlesung über den bourgeois, gut, nervös, dann mit Dr. Braubach gegessen in der
Pension, gut unterhalten, Vormfelde telephonierte, wir tranken zusammen mit Braubach bei
Kieffer Bier <…> bis 1/2 12. Noch lange mit Braubach zusammen in meiner Wohnung und
auf der Straße, er muss irgendwie unterkommen, die unglaublichen [Angst]zustände in
Deutschland, ich sehe wieder Banden durch Deutschland ziehen. Erwarte inzwischen, dass
L. sich an mich klammert. Wir werden sehen. Hatte Lust (nachdem Braubach mir gesagt
hatte, dass ich verliebt sei), an L. zu schreiben, dass ich mich als klein fühle. Der wunder-
schöne Satz in dem Brief des McKiernan71 an mich: she will just remain the Dr. Murray till
the End. Das £ 85.000.

67a Vermutlich Fritz Klein, Dr. iur., Privatgelehrter, Bonn, Konviktstraße 8.


68 Eine Studentin.
69 Die Darmstädter Bank für Handel und Industrie eröffnete in den Jahren der Inflation zahlreiche
Filialen. 1922 fusionierte sie mit der Nationalbank für Deutschland KG zur Darmstädter und
Nationalbank KG (Danat-Bank).
70 Vermutlich der Beitrag von Carl Schmitt, Soziologie des Souveränitätsbegriffes und politische
Theologie, in: Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber; s. Teil I, Anm. 191.
71 Bernard McKiernan (1875–1927), befreundeter irischer Priester der Diözese Maitland in Australien,
Vertrauter von Kathleen Murray, „a very cultured and scholarly man, with interests ranging from
patristics to anthropology, to the East to liturgy“ (Michael Sternbeck, 1997, in: http://libguides.
newcastle.edu.au/content.php?pid=71167&sid=527008 [gelesen am 9.1. 2013]), 1900 nach Maitland
gekommen, arbeitete in Taree, Raymond Terrace, Newcastle und Stockton, dort 1919–1924 Rektor,
krankheitsbedingter Rücktritt, zur Behandlung seiner Herzkrankheit nach Europa, Herbst 1923–
1925 Rekonvaleszent in Mohill (Irland), County Leitrim (vgl. Brief McKiernans an Schmitt vom
1.10. 1923 [RW 265-9313]), 1925–1927 Bischofssekretär in Maitland. Siehe auch Teil III, S. 454, 472,
477.

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Januar 1923 143

Donnerstag, 18. 1. 23
Lange geschlafen, kein Brief, morgens herumgelesen, behaglich, genüsslich vertrödelt. Nach
dem Essen mit Vormfelde Anzüge angesehen bei Kaufmann 72, ein Sportanzug kostet
600.000 Mark. Bei Rittershaus Mokka getrunken, nachher mit Vormfelde, der einen Über-
zieher kaufte, zu Hause, müde, ausgeruht, Vorlesung etwas vorbereitet, Hensel kam, ein
Buch von Bühler 73 zu holen; nach dem Abendessen zu Schmitz, er spielte mir Chopin, die
Etüde 19 in cis-Moll 74 vor, unbeschreiblich; leider dachte ich gleich an L., um ihr zu schrei-
ben75. Wie schön das war, wie hier der slawische Begriff, erfüllt durch lateinische Form,
geadelt ist. Trank Rotwein dazu, etwas zuviel, müde um 1/2 12 nach Hause. Ein elender
Tag. Abends große Aufregung, dem Irrsinn nahe, oft dem Unendlichen nahe; anspruchsvoll,
selbstbewusst, stolz, dann wieder nichts. Welch ein elender Zustand. Wo gibt es eine
Rettung?

Freitag, 19. 1. 23
Morgens lange geschlafen, ein Brief von L. war da, ziemlich lang, sie will nach Bonn kom-
men, fragt nach Aschaffenburg, diese Mischung aus Schlauheit, phantasieloser urkomischer
Tüchtigkeit, vielleicht innerer Anklammerung an mich und von [egoistischer] Natur usw.;
gleich wieder ziemlich fertig, aber mit Stolz und Selbstbewusstsein, dann 2 Stunden Vor-
lesung, hörte mit großer Nervosität, dass die Franzosen die Reichsbank gesperrt haben.
Dann todmüde nach dem Essen mit Vormfelde zu Rittershaus, es gibt kein Geld mehr in
Bonn, die Teichgraeber-Aktien sind gefallen, ich habe Daff <? > gekauft, große Nervosität.
Um 1/2 4 auf dem Heimweg traf ich zufällig Max Anton, er erzählte von den Bernsteins,
Helene ist verheiratet und hat viele Kinder, an der holländischen Grenze, Marta ist Geigerin
in Amsterdam. Ich war froh, etwas von ihnen zu hören <…>, und wurde wieder stolz.
Schrieb in der Eile an L. einen Brief fürs Paket, das ich machen wollte, als Landsberg kam
und sagte, wir sollten uns Geld von der Universitätskasse holen, ging noch bei Göppert76
vorbei, um es ihm zu sagen, holte mir Geld, bekam 225.000 Mark! Stolz, soviel Geld in der
Tasche zu haben, gefestigt, geil davon. Ließ ein Paket in dem kleinen Schokoladengeschäft
in der Marienforster Straße machen, schrieb den Brief an Lo 77 fröhlich zu Ende, aufgeregt
und munter. Dann umgezogen, gelesen, zu Schmitz, der wieder Chopin, die Etüde [opus]
25, Nr. 3, vorspielte. Wunderbar. Schelling78 kam und spielte Flöte. Ich schlief ein. Nachher
mit Schmitz noch bei Kieffer Bier getrunken. Von Schmitz 10 Schweizer Franken gekauft.
Wir sprachen über Chopin79. Ich sprach wunderschön über die Günderrode80, Sp<?>, die

72 Herrenschneider Aloys Kaufmann, Bonn, Kaiserplatz 3.


73 Ottmar Bühler (1884–1965), Staats- und Steuerrechtler schweiz. Herkunft, 1920 o. Prof. in Münster,
1942–1952 in Köln.
74 Recte Etüde op. 10, Nr. 4.
75 Siehe Teil III, S. 434.
76 Bonner Weststadt, Dechenstraße 9.
77 Siehe Teil III, S. 433 f.
78 Nicht ermittelt.
79 Siehe Teil III, S. 434.
80 Karoline von Günderode (1780–1806), die sog. Sappho der Romantik, erdolchte sich in Winkel
(Rheingau) aus unglücklicher Liebe zu dem verheirateten Mythologen Friedrich Creuzer (1771–
1853).

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144 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Psychologie, das Reden über das Schweigen. Ich habe ihn sehr gern. Zu Hause noch etwas
notiert, aufgeregt, geistig produktiv, mit ziemlicher Überlegenheit den Brief von L. gelesen.
Wie arm, elend, kümmerlich, anspruchsvoll, im Grunde spießbürgerlich.

Samstag, 20. 1. 23
Lange geschlafen. Traum: L. ist bei uns in Plettenberg, ich habe Angst, weil alles so arm und
klein ist, der Vater kam vom Kontor zum Kaffee und zog sich seinen Kragen aus, wir aßen
in der Küche, scheußliches Gefühl, peinlich, ängstlich, dabei sehe ich gleichzeitig, dass er
einen Cut anhatte. Ich versuchte dumme Erklärungen, die die Situation noch unangenehmer
machten. Mit Angst und Ekel aufgewacht. Nachher natürlich Wut auf L. Gute Briefe und
Karten, besonders von Lamberts, sehr freundlich, und von Frau v. Schnitzler 81, die Glück
wünscht für 1923, sehr erfreut darüber (wollte sie natürlich gleich L. schicken, tat es aber
nicht), ziemlich überlegen und gleichgültig gegen L. Es ist doch geistig zu arm. Behagliche
Faulenzerei beim Frühstück. Kann überhaupt nicht arbeiten. Schmitz kam und holte mich
ab, herumgegangen, in der Bibliothek über Chopin, nach dem Essen mit Vormfelde bei Rit-
tershaus, Mokka getrunken, fühlte mich schon wieder betrogen. Zu Hause müde gelesen,
dann umgezogen, sehr schön gemacht, zu Thurneysen82, dort große Gesellschaft, Tee, erst
bedrückt, wütend, nachher hatte ich Frau Aubin83 gierig angesprochen und fasziniert. Wie
ekelhaft und dumm war das alles. Alles ist interessiert wegen meines Hauses. Scheußliche
Situation. Dachte viel an L. Eigentlich glücklich, dass ich nicht mit ihr verheiratet bin. Ich
wäre betrogen, wie jeder der hier sitzenden Herren. Um 1/2 8 nach Hause. Nach dem Essen
noch mit Schmitz überlegt, welchen Titel ich der Arbeit über den Katholizismus gebe 84,
weil Hegner 85 heute telegraphiert hat. Müde, traurig und verzweifelt. Wir tranken Bier im
Gangolf 86, die Musik spielte patriotische Lieder. Scheußlich, traurig, verzweifelt. Will mor-
gen nach München-Gladbach87 fahren.

Sonntag, 21. 1. 23
Um 5 wach, um 7 auf, kochte mir selbst Kaffee, schrieb in der Zerrissenheit und Verwor-
renheit der Morgenstimmung ein paar Worte an L88. Zur Rheinuferbahn, mit einem Mäd-
chen im Zug nach Köln unterhalten, gelangweilt, im Wartesaal München-Gladbach (wo ich
oft an die Bernsteins dachte und an Carita schrieb), an L. geschrieben. Den Brief in Glad-

81 Liliane (genannt Lilly) von Schnitzler, geb. Mallinckrodt (1889–1981), Kunstmäzenin, über Jahr-
zehnte hinweg enge Freundin Schmitts (vgl. Rieß [Hrsg.], BW Lilly von Schnitzler – Schmitt,
S. 113–256, 113–123), Gattin von Georg von Schnitzler. Eine Stammtafel der Schnitzlers findet sich
in: Frauke Geyken, Freya Moltke. Ein Jahrhundertleben 1911–2010, München 2012, S. 238.
82 Bonn, Meckenheimer Allee 5.
83 Vera Aubin, geb. Webner (1890–1985), in Südafrika geboren, Ehefrau des 1921–1925 als nb. ao.
Prof. in Bonn lehrenden Historikers Hermann Aubin (1885–1969).
84 Siehe Eintragung vom 22. 1.1923.
85 Die Erstauflage des Buches „Römischer Katholizismus und politische Form“ erschien 1923 im Hel-
lerauer Verlag Jakob Hegner.
86 Gangolf-Haus, Bonn, Gangolfstraße 8.
87 Wegen der Verwechslungsgefahr mit dem bayerischen München seit 1960 „Mönchengladbach“.
88 Siehe Teil III, S. 435 f.

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Januar 1923 145

bach zum Kasten. Dann zu Lamberts, freundlich aufgenommen, schön bewirtet, herumge-
redet, natürlich über Devisen, ich erfahre aber nichts über Kurse. Fühle mich also betrogen.
Froh, meine Schulden bezahlt zu haben.89 Dachte immer an L. Man kann doch nicht heira-
ten. Wie lächerlich ist das. Um 6. 40 von Ernst90 begleitet zur Bahn. Müde herumgelegen, in
Köln auf der Straße, aber gleich mit der Rheinuferbahn nach Hause. Kein Brief. Daher
Angst vor der Vereinsamung. Allein im Zimmer. Ich werde irrsinnig. Wenn ich ein Buch
von mir sehe, Erfolg habe, atme ich einen Augenblick auf. Grauenhafte Angst.

Montag, 22. 1. 23
Verschlafen, Gefühl des Irrsinns und des <…> im Kopf. Behaglich gefrühstückt, Angst vor
den Franzosen wegen der Zeitungsnachrichten, traf Vormfelde, der sehr optimistisch ist
und sagt, alle Bankdirektoren nehmen an, dass die Devisen sinken, er will mich wissen las-
sen; bei Schmitz, dessen Frau ich eine <…> brachte, dann meine Vorlesung, müde, nachher
mit Braubach zusammen hinter die Universität, den Titel für mein Buch überlegt und tele-
graphiert: „Römischer Katholizismus und politische Form“91, glücklich, etwas getan zu
haben. Nach dem Essen mit Vormfelde, 2 Dollar gekauft, dann zu einer Serbin, die mir die
Angelegenheit Agram übersetzt92. Nachher mit ihr bei Rittershaus, sie ist sehr sympathisch,
aber nicht schön. Dagegen sah sie auf der Straße elegant und graziös aus. Ich begleitete sie,
die Vorlesung bei Spiethoff, in die sie gehen wollte, fiel aus, sodass wir einen Spaziergang in
der Dämmerung am Rhein machen konnten. Wir sprachen schön, sie heißt Duschanka
Todorowitsch93. Seltsam. Ich war oft daran, mich zu verlieben, aber zu müde und gleichgül-
tig. Sprach schön, philosophierte, es schien ihr zu gefallen. Begleitete sie in die Argelander-
straße nach Hause, verabredete mich für morgen Abend zu Schmitz. Zu Hause war nichts,
die Lamberts waren auch nicht da gewesen. Eine Karte von Koellreutter. Gleichgültig, aber
zufrieden, eine neue Bekanntschaft zu haben.

Dienstag, 23. 1. 23
Wieder lange geschlafen, Brief von Anna94 <…>, der mich <…> und von Frau v. Schnitzler,
die <…>, sehr aufgeregt, antwortete Schnitzler, da ich nächstens einmal an einem Wochen-
ende kommen soll. Sehr angeregt durch diese Erwartung und stolz. Hätte beinahe L. ge-
schrieben, so dumm bin ich. Dann 2 Stunden Vorlesung, sehr gut. Braubach für heute
Abend zu Schmitz eingeladen. Nach dem Essen mit Vormfelde spazieren, traurig und
gleichgültig, sehr müde, Casselsruh, er gab mir eine klare Antwort auf die Frage von Onkel
André95. Zu Hause müde, ausgeruht, es gibt keine Butter zu kaufen. Schrieb an Onkel
André, sehr sachlich und vernünftig, dann Seminar, Vortrag von Grünwald96 über

89 Vermutlich handelte es sich um Schulden aus der Referendarzeit, vgl. z. B. TB I, S. 296.


90 Ernst Lamberts, ältester Sohn von Arthur Lamberts; vgl. TB I, passim.
91 Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, Hellerau 1923; 3. Aufl. Stuttgart 1984.
92 Damit dürfte der Brief vom Konsulat in Agram gemeint sein (s. Eintragung vom 11. 1.1923).
93 Dušanka Todorovič (1903–1950), als stud. phil. ab 3. 11.1922 in Bonn eingeschrieben, Schmitts
zweite Ehefrau (Heirat 1926). Siehe Einführung, S. XVIII f.
94 Vermutlich Schmitts jüngste Schwester Anna (s. Teil I, Anm. 224).
95 André Steinlein (s. Teil I, Anm. 411).
96 Offenbar ein Student.

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146 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Art. 14697. Sehr nett und tief <? >. Dann zu Schmitz, zu Hause zu Abend gegessen, um
9 Uhr Fräulein Todorowitsch geholt. Sie hat am 13. 2. (dem Tag meiner Eheschließung)
Geburtstag. Unheimlich. Führte sie zu Schmitz, sie benahm sich sehr gut und war sehr
hübsch gekleidet. Schmitz spielte die Etüde [opus] 25, Nr. 7 von Chopin. Wir sprachen da-
rüber98, Braubach auch, sehr anregend. Um 12 begleiteten wir alle 3 Fräulein T. nach Hause.
Sie will nächsten Mittwoch in meine Vorlesung kommen. Ziemlich fertig mit L. Gott sei
Dank. Begleitete Braubach noch, dann mit Schmitz nach Hause, herrlicher Sternenhimmel.
Müde, aber sehr zufrieden von der guten Gesellschaft. Fraß noch viele Pralinen. Magen-
beschwerden. Scheußlich.

Mittwoch, 24. 1. 23
Kein Brief, schlechter Tag, müde und schwach, manchmal Sehnsucht nach L., obwohl ich
das Sinnlose durchschaue. Nach der Vorlesung mit Aschenberg, einem Studenten, der mir
vom Krieg erzählte99, nach dem Essen mit Vormfelde bei Rittershaus, ärgerlich, dass er
keine Aktien von Felten & Guilleaume100 gekauft hat. Zu Hause ausgeruht, lange den
irischen Brief gesucht, dann zu P. Ryan101, er steht auf der Seite des Freistaates, ich war trau-
rig, enttäuscht, gleichgültig, müde nach Hause, verzweifelt, irrsinnig. Geschlafen. Nichts
getan, im Café Hansa102, ekelhaft, dieses Bier, diese Musik, grauenhaft. Wollte in ein Bor-
dell. Hass gegen diese entsetzliche Gemeinheit und Niedrigkeit. Dann bei der Vorlesung
über den bourgeois, müde, aber doch gut. Nachher mit Braubach, er aß mit mir, ich erzählte
ihm näher von meiner Folge fürs Leben: den Entstehungsprozess, dann die Konstruktion
der 3 Versuchungen und der Puritaner. Bekam von ihm Maurras’ l’avenir de l’intelligence103.
Das regte mich an. Endlich wieder ein kleines Interesse. Gott hilf mir, ich bin ganz erledigt.

Donnerstag, 25. 1. 23
Brief von Fuchs aus Abessinien104 mit großem Genuss gelesen. Brief an L. geschrieben, aber
nicht abgeschickt.105 Lächerlich. Entwerfe erst wütenden Absagebrief, dann einen Liebes-
brief usw. Telegramm von Schnitzler, dass ich Samstag [kommen soll]. Ein trostloser

97 Art. 146 WRV behandelt das Schulwesen.


98 Siehe Teil III, S. 435 f.
99 Kurt Aschenberg (1893–?), ab 1912 stud. iur. an mehreren Universitäten, 1914 Kriegsfreiwilliger,
Stabsoffizier, 1921 als Oberstleutnant aus dem Heer ausgeschieden, 1. Staatsexamen (mündl. Prü-
fung am 16. 7.1923), neben dem Referendariat bis 1925 Fakultätsassistent in Bonn, 1927 Promotion
bei dem Zivil- und Römischrechtler Fritz Schulz (s. Teil I, Anm. 292) über die „Pacht an Rechten
und Gütern“, 1927 Gründung der Rechtsanwaltskanzlei Dr. Aschenberg & Sozien in Köln.
100 Felten & Guilleaume Carlswerk, 1826 gegründet, ab 1899 AG, entstanden aus einem bekannten
Kölner Unternehmen für Draht-, Drahtseil- und Kabelfertigung sowie Elektrotechnik.
101 Vermutlich ein irischer Geistlicher aus dem Umfeld Kathleen Murrays (s. auch Eintragungen vom
14./15. 7. 1922 und 8. 1.1923).
102 Hansa-Café und Konditorei, Bonn, Münsterplatz 2.
103 Charles Maurras (1868–1952), französischer Schriftsteller, einer der Hauptakteure der Action fran-
çaise. Vgl. ders., L’avenir de l’intelligence, 1. Aufl. Paris 1905. Siehe auch Teil III, Anm. 132 und
134.
104 Wegen des langen Postwegs dürfte es sich um den Brief vom 25.12. 1922 handeln (RW 265-
4590/91), in dessen Beilage Fuchs eine Audienz in Addis Abeba schildert.
105 Siehe Teil III, S. 437.

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Januar 1923 147

Zustand. Die Vorlesung fiel aus wegen der Ovation für Thyssen, der mit dem Zug durch
Bonn kam.106 Man singt die Wacht am Rhein, o Deutschland hoch in Ehren usw. Ich hatte
einen wütenden Hass auf diese Schwerindustrie, diese Glückspilze, die jetzt auch noch poli-
tische Bedeutung bekommen. Wie entsetzlich einsam bin ich, grauenhaft. Dem Irrsinn nahe.
Schmitz kam, als ich zu Hause war, wir gingen noch spazieren. Nach dem Essen mit Vorm-
felde zu seinem Büro, dann zu Hause geschlafen. Vormfelde hat Angst, einen Tumor zu
haben. Schrieb an Jup, des Nachmittags an Lo107, währenddessen kam Braubach. Er trank
bei mir Kaffee, ich schrieb die Karte an L. zu Ende, mit glänzendem Elan, wir sprachen
über Braubachs Arbeit108, Hensel kam auch noch wegen der verwaltungsrechtlichen Arbei-
ten. Von Braubach begleitet zum juristischen Seminar, mit Honig gesprochen über seine
Berufung, nach Köln, dann mit Wienand109 aus Koblenz, mit Bergmann110, mit Braubach zu
dem Vortrag von Hildebrand111 über Franziskus112, es saßen viele Heilige da, ich ging aber
schon nach einer halben Stunde weg, aufgeregt, einsam, zum Zerspringen voll. Nach dem
Abendessen mit Vormfelde, der ziemlich klein war (<…>). Wir sprachen über die Franzo-
sen und bewunderten ihre Kultur. Abends zu Hause, Pralinen gegessen. Maurras gelesen,
der interessiert mich wirklich, allmählich wieder stolz und überlegen, <…>, freue mich mei-
ner Kraft, auch gegen L. sehr sicher. Freue mich auf die Reise nach Frankfurt zu Schnitzler.
Ein glücklicher Abend. Nachts nicht geschlafen, schließlich doch. Ekelhaft. Aber immer
sehr stolz und überlegen.

Freitag, 26. 1. 23
Kein Brief von L., das ärgerte mich. Brief von Pestalozza, die weitere Auskunft aus Wien.113
Fühlte mich stolz und überlegen. Hielt 2 Stunden Vorlesung, ganz nett, obwohl ich sehr
erkältet war. Nachher entsetzlich müde, sodass ich kaum arbeiten konnte. Mit Vormfelde

106 Nachdem am 20. 1.1923 auf Anordnung des franz. Generals Fournier in Essen-Bredeney sechs
Vertreter des deutschen Bergbaus (außer dem Zechenbesitzer Fritz Thyssen Bergassessor Hermann
Olfe, Direktor Walter Spindler sowie die Generaldirektoren Ernst Tengelmann, Wilhelm Kesten
und Franz Wüstenhöfer) verhaftet worden waren, weil sie sich geweigert hatten, Kohlen an die
Besatzungsmächte zu liefern, wurden sie im folgenden Mainzer Kriegsgerichtsprozess zu hohen
Geldstrafen verurteilt. Die Fahrt der Verurteilten rheinabwärts wurde zum Triumphzug. Vgl.
Friedrich Grimm, Der Mainzer Kriegsgerichtsprozeß gegen die rheinisch-westfälischen Berg-
werksvertreter Fritz Thyssen, Kesten, Wüstenhöfer, Tengelmann, Olfe, Spindler, Berlin 1923; Hans
Spethmann, Zwölf Jahre Ruhrbergbau. Aus seiner Geschichte von Kriegsanfang bis zum Franzo-
senabmarsch 1914–1925, Bd. 3, Berlin 1929, S. 94–101.
107 Siehe Teil III, S. 437 f.
108 Siehe Teil I, Anm. 349.
109 Nicht ermittelt.
110 Ewald Bergmann (1899–?), Doktorand (Promotion am 2. 8.1924). Vgl. ders., Die Gesetzgebung im
Saargebiet, Bonn 1924.
111 Dietrich von Hildebrand (1889–1977), Philosoph, 1924 ao. Prof. in München, 1933 Emigration
nach Österreich, Herausgeber der Zeitschrift „Der Christliche Ständestaat“, 1938 Emigration nach
Frankreich, Prof. in Toulouse, 1940 über Portugal in die USA, bis 1966 Prof. an der Fordham Uni-
versity in Rose Hill.
112 Vgl. Dietrich von Hildebrand (Hrsg.), Der Geist des hl. Franziskus und der dritte Orden. Fest-
schrift für das 700jährige Jubiläum des III. Ordens von der Buße 1221–1921, München 1921.
113 Offenbar über Schmitts Frau Carita.

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148 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

etwas spazieren. Dann geschlafen. Dann um 4 Uhr kam der Briefträger. Wahrhaftig ein
Brief von L., hätte es kaum gedacht. Unglaublich, interessant. Aber allmählich sehe ich
doch die Unverschämtheit, wie sie mir sagt, dass mein erster Brief seine Schärfe hätte usw.
Sah ihn114 gestern elegant <?>. <…>, angeregt, stolz <?>, hingerissen. Aber dann endlich
fand ich eine Frau P<…>mann <?>. Neuß kam, wir tranken Kaffee, sprachen über die
Besetzung des Ruhrgebietes, ich bin immer pessimistisch. Landsberg kam auch. Nett unter-
halten, das Gefühl einer gewissen Wichtigkeit. <…>. Um 1/2 7 ging Neuß, Jup kam, ich
schrieb noch die Äußerung von Aschenberg über Krim <?>. Ging dann gegen 8 mit Jup in
die Pension Strassberger zum Essen115. Ein paar Holländer waren sehr liebenswürdig zu
Jup, vielleicht geht er in die holländischen Kolonien. Dann kam Vormfelde. Ich ging bei
Schmitz vorbei, der aber nicht zu Hause war, telegraphierte an Schnitzler, holte etwas
Wäsche, dann tranken wir zu dreien bei Kieffer Bier. Sehr lustig, hatte große Freude an Jup,
der sehr pathetisch war. Lustig, angeregt, stolz, munter nach Hause. Noch etwas geordnet,
also morgen früh 8 Uhr nach Frankfurt zu Schnitzler.

Samstag, 27. 1. 23
Um 7 auf, schnell angezogen und eingepackt, mit dem D-Zug nach Frankfurt. Wohl der
letzte Zug, der fährt. Alles ist unsicher115a. In Koblenz stieg ich um, zu einer gut gekleideten
Dame ins Coupé, sprach sie an, sprachen über Schlageter 116. Wir kamen in ein Gespräch. Sie
stieg in Mainz aus und ich versprach, ihr zu schreiben. Sie war aus Kleve, das Ganze erregte
mich sehr. Machte mich gleichgültig und überlegen, trotzdem große Liebe zu L. In Frank-
furt war niemand am Bahnhof. Ging zur Westendstraße (mein Gepäck ließ ich im Bahnhof),
der Diener sagte, dass die Herrschaften ausgegangen seien. Ich lief durch die Stadt, oft sehr
aufgeregt, kaufte Blumen, um 2 wieder zu Schnitzler, wurde überaus freundlich aufgenom-
men. Wir aßen zu Mittag, nachher ausgeruht, dann wunderschöner Tee (mit einem Herrn
Shey117), dann abends etwas mit Schnitzler spazieren, Abendessen, nachher natürlich
Schlageter. Wunderschön unterhalten, Schnitzler wurde in ein anderes Zimmer gebracht.
Um 1/2 12 ins Bett, großartig bedient. Bot dem Engländer Kali an. In bester Laune, über-
legen und sicher, stolz. Wunsch, schöne Kleider zu haben usw. usw.

Sonntag, 28. 1. 23
Wunderschön geschlafen, um 1/2 9 kam der Diener und richtete das Bad, alles großartig,
ganz glücklich in diesem Komfort. Inzwischen verstehe ich die Frauen. Behaglich angezo-
gen, etwas spazieren in Richtung auf eine katholische Kirche, habe Lo geschrieben und
brachte den Brief zum Kasten. Dann frühstückten wir und plauderten natürlich über [mei-

114 Anscheinend auf Vormfelde bezogen.


115 Die „Fremden-Pension“ in der Beethovenstraße 31 in Bonn wurde von Elisabeth Strassberger
geführt.
115a An diesem Tag besetzten die Franzosen den Bonner Staatsbahnhof. Wegen der rohen Vorgehens-

weise stellten die dt. Eisenbahner den Betrieb ein.


116 Albert Leo Schlageter (1894–1923), Freikorpskämpfer, wegen aktiven Widerstands gegen die Ruhr-

besetzung – ab Januar 1923 in Essen für die „Organisation Heinz“ – von einem französischen
Militärgericht zum Tode verurteilt und am 26. Mai 1923 hingerichtet.
117 Offenbar ein englischer Geschäftsmann aus der Chemiebranche.

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Januar 1923 149

nen] Römischen Katholizismus, machten einen Spaziergang an den Main, ich warnte Frau
v. Schnitzler vor dem Römischen Katholizismus, sie gab mir den Arm, wir erzählten von
Schnitzler. Eine sonderbare Frau. Nach dem Mittagessen etwas ausgeruht, beim Tee geplau-
dert, erzählte der Frau meine Geschichte. Es war mir eine große Freude und Erleichterung.
Um 6 Uhr bat Schnitzler mich zu [sich]. Wir sprachen über die kommende [Zeit], verab-
schiedeten uns herzlich. Im Zug 2. Klasse zuletzt 4 Herren, ein nettes Gespräch über Effek-
tenkurse. In Andernach ein langer Aufenthalt. Katastrophenstimmung. Um 1/2 12 in Beuel,
den Koffer nach Hause geschleppt, in einer Kneipe ein Glas Bier getrunken, zu Hause kein
Brief, nichts von L. Empörend. Müde ins Bett.

Montag, 29. 1. 23
Lange geschlafen, die Bahn streikt. Alles steht still, unbehaglich. Ließ L. 50.000 M[ark]
überweisen. Hielt meine Vorlesung, nachher an L. telegraphiert, fiftythousand marks,
Darmstädter Bank München. Here all well. Send wire dearest Lo, yours Carl. Dann zum
Essen, nachher mit Vormfelde, etwas ausgeruht, um 4 mit Braubach nach Köln mit der
Rheinuferbahn. Er las mir seine Arbeit vor, sehr interessant. Ich lief zur Post, gab einen
schönen, herzlichen Brief an L. auf und die englische Ephemeride.118 Sah eine Eva in der
Arkade <?>, Ellen, <…>, nicht zum Kabarett im Marienhof119. Sie war in mich verliebt,
weinte. Rührend. Ich war müde, schließlich doch ekelhaftes Gefühl, aber ich wollte L. los-
werden. Kam nicht mehr zur Rheinuferbahn, schlief also in Köln D. B.120 neben Liebespär-
chen, ekelhaft.

Dienstag, 30. 1. 23
Um 7 auf, um 1/2 8 mit der Rheinuferbahn nach Bonn, sehr müde, aber erleichtert; rasieren
und Friseur, zu Hause wieder kein Brief, ausgeruht, schlechte, müde Vorlesung, dann
Fakultätssitzung. Göppert sagte mir: Sie isolieren sich selbst; über Crome, mit Wende, zum
Glück ging es einfach. Nach dem Essen mit Vormfelde und Schilling 121 bei Rittershaus, über
Kurse unterhalten, habe wieder viel Geld verdient und war fröhlich. Aber unruhig, Sehn-
sucht nach einer Frau, Sehnsucht nach L. und suchte doch von ihr loszukommen. Aufrei-
bender Zustand. Zu Hause empört, dass sie noch nicht auf mein Telegramm geantwortet
hat, obwohl ich die Antwort bezahlt hatte. Ein paar Studenten kamen zur Sprechstunde, zu
Kaufmann, Kaffee getrunken, schön unterhalten, er begleitete mich zum Seminar. Referat
Piqué122 über Tönnies123. Langweilig, immer noch die Hure. Dann mit Dr. Klein und Fräu-
lein Esser nach Hause. Fräulein Esser erzählte, dass die Studenten uninteressiert sind, um

118 Siehe Teil III, S. 438 f.


119 Gemeint ist ein Cabaret, d. h. eine Bar mit Prostituierten (s. „Hure“ in der Eintragung vom
nächsten Tag), vermutlich in Köln-Müngersdorf.
120 Vermutlich Bahnhof „Deutzer Brücke“ gemeint.
121 Paul Schilling, Prokurist der Bank für Handel und Industrie (Darmstädter Bank) in Bonn; s. Ein-
tragung vom 12. 2. 1923 u. ö.
122 Offenbar ein Student.
123 Ferdinand Tönnies (1855–1936), Philosoph, Mitbegründer der Soziologie, 1909 ao. Prof. in Kiel,
1913 o. Prof., 1916 entpflichtet, 1933 Verlust der Lehrbefugnis und Entlassung aus dem Beamten-
stand.

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150 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

eine Ausrufung der Rheinischen Republik zu verhindern. Wieder Katastrophenstimmung.


Immer die Liebe zu L., entsetzlich. Wäre ich das doch los. Nach dem Essen zu Heimber-
ger124, ihm über die Sitzung berichtet, hörte, dass man Aktien usw. kaufen muss, lief zu
Schmitz, dort ein Ostpreuße (für mich ein Balte, daher wieder L.) im Hähnchen125, lange
diskutiert über Kant usw. Mir war es nichtig, todmüde nach Hause, wieder kein Telegramm
von L.

Mittwoch, 31. 1. 23
Morgens wieder kein Brief, kein Telegramm von L., empört. Endlich muss ich doch Schluss
machen. Lächerlicher Zustand, der man nacheinander kühle Abschieds- und dann wieder
zärtliche, innige Liebesbriefe [schickt]. Unheimliche Stille. Es naht wohl die Katastrophe.
Ich habe ein seltsames Vertrauen. Wie damals im Februar 1915.126 Heute Abend also
Duschka. Hielt meine Vorlesung, müde und gleichgültig, nachher mit Braubach zur Post,
an Frau v. Schnitzler Schmitz127 geschickt128, nach dem Essen bei Frenzel129 Geld geholt
(20.000). Bei Rittershaus eine auffällige, schöne junge Frau, traurig nach Hause gegangen,
ausgeruht. Um 4 Examen eines sympathischen Mädchens, die aber die Grippe hatte, dann
wieder zu Hause, Erich Kaufmann kam, sprach mit mir über Braubach, <…>, ich kaufte
seiner Frau130 eine große Schachtel Riquet 131 und begleitete ihn, erzählte von meinem
[Nichtigkeits]prozess, er schien sehr ergriffen davon. Wieder nach Hause, umgezogen, kein
Telegramm von L., empört, beleidigt, welche Behandlung. Hielt meine Vorlesung, Duschka
war da, etwas nervös, aber doch sehr gut. Nachher mit ein paar Studenten gesprochen, dann
mit Duschka, die sehr hübsch angezogen war und elegant aussah, zum Königshof 132. Dort
zu Abend gegessen. Wie kindlich und freundlich sie ist, ihre wunderbaren, dunklen Augen.
Ich war sehr zufrieden, obwohl es 15.000 Mark kostete. Begleitete sie um 12 nach Hause.
Sie erzählte von ihrem Freund, dass ihr Vormfelde unsympathisch ist, von ihrem Studium,
ihrem Interesse an meiner Vorlesung. Dann gleichmütig nach Hause. Furchtbar müde und
nervös. Sehr beherrscht und ruhig ins Bett.

Donnerstag, 1. 2. 23
Gut geschlafen. Um 8 ein Telegramm: L. telegraphiert: Dank und Gruß, lieber Karl, Brief
unterwegs, Lola. War sehr glücklich, eine Nachricht zu haben, aber gleichzeitig enttäuscht

124 Bonner Weststadt, Beringstraße 3.


125 Gasthaus am Dreieck 3 in Bonn zwischen Münsterplatz und Sternstraße.
126 Am 13. 2. 1915 heiratete Schmitt seine erste Frau Carita standesamtlich, am 20. 2. kirchlich; fünf
Tage später legte er seine mündliche Referendarprüfung ab und reiste nach München, um sich als
Rekrut zu melden. Vgl. Mehring, Aufstieg und Fall, S. 75.
127 Oscar Adolf Hermann Schmitz, Der Geist der Astrologie, München 1922. Vgl. Rieß (Hrsg.), BW
Lilly von Schnitzler – Schmitt, S. 131.
128 Siehe Teil III, S. 440.
129 Bankhaus Frenzel, Bonn, Schumannstraße 37.
130 Hede Kaufmann, geb. Pankok.
131 Pralinen der Leipziger Riquet & Co. AG.
132 Hotel Königshof (Grand Hotel Royal) und Kaffeehaus, Koblenzer Straße 11 (jetzt Adenauer-
allee 9), nahe der Bonner Universität.

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Januar/Februar 1923 151

und gleichgültig. Stand erst um 1/2 10 auf, sehr müde, nervös, aber ziemlich gut ausgeschla-
fen. Frühstückte ruhig, kein Brief, keine Nachricht. Hielt meine Vorlesung müde und
gleichgültig, allmählich etwas ruhiger. Nachher mit Schmitz, einem Studenten133, über sein
Referat in meinem Seminar. Es war langweilig und dumm. Dann bei Schmitz vorbei, der
aber nicht zu Hause war. Müde zu Hause. Nach dem Essen mit Vormfelde bei Rittershaus,
wohin ich auch Theodor [Grunau]134 bestellt hatte, um mit ihm über seine Arbeit zu spre-
chen. Er begleitete mich nach Hause. Ich sah eine Schauspielerin, die Zigaretten rauchte und
mich an L. erinnerte. Merkwürdiges Bedürfnis nach einer Mutter. Ruhte mich aus. Um 5
zum juristischen Seminar, mit Grünwald und Bergmann über sein Referat gesprochen, mit
Bergmann zur Konditorei Kaufmann135, er las mir sein Referat vor, allzu weitgehend und
prinzipiell. Aber er gefiel mir. Zu Hause Pralinen gegessen, grauenhaft. Öfters Sehnsucht
nach L., dann wieder gleichgültig. Nach dem Essen schöner Spaziergang mit Vormfelde
durch die Stadt. Nachher fleißig und beherrscht gearbeitet. Ziemlich fertig mit L. Um
10 Uhr pfiff Schmitz draußen, der von Teden136 vom Drachenfels137 kam. Er schimpfte da-
rüber und nannte es „Geheuer der Hölle“ (ich freue mich, meine starke Einwirkung auf ihn
zu sehen); wir tranken Bier bei Kieffer, ich bezahlte (1200 Mark!). Müde nach Hause, tief
traurig.
Sehnsucht, den Moment zu fassen, dummes Bedürfnis, L. zu imponieren, [die] die Dumm-
heit durchschaut. Noch einige Arbeiten nicht gelesen. Morgen werde ich viel zu tun haben.
Arbeitete noch bis 10 1/2, fühlte mich wohl und stark. Ziemlich ruhig. Sehnsucht nach
Duschka, aber ohne jede Aufregung.

Freitag, 2. 2. 23
Kein Brief von L. Das ertrug ich mit ziemlicher Überlegenheit. Bereitete meine Vorlesung
vor, hielt 2 Stunden Vorlesung, Staatsrecht und allgemeine Staatslehre (Nationalitätsprin-
zip). Ziemlich gut, nachher todmüde. Nach dem Essen gleich nach Haus, ausgeruht, ener-
gisch, Arbeiten korrigiert, um 4 Kaffee bei Frings138, dann Übungen (Pakt über Hanse). Die
Übungen sehr gut und mit viel Temperament, dann nach Hause, dort ein Brief von Kath-
leen, wunderschön, rührend, ich war ergriffen, stolz, energisch, ordnete mein Zimmer, ein
schöner Nachmittag, nach dem Abendessen mit Vormfelde etwas spazieren, Bier getrunken
bei Kieffer, über Frauen gesprochen, er über Nina, ich von am Zehnhoff, bis 1/2 11, dann
angeregt, bierduselig nach Hause. Stolz, überlegen, Gefühl für Abenteuerlichkeit meines
Schicksals, ruhig, gleichgültig, las im Bett Tierbücher. O Gott, welch eine Zeit (Anfang
19. Jahrhundert <…>).

133 Nicht ermittelt.


134 Vermutlich Theodor Grunau (1902–?), Dr. iur., im „Dritten Reich“ Oberstaatsanwalt beim Sonder-
gericht in Celle, nach dem Krieg Regierungsdirektor im Strafvollzugsamt Hamm (Westfalen).
Schmitt hat 1924 zu dessen Doktorarbeit das Drittgutachten erstellt.
135 Konditorei und Café Michael Kaufmann, Bonn, Remigiusstraße 14.
136 Nicht ermittelt.
137 Berühmte, 321 m hohe Erhebung aus Trachyt bei Königswinter im Siebengebirge.
138 Café Frings, Bonn, Bahnhofstraße 38.

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152 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Samstag, 3. 2. 23
Bis 10 im Bett, bequem, müde, gefrühstückt, kein Brief von L., schnell überwunden; Honig
kam und sprach sehr nett, dann der Pedell. Ich blieb bis 1 in der Wohnung, räumte etwas
auf, tat sonst fast nichts. Nach dem Essen mit Vormfelde etwas spazieren, dann zu Ritters-
haus, gleichgültig unterhalten, dann Wanner auf der Straße und Trott139, kaufte mir ein
Oberhemd, müde, gleichgültig. Um 1/2 5 der Briefträger, Brief von Pestalozza aus Mün-
chen, er verlangt 30.000 Mark und über 1000 Kronen für den Anwalt. Ein rührender, herz-
zerreißender Brief von K., ich war erschüttert. Nichts von L., müde, in einer abgründigen
Passivität, möchte nach Australien140, bei Erich Kaufmann vorbei, las etwas bei ihm, müde
und traurig, dann Schusterrechnung bezahlt, Bilder gekauft, entsetzlich passiv, traf den Stu-
denten Salm141, der mich ein paar Schritte begleitete. Zerknirscht und müde.

Sonntag, 4. 2. 23
Bis 10 geschlafen, weil ich nachts nicht einschlafen konnte, Brief aus München, vom Verlag
Recht142, nichts von Lo, schnell überwunden, behaglich gefrühstückt. <…> Göppert kam
mit seiner Tochter, erzählte von den Franzosen, von seinem Nihilismus, sagte, dass es den
deutschen Nihilismus nie in der Form des Monarchismus gibt, ekelhaft. <…>. Mit Vorm-
felde etwas spazieren, zu Rittershaus, auf seinem Büro, ein paar Photographien besehen,
begleitete ihn nach Hause, schön ausgeruht, geschlafen. Etwas gearbeitet, fühlte mich sicher
und ruhig. Allmählich werde ich wieder gesund. Mir ist es gleich, was aus mir wird, ob die
Franzosen mich ausweisen. Nach dem Abendessen zu Schmitz, sah seine Mutter, die mich
sehr an meine eigene Mutter erinnert, und den Bruder von Schmitz, der Devisenhändler bei
Schaaffhausen143 in Köln ist. Um 10 gingen sie, Schmitz spielte mir noch die Etüde von
Chopin vor. Wir gingen dann zu Kieffer und tranken Bier, erzählte von unserer Pantomime
usw. Bis 12 Uhr phantasierte Schmitz vor von der geheimnisvollen Wohnung, in der ich
lebe. Müde nach Hause, gleichgültig eingeschlafen.

Montag, 5. 2. 23
Etwas benommen, wieder nichts von L., die Wut schnell überwunden. Trank starken Kaf-
fee, hielt todmüde meine Vorlesung, dachte, ich könnte nicht mehr weiter. Es ist doch ein
schrecklicher Zustand. Nachher bat mich Landsberg um einen Brief an am Zehnhoff, er hat
den Recours vor dem französischen Militärgericht französisch plädiert. Ich beneidete ihn
sehr darum (Ah ces braves gens144). Dann zur Bank, 100.000 Mark geholt, zu Hause schön
an am Zehnhoff geschrieben, nach dem Essen mit Vormfelde Spaziergang am Rhein. Wun-

139 Nicht ermittelt.


140 Kathleen Murray, bereits am 4. 5. 1922 aus Deutschland abgereist, hielt sich zu dieser Zeit in
Woollahra, wenige Kilometer östlich von Sydney, auf. Vgl. Brief Murrays an Schmitt vom
12.–17. 8.1923 (Nachlass Tommissen).
141 Ein jüdischer Student; s. Eintragung vom 26. 2. 1923.
142 O. C. Recht Verlag in München.
143 A. Schaaffhausen’scher Bankverein AG.
144 Anspielung auf den Ausspruch des preußischen Königs Wilhelm („Ah les braves gens“) zu einem
Angriff französischer leichter Infanterie bei dem Ort Frénois in der Schlacht von Sedan am
1. 9. 1870.

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Februar 1923 153

derbarer Strom, das Siebengebirge, herrlich in einem silberbeschienenen Nebel. Dann bei
Frenzel 1 Felten Guill[eaume] gekauft. Sehr beruhigt deshalb. Zu Hause ein Brief von L.
vom 3.; sie hat also trotz des Telegramms nicht geschrieben. Las ihn mit großer Enttäu-
schung. Wie innerlich gleichgültig und arm sie ist. Chance <? > und empor. Blieb zu Hause,
schlief herum, tat fast nichts. Fühlte mich krank und erledigt. Es wird die höchste Zeit, dass
die Ferien kommen. L. schrieb, dass sie jetzt oft große Sehnsucht nach mir hat. Natürlich
schmeichelte mir das, aber ich weiß, ihre Sehnsucht gilt den schönen Plätzen in der Oper
und dem <…>, dem guten Essen, den Schmeicheleien. Wie dumm und roh ist sie. Die
Leute, die Landsberg verteidigt hat, sind Zolldirektoren. Hätte beinahe an den Vater von L.
geschrieben. Abends schön angezogen, nach dem Essen zusammen mit Spiethoff zur Rhein-
uferbahn, dann Landsberg getroffen. Zu Neuß145. Schließlich zu Vormfelde146 und dann zu
Schmitz, mit ihm bei Kieffer Bier getrunken. Die Pantomime <…>, viel gelacht, „Das gol-
dene Kalb“.147

Dienstag, 6. 2. 23
Lange geschlafen, 2 Stunden Vorlesung, sehr schön, obwohl ich nicht wusste, was ich sagen
sollte. Brief von Kiener148, dass ich mich nach Pozzi erkundigen149 soll. Antwortete ihm
gleich freundlich und eifrig, aber äußerlich ruhig und höflich. Nach dem Essen (Braubach
begleitete mich) mit Vormfelde an den Rhein, das Siebengebirge bewundert. Im Königshof
Kaffee, zu Hause geschlafen, was mir gut tat, dann Seminar, vertrat Schmitz150 über die Poli-
tisierung der Gesellschaft, gut, ich sprach ausgezeichnet, auch mit Braubach in der Pension
zur Arcadia151, dann gingen wir zu mir. Er las mir seine Arbeit vor, nachher noch zu Kieffer,
Bier getrunken, über den Tod von Kleist gesprochen152, er begleitete mich nach Haus.
Müde, überlegen, gleichgültig; gestärkt durch die Bewunderung von Braubach, ins Bett.

Mittwoch, 7. 2. 23
Karte von Georg Eisler und Fuchs und die Zollbenachrichtigung über das Paket von Kath-
leen. Süße Countess. Ich stand erst um 10 auf. Frühstückte, tat nichts, schrieb an Beyerle
und gab den Brief zur Rheinuferbahn. Nach der Vorlesung mit Fräulein Stoffels153 an den
Rhein, rührend, freundlich, Herzensgüte. Kluges Kind, keine Deutsche. Nach dem Essen
mit Vormfelde, an den Rhein, dann <…>, dann bestellte ich mir einen Sportanzug bei
Geyer154, ärgerte mich doch, dass ich ihn nicht bei Kaufmann bestellte. Müde nach Hause,
nachgedacht, was ich heute Abend mit Duschka mache. Dachte mit Verachtung an L., ihre

145 Wilhelm Neuß wohnte in Bonn, Humboldtstraße 9.


146 Vormfelde wohnte in Bonn, Meckenheimer Allee 106.
147 Siehe Teil III, S. 444.
148 Vermutlich handelt es sich um den Brief vom 9. 1.1923 (RW 265-7549).
149 Bereits in seinem Brief vom 12. 10.1922 (RW 265-7545) hatte Kiener eine Empfehlung Schmitts für
seinen Bekannten Pozzi erbeten.
150 Offenbar der Student Schmitz (s. Eintragung vom 1. 2. 1923), der hätte referieren sollen. Zu ihm
siehe ferner Eintragungen vom 16. 5., 31. 5. u. 4. 8.1923.
151 Café-, Wein- und Bierrestauration Arcadia, Bonn, Bahnhofstraße 18.
152 Siehe Teil III, S. 444.
153 Eine Studentin.
154 Tuch- und Maßgeschäft Geyer & Co., Bonn, Kaiserstraße 1a.

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154 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

grossièreté, die Rohheit, mit der sie mich behandelt; oft wütend. Es gibt doch nur eine Frau
für mich, Kathleen. Inzwischen kommen wieder die Gegensätze <…> die schönsten meines
Lebens zu sein, unendliche Sehnsucht nach dieser Frau, die alle Irrationalität wieder in mir
geweckt hat, Wut über Pestalozza und den Wiener A.155, der 160.000 Kronen verlangt.
Abends meine Vorlesung, ziemlich schlecht, Duschka krank, sie hatte nervöse Herzbe-
schwerden, wir gingen durch die Poppelsdorfer Allee spazieren, ziemlich lange, bis 9, dann
holte ich Schmitz ab, tranken bei Kieffer Bier und aßen dazu; müde nach Hause.

Donnerstag, 8. 2. 23
Bis 1/2 10 im Bett, hielt meine Vorlesung, nachher mit Fräulein Stoffels, einem großartigen
Mädchen, zur Post (die Bücher an Georg Eisler), sah Duschka und wollte sie treffen, sie
war aber schon fort. Zur Bibliothek, Bücher geholt, nach dem Essen mit Vormfelde bei Rit-
tershaus, Temps156 gelesen, über die <…>, dann zu Hause ausgeruht. Um 1/2 5 kam der
Briefträger, 3 Briefe: von Frau v. Schnitzler, von Krause157, von Lo. War entzückt, eine wun-
derschöne Stunde, ging zum Seminar, einiges erledigt. Sehr gehoben und selbstbewusst, zu
Hause, nach dem Essen mit Vormfelde in seinem Büro, Temps gelesen, nett unterhalten, ein
Glas Bier mit ihm bei Kieffer, dann gleich zu Bett, ich war entsetzlich müde und konnte
mich nicht mehr vorbereiten.

Freitag, 9. 2. 23
Bis fast 10 Uhr im Bett. Unglaublich. Brief von am Zehnhoff, non possumus. Er will Nach-
richten über den Prozess158. Hielt 2 Stunden Vorlesung, gut, aber unerklärlich, wie mir das
möglich war. Todmüde gegessen, nachher mit Vormfelde Temps gekauft, dann zur Fakul-
tätssitzung, Berufung, welche Pohl abgelehnt hat. Nachmittag mit Landsberg bei Müller159
Kaffee. Er ist doch alt und schwach geworden. Holte mir Gobineau160 und las ihn etwas.
Aber sehr müde. Felt. G.161 gefallen! Jup kam um 7, nett unterhalten, gleichgültig, wir aßen
zusammen bei Strassberger, ziemlich schlecht, dann mit Vormfelde zum Kaffee, Wanner
kam, Schmitz, Braubach; wir unterhielten uns nett. Ich war müde. Oft daran gedacht, L. zu
schreiben oder ihr ein Paket zu schicken. Aber der letzte Brief war wieder zu schlecht und
arm. Viel Bier getrunken. Jup fuhr um 11 Uhr. Es war keine rechte Stimmung, obwohl Wan-
ner sehr interessant erzählte und wir uns gut unterhielten. Das Gefühl, von Braubach und
Schmitz [verkannt] zu werden. Angst. Wahrscheinlich ganz dumm und nervös. Jup sagte
mir, ich sei nicht nervös, sondern hysterisch. Er las einen Brief von Kathleen, der mich sehr

155 A. = Anwalt.
156 Die führende französische Tageszeitung der Dritten Republik, „Le Temps“, erschien von 1861 bis
1942.
157 Brief von Georg Krause an Schmitt vom 5. 2.1923 im Nachlass Schmitt erhalten (RW 265-8200).
Krause äußert sich darin auch außenpolitisch: „Trotz der feierlichsten Versicherungen glaube ich,
daß die Tschechei und Polen in Kürze handelnd auftreten werden.“
158 Gemeint ist die Klage auf Feststellung der Ehenichtigkeit wegen arglistig herbeigeführten Irrtums.
159 Café (Hermann) Müller, Bonn, Markt 36.
160 Joseph Arthur de Gobineau (1816–1882), franz. Diplomat und Schriftsteller, entwarf eine dualisti-
sche Rassengeschichtstheorie.
161 Aktie der Felten & Guilleaume Carlswerk AG.

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Februar 1923 155

rührte. Ich werde ihr endlich schreiben. Aß im Bett Pralinen, konnte nicht einschlafen, las
Gobineau.

Samstag, 10. 2. 23
Um 8 auf, schönes Wetter, freute mich auf die Reise, schön angezogen, von Schilling 2 £
gekauft, an der Bank vorbei, traf Duschka, wir fuhren mit der Rheinuferbahn nach Köln,
gingen am Rhein entlang, dann zum Wallraf-Richartz-Museum, besahen uns Leibl (das Bild
„Die Kokotte“162 gefiel ihr am besten, dann ein großer Rubens), lachten über Picasso163 und
besonders über ein Bild von Oppenheim, das ein paar deutsche Jungens mit ihrem Schul-
meister darstellt (aus der Biedermeierzeit)164, wunderschön, dann im Dom, großartig, dann
noch eine halbe Stunde am Rhein, sie sprach von ihrem Studium, ich hatte sie sehr lieb, sie
hat einen wunderschönen Gang und sah oft großartig aus, prachtvolle Füße. Wir fuhren
zurück, ich begleitete sie noch bis zur Argelanderstraße. Ein wunderschöner Vormittag, ein
kluges schönes Kind. Dabei ist sie wirklich elegant. Nach dem Essen mit Vormfelde zu Rit-
tershaus, Schäfer165 war auch da, dann [Bankier] Schilling gerufen, von seinem Büro tele-
phoniert und für Jup Herz Schuhfabrik166 gekauft. Müde zu Hause, Fräulein Esser kam und
brachte mir Butter, ich plauderte etwas mit ihr, aber sie ist zu hässlich. Las Gobineau, müde,
kann nicht arbeiten, lag herum, nach dem Abendessen etwas durch die Straßen gelaufen,
Schmitz zufällig an seinem Haus getroffen, müde, verzweifelt zu Hause, etwas Temps gele-
sen, das ist alles. Habe Lo nicht geschrieben. Im Bett wieder teure Pralinen gegessen.

Sonntag, 11. 2. 23
1/2 10 auf, schnell angezogen, mit ungeheurem Behagen gefrühstückt. Wie schön ist es hier.
Herrlicher Kaffee. Die Frau v. Wandel hatte mir die Bergwerkszeitung hingelegt, in der
viele wichtige Nachrichten waren. Alles unglaublich. Ich erinnerte mich an den schönen
Vormittag mit Duschka. Eine sehr glückliche Stunde. Schrieb an am Zehnhoff sehr lustig
und an Jup, dann zu Vormfelde, nett unterhalten in seinem Büro, nach dem Essen spazieren,
am Rhein entlang. Wir tranken dann bei mir Kaffee, sehr guten Kaffee. Um 5 ging er fort,
ich schlief etwas, um 1/2 7 eine schöne Arbeitsstunde. Dann zum Abendessen, traurig,
erschöpft. Zu Schmitz, für Freitag hat er Billetts zu Don Juan, sie werden sehr teuer sein.
Wir unterhielten uns über seine Probleme, er ist tief degoutiert, gleichgültig, müde. Freue
mich aber auf Don Juan, war Duschka schon wieder leid. Dachte an Lo. Alles ist gleich.
Wie überflüssig zu sprechen. Fühlte mich dem Weltgeist näher. Trank Wein mit Schmitz, er
begleitete mich nach Hause.

162 Wilhelm Maria Hubertus Leibl (1844–1900), Die junge Pariserin (Die Kokotte), 1869, WRM 1169
(= Inventarnummer).
163 Es dürfte sich dabei um Picassos Bild „Die Familie Soler“ (1903) handeln, das später von den
Nationalsozialisten als „entartete Kunst“ aus dem Museum entfernt wurde und sich heute im
Musée du Parc de Boverie (Art Moderne) in Lüttich befindet.
164 Vermutlich Moritz Oppenheim, Die Brüder Jung mit ihrem Erzieher Ackermann, WRM 1108.
165 Möglicherweise Wilhelm Schäfer (1868–1952), Publizist, Herausgeber der Monatsschrift „Die
Rheinlande“, ein früher Förderer Schmitts. Vgl. Schmitt, Jugendbriefe, S. 23 f., 183–189, 198–202.
166 Schuhfabrik Herz AG, Frankfurt/Main. Die Gesellschaft wurde am 1898 gegründet und firmierte
bis September 1910 als Frankfurter Schuhfabrik AG vorm. Otto Herz & Co.

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156 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Montag, 12. 2. 23
Ein schlechter Tag. Um 1/2 10 auf, nervös, aber sehr produktiv, hielt eine zu nervöse Vor-
lesung. Nachher Schirm abgeholt, Stock gekauft. Bei Schilling an der Darmstädter Bank
vorbei, kaufte 1 £ für 170.000 Mark (der Kurs ist 130.000). Dann zu Vormfelde, um seine
neue Sekretärin zu sehen. Wir gingen zum Essen. Nachher am Rhein spazieren. Wunderten
uns über den guten Stand der Mark und sprachen über Devisen. Ich holte mir an der Uni-
versität Geld (147.000 Mark), bezahlte den Stock, der mir schon nicht mehr gefiel, zu Hause
starken Kaffee, müde, etwas gearbeitet, Karte an Jup, dass er Freitag nicht kommen soll,
Haare schneiden lassen, bei der Wäscherin vorbei, wegen 2 Taschentüchern, unnütz aufge-
regt. Davon zermürbt. Unfähig zum Kampf ums Dasein. Nach dem Essen mit Vormfelde in
der Marienstraße167, bei Kaufmann vorbei, aber es machte niemand auf, zu Hause Vorlesung
vorbereitet. Endlich einmal ein Abend zu Hause. Verzweifelt, traurig, vernichtet, pessimi-
stisch, aufgeregt, ohne Hoffnung, verkommen. Sah die Arbeit von Fräulein v. Wandel168
durch, oft voller Wut über diese dumme, arrogante Gans und den albernen Göppert169.
Zensierte sie aber als gut mit einem schön stilisierten Votum.

Dienstag, 13. 2. 23
Früh auf, um 1/4 vor 9, wunderschöner Kaffee, hielt meine 2 Stunden Vorlesung, in der
Vorlesung über allgemeine Staatslehre war ein Spanier170, mit dem Neuß mich bekannt
gemacht hatte. Todmüde nach Hause, mit Vormfelde an den Rhein, dann zu Hause Kaffee
getrunken, etwas ausgeruht, Seminarvortrag von Bongartz171 über katholische Staatsauffas-
sung, nette Diskussion, nachher mit Braubach bei Strassberger gegessen, dann zu mir. Er
hatte eine Flasche Wein mitgebracht, las mir seine Arbeit vor, wir tranken Portwein dazu,
sehr nett, sprachen zuletzt über Blei. Bis 1/2 1, sehr gut unterhalten172, müde, munter, ani-
miert.

167 1972 untergegangene Straße in der Bonner Südstadt zwischen Königstraße und Weberstraße.
168 Margarete v. Wandel, Tochter von Franz Gustav und Katharina v. Wandel, Dr. iur. (mündliche Prü-
fung am 21. 2.1923, s. Eintragung vom Tage). Schmitt fertigte zu ihrer Dissertation über „Die Wirt-
schaftsräte des Artikel 165 der Reichsverfassung“ das Zweitgutachten an.
169 Erstgutachter der Dissertation.
170 León Martín-Granizo Rodríguez (1884–1964), Dr. iur., span. Sozialökonom und Schriftsteller,
mehrere Jahre als Spanischlehrer in der Schweiz, in Italien und in Frankreich, 1917 Eintritt in das
spanische Instituto de Reformas Sociales, 1922–1923 Aufenthalt in Deutschland zum Studium
sozialer Einrichtungen und großer Produktionsanlagen (vor allem im Ruhrgebiet), nach dem Zwei-
ten Weltkrieg in Diensten des span. Arbeitsministeriums. Vgl. auch Biografía y bibliografía
del Excmo. Sr. D. León Martín-Granizo Rodríguez, publicadas con motivo de su jubilación del
Cuerpo Técnico-Administrativo del Ministerio del Trabajo, Madrid 1954; Biografía y bibliografía
del Excmo. Sr. D. León Martín-Granizo Rodríguez, publicadas con motivo de su jubilación e
ingreso en la Academia de Ciencias Morales y Políticas, Madrid 1955. Siehe Abbildung Seite 579.
171 Josef Bongartz (1898–1971), ab 30. 4. 1921 für Jura immatrikuliert, später Dr. iur., Oberlandes-
gerichtsrat und Senatspräsident in Saarbrücken, Autor von Anekdoten und Spottversen zur Justiz.
Vgl. Deutsches Literatur-Lexikon. Das 20. Jahrhundert. Biographisch-bibliographisches Hand-
buch, hrsg. von Wilhelm Kosch, Bd. 3, Bern, München u. a. 2001, S. 382.
172 Siehe Teil III, S. 446.

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Februar 1923 157

Mittwoch, 14. 2. 23
Brief von Georg Eisler173, der mir wohl tat, schöner Kaffee, Schmitz kam um 1/2 11, freute
mich über ihn, ging zur Universität, Vorlesung, sehr nett, nachher mit Braubach zum Pri-
vatdozenten Josef Hopmann174 in die Sternwarte175, der morgen Abend kommen will, dann
zu Vormfelde, meine Schuhe zum Besohlen gebracht, nach dem Essen schöner Spaziergang
mit Vormfelde, Steine geworfen. Zu Hause ausgeruht, dann zu Frau Schmitz, das Haus von
Heitmüller176 besehen, die Frau ist Hamburgerin, nachher Kuchen gekauft (2100 Mark),
Kaffee bei mir getrunken mit Frau Schmitz, dann ausgeruht. Hielt von 7 bis 8 meine Vor-
lesung über politische Ideen, Dr. Platz177 war da mit Braubach. Ich suchte natürlich nur
Duschka, sie war da (ich war benommen, wie ich sie nicht gleich sah), ging mit ihr zur
Argelanderstraße, fühlte mich dumm, lächerlich, betrogen. Sie ging zu ihrer Freundin und
zu ihrer <…>stischen Versammlung; beschämt, vernichtet, ernüchtert, vernichtet zur Pen-
sion, zum Essen, dann zu Schmitz. Wir stilisierten ein paar Sachen seines Buches178, dann
Don Giovanni. Wunderschön. Tranken Wein dazu. Um 1/2 12 nach Hause, begeistert von
der Schönheit der Oper, aber zu oft an Duschka gedacht. Dachte tagsüber mit großer Milde
an Carita, wollte ihr die Wohnung lassen, mich in mein Schicksal fügen, in möblierte Zim-
mer bannen. Wie traurig ist mein Leben verpfuscht.

Donnerstag, 15. 2. 23
Müde bis 1/2 10, furchtbarer Schmerz auf der linken Gesichtshälfte. Starker Kaffee, hörte
von Schmitz, dass Klemperers179 Mutter verstorben, aber sehr erschöpft und ermüdet.
Nachher zur Bibliothek, <…> geholt (immer heimlich an Duschka gedacht und schließ-
lich doch wieder nicht), zu Hause, nach dem Essen etwas mit Vormfelde, dann müde
nach Hause, traurig, verzweifelt, ruhte eine Stunde gut aus, darauf ging es mir besser. Frau

173 Brief Eislers aus Fischen (Allgäu) an Schmitt vom 10. Februar 1923 im Nachlass Schmitt erhalten
(RW 265-3141). Er bittet darin u. a. um den Aufsatz zur Judenfrage von Karl Marx.
174 Josef Hopmann (1890–1975), Astronom, ao. 1923 Prof. in Bonn und Observator der Universitäts-
sternwarte, 1930 o. Prof. und Direktor der Sternwarte in Leipzig, 1951–1962 o. Prof. und Direktor
der Universitätssternwarte in Wien.
175 Alte Sternwarte in der Poppelsdorfer Allee in Bonn.
176 Vermutlich Wilhelm Heitmüller (1869–1926), protest. Theologe, 1908 o. Prof. für Neues Testament
in Marburg, 1920–1923 in Bonn, 1923–1926 in Tübingen. Sein Haus war in der Poppelsdorfer
Allee 25.
177 Hermann Platz (1880–1945), Kulturphilosoph und Romanist, maßgeblicher Verfechter des Abend-
land-Gedankens und Mitinitiator der Zeitschrift „Abendland“ (1925–1929), 1924–1935 Honorar-
prof. für franz. Geistesgeschichte in Bonn. Vgl. Hans Manfred Bock, Der Abendland-Kreis und
das Wirken von Hermann Platz im katholischen Milieu der Weimarer Republik, in: Le milieu
intellectuel catholique en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1871–1963)/Das katholische Intellek-
tuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963), hrsg. von Michael
Grunewald u. Uwe Puschner in Zusammenarbeit mit Hans Manfred Bock, Bern u. a. 2006,
S. 337–362.
178 Vermutlich handelt es sich um Formulierungen in: Arnold Schmitz, Beethovens „zwei Prinzipe“:
Ihre Bedeutung für Themen- und Satzbau, Berlin und Bonn 1923.
179 Otto Nossan Klemperer (1885–1973), Musiker und Dirigent, 1917–1924 Kapellmeister, dann
Generalmusikdirektor der Kölner Oper, 1919 kath. getauft, 1933 ins Exil nach Los Angeles (USA),
1947 nach Europa zurückgekehrt.

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158 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

v. Wandel brachte mir Kaffee, ich war müde und konnte nicht viel arbeiten, verzweifelt. Mein
Leben ist vertan. Hielt meine 2 Stunden Seminar, Vortrag von Gerber über den Begriff der
Repräsentation180, nicht schlecht, ich sprach ausgezeichnet, vielleicht weil ich neben Fräu-
lein Stoffels stand. Nachher schnell nach Hause, wo Jup schon war. Er gab mir 90.000 Mark
für <…> und ist mir noch etwas schuldig. Ging zum Essen zu Strassberger, dann zurück,
Dr. Hopmann kam, zeigte seine Photographien von [Sternhaufen]181, es war sehr langweilig,
er ging schließlich, trank noch mit Jup Bier bei Kieffer, müde nach Hause, hatte Jup gern,
freute mich seiner Vernünftigkeit.

Freitag, 16. 2. 23
Sehr müde, erkältet, Brief von Karl Lamberts182 wegen Ernst183, von Palyi184, eine Zusen-
dung von Dr. Singer185 aus Hamburg, die mich sehr freute, zu Schmitz, die Billetts abgeholt,
kaufte von Schilling 1 1/2 £, hielt meine 2 Stunden, todmüde, dann begleitete mich Brau-
bach, nach dem Essen mit Vormfelde und 2 Damen Maubach186, die von Russland erzählten.
Wir warfen Steine, ich war um 1/4 4 zu Hause, ganz erschöpft und todmüde. Ruhte etwas
aus, zog mich um, allmählich wurde mir besser. Kein Kaffee, dann zu Duschka, traf sie auf
ihrem kleinen Zimmer, sie war sehr freundlich, ich ging zur Bahn, war zu spät, aber der Zug
hatte glücklicherweise auch Verspätung. Fuhr nach Köln, dann zum Opernhaus; alles ging

180 Emil Gerber (1897–?), Doktorand Schmitts (mündliche Prüfung 14. 2. 1926). Seine Dissertation
„Der staatsrechtliche und politische Begriff der Repräsentation in Deutschland zwischen Wiener
Kongreß und Märzrevolution“ lag 1925 vor (vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 208), erschien aber
erst 1929 in einem Verlag in Gerbers Geburtsstadt Neunkirchen unter dem Titel „Der staatstheore-
tische Begriff der Repräsentation in Deutschland zwischen Wiener Kongreß und Märzrevolution“.
Das Dissertationsgutachten Schmitts in: Mehring (Hrsg.), BW Schmitt – Smend, S. 163 f. Vgl. auch
Emil Gerber, Am Tor der Welt. Gedichte, Zürich 1934 (da auf der „Liste des schädlichen und uner-
wünschten Schrifttums“ von 1938, von den Nationalsozialisten verboten).
181 Unter dem 1891 zum Direktor der königlichen Sternwarte ernannten Entdecker der Polhöhen-
schwankungen, Karl Friedrich Küstner (1856–1936), vollzog sich der Wechsel von der visuellen zur
photographischen Astronomie. Küstner sorgte für die Anschaffung eines Refraktors mit einer
Brennweite von über fünf Metern. Mit diesem Fernrohr nahm er 1900–1922 etwa 600 Photoplatten
vorwiegend von Sternhaufen auf.
182 Karl Lamberts, Sohn von Arthur Lamberts (s. Anm. 52); vgl. TB I, S. 217 u. ö.
183 Ernst Lamberts (s. Anm. 90).
184 In dem Brief vom 13. 2. 1923 (RW 265-10807) bedankt sich Palyi für Literaturhinweise zu den
juristischen Kollegen Heinrich Herrfahrdt (1890–1969) und Edgar Tatarin-Tarnheyden (1882–
1962) und regt ein Treffen an.
185 Kurt Singer (1886–1962), Philosoph und Nationalökonom „mit der Seele eines Poeten“ (Richard
Storry), 1910 Dr. rer. pol. in Straßburg, wo er Schmitt kennenlernte, ab 1916 mit dem George-Kreis
verbunden, 1916–1928 Hauptschriftleiter des „Wirtschaftsdienstes“, in dem Schmitt in den 1920er
Jahren rezensierte, 1920 Habilitation in Hamburg, 1924 ao. Prof. ebd., 1931–1935 Gastprof. in
Tokio, dann ebd. Deutschlehrer, 1939 Emigration nach Australien, zunächst zwei Jahre interniert,
1946 Dozent in Sydney, 1957 Rückkehr nach Hamburg, Emeritierung, zuletzt in Athen wohnhaft.
Vgl. auch Korinna Schönhärl, Wissen und Visionen. Theorie und Politik der Ökonomen im Stefan
George-Kreis, Berlin 2009, S. 94–107, 168–192, 291–317, 372–377.
186 Vermutlich Maria Maubach und Josephine Maubach, geb. Schmitz, Bonn, Meckenheimer Str. 3,
später Belderberg 5.

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Februar 1923 159

gut (für Duschka brauchte ich auch keine Ausländergebühr zu bezahlen), eine herrliche
Aufführung von Don Giovanni, war begeistert und hingerissen. Duschka war äußerst klug
und gut. Ich gewann sie wieder sehr lieb. Sie ist vernünftig. In der Pause mit Schilling und
seiner Frau, wir gingen 10 1/4 weg, fuhren mit der Elektrischen zum Ausblickring, von da
nach Bonn. Wir waren müde, aber beide froh über die schöne Oper. Ich staunte über die
Sicherheit von Duschka. Als ich sagte: Glauben Sie jetzt, dass Elvira von Don Juan betrogen
ist, sagte sie: sie hat sich selbst betrogen. Ich begleitete sie in die Argelanderstraße, dann
ging ich müde nach Hause. Während der Oper wütende Lust, das Leben zu fassen, dann
wieder Sorgen wegen der Entwertung des Dollars, schließlich fröhlich, begeistert von der
Mozartschen Musik und dem schönen Abend mit dem klugen, guten Mädchen Duschka.

Samstag, 17. 2. 23
Müde, lange geschlafen, behaglich zu Hause Kaffee, um 12 zu Schmitz, ihm erzählt von der
Oper, war aber müde, mit zum Mittagessen, nachher Dr. Platz, wir machten einen Spazier-
gang an den Rhein. Freute mich, ihn kennenzulernen, aber doch wohl nur ein Schulmeister,
ein Provinzial-Blei. Wie schnell werde ich die Menschen leid. Als wir zu Hause Kaffee tran-
ken, kam Professor Neuß mit einem Spanier 187 und dessen Frau. Wir tranken zusammen
Kaffee, ich war todmüde und ziemlich schweigsam, aber ein guter Gastgeber. Die Anwesen-
heit der Frau regte meine Nerven wohltuend an. Ich erschrak oft vor dieser Abhängigkeit
von Frauen. Ich könnte nicht leben ohne sie. Dabei ist es erbärmlich, wie ich sie [entbehren]
muss. Sie gingen um 1/2 7, nachher ging auch Platz. Es kam ein Telegramm von L.: Ich bitte
dringend um eine Nachricht, Lola. Antwortete nicht, ich war zu müde. Nach dem Abend-
essen (bekam die Rechnung von Strassberger, 40.000 Mark für 14 Tage!). Mit Vormfelde
etwas spazieren, schlechter [Laune], er war auch deprimiert, weil er große Verluste gehabt
hat. So ist das also, alle diese feschen Kerls, diese Schönlinge, brauchen nur einmal kein
Geld mehr zu haben. Erbärmlich, müde nach Hause und gleich ins Bett. Sehnsucht nach K.

Sonntag, 18. 2. 23
Bis 10 geschlafen, unnennbar, diese Schlafsucht. Nachts schreckliche Träume, von [Lola]
usw. Wüste Gier. Es war kaum noch zum Ertragen. Schrieb Michels188 bei einer Tasse Kaf-
fee, sehr schön die Besprechung189 von Wittmayer190. Eine Stunde behaglich, endlich einmal

187 Gemeint ist León Martín-Granizo (s. Anm. 170).


188 Robert(o) Michels (1876–1936), Soziologe und Politikwissenschaftler, 1903 Eintritt in die SPD,
wegen „sozialistischer Umtriebe“ nicht habilitiert, 1907 Auswanderung nach Italien, 1913 ital.
Staatsbürger, Hinwendung zum Syndikalismus, 1914 o. Professor für Nationalökonomie und Sta-
tistik in Basel, 1928 Eintritt in Mussolinis PNF, 1928 o. Prof. am neugeschaffenen Lehrstuhl für
Nationalökonomie und Korporationswesen in Perugia. Schmitt gab viel auf Michels’ Meinung und
sandte in den 1920er Jahren, lange vor ihrem persönlichen Kennenlernen (spätestens im Juni 1932,
vgl. TB III, S. 194), mehrere Schriften an Michels. Vgl. Tommissen, In Sachen Carl Schmitt, S. 83–
85, 95 f.; Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 39 u. ö.
189 Carl Schmitt, Die Weimarer Reichsverfassung, in: Frankfurter Zeitung, Literarische Beilage, Nr. 5,
2. 3.1923, S. 2, Wiederabdruck in: Schmittiana NF I 2011, S. 13 f.
190 Leo Wittmayer (1876–1936), Staaatsrechtler, Ministrialrat im österr. Ministerium für soziale Ver-
waltung, ab 1915 Titularprof. an der Universität Wien. Vgl. ders., Die Weimarer Reichsverfassung,
Tübingen 1922.

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160 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

wieder etwas zu tun, wenn auch minimal wenig. Zum Essen, Telegramm an [Lola], nachher
einsam spazieren, auf dem Rückweg bei Kaufmanns Wohnung vorbei, die Uhr gestellt usw.
Dann traf ich Braubach, der aus der Vorlesung kam, begleitete ihn in die Koblenzer Straße,
sprach über die Industriellen, die inzwischen wieder Geld verdienen, das Steigen der Bank.
Müde zu Hause geschlafen, kein Kaffee, bei Honig vorbei, der aber glücklicherweise nicht
zu Hause war. Fräulein Baumeister 191 zeigte mir ihre Buchbinderarbeit. Wie traurig ist das
alles. Keine Frau. Verging vor Sehnsucht, Melancholie, armer Papageno. Dann zu Haus die
Rezension über Wittmayer geschrieben.192 Nach dem Essen Fräulein Käthe193 einen Brief an
die Frankfurter Zeitung mitgegeben, dann zu Schmitz, v. Kobinenski 194 [war] da, <…> phi-
losophiert, politisiert, ich war müde, blieb bis 11, Schmitz besprach noch etwas wegen sei-
nes Buches. Ich ging müde, von ihm begleitet durch den Schnee nach Hause. Wieder groß-
artig, kann nichts mehr arbeiten.

Montag, 19. 2. 23
Wieder lange geschlafen, Kopfschmerzen, Augenschmerzen, schlechte Vorlesung über preu-
ßisches Staatsrecht, nachher herumgelaufen, unfähig, auch nur eine Hand zu rühren. Nach
dem Essen Temps gekauft, müde nach Hause, geschlafen, ohne dadurch munter zu werden.
Gorki „Über den Bürger“ gelesen195, kann nicht einmal eine Notiz machen, Pralinen geges-
sen, gegen Abend ein paar Briefe an Karl Lamberts, Georg Eisler, Ännchen196 eine Karte,
Erich Kaufmann197. Brachte sie nach dem Essen zur Post. Noch etwas spazieren, freundlich
hier, Sehnsucht nach einer Frau, erschlagen, müde, nach Hause und im Bett noch lange ge-
lesen, Zeitungen usw. Ich weiß nicht, was ich tun soll, heftige Augenschmerzen, Verzweif-
lung, ungläubig, zerrissen, nichts.

Dienstag, 20. 2. 23
Morgens etwas besser, trank wieder Kaffee, daher sehr munter und fröhlich. Las nach, was
ich über Mach. geschrieben habe (in München) 198, und fand es schön. Vielleicht wäre es

191 Eine Studentin; s. die Beschreibung im Brief an Kathleen Murray vom 10. 5. 1923, Teil III, S. 468 f.,
sowie Murrays Brief an Schmitt vom 12.–17. 8. 1923 (Nachlass Tommissen), S. 7.
192 Wittmayer und Schmitt lieferten sich über gegenseitige Rezensionen einen heftigen Schlagabtausch.
1925 beklagte Schmitt „die lächerliche Situation, dass Wittmayer, Stier-Somlo, Mendelssohn Bar-
tholdy und Nawiasky – 4 Juden gegen einen Christen – in sämtlichen Zeitschriften über mich her-
fallen“ (Brief an Smend vom 21. 5. 1925, in: Mehring [Hrsg.], BW Schmitt – Smend, S. 43 f., 44);
s. auch Brief Schmitts an Koellreutter vom 14. 2.1925, in: Teil III, S. 544 f.
193 Margarete v. Wandel (s. Anm. 168) oder eine andere Person aus dem Umfeld der Pension; s. auch
Eintragungen vom 23. 3. und 14. 5.1923 sowie 6. 1.1924.
194 Nicht ermittelt.
195 Maxim Gorki, Bemerkungen über den Bürger, in: ders., Die Zerstörung der Persönlichkeit. Auf-
sätze, Dresden 1922, S. 13–16.
196 Anna Schmitt (s. Teil I, Anm. 224).
197 Vermutlich die Antwort auf Kaufmanns Brief vom 14. 2.1923 (RW 265-7312), dem Kaufmann eine
Kopie seines Schreibens an den Dekan der Fakultät, Ernst Landsberg, in der Frage der Nachfolge
auf Martin Wolffs Lehrstuhl (s. Anm. 210) beigefügt hatte.
198 Mach. = Machiavelli. Schmitt bezieht sich auf seine Vorlesung aus dem Jahr 1919 an der Handels-
hochschule München. Die Transkription des Manuskripts in: Schmitt, TB II, S. 477–485.

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Februar 1923 161

doch das Beste gewesen, bei Carita zu bleiben. Ich vermisse meine Lebenstüchtigkeit; wer
kann ohne das leben. Sie war die Beste. Die lächerliche Karusselldame lassen, die wilde
nymphomanische K. Was ist das alles. Hielt meine 2 Stunden Vorlesung sehr gut, besonders
die allgemeine Staatslehre, über Machiavelli. [Nachher] mit dem Spanier, der mich für Frei-
tag einlud, sehr angeregt, dadurch besonders, weil ich gut französisch spreche. Nach dem
Essen ausgeruht, von 3–4 bei Guardini in der Vorlesung, enttäuscht, ein guter Seelsorger,
guter Psychologe, guter Rezensent der Zeit, aber Glied der vornehmen Welt, wohl ein
Westfale199. Nachher traurig, enttäuscht, Schokolade getrunken bei Kaufmann, viel Kuchen
gegessen, 2 Stunden Seminar, 2 Referate, die schlecht und langweilig waren. Nachher müde
nach Hause. Nach dem Essen zu Schmitz, mit ihm Bier getrunken im Hähnchen und von
da zu Kieffer. Zu viel Bier. Todmüde, ohne Freude, ohne Schwung. Mit Schmitz für Don-
nerstag verabredet, um Duschka das Beethovenhaus zu zeigen. Müde und einsam nach
Hause.

Mittwoch, 21. 2. 23
Morgens ein Einschreibebrief von Carita, sie bittet, ihr die Möbel bis 1. 4. zu lassen. War
froh über den Brief, der freundlich war. Hielt meine Stunde Vorlesung, nachher mit Fräu-
lein Stoffels über ihr Referat gesprochen, bei Kaufmann Tee getrunken, freute mich über
das begeisterungsfähige, ernste, tüchtige Mädchen. Trotz ihrer Hässlichkeit hatte ich sie
sehr lieb. Nach dem Essen zu schlafen versucht, dann etwas spazieren, Temps gekauft usw.
Immer neue Überlegungen, müde zu Hause (heute promoviert Fräulein v. Wandel), dann in
den Königshof, schönen Mokka getrunken und meine Vorlesung über politische Ideen vor-
bereitet. Sah Theodor Kaiser aus Plettenberg auch dort sitzen. Gute Einfälle, Ideen, seit lan-
gem zum ersten Mal, schrieb im Dozentenzimmer alles ins Reine, Zitelmann kam, wir spra-
chen über seine Gedichte, langweiliger Schund. Dann hielt ich meine Vorlesung (zu meinem
Ärger war Hensel drinnen) sehr schön über Reformation und Inquisition mit einem schö-
nen Schluss: alle großen Dinge wachsen immer im Schoß drinnen und im Schweigen.
Erwartete Duschka, sie war aber nicht da. Enttäuscht. Sprach noch etwas mit Braubach,
dann allein zur Pension. Nach dem Essen ziellos und ratlos nach Hause. Fräulein v. Wandel
kam mit ihrer Mutter, erzählte von ihrem Examen, ich gratulierte. Dann einsam herum-
gesessen und Tagebuch geführt. Noch spät zu Schmitz, Wein getrunken.

Donnerstag, 22. 2. 23
Fühlte mich unerwartet plötzlich sehr wohl. Sehr schöner Vormittag, hielt meine Vorlesung
über preußisches Staatsrecht sehr gut, zur Bank, in der Landwirtschaftlichen Schule meine
Schuhe abgeholt, nach dem Essen traf ich zufällig Theodor Kaiser, ging mit ihm, lud ihn ein,
wir tranken im Königshof Mokka und sprachen über den Proletarier, sehr nett. Er beglei-
tete mich nach Hause, ich ruhte mich aus. Um 5 Uhr Seminar, Fräulein Stoffels hielt (in
singendem Ton) ein sehr gutes Referat über Oppenheimer 200; leider war es sehr kalt in dem

199 Romano Guardini (s. Teil I, Anm. 371) ist in Verona geboren, wuchs aber in Mainz (Rheinland-
Pfalz) auf.
200 Franz Oppenheimer (1864–1943), Dr. med., Dr. phil., Mitbegründer der „Deutschen Gesellschaft
für Soziologie“, 1919–1929 o. Prof. für Soziologie und Theoretische Nationalökonomie in Frank-
furt/Main, 1940 von Schanghai aus Emigration nach Los Angeles, USA.

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162 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Zimmer. Angenehme und sympathische Besprechung. Nachher noch etwas mit dem rüh-
rend dicken Fräulein Esser. Dann auf Braubach gewartet, der mich in der Kälte stehen ließ,
was mich verärgerte. Hatte ihn zum Essen eingeladen, wir aßen bei Strassberger. Schlecht
bedient, habe von Haecker Kierkegaards Reden „Am Fuße des Altars“201 zugeschickt
bekommen. Mit Braubach zu einem Vortrag von Steinbüchel über den Staat, langweilig.
Dann wollte ich Bier trinken, er ging aber nach Hause. Wir sprachen noch über die Zer-
reißung der Welt durch den Protestantismus. Ich ging dann müde nach Haus und bald ins
Bett. Habe mir heute wieder viele Pralinen gekauft. Las im Bett noch einen Temps.

Freitag, 23. 2. 23
Morgens lange geschlafen, um 7 wach. Heftige Vorsätze, großes Selbstbewusstsein und
Kraft, in Erinnerung an meine Knabenzeit. Aber wieder eingeschlafen, nachher heftige
Libido, ein Brief von einem Geistlichen aus Sydney 202, der mir versichert, dass es K.
schlecht geht. Ich war erschüttert, wollte Georg ein Telegramm schicken. Machte mir Vor-
würfe. Hielt meine 2 Stunden Vorlesung, ziemlich gut, besonders die 2., allgemeine Staats-
lehre über Hobbes. Nachher mit dem Spanier Essen gegangen und mit seiner Frau im Bür-
gerverein203, dann im Königshof. Gut unterhalten, über Deutschland, begleitete sie nach
Hause. Traurig und müde in meine Wohnung zurück. Völlig aufgelöst und zerrissen von
Vorwürfen wegen K. Ich bin inzwischen bald irrsinnig, weinte. Unerträglich. O Gott, hilf
mir. Verzweifelt, völlig vernichtet, und gar keine Rettung. Das ist das Ende. Heute ein paar
Briefe (Feuchtwanger, Däubler 204, Karte an Calker 205 und an Koellreutter), dann zum Essen.
Unterhalten mit Fräulein Ida <? >, die mir von dem ganzen Prozess ihres Vaters erzählt, der
<…>, ich dachte immer an mich, grauenhaft. Ich brachte die Briefe zur Post, dann einsam
nach Hause, las herum, allmählich ruhig und eifrig. Schließlich fast wieder in der alten,
beherrschten, gleichmäßigen Stimmung meiner Knabenzeit. Schließlich las ich noch Kierke-
gaard und ging beherrscht ins Bett.

Samstag, 24. 2. 23
Behaglich ausgeschlafen, schön gearbeitet, eine Stunde an dem Aufsatz über Diktatur 206.
Wohlbehagen. Aber ich muss K. schreiben. Nach dem Essen mit Honig spazieren, nach
Casselsruh, er lud mich sehr sympathisch nach Göttingen ein. Ich kaufte einen Temps,
kaufte Kuchen, trank bei ihm Kaffee. Wir unterhielten uns freundlich, ich freute mich über

201 Søren Kierkegaard, Am Fuße des Altars. Christliche Reden. Übertragung und Nachwort von
Theodor Haecker, München 1923.
202 Vermutlich Father Stockton; s. Schmitts Brief an Kathleen Murray vom 25. 2. 1923, Teil III, S. 449 f.
203 Bonner Bürger-Verein AG, Weinhandlung und -stube in der früheren Kronprinzenstraße 2a zwi-
schen Poppelsdorfer Allee und Königstraße.
204 Siehe Teil III, S. 447.
205 Fritz van Calker (1864–1957), Straf-, Strafprozess- und Zivilprozessrechtler, 1896 o. Prof. in Straß-
burg, Doktorvater und Förderer Schmitts, 1912 Abgeordneter des Reichstags, im Ersten Weltkrieg
Major, später Oberst im Bayer. Infanterie-Leibregiment in München, wohin er auch Schmitt holte
(vgl. TB I, S. 17 f., TB II, S. 6 ff.), 1921–1934 o. Prof. in München. Vgl. TB I, Kurzbiographie,
S. 393, passim; TB II, S. 6 ff., passim; Mehring, Aufstieg und Fall, S. 27 ff., passim.
206 Nicht publiziert.

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Februar 1923 163

sein Interesse an der Politischen Romantik, die er sich von einer Freundin wunderschön hat
einbinden lassen. Müde nach Hause, etwas gearbeitet, <…>, nach dem Essen abends zu
Schmitz. Er spielte mir Schumann vor, es war aber nichts Rechtes. Um 1/2 12 traurig nach
Hause. Wieder einsam, müde bald eingeschlafen. Abends hatte ich einen langen Brief an K.
geschrieben.207

Sonntag, 25. 2. 23
Bis fast 10 Uhr im Bett. Morgens etwas geschrieben, aber nicht viel. Immerhin schönes
Frühstück. Dann schrieb ich wieder an K.208. Gab den Brief Honig, den ich zufällig traf und
der ihn mit nach Köln nehmen will. Kaufte für 8500 Mark Blumen für Frau v. Wandel, die
Geburtstag hat. Dann zum Essen, traf unterwegs Vormfelde. Wir gingen nach dem Essen
am Rhein spazieren. Er kam munter von Berlin <? > zurück. Aber wie fremd bin ich ihm;
schlecht, verlassen, traurig, vereinsamt um 4 zu Hause. Frau v. Wandel bedankte sich für die
Blumen, gab mir schönen Kuchen, ich trank also Kaffee. Dachte immer an K., konnte nicht
viel arbeiten. Exzerpierte Maurras. Wie bin ich doch französisch. Dann um 1/2 8 zum Essen,
müde und traurig, plötzlich in heftiger Sehnsucht und Angst um K., ich wäre am liebsten
nach Marburg gereist. Ich weinte vor Sehnsucht. Wollte nach Australien fahren, phantasti-
sche Pläne, dachte wieder an Lola. O Gott! Ich will morgen ein Kabelgramm schicken.
Erschüttert. Ich schrieb an Fräulein Baumeister und an die Verwalter des christlichen Hos-
pizes, um den Ring und den Rosenkranz wieder zu bekommen. Weinte immer wieder.
Abends etwas ruhiger, als ich Maurras las. Die Empfindung <…> des Wahnsinns.

Montag, 26. 2. 23
Brief von L., sie fordert mich roh und brüsk auf, ihr zu schreiben, ihre Mutter sei schwer
krank. Sie warte täglich auf meine Nachricht. Ich erschrak über den rohen Ton und verglich
diesen Brief mit dem Brief, den K. geschrieben, als ich so lange schwieg. Jetzt bin ich mit ihr
fertig. Hielt meine Vorlesung, sehr hübsch, traf nachher Salm, einen jüdischen Studenten,
der sehr gescheit und klug war. Dann zu Vormfelde in sein Büro, nach dem Essen zu Hause
Kaffee getrunken, Pralinen gegessen, müde. Maurras gelesen. Es wurde Abend, lief durch
die Stadt, bei Kaufmann vorbei, ein französischer Offizier machte mir auf, traurig nach
Hause, verzweifelt. Nach dem Essen zu Schmitz, der aber nicht zu Hause war. Trank ein
Glas Bier, dann müde nach Hause. Ziemlich gleichgültig. Die Sehnsucht nach K. verflog.

Dienstag, 27. 2. 23
Ein arbeitsreicher Tag. 2 Stunden Vorlesung, sehr schön, nachher in der Pause mit dem
Scholl209 und mit Schmitz, nach dem Essen nur ein paar Schritte mit Vormfelde, dann zu
Hause ausgeruht, um 3 traf ich Neuß, verabredete mich, er erzählte, dass am Zehnhoff an
den Landgerichtspräsidenten geschrieben hat wegen der Besuche der [Australierin] und sei-
ner persönlichen Voreingenommenheit. Dieses alte Weib. Dann zur Universität. Prüfte mit
Göppert zusammen einen ziemlich dummen Referendar aus Düsseldorf, trank zwischen-

207 Siehe Teil III, S. 448 f.


208 Siehe Teil III, S. 449 f.
209 Nicht ermittelt.

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164 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

durch bei Kaufmann Mokka, dann Fakultätssitzung, Beratung über die Nachfolge Wolff 210.
Zycha211, Rauch212 und Gieseke sollen auflisten. Darauf zum Seminar, 2 schöne Referate,
Salm über den Völkerbund und v. Dahl über die Gleichberechtigung der Frau213. Das Letz-
tere besonders interessant, ein verkümmerter Protest und herrlich ins Literarische verschla-
gen, eine merkwürdige Sache, welche die schlechte Natur an der Wurzel [gepackt und mit]
Nüchternheit genommen hat. Von Braubach und Gerber begleitet zur Pension, dort schnell
gegessen, zu Hause ein Brief von Feuchtwanger 214, der mich freute, weil ich mir wichtig
vorkam. Dann zu Schmitz, mit ihm Bier getrunken, über Jup gesprochen, von K. ge-
schwärmt, sodass ich mich nachher schämte. Müde und schläfrig nach Hause. Oft am
Bersten vor sexueller Gier.

Mittwoch, 28. 2. 23
Morgens schön gefrühstückt, Anzug anprobiert bei Geyer, das stärkte mein Selbstbewusst-
sein; dann Vorlesung, nachher viele Anfragen von Studenten, herumgelaufen, mit v. Dahl zu
meiner Wohnung, nach dem Essen Temps gekauft, mit Vormfelde [ein] paar Schritte, dann
zu Neuß, mit ihm und seinem (mir ekelhaften) Bruder 215 Kaffee, widerliche Wohnung. Mit
Neuß und 2 Spaniern einen Spaziergang über Casselsruh, ein Spanier, Artiñano, war groß-
artig, ein großer Politiker 216. Schön unterhalten, aber sehr müde und matt. Müde, kaufte
Pralinen, aß sie zu Hause, nach dem Essen zu Schmitz, dort war auch Schulz 217, wir spra-
chen über Handel und Macht, spielte das Requiem von Mozart, müde nach Hause.

210 Es ging dabei um die Nachfolge des Zivil- und Handelsrechtlers Martin Wolff (s. Teil I, Anm. 317),
der seit 1919 als o. Prof. in Bonn gelehrt hatte und zum WS 1921/22 nach Berlin gewechselt war.
Nachfolger ab dem WS 1923/24 wurde Zycha (s. folgende Anm.).
211 Adolf Josef Zycha (1871–1948), aus Wien stammender Rechtshistoriker und Zivil-, Handels- sowie
Bergrechtler, 1898 ao. Prof. Freiburg i. Ue., 1903 Titular-, 1906 o. Prof. in Prag, 1919 in Gießen,
1923–1937 in Bonn, zugleich Direktor des juristischen Seminars, im WS 1932/33 Rektor der Uni-
versität.
212 Vermutlich Karl Rauch (1880–1953) aus Graz, Zivil- und Wirtschaftsrechtler, 1908 beamt. ao. Prof.
in Königsberg, 1911 in Breslau, 1912 o. Prof. in Jena, 1917–1927 im Thüringer Wirtschaftsministe-
rium tätig, 1927–1932 Generaldirektor der Thüringer Werke, 1932 o. Prof. in Kiel, 1933 in Bonn,
1942 in Graz, 1950 in Bonn pensioniert.
213 Walther vom Dahl (1901–?) wurde bei Schmitt 1924 promoviert (Zweitgutachter Hans Schreuer)
mit einer Arbeit „Über die Umwandlung der Stellung der Frau im öffentlichen Recht. Ein Versuch
öffentlich-rechtlich-politischer Untersuchung“.
214 Brief vom 26. 2. 1923, in: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 30 f. Feuchtwanger weiht
darin Schmitt in den Streit um die Herausgeberschaft von Schmollers Jahrbuch ein (s. Anm. 260).
215 Anton Neuß (1885–nach 1945), ab 1919 Landrichter in Bonn, 1920 Landgerichtsrat (s. auch Ein-
tragung vom 8. 11.1923), Oktober 1923 Oberlandgerichtsrat in Köln, 1938–1945 Reichsgerichtsrat
in Leipzig, wohnte in seiner Bonner Zeit, wie sein Bruder Wilhelm, in der Humboldtstraße 9.
216 Don Gervasio de Artíñano y de Galdácano (1873–1938), span. Wirtschaftsingenieur sowie Wirt-
schafts- und Kulturhistoriker, 1921–1923 Studienaufenthalte in London und in Deutschland,
April–Mai 1923 Mitglied des technischen Rates der span. Delegation auf der Konferenz von Genua
(s. auch Schmitts Brief an Kathleen vom 10. 5. 1923, Teil III, S. 468 ff.), 1934 Wahl in die Real Aca-
demia de la Historia.
217 Fritz Schulz (s. Teil I, Anm. 292).

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Februar/März 1923 165

Donnerstag, 1. 3. 23
Geschlafen bis 10, Steinbüchel kam. Ich zog mich schnell an, wir frühstückten zusammen,
um 11 traf ich den Spanier Martin218 mit seiner Frau, sie besahen die Landwirtschaftliche
Hochschule, ich begleitete sie, sah eine große und stattliche Frau und empfand eine wüste,
sinnlose Gier. Nach dem Essen wieder Temps gekauft, dann zu Hause ausgeruht, um 1/2 4
zum Seminar. Umgezogen, müde und traurig nach Hause, Zeitungen gelesen, um 7 kam
[Jup]. Frau v. Wandel kaufte Zucker auf meine Zuckerkarte, ich fühle mich betrogen, ging
nach dem Essen zu Kieffer, trank Bier, Jup ist ein großartiger, anständiger Kerl. Schmitz
kam auch noch. Wir gingen zuletzt müde nach Hause. Sinnlose Gier. Sehnsucht, fast explo-
diert. Ich musste <…>, weil ich eine politische Katastrophe erwarte.

Freitag, 2. 3. 23
Wieder lange geschlafen, nichts getan, gefrühstückt. Mehrere Studenten kamen wegen ihrer
Dissertationen, das belebte mich, mit Dr. Klein weggegangen, traf Landsberg, den ich
um den Schlüssel für die Referendarexamens-Arbeiten bat, plauderte etwas mit ihm in sei-
ner Wohnung. Dann bei Beyerhaus 219 vorbei, ein Boche. Nach dem Essen mit Vorm-
felde am Rhein, den Temps gekauft. Zu Hause etwas ausgeruht, nachmittags Brief von Frau
v. Schnitzler, der mich ärgerte, sie will eine astrologische Prognose, ob sie einen Sohn
bekommt.220 Scheußlich. Ich war gleichgültig und müde, ging gegen 6 zum Café Königshof,
schlechter Mokka, ärgerte mich, aß Kuchen, dann zum Konzert, Mozart Requiem, schlecht
aufgeführt, aber welch erschütternde Musik. Nachher zu Schmitz, gegessen, um 1/2 11 tod-
müde nach Hause. Dort lag ein Brief von Fräulein Baumeister, die ein paar Stunden auf
mich gewartet hatte. Das tat mir leid, ich will ihr morgen schreiben. Müde und gleichgültig
ins Bett.

Samstag, 3. 3. 23
Etwas eher aufgestanden, 9 Uhr <…>, geldgierig, machtgierig, unzufrieden. Welch ein Zu-
stand. Sah mit Ekel, was ich bisher geschrieben hatte, nichts, fast nichts. Spielmann 221,
brachte den Brief 222 an Fräulein Baumeister, Jups Brief an Kathleen zur Rheinuferbahn, gab
sie einem Postbeamten, dann zur Anprobe zu Geyer, unzufrieden, müde und gleichgültig
nach Hause, so verging die Zeit. Gier, Genussgier, Machtgier, Habgier (das eigentlich nicht).
3 Studenten kamen nach 12 Uhr wegen des Doktorexamens, Braubach mit großer Verspä-
tung, was mich ärgerte, sodass ich ihn sehr kühl behandelte. Nach dem Essen mit Vorm-
felde bei Rittershaus Mokka getrunken, dann 3 Doktorexamen erledigt, nachher müde her-

218 Gemeint ist León Martín-Granizo (s. Anm. 170).


219 Gisbert Beyerhaus (1882–1960), Historiker, 1920 Habil. in Bonn, ebd. 1927 nb. ao. Prof., 1932 o.
Prof. in Breslau, 1947 Gastprof. in Münster.
220 Der undatierte Brief in: Rieß (Hrsg.), BW Lilly von Schnitzler – Schmitt, S. 130 f. Frau v. Schnitzler
zeigt sich darin überzeugt, dass nur dieser Sohn erfüllen könne, was sie brauche, nämlich „eine rein
menschliche Entwicklung, nichts Äußerliches“. Schmitts Antwort vom 3. 3. 1923 ebd., S. 131 f.;
ebenso in: Teil III, S. 453 f.
221 Offenbar ein Bote oder Laufbursche der Frau v. Wandel.
222 Gemeint ist Schmitts Antwort auf den Brief, der bei Schmitt gelegen hatte. Nicht erwähnt wird die
Antwort auf Frau v. Schnitzlers Brief (in: Rieß [Hrsg.], BW Lilly von Schnitzler – Schmitt, 131 f.).

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umgelaufen, um 1/2 9 abends zu Professor Neuß, wo Levison223, Beyerhaus und Rick224


waren. Nett unterhalten, über Thomas Mann gestritten mit Rick, müde und traurig nach
Haus. Levison hat von K. gesprochen, gesagt, dass eine „liebreizende Irländerin“ einmal in
Bonn war, durchaus renommiert, und die er mit in seine Vorlesung brachte. Natürlich
erwachte wieder mein Proleteninstinkt. Inzwischen ist sie auf einmal [wertvoll].

Sonntag, 4. 3. 23
Morgens bis 10 geschlafen, um 1/2 11 kam Rick, wir unterhielten uns sehr schön, überlegte
englische Briefe, was ein großes Vergnügen war. Ich begleitete ihn in seine Wohnung, nach
dem Essen mit Vormfelde herumgegangen, dann zu Hause ausgeruht, umgekleidet, um
1/2 5 zum Tee zu Wandels 225. Es war sehr nett, man machte Gesellschaftsspiele, ich ging
1/2 7 weg. Dann nach dem Essen herumgelaufen, über die Straßen, scheußlich, geil und
gierig. Ich versaure noch in diesem Zustand. Kann überhaupt nichts arbeiten, nicht das
Geringste. Todmüde, geil, zerrüttet nach Hause.

Montag, 5. 3. 23
Morgens kam Schmitz und teilte mit, dass er für Samstag Billetts zur Zauberflöte in Köln
habe. Ich fast nichts getan. Aß bei Miesen 226 zu Mittag mit den Damen Maubach, nachher
mit ihnen Mokka bei Rittershaus. Nachmittags um 1/2 5 kam Fräulein Stoffels, das gute
Kind. Ich schrieb den Brief an die Mutter von K. und an P. McKiernan. Dann mit Fräulein
Stoffels Kaffee bei Frings, nach Köln gefahren, Fräulein Baumeister holte mich ab (traf dort
Martín-Granizo und seine Frau), wir aßen bei Deis 227 zu Abend. Ich schrieb in dem
Schreibzimmer des Hotels den Brief an P. McKiernan zu Ende; lausige phantastische Situa-
tion, wie oft war ich hier mit K., Fräulein Baumeister zeigte mir den Brief, den sie ihr
geschrieben hat. Es ist doch im Grunde kindlich und albern (dass sie inzwischen eine
Pagenkopffrisur trägt, die ihr schön stehen soll, von Blusen usw.). Ich wurde allmählich
munterer, dann plötzlich müde, geil, traurig, Fräulein Baumeister ist hübsch. Ich brachte sie
um 10 an die Elektrische nach <…>, lief noch herum, ein Mädchen aus Betzdorf 228 <…>,

223 Wilhelm Levison (1876–1947), Historiker, 1894–1903 Studium, Promotion und Habilitation in
Bonn, 1909 Titularprof., 1912 ao. Prof., 1920 o. Prof., 1935 aus dem Amt verwiesen, Emigration
nach Durham.
224 Karl Rick (1882–?), Dr. phil., Anglist, ab 1908 Lehrer am Städt. Gymnasium in Bonn, 1924–1944
Studienrat und ab 1939 Schulleiter am Kaiser-Wilhelm-Gymnasium in Aachen sowie 1926–1943
Lektor an der Technischen Hochschule. Rick übertrug Schmitts Rede „Die Rheinlande als Objekt
internationaler Politik“ (Reihe „Flugschriften zum Rheinproblem“, Folge 2, Heft 4, Köln 1925)
vor der Rheinischen Zentrumspartei vom 14. 4.1925 ins Englische: The Rhinelands as an Object of
International Politics (= The Rhineland Series of Political Pamphlets, 4, hrsg. von der Rhenish
Centre Party), Cologne 1925.
225 Offenbar eine Einladung bei Mutter und Tochter v. Wandel.
226 Restaurant Miesen, Bonn, Brüdergasse 33.
227 Hotel und Weinhaus Gebrüder Deis, Köln, Unter Goldschmied 5–7 (gegenüber dem Rathaus)
bzw. Laurenzplatz 6.
228 Betzdorf, Stadt im Westerwald, südwestlich von Siegen.

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März 1923 167

verfehlte dadurch den Zug, zu Wolff 229, den ich Wein trinkend bei einer <…> traf, er nahm
mich freundlich auf, ich schlief bei ihm, wir unterhielten uns nett. Er hat Krach mit den
Schwestern.

Dienstag, 6. 3. 23
Stand um 8 auf, fuhr nach Bonn zurück mit Salm zusammen. Schön gefrühstückt. Stein-
büchel kam des Nachmittags nicht, ich ging beim Anwalt vorbei, will morgen vormittag wie-
der kommen, kaufte mir Schokolade, sehr traurig, verzweifelt, abends todmüde früh ins Bett.

Mittwoch, 7. 3. 23
Spät auf, zum Anwalt Meyer 230, ein langsamer, anscheinend anständiger Mensch. Vorher eine
Frau, eine remplaçante von Carita, die gegenüber, bei Rechtsanwalt Henry 231, hineinging.
Erkenne den schicksalsvollen Zusammenhang. Das Gespräch beim Anwalt erleichterte mich
etwas. Nach dem Essen zu Neuß, traf Herrn Artiñano. Wir gingen spazieren, gut unterhal-
ten, ging mit zu mir, wir tranken zusammen Kaffee, sprachen über die Entstehung des Kapi-
talismus, ich begleitete ihn nach Hause. Abends nach dem Essen zu Schmitz, Chopin, die
Etüde 25, Nr. 7. Ich weinte, sie ist zu schön. Dann tranken wir Bier bei Kieffer, Artiñano
kam, wir sprachen über die Musik in Spanien, er sagte, dass nur Wagner gespielt werde.

Donnerstag, 8. 3. 23
Traf Artiñano um 11 Uhr in seinem Hotel, wir gingen zu Vormfelde, besahen sein Labora-
torium, nach dem Essen mit Fräulein Strack 232 und den beiden Maubach großen Spazier-
gang nach Godesberg über Kessenich. Sprach viel mit Maja 233, sie will einen Brief an K. mit-
nehmen. Wir tranken auf der Godesburg Kaffee, müde mit Vormfelde nach Hause, nach
dem Essen zu Schmitz.

Freitag, 9. 3. 23
Wie immer lange geschlafen, bis 10 Uhr. Ein Italiener, Dr. Carlole 234, kam. Nach dem
Mittagessen mit Levison Spaziergang über Kessenich und den Venusberg, er erzählte von

229 Otto Wolff (1881–1940), aus Bonn stammender Großindustrieller, Gründer der Eisengroßhand-
lung Otto Wolff OHG in Köln (1904), die sich vom Ersten Weltkrieg an zu einem mächtigen Kon-
zern entwickelte.
230 Alex Meyer (genannt Dr. Meyer I), ab 1938 Meyer-Körting (1879–1946), Dr. iur., stammte aus
München-Gladbach, ab 1906 als Anwalt in Bonn niedergelassen, 1929 Stadtverordneter für die
Zentrumsfraktion, Prozessbevollmächtigter Schmitts vor der 4. Zivilkammer des Landgerichts in
Bonn (mündliche Verhandlung am 18.1. 1924); Kanzlei und Wohnung (nach dem Umzug aus der
Kaiserstraße 35) befanden sich in der Wilhelmstraße 13.
231 Johannes Baptist Henry (1876–1958), Rechtsanwalt, Kommunalpolitiker des Zentrums, 1917–1919
auch Bonner Reichstagsabgeordneter, einer von nur zwei „Verbandsältesten des KV“, entschiede-
ner NS-Gegner, 1951 Ehrenbürger der Stadt Bonn; die Kanzlei war in der Wilhelmstraße 16.
232 Möglicherweise die Telegraphen-Beamtin Olga Strack, wohnhaft in der Bonner Nordstadt, Adolf-
straße 6.
233 Offenbar der Spitzname für Maria Maubach (s. Anm. 186).
234 Nicht ermittelt.

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168 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

den Kelten an der Mosel, ich dachte immer an K. Dann müde zu Hause. Um 6 nach Köln,
zu der Probe der Messe von Klemperer. Sah den Juden; ich war entsetzlich geil, sexuelle
Obsessionen durch die Stimme der Sopranistin. Nachher mit Schmitz und dessen Bruder
bei Fechtel 235 Bier getrunken (das Glas 1200 Mark), Klemperer kam in dasselbe Lokal,
sprach etwas mit ihm, seine Stimme erinnerte mich sehr an die von <…>. Müde nach Hause
mit der Rheinuferbahn.

Samstag, 10. 3. 23
Wieder entsetzlich lange geschlafen, starker Kaffee, Brief an K. angefangen, dann Lands-
berg, schrieb Brief zu Ende, nach dem Essen mit Vormfelde zu Rittershaus, die beiden
Maubach getroffen, sehr freundlich (aber nicht freundlich genug), mit Maja gesprochen,
blieb noch mit Vormfelde (die beiden reisen heute ab, Maja hat einen Brief an K. mitgenom-
men).236 Ich saß neben einer dicken Frau in der Rheinuferbahn nach Köln, Spannung fehlte,
zum ersten Mal wieder, seitdem ich als Kind hier war, neben Schmitz, der zuviel sprach.
Klemperer dirigierte gut, ich war ziemlich müde, nach der Vorstellung von Klemperer, der
sich gerade umzog und mit einem ekelhaften jüdischen Mann vom Theater diskutierte.
Scheußlich. Frau Klemperer237 scheint sehr sympathisch zu sein. Sie hat die Königin der
Nacht gesungen. Müde um 11 Uhr mit Schmitz in der Rheinuferbahn nach Hause.

Sonntag, 11. 3. 23
Bis nach 10 geschlafen, behaglich gefrühstückt, herumgelesen, nicht viel getan, nach dem
Essen zu Hause geschlafen, um 4 1/2 Kaffee, den Frau v. Wandel gemacht hatte, dann zu
Schmitz, wo Professor Neuß schon war, schön Tee getrunken, dann über Mozart gespro-
chen (freimaurerische und katholische Musik), viele schöne Dinge entdeckt. Wir begleiteten
Neuß in seine Wohnung, ich aß dann zu Abend, einsam, schnell bereitet, habe heute wieder
Gobineau gelesen <…>. Müde, Tagebuch geführt und ziemlich früh ins Bett <…>, las Refe-
rendarexamensarbeiten im Bett.

Montag, 12. 3. 23
Bis nach 10 geschlafen, ein Brief von Kommnick238, der nach K. fragt, eifersüchtig, traurig,
dumm. Zum Rechtsanwalt Meyer, ein guter Kerl. Bis 1 Uhr. Er will gleich die Klage239 erhe-
ben. Durchschlag an Carita. <…> Nach dem Essen mit Vormfelde bei Rittershaus Kaffee,
ganz überflüssig, dann zu Hause Referendararbeiten, um 1/2 5 kam Fräulein Stoffels, wir
gingen zusammen spazieren, sie erzählte erst von Lorenz v. Stein, dann von ihren Eltern,

235 Vermutlich Anton Fechtel, Inhaber des Lokals „Im Alten Präsidium“, Köln, Schildergasse 84.
236 Siehe Brief vom Februar 1923, Teil III, S. 455 f.
237 Johanne Elisabeth Meyer (1888–1956), Künstlername Johanna Geisler, Sopranistin und Schauspie-
lerin, ab 1919 mit Otto Klemperer verheiratet.
238 Alfred Kommnick (1895–?), 1923 in Marburg promoviert mit „Studien zu John Ruskin als Litera-
turkritiker. (Insbesondere Ruskins Stellung zu W. Scott und sein Verhältnis zur Romantik)“, später
Studienrat am Realgymnasium in Essen-Bredeney; s. auch Teil III, S. 469.
239 Klage Schmitts gegen seine Frau Cari auf Feststellung der Nichtigkeit der Ehe (s. Anm. 230). Die
Nichtigkeit wurde mit Urteil vom 18.1. 1924 festgestellt und am 2. 3. 1924 rechtskräftig (vgl. Pro-
zessakten, unveröffentlicht).

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März 1923 169

ihrem Bruder, der heiraten will gegen den Willen ihres Vaters, von ihrem Bauernstolz usw.
Sie hat eine Irländerin gekannt, es war aber nicht K., sondern eine Miss Cook. Es tat mir
gut, mit ihr zu sprechen. Sie dankte mir herzlich. Ich habe sie gern, aber sie ist nicht schön.
Heute mal den Temps gekauft, kaufte für teures Geld Wurst und Butter. Zu Hause eine
Telephonnotiz, Fräulein Baumeister will morgen Vormittag kommen. Wahrscheinlich will
sie Geld haben. Ich dachte oft sehnsüchtig an K. Nach dem Essen mit Vormfelde einen Spa-
ziergang, konnte ihn ziemlich leiden, dann zu Hause einen schlechten Mokka getrunken,
mit großem Interesse Villiers de L’Isle-Adam „Le Convive des dernières fêtes“ gelesen.240
Gequält durch die Sehnsucht nach Liebe, meinen Stolz, den Gedanken an Kierkegaard.
Müde und traurig, dann wieder genussfreudig.

Dienstag, 13. 3. 23
Wieder lange geschlafen, um 10 erst aufgestanden, dachte, Fräulein Baumeister käme, um
1/2 vor 11 zur Rheinuferbahn. Fräulein Baumeister kam, sie sah unvorteilhaft aus, natürlich
wollte sie Geld. Wir gingen durch den <…> zum Rhein, dann bei der Dresdner Bank241 vor-
bei, ich gab ihr dort 100.000 Mark, dann zur Poppelsdorfer Allee, traf dort Duschka, verab-
redete mich mit ihr für morgen, in die Landwirtschaftliche Hochschule, bei Vormfelde vor-
bei, er konnte mir kein Geld leihen, also mit Fräulein Baumeister zu mir, gab ihr noch
50.000 Mark, sie enttäuschte <?> einen schön, ich trank mit ihr bei Frings eine Tasse Kaffee,
um 1 reiste sie zurück. Nach dem Essen mit Vormfelde bei Müller Mokka getrunken, nett
unterhalten über Frauen. Müde nach Hause. Um 1/2 5 kam Reiners, ein Student242, las mir
vor, was er in meiner Vorlesung „Politische Ideen“ mitgeschrieben hat. Er blieb bis 1/2 7,
dann kaufte ich einen Temps, müde nach Hause, nach dem Essen zu Landsberg, nett unter-
halten, aber schließlich doch eine scheußliche Gesellschaft, aber die Frau ist wunder-
schön243; der Junge lächerlich, albern, kitschig.244 Müde nach Hause, geil, Ejakulation.

Mittwoch, 14. 3. 23
Wieder zu lange geschlafen. Todmüde. Unerklärlich, diese Schlafsucht. Frühstückte behag-
lich. Ging dann um 1/2 12 zur Poppelsdorfer Allee, traf Duschka, wir gingen etwas spazie-
ren, dann zum Provinzialmuseum245, sahen die keltischen und römischen Altertümer und

240 Auguste Comte de Villiers de L’Isle-Adam (1838–1889), franz. Schriftsteller, Symbolist. Die
Schauernovelle „Le Convive des dernières fêtes“ erschien 1883 in der Sammlung „Contes cruels“.
241 Die Bonner Filiale befand sich am Münsterplatz 1–3.
242 Hermann Reiners (1900–?), Doktorand Schmitts, 1927 promoviert mit einer Arbeit über „Boling-
brokes politische Lehren“ (Köln 1932), 1930 Amtsgerichtsrat, später Richter am OLG Saar-
brücken.
243 Anna Silverberg (1878–1938), die um 17 Jahre jüngere Ehefrau von Ernst Landsberg, beging wegen
des nationalsozialistischen Terrors gegen ihre Familie Suizid. Vgl. Rechts- und Staatswissenschaft-
liche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn (Hrsg.), Ernst-und-Anna-
Landsberg-Stiftung. Gedächtnisschrift für Prof. Dr. Ernst Landsberg (1860–1927), Frau Anna
Landsberg geb. Silverberg (1878–1938), Dr. Paul Ludwig Landsberg (1901–1944), Bonn 1953.
244 Paul Ludwig Landsberg (s. Teil I, Anm. 243).
245 Bedeutende Forschungsstätte und Sammlung vor allem urgeschichtlicher und provinzialrömischer
Funde, seit 1893 Neubau in der Colmantstraße, seit 1909 zusätzlich Gemäldegalerie, größtenteils
aus der Sammlung des Ehepaares Otto und Mathilde Wesendonck.

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170 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

ein paar Bilder, sehr nett unterhalten. Nach dem Essen zu Hause geschlafen, um 1/2 5 kam
Gurian, ein russischer Jude aus Köln, ich sprach freundlich mit ihm, er erzählte von Guar-
dini, Haecker usw. Ich nahm ihn mit nach Frings, wo wir Kaffee tranken. Ich war ziemlich
müde. Um 1/2 7 verabschiedeten wir uns. Als ich nach Hause kam, zufällig Artiñano getrof-
fen. Schön unterhalten, er saß dann mit mir bei Strassberger (Ekel vor W<…>, diesem Bur-
schen), dann gingen wir bei Neuß vorbei. Zu Schmitz, der uns eine Etüde von Chopin vor-
spielte. Dann gingen wir zusammen zum Bürgerverein, wo wir Neuß trafen, Unterhaltung
schön, über den Bolschewismus, A.246 erzählte von der Konferenz zu Genua, schließlich
sprachen wir über den Nihilismus. Um 12 mit viel Wein nach Hause, mit Neuß zusammen.
Freute mich sehr über ihn. Müde, noch Seminarakten unterschrieben usw. Dachte an K.,
sehnsüchtig, unklar. Heute haben die Vögel so gepfiffen wie in Marburg247.

Donnerstag, 15. 3. 23
Wieder zu lange geschlafen, der Student Salm kam, ich frühstückte, er erzählte von seinem
Examen, er begleitete mich etwas, ging zum Rechtsanwalt Meyer, bis ich nach 2 Stunden
nicht mehr zur Bibliothek kam. Wut über Pestalozza, der alles verdorben hat. Oft traurig
wegen der armen, braven Carita. Nach dem Essen mit Vormfelde Spaziergang am Rhein
entlang, zu Herrn Wolf 248, dem Logenbruder von Vormfelde 249, der auch mit am Zehnhoff
befreundet ist. War erst sehr müde, dann etwas lebhafter. Schön eingerichtete Villa, die
erstickende Atmosphäre einer wohleingerichteten Bourgeoisie. Eine Künstlerfrau, 2 sympa-
thische anständige Jungen, wir unterhielten uns sehr nett, über am Zehnhoff, über Ideen
<?>. Ich dachte an K. Wir tranken erst Tee, dann wunderschönen Rheinwein. Um 6 gingen
wir nach Hause. Ich zum Seminar, erledigte einiges mit Dr. Spohr 250, dann müde nach
Hause, zum Essen, nachher mit Vormfelde über seine Heiratspläne wegen Nina gesprochen,
zu Schmitz, war aber todmüde. Wir tranken noch Bier bei Kieffer. Todmüde nach Hause,
geil, erschlagen. Völlig erledigt, Ruhebedürfnis. Dachte daran, dass ich heute vor einem Jahr
nach Marburg zu K. gereist bin.

Freitag, 16. 3. 23
Bis 1/2 11 geschlafen, es ist unglaublich. Kam also wieder nicht zur Bibliothek. Aber ein
paar schöne Minuten, das ist alles. Um 1/2 12 traf ich Duschka, in die Poppelsdorfer Allee,
bei wunderschönem Wetter. Sie hatte eine südslawische Freundin bei sich, die sie aber nach
Hause schickte. Wir gingen am Rhein entlang, ein wunderschöner Spaziergang, sprachen
über schöne Verse, ich erzählte ihr von Arbeits[weisen] der Fischer; sie war lieb und gra-
ziös, sie gefiel mir sehr gut. Langer Spaziergang bis 1/2 2. Sie will Sonntagnachmittag zu mir
zum Kaffee kommen. Nach dem Essen mit Vormfelde bei Rittershaus, tranken Mokka, wir

246 A. = Artiñano.
247 Siehe Teil I, Eintragung vom 5. 4. 1922.
248 Nicht ermittelt.
249 In der vertraulichen „Nachweisung über die Zugehörigkeit von Beamten zu Freimaurerlogen,
anderen Logen oder logenähnlichen Organisationen und deren Ersatzorganisationen“ vom 23. 9.
1935 wird Vormfelde als (ehemaliges) Logenmitglied genannt. Vgl. Ralf Forsbach, Die medizini-
sche Fakultät der Universität Bonn im „Dritten Reich“, München 2006, S. 361.
250 Studienrat Ludwig Spohr, Dr. phil., Bonner Stadtverordneter.

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März 1923 171

sprachen über Frauen, sehr nett. Dann angeregt nach Hause. Der Student, den ich erwartet
hatte, kam nicht, ging also gemütlich bei herrlichem Frühlingswetter in die Stadt, probierte
den Sportanzug an und war sehr zufrieden damit, bei Kaufmann vorbei, <…>, holte mir das
Buch von Heister <?>, Hass gegen die Ost<…> und ihre wirklich scheußliche Kulturlosig-
keit. Zu Hause etwas gearbeitet, nach dem Essen ein paar Schritte mit Vormfelde, dann zu
Hause, Zeitungen gelesen, der Tisch ist ganz in Unordnung, aber ich komme zu nichts.
Nachts ziemlich lange noch gearbeitet, allmählich wieder etwas getan. Bis 1/2 2, müde.

Samstag, 17. 3. 23.


Etwas früher auf, 9 Uhr Brief von Granizo, fühlte mich stark und gesund. Prachtvolles
Frühlingswetter, dachte an K., frühstückte sehr behaglich, ordnete die Bücher für die
Bibliothek, es kam Besuch, erst von dem Studienrat Becker 251, dann von dem jungen
Wolf 252, der mich fragte, was er studieren solle. Ich schleppte dann um 12 Uhr einen guten
[Teil] Bücher zur Bibliothek, erledigte dort die Rückgabe, müde von dem schönen Wetter
wieder zu Hause. Nach dem Essen zu Neuß, der offenbar sehr froh war, mich zu sehen.
Wir machten einen schönen, langen Spaziergang über Alfter ins Vorgebirge, unterhielten
uns sehr schön über die Rückständigkeit der katholischen Kirche und ihre Überlegenheit, er
erzählte von theologischen Berufungen und hat offenbar großes Vertrauen zu mir. Tod-
müde um 1/2 7 zu Hause, müde etwas gelesen, um 1/2 8 kam Coenders 253 aus Greifswald,
fragte ihn nach Holstein. Er gab eine sehr ungünstige Auskunft. Ich ging zum Essen, verab-
redete mich aber mit ihm, holte ihn nachher ab. Wir tranken im Gangolf eine Tasse Schoko-
lade, sprachen über Greifswald. Um 10 nach Hause, gleichgültig und gelangweilt, aber doch
angeregt, endlich wieder etwas zu arbeiten. Zu Hause räumte ich den Tisch auf in Gedan-
ken an Duschka, die morgen kommt. Ziemlich rationalistisch. Die lächerlichen Affekte, die
wieder auftauchen, als ich die Musik im Gangolf hörte und an K. dachte, wunderschön
überwunden. Ziemlich lange herumgegangen, etwas Ordnung gemacht, das tat mir sehr
wohl. Sehe das Lächerliche meines bisherigen Lebens ein. Ziemlich ruhige Stimmung bei
der Lampe. Endlich wieder etwas gearbeitet und einige Sammlung.

Sonntag, 18. 3. 23
Morgens wach, aber wieder eingeschlafen, immer stark und selbstbewusst. [Gut] gefrüh-
stückt und Reden von Mussolini gelesen, sehr behaglich, bis 1/2 1. Freundlich unterhalten
mit Frau v. Wandel. Ich kann in dieser Wohnung noch weiter wohnen, ging bei Duschka
vorbei, dass sie etwas herkommt. Dann zum Essen, ein paar Schritte mit Vormfelde, der von
seinem gestrigen Erlebnis mit Nina erzählte; sie hat geweint, in seinen Armen gelegen, aber
sie war doch sehr scheu und [er] merkte, dass nichts zu machen war. Wie lächerlich ist das
alles. Kaufte Kuchen für Duschka, dann zu Hause etwas ausgeruht, umgekleidet, pünktlich
um 1/2 4 kam Duschka. Wir tranken schön Kaffee, sprachen über Dostojewski, den „Idiot“,

251 Studienrat Prof. Dr. Franz Becker, Bonn, Maarflach 13.


252 Einer der beiden Söhne des Logenbruders Wolf; s. Eintragung vom 15. 3. 1923.
253 Albert Coenders (1883–1963), Straf-, Strafprozess- und Zivilprozessrechtler, Ausbildung inkl.
Habilitation in Bonn, SS 1916 Lehrstuhlvertretung in Greifswald, ab WS 1916 ebd. ao. Prof.,
1919–1923 o. Prof., 1923–1949 in Köln.

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172 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

besonders über seine Frauengestalten. Sie erzählte fröhlich, wir gingen lange am Rhein spa-
zieren, sie erzählte Geschichten von Turgenjew 254, lachte, aber sie scheint mir sehr scheu zu
sein. Ich war übrigens ziemlich gleichgültig und habe wenig Interesse an ihr, aber große
Sehnsucht nach einer schönen, eleganten Frau. Übrigens war sie in meinem Zimmer sehr
schön, ihre schwarzen Haare und ihre großen dunklen Augen gefallen mir gut, dabei hat sie
wunderbare Hände und Füße und schöne Bewegungen. Aber schließlich ist doch alles ver-
lorene Zeit. Bis 8 Uhr blieb sie im Zimmer, dann begleitete ich sie in die Argelanderstraße
und ging zum Essen, traf auf der Straße zufällig Vormfelde, der mich etwas begleitete, bei
Strassberger gegessen, wo Schmitz nach mir gefragt hatte. Ich war aber so müde, dass ich
nach Hause ging und nicht mehr zu Schmitz. Etwas ausgeruht, Holstein gelesen, oft wüten-
der Ärger über diese schnoddrige Art. Sehr müde, aber allmählich munter, erst gegen 1 ins
Bett. Konnte nicht einschlafen, <…> ohne jede Potenz. Aber arbeitsfreudig, seit langem
zum ersten Mal. Brief an Kaufmann und Frau Eisler geschrieben.

Montag, 19. 3. 23
Wieder sehr lange [geschlafen], um 1/2 10 auf, wunderschöner Kaffee, Reiners, ein Student,
kam, ich bestellte ihn für den Nachmittag. Dann um 11 zu Duschka, Schmitz begegnete mir
vor der Tür, wir gingen zusammen an der Bank vorbei, mit Duschka dann an den Rhein,
wir unterhielten uns nett, sie ist sehr zutraulich, es war mir aber etwas kalt und windig am
Rhein. Sie spricht gern über Romane, die sie gelesen hat, erzählte von den Studenten in
Königswinter, ironisch, überlegen, was mir nicht gefiel. Im Grunde ist sie nichts. Ich fing
an, sie langweilig zu finden und mich nach K. zu sehnen. Wieviel besser und gutmütiger war
sie. Sie sprach von Turgenjew, ich will den Roman „Väter und Söhne“ lesen, um die Figur
der Anna Odinzowa kennenzulernen, die sie sehr bewundert. Katerina, [eine] etwas höhere
Tochter255. Dann plötzlich, in einem Schaufenster in [der Auslage] ein bayerisches Bauern-
Porzellan, genau wie [das von] Carita. Seltsam. Ich war müde, kam mir trocken, albern, wie
ein Pedant, ein ekelhafter, lehrender Professor vor. Wie [Max Weber] oder Boche. Scheuß-
lich. Ich sprach zuletzt von ihr, das interessiert sie immer am meisten, dass sie im Grunde
isoliert ist, a ship abandoned dear, daher ihr Ernst. Sie fand das sehr richtig. Wir verabrede-
ten uns für Donnerstag. Ich ging müde zum Essen, nachher etwas mit Vormfelde, der
erzählte, dass die Franzosen uns vielleicht ausweisen. Zu Hause ausgeruht, sehr müde. Ein
(auf der Bahn verbrannter) Brief von Krause, dass ich kommen soll, wir wollen Ostern
zusammen in Tölz feiern. Große Freude, trank nicht Kaffee, um 4 zur Bibliothek, holte mir
einige Bücher, französische, und Turgenjew, um „Väter und Söhne“ zu lesen. Dann zu
Hause Reiners, der mir meine Vorlesung diktierte 256. Ging mit ihm spazieren, wir sprachen
über die <…>. Ich traf dann Beyerhaus, ging mit ihm, er ist ein Boche, aber ich freue mich
über sein Interesse an mir. Wie lächerlich. Hoffentlich kann ich Montag reisen, nach Tölz.
Nach dem Abendessen müde zu Hause, Turgenjew gelesen, dadurch wieder munter, Angst
vor der Einschränkung, vor mir selbst, Zeitungen gelesen, so verging der Abend schnell. Ich
habe entsetzlich viel zu tun und nichts getan. Las des Nachts Turgenjew 257.

254 Iwan Sergejewitsch Turgenjew (1818–1883), russ. Schriftsteller.


255 Anna und Katerina Odinzowa, die beiden Schwestern in dem genannten Roman Turgenjews.
256 Gemeint sein dürfte, dass Reiners seine Mitschrift von der Vorlesung Schmitts vortrug.
257 Siehe auch Teil III, S. 460.

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März 1923 173

Dienstag, 20. 3. 23
Morgens große Sehnsucht nach Duschka. Sehr spät aufgestanden, Schmitz kam, hernach bei
Meyer-Lübke 258. Kein Brief, nichts von Hegner, was mich ärgerte. Nach dem Essen mit
Vormfelde schöner Spaziergang nach Rheindorf 259 am Rhein entlang, er sprach nur von
Frauen, dass er bald heiraten muss, weil er zu alt wird usw. Wie die <…>. Dann zu Meyer-
Lübke, besah die Zimmer, die sie mir anboten, die furchtbare Frau. Reservierte mit Vor-
sicht, Angst vor diesen Menschen, hässliche Zimmer. Froh, das erledigt zu haben, nach
Hause. Nach dem Abendessen zu Schmitz, traf Artiñano, wir tranken bei Schmitz Bowle,
er spielte Schubert, Beethoven, sprachen über die Musik, seine Frau und seine Schwieger-
mutter waren dabei, sehr angeregt nach Hause, aber ich habe zu viel gesprochen.

Mittwoch, 21. 3. 23
Wieder lange geschlafen, Brief von Däubler <…>, um 1/2 12 zur Bibliothek, Heimberger
getroffen, freundlich mit ihm geplaudert, bei Schmitz vorbei, mit dem Schweizer Jungen,
der bei ihm wohnt, eine Tafel Schokolade gekauft, hoffte immer Duschka zu sehen, herr-
liches Wetter, verzehrende Sehnsucht. Nach dem Essen mit Spiethoff und seiner Frau, er
sprach über seine Verlagsgeschichte mit Duncker und Humblot 260, über Göppert usw.
Noch zusammen bei Rittershaus, dann ließ ich mir die Haare schneiden, kaufte mir Puder,
sexualistische Gier nach Sensationen. Zu Hause einen Brief über <…> an Martín-Granizo
erledigt, um 1/2 7 kam Schmitz. Wir gingen zu Artiñano, der bei Professor Neuß wohnt,
und von da zum Bürgerverein. Ich sprach über die schrecklichen Zustände in Deutschland,
über die <…> der deutschen Intelligenz. Wir diskutierten viel und lange, über Sozialismus.
Ich sprach zuletzt zuviel.

Donnerstag, 22. 3. 23
Um 9 Uhr auf, die Nacht schlecht geschlafen, aber mit schöner Seife gewaschen. Schön
gefrühstückt, und ermunterter Genuss. Sensationen, unglaublich. Behaglich, komfortabel
wie meist. Um 11 Uhr traf ich Duschka, ging mit ihr wieder nicht ins Museum, sondern an
den Rhein, Göppert sah uns, ich freute mich, dass sie elegant aussah. Wir sprachen sehr
schön, über die psychologische Realität des <…>, sie lachte viel, brachte mir einige russi-
sche Sprichwörter bei, ich kaufte ihr schönen weißen Flieder, den sie schließlich doch
annahm, hatte den Eindruck, dass sie sich an mich gewöhnt, blieb fast bis 2, verabredete
mich für morgen um 1/2 11. Dann zum Essen, das kalt war, müde nach Hause, geschlafen.
Um 1/2 5 zum Café Kaufmann, Schokolade und Kuchen, in der Bibliothek, Schleiermacher
geholt, Neuß getroffen, gleichgültig nach Hause, begegnete Salm, der mir half, die Bücher

258 Wilhelm Meyer-Lübke (1861–1936), geb. bei Zürich, bedeutender romanistischer Philologe, 1886
ao. Prof. in Jena, 1890 in Wien, 1892 o. Prof. in Wien, 1915–1928 in Bonn, dort wohnhaft in der
Coburger Straße 4.
259 Schwarzrheindorf/Vilich-Rheindorf, ein rechtsrheinischer Ortsteil im Norden von Bonn-Beuel.
260 Bei der „Verlagsgeschichte“ ging es um einen Streit zwischen dem Bonner Staatswissenschaftler
Hermann Schumacher (1868–1952) auf der einen und dessen Kollegen, Spiethoff, bzw. Duncker &
Humblot, vertreten durch Geibel jun. und Feuchtwanger, auf der anderen Seite über das Recht an
der Redaktion von „Schmollers Jahrbuch“.

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174 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

zu tragen. Nach dem Abendessen Brief auf die Post an Fräulein Schröder 261 über den Land-
gerichtsrat Neuß, Karte an Jup für Samstag, dann zu Hause Temps gelesen, allmählich ein
paar Briefe erledigt (Krause, Neuenhofer 262, Kiener usw.). So wurde es 12 Uhr. Ich freue
mich darauf, morgen Duschka wiederzusehen.

Freitag 23. 3. 23
Gegen 9 Uhr auf, kein Brief, wunderschön gefrühstückt, um 1/2 11 traf ich Duschka in der
Poppelsdorfer Allee, wir warteten auf die Elektrische, fuhren nach Godesberg, Rheinallee,
gingen am Rhein entlang. Sie hatte einen weißen Hut auf und sah wunderschön aus, hohe
gelbe Schuhe, die ihr gut standen, sie hat einen wunderschönen Gang, sie blickt wie der
Ungar, den ich einmal im Zug nach München bewunderte. Wir gingen bis Mehlem, es
wurde nach 1 Uhr. Wir aßen dann in der Villa Fried zu Mittag, ich sprach von ihrer bunten
Bluse, sie wurde plötzlich traurig, fieberte, sodass ich bang wurde, sie erzählte von ihrer
Lehrerin, ihrer Schwester, ihrer schönen Cousine, alles rührend. Ich habe sie unbeschreib-
lich gern und bin schon in sie arretiert. Wir gingen zusammen bis Godesberg zurück, ich
war sehr müde nach dem Essen, besonders von dem Wein, sie war auch müde. Wir fuhren
von Godesberg mit der Rheinuferbahn zurück, ich brachte sie dann, todmüde, nach Hause,
erzählte zuletzt von Däubler. Sie hat sicher großes Interesse für mich, sagte, die Blumen, die
ich ihr geschenkt hätte, seien so schön usw. Ich kroch todmüde nach Hause, dort ein häss-
licher Brief von Pestalozza, der mich betrübte, ein Brief von Landsberg, von einem Anwalt
[aus] Duisburg, der ein Gutachten haben will wegen der 4 zum Tode verurteilten Schutz-
polizeibeamten263. Das bedrückte mich, ich ruhte aus, es ging mir besser, trank schönen

261 Agnes Schröder, die stets als Nichte bezeichnete Adoptivtochter am Zehnhoffs, der ihr sein Düs-
seldorfer Haus vererbte; vgl. TB I, S. XI u. ö.; TB III, S. 45, 51, 62, 260, 263.
262 Ernst Neuenhofer (sic!), Honorarkonsul u. a. in Karachi, Schmitts Bekannter aus der Zeit in Mün-
chen-Gladbach (vgl. TB I, S. 288), zeitweilig in Bremen (s. Eintragungen vom 13.–17. 3.1924), dann
in Berlin lebend (vgl. TB III, S. 73 f., 113). Von ihm sind acht Briefe im Nachlass Schmitt erhalten.
Schmitt antwortet hier auf den Brief Neuenhofers vom 15. 3.1923 (RW 265-10347).
263 Vermutlich betraf die Anfrage – trotz der von Schmitt erwähnten Zahl vier – den Aufsehen er-
regenden Prozess vor dem belgischen Kriegsgericht in Aachen im Januar 1923. Ein belgischer Poli-
zist namens Schmidt, vormals deutscher Schupo-Beamter, hatte in Hamborn grundlos einen
Schutzpolizisten erschossen. Dessen Kameraden wollten ihn rächen. Sie lauerten Schmidt an der
Straßenbahnlinie, die ihn gewöhnlich von Hamborn nach Duisburg brachte, auf, erschossen aber
versehentlich den aus einer bekannten belgischen Adelsfamilie stammenden Leutnant Graff, den sie
für Schmidt gehalten hatten. Deutsche und belgische Behörden nahmen Ermittlungen auf. Die
deutsche Polizei hielt drei Schupo-Beamte, von denen einer Kaws, ein anderer Engeler hieß, für die
Täter. Die belgischen Behörden verfolgten eine andere Spur. Schließlich nahmen sie den Deutschen
die Ermittlungen ab und verhafteten als mutmaßliche Täter einen Schupo-Leutnant und zwei
Schupo-Beamte. Diese wurden im Gefängnis von Verviers isoliert, wo sie gestanden, Graff getötet
zu haben. Gegenüber dem Pflichtverteidiger aus Aachen widerriefen sie ihr Geständnis, nahmen
aber in der Hauptverhandlung den Widerruf zurück, worauf sie wegen Mordes zum Tode ver-
urteilt wurden. Während eines vom Justizminister Masson in Brüssel gewährten Aufschubs der
Hinrichtung stellten sich die nach Russland geflohenen drei Schupo-Beamten bei der Polizei in
Stettin, nachdem sie in der Zeitung gelesen hatten, dass ihre Kameraden unschuldig hingerichtet
werden sollten. Das dortige Schwurgericht verurteilte sie ebenfalls wegen Mordes an Leutnant
Graff zum Tode. Daraus ergab sich die juristische Frage, welches der beiden Todesurteile gelten

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März 1923 175

Kaffee. Las dazu Holstein, der dumm ist. Allmählich fühlte ich mich wohl. Aß zu Abend,
todmüde, Fräulein Käthe hat mich gesehen, wie ich ohne jede Haltung über die Poppels-
dorfer Allee kroch, ich ging traurig nach Hause, dem Selbstmord nahe, zu Schmitz, der
auch sehr müde war. Artiñano und Professor Neuß kamen später, Schmitz spielte wunder-
schön Beethoven (f-moll-Sonate 264), Chopin, schließlich Mozart, sodass ich wieder munter
wurde. Ich war sehnsüchtig verliebt in Duschka und gleichzeitig von der Sinnlosigkeit die-
ser Liebe durchdrungen. Schrecklich. Begleitete die beiden noch, Artiñano verabschiedete
sich herzlich mit den Worten: Wenn Sie einmal nicht wissen sollten, wohin, so wissen Sie,
wo Sie einen Freund haben. Ich ging noch mit Schmitz zum Café und trank ein Glas Bier.
Er ging zu seiner Frau, ich verblieb müde und traurig noch etwas allein, dann nach Hause.
Sehnsucht nach Duschka, aber ich will gar nicht bei ihr sein, heftiges Gefühl, dass ich ein-
sam bin, ein [Gast], mir fremd. O Gott, hilf mir. Wie schrecklich ist das.

Samstag, 24. 3. 23
Müde 1/2 8 auf, mit Landsberg nach Köln, nett unterhalten, trauriges Examen, 3 fielen
durch. Ein <…> Vorsitzender. Jup holte mich um 1/2 4 ab, wir gingen in die Konditorei
Eigel265, er erzählte von dem Erfolg bei einer Patientin, der Frau v. S. Hoffentlich fällt er
nicht herein. Wir plauderten bis 1/2 6, dann fuhr ich mit der Rheinuferbahn zurück. Zu
Hause kein Brief, ich war todmüde, nervös beim Abendessen, dann zu Hause ins Bett, kann
überhaupt nichts arbeiten. Schlief bald ein.

Sonntag, 25. 3. 23
Morgens, nachdem ich um 5 wach geworden und wieder eingeschlafen, ein Traum von Lo,
ich kroch zu ihr ins Bett unter die Decke, entsetzliche Angst, mit ruinierten Nerven wach
geworden. Keine Ejakulation. Wusch mich behaglich, schrieb einen Brief an Pestalozza,
sonst konnte ich nichts tun. Dann zu Duschka, traf Braubach auf der Straße, er ging mit mir
zur Poppelsdorfer Allee und sprach sehr interessant von seiner Arbeit. Ich wartete etwas
auf Duschka, sie kam in einem blauen Kleid mit schönen Lackschuhen, sie wollte nicht
nach Rolandseck266, sondern auf dem Venusberg spazierengehen. Wir gingen also dorthin,
Braubach verabschiedete sich feierlich. Sehr schön unterhalten, über die Seele (sie fragte
darnach), schenkte ihr Gedichte von Goethe mit dem Fischer 267, welche wir in Casselsruh
auf der Bank lasen. Es war prachtvolles Wetter. Um 2 brachte ich sie nach Hause zurück.
Wir verabredeten uns nicht, was mich beleidigte. Sie sagte nur „Auf Wiedersehen“. Traurig
herumgelaufen, im Bürgerverein gegessen, Wein getrunken, einsam, oft selbstbewusst. Oft

sollte. Zwei Gruppen von Schupo-Beamten, ehemalige Frontsoldaten, bezichtigten sich, Täter zu
sein, wobei fest stand, dass sie nicht zusammengewirkt haben konnten, sondern vielmehr die eine
Täterschaft die andere ausschloss. Das Gutachten des Schiedsgerichtshofs, dem alle Akten von
Aachen und Stettin vorlagen und der auch eigene Erhebungen vorgenommen hatte, ergab, dass das
Stettiner Urteil richtig, das Geständnis von Aachen jedoch wahrheitswidrig sei, ohne dass man den
belgischen Strafverfolgungsbehörden Vorwürfe machen könne.
264 Vermutlich nicht die Klaviersonate Nr. 1 (op. 2 Nr. 1), sondern Nr. 23 (op. 57, „Appassionata“).
265 Noch heute bestehendes Café in Köln, Brückenstraße 1–3.
266 Das linksrheinische Rolandseck ist bis heute ein beliebtes Ausflugsziel zwischen Bonn und Remagen,
von dem aus man einen schönen Blick auf das Siebengebirge und die Rheininsel Nonnenwerth hat.
267 „Der Fischer“ ist eine naturdämonische Ballade Goethes aus dem Jahr 1779.

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176 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

sehnsüchtige Liebe zu Duschka, müde nach Hause, ins Bett gekrochen, um 5 aufgestanden,
konnte einfach nichts arbeiten, nicht die geringste Kleinigkeit. Professor Neuß kam und
sagte, dass Stoffels, der Weihbischof 268, morgen nicht kann. Er selbst, Neuß, mit der päpst-
lichen Delegation durchs Ruhrgebiet reisen muss. Ich habe also morgen Nachmittag frei.
Glücklich zu Hause herumgelegen. Es wurde 1/2 8. Zum Essen. Fräulein Strassberger
schenkte mir einen Kuchen. Ich trank traurig noch ein Glas Bier im Café. Sehr einsam, ging
über die Poppelsdorfer Allee, tat eigentlich nichts, als überlegen, wie ich morgen Duschka
treffe. Ich freue mich, dass ich vergessen habe, ihr ihre Handschuhe zurückzugeben. Las
einen Brief von K. und war gerührt. Weinte, beschimpfte mich, ich bin ein elender Hund.
Aber was kann ich tun. Gott, hilf mir. Ich kann auch nicht mehr sagen: Gott, hilf mir. Es ist
einfach aus. Erstarre unter meiner Lüge. Aber es sind ja gar keine Lügen. Also Verzweif-
lung. Plötzlich heimlicher Trost: Ich ertappe mich aber nur dabei, dass ich hoffe, morgen
Duschka noch einmal zu sehen. Dabei handelt es sich gar nicht um Duschka. Es ist eine
objektlose Sehnsucht, deren Grund die Objektlosigkeit ist269.

Montag, 26. 3. 23
Arbeitete etwas, schrieb ein paar Briefe, wartete auf Braubach, Schmitz kam, dann auch
Braubach, wir gingen zusammen beim Finanzamt vorbei, dann zur Bank. Sprach mit Brau-
bach über seine Arbeit, holte mir den [Einschreibe]brief, in der Bibliothek völkerrechtliche
Literatur gesucht, mit Braubach zusammen, im Sekretariat wegen der Expedition, so wurde
es Nachmittag. Dann ging ich in die Argelanderstraße und gab für Duschka einen Brief ab,
dass ich ihr um 4 Uhr ihre Handschuhe bringen wolle. Traf den Studenten Wilms270, der
mich zu Strassberger begleitete. Nach dem Essen Wilms etwas begleitet, er ist ganz verliebt
in die Geßlein271 <? >. Ich ging müde nach Hause, ruhte mich aus, um 1/2 4 kam der Schnei-
der mit dem neuen Sportanzug, der anscheinend gut saß, war stolz darauf; ging zu Duschka,
traf sie aber nicht zu Hause. Tief gekränkt. [Suchte] krampfhaft nach irgendeiner psychi-
schen Stütze, suchend stapfte ich trotzdem dahin, wollte zum Finanzamt gehen, an der
Ecke der Bismarckstraße hörte ich „Herr Professor“, es war die arme, liebe Duschka, die
mir eigens nachgelaufen war. Ich hatte sie unbeschreiblich lieb, sie fiel fast immer vor Auf-
regung. Wir gingen auf ihr Zimmer, dort fand sie einen Brief von ihrer Freundin aus
Liebersdorf272. Wir gingen zum Café Königshof, wo es ihr gut gefiel, saßen dort bis 7 Uhr,
sie sprach <…>, bewunderte den Rhein, fühlte sich sehr wohl, ich freute mich, wie schön
sie ist. Dann gingen wir noch lange vor der Universität unter den Bäumen auf und ab, spra-
chen von ihrem Beruf, ihrer Zukunft, schließlich zusammen in den Bürgerverein, wo wir zu

268 Joseph Stoffels (1879–1923), 1903 Priesterweihe, 1908 Dr. theol. in Bonn, 1913 Direktor des erz-
bischöfl. Theologenkonviktes Collegium Albertinum, 1916 Pfarrer in Köln, 1922 Ernennung zum
Auxiliarbischof. Vgl. Wilhelm Neuß, Ein Priester unserer Zeit. Josef (sic!) Stoffels, Weihbischof
von Köln 1879–1923. Leben und Wirken. Aus Reden und Schriften, Einsiedeln u. a. 1934.
269 Siehe Teil III, S. 461.
270 Josef Wilms (1895–?), Doktorand Schmitts, 1925 mit der Arbeit „Das monarchische Prinzip und
der Ausnahmezustand während der Restauration 1815–1830 (Ein Beitrag zur Staatslehre vom
monarchischen Prinzip)“ promoviert. Das Zweitgutachten schrieb Landsberg.
271 Nicht ermittelt.
272 Dorf in Niederschlesien.

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März 1923 177

Abend aßen. Ich begleitete sie um 10 nach Hause, dann zu Schmitz, der mir noch einmal
Chopin vorspielte, Braubach war auch da. Wir tranken im Bürgerverein noch eine Flasche
Moselwein, lachten über das rheinische Lied „Heinrich schlief bei seiner Neuvermähl-
ten“273. Müde nach Hause, noch eingepackt. Zu Hause ein Telephonat von Karl Lamberts
aus Kreuznach, das mir aber unverständlich war.

Dienstag, 27. 3. 23
Um 5 auf, mühselig eingepackt, ziemlich frisch und guter Dinge, Freude auf die Reise.
Schmitz kam um 6, schleppte meinen Koffer zur Elektrischen, wir fuhren zusammen bei
herrlichem Wetter nach Siegburg, warteten dort auf den Zug, der endlich kam, im Perso-
nenzug bis Dillenburg, 11 Uhr. Stieg dort aus und besah mir die Stadt mit dem entzücken-
den Schloss, aber alles etwas linkisch, verkniffen, um 12 weiter <…>, kamen aber schon in
<…> Platz. Dachte sehnsüchtig an K., als wir in Wetzlar hielten. In Frankfurt eine auffäl-
lige, aber hübsche, blonde, blauäugige Kokotte, Eva Sauer, die nach Aschaffenburg fuhr 274.
Sprach mit ihr, küsste sie, sie war freundlich, war aus Duisburg, Krankenpflegerin gewesen.
Das belebte die Fahrt. Ich fuhr weiter, um 11 abends in München, todmüde, fuhr mit der
Elektrischen zum Kurfürstenplatz. Feuchtwanger war noch auf, empfing mich sehr freund-
lich, müde auf der Ottomane ins Bett.

Mittwoch, 28. 3. 23
Nach dem behaglichen Frühstück zur Schraudolphstraße, es war nur ein Dienstmädchen
da, die Möbel sind verkauft. Die Frau hat mit einem Studenten im Krankendienst geredet,
scheußlich. Kurz <? > freundlich unterhalten, traf auch Stefl, hörte, dass Hegner ihm mei-
nen Aufsatz geschickt hat, <…> mit Feuchtwanger im Parkhotel zu Mittag (25.000 Mark!).
Nach dem Essen ausgeruht, nachmittags zu Rupé, er las mir seine Euripides-Übersetzung 275
vor, wunderschön, im Nationalmuseum, dann bei ihm, darauf zum Weinhaus Knecht in der
Dienerstraße276, mit Haecker, Stefl, Schreiber277. Es war ziemlich langweilig, <…>, müde
nach Hause, geil, rasende Wut, sinnlos angesprochen, zwecklos. Müde nach Hause, zitternd
vor Nervosität.

Donnerstag, 29. 3. 23
Gründonnerstag. Wieder zur Schraudolphstraße, aber Dr. Laupheimer 278 war noch nicht
zurück. Dann herumgelaufen, im Franziskaner Frau v. Münchow 279 angesprochen. Mit ihr

273 Volkslied von Johann Friedrich August Kazner (1779).


274 Siehe Teil III, S. 462.
275 Euripides, Alkestis. Ins Deutsche übertragen von Hans Rupé, Augsburg 1925.
276 Weinhaus Knecht, München, Dienerstraße 7.
277 Ferdinand Schreiber (1877–1941), Verleger, ein Schulkamerad Haeckers (vgl. TB II, S. 524), der
zunächst Stellvertreter und enger Mitarbeiter in Schreibers Verlag war und nach dessen Tod die
Geschäfte des Hauptschriftleiters wahrnahm. Schreiber war wie Haecker unter dem Einfluss von
John Henry Newmans „Grammar of Assent“ (1870) zur kath. Kirche konvertiert.
278 Käufer von Schmitts Münchner Möbel (s. Eintragung vom 18. 4.1923), wahrscheinlich identisch
mit dem im Brief Feuchtwangers an Schmitt vom 6. 4. 1923, in: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feucht-
wanger, S. 33 f., erwähnten „Laubheimer“ von der „Firma Adler“.
279 In München 1923 nicht nachweisbar.

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178 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Kaffee in der Pyramide, dann zu Stefl 280, im Parkhotel wieder Kaffee, gegen Abend in der
Allerheiligen-Hofkirche ein Miserere von <…>, dann in der Bar der 4 Jahreszeiten, zu
Abend gegessen, küsste sie mehrmals auf dem Heimweg, das war aber alles. Qual und Gier,
aber zufrieden mit dem Erfolg nach Hause.

Freitag, 30. 3. 23
Zu Dr. Laupheimer, lange Unterhaltung, hoffte etwas Geld zu retten, er begleitete mich an
die Elektrische, erinnerte mich an Professor J[anentzky 281], dann zu Frau v. Münchow, holte
sie ab. Sie war froh, wir gingen in die Pinakothek, die aber geschlossen war. Dann zum
Essen bei Schwarzwälder 282, noch Mokka im Parkhotel, verabschiedet. Sie erzählte von
ihrem Leben, ihrer Philosophie, zuletzt langweilig, kitschig. Herumgelaufen, abends bei
Feuchtwanger, mit seiner [Frau] zum Abendessen, gelangweilt, Angst, morgen will ich nach
Tölz.

Karsamstag, 31. 3. 23
Um 8 zur Bahn, aber der Zug fuhr nicht, also einen Vormittag in der Stadt herumgelaufen,
Gier, erfolglos, sinnlos, scheußlich. Traf zufällig Rupé, begleitete ihn zur Klinik am Sendlin-
ger Tor, stand zitternd lange am christlichen Hospiz in der Landwehrstraße, zum Glück
ging es vorbei, dann 2. Klasse nach Tölz, Anton Stahmer, der Hausmeister, war am Bahnhof
und fuhr mein Gepäck, ich traf Krause bei Binder 283, war sehr freundlich, wir aßen zu
Hause zu Abend, schwätzten, ich ging gleichgültig ins Bett.

Ostersonntag in Tölz bei Krause 1. 4. 23


Ostersonntag, 1. 4. 23
Lange geschlafen, gut ausgeschlafen, behaglich gefrühstückt. Schönes Wetter, dann nach
Lenggries spazieren, sehr schön mit Krause über Schweitzer 284 unterhalten, habe ihn sehr
gern. In Lenggries kam[en] Professor Zackwitz285 und seine Frau, sie schlossen sich uns an,
er erzählte von P[atienten], mir war er langweilig, zuletzt nur mit Krause. Es regnete nach-
mittags, zu Hause umgezogen, ein Dr. Butscher 286 <? > aus München, der Geschäftsführer
von Krause, kam noch. Müde, bald ins Bett.

Ostermontag, 2. 4. 23
Großartig geschlafen, in der Kirche, schön gefrühstückt, im Mauthäusl 287 zu Mittag, herr-
liches Wetter, im Garten herumgelegen.

280 Stefl wohnte in der Jägerstraße 1.


281 Siehe Eintragung vom 30.12. 1923.
282 Gemeint ist „Schwarzwälders Naturweinhaus“, Hartmannstraße 8 (am Münchner Dom).
283 Tölzer „Restaurateur“ (Gastwirt) Eduard Binder, Marktgasse 9.
284 Vermutlich Albert Schweitzer (1875–1965), protest. Theologe und Arzt.
285 Nicht ermittelt.
286 Nicht ermittelt.
287 Nach 1920 Gasthaus und Weinstube im Erdgeschoss des Hauses am Kapellengasteig 3 an der Ein-
mündung zur Römergasse in Tölz. Für ortskundliche Hinweise danken wir Herrn Karl Floßmann
aus Bad Tölz.

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März/April 1923 179

Dienstag, 3. 4. 23
Wieder lange geschlafen, wunderschöner Tag, nach dem Mittagessen (im Ammerbau 288)
Spaziergang mit Dr. Lurz Richtung auf den Blomberg 289, sehr gemütlich und schön. Im
Kurhaus Kaffee, langsam nach Hause, dort zu Abend, Tee getrunken, alle waren sehr müde.

Mittwoch, 4. 4. 23
Vormittags mit Krause, ein wenig gegangen, im Mauthäusl Wein getrunken und gegessen,
dann Kaffee bei Binder. Nachmittags [fuhr] Krause nach München mit seiner Frau, ich traf
abends Dr. Lurz, aß mit ihm zu Abend, er erzählte, ich dachte an den guten Schätz 290, an
den er mich sehr erinnerte. War um 1/2 10 zu Hause. Wundervoll ist diese Wohnung, wie
vor 4 Jahren 291. Unheimlich. Innerlichstes Gefühl meines Lebens, meines Wertes, entschlos-
sen, mich nicht mehr wegzuwerfen, sehnsüchtig an K. gedacht.

Donnerstag, 5. 4. 23
Um 1/2 9 auf, schön gebadet, um 1/2 10 Kaffee, etwas an dem Gutachten über Holstein 292
geschrieben, wunderbar eine halbe Stunde gearbeitet, dann traf ich den Bezirksamtmann
Lurz, wir machten einen langen Spaziergang, von 11 bis 6 Uhr, über Lenggries, wo wir zu
Mittag aßen, Wegscheid, wo uns ein Bauer seinen Stall und seine Tenne zeigte, Arzbach, wo
wir [im] Blumenhaus <?> [ein]trafen, in [dem] Hauptmann Müller 293 ist, nach Tölz zurück,
wunderbares Wetter, heiße Sonne, ich fühlte mich gesund und stark, müde um 1/2 7 noch
ein paar Ansichtskarten und Marken gekauft, bei Binder gegessen, Wein getrunken, dann zu
Hause 8 Karten294 geschrieben, ein Brief von am Zehnhoff, der mich freute, ließ das Gram-
mophon spielen, war wieder gestärkt in meinem Selbstbewusstsein, als ich den Faust-

288 In Bad Tölz nicht nachweisbar.


289 Blomberg (1248 m hoch), beliebtes Ausflugsziel für Bergwanderer im bayerischen Voralpengebiet.
290 Feldwebel Assessor Schätz (gefallen 1917), Verwaltungsbeamter, ehemaliger Kollege Schmitts im
Stellvertretenden Generalkommando in München; vgl. TB II, passim.
291 Über diese Zeit sagte Schmitt am Vorabend seines 50. Geburtstages: „Gegen Ende des Krieges 1918
kam ich zu meinem Freund Georg Alexander Krause in sein gastliches Haus. Die Monate des
Zusammenbruchs waren auch für mich die Zeit schlimmster Verzweiflung und aussichtsloser
Depression. Ich habe bei ihm ein wahres Asyl gefunden …, eine wahre Rettung, für die kein Wort
des Dankes ausreicht.“ Schmitt, Eine Tischrede (1938), in: Schmittiana V 1996, S. 9–11, 10.
292 Vermutlich ging es in diesem Gutachten um Schmitts Nachfolge auf dem Lehrstuhl in Greifswald,
von dem er Anfang 1922 wegberufen worden war; vgl. Brief Smends an Schmitt vom 1. 2.(!)1922,
in: Mehring (Hrsg.), BW Schmitt – Smend, S. 19 f. Holstein vertrat Schmitts Lehrstuhl ab 5. 3. 1922,
Nachfolger wurde dann aber zum WS 1922/23 Erhard Neuwiem (s. Teil I, Anm. 402); vgl. Meh-
ring, Greifswalder Intermezzo, S. 330.
293 Nicht ermittelt.
294 Darunter eine Karte an Ernst Neuenhofer, für die sich dieser mit einem Brief vom 8. 4.1923 (Nach-
lass Tommissen, derzeit in Besitz des Antiquariats Stefan Schuelke, Köln) bedankt und Schmitt für
„ein paar Ferientage“ nach Bremen einlädt. Er möchte sich mit Schmitt auch über die verzerrende
Gewohnheit, „alle geschichtlichen Bewertungskriterien dem Politischen zu entnehmen“, austau-
schen, „während doch wohl der Tatsachenkomplex ,Dampfmaschine‘ für das Schicksal des Indivi-
duums erheblicher ist als der Tatsachenkomplex Parlament oder Preußen“.

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180 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Monolog von Goethe hörte 295, den Tod des Othello aus der Verdischen Oper296 und vor
allem die Grenadiere von Heine 297 als Lied von Schumann298. Brachte die Karten noch zum
Kasten, dann zu Hause herumgelaufen, mit [dem] genius loci Gespräche geführt. Wunder-
bares Gefühl, aber starkes Selbstbewusstsein, Entschlossenheit, mich nicht mehr wegzuwer-
fen. Habe an K. und an Duschka geschrieben. Sehnsucht nach K.

Freitag, 6. 4. 23
Bis 1/2 10 geschlafen, schön gefrühstückt, das Gutachten über Holstein entworfen und
schön ausgearbeitet. Ein behaglicher Vormittag, um 1/2 1 ging ich etwas spazieren und dann
zum Mittagessen bei Binder. Darauf zu Hause, wieder das Grammophon spielen lassen (die
2 Grenadiere), etwas ausgeruht, wie schön ist das alles. Um 3 traf ich Dr. Lurz bei Binder,
trank Mokka, dann gingen wir zur Bahn und holten Krauses ab. Sie kamen um 3 1/4 mit
Lisa299, die wunderschön ist. Wir tranken zu Hause Kaffee, abends ein Spaziergang, sprach
schön mit Krause über die geheimnisvollen Beschreibungen des menschlichen Schicksals,
über Gespräche mit Toten, Verschwundenen usw. Ich habe ihn unbeschreiblich gern. Wir
aßen im Mauthäusl zu Abend, ich saß neben Lisa. Nachher zeigte ich ihr die Sternbilder, sie
bat (mit weiblicher Schmeichelei und Eindringlichkeit) um ihr Horoskop. Dann zu Hause,
herumgesessen, in unheimlicher Stimmung politisiert, über die Möglichkeit einer nationalen
Verteidigung und aktiven Widerstand. Lisa erzählte sehr schön von der Schwierigkeit der
Munitionsbeschaffung. Traurig, bedrückt, schicksalsbang ins Bett. Inzwischen ahne ich die
Einsamkeit jedes Menschen, die unentrinnbare Isoliertheit, aus der einen auch keine Frau
reißen kann. Las noch eine Stunde im Bett über die Borgia, freute mich über die Karte von
Hegner über meine Broschüre 300.

Samstag, 7. 4. 23
Bis 10 Uhr im Bett, behaglich. Lange gefrühstückt, hübsch unterhalten mit Krause und
Frau Krause. Krause hatte mir Villiers de L’Isle-Adam mitgebracht. Es war herrliche Sonne,
schrieb das Gutachten über Holstein, Frau Krause las es. Wir gingen (Krause und ich) zum
Mauthaus und aßen schön zu Mittag, dann wieder zu Hause. Mit Frau Krause und Lisa, die
[mit] dem Bezirksamtmann einen Spaziergang in die Richtung auf den Blomberg [machten],
dann tranken wir bei Binder Kaffee, gingen noch etwas in die Stadt, kaufte Karten. Zu
Hause umgezogen, etwas nachgedacht, fühlte mich sehr wohl, fühlte die Berge in mir und
mich dem Boden wieder näher. Abends spät Grammophon, sehr nett, tranken Schnaps
dazu, es unterhielt mich sehr, freute mich des gut sitzenden Anzugs! Müde und angeregt ins
Bett. Die entsetzliche Situation in Deutschland.

295 Siehe Teil III, S. 463.


296 Otello, Oper von Giuseppe Verdi (Uraufführung 1887) nach William Shakespeares Schauspiel
„Othello“.
297 Heinrich Heine, Die Grenadiere (1816), erstmals in: ders., Gedichte, Berlin 1822.
298 Robert Schumann, Die beiden Grenadiere, op. 49 Nr. 1 (1840).
299 Lisa, (von Schmitt) verwendeter Kurzname für Lieselotte, die Tochter der Krauses.
300 Gemeint ist Römischer Katholizismus und politische Form.

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April 1923 181

Sonntag, 8. 4. 23
Bis 1/2 10 gut geschlafen, es hat geschneit, wunderbar kaltes Wetter, fühlte mich unbe-
schreiblich wohl. Wir frühstückten lange, unterhielten uns sehr schön, über seltsame
Schicksale, dann ging ich mit Krause und Lisa zum Essen bei Schalch 301. Nachher etwas für
mich allein auf den Kalvarienberg spazieren, glaubte die alte Kraft und Einsamkeit wieder
zu fühlen. Ich erkannte mich, atmete und fühlte mich stark. Dann zu Hause, über das Chri-
stentum unterhalten, Krause erzählte die Geschichte von Moses, der das Pulver gefunden
hatte 302, dann [im] Schnee an den Blomberg, bei Kisskalt 303 Kaffee getrunken. Krause
schenkte mir 5 silberne Knöpfe für eine Gebirgsweste, was mich sehr freute. In guter Laune
nach Hause, über Schlageter gesprochen, es ist wunderschön in dieser Wohnung. Zog mich
wieder um, freute mich meines blauen Anzugs, unterhielt mich wunderschön mit Krause.
Nach dem Abendessen noch zusammen mit ihm, Frau Krause, Dr. Lurz, natürlich nur über
die Möglichkeiten und Aussichten einer nationalen Verteidigung, unheimliche Resignation,
ob ich <…>. (Hatte diese Nacht einen angstvollen Reisetraum.) Um 1/2 12 zu Bett, gesam-
melt, dachte an den Tod, meine lächerliche Eitelkeit, meine eindringliche Genusssucht.

Montag, 9. 4. 23
Großartig ausgeschlafen, schön gefrühstückt, das Buch von Hegner ist da 304. Ich war überaus
froh und schenkte es Frau Dr. Krause. Unterhielt mich wunderschön mit Krause, wir gingen
ins Mauthaus essen, sprachen über die <…> des Menschen (an einen, der zu Hause blieb, die
Gründe und den Entschluss), dann mit Frau Krause, Lisa und dem Dr. Lurz zum Blomberg-
anstieg, um 5 zurück, kaufte Torte, wir tranken Kaffee. Schrieb eine Karte an Blei. Krause
fuhr nach München, wir begleiteten ihn an die Bahn, abends traurig an Carita gedacht, an
ihre Katze. Entsetzliche Angst. Zu Hause todmüde, nach dem Essen auf der Ottomane ge-
legen, Lisa las mir vor, dann spielte ich mit ihr Schach. Habe viele Briefe zu schreiben.

Dienstag, 10. 4. 23
Bis nach 10 geschlafen, nachts Traum von Lisa, bedrückend. Behaglich Kaffee, wir machten
natürlich keinen Ausflug, ich schrieb eine Karte an Jup und Georg Eisler. In guter Stim-
mung. Etwas gearbeitet, fühlte mich wohl. Aß nicht zu Mittag, sondern nur ein paar Eier
und wieder Kaffee. Dann auf dem Balkon in der Sonne gesessen, über Ras[putin] 305 gelesen,

301 Josef Schalch betrieb in Tölz, Hauptstraße 20, ein Café mit Weinstube.
302 Gelegentlich sprach Schmitt – in Übereinstimmung mit manchen antiken Autoren – davon, dass
Mose im Besitz eines Feuerzaubers gewesen sei. „Trocken-Krause“ scheint dafür die Sekundär-
quelle gewesen zu sein. Tatsächlich stammt die religionskritische These vom ägyptischen Geheim-
wissen des Mose über Feuerzauber und andere „priesterliche Tricks“ zur Unterstreichung gött-
licher Autorität (vgl. Feuer- und Wolkensäule in Ex 12,21 f.) von Reimarus (1694–1768). Danach
wurden Altarfeuer durch trockenes Pulver oder leicht brennbares Öl auf wunderbare Weise fern-
gezündet, auf- und niedersteigende rauchende Feldzeichen am Zelteingang sollten den Israeliten
die Anwesenheit Gottes demonstrieren.
303 G. Kisskalt, Besitzer eines Kurhotels, des heutigen Jodquellenhofs in Bad Tölz (mündliche Aus-
kunft eines anno 2012 90-jährigen Tölzers, vermittelt durch Herrn Karl Floßmann [s. Anm. 287]).
304 Die Erstauflage von Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form (s. Anm. 91).
305 Grigori Jefimowitsch Rasputin (1869–1916), russ. Charismatiker, angeblicher Geistheiler im Dienst
der Zarin Alexandra.

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182 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

gegen Abend Spaziergang mit Frau Krause und Lisa, abends im Mauthaus zu Abend geges-
sen. Der Oberregierungsrat kam auch, dann zu Hause, auf Georg gewartet, er kam, wir
begleiteten ihn zum Kurhotel, wo seine Geschäftsfreunde abgestiegen waren. Dann zu
Hause, Wein getrunken. Müde, gleichgültig, verschlossen. Angst vor Frau Krause, es wird
Zeit, dass ich abreise. Bedürfnis, abzureisen. Erst nach 2 Uhr müde ins Bett. Krause war
auch müde. Er hat astrologische Bücher mitgebracht.

Mittwoch, 11. 4. 23
Bis 1/2 11 im Bett, Ejakulation. Schnell angezogen, wunderschön gefrühstückt, mit Krause
und seiner Frau gesprochen, nachher über Mark<…>, über die R[eliquie] von Queiroz306.
Ging um 1 zum Essen ins Mauthaus, dann langer Spaziergang nach Lenggries, mit dem
Bezirkshauptmann, trank bei Schalch Kaffee, lachte herzlich über die lustigen Erzählungen
von Krause und wünschte immer K. herbei. Große Sehnsucht nach ihr. Wir sprachen über
Kleider, über Roger Casement307, den Krause gekannt hat. Wir aßen wieder im Mauthäusl
zu Abend, dann müde nach Hause. <…> freute mich, dass es ihm gelingt. Müde, schon um
11 ins Bett. Angst vor den politischen Zuständen, aber Wohlgefühl meiner körperlichen
Gesundheit. Freute mich, dass ich von der Sonne braun gebrannt bin. Großes Behagen, wie-
der stolz, <…>. Las noch lange im Bett. Queiroz, Rosa308.

Donnerstag, 12. 4. 23
Mit großem Behagen angezogen, wunderschön, dieses warme Wasser, dieser Komfort.
Behaglich gefrühstückt, dann auf dem Balkon, in der Sonne, wunderschön, etwas gelesen,
der Lisa Märchen erzählt (dass sie ein Rubin war), dann gingen wir zum Essen, nachher
Spaziergang zum Wackersberg, erwartete dort, in der Sonne liegend, Georg Krause, trank
Kaffee bei Binder. Ein wunderschöner, warmer Tag, ich dachte sehnsüchtig an K. Nach dem
Kaffee mit Lisa Karten gekauft, dann mit ihr im Garten, ihr Märchen erzählt; sie ist
schmeichlerisch und unbeschreiblich graziös. Wie schön (Frau Krause sagte am Schluss, ich
könne sie heiraten und mit nach Bonn nehmen). Wunderschöner Abend. Sensitiv nach einer
sehr schönen W[anderung] und einem sehr schönen Besuch <?>. Wir aßen im Mauthaus zu
Abend, ich war müde und stumpf, Föhn. Dann zu Hause. Ein peinliches Gespräch zwi-
schen Krause und Lisa über die [Liebe] der Töchter, das mir unheimlich war. Sehr lange.
Wir tranken Haut Sauternes dazu. Ich brachte das Gespräch auf etwas anderes, ließ mir von
Krause Maschinen erklären, das machte sehr erlösend. Dann sprachen wir über England
(la Valera war gefangengenommen309), hörte von einem <…>, dachte an die Mutter von K.,
wütend und gleichgültig ins Bett, oft heftige Geilheit, aber vollkommen illusionslos und
dem Standpunkt des Onkel André schon sehr nahe. Nachts noch lange [Queiroz] gelesen.

306 „Die Reliquie“ (A Relíquia), 1887 erschienener Roman des portugies. Rechtsanwalts, Diplomaten
und Schriftstellers José Maria Eça de Queiroz (1845–1900); s. auch Teil III, S. 464 f.
307 Sir Roger David Casement (1864–1916), britischer Diplomat, später Kämpfer für die Unabhängig-
keit Irlands, hielt sich im Sommer 1915 in Riederau am Ammersee auf, 1916 wegen Hochverrats
von den Briten in London hingerichtet.
308 Möglicherweise „Die Geschichte der Rose“, ein weniger bekanntes Gedicht des Autors.
309 Éamon de Valera (s. Teil I, Anm. 487).

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April 1923 183

Freitag, 13. 4. 23
Um 1/2 7 wach, ziemlich munter, geil, gierig, schlief wieder ein. Scheußlicher Traum mit
Ejakulation, eine hässliche Szene. Heftige Schmerzen im Mastdarm. Wieder eingeschlafen,
bis 10 Uhr, dann behaglich angezogen. Wieder das herrlichste Wetter, schön gefrühstückt
mit Krause und seiner Frau. Etwas gelesen, auf dem Balkon gesessen, so verging der Tag.
Um 2 mit Krause und Lisa zum Mittagessen ins Mauthaus, dann wieder zu Hause. Etwas
ausgeruht, herumgelegen, um 5 zum Kaffee bei Binder, mit Lisa, dann Spaziergang an der
Isar entlang und über den Kogel, mit Frau Krause, wir aßen im Mauthaus zu Abend. Gin-
gen nach Hause, streichelte Lisa und erzählte ihr Märchen. Abends Bier getrunken, heftige
Diskussion mit Oberregierungsrat Lurz über die Schuldigen an der Entscheidung der Not-
wendigkeit zum Erschießen. Nationalismus als Barbarei. Sehr erregt. Das tat mir gut. Sah
mich nachher im Zug und sah, dass ich einsam bin. Wütend vor Bedürfnis, mich zu betäti-
gen, Raserei des Aktivismus, traurig, müde, erschöpft ins Bett, schrecklicher Zustand.

Samstag, 14. 4. 23
Wieder tief geschlafen, stand auf und holte Blumen für Lisa, die heute Geburtstag hat. Bei
einem seltsamen Gärtner, der mich an Münch310 erinnerte. Dann zum Frühstück. Mit Lisa
nett unterhalten, sie fängt an, sehr vertraut mit mir zu werden. Ich hatte sie sehr gern, ver-
trödelte aber den ganzen Tag. Wir gingen zum Essen, dann spazieren nach Wackersberg.
Immer mit Lisa zusammen, erzählte ihr die Geschichte von ihren Ahnen. Ich hatte das
Gefühl, dass sie anfängt, sich in mich zu verlieben. Armes Kind. Wir tranken bei Binder
Kaffee, dann zu Hause wieder mit Lisa allein, streichelte sie. Zum Abendessen wieder im
Mauthaus mit Krause und seiner Frau, Lisa und Dr. Lurz. Habe Lisa <…> bestellt, worüber
sie sich freute. Nach dem Essen tranken wir zu Hause coup d’impérial, ich spielte etwas
Schach, dann erzählten wir Geschichten, schließlich lachten wir alle über die alte Zeit, über
Bärenführer, Schießbuden, Lampenschirm, bis 1/2 1. Sehr angeregt von dem Sekt, depri-
miert von der Unterhaltung im Wohnzimmer. Sah dem Leben ins Gesicht und lachte es aus.
Beherrscht, gleichgültig, überlegen.

Sonntag, 15. 4. 23
Wieder bis 10 geschlafen, im Bett und während des Anziehens schönes Distichon fürs
Gästebuch bei Krause. Dann gefrühstückt, herumgeschwätzt. Langweilig. Mit Lurz schön
gegessen im Mauthaus, dann mit Lisa allein einen schönen Spaziergang zum Blomberg
hinauf, bis nach 5 Uhr. Wir gingen durch Schnee und Regen, der Nebel lag in den Tälern,
Lisa sprach von sich, schmeichelte mir, ich streichelte sie, ein entzückendes Kind; sie bat
mich, noch zu bleiben. Wir gingen nach Hause, tranken im kalten Speisezimmer Kaffee.
Frau Krause sprach mit mir über ihre Sorgen wegen des Kindes, dann zog ich mich um,

310 Alexander Münch (1885–1948), Dr. iur., Amtsrichter, im 1. Weltkrieg Leiter des Subreferats P7 im
Stellvertretenden Generalkommando in München, mit Schmitt wenigstens bis 1926 in Kontakt
(vgl. TB II S. 8, 128 u. ö.), als ökumenisch-pazifistisch gesinnter Katholik aktiv im dt. Zweig des
Oxford-Movement und für die „Moralische Aufrüstung von Caux“, Gründer des dt. Zweiges der
Chevaliers de la Paix („Kreuzritter“), wegen seines obstruktiven Umgangs mit nationalsozialisti-
schen Verwaltungs- und Gerichtsbehörden erst 1945 Oberlandesgerichtsrat.

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184 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

ruhte etwas aus, große Sehnsucht, oft das Gefühl, irrsinnig zu werden. Wir aßen schön zu
Abend. Nach dem [Essen] wieder über die Zukunft Deutschlands, die Möglichkeit einer Tei-
lung. Man gab der Regierung Cuno 6 Wochen; wenn sie stürzt, und es kommt eine Linksre-
gierung311, dann werden ohne Mühe die Nationalsozialisten aufstehen usw. Lange aufgeregt
gesprochen, bis nach 12 Uhr. Gefühl der Einsamkeit, der Trennung von allen Menschen.

Montag, 16. 4. 23
Bis 10 Uhr geschlafen, angefangen einzupacken, zum letzten Mal schön gefrühstückt, es
telephonierte aus München: Neuß ist da und erwartet mich. Wir packten ein, ich schrieb ein
Epigramm ins Gästebuch312, wir saßen herum, überlegten eine Pension für Lisa. Dann zur
Bahn, von Lurz verabschiedet und abgereist. 3. Klasse nach München, im Zug gelesen, mit
Krause gesprochen, der bitter darüber klagte, dass keine deutsche Idee und Ritterlichkeit
und <…> fehlt, alles problematisiert ist. Um 4 in München, herzlich von Krause verabschie-
det, mit der Pferdedroschke Kurfürstenplatz, tödliche Traurigkeit plötzlich, ausgepackt,
und wieder müde zu Hause313, herumtelephoniert, aber niemand mehr erreicht. Mit Neuß
zum Schwarzwälder, erst egal, dann immer besser unterhalten, zuletzt bei Wagner314 Mär-
zenbier getrunken. Müde nach Hause, noch etwas mit Feuchtwanger geredet, freute mich,
wie klug er politisiert.

Dienstag, 17. 4. 23
Früh auf, um 1/2 9 kam Neuß, frühstückte mit mir und Feuchtwanger zusammen. Dann
ging ich mit Neuß zum Nationalmuseum, zu Rupé, der uns das Museum zeigte, bis 1/2 1,
begleitete Neuß in die Vollmarstraße, wo er einen Jesuiten, Dr. Braun 315, besuchte, ging ein-
sam und artig nach Hause, ruhte aus, nachher 1/2 3 zu Roth 316, nett Kaffee getrunken,
freundlich unterhalten, 2-stimmige Jubelarie (Heinz und Hermann) mit Roth zusammen,
der in den Landtag ging, nach dem Bayerischen Hof316a, traf dort Frau Krause und Lisa,
nachher kamen Rupé und Neuß, laute Musik, aber wir unterhielten uns vortrefflich und ich

311 Die im November 1922 unter Reichskanzler Wilhelm Cuno (1876–1933) gebildete Regierung
stürzte infolge der durch die Ruhrbesetzung und den passiven Widerstand verschärften Wirt-
schaftskrise und der von Berlin ausgehenden Streiks am 12. August 1923. Neuer Reichskanzler
wurde tags darauf der Mitbegründer der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei (DVP), Gustav
Stresemann (1878–1929), der eine bis zum November anhaltende große Koalition bildete.
312 Siehe Teil III, S. 465.
313 Schmitt wohnte offenbar bei Feuchtwanger am Kurfürstenplatz 2.
314 Wagnerbräu Bierhallen, Landwehrstraße 8.
315 Vermutlich P. Joseph Braun SJ (1857–1947), Prof. für Kirchengeschichte und christliche Archäolo-

gie an den Ordenshochschulen in Valkenburg (Holland), St. Georgen und Pullach, Fachmann für
Paramentik.
316 Christian Roth (1873–1934), Dr. iur., 1902 Bezirksamtmann in Bogen, 1906 in München, während

des Ersten Weltkriegs Vorgesetzter Schmitts beim Münchner Generalkommando im Rang eines
Hauptmanns (vgl. TB II, passim, S. 519), 1919 Bezirksamtsleiter in Dachau, 1920–1928 bayer.
Landtagsabgeordneter für die DNVP, 1921 Justizminister, ab 1922 Mitorganisator des „Kampfbun-
des“, nach dem Putsch vom 9.11. 1923 in Schutzhaft in Landsberg, 1928 Generalstaatsanwalt des
VerwGH.
316a Traditionsreiches Münchner Hotel, Promenadeplatz 2–6.

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April 1923 185

freute mich, dass Neuß einen so netten Eindruck machte und sehr interessant erzählte. Um 7
mit Neuß zu Geibel in sein Büro, wir holten ihn dort ab, gingen zum Schwarzwälder und
aßen, etwas langweilig, Neuß erzählte aber sehr schön, um 1/2 11 brachten wir Neuß an die
Bahn, dann müde nach Hause.

Mittwoch, 18. 4. 23
Lange und schlecht geschlafen (das elende Bett auf der Ottomane). Zu Dr. Laupheimer
wegen der Möbel, er war nicht zu Hause, dann zu Muth317 vom Hochland, nur ein paar
Worte mit ihm gesprochen, sehr freundlich übrigens, traf zufällig Funk318, dann zur
Schraudolphstraße, 2 Stunden mit Laupheimer, der mir die Möbel wiedergeben will, gegen
5 1/2 Millionen, mich ärgerte das, sodass ich schon so weit war, die ganze Sache fallen zu
lassen. Müde und traurig nach Hause, nachmittags mit Feuchtwanger Kaffee getrunken und
in einer Droschke dann nach Hause zurück, umgekleidet, zu Rupé, ins Nationalmuseum,
mit ihm in seine Wohnung, wo ich seine beiden Kinder sah, dann zu Hause, wo wir mit
[Geibel] zu Abend aßen. [Geibel] schimpfte über alles, die Juden, die Engländer, die Fran-
zosen, will alles kaputtschlagen, Feuchtwanger erzählte famos von seinen Ahnen, zeigte mir
seine Bibliothek; ich hatte ihn sehr gern. Begleitete Rupé durch den Englischen Garten,
erzählte die Geschichte meiner Ehe, er hatte ziemlich viel Wein getrunken. Dann in großen
Umwegen durch leere, öde Straßen nach Hause. Scheußlich. Gierig, traurig, deprimiert, auf-
gelöst.

Donnerstag, 19. 4. 23
Todmüde, nicht genug geschlafen, vormittags zum Verlag, mit Feuchtwanger weggegangen,
bei Geibel meine Karte abgegeben, dann bei Fahrig gegessen, gierig herumgeschaut, depri-
miert an Lo gedacht. Haare schneiden lassen. Müde nach Hause, etwas geschlafen, aber
nicht fröhlicher. Dann in den Ratskeller 319, 5 1/4 Müller 320 getroffen, über seine Arbeit
gesprochen. Merk321 kam auch, wir sprachen über den Römischen Katholizismus, meine
Schrift, die ich ihm gegeben hatte, tranken 2 Flaschen Wein, bis 10 Uhr, ich lief dann noch

317 Karl (Carl) Muth (1867–1944), Prof. (1914 verliehen durch König Ludwig III. von Bayern), Publi-
zist und Herausgeber der kath. Kulturzeitschrift „Hochland“, in der ab Ende der 1920er Jahre
auch Schmitt publizierte. Die Freundschaft mit Muth hielt bis Anfang der dreißiger Jahre an. Vgl.
auch Piet Tommissen, Der Briefwechsel zwischen Carl Muth und Carl Schmitt, in: Politisches
Denken. Jahrbuch 1988, Berlin 1988, S. 127–159.
318 Philipp Funk (1884–1937), modernistisch-kath. Theologe Historiker und Publizist, nach dem Aus-
tritt aus dem Priesterseminar in Rottenburg 1908 Dr. phil., 1918–1919 Redakteur der „München-
Augsburger Abendzeitung“, 1920–1926 Lektor des Kösel Verlags und Berater des in diesem Verlag
erscheinenden „Hochland“, 1925 Habilitation über die Vorgeschichte der „Münchner Romantik“,
1926 o. Prof. für Literatur- und allg. Geschichte an der Staatl. Akademie in Braunsberg, 1929–1937
für mittelalterliche und neuere Geschichte in Freiburg i. Br.
319 Ratskeller am Münchner Marienplatz.
320 Nicht ermittelt.
321 Möglicherweise Walther Merk (1883–1937), Rechtshistoriker und politischer Publizist für eine
„germanisch-deutsche Rechtserneuerung“, 1918 ao. Prof. in Straßburg, 1919 o. Prof. in Rostock,
1921 in Marburg, 1936 in Freiburg i. Br.

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186 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

2 Stunden auf den Straßen herum, weil ich nicht gern nach Hause wollte, aber furchtbar
versucht habe, ein seltsames, albernes, hübsches Mädchen in die Hohenzollernstraße mitzu-
nehmen, die sich über einen Mann geärgert hatte und mich für Samstag in die Reginahalle322
einlud. Lächerlich, müde nach Hause.

Freitag, 20. 4. 23
Ziemlich gut ausgeschlafen, aber gefroren. Während des Frühstücks telephoniert an Pesta-
lozza (Entscheidung am 25.)‚ an Krause, mit ihm für den Nachmittag verabredet. Behaglich
eine Stunde zu Hause, interessante Bücher bei Feuchtwanger, traf Riedner323, als ich in die
Elektrische einstieg, freundlich mit ihm unterhalten, für morgen verabredet, dann mit
Feuchtwanger bei Fahrig, gut gegessen, begleitete ihn noch, er hat Angst vor einem Pogrom
und sagte immer, morgen geht’s los. Ich fuhr nach Hause, kleidete mich um, dann zum
Hotel 4 Jahreszeiten, wo ich Frau Krause und Lisa traf, mich gut unterhalten, Georg kam
auch noch, wir sprachen natürlich über Politik. Verabredeten uns für den Abend, ging in die
Schönfeldstraße, bei der Frau Rowohlt 324 vorbei, ich wartete auf der Straße mit Georg,
begleitete Lisa nach ihrer Wohnung Bavariaring (am christlichen Hospiz Landwehrstraße
vorbei), dann zum Bauerngirgl325, wo Roth, Freyberg326, Münch und viele andere zusam-
menkamen. Man sprach nur von den Nationalsozialisten; war erstaunt (harmlos das alles
voraussichtlich), die Legalität der bayerischen Beamten. Um 11 weggegangen, zu Krause,
der mit seiner Frau im <…> auf mich wartete, ihm von Roth erzählt, Sekt getrunken, sehr
angeregt, begleitete die beiden noch. Einsam durch die Straßen nach Hause. Scheußlich.
Spät, um 2, ins Bett. O Einsamkeit.

Samstag, 21. 4. 23
Ziemlich gut ausgeschlafen, aber schon um 10 ging es los, zu Riedner, freundlich unterhal-
ten in seinem Büro, er ist Generaldirektor der bayerischen Staatsarchive, zu Hartig (glaubte
auf der Straße ein Mädchen vom Typ K. zu sehen, war wieder hingerissen), traf Professor
Muth am Starnberger Bahnhof, stolz, dass er über mich einen Aufsatz schrieb327, Muth war
sehr freundlich, dann holte ich Lisa ab und ging mit ihr in die Pinakothek, besahen die
Raffaels und die Tinteana, wie wir sie tauften328, 2 van Dyck. Das gute Kind war sehr
anschmiegsam. Dann begleitete ich sie nach Hause, aß dort, ruhte etwas aus, Harburger329

322 Gemeint ist vermutlich das Regina-Palast-Hotel, Maximiliansplatz 5.


323 Otto Riedner (1879–1937), Dr. iur., Rechtshistoriker und Archivar, 1908 Reichsarchivsekretär bei
dem Allgemeinen Reichsarchiv (ab 1921 Hauptstaatsarchiv) München, Kriegsdienst bei der Post-
überwachungsstelle des I. Bayer. Armeekorps, 1923 Direktor des Hauptstaatsarchivs und General-
direktor der staatlichen Archive Bayerns.
324 Emmy Rowohlt, genannt Reye-Rowohlt, Schauspielerin, ab 1912 kurzzeitig mit dem Verleger
Ernst Rowohlt (1887–1960) verheiratet, wohnte in der Schönfeldstraße 28.
325 Gastwirtschaft, Residenzstraße 19 und 20.
326 Baron von Freyberg, im Ersten Weltkrieg Generalmajor im Stellvertretenden Generalkommando
in München, Leiter der Abteilung II b1. Vgl. TB II, S. 34 u. ö.
327 Karl Muth, Die politische Idee des Katholizismus, in: Hochland XXI, 1 (1923), S. 96–100.
328 Offenbar eine Verballhornung von Tintoretto und/oder Tizian.
329 Walter Harburger (1888–1967), Komponist und Schriftsteller; vgl. TB II, S. 14.

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April 1923 187

kam, erzählte von seiner Pantomime, ging mit ihm weg, traf Freyberg vor dem Parkhotel,
wir tranken dort Mokka, unterhielten uns über die politische Lage, die bayerische Regie-
rung glaubt, der Reichswehr sicher zu sein, um 1/2 5 kam Krause, sehr schön unterhalten
über Munitionsfabriken usw. Bis fast 3 Uhr, dann trafen wir seine Frau330 Theresa <?>, aßen
bei Wagner zu Abend (ich dachte immer an Lo) und gingen ins Deutsche Theater mit Gei-
bel, ein nettes Programm. Ich war aber todmüde, langweilige russische Pantomime, nachher
noch zu Hause Wein getrunken, politisiert, schön, mit Geibel und einem Geheimrat
Koch331, der noch spät des Abends kam und mit dem ich um 2 nach Hause ging. Einsam,
geil.

Sonntag, 22. 4. 23
Um 7 auf, schnell angekleidet, nicht rasiert, im Auto zur Bahn, mit Feuchtwanger 2. Klasse
nach Berlin, wo wir spät ankamen. Unterwegs müde, Hunger, lange geschlafen, Max Scheler
gelesen, fuhr im Auto zur Wilhelmstraße332, traf am Zehnhoff, der von Schmitz etwas wis-
sen wollte, Ekel und Abscheu vor ihm und seinem Lachen, Wut, als er von K. mit Verach-
tung sprach, verteidigte sie sehr, sprach noch etwas mit ihm, es war Besuch da, freute mich
auf Blei; müde, innerlich kompakt, in mich gefaltet, sah meine unüberwindliche Einsamkeit.
Ich hasse diese Menschen.

Montag, 23. 4. 23
Schlief sehr lange, telephonierte Blei, verabredete mich, ihn abzuholen, man aß früh zu Mit-
tag, nachher schlief ich wieder. Um 4 zu Blei, in seine Wohnung, ein ärmlicher, alter Mann,
aber lebendig, der typische Philosoph des 18. Jahrhunderts. Wir tranken zusammen Kaffee,
unterhielten uns schön, es belebte mich wieder, dann musste er zum Theater (er spielt in
dem Stück von Sternheim „Die Hose“333). Ich fuhr nach Hause. Abends gingen die anderen
aus. Ich blieb allein mit am Zehnhoff, er erzählte von K., wie schrecklich sie sich mit Fuchs
<?> benommen habe, mannstoll und geil, wie Ferdinand ihr plötzlich die Füße waschen
sollte 334, das ernüchterte mich. Trotzdem schrieb ich ihr plötzlich einen heftigen [Liebes-]
Brief mit einer Litanei.335 Abends kam Fräulein Schröder, über meinen Zustand gesprochen,
sie nannte mich einen [Schwerenöter].

Dienstag, 24. 4. 23
Früh 10 Uhr aufgestanden, mit am Zehnhoff gefrühstückt, ein Fräulein Corath <?> war da,
eine abscheuliche, hässliche, langweilige dürre Medizinerin, <…>, alles, was eine hässliche

330 Gemeint ist Freybergs Frau.


331 Vermutlich Oskar Koch, Dr. iur., Geheimer Kriegsrat, München, Frauenplatz 10.
332 Schmitt wohnte wie schon im August 1921 bei am Zehnhoff im preußischen Justizministerium,
Wilhelmstraße 65; s. Teil III, S. 468 f.
333 Lustspiel von Carl Sternheim (1878–1942), 1911 unter großem Skandal uraufgeführt. Blei spielte
nicht nur die Rolle des Scarron, sondern war offenbar auch das Vorbild für diese Figur. Vgl. Blei,
Briefe an Carl Schmitt, S. 141.
334 Aufgrund des abweichenden Vornamens unsicher, ob Walter Fuchs (s. Teil I, Anm. 418) gemeint
ist. Dieser hielt sich freilich zur angegebenen Zeit in Berlin auf.
335 Siehe Teil III, S. 466.

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188 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Frau sein kann. Ich ging in die Rigaer Straße 336, traf aber Becker 337 nicht. Dann zum Hotel
Excelsior 338, zufällig Feuchtwanger getroffen und für den Abend verabredet. Bolschewisti-
sche Affekte in dem großen Hotel mit den gepuderten Frauenzimmern, um die sich alles
dreht; ekelhafter Zustand. Dann zu Hause umgekleidet, Wende nicht getroffen, zu Hause
nach dem Essen geschlafen (nicht zu der Verabredung mit der Frau, die ich Unter den Lin-
den getroffen hatte), zum Café Rumpelmayer 339. Mit Feuchtwanger ein paar [Bilder] bese-
hen und einige Bücher gekauft. Dann trafen wir Blei.

[Am oberen Rand links] Berlin April 1923


[Am oberen Rand rechts] 28. 4. 23 wieder in Bonn

Um 6 bei Rumpelmayer, wo viele Kokotten saßen. Ging mit ihm zum Theater „Tivoli“340,
sahen ein Stück Die Hose, ein dummer, langweiliger [Schwank]. Blei spielte schlecht.341
Nachher zu Ballhaus 342, schlechten Wein getrunken, Blei erzählte von sich, ich habe ihn
sehr gern. Mit Feuchtwanger allein nach Hause, müde, gleichgültig. Es ist zu Ende.

Mittwoch, 25. 4. 23
Bis 10 Uhr im Bett. Faul, behaglich, nach dem Frühstück lange herum, angezogen, zu
Wende, der mich über Holstein fragte und mein Gutachten rühmte. Die Unterhaltung tat
mir gut, ich war schon wieder am Boden gewesen. Vor dem Essen sagte mir Fräulein Schrö-
der, dass es ihr am liebsten wäre, wenn ich abreiste, denn es kommen andere Gäste. Das tat
mir weh. Ich dachte immer an K., ging wie ein Irrsinniger durch die Räume, in denen ich
mit ihr zusammen gewesen war. Nach dem Essen todmüde geschlafen, erschöpft, beim Auf-
wachen wusste ich wirklich nicht, wo ich war.343 Gleich zum Potsdamer Bahnhof, holte das
Billett, telegraphierte, alles wie im Traum, ging noch lange in den Zimmern des Gastzim-
mertraktes herum und sprach mit dem genius loci. Dann zu Blei, traf ihn vor der Kondi-
torei Hahnen344, neben Rumpelmayer, tranken dort Kaffee, umgeben von Kokotten. Er
schenkte mir die Novellen von Meredith, die er übersetzt hat345, ich freute mich über das
Produkt, um 7 ging er plötzlich, ich fuhr nach Hause, aß zu Abend, ziemlich schweigend,
kleidete mich um, packte ein. Trank noch etwas Bier mit am Zehnhoff und dem Geheimrat
Koch, entsetzlich langweilig, Fräulein Schröder hielt sich zurück, sie fuhr im Auto mit mir

336 Rigaer Straße in Berlin-Friedrichshain.


337 In der Rigaer Straße 4 wohnte damals ein Friedrich Becker, Zollbetriebs-Sekretär.
338 Hotel Excelsior, Königgrätzer Straße (heute Stresemannstraße) 112–113, am Potsdamer Bahnhof.
339 Berühmte internationale Kaffeehaus-Kette, gegründet von dem in Frankreich wirkenden Press-
burger Konditor und späteren k. u. k. „Hofzuckerbäcker“ Anton Rumpelmayer, in Berlin am Kur-
fürstendamm 208/209 gelegen.
340 Recte „Tribüne“, Berlin-Charlottenburg; vgl. Blei, Briefe an Carl Schmitt, S. 141.
341 Siehe bereits Brief an Blei vom 22. 8. 1922, Teil III, S. 386, 391.
342 Weinrestaurant Ballhaus-Varieté, Palais der Friedrichstadt, Friedrichstraße (Eingang Besselstraße).
343 Siehe Teil III, S. 466.
344 Konditorei Hahnen, Kurfürstendamm 210.
345 George Meredith, Chloes Geschichte. Eine Novelle. Ins Deutsche übertragen von Franz Blei, Pots-
dam 1923.

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April 1923 189

zur Bahn, sprach aber kaum. Ich bekam einen guten Platz und fuhr gleichgültig ab, bis
Magdeburg allein im Coupé. Große Sehnsucht nach K.

Donnerstag, 26. 4. 23
Des Nachts schlafend im Coupé 3. Klasse. Die Reise ging aber verhältnismäßig gut vonstat-
ten, am schlimmsten die Kontrolle eines sehr höflichen Franzosen, um 1/2 8 in Hagen,
trank im Wartesaal Mokka, plötzlich wieder Arbeitslust und Selbstbewusstsein, 2. Klasse
nach Plettenberg. Ännchen war an der Bahn, ich fühlte mich sehr wohl in Plettenberg.
Erzählte der Mutter von meinem Missgeschick mit Carita, die Mutter benahm sich sehr
würdig, nannte Carita eine Spitzbübin und Lügnerin. Der Vater kam auch und war froh, er
ist trotz seines Alters noch sehr munter. Nach dem Essen schlief ich bis 1/2 5, dann ein Spa-
ziergang mit Ännchen durchs Städtchen, nach Plettenberg, wo wir Zigarren und [Magen-
brot] kauften. Abends um 1/2 10 schon zu Bett. Fühlte mich stark, die Jugendvorsätze
wirken wieder, Stolz und Kraft. Hörte mit Besorgnis, dass Jup sich mit der Frau, die er im
Krankenhaus kennengelernt hat, attachiert; entsetzlich. Habe Mina 346 10.000 Mark gegeben.

Freitag, 27. 4. 23
Bis 8 Uhr geschlafen, großartig, vollständig munter aufgestanden, nicht rasiert, wie an-
genehm. Gefrühstückt, dann ein wunderschöner, langer Spaziergang im Saley, lag in der
Basaltgrube in der Sonne, fühlte mich wieder lebenswert und meiner Sache sicher. Wollte K.
einen gütigen Brief schreiben, obwohl ich manchmal Bedenken hatte. Stolz und sorgenfrei
mittags nach Hause, nach dem Essen Spaziergang in die Kersmecke mit Ännchen, bei Siep-
mann Kaffee getrunken, dann zu Hause, sehr behaglich ein paar Notizen gemacht und mich
wohlgefühlt. Ich will doch öfters nach Plettenberg kommen, im Sommer ist es sehr schön.
Abends noch einmal auf den Saley, wunderschön, kühler Abend, dachte ruhig an K. Mit
Ännchen noch gespielt347, gleichmütig ins Bett.

Samstag, 28. 4. 23
Um 8 ausgeschlafen, aufgestanden, gemütlich angezogen und schön Kaffee getrunken, Brief
von Georg Eisler348, den ich gleich beantwortete. Dann mit dem Vater (der fürchterlich aus-
sah) und Ännchen zur Bahn. Der Zug hatte große Verspätung. Ännchen entschloss sich, mit
nach Siegen zu fahren. Wir fuhren 2. Klasse, sehr hübsch, unterhielten uns nett, ich war
glücklich, meine Freigebigkeit endlich einmal anständig zu bejahen <?>. In Siegen sehr
müde, furchtbare Fahrt mit dem Bummelzug über Betzdorf bis Siegburg, dort mit der Elek-
trischen nach Bonn. Müde und gleichgültig, aber noch in der Spannung der guten Vorsätze.
Zu Hause angekommen sehr herzlich begrüßt von Frau v. Wandel. Fühlte mich wohl und
sicher, würdig. Abends kam Schmitz, wir kauften 2 Flaschen Moselwein und aßen bei ihm
zu Abend. Ich ging aber schon um 1/2 11, dann gleichgültig ins Bett. Die ersten Exemplare

346 Wilhelmine Schmitt, geb. Luke (genannt „Ernsts Mina“), Ehefrau von Schmitts Stiefbruders Ernst
Schmitt (1880–1919).
347 Gemeint ist: vierhändig Klavier gespielt.
348 Der Brief vom 26. 4.1923 ist im Schmitt-Nachlass (RW 265-3145) erhalten. Eisler zeigt sich darin
enttäuscht, dass Schmitt sein Angebot, nach Berlin zu kommen, nicht beantwortet hat.

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190 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

der Schrift über den Katholizismus sind gekommen. Ich freute mich sehr, ebenso ein Son-
derdruck von Smend349, der mich schön zitiert. Das gab mir eine gewisse Sicherheit. Dachte
ruhig an K., eine Karte von Friedrich Wilhelm, dem Bruder von Lo, erinnerte mich freund-
lich an L.; ein Gegengewicht von K.

Sonntag, 29. 4. 23
Bis 8 im Bett, holte mir bei Fräulein Strassberger Butter zum Frühstück. Dann wunder-
schön gefrühstückt, bei herrlichem Kaffee, und vier Briefe geschrieben, in bester Stimmung,
ging um 1/2 12 in die Kirche (Briefe an Hegner, Feuchtwanger, Karte an Jup, Brief an
Neuenhofer, Drucksache an Frau v. Schnitzler), nach der Kirche zur Universität. Sah, dass
Hensel für Kaufmann liest, der mich schockierte. Traf den Privatdozenten Beyerhaus, der
mit mir ging, gab ihm ein Exemplar des Römischen Katholizismus zum Lesen. Immer ruhig
und beherrscht. Nach dem Essen etwas mit Vormfelde, leider zuviel gesprochen, doch
ziemlich beherrscht. Er erzählte von seinem Leben, hatte gespart, zu albern. Doch hat er
mir beim Banker geholfen, als dieser meine Papiere verkaufte. Zu Hause dann Kaffee
getrunken. Müde und schlechter Laune des Nachmittags eine Zigarette geraucht, die mir
aber nicht bekam. Dann Sitzung des Verwaltungsrats, grenzenlos <?>‚ traurig, aber einiges
Hübsches entdeckt. Abends in die Jesuitenkirche, dann zum Abendessen, nachher mit
Vormfelde etwas spazieren und ein Glas Bier getrunken, froh, um 1/2 10 wieder zu Hause
zu sein. Noch etwas gelesen, mich über meinen „Römischen Katholizismus“ gefreut, der
wirklich ein schönes Buch ist. Sonst nicht mehr viel getan. Gute Vorsätze.

Montag, 30. 4. 23
Um 7 aufgestanden, gutes Gewissen. Schön gefrühstückt, Brief an Smend 350, Georg Eisler,
schickte ihm mein Buch, an Feuchtwanger (das Buch mit der Widmung für K.)‚ froh, das
erledigt zu haben, zur Bank, alles in bester Ordnung, stolz ein Konto von 2 1/2 Millionen
zu haben, guter Dinge, bei Landsberg, Anschlag am Schwarzen Brett gemacht, immer in der
Stimmung wie vor einem Jahr, als ich mit K. hier war, besonders an der Post, wo wir die
postlagernden Briefe abholten. Fühlte mich aber doch freier und war glücklich, für mich zu
sein. Nach dem Essen ein paar Schritte mit Vormfelde, der sich verloben will, dann ausge-
ruht, umgekleidet, um 5 Kaffee bei Frau v. Wandel, nett unterhalten, fühlte mich wohl,
erzählte lebhaft. Um 7 in mein Zimmer, beim Abendessen aufgeräumt (weil ich einen gut
sitzenden Anzug anhatte), dann mit Vormfelde über seine Ehe gesprochen; er will ein jun-
ges Mädchen heiraten, das 22 Jahre jünger ist als er. Zu Professor Neuß, mein Buch über
den Katholizismus. Er schenkte mir seinen Anfang des Christentums in den Rheinlanden351,
ich habe ihn sehr gern, wir tranken eine Flasche Wein zusammen, schließlich kam die Rede
auf meine Ehegeschichte, er war sehr optimistisch, will mit Stoffels sprechen. 1/2 12 nach
Hause, noch etwas gelesen, aber gleich zu Bett.

349 Rudolf Smend, Die politische Gewalt im Verfassungsstaat und das Problem der Staatsform, in:
Festgabe der Berliner Juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl zum Doktorjubiläum am 19. April
1923, Tübingen 1923 (Nachdruck Aalen 1981), III, S. 3–25.
350 Brief an Smend vom 30. 4. 1923, in: Mehring (Hrsg.), BW Schmitt – Smend, S. 22 f.
351 Wilhelm Neuß, Die Anfänge des Christentums im Rheinlande, Bonn u. a. 1923.

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April/Mai 1923 191

Dienstag, 1. 5. 23
Punkt 7 auf, die guten Vorsätze hielten noch an. Beim Frühstück an dem Aufsatz zu Zitel-
mann352 gearbeitet und guter Laune, ziemlich produktiv 353, Brief und Buch an Krause. Zur
Post, zur Bank, zum Schneider, unternehmend, aber müde und schlapp von dem weichen
Bett. Das Pfund steigt wieder enorm. Nach dem Essen etwas geschlafen, sehr müde, um
1/2 4 Fakultätssitzung, langweilig. Nachher mit Göppert im Königshof Kaffee getrunken.
Gut unterhalten, über Tiere, über Stolz; er ist ein großartiger Kerl, aber mir doch unendlich
fremd. Ich gab ihm mein Buch über den Katholizismus. Zum Abendessen kam Neuß, wir
gingen etwas zusammen spazieren, er brachte mir Bücher, die Artiñano mir geschenkt hat,
wir tranken noch ein Glas Bier bei Kieffer, ich regte mich furchtbar auf über den modernen
Betrieb, er blieb ruhig, am Rhein sprachen wir über Dämonen (das war der Weg, den ich
mit K.‚ mit L., mit Duschka gemacht habe!) und den Aufsatz von Weihbischof Stoffels über
die Dämonen354. Müde zu Hause gleich zu Bett.

Mittwoch, 2. 5. 23
Wieder Punkt 7 auf, den ganzen Vormittag an dem Aufsatz über Parlamentarismus, oft gie-
rig, dann wieder müde und verzweifelt. Brief von Georg Eisler 355, Karte von Blei, der die
Fackel haben will 356. Mittags einiges erledigt, Anzug anprobieren lassen, Hut zum Reinigen,
nach dem Essen geschlafen, bis 4, schönen Kaffee, sehr munter, gelassen, zu Hause geblie-
ben bis gegen 7, Brief von Neuenhofer, der mich wieder einlädt, für Pfingsten. Zum Buch-
händler, Zeitungen gekauft, ruhig gelesen, etwas gesammelt, nach dem Abendessen gleich
nach Hause und die Vorlesung für morgen früh vorbereitet, angenehme Aufregung, wieder
zu lesen. Nachts pfiff Schmitz noch um 1/2 11, ich ging aber nicht mit. Ziemlich müde, erst
1/2 12 zu Bett. Dachte viel an K. Oft scheint mir die K. <…> gesund zu sein. Ich müsste ihr
eigentlich schreiben. Am 4. will ich es tun.

Donnerstag, 3. 5. 23
Frau v. Wandel machte mir den Kaffee, ich hielt meine Vorlesung, zu laut und zu ange-
strengt, aber es war sehr angenehm. Nachher vieles erledigt, zur Bank, zum Schneider, traf
Kaiser und verabredete mich mit ihm für morgen. Zur Bibliothek, viele Bücher nach Hause

352 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, in: Bonner Festgabe für
Ernst Zitelmann. Zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum, München–Leipzig 1923, S. 413–473. Siehe
auch Teil I, Anm. 441.
353 Siehe Teil III, S. 467.
354 Joseph Stoffels, Die Angriffe der Dämonen auf den Einsiedler Antonius. Ein Beitrag zur Ge-
schichte der Mystik, Paderborn 1910.
355 Der Brief vom 29. 4. 1923 ist im Nachlass Schmitt erhalten (RW 625-3146).
356 Karl Kraus schrieb in der Fackel Nr. 601–607 (14. Jg., Nov. 1922) S. 84–90, eine ätzende Kritik zu
Bleis Buch „Bestiarium literaricum“ (zuerst pseudonym, München 1920) bzw. „Das grosse [sic!]
Bestiarium der modernen Literatur“ (1. Aufl. Berlin 1922), insonderheit zu dem von Schmitt stam-
menden (vgl. Ernst Hüsmert, Notizen zu den wichtigsten Satiren Carl Schmitts, in: Tommissen, In
Sachen Carl Schmitt, S. 41–46, 42 ff.) satirischen Portrait „Die Fackelkraus“, Wiederabdruck in:
TB II, S. 472 f. Bleis Replik, Tage-Buch 4 (1923) S. 980 f., geht nicht auf diese Kritik ein, sondern
wehrt sich lediglich gegen Kraus’ Behauptung, Blei habe Jahre zuvor um dessen Gunst gebuhlt.

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192 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

geschleppt, vormittags noch etwas getan, nach dem Essen zu Hause geschlafen, von 5–6 im
Seminar, Sprechstunde, 6–8 staatsrechtliche Übungen, die mir viel Freude machten, von
Carroll357 begleitet zum Abendessen, nachher nach Hause. Dann zum Café, wo Jup war,
erzählte von seiner neuen Freundin, ich war müde und traurig, erschöpft von meinem vielen
Sprechen, aber stolz auf meine Bildung; selbstbewusst, sehr nervös, lieblose Gefühle. So
ging ich nach Hause und gleich zu Bett.

Freitag, 4. 5. 23
Wieder eine nette Vorlesung (aber schlecht vorbereitet), dann mit Kaiser am Rhein spazie-
ren, er erzählte von seiner Arbeit über die Arbeitgeberverbände. In der Bibliothek herum-
gelesen, das gehört zu meinem Sicherheitsgefühl. Die Brille reparieren lassen. Zum Schnei-
der Quast358‚ der den alten Anzug von André aufarbeitet. Zu Hause ein Brief von Frau
v. Schnitzler, die mich herzlich einlädt, worüber ich mich sehr freute. Nach dem Essen wie-
der gleich nach. Hause, schlecht geschlafen, um 1/4 5 zum Seminar, dann zu Schilling, Tee
getrunken. Langweilig über Physik. <…> Frau sang mehrmals Lieder, entsetzlich. Traurig
nach Hause. Nach dem Essen etwas mit Neuß‚ der mich für morgen Abend einlud. Dann
todmüde herumgeschlafen und zu Bett.

Samstag, 5. 5. 23
Um 7 auf, [eifrig] an meinem Aufsatz für Zitelmann. Professor Kern359 kam, um sein histo-
risch-politisches Seminar zu empfehlen. Er ist mir unsympathisch, ein protestantischer Pro-
fessor. Scheußlich. Ich lag faul herum. Es ist herrliches Wetter, aber warm und schwül und
nicht zum Aushalten. Ich wollte, ich wäre woanders. Aber wo? Oft Sehnsucht nach K.‚
dann wieder die Sinnlosigkeit dieser Sehnsucht erkannt. Muss ihr endlich schreiben. Warum
schreibt sie nicht mehr? Was mag sie tun? Mittags kleidete ich mich um. Seit einiger Zeit
treibt es mich, mich umzukleiden. Wie lächerlich. Ein trauriger Nachmittag, abends wieder
umgekleidet, nach dem Essen zu Neuß, Guardini kam aber nicht, mit Neuß, Schulte,
Schmitz, später noch dem Bruder von Neuß auf der Veranda gesessen und Wein getrunken.
Politisiert, gegen die Ökonomisierung der Politik. Aufgeregt, voll Angst, müde, gleichgül-
tig, völlig, verzweifelt nach Hause um 12 Uhr.

Sonntag, 6. 5. 23
Früh wach, konnte nicht schlafen. Schrecklicher Traum: Die Franzosen weisen mich aus,
Vetter André ist bei mir, er hat mein <…> und spricht: 26 mal habe ich sie gepachtet <?>.
Grauenhafte Narren. Um 8 auf, es ging mir etwas besser. An dem Aufsatz für Zitelmann
gearbeitet, schlecht. Um 12 zur Messe, nachher wieder zu Hause. Völlig verzweifelt. Nach

357 Mitchell Benedict Carroll (1898–nach 1978), US-Luftwaffenoffizier im Ersten Weltkrieg, Dokto-
rand Schmitts (wohl der „Amerikaner“ im Brief an Kathleen Murray vom 10. 5. 1923, Teil III,
S. 469), 1923 promoviert mit einer Arbeit über „Die wirtschaftlichen Forderungen in Friedensver-
trägen“, später Richter und Steuerrechtler, 1930 Präsident der International Fiscal Association
(1971 Ehrenpräsident), die noch heute einen nach ihm benannten Preis auslobt.
358 Schneiderei Quast, Bonn, Rosenstraße 29.
359 Fritz Kern (1884–1950), Historiker, 1913 ao. Prof. in Kiel, 1914 o. Prof. in Frankfurt/M., 1922–
1947 in Bonn.

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Mai 1923 193

dem Essen ein paar Schritte mit Vormfelde (erzählte ihm die ungute Sache von Professor
Kern), der Frau v. Wandel auf der Straße ansprach. Oft müde, geschlafen bis 5, kein Kaffee,
ganz nett ein paar Stunden gearbeitet, aber nicht viel. Die Vorlesung für morgen vorbereitet.
Müde, traurig, sehnsüchtig. Wie weit weg ist K., kein Brief von ihr, wie traurig. Sehnsucht
nach Carita, vielleicht ist sie doch die beste. Hilflos, wer weiß, was aus ihr wird. Schmitz
begegnete mir, ich soll für ihn an Wende schreiben. Traurig nach Hause. Frau v. Wandel
spricht sehr freundlich mit mir. Ich habe sie gern und freue mich, dass sie sich an mich
gewöhnt hat. Aber wie zwecklos ist alles. Nichts. Nur die Freude, meine Tüchtigkeit zu
Papier zu bringen.

Montag, 7. 5. 23
Schlecht geschlafen, aber ziemlich frisch, hielt meine Vorlesung ganz nett, holte an der Bank
1 Million Mark und bezahlte sie Kaufmann360, freute mich doch darüber; das alles belebt
mich. Ich bin jetzt schon ganz vertrottelt und freue mich über schöne Kleider und meinen
Frack, arbeitete etwas zu Hause an meiner Vorlesung, sehr <…>, um 9 1/2 sah ich Duschka
zufällig am Schwarzen Brett und sprach ein paar Worte mit ihr. Um 11 stand sie lange mit
ihren Freunden vor meiner Wohnung auf der Straße, ich überwand die Aufregung. Nach
dem Essen <…> zu mir gesucht, ein Telegramm, dass Fräulein Baumeister kommt, vor 5
zur Rheinuferbahn, traf Klein, der sagte, dass die Franzosen eine Militärdiktatur planen. Ich
trank mit ihm Kaffee, Fräulein Baumeister kam, sehr nett, ihre Geschäfte würden gut gehen,
sie blieb <…>, Frings, ich hielt meine Vorlesung sehr gut (die Herrschaft des Staates über
die Wirtschaft, die Herrschaft der Wirtschaft über den Staat), nachher sah ich Duschka,
sprach freundlich mit ihr, verabredete mich für Samstag Nachmittag. Dann angeregt durch
die schöne <…> nach Hause. Nach dem Abendessen noch etwas mit Vormfelde. Aufgeregt,
wir sprachen über politische Dinge, allgemeinen Druck, Ausweisungen in Massen, die
Franzosen setzen sich in die Wohnungen, das ist das schlimmste. Zu Hause müde noch
meine Vorlesung vorbereitet.

Dienstag, 8. 5. 23
Wieder schlecht geschlafen, des Nachts entsetzliches Gewitter. Eine schöne Vorlesung, dann
mit Reiners nach Hause, über Bolingbroke gesprochen, etwas gearbeitet, dann zum Semi-
nar. Mit [Freude] einiges erledigt, das Seminar angesehen 361, ich fühle mich wieder wohl,
unangenehmes Gefühl gegenüber Hensel. Mit ein paar Büchern nach Hause. Plötzlich in
Angst [mich daran] erinnert, dass heute vor 4 Jahren der schreckliche Tag in München
war.362 Wer weiß, was kommt. Immer das Gefühl, bald wieder gehoben zu werden; aber
einiges Vertrauen, dass dieselbe Hand, die mich hebt, auch wieder an eine bessere Stelle zu
Boden setzt. Zwischen Ost- und Westdeutschland fliege ich hin und her. Nach dem Essen
geschlafen, müde, keinen Kaffee getrunken, gearbeitet, nicht viel, abends Zeitungen gekauft,
nach dem Abendessen holte sich Vormfelde den „Wundertätigen Regenschirm“363, den ich

360 Gemeint ist der Herrenschneider Aloys Kaufmann (s. Anm. 72).
361 Schmitt war von März 1923 an auch Mitdirektor des Seminars für Wissenschaftliche Politik.
362 Schmitt bezieht sich offenbar auf ein Ereignis im privaten Bereich. Die Besetzung Münchens durch
Reichswehr- und Freikorpsverbände geschah am 2. (!)5. 1919; es gab damals mehr als 600 Tote.
363 Erzählung des ungar. Schriftstellers und Politikers Koloman (Kálmán) Mikszáth (1847–1910).

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194 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

mit Behagen gelesen hatte. Dann bereitete ich noch meine Vorlesung vor und sehr müde ins
Bett. Dachte an K., Gefühl des Erdbebens, aber gleichgültig, Galgenhumor.

Mittwoch, 9. 5. 23
Mit Behagen aufgestanden um 7, schöner Kaffee, schöne Vorlesung, freute mich dessen;
nachher Kleinigkeiten erledigt, gelangweilt, unternehmend, im Reisebüro die Abreisebedin-
gungen für Australien, die Reise kostet 55 £. Wenn ich vernünftig gewesen wäre, hätte ich
inzwischen die [Hälfte]. Zu Hause ein Brief von Kommnick aus Marburg, der mir von
K. erzählte, dass sie gerne zurückkommen würde, und ein Brief von André, der am 1. Juli
kommen will. Erfreut, aufgeregt, nervös, aber das Gefühl, K. zu holen, die Fenster öffneten
sich nach Westen, Gott sei Lob und Dank. Mittags kam Vormfelde einen Augenblick vor-
bei, nach dem Essen schlief ich, etwas zu spät zum Doktorexamen, dann zu Kaufmann, zur
Anprobe des Smokings, der mir viel Freude machte, auch die grüne Weste wird sehr schön.
Ich ließ mir die Haare schneiden, was 2000 Mark kostete. Zu Hause etwas gearbeitet an
dem Aufsatz für Zitelmann, langsam vorwärts, ebenso nach dem Abendessen, müde früh
ins Bett, gleich eingeschlafen.

Donnerstag (Himmelfahrt), 10. 5. 23


Bis 8 gut ausgeschlafen, herrlich gefrühstückt mit <…>, dazu den Aufsatz von Zitelmann,
der gut vorwärts ging und endlich Gestalt gewinnt. Hegner hat die 2 gebundenen Exem-
plare des Römischen Katholizismus geschickt, sonst kam nichts. Den ganzen Tag zu Hause
an dem Aufsatz gearbeitet, oft sehr müde, traurig, deprimiert, fühlte mich düpiert. Schmitz
holte mich ab, ich ging ein paar Schritte mit ihm, weiter aber nichts. Schrieb einen Brief an
K.364‚ etwas kindlich. Meine Einsamkeit ist entsetzlich. Müde, Augenschmerzen, was soll
ich tun; verzweifelt. Nachts geil, Ejakulation.

Freitag, 11. 5. 23
Um 7 auf, schön gewaschen, schön gefrühstückt, schöne Vorlesung, sehr behaglich. Nach-
her mit dem Dr. Klein bei Hufschlag 365 ein Glas Vorbutter 366 getrunken, er erzählte von sei-
nem Katholizismus, von seiner inneren Zerrissenheit, seinen Versuchen, gerecht zu werden.
Ein problematischer Mensch, der mir leid tut, aber mit dem ich nichts zu tun haben möchte.
Er nahm den Brief für K. mit nach Koblenz. Dann kam das Schreibmaschinenmädchen, ich
diktierte bis 1, mehrere Studenten kamen noch, hörte, dass Kaufmann kommt, und habe
wieder Angst vor ihm; nach dem Essen gleich nach Hause, geschlafen bis 4, zum Schneider,
den neuen grauen Anzug, froh, gut gekleidet zu sein, im Hansa-Café Mokka getrunken,
ekelhaftes Publikum, dachte an K., zu Hause etwas geschrieben, dann kamen 6 Studenten
wegen Dissertationen, ich zog mich um, um 8 zu Landsberg, mit Schulz zusammen geges-
sen, wunderschön, herrlicher Wein (Piesporter Michelsberg 1904), gut unterhalten, freute
mich über das Lob meiner Schrift über den Katholizismus, das tat mir wohl. Angeregt,
erregt nach Hause. Sehnsucht, Gier, ohne Respekt, im Grunde verzweifelt, aber mit der

364 Siehe Teil III, S. 468–470.


365 Konditorei und Café Peter Hufschlag, Bonn, Bahnhofstraße 23.
366 Vermutlich Buttermilch gemeint.

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Mai 1923 195

heimlichen Hoffnung, dass es gut geht. Landsberg erzählte, dass das Reich bankrott machen
will. Morgen gehe ich mit Duschka.

Samstag, 12. 5. 23
7 1/4 aufgestanden und schön gefrühstückt, gut gearbeitet, mit dem Schreibmaschinen-
mädchen zur Landwirtschaftlichen Hochschule, gut diktiert, nett mit Vormfelde (gegen den
ich natürlich wieder überschwenglich devot bin), unterhalten. Nach dem Essen ausgeruht,
um 4 zu Duschka, ihre jüdische Freundin (<…>) war bei ihr, ein grauenhaftes Frauenzim-
mer. Ging mit Duschka zum Königshof, ziemlich gleichgültig, sie hat mein Buch über den
Katholizismus gelesen und machte einige naive Einwände, aber sie ist klug und bauernhaft
selbstsicher. Ich erzählte ihr von meiner Sünde im Justizministerium, die magische
Beschwörung; sie fand es wunderschön, dass man einen Menschen so heftig herbeiwünscht.
Dann gingen wir in ziemlicher Kälte am Rhein spazieren, bis 1/2 9, sprachen von ihrem
Examen, sie zitierte den Fischer von Goethe367, das Ganze eine grässliche Zeitvergeudung.
Um 9 aß ich bei Strassberger zu Abend, dann müde zu Hause, korrigiert an dem Aufsatz
über Parlamentarismus.

Sonntag, 13. 5. 23
Bis 8 müde im Bett, gut gefrühstückt, in bester Stimmung, ein paar Seiten über Sozialismus
geschrieben, sehr behaglich, dann plötzlich ein Brief von Seitz 368, dass er sich Nutzungs-
rechte vorbehalte. Heftiger Schreck. Es ist grauenhaft. Zerrüttet und erledigt. Hätte mir am
liebsten das Leben genommen. Ekelhaft. Ein paar Studenten kamen. Curtius 369 hat mir für
meinen „glänzenden Essay“ gedankt, es überlief mich kalt, als ich an diesen innerlich kalten,
eitlen Menschen dachte. Die Karte kam aus Marburg, ferner ein langer Brief von Kluxen,
der mir gut tat. Ich schickte ihm eine Drucksache (<…> Zeitungsausschnitt über den Tod
des englischen Lords, der die Ausgrabungen in Ägypten gemacht hat370); nach dem Mittag-
essen Temps gekauft, mit Vormfelde bei Rittershaus Kaffee, dann langer Spaziergang auf
den Venusberg. Zu Hause die Vorlesung vorbereitet, kein Kaffee, Frau v. Wandel kam und
bat mich, wenn die Franzosen kommen zu sagen, dass mir auch das Inventar der Zimmer
gehört und ein großer Teppich (dabei hat sie ihn aus meinem Zimmer genommen, aus Geiz,
ich erschrak vor den Frauen); ekelhaft; las Ball über die byzantinischen Heiligen371. Traurig,
müde. Nach dem Abendessen etwas mit Vormfelde, dann einsam, verzweifelt, halbirrsinnig
nach Hause. Der Geist von Cari verfolgt mich. Todmüde ins Bett, konnte nicht schlafen;
grässlich.

367 Siehe Eintragung vom 25. 3. 1923.


368 Nicht ermittelt.
369 Der Brief ist im Nachlass Schmitt nicht erhalten.
370 George Herbert, 5th Earl of Carnarvon (1866–1923), britischer Ägyptologe mit Grabungslizenz im
Tal der Könige, Mitarbeiter und Hauptfinancier Howard Carters, starb – wenige Wochen nach der
offiziellen Öffnung des von Carter entdeckten Grabes Tutanchamuns – am 5. 4. 1923. Sein Tod
löste die Rede vom „Fluch des Pharao“ aus.
371 Hugo Ball (s. Teil I, Anm. 456), Byzantinische Christentum. Drei Heiligenleben, München u. a.
1923.

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196 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Montag, 14. 5. 23
Um 7 auf, wunderschön gewaschen, schöner Kaffee, nach der Vorlesung sah ich Duschka an
der Galerie in der Poppelsdorfer Allee, kaufte ihr gelbe Rosen und begleitete sie nach
Hause. Sie ist aber immer gleichgültig und zeigt nicht das geringste Interesse für mich.
Dann in die Landwirtschaftliche Hochschule, diktierte ohne besondere Anstrengung, lang-
sam weiter. Zum Regierungsrat Havenstein372 wegen <…>. Zu Hause ein Brief von Karl
Lamberts, ein Aufsatz von Landauer 373, den Feuchtwanger schickte374, ich las ihn gleich
durch. Angst vor diesem gescheiten Juden. Nach dem Essen ausgeruht, Ejakulation, grauen-
hafter Zustand, völlig verzweifelt. Dann umgezogen, Kaffee im Hansa-Café, welches
Gefühl, in meinem blauen Anzug. Schlechte Vorbereitung der politischen Ideen, kam mir
elend und dumm vor. Sah Fräulein v. Wandel, schämte mich des schlechten Lesens, sah
Duschka, lief ihr nach und fand sie vor dem Schaufenster von Berendt375 stehen. Wir gingen
zusammen am Rhein entlang, bis 8 Uhr. Sie erzählte davon, dass sie nicht an die Zukunft
ihres Landes glaube, von ihrer Schwester, von Frauen, die sich prostituieren, ich hatte das
Gefühl, dass ich ein Narr bin, mich um sie zu bemühen. Aber sie ist gut und freundlich,
lächelt und lässt sich ohne irgendeine Bitte einladen. Schämte mich, dass mich so viele Stu-
denten sahen. Bei Strassberger mit Fräulein Käthe‚ die über die schrecklichen Zeiten klagte.
Der Dollar wieder 47.000. Kann vielleicht jetzt meine Schulden bezahlen, etwas Angst
wegen meiner Wohnung in München. Könnte nur erst alles weg. Müde zu Hause. Schnell
noch die Vorlesung über Verwaltungsrecht. Todmüde. Gefühl, einen Verrat begangen zu
haben, an wem [auch immer] (Frau v. Wandel, Fräulein Stoffels, den anständigen Jungens)‚
weil ich erst mit Duschka herumlaufe. Nachts nicht geschlafen, Angst vor Schanker.

Dienstag, 15. 5. 23
Morgens schlechtes Wetter. Wie lächerlich ist mein Benehmen gegenüber Frauen, Ekel und
Entsetzen, wenn ich an Carita denke. Ich musste mich jahrelang ruhig verhalten. Hielt
meine Vorlesung, sprach etwas mit Geheimrat Dyroff, armer Kerl, nicht hinter Duschka
hergelaufen, zu Hause eine Karte von Spranger376, der sich sehr geschmackvoll, bewun-

372 Gustav Havenstein, Dr. phil., Geh. Regierungsrat, Landes-Ökonomierat, Direktor des Verbandes
der rheinpreußischen landwirtschaftlichen Genossenschaften e. V. und Vorstand der Genossen-
schaftsbank für Rheinpreußen, Bonn, Königstraße 31.
373 Carl Landauer (1891–1983), Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler, 1913 bei Brentano in Heidel-
berg promoviert, 1926–1933 Mitherausgeber des „Deutschen Volkswirts“, 1929–1933 ao. Prof. an
der Handelshochschule in Berlin, 1933 Emigration, 1934 Prof. am Department of Economics, Uni-
versity of California (Berkeley), USA.
374 Erwähnt im Brief von Feuchtwanger an Schmitt vom 16. 5. 1923, in: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt-
Feuchtwanger, S. 34 f.
375 Buchhandlung Behrendt, Bonn, Am Hof 5a.
376 Eduard Spranger (1882–1963), geisteswissenschaftlicher Pädagoge, 1911 ao. Prof. in Leipzig, 1911
o. Prof., 1919–1945 in Berlin, 1946–1950 in Tübingen. Zu Schmitts Verhältnis zu Spranger vgl. die
Materialien im Nachlass Schmitt (RW 265-20832); ferner Carl Schmitt, Ex captivitate salus. Erfah-
rungen der Zeit 1945/47, Köln 1950, S. 9–12; Tommissen, in: Schmittiana V 1996, S. 205 ff. Spran-
gers Karte ist im Nachlass Schmitt erhalten (RW 265-15584). Vgl. Reinhard Mehring (Hrsg.), Carl
Schmitt im Gespräch mit Philosophen, in: Schmittiana NF II 2014, S. 119–199, 133.

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Mai 1923 197

dernd über meinen Aufsatz zum Katholizismus äußert, auch Göppert hatte ihn bewundert.
Das freute mich. Diktierte, ziemlich faul, in der Landwirtschaftlichen Hochschule, ver-
kaufte Vormfelde meine Restaktie für 612.000 Mark, um den Schneider zu bezahlen. Dann
mit Vormfelde ein Glas Bertricher377 getrunken bei Bartz378, darüber gesprochen, dass er gar
kein Geld hat zum Heiraten. Lächerlich, ekelhaft seine Beschreibungen von einer Frau, die
ihm die Füße wäscht, gute Sachen kocht und die er [schikaniert] und die ihm ganz gleich-
gültig ist, die er nur braucht, um sich pflegen zu lassen, was er ihr auch offen sagt. Nach
dem Essen zu Hause ausgeruht, sehr müde, [mein] elender Kadaver. Dann ein Glas Zitrone
und in der Landwirtschaftlichen Hochschule die Ausführungen über Parlamentarismus zu
Ende diktiert. Cognac getrunken mit Vormfelde, sah die Russin, die Freundin Duschkas.
Abends noch den Temps gekauft, mit großem Spaß den Namen gelesen („Jedermann
femme“), nach dem Abendessen zu Hause korrigiert, die Vorlesung über Verwaltungsrecht
in Eile vorbereitet. Es ist doch viel zu tun. Bis 1 Uhr nachts. Angst vor Schanker, es ging
vorüber.

Mittwoch, 16. 5. 23
Um 7 auf. Nachts deutliche Halluzinationen (ich hatte Ball über die Christen gelesen).
Wunderschöner Kaffee und <…>. Eine schöne Vorlesung, nicht hinter Duschka hergelau-
fen, zu Hause Bücher von Feuchtwanger 379 und ein Brief von Georg Eisler380, der mich
nach Helgoland einlädt. Bei Vormfelde etwas diktiert, mit ihm Milch und Kakao getrunken,
er brachte meinen Personalausweis durch seine Balletteuse zur französischen Behörde. Mit-
tags zum Rechtsanwalt Meyer, ekelhaft. Nach dem Essen zu Hause ausgeruht, um 3 Uhr
Temps gekauft, den Rahmen gelesen, Prüfung von Overbeck381 (gut) und Schmitz (ausge-
zeichnet); das tat mir wohl. Trank dann Kaffee bei Frings, ein dummes Weib, aber doch
etwas geil, doch ging ich schließlich gleichgültig weg. Immerhin regte mich das auf und an.
Zu Hause etwas das Manuskript korrigiert. Nach dem Essen (sehr schlechter Laune, will
endlich aus der Pension weggehen, bin sie leid) Pralinen gekauft, zu Hause Verwaltungs-
recht vorbereitet, nachgedacht, gleichgültig, müde, die Franzosen haben die Höchster Farb-
werke besetzt, was mag aus Schnitzler geworden sein. Muss endlich meine Briefe erledigen.
Schreckliche Unordnung auf meinem Tisch. Was mag aus K. geworden sein. Ich bin haltlos,
verzweifelt, verloren, nichts. Ich dürfte nicht lange mehr leben.

Donnerstag, 17. 5. 23
Um 7 auf, um 8 Vorlesung, nachher viel Testate, dann mit Braubach, bei Behrendt ein Buch
gekauft, wollte eine Bibel für Duschka kaufen, da stand sie plötzlich auch im Buchladen, ich
freute mich sehr, sprach freundlich mit ihr, war aber doch ernüchtert über ihre innerliche
Gleichgültigkeit. Dann bei Kaufmann Anprobe, nett unterhalten mit dem jungen Kauf-

377 Sprudel aus Bad Bertrich.


378 Gasthaus Bartz, Bonn, Sterntorbrücke 14.
379 Die – vom Verlag zuvor versandten – Bücher werden erwähnt im Brief Feuchtwangers an Schmitt
vom 16. 5. 1923, in: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 34 f.
380 Brief vom 13. 5. 1923 ist im Nachlass Schmitt erhalten (RW 265-3147).
381 Nicht ermittelter Student.

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198 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

mann382. Mit der schönen grünen Weste herumgelaufen, telegraphierte an Feuchtwanger,


noch mit Braubach, dann zu Vormfelde, etwas diktiert, zu Hause todmüde. Mittags plötz-
lich von Ernst Lamberts auf der Straße angerufen, wir aßen zusammen im Bürgerbräu, tran-
ken Wein dazu, nachher im Königshof Kaffee. Er erzählte von seiner Gefangenschaft bei
den Franzosen, Wut über am Zehnhoff, die „Kräfte“, zu Hause ausgeruht, schlecht und
schnell vorbereitet für staatsrechtliche Übungen, die aber glänzend verliefen, abends einsam
ein Glas Bier bei Kieffer, dann zu Hause gleich ins Bett, kaum vorbereitet für morgen.

Freitag, 18. 5. 23
Schöne Vorlesung, ausführlich über Tarifautonomie‚ weil ich noch nicht weiter [vorbereitet
war]. Nachher gab ich Fräulein Strohschneider383<?> das Buch von Landauer über Zurech-
nung 384. Verabschiedete mich von Kissin385, verabredete mich mit dem Ägypter für morgen
Nachmittag. Dann zur Bank, zu Vormfelde, mit ihm <…> und Milch mit Cognac getrun-
ken. Müde nach Hause, nach dem Essen ausgeruht, Examen, langweilig, freundlich mit
Landsberg gesprochen. Angeregt nach Hause, froh, endlich Ferien zu haben, aber den Tisch
voller Arbeit. Zur Anprobe bei Geyer, froh über meinen neuen Anzug. Froh, dass Felten &
Guilleaume über 100.000 stehen! Zu Hause ein Brief von dem P. McKiernan. Er stellt mir
Fragen wegen K., spricht von ihrer außerordentlichen Treue. Ich war gerührt, ergriffen,
hätte fast telegraphiert, tat es aber nicht. Jedenfalls sehr aufgeregt. Abends nach dem Essen
kam Schmitz und pfiff, ich ging mit ihm spazieren, trank mit ihm im Bürgerverein eine Fla-
sche Wein, über 10.000 Mark bezahlt. Müde, wütend geil nach Haus, scheußlich.

Samstag, 19. 5. 23
Bis 8 geschlafen, behaglich gefrühstückt, ein paar Notizen zur Arbeit für Festgabe, aber
langsam weiter. Dann viele Briefe, vor allem einer von Paul Scheffer, der in Köln im Hotel
Disch386 ist. Antwortete ihm gleich, schickte ihm freudig ein Exemplar meiner Schrift über
den Katholizismus. Brachte das und einen Brief von Feuchtwanger zur Rheinuferbahn,
dann traf ich Ehrhard, unterhielt mich schön mit ihm über Politik; trauriger Zustand in
Deutschland. Zum Seminar, viele Bücher, vor allem die Handbücher über die [Systeme] der
Praktischen Politik von <…>. Ekelhaft, diese Wiener Juden. Angst. Um 1 kam Braubach,
bewunderte meine Arbeit, was mich freute. Nach dem Essen ruhte ich aus, aber sehr auf-
geregt und geil, um 1/4 vor 4 kam der Ägypter Mansur387, ein intelligenter, kluger, schöner
Mensch, erzählte von Ägypten, zeigte mir seine Übersetzung der ägyptischen Verfassung 388,

382 Inhaber des Herrenbekleidungsgeschäftes Kaufmann waren 1923 freilich Alfred (= Vater) und
Edgar (= Sohn) Mendel.
383 Nicht ermittelte Studentin.
384 Carl Landauer (s. Anm. 373), Grundprobleme der funktionellen Verteilung des wirtschaftlichen
Wertes. Mit 5 graphischen Darstellungen im Text, Jena 1923.
385 Nicht ermittelt.
386 Damals Hotel in der Kölner Altstadt, Brückengasse 19.
387 Mansur wohnte in der Luisenstraße 7 bei Mathilde Munscheid, einer Lehrerin am städtischen
Lyzeum.
388 Nach der Unabhängigkeitsgewährung proklamierte sich am 15. März 1922 der bisherige Sultan
zum König von Ägypten. Das Land erhielt eine Verfassung als konstitutionelle Monarchie, die am
19. April 1923 in Kraft trat.

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Mai 1923 199

sehr schöne Unterhaltung, dann mit ihm zum Königshof, Braubach kam auch, schön unter-
halten bis 6 Uhr, mit Braubach nach Hause, gut gesprochen. Nach dem Essen mit Vorm-
felde, der morgen abreisen will. Wir sahen Wandervögel, Franzosen, die darüber lachten
und spotteten. Schrecklich. Aufgeregt nach Hause. Fühlte mich stark und sicher, es ging
aber schnell wieder vorbei. Habe viel zu tun und komme zu nichts vor lauter Gesprächen
und Reden mit den Menschen.

Pfingstsonntag, 20. 5. 23
Morgens zu Hause sehr langsam an dem Aufsatz notiert, schrecklich langsam. Scheffer rief
an, ich verabredete mich für den Nachmittag mit ihm, dann wollte ich Blumen kaufen, es
gab aber keine mehr, gab Brentanos Gedichte389 bei Duschka ab 390. Nach dem Essen zu
Hause ausgeruht, umgezogen, mich meines blauen Anzugs gefreut, nach Köln gefahren, in
der St. Kolumba-Kirche, Scheffer im Hotel Disch getroffen, Fräulein v. Carlberg, die Sent
M’ahesa391, war bei ihm, eine Baltin mit einem Pferdemuff, aber sie hat etwas Bestrickendes
und Attrahierendes. Wir tranken Kaffee, dann ging ich mit Scheffer durch die Straßen von
Köln, gingen in die Severinskirche, dann zu Becker392, wo die Sent M’ahesa tanzt. Aßen ein
Chateaubriand und tranken schlechten Wein dazu. Sie tanzte wunderbar und sah auf der
Bühne prachtvoll aus. Ich war aber sehr müde und ging gegen 11 Uhr nach Hause. Habe
mich mit Scheffer gut unterhalten, vom [Katholizismus], über mein Buch sagte er, dass es
brillant ist, aber er bedauert die Opfer dieses Buches. Er sprach ausgezeichnet darüber, dass
nichts vom Wesentlichen gesagt ist. Ich fuhr müde nach Hause. Besser allein.

Pfingstmontag, 21. 5. 23
Etwas lange geschlafen, etwas gearbeitet, sehr extensiv, komme kaum vorwärts. Ging mit-
tags zu Neuß, um für Scheffer eine Empfehlung für Stoffels zu bringen, verabredete mich
mit Neuß für Mittwoch. Nach dem Essen geschlafen, sehr müde, bis 5 Uhr. Dann etwas

389 Clemens Brentano, Gedichte, hrsg. von Albrecht Schaeffer, Leipzig 1914. Die Ausgabe enthält die
handschriftliche Widmung von Schmitt: „Duška Todorović/Bonn am Rh./Pfingsten 1923./An Sava
[sc. Kličkovič] weitergegeben/San Casciano/4. November 1974 von/Carl Schmitt./Wir, die wir
Schatten Wesen/einst verliehen,/Sehn Wesen jetzt als Schatten/von uns ziehen./Chamisso/Vorrede
–––––-–– ––––––
zur Ausgabe von/Peter Schlemihl 1842“ [Unterstreichungen von Schmitt]. Siehe Abbildung im
––––
Anhang, S. 575.
390 Auf der in das Buch gelegten Visitenkarte von „Dr. Carl Schmitt/o. ö. Professor der Rechte/Bonn“
(Vorderseite) steht auf der Rückseite handschriftlich: „Zu Pfingsten, liebe Duška, schicke ich Ihnen
das Gedicht auf Seite 21 des beiliegenden Büchleins. Die Bibel wird später folgen. Viele herzliche
Wünsche und Grüsse [sic!] Ihres Carl Schmitt/20. Mai 1923“. Auf S. 71 ist das Gedicht „Abend-
ständchen“ abgedruckt.
391 Else von Carlberg (1883–1970), lettische Tänzerin, Schriftstellerin und Stummfilmdarstellerin, in
den 1920er Jahren eine der bekanntesten Ausdruckstänzerinnen Europas, 1905 Abitur in Berlin,
Tanz- und Ballettunterricht, 1908–1909 Studium der Philosophie und der Geschichte in München,
Dezember 1909 Debüt im Münchener Künstlerhaus mit „altägyptischen Tänzen“, im Ersten Welt-
krieg wegen Spionageverdachts in Stuttgart kurzzeitig festgenommen, 1917–1925 in Worpswede
bei der Familie des Bildhauers Bernhard Hoetger (1874–1949), der eine Büste von ihr schuf, Mitte
der 1920er Jahre Rückkehr nach Lettland, ab den dreißiger Jahren in Schweden landwirtschaftliche
und tiertherapeutische Betätigung. Siehe Abbildungen im Anhang, S. 580.
392 Leonhard Becker, Restaurant „Zum Sonnen-Aufgang“, Köln, Severinstraße 186.

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200 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

gearbeitet, wieder sehr langsam, ging etwas spazieren, die gute Duschka zu treffen (das ist
die Folge einer Bemerkung von Scheffer: wie die Russinnen mit edler Passivität warten und
um sich werben lassen, solange, bis sie sehen, dass es mit der Werbung ernst ist). Abends
beim Essen eine Finnin, die mich an K. erinnerte. Ich war sehr dumm. Freute mich, dass die
Sent M’ahesa nach Bonn kommt und tanzt. Ging etwas spazieren, schickte Duschka das
Buch vom Rhein mit der schönen Stelle von Kleist und sah sie leider nicht. Traurig,
bedrückt, benommen, gleichgültig dumpf nach Hause. Die Wohnung hat einen schlechten
genius loci. Habe an Eisler und Scheffer geschrieben. Traurig, fühlte mich wieder als Deut-
scher, trotzdem viel Freude an der deutschen Sprache.

Dienstag, 22. 5. 23
Kein Brief, arbeitete etwas, ganz gut, aber nicht viel, um 10, nach langen und vielen Hem-
mungen zu Duschka, die mir die Tür öffnete und sich freute, dass ich kam. Leider sprach sie
immer nur von ihrer russisch-jüdischen Freundin. Wir gingen spazieren, sie war aber müde.
Ich erzählte ihr, was Scheffer mir von den Bolschewisten erzählte (das Wachen des bürger-
lichen Auges) und von der Sent M’ahesa. Kam mir im Grunde lächerlich vor. Wir gingen an
den Rhein, um 1 waren wir wieder zu Hause. Ich Esel. Nach dem Essen etwas ausgeruht,
verzweifelt, geil, schrecklicher Zustand. Um 4 zu Frau Schmitz, dann Frau Schilling‚ mit
ihnen in den Königshof, wir saßen auf der Terrasse, lächerlich langweilig, Schilling kam
auch, der Dollar 58.000 Mark. Angst, aber inzwischen kann ich meine Schulden bezahlen.
Zu Hause ein Brief von dem Verwalter in München, der zu meiner großen Beruhigung nur
250.000 Mark verlangt. Nach dem Essen traf ich Spiethoff, ging mit ihm über die Poppels-
dorfer Allee, wir sprachen über die Maubach‚ über Kaufmann. Gleichgültig, müde, traurig
nach Hause, moralischer Nihilismus und gleichzeitig Angst davor.

Mittwoch, 23. 5. 23
Morgens diktiert (Dr. Schlosser393), stolz und selbstbewusst, deshalb nachher müde und
gleichgültig. Abends mit Braubach im Bürgerverein eine Flasche Moselwein, gut unterhal-
ten, über Frauen. Aber im Grunde lächerlich.

Donnerstag, 24. 5. 23
Morgens wieder diktiert (in der Landwirtschaftlichen Hochschule), müde, gleichgültig;
nach dem Essen ausgeruht, Ejakulation, um 1/2 5 zu Duschka, wir gingen zusammen spa-
zieren, zum Königshof auf der Terrasse lang gesprochen. Sie erzählte, dass sie sich hasse, ich
––––––––––––––––––––––––––––––
sagte, dass ich sie dann nicht lieben könnte, halb spielerisch, aber mich quält immer meine
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Sucht zu zwingen, mein Wille nach Macht, obwohl es ihm leicht <?> ist. Sie wurde sehr
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
ernst.
–––––
394 Abends lange auf der Poppelsdorfer Allee auf und ab gegangen, sie sagte mir, ich

dürfe nur ihr geistiger Vater und der Professor sein, niemals mehr, unterschied sehr interes-
sant und erfahren zwischen dem Menschen und dem Mann. Ich kam mir dumm vor und
ärgerte mich; blamiert von einem 20-jährigen Mädchen mit einem Bauernverstand und

393 Joseph Schlosser (1891–?), 1914 Dr. phil., nach dem 1. Weltkrieg Studienrat in Barmen (Wuppertal),
1926 mit einer Arbeit über „Die rechtliche Stellung der Religionsgesellschaften hinsichtlich des
Religionsunterrichts nach der Reichsverfassung vom 11. August 1919“ zum Dr. iur. promoviert
(Zweitgutachten von Heimberger).
394 Kurzschrift im Original unterstrichen.

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Mai 1923 201

vagen Tochteridealen. Lächerlich. Begleitete sie zu ihrer Freundin, unheimlich, diese slawi-
schen Sprachen. Dann bedrückt, wütend zu Schmitz, mit ihm zu Kieffer, Bier getrunken, an
dem schlechten Kartoffelsalat entsetzlich den Magen verdorben, nachts erbrochen.

Freitag, 25. 5. 23
Todmüde auf, mühselig zur Landwirtschaftlichen Hochschule, zu Ende diktiert. Sehr froh
darüber. Immer noch unter dem Eindruck einer Niederlage bei Duschka. Obwohl ich darü-
ber lachen muss. Aber Ekel vor mir selbst und Hass. Nicht zu Mittag gegessen. Nachmit-
tags Schmitz etwas vorgelesen von meiner Arbeit, mit ihm im Königshof Kaffee getrunken
(sah dort die Finnin, die mich an K. erinnert), dann mit Schmitz über die Poppelsdorfer
Allee, Braubach kam, für den Abend verabredet. Abends nach dem Abendessen auf Brau-
bach gewartet, er kam erst um 10 mit einer Flasche herrlichem altem Bordeaux (Pichon
Longueville 1895). Wir tranken sie, ich las ihm vor; sehr interessant. Es tat mir wohl, nach-
her die angenehme Wirkung des [Getränks].

Samstag, 26. 5. 23
Brief von Scheffer, dass er kommen will. Große Freude. Rechnung von einem Kolonialwa-
renhändler aus München, Angst, was ich alles bezahlen muss. Machte den Aufsatz über den
Parlamentarismus fertig. Dann zu Kaufmann, Anprobe, Freude über den schönen Smoking,
zur Bank, Geld geholt. Sah Duschka, lief ihr aber nicht nach, endlich einmal beherrscht; zu
Hause auf Scheffer gewartet, den Aufsatz zurechtgemacht, viele schöne Korrekturen. Schef-
fer kam erst nachmittags. Aß in der Post 395 zu Abend, vorher bei Landsberg, die Sensation
<?>, nach dem Essen etwas ausgeruht, 1/2 4 an die Rheinuferbahn, lange vergebens auf
Scheffer gewartet, bei Frings Mokka, den Aufsatz expediert, zu Hause, dann kam Scheffer
um 1/2 5, wir gingen zu Neuß und zu Landsberg, sehr schön mit Frau Landsberg unter-
halten, über mein Buch, sie ist eine gute, kluge, sympathische Frau, aber Angst vor
dieser Klugheit der Juden. Immer mein Mythologismus. Dann zu Neuß, wir gingen zusam-
men am Rhein spazieren, aßen im Königshof zu Abend mit schönem Wein (das kostete
70.000 Mark). Dann noch eine Tasse Kaffee im Gangolf, schön unterhalten mit Scheffer, der
von Sowjetrussland erzählte (die gottlosen Prozesse) 396. Angst vor den heutigen politischen
Zuständen, Angst vor England, Angst vor den Machthabern, allen anarchistischen Effekte-
machern. Um 11 fuhr Scheffer nach Köln. Hoffentlich schickt er die Sent M’ahesa. Mit
einem sehr nervösen Gefühl dafür, was das Leben und die Welt ist, ohne jede Illusion und
doch heftig bewusst. Dachte an die Bolschewisten, die Einsamkeit jedes Menschen, die
Notwendigkeit einer Entscheidung und dass ich nicht [dazu fähig bin].

[Am oberen Rand] Scheffer (Sent M’ahesa)

Sonntag, 27. 5. 23
Bis 1/2 9 geschlafen, schön gefrühstückt, am Vormittag meinen Tisch aufgeräumt, Papiere
geordnet. Justizrat Redelberger397 verlangt das Honorar, das ihm die Dame schuldig ist. Das

395 Hotel zur Post, Bonn, Meckenheimer Str. 2.


396 Vgl. Paul Scheffer, Sieben Jahre Sowjetunion, Leipzig 1930.
397 Offenbar ein Interessenvertreter Caris in München.

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202 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

empört mich. Bis 1 Uhr herumgekramt, Zeitungen ausgeschnitten usw. Beim Essen müde,
traurig, deprimiert, fühlte mich als hässlicher unbeachteter Mensch. Neben mir saß eine
ekelhafte Engländerin. Nach dem Essen keinen Temps gekauft, Angst vor den französi-
schen Eisenbahnarbeitern, die man hier sieht. Schreckliches Gefühl, der Belästigte zu sein.
Zu Hause geschlafen, um 4 auf, Frau v. Wandel hatte mir einen Kaffee zurechtgestellt und
ich trank ihn auf der Veranda, außerdem etwas Verwaltungsrecht. Professor Neuß kam
um 5 und plauderte einen Augenblick. Dann war ich wieder für mich allein. Meine ganze
lächerliche Sehnsucht nach Duschka verging bald, philosophische Ruhe. Schrieb einen Brief
an Hegner und schickte ihm die Korrekturbogen zurück. Dann schön gearbeitet, mich
innerlich gesammelt, beruhigt, beherrscht, Gefühl meiner Würde. Aber ich sehe mit Entset-
zen, wie hässlich ich bin, dass ich hässliche Hände habe, ein lächerliches Gesicht, einen
proletarischen Gang. Doch hat mich dieser Nachmittag sehr gestärkt. Abends zu Hause
schön gearbeitet398, den Tisch aufgeräumt, ruhig und beherrscht zu Bett.

Montag, 28. 5. 23
Um 9 1/4 auf, schön gearbeitet, Vorlesung vorbereitet, kein Brief; als ich ruhen wollte, kam
der Pedell und brachte einen Brief, dass Kaufmann nicht kommt; wollte erst nicht Völker-
recht [lesen], muss es aber doch.399 Scheußlich. Inzwischen ist das schöne Sommersemester
wieder voll von lästiger Arbeit. Ich werde meines Lebens nicht froh. Ging mit Thurneysen,
dem ich von den Bolschewisten erzählte, erledigte einiges auf der Bank (das £ 285000
[Mark]), bankrott. Was wird kommen? Sah Duschka nicht, war auch gleichgültig. Kaufte
Kaffee (24000 M[ark] das Pfund), Schokolade, zu Hause, dann zu Landsberg, versprach
ihm, Völkerrecht zu lesen. Müde und gleichgültig nach Hause. Nach dem Essen mit Vorm-
felde, der aus Graz zurückgekommen ist, zeigte ihm die Bilder von der Sent M’ahesa, er
sagte, er habe Duschka gesehen, sie hat schlecht und traurig ausgesehen. Erschrak, wollte
gleich zu ihr laufen, zu Hause müde ausgeruht, wollte immer zu Duschka gehen, tat es aber
nicht. Dann gearbeitet. Schöner Kaffee von Frau v. Wandel, Hensel kam, ich ärgerte mich
über seine Süffisanz und behandelte ihn sehr ruhig. Nach dem Abendessen etwas mit Vorm-
felde, dann zu Neuß, der Namenstag hatte. Schmitz war da, der Brief von Neuß, ein
katalanischer Priester, der in Bonn studiert, erzählte; ich war aber müde. Um 10 1/2 nach
Hause, sadistischer Ejakulationsdrang, müde, gleichgültig, nervös. Dachte an Duschka,
obwohl ich sehe, wie lächerlich das alles ist. Es ist Johanna400 (K. war Ursache). Zu dumm.
Wäre ich endlich so weit, freier schon zu sein. Inzwischen geht Deutschland unter.401 Gars-
––––––––––––––––––––––––––––––––
tiges Gefühl des Erdbebens. Der Bolschewismus wird wieder ein Gespenst.

Dienstag, 29. 5. 23
Morgens todmüde, 7 auf, schnell angezogen, schnell Kaffee, schöner Weg zur Universität,
Zeitung gekauft, nach Duschka geschaut, aber nicht gesehen, dann meine Vorlesung ziem-

398 Siehe Teil III, S. 470.


399 Wegen Kaufmanns Tätigkeit als Gutachter und Prozessvertreter des Auswärtigen Amtes ließ er sich
vom preußischen Kultusministerium mehrmals beurlauben, was nicht nur zu Spannungen mit der
Fakultät, sondern auch mit dem Ministerium führte. Vgl. auch Degenhardt, Kaufmann, S. 112 ff.
400 Möglicherweise dachte Schmitt an seine Base Johanna aus Plettenberg; vgl. Schmitt, Jugendbriefe,
S. 19, 41 ff.
401 Kurzschrift im Original unterstrichen.

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Mai 1923 203

lich schlecht gehalten. Nach der Vorlesung sah ich Duschka auf der Straße, mit einem Stu-
denten, sie hatte ihr blaues Kleid an. Ich begrüßte sie, sie war offenbar froh, dass ich mit ihr
sprach. Ich sagte ihr, dass ich sie gestern beinahe besucht hätte; wir waren sehr munter, sie
erzählte, dass sie eine Nichte erwartet, zeigte ihr Bilder von der Sent M’ahesa, kaufte ihr
eine Karte, hätte auch für morgen eine Karte zu Rigoletto gekauft, wenn ich sie bekommen
hätte. Verrückt. Kaufte ihr noch weiße Rosen, begleitete sie und ging nach Hause. Kein
Brief, müde etwas ausgeruht, umgekleidet. Vorlesung über Völkerrecht sehr schneidig,
leider war Duschka nicht da. Nachmittags noch etwas zum juristischen Seminar. Mit
Fräulein v. Wandel nach Hause, schönes Wetter. Nach dem Essen mit Vormfelde ein paar
Schritte, dann todmüde zu Hause ausgeruht, um 3 Fakultätssitzung, neben Göppert, ich
war sehr gleichgültig, enthielt mich der Abstimmung, als Göppert sich über Kaufmann
geärgert hatte. Mit Göppert bei Rittershaus. Scheint mich gern zu haben. Erzählte ihm die
Geschichte „vom Wachen des bürgerlichen Auges“. Dann Senatswahl, langweilig. Mit Göp-
pert nach Hause. Nach dem Essen Vormfelde den Roman aus dem Temps gegeben; Stein-
häger und Bärlauch nach dem Rezept von Georg Krause gemacht 402, dann meine Steuer-
erklärung übers Knie gebrochen, brachte sie zur Post, sehnsüchtig, objektlos (das Mond-
licht von heute zerrinnt 403), dachte daran, wie albern Duschka ist, und doch freue ich mich,
sie morgen zu sehen. (Meine Sehnsucht ist von neuem entfacht, als Göppert sagte: Ich sah
Sie mit einer eleganten Dame. Das war Duschka.) Trank abends noch ein Glas Cocktail, das
tat mir gut. Müde, zu viel Arbeit mit der Vorlesung über Völkerrecht, ohne jede Rücksicht,
Angst vor den Franzosen, abergläubisch, zerrüttete Nerven. Seit mehreren Tagen kein Brief.

Mittwoch, 30. 5. 23
Um 7 auf wegen der Vorlesung. Müde und verschlafen. Vorlesung ziemlich gut gehalten, zu
gut. Nachher Freude in Erwartung von Duschka. Es regnete sehr stark. Duschka wartete
vor dem Schaufenster von Behrendt auf mich. Wir waren sehr fröhlich. Sie ging zum <…>,
ich wartete auf sie, dann gingen wir zu Rittershaus und tranken dort sie eine Tasse Schoko-
lade, ich ein Glas Portwein. Um 10 nach Hause. Kein Brief. Um 11 glaubte ich, Vorlesung
zu haben und ging in den Hörsaal, während von der anderen Seite Crome kam. Dann zum
juristischen Seminar, einiges erledigt, zu Hause umgekleidet, nach dem Essen mit Vorm-
felde, dann geschlafen bis 1/2 5. Schöner Kaffee. Um 5 zu Duschka, wunderschöner Nach-
mittag bei ihr, sie übersetzte mir einige Sätze von Bojić404, um 1/2 7 gingen wir zum Königs-

402 Ein anderes Rezept von Krause, das Schmitt gelegentlich anwandte, war eine Mischung aus griechi-
schem Süßwein und Steinhäger.
403 Vgl. Ernst Schulze, Cäcilie, ein romantisches Gedicht in zwanzig Gesängen, Bd. 1: Erster bis neun-
ter Gesang, Leipzig 1822, 6. Gesang, Str. 55 (S. 227): „Da schien in blut’gen Duft das Mondlicht zu
zerrinnen…“.
404 Milutin Bojić (1892–1917), serb. Dichter von Werken mit heroisch-patriotischer Lyrik nach einem
Frühwerk voller epikureischer Lebensfreude. Sein bekanntestes Gedicht „Plava Grobnica“ (Blaues
Grab) über den Tod von 5000 serb. Soldaten vor der griech. Insel Vido im 1. Weltkrieg ist in dem
Gedichtband „Pesme bola i bonosa“ (Gesänge von Schmerz und Stolz) enthalten. Schmitt und
seine spätere Frau Duschka beabsichtigten, daraus deutsche Übersetzungen zu veröffentlichen. Er
zitiert die Übersetzung des Gedichts „Bes Uswika“ in seinem Aufsatz „Illyrien. Notizen von einer
dalmatinischen Reise“, Hochland XXIII, (1925), S. 293–298, auch in: Carl Schmitt, Staat, Groß-

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204 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

hof, ich aß dort zu Abend und trank eine Flasche Wein, sie erzählte von Serben, vom König
Peter 405, von ihrem Großvater, der todkrank noch die Hymne sang, als er die Nachricht von
der Befreiung Serbiens erfuhr. Ein wunderschöner Abend, ich habe sie sehr gern. Um 10
brachte ich sie nach Hause. Zu Schmitz, der mir Chopin vorspielte. Immer das Gefühl der
ungeheuerlichen Rationalität, Bewusstheit meines Schicksals, Sicherheit und Überlegenheit,
Gleichgültigkeit und Kraft. Um 12 müde nach Hause.

Donnerstag, 31. 5. 23 (Fronleichnam)


Nicht gut geschlafen, müde bis 1/2 8 im Bett. Schön gewaschen, behaglich herumnotiert,
aber nichts getan, freute mich darauf, Duschka zu sehen. Heimberger kam, wir unterhielten
uns nett. Ich kleidete mich um, um 11 traf ich Duschka in der Poppelsdorfer Allee, sie hatte
die Gedichte von Bojić bei sich und war glücklich, sie übersetzen zu können. Ein wunder-
bares, liebes Kind. Wir gingen am Rhein entlang, es war nebliges Wetter. Übersetzen der
Plava grobnica. Es ist wirklich großartig. Ich gab ihr das Gedicht von Pearse, the Mother 406,
das ihr gut gefiel. Ich habe es ihr übersetzt und schön aufgeschrieben. Um 1/2 2 nach
Hause. Nach dem Essen trank Vormfelde bei mir Schnaps, ich schlief dann bis nach 5, ruhte
gut aus. Nach 5 kam Landsberg mit den Referendararbeiten, er schien das Bedürfnis zu
haben, mit mir zu sprechen; ich freute mich darüber; wir sprachen über Kaufmann, Göp-
pert und Scheler. Er lud mich sehr herzlich ein, was mir wohl tat. Dann trank ich einen
Schnaps nach dem Rezept von Krause, sehr angenehm, schrieb an Däubler wegen Bojić407.
–––––––––––––––––––––
Brachte den Brief zum Kasten. Etwas spazieren. Nach dem Essen traf ich Schmitz, einen
Studenten, der mit ausgezeichnet seinen Doktor gemacht hat, ein etwas vorlauter, aber guter
Kerl. Wir gingen ein paar Schritte zusammen. Dann arbeitete ich zu Hause an meiner Vor-
lesung Völkerrecht besonders fleißig, weil Duschka morgen da sein wird. Trank wieder
einen Schnaps, großes Wohlbehagen, mit großer Freude und Dankbarkeit an Duschka
gedacht, freute mich unbeschreiblich, sie morgen wieder zu [sehen] und mit ihr zu früh-
stücken. Bereitete alles schön vor. Ich liebe sie sehr, aber ohne jede Sexualität. Oft geil, aber
nach irgendwelchen Frauen, nach K.

Freitag, 1. 6. 23
Um 7 pünktlich auf, schönes Frühstück, eine nette Vorlesung ohne gute Vorbereitung, über
Selbstverwaltung; nachher viele Testate, was mich aufhielt, denn ich war in Begierde,
Duschka zu sehen. Sah sie und ging mit ihr erst in ein Geschäft, wo sie Bonbons kaufte,
dann zu Lommerzheim408, wo sie Tee trank und wir Bojić lasen. Sie ist sehr erkältet, weil sie
gestern Abend mit Dietzel und einem Industriellen zusammen war. Ich habe sie sehr gern,

raum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969, hrsg. mit einem Vorwort und mit Anmerkun-
gen versehen von Günter Maschke, Berlin 1995, S. 483–490, 487 f.
405 Peter I. Karadjordjevic (1844–1921), genannt Petar Oslobodilac („der Befreier“), 1903–1918 serbi-
scher König, 1918–1921 König des Königreiches der Serben, der Kroaten und der Slowenen.
406 The Mother – in der Form eines Gebetes einer Mutter, die des Todes ihrer beiden Söhne gedenkt –
gehört zu den bekanntesten seiner englischsprachigen Gedichte; Pearse (s. Teil I, Anm. 47) schrieb
es in der Nacht vor seiner Hinrichtung.
407 Kurzschrift im Original unterstrichen. Ein Teil des Briefes in: Teil III, S. 471.
408 Konditorei und Café Theo Lommerzheim, Bonn, Sandkaule 2.

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Mai/Juni 1923 205

wir erzählten von gestern Abend, dann sprachen wir über Gandhi als logischen Schluss.
Dann erzählte ich ihr etwas Völkerrecht; wie nett. Um 11 schnell zur Universität, hielt
meine Vorlesung Völkerrecht zu sehr für sie, aber sie scheint einen guten Verstand zu
haben. Nachher von Klein begleitet nach Hause. Freute mich, ihre Freundin Zlata Tadić409
zu sehen, die mich an Carita erinnert und mir gut gefällt. Nach dem Essen ein paar Schritte
mit Vormfelde (war mir grässlich leid)‚ dann geschlafen bis 4, 2 englische Prüfungen,
Klesse 410 kam wegen einer Dissertation, dann Braubach und Klein; erledigte die Sache Klein
(Dissertation über Art. 137 RV), dann mit Braubach bei Sulzbach411 vorbei (wäre beinahe zu
Duschka gelaufen, um sie zu fragen, ob wir nicht in den Oberon412 gehen wollen). Mit
Braubach bei Rittershaus gegessen, sah die Frau des belgischen Juden, die bei Strassberger
war, geil, gierig; mit Braubach über Protestantismus gut unterhalten. Um 7 angeregt in
wunderschönem Nebel nach Hause. Schenkte der Tochter der Jüdin Pralinen, unterhielt
mich freundlich mit ihr, sehr geil. Beim Essen freundlich mit der Engländerin. Dann müde
herumgelaufen. Schnell an Kaufmann geschrieben (wegen Schreuer und wegen Braubach).
Zu Hause Schnaps getrunken (Bärlauch und Steinhäger). Oft munter, lächerlich, überlegen,
komisch. Felten genau 190000! Ich habe also 1 1/2 Millionen daran verdient.

Samstag, 2. 6. 23
Um 7 auf, schöner Kaffee, eine Stunde Vorlesung vorbereitet, sehr nett und unternehmend.
Dann kam die Post: die Allgemeinene Rundschau (das 1000. Heft) mit einem [populari]sie-
–––––––––––––––––––––––––
renden Artikel von Beyerle, begrüßte mich als 413 den neu erstandenen katholischen Philoso-
–––––––––––––––––––––––––––––––––
phen usw. Großartig. Ich freute mich meiner Eltern wegen, dann aber auch, weil ich an K.
414

dachte, der ich den Aufsatz schicken will, besonders weil eine Erklärung des Nuntius
Pacelli415 darunter steht. Munter und aufgeregt, zu Schmitz gegangen, in die Stadt, etwas
gekauft, mit Schmitz über den Artikel von Beyerle gesprochen, dann zu Hause Schnaps
getrunken, sehr guter Laune, über den <…> des Tones in der Musik, viel Schnaps. Der
Impresario der Frau Sent M’ahesa kam und brachte mir Karten, ich schrieb ihr gleich einen
Brief, es war unglaublich, ich dachte an L. Nach dem Essen vergebens zu schlafen versucht,
geil, wütend auf den Schnaps. Um 4 aufgestanden, Eilbrief von Scheffer, der bald wieder
kommen will und um Weitergabe des Briefes an die S[ent]M[’ahesa] bittet. Dann in die
Stadt gelaufen, um den Brief an den Impresario zu bringen. Traf Landsberg und seine Frau
(sie war sehr schön), wir gingen etwas spazieren, mit Landsberg und Spiethoff zurück. Mit

409 Zlata Tadić (1901–?) aus Starigrad bei Otok Ilvar, Jugoslawien, Abitur in Split, röm.-kath., ab
21.10. 1922 in Bonn eingeschrieben für Philologie, zuvor 3 Semester in Zagreb und Berlin (Quelle:
Immatrikulationsliste WS 1922/23 der Universität Bonn).
410 Nicht ermittelt.
411 Bonner Musikalienhandlung und Konzertvermittlung, Fürstenstraße 1.
412 Romantische Oper von Carl Maria v. Weber (Uraufführung London 1826).
413 Kurzschrift im Original unterstrichen.
414 Konrad Beyerle, Römischer Katholizismus und politische Form, in: Allgemeine Rundschau.
Wochenschrift für Politik und Kultur 20 (1923) S. 241–242. Die seit 1904 bestehende Wochen-
schrift war bis zu ihrem Verbot durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933 eine der bedeutendsten
katholischen Zeitschriften.
415 Eugenio Pacelli (1876–1958), 1917 Apostolischer Nuntius in München, ab 1920 in Berlin, 1930
Kardinalstaatssekretär, ab 1939 Papst mit dem Namen Pius XII.

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206 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Spiethoff über Geldwesen unterhalten, müde und gleichgültig. Zu Hause einen Augenblick
müde, umgezogen; in meinem Smoking zu Göppert (ich fühlte mich aber doch als gräss-
licher Prolet, weil ich rot im Gesicht bin), gut unterhalten bei Tisch, dann auf seinem Zim-
mer, erst sehr schön, am Schluss aber eine dumme Diskussion über Parität im alten Preu-
ßen. Schade. Um 2 müde und gleichgültig nach Hause. Entsetzlich.

[Am oberen Rand] (Paul Scheffer in Bonn)

Sonntag, 3. 6. 23
Bis 9 im Bett, zum Glück etwas geschlafen. Müde auf, ein Brief von L. aus Bremen, „an
Bord“ eines Stinnes-Dampfers. Sie bedankte sich für die Zusendung des „Römischen
Katholizismus“, kühl, unverbindlich; einen Augenblick heftige Geilheit nach ihr und ihrem
weißen Fleisch und ihren blonden Haaren und dem Meeresblick ihrer Augen. Dankbarkeit
und Sehnsucht. Dann war es schnell aus. Aber sie war bisher die Schönste. Als ich an mei-
nem armen Schulschreibtisch saß, war ich wieder etwas ruhiger. Ich arbeitete nichts. Um 11
traf ich Duschka auf der Poppelsdorfer Allee, wir waren beide erkältet, aber sie war guter
Laune, wunderbar graziös und kindlich. Wir gingen am Rhein spazieren. Sie erzählte, dass
sie sich sehr freue, die deutsche Sprache gelernt zu haben, dass sie ihre Schwester nachts vor
sich sehe und ihre Stimme höre. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich sehr an mich gewöhnt
hat, und habe sie gern. Oft erschauere ich vor ihrer verborgenen Kraft und Grausamkeit,
vor der serbischen Bauernhaftigkeit ihres Wesens, dann wieder staune ich über ihre kind-
liche Grazie. Nach dem Essen etwas mit Vormfelde, der bei mir einen Schnaps trank. Dann
geschlafen bis 5, sehr müde, dann Kaffee getrunken. Zu Schmitz, wieder Kaffee, allmählich
munter. Schmitz (sein Bruder und seine Frau tranken mit uns Kaffee) spielte mir etwas vor,
die Cavatine aus dem Freischütz 416. Ich wünschte mir mit Duschka in die Oper zu gehen.
Nachher gelacht über einen Juden, der maulaufreißerisch über <…>, die <…> der Deut-
schen geschrieben hat, im Jahrmarktstil, wie der Billige Jakob, Proletenstil, maulaufreiße-
risch, sehr gelacht über die absolut klare [Idiotie]. Nach dem Abendessen etwas mit
Vormfelde über Frauen philosophiert, müde und resigniert nach Hause, schnell die Refe-
rendararbeiten erledigt. Dann eigentlich nichts mehr getan. Habe heute den Eltern den Auf-
satz von Beyerle geschickt, damit sie sich freuen. Mir ist er absolut gleichgültig. Erledigte
sehr schnell die Referendararbeiten.

Montag, 4. 6. 23
Um 9 (mit Herrn Wolf) nach Köln, die elektrische Bahn streikt dort; im Regen zum Ober-
landesgericht, Examen mit Landsberg. Ein kluges Mädchen, Fräulein Kramm, die mit gut
bestand. Ich war todmüde. Ließ an Scheffer telephonieren, er war im Hotel Disch; ich traf
ihn nachmittags um 4 Uhr, aß im Hotel, dann müde nach Hause, umgekleidet und um 1/2 8
Duschka an ihrer Wohnung abgeholt. Sie war sehr munter und fröhlich. Wir gingen zur
Beethovenhalle, um die Sent M’ahesa zu sehen. Schmitz kam auch mit seiner Frau. Die
Musik war schlecht, ich war überhaupt enttäuscht. In der Pause ging ich zu ihr in die

416 Cavatine „Und ob die Wolke sie erfülle“ aus dem 3. Satz der romantischen Oper „Der Freischütz“
(1821), op. 77, von Carl Maria v. Weber.

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Juni 1923 207

Garderobe, telephonierte zum Königshof wegen eines Zimmers und eines Essens, dann gin-
gen Schmitz und seine Frau mit Duschka, Duschka holte ein Auto, ich wartete erst in der
Garderobe, dann draußen (dachte an Carita, seltsame Sympathie, bin also wieder in der
Garderobe einer Tänzerin). Wir fuhren zu dreien im Auto zum Königshof, aßen dort zu
Abend und tranken Beaune, unterhielten uns sehr gut bis 2 Uhr, Duschka war sehr be-
geistert von Fräulein Carlberg. Ich brachte sie im Regen müde nach Hause.

Dienstag, 5. 6. 23
Todmüde meine Vorlesung in Verwaltungsrecht, ziemlich schlecht. Dann müde nach Hause.
Zu Neuß, ziemlich geschafft. Duschka war nicht da. Aß mit Fräulein v. Carlberg im
Königshof schön zu Mittag, unterhielt mich mit ihr gut über Scheffer, dann gingen wir zur
Elektrischen. Aber Scheffer kam nicht, dann in meine Wohnung, wo ich ihr die Geschichte
vom Geist des Generals417 erzählte. Begleitete sie dann zurück, wir tranken auf der Terrasse
des Königshofs schön Kaffee und unterhielten uns vortrefflich. Ich war aber sehr müde.
Dann allein nach Hause, zu Neuß, wo Scheffer schon war, nahm ihn mit, wir gingen etwas
spazieren, holten Duschka ab, sie war aber in der Universität, wo sie uns vor 8 erwartete. Es
regnete stark. Wir gingen dann in die Beethovenhalle, Scheffer ging zum Essen. Saß neben
Duschka (hinter uns Fräulein Strassberger und eine Engländerin), Scheffer kam, vortrefflich
unterhalten, er ging mit Duschka zum Königshof, ich wartete mit Fräulein v. Carlberg, ging
mit ihr zum Königshof. Wir aßen schön zusammen zu Abend. Scheffer erzählte wunder-
schön (über die Garderobe in Westeuropa), Duschka war begeistert, brachte sie mit Scheffer
um 2 Uhr nach Hause, sie wollte immer von Russland hören; beim Abschied sagte ihr
Scheffer „Auf Wiedersehen in Moskau“. Brachte Scheffer nach Hause, todmüde.

Mittwoch, 6. 6. 23
Todmüde um 8 meine Vorlesung, wartete um 9 an der Buchhandlung Berendt, ob nicht viel-
leicht Duschka käme, aber sie kam nicht. Dann zu Scheffer, der nicht abreiste, sondern noch
im Bett lag. Wunderschön den Vormittag mit ihm unterhalten, erzählte von meinem Ehe-
prozess, er erzählte von Moskau, wir lachten, es war ausgezeichnet, gingen dann zusammen
zu Rittershaus, frühstückten, dann spazieren, aßen etwas bei Kieffer zu Mittag, dann bei
mir, wo ich etwas ausruhte und er in meinem Zimmer lag. Um 1/2 5 wieder zu Rittershaus,
dann hatte ich Sitzung; nachher zu Schmitz, wo Scheffer schon war, später kam auch Fräu-
lein v. Carlberg. Schmitz erklärte die zwei Prinzipien von Beethoven418, sehr interessante
Unterhaltung. Ich musste um 8 zu Landsberg, wo ich zu Abend aß, ohne Interesse, nachher
Unterhaltung, die mir langweilig war, über Kleist (schlagt ihn tot 419), dann um 1/2 11 wie-
der zu Schmitz, wo man schon wieder spielte und philosophierte. Zuletzt spielte er die Etü-
den op. 25 von Chopin, die wunderbar waren. Mit Frau v. Carlberg, Scheffer und Schmitz
zum Königshof, dann nach Hause, müde, aber außerordentlich angeregt.

417 Siehe Teil III, S. 441.


418 Siehe Anm. 178.
419 Zitat aus Heinrich von Kleist, Germania an ihre Kinder. Eine Ode, in: ders., Sämtliche Werke und
Briefe, Bd. 1, München 1977, S. 25–27. Siehe auch Teil III, Anm. 179.

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208 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Donnerstag, 7. 6. 23
Wieder um 8 gelesen, müde, aber es ging. Dann zu Hause Völkerrecht vorbereitet, Duschka
war da, schöne Vorlesung, die mir Freude machte, bat sie nach der Vorlesung, mit Fräulein
v. Carlberg auf mich zu warten. Dann traf ich Braubach, sah Duschka und Fräulein v. Carl-
berg auf der Bank im Hof der Universität sitzen, ein wunderschönes Bild. Wir begleiteten
Duschka nach Hause, die sehr fröhlich und zufrieden war; dann aßen wir bei Schwarz420 zu
Mittag, unterhielten uns, es stellte sich heraus, dass Fräulein v. Carlberg den schwedischen
Konsul in Sydney heiraten soll! Unglaublicher Zusammenhang. Ich begleitete sie um 4 nach
Hause, telegraphierte nach Frankfurt, dass ich nicht komme, nach München an Seitz421, dass
ich einverstanden bin. Dann zu Hause müde im Bett, schnell Übungsarbeiten nachgesehen,
in großer Eile. Wunderschöne Übung in allerbester Laune, was mir sehr wohltat. Freute
mich des großen Erfolges. Todmüde nach Hause, von Fräulein Stoffels (die mir gut gefiel)
und Klein begleitet. Nach dem Essen ein paar Schritte mit Vormfelde, dann müde zu Hause.
Glücklich, einmal wieder Ruhe zu haben.

Freitag, 8. 6. 23
Um 8 Vorlesung Verwaltungsrecht; glücklich, etwas besser vorbereitet zu sein. Nachher mit
Fräulein Strohschneider, aber weil ich glaubte, Duschka gesehen zu haben (was nicht der
Fall war), zerstreut und ohne rechte Freude. Dann zu Hause Völkerrecht vorbereitet, sehr
müde, aber weil Duschka dort saß, eine wunderschöne Vorlesung. Nachher mit ihr am
Rhein spazieren, sehr fröhlich. Sie ist ein wunderbares Mädchen. Erzählte von ihrem
Vater 422, der ihr einen Schinken geschickt hat, fragte wegen der Vorlesung, erzählte von
ihren großen Interessen, war außerordentlich munter und ein wirkliches Mädchen. Ich hatte
sie gern. Wir verabredeten uns für Sonntagnachmittag. Nach dem Essen etwas mit Vorm-
felde, einen Temps gekauft, zu Hause geschlafen, todmüde, konnte kaum noch aufrecht ste-
hen. Dann um 6 zu Rittershaus, einiges eingekauft, zu Hause angefangen, den Schreibtisch
wieder zu ordnen, und das Gefühl von Ruhe und innerer Sammlung. Nach dem Abendes-
sen mit Vormfelde spazieren. Aber nur eine halbe Stunde, dann zu Hause Tagebuch geführt,
Völkerrecht vorbereitet (mit Gedanken an Duschka und großer Freude, ihr etwas zu
erzählen).

Samstag, 9. 6. 23
Um 7 1/4 auf, etwas behaglicher angezogen, schön gefrühstückt, Vorlesung vorbereitet,
Brief an Beyerle angefangen423, an Frau v. Schnitzler geschrieben, das Buch von Curtius
über Balzac erhalten und mit großer Freude darinnen gelesen. Aufgeregt, wollte ihm gleich
schreiben usw. Brief von Jup, der den Aufsatz von Beyerle in der Allgemeinen Rundschau

420 Weinrestaurant Schwarz, Bonn, Kaiserstraße 19–21.


421 Nicht ermittelt.
422 Vasilije Todorović (1872–nach 1954), nach Angaben der Tochter „Bürgermeister und Notar“ (Meh-
ring, Aufstieg und Fall, S. 163 f., 620 f.), bis zur Scheidung (1910) verheiratet mit Julijana Belajević
(1880–nach 1950).
423 Wohl eine Antwort auf den Brief Beyerles vom 1. 6. 1923 (RW 265-1324), in dem dieser die „geist-
reiche“ Katholizismusschrift gelobt hat.

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Juni 1923 209

gelesen hat. Das freute mich. Ging zur Post, zur Bank, kaufte ein, Kragen, Krawatten usw.
Viel Geld ausgegeben. Zu Hause einen Schnaps, an Kaufmann geschrieben424. Wut über
Hensel. Nach dem Essen müde gleich zu Bett und bis 5 Uhr geschlafen. Dann angezogen,
Zeitung gekauft, im Café Hansa etwas gelesen, bei Schmitz vorbei, beim Abendessen
herumgeschwätzt mit Fräulein Annette und der Engländerin, geil, müde, gleichgültig,
innerlich degeneriert <?>, der Stolz meiner Bewusstheit <?>, meine Einsamkeit. Alles war
schön. Bei Neuß vorbei, was doch immerhin noch eine anständige Unterhaltung ist. Wir
sprachen über die schreckliche Lage Deutschlands, über die Anständigkeit der alten Male-
rei. Zu Hause schnell ein paar Briefe geschrieben (Beyerle, P. Beda425, Blei, Feuchtwanger),
froh, das erledigt zu haben. Müde, beherrscht, ziemlich gesammelt, oft rasende Gier und
Geilheit nicht zum Aushalten.

Sonntag, 10. 6. 23
Etwas länger geschlafen, gut ausgeruht, nicht viel gearbeitet, Telegramm von Onkel André,
dass ich nach Köln kommen soll, ließ mich aber nicht in meiner Ruhe stören. Um 1/2 12
zum Rechtsanwalt Meyer, über meinen Prozess gesprochen, gefreut über seine Anerken-
nung meiner rechtsphilosophischen Leistung. Nach dem Essen geschlafen bis 1/2 5, von
Fräulein v. Wandel verabschiedet. Frau v. Wandel machte mir Kaffee, um 5 kam Duschka,
ich freute mich sehr, wir tranken Kaffee, übersetzten Bojić, wunderschön, gingen dann noch
spazieren, unterhielten uns lange am Rhein unter den Bäumen vor der Universität, sie
erzählte zuletzt von ihrem Vater, wie gut er ist, wie er ihr niemals eine Vorschrift macht, er
hat ihr einen Schinken geschickt. Ich war gerührt von ihrer Güte, ihrer Klugheit, hingeris-
sen und begeistert, ging zu Schmitz, wir tranken eine Flasche Rheinwein, ich aß zu Abend
im Bürgerverein, leider schlecht. Müde nach Hause, gerührt und begeistert von Duschka.

Montag, 11. 6. 23
Um 7 auf, um 8 Vorlesung, in großer Eile vorbereitet, aber in guter Stimmung. Nachher, als
ich meine Vorlesung über Völkerrecht vorbereiten wollte, kam plötzlich der Onkel André,
trank einen Schnaps, ich verabredete mich dann mit ihm für 1 Uhr bei Strassberger, hielt
meine Vorlesung über Völkerrecht sehr schön, im Anschluss daran mit Duschka am Rhein
spazieren, auf unserer Bank, wunderschön erzählt, fröhlich über den Erfolg meiner Völker-
rechtsvorlesung, ließ den Onkel lange warten. Wir aßen zusammen. Dann am Rhein auf der
Terrasse, dann müde und schläfrig zur Rheinuferbahn, Fräulein Baumeister abgeholt, sie
brachte einen Brief von K. mit einer Photographie, unfreundlicher Brief, ich war wieder
zerschmettert. Wir gingen zu mir, ruhte eine Sekunde aus, dann wieder Kaffee im Hansa-

424 Vermutlich die Antwort auf Kaufmanns Brief vom 1. 6.1923 (RW 265-7314), in dem Kaufmann
mitteilte, dass er wegen der Verhandlungen beim Genfer Völkerbund für das Deutsche Reich und
beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag erneut nicht in Bonn seinen Lehrverpflichtungen
nachkommen könne.
425 Beda (Taufname: Alexander) Ludwig OSB (1871–1941), Konventuale der Abtei St. Bonifaz in
München und Andechs, Lehrer und Autor geistlicher Erbauungswerke, ab 1924 in regem Brief-
kontakt mit Hugo Ball. Im Nachlass Schmitt befindet sich ein Brief von Pater Beda vom 16. 6.1923
(RW 265-1180), in dem dieser sein Bedauern über den auf unredliche Weise geschehenen Verlust
von Schmitts Bibliothek zum Ausdruck bringt. Siehe auch Anm. 1064.

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210 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Café, hielt meine Vorlesung politischer Ideen, über die geistesgeschichtliche Situation des
heutigen Parlamentarismus, erst todmüde, dann sehr gut. Nachher mit Duschka, glücklich,
mit ihr zu sprechen. Etwas spazieren gegangen, zu ihr in die Wohnung und mir ein paar
Stücke Schinken geholt, dann den Onkel bei Strassberger getroffen, zum Gangolf, Schmitz
kam auch zum Glück. Um 10 1/2 müde nach Hause. Die Vorlesung für morgen kaum vor-
bereitet.

Dienstag, 12. 6. 23
Meine Vorlesung in Verwaltungsrecht <…> erledigt, nachher Schuhe gekauft bei Roch-
holz 426, zu Hause schnell Völkerrecht vorbereitet, um 11 eine wunderschöne Vorlesung
gehalten, Carroll kam nachher und drückte seine Bewunderung aus; das freute mich, am
meisten aber, dass ich mit Duschka am Rhein spazieren ging, in bester Laune; ich habe sie
sehr gern, aber ich bin sie schon etwas leid. Nach dem Essen geschlafen bis 5 Uhr, dann
Schokolade getrunken, müde in die Bibliothek, schon eine Staffage von Bojić übersetzt, zu
Hause, Jup kam, wir unterhielten uns gut, gingen dann zu Kieffer, tranken Bier, Theodor
Kaiser und Troendle 427 kamen, dann Vormfelde und Braubach; nett unterhalten über poli-
tische Dinge, müde nach Hause, freute mich über das Urteil von Vormfelde über Jup.

Mittwoch, 13. 6. 23
Erst 1/4 nach 7 auf, schnell angezogen, gute Vorlesung, überhaupt nicht vorbereitet. Nach-
her auf Duschka gewartet, erst vergebens, dann kam sie. Ich war sehr glücklich. Bei Ritters-
haus Bojić übersetzt. Um 10 brachte ich sie zur Universität, ging einen Augenblick zur
Bibliothek. Dann zu Hause etwas gearbeitet, aber nicht viel. Zu Frau Landsberg, in die
<…> gebracht. Nach dem Essen mit Vormfelde herumgegangen, Bilder gekauft <?>
(£ 415.000!), dann etwas geschlafen, um 1/2 5 auf, leider keine Korrekturen der Zitelmann-
Festschrift. Zu Duschka, brachte ihr 2 Nelken, aber die weiße war plötzlich oben abgebro-
chen und die Blume verloren gegangen. Wir fuhren dann nach Köln (die Fahrt strengt sie
sehr an), tranken eine Zitrone in der Akademie, ich hatte Duschka gern, und sie sah mich
mit herzlicher Freundschaft an. Sahen ein schlechtes Stück, die letzten Züge <?> von <…>,
das ich in Hamburg gesehen hatte; todmüde, lächerlich, fuhren um 10 Uhr zurück. Beglei-
tete die müde Duschka nach Hause. Sie sagte mir, es wäre vielleicht für mich besser, wenn
ich sie nicht immer nach der Vorlesung anspräche, sondern wir uns unten träfen. Ich fand
sie sehr klug. Möchte wissen, was sie denkt. Müde nach Hause, einsam, gleichgültig, ver-
zweifelt. Heute eine Karte von Georg Eisler, den ich ganz vergessen hatte.

Donnerstag, 14. 6. 23
Wieder etwas nach 7 auf, sehr müde, bald etwas munterer, aber den ganzen Tag nicht beson-
ders auf der Höhe. Morgens sagte mir die Zeitungsfrau, dass auch über Bonn der Belage-

426 Schuhmacher Rochholz, Bonn, Ermekeilstraße 44.


427 Hugo Troendle (1882–1955), Maler und Kunstschriftsteller, Freund Theodor Däublers, 1921 Ein-
tritt in die Neue Sezession, 1927 Titel eines „Prof. der Bildenden Künste“ (Freistaat Bayern), 1929
Albrecht-Dürer-Preis der Stadt Nürnberg; seine Kunst galt in der NS-Zeit als „entartet“, nach 1945
Mitglied der Neuen Gruppe. Zu früheren Begegnungen mit Schmitt in dessen Münchener Zeit vgl.
TB II, S. 7, 55 ff. u. ö.

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Juni 1923 211

rungszustand verhängt werden solle. Große Aufregung, nervöse Unruhe. Nach der Vorle-
sung mit Fräulein Stoffels, ein gutes Kind, auch ihr Gang ist schön, wäre nur ihr Gesicht
schöner. Zu Hause (mit dem Grammophon) die Vorlesung über Völkerrecht vorbereitet;
leider müde und schläfrig. Kein Brief, keine Korrekturen. Dann meine Vorlesung, zu mei-
ner Freude Duschka wieder da, traf sie nachher im Korridor, wir gingen etwas am Rhein
spazieren, ich hatte sie unbeschreiblich lieb und das Gefühl, dass sie sich an mich anschließt
(sie hat die weiße Nelke wieder gefunden, die mir verlorengegangen war, sie wollte sie erst
anstecken für die Vorlesung usw.). Wir kauften 3 schöne weiße Nelken, ich begleitete sie zu
ihrer Wohnung. Nach dem Essen etwas mit Vormfelde, kam wegen meiner Vorlesung über
Völkerrecht (der Anschluss Lothringens an Frankreich); zu Hause todmüde, Übungsarbei-
ten nachgesehen, dann geschlafen, Übungen aber nachgesehen, an Frau v. Schnitzler telegra-
phiert, will morgen Nachmittag nach Köln reisen und dort übernachten. Traf vor der
Übung Braubach, hielt eine schöne Übung, obwohl ich sehr müde war. Von Braubach
begleitet (der Assistent bei Spiethoff werden soll) zur Pension, bedrückt wegen des Belage-
rungszustandes. Mit Vormfelde (der einen Ruf nach München bekommen soll) sehr herz-
lich, dann um 1/2 9 zu Hause, froh, allein zu sein, müde, behaglich, ruhig, friedlich; große
innige Sehnsucht nach Duschka; freue mich, ihr einen Brief der Sent M’ahesa428 zu zeigen,
die mich bittet, „meine Tochter zu grüßen“. Sprach mit Frau v. Wandel, die 2 Wochen ver-
reisen will. War müde und etwas befangen. Zufrieden in meinem Zimmer. Gefühl der Un-
sicherheit der Welt, Angst, Schicksal. Wie seltsam, dass ich Tagebuch führe.

Freitag, 15. 6. 23
Hielt meine Vorlesung um 8 Uhr, müde, mit herausgerissenen Blättern, dann zu Hause
schnell Völkerrecht vorbereitet (über die <…>). Nachher mit Duschka über die Poppels-
dorfer Allee spazieren, sie war munter und gleichgültig, verabschiedete sich kühl, bis Mon-
tagabend. Das tat mir weh, ich ging noch zum Seminar, gab ein paar Unterschriften und
ging dann todmüde, traurig nach Hause, hoffte, Duschka auf der Poppelsdorfer Allee zu
sehen, aber vergebens. Plötzlich, um 1, kam sie, sie hatte nicht daran gedacht, dass ich ab-
reise, und wollte mich nachmittags treffen. Ich war sehr glücklich, unbeschreiblich über-
rascht und erfreut, begleitete sie nach Hause und war sehr fröhlich. Nach dem Essen schlief
ich todmüde etwas, packte ein, bestellte alles, um 1/2 4 kam der Dienstmann, ich lief noch
zur Universität, traf dann um 1/2 5 Duschka, blieb in ihrer Wohnung bei ihr, wir sprachen
sehr schön (das „Theater“ der Welt), dann ging sie mit mir bis zur Poststraße. Ich fuhr nach
Köln, traf dort Emil Courth429, ging mit ihm zum Terminus-Hotel430, nahm dort ein Zim-
mer, kaufte mir ein Billett 2. Klasse, dann mit Emil in das Café, Emil politisierte (sagte ihm:

428 Der Brief vom 12. 6. 1923 ist im Nachlass Schmitt (RW 265-15116) erhalten. Über ihre Begegnung
mit Schmitt schreibt sie: „Mir erschienen Sie in der Erinnerung wirklich wie ein Zauberer, denn
Ihnen verdanke ich, dass für mich die Tage in Bonn unvergleichlich allem Anderen geworden sind
und dass ich bei meiner Abreise in Feierlichkeit und Andacht lebte. Warum? Kam das doch von
den Augen der Madonna, an der wir so oft vorbeigingen. Ohne Sie hätte ich diesen Blick nicht
gespürt. Haben Sie Dank, dass Sie Dinge, die sich so fern scheinen, so stark umspannen.“ Siehe
auch Teilkopie des Briefes, S. 580.
429 Vermutlich ein Jugend- oder Studienfreund.
430 Harms Hotel Terminus, Köln, Hermannstraße 9.

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212 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Kosmopolitismus und Pazifismus, das heißt heute: wer sich grün macht, den fressen die
Ziegen). Dann verabschiedete ich ihn, herumgelaufen, müde und geil, durch die Gassen,
zum Hotel zurück, Ejakulation. Scheußlich, blutete (das Bändchen riss). Todmüde zum
Hotel zurück. Duschka hat mir wieder schönen Schinken mitgegeben.

Samstag, 16. 6. 23
Um 1/2 6 im Hotel auf, rasiert, zur Bahn, schöner Platz im Zug, langweilige Gesellschaft
(Bankbeamte), überlegte meine Vorlesung Völkerrecht, war müde und gleichgültig, lang-
weilige Kontrolle in Vohwinkel, an Plettenberg vorbei, um 2 1/2 in Frankfurt, fuhr mit einer
Pferdedroschke zu Schnitzlers, dort traf ich Georg und die Frau, sowie einen Graf Harden-
berg 431. Schlief auf meinem wunderschönen Zimmer todmüde bis 1/2 8! Unglaublich. Aber
das tat mir gut; dann im Smoking zu Abend gegessen, freundlich und schön unterhalten, bis
1/2 12. Wunderschönes Gefühl, gut bedient zu sein. Behaglich eingeschlafen.

Sonntag, 17. 6. 23
Bis 9 im Bett, wunderbar gebadet, schön gefrühstückt mit der freundlichen Frau Schnitzler.
Wir gingen dann in die chinesische Ausstellung.432 Sehr interessant, aber ich war zu müde,
innerlich gleichgültig. Wir aßen schön zu Mittag, tranken Kaffee und schliefen bis 1/2 5.
Wunderschön eine Stunde mit Schnitzler geplaudert über politische Dinge. Er erzählte von
den bolschewistischen Kommissionen, mit denen er zu tun hat (Herr Stanjanakoff und Pro-
fessor Zeh433); auch von Krause sprach er, alle sprechen mit Freude von ihm, aber er ist doch
diesen Leuten wahrscheinlich nicht elegant genug. Um 1/2 8 ging Schnitzler weg, ich war in
dem schönen großen Haus allein, schrieb Briefe (an K., an Duschka, an Eisler, an Feucht-
wanger und an Krause). Behaglich, brachte sie zur Bahn, bestellte einen Wagen, dann müde
nach Hause zurück und zu Bett gegangen (das Abendessen war schön, allein in dem großen
Saal, von dem Diener bedient).

Montag, 18. 6. 23
Um 6 auf, schön gefrühstückt, zur Bahn gefahren, ein ganz guter Platz, langweilige Fahrt,
am Schluss eine Frau aus Köln mit einem weißen Fuchs, die für Scheler und Bergson
schwärmte, eine Jüdin, und von einem Diener abgeholt wurde. Ich fuhr wieder an Pletten-
berg vorbei. Entsetzlich langweilige Kontrollen, dann schnell zur Rheinuferbahn, um 1/2 4
nach Bonn. Dort ein wunderschöner Brief von K., der mich rührte. Keine Korrekturen von
Feuchtwanger. Hielt meine Vorlesung Politische Ideen, sehr gut, nachher traf ich unten im
Garten Duschka und ging mit ihr spazieren am Rhein. Auf der Terrasse des Königshofs
ihren Bericht korrigiert, freute mich, sie wiederzusehen. Aß zu Hause ihren schönen Schin-
ken, müde ins Bett.

431 Vermutlich Eberhard Graf von Hardenberg, ab 1922 Rittergutsbesitzer, Schloss Süder bei Groß
Düngen (Niedersachsen), Mitglied des Hildesheimer Bezirksbeirats der Deutschen Bank.
432 Gemeint ist die Ausstellung chinesischer Keramik von Juni bis September 1923 im Kunstgewerbe-
Museum Frankfurt/Main.
433 Nicht ermittelt.

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Juni 1923 213

Dienstag, 19. 6. 23
Um 8 wieder schlecht vorbereitete Vorlesung, nachher mit [dem] Ägypter Mansur über die
Poppelsdorfer Allee spazieren, gut unterhalten über Frauen, über Politik, dann zu Hause
schnell die Völkerrechtsvorlesung vorbereitet, sehr gut gehalten (über Identität des Staates
bei Regierungswechsel), dann fröhlich wegen der gelungenen Vorlesung, mit Duschka am
Rhein entlang, es war endlich wieder etwas wärmeres Wetter (bisher hat es seit Wochen
ununterbrochen geregnet). Wir sprachen über ihren Bericht, mittags nach dem Essen wieder
geschlafen, um 5 zu Duschka (hat das Buch „Wert und Preis“434 auf der Bank liegen lassen),
wir gingen zum Buchbinder, sie holte den Bojić, den sie wunderschön in [St.] Augustin hat
binden lassen. Gutes, schönes Kind. Ich war sehr gerührt, sie ging zum Proseminar, ich in
den Königshof, traf zufällig dort den Rechtsanwalt Meyer, der mir vom Prozess erzählte
(am 15. war Termin), las die Korrekturen meines Aufsatzes, dann um 1/4 vor 8 am Rhein
entlang, das Buch auf der Bank gesucht, es war aber verschwunden, wartete auf der Bank
auf Duschka, wir gingen zusammen zurück, setzten uns noch auf die Terrasse des Königs-
hof und lasen bis 10 Uhr Bojić; ich erzählte dann von meinem Bruder. Begleitete sie gerührt
nach Hause. Dachte aber viel und herzlich an K. und ihren wunderschönen Brief. Frau v.
Wandel reist morgen ab.

Mittwoch, 20. 6. 23
Völlig unvorbereitet, in größter Eile, um 8 zur Vorlesung; es ging noch einmal gut. Sehr
glücklich darüber, wartete im Buchladen auf Duschka, sie hatte aber im Garten unter der
Madonna gewartet und kam später. Wir gingen zu Schwarz und frühstückten dort. Sie las
mir einen Artikel vor aus einer südslawischen Zeitung; blieb bis gegen 1. Dann begleitete
ich sie zur Universität. Ging müde bei Schmitz vorbei, wollte ein Billett für Samstagabend
in der Kleinen Oper kaufen (für Figaro), das regte mich wieder auf, kaufte Wein für die
Stenotypistin, die mir den Aufsatz geschrieben hat, bei Vormfelde vorbei, überflüssig. Müde
zu Hause. Nach dem Essen geschlafen, um 3 1/4 Examen Fräulein Stoffels, ich gab ihr sehr
gut, dann etwas eingekauft, aber sehr müde, Blumen für Frau Landsberg, ging zu ihr zum
Tee, wir unterhielten uns, zuletzt sehr nett über den <…>, dann über <…> usw. Sie fand es
richtig, dass er ein bourgeois ist (das hatte K. gesagt!). Um 7 kam ihr Mann. Müde und
gleichgültig zum Essen. Dann zu Hause endlich wieder einmal eine Vorlesung vorbereitet.
Sehr fröhlich darüber, Tagebuch geführt.

Donnerstag, 21. 6. 23
Schwieriger Tag. 8–9 Verwaltungsrecht, fröhlich zu Hause Völkerrecht vorbereitet, nachher
mit Duschka am Rhein spazieren, nach dem Essen geschlafen, mit Mühe, todmüde, meine
staatsrechtlichen Übungen 6–8, von Gerber begleitet zur Pension, müde, gegessen und nach
Hause.

Freitag, 22. 6. 23
Mit Mühe meine Vorlesung in Verwaltungsrecht, dann Völkerrecht vorbereitet, Frau von
Wandel reist heute ab. Nach der Vorlesung mit Duschka, sehr schön und freundlich, kaufte

434 Möglicherweise handelt es sich um Friedrich Thiele, Wert und Preis, Berlin 1919.

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214 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

ihr Blumen, für den Nachmittag verabredet. Zu spät zum Essen, zum Skandal aller An-
wesenden, nach dem Essen geschlafen, um 5 zu Duschka. Sie war in ihrem Zimmer mit
Fräulein Tadić, lächerliche Unterhaltung über die römische Kirche, über die deutschen
Frauen. Dann mit Duschka gegen 7 Uhr zum Königshof, auf der Terrasse Bojić übersetzt,
bis 10 Uhr; noch etwas am Rhein spazieren, bis 11 Uhr, dann begleitete ich sie nach Hause.
Sie erzählte von ihrer Jugend, ihrem Vater, ihrer Schwester. Ich bin ihr ganz gleichgültig.
Gleichgültig zu Hause gleich ins Bett, froh, einen Tag Ruhe zu haben.

Samstag, 23. 6. 23
Vormittags müde auf, gefrühstückt und korrigiert, den Zitelmann-Aufsatz über Parlamenta-
rismus. Telephonierte nach Köln, dass ich auf die Plätze für heute Abend verzichte (schade).
Zur Bibliothek. Dann korrigiert den ganzen Vormittag. Endlich war ich fertig. Beim Essen
Angst: wegen des Gesprächs über <…>führer, dann der Karte von Frau v. Wandel über
mich, „Karlchen“. Schrecklich ab[ergläubisch]. Nach dem Essen brachte ich die Korrektu-
ren zur Post. Dann zu Hause ausgeruht, um 5 zu Duschka, die ich mit Frau Tadić traf
(22. 6.).

Sonntag, 24. 6. 23
Bis 9 geschlafen, sehr müde, herumgelegen den ganzen Vormittag, aufgeräumt, nicht viel
gearbeitet, ein paar Karten geschrieben, mittags zum Essen pünktlich, dann zu Hause
geschlafen, meinte immer, Duschka müsste kommen, aber sie kam nicht. Wartete bis 6 Uhr.
Um 7 kam Schmitz, dessen Onkel schwer krank ist und der infolgedessen morgen nicht die
Verabredung einhalten kann. Mir ganz gleichgültig. Müde. Abends von Klein begleitet ein
paar Sachen zum Kasten gebracht, wäre beinahe zu Duschka gegangen, tat es im letzten
Augenblick nicht. Gleich zu Bett, noch etwas Zeitungen geordnet, entsetzlich müde, wie
gelähmt den ganzen Tag. Nicht an K. geschrieben.

Montag, 25. 6. 23
Um 7 auf, bevor die Frau kam, müde und langsam angezogen, froh, pünktlich zu sein. Hielt
meine Vorlesung über Verwaltungsrecht (Polizei, öffentliche Ordnung) ganz nett. Nachher
eine [Unterhaltung] mit dem Ägypter, für Freitag eingeladen, dann mit Sohls 435, einem net-
ten Thüringer, nach Hause, kaufte ein Buch für Duschka (russische Übersetzungen deut-
scher Gedichte), bereitete Völkerrecht vor (internationale Flüsse Rhein, Donau), hielt die
Vorlesung, nicht gut, leider; dann mit Duschka, dem Ägypter, Braubach zur Bank (kaufte
von Braubach ein £ für 400.000); Kurs gesunken (gegen die Devisenordnung), dann mit
Duschka, die mir die russische Übersetzung des Fischers 436 vortrug, es regnete, wir gingen
nach Hause. Ziemlich gleichgültig. Habe einen Brief von André bekommen, der nur kom-
men will, wenn ich nichts mehr mit K. zu tun habe. Müde, gleichgültig, freue mich über
André, der mir sagt, ich wäre wie sein Bruder. Nach dem Essen (seit längerem wieder
Vormfelde) müde nach Hause, wäre beinahe umgefallen, etwas ausgeruht, um 4 wieder auf,
nachgedacht, kein Kaffee, hielt meine Vorlesung Politische Ideen sehr schön, freute mich

435 Nicht ermittelter Student.


436 Siehe Anm. 267.

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Juni 1923 215

des großen Erfolges, leider eine delikate Erwähnung von Dietzel und Sp[iethoff]. Nachher
mit Carroll verabredet. Dann mit Duschka zum Königshof, sie erzählte mir von den russi-
schen Übersetzungen deutscher Gedichte (An den Mond von Goethe, ein paar Gedichte
von Heine); wir unterhielten uns schön, um 7 brachte ich sie nach Hause, sie ist zutraulich
geworden, das freut mich. Aber ich bin gleichgültig und müde. Dann zu Hause. Glücklich,
alleine in dem großen Haus zu sein. Fühlte mich wohl, bereitete Verwaltungsrecht vor, ging
durchs Haus, glücklich, alleine zu sein. Wieder Kleist lesen. Nachdenklich, Gefühl der
Lächerlichkeit meines Benehmens. Schrieb noch an André. Konnte nicht einschlafen. Grau-
enhaft, gewaltsam.

Dienstag, 26. 6. 23
Müde von gestern, aber bald munter. Gleichgültig Verwaltungsrechts-Vorlesung, freute
mich, dass der Ägypter immer da ist. Nachher eine Bibel für Duschka gekauft. Zu Hause
kein Brief, aber die Mitteilung der Verheiratung von Thea Alpius 437 <?> an Fräulein v. Wan-
del. Das ist die Gegenblockade, über die ich Lisa erzählt habe; sie hat sich mit einem Arzt
(!) verheiratet. Mir ist das ganz gleichgültig. Bereitete meine Vorlesung Völkerrecht vor,
ruhte mich aus, hielt dann eine schöne Vorlesung über Exterritorialität der Schiffe. Nachher
mit Duschka etwas am Rhein, sie war munter und fröhlich und ist zutraulich geworden. Ich
bin müde und gleichgültig und fange an, mich zu schämen. Ich habe André geschrieben,
dass ich nichts mehr mit K. zu tun habe, und geniere mich etwas wegen Duschka. Aber sie
ist ein gutes Kind. Nach dem Essen schlief ich bis 1/2 6; sehr müde, keine Post. Gleichgül-
tig, Bedürfnis auszuruhen und mich zu erholen. Ordnete dann Zeitungsausschnitte, fühlte
mich sehr wohl dabei, trank nicht Kaffee, es wurde 1/2 8; nach dem Essen ein paar Schritte
mit Vormfelde. Unterhaltung über die <…> und ihre großen Erfolge bei Frauen, was inter-
essant ist. Dann todmüde zu Hause, Verwaltungsrecht summarisch vorbereitet. Müde,
gleichgültig. Hoffentlich kann ich diese Nacht schlafen. Freue mich, morgen Duschka um
9 Uhr zu treffen, obwohl es Unsinn ist.

Mittwoch, 27. 6. 23
Gut ausgeschlafen, aber erst auf, als die Frau schellte. Schnell angezogen, gut rasiert, den
braunen Anzug angezogen, hielt meine Vorlesung. Froh, als sie zu Ende war. Mit Beyerhaus
ein paar Worte, sah zu meiner großen Freude Duschka, wir gingen am Rhein spazieren, weil
schönes Wetter. Dann, als es anfing zu regnen, zum Café Müller, übersetzten ein Gedicht
von Bojić (Matraha), sie war lieb und freundlich, ich lieh ihr 150.000 Mark, damit sie ihren
Dollar nicht zu wechseln brauchte. Dann zu Kaufmann, einen schwarzen Anzug bestellt
(7 1/2 Millionen Mark), aber froh darüber; von Landsberg für den Abend eingeladen. Zur
Bibliothek, viele Bücher, freute mich darüber, müde nach Hause; nach dem Essen etwas mit
Vormfelde, Zeitung gekauft, zu Hause geschlafen, müde, gierig, furchtbare Gewaltsamkeit,
dann aufgestanden, etwas gearbeitet, Vorlesung vorbereitet, sonst nichts getan. Völkerrecht
mit Kleist, kein Brief den ganzen Tag, um 8 zu Landsberg, schön gegessen, nachher wun-
derbarer Moselwein, unterhielt mich sehr schön, gewann die Frau lieb, sie ist schön, gut
unterhaltend, über Otto II. furchtbar aufgeregt. War berauscht von dem guten Wein, fröh-

437 Nicht ermittelt.

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216 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

lich nach Hause. Ich war selten so guter Laune, glücklich, munter, fröhlich, kindhaft. Der
wunderbare Moselwein.

Donnerstag, 28. 6. 23
Hielt meine Vorlesung gut (§ 127 LVG438), dann mit Braubach zur Bank, kaufte ihm ein £
ab, ohne zu wissen, wie teuer es ist. Zu Hause Völkerrecht vorbereitet, hielt die Vorlesung
sehr schön (über Exterritorialität in der Türkei und in China). Nachher sehr fröhlich mit
Duschka ein paar Schritte spazieren, dann zu Hause, ein paar Verse von Bojić übersetzt,
geschwätzt (sie fährt heute Abend nach Köln zum Fest des 28. 6.439). Sie war außerordent-
lich munter und guter Dinge, ich freute mich darüber und hatte sie sehr lieb. Zu spät zum
Essen, zum Ärgernis der Küche. Nachher Zeitung gekauft, etwas ausgeruht, die Preise
schnellen wieder entsetzlich in die Höhe. Um 5 zum juristischen Seminar, Besprechungen,
schnell Schokolade bei Kaufmann, dann im Staatsrecht Übungen, sehr gut (Art. 131 RV440).
Nachher mit dem Studenten Gerber, der mit mir in der Pension aß, etwas am Rhein spazie-
ren. Bei Schmitz vorbei, der aber nicht zu Hause ist. Müde, früh ins Bett, traurig, verlassen.

Freitag, 29. 6. 23
Etwas länger geschlafen, Feiertag. Um 1/2 9 kam Carroll, frühstückte mit mir, wir überleg-
ten, wie er promovieren kann. Leider kann er kaum Deutsch. Ich ging noch etwas mit ihm
spazieren, bis 1/2 10. Müde, gleichgültig, desillusioniert, dann zu Hause etwas Völkerrecht,
aber bald eingeschlafen. Bis 1 Uhr auch im Bett gelegen und geschlafen; das tat mir sehr
wohl. Nach dem Essen wieder geschlafen. Um 5 kam Herr Mansur, der Ägypter. Wir unter-
hielten uns über den Islam, über meine Vorlesungen, die er so lobte, aber auf eine sehr
anständige Weise, ich hatte den Eindruck eines guten, ehrlichen, treuen und klugen Men-
schen. Unheimlich, diese Selbstverständlichkeit eines Mohammedaners. Ich bin im Grund
ein Kind. Um 1/2 8 ging er. Ich ging nach dem Abendessen gleich nach Hause, müde, sofort
ins Bett. Den ganzen Tag nichts getan.

Samstag, 30. 6. 23
Wieder etwas länger geschlafen. Wunderschön gefrühstückt, Völkerrecht (ganz in Gedan-
ken an Duschka). Morgens im Bett schauerliche Spannung der Libido, wand mich vor
Sehnsucht, onanierte aber nicht. Grauenhaft. Sehnsucht nach K. und nach ihrem Leib, die
elenden Zimmer in Marburg waren doch das Schönste. Das wunderbare Fleisch. Es ist nicht
zu ertragen, diese furchtbare Spannung. Morgens etwas gearbeitet, um 11 Uhr kam Helga441,
half mir, Bücher in die Bibliothek zu bringen. Ich holte mir völkerrechtliche Bücher und
fühlte mich wohl. Nach dem Essen etwas eingekauft, alles entsetzlich teuer, bedrückt, fühlte

438 Die preußische Neuordnung der Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde mit dem „Gesetz über die all-
gemeine Landesverwaltung vom 30. Juli 1883“ (LVG 1883) und dem „Zuständigkeitsgesetz vom
1. August 1883“ (Pr. GS 1883) geregelt. § 127 LVG bildete hierbei die Generalklausel, mit der der
Verwaltungsgerichtsweg gegen Polizeiverfügungen eröffnet wurde.
439 Am 28. 6. 1921 war die erste Verfassung des Königreichs der Serben, der Kroaten und der Slowenen
verabschiedet worden. Möglicherweise fuhr Duschka zu einer Jahresfeier.
440 Dieser Artikel regelte die Amtshaftung von Beamten.
441 Vermutlich eine Angestellte der Pension oder des Seminars.

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Juni/Juli 1923 217

mich als verhungernden Proleten. Dann wieder zu Hause. Im Bett ausgeruht, etwas gearbei-
tet, an Blei eine Karte geschrieben (heute morgen ein [Dien]er mit einer 2. Liste für Zusen-
dungen), oft mit Freude daran gedacht, dass Duschka morgen Nachmittag kommt; aber was
soll das alles. Ich werde betrogen um die physische Erlösung. Entsetzliche Sehnsucht und
Spannung. Abends nach dem Essen ein paar Schritte mit Vormfelde. Einsam nach Hause.
Gleichgültig, traurig, nur die Vorlesung über Völkerrecht machte mich wieder etwas mun-
ter. Ein elender Zustand. Habe nicht an K. geschrieben, obwohl ich oft daran dachte.

Sonntag, 1. 7. 23
Morgens früh wach, aufgestanden und meine Vorlesung über Völkerrecht im Gedanken an
Duschka schön vorbereitet; etwas über das jus soli. Es wurde schnell Mittag. Nach dem
Essen ausgeruht, etwas geschlafen, gegen 5 aufgestanden, Tee gekocht und alles für Duschka
vorbereitet. Sie kam sehr pünktlich und war wunderschön in einer bunten Bluse. Wir
tranken zusammen Tee, aßen Sandkuchen dazu und unterhielten uns wunderschön. Ich
schenkte ihr Wilhelm Busch, Affe <?> und Mensch442, freute mich, wie lustig sie es las, wir
übersetzten ein Gedicht von Bojić, Maria Magdalena, kein [Puritanismus], den ich mit
einem Gedicht von Pearse über Maria Magdalena verglich.442a Wunderschön, auf dem Bal-
kon im Garten, ein schöner Nachmittag. Dann gingen wir zur Terrasse des Königshofs,
aßen dort zu Abend, ich fand sie entzückend, sie erinnerte mich sehr an Fräulein Pohler
<?>, sie wird sofort ernst und schmerzlich, leider, wenn das Wort Liebe fällt. Wir unterhiel-
ten uns wunderschön, gegen 11 Uhr begleitete ich sie nach Hause. Versäumte Zeit, erkältet.

Montag, 2. 7. 23
Müde, geweckt durch Frau Hörle443, die kam, um das Frühstück zu machen. Vorlesung
über § 127 LVG. Dann eingekauft, ein Necessaire für 675.000 Mark, auf der Bank 11/2 Mil-
lionen, zu Hause an Kaufmann telephoniert wegen des Anzugs, müde, Steinhäger mit Bär-
lauch getrunken. Meine Vorlesung Völkerrecht nicht gut gehalten, mit Duschka am Rhein,
bald nach Hause. Sie war wunderschön und sehr fröhlich. Nach dem Essen geschlafen, aber
geweckt durch einen dummen Jungen, der für Frau v. Wandel eine Rechnung brachte. Dann
Politische Ideen, von 5–6, durch einen Schnaps (die klassische Mischung) vorbereitet, es
ging gut (Manierismus, die Bekämpfung des Lebens <?>); dann mit Duschka (statt zur Rek-
toratswahl zu gehen) zur Terrasse des Königshofs, Bojić übersetzt, Der sternhelle Weg von
Däubler 444, sie ist schön und munter, zutraulich und sehr graziös. Ich fing an, mich zu ver-
lieben, mich an sie zu gewöhnen und sie sich anscheinend an mich. Sie ist gut und sich ihres
Wertes als Frau bewusst. Aber sie hat offenbar viele Erfahrungen gemacht und hasst die
Sexualität der Männer. Wir blieben bis 1/9 9 auf der Terrasse, gingen noch lange durch die
Poppelsdorfer Allee (ich sprach davon, dass sie sich dem Leben entziehe, dass sie dem
Leben entgleite, aber dass ihr dadurch auch das Leben entgleite), sie sagte inzwischen, sie
solle sich [vom Leben] packen lassen. Um 1/2 10 brachte ich sie nach Hause. Ging dann
einsam in meine Wohnung, bereitete die Vorlesung vor, der Bote vom Oberlandesgericht

442 Möglicherweise las Duschka die Bildergeschichte „Vierhändig“ aus „Die Haarbeutel“ (1878).
442a Siehe im Anhang, S. 570–572.
443 Offenbar die Vertretung der verreisten Frau v. Wandel.
444 Theodor Däubler, Der sternhelle Weg, Dresden-Hellerau 1915.

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218 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

kam mit Referendararbeiten, trank Schnaps, aß ein paar Butterbrote, müde, behaglich allein
zu Hause zu sein, müde, gleichgültig, philosophiert, <…>, wie schön.

Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag


11-12 11-12 11-12 11-12
Verwaltungs- Verwaltungs- Verwaltungs- Verwaltungs-
Recht (Aud. recht (Audit. recht (Audit. recht (Audit.
maximum) maximum) maximum maximum

6-7 6-8
Aktuelle <?> Grundfra- Staatsrechtliche
gen des Völker- Übungen
rechts (Hörsaal XI) (Neuer großer Hörsaal)

Dienstag, 3. 7. 23
Früh auf, eine ganz schöne Vorlesung Verwaltungsrecht, dann zur Anprobe bei Kaufmann,
nett mit dem jungen Kaufmann unterhalten, fröhlich wegen des neuen Anzuges, zu Hause
etwas ausgeruht, dann eine hübsche Vorlesung über Staatsangehörigkeit gehalten und mich
des Erfolgs gefreut. Nachher mit Duschka und Braubach zur Bank, von Schilling Gelder,
kaufte von Braubach 1 £ (720.000), gab Duschka 200.000 (sodass sie inzwischen von mir
1.000.000 hat). Dann liefen wir herum, Braubach war höflich und großartig, ich hatte Freude
an ihm, mit Duschka zu Schmitz, das Kind besehen, für den Abend verabredet. Dann, nach
dem Essen, zu Hause todmüde geschlafen bis 5 Uhr, gut ausgeruht, zu Hause korrigiert,
Aufsatz über Parlamentarismus; er ist doch wirklich sehr schön. Fröhlich zum Essen, schön
angezogen, den neu gebügelten blauen Anzug, dann zu Duschka, sie abgeholt, sie war
schön in ihrem weißen Kleid, wir gingen zu Schmitz, Herr Carroll war auch da; schreck-
lich, wie schlecht er Deutsch spricht. Schmitz spielte wunderschön Chopin, Duschka
strickte an einem Janker, sie hat mütterliche Eigenschaften, interessierte sich nur fürs Kind,
ich finde sie beschränkt, langweilig, selbstsüchtig und fand mich lächerlich mit meinem
Interesse für sie. Wie kommt es, dass ich immer ein solcher Narr bin? Ich wurde sehr müde.
Wir blieben bis 12 Uhr. Für mich war das zu anstrengend. Begleitete Duschka nach Hause.
Gleichgültig, ich bin der Dumme.

Mittwoch, 4. 7. 23
Todmüde, Herz, Kopf, grauenhaft hier, Sehnsucht, mein ganzer Leib bäumt sich auf. Welch
ein Zustand. Inzwischen sehe ich das Lächerliche der Beziehung zu Duschka. Starker
Kaffee heilte meine Vorstellung, weil ich einen Fall ausführlich besprach. Nachher ein
paar Worte mit Mansur, dem Ägypter, dann zu Duschka, die mich an der Buchhand-
lung Behrendt erwartete. Wir gingen am Rhein entlang, übersetzten Bojić (ein schönes
Gedicht: Dichte Wüste). Dann um 11 zurück. Ich war müde, gleichgültig, enttäuscht.
Bedrückt nach Hause. Dort 2 schöne, rührende Briefe von K. Inzwischen sehe ich meine
ganze Dummheit. Ruhte etwas aus, nach dem Essen eine Zeitung gekauft, Haare schneiden
lassen, zu Hause geschlafen. Um 5 kam der Student Salm, der in Völkerrecht geprüft wer-
den wollte, aber nicht viel wusste. Ich ging mit ihm zur Poppelsdorfer Allee, dann zu Kauf-
mann, Anprobe, fröhlich über den Anzug. Habe heute Nachmittag [Post] von Fuchs aus

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Juli 1923 219

Addis Abeba445, von Frau v. Schnitzler aus Frankfurt 446, von Kiener aus Straßburg, von
Beyerle aus München. Ich freute mich sehr. Trank bei Rittershaus schönen Mokka, las
behaglich die Briefe, freute mich an meinem Aufsatz über den Parlamentarismus; dann zu
Hause schnell die Referendararbeiten erledigt. Nach dem Abendessen (zum ersten Mal ein
schöner, warmer, klarer Tag) die Arbeiten zur Hainstraße 447 geschafft, wo der Mann wohnt,
der sie nach Köln bringen soll. Traf unterwegs Saalmann448, der mir half, sie zu tragen, und
mich zurückbegleitete. Dann zu Hause, glücklich, einmal wieder die Ruhe des Abends zu
genießen. Sehnsucht nach K. und ihrem schönen Leib. Gestöhnt und geschrieen vor Gier
und Verlangen. Nachts Gier nach K.; ihr schönes Bild, wüste Gewaltsamkeit gegen mich
selbst vor Gier.

Donnerstag, 5. 7. 23
Um 6 wach, wunderschönes Bett, um 7 aufgestanden, hielt meine Vorlesung über Verwal-
tungsrecht ziemlich schlecht, nachher mit dem Ägypter, Herrn Mansur, nett unterhalten,
schnell meine Vorlesung über Völkerrecht zurecht gemacht. Etwas ausgeruht, hielt meine
Vorlesung ziemlich schlecht, nachher wartete ich mit Schmitz zusammen lange auf Duschka.
Sie kam erst gegen 12 1/4, ich war ärgerlich, zumal sie mich einfach immer warten lässt und
ganz übermütig sprach. Wir gingen zum Beethovenhaus, ergriffen, als ich das Geburtszim-
mer sah, auch die Totenmaske; müde, bei großer Hitze zurück, wütend über Duschka, fühlte
mich lächerlich, schlecht behandelt, beiseite gesetzt. Sie klagte, dass es ihr gestern sehr
schlecht ging und sie mit ihrer Wohnung nicht zufrieden ist; ich lud sie ein, nachmittags zu
mir zu kommen, aber sie lehnte ab. Sie sprach davon, in Deutschland zu bleiben, an die Ost-
see zu fahren; sie weiß nicht, was sie will. Ich ging betrübt nach Hause, aß zu Mittag, nach-
her geschlafen, bis 1/2 5, gewartet (ob nicht doch vielleicht Duschka kommt), dann zur
Sprechstunde. Im Café Kaufmann schnell Kuchen gegessen, meine Übungen sehr schön
gehalten, nachher ein paar Minuten mit Braubach. Nach dem Abendessen trank Vormfelde
bei mir einen Schnaps, ich arbeitete, um etwas zu machen. Den ganzen Tag war ich von einer
dummen Sehnsucht nach Duschka geplagt; es ist wirklich zum Lachen.

Freitag, 6. 7. 23
8–9 Vorlesung, schöne Vorlesung über Völkerrecht präpariert, sehr schön übrigens, nachher
mit Carroll für morgen verabredet, freute mich, Duschka zu sehen, die sehr freundlich war,
und zu Schmitz zu gehen, der uns eine Symphonie von Beethoven vorspielen wollte. Zu
Kaufmann, den schwarzen Anzug anprobiert, gut unterhalten, herrliche, aber teure Kra-
watte. Dann zu Schmitz, mit Duschka, die schon dort war. Er spielte uns sehr schön vor, ich
freute mich über die Interessen von Duschka. Begleitete sie nach ihrer Wohnung, verabre-
dete mich für den Nachmittag mit ihr, zu spät zum Mittagessen, nachher pünktlich wieder

445 Der Brief vom 11. 6. 1923 ist im Nachlass Schmitt erhalten (RW 265-4592).
446 Vgl. Rieß (Hrsg.), BW Lilly von Schnitzler – Schmitt, 134 f. Die ebd., Anm. 50, vorgeschlagene
Datierung 7. 7.1923 ist demgemäß unzutreffend. In dem Brief dankt v. Schnitzler für das Buch
„Byzantinisches Christentum“ von Hugo Ball, das ihr Schmitt nebst einem Kaktus geschenkt
hatte.
447 Im Bonner Ortsteil Endenich, Lengsdorf.
448 Ein Student aus Trier (s. Eintragung vom 7. 7. 1923).

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220 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

zu Duschka. Holte sie ab (Fräulein Hempel 449 und Zlata waren dort), gingen zum Königs-
hof auf die Terrasse, übersetzten Bojić, dann begleitete sie mich, um ein Kaffeepfännchen zu
kaufen (sie will mir eines aus Bosnien besorgen, es ist das von Fräulein v. Dorotić!). Schnell
zu Schilling, Tee getrunken, freundliche Leute, um 6 1/4 nach Hause gerannt, dort schon
der Bote von Kaufmann mit dem neuen Anzug. Kleidete mich rasch um, holte Duschka ab,
wir gingen zur Beethovenhalle und hörten die 5. und 6. Symphonie von Mozart, von Max
Anton (einem lächerlichen Tünnes) dirigiert. Langweilig, ohne Linie. Ich freute mich, dass
Duschka Schmitz so lobte. Wir gingen zum Königshof, lange auf der Terrasse, bis spät
abends, übersetzten Bojić, ich habe sie gern. Müde um 12 nach Hause. Sie erzählte von ihrer
Schwester.

Samstag, 7. 7. 23
Um 1/2 8 auf, zur Elektrischen (stolz den ganz neuen schwarzen Anzug) nach Köln, mit
einem Studenten, Eis gegessen (es war schrecklich heiß), furchtbar langweiliges Examen,
Saalmann (aus Trier) sehr interessant, sprach sehr gut und sehr sicher. Um 1/4 4 holte Jup
mich ab, ich ging mit ihm und Emil Courth zum Bahnhof, dann aß ich bei Meyer am
Dom 450, sehr teuer, trank dazu viel Bier und fühlte mich krank. Todmüde nach Bonn
zurück, geschlafen, um 8 magenkrank zum Königshof, wo Carroll mich erwartete mit einer
Dame, die leider alt war, eine deutsche Schulmeisterin, der Typ eines Kapitäns, übrigens
sehr hübsch, man sprach über den Tag von Versailles usw. Langweilig, dachte sehnsüchtig
an Duschka. Wieviel klüger ist sie als alle diese Leute. Um 10 müde nach Hause und gleich
zu Bett.

Sonntag, 8. 7. 23
Früh wach, um 6 aufgestanden, angezogen, Tee und Kaffee gemacht. Duschka kam ziemlich
pünktlich etwas nach 7. Wir frühstückten zusammen, mit schönem Schinken, dann machten
wir einen Spaziergang über den Venusberg nach Godesberg. Wunderschönes heißes Wetter;
sie ist prachtvoll. In Godesberg auf der Terrasse von Dreesen451, ich schlief eine Stunde, sie
übersetzte Bojić, fühlte sich anscheinend sehr wohl, war munter und fröhlich und sah
prächtig aus. Wir gingen nach Mehlem, legten uns nachmittags auf eine Landzunge am
Rhein gegenüber dem Drachenfels (der aussah wie ein Jäger). Ich fühlte, dass sie anfing,
mich sehr gern zu haben, sie schrieb in das Exemplar das Gedicht von Bojić „Von der
törichten Tochter“. Dann wieder zu Dreesen, dort Gänseleber gegessen, erzählte von ihrer
Schwester und ihrem Schwager. Wir gingen dann zur elektrischen Bahn, mussten lange war-
ten (wunderbarer Park in Godesberg), sprachen von meinem Vater, dass sie nicht heiraten
konnte usw. Fuhren todmüde nach Bonn zurück, begleitete sie nach Hause, um 1/4 vor 1
müde ins Bett. Aber ich habe prachtvoll in der Sonne gelegen.

Montag, 9. 7. 23
Todmüde auf, 8–9 übermüdete Vorlesung (Baupolizei), dann zu Hause, Völkerrecht schnell
vorbereitet zu Hause, Brief von M[ünch] über mein Buch, der mich freute, und von André,

449 Nicht ermittelte Studentin.


450 Meyer am Dom (nach dem damaligen Inhaber Siegfried Meyer), Köln, Trankgasse 7 und 9.
451 Rheinhotel Dreesen, traditionsreiches Hotel in Godesberg.

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Juli 1923 221

der am <…> kommen will. Hielt meine Vorlesung, ziemlich schlecht, Duschka kam zu spät,
ging aber in die erste Bank. Ich liebe sie sehr. Nach der Vorlesung mit Mansur und Duschka
am Rhein spazieren. Wir sprachen über st[aats]rechtliche Stellen Ägyptens. Mit Duschka
noch etwas gegessen bei Frings. Entsetzlich teuer (20.000 Mark), dann zum Essen; nach-
her zu Hause geschlafen, bis 4, gewaschen, umgekleidet für meine Vorlesung, traf Neuß um
5 Uhr, er ging in meine Vorlesung, ich war ziemlich müde, sprach über Bolschewismus.
Inhaltlich sehr gut und interessant. Nachher mit den Brüdern Neuß etwas gesprochen, traf
Braubach, stellte ihm 1/2 Million zur Verfügung, dann mit Duschka zur J<…>straße (sie
hat dort etwas besorgt für meinen Geburtstag), dann auf der Terrasse vom Königshof, ein
Gedicht von Bojić übersetzt, da 1/2 9, dann bei Schmitz vorbei, begleiteten zusammen
Duschka nach ihrer Wohnung, mit Schmitz bei mir zu Hause, einen Schnaps getrunken,
dann müde noch etwas Feuerpolizei452, müde, bald ins Bett.

Dienstag, 10. 7. 23
Nach der Vorlesung 8–9 zur Bank, große Aufregung, Vorlesung Staatsrecht schnell, aber
interessant vorbereitet und gut gehalten (über Protektorate), nachher mit Duschka in meine
Wohnung, wo sie einen Entschuldigungsbrief an Spiethoff schrieb, dann begleitete ich sie
bis an die Argelanderstraße, nach dem Essen mit Vormfelde, der mir erzählte, dass die Stu-
denten schon über meine Freundschaft mit der Ausländerin schwätzten. Ich erschrak. Er-
ledigte einiges, kaufte Zeitungen, zu Hause ausgeruht, dann 1/2 4 Doktorexamen, langwei-
lig, dumm, ignoranter Bursche; gab ihm nicht ausreichend, was mich aufregte. Nachher mit
Göppert freundlich gesprochen, dann zu Hause ein Student Forsthoff wegen einer Disser-
tation453, um 5 Uhr kam Duschka und trank bei mir Tee. Sie schenkte mir zum Geburtstag
ein in schwarze Seide eingebundenes Neues Testament. Ich war sehr gerührt, besonders
weil sie ihren Namen voll hineingeschrieben hatte454. Ich schenkte ihr auch eine Bibel,

452 Gemeint ist die Vorbereitung auf das Thema der Brandschutzbehörden in der Verwaltungsrechts-
vorlesung.
453 Ernst Forsthoff (1902–1974), Staats- und Verwaltungsrechtler, ab Ende der 1949er Jahre eng mit
Schmitt befreundet, 1925 in Bonn promoviert (Erstgutachter Schmitt) mit einer Arbeit über den
„Ausnahmezustand der Länder“, 1930 PD in Freiburg i. Br., SS 1933 Lehrauftrag für Völkerrecht
in Heidelberg, WS 1933/34 Lehrstuhlvertretung, dann „planmäßige Professur“ in Frankfurt/Main,
SS 1935 ao. Prof. ebd., WS 1935/36 o. Prof. in Hamburg, SS 1936 o. Prof. in Königsberg, WS
1941/42 Lehrstuhlvertretung, dann o. Prof. in Wien, SS 1942 Rückberufung nach Königsberg,
1943–1945 o. Prof. in Heidelberg, 1950 Lehrauftrag in Frankfurt/Main, WS 1950/51 Lehrauftrag in
Heidelberg, 1952 o. Prof. ebd., 1960–1963 Präsident des Zypriotischen Verfassungsgerichts, 1972
emeritiert. In „Erinnerung an den Sommer 1923 …, an das erste Semester in Bonn (insgesamt das
fünfte)“ schreibt Forsthoff in einem Brief an Schmitt vom 9. 7. 1973 (in: BW Forsthoff – Schmitt,
S. 340 f.), wie er diesem „in der bescheidenen Rolle eines Teilnehmers“ an einer Übung zum ersten
Mal begegnete. „Der außerordentliche Eindruck, den ich von dieser Übung empfing, ist mir in
lebendiger Erinnerung geblieben, und es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, dass ich erst mit
diesem Semester den Zugang zum Wesen des Rechts und seiner Methode gefunden habe.“ Vgl.
umfassend Florian Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft. Ernst Forsthoff und seine
Zeit, Berlin 2011.
454 Das Exemplar des Novum Testamentum graece et germanice von Eberhard Nestle, Stuttgart 1921,
enthält die handschriftliche Geburtstagswidmung: „Carl Schmitt von Duška 11. Juli 1923“.

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222 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

merkwürdiges Zusammenfallen von den <…>. Dann begleitete ich sie zur Universität, ging
zur Bibliothek, schlug einiges nach, nach Hause, schöner Brief von Frau v. Wandel; nach
dem Abendessen zu Schmitz, wo ich auch Duschka traf, wir feierten Geburtstag, tranken
Bowle; unterhielten uns nett (Duschka über Spiethoff) und Schmitz spielte wunderschön
Chopin, um 1/4 vor 11 fröhlich und guter Dinge mit Duschka nach Hause.

Mittwoch, 11. 7. 23
Um 1/4 5 auf, angezogen, schon um 1/4 vor 6 schellte Duschka; ich war erst halb angezo-
gen. Ich beeilte mich, brachte Tee und Kaffee, war nicht völlig ausgeschlafen. Wir fuhren
dann 6. 25 mit der elektrischen Bahn nach Königswinter, gingen durch den Wald bei
Oelinghoven, wunderschön einen Berg hinaufgeklettert in der Morgensonne, dann nach
Heisterbach, wo es Duschka so gut gefiel, dass sie dort wohnen wollte, nachher im
Buchenwald hinter dem Kloster 455, Duschka entschloss sich, eine Dissertation „Die völker-
rechtliche Stellung Sowjetrusslands von 1917 bis heute“ zu machen. Sie war begeistert und
glücklich. Dann den Weg zum Petersberg, von da zum Kleinen Ölberg, vor dem wir saßen;
Duschka übersetzte Bojić. Wir gingen dann weiter zur Rosenau, tranken Wasser und aßen
etwas, wunderschöner Tag, wunderschöne Landschaft. Duschka war begeistert und fröh-
lich, unbeschreiblich graziös. Dann auf den Ölberg, dort aber schon etwas müde, dann zum
Margarethenhof, Schlagsahne und Kirschen, dann am Weg nach Königswinter wieder ein
Gedicht von Bojić, Übersetzung. Ich war todmüde und schlief etwas. Dann plötzlich eilten
wir zum Drachenfels, gingen aber zur Wolkenburg einen gefährlichen Weg, Duschka
„flog“, schwebte, wunderschöne Elastizität und Leichtigkeit. Ich war etwas verliebt, aber
doch innerlich empört über ihre Sklavenstellung. Dann noch um 9 Uhr zum Drachenfels,
dort gegessen und etwas zur Ruhe gekommen, schnell nach Königswinter hinunter, die
letzte elektrische Bahn bekommen, um 11 waren wir wieder in Bonn. Ein schöner, reicher
Tag; ich begleitete Duschka nach Hause, sie war fröhlich und glücklich und mir sehr dank-
bar und sagte, ich solle nicht traurig sein, als ich mich von ihr verabschiedete. Müde nach
Hause, kein Brief, schreckliche Rechnung von Kaufmann.

Donnerstag, 12. 7. 23
Hielt meine Vorlesung, sehr müde, zu Hause ein schöner Brief von K.; Verräter. Bereitete
die völkerrechtliche Vorlesung vor, hielt sie sehr müde. Nachher mit Duschka, die munter
und fröhlich war und ein albernes, dummes Kind. Sie hatte einen geschmacklosen Floren-
tiner-Hut auf, ich war enttäuscht und desillusioniert; wir gingen zur Konditorei Kaufmann,
dann zu Frings und aßen Eis. Ich war müde und schweigsam, sie begleitete mich an die
Meckenheimer Allee, sagte wieder, ich solle nicht nachdenklich und traurig sein. Schreck-
liche Sklaven. Nach dem Essen etwas ausgeschlafen, dann schnell die Übungsarbeiten korri-
giert, es wurde spät, zum Seminar, eine schöne Übung (Forsthoff), ich bester Laune, das tat
mir wohl, dann zu Hause, aber so müde, dass ich gleich zu Bett ging. Es war wieder sehr
heiß heute. Ich hatte erst morgens Duschka für Freitagabend eingeladen, mit dem Ägypter
und Neuß, es tat mir leid, ich kam mir entsetzlich lächerlich und dumm vor, fest entschlos-

455 Kloster Heisterbach im Peterstal bei Königswinter, 1202–1803 Zisterzienserabtei, 1919 von Celli-
tinnen (Mutterhaus in Köln) wiederbesiedelt.

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Juli 1923 223

sen, nicht mehr nach ihr zu fragen und für morgen Abend abzusagen. Immer dieselben
Pläne und Vorsätze. Schnark <?> Heldenkampf 456 mit Übersetzung gelesen.

Freitag, 13. 7. 23
Wieder eine schlechte Vorlesung, nachher eine Partie [Darts] mit dem Ägypter, Herrn Man-
sur, der heute Abend keine Zeit hat. Ich sehe, wie gut er angezogen ist und wie schlecht ich.
Ging traurig nach Hause, Vorlesung vorbereitet über das Saargebiet, ganz gut gehalten,
dann mit Duschka bei Frings, sehr schweigsam. Sie plauderte herum, über den Betrug des
Lebens und <…> unterhalten, dann, als ich sie nach Hause begleitete, sah ich den Natio-
nalökonomen Schmitz 457, ich lief ihm nach, um ihn zu hören. Er erzählte von Spiethoff und
machte sich über ihn lustig, was D. gefiel. Wir gingen zusammen zu ihrer Wohnung. Ich
verabredete mich absichtlich nicht; mit Schmitz zurück, traurig, deprimiert. Nach dem
Essen (weil ich zu spät gekommen war, kündigte die Köchin) müde nach Hause, etwas
geschlafen, dann herumgelesen, etwas aufgeräumt, endlich wieder eine Minute zu mir
gekommen, Brief von Scheffer, um 7 kam der Student Engels wegen seiner Dissertation,
dann ging ich zum Abendessen, kaufte nachher Wein, müde und einsam zu Hause. Um
9 Uhr kam Neuß, wir tranken zusammen Wein, unterhielten uns über unsere Reise nach
Rom. Er ist ein guter, lieber Mensch; um 1/2 12 ging er, ich war todmüde.

Samstag, 14. 7. 23
Müde, krank, zuviel Wein, ich kann nichts mehr vertragen. Um 8 zu Schmitz, um ihm zu
sagen, dass ich nicht fahren möchte, zum Seminar, zur Bibliothek, einige Bücher geholt,
nach Duschka geschaut, sie war natürlich nicht da. Schändliche Sklaverei. Zu Hause 2 Briefe
von K.‚ ich war sehr gerührt, behaglich eine Stunde zu Hause, versuchte mich zu sammeln,
war aber sehr schwach. O meine liebe Countess. Der Vormittag verging behaglich. Ich war
sehr müde. Nach dem Essen wieder geschlafen. Entsetzliche Hitze. Mit Kaufmann telepho-
niert. Ich wartete, dass ich um 5 <…>. Um 4 auf, machte mir Tee und arbeitete etwas,
schrieb ein paar Briefe (an Georg Eisler, Karl Lamberts), wartete heimlich auf Duschka,
aber sie kam natürlich nicht. Ich bin ein Narr. Um 1/2 8 umgekleidet, zum Essen, bei Neuß
vorbei, ihn ein paar Schritte begleitet. Dann zu Landsberg. Sehr nett mit ihm unterhalten.
Dann kam seine Frau, doch im Ganzen das Gefühl einer künstlich-süßen bornierten Gesell-
schaft und enttäuscht. Einsam, traurig. Allmählich werde ich irrsinnig vor Einsamkeit. Oft
glaube ich, dass Carita sich rächt. Mystisch <?>. Habe das Buch von Dur[ham]458 gelesen.

Sonntag, 15. 7. 23
Um 1/2 8 auf und behaglich gewaschen, rasiert und angezogen. Immer das Gefühl, Duschka
ist von Carita entsandtes Instrument der Rache. Grässliche Angst. Erwartete für 1/2 10
Carroll, wir frühstückten zusammen, sprachen optimistisch über seine Arbeit, um 1/2 11
ging er (ein schönes Mädchen brachte ihm das Manuskript). Dann arbeitete ich (heimlich

456 Nicht ermittelt.


457 Nicht ermittelt.
458 Vermutlich Mary E. Durham (1863–1944), engl. Künstlerin und Reiseschriftstellerin, serbienkri-
tische Balkan-Expertin.

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224 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

auf Duschka wartend), dachte an K., war gerührt, kam aber nicht dazu, ihr zu schreiben.
Müde, Existenzplan gemacht, hinterher tat es mir wohl, einen Tag Ruhe zu haben. Müde
und einsam. Langweiliger Tag. Nach dem Essen mit Vormfelde ein paar Schritte, Temps
gekauft, dann etwas geschlafen, es ist sehr heiß. Aufgestanden, um 5 Uhr schellte es, ich war
aufgeregt und erwartete Duschka, statt dessen eine [russische Frau], die hier Dienstmädchen
bei einem französischen Kapitän ist. Unglaublich. Sie kam mit einer Freundin, lächerlich,
albern, ich schenkte ihr Schokolade, machte ein paar höfliche Redensarten, fühlte den Wink
des Schicksals (ich sollte jetzt gedemütigt werden). Traurig, Referendararbeiten gelesen,
müde, krank, völlig verzweifelt. Schrieb an Kiener, schickte ihm [eine Biographie] über
Mussorgski459 [und Noten] für seine Schwester 460. Nach dem Essen etwas mit Vormfelde.
Dann einsam, müde und traurig nach Hause zurückgekrochen. Welch ein Dasein. Aber-
gläubische Angst, Angst vor den Russen, lächerliche Komplexe, physische Ermattung.
Abends etwas besser, als ich eine Stunde mich vorbereitet hatte.

Montag, 16. 7. 23
Gut geschlafen, nachher innerliche Sammlung von gestern Abend. In Eile meine Vorlesung
in Verwaltungsrecht, zu Haus, es ist nicht mehr so heiß wie gestern. Kleidete mich um, hielt
eine gute Vorlesung über Mandate, dann mit Duschka, die freundlich war, zu Rittershaus,
fühlte mich innerlich frei, sie übersetzte mir den Aufsatz von Mereschkowski461 zu Ende.
Um 1 1/4 ging ich fort, ziemlich gleichgültig, aber gutmütig. Nach dem Essen gleich zu
Hause geschlafen, ausgeruht, in großer Aufregung meine Vorlesung über Politische Ideen
vorbereitet, weil heute Schmitz und seine Frau und Geißler 462 <?> (aus der Pension) da sein
werden. Ich stand schon um 4 auf, wusch mich schön, zog meinen schönen Anzug an,
fühlte mich sehr frisch und stark, trank wunderschön Kaffee bei Rittershaus, mit großem
Behagen meine Vorlesung gehalten über den Mythos und Sorel463; sie war wunderschön.
Nachher waren Mansur, der Ägypter, Schmitz und Duschka sehr begeistert. Ich war glück-
lich darüber, ging mit Schmitz und Duschka zum Königshof, verabredete mich mit Schmitz
für Freitagabend, mit Duschka auf der Terrasse Bojić übersetzt, sie war freundlich, oft
glaubte ich, dass sie mich liebt, aber ich war vorsichtig, ich bin innerlich sicher und ziemlich
frei, erst allmählich redete ich mich wieder in meine Verliebtheit hinein, wurde aber ernüch-
tert, als ich hörte, dass ihre Wirtin auch ein schönes Gedicht von Bojić übersetzt haben
möchte. Ich bin ein Scheusal. Dann gingen wir am Rhein, sie war traurig und ließ sich von
mir trösten, als plötzlich ihre russisch-jüdische Freundin erschien und sie ganz glücklich
wurde; lächerlich. Es war eine peinliche Situation und meiner durchaus unwürdig. Beglei-
tete sie ein paar Schritte, dann verabschiedete ich mich, gleichgültig und ruhig nach Hause,
froh, entronnen zu sein. Ich bin ein langweiliger, systematischer Tröster. Aber wie komisch

459 Modest Mussorgski (1839–1881), russ. Komponist.


460 Kiener hatte in den Briefen vom 27.11. 1922 (RW 265-7547) und vom 9.1. 1923 (RW 265-7549)
darum gebeten.
461 Dmitri Sergejewitsch Mereschkowski (1865–1941), gegenaufklärerischer ukrainisch-russ. Autor,
veröffentlichte die Trilogie „Christ und Antichrist“ (1896–1905), ab 1920 im Exil in Paris, Bewun-
derer Hitlers und wohl deshalb (trotz Nominierung) nicht Literatur-Nobelpreisträger geworden.
462 Nicht ermittelt.
463 Vgl. Schmitt, Parlamentarismus, S. 77–90.

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Juli 1923 225

ist mein Benehmen gegen Duschka. Wann werde ich endlich vernünftig? Manchmal glaube
ich, dass es bald so weit ist. Geilheit, Gier, gesunde Lüsternheit und gleichgültig gegen
Duschka. Abends die Vorlesung summarisch vorbereitet, immer Wohlgefühl über die wohl-
gelungene Vorlesung über Politische Ideen.

Dienstag, 17. 7. 23
Nachts ein süßer Traum von Carichen oder Käthchen Baumeister: unendlich, unsäglich süß,
ein Mädchen, bescheiden hingebend, dunkel. Große Aufregung. Ich stöhnte und schrie.
Grauenhaft. Zerrüttete Einzelheiten. Todmüde auf, sehr schlechte Vorlesung über öffent-
liche Anstalten. Dann müde zu Hause, ausgeruht, Vorlesung über Völkerbund vorbereitet,
hielt meine Vorlesung sehr gut und sehr lebhaft. Nachher mit Braubach, Mansur usw. Viele
Zeitungen. Dann mit Duschka am Rhein spazieren, ich war müde, sie war gut und freund-
lich gegen mich, aber allmählich sehe ich immer deutlicher (und fühle) das Lächerliche der
ganzen Sache. Ich bin völlig geheilt. Doch ist die Nachwirkung des Tages noch so stark,
dass ich eine große Sensation darin sehe, ihren schönen Gang neben mir zu fühlen. Nach
dem Essen sofort zu Bett, konnte aber wenig schlafen, obwohl ich sehr müde war. Um 3 1/4
kam ein Student zum Doktorexamen, um 5 ein anderer (total verregnet, ich gab ihm meinen
Hausrock), dann zur Universität, brachte die P[rotokolle] zurück, dann mit den Referenda-
ren zur G<…>straße, etwas eingekauft, zu Hause ausgeruht, nach dem Abendessen Blumen
gekauft, zu Hause, freundlich mit Frau Röhl464, alles vorbereitet für morgen, um 1/2 8 will
Duschka kommen. Dachte wehmütig daran, dass ich keine Möbel mehr habe, wie schreck-
lich betrogen, lächerlich, armer Teufel. Angst, weil morgen der Geburtstag von Carita ist.

Mittwoch, 18. 7. 23
Um 1/2 8 kam Duschka, ich war noch nicht angezogen, weil meine Uhr nachging. Wir
frühstückten zusammen, gingen dann, mit Bojić und Dostojewskis Großinquisitor 465 auf
den Weg, fuhren mit der Bahn nach Königswinter, von dort erst am Rhein entlang, dann
den Weg zur Löwenburg, ich lernte die russischen Buchstaben, wir aßen etwas an der
Löwenburg, es regnete plötzlich, dann gingen wir zum Lohberg, oben auf dem Lohberg
saßen wir auf einer Bank, Duschka übersetzte Bojić, ich schlief etwas, dann kletterte ich auf
einen Baum, wunderschöne Aussicht. Dann gingen wir zum Drachenfels (unterwegs auf
einer Bank mit herrlichem Blick über den Großinquisitor gesprochen. Sie staunte, während
ich oft fühlte, wie sie mir fremd oder freundlich war), auf dem Drachenfels Wein getrunken
und gegessen, schrecklich teuer, dann abends mit der Bahn nach Bonn zurück, sehr müde,
begleitete Duschka nach Hause, todmüde noch ein Glas Bier getrunken in einer kleinen
Wirtschaft. Zu Hause, dachte, André wäre da, war aber nicht der Fall. Keine besonderen
Briefe. Nichts für morgen getan.

Donnerstag, 19. 7. 23
Todmüde, eine schlechte Vorlesung, dann zu Hause Völkerrecht vorbereitet, nachher
Duschka getroffen, sehr freundlich mit ihr. Nach dem Essen geschlafen, in der Sprech-

464 Maria Röhl, Vermieterin, Bonn, Poppelsdorfer Allee 61.


465 Fünftes, auch separat unter diesem Titel erschienenes Kapitel des Romans „Die Brüder Karama-
sow“ (1880).

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226 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

stunde Fräulein Stoffels, das arme gute Kind, sie wollen alle einen Führer. Dann mit Brau-
bach in <…> zum <…>, nachher noch Bier getrunken bei Kieffer. Ich war todmüde. Gab
ihm 900.000 Mark für Tadić.

Freitag, 20. 7. 23
Todmüde <…>, Völkerrecht schlecht vorbereitet. Duschka passt nicht auf, ich bin ein
lächerlicher Narr; nach dem Essen geschlafen, dann Fakultätssitzung, Examen Engels, so
verrann der Nachmittag. Abends nach dem Essen zu Schmitz, Duschka war schon da und
überaus freundlich und herzlich gegen mich, was mich sehr beglückte. Ein Dr. Lehmann466
und ein Bibliothekar mit seiner Frau waren zusammen auch noch da. Man spielte Mozart,
vorher Schubert. Ich war todmüde und bewunderte Duschka, die mit dem Kind auf dem
Schoß wunderbar mütterlich aussah. Ich habe sie sehr gern. Abends gingen wir (obwohl ich
vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen stehen konnte) über die Poppelsdorfer Allee, sie
war freundlich und zutraulich, ich begleitete sie bis 1 Uhr. Dann todmüde zu Hause. (Eine
freundliche Karte von Fräulein Tadić.)

Samstag, 21. 7. 23
Schön gefrühstückt, nach Köln zum Referendarexamen, entsetzlich langweilig, todmüde, 2
fielen durch. Ich [habe] mit Emil Courth morgens vor dem Examen gesprochen, will nach
Berlin fahren. Im <…> ganz mein Römischer Katholizismus. Fuhr um 4 schon wieder nach
Hause. Telegraphierte wegen eines dicken Fehlers nach Altenburg [an die Druckerei], dann
zu Hause geschlafen, abends bei Strassberger zum Essen, Schmitz kam mir entgegen, wir
gingen etwas spazieren auf den Venusberg, sehr schön; müde nach Hause, gleich zu Bett.

Sonntag, 22. 7. 23
Vormittags für mich, weil Carroll nicht kam, auf diese Weise mich etwas wieder gesammelt,
einiges vorbereitet. Mittags Blumen gekauft (weil Duschka heute Nachmittag kommt, schö-
ner Sandkuchen, den sie gerne isst), nach dem Essen die Zeitung geholt, dann zu Hause aus-
geruht, um 1/2 5 aufgestanden, Tee gekocht, um 5 kam Duschka sehr pünktlich. Wir tran-
ken Tee, plauderten (ich schenkte ihr Schillers Gedichte, las ihr das „Naenie“467 vor, dann
gingen wir zum Venusberg, saßen lange dort oben, es stellte sich heraus, dass Fräulein Tadić
Stunde [bei] Fräulein Fuchs hatte, sogar nach Hamburg gereist ist, um sich von ihr zu ver-
abschieden. Unglaublich. Fühlte das Schicksal. Spät des Nachts durch den Wald zurück,
Duschka freundlich gestreichelt, aber nicht geküsst, oft aber das Gefühl, als ob sie meine
Hand suchte. Ich will nicht dumm sein.

Montag, 23. 7. 23
Leidliche Vorlesung (über öffentliche Sachen)‚ dann zu Hause Brief von André, der Don-
nerstag oder Freitag kommen will, sehr glücklich darüber, er schickte einen Zeitungsaus-

466 Vermutlich der Chemiker Dr. phil. Lehmann von der Landwirtschaftlichen Hochschule bzw. der
Pflanzenschutzstelle für die Rheinprovinz.
467 Spruchgedicht Schillers mit dem Anfang „Auch das Schöne muß sterben…“ und den Schlussversen
„Auch ein Klagelied zu sein im Mund der Geliebten ist herrlich;/ Denn das Gemeine geht klanglos
zum Orkus hinab.“

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Juli 1923 227

schnitt über Mussolini, den ich gerade brauchte und zufällig (weil er vom 18. war!) nicht
entdeckt hatte. Unglaublich. Dann Völkerrecht, Duschka hatte mir eine Visitenkarte hin-
gelegt, dass sie mich nach der Vorlesung gern sprechen will. Sie bat um Geld, ich gab ihr
500.000 Mark, sie gab mir 5 $ dafür (und für weiteres Geld), dann begleitete ich sie nach
Hause. Ruhte mich aus, um 4 Uhr auf, Vorlesung vorbereitet, zu Rittershaus, Mokka
getrunken, die Vorlesung war aber nicht so gut wie das vorige Mal, Frau Schmitz und
Schmitz waren da, wir gingen zum Königshof und tranken dort auf der Terrasse Kaffee.
Neuß war auch in der Vorlesung, ging aber nur bis zum Königshof mit. Ich blieb mit
Duschka dort sitzen, sie hatte Herzschmerzen und war krank, erzählte von ihrer Traurig-
keit. Wir gingen noch über die Königstraße, saßen auf einer Bank, ich fühlte ihren Kopf, sie
schien mir sehr zutraulich, ich war natürlich hingerissen, begeistert, zu allen Opfern bereit;
sie war kühl und reserviert. Wenn sie mir entgegenkäme, wäre ich verloren und so beson-
ders wieder in der dümmsten Verliebtheit. Sie sagte, um mir zu helfen, bedarf es einer
großen Liebe. Wir sprachen von ihrer Arbeit, von ihrer Psycho[logie], von ihr.

Dienstag, 24. 7. 23
Sehr schlechte Vorlesung, müde nach Hause, Völkerrecht summarisch vorbereitet, vorher
ein Glas Wermut, es ging ziemlich gut (Krieg oder Frieden, wegen der Besetzung im Ruhr-
gebiet!). Dann zu Duschka, die auf mich wartete, sie hat nicht aufgepasst, ging gleich nach
Hause, ich gab ihr 200.000 Mark, sie ging nicht (wie verabredet) heute mit mir auf den
Venusberg, sondern zu ihrer russischen Freundin. Ich bin ein Narr. Ich hatte ihr Othello
gekauft für die Reise. Nach dem Essen, als ich die Zeitung gekauft hatte, geschlafen, es
schellte um 4, ich soll heute zu Neuß kommen, weil Kisky da ist. Arbeitete etwas, müde,
verzweifelt, pessimistisch, völlig erledigt, trank bei Rittershaus Mokka, langsam wurde es
besser. Bereitete meine Vorlesung vor, endlich wieder etwas gesammelt, ein Glück, dass ich
nicht mit Duschka zusammen bin. Wie viel Zeit verliere ich. Wie dumm bin ich. Wie frucht-
los ist das alles. Abends zufällig Carroll getroffen, seine Arbeit ist schlecht. Nach dem Essen
zu Neuß, mit Kisky, der aus Wien von der Gesandtschaft kam. Nett unterhalten, Wein
getrunken, nachher gegessen, die entsetzliche Zeit, um 1/2 10 schon wieder nach Hause.
Tagebuch geführt; glücklich, einen Tag Ruhe gehabt zu haben, aber doch darauf gefreut,
dass Duschka morgen um 10 kommt. Immerhin das Gefühl, dass es ein lächerlicher Zustand
ist. Zuletzt hilft mir André. Grauenhaft. Oft zerspringe ich vor Gier und Sexualität. Dann
wieder ermutigt und gefasst. Ich weiß es nicht. Heute ein Brief von Professor Muth vom
Hochland.

Mittwoch, 25. 7. 23
Um 1/2 8 auf, beruhigt, weil ich vorbereitet bin für die Vorlesung. Beharrlicher Kampf, gute
Vorlesung. aber doch sehr müde. Dann viele Nachfragen: Braubach, Wimmer 468 aus Kre-
feld, Engels usw. Müde nach Hause, dort zurechtgemacht, wartete auf Duschka, sie kam
nach 10 Uhr, wir übersetzten Bojić im Esszimmer, sehr hübsch, sie war krank und oft
müde, erzählte, wir lachten, wir schlossen unseren Feudalvertrag, ich glaube, dass ich alles
bei ihr erreicht habe, was ich will. Um 1 regnete es. Ich begleitete sie nach Hause, dann zum

468 Nicht ermittelter Student.

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228 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Essen, nachher müde nach Hause, geschlafen bis 4 Uhr, traurig und müde aufgestanden,
eingekauft, alles wird entsetzlich teuer ($ auf 540.000!). Bei Rittershaus Mokka, zu Hause
etwas gearbeitet, aber nicht genug. Es wurde schnell 1/2 8, umgezogen, im schwarzen
Anzug bei Strassberger gewesen, es machte, wie ich sah, doch Eindruck. Dann zu Neuß,
dort den Doktor und Geiger Beinhauer 469 getroffen, mit ihm zu Schmitz, auf Duschka
gewartet, ängstlich, voller Sorge, glücklich, als sie um 9 Uhr kam. Landgerichtsrat Neuß
war mit seiner Frau da, Beinhauer spielte wunderschön, man spielte die Kreutzer-Sonate,
trank Wein, nachher eine Gavotte, die Duschka gefiel, und ein andalusisches Stück, wunder-
schön; ein seltsamer, prachtvoller Abend. Um 1/2 1 ging ich mit Duschka fort, wir gingen
über die Argelanderstraße, waren beide fröhlich und glücklich, ich fasste sie am Arm,
fühlte, dass sie mich gern hat, glücklich nach Hause und berauscht, selbstbewusst, toll.
Schrieb schnell das Referat über die Dissertation von Braubach469a, dann todmüde ins Bett.
Noch 2 Tage, dann ist es fertig!

Donnerstag, 26. 7. 23
Todmüde mit Herzkrampf auf, es ging aber bald besser, eine gute Vorlesung über private
öffentliche Rechte. Dann Geld geholt, etwas eingekauft. Müde zu Hause, Völkerrecht, eine
gute Vorlesung (über den Ruhrkonflikt), Duschka war nicht in der Vorlesung, sie verachtet
mich, nachher Duschka getroffen, wir gingen etwas an den Rhein, sie zeigte mir die
Wäsche, die sie eingekauft hat für ihre Nichte; nach dem Essen etwas ausgeruht, dann
Arbeiten nachgesehen, viel Arbeit, staatsrechtliche Übungen schön zu Ende geführt. Mit
Fräulein Strohschneider und Braubach nach Hause (fühlte mich von Braubach hintergan-
gen), dann zu Hause vorbereitet, erwartete Carroll, der aber sehr spät kam und dann wieder
ging, weil die Dissertation nicht fertig geworden war. Dann wartete ich auf Duschka, die
um 9 1/4 zu meiner großen Freude kam, wir waren fast eine Stunde allein, lasen Dostojew-
skis Großinquisitor, ich habe sie sehr gern, dann kamen Carroll und Rick. Wir unterhielten
uns schön, aßen <…> und tranken Likör, freute mich über die schöne, liebenswürdige
Duschka. Um 11 gingen die beiden nach Hause, ich blieb noch etwas mit Duschka, beglei-
tete sie nach Hause, wir gingen auf der Poppelsdorfer Allee auf und ab, sie war traurig und
hatte Herzkrämpfe.

Freitag, 27. 7. 23
Nachts über Carrolls Arbeiten. Müde auf, Vorlesung Verwaltungsrecht glücklich zu Ende
(private öffentliche Rechte), dann viele Studenten, zu Hause rasch für Völkerrecht (Ruhr-
konflikt), hielt eine schöne Vorlesung. Duschka ging mit mir durch die Stadt, wir verabre-
deten uns für den Abend, ich ruhte nach dem Essen aus, mit ziemlicher Verspätung kam
Braubach nach 4 Uhr; ein ganz schlechtes, dummes Examen, trotzdem gab ich ihm sehr gut
und verabschiedete mich von ihm. Ich will ihn nicht mehr sehen. Dann vergebens auf
André gewartet, er kam nicht, es ist zum Verzweifeln. Kaufte etwas ein, alles wird entsetz-
lich teuer, es ist nicht zum Aushalten. Nach dem Abendessen zu Duschka, wir gingen durch
die Argelanderstraße, sahen dort Nr. 155 beim Lehrer Höller 470 einen Ha[rlekin]-Baum, den

469 Nicht ermittelt.


469a Abgedruckt in: Mehring (Hrsg.), BW Schmitt – Smend, S. 162 f.
470 Bernhard Höller, Lehrer.

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Juli 1923 229

Duschka liebt, schellten und baten den Lehrer um einen Strauch, der Lehrer war sehr
freundlich und gab ihn uns. Wir freuten uns wie kleine Kinder; dann gingen wir zum
Venusberg, übersetzten ein Gedicht von Bojić, nachts bei herrlichem Mondenschein zu-
rück. Duschka hatte den Schlüssel vergessen, wir warteten vor dem Haus, schließlich kam
ein Bewohner und öffnete ihr. Müde nach Hause.

Samstag, 28. 7. 23
Bis 1/2 9 im Bett, langsam angezogen, Göppert kam und erinnerte nochmals an Dienstag
Abend. Ich war munter und guter Dinge. Gefrühstückt, bekam von Georg Eisler das Buch
Lukacs’ über Klassenbewusstsein und Geschichte 471, freute mich darüber. Dann zur Stadt,
Geld geholt, traf Duschka in der Darmstädter Bank, wir gingen zusammen zur Polizei, zu
Frings (sie hatte noch nicht gefrühstückt), dann zu mir und übersetzten ein Gedicht;
ziemlich spät zum Essen. Nachher ausgeruht, dann Kaffee getrunken, schön umgezogen,
um 1/2 8 zu Duschka, um sie und ihre russisch-jüdische Freundin abzuholen. Wir gingen
zusammen zu Schwarz, die beiden waren sehr müde und sprachen von einer Martius <?>,
einer jugoslawischen Freundin. Seltsame Situation, ich mit diesen beiden. Duschka war
müde, sie ist innerlich vornehm. Um 1/2 11 gingen wir schön nach Hause. Ich einsam, ent-
täuscht, traurig.

Sonntag, 29. 7. 23
Alle Uhren standen still, so dass ich zu früh aufstand; sehr müde. Um 1/2 9 kam der Stu-
dent Zobel472, erzählte von der Bewegung in der Studentenschaft. Ein tüchtiger, etwas star-
rer Junge, nicht dumm, eine typische <…>. Dann kamen noch 2 Studenten, die ich bestellt
hatte; um 11 ging ich, um mich mit Duschka an der Argelanderstraße zu treffen. Sie war
müde (erst wollten wir den Kenotaph des Caelius 473 besuchen), wir gingen in meine Woh-
nung. Ich machte ihr eine Tasse Tee und Brot zum Frühstück, dann übersetzten wir ein
Gedicht von Bojić; wunderschön, sie übersetzte herrlich:

Nicht als Sklaven brachte uns das Schicksal her,


Bräutigame sind wir, die zur Hochzeit kommen.

Ich küsste ihren Scheitel, streichelte sie und fühlte, dass sie mich sehr liebt. Ich war gerührt
und glücklich, sie bewunderte meinen Stil, freute sich, meinen Aufsatz zu lesen, ein wun-
derbarer Rausch. Ich begleitete sie nach Hause, aß für mich bei Hähnchen, dann zu Hause
ausgeruht, bis 1/2 6 geschlafen; kein Kaffee. Nachdenklich, ohne Sammlung, aber in tiefer

471 Georg Lukács (1885–1971), Dr. phil., ungar. Literaturkritiker und marxist. Philosoph. Essaysamm-
lung „Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik“, Berlin 1923. Eis-
ler hat die Zusendung des Buches in seinem Brief vom 29. 7.1923 (RW 265-3149) erwähnt.
472 Nicht ermittelt.
473 Marcus Caelius, röm. Centurio, bekannt durch sein Kenotaph, das in der frühen Neuzeit im
Militärlager Vetera bei Xanten aufgefunden wurde und den Tod des Marcus Caelius in der Varus-
schlacht angibt. Das Kenotaph, die einzige archäologisch-epigraphische Quelle für das Stattfinden
der „Schlacht im Teutoburger Wald“, befand sich seit 1820 im Besitz der Universität Bonn und
wurde 1893 dem Rheinischen Landesmuseum Bonn übereignet.

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230 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Liebe zu Duschka. Ich staune über die Feinfühligkeit, die gute Psychologie. Glücklich, wie-
der eine neue Liebe zu haben. Ich weiß nicht, was daraus wird. Glücklich über die wunder-
bare Süßigkeit und ihre süße Poesie. Nachmittags trank ich Kaffee, wartete eigentlich nur
auf den Abend, um mit Duschka spazieren zu gehen. Als ich um 8 Uhr zu ihrer Pension in
der Argelanderstraße kam, öffnete mir Fräulein Schifrin 474 und sagte, Duschka sei sehr
krank, aber ich dürfe sie besuchen. Sie lag auf ihrem Bett, sehr krank. Ich setzte mich ans
Bett, Fräulein Schifrin aufs Bett, wir sprachen etwas, sie war wirklich krank und erbrach
öfters (ich ging dann hinaus), Fräulein Schifrin ging in ihre Wohnung, ich legte meine Hand
auf ihre Stirn, küsste sie, sie streichelte meinen Kopf, als ich am Bett kniete. Liebes, schönes
Kind. Um 1/2 10 ging ich, berauscht, selig und traurig nach Hause.

Montag, 30. 7. 23
Um 8 auf, müde, nicht recht ausgeschlafen, behaglicher Vormittag, Korrekturen meines
Aufsatzes über den Parlamentarismus gelesen, schön zu Ende, stilistische Verfeinerungen.
Nach dem Essen kaufte ich Kuchen, um 3 Uhr alles vorbereitet, ich wartete, aber Duschka
kam nicht. Ich wurde allmählich ungeduldig, wollte zu ihrer Wohnung laufen, traf sie zu-
fällig auf der Poppelsdorfer Allee, als sie auf dem Wege zu mir war; traurig, beleidigt, ent-
täuscht. Lief neben ihr her, sie ging in mehrere Geschäfte. Immer dieselben Sachen. War
wieder nahe daran wegzulaufen, besonders als ich in der Universität und in der Bank sah,
wie liebenswürdig sie mit den Männern sein kann. Ich Narr! Dann gingen wir zu mir, über-
setzten ein Gedicht von Bojić, versöhnten uns, tranken Tee, sie küsste mir die Hand. Ich
war wieder gerührt, begleitete sie nach Hause, bei Herrn Carroll vorbei, dann im Bürger-
verein gegessen, freute mich, dass Duschka kam, Schmitz spielte uns Beethoven-Ouver-
türen, Coriolan475 und Egmont 476, vor. Wir unterhielten uns sehr schön, besonders über die
beiden schönen Verse Duschkas477. Um 11 gingen wir nach Hause. Noch über die Poppels-
dorfer Allee, wir saßen lange auf der Bank, sie rühmte Fräulein Schifrin, ich war sehr müde,
wir machten Pläne fürs Wintersemester.

Dienstag, 31. 7. 23
Etwas länger geschlafen, um 1/2 10 Carroll, dann gut angekleidet, Herzkrampf wegen
Duschka, zur Rheinuferbahn, für Duschka einen schönen silbernen Bleistift gekauft, Plisch
und Plum von Wilhelm Busch478, wartete auf sie, verfehlte sie. Im letzten Augenblick, als
der Zug abfuhr; wunderschöne Reise nach Köln, freundlich unterhalten, in Köln stellte es
sich heraus, dass der Zug erst 3.52 fuhr, wir frühstückten im Domhotel479 zusammen, sehr
schön, dann gingen wir in den Dom, noch in eine Konditorei, <…>, dann brachte ich sie
zum Zug (ein großes Gedränge, aber sie bekam im Fräulein-Coupe noch Platz); leider in

474 Wahrscheinlich handelt es sich um Rachel Schifrin, geb. 1895 in Gomel/Mogilew (Russland),
wohnhaft in Berlin, am 1. 5. 1922 in Bonn eingeschrieben zum Studium der Landwirtschaftskunde.
475 Ludwig van Beethoven, Ouvertüre zu „Coriolan“ (1802), op. 62.
476 Ludwig van Beethoven, Schauspielmusik zu Goethes Trauerspiel „Egmont“ (1809), op. 84.
477 Gemeint sind die am Vortag übersetzten Bojić-Verse.
478 1882 veröffentlichte Bildergeschichte über zwei Hunde.
479 Domhotel Theodor Metz Erben GmbH, Köln, Domhof 1.

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Juli/August 1923 231

Eile verabschiedet. Sie bat mich, mich nicht zu betrinken (hatte Angst, weil mein Großvater
so gestorben ist). Ich rannte zur Rheinuferbahn, zum Examen Carroll, er bestand mit aus-
reichend, wir tranken nachher ein Glas Bier, luden Schmitz zur Doktorfeier ein, ich war
immer noch in Gedanken bei Duschka; verliebt, allmählich gab es sich, es ist eine schöne
Krankheit. Dann um 9 Uhr zu Göppert, wie fremd (ich stand noch ganz unter Eindruck
von Duschka), ein <…>, Schmidt 480 war da, wie seltsam starr und ungraziös sind diese
Menschen. Ich dachte sehnsüchtig an Duschka. Wir sprachen über den Begriff der Reprä-
sentation; gut unterhalten, traurig, müde. Freude an dem jungen Göppert. Aber wie hart
und innerlich grausam ist er. Gleichgültig, müde nach Hause. Gleich eingeschlafen. Schmer-
zen in der Rippe.

Mittwoch, 1. 8. 23
Müde und krank. Immer Schmerzen in der Rippe. Was mag das sein? Rippenfellentzündung
oder die Nachwirkung eines Stoßes, den ich gestern, als ich im D-Zug einen Platz suchte,
bekommen habe? Gemütlich Kaffee. Buch von Blei <…>, dachte viel an Duschka, 2 rüh-
rende Briefe von Kathleen; sie schreibt immer, dass sie mich liebt. Ergriffen, ich bin ein
Schurke. Um 1/2 12 zu Zitelmann, im Zylinder; Feier seines 50. Doktorjubiläums, fragte
nach Eisler, nach dem Vers von Duschka. Festliche Ansprache, es war sehr nett, ich überließ
mich der Stimmung (wie Weihnachten), mit Frau von Landsberg nach Hause, sehr herzlich.
Nach dem Essen von Vormfelde verabschiedet, zu Hause geschlafen, aber sehr unruhig,
krank, nervös; muss endlich fort, aber wohin? Ich habe kein Geld. Um 5 kam Carroll, ich
korrigierte seinen Auszug 481, trank Kaffee, las behaglich herum, nach dem Abendessen um 8
zum Königshof, glaubte dort, Mansur zu treffen. Er war aber nicht da. Ich wartete bis 1/2 9
auf der Stelle der Terrasse, auf der Duschka oft saß, las den Brief von K., dann traurig nach
Hause, bedrückt. Betrogener Prolet. Zu Hause war Frau v. Wandel. Schrecklicher Druck,
unheimlich. Sie ist in derselben Nacht von München gekommen, in der Duschka nach
München fuhr. Es ist wirklich, um abergläubisch zu werden. Der Mond steht jedoch in den
Fischen482, und für morgen eingeladen. Schrieb an Mansur einen Brief, dass er morgen
Abend zu Carroll in den Königshof kommt. Brachte ihn zum Kasten, ein schöner, sehn-
süchtiger Abend. Ich werde irrsinnig. Zu Hause noch Tagebuch, müde, gleichgültig, vor
allem Angst. Wieder Hass gegen die Preußen. Weiß nicht, was ich tun soll. Sehnsucht nach
Duschka, Sehnsucht nach K. (aber schwach).

Donnerstag, 2. 8. 23
Heftige Rippenschmerzen, trotzdem auf. Morgens viele Studenten, Doktoranden, mit Ger-
ber zur Bank, Geld geholt. Mittags Telegramm, dass McKiernan kommt. In die Humboldt-
straße wegen des Zimmers von Duschka, schreckliche Last (dabei ist es ihr ganz gleichgül-
tig, ich bin völlig desillusioniert); nach dem Essen krank zu Hause, ausgeruht, um 1/2 5
wunderschöner Kaffee mit Frau v. Wandel, die mir von Tölz erzählte, sehr nett, fühlte, dass
sie mich gern hat, was mir wohl tat. Dann etwas ausgeruht, abends zum Königshof, mit

480 Vermutlich der damalige Privatdozent an der Philosophischen Fakultät, Prof. Dr. Schmidt.
481 Offenbar ein Auszug aus seiner Dissertation; s. Anm. 357.
482 Der Mond im Sternkreiszeichen Fische steht für Sehnsucht und Mitgefühl.

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232 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Schreuer, Frau de Jonge483, Dr. Rick, Mansur, schön zu Abend gegessen, nachher zu
Schmitz, diskutiert. Sehr lustig, aber mich strengte es an. Todmüde nach Hause. Verloren,
einsam.

Freitag, 3. 8. 23
Hatte solche Rippenschmerzen, dass ich im Bett blieb und nach Köln telephonieren ließ,
dass ich nicht komme. Blieb im Bett. Um 11 Uhr kam Father MacKiernan, ein ruhiger,
anständiger Mann, er sprach sehr vernünftig, ich weinte, als ich ihm meine Situation ausein-
anderlegte, ferner kam Gerber, der Student, der die Bücher zur Bibliothek brachte. Mittags
brachte mir Frau v. Wandel, die [sich] rührend sorgte, eine Suppe. Ich schlief etwas nach
dem Essen, nachmittags Tee, Father MacKiernan war wieder [gekommen], Gerber, dann
kam Jup, der mich untersuchte und Intercostalneuralgie484 feststellte. Ich freute mich, mit
Jup zu sprechen, der machte übrigens den besten Eindruck, auch auf Frau v. Wandel, die ihn
sehr rühmte. Herr Carroll kam mit einem riesigen Geschenk (einem Teeservice und einer
Teekanne), schrieb mir eine rührende Widmung in das Exemplar der Dissertation, die er
brachte; ich freute mich sehr. Schmitz kam auch noch des Abends mit Braubach. Um 10
ging Jup (Gerber war mit Father MacKiernan zu Dr. Rick 485 gegangen). Ich las noch etwas
in dem B[uch] zu Trotzki und schlief ein.

Samstag, 4. 8. 23
Heftige Rippenschmerzen, aber die Ruhe hat mir gut getan. Benommen von dem Zubett-
liegen. Um 10 wunderbarer Kaffee, die Sonderdrucke meines Zitelmannaufsatzes 486 kamen,
großes Behagen; dann Father MacK., Gerber, Braubach, Schmitz, ein Student, sodass das
Zimmer voll war. Lieh Frau v. Wandel 3 Millionen 700.000 Mark und schickte sie zu Schil-
ling. Unterhielt mich gut, ging mit Father MacK. ein paar Schritte über die Poppelsdorfer
Allee, dann aßen wir in der Pension. Er ist sehr gut gegen mich, ich habe ihn gern, er mich
offenbar auch, wir sprachen viel über K., ihr staunenswertes Gedächtnis, ihre Unpünktlich-
keit, ihre Fähigkeit, lässig zu arbeiten. Das war übrigens auch in Marburg bei Kommnick.
Ich bin begierig wegen der ganzen Geschichte. Mittags nach dem Essen kam das Dienst-
mädchen von Schmitz. Um 5 sollte ich Fräulein Schifrin treffen. Father Mac K. ist mit
Braubach zum Drachenfels. Wartete, um 5 Uhr kam Fräulein Schifrin487, wir tranken bei
–––––––––––––––––––-––––––––––
Ritterhaus Mokka und aßen Sandkuchen, sprachen über Anthroposophie; ein interessantes,
kluges Geschöpf. Sie erzählte, dass sie Duschka zugeredet habe, nicht so [abstoßend] gegen
mich zu sein. Das tat mir weh. Ich fühlte die schwere Demütigung. Empört und wollte
nichts mehr von ihr wissen. Begleitete Fräulein Schifrin dann zu Schmitz. Lange auf Brau-
bach und McKiernan gewartet bei Schmitz. Dann im Bürgerverein gegessen, schöner Mo-
selwein, bei Schmitz, er spielte; erst um 12 nach Hause, todmüde; eine Karte von Duschka
aus München, natürlich war ich gleich wieder versöhnt und alles war in bester Ordnung,

483 Aenny de Jonge, geb. Schiller, Frau eines Regierungsbaumeisters, Bonn, Lessingstraße 45.
484 Typisches Symptom einer Rippenfellerkrankung.
485 Bonn-Poppelsdorf, Bennauerstraße 42. Ab 1924 Aachen, Schillerstraße 75.
486 Siehe Anm. 352. Gemeint sind die Korrekturfahnen, s. Eintragungen vom 13. 6. und 5. 9. 1923.
487 Im Steno-Original unterstrichen.

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August 1923 233

gerührt, selig, obwohl nichts auf der Karte stand als viele schreckliche orthographische Feh-
ler, dass sie sich auf den Herbst in München freue und die Umgebung von Altena schön fin-
det. Trotzdem, ich war gerührt.

Sonntag, 5. 8. 23
Den ganzen Vormittag im Bett, um 1/2 1 aufgestanden, mit M[c]K[iernan]. zum Mittages-
sen, nachher kamen wir ins Gespräch über Nationalismus und de jure-Regierung, gingen
zur Terrasse des Königshofs, tranken dort eine Tasse Kaffee, sprachen über K., er erzählte,
dass sie mit jedem Mann herumläuft und ihn anspricht. Es tat mir weh. Entsetzlich. Ging
dann zu Schmitz, er spielte Beethoven, wir tranken dort Tee, Braubach war auch da, wir
gingen abends zu Kieffer und aßen dort, dann müde um 1/2 11 nach Hause. Immer gute
Unterhaltung. Den F. MK liebgewonnen. Aber einsam, bedrückt und noch heftige Schmer-
zen in den Rippen.

[Am oberen Rand] August 1923, im (Krankenhaus) Bonn; Besuch Father MacKiernan
––––––––––––
Montag, 6. 8. 23
Vormittags etwas aufgestanden, als das Bett gemacht wurde. Gerber kam. Ich las den
ganzen Tag den Roman „Die Kegelschnitte Gottes“ von Galahad488. Gefühl für Reinheit,
Echtheit. F[ather]McK[iernan] kam um 11 Uhr, dann auch Professor Neuß, sie unterhielten
sich gut. Ich ging mit FMK. zum Mittagessen, dann Schmitz entgegen, der ihn abholte.
Dann zu Bett den ganzen Tag. Las den Roman, dachte nach, ziemlich fertig mit K., erzählte
auch FMK. meine Bedenken wegen ihrer Promiskuität, und er teilte sie. Abends um 7 kam
er. Wir unterhielten uns schön über Irländer, Christus und Bolschewismus und die kom-
menden Verfolgungen der Kirche. Es ergriff mich sehr. Dann machte mir Frau v. Wandel
wunderschönes Abendessen, sehr freundlich, das Bett wurde noch gemacht. Wie schnell
vergehen die Tage.

Dienstag, 7. 8. 23
Müde auf, Gerber kam und brachte mir Lessing, nachher F. MK. Müde auf, Mittagessen, es
ist wunderschönes Wetter, mit Braubach zusammen. Nach dem Essen wieder ins Bett.
Nachmittags MK. Mit Braubach nach Köln. Ich wollte um 5 Fräulein Schifrin treffen, kam
aber zu spät, ging zu ihr in die Rösrather Straße, sehr müde. Wir gingen noch zusammen
spazieren, sprachen über Duschka, sie sagte, ich fürchtete, sie wollten mir Duschka nehmen,
sie habe erst Misstrauen gegen mich gehabt usw. Wir tranken im Krug zum Grünen
Kranze489 ein Glas Bier, sprachen über die moderne Zivilisation, sie ist klug und gescheit,
aber mir höchst unsympathisch, dabei sieht sie lächerlich aus. Wir gingen auch in die Hum-
boldt-Straße wegen des Zimmers von Duschka und machten es fest. Müde nach Hause,

488 Unter dem Pseudonym Sir Galahad, einem Ritter der Tafelrunde, 1921 in München veröffentlichtes
Buch der österr. Theosophin, Übersetzerin und Reiseschriftstellerin Bertha Eckstein-Diener
(1874–1948).
489 „Im Krug zum grünen Kranze“, ein vor allem bei Studentenverbindungen beliebtes Bonner Gast-
haus in der Koblenzer Straße 27, im 2. Weltkrieg zerstört.

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234 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

nichts gelesen, traurig ins Bett, nicht eingeschlafen wegen der Schnaken; die Augen verdor-
ben vom Lesen.

Mittwoch, 8. 8. 23
Herrliches Wetter. Morgens den ganzen Vormittag im Bett, der gute Gerber kam mit
Büchern, schickte ihn zu Schilling um Geld, mit FMK. zum Mittagessen, nachher ein Spa-
ziergang zum Venusberg. Er sah schwarze Franzosen. Bewunderte die schöne Gegend, wir
lachten über lustige Einzelheiten. Alles sehr nett. Dann hinuntergegangen, am Rhein. Auf
der Terrasse des Königshofs eine Flasche Rheinwein und zum Abendessen (1 Million Mark).
Nachher erzählte ich ihm meine [Theorie über die Herkunft] der Puritaner aus den 3 Ver-
suchungen Christi490. Es machte einen großen Eindruck auf ihn. Wir blieben bis 10 Uhr auf
der Straße, sprachen zuletzt über K., ich fühlte mich wieder etwas stark. Heute ist die
Grenze gesperrt.

Donnerstag, 9. 8. 23
Morgens wieder Gerber, dann FMK. Wir aßen bei Strassberger. Dann schlief ich zu Hause,
dann schöner Kaffee und las dazu Lukacs über Klassenbewusstsein. Abends mit FMcK. im
Krug zum grünen Kranze, mit Braubach gut unterhalten, doch wurde mir Braubach ziem-
lich zuwider, seine Höflichkeit, seine Liebenswürdigkeit. Ich wurde [misstrauisch]. Wir gin-
gen noch bei Professor Neuß vorbei, müde nach Hause, von Braubach begleitet, mit ihm
noch ein Glas Bier.

Freitag, 10. 8. 23
Müde, Lukacs gelesen, Wunsch nach Einsamkeit und Lektüre, Braubach gestört durch Ger-
ber, dann FMK., kaufte Seife mit [Mc]K., Bücher <…>. Wir lachten sehr darüber. Nach dem
Essen (bei Strassberger) geschlafen, um 4 Kaffee, dann mit FMcK nach Heisterbach, ein
schöner Abend, wir schrieben K. eine Karte, ich schrieb auch an Duschka, große Sehnsucht
nach ihr. Sehnsüchtiger Abend, traurig nach Hause, über die Franzosen geärgert. Noch ein
Glas Bier bei Kieffer, dann um 1/2 10 nach Hause, Brief von André, dass er bei Kiener [pro-
movieren will], ein Buch über die [Verfassung]491 haben will usw. Ein unverschämter, egois-
tischer Brief <…>, ziehe mich in mich selbst zurück, wie in meiner besten Knabenzeit.
Krieg und [Frieden]492 gelesen.

Samstag, 11. 8. 23
Bis 1/2 10 gut geschlafen, kein Brief, behaglicher Kaffee und Georg Lukacs dazu gelesen.
Um 11 kam FMK. Wir sprachen miteinander, ich mußte Geld holen, es war aber nichts
mehr da, die Darmstädter Bank hatte schon geschlossen. Verzweiflung, ekelhaft. Nach
Hause zurück. Braubach kam. Er ging mit FMK. zum Mittagessen, ich aß im Bahnhof
schön für 3 Franken (viel zu teuer). Traurig nach Hause, schlecht geschlafen, um 4 auf,

490 Mt 4,1–11; Lk 4,1–12. Siehe bereits Eintragung vom 24. 1.1923.


491 Vgl. Fritz Kiener, Verfassungsgeschichte der Provence seit der Ostgothenherrschaft bis zur Errich-
tung der Konsulate (510–1200), Leipzig 1900; ders., Studien zur Verfassung des Territoriums der
Bischöfe von Straßburg, Bd. 1: Die Entstehung der Gebietsherrschaft, Leipzig 1912.
492 Leo Tolstoi, Krieg und Frieden, hist. Roman, 1868/69 in Moskau erschienen.

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August 1923 235

behaglich Kaffee, dazu Lukacs gelesen, den ich aber doch vornehmlich als flachen Sophisten
durchschaue. Sehr müde, aber <…> wurde mit Behagen das [Klassenbewußtsein und Prole-
tariat] von Lukacs gelesen. Abends kam noch Carroll. Angst vor diesem [Amerikaner], vor
[seinem] schönen Optimismus. FMK. erinnerte mich oft an <…>. Wir gingen zu Strassber-
ger zum Abendessen (ich habe kein Geld mehr). Dann bei Rick vorbei, der aber nicht zu
Hause war. Dann durch die Rittershausstraße. Wäre vor Sehnsucht nach Duschka fast zer-
sprungen. Dann aber sprach FMK [so ausführlich] von K., dass ich wieder Sehnsucht nach
ihr bekam. Wir tranken in der Argelanderstraße in einer kleinen Wirtschaft Bier und spra-
chen nur von K. Ich begleitete FMK nach Hause <…>. Müde, traurig, völlig zerrissen nach
Hause. Grauenhaft alles dies <…>.

Sonntag, 12. 8. 23
Müde, [doch] um 7 auf, um 1/2 8 traf ich FMcK. in der Endenicher Allee, diente ihm die
–––––––––––––––––––––––––––––––––––
Messe493 (Evangelium vom barmherzigen Samariter) in der kleinen Kapelle der Malteser 494.
–––––
Todmüde nach Hause, dort gefrühstückt. McK kam gegen 10. Wir schliefen müde herum,
weil wir beide nicht ausgeschlafen hatten. Ich erzählte ihm von André und seinem Brief
(über die [Verfassung] und die juristische Lösung), wir aßen bei Strassberger, dann ging
jeder nach Hause. Ich schlief nach dem Essen, um 1/2 5 kam Rick, ich freute mich sehr, er
will Fräulein Tadić Stunden geben und sie unterbringen, auch Duschka Stunden geben;
dann kam MK. Man sprach über englische Literatur, las Fr.[ancis] Thompson, eine sehr
schöne Unterhaltung, wir begleiteten Rick nach Hause, nach dem Essen gingen wir noch
etwas spazieren, sprachen über K., abends geil, gierig etc. Ein Telegramm von Fräulein Bau-
meister, dass sie morgen kommen will. Große Angst, Franzosen mit aufgepflanztem Bajo-
nett, scheußlicher Zustand des Nachts.

Montag, 13. 8. 23
Müde, gequält, empfindlich, wäre ich endlich allein; kein Brief. Um 11 kam FMK., zur
Bank, Geld geholt, wir wollten im Telephonamt nach Australien telephonieren (es kostete
30 Millionen Mark), die Vorstände des Telephonamtes wollten wechseln, aber „ein Geschäft
dabei machen“. Empörende Gemeinheit. Ekelhaft. Es ist nicht mehr zum Ertragen. Dann
kaufte ich einige Zeitungen, todmüde herumgelaufen, nach dem Essen geschlafen, um 1/2 5
Fräulein Baumeister abgeholt, mit ihr zum Königshof, sie brachte einen Brief von K. mit:
sie sagt, ich sei inzwischen gesund und könne Briefe schreiben. Sie will Geschäfte machen,
bedauert, nicht Platz 495 mit nach Australien genommen zu haben usw. Ich übersetzte den
Brief FMcK. Der war entsetzt. Ein gutes, schönes Kind, Fräulein Baumeister. Um 1/2 8
fuhr sie nach Hause zurück. FMcK und ich waren erledigt, entsetzlich deprimiert über die
Enttäuschung wegen K. Wir tranken eine Flasche [19]21er Moselwein im Bürgerverein. Ich
suchte ihn fröhlich zu machen. Wie unglaublich, dieses [fordernde] Geschöpf mit ihrer
[Koketterie] und Gefräßigkeit neben der schönen, reservierten Duschka. Aber der arme
FMcK war erledigt nach dieser Diskussion.

493 Im Steno-Original unterstrichen.


494 Malteser Mutter- und Krankenhaus, Bonn, Endenicher Allee 32–46.
495 Möglicherweise nur das Buch von Hermann Platz, Geistige Kämpfe im modernen Frankreich,
München 1922, gemeint.

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236 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Dienstag, 14. 8. 23
Müde, zerrieben, aufgestanden <…> Frau v. Wandel wegen <…>. Wieder kein Brief. Um 11
kam FMK. Wir blieben zu Hause. Schrecklich langweilig. Wir sprachen kein Wort mehr
über K. Nach dem Essen geschlafen, sehr müde, um 1/2 5 Kaffee, um 5 mit McK. in die
Stadt, ich hatte Schmerzen, war deprimiert. Ekelhaft, diese Sorge um kleine und solche
Dinge, halte es einfach nicht mehr aus, scheußlich. Bei Ehrhard vorbei, der auch nur von
sich spricht, seiner Wohnung, seinem Haus; widerlich. Hasste die Menschen, hasste McK.,
der neben mir ging; wir gingen zur Universität, ich machte eine Bemerkung über den <…>,
worauf er mich für den tiefsten Katholiken erklärte, den er jemals gesehen habe. Wir kamen
allmählich in ein schönes Gespräch. Er wollte meinen Aufsatz über den Katholizismus
übersetzen. Um 9 ging ich noch zu Kieffer, trank helles Bier, dann einsam und traurig nach
Hause. Habe Fräulein v. Wandel 11 £ für <…> versprochen. Schrecklich. Nun bleibt mir
nichts für meinen Aufenthalt in München mit Duschka. Ich denke nur an Duschka.

Mittwoch, 15. 8. 23
Nachts um 4 Uhr Angsttraum: Ich bin (mit Göppert) in einem Eisenbahnzug mit Deut-
schen, die zum französischen Kriegsschauplatz fahren. Wir schießen einen Franzosen tot,
nachher sehen wir französische Soldaten, ich laufe weg mit einem Regenschirm, plötzlich
auf dem Weg Jœuf-Homécourt 496, will zu André, größte Angst. Müde auf, kein Brief,
schrecklich, den ganzen Tag. Um 11 kam FMcK. Er war verspielt, der Student Reiners mit
blutigem Kopf vom Sonntag, der Separatistenversammlung. Wir gingen zusammen zur
Bank, zur Senatskasse, zum Seminar, nach dem Essen müde ausgeruht, ließ Fräulein Schifrin
telephonieren, dann ruhte ich aus. FMcK. war mit Reiners nach Königswinter, wo Neuß
sein sollte. Ich traf um 5 Fräulein Schifrin, machte einen schönen Spaziergang mit ihr, unter-
hielt mich gut, wir tranken bei Rittershaus Schokolade, sie erzählte, dass Duschka ihr gesagt
habe, ich hätte Duschka gesagt, ihr Gang sei so schön, und dass Duschka empört sei, dass
sie aber (Fräulein Schifrin) das als eine Lüge von Duschka empfunden hätte, woraus ein
Streit entstanden sei. Hörte das mit Interesse. Wir gingen nachher zur Bennauerstraße, sie
begleitete mich, ich kaufte ihr Blumen, der Bauer sagte: „und vorn geht der Bräutigam mit
dem Bukett“. Dann bei Rick zu Abend gegessen, nett unterhalten, mit ihm zu Kieffer, wir
tranken Bier. FMcK. und Reiners waren da, man erzählte Witze, ich war sehnsüchtig; Angst
vor Duschka, ihrer Verschwiegenheit, ihrer Heimlichkeit, ihrer frauenhaften Überlegenheit.
Dann wieder ab zu K. Schrecklicher Zustand. Um 11 gab ich Rick noch Shelley, die
Gedichte <…> von Thompson497, dann müde, einsam zu Hause, Sehnsucht nach einer schö-
nen Frau, einer gütigen Mutter.

Donnerstag, 16. 8. 23
Morgens eine behagliche halbe Stunde, dann kam die Nachricht, dass die Sperre wieder ver-
längert ist. Scheußlich. Fühlte mich einsam, lächerlich, des FMcK. lästig, überlegte plötz-

496 Jœuf, kleiner Teilort von Homécourt in Lothringen, nordwestlich von Metz, nahe Rosslingen, dem
Wohnort von Schmitts Vetter André Steinlein.
497 Nach der misslungenen Thompson-Übersetzung von Haecker (s. Eintragung vom 14.8.1924; Brief
Schmitts an Feuchtwanger vom 27.9.1924 in: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 83 ff.,
84) fertigte Rick eine eigene an, die aber nie erschienen ist.

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August 1923 237

lich, dass ich am besten zu den Barmherzigen Brüdern gehe (zum Teil wirkte die Erinne-
rung an K. mit). Professor Neuß kam, wir gingen zu dreien zum Bonner Talweg zum
Kloster der Barmherzigen Brüder 498. Ich bekam ein Zimmer, fröhlich, entronnen zu sein.
Noch etwas mit FMK., durch die Stadt, zum Mittagessen; nachher zu Hause geschlafen,
Kaffee, aber ich kam nicht zum Arbeiten, weil Theodor Kaiser kam. Ich sprach eine Stunde
mit ihm, dann kam Jup, wir gingen zusammen zum Krankenhaus, ich richtete mich ein, ver-
sprach Jup, bald zu kommen, freute mich auf Plettenberg. Abends kam auch FMcK., die
beiden gingen zusammen weg. Ich nahm ein Schwitzbad, dann zu Bett. Gut eingeschlafen.
Aber des Nachts lief ein alter Kerl neben mir im Zimmer auf und ab, er störte mich.
Scheußlich. Erinnerungen an K.

Freitag, 17. 8. 23
Müde morgens wach, beschwert, die Ärzte kamen, die lächerliche Geschichte, aber doch
erleichtert, weil mir ein organisches Leiden fehlt. Dann kam FMcK., sehr freundlich unter-
halten. Er gab mir 5 Pfund. Er hat mich außerordentlich gern und sagte, er fühle sich bei
seiner Abreise von Bonn einsamer als bei der Reise von Australien. Dann kam noch Rei-
ners, mit Zeitungen usw. Mittags schlief ich ziemlich gut, FMcK. kam um 4 Uhr, wir unter-
hielten uns, über Kierkegaard, über die Versuchung Christi und die drei Wurzeln der
Sünde, sehr schön. Wir sprachen zum ersten Mal wieder über K., aber immer: impossible.
Abends aß ich, während er bei mir blieb; um 1/2 9 gingen wir in die Kapelle, wo ich mit K.
gebetet habe, nachher entschloss ich mich plötzlich, mit ihm zum Essen zu gehen. Wir tran-
ken beim Bürgerverein eine Flasche Rüdesheimer 1921. Erzählte die Geschichte von Edessa
und Antiochia499, müde nach Hause, traurig und einsam. Gut eingeschlafen.

Samstag, 18. 8. 23
Zu früh geweckt zum Frühstück. Die Ärzte kamen wieder, Finkelnburg und Graff 500. Amü-
sant. Hoffentlich bekomme ich ein Attest für Ausreiseerlaubnis. Die Sperre ist bis Mitte
September verlängert. Ein toller Zustand. Oft Wut und Verzweiflung. FMcK. kam nach 9
und blieb bis 1/4 vor 11 Uhr. Ich schenkte ihm Kierkegaard zu seinem Geburtstag (20. 8.).
Nachher kam Dr. Schlosser. Ich sprach mit ihm wegen seiner Dissertation. Er telephonierte
an Fräulein Schifrin. Er wurde aber von der Hausbesitzerin kurz abgewiesen. Angst, Trau-
rigkeit deshalb, wie lächerlich. Völlige Panik der Nerven. Ich sehe inzwischen, wie herun-
tergekommen ich bin. Dr. Rick kam. Er hat FMcK. zur Rheinuferbahn begleitet, war
freundlich und eingenommen, las mir französische Gedichte vor, während ich aß. Wunder-
schön. Nachher noch Reiners. Nachmittags müde, geschlafen, ein Bad genommen. Dann
kam[en] Dr. Schmitz (Nationalökonom) und Kaiser; sie schimpften über Spiethoff. Sie wol-
len mir helfen, ins unbesetzte Gebiet zu kommen (sie sagten, dass sie Fräulein Schifrin nicht
bei mir getroffen haben). Nachher kam noch Reiners und brachte Zeitungen. Es ist kein

498 Gemeint ist das seinerzeit sehr moderne Krankenhaus der Barmherzigen Brüder im Bonner Talweg
4/6.
499 Edessa in Kleinasien war einer der ursprünglich vier Kreuzfahrerstaaten nordöstlich vom Fürsten-
tum Antiochia.
500 Rudolf Finkelnburg, Prof. Dr. med., Chef der inneren Abteilung, und H. Graff, Prof. Dr. med.,
Chef der chirurgischen Abteilung des Brüderkrankenhauses in Bonn.

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238 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Brief gekommen. Seltsam. Müde, Augenschmerzen. Nach dem Essen aufgestanden und
Tagebuch geführt. Sehr einsam. Ich habe mir den Pyjama eigentlich nur für Fräulein Schif-
rin gekauft. Wie lächerlich. War aber doch nachher zufrieden, dass ich anständig aussah, als
Rick und Schmitz und Kaiser kamen. Abends etwas gesammelt, früh zu Bett, bald einge-
schlafen.

Sonntag, 19. 8. 23
Bis 1/2 9 geschlafen, fühlte mich wohl, behaglich gefrühstückt, schönes Brot, etwas gelesen,
Zeitungen geordnet, dann bald wieder ins Bett. Um 11 kam Reiners, nett mit ihm unterhal-
ten über Bolingbroke, dann zu Mittag gegessen, nachher etwas geschlafen, Kaffee, einsam,
langweilig, aber ganz wohl. Um 3 kam Schilling mit seiner Frau, was mich sehr freute. Wir
plauderten sehr freundlich bis 1/4 4. Dann lag ich herum, las russisch, dachte an Duschka,
bald über sie hinaus, bald oft in sie verstrickt. Erwartete doch immer heimlich Fräulein
Schifrin, doch sie kam nicht. Auch sonst kam niemand. Der Nachmittag verging langsam,
um 7 aß ich zu Abend. Für mich allein, überlegte mein Leben, glaubte manchmal, einer
[Lösung] nahe zu sein, dann ging es wieder unter in meiner Nervosität. Sehr früh zu Bett.
Konnte nicht einschlafen, Geilheit, zu heißes Bett, schließlich doch eingeschlafen.

Montag, 20. 8. 23
Bis 1/2 9, ziemlich gut geschlafen, aber trotzdem nicht frei und frisch. Stumpfsinn und
Langeweile, unterbrochen durch Lektüre von Lukacs über Klassenbewusstsein und Prole-
tariat, die mich aufreizte. Um 12 kam Rick, ich aß zu Bett und er las mir französische
Gedichte vor. Er sagte von meinem Aufsatz über Parlamentarismus, manches zeige, dass ich
sehr müde sei. Das deprimierte mich. Ich fühle, dass ich am Ende bin. Durch die Frauen
heruntergekommen. Es ist nichts mehr mit mir, ich kann nicht einmal mehr ein Buch schrei-
ben über die politische Romantik. Deprimiert herumgelegen, geschlafen. Um 3 gebadet,
Kaffee getrunken. Um 5 kam Agnes von der Pension Strassberger, geil, ich musste über
10 Millionen Mark bezahlen. Dann kam noch Reiners. Ich hörte, daß viele französische
Spione da sind, wahrscheinlich auch Fräulein Schifrin. Gut, dass sie nicht gekommen ist.
Ekelgefühl. Widersprechende Sensationen den ganzen Tag. Abends zum Essen aufgestan-
den, wollte hinausgehen, war aber zu faul. Las die Zeitungen, machte mir Auszüge, kam mir
dürr und seicht vor. Bin noch nicht dazu gekommen, Duschka zu schreiben. Die ganze
Geschichte scheint mir lächerlich. Oft Angst, wenn ich an meine Abhängigkeit von Frauen
denke.

Dienstag, 21. 8. 23
Gut geschlafen, behagliches Gefühl, dumme Unterhaltung mit dem Arzt, dann angezogen,
Brief an Duschka geschrieben, um 11 ausgegangen, zur Post, den Brief abgeschickt, müde
zum Zeitschriftensaal, etwas notiert, behaglich, nach dem Mittagessen mit Kaiser, der plötz-
lich gekommen war, unterhalten, dann geschlafen. Um 3 schlechter Kaffee, Lukacs gelesen,
fand den Ungarn doch unerträglich, ausgeruht. Um 5 vergebens auf Reiners gewartet, um
6 nach Hause, eine Karte von Duschka aus Ilok501 mit schrecklichen orthographischen Feh-

501 Ilok, östlichste Stadt Kroatiens nahe Vukovar, dem Geburtsort Duschkas.

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August 1923 239

lern; sie fragt, ob ich Fräulein Schifrin schon gesehen habe, dann Pralinen gekauft, Zeitun-
gen, nach Hause. Nach dem Essen kam Braubach, ich war müde, unterhielt mich mit ihm
über Spiethoff, ging noch ein Glas Bier trinken, das mir gut schmeckte, aß ein Butterbrot
dazu, behaglich, obwohl mir Braubach höchst unsympathisch ist. Um 11 musste ich lange
vor der Tür des Krankenhauses warten (wie damals, wo ich hinging; Angst). Müde, aber
eingenommen, müde und gleichgültig in mein Zimmer und zu Bett. Froh, dass ich meine
lächerlichen Anwandlungen schnell durchschaue.

Mittwoch, 22. 8. 23
Des Nachts nicht geschlafen, wütend, dass ich gestern mich verleiten ließ, mit Braubach zu
gehen, ekelhaft, Selbstvorwürfe. Morgens lange geschlafen, im Bett herumgelegen, bis 10 1/4.
Schrecklich, ohne jede Arbeit. So vergeht die Zeit, ohne Erholung. Oft sehr rationalistisch
überlegen, dann vollkommen irrational, nervös, zerrissen, neurotisch. Widerlich. Um 1/2 11
ging ich zur Bank, Geld holen, 25 Millionen. Traf Dr. Schlosser, der über Aufsicht über den
Religionsunterricht arbeitet. Zu Hause. Dr. Rick kam, las mir englische Sonette vor, die mir
gut gefielen. Wir unterhielten uns nett, während ich aß; dann geschlafen bis 3, Kaffee
getrunken, gebadet in Kohlensäure, sehr angenehm, nachher müde, um 5 kam Mansur, der
Ägypter, mit wunderschönen Blumen. Wir unterhielten uns nett über seine Arbeiten, ich
schrieb einen Gruß auf eine Karte an Duschka, dann kamen Professor Neuß, Schmitz und
Kaiser, Neuß ging bald weg; mit beiden unterhielt ich mich sehr nett über Spiethoff, wir
lachten sehr über Schmitz, der erzählte, eine Dissertation bei Spiethoff fing an: Die Auf-
gaben des Bäckers und der Volkswirtschaft bestehen darin, Brot zu backen. Sprachen über
den Unterschied von Tauschwert und Preis. Das Ganze regte mich an. Abends viele Briefe:
2 von FMcK.; rührend freundschaftlich, einer von Karl Lamberts, einer von Georg Eisler,
der meinen Aufsatz über Parlamentarismus lobte, was mir sehr wohl tat. Ich blieb abends
zu Haus, genoss die Ruhe, war aber müde, schrieb einen Brief an Rosenbaum, um Mansur
zu empfehlen, eine Karte an Duschka, überlegte, ob ich K. schreiben sollte. Müde und
gleichgültig. Ohne Lebensmut, bedrückt von den grauenhaften Zuständen in Deutschland.

Donnerstag, 23. 8. 23
Morgens müde auf, etwas gefroren, traurig, langweiliger Arzt, zu meiner Wohnung, nur
eine Drucksache, Emil Courth schickt mir ohne ein Wort den Aufsatz von Beyerle zurück,
worüber ich empört. Brachte Frau Schilling die schönen Briefe von Mansur, sprach nicht
mit Frau v. Wandel. Schickte Brief an Georg Eisler und Rosenbaum ab. Nahm ein Säurebad,
dann im Bett. Mittags nach dem Essen etwas ausgeruht, festgestellt, dass alle wichtigen
Begegnungen mit Duschka den Mond im Wassermann502 haben! Also dieselbe Geschichte
wie mit Carita. Nach dem Kaffee an Sent M’ahesa einen schönen Brief (über den Begriff des
Boten)503, sehr angeregt. Es braucht nur eine Frau die Adressatin eines Briefes zu sein,
gleich fühle ich mich belebt. Entsetzliche Abhängigkeit. Man darf nicht davon sprechen. In
Erwartung, was morgen geschieht, wenn der Mond wieder im Wassermann ist. Ich lag fast

502 Diese Konstellation steht für unverhoffte Wirkungen aus kleinen Anlässen, überraschende Wechsel
oder ähnliches, s. auch die Eintragungen vom 21. 9., 16.11. und 9. 12.1923.
503 Siehe Teil III, S. 476.

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240 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

immer zu Bett. Abends um 1/2 9 holte mich Dr. Rick ab, zeigte mir ein Sonett von sich, mit
2 schönen Versen („ich bleib’ doch dem großen Wohl und Wehe nach Recht und Pflicht
verschrieben und versprochen“). Wir tranken im Bürgerverein eine Flasche Graacher 1921,
sprachen über stilistische Fehler meines Aufsatzes über den Parlamentarismus, dann über
Däubler, über sein Gedicht; es stellte sich heraus, dass es Fräulein Laufacher504 betraf.
Unglaublich. Er hat sich in sie verliebt und sprach darüber. Ich sah, dass man niemals über
seine Verliebtheit sprechen darf. Heute habe ich den Geleitschein von den Franzosen nicht
bekommen. Empört darüber. Reiners war um 12 Uhr da, Kaiser um 5. Ich will jedenfalls
diese Woche noch reisen und freue mich darauf, obwohl ich sehr schwach bin. Heute Karte
an Duschka, Feuchtwanger, Blei, Brief an Frau v. Schnitzler, Sent M’ahesa, McK.

Freitag, 24. 8. 23
Reiners kam um 10 Uhr. Der Geleitschein ist noch nicht gekommen. Ging zum Universi-
tätssekretariat, wütend, ließ mir mein Gesuch zurückgeben, weil der Esel [Goergen]505 nicht
einmal ein besonderes Gesuch meinetwegen gemacht hat. Dann zum Büro der Kommission,
ein paar Schreibmaschinenmädchen, lächerlich, zur Koblenzer Straße, es regnete. Mittags
kam Kaiser und schlug vor, dass wir bei Gummersbach über die Grenze gehen. Ich wollte
warten bis heute Nachmittag, ging um 3 zur Koblenzer Straße, durch Regen, es standen
aber zu viele Leute da. Die Sache wurde mir zu dumm, dann trank ich bei Rittershaus
Mokka, großartige Wirkung, fühlte mich wieder wohl und überlegen, telephonierte Fräu-
lein Schifrin, verabredete mich für heute Abend, dann gemütlich den Temps gelesen, eine
schöne Stunde. Zu Hause, um 5 kam Kaiser, in die Kapelle, gebetet, ich dachte viel an K.
Um 6 kam Braubach, wir gingen zu meiner Wohnung und packten schön ein; Braubach
kann das sehr gut, um 1/2 8 Kaiser, trank mit ihm im Bürgerverein eine Flasche Moselwein
und aß zu Abend. Dann Fräulein Schifrin, mit ihr noch einmal in den Bürgerverein und eine
Flasche Moselwein getrunken, sehr gut unterhalten über Duschka (sie machte nach Frauen-
art Duschka herunter, sehr schlau und den Schein der Freundschaft wahrend, sie ist klug
und graziös, das gefällt mir, und Duschka unendlich überlegen). Um 12 angeregt, aber müde
nach Hause. Will morgen mit Braubach über Köln fahren. (Fräulein Schifrin <…>.)

Samstag, 25. 8. 23
Um 8 aufgestanden, Frau v. Wandel machte rührend den Kaffee, ich bestellte den Dienst-
mann, dann wunderschön Kaffee; rührender Abschied von Frau v. Wandel, mit Braubach
zur Bahn, von Schilling noch Geld geholt, Kaiser kam auch noch, fuhr mit Braubach nach
Köln, unterhielt mich sehr nett mit ihm. Wir gingen zu seiner Wohnung, zum Kommissar,
bekamen ohne weiteres den Pass, dann fuhr er zum Messeamt506, den Geleitschein holen,
ich unterdessen im Zur Klooch507<?>, dachte an K., sehnsüchtig durch die Straßen und über
den genius loci von Köln philosophiert. Dann vor dem Weihenstephan508 eine Stunde auf

504 Nicht ermittelt.


505 Rektoratssekretär.
506 Messeamt in Köln-Deutz am Messeplatz.
507 Gaststätte „Zum Klooch“, Köln, Am Bollwerk 16.
508 Nach eigenen Angaben ein „renommirtes [sic!] Restaurant I. Ranges“, Köln, Schildergasse 98–98a
bzw. Brüderstraße 9–13.

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August 1923 241

Braubach gewartet, er kam im letzten Augenblick. Wir gingen zur Bahn, er hat alles sehr
schön erledigt, verabschiedeten uns herzlich, fuhr 2. Klasse, nach Altena, große Verzweif-
lung wegen der Kontrolle in Vohwinkel, glücklich, im unbesetzten Gebiet zu sein; in Altena
wartete Jup auf mich, wir fuhren nach Plettenberg, dort zu Abend gegessen, Üssi und alle
anderen waren auch da. Müde ins Bett. Wunderbare Luft in Plettenberg.

Sonntag, 26. 8. 23
Behaglich geschlafen und wach geworden. Mit Jup nach Plettenberg zum Hochamt. Wir
tranken bei Meinhardt509 2 Glas Münchener, das sehr gut war. Nach dem Mittagessen bis 5
geschlafen, dann herumgesessen, nichts getan, mit Jup geschwätzt. Abends zu Hause Bier
geholt und getrunken. Dazu Busch gelesen, müde und gleichgültig ins Bett. Üssi zu ihrem
Namenstag 5 $ geschenkt fürs Einfeiern.

Montag, 27. 8. 23
Um 1/2 10 nach Allendorf gegangen, schöner Weg, den Pfarrer Riekschnitz510 aufgesucht,
bei ihm zu Mittag gegessen. Nach dem Essen gut geschlafen. Dann Kaffee. Er begleitete uns
noch ein Stück, ein guter, freundlicher Mann. Dann im Regen durch den Wald, es wurde
nachher wunderschönes Wetter. Wir gingen abends nach Plettenberg zu Meinhardt, aßen
dort gründlich zu Abend, Münchener Bier dazu. Todmüde nach Hause und großartig
geschlafen.

Dienstag, 28. 8. 23
Erwartete Brief, es war aber nichts da. Um 9 Uhr auf den Saley, wunderschön, doch
strengte es mich etwas an; um 10 fing es an zu regnen. Zu Hause herumgelesen. Tagebuch
geführt, müde, traurig über die Zustände und meine Erfolglosigkeit. Der Anblick der Hyä-
nen des Kapitalismus. Nachmittags mit Jup und Anna bei Siepmann Kaffee getrunken und
viel Kuchen gegessen. Dann nach Holthausen, Butterbrot. Bei Meinhardt Bier und Butter-
brot. Müde nach Hause.

Mittwoch, 29. 8. 23
Um 1/2 8 nach Herscheid gefahren mit Jup und Anna, von dort zur Nordhelle511. Wunder-
schöne Aussicht über das Ebbe-Gebirge, mittags an der Talsperre, von Bauern schlecht
behandelt und höhnisch ausgelacht, als wir fragten, ob sie etwas zu essen hätten. Furchtbare
Wut auf diesen Bauernstumpfsinn und ihren [Geiz]. Zu Hause geschlafen, Kaffee getrun-
ken. Mit Jup zu Meinhardt, dort wunderschöne Kotelettes und Moselwein dazu. Mit
schwerem Bauch nach Hause, philosophiert über <…>, baut über das <…> des kleinen

509 Karl Meinhardt, Inhaber des Hotels „Zur Post“, Wilhelmstraße 37 (heute Bahnhofstraße 88).
510 Pastor Bernhard Riekschnitz, 1911–1926 Pfarrer von St. Antonius in Allendorf, zuvor Kaplan in
Neheim, danach Pfarrer in Östinghausen, Kreis Soest (Quelle: „Chronik der Stadt Allendorf von
Dr. Bernhard Riering 1972“). Wir danken Frau Hiltrud Klute vom Pfarrbüro St. Antonius in
Allendorf für ihre freundliche Auskunft.
511 Höchste Erhebung des Ebbegebirges zwischen Lüdenscheid und Attendorn (663 m). Dort steht
ein Aussichtsturm, der sog. Kolbturm.

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242 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Fabrikanten, die unanständigen Zustände in der <…>‚ die Belästigung durch Automobile
usw. Trauriger Zustand.

Donnerstag, 30. 8. 23
Erwartete einen Brief, es kam aber nichts. Nachts schlecht geschlafen. Eine glänzende
Broschüre von Sinn Fein, [lange] in der Sonne gesessen. Es ist fein. Fühlte mich gesund.
[Spürte] die Erde. Stark. Empört über Bolschewisten. Nachmittags wieder zum Saley. Wun-
derschön. Starker Wind. Abends mit Otto Schmitt (vorher bei Tante Mina)512, bei Adolf
Siepmann513 Bier getrunken.

Freitag, 31. 8. 23
Um 7 auf, mit Jup nach Hülschotten514, bei Bernd Wüst515 in der Schule, die Kinder ge-
sehen, rührend und ergreifend, dann bei Bernd gewesen, wir gingen nach Attendorn, aßen
im Rauch516 zu Mittag, ich ruhte nachher aus. Ging dann durch die Stadt, ganz in Erinne-
rungen517, eine schöne, ruhige, gleichmäßige Stadt. Trank bei Biermanns <?> Kaffee, ging
dann über Heggen nach Finnentrop, alles Wege, die ich als Gymnasiast oft gemacht habe.518
Machte wieder gute Vorsätze in Erinnerung an meine besten Jahre in moralischer Kraft und
Haltung. Dann bei Seuthe519 Bier, die ekelhaften Schieber, fühlte den Gegensatz von Katho-
lizismus und protestantischem Wucherergeist. Traurig nach Hause, die schreckliche Nach-
richt über die französischen Misshandlungen von Deutschen, die englische Pässe aus Köln
haben. Empört, fast einen Schlaganfall vor Wut. Traurig, einsam, die alten Eltern, kein Brief,
dachte an Duschka, an K., wie lächerlich. Jup erzählte mir die Geschichte von einem jungen
Mann aus Plettenberg, der für seine Frau Diebstahl begangen hat, und die Frau machte ihn
lächerlich.

Samstag, 1. 9. 23
Ausgeruht. Mit Jup in den Saley spazieren, nach dem Essen geschlafen, nachmittags kamen
Otto und Kaiser aus Teindeln520 und brachten mir viele Briefe aus Bonn. Wir gingen zusam-
men spazieren, unterhielten uns schön über die Verbindung des Kapitalismus mit dem
Nihilismus, tranken bei Meinhardt ein Glas Bier, dann müde nach Hause und früh ins Bett.

512 Otto Schmitt, Sohn von Schmitts Onkel Peter (1865–1906) und dessen Frau Wilhelmine Schmitt,
geb. Kirchhoff (genannt Tante Mina).
513 Siehe Teil I, Anm. 340.
514 Dorf im oberen Bereich des Grünebachs, vor dem zu Plettenberg gehörenden Ortsteil Landemert
gelegen.
515 Der Lehrer war Schmitts Schulkamerad; s. Eintragungen vom 4. 6. und 28. 7. 1922.
516 Hotel Rauch, das älteste Gasthaus in Attendorn.
517 Schmitt verbrachte seine Gymnasialzeit in Attendorn. Vgl. dazu Peter Kandora, Carl Schmitts
Attendorner Zeit 1900–1907, in: Schmittiana VIII 2003, S. 261–273.
518 Zur Herkunft und lokalgeschichtlichen Verankerung Schmitts vgl. auch Christian Linder, Der
Bahnhof von Finnentrop. Eine Reise ins Carl Schmitt Land, Berlin o. J. [2008].
519 Gasthof Seuthe (Inhaberin Maria Schulze), Plettenberg, Oesterweg 9.
520 Zu Theodor Kaiser siehe Teil I, Anm. 252.

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August/September 1923 243

Freute mich über die vielen Briefe (Krause, Frau Landsberg521‚ K. War verliebt und gerührt,
und wollte ihr morgen schreiben, ein schöner Brief von FMcK.).

Sonntag, 2. 9. 23
Ziemlich lange geschlafen, mit Jup zum Hochamt, nach Hause, Spaziergang nach Lein-
schede, nach dem Essen wieder geschlafen, mit dem Vater und Ännchen Spaziergang über
die Wiebecke nach dem Siesel, dort Bier getrunken, abends Ekel vor den ungläubigen <…>
im Hause, Abscheu vor der <…>. Aber sehr beherrscht ins Bett. Endlich wieder die Wie-
derkehr der Jugenderinnerungen.

Montag, 3. 9. 23
Um 9 mit Jup nach Affeln und Küntrop gegangen. Der Vater sagte, vielleicht ist Anton Kül-
ling522 inzwischen verheiratet. Dort erfuhren wir (um 11 Uhr) von Frau Külling, dass Anton
Külling gestorben ist. Er ist erstickt, ganz plötzlich an einem inneren Geschwür am 18. Juni,
nachmittags 1/2 6. Ich dachte daran, dass ich um diese Zeit mit der Duschka auf dem Dra-
chenfels saß. Wir aßen bei Külling etwas, die Frau erzählte von der schönen Beerdigung,
rührende Frau, sie schimpfte über den Staat und über die <…>‚ wir gingen zum Kirchhof.
Dann nach Neuenrade, über den Berg nach Altena, das prachtvoll liegt, steile Berge mit ein-
dringlichen Formen. So bleich und völlig <…>, bei einem Mädchen im malerischen Hof,
natürlich kam sie aus einem Kabinett. Wir gingen durch die Hauptstraße von Altena, sehr
hübsch, dann kauften wir Zeitungen und fuhren mit der Bahn nach Hause. Zu Hause
2 Briefe von Duschka und Frau von Schnitzler. Beide rührten mich sehr. Sehr frühzeitig zu
Bett und bald eingeschlafen. Beherrscht und moralisch fest. Öfters Vorsatz, an K. zu schrei-
ben, aber schließlich doch nicht getan.

Dienstag, 4. 9. 23
Um 8 Uhr, sehr beherrscht und sicher. Ännchen beim Einkauf begleitet. Frau v. Schnitzler
den Abdruck des Zitelmann-Aufsatzes geschickt. Dann etwas Korrekturen gelesen, wenig
getan, nicht rasiert, nach dem Essen geschlafen, Spaziergang gemacht allein auf den Saley;
mit Bojić. Wie schön. Abends kam Kaiser aus Teindeln. Ich begleitete ihn nach Ohle,
sah die Fabrik von Pfeiffer, eine moderne Fabrik523. War imponiert, staunte, <…>, Angst,
Unsicherheit, Fluchtbedürfnis. Traurig, als ich hörte, dass abends jemand von den Studen-
ten mit Duschka getanzt hat. Wie lächerlich. Einsam noch ein Glas Bier getrunken, um
1/2 11 zu Hause. Jup ist mit Bernd Wüst ausgegangen.

Mittwoch, 5. 9. 23
Nicht gut geschlafen, morgens Kaffee und fast den ganzen Tag die Korrekturen des Parla-
mentarismus-Aufsatzes gelesen. Viele schöne Verbesserungen, aber zuviel; ob er überhaupt

521 Der Brief vom 23. 8.1923 ist im Nachlass Schmitt erhalten (RW 265-8625). Die Verfasserin bedankt
sich darin für die „Politische Romantik“ und macht sich Sorgen um Schmitts Gesundheit.
522 Vermutlich ein Kamerad aus der Jugendzeit Schmitts.
523 Eisenwerk, von Theobald Pfeiffer (1859–1940) im Jahre 1889 als Walzwerk erworben, der es später
mit seinem Sohn Walter zu einem der führenden Unternehmen der Stadt Plettenberg entwickelte.

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244 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

noch gedruckt wird (die meisten Verleger [drucken] dann nicht mehr). Auch mittags nach
dem Essen nur etwas ausgeruht, immer Korrekturen gelesen, um 3 brachte Ännchen sie mit
einem Brief an Feuchtwanger524 zur Post. Froh, das erledigt zu haben. Wichtige Korrektu-
ren. Dann wieder Kaffee, Magenbeschwerden. Einsamer Spaziergang auf den Saley, sehr
froh darüber, allmählich erholt, ein Gedicht von Bojić gelesen, viel an Duschka gedacht.
Langsam wunderbar beruhigt. Abends nach dem Essen mit Jup zum Deutschen Haus525,
Münchner Bier, Jup sprach immer über das Erdbeben in Japan, das ihn furchtbar erschüttert
(„da werden sie gekrabbelt sein“). Konnte abends nicht einschlafen, aber ich blieb be-
herrscht. Ein glücklicher Zufall. Habe heute einen Brief von Braubach bekommen, der über
sein Gespräch mit Fräulein Schifrin berichtete. Das interessierte mich am meisten.

Donnerstag, 6. 9. 23
Müde, kein Kaffee, sondern Schokolade. Der Temps kam, viel gelesen, Ekel vor den Fran-
zosen, fühlte mich behaglich im unbesetzten Gebiet, froh, entronnen zu sein, dachte gar
nicht daran, zurückzukehren, Freude, endlich einmal meine Ferien für mich allein zu
genießen in wirklicher Erholung. Mit Jup nach Plettenberg zu Langenbach, für Sonntag
verabredet. Nach dem Essen geschlafen, sehr wohl gefühlt, um 1/2 5 Schokolade. Sah die
Donquichotterie meiner Beziehung zu K., auch zu Duschka. Es ist alles lächerlich. Ruhig,
selbstbewusst. Aber sehr schwach und das Gefühl, minderwertige Eltern zu haben. Mit Jup
Spaziergang, phantastisch, heftig. Eine Notiz wider Deutschland, seine Unumgänglichkeit.

Freitag, 7. 9. 23
Vor dem Frühstück eine Stunde am Saley, herrliches Frühstück, etwas gearbeitet, dann mit
Jup spazieren. Nach dem Essen lange gut ausgeschlafen. Nachmittags mit Jup zum Schwar-
zenberg und Engelbertstuhl, abends müde noch mit Anna nach Ohle und bei [Biermann]
Bier getrunken und eine Omelette gegessen. Ich erhole mich großartig, meine Muskeln wer-
den fest. Alles ist von Schreck erfüllt wegen der Geldentwertung (Dollar 50 Millionen).

Samstag, 8. 9. 23
Wieder Spaziergang am Saley, dann gefrühstückt, wunderbar. Behaglich Zeitungen ausge-
schnitten und geordnet, trotz der entsetzlichen Not der Zeit. Mit Jup zum Saley, wunder-
schöner Weg, Zeit für Politisieren. Nach dem Essen ausgeruht, müde. Nach dem Kaffee
wunderschöner einsamer, langer Spaziergang zum Schwarzenberg, auf den Engelbertstuhl,
das Gedicht von Bojić „Dichte Wüste“ gelesen. Nur ein Glas Milch mit Cognac getrunken,
dann über die Höhe (prachtvoll, ein Amphitheater) nach Hause zurück. Nachdenken, mich
selbst beobachtend, Gefühl der wieder gewonnenen Kraft. Heute morgen Brief von Georg
Eisler526, dass ich kommen soll, dass er kommen will. Um 9 schon zu Bett. Schöne Karte
von Duschka aus Ilok.

524 Vgl. Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 35 f.


525 Hotel „Deutsches Haus“, Plettenberg-Eiringhausen, 1904/05 erbaut, 1983 geschlossen.
526 Der Brief vom 24. 8./6. 9.1923 ist im Nachlass vorhanden (RW 265-3150).

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September 1923 245

Sonntag, 9. 9. 23
Des Nachts gefroren, immer um 5 Uhr trotz der dicken Decken. Unbehaglich. Aber trotz-
dem sehr behaglich beim Ankleiden. Etwas gearbeitet, Brief von Braubach, der den fran-
zösischen Geleitschein schickt. Das beruhigte mich sehr. Ferner die neuen Nummern
des Temps. Behaglich, herrliches Wetter. Mit Jup nach Plettenberg, bei Menschel527 ein
Glas Bier, nach dem Essen geschlafen. Schön Kaffee getrunken, auf Emil Langenbach
gewartet, der aber um 5 Uhr noch nicht kam. Daher gingen wir zum <…>, tranken dort
ein Glas Bier. Wut über die die Straßen verstaubenden Autos (immer wieder die Vorlesung
über die Demut, die spezifische Folge, in der der Reichtum eine verantwortungslose poli-
tisches [Macht] ausübt). Langenbach kam, wir gingen über den Schwarzenberg zurück,
sprachen über Politik, den kommenden Zusammenbruch, ein armer, guter Kerl (er sagte, er
sei am liebsten Bibliothekar). Abends noch zu Bleicher528, ein Glas Bier, müde, traurig ins
Bett.

Montag, 10. 9. 23
Um 1/4 9 auf, Radtour mit Jup, Anna und Bernhard Wüst über Teindeln, Werdohl, Neuen-
rade, Balve (die Balver Höhle), Allendorf, hinter Küntrop (man sah den Friedhof, auf dem
Anton Külling liegt) sahen wir, wie ein Förster einen Hund totschoss. Unheimlich. Den
ganzen Tag Glück mit dem Rad. Um 6 Uhr, auf der Allendorfer Höhe, plötzlich vom Rad
gestürzt, ich hätte [mir] den Hals brechen können, zum Glück nur einige arge Schrammen,
Jup war sehr freundlich und gut, ich freute mich sehr über ihn, wie er gleich die Räder
aneinanderschob, ein paar medizinische Bemerkungen machte, ein kluger, sachlicher
Mensch und mein Bruder. Bernhard Wüst wartete unten auf uns, wir gingen zusammen in
der Dunkelheit nach Hause, aßen dort zu Abend. Ich hatte keine besonderen Schmerzen,
ich war nur benommen, mein Kopf tat mir weh von dem Schotter, außerdem sah ich so aus,
dass ich ein Weilchen nicht unter Menschen gehen kann. Phantasiepreise, Angst.

Dienstag, 11. 9. 23
<…> Um 5 erwacht mit heftigen Kopfschmerzen, ärgerlich, diese Verunstaltungen. Behag-
lich Kaffee, Zeitungen gelesen, aber allmählich erdrückt mich dieses enge Milieu und diese
Armut. Ich bin abergläubisch geworden durch die vielen Unglücksfälle und möchte fliehen,
kann aber nicht weg wegen meines Gesichts. Ging mit Jup zur Basaltgrube. Nach dem
Essen etwas geschlafen, wunderschöner Kaffee, ein paar Gedichte gelesen, Poe, und da-
durch wieder munter und angeregt. Diesen geistigen Luxus brauche ich, ich kann ihn nicht
entbehren. Dann an K. gedacht, schrieb Schilling um 100 Millionen. Abends war Jup aus,
ich ließ mir Bier holen von Anna und trank (für 7 Millionen) einen Liter, las dazu Grabbe529
mit Begeisterung, großer Freude. Allmählich müde und behaglich ins Bett und großartig
geschlafen.

527 Wilhelm Menschel jun. und seine Ehefrau Johanna betrieben ihre Gaststätte „Zum Schützenhof“ in
Plettenberg an der Ecke Grünestraße 49/Lindengraben.
528 Pächter des Gasthofs „Deutsches Haus“ in Plettenberg; s. Anm. 525.
529 Christian Dietrich Grabbe (1801–1836), dt. Dramatiker.

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246 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Mittwoch, 12. 9. 23
Bis 9 im Bett, herrlicher Spaziergang auf den Saley im Morgentau, immer noch verunstaltet
im Gesicht. Das Buch von Schmitz über Beethoven530 war da; freute mich darüber, dachte
natürlich gleich an Duschka. Ordnete Zeitungsausschnitte, auch nach dem Essen, schlief
nicht des Mittags; nachmittags Kaffee, schrieb Briefe an Schmitz und einen Studenten, dann
mit Jup Spaziergang auf den Saley bei herrlichem Wetter. Nach dem Essen auf dem Zim-
merchen allein gearbeitet. Die Arbeit von K. angesehen, traurig, fühlte mich betrogen (und
bezichtigte mich selbst)531. Muss viel Geld ausgeben, die Eltern verreisen morgen, inzwi-
schen soll ich natürlich alles bezahlen, alles spekuliert darauf. Habe heute 10 Schilling wech-
seln lassen (150 Millionen Mark dafür bekommen). Ewig betrogener Narr.

Donnerstag, 13. 9. 23
Gut ausgeschlafen, rasiert, sehe schon besser aus, die Eltern reisten um 1/2 10 nach Münster
ab. Ich trank behaglich Kaffee, las herum, vormittags mit Jup in den Saley spazieren und
nett wieder politisiert über die Macht der Industriellen im Staat. Schönes Essen von dem
fleißigen Ännchen. Nachher ausgeruht, aber nicht geschlafen, guter Kaffee, Spaziergang mit
Jup über den Saley fast bis zum Schwarzenberg. Abends wieder sehr schön gegessen, nach-
her müde und bald zu Bett. Ejakulation, Geilheit, lächerliche Vorstellungen von Frankfurt
usw. Nichts von der erwarteten Korrespondenz.

Freitag, 14. 9. 23
Morgens nicht besonders wohl, vormittags Spaziergang am Saley, entsetzliche Geilheit,
Gier, zerrüttet. Nach dem Frühstück etwas gearbeitet für Recht, ein Buch über Diktatur zur
Rezension. Spaziergang zum Saley mit Jup, wunderbares Wetter, mittags unbehaglich,
geschlafen, Kaffee. <…>, Erlasse im Völkerrecht. Wenig gearbeitet. Las mit Stolz meine
politische Theologie, sie wäre doch <…>. Nachmittags bei herrlichem Wetter mit Jup im
Saley <…>. Abends Bier mit Jup getrunken. Wir waren aber beide sehr müde, Jup hatte
Heimweh, weil er morgen abreisen muss. Traurig ins Bett. Nachher kam noch Geld
(10 Tausend Millionen), ohne dass ich es wusste. Brief von Frau v. Wandel mit einem Tele-
gramm <…>.

Samstag, 15. 9. 23
Müde und benommen aufgestanden, schöner Spaziergang, dann gefrühstückt. Nachher mit
Jup nach Plettenberg. Er ist sehr traurig, der arme Kerl. Nach dem Essen wieder geschlafen.
Bernhard Wüst kam, trank schön Kaffee, vergebens auf den Briefträger gewartet. Warum
schreibt Feuchtwanger nicht? Geil, Gier, die Schwester von Pohle 532 <?>. Es regnet und
scheint ein Dauerregen zu werden. Dann möchte ich doch nach München fahren. Üssi kam
des nachmittags, als ich mit Bernhard, Otto usw. Jup an die Bahn gebracht hatte. Traurig,

530 Siehe Anm. 178.


531 Die Dissertation von Kathleen Murray, die unter dem Titel „Taine und die englische Romantik“ im
November 1924 bei Duncker & Humblot erschien, stammt zu großen Teilen von Schmitt, ebenso
ihre Überarbeitung für die Buchausgabe; s. Teil I, Anm. 63 und 455.
532 In Plettenberg gab es einen Polizeiwachtmeister dieses Namens; vgl. Schmitt, Jugendbriefe, S. 45, 58.

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September 1923 247

melancholisch, habe heute an Krause geschrieben. Will noch an Frau v. Wandel schreiben.
Den ganzen Abend herumgeschwätzt mit Anna und Üssi, um 9 ins Bett, bald eingeschlafen.

Sonntag, 16. 9. 23
Nachts um 2 Uhr wach, wunderbare Haltung, feste Vorsätze. Allmählich aber sehr müde,
wieder eingeschlafen. Entsetzlicher Traum (ging über die Straße, betrunken und grölte das
Lied von der Wirtin von der Lahn533; wie schön ist die Melodie im Vergleich mit Operetten-
liedern, träumte auch von Duschka534, erwartete sie vergebens in einem Hotel, Leute tanz-
ten im Smoking, entsetzliche Angst um sie, grauenhafte, unüberwindliche, definitive Ab-
hängigkeit von ihr. Schrecklich). Als ich wach wurde, verging es schließlich. Aber es hat mir
doch einen Schlag versetzt. Müde um 8 auf, einen Augenblick frisch, zur Post gegangen, das
Telegramm quittiert. Dann zu Hause Kakao, müde, benommen, auf den Briefträger gewar-
tet, dumpf und traurig, in mich geschlossen, hoffnungslos. Ein langer Spaziergang in den
Saley. Mir wurde besser, ich las etwas, Gedichte von Bojić, dachte sehnsüchtig an Duschka
und entwarf einen Brief an sie. Nach dem Essen geschlafen, 2 Stunden, schöner Traum, akti-
ver Widerstand und dergl[eichen]., grauenhaft, angstvoll erwacht. Dann mit Üssi und Anna
einen Spaziergang zum Soen535, entsetzlich, wie hässlich Üssi ist, benommen, bedrückt,
schweres, nebliges Wetter, schweigsam, traurig, müde wieder nach Hause. Dem Irrsinn
nahe, ich werde verrückt, wenn ich an diese schmutzigen, hässlichen Verhältnisse denke und
meine Unfähigkeit, eine hässliche und geschmacklose Frau an meiner Seite zu haben. All-
mählich erkenne ich den Grundaffekt meines Lebens: aus dieser Enge heraus; was geht mich
das alles an. Weh dem, der keine Heimat hat 536, dem baut ihr tausend Ersatzheimaten. Hei-
mat und Heirat. Trank abends noch Bier, las dazu über Katharina Emmerich einen Roman,
Die Leidensbraut von Anna Freiin von Krane 537. Sofort wieder fromm und früh zu Bett.
Bald eingeschlafen.

Montag, 17. 9. 23
Um 8 auf, herrlicher Spaziergang in der Morgensonne, nachher einen schönen Brief an
Duschka geschrieben (über das Heidentum Westfalens <…> und über [Grabbe])‚ ziemlich
raffiniert.538 Aber sehr herzlich, um 10 kam Bernhard Wüst, ich las noch zu Hause die Zei-
tungen, sehr behaglich, habe aber nur einen Brief von Schilling bekommen. Nichts von
Feuchtwanger. Nach dem Mittagessen mit großer Aufregung und Überlegenheit. „<…>“
von Hermann Platz539 <?> gelesen, glücklich, über diesen Schwindel erhaben zu sein, war

533 Die fünfzeiligen sog. Wirtinnenverse um das – vermutlich in Lahnstein befindliche – „Wirtshaus an
der Lahn“, ursprünglich aus dem 18. Jahrhundert, sind zum großen Teil zotigen Inhalts; infolge
unzähliger Zusätze existieren heute etwa 800 Strophen.
534 Siehe Teil III, S. 484.
535 Ein am Fuße des Berges Saley gelegenes Forsthaus auf dem links der Lenne verlaufenden Weg von
Plettenberg-Eiringhausen zum Schwarzenberg.
536 Schlussvers aus Friedrich Nietzsches Gedicht „Die Krähen schrei’n“.
537 Anna Freiin von Krane, Die Leidensbraut. Geschichte eines Sühnelebens, Köln 1921.
538 Siehe Teil III, S. 484 f.
539 Möglichweise einer der Frankreich-Aufsätze von Hermann Platz, Geistige Kämpfe im modernen
Frankreich, Kempten 1922.

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248 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

auch eifrig <?>, mit Duschka (die Hilde heißt Mascha, es ist alles deutsch-slawischer
Schlamm); munter und unternehmend. Um 1/2 5 mit Bernhard Wüst schön Kaffee getrun-
ken, dann einen Spaziergang im Saley. Habe kein Geld mehr. Um 7 zu Hause gegessen mit
dem guten Ännchen. Nachher Zeitungen gelesen. Es kam ein Brief von Braubach, das
Kuratorium fragt wegen der Wohnung, auch der Konsul Schultze aus der Beethoven-
straße540 fragt wegen der Wohnung für Duschka. Das bedrückt mich, sofort ist meine frohe
Stimmung vorbei, obwohl es sonst doch so gemütlich ist. Aber abends im Zimmer, während
Anna spielte, war es wunderbar ruhig. Ich wollte, ich könnte so leben. Aber immer wird
mich eine Frau stören. Unheimliche Angst vor der Serbin. Freute mich sehr über den Brief
von Rosenbaum über meinen Aufsatz vom Parlamentarismus541. Abends bis 11 Uhr auf. Las
noch die Judenbuche von Droste-Hülshoff542, großes, kräftiges Gefühl, mager von Bergluft.

Dienstag, 18. 9. 23
Morgens kam der Temps, ein Buch von FMcK. mit irischen [Gedichten], besonders die
Werke von Pearse interessierten mich. Aber ich war melancholisch, weil ich mich entschei-
den musste, ob ich die Wohnung in Bonn behalten soll (ich kann sie ja gar nicht behalten);
immer Angst, eine Dummheit zu machen, hereinzufallen. Es ist lächerlich. Dann zu Bern-
hard Wüst, wir gingen über Landemert nach Hülschotten, unterhielten uns nett, aßen Eier
bei ihm. Kaufte ein Pfund Butter, ruhte aus, müde, mit Rückenschmerzen nach Finnentrop,
dort Bier bei Haas543 getrunken, mit der Bahn nach Hause zurück, traurig, melancholisch.
Gefühl der kommenden Katastrophen. Grauenhafte Depressionen. Sehr müde, las noch
herum, konnte nichts arbeiten. Ein trüber Tag, früh ins Bett.

Mittwoch, 19. 9. 23
Zeitungen ausgeschnitten, Kaffee getrunken, Connolly mit großem Interesse und großer
Erschütterung gelesen.544 Mittags kam Bernhard Wüst, ich verkaufte ihm 1 £ für 897 Millio-
nen Mark; froh, dass wir wieder Geld haben. Machte einen wunderschönen, langen Spazier-
gang über die Höhe des Saley, herrlicher Regenbogen, schrieb Briefe an Jup, Braubach,
Schilling und Erich Kaufmann. Ännchen ging mit Emma 545 nach Plettenberg und kaufte
ein. Ich las etwas herum, ging ihnen abends entgegen; nach dem Abendessen bald ins Bett.
Vorher noch mit den schönsten Vorsätzen Freiübungen. Sehr beherrscht und entschlossen.
Gleich eingeschlafen. An Feuchtwanger telegraphiert, weil ich seit 14 Tagen keine Nach-
richt habe.

540 In der Beethovenstraße 10 in Bonn wohnte der Geheime Baurat Schultze, Dr. phil.
541 Brief vom 11. 9. 1923 im Nachlass Schmitt nicht erhalten.
542 Annette von Droste-Hülshoff, Die Judenbuche, eine 1842 erschienene Novelle.
543 Nicht ermittelt.
544 James Connolly bzw. (irisch) Séamas Ó Conghaile (1868–1916), in Schottland geb. irischer Marxist
und sozialistischer Revolutionär, wegen seiner führenden Rolle beim Osteraufstand 1916 von den
Briten hingerichtet. Schmitt las „Labour in Ireland“ (1917), s. Teil III, S. 486.
545 Emma Achterrath (1889–?), eine Jugendfreundin; vgl. Schmitt, Jugendbriefe, S. 128, 142 f., 161 ff.

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September 1923 249

Donnerstag, 20. 9. 23
Schöner Spaziergang im Saley, dann gefrühstückt, Kakao, kein Kaffee, deshalb nachmittags
ziemlich müde. Grauenhafte Nachrichten aus Deutschland. Ich weiß nicht, ob es Zweck
hat, nach München zu fahren. Nachricht, dass die Eltern heute wiederkommen; ekelhaft.
Fühlte mich sehr wohl mit Anna allein, die so fleißig alles besorgt. Wieder keine Nachricht,
nur die „Neue russische Kulturkorrespondenz“546. Schickte sie als Drucksache an Fräulein
Schifrin nach Bonn. Nach dem Essen langer Spaziergang über die Höhe des Saley, es reg-
nete, wunderschön. Dann etwas gearbeitet, abends war Üssi da, wechselte mir 10 Schilling;
das arme Kind. Extra deswegen gekommen. Müde ins Bett, traurig, dass die Eltern wieder
kommen, Connolly regt mich furchtbar auf.

Freitag, 21. 9. 23
Die Eltern sind wieder da. Machte meinen Spaziergang um 9. Um 1/2 10 Kaffee, Völker-
recht (Dupuis547), wenig gearbeitet, Telegramm von Feuchtwanger, nach Plettenberg, ließ
mir die Haare schneiden, müde nach Hause, nach dem Essen herumgelegen, Völkerrecht
gearbeitet, ganz gut, aber verzweifelt und hoffnungslos. Eisler telegraphiert, ob er kommt
(er hat eine Karte geschrieben), völlig unentschlossen. Kaffee getrunken, kein Brief. Abends
etwas spazieren, dann wieder gearbeitet, Briefe geschrieben, weil ich sonst nichts zu tun
habe. Der Mond im Wassermann hat sich bisher nicht bemerkbar gemacht548 (höchstens ein
Brief von Konsul Schultze, Hohenzollernstraße 44549). Ich habe ihm 300 Millionen Mark
für 2 Monate angeboten für Duschkas reservierte Wohnung. Abends bis 10 auf. Dann
Übungen; beherrscht, selbstbewusst ins Bett. Der [Trieb] quält mich, aber es ging gut.

Samstag, 22. 9. 23
Erst um 9 auf, gut geschlafen, aber nervös, trotzdem guter Dinge, weil meine Muskeln
großartig stark werden. Ging spazieren, den Saley hinauf, dann Kaffee, der gute McK. hat
Oscar Wildes De profundis550 geschickt, ich las etwas herum, viel Völkerrecht, notierte eini-
ges, fühlte mich ziemlich behaglich, wartete aber immer noch zu sehr auf den Brief von
Feuchtwanger. Nach dem Essen schöner, langer Spaziergang im Regen über den Soen,
durch die Tannen, den Hestenberg, dann Saley nach Hause. Dann Schokolade getrunken,

546 Gemeint ist „Das Neue Rußland. Zeitschrift für Kultur, Wirtschaft und Literatur“ (1923–1932
erschienen), hrsg. von der Gesellschaft der Freunde des Neuen Rußland in Deutschland, bis 1923
„Neue [russische] Kulturkorrespondenz“.
547 Vgl. vor allem Charles Dupuis, Le droit des gens et les rapport des grandes puissances avec les aut-
res Etats devant le pacte de la Société des Nations, Paris 1921. Schmitt schätzte dieses Buch sehr;
vgl. Schmitt, Die Kernfrage des Völkerbundes [1924], in: ders., Frieden oder Pazifismus? Arbeiten
zum Völkerrecht und zur internationalen Politik 1924–1978, hrsg., mit einem Vorwort und mit
Anmerkungen versehen von Günter Maschke, Berlin 2005, 1–23, 18–20.
548 Siehe Anm. 502.
549 Eine Verwechslung – die Hausnummer 44 gab es in der Bonner Hohenzollernstraße nicht. Siehe
aber Eintragung vom 17. 9.1923.
550 Unter dem Titel „De profundis“ wurde 1905 jener Brief Wildes (1854–1900) aus dem Zuchthaus in
Reading an Alfred Lord Douglas (unvollständig und fehlerhaft) publiziert, in dem ihre homosexu-
elle Beziehung aufgearbeitet, aber auch die katastrophalen Zustände im Gefängnis geschildert wer-
den.

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250 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Kuchen gegessen, Wilde gelesen, geschlafen. So verging der Nachmittag schnell. Mit gro-
ßem Genuss ein Adagio von Mozart gespielt, abends Poe gelesen. Die Geschichte vom
Haus Usher551. Sehnsucht nach der <…>, kindisch, aber vielleicht doch Kraft. Brachte
2 Briefe (an Emil Courth und an Meyer) mit Anna zum Bahnkasten, dann wieder nach
Hause. An die Berichte geglaubt, Kraftgefühl, 2 seltsame Kerls begegneten mir an der Saar,
in schauerlichem Ton: Wir hatten dort nicht Wein und Brot. Behaglich im Zimmer, Vor-
sätze, Bewusstsein der Härte des Lebens, erwartete Nachricht von Eisler.

Sonntag, 23. 9. 23
Gut geschlafen, Gefühl der guten Muskeln. Telegraphisch kamen von Braubach 1.400 Mil-
lionen. Lustig. Dann noch der Temps. Sonst kein Brief. Trank Kaffee, las den Temps, um
1/4 vor 10 nach Plettenberg, dann im Saley, wunderschöner Spaziergang, frisch und munter.
Nach dem Essen Zeitung gelesen, kein Schlaf, um 1/2 3 mit Anna Spaziergang auf den Saley,
bei Bernhard Wüst vorbei, der aber nicht da war. Dann wollte ich zum Kaffeetrinken, als
Langenbach mit Rektor Bröcker 552 und Reinländer 553 kamen. Sie baten mich um einen Vor-
trag in ihrem Volksbildungsverein, biedere gute Leute, es rührte mich, man politisierte,
natürlich, die kommende Zertrümmerung Deutschlands, bis 1/2 7. Dann aß ich etwas,
schrieb, fühlte mich wohl in dem Zimmerchen, zu Abend gegessen, mit Anna etwas ge-
spielt, es kamen ein paar Freundinnen der Anna zum Singen, junge Mädchen, ich erschrak,
als ich sie sah. Zitterte, grauenhaft! Arbeitete dann für mich, wenn sie im Hause waren und
sangen.

Montag, 24. 9. 23
Dummer Tag, verging mit Warten, trotzdem kam nichts von Feuchtwanger, nur eine Karte
von Schmitz. Morgens schöner Spaziergang, mittags wieder. Nachmittags um 6 zur Bahn,
Billett nach München gekauft, an Eisler telegraphiert, dass er mir Nachricht gibt. Müde
nach Hause, abends mit Otto Schmitt bei Bleicher Bier getrunken, politisiert; dann noch
mit Ännchen im Mondschein [etwas Grabbe], wunderschön, alle meine dummen Erwartun-
gen vergingen, ich fühle mich ganz frei von den Menschen. Welche Wonne. Um 12 müde ins
Bett, wunderbar geschlafen.

Dienstag, 25. 9. 23
Um 9 auf, Brief von Braubach, dummer Brief von Emma Achterrath554, taktlos und berline-
risch, ekelhaft und idiotisch. Wunderschönes Frühstück mit schönem Kaffee, dann herr-
licher Spaziergang, las die Zeitung, mittags ausgeruht, die Beerdigung des Bahnbeamten

551 Siehe Teil III, S. 482 f.


552 Friedrich Wilhelm Bröcker (1886–1973), ab 1907 Lehrer an verschiedenen Plettenberger Schulen,
1921–1932 Rektor der Breddeschule, 1932–1945 Rektor der Martin-Luther-Schule, Autor mehrerer
Mundartbücher.
553 Karl Reinländer (1853–1924?), Fabrikant und 2. Vorsitzender des 1903 gegründeten Plettenberger
Volksbildungsvereins, 1891–1903 Stadtverordneter, 1903–1916 im Magistrat als Ratsherr, 1916–
1924 Beigeordneter.
554 Siehe Anm. 545.

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September 1923 251

Reusch555 angesehen, ein Telegramm von Eisler kam, Donnerstag ist er in Hagen. Schade,
ich wäre lieber nach München gefahren. Um 5 Uhr Brief von Braubach und einer von
Duschka. Das rührte mich sehr; aber nur eine Viertelstunde. Ich schrieb an Walter Fuchs
und ein paar andere Kollegen, dann Spaziergang durch den Saley durch den Tann, im
Regen, fühlte mich frei und einsam. Freiheit und Einsamkeit gehören bei mir zusammen.
Müde zu Hause. Nach dem Abendessen (Ekel vor den Eltern) müde, bald ins Bett.

Mittwoch, 26. 9. 23
Schlechter Laune auf, Gestank im Haus, ekelhaft. Hätte ich Eisler doch nicht gebeten zu
kommen. Schlechter Laune, Spaziergang, dann gefrühstückt, verlassen, widerlich, langwei-
lig. Nach dem Essen aus dem Hause gegangen, Spaziergang zum Schwarzenberg, müde und
traurig, deprimiert, dann gut angezogen, das machte mir bessere Laune, einiges erledigt,
Brief an K., anschreiben lassen, bei Bleicher ein Zimmer bestellt. Müde nach Hause, Kaffee,
dadurch sehr munter, Connolly gelesen, gesehen, dass es eine Dummheit ist, Revolutionär
zu sein, sehr munter durch den Kaffee, mit Anna nach Plettenberg, im Café Lerch556 ein
Stück Kuchen und Schokolade (38 Millionen!), dann ekelhaft zu Abend gegessen, müde,
gleichgültig, ermuntert durch Dorian Gray557. Welch ein Dasein.

Donnerstag, 27. 9. 23
In schlechter Laune auf, aber durch den Spaziergang in den Saley wurde es besser, fühlte
mich einsam im Wald, unbeschreiblich geborgen und sicher. Mittags ausgeruht, rasiert, dann
um 1/2 3 dritter Klasse nach Hagen. Im Zug lüstern, in Hagen holte mich Walther Dahl ab,
wir gingen in ein Café, sprachen über seine Arbeit (über die Gleichberechtigung der Frau),
nachmittags über die Theodizee des Leides, die innere Dummheit, die Möglichkeit einer
Revolution usw. Dann wartete ich 2 Stunden bis nach 7 auf Eisler auf dem schrecklichen
Bahnhof, müde, entschlossene Stimmung wie immer in Hagen, seltsam gepackt. Endlich
kam er, sehr müde. Wir aßen im Bahnhof zu Abend, fuhren nach Plettenberg, sehr müde.
Ich war gleichgültig und traurig. Der Vater war an der Bahn, wie ein Gespenst, es kam die
alte Spannung, ich war böse darüber, schämte mich der Armut, ging noch etwas auf den
Saley hinauf, klein und bedrückt wie der Vater. Dann müde nach Hause, gleichgültig, ver-
schlossen, Wut, <…>.

Freitag, 28. 9. 23
Müde auf, zum Glück schönes Wetter. Ging um 9 zur Kirche und [betete für den] Vater von
Kathleen. Dann holte ich Eisler ab, der schon fertig war. Wir freuten uns über die schöne
Gegend, frühstückten bei uns, mit Ännchen, alles arm und traurig. Ich war aber gleichgül-
tig; die Mutter theatralisch. Wir gingen durch den Soen zum Schwarzenberg, tranken dort
ein Glas Milch, müde zurück. Dann ging jeder zum Essen. Ich war oft guter Laune, im
Ganzen ziemlich beherrscht. Mittags schlief ich, trank Kakao, fühlte mich außerordentlich
wohl, für mich allein und wartete auf Eisler, der um 5 kommen wollte. Wir gingen über den

555 Nicht ermittelt.


556 Café Lerch (nach dem Inhaber August Lerch), Plettenberg, Maiplatz 1.
557 Oscar Wilde, The Picture of Dorian Gray, London 1891.

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252 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Saley, trafen den Förster, als die Dunkelheit einsetzte, munter nach Hause. Abends bei Blei-
cher Bier getrunken, leider zu viel geschwätzt. Müde und gleichgültig ins Bett.

Samstag, 29. 9. 23
Morgens um 10 nach Attendorn, über Vierkreuze mit Ännchen. Wunderschönes Wetter.
Wir lagen auf der Erde auf der Höhe von Vierkreuze. In Attendorn im Rauch zu Mittag
gegessen, dann auf einer kleinen Anhöhe ausgeruht. Ganzer Berg von Erinnerungen; bei
Biermanns <?> Kaffee, zum Schnellenberg557a, der wunderschön war. Leider furchtbare
Verwüstungen der Industrie (ein vorübergehender Mann sagte zu Frauen: Neuorientierung
gewisser Landesteile; mir wird schlecht). Abends lange auf den Zug gewartet, Kathleen eine
Karte geschrieben, müde, spät nach Hause.

Sonntag, 30. 9. 23
Spät auf, mit Eisler nach dem Frühstück ins Hochamt, dann über die Straße nach Selscheid.
Wunderschönes, nebliges Wetter. Ich war stumm und einsam. Nach dem Essen (zu Hause)
ausgeruht. Zusammen mit dem Vater und der Mutter Kaffee. Dann über den Saley, am
Ibsenstein558 auf der Bank, zum Gesangwettstreit bei Rüsing559. Traf Bernhard Wüst und
den Flügge560 aus Böddinghausen. Furchtbare Singerei. Fühlte mich aber doch als Deut-
scher. Dachte an Duschka. Abends mit den Mädchen vom Jungfrauenverein; rührend, wie
sie sangen. Ich gab ihnen viel Schokolade. Traurig und müde ins Bett. Ejakulation. Den
Brief von K. gelesen.

Montag, 1. 10. 23
Neugierig auf Zeitung, die nicht kommt. Mit Eisler nach Leinschede, den Engelbertstuhl
hinauf. Auf dem Forsthaus Schwarzenberg, dort schön zu Mittag gegessen, an der Lenne
herumgelegen. Wunderschönes Wetter, aber traurig und einsam. Um 4 wieder durch den
Saley herunter, zu Hause zu Abend gegessen, Bier dazu getrunken.

Dienstag, 2. 10. 23
Zeitungen, die Ausrufung der Rheinischen Republik in Düsseldorf scheint missglückt zu
sein.561 Traurig, müde, will endlich nach Bayern fahren. Schicksalsgefühl. Ruhig und einsam.

557a Die Höhenburg Schnellenberg ist eine der wenigen noch vorhandenen, streng symmetrisch ange-
legten, durch tiefe Gräben geschützte Burgen des 17. Jahrhunderts.
558 In einen Schieferfelsen des Saley hatte Schmitt um 1903 ein großes „I“ gemeißelt und ihn nach dem
von ihm bewunderten norweg. Dramatiker Henrik Ibsen „Ibsenstein“ genannt. Unter dem – später
bisweilen zu „Ipsenstein“ mutierten – Pseudonym Bert Ibsenstein sammelte und erfand Schmitt
„aparte Reime“ und von Historikern verwendete irrationale Bedingungssätze. Vgl. dazu Ernst
Hüsmert, Zwei wenig bekannte Seiten von Carl Schmitt, in: Schmittiana VI 1998, S. 289–303,
292–300.
559 Gasthaus „Zur Krone“ (Inhaber 1913–1927 August Rüsing), Plettenberg, Bahnhofstraße.
560 Flügge, eine seit langem ortsansässige Bauernfamilie in Plettenberg.
561 Nach zahlreichen Verhaftungen und Beschlagnahmungen durch die Besatzungstruppen erreichte
der Widerstand am 30. September einen Höhepunkt. Die Düsseldorfer Stadtchronik (http://www.
duesseldorf.de/stadtarchiv/stadtgeschichte/chronik/1923.shtml; gelesen am 8. 1. 2013) hält fest:
„Ein Schreckenssonntag in Düsseldorf; Umzug der Separatisten. Zusammenstoß mit der Polizei,

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September/Oktober 1923 253

Wir gingen nach Plettenberg, kauften Sachen usw. Traf zufällig Bernhard Wüst, mittags
nach dem Essen ein plötzlicher Entschluss, nach der Bommecke562 [zu gehen]. Wunder-
schön. Über Holthauser Platte zurück. Gleichgültig und fremd gegen Eisler, der mir leid
tat. Ich dachte nur daran, nach München zu kommen. Abends bei Bleicher zu Abend ge-
gessen, Ekel vor der großen Welt.

Mittwoch, 3. 10. 23
Gier, gierig, unternehmend, dann wieder traurig und kontemplativ, verzweifelt und ver-
dammt. Spaziergang mit Eisler nach dem Siesel, zu Hause zu Mittag, dann herumgelegen.
Bereite schon alles für Reise vor. Schicksalhaft.

Donnerstag, 4. 10. 23
Vormittags betroffen über die Nachrichten aus Bayern. Zur Bahn. Eisler fuhr nach Ham-
burg, Ännchen und ich begleiteten ihn nach Altena; dann aßen wir in Altena in einem Café
1 Stück Kuchen und fuhren zurück, das arme Kind war sehr müde. Ich packte ein und fuhr
nachmittags 1/2 7 nach Finnentrop, wartete dort lange; des nachts mit dem D-Zug 3. Klasse
nach München. Müde, anstrengende Fahrt, neben einer alten Frau aus München und mit
einem Eisenbahner im Coupé.

Freitag, 5. 10. 23
Todmüde in München, aber bin wieder ziemlich frisch, unternehmend; in die Pension Feld-
hütter563, kleines, ärmliches Zimmer, gleich zu Feuchtwanger, beruhigt über meinen Parla-
mentarismus-Aufsatz, aß in der Pension zu Mittag, schlief bis 5 Uhr, verschlief mich, gut
ausgeschlafen, zu Feuchtwanger, der aber schon fort war. Zum Postamt, ein Brief von
Duschka, die mitteilt, dass sie am 8. 10. kommt. Müde und einsam nach Hause. Nach dem
Abendessen gleich zu Bett. Gefroren.

Samstag, 6. 10. 23
Telephonierte um 10 an Krause, traurig und deprimiert, soll mittags angerufen werden.
Ging zur Bibliothek, gab Stefl das Buch zurück (Pearse), bei Riedner, sah, dass es überflüs-
sig war. Traurig, gleichgültig, zu Feuchtwanger, zu Mittag gegessen. Die Frau war gut und
freundlich, aß schön zu Mittag, um 3 rief Frau Krause an. Ich soll abends mit nach Tölz
fahren. Dann Gier, geil nach Hause. Grauenhaft über die Straßen, traf den Studenten
Rapp564 mit seiner Frau, einer Ausländerin, die beide früher an der Handelshochschule stu-
dierten und mich [damals gehört] hatten. Es rührte mich, dass sie mich wieder erkannten.
Um 7 traf ich Krause und D<…> und fuhr mit ihnen nach Tölz. Sehr nett unterhalten,
freundlich, behaglich ins Bett, glücklich, wieder in einem komfortablen Haus zu sein.

über 70 Verwundete. Die Schupo wird von den Franzosen entwaffnet und interniert. Bei der
Reichsbank werden 700 Milliarden Mark beschlagnahmt. Meuterei im Gefängnis, 100 Gefangene
sind ausgebrochen.“
562 Kleines Seitental der Lenne.
563 Hotel-Pension Feldhütter, München, Elisenstraße 5.
564 Nicht ermittelt.

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254 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Sonntag, 7. 10. 23
Lange geschlafen, behaglich angezogen, gefrühstückt, gut unterhalten mit D<…>. Fühlte
mich wohl und behaglich. Abends um 11 ins Bett.

Montag, 8. 10. 23
Der Tag verging mit einem Spaziergang nach Lenggries, im Wagen zurück, müde, erkältet,
gleichgültig.

Dienstag, 9. 10. 23
Den ganzen Tag (es regnete schrecklich) im Hause herumgelegen, freundlich mit Krause
unterhalten, Unsicherheit gegenüber Frau Krause, <…>. Sie erzählte mir ihre Liebe zu
P<…>, einem Engländer, der ihr englische Sonette beigebracht habe. Marlitt-Stil.565 Abends
um 6 mit Krause nach München gefahren, über Penzberg. Abends Wein getrunken. Mit
Krause und mit Justizrat Wirsmann <?> zu lange aufgeblieben. Telephonierte an das Hotel
Bristol, Duschka war aber noch nicht da. Ein Brief von Erich Kaufmann566, der mich sehr
erfreute.

Mittwoch, 10. 10. 23


Morgens rief die Pension Bristol an, dass Duschka da ist. Gefrühstückt mit Krause, ging um
1/2 11 in die Schwanthaler Straße 51, wo Duschka mich erwartete, sehr erfreut und fröhlich,
ich finde sie wunderschön, sie sah gesund aus, wir gingen spazieren, über ein paar Straßen,
ich zeigte ihr die Bibliothek (Prof. Stefl), wir aßen bei Fahrig, sie war fröhlich, aber mir
doch sehr fremd, und erzählte von ihrer Schwester und ihrem Schwager. Dann nach Hause,
eine Tasse Kaffee mit Krause, ausgeruht, erkältet, um 5 Uhr holte ich Duschka ab, wir tran-
ken im Café Tee. Unterhielten uns wunderschön. Dann ein langer Spaziergang durch den
Englischen Garten und an der Isar entlang, in der Neuen Börse567 zu Abend gegessen, spra-
chen über Fräulein Schifrin; sie bekam wieder ihre Nervenanfälle, als ich erzählte, dass
Fräulein Schifrin sie eine [Lügnerin] nannte. Schrecklich ist das. Erst um 1/2 12 nach Hause.
Um 12 bei Krause, der mir aufmachte.

Donnerstag, 11. 10. 23


Heiß gebadet, sehr erkältet, um 9 mit Krause gefrühstückt, dann zu Duschka. Mit ihr in die
Alte Pinakothek, rührend, wie sie Memling, Altdorfer (Alexanderschlacht), Rubens bewun-
derte; der <…> gefiel ihr, die Italiener nicht; sie entdeckte einen Pontormo. Wir aßen in der
Akropolis568 (glaubte, die Frau Klee569 zu sehen und erschrak vor meinem <…> Gesicht).

565 Nach der Bestsellerautorin „E. Marlitt“ (eigentlich: Eugenie John [1825–1887]) Synonym für
Trivial- und anspruchslose Unterhaltungsliteratur.
566 In dem Brief vom 28. 9. 1923 (RW 265-7315) bedankt sich Kaufmann für Schmitts Glückwünsche
zum Ausgang des Prozesses über den polnischen Minderheitenstreit beim Ständigen Internationa-
len Gerichtshof in Den Haag und verspricht ihm, sein Gutachten zu schicken. Vgl. ders., Die Frage
der deutschen Ansiedler in Polen vor dem Ständigen Internationalen Gerichtshof, Deutsche Juris-
tenzeitung 28 (1923), S. 608–609.
567 Café-Restaurant „Neue Börse“, Haus für Handel und Gewerbe, München, Maximiliansplatz 8.
568 Weinhaus „Akropolis“, München, Barer Straße 45.
569 Flora Klee-Palyi (s. Teil I, Anm. 145).

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Oktober 1923 255

Dann müde nach Hause, ruhte aus. Schön mit Krause und Schönenbach570 (einem Bekann-
ten von Freyberg) Kaffee. Brief an Frau Schnitzler und an Kaufmann geschrieben, peinliche
Erinnerungen, um 5 Duschka abgeholt. Wir kauften Billetts für Samstag und Sonntag, dann
in der Ceylon-Tee-Stube571, übersetzte <…>, sie lachte. Telephonierte Krause, er kam um
1/2 8, wir gingen in den Bayerischen Hof, aßen dort schön zu Abend und unterhielten uns
sehr gut; ich freute mich, wie gut sich die beiden gegenseitig gefielen, Krause und Duschka.
Krause erzählte, wie er als 24-jähriger Mann zu einem Gutachten nach Serbien gegangen
war, als die Russen den Serben 800.000 Mauser-Gewehre geschenkt hatten, Duschka er-
zählte sehr hübsch von Jugoslawien, von den Zigeunern, wir lachten über die Miliz-Parade
und gingen sehr zufrieden nach Hause. Ich trank noch mit Krause eine Flasche Bier, sprach
über <…>. Dann zufrieden ins Bett. (Wie entsetzlich: der Dollar fast 8 Milliarden!)

Freitag, 12. 10. 23


Schön gebadet, gefrühstückt mit Krause, um 10 Uhr Duschka abgeholt. Wir gingen in die
Staatsgalerie, freuten uns über Cezanne, ich hatte viel aufrichtige Freude an der klugen und
artigen Duschka, ihre Menschlichkeit. Dann in den Hofgarten, wo wir eine Tasse Tee572
tranken. Mit der elektrischen Bahn zum Holzkirchener Bahnhof, aßen im Bahnhof zu Mit-
tag, versäumten den Zug, Duschka verabschiedete sich, ich ging mit Krause allein nach
Hause, ruhte etwas aus, dann sehr hübsch mit ihm spazieren, er kaufte mir ein Stück Seife,
erzählte von seinen Geschäften, ich gewann ihn sehr lieb, ich ging mit der Elektrischen zu
Feuchtwanger, wartete aufs Auto, das uns nach Tölz fahren sollte.

Samstag, 13. 10. 23


Früh aufgestanden, um 9 Uhr abgereist, mit <…> zur Bahn, im Zug gelesen, um 11 Uhr zu
Professor Hartig, den ich aber nicht gleich traf, dafür Muth <…>, [er] war gütig und
freundlich, gab mir den kleinen Artikel, den er über mich geschrieben hat573, ich war stolz
und glücklich, besonders weil Ball einen Aufsatz über mich schreiben will574. Dann nach
Hause, umgezogen. Zu Feuchtwanger, mit ihm in seiner Wohnung, dort zu Mittag geges-
sen; eine gute Frau. Nachher nach Hause, umgezogen, zu Duschka. Mit ihr bei Fahrig zu
Abend gegessen, dann zum Residenztheater, Gruber <…> Satire, ekelhafte [Komödie]575.
Sie war sehr enttäuscht. Ich war traurig und schließlich gingen wir (vor der Trunkenheits-
szene) weg in das große Theaterrestaurant, aßen zu Abend, unterhielten uns dort über uns
selbst; müde um 12 nach Hause.

570 Nicht ermittelt.


571 Ceylon-Tee-Stube, München, Maximilianstraße 44.
572 Im Arcaden-Café, München, am Hofgarten.
573 Siehe Anm. 327.
574 Siehe Anm. 585.
575 Vermutlich sahen Schmitt und Duschka die ab 22. September 1923 im Residenztheater aufgeführte
Komödie „Die Stubenfliege“ von Georg Britting (1891–1964), in der Otto Wernicke (1893–1965)
den Gruber spielte.

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256 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Sonntag, 14. 10. 23


Schön gebadet, sehr behaglich, um 10 Duschka abgeholt, mit ihr an ein paar Kirchen vorbei,
Frauenkirche, Ludwigskirche, dann über die Leopoldstraße, in Schwabing bei Noris 576 zu
Mittag gegessen, dann Spaziergang durch den herbstlich bunten Englischen Garten, müde
zu Hause geschlafen, abends holte ich sie ab zum Theater, bei Schwarzwälder ein Glas
Wein, Traumspiel von Strindberg im Schauspielhaus 577; es machte tiefen Eindruck auf sie,
erschütternd, dann bei der Ceylon-Tee-Stube, <…>, unterhalten und gesprochen über das
Stück. Um 12 müde nach Hause.

Montag, 15. 10. 23


Morgens schön gebadet, mit Duschka am Bavariaring, holte meine Post bei Feuchtwanger,
wütend über den Künstler, der mir die Wohnung weggenommen hat. Duschka von Brau-
bach erzählt. Wir gingen dann zusammen an der Staatsgalerie vorbei, fanden aber den Blei-
stift, den ich ihr geschenkt hatte, nicht wieder. Kaufte ihr das Traumspiel bei Goltz 578, im
Ratskeller zu Mittag (das arme Kinde hatte K[atarrh]), müde nach Hause, ausgeruht; wie tot
geschlafen. Dann mit Duschka ein langer Spaziergang durch den Englischen Garten auf den
Monopteros, geschwiegen, <…> entflohen, dann ins Parkhotel, endlich ins Gespräch ge-
kommen, wunderschön, ihr sehr nahe, glücklich. Sie spricht offen zu mir, ihre Flucht ins
Russische, sodass ich ein Knabe bin vor ihr, dass sie meine Mutter ist, sie lächelte wunder-
bar. Ich war beglückt, und als ich allein zu Hause war, eine Stunde unbeschreiblich glück-
lich.

Dienstag, 16. 10. 23


Nachts Ejakulation, ohne meinen Willen. Todmüde, aber schön gebadet, telephoniert an
Rupé, um 1/2 12 Duschka abgeholt. Wir kauften Hustenbonbons, aßen in der Konditorei
von Trautmann und Voigt am Promenadeplatz579 ein Stück Berliner, dann zu Rupé ins
Nationalmuseum, die Madonna von <…>, eine Beweinung Christi 580, ein Glasfenster mit
der Stigmatisation bewundert. Wir hatten <…> bei uns, Rupé war freundlich und sympa-
thisch. Sehr liebevoll und freundlich, glücklich in der Gegenwart von Duschka; wir saßen
lange auf der Bank an dem Wasserfall im Englischen Garten, aßen bei Fahrig, sie hatte mich
gern, streichelte mir die Hand, um 4 nach Hause. Zu Hause war Krause mit seiner Frau
zurückgekommen, da ich nicht nach Tölz fuhr, wie ich es beabsichtigt hatte. Ich sprach mit
Frau Krause natürlich über Lisa, um 6 mit mir und seiner Frau zusammen weggegangen.
Mit Duschka wunderschöner kleiner Gang, in der Neuen Börse sprachen wir über ihre
Arbeit; wunderschön, ich war wieder begeistert von ihrer Freundlichkeit, Frauenhaftigkeit,

576 Café Noris, München, Leopoldstraße 41, ein beliebter Treffpunkt von Künstlern und Literaten.
577 August Strindberg, Ein Traumspiel, 1907 uraufgeführt, dt. Erstaufführung 1916 in Berlin.
578 Bekannte, von Hans Goltz (1873–1927) gegründete Buchhandlung und Galerie für moderne
Kunst, damals noch in Schwabing, nach dessen Tod in der Brienner Straße 55, dem sogenannten
Goltz-Eck.
579 Konditorei und Schokoladenfabrik Trautmann und Voigt, München, Promenadeplatz 14.
580 Gemeint ist vermutlich der gotische Predellaschrein (um 1485/1490) einer Beweinung Christi des
Brixener Bildhausers und Malers Hans Klocker.

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Oktober 1923 257

Aufrichtigkeit. Begleitete sie noch bis an den Stachus, dann zum Bayerischen Hof, Krause
war noch nicht da. Zur Weinstube Kurtz <?>581. Aber ich konnte mich nicht entschließen,
zu Haecker zu gehen. Wieder zum Bayerischen Hof, Krause war noch nicht da, dann zu
Haecker, mit ihm gut unterhalten, von den Bolschewisten erzählt, dann um 10 zum Baye-
rischen Hof. Endlich kam Krause, die Frau war aufgelöst von einem <…>, zu Abend ge-
gessen. Müde, fühlte mich dumm und betrogen, beiseite gesetzt. Wir fuhren im Auto um
12 nach Hause, lähmender Zustand, traurig, arm, liebe Duschka, ich habe kein <…>.

Mittwoch, 17. 10. 23


Morgens mit Duschka in der Neuen Pinakothek, über Fräulein Schifrin gesprochen, wun-
derschön nahe. Ich habe sie gern und habe mich sehr an sie gewöhnt. Wir aßen im Augusti-
ner 582 zu Mittag, ich fuhr um 3 Uhr zu Freyberg in die Regierung, hörte aber nicht viel von
ihm, um 4 in die Konditorei neben der Theatinerkirche. Haecker getroffen. Mit ihm freund-
lich gesprochen über die Neutralität der Schweiz. Die englische Geiselnahme des Völker-
rechts. Um 5 kam Duschka. Sie war sehr erregt und glücklich, weil sie den silbernen Blei-
stift wiedergefunden hatte. Liebes, schönes Kind. Sie macht überall den besten Eindruck,
auch Haecker war sie sympathisch. Wir verabredeten uns für Samstag, um seine Kinder zu
sehen. Ich ging dann mit Duschka im Englischen Garten spazieren. Abends [Fahrkarten]
nach Frankfurt.

Donnerstag, 18. 10. 23


Morgens herrlicher Spaziergang im Englischen Garten mit Duschka; Missverständnisse und
rührende Lösungen. Wir saßen auf dem Monopteros, es war warmes, schwüles Wetter, aßen
schön im Restaurant am Chinesischen Turm, fürchtete, zu spät zum Bahnhof zu kommen.
Um 1/2 2 am Holzkirchener Bahnhof. Die gute, kluge Duschka. Fuhr mit Frau Krause nach
Tölz und dachte immer daran, wie schön es wäre, wenn Duschka mitgefahren wäre. Herr-
liches blaues Wetter. Wohltuende Ruhe in Tölz. Spaziergang mit der lieben, braven Lisa,
über Plutarch gesprochen. Abends kam noch der Oberregierungsrat; ziemlich früh müde
ins Bett. Glücklich an Duschka gedacht.

Freitag, 19. 10. 23


Von Lisa begleitet 9.10 nach München gefahren. Unterwegs <…>. An der Bahn war
Duschka und hat mich [abgeholt]. Sehr schön im Kaiserhof 583. Aßen <…>. Ich erzählte
dann meine Geschichte. Sie hörte zu, dann bekam sie auf der Straße einen Blutsturz. Ich
begleitete sie nach Hause, telephonierte [Muth], dass ich etwas später komme. Blieb bei ihr
bis 3 Uhr. Dann mit der Elektrischen nach Thalkirchen, auf der Wolfratshauser Chaussee
[zu Muth], in [Solln] seine Adresse erfragt, dann in seine Wohnung584, freundschaftlich auf-

581 Weinhaus Kurtz, München, Augustinerstraße 1.


582 Gaststätte Augustiner, München, Neuhauser Straße 27.
583 Hotel Kaiserhof, München, Schützenstraße 12.
584 Carl Muth lebte seit 1906 in der Dittlerstraße 10 in einem von seinem Freund Richard Berndl ent-
worfenen Landhaus. Vgl. Dorle Gribl, Solln in den Jahren 1933–1945. Spurensuche im Münchner
Süden, S. 59.

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258 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

genommen, er kam bald, das Manuskript von Ball 585 über mich. Sehr erfreut darüber. Dann
begleitete er mich an die Bahn, fuhr im letzten Augenblick noch mit, alles sehr rührend.586
Ich eilte um 6 zu Duschka und blieb bei ihr bis 9 Uhr, wärmte ihr die Hand, streichelte sie,
las das Manuskript von Ball <…>.

Samstag, 20. 10. 23


Um 9 mit Krause gefrühstückt, um 10 zu Hartig, lernte die Tochter kennen, <…> mit Stefl,
traf Lisa und Duschka auf der Bank am Wasserfall im Englischen Garten, wir aßen im
Restaurant zum Chinesischen Turm zu Mittag. Dann zu Haecker, sie [unterhielt sich mit]
Johannes 587. Duschka hatte Freude an dem Kind. Wir gingen um 4 Uhr nach Hause, dann
kleidete ich mich um und trank bei Duschka Tee; wunderschön. Ich freute mich, im Smo-
king zu sein, sie war freundlich und gut gegen mich. Wir hörten dann Otello von Verdi,
wunderschöne Musik, mittelmäßige Sänger. Nachher wurde Duschka krank, bekam Ner-
venfieber. Wir gingen langsam durch den [Garten]‚ saßen auf einer Bank bei Mondenschein,
ich küsste ihre Augen. Liebes, schönes Kind.

Sonntag, 21. 10. 23


Um 12 Uhr schnell mit Lisa zum Theater, Billetts zur Zauberflöte, aber nicht mehr bekom-
men; dann Duschka abgeholt, gingen durch die Maximilianstraße, bei Freyberg vorbei, zu
den Isaranlagen, wunderschöner Spaziergang. Wir sprachen auf einer Bank über Othello
und sein Schicksal, aßen im Restaurant Fahrig zu Mittag, dann nach Hause, mit Krauses
Kaffee getrunken. Sprachen über die [Geschichte] Bayerns, um 1/4 vor 5 gingen wir zusam-
men weg, ich trank bei Duschka Tee, wir fuhren dann zur Maximilianstraße, ich ging bei
Freyberg und Scheler vorbei, während Duschka draußen wartete, fühlte mich aber zurück-
gestoßen und betrogen von den <…> Bürokraten. Dann in der Zauberflöte. Eigenartige,
zarte Musik ohne großen Eindruck, ich dann mit Duschka zum Deutschen Kaiser 588, trafen
dort Krause, fremdes, dummes Gespräch. Dann zur Bahn, kein Platz mehr. Ich glaubte,
Duschka wollte für sich sein im Frauencoupé, war verzweifelt, wollte mich verabschieden.
Sie war plötzlich gut gegen mich. Ich war erschüttert und dankbar und ganz hingegeben an
sie. Wir fuhren erst im Frauencoupé, dann in einem abgeschlossenen Abteil 3. Klasse für
uns. Sie lag auf meinem Schoß, ich küsste ihren Mund, unbeschreiblich. Wunderbares,
geliebtes Kind. Glückselig. Wunderbare Nacht. In Würzburg mussten wir aussteigen, weil
der Wagen heiß gelaufen war. Wir gingen dann wieder in die Coupés 2. Klasse, stundenlang
im Korridor, nachher wieder im Frauencoupé, sie schlief auf meinem Schoß, immer wieder
küsste ich sie, streichelte sie hingegeben. Sie ist ein wunderbares Kind und wurde plötzlich
wie ein munterer Knabe, sah fröhlich in die Welt.

585 Hugo Ball, Carl Schmitts Politische Theologie, Hochland XXI, 2 (1924), S. 261–286; auch in: Jacob
Taubes (Hrsg.), Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen (= Religionstheorie und poli-
tische Theologie, Bd. 1), München 1983, S. 100–115.
586 In seinem Brief an Muth vom 27. 10.1923 dankt Schmitt für die „freundliche, belebende Auf-
nahme“ und nennt den Besuch bei Muth „eine der schönsten Begegnungen meines Lebens“ (Piet
Tommissen, Der Briefwechsel zwischen Carl Muth und Carl Schmitt, in: Politisches Denken. Jahr-
buch 1998, S. 127–159, 132 f.).
587 Johannes war – vor Irene und Reinhard – das älteste von drei Kindern des Ehepaars Haecker.
588 Hotel Deutscher Kaiser und Kaiserstuben, direkt am Hauptbahnhof München.

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Oktober 1923 259

Montag, 22. 10. 23


Um 7 in Frankfurt, wartete mit Duschka, bis der Zug abfuhr, voll Liebe und Glück. Be-
geistert und hingerissen. Frühstückte am Bahnhof, dann um 1/2 9 in einer Droschke zu
Schnitzlers, sehr herzlich aufgenommen. Froh, in ihrem Hause zu sein; die gute Frau
v. Schnitzler, badete, frühstückte wunderschön mit Frau v. Schnitzler, dann 2 Stunden
geschlafen, nach dem Mittagessen herumgelesen, die Sanfte von Dostojewski 589, weil
Duschka gestern Nacht davon gesprochen hatte. Herzkrampf vor Liebe und Sehnsucht.
Angst, Eifersucht, Liebe. Um 4 telephonierte es: Kiener aus Mainz. Ich muss also morgen
hinreisen. Las die Judenzeitschriften und hatte wieder Krämpfe. Schrieb schnell an Feucht-
wanger und an Ännchen, dass ich Mittwochabend komme. Beruhigte mich allmählich.
Schrieb einen Zettel an Duschka, den ich ihr Samstag geben will. Große Sehnsucht. Abends
schön im Zimmer von Frau v. Schnitzler unterhalten über die gute Art des Geschäftsbetrie-
bes <….>, wunderbarer Burgunder, gegen 1/2 11 müde, aber glücklich ins Bett, die Sanfte
von Dostojwski gelesen.

Dienstag, 23. 10. 23


Um 1/2 8 auf, behagliches Gefühl im Badezimmer, unternehmend, mit Schnitzler gefrüh-
stückt, im Auto bis zum Bahnhof Höchst, schweigsam, aber sehr stolz, dann mit der Regel-
bahn 4. Klasse nach Mainz-Kastel. In Mainz war gerade Aufstand der Separatisten. Ärger-
lich. In die Buchhandlung Wilkens am Schillerplatz, dann im Café Kaiserhof 590, immer an
Duschka gedacht, immer glückliches Gefühl den ganzen Tag. Um 12 kam Kiener mit Fräu-
lein Schneegans <?>, wir gingen durch die Straßen, aßen im Hotel von Holland591 zu Mit-
tag, sehr gut. Lebhafte Unterhaltung über die Zustände in Deutschland. Dann im Dom. Um
4 von den beiden begleitet nach Kastel gegangen, herzlich verabschiedet, mit der Regelbahn
nach Ginsheim und von da nach Frankfurt. Froh, wieder [Besuch] gemacht zu haben.
Abends mit Frau v. Schnitzler zu dem Chor der Sixtinischen Kapelle 592. Wunderbare Ge-
sänge aus dem 16. Jahrhundert. Bei den Tenebrae von Vittoria593 weinte Frau v. Schnitzler.
Ich habe sie sehr gern. Zu Hause aßen wir mit Schnitzlers zusammen. Wunderschön all-
mählich, überfreundlich; um 1/2 1 sehr aufgeregt zu Bett. Liebe Duschka.

Mittwoch, 24. 10. 23


Um 1/2 8 mit Frau v. Schnitzler im Auto nach Waldfried zu Frau v. Weinberg594 in die
Kapelle. Eine Messe gehört (die Kapelle ist wirklich wundervoll), dann mit ihr und [Frau]

589 „Die Sanfte“ (1876), Erzählung von Fjodor Dostojewski.


590 Wiener Café Kaiserhof, Mainz, Gutenbergplatz 4.
591 Hotel Hof von Holland, Mainz, Rheinstraße 77.
592 Diese von Papst Gregor I. im 6. Jhdt. gegründete Cappella Musicale Pontificia gab offenbar in
Frankfurt/Main eines ihrer seltenen Gastkonzerte.
593 Tomás Luis de Victoria, auch Vittoria (um 1548–1611), span. Priester und bedeutender Komponist
geistlicher Werke, Nachfolger Palestrinas am Collegium Germanicum in Rom. Schmitt bezieht sich
wohl auf die 1585 publizierten Tenebrae responsories aus dem Officium hebdomadae sanctae.
594 Mary (genannt May) von Weinberg, geb. Villers Forbes (1866–1937), aus engl. Hochadel, 1915 zum
kath. Glauben konvertiert, als Wohltäterin in Erinnerung geblieben, Ehefrau des protest. Unter-
nehmers, Stifters und Mäzens jüdischer Herkunft Carl von Weinberg (1861–1943), 1882 Teilhaber

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260 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

v. Weinberg gefrühstückt, zunächst schweigsam und ruhig; die Frau ist unheimlich. Im Auto
von Weinberg zurück, zum Krankenhaus, zu der kleinen Liselotte595, mit Frau v. Schnitzler
durchs alte Frankfurt (besonders [Römer]berg), sie sprach über mich, sie brauche eine zärt-
liche Freundschaft (ich antwortete: dagegen empört sich mein Gefühl fürs Institutio-
nelle).596 Mittags müde, mit dem Onkel Schnitzlers597, [und mit] vom Rath zu Mittag geges-
sen, ein Notar598, guter Mann aus der wilhelminischen Epoche, der interessant erzählte.
Nach dem Essen ruhte ich aus, während der Diener einpackte. Gleichgültig, müde. Gegen 4
noch etwas astrologisch mit Frau v. Schnitzler, aber sie war zerstreut, es kam Besuch, ich
verabschiedete mich, fuhr mit dem Fräulein Gin <?> im Auto zum Bahnhof, dort ein schö-
nes Coupé 2. Klasse und nach Plettenberg gefahren, schweigsam, müde, Sehnsucht nach
Duschka. Kurz vor Finnentrop kam der Schaffner zu mir, der in der Nacht von Sonntag auf
Montag im Zug gewesen und Duschka und mir ein Abteil reserviert hatte. Gerührt. In Fin-
nentrop erwartete mich Ännchen, wir konnten erst nach 1 1/2 Stunden weiterfahren und
saßen im Wartesaal mit trinkenden Sauerländern; die Szene erinnerte mich an die von <…>,
heimlich immer an Duschka gedacht. Müde in Plettenberg, Ännchen machte noch eine
Tasse Schokolade, dann müde ins Bett.

Donnerstag, 25. 10. 23


Bis 1/2 11 im Bett, sehnsüchtig an Duschka gedacht, gefrühstückt, herumgelesen, nach dem
Essen ein paar Stunden im Saley, über den Soen auf die Höhe des Saley, wunderschöner
Spaziergang, der Herbstwind wehte, die Wälder waren ganz bunt, braun und gelb. Der Spa-
ziergang tat mir sehr gut. Zu Hause ausgeruht, telegraphiert, Kaffee getrunken, dann wieder
eine Stunde im Saley spazieren, Jugenderinnerungen, Pläne und Vorsätze, aber immer an
Duschka gedacht. Dann mit Ännchen eingepackt, nach dem Essen müde herumgesessen, in
der Küche, traurig, froh, bald allein zu sein. Angst um Duschka.

Freitag, 26. 10. 23


Um 8 auf, ein schöner, letzter Spaziergang auf den Saley, dann Kaffee getrunken und Rühr-
eier dazu gegessen. Sehr behaglich. Beunruhigende Zeitungsmeldungen. Dann nach Finnen-
trop, dort in den D-Zug, 2. Klasse, in Hagen Üssi getroffen, die mir 50 Milliarden gab.

der Farbwerke Leopold Cassella und Co., 1926–1936 Aufsichtsratsmitglied bei der I. G. Farben,
1939 nach Italien emigriert. Das Ehepaar hatte südlich von Niederrad ein Anwesen und Gestüt
namens Waldfried, das 1944 bei einem Luftangriff zerbombt wurde.
595 Liselotte (genannt Lilo) v. Schnitzler (1910–2008), ab 1934 verheiratet mit dem Diplomaten Dr.
phil. Herbert Scholz (1906–?), später mit Baron Richard von Szilvinyi (1899–1966), vormals
Schwiegersohn Carl von Weinbergs (s. Anm. zuvor), der 1938/39 den erzwungenen Verkauf der
Besitzungen von Weinbergs abgewickelt und zehn Jahre später erfolgreich Anspruch auf Kunst-
gegenstände aus der Sammlung Weinberg erhoben hat.
596 Siehe Notiz vom 24. 10.1923, Teil III, S. 494.
597 Richard von Schnitzler (1855–1938), Dr. iur., Kölner Bankier, Industrieller und Kunstmäzen, 1926–
1932 Mitglied im Aufsichtsrat der I. G. Farben, Generalkonsul des Königreichs Schweden.
598 Walther vom Rath (1857–1940), Jurist und Unternehmer, bis 1890 Staatsanwalt in Frankfurt/Main,
1902 Aufsichtsratsvorsitzender der Farbwerke Hoechst, 1925 stellvertretender Aufsichtsratsvorsit-
zender der I. G. Farben. Mit seiner Berufsangabe täuschte sich Schmitt.

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Oktober 1923 261

Dann müde, durch [Wuppertal] nach Köln. In Köln mit dem Gepäck zur Rheinuferbahn,
müde, aber froh, angekommen zu sein. Sah Fräulein Tadić, sehr froh, dachte an Duschka
und war sehr freundlich zu ihr. Dabei war noch eine Jugoslawin, Maria Smokwina <?>, mit
schönem Gang, der mich etwas an Duschka erinnerte. Ich fuhr mit Fräulein Tadić 2. Klasse
nach Bonn, half ihr mit dem Gepäck, wollte mit ihr zu Frau de Jonge, aber wir hörten, dass
man wegen des Belagerungszustandes um 7 zu Hause sein muss599. Unheimlicher Zustand.
Ich aß mit Fräulein T[adić]. bei Neffgen 600, wo sie wohnt, zu Abend, dann nach Hause,
einige Briefe 601, mich freute besonders der von Blei 602 und ein Brief von André, sprach über
den Damenwandel, über Braubach, unheimlich, die ganze Geschichte, aber gleichgültig und
philosophisch überlegen. Will zu Bett gehen, verwirrt von den vielen Eindrücken des
Abends. Nichts systematisch gearbeitet. Schnell an André geschrieben. Morgen um 4 also
Duschka. Aber ich war nicht gesammelt genug. Um 10 will ich Zlata abholen.

Samstag, 27. 10. 23


Gut ausgeschlafen, aber des Nachts zwischen 2 und 3 glaubte ich irrsinnig zu werden,
Angst vor den Menschen, scheußliches Misstrauen, entsetzlicher Zustand. Beim Ankleiden
wurde mir besser. Frühstückte gut, um 10 traf ich Meissner 603, ging mit ihm ein Stück Wegs,
traf Zlata, mit ihr Duschka. Ich war sehr erfreut, aber etwas beschäftigte mich, was Duschka
sofort fühlte. Gutes, schönes Kind. Ich begleitete die beiden bis zur Universität, verabschie-
dete mich dann, zur Kasse, traurig herumgelaufen, zur Post, zur Bank (Schilling, ein guter
Kerl, Frau v. Wandel kam auch), beim Kurator, immer das Gefühl, betrogen zu sein. Im
Hähnchen gegessen (für 15 Milliarden), todmüde nach Hause, bis 1/2 4 im Bett, <…>, bald
Lust, überhaupt hinzugehen, bald sehnsüchtig hingebende Liebe. Ich bin einfach irrsinnig.
Las den Temps, vollständig enttäuscht, mutlos, grauenhaft. Traf Duschka mit Zlata, wir
tranken zusammen bei Rittershaus Kaffee bis 1/2 5, dann ging ich mit Duschka auf ihr Zim-
mer in der Humboldtstraße. Wir versuchten, einen Plan zu machen, sie war traurig über
meine Verzweiflung, sah mich gütig an, weinte, ich küsste sie oft auf den Mund, liebes,
schönes, gutes Kind. Wie ein kluges Mädchen sagte sie: sie muss vor Sonntag noch einmal
kommen. Bezaubernd, graziös. Trank bei ihr Tee, aß jugoslawischen Käse, nahm den Zwie-
back mit, den ihre Schwester gebacken hat, kurz vor 7 wegen des Belagerungszustandes
nach Hause. Dort bei der Lampe aufgeräumt, fühlte mich eine Stunde wohl und ruhig und
fern von der Welt. Dann kamen bald wieder Angst und Zweifel, das schreckliche Gefühl,
betrogen zu sein; Verfolgungswahnsinn. Schnitt Zeitungen aus, aß nicht mehr zu Abend,
war aber satt und fühlte mich wohl. Ruhig und beherrscht ins Bett.

599 Wegen der Rathausbesetzung durch Separatisten („Rheinrepublikaner“) ab 24. 10.1923 war wieder
der Belagerungszustand verhängt worden; s. bereits Einführung, S. XVI.
600 Gastwirtschaft Heinrich Neffgen, Bonn, Stiftsgasse 21.
601 Darunter wohl die Briefe von Däubler an Schmitt vom 4.10. (RW 265-2710) und 10. 10.1923 (RW
265-2711).
602 Brief vom 18. 10.1923, in: Blei, Briefe an Carl Schmitt, S. 58 f.
603 Rudolf Meissner (1862–1948), Germanist, 1906 o. Prof. in Königsberg, 1913–1931 in Bonn.

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262 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Sonntag, 28. 10. 23


Gut ausgeschlafen, aber doch noch müde. Um 10 schnell gefrühstückt, dann Duschka
getroffen. Sie war müde und sagte mir, sie möchte den Vormittag mit mir zusammen sein
statt mit Fräulein Schifrin. Ich war sehr glücklich. Schmitz kam uns entgegen, er wollte
gerade zu mir. Ich verabredete mich mit ihm zum Mittagessen. Dann trafen wir Fräulein
Schifrin (hatte den Eindruck, dass sie wütend auf mich war). Ich ging dann mit Duschka
alleine zum Rhein. Wir setzten uns in die Anlagen bei der Universität auf eine Bank, sie
sagte, ich hätte ihr gestern weh getan, sie hatte das Gefühl, <…> zu sein; ich war gerührt,
ganz hingerissen, hingegeben. Welch ein kluges, schönes, edles Kind, endlich eine Frau, die
ich lieben kann. Wunderbar. Ich sprach sehr schön, sagte ihr, dass sie mich auf Händen trägt
(sie sagte mir: und Sie tragen mich in den Händen); wir waren sehr glücklich. Ich sah, dass
sie mich liebt, und habe ein unbeschreibliches Vertrauen. Wunderbar graziös, freundlich,
bescheiden. Sie sagte, zum ersten Mal habe sie jemandem so viel Vertrauen geschenkt. Ich
begleitete sie bis an die Bäckerei, wo sie Schokolade für Zlata kaufte. Dann aß ich bei
Schmitz mittag, sehr nett, schlief nach dem Essen, sehr müde, aber nachher gut ausgeruht.
Er spielte mir etwas von Mozart vor, ich war ziemlich müde, aber stolz mit dem Gedanken
an Duschka, und sehnsüchtig. Ging dann zu Landsberg, trank Tee, wurde freundlich aufge-
nommen. Sprach über [Heimberger], nett. Der Sohn war auch da, ich hatte keinen sehr
guten Eindruck. Um 1/2 7 zu Hause, schrieb Frau v. Schnitzler und Feuchtwanger 604, in
bester Arbeitsstimmung, sehnsüchtig und gerührt an Duschka gedacht. Dann bat mich Frau
v. Wandel zum Tee. Ich ging im Smoking hin. Wir unterhielten uns nett über Berliner Ver-
hältnisse, ihre alten Verwandten; eine Frau, die Stil hat. Ich ging vor 10 wieder in mein Zim-
mer. Sehnsucht nach Duschka. Will K. schreiben, dass sie mir nicht mehr schreiben soll.

Montag, 29. 10. 23


Bis 1/2 10 im Bett, gut ausgeschlafen, behaglich angezogen, gefrühstückt. Brief von Feucht-
wanger 605 (der P. Gnodalius hat sich in einem Antiquariat gefunden. Es ist mein Exem-
plar 606, also meine Bibliothek607 ist [verkauft]), erledigte einige Briefe, dann zur Universität,
sah Duschka, sprach mit ihr, wir gingen zusammen, sehr fröhlich, besorgten einen Rahmen
um ein Bild, ich wartete auf sie bei <…>; wunderschön, glücklich, herrliches Wetter, mittags
noch zu Braubach, ziemlich kühl, dann im Bergischen Hof 608 zu Mittag gegessen, nachher
zu Hause im [Bett] ausgeruht, um 3 zu Duschka in die Humboldtstraße, sie war liebevoll
und freundlich, ich küsste sie immer wieder und war ganz berauscht. Wir gingen zum

604 Vgl. Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 38. In dem Brief nennt Schmitt Namen für den
Versand von Freiexemplaren seines Buches über „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Par-
lamentarismus“ an Kollegen und „intelligente Publizisten“.
605 Der Brief vom 26.10. 1923 ist nicht erhalten.
606 Bei dem Buch, das Schmitt wegen Feuchtwangers Fund nicht mehr zu schicken brauchte (vgl. noch
Brief an Feuchtwanger vom 28. 10.1923, in: Rieß [Hrsg.], BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 38), han-
delt es sich um Petrus Gnodalius, Seditio repentina vulgi, praecipue rusticorum anno M. D. XXV.
tempore uerno per universam fere Germaniam exorta, paucisque diebus mirabiliter aucta …, Basel
1570.
607 Gemeint ist die Privatbibliothek in seiner Münchner Wohnung.
608 Hotel Bergischer Hof, Bonn, Münsterplatz 24.

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Oktober 1923 263

Königshof, sahen Fräulein Schifrin, mit der wir uns verabredet hatten, nicht gleich, einige
Sorge, sie kam aber gegen 4 Uhr, wir tranken bei Müller Kaffee, unterhielten uns über
Strindberg, Villiers de L’Isle Adam; ich war zu Tode betrübt, als Fräulein Schifrin sagte, es
sei geplant, dass Duschka im Januar für einen Monat nach Sizilien gehe; wir begleiteten
dann Fräulein Schifrin nach Hause, dann zum Venusberg, erst eine Auseinandersetzung
wegen meiner Traurigkeit über die Äußerung von Fräulein Schifrin, dann wunderbar glück-
liche Stunde auf einer Bank am Venusberg. Immer wieder geküsst, geliebkost, die Augen
geküsst; ich war berauscht und glücklich. Gegen 1/2 9 aßen wir im Bürgerverein zu Abend,
herrlich, glücklich, Duschka lacht und plaudert wie ein Kind, ich habe niemals ein solches
Glück empfunden. Begleitete sie gegen 10 Uhr nach der Humboldtstraße in ihre Wohnung,
dann selig nach Hause. Welch ein Tag.

Dienstag, 30. 10. 23


Sehr müde, die Nacht beherrscht, aber nervös. Bis 10 geschlafen, die Exemplare meines Par-
lamentarismus-Aufsatzes, Schmitz kam vorbei, dann Schulz, um wegen der politischen Ver-
hältnisse zu fragen, ich fühlte mich munter und überlegen (dank der Schulden <?>), dann
Dibelius, den ich ebenfalls mit bester Laune abwimmelte, dann zum Schuster. Zur Univer-
sität, Landsberg getroffen. Immer in bester Laune, zu Schmitz, dort traf ich Duschka, freute
mich darüber, begleitete sie in die Argelanderstraße, wo sie zu Mittag aß, ich zur Stadt zu-
rück, im Bergischen Hof zu Mittag gegessen, Birnen für Duschka gekauft, auf die Post
gewartet, dann das Buch an Feuchtwanger geschickt, zu Hause ausgeruht, im Bett, mich
über den schönen Parlamentarismus-Aufsatz gefreut, um 1/2 5 behaglich angezogen, Kaf-
fee, Frau v. Wandel sehr freundlich und besorgt, um 5 zu Rick, wo ich Duschka traf. Sie
hatte aber noch keine [Englisch-]Stunde gehabt, weil Rick den Nachmittag nicht zu Hause
war. Ich ging dann mit Duschka auf den Venusberg. Wir saßen ein paar Stunden oben in
Casselsruh in der Dämmerung und in der Dunkelheit auf einer Bank, küssten uns, ein wun-
derbares, liebliches Kind. Wir hatten auf dem Wege über die Identität des jugoslawischen
Staates gesprochen, sie ist klug und sachlich, das gefiel mir, und zugleich hatte ich Angst
davor. Wunderbares Mädchen, voller Verständnis für mich. Wir gingen in der Dunkelheit
zurück, ein herrlicher Weg, dann aßen wir im Bürgerverein etwas zu Abend, um 1/2 10
brachte ich sie in ihre Wohnung (unterwegs: Ich bin nicht traurig, ich habe nur einen
Augenblick, nach jahrelanger Flucht, das Gefühl der Sicherheit; sie sagte, mit wunderbarem
Verständnis: Sie können sicher sein). Gerührt und dankbar nach Hause. Welch ein wunder-
barer Tag.

Mittwoch, 31. 10. 23


Uni 1/2 8 weckte mich der Pedell, ich stand auf, herrliches Wetter, trank Kaffee, ging zur
Universität, bekam gleich mein Geld (fast 3 Billionen), dann zu Schmitz wegen der Noten
für Sonntagabend. Dann noch einige Besorgungen. Bei dem guten Schilling, der aufrichtige
Schilling von Fräulein Tadić, sehr komisch; zu Hause ein Student aus dem Saargebiet wegen
einer Dissertation609, mittags Wein gekauft, im Bergischen Hof gegessen, dann zu Hause

609 Ewald Bergmann wurde 1924 mit einer Arbeit über „Die Gesetzgebung im Saarland“ (Mönchen-
gladbach 1924) promoviert.

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264 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

ausgeruht, um 3 zu Duschka in die Wohnung, brachte ihr eine Chrysantheme mit, wir tran-
ken Punsch, den sie gemacht hatte, sie war beleidigt, als ich sagte (während wir uns küss-
ten), dass man aus dem Nachbarfenster uns sehen könnte, ich war müde und traurig. Wir
machten dann einen Spaziergang auf den Venusberg, saßen wieder fast 3 Stunden auf der
Bank in Casselsruh, sie weinte, weil ich ihr weh getan hatte, nachher küssten wir uns, ich
küsste ihr Herz. Welch herrlicher Weg durch den dunklen Wald nach Bonn zurück, wir
schwuren uns, dass wir einander gehören, sie sagte: Wenn ich von Ihnen gehe, gehe ich von
der Erde. Zweimal. Sie war wunderschön. Ich war begeistert, berauscht, niemals so glück-
lich. Wir gingen durch die Argelanderstraße zurück, ich trank noch im Bürgerverein
1/2 Liter Wein, wir aßen schön Brötchen, hatten uns sehr lieb, um 10 brachte ich sie nach
Hause in die Humboldtstraße, dann schnell (wegen des Belagerungszustandes) nach Hause.
Glückselig durch diese Frau, Duschka! Zu Hause ein Zettel von Kaufmann, Göppert. Ich
will morgen hingehen, bin aber glücklich, dass ich mich für 1 1/4 bei Duschka verabredet
habe.

Donnerstag, 1. 11. 23 (Allerheiligen)


Bis 10 geschlafen, das tat mir gut, um 10, während ich mich wusch, kam Göppert. Ich ver-
abredete mich für 11 Uhr; dann gefrühstückt, behaglich in der Erwartung des Wiedersehens
mit Duschka. Um 11 zu Göppert. Er wollte einen Vortrag für [Corps-]Studenten, ich lehnte
ab. Er war aber freundlich und wir unterhielten uns sehr schön über die Lage in Deutsch-
land. Zufällig kam auch Kaufmann, so dass ich mich gleich für den Abend verabreden
konnte. Immer mit dem Glücks- und Überlegenheitsgefühl, das mir die Liebe zu Duschka
gibt. Ich wartete auf sie in der Poppelsdorfer Allee gegen 1 1/4, Vormfelde kam vorbei, ich
begleitete ihn ein paar Schritte. Dann traf ich Duschka, sie ging mit mir zum Bürgerverein.
Ich aß dort [zu] Mittag. Sie war lieb und freundlich, wir gingen dann auf ihr Zimmer, mach-
ten einen Stundenplan, aßen eine Birne, dann küsste ich sie, ihre Augen, ihr Herz, ihre Knie.
Wunderschöne Frau. Sagte zu ihr auf russisch: schöne Mutter; ihre Haare lösten sich auf;
wunderbar. Um 6 gingen wir bei mir vorbei, ich küsste sie in meinem Zimmer. Dann beglei-
tete ich sie zur Elektrischen, sie sagte mir auf russisch: unersättlicher Knabe. Ich ging nach
Hause, ruhte mich etwas aus, kleidete mich um, zu Kaufmann, zu Abend gegessen, Wein
getrunken, gut unterhalten über die Zustände in Deutschland, über [er]freu[liche] Sachen,
mich interessierte nur sein Gutachten über den jugoslawischen Staat, weil ich immer an
Duschka dachte. Die Frau Kaufmann war sehr freundlich und herzlich gegen mich. Um
1/2 1 nach Hause (die Sperrstunde ist für heute aufgehoben), müde zu Abend, immer glück-
selig an Duschka gedacht. Wie gut kennt sie mich, wie weiß sie mich zu beruhigen, mir
Sicherheit zu geben, mir zu sagen, dass sie immer bei mir ist.

Freitag, 2. 11. 23
Bis 10 1/4 im Bett, ziemlich gut ausgeschlafen. Behaglich gefrühstückt, an Duschka ein paar
Zeilen geschrieben, in wunderbarer Stimmung (der schöne Traum), dann ein paar Besor-
gungen in der Stadt, nicht zu Mittag gegessen, um 1 1/4 Duschka getroffen, mit Zlata,
Duschka ging aber mit mir zum Essen in den Bürgerverein. Wunderbar schön, Fräulein
Schifrin abgereist (mit einer taktlosen Bemerkung über [die Gunst der Stunde], eine Anspie-
lung auf unsere Liebe), ich erzählte Duschka von dem Gutachten Kaufmanns über den
jugoslawischen Staat, es interessierte sie; ich habe sie unbeschreiblich lieb, wir gingen noch

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November 1923 265

zur Post, kauften Schokolade, saßen in einer kleinen Konditorei in der <?>straße und
unterhielten uns wunderschön über ihre Arbeitspläne, über uns selbst, ich habe ihr ein teu-
res Buch gekauft (sie will es nicht vor Weihnachten haben), begleitete sie um 6 nach Hause;
sie ist klug und will nicht, dass ich sie in den Laden begleite (mein Gott, wenn ich damit K.
vergleiche!). Sie begleitete mich durch die Br[ücken]straße, wir küssten uns <…>. Dann zu
Hause. Der versch[wundene] Rosenkranz von McK. Ich kleidete mich um, zu Landsberg,
schlechter Laune, der junge Landsberg [voll] jüdischer Dreistigkeit und Flegelhaftigkeit,
eine taktlose Gesellschaft, aber die Frau war freundlich und tat mir wohl. Man aß zu
Abend, ich kam mir dumm vor. Nachher, bei gutem Wein, disputiert, erst über Blei, dann
über Kaufmann. Leider ereiferte ich mich und trat für Kaufmann ein, fand aber den Wider-
spruch der ganzen Gesellschaft. Gegen 10 nach Hause. Traurig, gleichgültig, ekelhafter
Zustand. Dachte sehnsüchtig an Duschka und fühlte darin eine große Beruhigung. Gleich-
zeitig aber hatte ich Angst vor der Welt. Aber welch ein gutes, kluges Kind. Ich will <…>.
Ich will nichts mehr mit K. zu tun haben.

Sonntag, 3. 11. 23
[Leider musste ich] (wegen des Geldes an die Universitätskasse) früher aufstehen. Bis 1/2 10
geschlafen, dann zur Universitätskasse, es ist aber kein Geld da, bei Schilling vorbei, Dollar
gekauft. Das Geld ändert sich von Stunde zu Stunde. Mittags zu Kaufmann, blieb zu Mittag
da, unterhielt mich gut mit ihm, schimpfte auf Hensel, auf [schnellstem Weg nach] Haus,
um mich für Duschka umzukleiden. Ein Telegramm von André, dass er 2 1/2 kommt, und
ein Brief von Karl Lamberts, den ich nicht öffnete. Besonders große Eile <…> in die
Beethovenstraße, kein Zimmer frei, umso schlimmer, ging zu Duschka und blieb von 4–9
Uhr auf ihrem Zimmer. Sie kochte mir Kaffee in dem bosnischen Geschirr <…>, ich war
guter Dinge, sie sagte mir, wenn sie <…>. Sie gab mir den Namen „liebster <…>“, ich
küsste ihr Herz, ihr Haar löste sich, sie ist hingebend und schön. Erst um 9 Uhr ging ich
von ihr weg, lief nach Hause, <…>, Frau v. Wandel war auf, sie war gleich damit einverstan-
den, dass André in dem Zimmerchen nebenan übernachtet, was mich sehr freute. Wir unter-
hielten uns noch über Familiendinge (sein Vater <…> wird hier sein), hatten uns gern, ich
war sehr glücklich, André untergebracht zu haben und einen wirklichen Gast zu haben.
Müde ins Bett, sehr erkältet, Husten, war das schon Tuberkulose?

Montag, 4. 11. 23
Um 9 auf, mit André wunderschön gefrühstückt, gut unterhalten, freute mich, dass er mei-
nen Aufsatz über den Parlamentarismus so gut versteht (besonders den Satzschluss [„im
Bewusstsein von] Relativitäten“ 610). Dann kam Landsberg wegen der Arbeiten, unterhielt
sich sehr nett mit André, wir gingen etwas spazieren, durch den Hofgarten an den Rhein,
dann zu Schmitz, André aß im Bürgerverein. Ich ging zu Kaufmann und aß dort, nach dem
Essen kam André zum Kaffee, ich ging nach Hause und kleidete mich um, um 4 zu

610 Gemeint ist jener Satz, der im Festschriftbeitrag für Zitelmann fehlte und erst in der Broschüre bei
Duncker & Humblot gedruckt wurde: „Wie Trotzki gegen den Demokraten Kautsky mit Recht
bemerkt: im Bewußtsein von Relativitäten findet man nicht den Mut, Gewalt anzuwenden und
Blut zu vergießen.“ Schmitt, Parlamentarismus, S. 77.

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266 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Duschka, sie hatte in meinem Zimmer gelernt. Sie war rührend gut und liebevoll gegen
mich und hat mir zum Namenstag ein wunderschönes Kaffeegeschirr mit meinem Namen
und ihrem Namen geschenkt. Wir brachten es nach Hause (in meinem Zimmer küsste ich
ihren Mund und ihre Augen), wir gingen dann zu Schmitz, tranken Tee und aßen schönen
Kuchen. Schmitz spielte Chopin sehr schön, aßen schön zu Abend, mit André gesprochen
über Dostojewski, wobei Duschka sich wunderte, dass er Dostojewski so gut versteht. Ich
freute mich, Schmitz spielte noch die Mondscheinsonate, wunderbar, sie machte auf
Duschka großen Eindruck; um 9 1/4 begleitete ich sie nach Hause; sie war unendlich gut
und freundlich. Morgen beginnt dann ihr [Kursus] 611. Das liebe, gute Kind. Wir küssten uns
herzlich vor der Tür, dann ging ich nach Hause, wo André schon war. Wir gingen bald zu
Bett <…> [André sagte], dass in Straßburg das [Kaffeegeschirr] viel schöner wäre, dass er
ein wertvolles gekauft habe usw. (Arme, liebe Duschka). Müde ins Bett. Sehnsucht, ekelhaft
<?>.

[Am oberen Rand] André bei mir in Bon[n]

Montag, 5. 11. 23
1/2 8 auf. Schön angezogen, nicht rasiert, zur Universitätskasse, Geld geholt, mit Hensel
gesprochen, Neuß getroffen, dann nach Hause zurück, etwas gearbeitet, um 10 kam André
von seinem Zimmer, wir frühstückten zusammen, unterhielten uns nett, gingen dann wieder
in die Stadt, ich machte einen Anschlag wegen der Vorlesungen (fange Mittwoch an, Völ-
kerrecht zu lesen); dann mit André zu Schmitz und zum Bürgerverein, dort zu Mittag, nach
Hause, geschlafen, um 3 1/4 ein paar Zeitschriften von Klaes 612 zu Landsberg gebracht, wie-
der nach Hause, Kaufmann kam, wir tranken zu dreien Kaffee (aus dem Geschirr, das mir
Duschka geschenkt hat), dann zu Göppert, mit ihm und Kaufmann in ein Konditorei-Café,
über die <…> geschwätzt, die Göppert verteidigt, lächerliche Gesellschaft (keiner gab das
Geld für eine Fahrkarte nach Köln aus, obwohl sie ein interessantes Dokument hatte),
gleichgültig, unruhig, aber überlegen. Wenn nicht die tierische Angst wäre. Zu Hause auf
André gewartet, Hensel kam wegen der Vorlesung, ziemlich überlegen und kalt mit ihm
gesprochen. André kam während des Gesprächs. Wir gingen zum Hähnchen zum Abend-
essen, tranken Bier, unterhielten uns, müde nach Hause, immer dachte ich an Duschka, oft
traurig, oft freudig. Ich weiß nicht, was sie ist. Ich bin betrogen von mir selbst, das ist wahr.

Dienstag, 6. 11. 23
Ziemlich lange geschlafen, trotzdem müde, einiges erledigt, André will meinen Aufsatz über
den Parlamentarismus übersetzen. Mittags im Bürgerverein, sehr teuer. Nach dem Essen
Haare schneiden, dann zu Neuß, mit ihm Spaziergang am Rhein, die Osterreise nach Rom
überlegt, Neuß trank bei mir Kaffee, ein lieber, lieber Kerl. Dann mit André zu Hause,
etwas gearbeitet, gegen 7 kam Jup, sehr nett, ich schenkte ihm meinen Überzieher, wir gin-
gen zum Bürgerverein, tranken Wein, unterhielten uns sehr nett, er versäumte den letzten
Zug, wir gingen noch zu Schmitz, der sehr freundlich war und ihn bei sich übernachten

611 Gemeint sind die Englischstunden bei Dr. Rick; s. auch Eintragung vom 7.11. 1923.
612 Wilhelm Klaes, Expedient der Bonner Universitätsbibliothek.

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November 1923 267

ließ. Müde nach Hause, noch ein paar Glas Wermut, mit André über seinen Vater (der bald
heiraten will) gesprochen, müde zu Bett.

Mittwoch, 7. 11. 23
Gegen Morgen Ejakulation: Ich warte auf Duschka, es kommt eine Zigeunerin, grauenhafte
Ejakulation. Gebirge in Westfalen. Müde gegen 8 auf. Zur Quästur, voller Leute, ich lasse
mir das Geld von Schwickardy 613 geben, dann zu Hause die Vorlesung über Völkerrecht
geschrieben, für mein liebes Kind Duschka. Gegen 12 umgekleidet mit André zur Univer-
sität, hielt meine Vorlesung, sehr nett, wir aßen dann im Bürgerverein, nachher nach Hause,
ruhte etwas aus, trank Kaffee, dann um 1/2 4 zu Duschka. Sie war fröhlich und aufgeregt,
hat ihren Stundenplan schön eingehalten. Wir küssten uns, ich küsste ihr Herz, wir hatten
uns sehr lieb. Ein wunderbares liebes Kind. Ich begleitete sie etwas, dann zu André, bei
Rick vorbei, glücklich von Duschka zu hören, dann mit André zur Stadt, um 6 holte ich
Duschka ab, begleitete sie nach Hause und war sehr glücklich. Sie ist klug und verständig.
Ich ging dann nach Hause, las etwas, wir gingen um 7 1/4 zu Rick, mit ihm zum Bürger-
verein, nett unterhalten (etwas langweilig), guten Wein getrunken, viel Geld ausgegeben,
aber André will bei ihm Englischstunden nehmen mit Duschka. Dann müde nach Hause,
Wermut getrunken, zeigte André Briefe von [Fuchs] und anderen Leuten, gut unterhalten,
aber ich merkte, dass er sich über mich lustig machte, weil meine Weste nicht gut sitzt und
aus solchen Gründen. Abscheuliches Gefühl; liebe Duschka.

Donnerstag, 8. 11. 23
Um 1/2 9 aufgestanden, Karte von Robert Michels 614, der mein Buch über den Parlamenta-
rismus bekommen hat, Vorlesung vorbereitet, André kam ziemlich spät, herrlicher Kaffee,
dann gingen wir zur Universität, André kaufte Blumen, um Frau v. Wandel zu besuchen,
ich hielt meine Vorlesung sehr schön und freute mich, dass mehr Leute da waren als das
erste Mal. Nachher holte André mich um 1 ab, wir aßen im Hähnchen, gingen dann nach
Hause, ich machte ihm Kaffee, holte ihm Zigarettentabak, wir plauderten zusammen, ich
machte schnell einen Übungsfall zurecht, hielt dann meine Übung, der Landesgerichtsrat
Neuß war da, was mich störte, ein widerwärtiger Kerl, dann müde zu Schmitz, wo ich
André traf, wir aßen zusammen dort zu Abend, ein [Schulfreund] Andrés, Theo von Grün,
war da. Um 1/2 10 noch schnell mit André ein Glas Bier getrunken, dann zu Hause noch
geplaudert, über uns selbst, und Vater Andrés, der jetzt wieder heiratet. Müde und traurig
zu Bett.

Freitag, 9. 11. 23
Um 1/4 7 auf, André geweckt, der aber schon auf war, schnell angezogen, Kaffee gekocht,
gefrühstückt, mit André zur Bahn, herzlich verabschiedet. Dann ein herrlicher Spaziergang
zum Venusberg, dankbar an Duschka gedacht, gute Vorsätze, zu Hause die Vorlesung vor-
bereitet, das Dienstmädchen von Kaufmann kam wegen einiger Bücher, ich ging zur Bank,
schickte Hegner das Geld für die Bücher, gab Schilling 8 Milliarden umzuwechseln, wieder

613 Karl Schwickardy, Pedell der Juristischen Fakultät der Universität Bonn.
614 Briefkarte vom 6.11. 1923, in: Tommissen, In Sachen Carl Schmitt, S. 85 f.

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268 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

zu Hause, behaglich umgekleidet, rasiert, dann meine Vorlesung, in der der junge Lands-
berg war, was mich etwas störte. Aber mit großer Seelenruhe und Routine gelesen. Nach-
richt vom Putsch in München, Ludendorff 615. Schrecklich, aber ich dachte nur an Duschka,
die ich nachher sehe. Bei Kaufmann zu Mittag gegessen, über Hensel geärgert, wir gingen
zusammen zur Fakultätssitzung, über den Antrag Isay <?>. Ich präsidierte, man will ihm
eine Remuneration verschaffen, wütend, keine gute Figur. Um 1/4 nach 5 weggegangen, ein
paar Worte mit Göppert über den Ludendorff-Putsch, dann nach Hause, den Brief für
Duschka zurecht gemacht, Landsberg meine Schrift über den Parlamentarismus (er will sie
Scheler geben); zu Duschka. Das arme Kind fror. Bald war es wieder warm im Zimmer, sie
hat ihren Stundenplan schön eingehalten, wir küssten uns immer herzlicher, ich küsste ihr
Herz und ihre Augen, ich sehe, dass sie mich liebt. Sie nähte etwas in meiner Anwesenheit,
dann machte sie das Abendessen, liebes, gutes Kind. Wir küssten uns noch lange, um 1/2 9
ging ich, ich musste zu Schmitz, dem ich versprochen hatte, um 1/2 8 zu kommen, Schilling
und seine Frau waren schon da. Schmitz spielte Chopin, ergreifend, wunderschön die Etüde
cis-moll. Erfüllt von dieser schönen Musik nach Hause (nachgedacht über Chopin und
<…>, seine Musik nur der Schleier über das Glück. Außerdem ein Nationaltanz, eine
Mazurka; immer wieder das Nationale), dann noch Tagebuch geführt. Ziemlich müde.
Froh, ein paar freie Tage vor mir zu haben.

Samstag, 10. 11. 23


Bis 9 geschlafen, aber noch nicht genug geschlafen. Traum: Ich sah Duschka in einer Kirche,
viele [waren da], sie nicht mehr. Schnell angezogen, etwas gearbeitet, es war aber ziemlich
kalt im Zimmer, dann kam der Referendar Zimmer 616. Um 1/2 1 zur Stadt, gegessen, Blu-
men für Duschka gekauft, Zeitungen gekauft (die <…>), im Bürgerverein zu Mittag, alles
ziemlich teuer, sodass man beständig mehrere Billionen ausgibt. Nach dem Essen schön
rasiert, ausgeruht, zuletzt sogar geschlafen, dann zu Duschka, fröhlich, herzlich <…>, einen
Spaziergang zur Universität. Ich war aber bald müde und traurig, sie war rührend, freund-
lich. Umarmten uns, küssten uns. Dann im Bürgerverein zu Abend, immer leider so müde.
Um 8 begleitete ich sie nach ihrer Wohnung; morgen wollen wir uns wieder treffen. Tod-
müde nach Hause. Voller Dankbarkeit und Liebe zu Duschka. Aber die Müdigkeit, fürchte
ich, sei mir fremd. (Heute sagte ich ihr: Ich bin ein Kind und doch noch <…>. Wunderbar,
wie die <…>.) Ging gleich zu [Bett], ich las noch etwas, sehr müde um 1/2 11 eingeschlafen.

615 Gescheiterter Münchner Putsch Adolf Hitlers, Erich Ludendorffs und anderer vom 8./9. 11.1923,
der ein reichsweites, bis Februar 1925 aufrechterhaltenes Verbot der NSDAP zur Folge hatte.
616 Alois Zimmer (1896–1973), 1914–1918 Kriegsdienst, 1924 mit einer Arbeit über „Parlamentaris-
mus und Föderalismus als verfassungspolitisches Problem in der deutschen Reichverfassung“ bei
Schmitt (Zweitgutachten Hans Schreuer) promoviert, 1928–1933 Landrat von Stuhm/Westpr.,
1933–1938 im Regierungspräsidium Trier, 1938–1942 und, nach Kriegsdienst und -gefangenschaft,
1945–1947 Gutsverwalter in Grünhaus bei Mertesdorf, Mitbegründer der CDU/Rheinland-Pfalz,
1947–1951 Regierungspräsident in Montabaur sowie 1947–1957 Mitglied des Rheinland-Pfälzi-
schen Landtags, 1951–1957 Innen- und Sozialminister, 1957–1965 MdB. Vgl. auch TB III, S. 115,
180.

https://doi.org/10.3790/978-3-428-54308-3
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November 1923 269

Sonntag, 11. 11. 23


Um 7 auf, rasiert, dann wieder zu Bett, um 8 wieder auf, schön angezogen, Kaffee, der
Briefträger brachte Zeitungen <…>, ferner eine Drucksache von Salin, der sich für den Auf-
satz über den Parlamentarismus bedankt, ein schöner Brief von Feuchtwanger 617, der mich
freute. Wartete auf Duschka in der <…>, liebes Kind, kam in großer Eile, aber sehr fröhlich.
Wir gingen in herrlicher Morgensonne auf den Venusberg, frühstückten in Casselsruh,
übersetzten dort [Verse] von Bojić. Saßen am warmen Ofen, ich sprach [von meiner Ant-
wort auf] die Widmung von K. Sie ist ein wunderbares, gutes Kind. Wir gingen langsam
zurück, bei herrlichem Wetter, in großer Liebe, ich küsste sie oft. Im Bürgerverein zusam-
men zu Mittag gegessen. Ich erzählte von den schrecklichen Zuständen bei André, sie
weinte und bekam wieder einen Anfall und sagte, das erinnere sie an Zustände in ihrer eige-
nen Familie. Arme, schöne Duschka. Wir sprachen dann noch etwas in großer Ruhe (sie
wollte mich strafen, weil ich eine Verabredung abgesagt hatte, um mit ihr zu Mittag zu
essen), glücklich, der Strafe entronnen zu sein. Sie fühlte, dass ich traurig wurde, als sie von
einem jugoslawischen Freund sprach; sie sagte, ich dürfe nicht traurig sein, wenn ich sie
zufällig einmal mit einem Mann auf der Straße sehe; alles so gut und klug, dass ich aufs
tiefste gerührt war. Ich sehe, dass sie mich liebt, und liebe sie, wie niemals eine Frau. Beglei-
tete sie nach Hause, dann zu Hause müde zu Bett, geschlafen, um 4 kam Neuß. Ich war erst
schlechter Laune, ging aber mit ihm, trank bei ihm Kaffee, dann machten wir einen schönen
Spaziergang nach Gielsdorf 618. Schönes kaltes Wetter, Neuß ist ein guter, lieber Kerl, aber
ich dachte immer an Duschka in großer Sehnsucht. Um 7 zurück, sehr müde, ich aß etwas
zu Hause, Frau v. Wandel machte mir Tee, bei der Lampe noch etwas aufgeräumt, ziemlich
müde vom vielen Laufen. In herzlicher Liebe an Duschka gedacht.

Montag, 12. 11. 23


Nachts ekelhaft von meiner Schwester Üssi geträumt. Um 8 auf, schnell angezogen, zur
Universität, den Pedell getroffen, der mir das Geld schon brachte. Fröhlich nach Hause,
gefrühstückt, schön meine Vorlesung Völkerrecht recht überlegt, dann gegen 11 Uhr zur
Darmstädter Bank, dort sah ich Duschka, begrüßte sie aber nur kurz, wir gingen dann jeder
unserer Wege, ich hatte oft Misstrauen und Angst gegen sie, erledigte einiges mit Schilling,
dann wollte ich nach Hause zurückgehen und sah Duschka mit einem Ausländer über die
Straße gehen, vor dem Bahnhof, bog traurig ab, sie hatte mich aber gesehen, lief mir nach,
rief mir und wusste, dass ich traurig gewesen war. Ich war erstaunt und gerührt von ihrer
Güte, begleitete sie zur Deutschen Bank, dann gingen wir am Rhein, sie sagte, ich wäre ein
Othello, erzählte von dem Ingenieur, der so eifersüchtig war, ich war traurig, dann wieder
gerührt von ihrer Güte, unerklärlich, hatte sie unbeschreiblich lieb, wir sprachen noch über
sie, sie war traurig, hustete wieder, erzählte davon, dass ihr Vater gesagt hatte, es sei das
beste, wenn sie sterbe; liebes, schönes Kind. Wir gingen noch vor der Universität im Hof-
garten auf und ab, bis 1 Uhr. Dann begleitete ich sie nach der Argelanderstraße, aß mit Ver-
spätung bei Strassberger zu Mittag, dann mit Vormfelde etwas spazieren, immer nach
Duschka ausgeschaut, er erzählte von seinen Leidenschaften, der Notwendigkeit, sich zu

617 Brief vom 9. 11.1923, in: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 41 f.


618 Ortsteil von Alfter, westlich von Bonn.

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270 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

verheiraten usw. Müde nach Hause, etwas ausgeruht, Kaffee getrunken, etwas gelesen über
Platon von Landsberg 619, dann zum Vortrag Kaufmann in der Kunstakademie 620, der Vor-
trag war schlecht aufgebaut, aber sehr stark [in rhetorischer Hinsicht], besonders am
Schluss (der Saum des Mantels [weht in diesen Tagen] der dichten Weltgeschichte wegen);
ich lud ihn und seine Frau ein, wir gingen in den Bürgerverein, tranken zwei Flaschen schö-
nen Rheinwein, Niersteiner, aßen gut zu Abend (6 Billionen, unterhielten uns nett über
Smend, dessen Schrift über politische Gewalt 621 Kaufmann als einen Bankrott bezeichnete),
zu Hause, unternehmend, angeregt durch den Wein, tiefsinnig, noch etwas Völkerrecht auf-
geschrieben (für mein Kind Duschka). Einen schönen Brief an sie entworfen; müde, aufge-
regt zu Bett; Ejakulation.

Dienstag, 13. 11. 23


Morgens um 9 ziemlich munter auf, Vorlesung schön vorbereitet, Brief von der Bibliothek
München an die Dame, dass sie die Sache der Polizei übergibt, wenn die Bücher nicht
zurückkommen, die sie entliehen hat 622. Ekelhaft. Fräulein Tadić <…>. Um 12 zur Univer-
sität, hielt meine Vorlesung sehr schön, nachher aber sehr müde, erschöpft. Bei Strassberger
zu Mittag, mit Vormfelde in meine Wohnung, gab ihm meinen Aufsatz über Parlamentaris-
mus, dann müde zu Bett, grauenhaft, wieder Ejakulation. Um 4 auf, Kaffee gemacht, her-
umgelesen, vor 6 zur Universität, erste Sitzung meines Seminars (habe heute an Feuchtwan-
ger 623 und Michels geschrieben). Langweilige, dumme Kerls, das gute Fräulein Esser ist
wieder da, geärgert über Braubach, der devot herumschleicht. Kein interessanter, vernünfti-
ger Mensch. Um 7 eine Menge Leute behandelt, dann schnell zum Bürgerverein, da ich
Duschka treffen wollte. Sie kam um 1/2 8 mit der Elektrischen, das gute, liebe Kind, gelau-
fen, um mich nicht zu verfehlen. Wir gingen etwas über die Poppelsdorfer Allee spazieren,
dann zeigte ich ihr die landwirtschaftliche Hochschule, wo Beckmann624 las. Dann zum
Bürgerverein, [zu] Abend gegessen, ich trank schönen Rotwein dazu, wir unterhielten uns
sehr schön (Duschka war gestern um 6 bei mir gewesen, hatte mich aber zu Hause nicht
treffen können), sprachen über Fräulein F<…>, die Fräulein Tadić nach Hamburg nachge-
reist war. Duschka war rührend, freundlich, mütterlich, durchschaute mich immer (ich
sagte: Unser Spaziergang [am] Sonntag war aber auch sehr schön), wir lachten über meine
Kindlichkeit, gingen gegen 10 nach Hause, sie fühlte, dass ich unruhig war, wir küssten uns

619 Paul Ludwig Landsberg, Wesen und Bedeutung der platonischen Akademie. Eine erkenntnissozio-
logische Untersuchung (= Schriften zur Philosophie und Soziologie, Bd. 1), Bonn 1923. Schmitts
Exemplar enthält die Widmung „Herrn Professor Carl Schmitt in aufrichtiger Verehrung P.L.L.
9. 11. 23.“, vgl. Schmittiana NF II 2014, S. 163.
620 Gemeint ist vermutlich das Bonner Akademische Kunstmuseum am Hofgarten.
621 Siehe Anm. 349.
622 Cari hatte von der Staatsbibliothek drei Bücher entliehen, aber nicht zurückgegeben; Feuchtwanger
besorgte Ersatzexemplare; vgl. Brief Schmitts an Feuchtwanger vom 24.11. 1923, in: BW Schmitt-
Feuchtwanger, S. 45 f.; Brief Feuchtwangers an Schmitt vom 28.11. 1923, in: ebd., S. 47.
623 Vgl. Brief vom 13. 11.1923, in: BW Schmitt–Feuchtwanger, S. 42 f.
624 Friedrich Beckmann (1888–1954), Dr. rer. nat., Dr. phil., 1915 Dozent Handelshochschule Köln,
1918 o. Prof. ebd., 1921 nebenamtl. Honorardozent an der landwirtschaftlichen Hochschule in
Bonn-Poppelsdorf, 1923–1940 o. Prof. und Direktor am Institut für Volkswirtschaftslehre, 1946
Honorarprof. Universität Bonn.

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November 1923 271

herzlich vor dem Haus. Sie ist eine treue Frau und Mutter, ich bin berauscht von ihrer Güte
und Weiblichkeit. Sehnsüchtig nach Hause, müde zu Bett.

Mittwoch, 14. 11. 23


Müde, eigenartige hilflose Spannung, schrecklich, vielleicht das Bonner Klima. Aß vor
9 Uhr, Karl Lamberts telephonierte, dass er nicht kommen kann. Ich war im Grunde zufrie-
den, ruhig zu Hause bleiben zu können, obwohl ich Karl Lamberts gern wiedergesehen
hätte. Arbeitete etwas, sehr extensiv, dann zum Rechtsanwalt, ekelhaft, die Akten von Mün-
chen; am 26. ist Termin. Dann zur Bibliothek, dem Direktor Rath 625 ein Exemplar meiner
Schrift über den Parlamentarismus geben lassen, ein paar russische Bücher (Turgenjew),
dann meine Vorlesung Völkerrecht, etwas müde, nach dem Essen gleich etwas geschlafen,
verwaltungsrechtliche Übung schlecht vorbereitet, 1/2 4–5, mit gutem Elan angefangen,
aber allmählich müde. Dann auf Duschka gewartet, sie kam atemlos 1/4 nach 5, hatte Kopf-
schmerzen, weil es in ihrem Zimmer geraucht hat, armes Kind. Sie nahm meinen Arm, wir
gingen am Rhein spazieren, saßen lange auf einer Bank, es regnete, sie lehnte den Kopf an
meine Schulter; armes, schönes, gutes Kind. Ich aß im Krug zum Grünen Kranze, sie aß
nichts, dann gingen wir nach Hause, ich begleitete sie in die Humboldtstraße, nach Hause,
ziemlich müde, Zeitung gelesen, Bücher von Karl Löwenstein 626 bekommen, <…>, auf-
dringlich. Ziemlich müde herumgesessen. Behaglich, mit Sorgen und sehnsüchtig an
Duschka gedacht. Schrieb ihr einen schönen Brief, brachte ihn zum Kasten, eine Karte an
Braubach und an Löwenstein. Mehrere Gläser Wermut. Munter, frisch, unternehmend zu
Bett, Turgenjew gelesen, ergriffen von der Figur der Lisa.

Donnerstag, 15. 11. 23


Um 7 wach, um 8 müde auf, aber schnell munter, herrlicher Kaffee, kein Brief, um 9 mit der
Rheinuferbahn nach Köln, wunderschöner Tag. Sehnsüchtig an Duschka gedacht, zum
Referendar-Examen <…>, langweilig, müde, glücklich, als es 1/2 4 war. Mit Landsberg zur
Rheinuferbahn und nach Bonn zurückgefahren, gut unterhalten. Um 10 vor 5 angekom-
men, schnell eine große Birne bei der Spanierin gekauft, dann zur Universität, vor dem Vor-
lesungssaal von Dietzel auf Duschka gewartet, sie kam aber nicht, Herrn Mansur begrüßt,
Geheimrat Schulte sprach mit mir und entwickelte seine neue Theorie des Staffel<?>krieges,
ich wartete zitternd auf Duschka, endlich kam sie, das gute Kind, sie war nicht in der Vor-
lesung, aber hatte geahnt, dass ich dort warte, ich begleitete sie in die Wenzelgasse, wo sie
Schuhe kaufte. Dann gingen wir durch den Hofgarten in meine Wohnung. Ich stellte sie
Fräulein v. Wandel vor. Sie ruhte auf der Ottomane aus, ich schrieb unterdessen; wunder-
schön, wie gut und hingebend ist sie. Ich küsste ihre Augen. Um 7 gingen wir zum Essen in
den Bürgerverein, herrlicher Rheinwein, schön gegessen, fühlte mich sehr wohl, Duschka
war prachtvoll, lieb, sie sagte, sie würde <…>. Sie schlug vor, dass wir Weihnachten in Hei-

625 Erich von Rath (s. Teil I, Anm. 269).


626 Karl Löwenstein, Volk und Parlament nach der Staatstheorie der französischen Nationalversamm-
lung von 1789. Studien zur Dogmengeschichte der unmittelbaren Volksgesetzgebung, München
1922; ders., Die britischen Parlamentswahlen im November 1922. Eine staatsrechtliche Betrach-
tung, München 1923.

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272 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

sterbach verbringen. Herrlich. Ich begleitete sie nach Hause, sie war guter Dinge, um 1/2 10
nach Hause, glücklich über diese schöne, hingebende, wunderbare Frau (wie schön sind
ihre Füße, wie würdig ist ihr Gang). Sprach noch freundlich mit Frau v. Wandel, ein paar
Studenten kamen, um sich nach dem Examen ihres Freundes zu erkundigen. Dann ging ich
müde zu Bett, begleitet von dem Gedanken an die schöne, liebe Duschka.

Freitag, 16. 11. 23


Noch immer .627 Nachts gegen 4 schrecklicher sexueller Traum: Die Frau von Max Sche-
ler kommt zu mir ans Bett, ich stecke meinen Finger in ihren Mund, grauenhafte Geilheit.
Ich werde wach, gierig, in sexueller Spannung. Stand auf, wusch mich, das beruhigte mich.
Morgens bis 9 im Bett, schön gefrühstückt, wenig getan, ein paar Briefe geschrieben, um 11
zu Schmitz, für heute Abend mich gesichert, dann zu Schilling, 50 Franken geholt, ich traf
zufällig Frau Landsberg, in einem schwarzen Kleid, sie war schön, und hatte Einkäufe
gemacht. Ich begleitete sie bei herrlichem Wetter bis zum Baumschulwäldchen, erzählte ihr
von der Wohnung, die Duschka braucht, sie war nett, gleich hilfsbereit, dann meine Vor-
lesung gut gehalten, nachher kam ein Spanier, der [ein] Zeugnis wollte. Fröhlich zum Essen,
dann traf ich Neuß, ging mit ihm in der Richtung Mondorf, durch die Pappelallee auf der
rechten Rheinseite. Wir sprachen über die Herrschsucht der Oberin im Malteserkloster 628,
müde zurück, etwas eingekauft, an der Ecke der Colmantstraße und Meckenheimer Allee
traf ich zufällig Duschka, die mich anrief; sehr froh darüber, begleitete sie zur Universität
(unterwegs begegnete uns Theodor Kaiser) ich war müde, aber glücklich, bei diesem wun-
derbaren Kind zu sein. Sie sagte, sie habe einen schweren Traum gehabt, ich wagte nicht zu
fragen, was es war. Dann zu Hause schöner umgekleidet zu Frau Landsberg zum Tee,
brachte ihr Friedrich Schnack, Vogel Zeitvorbei 629, mit, wir unterhielten uns, mir war es
nicht behaglich, hatte Angst vor der Frau, die sehr schön ist, erinnerte mich an den schreck-
lichen Traum von der Nacht und Frau Scheler. Um 1/2 7 zu Duschka, die schon das Essen
zurecht gemacht hatte. Sie erzählte ihren Traum: Ich bin bei ihr, eine schwarze Dame kam
zu mir, ich ging mit ihr, ein Räuber kommt, sie erwartet, dass ich ihr helfe, ich sagte aber: es
ist ja doch vergebens; dann sagte sie dem Räuber, er solle mich fressen. Der Räuber geht
dann ohne weiteres. Erkannte allmählich die unheimliche Bedeutung des Traums: Scheler,
dieser Komplex <?>, mein sexueller Traum in der Nacht vorher. Liebes, schönes, hellseheri-
sches Kind. Wir hatten uns sehr lieb, aßen zusammen zu Abend, dann fuhren wir mit der
Elektrischen zu Schmitz, der uns das Andante aus der 7. Symphonie [von Beethoven]629a
vorspielte, es machte auf Duschka großen Eindruck. Dann spielte er noch die Mondschein-
sonate. 1/4 vor 10 gingen wir, es war ein schöner Abend; ich habe Schmitz gern. (Empört
darüber, dass, wie Neuß mir sagte, die Studenten den Schmitz eine Filmgröße nennen.) Wir
gingen bei herrlichem Mond nach Hause zurück, verabschiedeten uns herzlich, dachte
immer noch an den Traum, eine unbeschreibliche Liebe zu Duschka, Angst vor der Frau
Landsberg. Der Traum Duschkas war eine Warnung. Wie ich dieses wunderbare Kind liebe!

627 Mond im Sternkreiszeichen Wassermann; s. Anm. 502.


628 Gemeint ist die Oberin der Schwestern im Malteser Mutter- und Krankenhaus (s. Anm. 494).
629 Friedrich Schnack, Vogel Zeitvorbei. Gedichte, Hellerau 1922.
629a Siehe Anm. 709.

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November 1923 273

Samstag, 17. 11. 23


Um 8 auf (daran denkend, dass Duschka auch aufsteht), schön gefrühstückt, englisch mit
Kalbssteak usw. Gerührt über die Freundlichkeit der Frau von Wandel. Herrlicher Kaffee,
aufgeräumt, Brief an Georg Eisler geschrieben, dann kamen mehrere Studenten wegen ihrer
Referate, darunter ein sympathischer Junge, B[ender] 630 aus München-Gladbach. Neuß
nahm den Römischen Katholizismus für Frau v. Weinberg 631 mit. Um 1/2 1 zu Rechtsan-
walt Meyer, Angst, dass der Prozess schlecht ausgeht, so wie bei Turgenjew, Adelsnest 632,
die Frau zurückkehrt. Nach dem Essen ein paar Schritte mit Vormfelde, dann ausgeruht,
um 1/2 4 zu Duschka (vorher alle möglichen Hindernisse, die Wäsche kam, das Mädchen
konnte nicht herausgeben, der Schirm zerbrach), traf Duschka und Fräulein Tadić, beide
sehr munter, brachte Fräulein Tadić eine <…>Pastete mit. Sie blieb bis 1/2 5, dann blieb ich
bis 1/2 9 bei Duschka allein. Wir aßen zusammen zu Abend, ich war etwas müde, sie küsste
mich, zärtlich und gütig, ich war wieder über alle Maßen glücklich und ganz hingegeben an
ihre liebevolle Güte und Schönheit. Wir lasen etwas Russisch, sie las mir Turgenjew vor,
schließlich umarmten und küssten wir uns, ich küsste ihr Herz, sie immer wieder meine
Augen. Um 1/2 9 glückselig nach Hause (nicht durch die Humboldtstraße, um nicht an
Frau Landsberg vorbei zu müssen). Zu Hause müde, ein paar Notizen, immer dankbar und
glücklich an Duschka gedacht.

Sonntag, 18. 11. 23


Um 1/4 9 auf, Frühstück, etwas an der Vorlesung Völkerrecht geschrieben, um 10 kam
Dr. Richard Schmitz, ein netter Junge, der mit 23 einen schönen Posten beim Bauverein <?>
in Düren633 bekam und eine Empfehlung wünschte. Er begleitete mich, ich ging dann zum
Rechtsanwalt Meyer, besprach mit ihm 2 Stunden die Akten, ärgerte mich über seine Schlaf-
mützigkeit, sah mit Schrecken meine Dummheit in dem Prozess, dachte an Duschka. Müde
und zerschlagen zu Mittag, dann zu Hause ausgeruht, um 1/4 4 in der Beethovenstraße auf
Duschka gewartet, sie kam, sie hat heute Morgen gearbeitet und den roten Punkt wieder
gutgemacht. Wir gingen in mein Zimmer, ich gab ihr das in Pergament eingebundene Exem-
plar meines „Parlamentarismus“ mit einer schönen Widmung (Zur Erinnerung an das Som-
mersemester 1923, an <…> und Dostojewski, Völkerrecht <…>, an den Rhein und das Sie-
bengebirge und an Ihre Seele). Sie war gerührt, küsste mich, ein wunderbares Kind. Als wir
weggingen, stellte ich sie Frau v. Wandel vor, die sehr freundlich war und uns beiden gefiel.
Ich war tief traurig, weil ich an den schrecklichen Traum dachte, sie fühlte es, wir gingen
noch in den Hofgarten, ich staunte über ihre Güte und Hellsichtigkeit; ich wollte nicht
mehr zu Schmitz gehen, als bis alles wieder geklärt war. Wir kauften Kuchen an der Godes-
berger Bahn, begegneten Göppert mit seiner Frau (er sagte mir: „Es behielt <?> ihn nicht“),
ich war heimlich stolz, dass er mich sah, dann [doch] zu Schmitz, Kaffee getrunken, das
Andante gespielt, ich war müde, Duschka fühlte es und war infolgedessen traurig und hörte

630 Nicht ermittelt.


631 Sie bedankte sich dafür in einem Brief an Schmitt vom 26.11. 1923 (RW 265-17842).
632 Vgl. Ivan Turgenjew, Ein Adelsnest. In dem 1859 erschienenen Roman erkennt der adelige Prota-
gonist seine Heirat mit einer Salonschönheit als Irrtum.
633 Die Dürener Bauverein AG wurde 1902 gegründet.

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274 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

fast gar nicht zu. Um 7 gingen wir, aßen zusammen im Bürgerverein, unterhielten uns wun-
derschön, küssten uns auf der Straße (sie will bald ausziehen in die Humboldtstraße). Herz-
licher Abschied. Wie weiß sie mich zu behandeln und mir zu sagen: Ich bin bei Ihnen.
Gerührt und berauscht zu Heimberger, müde, gleichgültig. Meissner, Schulz mit seiner Frau
da. Frau v. Heimberger [mochte] mich offenbar. Man sprach über Musik, den armen Max
Anton, müde um 1/2 12 nach Hause.

Montag, 19. 11. 23


Um 8 auf, der Pedell brachte Geld, etwas gearbeitet, Völkerrecht, schön gefrühstückt, ein
Brief von Blei634, der gute, arme Kerl. Das Paket mit den Büchern kam, herrlich. Gegen
11 Uhr ging ich einige Besorgungen machen, holte die Bilder ab, die ich für Duschka hatte
einrahmen lassen, war aber nicht damit zufrieden. Mit Zimmer nach Hause, Frau v. Wandel
war rührend freundlich. Ich machte noch einige Ausschnitte, dann zum Essen, nachher 2
Stunden gut geschlafen, aber immer noch nicht genug. Um 4 wechselte ich Frau v. Wandel
ein englisches Pfund gegen französisches Geld, ein Brief von Lurz aus Tölz und von <…>.
Dann zu Kaufmann, dort Tee getrunken, freundlich [mich] mit ihm unterhalten über ein
paar Studenten, über die politische Lage, begleitete ihn zur Universität (er durchschaut den
Egoismus von Leuten wie Göppert sehr gut), dann im Regen nach Hause, Feigen und Man-
deln gegessen, müde, traurig, ein Brief an Ehrhard, eine Karte an Eisler, Empfangsbestäti-
gung wegen der Bücher. Dann zu Schmitz, dort Brötchen gegessen, sehr müde, über die
Coriolan-Ouvertüre von Beethoven und die Interpretation Wagners 635, der die Ouvertüre
als Pantomime auffasst. Schmitz begleitete mich nach Hause. Müde zu Bett. Morgen Abend
sehe ich Duschka (die kleine <…> bei Schmitz fragte, als sie mich sah: Wo ist die Tante?).

Dienstag, 20. 11. 23


Um 1/4 9 auf, gut ausgeschlafen, schön gefrühstückt, Vorlesung vorbereitet, mit großer
Freude Radek über den Vertrag von Versailles 636 gelesen. Vorlesung über Monroe-Doktrin
sehr schön (freute mich, dass Mansur, der Ägypter, da war), nachher mit Gerber zu Mittag
gegessen im Hähnchen, ein netter, guter Kerl, aber wenig gewandt, dann zu Pfarrer Custo-
dis 637, bei schönem Wetter. Ein netter, intelligenter, anständiger Mann, sehr angenehme
Unterhaltung, ich soll Zeugen nennen, die bestätigen, dass ich die Ehe unter einer Bedin-
gung geschlossen habe. Fröhlich nach Hause, dort machte mir Frau v. Wandel schönen Kaf-
fee, ich las Radek, schrieb etwas, Herr Schlemmer, ein Referendar, der bei mir promovieren
will638, kam, ich behandelte ihn freundlich. Dann um 1/2 7 umgekleidet und zu Rick, wo ich

634 Vermutlich der Brief Nr. 29 o. O., o. D., in: Blei, Briefe an Carl Schmitt, S. 60 f.
635 Vgl. Richard Wagner, Programmatische Erläuterung zur Coriolan-Ouverture, 1852, in: ders., Sämt-
liche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe, 6. Aufl., Leipzig 1911–1914, Bd. 5.
636 Karl Radek, Der Kampf der Kommunistischen Internationale gegen Versailles und gegen die
Offensive des Kapitals. Bericht, erstattet in der Sitzung der Erweiterten Exekutive der K. J.,
Moskau, 15. Juni 1923, und in der Sitzung der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen
Jugend-Internationalen, Moskau, 13. Juli 1923, 2. Aufl., Hamburg 1923.
637 Bernhard Custodis (1867–1951), Dr. iur. can., ein Duz-Freund Adenauers, 1912–1951 Pfarrer der
Elisabeth-Kirche, Bonn, wohnte in der Hertzstraße 2. Seit 1978 ist diese Straße nach ihm benannt.
638 Nicht ermittelt.

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November 1923 275

Duschka traf. Nett mit Rick unterhalten, brachte ihm Gedichte von Schnack. Mit Duschka
zur Universität, im Hofgarten und am Rhein, dann zu einer Ausländerversammlung,
während ich im Gang der Universität wartete und auf und ab ging. Sie kam nach einer hal-
ben Stunde, wir gingen in den Bürgerverein zum Abendessen. Sie war unbeschreiblich lieb,
hingebend und sagte mir, dass sie sich an meiner Liebe erwärmt habe, gestern Abend, als sie
die schöne Widmung las, sie küsste immer wieder meine Hand. Niemals habe ich sie so hin-
gebend lieb und so mädchenhaft vertrauend gesehen. Um 1/2 11 (also zu spät) gingen wir.
Sie wohnt wieder in der Argelanderstraße. Sie küsste mich unterwegs, auch vor dem Haus,
obwohl Studenten dabei standen. Gutes, liebes Kind. Ich ging selig und glücklich nach
Hause.

Mittwoch, 21. 11. 23


Nachts sehr schlecht geschlafen. Qualvolle Überlegungen, ob ich Duschka die Decke brin-
gen soll. Entsetzliche Angst vor einem Betrug, grauenhaft; Ejakulation. Um 1/2 9 müde auf,
beim Tageslicht wurde mir besser. Zwei Briefe von McK., die ich aber nicht öffnete. Ich will
endlich K. abschütteln. Dann ein langer Brief von Löwenstein 639, der mich interessierte. Ich
konnte nicht arbeiten, weil ich immer auf Duschka wartete, entsetzliche Angst, Herzbe-
schwerden. Nichts gearbeitet. So verging der Vormittag. Mittags kaufte ich Zeitungen,
müde nach Hause, müde zum Essen, nachher in plötzlichem Entschluss Spaziergang zum
Venusberg. Das tat mir gut. Dann im Bett, 2 Stunden, immer nur gewartet, bis es 6 Uhr ist,
damit ich Duschka besuchen kann. Wunderschön Kaffee getrunken, das bosnische Slatko640
gegessen, dann mit der Decke und 3 schönen Chrysanthemen zu Duschka, sie war wunder-
bar freundlich (in der Argelanderstraße), wir küssten uns, lasen Hölderlins „Heimat“,
gerührt und ergriffen. Wunderbares Kind. In herzlicher Liebe immer geküsst, aß bei ihr zu
Abend, sie machte mir viele Brote mit Wurst, es war wunderschön. Sie war ganz hingege-
ben, ich küsste ihr Herz. Bis 9 1/4 blieb ich da, dann in einem wahren Rausch nach Haus.
Glücklich, dass sie morgen um 10 Uhr schon wieder zu mir kommt. Ich suchte zu Hause
Mark Aurel, den ich verschenken wollte, fand ihn aber nicht. Dann allmählich müde, etwas
herumgelesen, behaglich, glücklich von dem schönen Nachmittag bei Duschka. Glücklich
zu Bett.

Donnerstag, 22. 11. 23


Ziemlich gut geschlafen, um 1/2 9 auf, auf Duschka gewartet, schön gefrühstückt, etwas
nach 10 kam Duschka, ich war sehr glücklich. Sie hatte noch nicht gefrühstückt und trank
bei mir Tee, war fröhlich und gut gegen mich. Ich war sehr glücklich, schrieb ihr eine Notiz
über sie aus meinem Tagebuch auf (Gott ist fern, der zwitschernde Vogel 641), gab ihr die
Jobsiade von Busch642, ging dann mit ihr zur Landwirtschaftlichen Hochschule, bei Schmitz

639 Brief vom 19.11. 1923 (Nachlass Tommissen, RW 0579-222). Löwenstein setzt sich darin mit
Schmitts Parlamentarismusschrift kritisch auseinander, indem er etwa auf das Problem der Reprä-
sentantensouveränität im Massenstaat und der Durchorganisation des Volkswillens eingeht und
seine auf einer Italien-Reise gewonnene Analyse des Faschismus vorstellt.
640 Eingelegte Früchte, vor allem Aprikosen und Kirschen.
641 Siehe Teil III, S. 445.
642 Wilhelm Busch, Bilder zur Jobsiade [von Karl Arnold Kortum], 1. Aufl., Heidelberg 1872.

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276 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

vorbei, Zeitungen gekauft. An der Universität sah ich plötzlich Duschka, sie wollte mich
sehen, weil sie unruhig und in Sorgen um mich [war]; ich war dankbar und hingerissen in
Liebe zu ihr. Sie hörte meine Vorlesung Völkerrecht (über die Monroe-Doktrin)‚ dann gin-
gen wir ein paar Schritte durch die Allee im Hofgarten, ich begleitete sie zur Argelander-
straße, immer voller Dankbarkeit, sie war wunderschön mit ihrer slawischen Jacke und dem
Pelzbesatz. Dann zu Strassberger, gegessen, mit Vormfelde ein paar Schritte, über seine
Beziehungen zu der jungen Adeligen gesprochen, müde nach Hause, sehr müde geschlafen,
bis nach 4. Um 1/2 5 kam Gerber, räumte mir meine Bibliothek auf. Ich trank Kaffee dazu,
die Übung etwas vorbereitet, dann um 1/2 6 zur Universität. In der Poststraße traf ich
zufällig Duschka; welche Freude. Wir gingen ein paar Schritte zusammen, in herzlicher
Liebe. Küssten uns im Hofgarten herzlich, ich begleitete sie noch über die Bahnlinie, sie ist
gut gegen mich, versteht alle meine kindischen Ängste und Regungen, ich bin außer mir vor
Dankbarkeit. Dann traf ich Krauthausen 643, eine gute Übung, Hensel interessierte mich
nicht, sehr gut gesprochen, nachher viele Nachfragen, mit Krauthausen vereinbart, dass er
die verwaltungsrechtlichen Übungen zur Hälfte übernimmt. Dann zu Schmitz, Wein holen
lassen, dort zu Abend gegessen, Schmitz spielte mir noch einige Nocturne von Chopin vor;
ich dachte immer an Duschka und freute mich, dass wir morgen Abend zusammen sind.
Um 10 nach Hause, müde, immer beseelt von Duschka. Welch ein wunderbares Kind.

Freitag, 23. 11. 23


Nachts Ejakulation im Traum von der Dame644. Ekelhaft. Todmüde bis 9 geschlafen, dann
gefrühstückt, Vorlesung eilig vorbereitet; ich kann nicht mehr arbeiten. Um 1/2 12 traf ich
Fräulein Esser, ging durch ein paar Läden einkaufen, hielt dann meine Vorlesung sehr gut,
nachher viele Studenten, müde zum Essen, mit Vormfelde ein paar Schritte, dann ein Spa-
ziergang auf den Venusberg, gesammelt, energisch, zu Hause ausgeruht. Um 1/2 4 schellte
es, das Dienstmädchen von Schwarz, ich hielt es aber für möglich, dass es Duschka war,
wurde unruhig, wollte zu ihrer Vorlesung zu Dietzel usw. Schließlich ging ich doch nicht,
trank Kaffee, arbeitete etwas zerstreut etwa eine Stunde, kein Brief den ganzen Tag, um 6 zu
Duschka, ich traf in der Tür Schulz, ging ein paar Schritte mit ihm, freundlich, bei Duschka
erst sehr froh und aufgeräumt, sie machte die Butterbrote zurecht, allmählich fühlte ich es
unwürdig, traurig. Sah, dass sie doch nicht arbeiten kann, versuchte, etwas mit ihr zu über-
setzen, sie benahm sich kindisch; das alles ist traurig und deprimierend. Allmählich verflo-
gen meine Illusionen. Wie traurig. Doch war sie schön und gütig gegen mich. Wir gingen
um 8 zu Schmitz. Ich war todmüde, er spielte sehr schön das Andante aus der 7. Sympho-
nie, dann einige Sonaten, das Kind kam und schrie. Es war keine rechte Sache. Um
1/4 vor 10 ging ich mit Duschka, wir gingen durch die Poppelsdorfer Allee, sie war un-

643 Udo Krauthausen (1894–1969), Dr. iur., 1921 promoviert in Bonn, Regierungsassessor, 1924 Lehr-
auftrag in Bonn für Verwaltungsrecht, dann Ministerialrat in der Kommunalabteilung des Preuß.
Ministeriums des Innern, Beförderung zum Ministerialdirektor und Ministerialdirigenten, Ober-
verwaltungsrichter am Reichsverwaltungsgericht, 1951–1961 Staatssekretär im Ministerium des
Innern von Rheinland-Pfalz. Erich Kaufmann hatte im Brief an Schmitt vom 26.11. 1922 (RW 265-
7311) Krauthausen sehr empfohlen.
644 Gemeint ist Cari.

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November 1923 277

glücklich, dass sie nicht arbeiten kann, ich war müde und deprimiert, fühlte mich einsam,
dachte an Hölderlin, fühlte mich als Deutscher in einem verkommenen Land, Hölderlin ritt
wider Deutschland. Wie grauenhaft. Einsam nach Hause (aber Duschka war beim Abschied
sehr gütig, küsste mich und sagte mir, dass sie mich liebt). Traurig zu Hause, müde zu Bett.

Samstag, 24. 11. 23


Todmüde, ich weiß nicht, wovon, aber um 8 auf, einkaufen, das Paket von Schnitzler von
der Post geholt, Geld aufgegeben, zu Hause Briefe geschrieben (an Feuchtwanger 645,
Löwenstein 646, Lisa Krause, Karl 647), Sonderdruck von Mendelssohn Bartholdy, dachte oft
an Duschka, herrliches Wetter, große Sehnsucht. Mittags noch einmal zur Stadt, Mark
Aurels Selbstbetrachtungen 648 für Duschka gekauft, dann bei Strassberger gegessen, ein
schöner Spaziergang auf den Venusberg, eine Stunde ausgeruht, dann um 4 zu Duschka. Sie
war froh, weil sie heute Vormittag gut gearbeitet hat, sagte selbst, dass sie gestern Abend
sehr hart war; ich war glücklich, gerührt, sie küsste mich herzlich, wir machten einen schö-
nen Spaziergang am Rhein, ich sagte ihr, dass sie ein guter Kamerad sei, sie war ein dank-
bares Kind. Ein paar glückliche Stunden. Auf ihrem Zimmer zu Abend gegessen, vorher
hatten wir bei dem Bäcker am Bonner Talweg Brot gekauft, ich war mit in den Laden
gegangen, Frau v. Wandel kam auch, große Angst deswegen; zu dumm. Nervös, ganz zerrie-
ben; sehr müde, zum Glück war Duschka wunderbar freundlich. Wir übersetzten etwas
Französisch, Völkerrecht, dann <…>; dann küssten wir uns lange, um 9 1/4 ging ich müde
nach Hause, sah noch die russische Korrespondenz durch, Frau v. Wandel kam um 10, ich
war froh darüber, sprach mit ihr über ihre Tochter, müde, benommen, aber glücklich im
Gedanken an Duschka. Ich habe ihr heute erzählt, dass ich in den Ferien an sie dachte und
den Winden ihren Namen gesagt habe. Sie war gerührt. Gutes, liebes Kind.

Sonntag, 25. 11. 23


Wieder morgens sehr müde, um 9 auf, schön behaglich gefrühstückt und etwas Völkerrecht,
aber nicht viel. Dann glücklich zu Duschka, um 1/2 12. Wunderschön, sie hatte fleißig ge-
arbeitet, gütig und freundlich, wir küssten uns lange, lasen ein Gedicht von Hölderlin,
Hyperions Schicksalslied649, übersetzten einen Satz von <…>, gingen dann zu Schmitz
essen, gut gegessen, nachher spielte Schmitz die Leonore-Ouvertüren von Beethoven, die
erste 650 gefiel Duschka am besten. Ich hatte sie unbeschreiblich lieb, wir blieben bis 5, dann
gingen wir über die Poppelsdorfer Allee, um 6 begleitete ich sie nach Hause, blieb noch
1/4 Stunde bei ihr, küsste sie immer wieder, ihr Herz, ihre Augen, ihren Mund, sie war gütig

645 In: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 45–47.


646 Von Löwenstein hatte Schmitt eine Antwort auf die Zusendung seiner Parlamentarismusschrift
erhalten, die er mit Schreiben vom 29.10. 1923 erbeten hatte (Nachlass Tommissen, RW 0265-8898);
vgl. auch Brief an Feuchtwanger, ebd., S. 46.
647 Nicht ermittelt.
648 Mark Aurel (121–180), 161 bis 180 römischer Kaiser, schildert darin seine Jugend, was er seinen
Verwandten und Lehrern verdankt und gießt seine stoische Weltanschauung in Aphorismen.
649 Friedrich Hölderlin, Hyperions Schicksalslied (1798), in: ders. Sämtliche Gedichte und Hyperion
in einem Band, Frankfurt/Main 2001, S. 207.
650 Ludwig van Beethoven, Ouvertüre Nr. 1 (C-Dur) op. 138 zur Oper „Fidelio“.

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278 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

und hingebend. Glückselig nach Hause. Dort war eine Karte von Landsberg, dass ich
abends zum Essen kommen soll. Arbeitete noch 2 Stunden ganz gut, ging um 8 zu Lands-
berg, die Frau war wieder sehr schön, ich brachte ihr Gütersloh über Blei651 mit, ich war
ziemlich müde, guter Wein, um 1/2 11 nach Hause, dachte öfters daran, dass ich morgen
zum Gericht muss wegen der Sache gegen die Dame. Hörte zufällig, dass der Vorsitzende
die Katholiken hasst. Zu Hause noch etwas gelesen, aber wenig getan, dann müde zu Bett.
Was mag es morgen geben?

Montag, 26. 11. 23


Morgens um 1/4 8 wach, aber wieder zu Bett. Um 1/2 10 sehr schön mit Rührei und
Kuchen und herrlichem Kaffee gefrühstückt (ich möchte den Kaffee verewigen, deshalb
schreibe ich es auf). Arbeitete etwas Völkerrecht, schöner Brief von der <…>, von Müller-
Hartmann und von Langenbach. Zur Stadt, Zeitungen gekauft, einiges erledigt, zum
Gericht, der Anwalt plädierte die Sache, ich stand daneben, es war schnell erledigt, hatte das
Gefühl, daß jetzt der Fall entschieden ist, erleichtert nach Hause, schnell zu Frau Kauf-
mann, für den Nachmittag verabredet. Bei Schmitz vorbei, zu Hause schnell an Rupé geant-
wortet, nach dem Essen mit Vormfelde, dann auf der Ottomane etwas geschlafen, um 4 Uhr
kam Frau Kaufmann, wir gingen spazieren (der Ägypter begegnete uns, dachte an Duschka;
Angst, Sehnsucht, Zweifel, Unruhe, weil Vormfelde von Fräulein Schifrin erzählte, wie sie
zu ihm kam, liebenswürdig und schmeichelnd, während sie bei mir über Vormfelde loszog,
diese ekelhafte Jüdin, und dabei hat Duschka ihr Bild auf dem Nachttisch stehen; ist das
nicht lächerlich? Bin ich nicht ein Narr?). Mit Frau Kaufmann zum Venusberg, aber nur ein
paar Schritte, dann zu Rittershaus, schöner Kaffee und Kuchen. Begleitete sie nach Hause,
arbeitete zu Hause etwas Völkerrecht, behaglich und frisch, um 1/2 8 wieder zu Kaufmann,
dort mit der Frau zu Abend gegessen, sie erzählte von ihrem Bruder, dem Maler 652; dann
gingen wir zu Schmitz, hörten Beethoven, Chopin, Schmitz liebenswürdig und freundlich.
Professor Neuß war auch da und hatte Wein mitgebracht; ich fühlte mich einsam und
dachte an Duschka. Seltsamer Rationalismus den ganzen Tag, sehe mich selbst, meine
Kleinheit, schreckliche Objektivität. Begleitete mit Neuß Frau Kaufmann nach Hause, dann
noch Neuß nach Hause, der von Lauscher erzählte und meinte, in wenigen Wochen haben
wir die Rheinische Republik und sind Beamte dieser Republik, die einem Sandkasten ähn-
lich wird. Also ich weiß inzwischen, was los ist. Fühlte mich frei und munter. Um 12 1/2 zu
Hause, müde zu Hause und müde zu Bett. Konnte nicht einschlafen, Geilheit, Ejakulation.

Dienstag, 27. 11. 23


Sehr müde, unzufrieden und aufgerieben um 1/4 9 auf, gefrühstückt, das Frühstück wurde
nichts Rechtes, obwohl ich mir schöne Torte gekauft hatte. Kein rechter Brief, die Vor-
lesung Völkerrecht vorbereitet, las Gütersloh, [Rede über Blei], schrieb begeistert Blei darü-
ber, um 11 1/2 gegangen, bei Dietzel vorbei, ihm meine Schrift über den Parlamentarismus
gebracht. Dann Zeitung gekauft. Zur Universität, las im 2. Morgenblatt der K. V. zufällig
eine Besprechung meines „Römischen Katholizismus“, eine [gute] Besprechung, natürlich

651 Paris Gütersloh, Die Rede über Blei oder der Schriftsteller in der Katholizität, Hellerau 1922.
652 Otto Pankok (1893–1966), Maler, Bildhauer und Graphiker.

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November 1923 279

sehr gefreut darüber, hielt aufgeregt meine Vorlesung, zu Schmitz zum Mittagessen, über
die schöne Kritik in der K. V. gesprochen, auch in dem Nachruf auf Zitelmann ist mein
Name erwähnt. Nach dem Essen bald nach Haus, etwas geschlafen, um 4 kam Neuß, trank
Kaffee, wir gingen zum Buchhändler Röhrscheid 653, kauften Bücher für ein Geschenk an
am Zehnhoff, etwas langweilig, begleitete Neuß noch durch die Stadt, dann zu Hause ein
paar Minuten ausgeruht, dann zu Rick, traf ihn und Duschka, freundlich über deutsche
Verse gesprochen. Der gute Oberlehrer Rick. Ich las uns noch etwas vor, ich ging dann mit
Duschka, sie hatte gefühlt, dass es mir gestern und heute schlecht ging, unheimlich, diese
Schicksalsverbundenheit. Ich war glücklich, bei ihr zu sein, fand sie unbeschreiblich schön,
wir gingen zum Bürgerverein und aßen dort zu Abend, an unserem gewohnten Platz. Ich
erzählte von gestern, von meinen Sorgen, sie war so gut, dass ich ergriffen war; rührendes,
liebes Kind, sie küsste meine Hände. Um 1/4 vor 10 gingen wir nach Hause durch die Pop-
pelsdorfer Allee, ich küsste sie zum Abschied vor ihrer Pension. Ging wieder glückselig
nach Hause, müde. Dankbar gegen diese wunderbare Frau.

Mittwoch, 28. 11. 23


Um 7 wach, aber wieder eingeschlafen, todmüde um 1/4 9 auf, behaglich gefrühstückt,
Rühreier. Um 10 umgekleidet, mit Zylinder usw. zur Zitelmann Totenfeier 654, man spielte
Mozart, dann die Rede eines Pastors, dann redete Landsberg, ich ging dann mit Göppert
weg, ziemlich gedrückt, immer in Gedanken an Duschka, an mein Milieu, ich weiß nicht,
wohin. Nach Hause, wieder umgekleidet, meine Vorlesung (völkerrechtliche Anerkennung)
gut gehalten, dann Schmitz getroffen und begleitet. Nach dem Essen schnell zu Hause eine
Stunde ausgeruht. Übungen schnell vorbereitet. Hielt dann meine Übung ziemlich gut, um
1/2 5 traf ich Duschka, es ging ihr nicht gut, ich war traurig, wartete sehnsüchtig, bis Göp-
perts Vorlesung zu Ende war, dann holte ich sie ab, küsste sie unter der Madonna, begleitete
sie nach Hause, blieb dort bis nach 10 Uhr, aß zu Abend, erzählte, dass es sie als Frau belei-
digen müsse, wenn ich immer wieder bange sei, bange wegen meiner Falten, bange, wenn
ich an einen Russen denke usw. Ich war erstaunt über ihre Nähe und ihre Schönheit, stürzte
mich ganz in das Vertrauen auf sie, stundenlang geküsst in inniger Liebe. Um 10 nach
Hause, berauscht. Wunderbares Kind. Ich glaube ihr vollständig. Zu Hause ein Brief von
[Ännchen], die immer wegen ihres Klaviers schreibt.

Donnerstag, 29. 11. 23


Wollte um 1/2 8 aufstehen, aber erst um 8 Uhr, schön gefrühstückt und etwas gearbeitet,
kein Brief. Um 10 1/4 kam Duschka, ich kochte ihr Tee, ich war sehr glücklich, wir küssten
uns herzlich, sie war fröhlich und guter Dinge. Las etwas Völkerrecht, besah sich Abbil-
dungen romanischer Plastiken. Ich schrieb unterdessen etwas an meiner Vorlesung (über die
Schuldhaftung der russischen Regierung). Um 12 gingen wir zusammen fort. Glücklich
und zufrieden. Ich begleitete sie bis zum Botanischen Garten, dann schnell zur Universität,
meine Vorlesung nett gehalten, nach dem Essen Haare schneiden, glücklich, das erledigt zu
haben, darauf zu Hause gut ausgeruht, schnell an Feuchtwanger 655 geschrieben und ihm den

653 Buchhandlung und Antiquariat Ludwig Röhrscheid, Bonn, Am Hof 28.


654 Zitelmann war am 23. 11.1923 verstorben.
655 In: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 47 f.

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280 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Ausschnitt aus der K. V. geschickt. Wunderschöner Kaffee, um 5 schnell zur Universität, um


Duschka noch zu treffen, sie kam aus der Vorlesung Dietzel, wir waren glücklich, uns zu
sehen, gingen in der Dämmerung am Rhein, herrlicher Spaziergang, küssten uns, versicher-
ten uns unserer Liebe und unseres Vertrauens. Ich war sehr glücklich. Um 6 ging sie zu
Göppert, ich zu meinem Seminar, Rechtsreferendar Zimmer hielt ein Referat über Födera-
lismus und Parlamentarismus. Ich sprach nachher gut, Ekel vor Hensel, der sich an alles
heranwanzt, Zimmer begleitete mich nach Hause, dort eine Tasse Tee und Crêpe Suzette,
mit Frau v. Wandel freundlich unterhalten, Angst vor der kleinen Rache und vor dem Elend
des Winters, fröhlich über die große Wirkung der Besprechung in der K. V. Schön gearbei-
tet, bis nach 11 Uhr, endlich einmal ein schöner Abend. Aber zu lange auf.

Freitag, 30. 11. 23


Konnte nicht einschlafen des Nachts, morgens um 7 auf, aber sehr müde, machte einen Spa-
ziergang zum Venusberg, dann zu Hause schöner Kaffee, Vorlesung vorbereitet, schön
geschrieben, es kamen mehrere Studenten, auch Kaiser, alles schnell erledigt. Hielt dann
meine Vorlesung, ganz schön, nachher mit Braubach gesprochen, aber seine Annäherungs-
versuche ziemlich kühl abgelehnt. Dann zu Hause ein Stück Brot, ziemlich müde, zu Neuß,
der erzählte, dass der Kardinal656 am 16. kommt und ich ihm vorgestellt werden soll. Tod-
müde zur Fakultätssitzung, das Zitelmannseminar als Seminar für wissenschaftliche Politik
gerettet, froh darüber. Müde nach Hause, umgekleidet, zu Duschka, eine Stunde bei ihr,
dann gingen wir zu Schmitz und aßen die Ente (Duschka war weiß gekleidet, wunder-
schön), leider wurden wir nachher alle müde, Schmitz spielte etwas Beethoven, dann die
Mozart-Klavierfantasie 657, schließlich das Menuett aus dem Don Juan 658, aber ich war zu
müde, begleitete Duschka nach Hause, wir küssten uns herzlich, todmüde gleich zu Bett.

Samstag, 1. 12. 23
Sehr müde, mochte nicht aufstehen, schließlich um 8 Uhr, schnell angekleidet, gefrühstückt,
im letzten Augenblick mit der Rheinuferbahn, in Köln mit Göppert, natürlich politisiert,
ein entsetzlich langweiliges Examen, aber Jakobi ist ein vornehmer, intelligenter, freund-
licher Mensch 659; ein Fräulein Schenk <?>, dumm und lächerlich, ein Herr v. Pastor aus
Aachen, dumm und faul, aber wenigstens wusste er sich zu helfen, im ganzen ekelhaft.
Reichartz 660 spricht von meinem Parlamentarismus-Aufsatz (ich hörte zufällig, wie Göp-
pert ihm sagte: die Perle der Festgabe für Zitelmann ist natürlich der Aufsatz von Schmitt
über Parlamentarismus), um 3 Uhr kam Georg 661, dem ich hatte telephonieren lassen, wir
gingen zusammen durch die Stadt, kauften etwas ein, ich schenkte ihm <…> Zigarren, wir
kauften noch Schokolade, Trauben, Birnen und Blumen, ich freute mich über den guten,
anständigen Jup und fuhr um 1/2 5 nach Bonn. Schnell nach Hause, aber kein Brief, dann

656 Karl Joseph Kardinal Schulte (1871–1941), 1910 Bischof von Paderborn, 1920 Erzbischof von
Köln.
657 Unklar ist, welche.
658 Gemeint ist wohl eine Szene gegen Ende des 1. Akts von Mozarts Oper „Don Giovanni“ (1787).
659 Schmitt bezieht sich auf den Examenskandidaten.
660 Heinrich Reichartz, 1923–1932 Präsident des OLG Köln.
661 Offenbar Verwechslung mit Jup Schmitt.

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November/Dezember 1923 281

zu Duschka, sie hat einen Brief von ihrem Vater bekommen, dass sie im Sommer in Jugosla-
wien studieren muss. Sie freute sich über mein Geschenk, besonders die Trauben und die
Veilchen, wir aßen zusammen zu Abend, dann ruhte ich mich aus, küsste sie, immer wieder
ihr Herz, sie war hingebend und voll zärtlicher Liebe, küsste mich immer wieder, gab mir
ihr Herz zu küssen, wunderbar, sagte „mein lieber Knabe“. Um 10 Uhr nach Hause, be-
rauscht, hingerissen. Mir scheint, dass ich zum ersten Mal ganz von einer Liebe erfüllt bin.

Sonntag, 2. 12. 23
Ausgeschlafen, bis 9 Uhr, gefrühstückt, fast nichts gearbeitet, aber der Vormittag verging
trotzdem sehr schnell. Kein Brief. Mittags bei Neuß, über die Zwecklosigkeit der Vorlesun-
gen geplaudert. Dann Zeitungen gekauft, im Hähnchen zu Mittag gegessen, zu Hause aus-
geruht, bis 1/2 5, Kaffee gekocht, zurecht gemacht, um 1/4 6 zu Duschka, traf sie in ihrem
Zimmer, wo Fräulein Tadić zu Besuch war, wir plauderten, ich war traurig, sah die Vertrau-
lichkeit der Frauen untereinander, freute mich über die zurückhaltende, kluge Art von
Duschka, wir gingen dann zu Schmitz, wo Duschka stickte, Schmitz spielte die Ouvertüre
zu Oberon von Weber 662, ich fühlte mich einsam, dachte an Strindberg und wollte in diesem
meinen schmerzlichen Trost lesen. Bedrückt und traurig, Angst vor der Weiblichkeit
Duschkas. Um 8 gingen wir an den Rhein spazieren, noch lange durch die Allee, sie war
traurig, über ihren Vater, der einem Dienstmädchen die losen Gelder zum Aufbewahren
gegeben hat, die dann der Liebhaber des Dienstmädchens gestohlen hat usw. Ich hatte
Angst vor ihr, weil ich glaubte, dass sie auch mich so behandeln wird wie ihren Vater. Ich
beschwor sie, versicherte ihr meine Achtung und meine Verehrung, wir küssten uns sehr
herzlich vor der Pension (ein Mann, der gerade in die Pension hineinging, sah es), traurig,
etwas verwirrt nach Hause, bald zu Bett, noch etwas gelesen, Strindberg.

Montag, 3. 12. 23
Wieder kein Brief, um 1/2 8 auf, Spaziergang auf den Venusberg, dann gefrühstückt, etwas
Vorlesung geschrieben, gezittert vor Aufregung, auf Duschka gewartet, offenbar physische
Angst. Schließlich, um 11 Uhr, ging ich zu ihr, traf sie auf ihrem Zimmer, als sie fleißig mit
lauter Stimme lernte. Wunderbares Glück. Sie war offenbar glücklich, dass ich kam, unbe-
schreiblich liebevoll und herzlich, ich blieb eine Viertelstunde und ging glücklich wieder
weg. Das Antlitz der Erde hatte sich geändert, vorher Angst, Trübsal, Verzweiflung, jetzt
wieder frei und glücklich. Kaufte etwas ein, bei Strassberger gegessen, nach dem Essen
Zeitungen ausgeschnitten, von 3 bis 4 ausgeruht, dann schöner Kaffee und gearbeitet, Vor-
lesung, internationale Flüsse, um 6 kam Schmitz für einen Augenblick und holte sich die
Politische Romantik, dann Frau v. Wandel und verlangte die 11 Pfund; schreckliche Auf-
regung, sehe mich betrogen, ich dummer Schwätzer.

[Am oberen Rand] Dienstag, 4. 12. 23 abend, wieder gelesen Mittwochmorgen, 14.11. 73

Ich fühle, wie teuer die Freundlichkeit dieser Leute zu stehen kommt. Für ein paar Stunden
völlig aufgelöst. Erkannte meine Unfähigkeit zum Leben und war erledigt. Nachdem ich

662 Siehe Anm. 412.

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282 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

gestern Abend vor der armen Duschka so schön von meiner Aktivität geredet hatte, dabei
wieder alles lächerlich und halb so schlimm, und innerlich hatte ich Angst. Vielleicht ist
diese furchtbare Aufregung nur ein Schutzmittel. Aber ich kann jedenfalls nicht lebenstüch-
tig sein, grauenhaft. Vorsatz, Geld zu verdienen, schweigsam zu werden, nicht mehr leicht-
sinnige Versprechungen zu machen usw. Was nützt es? Freute mich vor allem über eine
schöne, höchst [erfreuliche] Karte von Spranger über meinen Parlamentarismusaufsatz663.

Dienstag, 4. 12. 23
Nachts um 4 wach, nur geschlottert, um 1/2 8 auf, schnell rasiert, um 8 traf ich Duschka in
der Poppelsdorfer Allee, wir gingen zusammen an den Rhein, ein herrlicher Spaziergang,
sahen die Sonne über dem Siebengebirge aufgehen und immer höher steigen, ein wunder-
bares Bild. In herzlicher Liebe. Ich war glückselig für diesen Beginn eines Tages. Ich beglei-
tete sie bis in den Bonner Talweg, dann zu Hause gefrühstückt und meine Vorlesung schön
vorbereitet. Um 1/2 12 die Bücher zu Wienands664 gebracht, die sie mir wegschicken soll
(Uhland 664a an Feuchtwanger, <…> an Eisler, Othello an Frau v. Schnitzler, das gebundene
Exemplar des Parlamentarismus an Frau Krause). Dann Zeitungen gekauft, meine Vor-
lesung nicht besonders gut gehalten, nachher klagte mir Fräulein Strohschneider ihr Leid.
Nach dem Essen bei Strassberger mit Vormfelde ein paar Schritte, [Zeitung gekauft], zu
Hause ausgeschnitten, eine Stunde ausgeruht, der Student Reiners kam und las mir ein
Kapitel seiner Dissertation über Bolingbroke 665 vor. Dann trank ich im Zimmer Kaffee, ich
ging um 1/4 vor 7 zu Rick, traf dort Duschka, Rick las noch eine Anekdote von Schäfer666
vor, langweilig, dann mit Duschka auf ihr Zimmer, gegessen, immer in herzlicher Liebe,
nachher auf dem Sofa gelegen, sie sagte, dass sie vielleicht schon im Januar reisen muss. Ich
wurde so traurig, dass ich weinte. Große Angst, nichts bleibt, das Schicksal hält mich zum
Narren. Grauenhaft. Sie liebt mich sehr, aber sie bleibt klug. Bis nach 10 Uhr immer wieder
geküsst, zuletzt ihr Herz geküsst, das sie mir mit wunderbarer Hingebung bot. Traurig,
berauscht von den Küssen nach Hause. Das Gefühl des Weltuntergangs, Flucht, Erkenntnis
des Christentums, dass auf Menschen kein Verlass ist 667. Alles vergeht. Lächerliche Flucht
aller irdischen Dinge. Das endet im Wahnsinn oder in einem leidvollen Christentum; vor
beidem habe ich Angst, also wird es Wahnsinn werden.

Mittwoch, 5. 12. 23
Um 9 auf, etwas benommen, schrieb fleißig an meiner Vorlesung bis 11, es wurde schönes
Wetter, meine Sehnsucht nach Duschka wurde immer größer, Angst um sie (bestimmt
durch meinen elenden physiologischen Zustand). Ich lief durch die Straßen, um sie zu
sehen, bei Kaufmann vorbei, beinahe schon wieder so weit, dass ich mir einen Wintermantel
663 Auf der Karte vom 30.11. 1923 (RW 265-15585) bedankt sich Spranger überschwenglich für die
„neue Gabe“; vgl. Mehring (Hrsg.), Carl Schmitt im Gespräch mit Philosophen, in: Schmittiana
NF II 2014, S. 119–199, 134 f.
664 Rheinische Druckerei und Verlagsanstalt J. Wienands GmbH, Bonn, Adolfstraße 59.
664a Vermutlich „Uhlands Gedichte“, Stuttgart 1923.
665 Siehe Anm. 242.
666 Wilhelm Schäfer; s. Anm. 165.
667 Vgl. bereits Psalm 146,3: „Verlasst euch nicht auf Fürsten/auf Menschen, bei denen es doch keine

Hilfe gibt.“

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Dezember 1923 283

machen lassen wollte. Dann in die Universität, glücklicherweise um 12 Duschka in die


Arme gelaufen, als sie aus der Vorlesung Dietzel kam. Wir gingen zusammen mit Fräulein
Tadić ein paar Schritte durch den Hofgarten, ich hielt meine Vorlesung Völkerrecht,
anstrengend, müde, dann erwartete sie mich, wir gingen noch fast eine Stunde im Hofgar-
ten. Sie durchschaute meine Traurigkeit, war gütig und mütterlich. Ich war berauscht und
beseligt von ihrer Schönheit und Weiblichkeit. Dann zu Strassberger, konnte nicht bezah-
len, weil ich kein Geld mehr habe. Zu Hause ausgeruht, um 1/2 4 Klausurarbeit verwal-
tungsrechtliche Übungen. Lächerlich, mir war heiß, weil ich am Ofen saß, um 5 kam
Duschka, sah mich aber nicht, ich ging ins Dozentenzimmer, schrieb einen Brief, ruhte
mich aus, erwartete sie um 6 Uhr, wir gingen unter der Madonna hin, küssten uns, dann an
den Rhein. Ein wunderschöner, herrlicher Spaziergang, sie war schön und weiblich, ich
dachte an eine Frau, die ich einmal in Berlin sah und deren Mütterlichkeit, Weiblichkeit und
Schönheit mich ohne jeden sexuellen Wunsch begeistert hatte. Ich war so glücklich wie nie-
mals in meinem Leben. Wie gut ist sie, wann war je eine Frau so gut wie sie? Und sie ver-
langt kein Opfer, alle anderen Frauen taten es. Ich war ganz ihr hingegeben. Um 1/2 8
begleitete ich sie nach Hause, wir küssten uns oft, sie wollte nicht eher gehen, als bis jeder
Schritt von mir verschwunden war. Dann ging ich nach Hause, Jup war da, wir packten das
Tee-Service für Ännchen ein (Duschka hatte mich darum gebeten), dann zu Neuß, eine
Flasche Wein bei ihm getrunken, nett unterhalten (über [Litera]tur an der Schule), dann
brachten wir Jup zur Bahn, ging mit Neuß zum Hähnchen und trank ein Glas Bier. Sonntag
in 8 Tagen kommt der Kardinal nach Bonn668, ich soll ihm vorgestellt werden, hörte, dass
der Oberbürgermeister Adenauer 669 (sein Bruder ist Justizrat, ein anderer Domkapitular 670),
der Sohn eines Gerichtsdieners ist. Das erklärt ja alles. Lächerliche Zeit. Müde nach Hause,
Neuß begleitet, dann traurig zu mir. Dachte an Duschka und wurde wieder fröhlich und
selbstbewusst. Wunderbare Frau. Glücklich, dass sie morgen zu mir kommt.

Donnerstag, 6. 12. 23
Schrecklicher Traum wegen der Dame. Um 9 auf, etwas gearbeitet, um 10 1/4 kam Duschka,
überaus glücklich, sie küsste mich für den schönen Brief, den ich ihr gestern geschrieben
habe, frühstückte bei mir, ich schrieb Völkerrecht und freute mich, dieses gütige, schöne
Wesen in meinem Zimmer zu haben. Wir gingen zusammen über die Poppelsdorfer Allee,
sie wollte sich nicht verabschieden, weil sie fühlte, dass es mir nicht gut ging, ich stand
immer noch unter dem Eindruck des Traums; wir verabschiedeten uns, ich holte mir auf der
Quästur 8 Billionen Mark, hielt meine Vorlesung Völkerrecht schön. Nach dem Essen zum
Venusberg, dann gut ausgeschlafen, keinen Kaffee getrunken, um 5 Uhr Duschka abgeholt,
mit ihr am Rhein, erst sehr traurig, schließlich erzählte ich ihr von dem Traum, sie war
freundlich und gütig, ich hielt von 6–8 mein Seminar, ärgerte mich über Hensel. Oft voller

668 Siehe Eintragung vom 30. 11.1923.


669 Konrad Adenauer (1876–1967), drittes von fünf Kindern des Sekretärs am Appellationsgericht
(heute OLG) und späteren Kanzleirats Johann Konrad Adenauer, 1917–1933 und wieder 1945
Oberbürgermeister von Köln, 1949–1963 erster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.
670 August Adenauer (1872–1952), Dr. iur., Rechtsanwalt und Honorarprof. in Köln. Johannes Ade-
nauer (1873–1937), Kölner Domherr.

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284 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Angst, todmüde, nachher zu Schmitz, ich schrieb schnell einen Brief an Duschka, ging mit
dem guten Schmitz bei ihrer Pension vorbei.

Freitag, 7. 12. 23
Um 1/2 9 aufgestanden, etwas gearbeitet an der Vorlesung, wartete, bis es 11 Uhr war, um
zu Duschka zu gehen. Traf sie in ihrem Zimmer, wunderschönes Kind, sie sagte, sie hätte
gestern Abend vor Traurigkeit geweint, weil sie meine Unruhe fühlte. Ich war gerührt,
begeistert von ihrer Güte und Schönheit, hielt eine temperamentvolle Vorlesung über Aktu-
elles, nachher von Kaiser begleitet nach der Pension, nach dem Essen ein Spaziergang zum
Venusberg, dann gut ausgeruht, um 1/2 5 schöner Kaffee, etwas gearbeitet, um 5 Duschka
abgeholt. Wir gingen unter der Madonna am Rhein, sie war müde und schläfrig, aber
freundlich, ich erzählte die Geschichte von dem kleinen Fisch, der wiederkommen wollte,
fragte sie, ob es ihr nicht unrecht ist, wenn ich zu Frau Landsberg gehe. Sie sagte, sie ver-
stände das nicht, es sei selbstverständlich usw. Sonderbar. Um 7 verabschiedeten wir uns in
der Nähe ihrer Pension, ich arbeitete noch zu Hause eine Stunde, dann zu Landsberg. Gut
gegessen, schöner Rheinwein, mit der Frau gut unterhalten, sie klagte darüber, dass sie mit
Menschen umgehen muss, die ihr absolut gleichgültig und feindlich sind, ihr Mitgefühl mit
den armen Ostjuden. Ich war müde, freute mich, mich meiner Müdigkeit überlassen zu
können, um 11 müde nach Hause. Gleich zu Bett, traurig, gierig, geil, wüste Erektionen die
ganze Nacht bis 1/2 3, schauderhaft, aber keine Ejakulation.

Samstag, 8. 12. 23
Um 1/2 9 auf, Karte von der Sent M’ahesa aus Tölz, um 9 kam Schmitz, frühstückte mit
mir, wir gingen zusammen nach Heisterbach, um die Zimmer für Duschka und mich zu
Weihnachten zu bestellen. Es schneite und regnete; als das gut erledigt war, zurück, Schmitz
erzählte sehr nett (über Barrès 671 und seine ersten Romane, wir waren sehr fröhlich und
überlegen). Ich aß bei Schmitz zu Mittag, dann nach Hause, geschlafen, um 4 1/4 auf,
Krämpfe, etwas gelesen. Um 5 zu Duschka, den Abend bei ihr, sie war gütig und freundlich,
wir unterhielten uns schön, küssten uns lange und viel, sehr heftig, aber es blieb dabei. Sie
fühlte meine „physische Unruhe“ und wollte mir helfen, ich sagte aber nichts. Es ist besser
so. Ich will mir diese schöne Liebe nicht wieder zerstören. Sie erzählte mir den Vers von
Schiller „doch die Liebe fand den Weg“672. Ich ging um 10 Uhr, es regnete heftig, ich war
etwas benommen, die ewige Erregung störte mich etwas, aber Duschka ist so gut und liebe-
voll, dass ich über alles hinwegkomme. Einsam noch zu Hause. Eigentlich doch wieder auf-
gelebt durch die Liebe zu Duschka. Viel Stagnationen.

Sonntag, 9. 12. 23
Bis 1/4 vor 10 gut geschlafen, schön ausgeruht, herrlicher Kaffee. Ein Brief von Kiener über
meine Broschüren vom Parlamentarismus, sehr schmeichelhaft, ich war sehr fröhlich. Dann
etwas gearbeitet, Arbeiten gelesen, behaglich den Tisch geordnet, um 1/2 1 eine Zeitung
gekauft (die deutschen Zeitungen kosten 1/2 Billion, das sind 3 fr.; der Temps 0, 20!). Bei

671 Vier Tage vor diesem Gespräch, am 4. 12.1923, war der Autor verstorben.
672 Vers aus dem Gedicht „Hero und Leander“ (1801) von Friedrich Schiller.

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Dezember 1923 285

Kieffer zu Mittag gegessen, dann zu Hause Zeitungen ausgeschnitten, schön rasiert, um 3


etwas ausgeruht im Bett, um 4 angezogen, schnell Kaffee, freundlich mit Frau v. Wandel,
dann glücklich und fröhlich zu Duschka, sie hatte nicht viel gearbeitet, war mir etwas
fremd, aber bald wieder sehr gut und erzählte, sie habe im Bett über 2 Dinge nachgedacht:
dass sie mir geistig nicht genüge und umgekehrt „meine physische Unruhe“ nicht beseitigen
könne. Sie sagte mir, ich müsse mir sagen, dass sie das später könne! Rührendes, gutes, wun-
derbares Kind. Wir küssten uns lange, ich küsste zuletzt ihr Herz, sie war ganz hingegeben.
Wir gingen nach 6 erst zu Schmitz, er spielte die Oberon-Ouvertüre, nicht gut; wir spra-
chen über Geldwesen, ich war glücklich, dass Duschka fröhlich sich unterhielt. Um
1/2 9 begleitete ich sie nach Hause, wir verabschiedeten uns herzlich, dann zu Hause ge-
arbeitet, unruhig, Sehnsucht nach Duschka, aber doch eine geheime Angst, ich weiß nicht,
was es ist. Es ist meine eigene Bosheit. Arbeiten nachgesehen, oft Angst vor meiner eigenen
Unzulänglichkeit. Was ganz es geben wird, frage [ich] mich. Auf Mittwoch und Donners-
tag, wenn der Mond im Wassermann673 steht!

Montag, 10. 12. 23


Wieder kein Brief, morgens gut gearbeitet, aber nicht sehr viel: schöner Kaffee, um 11 zu
Duschka, glückselig, sie zu treffen. Sie war auch froh, mich zu sehen, wir küssten uns lange
und herzlich, ich war beglückt, wir machten dann bei herrlichem Wetter einen Spaziergang
auf den Venusberg, weil sie nicht arbeiten konnte und zu wenig Bewegung hat. Sehr herz-
lich und innig, ich erzählte ihr natürlich von dem Kapitel aus der Nachfolge Christi674. Sie
war gerührt und gütig, wie eine Frau. Um 2 zu spät zum Mittagessen, mit Vormfelde einen
Augenblick in meinem Zimmer, dann kam Gerber, wir gingen auf den Venusberg, dann
durch die Stadt zurück, er trank bei mir eine Tasse Kaffee, um 4 kam Kaiser zur Prüfung,
ich gab ihm „gut“, obwohl er nicht viel wusste. Dann ging ich in die Stadt, hoffte, Duschka
zu treffen, kaufte für sie Gurken; als ich um 6 1/2 nach Hause kam, lag ihre Karte auf dem
Tisch, sie war bei mir gewesen; ich war sehr gerührt, arbeitete schön, schrieb ihr einen schö-
nen Brief, machte meine Vorlesung sehr hübsch, arbeitete herum, aß ein Stück Brot mit
Wurst zu Abend, ging um 1/2 10 noch ein Glas Bier trinken zu Kieffer, aber erst spät ein-
geschlafen, zunächst reichlich gelesen, wieder etwas unternehmender.

Dienstag, 11. 12. 23


Nachts an Schnitzler gedacht, seine Lebenssicherheit, während ich eine lungenkranke Sla-
win liebe. Unheimliche Angst. Um 1/2 8 aufgestanden, schnell eine Tasse Kaffee, ich bei
herrlichem, kalten Wetter zur Argelanderstraße, dort Duschka erwartet, die gleich kam um
8 Uhr. Wir machten einen wunderschönen Spaziergang an den Rhein, ich erzählte sehr
schön vom Christentum, seiner Lebensfeindlichkeit, vom Katholizismus, dem Hauptmann
von Kapharnaum675, sie war liebevoll, begeistert, ich fühlte, dass sie mich liebt und war

673 Siehe Anm. 502.


674 Thomas von Kempen (um 1380–1471), Augustiner-Chorherr und Mystiker, verfasste die „Nach-
folge Christi“ (De imitatione Christi), das über Jahrhunderte meistverbreitete Buch. Schmitt
erklärte vermutlich die Bildstöcke und Kreuzwegstationen auf dem Wallfahrtsweg zum Bonner
Kreuzberg; s. auch Seite 500.
675 Mt 8,5–13; Lk 7,1–10; Joh 4,46–54.

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286 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

glücklich. Selig nach Hause, etwas gearbeitet, ein Student kam, alles in bester Stimmung
erledigt, Frau Schilling auf der Poststraße getroffen, ihr eine Chrysantheme gekauft, dann
Frau Kaufmann, ebenso, hielt dann meine Vorlesung, wurde aber dabei gestört, lästig, nach-
her mit Fräulein Esser, dann bei Kieffer gegessen, noch ein Spaziergang auf den Venusberg,
rasiert, ausgeruht, Kaffee getrunken, behaglich, in bester Laune zu Dr. Rick, traf Duschka,
wir unterhielten uns nett, freute mich über den guten Rick. Dann mit Duschka auf ihr Zim-
mer, gegessen, schließlich geküsst, sie wollte mich nicht gehen lassen, immer noch 5 Minu-
ten, süßes, gutes, liebes Kind. Ich sagte: Wer weiß, einmal bleibe ich auch die Nacht bei
Ihnen. Das verfolgte mich. Zu Hause ziemlich müde. Fröhlich, weil ich wieder äußerst
freundlich mit Frau v. Wandel gesprochen habe. Sie 676 versprach mir, auch ihre äußere Exis-
tenz mit mir zu verbinden, bestimmt zurückzukommen, es war eine richtige Verlobung.

Mittwoch, 12. 12. 23


Müde morgens aufgestanden, eine Tasse Tee, 8–10 Spaziergang mit Duschka, die Augen-
schmerzen hatte, an den Rhein, dann zum Seminar, etwas für die Übungen nachgesehen, zu
Hause gefrühstückt, Examen Scheidt 677, die einen schlechten Eindruck machte, dann mit
Bender zur Universität, zu spät zur Vorlesung, keine gute Vorlesung, bei Strassberger zu
Mittag, mit Vormfelde ein paar Worte, Arbeiten nachgesehen, etwas ausgeruht, wieder Kaf-
fee, sehr schöne Übung in bester Laune, nach Hause, Blumen gekauft, um 8 auf Duschka
gewartet, sie kam nicht, Angst; Göppert kam, ging mit ihm nach Hause (er hat auch von
Kern 677a genug und gab mir recht, ich erwähnte Fräulein Wodernitz <?>, [während er] nach
dem Lehrerfolg seiner Vorlesung fragte). Dann zu Duschka, sie war krank, im Bett, wun-
derschönes, süßes Kind. Ich küsste sie, ihr Herz, sie hat Augenschmerzen, blieb bis 1/2 8,
dann in höchster Eile nach Hause, Smoking angezogen, zu Schulz, nette Einrichtung (ich
war traurig), zu Abend gegessen, nachher unterhalten, zu viel gesprochen, müde, gleichgül-
tig, Fräulein Strack678 (die ich einmal auf einem Ausflug mit Vormfelde sah) war auch da.
Um 11 nach Hause, todmüde zu Bett. Ejakulation.

Donnerstag, 13. 12. 23


Erst um 1/2 10 auf, Kaffee getrunken, fast nichts getan, kein Brief, um 10 1/4 kam Duschka,
ich hatte sie nicht gehört, sie saß im Zimmer, in ihrer russischen Bluse, wunderschön. Ich
war gerührt und begeistert, ganz hingegeben, sie frühstückte bei mir, ich schrieb meine Vor-
lesung, war von größter Liebe erfüllt. Wie gut und schön sie ist. Wir küssten uns oft, sie las
Völkerrecht, um 1/4 2 gingen wir über die Poppelsdorfer Allee, sie sagte, ich sehe so jung
aus, das machte mich fröhlich. Dann ging sie zu Beckmann, ich zu meiner Vorlesung Völ-
kerrecht, kam zu spät, schöne Vorlesung, nachher ein Amerikaner, Mr. Gwinn <?>, dann
bei Frau Kaufmann zu Mittag gegessen, nett unterhalten, über ihren Bruder, am Rhein spa-
zieren (Crome und Schreuer begegneten uns), begleitete sie zur Schneiderin, zu Hause
etwas ausgeruht, schöner Kaffee, um 5 auf Duschka gewartet, sie kam mit einem schönen,
freundlichen Gesicht, voller Liebe; fröhlich, sie erzählte von Beckmann, was er über die

676 Gemeint ist Duschka.


677 Nicht ermittelt.
677a Siehe Anm. 359.
678 Nicht ermittelt.

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Dezember 1923 287

Deutschen gesagt hat (wirtschaftlich die Ersten, politisch rückständig), sie liebte mich sehr,
sie küsste mich; als ich davon sprach, einen Sohn zu haben, wie sie es ist, war sie gerührt
und sprach immer wieder davon und versprach mir, unter der Madonna, auch „ihre äußere
Existenz mit mir zu verbinden“. Liebes, schönes, wunderbares Kind. Glücklich meine
Seminarübung gehalten, Referat Schnass679 <?> über Spengler 680, sehr nett, nachher eine
kleine Diskussion, man sprach über Hitler (ein Student Schnors681), ich über den Juden als
überpolitische Figur <?>. Mit Wut über Hensel gelacht, als ich sagte: Will man denn gegen
die Juden kämpfen mit Stahlhelm, Maschinengewehren und Flammenwerfern? Der Jude
wird sich ja gar nicht stellen, sondern eine Offerte für Maschinengewehre und Flammen-
werfer machen. Dann mit Gerber zu Kieffer, Bier getrunken und gegessen, nett und freund-
lich unterhalten, nachher kam auch noch Schnass, über Literatur gesprochen, sehr nett,
freute mich, mit Studenten zusammen zu sein, um 10 von beiden begleitet nach Hause,
noch mit Frau v. Wandel unterhalten, über Kekse, sie gab mir Spekulatius. Zu Hause in
inniger Liebe an Duschka gedacht.

Freitag, 14. 12. 23


Sehr müde um 1/4 9 auf, kein Brief, merkwürdig, nichts von dem Aufsatz über Parlamen-
tarismus. Schön gefrühstückt, schnell die Vorlesung vorbereitet, um 11 kam Schmitz, wir
kauften zusammen ein (Gänseleber, Gurken, Birnen), dann zur Universität, meine Vor-
lesung ganz nett gehalten, nachher holte mich Duschka ab, sehr fröhlich, sie hatte sich für
mich photographieren lassen. Wir gingen durch den Hofgarten, in zärtlicher Liebe, sie
begleitete mich an die Ecke der Meckenheimer Allee, gütig und freundlich, ich fühle mich
frei und sehr wohl bei ihr; dann bei Strassberger zu Mittag gegessen, nachher zu Neuß, der
mir sagte, dass ich nicht eingeladen werde und die Vorstellung vor dem Kardinal also nichts
wird. Enttäuscht. Ferner ein Brief des Parteisekretariats der Zentrumspartei, ich soll Vor-
träge halten usw., um 1 Uhr mit Neuß etwas spazieren in die Richtung auf den Venusberg.
Todmüde zu Hause rasiert, etwas ausgeruht, wunderschöner Kaffee von Frau v. Wandel.
Fröhlich Duschka abgeholt um 5, wir machten einen langen Spaziergang am Rhein, ich war
hingerissen von ihrer Schönheit, ihren Augen, ihrer Stirn, alles bewunderte ich, die Mütter-
lichkeit ihres Blickes. Sie war gütig, küsste mich immer wieder, sprach rührend freundlich
mit mir, dann wieder schlingelhaft und lachte, wir waren 2 verliebte Kinder. Wir gingen bis
7 am Rhein, dann noch etwas über die Poppelsdorfer Allee, wunderschön erzählt, sie
möchte, dass ich Ostern nach Rom reise mit Neuß, das freute mich, wie gut sie ist. Zu
Schmitz, schön zu Abend gegessen, über die Jünglinge von ungerechten Verwaltern und
von ungerechten Söhnen gesprochen, aber Duschka war ziemlich unzugänglich, dann die
Ouvertüre zum Freischütz, die ihr gut gefiel. Um 10 müde nach Hause, ich war einen
Augenblick traurig, da sie sagte, dass man in Deutschland nicht das zu essen bekomme, was
sie brauche. Sehr traurig. Sie tröstete mich schön, aber ich hatte doch das Gefühl, beiseite

679 Nicht ermittelt.


680 Oswald Spengler (1880–1936), Kulturhistoriker und Geschichtsphilosoph. Vgl. vor allem Der
Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Bd. 1, Wien 1918;
Bd. 2: München 1922.
681 Ein Student, der sich als Nationalsozialist zu erkennen gab. Siehe auch TB 1924.

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288 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

gestoßen zu werden. Ihr Egoismus ist unüberwindlich, wie bei jeder Frau. Schreckliches
Misstrauen. Herzlich verabschiedet, müde nach Hause, Verzweiflung. Sie weiß alles von
mir. Was soll ich tun, ist es ein Traum des Teufels? Grauenhaft. Von Sekunde zu Sekunde
schwankt alles.

Samstag, 15. 12. 23


Todmüde um 8 auf, schnell angezogen, zur Bahn gelaufen, um 9 nach Köln gefahren, dort
Examen mit Schulz; der Präsident Reichartz machte mir Komplimente über die Schrift vom
Parlamentarismus, was mich freute. Das Examen war schon um 2 zu Ende (<…> mit ausrei-
chend, Adams etwas besser 682), in Köln etwas eingekauft, Trauben für Duschka, die Rhein-
uferbahn hatte große Verspätung, um 3 1/4 da weg, müde in Bonn, kaufte noch Zeitungen
und Blumen, zu Hause todmüde, Kaffee getrunken, etwas gewaschen, dann ging ich zu
Duschka (ein Brief von Eisler 683, telegraphierte seinem Vater 684 zum 70. Geburtstag), bei
Duschka auf dem Sofa gelegen, zu Abend gegessen, geküsst (ich sagte ihr: Sie wissen, dass
Sie kein Mädchen mehr sind), sie war gut gegen mich und unbeschreiblich gütig, liebevoll,
ich küsste ihr Herz und ihren Leib. Nach 10 nach Hause. Todmüde, aber trotzdem munter,
las noch eine Besprechung der Politischen Theologie von Hirsch aus Göttingen in einem
theologischen Literaturblatt 685, das interessierte mich wieder und gab mir etwas Selbst-
bewusstsein. Sonst traurig, oft voller Angst über die unglaubliche Lage Deutschlands.

Sonntag, 16. 12. 23


Bis 9 geschlafen, trotzdem noch sehr müde, behaglich gefrühstückt, Völkerrecht vorberei-
tet, eine Karte vom Archiv für Sozialwissenschaften, die meine Arbeiten besprechen wollen,
was mich freut. Es wurde 12, ich ging nicht zum Hochamt, in dem der Kardinal zelebrierte,
auch nicht zum Vortrag, traf aber zufällig auf der Straße Schnors, was mich sehr rührte, ein
ernster, einsamer Mensch. Kaufte mir die Zeitung, aß bei Kieffer zu Mittag, zu Hause ver-
suchte ich zu schlafen, vor 4 kam Kisky, trank bei mir Kaffee, wir unterhielten uns nett, er
brachte Grüße von am Zehnhoff, erzählte von Fräulein Schröder, sprach über Stinnes (die
Reichsbahn zahlt diesem Räuber täglich 20.000 Goldmark, die Ruhrbesetzung hat er be-
nutzt, die Reichsbahn von sich abhängig zu machen686). Um 5 zu Duschka, wir gingen am
Rhein spazieren, sehr schön, gerührt von ihrer Schönheit und Güte, nur einmal bekam ich
einen Wutanfall, wenn ich an die erbärmliche Lage eines deutschen Professors und an
Stinnes denke. Wir aßen im Bürgerverein wunderschön zu Abend, in herzlicher Liebe, dann

682 Examenskandidaten nicht ermittelt.


683 Brief vom 12. 12.1923 im Nachlass Schmitt (RW 265-3151) vorhanden.
684 Heinrich (Henrick) Ludwig Eisler (1853–1924), seit 1877 in Hamburg ansässiger Verleger, der
Schmitt immer wieder finanziell unterstützt hat.
685 Emanuel Hirsch, in: Theologische Literaturzeitung 24 (1923), S. 524–525. Hirsch (1888–1972),
protest. Theologe und Romanautor, ab 1921–1945 o. Prof. in Göttingen, im „Dritten Reich“ ein
führender Vertreter der völkischen Theologie und Berater des „Reichsbischofs“ Ludwig Müller.
686 Die Reichsbahn verlor durch die Ruhrbesetzung etwa ein Achtel des Streckennetzes, das vor dem
Krieg ca. 40 % des Gesamtgewinns der Preußischen Eisenbahnverwaltung erwirtschaftet hatte. Von
April bis November 1923 übertrafen die Ausgaben die Einnahmen um das Dreifache. Der „Stin-
nes-Plan“ hatte auf eine Art Privatisierung der Reichsbahn gezielt.

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Dezember 1923 289

auf ihr Zimmer, Marzipan gegessen, küssten uns immer wieder, ich küsste ihr Herz, sie
sagte mir, dass sie sich gefreut hat, als ich ihr sagte, inzwischen dürfte sie kein Mädchen
mehr sein. Schönes, liebevolles Kind. Um 10 nach Hause, ziemlich müde, voller Angst,
Unsicherheit der Existenz; grauenhafter Zustand.

Montag, 17. 12. 23


Todmüde erst um 1/2 10 auf, eine Mahnung von der Berliner Bibliothek, sonst keine Nach-
richt, grauenhaft. Traurig, schönes Frühstück, Brief an F.Mc. Kiernan. So verging der Vor-
mittag. Mittags Zeitung gekauft, in der Bibliothek nachgesehen, todmüde, eine Kassette für
Duschka besehen, sie kostete aber 90 Billionen! Müde wieder zu Hause, ein paar franzö-
sische Zeitungen, nach dem Essen zu Hause rasiert und ausgeruht; es belebte mich, von
Barrès und Marie Bashkirtseff 687 zu lesen. Dann Kaffee und zur Fakultätssitzung über die
Möglichkeit eines Abbaus, grauenhaft. Der Strick am Halse, saß neben Göppert. Erzählte
ihm, dass Stinnes täglich 20.000 Mark von der Reichsbahn erhält, das berührte ihn aber gar
nicht. Traurige Sache. Um 5 traf ich Duschka, glücklich, sie zu sehen. Wir gingen zu ihrem
Schokoladengeschäft, kauften für beide Kinder von Haecker Schokolade und schickten sie
mit einer Karte von uns, dann fröhlich noch an den Rhein spazieren gegangen. Duschka
erzählte von einem Traum (dass ich sie zurückgestoßen habe). Bis 1/2 8, begleitete sie nach
Hause, sie war unbeschreiblich gut und lieb (als sie den Brief von Suarès über Dostojewski
las, dass ihm eines gefehlt habe, eine vollkommene Liebe, sagte sie sich: sie wird mir eine
vollkommene Liebe widmen). Ich ging zu Schmitz, aß zu Abend, dann mit Schmitz Wein
getrunken im Bürgerverein, über Stinnes Wut. Müde um 1/2 10 nach Hause. Etwas Völker-
recht geschrieben, traurig, verzweifelt, aber der Gedanke an Duschka macht mich fröhlich.

Dienstag, 18. 12. 23


Todmüde, erst um 9 1/4 auf, wie gelähmt. Was mag das sein? Kein Brief, Vorlesung schnell
vorbereitet, nicht guter Laune, um 1/2 12 ein Brief von Rechtsanwalt Meyer: das Gericht
will noch einmal die Beklagte laden, Termin 18. Januar. Wutanfall. Wollte am Zehnhoff
schreiben, wollte zu Meyer laufen, empört über diese ekelhafte Bürokratie. Ganz aufgelöst.
Müde zur Universität. Ganz langsame, langweilige Vorlesung; nachher war zu meiner
großen Freude Duschka da. Das gute, liebe Kind. Wir gingen durch den Hofgarten, sie
begleitete mich an die Meckenheimer Allee. Das tröstete mich. Nach dem Essen zum Haar-
schneiden, kostete 1,2 Billionen, unverschämt. Zu Hause rasiert, ausgeruht, dann kam Rei-
ners und las ein Kapitel seiner Arbeit vor, wir unterhielten uns noch etwas, nachher ein
Referendar aus Köln, dann etwas gearbeitet, um 7 fröhlich zu Duschka, sie erwartete mich
zum Essen, war rührend gut und freundlich, wir übersetzten aus <…>, was sie sehr
anstrengte, dann noch Englisch, sie saß auf meinem Schoß, wir küssten uns lange, ich ging
erst nach 10 weg. Sie kannte den Grund meiner Traurigkeit und war rührend gut gegen
mich, sie erzählte von ihrer Kindheit, wie sie oft traurig war, wie sie mit ihrer Schwester die
Wolken gesehen und die Figuren gedeutet hat. Ich ging ruhig und glücklich nach Hause.

687 Marie Bashkirtseff (1858 oder 1860–1884), russ. Malerin, Verfasserin bedeutender Tagebücher. Vgl.
dies., Mon Journal. Texte intégral transcrit par Ginette Apostolescu, 12 Bde., Montessont 1995–
2003.

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290 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Den ganzen Tag sehr müde, aber der Besuch bei Duschka hat mich wunderbar getröstet.
Nachmittags Brief von Kiener, von Kathleen, von den Eltern. Den von K. öffnete ich nicht.
Habe heute einen Brief an F. Mc. K. geschickt.

Mittwoch, 19. 12. 23


Wieder todmüde, konnte kaum aufstehen, morgens Schokolade zum Frühstück, bereitete
meine Vorlesung (über <…>) vor. Traurig, deprimiert, Frau v. Wandel erzählte von ihrer
Wohnung und bat mich, zum Rechtsanwalt mit ihr zu gehen688, sie hatte sich Fragen aufge-
schrieben; alles das widerte mich an. Gegen 11 durch die Stadt, eine Kassette suchen, fand
aber nichts. Las zufällig, dass die Beamten vom 1. Januar an kein Gehalt mehr bekommen.
Sagte Fräulein Tadić, dass wir uns für Freitagabend bei Schmitz verabredet haben, sie
konnte aber nicht; die Ablehnung deprimierte mich. Schön. Hielt dann meine Vorlesung,
müde, aber doch ganz interessant. Nachher erwartete mich Duschka, zu meiner großen
Freude. Liebes, schönes Kind. Wir gingen durch den Hain, sie begleitete mich an die
Meckenheimer Allee, ich war gerührt, sie dachte an ihre schrecklichen Erfahrungen, deren
Erinnerung ihr Nervenfieber verursacht. Nach dem schlechten Essen ein paar Schritte mit
Vormfelde, zu Hause todmüde rasiert, geschlafen, um 3 Kaffee, zu meiner verwaltungs-
rechtlichen Übung gelaufen, sie verlief aber sehr schön (über den 10. II.689 [19]17). Als ich
aus der Tür ging, kam Duschka herein (die in die Vorlesung Göppert wollte), wir gingen ein
paar Schritte, wie schön und gut sie war, dann ging ich mit einem Studenten nach Hause (es
schneite), ein Brief von Jup, der eine Stelle gefunden hat. Ich schrieb ihm, dass er morgen
Abend kommen soll. Dann fröhlich auf Duschka gewartet, sie kam aus der Vorlesung Göp-
pert, wir gingen ihre Photographien holen, eine Kassette besehen, ich war glücklich über
sie, begleitete sie nach dem Hofgarten, dann zu ihrer Wohnung, um 7 1/4 zu Neuß, sehr
müde, ich bedauerte, dass ich am Sonntag nicht im Hochamt war, holte mir bei ihm das
Buch, das ich morgen Duschka schenken will, dann zu Hause, vor Sehnsucht nach Duschka
gequält, aber ich war zu müde, davonzugehen, überlegte etwas die Vorlesung für morgen,
aß ein Stück Brot und den jugoslawischen Käse, ziemlich müde. Gequält von der Sehnsucht
nach Duschka, sie zog mich zu sich hin, aber trotzdem müde bald zu Bett.

Dienstag, 20. 12. 23


Immer sehr müde, Schokolade zum Frühstück, zum Lesen ein Heft einer Zeitschrift für die
Vorlesung erhalten, um 10 1/4 kam Duschka, sie frühstückte sehr schön bei mir, schenkte
mir die 2 Photographien, die wunderschön sind, wunderbares Weihnachtsgefühl, ich
schenkte ihr ein paar Bücher. Bereitete meine Vorlesung schnell vor, ging mit Duschka zur
Universität, schöne Vorlesung, nachher mit Gerber verabredet. Dann von Duschka abgeholt
durch den Hofgarten, sie begleitete mich durch die Baumschulallee. Nach dem Essen zu
Hause ausgeruht, um 1/2 5 Kaffee, holte Duschka um 5 Uhr ab, wir gingen schnell an den
Rhein, dann begleitete ich sie zu Rick, in schnellem Lauf durch die Stadt zurück, mein
Seminar gehalten. Fräulein Esser war krank, daher nur Unterhaltung, es ging aber sehr gut,

688 Offenbar ging es um die steuerrechtliche Anerkennung als „Universitätswohnung“; s. Eintragung


vom 19. 2. 1924 u. ö.
689 Möglicherweise ist der 10. November (11.) gemeint.

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Dezember 1923 291

zuletzt ausgezeichnet über den Gegensatz Industrie und politisches Denken und die Parabel
von Saint-Simon690. Jup kam während der Vorlesung, wir gingen nachher zusammen, freute
mich des schönen Seminars, trank bei Kieffer viel Bier, gab ihm 10 Billionen, versprach ihm
morgen 50 und meine [restlichen] Bank-Aktien zu verkaufen, Neuß kam noch, wir spra-
chen über den Gegensatz der Revolution in Russland und Deutschland. Jup ist ein guter,
gescheiter Kerl. Angst und Abscheu vor der „Schwarzen Hand“691. Sehnsüchtig an Duschka
gedacht. Neuß nach Hause begleitet.

Freitag, 21. 12. 23


Um 8 auf, in größter Eile, Schwickardy brachte Geld, um 1/4 9 Duschka getroffen (ihr ent-
gegengelaufen), auf der Baumschulallee, wir fuhren dann nach Köln, wunderschöne Fahrt,
besahen Maria im Kapitol692, [Gabel]kreuz (ich bekreuzigte sie mit Weihwasser). Dann
Gereon, Aposteln693, darauf zu Eigel, Spekulatius gegessen, dann zu Deis, wo Jup schon auf
uns wartete. Gab Jup 50 Billionen, wir unterhielten uns nett (Jup war drollig über die Per-
sonalunion von Arzt und Apotheker und ihren Einfluss auf die Therapie), Duschka bekam
aber bald Kopfschmerzen. Wir gingen am Rhein spazieren, um 1/2 4 nach Hause, Duschka
sehr krank, sie ging zu mir, erbrach sich, ruhte eine Stunde auf der Ottomane bei mir aus,
ich schrieb schnell an Scheffer, Brief von André, dass er vielleicht kommt. <…>. Dann
begleitete ich Duschka zu ihrer Wohnung, ging schnell zu Schmitz voraus, um ihm zu
sagen, dass wir heute Abend nicht kommen können, wieder zu Duschka, die schon im Bett
war, bei ihr bis 10 Uhr, schlief 1/4 Stunde in ihren Armen, küsste ihren Leib, sie war gütig
und hingebend. Wunderbares Kind.

Samstag, 22. 12. 23


Bis 9 Uhr todmüde geschlafen, nachts Pollution (ekelhaft), schwach. Um 10 kam Referen-
dar Weber aus Köln und las seine Arbeit [zur] Rheinischen Landesgemeindeordnung694 vor,
die mich sehr interessierte, bis 1/2 12, dann Braubach, dem ich Empfehlungskarten für
Beyerle und Feuchtwanger mitgab. Kaiser, der sich verabschiedete und einen Brief an Rek-
tor Weimann695 mitnahm. Von Braubach begleitet zur Stadt, mit Meyer verabredet, traf

690 Henri de Saint Simon (1760–1825), ökonomischer Philosoph. In der 1819 publizierten Parabel,
wegen der er angeklagt, aber freigesprochen wurde, vergleicht er den möglichen Verlust von 30000
Physikern, Chemikern, Technikern, Industriellen, Reedern, Kaufleuten, Handwerkern, Gelehrten
und Künstlern („classe industrielle“) mit dem von 10000 Prinzen, Hofleuten, Ministern und hohen
Geistlichen. Ersterer, so das Gedankenspiel, wäre katastrophal, letzterer – bei aller Trauer über das
betrübliche Ereignis – politisch-gesellschaftlich zu verschmerzen. Mit der Parabel riet er König
Ludwig XVIII., sich als Bürgerkönig zu präsentieren.
691 Geheimorganisation serbischer Offiziere, die an dem Attentat am 28. 6. 1914 in Sarajewo beteiligt
war.
692 St. Maria im Kapitol, größte romanische Kirche in Köln mit bekanntem Gabelkreuz.
693 St. Gereon und St. Aposteln, zwei weitere der zwölf großen romanischen Kirchen in Köln.
694 Carl Weber, Die Geschichte der rheinischen Gemeindeordnung vom 23. Juli 1845, Müllenbach
1924. Schmitt war Erstgutachter der Dissertation.
695 Ernst Weimann (1870–1937), 1891–1937 Rektor der Realschule in Plettenberg, verfaßte mehrere
Monographien und Artikel zur Geschichte der Stadt Plettenberg.

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292 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

zufällig Neuß, mit ihm nach Hause, nach dem Essen 1/2 Stunde ausgeruht, dann zu Ritters-
haus, wo Gerber saß, nicht besonders lebhaft mit ihm unterhalten, es kam Rick, wir spra-
chen über Wahlen, dann über Polen, wo Gerber gewesen war, ging am Rhein spazieren, bis
4 Uhr, holte meine Schuhe, kaufte Duschka einen Strauß Flieder, Trauben und Gurken.
Dann zu Hause. Die Bücher von André sind gekommen, ich freute mich sehr darüber.
Trank Kaffee, Frau v. Wandel kam wegen der Wohnung, dann um 6 zu Duschka. Wir aßen
schön zu Abend, dann lag ich auf der Ottomane, während sie an der Jacke für Klein-
Schnitzler 696 stickte. Küsste ihr Herz, sie war gut und sagte: Wenn ich einmal ein böses
Wort sagte, so sind sie alle nichtig. Ich war erschrocken und gerührt. Ich liebe sie sehr. Blieb
bis 1/2 11, dann nach Hause. Unternehmend, aber doch schläfrig.

Sonntag, 23. 12. 23


Wieder todmüde, erst um 9 aufgestanden. Nach dem Frühstück zu Meyer wegen meines
Prozesses und der Mietsache Wandel. Es ging alles sehr glatt. Ich war von dem Erfolg sehr
zufrieden und ging nach Hause. Duschka war noch nicht da, was mich etwas enttäuschte.
Sie kam nach 11, saß bei mir im Zimmer, trank eine Tasse Tee, war gütig und freundlich, ich
schrieb Briefe an Lamberts, Frau Eisler, André. Sie ging um 1 Uhr, ich begleitete sie. Ich
habe ihr Rilke geschenkt, Stunden-Buch 697; sie las einiges mit großem Interesse. Zu Mittag
gegessen, nachher geschlafen. Um 4 telephonierte Scheffer, er wolle morgen kommen, aber
es ging nicht, weil ich nach Heisterbach will mit Duschka. Es tat mir leid, dass ich Scheffer
nicht sah. Dann Kaffee getrunken, Léon Bourgeois 698 gelesen, mit Entsetzen vor dieser
unverschämten Schaumschlägerei. Duschka kam erst um 6 (sie wollte um 5 kommen), ich
fror in meinem Zimmer, war traurig und deprimiert, sie merkte es und war auch traurig. Sie
stickte ein Kleid für Schnitzler, ich las ihr den Prediger vor, alles ist eitel 699, das betrübt sie
noch mehr. Ich fühlte die Unmöglichkeit, sich mit einer Frau zu verständigen, fühlte mich
entsetzlich betrogen. Wir gingen um 1/2 8 zu Schmitz (sie ist immer gütig und freundlich
und ich tue ihr Unrecht mit meinen grauenhaften Selbstquälereien), sahen die Eltern von
Frau Dr. Schmitz, dann zu ihr auf ihr Zimmer, bescheiden ein Butterbrot gegessen, es war
ziemlich kalt, wir saßen beieinander, sprachen von ihrem Vater (sie machte die grauenhaften
Grimassen, die ihr Vater ihr beigebracht hat, ich erschrak), sie sprach davon, dass sie schon
am 29. reisen muss nach Jugoslawien, Angst vor den Verwandten, vor diesen Serben. Ich
fühlte plötzlich die ungeheure Kluft. Sehr traurig und deprimiert nach Haus. Morgen wol-
len wir nach Heisterbach fahren. Sie ist klug, ich weiß es. Sie ist nicht so dumm wie ich.

Montag, 24. 12. 23


Um 1/2 9 auf, schnell zur Stadt, für 5 £ die Kassette für Duschka gekauft, schnell einge-
packt, gefrühstückt, alles in großer Eile, um 1/4 11 an die Siebengebirgsbahn, Duschka kam
bald, wir fuhren sehr fröhlich bei Regenwetter nach Heisterbach und gingen zum Kloster.

696 Gemeint ist das Kind der Schnitzlers, s. Anm. 595.


697 Rainer Maria Rilke, Das Stunden-Buch (1905), Gedichtsammlung in drei Zyklen (Büchern).
698 Léon Bourgeois, L’œuvre de la Société des Nations, 1920–1923, Paris 1923.
699 Kohelet, Prediger (Salomos), auch Ekklesisastes, ein pessimistisches Buch des Alten Testaments,
das vom Vanitas-Motiv durchzogen ist.

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Dezember 1923 293

Freundliche Aufnahme in den kleinen Zimmern am Portal700, ruhig zu Mittag, schön


geheizte Zimmerchen, es wurde herrliches Winterwetter, machten nach dem Essen einen
Spaziergang im Wald, der märchenhaft aussah, Duschka schaute lange hinein, sie war
prachtvoll. Unbeschreiblich lieb und gütig. Wir warteten in meinem Zimmer aufs Gepäck,
das abends nach dem Essen kam, dann lag Duschka lange auf meinem Bett in meinem Zim-
mer, ich küsste sie, in großer Liebe, um 11 Uhr kam die Schwester und erinnerte uns, dass
es Zeit wurde für die Messe. Leider war es sehr voll, rührende Predigt des alten Pfarrers701
(in meiner Jugend hätte ich das nicht gedacht). Ich hatte die Kassette Duschka auf den
Nachttisch gestellt in ihrem Zimmer; sie war erfreut, rührend freundlich und gütig. Ich
habe niemals so viel schöne Liebe erfahren.

Dienstag, 25. 12. 23


Nach dem sehr schönen Frühstück Spaziergang im Wald, machten einen Schneemann, das
Wetter wird immer schöner. Nach dem Essen schlief ich auf meinem Zimmer, während
Duschka neben mir saß und las und mich küsste. Sie ist gut und voller Milde. Abends ging
sie um 9 zu Bett, ich küsste sie lange.

Mittwoch, 26. 12. 23


Schöner Winter, schöner Spaziergang über die Chaussee. Abends in der kleinen Kapelle
Andacht mit Segen. Glücklich über Duschka, sie sagte, sie habe sich ganz in einer religiösen
Gemeinschaft gefühlt. Sie hat zum ersten Mal eine Monstranz gesehen. Ich schrieb einige
Karten, auf ihrem Zimmer (Nachmittag im Bett wieder schön ausgeruht), ich vergehe vor
Liebe und Glück. Sie sagte, dies seien die schönsten Weihnachten. Wir wollen morgen nicht
zurück.

Donnerstag, 27. 12. 23


Unbegreiflich, wie diese Tage vergehen, sehr langsam und doch wunderschön, nie die
geringste Langeweile, ohne Eile, ohne eine tote Sekunde. Mittags bei mir im Zimmer, ich
ruhte aus. Duschka küsste mich, abends war sie im Bett und ich küsste ihren Leib. Sie wird
wunderbar gesund, ihre Augen leuchten, sie lacht mit lauter, heller Stimme wie ein Kind,
wunderbar graziös und schön, läuft und springt, erzählt von ihren Tanten und Verwandten,
alles prachtvoll und hinreißend schön. Zum ersten Mal das Glück der Güte einer schönen
Frau.

Freitag, 28. 12. 23


Spaziergang zur Rosenau, der Ölberg702 war wunderschön, nach dem Essen noch einmal,
aber es waren zu viele Rodler da, etwas traurig, abends wunderschön getröstet von

700 Offenbar waren die beiden nicht im Hotel untergebracht, sondern in Zimmern des sogenannten
Torgebäudes, die in der Regel Geistlichen zur Vorbereitung von Exerzitien oder Predigten zur Ver-
fügung standen. Vgl. Jan Assenmacher, Heisterbach einmal anders gesehen. Die Wiedergeburt eines
Klosters, http://thomasberg.heimatmuseum-virtuell.de/Wiedergeburt_Heisterbach.pdf [gelesen am
15. 8. 2012]. Siehe auch Abbildung im Anhang, S. 574.
701 Pfarrer Klein (1850–1931), ab 1922 Hausgeistlicher der Cellitinnen von Heisterbach.
702 Berg mit Burgruine zwischen dem Nonnenstromberg und dem Großen Ölberg bei Königswinter.

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294 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Duschka. Immer wieder diese wunderbare Stunde des Nachmittags, sie küsste meinen Leib.
Abends küsste ich sie in ihrem Bett. Schöne Wintertage, in ruhigen Zimmern; morgen wol-
len wir nach Bonn reisen. Duschka wird ganz gesund, sie isst gierig, besonders zum Kaffee.

Samstag, 29. 12. 23


Die Nacht nicht geschlafen, homosexueller Traum (Kafka, ein Jude), einsam nach Bonn (ich
klopfte zu Duschka, die mir antwortet; schönes Kind), ging nach Dottendorf, wunderbaren
Morgenspaziergang. In Bonn schmutziges, nasses Wetter, erledigte einiges, der Pedell kam,
kein Geld, viele Briefe (von Smend703, F. Mc.K., von Franz Blei ein schönes Buch und ein
rührender Brief). Mittags um 11 schon wieder zurück, traf unterwegs den alten Pfarrer; als
wir zusammen nach Hause gingen, kam uns, kurz vor Heisterbach, Duschka entgegen.
Herrliches Kind. Ich ging noch etwas mit ihr spazieren, nach dem Essen ausgeruht, abends
wieder schön auf ihrem Zimmer. Wir lasen zusammen meine Broschüre über Parlamentaris-
mus, ich war begeistert und glücklich. Ich erledigte einige Korrespondenz704, stolz, voller
Selbstgefühl. Dank dir, gütige Frau. Sie sagte, dies sei die schönste Woche ihres Lebens
(dann ist es auch meine gewesen).

Sonntag, 30. 12. 23


Um 7 auf, wir gingen zusammen zur Messe, Duschka hörte aufmerksam zu, eine rührende
Predigt des alten Pfarrers (danke, Gott, dass ich nicht auf der Treppe gefallen bin), wir
waren sehr glücklich und fröhlich. Nach dem wunderschönen Frühstück Spaziergang im
Wald, wir machten einen Schneeballen, lachten und sprangen. Der Wald war im Winter
herrlich und schön. Nach dem Essen eine Stunde ausgeruht, in meinem Zimmer, Parlamen-
tarismus zu Ende gelesen. Sie küsste meinen Leib, herrlich. Dann tranken wir Kaffee, ver-
abschiedeten uns, gingen nach Oberdollendorf, fuhren nach Bonn zurück, ging zu ihr, dann
bei Schmitz vorbei, aßen im Bürgerverein zu Abend, wunderschön, fröhlich über ihren
Schwager und Schwester erzählt, sie war fröhlich und guter Dinge. Begleitete sie um 9 nach
Hause, dann zu mir, ein paar Briefe, der von Janentzky705 interessierte mich am meisten.
Müde zu Bett.

Montag, 31. 12. 23


Morgens eine herrliche Stunde von 10 bis 11. Glücklich in der Erinnerung an die vergan-
gene Woche, an das Glück, das ich aus der Hand von Duschka empfing. Plan und Vorsatz.
Allmählich ein gesunder Mensch, dank der lieben, schönen Duschka. Mit Schmitz in die
Stadt, einiges gekauft, Flasche Wein für den Schwager von Duschka, mittags traf ich Spiet-
hoff, Neuß, der mich bat, zu ihm zu kommen, nach dem Essen zu Neuß, wo der Fürst

703 Brief vom 22. 12.1923, in: Mehring (Hrsg.), BW Schmitt – Smend, S. 24 f.
704 Darunter „10 Zeilen“ an Feuchtwanger, erwähnt im Brief Feuchtwangers an Schmitt vom 10.1.
1924, in: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 48 f.
705 Christian Janentzky (1886–1968), Germanist und Literaturwissenschaftler, ab 1920 ao. Prof. in
München, 1922–1952 o. Prof. in Dresden. Von ihm sind ein Brief von vor 1923 und einer vom 17. 3.
1923 im Nachlass Schmitt (RW 265-6500) erhalten.

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Dezember 1923 295

Salm706 war, der mir die Geschichte von der Oberin des Malteser-Krankenhauses erzählte,
die übermorgen herausgesetzt werden soll. Ich versprach Neuß, zu ihr zu gehen, kleidete
mich schnell um, zu dieser Frau, die aussah, wie die <…> in der Rolle einer Bordellmutter.
Widerlich. Sie merkte, dass sie mich nicht gewinnen konnte, und behandelte mich kühl, ich
ging bald weg, mit Depressionen darüber, dass es so ein Ungeziefer in der Welt gibt und
man sich damit herumschlagen muss. Dachte sehnsüchtig an Duschka, ging nach 5 Uhr zu
ihr, sie lag krank zu Bett, ihr Herz klopfte, sie erbrach Galle (oder Auswurf aus den Bron-
chien), blieb bis 11 Uhr, armes Kind, las etwas in den nationalökonomischen Lehrbüchern,
Rilke, dachte nach, welch eine Situation. Sie war gütig und freundlich.

706 Franz Josef Alfred Leopold Hermann Maria, Fürst und Altgraf zu Salm-Reifferscheid-Krautheim
und Dyck (1899–1958), Unternehmer, Eigentümer der Salm-Dyck-Reifferscheidt’schen Mineral-
quellen („Roisdorfer Mineralquelle“).

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1924

Dienstag, 1. 1. 24
Bis 10 Uhr geschlafen, dann kam Duschka und frühstückte mit mir, etwas schwach, aber
wieder gesund, wunderschöner Vormittag. Ich zeigte ihr mehrere Kleinigkeiten, die ich für
[sie] zurechtgelegt hatte, Gedichte, Zitate. Wir unterhielten uns wunderschön, sie hat mich
lieb und ist mir ganz vertraut. Wir gingen gegen 1 Uhr weg, sie begleitete mich. Nach dem
Essen zu Neuß, der mir aus seinem Buch über Christliche Kunst vorlas, was mich interes-
siert. Dann bei Landsberg vorbei, unheimlicher Einfluß dieser Frau; darauf zu Hause Kaf-
fee, zu Duschka, nachdem ich mir eine Flasche Wein im Bürgerverein gekauft hatte. Im
Smoking. Aßen brav zu Abend, unterhielten uns liebevoll und zärtlich. Um 1/2 10 ging
Duschka zu Bett (ich wartete draußen), dann blieb ich noch bei ihr bis nach 11, küsste ihren
Leib, sie war hingebend und gütig und sagte, sie gehöre mir.

Mittwoch, 2. 1. 24
Gut ausgeschlafen, den Aufsatz von Thoma707 gelesen, kein Brief. Nichts von Jup, ungedul-
dig; um 11 kam Duschka, die ich sehnsüchtig erwartete, sie war übermütig und freundlich,
hatte gut geschlafen; ich gewinne sie immer lieber. Wir gingen in die Stadt, kauften für ihre
Schwester Brillanten [und] Saphire‚ ich kaufte ihr noch einige Kleinigkeiten für die Reise,
ging in die Universität, unter der Madonna hin zum Rhein, um noch einmal einen Blick auf
den schönen Strom zu werfen. Dann begleitete ich sie bis an den Bonner Talweg. Nach dem
Essen ausgeruht bis 4 Uhr. Kaffee getrunken, was mir nicht gut bekam, etwas zurecht
geschrieben für Duschka, dann um 1/2 6 zu ihr, Fräulein Tadić war da, die eingepackt hatte.
Wir begleiteten sie zur Reuterstraße708 und gingen zu Dr. Rick, von dem Duschka sich ver-
abschieden wollte. Er machte keinen guten Eindruck auf mich, aber wir unterhielten uns
freundlich. Dann mit Duschka zu Fräulein Tadić zum Bürgerverein (wie gütig und freund-

707 Richard Thoma (1874–1957), Staats- und Völkerrechtler, ab 1908 o. Prof. am Kolonialinstitut in
Hamburg, 1909 in Tübingen, 1911 in Heidelberg, 1928–1945 in Bonn. Zusammen mit Gerhard
Anschütz Verfasser des bedeutenden zweibändigen Handbuchs des Deutschen Staatsrechts, Tübin-
gen 1930/1932. Schmitt las offenbar Thoma, Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Ver-
hältnis zum Staatsbegriff. Prolegomena zu einer Analyse des demokratischen Staates der Gegen-
wart, in: Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. 2, München u. a.
1923, S. 37–64; s. auch Eintragung vom 13. 1.1924.
708 Möglicherweise ist nicht die noch heute bestehende, sondern die in der Südstadt gelegene, inzwi-
schen untergegangene Reuterstraße (heute: Hartsteinstraße) gemeint.

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Januar 1924 297

lich ist Duschka gegen mich, niemals war eine Frau so gut). Wir aßen zu Abend, unterhiel-
ten uns nett; ich war fröhlich durch den Wein und lachte, dann zu Schmitz (ich ging schnell
zum Bahnhof wegen eines Dienstmannes für morgen früh, fand aber keinen). Müde, lag auf
der Ottomane; Schmerzen. Er spielte das Andante aus der 7. Symphonie von Beethoven709,
dann die Freischütz-Ouvertüre und [eine] Etüde von Chopin. Müde, sehnsüchtig, liebevoll,
dankbar gegen Duschka. Um 10 Uhr begleiteten wir Fräulein Tadić nach Hause in die
Reuterstraße. Dann noch eine Viertelstunde bei Duschka auf ihrem Zimmer, sie herzlich
geküsst in inniger Liebe. Müde nach Hause.

Donnerstag, 3. 1. 24
Um 6 Uhr wach, rasiert, wieder zu Bett, bis 8 Uhr geschlafen, beinahe verschlafen. Schnell
angezogen, einen Wagen bestellt, zu Duschka in die Pension, sie war am Frühstücken, der
Wagen kam bald, wir fuhren schon um 9 mit der Rheinuferbahn nach Köln. Alles ging
pünktlich und glatt. In Köln das Gepäck besorgt, dann mit der Elektrischen (weil wir kein
Pferdchen fanden) zum österreichischen Konsulat, wo ich mich von einem dummen Lüm-
mel (der <…> gleicht) dumm behandeln ließ. Traurig und beschämt. Dann in eine der Kon-
ditoreien; mit Duschka gesprochen, sie versicherte mir ihre Liebe, gütig und rührend,
erzählte von ihrem Vater, ich war oft müde und traurig, aber glücklich, weil sie so gut gegen
mich war. Dann zur Bahn, sie fuhr 3. Klasse, aber in einem Frauencoupé (die 1. Frau, die in
einem Frauencoupé [fährt], unglaublich); aber ihr Abschiedskuss herzlich, sie sagte, dass sie
meine Frau sei, dass sie mich im Herzen trägt, nur an mich denkt. Unbeschreiblich glück-
lich, trotz der Traurigkeit des Abschieds. Fuhr dann mit der Rheinuferbahn nach Bonn
zurück, kaufte mir eine Zeitung, etwas zum Essen; zu Hause war es kalt, ich erkältete mich
schrecklich. Wut über die ekelhaften Preußen, Gefühl meiner zerrütteten Nerven, erbärm-
licher Zustand. Immer nur an Duschka gedacht, überlegt, ob ich sie überhaupt im Leben
schützen kann, ich armer, schwacher, hilfloser Mann.

Freitag, 4. 1. 24
Träume von Kathleen. Bis 10 im Bett, ausgeschlafen, sodass ich mich wohler fühlte und alle
Wut von gestern Abend vergessen hatte. Ein Brief von Jup, den ich gleich einlud; sonst
nichts Wesentliches. Drucksache von Kiener. Frühstückte schön und las etwas Thoma, ord-
nete den Tisch, fühlte mich sehr erhaben dabei. Schrieb an Feuchtwanger, eine Karte an die
Redaktion des Hochland (weil mir der Aufsatz von Friedrich Curtius710 gefallen hatte).
Dann zu Rechtsanwalt Meyer, wo sich alles glatt erledigte. Fröhlich, das erledigt zu haben.
Lasse durch Berendt an Fa. Tompson <?> nach Berlin zurückschicken. Nach dem Essen ein
paar Worte mit Vormfelde (er schmunzelte mir zu und sagte, so ein leichter Vogel wie Schif-
rin <?> als Verhältnis, das wäre das Richtige), dann zu Neuß, der mir etwas vorlas. Wir

709 Im 2. Satz der Siebten (op. 92), eigentlich ein Allegretto, findet sich zwischen zwei Quart-Sext-
Akkorden ein suggestiver „Trauermarsch“ in a-moll, eine „Apotheose des Tanzes“ (Richard Wag-
ner), der volkstümlich oft als Andante bezeichnet wird.
710 Friedrich Curtius, Demokratie und Parlamentarismus, Hochland XXI, 1 (1924), S. 112–114. Fried-
rich Curtius (1851–1931), Jurist und elsässischer Beamter, Patenkind des späteren Dt. Kaisers und
Königs von Preußen, Friedrich III., war der Vater von Ernst Robert Curtius (s. Teil I, Anm. 60).

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298 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

kommen aber schnell in ein Gespräch; ich soll mich entscheiden wegen der Reise nach
Rom, habe wenig Lust. Um 4 Essen, ausgeruht, ein schöner, freundlicher Brief von Kiener.
War sehr schön; 3 Stunden den Tisch aufgeräumt, Temps ausgeschnitten, an Duschka
gedacht, mit Rührung ihr Bild besehen, sie auf der Reise in Gedanken begleitet, von Liebe
zu ihr erfüllt. Ruhig und beherrscht gearbeitet; wenn ich noch viele solcher Tage habe,
werde ich zufrieden sein. Mit allem versöhnt und milder. Dann zu Landsberg. Gutes Essen
und guter Wein, ein Freund des Jungen (Schüler von Salem) war da. Unterhaltung über
philosophische Dinge, über Hugo711, über <…>‚ Hegel und Schopenhauer; ich war [ver-
stört], verärgert und enttäuscht von der unverschämten Lümmelhaftigkeit des jungen
Landsberg; um 1/2 12 verärgert nach Hause, doch habe ich schönen Burgunder getrunken.
Feiner Trost, keine Gedanken an Duschka.

Samstag, 5. 1. 24
Bis 10 geschlafen, todmüde, Schmitz kam, wir unterhielten uns nett, seine Frau ist krank,
auch seine Tochter, ich dachte sehnsüchtig an Duschka, ging mit Schmitz in die Stadt, kaufte
Zeitungen, Wurst usw. Blei hat mir die 3. Auflage des Bestiariums und einen freundlichen
Brief 712 geschickt; das freute mich sehr. Zu Hause herumgelesen, nicht viel getan. Nach dem
Essen mit Vormfelde einen Spaziergang über die Rheinbrücke und Schwarzrheindorf; er
erzählte von Frauen, ich dachte mit Liebe und Rührung an Duschka. Um 1/2 4 ausgeruht,
gegen 1/2 5 Schokolade, Völkerrecht gearbeitet, historisch, [mich] wegen der Heizung
geärgert, bis abends 1/2 9. Um 5 kam ein Brief von Duschka aus München, sie ist gut an-
gekommen, rührend, aber warum berührt es mich plötzlich fremd? Weil sie so viele Fehler
im Deutschen macht? Unheimlich. Ferner ein Neujahrsbrief von Carroll. Dann ging ich zu
Neuß und wollte Lauscher sehen. Er war aber nicht gekommen (ich hatte es geahnt, es war
mir auch ganz gleichgültig). Neuß war guter Dinge, wir tranken schönen Wein, las mir vor,
erzählte von romanischen Bauten, es interessierte mich. Um 1/2 12 gleichgültig und müde
nach Hause. Sehnsucht nach Duschka, die alte Verzweiflung.

Sonntag, 6. 1. 24
Todmüde geschlafen, um 11 kam Fräulein Tadić und räumte auf, ich war traurig, verzwei-
felt, wütend über die schlechte Heizung usw.; ekelhaft, armselig. Begleitete Fräulein Tadić
zur Reuterstraße. Sie erzählte, dass sie und Duschka Fräulein Schifrin vor Duschkas Reise
eine Karte geschrieben haben. Ich wollte böse sein, aber ich sah, wie dumm es war. Dann
Zeitung gekauft, alles klein und hässlich, proletenhaft; beim Essen hatte Fräulein Käthe eine
Flasche schönen Rheinwein gebracht, ich trank ihn mit Vormfelde. War wieder guter Dinge,
begleitete Vormfelde etwas. Redete zu viel, einsam nach Hause, im Bett ausgeruht, immer
an Duschka gedacht, traurig, einsam, verlassen, verzweifelt, hoffnungslos. Erbärmliches
Dasein in möblierten Zimmern. Lächerlich. Trinke Schokolade und arbeite bis 3 Uhr, ganz
nett; dann kam Jup, wir unterhielten uns nett, ich freue mich, dass er sich entschließen wird;

711 Victor Hugo (1802–1885), franz. Romancier und politischer Publizist.


712 In der Ausgabe von Blei, Briefe an Carl Schmitt 1917–1933, sind nur zwei Briefe aus dem Jahr
1924, nämlich vom 8.10. und vom 28.11., abgedruckt (S. 62–65); diese werden im Tagebuch 1924
nicht erwähnt, während andere erwähnt, aber offenbar nicht erhalten sind.

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Januar 1924 299

er erzählte von Plettenberg, ich dachte immer an Duschka. Er sagte übrigens, es könne mit
ihrer Tuberkulose nicht so schlimm sein. Wir tranken Tee, Kaffee, Bier, unterhielten uns
über politische Dinge, über André, traurig und einsam um 1/2 10, als Jup abgereist war.
Nach Hause, Tagebuch geführt, Sehnsucht nach Duschka.

Montag, 7. 1. 24
Gut ausgeschlafen, Karte von Kaufmann, der fürchtet, die Franzosen würden sein Haus
beschlagnahmen. Ich blieb bis 12 zu Hause und arbeitete Völkerrecht über Danzig, sehr
schön, oft die deprimierte Melancholie, weil ich Duschka nicht treffe. Oft Angst vor ihr,
wenn ich ihr langsam fremd geworden bin. Mittags Bücher gekauft bei Cohen, Frau Lands-
berg angeredet, ihr Sohn war bei ihr, ärgerte mich über ihn und seine dumme Arroganz.
Dann zu Kaufmann, es war aber niemand zu Hause, erledigte ein paar Kleinigkeiten; nach
dem Essen mit Vormfelde Spaziergang, sprach zu viel über Schnitzler, dumm; es soll besser
werden. Bei Kaufmann vorbei, telegraphierte ihm noch schnell, dann gleich zu Hause (ohne
zu schlafen) gearbeitet, von 4–9 Uhr, sehr schön. Viel geschrieben. Fror etwas. Ein Gespräch
mit Frau von Wandel machte alles wieder gut. Um 9 Uhr zu Schmitz, der von meiner poli-
tischen Romantik schwärmte; sehnsüchtig an Duschka gedacht, Sehnsucht nach einem
Heim. Um 1/2 11 wieder zu Hause. Ein vernünftiger Tag. Habe heute an Kaufmann und
Kiener geschrieben.

Dienstag, 8. 1. 24
Lange geschlafen, Vorlesung gut vorbereitet. 100 fr (kalkulierte: die Franzosen müssen den
Franc stützen). Hielt meine Völkerrechtsvorlesung (über Danzig und das Saargebiet) sehr
gut, freute mich, Mansur eine [Weile] zu sehen. Nachher ein großer [Student,] wegen seiner
Dissertation abgelehnt (er war in München bei Oppenheimer713 gewesen). Nach dem Essen
mit Vormfelde bei einem kleinen Schneider, der uns aber nicht gefiel. Vormfelde erzählte,
wieviel Geld er habe. Ich bin ein armer Teufel. Zu Hause Schokolade getrunken (nicht
geschlafen!). Reiners kam und las ein Kapitel seiner Dissertation über Bolingbroke vor, ich
lag herum; dann etwas gearbeitet, Völkerrecht. Die verfassungsrechtlichen Übungen für
morgen schon schön vorbereitet, abends zu Hause geblieben, gelesen, Zeitungen ausge-
schnitten, gearbeitet, dazwischen Bleis Bestiarium, eine Mode-Erzählung, die mich recht
lächerlich machte. Dachte an Duschka und fürchtete, sie sei schlau und klug. Habe heute an
Feuchtwanger geschrieben.714 Kenne keinen anderen Wunsch als ruhig arbeiten; ein Jahr bei
Duschka. Ich liebe den Rhein, weil sie ihn liebt. Sehr freundlich mit Frau von Wandel,
fühlte mich im Zimmer sehr behaglich, es war gut geheizt. Fühle mich sicher, weil ich mora-
lisch einwandfrei lebe; keine Gewissensbisse. Abends munter und frisch, konnte nicht ein-
schlafen, rasende Gier, Ejakulation. Grauenhaft.

713 Falls Schmitt sich mit der Ortsangabe „München“ täuscht, könnte es sich um Franz Oppenheimer
(s. Anm. 200) handeln. In München tätig war allerdings dessen Bruder, Carl Oppenheimer, Dr.
phil. (Chemie) und Dr. med., der von 1917 bis zu seiner Entlassung 1936 Leiter der wissenschaft-
lichen Abteilung der – Schmitts Freund Georg Krause gehörenden – G. A. Krause & u. Co. AG
war.
714 Der Brief wird erwähnt im Brief Feuchtwangers an Schmitt vom 10. 1.1924, in: Rieß (Hrsg.), BW
Schmitt – Feuchtwanger, S. 48 f.

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300 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Mittwoch, 9. 1. 24
Um 1/2 9 aufgestanden, schläfrig, Karte von Duschka aus Toblach715, wie schön ist mein
Heim in your heart. Ergriffen und begeistert von dem schönen Kind. Dann Vorlesung
geschrieben, behaglich vorbereitet, nicht viel, aber sehr hübsch gearbeitet, schöne Vor-
lesung, nachher nach dem Essen zu Hause etwas ausgeruht, verwaltungsrechtliche Übun-
gen, die Stimme zu sehr angestrengt. Dann zu Neuß, wo der Sekretär der rheinischen Zen-
trumspartei, Hamacher, mich erwartete, mich zu einem Vortrag einlud716, ich versprach für
Mai; freute mich über den Erfolg meines Buches vom Katholizismus. Fand in einer ameri-
kanischen Kunstzeitschrift, die man Neuß geschickt hatte, einen kleinen Brief von Pon-
tormo, dem Maler, den Duschka in München entdeckt hatte717. Sehr gefreut darüber. Beglei-
tete Neuß noch bis zur Post, kaufte die Frankfurter Zeitung; es war 1/2 8 geworden, zu
Hause im behaglich warmen Zimmer (alle anderen Leute klagen, bei Neuß war es schänd-
lich kalt), bescheiden zu Abend gegessen, Tee getrunken, Völkerrecht gelesen, es wurde
schnell 10 Uhr, alle Gedanken immer bei Duschka.

Dienstag, 10. 1. 24
Morgens ein Einschreibebrief von Gütersloh, der mich rührte, Brief von Kaufmann, der um
einen Gefallen bat, Vorlesung vorbereitet und gehalten. Nach dem Essen geruht. Mit Vorm-
felde zufällig Braubach getroffen, der von München erzählte, ging zu Kaufmann, legte dort
seine Akten bereit, dann müde durch die matschigen Straßen nach Haus. Ausgeruht, Zei-
tung gelesen, wieder Kaffee getrunken, meine Seminarübungen, kleines Referat Gerber[s]
über Repräsentation, dann großartig darüber gesprochen und auseinandergesetzt, nachher
von einem Nationalsozialisten Schnors718 begleitet, der ein sympathischer, netter Kerl war;
lange vor dem Haus gesprochen, über Juden, über die Echtheit des Deutschen, dann kam
Reiners, gingen zusammen zum Bürgerverein, ich aß dort, trank Rheinwein dazu, unterhiel-
ten uns nett (er warnte mich davor, dass die Reichs[tagsabgeordneten] mich in Anspruch
nehmen würden). Ich dachte sehnsüchtig an Duschka, die mir heute Nachmittag eine
schöne, gütige Karte aus Zagreb geschickt hat (Üssi schickte meinen ersten Brief über die
Dinge, ich schämte mich sehr; aber das ist vielleicht mein Schicksal, durch eine lächerliche
Erfahrung klug zu werden). Reiners begleitete mich nach Hause, las mir eine Novelle von
Maupassant vor, ich gab ihm das Bestiarium von Blei, wir tranken eine kleine Tasse Kaffee,
um 11 Uhr ging er nach Hause, ich las in der Zeitung die Nachricht von der Ermordung des
pfälzischen separatistischen Präsidenten719, erschrak, Angst. Saß noch etwas am Schreib-
tisch.

715 Dorf im Südtiroler Pustertal.


716 Wilhelm Hamacher (1883–1951), Dr. phil., bis 1920 Gymnasiallehrer, 1920–1933 Generalsekretär
der Zentrumspartei des Rheinlands, zudem 1926–1933 Vertreter der Rheinprovinz im Reichsrat.
Zu dem Vortrag s. Eintragung vom 19. 5. 1924.
717 Siehe Eintragung vom 11.10. 1923.
718 Nicht ermittelt.
719 Nach dem 1. Weltkrieg gab es Bestrebungen, die linksrheinische Pfalz zu einem eigenständigen, an
Frankreich angelehnten autonomen Staat zu erheben. Im Oktober 1923, während der französi-
schen Besetzung, gelang es Franz-Josef Heinz (1884–1924) mit Hilfe seines „Pfälzischen Corps“,
Kaiserslautern, Neustadt und Landau unter seine Kontrolle zu bringen. Am 12. 11.1923 rief er in

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Januar 1924 301

Freitag, 11. 1. 24
Etwas jäh aufgestanden, vor Rechtsvorlesung über den Papst; nachher mit Braubach, der
mir von München erzählte; er war bei Haecker, der sich bei Duschka und mir bedankt720,
bei Beyerle, der meinen Aufsatz über den Parlamentarismus rühmt, was mir wohl tat,
erzählte von bayerischen Politikern. Nach dem Essen zum juristischen Seminar, in einem
Antiquariat Bücher gekauft, zu Hause Schokolade, nicht viel gearbeitet, herumgelesen, Völ-
kerrecht, etwas geschlafen, abends für mich spazieren, an der Universität vorbei, meine Ein-
samkeit genossen, glücklich und sehnsüchtig an Duschka gedacht, als ich an der Universität
vorbeiging und die Madonna sah. Bei Schmitz vorbei. Er spricht schön von meiner Politi-
schen Romantik; gerührt, als das kleine Schmitzle nach Tante Duschka fragte. Um 1/2 11
noch etwas spazieren, nach Hause, ein ruhiger Tag.

Samstag, 12. 1. 24
Um 11 Uhr kam Fräulein Tadić und half mir. Ich sprach ihr Mut zu wegen ihres Examens,
versprach, ihr Bücher zu beschaffen, war glücklich, bei jemandem zu sein, der Duschka
kennt; Brief von dem Pfarrer Custodis, der mich sehr freute, und von Kiener721, der noch
um einige Bücher bittet. Mittags zur Bibliothek, Suarès’ Portraits in der Übersetzung von
Flake722 geholt, im Antiquariat Hanstein723; nach dem Essen mit dem Hagener Studenten
vom Da[h]l auf den Venusberg, das Siebengebirge zum Greifen klar, ich dachte sehnsüchtig
an Duschka. Sprach mit dem armen Kerl über seine entsetzliche Dissertation. Er kann kein
Deutsch, weil er ein Deutscher ist. Zu Hause etwas Schokolade gegessen, Suarès gelesen,
mit großem Interesse, im Untergrund immer die Liebe zu Duschka, aber schon unruhig
und nervös‚ weil ich keinen Brief von ihr bekomme. Um 6 kam Braubach, ich sprach zu
lange mit ihm, bis 7. Schimpfte über Romantik. Frau v. Wandel brachte mir Wein mit, der
ihrem Mann geholfen habe. Abends ging ich für mich spazieren, trank Wermut und dann
zufrieden ins Bett. Heftige Erektionen, es ging vorüber, aber ich fühle mich schon wieder
physiologisch unruhig.

Sonntag, 13. 1. 24
Als ich anfangen wollte zu arbeiten, kam Heimberger und lud mich zum Mittagessen ein,
weil sie einen schönen Kalbsbraten haben. Ehrend. Wir gingen zusammen zur Remigius-
Kirche, wo eine Gedächtnisfeier für die gefallenen Studenten war. Steinbüchel hielt eine
Predigt, der 1. Teil schön, der 2. Teil schlecht, weil er sich schon im ersten zum höchsten Ton
gesteigert hatte. Begleitete ihn noch, kaufte mir in der französischen Buchhandlung Bücher

Speyer die „Autonome Pfalz im Verband der Rheinischen Republik“ aus. Heinz und seine engsten
Verbündeten wurden im dortigen Hotel „Wittelsbacher Hof“ am 9.1. 1924 durch Angehörige des
Bundes Wiking unter dem Kommando von Edgar Julius Jung (1894–1934) erschossen. Siehe auch
Teil I, Anm. 488.
720 Siehe Eintragung vom 17. 12.1923.
721 Der Brief ist im Nachlass Schmitt erhalten (RW 265-7549).
722 André Suarès, Portraits. Deutsch mit einem Nachwort von Otto Flake, München 1922.
723 Peter Hanstein (1853–1925), Inhaber der Bonner Firma Matthias Lempertz, Buchhandlung und
Antiquariat, führte die Buchhandlung und den 1878 gegründeten Peter-Hanstein-Verlag damals in
der Franziskanerstraße 6.

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302 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

von Barrès‚ mit Heimberger noch etwas gegangen, sah Frau Professor Goetz724 (dachte
gleich daran, Fräulein Tadić zu helfen), über den gefrorenen Teich des Botanischen Gartens
zurück. Zu Hause etwas gelesen. Nach dem Essen zu Rick, mit ihm über den Venusberg, er
erzählte von seiner Ehescheidung und seiner Suspendierung vom Amt (er ist für den allein
schuldigen Teil erklärt), versprach ihm, mit Heimberger (dem Vorsitzenden des Elternbei-
rats) zu sprechen. Angst vor dem Geschwätz und der Gemeinheit des normalen Menschen.
Sehnsüchtig an Duschka gedacht. Kaufte mir noch etwas in der Konditorei an der Godes-
berger Bahn, zu schöner Kaffee. An Wittich725 und Kiener geschrieben, nicht viel getan,
angefangen mit der Besprechung über Thoma726, bescheiden zu Abend gegessen. Um 1/2 9
zu Schmitz, etwas gelesen (sie waren beim Rektor Cichorius727, er hat so schöne Millionen,
ich armer Teufel); dann über meine Politische Romantik gesprochen, sehnsüchtig an Duschka
gedacht, müde und traurig nach Hause.

Montag, 14. 1. 24
Feuchtwanger schickte mir die Karte eines Japaners, der meine Schrift über den Parlamen-
tarismus ins Japanische übersetzen will.728 Freute mich darüber. Bis 10 geschlafen, nichts
getan, wollte Heimberger bitten wegen der Sache Rick, traf ihn nicht, im juristischen Semi-
nar mich gezeigt, Swedenborg und viele französische Bücher (Maurras) gekauft und bestellt.
Die Gymnasiasten in der Pension lachten über den Unfall.729 Nach dem Essen mit Vorm-
felde, der mir ein Stück Kuchen gab, dann zu Neuß, freundlich unterhalten, auch über den
Fall Rick; er kam nachher zum Kaffee zu mir, wir sprachen freundlich. Kein Brief von
Duschka. Ich war bestürzt, erschrocken, entsetzlich traurig, verzweifelt; die alte Melancho-
lie grauenhaft, wer hilft mir; keine Gnade, Geschrei eines erbärmlich verzweifelten Kindes.
Hielt es zu Hause nicht mehr aus. Ging, als Neuß sich verabschiedet hatte, todmüde zu

724 Frieda Maria Stephanie Goetz, geb. Pütz (1879–1954), Ehefrau des alt-katholischen Pfarrers und ab
1920 persönl. Professors für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde in Bonn, Leopold Karl
(Vigilius) Goetz (1868–1931). Dessen Buch „Volkslied und Volksleben der Kroaten und Serben“,
Bd. 1: Die Liebe, [aus dem Nachlass] hrsg. von Matthias Murko, Heidelberg 1936, ist „Frau Pro-
fessor Frieda Goetz“ und „Frau Staatsrat Duschka Schmitt geb. Todorowitsch, der feinsinnigen
Kennerin der serbokroatischen Dichtung und Musik verehrungsvoll zugeeignet“.
725 Werner Wittich (1867–1937), Nationalökonom und Kultursoziologe, 1901–1918 ao. Prof. in Straß-
burg, 1919 als einziger reichsdeutscher Prof. in Frankreich geblieben, 1921–1922 Lehrauftrag am
Centre d’études germaniques (der französischen Armee) in Mainz, 1922–1924 Lehrauftrag am
Institut supérieur de commerce in Straßburg, 1930–1932 Honorarprof. ebd. Vgl. auch TB II, S. 500,
506, 508.
726 Carl Schmitt, Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff, in:
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik LI (März 1924), S. 817–823, auch in: ders., Positio-
nen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles. 1923–1939, Hamburg 1940, S. 19–25.
727 Konrad Cichorius (1863–1932), Althistoriker, 1896 ao. Prof. in Leipzig, 1900 o. Prof. in Breslau,
1916–1928 in Bonn, 1923–1924 Rektor der Universität.
728 Brief Feuchtwangers an Schmitt vom 11. 1.1924, in: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger,
S. 49. Es handelt sich bei dem Übersetzer, der sein Vorhaben freilich nicht wahrgemacht haben
dürfte, um Saisaburö Tsuji (1888–1965).
729 Gemeint ist offenbar Ricks Suspension am Städtischen Gymnasium.

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Januar 1924 303

Bett. Carrère, Die mauvais maîtres gelesen, unbedeutendes Buch730, aber mich ergriff die
Schilderung des Verlaine731 mit korrektem Instinkt und Witz.

Dienstag, 15. 1. 24
Traurig, müde, erkältet, verzweifelt. Wieder kein Brief von Duschka. Inzwischen wird alles
wieder dunkel vor meinen Augen. Der Himmel ist wunderbar blau und schön, schrecklich.
Schrieb kümmerlich, mühselig meine Vorlesung Völkerrecht, in den 4 Tagen nichts dafür
getan. Entsetzlich. Hielt die Vorlesung (erkältet), kaufte mir Maurras, nach dem Essen mit
Vormfelde Spaziergang zum Venusberg, dort Schokolade getrunken, um 1/2 5 zu Hause
(etwas erleichtert), Reiners las mir ein Kapitel seiner Dissertation vor, dann schrieb ich
etwas, froher, schrieb Briefe, an Tsuji, ein paar Schritte um 1/2 10 draußen, dann zu Hause
und bald zu Bett. Dass kein Brief von Duschka kam, traf mich sehr, Angst und Sorge, hilf-
los. Las abends Swedenborg, de amore coniugali732. Man solle keine Ehe schließen mit den
Angehörigen einer anderen Religion! Trotzdem ruhig, lieb das Bild von Duschka betrach-
tet. Im Bett Barrès, Voyage de Sparte 733.

Mittwoch, 16. 1. 24
Morgens die Bücher von Feuchtwanger, Ball und meine Politische Romantik734, aber kein
Brief von Duschka. Heftiger Schmerz, er ging aber vorüber. Fräulein Tadić getroffen, sie
sagte, sie hätte einen Brief von Duschka aus Padua. Bereitete meine Vorlesung vor (Kon-
kurswesen) ziemlich schlecht, hielt sie leidlich, nach dem Essen etwas ausgeruht, Klausur-
arbeit in den Übungen, nachher kam der Assessor Braubach, ich war kühl und erklärte, dass
ich kein Interesse mehr an seiner Mitarbeit hätte. Zu Hause Kaffee (der mir aber nicht scha-
dete, meist Milch). Freundlich mit Frau v. Wandel (wieder kein Brief von Duschka), behag-
liche Wärme, ruhig Völkerrecht gearbeitet. Ein anständiger Tag.

Donnerstag, 17. 1. 24
Spät auf, eine Karte von Duschka, enttäuscht. Ich sehe jetzt meinen Illusionismus, wie
lächerlich. Brief von Georg Eisler, der nach Teneriffa <?> will. Habe ihm sofort geantwor-
tet, auch an Jup geschrieben. Hielt meine Vorlesung, nachher erschöpft. Nach dem Essen
mit Vormfelde im Kino, the Kid 735, weil Landsberg das so gerühmt hatte; Dreck, jüdische
Sentimentalität. Sah die Entfernung zu diesen Leuten. Schlechter Laune, um 5 nach Hause.
Kein Brief, nichts. Kleidete mich um (sofort wurde mir besser), hielt mein Seminar. Schlech-

730 Jean Carrière, Les mauvais maîtres – Rousseau, Chateaubriand, Balzac, Stendhal, George Sand,
Musset, Baudelaire, Flaubert, Verlaine, Zola, Paris 1922.
731 Paul Marie Verlaine (1844–1896), frz. Lyriker des Symbolismus.
732 Emanuel Swedenborg, Delitiae sapientiae et de amore coniugali post quas sequuntur voluptates
insaniae de amore scortatorio, Amsterdam 1768.
733 Maurice Barrès, Le Voyage de Sparte, Paris 1906.
734 Feuchtwanger schickte zwei Exemplare von Hugo Ball, Die Folgen der Reformation, München
1924, und zwei von Schmitt, Politische Romantik, München u. a. 1919; vgl. Brief Feuchtwangers an
Schmitt vom 10.1. 1924, in: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 48.
735 Erster abendfüllender Stummfilm Charly Chaplins von 1921.

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304 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

tes Referat Wolff 736, dann selbst gesprochen, aber nicht gut, über Liberalität und ihre Inter-
ventionsvorstellungen. Abends mit Rick im Bürgerverein, langweilig, bemerkte, dass er von
Duschka nicht viel hält, wohl von Fräulein Tadić, müde um 11 nach Hause. Zu Bett, gleich
eingeschlafen. Las Gide, L’Immoraliste 737.

Freitag, 18. 1. 24
Bis 1/2 11 im Bett, aber nicht mehr geschlafen. Brief von Robert Michels738‚ sonst nichts.
Machte den Brief für Duschka zurecht, blieb bis 2 Uhr zu Hause, aß nicht zu Mittag. Habe
kein Geld mehr. Merkwürdiger Zustand. Oft Sehnsucht nach Duschka. Erst traurig, dann
wieder Angst, sie sei doch nur eine kleine, sehnsüchtige Kranke. Verwirrung und Verzweif-
lung. Erbärmlicher Zustand. Brachte den Brief zur Post, 1/2 3, ging ziellos durch die
Straßen, dem Irrsinn nahe, weiß nicht wohin, kaufte etwas Kuchen, zu Hause Kaffee, um
1/2 7 umgekleidet. Im Regen zur Universität, Fräulein Tadić nicht getroffen, weil keine
Vorlesung war, traf sie zufällig im Bürgerverein, wir aßen zusammen zu Abend, ging dann
zu Schmitz, seine Frau war nicht da; er spielte uns etwas vor, Chopin. Dann das Vorspiel zu
Tristan. Ich war müde, gleichgültig und traurig. Begleitete Fräulein T. nach Hause, gegen 11
war ich bei mir zurück, trostlos zu Bett. Lächerlicher, erbärmlicher Zustand.

Samstag, 19. 1. 24
<…>, es kam ein Brief von Duschka, enttäuscht. Ich bin ein Illusionist. Arbeitete morgens
nichts, las herum, hatte einige Rezensionsexemplare bekommen. Mittags bei Strassberger
gegessen, nachher ein paar Schritte mit Vormfelde, es fing an zu regnen, dann wieder zu
Hause, auf der Ottomane gelegen, sehr erkältet, scheußlich, las Tagebücher aus dem Jahre
1914 und schämte mich. Lächerlicher Illusionist. War heute nach dem Essen bei Neuß. Bei
Schulz abgesagt (möchte nicht mit Landsberg zusammen sein), abends bei Braubach,
1 Stunde unterhalten, zeigte ihm, dass er meinen Aufsatz über Sieyès739 überhaupt nicht
gelesen hat. Ärgerlich darüber. Traurig zu Hause, bald ins Bett, Gide gelesen, Angst bekom-
men, Tuberkulose zu haben. Besonders ein geheimnisvoller Wink, dass mir dieses Buch
L’Immoraliste in die Hände fällt!740 An Jup geschrieben, Neuß hat ihm eine Empfehlung für
den Pfarrer in Großkönigsdorf geschrieben741.

736 Nicht ermittelt.


737 André Gides Roman erschien 1902 zuerst in der Literaturzeitschrift „Mercure de France“ in Paris.
738 Brief vom 13.1. 1924, in: Tommissen, In Sachen Carl Schmitt, S. 86. Michels teilt darin mit, dass er
seine Schrift „Aufstieg des Fascismus in Italien“ (in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpoli-
tik 52 [1924], S. 61–93, ursprünglich als Broschüre der Neuen Zürcher Zeitung vom Dez. 1922)
Schmitt zukommen lasse, sobald ein sicherer Postweg gefunden sei.
739 Emmanuel Joseph Sieyès (1748–1836), Priester und politischer Theoretiker der Französischen
Revolution. Ein Aufsatz von Schmitt über Sieyès ist nicht bekannt; Erwähnungen von Sieyès in:
Schmitt, Die Diktatur, S. 137 f., 176.
740 Das Buch handelt von einem an Tbc Erkrankten, der nach seiner Genesung ein libertäres Leben
führt.
741 Offenbar hatte sich Jup in Großkönigsdorf – heute ein Stadtteil von Frechen (Rhein-Erft-Kreis) –
als Arzt beworben.

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Januar 1924 305

Sonntag, 20. 1. 24
So erkältet, dass ich Angst vor der Tuberkulose hatte. Brief von F McK. Glücklicherweise
nichts von K. Gleichgültig und müde, bei Neffgen gegessen (wollte vorher Schmitz holen,
er war aber nach Köln gereist). Nach dem Essen ein paar Schritte herumgegangen, durch
den Hofgarten, Sehnsucht nach Duschka. Warum schreibt sie nicht? Traurig, Angst, lächer-
lich mit meiner Liebe und Anhänglichkeit. Vielleicht ist sie nur eine Kranke. Las Gide zu
Ende. Auf der Ottomane gelegen, herumgelesen, schrecklich gelangweilt, trauriger Tag, was
soll ich tun. Ich bin ganz isoliert und einsam. Unheimlich. Erinnerte mich, dass jetzt bald
wieder die Sonne in den Wassermann geht742, die Zeit, da ich Duschka zuerst sah. Schäme
mich meiner Verzweiflung, vielleicht weiß das wunderbare Kind dies alles in seiner Hell-
sichtigkeit. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob sie mich liebt. Sie ist zu jung. Was
weiß ich. Ich halte es nicht aus ohne einen Brief von ihr. Das Leben ist traurig und öde,
ohne Sinn. Abends herumgelaufen, verzweifelt, halb wahnsinnig; bei Neuß vorbei, aber sein
Bruder und seine Schwägerin waren da. Ekelhaft; bei Schmitz. Er war verreist. Aß bei Neff-
gen zu Abend, Angst vor Tuberkulose, traf Schmitz, bei ihm waren Franzosen, er fürchtet,
dass sie seine Wohnung beschlagnahmen; schrecklicher Zustand, Angst, Bedrücktheit,
schauerlicher Zustand. Wir gingen ein paar Schritte zusammen. Dann ging ich ruhig und
müde nach Hause. Welch ein Leben.

Montag, 21. 1. 24
Brief von Kaufmann, das Gutachten über den jugoslawischen Staat743, glücklich, weil ich es
Duschka schicken kann. Fräulein T. kam um 10, ich war kaum aufgestanden. Sie ordnete
etwas die Bücher, ein gutes, braves Kind. Eine Sehnsucht nach Duschka, entsetzlich. Wir
gingen zu Schmitz, um die Kleine speziell zu sehen. Sie weinte aber, weil die Mutter nicht
da war, dann in der Stadt herumgegangen. Ging zum Rechtsanwalt, meine Ehe ist für nich-
tig erklärt744. Atmete auf. Merkwürdiger Zustand. Zur Universität. Mittag Tillmann745,
<…>, nach Hause, <…> gefiel mir nicht. Nach dem Essen müde zu Hause, das Gutachten
über den jugoslawischen Staat gelesen, es ist großartig, beneidete Kaufmann darum. Dachte
immer an Duschka, traurig, dass kein Brief von ihr kommt. Um 1/2 3 kam Aschenberg,
freute mich über seine Bereitwilligkeit, ging mit ihm spazieren, noch zur Universität, im
Lesesaal (las die Bemerkung von Below 746: Schmitz gibt hier ein Zerrbild von der Roman-

742 Diese Konstellation trifft für den 21. Januar spät abends zu, sie steht für Wirkung nach außen, Ori-
ginalität.
743 Das – offenbar unpublizierte – Gutachten dürfte die Grundlage bilden für Erich Kaufmann, Der
serbisch-kroatisch-slowenische Staat – ein neuer Staat, Niemeyers Zeitschrift für Internationales
Recht 31 (1924) S. 211–251, auch in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II: Der Staat in der Rechtsge-
meinschaft der Völker. Vom ersten Weltkriege bis zum Wiederaufbau nach dem zweiten Welt-
kriege, Göttingen 1960, S. 124–166. Kaufmann spricht sich darin für die Identität des neuen Staates
mit dem Königreich Serbien aus, zumal jener erst 1921 eine eigene Verfassung erhielt.
744 Siehe Anm. 239.
745 Vermutlich Fritz Tillmann (1874–1953), kath. Moraltheologe, 1913–1940 o. Prof. und ab 1917 Uni-
versitätsprediger in Bonn, 1919–1921 Rektor. Die frühere Hofgartenstraße in Bonn trägt seit 1957
seinen Namen.
746 Georg v. Below (1858–1927), freikonservativer Historiker, 1889 ao. Prof. in Königsberg, 1891 o.
Prof. in Münster, 1897 in Marburg, 1901 in Tübingen, 1905–1924 in Freiburg i.Br. Die Bemerkung

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306 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

tik), zu Hause Schokolade, etwas gearbeitet, sehr sehnsüchtig, kam mir schwach und elend
vor. Aufgeregt, weil es morgen ein Jahr sein wird, dass ich Duschka sah. Der Briefträger
hatte nur einen Brief von Rick747, gleichgültig. Nett gearbeitet, es wurde 1/2 8, ging zu
Schmitz, aß sehr schön bei ihm zu Abend, schöner Wein, er spielte dann das Andante der
7. Symphonie748, ich dachte immer an Duschka, ergriffen. Braubach kam einen Augenblick,
ekelhaft. Um 10 Uhr todmüde nach Hause. Wut über Braubach749, von dem mir Schmitz
noch einige Unverschämtheiten erzählte. Frau v. Wandel machte mir noch Tee. Leer und
verzweifelt, weil Duschka abwesend ist.

Dienstag, 22. 1. 24
Schön; ein paar Seiten für Vorlesung entworfen, den ganzen Tag in der Erinnerung daran,
dass ich heute vor einem Jahr Duschka zum ersten Mal sah.

[Notiz am oberen Seitenrand] Gelesen 22. 1. 58 (nach 34 Jahren!)

Hielt meine Vorlesung trotz meiner Erkältung; nach dem Essen ein paar Schritte mit Vorm-
felde, im juristischen Seminar, traurig und verzweifelt, zu Hause gegessen, ich weiß nicht,
was ich tun soll. Dann kam um 5 Uhr ein Brief von Duschka aus Pakrac 750, wunderschön,
gütig und freundlich, voll selbstverständlicher Liebe. Ich war sehr glücklich. Ging zur Uni-
versität, saß herum, weiß nicht, was ich tue. Aber ich war beruhigt. Abends zu Neuß, eine
Stunde gewartet, dann mit ihm im Hähnchen, guter Dinge, um 10 schon wieder zu Hause,
gleich zu Bett und bald eingeschlafen. Liebe Duschka.

Mittwoch, 23. 1. 24
Etwas früher aufgestanden, freundlicher Brief von Georg Eisler, in großer Eile meine Vor-
lesung, es war kalt im Zimmer und ich fühlte es gleich im Halse. Ging zu Schmitz, um mich
zu wärmen, hielt meine Vorlesung (über Intervention), nicht besonders gut; nach dem Essen
kam Aschenberg mit den Arbeiten für verwaltungsrechtliche Übungen, ich war sehr zufrie-
den, ging dann zu Schmitz, lag auf der Ottomane, das Zimmer war gut geheizt, er spielte
etwas. Fräulein Schallmeier751 <?> kam, langweilig, dann etwas notiert, nicht viel, aß zu
Abend, ging mit Schmitz und seiner Frau zu Lipp752 und trank Bier, glücklich, ein Wort
über Duschka sprechen zu können. Auf dem Heimweg sahen wir Braubach, ekelhafter

von Georg von Below, Rez. Hans Pichler, Zur Philosophie der Geschichte, Tübingen 1922, in:
Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 17 (1923), S. 176, lautet: „S. 13 verweist
P[ichler] auf die Studie von Schmitz Dorotic [sic!]. Allein diese gibt ein Zerrbild von der Roman-
tik.“ Vgl. auch Georg v. Below, Zum Streit um die Deutung der Romantik (= Rez. Karl [sic!]
Schmitt, Politische Romantik, 2. Aufl. München und Leipzig 1925), Zeitschrift für die gesamte
Staatswissenschaft 81 (1926), S. 154–162.
747 Brief vom 19. 1.1924 (RW 265-11619).
748 Siehe Anm. 709.
749 Siehe auch Notiz vom 13. 2.1924 in: Teil III, S. 515.
750 Kroatische Kleinstadt in der Požega, Slawonien.
751 Nicht ermittelt.
752 Nicht ermitteltes Lokal.

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Januar 1924 307

Intrigant; dann zu Hause, an Duschka geschrieben, dankbar und glücklich. Im seltsamen


Gefühl der Richtigkeit alles Geschehens.

Donnerstag, 24. 1. 24
Erst um 9 auf, machte den Brief an Duschka zurecht, schrieb noch ein paar herzliche Zeilen
von heute, dann brachte ich ihn zur Post und schrieb zu Hause meine Vorlesung, sehr
schön. Die Vorlesung war die Beste seit langem. Nach dem Essen ging ich ein paar Schritte
mit Vormfelde, zu Hause etwas gearbeitet, um 6 Uhr mit Fräulein v. Wandel zum Seminar,
Referat Betz753, leider kurz und schlecht. Er sprach aber gut, nachher begleitete ich Fräulein
v. Wandel nach Hause zurück, war angeregt durchs Seminar, aß ein Brot zu Hause, hatte
Schnors zum Bürgerverein bestellt, dort traf ich zufällig Rick und seinen Freund
Fons754<?>, wir tranken zusammen Wein, lachten und sprachen zusammen (mir war es
ziemlich langweilig), Schnors kam auch, ich trank zuviel Wein, müde um 1/2 12 nach Hause
und ins Bett.

Freitag, 25. 1. 24
Sehr lange geschlafen. Die Vorlesung mit Mühe gehalten, nach dem Essen Haarschneiden,
zu Kaufmann, etwas erkältet, vergebens bei Fräulein Tadić, ausgeruht, Paket von Ännchen.
Um 5 zum Seminar, Referat von Fräulein Esser, das schlecht war, aber sehr interessante Dis-
kussion, wobei ich das Gefühl hatte, dass alle interessiert dabei waren. Mit Wilckens755 ein
paar Schritte über die Poppelsdorfer Allee, zu Schmitz, allein (weil Fräulein Tadić abgesagt
hatte), er spielte Rossini, ich aß dort zu Abend, um 10 ging ich nach Hause, todmüde.

Samstag, 26. 1. 24
Morgens mehrere Briefe: von Hegner, eine Karte von Hauck756 <?> aus Zürich, kein Brief
von Tsuji 757, alles freute mich. Schrieb an der Kritik über Thoma. Um 12 ein paar Sachen
erledigt, Bücher gekauft, nach dem Essen zu Hause ausgeruht, um 3 kam Aschenberg, ging
mit ihm spazieren, auf den Venusberg, langweilig. Müde zu Hause, trank Schokolade, etwas

753 Anton Betz (1893–1984) wurde 1924 bei Schmitt mit einer Sammlung von bereits publizierten
„Beiträgen zur Ideengeschichte der Staats- und Finanzpolitik der deutschen Zentrumspartei von
1870–1918“, Saarlouis 1924, promoviert (Zweitgutachten Hans Schreuer). Betz hatte im 1. Welt-
krieg als Offizier gedient, wurde 1923 Chefredakteur der Saar-Zeitung (Saarlouis), 1925 Vorstand
und Verlagsdirektor der Vereinigten Druckereien, Kunst- und Verlagsanstalten AG in Dillingen/
Donau, 1929 Vorstandsmitglied der Manz Verlags AG (München), 1930 geschäftsführenden Ver-
lagsdirektor bei Knorr & Hirth, 1933 als NS-Gegner inhaftiert und mit Berufsverbot in Bayern
belegt, 1939–1940 Kriegsdienst, nach dem 2. Weltkrieg maßgeblich am Aufbau der „Rheinischen
Post“ (Düsseldorf) und der Deutschen Presseagentur beteiligt sowie als Verleger und CDU-Kom-
munalpolitiker tätig.
754 Nicht ermittelt.
755 Johann Heinrich Bernhard Berthold Wilckens (1903–?), 1924 Erstes Jur. Staatsexamen, 1927 im
Völkerbundsekretariat tätig, 1928 bei Schmitt promoviert mit einer Arbeit über „Die Entwicklung
des Abrüstungsbegriffs“, Bremen 1930.
756 Nicht ermittelt.
757 Der Brief Tsujis vom 22.1. 1924 (RW 265-16399) dürfte freilich bereits unterwegs gewesen sein.

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308 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Maurras gelesen, dann todmüde geschlafen. Um 7 kam Jup, wir tranken im Hähnchen Bier
und unterhielten uns, um 10 fuhr er wieder, müde zu Hause, Sehnsucht nach Duschka, die
allein meinem Leben Halt und Richtung gibt.

Sonntag, 27. 1. 24
Bis 10 Uhr geschlafen, kein nennenswerter Brief, ziemlich gut gearbeitet an der Bespre-
chung von Thoma, sonst nichts getan. Nach dem Essen etwas mit Vormfelde, bei Fräulein
Tadić vorbei, sie sagte nichts von dem Geld. Verabredete mich für Mittwochabend nach
Köln ins Schauspielhaus, eigentlich dumm, dann müde zu Hause, etwas geschlafen, in
einem plötzlichen Anfall die Besprechung fast ganz zu Ende geschrieben. Abends um 9 zu
Schmitz, Wein getrunken, ihm die Besprechung noch vorgelesen, bis 12 Uhr geplaudert,
müde nach Hause.

Montag, 28. 1. 24
Bis 10 geschlafen, entsetzliche Müdigkeit und Schläfrigkeit. Mutlos. Dann wieder ein paar
Minuten fröhlich. Die Besprechung zu Ende geschrieben und zu Vormfelde gebracht, wo
sie geschrieben wird. Viel an Duschka gedacht, bei Frenzel vorbei, der in Gefahr ist, bank-
rott zu gehen <…>, fühlte mich schlecht, unfähig, das Leben zu fassen, erbärmlich, weich.
Nach dem Essen etwas ausgeruht, um 3 Examen, dann bei Kaufmann Kuchen gegessen, zu
Hause war ein Brief von Duschka, ein wunderschöner, langer Brief. Ich war beseligt und
wieder glücklich. Wunderbares Kind. Wie klug und gütig schreibt sie. Ich hielt dann die
strafrechtliche Klausur für Heimberger. 80 Menschen waren da; meine <…> Instinkte
kamen heraus. Dann zu Heimberger, schnell nach Hause, müde, etwas gegessen, Ölsardi-
nen. <…> gelesen, konnte aber nichts arbeiten. Glücklich noch an Duschka gedacht, diese
gütige, alles verstehende und alles verzeihende Frau. Früh zu Bett.

Dienstag, 29. 1. 24
Etwas früher auf. Immer noch glücklich von Duschkas Brief, meine Vorlesung geschrieben,
gut gehalten. Nach dem Essen mit Vormfelde ein paar Schritte, dann zu Hause, um 1/2 5
kam Reiners und las seine Arbeit vor, dann Vorlesung für morgen vorbereitet, 6 Uhr Ver-
waltungsrecht. Angst und Müdigkeit. Will am 1. März ausziehen; abends verzweifelt und
wieder Angst, zu Schmitz, wir tranken im Bürgerverein eine Flasche Wein, er begleitete
mich nach Hause, müde ins Bett. Welch ein elendes Dasein.

[Am oberen Rand der Seite] Duschka in Jugoslawien

Mittwoch, 30. 1. 24
Um 9 1/4 aufgestanden, gut vorbereitet, kein Brief. <…>. Freute mich, heute Abend mit
Fräulein Tadić nach Köln zu reisen (habe von Vormfelde Geld ausgeliehen). Dann ins <…>,
Hanser758 kam liebenswürdig lächelnd und entschuldigte sich, dass er nicht in die Übungen
gekommen ist. Ich antwortete grob: Warum entschuldigen Sie sich? Sie brauchten ja gar
nicht zu kommen. Er stand dann beleidigt am Ofen, wie ein Hund. Meine Vorlesung nach-

758 Nicht ermittelter Jurastudent.

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Januar/Februar 1924 309

her mit Fräulein Esser, die mir leid tat. Nach dem Essen mit Vormfelde durch die Marien-
straße, er ging über die Rheinbrücke, weil er in Beuel wohnt; das Siebengebirge ist wunder-
bar. Sehnsucht. Ich ging zu Kaufmann, trank Schokolade, dann meine Übungen, sehr schön
(Wegereinigungspflicht). Nachher mit Aschenberg, ich fürchte, mit der Wohnung bei
Hartdegen759 ist es nichts. Müde. Verzweifelt, gefroren, krank, zu Hause ein Zettel: Das
Mädchen von Erich Kaufmann bittet dringend, dass ich komme. Ich lief hin, sie fürchte,
dass eine Arbeiterfamilie einziehe. Ich sah die schöne ruhige Wohnung und war verzweifelt.
Ich armes Aas. Traurig, sprach freundlich mit ihr, nach Hause, im warmen Zimmer wurde
mir besser, las etwas, eine der Korrekturen für den Aufsatz über Thoma, dann Brief an
Kaufmann, bei Neuß vorbei, der aber verreist war. Zu Schmitz, bin wieder weggegangen,
zum Bürgerverein. Bei Neffgen traurig, müde, lächerlich, gierig, gezittert. Ich bin ein armer
Teufel. Der Gedanke an den Brief von Duschka gab mir eine Auffrischung. Bin ich nicht
lächerlich? Müde und traurig zu Hause. Welch ein elendes Dasein.

Donnerstag, 31. 1. 24
In Eile meine Vorlesung vorbereitet, knapp fertig geworden, nach dem Essen zu Kaufmann,
die Wohnung behütet, etwas Klavier gespielt, es kam zum Glück niemand, dann mit Frau
Schmitz zu Rittershaus, Schlagsahne gegessen, müde zu Hause, mit Fräulein v. Wandel zum
Seminar, schönes Referat Schnors über Spengler. Nette Diskussion, Jup war auch da, wir
begleiteten Fräulein v. Wandel nach Hause, dann tranken wir im Bürgerverein eine Flasche
Wein, unterhielten uns darüber, dass Jup besser nicht nach Großkönigsdorf geht, ich hatte
ihn gern, im letzten Augenblick kam Neuß, wir brachten Jup zur Bahn, gingen noch auf der
Poppelsdorfer Allee, machten Reisepläne, er hat von Artiñano eine Einladung nach Spanien.
Müde zu Hause, Sehnsucht nach Duschka.

Freitag, 1. 2. 24
Morgens fröhlich aufgestanden, um Zimmer zu besehen. Ein wunderschöner Brief von
Duschka, sie schrieb „ich bin in Treue Frau“760. Beglückt, ergriffen, fröhlich. In der Hum-
–––––––––––––––––––
boldtstraße kümmerliche Möbel, dann noch bei Neuß vorbei, zu Hause in Eile die Vor-
lesung vorbereitet, die Völkerrechtsvorlesung an Duschka schicken lassen durch Linz-
bach761, in der Quästur bei dem Dienstmädchen von Kaufmann, dann finanzielle Lage,
meine Vorlesung, nachher Essen zu Hause, um 1/2 3 wieder zu Kaufmann, seine Wohnung
verwahrt, Chopin gespielt, um 1/2 4 holte Schnors mich ab, im Rittershaus Schlagsahne, er
ist ein netter Kerl, aber doch etwas langweilig, dann zu Frau Hartdegen, es ist nichts mit der
schönen Wohnung. Gleichgültig nach Hause, immer im Bewusstsein des wunderschönen
Briefes von Duschka. Zu Hause mit Frau v. Wandel wegen meiner Wohnung gesprochen,
froh, das erledigt zu haben. Frau Kaufmann rief von Berlin an, sie will Sonntag oder Mon-
tag kommen, froh darüber. Schrieb an Duschka, in großer Liebe und Sehnsucht und brachte
den Brief 762 gleich zur Post. Dann etwas bei Schmitz.

759 Hans Hartdegen, Major a. D., bevollmächtigter Delegierter der türkischen Handelskammer Frank-
furt/Main für die besetzten Gebiete, wohnhaft in Bonn, Am Hof 28.
760 Im Original unterstrichen.
761 Pedell des Senats.
762 Siehe Teil III, S. 511.

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310 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Samstag, 2. 2. 24
Um 9 auf, aß ein Spiegelei, schöner Kaffee, eine schöne Stunde. Vor dem Frühstück war ich
(ohne zu wissen warum) einen Augenblick spazieren gegangen, hatte mir (ohne zu wissen
warum) die Kölnische Zeitung gekauft (was ich seit Monaten nicht mehr getan hatte) und
las die Besprechung meines Parlamentarismus durch Stier-Somlo763. Fand es ekelhaft und
lächerlich. Aber es ist doch merkwürdig. Diese intuitive Sicherheit meines Gefühls. Ich
dachte an Duschka, die das alles geweckt hat. Glücklich, fleißig herumgelesen, nicht viel
getan, aber ruhig und voll guter Vorsätze. Mittags die französischen Bücher gekauft,
Pareto764, Villiers de L’Isle-Adam. Nach dem Essen zu Hause ausgeruht, müde, dann zu
Rittershaus Kaffee, dazu Tagebuch usw. gelesen. Traf zufällig Neuß, nett mit ihm ein paar
Schritte, auch Schilling auf der Straße zufällig getroffen und Schmitz mit seinem Onkel.
Dann zu Hause schön gearbeitet, aufgeräumt. Das Urteil, das meine Ehe für nichtig erklärt.
Meyer verlangt 300 Mark765. Abends holte mich Schmitz ab. Freute mich über seine Wut
gegen Stier-Somlo. Ging noch mit zu ihm, nett unterhalten. Wir sprachen über religiöse
Musik, den Begriff. Um 1/2 10 schon wieder zu Hause, den Schreibtisch aufgeräumt, ruhig,
sehr müde. Etwas hungrig, aber ich muss sparen.

Sonntag, 3. 2. 24
Fast nichts gearbeitet den ganzen Vormittag, aber nett aufgeräumt, sodass mein Tisch rein
wurde; um 1/2 12 kam Aschenberg, dann Kaufmann zu meiner großen Freude, nachher der
Orientalist Kahle766, mir ekelhaft, und unterhielt sich mit Kaufmann, ziemlich taktlos, eine
Stunde, während ich dabeisaß. Ein Preuße. Dann ein paar Schritte mit Kaufmann, für Mon-
tagabend verabredet. Ziemlich müde und benommen, nach dem Essen mit Neuß spazieren
gegangen, nach Witterschlick767, über die [Witter]Schlicker Allee, bei dem bäuerischen
Landpfarrer768 die Kirche besehen769, die neu ausgemalt werden soll. Müde und geistes-
abwesend, anstrengender Weg zurück. Um 1 Uhr zu Hause, Jup kam, um Geld zu holen.
Ich gab ihm 220 Mark (habe bei Neuß 90 Mark gepumpt), wir gingen zu Schmitz, aßen dort

763 Fritz Stier-Somlo, Rez. Karl (sic!) Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamenta-
rismus (München, Duncker u. Humblot), in: Kölnische Zeitung Nr. 82a [Erste Morgenausgabe]
vom 2. 2. 1924, erneut in: Mehring (Hrsg.), BW Schmitt – Smend, S. 155 f. Stier-Somlo (1873–1932),
Staats- und Völkerrechtler österr.-ungar. Herkunft, 1912 o. Prof. an der Hochschule für Kommu-
nale und Soziale Verwaltung in Köln, 1916 Handelshochschule (später Universität).
764 Vilfredo Federico (eigentlich Wilfried Fritz) Pareto (1848–1923), ital. Ingenieur, neoklassischer
Ökonom und Soziologe.
765 An diesem Betrag lässt sich das Ende der Hyperinflation durch die Währungsreform erkennen. Die
Rentenbank hatte Mitte November 1923 begonnen, die sogenannte Rentenmark als neues Zah-
lungsmittel herauszugeben. Der Wechselkurs war mit einer Billion Papiermark pro Rentenmarkt
festgelegt worden, ein US-Dollar entsprach 4, 20 Rentenmark.
766 Paul Kahle (1875–1964), protest. Theologe und Orientalist, 1914 o. Prof. in Gießen, 1923–1939 in
Bonn, aus politischen Gründen ausgeschieden, 1947 emeritiert, 1953 Honorarprof. in Münster.
767 Ortsteil der Gemeinde Alfter bei Bonn.
768 Johann Wilhelm Neu (1876–1959), Pfarrer in Witterschlick vom 11. 5. 1915 bis zu seinem Tod am
25. 10.1959. Für diese Auskunft bedanken wir uns bei Ulrike Venema-Schürmann, Pfarramts-
sekretärin der Pfarreiengemeinschaft Alfter.
769 St. Lambertus, ursprünglich romanische, gotisierte Kirche, im 2. Weltkrieg zerstört.

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Februar 1924 311

zu Abend, freute mich, dass Jup sich [für] Köln entschlossen, um 10 brachten wir ihn zur
Bahn, von Schmitz begleitet nach Hause. Müde bald zu Bett, sehnsüchtig an Duschka
geschrieben.

Montag, 4. 2. 24
Traum von Fritz Eisler, er war bei mir, wir gingen zusammen spazieren, ich sagte: zu dumm,
dass wir glaubten, er wäre tot. Ich freute mich, ihm viel zu erzählen, er lächelte freundlich,
ohne jede Bitterkeit, unbeschreiblich gütig. Vormittags etwas gearbeitet, nicht viel, dann
wegen des Passes herumgelaufen bei der Bank (3 Barmer Bank770 verkauft für Jup), nach
dem Essen ein paar Schritte mit Vormfelde, dann auf Neuß gewartet, mit ihm zu Schilling,
die Frau zeigte uns die Bilder, eine nette Frau, dachte mit Traurigkeit daran, dass ich nicht
einmal eine anständige Wohnung habe, mit Neuß bei mir Kaffee getrunken, ein Eilbrief von
–––––––––––
Triepel 771, dass ich ein Referat auf dem Staatsrechtslehrer-Kongress halten solle772, vielleicht
––––––
ist das ein Wink des Schicksals, dass ich nicht nach Italien fahren soll. Dachte bei allem an
Duschka. Arbeitete schön eine Stunde Völkerrecht im schön gewärmten Zimmer, behaglich.
Dann umgekleidet und zu Kaufmann, bei ihm zu Abend gegessen, bis 1/2 4, geschwätzt,
Wein getrunken, zuletzt todmüde; über den systematischen Betrug der heutigen Welt, was
er bestreitet. Freute mich, ihn getroffen zu haben. Schämte mich, soviel geredet zu haben.
Mit Sehnsucht nach Duschka abends den einsamen Weg nach Hause gemacht. Welch ein
Leben. Der Verzweiflung nahe.

Dienstag, 5. 2. 24
Bis 1/2 10 im Bett. Nicht besonders müde, merkwürdigerweise. Ein schöner Brief von
Duschka. Ich war gerührt und sehr glücklich; der Tag scheint sehr schön anzufangen. Etwas
Vorlesung vorbereitet, an Triepel telegraphiert, dass ich das Referat übernehme. Anregend
meine Vorlesung gut gehalten (viele Zuhörer). Nach der Vorlesung traf ich zufällig Fräulein
Tadić, sie erzählte, dass Duschka ihr geschrieben habe, sie werde nächstens nach Agram
gehen, weil das russische Theater komme. Mir hat sie nichts davon geschrieben.773 Ich be-
kam einen Schlag, misstrauisch, Wut, Verzweiflung. Begleitete Fräulein T. ein paar Schritte,
sie behandelt mich schlecht. Nach dem Essen mit Vormfelde ein paar Schritte, dann völlig
aufgelöst und vernichtet zu Hause. Ich werde irrsinnig. Immer daran gedacht, was Duschka
tut. Verzweifelt, Angst, Gefühl, betrogen zu werden. Sie ist klüger als ich, besah ihr Bild, es
sah mich streng und kalt an, zog sich in sich zurück, als wollte es sagen, was willst du, wenn
du mir nicht dienen willst. Ich weiß, dass es Unrecht ist, aber ich kann nicht anders. Ent-
setzlich. Arbeitete etwas, sehr oberflächlich, konnte nicht arbeiten, weil mich der Gedanke
verfolgt, was Duschka eigentlich ist. Ihr Brief, wovon spricht sie, was bin ich für sie anderes
als ein aus Gnade und Barmherzigkeit nicht hinausgeworfener Diener. Alle meine Instinkte

770 Aktien des Barmer Bankvereins, der nach 1900 auch in Bonn eine Niederlassung hatte.
771 Im Original unterstrichen. Brief vom 3. 2.1924 (RW 265-16399); s. auch Teil III, S. 513. Zu Triepel
s. Teil I, Anm. 416.
772 Zum Hintergrund des Tagungsthemas und der ausgewählten Referenten vgl. Martin Otto (Hrsg.),
„Es ist eigenartig, wie unsere Gedanken sich begegnen.“ Erwin Jacobi und Carl Schmitt im Brief-
wechsel 1926 bis 1933, in: Schmittiana NF I 2011, S. 34–57, 34 ff.
773 Siehe auch Schmitts verzweifelte Analyse Duschkas vom selben Tag in: Teil III, S. 512.

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312 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

sind verwirrt. Ich bin nur noch ein elender Fetzen. Am liebsten schmisse ich mich selbst in
eine Ecke. Wer soll mir helfen? Früh zu Bett.

Mittwoch, 6. 2. 24
Endlich ausgeschlafen, vormittags schön eine Stunde gearbeitet, Völkerrechtsdelikte. Kein
Brief. Zur Bank, holte die <…> bei Frenzel, brachte sie zur Darmstädter Bank, holte mir
dort 170 Mark, hielt meine Vorlesung sehr schön, nachher mit dem nationalsozialistischen
Studenten Schnors, der morgen ein Referat halten will. Nach dem Essen zu Hause aus-
geruht, 1/2 3 zur Konditorei Kaufmann und Schokolade getrunken, meine Übungen gut
gehalten, dann nach Hause, Karte von Blei und von der Sonninghaus, die mich bat, zwi-
schen 16. und 22. nach Düsseldorf zu kommen! (Unheimlich: eine Tänzerin774, die Jahres-
zeit meiner Trauung; was soll ich dazu sagen?). Sehr müde; nur etwas herumgeordnet.
Nichts gearbeitet, dachte wahnsinnig zu werden. Eine Stunde auf der Ottomane gelegen, an
Duschka gedacht, dann alte Tagebücher gelesen, Februar 1917775; welch ein Leben. So
wurde es halb 10. Wie ich mein Referat in Jena halten soll, ist mir ein Rätsel. Irrsinnig. Ich
kann nicht mehr arbeiten. Ich bin ein erbärmlicher Dilettant. Ich schäme mich entsetzlich.
Ich habe keine Klauen, das Leben zu fassen.

Donnerstag, 7. 2. 24
Vormittags in großer Eile die Vorlesung, ein paar Gänge gemacht, nach der Vorlesung bat
mich Braubach, die Besprechung776 Wittmayer777 gleich abzuliefern. Ich blieb also nach dem
<…>. Nachmittags zum Seminar, Frau v. Wandel ging nicht mit, Jup war da, Referat
Schnors über Nationalsozialismus; ich sprach nachher sehr gut. Dann mit Jup im Bürger-
verein, nachher kam Rick, Landsberg, wir tranken teuren Wein, ich trank viel, müde nach
Hause. Gleichgültig und traurig. Sehnsucht nach Duschka. Es ist alles aus ohne sie.

Freitag, 8. 2. 24
Die Besprechung Wittmayer geschrieben, um 1/2 12 telephonierte das Dienstmädchen von
Kaufmann, dass ein Franzose da wäre. Ich ging hin, ein gutmütiger, netter Kerl, mit dem ich
mich sofort verständigte. Froh darüber; meine Vorlesung gehalten, nach dem Essen mit dem
Studenten Franken spazieren gegangen und sein Referat (katholische Kirche und Parlamen-
tarismus)778 besprochen. Zu Hause einen Brief an Duschka779 geschrieben (André will Frei-

774 Näheres über die – Schmitt an Cari erinnernde – Tänzerin Sonninghaus nicht ermittelt.
775 Die Tagebücher vom Februar 1917 aus München bzw. Straßburg sind vermutlich abhanden
gekommen.
776 Carl Schmitt, Reichsverfassung und Politik, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung
und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 47 (1924) S. 349–351, wiederabgedruckt in: Schmittiana
NF I 2011, S. 14–16. Braubach hatte als Assistent am staatswissenschaftlichen Seminar mit dem
Jahrbuch zu tun.
777 Leo Wittmayer, Reichsverfassung und Politik (= Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart,
24), Tübingen 1923.
778 Laut Tommissen (in: Becker, Briefe an Carl Schmitt, S. 122) handelt es sich um Paul Heinrich Fran-
ken (1903–1984) aus München-Gladbach, Student der kath. Theologie und der Geschichte, 1932
bei Aloys Schulte zum Dr. phil. promoviert mit einer Arbeit über „Franz von Bucholtz bis zu sei-

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Februar 1924 313

tag kommen, ich erwartete ihn zuerst heute), brachte den Brief zur Post, nachher eine wun-
derbare Ruhe. Sie ist meine Seele. Abends zum Bürgerverein, sah ein Bild einer russischen
Schauspielerin und erschrak. Schnors kam und erzählte von vaterländischen Verbänden. Im
Grunde langweilig, er ist aber ein netter, guter, anhänglicher Kerl, was mich rührte. Traurig
ins Bett.

Samstag, 9. 2. 24
Mit Schmitz auf den Venusberg. Er politisierte und regte sich auf. Ich sah sehnsüchtig das
Siebengebirge. Dann zu Hause gefrühstückt, fühlte mich aber nicht wohl. Bekam eine
Besprechung meiner Politischen Romantik aus der Vossischen Zeitung780 von Feuchtwanger
zugeschickt. Großartig, Haym und Dilthey sind nur die Vorstufen781 zu mir. Erstaunlich.
Freute mich und las die Politische Romantik noch einmal. Schrieb einen Brief an André,
Angst, dass die Mark wieder fällt. Nach dem Essen ein paar Schritte mit Vormfelde, Zeitung
gekauft, müde herumgegangen, verzweifelt, zu Hause ausgeruht, dann wieder zur Stadt.
Die Schrift von Rothenbücher782 bestellt, Duschka ein Buch mit romanischen Kirchen

ner Übersiedlung nach Wien“, November 1937 bis Januar 1939 wegen des Verstoßes gegen das
„Heimtückegesetz“ im Düsseldorfer Gestapo-Gefängnis in „Schutzhaft“, 1943 zur „Abwehr Ca-
naris“ unter dem Vorwand eines DFG-Forschungsprogramms am Dt. Hist. Institut in Rom dienst-
verpflichtet, nach 1945 Privatlehrer und CDU-Funktionär, Dozent und 1950 Direktor der PH
Vechta, 1952–1968 Leiter der Bundeszentrale für Heimatdienst in Bonn. Die Angabe „Ministerial-
rat“ (Tommissen, ebd.) sowie Alter, Studienrichtung und Werdegang sprechen jedoch eher für
Joseph Paul Franken (1900–1980), ebenfalls aus München-Gladbach, nach Kriegsdienst zunächst
Studium der kath. Theologie und der Kunstgeschichte, dann der Jura in Bonn sowie der Staats-
und Volkswissenschaften in Bonn und Würzburg, 1930–1945 in mehreren Reichsministerien tätig,
1941 Ministerialrat, 1946 Landesbaudirektor im Aufbauministerium in Schleswig-Holstein,
1949–1952 Präsident des Landessiedlungsamtes NRW, 1952–1957 Staatssekretär im Finanzministe-
rium NRW, 1963–1966 Minister für Landesplanung, Wohnungsbau und öffentliche Arbeiten NRW.
779 Brief in: Teil III, S. 513.
780 Hugo Bieber, Adam Müller und die Romantik, in: Literarische Umschau. 4. Beilage zur Vossischen
Zeitung vom 3. 2.1924 (Nr. 58). Die Rezension ist bei Benoist, Internationale Bibliographie,
S. 17 ff., nicht verzeichnet.
781 Wörtlich lautet die Passage über Schmitt: „Seine Zurückführung des romantischen Verhaltens auf
den Okkasionalismus muß noch weiter durchdacht werden, enthält noch nicht die ganze Wahrheit,
da die Romantik, wie jede geschichtliche Erscheinung, nur als Kreuzungspunkt verschiedener Ent-
wicklungen dargestellt werden kann, sie bietet aber die bedeutsamste Förderung der Erkenntnis,
neben der alles, was bisher geleistet worden ist – trotz Haym und Dilthey – als Vorstufe erscheint.“
Vgl. etwa Rudolf Haym, Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geis-
tes, Berlin 1870; Wilhelm Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik, Tübingen 1900; ders., Das
Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin, Leipzig 1906 (2., erweiterte Aufl.
1907); ders., Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Syste-
men, Berlin 1911.
782 Karl Rothenbücher, Der Fall Kahr (= Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, 29), Tübingen
1924. Karl (Carl) Josef Franz Rothenbücher (1880–1932), Staats- und Kirchenrechtler, 1910 ao.
Prof. in München, 1912–1932 o. Prof. in München. Rothenbüchers Referat auf der Münchner
Staatsrechtslehrertagung von 1927 (Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: Veröffentlichun-
gen der Vereinigung der Dt. Staatsrechtslehrer, H. 4, 1928, S. 6–43) entwickelte eine Dogmatik des
Meinungsbegriffs, die von Schmitt, Verfassungslehre, S. 167 f., zustimmend rezipiert wurde.

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314 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

schicken lassen, sehnsüchtig in der Dämmerung nach Hause, allmählich ins Arbeiten
gekommen, sehr schön gearbeitet, abends um 7 kam Neuß, ich blieb zu Hause, schrieb
noch an Lisa Krause, dachte sehnsüchtig an Duschka, fühlte mich arm und erbärmlich,
freute mich aber, dass ich fleißig war.

Sonntag, 10. 2. 24
Gut geschlafen, vormittags schneite es. Kleiner Spaziergang, nett gearbeitet, sehnsüchtig,
liebevoll an Duschka geschrieben. Nach dem Essen etwas ausgeruht, mit Neuß an den
Rhein spazieren. Leider ließ ich mich hinreißen, über die Industrie und die Steuerhinterzie-
her zu schimpfen, was er in seiner ehrenhaften Harmlosigkeit nicht versteht. Las, als ich
wieder allein zu Hause war, arbeitete an der Vorlesung Völkerrecht, trank schön Kaffee, las
Villiers de L’Isle-Adam, Axel783, mit großer Ergriffenheit, okkulte Sammlung. Abends zu
Hause ein Stück Brot, nach dem Essen spazieren für mich allein. Beherrscht und ruhig für
mich allein. Fühle mich etwas produktiver und fester. Schrieb schnell an Sonninghaus, dass
ich Montag, den 18., nach Düsseldorf komme. Abends ging ich noch einmal aus dem
Schlafzimmer, um das Bild von Duschka zu sehen. Ich habe am Zehnhoff nicht geschrieben.

Montag, 11. 2. 24
Gut ausgeschlafen. Nach dem Frühstück kam der Briefträger: 2 Briefe von Duschka, ein
Brief von Plettenberg (widerlich), eine Karte von [Kisky] und die gedruckte Mitteilung über
den Staatsrechtskongress in Jena (mit meinem Referat). Die Briefe von Duschka waren
unbeschreiblich schön, ich war berauscht von dem Glück, das mir diese Frau bereitet. Eine
Stunde größten Glücks. Ich konnte nicht arbeiten. Holte mittags meinen Pass, kaufte etwas
ein, im juristischen Seminar, nach dem Essen ein kleiner Spaziergang, ausgeruht, nachmit-
tags an Duschka geschrieben784, um 5 kam Schmitz und brachte die Kritik über die beiden
russischen Schauspielerinnen mit, die eine Venus, die andere Maria. Ich war gerührt und
ergriffen von dem Glück, das mir ihre mütterliche Liebe gegeben hat. Las dann noch
Villiers de L’Isle-Adam bis spät abends. Erst gegen 1 Uhr ins Bett; nicht gut geschlafen.

Dienstag, 12. 2. 24
Müde, zerschlagen, ganz von Kräften. Morgens ein Student, der mich beim Frühstück über
seine Dissertation befragte. Einiges besorgt, in die Bibliothek, schlechte Vorlesung, tod-
müde, nach dem Essen zu Neuß, mit ihm und Kisky, der kam, spazieren gegangen, am
Rhein, müde geworden. Wie gleichgültig sind mir alle diese Leute. Müde zu Hause, glaubte
fertig zu sein. Ein Brief von Geßlein <?>. Dann etwas gearbeitet, jämmerlich, dann zu
Hause zu Abend gegessen. Zu Neuß, mit Kisky geplaudert, leider kam auch noch der Bru-
der von Neuß, der sich wichtig aufs Gespräch legte. Scheußlich. Um 11 begleitete ich Kisky
zur Bahn, Neuß noch zu meiner Wohnung. Müde, dann aber plötzlich ein paar Seiten Völ-
kerrecht geschrieben. Den ganzen Tag beherrscht von dem Gedanken an meine schöne
Duschka.

783 Schauspiel von 1890.


784 Siehe Teil III, S. 513 f.

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Februar 1924 315

Mittwoch, 13. 2. 24
Morgens sehr müde, fast nichts gearbeitet. Leidliche Vorlesung Völkerrecht, nach dem
Essen umgekleidet, schlechte Übung über Selbstverwaltung, fühlte mich schwach und
krank. Daher nicht zu <…> (die grauenhaften Gesichter der Juristen). Zu Hause Kaffee
getrunken, wohl erfreut, zu Frau Kaufmann, gleichgültig mit ihr gesprochen; ich gehöre
nicht zu diesen Menschen. Zu Hause ausgeruht, etwas gelesen und Tee getrunken, dann
wieder Villiers de L’Isle-Adam gelesen, Axel, ergriffen, dachte an Duschka den ganzen Tag,
sie hat heute Geburtstag. Ich liebe sie täglich [mehr].

Donnerstag, 14. 2. 24
Oberflächlich die Vorlesung vorbereitet und gehalten, sehr müde, nachmittags ausgeruht, es
ist plötzlich wieder furchtbar kalt geworden. Hoffte, André käme, blieb aber enttäuscht.
Magenbeschwerden, nervös wahrscheinlich. Um 6 mit Fräulein v. Wandel zum Seminar,
Referat Franken, etwas unangenehm rheinisch mit Zischlauten, sonst nett, nachher über den
Schwindel der Zeit gesprochen, aber ziemlich müde. Mit Jup nach Hause, Brief von Fehr,
Heidelberg, ein wichtigmacherischer Professor785, ekelhaft, mit Jup eine Flasche Wein im
Bürgerverein, todmüde schon um 10 nach Hause. Wieder diese Geldsorgen, Kleinbürger-
lichkeit, Angst ums Dasein; hungrig.

Freitag, 15. 2. 24
Bis 1/2 11 im Bett, infolgedessen gut ausgeruht und etwas bessere Vorlesung. Nach dem
Essen von Vormfelde verabschiedet, der nach Berlin reist. Es ist kalt, aber herrliche Sonne.
Sehnsucht nach Duschka, Angst, betrogen zu sein, wenn ich von Vormfelde immer wieder
von diesen Frauen höre. Zu Hause müde, kalt im Zimmer, Augenschmerzen, in Erwartung
von André, aber gezweifelt, ob er kommt. Lächerlich. Mein einziger innerer Halt ist
Duschka. Um 5 mit Fräulein v. Wandel zum Seminar, vor der Tür gab mir der Briefträger
einen Brief von Duschka. Ich konnte ihn hier nicht gleich lesen. Referat Wil[c]kens über
Robert Michels sehr schön, ich sprach sehr gut (in der Freude über den Brief), dann zu
Hause, André war nicht gekommen, ich las den Brief von Duschka, sie schreibt, sie fahre
nach Agram wegen ihrer Brille. Ich weiß, dass sie wegen der russischen Schauspieler reist.
Erschrak, dass sie mir das verschweigt. Plötzlich ein entsetzlicher Einfall. Ich lief durchs
Zimmer und musste mir immer sagen: sie lügt, sie lügt.786 Grauenhaft, schrieb ihr, es half
nichts, ein jämmerliches Geziere, zu Bett, etwas ruhiger einen Brief 787 entworfen, konnte
nicht einschlafen, entsetzliche Nacht.

Samstag, 16. 2. 24
Entsetzliche Nacht, immer wieder wach geworden, stundenlang Brief überlegt, verzweifelt,
welch ein Stoß. Sie lügt, ist das möglich? Ich war nach dem Waschen ruhiger, schrieb ihr

785 Brief vom 13. 2. 1924 (RW 265-3427). Hans Fehr (1874–1961), Schweizer Rechtshistoriker, Samm-
ler von Bildern neuzeitlicher Folter- und Strafmethoden, enger Freund und Biograph Emil Noldes,
1906 ao. Prof. in Jena, 1912 in Halle, 1917–1924 in Heidelberg, 1924–1944 in Bern.
786 Siehe Notiz vom 15. 2. 1924 in: Teil III, S. 515 f.
787 Den Brief hat Schmitt nach eigenen Angaben verbrannt; s. ebd.

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316 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

einen Brief 788 und brachte ihn zur Post. Notierte ein paar wunderschöne Sätze über
Othello. Schmitz kam und rauchte eine Zigarette, ich war ruhig und ganz verschlossen, was
er wohl merkte. Traf Reiners789, ein langweiliger Hecht. Ein paar Schritte mit ihm über die
Königstraße. Holte mir Rothenbücher, „Der Fall Kahr“790. Nach dem Essen (ich zitterte
und stöhnte) auf den Venusberg, auf die Bank, auf der wir oft gesessen, aber rede[te] Ketze-
reien, schauderhaft. Ein entsetzlicher Nachmittag. Zu Hause, verzweifelt, André kam nicht,
es war ein Glück, wer weiß, was ich getan hätte. Ein Brief von Lisa Krause. Saß zitternd in
meinem Zimmer, ging eine Zeitung kaufen, dann wieder zu Hause, dann wollte ich einen
Augenblick beichten, unterließ es aber, immer Gedanken an Duschka, ich will keinen Verrat
an ihr begehen. Aber was war das für eine entsetzliche Nacht. Inzwischen bleibt mir nichts,
wie auf den nächsten Brief zu warten. Bei Frau Kaufmann vorbei, <…>. Telegramm von
Sonninghaus; ich will Montag nach Düsseldorf. Aß abends zu Hause, ein wenig ruhiger.
Aber meine Abhängigkeit von Duschka ist entsetzlich. Ob sie es weiß? Vielleicht rettet sie
mich aus Güte und Mitleid. Aber sie ist so jung.

Sonntag, 17. 2. 24
Schlief bis 10 Uhr, erst um 1/2 11 aufgestanden (ein Hahn krähte des Nachts)‚ etwas spazie-
ren (die Poppelsdorfer Allee), gefrühstückt, Duschka einen schönen französischen Brief
geschrieben. Nach dem Essen zu Fräulein Tadić, die Frau Assessor sagte, sie sei nicht zu
Hause; umso besser. An den Rhein gegangen, eben bei Frau Kaufmann vorbei. Dann zu
Hause Kaffee getrunken, im Zimmer von Wandels (die ausgegangen waren) und wo es
schön geheizt war. Völkerbund gearbeitet. Wunderschöner ruhiger Nachmittag. Ruhig und
glücklich; um 8 etwas spazieren, an der Madonna vorbei, zu Hause ein Telegramm von
Sonninghaus, dass sie mich morgen um 1/2 2 am Stadttheater-Bühneneingang erwartet.

Montag, 18. 2. 24
Nachts krähte der Hahn, konnte nicht schlafen. Um 9 Uhr behaglich angezogen, Karte von
Jup und [Maja] <?>; Vermeil über die deutsche Verfassung791 von André, freute mich darü-
ber, dann zur Bahn, behaglich 2. Klasse von Bonn nach Düsseldorf; freute mich darauf, mit
Duschka im Sommer zu reisen, ziemlich munter und guter Dinge, holte beim Pfarrer eine
Abschrift meiner Trauungsurkunde, traf Sonninghaus am Stadttheater, wir aßen im Weiden-
hof 792, saßen lange da, dann spazieren an den Rhein, dann über die Königsallee zum Café
Korso793, wo sie spielt. Bei Bols794 Schnaps, über abergläubische Dinge gesprochen, ich war

788 Brief vom 16. 2. 1924 in: Teil III, S. 517.


789 Heribert Reiners (1884–1960), Kunsthistoriker,1922 ao. Prof. in Bonn, 1925 in Freiburg i. Ue.
790 Siehe Eintragung vom 9. 2.1924 mit Anm. 782. Die Schrift beschäftigt sich mit der Rolle des Regie-
rungspräsidenten von Oberbayern, Gustav v. Kahr (1862–1934), während des Hitler-Ludendorff-
Putsches. Kahr wird darin Hochverrat vorgeworfen. Die von ihm veranlasste Beschlagnahmung
der Broschüre gelang nur zum Teil.
791 Edmond Vermeil, La constitution de Weimar et le principe de la démocratie allemande. Essai d’his-
toire et de psychologie politiques, Straßburg 1923.
792 Hotel Weidenhof, Düsseldorf, Oststraße 87.
793 Eines der legendären Düsseldorfer Nachtlokale an der Graf-Adolf-Straße.
794 Probierstube Bols, ebd.

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Februar 1924 317

im Grunde gleichgültig und müde, um 1/2 7 fuhr ich zurück, behaglich, habe viele Zeitun-
gen gekauft, viel Geld ausgegeben, müde. Zu Hause ein wunderschöner Brief von Duschka
aus Agram. Ich war gerührt und hingerissen von großer Liebe, ganz glücklich, all mein
Misstrauen und meine Sorgen kommen mir entsetzlich lächerlich vor. Welch ein unbe-
schreibliches Glück; ich habe kein anderes. Jeder Gedanke an Gott, an die Kirche, alles ist
Nebensache neben ihrer Treue.

Dienstag, 19. 2. 24
Wieder bis 10 geschlafen. Während des Frühstücks ein Student wegen des Doktor-Exa-
mens. Er war in Russland gefangen und ist entflohen; er spricht russisch, er begleitete mich
bis an die Poppelsdorfer Allee. Er ging zum Frühstück. Währenddessen kam noch ein
Student, dann kam Frau v. Wandel wegen einer Universitätswohnung. Ich lief zum Kura-
tor, der sehr freundlich war, inzwischen erzählte mir Ehrhard795 seinen Konflikt796 mit
Schrörs797. Hielt meine Vorlesung über den Völkerbund. Dann von Gerber begleitet, nach
dem Essen umgekleidet, zur elektrischen Bahn nach Königswinter (traf Ehrhard, verspätete
mich dadurch, rannte der Elektrischen durch ganz Bonn nach und holte sie an der Beetho-
venhalle ein), in Oberdollendorf um 3 nach Heisterbach gegangen, dort um 4, das Tor bese-
hen, voll von Erinnerungen, dann in den Wald zu den Judenbuchen, den Brief von Duschka
aus Zagreb gelesen, wunderschöne Ruhe, ein großes Glück, das ich diesem Kind verdanke.
Als ich auf die Chaussee zurückging, kam mir der alte Pfarrer Klein798 entgegen! Seltsam. Er
begleitete mich ein paar Schritte, wir sprachen über Neuß, ich will ihm meine Broschüre
über den Katholizismus doch endlich schicken. Es war wie damals, als mir Duschka ent-
gegenkam. Wie ein Wunder. Dann in einem harmonischen, ruhigen Glück nach Oberdol-
lendorf, nach Bonn zurückgefahren, zu Hause ein Brief von Kiener799. Etwas ausgeruht,
schön Kaffee getrunken, um 7 kam Frau v. Wandel wegen der Wohnung, abends noch etwas
gearbeitet, an Duschka geschrieben. Ein schöner, ruhiger, glücklicher Tag.

Mittwoch, 20. 2. 24
Wieder lange (und gut) geschlafen. Erst gegen 11 gefrühstückt. Traf um 12 Fräulein Tadić,
freute mich, dass sie freundlich war und Samstag kommen will, bat sie, Duschka zu schrei-
ben. Dann hielt ich meine Vorlesung ziemlich gut, nachher mit Göppert zusammen politi-
siert, er gefiel mir gut, ich merkte, dass er mich schätzt, er meinte, Frau v. Wandel sei keine

795 Albert Ehrhard (s. Teil I, Anm. 248).


796 Siehe auch Eintragung vom 25. 2.1924. Auch wenn der konkrete Anlass des Konfliktes nicht ermit-
telt werden kann, reicht dieser weit zurück auf Schrörs’ Verriss der reformkatholischen Programm-
schrift seines nicht minder bedeutenden zweiten Lehrstuhlnachfolgers Ehrhard, „Der Katholizis-
mus und das Zwanzigste Jahrhundert“ (1902). Vgl. dazu Norbert Trippen, Heinrich Schrörs (1852–
1928), in: Rheinische Lebensbilder, Bd. 10, Köln 1985, S. 179–198, 187.
797 Heinrich Schrörs (1852–1928), Dr. theol., Priester und Kirchenhistoriker, 1885 Lehrstuhlvertretung
(Kirchenrecht) in Freiburg i. Br., 1886–1916 o. Prof. für Kirchengeschichte in Bonn, 1904/05 Uni-
versitätsrektor.
798 Siehe Anm. 701 sowie Notiz vom 19. 2. 1924 in: Teil III, S. 518.
799 Brief vom 28.1. 1924 (RW 265-7550), in dem er wie in früheren Briefen um die Besorgung von
Büchern bittet.

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318 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

besonders angenehme [Ver-]Mieterin. Gut, dass ich das höre. Ich bin wirklich der ewig
Düpierte. Nach dem Essen einen Augenblick ausgeruht, dann Examensklasse, langwierig,
dann bis 5 verwaltungsrechtliche Übungen, es ging gut vorüber, obwohl ich schrecklich
müde war. Nachher mit Fräulein Esser und Aschenberg ein paar Worte, zur Bibliothek,
dann zu Hause Kaffee, Zeitung gelesen, kein Brief, plötzlich etwas gearbeitet, nicht viel,
vergebens auf Rick gewartet, es wurde allmählich 10 Uhr. Das Zimmer war schön geheizt
(weil Frau v. Wandel von mir die Verteidigung ihrer Wohnung [er]hofft. Es wird ihr nichts
nützen). Trotzdem bin ich der Düpierte. Augenbeschwerden.

Donnerstag, 21. 2. 24
Kein Brief den ganzen Tag. Vorlesung gut, obwohl schlecht vorbereitet; nachher ein Student
aus Herne, der Grüße von Berghofen800 brachte. Nachmittags ausgeruht, um 5 zum Kura-
tor; rührend, freundlich, auch wegen der Wohnung. Das Haus Poppelsdorfer Allee 25a801 ist
also immer noch zu haben. Überlegte, ob ich Lamberts schreiben solle oder vielleicht
Schnitzler oder André. Mein Ehrgeiz erwacht, mein bürgerlicher Soliditätstrieb. Seminar,
Vortrag, schrieb über Wilsons congr[essional] govern[ment]802. Nette Diskussion, dann mit
Jup zum Bürgerverein, Rick kam, erzählte von Fräulein Tadić. Neuß kam auch, wir unter-
hielten uns gut; ich gab Rick den Band Villier de L’Isle-Ad[am]. Dann bald zu Bett, zu viel
gegessen.

Freitag, 22. 2. 24
Nachts nicht geschlafen, müde; gute Vorlesung über Völkerbund. Glücklich, das erledigt zu
haben, Seminarscheine usw. Nach dem Essen geschlafen, Wohnung angeboten bekommen,
oft aufgeregt, dachte daran, Schnitzler zu schreiben. Tat es nicht, wollte Karl Lamberts tele-
phonieren usw. Schließlich überhaupt nichts getan. Behaglich Kaffee getrunken, herumgele-
sen, abends traurig durch die Stadt gelaufen, einsam, Brief an Duschka weggeschickt, ein
schöner, langer Brief (mit Schilderung von meinem Heisterbacher Spaziergang. Mein Gott,
wenn auch das Betrug wäre!). Abends zu Schmitz, wunderschön über die Polyphonie, das
Positive der neuen Kunst. Liszt und Richard Strauss, niemand erkennt die Zeit wie ich.
Geweint, als ich die lyrische Stelle des Andante der 9. Symphonie 803 hörte. Müde zu Hause.
Unternehmend, aber verzweifelt.

Samstag, 23. 2. 24
Wieder sehr müde, um 10 auf, eine Stunde Plauderstunde mit Fräulein Tadić, begleitete sie
nach Hause. Fragte dann nach der Wohnung, die ich vielleicht mit den Möbeln kaufen
wollte, die Leute <…>, aber Geld zum untergegangenen <…>. Das ist mein Schicksal. Ich

800 In Berghofen – 1929 nach Dortmund eingemeindet – lebte Schmitts Base Louise, eine Lehrerin.
801 Zu dieser Zeit wohnte dort u. a. Prof. Spiethoff.
802 Thomas Woodrow Wilson (1856–1924), 1913–1921 Präsident der USA, wurde 1886 mit einer
Arbeit über Congressional Government zum Dr. phil. promoviert.
803 Gemeint ist wohl das Andante maestoso im 4. Satz von Beethovens Neunter (op. 125) mit seinem
„sakralen“ Charakter, wo „überm Sternenzelt … ein lieber Vater“ aus Schillers Ode an die Freude
beschworen wird.

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Februar 1924 319

war deprimiert, obwohl ich sie sicher nicht gekauft hätte (woher soll ich das Geld haben?).
Dann in der Stadt herumgegangen, Zeitungen gekauft, nach dem Essen zu Hause geschla-
fen, müde, herumgegangen in der Stadt, Zeitung gekauft, nichts Rechtes getan, nachmittags
schöner Kaffee. Um 5 Wohnung in der <?>straße besehen, es ist aber nichts, immer an
Duschka gedacht, voll Angst an den Gegensatz, zum Bersten, dann wieder Vertrauen, dann
wieder kühl und skeptisch. Zu Hause etwas gearbeitet, plötzlich 3 Briefe geschrieben an
Karl Lamberts, Kiener und André. Zu Hause geblieben. Einladung für morgen zu Heim-
berger angenommen, dagegen heute Mittag die Einladung von Landsberg (nachdem ich sie
erst angenommen hatte) abgelehnt, als ich hörte, dass Scheler kommt!804 Unheimlich.

Sonntag, 24. 2. 24
Bis 11 im Bett, ausgeschlafen, fühlte mich wohl, aber den ganzen Tag dumm. Ging zu
Rechtsanwalt Meyer, langweilig. Frau v. Wandel dankte mir herzlich dafür, dann zu Heim-
berger zum Essen, wo auch Frau Kaufmann war. Das ist kein Milieu für mich, bürgerlich,
stickig, unfrei. Begleitete (im Schnee) Frau Kaufmann zu ihrer Wohnung, dann zu Hause
schön Kaffee, aber wenig gearbeitet. Etwas gelesen, Villiers de L’Isle-Adam, N. K.805 Viel an
Duschka gedacht, weil seit Montag kein Brief von ihr gekommen ist, Reflexion.

Montag, 25. 2. 24
Sehnsüchtig auf einen Brief von Duschka gewartet. Morgens kam ein Brief von Carroll806
mit schönem Material über die Anerkennung der Sowjetunion durch die Vereinigten Staa-
ten. Lief vormittags herum, kaufte Blumen für Frau v. Wandel zum Geburtstag 807, Pralinen
für Frau Kaufmann für die Reise, wie geistlos, abwesend alles, vollständig aufgelöst und
verstört. Nach dem Essen mit Vormfelde bei mir ein Glas Cordial808, dann etwas spazieren,
bei Kaufmann Schokolade, Examen, nachher sehnsüchtig zitternd auf den Briefträger
gewartet: nichts von Duschka. Ist das die Strafe für mein Misstrauen? Lief wie geisteskrank
herum, trank in einer kleinen Konditorei Kaffee, traf zufällig Neuß und Kisky und verabre-
dete mich für den Abend. Neuß erzählte von dem Streit zwischen Ehrhard und Schrörs.
Wie erbärmlich. Zu Hause etwas notiert 809, ein Stück Brot gegessen, um 1/2 9 zu Neuß,
spanischen Wein getrunken, über Alter gesprochen, um 12 müde nach Hause, Irrsinn.

Dienstag, 26. 2. 24
Nachts immer durch krähenden Hahn gestört. Scheußliche Kopfschmerzen. Um 1/2 10 auf-
gestanden, sehnsüchtig auf einen Brief von Duschka gewartet, nichts von ihr. Ein Brief von
Rick, von einem Liviol810 <?>, ich zitterte. Ich werde irrsinnig. Ein paar Schritte draußen im

804 Siehe Notiz vom 23. 2.1924 in: Teil III, S. 519. Scheler war auf Betreiben des Kölner Oberbürger-
meisters Konrad Adenauer ab WS 1921/22 Prof. für Philosophie und Soziologie an der neugegrün-
deten Universität Köln.
805 Nicht ermittelt.
806 Siehe Notiz vom 25. 2. 1924 in: Teil III, S. 519 f.
807 Siehe ebd.
808 Ein Likör.
809 Siehe Notizen vom 25. 2.1924 in: Teil III, S. 520 f.
810 Nicht ermittelt.

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320 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Schnee. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Nach dem Frühstück kam Wilckens wegen seiner
Karriere. Ich unterhielt mich nett mit ihm, er lenkte mich etwas ab. Dann hielt ich meine
Vorlesung, schlecht, nach dem Essen ein paar Schritte mit Vormfelde, zu Hause auf
Aschenberg gewartet, Frau v. Wandel bedankte sich für die Blumen, ich wartete auf den
Briefträger, trank mit Wandel zusammen Kaffee, innerlich voller Angst auf den Briefträger
gewartet, um 1/2 6 nachgesehen: nichts da. Grauenhaft. Wie vor den Kopf geschlagen
Wollte wütend werden, war plötzlich wieder ruhig; es ist aber Irrsinn. Dann zu Meissner,
armer alter Kerl, verliebt in seine junge Frau, grauenhaftes Bild, ich wurde noch trauriger, er
zeigte mir alte Ausgaben. Ich trank eine Tasse Tee, die Frau ist wienerisch, das rührte mich,
blieb bis 9 1/2, abgelenkt nach Hause. Die gute Frau v. Wandel hat das Bett ins Wohn-
zimmer stellen lassen. Ich warte innerlich auf morgen, auf den Briefträger, verzehre mich in
Ungeduld. Ging um 11 zu Bett, im Arbeitszimmer, schlief langsam ein; Ejakulation; wider-
lich.

Mittwoch, 27. 2. 24
Konnte des Nachts von 3 Uhr ab nicht schlafen, hörte jede halbe Stunde schlagen. Schreck-
licher Zustand, was mag das sein, vielleicht doch das Zimmer? Glaubte einen Augenblick zu
sterben. Endlich war es 8 Uhr, beim Waschen wurde ich frisch. Bereitete meine Vorlesung
vor, erwartete um 10 Uhr unruhig den Briefträger – nichts von Duschka. Grauenhaft. Aber
vielleicht heute Nachmittag. Hielt meine Vorlesung ziemlich müde, dann nach dem Essen
ein paar Schritte mit Vormfelde, dann zu Hause ausgeruht, 3–4 wieder Vorlesung,
Land<…>, für Fräulein Tadić einen Simplizissimus 811 gekauft bei Cohen, für 12 M[ark]!
Schrecklich. Müde zu Hause, wartete zitternd auf den Briefträger: es ist kein Brief von
Duschka dabei. Verzweiflung, wollte telegraphieren, save your soul, zu Schmitz, der nicht
zu Hause war. Zu Fräulein Tadić in die Reuterstraße, sie war nicht da, zu Rick, wo ich sie
traf; mit Rick etwas über Villiers geplaudert. Dann Fräulein T. nach Hause begleitet, sie
gebeten zu schreiben (sie sagte: Frau Todor[ović] war bei den Russen in Agram). Ich blieb
ziemlich ruhig, nach Hause, das Gespräch mit Rick hatte mich belebt, konnte etwas arbei-
ten, las die Zeitung, wurde allmählich ruhig, bis ich suchte, früh zu schlafen.812 Angst wegen
Duschka. Immer wieder in schrecklicher Qual. Krotkaja813.

Donnerstag, 28. 2. 24
Wieder kein Brief, völlig aufgerieben und verzweifelt. Vormittags meine Vorlesung, nach-
mittags 3–4 eine Stunde angefügt, dann zu Hause, wieder vergebens gewartet, gezittert.
Referendar Zimmer kam, ich sprach über seine Arbeit 814, dann mit Fräulein v. Wandel zur
Universität, Referat R., sehr sympathisch über berufsständische Verfassung, nachher mit
Jup zum Bürgerverein, Wein getrunken, früh nach Hause, gut unterhalten, dadurch be-
ruhigt. Es schneit und ist winterlich kalt.

811 Politisch-satirische Wochenzeitschrift, 1896 von Albert Langen gegründet.


812 Siehe Notiz vom 27. 2. 1924 in: Teil III, S. 521 f.
813 Originaltitel von Dostojewskis Roman „Die Sanfte“ (1876), s. Notiz vom 9. 2. 1924 in: Teil III,
S. 513 f.
814 Siehe Anm. 616.

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Februar/März 1924 321

Freitag, 29. 2. 24
Mittags die letzte Vorlesung. Nachher mit Schnors, dem Nationalsozialisten, auf den
Venusberg, der Spaziergang tat mir gut. Nahm ihn nicht mit zum Kaffee, was ich sonst
getan hätte. Um 5 Uhr kam endlich der Brief von Duschka815. Über die Zeit vom 13.–25.
Ich war glücklich, erleichtert, schrieb ihr gleich. Abends holte ich Fräulein Tadić, hörte mit
ihr bei Schmitz etwas Musik, begleitete sie in der Kälte und im Schnee [zurück], darauf um
10 nach Hause. Brachte noch den Brief für Duschka zur Post (mit der lustigen Karikatur
über die Anerkennung Sowjetrusslands), trank ein Glas Bier im Wartesaal, dann müde zu
Hause eingeschlafen.

Samstag, 1. 3. 24
Froh, ausgeschlafen zu sein, sehr behaglich. Fräulein Esser kam, dann Gerber, mit dem ich
Bücher zur Bibliothek brachte. Dann eine Wohnung besehen, die mir gefiel (Buschstraße 16
bei Frau Schniewind), unternehmend <…> Schnitzler um 10.000 Mark bitten, Anna rufen
usw. Ein paar Stunden hielt das an. Nach dem Essen mit Rick einen Spaziergang zum
Venusberg, erzählte von seinem spanischen Leben, tat mir leid, Oberlehrer[schicksal], im
Grunde lächerlich, aber ich wäre vielleicht noch viel [armseliger]. Wir gingen zu mir, tran-
ken Kaffee, er las Villiers vor (Tribulat Bonhomet 816). Sehr nett, aber im Grunde gleichgül-
tig, dann traurig bei mir zu Hause zu Abend gegessen, 5 Briefe geschickt (Kiener, Wittig,
André, Hegner, Koellreutter, Karte an Janentzky). Brachte sie zur Post, zu Hause dann zu
Mittag.

[Am oberen Rand notiert] Dienstag 11. 3. 24 Dr. Fritz Kiener bei mir

Sonntag, 2. 3. 24
Wie schnell ändert sich bei mir alles. Jetzt kam ich mir lächerlich vor mit meinen Versuchen,
Geld zu leihen für eine Wohnungseinrichtung; schweigen, schweigen. Ein paar möblierte
Zimmer, vielleicht das juristische Seminar etwas herrichten, schweigen, mir tut das Herz
weh. Lächerlicher Narr. Morgens den Tisch aufgeräumt, Zeitungen gelesen, über den
Ludendorffprozess817. [Dazu] die Rede von Kriebel 818, seinem Schwager, gebracht, nach
dem Essen ein paar Schritte mit Vormfelde, müde zu Hause, gefroren, Kaffee getrunken,
müde auf der Ottomane, Sonninghaus, die Bilder von Grosz <?> besehen, eine Dissertation
(vom Dahl) im Zimmer von Frau v. Wandel gelesen, traurig und einsam, Léon Daudet über
Le pays des parlementeurs von 1919 819. Harmloser Hanswurst, der sich durch die <…>

815 Siehe Notiz vom 29. 2. 1924 in: Teil III, S. 523.
816 Erzählungen, 1887 erschienen.
817 Der Prozess gegen Hitler, Ludendorff u. a. vor dem Münchner Volksgericht wegen deren Putsch-
versuchs vom November 1923 war am 26. 2. 1924 eröffnet worden.
818 Hermann Kriebel (1876–1941), Oberstleutnant a. D., Freikorpsführer, Mitangeklagter im Münch-
ner Prozess, mit Hitler 9 Monate Festungshaft in Landsberg/Lech, 1934–1937 Generalkonsul
I. Klasse in Shanghai, 1938–1941 MdR.
819 Léon Daudet, Le pays des parlementeurs, Paris 1901 (!). Daudet (1867–1942), franz. Schriftsteller
und politischer Publizist, war Mitbegründer der Action française (vgl. auch TB II, S. 131 f.,
Anm. 160).

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322 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

beweisen will, was er bedeutet. Traurig in der kleinen Konditorei an der Godesberger Bahn
gesessen, erbärmliches Dasein. [Beschloss,] zu Schmitz zu gehen, aber aus einsamem Trotz
tat ich es nicht. Also wieder zu Hause. Schrieb noch ein paar Briefe820, beruhigt und mit
gutem Gewissen zu Bett.

Montag, 3. 3. 24
Nach Köln (um 9 Uhr) mit der Rheinuferbahn, schöne Fahrt, fröhlich an Duschka gedacht,
langweiliges Examen, konnte leider den guten Salm nicht retten, obwohl ich es versuchte
(Landsbergs Ressentiment, weil zu <…>), nach dem Examen kam Jup. Wir tranken bei
Reichard821 eine Tasse Kaffee, Zimmer hatte mir seine Arbeit gegeben, ich fuhr mit vielen
Zeitungen nach Bonn zurück. Zu Hause viele Briefe, ein Brief von Duschka, von Wittich,
von dem <…> Studenten Klein822, Georg Eisler. Während ich sie öffnete, kam Schmitz, ich
schickte ihn weg und las für mich allein den Brief von Duschka, der wunderschön war. Ich
war beglückt und getröstet, befreit von allen Sorgen, schrieb ihr einen schönen Brief, den
Fräulein Tadić mitnehmen will, und fuhr zur Reuterstraße, hörte aber, dass Fräulein T. nicht
fährt, aß dann im Bürgerverein schön zu Abend, wurde aber müde danach, dann zu
Schmitz, von seinem Vortrag gesprochen, den er in Köln über religiöse Musik halten will; er
spielte noch das Andante823, wunderbar; müde nach Hause, glücklich durch den Brief von
Duschka.

Dienstag, 4. 3. 24
Ausgeschlafen, vormittags eine Reihe von Studenten, Fräulein Esser erzählte mir, dass man
davon spreche, ich würde von der Zentrumspartei als Kandidat aufgestellt. Sprach mit ihr
freundlich über ihre Dissertation, noch mit anderen Studenten, dann zur Universität, zum
juristischen Seminar. Nach dem Essen mit Vormfelde bei Rittershaus eine Tasse Schokolade,
hörte, dass ich über[all den Ruf] habe als geheimnisvoller, scheuer, gefährlicher Katholik,
blieb in der Universität bis 1/2 4; Doktorexamen langweilig, mit Göppert nachher zu Mül-
ler, nett unterhalten über Freudianismus, begleitete ihn nach Hause, dort schnell noch ein-
mal Kaffee getrunken, bei Neuß vorbei, wieder zu Hause, Brief an Wittich, Georg Eisler
(der in der nächsten Woche nach Hamburg kommen möchte)‚ Gratulation an den Kurator.
Dann Referat über Dissertationen, bis 12 Uhr nachts. Sehnsüchtige Liebe nach Duschka,
müde.

Mittwoch, 5. 3. 24
Referat über die Dissertationen geschrieben, nachmittags Doktor-Examen rer. pol. in der
Aula, dann Mansur getroffen bei Rittershaus. Es war noch ein Elberfelder824 Herr dabei, der
vorsprach. Angeregt nach Hause. Habe nach Heisterbach telephoniert, abends bei Schmitz,
er spielte schön das Andante, ich war den Tränen nahe und dachte an Duschka.

820 Darunter ein Brief an Duschka, am 3. 3. 1924 Frl. Tadić mitgegeben; s. Teil III, S. 524.
821 1855 gegründetes Kölner Café, ab 1905 im Haus Unter Fettenhennen 11 am Dom.
822 Siehe Anm. 35.
823 Siehe Anm. 709.
824 Elberfeld war bis zur Eingemeindung nach Wuppertal 1929 eine selbständige bergische Großstadt.

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März 1924 323

Donnerstag, 6. 3. 24
Einiges erledigt. Um 11 fröhlich mit der Zeitung (Kaas hatte im Reichstag von Ludendorffs
Anti-Affekt gesprochen, wie schön825), mit der elektrischen Bahn nach Oberdollendorf, in
Heisterbach826 das Zimmer von Duschka. Ich schlief also an derselben Stelle, an der sie
schlief! Nach dem Essen etwas ausgeruht. Dann schöner, langer Spaziergang über Nettes-
heimer Weg <?> über die Chaussee, Margarethenhof 827, Rosenau zurück. Etwas müde ge-
worden. Schrieb abends nach dem Essen einen schönen, langen Brief an Duschka. Früh ins
Bett, bald eingeschlafen, gut erholt.

Freitag, 7. 3. 24
Bis 10 im Bett, großartig ausgeruht, vormittags auf dem Petersberg, wundervoll, der Grä-
berwald hinter Heisterbach, die alten Mönche erkannt, freute mich, das Duschka zu schrei-
ben. Nach dem Essen ausgeruht, Gr<?> gelesen, auf Neuß gewartet, der aber erst um 1/2 5
kam. Wir gingen zur Rosenau, sprachen über politische Dinge, die Auflösung des alten
Zentrums, die Führerlosigkeit, aßen zu Abend, tranken eine teure Flasche Wein, disputier-
ten über die Realität der Auferstehung des Fleisches 828, begleitete Neuß zur Bahn, um 10
nach Hause zurück, degoutiert, Flucht zu Duschka, schrieb ihr noch einen schönen Brief.
Nachts geiler Traum: <…> grauenhaftes Gefühl der Menschheit.

Samstag, 8. 3. 24
Um 1/4 8 auf, um 9 von Oberdollendorf nach Bonn zurück, Zeitungen gekauft, fröhlich
nach Hause, eine Menge Briefe: von Duschka, am Zehnhoff 829 (der mich herzlich einlädt, zu
meiner großen Freude), Carroll usw. Duschka schrieb wunderbar, sie denkt an die Zeit, da
ich sie liebte und sie mich nicht, welch Schreck das für mich gewesen sein musste und was
sie mir dafür schuldig ist. Rührend, wunderbares Kind. Erledigte viel, ein paar Studenten,
nach dem Essen Haare schneiden, zu Rick, kleiner Spaziergang, dann las er mir beim Kaffee
eine Stelle aus Othello vor. Ich ging mit ihm zur Stadt, traf den Oberlehrer Schlosser, sprach
mit ihm bei Rittershaus über seine Dissertation830; müde zu Hause, bei Schmitz vorbei, aber
schläfrig und müde. Um 1/2 10 zu Hause, nachts für Reise vorbereitet; todmüde. Der wun-
derbare Brief von Duschka.

825 Schmitt assoziierte dies mit dem Anfangssatz seiner Katholizismusschrift: „Es gibt einen anti-
römischen Affekt“.
826 Siehe Notizen vom 6. 3.1924 in: Teil III, S. 525.
827 Bei Ittenbach.
828 Siehe auch Notiz vom 9. 3.1924 über das Gespräch mit dem „katholischen Theologen“ (i. e. Neuß)
vom 7. 3.1924 (s. Teil III, S. 525 f.), in dem dieser offenbar die herkömmliche Ehezwecklehre refe-
rierte.
829 Brief vom 6. 3. 1924 (RW 265-18485). Darin schreibt am Zehnhoff, er habe von Kisky gehört, dass
Schmitt einen Vortrag über die Befugnisse des Reichspräsidenten halten werde, und lädt ihn zu sich
ein. Auch Kollege Martin Wolff (s. Anm. 210) wolle mit Schmitt – über dessen Parlamentarismus-
aufsatz – sprechen.
830 Siehe Anm. 393.

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324 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Sonntag, 9. 3. 24
Gut ausgeschlafen, schönen Brief an Duschka geschrieben831, schnell auch noch an am
Zehnhoff, zur Bahn gelaufen. Um 10. 25 bequem, im Coupé 2. Klasse, den Rhein hinauf
gefahren, fröhlich, unternehmend832, in Mainz angekommen, am Bahnhof gegessen, in
einem Café, dann kam Kiener, auch Wittich (der mich an Onkel J<?>) erinnerte). Wir fuh-
ren zum Kaffee, nahmen ein Zimmer im Hotel Stadt Coblenz833; trafen uns dann, gingen am
Rhein spazieren, sprachen natürlich über den fallenden französischen Franc. Allen impo-
nierte die deutsche Industrie, im Café nett unterhalten, Wittich ist <…> von elsässischen
Hypothekenpfandbrief-Besitzern. Dann zum Essen in die Stadt Coblenz, nett unterhalten,
Wittich <…> über die 3 Russen. Die Wendung der Idee, Kiener begleiteten wir um 9 nach
Hause, dann noch mit Wittich eine Flasche Wein, über den Begriff der Nation gesprochen.
Anregend, um 1/2 12 Uhr ins Bett.

Montag, 10. 3. 24
Morgens um 1/2 8 von dem Geräusch auf der Straße wach. Mit Wittich gefrühstückt, dann
durch die Stadt, den Dom besehen, dachte an Duschka, und kaufte ihr eine Ansichtskarte,
dann trafen wir Kiener, gingen noch etwas spazieren, aßen in der Stadt Coblenz zu Mittag,
nach dem Essen in einem Café über Deutschland und den politischen Mord gesprochen,
müde, Kiener war auch müde, entschloss mich, schon um 6 Uhr zu fahren, fragte Kiener
nach seinem Vortrag, bezahlte die Rechnung, ging zum Bahnhof, Wittich fuhr um 1/2 6, ich
sprach noch mit Kiener, er war rührend, freundlich, begleitete mich an den Zug, ich fuhr
2. Klasse, las Léon Daudet, schon um 1/2 9 in Bonn, etwas enttäuscht, weil kein einziger
Brief da war. Wollte erst ausgehen, dann aber doch zu Hause geblieben. Ziemlich müde.
Vertrauensvolle Liebe zu Duschka.

Dienstag, 11. 3. 24
Morgens ein Brief von den jungen Katholiken, die mir an 2. Stelle ein Mandat anbieten.834
Es erregte mich doch. Behaglich gefrühstückt, später gelesen, zu Landsberg, er soll eine
schöne Wohnung bekommen. Der junge Landsberg bat um eine Empfehlung an Frau v.
Weinberg in der Sache Scheler, die ich ihm gern gab (aber nicht an Frau v. Schnitzler, sie ist
mir zu schade dafür). Nach dem Essen ausgeruht (mein Knie tut weh), zu Schmitz, einiges
erledigt, bei Schilling, der sehr freundlich, Billetts bestellt, die Wohnung Endenicher Allee

831 Siehe Auszug des Briefs in: Teil III, S. 526.


832 Siehe Notiz vom 9. 3. 1924 in: Teil III, S. 525.
833 Noch heute bestehendes Hotel in Mainz, Rheinstraße 47–49.
834 Die deutschen Windhorstbünde und die Jungakademiker hatten am 29. 2.1924 den Reichspartei-
vorstand des Zentrums aufgefordert, neben Hermann Platz, Friedrich Dessauer und Helene Weber
auch Schmitt auf einem sicheren Listenplatz zu nominieren; Schmitt hat die Kandidatur jedoch
„abgelehnt [am] 6/3 [1924]“, wie er selbst auf dem Schreiben (RW 265-21438) vermerkte, das dem
o. g. Brief des Zentrumspolitikers Hans Schauff an Schmitt vom 6. 3. 1924 (RW 265-12308) beilag;
vgl. Koenen, Der Fall Carl Schmitt, S. 39 Anm. 88, 45 Anm. 118; Mehring, Aufstieg und Fall,
S. 622 Anm. 47.

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März 1924 325

20 besehen, sehr schön, glücklich, dass das in Ordnung zu kommen scheint835. Die Frau war
eine Jüdin.836 Merkwürdig. Dann zu Hause Briefe geschrieben, an Carroll, André, Klau-
sing 837; bei Schmitz zu Abend gegessen, über <…> und die <…> gut unterhalten, Gegensatz
von Romantik und <…>, um 10 zu Hause, noch herumgelesen, sehnsüchtig an Duschka
geschrieben. Heute Nachmittag, als der Briefträger kam und nichts von ihr brachte, wieder
dieser unheimliche Stich ins Herz.

Mittwoch, 12. 3. 24
Gut ausgeschlafen, Gerber, langweilig, herumnotiert, Zeitung gekauft (mit großer Freude
die Aussage von Kahr über Freyberg 838 gelesen), im juristischen Seminar; herrliches Wetter.
Nachmittags Examen vom Dahl. (Seit ich gehört, dass er eigentlich Schlopig839 heißt, ist er
mir ekelhaft), todmüde, diese (offenbar psychologische) Angst und Erschöpfungszustand,
zu Hause nichts getan, Kisky kam, dann Jup, wir gingen zusammen zum Bürgerverein,
tranken Wein, Vormfelde kam auch noch, sie rieten mir zu, ein Reichstagsmandat anzuneh-
men. Um 11 nach Hause, <…> Gespräch.

Donnerstag, 13. 3. 24
In Eile eingepackt, Schmitz kam und frühstückte, nachher auch nach seine Frau, rührend,
ich fuhr um 11 Uhr, in Köln waren Jup und Kisky und brachten mich zur Bahn, der Zug
war leer, ich fuhr 3. Klasse, müde, auf der Bank gelegen, um 10 Uhr in Bremen, Neuenhofer
war mit seinem Wagen an der Bahn, er hat ein wunderschön eingerichtetes Haus 840, wir
aßen zu Abend, alles so nett, unterhielten uns bis 1 Uhr, müde in das wunderschöne Bett.

[Am oberen Rand notiert] Bremen (13. 3. 24 bis 17. 3. 24 bei Neuenhofer); Hamburg 17. 3.
bis 25. 3. bei Eisler; Berlin 25. 3. bis 12. 4. 1924 bei am Zehnhoff

Freitag, 14. 3. 24
Behaglich ausgeschlafen, mit Frau Neuenhofer gefrühstückt, mit Auto zur Stadt, herum-
gegangen, an Duschka eine Karte geschrieben, Neuenhofer auf Büro. Die alte [Gesell-
schaft], nette gebildete Menschen, zu Hause zu Mittag, nachher gut unterhalten, abends
lange mit Neuenhofer geplaudert.

835 Tatsächlich mietete Schmitt diese Wohnung; der Umzug folgte offenbar während der Staatsrechts-
lehrertagung im April 1924; s. Eintragung vom 22. 4.1924.
836 Siehe Anm. 855.
837 Friedrich Klausing (1887–1944), Zivil- und Handelsrechtler, 1914 Dozent und nach dem 1. Welt-
krieg Kollege Schmitts an der Handelshochschule München, 1914–1918 Kriegsdienst als Leutnant
d. R., 1921 ao. Prof. in Frankfurt/Main, 1932 o. Prof. in Marburg, 1933 in Frankfurt/Main, 1940 in
Prag, 1943 Rektor ebd., 1944 wegen der Beteiligung seines Sohnes Friedrich Klaus am Attentat auf
Hitler vom 20. Juli 1944 entlassen, Suizid drei Tage vor der Exekution am 8. 8.1944.
838 Offenbar ging es um eine Aussage aus der Tagespresse, nicht aus Rothenbüchers Buch (s. Anm.
782).
839 Nicht ermittelt.
840 Das Haus stand in der Bürgermeister-Smidt-Straße 17.

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326 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Samstag, 15. 3. 24
Morgens beim Frühstück mit Neuenhofer über seine Dissertation841, was mich sehr belebte.
Wir aßen in der Stadt mit Beckmann und Müller 842 zu Mittag, Gespräch über die Deut-
schen, typisch, bis 6 Uhr, dann zu Hause zu Abend, wieder Wein getrunken, aber war
schon um 11 zu Bett.

Sonntag, 16. 3. 24
Vormittags im Ratskeller 843 mit Beckmann und Neuenhofer, sehr nett unterhalten, zu
Hause Essen mit Fräulein Heige <?> sehr langweilig. Müde, abends im Kabarett, russischer
Tanz, wütende Verachtung, verzagt, <…>, Verachtung, Herrschsucht, das alles wütend
gegen mich selbst gekehrt.

Montag, 17. 3. 24
Wollte um 1. 26 nach Hamburg fahren, der Zug fuhr aber erst 4 Uhr, daher Zeit, Tagebuch
zu führen, <…> mit Tränen in den Augen gehört. Ruhige Stunden im Zimmer von Neuen-
hofer, um 4 1/4 von Bremen nach Hamburg, im Zug eine Sängerin, der ich ihr Buch (Marie
Madeleine 844) zum Fenster hinauswarf, Koloratursängerin, die Königin der Nacht 845,
Gilda846 usw. Sie will mich morgen um 1/2 5 treffen. Eisler holte mich ab, sehr lustig, abends
Müller-Hartmann847. Müde zu Bett, ein schöner Brief von Duschka, den Schmitz mir als
Eilbrief von Bonn nachgeschickt hatte, eine rührende Karte von am Zehnhoff.

Dienstag, 18. 3. 24
Lange geschlafen. Brief an Duschka geschrieben, als ich fertig war, kamen 2 Briefe von ihr!
Gerührt und ergriffen. Wunderbares Kind. Ich schickte die Briefe ab, dann an den Rechts-
anwalt Meyer 300 Mark. Nach dem Mittagessen ausgeruht, mit Eisler zur Stadt, traf die
Sängerin (Frau Evers 848), trank mit ihr im Curio-Haus 849 Kaffee, sie erzählte ihre Geschichte
(mit einem Drogisten verheiratet), langweilig, es wird kalt, mein Knie tat mir wieder weh.
Dann zu Georg Eisler, <…> auf den Straßen, nach dem Abendessen mit der Kusine von
Eisler, Anna Kraus 850, über Husserl geschwätzt (er soll ein widerlicher Kerl sein, mit listigen

841 Nicht nachweisbar.


842 Beide nicht ermittelt.
843 Seit 1405 bestehendes Traditionsgasthaus in Bremen, Am Markt.
844 Marie Madeleine war das Pseudonym von Marie Madeleine Baronin von Puttkamer, geb. Günther
(1881–1944), die 1900, im Jahr ihrer Hochzeit mit einem um 35 Jahre älteren Baron, unter dem
Titel „Auf Kypros“ eine Reihe erotischer Gedichte veröffentlichte (1910 bereits in 37. Aufl.), die
sie schlagartig bekannt machte.
845 „Klassiker“ des Koloratursoprans in Mozarts „Zauberflöte“ (1791).
846 Koloratursoubrette in Verdis „Rigoletto“ (1851).
847 Robert Müller-Hartmann; vgl. TB I, S. 281.
848 Nicht ermittelt.
849 Bis heute bestehender Veranstaltungsort in Hamburg, Rothenbaumchaussee 11–15.
850 Anni(e) Kraus (1900–1991), Dr. theol., Publizistin und Übersetzerin, 1942 von Max Josef Mezger
katholisch getauft, 1928 Schmitts Privatsekretärin, nach Vorarbeiten „Über die Dummheit“
(Frankfurt/Main 1948) bzw. „Vom Wesen und Ursprung der Dummheit“ (Köln 1961) bei Karl

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März 1924 327

Augen, einem Gamsbart, wie schnell dieser Ruhm vergeht!) 851. Abends abergläubische
Sorge um Duschka. Sie schrieb, dass sie wieder Blut gehustet hat, schreckliche Angst. Ich
wüsste nicht, was ich tun sollte, wenn sie stirbt. Besah ihr Bild, erst war sie streng, dann
gütig und wunderschön.

Mittwoch, 19. 3. 24
Lange geschlafen, mit der Kusine von Eisler gefrühstückt, überflüssig, ich habe wirklich
Duschka immer vor Augen. Holte um 1/2 1 Eisler ab, nach dem Essen geschlafen bis 1/2 5,
dann für mich schön Kaffee und gearbeitet, herrlich, an Duschka ein paar Zeilen geschrie-
ben; es ist neblig und schreckliches Wetter. Fühlte mich etwas bedrückt. Abends Besuch
von Rosenbaum und seiner Frau, Geschwätz über Professoren, über Frau Eislers Bekannte,
eine Jüdin, die er vielleicht heiratet 852. Er begleitet sie nach Hause und kam abends um 1
noch zu mir, ich schlief erst um 3 Uhr ein.

Donnerstag, 20. 3. 24
Bis 11 geschlafen, dann zu Rosenbaum in die Bibliothek, mit ihm und Bertram853 im Rats-
keller 854. Gut unterhalten, nachmittags zu Eisler ins Büro, herumgelaufen, todmüde nach
Hause gegangen, mit Eisler gesprochen, traurig, als er die Etüde von Chopin düpierte, weg-
gegangen! Früh ins Bett, schrieb noch an Schmitz und Frau Geheimrat Franck 855.

Freitag, 21. 3. 24
Behaglich ausgeschlafen, 11 Uhr zu Bertram, schönes Büro. Bekam sehr interessante Akte.
Glücklich gearbeitet, fröhlich ein Wort an Duschka. Mit Bertram in den Ratskeller, dann

Rahner 1967 in Innsbruck promoviert mit einer Arbeit über den „Begriff der Dummheit bei Tho-
mas von Aquin und seine Spiegelung in Sprache und Kultur“ (Münster 1971).
851 Anni Kraus hatte bei Edmund Husserl in Freiburg i. Br. Philosophie gehört und ihr Studium damit
finanziert, dass sie dessen Vorlesungen fremdsprachigen Studenten erklärte. Die abschätzigen
Beschreibungen Husserls stehen im Gegensatz zu Kraus’ gutem Verhältnis zu dem Philosophen,
der ihr sogar eine Assistentenstelle angeboten hatte. Sie dürften also auf Schmitt zurückgehen. Vgl.
Waltraud Herbstrith (Hrsg.), Edith Steins Unterstützer. Bekannte und unbekannte Helfer während
der NS-Diktatur, Berlin 2010, S. 56 f.
852 Besagte muss Schmitt ebenfalls an diesem Tag getroffen haben (s. Eintragung vom 22. 3. 1924).
Gemeint ist Käte Basseches (1898–?), noch im selben Jahr geehelichte Freundin Georg Eislers, mit
der dieser vier Kinder hatte, außerdem die beiden 1928 adoptierten Kinder seiner frühverstorbenen
Schwester Julie (Lilly) Isay (1885–1920). Vgl. dazu Mehring, Hamburger Verlegerfamilie, S. 3, 9.
853 Alfred Bertram (1890–1937), Dr. iur., Prof., Hamburger Richter, 1920 Oberregierungsrat, 1927
Oberlandesgerichtsrat, 1929–1931 beisitzender Richter am Hanseatischen Oberverwaltungsgericht,
1931 Regierungsdirektor, 1928–1932 Vorsitzender und bis 1937 im Vorstand der 1885 gegr. Gesell-
schaft Hamburger Juristen. Vgl. ders., Hamburgs Zivilrechtspflege im neunzehnten Jahrhundert.
Festschrift hrsg. von der Hamburger Landesjustizverwaltung anläßlich des fünfzigjährigen Beste-
hens der deutschen Justizgesetze, Hamburg 1929.
854 Ratsweinkeller im (alten) Rathaus der Hamburger Bürgerschaft.
855 Witwe des Geheimen Regierungsrats Prof. Dr. Johannes Franck, geb. Nelke, die Vermieterin der
neuen Wohnung Schmitts in der Endenicher Allee 20.

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328 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

über die Straße, [eine Hure], sie war ekelhaft, lächerlicher Stolz über den Sieg, müde nach
Hause, nervös, abends nach dem Essen herumgesessen, traurig, bedrückt, Angst. Ich wollte,
ich wäre bei Duschka.

Samstag, 22. 3. 24
Nachts schlecht geschlafen, einziger Trost: in Treue Frau Duschka. Sie hat mich vor dem
Schicksal des Othello bewahrt; sie ist mein einziger Halt. Morgens gefrühstückt, wollte die
Brille wieder holen (welch abergläubische Sache! Die Brille!). Sie war aber nicht zu finden.
Kaufte mir ein Berliner Tageblatt: zufällig eine Rede [von] am Zehnhoff. Wie schön. Glück
verheißend. Zu Hause an Duschka geschrieben, behaglich, glücklich, Ruhe zu haben.
Schickte den Brief an Duschka856 ab. Nachmittags zu Bertram und dem Polizeiherrn, nette
aber überflüssige Unterhaltung über den Ausnahmezustand in Hamburg. Dann bei Bertram
2 Stunden auf seinem Büro, dann zum Hansatheater, Othello mit Wegener 857, ein wildes
Tier, Eisler war mit Fräulein Basseches 858 da, die heute Abend sympathischer war als Mitt-
woch, Wir aßen in einer Wirtschaft zu Abend, Unterhaltung über Othello. Sie verstand
nichts davon. Ich war müde, Angst vor dem weiteren Schicksal.

Sonntag, 23. 3. 24
Ziemlich ausgeschlafen, schöner Spaziergang mit Eisler, Gespräch über Ausnahmezustand,
er versteht nicht alles, fühle mich aber unbehaglich in Hamburg und werde froh sein, nach
Berlin zu kommen. Angst wegen des Referats, Angst vor Kelsen, nachmittags zu Rosen-
baum, Singer war auch da, ein sonderbarer Kerl, wirkt wie ein Gnom, hat aber einen guten
Kopf. Das Ganze fad und [langweilig]. Dann mit Eisler im Hansatheater, gelacht, besonders
über Radfahrkünstler. Müde zu Hause, über Kierkegaard (er wollte mir das Buch des Rich-
ters nicht schenken).

Montag, 24. 3. 24
Etwas gearbeitet, nervös, irritiert, plötzliche Geilheit, unter dem Vorwand, mir meine Brille
zu holen. Schön überwunden, spielte die Etüde von Chopin schön für mich, besah die Bil-
der von Duschka, herrlich, arbeitete etwas an dem Referat, langsam, vielleicht wird es doch
fertig. Nachmittags geschlafen. Abends mit Georg Eisler und Anna Kraus Hummer geges-
sen und schönen Burgunder getrunken, sie erzählte von der Jüdin Basseches, die Georg
liebt, dass sie pervers sei. Ich dachte immer an Duschka und war geistig abwesend. Zuviel
gegessen, konnte nicht einschlafen, dachte nach über den art. 48859.

Dienstag, 25. 3. 24
Nicht ganz ausgeschlafen, man packte mir ein, ich bin froh wegzukommen, wir fuhren zum
Dammtorbahnhof, eine langweilige Reise mit einem Hamburger Kommerzienrat, der eine
[Dame] unterhielt, ekelhaft, mein ganzer antibürgerlicher Komplex wurde wach, die Frau

856 Siehe Brief vom 21./22. 3. 1924 in: Teil III, S. 526.
857 Siehe Teil III, Anm. 269.
858 Siehe Anm. 852.
859 Das Thema von Schmitts Referat auf der Staatsrechtslehrertagung 1924; s. Anm. 919.

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März 1924 329

erinnerte mich an Frau v. Wandel, endlich in Berlin, am Zehnhoff holte mich ab, rührend
freundlich, wir fuhren in die Wohnung, ich fühlte mich sofort fröhlich und glücklich in die-
sen schönen Räumen. Abends um 11 ins Bett. Kein Brief von Duschka, eine kleine Ent-
täuschung.

Mittwoch, 26. 3. 24
Um 1/2 8 auf, ganz munter und fröhlich in die Staatsbibliothek, nicht viel gefunden, im
juristischen Seminar, Wolff und Smend zufällig getroffen und gut unterhalten, sehr froh
darüber, nachmittags mit dem Geheimrat Huber 860, sehr munter, abends zu Hause geblie-
ben, abends beim Minister am Bett, weil Fräulein Schröder ausgegangen war, um 11 ins
Bett.

Donnerstag, 27. 3. 24
Wieder fröhlich aufgestanden, in der Bibliothek des Justizministeriums gut gearbeitet über
die Entstehungsgeschichte, glaube mein Referat gut fertig zu bekommen. Nach dem Essen
etwas ausgeruht, die Haare schneiden lassen, in die Staatsbibliothek, eine schöne Stunde an
Duschka gedacht, auf den Kaffee gewartet und gelesen, abends mit dem Minister und
Geheimrat Wein getrunken, um 10 ins Bett, Brief von Walter Fuchs, Schmitz usw.

Freitag, 28. 3. 24
Ungeduldig und böse, weil kein Brief von Duschka da war. Morgens in die Bibliothek des
Justizministeriums, beim Staatssekretär Meister 861, aber nicht angekommen. Nach dem
Essen lange geschlafen, mit Fräulein Schneider 862 bei Kranzler 863 Kaffee. Traurig wegen
Duschka, dann zur Staatsbibliothek. Schön an Duschka geschrieben, Tagebuch geführt,
abends nach dem Essen zum Bahnhof, Eisler abgeholt, mit ihm traurig im Hotel, früh nach
Hause, er hat Magenschmerzen. Er hat mir einen Brief von Duschka mitgebracht. Ich war
plötzlich glücklich und erfreut. Las den Brief aber erst im Bett. Unbeschreiblich glücklich.
Dank dir, du wunderbare Mutter.

Samstag, 29. 3. 24
Mit Eisler im Hotel Bristol864 gefrühstückt, lange vergebens auf Jup gewartet, hin- und her-
gelaufen, schließlich fanden wir ihn auf seinem Hotelzimmer, ich freute mich über seine
Sicherheit und Ruhe, wir fuhren nach Dahlem, ich unterhielt mich mit den Kindern und der
französischen Erzieherin, die über die Russen sprach, unterdessen sprach Jup mit Frau

860 Siehe Teil I, Anm. 28.


861 Friedrich Wilhelm Meister (1870–1945), preußischer Verwaltungsjurist und Richter, 1903 Landrat
des Kreises Thorn, ab 1911 im Innenministerium tätig, 1918 Ministerialdirektor, 1924–1926 Staats-
sekretär, danach Senatspräsident des Preuß. OVG, 1933 Vizepräsident, 1935 in den Ruhestand ver-
setzt.
862 Nichte von Hugo am Zehnhoff; s. Teil I, Anm. 2.
863 Berühmtes, seit 1835 bestehendes Berliner Café, damals noch an der Ecke Unter den Linden/Fried-
richstraße.
864 1891–1943 bestehendes Berliner Hotel Unter den Linden 5–6.

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330 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Isay865 über ihre Krankheit. Ich freute mich über den guten Eindruck, den er machte. Wir
fuhren nach Berlin zurück, aßen bei Kempinski866 sehr gut, nach dem Essen geschlafen bis
5 Uhr, um 6 kamen Jup und Eisler ins Justizministerium, wir saßen im großen Saal, in wel-
chem der Flügel steht. Nachher tranken wir noch

[Am oberen Rand notiert] Berlin, bei Triepel (30. 3. 24)

einen Cognac, der Eisler guttat. Dann zum Staatstheater 867, Shaw Candida868 gesehen,
gelacht, aber leider flach und dumm (erst hatte ich Angst wegen Duschka)‚ dann bei Mit-
scher 869 schön zu Abend gegessen mit herrlichem Bordeaux, ich freute mich über Jup, kam
mir aber sehr dumm vor. Um 1/2 12 nach Hause und verabschiedet.

Sonntag, 30. 3. 24
Vormittags zu Triepel in den Grunewald 870 sehr nett unterhalten, freundlich aufgenommen.
In die Stadt zurück (im Autobus mit 2 Russinen, dachte traurig daran, dass ich diese schöne
Sprache niemals beherrschen werde). Ich muss bis 5. April Thesen formulieren. Nach dem
Essen geschlafen (Dr. Kisky ist da), mit am Zehnhoff und Fräulein Schneiders sehr netten
Neffen im großen Saal (wo der Flügel steht), um 6 kam Eisler, wir gingen im Tiergarten ein
paar Schritte spazieren, dann zum Lehrter Bahnhof 871, ich freute mich, wie schön er über
Jup spricht und dass auch seine Schwägerin den Jup einen bedeutenden Menschen genannt
hat. Wir verabschiedeten uns herzlich, ich ging in großer Einsamkeit – magna civitas, magna
solitudo872 – nach Hause und dachte sehnsüchtig an Duschka. Abends mit am Zehnhoff
Wein getrunken, bis 1/4 vor 1, aß etwas zu viel, wenn auch nicht aus Scheu wie sonst. Zum
Glück kam Kisky, um 1/2 1 zu Bett.

Montag, 31. 3. 24
Etwas sensibel und nervös auf den Wein, nach dem Frühstück (zum Glück für mich allein)
in die Staatsbibliothek. Dort mich innerlich zurechtgemacht; ein paar Notizen, Tagebuch
geführt, sodass ich mich wohl einigermaßen in Ordnung fühlte, an Duschka geschrieben.
Nach dem Essen geschlafen, bei Aschinger 873 Kaffee getrunken, in der Staatsbibliothek eine
Stunde gut gearbeitet, dann zog es, Thesen formuliert, unternehmend, aber geil, doch ging

865 Offenbar die Mutter oder eine Schwester von Hermann Isay (1873–1939), dem Schwager Georg
Eislers.
866 Berliner Restaurant, Dependancen in der Leipziger Straße und am Kurfürstendamm 27.
867 Staatliches Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt, 1821 als Königliches Schauspielhaus
eröffnet.
868 Candida, Komödie von George Bernard Shaw (1898).
869 Weinstube Cramer und Mitscher, Berlin, Französische Straße 18.
870 Humboldtstraße 34.
871 Einer von ehemals elf Kopfbahnhöfen in Berlin am Platz des heutigen Hauptbahnhofs. Von da aus
fuhren die Züge nach Hamburg und Personenzüge über Lehrte nach Hannover.
872 Große Stadt, große Einsamkeit – eine lateinische Sentenz.
873 Berühmter, 1892 als „Bierquellen“ (Stehbierhallen) gegründeter Berliner Gastronomiebetrieb an
verschiedenen Standorten.

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März/April 1924 331

es gut. Kaufte Blumen für die Nichte 874, schickte Jup ein Telegramm. War krank, depri-
miert, kleidete mich abends um, Abendessen und Bowle, weil die Minister für den <…>
haben. Nett unterhalten mit der neuen Tschechin Kapky875, einer jungen Schauspielerin,
aber schließlich doch langweilig, sie erinnerte mich etwas an Duschka, aber nur im slawi-
schen Typus. Um 10 schon ins Bett. Den Regierungspräsidenten Belzer aus Sigmaringen876
kennengelernt, ein sympathischer, drolliger Kerl, ich redete von den deutschen Corpsstu-
denten877 und [vom] Katholizismus.

Dienstag, 1. 4. 24
Morgens frühstückten wir mit dem Minister zusammen. Dann ging ich zur Bibliothek und
arbeitete nett. Werde aber kaum fertig. Wurde nervös. Pohl878 rief an, Verabredung für
Donnerstagnachmittag. Große Sensibilität. Wartete vergebens auf den Anruf von Smend.
Misstrauisch. Mittags lange aufs Essen gewartet, müde. Brief von Blei, Frankfurter Zeitung
usw. Fuhr nachmittags um 3 zu Blei, traf ihn nicht zu Hause 879, teilte ihm aber mit, dass ich
im Blauen Vogel880 sei. Dann zu Hause 2 Stunden todmüde geschlafen, gut ausgeruht, im
Café Imperator 881 (wo ich mit Kahl882 war), Kaffee getrunken, Sensibilität, produktiv, zu
Hause, nach dem Essen im Ministerauto mit Fräulein Schneider zum Blauen Vogel, dort mit
dem Präsidenten Belzer und Fräulein Kapky das russische Kabarett angehört, sehr unter-
haltend, Blei war auch da, ging aber nach dem Theater mit seiner Braut nach Hause (trau-
rige Sache). Wir waren bei Horcher 883 und aßen gut, ich gab viel Geld aus, im Auto nach
Hause, Fräulein Kapky an die Dahlemer Straße 884 gefahren. Um 1/2 2 zu Hause. Elend.

Mittwoch, 2. 4. 24
Nicht ausgeschlafen, den Vormittag mit Besuchen ausgenützt, beim Staatsekretär Meister
im Preußischen Ministerium des Inneren. Gut unterhalten, ein großer Mensch mit guten

874 Siehe Anm. 862.


875 Nicht ermittelt.
876 Emil Belzer (1860–1930), Dr. iur., Zentrumspolitiker, ab 1895 im Justizdienst, 1904 Amtsgerichts-
rat in Sigmaringen, u. a. 1905–1913 für Hohenzollern Mitglied des Preuß. Abgeordnetenhauses,
1906–1918 Mitglied des Reichstags, 1919–1926 Regierungspräsident in Sigmaringen.
877 Belzer war 1880 im Corps Hasso-Borussia in Freiburg i. Br. aktivgeworden, während Schmitt ein
„Wilder“, d. h. kein Verbindungsstudent war.
878 Obwohl Ordinarius in Tübingen, dürfte es sich um Heinrich Pohl (s. Anm. 64) handeln, der – wie
die kurz darauf erwähnten Professoren Smend, Kahl und Jacobi – zur Vereinigung der Deutschen
Staatsrechtslehrer gehörte und wenige Tage später an der Jenenser Tagung teilnahm. Schmitts „Sen-
sibilität“ bezog sich offenbar auf seine Thesen, die er mit den Kollegen vorab besprechen wollte
(s. Eintragung vom 5. 4. 1924).
879 Blei wohnte in Berlin-Wilmersdorf, Regensburger Straße 26.
880 „Der Blaue Vogel“ war ein bis 1933 bestehendes dt.-russ. Emigranten-Kabarett in Berlin, Goltz-
straße 9.
881 Berliner Café in der Friedrichstraße.
882 Wilhelm Kahl (1849–1932), Staats-, Straf- und Kirchenrechtler, 1920–1932 Mitglied des Reichstags,
1879 o. Prof. in Rostock, 1883 in Erlangen, 1888 in Bonn, 1895–1922 in Berlin.
883 Ab 1904 von Gustav Horcher (1873–1931) betriebenes Berliner Restaurant in der Luther-
straße 21.
884 Recte Dahlemer Weg, Berlin-Lichterfelde und -Zehlendorf.

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332 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Manieren, die mir ausgezeichnet gefielen, dann zu Hause nach dem Essen bis 4 geschlafen,
um 5 zu Blei, Tee getrunken, seine Braut885 gesehen, nett unterhalten, für Freitagabend ver-
abredet, Karte von Duschka [erhalten], wieder zu Hause, Schwätzerei mit Fräulein Schnei-
der, die mir langweilig wird, nach dem Essen etwas Bier getrunken, um 9 Uhr schon ins
Bett und bald eingeschlafen.

Donnerstag, 3. 4. 24
Um 8 aufgestanden, Kisky versprochen, zum Kultusministerium zu gehen, dann in der
Bibliothek des Justizministeriums, an Duschka geschrieben, etwas gearbeitet, nicht viel.
Engel. Die Zeit vergeht unheimlich. Glücklich über die Karte von Duschka, sie ist mein
guter Engel. Traf nachmittags im Englischen Café886 <?> Hel[l]a von P[arwe]ntschik887 <?>.
Nachmittags mit Pohl bei Kranzler, gut unterhalten, aber eigentlich überflüssig, hörte, dass
Schücking888 mich einen Bösewicht genannt hat, alles ist lächerlich politisch taktiert, ekel-
haft. Abends frühzeitig zu Bett, nicht gleich eingeschlafen.

Freitag, 4. 4. 24
Morgens im Ministerium des Inneren auf Badt 889 gewartet, an Duschka im Wartezimmer
schön geschrieben, Badt nicht getroffen, dann Brille geholt bei Ruhnke 890 usw. Um 11 ver-
gebens zum Kultusministerium, noch etwas in der Staatsbibliothek, geschrieben, nach dem
Essen um 3 zum Imperator, Hela getroffen, auf den Abend bei Mitscher verabredet, merk-
würdig, ohne dass ich eigentlich selbst wollte. Eine Ärztin, verheiratet, 2 Kinder, manier-
lich, seltsam891, sie begleitete mich in einer rührenden Weise, ich ging dann zu Hugo
Preuß892, unterhielt mich gut 2 Stunden mit ihm in seiner Wohnung, angeregt nach Hause,

885 Im Brief an Schmitt vom 6. 7. 1926, in: Blei, Briefe an Carl Schmitt 1917–1933, S. 70 f., wird der
54 Jahre alte Blei die Trennung von dieser ungenannten Frau, „dreieinhalb Jahre Motor meines
Daseins“, beklagen.
886 Berlin-Charlottenburg, Kurfürstendamm 12.
887 Nicht ermittelt.
888 Walther Schücking (1875–1935), Völkerrechtler und pazifistischer Politiker, 1900 ao. Prof. in Bres-
lau, 1902 in Marburg, 1903 o. Prof., 1919–1928 Mitglied des Reichstags, Delegierter bei den Ver-
sailler Friedensverhandlungen, 1921 als Nachfolger von Hugo Preuß o. Prof. der Handelshoch-
schule Berlin, 1926–1933 in Kiel, ab 1930 bis zu seinem Tod Richter am Ständigen Internationalen
Gerichtshof in Den Haag.
889 Hermann Badt (1887–1947), Dr. iur., preußischer Beamter im Ministerium des Innern und aktiver
Zionist, als erster Jude nach dem 1. Weltkrieg Regierungsassessor, 1920 Ministerialrat, 1922–1926
Mitglied des preuß. Landtags (SPD), 1927 Ministerialdirektor und Leiter der Rechts- und Verfas-
sungsabteilung, 1926–1932 Bevollmächtigter der preußischen Staatsregierung beim Reichsrat, nach
dem „Preußenschlag“ vor dem Staatsgerichtshof, 1933 Emigration nach Palästina.
890 Damals „größtes optisches Spezialgeschäft“ mit 34 Filialen in Deutschland und in der Schweiz, in
Berlin (Mitte) in der Wallstraße 1 ansässig.
891 Hel(l)a von Par(u)wentschik oder Parubentschik, vermutlich identisch mit der in TB III „Hella
Ehrik“ (vgl. ebd., S. 18 Anm. 135, 501) genannten Berliner Geliebten Schmitts (und Ernst Jün-
gers?), wahrscheinlich in Posen geboren, in akademisch-intellektuellen, gerade auch konservativ-
revolutionären Kreisen verkehrende demi-monde-Dame ohne festen Wohnsitz.
892 Hugo Preuß (1860–1925), Staatsrechtler und Politiker, Mitbegründer der Deutschen Demokra-
tischen Partei (DDP), 1906–1921 Prof. an der Handelshochschule Berlin, 1918 Rektor, ferner als

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April 1924 333

zu Abend gegessen, Baron Hubert v. Schorlemer 893 war dabei, dann zu Mitscher, etwas
gewartet; Blei kam und erzählte, er war nett und ich hatte ihn wieder gern. Um 9 kam Hela
schon, gutes Kind, Blei ging 1/2 10 weg, ich blieb mit ihr, wir tranken, sie wurde zärtlich,
immer mehr, schließlich im Auto an dem Christlichen Hospiz 894 herumgefahren, Central-
Hotel895, die ganze Nacht, 5 mal. Sie war in Ekstase, rief immer „wie süß“, erzählte von
ihrer Kindheit, dass sie Comtesse ist, ich war innerlich gleichgültig und reserviert, man
kann nicht einmal sagen: schlechtes Gewissen. Morgens um 1/2 9 ging ich weg, ins Ministe-
rium zurück. Das Kraftgefühl nach einer solchen Nacht.

Samstag, 5. 4. 24
Rasiert, gefrühstückt, dann etwas ausgeruht, umgekleidet, um 11 ein Brief von Duschka, der
mich rührte. Ich gehöre ihr, trotz allem. Zum Kultusministerium, Ministerialrat Richter 896,
wunderschön unterhalten, freute mich, dagewesen zu sein, dann zum Ministerium des Inne-
ren, sehr schön und angeregt mit dem Ministerialrat Badt. Nach dem Essen etwas aus-
geruht, Brief an Duschka nach Panitz897 <?>, um 1/2 4 zu Smend nach Nikolassee 898, wun-
derschöner Nachmittag, Kaffee getrunken, Spaziergang zum Kleist-Grab899, über die
Privatisierung der Sakramente, über Bogisić900, bei ihm zu Abend gegessen, kam kaum
dazu, meine Thesen vorzulesen. Um 11 brachte er mich zur Bahn, rührend, guter Freund,
ich war beglückt. Müde abends noch ein paar Worte mit Kisky, dann zu Bett. Gierig nach
der Comtesse.

Staatssekretär im Reichsamt des Inneren mit dem Entwurf der Reichsverfassung betraut, Februar–
Juni 1919 erster Reichsminister des Inneren der Weimarer Republik, 1919–1925 Mitglied der
Preuß. Landesversammlung und des Preuß. Landtags. Schmitt war zweiter Nachfolger auf dessen
Lehrstuhl an der Handelshochschule und hielt dort am 18.1. 1930 eine vielbeachtete Erinnerungs-
rede. Vgl. Schmitt, Hugo Preuß in der deutschen Staatslehre, Die Neue Rundschau 31, H. 12 (März
1930), S. 289–303; ders., Hugo Preuß. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staats-
lehre (= Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, 72), Tübingen 1930 [durchgesehener, ver-
mehrter Text mit Fußnoten].
893 Hubert Freiherr von Schorlemer-Alst (1856–1930), Militärschriftsteller und Übersetzer, Köngl.
Sächs. Oberleutnant a. D.
894 Hotel der Zentralverwaltung des Vereins für Berliner Stadtmission am Bahnhof Friedrichstraße,
Ecke Albrechtstraße 8/Marienstraße 16–17.
895 Erstes Berliner Großhotel, 1880 eröffnet, laut Eigenwerbung „The leading hotel of Germany“.
896 Werner Richter (1887–1960), Germanist, Prof. Dr. phil., 1920–1932 Ministerialdirektor im Preußi-
schen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, ab 1925 Leiter der Hochschulabtei-
lung, 1936 Emigration in die Schweiz, 1939 in die USA, 1949 Rückkehr nach Deutschland.
897 Nicht ermittelt.
898 Smend wohnte damals in der Prinz-Friedrich-Leopold-Straße 45, ab November 1924 in der Teuto-
nenstraße 1.
899 Die Grabstätte, bereits 1889 von Theodor Fontane als „vielbesuchte Pilgerstätte“ beschrieben, be-
findet sich in Berlin-Wannsee, Bismarckstraße 2/4.
900 Valtazar Bogišić (1834–1908), serbischer Jurist, bekannt für seine Forschungen zum Gewohnheits-
recht und als Verfasser des Allgemeinen Vermögensgesetzbuches des Fürstentums Montenegro
(1891).

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334 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Sonntag, 6. 4. 24
Froh, ausgeschlafen zu sein. Behagliches Frühstück, Thesen schön formuliert, wenigstens
die ersten beiden, sie am Zehnhoff vorgelesen, Karte an Duschka, die Thesen auf der
Maschine geschrieben, an Triepel nach Eisenach geschickt, an Jacobi 901, ein paar Karten.
Behaglich zu Bett, bis 1/2 6 geschlafen, im Zentralhotel Kaffee, wütend über die Preise,
ekelhaft, gelegentlich Sehnsucht nach Hela, immer mit dem Gefühl, dass das alles nichts
ist gegen Duschka. Abendessen mit Fräulein Kapky, nett unterhalten, überflüssig, Wein
getrunken, Fräulein Schneider kam aus der Oper Tiefland 902 mit Kisky, sie wohnte bei ihm,
blieb bis 12 beim Minister, dann zu Bett. Innerlich gleichgültig, oft geil, froh, die Thesen
abgeschickt zu haben.

Montag, 7. 4. 24
Schön gebadet, etwas müde davon, herrlicher Kaffee zum Frühstück, etwas mit Kisky
geschwätzt, dann in das Arbeitszimmer, an Pohl telephoniert, für heute Abend abgesagt,
kam nicht recht zum Arbeiten, schließlich um 1/2 11 in die Bibliothek des Ministeriums.
Mich innerlich in Ordnung gebracht. Dann in der Staatsbibliothek gearbeitet. Nachmittags
von 3 bis 1/2 5 im Café Imperator auf Hela gewartet, ging weg, begegnete ihr im letzten
Augenblick noch, als sie kam. Scheußlich. Sie blieb bis 6. Dann zu Hause, vergnügt, mit
Smend, dem ich das Justizministerium zeigte, zu Mitscher, schön gegessen, aber teuer, Blei
und Hela kamen auch, Blei sprach ziemlich dumm, Hela ließ sich auf die Schweinerei ein.
Mir war das widerlich. Wir brachten Blei an den Autobus, dann mit Hela zum <…>hotel,
schließlich wieder ins Central-Hotel. 2 mal wunderbar. Um 3 Uhr nach Hause.

Dienstag, 8. 4. 24
Holte Hela um 10 Uhr ab, wir fuhren mit der Stadtbahn nach Erkner903, den ganzen Tag bei
herrlichem Wetter draußen, abends um 1/2 8 wieder zu Hause. Sie ist freundlich und gut,
ich zweifle, ob sie wirklich das ist, was sie sein will. Dachte viel an die schöne Frau. Abends
mit am Zehnhoff, Blank904; früh ins Bett.

Mittwoch, 9. 4. 24
Etwas in der Staatsbibliothek entworfen, es geht langsam, schlechtes Gewissen. Nach dem
Essen ausgeruht, um 3 mit Hela, die müde von der Klinik kam. Im Buchladen meinen Par-
lamentarismus gekauft, zu Smend gebracht. Den ganzen Nachmittag bei ihr, schließlich im

901 Erwin Jacobi (1884–1965), Staats-, Kirchen- und Arbeitsrechtler, ab 1912 Privatdozent in Leipzig,
1920–1955 o. Prof. ebd. (1933–1945 Lehrverbot), zusammen mit Schmitt und Bilfinger Vertreter
der Reichsregierung im Prozess „Preußen contra Reich“; vgl. Gabriel Seiberth, Anwalt des Rei-
ches. Carl Schmitt und der Prozess „Preußen contra Reich“ vor dem Staatsgerichtshof (= Zeitge-
schichtliche Forschungen, Bd. 12), Berlin 2001. Schmitt hatte Jacobi spätestens 1922 kennengelernt
und seitdem den Kontakt zu ihm gepflegt; vgl. Otto (s. Anm. 772), 33–43. Zu Jacobi vgl. ders., Von
der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb: Erwin Jacobi (1884–1965), Tübingen 2008.
902 Musikdrama von Eugen d’Albert (Uraufführung 1903).
903 Kleinstadt südöstlich von Berlin.
904 Siehe Teil I, Anm. 11.

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April 1924 335

Café Bauer905 erzählte sie, dass sie die Nacht vorher einem Russen 5 Mark gegeben und ihn
ins Central-Hotel gebracht hat. Rasender Othello-Affekt. Verrückte Kopfschmerzen.
Einige alte Wege gelaufen, allmählich beruhigt, sie begleitete mich in die Wilhelmstraße.
Abends mit am Zehnhoff.

Donnerstag, 10. 4. 24
Kopfschmerzen, morgens in der Bibliothek gearbeitet, mittags kam Smend, wir unterhielten
uns wunderschön, über Hugo906, über meine Ehe, ich war glücklich und aufgeräumt da-
durch, begleitete ihn zum Wannsee-Bahnhof, dann zum Café Imperator, wo[hin] Hela kam,
wir saßen bis gegen 5, ich sagte ihr, dass ich Freitag nicht nach Leipzig reise, es ging gut, ich
war allmählich wieder fröhlich, aber ich versäume schrecklich meine Zeit. Auflösung.

[Am oberen Rand links notiert] Karfreitag 18. 4.; Ostern 20. 4. [Oberer Rand, Mitte,
notiert] Staatsrechtlehrer-Tagung in Jena 13.–16 April 1924]

Gingen noch zusammen zu Blei, kaufte ihr Lilien, war freundlich und gütig, dann zu am
Zehnhoff, Kaffee getrunken, zum Essen dageblieben, nachher mit am Zehnhoff zur Tagung.
Dort Geheimrat Porsch907 kennengelernt, Präsident Belzer, seine Tochter <…>908, lächer-
lich, langweilige Gesellschaft, am Zehnhoff ist der einzige Anständige unter ihnen. Blank,
der Schieber909, war freundlich gegen mich, weil ich das Mandat abgelehnt habe, wodurch er
wieder einen Konkurrenten weniger hat. Alles höchst ekelhaft. Wir tranken noch bei am
Zehnhoff Wein, er ging aber um 1 Uhr zu Bett. Geldsorgen.

Freitag, 11. 4. 24
Wieder in der Bibliothek gearbeitet, um 11 auf Professor Fließ 910 gewartet, schreckliches
Erlebnis: Er hat sich 15 Jahre mit der Lehre von der Erbsünde beschäftigt und ihr Geheim-

905 Bekanntes, 1877 eröffnetes Berliner Kaffeehaus gegenüber dem Café Kranzler, Unter den Linden/
Ecke Friedrichstraße.
906 Siehe Anm. 711.
907 Felix Porsch (1853–1930), Dr. iur. utr., Rechtsanwalt und Zentrumspolitiker, u. a. 1881–1893 Mit-
glied des Reichstags, 1884–1918 des Preuß. Abgeordnetenhauses, 1919–1921 der Verfassungs-
gebenden Preuß. Landesvertretung, 1921–1930 des Preuß. Landtags, 1903–1929 Erster Vizepräsi-
dent und Vorsitzender der Zentrumsfraktion im Landtag.
908 Elisabeth (1902–?) oder Berta (1905–?) Belzer.
909 Möglicherweise eine Anspielung auf seine Tätigkeit im Preuß. Handelsministerium.
910 Wilhelm Fließ (1858–1928), Prof. Dr. med., Berliner HNO-Arzt und Biologe, Theoretiker des
„Biorhythmus“, enger Vertrauter von Sigmund Freud. Fließ hatte 1895 in Wien Freuds Patientin
Emma Eckstein (1865–1924) wegen angeblicher „Hysterie“ und der von Fließ erfundenen, auf
Masturbation zurückgeführte „Nasenreflex-Neurose“ an der Nase kauterisiert, dabei aber mehr als
1/2 Meter Gaze in den Nasengängen zurückgelassen und die Patientin und spätere Psychoanaly-
tikerin dauerhaft entstellt. Freud erklärte die infektionsbedingten Blutungen, Fließ zustimmend, in
mehreren Briefen zu hysterischen „ Blutungen … aus Sehnsucht“. Vgl. Sigmund Freud, Briefe an
Wilhelm Fließ 1887–1904. Hrsg. von Jeffrey M. Masson, Bearbeitung der dt. Fassung von Michael
Schröter, Frankfurt/Main 1986, S. 114, 116 ff., 193, 195 f.; Jeffrey M. Masson, Was hat man dir, du
armes Kind, getan? Sigmund Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie, Hamburg 1986,
S. 76–128.

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336 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

nis entdeckt: es ist eine Erfindung von machtgeilen Priestern. Als er wegging, sagte er: Es
muss ein stolzes Bewusstsein sein, in solchen Räumen zu wohnen und zu arbeiten. Da hatte
ich ihn durchschaut. Nach dem Essen etwas ausgeruht, um 3 wieder Palyi getroffen, er lieh
mir 200 Mark, ich atmete auf. Um 1/2 5 kam Hela, wir gingen zum Anhalter Bahnhof 911
und kauften das Billett, sie begleitete mich an die Wilhelmstraße, traf dort zufällig Kauf-
mann, ging mit ihm ins Justizministerium, er will nach Jena kommen. Angst und Sorgen
wegen des Referats, aber froh, Kaufmann getroffen zu haben, der ganz in seinen auswärti-
gen Geschäften aufgeht und im Sommer wieder nach Bonn kommt. Nach dem Essen noch
etwas bei am Zehnhoff (Fräulein Schneider war ausgegangen), brachte ihn zu Bett, um 10
noch an Duschka geschrieben, müde zu Bett.

Samstag, 12. 4. 24
Um 1/2 8 auf, gut ausgeschlafen, alles ging schön, ich brauchte nicht einzupacken, am
Zehnhoff fuhr mit zur Bahn, das rührte mich sehr, ich traf auf dem Bahnhof Hela, wir fuh-
ren schön zusammen, frühstückten im Speisewagen, um 11 in Leipzig, wir machten einen
Spaziergang durch die Stadt, ich war sehr froh und fühlte sie als eine Adelige, was ich in
Berlin nicht kann, weil ich mich immer belogen fühle; wir aßen in Auerbachs Keller 912 wun-
derschön zu Mittag, sie wollte aber immer in ein Hotel, schließlich verabschiedeten wir uns
um 4 Uhr, ich brachte sie im Auto in die Poniatowskistraße 913, dann zu Gerber. Enttäuscht
von der Armut der Wohnung, aber freundlich aufgenommen und wunderschön unterhal-
ten, wir einander ziemlich gleicher Ansicht.914 Wir aßen zusammen zu Abend, nach dem
Abendessen noch etwas geplaudert über Musik, Grünewald, Bach, dann zu Bett. Gefroren.

Sonntag, 13. 4. 24
Nicht recht ausgeschlafen, morgens sehnsüchtiger Drang, zu Hela in die Poniatowskistraße,
sie war aber schon abgereist; also nach Berlin, nicht nach Köthen; bin wieder beschwindelt.
Schändlich, herumgelaufen, zu Hause etwas gearbeitet, plötzlich ruhig, eine leidliche Dis-
position geschrieben, zu Mittag gegessen, nachher mit Gerber zur Bahn, im Bummelzug
nach Jena, Naumburg an der Saale besehen, in Jena herumgelaufen, von Kronf[eld]er
Platz915 zum Ernst-Haeckel-Platz, dann zur Krone916, traurig, nervös, weil Kelsen917 da ist.

911 Damals der am Askanischen Platz gelegene Fernbahnhof Berlins, das „Tor zum Süden“.
912 Berühmte Leipziger Gaststätte an der Grimmaischen Straße 2–4, der Goethe in „Faust I“ ein
Denkmal gesetzt hat.
913 Frühere Anliegerstraße in der inneren Leipziger Westvorstadt, heute zur Gottschedstraße gehö-
rig.
914 Wegen der betonten Übereinstimmung handelt es sich wohl nicht um Schmitts Schüler Emil Ger-
ber, sondern um Schmitts Kollegen Hans Gerber (1889–1981), Staats- und Völkerrechtler, 1923–
1929 Privatdozent, dann ao. Prof. in Marburg, 1929 o. Prof. in Tübingen, der freilich erst 1934
nach Leipzig berufen wurde und 1941–1957 o. Prof. in Freiburg i. Br. war.
915 Es gibt in Jena freilich nur eine Kronfelder Straße.
916 Gasthaus „Zur Krone“, traditionsreiches Jenenser Lokal in der Grietgasse 22, heute „Haus des
Handwerks“.
917 Hans Kelsen (1881–1973), einer der bedeutendsten Staats- und Völkerrechtler und Rechtstheore-
tiker des 20. Jahrhunderts, 1917 ao. Prof. in Wien, 1919 o. Prof. und bis 1929 Mitglied des österr.

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April 1924 337

2 Briefe von Duschka, einer von Hela. Abends um 11 nach Hause, im Bett die Briefe ge-
lesen, die von Duschka eine große Enttäuschung, sie ermahnt mich, nicht zu glauben, dass
sie eifersüchtig sei usw. Egoismus.

Montag, 14. 4. 24
Gut geschlafen, nichts fürs Referat getan, um 9 Frühstück, zur Universität, lange Festrede918
und Einleitungen, stieg aufs Katheder (Isay störte mich durch Rascheln mit Papier), sprach
erst gut, später schlechter, enttäuscht und beleidigt, gratuliert, es war kein Misserfolg, aber
auch kein durchschlagender Erfolg 919, Jacobi sprach temperamentvoller, es nützte auch
nichts. Nach dem Mittagessen mit Jacobi auf mein Zimmer, dann Diskussion; schrecklich
langweilig, ekelhaft:920 Stier-Somlo, Fleischmann921 usw. Müde und traurig, ein Glück, dass
Smend dabei war. Abends im Weimarischen Hof 922 gegessen, die Sache soll schnell gedruckt
werden. Ich habe also Arbeit. Erleichtert nach Hause. Immerhin ist es gut gegangen.

Verfassungsgerichtshofs, maßgebliche Beteiligung am Bundes-Verfassungsgesetz Deutschöster-


reichs vom Oktober 1920, 1930–1934 o. Prof. in Köln, 1933–1940 in Genf sowie 1936–1938 in
Prag, 1940 Emigration in die USA, 1942–1957 Prof. für Politikwissenschaft in Berkeley (Kalifor-
nien). Als führender Rechtspositivist seiner Zeit wird Kelsen oft als Antipode Schmitts, zumal
während dessen Kölner Zwischenspiels im SS 1933, dargestellt. Vgl. zur persönlichen Ebene Meh-
ring, Aufstieg und Fall, S. 295 ff. Zwar unterschrieb Schmitt die Protestnote der Kölner Rechts-
fakultät gegen Kelsens rassebedingte Entfernung von seinem Lehrstuhl durch das nationalsozia-
listische „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ nicht (vgl. TB III, Eintragung
vom 18. 4.1933, S. 283), doch war Kelsen bereits vor der Ankunft Schmitts in Köln beurlaubt
gewesen und nach Genf gewechselt (vgl. TB III, Anm. 1429).
918 Heinrich Triepel, Eröffnungsansprache, in: Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der
Reichsverfassung, in: Der deutsche Föderalismus. Die Diktatur des Reichspräsidenten. Referate
von Gerhard Anschütz, Karl Bilfinger, Carl Schmitt und Erwin Jacobi. Verhandlungen der Tagung
der deutschen Staatsrechtslehrer zu Jena am 14. und 15. April 1924. Mit Eröffnungsansprache und
einer Zusammenfassung der Diskussionsreden (= Veröffentlichungen der Vereinigung der Deut-
schen Staatsrechtslehrer, H. 1), Berlin und Leipzig 1924, S. 5–10.
919 Carl Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsverfassung, ebd., S. 63–
104, später übernommen in: ders., Die Diktatur (1921), 2. und die folgenden Aufl. (zum Beispiel
7. Aufl., Berlin 2006), S. 211–257.
920 Schmitt und Jacobi stießen mit ihren Vorträgen überwiegend auf Ablehnung; vgl. Verhandlungs-
bericht zum Thema „Diktatur“, in: Der deutsche Föderalismus (s. Anm. 918), S. 137–139; Fritz
Stier-Somlo, Die zweite Tagung der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer, in: Archiv des öffent-
lichen Rechts 46 (1924), S. 88–105; Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb (s. Anm.
901), S. 91–94.
921 Michael Max Fleischmann (1872–1943), Staats- und Völkerrechtler, 1902 Privatdozent, 1911–1921
in Königsberg (1915 o. Prof.), 1917–1919 Senatspräsident am Reichsschiedsgericht für Kriegswirt-
schaft, 1921 o. Prof. in Halle, 1925/26 Rektor, Senatspräsident am Reichswirtschaftsgericht, 1927
Gründung des Instituts für Zeitungswesen, 1935 Entpflichtung, 1936 Entzug der Lehrerlaubnis,
1941 Übersiedlung nach Berlin, Kontakte zur milit. Widerstandsbewegung, kurz vor der Fest-
nahme durch die Gestapo Suizid.
922 Jenenser Traditionslokal, Unterm Markt 4.

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338 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Dienstag, 15. 4. 24
Allmählich das Gefühl, dass ich meine Sache gut erledigt habe. Das Referat Anschütz923 war
schlecht, das von Bilfinger924 noch schlechter. Unglaubliches Niveau. Sehr enttäuscht. Nach
dem Essen ausgeruht, die Diskussion nachmittags925 widerwärtig, Stier-Somlo sprach von
dem rheinischen Separatismus, den vielen separatistischen Führern und dem Pfaffennest.
Sprach mit Smend darüber, auch mit Pohl. Erst etwas aufgeregt, im Ganzen gleichgültig.
Ging Kaffee trinken, kaufte dem Sohn von Gerber ein Osterei. Abends gegessen in der
Göhre926, mit Hübner 927 und dem jungen Privatdozenten Richter aus Leipzig928 unterhalten,
um 10 schon wieder zu Hause. Sehnsüchtige Geilheit.

Mittwoch, 16. 4. 24
Ausgeschlafen, ausgeruht, las beim Frühstück Kaufmann von Venedig929, V. Akt. Korres-
pondenz erledigt 930, innerlich gesammelt; dachte an Smend wie an einen Bruder (Übertra-
gung von Kluxen!). Nachmittags Ausflug nach Dornburg931, sprach auf der Burg mit Smend
über die Schönheit der Landschaft und wie sie durch die Sehnsucht nach einer Frau verdun-
kelt wird; er erwiderte, es gebe auch im Christentum eine Tragik. Ich fürchte, das ist eine
Ausrede. Kaffee in Dornburg, dann zu Hause mit Korrekturen, nicht mehr zu Hübner,
abends zur Göhre, traf dort Bilfinger, Bruns932 und freute mich, dass sie mich offenbar gern
haben. Um 9 müde zu Hause und gleich eingeschlafen.

923 Gerhard Anschütz, Der deutsche Föderalismus in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in: Der
deutsche Föderalismus (s. Anm. 918), S. 11–34. Gerhard Anschütz (1867–1948), Staatsrechtler,
führender Kommentator der Weimarer Reichsverfassung (s. Anm. 707), 1899 o. Prof. in Tübingen,
1900 Heidelberg, 1908 in Berlin, 1916–1933 Heidelberg, 1932 Vertreter der preußischen Regierung
und damit der Gegenseite Schmitts im „Preußenschlag“-Verfahren.
924 Carl Bilfinger, Der deutsche Föderalismus in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in: Der
deutsche Föderalismus (s. Anm. 918), S. 35–57.
925 In dieser Diskussion ging es laut Schmitt (Brief an Feuchtwanger vom 25. 4. 1924, in: BW Schmitt –
Feuchtwanger, S. 52 f.) weniger um Schmitts (und Bilfingers) Referat über Art. 48 WRV als um sein
Diktatur-Buch.
926 Weinstube in Jena am Markt 7.
927 Rudolf Hübner (1864–1945), Rechtshistoriker, Enkel von Johann Gustav Droysen, 1895 ao. Prof.
in Bonn, 1904 o. Prof. in Rostock, 1913 in Gießen, 1918 in Halle, 1921 in Jena. Seine „Grundzüge
des deutschen Privatrechts“ (Leipzig 1908, 5. Aufl. 1930, auf englisch Boston 1918) wurden ein
Standardwerk.
928 Lutz Richter (1891–1945), Staats- und Sozialversicherungsrechtler, 1922 bei Jacobi in Leipzig habi-
litiert, 1926 ao. Prof., 1929 planmäßiger ao. Prof., 1931 Gastsemester in Riga, 1942 o. Prof. in
Königsberg.
929 Kömödie von William Shakespeare, 1605 uraufgeführt.
930 Darunter ein Brief an Feuchtwanger, in: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 50 f.
931 Dornburger Schlösser auf dem Felsenplateau oberhalb der Saale.
932 Viktor Bruns (1884–1943), Staats- und Völkerrechtler, 1910 ao. Prof. in Genf, 1912 ao. Prof. in
Berlin, im 1. Weltkrieg Zivilreferent beim Stellvertretenden Generalkommando des XIII. Armee-
korps, 1920 o. Prof., 1924 Direktor des neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Instituts für ausländi-
sches öffentliches Recht und Völkerrecht, u. a. Mitglied des Ständigen Gerichtshofs in Den Haag
und anderer Schiedsgerichte, 1934 Vorsitz des Ausschusses für Völkerrecht in der Akademie für
Deutsches Recht, zahlreiche Begegnungen mit Schmitt in dessen Berliner Zeit, vgl. TB III, passim.

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April 1924 339

Donnerstag, 17. 4. 24
Um 7 auf, alles ging behaglich, das gute Fräulein Flegel933 packte mir ein, alles klappte, ging
an Stier-Somlo vorbei zum Bahnhof. Mit Marschall v. Bieberstein934 nach Weimar, dann
Stier getroffen, der 2. Klasse fuhr, 3. Klasse nett mit ein paar jungen Maschinenbauschülern
unterhalten, ermüdende Fahrt über Kassel, Eversberg, Hagen. Schwerer Kopf. In Hagen im
Wartesaal Ännchen; braves Kind. Wir fuhren 3. Klasse nach Plettenberg. Mutig und unter-
nehmend, stolz und selbstgewiss. Nicht die Bedrücktheit, die ich erwartet hatte. Vielleicht
die Folge der Stabilisierung der Mark. Um 10 zu Bett.

Freitag, 18. 4. 24
Gut ausgeschlafen, schöner Spaziergang auf den Saley, dann schöner Kaffee. Dachte an
Duschka, endlich ausgeruht, die Afferei mit Hela erscheint mir schmutzige Hurerei und
eine Verb[ieg]ung. Sehr neugierig, Duschka wieder zu sehen. Es ist plötzlich wieder herr-
liches Wetter. Nach dem Mittagessen langer Spaziergang über den Saley und die Bracht935.
Um 4 nach dem Kaffee schön gearbeitet, abends müde und gelangweilt bald zu Bett.

Samstag, 19. 4. 24
Spaziergang, dann gut den ganzen Vormittag gearbeitet, an Duschka geschrieben. Mittags
nach dem Essen sehr müde, geschlafen. Dann etwas gearbeitet, das Referat kommt zu-
stande, froh darüber, nervöse Hast bei der Arbeit. Jup kam um 5, wir freuten uns, gingen
abends spazieren, entsetzliche Enge in diesem Haus, deprimiert, hart, proletarischer Wille,
hochzukommen.

Ostern, 20. 4. 24
Mit Jup um 10 Uhr ins Hochamt, gerührt von der schönen Musik und dem Chor (Anna
spielte936). Mit Jup noch etwas spazieren, nach dem Essen geschlafen. Um 5 gingen wir alle 4
zum Schwarzenberg. Traurig diese Unterhaltung, ewig dasselbe, immer Angst um das Geld
und Auskommen, abends in der Küche, dann müde zu Bett. Zwischendurch immer an mei-
nem Referat gearbeitet.

Montag, 21. 4. 24
Früher auf, in die Frühmesse, um arbeiten zu können. Vormittags gut gearbeitet, langsam,
drückend, aber es geht. Innerlich verzweifelt, vernichtet, vollständig zerfetzt. Erdrückt von
der Enge dieses Hauses, beschmutzt und gedemütigt. Ich bin wirklich kein Christ. Hoch-
mütig und stolz, Wut, zu herrisch herauszukommen. Nach dem Essen geschlafen, mit Jup
etwas zum Soen, um 5 ist der Vater und ich zur Bahn. Ich arbeitete dann noch zu Hause
und wurde mit dem Referat fertig. Um 7 schon gegessen, ziemlich beherrscht, langer Spa-

933 Offenbar eine Angestellte der „Krone“.


934 Friedrich Adolf Hans Freiherr Marschall von Bieberstein (1883–1939), Staats- und Völkerrechtler,
1913–1915 ao. Prof. in Halle, 1915–1920 o. Prof. in Tübingen, 1920–1939 in Freiburg i. Br.
935 Breite Hangsenke am Berg Saley, über die der Weg von Plettenberg zur Burgruine Schwarzenberg
führt. Volksetymologisch wird erzählt, der Name Plettenberg bedeute „Platt an der Bracht“.
936 Sc. die Orgel.

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340 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

ziergang in der Abenddämmerung auf den Saleyberg, einsam, Verdammnis, Hölle. Lächer-
lich der Trost, den ich bei einer Frau suche. Müde bald zu Bett.

Dienstag, 22. 4. 24
Um 8 Uhr schöner Kaffee, an dem Referat gearbeitet und fröhlich, meine einzige Stunde.
Dann zur Bahn, Ännchen hat eingepackt, von Vater und Ulla begleitet, Otto937 (der arme
Kerl erinnerte mich unheimlich an Kleist) fuhr den Koffer zum Bahnhof. Bis Finnentrop,
im Wartesaal gearbeitet an dem Referat, dann 3. Klasse nach Hagen, umgestiegen, schließ-
lich in Köln, müde, zäh beherrscht, glücklich die Rheinuferbahn erwischt, um 5 gleich zu
Frau Franck, die Bücherkisten standen noch im Zimmer, Angst vor den vielen Ausgaben,
verzweifelt, der Schreiner kam und packte aus, allmählich ruhiger. Es ging schließlich,
abends zu Schmitz, vorher zu Abend in die Kaiserhalle938, todmüde bei Schmitz, apathisch,
er hat nach Heisterbach geschrieben. Die Schwestern freuen sich, wenn ich mit Duschka
komme! Glücklich darüber. Zu Hause gleich zu Bett, gefroren.

[Am oberen Rand notiert] Duschka in Heisterbach Werner Becker 26. 4. 24

Mittwoch, 23. 4. 24
Morgens schönes Frühstück um 9 Uhr, Karte von Stier-Somlo, der um das Manuskript939
bittet, an dem Referat, Schwickardy kam, erledigte einiges, fand eine Stenotypistin, herum-
gelegen, im Aprilheft940 steht der Aufsatz von Ball noch nicht. Gleichgültig bei Strassberger
gegessen, entsetzlich, meine Apathie. Nach dem Essen, ohne zu schlafen, ein paar Karten
geschrieben, dann ohne Kaffee Diktat schwach, 3/4 der Arbeit fertig. Beherrscht, stolz. Zu
Abend gegessen (ein Glas Wein und ein Butterbrot mit Schinken bei Kemp941), dann zu
Hause, ein Bruder von Aschenberg kam noch, ein netter Junge, dann korrigiert, das Referat
noch etwas bearbeitet. Ruhiger, aber hatte Geldsorgen. Oft an Duschka gedacht, ich weiß
nicht, wer sie ist, ob sie mich liebt. Unheimlicher Zustand. Dabei schrieb Hela rührend und
macht sich ein neues Kleid für Pfingsten, damit sie jung aussieht.

Donnerstag, 24. 4. 24
Den ganzen Vormittag diktiert, gut vorwärts, nach dem Essen wieder gleich diktiert, gut
gearbeitet und zufrieden. Ein Student Becker942 kam, von Guardini. Kein Kaffee des

937 Zu Otto Schmitt s. Anm. 512.


938 Beliebtes Bonner Lokal mit Biergarten an der Stelle des heutigen Busbahnhofs.
939 Gemeint ist Schmitts Vortragsmanuskript, das Stier-Somlo für seinen Bericht von der Jenenser
Tagung (s. Anm. 920) benötigte.
940 Gemeint ist die Zeitschrift „Hochland“.
941 Wirt des Gasthofs „Zur Traube“, Bonn, Mechenstraße 59.
942 Werner Becker (1904–1981), ab 1922 Jurastudium in Freiburg i. Br., Berlin (dort Quickborn-Mit-
glied und Sekretär Guardinis) und Bonn, anschließend Studium der Philosophie und der Theolo-
gie, 1925 bei Schmitt mit einer Arbeit über „Die politische Systematik der Staatslehre des Thomas
Hobbes“ (Zusammenfassung 1928 in Köln erschienen) zum Dr. iur. promoviert (Dissertationsgut-
achten vom 17. 7.1925 in: Mehring [Hrsg.], BW Schmitt – Smend, S. 164 f.; Zweitgutachten [unver-
öffentlicht] von Ernst Landsberg), 1927–1928 Schriftleiter des „Abendlands“, 1932 Priesterweihe,

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April 1924 341

Nachmittags. Abends zu Schmitz, der Rotwein hatte, Angst um Duschka, sie hat mir seit
14 Tagen nicht geschrieben, nach dem letzten Brief war sie krank. Entsetzliche Angst.
Sprach mit Schmitz darüber. O Gott. Müde bei Schmitz, noch ein Glas Bier getrunken, das
war nicht richtig. Zu Bett.

Freitag, 25. 4. 24
Wieder vormittags diktiert, fast fertig geworden, nach dem Essen etwas ausgeruht, um 1/2 5
fertig. Zufrieden, aber noch keine Erleichterung, es ist noch viel zu korrigieren. Schickte
einen Abdruck an Gerber943, von dem ein schöner Brief kam, der mir wohl tat, abends zu
Schmitz, noch ein Glas Bier in einer kleinen Wirtschaft (Klause), dann zu Hause noch etwas
korrigiert. Nervös, ich kann die Bonner Luft nicht vertragen.

Samstag, 26. 4. 24
Den ganzen Vormittag zu Hause behaglich beim Frühstück korrigiert, mittags brachte der
Student Becker aus München-Gladbach Guardinis „Schildgenossen“, in der Guardini über
mich spricht944. Nach dem Essen mit Vormfelde bei Rittershaus. Es ist kein Umgang für
mich. Fühlte mich nicht wohl. Dabei innerlich hungrig. Immer Sorgen, ob Duschka kommt.
Warum schreibt sie nicht? Schrecklich. Zu Hause Bücher umgestellt, aufgeräumt, nicht viel
getan, abends bei Schmitz gegessen, er spielte schön Chopin, dann noch ein Glas Bier im
Wartesaal der Rheinuferbahn. Müde zu Hause, nervös.

Sonntag, 27. 4. 24
Inzwischen regiert wieder die Angst um Duschka. Sie müsste doch hier sein oder wenigs-
tens eine Nachricht geben. Vielleicht kommt sie inzwischen in Köln an. Welche Zerrissen-
heit. Ging um 11 Uhr zu Neuß, nett unterhalten, erzählte die Geschichte von Stier-Somlo[s]
„Pfaffennest“. Er will es dem Kardinal mitteilen. Empörend. Dann zu Hause. Um Duschka
gezittert. Warum gibt sie keine Nachricht? Nach dem Essen zu Hause. Gütersloh gelesen,
Lügner unter Bürgern. Mit großem Interesse, erstaunt über die Genialität des Buches945,
dann kam Neuß, wir gingen nach Meßdorf946 spazieren; zu Hause angstvoll gewartet, ob
Duschka nicht doch kommt, allmählich beruhigt, müde auf dem Sofa gelegen, dann zu
Schmitz, traf ihn auf der Poppelsdorfer Allee, wir gingen an der Pension vorbei, er fragte
nach Duschka, sie war aber noch nicht da. O Gott! Dann eine Flasche Wein im Bürgerbräu
gekauft, bei ihm zu Abend gegessen, gut unterhalten, über Chopin, Angst vor dem Leben,

1933–1937 Studentenseelsorger in Marburg und Dozent für christl. Weltanschauung im kath. Semi-
nar, 1938 Eintritt in das Oratorium des hl. Philipp Neri in Leipzig, 1939–1961 Studenten- und
Akademikerseelsorger ebd., 1961–1978 Konsultor des neugeschaffenen Sekretariats für die Einheit
der Christen und bis 1976 Leiter der Ökumenischen Arbeitsstelle in Leipzig, 1963–1965 Peritus
des Vaticanum II, Mitarbeiter einer in der DDR erschienenen Konzilsdokumentensammlung.
Zum – trotz großer ideologischer Gegensätze – regen Austausch mit Schmitt vgl. Becker, Briefe an
Carl Schmitt.
943 Gemeint ist Hans Gerber (s. Anm. 914).
944 Katholische Zweimonatsschrift Die Schildgenossen 4 (1924) S. 112–121.
945 Albert Paris Gütersloh, Der Lügner unter Bürgern, Hellerau 1922.
946 Westlicher Stadtteil von Bonn.

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342 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

vor der Wirklichkeit, grauenhaft, zu Landsberg, lächerlich, ekelhaft. Müde zu Haus. Auf-
geregt. O Gott, wäre Duschka nur da! Trotz allem Gefühl [der] Rationalisierung.

Montag, 28. 4. 24
Behaglich gefrühstückt, Brief von Duschka, sie ist krank. Ärmste. Ein paar Briefe, in der
Stadt bei Kaufmann zur Anprobe, was mir wohl tat; schrieb an Duschka und eine Reihe
anderer Briefe. Nach dem Mittagessen zu Hause ausgeruht, 1/2 4 langweilige Fakultätssit-
zung, wobei es mir schauerlich ekelhaft wurde, dann mit Göppert ins Café Müller, schnell
nach Hause, eingepackt, bezahlt, um 6 mit der Siebengebirgsbahn nach Niederdollendorf,
um 7 in Heisterbach, nach dem Abendessen schöner Spaziergang, dachte sehnsüchtig an
Duschka und schrieb ihr einen schönen Brief 947. Schon um 9 ins Bett und bald eingeschla-
fen.

Dienstag, 29. 4. 24
Vormittags auf den Petersberg, einsam, nach dem Essen nach Königswinter, dort lange im
Café, ein Mädchen, das mich an Hela erinnerte, ich dachte an sie und schrieb ihr eine herz-
liche Karte. Schöner Spaziergang zurück, abends ein paar Briefe (Blei, Pohl, André); um 8
schon ins Bett und gleich eingeschlafen.

Mittwoch, 30. 4. 24
Herumgesessen, gelesen (Hobhouse, Hobbes), heimlich auf Schmitz gewartet, d. h. auf Kor-
respondenz, an Hela geschrieben. Vor dem Essen kleiner Spaziergang auf den Petersberg,
nach dem Essen geschlafen, leider, dadurch müde und dumm, Mokka getrunken, mit
Behagen gelesen, gegen Abend Spaziergang Nonnenstromalm. Einsam, für mich, nach dem
Essen gleich zu Bett. Konnte aber nicht einschlafen. Schrecklich. Atmosphäre, alles,
Duschka fremd.

Donnerstag, 1. 5. 24
Vormittags regnete es, trotzdem schöner Spaziergang auf den Petersberg. Sehnsucht, Angst
um Duschka. O Gott. Verzweiflung und Einsamkeit. Nach dem Essen kam Schmitz, ich
freute mich, er brachte viele Briefe mit, am meisten freute mich der von Duschka, ein Brief
von Hela, rührend ihre Liebe, eine Karte von Gerber948, der sich über mein Referat freute,
was mir sehr wohl tat. Wir machten einen Spaziergang zum Margarethenhof, tranken dort
Kaffee, abends eine Flasche Rheinwein, nett unterhalten, um 9 ins Bett.

Freitag, 2. 5. 24
Schlecht geschlafen, gefroren. Um 1/2 8 auf, im Regen über den Petersberg, Rosenau,
Ölberg. Dachte sehnsüchtig an Duschka, an die mich alles erinnert. Nach dem Mittagessen
ausgeruht, eingepackt. Bezahlt (habe kein Geld mehr). Mit Schmitz nach Köln zurück, Wut
über Stier-Somlo und seine Herausgabe der Übersetzung von Hobhouse949. Schmitz ging

947 Siehe Teil III, S. 531.


948 Siehe Anm. 943.
949 Die metaphysische Staatstheorie. Eine Kritik von L. T. Hobhouse. Übersetzt von Grete Beutin-
Dubislav. Mit einem Vorwort von Fritz Stier-Somlo, Leipzig 1924.

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April/Mai 1924 343

mit zu meiner Wohnung. Ein schöner Brief von Duschka, sie will kommen, trotz ihrer
Krankheit. Angst, Sehnsucht. Kleidete mich um (seit Wochen keine reine Wäsche mehr).
Die Unruhe und Unsicherheit des Umzugs, Angst vor allen Menschen, Einsamkeit und
Unsicherheit. O Gott. Wenn eine Frau mich in der Wirklichkeit sähe, sie könnte mich nicht
lieben. Abends bei Strassberger gegessen, bescheiden, gedrückt, früh zu Bett. Nachts
furchtbare Gier nach einer Frau. Hexenschuss.

Samstag, 3. 5. 24
Behaglich beim Frühstück, in der Stadt einiges erledigt, Brief von Feuchtwanger950, von
Muth951, dass im Hochlandheft vom Juni der Aufsatz von Ball erscheint. Sehr froh darüber.
Nach dem Essen zu Hause, auf Rick gewartet, der um 3 Uhr kam, wir machten einen Spa-
ziergang, langweilig, aber man kann nett mit ihm über Gedichte sprechen. Bei Rittershaus
Kaffee, sehr teuer, dann zu Hause. Abends zu Schmitz, müde bald nach Hause.

Sonntag, 4. 5. 24
Vormittags Briefe geschrieben, gewählt, mittags nach dem Essen kam Jup, wir gingen zu
Schmitz, mit Frau Schmitz (nachdem wir die elektrische Siebengebirgsbahn versäumt hat-
ten) zum Königshof, dachte natürlich sehnsüchtig an Duschka. Dann zu Schmitz zurück,
zu Abend gegessen, langweilig, über die Wahl952, plötzlich Bett gemacht. Jup holte sich
noch meinen Anzug (zu 30 Mark, 50 habe ich ihm gegeben), er sagte ganz ruhig, als er
hörte, dass Duschka zurückkomme: armer Kerl. Das traf mich.953 Dann müde zu Hause,
gleich ins Bett. Gut geschlafen, aber grauenhafte Sehnsucht und Gier. Heute über Chateau-
briand gelesen. Mit großer Überlegenheit.

Montag, 5. 5. 24
Gut ausgeschlafen (warm), Vorlesung vorbereitet, sehr oberflächlich. Ich kann nicht mehr
arbeiten. Nichts von Eisler, was mich beunruhigt.954 Nichts von Duschka. Sorge um sie.
Nachmittag zu Hause auf Nachricht von Duschka gewartet, aufregend. Bei Schmitz vorbei,
da er Spr<…> geholt, der gute Schmitz kam dann noch zu mir, er ging in der Argelander-
straße vorbei, wo man keine Nachricht über sie hat. Aßen im Bürgerverein zu Abend, spra-
chen über Stier[-Somlo], und unterhielten uns sehr schön. Angeregt nach Hause, müde,
froh, zu Bett zu gehen. Wütend über die Aufregung, die mir das vergebliche Warten auf
Duschka verursacht. Sehnsucht nach ihr. Schrecklicher Zustand, vielleicht ist Hela besser.
Lächerlich.

950 Brief vom 25. 4. 1924, in: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 51 f.
951 Brief vom 2. Mai 1924, in: Tommissen (s. Anm. 586), S. 133–135.
952 Am 4. 5.1924 war die Wahl zum 2. Deutschen Reichstag; sie endete für die gemäßigte Linke mit
einem erheblichen Stimmenverlust, während die radikalen Parteien hinzugewannen. So bekam die
DNVP 19, 5 %, die KPD 12, 6 %, die Nationalsozialistische Freiheitspartei 6, 6 % der Wählerstim-
men.
953 Siehe Notiz vom 4. 5. 1924 in: Teil III, S. 533.
954 Am 14. 6.1924 verstarb Eislers Vater Heinrich Eisler. Zur Familiengeschichte vgl. Mehring, Ham-
burger Verlegerfamilie.

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344 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Dienstag, 6. 5. 24
Morgens behaglich angezogen, um 8 kam ein Telegramm von Duschka, dass sie heute mor-
gen in Köln ankommt, ich machte mich gleich fertig, rannte zu Schmitz, sagte meine Vor-
lesung ab, fuhr nach Köln bei schönem Wetter, es kam aber morgens kein Zug mehr, da-
gegen 12.37 einer mit 150 Minuten Verspätung. Also wieder nach Bonn zurück, unruhig,
doch ziemlich kräftig und gesund. Zu Hause lag ein rührender Brief von Kathleen. Mittags
um 3 wieder nach Köln, wartete im Wartesaal, dann, zufällig im rechten Augenblick, sah ich
Duschka vorbeigehen mit einem Gepäckträger. Wir begrüßten uns herzlich. Sie war auf der
Reise gesund geworden. Wir gingen noch zu Eigel und unterhielten uns, sehr glücklich,
dann fuhren wir nach Bonn, sie wohnte im Continental955. Zu Schmitz, dann im Bürger-
verein zu Abend gegessen, abends noch im Hofgarten und durch die Poppelsdorfer Allee.
Um 11 nach Hause. Glücklich, dass sie wieder in Bonn ist.

Mittwoch, 7. 5. 24
Hielt morgens meine Vorlesung, recht gut. Freute mich über die Studenten. Um 12 von
Duschka abgeholt. Wir aßen im Krug zum grünen Kranze und gingen dann am Rhein spa-
zieren. Erstaunlich, wie munter sie trotz der 2 Tage Tag- und Nachtreise ist. Nach dem
Essen ausgeruht, sie hatte noch Besorgungen zu machen, um 5 meine Vorlesung Verfassung,
vor großem Publikum, gut erledigt. Dann mit Duschka zur Bahn, wir fuhren nach Heister-
bach, schönes Wetter, sie bekam ein wunderschönes Zimmer, herrlich am Wald, um 1/2 10
glücklich über die Chaussee nach Oberdollendorf; seltsames Leben.

Donnerstag, 8. 5. 24
Viele Vorlesungen, morgens 2 Stunden, nachmittags Übungen; alles glänzend, zufrieden und
selbstbewusst. Ruhegefühle bei dem Gedanken, dass Duschka in Heisterbach ist, abends
mit Rick. Wir sprachen über die unglaublichen deutschen Übersetzungen von Hobhouse,
die Stier-Somlo herausgegeben hat. Früh nach Hause.

Freitag, 9. 5. 24
Meine Vorlesungen gut erledigt, sehr gut über Mach[iavelli]. Nach dem Essen ausgeruht
und sehr fröhlich nach Heisterbach. Mit Duschka schöner Spaziergang. Es ging ihr aber
noch nicht gut. Abends im Kloster zu Abend gegessen, müde zur Bahn gelaufen. Nachts
Gier, gierig, grauenhafte Erektionen, Wut nach Hela.

Samstag, 10. 5. 24
Um 9 nach Heisterbach, fröhlich, herrliches Wetter, im Restaurant mit Duschka gefrüh-
stückt. Wir waren sehr fröhlich. Herrlicher Spaziergang, nachmittags auf den Petersberg,
dort die schöne Aussicht auf den Drachenfels. Erzählte ihr von Kathleens Brief. Sie ist
immer reserviert und macht keine Ansprüche auf mich. Sonderbar. Erzählte die Äußerung
von Suarès über Dostojewski956. Abends Angst, es ging in Rosen[au] <?> wieder wie bei

955 Hotel-Restaurant Continental, Bonn, Poststraße 1. Ihr Studentenzimmer hatte Duschka offenbar
aufgegeben oder zwischenvermietet.
956 Siehe Teil I, Anm. 459.

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Mai 1924 345

meiner ersten Frau. Schauderhafte Komplexe. Todmüde und erschöpft nach Hause. Zu
Hause viele Briefe, von Hela, alles lächerlich, dumm. Früh zu Bett.

Sonntag, 11. 5. 24
Morgens auf Briefträger gewartet, dann nach Heisterbach, schöner Tag. Vormittags in ihrem
Zimmer, nachmittags Hobhouse [gelesen], freute mich ihrer Zustimmung, nachmittags
großer Spaziergang zum Margarethenhof, über den Dollendorfberg zurück, abends gestand
sie mir, dass sie sich nicht verheiraten wolle, wenn die Leibesfrucht beseitigt wird. Rühren-
des, gutes Kind. Erschüttert von ihrer Reinheit. Wir waren sehr glücklich. Ich fühle mich
zum ersten Mal mit einer Frau verbunden. Wunderbarer Abend. Es waren Studenten da,
was mich freute. Glücklich nach Hause zurück.

Montag, 12. 5. 24
Morgens keine gute Vorlesung, einiges erledigt (Sache Bilfinger 957), es macht Arbeitsfreude,
Unsicherheit wegen Stier-Somlos schlechter Übersetzung.958 Nach dem Essen geschlafen,
gut ausgeruht, abends mit Neuß auf dem Kreuzberg spazieren, dann müde zu Bett.

Dienstag, 13. 5. 24
Vorlesung sehr gut gehalten (Montesq[uieu]).959, Bilfinger kam, den ganzen Tag mit ihm,
nach dem Essen ruhte er bei mir aus, ging mit mir zum Examen, nachher fuhr ich allein
nach Heisterbach. Mein Fuß tat mir weh, Duschka war in ihrem Zimmer und erwartete
mich, sie war freundlich und schön, aber sie erzählte davon, dass sie Sonntag nacht nicht
schlafen konnte, weil sie sich eines Vorganges aus ihrer Kindheit erinnerte, sie hatte ihn
Fräulein Schifrin erzählt, damals im Kula960, als sie so krank war. Deshalb erzählte sie ihn
nicht heute Abend. Eifersüchtig auf Fräulein Schifrin, ohne etwas davon zu sagen. Sie war
anhänglich, begleitete mich weit durchs Mühlental, ich ging sehnsüchtig nach Dollendorf.
In Bonn schnell zu Schmitz, heftige Schmerzen im Fuß, mit Bilfinger bei Schmitz Wein
getrunken. Bis 11 Uhr, todmüde nach Hause.

Mittwoch, 14. 5. 24
Bilfinger frühstückte bei mir, Göppert kam, wir unterhielten uns über seinen Aufsatz
„Abschied von Bismarck“961, dann über meine Besprechung von Stier-Somlo. Mit Bilfinger

957 Bilfinger, der sich 1922 in Tübingen habilitiert hatte, vertrat im SS 1924 Kaufmann in Bonn. Doch
nicht er, sondern Fakultätsassistent Albert Hensel wurde Extraordinarius; vgl. Gutachten Schmitts
im Auftrag der Fakultät vom Juli 1922 in: Mehring (Hrsg.), BW Schmitt – Smend, S. 154 f. Bilfin-
ger erhielt einen Ruf nach Halle, wo er mit WS 1924/25 o. Prof. wurde.
958 Zum Ablauf der Affäre vgl. die Zusammenfassung von Mehring (Hrsg.), BW Schmitt – Smend,
S. 32 f., Anm. 64.
959 Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu, genannt Montesquieu (1689–
1755), franz. Philosoph und Staatstheoretiker der Aufklärung.
960 Serbische Stadt (dt. Wolfsburg) in der Vojvodina.
961 Heinrich Göppert, Bismarck und die deutsche Demokratie. Zum 1. April 1924, Bonn 1924, meinte
damit jene spezifische Wirtschaftsform, die Spengler mit dem Begriffspaar „Preußentum und
Sozialismus“ (1920) charakterisierte.

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346 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

zur Universität, ihn um 11 Uhr eingeführt bei den Herren der Völkerrechtsvorlesung. Sie
waren unzufrieden, ich schämte mich etwas. Dann Haare schneiden lassen, im juristischen
Seminar, nach dem Essen Examen, Fräulein Deuchert962, armes Huhn, um 1/2 4 Bespre-
chung mit Hamacher von der Zentrumspartei, ich werde nächste Woche, vielleicht schon
Montag, einen Vortrag in Köln halten, angeregt, dann meine Vorlesung Verfassung, ziemlich
gut, zur Rheinuferbahn, Jup kam 6 1/4. Wir tranken noch schnell bei Frings Kaffee, verfehl-
ten die Elektrische, rannten ihr nach, holten sie bei der Beethovenhalle ein, nach Heister-
bach, Jup untersuchte das Knie von Duschka, wir waren fröhlich und guter Dinge, ich
bekam aber plötzlich Angst, Gefühl der Fremdheit vor Duschka, der Abschied war mir
nicht herzlich genug, also immer dieselbe Sache, von Jup freundlich verabschiedet, er ist ein
guter Kerl, dann zu Hause verzweifelt. Nachts kleiner Anfall von Ruhr. Scheußlich.

Donnerstag, 15. 5. 24
Gute Vorlesung, keine Korrekturen963, Wut auf Somlo, bedrückt, gesundheitlich schlecht;
nach dem Essen ausgeruht, 6–8 schöne Übungen in Gegenwart von Bilfinger, sehr angeregt
dadurch, nachher beim Bürgerverein, mit Rick und Bilfinger, nachher kam auch Schmitz, las
ihnen die Besprechung von Stier-Somlo964 vor. Um 11 nach Hause, begleitet von Rick und
Schmitz, was mir gut tat. Gleich eingeschlafen, aber nachts um 3 wach.

Freitag, 16. 5. 24
Um 3 Uhr aufgestanden, konnte nicht schlafen, ein paar Briefe geschrieben, an die Frank-
furter Zeitung965, dann wieder zu Bett, nachher Vorlesung (sehr schlecht), die Besprechung
Stier-Somlo diktiert, zu Hause korrigiert, nachmittags nach Heisterbach, sehr müde, aber
fröhlich, als ich Duschka so guter Dinge sah. Sie erzählte mir die Geschichte ihrer Jugend,
ihr Vater hat sie entführt, entsetzlich (die alte <…> lockt). Doch kam sie über die Auf-
regung bald hinweg. Herzlicher Abschied, glücklich nach Hause. Schöner Abend.

Samstag, 17. 5. 24
Wieder keine Korrekturen, wütend. Die Besprechung St.-S. an die Frankfurter Zeitung
geschickt. Nachmittags nach Heisterbach zu Duschka, bei ihr im Zimmer, abends etwas
draußen gesessen, wunderschön.

Sonntag, 18. 5. 24
Morgens wieder keine Korrekturen, gleichgültig, Frau Landsberg die Besprechung St[ier]-
S[omlo] vorgelesen, sie war einverstanden, dann zu Hause: die Korrekturen waren da, froh
darüber, gleichzeitig ärgerlich über die Verzögerung, 5 Tage bei Frau v. Wandel gelegen.

962 Nicht ermittelte Studentin.


963 Gemeint sind offenbar Korrekturbögen des Vortrags bei der Staatsrechtslehrertagung in Jena.
964 Carl Schmitt, Die metaphysische Staatstheorie. Eine Kritik von L. T. Hobhouse. Übersetzt von
Grete Beutin-Dubislav. Mit einem Vorwort von Fritz Stier-Somlo, Leipzig 1924, in: Wirtschafts-
dienst 9 (1924) S. 986 f. Die Rezension erschien in der Ausgabe vom 25. 7.1924 und ist erneut
(teil)abgedruckt in: Mehring (Hrsg.), BW Schmitt – Smend, S. 157–159.
965 Ursprünglich geplanter Publikationsort der Rezension.

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Mai 1924 347

Nach dem Essen nachmittags in überfüllter Elektrischer nach Heisterbach, schrecklich heiß,
bei Duschka schön ausgeruht, hinter der Kapelle gesessen (abends wunderschön, während
die Schwestern sangen), Duschka las den Kaufmann von Venedig, meine Korrekturen, wun-
derschön. Abends begleitete mich Duschka etwas durchs Mühlental, sie war wunderschön
in ihrem weißen Mantel, eine Russin. Abends regelrecht verliebt, wunderbar, ergreifend, im
Heisterbacher Wald.

Montag, 19. 5. 24
Morgens meine Vorlesung, den ganzen Tag herumgelegen, in Erwartung des Vortrags. Mor-
gens ein schöner, geschmackvoller Aufsatz über mich in der K.V.966. Liebe diese Art Ruhm.
Ruhte mittags aus, hatte schrecklich Gastritis, abends 1/2 7 mit Schmitz nach Köln, bei Deis
zu Abend gegessen, dann im Ursulinenkloster967 in der Machabäerstraße (unheimliche Erin-
nerung an 1914!968), hielt den Vortrag969 sehr gut, aber von der Wirkung enttäuscht, desglei-
chen Diskussion, verabredete mich mit Gurian wider Willen von Kisky. Jup war auch da,
lachte mich aus, um 11 mit Schmitz nach Hause.

[Am oberen Rand notiert] Heisterbach Gurian 27. 5. 24

Dienstag, 20. 5. 24
Meine Vorlesung ziemlich müde, nachmittags mit Schnors Kaffee getrunken, nett unterhal-
ten, gab ihm eine Doktorarbeit (Begriff der Menschen[recht]e), dann nach Heisterbach,
schön mit Duschka. Den Pfarrer getroffen, sehr heiß den ganzen Tag, Gastritis. Nachts
nicht geschlafen.

Mittwoch, 21. 5. 24
Zu Hause, etwas unruhig und aufgeregt, behaglich. Nach dem Essen müde, nachmittags
kam Duschka zu mir und saß in ihrer schönen Ecke, wir gingen zusammen zur Vorlesung,
sie war gut (Parlamentarismus der Weimarer Verfassung), aber leider war ich müde. Nach-
her aßen wir im Königshof zu Abend, auf der oberen Terrasse, herrlich, dann nach Heister-
bach, während ein Gewitter drohte. Erzählte ihr schön von den drei Möglichkeiten, der
römischen, der christlichen und der menschlichen. Erschüttert von ihrer wunderbaren,

966 Anonymus [Walter Gurian?], Carl Schmitt. Ein vorläufiger Hinweis, Kölnische Volkszeitung
(„KV“) vom 19. 5.1924; s. Reproduktion auf den folgenden Seiten. Zu der „KV“ und dem „Abend-
land“-Kreis entwickelten sich ab 1925 enge Kontakte; vgl. Brief der „KV“ an Schmitt vom
14. 2.1925 (RW 265-472); Koenen, Der Fall Carl Schmitt, S. 46–83.
967 Erstes Ursulinenkloster in Deutschland, errichtet 1639 am Grab der hl. Ursula, der Schutzpatronin
der 1535 in Brecia (Italien) von Angela Merici (um 1472–1540) gegründeten „Compagnia di
Sant’Orsola“.
968 Damals hatte Schmitt seine Cari in einem Frauenkloster in der Venloer Straße (vermutlich bei
Cellitinnen) untergebracht; vgl. TB I.
969 Der Vortrag auf Einladung des Kulturbeirats der Rheinischen Zentrumspartei fand um 20 Uhr in
der Aula des o. g. Klosters statt und handelte von „Romantik und Politik“; vgl. „KV“ vom 19. 5.
1924 (s. Anm. 966).

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348 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

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Mai 1924 349

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350 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

mädchenhaften Liebe und Hingabe. Auf einem Wagen nach Dollendorf zurück, wegen des
Gewitters kam die Bahn erst nach 10. Todmüde nach Hause.

Donnerstag, 22. 5. 24
Müde Vorlesung, vergebens auf Nachricht von der Frankfurter Zeitung gewartet wegen der
Besprechung Stier-Somlo, allmählich ungeduldig. Nachmittags auf meinem Zimmer gele-
gen, ausgeruht, um 1/2 8 Bilfinger abgeholt, mit ihm im Hähnchen gegessen, nett unterhal-
ten, um 10 nach Hause, seit langem zum ersten Mal wieder etwas geschlafen.

Freitag, 23. 5. 24
Es regnete, so dass ich dachte, Duschka wäre nicht in der Vorlesung (sie hatte versprochen,
von Heisterbach zu kommen). Sie war aber da. Gerührt. Schönes, gutes Kind, hielt für sie
die Vorlesung über Monarchie, freute mich darüber. Nachher mit ihr einen silbernen Blei-
stift für mich gekauft. Dann nach dem Essen zu Hause im Bett ausgeruht, sie kam um 1/2 4,
blieb bis 6 bei mir, ruhte schön aus, gutes, braves Kind. Wir hörten die Vorlesung von
Schmitz über Chopin, dann zu dreien im Bürgerverein zu Abend gegessen, dann bei
Schmitz, er spielte sehr schön, erst das Klarinettenquintett von Mozart970, dann das Andante
der VII. Symphonie971, dann Chopin; es gefiel uns gut, um 10 nach Hause, sehr müde.

Samstag, 24. 5. 24
Wieder nichts von Frankfurt; ärgerlich. Aber der Morgen war zu schön, behaglich einige
Briefe in Ordnung gebracht, innerlich aufgeregt, auf Duschka gewartet. Ging um 1/2 11 zu
Landsberg und sah sie, gab den Schlüssel ab, zufällig kam Landsberg heraus (er wollte zur
Kantfeier972 wegen seines Sohnes, der sich vielleicht hier habilitiert), stellte Duschka vor,
widerlicher Kerl, dann bei mir im Zimmer, um 11 an dem Zeitungsladen vorbei (aber meine
Besprechung über Stier-Somlo steht nicht im Literaturblatt). Mit Duschka nach Heister-
bach, dort gegessen (scheußliche Gäste, die rheinischen Bürgerweiber, alle wie Frau M[aus],
ekelhaft, immer von Geld gesprochen, dabei süßlich gemütlich verlogen). Mit Duschka auf
ihr Zimmer, auf der Ottomane, Ejakulation. Wir tranken um 1/2 5 Kaffee, dann wurde sie
plötzlich krank, erbrach sich, traurig, ich fuhr um 7. 39 mit der Bahn nach Dollendorf, trau-
rig, benommen. Kein Brief gekommen, oft Wutanfälle, der Pedell, den ich bestellt hatte,
auch nicht gekommen. Wäre beinahe irrsinnig geworden vor Wut, las abends noch eine Dis-
sertation, traurig, müde, nicht zu Abend gegessen. Dachte an die arme, kranke Duschka.
Welch ein Leben. Habe einen offenen Brief an Guardini über das Römische entworfen.

Sonntag, 25. 5. 24
Nachts Depressionen, lächerlich, dieser Brief an Guardini über das Römische. Ich fühle den
Nihilismus von Duschka in mir. Vormittags einige Briefe erledigt, dadurch wieder guter

970 Klarinettenquintett A-Dur, KV 581 (komponiert 1789).


971 Siehe Anm. 709.
972 Universitätsfeier anlässlich des 200. Geburtstages von Immanuel Kant. Vgl. Adolf Dyroff, Worauf
beruht Kants Genialität? Rede zum 200. Geburtstage Kants, gehalten bei der Kantfeier der Rheini-
schen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn am 24. Mai 1924, Bonn 1924.

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Mai 1924 351

Dinge, besonders an Smend, auch an Pohl. Wollte erst wütend der Frankfurter Zeitung
schreiben, tat es aber schließlich nicht. Mittags nach dem Essen ausgeruht, um 1/2 4 nach
Heisterbach, wunderschöner Nachmittag mit Duschka, sie war rührend liebevoll und gut,
prachtvolles Kind. Abends begleitete sie mich durchs Mühlental und wollte immer noch
etwas mit mir gehen. Ich ging sehr glücklich nach Hause.

Montag, 26. 5. 24
Morgens kam der Aushänger wegen des Aufsatzes von Ball aus dem Hochland973. Mit
großer Freude gelesen. Behaglich einige Zeitungen gekauft, Vorlesung über Monarchie,
nach dem Essen mit Bilfinger, dann zu Hause schön ausgeruht, nachmittags mit Mansur im
Königshof, nett aber langweilig; ich bin zu ungeduldig für solche Dinge. Kaufte Blumen,
dann zu Schmitz, im Bürgerverein gut gegessen, zu Pütz974, bis 12 Uhr abends, schlechter
Wein, im Grunde langweilig, überflüssig. Nach Hause, etwas Kopfschmerzen von dem
schlechten Wein. Nie wieder.

Dienstag, 27. 5. 24
Nach der Vorlesung zum Beigeordneten Meier (wegen der Vereidigung der Verordneten)975,
dann zu Fräulein Esser, langweilig, <…>, nach dem Essen mit Bilfinger im Café Hansa nett
unterhalten, um 4 Gurian mit seiner Frau abgeholt, zum Königshof, Mokka und Schlag-
sahne gegessen, dann abends im Bürgerverein, sehr nett unterhalten, aber zuletzt auch wie-
der langweilig und gleichgültig, Gefühl der Fremdheit. Um 9 zu Hause, bald zu Bett, gleich
eingeschlafen.

Mittwoch, 28. 5. 24
Gut ausgeschlafen, seit langem, fröhlich. Kein Brief, herumgelesen, Tasche geordnet, nicht
viel getan. Mittags Zeitung gekauft, im Seminar, müde, christlich, ruhig und verschlossen,
nach dem Essen mit Bilfinger unterhalten, dann zu Hause ausgeruht, im Hansa-Café ein
Glas Mokka, nachmittags gute Vorlesung über die Reichsregierung und den Reichspräsi-
denten, mit Schnors zusammen zur Siebengebirgsbahn, nach [Heisterbach], bei Duschka,
bis abends 10 Uhr, sie war traurig, wollte mich nicht weggehen lassen, rührend und gut,
krank. Ich fuhr 10. 24 zurück, las in der Bahn noch Hugo Ball und fand ihn doch sehr
schön.

Donnerstag (Christi Himmelfahrt), 29. 5. 24


Nachts nicht gut geschlafen, um 1/2 8 aufgestanden, zur Malteser-Kapelle, die Messe und
Predigt von Junglas976, erbaulich und schön, aber diese grässliche Familie. Nachher zu
Hause gefrühstückt, um 10 kam Duschka, sehr fröhlich, wir gingen zu Schmitz, zum Kon-
zert, scheußlich, die Österreicher, leider gefiel ihr auch das Klarinettenquintett nicht. Wir

973 Siehe Anm. 585.


974 Gastronom J. Pütz, Bonn, Endenicher Str. 48.
975 Möglicherweise ist Schmitts Anwalt, der Stadtverordnete Meyer (s. Anm. 230) gemeint.
976 Peter Junglas (1876–1937), 1907 Religionslehrer in Koblenz, 1921 in Bonn, ab 1922 ebd. o. Prof.
für Dogmatik.

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352 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

gingen zum Bürgerverein essen, dann nach Hause, ich schlief etwas, Duschka ruhte auf dem
Sofa aus, um 5 wurde sie krank und musste erbrechen, den ganzen Nachmittag bis abends
1/2 9. Armes Kind. Ich holte dann ein Auto und brachte sie nach Heisterbach, fuhr abends
wieder zurück. Sie ist sehr schwach und krank und wird wohl niemals gesund. Liebe
Duschka.

Freitag, 30. 5. 24
Kleines Referendar-Examen, langweilig. Müde, nervös, erledigt. Um 4 fuhr ich nach Bonn
zurück, viele Briefe (Smend, Däubler, Frau Eisler usw.); aber nicht, was ich erwartete, neu-
gierig auf die Frankfurter Zeitung, aber sie kam nicht. Abends zu Landsberg, scheußlichen
Witz erzählt, widerlich, die jüdische Mutter bei ihrem Sohn wie 2 Verliebte. Aber herrlicher
Moselwein (Kaseler [Nieschen]). Um 1/2 11 müde nach Hause und gleich zu Bett. Konnte
nicht schlafen (jedes Mal, wenn ich bei Landsberg war).

[Am oberen Rand notiert] Werner Becker 31. 5. 24

Samstag, 31. 5. 24
Morgens müde, arbeitsunfähig, um 1/2 11 weggegangen, kein Brief, im juristischen Seminar,
nichts in der Frankfurter Zeitung; als ich zurückkam, war ein Zettel von Schmitz da, der
mich verfehlt hatte. Schade. Aber er will Montag wiederkommen. Erfreut und angeregt.
Nach dem Essen geschlafen, sehr müde, der Student Becker, war schlechter Laune. Um 4
nach Heisterbach in großer Hetze, zu Duschka. Erst sehr traurig, trank Mokka, dann mach-
ten wir einen Spaziergang auf den Dollendorfberg. Wunderschön, allmählich fröhlich und
lustig, wie 2 Kinder, ich kletterte auf einen Baum. Um 9 Uhr müde, aber nicht mehr traurig
zurück. Wie gut und schön ist sie. Todmüde zu Hause.

Sonntag, 1. 6. 24
Etwas länger geschlafen, das tat mir wohl. Behaglich gefrühstückt. Pierrefeu977 dazu gelesen,
Göppert kam und lud mich für Donnerstagabend ein; sagte zu.

Pfingstferien 7. 6. bis 15. 6. in Heisterbach bei Duschka, wunderschöne Spaziergänge auf


den Dollendorfberg, große Liebe und Sehnsucht, oft Angst um das kranke Kind, am 14. 6.
deshalb978 in Köln (Angst vor den Kölner Bureaus, Balls Aufsatz war im Hochland erschie-
nen979), mit Jup nach Heisterbach, er untersuchte Duschka und meinte, sie habe Tuber-
kulose. Nett unterhalten, abends begleiteten wir ihn zurück. Duschka las den Aufsatz von
Ball; mir tat das Herz weh, wenn ich ihre Anhänglichkeit sehe, zum Glück hatte ich immer

977 Vermutlich Jeau de Pierrefeu, Plutarch hat gelogen, Berlin 1923. Der Kriegsveteran Pierrefeu
(1883–1940) war Journalist und mit Maurice Barrès befreundet; bis zuletzt sprach er sich für Pétain
aus.
978 Laut Notiz vom 14. 6.1924 in: Teil III, S. 534, war jedoch ein juristisches Examen der Grund.
979 In einem Brief aus Heisterbach an Smend vom 11. 6.1924, in: Mehring (Hrsg.), BW Schmitt –
Smend, S. 28, meint Schmitt: „der Aufsatz [ist] literarisch so schön, daß kein Mensch oder Tier von
mir noch ein Stück juristischen Brotes nehmen wird“.

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Mai/Juni 1924 353

Geld; ihre Sehnsucht nach Herzlichkeit, Wunsch, nach Freiburg zu kommen, mit mir zu
arbeiten.

Montag, 16. 6. 24
Schön gearbeitet, im Zimmerchen (an der Kapelle) wunderschön ihren Leib geküsst, wie
klug und verständig ist sie. Kühl vor dem Publikum in Heisterbach.

Dienstag, 17. 6. 24
Mit Duschka nach Bonn, sie hörte meine Vorlesung (über Rousseau), dann zusammen zum
Passbüro, Angst vor den Bureaus, eben doch angestrengt und sehr nervös, Angstzustände,
kann überhaupt nichts mehr arbeiten, ich ruiniere mich dauernd durch die Sorge um
Duschka, ich aß bei Strassberger, nachher mit Bilfinger auf meinem Zimmer, wieder lang-
weilig, traf Duschka bei Schmitz, wir tranken dort Kaffee, gingen an den Rhein spazieren,
sehr schön, abends bei Schmitz gegessen, um 9 Uhr nach Hause. Schöner Abend, erst um 10
in Heisterbach.

Mittwoch, 18. 6. 24
Morgens mit Duschka ein schöner Spaziergang, durch den Wald nach der Rosenau hinauf,
sie hustet sehr stark, nachmittags nach Bonn, nach Ruppichteroth telephoniert980, dann
meine Vorlesung gut gehalten, nachher Zeitungen gekauft, einen Augenblick ruhig zu
Hause, im Bürgerverein gegessen, mit Rick, Beyerhaus, Vormfelde, Schmitz. Zuviel Wein,
den ich natürlich bezahlte, müde ins Bett.

Donnerstag, 19. 6. 24
Vormittags zu Hause (Fronleichnam), spät aufgestanden, gut ausgeruht, schöner Brief von
Smend, nach dem Essen ausgeruht, um 1/2 4 nach Heisterbach, es regnete. Duschka erwar-
tete mich im Mühlentalweg, wundervolles, liebes Kind. Wir waren traurig wegen der trauri-
gen Zustände in Heisterbach, das ist meine Schwäche, abends schön auf ihrem Zimmer
etwas gearbeitet, wunderbare Ejakulation; ihre herrlichen Füße. Abends 1/2 10 Uhr fröh-
lich ins Bett. Erst war Duschka entsetzlich traurig, aber nachdem wir nach dem Essen schön
uns unterhalten hatten (über unsere Ehe, keine Kinder), war es besser.

Freitag, 20. 6. 24
Morgens wieder um 6 Uhr auf, nach [Fries]dorf 981, zu Hause Kaffee, Vorlesung anständig
vorbereitet, nach Ruppichteroth telephoniert, anscheinend geht es gut, aber doch viel Sorge
und Angst, dabei schrecklich teuer. Nach dem Essen mit Bilfinger und Vormfelde, dann
Haare schneiden, müde nach Hause, ausgeruht, an Feuchtwanger geschrieben, es wurde
schnell 6 Uhr. Um 1/2 7 nach Heisterbach.982 Jetzt kommen ein paar schöne Tage (morgen
nach Köln, übermorgen Ruppichteroth).

980 Schmitt bemühte sich in Ruppichteroth, der „Perle des Bröltals“, um einen Platz zur Behandlung
von Duschkas Tbc.
981 1904 nach Godesberg eingemeindeter Ort.
982 Siehe Notiz vom 20. 6. 1924 in: Teil III, S. 536.

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354 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Samstag, 21. 6. 24
Morgens schön ausgeschlafen, gefrühstückt, mittags nach Bonn, zu Hause eine Stunde
wunderschön in meinem Arbeitszimmer, dann bei Kieffer ein Glas Bier. Nach Köln, zu
Jup, ins Hospital, Röntgenaufnahme, schreckliches Bild von der Tuberkulose der armen
Duschka; die Wassermann-Reaktion positiv. Schreckliche Angst. Todmüde zurück, dann
nach Heisterbach, in großer Sorge, sie könnte nicht sprechen. Ich brachte sie gleich zu Bett
und aß noch zu Abend, tödliche Sorge.983 Wir werden morgen früh nicht fahren können.

Sonntag, 22. 6. 24
Um 9 in die Messe, Duschka stand um 10 noch nicht auf, ich ging zu ihr ans Bett, wie schön
ist sie. Nach dem Frühstück wieder bei ihr. Wir aßen im Restaurant zu Mittag, fuhren mit
dem Wagen um 3 Uhr nach Dollendorf, mit der Elektrischen nach Siegburg, dann mit der
Bahn nach Eitorf, dort im Auto abgeholt, wunderschöne Fahrt durch die Wälder und durch
die ansteigenden Chausseen, Enttäuschung in Ruppichteroth, langweiliges, trauriges Abend-
essen. Allmählich etwas beruhigt, um 1/2 10 zu Bett. Schlechtes Zimmer, konnte nicht ein-
schlafen, welche Situation.

Montag, 23. 6. 24
Zu früh um 1/2 5 aufgestanden, schnell angezogen, sehr frisch und munter auf der Chaussee
spazieren gegangen, herrliches Land, mit dem Bähnchen nach Hennef, dann nach Siegburg
und Bonn, sehr unternehmend, herrlicher Morgen, zu Hause keine besonderen Briefe,
enttäuscht. Meine Vorlesung schön gehalten, nachmittags Doktorexamen des Ungarn984,
an Duschka schön geschrieben des Abends985, mit Bilfinger im Hähnchen, ein rührender
Mensch.

Dienstag, 24. 6. 24
Nach der Vorlesung zum Seminar, nachmittags mit Rick nach Godesberg, das Deutsche
Kolleg des Dr. Berendt986 besehen, nach Hause, abends für mich allein, Bürgerverein.

Mittwoch, 25. 6. 24
Morgens zu Hause, einiges erledigt, plötzlich an Däubler geschrieben987, wunderschöner
Brief von Duschka, gerührt und glücklich. Nachmittags Vorlesung, abends kam Jup, bei
Kieffer zu viel Bier getrunken. Vormfelde und Schmitz waren noch da.

983 Siehe Notiz vom 21. 6. 1924 in: Teil III, S. 536.
984 Nicht ermittelt; offenbar war Schmitt nicht Erstgutachter.
985 Siehe Notiz vom 23. 6. 1924 in: Teil III, S. 536.
986 Das Deutsche Kolleg wurde 1920 in Godesburg als kath. Privatschule gegründet und später in das
Städtische Obergymnasium für Jungen umgewandelt. Direktor von 1922 bis zur Zwangsauflösung
1938 war der mit Rudolf Steiner und Rudolf Smend (vgl. Brief von Schmitt an Smend vom 27. 6.
1924, in: Mehring [Hrsg.], BW Schmitt – Smend, S. 29 f., 30) bekannte Germanist und Pädagoge
Dr. phil. Hans Berendt (1887–1961).
987 In dem Brief (RW 265-12895) geht Schmitt auf Däublers „Sang an Mailand“ (erstmals in: Die Ak-
tion V [1915], Heft 18/19, S. 217–225) ein, vor allem auf den Vers „Sicher wie der Sommer, hoffend
wie der Mond“. Schmitt fragt, wie es komme, dass niemals von Däubler die Rede sei, obwohl er
öfter erwähnt werde. „Es ist die Konspiration der Lebenden gegen die Überlebenden“. Offenbar

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Juni 1924 355

[Am oberen Rand notiert] Der Dreckjude in der Brölbacheisenbahn988 29. 6. 24

Donnerstag, 26. 6. 24
Nach der Vorlesung im Seminar mit Fräulein Esser, schöner Brief von Duschka, nachmit-
tags bei Göppert, beredet, Dekan zu werden. Bei Bilfinger in einer Staatsrechtsübung, nach-
her im Bürgerverein mit Zimmer, von Bilfinger begleitet nach Hause.

Freitag, 27. 6. 24
Nachmittags Vorlesung mit Schreuer, dann zu Hause aufgeregt, müde, nachmittags Wilms
wegen der Dissertation über Ausnahmezustand unter der Restauration989. Dann zu
Schmitz, nachher zu Landsberg, Abendessen, ekelhafte Gesellschaft, aber guter Wein. Nicht
wieder hingehen. Müde zu Hause.

Samstag, 28. 6. 24
Schlecht geschlafen, früh auf, nach Köln zum Examen, sehr langweilig, müde, traurig, von
Gurian abgeholt, mit ihm in seine Wohnung, wo seine Frau Kaffee gemacht hatte; nette
Leute anscheinend, dann fuhr ich nach Köln990 zurück (die Geschichte mit dem Billett, das
ich für den Bilfinger bezahlte), mit Jup und Bilfinger bei Deis, sehr teuer, und dabei nicht
einmal schön. Um 9 nach Hause, dort war ein Brief von Duschka, dass es ihr schlecht geht;
lief noch zu Frau Schmitz, um etwas für Duschka zu holen. Müde zu Hause ins Bett.

Sonntag, 29. 6. 24
Schlecht geschlafen, Angst, mich zu verschlafen, nach Ruppichteroth gefahren, im Zug
Franzosen, Wutanfall, der Dreckjude, der mit den Franzosen spricht, grauenhafte Wut. Von
Duschka abgeholt, wie schön ist sie. Frühstückte in ihrem Zimmer, wir gingen etwas spazie-
ren, die Gegend ist freundlich und schön, grüne Wiesen und hügelige Wälder. Nach dem
Essen ausgeruht, schön zusammen Kaffee, das Essen ist gut, alles aber schrecklich teuer,
machte dann mit Duschka einen Spaziergang, Plan wegen eines Aufenthalts in Davos. Oft
Gefühl, betrogen zu sein, oft Gefühl großen Glückes wegen ihrer Liebe. Nachmittag auf
ihrem Zimmer, wunderschön ihre Füße, ihre Hände, ihr Leib. Wie schön sind ihre Füße.
Nach dem Essen bis 9 Uhr auf ihrem Zimmer, dann müde zu Bett.

Montag, 30. 6. 24
Um 5 aufgestanden, 5. 45 mit der Brölbach-Bahn nach Hennef (wieder der dicke Jude, der
diesmal Englisch sprach), um 9 in Bonn, ziemlich müde, keine besonderen Briefe, nichts

Jahrzehnte später hat Schmitt mit blauer Tinte folgende Zeilen unter die Kopie des Briefes ge-
schrieben: „Das Nordlicht ist eine tellurische Sendung ins All(e),/das kosmische Manifest/einer
elektrifizierten Erde;/eine futuristische Idee./Faschismus ist Futurismus,/die Hitler-Ideologie ver-
dient den/dubiosen Namen einer konservativen Revolution“. Drei weitere Zeilen sind nicht mehr
lesbar.
988 Bröl(tal)bahn, eine der ersten Schmalspurbahnlinien Deutschlands zwischen Hennef, Bröl, Rup-
pichteroth und Waldbröl.
989 Siehe Anm. 270.
990 Das Ehepaar Gurian wohnte zu dieser Zeit noch in Köln-Deutz, Von-Sandt-Platz 1, ab November
(s. Eintragungen vom 8. und 9. 11.1924) in Godesberg, Viktoriastraße 13.

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356 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

von der Vereinigung wissenschaftlicher Verleger, hielt eine gute Vorlesung, dann herum-
gelaufen, abends für mich allein im Bürgerverein gegessen, nach Hause, endlich einmal für
mich allein.

Dienstag, 1. 7. 24
Um 1/2 5 mit Göppert Kaffee getrunken auf der Terrasse des Königshofs, dann Fakultäts-
sitzung. Göppert wurde nicht gewählt991, Landsberg und Schulz scheußlich (besonders der
Plebejer Schulz mit seinem „Ritusstandpunkt“). Sehr aufgeregt, dann schöne Übung über
Erl[ass]recht und Aufsichtsrecht, Schlosser. Nachher mit Bilfinger in der Lese992, Neuß war
auch da, zu viel Wein, Neuß erzählte schön von Spanien993, müde nach Hause, gefroren,
scheußliche Nervenschmerzen.

Mittwoch, 2. 7. 24
Morgens zu Hause, herrlicher Brief von Duschka, bequem, Angst vor den Frauen, Angst
vor Hunger (von Feuchtwanger 250 Mark994)‚ nach dem Essen mit Vormfelde und Bilfinger
Kaffee getrunken, zu Hause, Vorlesung (zu spät) schlecht und recht, Beyerhaus und seine
Frau erwarteten mich995, aßen zu Abend im Königshof, 20 Mark, schrecklich viel Geld,
langweilig, erzählte die Geschichte vom treuen Zigeuner996, um 10 fuhren wir nach Hause
zurück. Müde. Gut ausgeschlafen.

Donnerstag, [3]. 7. 24997


Herrlicher Brief von Duschka, gerührt, begierig. Gute Vorlesung über den Bundesstaat
(Waitz)998 im Seminar, ziemlich fleißig. Nachmittags gut gearbeitet, Zeitungen ausgeschnit-
ten, endlich einmal eine ruhige Stunde. Abends bis nach 8, Hilfe kam nicht, zum Bürger-

991 Zum Dekan der Juristischen Fakultät wurde Fritz Schulz gewählt.
992 „Zur Lese“, am Rhein gelegenes Restaurant, seit 1787 Versammlungsort der Bonner Lese- und
Erholungs-Gesellschaft.
993 Neuß hatte sich dort für einige Zeit aufgehalten; vgl. Brief von Schmitt an Smend vom 27. 6.1924,
in: Mehring (Hrsg.), BW Schmitt – Smend, S. 29 f., 30.
994 Schmitt hatte seit Februar mehrmals bei Feuchtwanger nach Honoraren zwar gefragt, nicht aber –
wie davon spitzfindig unterschieden (Brief an Feuchtwanger vom 11. 6.1924, in: Rieß [Hrsg.], BW
Schmitt – Feuchtwanger, S. 56 f., 57) – solche verlangt. Er drohte Feuchtwanger mit Verlagswech-
sel.
995 Das Ehepaar Beyerhaus wohnte in Bonn nur drei Häuser weiter in der Endenicher Allee 26.
996 Zur Satire „Der treue Zigeuner“ s. Teil I, Anm. 195.
997 Schmitt notierte versehentlich zweimal „2. 7. 24“, sodass sich die Chronologie seines Tagesbuchs
bis zum 6. 7.1924 verschob.
998 Inspiriert durch Alexis de Tocquevilles Buch „De la démocratie en Amérique“ (1835) entwickelte
Georg Waitz eine Bundesstaatstheorie, die über lange Zeit die staatstheoretische Diskussion beein-
flusste. Waitz vertrat die „Teilbarkeit der Souveränität“, d. h. eine strikte Trennung der Gewalten
von Zentralstaat (Gesamtstaat) einerseits und Gliedstaaten andererseits. Die Vereinigung von Ein-
zelstaaten und Zentralstaat ist nach Waitz der Bundesstaat. Vgl. Georg Waitz, Das Wesen des Bun-
desstaats, in: Allgemeine Monatsschrift für Wissenschaft und Literatur, 1853, S. 494–530, auch in:
ders., Grundzüge der Politik, Kiel 1862, S. 153–218.

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Juli 1924 357

verein, Rick (langweilig, ich war beleidigt), Bilfinger und Schmitz. Wir haben heute wegen
der Referate an den Verlag telephoniert.

Freitag, [4]. 7. 24
Morgens kam die Veröffentlichung meines Referats auf der Staatsrechtslehrertagung. Vieles
beleidigte mich, im Ganzen aber fröhlich. Hielt meine Vorlesung ziemlich improvisiert,
nachher zu Hause, nach dem Essen mit Bilfinger, er sagte, ich habe etwas von Kaffeehaus-
literat. Du siehst also, wie dumm du bist. Schämte mich schrecklich. Unverbesserlicher
Narr. Dann den Nachmittag zu Hause, Zeitungen geordnet usw. Ruhig und zufrieden in
der Ruhe des Zimmers.

Samstag, [5]. 7. 24
In Ruppichteroth bei Duschka.999

Sonntag, [6]. 7. [24]


bei Duschka.

Freitag, 11. 7. [24]


(Geburtstag). Mittags mit Bilfinger und seiner Frau und Schmitz bei Schwarz gegessen,
dann im Auto zur Beethovenhalle, nach Ruppichteroth, von Duschka in Eitorf abgeholt,
rührende Geburtstagsgeschenke. Gutes, liebes Kind.

Samstag, 12. 7. [24]


Ein paar schöne Spaziergänge, wunderschöne gütige Frau. Sonntag, 13. 7. [24]
kam Schmitz und war einen Tag bei uns, spielte das Andante der 7. Symphonie1000. Am
14. 7. [24] fuhren wir zurück. Nachmittags Abstimmung über die Ehrenpromotion Silver-
berg1001, große Aufregung.

Dienstag,15. 7. [24]
Nachmittags Übungen.

Mittwoch, 16. 7. [24]


Abends mit Bilfinger bei Neuß, er1002 las den Aufsatz über meine Diktatur für KV. vor.

999 Siehe auch die Notiz vom 5. 7.1924 in: Teil III, S. 538.
1000 Siehe Anm. 709.
1001 Gemeint ist wohl die Promotion zum Dr. rer. pol. h. c. von Paul Silverberg (1876–1959), Dr. iur.
(Bonn 1902), Bruder von Anna Landsberg (s. Anm. 243), 1903 Rechtsanwalt in Köln und protest.
Kirchenrechtler (Taufe 1895), dann in der Nachfolge seines Vaters, Adolf Silverberg (1845–1903),
Großindustrieller, in der Weimarer Republik einer der einflußreichsten Repräsentanten des rhei-
nischen Braunkohlebergbaus und der Montanindustrie, DVP-Mitglied, 1932 trotz seiner jüdi-
schen Herkunft Befürworter einer Kanzlerschaft Adolf Hitlers, 1934 in die Schweiz emigriert,
1936 liechtensteinische Staatsbürgerschaft.
1002 Siehe Eintragung vom 19. 7.1924.

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358 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Donnerstag, 17. 7. [24]


Examen in Köln, angestrengt. Nachmittags mit Gurian, Dempf 1003 und Jup bei Deis.

Freitag, 18. 7. [24]


Viel Arbeit, Besprechungen, Dissertationen; abends bis 12 im Bürgerverein mit Bilfinger,
seiner Frau, Rick und Schmitz, etwas gelangweilt.

Samstag, 19. 7. [24]


Früh nach Ruppichteroth mit dem Bröltal-Bähnchen, las die KV., in welcher der Artikel
von Bilfinger steht. Schöner Tag mit Duschka.1004

Sonntag, 20. 7. [24]


Schöner Tag mit Duschka. Wir erzählten uns viel, ich von Kathleen1005, sie von ihrer
Schwester.

Montag, 21. 7. [24]


Morgens mit dem Bähnchen1006 nach Hennef und Siegburg, André kommt morgen, Vor-
lesung gefiel, oft müde und traurig. Nachmittags Examen, zu Hause, zahllose Briefe ge-
schrieben. Abends mit Neuß spazieren. Frankfurter Zeitung um Rücksendung meines
Manuskriptes gebeten.1007

[Die Eintragungen vom 22.–24. 7.1924 von Schmitt – chronologisch falsch – vor Oktober/
November 1924 eingetragen]

Dienstag, 22. 7. [24]


Nachmittags um 5 kam André, 6–7 Übungen (er war dabei, langweilte sich aber), nachher
aßen wir im Bürgerverein zu Abend. Müde. Er sprach nur von seinen Plänen, der erste in
den <…>.

1003 Schmitt hatte sich am 16. 7.1924 mit einer Karte für die Zusendung von Dempfs „Weltgeschichte
als Tat und Gemeinschaft. Eine vergleichende Kulturphilosophie“, Halle 1924, bedankt. Alois
Dempf (1891–1982), Landwirt und Kulturphilosoph aus dem Umfeld der Liturgischen Bewe-
gung, des „Hochland“ und des „Abendland“-Kreises, 1928 Habilitation bei Adolf Dyroff in
Bonn, 1930–1931 Lehrauftrag in Rechts- und Staatsphilosophie ebd., 1932 ao. Prof., 1937 o. Prof.
in Wien, 1938 Lehrverbot, 1948 o. Prof. in München. Dempf war es, der Schmitt – vergeblich – zu
einer ständigen Mitarbeit an der 1925 gegründeten Zeitschrift „Abendland“ aufgefordert hat; vgl.
Dempfs Briefe an Schmitt vom 28. 12.1925 und 11. 1.1926 (RW 265-59), abgedruckt in: Schmit-
tiana NF II 2014, S. 153–158.
1004 Siehe Notiz vom 19. 7.1924 in: Teil III, S. 539.
1005 Siehe ebd. Notiz (zwischen 19. und 21. 7. 1924) über den misslungenen „Versuch“ einer Frau
(Kathleen?) „zu betrügen“.
1006 Der Zug fuhr Schmitt nach Bonn, d. h. in Richtung Mainz; s. Notiz vom 21. 7. 1924, in: Teil III,
S. 539.
1007 Im Nachlass Schmitt befindet sich ein Brief der Frankfurter Zeitung vom 4. 6.1924 (RW 265-
11428), in dem die Redaktion Schmitts Besprechung der Übersetzung von Hobhouse annimmt.
Offenbar hat Schmitt diese bereits vorher wegen der lange ausgebliebenen Antwort der Redaktion
zurückgezogen, was letztere nun bedauert.

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Juli 1924 359

Mittwoch, 23. 7. [24]


Mit André gefrühstückt. Nett unterhalten, ein paar Briefe geschrieben, schöner Brief von
Duschka (ich spreche nicht von Duschka), Spaziergang am Rhein, todmüde, nach dem
Essen ausgeruht, zum Doktorexamen, müde, meine Vorlesung vorbereitet, über die bayeri-
sche Denkschrift1008, nachher André geschrieben, zu Abend im Bürgerverein mit Bilfinger,
nachher kam André, der bei Schmitz war. Gegen 11 müde nach Hause, Bilfinger sprach
über <…>, der [mit Duschka] flirtet <?>. Angst, Eifersucht, traurig.

Donnerstag, 24. 7. [24]


Mit André gefrühstückt, Vorlesung, Geheimrat Schulte las mir seinen Aufsatz vor, Göppert,
bei Frau v. Wandel. Nach dem Essen bei Rittershaus, den [Aufsatz von] Stier-Somlo aus
dem Archiv des öffentlichen Rechts1009 gelesen. Nachmittags schön zu Hause aufgeräumt,
Aufsatz aus der deutschen Vierteljahresschrift von Martin über meine politische Roman-
tik1010.

[Keine Einträge für die Zeit vom 25. bis 31.1011 7.1924]

1008 Gemeint ist die im Auftrag von Ministerpräsident Eugen von Knilling (1865–1927) vom Staatsrat
im bayerischen Finanzministerium, Hans Schmelzle (1874–1955), im Dezember 1923 verfasste
Denkschrift „Zur Revision der Weimarer Reichsverfassung“, die der Reichsregierung am 4. Januar
1924 nach Zustimmung des Ministerrats ohne Änderungen überreicht wurde (in: Bayer. Staatszei-
tung vom 5. 1.1924. Sonderbeilage, abgedruckt in: Reichsministerium des Innern [Hrsg.], Verfas-
sungsausschuß der Länderkonferenz. Beratungsunterlagen 1928, Berlin 1929, S. 343–361). Nach
den Verfassungsauseinandersetzungen 1921–1923 zwischen Bayern und dem Reich um die sog.
Ordnungszellenpolitik Gustav von Kahrs (s. Anm. 790) bemühte sich vor allem der 1924–1933
amtierende Bayerische Ministerpräsident Heinrich Held (1868–1938) um eine Versachlichung des
Konflikts. Zentrales Mittel dieser Verfassungspolitik waren die bayerischen „Denkschriften“ von
1924, 1926, 1928 und 1932, in denen Bayern seine föderalistischen Positionen formulierte und
darüber in einen Dialog mit der Reichsregierung eintrat. Letztlich kam es aber zu keinen Refor-
men und die Weimarer Republik endete in der nationalsozialistischen Diktatur.
1009 Fritz Stier-Somlo, aaO. (s. Anm. 920), S. 104, spricht darin von der „Freude an dem hohen Niveau
des Dargebotenen“, dennoch sei es ihm schwer gefallen, seinen Bericht in der „pragmatischen
Objektivität des Chronisten zu halten“ – eine deutliche Distanzierung von den bei der Tagung
vertretenen Positionen Schmitts und Jacobis.
1010 Alfred von Martin, Das Wesen der romantischen Religiosität, Deutsche Vierteljahresschrift für
Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2 (1924/II), S. 367–417. In dem Aufsatz ist freilich
nur gelegentlich die Rede von Schmitt (S. 367, 373), am eindrücklichsten, wenn es heißt, Schmitt
habe „etwas von einem katholischen Spengler“ (S. 370). Im Nachlass befindet sich eine Postkarte
vom 4. 1.1923 (RW 265-9063), auf der v. Martin Schmitt um ein Urteil über eine von ihm
geschickte Arbeit bittet sowie um die Mitteilung, wann die Schrift zur „politischen Idee des
Katholizismus“ erscheinen werde.
1011 An diesem Tag stellte Schmitt – ohne Erfolg – beim Erzbischöflichen Ordinariat in Köln einen
Antrag auf kirchliche Nichtigkeitserklärung der Ehe mit Cari „wegen Betruges durch eine Hoch-
staplerin“.

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360 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Freitag, 1. 8. 24
Um 7 kam der Dienstmann, um ihr Gepäck zu holen. Fröhlich mit Duschka zur Rheinufer-
bahn, nach Köln, dort Anfrage wegen der Züge, 2. Klasse bis Frankfurt, sah in Siegen Dr.
Rick. In Frankfurt stiegen wir um (ich schlief im Coupé 2. Klasse), hinter Frankfurt mit
Rick zusammen, Duschka wurde zuletzt munter und geschwätzig. Ich war müde und trau-
rig, abends 10 Uhr in Augsburg, im Bahnhofshotel übernachtet.

Samstag, 2. 8. 24
Schlechter Tag, zusammen von Augsburg nach Oberstdorf, <…> in der Pension Tank <?>,
enttäuscht, eine schnell gebaute Baracke, wir waren traurig, schlief mittags im Bett,
Duschka ist krank und hustet, wir wollen nicht hier bleiben. Muss morgen nach München
zu Georg Eisler. Bin inzwischen wieder der Gott einer kranken Frau, der ewige Gott, wie
André sagt. Trotzdem ruhig und produktiv, der Anblick der Berge gibt mir Kraft. Dachte
daran, zum Hotel Luitpold1012 zu gehen, versonnen in meine proletarische Armut. Es
regnete des Abends sehr. Die Versonnenheit des Regens. Abends früh zu Bett, gefroren.

Sonntag, 3. 8. 24
Lange geschlafen, leidlich gefroren. Einen Augenblick munter. Duschka hatte einen
schlechten Tag (Dr. [Kölle] und Dr. [Saathoff]1013 verlangen von ihr eine Entscheidung. Sie
sagt: Dann muss ich sterben). Wir machten einen schönen Spaziergang an den rauschenden
Fluss, prachtvolle Landschaft. Das tat uns wohl. Die Sonne kam wieder, wir waren fröhlich
und guter Dinge. Nach dem Essen schön geschlafen, um 6 Uhr nach München gefahren, ins
Hotel Continental, Eisler war nicht da, bestellte eine Flasche Wein und legte mich munter
ins Bett, dann kam Eisler, erzählte von Kluxen, er sah jüdisch und alt aus.

Montag, 4. 8. 24
Vormittags großartig gefrühstückt im Continental (<…>), mit Eisler in ein paar Buchhand-
lungen, durch die Straßen von München, bei Schwarzwälder schlecht zu Mittag, zu Hause
ausgeruht, dann wieder spazieren durch die Stadt. Abends mit Rick1014 (ihn aufgesucht in
der Nordendstraße), in der Akropolis, schließlich noch bei Fahrig, Musik; ausgehöhlte
Stadt. Grauenhaft.

1012 Traditionsreiches Parkhotel in Oberstdorf, das in den frühen 1920er Jahren von so unterschied-
lichen Literaten und Künstlern wie Waldemar Bonsels, Walter Bloem, Richard Strauss u. a. ge-
bucht wurde.
1013 Dr. med. Theodor Kölle, Geh. San.-Rat, Medizinalrat, Arzt für innere Krankheiten, und Dr. med.
L. Saathoff, Besitzer und Leiter der Kuranstalt Stillachhaus. Quelle: Oberstdorf, Ortsprospekt
(12-seitiges Leporello), Sommer-Ausgabe 1928, Carl-Gerber-Verlag München.
1014 Rick bestellte wenige Tage später im Auftrag Schmitts vier Bücher zur Ausleihe (Brief an Stefl
vom 9. 8. 1924, Bayer. Staatsbibliothek Sign. 2931/80): William Mc Dougall, The Group Mind:
a sketch of the principles of collective psychology, with some attempt to apply them to the inter-
pretation of national life and character, New York 1920; Ernest Barker, Political Thought in Eng-
land from Herbert Spencer to the present day, London 1922; Oxford pamphlets 1914 [7 Bände],
Oxford u. a. 1914; [Verf. nicht lesbar], Lectures on general politics, Oxford 1910.

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August 1924 361

Dienstag, 5. 8. 24
Um 1/2 7 aufgestanden, schlicht angezogen und zur Bahn. Nach Oberstdorf zurück,
Duschka um 1/2 1 getroffen, sie war fröhlich und guter Dinge, als ich zurückkam, wir
machten abends einen Spaziergang, früh zu Bett. Fröhlich und glücklich. Konnte aber nicht
schlafen wegen des fließenden Wassers dieser dummen Pension.

Mittwoch, 6. 8. 24
Herrliches Wetter, schöner Spaziergang ins Trettachtal, Steine geworfen, die Füße gebadet
in dem brausenden Wasser, Duschka wird gesund und fröhlich, unglaublich, ich war sehr
glücklich. Nach dem Essen schön ausgeruht, sie bettete mich zur Ruhe, nach dem Kaffee im
Dorf eingekauft, abends schön und früh zu Bett.

Donnerstag, 7. 8. 24
Wieder herrliches Wetter, zum Freibergsee, Kahn gefahren, über die Juden und Palästina
gesprochen, große Liebe zu Duschka, nach dem Essen ausgeruht. Im Dorf Haferlschuhe1015
für Duschka. Abends bei wunderbarem Sturm und Gewitter an die Stillach gegangen. Herr-
licher Abend, wunderbar ihren Leib geküsst.

Freitag, 8. 8. 24
Regnerisches Wetter, fast immer zu Hause, mittags fröhlich zusammen, nicht geschlafen.

Samstag, 9. 8. 24
Morgens die Rechnung, ärgerlich, täglich 4 Mark Trinkgeld. Telegramm von Eisler, dass er
erst Montag kommt. Sehr beleidigt. Dann nach München gefahren, schöne Reise. Unter-
wegs suchten wir Namen für unsere Kinder;1016 <…>. Abends schön für uns, glücklich, dass
Eisler nicht da war, Spaziergang Hofgarten, glücklich, zufrieden. Pension1017 miserabel.

Sonntag, 10. 8. 24
Lange geschlafen, bescheidenes Zimmer. Nach dem Frühstück bei Calker zu Besuch. Traf
ihn zu Hause, dann auch zu Dr. Krause, sehr freundlich und herzlich aufgenommen,
zusammen mit den beiden mit Dr. Lurz zum Essen. Zackwitz und ein Mann von den
Hoechster Farbwerken, gut unterhalten, freute mich über Duschka, aßen im Preysing-
Palais1018, dann im Bayerischen Hof Kaffee, dann zu Hause ausgeruht. Sehr stolz über das
freundliche und anständige Benehmen von Duschka, ihre Sicherheit und ihre Güte. Alle
wunderten sich, wie gut sie aussieht.

1015 Der Oberstdorfer Schuhmacher Franz Schratt schuf 1803 in Anlehnung an den Gemshuf den
trittsicheren Haferlschuh, der ursprünglich für Bergbauern und Jäger gedacht war, aber schnell in
allen Schichten weite Verbreitung fand.
1016 Offenbar wurde der frühere Plan, kinderlos zu bleiben (s. Eintragung vom 19. 6.1924), aufgege-
ben.
1017 Gemäß Brief Schmitts von Mitte August 1924 an Ball, in: Wacker (Hrsg.), Dionysius, S. 214, han-
delt es sich um die Pension Bristol (s. auch die Eintragungen vom 9. und 10. 10.1923).
1018 (Älteres) Preysing-Palais in der Münchener Residenzstraße 27, ältestes Rokoko-Palais der Stadt.

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362 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Montag, 11. 8. 24
Morgens bei Dr. Ritter1019 <?> zur Untersuchung. Kein guter Eindruck. Dann teuer geges-
sen im Künstlerhaus1020, nachdem wir von Fahrig weggegangen waren, nach dem Essen aus-
geruht. Nachmittags vergebens auf Eisler gewartet. Abends allein in der Neuen Börse
gegessen. Müde und traurig nach Hause.

Dienstag, 12. 8. 24
Bei Feuchtwanger vorbei, nett unterhalten, viel Post, Brief von Ball 1021. Abends allein mit
Krause und seiner Frau im Regina-Palast-Hotel.

Mittwoch, 13. 8. 24
Mit Duschka bei Feuchtwanger vorbei, plötzlich entschlossen, nach Lugano zu reisen, zum
jugoslawischen Konsulat, nachmittags mit Feuchtwanger; abends mit Eisler seinen Geburts-
tag gefeiert, zur Bahn gegangen.

Donnerstag, 14. 8. 24
Beim Schweizer Konsulat wegen der Pässe, nachher Neue Börse gegessen, nachmittags Rick
und Feuchtwanger getroffen, dann zu Theodor Haecker wegen der vielen Übersetzungsfeh-
ler1022, schlechter Eindruck, ein einfacher Plebejer. Widerlicher Sekretär. Abends früh zu
Bett.

Freitag, 15. 8. 24
Morgens telephoniert, früh zu Ritter, nachmittags zu Beyerle, überflüssig, dann zurück;
abends mit Duschka bei Krause, sehr schön und freundlich unterhalten, fröhlich nach
Hause.

Samstag, 16. 8. 24
Morgens bei Feuchtwanger, Hochland-Redaktion, Meyer1023 und Fuchs1024 (Herr Auer-
bach)1025, fröhlich, wichtig, schnell in die Bibliothek, bei Riedner, dann Duschka, die lange
gewartet hatte. Nachher zu Hause etwas ausgeruht, dann mit Feuchtwanger in der Neuen

1019 Nicht ermittelter Internist, der Duschka in München untersuchte.


1020 Bekannter Münchener Veranstaltungsort und Restaurant am Lenbachplatz 8.
1021 Brief vom 9. 8.1924, in: Ball, Briefe 1904–1927, Bd. 2, S. 67 f.
1022 Gemeint sind die Fehler in Francis Thompson, Shelley. Übersetzung von Theodor Haecker,
Hochland XXI (1924), S. 55–75, später auch in dem Buch Francis Thompson, Shelley. Ein
Korymbos für den Herbst. Der Jagdhund des Himmels. Übertragen und mit einem Essay über
Francis Thompson und Sprachkunst von Theodor Haecker, Innsbruck 1925.
1023 Möglicherweise handelt es sich um den „Abendland“-Autor Karl Meyer (1862–1937), Dr. iur.,
1919–1923 Staatsrat im Bayer. Staatsministerium der Justiz, 1923–1930 Präsident des OLG und
der Reichsdisziplinarkammer München. Zu seiner Beziehung zu Schmitt vgl. Koenen, Der Fall
Carl Schmitt, S. 198, 498 Anm. 231, 511 Anm. 10.
1024 Friedrich (Fritz) Fuchs (1890–1948), Dr. phil., Altphilologe und Germanist, 1920 „Hochland“-
Redakteur, Oktober 1924 Stellvertr. Hauptschriftleiter, 1934–1935 Hauptschriftleiter.
1025 Nicht ermittelt.

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August 1924 363

Börse, durch die Interpretation <…> mit Dr. Ritter im [Sprechzimmer] heftig diskutiert,
nachher nach Hause, Duschka erbrach; sie war schlimm krank. Traurig.

Sonntag, 17. 8. 24
Morgens früh bei Ritter gewesen, nachher ausgeruht, nachmittags zu Hause, für mich eine
Tasse Kaffee, abends zu Hause, mit Herrn Ettlinger1026 nett unterhalten, um 9 kam Profes-
sor Muth, angeregt und unternehmend, fröhlich um 1/2 12 nach Hause. Versprach ihm das
Vorwort1027.

Montag, 18. 8. 24
Um 6 Uhr auf, alles ging sehr schön, von München nach Lindau über den Bodensee, nach
Zürich. Kein Zimmer im Hotel, in einer Pension. Schrecklich diese Lauferei, müder und
übler Empfang. Sehr schön zu Abend gegessen bei Paix1028. Bald zu Bett, elendes Dasein.

Dienstag, 19. 8. 24
Gut ausgeschlafen, fröhlich zum Bahnhof, alles ging gut, herrliche Reise am Vierwaldstätter
See entlang, durch den Gotthardtunnel nach Lugano. Ball ist am Bahnhof, er erinnerte mich
sehr an Fritz Eisler, sehr liebenswürdig und freundlich. Der Gang nach Sorengo1029, leider
an der Landstraße1030, schrecklich, den ganzen Tag Automobile. Nach dem Essen mit Ball
allein noch ein Spaziergang, sehr schön unterhalten, mit ihm nach Hause zurück, abends
nach dem Essen mit Duschka zum Bahnhof, traurig, müde; Angst, sah ihre physische und
psychische Überlegenheit.

Mittwoch, 20. 8. 24
Lange geschlafen, gut ausgeschlafen, herrliches Land. Nach Lugano, in einer schönen Kon-
ditorei Liebesgaben nach Deutschland geschickt und an die Nichte von Duschka. Große
Lust, für mich allein in solcher Stadt zu sein. Nach dem Essen gut ausgeschlafen, um 4 kam

1026 Max Ettlinger (1877–1929), Philosoph, Psychologe und Pädagoge, 1903–1907 wissensch. Redak-
teur bei „Hochland“, 1917 o. Prof. der Philosophie und Mitbegründer des Deutschen Instituts für
wissenschaftliche Pädagogik. Vgl. Heinrich Kühle, Max Ettlinger, ein christlicher Philosoph,
Hochland XXVII (1929/30), S. 230–239. Vgl. auch Carl Schmitt, Donoso Cortés in Berlin (1849),
in: Max Ettlinger/Philipp Funk/Friedrich Fuchs (Hrsg.), Wiederbegegnung von Kirche und Kul-
tur in Deutschland. Eine Gabe für Karl Muth, München 1927, S. 338–373.
1027 Gemeint ist das neue Vorwort zur 2., bearbeiteten und erweiterten Auflage der „Politischen
Romantik“, München, Leipzig 1925 (vgl. Erwähnung in Hugo Balls Brief an Schmitt [nicht abge-
schickt] vom 11. 2.1925, in: Bernd Wacker, Vor einigen Jahren kam einmal ein Professor aus Bonn
… Der Briefwechsel Carl Schmitt/Hugo Ball, in: ders. (Hrsg.), Dionysius, S. 207–239, 233 f.,
(auch in: Ball, Briefe 1904–1927, Bd. 2, S. 120 f.), als Vorabdruck unter dem Titel „Romantik“
erschienen in: Hochland XXII, 1 (1924), S. 157–171.
1028 Grand Café de la Paix, Sonnenquai (heute Limmatquai) 10, Zürich, in unmittelbarer Nähe vom
Café Odeon und vom Café de la Terrasse gelegen.
1029 Dorf südwestlich von Lugano im Tessin.
1030 Schmitt hatte Ball schriftlich gebeten, zwei Einzelzimmer zu reservieren; vgl. Hugo Ball, Briefe
1904–1927, Bd. 3, S. 441.

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364 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Ball, gingen spazieren nach Agra1031, vier Zimmer besehen, schrecklich, nichts gefunden.
Großes Sanatorium in Agra, aber alles besetzt, war müde, dann nach Hause. Abends herr-
liche Ejakulation.

Donnerstag, 21. 8. 24
Gut und lange geschlafen, herrliches Wetter, aber bedrückt und müde von der ewigen Woh-
nungssucherei.

Freitag, 22. 8. 24
Nach Monte Brè1032, schönes Balkonzimmer gemietet; glücklich, etwas zu haben.1033

Samstag, 23. 8. 24
Umgezogen nach Kurhaus M. Brè1034.

Sonntag, 24. 8. 24
Ins Hochamt, herrliche Predigt, abends gelacht über den sächsischen Koch1035.

Montag, 25. 8. 24
Herrliches Wetter, wunderschönes Zimmer, prachtvoll aufgestanden. Gut, reichlich, neben
Duschka.

Dienstag, 26. 8. 24
Ausflug nach Sorengo, bei der Signora italienisch gegessen, dann zu Ball1036. Charmant
diniert, schön unterhalten, um 6 zurück.

Mittwoch, 27. 8. 24–7. 9. [24]


Wunderschöne glückliche Tage, herrliches Gefühl beim Aufstehen, abends von Duschka zu
Bett gebracht, oder ich brachte sie in ihrem Zimmer zu Bett, mittags kam sie zu mir, las mir
Grimms Märchen vor, es war herrlich. Einige Male bei Ball, viel gesprochen wegen der
2. Auflage seines Buches über die Kultur der deutschen Intelligenz. Konnte nicht überzeu-

1031 Kleines Dorf am Rande der Collina d’Oro, südwestlich von Lugano.
1032 Berg (925 m ü. M.) östlich von Lugano mit Blick auf die Bucht von Lugano und die Walliser und
die Berner Alpen.
1033 Der Zimmerwechsel rief seltsames Mitleid mit dem Wirt hervor; s. Notiz vom 22. 8.1924, Teil III,
S. 542.
1034 Kurhaus und Pension Monte Brè in Ruvigliano, Gemeinde Castagnola, damals mit den Dépen-
dancen Villa Ida und Villa Fontana.
1035 Siehe Notiz vom 25. 8.1924, Teil III, S. 542.
1036 Von September 1920 bis September 1924 wohnten Hugo Ball und seine Frau Emmy Hennings im
Erdgeschoss der Casa Andreoli in Agnuzzo, einem kleinen Dorf auf einem Felssporn zwischen
dem Muzzanersee und dem Westarm des Luganersees; vgl. auch die Beschreibungen von Hugo
Ball in: ders., Die Flucht aus der Zeit. Fuga Saeculi, Zürich 1992, Eintragung vom 18. 9. 1920,
S. 276, und Emmy Hennings, in: Emmy Ball-Hennings 1885–1948. „Ich bin so vielfach…“. Texte,
Bilder, Dokumente, Frankfurt/Main, Basel 1999, S. 169 [mit Photographien von Ort und Haus].

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August/September 1924 365

gen.1037 Die arme Frau Ball1038. Mit Duschka fast jeden Morgen gerudert, sie wird prachtvoll
gesund, stark und nimmt an Gewicht zu, es ist herrlich. Sie [ist] glücklich und zufrieden.

Samstag, 6. 9. 24
Nachmittags zu Ball, mit ihm bei H. Hesse1039. Gut unterhalten.1040 Ruhig zurück.

Sonntag, 7. 9. 24
Morgens Kahn gefahren1041, das Bild von Luini1042 besehen, traf Landsberg dort, der Alte
wartete am Ufer, nach dem Essen zusammen ausgeruht, von Duschka zu Bett gebracht,
herrlich, Kaffee getrunken, dann kamen Landsbergs, Duschka begleitete sie etwas, wartete

1037 Schmitt riet Ball davon ab, „Die Folgen der Reformation“ (München 1924, jetzt auch in: Ball,
Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 5, Göttingen 2005, S. 7–134), eine Bearbeitung seines Essays
„Zur Kritik der deutschen Intelligenz“ (Bern 1919, jetzt auch in: ebd., S. 135–391), zu veröffent-
lichen; vgl. Brief an Feuchtwanger vom 7. 9. 1924, in: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger,
S. 75 f.; Balls Briefentwurf vom 11. 2.1925 (s. Anm. 1027); Joachim Schickel, Gespräch über Hugo
Ball, in: ders., Gespräche mit Carl Schmitt, Berlin 1999, S. 31–59, 33 f. Schmitt missfiel nicht nur
Balls Beurteilung der Französischen Revolution und die unzulängliche historische Fundierung
(vgl. Ball, Briefe 1904–1927, Bd. 3, S. 441), sondern auch die Wiedergabe eines „vom Autor verlas-
senen Standpunkt(s)“ (Brief an Feuchtwanger vom 16. 12. 1924, in: Rieß [Hrsg.], BW Schmitt –
Feuchtwanger, S. 104 f.; vgl. bereits Brief vom 7. 9. 1924, s. o.). Die vernichtende Kritik, die das
gleichwohl – in Schmitts „Hausverlag“ Duncker & Humblot – erschienene Buch durch Waldemar
Gurian (Augsburger Postzeitung vom 30. 1. 1925) erfuhr, rechnete Ball dessen „Lehrer“ Schmitt
an. Darüber zerbrach die Freundschaft.
1038 Emmy Ball-Hennings, geb. Cordsen (1885–1948), verw. Hennings, Schauspielerin, Diseuse und
Schriftstellerin, 1911 Konversion zum kath. Glauben, 1915 zusammen mit Ball Emigration nach
Zürich, 1916 Mitbegründung des Cabaret Voltaire, ab 1920 mit Ball verheiratet. Als Schmitt bei
Ball eintraf, erwog Ball-Hennings gerade die Trennung von ihrem Mann, da sie – wohl zu
Unrecht – ein Verhältnis mit Hilda Brown geb. Goldschmid (1893–1963), der zweiten Frau des
Erfinders und Unternehmers Charles E. L. Brown (1863–1924), vermutete; Emmy wohnte zu die-
ser Zeit überwiegend in Ascona.
1039 Hermann Hesse (1877–1962), dt. Schriftsteller, 1946 Nobelpreis für Literatur, ab Mai 1919 wohn-
haft in Montagnola, einem Dorf südwestlich von Lugano und oberhalb von Agnuzzo, von dort
aus verkehrte er freundschaftlich mit Hugo und Emmy Ball. Vgl. Emmy Ball-Hennings, Ruf und
Echo. Mein Leben mit Hugo Ball, Frankfurt/Main 1990 (1. Aufl. Einsiedeln 1953), S. 169 ff.,
273 ff.; Hermann Hesse, Briefwechsel 1921–1927 mit Hugo Ball und Emmy Ball-Hennings, hrsg.
und kommentiert von Bärbel Reetz, Frankfurt/Main 2003; Hugo Ball, Hermann Hesse. Sein
Leben und sein Werk, Berlin 1927, jetzt auch in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 8, Göttin-
gen 2006.
1040 Unter dem Eindruck der Begegnung ließ Hesse Schmitt über Ball-Hennings ein Buch mit „neuer
Lyrik“ zukommen; vgl. Hesse, (vom fremder Hand falsch auf 2. 9. 1924 datierter) Brief an Ball-
Hennings, in: ders., Briefwechsel 1921–1927 (s. Anm. 1039), S. 231.
1041 Das hatte Schmitt am Vorabend in einem Brief an Ball (in: Wacker [Hrsg.], Dionysius, S. 215) vor-
geschlagen.
1042 Wandbild in der Kirche S. Andrea in Agnuzzo, das die Kreuzigung Christi (um 1520/30) in
Lebensgröße zeigt. Es wurde dem später unter Kitsch-Verdacht geratenen ital. Maler Bernardo
Luini (um 1480–1532) zugeschrieben, stammt aber von einem unbekannten Maler aus seinem
Umfeld.

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366 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

auf den Anruf von Ball, der heute Abend nicht kommt. Die Tochter von Hennings1043
spielte uns schlecht Bach und Chopin vor. Abends mit Duschka in der Kirche Castag-
nola1044. Ergriffen. Abends herrlich zu Bett gebracht von Duschka.

Montag, 8. 9. 24
Morgens früh Kahn gefahren, in der Stadt Haare schneiden lassen, einiges besorgt, nachmit-
tags nochmals allein mit Duschka in der Stadt. Traurig zu Abend gegessen, zu Bett gebracht
von der lieben Duschka. Konnte nicht schön schlafen.

Dienstag, 9. 9. 24
Am 9. gereist, im Zug die Bekanntschaft eines Luganer Arztes und seiner Frau, Marchi1045
<…>, hinter Schaffhausen einer russischen Geigerin, Frau Melzle1046. Todmüde um 9 in
Stuttgart. Von Bilfinger abgeholt, im Auto nach Degerloch1047. Freundlich aufgenommen,
aber müde und Kopfschmerzen und zu viel Wein.

Mittwoch, 10. 9. 24
Morgens Kopfschmerzen, es wurde im Laufe des Tages besser. Der [Berichterstatter] der
DJZ, Thoma, erklärte sich für überzeugt.1048 Glücklich darüber. Ausgeschlafen des Nach-
mittags, abends geplaudert mit Bilfinger und seiner sympathischen Frau. Früh zu Bett.

Donnerstag, 11. 9. 24
Vormittags in Stuttgart bei Gerschel1049, schöner Brief von Duschka, <…>, Zerstreuung, gut
ausgeruht den ganzen Tag. Mejer über Ultramontanismus1050 gelesen. Abends spielte Frau
Bilfinger Klavier, Bilfinger pfiff dazu.

1043 Annemarie Hennings, verh. Schütt (1906–1987), Malerin und Keramikerin, Tochter von Emmy
und Joseph Paul Hennings (Scheidung 1907), bereits im Mai 1917 Ausstellung „Kinderzeichnun-
gen“ in der Galerie Dada (Zürich), 1928–1930 Studium der Kunstweberei am Bauhaus in Dessau,
bis 1986 Verwalterin der Nachlässe von Hugo und Emmy Ball.
1044 Antica Chiesa in Castagnola.
1045 Möglicherweise identisch mit dem Arzt Dr. de Marchi; vgl. Brief Hugo Balls an Emmy Hennings
vom 1.12.1926, in: ders., Briefe 1904–1927, Bd. 2, S. 384–387, 387.
1046 Nicht ermittelt.
1047 Das Ehepaar Bilfinger wohnte in Stuttgart-Degerloch, Waldstraße 9.
1048 Zunächst hatte Richard Thoma die auf der Staatsrechtslehrertagung vorgetragene Position
Schmitts im Streit um Art. 48 WRV nicht geteilt. Am 6. 9. 1924 jedoch, also noch vor dem Deut-
schen Juristentag vom 11.–13. 9. 1924 in Heidelberg, bei dem Robert Piloty (1863–1926) und
Richard Grau (1899–?) die Kritik an Schmitt erneuerten (vgl. Verhandlungen des 33. Deutschen
Juristentags [Heidelberg], Berlin und Leipzig 1925, S. 77 f., 94), erschien von ihm ein Aufsatz, in
dem er seine Ansicht revidierte: „Seitdem die Referate [von Jena] im Druck vorliegen, kann ich
mich dem Gewicht ihrer Beweisgründe nicht mehr entziehen.“ Thoma, Die Regelung der Dikta-
turgewalt, Deutsche Juristen-Zeitung 29 (1924), Sp. 654–660, 657.
1049 Oskar Gerschel GmbH, Stuttgart. In der Abteilung Kunstantiquariat im Marstallbau sah sich
Schmitt womöglich die Sammlung von Rembrandt-Radierungen an. Vgl. Oskar Gerschel (Hrsg.),
Verzeichnis einer Sammlung von Rembrandt-Radierungen, Stuttgart o. J. [1924].
1050 Vermutlich Otto Mejer, Um was streiten wir mit den Ultramontanen? Hamburg, 1875. Otto
Mejer (1818–1893), Dr. iur., luth. Staats- und Kirchenrechtler, ab 1885 Präsident des Landes-

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September 1924 367

Freitag, 12. 9. 24
Spaziergang durch den Wald, nachmittags mit Frau Bilfinger und Bilfinger, ruhiger, schöner
Tag. Abends mein Vorwort vorgelesen, kein guter Eindruck. <…>.

Samstag, 13. 9. 24
Schöner Brief von Duschka. Eingepackt, rührend beschenkt, abgereist, bequem gefahren,
mein Vorwort korrigiert (Bilfinger bat mich, es Neuß vorzulesen). Um 5 in Frankfurt, zu
Schnitzler, Frau v. Schnitzler war auch angekommen. Herzlich begrüßt. Abends schöne
Unterhaltung mit Schnitzler, der von <…> sehr interessant erzählte.

Sonntag, 14. 9. 24
Morgens schön mit Schnitzler und seiner Frau gefrühstückt, dann zu Sandhagen1051 <?>.
Mittag mit Schnitzlers und dem Ehepaar Bredow zu Mittag (die Frau ist eine Bismarck,
Friedrichsruh)1052, nachmittags schöner Spaziergang mit Schnitzler und seiner Frau durch
den Palmengarten, über die 3 Versuchungen1053 unterhalten, mich gewundert, wie klug
Schnitzler ist. Nach dem Abendessen bald zu Bett.

Montag, 15. 9. 24
Frau von Schnitzler fuhr uns ([mich und] Herrn v. Bredow) nach Darmstadt, Vortrag von
Keyserling1054 über Musik und Leben, dumm und langweilig, mit der größten <…> zurück
im Auto, keine Panne auf der Chaussee. Nach dem Essen geschlafen, etwas mit Frau von
Schnitzler durch die Straßen gegangen, sehr schön unterhalten, in der Marienkirche1055.
Abends erzählte Wrede sehr schön von seinen polnischen Freunden. Müde zu Bett.

Dienstag, 16. 9. 24
Brief von Duschka, der mich sehr freute. Vormittags mit Frau von Schnitzler durch Läden,
nachmittags zum Bahnhof, Billett gekauft, einen Augenblick allein, Blumen gekauft.
Abends mit Schnitzler im Tivoli <?>, <…> dummes, langweiliges Stück. Nachher zu Hause
gegessen, noch etwas gut unterhalten.

konsistoriums in Hannover, entschiedener Gegner katholisch-kirchlicher Parteibildung („Cen-


trum“).
1051 Nicht ermittelt.
1052 Leopold von Bredow (1875–1933), 1896–1902 als Leutnant Adjudant des Prinzen Georg von
Preußen (1826–1902), mehrjähriges Kommando zur Dt. Botschaft in Washington, 1912 Verset-
zung nach Brandenburg als Rittmeister und Eskadronchef, ab 1914 Kriegseinsatz, 1915 in zweiter
Ehe verheiratet mit Hannah geb. Gräfin von Bismarck-Schönhausen (1893–1971), Enkelin des
Reichskanzlers Otto von Bismarck, Schwägerin des Grafen Keyserling (s. Anm. 1054), nach dem
Krieg bis 1923 Mitglied der Abrüstungskommission, zuletzt in Potsdam.
1053 Siehe Eintragung vom 8. 8.1923; Teil III, S. 473, 541.
1054 Hermann Graf Keyserling (1880–1946), estn.-dt. Lebens- und Kulturphilosoph, der als „philoso-
phierender Weltbürger“ in den 1920er Jahren große internationale Popularität erlangte, vor allem
durch rege Vortragstätigkeit; 1920 Gründung der „Schule der Weisheit“ in Darmstadt, in der NS-
Zeit mit Rede- und Ausreiseverbot belegt.
1055 Evangelische Kirche (eingeweiht 1710) im Frankfurter Stadtteil Seckbach.

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368 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Mittwoch, 17. 9. 24
Nach Bonn zurückgefahren, große Sehnsucht nach Duschka. Nachmittags gleich 120 M
geschickt, müde, abends zu Schmitz, an Duschka geschrieben. Früh zu Bett.

Donnerstag, 18. 9. 24
Schönes behagliches Frühstück, Neuß mein Vorwort vorgelesen, zu meinem Seminar, nach-
mittags auf wirtschaftliches Prüfungsamt, Sitzung, dann wieder Seminar (Aschenberg), nach
dem Abendessen bei der Lampe schön zu Hause Briefe geschrieben1056, besonders an Singer
wegen des Verlegers Meiner1057.

Freitag, 19. 9. 24
Vormittags Briefe geschrieben1058, zum Seminar, nachmittags las mir Schmitz seinen Aufsatz
über Cherubini und Beethoven1059 vor. Immer schreckliche Sehnsucht nach Duschka.
Abends fing ich an, mein Vorwort vorzulesen. Aß bei ihm schön zu Abend, um 9 wieder zu
Hause.

Samstag, 20. 9. 24
Vormittag Schmitz das Vorwort vorgelesen, es wird immer besser. Stolz über den Effekt.
Nachher müde zu Hause, nachmittags an dem Vorwort geschrieben, Sehnsucht nach
Duschka, Sorge, weil kein Brief von ihr kommt, abends bei Strassberger gegessen, nett
unterhalten, dann zu Neuß. Guter Dinge einen Augenblick. Dann wieder große Sehnsucht
nach Duschka. Geliebte Frau.

Sonntag, 21. 9. 24
Morgens zu Hause, herumgeschrieben am Schreibtisch, mittags um 3 Uhr kam Rick, wir
tranken zusammen Kaffee, unterhielten uns nett über Thompson. Abends bei Strassberger
zu Abend, dann noch zu Neuß, verabschiedet, todmüde.

Montag, 22. 9. 24
Vormittags diktiert an meinem Vorwort, es geht ziemlich schnell, auch nachmittags eine
Stunde, abends mit Schmitz eine Flasche Wein, um 9 schon zu Bett. Habe nicht mehr viel
Geld. 3 Briefe von Duschka.

1056 Darunter ein Brief an Feuchtwanger, in dem er auch auf die Affäre Stier-Somlo/Meiner-Verlag
(s. nächste Anm.) eingeht. Vgl. Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 81 f., 81.
1057 Dr. Felix Meiner, Inhaber des Meiner Verlages in Leipzig, forderte eine Gegendarstellung zu
Schmitts Rezension „Die metaphysische Staatstheorie“ (s. Anm. 964), der Kurt Singer, Schrift-
leiter der Kritischen Blätter des Wirtschaftsdienstes, teilweise nachkam (Einige Feststellungen, in:
Wirtschaftsdienst 9/1924, S. 1680, auch in: Mehring [Hrsg.], BW Schmitt – Smend, 159 f.). Singers
Antwort vom 23. 9.1924 auf Meiners Brief ist im Nachlass Schmitt (RW 265-15185) erhalten,
ebenso sein Brief an Schmitt vom 17. 9. 1924 (RW 265-15180), in dem er ankündigt, ein Exemplar
des o. g. Wirtschaftsdienst-Heftes Hugo Ball zu schicken.
1058 Darunter ein Brief an Gurian, in: Thümmler/Mehring (Hrsg.), BW Schmitt – Gurian, S. 66 f., in
dem er u.a. auf das Wanken der „herrschenden Ansicht“ zu Art. 48 WRV hinweist.
1059 Arnold Schmitz, Cherubinis Einfluß auf Beethovens Ouvertüren, in: Neues Beethoven-Jahrbuch
2 (1925), S. 104–118.

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September 1924 369

Dienstag, 23. 9. 24
Vormittags zu Ende diktiert. Guter Dinge, nach dem Essen mit Vormfelde einen Augen-
blick, nachmittags nach Köln, Gurian und Mirgeler1060 getroffen, einen Brief von Duschka,
an den <…>, mit Jup bei Deis, jeden Morgen mein Seminar. <…>, wie schön.

Mittwoch, 24. 9. 24
Vormittags Vorwort korrigiert, bei Schmitz, der es auch durchgelesen hat, bei Rick vorbei,
nachmittags trauriger Brief von Duschka, die traurig ist, weil ich ihr 3 Tage nicht geschrie-
ben habe, mit Wilms nett unterhalten, dann kam noch Assessor Zimmer. Traurig wegen des
Briefes von Duschka. Abends bei Schmitz, eine Flasche Wein, früh nach Hause.

Donnerstag, 25. 9. 24
An dem Vorwort korrigiert, Duschka geschrieben, mehrere Briefe. Nachmittags bei Rick
gut unterhalten über das Vorwort, kleiner Spaziergang, freue mich über diesen tüchtigen
und sympathischen Menschen. Dann <…> und das Vorwort korrigiert. Erst um 11 Uhr zu
Abend, arbeitsfreudig.

Freitag, 26. 9. 24
Vorwort an Dr. Muth, Hochland, abgeschickt. Nach dem Essen ausgeruht. Nachmittags
Geld gewechselt, bei Frau Schilling Schokolade abgegeben. Herumgelaufen, 100 Mark nach
Monte Brè geschickt. Kein Brief von Duschka. Angst wegen des Erdstoßes in Locarno.

Samstag, 27. 9. 24
Erkältet den ganzen Tag, konnte kaum sprechen, tief besinnungslos <?>. Wieder kein Brief
von Duschka. Vormittags Beyerhaus getroffen und nett unterhalten über sprachlichen Zug
und Stil in Deutschland. Nachmittags müde zu Hause ins Bett, Brief an Duschka abge-
schickt (schöner Brief über den Mönch1061).

Sonntag, 28. 9. 24
Kein Brief von Duschka. Karte von Ball1062 mit seiner römischen Adresse1063. Schrieb ihm
gleich einen langen Brief.1064 Auch an Duschka. Brachte es zum Kasten, kaufte französische
Zeitungen, bei Schmitz vorbei. Immer sehr erkältet und traurig.

1060 Albert Mirgeler (1901–1979), Historiker und publizistischer Vertreter der „Reichstheologie“,
1920–1924 vor allem für die jungkonservative Wochenschrift „Das Gewissen. Unabhängige Zei-
tung für Volksbildung“ tätig.
1061 Siehe Teil III, S. 541.
1062 Nicht erhalten, aber erwähnt in Schmitts Antwortbrief (s. übernächste Anm.).
1063 Emmy und Hugo Ball wohnten vom 1. Oktober 1924 bis Mitte Februar 1925 an der Piazza Polla-
rola 19 in Rom.
1064 Brief an Ball vom 28. 9.1924, in: Wacker (Hrsg.), Dionysius, S. 215 ff. Dem Brief war eine Karte
von P. Beda Ludwig (s. Anm. 425) an Schmitt vom 24. 9.1924 beigelegt, auf der der Benediktiner
mitteilte, dass sein Buch „Reiseerinnerungen aus Lucca am Grabe der stigmatisierten Jungfrau
und Dienerin Gottes Gemma Galgani“ (1. Aufl. 1914) nicht auf „jenes Interesse bei dem gelehrten
Herrn Ball“ stoßen dürfte, das Schmitt voraussetze. Ball, Briefe 1904–1927, Bd. 3, S. 446.

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370 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

[Darüber am linken Rand notiert] – 1. 10. 24: Siehe Beilage Lugano

[Mittwoch,] 1. 10. 24
Krank im Bett, Erkältung, schrecklich, herumgelesen, Besuch von Schmitz, der nett er-
zählte; nachmittags nicht zu Frau Rick, abends Wein getrunken.

[Donnerstag,] 2. 10. 24
Aufgestanden, herumgegangen, im Seminar, nachmittags Besuch von Kallen1065, der von der
Görres-Gesellschaft erzählte, mit ihm und Zimmer etwas spazieren, dann Kaffee getrunken
und nach Hause. Abends munterer und konnte nicht einschlafen. Schickte Duschka
250 Mark.

[Freitag,] 3. 10. 24
Immer noch erkältet, etwas gearbeitet, 2. Auflage Politische Romantik, schöner Brief von
Duschka. Nachmittag bei Beyerhaus eingeladen, nett unterhalten.

[Samstag,] 4. 10. 24
Korrekturen des Romantik-Aufsatzes, enttäuscht. Kein Brief. Dabei schreibe ich den
ganzen Tag.1066 Mittags in einem plötzlichen Einfall an Meinecke1067 geschrieben wegen der
Rezension1068, dann herumgegangen, Wein getrunken, dann zu Bett.

[Sonntag,] 5. 10. 24
Den ganzen Tag im Zimmer, bei geheiztem Ofen. Gut an der 2. Auflage gearbeitet. War ner-
vös. Mittags Spaziergang an den Rhein. Sehnsüchtig an Duschka. Grauenhafte Sexualität.
Abends bei Perrin1069 gegessen, nachher Verabredung. Lächerlich. Gejagt von den Furien
meiner Sexualität.

[Montag,] 6. 10. 24
Morgens schön die 2. Auflage; viel Arbeit, ganz absorbiert, auch nachmittags. Abends um
7 Uhr ganz plötzlich nach Siegburg gefahren zum Assessor Zimmer, mich gefreut über seine
Hingebung, guter Bordeaux. Um 10 nach Hause, noch an Duschka geschrieben. Sehnsüch-
tige Gier.

1065 Vermutlich ein Student.


1066 Darunter ein kurzer Brief an Gurian, in: Thümmler/Mehring (Hrsg.), BW Schmitt – Gurian,
S. 68.
1067 Friedrich Meinecke (1862–1954), bedeutender Historiker, Begründer der „Ideengeschichte“, 1901
o. Prof. in Straßburg, 1906 in Freiburg i. Br., 1914 in Berlin, 1918 Mitbegründer der Deutschen
Demokratischen Partei (DDP).
1068 Carl Schmitt, Zu Friedrich Meineckes „Idee der Staatsräson“, in: Archiv für Sozialwissenschaft
und Sozialpolitik 56 (1926), S. 226–234, auch in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf gegen
Weimar – Genf – Versailles 1923–1939, 3. Aufl., Berlin 1994, S. 51–59. Gemäß einem Brief
Schmitts an Feuchtwanger vom 16. 11. 1924, in: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger,
S. 95 ff., 95, war Schmitt Meineckes Buch „Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte“,
Berlin, München 1924, „von mehreren Seiten zu besprechen aufgefordert worden“.
1069 Anton Perrin (Inhaber: Ernst Schrader), „Restaurant ersten Ranges“ in Bonn, Wenzelgasse 50.

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Oktober/November 1924 371

6.–14. Oktober [24]


Die 2. Auflage gemacht, gut gearbeitet, jeden Tag Duschka geschrieben, fast jeden Tag einen
schönen Brief von ihr bekommen. Die Zeit verging schnell. Frau von Schmitz. Am 16. und
22. Examen in Köln. Vom 20.–29. Oktober war Anna in Bonn bei mir zu Besuch. Sie
wohnte bei Schmitz. Wir gingen einmal auf den Drachenfels, voraus aßen wir draußen zu
Abend; Mittag 21. reiste sie ab.

Mittwoch, 29. 10. 24


Erste Vorlesung Völkerrecht (Anna, Frau Schmitz und Schmitz waren drinnen), um 4 mit
Anna nach Köln. Gurian‚ den ich erwartet hatte, war nicht da, kaufte mir einen Winterman-
tel bei Erb1070; froh, das erledigt zu haben, einige Aufregung, um 1/2 7 nach Bonn zurück,
mit Schilling, Times gelesen, zu Hause kein Brief, traurig einen Augenblick. Bei Streng1071
zu Abend, konnte nicht einschlafen.

Donnerstag, 30. 10. 24


Vormittags schöner Brief von Duschka (Brief ihres Vaters), Vorlesung vorbereitet, gut
gehalten (Schmitz war da). Nach dem Essen geschlafen, Zentralheizung zum ersten Mal an,
sehr angenehm, nachmittags Brief an Duschka zur Post, mit Blumen zu Frau Landsberg,
unterhalten mit ihr und dem Jungen, um 6 nach Hause, den ganzen Abend bis 10 Uhr auf-
geräumt, behaglich bei der Lampe im Zimmer. Abends Tagebuch geführt, an Duschka
geschrieben, gutes Gewissen, beherrscht und streng.

Freitag, 31. 10. 24


Morgens schöner Brief von Duschka, fröhlich. Vorlesung vorbereitet, nach dem Essen
müde, geschlafen, Brief an Duschka vormittags zur Post. Antritts-Doktorexamen langwei-
lig, mit Schulz, Heimberger und Landsberg, bei Müller im Café, müde nach Hause, schöner
Brief von Duschka und Karte von Münch. Fing an zu arbeiten, um 7 kam Rick1072, wir gin-
gen zusammen zu Streng, tranken Wein, ich bezahlte, um 10 nach Hause, Rick zeigte mir
einen Brief von Duschka, sah ihre überlegene Klarheit, fühlte mich entsetzlich betrogen,
Dummkopf, Schreikrampf. Grauenhaft. Auch von Rick betrogen, lächerliche Posse, müde
nach Hause; räumte zu Hause auf, sah meine lächerliche Dummheit ein. Traurig, verzwei-
felt zu Bett.

Samstag, 1. 11. 24
Bis 1/2 10 geschlafen, während des Frühstücks kam der Pfarrer Hinsenkamp1072a (ein wider-
licher Kerl) und brachte mir die Vorladung für Dienstag in meiner Ehesache. Ich schrieb
einige Karten und Briefe, ziemlich müde, nach dem Essen etwas mit Vormfelde, dann zu

1070 Nicht ermittelt.


1071 Heinrich Streng (Inhaber: Peter und Josef Streng), Weinstube und Weinhandlung, Bonn, Maus-
pfad 6 und 8.
1072 Näheres über den Besuch Ricks aus Aachen im Brief Schmitts an Feuchtwanger vom 1.11. 1924,
in: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 91 f., 91.
1072a Johannes Hinsenkamp (1870–1949), Oberpfarrer der Bonner Münsterpfarrei und Stadtdechant,
1945 Ehrenbürger der Stadt Bonn.

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372 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Hause, geschlafen, traurig und deprimiert. Schrieb traurig an Duschka, dann wartete ich auf
Jup; er kam und 1/2 7, untersuchte mein Knie, fand aber nichts, war guter Laune, weil er
einen Posten angeboten bekommen hat. Wir gingen zu Streng und unterhielten uns nett
über den „Haarigen Affen“ von O’Neill1073, der in Köln gegeben1074 wird. Vormfelde kam
auch, ich ging dann, um 1/2 9 schon wieder nach Hause. Schrieb noch an Duschka (über die
Angst vor der Maschine und dass ich Dienstag das Stück vielleicht sehe), dann herumgegan-
gen, Zimmer aufgeräumt, müde, gleichgültig, ohne Lust zum Arbeiten, dabei aufgeregt,
Gefühl der Ohnmacht und der Belanglosigkeit. Traurig zu Bett, heute an Feuchtwanger
geschrieben wegen des Geldes1075.

[Am oberen Rand links notiert] Peterson 30.10., 11.11. 24, 13. 11. 24
[Am oberen Rand rechts notiert] 13. 11. Begegnung mit Peterson im Königshof, Gesprächs-
thema: Haecker, Musik Ki[rche]

Sonntag, 2. 11. 24
Bis 9 geschlafen, Brief von Duschka, aber in großer Eile geschrieben, sodass ich etwas ent-
täuscht war. Sonst keine nennenswerte Korrespondenz. Gefühl des betrogen Seins den
ganzen Tag, armer Teufel; schrieb an Duschka. <…>, aber éternel dupe1076, dann um 1/2 12
zur Kirche, müde und traurig herumgegangen, nach dem Essen ein paar Schritte allein, dann
zu Hause geschlafen, abends um 1/2 7 zum Essen in der [Kaiser]halle, alles hässlich und
traurig; als ich nach Hause zurückkam, hörte ich, dass eingebrochen worden war, Angst und
Sorge. Schrieb an Duschka, sehr herzlich, brachte den Brief zum Kasten, dann noch lange
Zeitungen ausgeschnitten, allmählich ruhig und friedlich bei der Lampe, um 11 zu Bett.

Montag, 3. 11. 24
9 aufgestanden, ein Brief von Rosenbaum, der mir nicht gefiel, schöner langer Brief von
Duschka. Sehr glücklich darüber, Aufsatz von Carroll. Nach dem Frühstück Rechnung
bezahlt, dann kam Gurian, begleitete mich, bestellte einen Anzug bei Meyer1077, trank mit
Gurian Kakao bei Rittershaus, unterhielt mich gut (darüber, warum am Schluss jedes mei-
ner letzten Bücher Bakunin erscheint; Grund: das Klassische meines Wesens). Nach dem
Essen ausgeruht, um 4 keine besondere Post, traurig, gleichgültig, Paket von Duschka im
Zollamt geholt, mit Gurian zum Königshof, nett unterhalten, aber müde, zu Hause warmes
Zimmer, behaglich, schrieb schön an Duschka, über den Namenstag. Dann zum Abend-
essen. Nachher zu Neuß, der aus Italien zurückgekommen ist und schön erzählte. Wir tran-
ken eine Flasche Wein. Ich hörte, wie elend es Ball geht, und die traurige Sache mit seiner

1073 Eugene G. O’Neill, Der haarige Affe. Ein Schauspiel alten und neuen Lebens in acht Bildern.
Berechtigte Übertragung von Frank Washburn Freund und Else von Hollander, Berlin 1924.
Eugene O’Neill (1888–1953), Goldgräber und Matrose, einer der erfolgreichsten amerik. Drama-
tiker des 20. Jahrhunderts, 1936 Nobelpreis für Literatur.
1074 Die Kölner Erstaufführung im Schauspielhaus am 31. 10.1924 hatte allgemeines Aufsehen erregt.
1075 In dem Brief (s. Anm. 1072) beteuert Schmitt eingangs, er wolle Feuchtwanger keineswegs mah-
nen, fragt dann aber wenige Absätze später: „Wollen Sie mir bitte die erste Hälfte des Honorars
[für die zweite Aufl. der Politischen Romantik; W. H. Sp.] vereinbarungsgemäß jetzt schicken?“
1076 Dt. Der ewige Betrogene.
1077 Tuchhaus Philipp Meyer, Damen- und Herrenstoffe, Bonn, Fürstenstraße 5.

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November 1924 373

Frau.1078 Erschrak. Angst. Um 1/4 vor 10 nach Hause. Behaglich warmes Zimmer, Freude
zum Arbeiten, Liebe zu Duschka.

Dienstag, 4. 11. 24
Vormittags behaglich Vorlesung vorbereitet, keine besonderen Briefe, nur eine Karte von
Frau von Schnitzler, dass sie nach Paris fährt zu einem [Intellektuellen]-Kongress.1079
Schnell den Plan meines Seminars ausgearbeitet und zum Druck gegeben, nette Vorlesung,
in der Gurian, Becker, Lenz1080 waren. Nach dem Essen einen Augenblick ausgeruht, um
1/2 3 nach Köln, aber nur bis Rodenkirchen1081, musste zur Ersten Kölner Elektrischen
gehen, um 1/4 vor 4 in Köln, im Generalvikariat1082 einvernommen, bis 1/2 7! Sehr ein-
gehend, sehr anständig, aber doch voll Ekel gegen meine Dummheit und Lächerlichkeit.
Tiefe Scham und Wut, betrogen zu sein. Einen Augenblick Angst vor Duschka und Selbst-
mordgedanken. Kam nicht mehr zu <…>. Trude1083 (ich hielt ihr den Briefkasten auf, als sie
einen Brief einwarf) im Hindenburg-Café1084 und bei Deis, beinahe dageblieben, sie erin-
nerte mich an Hela. Für Donnerstag Eintritt. Um 1/2 9 nach Bonn. Zitternd vor Geilheit.
Zwei schöne Brief von Duschka, sehr glücklich darüber, schrieb ihr noch, brachte den Brief
zum Kasten (war mit 20 frankiert). Brief von Däubler, armer Kerl, er fährt nach Ägypten,
sehr müde. Immerhin das kleine Abenteuer.

Mittwoch, 5. 11. 24
Morgens um 11 kam Fräulein Tadić, ich war sehr froh darüber, versprach ihr das Geld für
Gebühren, fröhlich und guter Dinge, begleitete sie zur Universität, sie will Sonntag nach
Aachen fahren. So vergeude ich meine Zeit. Dann schnell zum Seminar, gute Vorlesung,
aber nachher sehr müde, nach dem Essen etwas ausgeruht, um 4 zwei schöne Briefe von
Duschka, mit ihrem Bild, Brief von Däubler, der nach Ägypten reisen will, dann zum Insti-
tut für Politik1085, an der Hand eines gedruckten Planes die Referate verteilt, dann verwal-
tungsrechtliche Übungen, der Saal war zu klein, fast 200 Hörer. Nachher mit Werner

1078 Siehe Anm. 1038.


1079 In ihrer Karte vom 3.11. 1924 [Poststempel], in: Rieß (Hrsg.), BW Lilly von Schnitzler – Schmitt,
S. 136 f., kündigt sie ihre Teilnahme am Kongress der Union Intellectuelle Française an, der fran-
zösischen Sektion des 1922 von Karl Anton Prinz Rohan (1898–1975) gegründeten Verbandes für
kulturelle Zusammenarbeit („Europäischer Kulturbund“) bzw. der 1924 von ihm gegründeten
Fédération internationale des Unions intellectuelles.
1080 Heinrich Lenz wurde mit einer von Schmitt begutachteten Arbeit über „Autorität und Demo-
kratie in der Staatslehre von Hans Kelsen“ (in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Bd. 50,
S. 92–124, Leipzig 1926) in Bonn promoviert.
1081 Bis 1975 selbständige Gemeinde südlich von Köln, heute der 2. Stadtteil.
1082 Generalvikariat der Erzdiözese Köln, Eintrachtstraße 168–170, Ort der Einvernahme in Sachen
Nichtigkeitserklärung der Ehe mit Cari. Generalvikar, d. h. rechtl. Vertreter des Bischofs war
damals Dr. theol. et iur. can. Joseph Heinrich Peter Vogt (1865–1937), der spätere erste Bischof
(1931) des wiedererrichteten Bistums Aachen.
1083 Offenbar eine Prostituierte.
1084 Tee- und Kaffeeraum „Haus Hindenburg“, Köln, Schildergasse, Ecke Neumarkt.
1085 Siehe Anm. 361.

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374 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Becker, Lenz und Gurian zu Streng, Wein getrunken, die beiden Quickborner tranken kei-
nen Wein, nett unterhalten, um 10 brachten sie mich nach Hause. Müde nachher ins Bett.
Soll ich morgen nach Köln?

Donnerstag, 6. 11. 24
Bis 1/2 10 müde, zerschlagen, Vorlesung kaum vorbereitet, eine Karte von Sent M’ahesa,
sonst nichts. Vorlesung sehr nett gehalten (Internationalitätsprinzip). Nach dem Essen aus-
geruht, wollte nach Köln, war dann müde und gleichgültig, dachte an Duschka, es wurde
4 Uhr, der Briefträger hatte nichts für mich. Trotzdem nicht gefahren! Merkwürdig, aber
deprimiert und melancholisch. Zum Institut, zur Bibliothek, unangenehmes Gefühl wegen
Kaufmann, traf Platz, mit ihm Wein getrunken bei Streng, nett unterhalten über Keyser-
ling, dann um 8 Uhr traurig allein nach Hause. Etwas Dissertationen gelesen, müde, un-
geduldig wegen des Novemberheftes des Hochland, in welchem mein Aufsatz1086 stehen
soll. Gefühl der Lächerlichkeit aller Dinge und meiner selbst. Gleichgültig, desillusioniert,
zerknirscht.

Freitag, 7. 11. 24
Morgens Kaufmann getroffen und für den Abend verabredet, zur Vorlesung, nachmittags
müde und gleichgültig, abends bei Kaufmann gegessen, bis nachts 1 Uhr geplaudert. Müde,
Ekel.

Samstag, 8. 11. 24
Lange geschlafen, den ganzen Tag müde, nachmittags zu Gurian nach Godesberg, nett bei
ihnen Kaffee getrunken und unterhalten, er hatte das Hochlandheft mit meinem Aufsatz da.
Verspätete leider den Zug, 1 Stunde in der Kälte umhergegangen, um 11 Uhr erst zu Hause
und müde zu Bett.

Sonntag, 9. 11. 24
Wieder lange geschlafen und müde, nachmittags kam Seewald, ich sprach aber nicht über
Muth, wir unterhielten uns nett, fuhren nach Godesberg, tranken mit Gurian und seiner
Frau bei Dreesen1087 Kaffee, dann nach Bonn zurück, aßen bei Streng zu Abend und tran-
ken guten Wein, darauf zu Schmitz, nett unterhalten, er erzählte wunderschön, Beethoven
und Chopin. Um 11 fuhr Seewald nach Köln zurück, Schmitz begleitete mich.

Montag, 10. 11. 24


Wieder lange geschlafen bis 10 Uhr, schöne Korrespondenz, ein freundlicher Brief von
Duschka, Thoma schickte eine kleine Besprechung, ebenso Salin. Brief von Feuchtwanger,
der das Geld ankündet1088, 300 Mark vom Hochland; sehr fröhlich, frühstückte behaglich,

1086 Siehe Anm. 1027.


1087 Siehe Anm. 451.
1088 In seinem Brief an Schmitt vom 8.11. 1924, in: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 93 ff.,
93, schreibt Feuchtwanger, dass Schmitt für die 2. Aufl. des Romantikbuches ein Honorar von
1575 Mark zustehe.

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November 1924 375

dann wartete ich vergebens auf Aschenberg und die Esser. Zum Seminar, traf Kaufmann,
der darüber klagte, dass das Seminar nichts enthält. Wir gingen etwas spazieren, er erzählte
von seinen großen Prozessen, nach dem Essen erzählte Vormfelde von seinem Auto, ich
fühlte den Gegensatz und ging nach Hause, ruhte etwas aus, nachmittags Brief von André,
der mich traurig machte1089, um 6 kam Zimmer aus Siegburg, wir aßen bei Streng und unter-
hielten uns sehr nett; er erzählte von der Korruption in der Verwaltung, alles deprimierend,
um 1/2 9 wieder zu Hause, traurig und bedrückt.

Dienstag, 11. 11. 24


Behaglich des Morgens Besuch bei Peterson1090, Vorlesung, guter Laune, nach dem Essen
ausgeruht, um 6 Seminar, sehr hübsch, über die [Tyrannei] der Werte1091, nachher mit
Adams1092, Becker und Gurian bei Streng Wein getrunken, guter Laune nach Hause. Gleich
zu Bett. Grauenhafte Geilheit, kaum zum Aushalten.

Mittwoch, 12. 11. 24


Brief von Hamacher, dass ich am Freitag, den 21. sprechen soll. Fühlte mich wichtig. Ziem-
lich gute Vorlesung, nach dem Essen ein paar Schritte mit Vormfelde (er hat ein Auto), dann
zu Hause ausgeruht, schlechte Verwaltungsrechtsübung, verlor den Zwicker, fühlte mich
blamiert, schade; traurig, bedrückt nach Hause, grauenhafte Geilheit, dem Explodieren
nahe, schließlich zu Schmitz, mit ihm eine Flasche Wein getrunken. Gut unterhalten, um 11
nach Hause zurück. Einsam, dem Grausen nahe, grauenhaft, verrückt, schrecklich. Schöner
Brief von Duschka.

1089 In dem französisch geschriebenen Brief vom 4.11. 1924 (s. Prozessakten, unveröffentlicht), Ant-
wort auf einen Brief Schmitts vom 30. 10.1924, versichert Vetter André Steinlein, dass er, Schmitt,
nicht in die Heirat mit Pabla Dorotić eingewilligt hätte, wenn er von Caris adliger Herkunft nicht
überzeugt gewesen wäre.
1090 Erik Peterson (1890–1960), Kirchenhistoriker, Patristiker und Exeget, ab 1924 o. Prof. für Kir-
chengeschichte und Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Bonn, 1930
Konversion zum kath. Glauben, Beurlaubung, danach Privatgelehrter in München und Rom,
1937–1960 Lehrauftrag für Christliche Literatur der Antike am Päpstlichen Institut für Christ-
liche Archäologie in Rom, ab 1947 als ao. Prof. Peterson wohnte in Bonn bei der „Professor-
Witwe“ Firmenich-Richartz, Meckenheimer Allee 43.
1091 Nicolai Hartmann, Ethik, 4., unveränderte Aufl. 1962 (1. Aufl. 1925), Berlin 1962, S. 574–578.
Hartmann (1882–1950), Philosoph des „kritischen Rationalismus“, ursprünglich ein Anhänger
des Neukantianismus, hatte schon vor Erscheinen seiner „Ethik“ mit diesem Begriff die Dynamik
der „Unduldsamkeit“, etwa gegenüber fremdartiger Moral, und das einseitige „Erfaßtsein einer
Person von einem einzigen Wert“, etwa der Gerechtigkeit, beschrieben. Schmitt hat ihn in seinem
Spätwerk aufgegriffen. Vgl. Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, in: Säkularisation und Utopie.
Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, Stuttgart [u. a.] 1967, S. 37–62; ders., Die
Tyrannei der Werte, in: ders.,/Eberhard Jüngel/Sepp Schelz, Die Tyrannei der Werte, hrsg. von
Sepp Schelz, Hamburg 1979, S. 9–41, auch in: ders., Die Tyrannei der Werte, 3., korrigierte Aufl.
Mit einem Nachwort von Christoph Schönberger und einer Editorischen Notiz von Gerd Giesler,
Berlin 2011.
1092 Paul Adams (1894–1961), Germanist und Journalist. Zu seinem und seines Bruders Alfons
(1899–1973) Werdegang vgl. Tommissen, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Briefe von Paul Adams an
Günther Krauss (Periode: 1931–35), in: Schmittiana VIII 2003, S. 133–240, 133–142.

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376 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Donnerstag, 13. 11. 24


Lange geschlafen, ganz nette Vorlesung, müde, Kaufmann einen Sonderabdruck meines
neuen Aufsatzes überreicht, Angst vor ihm. Nachmittags müde, geil, verzweifelt, mit dem
protestantischen Theologen Peterson im Königshof, nett unterhalten, aber auch das ist egal,
er ist ein rechter Hamburger, wir sprachen über Haecker, über die Mystik bei Origenes1093,
dann noch müde zu Schmitz, nicht zu Abend gegessen. Um 1/2 9 schon zu Bett, bald ein-
geschlafen. Grauenhafter Zustand, Nierenbeschwerden.

Freitag, 14. 11. 24


Bis 9 geschlafen, es ging mir besser, nachdem ich 12 Stunden ausgeruht hatte. Nachmittags
kam Göppert, wir sprachen über Hensel und Kaufmann, die beiden großen Geschäftsleute.
Ekel und Angst. Gute Vorlesung, in der Quästur wütend, weil man mir nicht meine
Bescheinigung gibt, Fräulein T. 120 Mark gegeben, lächerlich. Allmählich sehe ich doch
meine Dummheit ein. Nach der Vorlesung eine Stunde mit Kaufmann auf die Poppelsdorfer
Allee, über Hensel gesprochen, um 2 nach dem Essen zu Hause, um 1/2 4 kam ein Student,
dann Briefe geschrieben, um 5 zu Frau Landsberg zum Tee, der Sohn wollte mir seine
Arbeit über Augustinus1094 vorlesen, ich hatte aber nicht die Kraft, das zu verhindern. Müde
und bedrückt weggegangen, überschüttet von dem Sohn. Zu Schmitz einen Augenblick, im
Café Schokolade, dann zu Hause Käsebrot gegessen, Brief an Bilfinger, Smend (plötzliche
Wut über Hensel)1095, so verging der Abend. Glücklich, zu Hause geblieben zu sein. Schrieb
noch schön an Duschka, dann müde zu Bett.

[Am oberen Rand rechts notiert] Peterson 20. 11. (11. 11. 24), 26.11., 30. 11. Villiers de
L’Isle-Adam

Samstag, 15. 11. 24


Müde bis 9 Uhr geschlafen, schönes Frühstück, lustige Karte von Heimberger, sehr munter,
herrliches frisches Wetter, das Finanzamt war zu (vergnügt). Bei Kaufmann ein paar Stun-
den geschwätzt, sehr nett, nach dem Essen müde zu Hause etwas ausgeruht, nachmittags
Brief von Duschka, schickte ihr 20 fr. Dann Schuhe gekauft, Bücher besorgt, Kaffee im
Hansa-Café, grauenhafte Gier und Sehnsucht, bei Schmitz vorbeigegangen, dann von 1/2 7

1093 Vgl. Erik Peterson, Zur Theorie der Mystik, Zeitschrift für Systematische Theologie 2 (1924/25),
S. 146–166. Origenes zählte in den Augen Petersons zusammen mit Augustinus zu den zwei
bedeutendsten Theologen der Antike. Erik Peterson, Johannesevangelium und Kanonstudien
(= Ausgewählte Schriften, hrsg. von Barbara Nichtweiß, Bd. 3), Würzburg 2003, S. 62; ders.,
Theologie und Theologen. Texte (= ebd., Bd. 9/1), Würzburg 2009, S. 200 f.
1094 Paul Landsberg habilitierte sich 1928 bei Adolf Dyroff mit einer Arbeit über „Augustinus. Stu-
dien zur Geschichte seiner Philosophie“.
1095 In seinem Brief vom 14.11. 1924, in: Mehring (Hrsg.), BW Schmitt – Smend, S. 36 ff., 36 f., beklagt
sich Schmitt darüber, daß Hensel, am 4. Mai 1924 in die Stadtverordnetenversammlung gewählt,
sich von dieser – ohne Absprache mit der Fakultät – „feste Zusagen“ habe geben lassen, daß „zur
Ergänzung“ seiner „verwaltungsrechtlichen Vorlesung“ Kommunalpolitiker Vorlesungen halten.
Vgl. dazu auch Ekkehard Reimer/Christian Waldhoff, Zu Leben und Werk Albert Hensels
(1895–1933), in: Albert Hensel, System des Familiensteuerrechts und andere Schriften. Eingeleitet
und hrsg. von Ekkehard Reimer/Christian Waldhoff, Köln 2000, S. 1–124, 19 ff.

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November 1924 377

bis 12 gearbeitet, ganz nett, etwas zu Hause zu Abend gegessen, bolschewistische Bücher,
die Times, Gefühl, die unendliche Welt, Angst vor meiner Kleinheit, lächerlicher Zustand,
Angst um die arme Duschka, was soll sie machen ohne mich?

Sonntag, 16. 11. 24


Gut geschlafen, um 1/2 9 aufgestanden, keine Post, 2 Stunden gut gearbeitet und den Auf-
satz1096 entworfen, dann kam Fräulein Liebrich1097 und bat um ein Buch für ihre Schwester,
eine Jüdin, trotzdem eine Frau, schrieb an Feuchtwanger1098 und ein paar Briefe. Nach dem
Essen brachte ich die Briefe zur Post, zu Hause geschlafen, bis 1/2 5, wieder grauenhafte
Geilheit, aber es ging vorüber, dann Café Hansa, über den Völkerbund gelesen, produktiv,
fühlte mich wohl, will fleißig arbeiten, schnell bei Schmitz vorbei, dann zu Hause schön
gearbeitet, bis 10 Uhr, ein Butterbrot gegessen, an Duschka geschrieben, in herzlicher
Liebe, noch ein paar Schritte bei großer Kälte spazieren, durch die Poppelsdorfer Allee,
dann müde nach Hause und gleich zu Bett.

Montag, 17. 11. 24


Morgens zur Universität, Bücher geholt, mit Kaufmann etwas spazieren, der mir die Sache
Hensel erklärte, davon ich zufrieden war. Zu Hause waren die Bücher aus Straßburg.1099
Nach dem Essen ausgeruht, nachmittags kam Wilms, mit ihm nett unterhalten, dann Kaffee
getrunken (angeregt, weil ich neben einer germanischen Frau saß, der ich einen [Vorsch]lag
[machte], ekelhaft), zu Hause, mit Beyerhaus eine Stunde geplaudert, abends Vormfelde
in die Loge das Geld für die Steuer gebracht (ganze 27 Mark!), dann bei Schulz gegessen,
nett unterhalten, er nannte mein Romantikvorwort „vollendet“. Auch Eschweiler1100 habe
es so gerühmt. Das tat mir wohl. Müde nach Hause, ich darf aber keinen Wein mehr
trinken.

Dienstag, 18. 11. 24


Nach Köln zum Referendarexamen (sehr müde, um 1/2 4 zu Jup, der meine Ohren aus-
spritzte. Dann aßen wir zusammen in der Stadt bei Deis. Geilheit, aber zu müde. Um 1/2 8
nach Hause, zu Hause nur ein Brief von Duschka, es geht ihr besser. Ich fürchte, sie ist
eigensinnig und herrschsüchtig). Gleich zu Bett und bald eingeschlafen. Grauenhafte Gier
nach einer Frau.

1096 Vermutlich Carl Schmitt, Die Kernfrage des Völkerbundes, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetz-
gebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 48 (1925), S. 1–26; zum Teil
wiederveröffentlicht in: ders., Die Kernfrage des Völkerbundes (= Reihe „Völkerrechtsfragen“,
H. 18), Berlin 1926.
1097 Nicht ermittelt.
1098 Brief an Feuchtwanger vom 16.11. 1924, in: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 95 ff.
1099 Offenbar an Kiener ausgeliehene Bücher.
1100 Karl Eschweiler (1886–1936), Dr. phil. et theol., Religionsphilosoph und bedeutender Fundamen-
taltheologe, 1922 Habil. in Bonn, 1923 Pfarrer in Berkum, seitdem Freundschaft mit Schmitt,
1928 ao. Prof. in Bonn, 1929 o. Prof. in Braunsberg, 1931/32 und 1933–1936 Rektor, 1933
NSDAP- und SA-Eintritt, 1934–1935 zusammen mit Hans Barion (1899–1973) a divinis suspen-
diert.

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378 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Mittwoch, 19. 11. 24


Buß- und Bettag. Gut ausgeschlafen, schöner Vormittag, erster Schnee (ich habe die Nacht
davon geträumt)‚ dachte viel an Frau Bienert1101, Brief von Hamacher, dass ich Freitag kei-
nen Vortrag halten soll. Umso besser. Ein Polizeimeister kam und bat um ein Gutachten;
das tat mir wohl. Herumgelesen, notiert, an Duschka geschrieben. Guter Dinge. Nach dem
Essen etwas mit Vormfelde (er fuhr Auto), kam mir dumm und lächerlich vor, zu Hause
geschlafen, dann zum Hansa-Café, Kaffee getrunken, dazu bolschewistische Bücher gele-
sen. Geilheit, Sehnsucht und Gier, zu Hause zwei Stunden gut gearbeitet, über Völkerbund,
dann im Continental1102 zu Abend gegessen (3 M!). Auf der Poppelsdorfer Allee zu den
Botanischen Gärten, dann nach Hause, müde, gleichgültig zum Lesen, sinnloses Dasein,
Sehnsucht nach Duschka und zugleich Angst und Skepsis.

Donnerstag, 20. 11. 24


Der Vormittag verging schnell, obwohl ich munter aufgestanden war und schön früh-
stückte. Keine Post. Hielt eine gute Vorlesung. Gab Kaufmann K[athleen]s erste Arbeit
über Taine. Nach dem Essen müde, durch den Regen etwas mit Vormfelde, dann zu Hause
ausgeruht. Um 4 zwei Briefe von Duschka, worüber ich sehr froh. Dann kam Peterson, wir
sprachen über die Sakramente und gingen zum Hansa-Café, sehr nette Unterhaltung über
Villiers usw. Er gab mir seinen Aufsatz über die pietistische [Bibelauslegung]1103, ich lieh
ihm das Bestiarium. Zu Hause Zeitungen aufgeräumt, bescheiden zu Abend gegessen, an
Duschka geschrieben, ihr 50 fr geschickt, den Brief mit einer Karte an Anw[alt]. Meyer zum
Kasten gebracht, dann versucht, noch etwas zu arbeiten.

Freitag, 21. 11. 24


Vormittags Fräulein T. getroffen, als sie zu mir kommen wollte, gleichgültig und langweilig,
gute Vorlesung, nachher mit Gurian, der mich zur Pension begleitete. Nach dem Essen aus-
geruht, um 4 Brief von Duschka, um 5 nach Köln gefahren, durch die Straßen gelaufen,
Kaffee getrunken, dann um 8 nach Hause mit dem Assessor Danzebrink1104. Noch zu
Schmitz, dort war der Kunsthistoriker Reiners, ein mir sehr unsympathischer Mensch, aß
bei Schmitz zu Abend, um 1/2 11 müde nach Hause, noch an Duschka geschrieben und den
Brief zum Kasten gebracht. Müde zu Bett. Prêtre marié1105 gelesen.

Samstag, 22. 11. 24


Um 1/2 6 zwei Stunden gearbeitet, Zeitungen ausgeschnitten, dann wieder zu Bett und bis
1/2 10 geschlafen, ein paar Besorgungen in der Stadt, bald zurück, mit Schmitz, so vergeht

1101 Ina Bienert (1870–1966), Däublers Mäzenatin und Geliebte, die Schmitt 1914 kennengelernt hatte;
vgl. TB II, S. 276.
1102 Siehe Anm. 955.
1103 Erik Peterson, Das Problem der Bibelauslegung im Pietismus des 18. Jahrhundert, Zeitschrift für
Systematische Theologie 1 (1923/24) 468–481.
1104 Vermutlich Franz Danzebrink (1899–1960), mit einer Arbeit „Über das rechtliche Verhältnis der
Berufsvereine der Arbeitnehmer zu den Aufgaben der Betriebsvertretungen“ (Köln 1923) in Bonn
promoviert, 1930–1945 Oberbürgermeister von Fulda, zuletzt Ministerialrat in Bonn.
1105 Jules Barbey d’Aurevilly, Un prêtre marié, Roman (1864).

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November 1924 379

ein Vormittag. Nachmittags schön umgekleidet, Kaffee bei Frings, nach Köln gefahren; in
der Bahn die Tochter des Finanzamtspräsidenten1106 kennengelernt, die Malerei und Schau-
spielerei studiert. Begleitete sie zu Tisch, dann etwas spazieren gelaufen durch die Straßen,
um 8 zum Gürzenich1107, nett mit Hamacher, Toos1108 und Stöck1109 unterhalten, Toos erin-
nerte mich an den Geheimrat Schulte, ein netter, anscheinend intelligenter, sympathischer
Mensch, um 11 mit der Rheinuferbahn nach Hause, todmüde zu Bett.

Sonntag, 23. 11. 24


Müde aufgestanden, ein paar Blumen bestellt für Frau Franck, die Geburtstag hat, dann
bequem gefrühstückt und dazu behaglich den Temps gelesen. Ich muss endlich arbeiten,
schrieb 1 Stunde ganz nett, aber nicht viel. Nach dem Essen mit Neuß Spaziergang an den
Rhein, dann zu Hause gearbeitet (Frau Franck hat 65. Geburtstag, ich habe ihr schöne
Rosen geschickt), abends zu Hause gearbeitet, es geht leider schlecht vorwärts, mühsam
herumgedrückt, abends noch eine Tasse Kaffee in der kleinen Bude an der Godesberger
Bahn. An Duschka geschrieben. Traurig, einsam, müde.

Montag, 24. 11. 24


Morgens Brief von Duschka, Smend1110, Ball. Smend schrieb, dass es nichts ist mit dem Dis-
ziplinarverfahren. Umso schlimmer, also Hensel wird Ordinarius. Erst Wutanfall. Konnte
nicht viel arbeiten, um 12 zum Institut, mit Frau Landsberg nett unterhalten über mein Vor-
wort. Bei Müller etwas gegessen. Dann mit Kaufmann und Hensel über die Vorlesung, sehr
nett und harmlos. Das alles, und ich mußte über den Hensel lachen. Nach dem Essen ausge-
ruht, um 4 Brief von Duschka, im Café Hansa. Plötzlich wieder Interesse an meinem Auf-
satz1111 und etwas gearbeitet, dann zu Hause, nicht zur Rede von Hensel gegangen, gearbei-
tet, nochmals in das Café Hansa. Immer mit meinem Manuskript. Wäre ich nur endlich
fertig. Todmüde zu Hause bis nach 12 Uhr gearbeitet, schnell an Duschka geschrieben,
trauriges Dasein, wenig Geld, ekelhaft.

Dienstag, 25. 11. 24


Übungsakten gelesen für morgen Nachmittag, vormittags Vorlesung, nachmittags Gurian
getroffen und etwas mit ihm und Adams auf der Poppelsdorfer Allee spazieren, abends
Seminar, Referat Fräulein Esser, schlecht, über die Zentrumsorganisation und die demokra-

1106 Präsident des Landesfinanzamtes Düsseldorf war 1920–1924 Dr. Schlutius.


1107 Festhalle in Köln.
1108 Nicht ermittelt.
1109 Christian Josef Anton Stöck (1866–1953), Dr. iur., Trierer Rechtsanwalt, Notar und Zentrums-
politiker, 1923 Stellvertretender Bürgermeister von Trier. Vgl. ders., Aus meinen Erinnerungen an
die Besatzungszeit der Stadt Trier. 1. Dezember 1918–30. Juni 1930. Heitere, ernste und sehr
ernste Plaudereien zur Trierischen Lokalgeschichte, Trier 1930; Martin Schlemmer, „Los von Ber-
lin“. Die Rheinstaatbestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg (= Rheinisches Archiv , Bd. 152),
Köln u. a. 2007, S. 104 f., 219 ff. passim.
1110 Nicht erhalten.
1111 Siehe Anm. 1096.

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380 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

tische Presse unterhalten, nachher mit Gurian und Becker bei Streng zu Abend gegessen,
nett unterhalten, um 10 nach Hause.

Mittwoch, 26. 11. 24


Einen ganzen Tag Arbeiten gelesen, nach dem Essen sofort weitergearbeitet, wurde aber gut
fertig, Peterson kam, verabredete mich für Sonntagabend, gute Übungen, sehr zufrieden,
nachher zu Kaufmann, bis um 1/2 4 nachts über Völkerbund und alles Mögliche gut unter-
halten, aber doch müde und krank.

Donnerstag, 27. 11. 24


Todmüde bis 10 geschlafen, leidliche Vorlesung, muss endlich meinen Aufsatz diktieren,
froh über eine Karte von Jup, der mich um einen Aufsatz bittet, fühle, dass es dazu gehört,
nachmittags den Aufsatz vorbereitet.

Freitag, 28. 11. 24


Nachmittags 1 Stunde diktiert, dann Fakultätssitzung, nachher mit Kaufmann etwas spazie-
ren, zu Hause den Aufsatz vorbereitet, früh zu Bett.

Samstag, 29. 11. 24


Den ganzen Tag den Aufsatz diktiert, abends um 7 fertig, dann im Continental gegessen,
schrecklich teuer, müde, gleichgültig, traurig nach Hause.

Sonntag, 30. 11. 24


Den ganzen Tag den Aufsatz korrigiert, fleißig, vielleicht rette ich doch noch etwas aus die-
sem Aufsatz. Abends mit Peterson bei Schwarz gegessen, dann zu Schmitz, über Beethoven
und dessen Rationalismus und „Tempi Musik“, müde nach Hause. 2 Briefe von Duschka,
die mich sehr erfreuten und mir wohl taten.

[Am oberen Rand links notiert] Zimmer Gerber1112


[Am oberen Rand, Mitte notiert] Peterson 1., 20. 11. 1924
[Am oberen Rand rechts notiert] Jup, Aussage vor dem geistlichen Gericht Peterson [da-
runter] (Rückgabe) 5. 12. (kam mir nach)

Montag, 1. 12. 24
Den ganzen Vormittag bis 1/2 2 an dem Aufsatz verbessert. Hoffentlich wird etwas daraus,
Eigentlich ist es lächerlich. Nach dem Essen zu Spiethoff, dann wieder bis 5 Uhr korrigiert.
Ein Student Koch1113 <?> kam, anscheinend geisteskrank, ich brachte den Aufsatz zu Spiet-
hoff1114, der aber nicht mehr zu Hause war. Etwas wütend, dann mit dem Studenten im
Hansa-Café, schrecklich langweilig. Bei Schmitz vorbei. Als ich nach Hause kam, war Jup
da gewesen, traf ihn bei Kieffer, sehr nett unterhalten, über meinen Prozess (er hat eine

1112 Gemeint ist Emil Gerber.


1113 Nicht ermittelt.
1114 Arthur Spiethoff war Herausgeber von Schmollers Jahrbuch, s. Anm. 214 und 260.

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November/Dezember 1924 381

Aussage vor dem geistlichen Gericht gemacht)‚ über Duschka und ihre Krankheit, er ist ein
kluger, verständiger Junge, ich freute mich sehr über ihn. Um 10 fuhr er nach Köln zurück,
ich ging zu Bett, doch erleichtert, dass der Aufsatz weg ist.

Dienstag, 2. 12. 24
Vormittags Briefe geschrieben an Holl1115, Smend. Schlechte Vorlesung, war sehr müde,
nachmittags mit dem Studenten Koch herumgeschlagen, der das Referat über Wahlsysteme
hat, müde, schlechtes Referat. Nachher mit Assessor Zimmer und Gerber bei Streng, gut
unterhalten, fühlte mich wohler.

Mittwoch, 3. 12. 24
Todmüde, lange geschlafen, schlechte Vorlesung, konnte kaum noch aufrecht stehen, nach
dem Essen ausgeruht, um 1/2 3 kam Dr. Dyckerhoff1116, ein Arzt aus Köln, der als Schiffs-
arzt in Sydney war, brachte Grüße von K., mit dem Ton eines Zwangsvollstreckers, das
strengte mich an, dann dummes Examen, zu Hause etwas ausgeruht, die Verwaltungs-
rechtsübung ging glücklich vorbei, nachher zum Vortrag von Neuß über die Nazarener1117,
sehr enttäuscht, süßlich, küsterhaft, mit Neuß zum Abendessen bei Streng. Dann todmüde
nach Hause.

Donnerstag, 4. 12. 24
Endlich ein ruhiger Tag, schrieb morgens an Duschka, zum ersten Mal in einiger Sammlung,
konnte mich für Vorlesung vorbereiten, atmete auf, zog mich anständig an, hielt eine an-
ständige Vorlesung, nachher mit Kaufmann gut unterhalten, er lobte meinen Aufsatz
über die Reichstagsauflösung1118. Nach dem Essen eingekauft für 100 Mark, einen neuen
schwarzen Anzug bestellt, dann zur Hemdenschneiderin, um 4 zu Hause, Brief von Singer
(im Wirtschaftsdienst die Intrigen von dem Verleger Meiner)1119, dann kamen Gurian und
Becker, nett unterhalten bis 5 Uhr, im Café Hansa, etwas im Seminar, von Gurian und
Becker begleitet nach Hause. Endlich wieder ein Abend für mich allein und in einiger Ruhe.
An K. geschrieben.

Freitag, 5. 12. 24
Morgens ziemlich gut vorbereitet, um 11 kam der Bruder von Fräulein Esser, lang mit ihm
gesprochen, dann Vorlesung, nachher mit Schmitz und Kaufmann über die Poppelsdorfer

1115 Vgl. Karl Holl, Rezension: Hugo Ball, Byzantinisches Christentum, in: Deutsche Literaturzeitung
45 (1924), Sp. 2197–2199. Vgl. Schmitts Kritik an dieser Besprechung in seinem Brief an Feucht-
wanger vom 2. 12.1924, in: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger, S. 103 f.
1116 Eigentümer des Hauses in der Bonner Hofgartenstraße 46a, wohnhaft in Köln.
1117 Vgl. Wilhelm Neuß, Das Wesen der Nazarener-Kunst und ihre Bedeutung für die deutsche Kunst
des 19. Jahrhunderts, Augsburg o. J. [1928].
1118 Carl Schmitt, Nochmalige Reichstagsauflösung. Ein staatsrechtlicher Hinweis, in: Kölnische
Volkszeitung vom 26. 10.1924, S. 1.
1119 Brief Singers an Schmitt vom 2. 12.1924 (RW 265-15181). Singer bietet darin Schmitt außerdem
das Buch von Ludwig Bernhard „Das System Mussolini“ (Berlin 1924) und das von Rudolf
Kjellén „Der Staat als Lebensform“ (1. Aufl. Leipzig 1917; 4. Aufl. in berechtigter Übertragung
von J. Sandmeier Berlin-Grunewald 1924) zur Rezension an.

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382 Teil II. Tagebuch 1923 und 1924

Allee. Nach dem Essen ausgeruht, bei Peterson vorbei, der aber Besuch hatte, zum Kaffee,
wäre beinahe nach Köln gefahren. Unruhe, Zerfahrenheit. Dann Zeitungen gekauft. Zum
Café Hansa, traf zufällig Peterson, der mir nachgegangen war. Wir sprachen über Geld (er
scheint Leute zu <…>, der arme Kerl), traf zufällig Neuß, tranken bei Streng schönen Wein,
um 10 müde nach Hause, er sprach von seinen horoskopischen Fähigkeiten, über Astrologie.

Samstag, 6. 12. 24
Vormittags behaglich, nichts getan, Kaffee getrunken, bei Frau Landsberg vorbei, die aber
nicht zu Hause war, dann zur Universität, Gurian getroffen und mit ihm in die Konditorei
Müller. Nach dem Essen ausgeruht, um 4 ein Brief von Duschka, freue mich auf die Ferien,
ins Café Hansa, dann nach Hause, Frau Landsberg kam und war sehr fröhlich (es handelte
sich natürlich doch um die Promotion ihres Bruders1120), aber sie gefiel mir gut, weil sie
klug und weiblich ist. Sie blieb bis 1/4 vor 8. Dann aß ich etwas zu Hause und arbeitete
herum, las und war zufrieden, gegen 1/2 10 sehr müde.

Sonntag, 7. 12. 24
Behaglich gefrühstückt und an dem Aufsatz über die Auflösung1121 gearbeitet, sehr interes-
sant und absorbiert, um 11 mit Neuß zusammen gewählt1122, nach dem Essen mit Neuß spa-
zieren zum [Venusberg], über Peterson unterhalten. Dann um 4 zu Hause, wieder guten
Kaffee und bis 7 gearbeitet. An Duschka geschrieben und zu Peterson, mit diesem bei
Schwarz zu Abend gegessen, dann bei Schmitz Musik, Palestrina, herrlich, Neuß kam auch
noch, 1/2 12 nach Hause.

Montag, 8. 12. 24
Wollte erst 1/2 8 aufstehen, aber zu müde, also erst um 10. Gut ausgeschlafen und behag-
lich. Wenn ich nur nicht so viel Zeit verschliefe. Ein wunderschöner Brief von Duschka, der
mich sehr erfreute. Arbeitete an dem Aufsatz über die Auflösung, mittags nach dem Essen
etwas mit Vormfelde, traf die Tochter des Präsidenten vom Finanzamt1123 (zufällig hob ich
ihr etwas auf, das auf die Straße gefallen war), begleitete sie zur Rheinuferbahn. Dann nach
Hause, ausgeruht, Kaffee gekocht, gut gearbeitet, Assessor Zimmer kam vorbei, abends bei
Strassberger gegessen, beherrscht und in alter, guter Moral auf den Venusberg, um 9 zurück
und noch etwas gearbeitet.

Weihnachtsferien 1924/25: in Lugano, Monte Brè, bei Duschka.1124 Korrekturen des Völ-
kerbundaufsatzes1125 und der Politischen Romantik, 2. Auflage.

1120 Siehe Eintragung vom 12.7. 1924.


1121 Carl Schmitt, „Einmaligkeit“ und „gleicher Anlaß“ bei der Reichstagsauflösung nach Artikel 25
der Reichsverfassung, in: Archiv des öffentlichen Rechts 8 (1925), S. 162–174.
1122 Wahl zum 3. Deutschen Reichstag der Weimarer Republik.
1123 Siehe Anm. 1106.
1124 Gemäß Brief an Feuchtwanger vom 16.12. 1924, in: Rieß (Hrsg.), BW Schmitt – Feuchtwanger,
S. 104 f., wollte Schmitt am 19. Dezember nach Lugano aufbrechen und am 5. Januar 1925 von
dort abreisen; ebenso im Brief aus Lugano vom 27.12. 1924, in: ebd., 106 f.
1125 Siehe Anm. 1096.

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Teil III

Der Schatten Gottes


Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Bearbeitet von Gerd Giesler, Ernst Hüsmert und Wolfgang H. Spindler

Diese Aufzeichnungen sind ebenfalls in Gabelsberger Stenographie verfasst und in einer Kladde mit
fester Decke im Format 12,4 × 20,3 cm festgehalten im Umfang von 132 Seiten, vom Autor blatt-
weise paginiert; diese Abfolge wird in kursivierten Seitenzahlen angegeben. Nachlass Schmitt
RW 265-19605.

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Vorsatz „Schatten Gottes“

[Vorsatz, linke Seite]

Tolle Wirklichkeit, hier festgehalten, ungewollt


––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
S. 46 unten:
(Einfluß von Frl. Schifrin auf Duschka)
die 19jährige Slavin „flötet“ im Traum

[Vorsatz, rechte Seite]

Brief an Blei aus Bonn 1922/24


nach München, 22. 8. 22 1. Begegnung mit Duschka
vgl. 10. 2. 23

aupplaudite
fratres Der Schatten Gottes

Brief an Däubler
10. 2. 23 Leviathan
93, 104
107 30. 3.<?>38
110 30. 7. 34
Toller Brief an Eisler
5. 3. 23

/23(Bonn)
Duschka und Schifrin (die ostjüdische [Sozialistin])
–––––––––––––––––––––––––
Blatt 46r (47 links)

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Seite 1
[Notiz am Seitenkopf nicht deutbar]

Brief (14)1 an K.; 4. 8. 22


Eines will ich Dir nicht verschweigen, was Du, als ein Kind der oft erniedrigten und be-
leidigten Gattung in Irland verstehen wirst: den Abscheu und Hass gegen eine merkanti-
listische, ökonomisierte Welt, die in die <…> der natürlichen Schönheiten ausstellen <? >,
an den Pacific Chaos und Ähnliches hineinsetzen. Mir ist das menschliche Leben und die
menschliche Schönheit zu lieb, als dass ich es mir so banalisieren und aushöhlen lasse. Du
gehörst doch auch zu der Schönheit dieses Lebens, für mich bist Du sie ganz und gar. Seit-
dem ich das Leben liebe, hasse ich diese Flachheit. In Deutschland, Frankreich und England,
bei den ganz großen Bösewichten, die die Politik und die Weltwirtschaft beherrschen, glaube
ich oft die Maske des Antichrist zu sehen, des Lord of the world.1a Aber wenn ich von der
faden Stupidität des kleinlichen Lebens höre, scheint mir der Antichrist doch zu nobel für
eine solche Niedrigkeit, und der ganze Zustand reift für etwas anderes: die Geldinflation.
Gott bewahre Dich und Deine Schwestern davor. Gott gebe, dass ich Dir bald die ganze,
berauschende Schönheit dessen zeigen kann, was man mit Recht europäische Kultur nennt.
Geliebte schönste Frau, mein Leben ist Dir geweiht. Ich habe das André gesagt und ihn
gezwungen, es zu respektieren; ich sage es Georg Eisler, der heute Nachmittag kommt. Sei
nicht ungeduldig und kleinmütig und lasse mich nicht im Stich. Wenn wir zusammen vor
den Altar treten, wenn wir zusammen nach langem Willen freien. Das ist mein Glaube und
meine Hoffnung. Remember this my faith.2 Unser Sohn soll uns beide segnen, wenn er an
unsere Treue denkt. Nur mit Dir, K., werde ich wieder an die Mosel gehen.
In Liebe und Sehnsucht und viel Vertrauen küsse ich Dein Herz. Immer und ewig bin ich
Dein Carl.
[Einfügung] (Ostern 1925 habe ich mich an der Mosel mit Duschka verlobt) Schändlicher.

Brief 15 an K., 13. 8. 22


Welche Beruhigung zu wissen, dass diese Frau nicht an mir hängt. Vor nichts fürchte ich

1 Schmitt hatte nach Abreise seiner Geliebten Kathleen Murray am 4. Mai 1922 nach Australien die
Briefe an sie nummeriert, siehe Eintragung vom 6. 8.1922.
1a Titel des Romans von Robert Hugh Benson (1871–1914), erschienen 1907, dt. „Der Herr der Welt“
(1911), letzte dt. Ausgabe Würzburg 1990.
2 Abschließender Vers des Gedichtes The Fool von Pearse, das Schmitt vollständig 1921 aufgeschrie-
ben hatte, siehe Teil I, Anm. 47.

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388 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

mich, als davor, einer Frau Unrecht zu tun, die mich liebt. Welche Erlösung und welche
Aufhebung einer Verwirrung.
Eisler sagte, meine Liebe zu Dir sei Götzendienst. Das ist es nicht. Denn Du bist eine
liebende, gute Frau. Für einen Götzendienst bin ich nicht dumm genug. Gelt, K.
(Dass ich der Dame 3 die Möbel einschließlich Teppiche und Silber gab. Der Spott von
André, dass ich die Ladnerin von Köln und den Mann, der Stiefel putzt, als meiner würdig
betrachte.)

Brief 16
Süße Freundin, geliebte Frau; trifft mein Wort noch Dein Herz?
Traum: Ich bin bei Lamberts, mit André, plötzlich singt er … gegen K. Ich laufe auf die
Straße, des nachts, sie geht hinter Lamberts [in] den Friseurladen, um sich frisieren zu las-
sen. Ich sage mir: Sie kommt schon [wieder]. Dadurch sind <…> Ordnung. Ich wollte
draußen rufen (sie hatte nicht gehört, dass <…>. Ich male mir aus, wenn sie wieder vom
Friseur zurückkommt, dass sie mir sagt: Begleite mich zur <…>. Gehe dann nach Hause.

Die <…> des Herzens wird glühend, während <…>

Ich flüchte, oft ermüdet, in den süßen Klang eines schönen Lokals.
Der blaue Himmel und die grünen [Wiesen].

Seite 2
Bei all diesen Propheten und Führern, bei
[nachträglich notiert] George, Curtius, Bertram4
und [bei] allen sehe ich komisch, wie einen Schwanz, ihre Bäffchen.

Brief 16 (19. 8. 22)


An der Art, wie ich meine Ferien verbringe, siehst Du meine innere Unruhe. Ich reise hin und
her und kann mich nicht entschließen, [zu Dir zu kommen]. Ich bin traurig über jeden schö-
nen Tag, welchen ich ohne Dich verbringen muss. Oft wird mein einsames Gefühl so heftig,
dass ich Gott bitten muss, mich nicht an Verzweifeln und Wahnsinn untergehen zu lassen.

where should othello go.5

Das Unangenehmste sind die Holländer. Als hätte ganz Holland und Belgien alles dü[rfti]ge
Gute seines Kleinbürgertums über den Rhein hinaufgezogen: Ladnerinnen [dieses Wort ist
durchgestrichen und mit Oberlehrer überschrieben], Kontoristinnen, Margarine-Reisende,
und die ganze französische Provinz, Onkel und Tante, schlecht gewaschen und heftig parfü-
miert.

3 Schmitts erste Frau Cari, siehe Teil I, Anm. 8 und Teil II, Anm. 2.
4 Ernst Bertram (1884–1957), Germanist und Schriftsteller, zum George-Kreis gehörend.
5 Siehe Teil I, Anm. 96.

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August 1922 389

Soll ich ihr die politische Theologie widmen?

Nel mezzo del cammin di vita mea.6

Allmählich geht es Deutschland sehr schlecht und erbärmlich, dass ich es leide. (Dieses Mit-
leid verging mir aber [in] Hamburg und auf Helgoland).

Wovon habe ich gelebt, seit deiner Abwesenheit: von Sehnsucht und Hoffnungen. Gelenkt
durch Deinen Brief, durch ein paar Spaziergänge mit den Kindern von Partsch und mit
ihren Baukästen<?>. Das ist meine Speise.

Die subtile Perfidie der französischen Psychologen.

Alle schönen Reisen werden wir zu Hause machen, ohne Städte und Menschen zu sehen.
Du wirst mich lieb haben, immer noch mehr.

Brief 17: Pierre Benoit7


<…> für England, habe ich ihm gesagt.

Wie gut ist der Zweck: Was Du im Januar geschrieben hast, lese ich im August und zwinge
die Bedeutung, dass es wahr bleibt. Du bist schön, Comtesse. Ich küsse Deine weißen
Haare, liebe schöne, dumme, kluge, süße Komtesse. Mit großer Inbrunst denke ich an Dich,
Du weißt, dass ich Dich liebe, wie Du bist, angebetete Frau. Ich küsse Deine Haare. Sei
unbesorgt, und wenn Du als der letzte, ärmste Flüchtling kämest, ich würde Dich küssen
und vor aller Welt meine Frau nennen. Aber Du bist doch schön.
Jeder Abend und jeder Morgen erzählt mir von Dir und jedem erzähle ich von Dir. Jeder
soll unser Bote sein.
[Ich nehme] Deine Hand und Deinen Arm, tausendmal habe ich sie geküsst, tausendmal
werde ich sie noch küssen.

[Einfügung am rechten unteren Rand] 24. 8. 22: In Hamburg

Mit welcher Ehrfurcht ging ich den Weg gegen allen Rat. Der Nebel, geheimnisvoll,
bewahrt Dein Bild, Deinen Gang, Deine Versicherung Deiner Treue. Georg Eisler fragt
mich: Gehen Sie „dahin“. Ich sagte: Eine traumhafte Macht über die Vergangenheit, eine
magische Kraft, Dich fest zu halten; das Postamt, in dem ich nach Köln telephonierte. Das
Blumengeschäft, wo ich die Blumen für [Dich kaufte].

6 Dante, Göttliche Komödie, Inferno, Canto I (dort heißt es „di nostra vita“), dt. inmitten meiner
Lebensreise.
7 Pierre Benoit (1886–1962), franz. Schriftteller, Koenigsmark (1919) war einer seiner erfolgreichen
Romane.

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390 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Seite 3
Diese Methodiker, Erkenntnistheorie und alle die Deutschen, träge Philosophen, Kautelar-
Philosophen8, orientiert an dem feigen Bedürfnis, sich nicht festzulegen und sich nicht zu
entscheiden.

Pol. Ideen
1795 erschienen von F. A. Wolf die Prolegomena ad Homerum9, die den Glauben zerstör-
ten, die beiden schönen, himmlischen Epen [seien] das Werk eines einzelnen, großen genia-
len Dichters.
Der Glaube an den genialen Künstler, an den Baumeister usw. Gesetzgeber, den Vor[den-
ker] und die vertu; auch die Traditionalisten arbeiten an diesem Werk der Beseitigung des
genialen Künstlers, der Selbstauflösung des genialen Subjektes in der Romantik.
Der Hass gegen das Genie bei den Traditionalisten (Bonald10): Nicht der geniale Ausnahme-
Mensch, sondern der arbeitsame, demütige, bescheidene Normalmensch, der Bauer, der
Handwerker, prägt den Staat und die Ordnung der menschlichen Gesellschaft. Ihm wird
der Reichtum zugerechnet; seiner bloßen Existenz.

Mich beherrscht eine heftige Machtgier. Daran werde ich untergehen. Gott starb. Ich klam-
mere mich an das Diesseits. Dieser Bund ist heißer als die Hölle, das Feuer der Hölle über-
weltlich und kühl, aus ihm in die Hölle gestürzt zu werden wäre Linderung und Abküh-
lung.
Der falsche Trost eines schönen Gedichtes, eines schönen Verses, die Illusion, in einer
Gemeinschaft zu sein, mutig, den Mann verstehen, wie schrecklich einsam bin ich.

Ich bin oft davon durchdrungen, dass alle solche Nihilisten und Anarchisten wie Barrès
Betrüger sind, bestochen, denn sie werden ja alle etwas, sie kommen in der Gesellschaft vor-
wärts, die Frauen haben Freude an ihnen. Mit welcher infamen Subtilität und zy[nischen]
Sicherheit dieses Publikum weiß, was es zu fürchten hat und was es anerkennen [muss].

Die Trägheit des Surrogates.


Die Funktion des Surrogates: das Echte unschädlich zu machen. Alle diese off[iziellen]
Bekämpfungen des Offiziellen. Die realisierte Wirklichkeit ist für den Romantiker Surrogat;
die Fülle der Ideen bleibt immer im Stadium des wahrhaft Möglichen. Jede Realisierung ist
ein Surrogat.
Bei dem Kommerzienrat Lewy ist alles echt. Bei Borchardt11 ist alles echt; die Generation
auf der Höhe der Genialität. Die Männer ähnlich den Affen. Der große Bestechungs-
prozess.

8 Mit Kautelar-Praxis wird die außergerichtlich beratende Tätigkeit eines Anwalts bezeichnet.
9 Friedrich August Wolf (1759–1824), klass. Philologe u. Begründer der neueren Altertumswissen-
schaft.
10 Louis Gabriele Ambroise Vicomte de Bonald (1754–1840), franz. Staatstheoretiker.
11 Rudolf Borchardt (1877–1945), dt. Schriftsteller.

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August 1922 391

Wenn die Franzosen mir von der Revolution erzählen, so ist mir das, als erzählte mir mein
Großvater von seiner ersten Liebe.

Auch der Diktator ist la bombe qui prononce les paroles de la loi.12

Seite 4
Anfang eines Romans: Als meine Liebe und Leidenschaft für eine Frau den höchsten Grad
von Idolatrie erreicht hatte, befahl mir die Frau etwas Abscheuliches. Hin- und hergerissen
zwischen meinem Götzen und dem wahren Gott, feige, den einen zu verlieren und den
anderen zu beleidigen, ließ ich mir von ihr sagen, dass ich ein Feigling wäre, weil ich nicht
den Mut habe, für sie ein feiges Verbrechen zu begehen.

Ich mache nur Anfänge, ewig prolongierte Anfänge.


Mein Leben ist ein schönes Präludium, die verlängerte Ouvertüre (die Ouvertüre ist kein
Präludium).

An Franz Blei.
An Blei, 22. 8. 22
Mit großer Traurigkeit bin ich weggegangen, als ich Sie einmal in München auf der Bühne
sah, und inzwischen erzählen Sie mir, dass Sie Schauspieler geworden sind. Ich spreche hier
nicht von der moralischen Seite der Sache, von der Art, mit der Sie immer, auch mir
gegenüber, ein bewunderungswürdiger Schauspieler gewesen sind; wie Sie den Schriftsteller
mit dem Schauspieler identifizierten, genügt mir, um zu wissen, dass jede auf ein erhöhtes
Podium gestellte Art von Schauspielerei eine ekelhafte Verballhornung Ihrer selbst sein
muss.
Lieber, lieber, lieber Blei. Wie kommt es, dass ich mich als einen besorgten Vater fühle? Weil
Sie, wie ein Kind, noch Millionen Möglichkeiten haben. Egal. Es ist schade, dass ich Sie
nicht in München gesehen habe. Nicht um Ihnen etwas auszureden, aber um Ihnen ein-
dringlich zu sagen, dass Sie sich, wenn Sie ein leibhaftiger ex officio Schauspieler sind, um
einen großen Moment bringen, um das finale applaudite fratres.

Ich spreche gern mit Frauen, weil Frauen sich in einer Sekunde ändern können, weil ich
eine Frau in einer Sekunde total umwandeln kann.

Pol. Ideen: Ich konstruiere, aber ich bitte, wenigstens dieser Konstruktion einmal nachzu-
gehen. Sie führen alle wieder auf den Erdball zurück.

Roman: Wenn die Staaten zuweilen aus Dummheit Krieg führten, versank die Menschheit
in Stumpfsinn und Gemeinheit.
<…>

12 In Analogie zu Montesquieus berühmtem Satz formuliert, dass der Richter nicht mehr sein dürfe,
als der Mund des Gesetzes „la bouche, qui prononce les paroles de la loi“.

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392 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

24. 8. 22
Ich sehe den Tod,
Ich sehe den Tod, tausend Gesichter der Schönen,
Ich sehe in die [Kutten] und <…>,
die die bunten Kleider des Mittelalters verdrängt haben.
Ich sehe diese Litanei von Leichenbittern, Leichenbitter tanzend
ruhende, tretende Gesichter. mit Kokotten
Ich sehe den Tod
Geldzähler, Reichenknechte.
Assimilierte Juden, assimilierte Emissäre
ein Nichts, den Tod sich assimilierende Automaten.

Seite 5
Schweigen ist Macht.
Die Industriellen sind die Herren der Welt. Aber in dem Augenblick, wo sie heraustre-
ten, wie Stinnes, hören sie auf, es zu sein. Ebenso die Bankiers. Macht gibt es nur hinter
den Kulissen. Die Richtung wird verbogen, die Rücksicht aufs Publikum kostet zu viel
Energie.
Macht gibt es nur schweigend. Nur hinter den Kulissen kann man schweigen; auf
der Bühne muss man immer reden oder eine aufs Publikum berechnete Haltung ein-
nehmen.
Nimm dich in Acht vor dem Reden. Schweigen ist Macht.
Repräsentativ: die sich bekennende Macht (im Gegensatz zur bösen, schweigenden Macht).
Sicher, sprechend.

Und verirre mich in dem Faltengebirge meiner psycho-physischen Existenz.

Pol.-wirtschaftlich: Die Apologeten des wirtschaftlichen Denkens versuchen einen darüber


zu täuschen, dass wirtschaftliche Macht politische Macht ist; dass es auch in der Wirtschaft
nicht ohne Macht geht und dass das wirtschaftliche Denken in dem Augenblick politisches
Denken ist, in dem es sich um einen „ernsten Fall“ handelt.
Anfängerisches und juristisches Denken.

Historische Treue, Echtheit, der lächerlichste Unfug, der Beweis der Unproduktivität, der
Passivität, des Fehlenden jeder aktiven Gegenwärtigkeit. Die Legende ist wichtiger als das,
was wirklich ist. Wer seine Vergangenheit nicht mehr fälschen kann, ist tot.
Was ist weiblich? Bübisch? Die Disposition über die Vergangenheit fehlt. Sie wird Selbst-
zweck, Ruhe, sie ist nicht mehr eine „semiverbale Materie“, nicht mehr ein zu gestaltender
Exkurs.

Warum erschrickst du vor der steinernen und eisernen, gläsernen Naturferne der großen
Städte? Ist nicht die schöpferische Kraft des Menschen unerschöpflich, seine Phantasie
grenzenlos. Kann sich nicht eine Welt von süßen Gefühlen knüpfen an den Ton einer
Fabriksirene, den Geruch des Gases, Benzingestankes und Schmieröls? Darin liegt die vierte

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August/September 1922 393

Funktion der Romantik. Die Loslösung vom Gegenstand, die schöpferische Kraft des Men-
schen, die Suggestion von Effekten auf eine verkommene Welt.

Brief 18, 3. 9. 22 R. Dl.<? > Immer dieses Wort.


Ich bin gerne bei Georg Eisler, weil er weiß, was mich quält und bewegt, obwohl er nicht
davon spricht. Auch er ist ein Zeuge. Wie edel bist Du, wie gütig gegen mich, wie freundlich
gabst Du mir die Schönheit Deiner Seele und Deines Leibes.
Vergiss nicht, dass er in einem völligen anderen ökonomischen, politischen, sozialen [Um-
feld ist], alles anarchische Zustände. Man kann nur erwarten und wünschen, dass es zu einer
Entscheidung kommt.
Europa ist zerstört, eine neue Völkerwanderung, schlimmer als die erste. Will er die Fran-
zosen unterstützen?
Meine einzige Hoffnung, dass dieser skleröse entnervende, entwürdigende Kampf mit einer
bösen Frau doch wenigstens dazu dient zu zeigen, wie sehr ich leide und dass ich alles für
Dich tue. Alles. Siehst Du es? Soll ich Dir die Politische Theologie widmen? Ihr Buch über
Taine. Du hast mich einmal gefragt, ob ich nicht für Deutschland kämpfen will (ich habe
nichts vergessen, Countess).

Seite 6
Barrès
Die Natur bekämpft das kalte Ringen; noch nicht die polarische Auseinanderreißung von
Natur und Kunst; noch nicht die Großstadt als ein der Natur auferlegter eiserner Platten-
apparat und eine ungeheure Maschine. (Paris ist eine Großstadt in einem ganz anderen
Sinne als Berlin, London oder New York); doch nicht die deutsche Polarisierung der <…>,
[wie eine] Gouache, die durch einen völlig imaginären Indif[ferenzpunkt] miteinander ver-
bunden wird.

Und genießt einen Feuerschein und das ganze Schauspiel dieses Weltuntergangs mit den
ästhetischen und snobistischen Sensationen, mit denen Nero dem Brand Roms zusah; die
ästhetische crapule.13

Die politische Idee des Katholizismus, der formalen Antwort; der complexio oppositorum
im Dogma der Erbsünde. Die widersprechendsten politischen <…> Formungen, nicht
ergänzend, sondern umfassend.
Die Form der Form; in einer Zeit der Diktatur muss sie diktatorisch werden. Bei der Staats-
diktatur ist <…>, löst ihre Härte von selbst, wenn die Materie sich löst.
Dem historisch = sozial = national = politischen gegenüber ist sie eine umfassende Form;
daher eine Synthese, keine Entscheidung. Ökonomisch sparsam mit Entscheidungen an den
ersten <…>. Die einzige Entscheidung, die sie entscheidend getroffen hat, wo sie keine
compl.[exio] betrieben hat, ist das Dogma von der Trennung von Person und Amt. Formal
wider die Dialektik der Form: Dezision ist Form, und Form ist nicht Dezision.

13 Dt. Lumpenvolk, Gesindel.

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394 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Nicht nur die politisch denken, interessieren sich für die Frage von Natur gut oder böse.
Die wirtschaftlich Reichen mit dem homo oeconomicus; d. h. im rechnenden Menschen.

Irland… sed victa Catoni.14

Inner[wel]tliche Askese das ist: die Trennung von Beruf und Tätigkeit; eine <…>; die Ent-
fernung von der eigenen Natur; die Unmenschlichkeit, dass ich meine Lebensarbeit als ein
Stück Askese ansehe, sie so in guter Meinung zu machen.

Brief 19 (6. 9. 22) (mit Ormonde15) 6. 9. 22


Schweigend und dunkel wird alles bei mir viel. Ich liebe Irland, ich liebe die neuen
Anhöhen meiner Seele, die Du mir erschlossen hast. Schöne Königin meiner Seele.
Den ganzen Abend bin ich in der Stimmung, als ginge ich gleich zu Dir ins Bett, als schriebe
ich diesen Brief wie in Marburg am Schreibtisch und sagte während des Schreibens zu Dir:
Schläfst Du schon, countess; ich komme gleich zu Dir.
Ich glaube, dass inzwischen eine Periode neuer Produktivität bei mir beginnt und bedauere
es nur, dass ich Dich nicht neben mir habe, Du schöne Begleiterin.
Du hättest mich lieb und ich würde diesen Blick warmer Liebe auf mir ruhen fühlen, wie
oft in den glücklichen Tagen unseres gemeinsamen Lebens. Lass mich nur wachen. Schwei-
gend und dunkel werde ich groß.

Seite 7
Brief 19. Abends bei Eislers, im Zimmer, bei der Lampe. Niemand im Haus, die Sehnsucht
nach meiner Frau. Nachdem ich um ein Heim betrogen bin; die Traurigkeit, die darin liegt;
die Hoffnung auf die Frau, die ich so liebe. Wenn ich Dich ehre und achte, wenn ich Dich
liebe und Dir vertraue, so hast Du nicht mehr das Recht, mich im Stich zu lassen. Vielleicht
meinst Du, oder sagt man Dir, das wäre Dein Glück, mich zu lassen. Du hast einen
Anspruch auf ein solches Glück; aber wenn Du wirklich diesem Glück nachgingest, so
würdest Du mich dadurch ins schlimmste Unglück stoßen und ich glaube nicht, dass eine
gute und edle Frau, wie Du es bist, ihr Glück auf dem Unglück eines anderen aufbauen
kann. Wie liebe ich Deinen Blick, Deinen Mund, die Bewegung Deiner Hände, Deinen
Gang. Weißt Du, wie ich Dich oft gebeten habe, vor mir zu gehen, damit ich Deinen Gang
sehe. Sie will nicht aufhören, mir Zeitungsausschnitte zu schicken; Bryce16 war mir von
größter Wichtigkeit. Freue mich des Reichtums meiner geistigen Produktivität, weiß, dass
es die <…>. Ich sammle mich, bekomme wieder Boden unter den Füßen und fühle, dass ich
innerlich in Ordnung komme. Nur nicht stören, nur Stille. Schweigend und dunkel wird
alles bei mir groß. Dunkel und schweigend wachsen meine Wurzeln. Ich sehe allmählich,

14 Anspielung auf Lukan, De bello civile 1,128: victrix causa diïs placuit, sed victa Catoni, dt. die sieg-
reiche Sache gefiel den Göttern, aber die unterliegende dem Cato.
15 Name des Schiffes, auf dem Kathleen Murray nach Australien fuhr, siehe Teil I, Anm. 279.
16 James Bryce (1838–1922), brit. Jurist, Historiker und liberaler Politiker aus Belfast, Propagator des
Völkerbunds.

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September 1922 395

wie viel ich weiß. In der Erzählung von Moore17 Wild Goose steht: Sie liebte es, mit ihm zu
plaudern, wenn er sich rasierte. Ich hätte Dir längst eine Photographie geschickt, aber ich
bin nicht zufrieden mit mir. Ich möchte einen günstigen, fröhlichen Augenblick abwarten.
Willst Du mich arbeiten lassen? Ich denke immer abwarten und zugreifen. Ich glaube, ich
kann es. Ich werde wieder gesund.

Die politische Idee des Katholizismus ist Ordnung und Form. Die Form der Form; der
formale Hintergrund des politischen Geschehens; sie kann die Prätention nicht aufgeben,
aller politischen Form die letzte Stimme zu geben. Durch ihre formale Bestimmtheit wech-
selt sie: die Dialektik: Form ist Präzision; Form ist gleichzeitig Distanz gegenüber einem
Verhalten in der [Vergangenheit] als Gegensatz zur [Gegenwart] und Abwarten.

Sie darf nicht konkret werden; auch eine bolschewistische Ordnung könnte eine Ordnung
sein; nur eine prinzipielle revolutionäre Ordnung (eine Sinnlosigkeit, die auch durch Be-
griffe von Leben und Wunden nicht verständlicher wird) wird sie absolut ablehnen.
Das Formale, nichts als Formales ist die Dezision, d. h. die Diktatur. Daher wäre die Idee
des Katholizismus Diktatur, nur nicht politische Diktatur, Militärdiktatur, Philosophie des
Säbels.

Das ökonomische Denken ist der Kirche am meisten fremd; weil es darauf verzichtet, for-
mal zu sein. Produkt und Konsumption sind so sehr am [Markt] orientiert, <…> der klassi-
schen Idee des législateur. Repräsentative Figur.

Die große Organisation der Kirche bewahrt in ihrer konkreten historischen und sozio-
logischen Wirklichkeit noch zahllose Elemente des römischen Imperiums. Zu einer juristi-
schen Formierung, die Judizierung des Religiösen. Nach der politischen Idee des Katholi-
zismus fragen, heißt nach der politischen Idee des Juristischen fragen. Das ist keineswegs
sinnlos. Das Juristische setzt eine Ordnung voraus. Seine Geltung in der konkreten Wirk-
lichkeit macht eine Ordnung notwendig; wichtiger, dass, als wie entschieden wird. Ich
nenne das dezisionistisch.

Ästhetisch bestimmt ist das klassische <…> Gesetz<? > im Gegensatz zum Romantischen.
Mit allen Attributen des Klassischen, besonders die große Rhetorik, der Zwang zur Klar-
heit, die Religiosität des Klassischen, die Bewusstheit und die Verantwortung, die zu ihr
gehört, der Mut zum Dogma, zur Diktatur und zur Präzision des Dogmas, Präzision und
Dezision, das persönlich das [Entscheidende] der Dezision [ist], weil sie Verantwortung ist,
persönlich, repräsentative Menschen; der Typus im repräsentativen Sinn.
Der Papst repräsentiert Christus. Die furchtbarste Ausnahme. A deo excitatus.18
Figur und Gestalt, sichtbares Bild, persönlicher Repräsentant des Unsichtbaren.
Adoration <? > ist Romantik.

17 George Moore (1852–1923), irischer Schriftsteller und Kunstkritiker, dt. Übersetzung Die Wild-
gans, Leipzig 1922.
18 Dt. von Gott gerufen, Rechtfertigungsformel der Reformatoren.

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396 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Seite 8
compl.[exio] opp[ositorum]19: das heißt, sie hat sich nicht entschieden und ist doch Dezi-
sion
1) Papst Monarch, Bischöfe, Repräsentation; die Gemeinde immer Demokratie <? > und
kann alle Seiten zeigen. S. 18
2) Matriarchat und Patriarch; die Kirche die Mutter, der Papst der Vater.
3) Amt und Persönlichkeit (sehr wichtig; das Amt und das cárisma 20, scheinbar getrennt;
hier scheinbar eine Entscheidung fürs Amt. Aber es ist doch alles persönliche Repräsenta-
tion, der Papst der persönliche Stellvertreter auf Erden, auch wenn nichts sündhafter, der
mehr verbrecherische Mensch in Personalunion<?>, nicht das persönliche Amt, nicht das
„Organ“, nicht das Un[persönliche] der Maschinen (man weiß, welche seltsame Bedeutung
das haben kann; man kann ihm sein Amt bestreiten, ob er rechtmäßiger Papst ist!)
4) Von Natur gut und von Natur böse.
5) Altes und Neues Testament.
6) jüdischer Monotheismus und heidnischer Pantheismus (Heiligenverehrung).
7) Aber wenn nicht seine Hand greift in die Dinge, sondern sein Gott.

Gott ist durchsichtig. Woher der Schatten, der auf allen irdischen Dingen liegt?
Aber mein menschlicher Verstand sieht nur seinen Schatten und sein Schatten ist magerer
als die kompakte bauchhaftige <?> Materie.

Aber die Form an sich [kann sich] nicht selbst realisieren. Sie bedarf eines Armes.
Die Kirche musste, das gehört zum historischen Schicksal ihrer Sichtbarkeit, sich konzen-
trieren gegenüber einem konzentrierten Staat; sie wollte erst eigene Organe schaffen, weil
sich ihr keine bieten, sie ist belastet mit einem Apparat, der entfällt, wenn die Menschheit
christlich geworden ist und eine<?> Wirtschaftsform gefunden hat, die von der Seite des
Irdischen aus die irdischen Dinge regelt.

Die unklare Durchsichtigkeit; das objektiv Unklare; die formale

Diese Hellenen wollen Rom immer vor eine Entscheidung drängen; aber es ist gar keine
Entscheidung.

Politisch gesprochen bedeutet die Vollendung wirtschaftlichen Denkens eine Stille des Poli-
tischen, dass die Herren des Wirtschaftslebens auch Herren der Politik werden. Das wollen
sie aber im Grunde gar nicht, denn dann hätten sie eine Vereinigung<?> der Repräsentiert-
heit allen politischen Denkens, das Wollen [in] einem des Wirtschaftlichen.

19 Dt. Spannungseinheit von Gegensätzen. Zur Entstehung dieses Begriffs, den bereits Adolf von
Harnack, Wesen des Christentums (1899/1900), 14. Vorlesung, verwendete, hat Schmitt in einem
Brief von 1952 an den französischen Thomas-Mann-Forscher Pierre-Paul Sagave auf die Schrift
Ars oppositorum (1510) von Carolus Bovillus verwiesen, vgl. Martin Tielke, Carl Schmitt auf dem
Zauberberg, FAZ v. 17. 7. 2013, Seite N4.
20 Griech. charisma.

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September 1922 397

Zur großen Religion gehört ein Verhältnis zur Geschichte (zum Beispiel Bossuet, Burke 21,
Thiers 22, Cortes, Dupanloup 23).
Bei den Deutschen, einem Volk von gestern, ist dies Verhältnis nicht vorhanden.
Das Autoritäre in der Religion (die Rede im Gegensatz zum Diskurs); das Engagieren mit
dem Wunsch zu überzeugen und die Persönlichkeit des Autoritären.

Seite 9
Diktatur des Lebens.
Es kann einen wundern, dass die deutschen Geschichts- und Lebensphilosophen, die üblich
im Widerspruchsvollen ein Symptom des Lebendigen sehen, nichts aus der römischen Kir-
che gemacht haben (z. B. Schelling 24, Dombrowsky 25, Stein 26).
Der Imperialismus hat Angst und Entsetzen hervorgerufen (der Englische hat am wenigs-
ten). Man kann sagen, die Angst, die vor der päpstlichen Kirche herrscht, die Summe der
Affekte vor seiner irdischen Macht, ist größer als die Angst vor irgendeiner anderen politi-
schen Macht. Und doch ist diese politische Macht ohne Heere, ohne Kanonen, ohne Unter-
seeboote, ohne Luftflotte.

Die politische Idee des Katholizismus liegt darin, die Idee des Politischen in ihrer ideellen
Reinheit herauszustellen, zu zeigen, dass sie nichts realisieren kann ohne den Zwangsappa-
rat der Gewaltmittel, die heute zur Politik gehören, ohne den militärischen Krieg.

Schluss: In dieses Reich der organisierten Splitterklassen baut sich ein Reich der Materie
auf; die Form repräsentiert in diesem Reich der Materie, wird realisiert, die Welt wird
umgeändert, die Natur verkrampft ohne Ende. Und im Rahmen dieses Reiches [vollzieht]
sich der Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus, der im mechanischen Apparat
einen riesenhaften Unter<?>apparat eine eigene <?> Welt entgegensetzt. Sie muß es als
heidnischen Aberglauben ansehen, zu hoffen, dass die Dinge dieser Welt sich selber regieren
können, solange die Welt in Sünde war.
Dieses Reich der reinen Form.

21 Edmund Burke (1729–1797), engl. Staatsmann und Schriftsteller, konservativer Gegner der franz.
Revolution.
22 Adolphe Thiers (1797–1877), franz. Politiker und Historiker; berühmt durch seinen Ausspruch von
1830: Der König herrscht, aber regiert nicht.
23 Félix Dupanloup (1802–1878), Bischof von Orléans, Verfasser einer einflussreichen Schrift gegen die
Freimaurerei und Kritiker der Dogmatisierung der päpstlichen Infallibilität im Ersten Vatikanischen
Konzil.
24 Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (1775–1854), Philosoph des deutschen Idealismus, starker
Einfluss auf die Romantiker.
25 Alexander Dombrowsky hatte sich in seiner Göttinger Dissertation mit Adam Müller befasst
(Aus einer Biographie Adam Müllers, Berlin 1911), die Schmitt in der Politischen Romantik öfter
zitierte wie auch dessen Aufsatz „Adam Müller, die historische Weltanschauung und die politische
Romantik“, Zeitschrift f. d. ges. Staatswissenschaft 65 (1919), S. 377–403.
26 Lorenz von Stein (1815–1890), Staatsrechtslehrer, Nationalökonom u. Soziologe.

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398 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

(Es muss einige einfache psychische Gesetze geben, z. B. das Gesetz der Vergrößerung
durch Übertragung. Es [duldet] es noch, selbst gedemütigt zu haben; nicht aber, dass meine
Frau gedemütigt wird).

Ich laufe einem Weib nach.


Ich bin ein betrogener Götzendiener, Sklave meiner Gier (wie rhetorisch und wie schön und
treffend ist das).

Der klassische Begriff ist Repräsentant, der ökonomische ist technisch = dynamisch =
Exponent.

Die Mischung von Hochmut und Demut.


Die gleichgültige Auffassung der Frage seit der Renaissance führt zur Diktatur, heidnisch,
mit der ganzen Bedeutung dieses Wortes, die es bekommen hat, singt das Christentum. Das
wahre.
Der jüdische Hochmut.
(Eisler ist auch demütig, aber nur soweit es nötig ist, um seinen Hochmut nicht aufgeben zu
müssen).

Mein Wahnsinn ist mein einziger Freund.


Wie kann ich sie hassen, die Preußen, die Juden; alle. Was bleibt mir? Wohin fliehe ich? Die
Höhle meiner Illusionen ist die Schönheit einer Lilie oder eines Vogels. Flucht, immer
flüchtig und mein Leben eine Frage.

Seite 10
complexio, bleibt nicht Synthese; Synthese wäre schon wieder Hochmut. Konzessionen
machen aus Demut.
Die Komplexe von Fähigkeit zum männlichen Widerstand und Fähigkeit zur weiblichen
Nachgiebigkeit. Beispiele und begrenzte Anpassungsfähigkeit und eine starre In[tran]sin-
genz.

Der Gegensatz von compl. und Polarität; kommt aus einer geistigen Verfassung, die nur
Polaritäten kennt. (Innerlichkeit und Äußerlichkeit, Natur und Sünde, Natur und Geist;
Natur und Kunst; Natur und Maschine).

Sindbad 27
Wie aus der Flasche von Sindbad, seine Frau ein phantastisches geistiges Gebilde, so
erscheint dem Mann aus jeder Frau ein phantastischer Geist, der mit ihm redet; und doch ist
die Frau nur die Flasche.

27 Name eines abenteuerlichen Reisenden aus den Märchen von Tausendundeinernacht.

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September 1922 399

Ohne Märchen, ohne Zauberei, ohne Magie, und doch voll Poesie.

Es gibt kaum ein katholisches Migrantenvolk; wieviele Protestanten auswandern, Puritaner,


die irische Auswanderung und die puritanische Auswanderung (das kommt daher, dass sie
keine Begabung für Sektenbildung haben; soziologische Unmöglichkeit einer Sekte, auch
wenn sie eine minimale Minderheit sind.)

complexio ergibt sich aus der Sichtbarkeit im Irdischen: das Jüngste Gericht, weiß niemand,
es ist sokratischer Hochmut zu sagen, dass das Menschentätigkeit ist und das tausendjährige
Reich angebrochen ist.

Die Ordnungsform, in sich ruhend und sich selbst genügend und in der Lage, jeder anderen
Macht gegenüber, die [behauptet], eine Ordnung zu sein, diesen Anspruch zu verneinen;
nicht Polarität und sich eine Ordnung zu schaffen.

Der Irrtum von Comte 28, dass der Kaufmann und die Gelehrten eine repräsentative Figur
seien [Einschub:] was Comte ohne Repräsentation <…>; der Kaufmann sitzt in seinem
Kontor und der Gelehrte in seiner Stube oder Laboratorium, was sie an Stand noch haben,
sind mittelalterliche Reste, was sich neu bildet, ist ein neuer Mechanismus, den sie bedienen.
Figuren sind sie nicht, sondern entweder Privatleute oder Exponenten, aber nicht Repräsen-
tanten.

In einer Zeit, in der der Richter als der Bediente des Wirtschaftslebens erscheint, ist es
schwer, Verständnis für diese Art Formalität zu finden.

Seite 11
Die juristischen Repräsentanten (der Familienvater, der König).

Man kann Christus repräsentieren, man kann die Idee von Freiheit und Gleichheit reprä-
sentieren, man kann aber nicht Produktion und Konsum repräsentieren.

Die Dimensionen der Repräsentation


Der Papst steht näher bei Mazzini 29 als bei einem Bolschewisten, auch wenn in der Taktik
des politischen Kampfes Gegensätze entstehen sollten. Repräsentation – dagegen bilden wir
Produktion, Reflex, Spiegelung, Ausstellung, <…>.

28 Auguste Comte (1798–1857), franz. Philosoph des Positivismus, Begründer der wissenschaftlichen
Soziologie; vgl. Schmitt, Römischer Katholizismus, S. 33.
29 Giuseppe Mazzini (1805–1872), ital. Nationalist, Freimaurer und Risorgimento-Kämpfer. Im
Schlussabschnitt von Römischer Katholizismus, S. 65, formuliert Schmitt, dass im aktuellen Kampf
„die katholische Kirche und der katholische Begriff der Humanität auf der Seite der Idee und west-
europäischer Zivilisation waren, näher bei Mazzini als bei dem atheistischen Sozialismus des anar-
chistischen Russen“ Bakunin.

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400 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Schluss: formal; universal, abstrakt; Geltung hat dann nur eine nationale Machtpolitik.

Es wird erst zu einem Kampf kommen, wenn eine ebenso universale Instanz, der Völker-
bund, sich gebildet hat, ganz pos[itioniert ist auf] heute; und diese eine Idee repräsentiert,
die mit der Idee des Katholizismus in Widerspruch steht. Das wird der Endkampf werden.
Dann werden 2 politische Ideen [aufeinanderstoßen], denn der Repräsentant Christi auf
Erden kann sich nicht vereinigen mit einem [anderen] Repräsentanten. Der Fall ist im römi-
schen Reich eingetreten; er hat mit dem Sieg des Papsttums geendet, das seinen Feind fort-
setzt <? >. Immer hat die Kirche den Feind überlebt.
Die Humanität lebt heute in ihr.

Das Territorium: Die Aufgabe <…> Staatsbekämpfung <…> und der Kapitalismus, [die]
den territorial begrenzten Staat ergeben. Romanischer Zarismus.

Représentation und gloire.


Es geht nicht auf im Juristischen. Das Politische erhebt sich über das Juristische, aber es
sinkt nicht ins Technische.
Schluss vielleicht: die Sitzungen bei Hello.30 j’en appelle de ton justice à ta gloire.31

Im Juristischen liegt, sobald es soziologisch wird, ja auch eine compl. opp.


Es ist <…> und Repräsentation; Naturrecht und Tradition.

Vielleicht ist der ganze Katholizismus nur Restauration; Vergangenheit; nicht Zukunft. Die
Zukunft ist das Jüngste Gericht. Das ist für uns keine Zukunft mehr.

Das Jüngste Gericht und die elektrifizierte <? > Erde repräsentieren die Vergangenheit
(Christus überholt die Tradition, nicht die Zukunft.)

Seite 12
[nachtäglich notiert] Anlass zu einem Roman!
13.1. 22 in Hamburg
[Die Eintragungen senkrecht darunter nicht deutbar]

Seite 13
Ich bin ein Kreuzfahrer. Ich suche immer den modernen Kreuzzug und muss mich daran
beteiligen. Ich bin ein verlaufener Nachzügler der Kreuzzüge und suche wieder zu meiner

30 Ernest Hello (1828–1885), franz. katholischer Schriftsteller. Wie sehr Schmitt ihn schätzte, zeigt sich
auch an dem Geschenk, das er Erik Peterson 1925 machte: Pierre Guilloux, Les plus belles pages
d`Ernest Hello, Paris 1924. Widmung auf Vortitel: „Erik Peterson / auf die Reise nach / Göttingen /
Bonn 4. August 1925 / Carl Schmitt“. Quelle: Antiquariat Schuelke, Köln, 2013.
31 Dt. Ich appelliere gegen Deine Gerechtigkeit an Deinen Ruhm. Vgl. Schmitt, Römischer Katholizis-
mus, S. 55 f. Vgl. auch Léon Bloy, Das Heil und die Armut, Heidelberg 1953, S. 374.

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September 1922 401

Truppe zu stoßen. So habe ich, als ich meine erste Frau heiratete, die sich als Kroatin aus-
gab, in ihr ganz Kroatien gesehen, den Kampf des christlichen Balkans gegen den Halb-
mond und mich begeistert bereit erklärt, alles für diese Frau zu tun und zu opfern, weil es
ein Kreuzzug war. So habe ich, als ich mich der 2. Frau anschloss, einer Irländerin, in ihr
Irland gesehen und den Kampf der irischen Rebellen gegen England als neuen Kreuzzug
konstruiert, als Kampf des Rationalismus des Angelsachsentums gegen die mechanisierte
Welt, gegen den Kirchenstaat. Immer bin ich der Kreuzfahrer und suche den Kreuzzug.
Don Quichote. Immer ist das Resultat allerdings, dass ich ein Kreuz auf mir habe und
schleppen muss.
(Ich sagte das André, am 13. 9. 22 morgens bei Eislers; er sagt: Du darfst die Kreuzspinne
dabei nicht vergessen, du arme Fliege).

Ins Heilige Land, 15. und 16. 9. 22


André: Man kann den Teufel nicht durch den Beelzebub austreiben.
Ich: Aber vielleicht den Beelzebub durch den Teufel.
Pearse, Lust das Bett warm[zu]halten (sagt mir André).
(Kind und Junge, Mann und Greis)

Die Lebenden, aber die mit den 3 weißen und einem schwarzen Fuß (weiß ist schwarz und
schwarz ist weiß)
[Zwei Zeilen nicht deutbar]

Die Reflexions… <?>: Stumm von Politischem, Wilhelm Tell und das Thema von Norma.32

(Brief 20)
22. 9. 22: Ich gehe abends in der Dunkelheit und denke immer, ein Kind ginge neben mir.
Es ist inzwischen meine Liebe. Unter vielen Schmerzen in Welt und Tränen ist es gebo-
ren. Inzwischen ist sie schon größer geworden und geht an meiner Hand wie eine kleine
Tochter.
Des Abends, wenn ich in der Dämmerung spazieren gehe, wie meine schöne Tochter; oft
weint sie und schreit sie und ich muss sie trösten, indem ich ihr von ihrer schönen Mutter
erzähle. Oft ist sie artig und plaudert, wie nur die Kinder einer klugen und schönen Frau
plaudern können. Wir gehen nebeneinander her, sie an meiner Hand, und sprechen immer
nur von Dir, von Dir, K.
Im Brief 20: Erzählung aus Helgoland, als ich mit André in Helgoland saß und Schweden-
punsch trank: Wir erfanden Legenden von der Familie Schmitt und der Familie Steinlein.
Unter Septimius Severus, im 3. Jahrhundert, ging ein römischer Zenturio von Trier die
Mosel herauf; bei Alf bog er in den Wald und wurde von den Kelten überfallen, die ihn zu
einem Druidenstein schleppten. Als er des Nachts, an Händen und Füßen gefesselt, am
Boden lag, kam eine Bärin und trug ihn im Maul in die Höhle eines Einsiedlers. Die Bärin
hatte 3 weiße und eine schwarze Tatze. Sie legte den Zenturio dem Einsiedler zu Füßen und

32 Norma, tragische Oper von Bellini.

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402 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

streckte sich in der Höhle aus. Dort saß eine Eule, die mit leiser, aber deutlicher Stimme die
Worte sprach:
Kind und Jüngling, Mann und Greis
Weiß ist schwarz und schwarz ist weiß.
Das bedeutet: Mein Vater hatte 3 Brüder, von den 4 Geschwistern waren 3 Geistliche
(schwarz) und einer, mein Großvater, ein echtes Weltkind; das deuten die 3 weißen und die
eine schwarze Tatze der Bärin an, usw.
Wir haben viel gelacht. In Wahrheit erzählte ich alles das und erfand es nur, weil ich an K.
und die Mosel dachte und vor Sehnsucht fast wahnsinnig geworden wäre.

Seite 14
Langer Bericht über die Zeit von 7.–21. 9.; Exzerpt über die angebliche Entführung von
P. Benoit; Taufschein von der Dame 33; T<?>benachrichtigung über den 23.10. 22.

[Brief] (20)
Inzwischen will ich Dir wieder regelmäßig sonntags schreiben, da ich die [Termine der] Post
nach Australien nicht mehr so pünktlich erfahren kann, wie in Hamburg. Das Wichtigste ist,
dass ich Dir nochmals für Deine wunderschönen Briefe danke. Für mich ist das wirklich eine
unentbehrliche Nahrung. Du siehst aus den Briefen, wie ich vereinsame. Ein Prozess, wie
der, in dem ich stehe, ist ein Kalvarienberg. Es ist viel schlimmer wie der, demütigend und
verwundend, als irgend jemand ahnen kann. Lass mich nicht im Stich, countess.
Aber Deine Briefe sind eine wunderbare Post. Alles, was du mir schreibst von der Schule,
von den Enten, von Deinen Gesprächen mit anderen. Ich kann Dich sehr lebhaft sehen. Du
bist unter meinen Augen, ich fühle mich unter den Deinen. O Countess, ich kenne wohl
that peachies feeling, von dem Du schreibst. Ich habe seinen Reflex auf mir empfunden, den
Blick, in dem er sich bei Dir ausdrückt. Süßeste Frau. Millionenmal sollst du es noch haben,
wir wollen darin untergehen. Ich kenne kein anderes Glück.
Heute vor einem Jahr fuhr ich von München zu Dir nach Köln. Die Reise ist mir sehr
lebhaft im Gedächtnis. Ich denke immer daran, wie Du auf dem Bahnhof in Deutz mich
küsstest, in Deinem grünen, magischen Kleid. Dann kamen die schönen Tage in Tüngern,
Trier und an der Mosel. Mein Gedächtnis ist nicht weniger treu als Deines, Kathleen.
Ich bin oft sehr traurig. Gesundheitlich geht es mir gut. Die Herzbeschwerden, die ich in
Greifswald so schlimm hatte, kenne ich nicht mehr. Mein Vertrauen auf Dich ist sehr groß
und unabänderlich. Wegen Deiner Mutter bin ich in größter Besorgnis. Wäre ich nur der
glückliche Namensvetter Karl Schmidt, der nach Australien kommen könnte! Vielleicht
denkt Aileen inzwischen noch besser über die Deutschen als im August, inzwischen, wo die
Australier wieder an die Dardanellen gehen34 wollen. Ich bin inzwischen etwas deprimiert.

33 Der korrekte Taufschein von Schmitts erster Frau zeigte deren einfache Herkunft aus einer Familie
im VI. Wiener Bezirk statt der von ihr behaupteten adeligen Abkunft aus einer kroatischen Adels-
familie sowie die Fälschung des Geburtsjahres (recte 1883, nicht 1888). Vgl. auch Mehring, Aufstieg
und Fall, 151 ff.
34 In der sehr verlustreichen Dardanellen-Schlacht im 1. Weltkrieg (1915) stellten auf Seiten der Entente
australische und neuseeländische Infanterie das Hauptkontingent der Kombattanten.

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September 1922 403

Ich hoffe, dass ich nächstes Jahr die Krise überstanden habe. 35 Jahre ist ein schöner Zyklus
von Septennaten, nicht wahr, Liebste.
Du fragst nach dem treuen Zigeuner. Ich habe ihn noch nicht drucken lassen, aus Politik.
Deine Dissertation sollte schon im September anfangen, gedruckt zu werden, aber Feucht-
wanger hat mir seit einem Monat nicht geschrieben. Ich habe ihn vorgestern moniert. Auch
mit der politischen Theologie habe ich noch nicht begonnen. Wie oft wünsche ich, dass Du
bei mir bist. Wie schön wären die Reisen gewesen. Aber bald werden auch diese schreck-
lichen Wochen vergehen. Ich kann mir nicht denken, dass etwas nicht belohnt wird.
Am 28. September gehe ich zu den Sakramenten. Ich war sehr glücklich und beruhigt, als
Du schriebst, dass du so viel betest. Es ist derselbe Gott, ob Du in Australien vor dem
Tabernakel kniest oder in Köln oder Alf oder Greifswald oder Hamburg oder Stralsund,
oder Trier oder zuletzt in Heidelberg.
Wir werden glücklich miteinander sein, viele Reisen machen, viel Schönes sehen, uns küssen
und unendlich lieb haben. Du wirst mich lieb haben, immer, immer.
Denke in Liebe an mich. Ich habe es jetzt nicht leicht. Aber Du bist bei mir.
Ich küsse Dich von ganzem Herzen, Deine weißen Arme, Deine lieben Haare. Bald komme
ich oder ich rufe Dich. Du gehörst mir, ich gehöre Dir.
Küsse mich, Countess, nimm mich an Dein Herz, für immer bin ich Dein
Carl.

Sind wir auf dieser Erde, oder sind wir es nicht? Sind wir nie allein oder sind wir unter uns;
können wir uns auf uns verlassen?
Schreibe ich nicht ins Leere? Schreibe ich für einen Leser, in tausend Jahren vielleicht?
Es ist Unsinn, das zu glauben. Es gibt nur eine Lösung: die christliche.
Aber es gibt keine Gemeinschaft mehr. Irgend ein Lusitanier <? > belehrt mich über Mo-
zart; ein Japaner spricht mit mir über die Kunst von Raffael. Ekelhaft, ekelhaft.
Ich höre vor meinem Fenster Menschen dumme Treue- und Wotanverse singen: das ist also
das Diesseits.

Ein Schluck aus dieser Flasche macht mich frei.

Ich sehe an den Wänden die Papierblume der Bücherrücken. Einbände aus der Biedermeier-
zeit, eine Gesamtausgabe Goethe, die stinkende Bildung der Inselbücherei. Wie komisch.

Seite 15
Herbst 1922 / Bonn
Vernebelte Askese und Emigrant; der Protestant ist immer auf der Wanderung; die Wikin-
ger, bodenlos.

Brief 21:
Dieser Prozess mit seinen Schrecken und Erniedrigungen.35 Jetzt bin ich wie auf einer Insel
einsam, ohne dass jemand meine Stimme hört. Heute Nachmittag war ich in Bonn auf dem

35 Schmitts Prozess um die Nichtigkeitserklärung seiner ersten Ehe.

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404 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Friedhof, um das Grab von Robert Schumann zu sehen. Es ist leider Konditorkitsch mit
Märchen. Doch entsprach der Gang über den Kirchhof meiner Traurigkeit. Die Trauer-
frauen, Frau Marcel Sembat 36, las die Geschichte von Parnell.37
Wo bist Du, Countess? Hörst Du wenigstens meine Stimme noch? Bist Du noch bei mir?
Meine Einsamkeit ist so schrecklich. Du darfst nicht glauben, dass ich sie auch nur eine
Minute bei fremden Leuten verliere. Wenn Du in dem Bericht, den ich Dir schreibe, liest,
dass ich mit der oder dem Bekannten zusammen war, so bedeutet das nicht, dass ich mich
der Freude oder dem Gespräch überlassen hatte. Du schreibst, die Leute sagen, Du seiest
wie ein Traumwandler. Liebste, schönste Countess, mit mir ist es ebenso. Wie verzaubert,
krank, verwundet. Ich liebe Dich über alle Maßen. Ich mache keine Beatrice38 aus Dir. Ich
liebe Dich genau wie Du bist; ich sehe Deine Bewegungen so deutlich und liebe sie, Deinen
Blick, die Haare, die ich so oft geküsst habe. Heute vor einem Jahr machten wir einen
schönen Spaziergang nach Burg Arras.39
Wir sprachen usw. Die Ohnmacht, in die ich inzwischen Tausende von Meilen von Dir ent-
fernt bin, macht mich sehr traurig. Doch darfst Du nicht traurig sein. Ich weiß, dass ich
Dich verpflichtet habe, nicht mutlos zu werden, und wirst es auch nicht. Nur ist es inzwi-
schen so traurig in Deutschland. Überall Verelendung und Not. Es ist schrecklich, als ging
man auf einem Meer und einer nach dem anderen seiner Begleiter verschwindet, sinkt ein,
schlägt noch einmal mit Händen und Füßen um sich und verschwindet.
Oft glaube ich, dass die Dame schwarze Magie treibt und mir alle Dämonen der Melan-
cholie ins Haus schickt. Aber Deine Briefe vertreiben sie, K. Ich erinnere mich mit Schmer-
zen meiner Launen, meiner schlechten Hilfsbereitschaft, wenn Du einkaufen gingst, des
Egoismus, mit dem ich an meine Arbeit dachte, statt Dir gefällig zu sein. Wie weh ist das
jetzt alles in der Erinnerung. Du hattest einmal (im Gangolf) gesagt, dass Du die Dame ver-
ständest und dass ich oft sehr böse sein könnte. Wie ist das zu ertragen? Es macht mich tod-
krank. Ich wühle, in solche Reflexionen gezwungen, in meinen Wunden und verblute wie
ein verwundetes Tier.
Wo wirst Du diesen Brief bekommen? Wie wirst Du mir antworten? Was sagt Deine
Mutter? (Bitten wir dann, Wilde Goose, zum abreisen). Für meine fanatische, wilde, uner-
bittliche Treue gegen Dich hat diese Geschichte etwas Beunruhigendes. Du kannst sicher
sein, dass ich Dich töten würde, wenn Du mir untreu würdest und dass ich von Dir verlan-
ge, dass Du solches tun würdest in [m]einem Falle –. Aber wie spreche ich? Ich fürchte, ich
phantasiere. Gebe Gott, dass wir bald miteinander vereinigt sind und auch Deine Mutter
uns ihren Segen gibt. Du verschweigst etwas von mir Deiner Mutter; nicht wahr, Countess,
Du darfst nichts von Dir oder Deiner Mutter mir verschweigen.
Heute, K., habe ich einen traurigen Brief geschrieben. Sei mir nicht böse deshalb. Du siehst,
wie sehr ich Dich brauche. Hätte ich solchen Zustand vorausgesehen, ich hätte dich nicht

36 Marcel Sembat (1862–1922), franz. linker Politiker und Minister, verheiratet mit der Malerin u.
Bildhauerin Georgette Agutte (1867–1922).
37 Charles Stewart Parnell (1841–1891), einflußreicher Politiker in Irland, der wegen Eheproblemen
seine politische Karriere beschädigte.
38 Dante war seiner Muse Beatrice di Folco Portinari (1266–1290) in geistig-spiritueller Liebe zuge-
wandt, vgl. Dante, Vita Nuova, Kap. 28.
39 Burg Arras, um 950 erbaut, liegt oberhalb der Stadt Alf an der Mosel.

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September/Oktober 1922 405

abreisen lassen. Ich war dumm, das zu tun. Aber ich fürchtete Deine Mutter. Inzwischen
bereue ich es. Die einzige Frau, die ich lieben konnte, neben der mir jede andere lächerlich
und unerträglich erscheint. Diese Frau lasse ich abreisen. Ich muss wohl in einem Anfall
von Irrsinn gehandelt haben. Du, schöne Countess, küsse mich und komme bald zu mir
zurück. Ich küsse Dich von Herzen, Deine Augen, Deine Haare und Dein Herz. Immer
und immer Dein Carl.

Traum am 2. 10.:
Vom weißen Tod. Der Tod in einem weißen Kleid trommelt schneidig und schmetternd
einen Marsch auf weißen Tellern: einen Präsentiermarsch.
Denkst du denn, denkst du denn, [du] Berliner Pflanze, denkst du denn, ich liebte dich, weil
ich mit dir tanze.40
Man bringt den jungen Mann mit blühenden Wangen herein, er wird in ein Bett gelegt, das
Zimmer ist das eines Krankenhauses, weltliche Krankenpflegerinnen stellen sich um ihn auf,
die jungen Mediziner und Assistenten kommen und singen im Chor eine Zote.
Grauen, Ekel, Verböserung, Oper, Theater.

Seite 16
Ps. 121, 5/6: Der Herr ist dein Schatten über deiner rechten Hand, dass dich des Tages die
Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts.

Schatten: Gütersloh spürt wohl die große Verfinsterung, aber nicht den Schatten Gottes, der
noch schwärzer ist.
Strindberg hat ihn gespürt.
Schlemihls frei gelenkter Schatten41, wo ist er geblieben?
Nicht Licht und Finsternis, sondern Licht und Schatten.
Das Kino ist schattenhaft; die Menschen wollen es so.
Wenn der Schatten einer trächtigen Kuh auf eine schmutzige Pflanze fällt und sich mit
einem Mondstrahl begattet, so wird … geboren.

[seitlich rechts notiert]


Bei Villier de l’Isle Adam42 zitiert als Äußerung von Byron43 (chap. XI. der Ève future):
On eût dit que cette femme projetait son ombre sur le cœur de ce jeune homme.

40 Berliner Gassenhauer.
41 Adelbert von Chamisso (1771–1838), Dichter und Naturforscher, seine Erzählung Peter Schlemihls
wundersame Geschichte erschien 1814. Siehe auch Abb. auf S. 575 mit dem Widmungzitat aus der
Vorrede der Erzählung.
42 Einer der frühesten Science fiction-Romane L’Ève future (Charpentier 1902) von Villiers de L’Isle
Adam, eine Satire auf Technizismus und Szientismus, wurde mehrfach ins Deutsche übersetzt, z. B.
von Annette Kolb: Edisons Weib der Zukunft, München 1909 oder von Hanns Heinz Ewers: Die
Eva der Zukunft, München 1920. Das Zitat ist in der französischen Ausgabe im Verlag L’Age
d’Homme, Lausanne 1979 auf S. 54 (dt. man sagte, dass diese Frau ihren Schatten auf das Herz die-
ses jungen Mannes warf).
43 Das Zitat ist aus dem Gedicht The Dream: „… she knew, for quickly comes such knowledge, that
his heart was darkened with her shadow …“, Poems of July–September 1816, The Dream, III, S. 36.

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406 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Eine Sammlung von Gedichten der Comtesse de Noailles44 heißt l’ombre des jours.
Renan45: Wir haben heute nichts mehr als le parfum d’un vase vide, l’ombre de l’ombre.46

5.10. 22 Abends hörte ich in großer Aufregung die 9. Sinfonie.47 Nachher spreche ich mit
Schmitz: Es ist die Freude der Verdammnis. In dem Werk ist etwas Verfluchtes. Es ist Ver-
zweiflung, verzweifelte Beschönigung der Freude.
Vergewaltigung der Freude. – Beschönigung ist alles. Eine grauenhafte Einsamkeit, eine
Wüste, in der eine selige Blume wächst, aber es bleibt Zauberei. Lemurenhaft die mensch-
liche Stimme imitierend, schließlich die menschliche Stimme selbst als Instrument sich
selbst überbietend und nach Freude schreiend, aber die Freude ist nicht da.
Es ist Freimaurerei.
Die Zauberei ist Einheit, der Zauberer braucht eine Einheit, das Leben ist aber vieles, eine
complexio; der Jude ist ein Zauberer, denn er ist Manichäer‚ angelsächsische Völker sind auf
die Idee gekommen, lutherische Sekten zu bilden. Vertriebene Insulaner<? >.
Das Christentum aber lehrt die Trinität.

Ich komme in großer Aufregung nach Hause. Dort fiel mir ein Blatt einer Countess Ida von
Claussen48 in die Hand: Der Weltkrieg das Werk der Combine, einer anglikanischen – finni-
schen Kirche, die heute geheimnisvoll die Welt beherrscht.

Ich fühle Mut, mich aus der Welt zu wagen.49

Brief 22
Der schreckliche Zustand in Deutschland Okt. 1922
Ireland has revealed to me a noble woman.
O liebe, schöne Frau. Ich darf Dir doch nicht verschweigen, wo ich eigentlich bin und lebe.
Ich lebe in einem wüsten Strom, auf einer schmelzenden Eisscholle; vielleicht kann ich mich

The Works of Lord Byron, Poetry Vol. IV, Ed. Ernest Hartley Coleridge, John Murray, London
1901.
44 Anna Élisabeth Bibesco de Brancovan, verh. Comtesse de Noailles (1876–1933), franz. Schrift-
stellerin u. Lyrikerin, in deren Salon Proust verkehrte. Der Gedichtband L’ombre des jours erschien
1902 bei Calman Lévy in Paris; dt. Ausgabe Der Schatten der Tage.
45 Ernest Renan (1823–1892), franz. Schriftsteller, Religionswissenschaftler u. Historiker. Ein analoges
Zitat „Nous vivons de l’ombre d’ une ombre. De quois vivra-t-on après nous?“ (dt. Wir leben vom
Schatten eines Schattens. Wovon wird man nach uns leben?) bei Renan, Dialogues et fragments
philosophiques, Calman Lévy, Paris 1876. Auf dieses Buch hatte der Münchner Romanist Eugen
Lerch im Brief vom 15.11. 1921 aufmerksam gemacht, als er Schmitt auf die Kritik seines Buches
Die Diktatur in der Frankfurter Zeitung, Literaturblatt hinwies, in der bemängelt worden war, dass
der Verfasser nicht die ‚Diktatur des Geistigen‘ behandelt habe (Nachlass Schmitt RW 265-8742).
46 Dt. das Parfum einer leeren Vase, Schatten des Schattens. „Nous vivons d’une ombre, du parfum du
vase vide; après nous, on vivra de l’ombre d’une ombre.“ Ernest Renan, Discours et conferences, in:
ders. Œuvres complètes. Hrsg. von H. Psichari, Bd. 1, Paris 1947, S. 786.
47 Beethoven, 9. Sinfonie.
48 ‚Countess‘ Ida von Claussen war um die Jahrhundertwende eine bekannte Suffragette.
49 Goethe, Faust I, Studierstube, Vers 464: Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen.

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Oktober 1922 407

auf die nächste retten, und von einer zur anderen springend, mich einige Zeit über Wasser
halten. Aber kein Ufer ist zu sehen, kein Ufer.
Ist es nicht ein Verbrechen, Dich in meine Situation zu rufen? Ich sehe den Tod in tausend
Gesichtern, alles spricht mir von ihm, ich träume grauenhafte Dinge, <? > stringenz vor dem
Tode, welche von <Z…> erzählten, die Trommeln des Todes.
Soll ich Dich in eine Wüste locken? Dich um Dein Glück betrügen? In jedem Brief klagst
Du über die verlorenen Wochen, um die unwiederbringlichen Tage der Jugend. Du hast
recht. Das Leben ist sehr schön, aber Kind, nicht in Deutschland.
Inzwischen hilft nur noch die Flucht. Vielleicht gelingt der Sprung. Meine Liebe zu Dir,
unendliche Freude hat mir Dein Brief gemacht, unendliche Freude. Ich küsse Deine Hände,
gute, schöne, innig geliebte Frau.

Seite 17
Vorsicht, Vorsicht, dass ich das Nichts nicht verfehle.
Noch eine kurze Zeit, dann ist es gewonnen.

20. 10. 22 – An Lola:


„Ich bin auf dem Wege zu Dir, Lola, und schreibe, während der Zug fährt; denn ich will den
Brief gleich nach meiner Ankunft in Berlin zur Post geben, damit Du ihn Sonntag sicher
bekommst. Darf ich also um die Freundlichkeit bitten, meiner Form solchen Schreibens
nach nichts zu sein und sie liebenswürdigst zu erlauben?
Heute morgen, um 8 Uhr, in der Sekunde meiner Abreise, gab mir der Postbote Deinen
Brief. Es kam in der Tat auf die Sekunde an, sonst hätte ich den Brief erst nach meiner
Rückkehr bekommen. Wunderbares Omen; ein Aspekt leuchtete auf und zeigt mir die
Gemeinsamkeit unseres Schicksals: Ich war so begeistert, gleichgültig welches Schicksal,
wenigstens welches mein Schicksal dabei ist. Aber nicht gleichgültig Deines.
Der Zug fährt durch eine Landschaft bei Hannover, die der von Osnabrück ähnlich ist. Ich
erinnere mich, dass Du mir erzähltest, eine Sekunde Glück empfunden zu haben. Nichts hat
mich seitdem mehr beschäftigt als diese Sekunde, ein Licht ist in dem Traum Deiner Ein-
samkeit, noch ein Licht und man kann vielleicht einen Buchstaben lesen, oder ein Fenster
sehen. Oh, wie schön bist Du.
Bin ich Dir Erklärungen meines Schweigens schuldig? Es gibt Millionen. Die bequemste
wäre zu sagen: Wenn ein Kind sich schön gemacht hat und nachher bemerkt, dass der
Unterrock seiner Kindlichkeit dabei aus dem Kleid seines Selbstbewusstseins hervorsieht,
was tut es dann? Es formalisiert sich aus Trotz; ist nicht nach allen Riten aller Völker der
Versuch an der Reihe, nach der Abreise seine Ankunft mitzuteilen?
Sehr komisch, dass auf dem Meere von zitternder Unreife und Erwartung eine mit nütz-
lichen konventionellen <…> schaukeln kann.
Du bist stolz; ich bin stolz; ich bin stolz, Du bist stolz. Ergo? Aber ich bin auf dem Wege
zu Dir; sonst wären wir wie verdammt im Schicksal unseres Stolzes.
In ein paar Tagen bin ich bei Dir. Ich telegraphiere Dir den Zug. Erlaubst Du mir, Dich
daran zu erinnern, dass Du mir gütigst versprochen hast, mich abzuholen.
Auf Wiedersehen, liebe Lola, von Herzen Dein Carl.

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408 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Der Sinn des ökonomischen Denkens: mich Dir zu produzieren, damit Du den Konsumen-
ten [abgibst]. <…> oder über den Konsumenten herrschen kannst, weil Du besonders nach-
fragst, <…>.

Seite 18
Pol. Ideen: Alle Macht ist heute wirtschaftliche Macht (keine Macht ohne Überwindung des
Sensualismus, die Produktivität, nicht der Konsument ist der Herr); daher [dort] alle Intelli-
genz.
Die Folge der Macht, der sich die Intelligenz und Energien zuwenden; nicht umgekehrt.

Privateigentum, d. h. nicht kontrollierte Macht: wirtschaftliche Macht nicht kontrollierte


Macht.
Politische Macht war durch den Mechanismus der P. von diesem kontrolliert.

Ich sehe die Frau von Krause. Krause ist ein genialer Mann, seine Frau ganz unmöglich,
dass [ihm gestattet wird, als] der Kollege eine unmögliche Frau zu haben. In dem Augen-
blick, in dem er eine solche Frau nahm. (Lola Sauer aus Hamburg, lächerlich), in diesem
Augenblick war ich erledigt.

Lieber guter Georg Krause. Ich habe es noch schlimmer gemacht als du, sobald ich die Frau
nahm wie eine Blume als wie ein Stück Natur, musste ich erkennen, dass es <…>, Wahn,
Schmutz gibt. Wieviele verschiedene Blumen, werde ich todtraurig, hilflos, weil sie keine
Seele hat. Verzweiflung, natürlich.

An L. – 31. 10. 22
Die Fahrt war traurig, langweilig, besonders die Dämmerstunde trübe und zum Verzwei-
feln, einiges mehr, schön die See, aber das machte alles noch trauriger.
Deine Anwesenheit, Deine gütigen Worte und die wunderbare weiße Nelke ist ein unbe-
schreiblicher Trost für mich. Die Nelke steht inzwischen auf meinem Tisch, sie blüht noch
immer, mit ihr blühen besondere Erinnerungen. Die liebe, treue weiße Nelke, meine schöne
Alliierte.
In der Dämmerung, in der Melancholie des Abends, in der Angst des Zwielichts fliehe ich
zu Dir.

30. 10. 22 abends


An L. Nach einer schauerlichen, ermüdenden, verzweiflungsvollen Reise ins Exil, telegra-
phierte ich Dir meine Ankunft in Bonn. Zu Hause fand ich eine große Menge Briefe und
Karten, aber oben drauf Dein Telegramm. Ich danke Dir, Du liebe, schöne Carla, wie gut
bist Du gegen mich gewesen in diesen schönen Tagen.
Deine weiße Nelke war ein wunderbarer Begleiter auf der Reise. Ich hatte sie auf einen
nassen Schwamm gelegt, aber der Dunst des Coupés hat sie doch betäubt. Immer dachte ich
an Dich, als ich sie sah, tief ermüdet schloss sie sich in sich zusammen, unfähig, in dem
Dunst zu atmen, und bereit, gar zu welken und zu sterben, als ihre unberührte Zurückhal-

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Oktober 1922 409

Seite 19
tung aufzugeben. Ich habe den Brief von Ganivet gelesen. Es geht nicht gut an, ihn durch
die Post zurückzuschicken; ich bringe ihn Dir zurück. Dass du so viel Vertrauen zu mir
hattest, mir den Brief zu geben, fühle ich als etwas, das mich sehr verpflichtet. Ich habe eine
seltsame Bekanntschaft gemacht mit einem Verstorbenen, der durch seinen Tod in ewiger,
jünglingshafter Zartheit weiterlebt, inzwischen durch eine unerwartete Vermittlung auch in
meiner Seele, obwohl ich ihn nie gesehen habe.
Wird jemand mein armes Bild weitertragen durch die ewigen, kalten Räume? Ich werde
unterirdisch, unter dem Wasser der lautlosen Finsternis einer unendlichen Einöde vergehen.
Übrigens ist das gleichgültig. Die Arbeit jeden Tages stößt mich immer weiter und lässt mir
keine Zeit zu Reflexionen über mein Schicksal. Der Tisch liegt voll Arbeit.
Sei guter Dinge, Carla, sei fröhlich, und wenn du traurig wirst, vergiss nicht, dass ich bereit
bin, Dir zu helfen.
Ich küsse Deine Hände und bleibe Dein Carl.

31. 10.
Brief: Mitteilung über die Assistentenstelle von Professor Fürtig.<? > 50
Heute hatte ich den ganzen Tag viel zu besorgen und zu besprechen. Der Mond in den
Fischen zeigt überall seine Wirkung51, es regnet und schneit und die weiße Nelke blüht
wunderbar auf meinen Schreibtisch. Empfinde ich sehnsüchtig und aufgelöst in tödlichem
Verlangen, blühen tausend Erinnerungen. Wo bist Du, schöne Frau? Bist Du nicht traurig?
Überlass Dich nicht Deiner Melancholie, sei guter Dinge und vertraue auf den Stern Deiner
innersten, geheimnisvollen, unberührten, unberührbaren Seele.
Ich küsse Deine Hände. Mit vielen Grüßen und Wünschen bleibe ich in allem, liebste Carla,
nur Dein Carl.
Dazu ein Zettel: Die Überweisung für die Krell-Unkosten (13.200 Mark) ist heute abge-
gangen an die Bayerische Hypotheken- und Wechselbank.

Ich trete ins Leere;


Wir bewegen die Bilder im Leeren;

50 Nicht ermittelt.
51 In der Astrologie steht die Konstellation Mond im Sternkreiszeichen Fische für Sehnsucht und Mit-
gefühl. Schmitt hatte sich schon früh mit Astrologie beschäftigt, siehe Politische Romantik, S. 61,
Anm. 2 zu Adam Müllers Horoskop: „Sein Horoskop musste ihm freilich Besorgnis erregen, wenn
er sich im Ernst damit beschäftigte: er hatte eine Konjunktion des rückläufigen Saturn mit dem
Mars im Skorpion und einen von der Venus quadrierten Jupiter. Das bedeutete öffentlichen Skandal
(der tatsächlich eingetreten ist), plötzlichen Tod durch Schlagfluß (ist ebenfalls eingetroffen), böse
Charakteranlagen etc.“, weitere Hinweise S. 94, 176.
Wie die weiteren Eintragungen zu Gestirnskonstellationen in den Tagebuchaufzeichnungen zeigen,
orientierte sich Schmitt nicht an den großen, langdauernden Konstellationen und deren „Wir-
kungen“, sondern meist an dem den schnellsten Veränderungen unterworfenen Sternkreiszeichen,
dem Mond. Er bezog seine Deutungen unmittelbar auf seine aktuelle Situation, mit objektivem
Anspruch.

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410 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Niemals fassen wir das Wesen der Dinge,


Immer zerrinnt uns alles in den Händen.

Jeder Mensch ist gut; außer demjenigen, der sagt, der Mensch wäre nicht gut.
Jeder Mensch ist gut; außer demjenigen, der sagt, er wäre gut.

ne mutuo amore inter se spoliarentur; wie undeutsch ist das; und wie ist das ganz mein
Schicksal: amore me spolio52

Seite 20
Ich denke an den Hirsch im Wald; frisst und verdaut triebhaft, sich seinen Instinkten über-
lassend; seine Schönheit liegt darin, dass er das alles im Unbewussten löst; der Mensch aber
rationalisiert seine Nahrungssuche, das ökonomische Denken bedeutet Rationalisierung
gerade dieser Dinge, die dem Instinkt überlassen bleiben müssen. Ein Tier, das sein Leben
bewusst darauf einrichtet, wie es sein Leben erhält, das macht das Bewusstsein zum Diener
des Instinktes. Die Lebensphilosophie spricht nur aus, was der Mensch in seiner Bosheit
getan hat. Die Schönheit des menschlichen Verstandes und der menschlichen Bewusstheit
müsste darin liegen, dass das Bewusstsein eben nicht
––––––
solche Dinge zu erfassen sucht; denn
Stolz und die Würde des Menschen und des menschlichen Verstandes werden dadurch ver-
letzt; der Verstand [hat] ein Sklave statt ein Herr zu sein.
Alles die falsche Rationalität.

Abschiedsbrief an K.: Ich weiß, dass Du gut bist, Du kannst nicht anders als gut sein. Gegen
den Mann, der Dich immer liebt. Ich tue Dir weh mit diesem Brief, aber nicht aus Bosheit,
sondern aus der Klugheit des Jahres 1921; die wundervollen Tage in Bullay und der Spazier-
gang nach Arras und Bad Bertrich. Ich habe in Berlin zum ersten Mal 1921 [den Moselwein]
getrunken, mit Blei zusammen; der Wein ist gar nicht moselweinartig; er schmeckt wie
Hautes Sauternes; etwas Fremdes, Mildes und Süßes ist drinnen.
Mit niemandem mehr werde ich sprechen können; bei niemandem mehr werde ich mich der
Kindlichkeit meiner Natur überlassen können; alles ist bei Dir geblieben. Du allein, ein
Kind Irlands, hast die ganze Phantasie meines Wesens gebannt, inzwischen bin ich ihr ver-
fallen und niemand versteht mich hier.
Lass mich inzwischen allein. In meiner Stimmung, Einsamkeit, in meiner schrecklichen
Einöde, in die Du nicht gehörst. Merkwürdig, dass Du mir einen Zeitungsausschnitt von
der Frau Sembat geschickt hast.
Niemand rettet mich aus meiner Einsamkeit. Ich habe Dir hier keine Heimat gegeben und
mir eine andere Heimat zu suchen (was ich für Dich tun würde) ist mir als Deutscher
unmöglich gemacht.

52 Dt. damit sie sich nicht aus Liebe zueinander gegenseitig ausrauben – ich beraube mich aus Liebe.
Kurzfassung zu dem Satz im römischen Recht (aus Ulpians Sabinus-Kommentar; Digesten 24,1,1),
dass Schenkungen zwischen Mann und Ehefrau nicht gelten, damit sie sich nicht infolge gegen-
seitiger Liebe wechselseitig berauben, indem sie bei Schenkungen nicht maßhalten.

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Oktober 1922 411

Ich bin über meinen Zustand so erschrocken, dass ich Dir nicht schreiben wollte; denn der
Schreiber hat Dir vor Augen zu treten.
Geweint und geschrien.
Sage nichts gegen die Deutschen, weil ich Dir diesen Brief schreibe. Erstens geht es die
Deutschen gar nichts an, denn ich habe mit Deutschland nicht mehr zu tun als ein Irländer
mit England.

Alle meine Wunden bluten,


langsam schlagen die Minuten
in alten lästigen Arterien, in mein Hirn
Alle meine Wunden bluten, Schwermut strömt in schwarzen Fluten
Sehnsucht nach der lieben guten schönen Frau.

Inzwischen dringen wilde Bilder auf mich ein, Halluzinationen, Tiere und wüste Gesichter;
Gott, hilf mir.

Meine stumme Gesprächigkeit, gesprächige Stummheit, stumme Stimme

O schreckliche Angst.
Alle Redensarten werden realiter, verwandeln sich in gefräßige Wirklichkeiten. Wirklich-
keiten = Wirbeltiere.
Irrlicht. Sumpf, untergehen, verkommen, <…> und Meer. Alles buchstäbliche und kom-
pakte Dinge des Todes, um dem Leben sein letztes <…> zu geben.

Wie das Leben wirklich lieben, und die Gerüste des Lebens werden sagen: Ich brauche den
Begriff der Sünde, Liebe ist nicht küssen, ist letzte, süßeste, verwegenste anima zu geben.
Damit sie es aber wirklich bekommt, muss ich die Sünde ernst nehmen, d. h. aber nicht als
bloße anima des Lebens, sondern als böse Realität. Also nehme ich sie so, nehme ich sie
absolut; mit diesen

Seite 21
Argumentationen springe ich vom Ausgang in eine andere [Welt]. Ich vernichte durch diese
Dialektik den Begriff Leben, [vermi]sche anima und alle diese Ausgangspunkte.

So de Maistre in seiner Argumentation: Antike: Christentum …

Irrationalismus in Frankreich und Italien; überall das Grab des unbekannten Soldaten,
le soldat inconnu. Wunderbarer Gedanke: Geboren aus der Idee des Ruhmes.
Größte Angst: unbekannt, ruhmlos zu sein, keinen Nachruhm zu haben, auch er soll
Nachruhm haben. Phantastische Illusion, Mut zur Lüge, d. h. zum Lieben. Hoch klingt das
Lied vom braven Mann.
Vom unbekannten Gott zum unbekannten Soldaten.

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Aus Carmina burana 53


Schmeller, 4. Auflage Nr. 82
Dulce solum
natalis patriae
domus jaci
thalamus gratiae
nos relinguam
aut cras aut hodie
periturus
amoris rabie
exul.

Vale tellus
valete socii
quos benigno
favore colni
et me delus
expertem studii
deplangite,
qui vobis peru
igne.

Quot sunt flores


in Hyblae vallibus
quot redundat
Dodona frondibus
es quot pisces
natant aequonibus
tot abundant
amor doloribus.

Die elementare Aufgeregtheit und die elementare Beruhigung in der Ouvertüre von Don
Giovanni und dem Allegro der g-moll Sonate von Mozart.54
Und alles wegen einer Frau, wegen eines dummen Stores diese furchtbare Produktivität.
Schreckliche Einsamkeit, Verzweiflung, Raserei, <…>.
Raserei.

53 Johann Andreas Schmeller (1785–1852), Hrsg., Carmina Burana. Lateinische u. deutsche Lieder und
Gedichte einer Handschrift des 13. Jahrhunderts aus Benedictbeuren, auf der Königlichen Biblio-
thek zu München. 4. unveränd. Auflage, Breslau 1904.
54 Eine Klaviersonate Mozarts in der g-moll ist nicht nachweisbar, möglicherweise handelt es sich um
die Tonart eines Zwischensatzes, die oft von der Tonart der Ecksätze abweicht.

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November 1922 413

Seite 22
Ich kann nicht mehr. Ich habe keine Hände und keine Klauen; ich kann nichts festhalten
und klebe doch an allem, sodass ich nichts loslassen kann; nichts los werde, keine Tür hinter
mir schließe und doch nichts festhalte, keine andere Tür öffne. Schrecklich.

Plötzlich entfaltet sich mir das Bild der Falte:


(Ich träume: In das labyrinthische faltige Gebirge meiner Seele) die Dreifaltigkeit; ich falte
die Hände; ein Falter (der Nachtfalter vermutlich eine schwächliche, phantastische Assozia-
tion?)

Wie viele „Widerlegungen“ sind nur Verrat. Jemand widerlegt einen Anarchismus, d. h. er
schleicht sich als Anarchist ins Lager der Anarchisten, spioniert etwas aus und verrät den
Autoritären eine schwache Stelle. Wie hässlich und gemein das ist.
Fast jede Widerlegung ist ein Verrat. Ein Verrat, der sich selbst verrät. Man kann nicht
anders, als sich selbst verraten.
Nutzanwendung: Nichts widerlegen; nicht diskutieren, nicht polemisieren.
Letzte Nutzanwendung: Schweigen.

Sei vorsichtig mit deinen Wünschen. Alle Wünsche gehen in Erfüllung (Auch das ist fein,
sagte Carla, als sie das hörte.)

12. 11. 22 an Carla. Am Montag, als ich von Düsseldorf nach Bonn zurück kam, fand ich
Deinen ersten Brief; heute, Sonntag, erhielt ich den anderen. Es ist gut von Dir, dass Du mir
geschrieben hast. Darf ich Dich bitten, mir mitzuteilen, wie es Dir geht und was du tust?
Warst Du im Allgäu und hast Du mit Deinem Bruder, der inzwischen wohl in München ist,
schöne Tage verbracht, frei von Melancholie, Sorgen, Depression und allem, was Dich ein-
sam macht?
Ich werde wohl Ende November nach München kommen und habe schon einen Schlaf-
wagenplatz bestellt. André wird übrigens auch dort sein.
Viele herzliche Wünsche aus ganzer Seele. Dein Carl.
12. 11. 21

Über Lola: Wahrscheinlich ist das, was ich an ihr für einen süßen Tau innerlicher Vornehm-
heit hielt, nur der Salzrest des Meeres.

Ich kümmere mich nicht um den kommenden Tag, mir gehört die Zukunft.
Zwischen dem kommenden Tag und der Zukunft ist ein großer Unterschied.

Niemand rettet mich vor meiner Einsamkeit: weder dein Bruder, noch eine Frau, von der
du glaubst, dass sie dich liebt.

Seite 23
Ich muss doch wohl ein böser Mensch sein: Ich sehe, wie die Menschen sich im Lob berau-
schen, an einer Schmeichelei, wie die Reichen oder politisch mächtigen Leute stolz auf-

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414 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

leuchten, wenn man ihnen etwas Angenehmes sagt; ich sehe das und misstraue ihnen, lobe
freche Weiber mit dreister Stirn, und sie interessieren sich [für mich, wenn ich beginne] von
dicken Schiebern etwas Interessantes zu sagen, und es macht ihnen Freude.
Das rührt mich aufs Tiefste, ich habe ein entsetzliches Mitleid mit diesen armseligen Krea-
turen. Das erste Symptom der Verblödung. Ich glaube, dass das Schöne von Natur aus gut
ist.

Ich möchte dem mir widerlichen Herr Mombard 55 sagen:


Lieber Herr M. – Ich zweifle nicht daran, dass sie ganz außerordentliche Vorzüge haben,
intellektuell, moralisch, außerordentliche Vorzüge. Aber das hat natürlich nichts damit zu
tun, dass ich eine tiefe Antipathie gegen Sie habe. Ich möchte Ihnen inzwischen einen Vor-
schlag [machen], eine Art Tausch und ein Gentlemen’s Agreement: Ich lasse Ihnen Ihre Vor-
züge und Sie lassen mir meine Antipathie.

Der Brief kam erst heute. Du sagst mir nichts, Du siehst ruhig zu, wie ich mich zerreibe in
Sehnsucht, Liebe, Zweifel, und Du schweigst. Das ist eine einfache Methode, aber ich kann
sie nicht ertragen, und es ist keine Basis für eine gute Allianz.
Ich schrieb (Eilbrief vom 18.11. 22): Du schreibst mir sehr fremd und abweisend, liebe Lola.
Heute Mittag erhielt ich Deinen Brief vom 14. Nov. Er ist am 14. abends zur Post gekom-
men und traf erst heute hier ein. Da der Mond im Skorpion steht56, habe ich mich gleich bei
der Post beschwert.
Vorher aber schickte ich Dir ein Telegramm, weil ich sehr unruhig bin wegen des Briefes.
Wie geht es dir inzwischen nach diesem Unfall? Bist Du in Deinem Zimmer, [kannst Du]
zur Klinik gehen, bist Du traurig wegen der Schmerzen? Du würdest mir einen großen
Dienst erweisen, wenn Du mir ausführlich berichtest. Warum weigerst Du Dich, es zu tun?
Es macht mich unruhig, dass Du mir nicht gleich hast Nachricht geben lassen. Erweise mir
also die Güte, mir mehr mitzuteilen. Du darfst mir nicht weh tun mit Deiner Zurückhal-
tung. Ich bitte Dich nochmals herzlich um einen langen Brief.
Diese 2 Wochen hatte ich entsetzlich viel zu tun. Den Berliner Vortrag, der am 23. Novem-
ber geplant war, habe ich auf den 1. Dezember verschoben. In der Nacht vom 28. auf den
29. November fahre ich nach München. Ich würde gerne im Christlichen Hospiz bei Dir
wohnen; es ist ja nur [für] 3–4 Tage. Ist es Dir unangenehm? Diesen Brief bringe ich gleich
zur Bahn, an denselben Zug, den ich in 10 Tagen benutzen werde. Der Brief könnte Sonntag
in München sein, daher schicke ich ihn als Eilbrief. Vielleicht ist er morgen abend in Deinen
lieben Händen.
Du sagst mir, dass Du mich nicht liebst und ich muss Dir dankbar sein für Deine Offenheit.
Hast du genug Interesse an mir, um Dir einmal auszudenken, ich welchem Zustand sich
mein Herz und meine Seele befinden? Und mein armer Leib. Alles sucht Dich verzweifelt.
Wühlt immer von neuem in der Erinnerung auf, jedes Gespräch, jedes Wort, jeden Blick,
jede Situation und sucht, zu Deinem Brief einen Anhaltspunkt zu gewinnen, um zu wissen,
was Du eigentlich mit mir tust.

55 Nicht ermittelt.
56 Eine Konstellation mit stark emotionalen und oft negativen Wirkungen.

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November 1922 415

Ich wünsche mir, dass Du mich suchst, wie ich Dich suche.
Inzwischen aber sei nicht traurig, liebe Lola, bald bist Du geheilt. Nimm Dich am 24. und
25. in Acht, wenn der Mond im Wassermann57 steht. Warum schreibst Du mir nicht etwas
von jedem Tag, Lola? Du hast es leicht, mir eine Freude zu machen.
Ein seltsamer Vers für Dich: Sicher wie die Sonne
Grund wie der Mond.
Und für mich: Einsam wie die Sonne,
Sehend wie der Mond.58

Seite 24
Wie seltsam, nicht, Lola, Du Mädchen, willst Du Dich weigern, guter Dinge zu sein? Sei
guter Dinge, liebe Lola, liebe Carla
Ich küsse Dein Herz, ich bin Dein Carl.

Die meisten antworten meiner Frage mit einer Antwort, die die Frage bot, zersplittert oder
zerschlägt: auf die Frage mit der Frage nach der Möglichkeit der Frageantwort; ich will aber
eine Antwort, die der hingebenden Empfänglichkeit meiner Frage eine fruchtbare Um-
armung gibt.
Oder die Frage ist der Mann und die Antwort die Hingabe.

Zerrieben in der schrecklichen Mühle Gottes.

Kehr zum Anfang zurück, ritorno al principio59, zum Paradies, besinne Dich aufs anfäng-
lich Gute Deines Wesens.
Also werde Kind. Wie lächerlich; werde Tier, Pflanze.

Ich klage die Frau an, schreie, verzweifle, sehe den Betrug, und die ganze Aufregung be-
deutet nur den Prozess, in dem ich mich für einen hingebenden und hinreißenden Liebes-
brief ergötze; so wie ein Tier mit Peitsche und Stichleine geschlagen werden muss, dass es in
die nötige Aufregung kommt.

20. 11. 22. Woher an diesem Abend der Impuls kommt zu schreiben, liebe Lola, weiß ich
wirklich nicht. Von den tausend Gesprächen, die ich in Gedanken täglich und stündlich mit

57 Diese Konstellation steht für unverhoffte, unkonventionelle Wirkungen aus kleinen Anlässen, siehe
auch Teil II, Anm. 502.
58 Umdichtung Schmitts von einigen Versen aus Theodor Däubler „Sang an Mailand“, in: ders.,
Hymne an Italien, Leipzig 1919, S. 151.
59 Ritornar al principio – später, 1929, nennt Schmitt in seiner Rede über Neutralisierungen „jedes
echte ritornar al principio, jede Rückkehr zur unversehrten, nicht korrupten Natur…“ in: Carl
Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien,
6. erw. Auflage, Berlin 1963, S. 93. Die Forderung „Ritornar al principio“, d. h. zu ursprünglicher
Einfachheit, Rauheit, Selbstverleugnung, Askese, geht zurück auf Giambattista Vico (1668–1744).
Vgl. Michael Freund, Georges Sorel. Der revolutionäre Konservatismus, 2. Aufl., Frankfurt/Main
1972, S. 70–80, insbes. 79 f.

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416 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Dir geführt habe, von den tausend Fragen und Bitten und Erklärungen, werden diese viel-
leicht das einzige sein, die ich niederschreibe. Eine Minute, in der die Sehnsucht plötzlich
anfängt zu reden; aber Sehnsucht, Angst und das alles, wahrscheinlich ein ganz zusammen-
hangloses, leeres Werben – dem tödlichen Zweifel, dass es doch vielleicht wieder einmal
einer der ganz zwecklosen, ganz vergeblichen Versuche sein könnte, [meine Liebe nicht zu]
unterdrücken. <…> Wo bist Du, Carla; hörst Du mich, rede ich nur allein? Ich spreche mit
dem Mädchen auf dem innigen Bild aus dem Jahre 1911, das mir so gut gefällt und das ich
liebe mit einem ewig abweisenden, niemals sich zeigenden, vielleicht längst <…> Mädchen.
Alle meine Wunden blut[et]en, als ich beim erlittenen Betrug weinte von neuem. Mein Stolz
sagte mir, dass an dieses wunderbare Kind und seine maidenlikness [ich nicht rühren darf].
Ich darf mich nicht gehen lassen, ich darf mich nicht hingeben; ich werde missverstanden,
ich werde lächerlich, ich werde zum Gespräch und Gespött von Studenten und Töchter-
schülerinnen, ich gebe meine Einsamkeit auf und empfange dafür eine Narrenkappe, biete
meine innersten Schätze und man schnitt ein Faschingskostüm draus.
Ich hörte heute Mittag zufällig 2 Frauen in der Pension sich über die Männer unterhalten,
die ihnen den Hof machen. Welcher Schmerz. Es machte mich stolz und gab mir die Kraft
eines soliden Hochmuts. Mein Rationalismus ist sehr stark, das Bewusstsein, dass meine
Fähigkeit zur Hingabe an eine Frau keine Dummheit und keine Krankheit ist, machte mich
fröhlich. Von Dir, Carla, sei nicht leicht Exklusivität verlangt, entspricht doch wohl nur
dem Bewusstseinsgefühls für Deine und meine Würde. Aber warum ist dies alles getrübt
durch die Heftigkeit meiner Liebe zu Dir? Es war sehr knabenhaft, kindisch. Ich glaube, ich
war so alt wie Du auf jenem Bild als Mädchen warst. Du aber [während ich] mich in der
gegenwärtigen Wirklichkeit so benahm, warst erfahren, Du kanntest das Leben (was eine
unsinnige Redensart ist), Du lebst seit 7 Jahren unter Ärzten. O weh. Hinweg. Wie ein
Nachtwandler sah ich in Dir das Mädchen, wie Du 1911, also vor 11 Jahren [begannst] und
das, was ich selbst vor 20 Jahren war, <…> mich auszulachen und ließest mir keinen Zwei-
fel, dass Du mich keineswegs liebst. Ist das nicht so. Du hast von Vertrauen gesprochen,
aber als ich eine Woche nicht schrieb, machtest Du mir einen Vorwurf. Réveille-toi, sors de
l’enfance, l’heure est venu de te déniaiser? 60 Aber noch größer als meine Angst, betrogen zu
werden, ist meine Angst, Dir Unrecht zu tun. Das sage ich aus ganzer Seele. Bitte glaube
mir, dass es die Formel meines Lebens ist,

Seite 25
bei Dir zu sein. Du bist gütig und klug. Du wirst mich nicht falsch verstehen, weil Du mich
nicht falsch verstehen willst. Es ist die Stunde der Dämmerung, die Du fürchtest und die ich
liebe. Vergiss nicht, dass der Brief in dieser Stunde geschrieben ist, um mit Dir ein Gespräch
zu führen, wie es sich einmal ergibt – unter Liebenden – hätte ich beinahe gesagt, wenn Du
mich liebtest. Es ist einer der Millionen Versuche, Dich zu erreichen, an Deinen Turm zu
klopfen. Aber mir wird nicht aufgetan, obwohl meine Hände so wund sind, dass ich nicht
mehr klopfen kann.

60 Der V. Teil von Rousseaus Roman La nouvelle Héloise (1761) beginnt: Sors de l’enfance, ami,
réveille toi; dt. Laß die Kindheit, erwache, es ist die Stunde gekommen, dich klüger zu machen.

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November 1922 417

Es geht mir wirklich schlecht. Ich bin seit einem Monat sehr angegriffen, eine übermäßige
Arbeit und dabei völlig kontaminiert durch die ewige Qual und Sorge um Dich, die
quälenden Fragen nach Dir, die Problematik dieser ganzen Beziehung. Oft habe ich auch
physische Herzkrämpfe vor innerer Unruhe. Ein Tag vergeht nach dem anderen, langsam,
mühselig und grau. Du hörst mich nicht. Mein Mund wird trocken und meine Stimme rauh.
Ich will also nur noch sagen, dass ich Dir nur Gutes tun möchte, damit Du fröhlich bist,
und Dich bitten, Dich nicht von ökonomischen Sorgen beirren zu lassen. Wenn Du mir
schreibst, musst Du mir einen langen Brief schreiben von Dir, von Fietje, wenn Du nicht
sagen willst, lieber Karl, wie in Deinem letzten Brief, dann tust Du mir allerdings sehr weh.
Liebe Lola, liebe Carla, ich freue mich schrecklich, Dich bald wiederzusehen, wir wollen
uns nicht mit unserem Stolz aufblasen, denn das könntest Du doch wissen, dass ich nichts
Böses Dir will. Inzwischen bringe ich den Brief an den Zug, mit dem ich morgen in 8 Tagen
fahren werde.
Der Mond steht im Schützen, Deinem Haus, meinem Zenith.61
Ich küsse Deine Hände. Von Herzen Dein Carl
(Diesen Brief zunächst nicht abgeschickt).

21. 11. 22: Morgens vor dem Frühstück ein Gespräch mit L:
Ich male mir aus, wie sie mich betrügt mit irgend einem Kerl. Ich zittere vor Angst. Seit
meiner Jugend habe ich diese Angst, als wäre es mir noch im Blut, dass mein Großvater ver-
nichtet, und durch den schändlichen Betrug einer Frau mein Vater das noch heute spürt (er
war 14 Jahre alt). Ich bin ohnmächtig dagegen.
Verspreche mir morgens in der Nervosität etwas Hübsches und nachts in der Nervosität der
kommenden Bewusstlosigkeit.
Spreche immer mit Dir, frage Dich und fühle mich zurückgestoßen in meine frierende Ein-
samkeit, weil Du schweigst. In einer Situation, wie damals abends, als wir von Krause im
Auto nach Deiner Wohnung fuhren, habe ich Dich innerlich angefleht, doch ein wenig zu
sprechen. Aber Du hast geschwiegen. Das quält mich noch heute. 2 mal warst Du gut und
freundlich gegen mich, und das ist viel. Ich schäme mich, vor Dir zu sprechen, Dir zu
schreiben. Du bist es selbst, die mir den Mund verschlossen. Ich bin sehr leicht gesprächig.
Du weißt, wie ich Dich liebe. Und die Gefahr, dass ich Dich mit Briefen überschütte, ist
größer als die andere, dass ich verstumme.
Ich habe mich selbst dem Wahnsinn zu nahe gefühlt, um nicht zu erschrecken, wenn Du,
liebste Frau, sagtest, Du fürchtest, wahnsinnig zu werden.
Ich lese ein Jahr meiner Tagebücher. Schreckliche Einsamkeit, keine Freude, keine Frau,
viele Gespräche, vielleicht Zärtlichkeit, viele verzweifelte Versuche, aber immer dieselbe
stille, frierende Einsamkeit. Der Wahnsinn klopft an mein Gehirn, wie ein schüchterner
Prolet, ein Jude, der aber unter so vielen [Christen] genau weiß, dass er eines Tages frech
werden darf. Ein unsympathischer Student, der mich mit ekelhafter Servilität immer von
neuem belästigt, weil er Angst hat, nächsten Samstag im Examen durchzufallen.

61 Diese Konstellation steht für große, leidenschaftlich-pathetische Gefühle.

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418 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Freitag, 24. 11. 22. Du liebe Lola, ich küsse Deine Hände, es beruhigt mich von Herzen, zu
hören, dass es Dir besser geht. Heute Nachmittag bekam ich Deinen Brief vom 21. Merk-
würdiger Glücksfall für mich, denn wenn er morgen früh gekommen wäre, hätte ich den
erst Samstag Nacht bekommen, weil ich morgen schon vor dem Eintreffen der Post nach
Köln reisen muss, wahrscheinlich zum Abendessen in Köln bleibe und erst des Nachts oder
am Sonntag zurück komme. So habe ich den Brief aber heute schon bekommen, ein großes
Glück für mich. (Warum, ich war in großer Sorge um Dich, böses Kind, hast Du ihn erst am
23. zur Post gegeben?).

Seite 26
Ich war wirklich in großer Sorge um Dich. Aber Du hast nicht geschrieben. Ich habe Dir
viele Briefe geschrieben, in Gedanken viele Gespräche mit Dir geführt, meine Hände wund
geschlagen an dem Turm Deiner Zurückhaltung – welch ein Glück, dass Du mir so gütig
geschrieben hast. Weißt Du, dass ich bei jeder Preissteigerung voller Sorge an Dich gedacht
habe; wenn ich von irgend jemandem erzählen hörte, dass sich die Grippe verbreite, in
Unruhe war um Dich, die [mich] umgeben mit Befürchtungen wegen Deines Glückes.
Immer überlegend, ob ich nicht Frau Dr. Krause schreiben soll, dass sie Dich besucht.
Immer kämpfend zwischen der Angst, betrogen zu sein, Unrecht zu tun. Es geht mir
schlecht, Lola.
Ich werde jeden Tag magerer, wie Don Quijote. Ich hatte Magenkrämpfe vor innerer Un-
ruhe um Dich.
Mittwoch Morgen soll der Zug um 7.35 in München ankommen. Ich fahre 7.01 (westeuro-
päische Bahnzeit 6.0162) hier ab. Diesen Brief bringe ich wieder an den Zug, sodass Du ihn
Sonntag Morgen spätestens bekommst.
Ich komme zu Dir, Du liebste Lola, ich fahre zu Dir nach München, Dir entgegen, in
unendlicher Erwartung und Liebe – Dein Carl.

Der Rest ist reden.

24. 11. 22 – Abends


Ich erzähle dem Theologen Koeniger von [Max] Anton. Sofort hat er Interesse.
Was wollen sie denn alle: die Frauen, die Theologen. Geld.
Es ist grauenhaft. Ich ersticke.
Was würde mir der Komfort nützen, Autos, Klubsessel, schöne Lampen, ich sehe die Stupi-
dität und verzweifle. Endlich muss es doch einmal aufhören.
Hilf mir.
Ich möchte L. erzählen von der exklusiven Gier meiner Liebe zu ihr. Von der Exklusivität
meines Verlangens, aber auch von der Exklusivität meiner armen Liebe: Ich würde wachsen
bei meinen Eltern, mit allen Freunden, mit allen anderen Beziehungen. Alles nur in ihrem
Dienste.

62 Bonn lag in der franz. besetzten Teil des Rheinlands mit westeuropäischer Zeitzone.

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November/Dezember 1922 419

Der Gegensatz zur Diktatur ist Schweigen.63


An einem Punkt gibt es nur noch beides: um dem allgemeinen Reden ein Ende zu machen.
Diktieren oder schweigen.
Wunderbare Dialektik des Wortes Diktatur.

L. Deine Virginität, Deine Einsamkeit, die Virginität eines schönen willigen Umarmens.
Ich reiße Dich nicht dadurch aus Deiner Einsamkeit, dass ich Dich in meine eigene hinein-
reiße. Der große Irrtum aller Einsamen, wenn sie lieben.

Was tut eine Frau? Sie entzieht sich dem Traum des Mannes (entzieht sich dem Haus-
trabanten)

In Deinem Kusse wirkt Magie

Seite 27
Die Sehnsucht, die in diese helle Landschaft fließt
springt wie eine Quelle und wandelt wie ein klarer Bach
bis sie verschlungen wird in den induktionischen Schleiernebel eines mysteriösen Nebels
traumhaft scheinende Augen und mystische gierige Blicke.
Von Natur böse – ein Krampf
Von Natur gut – ein Rausch.

Im Halbschlaf: es kann der Hund durch lahme Kunden nicht gesunden (Produkt von
Däubler).

Brief an L. Für Berlin


Meine Liebe zu Dir übersteigt jedes Maß
Der Rosenkranz mit dem irischen Ring (kein Verlobungsring)
Die irischen Märchen habe ich vergessen.
Die heilige Allgäuer Butter
Schmitz zählte mir vor: wie sie selig, hehr und mild wandelt durchs Meeresgefilde.64
Sonntag bist Du in Lohengrin, ich werde Dich begleiten in Gedanken. 1000 Mark für
Claque. Bitte L., vergiss nicht, dass ich Dich dann gegen Abend sehe.

Brief an L. (Das Paket zum 6. Dez. 1922)


Dies kleine arme Paket wird Dir meine Grüße und Wünsche zum 6. Dez. sagen, Lo, wenn
der 6. Dez. lange vorbei sein wird. Aber weil meine Sehnsucht, Dir eine Freude zu machen,
niemals vorbei sein wird, so wird es der verehrungswürdige heilige Nikolaus wohl entschul-
digen, dass man seinen Namen als Vorwand benutzt, um die Bescheidenheit des Paketes zu

63 Schmitt, Diktatur, S. 113, Anm. 43.


64 Richard Wagner, Tristan und Isolde, 3. Akt, 1. Szene.

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420 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

rechtfertigen und sein Missverhältnis zu dem Maß meiner Dankbarkeit, Sehnsucht und
Liebe zu Dir, Du schöne, geliebte Frau.
Ich küsse Deine Hände und Dein Herz. Liebe Lola, ich bin Dein Karl

An L. An diesem Tage, um 6–7, kommt der Mond wieder in den Krebs 65 ‚ das ist das Zei-
chen, in dem ich Dich zuerst gesehen habe; darum fiebern meine Nerven wohl auch so
unruhig.

Pol.
–––––Ideen
––––
Humanität, die Säkularisierung Gottes.
Nationalität: der weitere Schritt, die Verengung der Humanität („Couturiertheit“ nannte
man es).
Es handelt sich ja immer darum, in einer diesseitigen, irdischen, menschlichen Gemeinschaft
zu sein, die das Letzte und Absolute ist.
Der Klassenkampf ist abstrakter, rationalistischer als die Nationalität, daher nicht so heid-
nisch, dafür aber atheistischer und in seiner Verzweiflung noch schrecklicher.
Heute noch gegen die Nationalität die Humanität geltend machen, wie das Curtius in
seinem

Seite 28
Buch über Barrès tut, ist ein Dilettantismus (Dilettantismus ist Mangel an Gefühl für Effek-
tivität der Konsequenz).
Es ist so, als wollte jemand …

Klassischer Geist: Kreis und Kugel; aus der Überwindung klassischen Geistes wird Amerika
entdeckt, dadurch aber wird erst die Kugelgestalt der Erde klar, und es stellte sich also
heraus: die Erde ist wirklich eine Kugel.

Ich sah am Sonnabend Abend 1/2 8 (10. 12. 22) in Dortmund am Bahnhof einen Auflauf
von Menschen; ein armer Teufel hatte einen Bahnbeamten bedroht, wurde verhaftet, seine
Freunde stellten sich auf seine Seite und brüllten, [Polizisten kamen] und suchten die Män-
ner zu beruhigen, ein komischer und lächerlicher Auftritt. Aber dieser aus dunklen Instink-
ten geborene Ausbruch einer Empörung in dieser von Industrie und Bergbau verschmutz-
ten und düsteren Gegend – [darüber geschrieben] genius loci – war ekelhaft. Wieder einmal
kam alles im sozialen Komplex: die Angst vor der Empörung, die Empörung gegen die
Autorität und das Gefühl für Autorität. Ich sah die Lächerlichkeit meines „Dezisionismus-
kurses“ und war vor allem verzweifelt, gleichzeitig stolz und selbstbewusst wegen meines
Bewusstseins aller dieser Dinge.
Wahrscheinlich ist das alles naturalistisch. Die Unruhe wegen L. (ich bin voll Scham, in dem
Augenblick, in dem ich dieses schreibe; eine Frau, die mir misstraut, die mich mit größter
Gleichgültigkeit behandelt, sich meine Wohltaten gefallen lässt.)

65 Diese Konstellation ist hoch emotional und steht für das Bedürfnis, sich um andere zu kümmern.

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Dezember 1922 421

Ich fühle, wie ich als Hanswurst tanze, bei jedem eine andere Rolle spiele. Dem verdanke
ich meine Feindschaft und meine Liebe. Ich wäre sofort erledigt, bei allen Menschen, wenn
ich nur eine Sekunde ein anderer wäre. Niemand, kein Mann, keine Frau hätte das geringste
Interesse für mich. Ich lüge, passe mich an, bilde mich schnell nach dem Ideal. Aus Angst
vor Einsamkeit; und doch hilft mir alles nichts.

An L. – Am 9. 12. 22., nachts, als ich von Bonn kam.


Liebe Lo, vielen herzlichen Dank für Deinen Brief, ich habe ihn unversehrt bekommen,
allerdings erst heute soeben, als ich gerade zurück kam. Um Dir auf Deine Frage sofort zu
antworten: Ich richte mich in Deinem Reiseplan, ganz nach Dir; das versteht sich von
selbst. Ich habe wohl daran gedacht, dass der Mond in der Jungfrau steht.66   . <…>
Du eine schöne Nelke?
Deinen Wunsch nach [einer] Wienreise wird in Erfüllung gehen. Alle Wünsche gehen in
Erfüllung. Du brauchst nicht ungeduldig zu sein.
Ich wollte – ich bin es bisweilen –, dass Du sehr glücklich bist.

Das Vornehme meines Wesens, die Angst vor dem Korrekten: Ich gehe als Knabe über eine
Chaussee, ich sitze in einem Wirtshaus neben meinem Freund, jede konkrete Einzelheit der
Vergangenheit kommt wieder, mit ihrer Melancholie, ganz rätselhaft, ich wurde [das Opfer]
konkreter Anzeige. Ich in Verzweiflung. Der Wahnsinn des Rationalismus.

Seite 29
Ich flüchte zu einer Frau, das ist Verrat, aber ich verdiente für den Verrat belohnt zu wer-
den, aber statt mich für den Verrat zu belohnen, begeht sie einen neuen Betrug. Erwarte
nicht, dass du als Verräter anständig behandelt wirst. Ein Verräter wird nicht belohnt, son-
dern ausgenützt; der Verräter wird verraten.

12. 12. 22 Morgens im Bett Brief an L. überlegt.


Liebe Lo, die kühle Zurückhaltung aller Deiner Briefe gab meinen etwas überschweng-
lichen Erwartungen und Hoffnungen jedesmal einen Stoß.

[Mehrere Zeilen Text wegen Streichungen und Einfügungen nicht zuzuordnen oder nicht
deutbar]
<…> eine Wiederholung, sondern Enttäuschung. Ich komme also nicht nach Hamburg, da
ich etwas bei Verwandten oder Freunden hier in Bonn bleibe, einsam.
Ich wünsche Dir schöne Weihnachtsferien, gute Erholung und allen Trost, den Dir, wie ich
weiß, nur Deine Mutter zu geben vermag.
Unwandelbar Dein Carl.

An Lo. 13. 12. [22]


Ich antworte Dir gleich auf Deinen Brief vom Montag; Lo, es ist eigentlich der erste Brief,
den ich von Dir bekomme, seitdem ich nach Bonn zurückgekehrt bin. Der Brief, den ich in

66 Diese Konstellation gilt für die Zeit vom 10.–12. Dezember, danach steht der Mond in der Waage.
Sie steht für Verlässlichkeit und Ordnung.

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422 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Berlin bekam, hat mich in seiner vorsichtigen Reserviertheit so berührt, dass ich mir plötz-
lich mit den Überschwänglichkeiten meiner vielen Briefe sehr kindisch vorkam und inner-
lich rot wurde wie ein Knabe, der seinem <…>.
Das Glück der ersten Tage in Berlin entsprang der Erwartung Deines Briefes, die Müdigkeit
des letzten Tages der desillusionierten Sachlichkeit dieses Schreibens. Das ist die ganze
Erklärung. Ich gebe sie Dir, nachdem Du mich gefragt hast.
Aber für diesen freundlichen Brief muss ich Dir danken. Wie kommt es, dass Du die unaus-
gesprochenen Empfindungen meiner Briefe so unbestechlich reif beurteilst? Ist es die allge-
meine Frauenklugheit oder wenigstens ein Schritt von Interesse? Du hast es leicht, mir eine
große Freude [zu machen].
(Plötzlich überfiel mich die Scham, wie werde ich behandelt von dieser Frau, auf 4 Briefe
und ein schönes‚ liebevolles Paket, am Donnerstag Abend um 12 Uhr müde und schnell
einen Brief hingehauen. Bin ich irrsinnig, mir das gefallen zu lassen?) und vergehe vor Sehn-
sucht nach dem edlen Mädchen auf dem Bild aus dem Jahre 1911.
Ich kann Dir keine gute Reise wünschen, obwohl ich sie Dir wirklich von Herzen wünsche.
Du weißt, wie alles, so auch den Grund hierfür.
Schöne Reise, schöne Ferien, gute Erholung und Trost, den Dir, wie ich weiß, nur Deine
Mutter zu geben vermag.
In tiefster Liebe Dein Carl.
(Schließlich doch am 13. abgeschickt). Nachher große Beruhigung, Erlöstsein des Gebor-
genseins.

Ich bin ein Gast und ein Fisch.


Ein trüber Gast.
Kam ich endlich einmal heraus aus dieser fischhaften Geistigkeit, aus dieser geisthaften
Schwäche.

Lo: Die Liebe zu dir blieb immer bei mir, aber während sie einige Tage ein frohes und schö-
nes Kind gewesen war, das mich auf der Reise begleitete und dessen Anblick mich aufs
innigste beglückte, verwandelt sie sich plötzlich, nach deinem Brief, in eine arme, verwahr-
loste Kreatur, die frierend und hungernd schrie und mich unglücklich machte, obwohl ich
nicht aufhören konnte zu lieben.

Seite 30
vgl. 27. 3. 23

Morgens dachte ich, als ich Villiers <?> las, über Beamte, an L’s Vater, der Beamter ist 67, an
eine Unterhaltung mit ihm in den Weihnachtsferien, eine Unterhaltung mit ihren Brüdern,
große Sehnsucht nach dieser Art Bürgerlichkeit.
Gleichzeitig eine rasende Wut gegen die Bürgerlichkeit, alle [meine] revolutionären Instinkte.
Es ist grauenhaft.

67 Lt. Lebenslauf in der Promotionsakte war Lolas Vater Direktor beim Zoll.

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Dezember 1922 423

Dienstag, 14. 12., 5 Uhr. Wie schon auf der Heimreise von Berlin: In Dortmund sagte [ich]
immer laut: Carola. Ich begegne den ganzen Tag dem Namen Sauer. Nachmittags im Semi-
nar erzählt mir der Privatdozent Hensel68 ohne jeden Grund (als ob er mein Interesse für
Namenstümelei kennt), er habe einmal in einer kleinen Stadt an der Nordsee den Namen
Sauereinnehmer gelesen, das sei der bürokratische Name in Deutsch eines Menschen, der
Surinam genannt wurde, weil er einst aus Surinam gekommen war.

1/2 7: Zu Hause ein Brief von Rosenbaum69 aus Hamburg, der mich nach Hamburg lockt,
mich mit vielen interessanten Leuten (Kurt Singer, Mendelssohn70, Bertram usw.) zusam-
menführen will.

9–12: Kluxen Er spricht immer von Glauben, der Satz in C[arla]s Bibel, von Astronomie,
Neptun als Lues, von Neptun-Geheimnissen71, lud mich nach Regensburg ein. Dann vom
14. 8. (der Todestag seines Vaters, Geburtstag seiner Mutter, Geburtstag Georg Eislers und,
wie Kluxen versichert, noch eines Bekannten von ihm); wenn ich mich recht erinnere, das
Datum, das C. zuerst gefragt hat (als ich erwartete, sie wird nach dem 15. 9., dem Tag unse-
rer Begegnung fragen).

Freitag, 15. 12. Lese im Tagebuch, dass ich in Greifswald Professor Schwarz besucht habe, den
Schwiegervater von Sauerbruch 72, sehe das ganze Geheimnis meines Unglücks in diesem
lächerlichen Wort enthüllen.

Samstag, Martinus, 16. 12. Kein Brief von C.; statt dessen kommt ein Paket aus Regensburg
(Kluxen hatte mich nach Regensburg eingeladen!), ein Paket mit der neuen Auflage der
Literaturgeschichte von Nadler.73 Ich schlage auf und sehe die Widmung: August Sauer.

Nachmittags wurde mir klar: Das Horoskop von C. muss bedeuten, dass sie luetisch wird
und an der Paralyse stirbt.

Neptun  in den Zwillingen , hat Aszendenten von Mars  und Saturn  im 6. Haus;
entsetzlich.74 Große Angst um sie; ich fühlte mich ihr verantwortlich. Schreckliche Unruhe,

68 Siehe Teil I, Anm. 234.


69 Im Brief vom 13. 12.1922 bedankt sich Rosenbaum für das Buch Politische Theologie und lädt
Schmitt nach Hamburg ein, um ihn mit Kurt Singer, Alfred Bertram u. a. bekannt zu machen
(RW 265-11745). Im Brief vom 30.11. 1921 hatte er empfohlen, den Beitrag zur Staatsphilosophie
der Gegenrevolution Mussolini zu schicken (RW 265-11744).
70 Albrecht Mendelssohn Bartholdy (1874–1936), Politikwissenschaftler u. Völkerrechtler, seit 1920
Prof. in Hamburg, 1934 Emigration nach Großbritannien; für einige Jahre Herausgeber der
„Europäischen Briefe“.
71 In der Astrologie steht Neptun für Belastungen im Unterleibsbereich.
72 Hugo Schwarz (1853–1932), Pharmakologe, seit 1882 Professor in Greifswald; seine Tochter Ada
heiratete 1908 den Chirurgen Ferdinand Sauerbruch.
73 Josef Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. 2. Aufl. Band 1. Die alt-
deutschen Stämme 800–1740; Band 2. Sachsen und das Neusiedelland 800–1786, Regensburg 1923.
74 Möglicherweise denkt Schmitt an eines der beiden Marszeichen Widder oder Skorpion, bei letzte-

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424 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

nachdem ich einen Tag wunderschön für mich allein gehabt und mich gesammelt hatte,
okkultischen Gedanken nachging und zu mir selber zu kommen glaube. Immer stört mich
eine Frau. Alles dann schließlich bei Strindberg, Blaubuch75: Das Saure und das Gesunde;
und die Erzählung von der Frau, die zu ihm kommt und ihm ihre Reste anbietet. Das Wort
Reste gab mir den Rest; und von der Jägerin. Abends die Beichte bei Feldmann; er sagt:
Werfen sie das Frauenzimmer von sich.

Besonders meine Angst vor dem Empörer (Traum vom 23.11. 22), das Neptunische, Auf-
lösende, Geheimnisvolle, mein Bewusstsein verzehrend, mich entseelend; die Angst an der
Ostsee in Greifswald, die Unruhe in Helgoland, das Monströse, Schlangengift, Medusen-
hafte des Moores.
Womit beginnt die Welt: Gott schied das Wasser vom festen Land.

In der Legende: Ein Vorfahr ist als Kreuzfahrer in Antiochia gewesen, dort sah ihn eine
Zauberin und lockte ihn sich unter der Vorspiegelung, dass sie bereit sei, zum Christentum
überzutreten und hat ihn in einen Esel verwandelt; und als er zu seinen Kameraden aufs
Schiff zurückgehen wollte, hat sie ihn mit Stöcken zurückgetrieben. Er ging also zu der
Zauberin zurück, es fiel aber den Menschen auf, dass er sich in jeder Kirche tief verneigte
und mit einem Fuß das Kreuzzeichen schrieb und man ging der Sache nach. Nach langem
Leugnen gestand die Zauberin ihre böse Tat und sie zwangen sie, dem Menschen seine
ursprüngliche Gestalt wieder zurückzugeben. Er kehrte dann fröhlich an die Moore zurück,
die Zauberin aber wurde, wie es sich gehört, verbrannt.

Die Geschichte vom Fisch, der wiederkommen sollte.

Seite 31
Dezember 1922

Sonntag, 17. 12. Bei Karl Lamberts. Er zeigt mir die [Photos aus] Schwabing, C.s. Fuhr-
mann, die erwähnten Weltgeschichte <…>. <…> in der Einleitung ganz kaltblütige Roman-
tik als Universalismus <? >. Die ekelhaften Bilder, denke mit Abscheu und Zittern an
C[arla]. Karl Lamberts hat auch einen weißen Dominikaner 76, den ich seit einigen Tagen
suchte, weil Kluxen ihn mir empfohlen hatte.
Abends sah ich in Köln unter der Brücke einen Engländer mit einer Hure. Direkt nachher,
als ich auf den Zug wartete und an die Hure dachte, ein großes Schild: Sauer, nachher Sauers
Garage. Später dachte ich: So stehe ich an ihrer Automobilgarage, wie ein Auto, ein Wagen.
Sie ist eine Hure.

rem wäre die Deutung ‚luetische Infektion‘ plausibel. Diese Stelle, die schwer zu deuten ist, zeigt
wie andere auch, dass Schmitt weitreichende Folgerungen aus sehr begrenzten Beobachtungen
abzuleiten geneigt war.
75 August Strindberg, Ein Blaubuch: die Synthese meines Lebens. 7. Aufl., München 1918.
76 Der weiße Dominikaner, Roman von Gustav Meyrink, 1921.

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Dezember 1922 425

Montag, 18. 12.: Mir fällt mittags plötzlich ein: Der Name Krause sagt expl. K. Sauer. Also
–––––– –––––––
dasselbe. Große Angst wegen dieser Entdeckung. Denn was Namen bedeuten, habe ich ja
gerade durch Meyrink77 erfahren.
Nachmittags um 5 Uhr mit Schmitz zusammen. Er war nur gekommen, weil zu Hause der
Kaffee schlecht geraten und er sich geärgert hatte, sodass er weglief; ohne zu wissen, was
er wollte, kam er zu mir; später gestand er mir das. Ich hatte mich bewegen lassen, zu
Zitelmann zu kommen. Wir gingen hin. Schmitz begleitete mich bis an die Tür, eine Se-
kunde, bevor ich eintrat, sagte ich vor Wut, Zitelmann ist ein altes Frauenzimmer. In dieser
Sekunde fiel mir gleichzeitig ein, dass P. Feldmann diesen Ausdruck gebraucht hatte. Ich
fragte Schmitz, ob er F. kannte, er sagte mit einigem Ernst: Er ist mein Beichtvater. Ich war
ergriffen. Sofort entschlossen, nicht zu Zitelmann zu gehen, sondern mit Schmitz weiter
darüber zu sprechen. Ich schickte Schmitz mit einem Zettel ins Haus, dass ich nicht
komme. Schmitz erzählte mir, Zitelmann habe offenbar auf mich gewartet, denn der habe
wütend vom oberen Stockwerk heruntergeschrien: Was, Herr Professor Schmitt kommt
nicht? Wie ein wütendes altes Weib. Ich fühlte mich von einem Alp befreit und wir liefen
wie 2 Jungens weg. (Dachte daran, dass vielleicht auch C. wütend wartet!)
Dann erzählte er von Feldmann, dass er seit einem Jahr bei ihm beichtet, wie „großzügig“
er ist, gar nicht psychologisch, gar kein psychologisches Interesse am Fall hat. Ich erwähnte
Schmitz zum ersten Mal, dass meine Ehe für nichtig erklärt wird. Wunderte mich über seine
knabenhaft ernste Sachlichkeit: Es stellte sich heraus: sein Onkel ist Mitglied des Gerichts
beim Erzbischof in Köln, das darüber entscheiden wird. Welch ein merkwürdiger Zusam-
menhang.
Dachte abends mit Ekel und Scham an die dicke, Zigaretten qualmende, die Nüstern
blähende Schießbudendame. Einige Stunden lang war ich innerlich von allem frei.

In der Nacht 18./19.12. 22: Im Halbschlaf sah ich: Der Turm, von dem ich sprach, der ein-
same Turm ist etwas anderes; es ist die Garage Sauer. Dann erinnere ich mich: Am 1. 12. 22,
morgens gegen 11 Uhr, nach dem Termin mit meiner Frau, brachte mir der Kellner im Park-
hotel, als ich dort frühstückte, ein Ei, das faul war, ekelhaft roch, und der Geruch war der-
selbe wie der der Axillaren-Sekrete von L., bei der ich die Nacht vorher gewesen war.

Dienstag, 19. 12. 22: Sie ist längst Sauer geworden. Immer [sprechen alle] von Hamburg.
Neuß erzählte von einer Hamburgerin, Gurian ist nach Hamburg. Seltsam.
Immer mein proletenhaftes Bedientenbedürfnis, wenn ich etwas Schönes sehe oder lese,
es anderen zu zeigen. Teils Knechtinstinkt, teils Kupplertrieb; eines so schlimm wie das
andere. Kuli, Zuträger, Zwischenträger, Kuppler, Vermittler. Die Aktivität des Vermittlers.
Der Vermittler muss passiv sein, sonst wird er zum Kuppler. Er muss die interessenlose
Kälte eines Amtes haben. Sonst wird er Kuppler. Das ist eines der Geheimnisse der katholi-
schen Kirche. Sie würde zur Seelenkupplerin, wenn sie ihre institutionelle Kälte aufgeben
würde.

77 Gustav Meyrink (1868–1932), österr. Erzähler, bevorzugte romantisch-okkulte Stoffe, vgl. vorsteh.
Anm.

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426 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Luk. 15: Der verlorene Sohn:


Surgam et ibo ad patrem meum.78

Ich lese den schönen Vers:


a new, a noble heart
within me woke.
Ein neues edles Herz ward in mir wach.79

Ich klage, ich schreie, ich jammere, ich verzweifle. Dabei muss ich mir sagen: Wenn ich
plötzlich eine schöne Wohnung mit Bedienung hätte, eine schöne, freundliche, zarte Frau,
Erfolg und Anerkennung bei den Menschen, so würde all mein Leid verschwinden und ich
wäre mit dem diesseitigen Leben einverstanden und alles wäre in schönster Ordnung.
Welch eine Schweinerei, wie lächerlich.

Seite 32
Dez. 1922 Lola.
Inzwischen bin ich wirklich in dem fürchterlichen Zustand, in
the abhorred estate
of empty shades, and disembodied elves.80

Beata mea domina

So beautiful and kind you they are


But most times looking out afar,
Waiting for something, not for me.

Beata mea Domina81

Und Lo’s neptunische Augen: filled with perishing dreams


and wrecks of forgotten delirium (de Quincey).82

An Lo, Hamburg, 7 Uhr abends, Freitag, 22. 12. 22


In der genau richtig temperierten Ruhe eines überaus wohlgeordneten Haushalts83, noch
benommen von einem Telephongespräch mit Dir, und von dem Gefühl, mit Deinem elter-

78 Lk 15,18: surgam et ibo ad patrem meum et dicam illi pater peccavi in caelum et coram te; dt. Ich
will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater ich habe gesündigt gegen
den Himmel und vor Dir.
79 Prose: Works of Francis Thompson, 1913. Part 3, chapter Sanctity and Song, p. 97.
80 Robert Louis Stevenson, The Touch of Life „… and all, as envying the abhorred estate/of empty
shades and disembodied elves …“, in: Voices of Doubt and Trust, selected by Volney Streamer,
New York 1897, S. 99.
81 William Morris, Pre-Raphaelite Ballads. Praise of my Lady.
82 Thomas de Quincey (1785–1859), engl. Schriftsteller. Confessions of an English opium-eater and
suspiria de profundis, Boston 1850, Kapitel Levana and our ladies of sorrow, S. 226.
83 Besuch bei der befreundeten Hamburger Verlegerfamilie Eisler.

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Dezember 1922 427

lichen Milieu „verbunden“ gewesen zu sein, und be[un]ruhigt, weil Du sagtest, Du hast eine
unerklärliche Depression, und schließlich: in der Erwartung, Dich in einigen Stunden
wiederzusehen, liebe Lo, bitte ich Dich, guter Dinge zu sein.
Es ist das niederrheinische Wetter dieser nebligen Stadt, das Dich traurig macht. Zudem tritt
der Mond morgen in ein wässriges stummes, dualistisches Zeichen.84 Vorgestern Nacht, am
Rhein, sah ich den dünnen Streifen des zunehmenden Mondes. Ich liebe die Landschaft am
Rhein, in der wir unseren ersten gemeinsamen Spaziergang machten. Bonn ist gerade die
Grenze, wo der klare Rhein aufhört und der neblige, mystische Niederrhein beginnt. So
deutlich und selbstverständlich bildete sich mir der Satz: die Sehnsucht, die in dieser klaren
Landschaft fließt, springt wie eine Quelle und wandert wie ein heller Bach, bis sie ver-
schlungen wird von den niederrheinischen Nebeln eines lüsterlosen Meeres.
O Lo, ich bin sehr nahe bei Dir. Ich sehe Dich morgen und wenn es Dich freut zu wissen,
dass ich mich durch Dich unendlich beglückt fühle, so lass es Dir sagen, denn es ist so. In
der Romantik des Tages vor Weihnachten, auf dem Kulminationspunkt der Adventsstim-
men, bist Du es, die ich erwarte. Sei damit einverstanden, lass es Dir gefallen, dass ich Dich
besuche und Dich so erwarte, wie ich es tue: heftig, ungeduldig, sehnsüchtig.
Ich küsse Deine Hände. Dieses Jahr bin ich Weihnachten bei Dir und habe den Wunsch,
noch viele, viele Jahre, immer bei Dir zu sein.
Auf Wiedersehen, Lo, in ein paar Stunden, die mir lange genug scheinen, auf Wiedersehen,
Lo
Wie immer und in alledem Dein Carl.

Seite 33
Dez. 1922
Das wagte er, nachdem er sich vorher heimlich an der Lektüre eines Kapitels der „Genea-
logie der Meere“ Mut angetrunken hatte.

Politisches ökonomisches Denken:


Jenseits von Gut und Böse, Nr. 239:
Das Weib hat im Zeitalter der Demokratie das Fürchten vor dem Manne verlernt, das Weib
entartet. „Wenn nun [recte Wo nur] der industrielle Geist über den militärischen und aris-
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– ––
tokratischen Geist gesiegt
–––––––––––––––––––––––––– hat, strebt inzwischen [recte jetzt] das Weib nach der wirtschaft-
lichen und rechtlichen Selbstständigkeit eines Commis: ‚Das Weib als Commis‘ steht an der
Pforte der sich bildenden modernen Gesellschaft.“85

Aus Qual und Not ein [Satz nicht zuende geschrieben]


Und bin wieder in dem undurchdringlichen Dunkel meiner unentrinnbaren Einsamkeit.
Ich kann ewig laufen, wie in den Tag, und kein anderer. Ich bin Robinson auf seiner Insel,
ein geistiger Robinson, ich konstruiere mir alles von Neuem, von Anfang an, ich will die
Welt neu schaffen. Das ist lächerlich.

84 Am Samstag, den 23.12., tritt der Mond in das Sternkreiszeichen der Fische.
85 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Werke in drei Bänden, Karl Schlechta (Hrsg.),
München 1955, Band II, S. 702.

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428 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Auf der Reise 8.1. 22 [recte 1923]: mich an alles erinnert, nichts vergessen, nicht einmal die
Frau Barthels, bei der wir in Hamburg [bei] Zimmer zusammen gekauft haben und die so
schön sagen konnte: Das wollen sie haben.
Etwas widerlegen ist Verrat
Irgend etwas widerstehen ist Verrat.
Sei ganz widerstandslos, und niemand kann dir widerstehen. Widerlege nichts, und du bist
unwiderleglich.

Brief an Lo. 9. 1. 23
Gestern Abend, liebe Lo, kam ich gegen 1/2 10 in meiner Wohnung an, nach einer ermüden-
den Reise, zum Glück hielt der Zug in Beuel (Bonn gegenüber auf der anderen Rheinseite).
Der Rhein, die Rückkehr in die Regelmäßigkeit eines schönen Berufes, ein heimatliches
Gefühl, im „Land meiner Väter“ zu sein, alles das beruhigte mich. Dadurch wurde meine
Sehnsucht nach Dir und die Verzweiflung [mit] den Selbstvorwürfen der letzten Tage frei,
und ohne irgend etwas an Intensität zu verlieren, wird sie wieder human. Ich glaube, Du
würdest inzwischen Freude an mir haben. Lo, ich hatte diesen Brief beim Frühstück begon-
nen, in der Erinnerung an viele gemeinsame Frühstücke, als Dein Brief von Montag Morgen
ankam. Inzwischen fühle ich Deine Hände auf mir und danke Gott für die Stunde, in der ich
Dich zuerst sah. Ich wollte, ich könnte Dir, einen Teil wenigstens, von diesem Glück mittei-
len. Nicht wahr, Lo, Du darfst nicht traurig sein, Dich durch berufliche oder andere Sorgen
nicht deprimieren lassen und musst die endogene Melancholie Deines Wesens zu einer ein-
sichtigen Überlegung und Geistigkeit sublimieren. Was vorauszusehen war, dass ich einen
Berg von Arbeit vor mir finden würde, ist natürlich eingetroffen. Eine Unmenge von Brie-
fen, Akten usw. Ich habe mich bei Aschaffenburg für Samstag angemeldet, vorher bekomme
ich keinen Vormittag frei. In der nächsten Woche schreibe ich Dir in größerer Ruhe.
Für unzählige Stunden eines Glückes, das für mich nur aus Deinen Händen kommen kann,
muss ich Dir danken, Du schöne Frau. Ich küsse Deine Hände und bleibe immer, von
ganzem Herzen Dein Carl.

Gegen Mittag spazieren; das mir bis in die letzten <…> mit Frauen gehabt.

Seite 34
An Lo. 10. 1. 23 – Schnell ein Wort, um Dich zu bitten, die Pfunde noch nicht zu verkaufen,
da ich glaube, dass es noch weit höher steigen wird als 50.000 Mark. Ich habe Gut[haben] an
der Darmstädter Bank (Nationalbank) in München (Karlsplatz oder Ottostraße, jedenfalls
dort in der Nähe und leicht zu finden), [Du kannst] 30.000 Mark für den Rahmenhändler
überweisen lassen, die Dir gegen Ausweis (Pass) ausgehändigt werden. Du kannst sie dort
abholen und für dringende Angelegenheiten benutzen. Auf diese Weise sind wenigstens
einige Tage [ein Wort gestrichen] Zeitgewinn. Einverstanden?
Sei nicht mutlos, verliere nicht das Vertrauen, komme bald zu Deinem Carl

Das Nichts des Lautlosen öffnet sich und gebiert einen Ton aus, verschlingt den Ton wieder
in sein Nichts, das sich zurückstürzt, als sei es vor dem Schall seines Wesens entsetzt. – Nun
wird es wieder still.

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Januar 1923 429

Die Hymnik des Gestaltlosen.

Eines der Grundgefühle meiner Existenz: io le inganno tutti 86; die notwendige Ergänzung
dazu: Ich werde von allen betrogen. Insbesondere Angst und ewiges Gefühl, betrogen zu
werden. Gesetz der Reziprozität. Als moralisch-psychische Notwendigkeit und Verbin-
dung von Moral und psychologischer Gesetzmäßigkeit. Ich erkenne das und muss mich
ihm unterwerfen, sonst werde ich irrsinnig; unterwerfen unter das Gesetz, das ist Verstand.
Verzicht auf den Hochmut; Verzicht darauf, nicht rezipiert, nicht rezensiert, nicht subsu-
miert sein wollen.

Maurras <…>
Die Konsequenz der Zeit (Villiers de L’Isle Adam, Baudelaire, Barbey d’A.[urevilly], Mir-
beau 87, Strindberg, Lautensack88, selbst der gerissene Wedekind 89). Konsequenz dieser
Erkenntnis des Weibes (Gefühl betrogen zu sein; bestimmt von der Natur, betrogen vom
Weib; das Weib ist somit Passivität; wir fühlen uns betrogen, aus Gehorsam betrügt sein.)
Eine furchtbare Askese, ein erbarmungsloser Puritanismus.
Wir kommen wieder in ein Zeitalter der Konzentration, aus der Auflösung, aus der Bohème
heraus; Faschismus, Disziplin, Autorität.

Mit der Last einsamen Wissens auf dem Rücken.


Zitelmann sagt mir zu der politischen Theologie: Es ist ein einsames Buch, so hätte es einer
zehn Frauen vorlesen müssen. Dabei ist es geschrieben, teils als ich im Bett mit K. lag, teils
während sie nackt auf meinem Schoß saß. Trotzdem hat er recht. Welche undurchdringliche
Einsamkeit.

Pol. Ideen:
Worauf beruht meine Einsamkeit: darauf, dass ich mich in der großen Gemeinschaft der
Zeit und der Generationen weiß. Welche Parodie. Ich fühle die Zeit deutlicher als andere
Menschen, sehe deutlicher das Bild der Zeit, erkenne das Schiff, in dem wir sitzen, die
Landschaft, in der wir marschieren, fühle das Erdbeben, während die anderen herumfliegen
und meinen, sie trieben nur Spaß. Die Kette der Generationen, die uns zusammenbindet,
gerade das sehe ich, und deshalb bin ich so einsam. Schreckliche Not. Daher habe ich mehr
als andere teil an der Nervosität der Zeit. Ich fliehe zu einer Frau, zur Mutter, ich bitte um
eine Gesellschaft, um Milde, um einen Blick, ich verberge mein Haupt im Schoße einer
Frau, um das Medusenhaupt der Zeit nicht zu sehen; es ist alles umsonst. Ich bin kein Pro-
testant, darum ist es mir kein Trost, darum kann ich nicht auf Frauen verzichten wie Kierke-

86 Dt. Ich betrüge sie alle.


87 Octave Mirbeau (1848–1919), franz. Schriftsteller u. Kunstkritiker.
88 Heinrich Lautensack (1881–1919), Schriftsteller u. Kabarettist, gehörte zum Kreis der Schwabinger
Bohème um Wedekind, später der Berliner „Aktion“.
89 Frank Wedekind (1864–1918), Dramatiker u. Lyriker, Kabarettist.

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430 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Seite 35
gaard, nicht physisch einsam sein, und doch bin ich geistig einsam. Darum ziehe ich eine
Frau nach der anderen in meine Einsamkeit und erreiche nur, dass die Frau zugrunde geht.
Verzweiflung, Vergewaltigung, Mord, Lustmord, Notzucht, Grausamkeit, der Ritter Blau-
bart, schließlich Raserei gegen sich selbst.
Das Bild der Zeit; der Götzendienst der Zeit; der Götzendienst vor der Frau. Betrogener
Betrüger.
(Es gibt keine anderen Betrüger als betrogene Betrüger und keine anderen Betrüger als Be-
trogene; Gesetze der Reziprozität).

Am kahlen Gerüst des Lebens einige romantische Perücken machen.

Zwang der Banalität des Lebens zur Phantastik, ein Pferd sei kein Pferd, sondern eine Fan-
fare von Märchenhaftigkeit, Farbe, Tradition.
Die Ruhe, ein Jahrtausend zu übersehen, die Dimensionen der Zeit zu beherrschen, ist
großartiger als die, einen weiten Raum zu erblicken.

Beethoven der Einbruch der Friesen über den Limes. Bonn ist der Limes. Hier ist Beet-
hoven geboren und Schumann gestorben. Welch ein geheimnisvoller Punkt. Welch seltsame
dämonische Verkettungen.

Er fällt immer wieder auf die 4 Füße des normalen Menschen, d. h. eine komische Mischung
aus Sensualismus, Depressionen, Melancholie und heimliches Grauen, dass es auch diesmal
wieder gut werden wird; denn bisher ist es ja immer gut gegangen; sonst hätte ich gar keine
Zeit mehr zu Depressionen.

Gott, die Entfaltung.


In der Liebe zu einer Frau will ich angebetet sein, die Rolle eines Gottes spielen.
Und will gleichzeitig anbeten, einen Götzen haben, ein von mir produziertes Bild, das ich
anbete (wie grauenhaft dieses 19. Jahrhundert sich selbst verraten hat, als es sagte: der
Mensch schafft Gott nach seinem Ebenbild; das tut er wirklich, wenn er Götzendienst
treibt).
In der Demokratie will ich den von –––mir gewählten Herrn haben; wichtig für die pol. Theo-
logie.
Ich will mir den Gott selbst schaffen.
Meine Einsamkeit: Ich will die Welt neu schaffen. Göttlichkeit; Robinson auf seiner Insel
und Gott.

E’n la sua voluntade è nostra pace (Nonne v. Piccarda90)

90 Dt. und unser Friede ist sein Wille nur. Dante, Göttliche Komödie, Paradiso, Canto III. Die Nonne
Piccarda aus dem Clarissinnen-Orden wurde zur Ehe gezwungen.

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Januar 1923 431

a hidden ground
of thought and of austerity within (Matthew Arnold91)

Seite 36
Romantik: Das durch preußischen Staat, durch Humanismus, französische Migranten und
Aufklärung mühsam emporgerissene ostelbische Mischwesen fällt wieder auf seine 4 Füße.

Die Frau lebt in der Gegenwart, der Mann in der Vergangenheit und der Zukunft; die Frau
ruht, der Mann geht, spricht immer über die Grenze des Gegenwärtigen.

Dans une mer sans fond, par une nuit sans lune
Sous l’aveugle océan à jamais enfouis V. Hugo92

Warum ich antworte: Du musst gesund sein.

An K.: Mein Schweigen ist nicht böse. Ich war in großer Verzweiflung.
Das einzige gute Wort, das ich in diesem Monat hörte, war: Die Wunde, die eine Frau
geschlagen hat, kann eine andere Frau wieder heilen.
Was tue ich bei Dir, Du bist voller Gesundheit und Mut, vor Dir liegt ein schönes Leben,
aus jedem Deiner Briefe hörte ich es, ich bin nichts als der sterbende Sohn eines sterbenden
Kontinents.
Belle, o ma chère countesss, je me fatiguerai sans gloire, je resterai pauvre sans bonheur et
sans gloire, je m’évanouis, personne ne portera mon image par les siècles.93

Immer wieder: Das Wolfsgesicht des Lebens. Hier wo ich lebe, bebt die Erde.

Ich sagte am 8. 1. 23 morgens am Bahnhof in München zu L.: Wenn ein Mann von 34 Jahren
sich mit solcher Wucht in den Abgrund einer Verliebtheit stürzt, wie ich es tue, so ist er zer-
schmettert, wenn er nicht, durch einen unbegreiflich glücklichen Zufall, auf weiche Kissen
einer bedingungslosen Gegenliebe fällt.

91 Matthew Arnold (1822–1888), bedeutender Kunstkritiker des Viktorianismus neben Ruskin u. Car-
lyle; letzter Vers des Gedichtes Austerity of Poetry (1867). Beschreibung der Muse.
92 Die Verse von Hugo sind die letzten aus der ersten Strophe des Gedichts Oceano nox der Gedicht-
sammlung Les rayons et les ombres.
Combien ont disparu, dure et triste fortune!
Dans une mer sans fond, par une nuit sans lune,
Sous l’aveugle océan à jamais enfouis!
Wie viele sind es, die, o harte und finstere Not,
in abgrundtiefer See, in mondloser Nacht, verschwanden!
Unter der teilnamslosen Flut für immer begraben.
(Übersetzung Wolfgang Fietkau)
93 Dt. Oh meine sehr schöne, sehr teuere Komtess, ich werde nicht ohne Ruhm ermatten, ich werde
arm bleiben, ohne Glück und ohne Glanz, ich verschwinde [spurlos], und wer wird mein Bild durch
die Jahrhunderte tragen?

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432 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Das sagte ich, Don Quijote, einer Medizinerin, einer Schwabingerin, einer Frau, die beim
Abschied nur daran dachte, dass inzwischen der Münchner Fasching beginnt.

Ein Mensch muss doch entsetzlich dumm sein, um auf den Zauber der Diesseitigkeit herein-
zufallen. Die Leute in den großen Hotels, in großen Bädern, in Automobilen, geputzte
Frauen, elegante Herren, wie albern und lächerlich, welche Angst vor dem Geld, welcher
faustdicke Betrug.

Bei Villiers de L’Isle Adam (l’Ève future) finde ich den Satz: le tabac change en rêveries les
projets virils94 (dafür haben die Franzosen ein Gefühl; Stoizismus; daher auch Baudelaire:
die Musik höhlt den Himmel aus 95 und denke gleich daran, den L. zu zitieren. Armer Narr.
Er sagt von Edison: il désespère d’être dupe.96 L’heure triste, ou chacun de son côté s’en va.
(V. Hugo97)

Seite 37
Januar 1923
An L., 19. 1. 23: Deinen Brief von vorgestern beantworte ich in größter Eile auf der Stelle,
weil es mich beunruhigt, dass Du traurig und deprimiert bist, liebste Lo. Ich will rasch ein
paar Worte schreiben, auf die Gefahr hin, einen allzu geschäftigen Brief zu schreiben, aber
ich möchte, dass er noch in den Zug, der um 11 Uhr nach Frankfurt fährt, kommt. Ich war
sehr glücklich, eine Nachricht von Dir zu erhalten und sehr unglücklich über den Inhalt der
Nachrichten.
Aschaffenburg hat mir versprochen, sobald eine Assistentenstelle frei wird, Dir zu schrei-
ben (er hat Deine Adresse) und sich für Dich einzusetzen. Ich glaube, dass es ihm mit
seinem Versprechen aufrichtig gemeint war. Er sagte natürlich, erklärlicherweise, es sei
schwer, für eine Frau etwas zu erreichen; wenn irgend eine, noch so geringfügige Publika-
tion von Dir vorläge, wäre es bedeutend einfacher, denn in Köln herrscht, wie üblich [, der
Klüngel] und man fragt sofort, warum gerade eine Ärztin aus München, wenn es in Köln
genug gibt. Das ist aber gleichgültig. Ich habe auch mit seinem Oberarzt, einem Dr. Schnei-
der, gesprochen, der viel über die Psychopathologie von Dichtern publiziert hat97a und
einen guten Eindruck macht. Die psychiatrische Klinik ist wunderschön eingerichtet. Als

94 Dt. … weil der Tabak mächtige Pläne leicht in Träumereien zerfließen lässt. (L’Ève future, Kap. 1,
Menlo Parc). Vgl. Jean-Marie Villiers de L’Isle-Adam, Die Eva der Zukunft. Dt. von Annette Kolb.
suhrkamp taschenbuch 974, Frankfurt 1984, S. 12.
95 La musique creuse le ciel, in: Charles Baudelaire, Œuvres complètes, Éditions Gallimard, Paris 1953,

Vol. I, Fusées, VI, S. 653; vgl. Schmitt, Politische Romantik, S. 24.


96 Thomas Alva Edison (1847–1931), amerik. Erfinder und Unternehmer.

Dt. Er fürchtet verzweifelt, über’s Ohr gehauen zu werden.


97 Dt. Die kummervolle Stunde, wo jeder seines Weges zieht (Annette Kolb). Die zweite Hälfte des

Zitats ist in L’Ève future, wie Anm. 45, auf S. 272 als Motto für das Abschnitt Kapitel XIV
„L’adieu“ verwendet, aus Victor Hugo, Ruy Blas, Akt I, Szene 3 (Ruy Blas wendet sich an
Don Cèsar de Bazan).
97a Vgl. vor allem Kurt Schneider, Der Dichter und der Psychopathologe. Ein Vortrag für die Medizi-

ner der Universität Köln. Mit einem Literaturnachweis, Köln 1922.

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Januar 1923 433

ich das ganz entzückende Assistentenzimmer sah, hatte ich den heftigsten Wunsch, Dir zu
helfen. Aschaffenburg war die Liebenswürdigkeit selbst. Ich blieb zum Mittagessen und
zum Tee in der Familie (es war nicht möglich wegzukommen) und für den anderen Tag zum
Tee eingeladen, dass ich das mit Dr. Schneider begonnene Gespräch fortsetzen konnte und
kann inzwischen, was das Wichtigste ist, jederzeit bei A. im Hause erscheinen. Es scheint
mir nicht schwer, in Köln etwas zu erreichen. Du bist inzwischen wohl etwas in Anspruch
genommen, liebe Lo, sonst würde ich, ganz gleichgültig, wie Du es mir auslegst, doch noch
einmal fragen, ob Du nicht einen kleinen Aufsatz schreiben solltest, etwa 10 bis 16 Seiten,
für den Dr. Schneider, psychologisch, pathologisch oder irgend etwas, es ist ja so einfach
und so egal. Frau Dr. Schmitz fährt heute nach Aachen zu ihren Eltern und hat mir verspro-
chen, ihren Vater noch einmal Deinetwegen zu interpellieren.
Ich tue das alles, liebe Lo, nicht um Dich von München wegzuziehen, denn ich weiß, dass
München Dein Boden ist, sondern aus ganz bürgerlichem Trieb, den Du, wie ich weiß,
sowieso ja etwas teilst, sodass wir uns auf diese Weise eine Strecke Weges unterhalten kön-
nen. Es wäre Dir und Deinen Eltern eine Beruhigung, das ist alles, nicht wahr, Lo?

Erlaubst Du mir, dass ich Dir <…> ein kleines Paket schicke? Es soll morgen hier zur Post
kommen. Dann musst Du mir schreiben, wann Du nach Bonn kommen kannst, damit ich
Dir das Eisenbahnbillett schicke. Und dann musst Du mir auch überhaupt bald schreiben,
viel schreiben, und Dich nicht durch eine Stimmung abhalten lassen. Bist Du ein Kind, das
nicht weiß, in welcher Situation es ist? Die Erde bebt, darf man sich da den Luxus von
Depressionen erlauben? Welch ein Begriff aus einer anderen Epoche menschlichen Lebens.
Auch das ist doch nur <…>, ein pessimistischer <…> im Rahmen einer sozialen Skurrilität,
die es heute gar nicht mehr gibt. Also sei guter Dinge. Besinne Dich auf den natürlichen
Stolz Deines Wesens, sei nicht bange.
Du liebe, schöne Lo. Komme bald zu Deinem Carl.

An L. – 19. 1. 20 [recte 23]: Fürs Paket.


C. S. dieses herrliche C. S. bedeutet nämlich Sauer, und der Briefbogen, auf dem ich schreibe,
gehört Dir. Ich habe 25 Bogen und Umschläge so drucken lassen. In dieses Paket gingen sie
aber nicht mehr hinein.
Liebe Lo, liebe Loluschka, liebe Lolinie, Du darfst nicht traurig sein, Du bist schön und
gut. Wenn Du allzu traurig bist, musst Du zu mir kommen. Es sind schreckliche Zeiten,
aber Du bist zu gut, ganz zu verzweifeln. Überlasse Dich der geheimen Führung, die Dich
leitet, und der natürlichen Fröhlichkeit Deiner Natur. Hast Du viel Arbeit in Deiner neuen
Tätigkeit? Ist Dein Zimmer noch freundlich, bist Du ruhig und kommt nicht doch einmal
eine schöne, ruhige Stunde?
Grata superveniet98
Für Dich, für mich, für jeden von uns.
Ich habe viel zu arbeiten und keine Sorgen für meine Person. Wenn ich denke, dass Du
Dich meiner erinnerst, werde ich fröhlich. Ich wollte, Du bist auch fröhlich. Schreibe mir
viel von Dir, Du kannst nicht genug Briefe schreiben. Komm bald, bald. Wann kommst

98 Grata superveniet quae non sperabitur hora; dt. unverhofft wird dereinst dir die glückliche Stunde
kommen, in: Horaz, Episteln I, 4, 13.

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434 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Du denn, liebe Lo? Es ist eine schlimme Zeit, aber schön, wenn es gut geht, anders fade.
Setze Dich einfach in den Zug und komme. Ich führe viele Gespräche mit Dir, morgens
und abends, am liebsten jetzt, in der Dämmerung. Dieses Paket ist sehr klein. Es ist aber
auch für einen schönen kleinen Aspekt bestimmt: Neptun im Anderthalbquadrat zum
Mars99    am 24. Hoffentlich kommt es gut an. Eine Holzkiste war nicht aufzutreiben.
Schließlich habe ich doch noch eine gefunden. Vor einigen Tagen bekam ich einen Brief von
Georg Eisler, der Deinen Bruder Max vorigen Sonntagabend getroffen hat. Er erzählte, er
habe Frau Müller-Hartmann in einer Gesellschaft gesehen; ihre erste Frage sei gewesen, ob
Fräulein Sauer die Braut von Professor Schmitt sei, was er ebenso lebhaft verneint hat. Ich
höre gerne

Seite 38
etwas von Hamburg und habe Georg gebeten, mir über seinen Abend mit Max ausführlich
zu berichten. Oft denke ich an Eure Wohnung, an ihre Einzelheiten [darüber geschrieben:
Hamburg] erinnere ich mich, selbst an die lustige Frau Barthels in dem kleinen Lebensmit-
telgeschäft, die so schön sagen konnte: Das können Sie haben, Fräulein Doktor. Und war
die Reise der Komtesse <…> nicht auch in manchen Momenten sehr lustig, gnädige Frau?
Wenn ich Sorgen haben wollte, bringe ich genug her, aber ich habe keine. Alles geht mir bis-
her gut. Dieses Tempo der Weltgeschichte ist mir lieb und wert, etwas [ist] in mir, was mich
stolz macht. Wenn ich müde bin, gehe ich oft noch spät nachts zu dem guten Schmitz, der
mir etwas vorspielt; gestern Abend die Etüde 19 von Chopin100, eine sublime Synthese sla-
wischer Weichheit, romanischer Phonie, von hinreißender Glut und edelster Vornehmheit.
Ich wollte, Du wärest bei mir gewesen.
Auf Wiedersehen, Du liebe Lo. Ich küsse Dich von Herzen. Lass mich bald wissen, wie es
Dir geht und wann Du kommen kannst. Vergiss nicht, dass ich immer bereit bin, Dir zu
helfen, glücklich von Dir zu hören und glücklich, Dich zu sehen. Dein Carl.

Gespräch mit Schmitz über Chopin (vielleicht für den treuen Zigeuner).
Dieser Slave spricht aus Passivität eine fremde Sprache. Ich kann eine fremde Sprache imi-
tieren, aber ich kann [auch] eine fremde Sprache übernehmen, um nicht die [Last] einer
eigenen Sprache zu haben. Ich überlasse mich dem Fremden. Diese bekommt dadurch einen
anderen Reiz.
Aber die Dialektik der Passivität: ich spreche trotzdem etwas Fremdes. Aus absoluter Passi-
vität müsste ich schweigen, oder vielleicht andeuten. Nun entsteht die Diskrepanz: ein
Redner redet über das Schweigen; er hält eine herrliche Rede über das Schweigen; er sagt in
einer 3stündigen Rede, dass man nicht reden dürfe, sondern absolut und unbedingt schwei-
gen müsse [darüber geschrieben: er schreibt 5 dicke Bände, dass man kein Wort schreiben
dürfe]. Die Rede bekam gerade durch diese Diskrepanz eine eigenartige extremistische
Spannung.

99 In der Astrologie ein Aspekt für die Stellung zweier Planeten, der eine eher kleine Spannung
anzeigt.
100 Recte op. 10, Nr. 4 in cis-moll.

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Januar 1923 435

Die Diskrepanz war eine logische und eine moralische; beides dient dem Extremistischen
als agens und stimulans (nicht als Synthese, ich kann extremistisch kontrastieren, 2 Motive
auftreten lassen und ins Hypothetische verarbeiten; hier geschieht das nicht; hier bleibt die
Diskrepanz außerhalb und treibt von außen; das extremistische Gewebe setzt sich natürlich
auch aus Kontrasten usw. zusammen; aber aus anderen, überkommenen).
Die Chopin-Etüde [op.] 25 Nr. 7. Er spricht von ganz anderen Dingen: es ist eine wunder-
bare Etüde, formal betrachtet, wenn man es richtig spielt, einer Art arioses Instrument die-
ser scheinbar freiesten, in Wahrheit die gebundenste Form, voraussetzende Form, wie sie
nur ein Italiener, der bis ins allerletzte Atom seines Empfindens formal ist, finden kann.
Diese Form gebraucht von einer ganz anderen Seite her, ein Slave, gerade die scheinbare
Freiheit dieser Freiheit ist die formale Schwere, und doch gebraucht er auch das nur aus
Passivität, aus der Passivität, die es Slaven ermöglicht, so viele formale Sprachen zu lernen.
Juden und Balten erlernen fremde Sprachen aus Aktivität. Diese aber aus Passivität.
Sie sprechen so, wie Frauen sprechen. Frauen haben keine Muttersprache. Nur der Mann
hat eine Muttersprache. Die Sprache der Frauen ist immer gleich. Sie übernimmt die
Sprache des Mannes. Und gerade diese Diskrepanz kann einen Ausdruck von ihrer extre-
mistischen Großartigkeit machen.
Die <…> Melancholie seines Wesens kann nicht sprechen; so nimmt sie eine fremde, sogar
besonders komplizierte Form. Das ist die geheimste Schönheit dieser unerklärbar schönen
Etüde und dieses unerklärlich großen Künstlers.
(Die Passivität der Frau: aus Gehorsam betrügt; fühle das Bestreben und sie betrügt. Und
mit Recht. Denn es gibt keinen einseitigen Betrug).
[Die beiden letzten Zeilen nicht zu entziffern]

Seite 39
In einem Gespräch aus Übermut spricht ein désaveu101 der Providenz, aber ein zäher, natür-
lich ein Österreicher, schlug über vor Bewunderung über diese fabelhafte Fortentwicklung.

Sonntag morgens 7 Uhr (21. 1. 23) an L.:


Gleich muss ich zur Bahn. Aber ich will den Sonntag damit beginnen, Dir einen Gruß zu
schreiben. Hörst Du inzwischen in dieser Stunde auch die Glocken der Kirchen? Was hast
Du diese Nacht geträumt, Lo?
Nur um zu reisen folge ich einer Einladung nach M.Gladbach. Morgen früh bin ich wieder
zurück. So Gott will, sollte man immer hinzufügen.
Im Chaos des Halbschlafes, in der pénétration <…> Gefühle und Erinnerungen, sehe ich
tausend Bilder von Dir und grüße Dich herzlich, Dein Carl.
Die Sonne lockt zu weiten Reisen, Du wird es spüren; Du mit Deiner Sehnsucht ins Weite
bist schön, Lo. grata superveniet … und empfange so eine schöne Stunde.
Ich las auf der Reise Villiers, l’Ève future. Das würde Dir (und Georg Krause) gefallen, Dir
freilich anders als Krause, und mir wieder anders. Aber darin steht etwas über Geld [in] der

101 Dt. Leugnung, Widerruf.

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436 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Geschichte, Edison (mit dem sich Krause identifiziert), il désespère d’être dupe, die Angst
betrogen zu werden.
Die Schiffe fahren, die Eisenbahn fährt, die Ballone reisen, alle Piloten sausen und leider
alles im Kreis in einem ewigen Karussell des Lebens; also das ist schließlich doch nicht das
Ziel Deiner Sehnsucht ins Weite; immer wieder der Kreis, den Du fliehst und den Du doch
beschreibst <?>, um nicht ein Segment zu sein, ein Fragment.
Viel Glück wünsche ich Dir, viel, viel Glück.

Der Wedekind schwingt seine sexuale Knarre (ein Mensch, der einen Vers machen wird:
Und immer dieser fürchterliche Tag, aus dem an Liebe mir nichts übrig bleibt).

Es gibt wirklich noch keine Psychologie in der Philosophie.


Kant: Sein und Fiktion ist der Innovationsmotor einer hartnäckigen Einkreisung seiner
selbst und des Lesers. [So wie es] in der guten Reklame enthalten ist.

Ein sublimes Kannitverstan, dass die russischen Bauern das Schild von Lenin verherrlichen:
Religion ist Opium fürs Volk. Welch erhabene Überlegenheit über die Aufklärung.

Wem geht es denn so erbärmlich wie mir, von allen Seiten ignoriert, missverstanden, ko-
misch. O Gott, wie arm bin ich. Gequält von lächerlicher Öffentlichkeit, verhöhnt durch
die lächerlichen Wunscherfüllungen.
Das hilft mir.

Seite 40
1923
Es gibt Menschen: ich glaube, dieser Mensch hat statt des Schutzengels einen Schutzgorilla.
Statt eines Schutzengels hat der Mensch der niederen Sphären einen Schutz-Gorilla. Dieser
trägt ihn durch öde Täler und über steinige Berge, hilft ihm wie ein Caliban.
Die Frauen suchen nicht ihren Schutzengel, sondern den Gorilla. Sie lieben ihn und beten
ihn in [seiner] menschlichen Form an, als Staats- oder Feudalherrn usw.

Ich bekomme plötzlich von niemandem mehr eine Antwort und werde von niemanden
mehr gesehen. Ich fühle, wie sich eine Dunkelheit um mich verbreitet und es ist, als würde
mir ein dunkles Tuch um den Kopf gelegt. Inzwischen merke ich den Sinn: wie der Zauber
fehlt und die Wunder, die die <…> können, in Schweigen und Dunkelheit hüllen werden;
so wird man <…> in Dunkelheit und Einsamkeit gesteckt; ich muss es ertragen. Einmal
kommt das Licht. So ist es (das wollte ich Esel erst fühlen).

Morgens im Bett Brief … Sehr geehrtes Fräulein


[Die folgenden 4 Zeilen sind nicht zu entziffern]

Der Gestank einer Hure.


Der frauliche Geruch der Geilheit einer sündigen Frau.

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Januar 1923 437

Ich möchte untergehen: an einem verwegenen, [enttäuschten] Stolz; ich möchte sterben im
Augenblick eines betäubenden Triumphes.

Ich liebe nicht die Frau, sondern den Triumph.

Seite 41
Januar 1923
25. 1. 23 (Ein absolut verlogener, überlegener Brief, er wird daher [Erfolg haben] wie der an
K. vom 6. 11. 21)
Liebe Lo, Du müsstest wirklich mehr schreiben. Tu es doch, Lo. Ich bin eine Woche ohne
Nachricht von Dir. Du kannst sicher sein, dass ich sehr gesund geworden bin und keine
„Reserven“ habe als solche, die Du mir auferlegst.
Samstag und Sonntag bin ich in Frankfurt. Die Adresse (bei Dr. Georg von Schnitzler,
Westendstraße 68) sage ich, weil ich mich über eine Nachricht freuen würde. Dass Du
kommst, wage ich nicht zu hoffen, obwohl ich mir ausmale, wie schön es wäre, wenn Du
Sonntagnachmittag mit mir nach Bonn führest in dem Zug 8. 55 ab München.
Was tust Du in München? Warst Du wieder im Gebirge oder auf den Faschingsbällen? Sag
mir, womit ich Dir eine Freude machen kann. Ich küsse Deine Hände und bin, ohne jedes
Bedenken, immer Dein Carl.
Du, Lo, liebste Lo, ich freue mich sehr auf den Besuch in Frankfurt. Frau von Schnitzler ist
eine kluge und schöne Frau, ein Satz ihres Briefes102 hat mich sehr gerührt: Ich will nicht
krank sein, mein Mann braucht eine gesunde Frau. Wie gut ist diese Art Grazilität <? >.
Brauchst Du die englische Ephemeride für 1923103? Ich habe eines der wichtigsten astro-
logischen Bücher für Dich gekauft. Schicke es aber nicht, sondern will es mit Dir zusammen
lesen. Treibst Du noch Astrologie? Denkst Du noch an mich? Warum hältst Du kein Ver-
sprechen, das Bild <…>. Du Anarchistin, <…>, Du Wikingerin. Diese Nacht träumte ich,
Du heißest Oth[ella] und küsste Dich im Traum; als ich wach wurde, fiel mir ein, dass
Othello das Diminutiv von Otto ist. Wann werden [wir] wieder Wein trinken, aufs Gedei-
hen der <…>? O, liebste Lo, ich bin von Herzen Dein Carl.

Ich höre diese Romantiker sagen, von ihrer Perfidie, ihrer Haltlosigkeit, ihrer Perversität,
treulosen Sensualismus, ihrer Verlegenheit und staune über diese [armen] Tröpfe. Wer wirk-
lich perfide und pervers ist, wird es schon nicht sagen.

Man darf doch den Psychologismus Taines und anderer Leuten nicht im deutschen Sinn
ernst nehmen. Sie meinen kein System damit; er ist <…> eine Waffe, ein Mittel z. B. zur

102 Aus dem Brief (ohne Datum u. Ort) „… denn die nächsten Pflichten sind immer die ersten, u. mein
Mann, mit dem ich seit 1 Jahr wieder in ganz besonders innigem Einvernehmen lebe, kann nur
e. gesunde Frau gebrauchen“, in: Rieß (Hrsg.), BW Lilly von Schnitzler – Schmitt, S. 131.
103 Raphael’s Astronomical Ephemeris of the Planet Places, seit 1883 jährlich erscheinendes Werk mit
den Tabellen der Planetenabstände.

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438 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Überwindung dessen, was sie romantische Krankheit nennen, ein Mittel, sich über die
Affekte zu erheben, indem man sie durchschaut. Das ist stoisch gedacht und gehört in den
Zusammenhang der stoischen Lehre von der Beherrschung der Affekte, des Ausspielens
von einem Affekt gegen den anderen und das Ziel ist immer: die Ataraxie des Bösen.

Abends 27. 1. 23. Als ich mit Jup und Vormfelde Bier getrunken hatte: Von der Reise nach
Frankfurt. Ich habe Deinen Brief erhalten. Du schulmeisterst meine Schöngeisterei, brief-
lich, Fräulein Doktor. Jup ist ein guter Deutscher, ich bin vernünftiger als er, aber wie
gleichgültig ist das alles. Ich male mir aus, <…> wird. Ich sehe, wie dumm sie ist, sehe, wie
gleichgültig das alles ist, wie lächerlich es ist, sich um eine Frau zu bemühen, um eine Frau
zu kümmern. Wie sie aus ihrer [Beschränktheit] doch niemals herauskommt. Ich male mir
aus, wie ich ihr schöne Briefe schreibe, aber diese Briefe wirken auf sie doch nur wie ein
sexuelles Gekritzel. Es ist lächerlich, mehr zu erwarten. Und was Du mit Deinen Briefen
erreichst, erreicht irgend ein anderer mit einem schmalzigen Grinsen. Es ist kein Unter-
schied. Erniedrige Dich nicht, ich <…> damit zu <…>‚ erniedrige nicht den Geist zur
sexuellen Waffe.
Ich will ihr schreiben: Ich bin glücklich, am Rhein entlang zu fahren und freue mich auf die
Reise mit einer schönen, adeligen, liebenden Frau, die mich versteht, auch in meiner
Schwärmerei liebt, meine Art Verliebtheit liebt, aber <…>.

Liebe Lo, was bin ich: Also: 1. Dein Professor, 2. Dein kleiner Roman und 3. Dein Carl
Schmitt. O liebe Lo. Ich bin Dein Carl.

An Lo, 28. 1. 23 aus Frankfurt. Eben ist die Post gekommen, aber nichts für mich. Deinen
Brief vom 24. erhielt ich kurz vor meiner Abreise. In einem solchen Moment kam Dein
Brief. Ich weiß, was es bedeutet. Es schmerzt mich so. Wenn ich Dir nur helfen könnte. Ich
bin jetzt den 2. Tag in diesem angenehmen Hause bei Menschen, die mir von Herzen sym-
pathisch sind. [Die nächsten beiden Zeilen sind nur bruchstückhaft zu entziffern].

Seite 42
Januar 1923
Ich bete das goldene Kalb an. Was soll man denn sonst anbeten. Ist es nicht ein ehrlicher
Gott, der sie [ehrlich] belohnt, mit schönen Häusern, komfortablen Wohnungen, schönen
Frauen, lustigen Küssen und schöner Musik? Aber doch nicht so dumm. Und wie schreck-
lich ist das Christentum.
Liebste Lo, ich will gleich nach Köln fahren, um Deinen Brief zur Post zu geben. Auf dem
linken Rheinufer streiken die Eisenbahnbeamten, sodass der Verkehr stockt. [Diese Zeile
und die folgenden gestrichen; der Text wiederholt sich im wesentlichen im anschließenden
Brief].
Lo, 29.1. 23: Liebste Lo, ich fahre gleich nach Köln, um diesen Brief zur Post zu geben,
damit der schneller und sicherer ankommt. Heute morgen habe ich 50.000 Mark tele-
graphisch der Filiale München der Darmstädter Bank für Dich überweisen lassen. Hole sie
gleich ab, sonst werden sie zu wertlos. £ greife nicht an, es ist eine zu angenehme Reserve.
Kaufe Dir inzwischen gleich, was Du brauchst. Ich bin sehr besorgt um Dich. Du wirst

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Januar 1923 439

wohl kaum bemerken, wie mich dein letzter Brief traurig machte durch die Schilderung
Deines jetzigen Zustandes. Als ich sah, wie Schnitzler für seine Frau sorgt, war ich traurig,
dass ich niemand habe, der mir erlaubt, für ihn zu sorgen und mich belohnt; ich kam mir
vor wie ein schwangeres <…>, ein <…>, ein Déraciné.104 Der [elende] Wirrwarr dieser Zeit
macht mir für meine Person nicht die geringste Sorge. Aber es scheint, als gehörten einige
Sorgen zum schweren Gewicht. Es ist wirklich fade.
Gleich, um 4, fährt die Rheinuferbahn. Ich muss mich beeilen. Lass mich nicht lange ohne
Nachricht, auch wenn Dir meine Briefe nicht gefallen, musst Du schreiben. Das alles, der
Professor, der kleine Roman, der Schulmeister, kommt doch wie ich <…> mag, der das
Zentrum meines Wesens ist und meines <…>.
Bald schreibe ich mehr und ausführlich. Wenn es nicht zu spät ist, gehe ich auch noch zu
Aschaffenburg. Inzwischen bitte ich Dich, nicht traurig zu sein. Ich fahre nach Köln, in die
Klöster, eine Reise zu Dir zu machen. Ich liebe Dich sehr.
Ich bin von einer dauernden, innigen Liebe zu Dir erfüllt. Auf Wiedersehen, schönste Lo.
Dein Carl
Lo, kaufe Dir einen schönen Platz für eine schöne Oper. Ich würde Dir das Billett schen-
ken, aber es ist von hier aus natürlich nicht möglich.
Die englische Ephemeride folgt gleichzeitig als Drucksache. Nochmals auf Wiedersehen,
liebste, schönste Lo.
Die Bahn, der Dom, o liebste Lo, inzwischen bin ich Dein

Seite 43
Die deutsche Ehrlichkeit: sie [gebietet] der Sündhaftigkeit freien Lauf zu lassen und das
offen zu bekennen. Bei Frauen habe ich das immer wieder gesehen: Lo, Frau von Schnitzler
sogar.
Es ist immer derselbe Typ: nichts unterdrücken, nichts beherrschen, alles fahren lassen.
Es ist die Ehrlichkeit, die jede moralische Entscheidung für unehrlich hält, weil jeder mora-
lische Entschluss von der Fiktion ausgeht, dass wir des Guten fähig sind und weil wir das in
Wirklichkeit ja doch nicht sein können. Es ist unehrlich, sich zu entscheiden.
Daneben der andere Typus einer Ehrlichkeit: die [französische] Ehrlichkeit: Warum soll ich
zwischen gut und böse entscheiden.
Es ist unehrlich, sich nicht zu entscheiden.

Für jeden einzelnen Menschen ist die [Zukunft] doch gewiss: der Tod.
Aber wir denken heute soziologisch, demokratisch, in Massen, und solange die Massen-
katastrophe nicht gekommen, ist es uns gleich, was aus den einzelnen wird.
Und wenn eine Massenkatastrophe kommt, wie der Krieg, so bleibt ihnen doch immer der
sozialistische [Instinkt] auf Macht erhalten.
Es hilft also wirklich nichts, wie eine völlige Vernichtung dieses ganzen Geschlechtes.

104 Dt. Entwurzelter.

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440 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Ich muss einen Mord begangen haben; ich fühle das Kainszeichen; ich fliehe das Land und
fliehe die Stadt; fliehe die Einsamkeit und fliehe die Menschen.

An Frau von Schnitzler: das Buch von Schmitz über den Geist der Astrologie, das ich eben
abgeschickt habe [diese und die nächsten 5 Zeilen sind gestrichen]
Das Buch von Schmitz über den Geist der Astrologie habe ich eben an Sie abgeschickt. Es
ließ sich nicht ganz vermeiden, dass ich das Gespräch mit Ihnen in der Eisenbahn fortsetzte
und dass ich noch inzwischen gelegentlich Dinge verfehle‚ welche <…> dass Sie freundlich
zusahen, als sich der oft versteckte <…> meiner Natur zeigte, <…> heute völlig unmöglich,
völlig unmöglich, <…> freundlich die Freude die Hand gab <…>.
Ich wünsche von Herzen, dass Sie guter Dinge bleiben können. Vielen Dank
und viele Grüße an Sie und Georg und immer Ihr ergebener Carl Schmitt

Seite 44
Ein Brief von L. kommt wie ein Bote vom Himmel für eine Reise.
Welcher unheile Geist führt meine Hand, wenn ich etwas schreibe, was Dir nicht gefällt
oder was Dir sogar weh tut.

An Frau Krause: 31. 1. 23: Sehr verehrte gnädige Frau, in diesen unruhigen Tagen habe ich
oft an Sie, an Georg und Lieselotte gedacht und den Wunsch gehabt, eine Nachricht über
Ihr Befinden zu erhalten. Bitte erfüllen Sie mir diesen Wunsch und schreiben Sie ein Wort.
Ich bin oft schrecklich einsam und habe nicht die geringste Sorge wegen meines persön-
lichen Schicksals, aber umso mehr wegen des Schicksals der Menschen, die gut gegen mich
waren. Viele Grüße und von ganzem Herzen Ihr Carl Schmitt.

Leute wie Hildebrand, Husserl105, Scheler.


Sie halten die Arbeit, die ihnen nötig ist, um zu einem einfachen deutschen Wort zu ge-
langen (halten, schauen), für eine intellektuelle Produktivität und das Resultat für eine

105 Edmund Husserl (1859–1938), Philosoph u. Mathematiker, Begründer der Phänomenologie.


Schmitt hatte 1917 von Husserl, Logische Untersuchungen. Erster Band. Prolegomena zur reinen
Logik. Zweite, umgearbeitete Auflage. Max Niemeyer, Halle 1913, gelesen. Das Exemplar trägt den
handschriftlichen Namenszug „Carl Schmitt“ auf dem Titelblatt und das Datum: „2/3 17“.
Anstreichungen von Schmitt im Text finden sich auf S. 15, „Ihr Zweck ist es eben, nicht Wissen
schlechthin, sondern Wissen in solchem Ausmaße und in solcher Form zu vermitteln, wie es
unseren höchsten theoretischen Zielen in möglichster Vollkommenheit entspricht“. Daneben von
Schmitt notiert: „! d.h. nicht der Zweck sondern das Mittel (unterstrichen) ist maßgebend (nicht
Gott sondern die Kirche)“; S. 68 an- und unterstrichen: „ Die psychologistischen Logiker verken-
nen die grundwesentlichen und ewig unüberbrückbaren Unterschiede zwischen Idealgesetz und
Realgesetz“. Daneben hs. „Sein u. Sollen“; S. 124 angestrichen: „Es ist der Fluch der hierhergehöri-
gen Theorien, dass sie ihnen bald diese reale und bald eine ideale Bedeutung unterlegen und so ein
unerträgliches Gewirr teils richtiger, teils falscher Sätze ineinanderflechten“. Aus dem Angebot des
Antiquariats Schuelke vom Januar 2013.

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Januar 1923 441

philosophische oder gedankliche Leistung, während es nur die Überwindung ihrer schwa-
chen Hemmungen und Schwierigkeiten ist.

Dieses stupide Spiel des Lebens (ich mache es mir durch dieses stupide Spiel von Worten
und Klängen erträglich), ist es weniger stupide, weil stupides Spiel einen so schönen Effekt
macht?

Die Frauen, die Masse‚ die Kinder, sie müssen doch wohl zusammen gehören: Im 19. Jahr-
hundert werden sie zum Problem; das Zeitalter der Demokratie, der Frauenfrage, der sozia-
len Frage (Proletariat), das Jahrhundert des Kindes (unter dem Eindruck von Villiers
de L’Isle Adam).

Die kindischen Arrangements meiner Verliebtheit; die Kinderstube, die Puppenstube; mit
einer fingierten Mutter, mit fingierten Freuden und Schmerzen. Welch eine Erbärmlichkeit.

Schmitz sagt mir: seine Mutter sagt, ich hätte große Ähnlichkeit mit André. Das schmei-
chelt mir. Schmitz fügt hinzu: Die Ähnlichkeit ist am größten in dem Augenblick, in dem
Sie „in Reserve gehen“; wenn man Ihnen anmerkt, dass es Ihnen zwecklos erscheint, noch
weiter zu diskutieren.

Welch ein Dualismus, was ist der von Lo dagegen. Ein Onkel ist unter Lettow Vorbeck106 in
Ostafrika gefallen und von Lettow Vorbeck lobend erwähnt.
Ein anderer hat den 7-jährigen Krieg auf französischer Seite mitgemacht und ist in einem
Tagesbericht des Marschalls Pétain107 erwähnt.

Seite 45
In Wohnzimmer, in dem der General von Wandel aufgebahrt war. Ich fühle den genius loci.
Er hindert mich am Arbeiten; er hindert aber auch die Frauen, dieses Zimmer zu betreten.
Eine hat es betreten, die Maitresse meines Onkels André, das uneheliche Kind des Generals
von Tannstein108, aus Dienheim <?>.
Scheußlich. Ich sehe allen Zusammenhang.

Die Sehnsucht, einer Frau zu imponieren.


Die Sehnsucht, einer Ziege zu imponieren: die Sehnsucht nach der Sau.

106 Paul von Lettow-Vorbeck (1870–1964), Offizier u. Schriftsteller, Kommandeur der Schutztruppe
für die Kolonie Deutsch-Ostafrika.
107 Philippe Pétain (1856–1951), Marschall von Frankreich, Oberbefehlshaber der franz. Armee,
Staatschef Frankreichs (1940–1944).
108 In der Deutschen Rangliste 1914 für das aktive Offizierskorps der deutschen Armee, Oldenburg
1914, ist angeführt Major Joseph von Tannstein, Kommandeur des 1. Schweren Reiter-Regiments
Prinz Karl von Bayern.

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442 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Ich erzählte Vormfelde die Geschichte von Anderson bei Villiers de L’Isle Adam109: sagte, so
kann jede Sekunde ein Giftpfeil in das Schicksal eines Menschen fliegen.
Wie schön: ein Giftpfeil ins Leben hineinfliegen.

Ich kann nicht ein Land lieben, ohne eine Frau des Landes zu lieben, nicht Frankreich ohne
eine <…> Französin, Deutschland ohne eine Deutsche, Irland ohne eine Irländerin. Die
Frauen sind das Land, die Erde. Die allegorische Figur jedes Landes ist eine Frau.
Ich denke wohl zu konkret. Ich liebe in der Frau die Mutter und in dem Land die Mutter.
Es gibt kein Vaterland, es gibt nur ein Mutterland. Nationalismus heißt Muttersprache,
heißt Mutterland, heißt wahrscheinlich Feminismus; die Politiker sind die letzten Träger
römisch patriarchalischen Denkens. Was wird aus der Frau, wenn der Mann Asket wird?

Tr.[euer] Zig[euner]: (Geisteskrank geworden, was will ein entsprungener Kleriker sonst?
Soll er heiraten, zu <…>). Einer erzählt: Ich hatte einen geisteskranken Vetter, einen ent-
sprungenen Kleriker. Er pflegte Legenden zu erfinden. Ich will eine erzählen:
Er erzählt die [Text nicht weitergeführt]. Hierauf sagt er: Man sieht, dass gute Beziehungen
zum Zentrum einem in jeder Situation nützlich sein können.

Erdrückt unter einer Einsamkeit von Milliarden Atmosphären.

Pantomime: Chopin
In der Biographie von Friedrich Niecks (deutsche Übersetzung von Langhans) II. Band,
Leipzig 1890, S. 162.110 Aus dem Buch der George Sand, Ma vie111: Er konnte sich in die ver-
schiedensten Figuren verwandeln und sich verschiedene Physiognomien geben, bald ein
phlegmatischer Engländer, bald ein alter schäbiger Jude, eine bizarre Beweglichkeit, dass er
alles wie eine Waffe benutzt, jedes Argument, christlich philosophisch, naturalistisch und
damit um sich schlägt gegen seinen Feind, das ist bei Strindberg das Böse, Weibische und
Barbarische zugleich.

Diese <…> Byron, Sand, müssen doch jeden verachten, der an sie glaubt. Wie schrecklich
dies [Diese und die folgenden beiden Zeilen sind nur bruchstückhaft zu entziffern].

Seite 46 [recte 48]


Das Parlament der Experten (nicht mehr der Repräsentanten) des Volkes; wie das zu Masse
geworden ist.

Don Giovanni. Schon aus den technischen Gründen des dramatischen Aufbaus ist es not-
wendig, dass am Schluss die Person, D. G., sicher (dank Annas Zwang) wieder erscheint.

109 Edward Anderson, Bekannter Edisons, in dem Roman L’Ève future.


110 Friedrich Niecks (1845–1924), Friedrich Chopin als Mensch und als Musiker, übersetzt von Fried-
rich Wilhelm Langhans, Band 2, Leipzig 1890.
111 George Sand (1804–1876), franz. Schriftstellerin, Geliebte Chopins. Dies., Histoire de ma vie,
18 vol., 1854/55; dt. Ausgabe: Geschichte meines Lebens, 12 Teile, Leipzig 1855.

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Januar/Februar 1923 443

Das ganze Stück besteht doch daraus, dass sie ihn suchen und er immer wieder heraus-
kommt; inzwischen am Schluss müssen sie wieder in dieser Situation sein: sie finden ihn
nicht, er ist weg, absolut weg, der Teufel hat ihn geholt (Schluss des 1. Aktes; dann im
2. Akt die Szene, wo sie statt seiner Leporello finden; dann zum 3. Mal am Schluss der
Oper).
Als ich die Oper mit Duschka sah (16. 2. 1923), schien mir der steinerne Gast nur der Tod
zu sein und der Inhalt der Oper: la morte et l’amour.

Telegramm an Carola (als Antwort auf ihr Telegramm vom 17. 2. 23: Ich bitte dringend um
eine Nachricht, Carola): sperans te valere ego valeo, in solitudine tuus.112
Oft Angst vor ihrer Gefräßigkeit, ihrer Habgier, vor dem Gesicht ihres Vaters, vor ihrer
Herrschsucht und dieser Verbindung von Faulheit und Machtgier oder Herrschsucht. Für
eine solche Frau bin ich gerade das richtige Objekt.

Die Musik hält den Himmelsbau113; Mozart jedenfalls.


Und die deutsche Musikwissenschaft hält die Musik aus.
Gibt uns also den Himmel wieder; wie tröstlich!

Alles Sachliche, Echte‚ hat sich spezialisiert, dafür hat sich alles Menschliche verallgemei-
nert, das heißt jeder ist alles, universell; nicht nur der dilettantische Kaiser. Sein eigener
Reichskanzler. So ist jeder Bourgeois sein eigener Reichskanzler (das Politische hängt zu
sehr am Menschlichen), jeder sein eigener Faust, sein eigener Don Juan. Der Dilettantismus
als Proletariat des Spezialistentums.
(Nur der gute Mann ist der Leporello geblieben)

G. A. Krause:
An Krause:
<…>
Wenn wir den Schwindel der Schönen mit einigen schönen Stunden zu betrügen suchen.

Ich suche Symptome: Das Lied von der Krone im Rhein und der junge Mann, der fürs
Mädchen [dem] Rhein die Krone und die Leier gibt.114 Wo gibt es das noch? Höchstens als
tragisches Geschick, als Samson, der einer Delila in die Hände gerät. Aber doch nicht diese
[Diese Zeile und die folgende nur bruchstückhaft zu entziffern].

[ohne Bezifferung, in der Abfolge Seite 46]


[nachträglich notiert] Duschka in Köln (Oper) Don Giovan. 10. 2. 1923 „Was bedeutet es
eigentlich, katholisch zu sein“.

112 Dt. Ich hoffe, dass es Dir gut geht, mir geht’s gut. In Einsamkeit der Deine.
113 Siehe Anm. 95.
114 Häufiges Motiv für Gedichte, z. B. Ernst von Destouches, Die Krone im Rhein.

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444 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Am 5. 2. 23 überlegte ich abends mit Schmitz die Pantomime „Das goldene Kalb“. 1. Akt:
Das goldene Kalb tanzt um andere Kälber. 2. Akt: Der Tanz um das goldene Kalb. 3. Akt:
Die Hochzeit des goldenen Kalbes.
Aber das Schönste wäre doch: Das goldene Kalb wird geschlachtet, weil der verlorene Sohn
wieder erscheint: surgam et ibo ad patrem meum.

Wir sprachen über Romantik: die Melodie leise, leise, fromme Weise.115 Oder das Gedicht
von Eichendorff116: Es ist, als hätt’ der Himmel die Erde still geküsst.
Alles fing wunderschön an; ein herrliches Präludium; und endet kläglich, in einer sinnlichen
Idylle, wedelt mit dem Schwanz und stirbt.

L.
Ich wollte L. erzählen: von der schönen Oper in Köln, von meiner Wut über Knapperts-
busch117 und meiner gelungenen Rache, von der Pantomime, von <…>, von den verhafteten
Zoll-Direktoren.
Aber wie lächerlich, dieser Referee, mit dem ich spreche, dieser fingierte Adressat, dieser
Geiz der Menge, wenn er nicht Zigaretten qualmt.

Nicht die öffentliche Meinung, sondern die Öffentlichkeit der Meinung ist das Wertvolle
und Wichtige.118
Treu. Zig.

Abends mit Braubach: Ich konstruiere den Selbstmord von Kleist119: ein Sakrament, das
stoische Sakrament. Warum von der Frau? Ein Rest von Protestantismus und Germanis-
mus. Luther hat die Ehe als Sakrament beibehalten, hier sollte also noch ein zweites Sakra-
ment begangen werden.
Welch schreckliche Vermischung; welche Verzweiflung gerade im Sakramentalen, das
Rührende im Messias.
Die Radikalisierung der Sakramente durch Privatisierung, Auflösung durch Radikalisie-
rung. Der Messias.

Gott ist mir plötzlich ganz fern.


Ich sehe ihn, er wendet mir den Rücken. In diesem Augenblick ist er ein weiter, wüster
Russe, dessen Stiefel mich zertreten werden.

115 Carl Maria von Weber, Der Freischütz, 2. Akt, aus der Arie der Agathe „Wie nahte mir der
Schlummer …“.
116 Joseph von Eichendorff, Gedicht Die Mondnacht.
117 Hans Knappertsbusch (1888–1965), Dirigent.
118 Vgl. Schmitt, Parlamentarismus, S. 47.
119 Der Dichter Heinrich von Kleist machte am 21. November 1811 seinem Leben ein Ende, nachdem
er vorher seine Begleiterin Henriette Vogel getötet hatte. Das Thema Kleist’s Selbstmord hat
Schmitt lebenslang beschäftigt, er besaß zwei Zeichnungen des Berliner Malers Werner Heldt dazu
(vgl. Eberhard Seel, Werkkatalog Werner Heldt, Nr. 186).

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Februar 1923 445

Inzwischen ist er vielleicht bei den Russen, wie er früher bei den Ironsiders120 war, immer
ist er bei den Gewalttätigsten und immer derselbe Gott des Alten Testaments, blutdurstig,
rachsüchtig und in dieser Welt sich behauptend.
Der Gott des Christentums hat ihn verschlingen wollen. Christus sagt: Gott ist gut. Gott ist
nicht gut. Denn für uns ist gut dasselbe wie schlecht. Gott ist nicht schlecht. Er ist
unschlecht.
Jetzt plötzlich verstehe ich Proudhon.121

(Alles im Traum geschrieben: Unter der Nachtwolke eines Gesprächs mit einer 19-jährigen
Slavin, die nichts ist als ein zwitschernder Vogel und diesmal –––––––––
zwitschert: Ich glaube nicht an
Gott, ist weiß nicht, was Gott ist.)

Duschka fragt mich (in Köln, im Museum, am 10. 2. 23): Was bedeutet es eigentlich, katho-
lisch zu sein?
Ich antworte: Das bedeutet, in einer guten Gesellschaft zu sein; in einer Gesellschaft mit
Rubens, der dieses großartige Bild gemalt hat, und mit dem heiligen Franziskus, den er
gemalt hat, in einer Gesellschaft mit schönen Proletariern und mit den großen Heiligen und
mit der Jeanne d’Arc.
(Meine dumme Antwort).

Seite 47
[Erste Zeile nicht deutbar].

Glaube an das Leben.

Lektüre der Erinnerung der Sand:


Dieser ekelhafte Weibsoptimismus, dieser schmutzig-quälende Glaube an das Leben, an die
Zeugung und die <…>.

Mir löst sich inzwischen alles auf in Vorsehen und legendäre Bilder.
Ich bin bedrückt von der schrecklichen Einsamkeit meines Daseins. Keine Illusion mehr
möglich, keine Frau, keine Musik, kein Kunstwerk, kein philosophischer Gedanke, kein
sensueller Rausch, nichts, keine Form der Religiosität, leer und hohl.
Ich stehe wie ein Strolch auf der Straße des Lebens. Tr[euer] Zig[euner]. Ich sehe sie alle die
Straße des Lebens dahinziehen. Alle haben eine Frau auf dem Rücken, alle wallfahren nach
Rom, alle fahren zum Papst <?>.

120 Kavallerietruppen Cromwells im englischen Bürgerkrieg.


121 Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865), franz. politischer Schriftsteller, Anarchist, einflussreiche
Schriften zu Sozialismus und politischer Ökonomie. Sein Satz „Dieu c’est le mal“ dürfte bedeuten:
„Gott ist das Übel“.

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446 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

13. 2. 23 (Abends mit Braubach)


Der moderne Staat ist Bürgertum und Militär, ein leerer Apparat.
Er sucht sich zu substanziieren, er sucht Blut zu bekommen, er sucht Blut wie ein Vampir.
Das Nationalitätenprinzip, das Ökonomische‚ alles sind ihm solche Mittel. Er saugt die
Nationalität auf, er saugt die Wirtschaft auf, nur um aus seinem gespenstigen Mechanismus
herauszukommen und Blut und Leben zu erhalten.
Aber er erreicht doch weiter nichts als dass er auch die Nationalität und Wirtschaft tötet.
Ein vollgesogener Vampir, ein zum Platzen gefüllter Blutegel.
Das ist der moderne Staat, der Indifferenz zwischen Anarchie und Diktatur.

Ein Buch schreiben: Die Identität von Preußen und Frankreich: Militarismus, Klassizismus,
Aufklärung, Belagerungszustand. Dies Bündnis der Philosophie mit dem Säbel.

Das Duett Là ci darem la mano122: Wie tritt er auf, er tritt auf, ohne zu repräsentieren <…>,
überlegen, faszinierend, bezaubernd, routiniert, antik, inhaltlich ist es reiner Heiratsschwin-
del (der Schluss „es ist nicht weit von hier“).
Das arme Bauernhuhn kann nur noch mit den Flügeln schlagen.

Was hat Kierkegaard getan: Das Einsamkeitsgefühl des Philosophierens, dieses allgemein
schlechte Gefühl, das bei Heraklit123 sehr stark ist, wie bei jedem anderen Philosophen, alles
christlich umgedeutet; damit war das Christentum verflacht; denn dafür ist das Christentum
nicht da, um dieser Art von Schlechtigkeit eine metaphysische Substitution zu geben.

Die Kirche repräsentiert Christus, wie ein Schauspieler den Helden repräsentiert.
So würde man es nicht als eine Störung empfinden, wenn während der Aufführung eines
historischen Dramas, sagen wir, Wallenstein persönlich erscheint; kann er sich [dann]
darauf berufen, dass er der „echte“ Wallenstein ist? Die Repräsentation durch künstlerisches
Darstellen, sehr gefährlich. Oder die Person an Stelle des Proletariats <? >.

Seite 49
Der Private übernimmt alle wesentlichen sozialen Funktionen privat; hier eine Kontraktion
als Polarität der Zersplitterung und der Auflösung ins Spezialistentum.
Der Einzelne wird sein eigener Priester, sein eigener König, sein eigener Politiker, sein eige-
ner Künstler.124

122 Mozart, Don Giovanni, 1. Akt, Duett Don Giovanni/Zerlina (Reich mir die Hand, mein Leben);
vgl. auch Schmitt, Politische Romantik, S. 120.
123 Heraklit von Ephesos (520–460 v. Chr.), vorsokratischer Philosoph. In seinen Fragmenten kommt
Einsamkeit nicht vor; allerdings gibt es eine sehr alte Tradition, von der Einsamkeit Heraklits zu
sprechen, die auf Diogenes Laertius (Buch IX, 3) zurückzuführen ist und die auch von Nietzsche
aufgenommen wurde (Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, Karl Schlechta (Hrsg.),
München 1956, III. Bd., S. 379 f.).
124 Vgl. Schmitt, Politische Romantik, Vorwort, S. 26 f.

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Februar 1923 447

Dadurch werden die großen sozialen Typen nicht mehr herausgestellt und eine Vielseitig-
keit, die sich sonst im sozialen zeigt, wird Aufgabe des einzelnen, der Persönlichkeit und
der Universalität der Persönlichkeit. Goethe als Typus dieses Menschen.

Othello: Die Ehe ist eine soziale Institution, es gibt keine Ehe ohne soziales Milieu, der
Mann muss das soziale Milieu liefern. Ein déraciné kann nicht heiraten; wenn er es tut, so
tötet er die Frau, die Eifersucht ist ihr die Form der Exekution; er reißt die Frau in sein
Nichts. Es handelt sich nicht um Gerechtigkeit, sondern um Wirklichkeit. Das Moralische
ist das Wirkliche, der moralische Begriff [ist] konzentrierteste Wirklichkeit. (Als ich das
Braubach sagte, lachte er wie ein Bube und sagte: inzwischen kommt wieder Ihr Mytho-
logem. Ich will nicht mehr mit ihm sprechen).

An Däubler, 23. 2. 23: Welcher Planet es ist, [dessen] periodischer Zyklus in mir den Wunsch
wach ruft, Sie wiederzusehen, weiß ich noch nicht. Aber der Wunsch erwacht und dann führe
ich mit Ihnen monologische Gespräche und zeige Ihnen den Rhein und die Mosel. Die Mosel
ist die Heimat meiner Väter. Ein gemeinsamer Aspekt steht doch über unserem Schicksal:
diese Herkunft aus einer Expositur: Sie kommen aus Triest, ich aus Trier, beides ist ein Kob-
lenz, das heißt confluentes, wo das Deutsche und das Römische sich treffen. Ich sah vorges-
tern Mozarts Don Giovanni in der Kölner Oper und fühlte diese schicksalsvolle Mischung.
Sie leben inzwischen auf einem Boden, dessen genius loci schläft. Hier, am Rhein, ist gleich-
sam die Geschichte lebendig geblieben und die Nervosität ihres Tempos reibt mich auf.
Es geht mir so entsetzlich schlecht, meine leider unfreiwillige Vereinsamung ist so unent-
rinnbar, der Fluch der Isolation so hart, dass ich oft dem Wahnsinn nahe bin. Mit ungeheurer
Freude habe ich Ihren Aufsatz aus der Deutschen Rundschau125 gelesen; auch schlage ich oft
das Nordlicht auf, der Hymne an Italien und den Sternhellen Weg126 wegen. Aber ich kann
mit niemandem sprechen und in meiner Einsamkeit macht mir der Wunsch, jemand[em]
meine Freude zu zeigen, die Einsamkeit weniger bewusst. Walzel, der hier ist, scheint mir ein
roher Journalist, und meine Sensibilität wird schon [zu] groß, als dass ich ihn ansprechen
könnte.
Meine Verzweiflung ist groß. Was bleibt anderes als die irdische Arbeit?
Machen Sie mir bald die Freude, etwas von sich zu erzählen. Ich bleibe immer Ihr Carl
Schmitt.

Der beste Beweis für die Genialität Kierkegaards: In seiner Einsamkeit seinen Verstand be-
halten. Das ist ein ganz gewöhnliches psychiatrisch = naives Argument. Ich kenne nieman-
den, der so die Intensität seiner Einsamkeit gesteigert [hat], ohne irrsinnig zu werden.
Nietzsche ist doch irrsinnig geworden. Seine ganze Philosophie ist der wütende Kampf
gegen die selbst gewählte Einsamkeit. Muss man nicht mit Blindheit geschlagen sein, um
den Gegensatz nicht zu sehen?

125 Theodor Däubler, Olympia, Deutsche Rundschau, Okt.–Dez. 1922, S. 74–78; ders., Santorin,
Deutsche Rundschau, Jan.–März 1923, S. 160–180.
126 Theodor Däubler, Das Nordlicht I–III, Florentiner Ausgabe, München 1910, Genfer Ausgabe,
Leipzig 1921/22; ders., Hymne an Italien, München 1916; ders., Der sternhelle Weg, Leipzig 1916.

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448 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

An K.: Ich sehne mich nach der Unruhe, mit der ich auf Dich wartete, sehne mich nach dem
Schmerz, den ich in Berlin empfand, als Du mich nicht hieltest.
Ich gehöre doch zu Dir, also warum trennt man uns. Die Mutter, die Angst vor der Mutter,
es gibt keine Rebellion gegen die Mutter.

Seite 50
An K., 24. 2. 23, abends 7 Uhr: Welche Macht es fügt, dass ich, nach hundert unvollendeten
Briefen, wieder beginne, an Dich zu schreiben, das weiß ich nicht. Wenn Du diesen Brief
erhältst, werden noch mehr Wochen vergangen sein. Vielleicht ist dann bei Dir alles anders
geworden, ungewiss, mit welchem Herzen Du dieses liesest. Die tiefe, sehr traurige Re-
signation, die mich seit Monaten dem Tode nahe brachte, wird mir wohl die kurze Zeit, die
ich noch lebe, auf der Seele liegen und Dir zeigen, dass ich gar nicht das Recht hatte, Dich
immer wieder mit angstvoller Liebe, um Deine Liebe zu bitten.
Nichts ist anders geworden bei mir. Kein Rost, wie Dein Beichtvater meinte. Kein Versuch,
etwas zu ändern, würde mir gelingen. Jetzt, wo der März wiederkommt, der Monat, in dem
wir in Marburg waren, ist mir alles so nahe, als wärest Du keinen Augenblick von mir weg
gewesen. Ich sehne mich nach jedem Weg in Marburg, nach dem kleinen Zimmer, nach der
Küche, nach Frau Meister, nach jeder Einzelheit, wenn Du nur da bist. Ich sehne mich nach
der Unruhe, mit der ich auf Dich wartete, nach der Sorge, mit der ich Dir abends in der
Stadt, ohne Hut und Mantel, entgegenlief. Es hat sich nichts geändert, Kathleen. Es kann
sich gar nichts ändern.
Nur das ist schlimm: Ich weiß inzwischen, dass ich arm und krank bin. In jedem Brief
schriebst Du, dass Du erwartest, ich werde gesund. In jedem Brief. Ich wurde aber immer
kränker. Die ersten Monate der Trennung von Dir hatte ich noch die Illusion, ich würde es
ertragen können. Du bist ein sehr gesunder und kräftiger Mensch, aktiv und vital. Der Pro-
zess, der sich Monate hindurch in immer schrecklicheren Formen abspielte, hat mich aufge-
rieben, sodass ich nur noch ein armes, schwaches Bündel Nerven bin, und der Gedanke, ich
dürfte Dein Gatte sein, auch <…> wird.
Verstehst Du das oder bist Du so gesund, dass Du auch das nicht verstehst? Es ist so. Man
kann vom Leben zur [zwei Wörter mit Tintespuren bedeckt] Gottes Mühle geraten.
Aber den Prozess habe ich weiter geführt, auch, als er ganz aussichtslos war. Soviel Kraft
musste ich behalten. Plötzlich nahm er eine Wendung. Es war eines der Wunder, wie sie nur
mit Deiner Person verbunden sind. Erinnerst Du dich der Nacht in Marburg, als wir über
die Abstammung der Dame sprachen? Recherchen waren vergebens. Auch wenn wir nach
Wien gefahren wären, hätten wir nichts herausgebracht. Monate lang haben alle möglichen
Bekannten in Wien vergebens gesucht. Man fand nichts, weil der Taufschein, den die Dame
bei der Eheschließung vorgelegt hat, gefälscht war. Endlich kam am Zehnhoff auf den
Gedanken, [den] Wiener Gesandten, Dr. Pfeiffer, für die Sache zu interessieren. Jetzt ist
der echte Taufschein gefunden; nur Deine Vermutungen über die Herkunft der Dame sind
richtig.
Inzwischen hat sich aber das Gericht in München, nachdem der Prozess dort 6 Monate sich
hingezogen hatte, für unzuständig erklärt, weil ich in Bonn mein Domizil habe. Die Folge
ist, dass ich in Bonn eine neue Klage erheben muss. Mir wäre um den Ausgang nicht bange.
Mir ist um den Ausgang nicht bange. Heute erfahre ich, dass ein Onkel Dr. Schmitz (dem

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Februar 1923 449

Privatdozent, von dem ich einige Male schrieb) als Domkapitular in Köln mit dem kanoni-
schen Prozess befasst sein wird und auch beim geistlichen Gericht alles für mich ist. Zwar
wird meine Sensibilität unter dem Klatsch, der in Bonn bestehen wird, arg leiden. Aber das
Resultat ist nicht mehr zweifelhaft. Am 1. März, sobald die Ferien beginnen, leite ich alles
ein. –
Zum ersten Mal kann ich Dir wegen des Prozesses ruhig schreiben. Aber jeder Deiner
Briefe zeigte mir, dass Du dich über mich täuschst. Ich bin nicht stark, nicht lebensklug und
nicht physisch gesund, wie alle Deine Erwartungen über große Reisen und Unternehmun-
gen es voraussetzen. Das hat es mir täglich schwerer gemacht zu leben. Wenn Du mich
sähest, würdest Du erschrecken; so hässlich bin ich. Deine Mutter, Deine Schwestern, alle
würden Dir abraten, mich zu heiraten. Ich könnte es nicht fertig bringen, Dir eine Photo-
graphie zu schicken. Die physische Trennung von Dir war ruinös. Auch meine Nerven
waren nicht im Stande, Deine Liebe und Deine Umarmungen zu entbehren. Alles kam
zusammen, um mich zu vernichten. Ein Tropenarzt sagte mir, ich dürfe gar keine Reise nach
Australien machen. Ich kann alleine nicht reisen. Auch auf meine Wohnung in München
habe ich verzichtet; ich bin eigentlich nirgendwo –

Seite 51
25. 2. 23 – Kathleen, ich schicke Dir heute einen Brief als Beispiel der vielen unvollendeten
Briefe; so habe ich zu schreiben versucht Weihnachten, an Deinem Geburtstag, als das
wunderschöne Paket ankam. Es ist zu traurig, Kathleen, aber ich bin arm, krank und ver-
zweifelt. Ich werde Deiner Mutter schreiben, sobald ich etwas ruhigerer und besserer Hal-
tung bin. Auch P. Stockton127 werde ich antworten. Er soll nicht böse sein, dass ich noch
nicht geantwortet habe; ich habe es nicht aus Bosheit unterlassen. Vier schreckliche Monate
habe ich hinter mir, ein scheußlicher Traum, Anfälle der Krankheit, die ich im Mai und Juni
1921 [recte 1922] hatte, Handlungen seelenlosester Verzweiflung, Scham und Reue, und
der Grund war doch nur, dass ich von Dir entfernt war. Wie ist das möglich, dass in den
wenigen Monaten, die ich bei Dir war, mein Leib und meine Seele so in Dir verwurzelten,
dass ich endgültig verkümmere und verdörre ohne Dich. Inzwischen ist keine Hoffnung
mehr.
Herr Däubler ist nicht gekommen. Ich kann keine große Seereise machen in meinem jetzi-
gen Zustand. Es ist so, dass ich krank und schwach bin. Du kannst keinen kranken Mann
brauchen.
Aber sei sicher, dass ich Dein bleibe. Ich weiß nicht, ob Du es mir noch erlaubst, aber ich
sage mir täglich: o wundervolle Frau, schönste countess, wenn ich die 35 Jahre meines
Lebens überblicke, es schwindet alles vor einer einzigen Stunde mit Dir. Ich schreibe viel-
leicht ins Leere, in die leere Weite des Ozeans und fremder Erdteile; schreibe aus einer
völligen Einsamkeit, ich habe keinen einzigen Menschen, mit dem ich spreche. So schreibe
ich doch Dir. Es ist nichts daran zu ändern, dass ich Dein bin. Obwohl <…> Mutter <…>
[Mehrere Wörter durch Tintenflecken nicht deutbar] Mann ich offen alles erzählt, niemals
erlauben werden, dass Du meine Frau wirst. Das ist es, countess. <…>, sondern der

127 Siehe Teil II, Eintragung vom 23. Februar 1923.

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450 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

schlimme Konflikt: die Erkenntnis, dass es notwendig ist, zu verzichten und die Unfähig-
keit, Unmöglichkeit, zu verzichten. (Mit 2 Schreiben von Pestalozza über den Prozess).

An Stockton:
Sie haben mich sehr beschämt und sehr verpflichtet.
Eine edle Frau, in der ich Irland liebe und verehre und für die ich gerne mein Leben opfere.
Die Schwierigkeiten, die einer Reise nach Australien entgegenstehen. Ein Deutscher ist hors
la loi, Geächteter.

Ist nicht mein Wahnsinn mein. Lass Dich umarmen, geliebter Wahnsinn. <…> von Dir
überbleibt, schöne Frau, [Rest der Zeile nicht deutbar].
Ist er nicht mein Eigentum? Wer kann ihn mir nehmen? Mein letzter Freund? Mein letztes
Asyl? Ich fliehe in den Wahnsinn. Süßester Trost, holdes Aufatmen, beglückender Friede
am Ende der Schlacht.
Unter den Bäumen in der Poppelsdorfer Allee; hier wäre ich mit K. gegangen. Warum
bricht das alles plötzlich wieder auf. Das ist mein Schicksal, unheimliche Frau. Der
Schwung von tausend Nächten, die abenteuerlichen Phantasien, die ausschweifende Liebe,
alles ist verloren, alles ins Leere. O, ich verfluche die Stunde, in der ich Dich habe abrei-
sen lassen. Ich war irrsinnig in dieser Stunde, ich hätte Dich in der letzten Sekunde zurück-
reißen müssen.
Ich schreie wie ein Verdammter.

Seite 52
Welche Grausamkeit von Gott, mich an Dich zu fesseln und dann von mir zu reißen, dass
ich seit fast einem Jahr mit einer offenen, klaffenden, blutenden Wunde herumlaufe wie ein
angeschossenes Tier.
Die dunkle Gewalt der Nacht, die Schleusen des Unterdrückten öffnen sich.
Ich erschauere vor dem dumpfen Melancholie irgend eines fiesen Liedes, das einige Betrun-
kene singen. Sie singen ein Lied vom Dorfschulmeisterlein, ich kannte es nicht, ich höre nur
die Strophen:
Einen halben Hering kauft er ein
das arme Dorfschulmeisterlein und
wenn er einst gestorben ist,
begräbt man ihn auf seinem Mist.
Ein Hund setzt ihm den Leichenstein
dem armen Dorfschulmeisterlein.

Das ist die Art Wut und Verzweiflung, die ich von Josef Wüst 128 und Ernst Sommer 129 her
kenne; wie sie schimpften über den armen Schulmeister, die Wut, wenn sie ein Automobil

128 Josef Georg Wüst (1878–?), Volksschullehrer, ab 1919 Schulrat in Frankfurt/Main, SPD-Mitglied,
Schmitt war seit seiner Schulzeit mit ihm befreundet.
129 Ernst Sommer (1876–1919), Volksschullehrer, verfasste Bücher über Leibesübungen, Körperkultur
und vernünftige Lebensweise, ebenfalls seit Schmitts Schulzeit miteinander bekannt.

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Februar 1923 451

sahen, wie sie einmal sagten: Ein Schulmeister müsste sich in einem Pissoir aufhängen.
Grauenhaft.
Die Wut gegen sich selbst [Rest der nachträglich eingeschobenen Zeile nicht deutbar]
Ich sehe die blauen französischen Reiter und <…>. Das ist doch eine Blume eines schönen
Landes. Mein Land hat keine Blumen mehr, es ist proletarisch, marxistisch, grauenhaft. Wie
ich sie [Ein Wort unkenntlich gemacht], diese [Ein Wort unkenntlich gemacht].
Diese geile, nach faulen Eiern stinkende Hamburgerin.
Wie ich sie liebe, diese hinreißend schöne Keltin Kathleen. Ich war nahe daran, nach Mar-
burg zu reisen. Das hätte wohl den dünnen Reifen, der meine physische Existenz noch
zusammenhält, ganz zersprengt. Der Irrsinn hätte mich überschwemmt.

Die moderne Romantik, der moderne Aberglaube.


Das Philosophensystem der [Klub]Sessel.

Warum kommt im Don Juan nicht die Mutter vor? Nur der Vater. Der Geist, der erscheint,
ist der Vater einer Frau.
Die Beziehung einer Frau zu einer anderen Frau kann er nicht unterscheiden, sie beziehen
sich alle auf ihn.

Grand ange désailé qui rôde ma vie


Âme, mon Âme!
Violon sans archet, triste barque sans rame.
(Mme Lucie Delarue-Mardrus130)

Notre cœur gros d’angoisses et de mauvais secrets.

Renée Vivien131:
Les yeux attachés sur ton fin sourire,
J’admire son art et sa cruauté,

130 Lucie Delarue-Mardrus (1874–1945), franz. Schriftstellerin und Bildhauerin. Zitat aus: dies.,
Occident, Paris 1901, S. 137. dt. Großer Engel, seiner Flügel beraubt,/der mein Leben durch-
streunt,/Seele, o meine Seele!/Violine ohne Bogen, trübselige Barke ohne Ruder./Unser Herz voller
Ängste und böser Geheimnisse. (Übersetzung Wolfgang Fietkau)
131 Renée Vivien (Pseud. Pauline Mary Tarn) (1877–1909), brit. Dichterin des Symbolismus.
Poésies complètes, Deforges, Paris 1986, S. 74.
Kein Auge kann ich wenden von deinem feinen Lächeln.
berückt von seiner Kunst und Grausamkeit
doch stell ich mir die Jahre vor, zerreißt’s mich
und ich beweine, sie schauend, deine Schönheit
Denn jammervoll und sinnlos, so ist das Gesetz,
oh, meine Lilie, wenn der Tag kommt, wo du welken wirst
und deine Schritte den Wellengang vergessen.
Dein Fleisch ohne Begehren.
(Übersetzung Wolfgang Fietkau)

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452 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Mais la vision des ans me déchire


Et, prophétiquement, je pleure ta beauté
Puisque telle est la loi lamentable et stupide,
Tu te flétriras un jour, ah! Mon lys
Tes pas oublieront le rhythme de l’onde. Ta chair sans desires

Seite 53
Der treue Zigeuner, Maurras in L’Avenir de l’intelligence132 spricht davon, dass die Restau-
–––––––––––––––––
ration der sehr christlichen Monarchie in Frankreich eine Konspiration war zwischen einer
sehr heidnischen Dame, Madame de Coigny133, und einem alten, verheirateten Bischof, der
den Eid auf die Verfassung geleistet hatte. Ein weiser Grieche, der es liebt, einen geheimen
Sinn der Wirklichkeit des Lebens auszusprechen, hätte daran sehr schöne Reflexionen
knüpfen können.
Ce qu’on peut appeler la génération des événements.134

132 Charles Maurras, L’avenir de l’intelligence, Paris 1905. In dem mehrfach und erweitert aufgelegtem
Werk ist in der 12. Auflage, Paris 1917, in dem Teil Le Romantisme Féminin. Allégorie du Senti-
ment désordonné ein lobender Bericht über Renée Vivien und Lucie Delarue-Mardrus enthalten.
133 Aimée de Franquetot de Coigny, Duchesse de Fleury (1769–1820); bei dem Bischof handelt es sich
wahrscheinlich um Talleyrand. Mémoires d’Aimée de Coigny. Introduction et notes par Étienne
Lamy. Paris 1902.
134 Charles Maurras, Mademoiselle Monk, S. 1. Der Text erschien 1902 in der Gazette de France und
wurde in spätere Auflagen von ‚L’avenir de l’intelligence‘ aufgenommen. Der Name Monk, mit
dem Madame de Coigny bezeichnet wurde, bezieht sich auf General George Monck, den Duke of
Albemarle, hauptsächlicher Urheber der Wiederherstellung der Monarchie in England nach dem
Tode Cromwells. Monck wurde in Frankreich vor allem von Maurice Barrès gefeiert. Ein französi-
scher General à la Monck wäre in den Augen von Barrès – nach dem Scheitern des General
Boulanger – die Lichtgestalt für die Wiederherstellung des integralen Nationalismus in Frankreich
gewesen.
Qu’une vie, dit Pascal, est heureuse quand elle commence par l’amour et qu’elle finit par l’ambi-
tion ! Melle de Coigny avait commencé sa vie par l’amour et elle l’acheva de même. Mais il lui arriva
de servir par amour certaines ambitions légitimes et pures, elle en conçut de la fierté, et ses Mémoires,
découverts tout dernièrement, nous racontent comment ______________________________________________________________
la Restauration de la monarchie_________ très
chrétienne fut conspirée entre une___________________________________________________________________________________________________________
_____________________________________________________________ dame très païenne et un ancien évêque assermenté et marié.___L’un
de ces sages Grecs, réalistes subtils, qui prenaient leur plaisir à exprimer le sens secret des réalités de
la vie, y aurait trouvé la matière de réflexions bien instructives. Ce qu’on peut appeler
____________________________________ la Généra-_
__________________________

tion des événements, et la mesure dans laquelle l’intelligence et la volonté des humains contribuent
_______________________________________

aux faits de l’histoire, devient sensible en un chapitre des Mémoires d’Aimée de Coigny. Les rois
et les guides du peuple devraient le lire comme une petite fable au travers de laquelle apparaît
clairement la morale de la nature.
Ein Leben sei glücklich, so sagt Pascal, wenn es mit der Liebe beginnt und mit dem Ehrgeiz endet.
Mademoiselle de Coigny hatte ihr Leben mit der Liebe begonnen und es ebenso beendet. Aber
es konnte ihr passieren, dass sie aus Liebe gewissen legitimen und lauteren Ambitionen zu
Diensten war, das erfüllte sie mit Stolz, und ihre erst kürzlich entdeckten Memoiren erzählen uns,
wie zwischen einer sehr heidnischen Dame und einem ehemaligen Bischof, der den Amtseid_________
_____________________________________________________________________________________________________________________________ auf

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Februar/März 1923 453

Das Schlimme: es hört schon auf, ein Witz zu sein und wird Ausdruck von etwas selbst
Selbstverständlichem, also moralisch: Der Betrogene, der, als er von Untreue seiner schönen
Frau hört, sagt: Ich bin lieber mit 20 % an einer guten Sache beteiligt als mit 100 an einer
schlechten. Das ist ökonomisches Denken. Warum lacht man darüber?

Wichtig und charakteristisch:


Das Paradis artificiel von Baudelaire
und L’Ève future – eine artificielle Eva von Villiers de L’Isle Adam
[Die folgenden zwei Zeilen nur bruchstückhaft deutbar]

Schauerlich: Es ist ein welthistorischer Augenblick der Diktatur, ein Augenblick des
Schweigens und des Wartens, damit einer diktiert; statt dessen drängen sich Herden von
Affen vor und schreien, machen Gutachten, diskutieren und gestikulieren (Stier = Somlo135)
Es ist so, als wäre seit der Jeanne d’Arc eine Bande von Medizinerinnen, Chemikerinnen
und Stenotypistinnen erschienen, die Völker aber schweigen, mit der Überlegenheit des
Schweigens. Die Organisation des Schweigens.

Ausnahmezustand – auswärtige Gewalt.

Einige Dinge sind mir immer so selbstverständlich.


Streben der Persönlichkeit, die deutsche Bildung, die harmonische Ausbildung der Persön-
lichkeit, die Arbeit an sich selbst: [Die folgenden beiden Zeilen nicht deutbar]

Der Schatten der Angst.


Die Angst überschattet mich.

Seite 54
An Frau von Schnitzler, 3. 3. 23. Liebe gnädige Frau, heute bekam ich Ihren Brief, gestern
Nachmittag Ihre Arbeit. Unter allen Reservationen, mit beschwörenden Vorbehalten und
Restriktionen, bei allen Heiligen und himmlischen Heerscharen mich salvierend und nur
unter dem Schutz des Generalpardon, den die Unwiderstehlichkeit eines solchen Briefes
gewährt, also nur zitternd möchte ich Ihnen antworten, dass ich die Zeit vom 3. April bis
7. April, 14. auf 15. April Ihnen damals genannt habe; dabei kann ich jetzt nicht einmal Nähe-
res sagen über die terrestrischen Einflüsse, weil ich keine Tabellen habe. Vergessen Sie nicht,
dass diese Dinge nur ein Signal sind, um ihren eigenen Definitionsgang <?> (den jeder

die republikanische Verfassung abgelegt hatte und verheirat_________


______________________________________________________________________________________________________________ war, die Restauration der allerchrist-_
__________________________________________________________

lichsten Monarchie ausgeheckt wurde.


______________________________________________________________________ Einer dieser weisen Griechen – diese subtilen Realisten, die

Gefallen daran fanden, den hinter den Realitäten des Lebens verborgenen Sinn zu artikulieren –
hätte dort Stoff für sehr lehrreiche Überlegungen gefunden. In einem der Kapitel ihrer Memoiren
zeigt Aimée de Coigny mit Gespür für das, _________________________________________________________
was man die 89er Generation nennt, _________ in welchem Aus-

maß menschliche Intelligenz und Wille teilhaben am geschichtlichen Geschehen. Die Könige und
Volksführer sollten es wie eine kleine Fabel lesen, die ganz klar die Moral der Natur durchscheinen
lässt. (Übersetzung Irmelind Trempler)
135 Zu Fritz Stier-Somlo siehe Teil II, Anm. 763.

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454 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Mensch, sicher jede Frau hat) wach zu rufen. Ganz kann es gar nicht sein, ohne eine Scharla-
tanerie zu werden. Sie dürfen mich nicht quälen mit weiteren Fragen. Man muss entweder in
aller Umständlichkeit rechnen (Progressiva, professionelles Horoskop) und das dauert
Wochen und führt dazu, dass man wenigstens mit gutem Gewissen sagen kann, man habe sich
angestrengt, etwas zu sehen, oder man weckt in dem anderen einige unbewusste Komplexe
und hat dann die Chance (völlig unberechenbar von Intuitionen). Nochmals: alles andere ist
Scharlatanerie.
Wie kann ich jetzt etwas sagen, wenn ich seit Wochen an juristischen Doktorarbeiten und
vielen anderen Produkten mich damit ermüde, von gleichgültiger Holzhackerarbeit betäubt,
unter Lieblosigkeiten verschlittert, gequält von einer Einsamkeit, die sich an mir rächt, weil
ich ihr einmal entfliehen wollte und jetzt höhnt wie eine Frau, zu der man zurückkehrt
nach einem misslungenen Fluchtversuch?

My heart by many snares beguiled


Has grown timorous and wild.136

Liebe, liebe, liebe gnädige Frau,


das Buch von Oskar A. H. Schmitz „Aus Frankreich“137, habe ich nicht. Für den politischen
vielen Dank.138
Grüßen Sie Georg; ich habe bei meinem Besuch zu wenig mit ihm gesprochen. Grüßen Sie
Ihre beiden Töchter von mir
von ganzem Herzen Ihr Carl Schmitt

An Georg Eisler, 5. 3. 23. – … wegen Fräulein Todorović brauchen Sie keine Sorgen zu
haben. Ich bin seit langem ganz, vollkommen fanatisch in Anspruch genommen von meiner
Liebe zu K. Bitte schreiben Sie ihr das, wenn Sie ihr schreiben wollen; etwas anderes gibt es
darüber nicht zu schreiben, wenn man die Wahrheit sagen will. Ob es vernünftig ist, bedeu-
tet eine ganz andere Frage. Es ist eine entsetzliche Dezision.
In den letzten Tagen sprach ich viel mit McKiernan, [mit] Privatdozent des Strafrechts,
Dr. Honig, dem ich das Buch von Fritz geliehen hatte. Wenn Sie einmal bedenken, aus
welchen psychischen Quellen ein Begriff wie der der Dezision kommt, müssten wir wissen,
dass man gegen meine oft wahnsinnigen Affekte nichts tun kann, ohne mich zu vernichten.
Das alles beherrschende Gefühl der Einmaligkeit, der Unwiederholbarkeit, hält mich in
jeder Angelegenheit fest. Ich könnte eine Freundschaft wie die zu Fritz nicht wiederholen,
es gibt keinen Ersatz, kein Vergessen, keine Heilung, kein Reparieren mit verbesserter
Erfahrung, kein Klügerwerden in entscheidenden Dingen. Dazu gehört die Freundschaft
und die Liebe zu einer Frau. Es gibt entscheidende Dinge und es war nur eine Entschei-
dung. So ist es. Also wollen wir nicht mehr darüber reden.
Grüße Sie in Eile.

136 Siehe Teil I, Anm. 178.


137 Oskar A. H. Schmitz, Was uns Frankreich war. Sechste Aufl. der Französischen Gesellschafts-
probleme, München 1914.
138 Oskar A. H. Schmitz, Die Kunst der Politik, Berlin 1911.

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März 1923 455

D. S[tockton]. I received your two letters, thanking God, that now I have the possibility, to
express my constant, unalterable sentiments for Mrs. K. M. I beg to say her that she must
known my unutterable decision. I have been sick and fall of desperation this winter, but
that regarded only myself, my poor person, not may attachment to M. I shall be much ob-
liged

Seite 55
to you, if you would tell her, that an alteration would be the destruction of my whole nor-
mal existence till the end. I remain the C. S. whom she knows.

Tr. Zig.
Othello und der treue Zigeuner.
Die Amerikanerin hat Recht; jeder Mann trägt seine Frau.
Tr. Z.
Zu der Bemerkung von Blei: Renan tout conservateur a pour ancêtre[s] un bandit.139

[rechts daneben] Othello ein Mann; die Nacht sehnt sich nach dem Licht. Warum ist das
Licht eine Frau. Die Dunkelheit des Mannes sehnt sich nach dem Licht einer Frau. Das ist
der Unsinn; beides geschieht nach physischem Recht. Umgekehrt ist es nicht denkbar, denn
die Dunkelheit der Frau ist einer Sehnsucht nach dem Licht nicht fähig. Sie hasst das Licht;
sie würde einen Mann aus Besitzgier töten, nicht aus dem Gefühl: If the chaos will come.140

Was verschließt mir so unerbittlich den Mund. Ich möchte sprechen, jemandem mich ent-
decken, getröstet werden durch ein freundliches Wort, aber es kommt nicht über meine
Lippe, vor Stolz, vor knabenhaftem Trotz. Ich ging zum Professor Neuß, aber ich sagte ihm
nichts; ich sagte dem Beichtvater nichts, drückte mich ganz allgemein aus. Ich müsste ihm
sagen, dass ich K. mehr liebe als Gott, er würde mich als blasphemischen Mensch erklären
und würde fragen, ist diese Frau wert, dass sie Gott…

An K. Februar 1923 (am 10. 3. 23 Fräulein Maubach nach Polen mitgegeben). Wenn ich nur
eines wüsste: dass all die vielen Tränen, die Sehnsucht und das opfervolle Entbehren Dir
wenigstens belohnt würde, Du schöne, geliebte Frau. Ich habe nicht das Recht, krank zu
sein und bin es doch geworden, darum war ich so verzweifelt. Willst Du nicht nach Eu-
ropa? Es wäre meine Rettung. Es gibt sehr viel Schönes auch hier, selbst während der
schrecklichen, politischen Erdbeben, unter denen der gequälte Erdteil stöhnt, bleibt er
schön und trägt einen prachtvollen Schmuck seiner tausendjährigen, bunten Kultur. Denk
an die schönen Länder, countess, Irland, Spanien, Italien, der Rhein, wenn <…>, schlechter
Leistung. Aber für mich ist es nur schön, wenn Du es siehst; eine Schönheit hat für mich
nur Interesse, wenn ich sie Dir zeigen kann. Ich bin krank, weil Du mir fehlst. Alles, was
die Ärzte sagen, ist ja nur eine Reihe physiognomer Äußerlichkeiten. Die tiefe Kindlichkeit

139 Ernest Renan, Le prêtre de Némi, Paris, 1886, S. 3; dt. Jeder Konservative hat als Vorfahren einen
Bandit.
140 Siehe Teil I. Anm. 96.

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456 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

meiner Natur ist durch Dich gewahrt und nun mutterlos und heimatlos. Denke mit ver-
zweiflungsvoller Traurigkeit an Heidelberg. Ich hätte Dich nicht abreisen lassen sollen; es
war Irrsinn, dass ich Dich abreisen ließ, ich hätte Dich im letzten Augenblick noch in Straß-
burg aus dem Zug reißen sollen. Warum habe ich das nicht getan? Trifft mein Wort noch
Dein Herz? Ich bin sicher, dass Du mich lieben würdest, wie jemals, dass Du erfüllt wärest
von dem peculiar feeling, wenn meine Stimme zu Dir käme. Du müsstest mich lieben, das
weiß ich. Ich will die Geduld nicht verlieren, aber Du? Immer nur Geduld zu haben,
Geduld, Geduld. Doch ist es meine einzige Rettung, die Geduld nicht zu verlieren.
O liebste Mutter, schönste Frau, komme bald. Mein Verlangen gebiert mir Visionen. Beata
mea donna.

Seite 56
Ich wäre längst nach Australien gekommen, aber es ist ganz unmöglich, wenigstens auf
legalem Wege, ganz unmöglich. Herr Däubler ist nicht gekommen, hat auch nichts hören
lassen. Mein Schweigen ist nicht böse, countess. Erinnere Dich an die schönsten Stunden
unserer Liebe und glaube mir das. Nur die schrecklichste Verzweiflung. Unerbittlich wird
mir der Mund verschlossen. Ich möchte sprechen, jemand um Hilfe flehen, getröstet wer-
den durch ein freundliches Wort, aber ich kann den Mund nicht öffnen, auch dem Beicht-
vater sage ich kein Wort. Ich müsste ihm sagen, dass ich Dich mehr liebe als mich und
meine Seele; er würde mir antworten, es sei Idolatrie, einen Menschen so maßlos zu lieben.
Das einzige Wort, das ich als einen Augenblick des Trostes empfunden habe, sagte mir
Krause: Eine Frau kann Sie heilen.
O Mann, eine einzige Frau. Aber ich darf sie nicht holen. Es ist zu schrecklich in Europa,
wenigstens auf dem Kontinent. <…> Illusionen dieses Meer von Unrecht, Gemeinheit,
roher Gewalt, brutaler Habgier um sich herum haben, bricht zusammen. Ich darf nicht
rufen. Was bin ich denn? Der sterbende Sohn eines sterbenden Erdteils.
O ma très belle, ma très chérie countess, K. En ce moment, je vois ma destinée je ne
fatiguerai sans gloire, je resterai pauvre, sans bonheur et sans gloire, je m’évanouis et qui
portera mon image par les siècles? Je t’embrasse, chère K., Je suis toujours, aussi de me
taisant, toujours. Ton Carl.141

Wollen wir nicht eine große Verschwörung machen, der Iren, der Juden, der illegalen Deut-
schen, der [mehrer Wörter überschrieben und nicht deutbar] Entwurzelten, <…> der
Sehnsüchtigen, der Gäste unter den Eingesessenen, der Mageren unter den Fetten? Der
treuen Zigeuner?

Der Schatten: Gott wirft einen Schatten, weil er eine Substanz hat, weil er nicht nur eine
–––––––––––
Ikonostase, ein Funktionsbegriff, ein leeres Fakt[um] ist, sondern etwas Kompaktes.

141 Dt. Oh meine sehr schöne, sehr teuere Komtess K. In diesem Augenblick sehe ich mein Schicksal
vor mir, ich werde nicht ohne Ruhm ermatten, ich werde arm bleiben, ohne Glück und ohne
Glanz, ich verschwinde [spurlos], und wer wird mein Bild durch die Jahrhunderte tragen? Ich
umarme Dich, liebe K. ich bin und bleibe, von mir nicht zu reden, immer Dein Carl.

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März 1923 457

Der Schatten ist der Beweis einer Substanz und einer Kompaktheit.

Der treue Zigeuner: Warum ist er ein Zigeuner, kann man die Frage nach seiner Nationali-
–––––––––––––––-–
tät erheben? Warum ist er kein Deutscher? Er schweigt? Worin besteht sein Schweigen?
Müsste er nicht ein Zigeuner sein, wie Don Quijote?
Ist er nicht Proletarier, weil er flucht?

Über das französische Argument: Man hat davon gehört, dass untere Völker ihre alten
Greise tot schlagen, um sie los zu werden.
Aber hat man davon gehört, dass die Greise die Kinder tot schlagen, weil sie eine Kon-
kurrenz befürchten?

Seite 57
Unheimlich: Mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung (mit der Statistik, mit den großen
Zahlen) kommt die Versicherung für die ganze moderne Welt.
Vermeide das Entweder – Oder und alles wird leicht und glatt sich von selbst regeln. Der
Unendlichkeitskalkül, selbst die absolute Unendlichkeit Gottes.

Tief und brennend ist meine Selbstverachtung. Ich beschimpfe mich, ich bin ein Schuft, ein
elender Nichtsnutz, eine Null, ein lächerlicher Hanswurst. Warum? Weil ich fühle, dass ich
machtlos bin; der machtlose Angehörige eines besiegten Volkes, genieße im Schutz meiner
Bedeutungslosigkeit ein klägliches Behagen, stehle mir wie ein Ding einige behagliche Jahre
eines ruhmlosen Daseins.
Es ist unchristlich, sich so zu verachten und sich aus solchen Gründen zu verachten. Denn
ich würde mich nicht verachten, wenn ich Macht und Ehre hätte, wenn ich anerkannt und
bewundert würde, ich brauche die Menschen, ich nehme Ehre von den anderen. Also ich
bin kein Christ.
Es wäre lächerlich zu glauben, dass ich ein Christ bin.
Aber das Christentum hat mir einen Stoß gegeben, und nun taumle ich wie ein Trunkener
zwischen der Welt und dem Jenseits, schielend nach beiden Seiten, tastend, zögernd, hin und
her schwankend und zerreibe mich in der Entschlusslosigkeit dieser komischen Situation.
Alles, was ich gelernt habe, ist: richtig denken. Und inzwischen sehe ich, dass es darauf
nicht ankommt, dass es sogar schädlich und falsch ist, richtig zu denken in einer Welt, in der
es unlogisch zugeht. Ich Zweifler.

K.: Du meine Mutter und meine Frau. In tiefster Angst flehe ich Dich an, mich nicht
zu verlassen. Erhalte mir das Leben, das Du mir gegeben hast. Sei wie eine Mutter. Es ist
buchstäblich so, sei meine Mutter. Rette mich vor der Verzweiflung, vor dem Wahnsinn und
vor einem grauenhaften, ruhmlosen Ende. Wenn jemals ein Mensch den anderen nötig
hatte, so habe ich Dich notwendig. Wenn jemals ein Mensch dem anderen helfen konnte,
entscheidend helfen konnte, das Leben schenken konnte, was physisch nur eine Mutter
ihrem Kinde erweisen kann, das kannst Du mir jetzt erweisen. Tröste mich, schicke mir
noch ein Kabelgramm. Bitte. Ich konnte Dir keines schicken. Ich hatte kein Geld. Es ist
wohl eine Schande.

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458 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Niemand ist so betrogen worden wie ich; ein solcher Prozess. Der Anwalt in Bonn, ein
alter, gebildeter Mann sagte mir, ich habe noch niemanden gesehen, der so viele Opfer
gebracht hat wie Sie und noch niemanden, der so betrogen worden ist.
Wenn Du nicht reist, so wäre jetzt das Ende da. Monate lang glaubte ich, es käme, von Tag
zu Tag. Jetzt werde ich langsam wieder gesund. Hätte ich nur Nachricht von Dir.

Gide (prétextes142) x Villiers de L’Isle Adam: la phrase (v.V.) ne s’identifie jamais avec l’idée,
mais reste comme sa projection sensible, et semble parfois pastiche, n’être que son
prestigieux et chatoyant faire valoir…

142 André Gide, Prétextes. Réflexions sur quelques points de littérature et de morale, 1903; Nouveau
pretextes, 1911. Hier zitiert nach: André Gide, Prétextes suivis de Nouveaux Prétextes. Réflexions
sur quelques points de littérature et de morale, Paris 1963, S. 91. Die exzerpierten Passagen bei
Gide sind unterstrichen.
„Car _____________
la phrase ____ ne paraît pas chez lui profondément nécessité; née plutôt d’un besoin de parure et de

luxe où s’affirme à la fois tout son amour et tout son mépris de l’aspect, elle __________________________ ne s’identfie jamais __________

avec l’idée, mais reste comme sa______________________________________


_____________________________________________________________ projection sensible, et semble parfois, postiche, n’être que son
prestigieux et chatoyant faire-valoir; factice-autant, pas plus que ne l’était pour lui toute apparence,
tout le rideau diapré de notre monde phénoménal. „Sic indutus et ornatus“, citera-t-il. Parfois,
_________________________________________

souvent, le mot limite l’évocation de l’objet qu’il désigne, _____________________________________________________________


à sa seule signification décorative.__ Non
seulement il n’y croit pas, à l’objet, mais encore veut nous faire sentir qu’il n’y croit pas. […]
Est-ce son subjectivisme quasi religieux qui impose à Villiers sa ___________________________________________________ méconnaissance, quasi religieuse _________

aussi, de la vie? ou au contraire cette méconnaissance précède-t-elle, lui dicte-t-elle le subjectivisme,


__________________________

comme pour le justifier? Je ne sais. – La même question peut d’ailleurs se poser, et vainement, __pour ________

tous les „écrivains catholiques“. Baudelaire,


_____________________________________________________________ Barbey d‘Aurevilly, Hello, Bloy, Huysmans,
______________________________________________________________________________________________________ __ c’est là
_____________

leur trait commun: méconnaissance de la vie, et même haine _____________________________________________________________


______________________________________________________________________________________________________________ de la vie – mépris, honte, peur, dédain, _________

il y a toutes les nuances, – une sorte de religieuse rancune contre


______________________________________________________________________________________________________________________ la vie. l’ironie de Villiers s’y
___________________

ramène.
Villiers parle de „ceux qui portent, dans l’âme, un exil“;
___________________________________________________________________ „tant que traîna le simulacre de sa vie“, dit
Mallarmé, parlant précisement de Villiers; – car la vie devient alors aisément une sorte de parade,
ironique et déclamatoire, parfois cabotine; et le rôle de l’artiste est, n’y croyant pas, de jeter sur son
néant un prestige, – ou mieux, d’opposer à ce néant, avoué, __une autre vie, un autre monde, monde
____________________________________________________________ _________

créé par lui, factice, qu’il prétendra révélateur de


___________________________________ l’idée pure que bientot il apellera
____________________________________________________________ le vrai monde
___________________________ –
_________

l’œuvre d’art.
________________________

Denn der Satz verdankt sich bei ihm, wie es scheint, nicht tiefgründiger Notwendigkeit sondern
eher einem Schmuck- und Luxusbedürfnis, in dem sich sowohl seine Liebe als auch seine Verach-
tung für den äußeren Schein deutlich zeigen. Der Satz ist nicht eins mit der Idee, sondern bleibt,
spürbar, deren Projektion und erscheint manchmal, wie ein falsches Haarteil, nur als eindruck-
heischende und schillernde Selbstdarstellung; nicht mehr und nicht weniger künstlich als jede
Erscheinung dieses buntschillernden Vorhangs, der unsere sichbare Welt ist. „Sic indutus et
ornatus“, [dt. „So ausstaffiert und aufgeputzt“] wird er zitieren. Gelegentlich, (nein) oft, reduziert
das Wort die Evozierung eines Objekts, das es bezeichnet, auf seine rein dekorative Bedeutung. Er
glaubt nicht nur nicht an das Objekt, sondern er möchte uns darüber hinaus spüren lassen, dass er
nicht daran glaubt. […]
Ist es sein nahezu religiöser Subjektivismus, der Villiers eine fast ebenso religiöse Verkennung der
Welt aufnötigt? Oder geht diese Verkennung dem Subjektivismus vielmehr voraus, diktiert sie ihn,
wie um ihn zu rechtfertigen? Ich weiß es nicht. – Dieselbe Frage lässt sich übrigens, und ganz ver-

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März 1923 459

Sic indutus et ornatus, citera-til. Parfois, souvant, le mot limite l’évocation de l’objet qu’il
designe, à sa seule signification decorative. Er glaubt nicht ans Objekt und will fühlen
lassen, dass er nicht dein <…>.

Seite 58
– méconnaissance, quasi religieuse, de la vie; das ist, nach G.[ide] (prétextes p. 189) bei allen
dieser écrivains catholiques: Baudelaire, Barbey d’Aurevilly, Hello, Bloy143, Huysmans,
c’est là leur trait commun: méconnaissance de la vie, et même haine de la vie – mépris,
honte, peur, dédain, il y a toutes les nuances – , une sorte de religieuse rancune contre la vie.
Darauf lässt sich auch die Erinnerung von V.[illiers] zurückführen.
V. spricht von denen qui portent, dans l’âme, mon exil. – Eine künstliche Welt, eine von ihm
selbst geschaffene Welt, eine Welt, der die factice als höchstes Leid gilt, die die idée wahrhaft
realisiert, das Kunstwerk.

Zauberflöte: Warum lacht man, wenn Sarastro sagt: Gerührt über die Einigkeit eurer Her-
zen. Denkt S. im Namen der Menschheit (kann er nicht sagen: im Namen des log. von 1?).
Im Namen der landwirtschaftlichen Hochschule von Poppelsdorf. Im Namen Papagenas,
kein Sancho Pansa, sondern ein domestizierter, pazifistischer Caliban.

Die erste Szene der Zauberflöte: muss wohl eine romantische Landschaft sein.

Plötzlich erkenne ich die Bedeutung der letzten Sekunde: Ich höre in der Oper „Nehmt sie
in euren Wohnsitz auf“144 und bin ergriffen (nachher empfinde ich es lächerlich, ziemlich
albern).

Politische
–––––––––– Ideen.
–––-–
Sehr wichtig: für die Franzosen, Baudel.[aire] (Villier de l’Isle Adam) ist artificiel oder
factice ein hohes Prädikat (hängt zusammen mit verschiedenen Arten von Ehrlichkeit).

geblich, im Hinblick auf alle „katholischen Schriftsteller“ stellen: Baudelaire, Barbey d’Aurevilly,
Hello, Bloy, Huysmans, dies haben sie gemeinsam: die Verkennung des Lebens, ja sogar Hass auf
das Leben – Verachtung, Scham, Angst, Geringschätzung, es gibt alle Schattierungen – eine Art
religiöser Rachsucht, die dem Leben gilt. Villiers Ironie ist darauf zurückzuführen.
Villiers spricht von „jenen, die in einem inneren Exil leben“; „solange sein Scheindasein sich dahin-
schleppte“, sagt Mallarmé, womit er genau Villiers meint; – denn leicht wird auf diese Weise das
Leben zu einer Art ironischer Parade, zum Vortrag eines ins Schauspiel Verliebten; und die Rolle
des Künstlers ist demnach – ohne dass er daran glaubte – seine Nichtigkeit mit Prestige zu bemän-
teln oder besser, dieser Nichtigkeit, die er sich eingesteht, ein anderes Leben, eine andere Welt ent-
gegenzustellen, eine Welt, die er geschaffen hat, eine künstliche, von der er behaupten wird, dass sie
der reinen Idee auf der Spur sei und die er bald die wahre Welt – das Kunstwerk – nennen wird.
(Übersetzung Wolfgang Fietkau)
143 Léon Bloy (1846–1917), franz. katholischer Schriftsteller, Kritiker verbürgerlichter Formen des
Christ-, speziell des Priestertums. Vgl. etwa ders., Das Blut der Armen. Die Sprache Gottes. Zwei
Schriften, Wien und Berlin 1998.
144 Die Zauberflöte, 2. Akt, 1. Auftritt, Arie des Sarastro „O Isis und Osiris…“, letzter Vers.

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460 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Für die Deutschen ist es synonym mit Unwahrheit, verlogen. Ein wichtiger Unterschied,
der das Verhältnis zum Staat betrifft.

Tr. Zigeuner:
Jemand sagt: Diese Frau ist vornehmer Abstammung, keine Zigeunerin; Aristokratin usw.

Diese ganze Lebensphilosophie ist dickleibige, aufgeblähte Mischung eines Wiener Stenz
<?>: so ist das Leben, such is life etc.

Die Naturvölker schütteln die Alten von den Bäumen (Überlebenstest).


So die Wahlen. Das ist doch überall dasselbe. Die immer neuen politischen, der so die frei
<…>.

Turgenjew145:
Im Vorwort zu der Gesamtausgabe von 1880 [recte 1910]: Er will in lebendigen Typen ver-
körpern, was Shakespeare nennt: the body and pressure of time.

Seite 59
Turgenjew: Im Nachwort zu Väter und Söhne 1868/69: „Wacht über unsere Sprache, unsere
herrliche russische Sprache, dieses Kleinod, das uns von unseren Vorgängern, denen alle
Puschkin herrlich voranleuchtet, überliefert worden ist. Gehe ehrfurchtsvoll um mit diesem
gewaltigen Werkzeug: in kundigen Händen vermag es wahre Wunder zu vollbringen. Es ist
ein Mittel, Gedanken auszudrücken, ein einfacher Hebel, achtet wenigstens die Gesetze
ihrer Mechanik, ersetzt diesen kunstvollen Hebel nicht durch unbeholfene Stützen…“

Ist das nicht auch ein Indiz der Diktatur, dass wir die Sprache der anderen verstehen und
gerade deshalb nicht übersetzen? Wie komisch, linkisch, pedantisch, geschmackseffeminiert
in der Übersetzung Baudelaires durch St. George146! Einen Menschen, der ange mit Engel
übersetzt, sollte man umbringen, es ist doch etwas ganz anderes. Ich lache, wenn ich einen
Franzosen sagen höre: le grand Goethe, und einen Deutschen: der große Baudelaire. Es gibt
keine Diskussion mehr, es gibt keine Übersetzungen mehr; ein schlimmer Zustand Europas,
aber Europa war ja immer eine papierene Mythologie.
Sind wir nicht alle in der Lage von Stendhal: Ma présomption s’est si souvent applaudie de
ce que j’étais différent des autres [paysans]. Eh bien, j’ai assez vécu pour voir que difference
engendre haine. (Rouge et Noir).147

145 Iwan Sergejewitsch Turgenjew (1818–1883), russ. Dichter. In dem Vorwort schreibt der Autor, er
bemühe sich, „ein gewissenhafter und umparteiischer Sittenschilderer zu sein und in lebendigen
Typen zu verkörpern, was Shakespeare: ‚the body and pressure of time‘ nennt“. Ivan S. Turgenev,
Sämtliche Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Otto Buek, Bd. 1, München 1910, S. VII.
146 Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen. Umdichtungen von Stefan George, Berlin 1901. Im
Nachlass vorhanden sind eigenhändig von Schmitt korrigierte Georgesche Übertragungen.

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März 1923 461

Er könnte auch sagen: l’amour…


Bossuet: la justice est „une espèce de martyre“.148

Eine Sekunde der fabelhafteste Rausch des Lebens: die Frauen gebären, die Männer zeugen,
die schönen Frauen, die stieren Männer.
Wichtige Fehler‚ herrlich.

Der Treue Zig.: Schließlich trägt er auch noch alle unsere Gespräche, unsere Reflexionen,
die sich sonst nicht anbringen lassen und vielleicht teilt das alles sein Schicksal. Einer müsste
sagen: Warum trägt er immer dieselbe Frau? Wäre er nicht auch treu, wenn er jede trüge, die
gerade kommt? Wollen sie nicht alle heilig werden?

Ich werfe mich dem Wahnsinn in die Arme.


Inzwischen schadet auch die Illusion eines Objektes. Die Raserei einer objektlosen Sehn-
sucht, der Irrsinn der Substanzlosigkeit.

Muss ich mein ganzes Leben Wirtshausklavier und Grammophon hören?


O, wie bin ich verdammt.

Bette mich in deiner Liebe. – Kopfüber stürze ich in einen Abgrund der Objektlosigkeit,
der Substanzlosigkeit.

Die böse Lust? O nein, die erlösende Lust, die Gnade der Lust, das tiefere Versinken in den
Abgrund der Lust, wie <…> ein in der Lust, die Passivität der Lust, die <…>

Seite 60
Baudelaire, wenn ich ihn lese (d. h. sein Privatleben), so staune ich über die Identität mit
ihm und der <…>, denn ich will nicht sein, wie ein anderer Mensch, auch nicht wie B., der
Gleichmut hat mich (wie ihn) in diese grauenhafte [Verzweiflung] getrieben, der Hochmut
wird mir auch wieder heraushelfen.
Ich brauche also Gott nicht.
Sehr wichtig: Immer wenn ich morgens früh aufstehe, um 5 Uhr, bin ich Atheist, ich fürchte
den Tod nicht, ich brauche Gott nicht.
Ich bin meiner eigenen Kraft sicher, verstehe den Begriff Gott nicht einmal, habe ein präzi-
ses Ziel und eine klare Arbeit, fühle mich über alle Irrationalitäten [erhaben], die ich mit
Frauen getrieben habe.
Meine Krankheiten sind also wohl nur die durch zu viel Schlaf verdummten und verweich-
lichten Nerven.

147 Stendhal, Rot und Schwarz, Erstes Buch, 27. Kap. Eines Morgens sagte sich Julien „In meiner
Überheblichkeit habe ich mich so oft gefreut, dass ich anders bin als all die jungen Bauern! Nun,
ich habe genug erlebt, um festzustellen: Anderssein erzeugt Haß“ (Übersetzung Elisabeth Edl).
148 Dt. Die Justiz ist eine Art von Martyrium, in: Bossuet, Œuvres complètes, Bensançon 1836, Vol. 1,
S. 517, linke Spalte.

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462 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Oder so: Das alles hat B. erledigt, man kann keine Frau mehr anbeten, man kann nicht mehr
Idolatrie treiben.
Großartiger, entschiedener, ergebener als irgend ein Schauspiel von Strindberg. [Wie] B. das
erledigt, es war ausgezeichnet. Es ist Normalität, Objektivität.
<…>

Ich dachte aber wirklich, es wäre ein Gespenst: Am 27. 3. 23 auf der Reise nach München,
sah ich in Frankfurt eine Kokotte‚ etwas bürgerliches Subjekt, sehr gut gekleidete Frau, mit
prachtvollen blauen Augen. Ich hatte sie angesprochen, sie fuhr nur bis Aschaffenburg, sie
hatte eine seltsame [Aura], in Aschaffenburg <….> Eva Sauer (!) mit [Namen].

Warum erschüttert es meine Nerven und mein ganzes Wesen, wenn ich eine Kokotte sehe?
Prinzipielle Frage: Ist das moralisch zu addieren oder psychisch zu analysieren?
Ich versuchte alles Denkbare: Die Analyse der Mutter übertragen, die soziologische Ana-
lyse, aber immer wieder kommt es ins Moralische. Ich zittere, bin vernichtet, ein Nerven-
bündel, das zittert und konvulsivisch zuckt, wenn eine Stelle eines Reizes darauf fällt. Das
schreckliche Schicksal von Baudelaire.
Die Passivität des Sich-selbst-vernichten-Lassens; die Passivität der Hingabe an ein Höheres,
an ein Niedrigeres, das ist der moralische Unterschied. Oben und unten. Die Hilflosigkeit des
Moralischen in dieser Art Bildlichkeit. Wer das kennt, weiß wohl, was die Erbsünde bedeutet.

Der Kapitalismus: Wem gehört das alles? Wer ist für alles Unglück verantwortlich. Wen
braucht man nur tot zu schlagen, damit alles besser wird? Immer der Herr Kannitverstan.

Jeder hat sein Totem, der eine den Totem Kant, mit vielen Unter=Totems; die anderen den
Totem = gebügelte Hose, die anderen Stephan [sic!] George usw. Das ist Deutschland.
Eine Sekte: <…> des Naturvolkes.

Seite 61
Moi, l’éternel dupe de l’art149

Napoleon, der letzte Kaiser, die letzte große Repräsentation: Klassizismus, Europa; die
Preußen haben es vernichtet. Louis Philippe150 schon Karikatur, aber immer noch ein letzter
Rest in der Gesellschaft.
1848 das Ende.
Begrabe mich in Frankreichs Erde151

149 Dt. Ich, der von der Kunst ewig Geprellte, s. auch Teil II, Anm. 1076.
150 Louis Philippe (1773–1850), von 1830 bis 1848 König der Franzosen („Bürgerkönig“ des liberalen
Großbürgertums).
151 Heinrich Heine, Die Grenadiere: „Gewähre mir, Bruder, eine Bitt’:/wenn ich jetzt sterben
werde,/so nimm meine Leiche nach Frankreich mit,/begrab mich in Frankreichs Erde!“.

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März 1923 463

„Und ein Gebet wird brünstiger Genuss“ (Faust Monolog152) Pfarrer, Teufel.

In der Romantik gehört immer beides zusammen: das Leid (die beiden Grenadiere: Heine
und Schumann153, das Gesamtkunstwerk.

Vielleicht gibt es literarische Kunstwerke, die in einer anderen Sprache konzipiert sind, als
sie geschrieben wurden, vielleicht eine letzte Rassensprache; es gibt materielle und substan-
tielle Zusammenhänge, z. B. die Erzählung von Villiers de L’I. A. über den Großinqui-
sitor154: sie passt nicht zur französischen Sprache, daher vielleicht auch die mühevolle
Arbeit mit der französischen Sprache, die diese Künstler des 19. Jahrhunderts haben. Es ist
nicht mehr selbstverständlich, es wird artificiel, sie sprechen eine von Satz zu Satz und von
Wort zu Wort neu errungene Sprache.

Wie alle, die glauben, zu zählen nach der Umdrehung der Sonne. Wie lächerlich, wenn
jemand auf diese Weise 35 Jahre alt ist. Warum zählt man nicht sachlich? Warum sagt man
nicht auf die Frage, wie alt man ist: ich war 3mal verheiratet oder ich habe 5 Kinder erzogen
oder ich bin im Staatsexamen durchgefallen? Das ist lustig auszuführen.

Der Schatten: die türkische Menschlichkeit: ohne deinen Schatten wachsen!


Dann: Im 14. Jahrhundert sollen in Polen, wenn die Juden zu Tode gefoltert wurden, auch
die Schatten hingerichtet worden sein.

Das „Volk“ ist weiter als das Proletariat; die Substituierung des Proletarismus in den demo-
kratischen Begriffen des Volkes.
Die Identifikation: Volk ist das, was nicht in die 3 Stände aufgeht. Das Volk ist also der
demokratische schöpferische Abgrund, das alles gewährend <?>. griech. kärugma.155
Die Reihe der Identifikationen: le tiers état c’est la nation156

Die Menschwerdung Gottes


Hat die Menschheit Gott gezwungen, Mensch zu werden? Welche Kraft der Bosheit!
Welche Kraft der Sünde!
Welcher Grund zu furchtbarstem Stolz gerade innerhalb des Christentums!

152 Goethe, Faust I, Ende von „Nacht“.


153 Die Grenadiere von Heinrich Heine (1816), vertont von Robert Schumann Die beiden Grenadiere,
Op. 49, Nr. 1 (1840).
154 Villiers de L’Isle Adam, L’Ésperance, in: Contes Cruels (1883), dt. Die Marter der Hoffnung, in:
Grausame Geschichten, Leipzig u. Weimar, 1981, S. 5–14.
155 Dt. Verkündigung.
156 Dt. Der dritte Stand ist die Nation; nach Emmanuel Joseph Sieyès (1748–1836), Priester, franz.
Staatsmann und Theoretiker der franz. Revolution. Siehe Schmitt, Diktatur, S. 140; Schmitt, Ver-
fassungslehre, S. 77 ff. u. a.

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464 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

[Seite 61a, nicht paginiert]


Mozart‚ Es Dur Symphonie
Andante
Nach Köchel Nr. 543 komponiert 1788
(26. 6. zu Wien)
Jahn-Abert (1921)
II S. 573 f
Er nennt diese Symphonie Mozarts romantische Symphonie. „Das wird auch durch das
Andante bestätigt. Es besteht aus 2 großen Teilen, denen [dieselben] 3 Themenkomplexe
zugrunde liegen; den Schluss bildet eine Coda mit dem Hauptthema.
Romantisch ist [daran aber gleich] der [ganz] ausgesprochene As-Dur-Klang mit seinem
verträumten Wesen. Es knüpft mit seinem Marschrhythmus an Haydnsche, überhaupt an
österreichische Muster an, [ist] aber doch von Anfang an weit zarter und intimer als sie …
Das 2. Merkmal ist das starke Hervortreten der Kantilene … Beides zusammen verleiht
diesem Gebilde etwas Naiv-Rührendes und doch zugleich Vergeistigtes“.

Michael O’Kelly war 1781–1787 in Wien bei Mozart ein naher Freund, oft in seinem Hause.
Sang den Basilio in der ersten Aufführung des Figaro.
(Jahn-Abert: I 1002, II 165, 307, 413)157

Seite 62
Der treue Zig. in dem Roman „Die Reliquie“ von Eça de Queiroz158 am Schluss: Die laszive
Ausmalung, wie [ein] Hemd, das Hemd einer Kokotte, fürs Hemd der Maria Magdalena
[steht] und [er] auf dieser frechen Behauptung ein großes Gebäude errichtet, seine bigotte
Tante beerbt, der Papst ihm seinen Segen schickt, ein berühmter Archäologe wird, wie man
Bücher darüber schreibt, den Helden feiert, weil er den „unverschämten Heldenmut zum
Behaupten“ hat; alles auf das Basis dieses Hemdes.
Oder in Othello: die Basis ein Taschentuch.

Jesus als Revolutionär. Warum macht das ganze liberale Jahrhundert Jesus zum Revo-
lutionär?
Welcher Art ist die Evidenz, die man in der Behauptung findet, er würde, wenn er heute
käme, ein Bolschewist sein (Man nennt mich Zimmermann: von Upton Sinclair159).
Weiteres Beispiel: Eça de Queiroz: Alle die bigotten Orthodoxen würden ja auf der Seite
der Pharisäer gestanden sein und in Jesus einen Feind der bestehenden Ordnung sehen, hät-

157 Hermann Abert, W. A. Mozart, Teil 1. 1756–1782. 5., vollst., neu bearb. u. erweiterte Ausgabe,
Breitkopf und Härtel, Wiesbaden, Leipzig 1919; Teil 2. 1783–1791. Leipzig 1921.
Der Tenor Michael O’Kelly (1762–1826) stammte aus Irland.
158 Queiroz, „Die Reliquie“, siehe Teil II, Anm. 306. Die deutsche Übersetzung von Richard A. Ber-
mann erschien 1918 in Leipzig.
159 Upton Sinclair (1878–1968), amerikanischer sozialkritischer Schriftsteller; They call me carpenter,
dt. Ausgabe: Man nennt mich Zimmermann, Berlin 1922.

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April 1923 465

ten ihre Waffen, ihre Gesetze und ihre Börsen vereinigt, um ihn zu töten, den Revolutionär,
den Feind der Ordnung, den Schrecken der Besitzenden, weil er nichts war als eine schöp-
ferische Intelligenz und eine tätige Güte, und daher von allen Seriösen schon für eine soziale
Gefahr gehalten wurde.
(Wie unmöglich wäre das im Mittelalter!).

Welche gnostische Vorstellung: Der Revolutionär als schöpferisches Prinzip, da Ichtyos als
Schaffen, das Schöpferische
Ichtyos160

16. 4. 23 Tölz in das Gästebuch von Krause:


Steh nur wunderstille und achte des Ruhens der Seele
Hör aus dem Rauschen des Stromes auch meiner Dankbarkeit Wort.
Müde kam ich daher die staubige Straße des Lebens,
Aber hier fand ich den Freund, sah die gütigste Frau.
Unverhofft erschienen mir freundliche Stunden und Tage
Unverhofft erschien gütiger Schönheit Trost.
Dankbar hört ich das ewige Rauschen der Isar
Und der eilige Strom summte mir tröstend ins Ohr:
Grata superveniet quae non sperabitur hora.
Dieses glückliche Wort tragen die Wellen nun fort.
Und es wurde das gastliche Haus mir zur Brücke
Die mich aus müdestem Trotz wieder ins Menschliche trug
[rechts daneben]: die meinen einsamen Trotz wieder mit Menschen verband.
Weiter nun [Rest der Zeile wegen Überschreibens nicht lesbar].
Dankbar dass an ihrem Pfade Blumen der Schönheit blühen.
Stehe denn, Wanderer, still und erweise dem Hause hier Ehre,
Hör aus dem Rauschen des Stromes auch meiner Dankbarkeit Wort.

Seite 63
Verschiedene Arten des Anarchistentums, der Angst vor der Macht bei Dost.[ojewski] 161,
anders als bei Burckh.[ardt] 162 <…> und Sicherheit, <…> Anständigkeit, Bescheidenheit
<…>, edel aber schwach.

160 Griech., recte Ichthys, Fisch. Frühchristliches Symbol, gezeichnet oder geschrieben, da die An-
fangsbuchstaben die Worte „Jesus Christus, Sohn Gottes, Heiland“ enthalten.
161 Über die Macht bei Dostojewski vgl. das 5. Buch seines Romans „Die Brüder Karamasow“, wo der
Großinquisitor schließlich darauf verzichtet, seine Macht gegenüber dem wiedergekehrten
Christus auszuspielen.
162 Jacob Burckhardt (1818–1897), schweiz. Kultur- und Kunsthistoriker; zu seinem Ausspruch „… dass
die Macht an sich böse“ sei (Weltgeschichtliche Betrachtungen, Stuttgart 1929, S. 25 f.), siehe Carl
Schmitt, Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber, Stuttgart 2008, S. 35 f.

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466 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Schrecklich: ich bin der Schauplatz, der Dämon der Ideen, alles tummelt sich auf mir, ein
Parademarsch, ein Tanz, eine Idylle, ich bin der Boden.

Abends 23. 4. 23: Plötzlich an K. Kurz erzählt, dann am Schluss eine Litanei: schönste Frau,
gütigste Mutter.

Mittwoch, 25. 4. 23: Um 1 [Uhr] (nachdem ich gehört hatte, dass ich abreisen muss, ich hatte
aber auch so vor, abzureisen). Plötzlich ein Stich, eine furchtbare Melancholie, schwarz.
[Ich bin] in das große Zimmer mit den Fürstenbildern und dem Flügel gegangen, wo ich oft
mit K. war, der Geruch dieses Zimmers, die grauenhafte Melancholie. Meine Frau ist weit
weg, in Australien. Eine riesige Biene sticht mich ins Herz, eine schwarze Wolke hüllt mich
ein und nimmt mir den Atem. Ich sank buchstäblich zu Boden.
Eine Stunde im Bett, dumpfer Schlaf. Als ich wach wurde, dauerte es eine Minute, ehe ich
wusste, wo ich war. Ich fand mich nicht mehr zurecht. Das ist das Ende.

Der Schmerz sticht mich wie eine Biene, der süße Honig eines schönen Frauenwortes quillt
hervor.
Die schwarze Wolke meiner Sehnsucht senkt sich auf mich nieder.
Ein Schmerz sticht wie ein Blitz.
Blind und schwarz.

25. 4. Meine Sehnsucht, diese Frau wiederzusehen, ist so groß, dass ich die Spiegel beschwöre,
ihr Bild widerzugeben, wenn sie es einmal reflektiert haben, als die schöne Frau durch diese
Räume ging, dass ich mich auf einer Wut ertappe, Magie zu treiben, um sie herzuzaubern.
Dass ich des bösesten Verbrechens fähig bin, wenn ich dadurch ihren Anblick wieder
gewänne.
Mich erdrückt die Erinnerung an K. Jeder Berg, dessen Linie mich an die Berge um Mar-
burg erinnert, jede der vielen Städte, in der ich ihr einen Brief geschrieben oder ein Tele-
gramm geschickt habe, jeder Tag, dessen Datum mit einem der Tage unserer Gemeinsamkeit
übereinstimmt, <…> die Erinnerung belebend und tröstlich, inzwischen, wenn ich von
nichts anderem lebe, quälend, zweifelnd, zerstörend, [wenn] jemand von Balzac erzählt,
von Marburg, Goslar, Stralsund, wenn ich Rumohr163 lese oder von Trier höre. Liebe K.,
hörst Du mich. Wenn ich aber nicht Hoffnung hätte, würde ich nicht schreiben. Auch
meine Klagen sind ein Zeichen, dass ich noch lebe und auf Dich hoffe. Ich sehe nur inzwi-
schen keinen Weg. Grata superveniet…

Seite 64
Der Treue Zigeuner, Anfang. Niemals eine Geschichte gehört, über die praktisch in solchem
Maße philosophiert wurde wie [über] diese Geschichte vom treuen Zigeuner. Auch sehr

163 Carl Friedrich von Rumohr (1785–1843), Schriftsteller, Kunsthistoriker, Maler, Kunsthistoriker
und Gastrosoph. Vgl. Kurt Schneider, Carl Friedrich Rumohr als Schriftsteller. Ein Beitrag zur
Literaturgeschichte zwischen Romantik und Realismus, Diss. phil., Würzburg 1950.

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April/Mai 1923 467

harmlose und der Reflexion aufrichtig geneigte Menschen suchen gleich eine Moral
aus[zuschließen], im Gegensatz dazu, andere, an der ekstatischen Form interessierte Snobs,
kritisieren die Geschichte nur nach moralischen Gesichtspunkten, sodass ich mich frage, ob
nicht doch moralische Begriffe die festen Prämissen jeder ekstatischen Form sind. Aber wie
dem auch sei. Die Tatsache ist erfreulich, dass eine Geschichte so viel Deutungsfähigkeit
besitzt und zwar trotz vieler Mängel.

An K. Ich liege im Walde, in der Basaltgrube, horche auf die Vögel, einer war darunter wie
jener Milan-Vogel, der in Marburg so traurig pfiff. Dann las ich aus der technischen Edition
<?> ein Buch [für] Fräulein Schmidt. Jeder englische Begriff, das bist Du, die englische
Sprache, (eine herrliche Sprache, der größte Reichtum, den ich je gesehen, die wonnigste
Fülle der Worte. Du weißt, wie ich Worte liebe), also diese wunderbare Sprache, das bist
Du; das Kleid, das Du trägst, jedes schöne englische Wort scheint mir aus Deinem Munde
gekommen, meine Begeisterung für diese Sprache ist Begeisterung für Dich.
Am Zehnhoff ist sehr hässlich gegen mich und Dich. Ich glaube, er hasst Dich, weil er
fürchtet, dass ich Dich liebe. Er hat mir gesagt, er würde mich entmündigen lassen, wenn
ich Dich liebe.
Die vielen lustigen Lieder, die ich in Tölz hörte, hätten Dich gefreut; später besuchen wir
Krause, er ist ein guter Mensch.
Am 28. die Nachricht, dass die Rebellen in Irland die Waffen niedergelegt haben. Das Lied
ist aus. So Father Stockton in der Bahn geschrieben. Dann:
Die Erwartung Deiner Briefe in Bonn.

An K. – Am 30. 4. 23 schickte ich (an Feuchtwanger zur Weiterbesorgung) ein gebundenes


Exemplar meines Katholizismus164 mit der Widmung: An Kathleen zur Erinnerung an jeden
Tag des April 1922 – Marburg, Wetzlar, Bonn, Heidelberg – im April 1923 in gleicher,
unveränderter Gesinnung – Carl.

An K. 1. 5. 23. Seit langem habe ich wieder mal gearbeitet, mit großer Arbeitsfreude und
schönem Erfolg. Was ist natürlicher, als dass ich zu Dir komme, weil erst dann meine Freude
vollkommen ist, wenn Du sie teilst. Der Grabstein aus dem Provinzialmuseum Neuß p. 65165

la phil.-pol. de Renan (1923) 166


Ein Rausch, mein Leben ein Rausch, dem die Sterne scheinen, die Sterne die Beleuchtung
geben. Wie schön der Rausch des 18. Jahrhunderts: Aufklärung, Licht, Seele; wie herrlich,
dass man eine Illusion solchen Naturalismus haben konnte. Heute ist nicht mehr viel da; ich
fühle mich animalisch, als Glied einer Rasse; oder zugleich als Baum mit einer Wurzel.
Das ist langweilig; oder musikalisch.
Ich sage, das ist fabelhaft; und berausche mich an dem Klang der Vögel; fa – bel (wie schön
ist bell, ist beau – bel) -haft, das pfeift und zitzt dahin.
Ich gehe unter im Rausch

164 Schmitt, Römischer Katholizismus.


165 Siehe zum Buch von Neuß Teil II, Anm. 351; zum Grabstein s. Anm. 169.
166 Eugène Meyer, La philosophie politique de Renan, Paris 1923.

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468 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Seite 65
Mai 1923

Kierkegaard. Die Bemerkungen Tagebücher I, S. 340 167 (Wer sagt, die Welt sei schlecht und
selbst hoch angesehen ist in der Welt, der widerlegt sich selbst). Er widerlegt sich selbst,
indem er über die Notwendigkeit des Schweigens, den Ernst und dem dialektischen Zusam-
menhang mit dem Reden spricht. Sein Affekt ist eigentlich dieser Affekt des Sich-selbst-
Quälens, des Heautontimoroumenos.168 Und wenn er sagt, dass dieser Zusammenhang
ernst ist und eine tiefe Dialektik in ihm steckt, so trifft auch das ihn selbst. Welche Qual, so
niemals aus sich selbst heraus zu kommen, sich immer im Kreise zu drehen, immer schnel-
ler, die Philosophie des Springens.
Wie einfach, primitiv, bäuerisch ist mein Decisionismus neben diesem romantischen Dialek-
tismus.

Bonn, 4. 5. 23 [recte 10. 5. 23], an K. (Klein mitgegeben)


Seit Samstag, den 28. April, abends, bin ich wieder in Bonn, in meiner alten Wohnung, seit
gestern halte ich wieder Vorlesungen. Liebe K. Es ist kein Brief von Dir unter den vielen
Briefen, die auf meinem Schreibtisch lagen, als ich von der Reise zurückkam. Dass ich Dir
heute schreibe? Jeder Tag dieser Ferien war ein Tag der Erinnerung an Dich, und dies ist der
letzte Tag, an dem Du bei mir warst. Ich lebe von Erinnerungen. Ich bin Ende März nach
München gereist, um womöglich meine Möbel noch zu retten, was aber vergeblich war.
Dann war ich fast 3 Wochen in Tölz, bei Dr. Krause. Das war eine gute Erholung. Ich habe
Deine Arbeit über T.[aine] noch besser stilisiert, Duncker und Humblot wollen sie be-
stimmt diesen Monat drucken. Abgesehen von dieser Beschäftigung, in der ein trauriger
Trost für mich lag, habe ich in Tölz nichts getan. Georg Krause war ein rührender Freund,
auch seine Frau war unbeschreiblich gut gegen mich. Ich habe täglich 12 Stunden geschla-
fen, dann in der Sonne gelegen und mit Krause geplaudert. Er ist einer der größten Erfinder,
die es heute auf der Erde gibt, und ist jeden Monat in London. Seine Freunde sind fast nur
Engländer. Ich habe in Tölz und in München sehr viele interessante Menschen getroffen.
In Berlin wohnte ich einige Tage im Justizministerium. Dort hat mich alles deprimiert,
Zehnhoff, Fräulein Schröder, die dummen Schwätzereien, die die Familie Fuchs über Dich
verbreitet, die Würdelosigkeit dieser Stadt, die Unverschämtheit eines frechen Luxus bei
einem <…> Lauf. In dem großen Saale, in dem der Flügel steht, an dem wir 4-händig spiel-
ten, ist mir in meiner Traurigkeit, bitterlich, am 25. April kurz vor meiner Abreise etwas
Seltsames widerfahren: ein heftiger Anfall von Melancholie traf mich wie ein Stich, als ich
noch einmal allein in den Raum trat, um mich an Dich zu erinnern. Ich fühlte den genius

167 Søren Kierkegaard, Die Tagebücher. In zwei Bänden ausgewählt u. übersetzt von Theodor
Haecker. Erster Band 1834–1848. Brenner-Verlag, Innsbruck 1923, S. 340 f. „Du widerlegst dich ja
selber, denn schwimmst du nicht oben auf dem Wasser. Wenn einer sagt, die Welt sei verderbt, oder
mittelmäßig, und dann selber hoch angesehen ist in der Welt: so räumt er, was ihn selber angeht,
ein, dass er mittelmäßig sei oder verderbt. Hierin ist Ernst und dialektischer Zusammenhang.“
168 Griech. Der Selbstquäler. Kemp übersetzt den Titel des gleichnamigen Gedichtes von Baudelaire
mit dem Begriff „Der Selbsthenker“, siehe Blumen des Bösen, in: Baudelaire, Werke, Bd. 3, S. 210.

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Mai 1923 469

loci, der uns zusammengeführt hat; mein Verlangen, Dich wiederzusehen, war so groß, dass
ich eines wahnsinnigen Verbrechens fähig gewesen wäre, wenn ich Dich nur wieder gewin-
nen könnte, nur wiedersehen könnte; ich beschwor die Zeiger, ich trieb Magie, schließlich
überwältigte mich die Erregung und ich fiel bewusstlos auf die Polsterbank, die an den
Fenstern gegenüber den Kurfürstenbildern steht. Als ich wieder wach wurde, dauerte es
mehrere Minuten, ehe ich wusste, wo ich war.
Ich bin auch an dem Kloster der Grauen Schwestern vorbeigegangen. Donnerstag bis
Samstag vom 26.–28. April war ich in Plettenberg bei meinen Eltern und meiner einen
Schwester, denen es gut geht.
In Bonn fand ich endlich viel Arbeit. Professor Kaufmann ist wieder beurlaubt, sodass alles
auf mir liegt. Doch sind viele sympathische Studenten da, ein Amerikaner, der bei mir in
Völkerrecht promovieren will, ein Ägypter und viele andere Ausländer. Von einem Spanier,
der im März hier war und sich sehr an mich angeschlossen hat – er ist Delegierter der spani-
schen Regierung auf der Konferenz in Genua –, bekam ich eine schöne Einladung nach
Spanien; ferner eine nach Rom, für nächstes Ostern. Aber ich werde nicht ohne K. nach
Rom gehen und halte mich an mein Gelübde. Auch an die Mosel gehe ich nicht ohne sie.
Eine kleine Schrift, Politische Theologie, ist von mir erschienen, dann ein sehr geschmack-
voll gedrucktes Büchlein über den römischen Katholizismus. Ich dachte daran, sie K. zu
widmen, aber sie ist zu klein.
Fräulein Baumeister war einige Male bei mir in Bonn. Sie hat mich um Geld gebeten, weil
sie ein Geschäft gründen will; ich habe es ihr natürlich geliehen. Georg Eisler habe ich lange
nicht mehr gesehen; er arbeitet im Geschäft seines Vaters. André will im Juli nach Bonn
kommen. Auch ihn habe ich seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Trotz der vielen
Menschen, mit denen ich zu tun habe, bin ich einsam, und oft frage ich mich, ob [ich] über-

Seite 66
haupt aus meiner Einsamkeit herauskomme. Kommnick hat mich in einem Brief nach der
Adresse von K. gefragt; ich habe ihn eingeladen, mich in Bonn zu besuchen, aber seit Mona-
ten liegt die Eisenbahn auf dem linken Rheinufer still, nur einige französische Züge fahren,
die aber von den Deutschen nicht benutzt werden, weil die deutschen Eisenbahner (schon
seit Februar) streiken. Die Zustände sind phantastisch, in Berlin hatte ich den Eindruck,
dass die Leute dort ahnungslos sind.
Ich habe mir die Einreise- und Rückfahrt[ver]ordnungen für Australien kommen lassen.
Man muss eine besondere Erlaubnis des australischen Vertreters in London haben, die
man schwer bekommt. Ein Dampfer des Norddeutschen Lloyd fährt von Hamburg nach
Australien für 55 Pfund (das sind heute 10 Millionen Mark.)
Der Prozess schwebt inzwischen in Bonn; ich kenne [jemanden] beim geistlichen Gericht;
die Aussichten sind gut. Die Dame ist verschwunden, was den Prozess verlängert, weil die
<…> unmöglich sind.
Diesen Brief will ein Student besorgen, den ich ihm anvertraue, weil die Postverhältnisse so
unklar sind; er holt ihn gleich ab.
Es ist ganz paradiesisch schön in Bonn. Das ganze Land ein heimlicher Garten.
Ich bete täglich, dass ich einen Brief von Dir erhalten, K., es ist mein Trost, in die Münster-
kirche zu gehen, wo wir zusammen knieten; da kam ich ins Bonner Provinzialmuseum, wo

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470 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

viele Kleider-Leihgaben sind, und zum römischen Grabstein, vor dem stehe ich oft: hic jacet
Meteriola mihi dulcissima conjux qui mecum laboravit multis et pluribus annis.169
Liebe K., willst Du mir erlauben, dass ich immer Dein bin? Dein Carl.

Der Wahnsinn leuchtet in den Glücklichen.


Wahnsinn rauscht in den Wipfeln der Bäume.
[rechts daneben notiert]
Ein geiler Wahnsinn läutet seine Glocken
im Bürgerhaus, weil die Geschäfte stocken;
hart brüllt ein Schwarzer seine Brunst ins Land,
vergebens ist in tausend Herzen <…>.

Man kann nicht 2 Frauen haben, weil man erkennt, dass beide gut sind; einem dienen heißt
den anderen schädigen; man kann nur einem dienen, und doch verdienen beide, dass man
ihnen dient; das ist aufreibend.

„Wesentlich“, „spezifisch“, typisch, eigentlich, innerster Kern usw., immer nur willkürlich
unterscheiden, letzten Endes aus dem Nichts geboren.

27. 5. 23, abends: Ich las zufällig den Ausdruck chromophagie von Faguet170 und dachte an
K.
Abends, gegen 1/2 12, als ich fleißig gearbeitet hatte und in einer ruhigen, gesammelten
Stimmung war, glaubte ich, das Recht und die Kraft zu haben, die Bibel aufzuschlagen.
Ich nahm die Bibel, die L. mir geschenkt hatte. Ihr Parfum hing noch an dem Buch. Ich
erinnerte mich ihrer weißen Schönheit und sagte zitternd „wie schön, o wie schön bist Du“
und schlag auf Hohelied, Cap. 4: Du bist schön, siehe Du bist schön.171
Was sollen wir tun? Es ist kein Zufall. Was ist es also? Der Teufel. Welche Beruhigung, zu
wissen, dass es der Teufel sein muss. Ich habe Gott versuchen wollen, als ich den Aber-
glauben des Bibelaufschlagens trieb und habe mich dadurch dem Teufel ausgeliefert.

Ubi nihil vales, ibi nihil velis; mein Lieblingsspruch.172


Aber leider auch umgekehrt: ubi nihil vis, ibi nihil vales; <…>.

Seite 67
Jetzt ein Held und in der nächsten Sekunde ein Feigling, jetzt ein fiebernder, expansiver
Gewaltmensch und dann wieder ein stumpfer Trottel, jetzt begeistert und dann voll Ekel,

169 Grabstein aus dem 5. Jh. n. Chr. vom Apollinarisberg bei Remagen; dt. Hier ruht Meteriola, meine
süßeste Gattin, die viele und noch mehr Jahre sich zusammen mit mir abgemüht hat.
170 Auguste Émile Faguet (1847–1916), franz. Autor u. Literaturkritiker.
171 Das Hohelied Salomos, 4,1.
172 Wo Du nichts giltst, streng dich nicht an, etwas zu wollen, vgl. ‚Solange das Imperium da ist‘. Carl
Schmitt im Gespräch mit Klaus Figge und Dieter Groh 1971. Frank Hertweck u. Dimitrios Kisou-
dis (Hrsg.), Berlin 2010, S. 55.

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Mai/Juli 1923 471

alles in derselben Sekunde. Zerrissen nach allen Seiten, auseinanderstrebend in einem gräss-
lichen, mörderischen Wirbel.

Vielleicht wird die christliche Rettung, die Fr.[ancis] Thompson dem Atheisten Shelley hat
widerfahren lassen, bald auch noch einigen anderen Anarchisten zuteil werden.
Th. sagt in dem Essay über Shelley: Sh. kam vom Atheismus zum Nihilismus, und das ist
ein Aufstieg.
(The devil can do many things. But the devil cannot write poetry. He may mar a poet, but
he cannot make a poet. Among all the temptations wherewith he tempted St. Anthony,
though we have often seen it stated that he howled, we have never seen it stated that he
sang.)173

[Einfügung] Bojić [Die rechts daneben stehenden zwei Zeilen nicht deutbar]

31. 5. 23 An Däubler: <…> in Deutschland sieht es grauenhaft aus. Ecce terra. Ich beneide
jeden Iren, jeden Serben.
O, dieses arme, von Schiebern, Schulmeister, Juden und Schuldenmachern <?> geknebelte
Deutschland, und doch die Heimat Hölderlins.
Tausend Grüße vom Rhein. Ergebenst Ihr Carl Schmitt.

22. 6. 23 Geheimnisvoller Begleiter, Bruder Verstand. Juli 1923

Am 22. 6. übersetzte mir Duschka von Mereschkowski einen Vortrag über Dostoj.[ewski]
und Pascal, in dem M. davon spricht, dass heute die Zivilisation verdunkelt ist durch einen
Schatten, einen Schatten des braven Homais174; und den umflisme175. Dann spricht er von
den gelehrten Troglodyten, von dem Reich des sozialistischen Atheismus (sic!), dem großen
Tier.

Plötzlich musste ich laut lachen: Wilhelm 2. der Gottkaiser, der 2. <…> der neue Dschingis
Chan, das Odium generis [humani]-Heirat zum zweiten Mal.176 Erbärmlicher kann die
feindliche Propaganda nicht ad acta geführt sein. Erbärmlicher allerdings auch nicht die
Idee der preußischen Monarchen. Denn ein preußischer König hat nicht das Recht, Privat-
mann zu sein, er muss Repräsentant bleiben oder er ist ein Hanswurst.

Alles in derselben Sekunde: Rebell und demütiger Sklave, Wut und Liebe, Hinneigung und
Hass, Angst und Mut, Liebe und Zorn.
Zerrieben und zermahlen in Gottes schrecklicher Mühle

173 Works of Francis Thompson, 1913. Part 3, Essay on Shelley, S. 33.


174 Der Apotheker Homais ist eine der unerfreulichen Figuren in Flauberts Roman „Madame Bovary“.
175 Dt. Aufgeblasenheit.
176 Anspielung auf die nicht standesgemäße Wiederverheiratung Wilhelms II. mit Prinzessin Hermine
von Schoenaich-Carolath, geb. Prinzessin Reuß ältere Linie, am 5.11. 1922.

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472 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

29. 7. 23 Ich fühle, dass Duschka mich lieb gewinnt. Ein neues Kraftgefühl, neuer Stolz,
neue Dankbarkeit gegenüber dem Leben. Ein wunderbarer Rausch, Begeisterung.
Und sofort die Situation: eine kranke Frau; in einem kleinen Zimmerchen einer hässlichen
Pension; des Nachts mit ihr im Zimmer, ich streichle sie.

Seite 68
31. 7. 23: Vor der Reise mit Duschka nach Köln:
Du schöner Fresser, du Vampir, du missbrauchst ein armes Mädchen, sie soll dich retten,
weil du zu faul, zu gemein, zu schwächlich, zu schlaff bist, um dich selbst zu retten, du
klammerst dich wie ein kleines Kind an ihren Schurz, sie ist edel genug, sich verpflichtet zu
fühlen, dich zu retten, kann es aber natürlich nicht und gerät ins Unglück, weil sie deinem
Geschrei um Rettung nachgelaufen ist; du steckst im Sumpf und schreist um Rettung und
ein gutes Mädchen reitet in den Sumpf, du willst nicht allein sterben, elende Kröte.
Mädchenfresser, Vampir, gemeiner Mädchenseelenmörder.

Othello, der Mohr mit dem germanischen Namen und dem germanischen Schicksal, das
Lied von der Weide177, ein Hauch germanischen Nebels in Venedig.

Panische Verliebtheit. Der große Pan ist wieder erwacht; Pan ist erstanden (im <…>)
Das Panische, der Pansophismus178, Pangermanismus, das affektmäßig, das nicht differen-
zierend [ist], das nicht in Personen [aufgeht], der Pan = Affekt.
Die Promiskuität. Die grauenhafte Identität von Fressen und Gefressenwerden; Pansophis-
mus: Die Welt wird russisch und Russland geht in der Welt auf.

Die schauerliche Gleichung von Zeit und Geld und Geld und Zeit. Zeit ist Geld und Geld
ist Zeit, Zeit und Geld sind weit.
Ich habe keine Zeit, weil ich kein Geld habe.

8. 10. Father Mac Kiernan: Im Gefängnis gewesen zu sein ist gut, a passport for gentility.

Das Skelett an unserem Halse;


Das Skelett hat sich ein rosa Bändchen um sein Beinchen gebunden, süßes Skelettchen.
Ein Skelett kann einen Neger umarmen;
Die égalité der Skelette
Die fraternité der Skelette
Die liberté von allen vitalen Instinkten.
Der Körperrhythmus der Skelette;
die akademischen Allürenskelette.

Lieber von Bolschewisten erschossen als von einem [Wort unlesbar gemacht] geküsst.

177 Arie der Desdemona in „Otello“ von Verdi, 4. Akte, 1. Szene.


178 Philosophisch-religiöse Lehre aus dem 16. Jahrhundert vom Zusammenhang aller Wissenschaften.

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Juli/August 1923 473

Strike them down, the last doom


will not ask your arguments179

o ich erinnere mich deines Leibes, deiner Stille, der Bewegungen deiner Hände, als ich dich
küsste.
Du bist schön.

15. 8. 23. Und vorneweg geht der Bräutigam mit dem Bukett (mit Frau Schäfer)180 [nachträg-
lich notiert] Frl. Schifrin

Seite 69
Die Unfähigkeit des Menschen, sich eine Katastrophe zu denken: „alles halb so schlimm“.
Es wird immer überlebend [gedacht]. Im tiefsten Grunde des modernen Weltgefühls lebt
die dumpfe Gewissheit, dass die Welt ewig so weitergeht, ins Unendliche weiter; sie hat
kein Ende, vielleicht einmal in unendlichen Zeiten. Ist dumm im Vergleich zu der Erwar-
tung des Jüngsten Gerichts … Verzicht auf Erwartung des Endes, der Katastrophe. Worauf
beruht die Gewissheit des unendlichen So-weiter-Gehens? Auf der Erfahrung, dass es
einige Jahre „so weiter“ gegangen ist. Es ist gar nicht „so weiter“ gegangen. Die Erde steht
seit 5000 Jahren; sie muss also noch weiter stehen. Die Erde dreht sich um die Sonne usw.
Diese Maschine muss ewig laufen.
[Eine Zeile nicht deutbar]

Ich schreibe immer ein Buch gegen etwas: gegen die Positivisten, gegen die Romantik,
gegen die Feinde des Katholizismus und gleich kommen die Gegner der bekämpften Sache
und begrüßen mich als ihren Freund, dann lassen [sie] schaudernd alles liegen und ergreifen
die Flucht.
Heute müsste der Teufel einen nicht auf die Höhe eines Berges, sondern in die Tiefe einer
Kohlengrube fahren.
In den Bauch der Erde; der Appell an den Bauch (im Marxismus) statt an den Kopf; von
arbeiten statt von leben.
Aus einer kindischen, weichlichen Angst vor dem Schmerz des Abschieds schiebt man ihn
immer weiter hinaus und hockt bei den Menschen, die einem längst entsetzlich langweilig
geworden sind.
Aus der dummen Angst vor dem Abschied des Todes bleibt man in einem unwürdigen,
lästigen, dummen und trostlosen Leben.
[Die letzten drei Zeilen nicht deutbar]

179 „Schlagt sie tot! – das Weltgericht fragt euch um die Ursach nicht“, Heinrich von Kleist, Germania
an ihre Kinder, in: Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. H. Sembdner, Band 1, Darmstadt 1962,
S. 715, siehe auch Teil II, Anm. 419.
180 Siehe Teil II, Eintragung vom 15. 8.1923.

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474 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Seite 70
[Eintragung über Textbeginn] Aufsatz von Pericle <…>
Eine Mischung aus Freundlichkeit und Tiefsinn.

19. 8. 23: Entwurf eines Briefes an Duschka. 3 Karten habe ich von Ihnen bekommen, liebe
Duschka, zu meiner größten Freude. Inzwischen hoffe ich nur, dass dieser Brief Sie in
bester Zufriedenheit bei Ihrer Schwester antreffe. Seit Anfang August liege ich krank zu
Bett, seit voriger Woche im Krankenhaus im Bonner Talweg <…>. Einmal habe ich einen
Ausflug nach Heisterbach gemacht, ich versuchte dort, Ihnen eine Karte zu schreiben, aber
man konnte auf die Karte doch nicht schreiben, was eigentlich schön war: es ist alles wie an
jenem Morgen, als wir zusammen da waren; auch der Spuk spaziert noch herum; in dem
Wald, hinter der Mauer, stehen noch die schlanken Bäume in derselben Pracht, die edle
Treue dieser Natur hat mich sehr gerührt. Ich muss Ihnen etwas bekennen: dass ich die Zet-
tel mit der Übersetzung des Gedichtes EHE verloren habe, Fräulein Schifrin hat der Frau
Woschin <?> die Entschuldigung übermittelt. Dr. Rick will für Fräulein T.[adic] auch eine
Familie suchen, in der [sie] die Art Anschluss findet, die sie sucht, er meint, das Beste wäre
die Frau de Jonge, bei der Carroll gewohnt hat. C. hat sein Examen mit ausreichend bestan-
den (heimlich hatte er gut erwartet); aber er ist trotzdem sehr vergnügt und erstaunt über
den Erfolg, <…>, habe ich mit Fräulein Schifrin einen Spaziergang gemacht und, mit
großem Interesse, sie besser kennengelernt. [Diese Woche] hatte ich Besuch von einem
Irländer, der kein Wort Deutsch konnte. Vorgestern ist er abgereist.
Ich freue mich sehr auf Duschanka und ihre Übersetzung, noch mehr darauf, Sie in
München wiederzusehen.
Wenn ich die Ausreise [schaffe] (die Grenze ist wieder bis 15. September gesperrt), fahre ich
diese Woche nach Altena. Es hat mir wieder sehr wohl getan.
Ich wünsche Ihnen gute Erholung und viel Freude in diesen Ferien und mir selbst wünsche
ich einen langen Brief von Ihnen, liebe Duschka.
Ich bleibe Ihr Carl Schmitt.

Inzwischen sehe ich, was ich bin: sehr klein, ein braver Junge; ich suche immer die Frau und
die Mutter, die mich lobt und mich belohnt mit einem Bonbon, Küssen oder einem sexu-
ellen Genuss. Ich könnte ohne Frau nicht leben. Darum bin ich fürs Reich Gottes nicht
geschaffen. Mutterrechtler. Die Anhänger des Mutterrechts können in das Reich Gottes
nicht eingehen.
Oder vielleicht doch, durch Vermittlung der Mutter Gottes Maria?
Alle Wege führen nach Rom; aber natürlich auch umgekehrt, alle Wege führen von Rom
weg.

Wenn ich meine Tagebücher lese und mein Leben übersehe, so gibt es nur ein Resul-
tat: immer war ich von Frauen abhängig, bereut habe ich immer nur die Gelegenheit,
eine schöne, liebenswerte Frau zu gewinnen, nicht genutzt zu haben; in der Vereini-
gung gibt es für mich nur eine Freude: das Glück, in den Armen einer schönen, liebenden
Frau.

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August 1923 475

Meine Grabinschrift: hic et nunc


Wie schön die lateinische Sprache: die rationalistisch klare Art in der Bezeichnung, das
Dunkel, welches in der Bezeichnung die Zeit <…>.

Die lächerliche Mythologie des historischen Materialismus (methodisch dieselbe wie die
Freud’sche Psychoanalyse)
Die [Einheit] <…> der <…> Stile wäre dann wohl nur so zu erkennen, dass erst mit der
durch die Verdrängung aller wahren gesellschaftlichen Beziehungen im modernen Kapitalis-
mus und die Reduzierung auf wahre Aussicht <?> der <…> des Schönen dem Menschen
zum Bewusstsein und zur unmittelbaren Anschauung hätte kommen können.
Wie komisch.
Die Erinnerung <…> durch Freud und durch den historischen Materialismus.

Seite 71
August 1923
Meine Abhängigkeit von Frauen ist eine wirkliche Sklaverei; oft erschrecke ich zu Tode bei
dem Gedanken, dass Duschka in einer Vorlesung gefehlt hat; es hätte mir einen Herzschlag
geben können; oder dass ich keinen Brief von K. bekommen habe und deshalb in Greifs-
wald während der Vorlesung fast ohnmächtig geworden wäre. Was ist diese qualvolle Ab-
hängigkeit? Wie kann ich mich von ihr befreien? Was nützt alles Geschwätz und Gewitzel
des Psychoanalysten. Plötzlich überkommt mich die dunkle Wolke, plötzlich, in der
schönsten Linie ruhigen Arbeitens dieser hiatus irrationalis. Mein Leben ist voll von sol-
chen Hiaten.

Berauscht von der Schönheit eines Gedichtes von Keats; der Stolz, zum Geist zu gehören,
zu den entthronten Königen des Geistes, während die depossedierten Narren nicht einmal
unsere Karikatur sind.
Wir sind die geheimen Könige. Wir erkennen uns an einem schönen Wort, an dem Gefühl
für Schönheit der menschlichen Sprache, dies in einem Zeitalter der Rechner und Schieber,
ganz esoterisch gewordener Schönheit.

Die Todesangst von Keats in dem Sonett: The Terror of Death (And when I feel, fear [recte
fair] creature of an hour. That I shall never look upon thee more)181 und die Todesangst
Heines in dem Gedicht Thanatos (Methode <…>) 182 deren Ehrgeiz sich unsere Zeit <…>;
man muss staunen und sagen, das ist „nicht lecker“, <…>, großartig, Allgemeinheit, die
infernale Grausamkeit dieses Katholizismus, der Molochdienst der Kunst, die teuflische
Rückseite des Lebens, von Schiller als höchste Menschlichkeit gepriesenen Zieles, vor dem
Tod des Menschen; die Verdammnis, die Stufe der Trennung von der Religion.

181 John Keats, The Poetical Works, 1884, Abtl. Posthuma. Nr. 52: When I have fears that I may cease
to be, Vers 9 u. 10.
182 Heinrich Heine, Sammlung Romanzero (1851), Beginn des Gedichts An die Engel: Das ist der böse
Thanatos.

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476 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Aus dem Steinbruch der Sprache bringt er plötzlich einen mächtigen Stein und schleudert
ihn [gen Himmel wie] geworfene Steinstücke.

An Frau Sent M’ahesa, 23. 8. 23


Liebe gnädige Frau, inzwischen bin ich in einem Krankenhaus, seit dem Schluss des
Semesters vorläufig arbeitskrank. Hoffentlich kann ich Ende der Woche reisen. Das ist alles,
was ich zu erzählen habe, höchstens noch, dass ich in den Stunden bettlägeriger Langeweile
die definitive Grabschrift für mich selbst gefunden habe, eine passende, schlagende, kurze,
prägnante Grabschrift von drei Worten, die sich, nach Lage der Sache, verfrühter Mitteilung
entzieht. Das also ist alles. Seien Sie bitte nicht böse, wenn ich Ihren Brief noch nicht beant-
wortet habe.
Paul Scheffer habe ich nicht mehr gesehen, auch nichts von ihm gehört, auch keinen Artikel
von ihm gelesen. Mit Beginn der Ferien ist alles abgereist, auch meine Tochter, so dass ich
einsam bin. Ich will nach Süddeutschland reisen, eine Woche mich in Frankfurt aufhalten,
im Oktober vielleicht nach München, dort ist meine ständige Adresse: bei Dr. Ludwig
Feuchtwanger, Kurfürstenplatz 1 II. 14 Tage hatte ich Besuch aus Australien, ein irischer
Kleriker, Dr. Schmitz hat mit ihm die keltische Musik entdeckt. Er spricht kein Wort
Deutsch. Ein Bote, in allem, wie er sich bewegt. Sie hätten Ihre Freude gehabt.
War in dieser Zeit bei Ihnen ein Bote aus Australien? Der Begriff des Boten, des Angelus,
mit der ganzen Objektivität und Impossibilität in jeder Geste, die sein Amt ihm auferlegt?
Es gehört zum Boten im metaphysischen Sinne, dass er eine fremde Sprache spricht. Wie er
ins Zimmer tritt! Stundenlang schweigt, weder höflich noch unhöflich, ganz außerhalb
solcher Kategorien. Sie kennen den Angelus, den man 3 Mal des Tages betet, wenn die
Glocke das Zeichen gibt (auch eine Landschaft wird menschlich erst, wenn man in ihr den
Angelus ganz läuten hört): er läutet, der Angelus des Herrn. Angelus Dei brachte Maria die

Seite 72
Botschaft. Kein Wort, was er sagt. Das Ave Maria wird ihm, durchs Gebet, aus dem Mund
genommen, die Gemeinde betet es, nicht der Bote. Maria spricht in dem Gebet: Ecce ancilla
Domini. Aber der Bote spricht nicht. Das ist wunderbar.
Ich habe mir tatsächlich einen Augenblick einbilden können, Sie säßen mir gegenüber. Wo
sind Sie denn? Ich freue mich, Sie wiederzusehen und habe die aufrichtigsten Wünsche.
Könnten Sie nicht im Oktober in München sein? Meine Neugierde aufs Geschenk ist so
groß. Mein Wunsch, zu hören, was Ihre Gedanken und Pläne sind, noch größer.
Die Gabe, Briefe zu schreiben, ist mir versagt. Ubi nihil vales, ibi nihil velis. Ich höre also,
mit der Bitte, mich zu entschuldigen, auf. Nehmen Sie dieses als Sprechen, wenn nicht als
Brief, was es nicht ist. Als wir uns zuletzt sahen, stand der Mond in Aquarius183; am 18. und
19. Oktober ist er wieder da. An diese Hoffnung möchte ich mich halten, für München –
aber halt, nur keine Wünsche, denn sie gehen alle in Erfüllung.
Von ganzem Herzen – Ihr Carl Schmitt.

183 Lat. Bezeichnung für das Sternbild Wassermann, zur Konstellation siehe Teil II, Anm. 502.

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August 1923 477

Wenn man alt wird, lernt man allmählich die falschen Götter schätzen, die Dinge, mit denen
man Götzendienst treiben kann. Sie belohnen ihre Diener ziemlich reell. Z. B. das goldene
Kalb, der Mammon‚ vor allem aber der Hauptgott: der Baal.184

An K. 24. 8. 23. Bonn, im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder. Da ich von Erinnerungen
lebe, so fühle ich einen Trost darin, bisher in jedem Jahr um die Zeit, da wir uns
kennenlernten, im August, in Rom zu sein, in denen Du bei mir warst, geliebte Frau.
Voriges Jahr in Hamburg, dieses Jahr im Haus der Barmherzigen Brüder in Bonn. Die Er-
innerung an jene Woche in Berlin ist heute noch ganz neu; aber in der Verzweiflung meines
Zustandes, wie ein totaler Rausch.
O K., Father Mc K.[iernan] kam wie ein Bote aus einer anderen Welt. Ich habe ihn zum
Freund gewonnen. Er kommt auch wieder zu mir. Er wird Dir geschrieben haben, wie es
mit mir steht. Er hat es verstanden, dass ich schwieg. Vielleicht konnte er, als Kleriker, das
Letzte doch nicht verstehen, besonders nicht, dass es mich vernichten muss, wenn ich
meiner Frau nicht alles das schenken kann, was meinem Stolz als ihrer allein würdig er-
scheint. Aber er hat als ein guter und edler Mensch eines verstanden, dass es einem Geringe-
ren lieb war, zu schweigen.
Ich war glücklich, von Dir zu hören, jede Einzelheit, wie Du gekleidet bist, wie Du
sprichst, was Du tust. Oft war ich traurig, aus demselben Grund, aus dem ich oft traurig
war, wenn ich bei Dir im Café saß. Du weißt das, liebe schönste countess, Du süße Mutter.
Du bist nicht böse gegen mich. Du kannst es nicht sein. Wie schön bist Du.
Für einen Augenblick hat die Heftigkeit meiner Sehnsucht mich bewusstlos gemacht.
Mehrmals ist mir inzwischen das begegnet, was ich Dir in dem Brief anfangs meines Stu-
dienjahres schrieb (den Brief habe ich einem Studenten zum Besorgen gegeben, hoffentlich
ist er nicht abhanden gekommen). Ich bin glücklich, inzwischen einen Augenblick schrei-
ben zu können, bevor mich die stille Verzweiflung wieder befällt. Ich würde Gott danken,
wenn er mir wieder den frohen Mut gibt, den ich die ersten Monate nach Deiner Abreise
hatte. Damals konnte ich leicht einen täglichen Bericht schreiben. Aber wie schrecklich hat
sich alles in Deutschland entwickelt. Ich darf nicht daran denken, sonst würde ich sofort
wieder aufhören und diesen Brief unbeendigt lassen.
Es war wunderschön, von Dir etwas zu hören, von Deiner Mutter, Deinem Vater, Deiner
Schwester. Wenn ich den Erlaubnisschein bekomme, so werde ich nach Plettenberg fahren
zu meinen Eltern. Es ist nicht mehr meine Heimat, aber ich bin dann nicht im besetzten
Gebiet. Ich habe keine Heimat mehr. Darum sterbe ich. Wehe dem, der keine Heimat hat.
Ich sehe, liebe K., ich kann keinen Brief mehr schreiben, ohne zu jammern. Es ist besser, ich
höre auf. Ich liebe Dich in einer totalen Glut. Ich bin immer Dein Carl

Seite 73
Die eigentümliche Fadheit und Schalheit des jüdischen Denkens (unter der Wolke von
<…>) erklärt sich daraus, dass es keine Beziehung zum Tode hat; nicht einmal Angst vor
dem Tode. Die Diesseitigkeit dieses Volkes ist grauenhaft.

184 In der Bibel häufig erwähnte Götzen; vgl. etwa Ex 32 (gold. Kalb), Mt 6,24 (Mammon), Ex 34
(Baal).

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478 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Sie werden aus allen Toten durch ihre Art nur leben. Der Tod gehört zum Leben. Sie wollen
immer leben. Soviel wie möglich leben, solange wie möglich leben auf Erden. <…> Tod.

Die jüdische Borniertheit von Lukács ist das Zurückweichen der Naturschranke184a. Als
ob die moderne Industrie etwas Wesentliches erreicht hätte: sie hat weder das Leben be-
kommen, so wenig [wie] durch den Tod. Sterben lernen ist wichtiger als leben. Den Tod
überwinden, noch ihre <…> Katastrophen. Wie <…> und anmaßend ist das! Die Erde lässt
sich das Spiel gefallen.

Meine Heimat ist durch die Industrie zerstört.


Ich trage sie in mir. Der Zugezogene trägt sie fort. Die Ahnenbilder in meiner Seele.

Anfang der Soziologie. Der Mensch lebt nicht vom Brot, sondern von seiner Persönlichkeit,
der menschlichen Gesellschaft.
Soziologie <…>

Zu Lukacs: Wenn diese Juden die Philosophie des Kapitals dadurch erkennen, dass sie die
sonderbare Verbindung von subjektiver Freiheit und objektiver Gebundenheit, die Unter-
gesetzlichkeit eines kapitalistischen Mechanismus betonen, so sprechen sie (psychologisch)
von sich selbst (so wie die Freudsche Psychoanalyse nur seine eigene Seele entblößt).
Der Jude fühlt sich nicht sicher, er lebt nur dadurch, dass er einen Kontrakt anschließt;
er hat das Gefühl, die anderen arbeiten, und nur die von anderen geschaffenen Werke be-
nutzt [er].
Der vom Wahn seiner finanziellen Erfolge trunkene Jude zeigt seine Blöße.

Voltaires Candide endigt: cultiver son jardin185


Bouvard & Pécuchet endet: Sie werden wieder Kopisten.186
Das ist die Funktion des Nationalismus bei Barrès: das sich Zusammenkriechen, Sparen, die
Desillusion.
Taine: creuser son sillon ou sa fosse187

184a Vgl. Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, S. 243; s. Teil II, Anm. 471.
185 Voltaire (1694–1778), franz. Philosoph u. Dichter. In der Novelle Candide oder der Optimismus
(1759 anonym erschienen) parodiert er den kosmischen Optimismus von Leibniz; sie endet
„Il faut cultiver notre jardin“, dt. Man muss unseren Garten pflegen.
186 Gustave Flaubert (1921–1880), franz. Schriftsteller; sein satirischer Schelmenroman Bouvard et
Pécuchet über die ungeheure Dummheit des Durchschnittsmenschen erschien unvollendet 1881.
187 Hippolyte Taine, Les Philosophes classiques du XIXe siècle en France. Paris 1888 [Nachdruck,
Genf 1979], Kap. XIII. und Kap. XIV: De la methode. Hier: Kap. XIV, S. 347.
In den Kapiteln geht es um eine Darstellung der damaligen philosophischen Methodendebatten,
exemplifiziert an den Auseinandersetzungen und Disputen zweier philosophischer Köpfe namens
Pierre und Paul, die in mancher Hinsicht an Flaubert’s traurige wissenschaftliche Heldengestalten
Bouvard et Pecuchet erinnern. Bei dem nachfolgenden Zitat geht es um Paul, um die Fünfzig,
den jüngeren der beiden, in einer Pariser Junggesellenbehausung sein Leben der Wissenschaft
widmend.

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August 1923 479

Der Gegensatz zur Expansion: expandierend und sich auf sich selbst zusammenziehender
Nationalismus.
Alles das falsch. Demokratie ist etwas ganz Verschiedenes bei jedem.
Nationalismus ist ganz verschieden: der sich zurückziehende Nationalismus des Franzosen.
Der expansive (imperialistische) Nationalismus

Ich höre meinen Bruder Jup: 30 Jahre führten die Menschen im 17. Jahrhundert Krieg, aber
Mark blieb doch Mark; so eine Gemeinheit. Das Gute ist noch nicht dagewesen.
Oder ich höre ihn des nachts um 12 Uhr, wie er den Bauern die Gemeinheit der von den
Fabrikanten herausgegebenen Lohnschecks erklärt.

Seite 74
O Duschka, ich wollte, Sie wären bei mir und läsen mit mir B[ojić] <…>

An K.: Und weihe Dir den Frieden dieser Stunde … (31. 8. 23) <…>

„Il avait une grande place et la quittée pour garder ses opinions. Beaucoup moins riche que son
ami, il fut obligé longtemps de donner des leçons pour vivre. C’était une chose triste et touchante
que de voir ce puissant esprit, déchu de hautes fonctions qu’il honorait, se rabaisser à l’enseignment
de la grammaire, et relire Burnouf pour sa répétition du matin. Il a rempli plusieurs années ce
devoir en conscience. Personne n’a plus d’empire sur soi-même; ses élèves n’ont jamais crus
l’ennuyer; il lisait leurs thèmes avec le même soin qu’un volume d’Hegel. Il est très fier, très
silencieux, très dévoué, et, selon le vulgaire, très chimérique. Je ne crois pas qu’il songe une fois par
semaine aus intérêts d’argent et de place. Cette noblesse d’âme va jusuqu’à la naiveté; il traite
les autres sur le même pied que lui-même, et leur conseille ce qu’il pratique:_____________________________ suivre sa vocation, _________

chercher dans le grand champ du travail l’endroit où l’on peut


_____________________________________________________________________________________________________________ être le plus utile, creuser son sillon
_______________________________________________________________________

ou sa fosse, voilà, selon lui la_____________________________________________________________


____________________________________________________ grande affaire; le reste est indifférent. _______

Il a publié l’histoire d’une célèbre école philosophique; c’est son seul ouvrage: le reste dort en lui,
enseveli par les exigenges du métier et par la volonté de trop bien faire.“
„Er hatte einen hohen Posten und hat ihn aufgegeben, um seinen Auffassungen treu zu bleiben. Bei
weitem nicht so reich wie sein Freund, musste er lange Zeit Unterricht geben, um zu leben. Es war
trist und anrührend, mitansehen zu müssen, wie dieser fähige Kopf sich nach Einbuße seiner hohen
Funktionen, denen er Ehre gemacht hatte, zu Grammatikunterricht hinablassen und zur Vorbe-
reitung des allmorgendlichen Unterrichts wieder Burnouf einstudieren musste. Gewissenhaft hat
er diese Pflicht mehrere Jahre lang erfüllt. Keiner hat sich mehr im Griff als er; seine Schüler hatten
niemals das Gefühl, ihn zu langweilen; er las ihre Hausaufsätze mit derselben Sorgfalt wie einen
Band Hegel. Er ist sehr stolz, sehr schweigsam, sehr aufopfernd, und wie es gemeinhin so heißt,
sehr spinnert. Ich glaube nicht, dass er auch nur einmal in der Woche an die Vorteile von Geld und
Position denkt. Dieser Seelenadel grenzt an Naivität. Er behandelt die anderen wie seinesgleichen
und rät ihnen zu tun, was er selbst tut :______________________________________
seiner Berufung folgen, auf dem weiten Feld der Arbeit
_____________________________________________________________________

seinen Platz suchen, wo man am nützlichsten sein kann, seine Furche


__________________________________________________________________________________________________________________ ziehen oder sein Grab schau-
__________________________________________________________________

feln, das ist für ihn die große Sache; alles andere zählt nicht.
____________________________________________________________________________________________________________

Er hat die Geschichte einer berühmten philosophischen Schule veröffentlicht, das ist sein einziges
Werk: der Rest schläft in ihm, verschüttet unter den Erfordernissen des Berufs und dem Bestreben,
es allzu gut zu machen.“ (Übersetzung Wolfgang Fietkau)

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480 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

„Pirates rule in the peace princes,


In comfort, in ease, in luxury, in spacious palaces,
Full of strength, full of food, full of words, well-feasting,
Uncouth, gabbling, greedy, cynical.
The aim and desire of the crew is,
However they may make peace with our people,
To play with those of us that accept terms from them.
The tricks of the redoutable cat with the mouse.“

(Englisches Gedicht von Pierce Ferriter, 1652188, über die Cromwell-Invasion, übersetzt von
Pearse)

[rechts daneben nachträglich notiert] Am 18. 11. 64 in Plettenberg wieder gelesen.

„Three things I see through love,


Sin, and death, and pain.“ (übersetzt Pearse )

Gesang eines liebenden Mädchens:


You have taken east and you have
taken west from me,
You have taken the path before me and
the path behind me,
You have taken moon and you have taken
sun from me,
and great is my fear, that you have taken
God from me. (übersetzt von Pearse)

Soziologie: Aristoteles wusste schon, dass die Plutokratie die spezifische Form ist, in der das
Geld politische Macht ausübt189, <… >; obwohl der Lockruf der Plutokratie aus Amerika
kam, dem Land der Milliarden, es sonderbar wäre, wenn diese Milliarden mit einer Regie-
rungsform <…> verbunden wären, die ihr nicht die Macht sichert und obwohl ferner in
Deutschland <…> manches [als] das Sinnvollste demokratisch war und mit Hilfe der politi-
schen Demokratie den Reichtum abschaffen wollte.

Die Angst vor dem Alter und die Angst vor der Armut, die beiden Grundaffekte aller
Frauen, die ich kennengelernt habe
[nachträglich notiert] (zuvor den amerikanischen Puritanern zugeschrieben).

188 Pierce Ferriter (1600–1653), irischer Adliger und Dichter, kämpfte ab 1641 im Aufstand gegen die
Engländer, durch Cromwells Oberbefehl ab 1649 kam es zu äußerst grausamen Kämpfen, Ferriter
wurde trotz Zusage freien Geleits gehenkt.
189 Weder Aristoteles noch Platon haben das Wort plutokratia benutzt, wohl aber Xenophon in den
Memorabilien. Allerdings spricht Aristoteles von der Oligarchie, die dem Vorteil der Reichen dient
(Politik III, 7. 1279b 7 f.).

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September 1923 481

Ich fange an, gut zu leben, zum Frühstück Gänseleber zu essen und guten Südwein zu
trinken, und stelle fest, dass diese Lebensweise meinen Stil fördert, aber meinen Gedanken
schadet, verflachen macht.

Die grauenhafte Angst, als ich die wunderbare Maschinenfabrik sah und die armen, verhun-
gerten Arbeiter, die Schnaps trinken, von den rücksichtslosen Kapitalisten hörte, und dieser
wunderbare Mechanismus dient wozu? Blechbüchsen für Konserven zu machen. Lächer-
lich. Ich höre, dass Duschka getanzt hat (von Kaiser) und [war] wie entnervt von Angst,
Eifersucht, Verzweiflung. Offenbar pathologisch (4. 9. 23) [nachträglich notiert] 8. 9. 23

Seite 75
Ich fühle die Schattenhaftigkeit des Lebens, die Wirklichkeit als einen Schatten.
Die Hämmer der Maschinen klopfen, die Räder schnurren, alles scheint höchste Aktivität,
die Wirklichkeit des pulsierenden Lebens und ist trotz allen Lärms doch nur ein Schatten.
Der Schatten einer Nichtigkeit; der Schatten eines Gespenstes.
Der Schatten eines Gespenstes.

In der Liebe: Man fühlt sich immer als Besieger oder Besiegter (sagte Kluxen) (Der Kultus
als Anthropophagia, wie Kant richtig sagt, die Liebe also Fressen oder Gefressenwerden).
Ich antwortete: Als Beglücker oder Beglückter.
Der Beglücker ist immer der Sieger; der Beglückte der Besiegte.
Der <…> (hier sieht man die Zweideutigkeit aller Psychologie), aber nur für den Mann; der
beglückte Mann ist der Besiegte; dagegen ist die beglückte Frau die Siegerin; der Beglücker
abhängig von der Möglichkeit zu beglücken und daher der Besiegte.

Methodologie: der Schatten.

Sander 190
Kelsen: Wie Kraus191 und Engel 192 Wiener Juden; sie suchen Prioritäten; diese Leute denken
wirklich formal juristisch; Erfinder ist derjenige, der die Erfindung anmeldet, nicht der-
jenige, der sie gemacht hat. Der zuerst ein Geschrei darum macht.
So „entdeckt“ Kraus Matthias Claudius192a (den viele gebildete Deutsche längst kannten),
aber er erhob ein großes Geschrei und erwartet, [dass] man in der Zukunft nicht mehr Clau-
dius zitiert, ohne ihn mit zu zitieren, das ist seine Priorität. Und scheint nicht zu wissen, dass
viele Dinge, die er dann entdeckt, längst bekannt waren. Ein Volk mit natürlichen Instinkten

190 Fritz Sander (1889–1939), Rechtssoziologe, Professor für Staatslehre und Rechtsphilosophie in
Prag, überwarf sich früh mit seinem Lehrer Kelsen.
191 Zu Karl Kraus s. auch Teil II, Anm. 356.
192 Josef Engel de Jánosi (1851–1939), Schriftsteller und Kunstsammler, verfasste als Jugendlicher eine

Abwehrschrift gegen Richard Wagners „Judenthum in der Musik“.


192a Matthias Claudius (1740–1815), dt. Lyriker u. Erzähler. Karl Kraus (zu Schmitts Verhältnis zu ihm

s. Teil II, Anm. 356), hatte gefragt: „Sollte ein Volk, dem ein solcher Dichter verschollen ist, das ihn
im Lesebuch begraben hat und so von ihm weglebt, nicht reif für Zwangsarbeit sein?“ Die Fackel,
18. Jg., Nr. 445–453, 18. Januar 1917, S. 97 f.

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482 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

und Zuständen würde ein solches Gesindel keines Blickes und keines Wortes würdigen.
[Mehrere Zeilen nur bruchstückhaft lesbar]

Also Wilhelm II. lebt noch, Stresemann193 lebt, Scheidemann194 lebt noch, Fehrenbach195
lebt, am Zehnhoff lebt noch, Ludendorff lebt noch. Tötet endlich die Toten
[nachträglich notiert] (nach 20 Jahren, 8. 10. 43 wieder gelesen; inzwischen sind sie nun tot;
der Abdecker196 lebt) 8.1. 55 wiedergelesen, abends: und du selber auch.

Von Natur gut = Matriarchat


Von Natur böse = Patriarchat
Von Natur gut = untergehen in der Natur, einverstanden sein, Verzicht auf Rebellion
Von Natur böse = Überwindung der Natur, Rebellion gegen die Natur; das Prinzip der
Reparation nicht weniger wie das Prinzip der Autorität.

Die Kontemplation der Frau ist eine andere als die des Mannes; sie ist Zuschauerin in der
Arena eines Schauspiels des Lebens. Der Mann betrachtet; produziert sich.

Der Grundaffekt meines Lebens: Das Leben ist ein Kampf, gewiss, aber ein Kampf in einer
Arena vor Zuschauern, besonders vor weiblichen Zuschauern, die Trophäen bereit halten;
das Gefühl des Torero, des Gladiators.
Die andere Auffassung von Leben als Kampf: Der Kampf des Raubritters, des Freibeuters,
des Piraten, des Landsknechts.

Seite 76
Um 5 Uhr fasste ich ruhig und beherrscht den ernsten Entschluss, mich nicht mehr um
Duschka zu kümmern, ihr nicht mehr zu schreiben, sie liegen zu lassen und meines Weges
zu gehen; ganz heroisch und gefasst.
Um 7 Uhr betrachtete ich gerührt den violetten Bleistift, den sie mir geschenkt hat, ergrif-
fen von ihrer weiblichen Schönheit und Milde, und hatte nur noch den Wunsch, ihr zu
gefallen, ihre Freude zu sehen und das Resultat meines Heroentums, die Trophäen, und die
Beute ihr zu Füßen zu legen.

Die Angst vor dem Tode, die Angst vor dem Leben.
Ich umgebe mich mit Wällen und <…>, ich verschanze mich in meiner eigenen Produk-
tivität, in den Genuss der Kunst, in den Stolz geistiger Schaffenskraft. Das ist ein wirksamer
Trost.
Seltsamer Trost, ein schönes Gedicht zu lesen, die Kraft der menschlichen Sprache. „Die
Kunst, o Mensch, hast du allein.“197

193 Gustav Stresemann (1878–1929), Politiker, Reichskanzler und Außenminister in unterschiedlichen


Regierungen der Weimarer Republik.
194 Philipp Scheidemann (1865–1939), SPD-Politiker, rief 1918 in die Republik aus.
195 Konstantin Fehrenbach (1852–1926), Zentrumspolitiker, 1920/21 Reichskanzler.
196 Adolf Hitler.
197 Aus dem Gedicht Die Künstler von Schiller.

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September 1923 483

Genius loci, Atmosphäre, was Poe in der Geschichte von Haus Usher198 sagt: „Meine Phan-
tasie war so aufgeregt, dass ich wirklich nur zu sehen glaubte, das ganze Gebäude mit seinen
nächsten Umgebungen sei in eine besondere, nur ihr eigene Atmosphäre gehüllt, eine
Atmosphäre, die nichts gemein hatte mit der gewöhnlichen Himmelsluft, sondern aus den
verwitterten Bäumen, den grauen Mauern und dem regungslosen Teich aufsteigt.“ Später
wird angedeutet, dass es eine Ausdünstung der sumpfigen Umgebung und pelzigen [mit
Pilz überzogenen] Wand des Hauses war.
Ich kenne diese Atmosphäre anders und werde von ihr verfolgt. Ich empfand im Teuto-
burger Wald den Schimmelgeruch der Ortspfarrer. Ich fühle den Unterschied zwischen
einer katholischen und einer evangelischen Gegend, die geheimnisvollen Schwankungen, die
von der Verbindung eines bestimmten Platzes mit einer bestimmten und ungewöhnlichen
Tat ausgehen; ich fühle, wenn ein Mensch ermordet wurde und wenn eine edle Tat begangen
ist; ich fühle den Duft, wenn ich über eine Stelle gehe, wo 2 Liebende sich zuerst sahen.

Wunderbar, was sie (10. 1. 23) bei Grabbe <…> sagt: ob nicht im unerforschten Innern der
Erde schwarze Höhlen … lauern und endlich einmal an das Licht brechen, um all den
Schandflitter der Oberfläche zu vernichten! Oder ob nicht einmal Kometen mit feuerroten,
zu Berge stehenden Haaren [uns bedrohen]. Doch was sollten unsere Albernheiten, was
sollte ein elendes, der Verbesserung entgegentaumelndes Getümmel wie diese guten, erden-
tiefen Sternhöhen empören?
(Ich wusste nicht, dass der 12/9 1836 der Todesstag Grabbes war.)

Was haben all diese Protestanten mit der Unsichtbarkeit seiner Kirche erreicht? Dass die
Obrigkeit umso sichtbarer geworden ist, dem Fürsten, dem Staat, umso näher [darüber
notiert] ähnlicher.
[schräg dazu geschrieben] Langer Brief an Carita Sept. 1919

Wieviel edler Georges Sorel, der eine Großartigkeit der deutschen Freiheitskirche fühlte als
dieser Jude Gundelfinger 199, der Heidelberger Professor <…>, Einheitsfeind, der Stuben-
hocker, der einmal fragen will, was [der] Georgekreis als letzte Reime gemacht hat.
[Eine Zeile nicht deutbar]

Seite 77
[nachträglich notiert] Brief an Duschka aus Plettenberg, 19. Sept. 1923

Ich las die Dissertation von K.; wie schön ist sie; klug und verständig. Inzwischen erkenne
ich die ganze Lächerlichkeit meiner Existenz, die Verlogenheit, Verschrobenheit, Verbogen-
heit meines Daseins; das unehrliche Verhalten meines Lebens, das Verduckte, Sture, Ver-
schämte aller meiner Handlungen.
Wie schrecklich ist das. Fisch <?> = Schicksal. Schweig doch endlich. Aber mein Vorsatz zu
schweigen ist mir selbst schon lächerlich; ich werde ja doch wieder aus einer ganz sinnlosen,

198 Edgar Allan Poe (1809–1849), amerik. Dichter, Erzählung Der Untergang des Hauses Usher.
199 Friedrich Gundolf, eigtl. Gundelfinger (1880–1931), Germanist und Schriftsteller.

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484 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

lächerlichen, mir selbst ganz fremden Begeisterung herausgerissen und fühle mich dann
sofort wieder verpflichtet, die Rolle konsequent zu Ende zu spielen.
Der Morbus Germanicus <?> hat mich gekauft.

[Donoso] Cortes, der wunderbare Vorstoß gegen die angelsächsischen Bekämpfer einer
Doktrin <?>, die einen Kontinent bedeckt. (Wiedergelesen am 24. 8. 41)
[Irland] und Spanien, die beiden Vorkämpfer gegen die angelsächsische Belehrung der
europäischen Zivilisation.

Alle Festigkeit der Vorsätze löst sich auf an einem Tage; grauenhaft. Ich habe diese Nacht
(heute Morgen, 16. 9. 23) von Duschka geträumt. Wie gleichgültig ist sie; ich heiratete sie in
einem Hotel (mit meinen Geschwistern), es wurde getanzt, ich erwartete sie vergebens.
Alles wurde entsetzlich traurig. Alles so kindisch grob und dumm, dass ich nur wach zu
werden brauchte. Trotzdem fühle ich, dass diese Abhängigkeit, diese unerklärliche Bindung
im Tiefsten meiner Seele ruht und stärker ist als alle Vernunft, alles Licht der Sinne. Grauen-
haft. Immer von Neuem beschwöre ich mich: sors [de] l’enfance. Was nützt es.
Heimat und Heirat.

Wollte an Frau v. Schnitzler schreiben: Sie sprechen wie eine Frau. Ich bin so einsam,
gewiss, das ist traurig, aufreibend und treibt einen in schreckliche Verzweiflung, aber Hilfe
bei einer Frau suchen, dann doch lieber Alkohol, Opium, irgend eine ehrliche, aufopfernde
Kapitulation vor dem Bösen.

19. 9. 23.
An Duschka, 17. 9. 23. Das Opfer der Gesprächigkeit, die sich an diesem schönen Morgen,
nach einem Spaziergang im Tau, während des Frühstücks bei mir regt, sollen Sie werden,
liebste Duschka. Ich habe Ihren schönen Brief aus Ilok 200 erhalten, auch die Karten, und bin
in großer Erwartung, sowohl des Duschka-Entschlusses, als des Kniefalls. Wie schön, dass
Sie sich Ihrer Ferien so gut freuen können. Hören Sie nicht auf, das zu tun.
Haben Sie ein Bild von Bojić bekommen? Ich habe seine Gedichte in diesen westfälischen
Wäldern viel gelesen. Aber das Land ist ihm fremd. Zwar ist es heidnisch, aber ein hartes,
unschlechtes Heidentum. Auch das Läuten des Angelus, das sonst jeder Landschaft einen
Schimmer von Humanität verleiht, bleibt hier wirkungslos. Ein böses, starres, hartes Heiden-
tum, das sich inzwischen in den Tälern als Eisenindustrie betätigt und in dieser Form die
wunderschönen Wälder und Flüsse beschmutzt und zerstört und dem Kadaver Deutsch-
lands die Taschen plündert. O, ein Wort, stumm, ohne eine edle Regung oder Geste. Sie
dürfen nicht an [die] des Uswika201 denken, wenn Sie von der Stummheit dieser Gegend
hören. Das des Uswika von Bojic ist doch einer der schönsten Ausdrücke menschlicher
Haltung und Größe, die schönste Rede über das Schweigen. Diese dagegen ist böse, von
allen Musen verlassene Stummheit und ein brutaler Rationalismus der Weißen, damit man
heute die Welt beherrscht; mit Rohstoff und Eisenindustrie. Das eiserne Zeitalter.

200 An der Donau gelegene, östlichste Stadt Kroatiens.


201 Siehe Teil II, Anm. 404. Schmitt nennt als mögliche Übersetzung des serbischen Wortes: ohne Ver-
wunderung, wortlos.

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September 1923 485

Aber man braucht nur 10 Minuten zu gehen und man ist in prachtvollen Wäldern, alten
Ruinen von Burgen und Höfen, aus denen seltsame Abenteuer und exzentrische, geniale
Menschen hervorgegangen sind. Der einzige Dichter, der in diesem Land gewohnt hat, ist
Grabbe, eine tolle Mischung von bizarrer Verrücktheit, Trunksucht, erhabenster Rhetorik
(erinnern Sie sich, Duschka: die Geister schweben, erstaunend auf den Stufen 202), kosmi-
scher Phantasie.

Seite 78
[nachträglich notiert] Sehr exzentrische Begegnung Grabbes und Bojić in Altena in West-
falen.

Eine sehr exzentrische Begegnung, Grabbe und Bojić bei Altena in Westfalen. Ich glaube,
dass Grabbe die größere Kraft hat, auch aktueller ist (obwohl schon 1836, sehr jung, ge-
storben), aktuell, weil er die spezifische Form moderner Verzweiflung, diese amerikanische
Exzentrizität, vorurteilsloser und ursprünglicher besitzt, die typische Manie des Menschen,
der vor dem Unsinn seines eigenen Nihilismus erschrickt. Aber Bojić ist weicher und sein
lyrischer Reichtum ist größer, außerdem brauchte er nicht zu verzweifeln, denn er hatte ein
Vaterland und eine Heimat.

[Brief an Duschka] Jetzt, im September, bin ich immer noch hier. Ich wollte schon am 7.
nach Frankfurt reisen, aber am Tage vor der Abreise ging ich noch einmal in die Berge und
stürzte einen steilen Abhang hinunter. Ich hätte dreimal den Hals und den Schädel brechen
können und blieb nur durch ein Wunder am Leben. Doch war mein Gesicht sehr verunstal-
tet, dass ich mich für Wochen nicht mehr unter Menschen zeigen kann. Auf diese Weise
haben die Berge mich bei sich behalten. Es wurde herrliches Wetter mit warmer, herbst-
licher Sonne. Ohne Anfang und ohne Ende laufen die Tage dahin, einmal war ich in einem
abgelegenen Gebirgsdorf und ging in die Schule, wo mich der Lehrer eine Stunde unter
sich 203 zeichnen ließ. Ich dachte an Ihren Freund in Mazedonien.
Nächste Woche reise ich aber doch bestimmt nach München. Wollen Sie mir dorthin Nach-
richt geben? Ich habe inzwischen lange, fast 3 Wochen, nichts von Ihnen gehört. Wie mag es
Ihnen gehen? Sind sie zufrieden und guter Dinge? Ich wünsche es Ihnen von Herzen,
Duschka, und wollte, ich hätte etwas dazu beigetragen.
Stets Ihr Carl Schmitt.

In einer einzigen Viertelstunde: Wut und Empörung über die politische Lage, Bedürfnis
unterzukriechen und der Entschluss [Zusatz in Bleistift]: (in träger Sicherheit und Behag-
lichkeit), die Waffe zu nehmen, Abscheu vor der kontemplativen Trägheit und das Gefühl
der Geborgenheit im Kontemplativen, Befriedigung der intellektuellen Neugierde und Ekel
vor aller intellektuellen Sehnsucht nach der Primitivität und der Genuss einer Ode von
Hölderlin, Liebe zu einem jungen Mädchen und der Wille zu stoischer Askese, Rührung

202 Christian Dietrich Grabbe, Herzog Theodor von Gothland (1827), 4. Akt, 5. Szene.
203 D. h., unter seiner Aufsicht.

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486 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

über die Treue eines Mädchens und das Bewusstsein der naturnotwendigen Unfähigkeit
einer Frau, jemals wahr zu sein, Erkenntnis des Truges aller Sexualität und der Glaube, dass
die unbedenkliche Hingabe vitaler Affekte der einzige Trost sein kann, Verachtung und
Hohn fürs moralische Niveau der Menschheit und die Begeisterung für irgendein Helden-
tum, Gefühl des Betrogenseins und der Schlauheit, betrügen zu können <…>. Es ist auf-
reibend und zermürbend. Es ist zu Ende. Ich bin ein Ziegel, weniger, die kahle Kalkwand,
über die lächerliche Schatten eines großen Finalstechens ziehen.

Du willst Erkenntnisse und Einsichten haben, wissen, wie die Welt objektiv aussieht, und
stehst doch bis über die Ohren und über die Augen in deinen Bedürfnissen und Zwecken,
um nur im Leben zu bleiben. Das ist, als wollte jemand den Genuss des Schwimmens
haben, wenn er in einem eisernen Panzer ist. Er kann sich nicht darein geben, er muss froh
sein, wenn es ihm gelingt, von einer seichten Stelle zur anderen zu waten. Das ist unsere
Erkenntnis. Grauenhaft.

Wie befreie [ich] mich aus dem Gefängnis des Leibes, der Gesellschaft, des <…>, des <…>,
des Psychologischen? Natürlich: Je grauenhafter das Bewusstsein der Verzweiflung alles
Lebens, desto näher: Christus.

Extra salutem nulla ecclesia


Extra ecclesiam nulla salus 204
[Rechts daneben] (Jeder sein eigener Priester; kümmere dich nicht um deine Sorgen; damit
hört jede menschliche Gesellschaft und der Mensch selbst auf. Hier ist kein Übergang. Das
Privateigentum bekämpfen.)
Ohne den Begriff des Heils und Erfolges ist es „undenkbar“, eine unvollziehbare Vorstel-
lung, dass es außerhalb der Heilsanstalt Heil geben soll. Ist das nicht ganz natürlich? Aber
heute können die Menschen nicht mehr begrifflich denken, sondern nur psychologisch.

Nach der Lektüre von Connollys Labour in Ireland 205:


Er hat recht: Nur die armen Leute (das ist etwas anderes als das Industrieproletariat der
großen Städte) sind eines Nationalgefühls fähig, das noch nicht bestehen [muss]; aber in
dem Augenblick, wenn ihre Revolution gelingt, sind sie nicht länger die Unterdrückten, die
Jakobiner nach ihrem Sieg, die Bolschewisten nach ihrem Sieg – es ist dasselbe. Ob ein
Unbestechlicher dabei ist, Robespierre oder ähnlich, das ist gleich. Hier scheint also das
Problem nicht zu liegen. Auch hier wieder die Lösung: Christus. Schauspiel. Der Arme hat
nichts als seine Armut. Nimm sie ihm, so ist er eben nicht mehr arm.

204 Dt. außerhalb des Heils gibt es keine Kirche, außerhalb der Kirche kein Heil. Der Satz geht auf
Cypricus v. Karthago (nach 200–258) zurück.
205 James Connolly, Labour in Ireland. Labour in Irish history. The reconquest of Ireland. Maunsel &
Roberts, Dublin u. London 1922. In seinem Buch Parlamentarismus geht Schmitt im abschließen-
den Kapitel zur Bedeutung des nationalen Mythos im Klassenkampf auf die Verbindung zwischen
dem irischen Dichter Pearse und dem irischen Sozialisten Connolly ein, S. 88.

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September 1923 487

Seite 79
non olet, o es stinkt (als ich die Geschichte von O’Connell 206 [in] meinem Connolly las)

2 × in einer fundamentalen Angelegenheit betrogen.


[rechts daneben] betrogen: um den Glauben an Deutschland (Wilhelm II),
den Glauben an eine Frau,
den Glauben an einen katholischen Helden (O’Connell).
7 Jahre verheiratet und die Ehe wegen Betrugs angefochten.
20 Jahre an den katholischen Helden O’Connell geglaubt und dann erfahren, dass er ein
Agent war und von den Engländern bezahlt.
Ein Erdbeben, gewiss. Aber was nützt die Verzweiflung. Sie nützt so wenig wie der Mut.
Apathie, Ataraxie.

Ich freue mich, die alten Liebesbriefe zu lesen, wenn sie äußerlich gelungen sind. Schöne
Bilder, eindringliche Vergleiche, süß, zwingend, überredende Worte und Wendungen. Dann
sehe ich, dass ich doch noch ein lebendiges Wesen war, imstande, seine Federn auszubreiten
wie ein verliebter Auerhahn, süß zu singen und den biologischen Anforderungen dieses
Lebens zu genügen.

Bismarck, der große Steuerhinterzieher 207, gegen Stinnes 208, den Riesenprotz der Inflation,
ein ebenbürtiger Nachfolger, die Verlogenheit der Engländer, der germanische Mensch,
Unfähigkeit zu Gerechtigkeit, zur Objektivität, zur Selbstaufopferung. Dafür: Innerlich-
keit, Innerlichkeit und rohe Kraft <…>, die Natur vergewaltigende Intelligenz.

Ich sehe den schauerlichen, lärmenden, rauschenden Betrug der Welt.


Du darfst das Geheimnis nicht sagen, sonst erschlägt dich auf Befehl eines perfiden Schur-
ken irgendein bewaffneter Dummkopf, sonst wird eine bewaffnete Meute auf dich gehetzt.
Du darfst vielleicht sagen (mit Renan), jeder Innovativer war früher ein Anarchist oder
Revolutionär.
Du darfst es in solchen verschleierten Formeln sagen. Aber unterstehe dich nicht, konkret
zu werden, zu sagen: Dieser arme Teufel von Verbrecher war ein ehrlicher Kerl, dieser
Anarchist war besser als die ganze Gesellschaft, dieser verlassene Irländer kämpfte und
starb als ein größerer Held, als alle Feldmarschälle aller Zeiten, der einen englischen General
aus dem Hinterhalt erschoss und gepackt wurde. Dieser Räuberhauptmann und Plünderer

206 Daniel O’Connell (1775–1847), irischer Politiker, berühmter Redner, kämpfte erfolgreich für die
Gleichberechtigung der Katholiken, scheiterte aber mit dem Plan, die Union zwischen Irland und
England aufzulösen.
207 Bismarck erhielt von den von Frankreich aufzubringenden fünf Milliarden Goldfranc Reparations-
zahlungen eine Million als Dotation; zu Bismarcks Vermögensverhältnissen siehe Fritz Stern, Gold
und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder, Berlin 1978.
208 Stinnes baute während der ersten Nachkriegsjahre mit dubiosen Finanzierungen seinen Konzern
zum größten Unternehmen Deutschlands aus.

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488 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

war ein besserer Mensch, mit mehr Güte, Takt, Anstand und Delikatesse als tausend Vor-
sitzende des Vereins zur Unterstützung verschämter Armer.
Hüte dich, es zu sagen. Es nützt niemand etwas, man schlägt dich tot.

Ihrer eigenen Niedrigkeit niemals sich bewusst werdend (kein schöner Anfang )

H. S. Foxwell: Socialist propangandism has been mainly carried on by man of Celtic or


Semitic blood. (zitiert bei J. Connolly, Labour in Ireland, p. 193.)

Die wilden, räuberischen Pirateninstinkte, die sich bei mir regen, wenn ich Sh. Holmes-
Geschichten209 lese oder die Geschichte vom Skarabäus von Poe 210; Gefühle, dass das Leben
ein brutaler Kampf ist, bei dem es darauf ankommt, den anderen zu überlisten, jede Se-
kunde auf der Hut zu sein, schlauer zu sein als der Gegner und im richtigen Augenblick
zuzuschlagen, ein grausamer und unerbittlicher Kampf und alles andere lächerliche [Stupi-
dität].

Seite 80
An K. (mit dem Brief vom 24. August) 29/9 23
Dieses Datum, die Erinnerung an Deinen Vater, die nächsten Freitag wieder wach wird,
ein schöner, rührender Brief von FMK, liebe K., reißt mich für eine Minute aus meiner Läh-
mung. Ich weiß nicht, was FMK Dir geschrieben hat. Aber wie ich dieses letzte Jahr über-
standen habe, ist ein Rätsel. Nur in der dumpfen Apathie meines Zustandes war das mög-
lich. Oft wollte ich Dir schreiben. Du sieht es an dem Brief, den ich beifüge. Doch immer
überwältigt mich das Bewusstsein meiner wirklichen Lage. Du darfst nicht glauben, dass
Deine Briefe nicht mehr eine ungeahnte Freude für mich wären. Das sind sie immer unver-
mindert. Ich kann nur nicht antworten. Mechanisch mache ich in Bonn meine Berufsarbei-
ten. Den ganzen Monat August lag ich mit heftigem Nervenschmerzen krank zu Bett, den
ganzen September war ich hier, ohne zu <…>, ohne Arbeit, manchmal abends ruhiger, eine
schöne Stunde, in der ich mich an Dich erinnere. Und dann bin ich glücklich und weihe Dir
den Frieden dieser Stunde. Natürlich kann das heute in Deutschland– nur eine schnell zer-
––––––––––––-
störte Illusion sein. Schrecklich, schrecklich.
Siehst Du, K., dass ich nur klagen kann, wenn ich von mir spreche. Wenn Du Tag für Tag
läsest, dass ich verzweifle, dem Irrsinn nahe bin, oft irgendeinen Gegenstand anfasse, um
nicht in Schwindel zu geraten, so hättest Du eine traurige, monotone, langweilige Lektüre
und Dein lebhafter Geist würde sich bald nach etwas Schönerem umsehen. Das ist doch
alles so natürlich. The first duty of a gentleman is to be a good animal.211
Mit André habe ich nichts mehr zu tun. Georg Eisler habe ich seit einem Jahr nicht mehr
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––-–
gesehen.
––––––– Es geht ihm schlecht, auch geschäftlich, er schreibt sehr selten und wenig. Neue

209 Sherlock Holmes, Detektiv in den Kriminalromanen von Sir Arthur Conan Doyle (1859–1930).
210 Edgar Allen Poe, The Gold-Bug, dt. Ausgabe Der Goldkäfer.
211 Aus der Kurzgeschichte Our consul at Carlsruhe von Frederic Jesup Stimson (1855–1943), Jurist,
US-Botschafter und Verfasser von short stories.

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September 1923 489

Bekanntschaften, die ich viele gemacht habe, kann ich nicht pflegen. Ich bin und bleibe ein-
sam. Am liebsten bin ich hier, ganz für mich, im Wald und spreche tagelang mit keinem
Menschen.
Die Güte von FKM hat mich oft gerührt. Auch er meint, ich wäre noch etwas. Das tut mir
weh. Denn ich bin nichts. Er hat mir aus Dublin schöne Bücher geschickt, Pearse’s Werk,
J. Connolly. Die irische (<…>) Verfassung und eine Menge Broschüren. In meiner Erinne-
rung wird er eine mystische Erscheinung. Dein Bote, Kathleen.
Ich küsse Dir die Hände, liebe, schöne K. und bleibe auch in tiefster Traurigkeit
nur Dein Carl.

Aus der Geschichte weiß ich: die wichtigste Funktion des Rechts ist die, Unrecht zu Recht
[zu] verteidigen. Wer gestern unrecht hatte, hat heute recht. Das Recht rechtfertigt die Not-
wehr, die Notwehr [rechtfertigt das Recht]. Wer einmal recht hat, benutzt es als Deckung
für umso größeres Unrecht. Man kann sich leicht Recht verschaffen. <…>; vereinigt gegen
Deutschland. Religion, Humanität. <…> die Frage bleibt also immer die [nach] der
menschlichen Natur. Wenn das Proletariat <?> recht hat. <…>. Die Führer werden sich
be[dienen]. Die Intendantur als die Sieger aber [her]vorgehen. Man kann doch in den
Zustand geraten, wenn einem die Vorstellung von Dom und Geistern rationaler erscheint
als alles Abstrakte des Verstands.

<…>. (Beweis: in Deutschland die Inflation, die Autos, der Sekt und die Seidenstrümpfe),
der Mensch [ist] kein Rebell. Ich habe sein Schimpfen ernst genommen, wie ich die verlieb-
ten Ideen <…> ernst genommen. Ein intelligenter Materialismus, das ist die Natur. Der
Mensch (hat nichts zu tun mit dem marxistischen historischen Materialismus); <…> .

Was ich brauche: eine Heimat, in der ich nicht lebe; liebende Verwandte, von denen ich
weiß, dass sie da sind, aber die ich selten sehe, nur so oft, um zu wissen, dass sie da sind.
Ich brauche das ––––––––
abwesend Existierende, das ist Gott! (wenn du statt abwesend unsichtbar
–––––––––––-–
sagst).

Seite 81
Der treue Zigeuner Othello (ein Farbiger)

[rechts neben dem Text] Platen Sonett 212

Wer wusste je das Leben recht zu fassen,


Und [recte Wer] hat die Hälfte nicht davon verloren
Im Traum, im Fieber, im Gespräch mit Toren,
In Liebesqual, im leeren Zeitverprassen?

212 August Graf von Platen (1796–1835), Lyriker u. Dramatiker, Sonett Nr. 79.

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490 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Ja, der sogar, der ruhig und gelassen,


Mit dem Bewusstsein, was er soll, geboren,
Frühzeitig seinen Lebensweg [recte einen Lebensgang] erkoren,
Muss vor des Lebens Widerspruch erblassen.

Denn jeder hofft [doch], dass das Glück ihm lache,


Allein das Glück, wenn’s wirklich kommt, ertragen,
Ist keines Menschen, wäre Gottes Sache.

Auch kommt es nicht [recte nie], wir hoffen nur [recte wünschen bloß]und wagen:
Dem Schläfer fällt es nimmermehr vom Dache,
Und auch der Läufer wird es nicht erjagen.

Ein dummes, stummes Schweigen, Lohn


berauscht von der stahlharten und klaren Luft Arabiens.
Ich lasse mich vom Schicksal treiben.

Das Wesentliche am modernen Staat: das Territorium, d.h. lokaler Zusammenhang, Huma-
––––––––––––-–
nität (Die Funktion des Begriffs der Nation: substanzielle [Homogen]ität, Austausch der
Griechen und Türken). Ist diese Art Konzentration wirklich mit dem Max Weberschen
Betrieb gemeint? Es ist „organisches“ Wachsen, oder, <…> die Idee mechanische Beseiti-
gung mechanischer [Hindernisse] des organischen Wachsens. Das ist auch der moderne
Begriff der Diktatur. Organisch wird das, was man früher „natürlich“ nannte, und ein orga-
nisches Recht ist einfach ein natürliches Recht.

Seite 82
Der treue Zigeuner: Das Volk und die Monarchen. Das Volk überhaupt immer. Das Volk
und die Frauen. Die schweigende, manchmal fluchende Masse.

Wie perfide ist der Mensch; selbst wenn er erlöst werden will, von seinen Übeln und seinem
Elend und wenn er in schrecklicher Pein stöhnt: O Jesus Christus, so will er doch eigens für
seine Person erlöst sein, eine Sonderstellung auch hier einnehmen (selbst diese Beobachtung
macht er nur aus Langeweile).

Die groteske Artikulierung der Urbanität in einer modernen Großstadt.

Unmenschlich ist vor allem diese Theorie.

Einer „échinangt“213 immer den anderen (Im Traum von den rheinischen Separatisten; ganz
andere <…>). Der Glaube versetzt die Berge der Wissenschaftlichkeit.

213 Schlägt krumm und lahm.

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September/November 1923 491

Und ich falle in ein diktatorisches Schweigen.

25. 9. 23
An Walter Fuchs: Im Sauerland. Lieber, lieber Walter Fuchs. Ihren Brief vom 11. 7. beant-
worte ich (ein Erstgeborener) am Hochzeitstag meiner Eltern. Ich kann nicht so schöne
Briefe und rührende Briefe schreiben, wie Sie. Diese Gabe ist mir versagt geblieben. Ubi
nihil vales [ibi nihil velis]. Aber ich möchte der Aussicht auf weitere schöne Briefe von
Ihnen nicht verlustig gehen. Deshalb diese Notizen. Jeder Versuch, in diesem Zusammen-
hang Stil zu schreiben, wäre in der hohen Schule üppigster Stilistik, die Sie jetzt meistern,
eine unglückliche Stillosigkeit. Sublimierte, exotische Gefühle für würdevolle Haltung,
Repräsentation der europäischen Zivilisation in einem Land, das nicht in den Völkerbund
aufgenommen wird, weil es Stil genug hat, die Sklaverei nicht aufzuheben. O, lieber Fuchs,
ich wäre glücklich, vor einfacheren extremistischen Problemen zu stehen als Sie.
Also vielen Dank für den Brief, die Photographie, die fabelhaften Theismen. Er hat mir die
Freundschaft der Sent M’ahesa verschafft. Die Begegnung mit ihr war die einzige Unter-
brechung in dem gleichmäßigen Verlauf meiner Vorlesungen. Es versteht sich, dass ich nicht
Völkerrecht lesen kann, ohne Ihrer zu gedenken und diese lustige Wissenschaft die Erinne-
rungen an Ihre Tätigkeit meinem Geist köstlicher und reifer erscheinen zu lassen, diese eine
wesentliche Funktion Ihres irdischen Daseins. Denn die Schweizer, Ägypter, die sich nun
für die völkerrechtliche Situation Ägyptens interessieren, Amerikaner, die die Monroe-
Doktrin (sprich Manurah-Däcktrin) für den Schlüssel jeder sub[jugation] und <…> halten,
Jugoslawen, die von Sowjetrussland schwärmen, weil sie in Bojić einen großen Dichter
sehen, was ist das alles gegen die konkrete Realität ihrer völkerrechtlichen Existenz?
Seit 4 Wochen bin ich hier in wunderbarster Einsamkeit, in einem Land, das Grabbe als
adäquaten Ausdruck seines genius loci produziert hat, niemand begleitet mich hier als mein
„Bruder Verstand“. Diese Woche reise ich nach München, wenn man noch reisen kann. In
München sieht man jetzt fabelhafte Stahlhelmparaden. Ich werde wohl an die 2 Wochen in
Tölz sein, von wo ich an H. Rupé eine Karte schicke. Bayern werde ich von Ihnen grüßen.
„<…> im Bild“ habe ich noch nicht zu Gesicht bekommen. Es hätte mir Vergnügen
gebracht, Ihnen so zu begegnen. Haben Sie die Schrift über den Katholizismus bekommen?
Sonst möchte ich beim Verleger reklamieren. Ein schönes Buch, der schönste [der erste
Satz], der die Empörung von Paul Scheffer hervorgerufen hat und die Freude der Sent
M’ahesa.
In dieser Situation damals denke ich an Sie, als säßen Sie in Abessinien in einer Arche, lieber
Fuchs.
Diesseits wie jenseits der europäischen Zivilisation bleibe ich Ihr Carl Schmitt

Seite 83
An Duschka
Freitagmorgen, 9 Uhr (9. 11. 23)
Um 1/2 8 habe ich meinem Vetter zur Bahn begleitet und dann einen Spaziergang zum
Venusberg gemacht, in der frischen Kälte und Anonymität des Morgens, beschienen von
einer verheißungsvollen Morgensonne. O, liebe Duschka, auf den Wegen, die wir so oft
gegangen sind, waren Sie auch heute an meiner Seite. Sie durften nicht sprechen, weil es zu

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492 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

kalt war und Sie angestrengt hätte. Ich selbst habe immer gesprochen, voll Dankbarkeit
gegen Sie und Ihre Güte. Mit einem glücklichen Vertrauen habe ich immer nur an Sie
gedacht, im Tau des Morgens und in einer von der Morgensonne gesegneten Anonymität –
Bleiben Sie immer bei mir, Duschka, ich bin ganz Ihre Seele.

[an Seite 83 angeklebter Zettel, dessen handschriftlicher Text in Kurrentschrift verfasst ist] 214
Am 25. April 1923, nachmittags 4 Uhr, ging ich noch einmal, um mich zu verabschieden,
durch die Räume des Justizministeriums. Ich wollte abends abreisen und vorher noch ein-
mal Kathleen wiedersehen. Meine Sehnsucht nach ihr war so groß, dass ich wie betäubt vor
den Bildern stand, die wir zusammen gesehen haben, dass ich die Spiegel beschwor, ihr Bild
wiederzugeben, wie sie es einmal reflektiert haben, als die schöne Frau durch diese Räume
ging, dass ich mich auf dem wütenden Entschluss ertappte, Zauberei und Magie zu treiben,
wenn ich sie nur dadurch herbeizwingen könnte. Plötzlich fühlte ich einen Stich, wie eine
Biene stach mich der Schmerz in meine Seele, eine Sekunde fühlte ich den süßen Honig der
Erinnerung, dann eine schwarze Wolke, die mich einhüllte und mir das Bewusstsein nahm.
Als ich wach wurde, dauerte es mehrere Minuten, bis ich mich zurecht fand und wusste, wo
ich war.

Seite 84
22. 10. 23
Immer denke ich an Sie, liebe Duschka, während Sie nach Rumänien reisen. Inzwischen
habe ich einige Stunden schönster Klarheit und überlasse mich dem Gefühl, während meine
Dankbarkeit gegen Sie keine Grenzen mehr kennt. Habe ich nicht Recht behalten: Grata
superveniet quae non sperabitur hora <…> und küsse Ihre Hand.
Sah das Bild einer russischen Schauspielerin, die Duschka gleicht, und erschrak bis ins
Herz.

[rechts darüber] Duschka sagte: die Ratio ist grausam und man kommt mit ihr nicht weit.

Nur physiologisch, eine Folge der Herzzustände, die aus meiner Schlaflosigkeit herrührten.
Glücklich, sehnsüchtig, aber die Lektüre der Sanften von Dostojewski beunruhigte mich.

Der 22. und 23., ein Tag glückseliger Erinnerung an Duschka, an ihre Zartheit und ihre
Zutraulichkeit.
Liebe Duschka, ich denke an Sie. Was ist Osten und was ist Westen? Ich weiß es nicht mehr,
Duschka.

Othello, der schon eine Emilia [hatte], der Entwurzelte, obwohl auch die Frau in der Ein-
samkeit [war]. Man muss das alles institutionalisieren, nicht psychologisch sehen. Der
Schwarze – der Einsame (eine Funktion, nicht Institution).
Einsam, der keine Emilia hat. Der Schwarze, der keine Farbe hat und so viel Farbe.

214 Vgl. S. 466 u. 469.

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November 1923 493

Nov. 1923
Mein Hass gegen die Industrie. Wir werden uns eines Tages erheben, die Fabriken zer-
stören, die Fabrikanten sowohl wie das Industrie-Proletariat totschlagen, furchtbare Rache
nehmen für die beleidigte und misshandelte Natur, und werden der Welt den Frieden wie-
der herschaffen, den diese schmutzigen Räuber zertreten hatten.
Ich schreibe diesen Gedanken auf und werfe ihn an den Strand der Zeit wie irgendein See-
räuber einen Zettel, auf dem er in einer unverständlichen Geheimschrift den Platz eines ver-
grabenen Schatzes eingab und den Zettel dem Strand des Meeres überlässt. Irgendjemand
wird es finden und lesen, entziffern und von dem Geheimnis entschleiern.
Unter dieser Industrie, unter den Hämmern und den schnaubenden Maschinen ist der
Schatz der Natur vergraben. Wir töten das alles, um den Schatz zu heben. Sie sind Schatz-
gräber, nicht Kapitalisten. Darauf sind wir stolz. Abenteurer, nicht puritanische Ratio-
nalisten und proletarische Asphalttreter.

Dieses System ist entsetzlich, es sind keine Barbaren, schlimmer, denn Barbaren, das wäre
eine Rettung. Es gibt keine menschliche Beziehung mehr. Denn Proletarier und Kapitalisten
stehen nicht zueinander wie Herr und Knecht. Herr und Knecht, das ist noch menschlich.
Inzwischen ist alles ein „System“, eine Sachlichkeit, eine Objektivität, ein unmenschliches
und stolzes System. Niemand hat mehr Schuld. Niemand existiert überhaupt mehr als
Mensch. Kein Begriff der Objektivität mehr. Wie Schnitzler sagt: Wer von der Legalität ist,
der ist verloren.
Der Kommunismus wird das alles grauenhaft verschlimmern. Eine ausdruckslose Stim-
mung (nicht das ausdrucksvolle Schweigen des Bes Uswika 215)

Seite 85
Von Natur gut: Subsumtion des Guten, Zivilrecht.
Von Natur böse: öffentliches Recht, Staatsrecht; die Regierung böse.
Der Bürger gut, oder umgekehrt (dann hat er ein [Restitutions]recht).
Theorie: von Natur böse.
Pädagogik: von Natur erziehbar usw. (Tugenden ermuntert)

Man muss außerhalb der Welt stehen, um sie aus den Angeln zu heben.
Man muss außerhalb der Gesellschaft stehen, um sie aus den Angeln zu heben, deklassiert
sein; der Oheim, der Puritaner in seiner unschönen, unsozialen Einsamkeit.
Soziologe, eine Sache von unsozialen Menschen. Oder Christus, der Gott. Für Frau von
Schnitzler <… >.

No blazoned banner we unfold,


One charge alone we give to youth,
Against the scepter’d myth to hold

215 Vgl. auch Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951, hrsg. von Eberhard von
Medem, Berlin 1991, S. 203.

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494 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

The golden heresy of truth. A. E.216


[rechts daneben] in Wahrheit: gegen die regierende Wahrheit, die <…>

25. 11. 23
Tausendmal bin ich innerlich zu Ihnen gelaufen und bei Ihnen gewesen, Duschka, habe mit
Ihnen gesprochen und in der Erinnerung in Ihrem Blick Trost und Beruhigung gefunden,
als hätten Sie mir die Hand auferlegt. Seien Sie gut zu mir, schöne, gütige Mutter. <…> mein
liebes Kind.

Frau v. Schnitzler sagte mir (24. 10. 23), ich brauche eine zärtliche Freundschaft, wie sie die
Romantiker hatten. Ich erwiderte ihr: dem steht entgegen mein Bedürfnis nach rapiden
Stimmungen, mein Gefühl fürs Institutionelle und mein endogener Dezisionismus.

Glück, Dankbarkeit, ein neues Leben, aus den Händen dieses wunderbaren Mädchens. Wie
nahe sind Sie bei mir, ich brauche nur ein paar Schritte zu gehen, oft beruhigt mich das, oft
beglückt es mich, ich möchte bei Ihnen sein, liebe Duschka, und sehen, ob Sie traurig sind.

Der Rausch von Glück und Seligkeit.


Duschka, in der Somnambulität des Traumes fühle ich, wie Sie mich auf die Augen küssen
und, die unendlich beglückende Empfindung verwandelt sich im Traum in eine lange, süße
Melodie, die ich mit den Augen fühle. Herrlich p. m. Vorsänger, Ausdeuter, alles unter-
gehend <…>.

Seite 86
Freitag, 2.11. 23, morgens 1/2 10. Duschka, ich bin noch ganz entrückt von einem Traum
und der Sentimentalität seiner Eindrücke; ich fühlte, wie Sie mir die Augen küssten und das
unendlich beglückende Gefühl verwandelte sich im Traum in eine lange, süße Melodie,
deren Töne ich mit den Augen zu hören glaubte. Das war eine glückselige Verbindung und
Vermischung von visuellen und auditiven Empfindungen und einer herrliche Dotation.
Tausend Mal küsse ich Ihre Hand, immer bleibe ich Ihr Carl.

Nacht Samstag auf Sonntag, 5 Uhr


Diese Nacht habe ich fast 2 Stunden wach gelegen und in der Unruhe des Halbschlafes das
Gespräch mit Ihnen fortgesetzt.
In großer Verwirrung: Lermentow 217, Puschkin 218, Tolstoi, und natürlich versuche mit
tausend neue Rechtfertigungen zu erklären, dass ich zwar bei Lermontow an Byron und
doch nicht an Dostojewski und westeuropäische Dichter denke, nicht wahr, und das alles
doch erklärbar ist.

216 George Russell (1867–1935), irischer Dichter u. Theosoph. Es handelt sich um die letzten vier
Verse des Gedichts On Behalf of some Irishmen not Followers of Tradition.
217 Michail Jurjewitsch Lermontow, (1814–1841), russ. Erzähler und Romancier.
218 Aleksandr Sergejewitsch Puschkin (1799–1837), russ. Dichter.

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November 1923 495

Diese auffallende Fortsetzung des Gesprächs ging vor in einem glücklichen Gefühl einer
wunderbaren Sicherheit. Meine Dankbarkeit ist groß und mein Glück, Sie für nur wenige
Stunden wiederzusehen, fühle ich wie ein unerhörtes Geschenk des Schicksals. Schöne,
gütige Mutter. Den Ausruf einer Mutter beim Anblick von Alabaster, der bei Lukas steht 219,
verwandle ich [in] den Ausruf eines Kindes an seine Mutter: Selig das Kind, das Du an Dei-
nem Herzen hältst.220 [darunter eingeklammerter Satz nicht deutbar].

André sagte mir (5. 11. 23) mit Beziehung auf Duschka: Du meinst, Du bist ein Rationalist
gewesen, weil Du jetzt so bescheiden bist, dich mit den Blümchen zu begnügen, die um
Deinen Katheder blühen.
Arme Duschka.

4. 11. 23 Für Duschka


Zur Erinnerung an das Sommersemester 1923 in Bonn, an Bojić, Goethe und den Groß-
inquisitor, an Völkerrecht und politische Ideen, an den Rhein und das Siebengebirge und an
Ihre Seele. 4. 11. 23
Als heute Morgen ich die Widmung in das Buch 221 schrieb, dachte ich bei den Worten „Ihre
Seele“ daran, wie ich Ihnen früher oft sagte, ich wäre „neugierig auf Ihre Seele“. Inzwischen
bedeutet „Ihre Seele“ etwas anderes, als ich damals ahnen und hoffen konnte. O liebe
Duschka, du hast mich oft gefragt und erfülltest mich von neuem mit inniger Dankbarkeit
gegen Sie und ihre Liebe und Güte. Man kann nicht alles in eine Widmung hineinschreiben.
Ich möchte doch nicht ungesagt lassen, dass dieses Buch nicht nur eine Erinnerung sein soll,
sondern auch ein Zeichen schönster Hoffnung für Sie und für ihre Seele.
18. 11. 23

Seite 87
Nur Missverständnisse machen das Leben interessant: Christoforo Moro wird der edle
Mohr Othello, herrlich; immer wieder: der Herr Kannitverstan als der Mittelpunkt der
Weltgeschichte; [nachträgliche Bemerkung mit Bleistift] so werden Schäfer 222 und Brü-
ning 223 zu wahren braunen Nazi gemacht.

Nachts vom 21. auf den 22. November: Ich dachte immer von Neuem in quälender Un-
sicherheit darüber nach, was es bedeutet, dass Duschka mir erlaubte, ihr die Decke zu
schenken, dann zurückfaltete und sie nicht mehr haben wollte, als ich ihr sagte, ich hätte ihr
gerne eine schönere „gekauft“. Das Wort kaufen hat sie so beleidigt, [bis sie] schließlich mir
doch erlaubte, sie zu schenken und dann kurz nachher mir einen Dollar zurück gab, den sie
mir noch schuldig war – als wollte sie alles liquidieren.
Ich sehe jetzt, im Zentrum ihres Wesens ist nicht Passivität, wie ich dachte, sondern eine
entsetzliche Negativität. Sie hat den Egoismus ihrer Krankheit. Ich entsetze mich vor ihrem

219 Lk 7,37.
220 Anspielung auf Lk 11,27.
221 Widmung in Schmitts Parlamentarismus-Schrift; siehe Eintragung vom 18.11. 1923.
222 Siehe Teil II, Anm. 666. Schäfer wurde nach 1945 als NS-Mitläufer angeprangert.
223 Heinrich Brüning (1885–1970), Politiker, 1930–32 Reichskanzler.

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496 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Egoismus. Ich bin ein armer Hase neben der ruhigen Selbstverständlichkeit, mit der sie in
sich ruht. Ich musste immer der Betrogene sein, das versteht sich von selbst. Denn ich bin
einer Aufopferung fähig, sie nicht. Welcher entsetzliche Zustand.
Dann hundert und tausendmal überlegt, ob ich die Decke bringen soll oder nicht, ich will
sie bringen, ruhig, als ob nichts geschehen; aber das geht nicht; denn die Decke ist ein Sym-
bol geworden wie Othellos Taschentuch.
Jetzt war sie einen Monat gesund, die Krankheit kommt wieder, Verzweiflung, Angst, Un-
sicherheit und Zerrissenheit, Selbstmordgedanken und die wahnsinnige Besorgnis um die
Liebe eines Mädchens.
Das ist Romantik, ein Zustand, der anachronistisch ist. Man kann heute nicht mehr roman-
tisch sein; die Zeit ist vorbei, die Illusion des Einzelnen. Frauen können es noch sein. Ein
Mann muss heute Nihilist oder Kommunist oder römischer Katholik werden. Sonst ist er
anständigstenfalls Othello. Ich sehe es und flüchte zu dem Egoismus der Frau, weil er selbst
eines Egoismus nicht fähig ist.

Romantiker konnte man im wilhelminischen Deutschland sein oder Subromantiker in


diesem schmutzigen Zeitalter. Man schaffte die gepanzerten Fäuste heran, aber ihr guter
Geschmack ist doch nur ein Beschluss der geschmacklosen gepanzerten Faust. Daher waren
alle diese Literaten 1914 auf der Seite des Krieges und außerordentlich geschmacklos, arm-
selig.

Das Missverhältnis des Deutschen zur Form und zum Offiziellen.


Im Deutschen sagt man offiziell Fernsprecher; inoffiziell Telephon.
Offiziell spricht man eine Volkssprache, inoffiziell eine fremde Front. Das Offizielle will
inoffiziell sein, das Inoffizielle sucht sich unter der Hand die Form des Offiziellen. Welch
eine Verwirrung! Im Deutschen lügt man, wenn man ehrlich ist! 224

Wenn ich noch erfüllt bin von dem Glück, das Sie mir schenkten und deshalb fröhlich
arbeite, mit frischen Gedanken, so will ich wenigstens den ersten Gedanken und die ersten
Sätze, die ich schreibe, Ihnen weihen, schöne, von Herzen geliebte Duschka. Ich sende
Ihnen tausend Grüße in Ihr kleines Zimmer.

Brief an Blei, 27. 11. 23, über Gütersloh: Seit einigen Tagen lese ich Gütersloh, erstaunt über
die außerordentliche Genialität dieses unglücklichen Menschen. Ich bin zu erstaunt, um ein
Urteil artikulieren zu können. Ist es nicht möglich, Gütersloh zu sehen? Ich habe es in
München mehrmals vergebens versucht, und da ich nicht gewaltsam sein möchte, sondern
Fügungen mich füge, so bleibt es dabei, dass ich ihn seit Jahren nicht mehr zu Gesicht
bekam. Doch verbindet mich etwas mit ihm, nicht nur im Geist, auch im Schicksal.

Es geht so dumpf zu in der Welt, dass gelegentlich sogar die Klugheit etwas auszurichten
vermag.

224 Goethe, Faust II, Vers 6771: Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.

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November/Dezember 1923 497

Ich bin so müde, Duschka, aber das bedeutet, dass ich zu Ihnen gelaufen komme; ich fühle
auch, dass Ihr Blick auf meinen Büchern geruht hat.

Seite 88
Donnerstag, 29. 11. (nach dem schönen Spaziergang mit Duschka) nachts 12 Uhr: Ich habe
einige Stunden schön gearbeitet und das Zimmer ist wunderbar ruhig, in der Stille der
Nacht bin ich so weit entfernt vom Tag, dass ich mich meiner Überschwänglichkeit, meiner
Dankbarkeit, meinem Glück gegen Sie, Duschka, ganz überlasse. Ich fühle mich getragen
von meiner Liebe zu Ihnen. Jetzt, wo der helle und laute Tag mich nicht ablenkt und ver-
wirrt, sehe ich mit den Augen meines innersten Bewusstseins und höre mit dem inneren
Ohr, ich verstehe mit der inneren Rationalität, ohne das konstruktive Gewebe der Ratio.
Was ich sage, ist immer wieder: Gehen Sie nicht weg, Duschka, schönste Frau, bleiben Sie
bei mir. Aber das sage ich nicht in Angst, sondern in tiefstem Glück, in wunderbarer Ruhe
und Seligkeit, weil jedes Glück nach Ewigkeit verlangt und kein anderes kennt.
Wie zittere ich in dem Glück dieser unerklärbaren Ruhe und möchte weinen, wie ein Kind,
das nach langen Reisen in die Heimat kommt. Auch das ist nicht Angst, Duschka, Sie kön-
nen es sich denken: Wie ein Baum in einem unerwarteten, milde erlösendem Regen vor
Glück zittert.
Wie schön sind Sie, Duschka. Ich küsse Ihre Hände, Ihre Augen, ihren Mund. Nehmen Sie
mich auf in Ihre Arme und an Ihr Herz und in Ihre Seele.

Samstagmorgen, 9 Uhr (in Köln im Examen), 1. 12. 23. An Duschka.


Heute Morgen, während der Fahrt nach Köln, habe ich mich immer mit Ihnen unterhalten,
Duschka, sehr redselig, und in meinem Kopf ging alles noch tausend Mal schlimmer durch-
einander, als es in meinen Worten gewesen wäre, wenn ich laut mit Ihnen hätte sprechen
können: ob es Ihnen gut geht, wie Sie geschlafen haben, ob Sie einen Brief erhalten haben,
der Sie beruhigt, ich dachte an die Stunden Ihres Stundenplans (war es Conrad 225) oder
Gide – L’I[mmoral]iste 226), ob wir bald einmal wieder zusammen nach Köln fahren und
wann wir einmal miteinander die frische Munterkeit einer Morgenreise erfahren. Es ist mir
ja ganz unmöglich, mich auch nur eine Sekunde wohl zu fühlen, ohne Sie herbeizu-
wünschen. Nicht wahr, liebste Duschka, dann schreibe ich schnell ein Wort.
Jetzt muss ich mich gleich verabschieden, Herzenskind, das Examen beginnt. Bis heute
Abend, Liebste, Duschka, auf Wiedersehen. Ich küsse Ihren Mund, küsse Sie, die Augen,
Ihre Seele.

2. 12. 23 Sonntagmorgen, gut ausgeschlafen, nach einem schönen Frühstück in bester


Arbeitslust, bevor ich mit der Arbeit beginne:
Im Namen meiner schönen, gütigen Mutter und Frau, im Namen der schönen und gütigen
Erweckerin und Begleiterin meines neuen Lebens fange ich an.

225 Joseph Conrad (1857–1924), engl. Schriftsteller polnischer Herkunft.


226 Siehe Anm. 265.

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498 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Ich bin glücklich, dass Ihr Blick auf meinen Büchern geruht hat und fühle, dass er auf mei-
ner ganzen Arbeit, auf meinem ganzen Leben ruht.

Montagmorgen (3. 12). Ich hatte die Nacht darüber nachgedacht, dass sie immer nur von
sich spricht, an sich denkt, meinen Brief mit keinem Wort erwähnt, wie sie die Geschichte
von dem ihrem Vater gestohlenen Geld erzählt (ich hätte 2 Semester in Paris davon studie-
ren können, sagte sie; ist das der Grund ihrer Traurigkeit?).
Ich dachte mir auf dem Morgenspaziergang: Sie hat ein mikroskopisches Auge; sie sieht
jedes Sandkorn meines Misstrauens, aber nicht den Verlust von Vertrauen, den ich gegen sie
errichte.
Aber 2 Stunden später ging ich zu ihr, auf ihr Zimmer, sie war am Arbeiten und las laut für
sich. Ich war glücklich und sie war glücklich. Das änderte den ganzen Tag.

Seite 89
Duschka, Montagabend, 12. November, 1/2 11.
Sind Sie schon zu Bett gegangen, liebe Duschka. Ich wollte, ich könnte es bewirken, dass Sie
niemals wieder traurig werden und stets guter Dinge sind. Aber was bin ich für ein schwa-
ches, hilfloses, ohnmächtiges armes Kind.
Heute Abend bin ich um 10 Uhr nach Hause gekommen. Ich hatte Professor Kaufmann,
der von 6–8 eine Vertretung gehalten hatte, mit seiner Frau eingeladen. Das Gespräch und
der Wein haben mir den Schlaf vertrieben, ich will immer mit Ihnen sprechen und habe ver-
sucht, meine Vorlesung über Völkerrecht für Sie aufzuschreiben. Das ist aber alles ein
sachliches Ding und wenn ich vom Grundsatz der Absolution des Einzelnen und von
den gemauschelten Schiedsgerichten spreche, so ist mir, als sähe ich Sie auf der Straße und
müsste höflich grüßend weitergehen, ohne mit Ihnen gesprochen zu haben.
In dem Wunsch, mit Ihnen zu sprechen, habe ich Ihre schöne Bibel, mein Geburtstags-
geschenk, aufgeschlagen und traf die Stelle Johannes, Kapitel 21, Vers 5: Christus fragt den
Petrus: Liebst du mich? Und wiederholt die Frage dreimal; Petrus ist traurig, dreimal so
gefragt zu werden und antwortet: Herr, du weißt alles, das musst du doch auch wissen, dass
ich dich liebe. Es war ein seltsamer Trost, dass ich gerade diese Stelle in Ihrer Bibel auf-
schlage. Liebe, schöne, gütige Duschka, ich kann nicht vergessen, wie gut Sie gegen mich
waren, als Sie mich auf der Straße vor dem Bahnhof zu sich riefen.
Ich wollte, ich könnte Sie fröhlich machen, meine Liebe und meine Dankbarkeit ist sehr groß.
Ich küsse Ihr Herz und bin, Duschka, ganz Ihre Seele.

Othello: Das Schicksal des Menschen: er ermordet die Zivilisation, die sich seiner aus Mit-
leid angenommen hat, aus Einsamkeit; dann wird er sich selbst morden. Ein lächerliches
Schicksal in den Augen eines Romanen sowohl wie eines Slaven; den Romanen verstehe ich
nicht, weil er institutionell denkt, den Slaven verstehe ich nicht, weil er nicht institutionell
denkt. Die Menschen stehen zwischen beiden. Schauerliche Situation. Die Folge ist Eifer-
sucht. Schwarz vor Eifersucht; die ewige Heimatlosigkeit. Er heiratet eine Italienerin. Aber
das stimmt nicht; denn das Deutschland Ludendorffs hatte nichts Edles, wie es Othello
immer behält; er ging in den Selbstmord.

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November/Dezember 1923 499

„Deutschland ist Hamlet“ 227. – Oh, leider schon seit langem nicht mehr.

3. 12. 23
Warum kann ich so wunderbar trösten: weil ich mich selber tröste; ich möchte einem ande-
ren, einer Frau, aber nicht nur Frauen, auch Männern, das sein, was ich mir selber wünsche;
darin liegt eine innere Befriedigung. Es ist erstaunlich, wie das psychologisch funktioniert:
ich spiele die Rolle, von der ich mir wünsche, dass sie mir gespielt wird; eine eigenartige
illusionistische Wunscherfüllung; allerdings anstrengend und aufreibend. Ich tröste mich
also selbst; die Identifikation mit einem anderen, den man tröstet. Ich möchte, zu mir käme
ein lebenssicherer, aktiver Mensch und sagt mir: Kümmern sie sich um nichts, ich sorge für
alles; gehen sie in Ruhe ihren Träumen nach; und diese Rolle spiele ich nun gegenüber allen
Willensschwachen und sage ihnen immer wieder: Kümmern sie sich um nichts, ich sorge für
alles, gehen sie ruhig ihren Gedanken und Träumen nach.
Mit Entsetzen sehe ich, dass ich völlig unfähig bin, mich zu wehren, keine Hand zum Grei-
fen habe. Ich habe gar nicht das Recht, jemand unter meinen Schutz zu nehmen, obwohl ich
die Manie habe, das immer wieder zu tun. Es ist ein illusorischer Trost, den ich spende, eine
Gemeinheit, die Menschen durch solchen Trost hereinzulegen. Werde endlich vernünftig.

Seite 89a
14. 11. 23, abends 9 Uhr

Dass ich in Sorge um Sie bin, kann ich nicht verhindern, ich will es auch gar nicht. Alles ist
gut so, wie es ist, weil ich weiß, dass Sie bei mir sind. Gehen Sie gleich zu Bett, liebes Kind.
Ich küsse Ihre Augen [dieser Satz ist gestrichen]. Auf Wiedersehen [gestrichen]. Liebe
Duschka, ich freue mich darauf, Sie morgen Nachmittag wiederzusehen, eigentlich <…>. Sie
wissen alles, was in mir vorgeht, wie glücklich Sie mich gemacht haben und wie sehr ich dem
Schicksal danke. Seien Sie niemals traurig, Sie wissen, dass Sie mir dadurch weh tun. <…> und
dass ich dem Schicksal danke, das uns zusammengeführt hat. – Inzwischen lese ich noch
etwas Turgenjew, das Nest des Adels (alles ist ja nur der Wunsch, mit Ihnen, Duschka, zu
sprechen); dann werde ich wohl einschlafen. Ich bin ziemlich müde. Sie müssen Ihren Kopf-
schmerz schonen, brauchen Schlaf, schönes Herzenskind; bald sind Sie wieder guter Dinge
und brauchen auch wieder eine Stunde, wo sie von selber anfangen zu singen, liebe Duschka,
liebe schöne, gütige Frau. Ich küsse Ihre Augen und Ihr Herz.

Seite 90
Dez. 1923
Ein Kind tröstet sich mit einem Stück Schokolade oder in den Armen der Mutter, oder es
kriecht ins warme Bett, ein Mann tröstet sich bei einer Frau, oder beim Wein oder er notiert

227 Das Gedicht Hamlet aus der Sammlung Ein Glaubensbekenntnis, Zeitgedichte, erschienen 1844,
von Ferdinand Freiligrath (1810–1876) beginnt mit den Versen: Deutschland ist Hamlet. Ernst und
stumm/in seinen Thoren jede Nacht/geht die begrabene Freiheit um,/ und winkt den Männern auf
der Wacht.

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500 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

seinen Schmerz als Dichter oder Künstler und sagt, was er leidet, wohl ein lächerlicher
Trost.
Ich sehe den grauenhaften Sturz aller Dinge ins Nichts. Mein Leben ist nichts. Was wird aus
dieser Erkenntnis? Wahnsinn oder ein leidensvolles Christentum. Leidensvolles Christen-
tum fürchte ich, denn ich bin so träge und feige. Also Wahnsinn, denn dazu bedarf es keiner
moralischen Kraft; das ist Selbstmilde der Feigheit. Grauenhaft. Alle stolzen und alle zer-
knirschten Stunden vergehen, am Ende steht der Tod. Keine Rede über den Tod kann ihn
aufhalten. Das Leben ist nichts. So dumm war die Menschheit noch nie wie heute.

10.12. 23 – Ich lese aus der Nachfolge Christi 228, wie töricht es ist, bei einem Menschen
Trost zu suchen, sich an das Geschöpf zu halten und dadurch den Schöpfer zu beleidigen.
O Gott. Vielleicht fühlt diese Frau, die ich liebe, dass ich sie nur deshalb so furchtbar liebe,
weil ich ihretwegen Gott verlasse. Sie wird erdrückt von der wütenden Heftigkeit, mit der
ich mich an sie klammere. Ich will sie allein, meine Monogamie ist hier wirklich nur Mono-
theismus, meine Eifersucht, die Angst, dass mein Götze sich selbst entlarvt. Die Angst,
lächerlich zu werden, weil ich ein Narr bin. Was soll ich Duschka tun. Wir sprechen von
Aufrichtigkeit, unbedingter Wahrheit, aber das ist ja alles ein Schleier von Worten über den
Dingen.

Ich bin wirklich ein mittelalterlicher Mensch: ich sehe alles providenziell. Die Worte, die ein
Mensch spricht, gehören zu ihm, ich sehe immer noch einen Zettel, die ihm wie auf alten
Bildern aus dem Munde heraus hängen und auf den sie geschrieben sind.

Als ich die Notiz aus der Nachfolge Christi las, wollte ich gleich zu Duschka laufen, um es
ihr zu Füßen zu legen; das ist im Geheimsten wohl nur ein Verräterinstinkt, der Wunsch, zu
zeigen, dass man mit einem anderen hätte konkurrieren können und dafür belohnt werden
will, dass man es nicht getan hat. Verräter, Schuft, elender Betrüger.

[Die folgenden 8 Zeilen sind durchgestrichen und auch nicht deutbar]

Montagabend, 10 Uhr (10. 12. 23)


Ich war nicht zu Hause, als Sie mich besuchten, Duschka, und ich war traurig, dass ich Sie
nicht gesehen habe, und glücklich, dass Sie hier waren. Ich fühlte Ihre freundlichen Worte,
„seien Sie guter Dinge“, wie eine Hand auf meiner Schulter. Jetzt habe ich ein paar Stunden
sehr gut gearbeitet und die Nacht fing an, sich meines Geistes zu bemächtigen.
Schöne Begleiterin meines Lebens, ich fühle den Blick Ihrer Augen und höre den Schritt
Ihrer Füße an meiner Seite. Auch wenn mein Geist sich verliert, sind Sie bei mir, auch in
fernen phantastischen Gegenden. Ich trage Sie in mir und weiß, dass ich von Ihnen getragen
werde.
Ihre Karte ist auf meinem Tisch wie eine weiße Blume. Erst war ich traurig, dass ich nicht
zu Hause war, als Sie kamen, jetzt denke ich daran, dass ich Sie morgen sehe, nachdem ich

228 Thomas a Kempis (1379/80–1471), niederl. Schriftsteller; Imitatio Christi, vor 1427, Kompendium
erbaulicher Ratschläge auf einer Grundhaltung asketischer Weltentsagung.

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Dezember 1923 501

erwacht sein werde. Ich freue mich über die Herzensgüte Ihres Entschlusses, mich zu be-
suchen.
Wie anders ist mein Zimmer, seitdem Sie darin waren, wie anders mein Leben, seitdem Sie
darin eingetreten sind, meine Augen sind anders, seitdem Sie sie küssten. Bleiben Sie bei
mir, Duschka. Ich küsse Ihre Hände, aus denen ich ein so schönes Leben empfangen habe.
In der Freude eines wunderbaren Glücks bin ich ganz Ihre Seele.

Seite 91
Das Gefühl des Gegensätzlichen zur Natur benutzen. Der Tod auch das Leben: haben wir
denn wirklich schon den Homunkulus? Wie werden die Kinder gezeugt und wie geboren?

Mit dem „Zurückweichen der Naturschranke“ weicht auch die Natur selbst zurück und es
bleibt ein artifizieller und von artifiziellen Bedürfnissen und artifiziellen Be[trachtungen
genährter Bestand]; die armseligen Kasten sind das neue Paradies, in dem die Natur über-
wunden und gewichen ist; außer und über die Natur. Hier ist der Mensch Herr, ein räder-
schnurrendes Paradies, eine räderschnurrende Naturseligkeit. Hier sagt er: Es werde Licht
und dreht das Elektrische an. Und der Prolet als Herr dieser herrlichen Maschinen. Sie
haben keinen Herrn, sondern nur einen Bedienten, ohne dadurch selbst ein Diener zu sein.

Zivilisation, Industrie, ich sehe die kurze Leine, an der die Menschen laufen, die Leine wird
immer kürzer, weil immer mehr Hände daran gebunden werden, zuletzt ist es nichts mehr;
grauenhafter Zustand. Die Leine „Gott“ war doch viel länger und die Freiheit deshalb
größer.

Oft werde ich ruhig und zuversichtlich und begreife alle Schmerzen, Qualen und Ängste als
ein Schmerzopfer einer Reinigung; dann wieder verzweifelt und zur Hölle verdammt, Tod.
Ich verlange etwas von einer Frau, was nur Gott geben kann: Ruhe und Frieden. Ich muss
mich betäuben, muss sie betrügen, muss betrogen werden, alles in der einfachsten Konse-
quenz solcher Dinge. Moral und Schicksal ist dasselbe. Es geht einfach zu in der Welt und
kein Geschwätz ändert etwas daran.

Das gütige Lächeln einer Mutter: sich dadurch trösten lassen (O, es ist ein großer Trost),
eine kindische Sünde; nur ein Kind darf sich trösten lassen, nicht ein erwachsener Mann;
Gott hat es so eingerichtet, es wäre Sünde, Kind bleiben zu wollen, sors de l’enfance.

An Duschka: Ich wollte Ihnen schreiben, aber ich hatte keine Sammlung, saß nicht bequem
in der Bahn und Sie sehen ja doch alles.
Darum nur das rasche Gedicht.
[zwei Zeilen, vermutlich später eingefügt, nicht deutbar]

Auch ich suchte Gott, aber ich bin ungeduldig und voreilig und nahm (meinem Charakter
entsprechend) die erste beste Sache der Einfachheit halber als Gott. Nicht aus Fetischismus,
der Dummheit ist, sondern aus böser Ungeduld. So bin ich [Polytheist], aber nicht so, dass
ich mehrere Götter nebeneinander hätte. Ich habe mit großer Dezision immer nur einen

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Gott (und gegen den Wortlaut des Gebotes, du sollst keine fremden Götter neben mir
haben, verstoße ich keineswegs), ich verwerfe schneller die Götter, und der Reihe nach habe
ich viele Götter; ein heftiger Monotheismus mit wandelbarem Objekt. So sind schon viele
Frauen mein Gott gewesen. Buchstäblich; es ist eine Apotheose, was ich treibe. Ich möchte
die Frauen zwingen, Gott zu sein. Ich möchte sie zwingen, besser, schöner und mächtiger
zu sein als ich, Gott zu sein. Ich habe immer Objekte gefunden, die sich anbeten lassen mit
<…>.
Die Menschen sind meistens schlau und lassen sich aufs Spiel ein; sie zeigen sich von ihrer
besten Seite (die Frauen können das, aber schweigen einfach); dafür bezahle ich ihnen fana-
tisch den Tribut der Anbetung, der Selbstaufopferung. Mit Anbetung und Opfern diene ich
ihnen, werde endlich ein Mensch, weil es einen Gott gibt.
vgl. Bl.[att] 36

Mache einmal ein Verzeichnis der heute beliebten Worte und Vorstellungen: Schwindel,
Bluff, Kulisse, Fassade. Geld = Schleier, camouflage, die Literatur der simulacra des 16. und
17. Jahrhunderts: Diktatur. Früher sagte man Unsinn (Nonsens), wie sacht und anständig.
Heute sagt man Betrug, das politische Gefühl, betrogen zu sein. Bei Stendhal (wie Suarès 229
es formuliert) der „Gedanke der allgemeinen Lüge“, den Tolstoi von Stendhal übernommen
hat. Erwidere die allgemeine Lüge.

Seite 92
Diese armen Teufel, die einen modernen Riesenschieber bewundern sowie Stinnes und
andere Inflationspilze als Nationalhelden ausschreien, diese schmutzigen Santones 230
der Literatur sollten doch wenigstens soviel Verstand haben zu wissen, dass es gar nichts
nützt; dass diese modernen „Aristokraten“ gar keine Aristokraten sind und niemals, auch
nicht nach 500 Generationen, werden können, dass sie einen Schwindel, einen Bluff, eine
camouflage oder wie diese hochmodernen [Einschiebung nicht deutbar] Ausdrücke lauten,
begehen, wenn sie hier von Condottiere, Schlotbarone, [ein darüber geschriebenes Wort
nicht deutbar] oder dergleichen sprechen. Das ist doch alles so peinlich, wie die Renais-
sance-Ornamente an einer modernen Fabrik. Die[se] Werbung nützt ihnen nichts, denn
nach dieser Art Plunder fragt doch wahrhaftig kein Stinnes mehr und nützt dem Stinnes
nichts, denn davon wird er doch nicht geistiger und die Hand, in denen eine lächerlich ver-
dummte Menschheit ihr Schicksal lässt, wird dadurch nicht edler und feiner.
Die Philosophie und Wissenschaft waren die Mägde der Theologie; o wären sie es doch!
Heute sind sie Schuhputzer. Etwas Ökonomisches.

Ich lese die Geschichte Ägyptens im 19. Jahrhundert, und gerate in Wut über die Gemein-
heit der Engländer.

229 „Tolstoi, der so viel von Stendhal und zwar zuerst Kriegsschilderungen gelernt hat, bezog von ihm
auch den Gedanken der allgemeinen Lüge: der Eitelkeit jedes Menschen und allenthalben der
Triebfeder des sozialen Lebens“, in: André Suarès, Portraits. Deutsch mit einem Nachwort von
Otto Flake, München 1922, Kap. Stendhal, S. 166.
230 Abgeleitet von span. santón = Scheinheiliger.

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Dezember 1923 503

Ich lese die Geschichte Belgiens unter der deutschen Herrschaft und gerate in Wut über die
Deutschen.
Ich lese ein Buch zu Versailles 231 und gerate in Wut über die Franzosen.
Ich höre die Gemeinheiten von Stinnes und gerate in Wut über den Kapitalismus.
Ich höre die brutale Art der Politik der Bolschewisten und gerate in Wut über die Bolsche-
wisten.

Was will ich eigentlich, was gibt es auf der Welt, [über] das man nicht in Wut geraten
könnte? Muss ich nicht allmählich einsehen, dass alle Juristen Narren sind? Und alle Men-
schen, die an Gerechtigkeit glauben, Trottel und Simpel, wenn sie nicht Betrüger sind?
Kann man die Geschichte messen an dem Maßstab der Gerechtigkeit? [Gibt es im] jüngsten
Gericht Richter unserer lächerlichen europäischen Justiz? Das rechtsgelehrte Richtertum,
eine grauenhafte Lächerlichkeit (oder <…> wie das theologisch gebildete Priestertum).

19. 12. 23: abends 9 Uhr


Mich zieht eine heftige Sehnsucht zu Ihnen, Duschka. Aber es ist schon spät und ich scheue
mich, jetzt noch in der Pension zu erscheinen. Ich tröste mich damit, dass ich Sie morgen
Vormittag, bald nach dem Erwachen, bei mir sehe. Kommen Sie bald, ich bin glücklich,
wenn ich Sie sehe.
[Die anschließenden Zeilen nicht deutbar].
Wir müssen gegen Ungerechtigkeit protestieren, aber die Leiden können wir nicht aus der
Welt schaffen.
<…>

Seite 93
Kraft, meine Kraft, warum hast du mich verlassen.
Ich sehe resigniert meine Kraft, es hat ausgelacht, der Schwung war stark gewesen, zum
Professor. Das also ist alles. Mit 35 Jahren.

Ich denke an K. Sie hat Duschka den Weg geebnet.


Du weißt nicht, wessen Werk du bist.

Hitler ist ein Hysteriker 232


[Rechts daneben notiert]
Gespräch mit Jup: <…>
Ich: Mohammed ist auch ein Christ.
Jup: Er ließ sich aber nicht ein <…> Schnurrbärtchen [wachsen].
Die russischen Literaten unter dem Zaren: Sibirien und [Verbannung].
Die deutschen Literaten unter Wilhelm II.: Man brauchte nicht Reserveoffizier zu werden.

231 Versailler Friedensvertrag


232 Am 8./9. November 1923 putschten in München Hitler, Ludendorff u. a., um in Bayern die Macht
zu übernehmen. Siehe auch Teil II, Eintragung vom 9. 11. 1923.

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504 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Am 21.12. 23 war ich mit Duschka in Köln, zeigte ihr die Kirche Maria am Kapitol,
Gereonkirche (die Stadtbibliothek) und die Apostelkirche, wir gingen über die Wege, die
ich mit Cari oft gegangen war, wir aßen bei Deis mit Jup zu Mittag. Auf dem Heimweg
wurde Duschka krank; als wir in Bonn angekommen waren, legte sie sich eine Stunde in
meinem Zimmer auf die Ottomane. Währenddessen las ich den Giftmordprozess der Milica
Vukobrankovics 233 und dachte immer wieder an Cari. Abends zu Duschka in ihrer Pension,
auf ihrem Zimmer, sie war ganz nett, ich küsste zum ersten Mal ihren Leib. Beim Abschied
bat sich mich, noch einmal ihren Leib zu küssen.

Hobbes steht dem Leviathan doch noch von außen gegenüber; bei Hegel wird der
Leviat.[han] immanent.

Wenn sie noch schläft, so bleibt sie lieb.


Die Freude, das Bild der guten, liebevollen Duschka zu sehen, ist radikal überraschend, mit
größter Unmittelbarkeit. Ich habe dieses Bild gestreichelt und die Bilder der anderen
Duschka bewundert und in größter Liebe an sie gedacht, meine liebe Duschka.

Ich sagte Duschka in Köln, vor dem Kruzifix in der Kirche Maria am Kapitol: das Blut
hängt an seinem Körper in dicken Tropfen, wie Weintrauben an ihrem Stock hängen;
Christus musste sterben, sein Blut musste sich vergießen, die Gottheit wurde gekeltert, da-
mit die Menschheit den Wein der Erlösung trinken konnte.

Samstag Morgen 1/2 12 Uhr:


Liebe Duschka, es ist eine große Freude, Ihre beiden Bilder im Zimmer zu haben. Ich habe
das Bild der guten, liebevollen, mütterlichen Duschka gestreichelt und das Bild der anderen
Duschka bewundert, in Liebe und Dankbarkeit zu Ihnen, meine einzige Duschka.
Heute Morgen, als ich immer wieder durch Besuch und berufliche Rücksichten gehindert
wurde, zu Ihnen zu kommen (denn es wurde mir lange bis zum Nachmittag und ich wollte
nicht nur Ihren beiden Repräsentanten danken für die beglückende Güte, die Sie gestern
Abend mir bewiesen). Heute Morgen fühlte ich den schönen Trost der beiden schönen
Bilder.
Wir alle Drei grüßen Sie herzlich. Ich bin glücklich, dass Sie mir ein so schönes Weihnachts-
fest bereitet haben und küsse dankbar Ihre Hände. Liebe Duschka, ich bin Ihre Seele.

Ökonomisches Denken: Wenn die Ärzte alle Apotheker wären, so entstünde eine andere
Therapie

233 Ernst Weiß, Der Fall Vukobrankovics, Die Schmiede, Berlin 1924. Bei Milica Vukobrankovics
handelte es sich um eine attraktive serbische Adlige, die u. a. 1921 versucht hatte, die Frau und die
beiden Söhne des Verlegers Ernst Stülpnagel (Konegen Verlag, Wien) mit Bleiweiß zu ermorden.

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Dezember 1923 505

Seite 94
24. Dezember 1923, Duschka einen Zettel mit dem Gedicht You have taken the east from
me 234, die Kassette voll Dankbarkeit, Glück und Vertrauen für Duschka von Ihrer Seele.

<…> das Geschehen, das aus schlechtem Gewissen entsteht; die Menschheit fühlte, dass es
mit der Menschlichkeit zu Ende ging, daher die vielen <…>

Zu Kelsen: Jeder nicht <…> Gegensatz von <…> Gesetz und <…> Befehl <…> von rechts
ist Staatssouveränität; bleibt ein billiges Geschwätz, ganz gleichgültig, ob es in kantischer
oder phänomenologischer oder Einsteinischer Terminologie einher plätschert.

Es ist möglich zu sagen: Im Namen des Gesetzes, aber natürlich nicht im Namen eines
Befehls, der müsste im Namen dessen geschehen, der den Befehl gegeben hat. Das Gesetz
ist schon Repräsentation (der Idee der Gerechtigkeit).
Im Namen: Repräsentation
[rechts daneben] (Im Namen des Politikers ist schon unpolitisch gedacht, es macht aus dem
politischen Menschen schon eine Elite, eine Avantgarde)
Der Name ist öffentlich-rechtlich, nicht privat-rechtlich.
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Ich machte Duschka darauf aufmerksam, dass alle Vergleiche Baudelaires künstlich sind,
Dinge der Natur mit dem Menschen oder mit Waren und Menschenhand/schönen Hunden
<?> vergleichen: ton souvenir en moi brille [recte luit] comme un ostensoir 235.

Hegel ist doch wesentlicher Fortschritt, dieser lächerliche Begriff gehört zu jeder Ge-
schichtsphilosophie der Immanenz. Es ist der Glaube an die Weltgeschichte als einen gro-
ßen Betrieb.
Darauf kommen, wie oft bei den Menschen das Wort romantisch nur als Ausdruck des
Immanenz=Denkens erscheint.

Der Staat eine Funktion des Gesetzes, das Gesetz eine Funktion der öffentlichen Meinung,
die öffentliche Meinung entsteht aus dem, was jeder <…> substanzloses Denken.

Traum nachts vom 29. 12./30. 12. 23: Mir wächst aus dem Leib ein Mohr, ein Neger; ich
höre eine Stimme: Wenn du mit dieser Soße getauft bist, hilft dir nichts mehr. (Herrlich im

234 Isabella Augusta, Lady Gregory (1852–1932), irische Schriftstellerin. Aus dem gälischen Gedicht
Donal Og (engl. Young Donal), letzte Strophe: You have taken the east from me, you have taken
the west from me;/you have taken what is before me and what is behind me;/you have taken the
moon, you have taken the sun from me;/and my fear is great that you have taken God from me!,
siehe auch S. 480.
235 Dt. Dein Bild in mir strahlt wie eine Monstranz. Es handelt sich um die letzte Zeile aus dem
Gedicht Harmonie du soir von Baudelaire, Übersetzung von Friedhelm Kemp, in: Baudelaire,
Werke, S. 144/145.

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506 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Othello; kein Wunder hilft dir); ich fühle, ich muss den „Schwarzen“ unterdrücken, sonst
bin ich verloren.
<…> Symbolik.

Seite 95
Das Gesetz als solches nicht ohne weiteres miteinander zu verbindende Eigenschaften hat
1) generell
2) vorherbestimmt (wie herrlich sie <…>) S. 80

Othello hat mit Eifersucht nichts zu tun, auch nicht mit Liebe.
(„Sie liebte mich, weil ich Gefahr bestand,
er liebte sie, um eines Mitleids willen“) 236
Dieses Stück ist in deutscher Sprache schöner als in Englisch. Es gibt solche Stücke; Othello
ist ein deutsches Stück; trotzdem es Englisch geschrieben ist und in deutscher Sprache,
richtig übersetzt, schöner als englisch.
(So z. B. einiges von Villiers de L´Isle-Adam, die Geschichte vom Großinquisitor) 237
Die Atmosphäre der Sache, des Stoffes; die immanente Sprache eines bestimmten Themas.
Oder äußerlich: nicht immanente Sprache, sondern eine bestimmte Sprache ist ganz üblich,
die Farbe am besten adäquat.
Othello als Farbe, aber als musikalischer
–––––––––––– Effekt; das ist das Deutsche daran.

Jedes Wort muss wieder Glanz und Tau bekommen.


Man muss lernen wie Wortmaschinen, in denen die Worte klappern, wie die Buchstaben in
einer Schreibmaschine von sprechenden Menschen zu unterscheiden.
Die Antworten des Menschen hemmen die Maschine auch hier.
Die maschinellste Theorie, der Proletarismus, spricht am meisten von Menschlichkeit und
versteht darunter: die Maschine selbst regieren [zu lassen]. Wir schließen uns dann an, wir
stellen einen Kontakt her und genießen die Vorteile. Schauerlicher Gedanke. Selbst-Wider-
spruch bei Lukácz.

Dieses falsche Zeitalter, es möchte aus dem jüngsten Tag eine Veranstaltung des Verlages
Kurt Wolff 237a machen und um das Mittelalter das Spezialgebiet des Herrn Landsberg 238:
(Ein Jude preist die soziale Ordnung des Mittelalters. Welche Unordnung! Er rühmt ein
Zeitalter, das ihn ins Ghetto gesperrt hätte, ihm verboten hätte, über christliche Dinge mit-
zureden, bevor er bewiesen hat, dass er ohne Abstrich Christ ist).

236 1. Aufzug, 8. Szene: Sie liebte mich aus Mitleiden mit den Gefahren die ich ausgestanden, und ich
liebte sie um dieses Mitleidens willen. Übersetzung von Ch. M. Wieland.
237 Vgl. Anm. 154.
237a Kurt Wolff (1887–1963), Verleger. Der Kurt Wolff Verlag war eines der wichtigsten Verlagshäuser

für expressionistische Literatur, besonders verbreitet war die Reihe „Der jüngste Tag“.
238 Siehe Teil I, Anm. 243.

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Dezember 1923 507

Stendhal bemerkt (Vie de Nap.[oléon] 239, dass die Kunst zur Lüge seit einigen Jahren
erstaunlich zugenommen hat;
Kierkegaard bemerkt das spezifische Lügennetz des Jahrhunderts.
Das Jahrhundert der Presse.
Das ist kein Zufall.

Ein echter Deutscher kann nicht Deutsch sprechen.


Warum? Weil er nicht sprechen kann. Wenn das Deutsche wirklich eine Sprache ist (es ist
eine wunderbare, herrliche Sprache), so sind es jedenfalls nicht die echten Deutschen, die
sie sprechen. Die echten Deutschen sind entweder innerlich und dann müssen sie eben
schweigen, oder sie sind äußerlich, und dann können sie eine so schöne Sprache wie das
Deutsch nicht sprechen.

Seite 96
Was sollte daraus folgen, dass der Mensch von Natur aus böse ist? Die Philosophen einer
autoritären Staatsphilosophie scheinen zu glauben, daraus folge, dass jene‚ die Autorität
ausüben, ihn für möglichst böse halten. Sehr lächerlich.

Bolschewismus: Dieses sterile Gespenst, das in der Wut über seine Unfruchtbarkeit ein
ganzes Volk vergewaltigt, um seine Potenz zu beweisen; ein hässlicher Bastard entstellt das
Antlitz der russischen Erde.

Ich bin ewig geboren, ich fühle meine Entwicklung als den Prozess einer fortwährenden
Geburt, ich bin die Mutter und das Kind und schreie in den Schmerzen der Geburt und des
Geborenwerdens.

Wer sich zum Trompeter Schlegels aufwirft, hat sich selbst damit deklassiert und degradiert;
einen Vermittler noch einmal vermitteln zu wollen, den Kommentator noch zu kommen-
tieren, den Trompeter eines Trompeters zu machen, das ist subaltern und man kann Gott
danken, dass die Menschen ihren eigenen Rang deutlich zu erkennen geben, sodass man der
Mühe des Suchens enthoben ist.

Ich stürze mich in den Abgrund eines bedingungslosen Vertrauens, es überkommt mich wie
eine weiche, dunkle Wolke. Ich weiß, dass sie mich liebt, wenn ich gut bin, und wenn ich
böse bin, wenn ich Recht habe und wenn ich Unrecht habe, wenn ich Erfolg oder Miss-
erfolg habe, wenn ich mutig bin und wenn ich verzage, alles ist für sie ein Grund, mich zu
lieben. Wunderbares Glück, wunderbare Frau, wunderbare Beseeligung eines solchen Ver-
trauens.
Ich danke Gott, dass ich geboren bin, dies zu erfahren. Ich bin glücklich zu leben und nicht
nichts zu sein, nicht ungeboren, unbewusst, unbelebt und ungeliebt vegetiert zu haben.

239 Stendhal, Vie de Napoléon (1876), Texte établi par Henri Martineau, Paris 1930, S. 70.

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508 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Die edle Treue eines Gestirns, des Orion, der täglich kommt, die größere Treue einer edlen
Frau.
Der Große Bär und der Kleine Bär, und mein liebes Bärchen.

Auf das Geschwätz vom endlich besiegten Deutschland: Wenn das ein Sieg war, dann ist
ihnen das, was im Versailler Vertrag folgte, ein Frieden. Man muss ihnen lassen, dass die
Begriffe verfälscht sind.
Dass der [Sieger] überhaupt keinen Begriff mehr kennt! Weder Krieg noch Frieden, sondern
<…> .

Alle meine Nerven, meine ganze Physis protestieren dagegen, dass Duschka abwesend ist.

Hamlet. Erst der Geist [letztes Wort gestrichen, darüber geschrieben: das Gespenst des
Vaters] (der Instinkt), das reicht nicht aus, um einen Entschluss zur Tat, zum Affekt herbei-
zuführen. Dann das Experiment, das Schauspiel (übrigens ein Beweis dafür, dass Bacon der
Verfasser der Shakespearschen Dramen ist 240); auch das reicht noch nicht aus; endlich, in der
letzten Not, die Tat entspringt aus dem Nichts, aus der reinen Dezision.

Seite 97
Von jeder Pflicht weiß einen die Frau zu dispensieren, über alles sieht sie nachsichtig und
gütig hinweg, mit einer großen und entscheidenden Ausnahme: von der Pflicht, durch sie
glücklich zu werden. Hier gibt es kein Erbarmen.

Statt des Öls die elektrische Leitung fürs ewige Licht zu benutzen, das ist doch schon bei-
nahe so schlimm, wie statt des Glöckleins zum Angelus eine Fabriksirene heulen zu lassen.

Die Balance der Suggestion, denen die Masse unterworfen wird; warum kann es keine Ba-
lance der Suggestion geben, wohl aber der Argumente: Die <…> Rationalität jedes Gliedes
der Balance! Jeder hat Recht; man kann jeden Menschen lieben und kann jeden Menschen
hassen; der Mensch ist gut und der Mensch ist böse. Jedenfalls [hat] keiner unrecht, weil kei-
ner sich entscheidet! Die Suggestion dagegen muss entschieden sein. Dezision.

Tief durchdrungen von einem christlichen Gefühl, der Fehlerhaftigkeit und der Erlösungs-
bedürftigkeit dieser Welt.
Wie lächerlich das Schicksal der Menschen und doch nichtig.
Die Verteilung von Ruhm und Ehre, wie komisch und schief; ein schöner Plan verpfuscht,
das sieht man.
Die Inkonsequenz alles Menschlichen, gerade des Erhabenen und Großartigen.
Der Dichter wird berühmt, d. h. es finden sich Leute, die einen Beruf daraus machen, den
Ruhm der Dichter zu kultivieren und dadurch in Wahrheit den Dichtern im Wege zu
stehen. Die Vordringlichkeit eines Mittels. Schauerlich.

240 Francis Bacon (1561–1626), engl. Philosoph u. Staatsmann; seit dem 18. Jh. wird die Vermutung
geäußert, die Shakespeareschen Werke seien von Bacon verfasst.

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Dezember 1923/Januar 1924 509

Für Duschka, dass ich die Anfrage tue, ob das Buch ins Japanische übersetzt werden darf.
Ich würde mich freuen, dieses Buch (es ist Ihr Buch, Duschka) in japanischen Schriftzeichen
zu sehen, die Freude, wenn mich mein Kind in einem fremdartigen Kleid anblickt, und
mich erkennt, weil es nicht aufhört, mein Kind zu sein.

Der Handelnde ist immer ungerecht? Gegen eine Kontemplation: Die Ungerechtigkeit
des Kontemplativen gegen den Handelnden ist noch größer. (Das Kontemplative bei der
psychischen Analyse gegenüber dem Handelnden).

An Duschka: Aus dem Brief vom 18. 1. 24 241: Ich schreibe Ihnen heute einfach die Notizen,
die ich in irgend einer Stunde gemacht habe. Das ist kein Brief, Duschka, doch zeigt es
Ihnen mit der unbedenklichen Offenheit, die ich Ihnen gegenüber habe, wie es mir geht.
Denn Ihnen ist nichts von mir verborgen. Mein Leben geht äußerlich regelmäßig wie in
einem Traum weiter. Es ist gut, dass Ihre Bilder bei mir sind.
Seien Sie guter Dinge und fleißig und immer so pünktlich mit dem Zubettgehen. Ich fühle,
dass Sie an mich denken, und habe, in sonderbarer Bewusstheit Ihrer Güte, nur den einen
Wunsch, dass Ihr Leben glücklich und harmonisch werde. Sie werden es sein, liebe Duschka;
es soll hinschweben wie eine schöne, lange Melodie, wie die wunderbare lyrische Stelle aus
dem Andante, das Sie so lieben. Immer und in allem bleibe ich Ihre Seele.

Seite 98
Januar 1924

(Aus dem Brief an Duschka)


Montag, den 14. Januar, 1/2 6 Uhr nachmittags: Heute Morgen und heute Nachmittag, als
die Post kam, dachte ich sicher, es käme eine Nachricht von Ihnen, liebe Duschka, denn ich
weiß gar nicht einmal Ihre Adresse. Einen Augenblick konnte ich wieder sehr traurig
werden und in die alte Verzweiflung fallen. Aber ich sah gleich, dass es ein hässliches,
törichtes Unrecht wäre, gegen Sie und gegen mich selbst. Mein Bild der gütigen, schönen
Duschka hat mich liebevoll angesehen. Bleiben Sie bei mir, liebe Duschka, bei Ihrer Seele.
Gestern Abend habe ich mit dem Dr. Schmitz im Bürgerverein zu Abend gegessen, war also
um 1/2 10 Uhr schon wieder zu Hause und um 10 im Bett. Ich bin erkältet, müde und
traurig. Die liebe gute Duschka, Ihr schönes Bild, tat ihr Bestes; sie ist so gut und mild, aber
sie spricht nicht. Die andere ist wie KPOTKA242; einen Augenblick fürchtete ich mich, aber
auch wenn ich ganz müde und traurig bin, bleibe ich reinen Herzens Ihre Seele.
Dienstag, 15.1., abends 9 Uhr: Sind Ihre Augen noch fröhlich und gesund, wie in Heister-
bach, liebe Duschka? Seien Sie immer guter Dinge. Dass Sie den guten Gedanken hatten,
mir das schöne Bild zu schenken, hat Ihnen ein Engel eingegeben. Ich wüsste nicht, wie ich

241 Duschka war seit dem 3. Januar 1924 nach Agram und Daruvar zu den geschiedenen Eltern gefah-
ren, sie kam erst Anfang Mai krank zurück, vgl. Mehring, Aufstieg und Fall, S. 163.
242 Kyrillisch, Umschrift Krotkaja, siehe Teil II, Eintragung vom 27. 2. 1924. Originaltitel von Dosto-
jewskis Roman „Die Sanfte“ (1876).

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510 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Trost finden sollte, wenn alles in mir, meine Nerven, mein Blut, protestiert und revoltiert
wegen Ihrer Abwesenheit und verlangt, dass Sie kommen. Wenn ich nur wüsste, ob es
Ihnen gut geht und ob Sie guter Dinge sind. Sie wissen, wie leicht ich mir Sorgen mache.
Die Madonna an der Universität fragt nach Ihnen. Ich glaube oft, wir gehen wiederum
durch den Garten. Der Orion steht prachtvoll am Himmel, in edler Treue.
Oft überwältigt mich meine Dankbarkeit, wenn ich mir des Glückes bewusst werde, das ich
aus Ihren Händen erhielt; wenn ich auch oft traurig bin, so kenne ich doch nicht mehr diese
verzehrende, auflösende, vernichtende Verzweiflung, die mich jahrelang quälte. Ein gren-
zenloses Vertrauen und [die Gewissheit], dass Sie bei mir bleiben, ob ich recht habe oder
unrecht, ob ich Erfolg habe oder nicht, ob ich mutig oder verzagt bin. Welch ein Glück,
unfassbar, aber darum doch nicht unwirklich, sondern eine innige Gewissheit.

Liebe Duschka.
Ich fürchtete, als ich den Brief abgeschickt hatte, dass es unrecht sei, sich so traurig zu
benehmen; dafür verdanke ich <…>.

Sonnabend [recte Sonntag], 20. 2. 24


Die Einsamkeit, in der ich bin, wenn ich Sie nicht sehe. Ihr Bild hat mich ernst angeschaut
und fast vorwurfsvoll. aber wenn ich dann aus dem Zimmer gehe, überfällt es mich wieder.
Es scheint mir unwürdig, dass ich von Ihnen getrennt bin; ich sehe, dass ich nicht wie ein
Mensch lebte, bevor Sie sich meiner annahmen.
Je vois maintenant, que ma situation n’était digne d’une vie humaine avant que vous n’aviez
cette bonté du cœur de me recevoir dans vos bras et à votre cœur.243
Ich fürchte mich vor Heisterbach; ich war auf dem Wege und kehrte wieder um, erdrückt
von meiner Einsamkeit, Gott helfe mir doch, ich gehöre doch zu Ihnen, ein unnatürlicher,
gewaltsamer Zustand, dass ich von Ihnen getrennt bin.

Man kann irrsinnig werden aus Abstraktion und irrsinnig aus Konkretheit.
Mir verwüstet die Konkretheit das Gehirn.

[am Rande mit Bleistift angestrichen] Vielleicht gibt es nur 2 politische Ideen, Traditionalis-
mus und Nihilismus.
Bei allen großen Künstlern des 19. Jahrhunderts dieser [Nihilismus]: Stendhal, Baudelaire,
Wagner, Dostojewski, Tolstoi; Schopenhauer.
Die Russen haben das Radikale erfasst.

Seite 99
Lächerlich, alles ist in Ordnung.
Lächerlich, alles ist in Unordnung. } Diese lähmende Humanität

243 Dt. Ich sehe jetzt, dass meine Lage eines menschlichen Lebens nicht würdig war, ehe Sie die
Herzensgüte hatten, mich in ihre Arme zu nehmen und in (oder auch: an) ihr Herz.

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Januar/Februar 1924 511

Ich kann meine Tage einteilen in solche, an denen ich nicht bete, andere, an denen ich das
Vater Unser und wieder andere, an denen ich nur das Ave Maria beten kann.

Wo wohne ich? Wo habe ich meine Heimat?


Ich wohne in der Schönheit eines Vogels, ich wohne in einer schwirrenden Melodie, ich
wohne in der Erinnerung an meine schöne Tochter.

An Duschka, 1. 2. 23 [recte 1924]


Ich fühle, dass Sie bei mir sind. Was Sie mir tun, ist mehr, als menschliche Dankbarkeit ver-
gelten kann. Ich weiß wohl, wie nahe Sie mir sind. Das Gefühl des Vertrauens und die
Sicherheit überwältigt mich oft.
Wirklich: a new a noble heart within me woke.
Es ist Ihr Herz, ich bin Ihre Seele.
Liebe Duschka, ich bringe gleich den Brief zur Post, ich glaube, ich brauche ihn nicht ein-
schreiben zu lassen, über den drolligen Postboten freue ich mich sehr. Sie brauchen mir
nicht gleich zu antworten, Duschka, Sie müssen immer ganz ruhig bleiben; ich sehe Sie
wohl und bin nicht ungeduldig, wenn ich warten muss, wohl aber traurig, wenn ich denke,
dass es Ihnen gesundheitlich nicht gut geht. Auf Wiedersehen, liebe schöne Duschka, seien
Sie ruhig und fröhlich und immer guter Dinge.
Grüße an Ihre Bücher von mir. Ich bin bei Ihnen und weiß, dass Sie bei mir sind. Ich bin
Ihre Seele.

Freitagabend: Jetzt habe ich gerade den Brief zur Post gebracht und sehe, dass ich das Wich-
tigste gar nicht geschrieben habe. Man kann es wirklich nicht schreiben. Aber ich tröste
mich damit, dass ich weiß, Sie kennen alles, was mich betrifft. Die Liebe findet den Weg und
die Worte.

Wenn einmal wieder die autoritäre Staatsphilosophie bekämpft wird, so wird diejenige
Autorität sein, die in diesem Augenblick allein die Autorität beansprucht. Das ist die
Kirche. Es ist interessant, wie die Dogmatik alle anderen Autoritäten beseitigt, nur die
Kirche bleibt übrig.

Das Gesetz der identischen Rezeptivität: Aufhebung der Gegensätze von Aktivität und
Passivität. Betrüger und Betrogener sind eins; die Immanenz von Strafe und Schuld; die
Identität der Strafe mit dem Verbrechen.

Rückkehr zum Nichts; Nihilismus, zur tabula rasa, Renaissance.

Zu K. Diese Frau wird mich für alles verantwortlich machen, dafür bin ich ihr Mann. Sie
wird mich dafür verantwortlich machen, dass sie alt ist, dass ihr die Haare ausfallen, sie
wird mich deswegen hassen, weil sie mich nur liebte als den Schützer und Helfer, der sie vor
allen Beschwerden des Lebens schützt und sie über jede Schwierigkeit hinweg trägt. Außer-
dem liebt sie mich noch, weil ich ihr die Illusion gab, sie sei die Beglückerin, die Spenderin
höchsten Glückes (ohne dass sie sich anzustrengen braucht). Wenn sie merkt, dass sie mich
nicht glücklich macht, wird sie böse und sucht einen anderen, bei dem sie Erfolg hat.

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512 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Seite 100
Ist die Verwirrung aus dem Leben verschwunden, weil der Fahrplan stimmt? Halte dich an
den Fahrplan, statt an die Gnade Gottes. Mit dem Fahrplan weiß ich, woran ich bin; ich
kann das Risiko einer Verspätung oder eines Unglücks berechnen (und mich dagegen versi-
chern); das Risiko, das im Begriff der Gnade Gottes liegt, ist aber kein Risiko im Rahmen
der Wahrscheinlichkeit, sondern ist das Risiko an sich, nichts als Risiko; absolut. Wer das
einsieht, ist dem Wahnsinn ebenso nahe wie seinem Heil.

Ein schönes Beispiel Hegelscher Dialektik: der patrimoniale Staatsgedanke führt zur Primo-
genitur 244. Diese zur Trennung von Fürst und Staat, zur Versachlichung, d. h. zur Beseiti-
gung des Fürsten (der im Staat untergeht).

5. 2. 24 (Dienstag)
Heute um 1 Uhr, nach der Vorlesung, sah ich Fräulein Tadic, sie erzählte mir, dass Duschka
nach Agram gehen wird, um das russische Theater zu sehen. Mir hatte sie nichts davon
geschrieben in dem Brief, der heute ankam. Ich bekam einen Schlag, fühlte mich lächerlich,
betrogen und verzweifelt. In erbärmlicher Angst, dem Irrsinn verfallen, unfähig, zusam-
menhängend zu denken und immer abergläubisch auf Zeichen achtend verbrachte ich
den Rest des Tages. Ich las Villiers de L’Isle Adam und meine abergläubische Angst und
Sensibilität wurde noch größer. Abends bemerkte ich, dass meine Uhr stehen geblieben ist;
1/2 1 Uhr! Entsetzlich. Das Gefühl okkulter Zusammenhänge beherrschte mich, das Ge-
fühl, in der Hand geheimnisvoller Wesen und Kräfte zu sein. Das Gefühl schrecklichster
Hilflosigkeit, irrsinnigen Herumgeworfenwerdens, ein erbärmlicher Lappen bin ich, den
man am besten in eine Ecke wirft.
Das Bild von Duschka sah mich kalt und ernst an. Bei ihr werde ich niemals den letzten
Trost finden. Oder tue ich ihr Unrecht? Ich habe schreckliche Angst, ihr Unrecht zu tun.
Ich fürchte, dass sie nur eine egoistische Kranke ist, klug, selbstsicher, mit einem unwahr-
scheinlichen außermenschlichen Lebensinstinkt, während ich mich aufopfere und hingebe
und deshalb nichts bin, wenn ich mich nicht Gott aufopfere und hingebe. Nur dadurch
könnte ich etwas werden, aber ich bin zu schwach und erbärmlich und suchte einen Gottes-
ersatz in einer Frau. Es wäre mein wohlverdienter Lohn, wenn ich betrogen würde. Aber
vielleicht tue ich ihr Unrecht. Wie gut war sie gegen mich, niemals hat sie mich gekränkt,
vielleicht verzeiht sie mir etwas aus weiblicher Klugheit, nicht aus böser List. Aber das ist
alles so eng zusammen bei einer Frau, Klugheit und Hinterlist, Güte und Betrug. Ihr Bild
zeigt ein kühles, hartes Gesicht. Ich verzweifle, wenn ich sie sehe.
Plötzlich empört es mich, dass sie mich nicht bei meinem Namen nennt. Ich heiße doch
Karl [!]. Sie nennt mich ihre Seele, sie sagt zu mir „meine Seele“, aber sie nimmt mir doch
meine Seele, es hebt meine Individualität auf, es erniedrigt mich, es zeigt ihre unbewusste
Egozentrizität. Vielleicht liebt sie mich nur, wenn sie von irgend einer anderen Seite abge-
stoßen ist, sie kommt dann zu mir, weil ich immer bereit dastehe, mit offenen Armen sie
aufzufangen, wenn sie zurückfällt.

244 In Monarchien Bestimmung des Thronfolgers zur Sicherung einheitlicher Herrschaft. G. W. F.


Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke 12, Frankfurt/Main 1970, S. 508.

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Februar 1924 513

Brief an Duschka, Freitag, 8. 2. 24 abgeschickt: 2/2: Kaum hatte ich gestern den Brief für Sie
zur Post gebracht, so fielen mir tausend Dinge ein, die ich hätte schreiben wollen, liebe
Duschka; aber ich musste mich zunächst doch damit beruhigen, dass ich meine Intuition
kenne; Sie wissen alles, was mich betrifft, was ich tue und denke und was in mir vorgeht.
Dieses Vertrauen macht mich glücklich.
Ich habe Ihren Brief oft gelesen. Vieles von Ihrem Wesen ist doch schon in mich übergegan-
gen. Sie haben meine falsche Annuität, meine Gewaltsamkeit geheilt, und alle intuitiven
Möglichkeiten wachgerufen; oder vielmehr: Ihre große intuitive Kraft in mich hineinfließen
lassen; nun leben Sie in mir, ein Teil Ihres Wesens ist in mir. Mit einem Gefühl überirdischer
Freude trage ich Sie, liebe Duschka.
Wie lebendig sind Sie noch in meinem Arbeitszimmer! Ihre beiden Bilder und die leib-
haftige Erinnerung, dass Sie in diesem Zimmer waren, meine Bücher freundlich ansahen,
alles ist noch so unmittelbar wie am ersten Tag.
Ich habe heute schön gearbeitet und wünsche, dass Sie auch ruhig und gleichmäßig waren.
Innige Küsse in Ihre Hand und bin immer bei Ihnen als Ihre Seele.

Samstag, 2. 2.: Die Mitteilung über Villiers de L’Isle Adam (ich knie an Ihrem Bett)
Sonntag: Mitteilung über Kaufmann, God bless you.
Montag: Der Eilbrief Triepel, ich reise nicht nach Italien‚ sondern arbeite.
Dienstagmorgen: Der Brief (noch vorher bei Kaufmann). Diese Nacht, als ich nicht schlafen
konnte, wurde mir lebhaft klar, dass Sie meinem Leben Halt und Richtung geben. Heute
Morgen kam, wie selbstverständlich, Ihr lieber schöner Brief. Dienstag: Um 1 Uhr gab mir
eine Bemerkung, die ich hörte, einen schrecklichen Schlag. Ich dachte, es wäre das Ende. In
tiefster Not schrie ich nach Ihnen. Ich glaube, jetzt geht es besser. Es war ein großes Glück,
dass ich heute Morgen Ihren Brief bekam.
Abends 9 Uhr: Ich habe Ihren Brief mehrmals gelesen, Duschka. Ihr Bild ist heute sehr
streng. Den ganzen Nachmittag war ich zu Hause. Jetzt gehe ich gleich zu Bett. Ich habe
mich sehr beunruhigt und aufgeregt und dabei bemerkt, dass mein Leben in Ihrer Hand
liegt. Good night, it was a mournful afternoon.

Seite 101
Mittwoch: Krotkaja? 9. 2. 24. – Abends vorher hatte ich das Bild einer russischen Schauspie-
lerin gesehen; erschrak wieder, so wie damals im Oktober in Frankfurt.
Ich erschrak: Sagten Sie nicht, als Sie die auflösende andalusische Geigenmusik spielen hör-
ten: Dafür könnte ich meine Seele hingeben? Und bin ich nicht Ihre Seele? Also würden Sie
mich hingeben können. Es ist schrecklich.

Am 11. 2. an Duschka nach Daruvar 245


… Ich habe Ihr Bild betrachtet, ich kann nicht mehr zu Bett gehen, weil es mich freundlich
und zufrieden ansieht. Es ist ein unbestechlicher Spiegel. Ich sehe, dass ich Ihre Seele bin
und jede Trübung auch Sie trübt und jeder klare Glanz in Ihnen leuchtet.

245 Mütterlicherseits stammte Duska Todorović aus Vacim, einem Vorort von Daruvar in der Provinz
Slawonien, das zur ungarischen Krone im k.u.k.-Reich gehörte.

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514 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

… Ihnen klage ich in der Dämmerung zurück, in der Stunde, die ich liebe, erfüllt von einer
stillen ruhigen Sehnsucht.
… Das Bild ist wirklich ein täglicher okkulter Anreger. Es ist nicht möglich, zu beschreiben,
mit welcher Sicherheit und mit welchem Verständnis Ihre Briefe als Antwort auf meine
geheimsten Fragen, Wünsche und Regungen eintreffen.
Montagabend: Erst wollte ich den Brief heute Nachmittag zur Post bringen, aber weil
Dr. Schmitz kam, habe ich zu schreiben schließen müssen. Ich hatte den Umschlag schon
zugemacht. Aber ich konnte Ihnen nicht in der Eile Nachricht geben. Das habe ich ja von
Ihnen, meiner schönen Lehrerin, gelernt, niemals ungeduldig zu sein und nach den wunder-
schönen drei Briefen, die ich heute von Ihnen bekam, fühle ich das noch viel stärker.
Übermorgen, an Ihrem Geburtstag, denke ich an Sie und wollte, ich käme wieder zu Ihnen,
wie Sie es in Ihrem Briefe erzählt haben. Mit Dr. Schmitz habe ich einen Spaziergang ge-
macht und über russische Musik – Strawinski 246 gesprochen. Eigentlich sprach ich nur mit
Ihnen.
Wir werden aber wieder miteinander sprechen können, Duschka. Mit jedem Brief fühle ich
mehr, wie gut Sie gegen mich sind. Ich kenne mich nicht wieder, wenn ich frühere Notizen
von mir sehe, und alle die Auswüchse der Angst, des Misstrauens, schrecklichster Verzweif-
lung aus der Überzeugung eines fundamentalen Betrugs lese. Ich schrieb einmal auf: Three
things …247 Ein schrecklicher Vers von dem Iren Pearse. Heute sehe ich etwas anderes: Ihr
gütiges Antlitz und den unendlichen Trost vertrauensvoller Liebe. Nehmen Sie mich auf in
Ihr Herz. Ich bin Ihr Freund und Ihre Seele. Bleiben Sie bei mir, schöne, Geliebte Frau.

11. 2. Abends: Ich habe heute abend, als ich Ihren Brief zur Post brachte, etwas gearbeitet.
Eigentlich denke ich immer an Sie, an Ihren wunderschönen Brief. Ich bin glücklich, dass
Sie den modernen Kult tiefer verstehen. Ich sehe aus Ihrem Brief über die beiden russischen
Schauspielerinnen <…>. Ich bin im Madonnenkult erzogen und Ihrem guten psychologi-
schen Blick wird es nicht verborgen sein, wie vieles bei mir sich daraus erklärt; viele teils
schreckliche, teils lächerliche Enttäuschungen, aber auch viel Begeisterungsfähigkeit und
vor allem eines, dass es für mich unmöglich ist, anders belohnt und bemerkt zu werden als
durch die Treue und gütige Liebe einer Frau. Jetzt wissen Sie vielleicht noch besser, was Sie
für mich bedeuten und warum ich Sie damals in München, als der Zug abfuhr, so ansah, als
wäre ich zum Tode verurteilt. Es wäre der Tod gewesen. Aber so wurde es das Leben, Sie
haben es mir geschenkt, liebe Mutter.
13. 2.: Once the time will come, that I make you this day as beautiful and happy as you did
make it to me 11. September the last year.

Die unerschöpfliche Melancholie der neunten Secunde;


die unerschöpfliche Komik der neunten Secunde;
[rechts daneben] (Die Isolierung des Punktes verliert jede substanzliche Beziehung und ist
daher jeder Deutung fähig; wie der insolente Mensch die Illusion hat <…>, alles
zu sein; das nennt man dann: der Dichter hat alle Möglichkeiten in sich. Blödsinn.)

246 Igor Strawinsky (1882–1971), russ. Komponist.


247 Siehe S. 480.

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Februar 1924 515

Max Weber: hors la loi


der Anarchist, Voraussetzung der Erkenntnis, sich außerhalb des Gesetzes zu stellen; das
Martyrium
[letzte Zeile nicht deutbar]

Seite 102
13. 2. 24
Heute Morgen sagte mir Braubach (mich widert dies Geschäftige, Intrigierende, Quacksal-
berische an): Auch Klages 248 habe schon früher von der Entscheidung gesprochen und alle
reden davon (um mir eins zu versetzen, um mir zu zeigen, dass mein Dezisionismus nichts
Neues und nichts Originelles ist).
Und abends las ich bei Villiers de L‘Isle Adam, Axel
La main décisive de la Mort.
La Mort, c’est avoir choisi.249

Das moderne Proletariat, in der marxistischen Lehre (bei Lucacz besonders) wirklich ein
Deus ex machina, aus der Maschine entstanden. Produkt der Maschine.

Inflavit Deus et dissipati sunt 250: das Beamtentum, der Mittelstand.

Freitagabend, 15. 2.‚ bekam ich den Brief, in dem Duschka mir mitteilte, dass sie nach
Agram fährt, ihrer Brille wegen. Allerdings sah ich ein, was das bedeutet. Ich lief eine
Stunde durchs Zimmer, in steigender Aufregung, und sagte mit lauter Stimme: sie lügt, sie

248 Ludwig Klages (1872–1956), Philosoph, Psychologie u. Begründer der Graphologie.


249 Villiers de L’Isle Adam, Axël. Editions Le Courrier du Livre, Paris 1890. Schauspiel, posthum
veröffentlicht. Deutsche Übersetzung von Hanns Heinz Ewers: Axel. Von Villiers de L’Isle-Adam.
München [Thespis-Verlag ] 1920.
Neuere Edition in: Œuvres Complètes de Villiers de L˚Isle-Adam, Paris 1922–1931, Slatkine
Reprints, Genève 1970, Tome [Band] III, S. 109.
Der Kontext lautet: La Sensation que ton esprit caresse va changer tes nerfs en chaînes de plomb!
Et toute cette vieille Extériorité, maligne, compliquée, inflexible – qui te guette pour se nourrir
de la volition-vive de ton entité – te sèmera bientôt, poussière précieuse et consciente, en ses
chimismes et ses contingences, avec la main décisive de la Mort. La
___________________________________________________ Mort, c’est avoir choisi.
__________________________________________________ C’est

l’Impersonnel, c’est le Devenu.


Die Sinnesempfindung, die deinem Geist schmeichelt, wird deine Nerven in bleierne Ketten ver-
wandeln! Und all diese Veräußerlichung mit ihrer Bosheit, Verwicklung und Unerbittlichkeit, die
dir auflauert, um sich aus der regen Willenskraft deines Wesens zu nähren, sie wird dich, kostbarer
und bewußter Staub, bald in seinen Zerfallsprozessen und Zufälligkeiten aussäen mit der alles_________
______________________ ent-
scheidenden Hand des Todes. Der
__________________________________________________________ Tod bedeutet: gewählt zu ___
_______________________________________________________haben.
_________ Er ist das Unpersönliche, das

Gewordene. (Übersetzung Wolfgang Fietkau).


250 Dt. Gott blies und sie wurden zerstreut. Elisabeth I. ließ eine Medaille auf den Sieg über die
Armada mit dieser Devise [dort: afflavit] prägen, die von Schiller in seinem Gedicht Die unüber-
windliche Flotte in den beiden letzten Versen aufgenommen wurde.

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516 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

lügt, sie lügt, o Gott, sie lügt. Es fiel mir ein, was ihre Freundin, Fräulein Schifrin über sie
sagte: dass sie lügt, echt weiblich lügen kann. [Am Rand mit einem Kreuz X hervorge-
hoben]

Was soll ich tun, ist es ein Ende? Es geht vorüber. Welche ein Zustand. (Gut, dass ich alleine
bin; gut, dass André nicht gekommen ist, obwohl er sich angemeldet hatte). Ich schrieb ihr
abends: Heute Abend bekam ich Ihren Brief, Duschka. Ich antworte Ihnen, weil ich Ihnen
nichts verschweigen möchte, auch das Letzte nicht, in einiger Unruhe. Ich habe am
Dienstag vor 8 Tagen, am 5. Februar, Fräulein Tadic getroffen. Sie erzählte mir, Sie hätten
ihr geschrieben und freuten sich, nächstens nach Agram zu gehen, um dort die russischen
Schauspieler zu sehen. Ich hatte morgens einen Brief von Ihnen bekommen und die Bemer-
kung von Fräulein T. traf mich deshalb, weil Sie mir nichts davon geschrieben hatten. Ich
sah meine Torheit ein und erholte mich langsam; ich wollte Ihnen keinen Vorwurf machen,
ich hatte niemals daran gedacht, Ihnen zu verargen, dass Sie nach Agram zu dem russischen
Schauspiel reisen und durfte auch nicht darüber nachdenken, warum Sie es mir nicht mit-
teilen. Dann schrieben Sie mir einige Tage später von den beiden Schauspielerinnen; aber
nichts davon, dass Sie nach Agram reisen wollten. Ich war nicht einen Augenblick miss-
trauisch, ich hätte mich geschämt, es zu sein. Heute aber schreiben Sie, dass Sie nach Agram
reisen, wegen Ihrer Brille. Warum verschweigen Sie mir, dass Sie wegen des russischen
Schauspiels reisen? Fürchten Sie, dass ich misstrauisch bin? Ich habe es vermieden, mit
Fräulein T. seit einigen Tagen zusammenzutreffen, um nicht den Anschein zu erwecken, als
wollte ich etwas über Sie fragen. O Gott, ich war nicht misstrauisch gegen Sie. Sie brauchen
mir nicht zu sagen, warum Sie nach Agram reisen, Duschka. Ist es meine Schuld, dass es
mich so aufregt? Haben Sie nicht von jedem Tag eine Notiz? Sie wissen alles von mir, Sie
dürfen nicht glauben, mein Misstrauen zu schonen, wenn Sie mir dergleichen verschweigen
wollen. Ich habe alles Misstrauen überwunden. Sie dürfen mich nicht hineinstoßen. Bitte,
Duschka, liebe Duschka, lesen Sie jeden Tag nach, den ich geschrieben habe; meine Seele
war rein von Misstrauen. Aber wenn vor ihr Sie mich so gewarnt haben, dann warne ich Sie:
etwas zu verschweigen. O wie schön ist Ihr Brief. Sie sind meine treue Frau. Ich will nichts
anderes sein und bleiben als immer und in allem nur Ihre Seele.
(Diesen Brief habe ich verbrannt). (Die Brille, am 21. 3. 24 in Hamburg verloren!).

Als ich es geschrieben hatte, dachte ich: Warum lügt sie mich an? Sie lügt, vielleicht lügt sie
wie Desdemona, aber es ist gefährlich. Bin ich nicht ein düpierter Narr? Natürlich.

Eine Viertelstunde später: Ich verstehe meine Aufregung nicht; sie meinte es gut; wie Des-
demona. Nicht wahr, Sie wollten mein Misstrauen schonen, ich darf Ihnen dies nicht ver-
schweigen, Duschka, dass ich Sie diesmal darum bitte, mir gleich zu antworten? Sie wissen,
sonst bin ich nicht so ungeduldig, aber meine Aufregung war so viel, dass ich Ihre Hand auf
mir fühlen möchte, und wenigstens Ihren Brief.

Seite 103
Duschka, Sie schreiben, ich solle mir keine Beschränkungen auferlegen; o Duschka, es sind
für mich keine Beschränkungen. Ich bin zu allen Menschen sehr freundlich und arbeite

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Februar 1924 517

ruhig, weil ich an Sie denke. Aber andere Interessen als Sie habe ich nicht. Ich weiß, dass Sie
es verstehen und nicht vergessen. So wie ich mein Glück fühle, stört mich alles, was nicht
von Ihnen kommt.
Je serais mon propre apostat.251

Othello: Er hat sie nicht geliebt, sonst wäre er nicht eifersüchtig gewesen,
Eifersucht hat mit Liebe nichts zu tun? (Othello hat mit Eifersucht nichts zu tun).
Aber jedenfalls: Ich sehe, dass ich der Tat des Othello fähig bin? Was ist die Tat des Othello:
ein Götzenbild zerschlagen.

Im Bett: Ich will schreiben 11 Uhr


Heute Abend, als ich zur Universität ging (ich habe eine Seminarübung eingelegt, wegen
des Schlusses des Semesters) gab mir der Briefträger einen Brief von der Reise nach Agram.
Ich war sehr glücklich, etwas von ihr zu erhalten und habe heute Abend ihn immer wieder
gelesen, und ihre große Güte und ihren liebevollen Trost mit unendlicher Dankbarkeit
empfunden. [mehrere Zeilen nicht deutbar] Gute Nacht, liebe Duschka, ich küsse Ihre
Hand in großer Liebe.

Wer kennt dich eigentlich, du edler Mohr Othello. Ein guter, starker Fels, ein italienisches
Diminutiv – fremdes Kleid und in der Sache ein deminutio: denn inzwischen mischen sich
die Schellen, die Narrenschellen der eifersüchtigen Männer in den eitlen Klang des edlen
Namens.
Edler Othello, du hast den Mut zu deiner Tat gehabt; ohne Bedenken und ohne Psycho-
logie; aus geradlinigen Konsequenzen eines Schicksals; du bist so gerade, dass nur einige
große Dichter dich erfasst haben wie Victor Hugo, [der] das ungeheuerliche Symbol der
Nacht aus dir machen konnte, die das Licht verschlingt, und dass die Professoren dich nicht
beschnüffeln, wie deinen unglücklichen, problematischen Bruder Hamlet. Du guter, ehr-
licher Mohr.

Seite 104
(nach einer entsetzlichen Nacht, mit Herzklopfen und Schlaflosigkeit, grauenhaften Träumen)
Samstagmorgen, 10 Uhr, 16. 2.: Sind Sie schon nach <…> zurückgekehrt, Duschka? Ich
möchte diesen Brief gleich zur Post bringen, vielleicht erreicht er Sie in 3 Tagen. Die letzte
Woche bin ich von Tag zu Tag ruhiger geworden, ich habe viel nachgedacht und mich
geprüft, ob ich Ihre Güte und Liebe verdiene. Wie liebevoll Sie in Ihrem letzten Brief zu
mir sprechen, ist kaum fassbar. Vielleicht lächeln Sie, wie damals am Venusberg, über die
Knabenhaftigkeit meines Ernstes, aber Sie verstehen es doch, wenn ich Ihnen sage, wie sehr
ich in der ruhigen Sammlung dieser letzten Woche fühlte, dass ich mich reinen Herzens Ihre
Seele nennen kann.
Geliebte Frau, ich küsse Ihre Hände, dankbar über den schönen Brief, und will nichts ande-
res sein und bleiben als Ihre Seele, immer und in allem Ihre Seele. – (Am 16. 2. zur Post)

251 Dt. Ich werde mein eigener Abtrünniger sein.

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518 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Den ganzen Tag ziellos, dem Irrsinn nahe, herumgelaufen. Abends dachte ich daran zu
beichten, bei dem Pater Feldmann, aber ich konnte nicht; es wäre ein Verrat an Duschka
gewesen. Dann sah ich die Zeichnungen von Rembrandt, monströse Vorgänge, und fand,
dass mich das alles nichts angeht und dass ich doch nahe an diesen Dingen bin. Ist es nicht
lächerlich, sein Glück auf eine Frau zu bauen? Auf die säkularisierte Madonna?

17. 2. 24: nachts 5 Uhr. Atheismus ist Aktivität, Aktivität Atheismus.


Meine atheistische Stunde ist morgens um 5 Uhr (die Stunde, [in der] ich mich als Knabe
geübt habe, meinen Willen zu beherrschen, aufzustehen und ohne Rücksicht auf meine
Stimmung oder meine Müdigkeit zu arbeiten).

Othello: Welche Psychologie, gerade das, was Tolstoi nicht verstehen konnte.
Die Sinnlosigkeit der scharfsinnigen Beweisführung, die eintritt, wenn jemand entwurzelt
ist. Der Scharfsinn als <…> Surrogat der Instinkte. Der Hass gegen einen Indizienbeweis;
der Indizienbeweis (wie Dostojewski, Karamasoff 252 als Prinzip des tragischen Scharfsinns).

Im Traum hörte ich: der Leviathan spricht


Ich bin nicht Ich
Ich bin, der ich sein will; wenn ich dich töte, töten dich die anderen, die sein wollen;
Was du Gutes hast, gebe ich dir. Scheußlicher Götze.
Ich habe es gut. Was schlecht war in mir, ist nicht meine Schuld, was gut an mir ist, ist mein
Verdienst.

Dienstag, 19. 2.
Auf dem Weg von Heisterbach nach Oberdollendorf.
Ich habe den Pfarrer von Heisterbach getroffen und dachte an Duschka. Die Sonne ging
langsam unter, die Berge waren klar und dunkel. Kein Wort, nicht erstaunlich, es war ein-
fach eine klare, reine Harmonie, Sie waren bei mir und ich war Ihre Seele.

Das Paressierte 253 der Kunst des 19. Jahrhunderts: Liszt beendet die Pastorale 254, (<…> es
ist die symphonische Dichtung Préludes) als eine vorausschauende Kunstform, mittels wel-
cher er (weil sie bestimmte Assoziationen hervorrief) bestimmte Eindrücke erzielen lässt; er
spielt also mit einem überlieferten Fonds; er handhabt ein nicht von ihm geschaffenes Arse-
nal (Kolonialkunst), belesen [wie] Novalis, der von Kirchenliedern lebt. [Er hat] es selbst
ausgesprochen: Wir leben [von] der Freiheit besserer Zeiten; oder [Adam] Müller: Wir leben
vom Kapital unserer Väter.
Das ist die bourgeoise Kunst. Aber der Proletarier hat kein Recht, sich darüber zu erheben.
Bisher hat er nur eine paressierte Kunst produziert. Er kolportiert Formen, die er nicht
geschaffen, wie ein Jude, deutsch oder französisch, der wie ein Irländer Englisch spricht!

252 Die Brüder Karamasoff, letzter Roman Dostojewskis (entstanden 1878–1880), mit berühmt gewor-
denem Indizienprozess zum Mord am Vater der drei Brüder.
253 Vom franz. paresse abgeleitet: arbeitsscheu.
254 Franz Liszt (1811–1886), Komponist, Pianist und Dirigent; in der symphonischen Dichtung
„Les Préludes“ ist es der Satz Allegro pastorale nach dem dramatischen Allegro tempestuoso.

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Februar 1924 519

Seite 105
Daher die merkwürdige Erscheinung, dass die Produktivität dieser Zeit eine Produktivität
von literarischen oder exzentrischen Kritikern ist! Taine, Renan etc.
Schon Stendhal: er weiß genau (und sagt es ganz klar), wenn man im Stil Bossuet imitieren
muss und an welchen Stellen man einen grellen <?> Stil [verwendet]. Es ist alles gerechnet,
auf den Eindruck berechnet, es muss psychologisch werden. Der Fonds ist dann wie
erschöpft, es wird immer erbärmlicher.

Am 23. 2. 24 mittags rief Landsberg telephonisch an und lud mich zum Abendessen ein;
ich sagte zu, weil seine Frau dieser Tage ihre Mutter verloren hatte. Kaum hatte ich ange-
nommen, so sagte er, Max Scheler werde auch da sein. Darauf erklärte ich, ich könnte nicht
kommen, weil ich zu müde sei. Ich ließ mich auch durch alles Zureden von Landsberg nicht
bewegen. Ich dachte an den Traum von Duschka. Erst wollte ich es ihr schreiben, tat es aber
nicht. Ich zitterte vor Aufregung, war aber glücklich, dass ich zu Hause geblieben bin. Selt-
same Begegnung; ich habe gar nicht frei gehandelt; mit größter Anstrengung wie aus einem
Zwang, aber doch wissend, was ich tue. Es ist die Nachwirkung des Traumes, den Duschka
am 16. 11. 23 gehabt hat! Ich fühlte es deutlich und war glücklich, so gehandelt zu haben,
dass ich mich ihrer hellseherischen Empfindlichkeit erinnern durfte, ohne Gewissensbisse.

Man muss lernen, durch den Schleier der Sprache hindurch die innere Struktur der Logik
eines Menschen zu sehen und die Metaphysik. Durch Zeichen hindurch das Bild, die Hiero-
glyphen verstehen. Es ist alles anders und doch nicht organisch; es ist alles indutus et
ornatus 255; und die Schönheit [ist] ewig beschäftigt, einen Vorhang zu weben, einen mit
vielen bunten Bildern bestückten Vorhang vor dem schrecklichen Gemetzel des Lebens;
jeder wiederum schwingt eine herrliche, schöne Fahne, während er seinen Mitmenschen
tötet. Worte sind Fahnen, Signale.
Sich um Monarchie oder Demokratie zu streiten ist dasselbe, wie um die weiße oder die
trikolore Fahne zu kämpfen, oder um die Frage Schwarz-Weiß-Rot oder Schwarz-Rot-
Gold. Muss man also fragen: was ist der wahre Grund des Kampfes? Und antworten, der
ökonomische oder irgendetwas? Nein. Man kämpft um nichts anderes als de gustibus et
coloribus 256. Es ist kein Kampf ums Dasein, sondern ein Kampf um die richtige Farbe.

Die himmlische Angst, den Anschluss zu verpassen, mein Gott, die Zeit zu versäumen; der
Luxuszug des Weltgeistes fährt ab und wir sitzen im falschen Zug; grauenhafte Verdamm-
nis; das ist die himmlische Hölle.

25. 2. 24: Seit einigen Wochen werde ich von Vogelgeschrei verfolgt: Raben krächzen, Hähne
krähen die Nacht hindurch; mein Gehirn tut mir weh davon. Angst wegen Duschka. Ich
erwarte seit 2 Tagen einen Brief. Mein Herz klopft. Meine Hände zittern, es flimmert mir
vor den Augen.

255 Dt. bekleidet und geschmückt, s. auch Anm. 142.


256 Dt. über Geschmäcker und Farben – nach scholastischer Auffassung kann man darüber nicht
streiten, da niemand rational beweisen kann, dass ein bestimmtes Geschmacksempfinden das
richtige sei.

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520 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Heute Morgen hatte ich geträumt, dass ein Brief von ihr kommt, aber die Adresse ist nicht
von ihrer Hand geschrieben. Ich war unruhig und in Angst. Der Briefträger kam – aber mit
einem Brief von Carroll, der wunderschönes amerikanisches Material über die Anerken-
nung Sowjetrusslands schickt. Aber mein Herz zitterte, weil kein Brief von Duschka
gekommen ist. Welche Abhängigkeit, welche Angst; mein Leben ist in ihrer Hand. Liebe
Mutter, seien sie gütig gegen mich. Eine 2. Enttäuschung, einen 2. Betrug würde ich nicht
überleben. Mein psychischer Organismus wäre zerstört.

Nachmittags Telephonat, Frau v. Wandel, Geburtstagseinladung. Ich wollte deshalb nicht


zu Hause bleiben. Aber ich wartete auf den Briefträger, er kam später. Ich ging etwas durch
die Straßen, dann wieder zurück, es war etwas im Briefkasten, ich zitterte vor Aufregung,
aber kein Brief von Duschka.

Es ist unwürdig, sich so deprimieren zu lassen. Ich habe keine Zweifel, keine Eifersucht,
nur die Sehnsucht nach ihrer Liebenswürdigkeit, die Sehnsucht, von ihr freundlich ange-
redet und mit Worten gestreichelt zu werden.
Jetzt werde ich eine Tasse Kaffee trinken, dann zu Hause herumsitzen, ein paar Zeilen lesen,
ein paar Notizen machen, müde und apathisch zu Bett gehen, wie tausend Mal in meinem

Seite 106
Leben, welch eine öde Verzweiflung. Ich fühle mich auch nicht versucht, jemanden aufzu-
suchen, hinaus zu Frau Landsberg oder jemand zu fahren, das ist alles unnütz; niemand
kann mir helfen, kein Freund, nur diese Frau.

Liebe Duschka: seien Sie nicht böse und missverstehen Sie es nicht, wenn ich Sie bitte, mir
zu schreiben; sicher habe ich, wenn Sie diesen Brief erhalten, Ihren Brief schon bekommen
und unsere Briefe kreuzen sich; wenn Sie aber nicht geschrieben haben sollten, so dürfen Sie
nicht böse sein, wenn ich Sie bitte, bald zu schreiben. Ich bitte nicht aus Verzweiflung oder
einem hässlichen Grund, ich habe nur das Bedürfnis, von neuem von freundlichen Worten
zu hören, von Ihnen gehört zu werden.

Der größte Trost meines Lebens: dass Duschka mich ihre Seele nennt. Jetzt ist mir nichts
Unedles oder Gemeines mehr möglich. Die natürliche Rohheit, die natürliche Affenhaftig-
keit meines Wesens ist gebrochen. Schöne, gütige Frau.

Ich werde betonen und durchschauen den Irrsinn der Nützlichkeit.


Sagt nicht James 257, dass die Betoner der Wahrheit sentimentaler sind als die Nüchternen?
Dieser verfluchte Pragmatist. Er ist ein Verräter.
Heißt es nicht, die Geheimnisse ausliefern an die Bourgeoisie?

257 William James (1842–1910), amerik. Philosoph des Pragmatismus. Für Schmitt vor allem wegen
dessen Pluralismus-Theorie wichtig.

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Februar 1924 521

Die größte Gemeinheit des Sozialismus: den Kampf gegen die Bourgeoisie banalisiert zu
haben (Romantik: der Kampf gegen die Deutschen <…>).

26. 2. 24: Wieder vergebens auf den Brief von Duschka gewartet. Ich frage mich voller
Angst: Werde ich gestraft für meine Zweifel und mein Misstrauen [von] voriger Woche
(gegen 15.) Aber es war doch Irrsinn: ich bin geisteskrank und sie soll mich doch gerade ret-
ten. Wieder fange ich an zu argumentieren. Ist sie hellseherisch? Dann muss sie doch auch
sehen, in welcher Angst ich bin. Mache ich Gott aus Ihr? Ich weiß es nicht. Ein Meer des
Irrsinns und der Hoffnungslosigkeit. Grauenhaft. Ich warte zitternd bis zum Nachmittag.
Oh, die Angst, ihr weh getan zu haben. Die Angst, sie unglücklich gemacht zu haben. Ich
zittere, warte und verzehre mich in Ungeduld.
Nachmittags: Wieder nichts. Ein schrecklicher Schlag. Wie lächerlich zu zittern. Aber ich
tue es. Ein Kind quält mich. Mein Stolz bäumt sich. Ich tue Unrecht, ich bin ein Bösewicht,
ich tue sicher Unrecht.

26. 2., 11 Uhr: Ich schrieb abends an Duschka: O, mein liebes Duschkakind. Jetzt muss ich
zu Bett gehen, weil ich zu müde bin, weiter zu arbeiten. Diese letzte Woche habe ich sehr
viel gearbeitet. Ich fügte 5 Stunden Völkerrecht ein, lese täglich eine Dissertation und habe
viele Besprechungen mit den Doktoranden. Der arme Student aus Hagen, der so entsetzlich
verbotenes Deutsch sprach und schrieb, hat mich durch eine besonders schöne und fleißige
Dissertation sehr überrascht258. Das war eine Freude für mich.
Duschkakind, ich darf Ihnen nicht verschweigen (Sie wissen es sicher), dass ich in Sorge auf
eine Nachricht von Ihnen warte. Montag vor 8 Tagen bekam ich Ihren Brief aus Zagreb
vom 13., dann nichts mehr. Sind Sie nach <…> zurückgekehrt? Sind Sie auch nicht krank?
Ich will ganz ruhig bleiben, aber wenn morgen oder übermorgen ein Brief von Ihnen
kommt, werde ich doch aufatmen.
Heute schlafe ich in meinem Arbeitszimmer. Im Schlafzimmer hört man die ganze Nacht
die Hähne krähen, und die vielen Arbeiten haben mich nervös gemacht. Ich freue mich wie
ein Kind, in diesem Zimmer zu schlafen, unter den Büchern, die Sie angesehen haben. Das
Bett steht in der Ecke, wo der kleine Schrank stand. Die Augen fallen mir zu vor Müdigkeit.
Gute Nacht, liebe Duschka. Von ganzem Herzen wünsche ich, dass es Ihnen gut geht. Ich
küsse Ihre Hände und Ihre Augen; seien Sie gut und freundlich zu Ihrem müden Knaben.

Seite 107
Das also ist das Leben: ein kauender, verdauender, scheußlicher Leviathan (des Nachts vom
26./27. Kaum 3 Stunden geschlafen, entsetzliche Angst, ob ein Brief kommt; ein verzweifel-
ter Zustand).

27. 2. 24: Um 10 Uhr kam der Briefträger. Aber kein Brief von Duschka. Jesus Christus.
Ich zitterte, [wie] dann im Tagebuch aus der Zeit vor einem Jahr, als ich auf Briefe von L.
wartete. Es ist dasselbe. Bleibe ruhig. Schweigen. Schweigen.

258 Walter vom Dahl, siehe Teil II, Anm. 213.

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522 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Ich las eine Dissertation; überlegte, dass ich im Sommer [vor] einem Publikum über die Ver-
fassung lese. Und freue mich darauf, dass Duschka dann in der Vorlesung sein wird.

27. 2. 24. Um 5 Uhr (Ich sitze, um den Briefträger zu sehen; erschrak bei dem Wort Brille;
sie sprach ja davon, in Agram eine Brille zu holen!). Der Briefträger brachte ein paar
Sachen, aber nichts von Duschka. Wieder zitterte ich, jetzt bin ich verzweifelt. Jetzt hat sie
14 Tage nicht geschrieben. Ohne dass ich es wollte, sah ich mich auf dem Weg zum Tele-
phonamt und überlegte ein englisches Telegramm: Don’t let alone your soul, dann save
your soul, das mir in meiner Aufregung sehr eindrucksvoll erschien als Signal, ein paar
Minuten später musste ich darüber lachen, über die kitschige Banalität, dann wollte ich tele-
graphieren: Don’t disquiet your soul, und fand immer neue Formulierungen. Weil aber die
[Eisenbahn-] Barriere in der Mannheimer Allee hinunterging, als ich über das Geleise gehen
wollte, bog ich um, ging bei Schmitz vorbei; er war nicht zu Hause. Dann voll Angst zu
Fräulein Tadic: vielleicht ist Duschka krank [und] ich dürfe ihr nicht telegraphieren. Fräu-
lein T. war nicht zu Hause, ich hinterließ Nachricht, dass ich um 8 komme, ging zu
Dr. Rick, wo ich sie traf. Wir unterhielten uns nett über Villiers, ich begleitete Fräulein T.
nach Hause und fragte sie nach Duschka, besorgt, weil ich so lange ohne Nachricht war. Sie
sagte: „Ach, sie ist inzwischen in Zagreb bei den Russen, da wird sie keine Zeit haben.“ Ich
hörte es sehr ruhig und wurde eigentlich nicht einen Augenblick betrübt oder verwirrt. War
fröhlich, als ich hörte, dass sie vielleicht Duschka treffe, da sie bald nach Jugoslawien fahre.
Alles das, der Spaziergang, die Unterhaltung mit Rick, hatte mich abgelenkt, sodass ich
ganz ruhig nach Hause ging. Ich habe manchmal das Gefühl: sie lügt, sie ist eine Frau, sie
lügt geschickt. Ich schlug in der Bibel auf: Ihre Rede ist wie Butter, aber sie lügt. Ich
schenkte Fräulein T. eine wunderbare Ausgabe des Simplizissimus259, kostbar gebunden,
weil ich an Duschka dachte. Sinnloser Verschwender. Immer wieder in Angst: Krotkaja

Des Nachts die Erkenntnis, was es bedeutet: die ewige Verdammnis. Es kommen Neger, die
Diszession kommt. Du hast lange genug davon gesprochen und schreist nach der Mutter,
nach der Frau, vor Angst. Das ist das Geheimnis deiner Liebe zu Duschka.

Schrieb abends 27. 2. an Duschka: schilderte den Tag, dass ich vergebens auf den Briefträger
wartete. Nicht böse sein, Duschka, dass ich solche Sorgen habe, nicht böse sein. Ich kann es
nicht ändern; ich will Sie nicht veranlassen zu schreiben, wenn Sie nicht können, es ist nur
für mich schwer, nicht zu wissen, ob es Ihnen seit dem 13. Februar, diese 14 Tage, gut geht.
Ich bin nicht verzweifelt oder innerlich böse; nur seien Sie so gut und warten Sie nicht zu
lange mit einer, wenn auch kurzen Nachricht.
Liebes Sorgenkind, ich wollte, die Zeit der Trennung wäre vorüber. Aber ich will ganz ruhig
bleiben und mich nicht unwürdig zeigen. Ich bin sicher, dass mich kein unedler Gedanke
befällt, so stark ist auch in der größten Unruhe mein Bewusstsein, dass ich wirklich Ihre
Seele bin.

259 Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (um 1622–1676), größter deutscher Erzähler im
17. Jahrhundert, Hauptwerk „Der Abentheuerliche Simplizissimus Teutsch“.

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Februar 1924 523

28. 2.: Hören Sie, Duschka, wie schön: Trinke Mut des reinen Lebens,
dann verstehst Du die Belehrung,
küsst [recte kommst] mit ängstlicher Beschwörung
nicht zurück zu [an] diesem Ort.
(wenigstens die ersten 3 Zeilen).

Und inzwischen der Pferdefuß, der bürgerliche kleine Schluss


(auch sprachlich banal): Tages Arbeit! Abends Gäste!
Saure Wochen! Frohe Feste!
Sei dein künftig Zauberwort260
[Eintragung an der Seite] [die ersten beiden Zeilen nicht deutbar]
Dann, was dann ist.
Engel: Wer nie sein Brot mit Tränen aß
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte 261

Ein schönes Beispiel fürs Wesen Gottes: ist der Faust 262 etwas anderes? Dieser großartige
Anfang, dieser Ingenieur am Schluss mit einer krampfhaft scheinenden mystischen Kulisse.
Schauerlich.
Vgl. Bl. 126

Denn meine Bindung an sie ist so absolut.


Und wer wird wissen, welch [unerhörtes] Glück mir aus ihren Händen kommt. Denn die
Freude im Leben ist doch das Leben selbst 263, und das gab sie mir.

Seite 108
Freitagmorgen 29. 2. 24 träumte ich: Ich gehe mit Duschka spazieren, sie sagt: Man gehört zu
seinem Volk, man kann sich nicht davon trennen. Ich hörte es traurig; sie verschwand.

Freitagabend, 29. 2. Die Freude an dem Brief, über Rick, dass er morgen kommt, um mir vor-
zulesen, seine Ausführungen über Villiers, die ganzen Telegrammworte, alles aufgeregt und
freudig, o Duschka, wie froh bin ich, dass ich einen Brief bekommen habe. Ich küsse Ihre
Augen und Ihre Hände, ich fühle die liebevolle Umarmung Ihres Briefes; immer und in
allem bin ich Ihre Seele.

Alle anderen Bourgeois: Du meinst vielleicht, der alte Ritter, der einsam auf seiner Burg
hauste, sei es nicht gewesen und nur in dicht bevölkerten Ländern, wenn die Menschen wie

260 Goethe, Gedicht Der Schatzgräber.


261 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, 13. Kap., Lied des Harfenspielers.
262 Goethe, Faust I und Faust II.
263 „Freude des Daseins ist groß,/Größer die Freud’ am Dasein“, Goethe, West-östlicher Divan, Buch
Suleika.

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524 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Russen aufeinander hocken und sich gegenseitig kontrollieren, abschleifen, konkurrieren


und zivilisieren, sei niedrige Angst ums Dasein entstanden. Das ist ganz falsch. Sieh Dir die
Eheverträge der adeligen Familien an, die Familien- und Heiratsabkommen und Du hast
eine gerade gigantische Sorge nicht nur für den kommenden Tag, sondern um die kommen-
den Jahrhunderte. Oder sollte auch hier die Quantität in die Qualität umschlagen?
Sie alle waren Bourgeois, d. h. in der angstvollen Sorge um ihr ökonomisches Dasein, um
ihr Sein, [in] Trinken, Kleidung und Wohnung aufgehende Menschen. Was bleibt also, wenn
der Begriff moralisch gefasst wird; ist der europäische Geschäftsmann kein Bourgeois? Ein
paar russische Revolutionäre wurden ein paar christliche Heilige. Und die Politik macht
daraus eine Philosophie – noch schlimmer.

Die Unehrlichkeit der deutschen Romantiker; sie schmeckt ihnen universal je m’en fichisme 264
mit dem Namen romantisch vereint. Sentimental wie alle Anarchisten.

Brief an Fräulein Tadic (mitgegeben Montag, 3. 3. 24), geschrieben Sonntag 2. 3. abends


Morgen früh fährt Fräulein T. nach Zagreb, morgen [recte heute] Abend will ich ihr diesen
Brief geben und weil ich morgen wegen des Referendariums in Köln bin, will ich heute
Abend schreiben, in der Ruhe meines Zimmers. Morgen Abend komme ich müde von Köln
zurück und denke dann, wie oft sie mich liebevoll und gütig aufgenommen hat, wenn
ich müde war. Liebe Freundin, [nachträglich Eingefügtes nicht deutbar] Ich freue mich,
Ihnen einen Brief durch eine gemeinsame Bekannte zu übersenden, sodass er nicht durch
die Postkästen geht. Einmal werde ich auch nach Jugoslawien reisen, nicht wahr, Duschka.
Jetzt muss ich mich mit Briefen begnügen und kann Sie nur bitten, immer fröhlich zu
bleiben und nicht traurig zu werden. Ich lebe immer noch in der großen freudigen Er-
leichterung, die Ihr letzter Brief mir bereitet hat. Er hat mich innerlich von Sorgen befreit.
Es ist leicht verständlich, dass ich oft an Sie denke, besonders wenn das Wetter so schlecht
ist wie jetzt.
Eau de Col. bringt Ihnen T. auch mit. Ferner ein paar Stücke Völkerrecht. Ich bin nicht ganz
fertig geworden, das müssen Sie entschuldigen, fleißige Duschka. Wenn ich von Bonn abreise,
schreibe ich Ihnen noch; Sie müssen mir einmal nach Berlin und einmal nach Jena schreiben,
dann kann ich gut arbeiten und habe Freude und Mut. Das Wichtigste kann ich Fräulein T.
nicht mitgeben und nicht sagen. Aber Sie wissen es. In großer Sehnsucht Ihre Seele.

Wichtig, was Max Weber immer hervorgehoben hat: Der moderne Rationalismus nicht
möglich ohne Massenkonsum.

Seite 109
Gott wurde Mensch und wurde von den Menschen gekreuzigt.
Damit hört die Banalität des Lebens des Menschentums auf.
Allmählich kapiert es die Menschheit, welche Verlogenheit: Paulus (ein Jude), dann <…>.
<…> die römisch-katholische Kirche es weiterträgt.

264 Dt. ihr könnt mich mal …

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März 1924 525

Der Imperialismus der Tuberkulösen: Novalis, Keats, der Roman von Gide 265, wurden
gleichzeitig in Todesangst [geschrieben]; die Bestimmung mit seiner eigenen Gesundheit,
der Egoismus des Kranken in seiner reinen Form.

Ich bete dich an, Gott der Freiheit.


Heimlichst kommt sie zu mir, wie eine schöne Frau verkleidet in Lumpen, so ist sie bei mir
in dem hässlichen Lumpen der Banalität.
Aber sie ist es doch, die Freiheit.

In mir schlafen tausend Ahnen.

6. 3. 24, nach Heisterbach, Brief an Duschka: Die Fröhlichkeit einer Reise in der elektrischen
Bahn nach Oberdollendorf, die Fahrt über die Rheinbrücke, schöne Morgensonne, die nun
ein weiter silberner Streifen [ist], der Weg zum Kloster, am Kloster, um 12 in Heisterbach, am
Kloster traf ich Mittwoch die freundliche Schwester, die unsere Zimmer in Ordnung machte,
sie gab mir gleich Ihr Zimmer, beim Mittagessen hatte man für 2 gedeckt, und fragte traurig,
ob denn „das Fräulein“ nicht gekommen sei. Ich musste das leider verneinen.
Nach dem Essen habe ich einen langen Spaziergang gemacht (es ist alles geblieben: das
Essen, das Boot, der Pfau, [mehrere Zeilen nicht deutbar]). Abends um 1/2 6 war ich zu
Hause, nach dem Kaffee ging ich auf mein Zimmer, war ganz bei Ihnen, fühlte in <…> und
konnte in wundervoller Ruhe arbeiten und eine sehr schöne Einleitung zu meinem Vortrag
schreiben, in dem ganzen Glück einer solchen Produktivität.
Liebe Mutter meines Lebens, ich sende Ihnen aus diesem schönen Zimmer meine großen
und neuen Kräfte und neues Leben, schöne Mutter meines neuen Lebens.

7. 3. 24 Auf dem Morgenspaziergang zum Petersberg, der Heisterbacher Wald, anders als
das übrige Siebengebirge, ist sehr geheimnisvoll. Die Sinne haben [mehrere Zeilen nicht
deutbar].

Seite 110
9. 3. 24: Auf der Reise nach Mainz: der herrliche Rhein, immer an Duschka gedacht, sie her-
beigewünscht und <…>.
Trinke Mut des reinen Lebens,
dann verstehst du die Belehrung,
kehrst mit um[!] 266

Die armen Juristen, die dem scheußlichen Leviathan ein menschliches Schleifchen an den
Schwanz binden möchten.

265 Gide war 1893 an einer leichten Tuberkulose erkrankt, die er in Nordafrika ausheilte. Sein Roman
L’Immoraliste (dt. Der Immoralist) handelt von einem jungen Mann, der nach Ausheilung seiner
Tuberkulose ein sinnenfrohes, unmoralisches Lebensgefühl entwickelt.
266 Siehe Anm. 260, veränderter abschließender Vers.

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526 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Vergiss nicht das Gespräch mit dem katholischen Theologen über die Herz-Jesu-Verehrung:
er sagt, das Herz ist eine Pumpe, der Mensch eine Einrichtung zur Staatserhaltung und zur
Fortpflanzung; ein ganz einfacher, grauenhafter Funktionalismus. Es war mir nicht möglich,
ihn substanzielles Denken verstehen zu lassen (in Heisterbach am 7. 3. 24).

An Duschka: Ich dachte mit Sehnsucht an unseren Spaziergang am Rhein: des Abends, wo
Sie in Ihrem Mantel und ohne Hut neben mir gingen und ich mich nicht satt sehen konnte
an meiner geliebten Frau; und des Morgens, als die aufgehende Sonne uns segnete. Schrei-
ben Sie mir wegen des Referates.
——————————————
Brief an Duschka (21./22. 3. 24)
Heute habe ich mir den Klavierauszug der Oper Otello gekauft. Übermorgen wird hier das
Shakespearsche Drama gegeben, mit einem berühmten Schauspieler aus Berlin als Othello;
ich gehe wahrscheinlich hin. Alles das brachte mir wieder zum Bewusstsein, was ich Ihnen
verdanke, liebe Duschka: Ich fühle mich ganz frei, bewundere die Größe des Dramas, ich
liebe Othello, den armen, edlen Othello, aber ohne die quälenden Identifikationen, die mich
früher so furchtbar zerrieben. Liebe Frau, liebe Mutter dieser wundervollen, beglückenden
Freiheit. In großer Liebe küsse ich Ihre Hand.
Am 22. (Englisch): Fühlen Sie nicht, wie sich mein Wesen verändert hat, wenn ich von
Othello spreche? Ich sehe ihn als einen unglücklichen Bruder, vor dessen Schicksal ich
durch Ihre Liebe und Güte bewahrt blieb.

Ausgangspunkt für alles über Othello: If I don’t love you, chaos will come 267.
Der Mittelpunkt: das Dunkel, das Chaos war der Schwanz: die Frau wird hässlich wie sein
Gesicht.

Eine Jüdin sagte mir, als ich über Othello äußerte: er ist mein Bruder, die Deutschen, die
Juden, die Irländer sind jetzt alle heimatlos, wurzellos. Sie gelten nur durch ihre Leistung,
dann ist Othello also ein Nebbich. Wie ekelhaft diese jüdische Psychologie der Kompen-
sation.
Wegener 268 machte aus dem Othello ein wildes Tier: ein großer Schauspieler, aber roh und
brutal; das große Kunstwerk dieses Dramas blieb zwar immer noch unverkennbar trotz des
lächerlichen Schwanzes und Knurrens, das er machte, um zu beweisen, wie „dämonisch“ er
ist. Ich hätte es als einen Verrat an Duschka empfunden, an ihrer Schönheit und Reinheit,
wenn ich das länger gesehen hätte; und ging beim 4. Akt weg. Sie wäre auch weggegangen.
Ich fühlte es und ging mit ihr.

267 Shakespeare, Othello (III. Akt, 3. Szene). Othello „Excellent wretch! perdition catch my soul/But I
do love thee! and when I love thee not/Chaos is come again.“, s. auch S. 455.
268 Paul Wegener (1874–1948), Theater- und Filmschauspieler.

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März 1924 527

Seite 111
Othello: Der Heimatlose, und suchte Abenteuer (an extravagant and wheeling stranger of
here and every where) 269.
Jago: Ich bin nicht, der ich bin. I am not what I am (I.1).
(Gott sagt von sich: Ich bin, der ich bin; der Teufel: Ich bin nicht, der ich bin)
Aktualität ist Negation.
Die Passivität der Frau (eine schlechte Frau hätte gewusst, was sie Othello auf seine Be-
schuldigungen zu antworten hatte; Desdemona weiß nichts zu sagen).

Was bin ich: ein mit rationalistischen Arabesken und Kondiktionen 270 bestickter Schleier
über einem irrationalen Abgrund. Mit der Naturschranke weicht auch die Natur selbst
zurück, nicht nur die Schranke. Die Natur mit all ihrem Leben, ihrer Fülle und ihrer Kraft.
Was ist das Ergebnis: Kartesianisch! Platonisch. Daher der Fanatismus der Immanenz: die
Maschine wird aus sich einen neuen Geist gebären. Menschgeborene Maschine!
Was ist das Ergebnis dieser technischen Vollendung? Schließlich hängt an der wunderbaren
Maschine ein elender Fetzen von Mensch.
Diese Kultur ist doch erst vollendet mit dem Homunculus (der ist noch zu human, dieser
Homunculus!)

Man kann Othello vielleicht auch anders deuten: er musste ein Nordafrikaner sein, ein wil-
der Berber, der den Ehebruch seiner Frau selbstverständlich mit Tötung sowohl des Ehe-
brechers als der Ehebrecherin bestraft. Wie lächerlich; vielleicht ist das alles richtig, aber das
alles interessiert mich nicht. Es ist also noch ein Teil des Schleiers.

Einer hat gesagt: Wenn es einen Gott gäbe, so ertrüge er nicht, nicht Gott zu sein. Dieser
wichtigtuerische Narr, es gibt doch wirklich Könige und er ertrug es, nicht König zu sein.

[rechts einzelstehend notiert] Reflexionen über Othello


Othello: Psychologisch kein Akt proletarischer Gewaltanwendung.
Psychologisch Reflex der eigenen Untreue.
Ethnologisch die Rechtsauffassung eines Nordafrikaners.
Eifersucht: als Konkurrenzphänomen; daher verstehen die Russen das nicht, oder sie
hassen es.

Sonntagabend, 30. 3. 24, 1/2 8 an Duschka: Magna civitas,


Magna solitudo 271
Au milieu de la solitude d’une grande ville
je vous salue, chère compagne de ma solitude 272

269 I. Akt, 1. Szene.


270 Veralt. für Klage auf Rückgabe einer ohne Rechtsgrund besessenen Sache.
271 Lat. Adagium, zitiert von Francis Bacon On friendship; dt. je größer die Stadt, um so größer die
Einsamkeit.
272 Dt. Inmitten der Einsamkeit einer großen Stadt, grüße ich Sie, teure Gefährtin meiner Einsamkeit.

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528 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Seite 112
Dabei ist im Othello alles romantisch: Der Liebestod (II,1)
Jeder [bekommt], was er liebt, die Tötung der Geliebten. Alle chaotische Gemeinheit des
Romantikers hat dieser Schwarze. (Nie tötet er wirklich, er schreibt nicht [eine] Notiz über
den Tod in sein Buch).

Wie indische Wunderkinder, kleinbürgerlich und deutsche Schulmeister und Feldwebel;


eine Kutte, eine Dirne zu romantisieren: das langweiligste, dümmste, geldgierigste Gewerbe
romantisch zu machen. Wie überlegen die Psychologie bei Villiers und selbst bei Maup[as-
sant].
Aber in Berlins Kabarett singt man sentimentale Hurenlieder und die deutschen Wilden
arrangieren sich als blaue Götter. Welche Romantik.

Die Lust am Zerstören ist eine schöpferische Lust – wunderbar. Dieser Anachronismus:
Das Volk, das ist der nicht regierende, der Teil des Staates, der nicht regiert und als solcher
besser ist, nicht korrumpiert durch Macht. Wunderbar.

Der Sinn von Austerlitz – <…> (Nach der Bekanntschaft mit H.[egel]) 273

Alle Macht, die nicht von Gott kommt, ist allerdings an sich böse, das ist das Richtige am
Anachronismus und an <…>.
[Gewalt erscheint] anachronistisch, schon [für den] Protestantismus, der die irdische Ewig-
keit nicht von Gott ableitet, sondern von den Menschen.
Alles wunderbar konsequent. Oder: der Frau wird Gott nur durch den Mann vermittelt;
also monogam; diese Vermittlung ist ein einfaches Faktum, das erste Axiom einer nicht rein
physisch-sexuellen Beziehung und jeder Mann kennt den Gehorsam der Frau im Geistigen;
alle Hurerei ist nur der Reflex der Gemeinheit des Mannes.
Othello: Vielleicht doch nur Reflex der eigenen Untreue: (wie das Taschentuch verloren ist)
Sein Auge lüstern späht nach neuem Reize.

Gott muss abwesend sein, unsichtbar.


Der König muss abwesend sein, unsichtbar.
Repräsentation ist Chiffre einer Abwesenheit des Repräsentierten durch den anwesenden
Repräsentanten. Ist Vermittlung, ist Historisierung.
Die heutige moderne Technik hebt die räumliche Abwesenheit auf und integriert<? > die
Zweifel.
Daher ist in einem von moderner Technik beherrschten Staat ein Monarch unmöglich.

273 Brief vom 13. 10.1806 an Niethammer, in: Johannes Hoffmeister (Hg.), Briefe von und an Hegel,
Hamburg 1953, S. 119, zu Napoleon als „Weltseele“.

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März/April 1924 529

Seite 113
Chaos und Scheusal sind die Begriffe des Othello

In Dornburg (16. 4. 24)


Beim Anblick der schönen thüringischen Landschaft zu Smend, als ich hörte, dass Goethe
sich hier nach Frau v. Stein gesehnt hat: Die herrliche Majestät dieser Landschaft wurde
Goethe verdunkelt durch die Sehnsucht nach einer Frau. Welche Verwirrung <…>. Er er-
widerte mir darauf: Sie können das Schicksal nicht wegstreichen. Ich: Es ist unchristlich, die-
ser Begriff des Schicksals. Man muss von Gott abhängig werden, nicht von einer Frau. Außer-
dem wie dumm: entweder hat man Erfolg oder nicht; in jedem Falle ist es lächerlich.
Schließlich [über Goethe]. Wer Gott liebt, wie er eine Frau liebt, so wäre es besser nicht nur
für ihn, sondern vor allem für die Frau. Im übrigen ähnlich <?> vor der Nekromantik des
Goethekultes.

Ich lese nach in Tagebüchern und sehe, wie die Liebe zu einer Frau vergeht, alle diese sub-
jektiv verlassenen Aphorismen zerrinnen, der Geist wird plötzlich ähnlich der Leier <? >.
Nun kann man sich schnell nach einem neuen umsehen und sein[em] Leben mit diesem
Spiel aus Gefühlen, man kann auch anfangen nachzudenken.

18. 4. 24: an Duschka: the rising sun; September 1923


your little nephew
impatiently expelling
your boy – alas – is not patient boy, <…> meet you at Cologne

Sexualismus ist proletarisch (ich hörte im Zug in Thüringen jenen Proleten vor seinen
Kameraden renommieren: wenn du vögeln willst, denkst du nicht an solche Sachen usw.)
Sexualismus ist anarchistisch;
Sexualismus ist jüdisch;
Proletarisch-anarchistisch sensualistisch – jüdisch (ich spreche hier nur von den gottlosen
Juden).
Othello der Proletarier: sensualistisch, anarchistisch.

Brief vom 18. 4. 24 An Duschka: Plettenberg. Mein Herz ist voll von Erwartung und Unge-
duld, ich kann Ihnen nicht Englisch schreiben, liebe Duschka, Sie haben einen sehr unge-
duldigen Jungen. Dienstag (22.) fahre ich nach Bonn und erwarte Sie dort, und bitte inzwi-
schen darum, ob ich Sie nicht in Köln abholen darf, vielleicht geben Sie mir telephonisch
Nachricht. Seit langem ist dies der erste Tag, dass ich mich wieder in Ruhe sehnen kann. Die
vielen Fragen, die ich an Sie richten möchte, muss ich alle mir [für] nächste Woche auf-
sparen. Wenn Sie nur fröhlich und guter Dinge nach Bonn zurückkehren, so ist alles andere
ziemlich gleichgültig.
Duschka, heute Morgen habe ich vor dem Frühstück einen herrlichen Spaziergang auf den
Berg gemacht, den ich so liebe und wo ich im September letzten Jahres so oft an Sie dachte,
Bojić las und mich meinen Gedanken überließ. Die Morgensonne hat mich gesegnet und ich
möchte Ihnen den Segen weitergeben, wie ich Sie in der Kirche bekreuzigt habe. Liebe
Freundin meines Lebens.

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530 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Seite 114
Ihren schönen Brief habe ich heute in großer innerer Ruhe wieder gelesen, dankbar und
erstaunt, wie gut Sie gegen mich sind und wie wirksam Sie mir geholfen haben. Ich erinnere
mich besonders der Ungeduld, mit der ich in Berlin Ihren ersten Brief erwartete, und wel-
cher Trost, welche Erleichterung und Befreiung es war, als ich ihn erhielt. Heute wünsche
ich Ihnen eine schöne Reise nach Deutschland, damit Sie nicht traurig sind. Oft habe ich
gefürchtet, Sie wären nicht zufrieden. Alles das müssen wir in wenigen Tagen besprechen.
Ich bin sicher, dass es wie Dunst vergeht. Seien Sie nie traurig, liebe Duschka.
In Bonn muss es jetzt herrlich sein. Der Frühling ist dieses Jahr spät, sodass Sie in die
schönste Blüte hinein kommen. Wird Ihre Kusine mit Ihnen reisen? Das wäre schön. Sie
wird ein wunderbares Sommersemester haben.
An dem Referat in Jena habe ich inzwischen noch etwas Arbeit, um das Referat druckreif
zu machen. Es soll nämlich in wenigen Wochen schon veröffentlicht werden. Von der Kon-
ferenz in Jena kann ich Ihnen viel erzählen und freue mich sehr darauf, es zu tun. Alles hat
für mich Interesse nur an dem Reflex durch Sie. Sehr erstaunt war ich über die landschaft-
liche Schönheit Thüringens und verstehe jetzt, warum Goethe sich dort sein ganzes Leben
wohl fühlen konnte. Auch das werden wir einmal zusammen sehen, liebe Duschka.
Reisen Sie schön, liebe Duschka, strengen Sie sich nicht an, lassen Sie in Köln dem Bärchen
helfen, der doch sicher müde sein wird, und kommen Sie bald, bald zu Ihrer Seele.

Es ist wirklich das Geheimnis der katholischen Kirche: qu’il n’y a pas de purgatoire.274
Jup sagte im Spaß, als er erzählte, Professor Neuß habe mir prophezeit, ich komme ins
Fegefeuer, weil ich so guten Kaffee trinke: Du kannst von Glück sagen, wenn du ins Fege-
feuer kommst. Welche Gespräche.
Ich sehe den Gegensatz von allen Deutschen (für Deutsche gibt es das nicht, was ich jetzt
fühle) und die Verdammnis, die Oscar Wilde fühlte.275 Alle christlichen Länder haben sie
gefühlt; das protestantische Deutschland ist das unchristlichste Land der Erde. Balzac,
Oscar Wilde, der Schwede Strindberg ist ein Christ; welcher deutsche Dichter wäre das?
Wie kann ein Produkt Berliner literarischer [Büros] Christ sein. Man darf kaum fragen, um
dessen Namen nicht zu profanieren.

Ich sprach mit Duschka (in Gedanken): 3 Möglichkeiten: soll ich auf sie vertrauen? Das
ist das Schlimmste, schön und verlockend, natürlich, du lebst doch als Mensch unter
Menschen.
Soll ich auf Gott vertrauen: Dann bin ich ein Christ und habe die ungeheuren Möglich-
keiten meiner Religion.
[Ein seitlich eingeschobener Satz]: Entspricht dem bestimmten Gefühl meiner unausweich-
lich <…> an ihr auf mich selbst. Treue: das hat die Einsamkeit.

274 Dt. dass es kein Fegefeuer gibt. In der Novelle ‚L’enjeu‘ von Villiers de L’Isle Adam setzt ein Abbé
beim Spiel, nachdem er alles Geld verloren hat, das ‚secret de l’Église‘ ein, und als er, nachdem er
wiederum verloren hat, aufgefordert wird, das Geheimnis zu nennen, sagt er: „hélas! le grand secret
de l’Église: Il n’y a pas de purgatoire“.
275 In Wildes Lebensbeschreibung „De Profundis“.

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April 1924 531

Ich hoffe auf den kalten Trost des römischen Stoizismus, der christlichen Sache. Es besteht
keine Gefahr einer Diskussion.
Was soll ich tun? Jeder, den ich frage, sagt mir natürlich, dass ich ihm vertrauen soll – und
so <? > darüber zu sprechen. Hilf dir selbst.

Das Pathos des Proletariats (<…>, Strindberg) ist heute Mode wie viele Hundert Jahre der
bürgerliche Weltschmerz. Damals war es Weltschmerz, kosmisch, immer noch gegen etwas
Metaphysisches Polemisierendes (satanistischer, Kain).
Heute ist es der Sozialschmerz.

Die Sache, das geliebte Objekt zu isolieren und zu verabsolut[ier]en, das ist ein Rest von
Christentum, der Säkularisierung von Affekt, den man auf Gott richten muss, Götzen-
dienst.
Ich denke an einen Griechen, der in der Pension wohnt; Angst, Eifersucht um Duschka.

Seite 115
Die Rationalität des Katholizismus. Die richtige Ausscheidung und Konstitution eines
Spezifischen aus der Masse der Kleriker, aus der Masse der Gläubigen; die Sakramente aus
den vielen denkbaren Handlungen. Hier ist eine rationale Mitte.
Der Protestantismus und die ihm folgende Auflösung: bewegt sich in den Extremen Alles
und Nichts. Er macht alle zum Priester und deshalb ist es keiner mehr. Alles ist Sakrament
und deshalb nichts mehr ein Sakrament. Das Spezifische geht verloren. Das Vornehme geht
verloren, die Sichtbarkeit, die Repräsentation. Hier zeigt sich, dass die Romantik die Voll-
endung des Protestantismus ist.
Alles und
––– Nichts! (Novalis)

28. 4. 24, abends 1/2 9 in Heisterbach


Zum Abendessen kam ich nach Heisterbach, es waren ziemlich viele Leute da und etwas
lärmend. Ich ging gleich nach dem Essen in den Buchenwald hinter der Mühle und dann
den Weg herauf bis zu den Tannen, wo unser Schneebärchen stand. [Mehrere Wörter wegen
Streichung und Überschreibung nicht deutbar] [Die Berge] waren verschlossen und
schweigsam, aber tröstlich und beruhigend. Ich dachte an mein Kind, das vielleicht krank
ist, und wollte oft traurig werden. Was würde aus mir, wenn Sie nicht bei mir blieben?
O Gott. Ich will aber ganz ruhig bleiben. Die Berge und Wälder lagen in der Abendstille, in
sich versunken. Um 1/2 9 ging ich nach Hause. Wie schön ist dieses Tal, aber ich kann nicht
mehr wissen, wie schön es von Natur ist, es ist für mich schön durch den Segen Ihrer Liebe.
Ich fühle ihn überall, wo ich hier gehe. In der Abendruhe fühlte ich immer nur eine innige
Bitte in meinem Herzen, liebe Duschka: dass Sie auf mich hören, wenn ich Sie bitte, etwas
Ihrer Gesundheit wegen zu tun. Erfüllen Sie mir diesen Wunsch. Heute Abend fühle ich
wieder, wie sehr mein Leben <…> in Ihrer Hand ruht, auch physisch in Ihnen ruht, auch in
Ihrem geliebten schönen Körper. Ich bin wirklich Ihre Seele. Hören Sie auf mich: Bald
kommen Sie, bald habe ich Sie wieder. Dann richten wir Ihren Aufenthalt in Bonn so ein,
dass Ihre Gesundheit nicht leidet und dass Sie immer fröhlich sind. Ich darf Sie darum bit-
ten. Ich bitte doch auch für Ihre Seele.

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532 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Reflexionen über Othello:


Er hasst sich selbst und liebt sein Gegenteil, er ist schwarz und liebt das Weiße; man muss
aber immer sich selber lieben und kann sich nicht ändern durch Liebe, kann sich nicht
ergänzen durch Liebe. So tötet er die Geliebte.
Die Identität eines Menschen wird durch seine Rasse bestimmt, wenigstens die eines
Schwarzen. Die Einsamkeit des Othello

Einsamkeit eines Gelehrten,


Einsamkeit eines Negers in einer weißen Stadt,
Einsamkeit einer Mutter mit ihrem neugeborenen Kind,
Einsamkeit eines alten Mannes,
Einsamkeit eines römisch-katholischen Priesters unter Laien,
Einsamkeit eines großen Menschen unter Bösen,
Einsamkeit eines Schwerkranken oder Sterbenden,
Die Einsamkeit eines grenzenlos Verliebten.

Seite 116
Der Mensch von Natur aus gut – in Westeuropa; Philosophie des Schoßhundes oder des
Psychopathen, der sich rächen will auf eine unsinnige Weise.
In Russland eine Philosophie der Kraft. Dasselbe:
–––––––– Liberalismus kommt aus Funktionen <? >
einer Lehre von der Freiheit.
Vergiss nicht: Welche Aufregung, welches Leben ins Leben, in die langweilige spießbürger-
liche Posse kommt, wenn morgens um 10 Uhr der Briefträger erscheint: der würdige
Pfarrer mit der guten Haltung, die dicke Mutter von 2 zu verheiratenden Töchtern, eine
resignierende Lehrerin, alles läuft nach der Post.

Gespräch mit Schmitz: Warum wird bei Stinnes und Helfferich das niederländische Dank-
gebet 276 an ihrem Sarg gespielt? Warum ist es Lieblingslied von Wilhelm II. und ist das
religiöse Lied für tausende rüde Kerls?
Die ordinäre Langeweile eines protestantischen Bourgeois, die <…> Haltung gegenüber
Gott, der nur ein Vogel ihres Selbstbewusstseins werden kann.
Die temperativen Gedankengänge: von den schlechten Nicht-Knechten; das Militaristische:
Wir treten [an] zum Beten. Wer weiß.

Das Zurückweichen der Naturschranke: es handelt sich darum, die Welt zu ändern (nicht
sie zu [erhalten]).

Wenn eine Frau mich sähe, wie Gott mich sieht, der allwissende Gott, sie könnte mich nicht
mehr lieben, es wäre nicht menschenmöglich oder es wäre unmenschlich.

276 „Wir treten zum Beten vor Gott den Herren …“, Bestandteil des Großen Zapfenstreichs.

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April/Mai 1924 533

A soldier and a scholar


(Die Jenenser Soldaten [ziehen aus, das] goldene Standbild in der Universität Jena) 277

4. 5. 24: Ich war den Nachmittag mit meinem Bruder Jup zusammen, bei Schmitz, wir haben
uns gelangweilt, ganz beiläufig fragte Frau Schmitz, wann [die] Frauen wiederkommen; ich
sagte, ich erwarte sie morgen. Einige Stunden später, als wir einen Augenblick allein in mei-
nem Zimmer waren (ich hatte Jup einen Anzug gegeben) und vor meinen Büchern standen,
um etwas für ihn herauszusuchen, sagte er plötzlich: Alle Frauen kommen wieder. Armer
Kerl. Das sagte er ruhig und ganz sachlich, als handle es sich um irgend einen Fremden.
Das „armer Kerl“ traf mich sehr.

Lange, lange sind die Stunden des Wartens.

Ich vergrabe die schönen Erinnerungen wie der Eichelhäher die süßen Nüsse; sie faulen,
aber vielleicht wächst irgendwo ein schöner Baum.

Keine Offenheit mehr, dafür Öffentlichkeit.


Im Zeitalter der Öffentlichkeit hört die Offenheit auf. In der Öffentlichkeit hört die Offen-
heit auf und beginnt das Geheimnis.

O Duschka, süße Quelle aller Bitternisse.

Seite 117
In der schönen Kunst wird einem nichts vorgebettet <? >
Der Rhetoriker lebt einem etwas vor, Shak[espeare] lebt nicht vor, Corneille lebt Moral vor.
Ibsen: Problematik; langweilig

Sowie ich aufs Katheder steige, erwacht meine Kraft, wie wenn der Teufel seinen Pferdefuß
wieder mit den Hufeisen beschlagen lässt.

Niemand ist so leicht zu betrügen wie ein aktiver Mensch.

Das Russische: immer nur psychologisch, nichts von kosmisch, nichts Theologisches, nichts
Metaphysisches; nicht Engel-Mythologie, alles das wird psychologisch.

(Lohengrin von Sologub 278); auch Tolstoi; vielleicht noch Belyi 279, aber nicht mehr.

277 In der Aula der Universität das Bild „Auszug der Jenenser Studenten in den Freiheitskrieg 1813“
von Ferdinand Hodler (1908).
278 Fedor Sologub (1863–1927), russ. symbolistischer Schriftsteller, schrieb eine Erzählung mit dem
Titel ‚Lohengrin‘.
279 Andrej Belyi (1880–1934), russ. Schriftsteller, bekannt vor allem wegen seines Romans „Peters-
burg“ (1913), dt. zuerst 1919.

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534 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Ich schrieb Duschka: Ich bin der unbekannte Lohengrin, ich habe keinen Namen, weil Sie
mir keinen Namen geben wollen, ein schönes Wort, die schönste ‚ <…> Bezeichnung ist gar
noch kein Name.
Was ist denn der Name. Die Engländer machen aus dem Namen einen bloßen Kontrakt, um
soziologisch ihre Bindung herzustellen. Unsere machen den Namen einsilbig, sodass man
wie auf einen Knopf drückt: Bob, Tom, Bill, Muck usw.

Was ist denn Barrès anders als ein großes éloge du bourgeois
Johannet280 hat es ausdrücklich angestimmt, er hat nicht einmal mehr die anarchistischen
<?> Anfänge und Elemente von Barrès.
Gegen die Spießbürgerlichkeit: auch Kierkegaard –
Das alles soll im Bolschewismus münden!
Scheußlich: Es ist nur der Bolschewismus organisiert, d. h. bourgeoisiert!

1. 6. 23.
Gehetzt von meiner Angst, von Misstrauen und im Bewusstsein, betrogen zu werden:
Quis est homo qui non fleret
Qui fixum <…> videret 281
Es bleibt nur noch eine ratio: der Gekreuzigte.
Die Kirche ist das Kreuz, das er trägt, oder die Kirche ist <…>.

Seite 118
Welch eine Langeweile und welche Verlangsamung des Fortschritts (müsste ein Fortschritt-
licher sagen), dass sich die Menschen immer auf Inhalte (polemisch geborene Inhalte) fest-
legen. Wer heute Voltairianer ist, muss die katholische Kirche rühmen, so wie er im 18. Jahr-
hundert Konfuzius rühmte. Warum sah das niemand; am wenigsten sehen es diejenigen, die
sich Voltairianer nennen, weil sie sich für das begeistern, was Voltaire gesagt hat. Idiotie

14. 6. 24
Morgens um 7 Uhr Reise von Heisterbach nach Bonn und Köln zum Examen, gestern
Abend wundervolle glückliche Stunde mit Duschka. Erfüllt von Dankbarkeit und Ver-
trauen; unendliches Glück; geliebte Frau, wunderbares Echo meiner einsamen Seele.

Ein Andante von Beethoven:


Ein großer Atem trägt, die leichten, bunten Gedanken, die schönen Intervalle und Kaden-
zen, ein Spiel dieser Feder und in Wahrheit ist es der große, starke Atem.

280 René Johannet (1884–1972), franz. Essayist aus dem Umkreis der Action française. Schmitt bezieht
sich auf dessen ‚Éloge du bourgeois français‘, Paris 1924.
281 In Anlehnung an ‚Stabat Mater‘ formuliert: Quis est homo, qui non fleret,/Matrem Christi si
videret,/in tanto supplicio?, dt. Welcher Mensch soll da nicht weinen,/sieht die Mutter er erschei-
nen/In so tiefen Jammers Not. Von Schmitt umformuliert: … der sieht, was feststeht.

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Juni 1924 535

Parodien des Schillerschen Epigramms von der Religion282:


Ich bekenne mich zu keiner Religion, aus Religion.
Ich bin kein Demokrat, aus Demokratie.
Ich bin kein Monarchist, aus Monarchismus.
Ich bin kein Sozialist, aus Sozialismus etc. Wie komisch. Dabei „echt deutsch“; vor lauter
Echtheit unecht werden, vor lauter Wahrheitsliebe lügen.

Die Kraft vom Schulmeister.


Die Franzosen als ein Volk von Schulmeistern, scheußlich.
Alle Menschen sind, wenn sie nicht Franzosen sind, bestenfalls [nach] Maurras candidats
à la civ[ilisation].283
Fr. Kandidaten, das ist Schulmeisterphantasie; die ganze Welt eine Schule, die Franzosen die
Examinatoren und Lehrer, die den Prügel schwingen. Der kräht sein „L’ humanité c’est
mois“.

Salin 284 über Goethe: er schmerzt, er schmerzt sehr geschmackvoll, geschmackvoller


Schmerz des Grausens. Simmel 285 schmerzte jedes Wort bewusst, aus sich selbst, den Ein-
druck, den er macht, alles mit Erfahrung garnierend <? > <…>.

Einer schreit Diener, ein anderer geschmackvoller, er schreit entscheide, ein Dritter flötet
Mozart und einer überbrüllt Wagner.
Welche eine Verzweiflung. Es gibt nur einen Namen: Christus der Gesalbte.

Seite 119
Am 20. 6. 24 abends trank ich in Heisterbach Wein und schwärmte bei Duschka davon, dass
Trier die Vaterstadt von Konstantin dem Großen ist, der Konstantinopel gegründet hat und
die Vaterstadt von Karl Marx, der den Bolschewismus gegründet hat, und dass wir bald
nach Trier gehen müssen, die Porta Nigra sehen, das größte Denkmal römischer Staatsbau-
kunst‚ und [ein Zeichen für] die Kraft, einen Staat zu bilden.

282 Schiller, Mein Glaube. „Welche Religion ich bekenne? Keine von allen, die du mir nennst – Und
warum keine? – Aus Religion.“
283 … Dans toute de l’Europe méridionale, la haute société représentée par les cours, les compagnies
savantes représentées par les universités, ont subi la civilisation des Anglo-Saxons ou se sont
rattachées à la mediocre demi-culture des Allemands, qui sont de simples candidats à la qualité des
Français, in : Charles Maurras, L’Avenir de l’intelligence, Paris 1905, S. 223; dt. In ganz Südeuropa
ist die feine Gesellschaft, wie sie sich in den Höfen, in den Gelehrtenvereinigungen der Universi-
täten darstellt, unter den Einfluß der Zivilisation der Angelsachsen geraten oder hat sich der dürf-
tigen Halbbildung der Deutschen angeschlossen, die in ihrer Einfalt nach der Geistesart der
Franzosen trachten.
284 Siehe Teil II, Anm. 29a.
285 Georg Simmel (1858–1918), Philosoph und Soziologe. „Goethes Philosophie gleicht den Lauten,
die die Lust- und Schmerzgefühle uns unmittelbar entlocken“, in: Kant und Goethe, Leipzig 19163;
Georg Simmel, Gesamtausgabe, hrsg. v. Otthein Rammstedt, Band 10, Frankfurt 1995, S. 126.

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536 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Am 21. 6. 24 abends in Heisterbach: Duschka war nach der Reise nach Köln krank gewor-
den, hustete und spie; das schreckliche Röntgenbild.
Nach diesem glücklichen Tag, eine wunderbare Stunde in meinem Zimmer, als sie ruhig da
saß und ich Zeitungen las und mich nicht einmal über die Frankfurter Zeitung ärgerte, die
meine Besprechung über St[ier-Somlo] noch nicht gebracht hatte.
Abends entsetzliche Traurigkeit, der Schatten des Todes, die tödliche Liebe zu dieser Frau,
Angst um sie, Sorge, Hingabe, Aufopferung.

Ich fühle trotz ihrer Krankheit, dass ich dieser Frau mehr Gesundheit verdanke als alle den
gesunden Weibsbildern, an die ich mich geklammert habe. Beglückende Dankbarkeit, töd-
liche Sorge.

Heute ist ja alles von der Krätze des Psychologismus befallen und kratzt sich den ganzen
Tag hurtig, wie Affen, weil es sie den ganzen Tag juckt. Das psychologistische Juckgefühl;
die Illusion, wie sich Affen gegenseitig die Läuse fangen.
Man heilt die Krätze durch Kratzen, sehr einfach. Die große Entdeckung des Professors
<…>, des größten Juden seit Christus: Man heilt die Krätze durch Kratzen

23. 6. 24, morgens 6 Uhr in Ruppichteroth


An Duschka: Ich bin eine Stunde zu früh aufgestanden, weil man mich zu früh geweckt
hatte und ich nicht wusste, ob die Uhr richtig ging. Als ich durch den Garten ging, sah ich
Ihre beiden Fenster offen. Liebes Sorgenkind, ich hoffe von Herzen, dass Sie gut geschlafen
haben. Die Luft ist wahrscheinlich besser als im Siebengebirge, aber wir werden ja sehen,
wie es Ihnen bekommt. Das Land erinnert schon etwas an Westfalen, der Mensch protes-
tantisch und härter.
In großer Erwartung Ihrer ersten Nachricht.

Ich führe in Gedanken ein Gespräch (beim Anblick der lieblichen Landschaft); bin ich wirk-
lich ein Lyriker, ein einfühlsamer? Wohl nur, weil ich jetzt müde bin; früher war ich es nicht.
Ein Zeichen von Gesundheit, Sie zu sehen, doch <…>.
Negative Einstimmung im Anmachen <? >: Der Proletarier in jedem Land ist nichts, oder
die Negation der bestehenden Zustände. In dem Augenblick, wie die Negation Erfolg hat,
das heißt, sobald er sagt, wird er positiv und unterscheidet sich von den anderen Proleta-
riern anderer Länder, sowohl von denen, die noch nicht gesagt haben, als auch von denen,
die gesiegt haben <…>.
Der Adel Deutschlands stand dem Adel Frankreichs nicht fremd gegenüber. Gab es eine
durchgehende Aristokratie? Keineswegs.

Seite 120
Meine naive Selbstüberhebung: Ich liebe eine Frau, greife sie mir heraus und steigere sie zu
Gott, doch nur, um mir zu beweisen, dass ich Gott bin, [erwarte] dafür Anbetung und bin
bereit anzubeten: adora ut adorer.286 Ich nehme teil an Gott, wenn ich Gott anbete. Ich

286 Dt. bete an, damit ich angebetet werde.

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Juni/Juli 1924 537

gehöre zu ihm (wie sein Kind.) So schreibe ich allem, was ich tue, naive konstruktive
Bedeutung zu: dass ich eine Landschaft sehe, dass ich eine Frau liebe, gebe ihr alle großen
Qualitäten, dass ich ein Gedicht zitiere, einen neuen extremistischen Wert.

Politische Romantik; Keats, die Schönste wird herrschen, [auserwählt sein], das will die
Schönste.
Was nützt es dem Baum, dass er schöner ist als der Ast? Was nützt es dem Pferd, dass es
schneller ist als ein Auto?
Der Romantiker wird dann einfach sagen: Das Auto ist eben schneller, wenn es technisch
vollkommen ist. Alles Unsinn und Geschwätz.

Brief an Däubler (25. 6. 24)


Las den Sang an Mailand, wie groß und erhaben: „Sicher wie die Sonne, hoffend wie der
Mond“. Ich fragte mich, wie kommt es, dass niemals von Ihnen die Rede ist, obwohl Sie
öfters erwähnt werden? Es ist die Konspiration der Lebenden gegen den Überlebenden.

Kann Gott mich schützen gegen ein Automobil; hilft er mir, wenn es rasend auf mich
zukommt und mich überfährt: ich muss ausweichen. Wie schwach und hilflos ist Gott vor
einem sausenden, hupenden Automobil. Armer Gott. Machtlos gegen eine Maschine. Sie
zerschmettert ihn, sie überfährt ihn; ist es nicht klüger, sich in die Maschine zu setzen?

Proletarier: Das wirkliche Nihil (diese zum Nichts Erniedrigten also wird der Weltgeist
erhöhen). Der konsequente Sozialismus als proletarischer Sozialismus ist Nihilismus; kon-
sequent wurde er erst, als das Proletariat entdeckt war; das Subjekt von Proudhon ist noch
kein Proletarier.

Politische Romantik: Die Besetzung der Rheinlande durch die Franzosen ist gerechtfertigt,
weil die Musik [durchgestrichen und überschrieben mit dem Wort „symbolisch“] ihren
eigenartigen Reiz hat.

Aber wie un<? >christlich zu beweisen, dass man [als] die Letzte <?> die Erste zu sein [hat].

28. 6. 24: In Köln, die Erfahrung auf der elektrischen Bahn: Ich bezahlte einem betrunkenen
Proletarier das Billet, als [ich das tat], sagte mir ein kleiner Bourgeois: Sie dürfen ja mit
Ihrem Geld machen, was Sie wollen, aber einem solchen Kerl hätte ich nichts gegeben.
Gleichzeitig machte er mir deviant die Tür auf.

Seite 121
Gespräch mit Duschka, 5. 7. 24 in Ruppichteroth
Wir haben kein Haus, wir haben keine Wohnung, wir reisen hin und her und sind wie
Katzen, die bald da und dort nisten.
Wir sind arme Leute.
Wir sind 2 Proletarier, sagte einer.
Das andere sind wir nicht, dafür sind wir zu wenig egoistisch der Bildung gegenüber.

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538 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Wir sind wie Zigeuner und Bohemiens.


Reicht das nicht, dafür haben wir zu viel Sinn für gute Haltung und für Disziplin.
Was ändern wir daran, ich sagte traurig: Wir sind 2 weiße Raben.

Ich möchte gequält werden, um berechtigterweise quälen zu können.


Den Kampf, den <…> glaube ich bestehen zu können.
Dem Wettkampf gegenseitiger Quälerei fühle ich mich gewachsen.

Diese ganze Philosophie des Lebens ist ja tot.

Säkularisierung: Die Liebe zu Gott wird Liebe zum Vaterland; Inflation dieser Begriffe
durch Säkularisation.
Oder zur Liebe zu einer Frau.
(Lies ganz fromme Gedichte, sodass dann Gott angeredet wird, sie könnten von einem
Modernen als Liebesgedichte sein. Daher die Sinnlosigkeit der Pan-Erotik; der schmutzige
Anachronismus der Psychokünste).
Wichtig für Leser des Pandit: Christentum und Nihilismus.
Eine anspruchsvolle Frau kann von mir verlangen, dass ich sie mehr liebe als Gott. Das
Vaterland verlangt es vielleicht ebenso. Vernünftig wird die Sache erst durch christlichen
Katholizismus.

Affinität und Mechanismus.: Ich töte einen Menschen durch die gerade Linie einer Kugel.
Durch einen Stich und einen Hieb; eine Linie. Freiheit des Willens und mechanistischen
Denkens. (Organisches Wachstum und Unfreiheit). Die Sense ist stärker als der Baum.
Woher das Vertrauen aufs Menschengeschlecht, aufs Volk und solche Dinge? Wenn die Axt
einen Baum fällen kann, kann sie auch einen ganzen Wald fällen; und ein giftiges Gas kann
die ganze Menschheit töten.

Seite 122
Ein Wort für einen Affekt finden: Hinter den Kulissen ein geheimnisvolles, alles über-
sehendes, alles berechnendes, alles dirigierendes <…> (Säkularisierung) Gottes?: z. B.
Temporalisierung
Cainisierung

[rechts daneben]
der Jesuitengeneral,
der Großmeister der Freimaurer
die englische hohe Bü[rokratie] des foreign office
(nach der Action française) die amerikanischen Großlogen <?>.
(nach dem Bolschewismus) die geheime jüdische Weltregierung
(nach der völkischen) Diesseitigkeit

Der Wunsch, gequält zu werden, um das Recht zu haben, selber zu quälen.

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Juli 1924 539

In Ruppichteroth (Juli 1924): Ich höre ein Volkslied, eine Blume, die auf diesem Boden
gewachsen ist. Abends spielt der Lehrer Geige, ein schönes Volkslied, dann plötzlich einen
Caféhauswalzer, welche Gemeinheit, die ganze Stadt in dieser schönen Ruhe, traurig,
dass gute Menschen das nicht unterscheiden können, hier keine Regionalität haben; dick
fressen – wozu? Wir haben doch kein Ideal, keine Exklusivität, die normalste Gesundheit
und Anständigkeit.
Wie kümmerlich.

In Ruppichteroth, 19. 7. 24: Das Glück, liebevolle Güte dieser Frau. Angst vor meiner
Offenheit? Bei mir ist alles unberechenbar.

E. R. Curtius, candidat à la civilisation française

Sie fühlt sich betrogen, weil ihr der Versuch zu betrügen misslungen ist, weil ihr Betrugs-
versuch misslungen ist.

21. 7. 24 Morgens im Zug von Ruppichteroth nach Mainz


Duschka hatte mir am Fenster gewinkt, um 1/2 6.
Liebes, schönes Kind, glücklich.

Als die vollste Ernte: Duschka Todorović, und sagte mir froh: Duschka Todorović ist meine
Frau. Mut zum Lied, Freude an der <…>, Hoffnung und Unternehmungsgeist.

Seite 123
Die deutschen, typischen Bärte: Kein Reibach <?> und kein Mord, alles Problemateure,
So wollen sie jetzt auch andere fragen, so wurden entscheidende Problemateure.
Aber vielleicht haben sie recht: es gibt keinen moralischen Begriff mehr, nur noch Pornowitz.

Erlaubt ist für den Kleinen Ablenkung,


Bringe es auf die Idee zu Reichen und jede Sklaverei wird ertragen;
ohne Reiche würde der Krieg nicht so lange gedauert haben.
Die Psychotechnik der modernen Massenbehandlung.
Es ist schwerer geworden infolge der Dimension,
aber auch wieder leichter infolge des Massenkonsums.
[Rechts daneben] Die Macht der ganz modernen Welt: Unsicherheit als treibender Faktor,
Konkurrenz, Flucht, allgemeine Überanstrengung <?>,
<…>

Abends, 23. 7. 24:


Ich las eine Frau von Block: Dein Weib betrügt dich und dein Freund fällt ab, wie lächer-
lich, Treue zu verlangen; bist du selber treu? Ich sehe mein Gesicht im Spiegel. Widerlich,
Treue zu verlangen und Treue zu versprechen, was bin ich denn: dieses armselige Gesicht,
nichts als eine Maske, ein Stück Fleisch, widerlich. O Gott, welche Verzweiflung.

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25. 7.: Den ganzen Tag Qual und Angst, Eifersucht, Sorge, Unglaube und Zweifel, die Wir-
kung von André, er sagte: Es ist immer eine Illusion zu glauben, man kennte eine Aus-
länderin; eine Ausländerin kennt man nie wirklich. Er sagte: Ein Vogel in der Luft, ein Fisch
im Wasser und die Liebe einer Frau hinterlassen keine Spuren. Gefühl des Schwindels, des
Betrogenseins, das skurrile Gefühl des Betrogenseins. Schwanken zwischen der Sehnsucht
nach Treue und der Angst vor der unvermeidlichen Untreue.
[rechts daneben] Wenn es absolut eine Ausländerin sein muss, dann heirate ein Araber-
mädchen. Sie liegt dir zu Füßen, gibt dir schönste arabische Kosenamen und beweih-
räuchert dich mit orientalischen Spezereien. <…>.

War es dasselbe wie im April 1924, Duschka? Was ist das Charakteristische? Reißt es dich
von mir weg? Ich fühle, dass ich ihre Seele bin.

Sie müssen in diesen Tagen viel bei mir sein, in meinem Zimmer; ich will Sie sehen, ich will
bei Ihnen sein.
Sehnsüchtig zu Eigel gegangen.

Ich möchte mit ihnen verbunden sein, durch Liebe, Güte, Vertrauen, auch durch die Zeit,
durch langes, schweigendes Wachen. Schweigend und im Dunkeln will ich mit Ihnen ver-
bunden sein.
[Rechts daneben] Die Sehnsucht, meinen Namen aus ihrem Mund zu hören, lieber Carl,
wie schön ist es, verliebt [zu sein]. Ich liebe mich, weil sie mich liebt.

}
Dulcis mater pura
solve vincla dura Mein Schmerz blutet in diesen lateinischen Worten
veni 287

Seite 124
Säkularisierung: Niemand beichtet gern in Prosa, lieber beichten sie in Romanen oder lyri-
schen Gedichten.

Säkularisierung: wie Stendhal den Stil von Bossuet imitiert; Die Liebenswürdigkeit <? >
macht die Frau zum Gott. Säkularisierung: sich verewigen in einem Kunstwerk oder sie
säkularisiert den modernen Kult. (Ich fühle es, während ich an Duschka lateinische Verse
schreibe, es ist das Ave Maria stella 288, das hier verschleudert wird).

Das Religiöse (nicht das Gefühl, sondern als Theologie) ist das Zentrale, alles andere sind
Derivate.
Die Kunst, eine entlaufene Dienerin, bepackt mit Fetzen ihrer Herrin.

287 Dt. Süße reine Mutter/löse [unsere] harten Fesseln/Komm!.


288 Ave Maria stella/Dei Mater alma/atque semper Virgo/felix caeli porta/… Populärer lateinischer
Hymnus aus dem 9. Jahrhundert.

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Juli/August 1924 541

Andere entlaufene Pfaffen, der Philosoph, heiratet sie und nun spielen beide eine komische
Imitation und machen sich wichtig.

Warum brechen plötzlich alte, mittelalterliche lateinische Verse aus meinen Qualen hervor.
In mir lebt ein Mönch, in mir spricht ein Mönch des 13. Jahrhunderts. Er inspiriert mir
immer von neuem Begriffe der Säkularisation, er macht mir Angst und Gewissensbisse, dass
ich statt Gott eine Frau liebe.

Während die Uhr (noch so schön) schlägt, geht die Zeit weiter.
Während du noch so schöne Gedichte machst, noch so schöne Bilder malst und musizierst,
geht dein Leben weiter.
Betrüge dich nicht.

Er konnte nicht einschlafen, wenn er nicht sein tägliches Quantum genommen hatte.

Der Begriff des Lebens in seiner ganzen Leere.


Christus ist das Leben, sagt der Christ, das heißt etwas, auch wenn man es glaubt, und man
kann es bestreiten oder bejahen.
Das Leben ist das Leben in der leeren, hilflosen Tautologie <?>, in der sich die moderne
Vorsicht bewährt.
Identität.

Die 2. Versuchung: Wenn du Gottes Sohn bist, so stürze dich hinab von der Zinne der Ver-
nunft.289

Der Baum hat keine Waffe gegen die Äste.

Duschka, Sonntag 3. August 24: Sie träumt: Sie sieht im Traum mich doppelt, einen jungen
Kerl und einen ganz alten, <…> wie verkleideten Schmitt, sie muss sich entscheiden, und
weil sie es nicht kann, stirbt sie vor Angst.

Seite 125
Welche psychologische und intellektuelle Kraft gehört zu einer Metapher, daher der Kampf
gegen die Metapher, den die Komödie289a führt.

289 Lk 4,9 Und er führte ihn nach Jerusalem und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu
ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich von hier hinunter; s. auch Teil I, S. 34.
289a Geradezu prototypisch durchgeführt in Carl Sternheim, Die Hose – die Komödie, in der Franz

Blei mitgespielt hat, siehe Eintragung in Teil II vom 23. 4. 1923. Vgl. auch Carl Sternheim, Kampf
der Metapher! (1917), in ders.: Gesamtwerk, hrsg. v. Wilhelm Emrich, Bd. 6., Neuwied u. a. 1966,
S. 34 f.

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542 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

(Ich dachte daran: es ist ein gefährliches und grauenhaftes Unternehmen, den Leviathan in
die Geode 290 zu stecken. Den Stier an den Hörnern packen. Alles das zu finden und zu
sehen ist mir nicht möglich, wenn ich müde und schwach bin.)

Definiert wird nur das Abnehmen, die Ausnahme, das Einlegen wird zuerst gesucht, viel-
leicht <…>, nicht aber definiert. <…>.

Stammler 291, Beling 292 etc.


le voyage autour de ma chambre 293

22. 8. 24
Abends in Sorengo schöne Melancholie, mir tat der Wirt leid, weil wir weggingen, angst-
volles Mitleid mit der Kreatur, das Elend des menschlichen Daseins.
Ich erkannte: Der Schmerz ist wahrer als die Freude. Der Schmerz ist Wirklichkeit, die
Freude ist Illusion.
[rechts daneben] (Scheußlich: Hier geht Ball zusammen mit Hesse)

25. 8. 24 in Lugano, abends schrecklich gelacht mit Duschka:


Das Essen war schlechte deutsche Küche, <…>. Wir fragen das servierende Mädchen, ob
man im Hotel einen deutschen Koch habe; sie sagte: Ja, er ist ein Sachse; darauf geriet ich in
lose Rede über Sachsen und erzählte die Geschichte von dem Verrat der Sachsen bei Leipzig
während der Völkerschlacht von 1813 und sagte am Schluss: Das ist ein Volk. Darauf
Duschka: und das ist ein Koch.

3. 9. 24, Lugano (unter Eindruck das Anblickes zweier jüdischer Weiber, die über ihre Män-
ner sprachen)
Wichtiger Fall von Säkularisierung: das romantische Innere <?> ist die Überlegenheit des
Christen über die Welt.
Die Juden haben keine Jenseitigkeit, daher ihre stupide Diesseitigkeit, ihre platte Gerissen-
heit.

8. 9. (Lugano): Die vereinigten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände der Klavierindus-


trie bilden eine Kommission, um eine Chopinsche Etüde komponieren zu lassen, in Auftrag
zu geben.

290 Hohlraum in einem Mineral.


291 Rudolf Stammler (1856–1938), Begründer der neukantianischen Rechtsphilosophie. Schmitt hatte
sich während seiner Referendarzeit mit Stammlers „Theorie des Rechts“ auseinandergesetzt, siehe
Schmitt, TB I, S. 73–90.
292 Ernst von Beling (1866–1932), Strafrechtler, mit dessen Auffassungen sich Schmitt in seiner Disser-
tation „Schuld und Schuldarten“ (1910) beschäftigt hatte.
293 Erzählung von Xavier de Maistre (1794), dt. Die Reise um mein Zimmer/ Nächtliche Entdeckungs-
reise um mein Zimmer. Zwei Romane, Weimar 1976, die während eines 42tägigen Arrests entstan-

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September 1924 543

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[Seite 126]
Die Kraft des Proletariats: Es ist der einzige Träger der Askese.
Unfreiwillige Askese gibt aber keine Kraft. Der Widerspruch des Sozialismus.

Wie schrecklich lang ist mein Leben. Jede Stadt, in der ich war, Lobberich, Düsseldorf,
München-Gladbach, Köln, München, Greifswald, Bonn, wie entsetzlich lange.
Jede Frau, die ich gekannt habe, wie schrecklich lange.
Unendlich langes Leben.
[daneben später notiert] (am 24. 8. 41 nach fast 20 Jahren unverändert dasselbe! – Und am
18. 11. 64 in Plettenberg)

Die Religion der Gegenwart: Bewegung. Wer sich am schnellsten bewegt, hat recht.
Alles großartig: das Sternensystem (oder umgekehrt: aber sieht das Sternensystem [uns
eben]so!)

Der Berauschte findet auch seinen Weg, mit der Überlegenheit des Berauschten über den
Weg, mag der Weg richtig oder falsch sein.

Das schöne Antlitz trügt. Das Gesicht ist doch nebensächlich in der Demokratie. Wenn
alles gleich ist; das Antlitz ist doch das Überflüssigste. Wenn die Naturschranke zurück-
weicht, wenn auch das schöne Antlitz weicht

Die Expectation.
1) Baudelaire,
quand je pense etc.
2) Keats,
when I behold 294
3) Goethe: Bl. 11 7.
4) Wenn ich, o Schöpfer, Deine Macht anbetend überlege? 295

[rechts daneben]
Schön dagegen von Goethe:
Wenn im Unendlichen dasselbe sich wiederholend ewig fließt,
Das tausendfältige Gewölbe sich kräftig ineinander schließt,
Strömt Lebenslust aus allen Dingen, dem Kleinsten wie dem größten Stern,

den ist; wiederaufgelegt in: Mille et une Nuits, Paris, 2002. Xavier de Maistre (1763–1852 ) war der
jüngere Bruder von Joseph de Maistre.
294 Keats, When I behold, upon the night’s starr’d face,/Huge cloudy symbols of a high romance,/And
think that I may never live to trace/Their shadows, with the magic hand of chance, wie Anm. 181,
Vers 5–8.
295 Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769), Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht/die Weisheit deiner
Wege/die Liebe, die für alle wacht/anbetend überlege … (1757).

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544 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

Und alles Drängen, alles Ringen ist ewige Ruh in Gott dem Herrn.296
(Es kann nur mit Gott aufhören).

Der bolschewistische Affekt: den richtigen Kontakt zu haben; die richtigen [Begriffe] zu
setzen.
Ein Christ fühlt sich klein in der unendlichen Welt, sieht die große Welt und die Nichtigkeit
der Menschen.
Der Bourgeois fühlt sich sicher, wenn er ein Bankkonto hat; das ist schließlich dasselbe wie
der Bolschewist.

[Seite 127]
Die protestantische Spaltung: das Fleisch und der Geist
(alles wird grob fleischlich genommen und wird daher shocking, was in anderen Sprachen
nicht so klingt. Wenn ich sage „herzlich“, so ist das für einen Franzosen harmlos, <…> aber
noch nicht unvornehm, cordial, dagegen für einen Engländer grob fleischlich und daher
unvornehm, ordinär, der englische cant).

Brief an Koellreutter, 14. 2. 25: Sehr verehrter Herr Kollege!


Sie werden mir vielleicht erlauben, dass ich von dem Eindruck spreche, den die Behandlung,
die ich im letzten Heft des AöR erfahren 297, auf mich gemacht hat. Ich werde keine Gegenkri-
tik schreiben, denn die Auslassungen von MB298 und Wittmayer sind keine Kritik. Aber ich
möchte Ihnen gegenüber nicht einfach schweigen, wenn es sich um den ehrenrührigen Vor-
wurf des Politisierens handelt. Nachdem mein Buch über die Diktatur Ihnen von jenem <…>
[empfohlen] wurde, erscheint jetzt eine Besprechung 299 meiner Schrift über den Parlamenta-
rismus, die alles Staatsrechtliche dieser Schrift unterschlägt, nicht einmal den Zusammenhang
von Gesetzesbegriffen und Parlamentarismus, nicht einmal das Wort Diskussionsrecht er-
wähnt und sich in einer Weise äußert, dass wohl kein deutscher Staatsrechtslehrer einem Stu-
denten solche Zeitungsreißereien erlauben würde. Niemand in Deutschland hat sich so emp-
findlich seine geistige Freiheit bewahrt wie ich. Sie können nicht wissen, wie oft ich das in

296 Goethe, Zahme Xenien/Xenie 26 (1827).


297 Archiv des öffentlichen Rechts. Neue Folge. Bd. 8 (1925).
Schmitt schrieb am 12. Februar 1925 an seinen Verleger Ludwig Feuchtwanger: „… Im letzten
Heft des Archivs für öffentliches Recht habe ich einen Aufsatz veröffentlicht über die Auflösung
des Reichstags. Wenn er Sie interessiert, schicke ich ihnen einen Sonderdruck. Mehr wird Sie
interessieren, dass dieses Heft in seinem Besprechungsteil einen konzentrischen Angriff gegen mich
enthält. Mendelssohn Bartholdy spricht von dem ,grob-politisierenden Hasbach‘ und dem ,fein
politisierenden Carl Schmitt‘; Wittmayer benützt die Gelegenheit, sich für manches zu rächen, was
er mir zuschreibt und macht hämische Bemerkungen zu meinem ,Parlamentarismus‘. Man erkennt
wenigsten den Ärger“. Rieß (Hrsg.), BW Schmitt–Feuchtwanger, S. 118.
298 Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Rezension von Richard Thoma, Der Begriff der modernen
Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff, AöR 8 (1924), S. 230 f.
299 Möglicherweise handelt es sich die Besprechung von Richard Thoma, ARSP 1925, 212 ff.

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Februar 1925 545

concreto politischen und wirtschaftlichen Juristen gegenüber bewiesen habe. Ich möchte auch
auf meine wissenschaftliche Freiheit nicht verzichten und hatte den Mut, den skandalösen
Hobhouse Stier-Somlos öffentlich zu nennen 300 und Wittmayer 301 so zu besprechen, wie er es
verdient und nicht nach den Gesichtspunkten der Rezensionspolitik. Natürlich war ich auf
wohlorganisierte Revanche gefasst. Aber die perfide Beiläufigkeit der Bemerkung Mendels-
sohns, die Reihe hämischer Glossen Wittmayers sind doch wohl unter jedem zulässigen wis-
senschaftlichen Niveau usw. in der sachlichen Bekämpfung. Ich habe das Problem des Parla-
mentarismus erörtert. Es ist doch wirklich heute ein Problem, und jeder anständige Deutsche
lacht über die Schwätzerei von der parlamentarischen Führerauslese wie über einen üblen
Witz, den er außerdem noch bezahlen muss. Und es [ist] gefährlich, dass heute, in den Tagen
des Barmat-Skandals 302 mein Versuch heruntergerissen wird, als wäre ich in die Gesellschaft
von Berufspolitikern geraten und nicht in die <…> der staatsrechtswissenschaftlichen Zeit-
schrift.
Ich wollte Ihnen, sehr geehrter Herr Kollege, meine Meinung so sagen, wie man es, selbst im
Zeitalter einer partei- und konzern-politisch organisierten Pressefreiheit, unter Ehrenmen-
schen doch wohl sagen darf. Ich tue es mit der Versicherung, dass ich Ihnen gegenüber von
aufrichtiger Hochachtung und Verehrung erfüllt bleibe. Stets Ihr sehr ergebener Carl Schmitt.

27. 2. 25
Die großen Mittel, das Wesentliche zu umgehen; keine einfachen Antworten auf einfache
Fragen zu geben.
Bei den Deutschen die Methodologie, bei den Russen die Psychologie.
Das Letztere scheint humaner und ist deshalb das Schlimme.

2. II. 25: Das Töpfchen koch! 303 Des ewigen Gesprächs.

[Seite 128]
Was ist denn das schnellste Automobil, das schnellste Flugzeug neben der Beschleunigung
meiner Gedanken, die den einen falschen Wahn hervorrufen?
Ist es ist Langeweile, <…> Kitsch?

Ich sah den Traum mit einer ungeheuren Intensität. Vielleicht kann man nur für eine Se-
kunde vor dem Tod das Leben so intensiv erfassen. Also steht hinter jenem der Mörder.

300 Stier-Somlo stellte später klar, dass er nicht, wie von Schmitt angenommen, der Herausgeber und
auch nicht für die fehlerhafte Übersetzung verantwortlich gewesen sei.
301 Zu Wittmayer und der Rezension von dessen Werk „Die Weimarer Reichsverfassung“ s. Teil II,
Eintragung vom 18. Februar 1923 und Anm. 189, 190, 192.
302 Die drei Brüder Barmat hatten sich durch Bestechung hoher Staatsbeamter und Politiker der Wei-
marer Republik beachtliche Kredite (35 Mio Goldmark) aus öffentlichen Mitteln beschafft.
303 Gebrüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Der süße Brei.

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546 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

An Breinlinger 304, 2. 3. 25:


Die gebildeten Romantiker waren entzückt über meinen Romantik-Aufsatz305, weil er so
gut geschrieben ist, und die Ungebildeten machten ein dummes Gesicht, als welches im
Blech des Romantischen ein unwiderstehliches Argument und die ultima ratio ist…

12. 3. 25:
Nimm dich in Acht vor der Ehe, eine Frau ist ein ktñma e¬v a¬eì306

Im Traum: Wer definiert den Traum nach dem Inhalt (das ist so dumm wie die Romantiker
nach dem romantischen Thema zu definieren).

Die unwiderstehliche Weichheit.

Rassen, Romantik und all dieser Schwindel: Rückkehr zur Natur, Verflechtung der Kultur,
aber alles mit der unausgesprochenen, selbstverständlichen Voraussetzung: im Rahmen der
Kultur.
Widerlicher Betrug. Selbst Bakunin lügt, wenn er das Recht der Lüge postuliert.

17. 4. 25:
Warum ist Arnold Schmitz lieb: Als wir viel Wein getrunken hatten, sprachen wir über den
Disc. sur l’inégalité von Rousseau307 und konnten nicht genug lachen über die Dummheit
der Menschen, die so etwas ernst nehmen. Dann sagte er: Inzwischen verstehe ich den Aus-
spruch von Paulus: Als ich noch ein Kind war, lügte ich kindisch wie ein Kind.308

[Seite 129]
Immer wieder: Aktivität ist Atheismus.

Man muss das Denken der Menschheit in Jahrtausenden überschauen:


Das 18. Jahrhundert: Gott ist abwesend.
Das 19. und 20. Jahrhundert: Gott ist tot.
Nehmt euch in Acht. Gott ist gleichgeschaltet.

<…>

304 Hans Breinlinger (1888–1963), Maler. Schmitt war mit ihm und dessen Frau Alice Berend
(1875–1938) bekannt; sie war die Verfasserin des Romans „Der Glückspilz“ (1919), in dem Schmitt
als eine der Hauptfiguren auftritt.
305 Carl Schmitt, Romantik, Hochland, 22. Jg. (1924), S. 157–171, als Vorwort übernommen in die
2. Aufl. Schmitt, Politische Romantik.
306 Umschrift: ktema es aei, dt. Besitz für immer. Thukydides, Buch 1, Kap. 22, § 4.
307 Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), Discours sur l’origine et les fondements de l’inegalité parmi les
hommes (1755).
308 Anspielung auf 1 Kor 13,11: Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein
Kind und war klug wie ein Kind …

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November 1924 547

19. 11. 24.


Heute fiel der erste Schnee. Das macht mich immer fast mystisch erregt und empfindlich.
Ich bin dann nicht traurig und nicht fröhlich, auch nicht gleichgültig, aber weit von der
Welt entfernt und von einer hellsichtigen Klarheit des Verstandes. Standpunkt: Ich hatte des
Nachts von Schnee geträumt, (ich ging mit Duschka im Schnee). Dabei waren die Rollläden
heruntergelassen, ich konnte nicht wissen, dass es schneite (der Schnee kam unerwartet um
diese Jahreszeit). Also doch im Schneegefühl.

Nachts 22. 11. 24


Das ist das Leben, das ist Kampf, das ist Realität. [rechts daneben notiert] Eu-Genetik
Papageno.
Wie genial ist das erfunden: Papa und geno‚ der Vater Papa und der Anklang an griech.
genésqai309, ziemlich fabelhaft und genial.

Der Proletarier ist nichts und wird alles (genau wie der tiers état. Ewiges Schema;
Überhaupt die kümmerliche Imitation des bourgeois gefährlich: Retention. Du bist nichts,
dein Volk ist alles).
Ohne die Voraussetzung: Eine Masse gebildeter und tüchtiger, erfahrener Menschen. Küm-
merliche Ideenkonstruktion.

Plato nannte die Astronomie eine unfruchtbare Wissenschaft, weil sie den Gang der Sterne
nicht beeinflussen könne.310 Die heutige Naturwissenschaft will nicht beeinflussen, sie
ändert alles, aber indem sie sich der Naturgesetze bedient und einen Kontakt herstellt. Das
ist nicht beeinflussen, sondern benützen. Es ist keine Herrschaft über die Natur, es ist auch
das nie auszuführen. Keine Magie; es ist ein pfiffiges Sich-Unterwerfen

4. 12. 24
Abends in unsinniger Gier erkannt:
Ich bin es nicht, der so bittend verlangt, du bist es nicht, nach der ich so bittend verlange,
Du bist es nicht, die so gütig gewährt. Wir werden betrogen.

[Seite 130]
Chez Messein (1924)
Autobiographie, Brief an Verlaine 311

Mallarmé (Brief an Verlaine) [durchgestrichen: von Alb. Thibaudet mit P. Souday]

Au fond je considère l’époque contemporaine comme un interrègne pour le poète, qui n’a
point à s’y mêler: elle est trop en désuétude et en effervescence préparatoire, pour qu’il ait

309 Genesthai; dt. werden.


310 Platon, Staat VII, 530 a/b.
311 Stéphane Mallarmé (1842–1898), franz. Dichter. Autobiographie. Lettre à Verlaine. Avant-dire du
Edmond Bonniot. A. Messein, Paris 1924.

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548 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

autre chose à faire qu’à travailler avec mystère en vue de plus tard ou de jamais et de temps
en temps à envoyer aux vivants sa carte de visite, stances ou sonnet, pour n’être point lapidé
d’eux, s’ils le soupçonnaient de savoir qu’ils n’ont pas lieu.312
[daneben notiert] (am 24. 8. 41 mit großer Freude von neuem gelesen.)

Für ihn stand, wie Paul Valéry sagt, das Wort nicht am Anfang, sondern am Ende; alles hat
den Zweck, ausgedrückt zu werden, d’être finalement exprimé.313
Das ist also auch ein Hegelianismus, wie P. Souday 314 (Temps 28. 1. 25) mit Recht sagt.

All die Pfaffen des Anti-Pfaffentums,


Alle die Offiziere bekämpfen [die] Offiziere,
Die liberale Verlegenheit (die Sophia <?> im Namen der Freiheit)

Die kunstvolle Negierung der Kunst,


Die Industrie des Anti-Industrialismus

Vielleicht kommen spätere Generationen der heutigen Menschen, die sich in Privathaltung
verkriechen wie in eine Kommune, aus Angst, Zagheit, Stupidie [durchgestrichen] niedriger
Raubtiere, sie kommen uns dann als niedrige Tiere vor; diese Troglodyten des Privateigen-
tums.

Hegel, der mit solcher Überlegenheit über den Gott der Juden spricht und die Abhängigkeit
der Juden von Lohn und Strafe, und selbst wartet nur auf den, dessen Stunde geschlagen,
um sich enthusiastisch an diesen reellsten Gott zu attachieren.315

312 Brief von Mallarmé an Verlaine vom 18. 11.1885; dt. Im Grunde glaube ich, dass die heutige Zeit
ein Interregnum für den Dichter ist. Er sollte sich nicht einmischen: sie ist schon zu sehr außer
Gebrauch und zugleich in vorbereitender Gärung, als dass ihm anderes zu tun bleibt, als insgeheim
auf die Zukunft oder ein Niemals hin zu arbeiten und von Zeit zu Zeit den Lebenden seine
Visitenkarte in Form von Stanzen oder Sonetten zu schicken, um von ihnen nicht gesteinigt zu
werden, sollten sie ihn verdächtigen, zu wissen, dass nichts mit ihnen ist. (Übersetzung Wolfgang
Fietkau)
313 Paul Valéry (1871–1945), franz. Schriftsteller. Das Zitat lautet: Il ne voyait à l’univers d’autre
destinée concevable que d’être finalement exprimé. On pourrait dire qu’il plaçait le Verbe, non
pas au commencement, mais à la fin dernière de toutes choses. Zuerst erschienen in dem Aufsatz
‚Stéphane Mallarmé‘, Le Gaulois, 17. 10.1923, erneut publiziert in Paul Valéry, Variété II., Galli-
mard, Paris 1929 unter dem Titel Stephane Mallarmé, S. 169–173, dort, S. 173. Deutsche Über-
setzung in Paul Valéry. Werke. Frankfurter Ausgabe, Jürgen Schmidt-Radefeldt (Hrg.), Insel Ver-
lag, Frankfurt, Bd. 3, dort unter dem Titel: Erinnerung an Mallarmé, S. 241–244; dt. Ihm erschien
die Welt einzig und ausschließlich dazu bestimmt, Ausdruck zu finden. Man könnte sagen, dass er
das ‚Wort‘ nicht an den Anfang, sondern ans letzte Ende aller Dinge stellte. (S. 244).
314 Paul Souday (1869–1929), franz. Essayist und Literaturkritiker der Zeitung ‚Le Temps‘.
315 Schmitt bezieht sich auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Theologische Jugendschriften nach d.
Handschriften d. Kgl. Bibliothek in Berlin, hrsg. von Herman Nohl, Tübingen 1907. Exemplar in
Schmitts Bibliothek vorhanden (LAV NRW RW 265 Nr. 24647). Vgl. dazu Andreas Arndt, Wand-

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Dezember 1924 549

Ich habe schon in vielen Wohnungen gewohnt,


ich habe schon bei vielen Frauen geschlafen.
Für mich gibt es keine absolute Sehnsucht.
Ich sehe die Realität aller Wünsche
und die Realität aller Erfüllungen.

Lieber Leser, vielleicht bist du ein


verkommenes Subjekt, vielleicht treibst du dich
in Bordellen herum und liest die Frankfurter Zeitung.
Vielleicht hältst du Gerhart Hauptmann 316 für einen großen Dichter
und Rainer Maria Rilke 317 für ein Genie.
Sei unbesorgt. Ich liebe dich.

[Auf den folgenden Seiten am Ende des Originalmanuskripts sind nur noch einzelne Stich-
worte deutbar]

[Seite 130b]
Integrität
Puritaner
Ikonoklasten
Gold für Eisen
ritornar al principio
Rückkehr zur Natur: reformatio
Also das Gegenteil von Fortschritt,
das Gegenteil von Zweckmäßigkeit, von Vorwärtsdrängen;
expansiv, exklusiv
Kontraktion, keine Extension;
eine furchtbare <? > Defensive, keine Offensive

Der Ausgangspunkt vielleicht: der Widerspruch zwischen [der Unaufhaltsamkeit] des Fort-
schritts und der Rückkehr zur Natur. Das Letzte war Kraft <…>
déraciné

lungen in Hegels Bild des Judentums, in: Christentum und Judentum. Akten des Internationalen
Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009. Hrsg. v. Roderich Barth, Ulrich
Barth u. Claus-Dieter Osthövener, Berlin und Boston 2012, S. 417–429.
316 Gerhart Hauptmann (1862–1946), dt. Dramatiker u. Erzähler. Zu Schmitts äußerst abschätziger
Bemerkung über dessen Festspiel in deutschen Reimen vgl. TB I, S. 9.
317 Zu Rilke, den Schmitt als „aparten Lyriker“ im Kontrast zu seinem Dichterfreund Däubler ironi-
sierte, vgl. Ernst Hüsmert, Zwei wenig bekannte Seiten von Carl Schmitt, in: Schmittiana IV 1996,
S. 289–303, 293 f.

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550 Teil III. Der Schatten Gottes. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1924

[Seite 131]

Tönnies

Einordnung Recht Moral

Betragen Handeln Gesinnung


Jung und alt Süd und Nord reich und arm
Mann und Weib
Der Begriff der Nation Die Rolle de Intelligenz

Wirklich aufs Zweckbewusstsein? Identität von Zweckbewusstsein und Rationalität


Zu sehr identifiziert – der moderne Fortschrittsglaube.
Das Publikum: Begriff des Publikums. Die desinteressierte Gemeinschaft; Begriff der
Öffentlichkeit: numerisch
Freiheit ist das Bestreben.
Der demokratische <…> ist gut, die Parteien müssen verhindert werden, es zu verderben.

[Seite 132]
Herrschaft der öffentlichen Meinung, Lloyd George

[Seite 133]
Hugo Ball, Agnuzzo v Lugano, stazione Muzzano
Pl…, Charlottenburg, Meinekestr. 22
Spranger, Charlottenburg 4, Pestalozzistr. 9a
Mansur, Luisenstr. 7
Rick, Nordendstr. 7I
Smend, Sils Baseglia, Oberengadin, heute Mangua

[Seite 134]
Wie schön ist der Reichtum unserer Gedanken
und die Menge unserer vielen <…>
und die Verschwendung unserer Gespräche.
Ich freue mich meiner Verschwendung, wenn ich
diese Geizhälse sehe.
Ich bin der Einzige, der es beurteilen kann
und persönlich <…>

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Anhang

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Briefe, Dokumente und Abbildungen

Brief von Ernst Robert Curtius an Carl Schmitt

Der Brief befindet sich im Nachlass Carl Schmitt, Landesarchiv NRW, Abtlg. Rheinland, RW 265
Nr. 2689. Zuerst (mit einigen Lesefehlern) veröffentlicht in: Briefe von Ernst Robert Curtius an Carl
Schmitt (1921/22), hrsg. von Rolf Nagel, Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litera-
turen, 218. Bd., 133. Jg. (1981), S. 9–13

Marburg, den 13. Januar 1922

Sehr verehrter Herr Schmitt!

Erst vor wenigen Tagen konnte ich mir Ihre „politische Romantik“ verschaffen. Ich habe sie
sofort intensiv durchgearbeitet und stehe noch ganz unter dem Eindruck dieses fast überrei-
chen Buches. Auch Ihren späteren Aufsatz habe ich noch einmal gelesen.1 Beide Publikatio-
nen werde ich noch wiederholt durcharbeiten müssen, um mir ihren Gehalt ganz anzueig-
nen und meine eigene Position zu klären. Sie enthalten so viel Tatsachen- und Ideenstoff,
dass man nicht auf einmal damit fertig wird. Sie haben mich mit diesen Arbeiten in einen
Effervescenczustand gebracht, den nur eine res magni momenti erzeugt. Es wird noch
einige Zeit brauchen, bis sich diese Gärung kristallinisch in mir klärt. Wenige Gegenstände
hätten mich mehr interessieren können. Denn Romantik, Katholizismus und Apolitik oder
Metapolitik – wie Mèse <?> sagt – sind mir immer aktuelle geistige Größen. Außerdem
schreibe ich gerade einen Aufsatz über Balzacs religiöse und politische Stellung, wodurch
mir der ganze Komplex der in Ihrem Buch behandelten Fragen doppelt nahe rückt.
So kommt es, daß ich Ihr Buch mit stärkster subjektiver Beteiligung gelesen habe – also
in einer Verfassung analog der, in der es offenbar geschrieben wurde. Es ist genußreich zu
sehen, wie Diktator und Romantiker als Gegentypen Ihrer geistigen Welt agieren. Freilich
sind Ihre Sympathien so sehr auf der Seite des sich in der Tat entscheidenden Menschen,
daß der Romantiker schlecht fährt. Daß Sie diese Position selbst als Betrachtender darstel-
len, daß der Primat der Aktion theoretisch vindiziert wird, daß der temperamentvollste
Kampf gegen den Literaten – denn das ist schließlich A[dam] Müller für Sie – literarisch

1 Carl Schmitt, Politische Theorie und Romantik, Historische Zeitschrift, 123. Jg. (1921), S. 377–397.

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554 Anhang

ausgefochten wird und daß Ihnen dabei ein so typischer Literat wie Blei sekundiert (ich
nehme das Wort hier in einem durchaus positiven Sinne), das gibt dem Schauspiel einen
paradoxen Reiz.
Es ist beschämend für uns Literaturhistoriker, daß die einzig sinnvolle Bestimmung der
Aufgabe, die sich die Romantikforschung zu setzen hat („bewußte Begrenzung auf einen
bestimmten historischen Komplex“) von einem Juristen kommt. Sie war mir aus der Seele
gesprochen und in meinen Vorlesungen ganz ähnlich formuliert. Ich war damals, als ich
zuletzt Probleme der Romantik durchdachte, sehr beeindruckt von Burdachs Auseinander-
setzungen über den Begriff der Vita Nova und der Wiedergeburt 2 und glaube, daß sich
vieles an der Romantik von 1800 durch jene Bewegung um 1300 klärt. Das „Neue“ und das
„Alte“ kann sich ebenso verschränken, daß die Sehnsucht nach Erneuerung und das begin-
nende Bewußtsein von einem Neuwerden sich organisch zur Forderung eines reinigenden
Zurücktauchens in ein Altes definiert. „Alte Zeiten werden helle“, so ähnlich heißt es ein-
mal bei Novalis. Das re-nasci, re-generari versinnbildlicht die Durchdringung von neu und
alt. Sicher versteht man die Romantik ganz nur dann, wenn man als ihr tragendes Vitalele-
ment das Bewußtsein von einer Substanz-Verjüngung erfaßt. Die Romantik ist eben zum
Teil das Aufkommen einer neuen Jugend. [Der folgende Satz am unteren Rand notiert.] Ich
sehe eben, daß Sie ganz dasselbe p. 58 Ihrer Schrift sagen. Dadurch wird der ganze obige
Passus überflüssig. Stendhal definierte 1823 die Klassik als l’art qui a plus à nos grands-
pères3 (so ungefähr, ich zitiere aus dem Gedächtnis). Novalis ist der Psychagog der Roman-
tik, weil er phänomenologisch reiner Jüngling ist und das Glück hatte, sich nicht zu überle-
ben. Auch Auguste Böhmers4 Erscheinung hat diese Bedeutung.
Das Sich-nicht-entscheiden ist vielleicht ein Privileg oder ein Naturrecht, ein Wesensaus-
druck der Jugend. Alter heißt, sich entschieden haben, mit allen tragischen Konsequenzen.
Schlechthin negieren kann ich deshalb die romantische Unentschiedenheit nicht. Und was
den Passivismus anlangt, so ist auch er zweifellos in gewissen Fällen ethisch durchaus posi-
tiv zu bewerten. Er kann Ausdrucksform großer und echter religiöser Kräfte sein. So beim
Taoismus und bei manchen Formen christlicher Mystik. Es gibt wirklich geistige Situatio-
nen, in welchen das Handeln als ein Trübes, Wertniedriges gegeben ist. Und daß es die Welt
gibt, hat seine Ursache in der Konstitution des Weltgrundes. Nur ich schweife ab.
[Der folgende Satz am unteren Rand notiert.] Sie sagen: „Der Romantiker weicht der
Wirklichkeit aus, aber ironisch und mit der Gesinnung der Intrige“. Diesen Nachsatz
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
empfinde ich doch als eine zuweitgehende Verallgemeinerung. Eigentliche Ironie ist zen-
tral wohl nur bei Friedrich Schlegel. Schon bei Novalis tritt sie sehr zurück. Seine ergreifen-
den Tagebücher sind nicht Dokumente eines Ironikers. Auch Brentano hat die Ironie über-
wunden. Ich glaube überhaupt, daß die Bedeutung der Ironie für die Struktur des Romanti-
schen traditionell stark überschätzt wird. Im Wesentlichen ist die Ironie Kunstmittel: Tieck,
J. Paul, Godwi5. – Die Romantik ist ein europäisches Phänomen. Die Ironie kommt nur in

2 Konrad Burdach, Vom Mittelalter zur Reformation, zuerst Halle 1893.


3 Stendhal, Racine et Shakespeare.
4 Auguste Böhmer (1785–1800), erstes Kind von Caroline Schelling, zu dem Goethe ein besondere
Neigung hatte.
5 Gedicht von Clemens von Brentano (1800).

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Briefe, Dokumente und Abbildungen 555

der deutschen Romantik vor und auch dort nicht überall und nicht mit dem Akzent, der ihr
oft zugesprochen wird. Bisher hat man die Romantik fast immer zu sehr aus dem
Athenäum 6 definiert. –
Sie werfen den Romantikern vor, dass ihre Taten Zeitschriften waren. Aber man kann
auch positiv sagen: ihre Zeitschriften waren Taten. Ist der Begriff der Tat nicht etwas juris-
tisch-massiv bestimmt? Es handelt sich aber wahrscheinlich hier nur um terminologische
Differenzen. Sie werde selbst au fond wohl auch der Meinung sein, daß ein Athenäum mehr
Wert hat als eine Tat wie die Sands. Die Tat für die Tat – das ist gewiß nicht Ihre Intention.
Adam Müllers Charakterfehler waren mir allerdings in concreto nicht so bekannt, und
ich kann ihn dagegen nicht in Schutz nehmen. Ich kenne von ihm nur die beiden von
Arthur Salz besorgten Neudrucke.7 Aber die waren für mich geradezu eine Offenbarung:
das beglückende Auffinden eines theoretisch immer Ersehnten und Geforderten und in der
deutschen Sphäre nicht Vorhandenen und auch nicht einmal möglich Geglaubten. Eine
schöpferische universalistische Kritik, ein Einordnen deutschen Geistesbesitzes in europä-
ische Humanität und Tradition. Eine Würdigung Goethes von höchstem Niveau und doch
freier Unabhängigkeit, die mich fasziniert hat. Ein Versuch, zu einer Selbsterfassung des
deutschen Wesens zu erlangen. Ich finde, das sind unsterbliche Ruhmestitel, und Deutsch-
land ist sehr undankbar gewesen.
Besonders gefördert finde ich mich durch die großgedachte Theorie von den beiden
„Demiurgen“. Die ganze Auffassung, die Sie von Descartes haben und von den ontolo-
gischen Verschiebungen und Surrogaten, trifft bei mir auf viel Verwandtes und wird mir
sehr fruchtbar werden.
Die Totalität ist doch auch nicht ganz disreputierlich. Bei Leibniz wenigstens …
Boutroux 8 sagte ja sehr fein, für den deutschen Geist sei charakteristisch l’idée du Tout.
Wie Sie die Tendenz zur Umdeutung aller Dinge ineinander hervorheben, ist ungemein
lehrreich. Für den Romantiker kann alles alles bedeuten. Sie kennzeichnen das als Occasio-
nalismus und werfen der Romantik das Fehlen einer adäquaten Kausalität vor. Das ist der
Nero Ihrer ganzen Auffassung. Aber gerade hier kann ich mich nicht ganz überzeugen
lassen. Es scheint mir, man müßte einmal systematisch alle Erscheinungsformen jener
Denkweise in der gesamten Geistesgeschichte sammeln und morphologisch klassifizieren.
Zweifellos ist eine letzte systematische Gesamthaltung metaphysischer Art möglich und
berechtigt, welche diese Denkweise trägt und stützt. Analogien dazu finden sich in der Stoa,
in der Renaissancephilosophie, in der Magie, im Symbolismus des Mittelalters (kennen Sie
den Aufsatz von Bernhart in der Summa9, an den ich hierbei denke?). Es ist eben eine meta-
physisch noch ungelöste Frage, ob die „adäquate Kausalität“ das adäquate Erkenntnisbild
von der Urwirklichkeit darstellt. Vielleicht ist diese Kausalität eine Resultante praktischer

6 Literaturzeitschrift der jenenser Frühromantik, herausgegeben von August Wilhelm und Friedrich
Schlegel (1798–1800).
7 Adam Müller, Zwölf Reden über die Beredsamkeit, und deren Verfall in Deutschland (Gehalten zu
Wien im Frühling 1812), mit e. Vorw. hrsg. v. Arthur Salz, München 1920. Adam Müller, Vorlesun-
gen über die deutsche Wissenschaft und Literatur, mit e. Vorw. hrsg. v. Arthur Salz, München 1920.
8 Émile Boutroux (1845–1921), Philosoph und Wissenschaftstheoretiker.
9 Joseph Bernhart, Der Symbolismus des Mittelalters, Summa. Eine Vierteljahrsschrift, 4. Bd.,
Hellerau 1918, S. 48–71.

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556 Anhang

Lebens- und Erkenntnis- und Naturbewältigungsnotwendigkeiten. Die moderne Philoso-


phie und Naturwissenschaft scheint ja auch von dem älteren Kausalitätsbegriff loszustre-
ben. Man kann jedenfalls das Universum als riesiges Zeichensystem ansehen, in dem jedes
–––––
Ding jedes andere spiegelt und bedeutet und deutet! Das „im einen das andere sehen“ ist
teils mittelalterlich, teils platonisch. Ich frage mich, ob Sie den Occasionalismus nicht über-
mäßig beladen. Ist er als „begrenzter historischer Komplex“ selbständig, bedeutungsvoll
und nachwirkend genug gewesen, um Ihre Theorie zu tragen? Ziehen Sie ihn mehr als
verdeutlichendes Beispiel für die Interpretation der Romantik heran, oder glauben Sie an
direkte historische Zusammenhänge?
Im Grunde steht hinter Ihrer historischen Arbeit und Wertung ein Metaphysisches. Das
gibt die Spannung, die Verve und Leidenschaft. Sie bekämpfen einen Ihnen gegensätzlichen
geistigen Typus. Sie mobilisieren das Rechtliche, Politische, Moralische gegen das Poetische.
Aber die Romantiker würden antworten, daß das Poetische eine Urpotenz von unangreif-
barerer Dignität ist. Im Grunde ist der Streit nicht zu schlichten.
Das Poetische als schöpferisches Spiel ist in der Urwirklichkeit selbst fundiert – und ist
sogar, wie jedes Weltelement, irgendwie im katholischen Totalismus anerkannt. Siehe Guar-
dinis schönes Kapitel. In Ihrer Auffassung des Katholizismus – soweit Sie wenigstens in
Ihren Schriften sichtbar wird – dominiert das institutionelle Element.
Dieser allzu lange Brief ist nichts als eine unordentliche Anreihung einzelner Bemerkun-
gen. Ich bin so sehr mit Arbeiten belastet, dass mir nur diese unangenehme Form der Äuße-
rung möglich war und bitte Sie, sie zu entschuldigen. Hätte ich eine bessere Form wählen
wollen, so hätte ich vielleicht noch Wochen warten müssen. Es kann nun so scheinen, als
wäre meine Stellungnahme wesentlich negativ. Das wäre ein sehr trügerischer Schein, dem
Sie hoffentlich nicht anheimfallen werden. Sie kennen ja die Dialektik der geistigen Anteil-
nahme. Und Sie werden aus meinen Fragen und Einwänden die ganze Intensität der Gedan-
kenbewegung herausspüren, die ich Ihrem Buch zu verdanken habe. Von der außerordent-
lichen positiven Bekehrung will ich erst gar nichts sagen. Ihre Belesenheit – um noch dies
Detail zu erwähnen – ist ja einfach stupend und verrät eine Arbeitskraft und eine geistige
Energie, um die ich Sie beneiden möchte.
Sie verheißen in Ihrem Aufsatz eine weitere Behandlung des Themas. Ich sehe ihr mit
dem allergrößten Interesse entgegen.
Miss Murray scheint noch nicht aus Berlin zurück zu sein. Hoffentlich kommt sie bald
mit positiven Resultaten wieder. Wie mag es Ihnen indessen in dieser Grippezeit ergangen
sein? – Ich lese eben, daß Sartorius nach Bonn berufen ist und bin enttäuscht, daß man Sie
nicht gewählt hat. Sie wären doch prädestiniert dafür gewesen.

Mit herzlichen Grüßen Ihr aufrichtig ergebener


ER Curtius

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Briefe, Dokumente und Abbildungen 557

Brief von Duška Todorović an Carl Schmitt

Nachlass Schmitt RW 265-13769

25. VII. 24
Carl lieber Carl ich wollte ich wäre tatsächlich Ihre Freude und nicht nur Sorge. Cicala1 ich
konnte diesen Nachmittag nicht schlafen ich war nervös. Noch einen tag und dann ist mein
lieber lieber Knabe bei mir und wird viel erzählen. Heute laß ich im „Poolyrztik“: „Otello
hat nicht der Eifersucht wegen Desdemona und sich getötet, sondern weil man Ihn seines
Ideals beraubt hat.“ Ich fand das sehr schön Cica.
Morgen sind Sie in Köln Cica und kommen sicher sehr müde. Ich wollte ich könnte Sie
abwarten und Sie ruhen bei mir aus; schön wie im Winter. Cicala nicht vergessen daß Sie
mir versprochen haben ein Wäcker zu besorgen und die Nacht gut ausschlafen.
Cicala nicht traurig nicht bange sein ich bin bei Ihnen und werde nie weggehen.
Ich küsse Ihre Auge und Hände
und bleibe immer Ihre treue
Frau Duschka

1 Ital. Cicala = Zikade

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558 Anhang

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Briefe, Dokumente und Abbildungen 559

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560 Anhang

Kathleen Murray, Reisetagebuch vom 5. Mai bis 10. Juni 1922, Seite 86

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Briefe, Dokumente und Abbildungen 561

Bericht zur Rückkehr Kathleen Murrays in der Zeitung ‚Sydney Morning Herald‘
vom 12. Juni 1922

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562 Anhang

Kathleen Murray, Brief vom 20. Dezember 1960

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Briefe, Dokumente und Abbildungen 563

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564 Anhang

Carl Schmitt
Der treue Zigeuner (1922)

Der zuerst in Schmittiana, hrsg. von Piet Tommissen, Bd. VII, Berlin 2001, S. 19–27 veröffentlichte
Text ist anhand des Originalmanuskriptes im Nachlass Schmitt RW 265-21325 korrigiert.

I.
Ein Zigeuner in den Karpathen hatte eine schöne Frau, die sich plötzlich einer seltsamen,
schweren Sünde anklagte. Mehrere Rücksichten verbieten es, die Sünde zu nennen. Der
Beichtvater hielt sich nicht für befugt, die Absolution zu erteilen und äußerte als seine pri-
vate Ansicht, daß am besten der Heilige Vater, der Papst, persönlich über den unerklär-
lichen Fall entscheide. Die Frau war sofort bereit, nach Rom zu pilgern. Das rührte den
Beichtvater tief, doch wies er auf die Beschwerlichkeiten und die Kosten einer solchen Reise
hin und sagte der Frau, da sie wegen ihrer Armut kaum in einem Wagen fahren könne,
müsse sie wohl zu Fuß gehen, wie das allerdings auch zu einer Wallfahrt gehöre. Übrigens
gab er ihr keineswegs einen direkten Befehl.
Die Frau gelobte, trotz allem nach Rom zu wallfahrten, um ihre Angelegenheit dem Heili-
gen Vater persönlich vorzutragen. Sie versicherte ihrem Mann, daß sie keine Mühsalen
scheue, wenn ihr Seelenheil auf dem Spiel stehe. Aber ihre Gesundheit war nicht sehr stark
und auch ihre Schönheit konnte durch eine lange Fußwanderung leiden. Deshalb meinte sie,
es wäre am einfachsten, wenn ihr Mann sie auf dem Rücken nach Rom trage. Auf diese
Weise könnte sie ihr Gelübde erfüllen und gleichzeitig ihren Mann der Gnaden einer Pilger-
fahrt teilhaftig machen. Der Zigeuner nahm also seine Frau auf den Rücken und sie machten
sich auf den Weg nach Rom.

II.
Der Weg ging zunächst durch die heimatlichen Karpathen. Es war März und auf dem
Rücken des Zigeuners mußte die Frau manchmal frieren. Vor Kälte weinend bat sie ihren
Mann um eine wärmere Decke. Der Zigeuner fing einen Fuchs und gab das Fell seiner Frau.
Aber am andern Tage warf sie es wieder weg, weil es ein gewöhnlicher Fuchs war und das
Fell einen unangenehmen Geruch hatte.

III.
Auf der Straße der Theiß-Ebene ging ein Handwerksbursche eine Weile neben ihnen her. Er
trug einen großen Rücksack. Als die Frau seine schwere Last bemerkte, wurde sie von Mit-
leid ergriffen und suchte ihm zu helfen. Sie ließ sich den Rücksack geben und hing ihn vor
sich auf die Schultern ihres Mannes. Voll Güte fragte sie den jungen Handwerksburschen
nach seiner Heimat und seinen Eltern, und als er gegen Abend einen andern Weg nehmen
mußte, reichte sie ihm sein Bündel mit einem freundlichen Lächeln zurück. Lange sah der
Bursche ihr nach, die Augen voll Tränen. Er glaubte, der Mutter Gottes begegnet zu sein.

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Briefe, Dokumente und Abbildungen 565

IV.
Der Handwerksbursche war aus Wien und hatte erzählt, daß Wien eine schöne Stadt sei,
mit vielen schönen Kirchen. Daher bat die Frau ihren Mann, den kleinen Umweg über
Wien zu machen. In Wien zeigte ihr ein freundlicher Böhme die Stadt, während der Zigeu-
ner durch Holztragen einen Gulden verdiente. Weil der Böhme immer von neuem wieder-
holte, Prag sei viel schöner als Wien, ging sie mit ihm für einige Zeit nach Prag. Mehrere
Wochen später brachte ein Freund des Böhmen die Frau nach Wien zurück. Dort hatte der
Zigeuner unterdessen noch zwei Gulden verdient. Für das Geld kaufte er der Frau ein Paar
neue Schuhe und sie setzten ihre Reise nach Rom fort.

V.
In der Gegend von Graz wurden sie von einem reitenden Kurier überholt, der nach dem
Wege fragte. Sie konnten ihm keine Auskunft geben, doch kam der Kurier bei dieser Ge-
legenheit mit der Frau in ein Gespräch. Er hatte freilich große Eile. Die Frau ersuchte ihren
Mann, etwas schneller zu laufen, während der Kurier so rücksichtsvoll war, in einem leich-
ten Trab zu reiten. So konnten sie ihr Gespräch fortsetzen. Der Kurier war sehr liebenswür-
dig. Er nahm eine Feldflasche vom Sattel seines Pferdes, schenkte Wein in ein Glas und
reichte es mit zuvorkommender Anmut der Frau. Sie war gerührt von seiner Güte. Als sie
sich trennen mußten, stiegen beide ab, die Frau von ihrem Mann, der Kurier von seinem
Pferd und verabschiedeten sich in herzlicher Freundschaft.

VI.
Hinter Graz kam die Frau auf den Gedanken, es wäre schön, einen Strauß Edelweiß als
Andenken an die Pilgerfahrt mit nach Hause zu nehmen. Der Mann trug sie daher tiefer in
die Alpen hinein und pflückte auf einem hohen Berg einen Strauß besonders schöner Blu-
men. Dann stiegen sie in die italienische Ebene hinab und kamen nach Verona, wo sie einen
fahrenden Scholar trafen, der eine schöne Guitarre hatte und die Frau mehrere Lieder
lehrte. Nach einem melancholischen Lied erzählte er einmal, daß seine Braut ihn betrogen
habe. Die Frau suchte ihn zu trösten und schenkte ihm den Strauß Edelweiß. Vor Dankbar-
keit küßte der Scholar ihre Hände und begleitete sie bis nach Bologna. Er versicherte in
großer Rührung, daß er durch sie ein besserer Mensch geworden sei.

VII.
Zwischen Sutri und Viterbo schloß sich ihnen ein Benediktiner an. Er war jung, aber sehr
gelehrt, übrigens von deutscher Abstammung. Kaum hörte er, daß die Zigeunerfrau mit
dem Heiligen Vater sprechen wollte, so belehrte er sie über die zu beachtenden Zeremonien
und ihre Bedeutung. Die Frau hörte mit großem Interesse zu. Der Benediktiner machte dar-
auf aufmerksam, daß sie sich sehr beeilen mußten, denn der Heilige Vater sei hoch betagt
und trotz ungeminderter geistiger Frische doch körperlich ziemlich schwach, sodaß die für
den übernächsten Tag angesetzte öffentliche Audienz für absehbare Zeit wohl die letzte
Möglichkeit sein werde, ihn zu sehen. Die Frau ermahnte ihren Mann eindringlich zu größ-
ter Eile, bat aber gleichzeitig den Mönch, noch etwas zu bleiben und seine Belehrung fort-
zusetzen. So hielten sie sich noch einen und einen halben Tag auf. Plötzlich wurde der

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566 Anhang

Benediktiner schweigsam und gab der Frau keine Antwort mehr. Er hatte nämlich einen
Stein entdeckt, dessen Inschrift er nicht entziffern konnte. Über diese unerwartete Ände-
rung seines Benehmens war die Frau bestürzt. Sie weinte vor Traurigkeit. Dann erinnerte
sie sich, daß sie spätestens in einem Tag in Rom sein müßten und sagte ihrem Manne, jetzt
sei es nötig, in größter Eile zu laufen, wenn man noch rechtzeitig ankommen wollte.

VIII.
In größter Eile, die Frau auf dem Rücken, kam der Zigeuner in der Stadt Rom an und lief,
ohne sich aufzuhalten, geradewegs zum päpstlichen Palast. Er rannte durch das erste Tor,
das er offen sah, durch viele Gänge, über Treppen und Korridore und fand sich nicht mehr
zurecht. Seine Frau ermahnte ihn sich zu eilen. Als er ein Tor sah, an dessen Eingang er
einen Pförtner vermutete, sprang er dorthin, um nach dem Weg zu fragen. Dabei übersah er
aber eine kleine Treppe mit mehreren Stufen und stolperte. Die Frau schrie laut auf und glitt
von seinem Rücken zur Erde. Der Zigeuner schoß stolpernd noch einen Schritt weiter, stieß
dann auf einmal einen gräßlichen Fluch aus und schlug mit dem Kopf so heftig auf eine
Marmorstatue, daß er tot zu Boden fiel.
Die Frau weinte und schluchzte, als sie ihrem Mann tot am Boden liegen sah. Ein alter
Pförtner und ein junger Gardist kamen herbeigelaufen. Ohnmächtig sank die Frau in die
Arme des Gardisten. Dieser sprach ihr freundlich zu und trug sie durch den Garten auf eine
Bank am Tiber, wo er sie sorgsam hinlegte. Er ließ sie einen Augenblick allein, um in einem
Wirtshaus Wein zu holen. Unterdessen kam ein junger Student vorbei, der sich zu der Frau
setzte und dem sie erzählte, daß sie aus ihrer Heimat zu Fuß nach Rom gepilgert sei, um
den Heiligen Vater zu sehn, aber zur Audienz zu spät gekommen sei. Der Student, der
Neffe eines Kardinals, bewunderte ihre Schönheit und Frömmigkeit und war mit großem
Eifer gleich bereit, seinen Oheim in dieser Angelegenheit um Hilfe zu bitten. Er lud sie ein,
mit ihm in den Palast des Kardinals zu gehen, wo sie gewiß eine gastfreundliche, ihrer
Frömmigkeit würdige Aufnahme finden würde. Durch ein liebevolles Lächeln zeigte die
Frau ihre Dankbarkeit. In diesem Augenblick kam der Gardist mit dem Wein zurück. Er
bemerkte das Lächeln der Frau und geriet sofort in eifersüchtigen Zorn, sodaß der Student
die Frau in Sicherheit bringen mußte; den Gardisten, der ihm folgte, stieß er in Notwehr
das Ufer hinab in den Tiber. Der arme Soldat ertrank in den Fluten. Der Student konnte nur
noch sehen, wie die Leiche den Fluß hinuntertrieb, dann mußte er sich um die Frau
bemühen, die laut weinte. Er holte einen Wagen und fuhr mit ihr zum Palast seines Oheims.
Über den schönen Wagen freute sich die Frau sehr und während der Fahrt erinnerte sie sich,
daß der Zigeuner niemals so liebevoll gewesen war wie dieser freundliche Student und nie
daran gedacht hatte, sie in einem schönen Wagen zu fahren.

IX.
Der Kardinal war etwas überrascht, als sein Neffe eine fremde Frau ins Haus brachte. Aber
er kannte die Frömmigkeit und den ritterlichen Sinn des jungen Mannes und weil er ihn
sehr liebte, nahm er sich auch der Frau mit freundlichem Interesse an. Sie bekam ein schö-
nes großes Zimmer, wurde in ein weißes Bett gebracht und da sie der Erholung bedurfte,
bemühten sich mehrere Dienstboten um ihre Pflege. In dem weißen Bett, umgeben von der
eifrigen Dienerschaft, lächelte sie vor Glück wie ein Engel. Ein alter, im Dienst des Kardi-

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Briefe, Dokumente und Abbildungen 567

nals ergrauter Diener küßte ihre Hände und nannte sie laut eine Heilige. Dann begann sie
plötzlich zu weinen und als man sie fragte weshalb sie weine, gab sie mit leiser Stimme zur
Antwort, es tue ihr weh, den Heiligen Vater nicht gesehen zu haben. Alle waren von tiefs-
tem Mitleid ergriffen. Der Kardinal versprach, ihr eine Audienz zu verschaffen. Der Student
küßte in großer Begeisterung ihre Hände und ging dann weg, um seinen Jugendfreund,
einen Juristen aus vornehmer Familie, zu holen und ihm die heiligmäßige Frau zu zeigen.
Die Frau lächelte immer noch, aber von den Aufregungen des letzten Tages und von ihrem
unerwarteten Glück war sie so schwach geworden, daß sie wieder das Bewußtsein verlor.
Besorgt schickte der Kardinal seinen Leibarzt, damit er ihr einen besonders kräftigen Trank
bereite. Der Arzt gab sich große Mühe, doch war das Medikament, das er zusammenstellte,
für den Körper der Frau allzu fremdartig. Sie wurde plötzlich bleich und starb nach weni-
gen Minuten, immer mit einem glücklichen Lächeln auf ihren Lippen. Der Kardinal, der
Arzt und die ganze Dienerschaft weinten und riefen laut, sie hätten eine Heilige sterben
sehen.

X.
Währenddessen war der Student bei seinem Freund, dem Juristen. Zum ersten Mal in ihrem
Leben kamen die beiden Freunde in einen Wortwechsel, weil der Jurist mit vielen scharfsin-
nigen Bedenken widersprach, als er hörte, daß sein Freund eine Heilige entdeckt habe, eine
Frau aus dem Zigeunerlande. In ihrem Eifer verloren sie jede Besonnenheit und noch ehe
sie beim Palast des Kardinals angekommen waren, beleidigten sie sich heftig und zogen ihre
Degen, sodaß es auf offenem Markt zu einem Duell kam. Dabei versetzte der Jurist seinem
Freund einen tödlichen Stoß. Viele Menschen liefen hinzu. Sterbend rief der Student, es sei
zwar der Freund, durch dessen Hand er falle, aber es sei eine Heilige, zu deren Ruhm er
sein Leben lasse. Während er starb, stellten mehrere Frauen und Männer den Juristen zu
Rede. Dieser erklärte, weshalb er seinen Freund getötet habe. Wütend rissen ihn die aufge-
regten Menschen in Stücke. Sie brachten seine Leiche und die des Studenten zum Palast des
Kardinals und verlangten, die neue Heilige zu sehen.
Der Kardinal war vom Tode seines Neffen erschüttert. Man erzählte ihm, wie der edle junge
Mann für die neue Heilige gestorben sei und sogleich befahl er, ihre Leiche in prachtvoller
weißer Aufbahrung auf den Balkon des Palastes zu stellen. Mit lautem Geschrei rühmte die
ganze Dienerschaft die Frömmigkeit der Toten. Hunderte von Frauen und Männern ver-
sammelten sich auf der Straße und knieten die Nacht hindurch vor dem Balkon. Am andern
Tage wurde die Leiche in einer Kirche, über die der Kardinal verfügen konnte, mit großem
Gepränge beigesetzt und zahllose Menschen erwiesen der Toten öffentlich die Verehrung
einer Heiligen.

XI.
Schon während der Beisetzung war es zu heftigen Diskussionen gekommen, weil einige die
Heiligkeit der Verstorbenen bezweifelten und Näheres über ihre Herkunft und ihr Leben zu
wissen verlangten. Nach dem Begräbnis setzten sich die Diskussionen fort und führten zu
Streitigkeiten, die bis in die Familien hineindrangen, den Vater mit dem Sohn entzweiten und
langjährige erprobte Freundschaften und Sympathien zerstörten. Als der Zwist aus dem Rah-
men des Privatlebens heraustrat und sich öffentlich Parteien bildeten, die einander schließlich

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568 Anhang

<…> [Text zerstört] Straßenkämpfe lieferten, durfte die kirchliche Behörde nicht länger
schweigen. Der Kardinal und seine Freunde betrieben eifrig die Heiligsprechung der Verstor-
benen. Der Prozeß wurde eingeleitet. Sämtliche Diener und Dienerinnen des Kardinals
bezeugten, daß die Tote wie eine Heilige gestorben sei. Niemand wagte es, daran zu zweifeln.
Auch der advocatus diaboli erklärte, daß er die Heiligmäßigkeit ihres Lebenswandels nicht
bestreiten könne; aber er verlangte den Nachweis eines Wunders. Die Verteidiger der neuen
Heiligen machten geltend, daß nach den Wahrnehmungen aller Augenzeugen die Verstorbene,
obwohl sie aus ihrer Heimat, dem Zigeunerland zu Fuß nach Rom gepilgert sei, trotzdem
Schuhe an den Füßen gehabt habe, die kaum Spuren einer Berührung mit dem Erdboden auf-
wiesen; sie sei also offenbar geschwebt, unter Aufhebung des Gesetzes der Schwerkraft; Engel
müßten sie getragen haben. Der advocatus diaboli entgegnete, daß man nicht nur von Engeln
getragen werden könne, man könne fahren oder sich von einem andern Menschen tragen las-
sen, sogar, wie er mit einigem Spott hinzufügte, vom eignen Gatten, denn man wisse ja nicht
einmal, ob die Verstorbene nicht vielleicht verheiratet gewesen wäre. Der Spott an solcher
Stelle war unpassend. Die Zuhörer wurden erregt, mehrere Frauen schrien vor Empörung
laut auf, ein fanatischer junger Mann schoß von der Tribüne mit einer Pistole auf den advoca-
tus diaboli und traf ihn tödlich. Der Prozeß mußte abgebrochen werden.
Jetzt nahmen die Streitigkeiten ihren Fortgang mit verdoppelter Wut. Im Interesse der
Einigkeit und des Friedens mußte sobald als möglich eine Entscheidung ergehen. Mit
großer Feierlichkeit wurde der Prozeß wieder aufgenommen. Es fand sich ein junger
Mönch, der die Funktion des advocatus diaboli übernahm und mit Absicht an demselben
Punkt der Argumentation fortfuhr, an dem sein Vorgänger ein Opfer seiner Anständigkeit
geworden war. Er führte aus, niemand könne wissen, ob die Verstorbene nicht getragen
worden sei und er brachte einen uralten Pförtner als Zeugen, der aussagen konnte, daß um
die Zeit des Todes der Verstorbenen ein Zigeuner im päpstlichen Palast tödlich ver-
unglückte, in dessen Begleitung eine Frau war, die auf eine unerklärliche Weise verschwand,
während der Pförtner die Leiche des Zigeuners fortschaffte. Aber die Freunde der neuen
Heiligen wußten diesen Einwand triumphierend zu widerlegen und das Argument in sein
Gegenteil umzukehren, indem sie von dem Pförtner nähere Angaben über den Tod des
Zigeuners verlangten. Der Pförtner konnte aus eigener Wahrnehmung bekunden, daß jener
Zigeuner mit einem gotteslästerlichen Fluch auf den Lippen gestorben, also, wie man wohl
annehmen dürfe, geradewegs zur Hölle gefahren war; einen solchen Menschen mit einer
Frau in Verbindung zu bringen, deren Lebenswandel unbestrittenermaßen der einer Heili-
gen war, erschien allen als eine frivole Lästerung. Die Zuhörer auf der Tribüne wurden wie-
der sehr erregt. Ein Dutzend Menschen rannte zu der Stelle, wo der Zigeuner begraben war,
riss die Gebeine aus der Erde und zerstreute sie fluchend in alle Winde. Viele ballten die
Fäuste gegen den advocatus diaboli und es war zu befürchten, daß es wiederum zu Gewalt-
tätigkeiten kam, nachdem bereits soviel Blut geflossen war. Der advocatus diaboli erschrak,
als er das erkannte; nicht aus Furcht um sein Leben, denn er war ein mutiger Mann und zu
jedem Martyrium bereit, aber aus Sorge um den Frieden und die Einigkeit des öffentlichen
Lebens. Er machte jetzt nur noch geltend, daß die Heilige vielleicht aus ihrer Heimat nach
Rom geschwebt sei – posito, non concesso –, daß aber dann immer noch die erforderliche
Zahl der Wunder (in diesem Falle mußten es vier sein) nicht erfüllt wäre. Darauf versuchten
die Freunde der Heiligen eine Reihe weiterer Nachweise, die ihnen zwar nicht gelangen, die
aber den Ruhm der neuen Heiligen vermehrten und ihre Verehrung verbreiteten. Daß die

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Briefe, Dokumente und Abbildungen 569

weitere Fortsetzung des Prozeßes diese Verehrung noch weiter ausdehnen werde, konnte
nicht zweifelhaft sein.
Bei einer solchen Lage der Dinge ergab sich das Ende des Prozeßes mit zwingender Not-
wendigkeit von selbst. Die Verehrung mußte geduldet werden, auch wenn keine Heiligspre-
chung erfolgte. Also erging denn über jene Frage, die so viele Diskussionen und soviel
Unheil heraufbeschworen hatte, eine Entscheidung, die den Frieden und die Einigkeit des
öffentlichen Lebens wiederherstellte und die kirchliche Autorität sprach das letzte Wort:
tolerari potest.

XII.
Ich habe die Geschichte vom treuen Zigeuner vielen erzählt. Zuerst Agnes Schröder in Ber-
lin, Ende Februar 1922; sie schien anfangs sehr gerührt, aber nach einigem Überlegen hielt
sie es für sicher, daß der Zigeuner überhaupt nicht treu war. Dann Miss Doris Abbott aus
Boston, U.S.A.; sie war entzückt und nannte den Zigeuner einen nature’s gentleman, emp-
fahl dringend die Geschichte in die Knabenlesebücher aufzunehmen, damit die Deutschen
endlich einmal ein würdiges Beispiel der Nacheiferung vor Augen hätten, aber natürlich
dürfe der Zigeuner nicht fluchen. Die scheinbar klügste Frau, die ich bis dahin kennen
gelernt hatte (sie stammte aus der früheren Habsburgischen Monarchie) sagte: das ist die
Geschichte jeder Ehe, worauf ein norddeutscher Student der deutschen Philologie von
Strindberg sprach, anscheinend um seine hoffnungslose psychologistische Verdummung
kundzutun. Hans Pichler, der Philosoph, erkannte sofort einen geschichtsphilosophischen
Tiefsinn. Auf seine, wie es sich für einen Philosophen ziemt, abstrakt gehaltene Bemerkung
nannte eine lettische Studentin, die begeisterte Bolschewistin war, den Zigeuner ein Symbol
des den kapitalistischen Luxus tragenden Proletariers, während ein junger russischer Jude es
für methodisch richtiger hielt, in begrifflicher Allgemeinheit von dem Verhältnis der ökono-
mischen Basis zum ideologischen Überbau zu sprechen.
Franz Blei konnte ich die Geschichte leider nicht erzählen; aber ich zweifle nicht, daß er sie
auf die Beziehungen der offiziellen Kirche zu der die Kirche immer weiter schleppenden,
aber trotzdem zur Hölle führenden Häresie deuten würde. Dagegen hörte ich aus dem
Munde einer Irländerin, Kathleen Murray, die Versicherung, daß sie niemals eine schönere
Apologie des römischen Katholizismus gehört habe. Nach dem perfiden Tiefsinn jener
Ansicht von Franz Blei war das eine große Beruhigung. Aber ich möchte die Geschichte
doch noch einmal erzählen.

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570 Anhang

Milutin Bojić

MAGDALENA

Eloi, Eloi, lama savahtani?


(Markus XV, 34)

Die aufgerüttelten Himmel bricht der blaue Wind,


Der Brand göttlichen Zorns brüllt und pfeift,
Der vom Schwur gepeitsche Heilige Fluss schluchzt,

Alles zittert wie der Westen, wenn sich die Farben sondern.
Gottes Sohn ist tot. Und die Frauen klagen.
Doch im Wirbel des Zorns braust die Hochzeit der Teufel.

Und erstickt mit dem Weinen der jammervollen Magdalena:


„Höre, marmorner Gott, die Hymne deines Schicksals,
Du, der mit stolzem Lachen mich zurückgewiesen hast,

Du, der das Lied des Blutes im Staube des Ruhmes zerstampft.
O weh, die Rosen knospen, doch du bist ganz aus Eis.
Warum schluchzt er nach Verherrlichungen, wenn er sie als Toter erhält?

Dein erfrorenes Auge sieht mich betrübt an:


Noch sehe ich in ihm Himmel und Wasser
Und die Lilien – meiner erdrosselten Kinder,

Galeeren, die über schwarze Seen fahren.


Ich fürchte mich. Dünner Frost erfasst deinen Leib,
Und die finsteren Zedern wölben sich über deinem Kopf.

Limonenbäume rascheln, und Totenschwärme


machen deine Gliedmaßen steif, deine blauen üppigen Lippen.
Wirst du, schöner Gott, etwa ein Klumpen Lehm?

Aber ich hätte gerne noch deine Augensterne


Und den blutigen Kuss, obschon vom Tod zerschnitten.
Du wolltest die Tat, damit die Erlösung beginne.

Noch bist du schön. Vielleicht lebst du noch? Sehne dich nach mir, sehne dich.
Du bereust. Jetzt zieht dich meine Anmut an.
Nein … Heute will ich dich nicht. Geh, versink in den Schwären.

Sieh, mein grüner Blick strahlt vom Glanze der Sünde.


Sieh, wie weiß ich bin, satt von der Liebkosung.
Die Ermattung von der Unzucht streift mir den Schleier der Hoffnungen über.

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Briefe, Dokumente und Abbildungen 571

Wie eine Feuerzunge mit dem Pfiffe des Zerreißens


gleitet es über meinen Körper. Ich bebe. Ich sehne mich gierig.
Ich will dich … Durchbrich das Eis meine Sünde, die träumt.

Ich grinse. Du bist tot. Der Abend des Gerichts bricht an,
Armer toter Gott … Oh, erlaube mir, dass ich mit dem Saft
Meines Auges deinen frostigen Körper benetze.

Du bist irregeführt … Gib dich mir ganz, damit ich


Zu einem Öltropfen schmelze und ihn dir auf die Augen träufle!...
Umsonst ich kann dir nur die Augen schließen.

Was hast du nun, wenn ich dir den Weg mit Tränen überschwemme?
Einen leeren Ruhm, den die Menge zerstören wird.
Jene rufen, die ich gerne zermalmen würde.

Ihre Sünde zeigt dir, wie man das Kreuz trägt.


Oh, und ich war eine größere Sünderin als alle!
Erlöst er mich etwa von der Sünde mit der Tat seines Todes?

Die Sünde der ganzen Welt, die du auf meine Schultern


Nicht gelegt hast; wenn du nur lebendig wärst?
Mir Verfluchter wärest du Ziel und Glück gewesen.

Versteinere mich, weil mich die Stunden der Sünde quälen.


Wie schön du bist! Ich würde dich auch tot begehren.
Du warst wie ein lebendiger Gott. Und nun, als Toter, was bist du?

Jetzt bist du ein schöner Mensch, mit eisiger Stirn.


Ich werde dich mit dem Auge austrinken. Hier endet die Macht des Todes.“
Und das Begräbnis beginnt. Sie bleich, hinabgeführt

Verkrampft sich in der Ecke und grämt sich und bereut.

(1913)

Übersetzt von Ingo Grabowsky (Bochum)

Quelle: Milutin Bojić, Sabrana dela. Prvaknjiga. Poezija, Beograd 1978, S. 248–250.

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572 Anhang

Pádraic H. Pearse

A Song for Mary Magdalene (1913)

(aus: Plays Stories Poems, Dublin: Talbot Press, 1966, S. 327)

O woman of the gleaming hair,


(Wild hair that won men’s gaze to thee)
Weary thou turnest from the common stare,
For the shuiler Christ is calling thee.

O woman of the Snowy side,


Many a lover hath lain with thee,
Yet left thee sad at the morning tide,
But thy lover Christ shall comfort thee.

O woman with the wild thing’s heart,


Old sin hath set a snare for thee:
In the forest ways forspent thou art
But the hunter Christ shall pity thee.

O woman spendthrift of thyself,


Spendthrift of all the love in thee,
Sold unto sin for little pelf,
The captain Christ shall ransom thee.

O woman that no lover’s kiss


(Tho’ many a kiss was given thee)
Could slake thy love, is it not for this
The hero Christ shall die for thee?

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Briefe, Dokumente und Abbildungen 573

Muster einer Tagebuchseite aus Teil III, Der Schatten Gottes, mit stenographischen Einträgen
aus der Zeit November 1922, vgl. S. 416 bis 418

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574 Anhang

Kloster Heisterbach bei Oberdollendorf (bis 1803 Zisterzienserabtei, 1918–2008 von Cellitinnen
wiederbesiedelt), barockes Eingangsgebäude (1750)

Ausweiskarte von Carl Schmitt, ausgestellt in Bonn am 8. Juli 1922

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Briefe, Dokumente und Abbildungen 575

Duška Todorović Anfang der 1920er Jahre

Carl Schmitt und Duška Todorović


im Englischen Garten, München 1923/1924

Titelseite des Widmungsexemplars von Clemens Brentano, Gedichte, Insel-Verlag, Leipzig 1914

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576 Anhang

Gesellschaftshaus des Bonner Bürgervereins, 1909 von dem Architekten Karl Thoma
an der Ecke Poppelsdorfer Allee/Kronprinzenstraße errichtet

Hotel und Gaststätte Casselsruh am Venusberg mit Blick zum Siebengebirge, benannt
nach dem Bonner Bürgermeister Johann Heinrich Cassel (1794–1875)

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Briefe, Dokumente und Abbildungen 577

Universität Bonn mit Hofgarten (Junkers Luftbild 22607)

Hotel Königshof, Bau von 1854, im II. Weltkrieg zerstört

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578 Anhang

Poppelsdorfer Allee mit Blick auf den Kreuzberg

Argelanderstraße in Bonn-Poppelsdorf mit Blick auf den Venusberg mit dem Marienhospital

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Briefe, Dokumente und Abbildungen 579

León Martín-Granizo Rodríguez Don Gervasio de Artíñano y de


(1884–1964), span. Sozialökonom Galdácano (1873–1938), span.
und Schriftsteller Wirtschafts- und Kulturhistoriker

Karl Heinrich Vormfelde (1881–1944), Wilhelm Neuß (1880–1965),


Prof. für Physik, spez. der Land- Priester, Prof. für Kirchen-
maschinenlehre, an der Land- geschichte, Geschichte der
wirtschaftlichen Hochschule Christlichen Kunst und der
Bonn-Poppelsdorf Archäologie Universität Bonn

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580 Anhang

Sent M’Ahesa als ägyptische Tänzerin


(1919/1920)

Erste Seite des Briefes von Sent M’Ahesa an Carl Schmitt vom 12. Juni 1923,
siehe Teil II, Eintragung vom 14. 6. 1923

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Verzeichnis der mehrfach genannten Literatur

In den Tagebüchern sowie im „Schatten Gottes“ erwähnte Literatur ist, soweit erschließbar, im
Anmerkungsapparat verzeichnet. Literatur, die nur einmal herangezogen wurde, wird ebenfalls im
Anmerkungsapparat genannt. Folgende Literatur wird – zum Teil mit Kurztiteln [in eckigen Klam-
mern] – öfter zitiert.

Ball, Hugo: Briefe 1904–1927, herausgegeben und kommentiert von Gerhard Schaub u.
Ernst Teubner [= Sämtliche Werke und Briefe, 3 Bde.], 1, 2 und 3, Göttingen 2003 [Ball,
Briefe 1904–1927]
Baudelaire, Charles: Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden, herausgegeben von Friedhelm
Kemp u. Claude Pichois, München 1975 [Baudelaire, Werke]
Becker, Werner: Brief an Carl Schmitt, herausgegeben und mit einer Einleitung versehen
von Piet Tommissen, Berlin 1998 [Becker, Briefe an Carl Schmitt]
Benoist, Alain de: Carl Schmitt. Internationale Bibliographie der Primär- und Sekundär-
literatur, Graz 2010 [Benoist, Internationale Biographie]
Blei, Franz: Briefe an Carl Schmitt 1917–1933. In Zusammenarbeit mit Wilhelm Kühlmann
herausgegeben und erläutert von Angela Reinthal, Heidelberg 1995 [Blei, Briefe an Carl
Schmitt]
Blei, Franz: Erzählung eines Lebens. Mit einem Vorwort von Ursula Pia Jauch, Wien 2004
Curtius, Ernst Robert: Balzac, Bonn 1923
Koenen, Andreas: Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten
Reiches“, Darmstadt 1995 [Koenen, Der Fall Carl Schmitt]
Mehring, Reinhard: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009 [Mehring, Aufstieg und
Fall]
Mehring, Reinhard: Die Hamburger Verlegerfamilie Eisler und Schmitt, herausgegeben im
Auftrag des Carl-Schmitt-Förderverein Plettenberg e.V. von Gerd Giesler und Ernst Hüs-
mert (= Carl Schmitt Opuscula, Plettenberger Miniaturen, 2), Plettenberg 2009 [Mehring,
Hamburger Verlegerfamilie]
Mehring, Reinhard: „… mit symbolischer Bedeutung in der Bahnhofstraße“: Carl Schmitts
(1888–1985) Greifswalder Intermezzo, in: Joachim Lege (Hrsg.), Greifswald – Spiegel der
deutschen Rechtswissenschaft 1815 bis 1945, Tübingen 2009, S. 323–353 [Mehring,
Greifswalder Intermezzo]
Mehring, Reinhard (Hrsg.): „Auf der gefahrenvollen Straße des öffentlichen Rechts“. Brief-
wechsel Carl Schmitt – Rudolf Smend 1921–1961. Mit ergänzenden Materialien, Berlin
2010 [Mehring (Hrsg.), BW Schmitt – Smend]

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582 Anhang

Mußgnug, Dorothee/Mußgnug, Reinhard/Reinthal Angela (Hrsg.): Briefwechsel Ernst


Forsthoff – Carl Schmitt (1926–1974), Berlin 2007
Murray, Kathleen: Taine und die englische Romantik, Berlin 1924, Nachdruck Berlin 2013
[Murray, Taine]
Nagel, Rolf (Hrsg.): Briefe von Ernst Robert Curtius an Carl Schmitt (1921/22), Archiv für
das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 218. Bd., 133. Jg. (1981), S. 1–15
[Nagel (Hrsg.), BW Curtius- Schmitt]
Quaritsch, Helmut (Hrsg.): Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt. Vorträge und
Diskussionsbeiträge des 28. Sonderseminars 1986 der Hochschule für Verwaltungs-
wissenschaften Speyer (= Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 102), Berlin 1988
[Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum]
Rieß, Rolf (Hrsg.): Carl Schmitt. Ludwig Feuchtwanger, Briefwechsel 1918–1935. Mit
einem Vorwort von Edgar J. Feuchtwanger, Berlin 2007 [Rieß (Hrsg.), BW Schmitt –
Feuchtwanger]
Rieß, Rolf (Hrsg.): Lilly von Schnitzler – Carl Schmitt, Briefwechsel 1919 bis 1977, in:
Schmittiana. Neue Folge, Beiträge zu Leben und Werk Carl Schmitts, Bd. I, Berlin 2011,
S. 113–256 [Rieß (Hrsg.), BW Lilly von Schnitzler – Schmitt]
Schmitt, Carl: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis
zum proletarischen Klassenkampf, 6. Aufl., Berlin 1994 [Schmitt, Diktatur]
Schmitt, Carl: Römischer Katholizismus und politische Form, 4. Aufl., Stuttgart 2008
[Schmitt, Römischer Katholizismus]
Schmitt, Carl: Politische Romantik, 2. Auflage, München u. Leipzig 1925 [Schmitt, Politi-
sche Romantik]
Schmitt, Carl: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 3. Aufl.,
Berlin 1961 [Schmitt, Parlamentarismus]
Schmitt, Carl: Verfassungslehre, 8. Aufl., Berlin1993 [Schmitt, Verfassungslehre]
Schmitt, Carl: Jugendbriefe. Briefschaften an seine Schwester Auguste 1905 bis 1913, heraus-
gegeben von Ernst Hüsmert, Berlin 2000 [Schmitt, Jugendbriefe]
Schmitt, Carl: Tagebücher Oktober 1912 bis Februar 1915, herausgegeben von Ernst Hüs-
mert, 2., korrigierte Aufl., Berlin 2005 [TB I]
Schmitt, Carl: Die Militärzeit 1915 bis 1919, Tagebuch Februar bis Dezember 1915. Auf-
sätze und Materialien, herausgegeben von Ernst Hüsmert und Gerd Giesler, Berlin 2005
[TB II]
Schmitt, Carl: Tagebücher 1930 bis 1934, herausgegeben von Wolfgang Schuller in Zusam-
menarbeit mit Gerd Giesler, Berlin 2010 [TB III]
Schmittiana [ab Bd. IV 1995 mit dem Zusatz: Beiträge zu Leben und Werk Carl Schmitts,
Berlin], herausgegeben von Piet Tommissen, 8 Bde., 1988–2003 [Schmittiana I…]
Schmittiana: Beiträge zu Leben und Werk Carl Schmitts. Neue Folge, herausgegeben
von der Carl-Schmitt-Gesellschaft, Bd. I, Berlin 2011; Bd. II, Berlin 2014 [Schmittiana
NF]
Thümmler, Ellen/Mehring, Reinhard (Hrsg.): „Machen Sie mir das Vergnügen und erwäh-
nen Sie die Negerplastik“. Waldemar Gurian – Carl Schmitt. Briefwechsel 1924 bis 1932,
in: Schmittiana. Neue Folge, Beiträge zu Leben und Werk Carl Schmitts, Bd. I, Berlin
2011, S. 59–111 [Thümmler/Mehring (Hrsg.), BW Gurian – Schmitt]
Tommissen, Piet: In Sachen Carl Schmitt, Wien 1997 [Tommissen, In Sachen Carl Schmitt]

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Verzeichnis der mehrfach genannten Literatur 583

Verortung des Politischen. Carl Schmitt in Plettenberg, herausgegeben von der Stadt Plet-
tenberg mit Unterstützung des Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchivs Düsseldorf
(= Beiträge zur Plettenberger Stadtgeschichte; 2), bearbeitet von Ingeborg Villinger,
Hagen 1990
Wacker, Bernd (Hrsg.): Dionysius DADA Aeropagita. Hugo Ball und die Kritik der
Moderne, Paderborn u. a. 1996 [Wacker (Hrsg.), Dionysius]

Quellen und Nachschlagewerke

Adreßbuch der Stadt Bonn: Einwohnerbuch der Stadt Bonn, Bonner Einwohnerbuch, Bon-
ner Adreßbuch, zusammengelegt mit Einwohnerbuch der Stadt Godesberg etc., Bonn
1922, 1924 und 1927
Adreßbuch der Stadt München und Umgebung 1923, München 1923
Adreß- und Geschäftshandbuch für Bad Tölz und weitere Umgebung sowie für den Markt
Wolfratshausen 1925, München 1925
Amtliches Personal-Verzeichnis der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn
und der Landwirtschaftlichen Hochschule Bonn-Poppelsdorf 1921/22, Bonn 1922
Archiv der Bayerischen Staatsbibliothek München
Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, begründet und herausgegeben von Fried-
rich Wilhelm Bautz, fortgeführt von Traugott Bautz
Deutsche Biographie, http://www.deutsche-biographie.de/index.html
Greven’s Adreßbuch von Köln und Umgegend. Adreßbuch der Kreise Köln-Land, sowie
von Bensberg, Bergisch-Gladbach und Porz/66. 1922, Köln 1922
Handbuch über den Preußischen Staat, Berlin 1922
Korrespondenznachlass Wilhelm Neuß, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender 1925, 1 Jg., Berlin u. Leipzig 1925
Kürschners Deutscher Literatur-Kalender 1908, 25. Jg., Leipzig 1908; dto. 1925, 42. Jg.
Leipzig 1925
Lexikon Greifswalder Hochschullehrer 1775 bis 2006, herausgegeben von Werner Buch-
holz, Bd. 3: 1907 bis 1932 (Bandbearbeiter: Meinrad Welker), Bad Honnef 2004
Nachlaß Carl Schmitt. Verzeichnis des Bestandes im Nordrhein-Westfälischen Hauptstaats-
archiv, bearbeitet von Dirk van Laak und Ingeborg Villinger (= Veröffentlichungen der
Staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen/C; 32), Siegburg 1993
Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft. Das Handbuch der Persönlichkeiten in Wort
und Bild, 2 Bde., Berlin 1930 und 1931
Sammlung Piet Tommissen zu Carl Schmitt RW 0579, Landesarchiv NRW, Abteilung
Rheinland (VERA-Findbuch 470.14.01) [Nachlass Tommissen]
Verzeichnis der Professoren und Dozenten der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Univer-
sität zu Bonn 1818–1968, herausgegeben von Otto Wenig, Bonn 1968

https://doi.org/10.3790/978-3-428-54308-3
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Abbildungs- und Quellennachweis

Seite 348 u. 349, Nachlass Carl Schmitt, Landesarchiv NRW, Abtlg. Rheinland RW 265
Nr. 19912; Seite 384 u. 385, RW 265 Nr. 19605, Vorsatz; Seite 553 bis 556 RW 265 Nr. 2689;
Seite 558 u. 559 RW 265 Nr. 13769; Seite 560, RW 265 Nr. 29420, S. 86; Seite 561, RW 265
Nr. 21295; Seiten 562 u. 563, RW 265 Nr. 10057; Seite 573, RW 265 Nr. 19605, S. 25;
Seite 574 (unteres Bild), RW 265 Nr. 21563; Seite 577 (oberes Bild), RW 0229 Nr. 22607;
Seite 580 (unteres Bild), RW 265 Nr. 15116/1

Seite 553–556 (Brief von E. R. Curtius an C. Schmitt), Walter Gsottschneider, Nachlass von
Ernst Robert Curtius

Seite 574 (oberes Bild), Egid Beitz, Kloster Heisterbach, Köln, Augsburg u. Wien, 1926,
S. 39

Seite 575 (obere Bilder), Erben Carl Schmitt, Santiago de Compostela

Seite 575 (unteres Bild), Privatnachlass Milka Klićković, Beograd

Seiten 576, 577 (unteres Bild), 578, Paul Metzger, Bonn am Rhein in alten Karten, Band 1,
Zaltbommel 1985, Abb. 33, 90, 63, 38, 83

Seite 579, Archiv der Carl-Schmitt-Gesellschaft e.V.

Seite 580 (obere Bilder), Faszination Nofretete. Bernhard Hoetger und Ägypten. Hrsg. von
Katja Lembke, Hannover u. Petersberg 2013, S. 169 u. 170

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Personenverzeichnis

Abbegg, Hermann 94 f. Assenmacher, Jan 293


Abbott, Doris 569 Aubin, Hermann 144
Abert, Hermann 464 Aubin (Ehefrau) 144
Achterrath, Emma 248, 250 Auerbach 362
Adam, Adolphe 104 Augustin (Father) 16 f.
Adams, Alfons 375 Augustinus 376
Adams, Paul XXI, 375, 379 Aurnhammer, Achim 111
Adams 288 Aventinus, Johannes 10
Adenauer, August 283
Adenauer, Johann Konrad 283 Bach, Johann Sebastian 336, 366
Adenauer, Johannes 283 Bachmair, Heinrich F.S. 95
Adenauer, Konrad 274, 283, 319 Bachofen, Johann Jakob 97
Agutte, Georgette 404, 410 Bacon, Francis 508, 527
Ahlefeldt, Gräfin von 72 Baden, Max von 104
Alpius, Thea 215 Badt, Hermann 332 f.
Altdorfer, Albrecht 254 Bahr, Heinrich 9
am Zehnhoff, Hugo XII, XVII, 4–8, 19, 27, 50 f., Bakunin, Michael 91 f., 105, 116, 372, 399,
56 f., 86, 96, 102,120, 126, 151 f., 154 f., 163, 546
170, 174, 179, 187 f., 198, 279, 288 f., 314, Ball, Hugo XXI, 121 f., 137, 195, 197, 209, 219,
323–326, 328–330, 334–336, 448, 467 f., 255, 258, 303, 340, 343, 351 f., 361–366, 368 f.,
482 372, 379, 381, 542, 550, 581
Angerer, Manfred XVI Ball-Hennings, Emmy XXI, 364–366, 369, 373
Anschütz, Gerhard 115, 296, 337 f. Balzac, Honoré de 14, 53, 57, 86, 208, 466, 530,
Anton, Max 117 f., 143, 220, 274, 418 552
Antonius der Große 42, 191 Barbey d’Aurevilly, Jules XVII, 44, 121, 378,
Apostolescu, Ginette 289 429, 458 f.
Ariovist 10 Barion, Hans XIX, 377
Aristoteles 54, 480 Barker, Ernest 360
Arndt, Andreas 548 Barmat, Henry u. Julius 545
Arnold, Matthew 431 Barrès, Maurice XVII, 14, 28, 32, 38, 62, 76, 89 f.,
Artíñano y de Galdácano, Gervasio de XVII, 93, 129, 284, 289, 302 f., 352, 390, 393, 420, 452,
164, 167, 170, 173, 175, 191, 309, 469 478, 534
Aschaffenburg, Gustav 99 f., 139, 143, 177, 428, Barth, Roderich 549
432 f., 439, 462 Barth, Ulrich 549
Aschaffenburg (Ehefrau) 139 Barthels 428, 434
Aschenberg, Kurt 146, 148, 305–307, 309 f., 318, Bashkirtseff, Marie 289
320, 340, 368, 375 Basseches, Käte 327 f.

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586 Anhang

Baudelaire, Charles XVII, 40, 44, 51–54, 60 f., Beutin-Dubislav, Grete 342, 346
67, 103, 429, 432, 453, 458–462, 468, 505, 510, Beyerhaus, Gisbert 165 f., 172, 190, 215, 353,
543, 581 356, 369 f., 377
Bauer, Bruno 43 Beyerhaus (Ehefrau) 356
Baumeister, Käthchen 108, 112, 117, 120, 123, Beyerle, Konrad 88–93, 95, 113, 153, 205 f.,
125, 160, 163, 165 f., 169, 193, 209, 225, 235, 208 f., 219, 239, 291, 301, 362
469 Bieber, Hugo 313
Bautz, Friedrich Wilhelm 584 Bieberstein, Friedrich Adolf Hans Marschall von
Bautz, Traugott 584 339
Beau, Jean 132 Bienert, Ida 378
Becker, Carl Heinrich 9 Bilfinger, Carl XXI, 89, 334, 337 f., 345 f., 350 f.,
Becker, Franz 171 353–359, 366 f., 376
Becker, Friedrich 188 Bilfinger (Ehefrau) 357 f., 366 f.
Becker, Jürgen VII Binder, Eduard 178–180, 182 f.
Becker, Leonhard 199 Binding, Karl 46
Becker, Werner XXI, 312, 340 f., 352, 373–375, Bismarck, Hertha von 57
380 f., 581 Bismarck, Otto von 345, 367, 487
Beckmann, Friedrich 270, 286 Blank, Christian 6, 334 f.
Beckmann 326 Blaschke, Wilhelm 39
Beethoven, Ludwig van XVI, 41, 78, 89, 115, Blei, Franz XII, XVII, XIX, 6, 11, 22, 29, 45, 50,
173, 175, 207, 219, 230, 233, 246, 272, 274, 52, 65, 68 f., 79 f., 83, 88, 101, 103–105, 109,
277 f., 280, 297, 318, 368, 374, 380, 406, 430, 111, 122, 126, 156, 159, 181, 187 f., 191, 209,
534 217, 231, 240, 261, 265, 274, 278, 294, 298–300,
Beinhauer 228 312, 331–335, 342, 386, 391, 410, 455, 481, 496,
Belajević, Julijana XVIII, 208 541, 554, 569, 581
Beling, Ernst von 542 Bleicher 245, 250–253
Bellini, Vincenzo 9, 401 Block, von 539
Below, Georg von 305 f. Bloem, Walter 360
Belyi, Andrej 533 Blondel, Georges 116
˙
Belzer, Emil 331, 335 Bloy, Léon XVII, 121, 400, 458 f.
Bender 273 Bock, Hans Manfred 157
Benoist, Alain de 313, 581 Böhmer, Auguste 554
Benoit, Pierre 389, 402 Bogišić, Valtazar 333
Benson, Robert Hugh 387 Bojić, Milutin XVII, 203 f., 209 f., 213–218,
Bentham, Jeremy 43 220–222, 224 f., 227, 229 f., 243 f., 247, 269,
Berend, Alice XII, 546 471, 479, 484 f., 491, 495, 529, 570 f.
Berendt, Hans 354 Bolingbroke, Henry Saint-John, 1. Viscount 169,
Bergbohm, Karl 95 193, 238, 282, 299
Bergmann, Ewald 147, 151, 263 Bonald, Luis Gabriele Ambroise, Vicomte de 39,
Bergner, Elisabeth 136 98, 109, 390
Bergson, Henri 122, 212 Bongartz, Josef 156
Bernanos, Georges 101 Bonifatius 109
Berndl, Richard 257 Bonn, Moritz Julius XII, 38, 60, 71, 93, 99,
Bernhard, Ludwig 381 104 f., 117
Bernhart, Joseph 555 Bonniot, Edmond 547
Bernstein, Eduard 121 Bonsels, Waldemar 360
Bernstein, Helene u. Marta 118, 143 f. Borchardt, Rudolf 390
Bertram, Alfred 327 f., 423 Bossuet, Jacques-Bénigne 54, 98, 397, 461, 519,
Bertram, Ernst 388 540
Betz, Anton 101, 307 Bourfeind, Paul 124

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Personenverzeichnis 587

Bourgeois, Léon 292 Carter, Howard 195


Boutroux, Émile 555 Casel, Odo 89
Boveri, Margret 71 Casement, Roger David 182
Bovillus, Carolus 395 Cassel, Johann Heinrich 576
Brantl, Maximilian 33 Cassius, Gajus 13
Braubach, Bernhard 97, 110, 115, 118, 120, 138, Cato, Marcus Portius, gen. Cato Minor 394
142, 145–147, 149 f., 153 f., 156–158, 160–162, Cezanne, Paul 255
164 f., 175–177, 197–201, 205, 208, 210 f., 214, Chamisso, Adalbert von 199, 405
216, 218 f., 221, 225–228, 232–234, 239–241, Chaplin, Charlie 303
244 f., 248, 250 f., 256, 261 f., 270, 280, 291, Chateaubriand, François René 93, 303, 343
300 f., 303 f., 306, 312, 444, 446 f., 515 Cherubini, Luigi 368
Braun, Joseph 184 Chopin, Frédéric XVI, 143 f., 146, 152, 167, 170,
Braun, Matthias XII, 8 175, 177, 204, 207, 218, 222, 266, 268, 276, 278,
Braune, Erwin 134 297, 304, 309, 327 f., 341, 350, 366, 374, 434 f.,
Bredow, Hannah von 367 442, 542
Bredow, Leopold von 367 Cichorius, Konrad 302
Breinlinger, Hans 546 Claudel, Paul 122
Brentano, Clemens von 85, 199, 554, 575 Claudius, Matthias 481
Brentano, Lujo 196 Claussen, ,Contess‘ Ida von 406
Britting, Georg 225 Clémenceau, Georges 77, 116
Bröcker, Friedrich Wilhelm 250 Coenders, Albert 171
Brown, Charles E. L. 365 Cohen, Friedrich 90, 102, 110, 112, 129 f., 299,
Brown, Hilda 365 320
Brüning, Heinrich 495 Coigny, Aimée de Franquetot de 452 f.
Bruns, Viktor 338 Coleridge, Ernest Hartley 406
Brutus, Marcus Iunius 10, 13 Comte, Auguste 399
Bryce, James 394 Condorcet, Antoine 80
Bucharin, Nikolaj Iwanowitsch 71 Connolly, James 248 f., 251, 486–489
Buchholz, Werner 584 Conrad, Joseph 497
Bühler, Ottmar 143 Corath 187
Burckhardt, Jacob 465 Corbière, Tristan 52 f.
Burdach, Konrad 554 Corneille, Pierre 533
Burke, Edmund 397 Courth (Jugendfreund) 119 f.
Burns, Robert 18 Courth 211, 220, 226, 239, 250
Busch, Wilhelm 217, 230, 241, 275 Crépet, Jacques 40
Butscher 178 Creuzer, Friedrich 143
Byron, George Noel Gordon 18, 405, 442, 494 Crome, Carl 78, 86, 107, 140, 149, 203, 286
Cromwell, Oliver 20, 33, 445, 452, 480
Caelius, Marcus 229 Cuno, Wilhelm 184
Caesar, Gaius Iulius 10 Curtius, Ernst Robert VI, XIV, 6, 14–16,
Calker, Fritz van 162, 361 18–22, 25, 27–30, 32, 36, 45, 48, 53, 57–60,
Carlberg, Else von XVII, 199–203, 205–208, 211, 62–64, 66, 81, 83, 86, 105, 109, 195, 208,
239 f., 284, 374, 476, 491, 580 297, 388, 420, 539, 553–556, 581
Carlole 167 Curtius, Friedrich 297
Carlyle, Thomas 431 Custodis, Bernhard 93, 274, 301
Caronello, Giancarlo XXI
Carrière, Jean 303 Däubler, Theodor 37, 79 f., 104, 109, 118, 162,
Carroll, Mitchell Benedict 192, 210, 215 f., 173 f., 204, 210, 217, 240, 261, 352, 354, 373,
218–220, 223, 226–228, 230–232, 235, 298, 319, 378, 386, 415, 419, 447, 449, 456, 471, 537, 549
323, 325, 372, 474, 520 d’Albert, Eugen 334

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588 Anhang

Daniel, Samuel 18 Durham, Mary E. 223


Dante Alighieri 13, 32, 37, 45, 389, 404, 430 Dyck, Anthonis van 186
Danzebrink, Franz 378 Dyckerhoff 381
Dahl, Walter vom 164, 251, 321, 325, 521 Dyroff, Adolf 97, 196, 350, 358, 376
Daudet, Léon 321, 324
Debussy, Claude 50 Eça de Queiroz, José Maria 182, 464
Decius Mus, Publius 54 Eckstein, Emma 233, 335
Degenhardt, Frank 12, 202 Edison, Thomas Alva 405, 432, 436, 442
Delarue-Mardrus, Lucie 451 f. Edl, Elisabeth 461
Dempf, Alois 358 Ehrhard, Albert 80, 126, 198, 236, 274, 317, 319
Denis 30 Ehrhardt, Hermann 116 f.
Descartes, René 93, 555 Eichendorff, Joseph von 444
Dessauer, Friedrich 324 Eichmann, Eduard 87, 95
Destouches, Ernst von 443 Eisler, Bernhard Georg XIII, XVII, XX, 4–9,
Deuchert 346 13, 19, 51, 60, 64–66, 68–70, 75–77, 80–84, 86 f.,
Deutschbein, Ernst 62 93, 100, 102–105, 107–109, 112, 115, 119 f.,
Dibelius, Wilhelm XIV, 16, 79, 263 126–128, 131, 134 f., 141, 153 f., 157, 160, 162,
Dietzel, Heinrich 83, 204, 215, 271, 276, 278, 181, 189–191, 197, 200, 210, 212, 223, 229, 231,
280, 283 239, 244, 249–253, 273 f., 282, 303, 306, 322,
Dilthey, Wilhelm 313 325–330, 343, 360–362, 386 f., 389, 393 f., 398,
Diogenes Laertius 446 401, 423, 426, 434, 454, 469
Dionysius von Aeropagita 121 Eisler, Fritz 4, 8, 117, 135, 311, 363, 454
Disraeli, Benjamin 18 Eisler, Heinrich/Henrick Ludwig 288, 343
Doderer, Heimito von V Eisler, Ida 60, 172, 292, 352, 426
Dohna, Alexander Graf zu 92 Eisler, Lilli/Lilly 8, 327
Dombois, Friedrich Karl 7 Eisner, Kurt XI
Dombrowsky, Alexander 397 Elisabeth I. (Königin von England) 515
Donoso Cortés, Juan XIII, 4 f., 7, 9, 17, 22, 37, Elster, Ernst 62, 72
71, 98, 103–109, 363, 397, 484 Emrich, Wilhelm 541
Dorotić, Paulina/Pabla Carita Maria Isabella, Engel de Jánosi, Josef 481
gen. Cari oder „die Dame“ XII f., XX, 5, 8, Engeler 174
17, 63, 64 f., 67 f., 70, 72 f., 75, 78–80, 82 f., 85, Engels, Joseph 105, 114, 223, 226 f.
89–92, 95–99, 101, 103 f., 107–110, 112–114, Entrop 95
116, 119, 121–123, 126–129, 131, 134–136, 138, Ernst, Wilhelm Anton 94
144, 147, 150, 157, 161, 167 f., 170, 172, 177, Ernzerhoff, Markus VII
181, 189, 193, 195 f., 201, 205, 207, 220, 223, Eschweiler, Karl XXI, 377
225, 239, 270, 276, 278, 283, 306, 312, 345, 347, Esser, Gerhard 102
359, 373, 375, 388, 401 f., 404, 448, 469, 483, Esser 142, 149, 155, 162, 270, 276, 286, 290, 307,
504 309, 318, 321 f., 351, 355, 375, 379, 381
Dostojewski, Fjodor 33, 70, 122, 171, 225, 228, Erzberger, Matthias 106
259, 266, 273, 289, 320, 344, 465, 492, 494, Ettlinger, Max 363
509 f., 518 Euripides 177
Doyle, Arthur Conan 488 Evers 326
Dreher, Martin 12 Ewers, Hanns Heinz 405, 515
Drexel, Joseph Eduard XII
Droste-Hülshoff, Annette von 248 Faguet, Auguste Émile 470
Droysen, Johann Gustav 338 Fahrig, Franz 136
Duhr, Bernhard 71 Falk, Johannes XVI
Dupanloup, Félix 397 Fechtel, Anton 168
Dupuis, Charles 249 Fehr, Hans 315

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Personenverzeichnis 589

Fehrenbach, Konstantin 482 Friedrich III. (König von Preußen u. dt. Kaiser)
Feldmann, Franz 88, 424 f., 518 297
Ferriter, Pierce 480 Fuchs, Friedrich/Fritz 362 f.
Feuchtwanger, Edgar J. 582 Fuchs, Walter 4, 6, 22, 113, 128, 132, 146, 153,
Feuchtwanger, Lion 77 187, 218, 251, 267, 329, 468, 491
Feuchtwanger, Ludwig XVII, 77, 87, 92, 105, Fuchs 6, 22, 60 f., 96, 121, 226, 468
117, 119–122, 128, 134–138, 141, 162, 164, 173, Fürtig 409
177 f., 184–188, 190, 196–198, 209, 212, 236, Funk, Philipp 185, 363
240, 244, 246–250, 253, 255 f., 259, 262 f.,
269 f., 277, 279, 282, 291, 294, 297, 299, 302 f., Gabelsberger, Franz Xaver VII
313, 338, 343, 353, 356, 362, 365, 368, 370–372, Galahad, Sir, Pseud. von Bertha Eckstein-Diener
374, 377, 381 f., 403, 467, 544 233
Feuchtwanger, Erna (Ehefrau) 178, 253, 255 Gandhi, Mahatma 205
Ficker, Ludwig von 80 Ganivet García, Ángel 17, 123, 409
Fietkau, Wolfgang VII, 41, 44, 52, 92, 431, 451, Gebhardt, Hans VII
459, 479, 515, 548 Geibel, Carl Stephan Albert 135, 173, 185, 187
Figge, Klaus 470 Geibel, Otto Alexander 135
Finkelnburg, Rudolf 237 Geibel, Stephan Franz 135
Finner, Justus 66 Geisler, Johanna, siehe Johanne Elisabeth Meyer
Finner 63 f., 66–70 Geißler 224
Firmenich-Richartz 375 Geist (Baltin) 62–64, 67, 72, 83
Fischer, Hermann 116 Geist (Frau Pastor) 95
Fitting, Johannes 79 Gellert, Christian Fürchtegott 543
Flake, Otto 301, 502 George, Stefan 388, 460, 462
Flaubert, Gustave 45, 303, 471, 478 Gerber, Emil 158, 164, 213, 216, 231–234, 274,
Flegel 339 276, 285, 287, 290, 292, 300, 317, 321, 325,
Fleischmann, Michael Max 337 380 f.
Flemming, Willi 98 Gerber, Hans 336, 338, 341 f.
Fließ, Wilhelm 335 Gerschel, Oskar 366
Floßmann, Karl 178, 181 Geßlein 176, 314
Flügge 252 Geyken, Frauke 144
Förster, Auguste 40 Ghia, Francesco VII
Fons 307 Gide, André 52, 122, 304 f., 458 f., 497, 525
Fontane, Theodor 333 Gierke, Otto von 79
Forsbach, Ralf 170 Giese, Friedrich 140
Forsthoff, Ernst XXI, 221 f. Gieseke, Paul 80, 90, 100, 103 f., 140, 164
Fournier, General 147 Gin 260
Franck, Johannes 327 Glawe, Walther 57
Franck 327, 340, 379 Gnodalius, Petrus 262
Franken, Joseph Paul 313, 315 Gobineau, Joseph Arthur de XVII, 154 f., 168
Franken, Paul Heinrich 312 f., 315 Göppert, Heinrich 84, 86–89, 100, 111, 114,
Franz von Assisi 147, 445 116 f., 123 f., 140, 143, 149, 152, 156, 163, 173,
Freiligrath, Ferdinand 499 191, 197, 203 f., 206, 221, 229, 231, 236, 264,
Frenken, Josef Alois 124 266, 268, 273 f., 279 f., 286, 289 f., 317, 322,
Freud, Sigmund 141, 335, 475, 478 342, 345, 352, 355 f., 359, 376
Freund, Frank Washburn 372 Göppert (Ehefrau) 273
Freund, Michael 415 Goergen 240
Freyberg, Freiherr von 186 f., 255, 257 f., 325 Goethe, Johann Wolfgang 34, 175, 180, 195, 215,
Freyberg (Ehefrau) 187 230, 313, 336, 403, 406, 447, 460, 463, 495 f.,
Friedberger, Ernst 39 523, 529 f., 535, 543, 554 f.

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590 Anhang

Goetz, Frieda Maria Stephanie 302 Hankel, Gerd 8


Goetz, Leopold Karl 302 Hanser 308
Goltz, Hans 256 Hanstein, Peter 301
Gordon 91, 93, 107, 128 Harburger, Walter 186
Gorki, Maxim 160 Hardenberg, Eberhard Graf von 212
Gothein, Eberhard 115 Harnack, Adolf von 396
Gothein, Percy 111 Hartdegen, Hans 309
Grabbe, Christian Dietrich 245, 247, 250, 483, Hartig, Otto 135, 186, 255, 258
485, 491 Hartmann, Nicolai 375
Grabowsky, Ingo 571 Hasbach, Wilhelm 544
Graff, H. 237 Hauck 307
Graff 174 Hauptmann, Gerhart 549
Grau, Richard 366 Havenstein, Gustav 196
Greg, Walter Wilson 43 Haym, Rudolf 313
Gregory, Isabella Augusta 505 Haymann, Franz 87
Greven, Josef 86 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 37, 43, 49, 102,
Gribl, Dorle 257 298, 479, 504 f., 512, 528, 548 f.
Grimm, Friedrich 146 Hegner, Jakob 101, 111, 144, 173, 177, 180 f.,
Grimm, Jacob u. Wilhelm 364, 545 190, 194, 202, 267, 307, 321
Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von Heige 326
522 Heimberger, Joseph 74, 85, 92, 97, 150, 173, 200,
Groh, Dieter 470 204, 262, 274, 301 f., 308, 319, 371, 376
Gross, Otto 120 Heimberger (Ehefrau) 85, 274
Grosz, George 321 Heine, Heinrich 180, 215, 462 f., 475
Grün, Theo von 267 Heinz, Franz-Josef 300 f.
Grünewald, Mathis Gothart Nithart 336 Heister 171
Grünwald 145, 151 Heitmüller, Wilhelm 157
Grunau, Theodor 151 Held, Heinrich 359
Grunewald, Michael 157 Heldt, Werner 444
Gruß, Hans 135 Helfferich, Karl 106, 352
Guardini, Romano 102, 107, 161, 170, 192, Hello, Ernest 121, 400, 458 f.
340 f., 350, 356 Hempel 220
Günderode, Karoline von 143 Hennings. Annemarie 366
Gütersloh, Albert Paris 88, 97, 101 f., 278, 300, Hennings, Emmy, siehe Emmy Ball-Hennings
341, 405, 496 Hennings, Joseph Paul 366
Gütersloh (Ehefrau) 88 Henry, Johannes Baptist 167
Guilloux, Pierre 400 Hensel, Albert 77–80, 82, 84, 86 f., 89, 99–102,
Gundolf, Friedrich 483 107–110, 113, 115 f., 118, 141, 143, 147, 161,
Gurian, Waldemar XXI, 139, 170, 347, 351, 355, 190, 193, 202, 209, 265 f., 268, 276, 280, 283,
358, 365, 368–375, 378–382, 425 287, 345, 376 f., 379, 423
Gurian (Ehefrau) 374 Hensel (Ehefrau) 80
Gwinn 286 Heraklit 446
Herbert, George 195
Haber, Fritz 122 Herbstrith, Waltraud 327
Haecker, Johannes, Irene u. Reinhard 258, 289 Herold 120
Haecker, Theodor XVII, 36, 79 f., 98, 113, 162, Herrfahrdt, Heinrich 158
170, 177, 236, 257 f., 301, 362, 372, 376, 486 Hertweck, Frank 470
Hamacher, Wilhelm XX, 300, 346, 375, 378 f. Hesse, Hermann XXI, 365, 542
Hammenstede, Albert 89 Herzfeld 85, 122
Hankamer, Paul 80, 114 Heyl, Peter VII

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Personenverzeichnis 591

Hildebrand, Dietrich von 147, 440 Jäger, Lorenz VII


Hinsenkamp, Johannes 371 James, William 520
Hirsch, Emanuel 288 Janentzky, Christian 103, 294, 321
Hirschberg, Max XII, 75, 82, 87, 127 Jaser, Alexander 103
Hitler, Adolf 224, 268, 287, 321, 325, 355, 357, Jauch, Ursula Pia 581
482, 503 Jean Paul 554
Hobbes, Thomas 162, 342, 504 Jeanne d’Arc 445, 453
Hobhouse, Leonard Trelawney XX, 342, 344 f., Johannes Klimax 121
358, 545 Johannet, René 534
Hoche, Alfred 46 Jonge, Aenny de 232, 261, 474
Hodler, Ferdinand 533 Jüngel, Eberhard 375
Höfele, Andreas 43 Jünger, Ernst V, 332
Höffer, Otto 94 Jung, Edgar Julius 301
Hölderlin, Friedrich 85, 275, 277, 471, 485 Jung, Erich 69, 132
Höller, Bernhard 228 Junglas, Peter 351
Hoëné-Wronski, Jozef Maria 40 f.
Hoffmeister, Johannes 528 Kaas, Ludwig 323
Hohlbeck 123 Kaden, Hans-Erich 92
Hörle 217 Kahl, Wilhelm 331
Hoetger, Bernhard 199 Kahle, Paul 310
Høibraaten, Helge VII Kahr, Gustav von 316, 325, 359
Holl, Karl 381 Kaiser, Theodor 80, 95, 103, 110, 118, 161,
Hollander, Else von 372 191 f., 210, 237–240, 242 f., 272, 280, 284 f.,
Holstein, Günther 27, 98, 105, 171 f., 175, 179 f., 291, 481
188 Kallen 370
Honig, Richard Martin 138 f., 147, 152, 160, Kandinsky, Wassily 15
162 f., 454 Kandora, Peter 242
Hoover, John Edgar 71 Kant, Immanuel 42, 150, 350
Hopmann, Josef 157 f. Kapky 331, 334
Horaz 433 Kaufmann, Aloys 143
Horcher, Gustav 331 Kaufmann, Bruno 96
Huber 8, 329 Kaufmann, Erich XII, XIX, 12, 14–16, 22, 74 f.,
Hübner, Rudolf 338 78, 96 f., 99–102, 105 f., 108–111, 113–120,
Hürten, Heinz 139 123–126, 129 f., 132, 138, 140, 149 f., 152,
Hugo, Victor 298, 335, 431 f., 517 156, 160, 163, 171 f., 190, 194, 200, 202–205,
Husserl, Edmund XX, 79, 326 f., 440 209, 248, 254 f., 264–268, 270, 276, 299 f.,
Hutten, Ulrich von 10 305, 309–312, 336, 345, 374–381, 469, 498,
Huysmans, Joris Karl XVII, 41, 100 f., 458 f. 513
Kaufmann, Hede (Ehefrau) 78, 80–82, 84, 87, 92,
Ibsen, Henrik 252, 533 97, 106, 108 f., 110, 113, 116–118, 120 f., 150,
Imelmann, Rudolf 98 264, 270, 278, 286, 309, 315 f., 319
Indutiomarus 10 Kautsky, Karl 265
Innozenz III. 33 Kaws 174
Isay, Ernst 77 f., 93, 96, 100, 268, 337 Kazner, Johann Friedrich 177
Isay, Hermann 51 Keats, John 13, 18, 22, 475, 525, 537, 543
Isay, Julie/Lilly 327 Kebs 133, 130
Isay 330 Kelsen, Hans 105, 328, 336 f., 481, 505
Kemp, Friedhelm 51, 60 f., 468, 505, 581
Jacobi, Erwin XX, 89, 331, 334, 337 f., 359 Kemp 340
Jakobi 280 Kern, Fritz (Attentäter) 116

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592 Anhang

Kern, Fritz (Historiker) 192 f., 286 Konfuzius 534


Kesten, Wilhelm 147 Konsak 73
Keyserling, Hermann 367, 374 Konstantin der Große 535
Kieffer, Alexander 75 Kortum, Karl Arnold 275
Kiener, Friedrich 76, 110, 113, 153, 174, 219, 224, Korum, Michael Felix 32, 38
234, 259, 284, 290, 297–299, 301 f., 317, 319, Kosch, Wilhelm 156
321, 324, 377 Kottler, Wilhelm 122
Kierkegaard, Søren 36 f., 79, 89, 116, 162, 169, Krabbe, Hugo 55
237, 328, 429, 446 f., 468, 507, 534 Kramm 206
Kisky, Wilhelm 7 f., 22, 90, 96, 227, 288, 314, Krane, Anna Freiin von 247
319, 323, 325, 330, 332–334, 347 Kraus, Anni(e) XX, 326–328
Kisoudis, Dimitrios 470 Kraus, Karl 192, 481
Kissin 198 Krause, Georg Alexander XVII, 85, 93, 136, 154,
Kisskalt, G. 181 172, 174, 178–184, 186 f., 191, 203 f., 212, 243,
Kjellén, Rudolf 381 247, 253 f., 255–258, 299, 361 f., 408, 417,
Klaes, Wilhelm 266 435 f., 443, 456, 465, 467 f.
Klages, Ludwig 515 Krause (Ehefrau) XVII, 129, 136, 180–183,
Klausing, Friedrich 325 186, 253 f., 256 f., 282, 362, 408, 418, 440,
Klausing, Friedrich Klaus 325 468
Klee-Palyi, Flora 49, 254 Krause, Liselotte/Lisa 136, 180–184, 186, 215,
Klein, Fritz 142, 149, 165, 193 f., 205, 208, 214 256–258, 277, 314, 316
Klein (Pfarrer) 293 f., 317 Krauthausen, Udo 276
Klein (Student) 138, 322, 468 Kren 93
Kleist, Heinrich von 153, 200, 207, 215, 333, 340, Kreuzwald 7
444, 473 Kriebel, Hermann 320
Klemperer, Otto XVII, 157, 168 Kropotkin, Pjotr Alexejewitsch 46
Klemperer, Victor 103 Krüger, Paul 118
Kličković, Milka VII Krumreich, Gerd 140
Kličković, Sava 199 Kühle, Heinrich 363
Klocker, Hans 256 Kühlmann, Wilhelm 581
Klostermann, Vittorio 90 Külling, Anton 243, 245
Klute, Hiltrud 241 Küstner, Karl Friedrich 158
Kluxen, Franz 15, 82, 195, 338, 360, 423 f., 481
Kluxen (Ehefrau) 77 Laak, Dirk van 583
Knab, Otto Michael 139 Laband, Paul 92
Knappertsbusch, Hans 444 La Fontaine, Jean de 15
Knilling, Eugen von 359 La Jeuneusse, Ernest 52
Knobelsdorff, Georg Wenzeslaus von 8 Lamberts, Arthur 85, 95, 126, 388
Kobinenski, von 160 Lamberts, Ernst 145, 158
Koch, Anna 8 Lamberts, Hugo 85, 95, 126, 198
Koch, Oskar 187 f. Lamberts, Karl 158, 160, 177, 196, 223, 239, 265,
Koch 380 f. 271, 292, 318 f., 424
Kölle, Theodor 360 Landauer, Carl 196, 198
Koellreutter, Otto 122, 140, 145, 160, 162, 321, Landauer, Gustav 46
544 Landsberg, Ernst 79, 85, 87, 103, 108, 140, 143,
Koenen, Andreas 324, 347, 362, 581 148, 152–154, 160, 165, 168 f., 174–176, 190,
König 85 194 f., 198, 201 f., 204–207, 215, 223, 262 f.,
Koeniger, Albert 125, 418 265 f., 268, 271, 278 f., 284, 296, 298, 303 f.,
Kolb, Annette 405, 432 312, 319, 322, 324, 340, 342, 350, 352, 355 f.,
Kommnick, Alfred 168, 194, 232, 469 365, 519

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Personenverzeichnis 593

Landsberg, Anna (Ehefrau) 103, 169, 201, 205, MacSwiney, Terence 86


210, 213, 223, 231, 243, 265, 272 f., 278, 284, Mahlberg, Walter 100
296, 299, 346, 357, 371, 376, 379, 382, 520 de Maistre, Joseph Marie 39, 98, 100, 109, 411, 543
Landsberg, Paul Ludwig 79, 93, 98, 100, 103, de Maistre, Xavier 542 f.
106, 169, 262, 265, 268, 270, 298 f., 324, 350, Mallarmé, Stéphane 458 f., 547 f.
371, 376, 506 Manaham 30
Langenbach, Emil 95, 244 f., 250, 278 Mangan, James Clarence 8
Langhans, Friedrich Wilhelm 442 Manley, Gerard 23
Lassar, Gerhard 113, 118 Mann, Thomas 126, 166
Lasserre, Pierre 126 Mansur 198, 213, 216, 218 f., 221, 223–225,
Laufacher 240 231 f., 239, 271, 274, 299, 322, 351, 550
Laupheimer, Dr. 177 f., 185 Marc, Franz 15
Lauscher, Albert 90, 278, 298 Marchi, de 366
Lautensack, Heinrich 429 Mark Aurel 275, 277
Lederer, Emil 115 Marlowe, Christopher 43
Lege, Joachim 581 Marschler, Thomas XIX
Lehmann 226 Martin, Alfred von 359
Leibl, Wilhelm 155 Martín-Granizo Rodríguez, León XVII, 156,
Leibniz, Gottfried Wilhelm 478, 555 159, 161 f., 165 f., 173
Leidig, Eugen 5 f. Martín-Granizo (Ehefrau) 159, 162, 165 f.
Leidig (Ehefrau) 6 Martineau, Henri 507
Lenin 436 Martius 229
Lenz, Heinrich 373 f. Marx, Karl 43, 83, 157, 535
Lerch, August 25 Maschke, Günter VII, 204, 249
Lerch, Eugen 406 Maschke 123
Lermontow, Michail Jurjewitsch 494 Masson, Fulgence 174
Lessing, Theodor 233 Masson, Jeffrey M. 335
Lettow-Vorbeck, Paul von 441 Maubach, Josephine u. Maria/Maja 158,
Leviné, Eugen XI 166–168, 200, 36, 455
Levison, Wilhelm 166 f. Maupassant, Guy de 89, 300
Liebmann 70 Maurer 72
Liebrich 377 Maurras, Charles XVII, 146 f., 163, 302 f., 308,
Linder, Christian 242 429, 452, 535
Linzbach 309 Maus 62, 65, 67, 70, 350
Liszt, Franz 318, 518 May 136
Liviol 319 Mazzini, Giuseppe 399
Lloyd George, David 550 McDougall, William 360
Löwenstein, Karl 68, 271, 275, 277 McKiernan, Bernard XVII, 142, 166, 198,
Louis Philippe (König der Franzosen) 462 231–237, 239 f., 243, 248 f., 265, 275, 289 f.,
Ludendorff, Erich 105, 268, 321, 322, 482, 498, 503 294, 305, 454, 472, 477, 489
Ludwig, Beda 209, 369 Medem, Eberhard von 493
Ludwig III. (König von Bayern) 185 Mehring, Reinhard VII, XII–XV, XVIII f., 5 f.,
Ludwig XVIII. (König von Frankreich) 291 8, 11–15, 18, 38, 51, 56, 62, 65, 75, 77, 81 f., 97,
Luini, Bernardo 365 99, 104, 118, 134, 139 f., 150, 158, 160, 162, 179,
Lukács, Georg 229, 234 f., 238, 478, 506, 515 190, 196, 208, 228, 282, 294, 310, 324, 327, 337,
Lukan/Lucanus 394 340, 343, 345 f., 352, 354, 356, 368, 370, 376,
Lurz, Raimund 136, 179–181, 183 f., 274, 361 402, 509, 581 f.
Luther, Martin 10, 106, 444 Meinecke, Friedrich 39, 370
Meinel, Florian VII, 221
Machiavelli, Niccolo 160 f. Meiner, Felix 368, 381

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594 Anhang

Meinhardt, Karl 241 Müller-Hartmann, Elisabeth 141, 434


Meissner, Rudolf 261, 274, 320 Müller-Hartmann, Robert 141, 278, 326
Meissner (Ehefrau) 320 Münch, Alexander 183, 186, 371
Meister, Friedrich Wilhelm 329, 331 Münchow, von 177 f.
Mejer, Otto 366 Munscheid, Mathilde 198
Melzle 366 Murko, Matthias 302
Memling, Hans 254 Murray, Aileen 106, 110, 402
Mendelssohn Bartholdy, Albrecht 160, 277, 423, Murray, Kathleen, auch Countess u. Comtess
544 f. gen. VI, XII–XVIII, 6–9, 11–32, 37–39, 45,
Menschel, Wilhelm u. Johanna 245 47–51, 53, 55–79, 81–97, 99–101, 104–117,
Menser, Karl 116–118 119–132, 138, 140–142, 146, 151–154, 159–172,
Meredith, George 188 176 f., 179 f., 182, 186–194, 197 f., 200–202,
Mereschkowski, Dmitri Sergejewitsch 224, 471 204 f., 209, 212–219, 222–224, 231–237, 239 f.,
Merici, Angela 347 242–246, 251 f., 262, 265, 269, 275, 290, 297,
Merk, Walther 185 305, 344, 358, 378, 381, 387–389, 393 f.,
Meusch, Matthias VII 401–405, 410, 429, 431, 437, 448–451, 454–457,
Meyer, Alex 141, 167 f., 170, 197, 209, 213, 250, 466–470, 475, 477, 479, 483, 488 f., 492, 503,
273, 289, 291 f., 297, 310, 319, 326, 351, 378 511, 556, 560–564, 569, 582
Meyer, D. 70 Mußgnug, Dorothee 582
Meyer, Eugène 467 Mußgnug, Reinhard 582
Meyer, Johanne Elisabeth 168 Mussolini, Benito XVII, 159, 171, 227, 423
Meyer, Karl 362 Mussorgski, Modest 224
Meyer, Siegfried 220 Muth, Karl XVII, 185 f., 227, 255, 257 f., 343,
Meyer-Lübcke, Wilhelm 173 363, 369, 374
Meyrink, Gustav 424 f.
Mezger, Max Joseph 326 Nadler, Josef 88, 90, 423
Michelet, Jules 18 Nagel, Rolf 15, 21, 27, 30, 32, 62, 109, 552,
Michels, Robert(o) 159, 267, 270, 304, 315 582
Mikszáth, Koloman/Kálmán 193 Napoleon 93, 132, 462, 528
Mirbeau, Octave 429 Nawiasky, Hans 160
Mirgeler, Albert 369 Nero 393
Mombard 414 Nestle, Wilhelm 221
Monck, George 452 Nestroy, Johann 31, 134
Montaigne, Michel 54 Neu, Johann Wilhelm 310
Montesquieu 345, 391 Neuenhofer, Ernst XX, 174, 179, 190 f., 325 f.
Monteverdi, Claudio 115 Neuenhofer (Ehefrau) 325
Montgelas, Max von 141 Neuhoff, Theodor von 94, 100
Moore, George 395 Neuß, Anton 92, 123, 164, 174, 221, 228, 267,
Moreno, Gabriel García 105 305, 314
Morre, Thomas 22 Neuß (Ehefrau) 228
Morris, William 426 Neuß, Wilhelm XVI f., 90, 92, 96, 104–109,
Mozart, Wolfgang Amadeus XVI, 13, 30, 50, 112–118, 120, 127, 139, 148, 153, 156, 159,
114, 164 f., 168, 175, 220, 226, 250, 262, 279 f., 163 f., 166–168, 170 f., 173, 175 f., 184 f.,
326, 350, 403, 412, 443, 446 f., 459, 464, 535 190–192, 199, 201 f., 207, 209, 221–223, 227 f.,
Mühsam, Erich XI 233 f., 336 f., 239, 266, 269, 272 f., 278–281,
Müller, Adam 52, 397, 409, 518, 553, 555 283, 287, 290–292, 294–298, 300, 302, 304–306,
Müller, Ludwig 288 309–311, 314, 317–319, 322 f., 341, 345,
Müller (Bremen) 326 356–358, 367 f., 372, 379, 381 f., 425, 455, 467,
Müller (Hauptmann) 136, 179 530, 579, 585
Müller 185 Neuwiem, Erhard 107, 179

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Personenverzeichnis 595

Newman, John Henry 36, 113, 177 Pestalozza, Anton von 127, 141, 147, 152, 154,
Nicholson 18, 77 170, 174 f., 186, 450
Nicoletti, Michele VII Pétain, Philippe 352, 441
Niecks, Friedrich 442 Peter I. Karadjordjevic (serb. König) 205
Nietzsche, Friedrich 247, 427, 446 f. Peterson, Erik XIX, XXI, 372, 375 f., 378, 380,
Nikolaus von Myra 419 382, 400
de Noailles, Anna Elisabeth, Comtesse 406 Petrarca, Francesco 32
Nohl, Herman 548 Petzina, Dieter 140
Nolde, Emil 315 Pfeiffer, Theobald 243
Norrenberg, Johann 131 Pfeiffer, Walter 243
Nottarp, Hermann 106 Pfeiffer 448
Novalis 37, 518, 525, 531, 554 Picasso, Pablo 15, 155
Piccarda, von 430
O’Connell, Daniel 487 Pichler, Hans 11, 57, 69, 87, 115, 118 f., 132, 140,
O’Kelly, Michael 464 306, 569
Oklitz, Arthur 74, 74 Pichois, Claude 581
Olfe, Hermann 147 Picht, Clemens 103
O’Neill, Eugene 372 Pierrefeu, Jean de 352
O’Neill, Phelim 20 Piloty, Robert 366
Oppenheim, Moritz 155 Piqué 149
Oppenheimer, Carl 299 Platen, August von 489
Oppenheimer, Franz 161, 299 Platon 36 f., 57, 270, 480, 547
Origenes 376 Platz, Hermann 157, 159, 235, 247, 324, 374
O’Shaughnessy, Arthur 53 Plutarch 257
Osthövener, Claus-Dieter 549 Poe, Edgar Allen 245, 250, 483, 488
Otto II. (Kaiser) 215 Pohl, Heinrich 141, 154, 331 f., 334, 338, 342,
Otto, Martin 122, 311, 334, 337 351
Overbeck 197 Pohle 246
Ovid 11, 36 Pohler 217
Pollard, Percival 52
Pacelli, Eugenio 205 Pontormo, Jacopo da 254, 300
Palestrina, Giovanni Pierluigi 259, 382 Porsch, Felix 335
Palyi, Melchior 64, 98 f., 142, 158, 336 Portinari, Beatrice di Folco 404
Pankok, Otto 278 Poy, Friedrich 98
Pareto, Vilfredo Federico 310 Pozzi, Henri 113, 153
Parnell, Charles Stewart 91, 404 Preuß, Hugo 332
Partsch, Josef 78, 86–88, 92, 97, 102–104, 111, Preußen, Georg Prinz von 367
118 f., 122 f. Proudhon, Pierre-Joseph 445, 537
Partsch (Ehefrau) 81, 92, 102, 106, 110, 117, 120 Proust, Marcel 406
Partsch, Marianne 107, 121, 132 Pütz, J. 351
Paruwentschik, Hel(l)a von 332–337, 339 f., Puschkin, Alexander Sergejewitsch 460, 494
342–345, 373 Puschner, Uwe 157
Pascal, Blaise 44, 452, 471 Puttkamer, Marie Madeleine von 326
Pastor, von 280
Pearse, Patrick/Pádraic 11, 17, 20, 26, 84, 204, Quaritsch, Helmut 12, 113, 137, 582
217, 248, 253, 387, 401, 480, 486, 489, 514, 572 Quiller-Couch, Arthur Thomas 11
Pepl, Georg XVI Quincey, Thomas de 426
Perdes 73
Pergolesi, Giovanni Battista 115 Radek, Karl 274
Pesch, Volker XII, 8 Raffael 186, 403

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596 Anhang

Rahner, Karl 327 Rowohlt, Emmy, gen. Reye-Rowohlt 186


Rammstedt, Otthein 535 Rowohlt, Ernst 186
Rapp 253 Rubens, Peter Paul 155, 254, 445
Rasputin, Grigori Jefimowitsch 181 Ruff, Erich VII
Rath, Erich von 85, 271 Rumohr, Carl Friedrich von 466
Rath, Walther vom 260 Rumpelmayer, Anton 186
Rathenau, Walther 103–107, 116–119, 124 Rupé, Hans XVII, 113, 177 f., 184 f., 256, 278,
Rauch, Karl 164 491
Redelberger 201 Rüsing, August 252
Reetz, Bärbel 365 Ruskin, John 431
Rehmke, Johannes 57 Russell, George 494
Reichartz, Heinrich 280, 288 Ryan (Father) 114 f., 146
Reimarus, Hermann Samuel 181 Rykow, Alexei 72
Reimer, Ekkehard 78, 376
Reinach, Théodore 93 Saalmann 219 f.
Reiners, Heribert 316, 378 Saathoff, L. 360
Reiners, Hermann 169, 172, 193, 236–238, 240, Sagave, Pierre-Paul 396
282, 289, 299 f., 303, 308 Saint-Simon, Henri de 291
Reinländer, Karl 250 Salin, Edgar 134, 137, 269, 374, 535
Reinthal, Angela VII, 581 f. Salm 117, 152, 163 f., 167, 170, 173, 218, 322
Rembrandt 366, 518 Salm-Reifferscheidt-Krautheim und Dyck, Franz
Renan, Ernest 406, 455, 467, 487, 519 Josef Alfred Leopold Hermann Maria 295
Reusch 251 Salomon, Albert 115
Richter, Lutz 338 Salz, Arthur 555
Richter, Werner 333 Sand, George 442
Rick, Karl 116, 181, 228, 232, 235–240, 263, Sander, Fritz 303, 481
266 f., 274 f., 279, 282, 286, 289 f., 292, 296, Sandhagen 367
302, 304, 306 f., 312, 318–321, 323, 343 f., 346, Sartorius, Carl 556
353 f., 357 f., 360, 362, 368–371, 474, 522 f., 550 Sauer, August 423
Rickert, Heinrich 115 Sauer, Ella Carola, auch Lola gen. XVI, XVIII,
Riedner, Otto 186, 253, 262 29, 99, 134–155, 159 f., 163, 175, 185, 187, 190,
Riekschnitz, Bernhard 241 407–409, 413–428, 432–435, 437–441, 443 f.
Riemann, Hugo 141 Sauer, Eva 177, 462
Rieß, Rolf 77, 105, 117, 119 f., 128, 135, 144, 150, Sauer, Max 141, 434
159, 164 f., 178, 196 f., 219, 236, 244, 262, 269, Sauerbruch, Ferdinand 423
277, 279, 294, 299, 302 f., 338, 343, 356, 365, Schäfer, Wilhelm 155, 282, 495
368, 370 f., 373, 377, 381 f., 437, 544, 582 Schaeffer, Albrecht 199
Rilke, Rainer Maria 292, 295, 549 Schätz 179
Ritter 362 f. Schalch, Josef 181
De la Rivière Manley, Marie 91 Schallmeier 306
Robespierre, Maximilien de 468 Schauff, Hans 324
Röhl, Maria 225 Scheffer, Paul XVII, 24, 71, 198–201, 205–207,
Rohan, Karl Anton Prinz 373 223, 291 f., 476, 491
Rosenbaum, Eduard 141, 239, 248, 327 f., 372, 423 Scheidemann, Philipp 482
Rosenbaum (Ehefrau) 327 Scheidt 286
Rosentreter, Erich 27 Scheler, Max 36, 79, 106, 139, 187, 204, 212, 258,
Roth, Christian XVII, 184, 186 268, 272, 319, 324, 440, 519
Roth, Richard 5 Schelling, Caroline 554
Rothenbücher, Carl Franz Joseph 313, 316, 325 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 397
Rousseau, Jean-Jacques XVI, 42, 353, 416, 546 Schelling 143

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Personenverzeichnis 597

Schelz, Sepp 375 290 f., 296–299, 303 f., 308–312, 315 f., 318,
Schenk (Studentin) 280 320, 322, 325, 329–331, 339, 343, 346 f., 352,
Schenk 74 354 f., 358, 369, 372, 377, 380, 438, 479, 503 f.,
Schickel, Joachim 365 530, 533
Schierenberg 130 Schmitt, Louise 75, 110, 189, 251 f.
Schifrin, Rachel 230, 232 f., 236–240, 244, 249, Schmitt, Otto (Cousin) 242, 246, 250, 340
254, 257, 262–264, 275, 297 f., 345, 386, 473 f., Schmitt, Otto (Stadtbaumeister) 94
516 Schmitt, Peter 242
Schiller, Friedrich 128, 226, 284, 318, 475, 482, Schmitt, Wilhelmine, gen. Ernsts Mina 189
515, 535 Schmitt, Wilhelmine, gen. Tante Mina 242
Schilling, Paul 149, 155 f., 158 f., 192, 200, 218, Schmitt-Ott, Friedrich 122
220, 232, 234, 238, 240, 245–249, 261, 263, 265, Schmitz, (Franz) Arnold XVI, 114 f., 118–120,
267–269, 272, 310 f., 324, 371 123 f., 126, 132, 138–141, 143–148, 150–155,
Schilling (Ehefrau) 159,192, 200, 238 f., 268, 286, 157–161, 163–168, 170, 172 f., 175–177, 187,
311, 369 189, 191–194, 198, 201 f., 204–207, 209 f.,
Schlageter, Albert Leo VII, 148, 181 213 f., 216, 218–224, 226–228, 230–233, 238 f.,
Schlak, Stephan 111 246, 250, 262 f., 265–268, 272–281, 284 f., 287,
Schlechta, Karl 427, 446 289–292, 294, 297–299, 301 f., 304–311, 313 f.,
Schlegel, August Wilhelm 555 316, 318, 320–327, 329, 340–347, 350–355,
Schlegel, Friedrich 37, 507, 554 f. 357–359, 368–371, 374–378, 380–382, 406, 419,
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 173 425, 434, 441, 444, 448, 476, 509, 514, 522,
Schlemmer, Martin 379 532 f., 546
Schlemmer 274 Schmitz (Ehefrau) 114 f., 145, 157, 200, 206 f.,
Schlopig 325 224, 227, 292, 306, 309, 325, 343, 355, 371, 433,
Schlosser, Joseph 200, 237, 239 533
Schlosser 323 Schmitz, Oscar Adolf Hermann 139, 150, 440,
Schmeller, Johann Andres 412 454
Schmelzle, Hans 359 Schmitz, Richard 273
Schmidt, Jörg 140 Schmitz (Kunsthistoriker) 96
Schmidt, Wilhelm 103 Schmitz (Nationalökonom) 237
Schmidt (Polizist) 174 Schmitz (Student) 151,153, 197, 204, 232
Schmidt (Professor) 231 Schnack, Friedrich 272, 275
Schmidt 467 Schnark 223
Schmidt-Radefeldt, Jürgen 548 Schnass 287
Schmidt-Rimpler, Walter 87 Schneegans 259
Schmitt, Anima Louise XIX Schneider, Felix 139
Schmitt, Anna Margarethe, gen. Ännchen 75, Schneider, Georg 52
94 f., 100, 114, 145, 160, 189, 241, 243–253, Schneider, Hans XV, 65
259 f., 279, 283, 307, 321, 339 f., 371 Schneider, Heinrich 113
Schmitt, Auguste, gen. Üssi 85, 94 f., 241, 246 f., Schneider, Kurt 139, 432 f.
249, 260, 269, 300 Schneider, Kurt (Germanist) 466
Schmitt, Duschka siehe Dušanka Todorović Schneider XII, 4–6, 9, 59, 329–332, 334, 336
Schmitt, Ernst 189 Schniewind 321
Schmitt, Johann 95, 98, 112, 144, 189, 220, 243, Schnitzler, Georg von XVII, XXI, 73, 82, 118 f.,
251 f., 339 f. 128–131, 144, 146–149, 197, 212, 259, 285, 299,
Schmitt, Johanna 202 318, 321, 367, 437, 439 f., 454, 493
Schmitt, Josef gen. Jup XXI, 13, 24, 58, 66 f., Schnitzler, Liliane/Lilly XVII, XXI, 73, 131,
73–75, 86, 93 f., 98, 110–112, 147 f., 154–156, 144 f., 149 f., 154, 165, 190, 192, 208, 211 f.,
158, 164 f., 174 f., 181, 189 f., 192, 208, 210, 219, 240, 243, 255, 259 f., 262, 277, 282, 324,
220, 232, 237, 241–246, 248, 266, 280, 283, 367, 373, 437, 439 f., 453, 484, 493 f.

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598 Anhang

Schnitzler, Liselotte/Lilo 260, 292 Seiberth, Gabriel 334


Schnitzler, Richard von 260 Seidenkranz, Richard 43
Schnors 282 f., 300, 309, 312 f., 321, 347, 351 Seifferts 124
Schoenaich-Carolath, Hermine Prinzessin von Seitz 195, 208
471 Sembat, Georgette, siehe Georgette Agutte
Schönberger, Christoph 375 Sembat, Marcel 404
Schönenbach 255 Sembdner, Helmut 473
Schöngans 76 Seneca 43
Schönhärl, Korinna 158 Sent M’Ahesa, siehe Else von Carlberg
Scholl 163 Septimius Severus 401
Scholz, Herbert 260 Shakespeare, William 32, 53, 56, 180, 338, 460,
Schopenhauer, Arthur 298, 510 508, 526, 554
Schorlemer-Alst, Hubert von 333 Shaw, Georg Bernard 330
Schrader, Ernst 370 Shelley, Percy Bysse 18, 115, 236, 362, 471
Schratt, Franz 361 Shey 148
Schreiber, Ferdinand 36, 177 Siepmann, Adolf 242
Schreiber, Georg 96 Sieyès, Emmanuel Joseph 37, 304, 463
Schreuer, Hans 86, 164, 205, 232, 268, 286, 307, Silverberg, Adolf 357
355 Silverberg, Paul 357, 382
Schröder, Agnes 174, 187 f., 288, 329, 468, 569 Simeon der Stylit 121
Schröder, Joachim 140 Simmel, Georg 535
Schrörs, Heinrich 317, 319 Simmerus 109
Schröter, Michael 335 Simon, Florian VII
Schubart, Paul 7 Simon, Siegfried Veit 102
Schubert, Franz 173, 226 Sinclair, Upton 464
Schücking, Walther 332 Singer, Kurt XX, 158, 328, 368, 381, 423
Schuelke, Stefan 11, 179, 400, 440 Smend, Rudolf XII, XV, XX, 12, 56, 77 f., 100,
Schuld, Thomas VII 132, 179, 190, 270, 294, 329, 331, 333–335,
Schulin, Ernst 103 357 f., 351–354, 356, 376, 379, 381, 529, 550
Schuller, Wolfgang VII, 12, 582 Smokwina 261
Schulte, Aloys 83, 89, 96, 192, 271, 312, 359, 379 Sohls 214
Schulte, Karl Joseph Kardinal 280 Sokrates 37
Schultze 248 f. Sologub, Fedor 533
Schulz, Fritz 88, 146, 164, 194, 263, 274, 276, Sombart, Nicolaus XVI
286, 288, 304, 356, 371, 377 Sombart, Werner 37
Schulz (Ehefrau) 274 Sommer, Ernst 450
Schulze, Ernst 203 Sonninghaus 312, 314, 316, 321
Schulze, Maria 242 Sorel, Georges XVII, 7, 81, 97, 115, 117, 122,
Schulze-Gaevernitz, Gerhart von 64 128, 224, 483
Schumacher, Hermann 173 Souday, Paul 547 f.
Schumann, Robert 115, 163, 180, 404, 430, 463 Spalatin, Georg 10
Schwabach, Erik-Ernst 103 Spangenberg 81, 83 f., 123–125
Schwabe, Klaus 140 Spanmeier 94
Schwarz, Hugo 423 Spengler, Oswald 287, 309, 345, 359
Schwarzschurz 66–69 Spethmann, Hans 147
Schweiger, Dominik XVI Spiegelberg 103
Schweitzer, Albert 178 Spielmann 165
Schwickardy, Karl 267, 291, 340 Spiethoff, Arthur 83 f., 117, 121, 145, 153, 173,
Seel, Eberhard 444 200, 205 f., 211, 221–223, 237, 239, 294, 318,
Seewald, Richard 113, 374 380

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Personenverzeichnis 599

Spiethoff (Ehefrau) 173 Streng, Peter u. Josef 371


Spindler, Walter 147 Stresemann, Gustav 184, 482
Spohr, Ludwig 170 Strich, Fritz 104
Spranger, Eduard 196, 282, 550 Strindberg, August 136, 256, 263, 281, 405, 424,
Stadler, Ernst 57 429, 442, 462, 530 f., 569
Stahmer, Anton 178 Strohschneider 198, 208, 228, 282
Stalin, Jossif Wissarionowitsch 71 Stülpnagel, Ernst 504
Stammler, Rudolf 542 Stuhlmann, Gerhard 94
Stanjanakoff 212 Stutterheim 74
Staudinger, Michael XVI Suarès, André 122, 289, 301, 344, 502
Stefl, Max 36, 84 f., 113, 177 f., 253 f., 258, 360 Swedenborg, Emanuel 36, 302 f.
Stein, Charlotte von 529 Szilvinyi, Richard von 260
Stein, Lorenz von 397
Steinbüchel, Theodor 90, 128, 162, 165, 167, 301 Tadić, Zlata 146, 205, 214, 220, 226, 235,
Steiner, Rudolf 354 261–264, 270, 272 f., 281, 283, 290, 296–298,
Steinlein, André jun. XV, XVII, 5, 7, 24, 58 f., 301, 304 f., 307 f., 311, 316–318, 320–322, 373,
72–77, 82, 86, 95–97, 99, 101, 107, 109–111, 376, 378, 474, 512, 516, 522, 524
118, 121–129, 131, 145 f., 192, 194, 214 f., 220, Taine, Hippolyte XIII, 6, 15, 18, 27, 37, 52 f.,
225–228, 234–236, 261, 265–267, 269, 291 f., 378, 393, 437, 408, 468, 478, 519
299, 312 f., 315 f., 318 f., 321, 325, 342, 358, Talleyrand, Charles Maurice de 452
360, 375, 387 f., 401, 413, 441, 469, 488, 495, Tambaro, Ignazio 54
516, 540 Tannstein, Joseph von 441
Steinlein, André sen. 5, 182, 209, 441 Tardieu, André 77, 80 f., 131
Steinlein, Margarethe 5 Tatarin-Tarnheyden, Edgar 158
Steinlein, Niklas 77 Taubes, Jacob 258
Steinlein, Peter 60 Tczerclas von Tilly, Helmuth 106
Stendhal 18, 29, 54, 112, 303, 460 f., 502, 507, Tengelmann, Fritz 147
510, 519, 540, 554 Tennyson, Alfred 18
Stengel, Edmund 63 f. Thaler 130
Stenzel 96 Theis 129
Stern, Fritz 487 Thibaudet, Albert 45, 547
Sternheim, Carl 187, 541 Thiele, Friedrich 213
Stevenson, Robert Louis 426 Thiers, Adolphe 397
Stiefel 69 f. Thoma, Karl 576
Stier-Somlo, Fritz XX f., 160, 310, 337–342, Thoma, Richard XIX, 296 f., 302, 307–309, 366,
344–346, 350, 359, 368, 453, 536, 545 374, 544
Stimson, Frederic Jesup 488 Thomas, Henry 52
Stinnes, Hugo 107, 111, 125, 129, 288 f., 392, Thomas von Kempen 285, 500
487, 502 f., 532 Thompson, Francis 23, 30, 52, 56, 58, 235 f., 362,
Stockton (Father) 142, 162, 449 f., 467 368, 426, 471
Stöck, Christian Josef Anton 379 Thümmler, Ellen 139, 368, 370, 582
Stoffels, Joseph 176, 190 f., 199 Thukydides 546
Stoffels 153 f., 158, 161, 166, 168, 196, 208, 211, Thurneysen, Rudolf 77, 79, 90, 119, 123, 144,
213, 226 202
Storry, Richard 158 Thurneysen (Ehefrau) 90, 133
Strack, Olga 167 Thyssen, Fritz 147
Strack 286 Tieck, Ludwig 554
Strassberger, Elisabeth 125, 148, 190, 207 Tielke, Martin VII, 5, 68, 396
Strauss, Richard 318, 360 Tigges, Eduard 110
Strawinsky, Igor 514 Tilitzki, Christian VII

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600 Anhang

Tillmann, Fritz 305 378, 405, 422, 429, 432, 435, 441 f., 453, 458 f.,
Tintoretto 186 463, 506, 512 f., 515, 522 f., 528, 530
Tizian 186 Villinger, Ingeborg 95, 140, 582 f., 585
Tocqueville, Alexis de 356 Vivien, Renée 451 f.
Todorović, Dušanka/Duška/Duschka VI, Vogel, Henriette 444
XVII–XIX, XXI, 145 f., 150 f., 153–155, Vogt, Joseph Heinrich Peter 373
157–159, 161, 169–177, 180, 191, 193, 195–197, Voltaire 478, 534
199–236, 238–240, 242–244, 247–249, 251–334, Vormfelde, Heinrich XV, XIX, 89, 119, 138–159,
336 f., 339–347, 350–382, 384–367, 443, 445, 163–173, 190, 193–195, 197–199, 202–206, 208,
454, 471 f., 474 f., 479, 481–485, 491 f., 210 f., 213–215, 217, 219, 221, 224, 231, 264,
494–501, 503–505, 508–527, 529–531, 533–537, 269 f., 273, 276, 278, 282, 285 f., 290, 297–300,
539–542, 547, 557, 575 302–304, 306–309, 311, 313, 315, 319–322, 325,
Todorović, Vasilije XVIII, 208 341, 353 f., 356, 369, 371 f., 375, 377 f., 382,
Tönnies, Ferdinand 149, 550 438, 442, 579
Toller, Ernst XI Vukobrancovics, Milica 504
Tolstoi, Leo 234, 494, 502, 510, 518, 533
Tommissen, Piet 6, 78, 113, 136 f., 141, 152, Wackenroder, Wilhelm Heinrich 112
159 f., 179, 185, 191, 196, 258, 267, 276 f., 304, Wacker, Bernd 121, 182 f., 361, 363, 365, 369, 383
312 f., 343, 375, 564, 581–583, 585 Wagner, Richard 15, 50, 167, 274, 297, 419, 481,
Toos 379 510, 535
Trakl, Georg 79 Wagner 67, 69 f., 83, 89
Triepel, Heinrich XX, 112, 118, 311, 330, 334, Waitz, Georg 356
337, 513 Waldhoff, Christian 78, 376
Trippen, Norbert 317 Walzel, Oskar 79, 447
Troendle, Hugo 210 Wandel, Franz Gustav von 75, 99, 441
Trott 152 Wandel, Katharina von 75, 79, 81, 99, 104, 108,
Trotzki, Leo 110, 232, 265 112, 114, 129, 139, 155, 158, 163, 165 f., 168,
Tsuji, Saisaburö 302 f., 307 171, 189–191, 193, 195 f., 202, 209, 211, 213 f.,
Turgenjew, Iwan Sergejewitsch 172, 271, 273, 217, 222, 231–233, 236, 239 f., 246 f., 261–263,
460, 499 265, 267, 269, 272–274, 277, 280 f., 285–287,
Tutanchamun 195 290, 292, 299, 301, 303, 306, 309, 312, 316–321,
329, 346, 359, 520
Uhland, Ludwig 282 Wandel, Margarete von 156, 160 f., 165, 196, 203,
Ulpian 410 209, 214, 236, 271, 307, 309, 315, 320
Urbanek, Nikolaus XVI Wanner, Johannes 91 f., 100–103, 108, 112, 116,
120, 152, 154
Valera, Éamon de 130, 182 Weber 291
Valéry, Paul 122, 548 Weber, Carl 291
Velàzquez, Diego 106 Weber, Carl Maria von 115, 205 f., 281, 444
Venema-Schürmann, Ulrike 310 Weber, Helene 324
Verdi, Giuseppe XVII, 180, 258, 326, 472 Weber, Max XII, XIX, 12, 64 f., 83, 98, 105, 142,
Vergil 10, 36 172, 296, 490, 515, 524
Verlaine, Paul 9, 52, 303, 547 f. Weber, Reinhard 127
Vermeil, Edmond 316 Wedekind, Frank 429, 436
Verspoell, Christoph Bernhard 78 Wegener, Paul 8, 328, 526
Vico, Giambattista 415 Weigand, Wilhelm 29
Victoria/Vittoria, Tomás Luis de 259 Weiglin, David Christopher 139
Viesel, Hansjörg 119 Weimann, Ernst 291
Villiers de L’Isle-Adam, Auguste Comte de Weinand, Eduard 6
XVII, 169, 180, 263, 310, 314 f., 319–321, 376, Weinberg, Carl von 259 f.

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Personenverzeichnis 601

Weinberg, Mary von 259 f., 273, 324 Wolff, Kurt 506
Weininger, Otto 15 Wolff, Martin 92, 160, 164, 323, 329
Weiß, Ernst 504 Wolff, Otto 167
Welker, Meinrad 584 Wolff 304
Wende, Erich 9, 149, 188, 193 Wolzendorff, Kurt 122
Wenger, Leopold 109 Wolzendorff (Ehefrau) 122 f.
Wenig, Otto 584 Wordsworth, William 11, 90
Wentzke, Paul 138 Woschin 474
Wernicke, Otto 255 Wülfing, Friedrich 129
Wesendonck, Mathilde 169 Wülfing, Friedrich sen. 129
Wesendonck, Otto 169 Wüst, Bernhard/Bernd 94, 121, 242 f., 245–248,
Westhaus 124 250, 252 f.
Wieland, Christoph Martin 506 Wüst, Josef 450
Wienand 147 Wüstenhöfer, Franz 147
Wilckens, Johann Heinrich Bernhard Berthold
307, 315, 320 Xenophon 480
Wilde, Oscar 52, 249–251, 530
Wilhelm I. (König von Preußen u. dt. Kaiser) 152 Yeats, William Butler 54
Wilhelm II. (König von Preußen u. dt. Kaiser) 8,
82, 471, 482, 503, 532 Zackwitz (Professor) 178, 361
Wilms, Josef 176, 355, 369, 377 Zeh 212
Wilson, Henry Hugh 103 f., 118 Zehner, Emil 72
Wilson, Thomas Woodrow 318 Zimmer, Alois 268, 274, 280, 320, 322, 355,
Wimmer 227 369 f., 375, 380–382
Wirsmann 254 Zinzendorf, Nikolaus von 10
Wittich, Werner 302, 322, 324 Zitelmann, Ernst XVII, 87, 111, 117, 138, 161,
Wittmayer, Leo 159 f., 312, 544 f. 191 f., 194, 210, 214, 231, 243, 265, 279 f., 425,
Wodernitz 286 429
Wolf, Friedrich August 390 Zobel 229
Wolf 170 f., 206 Zycha, Adolf Josef 164

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